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German Pages 236 Year 2015
Gerhard Gamm, Andreas Hetzel (Hg.) Ethik – wozu und wie weiter?
Edition Moderne Postmoderne
Gerhard Gamm, Andreas Hetzel (Hg.)
Ethik – wozu und wie weiter?
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Inhalt
Ethik — wozu und wie weiter? Eine Einleitung Gerhard Gamm, Andreas Hetzel | 7
I. A k tualität und G renzen angewandter E thiken Ethik und Politik, Ethik als Politik, Ethikpolitik Petra Gehring | 19
»Wen das Los trifft, der ist schuldig.« Fairness und Selbstverantwortung in der Markt-Moral Hans-Ernst Schiller | 41
Ethik als Technik der Kultur Volker Gerhardt | 61
Von der Anwendung der Ethik zur Ethik der Anwendung Die Problematik der Bereichsethiken am Beispiel der Technikethik Christoph Hubig | 83
Unterfordert und überschätzt Zur Ethisierung der Forschungspraxis Alfred Nordmann | 101
II. V om R echt und E igensinn der M oral Moral in der sozialen Praxis und philosophische Ethik Geert Hendrich | 123
Ethik als Kritik und als Praxis Theda Rehbock | 143
Ethik im Prozess historischer Revision: Sozialphilosophie Zur Frage »Ethik – wozu und wie weiter?« Burkhard Liebsch | 161
Performativität und Gewalt Überlegungen zur Tragödie im Ethischen Dieter Mersch | 185
Von rechten Dingen Über den Ort der Moral heute Gerhard Gamm | 205
Autorinnen und Autoren | 231
Ethik — wozu und wie weiter? Eine Einleitung Gerhard Gamm und Andreas Hetzel
Wozu Ethik? Diese Frage könnte insofern unangemessen erscheinen, als sich ihre neuere Geschichte sowohl innerhalb der Philosophie wie im öffentlichen Leben zunächst als Erfolgsgeschichte sondergleichen lesen lässt. Seit dem Erscheinen der Theory of Justice von John Rawls sowie der beiden von Manfred Riedel ebenfalls Anfang der 1970er Jahre herausgegebenen Bände zur Rehabilitation der praktischen Philosophie können wir eine Renaissance der Ethik beobachten, die zu einer immer höheren Ausdifferenzierung und Professionalisierung ihrer Argumentationsformen und Methoden geführt hat. Begründungs- und Grundlagenfragen werden in der Metaethik verhandelt, »Anwendungen« in den vielfältigen Bereichsethiken. Auf gesellschaftlicher Ebene hat sich Ethik als Unterrichtsfach etabliert, das in vielen Bereichen die Religion ersetzt und in ihrem Orientierungsanspruch beerbt. Dem zunehmenden Entscheidungsbedarf in einer wissenschaftlich-technischen Welt antworten Ethikzentren, -kommissionen und -institute sowie neue Berufsfelder wie das der klinischen Ethikberatung. Innerhalb weniger Jahrzehnte hat sich Ethik als machtvoller Diskurs und gesellschaftlicher Akteur etabliert, so dass sich die Frage nach dem Wozu eigentlich nicht mehr stellt. Doch hat ihr gesellschaftlicher Erfolg nicht auch einen hohen Preis? Einen, der sie über ihre eigenen Ambivalenzen blind werden lässt? Qua Zugehörigkeit zur Disziplin wähnen sich Ethiker nur zu oft als Statthalter des Richtigen und Gebotenen – mit dem Verkaufsargument: sie besäßen Orientierungswissen. Sehr schnell liegen Antworten auf das Wozu bereit: Als Teilgebiet der Praktischen Philosophie, so lautet die klassische Antwort, befasse sich Ethik mit der Suche nach Maßstäben, die es uns erlauben, ein moralisch gutes von einem schlechten Handeln zu unter-
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scheiden. Sie fragt nach wünschenswerten oder weniger wünschenswerten Formen sozialen Zusammenlebens, nach Kriterien der Beurteilung von Personen und ihren Entscheidungen, nach dem Wesen des Guten, der Natur von Werten und Normen. Als akademische Disziplin und Reflexionsform mit eigenen Klassikern, Methoden und Modellen soll Ethik dazu befähigen, uns Klarheit über unsere eigenen Lebensziele und unseren Ort in der Gesellschaft zu verschaffen: ein zugleich verantwortungsbewusstes wie gelingendes Leben zu führen, die eigenen Potenziale in einer Weise zu nutzen, dass sie dem Gemeinwohl zuträglich sind und schließlich erlauben, uns aus Intoleranz und selbstverschuldeter Unmündigkeit herauszuführen. Spätestens beim Übergang vom Wozu? zum Wie? zeigt sich allerdings deutlich, dass die ethischen Debatten nicht nur von Formen des Widerstreits geprägt sind, sondern von solchen eines Unvernehmens, das letztlich auch das Wozu, das Selbstverständnis der Ethik, in Mitleidenschaft zieht. Seit ihren Anfängen in der klassischen Antike ist das ethische Feld durch eine Reihe von Konflikten strukturiert, die grundlegender nicht sein könnten. Platon und Aristoteles divergieren in der Frage, wie weit sich ein gelingendes Leben in den Grenzen eines politischen Gemeinwesens verwirklichen lässt. Während Aristoteles das gute Leben als gemeinsamen Vollzug eines Lebens mit anderen begreift, siedelt Platon das Gute als höchste Idee jenseits des Seins und des Wesens an, wo wir uns ihm nur als Einzelne, durch Kontemplation und theoretische Schau, annähern können. Die Debatten der Neuzeit werden, spätestens seit dem 18. Jahrhundert, vor allem zwischen Konsequentialisten und deontologischen Positionen geführt. Die aktuellen Debatten werden von der Auseinandersetzung zwischen ethischen Realisten und Antirealisten geprägt. Ethische Realisten teilen die Voraussetzung, dass moralische Tatsachen (Ansprüche, Forderungen) unabhängig von uns existieren und Aussagen über diese Tatsachen wahrheitsfähig sind. Non- oder antirealistische Positionen begreifen moralische Urteile demgegenüber nicht als Repräsentationen moralischer Tatsachen, sondern als Ausdruck subjektiver Präferenzen. Diese Debatten, die sich bei genauerer Betrachtung ebenso ausdifferenzieren und verkomplizieren wie die ethische Reflexion selbst, kennen keine einfachen Lösungen und konfrontieren uns mit der Notwendigkeit einer hohen Ambiguitätstoleranz. Darüber hinaus ist es wichtig zu sehen, dass alle Positionierungen in diesen Debatten, mithin alle begrifflichen
Ethik — wozu und wie weiter?
Bestimmungen der Ethik, selbst mit ethisch relevanten Voraussetzungen und Folgen einhergehen. Wird nicht die Ethik durch Ausdifferenzierung, Professionalisierung und Ökonomisierung in eine Position gebracht, über die sich, wie Kant schreibt, vor allem »die Vormünder« freuen? »Es ist bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt«, oder, wie man ergänzen muss, einen Ethikexperten, der mir sagt, wo’s lang geht: wann man Hand an sich legen darf, wann Tiere zu welchen Zwecken getötet werden können, der »Mensch« in frühen Stadien seiner Embryonalentwicklung entsorgt oder abgetrieben darf, usf., »so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon übernehmen.«1 Scheint eine Individualmoral in dem Sinne funktionslos geworden zu sein, als die Gesellschaft für die im sozialen Verkehr auftretenden Konflikte zwischen den Individuen sachliche und formelle Problemlösungen gefunden hat? Versicherungen nehmen mir die Verantwortung ab. Die Professionalisierung – angesichts der sozialen Kälte, die sie auch erzeugt, eigentlich ein Euphemismus – von Erziehern, Beratern, Unterstützern, Trostspendern, Pflegenden usf. macht aus sozialer Zuwendung ein erfolgreiches Geschäftsmodell, das auch die Ethik für sich entdeckt hat. Was als Hospitzbewegung begann, endet als professionelle, d.h. bezahlte Dienstleistung beim und für’s Sterben. Wird man nicht in einer solchermaßen von Ethik überformten Welt »an einer«, wie Kierkegaard schreibt, »ethischen Existenz verhindert«? Ist eine so weitgehend durch gesellschaftliche Erwartungen und Zwänge, Ansprüche und Interessen, sozialstaatliche Regularien, rechtlichen Ausgleich und kapitalistische Konkurrenz bestimmte Gesellschaft überhaupt noch in der Lage, ein selbstbestimmtes ethisches Leben zu ermöglichen? Die Frage des Wozu ließe sich vor dem Hintergrund dieser Diagnose als Beitrag zu dem deuten, was Stanley Cavell als »Moralisierung der Moraltheorie«2 eingeklagt hat: Jede »Moral muss es zulassen, zurückgewiesen zu werden«.3 Dies bedeutet konkret, dass die Frage, »welche Art 1 | I. Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? Akademie-Ausgabe Bd. VIII, A 482. 2 | S. Cavell, Der Anspruch der Vernunft, Frankfurt a.M. 1999, S. 440. 3 | Ebd.
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von Gründen, in welcher Weise und zu welchem Zwecke vorgebracht, moralische Gründe sein«4 können, selbst als moralische Frage verstanden werden muss. Moral verkörpert insofern weder eine klar definierte Menge argumentativer Verfahren und Prinzipien, noch ein von einer Gemeinschaft geteiltes (sie als Gemeinschaft erst definierendes) Wissen um Werte und Normen, um deren Legitimationsgründe und Anwendungsbedingungen. Ganz im Gegenteil: Wo die Grenzen einer solchen ethischen Wissensgemeinschaft bereits feststehen, befinden wir uns bereits jenseits der Moral, die jede Art von Zugehörigkeitskriterien zu Gemeinschaften (und sei es derjenigen der Menschheit) auf ihre unethischen Implikationen zu befragen hätte. Die moralische Situation ist insofern niemals eine der »blinden« Anwendung einer Regel oder eines Wissens, sondern eine Situation, in der wir uns über die in Anschlag zu bringende Regel wie über die Deutung des zu regelnden Falls unsicher bleiben: »Was der in Frage stehende ›Fall‹ ist, gehört offensichtlich selbst zum Inhalt der moralischen Argumentation. Anders als Briefumschläge und Stieglitze präsentieren Handlungen sich nicht mit Namen versehen einer Beurteilung, und anders als Äpfel lassen sie sich nicht sortieren. Meines Erachtens entspringt der am schwersten wiegende Sinn, in dem Kants Moraltheorie ›formalistisch‹ ist […], dem Umstand, daß er es nicht für schwierig hielt zu sagen, was ›die‹ Maxime einer Handlung ist, bezüglich welcher seine Probe ihrer Moralität, der kategorische Imperativ, angewendet wird.«5 In Bezug auf Fälle und Regeln haben wir es in ethischen Situationen immer mit einem konstitutiven Nichtwissen zu tun, ohne das überhaupt nicht verantwortlich entschieden werden könnte, das die zeitgenössischen Ethiken in ihrem Hang zur Verwissenschaftlichung allerdings nur selten akzeptieren können.6 4 | S. Cavell, Der Anspruch der Vernunft, S. 469. 5 | S. Cavell, Der Anspruch der Vernunft, S. 433f. 6 | Der von Marx, Nietzsche und Freud eingeklagte Punkt, dass Moral selbst unmoralische Konsequenzen haben kann, wird auch von Derrida immer wieder betont, für den die »ersten« Fragen der Ethik wie folgt lauten müssten: »Was ist die Ethizität der Ethik? Die Moralität der Moral? Was ist Verantwortung?« Diese Fragen müssen für Derrida in einer gewissen Weise »ohne Antwort bleiben. Jedenfalls ohne allgemeine und geregelte Antwort. Ohne eine Antwort als die, die sich im Zuge einer neuen Probe des Unentscheidbaren jedesmal und in
Ethik — wozu und wie weiter?
In gewisser Weise spiegeln die Beiträge die hier angesprochene Situation und versuchen zugleich, sie begrifflich zu durchdringen. Dabei offenbart sich ihnen ein widersprüchliches Bild: Einerseits scheinen sich die Diskussionen unter einem zunehmenden Professionalisierungsund Verwissenschaftlichungsdruck immer weiter auszudifferenzieren. Orientiert an den Berufs- und Gruppeninteressen ihrer Adressaten, spezialisiert sich eine expertokratische Ethik auf die Abarbeitung von Folgekosten des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses, etwa an der Grenze von Technik und Leben; die unterschiedlichen Bereichsethiken liefern dann nichts anderes als nachträgliche begriffliche Legitimationen ökonomisch erwünschter Verfahren oder Technologien. Auf der anderen Seite herrscht immer weniger Klarheit darüber, wie Ethik sich selbst angesichts unserer neoliberalen Weltgesellschaft mit ihren ebenso neuen wie subtilen Herrschaftsformen, Gerechtigkeitsdefiziten und ökologischen Risiken überhaupt definieren und positionieren soll. Vor diesem Hintergrund stellen die Beiträge des vorliegenden Bandes, die auf eine Ringvorlesung des Instituts für Philosophie im Wintersemester 2013/14 zurückgehen, die Frage nach dem moral point of view oder dem Eigensinn des Ethischen: Was meinen wir, wenn wir von ethischen Ansprüchen oder Urteilen sprechen? Welche Aufgabe kommt der Ethik in öffentlichen Debatten zu, wenn sie von Recht und Politik kaum noch unterschieden werden kann; wenn die Verwissenschaftlichung und Expertokratie sie zum Spielball der herrschenden Interessen macht, an die sie sich in vorauseilendem Gehorsam anzupassen sucht; wenn sie sich darauf beschränkt, gegen alle Ambivalenzerfahrungen abgedichtete Lösungsstrategien auszuarbeiten, deren Umsetzung dann an Sozialarbeit, Therapeuten, Mediziner und andere Berufsstände delegiert wird? Wenn die Ethik selbst nur noch wie ein großer Marktplatz zum Austausch von Intereressen und Willensbekundungen fungiert; wenn die Rede von »Tugend« und »Sittlichkeit« schon auf Grund des Sprachgebrauchs an längst verblichene Zeiten erinnert? Wenn uns der Eigensinn des Ethischen kaum noch motivieren kann, den konkurrierenden, ökonomischen, politischen oder rechtlichen Ansprüchen etwas entgegenzusetzen? Stehen die Ethikvormünder, nachdem sie, wie Kant sagt, »das Hausvieh zuerst einzigartiger Weise mit dem Ereignis einer Entscheidung ohne Willen und ohne Regel verbindet.« J. Derrida, Passionen. ›Die indirekte Opfergabe‹, in: ders., Über den Namen. Drei Essays, Wien 2000, S. 15-62, hier: S. 31.
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dumm gemacht haben«, heute nicht im Begriff, die Menschen vor die Ethik als professionell hergerichteten »Gängelwagen« zu spannen? Die grundsätzlichen Fragen nach dem moral point of view, nach dem Wesen ethischer Ansprüche und Verpflichtungen, werden heute in der Regel an eine Metaethik delegiert; dahinter verbirgt sich die Hoffnung, dass sich auch die »großen« Fragen der Ethikbegründung rational, und d.h. vor allem wissenschaftsförmig, beantworten lassen. Gegen diese Hoffnung spricht, dass die klassischen Debatten der ethischen Tradition nach wie vor virulent bleiben: Die Fragen, ob wir uns auf der Ebene der Moralbegründung für Moralität oder Sittlichkeit, Freiheit oder Determinismus, Universalismus oder Relativismus, Vernunft oder das »innwendige Orakel« des Gefühls, Naturalismus oder Transzendentalismus, Realismus oder Antirealismus, Würde oder Wohlergehen entscheiden sollen, verweigern sich einer positiven und letzten Antwort. Sie nötigen uns vielmehr zu der Einsicht, dass die begrifflichen Unterscheidungen in der philosophischen Ethik selbst ethisch signifikant sind und dass sich die Arbeit an den ethischen Begriffen in keiner finalen Gestalt beruhigen lässt. Zu dieser Arbeit wollen wir auch die Reflexion der gesellschaftlichen Kontexte, Darstellungs- und Institutionalisierungsformen philosophischer Ethik heute rechnen. Die von Stanley Cavell angemahnte »Moralisierung der Moraltheorie« hätte dabei vor allem die Tradition der von Marx über Nietzsche bis zu Freud und Foucault reichenden Moralkritik als inneres Korrektiv gegen eine affirmative und apologetische Ausrichtung in die ethische Reflexion zu integrieren. Nur durch diese Öffnung vermöchte Ethik ihrem eigenen kritischen Anspruch zu genügen. Eine erste Sektion von Beiträgen thematisiert die Geschichte, die gegenwärtige gesellschaftliche Bedeutung und die Ambivalenzen angewandter Ethiken. Den Auftakt macht Petra Gehring mit einer Untersuchung des Verhältnisses von Ethik und Politik in aktuellen Debatten. Sie zeigt, wie sich insbesondere die angewandte Ethik heute selbst als eine Form von Politik versteht, die, im Sinne einer »Ermöglichungsmaschine«, nicht nur nachträglich das politisch und ökonomisch Gewollte rechtfertigt, sondern es als gesellschaftliche Realität zu etablieren hilft. Diese Art von Ethik werde zu einem »Käfig, der sich einen Vogel sucht«. Gehring zeichnet die Vorgeschichte dieser »Ethikpolitik« nach und hebt hervor, wie sich in Diskursen der Sozialhygiene zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Ver-
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ständnis von Ethik als normalisierender Volkspädagogik etabliert hat, das bis heute nachwirkt. Philosophie verliert als angewandte Ethik ein Stück reflexive Distanz und Freiheit des Hinterfragens, die sie in der Geschichte immer wieder ausgezeichnet und mit einem Einspruchspotenzial versehen hat. Hans-Ernst Schiller sieht die heute dominierende Ethik in vergleichbarer Weise als flankierende Kraft eines Neoliberalismus, der sich tief in unsere Selbst- und Weltverhältnisse eingeschrieben habe. Wie ein entfesseltes Markt-Paradigma auch unsere ethischen Begriffe erfasst, macht Schiller am heute dominierenden Verständnis von Gerechtigkeit und Verantwortung fest, die beide in die strategischen Perspektiven von Marktsubjekten gerückt werden. Während Gerechtigkeit nur noch als Fairness verstanden werde, die eine tiefer liegende Form von ökonomischer und sozialer Ungleichheit invisibilisiere, begegnet uns Verantwortung fast nur noch als Imperativ einer Selbstoptimierung, der Ausarbeitung und Ausbildung einer marktgängigen Identität. Volker Gerhardt geht es darum, die fundamentale Bedeutung aufzuzeigen, die das Technische für die Ethik hat. Im Zusammenhang von Überlegungen, die »Technik als Form der Natur« begreifen, zielt seine Betrachtung auf die durchgängige technische Verfassung der Natur des Menschen, auf seine körperlichen, seelischen, geistigen Vermögen, einschließlich des Bewusstseins, das sich in erster Linie exoterisch, über Mitteilung und Kommunikation mit anderen als öffentliches herausbildet. Ethik erscheint vor diesem Hintergrund als (evolutionär) erfolgreiche Kulturtechnik, der sich die Menschen auf allen Ebenen ihrer Praktiken zu bedienen wissen. Sie reicht von ethischen Techniken (Tugendethiken) bis zum kategorischen Imperativ als letzte Ziele vorgebendem Instrument der Selbstbestimmung und Selbstoptimierung –, um in der vernünftigen Bestimmung des Zwecks an sich selbst das bloß Technisch-Praktische auf das Moralisch-Praktische zu überschreiten. Die Funktionsweise von Bereichsethiken wird von Christoph Hubig am Beispiel der Technikethik untersucht. Er zeigt zunächst, dass die drängendsten ethischen Probleme unserer Zeit nicht der Kartographie der unterschiedlichen Angewandten Ethiken folgen. So haben etwa ethische Fragen im Umfeld der Gentechnik sowohl wirtschafts-, wie technik- als auch umweltethische Implikationen. Ausgehend von Aristoteles zeigt Hubig weiter, dass sich ethische Entscheidungen niemals als einfache Anwendungen von Regeln auf Fälle beschreiben lassen, da erstens
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allgemeine ethische Konzepte immer interpretationsbedürftig sind, da zweitens immer umstritten bleibt, ob sich ein konkreter Fall tatsächlich als Fall begreifen lässt, der zum betreffenden ethischen Prinzip passt und da wir es in der Praxis drittens fast immer mit einem Konflikt unterschiedlicher ethischer Prinzipien zu tun haben. Gegen die Dominanz heutiger »Anwendungsethiken« fordert Hubig eine »Ethik der Anwendung«, die das Anwenden selbst zum Gegentand hätte. Eine reflexive Orientierung gewährte dieser »Ethik der Anwendung« die Forderung, dass jede Anwendung die Möglichkeit ethischen Handelns selbst offen zu halten habe. Angestoßen durch das so vage wie mehrdeutige Schlagwort einer »Ethik im Labor«, stellt Alfred Nordmann die zentralen Dilemmata der neuen und neuesten Diskussion um die realistischen Möglichkeiten von »Gestaltung« und »Design« heraus. Wo und wie überhaupt kann sich Ethik zur Geltung bringen: on the laboratory floor oder erst in der Politik? Dabei geht es um die Reichweite, die Größenordnung, die Eingriffstiefe, die Irreversibilität usf. der durch Wissenschaft und Technik bedingten Veränderungen, die in ihrer Wirkungsmächtigkeit schwer abzuschätzen sind. Während eine Lesart der ethischen Einflussnahmen an technokratischer Allmachtsphantasie erkrankt ist, weil sie glaubt, durch allseits abgesicherte Vorausschau und Schadenskontrolle den Gang der Entwicklung regulieren zu können und jeden für alles verantwortlich macht, krankt die andere daran, den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen zu lassen: Sie höhlt unsere gewöhnliche Vorstellung von Design und Gestaltungsmöglichkeiten aus. Über fünf Schritte versucht Nordmann, einen Weg zwischen der Skylla technischer Vermessenheit und der Charybdis allgemeiner Verantwortungslosigkeit zu skizzieren. Eine zweite Sektion von Texten bemüht sich stärker um eine Klärung von Ort und Eigensinn der Ethik überhaupt. Den Anfang macht hier Geert Hendrich, der den vielfältigen Beziehungen zwischen Ethik und Praxis nachgeht. Sein Beitrag untersucht insbesondere die Schnittstelle zwischen einer akademisch professionalisierten Ethik und dem moralischen Alltagsbewusstsein. Dabei zeigt er, dass Ethik so lange ohnmächtig bleibt, wie sie den Akteuren der Praxis einfach nur von außen vorzuschreiben sucht, wie zu handeln sei. Demgegenüber plädiert Hendrich dafür, die Praxis selbst als Bedingung der Möglichkeit einer Moral zu begreifen, deren erste Aufgabe darin bestünde, Pathologien der Praxis aufzudecken, wie sie uns heute insbesondere in der Arbeitswelt begegnen.
Ethik — wozu und wie weiter?
Theda Rehbock geht von der Diagnose aus, dass weite Bereiche der zeitgenössischen ethischen Debatten einem szientistischen, instrumentalistischen und objektivistischen Reduktionismus verfallen sind. Ethik bemüht sich heute weitgehend um eine nicht-ambivalente und nicht-zirkuläre Begründung von Prinzipien und Verfahren, die dann zur Bewertung von Handlungen und Entscheidungen genutzt werden können, wobei als Gründe in diesen Begründungsverfahren häufig außermoralische (formale oder anthropologische) Prinzipien fungieren. In Anlehnung an Wittgenstein, Heidegger und Adorno betont Rehbock demgegenüber den nichtfestgestellten und irritierenden Sinn eines Moralischen, das sich nicht auf Prinzipien abbilden, sondern nur als reflexive Selbstkritik der Vernunft ausbuchstabieren lässt. Mit der von ihr bemühten vernunftkritischen Tradition legt Rehbock schließlich auch in der Ethik Kants ein negativistisches Moment frei, das es unmöglich macht, sie als eine auf Letztbegründung fokussierte Prinzipienethik zu lesen. Burkhard Liebsch fordert in seinem Text eine Historisierung der Ethik, die einerseits darauf zielt, sich der Geschichtlichkeit ihrer eigenen Sprachen und Argumentationsformen zu vergewissern, andererseits, und mehr noch, ihren historischen Kontexten Rechnung zu tragen. Unter Bedingungen der Moderne sind dies vor allem Kontexte der Negativität und Gewalt. Gewalt hat nicht nur eine Geschichte, sondern macht sie auch. Im Zuge dieser Historisierung sieht sich Ethik auf sozialphilosophische Diagnosen einer äußersten Gewalt verwiesen, welche in der Moderne jede ethische Reflexion immer wieder neu herausfordere und sie daran hindere, sich auf einen selbstgenügsamen Kalkül zurückzuziehen. Dem Verhältnis von Ethik und Sozialphilosophie wendet sich auch der Beitrag von Dieter Mersch zu. Ausgehend von einem nicht länger handlungstheoretisch verstandenen Begriff des Performativen skizziert er eine Sozialphilosophie, die den Vollzug einer Praxis in den Dimensionen des Leibes, der Präsenz und der Macht, der Responsivität und Unverfügbarkeit gebrochen sein lässt und mit »existenziellen Paradoxien« einhergeht, die sie der Tragödie nähert. Keine Performanz, auch nicht die einer sprachlichen Verständigung, ist vollkommen frei von unvorhergesehenen Effekten und damit von Gewalt. Darin, dass jede Performanz mit einem Moment der Responsivität einhergeht, der Antwort auf die Erfordernisse einer je konkreten Situation, verweist Performativiät für Mersch andererseits aber auch auf eine Ethik der Alterität.
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Ausgangspunkt des Beitrags von Gerhard Gamm ist die Überlegung, dass man – um Aufschluss über das »Wozu und wie weiter« zu gewinnen – den Prozess, was es mit Moral, Ethik und Verantwortung auf sich hat, erneut aufrollen muss; dass man auf den verschiedenen Ebenen der Betrachtung neben der Substanz vor allem die Form der Ethik im Auge behalten muss, in die sich ein philosophisches Nachdenken über sie kleidet. Nach Gamm macht dies eine Neubestimmung des Verhältnisses von Moralität und Sittlichkeit notwendig, die darin, dass sie Moral als Grundlage und als Ausnahmezustand des Ethischen begreift, an ältere und neueste Vorbilder anschließt. Für ihre umsichtige Mithilfe bei der Erstellung des Typoskripts danken wir Anja-Maria Foshag und Michael Scheuermann. Darmstadt, im Dezember 2014
I. Aktualität und Grenzen angewandter Ethiken
Ethik und Politik, Ethik als Politik, Ethikpolitik Petra Gehring
»Politik« im Unterschied zu »Ethik«? Hier ist zunächst eine Begriffsklärung erforderlich. Wenn ich nachfolgend den Versuch unternehme, das Verhältnis von Ethik und Politik zu skizzieren, dann fasse ich das große Wort Politik handfest. Es soll nicht wertgeladen vom bonum commune die Rede sein, einem seinerseits bereits ethisch aufgeladenen Gemeinschaftsoder Staatszweck. Ebensowenig geht es um Politik in einem programmatischen Sinn, demzufolge etwas Bestimmtes politisch zu fordern oder geboten wäre. Schließlich spreche ich auch nicht von ›dem Politischen‹, einem allgemeinen Element oder Fluidum jenseits konkreter Ereignisse, oder von der Politik als gewissermaßen anarchisch der kämpferischen Auseinandersetzung gewidmetem Raum. Unter Politik verstehe ich vielmehr alles das, was in der Moderne dank Professionalisierung, dank diverser prozeduraler Einhegungen und dank massenmedialer Foren als eingegrenzter sozialer Teilbereich beschrieben werden kann – wenngleich dieser Teilbereich in besonderer Weise auch von schroffen Interventionen zehrt, also an ungeregelte Formen des Austrags widerstreitender Begehrlichkeiten gebunden ist oder mehr noch: sich selbst an diese Form der Offenheit bindet. Politik besitzt damit eine soziale und historische Ortsangabe und auch eine existenzielle: ein Hier und Jetzt in dem Sinne, dass es um jemandes Auf begehren geht und jemand sagen könnte: Ich oder wir wollen das, wir tun das – oder: Wir wollen oder tun das nicht. Politik geht so nicht in einer bestimmten Agenda auf, richtet diese sich negativ auf »Krisenbewältigung« oder positiv auf »Gerechtigkeit« oder »Werte«. Ebenfalls ist es mit der »Rationalität« von Politik so eine Sache: Wissenschaft, auch Politikwissenschaft, wird durch Politik tendenziell überrascht. Umgekehrt ist Politik jedoch auch nicht einfach nur das, was von unten brodelt: der
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Druck der Straße, ein Privileg der Namenlosen, etwas, woran man schon Verrat übt, wenn man sich überhaupt nur dauerhaft einlässt auf diskursive Auseinandersetzungen und ein konstruktives Ringen um Machtfragen. Politik hat stets Fassungen – notfalls habituelle. Allerdings geht Politik über bloße Politikerpolitik hinaus. Zeitgenössische Definitionen betonen den Gesichtspunkt der Vermittlung. So arbeiten zwei so unterschiedliche Autoren wie der Gesellschaftstheoretiker Niklas Luhmann und der Philosoph Jean-François Lyotard den intermediären, im Blick auf anarchische Möglichkeiten und Effekte offenen, teil-institutionalisierten Charakter von Politik heraus. Lyotard versetzt dabei Philosophie und Politik immer wieder in eine gewisse Wahlverwandtschaft zueinander. Politik sei »Drohung des Widerstreits«, lautet seine knappe Formel – und er fährt fort: »Alles ist Politik, wenn Politik in der Möglichkeit des Widerstreits bei der geringfügigsten Verkettung besteht.« Politik sei allerdings nicht in dem Sinne »alles«, dass sie ein Diskurs sei, der alle anderen Diskurse verschlingt. Eben weil sie »nicht eine Diskursart« ist.1 Luhmann bestimmt Politik – moderne Politik jedenfalls – als in operativer Hinsicht geschlossenes Funktionssystem, sieht dies allerdings eng verkoppelt mit anderen gesellschaftlichen Feldern und vor allem angebunden an das weitreichende und (weil unmittelbar auf Prozesse eines Neuschaffens von Möglichkeiten bezogenen) nach oben wie nach unten offene Medium der Macht.2 Beide, Luhmann und Lyotard, sehen Politik als eigenständige, aber durchlässige Sphäre. Und sie betonen die Differenz einer dergestalt weit verstandenen Politik von unmittelbar bindenden Verpflichtungen oder auch von »Achtung/Missachtung« – und also von Mechanismen der Moral. Wie steht nun das, was in der Philosophie Ethik heißt, zur Politik im so umrissenen Sinn? Ich werde versuchen, diese Frage auf dem Wege über historische Kontraste zu schärfen. Die Antwort läuft damit insgesamt auf eine mehrteilige Auskunft hinaus. Denn auch wenn der philosophische Diskurs sich stets in öffentliche Angelegenheiten mischte: Das Verhältnis von etwas, das man mit philosophischem Recht »Ethik« nennen konnte, 1 | J.-F. Lyotard: Der Widerstreit, München 1987, S. 230, 231. 2 | Macht fasst Luhmann als »Medium«, das auf der Ebene der Manipulation und Produktion von Möglichkeiten Effekte zeitigt. Ähnlich wie der Historiker und Machttheoretiker Michel Foucault weist er damit Annahmen einer Kausalwirkung von Macht – und entsprechende politische Analysen – zurück.
Ethik und Politik, Ethik als Politik, Ethikpolitik
zur Sphäre der Politik hat sich im Laufe der europäischen Geschichte geradezu dramatisch verwandelt. Und zwar mehrfach. Ich skizziere daher (1.), wie Ethik und Politik im Laufe der Geschichte auf durchaus verschiedene Weise zueinander zu stehen kamen; den Begriff »Ethik« konturiere ich dabei – ihn ablösend von der heute gänzlich verworrenen Alltagsbedeutung des Wortes – im Sinne des Sprachgebrauchs der (kontinentalen) Philosophie. Ich möchte dann (2.) mit der gebotenen Vorsicht, jedoch deutlich, für die Moderne eine Art Ausdifferenzierungsbefund formulieren: In verschiedener Hinsicht trennen sich Ethik und Politik zunächst. Nicht nur die Verwissenschaftlichung von Ethik (als Reflexionstheorie der Moral) und ihre Abgrenzung vom Recht, sondern auch die Aufwertung eines vergleichsweise moralfreien Politikverständnisses setzen in der Philosophie Varianten einer – nennen wir sie: abstandsgewissen Ethik frei. Vor diesem Hintergrund ist seit Mitte der 1980er Jahre (3.) eine Art Wiederentdeckung von Ethik im politischen Raum zu beobachten, Phänomene des Exports von Ethik aus der Philosophie in die Politik hinein werden vielleicht sogar von der Neuerfindung einer bestimmten Art von philosophischer Ethik begleitet, die im politischen Feld, von Massenmedien über die Schule bis zur Politikerpolitik, einen beachtlichen Raum einnimmt. In diesem Zusammenhang werfe ich die Frage auf, ob und im Zuge welcher Dynamik sich Ethik hier, und zwar auf historisch neue Weise, mit Politik amalgamiert. Bewegt sich Philosophie heute in neuer Mission auf politische Felder zu? Oder sorgt der heute in ganz verschiedenen Zusammenhängen merkwürdig ubiquitäre Ethikbedarf nicht umgekehrt für eine Art Besiedelung der philosophischen Wissenschaft mit einer durchaus fremden Form des Räsonierens, des Zurschaustellens und Insspielbringens von »Expertise«? So oder so, das wird (4.) dann meine These sein, formt sich im Zuge des geschilderten Wandels weniger eine neue ethische Sphäre und wir erleben auch nicht eine weitere Metamorphose philosophischer Ethik, sondern was sich herausformt, scheint mir viel eher eine neue Form der Politik zu sein. Ich spreche in diesem Zusammenhang von »Ethikpolitik«, wozu ich abschließend einiges weniges anmerken werde.
1. Die Aussage, der Terminus Ethik habe in der Antike seinen Sitz, ist nicht falsch, aus heutiger Sicht aber irreführend. Kaum etwas von dem, was das
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personalisierte griechische éthos meint, können wir auf unsere moderne Welt noch übertragen – auf eine von den Handlungs- und Haltungsmaximen damaliger stadtbürgerlicher Eliten unabschätzbar weit entfernte, durch die Verbotsmoral des christlichen Mittelalters mitgeformte, auf anonyme Sozial- und Rollenbeziehungen umgestellte Welt. Ethik im antiken Verständnis umschließt eine in der Öffentlichkeit unter Anwesenden gelebte, in dieser aber auch aufgehende Politik. Ethik hat wie Politik den vergleichsweise klaren Sinn des Entscheidens über eigene Angelegenheiten, wobei Ethik primär das Selbstverhältnis eines Individuums betrifft, sie ist also eher eine Sache des Lebensstils als eine Sache der Moral. Der Historiker Michel Foucault hat für die klassische griechischsprachige Zeit von einer »zur Ethik orientierten« Moral gesprochen und diese von den späteren, »zum Code orientierten« Moralen unterschieden.3 Etwas rigider könnte man auch sagen: Verhalten wurde bewertet, auch wurde gemessen an Erwartungen individuelles Versagen (Schwäche, Erfolglosigkeit, Unmännlichkeit etc.) sanktioniert (durch ausbleibende Anerkennung, Spott etc.). Aber eine nicht als selbsttechnische Faustformel, sondern als obligatorische Moral (und Verbotsmoral) reflektierbare moralische Regel (und damit einen Moralbezug von Ethik) gab es im antiken Griechenland nicht. Dass es darüber hinaus auch keine Wissenschaft gab, die sich des Ethischen anzunehmen hatte, gilt es sich ebenfalls klarzumachen. Ein Ethos war vielmehr eine habituelle, eine status-, alters- und rollengebundene Angelegenheit. Im Falle des Philosophen war sie Teil jenes Habitus, der zum Dialog als Wortwechselspiel und zur theoría als wissenschaftlich geübter Kunst des Einblicks ins Unselbstverständliche hinzugehört. Mit Begründung oder gar Rechtfertigung von Verhaltensnormen hatten antike Ethiken somit ebenfalls nichts zu tun. Eher mit Empfehlungen – und zwar solchen, die sich auf das Verhalten selbst bezogen sowie auf das, was man daraus gewinnen kann. Wir sprechen in diesem Zusammenhang heute (als schlechte Übersetzung des griech. Ausdrucks areté) von »Tugend« bzw. von »Tugendethik« als einem Typus praktischer Philosophie. Die so charakterisierte Selbstkunst war zwar mit Politik – im archaischen Sinne des öffentlich erfolgreichen Mitmischens – unmittelbar verbunden. Aber schon mit dem christlichen Universum geht dieser gemeinsame Anreizzusammenhang von ethischer und politischer Freiheit verloren. Das 3 | Vgl. M. Foucault: Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit 2, Frankfurt a.M. 1986, S. 42.
Ethik und Politik, Ethik als Politik, Ethikpolitik
christliche Denken begründet ein neuartiges Reich generalisierter Verbote. Für uns heute ist éthos in der griechischen Bedeutung ein hoffnungslos verlorengegangenes Wort. Das Gefüge mittelalterlich-christlicher Moralität bildet gegenüber früheren Zeiten eine gänzlich neue Formation. Auch wenn antike Quellen in gewissem Umfang weiter zitiert werden, verschwindet für die antike Tugendkultur der Umraum: Aus Postulaten werden Vorschriften, die Ausnahmen nicht zulassen, Selbstprüfungen gehorchen Imperativen der Furcht (nicht der Ehre), generalisierte Schuld rechtfertigt lückenlose Sanktion, Autonomie verliert sich in einer Hermeneutik des Verdachts. Moralische Regeln haben nun das alternativlose Gesicht eines gottgewollten Naturrechts. Was früher der Selbstperfektion, der Stärke oder im besorgtesten Fall der »Gesundheit« diente, rückt gewissermaßen in einen forensischen Kontext ein: Es wird zu etwas, was das Gesetz des Herrn fordert und dem Mitmenschen um den Preis des Dazugehörens (oder aber Verworfenseins) geschuldet ist. Plakativ gesprochen: ›Ethik‹ ist hier nicht mehr. Und auch für Ethik im (späteren) Sinne einer Reflexion auf Moralen existieren kaum Räume. Was sich allerdings etabliert ist der Disput um das moraltheologische Dogma – der Anspruch einer Art Wissenschaft der objektiven Herleitung und Letztbegründung von Normen, wobei dies biblische sowie durch Lehrmeinungen verfeinerte und also autoritätsgegründete Herleitungen sind. Deren Politikbezug wiederum ist rigide: Es ist schlicht derjenige einer pastoralen Ausprägung des Rechts. Philosophische Ethik in einem für heute einigermaßen terminologischen Wortsinn entsteht so gesehen eigentlich erst mit der großen Zeit der rationalen Systeme, die in moralischen Alternativen denken und so erstmals Moralen im Plural durchleuchten: teils eher pragmatisch, teils unter starken Vernunftgesichtspunkten, jedenfalls aber mit dem Ziel der rationalen Orientierung. Dabei können moralische Maximen wie auch Ziele und Begründungfiguren wie auch Verhaltensdeskriptionen philosophisch gedreht und gewendet werden. Es kann eher die Blickrichtung auf den Einzelnen oder auf das Gemeinwesen, eher der Verstand oder das Herz, eher der Fall oder die Regel in den Mittelpunkt gerückt werden. Theologische Bezüge verschwinden nicht auf einen Schlag, aber sie werden gelockert. Bibelstellen und Gott verlieren die Rolle einer überzeugenden Begründung. Allerdings tritt Ethik, auch wenn sie Moral ein Stück weit aus Distanz betrachtet, nicht selbst moralisch neutral auf, sondern »vernünftig«, und das heißt: stets selber als gut. Ebenso bleibt auf der
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Ebene des moralisierenden Arguments – des Ins-Feld-Führens von zwingender Gutheit normativer Behauptungen – die dogmatische Geste: Was »praktische Philosophie« heißt, bleibt (bei aller Abstraktheit und auch Diskretion) selbst eine durchaus rigide und gebotsförmige Form. Klassisch steht hierfür etwa Kant, der die Unbedingtheit des Sittengesetzes zwar von metaphysischen Bezügen ablöst, aber womöglich umso strenger formuliert. Auch in utilitaristischen Kalkülen oder dort, wo Moralphilosophien sich mit anthropologischen Überlegungen durchmengen, klebt die Reflexion der Moral auf die eine oder andere Weise ihrerseits an normativen Ansprüchen fest. Ethik geht also einerseits auf Distanz, andererseits bleibt sie – wenn auch indirekt – eine moralische Theorie der Moral.4 Für den durchaus schwierigen, auch schwankenden Politikbezug rationalistischer Ethiken setzen schon früh Autoren wie Hobbes und später dann wiederum ebenfalls Kant einen Maßstab: Ethik ist wichtig, aber Politik ist der Bereich, in dem Moral und Ethik in Teilen als verzichtbar betrachtet werden müssen oder jedenfalls eingeklammert werden können. Der neuzeitliche Souverän muss nicht ›gut‹ sein, sondern vor allem ein statista, ein verlässlicher Techniker des Staates. Hobbes ist in diesem Punkt besonders entschlossen: Die nackte Willkür an der Staatsspitze ist sogar erforderlich, um ansonsten den moralisch wünschenswerten Zustand zu sichern. Nicht alle Staatsvertragstheorien gehen derart weit, aber alle gestehen der autorisierten Regierung ein Stück Amoralität ausdrücklich zu (etwa in der Nutzung auch des destruktiven Kräftespiels freier Märkte und in der Professionalisierung einer sich zu einem Gutteil auf Verfahrenskorrektheit zurückziehenden Justiz). Mit Kants klarer Trennung von Recht und Moral wiederum ist das Paradigma einer Art Verzahnung geschaffen, welche wesentliche Teile der Moral zur Privatsache macht, Ethik aber als wissenschaftliche Domäne abhebt und ihr damit nur noch gewissermaßen eine Nachtwächterrolle zuweist. Dass Politik sich nur mehr ans Recht bindet und den Umgang mit Fragen der Moral weitgehend ins Belieben setzt, ist nun auch »ethisch« richtig. Die Sphären gewinnen auf diese Weise Abstand zueinander. Für das moderne Politikverständnis heißt dies: Moral kann entweder (kantianisch) die gute Privatsache eines Politikers sein. Oder aber sie tritt (als geteilte Über4 | N. Luhmann: Ethik als Reflexionstheorie der Moral, S. 358-448, in: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft 3, Frankfurt a.M. 1989, S. 433f.
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zeugung einer übergroßen Mehrheit) im Rücken der Parlamente zutage: als Fortschrittsidee, als Sittlichkeit – oder auch als »Ja« zu einer wissenschaftlich verbrieften Gemeinwohl- oder Glücksorientierung von Politik, als sozusagen politiktechnische Gutheit einer »Ethik« oberhalb partikularer Moralen. Für diesen Blickwinkel stehen utilitaristische Kalküle, aber schon vor 1900 dann auch die soziologischen sog. »Entwicklungsethiken«, also wissenschaftliche Rechtfertigungsdiskurse für die Szenarienpolitik der frühen, durch Spencer, Darwin, Galton u.a. inspirierten Sozialhygiene und Eugenik.5 Bei solchen soziotechnischen Programmen einer – unter dem Gesichtspunkt von Gesundheit und Fitness oder heute: »Public Health« – gebotenen Optimierung der Moralen handelt es sich um zwar polemische, aber eben erstaunlich klar sich von der Ebene der Moral distanzierende Ethiken. Moralfrei stellen sie ganz auf szientifische Nutzenkalküle und in diesem Sinne »gute« Maßnahmen ab.
2. Mindestens für die kontinentale Philosophie des 20. Jahrhunderts ist, trotz der geschilderten, gleichsam evaluativen Angebote an die Politik, insgesamt eine Ablösung einerseits der Ethik von der Moral, andererseits aber auch der Ethik von der Politik zu bilanzieren. Diese wird auch akademisch vollzogen: Die Philosophie zieht sich, was Ethik angeht – salopp gesprochen – in den Elfenbeinturm zurück. Wo sie sich wertend äußert, was gerade auch im 20. Jahrhundert unvermindert geschieht, artikuliert sie sich als umfassende (beispielsweise: »Kultur«-)Kritik. Es dominiert ein hoher Ton, nicht aber die welt- und praxisnahe Analyse von Normen oder gar eine Beratungsgeste. Allerdings gibt es ein breites Spektrum moralphilosophischer Neuerungen, etwa die auf das Sein/Sollen-Problem konzentrierten Normbegründungsanstrengungen des Neukantianismus (bevor so etwas wie eine philosophische Rechtsphilosophie dann endgültig
5 | Das Rätsel, wieso um 1900 vielfach ausgerechnet Neukantianer den Sozialdarwinismus mit vorantreiben, mag die tatsächlich enorme Moraldistanz der Entwicklungsethik lösen helfen: Dieser Typ Ethik sucht soziokulturell ›rationale‹ Antworten auf politische Moralsteuerungsfragen. Dass dabei – gegen Moral nämlich – teils auch wieder heftig moralisiert wird, steht auf einem anderen Blatt.
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schwindet6) oder die Verfeinerung der schon erwähnten utilitaristischen Kalküle oder die eigenartige, aber in der Zwischenkriegszeit sehr erfolgreiche Hybriderscheinung einer »Wertphilosophie« oder die existenziellen Rückgriffe auf tugendethische Selbstüberbietungen im Zeichen des »Lebens«.7 Der Terminus »Ethik« ist in diesen Kontexten jeweils nicht völlig vom Tisch. Aber philosophisch rücken Fragen der Moralität doch auf Distanz. Und der fachphilosophische Blickwinkel will jedenfalls ein definitiv anderer sein als derjenige der »Weltanschauung«, derjenige des moralisierenden Schlagabtauschs oder der demonstrativen Amoralität von parteilicher Politik. Eine Ausnahme bildet das explizit politisierte und politisierende marxistische Philosophieren. Hier aber wird vor genau dem gleichen Hintergrund, nur eben als Bejahung des Politischen, auf »Ethik« verzichtet. Zwei in der disziplinenübergreifenden Gesamtsicht nicht ganz unwichtige Einschränkungen möchte ich für diese Diagnose einer Ethikabstinenz der – nennen wir sie: philosophisch klassischen – Moderne allerdings machen. Zum einen etabliert sich tatsächlich im Politikfeld der Sozialhygiene eine populäre Rede von »Ethik«, die wenig mit Philosophie zu tun hat, viel aber mit einem instrumentellen Einsatz von Moral, der sich namentlich von christlich-theologischen Ethikkonzepten absetzen will – als biologisch angeleitete Volkspädagogik oder auch, wie es z.B. bei dem Arzt und Reformpolitiker Wilhelm Schallmayer 1903 heißt, als unter Modernisierungsgesichtspunkten gebotene »politische Ethisierung der Massen« 8. Damit wird an die schon erwähnte Idee einer »Entwicklungsethik« angeknüpft. Das (auf Vererbung angelegte, also »Evolution« übersetzende) Stichwort »Entwicklung« meint dabei nicht einfach gewisse Pflichten hinsichtlich einer Auslese, die kommenden Generationen nut6 | Das Schicksal der – kontinentalen – Rechtsphilosophie wäre ein Thema für sich. Bis auf wenige Verfassungsbegründungsfragen, für die etwa der Name Hannah Arendt steht oder auch Jürgen Habermas, sowie zahlenmäßig überschaubare Beiträge der Philosophie zum in Art. 1 des Deutschen Grundgesetzes zentral gesetzten Großbegriff »Würde« fiel die gesamte Domäne an die Rechtswissenschaft, in welcher sie minimalistisch bewirtschaftet wird. 7 | Schopenhauer oder Nietzsches Zarathustra liegen gewissermaßen auf dem Nachttisch der Philosophie des 20. Jahrhunderts. 8 | W. Schallmayer: Vererbung und Auslese im Lebenslauf der Völker. Eine staatswissenschaftliche Studie auf Grund der neueren Biologie, Jena 1903, S. 368.
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zen soll. Ethik soll vielmehr selbst als ein Moment der Evolution funieren: Es führe nämlich, so Schallmayer unter Rückgriff auf den Nietzscheaner Alexander Tille, »die Entwicklung, welche die ethischen Gebote unter Leitung der Auslese erfahren, zu einem Punkt, von dem aus eine Rückwirkung der ethischen Gebote auf die Auslese beginnt. Und da alsdann Ethik und Auslese wechselseitig sich aufwärts ziehen werden, muß ein beschleunigtes Fortschrittstempo die Wirkung sein.« 9
Wie Schallmayer propagiert, werde eine »viel spätere Zeit« »eine neue ethische Theorie anerkennen, deren höchstes Gebot sein wird, die von den Vorfahren geliehenen Erb- und Traditionswerte den Nachfahren mit Zinsen abzutragen«.10 In der zweiten Auflage des, im neuen Untertitel sich nun als »soziologisch« und »politisch« bezeichnenden, Buches finden wir die Prognose und die einprägsame Zinsmetapher übrigens in der folgenden, nun ungeschönt rassistischen Form: Die »höchstkultivierten Völker« sollen künftig »einer rassedienstlichen Ethik huldigen«, »deren höchstes Gebot sein wird, das von den Vorfahren erhaltene organische Erbgut den Nachfahren mit Zinsen zu hinterlassen.«11 Es ist klar, was Ethik hier (nur) sein will, nämlich Beeinflussung, Konditionierung zu politischen Zwecken. Wege einer »ethischen Beeinflussung der öffentlichen Meinung« gehörten zu den »indirekten Korrekturen der Fortpflanzungsauslese«12, heißt es in zeittypischer Offenheit bei Schallmayer. Mit ähnlicher Stoßrichtung haben der Biologe Ernst Haeckel 1904 eine »physiologische« Ethik gefordert13 und der vom Entwicklungsgedanken erfasste Philosoph Christian von Ehrenfels eine »Sexualethik«, deren Wertungen das »ethisch« Erwünschte mit dem
9 | W. Schallmayer, Vererbung und Auslese, S. 250. 10 | Ebd., S. 380f. 11 | W. Schallmayer: Vererbung und Auslese in ihrer soziologischen und politischen Bedeutung. Preisgekrönte Studie über Volksentartung und Volkseugenik, Jena 1910, S. XIf. 12 | W. Schallmayer, Vererbung und Auslese (1910), S. 407, S. 411. 13 | Vgl. E. Haeckel: Die Lebenswunder. Gemeinverständliche Studien über biologische Philosophie, 1906, S. 196, S. 198.
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»biologisch« Erwünschten gleichsetzt14. Haeckel skizziert zudem eine »monistische Theologie«, die – ebenfalls in instrumenteller Absicht – ein »Band« bilden soll zwischen Wissenschaft und Religion.15 In der Tat, und das ist die zweite der gerade auch begrifflich bedeutsamen Einschränkungen, auf die ich hinweisen möchte, feiert auch die christliche Rede von Ethik in den Weltanschauungskämpfen der Lebensreformzeit fröhliche Urstände. Protestantisch-fortschrittlich als »Moralstatistik«, unter dem katholisch-pastoralen Vorzeichen als »Moraltheologie« oder (politisch links!) als »Sozialethik«. Nicht zu unterschätzen ist auch die populäre Wirkung der päpstlichen Stellungnahmen, die das Jahrhundert durchziehen. Kirchenstandpunkte sind also die mobilisierungsträchtige ›andere‹ moderne Diskursregion, in welcher Ethik als Terminus und Erfordernis vorkommt – und sich (etwa was Ehe, Familie und Erziehung angeht) explizit auf politische Fragen einrichtet. Auch hier wird Ethik freilich nicht als Reflexionsform von Moral(en) abgesetzt, sondern sie dient der Untermauerung und dem propädeutischen Ausbuchstabieren von Moral sowie – etwas, was Ethik in der Philosophie nie war – einer Art direkter »Anwendung« des Gesollten.
3. Damit bin ich beim Punkt einer Wiederentdeckung, dabei aber erneuten Umformung von Ethik. Ich formuliere den historischen Befund als These. Im Schlagschatten der Naturwissenschafts- und Technikeuphorie der west-östlichen Nachkriegszeit zunächst in den USA und beschleunigt mit den 1980er und 1990er Jahren auch in Europa und im deutschen Sprachraum beginnt eine neue Epoche der Ethik, mit welcher dann auch ein neues Verhältnis von Ethik und Politik seinen Anfang nimmt. Die beiden im ersten Drittel des Jahrhunderts so machtvollen Ethikdiskurse, der sozialhygienische, dann eugenische (im deutschen NS-Zusammenhang dann völkische, in den USA der 1930er und 1940er Jahren hingegen trotz 14 | Konkret argumentiert Ehrenfels für Massenvaterschaft erbstarker Männer durch Vielehe mit ihrerseits jeweils auf Monogamie zu verpflichtenden Frauen. 15 | Vgl. E. Haeckel, Lebenswunder, S. 198. Schon Haeckels in zahlreichen Auflagen sich entwickelnde Schrift Die Welträtsel. Gemeinverständliche Studien über monistische Philosophie (1899) verfügt über einen »Theologischen Teil«.
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des russischen Gegenbilds eher mit sozialistischen Ideen verbundene16) sowie der kirchliche (was vor allem heißt: katholische) sind zu Beginn des Kalten Krieges im Westen gründlich diskreditiert – wenn auch aus sehr unterschiedlichen öffentlichen Motivlagen heraus. Im einen Fall hat die strukturelle Rücksichtslosigkeit szientifischer Optimierungsprogramme sich durch das Abgleiten in offenen Rassismus entlarvt, im anderen Fall hat die NS-Zeit mindestens den Eindruck einer Art von Organisationsversagen mit sich gebracht. Für die junge Bundesrepublik bestimmen jedenfalls Doktrinen der moralischen Selbstbesinnung, nicht aber ethische Euphemismen das Bild. Auch wenn in Deutschland namentlich die frühe Judikatur von Bundesverfassungsgericht und BGH sich ausgiebig im Fundus der katholischen Moraltheologie bedient und der Philosophie zugerechnete Autoren wie Jaspers, Radbruch, Picht (oder aber, mit radikalerer Geste, Horkheimer und Adorno, Sartre oder Günter Anders) Diskurse einer humanistischen Suche nach moralischer Orientierung orchestrieren: Ethik ist im deutschen Sprachraum nach 1945 über Jahrzehnte keine ausgeprägte Marke. Was die Philosophie zu moralischen Fragen beizusteuern hat, artikuliert sich anders: im Medium von Existenzsemantik. Oder aber – das vor allem – als philosophische Anthropologie. Der zerknirschten Medizin und auch theologischen Sinnfindungsdiskursen geht es – angesichts von KZ-Menschenversuchen, Vererbungslehre und der das Heimwesen reichsweit einbeziehenden Aktion T417 – nicht um ausgefaltete ethische Reflexionen, sondern um eine Art moralisches Miminum, das es zu verteidigen und festzuschreiben gilt. Was man nun will, sind Standards: Moral als soft law, als rechtsanaloge Norm. So formuliert der Nürnberger Kodex bezüglich des Handelns forschender Ärzte Selbstverpflichtungen, die nicht nur inhaltlich interessant sind, sondern auch der Form nach: Im Wege einer globalen Standes- oder Berufsethik hofft man, politische Probleme durch feste moralische Schranken zu bändigen. Statt Ethik sollte man allerdings vielleicht den englischen Terminus ethics verwenden. Denn eine berufs16 | L. Weß (Hg.): Die Träume der Genetik. Gentechnische Utopien von sozialem Fortschritt, Frankfurt a.M. 1989. 17 | Der Umfang der Verstrickung kirchlicher Anstalten in die Patiententötungen der Aktion T4 wurde freilich erst sehr viel später deutlich, vgl. zuletzt G. Aly: Die Belasteten. ›Euthanasie‹ 1939-1945, eine Gesellschaftsgeschichte, Frankfurt a.M. 2013.
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ethische Tradition – überzeitliches Vorbild hierfür war stets der Hippokratische Eid – gab es zwar in ungeschriebener Form. Und etwas, das ärztliche Ethik heißen sollte, wurde schon im wilhelminischen Deutschland gefordert.18 Aber die Form des als korporative Selbstverpflichtung formulierten und dabei generalisierbaren ethischen »Kodex« machte in Europa erst in der Nachkriegszeit Karriere. Das dazugehörige Ethikverständnis wurde aus dem angelsächsischen Raum importiert.19 In den USA begann mit Nuremberg und dann den Atomtests der 1950er Jahre, die mit der Verstrahlung von unwissentlich als Versuchspersonen eingesetzten Soldaten für Skandale sorgten, eine ganze Epoche der Formulierung von Ethik-Kodizes. Das dominierende Thema war zunächst Forschung am Menschen – womit das Dispositiv des »Kodex« den im engeren Sinne berufsständischen Rahmen hinter sich ließ und die Wissenschaft als ganze umfasste. Folgt man dem Historiker Albert Jonsen, so war mit der öffentlichen Auseinandersetzung um forschungsethische Fragen in den USA eine entscheidende Grundlage geschaffen für die Karriere der in den 1960er und 1970er Jahren sich dann sprunghaft entwickelnden angewandten Ethik.20 Die Idee einer Selbstbegrenzung von Wissenschaft wurde überdies durch Zweifel an allzu naiven Fortschrittshoffnungen akut. Dass Technikfolgen, Umweltfragen einer begleitenden Reflexion der Sozialwissenschaften bedürfen und womöglich auch »Wertfragen« berühren, beschäftigt zu dieser Zeit diverse Fächer und Think Tanks. Der Club of Rome, der 1972 die viel beachtete Warnschrift The Limits to Growth (Grenzen des Wachstums) publizierte, wurde bereits 1968 gegründet. Es sind dann aber wohl weniger die Technikfolgenreflexion oder die Natur- und Umweltethik als die Medizin: neue, in den USA ab 1970 diskutierte medizinethische Fragen rund um Verhütung, Abtreibung und Transplantationsmedizin, mit welchen bioethics, also die Bioethik, entstehen – und sie werden das Paradigma einer einerseits wissenschaftlichen, und auch von Philosophen mit betriebenen, zugleich aber ausdrücklich »angewandten« Ethik werden. Als erste institutionelle Verankerungen dieser – sich eng, 18 | Vgl. A. Moll: Ärztliche Ethik. Die Pflichten des Arztes in allen Beziehungen seiner Thätigkeit, Stuttgart 1902. 19 | Die großen US-amerikanischen Ingenieursverbände gaben sich bereits 1912 (AIEE) bzw. 1914 (ASCE, ASME) Ethikkodizes. 20 | A. R. Jonsen: The Birth of Bioethics, New York 1989.
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aber doch begleitend an Wissenschaft anschließenden – Form von Ethik gelten zwei außeruniversitäre Einrichtungen, das 1969 gegründete Institute for Society, Ethics and the Life Sciences, später: Hastings Center, und das 1971 gegründete Kennedy Institute of Ethics. Als Gründungsdokument der Bioethik als »Disziplin« gilt ein Aufsatz des Ethikers Dan Callahan von 1973. Was ist angewandte Ethik, was macht sie »angewandt«21 und vor allem: Was lässt sie im Rahmen meines großen Überblicks noch einmal neu sein, was unterscheidet sie also von einer Reflexionswissenschaft der Moral? Callahan formulierte das 1973 für die Bioethik so: »The discipline of bioethics should be so designed, and its practicioners so trained, that it will directly – at whatever cost to disciplinary elegance – serve those physicians and biologists whose position demand that they make the practical decisions.«22 In einem maßgeblichen Handbuchartikel findet sich diese Definition folgendermaßen erweitert: »Today, almost 30 years later, we would add to this words: ›serve those who must make public policy and serve all who must make personal decisions about their own life and health and the life and health of future generations.« 23
Die Antwort auf die Was-ist-Frage hinsichtlich der Bioethik als Prototyp einer angewandten Ethik lautet also: Angewandte Ethik muss »direkt« der Praxis dienen und sie ist Anleitung zur Entscheidung, wie hoch auch immer hierfür der Preis sein mag, den man auf der Seite der »disziplinären Eleganz« zu zahlen hat. Diese interessante Formulierung soll wohl durchaus besagen: Man nimmt Kosten in Kauf auf Seiten der Wissenschaftlichkeit.24 Der Anspruch einer solchen angewandten Ethik ist zudem (oder 21 | Die Terminologie lässt Spielraum: Etwas neutraler spricht man auch von »Bereichsethik« oder von »Bindestrich-Ethiken«. 22 | D. Callahan: Bioethics as a Discipline, in: Hastings Center Studies 1/1973, S. 66-73, hier: S. 73. 23 | A. R. Jonsen: The History of Bioethics as a Discipline, in: G. Khushf (Hg.): Handbook of Bioethics. Taking Stock of the Field from a Philosophical Perspective, Amsterdam 2004, S. 31-51. 24 | Wobei »disziplinäre Eleganz« natürlich ebenfalls suggeriert, es gingen lediglich ästhetische Qualitäten verloren und es würden auch nur quasi isolierte Sonderanforderungen einzelner Disziplinen aufgegeben – etwas im Grunde Überflüssiges also.
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gleichwohl?) nicht nur einer der Beratung bestimmter anderer Disziplinen – sondern auch einer der öffentlichen Präsenz, der Beratung der Politik und aller Bürger. Der Anspruch ist also einigermaßen universal. Ethik dieses neuen, angewandten Typs prägt eigene, gut kommunizierbare und von kanonischen Wissensbeständen weitgehend abgelöste Orientierungsgrößen aus, im Falle der Bioethik sind dies die berühmten vier »Prinzipien« von Beauchamp/Childress: Respekt vor Autonomie, Nichtschaden, Fürsorge und justice, also Gleichheit bzw. Gerechtigkeit.25 Und es gilt dann auch, ohne Scheu aus solchen abstrakten Prinzipien konkrete Handlungsanweisungen abzuleiten. Deren Status wiederum ist vor dem Hintergrund eines Ethikverständnisses, das Ethik als (philosophische) Reflexionswissenschaft der Moral betrachtet, schwer zu fassen: Wird hier Moral wirklich reflektiert, dürften keine Handlungsanweisungen folgen. Soll das Recht die Analogie sein, müsste zu Anfang wenigstens eine auslegungsfähige (soll heißen: etwas präzisere) Norm vorliegen. Werden von den Prinzipien her aber tatsächlich mehr oder weniger »direkt« für den Einzelfall Entscheidungsrichtlinien formuliert, dann kann es sich aus philosophischer Sicht um Ethik eigentlich nicht handeln. Eher werden Normen exekutiert oder es wird gar moralisiert. Oder es wird »beraten«. Tatsächlich bieten angewandte Ethiken oder ja eben: »Bereichsethiken« sich für bestimmte Bereiche explizit als Ratgeber an. Dass es unter dem Stichwort »Beratung« – ich bleibe beim Beispiel Bioethik – nicht nur um die Unterstützung von biomedizinischen Professionen geht (Mediziner, Pflegepersonal, humanbiologische und überhaupt lebenswissenschaftliche Forscher), sondern dezidiert um Schnittstellen zur Politik, wurde bereits in den Gründungsjahren der amerikanischen und ähnlich, knapp zwei Jahrzehnte später, der ersten deutschen Ethikinstitute deutlich. Öffentlichkeitsarbeit und vor allem Politikberatung sind in der angewandten Ethik erklärtes Ziel. Ethiken solchen Typs waren daher Universitätsphilosophen namentlich in Deutschland, das durch Universitätspilosophen betriebene Unternehmens- und Parlamentsberatung bis dato nicht kannte, »ein Politikum« waren, wie Matthias Kettner es genannt hat.26 Ich selbst habe Bioethik als Feld biopolitischer governance bezeichnet und ihren zu den traditionellen professionellen Aufteilungen querliegen25 | T. L. Beauchamp, J. F. Childress: Principles of Biomedical Ethics, Oxford 2008. 26 | Vgl. M. Kettner (Hg.): Angewandte Ethik als Politikum, Frankfurt a.M. 2000.
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den, im gesellschaftlichen Großmaßstab experimentellen Charakter betont.27 Was genau Bioethik in dieser Lage leistet, weiß womöglich auch auf der politischen Abnehmerseite niemand so genau, aber sie schafft ein Diskursfeld. Eines, das transdisziplinär und in vielem deutlich abgelöst vom philosophischen Kanon prozediert: methodisch, begrifflich wie von ihrer teils alarmistischen, vor allem aber subtil gestalterischen und – etwa durch wiederkehrende Suggestionen von Entscheidungsautonomie – geradezu beruhigenden Problemlösungsrhetorik her gesehen.28 Angewandte Ethik hat so besehen nicht nur einen Politikbezug, sondern sie ist ein Stück Politik. In Bezug auf technologische, ökonomische und soziale Optionen, die sie thematisiert, verändert es eine Menge, ob es in dem jeweiligen Politikfeld Ethik gibt oder aber nicht. Begrenzung oder gar Rückbau von Technikentwicklung leistet die Präsenz von Ethik und Ethikern in der Nähe von politischen Entscheidungsgremien und in öffentlichen Debatten freilich wohl eher nicht. Die Bioethik – mein Beispiel – lässt sich im Rückblick auf die 40 Jahre ihres Bestehens wohl keinesfalls als Sand im Getriebe biomedizinischer Transformationsprozesse betrachten. Selbst in den wenigen Fällen, in denen in Deutschland ethisch kommentierte politische Kompromisse auf forschungs- oder marktbegrenzende Gesetzgebung hinausliefen, fanden sich Ethiker/innen eher auf der Seite der »konsequenteren« oder »konsistenten« Lösungen – und ziehen Politiker und Öffentlichkeiten als inkonsistent oder irrational.29 Viel wichtiger aber als die fallweisen Meinun27 | Vgl. P. Gehring: Fragliche Expertise. Zur Etablierung von Bioethik in Deutschland, in: M. Hagner (Hg.): Wissenschaft und Demokratie, Berlin 2012, S. 112-139. 28 | Vgl. P. Gehring: Bioethik als Form. Versuch über die Typik bioethischer Normativität, in: D. Finkelde, J. Inthorn, M. Reder (Hg.): Normiertes Leben. Biopolitik und die Funktionalisierung ethischer Diskurse, Frankfurt a.M./New York 2013, S. 229-248. 29 | Ein Paradebeispiel hierfür ist das Schicksal des deutschen Stammzellgesetzes. Nachdem sich in einer Enquête-Kommission des Bundestages hier eine rigide Position der parlamentarisch mobilisierten Expertise abzeichnete, schuf das Bundeskanzleramt einen »Ethikrat«, in dem die Forschungsseite – ethisch flankiert – ihre Argumente erneut vortragen konnte. Als das 2002 letztlich verabschiedete Gesetz eine (rein politisch-pragmatisch begründete) Stichtagsregelung enthielt, attackierten Experten diese sogleich mittels Konsistenz- bzw. Irrationalitätsargumenten. 2008 ließ der Gesetzgeber die Stichtagsregelung fallen.
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gen, die Ethik beisteuert, sind ihre formativen und prozeduralen Effekte: Ethik formt den Stoff politischer Auseinandersetzung um und legitimiert durch veränderte, Partizipation auf Expertise und eine ganz eigene Art der Offenheit fürs prospektiv Mögliche verpflichtende Verfahren. Ich würde sogar sagen: Angewandte Ethik ist eine Ermöglichungsmaschine: Kasuistik, Debatten und Sprache etwa der Bioethik laufen einer normativen Realität voraus, die sie eben dadurch mit schaffen. Diese Art von Ethik ist ein Käfig, der sich einen Vogel sucht. Es wäre eine Aufgabe für sich, das näher aufzufalten. Aus dem Blickwinkel des Faches Philosophie, dessen lange Traditionslinie in Sachen Ethik ich hier zeichne, gilt es wohl aber die sicher nicht ganz leicht zu beantwortende Frage aufzuwerfen, wie sich das Verhältnis einer so ausdrücklich »angewandten« Ethik zur philosophischen Tradition bestimmt. Bewegt die Philosophie des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts sich hier gleichsam in philosophischer Sondermission auf politische Felder zu? Exportiert sie Argumente und Wissen? Oder lässt das Fach mit seiner Tradition reflexiver Distanz sich besiedeln (wenn nicht: verwandeln) durch eine ihm durchaus fremde Form des Räsonierens, des Zurschaustellens und Insspielbringens von »Expertise«? Fransen hier also womöglich die Ränder der spezifischen Wissenschaftlichkeit der philosophischen Ethik aus, und dies noch jenseits der (für philosophische »Kritik« etwa ja in feiner Form durchaus zum Fach gehörigen) Vermischung von Ethik und Moral? Dass die Texte, die Textgattungen und die Betätigungsformate angewandter Ethiken deutlich anders aussehen als die jedenfalls der philosophischen Ethik bisher, scheint mir deutlich. Auch philosophische »Kritik« sieht anders aus als das Gebaren der ethischen Profession. Man betrachte nur die einschlägigen Werkzeuge und Kompetenzfelder: Gutachten, Ausarbeitung von Voten aus Gremien heraus, Vortrag von Stellungnahmen in Parlamentsanhörungen (etwa für Gesetzgebungsverfahren), Verfassen von Aufklärungsbroschüren, Zusammenarbeit mit Firmen bzw. überhaupt: Drittmittelprojekte, Talkshowteilnahmen, Beratung von TV- und KinoProduktionen, Fishbowl- oder andere partizipative Diskussionsformate für Großveranstaltungen, Blogs, Internet-Votings, Kurse für den Schulunterricht, Wissenschaftspopularisierungsprojekte mittels Kunst oder anderswie unterhaltsamen »Events«, Engagement zugunsten der Vergabe von nichtakademischen Preisen etc. Man mag hier glauben, dass die Philosophie mit der Ethik eben einfach ungewöhnlich interessante Themen entdeckt, dass sie ›zeitgemäß‹
Ethik und Politik, Ethik als Politik, Ethikpolitik
agiert und sich doch eigentlich freuen sollte – dass es im Großen und Ganzen also doch um eine erweiterte Form des Philosophierens geht. Ich denke aber, dass die beschriebenen Formate zu deutlich dem entstandenen Feld selber entstammen, als dass das Bild der gelungenen Entdeckung gesellschaftlich wichtiger Themen oder des gelungenen Exports philosophischer Argumente stimmt. Ethik als »dritte Kultur« ist beraterisch, mediengerecht und unterhaltungsförmig eigens ausgestaltet und in guten Teilen Resultat von strategischen Entscheidungen sowie nicht zuletzt möglich nur dank politisch gesondert bereitgestellten Geldern. Sie ist überhaupt Errungenschaft von – im eingangs skizzierten, konkreten Sinne – Politik. Vor diesem Hintergrund hebe ich heraus, dass es neben einer Politik der Ethik auch so etwas gibt wie explizite Politik für und durch Ethik, also »Ethikpolitik«. Wo Ethikpolitik herkommt und wer sie betreibt, sollte als ganzer Komplex von Fragen wohl der empirischen Forschung überlassen bleiben.30 Betrachten wir das Spektrum denkbarer inhaltlicher Erwartungen an Ethik als Form und vielleicht auch an die Philosophie als Fach, so verfolgte Ethikpolitik in ihrer schärfsten Form wohl gerade nicht Reflexion und Analyse, sondern eine Programmierung oder auch den Ersatz von Moral. Für die platteste Version eines solchen Lenkungsmotivs steht jenes Schallmayer- Zitat von 1903: Ethik soll beeinflussen, Verhalten lenken helfen, das man durch Recht allein nicht steuern kann. Sie wäre eine weiche Form wissenschaftsgestützter Erziehung und Umerziehung. In subtileren Formaten betreibt Ethikpolitik – nennen wir es: »Gestaltung« von Moral. Oder auch Gestaltung von Ethik, sofern diese Moral reflektiert. Hierher mag die lange Linie der kirchlichen Anstrengungen in Sachen Moral ein Beispiel sein, überall dort, wo nicht Kirchendoktrin, sondern eine Politik des Austauschs, der Foren oder auch des Lobbyismus verfolgt wird: eine aktive, auch proaktive ›Ethisierung‹ von Fragestellungen also, die deren normativer Überformung und auch der Steuerung von Moralentwicklung dient. Um noch einmal das Beispiel Bioethik zu 30 | Völlig im Dunkeln liegen die Auskünfte, jedenfalls für die überschaubaren deutschen Verhältnisse hier nicht. Im Politikfeld Bioethik wäre für die ersten Jahrzehnte der deutschen Entwicklung etwa der Name des über mehrere Legislaturen hinweg und in wechselnden Funktionen zuständigen Staatssekretärs Wolf-Michael Catenhusen zu nennen. Auch im kirchlichen Raum, in der Ärzteschaft und in der Forschungsförderung formten sich in den frühen Jahren bereits stabile Expertennetze.
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bemühen: Hier ist der Footprint kirchlicher Aktivitäten von Anfang an deutlich. Für die USA wurde das schon häufig konstatiert. Das Kennedy Institute war seinerzeit eine jesuitische Gründung. Aber auch die EthikZirkel des Vatikan, etwa die päpstliche »Akademie für das Leben«, die Großveranstaltungen mit einer Fülle wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Experten veranstaltet, kann als eigene Form der Dritten Kultur gelesen werden. Nicht zwischen Naturwissenschaft und Gesellschaft oder Gesellschaftswissenschaft wird hier vermittelt, sondern eben zwischen Kirche und ›Wissenschaft‹ (sowie Gesellschaft). Auch in Deutschland haben entweder Kirchenvertreter oder – häufiger – akademische Theologen, Philosophen mit theologischer Ausbildung oder auf Konkordatslehrstühlen sowie Pfarrer bei der Institutionalisierung von Bioethik mitgewirkt. Und gerade für die Anfangsphase ist auch die Rolle der Krankenhausseelsorge sowie konfessioneller Weiterbildungskademien nicht zu unterschätzen. In einer keineswegs metaphorischen Weise sind Moraltheologie, Sozialethik und auch das evangelische Akademiewesen wohl immer schon eine Art angewandte Ethik gewesen.31 Auf der anderen Seite ist Ethikpolitik auch ein Anliegen der Politik, also der Politikerpolitik selbst. In den 1980er Jahren schwangen hier regierungskritische, vielleicht sogar außerparlamentarische Untertöne mit. So erwarteten bei der Einrichtung der ersten Enquête-Kommissionen des Deutschen Bundestages Oppositionsparteien wie auch politische Bewegungen einen Zugewinn an parlamentarischer Weitsicht (wie auch einen Anschluss an einen gefühlten internationalen Diskussionsstand, welcher den später »ethisch« genannten Aspekten mehr Raum zu geben schien). Die Zeiten, in denen Technikfolgenabschätzung oder eben berufsmoralische oder allgemein moralische Problemstellungen im Bereich biomedi31 | So geht die Akademie für Ethik in der Medizin (AEM) geht auf das Engagement des evangelischen Pfarrers Udo Schlaudraff zurück; das Tübinger Zentrum für Ethik in den Wissenschaften verdankt sich dem Wirken des katholischen Theologen Dietmar Mieth und das Bonner Institut für Wissenschaft und Ethik (IWE) dem des Philosophen Ludger Honnefelder, der auch ausgebildeter Priester ist. Gleichwohl wäre es ähnlich verfehlt, Bioethik als kirchlich initiiertes oder kirchlich gesteuertes Phänomen zu deuten, wie es zu kurz greift, sie allein als Produkt von Wissenschaft zu sehen. Von »Ethikpolitik« zu sprechen, rückt, im Gegenteil, die Rolle informeller, auch temporär engagierter politischer, rechtlicher, verbandspolitischer und journalistischer Akteure nach vorn.
Ethik und Politik, Ethik als Politik, Ethikpolitik
zinischer Möglichkeiten eher ein Thema für Oppositionspolitiker waren, sind jedoch lang vorbei. Heute finden sich Ethikkomitees und Ethikkommissionen in administrativer Funktion, mit klinischen oder organisationsbezogenen Aufgaben, in Unternehmen oder in der Exekutive. Auch berät ein Ethikrat die Regierung – und dieser greift nicht gesellschaftliche Konflikte auf, sondern »setzt«, geradezu umgekehrt, von sich aus Themen. Dies dann durchaus im Namen einer Regierungspolitik, die ein Klima des Handlungsbedarfs erst schaffen will, etwa im Bereich der Transplantationsmedizin, der Sterbehilfe, der Normalisierung der Rechtsfolgen der massenhaften Nutzung von Samenbanken, Gen-Tests etc. Ethik dieses Typs reagiert also nicht nur. Sie ist nicht nur wissenschaftlicher Resonanz- und Reflexionsraum, und sie wird auch nicht lediglich politisch überformt. Sie ist vielmehr ein wirksames Medium und Agens.
4. Damit zur These zum Abschluss. Wenn es Ethikpolitik ist, welche das Gesicht angewandter Ethik prägt, oder wenn vielleicht ein ethikpolitisches Dispositiv angewandte Ethik als solche überhaupt hat entstehen lassen, dann ist hier nicht nur der Blick auf die philosophieinternen oder interdisziplinären Verschiebungen interessant, die mit jener neuen Ethik einhergehen. Es steht vielmehr der Wissenschaftsbezug überhaupt von »ethischen« Aussagen infrage. Wozu Ethik? Diese Frage entzündet sich unter den gegebenen Bedingungen nicht mehr an einem traditionellen Wissens- und Formenkanon, über dessen Zielstellung zu räsonieren wäre, denn in den letzten vier Jahrzehnten wurde Ethik als Marke gänzlich neu erfunden. Und womöglich wurde dabei die Bindung an die (philosophischen) Implikationen des Terminus »Ethik« schlicht gelöst. Wäre es so, dann hieße es, dass wir eine neuerliche Metamorphose philosophischer Ethik im großen geschichtlichen Maßstab erleben. Die Zeit der Ethik als Reflexion der Moral scheint vorbei. Ihre Erbin können allenfalls Genealogien des Moralischen sein – oder man biegt ab in Richtung einer »Metaethik«, die sich allerdings weniger auf eine Sache als nur auf den Status ethischer Sätze bezieht. Man kann die Frage stellen: Wie konnte das kommen? Aus meiner Sicht lautet die Problemstellung vor allem aber: Was leisten angewandte Ethiken des
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geschilderten Typs? Und welche neuen Wirklichkeiten lässt das aktive Zutun von Ethikpolitik entstehen? Hier scheint mir eine erste Antwort klar, nämlich die, dass Ethik wirksam ist und die – auch prospektiven – Wirklichkeiten, die sie begleitet, nicht nur gestalten hilft, sondern schon durch ihre pure Existenz auch mit herauf beschwört und stabilisiert. Etwa sofern die passende Bereichsethik Zukunftstechnologien vertretbar und normativ bearbeitbar erscheinen lässt. Ob Ethikpolitik allerdings einfach als zielgerichtete Instrumentalisierung – von praktischer Philosophie, von fachlicher Reflexion, von Wissenschaft überhaupt – betrachtet werden sollte, bleibt zu prüfen. Man mag hinsichtlich möglicher instrumenteller Nutzung von Ethik verschwörungstheoretisch denken. Man kann auch fragen, wem es nützt, wer dahinter steckt: Die Regierung, die Kirchen, die Biomedizin, die Anbieter von Bio-Dienstleistungen und Biotech-Produkten? Oder vielleicht gerade auch die besorgten Betroffenen – und ein Medienpublikum, das Ethik als eine Art Unterhaltungsformat konsumiert? Man kann auch fündig werden, wenn man sich im Hinblick auf Ethikpolitik auf die Suche nach Tätern und Absichten begibt. Dennoch bleibt es fraglich, ob »die« Ethik überhaupt in der Hauptsache einer Absicht gehorcht. Ob sie regierbar ist. Und mehr noch: Ob angewandte Ethik überhaupt eine Einheit besitzt, ob »Ethik« heute also überhaupt noch mehr zusammenhält als der reichlich diffuse Name. Freilich machen Jokereigenschaften und fehlende Kohärenz angewandte Ethik(en) für die Politik auch attraktiv. Ethiken im Plural und jeweils kaum aufeinander bezogen schießen aus dem Boden. Sie vermögen an konkreten Interventionsfeldern jeweils neu zu entstehen, sind kaum auf einen wissenschaftlichen roten Faden oder einen Kanon verpflichtet – und brauchen sich lediglich messen zu lassen an ihren Ermöglichungserfolgen. Wo Ethik dann doch ›nervt‹, ist sie rasch beiseitegeschoben, das zeigen im Fall Bioethik neueste Beispiele einer Politik, die wieder auf Ethik zu verzichten beginnt und gewissermaßen zu »Basta«-Formaten zurückehrt.32 Liefert Ethik also eine Art variablen Rohstoff, eine Mischung aus Argumenten auf Vorrat, aus denen sich Politik einerseits bedient, wo sie will, mit denen sie auch auf Probe Debatten stimulieren oder Diskursbau32 | Etwa die relativ zügige und in der Sache geradezu trotzige Reaktion der deutschen Bundesregierung auf den Transplantationsskandal, die 2012 zur Etablierung der sog. »Entscheidungslösung« im Transplantationsgesetz führte.
Ethik und Politik, Ethik als Politik, Ethikpolitik
steine »testen« kann, mittels der andererseits aber vor allem im engeren Sinne politische Konfliktlagen abgepuffert und vernebelt werden? Der Verdacht, Ethik könne der Verschleierung von Strukturproblemen der Gesellschaft dienen, ist nicht neu.33 Namentlich Luhmann hat ihn schon früh und vielfach auch leicht belustigt geäußert: Man dürfe nicht hoffen, dass Ethik Probleme löst. Inzwischen sollten wir es aber wohl schärfer wenden: Ethik verschleiert nicht nur Probleme, sie ist ein Werkzeug, das es erlaubt, Probleme ungelöst zu lassen und als unlösbare Probleme so zu prozeduralisieren, dass wir mit ihnen leben lernen als seien sie oder würden sie irgendwann noch gelöst. Ethikpolitik lebt von der in dieser Lage entstehenden Fülle von experimentellen Optionen, die sie eröffnet, Probleme als bloß aufgeworfene Probleme politisch zu kontrollieren und (z.B. prospektiv) auszugestalten. Eine Technologie lässt sich gleichsam auf Probe, Schritt für Schritt, normativ fassen – wobei man ihr erst einmal pauschal moralisch Kredit gibt. Womit Ethik womöglich (unter den Vordächern der Wissenschaft) neue, unbekannte soziale Szenarien von vornherein auch bereits entpolitisiert. Angewandte Ethik ist so etwas wie eine umgestülpte Form der Kritik, eine bestellbare Form der Reprogrammierung von Moral, und dabei zu einem Gutteil ihrer historischen Ausgangspunkte wie ihrer Werkzeuge auch gar nicht im philosophischen Diskurs entstanden. Die Philosophie hat sie dennoch adoptiert – vielleicht um mitzuspielen, vielleicht naiv. So bleibt ein besorgniserregender Punkt: Was macht all dies mit unserem Fach? Ich modifiziere daher die Frage, der dieses Buch gewidmet ist: Wozu eine solche Ethik? Und um welchen Preis?
33 | Vgl. N. Luhmann, Ethik als Reflexionstheorie der Moral, S. 443.
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»Wen das Los trifft, der ist schuldig.« Fairness und Selbstverantwortung in der Markt-Moral Hans-Ernst Schiller
I Wenn man die mögliche Bedeutung der Ethik für Gegenwart und Zukunft ausloten will, muss man sich den moralischen Denkformen stellen, die in der Alltagspraxis unserer Gesellschaft wirklich vorherrschen. Diese Gesellschaft ist in einem bislang unbekannten Ausmaß eine Welt des Kapitals. Die Politik unterwirft sich der Aufgabe, den nationalen Standort für die Verwertung zu optimieren und der Einzelne muss die Forderung verinnerlichen und zur obersten Maxime machen, die Brauchbarkeit seiner Arbeitskraft unter Beweis zu stellen. Ganze Volkswirtschaften, die im Konkurrenzkampf unterliegen, werden unter Kuratel gestellt und müssen soziale Errungenschaften, die als Argument für den Fortschritt des Allgemeinwohls galten, wieder rückgängig machen. Alles Mögliche ist zu privatisieren, um dem Geldkapital eine Anlagemöglichkeit zu bieten: Renten und Bahnen, Ausbildung und Gesundheitsversorgung, Wasser und die genetischen Codes von Pflanzen und Tieren.1 Reden wir also über Kapitalismus. Obwohl Ökonomen, die unser Wirtschaftssystem lieber als soziale Marktwirtschaft bezeichnet sehen wollen, die Nase rümpfen, hat das Wort die Feuilletons erobert und auch in der Alltagssprache Verbreitung gefunden. Der Klarheit über den Inhalt des Begriffs ist diese Verbreitung freilich nicht zugutegekommen. Um den Kapitalismus zu verstehen, muss man ihn als eine Produktionsweise betrachten. Kapitalistische Produk1 | Die 1998 erfolgte Patentierung von menschlichem Erbgut für ein Unternehmen namens Myriad Genetics hat der Supreme Court der USA im Sommer 2013 für ungültig erklärt. www.handelsblatt.com vom 24.9.2013.
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tion beruht auf Privateigentum und Lohnarbeit, auf der Anwendung von mathematischer Naturwissenschaft und auf der Existenz von Märkten, die lokale und regionale Grenzen sprengen. Ihr Ziel ist der Mehrwert, die Vermehrung des vorgeschossenen Werts. Die Jagd nach dem Profit in der Marktkonkurrenz der Kapitale zwingt zu ständiger Verbesserung oder Rationalisierung, zur Entwicklung neuer Techniken und Produkte, in deren Produktion sich Geld anlegen und vermehren lässt. Es ist also gewiss nicht falsch, von unserer Wirtschaftsweise als einer Marktwirtschaft zu reden. Im Gegenteil: Märkte sind offensichtlich die Orte, an denen sich jeder Mann und jede Frau bewegen muss. Nicht jeder ist Manager oder Fabrikarbeiter, Büroangestellter oder Bauer, Popstar oder Rentner, aber jeder ist ein Marktsubjekt. Und weil die Marktsubjekte Individuen sind, die auf eigene Rechnung kaufen und verkaufen, erscheint die Gesellschaft einer Marktwirtschaft als eine Gesellschaft der Individuen. Märkte hat es gegeben, bevor von kapitalistischer Produktion die Rede sein konnte. Aber eine Marktwirtschaft, in welcher der ganze dingliche Reichtum als Ansammlung von Waren sich darstellt, kann nur auf der Grundlage kapitalistischer Produktionsweise möglich sein. Meine These lautet: Wenn die Märkte zur Marktwirtschaft totalisiert werden, hat dies weitreichende Folgen für die ethischen Grundbegriffe, deren Namen den verschiedenen Epochen der Zivilisationsgeschichte gemeinsam sind. Das werde ich vornehmlich an zwei Begriffen zu zeigen versuchen, dem der Gerechtigkeit, die zur Fairness wird, und dem der Verantwortung, die als ökonomische Selbstverantwortung verstanden werden soll. Diese Begriffe werden nun im Ausgang von den Interessen jener Marktsubjekte konzipiert, die als Nutzenmaximierer handeln sollen.
II Mit der Durchsetzung der Marktwirtschaft wird Gerechtigkeit auf Tauschgerechtigkeit reduziert und insbesondere der herkömmliche Begriff der Verteilungsgerechtigkeit suspendiert; erst mit dem Sozialstaat, einem relativ jungen Stadium der kapitalistischen Wirtschaftsweise, erlangt die Verteilungsgerechtigkeit wieder eine positive Bedeutung in den öffentlichen Angelegenheiten. Für die Tauschgerechtigkeit, das nach wie vor dominierende Prinzip, gibt es zwei marktwirtschaftliche Konzeptionen. Zum einen den Äquivalententausch im Sinne der Arbeitswertlehre,
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wie sie beispielsweise von John Locke und Adam Smith, von David Ricardo und auch von Karl Marx vertreten wurde. Am Markt werden Äquivalente in dem Sinn getauscht, dass auf die Waren ein gleiches Quantum gesellschaftlich notwendiger Arbeit verwandt worden ist. Es handelt sich hier um eine objektive Wertlehre. Der Gegenpart, die subjektive Wertlehre, liegt seit über 100 Jahren im Mainstream der Ökonomie, wird aber im Prinzip schon von Thomas Hobbes vertreten: »Der Wert aller vertraglich vereinbarten Dinge wird an der Begierde der Vertragschließenden gemessen, und deshalb ist der angemessene Wert derjenige, den sie zu geben bereit sind.«2 Das gilt auch auf dem Arbeitsmarkt. Der »Wert eines Menschen«, so Hobbes, »liegt, wie der aller anderen Dinge, in seinem Preis«; er ist »abhängig von Bedarf und Urteil eines anderen.«3 Aufgrund ihrer Bedürfnisse schließen die Tauschpartner einen Vertrag, in dem sie sich wechselseitig die Rechte an den Tauschgegenständen übertragen. Die einzige Moralität in dieser Beziehung liegt im Grundsatz: pacta sunt servanda, Verträge müssen gehalten werden. Gerechtigkeit hat ihren Ursprung allein in solchen Verträgen4, deren Gültigkeit freilich von der Existenz einer Staatsgewalt abhängt. Und die Legitimität dieser Staatsgewalt ist wiederum in einem Vertrag begründet, in dem die Individuen sich wechselseitig verpflichten, ihr natürliches Recht der Selbstregierung auf einen Dritten, sei es eine Person oder eine Versammlung, zu übertragen.5 Hobbes steht noch ziemlich am Anfang der kapitalistischen Entwicklung. Dennoch ist seine Verbindung von Marktradikalismus und autoritärem Staat immer wieder und noch in den jüngst vergangenen Jahrzehnten Wirklichkeit geworden.6 Natürlich muss der Marktradikalismus nicht mit einer autoritären Konzeption des bürgerlichen Staates einhergehen, wie 2 | T. Hobbes: Leviathan, Hamburg 1996, S. 126. 3 | Ebd., S. 72. 4 | Vgl. ebd., S. 120. 5 | Vgl. ebd., S. 144f. – Hobbes übrigens verwendet auch den Begriff einer distributiven Gerechtigkeit, aber in einem Sinn, der dem traditionellen direkt entgegensteht. Die austeilende Gerechtigkeit sei die Gerechtigkeit eines Schiedsrichters, der Streitigkeiten nach der Richtschnur der Billigkeit entscheidet. Ebd., S. 126. Auch dieser Begriff unterliegt einer Umdeutung. Vgl. ebd., S. 130. 6 | Vgl. insbesondere zu Chile in den 70er und Russland in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts N. Klein: Die Schockstrategie. Der Aufstieg des Katastrophenkapitalismus, Frankfurt a.M. 2009.
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etwa das Beispiel John Lockes zeigt, und er ist auch nicht auf die Vertreter einer subjektiven Wertlehre eingeschränkt. Auch Vertreter der objektiven Wertlehre sind sich durchaus im Klaren darüber, dass der Preis einer Ware nicht einfach nach der Arbeitszeit festgelegt werden kann, die in ihr steckt.7 Der Witz der Marktwirtschaft besteht ja gerade darin, dass sich die Preise, die realen Tauschwerte, auf dem Markt bilden müssen. Jeder wird versuchen, so viel wie möglich herauszuschlagen. Das Marktsubjekt ist typischerweise ein Nutzenmaximierer. John Stuart Mill, der sich in der Wertlehre Ricardo anschließt, meint 1861, die Gesellschaft dürfe es nicht zulassen, dass jemand daran gehindert wird, so viel zu verdienen, wie er verdienen kann.8 In den oberen Rängen ist das Leistungsprinzip, mit dem man aus den Arbeitern und kleinen Angestellten das Letzte herauszuholen pflegt, zum Erfolgsprinzip mutiert. Begrenzung von Managergehältern oder Unternehmergewinnen ist in der Marktwirtschaft nicht vorgesehen. Eher gibt es auf dem Arbeitsmarkt Begrenzung. Der Lohn, so Adam Smith, muss mindestens so hoch sein, dass der Mensch davon existieren kann.9 Aber auch hier gilt Maximierung: »Der Arbeiter möchte soviel wie möglich bekommen, der Unternehmer so wenig wie möglich geben. Die Arbeiter neigen dazu, sich zusammenzuschließen, um einen höheren Lohn durchzusetzen, die Unternehmer, um ihn zu drücken.«10 Smith lässt keinen Zweifel daran, wer am längeren Hebel sitzt, zumal zu seiner Zeit Arbeiterkoalitionen verboten, die der Unternehmer aber erlaubt waren. Es hat in ökonomischen Dingen keinen Sinn, an Moral zu appellieren, aber man könnte den Unternehmern immerhin vor Augen führen, dass Menschen in der Regel nicht besser arbeiten, »wenn sie schlecht statt gut genährt, wenn sie verzagt statt heiter oder wenn sie öfters krank statt durchweg gesund sind.«11 Die Argumentation zielt auf den Nutzen, nicht auf eine Gerechtigkeit, die in sozialen Menschenrechten verankert wäre.
7 | Vgl. A. Smith: Der Wohlstand der Nationen, München 1978, S. 29. 8 | Vgl. J.S. Mill: Utilitarismus, Stuttgart 2001, S. 93. 9 | Vgl. A. Smith: Der Wohlstand, S. 59. 10 | Ebd., S. 58. 11 | Ebd., S. 72.
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III Obwohl sich die Klassiker der neuzeitlichen Sozialphilosophie und Ökonomie, inklusive Adam Smith, der Verteidigung des Egoismus verschrieben haben,12 behaupten sie, dass die Marktwirtschaft dem Wohl aller dient. John Locke vergleicht das England seiner Tage (1690) mit Amerika. »Der König eines großen und fruchtbaren Landes dort wohnt, nährt und kleidet sich schlechter als ein Tagelöhner in England.«13 Schrankenloses Privateigentum und Geldwirtschaft sind demnach auch für die unteren Klassen durchaus besser als alles andere – eine mutige Behauptung angesichts der Tatsache, dass von den damals schätzungsweise 5 Millionen Engländern etwa 1 Million am Existenzminimum lebte.14 Methodisch gesehen ist Lockes Vergleich höchst anfechtbar, denn in einen Vergleich so unterschiedlicher Kulturen müssten eine Reihe weiterer Kriterien eingehen, v.a. der soziale Zusammenhalt und die Einstellung zur nichtmenschlichen Natur.15 Bernard Mandeville, der zynische Apologet der frühkapitalistischen Greuel, hält sich (1704, im Todesjahr Lockes) bei solchen Kulturvergleichen gar nicht erst auf. In seinen Knittelversen verteidigt er die Laster der Reichen und den Hunger der Armen, indem er sie mit Kultur überhaupt gleich setzt: »Wer wünscht, dass eine goldene Zeit/zurückkehrt, sollte nicht vergessen:/man musste damals Eicheln essen.«16 Adam Smith wiederum geht das zu weit. In der Morgenröte der industriellen Produktionsweise kehrt er zum Kulturvergleich zurück und meint: »Selbst ein Arbeiter der untersten und ärmsten Schicht, sofern er genügsam und fleißig ist, kann sich mehr zum Leben notwendige und angenehme Dinge leisten, als es irgendeinem Angehörigen eines primitiven Volkes möglich ist.«17 Das Rawls’sche Differenzprinzip, demzufolge 12 | Vgl. A. Smith: Theorie der ethischen Gefühle, Hamburg 2004, S. 506ff. 13 | J. Locke: Über die Regierung, Stuttgart 1999, S. 33. 14 | Vgl. W. Kluxen: Geschichte Englands, Stuttgart 1968, S. 254f. 15 | Im Übrigen darf man nicht vergessen, dass die Praktiker der Globalisierung alles unternommen haben, um die Lage der kolonisierten Völker so nachteilig zu gestalten, dass noch der ärmste ihrer Landsleute sich glücklich wähnen konnte, nicht zu ihnen zu gehören. 16 | »They, that would revive/A Golden Age, must be as free/For Acorns, as for Honesty.« B. Mandevielle: Die Bienenfabel, Frankfurt a.M. 1968, S. 79 und S. 92. 17 | A. Smith: Der Wohlstand, S. 3.
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soziale Ungleichheiten gerechtfertigt sind, wenn sie den am schlechtesten Gestellten zugute kommen, galt den Evangelisten der Marktwirtschaft seit je als erfüllt. Die Barbarei der Industrialisierung, die z.B. in Marxens Kapital (vornehmlich in den Kapiteln 8, 13 und 23) dokumentiert ist, hatte sich freilich noch nicht entfaltet.18 Diese Erfahrung war immerhin stark genug, um einen Liberalen wie John Stuart Mill zu einer Neuformulierung der Allgemeinwohlthese zu veranlassen, die trotz ihrer Hintertüren einen ethisch vielversprechenden Ansatz enthält: »Daß in den Augen des Ethikers wie des Gesetzgebers jeder den gleichen Anspruch auf Glück hat, bedeutet, dass er den gleichen Anspruch auf die Mittel zum Glück hat, außer insoweit, als die unausweichlichen Bedingungen des menschlichen Lebens und das Gesamtinteresse, in dem das Interesse jedes einzelnen enthalten ist, dieser Maxime Grenzen setzen; und diese Grenzen sollten so eng wie möglich gezogen werden.«19
Wie sich dieses Prinzip mit der Forderung verträgt, die Gesellschaft dürfe nichts tun, um jemanden daran zu hindern, so viel zu verdienen wie möglich, sagt Mill nicht. Wir wollen ihm nichts unterstellen. Aber die Erfahrung belehrt uns doch unzweideutig, dass sich hinter den »Bedingungen des menschlichen Lebens« die Eigentumsverhältnisse verbergen und mit dem Gesamtinteresse das Interesse der Besitzenden gemeint ist. Der Sachzwang hat einen menschlichen Mund, der das Volk belehrt: Wir werden nicht investieren und Euch wird es schlechter gehen, wenn Ihr nicht bereit seid, unseren Reichtum zu vermehren. Die These, Marktwirtschaft diene dem Allgemeinwohl, bedarf einer empirischen Überprüfung. Eine ethische Diskussion scheint insofern überflüssig, als das Allgemeinwohl, den Theoretikern der Ökonomie zufolge, gar kein Ziel der Marktsubjekte ist und zu sein braucht. Das ist Sinn der Rede nicht nur von Mandevilles Bienenfabel, sondern auch von Adam Smiths »invisible hand«. Wer in18 | Vgl. K. Marx: Das Kapital Bd. 1, Berlin 1975, S. 261, wo es zur englischen Zündholzmanufaktur in den 40er Jahren heißt: »Dante wird in dieser Manufaktur seine grausamsten Höllenstrafen übertroffen finden.« Vgl. auch S. 454: »Die Weltgeschichte bietet kein entsetzlicheres Schauspiel als den […] 1838 besiegelten Untergang der englischen Handbaumwollweber. Viele von ihnen starben den Hungertod, viele vegetierten lange mit ihren Familien auf 2 ½ d. täglich.« 19 | J.S. Mill: Utilitarismus, S. 109f.
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vestiert, so Smith, »fördert in der Regel nicht bewusst das Allgemeinwohl […], er strebt lediglich nach eigenem Gewinn.« Doch wird er dabei »von einer unsichtbaren Hand geleitet, um einen Zustand zu fördern, den zu erfüllen er in keiner Weise beabsichtigt hat […]; gerade dadurch, dass er das eigene Interesse verfolgt, fördert er häufig das der Gesellschaft nachhaltiger, als wenn er wirklich beabsichtigt, es zu tun.«20 Von Hobbes bis Milton Friedman gilt: Wir sind Nutzenmaximierer, als Kapitalbesitzer sind wir Gewinnmaximierer, und wir sollen es sein. »The social responsibility of business is to increase its profits«, wie Milton Friedman sagt.
IV Gibt es jenseits des Grundsatzes, dass Verträge einzuhalten sind, keine moralischen Implikationen der Interaktion von Marktteilnehmern? Hegel meinte, dass die Arbeit im »System der Bedürfnisse«, als das er die Marktwirtschaft verstand, dadurch zur Sittlichkeit gehöre, dass wir für andere zu arbeiten gezwungen sind. Wir verlieren dabei unseren Eigensinn und unsere Ungeschliffenheit.21 Dass der Markt das allgemeine Wohl vollbringt, schien Hegel jedoch abwegig. Ihrer eigenen Dynamik nach vermehrt die bürgerliche Gesellschaft mit der Anhäufung der Reichtümer zugleich »die Vereinzelung und Beschränktheit der besonderen Arbeit und die Abhängigkeit und Not der an diese Arbeit gebundenen Klasse […].«22 Die bürgerliche Gesellschaft erweist sich »bei dem Übermaße des Reichtums« als unfähig, »dem Übermaße der Armut und der Erzeugung des Pöbels zu steuern«.23 Marx, der zu ähnlichen Ergebnis20 | A. Smith: Der Wohlstand, S. 371. 21 | Vgl. G.W.F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Frankfurt a.M. 1970, S. 343ff (§ 187). 22 | Ebd., S. 389 (§ 243). 23 | Ebd., S. 390 (§ 245) – Rund 50 Jahre später meint Henry Fawcett, Wirtschaftsprofessor an der University of Cambridge: »Die grässlichste Armut geht immer mit dem größten Reichtum einher.« (Pauperism, London 1871, S. 2) In der Regel galt, was Destutt de Tracy, ein französischer Philosoph, Politiker und Ökonom in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts in nüchterne Worte fasste: »Die armen Nationen sind die, wo das Volk gut dran ist, und die reichen Nationen sind die, wo es gewöhnlich arm ist.« Nach Marx: Das Kapital, S. 677.
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sen kommen sollte, war gleichwohl wie Hegel der Ansicht, dass es in der Marktinteraktion normative Implikationen gibt. Freilich hatte er anderes im Auge als die Sittlichkeit des Arbeitens für Andere. Der Markt oder, wie er auch sagt: die Zirkulationssphäre des Kapitals, sei »ein wahres Eden der angeborenen Menschenrechte. Was allein hier herrscht, ist Freiheit, Gleichheit, Eigentum und Bentham«, d.h. Nützlichkeit.24 Das Marktsubjekt muss demnach die folgenden Normen erfüllen: Es darf dem Anderen keine Gewalt antun, sich insbesondere nicht gewaltsam seiner Ware bemächtigen, es muss m.a.W. das Eigentum des Anderen respektieren. Die Marktsubjekte »erkennen sich wechselseitig an als Eigentümer, als Personen, deren Willen ihre Waren durchdringt.«25 Ferner gilt: Jedes Individuum »bedient sich des andren wechselseitig als eines Mittels […], der andre ist eben auch als sein selbstsüchtiges Interesse verwirklichend anerkannt und gewusst […].«26 Das Marktsubjekt muss den Egoismus des Anderen akzeptieren, als Norm formuliert: Es darf nicht betrügen. In der Interaktion der Marktsubjekte ist jedes Individuum Zweck an sich selbst, indem es seine eigenen Interessen verfolgt. Insofern erfüllen die Marktsubjekte die Bedingung des kategorischen Imperativs, den anderen nie bloß als Mittel, sondern immer auch als Zweck zu behandeln. Und somit achten sie die Würde des Gegenüber. Die Sache hat nur einen Haken. Die Wechselseitigkeit des Nutzens ist die Bedingung der Interaktion und folglich der Anerkennung. Der Nutzen aber ist nicht die harmlose konkrete Kategorie, die er zu sein scheint. Auf dem Gütermarkt zählt nur die kaufkräftige Nachfrage und auf dem Arbeitsmarkt zählt das, was man kann, nur, wenn es jemanden gibt, der dafür zu zahlen bereit ist. Diese Bedingungen von Kaufkraft und Brauchbarkeit machen aus den Normen der Zirkulationssphäre, aus Freiheit, Gleichheit und Respekt, unzuverlässige Freunde. Wer ohne Geld dasteht und weder als Konsument noch als Arbeiter, der fleißig und genügsam ist, gebraucht wird, den trifft nicht nur Entbehrung, sondern auch Verachtung.27 Dies ist ebenso wenig zu leugnen wie die Tatsache, dass die Konkurrenz der Marktwirt24 | Ebd., S. 189f. 25 | Ders.: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 2005, S. 169. 26 | Ebd., S. 169f. 27 | Vgl. die erschütternden Zitate aus einem Ärzte-Blog bei Karl Lauterbach: Der Zweiklassenstaat, Berlin 2007, S. 74-77. Vgl. ebenso die Untersuchung bei Wilhelm Heitmeyer, Kirsten Endrikat: Die Ökonomisierung des Sozialen. Folgen für
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schaft zwangsläufig Verlierer hervorbringt, die zur regulären Marktteilnahme kaum oder gar nicht mehr fähig sind.28 Dass sie die Anerkennung an die Konditionen der Brauchbarkeit knüpft, verleiht der Marktmoral den ihr wesentlichen Zug der Scheinheiligkeit. Diese Scheinheiligkeit ist die Kehrseite der nüchternen Feststellung von Adam Smith, dass wir nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers das erwarten, was wir brauchen, sondern davon, dass es um deren eigene Interessen geht. Die konstitutive Unzuverlässigkeit der Marktmoral macht es, wie schon Hobbes betont hatte, zur Notwendigkeit, eine Sanktionsgewalt zur Ahndung der Verstöße gegen sie zu installieren. Es gibt keine Marktwirtschaft ohne rechtliche Institutionen, die Fairness erzwingen, weil es keine Marktwirtschaft gibt ohne den Anreiz zu und die tatsächliche Begehung von Verstößen gegen ihre Regeln. Die Möglichkeit der Strafen geht andererseits wieder in das Interessenkalkül der Marktsubjekte ein, wobei auch nachteilige Folgen unterhalb der Straf barkeitsschwelle zu bedenken sind. Es ist auf jeden Fall unklug, um kurzfristiger Vorteile willen seinen Ruf aufs Spiel zu setzen. Umgekehrt bleibt immer zweifelhaft, ob der Interaktionspartner aus Prinzip ehrlich ist oder aus kluger Abschätzung seiner Situation, die eben auch anders ausfallen könnte. Denken wir an die berühmte Unterscheidung von pflichtgemäßem und moralischem Handeln in Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. »[E]s ist allerdings pflichtmäßig, dass der Krämer einen unerfahrenen Käufer nicht überteure, und, wo viel Verkehr ist, tut dieses auch der kluge Kaufmann nicht […]. Man wird also ehrlich bedient; allein das ist lange nicht genug, um deswegen zu glauben, der Kaufmann habe aus Pflicht und Grundsätzen der Ehrlichkeit so verfahren; sein Vorteil erfordete es […].« 29
»Überflüssige« und »Nutzlose«, in: W. Heitmeyer (Hg.): Deutsche Zustände, Frankfurt a.M. 2008, S. 62f. 28 | A. Honneth: Das Recht der Freiheit, Berlin 2001. Honneth meint, dass die normativen Implikationen des kapitalistischen Marktes in einem »vorauslaufenden Solidaritätsbewusstsein« (S. 327f., S. 330) lägen, in einer »wohlwollenden, vertrauensvollen Einstellung« (S. 329), gar in einem Recht, »als Konsumenten mit Grundgütern versorgt zu werden« (S. 367). Nichts dergleichen ist in der Struktur der Marktbeziehung verankert. 29 | I. Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Stuttgart 2004, S. 34.
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Man wird diese Trennung von Geschäft und Moral erst dann richtig zu würdigen wissen, wenn man die heutigen Versuche betrachtet, die Moral zum Diener des Geschäfts zu machen: Moralisches Handeln soll ökonomische Vorteile bringen. Umgekehrt: Nur »wenn Moral billiger ist als materielle Anreize […], wird auf dem Markt eine Nachfrage nach Moral entstehen […].«30 Wer aber die Übereinstimmung von Profit und Ethik zur Norm erhebt, wird, so Ulrich Thielemann, bei der Maxime landen, das als Moral auszugeben, was den Gewinn maximiert.31 Kantische Gesinnung ist in einer solchen Welt völlig überflüssig geworden. Umso mehr muss man in der Wirtschaft auf die Durchsetzung des Rechts setzen. Alle moralisch relevanten Aspekte des Wirtschaftshandelns lassen sich in Rechtsform gießen – und das rechtskonforme Handeln eignet sich normalerweise nicht dazu, sich moralisch aufzuplustern. Adam Smith hatte sich noch nicht dazu verstiegen, Moral als Mittel des Geschäfts anzupreisen. Dennoch sind die Vorstellungen, die über seine moralischen Ansichten und ihre mögliche Korrekturfunktion für den Wirtschaftsliberalismus von Wealth of Nations bestehen, oft übertrieben. Weder ist das ökonomische Hauptwerk so apologetisch noch ist die Theorie der ethischen Gefühle so menschenfreundlich, wie manche anzunehmen geneigt sind. Man zitiert gern das Lob der Arbeitsteilung am Anfang von Wealth of Nations, aber unterschlägt, dass Smith in ihr die Gefahr der Vereinseitigung auf Kosten der geistigen, sozialen und soldatischen Tauglichkeit gesehen hat.32 Gerne verweist man auf Smiths Argumente für die Vorteile der Globalisierung, verkneift sich aber den Hinweis auf »das schreckliche Unglück«, das die Eingeborenen durch die Ungerechtigkeit der Europäer erlitten haben.33 Andererseits enthält die Theorie der ethischen Gefühle nicht nur eine Würdigung der Sympathie. Smith war sich vielmehr der beschränkten Reichweite des Mitleids stark bewusst:
30 | M. Baurmann: Lokale und globale Verantwortung von Unternehmen, in: L. Heidbrink, A. Hirsch (Hg.): Verantwortung als marktwirtschaftliches Prinzip, Frankfurt a.M. 2008, S. 122. 31 | Vgl. U. Thielemann: Unternehmensverantwortung ethisch ernst genommen. The Case against the Business Case und die Idee verdienter Reputation, in: L. Heidbrink, A. Hirsch (Hg.): Verantwortung, S. 219. 32 | Vgl. A. Smith: Der Wohlstand, S. 662f. 33 | Vgl. ebd., S. 527.
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»Stellen wir uns vor, dass das große chinesische Reich mit all seinen Myriaden von Einwohnern plötzlich durch ein Erdbeben verschlungen würde, und überlegen wir, wie ein human gesinnter Mensch in Europa, der keinerlei Beziehung zu jenem Weltteil hätte, dadurch berührt werden würde, wenn er von diesem Unglück Kenntnis erhielte.«
Er würde, so Smith, seiner Trauer Ausdruck verleihen und sich in Betrachtungen über das irdische Leid ergehen. »Und wenn er mit all dieser artigen Philosophie fertig wäre […], dann würde er seinem Geschäft oder seinem Vergnügen nachgehen, sich seiner Erholung oder seiner Zerstreuung widmen und alles das mit der gleichen Gemächlichkeit und Ruhe, als kein derartiger Vorfall sich ereignet hätte. Der geringfügigste Unfall, der ihm selbst zustoßen könnte, würde in ihm eine weit stärkere Beunruhigung hervorrufen.« 34
Smith gehört also keineswegs zu den weinerlichen Moralisten, die das Mitleid strapazieren wollen. Er lässt überdem keinen Zweifel daran, dass es je nach Klassenlage differenziert wird und dass es gut so ist: »Der Mangel an Vermögen, die Armut, erweckt an und für sich wenig Mitleid. Ihre Klagen pflegen nur allzu leicht eher Verachtung als Mitgefühl zu erwecken. […] Dagegen wird der Sturz aus Reichtum in Armut […] selten ermangeln, in dem Zuschauer tiefes und aufrichtiges Mitleid hervorzurufen.«35 Auch die moralischen Gefühle, die zuverlässig tiefere Wurzeln haben als die kapitalistische Marktwirtschaft, werden von ihr modelliert. Smith ist der Ansicht, dass »die allgemeinen Regeln, nach welchen Wohlfahrt und Elend gewöhnlich verteilt sind, der Stellung des Menschen in diesem Leben völlig angemessen erscheinen«, sobald man sie in philosophischem Lichte betrachtet.36
34 | A. Smith: Theorie der ethischen Gefühle, S. 201f. 35 | Ebd., S. 212. 36 | Ebd., S. 253, vgl. S. 251.
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V Die bisherigen Bestimmungen der Marktmoral gehören zum Alltagsbegriff der Fairness: Man soll sich an die Spielregeln halten, d.h. vertragliche Versprechen erfüllen, man soll ehrlich sein und auf Gewalt verzichten, d.h. das Eigentum anerkennen. Es gibt noch zwei weitere Bestimmungen, die ebenfalls zum Begriff der Fairness gehören: zum einen die Chancengleichheit, zum anderen die Äquivalenz von Geben und Nehmen, das Gegenteil des Wuchers. Der Begriff des Wuchers (BGB § 138) meint: Der Preis ist objektiv zu hoch, in den Augen eines unparteiischen Richters und nicht nur für meine individuelle Kauf kraft und Bedürfnislage. Ohne eine gewisse Objektivität im Begriff des Preises wäre der Begriff des Wuchers, der laesio enormis, sinnlos. Aber man muss nicht unbedingt eine Arbeitswertlehre im Sinne der modernen Ökonomie mit dieser Objektivität verbinden. Nach Aristoteles soll sie in einem anthropologischen Verhältnis von Bedürfnisarten und auf sie bezogenen Handwerkstätigkeiten fundiert sein. Thomas von Aquin, der an Aristoteles anknüpft, spricht von einem Sachwert, der im Preis nicht überschritten werden darf. Aristoteles’ Vorstellung von der Tauschgerechtigkeit, dargestellt im 9. Kapitel des 5. Buches der Nikomachischen Ethik, ist nicht sonderlich transparent und nimmt innerhalb seiner Theorie eine Sonderstellung ein. Es werden ausgleichende und proportionale Gerechtigkeit miteinander kombiniert. Auf den ersten Blick gehört die Tauschgerechtigkeit zum Verhältnis der Bürger zueinander, also dem Bereich der einfachen Gleichheit oder der arithmetischen Proportion: Man gibt so viel, wie man empfängt. Die eigentliche Schwierigkeit besteht für Aristoteles aber darin, eine Proportion der verschiedenen Produkte bzw. der auf sie bezogenen Tätigkeiten zu bestimmen. Wie viel von Produkt A (Schuhe) ist gleich Produkt B (ein Haus)? Die Proportion lässt sich, so Aristoteles, ohne das Geld, das dem Wert aller Produkte einen quantitativen Ausdruck gibt, nicht bewerkstelligen. Aber diese Feststellung löst das Problem nicht, weil die Frage nach der Natur des Maßstabs, der die Produkte gleichmacht, um sie messen zu können, noch nicht beantwortet ist. Deshalb sagt Aristoteles, dass das Geld das Bedürfnis repräsentiert. Und zwar kraft Konvention, Übereinkunft. Es bringt zum Ausdruck, wie wichtig das Produkt zur Befriedigung von Bedürfnissen ist. Aber der Bezugspunkt ist offensichtlich nicht das jeweilige Individuum, sondern die menschliche Natur. Die Produkte und damit auch die Funk-
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tionen der verschiedenen Handwerker werden in eine Rangordnung gebracht, je nachdem, wie schwer das Bedürfnis wiegt, das sie befriedigen. Ich denke, dass Aristoteles eine solche anthropologisch fundierte Rangordnung der Handwerke im Auge hat, die dann für die Zwecke des Austausches in verschiedenen Preisen ausgedrückt wird. Diese Vorstellung ist weder mit der objektiven Arbeitswertlehre noch mit der subjektiven Wertlehre vereinbar. Sie gehört einer Gesellschaft an, die wohl Märkte, aber noch keine Marktwirtschaft kennt. Thomas von Aquin knüpft in seiner Summa theologiae (II, Frage 77) an Aristoteles an. Der Kaufvertrag müsse »unter dem Gesichtspunkt des sachlichen Ausgleichs abgeschlossen werden […]. Wenn daher der Preis den Sachwert übersteigt oder, umgekehrt, der Sachwert den Preis übersteigt, ist von ausgleichender Gerechtigkeit keine Rede mehr. Teurer verkaufen oder billiger einkaufen, als eine Sache wert ist, ist also an sich ungerecht und unerlaubt.« 37
Wir haben also ein Kriterium des Tauschwerts, das in der Sache selbst liegt, also nicht eigentlich im Nutzen oder Gebrauchswert. Nun lässt sich »der gerechte Preis nicht immer auf den i Punkt genau ausmachen […].«38 Ferner: »Die Maße für die Handelswaren müssen an verschiedenen Orten wegen des verschieden großen Angebots verschieden sein […]. An jedem Ort […] ist es Sache der Gemeindevorsteher, in Anbetracht der örtlichen Verhältnisse und der vorhandenen Dinge die richtigen Maße für die Waren zu bestimmen.«39 Das ist noch auf unsere »Mietspiegel« anwendbar, mit einem wichtigen Unterschied: Der Spielraum des Mietpreises wird nicht im Hinblick auf einen »Sachwert«, sondern im Hinblick auf eine Durchschnittsgröße bestimmt. Heute hat der Markt das letzte Wort. Die Äquivalenzforderung ist mit der Chancengleichheit eng verbunden, denn der Wucher kann nur Erfolg haben, wenn sich das eine der Marktsubjekte in einer Notlage befindet oder nicht über grundlegende Informationen verfügt. Andererseits hat der Begriff der Chancengleichheit nicht nur den Verbraucherschutz im Auge, sondern auch die Konkurrenz der Verkäu37 | Th. von Aquin: Recht und Gerechtigkeit. Theologische Summe II-II, Bonn 1987, S. 201. 38 | Ebd., S. 202. 39 | Ebd., S. 205.
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fer, insbesondere auf dem Arbeitsmarkt. Jeder soll die seinen Anlagen entsprechenden Fähigkeiten ausbilden können, um sich in die Schar der Bewerber einzureihen, aus denen dann unter Wahrung der Regeln der Nichtdiskriminierung die am meisten geeigneten auszuwählen sind. Es geht nicht darum, die Spielregeln zu ändern, sondern am Spieltisch Platz zu nehmen, wie Zygmunt Baumann bemerkt.40 Die Vorstellung, dass der Sohn eines arbeitslosen Gelegenheitsarbeiters, wenn er denn fleißig und genügsam ist, dieselben Chancen haben soll, Arzt zu werden, wie der Sohn eines Arztes, ist denn auch der äußerste Punkt der Kritik, zu dem man auf dem Standpunkt der Marktmoral gelangen kann. Doch die Vorstellung der Chancengleichheit, die auch bei Wahlen oder vor Gericht eine Rolle spielt, ist ökonomisch widersprüchlich. Man bezieht sich positiv auf den Betrieb der Konkurrenz, deren Wesen es ist, Gewinner UND Verlierer zu erzeugen. Anders als beim sportlichen Wettlauf hat der Verlierer nicht einfach nur verloren und ist, je nach psychischer Konstitution, mehr oder weniger entmutigt, sondern ihm entgehen auch die Mittel für künftige Erfolge. Außerdem geht es im Sport, trotz aller martialischen Rhetorik, nicht ums Überleben, sei es buchstäblich, sei es als bürgerliche Existenz. Dem ökonomischen Wettbewerb aber fehlte ohne den Ernst des drohenden Aussortiertwerdens die Wucht. Wer aussortiert ist, hat auch keine Chancen mehr.
VI Eine solche Situation zu vermeiden, gebietet die Grundnorm der Selbstverantwortung. Wir sind gehalten, für uns selbst als ökonomische Subjekte zu sorgen, wir haben, wie weiland Hegel schrieb, unsere Ehre darin, uns durch unsere Arbeit selbst zu erhalten. Der Markt ist, so meinte kürzlich Wolfgang Kersting, die hohe Schule der Selbstverantwortung.41 Allerdings haben wir es mit Bedingungen zu tun, die wir oft nicht überblicken. Wir handeln, sei es als Produzenten auf dem Güter-, sei es als Arbeitssuchender auf dem Arbeitsmarkt, unter Bedingungen, die wir uns selten ausgesucht, geschweige denn geschaffen haben. Die Reaktion 40 | Vgl. Z. Baumann: Leben in der Flüchtigen Moderne, Frankfurt a.M. 2007, S. 120. 41 | W. Kersting: Wie gerecht ist der Markt? Hamburg 2012, S. 20.
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des Subjekts, das für sich verantwortlich ist, besteht darin, sich selbst zu optimieren und sich der objektiven Lage anzupassen. Ich nehme meine ökonomische Selbstverantwortung wahr, indem ich mich ausbilde, anpreise und einfüge. Was uns winkt, ist der Erfolg, was uns droht, der Ausschluss. Schon Hobbes war der Ansicht, dass der, der es nicht fertig bringt, sich den anderen anzupassen, »aufgegeben oder aus der Gesellschaft ausgestoßen werden (muss), weil er ihr lästig ist«.42 Die Normen, denen wir uns anzupassen haben, sind zwangsläufig heteronom. Aber Selbstverantwortung ohne Selbstbestimmung scheint ein vollkommener Widerspruch, der nur entweder klar ausgesprochen und analysiert oder aber ideologisch zugekleistert werden kann. Die Analyse ergibt, dass die Selbstverantwortung des Marktsubjekts in Verhältnissen ausgeübt wird, die durch die ökonomische Macht des Privateigentums und den Zweck seiner Verwertung bestimmt sind. Erfolg oder Misserfolg sind immer bis zu einem gewissen Grade diesen Verhältnissen geschuldet, aber da man nie genau wissen kann, bis zu welchem Grade, bleibt es immer möglich, sie sich selbst zuzurechnen. Professionellen und Amateur-Psychologen eröffnet sich ein weites Feld. Selbstverantwortung heißt, die Resultate eigener Anstrengung, z.B. die Ablehnung einer Bewerbung, eine Pleite oder Entlassung, als Folgen des eigenen Handelns zu verstehen, auch wenn sich Mächte darin auswirken, die man kaum zu identifizieren und zu beeinflussen vermag. Umgekehrt kann man sich auch Erfolge auf die eigene Fahne schreiben und zu völlig überzogenen Vorstellungen von der eigenen Vortrefflichkeit kommen. Das Urteil, das den Daumen nach oben oder nach unten richtet, wird von keinem Tyrannen gefällt und ist doch nicht weniger autoritär. Auch in die »verdinglichte Autorität der 42 | Th. Hobbes: Leviathan, S. 127. Vgl. Z. Baumann: Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten der Moderne, Hamburg 2005, S. 12: »Die Produktion ›menschlichen Abfalls‹ – korrekter ausgedrückt: nutzloser Menschen […] – ist ein unvermeidliches Ergebnis der Modernisierung und eine untrennbare Begleiterscheinung der Moderne.« Ebd., S. 59: »Die Produktion menschlichen Abfalls ist nur eine Nebenhandlung des wirtschaftlichen Fortschritts und trägt alle Kennzeichen eines unpersönlichen, rein technischen Geschehens. Die Hauptakteure des Dramas heißen ›Terms of Trade‹, ›Markterfordernisse‹, ›Konkurrenzdruck‹, ›Produktivitäts- oder Effizienzerfordernisse‹, allesamt Begriffe, die jegliche Verbindung mit Absichten, Willen, Entscheidungen und Handlungen wirklicher Menschen mit Namen und Adresse entweder kaschieren oder explizit verneinen.«
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Ökonomie« muss man sich schicken.43 Und wie im Mythos gilt: »[W]en das Los trifft, der ist auch schuldig.«44 Natürlich hört die Verantwortung des Marktsubjekts nicht auf, wenn es sich an den Mann gebracht hat. Angetrieben von Konkurrenz und Furcht überträgt sich die Verantwortung für sich selbst auch auf die Arbeit, die das Marktsubjekt zu verrichten hat. Schon Marx hatte festgestellt, dass sich der moderne Lohnarbeiter durch ein »feeling of responsibility« auszeichnet, das ihn zu einem viel besseren Arbeiter mache als den Sklaven.45 Mit Marx könnte man sagen: Selbstverantwortung ist die Charaktermaske des Arbeitskraft-Verkäufers. Allerdings ist seine Verantwortung so eingeschränkt und spezialistisch wie die Arbeit selbst. Die hoch differenzierte Arbeitsteilung in Fabrik, Verwaltung und Behörde beschränkt die Tätigkeit, für die man verantwortlich ist. Darüber hinauszusehen, schadet nur – vor allem sich selbst, weil es dem Betrieb schadet, an dessen Erfolg man gekettet ist. Unter der Hand hat sich der Sinn der Verantwortung geändert. Die Sittlichkeit des Arbeitens für Andere, die Hegel dem System der Bedürfnisse zugeschrieben hatte, schrumpft zur Verantwortung für das Funktionieren des Apparats. Alle arbeiten gewissenhaft und keiner ist verantwortlich für das, was heraus kommt, hat er doch genug mit sich selbst zu tun. »Je allgemeiner das System der modernen Industrie von jedem verlangt, daß er sich an es verdingen muss, um so mehr wird alles, was nicht zum Meer des white trash gehört, in das die unqualifizierte Arbeitslosigkeit und Arbeit übergeht, zum kleinen Experten, zur Existenz, die für sich selbst sich umschauen muß. Als qualifizierte Arbeit breitet die Selbständigkeit des Unternehmers […] über alle als Produzierende Zugelassenen […] als deren Charakter sich aus. Die Selbstachtung der Menschen wächst proportional mit ihrer Fungibilität.« 46
Es ist bemerkenswert, wie Horkheimer und Adorno schon vor 70 Jahren registriert haben, was in jüngster Zeit als das Allerneueste annonciert 43 | M. Horkheimer: Autorität und Familie, Gesammelte Schriften Bd. 3, S. 336417, S. 372f. 44 | Ebd., S. 411. 45 | K. Marx: Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses, Marx Engels Gesamtausgabe Abtlg. II, Bd. 4.1, S. 101f. 46 | M. Horkheimer, Th.W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a.M. 1969, S. 115.
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werden konnte: Die Verwandlung des abhängig Beschäftigten in einen Selbst-Unternehmer. Da er nichts einzusetzen hat als sich selbst, befindet er sich in einer Situation permanenter Selbstüberforderung. Der französische Soziologe Alain Ehrenberg hatte vermutlich nicht Unrecht, als er die Depression als eine »Krankheit der Verantwortlichkeit« definierte.47 Allerdings hat er die übermäßige Forderung, unter welcher das Ich leidet, wohl nicht richtig identifiziert. Nicht Authentizität und Emanzipation sind die Forderungen, die das moderne Selbst erschöpfen, sondern die »Anbetung des bloßen Erfolgs, diese[s] Gott[es] der modernen Welt«, wie Horkheimer schrieb.48 Je höher die Etage liegt, auf der man antreten will, kann oder soll, desto mehr äußert sich der Zwang in dem, was man den Originalitätsimperativ nennen könnte. Man muss nicht nur zeigen, dass man gut einpassbar ist, sondern auch, dass man allein und aufgrund seiner unverwechselbaren Besonderheit zu gebrauchen ist – ein neuer Widerspruch, der das zur Selbstverantwortung angehaltene Subjekt zur Erschöpfung treiben kann. Der Aufruf zur ökonomischen Selbstverantwortung erfolgt am Ende durch den Staat. Er hat sich den Arbeitslosen gegenüber dem Fördern und Fordern verschrieben. Gefordert wird z.B., dass die Kunden, wie die Arbeitslosen nunmehr heißen, mit den Behörden formelle Verträge schließen, sog. Eingliederungsvereinbarungen. Dass es sich bei der »Vereinbarung« um marktideologisches Gerede handelt, zeigt die Möglichkeit, dass sie auch durch einen Verwaltungsakt herbeigeführt werden kann. In den Vereinbarungen sind Auflagen enthalten wie etwa die Zahl der Bewerbungen, die in einer bestimmten Zeit zu schreiben sind. Kommt der Arbeitssuchende ihnen nicht nach oder lehnt er eine zumutbare Arbeit ab – zumutbar sind alle Arbeiten, die nicht sittenwidrig sind, also auch solche, die weit unter dem Niveau von Ausbildung und bisheriger Berufstätigkeit liegen – so können ihm die gesetzlichen Leistungen gekürzt werden. Adam Smiths Worte vom Arbeiter, der genügsam und fleißig ist, bekommen eine neue Aktualität. Das Muster des Forderns war auch vor 200 Jahren schon bekannt, als das englische Speenhamland-System, das den Armen ein »Recht auf Lebensunterhalt« garantiert hatte49, 47 | A. Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, Frankfurt a.M. 2004, S. 4. 48 | M. Horkheimer: Autorität und Familie, S. 383. 49 | Vgl. K. Polanyi: The Great Transformation, Frankfurt a.M. 1978, S. 113ff.
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die Reichen arm zu machen drohte, wie David Ricardo in seinen Grundsätzen der politischen Ökonomie befand. Man solle die Armengesetze allmählich auslaufen lassen und bessere Zustände herbeiführen durch »die Erweckung der Wertschätzung von Unabhängigkeit im Armen, durch die Belehrung, sich nicht auf eine systematische oder zufällige Mildtätigkeit zu verlassen, sondern auf ihre eigenen Anstrengungen für Unterhalt […].«50 Völlig abwegig ist für Ricardo die Verordnung von Mindestlöhnen. Der Staat darf in solche Angelegenheiten nicht eingreifen, der Lohn muss vollständig dem Markt überlassen bleiben. Das Problem der Armut freilich ist für Ricardo vor allem eins der Moral der Armen und im Übrigen eines der Biologie. Sie kriegen einfach zu viele Kinder. Hier darf, ja muss der Staat ggf. tätig werden. Noch einmal Ricardo: »Es ist eine Wahrheit, welche nicht einen Zweifel zulässt, dass die Annehmlichkeiten und das Wohlergehen der Armen auf die Dauer nicht gesichert werden können ohne eine gewisse Rücksichtnahme ihrerseits oder einige Bemühungen von Seiten der Gesetzgebung, das Anwachsen ihrer Zahl zu regulieren und frühe und unüberlegte Heiraten unter ihnen zu vermeiden.« 51
Auch beim Muster-Liberalen Ricardo gilt: Soziale Probleme lassen sich nicht ohne den Staat lösen. Und: Für den Wirtschaftsliberalismus ist immer eine Lösung möglich, gegen die Hobbes’ Leviathan harmlos erscheinen muss.
VII Ich kann meine Ergebnisse nun zusammenfassen. Es gibt, so konnten wir sehen, eine dem Markt inhärente Moral, die in juristische Formen gegossen wird, damit sich keiner von ihrer Realisierung ausnehmen kann. Es handelt sich um die Verbindlichkeit von Verträgen, um die Anerkennung der gleichen Freiheit und des gleichen Egoismus der Privateigentümer, um die Chancengleichheit der Wettbewerber und um die Selbstverantwortung der Marktsubjekte. Die Verwirklichung dieser Werte und 50 | D. Ricardo: Grundsätze der politischen Ökonomie und der Besteuerung, Frankfurt a.M. 1972, S. 90. 51 | Ebd.
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Vorschriften offenbart jedoch fundamentale Widersprüche. Da die Anerkennung unter der Bedingung des Nutzens steht und die Nachfrage nur als kaufkräftige zählt, wird der, der nichts zu bieten hat, ausgeschlossen. Die Marktwirtschaft besitzt notwendig eine Dynamik der Expansion und insofern tendiert sie zur Universalisierung von Anerkennung, aber sie schränkt die Allgemeinheit, deren Wohl zu dienen sie vorgibt, stets auch ein. Es sind durchaus nicht alle, die von ihr profitieren sollen. Alle aber sollen für sich, d.h. für ihr Wohl und Wehe als ökonomische Subjekte verantwortlich sein, obgleich sie die Bedingungen ihres Erfolgs oder Misserfolgs weder verstehen noch über sie selbst bestimmen können. Sie bewegen sich in einem asymmetrischen Raum der Macht und müssen sich anpassen. Schließlich werden sie vom Staat aufgerufen, ihre Dinge selbst zu regeln, widrigenfalls drohen Sanktionen. Gäbe es nichts als die Marktwirtschaft und ihren Staat, sähe das Bild unserer Gesellschaft trostlos aus. Zum Glück kommen wir nicht als Käufer und Verkäufer auf die Welt und zur Beruhigung gibt es einen Sozialstaat, der noch andere Funktionen übernimmt, als die zur Sicherung des ökonomischen Systems ihm zugewiesenen.52 Eine unbestimmbare Anzahl von Individuen macht Erfahrungen, die sie zu mehr befähigen als einem Sinn für Fairness in der oben erläuterten Bedeutung. Zum einen haben sie einen Sinn fürs Mitleid wie die Philosophen des 18. Jahrhunderts, einschließlich Adam Smith, betont hatten. Weil sich die Quellen der Moral nicht auf die Marktsubjektivität verkürzen lassen, kann Selbstverantwortung, wie man seit über 2000 Jahren von den Philosophen lernen kann, auch im Hinblick auf moralische Integrität bestimmt werden. Die Quellen der Moral liegen zum anderen auch in der Vernunft, welche die Widersprüche der Marktmoral reflektiert und kritisiert und so zu einem Begriff der Würde gelangt, welcher der Menschheit in jedem Einzelnen auch dann noch den Charakter des Selbstzwecks zuspricht, wenn sie sich nicht in reziprok egoistischer Selbstbestimmung äußern kann. Aus einem solchen Begriff von Würde erwachsen Vorstellungen von sozialen Rechten und Pflichten der Gesellschaft gegen die Individuen, wie sie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 in den Artikeln 22-27 kodifiziert sind. Gerechtigkeit lässt sich demnach nicht auf Tauschgerechtig52 | Nach A. Smith handelt es sich um die Infrastruktur, ein funktionierendes Rechtswesen und die Verteidigung nach außen. Vgl. A. Smith: Der Wohlstand, S. 582.
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keit im Sinne der Fairness reduzieren, sondern verlangt eine Vorstellung des gesellschaftlichen Reichtums als eines Gemeinsamen, das auf der Basis sozialer Menschenrechte gerecht zu verteilen wäre. Und damit könnte sich auch die Chancengleichheit auf mehr beziehen als die Teilhabe am Spieltisch, nämlich auf die Bedingungen eines guten Lebens, das durch die Verwirklichung der individuellen Fähigkeiten und durch die freie Entwicklung aller definiert ist.
Ethik als Technik der Kultur Volker Gerhardt 1. Zum Thema. Die mir gestellte Frage lautet: Ethik wozu – und wie weiter? Es ist allemal gut, große Fragen zu unterteilen, weil das erlaubt, die Antwort in einzelnen Schritten zu geben. Aber das Ziel wäre dennoch, eine einheitliche Antwort zu finden. Am besten wäre eine These, die zum »Wozu?« bereits eine so gehaltvolle Auskunft bietet, dass man nach dem »Und wie weiter?« nicht mehr fragen muss, weil die Antwort schon im »Wozu?« enthalten ist. Doch das ist leichter gesagt als getan. Gesetzt, es gelänge, auf die Frage: »Wozu aufrechter Gang?« eine plausible Antwort zu geben, erledigte sich die nachfolgende Frage: »Wie weiter?« von selbst, es sei denn, der Mensch hätte die Erde verlassen und bewegte sich hinfort im schwerelosen Raum, in dem der aufrechte Gang keine Rolle mehr spielt. Oder es wäre endgültig erwiesen, dass die Wirbelsäule doch eine Fehlkonstruktion der Natur ist, deren Nachteile sich weder durch Sport, größten Sitz- und Liegekomfort, Stützkorsagen oder orthopädisches enhancement wirkungsvoll kompensieren ließen. Dann müsste eine Alternative zum aufrechten Gang gefunden werden. Wir wüssten dann zwar, wozu er einmal gut war; aber auf das »Wie weiter?« müssten völlig neue Antworten gefunden werden. Im Kontext von Überlegungen zur Ethik, Technik und Natur bietet das Beispiel vom aufrechten Gang gleich zwei Vorteile: Erstens kann selbst von Technikskeptikern schwerlich bestritten werden, dass der aufrechte Gang eine Technik ist, derer sich die Natur bedient und mit deren Hilfe sie offenkundig nicht nur die Fortbewegungsart einer Spezies bestimmt. Denn die allein durch die technische Innovation ausgelösten Folgen haben zu etwas geführt, was viele, insbesondere aber die technophoben Philosophen, für das Gegenteil von Natur zu halten geneigt sind. Dieses Gegenteil könnte in der Kultur gefunden werden.
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Doch eine aus der Natur stammende Technik kann schwerlich eine Alternative zur Natur hervorbringen. Und so wenig die aus der Natur stammenden Leistungen der Kultur und des Geistes nicht als Opponenten der Natur gelten können, kann auch die in Motiv und Material aus der Natur hervorgehende Technik als Gegensatz (oder vielleicht auch nur als Ersatz) der Natur verstanden werden. Rechnen wir hinzu, dass die Folgen der Technik stets auch dem Naturwesen Mensch zugutekommen, entfällt ein weiterer Grund, die Technik als einen Antagonisten der Natur zu begreifen. Zwar nimmt sie bestimmten Natureffekten ihre Wirkung; sie kann überdies zu folgenreichen Umweltschäden führen; aber alles, was die Technik bewirkt, geschieht mit den durch die Technik kanalisierten oder konkretisierten Kräften der Natur. Auch das verbietet, die Technik auf die ontologische Gegenseite der Natur zu verlegen. Sie ist nicht mehr und nicht weniger als eine – unter Mitwirkung des Menschen – hervorgerufene Form der Natur. Zweitens sind wir gewöhnt, den »aufrechten Gang« als eine Metapher für eine ethische Haltung anzusehen. Wenn die Philosophie der Theologie nicht die Schleppe nachtragen, sondern, wie Kant sagt, mit der Fackel vorangehen soll, assoziieren wir den Dienst im ersten Fall mit einer gebückten, zumindest demütigen Haltung, im zweiten aber mit einem aufrechten Gang, der sich auch aus Gründen der Aufmerksamkeit, der gewahrten Umsicht und der eigenen Sichtbarkeit empfiehlt. Aber es sind nicht nur die funktionalen Vorteile der besseren Sicht und Sichtbarkeit. Wer aufrecht steht, verspricht auch Stand zu halten. Er ist sich seiner Stellung gegenüber anderen bewusst. Er kann seinem Gegenüber offen ins Auge blicken, kann sein Wort im Bewusstsein eigener Kräfte geben und darf als mündig gelten. Er äußert sich zu seinesgleichen »auf Augenhöhe«. Alle diese noch ganz auf die aufrechte Stellung bezogenen Erwartungen haben eine ethische Implikation, deren moralisches Gewicht nicht zu leugnen ist, wenn wir sie mit der »Aufrichtigkeit« in Verbindung bringen. Wer aufrichtig ist, der ist auch wahrhaftig. Und wenn Kant sagt, dass alle Tugenden in einer einzigen Tugend zusammenfinden, nämlich in der der Wahrhaftigkeit, stehen wir mit dem durch den aufrechten Gang ermöglichten aufrechten Stand im Zentrum der Ethik. 2. Moral als das, »was sich von selbst versteht«. Gesetzt, ich würde mich vom Beispiel des aufrechten Gangs und der von ihm mitgeführten ethischen
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Bedeutung verleiten lassen, auf die Themafrage: »Ethik wozu?« die Antwort zu geben: »um wahrhaftig zu sein!«, was bliebe uns dann noch zum »Und wie weiter?« zu sagen übrig? Doch wohl nur: »Weiter so – aber bitte mit etwas mehr Mut und Entschlossenheit sowie mit größerer Aufmerksamkeit für die jeweils gegebenen und ständig wechselnden Umstände!« In der Tat ist eben das meine ethische Auskunft, bei der ich es für heute allerdings nicht einfach belassen möchte. Wenn Moral das ist, »was sich«, wie der große Spötter Friedrich Theodor Vischer treffend gesagt hat, »von selbst versteht«,1 heißt das ja nicht, das man dazu nichts weiter sagen kann. Denn erstens heißt Denken, dass man allem und insbesondere dem Selbstverständlichen ständig etwas Neues abgewinnen kann. Und zweitens kann man sehen, dass auch für jene, die mit der Berufung auf Vischers ironisch-treffendes Wort jede weitere Auskunft über die Ethik verweigert haben, dies keineswegs schon alles war. Das hat sich mir am Beispiel des 1996 verstorbenen Philosophen Hans Blumenberg gezeigt, der in seinen Münsteraner Lehrveranstaltungen zwar nie über Ethik sprach, aber jederzeit den Eindruck zu erwecken suchte, dass er allen in Wissen, Gründlichkeit und Konsequenz überlegen sei. So musste er seinen Hörern notwendig als ein Wissenschaftler erscheinen, dem, sagen wir, »wissenschaftsethisch« niemand das Wasser reichen kann. Er demonstrierte an immer neuen Textpartien, dass er viel genauer zu lesen verstehe als jeder seiner Kollegen, und exponierte sich somit in seinen Vorlesungen nicht nur selbst als ein Philosoph mit einem überlegenen Arbeitsethos, sondern war auch in der Lage, einen beachtlichen moralischen Druck auf seine Zuhörer auszuüben. Von Hans Blumenberg, von dem allgemein angenommen wurde, dass er in Münster einen Lehrstuhl für Praktische Philosophie (also auch für Ethik) innehatte, war in seinen Vorlesungen niemals mehr zur Moral zu hören, als das Zitat von Friedrich Theodor Vischer. Doch in einem unveröffentlichten kleinen Beitrag, der heute in Marbach liegt, macht Blumenberg Sigmund Freud und Hannah Arendt erbitterte Vorwürfe, weil sie einem »Absolutismus der Wahrheit« gehuldigt hätten, indem sie jeweils zur Unzeit die Wahrheit (über den »Mann Moses« [einen »Ägypter«] und
1 | F.Th. Vischer, Das Moralische versteht sich immer von selbst, in: F.Th. Fischer, Auch einer. Eine Reisebekanntschaft, Frankfurt 1878. S. 27
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über »Eichmann« [einen »banalen« Charakter]) veröffentlichten, ohne auf die Leiden des jüdischen Volkes Rücksicht zu nehmen.2 Ganz gleich, wie man über die jeweiligen Sachverhalte denkt: In diesem Nachlasstext entpuppt sich Blumenberg als unerbittlicher Moralist. Das kann man ihm hoch anrechnen oder ihm als ein Versagen der moralischen Urteilskraft vorhalten. Aber wissenschaftsethisch ist es ein Versäumnis, dass er seinen Studenten die Gründe für seine moralische Einstellung zur Wahrheit, mit der er in historischen, philologischen und logischen Fragen so schneidend zu operieren wusste, nicht erläutert hat. Hier, so scheint mir, hat der Moralist zumindest in seiner Profession, der Philosophie, versagt. Das wiederum zeigt: Es ist gut (aber auch nicht sonderlich schwer) die Wahrhaftigkeit zur Tugend aller Tugenden zu erklären; es ist aber alles andere als leicht, jederzeit auch bei der Wahrheit zu bleiben und zum geeigneten Zeitpunkt das Richtige zu sagen – und erst recht es zu tun. Nun zur Sache: Wie lässt sich eine nicht bloß auf eine metaphorische Verknüpfung gegründete Antwort auf die Themafrage Wozu Ethik? finden? Dieser Frage gehe ich im Folgenden in weitgehender Annäherung an die Technik nach. Dabei wird gewiss nicht die ganze Dimension der Ethik erschlossen. Aber dieses Defizit ist in Kauf zu nehmen, wenn es mit dem in unserem Kontext vielleicht einsichtigen Vorteil verbunden ist, die Nähe zwischen Ethik und Technik auszuleuchten. Dabei sollte es sich von selbst verstehen, dass ich im Folgenden meine Antwort auf die Themafrage nur in der Form einer Skizze geben kann. Sie soll aber deutlich machen, dass eine philosophische Behandlung der Technik alles andere als beiläufig ist. 3. Der Körper als technischer Apparat. Im ersten Schritt der Überlegung ist zu zeigen, dass es die Technik ist, durch die sich die Natur in eine neue Form, nämlich in die der Kultur überführt. Angesichts der seit der Antike festgeschriebenen Unterscheidungen zwischen Natur und kultureller Leistung, sagen wir: zwischen physis und thesis (die sich bis heute zu einem vielfältigen Kaleidoskop von Gegensätzen ausgewachsen haben), 2 | Siehe dazu: Hans Blumenberg, Rigorismus der Wahrheit. »Moses der Ägypter« und weitere Texte zu Freud und Hannah Arendt, hrsg., komm. u. mit einem Nachwort versehen von Ahlrich Meyer, Berlin 2015.
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scheint das ein nahezu aussichtsloses Unterfangen zu sein. Gleichwohl bin ich überzeugt, dass uns die umfassenden Einsichten in die Frühgeschichte des Menschen, in die Ursprungsgeschichte unserer Kulturen (beginnend mit der Steinzeit und gefolgt von den großen Zivilisationen im afroeurasischen Halbmond ab 6000 v. Chr.) sowie in die Logik der kulturellen Evolution eine belastbare argumentative Basis für den Erweis der These geben können, dass die menschliche Kultur eine Form der Natur ist, die wesentlich durch Technik ermöglicht wird.3 Zur These von der Kultur als Form der Natur gehört der Nachweis, dass Technik dem Menschen keineswegs nur äußerlich ist, sondern dass sie auch seine innere (physiologische) Organisation sowie seinen reflexiven Umgang mit sich selbst bestimmt. Das ist den Medizinern und den Psychologen seit langem vertraut. Aber es bereitet uns auch im alltäglichen Leben offenbar keine Probleme, unsere Extremitäten nach Art von technischen Werkzeugen zu begreifen. Die Hand ist das Modell für den Hammer, den Teller, die Schale, den Löffel oder die Kelle, mit der die Polizei den Verkehrssünder stoppt. Die Kamera haben findige Techniker nach dem Modell des Auges konstruiert, und so erklären die Physiologen inzwischen die Leistung des Auges unter Bezug auf die Funktion eines Fotoapparats. Damit haben wir eines unserer wesentlichen Organe in den Funktionskreis einer Technik eingeholt, nach der schon in der Antike der Körper beschrieben wurde. Dass von den Organen des Kopfes Steuerungsimpulse in den ganzen Körper ausgeschickt werden, ist ebenfalls seit der Antike bekannt. Seit man die Wirkung des Luftdrucks entdeckt hat, wird unser Herz als »Pumpe« begriffen. Das hat heute längst schon das Kabarett erreicht: Bei Otto Waalkes nehmen sich die Organe wechselseitig in die Pflicht: »Auge an Großhirn, Großhirn an Nase und Ohr, beide an Großhirn«, und noch bevor das Großhirn Befehle an Arme und Beine geben kann, veranlasst das Kleinhirn, dass der Mensch die Flucht ergreift. Kurz: Der Körper wird seit Jahrtausenden (wie bei Homer, Aristoteles oder Livius) als eine soziale Kooperative verschiedenster Organe und seit Jahrhunderten als Maschine (und somit in beiden Fällen als technisch) be3 | Beispiele: Domestikation des Feuers; Arbeitsteilung und großräumiger Tauschverkehr um 70 000 v. Chr.; Recht als frühe Institution zur Regelung von Landbesitz, Heirat, Erbfolge und Handel; Bildproduktion und Symbolisierung, Entwicklung der Schrift und des Rechts.
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griffen. Dabei muss man aus dem Blickwinkel unseres heutigen Wissens sagen, dass die mechanistischen Modelle der Neuzeit sich die maschinelle Einheit des Körpers ein wenig zu einfach vorgestellt haben: Die organische Integration aller Funktionen, ihr flexibles Zusammenspiel mit den Konditionen ihrer Umwelt, die Besonderheit der sozialen Interaktion, die Leistungen der medialen Kommunikation und die Tiefenstruktur der Selbststeuerung – von der molekularen, über die physiologische bis hin zur affektiven, semantischen und intellektuellen Ebene –, alles das wurde in den mechanischen Modellen heillos unterschätzt. Gleichwohl lehren uns die ungleich komplexeren, sich selbst steuernden elektronischen Geräte, in welchem Umfang auch Leib und Geist des Menschen technisch rekonstruierbar sind. 4. Die Technik des Begreifens. Wie ist es, bei genauerem Hinsehen, mit unseren reflexiven, unseren geistigen Leistungen? Die Frage ist nicht leicht zu beantworten. Viele glauben bis heute, eine Antwort sei dem Menschen gar nicht möglich, und sie verweisen auf Gott.4 Ich denke, dass hier ein Fall vorliegt, in dem sich der Mensch ausnahmsweise einmal unterschätzt. Wer ernst damit macht, die Funktionsweise unserer Begriffe ebenfalls nach dem Modell zu beschreiben, das bereits die Etymologie des Be-griffs (des Be-greifens, des Zu-griffs, des In-den-Griff-Bekommens etc.) bestimmt, der kann beträchtlich weiterkommen. Wir erkennen, dass man hier zumindest nicht auf unüberwindliche Hindernisse stößt. Entscheidend ist, dass wir die Sphäre des Begrifflichen vom Bann vorschneller ontologischer Separation befreien und ernsthaft daran gehen, ihre funktionale Einbindung in den einheitlichen Kontext des Lebens zu erfassen.
4 | So geschieht es bei Max Scheler ziemlich unvermittelt. In Die Stellung des Menschen im Kosmos (1927) entwirft er ein eindrucksvolles Panorama der Einbindung des Menschen in die Natur, um im Übergang zur Behandlung des Geistes mit einem Salto mortale aus ihr herauszuspringen. Hier wird sowohl dem Geist wie auch dem mit ihm beschworenen Göttlichen Unrecht getan, denn beides ist stärker mit der lebendigen Natur verbunden als es sich eine Theologie, die Gott als transzendentes Wesen denkt, vorstellen kann. Dass man Gott auch anders denken kann zeige ich in: V. Gerhardt, Der Sinn des Sinns. Versuch über das Göttliche, München 2014.
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Hier geht es, nebenbei bemerkt, auch um mehr technisches Verständnis für die integralen Leistungen der Natur. Erkennen und Begreifen sind zweifellos etwas höchst Besonderes, das nicht durch Reduktion auf die Kausalmechanik der Natur erfasst werden kann. Wir haben hier schier unglaublich bewegliche Vermögen, die etwas vollkommen Neues und zugleich gänzlich Anderes leisten, für das es in der physischen Welt kein Beispiel gibt. Deshalb stellt sich bei den geistigen Leistungen auch so leicht die Assoziation zum Göttlichen ein. Mit dem Begreifen und dem Denken ist man augenblicklich sowohl am Anfang wie auch am Ende der Welt, ehe die Techniker nur daran denken konnten, das erste Weltraumschiff zu bauen. Aber es ist nicht nötig, sich erst das Ganze des Raums oder der Zeit auszudenken: Schon die Fähigkeit der Begriffe, überhaupt etwas definitiv als etwas festzulegen und damit Identität auszusagen, vollführt das doppelte Kunststück, in einem Akt Individuelles und Universelles zu verknüpfen. Beides gibt es so, wie wir es denken, nirgendwo als physischen Tatbestand; aber kein physischer Tatbestand ist ohne sie zu begreifen. Schon »dies da« zu sagen oder zu zeigen, ist ohne Begriff, der Universelles hernimmt, um es exemplarisch auf dieses eine Individuelle zu konzentrieren, gar nicht möglich. Wir können diese wechselseitige Zuspitzung von Individualität und Universalität als das Erstaunlichste im Unscheinbaren unseres alltäglichen Denkens und Sprechens ansehen, sollten es aber für möglich halten, dafür eine Erklärung zu finden. Dazu muss man sich vielleicht nur die Mühe machen, genau zu beschreiben, was durch das »Dieses da« im Miteinander verschiedener Menschen angesichts einer Welt, die jedem anders erscheint, erreicht werden kann: Dadurch wird es immerhin möglich, dass verschiedene Menschen an einer Aufgabe beteiligt sind, deren Lösung auch unabhängig von ihnen durch wieder andere Individuen womöglich auch unter ganz anderen Umständen eine Hilfe sein kann. Zwar können die Insektenforscher sagen, dass sei auch Termiten und Ameisen möglich, wenn sie aufgrund ihrer instinktiven Ausstattung zu arbeitsteiligen Lösungen ohne jede Erkenntnis, ohne Bezug auf Individualität und Universalität, gelangen. Was aber ist, wenn von der Lösung der Aufgabe erwartet wird, dass sie durch die Beiträge der nachfolgenden Individuen von Generation zu Generation verbessert werden soll? Dann muss die Lösung als solche aufgefasst werden können, so dass sie nicht
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länger nur der Lebenssicherung der aktuell an ihr beteiligten Individuen dient, sondern, sagen wir, der Kultur, in der sie leben. Und was ist, wenn weniger Zeit zur Verfügung steht, so dass man nicht erst auf den genetischen Niederschlag von Erfolg und Misserfolg warten kann, sondern die Individuen ihre aktuell gemachten Erfahrungen auch aktuell an die nächste Generation weitergeben können sollen? Dann muss bereits mit Bezug auf »Dieses da« gelernt werden können. Und dann brauchen die Individuen für sich selbst einen Begriff, dem sie sich unterstellen. Mit diesem Lösungsvorschlag greifen wir auf das Selbstverständnis der beteiligten Individuen aus, die in der Lage sein müssen, sich selbst nach Art eines »Diese da« begreifen zu können. Ein schlichteres Modell wäre es, die Besonderheit des Denkens darin zu sehen, dass wir es selbst schon nach Art eines tätigen Einteilens und Ordnens ansehen, das Formen bietet, in denen Stoffliches in einer Weise bestimmt wird, in der es sich mitteilen lässt. So erscheinen Begreifen und Denken selbst als eine Form vorausschauender Organisation von Handlungen im sozialen Raum, die es erlauben sich bereits vor einem Geschehen über dessen Voraussetzungen, dessen Ablauf und dessen mögliche Folgen zu verständigen. Vielleicht simuliert der Intellekt eben das, was in einer geordneten Folge von Tätigkeiten Kooperation ermöglicht, so dass man ihn – in seiner präsenten Verständlichkeit durch Viele bereits selbst als eine Form soziotechnischer Kooperation im Zustand der Simulation – bezeichnen kann. So gesehen, könnte die alte platonische Unterscheidung zwischen (göttlicher) Idee und (sinnlich präsenten) Dingen eine ziemlich genaue Veranschaulichung der Leistung des Geistes enthalten; denn die Idee bietet das uneingeschränkte Verständnis eines Sachverhalts, der stets nur unter den üblichen lokal-historischen Einschränkungen vergegenwärtigt oder gar geschaffen werden kann. So kann dasselbe überall und jedesmal anders sein. Dynamisiert man den soziotechnischen Vorlauf der organisierenden Leistung des Geistes kommt man in die Nähe der aristotelischen Begrifflichkeit von Form und Stoff. Diese Unterscheidung kann als die Ursprungsleistung des Verstandes angesehen werden; sie folgt einem technischen Modell der Trennung von etwas, das ursprünglich zusammengehört, sich in der Aufteilung aber besser genießen, bearbeiten oder weitergeben lässt.
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Man braucht den Geist also nur versuchsweise als eine kooperative, die produktiven Teilnehmer in ihrer Tätigkeit sozial und technisch vermittelnde Größe zu verstehen, und schon erkennt man die intellektuelle Form als eine Absprache, Planung und exakte Herstellung ermöglichende Organisation von Teilen zu einem jeweiligen Ganzen, das wir als Werkzeug, Ware, Bild oder Institution – und in jedem Fall als Leistung – begreifen können. Das wiederum ist dann der »Stoff« aus dem die gegenständliche Welt besteht. Doch wie dem auch sei: Der Begriff ist selbst immer auch ein Instrument, das uns Sachverhalte und mit ihnen die Welt vermittelt. Und das leistet er niemals bloß für den, der es gerade tut, auf augenblicklich einsichtige Weise, sondern zugleich so, dass es auch anderen so einleuchtet, dass es als allgemeine Erkenntnis erscheinen kann, selbst dann, wenn sie die Feststellung für unzutreffend halten. Wenn es ihnen wichtig erscheint, nehmen sie den Begriff zum Anlass, den durch ihn bezeichneten Sachverhalt zu prüfen. Auch das ist ein technischer Effekt. 5. Organe der Mitteilung. In den skizzierten Leistungen ist das Bewusstsein nicht einfach nur das im Inneren ins Innere geöffnete Auge eines im Inneren wirkenden Geistes, sondern es ist das interindividuelle Organ, das in der Lage ist, alles Erkenn- und Benennbare in der Welt (und sogar die Welt selbst) zum Mittel der Mitteilung zwischen handelnden Individuen zu machen. Erst in dieser Mitteilung entsteht die Welt als ein Gegenstand der Bearbeitung; erst in der über Sachverhalte ermöglichten Verständigung kommen die beteiligten Individuen zu ihrem Selbstbewusstsein in einer Welt, die in allem eine Funktion ihrer Leistungen ist. Individuum, Sachverhalt und Welt sind somit Funktionsstellen in einem unter zunächst nur natürlichen, aber zunehmend auch unter kulturellen Zwecken stehenden System einer Organisation, die wir nur nach Analogie technischer Leistungen verstehen können. Damit haben Bewusstsein und Geist nicht nur einen sich ganz in einem (von ihnen geschaffenen) allgemeinen Ganzen bewegenden Charakter, sondern sie sind auch in sich selbst instrumentell verfasst: Alles erfolgt unter dem immer auch technischen Imperativ einer Mitteilung zu Absichten, die in der Regel nur im technischen Zusammenhang verständlich sind.
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Damit können wir die Begrifflichkeit aus der Höhle bloßer Innerlichkeit befreien. Die Begriffe versetzen uns in das Licht der Öffentlichkeit.5 Die Organe, die das Bewusstsein ausmachen, mögen »innen«, d.h. im Inneren des Körpers liegen, ihre intellektuelle Leistung aber kommt nur im Außenbereich des Körpers zum Tragen, genauer: im sozialen Raum, der wesentlich das Ganze ist, das aus den intentionalen Absichten selbstbewusster Individuen entsteht, die darin erst zu ihrem Selbstbewusstsein gelangen. Dichter könnte das immer auch technische Grundgerüst des Geistes gar nicht sein. Das kann man sich leicht daran veranschaulichen, dass es ohne äußere Organe gar nicht zu geistigen Leistungen käme, die darüber hinaus auch stets darauf angewiesen sind, nicht nur physische, sondern auch soziale Stimulation zu erhalten. Bei genauerem Zusehen zeigt sich, dass sie überhaupt nur im Zwischenraum der Individuen »sind«. Sie bedeuten und sie gelten nur etwas unter den Bedingungen sozialer Kooperation. Es bedarf der Anderen, damit überhaupt so etwas wie Verstehen, Vorstellen, Begreifen oder Geist entsteht. In seinen Leistungen ist das Bewusstsein extrovertiert, und es hat seinen Ort im durch Handeln und Herstellen eröffneten Zwischenraum der vergesellschafteten Individuen – also in der Kultur. Kultur ist der in der Reflexion ausgespannte und mit den Erträgen reflexiver Leistungen gleichsam institutionell gefüllte, aber durch und durch von Natur getragene Raum des Geistes. 6. Die kulturelle Dimension des Bewusstseins. Etwas für uns zu behalten, ist nicht durch die Natur des Bewusstseins vorgegeben; es ist vielmehr bereits eine Leistung, des prinzipiell auf Öffentlichkeit angelegten Bewusstseins. Deshalb gibt es auch keinen natürlichen Schutz des Bewusstseins durch sich selbst. Es ist nicht »von Natur aus« innen, sondern im Gegenteil »von Natur aus« außen! Das Bewusstsein ist in jedem von uns die ursprüngliche (so in der Natur gar nicht vorkommende) Offenheit vor- und füreinander. Es ist somit auch eine stets erst zu erlernende, durch individuelle Disziplin einzuübende und in gesellschaftlichen Umgang anderen geschul5 | Dazu: V. Gerhardt, Öffentlichkeit. Die politische Form des Bewusstseins, München 2012. Präzisiert in: ders.: Die Öffentlichkeit des Bewusstseins, in: M. Kühnlein (Hg.), Das Politische und das Vorpolitische. Über die Wertgrundlagen der Demokratie, Baden-Baden 2014, S. 471–494; ders.: Licht und Schatten der Öffentlichkeit, Wien 2014.
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dete, aber auch dem eigenen Schutz dienende Leistung, das jeweilige Bewusstsein für sich behalten zu können! Nicht gleich alles zu äußern, was man sieht; nicht mit jeder Neuigkeit herauszuplatzen, sondern bedächtig mit dem umzugehen, was man an neuen Informationen erhält, insbesondere dann, wenn sie andere Personen betreffen. Erst nachzudenken, bevor man spricht; sich nicht zu verraten, wenn man etwas Verbotenes getan oder etwas nur für wenige Bestimmtes erfahren hat; taktvoll sein zu können und im richtigen Augenblick das Passende sagen zu können … Alles das sind Artigkeiten, die im gesellschaftlichen Umgangs mit den Mitmenschen nicht nur einfach von Vorteil, sondern im Interesse eines humanen Umgangs mit einander geboten sind. Man muss Zurückhaltung wahren können, wenn man mit seinesgleichen einvernehmlich leben möchte. Und man muss sich und andere schonen können, wenn man es mit ihnen aushalten möchte. Also muss man lernen, sein Bewusstsein, das ein Zustand welt- und sachbezogener Ausrichtung auf anderes seiner selbst ist, gleichsam gegen seine ursprüngliche Intention, auf sich selbst zu beschränken. Das, was prinzipiell auch anderen bewusst sein kann, muss (wenigstens für eine Zeit lang) beim einzelnen Träger des Bewusstsein verbleiben. Er hat dann nach den jeweiligen Umständen zu entscheiden, wann und wie er davon den Gebrauch macht, der dem Charakter der Mitteilung und der Disposition des jeweiligen Situationsbewusstseins entspricht. Und diese ursprüngliche und bleibende Eigenart des Bewusstseins ist: Mitteilung zu sein. Mitteilung bleibt es auch, wenn einer etwas für sich behält: Dann teilt er es, solange es ihm bewusst bleibt, nur sich selber mit. Das bringt dann die oft beschriebene Doppelung des Selbst in »ich« und »mich« mit sich, das als zusätzlicher Beleg für den ursprünglich kommunikativen Charakter des Bewusstseins dienen kann. Die Subjektivität, die den Philosophen seit mehreren Jahrhunderten als die ursprüngliche Verfassung des Bewusstseins gilt, muss also erst erzeugt und anerzogen werden, ehe sie als »natürlich« erscheint. So kann sie dann tatsächlich erlebt werden, weil sie, wie das Atemholen und das Ausatmen notwendig beim Individuum ansetzt. Im Vorstellen und Erinnern scheint sie so sehr an das Innere des Individuums gebunden zu sein, dass man vergessen kann, wie sehr alles, was sie sachlich ausmacht, nicht nur von außen kommt, sondern auch für das Außen Bedeutung hat. Zwar gibt jedes Individuum den ihm bewussten Inhalten eine eigene Qualität, so wie sich die Luft beim Ein- und Ausatmen erwärmt. Aber das Bewuss-
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te, also der jeweilige Inhalt eines Bewusstseins, ist in seiner gedanklichen Form so wenig rein innerlich, wie man dies von der Luft im Inneren der Lunge sagen kann. Folglich kann man weder das Bewusstsein noch seine Inhalte als subjektiv bezeichnen. Sie haben an sich selbst eine soziale Form und müssen als etwas begriffen werden, das über die bloße Leiblichkeit des Organismus hinaus als Produkt und Element der menschlichen Kultur angesehen werden. Das Bewusstsein darf daher als ein soziales Organ angesehen werden, das in seiner soziomorphen Verfassung zwischen den Leibern vermittelt und eben damit eine sie umhüllende Atmosphäre des Verstehens schafft. Wann immer es dies aber tut, hat es nicht nur eine kulturelle, sondern auch eine technische Funktion. Denn es wird etwas mit Hilfe von etwas anderem vermittelt. Man braucht nur die in vielerlei Hinsicht naheliegende Vermutung für zutreffend halten, dass die kollektive wie die individuelle Entstehung des Bewusstseins an die Sprache gebunden ist, dann kann man die technische Dimension des Bewusstseins so wenig bestreiten wie die immer auch technische Leistung des Sprechens. Was muss nicht alles gegeben und gelernt sein, ehe man das erste Wort über die Lippen bringt. Nicht umsonst spricht der Volksmund von den »Sprechwerkzeugen«. 7. Die technische Dimension der Tugenden. Gesetzt, es gelänge, den hier skizzierten Beweis für die soziotechnische Verfassung des menschlichen Bewusstseins zu führen, wäre es auch möglich, einen engen Zusammenhang zwischen Ethik und Technik aufzuweisen. Und dies könnte in einer Weise geschehen, die nicht den Verdacht auf sich zieht, der Ethik einen Ausnahmestatus zuzuschreiben, sobald wir sie als technisch qualifizieren. Die Überlegung brauchte auch nicht den Vorwurf auf sich zu ziehen, sie werte die Ethik ab, weil sie ihr »nur« einen technischen Status zuerkennt. Wenn alles Bewusste, alles Geistige zu den Techniken gehört, durch die sich der Mensch seinen kulturellen Rang erwirbt und ihn zugleich erhält, sichert und vielleicht auch erweitert, wird die Ethik keineswegs ab-, sondern vielmehr aufgewertet. Denn sie wird in den Zusammenhang der Steigerung der besten Kräfte des Menschen gestellt, zu denen nun einmal die Potenzen des Bewusstseins und des Geistes gehören. Wie aber ließe sich der Beweis für die innere, das heißt: für die zur Ethik selbst gehörende technische Verfassung der Ethik führen? Sehr
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leicht und ohne besonderen Aufwand, wenn es nur um die antiken Tugendethiken ginge. Sie sind ohnehin auf das jeweils »Beste« in einer Handlungslage gerichtet, in der ein Individuum – nach seinen besten Kräften – das für es selbst Beste anstrebt. Eine Tugend ist die generalisierbare Verfassung eines Individuums, in der es sein (von anderen anerkanntes) Optimum erzielen kann. Tugendethiken machen Verhaltensweisen verbindlich, die eine individuelle Tüchtigkeit zu erzielen vermögen. Unter Voraussetzung der Angemessenheit sowohl in Relation zur Situation wie auch im Verhältnis zur individuellen Disposition eines Menschen kann dann von der generalisierbaren aretē gesprochen werden, die man überall dort erwartet, wo gleiche Ausgangs- und Realisierungsbedingungen gegeben sind. In jeder Tugend, die man in einem bestimmten Fall fordert, sind Individualität und Universalität vermittelt. Tapferkeit, um nur ein Beispiel zu nennen, ist die Tugend, die dazu dient, den Krieg auf optimale Weise zu führen, oder – in der demokratischen Fassung des platonischen Sokrates – die Fähigkeit, mit Zivilcourage dafür zu sorgen, dass in der politischen Versammlung offen und wahrhaftig die besten Argumente zum Vortrag kommen. Hier gibt es eine Funktionalität, in der Individuelles und Universelles zur Deckung kommen und zugleich das allgemeine Beste befördert wird. »Technischer«, wenn ich so sagen darf, kann man gar nicht denken. Entsprechendes gilt für die Tugenden der Gerechtigkeit, der Besonnenheit, der Weisheit und der Frömmigkeit. Auch sie lassen sich in ihrer aretē stets nur in einem politischen, individuellen oder kosmischen Kontext bestimmen, in dem sie ein »Bestes«, ein Maximum also, zur Geltung bringen. Hier dominiert das Technische nicht nur in der Zweck und Mittel angemessen verbindenden Problembewältigung; es tritt auch in der Optimierungserwartung, in der zur Tugend hinzugehörenden Steigerungsleistung hervor. Das Technische ist der Tugendethik von innen her eingeschrieben. 8. Tugend als Berechenbarkeit. Der Moralitätskritiker Nietzsche hat die technische Dimension der von ihm unnachsichtig kritisierten Moral auf den denkbar besten Begriff gebracht, indem er das »souveräne Individuum« als dasjenige bezeichnet, das sich aus eigenem Anspruch »berechenbar« macht.6 6 | F. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 2, 2, KSA 5, S. 293f.
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Zum »souveränen Individuum« kann nur werden, wer »versprechen darf«. Versprechen darf jemand, dem man seine Versprechen abnimmt, weil er sich bereits als verlässlich erwiesen hat. Man traut ihm zu, auch in künftigen Handlungslagen Wort zu halten. Also unterstellt man ihm die Macht, nicht nur über sich selbst, sondern auch über Kommendes zu verfügen. Damit ist die Assoziation zur »Souveränität« hergestellt, von der man sprechen kann, wenn jemand Herr über sich selbst sowie über die Situationen ist, in denen er sich befindet. Der Mensch ist das Tier, das einen Herrn über sich braucht, und seine moralische Auszeichnung besteht darin, sich selbst als dieser Herr zu erweisen. Die Moralität besteht darin, von sich aus einen Anfang machen und das Ende, in bester Absicht und nach besten Kräften, selbst bestimmen zu können. Also hat jeder, in sicherer Kenntnis der Umstände, sein eigener Herr zu sein. Wenn das alles wäre, was die Ethiker je gelehrt hätten, hätte Nietzsche vermutlich niemals zum Kritiker der Moral werden müssen. Leider hat er sich nicht klar gemacht, dass die großen Moralphilosophen tatsächlich nicht viel mehr gesagt haben. Doch das steht auf einem anderen Blatt. Mir genügt für unseren Zusammenhang die Feststellung, dass ethische Prinzipien und moralische Vorgaben auch für Nietzsche ohne Bedeutung sind, wenn niemand die Macht oder die Kraft hat, sich an sie zu halten. Denn die Verfügung über Macht und Kraft sowie über die dazu nötigen Mittel, zu denen letztlich auch der Handelnde selbst gehört, hat eine offenkundig technische Dimension. Bei Nietzsche kommt hinzu, dass die Lebenstechnik des »freien Geistes« mit der Lebenstechnik anderer »freier Geister« zur wechselseitigen Steigerung ihrer »Selbstüberwindung« übereinzustimmen hat. Für »alle« im logisch allgemeinen Sinn unberechenbar, macht der »freie Geist« sich unter seinesgleichen »berechenbar«. Nur der Umstand, dass Nietzsche nicht in der Lage ist, einen universellen Begriff der Gesellschaft zur Anwendung zu bringen, nötigt ihn, seiner Konzeption der »neuen Tugenden« einen höchst eingeschränkten und elitären Begriff von Individualität zugrunde zu legen. Damit gelangt er nicht zu einem wahrhaft menschlichen Begriff der Moralität. Gleichwohl dominiert das technische Moment selbst noch in seiner elitistischen Konzeption für »freie Geister«. Das ist deshalb bemerkenswert, weil Nietzsche, dessen Aufmerksamkeit kaum etwas entgeht, was für den Menschen von Bedeutung ist, für den kulturelle Rang der Technik gar keinen Sinn zu haben scheint. Ob-
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gleich er als Brillenträger, Klaviervirtuose und Buchautor, als Eisenbahnfahrer und als unermüdlicher Kunde sowohl der Post wie auch der Apotheken ständig auf Wissenschaft und Technik angewiesen ist, nimmt er sie in ihrer technischen Funktion nicht wahr. Es wäre eine Studie wert, den Motiven für Nietzsches Technikblindheit nachzugehen. 9. Die Technik im Zugang zur Selbstbestimmung. Das experimentum crucis für eine innere technische Verfassung der Ethik hat darin zu bestehen, die Ethik, die sich grundsätzlich gegen jede technische Rationalität zu sperren scheint, auf ihre Verträglichkeit mit der Technik zu prüfen. Diese Moralphilosophie ist die kritische Ethik Immanuel Kants. In der Form seiner Imperative scheint Kant die sukzessive Entfernung des moralischen Denkens von einer technischen und pragmatischen Rationalität begrifflich vorzuzeichnen, indem er drei Typen von Imperativen unterscheidet, von denen erst der dritte Typus spezifisch moralisch genannt wird. Kant unterscheidet bekanntlich erstens technische Imperative, welche die Mittel vorschreiben, wenn die Ziele bereits vorgegebenen sind. Wenn ich einen wissenschaftlichen Vortrag halten will, muss ich etwas Neues zu sagen haben. Das Ziel des Vortrags schreibt das Mittel einer innovativen Aussage vor. Zweitens sind die pragmatischen Imperative, in denen ein allgemeines Ziel, etwa das eines guten Auskommens oder eines zufriedenen Zustands, im Blick sind. Für sie hat man ebenfalls die geeigneten Mittel auszuwählen: Wenn ich gesund bleiben möchte, habe ich mich um eine mäßige Lebensweise zu bemühen. Hier liegt die Besonderheit nicht nur in der größeren Reichweite der Ziele und des größeren Spielraums tauglicher Mittel, sondern vor allem auch darin, dass die Auswahl der geeigneten Mittel selbst Einfluss auf die Ziele nehmen kann. Gleichwohl sind auch die pragmatischen Imperative im Grunde technischer Natur; nur tragen sie der Komplexität lebensweltlicher Entscheidungsprozesse Rechnung. Hier müssen Mittel und Ziele im Kontext wahrgenommen werden, sodass eine wechselseitige Korrektur zu der Klugheit gehört, die in pragmatisch zu bewältigenden Lebenslagen erforderlich ist. Am technischen Charakter dieser Orientierungs- und Entscheidungslage ist dennoch nicht zu zweifeln. Deshalb liegt mir an der Feststellung, dass die größere Reflexionsspannweite der pragmatischen Imperative durchaus unter den Titel der Ethik fällt. Hier also hat Kant
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nicht die geringste Scheu, die Technik ins Zentrum der ethischen Reflexion zu stellen. Im strengen Sinn als moralisch gilt Kant drittens jedoch nur der kategorische Imperativ. Diese Freistellung gegenüber dem technischen und dem pragmatischen Handlungsfeld wird von Kant mit einer Grundsätzlichkeit vollzogen, dass man sich als Kantianer schon ziemlich warm anziehen muss, um hier tatsächlich etwas Technisches entdecken zu wollen. Das sage ich als Theoretiker, der sich im Wesentlichen dem Ansatz Kants verpflichtet weiß und es dennoch wagt, von der implizit technische Dimension des kategorischen Imperativs zu sprechen. Die Frage ist freilich, ob nicht durch die Sonderstellung des die Ethik auszeichnenden kategorischen Imperativs jeder Überlegung, Ethik und Technik zu verbinden, der Boden entzogen wird. Damit müsste es auch als unerheblich erscheinen, auf die technischen Implikationen der technischen und der pragmatischen Imperative zu verweisen. Denn im kategorischen Imperativ wird jeder technischen Erwägung ein Riegel vorgeschoben. Ja, man könnte sagen, dass der kategorische Imperativ das grundsätzliche Verbot einer Übertragung technischer Überlegungen auf moralisches Verhalten zum Ausdruck bringt. Tatsächlich ist es so gemeint, und mir liegt nicht im Geringsten daran, die exponierte Stellung des kategorischen Imperativs in Abrede zu stellen. Dennoch ist nicht zu übersehen, dass der kategorische Imperativs Kants offenkundig technische Elemente enthält, die man schwerlich als beiläufig bezeichnen kann. Wenn ich sie abschließend benenne, geschieht das in dem Bewusstsein, selbst noch nicht genau zu wissen, welche Schlussfolgerungen für das Verhältnis von Ethik und Technik daraus generell zu ziehen sind. 10. Technische Elemente im kategorischen Imperativ. Wenn Kant – in der wichtigsten Fassung seines kategorischen Imperativs – sagt: »Handle so, dass die Menschheit in der Person eines jeden anderen niemals bloß als Mittel, sondern immer auch als Zweck gelten kann«,7 dann ist die Technik in der Unterscheidung zwischen Zweck und Mittel offenkundig eingeschlossen. Und zugestanden ist auch, dass sich die Dimension des Gebrauchs (als Mittel) niemals ausschließen lässt: »Niemals bloß als Mittel«
7 | I. Kant. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), AA, Bd. 4, S. 429.
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sagt ja mit aller Klarheit, dass ich gar nicht vermeiden kann, jemanden als Mittel zu meinen Zwecken zu »gebrauchen«.8 Um nur ein Beispiel zu geben: Leser eines für sie geschriebenen Textes oder Hörer eines vor ihnen gehaltenen Vortrags sind jederzeit das Mittel, das einem Autor dazu dient, unter dem Anspruch eines öffentlichen Vollzugs seine Gedanken so zu sortieren, dass daraus eine systematisch abgesicherte philosophische Einsicht werden kann. Ich wüsste nicht, was daran schlecht sein sollte, und es steht dem kategorischen Imperativ nicht nur nicht entgegen, sondern es muss als seine Voraussetzung angesehen werden. Jeder, zu dem ich sprechen darf, ist für mich stets auch ein Mittel, das mir Anlass ist, so verständlich und so klar wie möglich zu sein. Andererseits ist jeder Autor auch für seine Leser und Hörer ein Mittel zum Zweck, nämlich zur Erweiterung ihrer Erkenntnis – möglicherweise auch nur (aber was heißt hier »nur«!) ein Mittel zur Unterhaltung oder zur Ablenkung von ernsteren Fragen. Vielleicht bin ich für den einen oder anderen am Ende nur das Mittel zu der Erkenntnis, dass es sich nicht lohnt, sich philosophische Vorträge anzutun. Doch wie immer die Einsichten in der Hörerschaft auch sein mögen: Der Gebrauch, den die Hörer von einem Referenten machen, verstößt nicht von vornherein gegen den kategorischen Imperativ. Also ist, um das Mindeste zu sagen, die Technik in der Anwendung des kategorischen Imperativs gegenwärtig. Sie kann unter keinen Umständen ausgeschlossen werden. Wenn sie aber gar nicht eliminiert werden kann, was bedeutet das dann für die Moralität des kategorischen Imperativs? Eine mich selbst überzeugende Antwort habe ich, wie gesagt, noch nicht. Aber es gibt Hinweise, die man als Fingerzeig deuten kann: Erstens: Der kategorische Imperativ (also das Verfahren, mit dem ich meine Maximen prüfe) ist ein Instrumentarium zur widerspruchsfreien Ermittlung meiner mir wichtigen Ziele. Er ist Teil einer methodischen Überlegung, die man selbst als Technik zu einem kritischen Test bezeichnen kann. Man kann auch sagen, der kategorische Imperativ ist ein Instrumentarium der Vernunft. Zweitens: Der Imperativ prüft Maximen. Das sind, wie Kant sagt, »subjektive Grundsätze«, die jeder Handelnde braucht, der sich nach Einsich8 | »Gebrauch« und »gebrauchen« – Lieblingsausdrücke Kants, die, mit Verlaub, gar nicht anders als technisch zu verstehen sind.
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ten richtet. Denn alles ausdrückliche menschliche Handeln folgt der Einschätzung von Situationen und Motiven sowie von eigenen und fremden Kräften und ist daher auf Regeln gegründet. Kant geht somit davon aus, dass jeder in allen ihm wichtigen Handlungslagen seine individuellen Grundsätze hat. Und wer moralisch handeln will, hat seine Grundsätze nach dem kategorischen Imperativ zu prüfen. Das ist der Stoff fürs Proseminar. – Aber warum sagt Kant »Maxime«? Weil er mit den Ethikern aller Zeiten, insbesondere denen des Altertums unterstellt, dass es um Tugenden geht und jeder letztlich sein Bestes geben will. Maximen sind Optimierungsgrundsätze, die unterstellen, dass man seine Sache möglichst gut machen will. Also gilt auch hier, was über die technische Grunddisposition der antiken Tugendlehren zu sagen ist. Drittens: Die kritische Prüfung steht im Dienst der Autonomie des Individuums. Alle Bemühung um die Moralität des Handelnden ist ein Akt der Selbstbestimmung und kann in deren Vollzug selbst als ein Mittel zur Emanzipation des Individuums und zur Wahrung von dessen Eigenständigkeit verstanden werden. Also erfüllt die Prüfung eine – nicht anders als technisch zu nennende – Funktion in der kulturellen Entfaltung des Individuums und damit der Menschheit, die in der Person eines jeden Individuums zu sichern ist. Viertens: In der Ethik setzt jeder seine eigenen Ziele, und in ihr sucht er, seine Person als »Zweck an sich selbst« zu wahren. In dieser Stellung ist die Ethik selbst gewiss kein Mittel zur Vervollkommnung der Menschheit. Das liefe auf eine restlose technische Einbindung in einen kulturellen Zweck hinaus, dem das Individuum gänzlich ausgeliefert wäre. Auch wenn sich das Individuum selbst in seiner Unvollkommenheit damit bescheiden kann, dass alles, was es an Gutem selbst nicht erreicht, unter den Bedingungen der Menschheit erreicht werden kann, kann es keinen Funktionär der Menschheit geben, der das Individuum zum Mittel degradierte, damit der Zweck der Kultur erreicht werden kann. Jeder Einzelne hat sich selbst als den Zweck zu begreifen, auf den alle anderen Mittel zulaufen. Aber wie kann man das denken, ohne die Technik im Hintergrund zu haben? Es ist nichts weniger als Sophistik, wenn man in dem Versuch, sich von technischen Konditionen zu befreien, selbst schon eine Technik erkennt. Es gelingt somit tatsächlich nicht, sich von der Technik unabhängig zu machen. Denn man müsste sich bereits von den organischen Implikaten seines Daseins lösen und hätte noch hinter die Funktionsweise seines
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Denkens zurückzugehen. Denn bei allem, was der Mensch aus Einsicht (oder auch nur mit Bewusstsein) tut, bringt er die epistemischen Prämissen seines Selbstbegriffs zur Geltung. Mit ihnen aber gehen technische Voraussetzungen selbst noch in die entschiedenste Distanzierung gegenüber der Technik ein. Also ist es ein Tatbestand, dass der Mensch nicht nur als organisches, sondern auch als intelligibles Wesen vollkommen in den Funktionskreis von Zweck und Mittel eingelassen ist. Er entkommt der Technik auch dort nicht, wo er sie infrage stellt oder sich über sie erhebt. Man kann somit dem kategorischen Imperativ die Intention einer Abgrenzung von der Technik zugestehen. Doch das Kalkül, dem diese Absicht folgt, bleibt ein technisches Mittel, das sich aus der Freiheit der Selbstbestimmung ein Ziel setzt (wie z.B. die »Menschheit in der Person eines jeden Menschen«), dem man sich selbst als optimales Mittel verbindet. Fünftens: So wenig das Individuum einem fixierten oder diktierten Ziel der Kultur unterworfen (und insofern von vorgegebenen Zwecken frei) ist, kann doch das lebendige wie das geistige Verhalten des Menschen niemals gänzlich frei von technischen Konditionen gedacht werden. Denn sie ermöglichen es zuallererst, dass sich der Mensch aus eigener Einsicht der Kritik seiner Vernunft unterwerfen kann. Also hat auch hier die Technik eine nicht nur unverzichtbare, sondern auch eine exponierte Position in der Selbstbestimmung des Individuums. Und selbst im Fall eines Versagens, kann sich der Einzelne mit Kants Geschichtsphilosophie trösten: Wenn er unter den endlichen Bedingungen seines Daseins nicht das erreicht, was er sich vorgenommen hat, kann er darauf hoffen, als Mensch in der Gattung der »Perfektion« des Humanen näher zu kommen. Auch in diesem geschichtsphilosophischen Vollkommenheitsideal, das Kant in denkbar kritischer Distanz entwirft, hat das auf Technik beruhende Grundgerüst eine tragende Funktion. So findet die Ethik doch ihren Platz in einer Geschichte, in der sich jeder selbst, als ein Mittel zu einem erlösenden Zweck begreifen kann – sofern er sich ethisch selbst bestimmt. So verbinden sich am Ende Ethik und Technik gleichwohl in einem umfassenden Zweck. 11. Mit der Technik über sie hinaus, aber so, dass der Mensch bei sich selbst bleiben kann. Soweit die Skizze des vorläufig umrissenen Zusammenhangs von Ethik und Technik. Dass er besteht, kann nach dem Gesagten, so meine ich, keinem Zweifel unterliegen. Die Frage bleibt nur, wie weit der
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Zusammenhang reicht, was ihn trägt und was er selbst zu fundieren in der Lage ist. Dazu kann ich abschließend nur eine Andeutung machen: Das größte Problem am Ende einer Aufklärung der Welt aus dem ihr innewohnenden technischen Kalkül könnte darin liegen, dass es uns schwer fiele, überhaupt etwas zu benennen, was nicht technisch ist. Und das wäre allein deshalb schon zu viel, weil, wenn alles technisch wäre, wäre es letztlich bedeutungslos, überhaupt etwas Technisches auszugrenzen. Denn jeder Begriff, wenn er sinnvoll gebraucht werden können soll, braucht die Abgrenzung zu dem, was er nicht bezeichnet. Das gilt bereits für das Sein, die Wirklichkeit und die Natur. Es hat auch für die Technik zu gelten. Der Sinn des Moralischen könnte somit darin liegen, der unverzichtbaren, selbst noch die Möglichkeit und die Verfahren der Ethik bedingenden Technik das Ziel zu setzen, von der Technik nicht abhängig zu sein. So tragend sie in allem auch sein mag, gebietet es die Selbstachtung des Menschen, nach eigener Einsicht über die technischen Mittel zu verfügen. Aber was könnte diese von aller Technik unabhängige Kraft der Verfügung über Technik sein? Was könnte es geben, das von technischen Voraussetzungen unabhängig wäre und in der Realisierung nicht auf Technik angewiesen ist? Kants Formulierung des kategorischen Imperativs – mit dem »niemals bloß«, sondern »immer auch« könnte eine Lösung bieten, die zwar keine Befreiung von der Technik verspricht, wohl aber eine die Technik distanzierende Reflexion erfordert, in der sich keiner »niemals bloß« mit einer Perspektive zufrieden zu geben, sondern »immer auch« eine andere in den Blick zu nehmen und sich dabei klar zu machen hat, dass er dies selbst zu tun hat. Das Individuum hat sich selbst im Umgang mit Individualität und Universalität zu bestimmen. Wie schwer es ist, moralisch zu sein, hätte sich damit auch mit Blick auf die Technik erwiesen – ganz unabhängig davon, ob der Mensch »gut« oder »böse« ist. Immerhin wäre deutlich geworden, dass er sich nicht einfach nur gegen etwas Äußeres behaupten muss, sondern immer auch gegen etwas in sich selbst. Und mit Blick auf die Kultur der Menschheit dürften die Verlockungen durch die Technik mindestens so folgenreich sein wie die durch die Sexualität. Mehr vermag ich über die ethische Herausforderung durch die Technik derzeit nicht sagen, hoffe aber kenntlich gemacht zu haben, dass man das Thema Ethik und Technik nicht übergehen kann – allein schon des-
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halb nicht, weil sich der vermutlich größere Teil aller neuen ethischen Fragen aus den technisch indizierten Veränderungen der menschlichen Lebenswelt ergeben. Ist damit auch eine Antwort auf die Themafrage nach dem »Wozu und wie weiter« gegeben? Zwischen den Zeilen gewiss. Um aber keinen Zweifel an ihrem möglichen Wortlaut aufkommen zu lassen, sei ihr abschließend eine thetische Form gegeben: Für den Menschen als kulturelles Wesen, das seiner Natur mit Hilfe der von ihm selbst zum Einsatz gebrachten Technik eine einzigartige, wenn auch wandelbare Form zu geben hat, ist Ethik die Lehre von der Form seines Handelns, die es ihm erlaubt, in bestmöglicher Übereinstimmung mit seiner Welt, mit seinesgleichen und mit sich selbst zu sein und zu bleiben. Die Ethik soll ihm erlauben als Mensch mit der Menschheit in Übereinstimmung zu sein und – zu bleiben. Damit ist auch bezüglich des Verhältnisses von Ethik und Technik eine Antwort gegeben: Die Fliehkräfte der vom Menschen selbst entfesselten Technik müssen sich durch die ethischen Techniken so einbinden lassen, dass die »Menschheit in der Person eines jeden Menschen niemals bloß als Mittel, sondern immer auch als Zweck« bewusst und nach Möglichkeit wirksam bleiben kann. Die Ethik hat für Konstanz des Humanen in der sich wandelnden Welt zu sorgen.
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Von der Anwendung der Ethik zur Ethik der Anwendung Die Problematik der Bereichsethiken am Beispiel der Technikethik Christoph Hubig
1. P robleme » ange wandter « E thik als B ereichse thik Üblicherweise folgt die Einteilung der »angewandten« Ethiken einer sortalen Unterscheidung von Bezugsbereichen: Technikethik befasst sich mit normativen Fragen eines Umgangs mit Technik (Entwicklung, Produktion, Distribution, Nutzung, Entsorgung); Wirtschaftsethik konzentriert sich auf normative Fragen des Wirtschaftens (z.B. fairer Handel, Angemessenheit von Arbeitsbedingungen und Entlohnung, Verpflichtungen von Eigentümern, Kriterien der Zinsbildung); Bioethik fokussiert normative Fragen eines Umgangs mit unserer äußeren (ökologische Ethik) sowie unserer inneren Natur (z.B. der Gestaltung und Einflussnahme auf die menschliche Reproduktion, Optimierung menschlicher Fähigkeiten/Enhancement, »Hybridisierung« des Menschen etc.); Medienethik/Informationsethik richtet sich auf die Investigation, Bereitstellung, Distribution und Nutzung von Informationen in unseren informationstechnischen Systemen; Medizinethik thematisiert normative Fragen der Therapie (z.Zt. insbesondere für den Anfang und das Ende des Lebens); daneben finden wir Genethik, Energieethik, Nanoethik, Führungsethik etc. Warum keine Süßigkeitenethik oder eine Ethik der Kosmetik? Und warum scheinen Sozialethik oder politische Ethik eher als Kernbereiche einer »allgemeinen« Ethik zu gelten, sofern bestimmte Aspekte zwischenmenschlicher Beziehungen thematisiert werden unter Gesichtspunkten wie Gerechtigkeit, Solidarität, Macht oder Partizipation?
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Eine rein extensionale, klassenbildende Unterscheidung nach Bezugsbereichen, die sich an abstrakt-allgemeinen »gegebenen« Eigenschaften der unter ihr befassten Phänomene orientiert, wird inhomogen angesichts unterschiedlicher Konkretisierungsgrade der Bezugsbereiche, deren jeweils konkretere unterschiedliche Zuordnungen zu allgemeineren zulassen: Sollte »Genethik« eher unter technikethischen und diese ihrerseits wieder eher unter wirtschaftsethischen Gesichtspunkten1 entworfen werden mit Blick auf die Nutzenorientierung, oder unter bio-/umweltethischen – Umgang mit der Schöpfung2 oder unter medizinischen Gesichtspunkten? Wie verhält sich Produktionsethik zu Technik-, Wirtschafts- und Führungsethik? Das Problem scheint – irgendwie – darin zu liegen, dass in Fokussierung auf Bereiche eine wie auch immer geartete »Anwendung« als Spezifizierung von Prinzipien und Normen (Geboten, Verboten, Erlaubnissen) aus einer »allgemeineren Ethik« gedacht werden soll. Angesichts unterschiedlich hierarchisierbarer und entsprechend unterschiedlich beschränkbarer Bereiche verliert dann »angewandte Ethik« ihre Kontur, sofern man auf Unterschiede zwischen den Bereichen abhebt. Noch schwieriger gestaltet sich die Beantwortung der Frage, wenn für die Lösung die Spezifik von Problemlagen fokussiert werden soll, deren Eigenschaften im Lichte von Intentionen als so oder so erachtet werden. Derartige Versuche einer intensionalen Begründung der Einteilung sehen sich mit der Sachlage konfrontiert, dass es kaum eine spezifische Problematik geben dürfte, die nicht sowohl technik-, als auch wirtschafts-, sozial-, medien-, sowie umweltethische u.v.a. Aspekte mehr aufweist, wenn man sie nur hinlänglich radikal durchdenkt und Pointierungen sowie Priorisierungen sich allenfalls als interessenbedingt erweisen. Bereichsethiken wären dann eher pragmatisch-provisorisch zu rechtfertigende Linien einer Arbeitsteilung, deren Erträge wieder zusammenzuführen wären, wobei Einseitigkeiten der Fokussierung »aufzuheben« wären zugunsten einer »ganzheitlichen« Betrachtung des jeweils spezifischen Problems. Nehmen wir das aktuell brisante Problem einer »Performanz 1 | F. von Gottl-Ottlilienfeld: Grundriß der Sozialökonomik II, Tübingen 1923. J. A. Schumpeter: Konjunkturzyklen. Eine theoretische, historische und statistische Analyse des kapitalistischen Prozesses, Göttingen 1961. 2 | H. Jonas: Das Prinzip Verantwortung, Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt a.M. 1984.
Von der Anwendung der Ethik zur Ethik der Anwendung
der Simulationen«, zu dessen Behandlung sich inzwischen in den USA eine »Ethik der Simulation/Ethik der Visualisierung« entwickelt hat: Hier kreuzen sich Linien der Wissenschaftsethik (Umgang mit unsicherem Wissen), der Umwelt- und Klimaethik (Kommt das Vorsorgeprinzip zur Geltung?), der Wirtschaftsethik (false-positive-Strategien oder false-negativ-Strategien beim Entscheiden angesichts der moralischen und ökonomischen Kosten möglicher Irrtümer, die zu simulieren bzw. darzustellen sind), der Medienethik (Transparenzgebot) sowie der Technikethik (simulation technology als Real- und Intellektualtechnik des »Kontingenzmanagements«, als »funktionierende Simplifikation«3, gerade mit Blick auf »toy-Simulationen«, die mit explizit unrealistischen Annahmen so lange spielen, bis verlässliche Prognosen möglich sind4). Eine weitere Irritation tritt auf, wenn man die exemplarischen Probleme ins Auge fasst, die üblicherweise als Probleme »angewandter Ethiken« charakterisiert werden, bei genauerer Betrachtung aber eben eine solche Charakterisierung fraglich werden lassen: Ist wirklich ein technikethisches Problem gegeben, wenn gefragt wird, ob ich mit einer Waffe der und der Art töten darf, oder wenn unter der Devise »safety doesn’t sell« beim Ford Pinto Tausende von Todesopfern in Kauf genommen wurden, weil die Entschädigungslasten niedriger waren als die Kosten einer Konstruktionsänderung5, oder wenn bei der Challenger-Katastrophe angesichts der Kosten einer Startverschiebung den Warnungen der Ingenieure gegenüber geltend gemacht wurde: »Setze deine Ingenieurskappe ab und setze den Managerhut auf«6 – ein technikethisches Problem, nur, weil ein technisches Artefakt eine zentrale Rolle spielt? Oder handelt es sich eher um ein wirtschaftsethisches Problem, weil ja Haftungskosten hochgerechnet wurden gegen Kosten einer mängelbehafteten Großserienfertigung, oder Kosten einer Startverschiebung als Opportunitätskosten charakterisiert wurden? Liegt nicht 3 | N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1998, S. 524, S. 526f. 4 | N. Gottschalk-Mazouz: Toy-modeling. Warum gibt es (immer noch) sehr einfache Modelle in den empirischen Wissenschaften, in: P. Fischer (Hg.): Die Reflexion des Möglichen, Berlin 2012, S. 17-30. 5 | M. Dowie: Pinto Madness, in: R. J. Baum (Hg.): Ethical Problems in Engineering, New York 1980, S. 167-174. 6 | P. H. Werhane: Engineers and Management. The Challenge of the Challenger Incident, in: Journal of Business Ethics 10. Jg. (1991), S. 605-616.
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vielmehr ein schlichter Verstoß gegen das allgemeinmoralische Tötungsverbot vor? Weiter: Handelt es sich um eine spezifisch medienethische Frage, ob in der Presse oder der Fernsehberichterstattung gelogen, verfälscht oder die Wahrheit vorenthalten werden darf? Haben wir es hier nicht schlicht mit dem Verbot der Lüge (einschließlich einer Problematisierung von Ausnahmen in spezifischen Fällen) zu tun, wie es auf allgemeinethischer Ebene verhandelt wird? Und lässt sich nicht die Frage, ob bei Handelsverträgen, bei der Entlohnung oder bei der Zinsbildung übervorteilt werden darf, doch als eine allgemeinmoralische erachten, die beantwortet werden kann, ohne dass hier spezifisch wirtschaftsethische Aspekte zu thematisieren wären (»Du darfst nicht betrügen!«) – Prinzipien der Lauterkeit, Fairness und Gerechtigkeit, wie immer sie modelliert werden, sind ja nicht exterritorial gegenüber dem Feld des Wirtschaftens. Entsprechend führt eine gewisse Redundanz, verstanden als »moralische Aufdringlichkeit« so gefasster »angewandter Ethik«, bei ihren Adressaten (Ingenieurinnen und Ingenieuren, Ärztinnen und Ärzten, Klimaforscherinnen und Klimaforschern, Entscheidern in Politik und Wirtschaft etc.) leicht zu einem Abwehrreflex, weil der moralisch erhobene Zeigefinger letztlich doch darauf verweist, dass die Adressaten »gute Menschen« sein sollen, d.h. ihre allgemein-moralische Integrität im Berufsleben nicht zu verabschieden hätten. Wer sich überhaupt als moralischer Mensch versteht (ungeachtet unterschiedlicher ethischer Begründungen der Moral), sieht sich hier nicht »abgeholt«. Er sieht sich nämlich einerseits unterfordert angesichts seiner moralischen Integrität, von der er sich grundsätzlich niemals distanzieren würde; andererseits sieht er sich dahingehend überfordert, dass unter den allgemeinen moralischen Maßstäben konkrete Pflichtenkollisionen, Loyalitätskonflikte, vorgebliche »Sachzwänge« nicht hinreichend erfasst werden, sodass die Herstellung eines Bezugs zu jenen allgemeinmoralischen Maßstäben (einmal abgesehen von den trivialen Beispielen des Tötens, Lügens sowie der Übervorteilung) offen bleibt. Eine strikte und differenzierte Bezugnahme auf moralische Standards setzt, wie Mathias Kettner zu Recht bemerkt, eine Welt von »allwissenden Folgenkalkulierern« und »nimmermüden Optimierern«, von »unparteiischen Allesbeobachtern« und »gutwilligen Idealisten« voraus7. Die Einnahme solcher Positionen als Voraussetzung einer 7 | M. Kettner: Idealisierung und vollständige Handlung. Modellierungsversuche praktischer Ethik, in: Berliner Debatte INITIAL 2 (1995), S. 46-54.
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Bezugnahme zu moralischen Standards ist aber in der Regel aus epistemischen Gründen sowie aus Gründen von Binnenkonflikten im normativen Bereich jedenfalls in der geforderten Idealität nicht möglich. Um dies zu verdecken oder augenscheinlich zu kompensieren, inszenieren sich Moral-Experten auf den Bühnen der Talkshows oder den Foren zahlreicher Räte und Kommissionen, um ihre allgemeinmoralischen Ansprüche, gepaart mit selektiver Urteilskraft, durchzusetzen bzw. entsprechende Kompromisse zu erzwingen. Oder man macht es sich so leicht wie der Präferenzutilitarist Richard M. Hare, der als »Ethik der Stadtplanung« ein Modell vorlegt, nach dem die Wohn- und Verkehrsinfrastruktur auf der Basis einer linear-optimierten Präferenzerfüllung aller Betroffenen durchzuplanen ist 8. Nach langem philosophischem Vorlauf forderte er u.a. eine privilegierte Fahrspur für vollbesetzte Fahrzeuge. (Nachdem dies in den Niederlanden in Gestalt sog. diamond-lines realisiert war, entstand sofort ein Markt für auf blasbare Beifahrerattrappen sowie für studentische Anhaltertrios.) Angesichts dieser seltsamen Erscheinungen sollte doch die bereits durch Aristoteles9 vorgetragene Kritik an der Orientierungsleistung allgemeiner normativer Ideen unter Hinweis auf drei Problemfelder in Erinnerung gerufen werden: Für die Absicht einer »Anwendung« von Ideen auf entsprechend zu charakterisierende Handlungen wurden diese Problemfelder von Aristoteles folgendermaßen identifiziert: (1) Gegensätzlichkeit von Interpretationsoptionen allgemeiner Konzepte und Leitbilder unter höherstufigen Ideen, die nicht zusammenführbar sind (modernes Beispiel: unterschiedliche Konzepte von Nachhaltigkeit als »starker« Nachhaltigkeit/Nutzung nach Maßgabe der Regenerierbarkeit, »schwacher« Nachhaltigkeit/Nutzung nach Maßgabe der Substituierbarkeit von Funktionserfüllung, »kybernetischer« Nachhaltigkeit/Nutzung nach Maßgabe der Vermeidung eines Zusammenbruchs der Systeme, die zu diesem Zweck auch artifizialisiert werden können und schließlich »sozialer« Nachhaltigkeit/Nutzung nach Maßgabe intra- und intergenerationeller Gerechtigkeit bei der Bedürfniserfüllung), (2) Streit um die Erfüllung des Kriteriums für die Zuordnung unterschiedlicher Sachla8 | R. M. Hare: Wofür sind Städte da? Die Ethik der Stadtplanung, in: C. Fehige, G. Meggle (Hg.): Zum moralischen Denken, Frankfurt a.M.1995, S. 187-209. 9 | C. Hubig: Technik- und Wissenschaftsethik, Berlin/Heidelberg/New York 1995, S. 65-68.
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gen zu einer orientierenden (durchaus konsensual getragenen) Idee: das »Ähnlichkeitsproblem« (modernes Beispiel: Auslegung von Recyclingsystemen unter der Idee eines Wirtschaftens in Kreisläufen angesichts ressourcenaufwendiger, havariegefährdeter oder mit externalisierten Lasten behafteter Phosphat-, PVC- oder Plutoniumkreisläufe), schließlich (3) die Konkurrenz akzeptierter einschlägig orientierender Ideen (modernes Beispiel: Einsatz regenerativer Energieressourcen und dadurch erzeugte Verluste an Biodiversität bei der Biogasproduktion oder der Anlage von Stau- und Speicherseen). Ähnliche Konfliktszenarien lassen sich in den Feldern der anderen Bereichsethiken leicht finden. Die jeweils spezifische »Anwendung« allgemeiner Ethik findet ihre Problematik also dort, wo es um die Beurteilung und Bewertung konkreter Handlungsoptionen geht. Deren Probleme bleiben ungelöst, sofern man sich im Modus einer Anwendung als Subsumtion bewegt und klare Zuordnungen nicht treffen kann.
2. B ereichse thik als anwendungsbezogene E thik Wir wollen daher danach fragen, ob sich nicht eine Spezifik der Bereiche freilegen lässt, die sich dadurch ergibt, dass sich Bereichsethiken in unterschiedlich-spezifischer Weise genau dieser Herausforderung zur Herstellung eines Anwendungsbezugs zu stellen haben. Ließen sich möglicherweise Bereiche identifizieren (einschließlich zugeordneter Bereichsethiken), deren Verfasstheit und deren Wert gerade darin liegt, dass sie in unterschiedlicher Hinsicht Bedingungen bereitstellen, Voraussetzungen gewährleisten und diejenigen Vollzüge sichern, die einen abwägenden Umgang mit epistemischen Unsicherheiten und konfligierenden Normen allererst ermöglichen? Die entsprechenden Bereichsethiken wären dann Ethiken einer Ermöglichung der Anwendung moralischer Prinzipien und Normen. Ihre Spezifik läge darin, dass sie als Ethiken der Anwendung aufträten. Wenn wir also die Frage nach einer direkten normativen Bewertung konkreter instrumenteller Vollzüge zunächst verlassen, mithin nicht mehr davon ausgehen, dass eine Handlung per se technikethisch sensitiv wird, wenn ein Artefakt eingesetzt wird, oder dass sie wirtschaftsethisch sensitiv wird, wenn eine Finanztransaktion eine Rolle spielt, oder dass sie medienethisch sensitiv wird, wenn ein Informationskanal benutzt wird etc., dann finden wir Fragen eines anderen
Von der Anwendung der Ethik zur Ethik der Anwendung
Typs: Wie sollen technische Systeme gestaltet und genutzt werden, damit individuelle Vollzüge kognitiv und normativ beurteilbar bleiben? Was unter Titelwörtern wie »Eigendynamik der Technik«, »Sachzwangcharakter der Technik« oder »nichtintendierte Rebound-Effekte durch kollektive Nutzung im Rahmen anonymer Vergesellschaftung« etc. verhandelt wird, problematisiert die Gestaltung der Mensch-System-Interaktion, die Gestaltung der Schnittstellen, Transparenz bei der Koordination der Handlungen der Entwickler und Nutzer u.v.a. mehr im Sinne einer »technologischen Aufklärung«10. Wenn nach der Fortsetzbarkeit gelingenden Handelns unter unterschiedlichsten Präferenzen gefragt wird, ohne dass »Killeroptionen« im Ökologischen, Ökonomischen oder Sozialen Handlungsspielräume gegenwärtiger oder zukünftiger Generationen zerstören, Optionswerte verletzen oder die Subjektpositionen der Entscheider so verändern, dass diese ihre Identität als verantwortliche Subjekte technischen Mitteleinsatzes nicht mehr wahrnehmen können, dann stellt sich die Frage, ob Technik ihren Anspruch, das Gelingen von normativ zu bewertenden Handlungsvollzügen zu sichern, noch einlöst. (Hierauf wird noch ausführlich einzugehen sein.) Weiter: Wenn nach der Gestaltung von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeziehungen in Unternehmen oder nach Kriterien einer Zulässigkeit von Unternehmenskooperation und -koordination gefragt wird (z.B. angesichts von Kartellbildung und Monopolisierung), ferner nach sinnvollen politischen Rahmenbedingungen des Wirtschaftens bzw. der Rolle von Marktmechanismen als Regulativ, dann sind offensichtlich Fragen angesprochen, die die Gestaltung von Wirtschaftssystemen als Möglichkeitsräumen einer normativ zu beurteilenden Präferenzerfüllung betreffen. Ob und inwieweit etwa eine radikale Kommerzialisierung von Gütern und Dienstleistungen jedweder Art dem Anspruch einer Ökonomie als klugem Disponieren bei knappen Ressourcen entspricht oder nicht, scheint in spezifischerer Weise ein wirtschaftsethisches Problem auszumachen als die Frage, ob man beim Handel übervorteilen darf11. Analoges scheint für die Frage zu gelten, wie durch den Einsatz bestimmter Medien unsere Möglichkeit, uns zu informieren und zu kommunizieren und auf dieser Basis Wertungen vor10 | G. Ropohl: Technologische Aufklärung, Frankfurt a.M. 1996. 11 | C. Hubig: Kommerzialisierung von Forschung und Wissenschaft, in: M. Kettner, P. Koslowski (Hg.): Ökonomisierung und Kommerzialisierung der Gesellschaft. Wirtschaftspolitische Unterscheidungen, München 2011, S. 159-176.
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zunehmen, geprägt, eingeschränkt oder befördert wird. All dies deutet darauf hin bzw. lässt uns vermuten, dass die gesuchte Spezifik von Bereichsethiken mit Blick auf eine höherstufig normative Bewertung der Ermöglichungsfunktion von Systemen (im weiteren Sinne) liegt, unter der das Gelingen von Aktionen als Handlungen im emphatischen Sinne, d.h. Vollzügen, deren epistemische und intentionale Gründe normativ abwägbar sind, gewährleistet wird. Auf dieser Linie liegen offensichtlich etliche Ansätze aus unterschiedlichen Problemfeldern angewandter Ethik: So finden sich z.B. unternehmensethisch fundierte Forderungen an Unternehmen, durch entsprechend strategisches Agieren beim Umgang mit Ressourcen jedweder Art (einschließlich »Humankapital«) die Möglichkeit ethischen Handelns für das Unternehmen und im Unternehmen zu realisieren und zu erhalten, z.B. durch eine Ausrichtung auf langfristige Rentabilität genau diejenigen Spielräume zu verschaffen und zu erhalten, innerhalb derer ethisch vertretbar gehandelt werden kann und nicht bloß das kommerzielle Agieren quasi als Seismograph des jeweiligen zeitlich und regional situierten Marktgeschehen fungieren muss12 . Analoges gilt, wenn Hans Jonas für den politischen Aspekt seiner Zukunftsethik postuliert: »Alle Staatskunst [ist] verantwortlich für die Möglichkeit künftiger Staatskunst«13, und dabei14 ein Prinzip politischer Ethik herausstellt, welches dem Anspruch des Politischen überhaupt entspricht, eine Fortsetzbarkeit des Handelns so oder so gefasster politischer Subjekte zu gewährleisten; im Rahmen demokratischer Politik ist dies in Prinzipien wie »weitestmögliche Reversibilität der Maßnahmen« auszubuchstabieren, damit gewandeltem Mehrheitswillen entsprochen werden kann. Für eine Gentechnik am Menschen im Kontext einer Nutzung der Genomdiagnostik z.B. wären entsprechende Prinzipien darauf ausgerichtet, die Bedingungen einer Selbstbestimmung der Patienten einschließlich der Bestimmung des Wissenwollens und Wissenhabens über die eigene genetische Verfasstheit zu erhalten, was in gleicher Weise gilt für analoge 12 | U. Thielemann: Was spricht gegen angewandte Ethik? Erläutert am Beispiel der Wirtschaftsethik, in: Ethica 8 (2000), S. 37-68, hier: S. 56. H. Steinmann, A. Löhr: Grundlagen der Unternehmensethik, Stuttgart 1994, S. 198f. 13 | H. Jonas: Das Prinzip Verantwortung, S. 214. 14 | Wie auch R. Spaemann: Technische Eingriffe in die Natur als Problem der politischen Ethik, in: D. Birnbacher (Hg.): Ökologie und Ethik, Stuttgart 1986, S. 180206.
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medizinethische Fragen bzgl. eines Umgangs mit endendem Leben. Für eine Informationsethik bzw. Medienethik (i.e.S.) würden sich entsprechende bereichsethische Überlegungen damit auseinanderzusetzen haben, wie Systeme zu gestalten sind, in denen sich Subjekte gelingend informieren und gelingend miteinander kommunizieren können15. Bezogen auf das oben angeführte Beispiel des Einsatzes einer Waffe im Kontext einer Tötungshandlung würde dies bedeuten: Sofern der Waffeneinsatz eine Interaktion zwischen Gegnern darstellt, die unter – wie auch immer problematischen – Prinzipien eines ius ad bellum (z.B. Verteidigung, Überwachung, Sicherung/Schutz, Versorgung) und ius in bello gerechtfertigt werden kann, entsteht kein spezifisch technikethisches Problem. Wohl aber, wenn über ferngesteuerte oder selbsttätig »smart« agierende Drohnen bestimmte Interaktionsformen in diesem Kontext (z.B. sich zu ergeben) technisch verunmöglicht werden, also bestimmten moralischen Normen der Definitionsbereich entzogen wird.
3. B ereichse thik als E thik der E rmöglichung refle xiver O rientierung An den erwähnten Charakterisierungen und dem Aufweis gewisser Analogien bei Fragestellungen und Antworten (in Gestalt von angeführten Prinzipien und Normen) aus prominenten Bereichsethiken ist abzulesen, dass die ethische Ausrichtung offensichtlich nicht diejenige angewandter allgemeiner Ethiken ist, sondern diejenige einer anwendungsbezogenen Ethik. Anwendungsbezogen in dem Sinne, dass sie die Gestaltung von Bedingungen thematisiert, unter denen ein Handeln in diesen Bereichen moralisch sein kann, indem überhaupt handlungsleitende Maximen gebildet und unter Prinzipien gerechtfertigt werden können. Ethik als solche soll »orientieren«: Der hier einschlägige Wissenstyp, folgt man Jürgen Mittelstraß, soll der eines »Orientierungswissens« als Wissen um Imperative, Normen, Gesetze etc. sein16. Allerdings ist hier sogleich ein transitiver Gebrauch von »Orientierung« von einem reflexiven 15 | C. Hubig: Ubiquitous Computing – Eine neue Herausforderung für die Medienethik, in: IRIE/Int. Rev. of Information Ethics Vol. 8 (12/2007), S. 28-35. 16 | J. Mittelstraß: Leonardo-Welt. Über Wissenschaft, Forschung und Verantwortung, Frankfurt a.M. 1992, S. 33ff., S. 304.
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(»Sich-Orientieren«) zu unterscheiden17. Von »allgemeiner Ethik« wird bei einem gegebenen Handlungsziel und in Hinblick auf eine Vollzugsoption erwartet, dass diese validiert werden bezüglich ihres Erlaubtseins, Gebotenseins oder Verbotenseins. Es wird hierfür eine Orientierung »gegeben« (transitiv), die jedoch allein nicht einen hinreichenden Beitrag zu einer Entscheidungsfindung erbringt. Die hierbei auftretenden Probleme waren oben bereits erwähnt18. Ein solches transitives »Orientierungswissen« kann als eine Art höherstufiges Verfügungswissen19 in dem Sinne aufgefasst werden, dass, sofern Handlungsoptionen überhaupt als solche gewonnen und inhaltlich charakterisiert wurden, allgemeinethische Imperative bzw. ein entsprechend begründetes Recht diese Optionen zusätzlich auszeichnet, so wie ein »Kompass« (Kants Charakterisierung des kategorischen Imperatives) bestehende Wege und Richtungen (Maximen) charakterisiert 20, nicht aber das Reiseziel vorgibt. Eine solche Orientierung kann jedoch nur greifen, wenn vorab ein Sich-Orientieren über die Qualität der Ziele und Realisierungsoptionen möglich war und stattgefunden hat. In Ansehung der persönlichen und situativen Verfasstheit des Handlungssubjektes in (möglicherweise krisenhaften und konfliktträchtigen) Entscheidungssituationen ist – um im Bild zu bleiben – eine gewichtete Landkarte möglicher Ziele und Vollzugsoptionen (des Mitteleinsatzes zu ihrer Erreichung) zu entwickeln. Da eine Handlung in der Regel nicht unabhängig von Handlungen anderer konzeptualisiert werden kann, ist dies notwendigerweise in Ansehung von geteilten oder konkurrierenden expliziten, impliziten, latenten und/oder höherstufigen Präferenzen der Koakteure vorzunehmen. Es sind die Bedingungen dafür zu erhalten, Vollzüge in ein anerkennendes oder ablehnendes Verhältnis zu institutionellen Tatsachen (»Sittlichkeit«), mithin zu kollektiven Vorstellungen gelingenden Lebens zu stellen. Zwar kann durch die Ermöglichung reflexiver Orientierung die Entscheidung selbst nicht gefordert oder zugemutet werden wie unter den Ansprüchen transitiver 17 | C. Hubig: Technologische Kultur, Leipzig 1997, S. 19ff. Andreas Luckner: Orientierungswissen und Technikethik, in: Dialektik. Zeitschrift für Kulturphilosophie 2 (2000), S. 57-78. 18 | M. Kettner: Idealisierung und vollständige Handlung. Aristoteles. 19 | A. Luckner: Orientierungswissen und Technikethik, S. 63. 20 | I. Kant: Grundlagen der Metaphysik der Sitten, Akademic-Ausgabe, Bd. IV, Berlin 1978, S. 404.
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Orientierung seitens einer allgemeinen Ethik. Es können jedoch verschiedene Handlungsoptionen in ihrer unterschiedlichen Wertung, Gewichtung und Rechtfertigbarkeit vorgestellt werden. Eine normative Rechtfertigung wird üblicherweise unter bestimmten obersten Imperativen (Vermeide den Widerstreit praktischer Vernunft/Selbstaufhebung der Autonomie! (Kant), Erhalte die Schöpfung, deren Element du selbst bist! (Jonas), Maximiere den Nutzen als Nutzensumme oder Durchschnittsnutzen (Utilitarismus) etc.) vorgenommen – transitive Orientierung mit Desiderat der Anwendung. Neben solchen nach Maßgabe der Anerkennung unbedingten Imperativen sind hypothetische Imperative zu unterscheiden. Das ist das Feld reflexiver Orientierung, deren Bedingungen als Bedingungen der Anwendung von Ethik zu erhalten sind – seinerseits als Gebot einer Ethik, die die Gestaltung der Bereiche adressiert. Es geht in diesem Feld zunächst um ein Abwägen des Nötigungscharakters für ein Handeln unter spezifischen Bedingungen, nämlich in Abhängigkeit von den erstrebbaren Zwecken und Zielen. Ist diese Abhängigkeit als Zweckbindung selbst und ihrerseits wieder hypothetisch, sprechen wir (mit Kant) von technischen Imperativen, die mögliche Mittel-Zweck-Verbindungen ausdrücken. Es sind transsituativ gültige theoretische Sätze. Für sich gesehen nötigen sie nicht, solange die Zwecke für das Subjekt nicht tatsächlich gegeben sind. Personen- und situationsrelativ hingegen ist das wirkliche Gegebensein von Zwecken, unter denen21 »assertorisch« – hypothetische Imperative formulierbar sind. Unter einem »WirklichGegebensein« von Zwecken lassen sich dann hypothetische Imperative in Gestalt von pragmatischen Ratschlägen der Klugheit formulieren, die Chancen und Risiken des Gelingens einer Realisierung der Zwecke mit ihren Folgen betreffen. Was heißt aber »Wirklich-Gegebensein« der Zwecke? Sie als »gegeben« anzunehmen, setzt ein Sich-Orientieren bezüglich möglicher Zwecke nach Maßgabe ihrer Integration in eine Gesamtvorstellung gelingenden Lebens voraus: Ob wir z.B. Mensch-Tier-Hybride als optimierte Dienstleister oder Mensch-Technik-Hybride als Leistungsträger im emphatischen Sinne wollen, wäre eine hier zu verhandelnde Frage. Sich zu informieren, sich jenseits oktroyierter Bestimmungen in Gestalt von zugewiesenen Chancen oder zugewiesenen Risiken selbst zu bestimmen, findet auf der Basis solcher reflexiver Orientierung statt. Für deren Erhalt müssen Technik, Ökonomie, Medizin etc. so angelegt sein, dass 21 | I. Kant, GMS.
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die Subjekte einen Bezug ihres Handelns zu den von ihnen anerkannten unbedingten Imperativen herstellen können. Bereichsethik würde dann darauf abzielen, die Bedingungen zu garantieren, dass innerhalb der Bereiche bestimmte Maximen artikuliert, spezifiziert bzw. ausbuchstabiert und in einen Abgleich mit den Maximen Anderer gebracht werden können. Davon hängt ab, ob Zwecke wirklich oder nicht bloß vermeintlich verfolgt werden, und entsprechende Ratschläge der Klugheit zielen auf eine entsprechende Spezifizierung von Maximen (»gewichtete Landkarte«), die erst dann einer ethischen Rechtfertigung qua Prinzipien unterzogen werden können. Im Technischen betrifft dies z.B. den Umgang mit Entlastungsfunktionen der Technik in Ansehung des Erhalts von Kompetenzen, Wissen, Fähigkeiten etc., die sich doch nur an Widerständigkeit herausbilden und erhalten. Kurz: Bereichsethiken als anwendungsbezogene Ethiken zielen auf die Gestaltung von Systemen (i.w.S.) hinsichtlich des Erhalts der Moralitätsfähigkeit des eigenen Handelns. Betrachten wir nun abschließend diese Konstellation für die Technikethik als Ausprägung einer Bereichsethik. Hier lassen sich Grundzüge identifizieren, die für eine Bereichsethik als anwendungsbezogener Ethik im bisher entwickelten Sinne typisch sind.
4. Technike thik als B ereichse thik Seit Francis Bacons Programmatik experimenteller Naturerschließung »per vexationes artis« (Verzerrung der ursprünglichen Natur durch Technik) mit dem Ziel eines »Sieges der Technik über die Natur« zum »Nutzen des Menschen«, erhielt Technik eine Schlüsselfunktion für die Gestaltung unserer theoretischen und praktischen Weltbezüge22 . Theoretisch relevant ist sie, weil jedes naturwissenschaftliche Experiment ein technisches System darstellt, innerhalb dessen gesetzesartige Ursache-Wirkungs-Beziehungen unter Elimination von Störgrößen bzw. unter Immunisierung vor Umwelteinwirkungen modelliert werden können. Die dadurch (technisch) gewährleistete Wiederholbarkeit macht »das Gelingen« eines instrumentellen Einsatzes derart isolierter Ursachen »möglich«23. Diese »Siche-
22 | F. Bacon: Instauratio magna, Stuttgart 1963, S. 141, S. 213, S. 230. 23 | R. W. Ashby: Einführung in die Kybernetik, Frankfurt a.M. 1974, S. 290.
Von der Anwendung der Ethik zur Ethik der Anwendung
rung«24 ist das der Technik immanente praktische Prinzip, welches die Planbarkeit, Antizipierbarkeit und Erwartbarkeit erfolgreicher Vollzüge begründet. Technisches Handeln reicht also über instrumentelles Agieren mit eigens zu diesem Zweck hergestellten Mitteln, wie wir es auch bei höheren Spezies und in der »Zufallstechnik« der Jäger und Sammler finden25, hinaus, und zwar indem es auch die Bedingungen des Erfolges instrumentellen Agierens herstellt und bearbeitet und so die ›Natur‹ zu einer ›Umwelt‹ technischer Systeme transformiert. Gerade angesichts der steigenden Eingriffstiefe der Hochtechnologien in unsere äußere und innere Natur in eins mit zunehmender Langfristigkeit von intendierten, tolerierten, unerwünschten und/oder ungewissen Folgen technischen Handelns steht eine Ethik der Technik vor der Herausforderung, sowohl die technisch induzierten Naturbezüge als auch die Nutzenorientierung normativ zu beurteilen und zu problematisieren: Es geht um die Frage, ob sie dem technikimmanenten Prinzip der Sicherung und der Erreichbarkeit eines jeweils überhaupt als gut rechtfertigbaren Lebensvollzugs entsprechen. Denn mit steigender Eingriffstiefe und zunehmender Langfristigkeit der Folgen verändern sich nicht bloß die Möglichkeitsräume fortsetzbaren Handelns, und es wird nicht nur unser Wissen um diese Veränderungen unsicher oder durch Ungewissheit ersetzt, sondern auch traditionelle Orientierungen, Welt- und Menschenbilder sehen sich verschwindenden oder neu eröffneten Bezugsbereichen gegenüber. In diesen werden die Macht des Wissens und die Handlungsmacht in eine neue Relation gesetzt durch die »Macht« der Technik. Daher entstehen auch neue Erfordernisse reflexiver Orientierung. Technikethik steht daher einerseits in engem Bezug zu Fragestellungen der ökologischen Ethik und Bioethik (Bezug zum Bedingungserhalt äußerer und innerer Natur) sowie zur Wirtschaftsethik (Bereitstellung von Gütern), andererseits zur allgemeinen Ethik (technisch induzierte Herausforderungen klassischer Rechtfertigungsstrategien), schließlich zum Technikrecht als Durchsetzungsinstanz von Grenzziehungen. Bereichsspezifische normative Fragen entstehen, wenn man sich der Dimension der Technik als Garant der Bedingungen26 des Einsatzes von Mitteln vergewissert und dabei im Auge behält, dass Mittel nur qua 24 | M. Heidegger: Die Technik und die Kehre, Pfullingen 1962, S. 18, S. 27. 25 | J. Ortega y Gasset: Betrachtungen über die Technik, Stuttgart 1949, S. 90105. C. Hubig: Die Kunst des Möglichen Bd. 2, Bielefeld 2007, S. 48. 26 | H. Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 1962, S. 18.
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Zuordenbarkeit zu möglichen Zwecken Mittel sind und Zwecke nur qua unterstellter Herbeiführbarkeit Zwecke, also qua Bezug zu möglichen Mitteln (sonst handelt es sich um bloße Wünsche). Solche möglichen Bezüge gewährleistet Technik als »Gestell« und »Bestand«27, als »System«, »Medium«, »Dispositiv«, (modal begriffener) Macht 28. Von der Gestaltung und Anlage der technischen Systeme hängt ab, welche Chancen (mögliche Gratifikationen) bzw. welche Risiken (mögliche Schäden und Sanktionen) für den Einzelnen beim Handeln bestehen. Denn die Systeme sollen ja das Gelingen sichern und vor Störungen immunisieren bzw. diese kompensieren. Die verbreitete Charakterisierung der Technikethik als Ethik von Risiken und Chancen trifft durchaus die Spezifik einer Technikethik als Systemethik der Ermöglichung bzw. Verunmöglichung. Der Bezug der Technikethik zur urteilskraftgestützten Anwendung allgemeiner Ethik liegt in der von ihr vorzunehmenden normativen Beurteilung der Ermöglichung bzw. Verunmöglichung allgemeinmoralisch normierter Anwendung. Neuere Ethiken der Technik 29 wollen nicht Orientierung geben, sondern als Basis für ein Sich-Orientieren begründete Ratschläge für eine Technikgestaltung, die dieses Sich-Orientieren ermöglicht. Ihr Prinzip eines Erhaltes der Handlungsbedingungen und der Vermeidung von Sachzwängen ist dem Interesse an einem Gesamtlebensvollzug verhaftet, der formal als Möglichkeit gefasst ist, sein Leben selbstbestimmt zu führen. Daraus ergeben sich auch Grundsätze für die Risikoübernahme jenseits von Risikozumutung oder Risikoabschiebung auf andere, deren individuelle Lebensführung verletzt wäre. Im Interesse des Erhalts der Korrigierbarkeit situationsbedingter Fallibilität stehen die Ratschläge unter dem Programm einer provisorischen Moral30 auf, wie sie Descartes skizziert hat: jeweils situationsadäquat die Beweislast dem Neuen zuzuweisen, unter Krisendruck Entscheidungen durchzuhalten und die Grenzen der jeweils eigenen Handlungsmacht nicht zu überschreiten. Derartige Ratschläge können ein Dissensmanagement begrenzen, welches darauf 27 | M. Heidegger, Technik und Kehre, S. 18. 28 | G. Gamm: Nicht Nichts. Studien zu einer Semantik des Unbestimmten, Frankfurt a.M. 2000. C. Hubig: Die Kunst des Möglichen Bd. 1, Bielefeld 2006. 29 | K. Kornwachs: Das Prinzip der Bedingungserhaltung. Eine ethische Studie, Münster 2000. A. Luckner: Orientierungswissen und Technikethik. C. Hubig, Die Kunst des Möglichen Bd. 2. 30 | C. Hubig: Die Kunst des Möglichen Bd. 2, Kap. 6.
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aus sein sollte, Dissense und Pluralität zu erhalten, indem individuelle Lösungen auf eigenes Risiko zugelassen, regionale Spezifiken optimaler Mittelallokation berücksichtigt, neue Suchräume eröffnet und Prohibitionen nur befürwortet werden, wenn plurales Entscheiden durch Verdrängung des Optionenspektrums gefährdet ist. Diskurse sollten daher auf weitestmöglichen Erhalt von Dissensen angelegt und ein Konsens lediglich über deren Begrenzung erstrebt werden. Kompromisse als Auszeichnung einer Option sind zwar verschiedentlich unvermeidbar, stellen jedoch eine problematische Lösung dar, weil sie die negativen Konsequenzen der abgeschwächt vertretenen Positionen weiterführen und zu immer schwerer handhabbaren Systemen führen. Gemäß dem Prinzip des Bedingungserhaltes folgen die Ratschläge zur Technikgestaltung nicht in erster Linie individuell strittigen Chancen- und Risikoanalysen, sondern zielen auf die Gewährleistung der Kompetenz zum Chancen- und Risikomanagement im Falle neu ersichtlicher Chancen und Risiken, also zum Umgang mit Chancen- und Risikopotenzialen, wie sie die modernen Hochtechnologien mit sich führen (»enabling technologies«). Für die Robotik z.B. bedeutet dies, dass die teilautonomen Systeme so zu gestalten sind, dass im erforderlichen Fall noch eine Mensch-System-Interaktion unter Abgleich der Erwartungen und Erwartungserwartungen stattfinden kann oder ein Abbruch der System-Interaktion möglich ist. Hierfür muss die Transparenz der systemischen Strategie für die an der Interaktion Beteiligten erhalten bleiben. (Diese Bedingungen sind z.B. verletzt, wenn »smarte« Kampfdrohnen ihre Ziele selbsttätig auswählen, »smarte« Automobile bei unvermeidbaren Kollisionen selbsttätig eine Aktionsoption [mit geringerem Schaden – nach welchen Kriterien?] »wählen« oder »intelligente Handlungsumwelten« Aktionen veranlassen, die strategischen Interessen bzw. ihrer Koordination folgen, die für die Beteiligten nicht mehr explizit als solche identifizierbar sind.) In der Nanotechnik stellt insbesondere die Nichtrückholbarkeit der Nanopartikel eine Gefährdung der Möglichkeit eines Risikomanagements dar. Analog gilt für bestimmte Nutzungsarten der Kernkraft, dass die Entstehung nicht mehr kontrollierbarer Zustände in extremen Betriebssituationen oder bei der fälschlich so bezeichneten »End«lagerung ein starkes technikethisches Gegenargument darstellt, dem nur dadurch zu entsprechen wäre, dass die Anlagen auf Erhalt der Disponibilität ausgelegt sind (z.B. Rubbing-Reaktor oder zugängliche Endlagerung). Akzeptabilität wird daher nicht mehr ›stark‹ begriffen als (aus der Sicht eines Ansatzes) ›gerechtfertigte Akzeptanz‹, sondern als Akzep-
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tanzfähigkeit, als Fähigkeit, ggf. zu akzeptieren oder Akzeptanz zu verweigern. Eine so gefasste Akzeptabilität ist zu erhalten. Sie ist eben die Basis für Moralitätsfähigkeit. Bezüglich der Umsetzung ist an die Institutionenverantwortung zu erinnern. Institutionen und Organisationen sind nichtnatürliche Subjekte der Gestaltung technischer Systeme. Ihr Handeln wird im Zuge starker oder schwacher Mandatierung (Rollenverantwortung) durch Individuen wahrgenommen, die als Träger verschiedener Arten von Mitverantwortung adressierbar sind. Dies gilt auch für Mitglieder von Organisationen sowie alle Individuen, die durch die Nutzung der Systeme implizit die Direktiven der Systemgestaltung anerkennen. Wenn die ›Wirksamkeit‹ von Technikethik oftmals mit Verweis auf das Technikrecht problematisiert wird, ist daran zu erinnern, dass die Legislative einer Orientierung bedarf; die Jurisdiktion ist mit Fragen der Auslegung von Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen befasst, deren Beantwortung ebenfalls moralische Erwägungen erfordert. Schließlich stoßen juristische Regelwerke notwendigerweise an Grenzen des Regelbaren; auch das Handeln in rechtsfreien Räumen bedarf der Orientierung. Technikethik ist also dem Technikrecht vor- und nachgeordnet und ergänzt es in spezifischer Weise. Prominentes Beispiel für die Übernahme institutioneller ethischer Technikverantwortung in dieser Konstellation sind die »Ethischen Grundsätze des Ingenieurberufs« des VDI, übernommen vom Europäischen Ingenieurverband »FEANI«31, die explizit auch die entsprechend aufzuklärenden Nutzerinnen und Nutzer adressieren. Im Unterschied zu den individualethisch orientierten US-amerikanischen EthikCodices für Ingenieure mit ihrer problematischen Verantwortungszuweisung an Ingenieure als »moralische Helden«32 entfaltet ihre klugheitsethisch fundierte Sachzwangvermeidungsethik ihre Wirkung auf der Basis einer Selbstverpflichtung der Ingenieurverbände als Organisationen. Sie wird dort explizit als Vereinsinnenrecht, mithin als Appellationsinstanz auch in juristischen Auseinandersetzungen geltend gemacht. Neben der Expertenverantwortung als Rollenverantwortung der Ingenieure wird die unterstützende Funktion für die Legislative und die Jurisdiktion explizit betont, ferner die Aufklärungspflicht gegenüber den Nutzerinnen 31 | Dokumentiert in: C. Hubig, J. Reidel (Hg.): Ethische Ingenieurverantwortung. Handlungsspielräume und Perspektiven der Kodifizierung, Berlin 2003. 32 | K. D. Alpern: Ingenieure als moralische Helden, in: H. Lenk, G. Ropohl (Hg.): Technik und Ethik, Stuttgart 1993, S. 177-193.
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und Nutzern33. Konkretisiert wurde eine so verstandene Technikethik u.a. in der VDI-Richtlinie 7001 »Öffentlichkeitsbeteiligung bei Planung und Bau von Infrastrukturprojekten«. Als Beispiele dort angeführter »Standards guter Praxis, von denen nur in begründeten Fällen […] abgewichen werden kann«34 seien abschließend die Kriterien für »Transparenz« und Mitgestaltung zitiert, die für technische Systeme (Technik überhaupt) gelten: »Transparenz ist gegeben, wenn a) die Urheberschaft/Authentizität einer Information klar ist, b) die Auftraggeberschaft und/oder eine mögliche Interessenbindung der Informierenden offengelegt ist, c) methodenbedingte und durch die Faktenbasis bedingte Unsicherheiten mit kommuniziert werden, d) der Status der Information als Mehrheits- oder Minderheitsmeinung gekennzeichnet und auf alternative Einschätzungen bei vergleichbaren Fällen (kontroverse Gutachtenlage) hingewiesen wird sowie e) der allgemeine Kontext der Information freigelegt wird (das heißt Auswahl, Fokussierung, Ausblenden, Berücksichtigen von Themen und Aspekten bei Problemstellung und Lösungspräsentation).«35 Mitgestaltung: »Konfliktlösungen sollen unter folgenden Strategien erzielt werden: a) Untersuchung der Problemwurzel in Verbindung mit der Frage, ob bei alternativer Problemgestaltung andere, weniger konfliktträchtige Maßnahmen möglich sind oder sich gar die geplanten Maßnahmen erübrigen (Nullvariante, Beispiele im Bereich der Deponierung), b) Verlagerung der Konfliktlösungsoptionen auf Orte und Situationen besserer bzw. optimaler Allokation; dies setzt entsprechende Spielräume des (Um-)Planens voraus, c) Angebote von Schadenskompensation und -ausgleich, wenn die Träger der Lasten nicht oder nur unverhältnismäßig vom Nutzen profitieren. 33 | VDI-Richtlinie 7001 »Öffentlichkeitsbeteiligung bei Planung und Bau von Infrastrukturprojekten«. 34 | 7001, 3. 35 | 7001, 4.
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Solche Kompensationsmaßnahmen müssen in den betroffenen Bereichen selbst greifen, also etwa ökonomische Einbußen kompensieren durch ökonomische Gratifikationen (z.B. alternative Beschäftigung/ Einnahmen bei Einkommensverlusten) oder alternative Erholungsmöglichkeiten bei Einschränkungen der Freizeit- und Gesundheitsqualität, d) technische (auch aufwendige) Maßnahmen zur spürbaren Minderung der Belastungen auf ein gemeinsam festgelegtes zumutbares Maß, e) bei unauflöslichen Konflikten müssen Ressourcen für eine Risikovermeidungsmobilität temporärer oder grundsätzlicher Art (Wohnungswechsel, Standortwechsel etc.) angeboten werden.«36 Wir finden hier die Gewährleistung von Voraussetzungen für ein SichOrientieren der Individuen in kognitiver und voluntativer Hinsicht; sie gelten letztlich gleichermaßen für alle technischen Systeme, für die Mensch-System-Interaktion und die Prozesse ihrer Gestaltung im Abgleich zwischen Entwicklern, Vorhabenträgern und Nutzern. Das Prinzip der Technikethik als anwendungsbezogener Ethik – in Analogie zur oben zitierten Forderung Hans Jonas’ für eine politische Ethik – lautet entsprechend: Gestalte und nutze technische Systeme so, dass die Möglichkeit einer Technikbewertung erhalten wird, also die Möglichkeit einer Anwendung der Ethik. Diese Möglichkeit zu erhalten, ist Prinzip einer Ethik der Anwendung.
36 | 7001, 5.
Unterfordert und überschätzt Zur Ethisierung der Forschungspraxis Alfred Nordmann
Allenthalben erklingt die Forderung nach »ethics on the laboratory floor« und einer ethischen Sensibilisierung von Forschern. Wer in den USA einen Antrag bei der National Science Foundation stellt, muss nachweisen, dass alle haupt- und nebensächlich Beteiligten ein Trainings-und Mentoringprogramm zu »Responsible Conduct of Research (RCR)« belegen. Als die Nanotechnologie zum Exportschlager wurde, breitete sich auch die ethische Begleitforschung in Japan, China und Korea aus1. Unter dem Stichwort »midstream modulation« verspricht die Wissenschaftsund Technikforschung, nicht zu früh und nicht zu spät, nämlich ganz beständig ethische Gesichtspunkte in den Forschungsprozess einzuspeisen.2 Und unter dem Stichwort »Responsible Research and Innovation« schafft die Europäische Kommisson Anreize für die Reflexivität und Gesprächsbereitschaft von Forschern.3 Ganz unten im Erdgeschoss der Wissens- und Technikproduktion, an der Werkbank des Labors soll die Forschung beweisen, wie ethisch und umsichtig sie ist. Dass dies nicht nur eine irgendwie und selbstverständlich gute Sache sei, sondern eine unumgängliche Notwendigkeit in heutiger Zeit, provoziert kritische Gegenfragen.4 Was für ein Ort soll dieses 1 | Vgl. M. Roco: »Broader societal issues of nanotechnology«. In: Journal of Nanoparticle Research, 5: 181-189., 2003: S. 188. 2 | E. Fisher, R. Mahajan, C. Mitcham: Midstream Modulation of Zechnology. Governance from Within. In: Bulletin of Science and Technology, 26: 485-496, 2006. 3 | R. Owen, J. Bessant, M. Heintz (Hg.): Responsible Innovation, London 2013. 4 | Tatsächlich produziert wurden diese Gegenfragen von den Herausgebern eines 2013 erschienen Sammelbands, die den Autor zu einer kritischen Perspek-
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Labor eigentlich sein, in dem sich nun auch Ethiker und Sozialwissenschaftler einfinden sollen? Wer diese Frage verfolgt, stößt zunächst auf die Vorstellung, dass im Labor Weichenstellungen vorgenommen werden. Die Forderung nach »Ethik im Labor« beglaubigt diese Vorstellung, bedeutet somit entweder den Triumph oder eine reductio ad absurdum aller konstruktivistischen Ansätze, die auf einer Überbewertung der im Labor getroffenen Entscheidungen beruhen. Hinter der Forderung nach »Ethik im Labor« könnte aber auch eine andere ganz andere Vorstellung stehen. Sie privilegiert das Labor keineswegs, sondern stellt die Laborforscher mitten in einen auf viele Schultern verteilten gesellschaftlichen Gestaltungsprozess, der ethische Sensibilität von allen Akteuren erfordert. Auch für diese Vorstellung mit ihrem ausgedünnten Gestaltungsbegriff bedeutet »Ethik im Labor« jedoch gleichermaßen Triumph und reductio ad absurdum. Beide Argumentationlinien sollen im Folgenden verfolgt werden. So oder so gilt, dass natürlich nichts einzuwenden ist gegen eine Sensibilisierung für ethische Fragen. Wenn die ethische Sensibilisierung von Forschern jedoch als wesentliche Aufgabe von Technikbewertung, Forschungs- und Entwicklungspolitik aufgefasst wird, kann dies nur ein Ablenkungsmanöver sein, dass den Unwillen zur politischen Weichenstellung verschleiert.
K rieg und F rieden Wenn das Labor als Schauplatz weitreichender Entscheidungen aufgefasst wird, stellt »Ethik im Labor« in mehrfacher Hinsicht einen Triumph konstruktivistischer Wissenschaftstheorie dar. Dieser wurde nämlich nachgesagt, sie könne die Wissenschaft nur unterminieren, insofern sie die Auffassung eines Karl Poppers oder Thomas Kuhn als Mythos entlarvte und damit die Idee, die Wissenschaft folge wesentlich einer kollektiv tivierung von »ethics on the laboratory floor« einluden. Die daraus resultierende erste Version des vorliegenden Beitrags (A. Nordmann: Underdetermination and Overconfidence: Constructivism, Design Thinking, and the Ethics Politics of Research. In: S. van der Burg und T. Swierstra (Hg.): Ethics on the Laboratory Floor. Houndmills 2013. S. 213-225) wurde von Christina Goldmann ins Deutsche übersetzt und danach einer Bearbeitung unterzogen.
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verbindlichen Logik der Forschung. Stattdessen tritt in den Vordergrund, dass Wissenschaftler Entscheidungen treffen, dass diese Entscheidungen vom Sachstand her unterdeterminiert sind, also nur entscheidbar sind durch Vorurteile oder Ideologien, persönliche Interessen oder ästhetische Vorlieben, ethische oder politische Einstellungen. Aus der hieraus resultierenden Preisgabe eines hehren Wissenschaftsideals folgten verständlicherweise zunächst die »Wissenschaftskriege (science wars)« zwischen Forschern und Wissenschaftsforschern, zwischen aufklärungsgläubigen Philosophen und postmodernen Kulturwissenschaftlern. Der Triumph konstruktivistischer Wissenschaftstheorie kam erst mit einem unverhofft einsetzenden Liebesfest: Jetzt wird die Offenheit des Forschungsprozesses, jetzt werden ethische Abwägungen und die gesellschaftliche Einflussnahme auf Entscheidungen im Labor uneingeschränkt und allseits gefeiert.5 Mit dieser Affirmation einer dezisionistischen Auffassung von Wissenschaftspraxis rückt die Nähe von Triumph und reductio ad absurdum ins Licht. Einerseits scheint begrüßenswert, dass nicht nur die Auswahl des Problems und dann erst die Anwendung der Erkenntnisse für gesellschaftlich relevant erachtet werden, sondern dass auch der Forschungsverlauf unter Mitwirkung von Philosophen und Sozialwissenschaftlern moduliert werden kann (midstream modulation). Andererseits blendet diese Sichtweise ganze Handlungsfelder aus. Die Illusion von weitreichenden Weichenstellungen im Labor legt nahe, dass sich die Zukunft der Technik, wenn nicht der Menschheit aus der Summe der im Labor getroffenen Entscheidungen ergibt. Mit dieser Illusion gehen zwei Forderungen einher an das, was »verantwortliche Innovation« leisten muss. Einerseits sei sicherzustellen, dass ethisch sensibilisierte Laborforscher umsichtig handeln, andererseits sollen Bürger auf zukünftige Entwicklungen vorbereitet sein. Hiernach stehen Entscheidungen nur dort an, wohin eine politische Diskussion gar nicht erst vorzudringen vermag. 5 | Vgl. A. Sokal: Transgressing the Boundaries: Towards a Transformative Hermeneutics of Quantum Gravity. In: Social Text, 46/47. New York 1996. S. 217-52.; A. Nordmann: Knots and Strands: An Argument for Productive Disillusionment. In: Journal of Medicine and Philosophy, 32(3). Oxford 2007. S. 217-36.; H. Nowotny u.a.: Wissenschaft neu denken: Wissen und Öffentlichkeit in einem Zeitalter der Ungewißheit. Weilerswist 2004.
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Diese Entscheidungen treffen nämlich einerseits die Experten im Labor, andererseits die Menschen in der Zukunft, die mit neuen Technologien konfrontiert sein werden. Dass es zwischen Laborpraxis und zukünftigen Anwendungsproblemen ein Feld für politische Aushandlungsprozesse geben könnte, wird damit ausgeblendet. Politische Kultur darf sich darin erschöpfen, ein insgesamt günstiges Umfeld für Innovation zu schaffen, nämlich eines, das die ethische Sensibilisierung der Entscheidungsträger im Labor fördert und das die Öffentlichkeit darauf vorbereitet, was für Technik in Zukunft auf sie zukommt. Selbstverständlich ist dies eine Karikatur der gegenwärtigen Forschungspolitik. Aber vielsagend ist doch, dass eine solche Karikatur überhaupt plausibel erscheint.6 Und merkwürdig an dieser Karikatur ist insbesondere, dass sie zwar plausibel erscheint und einen gewissen Wiedererkennungswert hat, dass sich andererseits so leicht zeigen lässt, wie eng Triumph des Konstruktivismus und die Absurdität einer Fixierung auf die Entscheidungen im alltäglichen Laborgeschehen beieinander liegen.7 So bedeutsam nämlich die Erkenntnis war, dass Entscheidungen im Forschungsprozess unterdeterminiert sind, so unhaltbar ist gleichwohl die Behauptung, diese Entscheidungen seien besonders folgenreich. Die Wahl eines bestimmten Materials oder einer Methode kann sich zweifellos als wichtig erweisen, aber sie steht nicht auf derselben Stufe wie die Entscheidung, ob die Bekämpfung der Sterblichkeitsrate durch Krebs höhere Priorität haben sollte als die Behandlung chronischer Schmerzen. Sie steht auch nicht auf derselben Stufe wie die Frage nach der Gewinnung von Biokraftstoffen im Verhältnis zur anderweitigen Nutzung landwirtschaftlicher Anbauflächen, oder wie die Wahl einer Anpassungsstrategie an den Klimawandel. Weitreichende Entscheidungen über wissenschaftliche und technologische Entwicklungen werden auf der Ebe6 | S. Davies u.a.: Reconfiguring Responsibility: Lessons for Public Policy, Part 1 of the Report on Deepening Debate on Nanotechnology. Durham 2009; A. Nordmann und A. Schwarz: Lure of the ›Yes‹: The Seductive Power of Technoscience‹. In: M. Kaiser, M. Kurath, S. Maasen, S., C. Rehmann-Sutter, C. (Hg.): Governing Future Technologies: Nanotechnology and the Rise of an Assessment Regime. Dodrecht 2010. S. 255-77. 7 | L. Winner: Upon Opening the Black Box and Finding It Empty: Social Constructivism and the Philosophy of Technology. In: Science, Technology and Human Values, 18(3). 1993. S. 362-378.
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ne öffentlicher Abwägung und Prioritätensicherung getroffen und sind nicht mit denen im Labor vergleichbar. Während Entscheidungen über die Richtung der Forschung den Rahmen festlegen können, in dem sich Forschungsprogramme allererst entfalten, nutzen die vor Ort im Labor getroffenen Entscheidungen nurmehr die engen Spielräume, die ihnen innerhalb dieses Rahmens verbleiben. Was folgt nun aus dieser sehr allgemeinen Kritik des gegenwärtigen wissenschaftspolitischen Diskurses und seiner Priorisierung der ethischen Sensibilisierung von Forschern? Natürlich folgt nicht, dass »Ethik im Labor« keine Rolle zu spielen hätte.8 In nahezu jeder Situation ist Nachdenklichkeit eine Tugend. Auch wenn es dazu führt, die Aufmerksamkeit von öffentlichen Aushandlungsprozessen abzulenken und stattdessen auf ein esoterisches Laborgeschehen zu konzentrieren, kann es nichts Schlechtes sein, wenn ethische Reflexivität in den Forschungsprozess integriert wird. Aber was könnte diese Reflexivität überhaupt bedeuten und bewirken? Angesichts der Tatsache, dass die Entscheidungen im Labor zwar schwierig und komplex, aber nicht besonders weitreichend sind, müsste die Reflexivität von Laborforschern geradewegs in eine eher politische als ethische Haltung münden: Ein erstes Anzeichen für ethische Bewusstheit bestünde hiernach darin, dass Forscher ihre ethische Sensibilisierung nicht allzu ernst nehmen. Sie müssten und würden die vorausgesetzte Annahme zurückweisen, dass wir die Lösung unserer globalen und gesellschaftlichen Probleme von Wissenschaft und Technik erwarten sollten.9 Anders gesagt: Mit dieser Weigerung würden Forscher ihre Überlegungen im Labor an politische Prozesse und kulturelle Belange zurückbinden.10 8 | Vgl. dazu den Code of Conduct for Responsible Nanosciences and Nanotechnologies Research der Europäischen Kommission. Brüssel 2008. 9 | z.B. T. Vogt: Buying Time – Using Nanotechnologies and other Emerging Technologies for a Sustainable Future. In: U. Fiedeler, C. Coenen, S. Davies, und A. Ferrari (Hg.): Understanding Nanotechnology: Philosophy, Policy and Publics. Heidelberg 2010. S. 43-60. 10 | Ich unterscheide Ethik und Politik nicht angesichts der zu erörternden inhaltlichen Fragen (»Sollten wir biokompatible Materialien verwenden?« oder »Wie können wir auf die wahren Interessen von Patienten eingehen?«). Ethik und Politik unterscheidet vielmehr die Art und Weise, in der die Fragen erörtert und schließlich beantwortet werden. Ich spreche von Ethik, wenn es um die Bestimmung
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W unsch und W elt Wer sich einbildet, das Labor wäre eine Zukunftsschmiede und Schauplatz für die technische Lösung gesellschaftlicher Probleme, privilegiert nicht nur diesen Ort und die Menschen, die dort arbeiten, sondern projiziert das Politische aus dem öffentlichen Raum der Forschungsförderung und Innovationsstrategien, der Wirtschaftsinteressen und Zusammenlebensentwürfe in einen für gesellschaftliche Aushandlungen unzugänglichen esoterischen Bereich. Solange wir uns also das Labor als einen Rückzugsort für Forscher und Entwickler vorstellen, kann sich nur die Unvereinbarkeit labor- und gesellschaftsrelevanter Problemdefinitionen mit ihren jeweiligen Größenordnungen, Reichweiten, technischen Lösbarkeiten erweisen. Hier bleibt nur die bereits angedeutete Möglichkeit, aus dem Labor im engeren Sinn auszubrechen. Sie besteht darin, die Ethisierung der Laborforschung zu verweigern, etwa um einer Re-Politisierung der Forschung willen. Wie schon anfangs angekündigt, gibt es eine andere Möglichkeit. Sie besteht darin, die Abgeschiedenheit des Labors als privilegierten Schauplatz zu bestreiten und die Labortätigkeit als Teil eines umfassenderen Design- oder Gestaltungsvorhabens zu begreifen. Zu diesen umfassenden Gestaltungsvorhaben trägt hiernach wissenschaftliche und technische Forschung nur bei. Der Gestaltungsprozess beginnt wenn Probleme gesellschaftlich definiert werden, und er endet wenn neue Praktiken, Techniken oder Apparate von Nutzern im Gebrauch bewertet werden und erst so darüber befunden wird, wie eine neue Technologie letztlich aussieht. Hiernach schließen sich ethische und politische Fragen nicht etwa an wissenschaftlich-technische Forschung und Entwicklung an, sondern dessen geht, was hinsichtlich einer Meinung, Haltung oder einer Handlung gut, richtig oder angemessen wäre. Von Politik spreche ich, wo ein öffentlicher und ergebnisoffener Aushandlungsprozess stattfindet, in den wirtschaftliche Interessen, Glaubensdogmen, Umweltbelange, persönliche Werte, Menschenrechte und anderes hineinspielen. Hiernach würde ein »ethisch sensibilisierter Forscher« den zumindest vorläufigen Abschluss suchen, der es ihm erlaubt, einen besonderen zu unternehmenden Schritt oder eine bestimmte zu äußernde Meinung zu rechtfertigen. Dagegen trägt verantwortungsvolle Forschung zu politischen Aushandlungsprozessen bei, indem sie ihre Themen für öffentliche Entscheidungsprozesse und Debatten aufbereitet und verfügbar macht.
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gehen ihr voraus, organisieren sie geradezu. Sie treten somit nicht erst durch die Begründungslücken ein, die sich aus der Unterdeterminiertheit von Entscheidungen ergeben. Wenn Wissenschaft und Technik nur Teil eines übergreifenden Gestaltungsvorhabens sind, dann stehen schon an dessen Anfang ethische und politische Debatten und vor allem die Frage »Was für eine Welt wünschen wir uns?« Diese Frage begleitet das gesamte Vorhaben bis sich die neuen Technologien in den Zusammenhang menschlicher Interaktionen gefügt haben. Wenn nun dieser zweite Weg eingeschlagen werden soll, geht der Integration ethischer und politischer Gesichtspunkte in das Laborgeschehen eine grundlegendere philosophische Aufgabe voraus. Diese Aufgabe besteht darin, Forscher und andere gesellschaftliche Akteure von der zugrunde liegenden Auffassung des Laborgeschehens zu überzeugen. Sie müssen also erst einmal einsehen, dass sie nicht in der geschützten Sphäre der Wissenschaft abgeschirmt hinter den Mauern ihrer Labors arbeiten, sondern nur ihren Teil zu einem größeren Gestaltungsvorhaben beisteuern, also von vornherein so etwas wie Auftragsforschung betreiben. Erst wenn gewürdigt wird, dass sich der Charakter und die kulturelle Bedeutung der Forschung in diesem Sinne geändert haben, und wenn die Beteiligten begriffen haben, welchen Platz sie im größeren Gestaltungszusammenhang einnehmen, können sie aus ihrer jeweiligen Rolle heraus zur Verhandlung der Frage »Was für eine Welt wünschen wir uns?« beitragen. Auf den ersten Blick ist dieser übergreifende Ansatz plausibler und vielversprechender für das Projekt einer Ethisierung oder Politisierung der Forschung – doch muss die Rede von Forschung im Gestaltungsmodus ihrerseits näher betrachtet werden. Während konstruktivistische Darstellungen die Reichweite der vielen, kleinen Entscheidungen überschätzen, welche Forscher in ihren Laboren treffen, neigt die technologische Auffassung von Wissenschaft als Gestaltungsinstrument dazu, die Möglichkeit kollektiver Weltgestaltung, Phänomenbeherrschung und Problembewältigung zu überschätzen. Dieser Selbstüberschätzung entgehen wir nur um den Preis eines bis zur Unkenntlichkeit verdünnten Designoder Gestaltungsbegriffs, wonach als Gestaltungsvorhaben eben das definiert wird, was irgendwie und ohnehin aus der auf zahllose Schultern verteilten Tätigkeit der Menschen hervorgeht. Die Idee eines gemeinsamen Gestaltungsvorhabens, innerhalb dessen Forscher zur Aushandlung und Verwirklichung einer wünschbaren Welt beitragen, lässt sich nur
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aufrecht erhalten, wo von planvoller Gestaltung nicht mehr die Rede sein kann. Um die Tragweite dieses Dilemmas richtig einzuschätzen, lohnt sich eine Auseinandersetzung mit den Arbeiten zu diesem Thema insbesondere von Peter-Paul Verbeek. Sie wird zeigen, dass auch die umfassendere Begründung einer Ethisierung von Laborpraxis nicht tragfähig ist.
Z weierlei D esign Peter-Paul Verbeek beginnt seine Analyse mit der Einsicht, dass Technik das menschliche Miteinander konditioniert, also die Rahmenbedingungen schafft für den gesellschaftlichen Umgang der Menschen.11 Dafür kann er sich auf eine ganze Reihe von Vorbildern berufen – auf Kant und Foucault, mit denen sich zeigen lässt, dass jede technische Infrastruktur Grenzen setzt, die bestimmte Arten der Erfahrung allererst ermöglichen; auf Winner und Wittgenstein, die Technologien als Lebensformen beschreiben; auf Latour und andere, denen zu Folge unser Verhalten einem von technischen Apparaten vorgegebenen Skript folgt. In einer Hinsicht läuft all dies aufs Gleiche hinaus: Technische Innovationen verändern unsere Lebensweise und beinhalten somit implizite oder explizite Entwürfe von gutem Leben. Von hier aus ist es nur noch ein kleiner Schritt zu Verbeeks Vorschlag, Design sei experimentelle Ethik, insofern es konkurrierende Vorstellungen von gutem Leben ins Spiel bringt. Daraus ergibt sich die Rolle von Ethik unter anderem auch im Labor: »Verantwortliches Design bedarf der Vorausschau, Bewertung und ausdrücklichen Gestaltung all jener Vermittlungen, die eine Technik in die Gesellschaft einführen wird«.12 Diese Herleitung Verbeeks und insbesondere die eben zitierte Aussage lassen jedoch zwei verschiedene Lesarten zu, die mit je eigenen Problemen behaftet sind. Nach der ersten Lesart bezeichnet »Design« einen gestaltenden Eingriff, sei es von einzelnen Menschen oder eines Kollektivs, der Veränderungen anstößt, die folgenschwere und weitreichende Wirkungen haben. Hinsichtlich dieser Wirkungen ergeben sich Fragen der Ethik und der 11 | P.P. Verbeek: Technology Design as Experimental Ethics. In: S. van der Burg und T. Swierstra (Hg.): Ethics on the Laboratory Floor. S. 79-96, Houndmills 2013. S. 84. 12 | Ebd.: S. 95.
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Verantwortlichkeit. Der Umgang mit diesen Fragen setzt daher die Fähigkeit voraus, die Wirkungen vorausschauend zu erfassen und idealerweise auch zu beherrschen. Kann oder sollte diese Fähigkeit jedoch unterstellt werden? Dies zu tun läuft auf eine Spielart technologischer hubris hinaus. Wird diese Fähigkeit unterstellt, soll menschliches Gestalten mehr sein als der in Treu und Glauben unternommene Versuch, die Wirklichkeit zu verbessern. Zu dem bloßen Versuch tritt nun die Zuversicht, wir könnten dank unserer Gestaltungskräfte beabsichtigte Effekte erwartungsgemäß hervorbringen, dabei unbeabsichtigte Nebenwirkungen voraussehen, vielleicht vermeiden und wenigstens kontrollieren. Dagegen gilt tatsächlich aber sogar für die einfachste Handlung, dass sie zwar entschlossen einen Zustand herbeizuführen sucht, sich aber nicht anmaßen kann, über die eigene Wirkung ganz zu verfügen. Nach dieser ersten Lesart von »Design« wird die Ungewissheit, die mit einer geplanten Handlung einhergeht, unterdrückt, und neben das Gestaltungsvorhaben tritt auch schon die Antizipation der Zukunft und tritt auch schon ein Design zweiter Ordnung zur Beherrschung der antizipierten Wirkungen. Dieser Auffassung zufolge leben wir nicht einfach in einer Welt, die sich kontingent menschlichem Handeln verdankt – a world of our making. Im Gegenteil wird die Welt als unser eigenes Gestaltungsprodukt vorgestellt, als Folge unserer Gestaltungswillens – a world of our own design. Im Anschluss an Don Ihde13 bezeichnet Aslan Kiran diesen Übergang als Designerfehlschluss (designer fallacy), insofern hier der Umstand, dass die Wirklichkeit formbar ist und menschlichen Manipulationsversuchen offen steht, mit der weitergehenden Idee verwechselt wird, die Wirklichkeit ließe sich in Übereinstimmung mit menschlichem Wollen und Wünschen bringen.14 Würde auf das bloße Wünschen und Planen, Konstruieren und Entwerfen tatsächlich eine entsprechende Wirklichkeit folgen, wäre eine Ethik des Wünschens in der Tat vordringlich, auf dass das Richtige auf die richtige Weise gewünscht würde.15 Da 13 | D. Ihde: The Designer Fallacy and Technological Imagination. In: P.E. Vermaas, P. Kroes, A. Light und S.E. Moore (Hg.): Philosophy and Design. From Engineering to Architecture. Dordrecht 2008. S. 51-59. 14 | A. Kiran: Responsible Design. A Conceptual Look at Interdependent Design– Use Dynamics. In: Philosophy and Technology, 25. 2012. S. 179-198. 15 | A. Nordmann und A. Schwarz: Lure of the ›Yes‹: The Seductive Power of Technoscience. In: M. Kaiser, M. Kurath, S. Maasen und C. Rehmann-Sutter, (Hg.):
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dies aber auf einer vermessenen Voraussetzung beruht und den Designerfehlschluss beinhaltet, bedarf es stattdessen einer Ethik, der es weniger um Vorausschau und Schadenskontrolle geht, die vielmehr als Korrektiv fungiert. Diese demütigere Ethik kann zwar nicht die Wirkungen weitreichender gestalterischer Eingriffe antizipieren, hat dafür in den Grenzen technischer Beherrschbarkeit einen angemessenen Ausgangspunkt. Die zweite Lesart von »Design« ergibt sich dem entsprechend aus Ihdes und Kirans Kritik am Designerfehlschluss. Dieser Fehlschluss positiviert die vom Designer heuristisch nur angenommene kausal gestalterische Intervention in der Welt. Statt eines wechselseitigen Bedingungsverhältnisses sieht er die geradlinige Verwirklichung eines Entwurfs. Sofern die zweite Lesart diesen Fehlschluss nun vermeiden will, finden sich die Designer in einer bereits technisierten Welt vor, die ihre Perspektive bedingt, ihre Handlungen beeinflusst und strukturiert. Derart aus der Mitte des Geschehens heraus wirken die Designer nur modifizierend auf die Vorgaben der Welt zurück. So ließe sich ein interventionistischer Standpunkt vermeiden, der Verantwortung für gestalterische Eingriffe und die daraus geradlinig folgenden Wirkungen postuliert. Stattdessen ließe sich der Designerfehlschluss überwinden, wenn wir uns der wechselseitigen Bedingtheit, der allgegenwärtigen Vermittlungen menschlicher Kollektive bewusst werden, die die Welt ununterbrochen gestalten und umgestalten, und als Individuen oder Kollektive dabei ihrerseits gestaltet und umgestaltet werden. Auch diese Lesart bietet Verbeek an. Gegenüber dem der designer fallacy verhafteten Verwirklichungskonzept von Design nimmt dieser Perspektivenwechsel die Einsichten der Technikgeschichte auf und beruht auf einer angemessenen Beschreibung von Technikentwicklung. Er vermeidet die Gefahr technischen Gestaltungshochmuts, indem er den Wechselwirkungen zwischen den vielfältigen Akteuren und ihrer Welt gerecht wird. Damit höhlt die zweite Lesart aber auch unsere gewöhnliche Vorstellung aus von dem was »Design« oder »Gestaltung« bedeutet. Es ist aus dieser Perspektive nämlich nicht mehr möglich, gegenwärtige Handlungen eindeutig auf zukünftige Zustände zu beziehen. Problematisch wird dabei insbesondere Verbeeks Idee, verantwortungsbewusstes Design schließe »das ausdrückliche Design der Vermittlungen« ein. Gerade diese Vermittlungen entziehen sich Governing Future Technologies: Nanotechnology and the Rise of an Assessment Regime. Dordrecht 2010. S. 255-277.
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einer Objektivierung als Gestaltungsobjekte, die einem Gestaltungswillen unterliegen. »Design« bezeichnet somit nach dem Perspektivenwechsel nicht mehr die kontrollierte Gestaltung oder Formung der Wirklichkeit, sondern verweist stattdessen auf eine unentwirrbare Totalität oder auf ein breit verteiltes Medium oder eine Vielfalt von Vermittlungen, in die wir eintreten und damit aufgefordert sind, uns entsprechend unserer technischen Situation zu verhalten und sie dadurch zu regulieren.16 In diesem Sinn entpuppt sich nun das Wort »Design« als Synonym für Heideggers »Gestell« – die Technik fordert uns heraus, hat mit uns etwas vor (has designs on us), gerade auch während wir darangehen, die ganze Welt in eine Ressource oder technischen Bestand zu verwandeln.17 Im Gegensatz zum üblichen Gebrauch des Wortes »Design« würde damit nun ein gemeinsames Geschick bezeichnet, das menschliches Handeln über eine allumfassende Vielfalt von Vermittlungen streut und verteilt. Was wäre ein Drittes zwischen diesen beiden Lesarten und diesen beiden Auffassungen von »Design« – eine Position, die es uns ermöglichte, so etwas wie Forschungsethik sinnvoll in die groß angelegten technowissenschaftlichen Gestaltungsvorhaben heutiger Wissensgesellschaften einzubetten?18 Diese dritte Auffassung müsste der Skylla technischer Vermessenheit entgehen, also dem Glauben, wir könnten tatsächlich eine von uns verantwortete soziale Welt schaffen, wenn wir nur den Designprozess richtig gestalten. Sie müsste aber auch der Charybdis einer breit verteilten und diffus verallgemeinerten Weltgestaltung entgehen, die jeden für alles verantwortlich macht, was aus den allumfassenden technischen Vermittlungen hervorgeht. Um diesen mittleren Grund freizulegen, muss zunächst ein handelndes Subjekt identifiziert werden, das verantwortlich sein kann und spezifische Beiträge zum Gestaltungsvorhaben liefert. Zweitens müssen wir die Gestaltungsobjekte betrachten, und uns fragen, ob, wie und durch wen sie bestimmt sind. Drittens muss auch die Diagnostik des Designerfehlschlusses hinterfragt werden. Statt 16 | G. Gamm: Technik als Medium. Grundlinien einer Philosophie der Technik. In: G. Gamm: Nicht nichts. Studien zu einer Semantik des Unbestimmten. Frankfurt 2000. 17 | M. Heidegger: Die Frage nach der Technik. In: Vorträge und Aufsätze. Pfullingen 1954. 18 | A. Nordmann, H. Radder, G. Schiemann (Hg.): Strukturwandel der Wissenschaft. Positionen zum Epochenbruch. Weilerswist 2014.
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die Trennung von Subjekt und Objekt im Designprozess grundsätzlich zu verwerfen, fordert uns die Diagnose eher dazu auf, genau zu spezifizieren, ob und wann etwas als Gestaltungsobjekt unter der teilweisen oder vollständigen Kontrolle eines Subjekts steht. Viertens muss die so vorgenommene Subjekt-Objekt-Trennung gerechtfertigt werden, und sei es nur als notwendige Fiktion. Erst dann können wir in einem fünften und letzten Schritt zu Verbeeks wichtigster Einsicht zurückkehren, nämlich dem Gedanken, dass sich verantwortungsvolles Design auch einen Begriff von der »Moralität der Dinge« macht.19 Mit dieser Analyse und einem Begriff von der Moralität der Dinge geht die Forderung nach verantwortungsvollem Design aber deutlich über das Labor und die ethische Sensibilisierung von Forschern hinaus. Eine gründliche Durchführung der fünf Schritte dieses Programms kann hier nun aber nicht vorgenommen werden. Eine kurze Skizze muss vorerst genügen.
K onstruk tion von V er ant wortlichkeit Verbeeks Beitrag macht deutlich, wie schwierig es ist, die Designer zu individuieren, und wie unmöglich, sie nur im Labor auffinden zu wollen. Hierin schließt er an die oben formulierte Kritik des konstruktivistischen Ansatzes an: Wenn wir erst einmal im Labor sind, um nach einem geeigneten Diagnoseverfahren für eine Krankheit zu suchen, um einen besseren Katalysator für dieses oder jene Verfahren herzustellen, um Biokraftstoff aus irgendeiner Pflanze zu gewinnen, dann sind die meisten Entscheidungen bereits gefallen, und was noch an Spielräumen bleibt, wird durch die Spezialisierung des Labors, durch den Zugang zu Materialien und Techniken, durch diverse Vorgaben weiter eingeschränkt. Zweifellos müssen dann immer noch Entscheidungen getroffen werden, und die Gewichtung von Gesichtspunkten, Präferenzen, Kriterien kann von ethischen Überlegungen profitieren. Wer sich dieser Verengung entziehen will und eine erweiterte Konzeption fordert von Verantwortlichkeit für die Welt und die Menschen, die von technischen Entwicklungen betroffen sind, wird auch die Gruppe der beteiligten Subjekte beliebig erweitern. Zu ihr zählen nun wissenschafts19 | P.P. Verbeek: Moralizing Technology: Understanding and Designing the Morality of Things. Chicago/London 2011.
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politische Entscheidungsträger, Marktforscher, Interessenverbände, die Entwickler nicht nur von Apparaten, sondern auch von Verpackung und Werbung, avancierte Nutzer und andere Verbraucher, die mit den von ihnen etablierten Gebrauchsmustern darüber befinden, welche Gestalt ein Verfahren oder Produkt schließlich annimmt. Dass alle diese Akteure für die Vermittlungen verantwortlich sein sollen, die aus ihren Modifikationen einer immer schon weitgehend gegebenen Infrastruktur resultieren, höhlt den Verantwortungs- und Gestaltungsbegriff weitgehend aus. Dieser Problematik gilt es entgegenzusteuern. Auch angesichts der Vielzahl beteiligter Akteure muss es keineswegs unmöglich sein, die Pflichten oder Verpflichtungen anzugeben, für die spezifische Akteure oder Akteursgruppen verantwortlich gemacht werden können.20 Für industrielle Akteure mag eine dieser Pflichten in der Offenlegung von relevantem Wissen bestehen, für die Forschungspolitik ließe sich eine Pflicht auf Beantwortung von Expertenvoten oder Bürgereingaben formulieren. Und was die Forscher betrifft, stellt sich bekanntlich die Frage, ob sie womöglich die eine oder andere Aufgabenstellung von vornherein ablehnen sollten – eine Frage, die den hohen Maßstab an sie legt, falls nötig ihren Beruf aufzugeben. Da eine derart heroische Einstellung für Extremfälle reserviert bleiben wird, ließe sich die allgemeinere Forderung aufstellen, dass Forscher vor allem Bürgertugenden aufweisen sollten, das heißt, dass sie ein politisches Verständnis eben der Designvorhaben entwickeln, an denen sie mitwirken. Diese Überlegung zur Identifikation der im Designprozess handelnden Subjekte setzt ein Objekt voraus, dem ihre gemeinsamen Bemühungen gelten. Dieses Objekt muss nicht notwendig als ein beständiges und homogenes aufgefasst werden, dessen Bestimmung über die Dauer des Gestaltungsprozesses gleich bleibt. Bernadette Bensaude-Vincent beschreibt technowissenschaftliche Forschungsobjekte noch ohne eine präzise Bestimmung wie sie für Artefakte der Ingenieurwissenschaften oder für Konsumprodukte charakteristisch ist.21 Stattdessen zeichnen sich die 20 | Vgl. dazu R. von Schomberg: Organising Collective Responsibility: On Precaution, Codes of Conduct and Understanding Public Debate. In: U. Fiedeler, C. Coenen, S. Davies, und A. Ferrari (Hg.): Understanding Nanotechnology: Philosophy, Policy and Publics. Heidelberg 2010. S. 61-70. 21 | B. Bensaude-Vincent: Which Focus for Ethics in Nanotechnology Laboratories? In: S. van der Burg und T. Swierstra (Hg.): Ethics on the Laboratory Floor. Houndmills 2013. S. 21-37.
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von ihr beschriebenen Objekte durch ihr Potenzial aus und sind interessant gerade weil sie noch offen sind für konkretere Bestimmungen. Wenn Laborforscher hiernach ihren gesellschaftlichen Auftrag kritisch hinterfragen wollen, wird ihr Ausgangspunkt eher selten darin bestehen, dass sie Verantwortung für die Entwicklung eines spezifischen Produkts oder Apparats übernehmen müssten. Das heißt wiederum aber nicht, dass es keinerlei Objektbezug gäbe, der die Bandbreite verantwortlichen Handelns definiert – auch wenn dieser Objektbezug recht allgemein in der Erarbeitung neuer Innovationspotenziale besteht. In diesem Fall könnte die politische Bewertung ihres Beitrags Laborforscher dazu veranlassen, als gute, an kollektiven Designprozessen beteiligte Bürger aufzudecken, was es auf sich hat mit der gesellschaftlichen Erwartung, dass neue Technologien zu Nachhaltigkeit, Rohstoffeffizienz, Innovation beitragen werden. Wo schlüsseltechnologische Forschungsprojekte noch weit von jeglicher Produktentwicklung entfernt sind, können Laborforscher kritisch zur Diskusssion stellen, inwiefern ihre Forschungsprogramme auf Entmaterialisierung abzielen, auf überraschende neue Verhaltensmöglichkeiten, auf Steigerung der menschlichen oder stofflichen Natur, auf Überschreitung angenommener Ressourcen- oder Raumgrenzen. Eine politische Kritik dieser Programme würde ihre heute maßgebliche Orientierung an ökologischen und ökonomischen win-win-Situationen ins Auge fassen und sie den gängigen, womöglich bereits überholten Vorstellungen einer endlichen Welt gegenüberstellen, die es zu erhalten gilt und die nur Nullsummenspiele zulässt.22 In einem staatsbürgerlichen Sinn verantwortliche Forscher könnten demnach die zwiespältige Erfahrung, die sie gerade auch in ihren Laboratorien machen, verdeutlichen, vergrößern, veröffentlichen. Dieser Zwiespalt besteht darin, dass ihre Gestaltungsvorhaben von der Erwartung gespeist werden, Wissenschaft und Technik werde die notwendigen Lösungen für die langfristige Sicherung planetaren Wohlstands liefern – doch so sehr die Forschung von derlei Erwartungen profitiert, spürt sie zugleich die Überforderung und dass sie diese Lösungen nicht allein wird liefern können.23
22 | A. Schwarz, A. Nordmann: The Political Economy of Technoscience. In: M. Carrier und A. Nordmann (Hg.): Science in the Context of Application. Dordrecht 2010. S. 317-336. 23 | T. Vogt, 2010.
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Nach dieser Darlegung ist es möglich, dem Designerfehlschluss zu entkommen, die Vielheit der Vermittlungen anzuerkennen und trotzdem an einer versuchsweisen Trennung zwischen Forschern als Designern und ihren Objekten festzuhalten. Dabei besteht die Beziehung zwischen Forscher und Gegenstand nicht in einem kontrollierten Gestaltungsprozesses, durch den Absichten und Blaupausen materialisiert oder umgesetzt würden. Sie besteht vielmehr in dem Erwerb von Kontrollfertigkeiten, die Forscher aus ihren Gegenständen beziehen und an ihnen objektivieren.24 Auch wenn »Design« auf Kontrolle aus ist, fügt es sich somit in die Grenzen des Wissens und der Kontrolle, hinsichtlich sowohl der beabsichtigten Folgen und sowieso der unbeabsichtigten Nebenfolgen.25 Bis hierher ist der Versuch unternommen worden, empirisch einen Mittelweg auszuloten zwischen dem Designerfehlschluss mit seiner Unterstellung eines durchzusetzenden Gestaltungswillens und der Einsicht in die feine Verteilung unzähliger Akteure über vielfältige Vermittlungsinstanzen. Der hier skizzierte Vorschlag betrachtet den Gestaltungsprozess als unüberschaubar und so komplex, dass er kaum als absichtsvoll betrachtet werden kann. Dabei versucht er in diesem Prozess aber einzelne absichtsvolle Eingriffe aufzuzeigen. In diesen Momenten tritt ein Subjekt (Forscher, Designer, Nutzer) einem zu gestaltenden Objekt (Verfahren, Gerät, Fertigkeit) gegenüber. Dies ist ein isolierbarer Moment der Einflussnahme, in dem jedoch keine vollständige Kontrolle unterstellt wird darüber, wie die Fertigkeiten, Artefakte oder Apparate entwickelt werden, die letztlich das menschliche Miteinander bestimmen – zumal dieser Entwicklungsprozess die fortwährenden Modifikationen seitens anderer Laborforscher, Technikentwickler, zukünftiger Konsumenten umfasst, die neue Gebrauchsmuster etablieren und den Gestaltungsprozess fortführen. 24 | Vgl. Latours Vorschlag, dass Forscher und ihre Gegenstände ihre jeweiligen Kompetenzen aneinander und miteinander erwerben und erweitern (z.B. B. Latour: The Force and Reason of Experiment. In: H. LeGrand (Hg.): Experimental Inquiries: Historical, Philosophical and Social Studies of Experimentation in Science. Dordrecht 1990. S. 48-79.) 25 | Siehe z.B. S. Böschen und P. Wehling: Wissenschaft zwischen Folgenverantwortung und Nichtwissen: Aktuelle Perspektiven der Wissenschaftsforschung. Wiesbaden 2004.
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Die ersten Schritte auf dem skizzierten Mittelweg mögen sach- und erfahrungsgemäß sein, lassen aber die begriffliche Spannung unaufgelöst zwischen einer bestimmbaren Welt, die Gegenstand menschlichen Gestaltungswillens ist, und einer weitläufig verteilten Welt, die aus einer Vielzahl von Vermittlungsinstanzen besteht. Diese Spannung bleibt bestehen und wirkt sich weiter aus, beispielsweise in Kirans Versuch, die Konzeption eines proaktiven Design vor Ihdes Vorwurf der technologischen Vermessenheit zu retten, auch wenn »proaktives Design bedeutet, den Umgang mit einer Technologie so zu beschränken, dass auch ihre unerwünschten weichen [sozio-moralischen] Wirkungen eingegrenzt werden«.26 Hier verweist »proaktives Design« einerseits auf eine sagenhafte Fähigkeit vorherzusagen, zu antizipieren, kaum Greif bares doch in den Griff zu bekommen, und damit drückt es den technologischen Hochmut des Designerfehlschlusses aus. Andererseits sieht Kiran darin ein Korrektiv zu technologischer hubris und zum Designerfehlschluss, insofern proaktive Design etwas Schwächeres, weil Anpassungsfähigeres darstellt als unmittelbar durchgreifende Kontrolle. Der Begriff eines verantwortungsvoll proaktiven Gestaltens muss ebenso wie der Platz im Gestaltungsprozess, an den der Forscher verwiesen ist, um eine grundsätzliche Rechtfertigung ergänzt werden. Sie muss begründen, warum spezifische Subjekt-Objekt-Beziehungen überhaupt aus ihren Verstrickungen im weitläufigen Netz der Vermittlungen herausgelöst werden sollen, um als klassisches Verhältnis von Designabsicht (eines Einzelnen oder eines Akteurskollektivs) und Designobjekt zu erscheinen. Eine solche Rechtfertigung könnte von der Kantischen Konzeption von Grenzen ausgehen, die die Welt des Erfahrbaren und des menschlichen Miteinander definieren und konstituieren. Um es mit Verbeek zu sagen: Die fragliche Grenze ergibt sich mit dem jeweiligen Stand der Technik, insofern sowohl unsere Wahrnehmung der Welt als auch unsere Formen der Kommunikation und des Zusammenlebens technisch ermöglicht und eingeschränkt werden, so dass wir den Stand der Technik als konstitutiv für Gesellschaft und Natur auffassen müssen. Die präzise Beschreibung dieser Bedingungen und Bedingtheiten und unserer Verstrickungen in Gesellschaft und Natur bedeutet nun, dass einzelne menschliche Handlungen nur beiläufig in einem technomorph gedach26 | A. Kiran, 2012: S. 188.
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ten Naturgeschehen vorkommen, nämlich als bloßer Vollzug und bloßes Geschehen in der Welt – in der empirischen Beschreibung also nicht als Entwurf und daraus folgende Verwirklichung einer Welt. Um aber die Möglichkeit von Politik überhaupt sicherzustellen, muss gegen das Reich von Natur und technomorpher Bestimmtheit eine Vorstellung von Handlungsfähigkeit behauptet werden, die es möglich macht, die Welt als Produkt menschlicher Gestaltung, menschlicher Absichten und Vorhaben zu betrachten. Diese Behauptung wäre als Voraussetzung für das Politische eine notwendige Fiktion, der zufolge die Entscheidung so oder so zu handeln oder zu gestalten etwas bewirkt und einen Unterschied ausmacht. Auch wenn es außerhalb unserer Verfügungsgewalt liegt, die tatsächlichen Wirkungen unseres eigenen Handelns ganz überschauen und kontrollieren zu wollen, hat Politik eine öffentliche Bedeutung nur über die Annahme, dass etwas auf dem Spiel steht, nämlich wie sich aufgrund unseres heutigen Handelns die Dinge künftig entwickeln werden. Die Bemühung um eine sinnvolle Eingrenzung des Designbegriffs führte somit zu einer »Kritik« im Kantischen Sinn des Wortes. Diese Kritik begreift den Designerfehlschluss samt seiner technischen Vermessenheit als eine heuristisch wertvolle Fiktion, die eine proaktive Ethik des richtigen Wünschens verlangt. Zugleich wird diese notwendige Fiktion als ein verführerisches, womöglich gefährliches Wunschdenken entlarvt, das eines ethischen Korrektivs bedarf, nämlich der bescheidenen Anerkennung der Grenzen menschlichen Wissens und technischer Kontrolle. Bezogen auf diese Notwendigkeit eines fiktiven Als ob ist es nun schließlich möglich, verantwortungsvolle Forschung als das Design oder die Gestaltung moralischer oder »moralisierender Dinge« zu begreifen. Verbeek schließt sich Latour und Achterhuis an, wenn er dies als eine Art Verantwortungszuweisung, als ein Delegieren auffasst: Die menschlichen Designer schreiben in technische Geräte und ihre Verwendungsweisen Vorschriften ein, die einen vernünftigen, umsichtigen Gebrauch sicherstellen. Eine Art moralische Vorschrift verkörpert beispielsweise der von Latour gefeierte »Berliner Schlüssel«, der eine Tür nur dem aufschließt, der sie hinterher auch wieder abschließt.27 Denkbar wäre hier27 | B. Latour: Der Berliner Schlüssel: Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften. Berlin 1996.
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für auch ein eher tugendethischer Ansatz, demzufolge Artefakte nicht etwa verantwortliches oder verantwortungsloses Handeln steuern, wohl aber über gewisse Tugenden verfügen. Ein verantwortungsvolles Design fasst dann Geräte ins Auge, die eher sparsam als verschwenderisch, eher zuverlässig als unbeständig, eher anspruchslos als aufdringlich, eher verständlich als überwältigend, eher leicht als schwer bedienbar, eher sicher als risikoreich sind. Dabei ist es natürlich wiederum der Designerfehlschluss, der uns zu dem Glauben verführt, wir könnten eine bessere Welt schaffen, indem wir moralisierende oder tugendhafte Dinge konzipieren und konstruieren. Im Namen dieses zwar fragwürdigen, aber heuristisch gerechtfertigten Vorsatzes gehen Designprojekte weit über das Labor hinaus und beziehen die ganze Gesellschaft mit ein, um die Tugenden oder moralischen Qualitäten der uns umgebenden Dinge festzulegen. Hiernach wird verantwortungsvolle Forschung politisch zur Gestaltung einer besseren Welt beitragen, vor allem wo diese Ausgestaltung wissenschaftlicher und technischer Kompetenz bedarf. Gleichwohl wird verantwortliche Forschung jeden übertriebenen Glauben an die Macht der Technik hinterfragen, insbesondere wenn diese Macht nicht nur darin bestehen soll, dies oder jenes zu ermöglichen, sondern weitergehend die Gesamtheit der Auswirkungen einer neuen Technologie im Designprozess auffangen zu können, oder so etwas wie das gute Leben, den perfekten Menschen, eine wohl geordnete Gesellschaft, ein harmonisches Miteinander gleich mitzugestalten. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass eine »Ethik des Design« den Blick in die richtige Richtung lenkt. Sie weist hinaus aus den düsteren Winkeln des Labors mit seinen unterdeterminierten Entscheidungen, die trotz oder wegen ihrer begrenzten Reichweite die Kompetenz normaler Bürger übersteigen. Statt dieses Bild vom Labor als Inkubator oder Brutstätte der Zukunft fortzuschreiben, bindet eine »Ethik des Design« die Arbeit der Forscher und Entwickler an umfassendere gesellschaftliche Gestaltungsprozesse. Ein erstes Indiz oder oberflächliches Zeichen für diese Rückbindung ist die nun entstehende Schwierigkeit, wenn nicht die Unmöglichkeit, genau zu sagen, wer nun eigentlich noch die Forscher und Entwickler sind – oder angeben zu können, auf welchem Schauplatz, in Bezug auf welche Gegenstände oder Praktiken, die kollektiven Gestaltungsprozesse überhaupt stattfinden. Da ein Design damit beginnt, zunächst einmal die zu adressierenden Probleme und Bedürfnisse zu bestimmen, und da das Design erst endet, wenn Nutzer, Klienten und
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Konsumenten Gebrauchsmuster endgültig festgelegt haben, kommt der Forschung im Gesamtverlauf des Designprozesses keine besonders herausgehobene Stellung zu. Laborforschung und Produktentwicklung und Technikbewertung tragen neben vielen anderen Tätigkeiten nur ihr Scherflein bei. Vom Standpunkt des Labors aus würde die Verantwortung der Forscher nun also darin bestehen, dass sie Abstand nehmen und sich weigern, einen Begriff von Forschungsethik zu übernehmen, der das Geschehen im Labor überschätzt, indem es für einen besonders privilegierten Schauplatz für weitreichende Weichenstellungen gehalten wird. Stattdessen sollte verantwortliche Forschung am Gesamtprojekt der Weltgestaltung partizipieren, also die zu lösenden Probleme benennen, über potenzielle Lösungen nachdenken, und nur falls diese Lösungen der wissenschaftlichen oder technischen Forschung bedürfen, für die öffentliche Debatte spezifische Designkonzepte unterbreiten. Hierher gehört auch die Offenlegung impliziter Forschungsprogramme etwa der Dematerialisierung, Überraschung oder Steigerung. Mit dieser Weigerung einerseits, Beteiligung und Offenlegung andererseits vollzieht sich der Übergang von Ethik zur Politik der Forschung.28
P olitik der F orschung Obgleich eine »Ethik des Design« in die richtige Richtung deutet, nämlich hin zur Politik einer explizit der Weltgestaltung gewidmeten Forschung, ist sie mit zwei Schwierigkeiten konfrontiert. Erstens setzt sie voraus, dass Forscher, Wissenschaftspolitiker und auch Philosophen aufhören, wissenschaftliche Forschung zu überhöhen und im Labor den Schauplatz zu sehen, auf dem die Zukunft gestaltet wird. Wir müssen uns also von Wissenschaftsauffassungen verabschieden, die uns vertraut, lieb und teuer sind, müssen gegenwärtige Forschung stattdessen als ein technowissenschaftliches Vorhaben würdigen, das sich im Designmodus vollzieht. Das zweite Problem wiegt schwerer, insofern mit der drohenden Inkohärenz oder Entleerung des Designbegriffs all das auf dem Spiel steht, was mit dem Übergang von »Laborethik« zu »Designethik« gewon28 | Siehe oben Anmerkung 10.
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nen schien. Wie Verbeeks und Kirans umsichtige Überlegungen gezeigt haben, führt der Begriff des Design zum Designerfehlschluss – und mit dem Versuch, ihn zu vermeiden, droht sich die Bedeutung von »Design« zu verlieren. In der Wissenschafts- und Technikforschung war bis vor kurzem nicht von Design und Ko-Design die Rede, stattdessen von Ko-Evolution oder der Ko-Konstruktion von Wissenschaft, Technik und Gesellschaft. Was leistet hier also »Design« oder kann auf den Begriff womöglich ganz verzichtet werden? Für die Redundanz des Designbegriffs spricht, dass verantwortungsvolle Forschung allein darin bestehen könnte, nach bestem Wissen und Gewissen mit Kontingenz umzugehen und die Welt immer wieder als a world of our making zu erweisen. Verabschieden könnten wir uns dann von einer »Ethik des Design«, wonach unsere technische Zukunft ein Gestaltungsobjekt ist, das als eine world of our design antizipiert, bewertet und moduliert wird – auf das Wunschdenken hin, die Dinge könnten eines Tages genau so sein, wie wir sie uns jetzt vorstellen. Anstatt als notwendiges Korrektiv zu einem Regime technowissenschaftlicher Verheißungen, von Kontrollfantasien, technischer Vermessenheit oder schlichter Marktschreierei zu fungieren,29 verstärkt eine eigenständige »Ethik des Design« die ohnehin schon übertriebenen Erwartungen an die alles rettenden Problemlösungen von Wissenschaft und Technik. Bleibt also nur der oben skizzierte etwas mühselige, weil heuristisch konditionalisierte und doppelzüngige Mittelweg zwischen einer Ethik der Laborpraxis und der Ethik des Design. Wenn Verantwortung weder im schwarzen Loch des Labors aufgesogen, noch auf alle Schultern breit verteilt werden soll, bleibt das Eingeständnis von Kontingenz, eines wenig erhabenen muddling through und die Anforderung, genuine Entscheidungsund Handlungsoptionen in einer gleichermaßen trägen und komplexen Entwicklungsdynamik überhaupt erst einmal auszumachen.
29 | U. Felt, B. Wynne, M, Callon u.a.: Taking European Knowledge Society Seriously, Report of the Expert Group on Science and Governance to the Science, Economy and Society Directorate, Directorate-General for Research, European Commission. Brüssel 2007.
II. Vom Recht und Eigensinn der Moral
Moral in der sozialen Praxis und philosophische Ethik Geert Hendrich
In unser Alltagspraxis wird Moral in kleiner Münze ausgezahlt. Neben den vagen, aber zugleich als Gewissheiten und Überzeugungen tief verinnerlichten Vorstellungen vom »richtigen« und vom »falschen« Handeln ist es vor allem das Vertrauen in die Verlässlichkeit geteilter Wertvorstellungen und Normen, die gelebte Moralität bestimmt. Alltagsmoral ist nicht philosophisch reflektiert, ungeprüft und meistens nicht diskursiv erschlossen, weist aber zugleich ein erstaunliches moralisches »Know-how« bei der Bewältigung partikularer Herausforderungen in der sozialen Praxis auf. Dieser Umgang mit Moral wird überhaupt erst ins Bewusstsein gehoben, wenn das Vertrauen enttäuscht, die eigenen Vorstellungen vom moralisch »Richtigen« konterkariert werden; »so etwas tut man einfach nicht«, ist geradezu ein Ausgangssatz des alltagsweltlichen Moralbewusstseins und – im gelungenen Fall – der Selbstvergewisserung über die eigenen moralischen Maßstäbe. Moral scheint in der sozialen Praxis zunächst »grundlos« zu sein, weil es weder eine Notwendigkeit gibt, Rechenschaft über das scheinbar Selbstverständliche zu geben, noch den Akteuren überhaupt bewusst ist, aus welchen Quellen sie Überzeugungen und Vertrauen schöpfen. Zumal für die soziale Praxis des Moralischen, wie immer wieder betont wird, die Umbrüche der Moderne eine entscheidende Rolle spielen. Das Wegbrechen moralischer Traditionen, die Auflösung sozialer Bindungen und damit das Verschwinden normativer Orientierungen qua alltagsweltlicher Üblichkeiten des Sichverhaltens führe zu einer »sittenlosen« Gesellschaft, deren permissive Moral höchstens noch der Rechtfertigung des Eigeninteresses oder von Gruppenegoismen diene. Verschwindet also das Selbstverständliche, das Übliche aus der sozialen Praxis – so müsste man folgern –, hat das Moralische keinen Ort mehr in ihr. Doch
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auch der Rekurs auf die vorgefundene, gelebte und konkrete Sittlichkeit offenbart sich als moralischer Abgrund: Oft genug verbergen sich hinter den gelebten Moralvorstellungen Herrschaftsverhältnisse, die sich nicht rechtfertigen, Machtansprüche, die sich kaschieren wollen und eine zutiefst menschenverachtende, amoralische Praxis. Eine solche Praxis zu demaskieren, ist also keineswegs ein Verlust an alltagsrelevantem Moralbewusstsein, und der zunehmende Zwang im Fortgang der Moderne, sich für moralische Ansprüche rechtfertigen zu müssen, ist keineswegs eine Geschichte des Niedergangs gelebter Moralität. Zugleich weisen empirische Untersuchungen der Sozialwissenschaft immer wieder eine große Akzeptanz moralischer Grundüberzeugungen nach, die auch das Verhalten der Gesellschaftsmitglieder bestimmt. Moralisches »Bewusstsein« spielt für unser alltägliches Handeln und unsere Einstellung gegenüber unseren Mitmenschen scheinbar eine ungebrochen große Rolle. So entsteht ein »moralisches Klima« in der Gesellschaft, dessen Wirksamkeit sich durch unsere Alltagspraxis ebenso erweist wie durch die medial verstärkte Klage über ihre angebliche Bedrohung oder gar ihren Niedergang. Wenn Untersuchungen und Befragungen immer wieder zutage fördern, dass die Menschen ihre eigene Orientierung an »Werten« und »Normen« betonen und zugleich das Fehlen dieser Orientierung »in der Gesellschaft« beklagen, dann erscheint das paradox. Interessant ist, dass alle empirischen Studien bei den »großen« Themen der Moral – Gerechtigkeit, Fürsorge und Solidarität, Vertrauen und Verlässlichkeit, Frieden, Freiheit und Selbstbestimmung – eine konstante Wertschätzung feststellen, allen gesellschaftlichen Wandlungsprozessen zum Trotz. Dagegen wandeln sich ständig die eigentlichen Inhalte, die mit diesen Begriffen verbunden werden: Auch hier wird mit kleiner Münze gezahlt. So gelten für die junge Generation Vertrauen, Fürsorge und Solidarität ungebrochen als besonders hohe moralische Werte. Aber ihr »Ort« ist nicht mehr die Gesamtgesellschaft mit ihren politischen und sozialen Strukturen, sondern Familie, Freunde und soziales Umfeld.1 Die scheinbare Paradoxie zwischen dem beklagten Verlust des Moralischen in der Gesellschaft und der hohen subjektiven Wertschätzung der Moral ergibt sich einmal aus der unmittelbaren Erfahrung der Differenz zwischen 1 | Vgl. K. Hurrelmann, TNS Infratest Sozialforschung: 15. Shell Jugendstudie, 2006. Bertelsmann-Studie: Radar gesellschaftlicher Zusammenhalt, Gütersloh 2013. Vgl. auch www.gesellschaftlicher-zusammenhalt.de.
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einer sozialen Praxis in der Gesellschaft (und damit auch des Politischen), die uns die Bedingtheit unser Handlungsmöglichkeiten schmerzhaft bewusst macht, und der konkret gewordenen Moralität unseres Alltagslebens, in der ich mich als Handelnder überhaupt erst mit unmittelbaren Folgen »moralisch« verhalten kann. Nicht ganz zu Unrecht hat man das als »pragmatischen« Umgang mit Moral in der sozialen Praxis gedeutet. Eine weitere wichtige Rolle bei der Klärung der Paradoxien des Moralbewusstseins spielt die Uneindeutigkeit der Moralbegriffe selbst. Auch hier sind empirische Studien durchaus erhellend. Hatten junge Menschen im Zuge der Hegemonie neoliberaler Ideologie in den 80er und 90er Jahren noch »Leistungswillen« als undifferenziert hohen moralischen Wert verstanden, so fragt die nachfolgende Generation nach dem »Wozu« von Leistung und begnügt sich nicht mehr mit einem nur quantitativ verstandenen Leistungsbegriff. Wiederum »pragmatisch« wird »Leistung« nach der Bedeutung für das eigene Lebensglück bewertet; es kann eine Lebensleistung sein, etwas zu tun, was sich in Geld und Besitz nicht messen lässt. Dabei stehen moralische Erwägungen sinnstiftend im Hintergrund: Es kann moralisch »gut« und deshalb (in umgangssprachlichen Begriffen von Moral) auch »richtig« sein, auf Einkommen und Anerkennung zu verzichten, wenn dafür Freiräume für Familie, Freunde und Interessen entstehen. Hier scheinen sich im Kontext der Krise des neoliberalen Modells auch die moralischen Maßstäbe verschoben zu haben. Dies weist darauf hin, dass moralische Begriffe zu unkonkret sind, als dass sie eine bestimmte Praxis nach sich ziehen würden. Erst wenn sie mit »Lebenswirklichkeit« konfrontiert und gefüllt werden, werden sie zur praktischen Moral, und erst dann werden sie inhaltlich konkreter. Viel spricht dafür, dass Moralbegriffe ihre praktische Relevanz an den jeweiligen historischen Kontexten entwickeln. Oder anders gesagt: Was »Gerechtigkeit« oder »Solidarität« in gelebten Sozialbeziehungen bedeuten soll, wird vor allem durch die sozialen und politischen Kontexte selbst entschieden, unter denen gehandelt werden kann. Hier kommt, so wird dann gerne behauptet, die philosophische Ethik ins Spiel. Nicht notwendig als normative Lehre, aber sicherlich als Begriffsklärung und Begründungstheorie trage sie zu einem Verständnis dessen bei, was Moral gerade für die gesellschaftliche wie individuelle Praxis bedeute. Der englische Philosoph Simon Blackburn etwa verweist mit einem drastischen Beispiel auf die Bedeutung moralischer Reflexion für das
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»ethische Klima« einer Gesellschaft: Dass in Deutschland fast ein ganzes Volk die Menschenverachtung und das Morden der Nazis mitgemacht oder in Kauf genommen habe, resultierte nicht zuletzt aus den Vorstellungen der Menschen über das, was als »gut« oder »falsch« die moralische Disposition der sozialen und politischen Wirklichkeit ausmachte. Es sei eben für die soziale Praxis nicht beliebig, was gedacht wird, und hier komme der philosophischen Ethik als Instanz zur »Verstörung«, die (auf-) klärend wirke, eine wichtige Rolle zu.2 Das schließt unmittelbar an das Argument an, dass jede soziale Praxis sich aus einem moralischen Bewusstsein speist, das selbst wiederum Produkt sozialer und politischer Kontexte sei. Aber ist diese Argumentation nicht letztlich zirkulär? Wenn gesellschaftliche Verhältnisse das Moralbewusstsein bestimmen – was niemand ernsthaft bezweifeln kann, der einen Blick in die Geschichte wirft oder auch nur in seine Tageszeitung – umgekehrt aber dieses Bewusstsein das die gesellschaftliche Praxis mit determinierende »ethische Klima« ausmacht – in welcher Weise hat Moral dann eine Bedeutung für die soziale Praxis? Man schaue sich nur an, was die grundsätzlich so hoch geschätzten Begriffe »Gerechtigkeit« und »Solidarität« in der sozialen Alltagspraxis Wert sein können: Wenn Menschen sich in ihrem sozialen Status bedroht fühlen, wenn die Angst vor einer »Krise« umgeht, dann generiert die Ablehnung auch nur minimaler Solidarität mit den Schwachen, Ausgestoßenen und Verfolgten schnell ein allgemeines »ethisches Klima«, in dem es als »gerecht« gilt, Hilfe und Mitgefühl als eigentlich »ungerecht« gegenüber denjenigen darzustellen, die sich ihren Status (so dürftig und prekär er auch sein mag) selbst geschaffen haben (sei es durch Arbeit oder durch bloße Zugehörigkeit zu einer Mehrheitsgesellschaft). So empfindet inzwischen eine Mehrheit der Bundesbürger Migration als positiv, aber nur, wenn diese als Bereicherung der eigenen Alltagskultur oder als Stärkung der Wirtschaftskraft durch Fachkräfte begriffen werden kann; zugleich kann eine »gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit« festgestellt werden, die sich gegen Muslime, Sinti und Roma, gegen Asylsuchende und sog. »Armutsflüchtlinge« richtet.3 Aus welchem 2 | Vgl. S. Blackburn: Gut Sein. Eine kurze Einführung in die Ethik, Darmstadt 2004, S. 10ff. 3 | Vgl. O. Decker, J. Kiess, E. Brähler: Stabilisierte Mitte. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2014, Leipzig 2014, vgl. auch www.uni-leipzig.de/~kredo/ Mitte_Leipzig_Internet.pdf.
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Fundus, aus welcher Quelle sollte da (gelebte) Moral kommen, die mehr ist als eine bloße Rechtfertigungsstrategie für die Beibehaltung der (unmoralischen) Verhältnisse? Die philosophische Ethik hat diesen Umstand in ihren Debatten aufgegriffen, indem sie die Ursprünge unseres alltagsweltlichen Moralverständnisses in den Blick nahm. Dahinter steht der Wunsch, die philosophische Ethik vom Kopf auf die Füße zu stellen, ihr über abstrakte Begründungs- und Begriffsdebatten hinaus eine Basis in der Wirklichkeit zu geben, von der aus die Moraltheorie überhaupt erst wieder eine Theorie für eine Praxis werden könnte. Martha Nussbaum geht z.B. von der anthropologischen Grundbestimmung aus, dass die jeweils individuelle Moralität geprägt sei von den emotionalen Erfahrungen, die wir zu Beginn des Lebens machen: Freude, Glück, Schmerz, Angst, Hoffnung und Vertrauen sind Reaktionen auf die Erfüllung oder Enttäuschung von Grundbedürfnissen des Kleinkindes und finden ihren Widerhall in dessen Reaktionen auf die Umwelt; dies sei die »Geburtsstunde« der Moral.4 Ähnlich, wenn auch mit anderen Akzentsetzungen, argumentieren Putnam oder Dworkin. Auch die Schlussfolgerung, die Nussbaum aus der Grundthese zieht, scheint einleuchtend. Damit eine Unversehrtheit der Person von Kindheit an gewährleistet ist, die wiederum die Bedingung für moralisches Handeln darstellt, müssen essentielle Grundbedürfnisse des Menschen durch eine gesellschaftliche, also politische Praxis gewährleistet werden: ein Kanon von ziemlich konkreten materiellen Lebensumständen und Partizipationsmöglichkeiten. Der Vorteil an dieser Konzeption ist zweifellos, dass das Räsonieren über Moral unmittelbar übergeht in konkrete politische Forderungen nicht allgemeiner Natur (»Menschenrechte« sind so ein beliebtes Schlagwort: nicht mehr moralisches Kleingeld, sondern in der Praxis schlicht ein ungedeckter Scheck über eine unendliche Summe), sondern ganz konkreter, benennbarer Essentialitäten menschenwürdiger Existenz. Aber schon Nussbaums Grundthese ist ja keineswegs unumstritten; ihr wurde von Entwicklungspsychologen, und in deren Gefolge dann auch von Moralphilosophen, heftig widersprochen. Weder könnten Kleinkinder zwischen moralischen und konventionellen Regeln unterscheiden, so die empirischen Wissenschaftler, noch verfügten sie über so etwas wie eine »mora4 | Vgl. M. C. Nussbaum: Gerechtigkeit oder Das gute Leben, Frankfurt a.M. 1999 und dies.: Emotionen und der Ursprung der Moral, in: W. Edelstein, G. NunnerWinkler (Hg.): Moral im sozialen Kontext, Frankfurt a.M. 2000, S. 82-115.
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lische Motivation«, sondern zeigten Reaktionen nur aus Neigung oder Angst, nicht aus »Pflicht« bzw. Einsicht.5 Auch Nussbaums Schlussfolgerung ist keineswegs so zwingend, wie sie sich ausgibt: Es wird nämlich so getan, als genüge die Erfüllung essentieller Lebensbedingungen (zu denen bei Nussbaum auch Bildung gehört), um bei jedem Menschen die Einsicht in und den eigenverantwortlichen Umgang mit einem moralischen Sinn, einem Ethos zu gewährleisten. Das ist gleich zweifach keine ausgemachte Sache, denn zunächst einmal wird gerade die Moralphilosophie bestreiten, dass es genügt, einem Menschen qua Lebensbedingungen die Möglichkeit zur Moralität zu eröffnen, um aus jedem auch ein moralisches Wesen zu machen; da ließe sich wohl eher sagen, dass der Mensch aus zu krummen Holz geschnitzt sei, als dass jemals etwas ganz Gerades daraus werden könne. Und überdies wären die gewandelten Bedingungen, aus denen die Beachtung essentieller Rechte hervorgehen sollen, selbst schon wieder Produkt einer zuvor gewandelten moralischen Praxis in der Gesellschaft, und damit wäre der Ansatz zirkulär. Vielleicht macht das Beispiel von Nussbaums eigentlich einleuchtendem Ansatz auch das Dilemma aller Ursprungsdebatten deutlich: Wird auf der Suche nach der Herkunft (z.B. von Moral oder Freiheit) empirisch argumentiert, dann stochert man im Nebel, weil man über die »Natur« gar nichts anderes wissen kann, als was man als Maßstäbe an sie anlegt (wie uns Kant klar gemacht hat) – und hier wird uns der eine Empiriker (wieder einmal) nachweisen, dass Moral nur ein Dressurakt in der Kindheit sei, während der andere stolz verkündet, er hätte den reinen Altruismus schon beim Säugling extrahieren können. Wird dagegen spekulativ vorgegangen, dann wird man wenig mehr an »Ursprung« des Moralischen finden, als man ohnehin schon weiß: dass der Mensch ein Sozialwesen sei (irgendwie), dass er ein Vernunftwesen ist (irgendwann), und dass er ein freies Wesen ist, zumindest was die Moral angeht (denn anders kann, wie erneut Kant feststellte, bei dem gegenüber der Natur unfreien Menschen die Moral als etwas ausschließlich Gedachtes gar nicht entstehen). Irgendwo in dieser Melange vager Begriffe spielt sich »das Moralische« ab, und die philosophische Ethik kann über Begriff, Begründung und Systematisierung sehr viel Kluges darüber herausfinden, aber nur so lange, 5 | Vgl. A. Blasi: Was sollte als moralisches Verhalten gelten? Das Wesen der »frühen Moral« in der kindlichen Entwicklung, in: W. Edelstein, G. Nunner-Winkler (Hg.): Moral im sozialen Kontext, Frankfurt a.M. 2000, S. 116-148.
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wie sie von der Moral als einem Apriori spricht. Deshalb kann die philosophische Ethik immer nur im Modus des »ich soll« oder »das Ich soll« über Moral nachdenken, also vom Subjekt, nicht von einer sozialen Praxis her. So, von der 1. Person her gedacht, kann die Ethik das Moralische immer nur als Abstraktum behandeln, während der Sozialwissenschaftler, von der 3. Person ausgehend, zwar die Kontingenzen des Historischen erfassen, die Bedingtheiten der sozialen Praxis schildern kann, seine Aussagen aber auch notwendig darauf reduzieren muss. Was »das Moralische« bedeutet, was also sein soll – dann eben auch wieder für eine soziale Praxis – kann die bloße Beschreibung nicht sagen, so wenig wie ein in der Theorie konsistent gefasster Moralbegriff unmittelbar auf eine soziale Praxis verweisen würde. Das ist ein Dilemma aller philosophischen Ethik, die sich zum Ziel gesetzt hat, Moral in der sozialen Praxis zu fundieren. Das zeigt etwa die in den vergangenen Jahren geführte Debatte um den Begriff »Anerkennung«. Viel Kluges und Tiefgründiges ist dabei gesagt worden, aber zugleich nichts, was klären könnte, was »Anerkennung« für eine Alltagspraxis, was sie für die soziale Existenz jedes Bürgers bedeutet. Hier, wie bei Fragen nach dem gelingenden Leben, nach Würde und Selbstbestimmung und all diesen »Erwägungen, wie sie im Bereich der Moralphilosophie angestellt werden können«, verfehlt das philosophische Denken das »richtige Leben«, weil »das Leben eben selbst so entstellt und verzerrt ist, dass im Grunde kein Mensch in ihm richtig zu leben, seine eigene menschliche Bestimmung zu realisieren vermag«6. Die Moralphilosophie müsste also das, was da »entstellt und verzerrt« ist, verstärkt in den Blick nehmen, und von dort her etwa dem nachspüren, was »Anerkennung« bedeuten soll. Axel Honneth hat versucht, dem gerecht zu werden, indem er sich nicht damit begnügt, einen abstrakten Begriff von Anerkennung zu entwickeln, sondern die Verletzung durch den Mangel an Anerkennung genauer zu fassen.7 Die Anerkennung der physischen Bedürfnisse führe zur Pflicht der Liebe und Fürsorge; die Anerkennung der Person folgt dem »Mittel-Zweck«-Imperativ Kants und damit einem universalen 6 | Th.W. Adorno: Probleme der Moralphilosophie, Frankfurt a.M. 2010, S. 248. 7 | Vgl. A. Honneth: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt a.M. 1994 und ders.: Zwischen Aristoteles und Kant. Skizze einer Moral der Anerkennung, in: W. Edelstein, G. Nunner-Winkler (Hg.): Moral im sozialen Kontext, S. 55-76.
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Konzept der menschlicher Würde; die Anerkennung individueller Einzigartigkeit führt zur Pflicht zur Solidarität als Unterstützung persönlicher Lebensentwürfe innerhalb geteilter Vorstellungen von einem gelingenden Leben. Für diese geteilten Vorstellungen wiederum ließen sich moralische Maßstäbe erarbeiten, und hier scheint nichts dagegen zu sprechen, Honneths Entwurf an Habermas anschließen zu lassen, für den sich Moral immer auf Gründe, nicht auf das Kontingente sozio-historischer Gegebenheiten beziehen darf.8 Die »geteilten Vorstellungen« ließen sich also über im gesellschaftlichen Diskurs festgestellte Gründe herleiten. Daraus wiederum entsteht eine Rechtspraxis, weil das Recht nichts anderes ist als »der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit zusammen vereinigt werden kann«9. Und – so muss man hinzufügen – weil das Moralische selbst im Unterschied zum Recht aus der Befolgung nicht erzwingbarer Sollenssätze besteht. Denn die »Pflicht« zu Liebe und Fürsorge, zur unbedingten Achtung der Würde des Mitmenschen und zu einer solidarischen Praxis kann als begründete Moral immer nur Selbstverpflichtung sein, und damit ist sie noch lange keine soziale Praxis. Also, so haben Kant und eben auch Habermas gefolgert, hilft nur die Verrechtlichung, sofern sie dem Maßstab folgt, dass der ausgeübte Zwang an das »allgemeine Gesetz der Freiheit« gebunden bleibt. Die Unterscheidung von Legalität und Moralität ist damit nicht aufgehoben, aber beide verweisen wechselseitig aufeinander. Um so mehr, als die normative Ordnung, die sich eine Gesellschaft gibt, nicht nur Ausdruck einer bestimmten Moralität ist, sondern umgekehrt wieder auf das »ethische Klima« verweist, nämlich indem die Anerkennung moralischer Normen zunimmt, wenn sie als Rechtsnormen Geltung beanspruchen und auch durchgesetzt werden. Das zeigt sich etwa in der zunehmenden Akzeptanz homosexueller Partnerschaften oder umgekehrt in der zunehmenden Intoleranz gegenüber sexueller Gewalt in der Gesellschaft; hier gingen Gesetzesänderungen dem Wandel allgemeinen Moralbewusstseins voraus. Sieht man allerdings genauer hin, dann wird auch hier die Zirkularität der (moral-) philosophischen Begründung sichtbar. Denn die moralischen Diskurse 8 | Vgl. Jürgen Habermas: Richtigkeit versus Wahrheit – Zum Sinn der Sollgeltung moralischer Urteile und Normen, in: W. Edelstein, G. Nunner-Winkler (Hg.): Moral im sozialen Kontext, S. 35-54. 9 | I. Kant: MdS, AA VI 230.
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in der Gesellschaft sollen Rechtsnormen verändern, und nicht etwa umgekehrt von Experten und Stellvertretern Normen aufgestellt werden, um das Volk moralisch zu leiten und lenken. Also müsste die Veränderung des »ethischen Klimas« der Verrechtlichung vorangehen, und dazu bedarf es bereits einer moralischen Alltagspraxis, die auf solche Normveränderungen verweist. Auch hier zeigt sich, wie sehr sich die Moraltheorie, die von der und für die soziale Praxis zu sprechen beansprucht, bereits wieder von dieser Praxis entfernt hat. Dabei geht es keineswegs um den platten Vorwurf, die Theorie »tauge« eben nicht für die Praxis. Schon Kant hatte darauf verwiesen, dass der Wert der politischen und der Rechtspraxis auf ihrer Angemessenheit zu der ihr unterlegten Theorie (auch der der Moral) beruht, »und Alles verloren ist, wenn die empirischen und daher zufälligen Bedingungen der Ausführung des Gesetzes zu Bedingungen des Gesetzes selbst gemacht« werden10. Es geht also weder um einen Antiintellektualismus, noch um einen pseudokonkreten Aktionismus. Es geht vielmehr um das Grundproblem philosophischer Ethik, das Adorno im Zusammenhang mit Kants transzendentalphilosophischen Ansatz anspricht, nämlich ein »Niemandsland« zu sein, »nicht ein Land von irgendwie festen Beständen, sondern ein gigantisches Kreditsystem, bei dem dann die letzte Forderung nicht eingeklagt werden kann«11. Das wird besonders dort deutlich, wo die Philosophie von sich selbst behauptet, »praktisch« zu werden, nämlich in den Bereichsethiken. Diese sollen angesichts einer zunehmenden Spezialisierung der gesellschaftlichen Praxis »das von der Grundlagenethik bereitgestellte Begriffs- und Methodensystem auf Fragekomplexe anwenden, deren Lösung von gesellschaftlichem Interesse ist«12 . Peter Fischer versuchte das zu präzisieren, indem er die »Grundlagenethik« als Begründung von Moralprinzipien und Moralkriterien begreift, die dann von den »angewandten« Ethiken hinsichtlich spezifischer Problemkonstellationen systematisch und hermeneutisch gedeutet werden.13 Aber er räumt auch ein, dass das diskursive Aushandeln mit dem Zwang des besseren Arguments in der Gesellschaft seine 10 | I. Kant: Gemeinspruch, AA VIII 277. 11 | Th.W. Adorno: Kants Kritik der reinen Vernunft, Frankfurt a.M. 1995, S. 332. 12 | A. Pieper, U. Thurnherr (Hg.): Angewandte Ethik. Eine Einführung, München 1998, S. 10. 13 | Vgl. P. Fischer: Politische Ethik, München 2006.
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Grenze findet, wenn moralische Grundüberzeugungen ins Spiel kommen: »Weltanschauliche Einstellungen können zwar durch Argumente beeinflusst, aber nicht zwingend verändert werden, denn es hängt auch von den Einstellungen ab, was als besseres Argument gilt.«14 Und hier müsste man wohl kritisch ergänzen, dass das auch für die moralphilosophischen Grundlagendiskurse gilt. Ich wage sogar zu behaupten, dass selbst die professionellen Moraltheoretiker der akademischen Philosophie in ihrer (moralischen) Alltagspraxis wie in den ethischen Diskursen ihrer Zunft ihren Überzeugungen die Begründungen der Moraltheorie nachschieben. Zumal sich aus der Fähigkeit zur Reflexion moraltheoretischer Aussagen und der Begriffsmächtigkeit noch keine Kompetenz zur Wahrnehmung moralrelevanter Zusammenhänge in der Alltagspraxis ableiten lässt, genauso wenig wie die Befähigung zum Urteilen und Handeln. Welche Moralphilosophie jemand wählt, mag nicht davon abhängen, was für ein Mensch er ist, aber doch ganz sicher davon, welche Grundüberzeugungen er mitbringt, die ihrerseits selbst nicht philosophischen Argumentationen geschuldet sein müssen. Das führt in der Praxis der moralphilosophischen Diskurse zu der Absurdität, dass der von einem katholischen Humanismus geprägte Denker seine Positionen, etwa zu Präimplantationsdiagnostik, Sterbehilfe oder Gentechnologie, mit jeder argumentativen Spitzfindigkeit vertreten, und genauso wie seine kantianischen oder utilitaristischen Diskussionspartner noch das beste Gegenargument nicht zur Revision der eigenen Positionen, sondern höchstens zu einem »ja – aber« verwenden wird. Wer in der akademischen Lehre tätig ist, könnte dieses Verhalten anhand der Hausarbeiten seiner Studenten geradezu zu einer empirischen Studie verwenden: Da werden mit Akribie und großer Ernsthaftigkeit die verschiedenen Positionen des moralphilosophischen Diskurses, sagen wir zur Sterbehilfe, referiert, nur um dann im Schlusswort genau die Position zu wiederholen, die der Student schon hatte, bevor ihm die unterschiedlichen Argumente der philosophischen Ethik im Seminar vorgestellt wurden. Scheinbar haben wir es in der gegenwärtigen philosophischen Ethik »mit einem rein kognitiven Metawissen der Orientierung zu tun, das aber niemanden darüber aufklärt, wohin er oder sie sich zu wenden hat«15 – mit der Konsequenz, dass 14 | Ebd., S. 19. 15 | H. Hastedt: Philosophische Ethik und Orientierung in der Moderne, in: S. Dietz et al. (Hg.): Sich im Denken orientieren, Frankfurt a.M. 1996, S. 165-171, hier: S. 158.
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die individuellen Vorstellungen von einem gerechten und gelingenden Leben, die sich aus ganz anderen Quellen als den moralphilosophischen Begründungs- und Begriffsdebatten speisen, genau die Praxisrelevanz erreichen, um die sich eben jene Philosophie so krampfhaft bemüht (und sei es nur zum Nachweis der eigenen Existenzberechtigung). Heißt das, dass es mit der moralischen Urteilskraft in der Ethik gar nicht so weit her ist? Dass es sich also gerade in dem Punkt, der doch das »Wozu« philosophischer Ethik so trefflich zu beantworten scheint, um eine Mogelpackung handelt? Die theoretische Reflexion der moralischen Urteilskraft als Inbegriff einer »praktischen«, also auf eine soziale Praxis zielenden Philosophie war in den letzten Jahren ein weiterer Versuch, der Krise der Ethik in Ansehung der Praxis zu entkommen. Von dezisionistischen Ansätzen über neoaristotelische, von an Descartes angelehnter »provisorischer Moral« bis zu Kant und dem alten Streit zwischen Moralität und Sittlichkeit, den Kantianer und Heglianer führen – all das sind Versuche, die philosophische Ethik aus einem kognitivistischen Ghetto zu befreien und die »begrenzte Praxisbedeutung der Theorie, die ihrerseits in der begrenzten Theoriefähigkeit der Praxis selbst gründet«, zu beenden16. Dabei will ich gar nicht in Abrede stellen, dass über die Begründung der Moral unter Bedingungen der Moderne nichts Klügeres gesagt worden ist als von Kant, und man wohl auch sagen muss, dass alle nachfolgende Moralphilosophie, ob sie nun Kant folgt oder sich von seinem Denken abzusetzen sucht, auf nichts anderes hinausläuft als auf Fußnoten, auf Erläuterungen und Erweiterungen im Gefolge seines Denkens. Vielmehr »[g]emeint ist damit die Kritik an der von Aristoteles dem Sokrates zugeschriebenen Überzeugung, dass Tugend Wissen und nichts sonst sei. Die Diskursethiker müssen an diese Kritik erinnert werden, denn sie scheinen aus verständlichen Berührungsängsten mit dem Dezisionismus den Kognitivismus in der Normenbegründung zu weit getrieben zu haben.«17
16 | H. Schnädelbach: Zur Rehabilitation des animal rationale, Frankfurt a.M. 1992, S. 211. 17 | Ebd., S. 228.
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Die Diskursethiker stehen hier beispielhaft für ein Grundproblem, das das neuzeitlich-moderne Denken hat: dass – wie Schnädelbach in Anlehnung an ein berühmtes Zitat von Habermas formuliert – wir unter Bedingungen »unserer« Moderne »in selbst zu verantwortenden kognitiven und normativen Ordnungen leben müssen«, und hierfür gar kein anderer Weg offen zu stehen scheint als der der Vernunft. Nur wird dabei eben gerne vergessen, dass diese Moderne »kein bloßes Bewusstseinsphänomen, sondern unsere gesellschaftliche und kulturelle conditio humana« ist18, und diesen Umstand berücksichtigt die philosophische Ethik nicht, indem sie sich, auch beim Thema Urteilskraft, in Begründungs- und Begriffsdebatten ergeht. Hannah Arendt hatte auf das Problem hingewiesen, dass die philosophische Tradition der Neuzeit aus einer Flucht aus dem Besonderen bestehe, die das eigentliche Gelenk zwischen (Moral-) Theorie und Praxis, nämlich die Urteilskraft, mit entwertet.19 Indem Kant die Urteilskraft als das Vermögen definiert, »das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken«20, verfehlt sie in der Ethik das »richtige Leben« und wird zu jenem »gigantische(n) Kreditsystem, bei dem dann die letzte Forderung nicht eingeklagt werden kann« (Adorno s.o.). Als pauschale Kritik an der Philosophie taugt das freilich nicht, denn dann vergisst man, wie »konkret« die philosophische Kritik gesellschaftlicher Praxis seit der Aufklärung war und wie wirkmächtig für eben diese Praxis. Gerade als politische Philosophie seit Kant war sie Grundlegung für eine selbst verantwortete Normativität aus Humanität (worauf gerade Arendt in ihrem Text hinweist). Aber für die Ethik scheint diese Hinwendung zur Praxis nicht zu gelingen, weil hier in besonderem Maße gilt, dass »Urteilkraft […] nicht das Vermögen [ist], Besonderes unter Allgemeines zu subsumieren, sondern die Fähigkeit, das Allgemeine so zu kontextualisieren, dass es für das Besondere Bedeutung gewinnt«21. Im gesellschaftlichen Diskurs wie in der Philosophie selbst wird daraus manchmal der Schluss gezogen, dass die Bedeutung des Moralischen für die soziale Praxis in der Rückbesinnung auf die Werte läge, die die Gesellschaftsmitglieder aus eben dieser Praxis kennen würden und die sich für diese Praxis bewährt hätten. Als Orientierungspunkte für die 18 | Ebd., S. 443f. 19 | Vgl. H. Arendt: Das Urteilen, München 2012, S. 27ff. 20 | I. Kant: KdU AA V 179. 21 | S. Benhabib nach Hastedt: Philosophische Ethik, S. 169.
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Menschen wären »Werte« nicht nur Hilfe und als Grundlage gemeinsamen Handelns Schutz vor den vielfältigen Bedrohungen und Anforderungen einer als »unübersichtlich« beklagten modernen Lebenswelt, sondern hier würde eben auch das geleistet, woran eine nur noch kognitivistisch orientierte philosophische Ethik scheitere: die Unmittelbarkeit der Einsicht in das Moralische als direkte Handlungsanweisung. Nicht die kognitivistische Überforderung, sondern das intuitive Wissen um das »Richtige« würde als eine Art Gesinnungsordnung so soziale Praxis bestimmen. Diese Sichtweise wird von manchen Autoren »konservativ« genannt; in Wahrheit ist sie nichts anderes als reaktionär. Die Aufgabe der Ethik bestünde entweder darin, die vorgefundenen Vorstellungen von Werten und Normen aus einer gesellschaftlichen Praxis zu extrahieren, also deskriptiv vorzugehen, und dann als Kanon moralischer Wahrheiten wiederum der Praxis zu präsentieren. Dabei könnte sich die Ethik aber nur auf eine quasi biologische Herkunft der Werte berufen, etwa als »genetische« Ausstattung, und diese Debatte – wie wohl sie geführt wird – könnte im Ergebnis die Frage nach dem »Wozu« von Ethik tatsächlich beantworten: sie wäre überflüssig. Beruft man sich nicht auf die Natur, sondern auf die Praxis selbst, nämlich als das in einer bestimmten Kultur sich bewährende Gegebene, dann wird der Ansatz zur Lüge. Denn als solches sind die Werte immer kontingent; sie sind, was sie sind, durch eine Praxis, die ihrerseits ganz anderen Bedingungen folgt als moralischen. Der ontologische Status der Werte ist gar kein anderer als der der Praxis, die sich auf sie beziehen soll, denn die Werte sind immer Ergebnis der gesellschaftlichen Verhältnisse, unter denen sie entstehen. Sie sind Produkte der Geschichte und nichts An-sich-Seiendes, und Werte aufzustellen, ist Reaktion und Ausdruck der Geschichte, also der Praxis, und nicht etwas Jenseitiges, das Gott weiß wo sein sollte (um einmal bei Hegel zu wildern), oder »wie Heringe von der Decke herunterhängend«22 . Wer sich also auf »Werte« beruft, ohne zu benennen, wer da und aus welchen Gründen bewertet, der lügt. Das ist das Dilemma jeder konservativen Weltsicht, dass sie den Wandel der Bedingungen, unter denen sich ihre Vorstellungen vom Guten und Richtigen formiert haben, nicht aufhalten kann (und es oft genug selbst nicht will), aber die Modi der Bewältigung von Wirklichkeit nicht immer wieder neu auf den Prüfstand stellen will. Hier wird die Wertedebatte nun schnell reaktionär, nämlich wenn die notwendige 22 | Th.W. Adorno: Probleme der Moralphilosophie, S. 260.
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Kritik des Vorgefundenen abgeschnitten werden soll, und die Entlarvung der Werte als Rechtfertigung und Erhalt von Macht, die Benennung der Werte als Zurichtung der Subjekte für die als gegeben behaupteten sozialen Verhältnisse als »Werteverlust« diffamiert wird. Der Rekurs auf Werte und Gesinnung verschleiert diesen Zusammenhang von Moral und Macht und gibt das jeweils Vorgefundene als ein unmittelbar Gegebenes für das moralische Subjekt aus. Hier schneidet sich die gegenwärtige Moralphilosophie viel von ihrer Bestimmung und ihren Möglichkeiten ab, wenn sie glaubt, dass das Geschäft der Kritik erledigt sei, und man aus der Geschichte, also der eigenen Praxis, heraustreten müsse, um sich wieder stärker mit der Moral selbst zu beschäftigen. Gerade die »Werte« sind ja nicht etwas, was man »haben« kann: Dahinter steckt der verführerische Gedanke der Verfügbarkeit und damit der Herrschaft, ein – sowohl naiver wie eben auch wieder im Machtkalkül einsetzbarer – Appell nach Ruhe an der »moralischen« Front. Das ist eine bekannte Begleitmusik unserer Moderne: der Wunsch, der Herausforderung, die Moderne bedeutet, nämlich dass allein der kritische Weg noch offen steht und also alles selbst entschieden, gerechtfertigt und verantwortet werden muss, durch eine Re-Ontologisierung zu begegnen, die das Denken entlastet und der Praxis wieder zu einem sicheren Fundament verhelfen kann. Das ist die Moderne, die sich nicht wahr haben will: jener Befund Nietzsches, dass »nichts auf festen Füßen und hartem Glauben an sich« steht: »[M]an lebt für morgen, denn das Übermorgen ist zweifelhaft. Es ist alles glatt und gefährlich auf unserer Bahn, und dabei ist das Eis, das uns noch trägt, so dünn geworden: wir fühlen alle den warmen unheimlichen Atem des Tauwindes – wo wir noch gehen, da wird bald niemand mehr gehen können!« 23
Als Moralphilosophie verfehlen solche Versuche der Wiederverzauberung die Aufarbeitung des Wertbegriffs. Denn wenn »Wert« nichts ist, was man haben kann, also keine Ressource wie Bodenschätze, die »verfügbar« sind, sondern unter den Bedingtheiten von Gewordenheit und Ambivalenz steht, dann ist ein an »Werten« orientiertes Handeln nur als reflektierter Umgang mit möglichen Maßstäben und zugleich mit den gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen sie wirken sollen, zu haben. Damit sind wir wieder bei der »Urteilskraft«, aber eben bei einer, die sich 23 | Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1884-185, KSA 11, 25[9].
Moral in der sozialen Praxis und philosophische Ethik
nicht nur auf ihre kognitiven Bedingungen kapriziert, sondern bereits ihre »Praxis« als gesellschaftliche und soziale Bedingungen im Blick hat. Eine Grundeinsicht der Ethik als philosophischer Disziplin besteht darin, »unsere« Moderne nicht als krisenhafte Widerfahrnis zu begreifen, durch die auch die Ethik selbst in die Krise geraten ist, sondern die Krise als den Normalzustand der Moderne. Das als bedrohlich Empfundene der Krise liegt in der Vorläufigkeit aller Verhältnisse, eben auch der moralischen, dem »nichts auf festen Füßen«, und die Folgerung daraus ist nicht eine »vorläufige« oder »provisorische« Moral. Denn diese Denkfigur Descartes leitete das Provisorische aus dem Noch-nicht, dem aktuellen Nichtgenügen ab, dass durch die Anstrengung der Vernunft überwunden werden sollte. Das beförderte aber gerade jene Vergessenheit gegenüber dem Besonderen, das man wieder unter einem Allgemeinen subsumieren will, das jetzt nur nicht mehr aus den Gewissheiten eines metaphysischen Weltbildes, sondern aus der Vernunft des Subjekts selbst stammen soll. Deshalb ist eigentlich nicht die Moral »provisorisch«, sondern es sind die Bedingungen, unter denen sich das Moralische jeweils formulieren lässt. Das »Wozu« der Ethik wird dabei nicht von der Ethik selbst (schon gar nicht als akademische Disziplin), sondern von der Praxis bestimmt: nämlich als Ausdruck des Umgangs der Subjekte mit der Moderne als »conditio humana«, die jedem von uns zeigt, »dass die Welt so eingerichtet ist, dass selbst noch die einfachste Forderung von Integrität und Anständigkeit eigentlich fast bei jeden Menschen überhaupt notwendig zu Protest führen muss.« Und Adorno führt fort: »Ich glaube, dass überhaupt erst das Bewusstsein dieser Zwangssituation – und nicht, dass man sie sich verkleistert – die Bedingung dafür schafft, die Frage, wie man heute überhaupt zu leben vermöchte, richtig zu stellen. Das einzige, was man vielleicht sagen kann, ist, dass das richtige Leben heute in der Gestalt des Widerstandes gegen die von dem fortgeschrittensten Bewusstsein durchschauten, kritisch aufgelösten Formen eines falschen Lebens bestünde.« 24
Hier kann man einwenden, dass die Entlarvung des falschen Lebens bereits wieder einen Begriff des richtigen voraussetzen würde, und man deshalb doch nur wieder bei der Frage landet, woher man diesen denn nehmen solle. Ich gebe zu, dass ich es mir hier gerne einfach mache: Das 24 | Th.W. Adorno, Probleme der Moralphilosophie. 248f.
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Allgemeine, das Kategorische der Moral, hat uns Kant in seinen darum sog. Imperativen geliefert und trefflich begründet, und ich kann nicht einsehen, warum man an dieser Stelle immer wieder glaubt, von vorne beginnen zu müssen. Aber weil die kantischen Imperative Formeln sind, und keine Bestimmungen dessen, was nun moralisch »ist« (wie Kant ja auch selbst nicht müde wird, uns klar zu machen), liegt die Aufgabe der Herausarbeitung des Moralischen bei uns selbst. Und bei diesem Unterfangen herrscht das Missverständnis vor, wir wären genötigt, doch wieder »allgemein« zu sagen, was das Gute oder das Gerechte oder das gelingende Leben sei. Wer so verfährt hat aber Kant gar nicht richtig verstanden, denn gerade das ist unter Bedingung der sittlichen Autonomie des Subjekts, aus der überhaupt nur Moral denkbar ist, nicht nur nicht möglich, sondern überdies geradezu verboten. Vielleicht ist es hier notwendig, eine neue, ganz kleine »kopernikanische Wende« zu versuchen (oder auch nur eine marginale epistemische Volte): Für die Bestimmung der »Formen eines falschen Lebens«, von denen Adorno spricht, als Gegenstand der Moralphilosophie unter Bedingungen der Vorläufigkeit, genügt die Anwendung der Imperative als Negationen. Nämlich jeweils aufzudecken, was nicht »allgemeines Gesetz« sein kann, was nicht den Mitmenschen als »Zweck an sich selbst«, sondern als bloßes Mittel gebraucht. Und in der sozialen Praxis, so können wir feststellen, vollzieht sich Moralität ja genau so: als Klage über das, was nicht ist, also die Vorstellungen von Gerechtigkeit als Erfahrung von Ungerechtigkeit, von Freiheit und Selbstbestimmung als deren Einschränkung, von Solidarität als Alleingelassen werden. Gerade für ein »ethisches Klima« in der Gesellschaft ist nicht das Wissen um das, was gewiss sein soll, entscheidend – daraus erwächst vielmehr nur ein falsches Absolutes, das erneut verbiegt und vernichtet – sondern der Umgang mit unseren Erfahrung von Bedrohung, Vereinsamung, Unrecht usw. Darüber zu philosophieren heißt heute mehr denn je, die falsche Praxis, die wir selbst sind, in den Blick zu nehmen und zu benennen. Für die philosophische Ethik gilt hier aber auch die Bedingung, dass die Kritik des Schlechten und der Widerstand dagegen nur mit »dem Bewusstsein der eigenen Fehlbarkeit« zu haben ist, weil sonst »der Hass auf das Böse […] im Namen des Guten zu etwas Zerstörendem und Destruktiven« wird 25. Diese »Negation des Durchschauten« ist überdies das moralische Korrektiv zur gesellschaftlichen Praxis demokratischer 25 | Th.W. Adorno: Probleme der Moralphilosophie, S. 253, S. 254.
Moral in der sozialen Praxis und philosophische Ethik
Verfassungsstaaten, deren Ungenügen nicht in ihrer allgemeinen Verfasstheit liegt (weswegen ja manche Debatten der politischen Philosophie der Gegenwart um Partizipation und neue Verfahren der Legitimation so merkwürdig steril, eben »akademisch« bleiben), sondern in dem Umstand, dass die »wahre Politik« keinen Schritt tun kann, »ohne vorher der Moral gehuldigt zu haben«. Kant kann dann nur aus der inneren Logik seines Denkens, nicht aber in Ansehung der historischen Praxis behaupten, dass »die Vereinigung derselben mit der Moral gar keine Kunst« sei26. Aufgabe philosophischer Ethik ist es wohl, die realen Widersprüche zwischen der Praxis und der rechtsstaatlichen Verfasstheit immer wieder neu zu benennen und dies für jene zu tun, die in und durch diese Praxis die Marginalisierten und Leidenden sind. Das Herausarbeiten des Abgründigen, des Widersprüchlichen und des Vorgetäuschten in der Gesellschaft scheint mir eine weitere Hauptaufgabe für die Ethik zu sein, und es ist der Fehler der akademischen Philosophie, dies nur als Pflichtübung neben dem »eigentlichen« Geschäft des Philosophierens zu begreifen oder es an andere Wissenschaften zu verweisen. So ist z.B. die sozial- und moralphilosophische Bedeutung des Begriffs »Anerkennung« unumstritten. Aber ob Honneth, Ricoeur, Krebs oder Forst (um nur einige zu nennen), die so Kluges und Tiefgründiges zum Thema geschrieben haben, wissen, dass ihre Überlegungen inzwischen Eingang in die Sozialpsychologie gefunden haben und von dort in die betriebswirtschaftlichen Seminare, in Managementstrategien und Führungskonzeptionen?27 Unumstritten ist auch unter Philosophen die Bedeutung der Arbeit für Identität und personalen wie gesellschaftlichen Autonomiegebrauch – aber machen Philosophen sich die Mühe herauszufinden, was das in einer sozialen Praxis bedeuten soll? Ob etwa die Verwendung der Überlegungen zur Anerkennung in der Arbeitswelt zur ihrer Humanisierung beiträgt, womöglich gar ein Ansatzpunkt ist, die Zurichtung der Subjekte fürs Geschäft, die gnadenlose Unterwerfung aller Arbeit und aller Freiräume unter die Verwertungslogik des Marktes zu durchbrechen? Und damit vielleicht mehr zur Versittlichung, zum »ethischen Klima« beizutragen, als es alle Debatten über praktische Urteils26 | I. Kant: Zum ewigen Frieden, AA VIII, 380. 27 | Vgl. M. Moldaschl, G.-G. Voß (Hg.): Subjektivierung von Arbeit, Mering 2002. R. Sichler: Soziale Anerkennung durch Arbeit und Beruf, Journal für Psychologie Jg. 18 Ausgabe 2 (2010). M. Herzka: Führung im Widerspruch, Wiesbaden 2013.
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kraft je könnten? Oder ob vielmehr die wohlmeinenden Überlegungen über die »generalisierte Anerkennung« als »konkrete Anerkennung« in der Arbeitswelt schon wieder nichts anderes sind als perfide Strategien zur Manipulation, zur Leistungssteigerung, und das Subjekt, das freie, nur weiter deformieren und in neuen Verblendungen entmündigen? Die philosophische Ethik muss dazu beitragen, gesellschaftliche Debatten darüber anzustoßen, und das kann nur gelingen, wenn sie so etwas Alltägliches, Kleines und sich so gar nicht zur großen Geste und Theorie Eignendes wie die Arbeitswelt in den Blick nimmt. So kann sie das Stumme, Verdrängte und Prekäre in unser sozialen Praxis zum Sprechen bringen. »Der Ort der Moralphilosophie«, merkt Adorno an, ist »heute mehr in der konkreten Denunziation des Unmenschlichen als in der unverbindlichen und abstrakten Situierung etwa des Seins des Menschen« – oder eben der Moral – zu suchen.28 Wenn man es im akademischen Geschäft für notwendig hält, kann man sich hier nicht nur auf die philosophischen Traditionen von Marxismus und Kritischer Theorie, sondern auch auf den Existenzialismus Kierkegaards oder Sartres Diktum berufen, wonach der (moralische) Mensch nichts anderes ist als das, wozu er sich selbst macht. Aber Moralität leben ist eben nicht nur ein Sollen, sondern ein Können. Und auch wenn Kant ganz recht hat, wenn er für das Denken des Moralischen feststellt, dass die kritische Vernunft nur jenes Sollen auch wollen kann, das zu tun der Mensch in der Lage ist (»denn das Unmögliche wird ihm die Vernunft nicht gebieten«29), so wird doch klar, dass Kant seinen eigenen transzendentalen Ansatz hier nicht mehr ernst nimmt. Denn die »Bedingung der Möglichkeit« des moralischen Tuns erschöpft sich nicht in der Herleitung der Erkenntnisbedingungen, sondern ist immer auch die schon vorgefundene soziale und gesellschaftliche Praxis, in der der Mensch sich selbst machen können muss – etwa zum moralischen Wesen. Wenn philosophische Ethik es in Fragen der Begründung, der allgemeinen Prinzipien des Moralischen und der Begriffsklärungen weit gebracht hat, dann ist die Aufarbeitung dieser konkreten Bedingungen der Möglichkeit zur Moral eher ein blinder Fleck. Das scheint insofern folgerichtig, als diese Bedingungen ja kontingent sind und insofern empirisch, also jeweils nur als Momentaufnahmen des Wirklichen zu fassen. Dieser Argumentation entgeht aber, dass der Gegenstand einer auf 28 | Th.W. Adorno: Probleme der Moralphilosophie, S. 261. 29 | I. Kant: Anthropologie AA VII 148.
Moral in der sozialen Praxis und philosophische Ethik
Praxis sich beziehenden Moralphilosophie immer nur vom Kontingenten reden kann, ohne deshalb gegenstandslos zu sein. Denn das Kontingente ist nicht beliebig (weswegen schon Aristoteles das Kontingente säuberlich vom Akzidentellen unterschieden hatte), weswegen sich durchaus Substantielles über das Fehlen der Moral in der Praxis aussagen lässt. Um Moralbegriffe durch Praxis zu konkretisieren, muss man die Praxis an ihnen messen; also muss die Praxis in den Blick genommen werden, um Moralbegriffe der philosophischen Ethik mit Leben zu füllen. Es wäre für die Ethik schon viel gewonnen, wenn die Philosophen aufhören würden, Moralphilosophie immer nur für die Ewigkeit betreiben zu wollen, und stattdessen die Entlarvung der schlechten Praxis in den Blick nähmen und damit vielleicht zu ihrer Veränderung beitrügen. So wäre dem Fragen nach dem »Wozu« und »Wie weiter« doch schon ein konkreterer Ort zugewiesen, und so etwas wie ein kritisches Ethos der Moralphilosophie möglich. Und d.h. dann wohl nichts anderes, als das, was Adorno vor gut einem halben Jahrhundert bereits angemahnt hatte: »[D]ie Frage nach dem richtigen Leben wäre die Frage nach der richtigen Politik« – und zwar genau in den Bezügen, in denen sich soziale Praxis abspielt.
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I. V on der K ritik der E thik zur E thik als K ritik Mein Verständnis der Ethik, wie ich es hier präsentiere, ist, außer durch Kant, geprägt durch Philosophen des 20. Jahrhunderts wie Wittgenstein, Heidegger oder Adorno, die keine eigene Ethik entwickelt haben, ja der Ethik als eigenständiger philosophischer Disziplin, als einer Theorie des Guten und des Richtigen, der Werte und der Normen kritisch gegenüber standen. Das bedeutet nicht, dass ihnen das, wovon die Ethik handelt – das Gute oder die Würde des Menschen – gleichgültig wäre. Ihre Kritik der Ethik erfolgt um des Ethischen willen, das in ihre gesamte Philosophie sozusagen hineinverwoben ist, ohne explizit ausgesprochen zu werden. In diesem Sinne sagt Wittgenstein über seinen Tractatus: »Der Sinn des Buches ist ein ethischer.«1 Ich meine nicht, dass man dieser fast völligen Abstinenz gegenüber ethischer Theorie folgen sollte. Von der radikalen Kritik der Ethik lässt sich aber viel lernen. Sie sensibilisiert für fragwürdige szientistisch-rationalistische, instrumentalistisch-technizistische und objektivistisch-reduktionistische Missverständnisse der philosophischen Ethik, die besonders die gegenwärtige angewandte Ethik 1 | So Wittgenstein in einem Brief an Ludwig von Ficker, zit.n. B. MacGuinness (Hg.): Paul Engelmann. Ludwig Wittgenstein, Briefe und Begegnungen, Wien/München 1970, S. 121. Wenn man Heideggers Sein und Zeit unter dem Gesichtspunkt der Ethik liest, findet man Elemente sowohl der aristotelischen als auch der kantischen Ethik. Vgl. F. Volpi: Sein und Zeit. Homologien zur Nikomachischen Ethik, S. 225-240, in: Philosophisches Jahrbuch 96 (1989) und A. Luckner: Wie es ist, selbst zu sein. Zum Begriff der Eigentlichkeit, S. 149-168, in: T. Rentsch (Hg.): Martin Heidegger. Sein und Zeit, Berlin 2001.
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prägen. Außerdem ist es aus der Perspektive dieser radikalen Ethikkritik möglich, auf Aspekte der klassischen Ethikkonzeptionen – insbesondere von Platon, Aristoteles oder Kant – aufmerksam zu werden, die üblichen Darstellungen zuwiderlaufen. Im ersten Teil meines Beitrags skizziere ich diese Kritik der Ethik in ihren Grundzügen; im zweiten Teil erläutere ich, wie eine Ethik als kritische Hermeneutik und allgemeine Praxis möglich und sinnvoll ist, die einer solchen Kritik standhält.
1. Szientistisch-rationalistisches Missverständnis Die Aufgabe philosophischer Ethik besteht nach dieser Vorstellung darin, moralische Normen oder Prinzipien rational zu begründen, nachdem Instanzen wie Tradition, Kirche oder Staat als moralische Autoritäten ausgedient haben. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war die philosophische Ethik besonders von begründungstheoretischen Debatten geprägt. Versuchen der Begründung, ja der »Letztbegründung« der Moral, etwa in der Diskursethik, stehen begründungsskeptische Positionen gegenüber, die auf all die Probleme, Sackgassen und Widersprüche hinweisen, in die solche Begründungsversuche geraten. In der Medizinethik, wo man nicht warten kann und möchte, bis die philosophischen Ethiker die Begründungsprobleme gelöst haben, begnügt man sich mit Konzepten einer »provisorischen« Moralkonzeption, die sich auf allgemein akzeptierte, relativ unstrittige Prinzipien einer common morality 2 stützen, aber ihrerseits der Kritik unterzogen werden. Angesichts dieser Situation lässt sich ohne Übertreibung sagen, dass die Ethik in eine ähnliche Grundlagenkrise geraten ist wie die Mathematik und die Naturwissenschaften in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.3 Diese Krise ist, so meine These, durch irregeleitete Begründungsvorstellungen zustande gekommen und nur zu 2 | Vgl. insbesondere T.L. Beauchamp, J.F. Childress: The Principles of Biomedical Ethics, Oxford 2012. 3 | Auch Julian Nida-Rümelin spricht von einer »Grundlagenkrise der ethischen Theorie […], die durch Probleme ihrer Anwendung heraufbeschworen wurde«, allerdings ohne die hier vorgeschlagene Konsequenz eines Begründungsverzichtes daraus zu ziehen. J. Nida-Rümelin: Theoretische und angewandte Ethik. Paradigmen, Begründungen, Bereich, S. 2-85, in: ders. (Hg.): Angewandte Ethik. Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung, ein Handbuch, Stuttgart 1996, S. 63.
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überwinden, wenn man das Bemühen um eine Begründung elementarer Moralprinzipien aufgibt. Die Begründung bzw. Rechtfertigung konkreter Handlungen oder Normen ist sinnvoll und notwendig. Wir müssen unsere Handlungen gegebenenfalls anderen gegenüber rechtfertigen können, und erwarten dies ebenso von den anderen uns gegenüber. Ebenso müssen Normen (Rechtsnormen, institutionelle Verhaltensregeln, Berufskodizes usw.) sich allen gegenüber, die von ihnen betroffen sind, rechtfertigen lassen. Problematisch ist jedoch das Bemühen um eine außermoralische, nicht-zirkuläre Begründung der Grundlagen, Prinzipien oder Maßstäbe für solche praktischen Rechtfertigungen. Damit wird die seit der Antike immer wieder betonte Besonderheit des Guten im ethischen oder moralischen Sinne als unbedingt gültiger, höchster Gesichtspunkt für die Orientierung des Lebens und Handelns im Ganzen verkannt. Wie für Platon die Idee des Guten oder für Aristoteles die eudaimonia, so stellt für Kant der gute Wille den absoluten oder unbedingten Gesichtspunkt der Beurteilung aller relativen oder bedingten Güter dar. Es handelt sich dabei nicht um eine rein psychische Verfassung, etwa im Sinne der guten Absicht, sondern um die Grundform des vernünftigen Wollens, die darin besteht, sich an einem objektiven Prinzip als einer Art Kompass 4 zu orientieren und damit das subjektive, am eigenen Vorteil interessierte Streben zu transzendieren. Hypothetische Imperative, technische Handlungsanweisungen z.B. oder Ratschläge der Klugheit, lassen sich unter Rekurs auf empirisches Wissen über die Natur oder den Menschen begründen. Für kategorische Imperative ist dies Kant zufolge nicht möglich. Ihre unbedingte oder absolute Geltung besteht gerade darin, nicht auf andere Bedingungen reduzierbar, nicht von ihnen abhängig zu sein. Kant wendet sich mit gutem Grund gegen jede Art der anthropologischen Begründung der Moral unter Rekurs auf außermoralische Gegebenheiten, und zwar sowohl in Form einer empirischen Begründung, die auf elementare menschliche Bedürfnisse, Interessen, Ziele oder ähnliches rekurriert, wie dies in utilitaristischen oder kontraktualistischen Ansätzen der Fall ist, als auch in Form einer metaphysischen, rein rationalen Begründung, die mit transzendenten, übernatürlichen Fakten wie der Existenz Gottes, der Freiheit des Willens oder der Unsterblichkeit der Seele argumentiert. Hierbei handelt es sich um bloß gedachte Gegebenheiten, die sich jeder möglichen Erfahrung entziehen und daher, rein theoretisch betrachtet, bloße Hirngespinste sind. Das gan4 | I. Kant: GMS: AA IV, 404.
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ze Bemühen Kants um die Reinheit der praktischen Vernunft besteht in meinen Augen primär in der vernunftkritisch begründeten Abwehr solcher Versuche einer Begründung der Moral. Der allzu wenig beachtete letzte Satz der Grundlegung ist daher in seiner Bedeutung für das Verständnis der kantischen Moralphilosophie nicht zu unterschätzen: »So begreifen wir zwar nicht die praktische unbedingte Notwendigkeit des moralischen Imperativs, wir begreifen aber doch seine Unbegreiflichkeit; welches alles ist, was billigermaßen von einer Philosophie, die bis zur Grenze der menschlichen Vernunft in Prinzipien strebt, gefordert werden kann.«5 Dieses Begreifen der Unbegreiflichkeit erinnert an Sokrates’ Wissen des Nicht-Wissens oder Cusanus’ docta ignorantia. Dass Kant mit seiner Vernunftkritik auch in dieser Tradition steht, wurde in meinem Augen oft allzu sehr übersehen. Das Hauptproblem sinnloser, vergeblicher Begründungsbemühungen besteht darin, dass sie das, worum es in der Ethik geht, in sein Gegenteil verkehren. Das ist aus kantischer Sicht die Freiheit, Autonomie und Würde des Menschen als Person. Sich eine moralische Grundorientierung für das eigene Handeln zu eigen zu machen, moralische Verpflichtungen als für sich selbst verbindlich anzuerkennen, oder überhaupt so etwas wie Gewissen zu haben, statt gewissenlos zu sein, das ist letztlich ein Akt der Freiheit, des Willens und praktischer Einsicht, nicht eine Sache rein theoretischer Erkenntnis und rationaler Begründung. Wer sich weigert, den Standpunkt der Moral in Bezug auf das eigene Leben und Handeln einzunehmen, ist mit Mitteln der Logik und des Verstandes in keiner Weise zu zwingen. Alles, was getan werden kann und auch getan werden muss, ist, diesen Standpunkt in seiner das Handeln und Urteilen leitenden oder orientierenden Bedeutung zu klären und kritisch zu reflektieren. Diesen Standpunkt, den wir eigentlich nicht wirklich verlassen können, auch bewusst einzunehmen, ihn in seiner Gültigkeit für die eigene Person anzuerkennen, statt diese Gültigkeit zu leugnen, ist letztlich ein Akt des Willens, nicht des Verstandes. Die weiteren Missverständnisse der Ethik hängen mit dem ersten Missverständnis eng zusammen.
2. Instrumentalistisch-technizistisches Missverständnis Dieses Missverständnis ist in der angewandten Ethik besonders weit verbreitet. Es kommt der Erwartung von Praktikern entgegen, die Ethik 5 | I. Kant: GMS: AA IV, 463.
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möge ihnen Verfahren, Kriterien oder Techniken für die Entscheidungsfindung, Problemlösung oder Überwindung von ethischen Konflikten und Dilemmata bieten.6 Prinzipien der Ethik wie etwa das Nutzenprinzip, der kategorische Imperativ oder die vier Prinzipien von Beauchamp und Childress werden dementsprechend instrumentell und quasi-technisch verstanden. Auch dieses Missverständnis beruht darauf, dass das unbedingt Gute mit dem bedingt Guten und hypothetische mit kategorischen Imperativen gleichgesetzt werden, und darauf, dass man sich am Modell naturwissenschaftlicher Theorien und ihrer technischen Anwendung orientiert. Das Hauptproblem dieser Auffassung der Ethik besteht darin, dass zu unmittelbar nach Lösungen und Antworten gesucht wird, ohne die Problem- oder Fragestellungen selbst einer kritischen Analyse und Reflexion im Hinblick auf ihre vermeintlich selbstverständlichen, aber potentiell höchst fragwürdigen begrifflichen Voraussetzungen zu unterziehen. Es besteht die Tendenz, Grundbegriffe der philosophischen Ethik – wie z.B. die Begriffe der Person, der Autonomie oder der Würde – in ihrer Bedeutung so zu bestimmen, dass sie sich praktischen Erfordernissen und Fragestellungen anpassen, statt diese praktischen Erfordernisse und Fragestellungen ihrerseits infrage zu stellen. Hierfür bedürfte es einer größeren theoretischen Distanz zur Praxis, es bedürfte der im eigentlichen Sinne philosophischen Einstellung und Urteilsenthaltung (epoche), mit der Phänomenologie gesprochen. Es ist ein grundlegender Wechsel der Einstellung vonnöten, in der die ethischen Grundbegriffe nicht als Instrumente der Problemlösung, sondern als höchste Maßstäbe und Gesichtspunkte der kritischen Analyse, Reflexion und Beurteilung herrschender Denk- und Verhaltensweisen begriffen werden.
3. Objektivistisch-reduktionistisches Missverständnis Dieses Missverständnis geht mit dem bereits beschriebenen Bemühen der normativen Ethik um eine möglichst rational begründete, von einem objektiven Standpunkt aus erfolgende Beurteilung und Regelung menschlicher Handlungen einher, der sich der Einzelne zu unterwerfen hat. 6 | Diese Erwartung äußert sich z.B. in dem Titel der Jahrestagung 2013 der Akademie für Ethik in der Medizin »Vom Konflikt zur Lösung«. Ethische Theorien und Methoden sollten hier daraufhin diskutiert und geprüft werden, wie sie sich auf konkrete Fälle anwenden lassen und zur Problemlösung beitragen können.
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Auch die kantische Moralphilosophie wird großenteils in dieser Perspektive gelesen, indem die erste Formel des kategorischen Imperativs, die Gesetzesformel, in einem rein prozeduralistischen Sinne missverstanden wird, statt sie als Explikation der Form des (guten) Wollens und der moralischpraktischen Überlegung zu verstehen.7 Damit wird der emanzipatorische Kerngedanke des kantischen Autonomiebegriffs verkannt. Er besteht darin, dass letztlich nur der Einzelne selbst, aufgrund eigener vernünftiger Einsicht, sich an moralische Pflichten binden oder sich verpflichten kann, und nur aus Freiheit dieses wollen kann. Andernfalls tritt an die Stelle der Fremdbestimmung durch Religion, Tradition oder Staat die nicht weniger bedenkliche Fremdbestimmung durch eine expertokratische Ethik; der Einzelne würde zu einem bloßen Objekt extern gesteuerter Verhaltensregulierung.8 Mit diesem Objektivismus eng verknüpft ist die Tendenz, 7 | Die zweite und die dritte Formel, die Selbstzweck- und die Autonomieformel, werden entweder gar nicht beachtet oder als Resultat einer inakzeptablen Restmetaphysik Kants nicht ernst genommen. Stellvertretend zitiere ich Dieter Birnbacher. Die erste und, wie er meint, »zu Recht bekannteste« Formulierung sei am besten »als eine Art Testverfahren«, als »ein rein formales Verfahren zur Überprüfung der moralischen Zulässigkeit« von Normen oder Maximen zu verstehen. Die zweite und dritte Formulierung dagegen rekurrierten auf »spezifische ethische und metaphysische Lehrstücke seiner Philosophie« (die angebliche Teilhabe des Menschen als Person an einer transzendenten, »höheren« Welt), die Birnbacher offenbar für nicht rational begründbar hält. D. Birnbacher: Analytische Einführung in die Ethik, Berlin/New York 2003, S. 140-142. Birnbacher übersieht damit, wie viele andere Kantkritiker, dass schon Kant selbst die von ihm sog. Welten im Sinne von der Vernunft möglichen Standpunkten oder Perspektiven versteht und die Rede von »zwei Welten« daher nicht transzendent-ontologisch zu deuten ist. 8 | Ohne es hier im Einzelnen zeigen zu können, halte ich diese Tendenz für eine der größten Schwächen des Utilitarismus gegenüber dem kantischen Ansatz. In dieser Einschätzung stimme ich Robert Spaemann zu, wenn er schreibt: »Der Utilitarismus liefert das sittliche Urteil des normalen Menschen der technischen Intelligenz von Experten aus. Er verwandelt sittliche in technische Normen. […] Der Utilitarismus […] entmündigt das Gewissen zugunsten von Ideologen oder Technokraten.« R. Spaemann: Moralische Grundbegriffe, München 1982, S. 68. In ähnlicher Weise kritisiert Bernard Williams die Tendenz des Utilitarismus zur Quantifizierung und Technisierung der Moral. Vgl. B. Williams: Der Begriff der Moral. Eine Einführung in die Ethik, Stuttgart 1978, S. 93-110, v.a. S. 96-101.
Ethik als Kritik und als Praxis
Grundbegriffe der kantischen Ethik wie die Autonomie als empirisch feststellbare, verlierbare Eigenschaften oder Fähigkeiten einer bestimmten Art Objekt oder Lebewesen aufzufassen statt als für die menschliche Praxis im Ganzen konstitutive Grundform der Existenz. Damit geht eine objektivistisch-reduktionistische Engführung der ethischen Bedeutung dieser Begriffe einher. Das möchte im am Beispiel des in der Medizinethik verbreiteten Verständnisses der Begriffe der Autonomie und der Person verdeutlichen.9 Achtung der Autonomie bedeutet demnach Achtung autonomer Patientenentscheidungen. Anwendbar ist dieses Prinzip offenbar nur, wenn die Entscheidungen tatsächlich autonom sind, d.h.: wenn der Patient in der Lage ist, die für seine Entscheidung relevanten Informationen zu verstehen, wenn er ohne inneren oder äußeren Zwang entscheidet, und auf dieser Grundlage eine in seinem eigenen Interesse rationale Entscheidung treffen kann. Er bzw. seine Entscheidungen müssen hinreichend kompetent sein, wie es auch heißt. Doch wie, mit welchen Mitteln und Verfahren und anhand welcher Kriterien ist diese Kompetenz im Zweifelsfall festzustellen? Zu dieser Frage gibt es mittlerweile eine fast uferlose medizinethische Literatur. Nur selten aber wird die Fragestellung und das ihr zugrunde liegende kompetenzorientierte Verständnis des Autonomiebegriffs infrage gestellt. Objektivistisch ist dieses Autonomieverständnis, sofern der Kranke, dessen Entscheidungskompetenz infrage steht, primär als Objekt psychologischer Beobachtungen und Testverfahren in Erscheinung tritt statt als personales Gegenüber in einem kommunikativen Kontext. Auch solche Verfahren bedürften der Rechtfertigung gegenüber dem Kranken. Eben dafür ist aber der kommunikative Kontext, in dem er als autonome Person zu achten ist, vorauszusetzen. Die Achtung der Autonomie kann also nicht vom Ergebnis solcher Beobachtungen und Testverfahren abhängig gemacht werden. Nur wie, in welcher Weise, diese Achtung erfolgen kann und muss, hat sich natürlich auch danach zu richten, in welcher mentalen Verfassung der An9 | Vgl. Th. Rehbock: Personsein in Grenzsituationen. Zur Kritik der Ethik medizinischen Handelns, Paderborn 2005, Kap. X und dies.: Wie kann ich wissen, was du willst? Zur Bedeutung des Zusammenhangs zwischen Sprache und Leiblichkeit für die Ethik, S. 171-208, in: L. Leeten (Hg.): Moralische Verständigung. Formen einer ethischen Praxis, Freiburg/München 2013. Ich beziehe mich hier auf das Standardverständnis des medizinethischen Prinzips der Achtung der Autonomie, wie es insbesondere durch T.L. Beauchamp und J.F. Childress geprägt wurde.
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dere sich aktuell befindet. Reduktionistisch ist dieses Autonomieverständnis, sofern mit der Engführung des Begriffs eine Verengung des Blicks auf die Person des Kranken und seine Situation einhergeht. Autonomie wird in Orientierung am Informed Consent reduziert auf eine verlierbare kognitive Fähigkeit. Die Reichweite und Anwendbarkeit des Autonomieprinzips wird abhängig gemacht von empirischen Bedingungen. Damit werden zum einen die nicht-kognitiven, leiblich-sinnlichen und die intersubjektiven Ermöglichungsbedingungen des freien, autonomen Wollens ausgeblendet. Zum anderen wird durch begriffliche Festlegungen von vornherein ausgeschlossen, dass es sinnvoll und möglich, ja notwendig sein könnte, in modifizierter Form, aber gleichermaßen die Achtung der Autonomie oder des Willens auch gegenüber Personen zu fordern, die nicht über die Kompetenzen verfügen, also etwa gegenüber schwer dementen Menschen10 oder sogar gegenüber Toten11. Es wird die für ethische Prinzipien wesentliche Unbedingtheit und Universalität ihrer Geltung verkannt, die auch darin besteht, dass die Prinzipien für alle Menschen in jeder erdenklichen Lebenslage gleichermaßen gelten. Eben deshalb ist es zugleich notwendig, ihre praktische Bedeutung in Form konkreter Verpflichtungen situationsspezifisch zu konkretisieren. Um der Unbedingtheit und Universalität willen ist von individuellen oder partikularen Perspektiven sowie von besonderen Bedingungen oder Umständen zu abstrahieren; um der Anwendung willen ist ihre konkrete Bedeutung im Hinblick auf verschiedene Arten von Bedingungen und Situationen zu reflektieren. Beides – das Abstrahieren und Konkretisieren – ist gleichmaßen notwendig. Auch die bioethische Debatte über den Begriff der Person ist von den genannten Tendenzen geprägt. Den Versuch metaphysischer Theorien, die Würde des Menschen auf besondere Wesenseigenschaften des Menschen als animal rationale und Mitglied der Gattung homo sapiens zu gründen, hatte bereits Heidegger in seinem Brief über den Humanismus 1946, aber auch schon in Sein und Zeit als eine unzulässige Verdinglichung des Menschen beschrieben. Schon in der Theorie selbst und im Verständnis der Begriffe liegt demnach eine Missachtung eben der Wür10 | Vgl. ebd. 11 | Vgl. dies.: Person über den Tod hinaus? Zum moralischen Status der Toten, S. 143-178, in: A.M. Esser, D. Kersting, C.G.W. Schäfer (Hg.): Welchen Tod stirbt der Mensch? Philosophische Kontroversen zur Definition und Bedeutung des Todes, Frankfurt a.M./New York 2012.
Ethik als Kritik und als Praxis
de, um deren Verteidigung es der humanistischen Metaphysik eigentlich geht. Deren Ideen der Person, der Würde usw. werden durch Heideggers Kritik dieser Metaphysik nicht verworfen, sondern im Gegenteil in besonderer Weise ernst genommen: »Gegen den Humanismus wird gedacht, weil er die Humanitas des Menschen nicht hoch genug ansetzt.«12 Diese Humanitas hoch genug anzusetzen, bedeutet Heidegger zufolge gerade nicht, dass der Mensch sich selbst als von der Welt losgelöstes Subjekt der Erkenntnis und der uneingeschränkten Beherrschung des Seins begreift. Denn gerade dadurch werde der Mensch letztlich sich selbst vollständig zum Objekt und verliere so seine Würde.13 Es geht vielmehr darum, sich der Bedingtheit und Begrenztheit, der Endlichkeit des eigenen Seins und damit auch der Möglichkeiten und Grenzen des objektivierenden Erkennens und Beherrschens bewusst zu werden und sich dazu angemessen zu verhalten: nicht als Herr, sondern als »Hirt des Seins«14. Als Subjekt oder Person bleibt der Mensch jeder Objektivierbarkeit und Beherrschbarkeit oder Instrumentalisierbarkeit prinzipiell entzogen, in eben dieser negativen Einsicht der Selbstkritik gründet die Würde.15 Was Heidegger für metaphysische Konzeptionen der Person und der Würde zeigt, das gilt ebenso für in der Bioethik anzutreffende empiristische Konzeptionen. Die objektivistische Grundhaltung zeigt sich schon in der oft anzutreffenden Form der Fragestellung: Welche Eigenschaft muss eine Entität haben, um den Status der Person haben zu können, deren Würde zu achten ist? Dadurch kommt es zu einer Loslösung des Personbegriffs vom Begriff des Menschen, die auf einem fundamentalen Missverständnis dieses Begriffs wie philosophischer Grundbegriffe überhaupt als Klassifikationsbegriffe oder Sortale 16 beruht, die dazu dienen, etwas Bestimmtes 12 | M. Heidegger: Brief über den Humanismus, in: ders.: Wegmarken, Frankfurt a.M. 1967, S. 330. 13 | Vgl. ebd. 14 | Ebd., S. 331. 15 | Durch die konsequente Vermeidung dieser Ausdrücke (Subjekt, Person) und ihre Ersetzung durch die Begriffe des Daseins, der Existenz, der Jemeinigkeit als dem weder Vorhandenen noch Zuhandenen usw. versucht Heidegger nach meinem Verständnis, diese Einsicht in die Nicht-Objektivierbarkeit und Nicht-Instrumentalisierbarkeit zum Ausdruck zu bringen. 16 | Auch Peter F. Strawson macht nach meiner Einschätzung diesen Fehler, indem er Personen als eine besondere Art von Einzeldingen (individuals) von (bloß)
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in der Welt zu identifzieren und von anderem zu unterscheiden. Diese Begriffe sind stattdessen, so meine These, als Reflexionsbegriffe zu verstehen, mit denen wir uns reflektierend auf die Grundform der menschlichen Situation im Ganzen beziehen.17 Was folgt nun aus dieser Ethikkritik für ein mögliches positives Verständnis der Ethik, die dieser Kritik standhält?
II. E thik als kritische H ermeneutik und als allgemeine P r a xis 1. Reflexion statt Begründung Dass im Hinblick auf die Grundlagen der Moral auf ein Bemühen um deren theoretische Begründung zu verzichten ist, soll nicht heißen, dass wir uns um diese Grundlagen nicht philosophisch kümmern müssten. Wenn man an einem Begründen festhalten möchte, so kann es sich nur um ein negatives, vernunftkritisches Begründen handeln, das darin besteht, alle externen, rein theoretischen Begründungsversuche begründet zurückzuweisen. In diesem Sinne verstehe ich Kants Vernunftkritik. Wir verfügen über keinen externen reinen Beobachterstandpunkt außerhalb der Welt, von dem her die Welt als Ganzes zum Gegenstand der Erfahrung und damit der Erkenntnis werden kann oder von dem her die normativen Grundlagen menschlicher Praxis sich begründen ließen. Auch der philosophische Ethiker muss sich unhintergehbar als Teilnehmer einer gemeinsamen Praxis und Geschichte begreifen, dem es darum geht, mittels kritischer Reflexion auf die Bedingungen und Grenzen der Möglichkeiten dieser Praxis sich zusammen mit anderen um eine gemeinsame normative Orientierung des je eigenen Handelns zu bemühen. Kritisch-hermeneutische Reflexion statt Begründung bedeutet, Vertrautes und Selbstverständliches bewusst zu machen, zu klären und im Hinblick auf seine das Handeln leitende, orientierende Funktion kritisch zu reflektieren. Dies ist aus kantischer Sicht praktisch notwendig, sofern uns das Vertraute und Selbstverständliche oft zu wenig bewusst ist und zu wenig klar vor Augen steht, sodass wir dazu neigen, in praktischen materiellen Dingen unterscheidet. Vgl. Th. Rehbock: Personsein in Grenzsituationen, Paderborn 2005, S. 281f., S. 286f. 17 | Vgl. Th. Rehbock: Personsein in Grenzsituationen, Kap. IX.
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Fragen die Orientierung zu verlieren. Die Aufgabe der Philosophie bestünde nicht darin, die »gemeine Menschenvernunft« »etwas Neues zu lehren«, sondern darin, dass sie diese »nur, wie Sokrates tat, auf ihr eigenes Prinzip aufmerksam macht«18. So heißt es am Ende des ersten Abschnitts der Grundlegung. Der vorhergehende Satz beginnt mit: »So sind wir denn in der moralischen Erkenntnis der gemeinen Menschenvernunft bis zu ihrem Prinzip gelangt […]«. Diese allen gemeinsame Vernunft wird auch als Subjekt gedacht, das nicht (heteronom) durch andere aufgeklärt wird, sondern im Sinne der Selbsterkenntnis und Selbstkritik (autonom) sich selbst über sich selbst und die normativen Grundlagen des eigenen Handelns auf klärt. Philosophische Ethik ist, so verstanden, nicht eine Angelegenheit von Experten, sondern eine allgemeine Praxis und damit Aufgabe jedes Einzelnen. Grundbegriffe der Moral sind Kant zufolge »dem natürlichen gesunden Verstande« vertraut, sie »wohnen« ihm »bei«, sodass diese Begriffe nicht »gelehrt als vielmehr nur aufgeklärt«19 werden müssten, damit sie der kritischen Beurteilung herrschender Praxis dienen können. Demjenigen, der z.B. im Gesundheitswesen als Arzt, Ärztin oder in der Pflege tätig ist, kann es nicht gleichgültig sein, ob die institutionellen, beruflichen oder gesetzlichen Normen, deren Einhaltung von ihm erwartet wird, wirklich gute und gerechtfertigte Normen sind. Es muss sich um Normen handeln, mit denen er sich identifizieren, die er selbst als für sich verbindlich anerkennen kann. Für eine solche Klärung und Rechtfertigung bedarf es der Besinnung auf übergeordnete Prinzipien oder Maßstäbe, die gewöhnlich selbstverständlich das eigene Denken und Handeln leiten, die den sog. moralischen Standpunkt ausmachen und die Grundorientierung in Bezug auf das Leben im Ganzen bestimmen. Die Arbeit der Philosophie besteht darin, diese Grundorientierung mithilfe ihrer als Reflexionsbegriffe zu verstehenden Grundbegriffe zu klären und damit für eine allgemeine Praxis der Kritik herrschender Normen, Regeln, Strukturen oder Verhaltensweisen ein begriffliches Instrumentarium zu schaffen. Das ist aber nicht in der Weise zu verstehen, dass sich die Grundbegriffe ohne jeden Bezug zu solchen praktischen Problemlagen zunächst rein theoretisch klären (oder begründen) ließen, um sie dann in einem zweiten Schritt auf diese Problemlagen anzuwenden, im Sinne einer Art Arbeitsteilung zwischen theoretischer und angewandter Ethik. 18 | I. Kant: GMS, AA IV, 403f. 19 | Ebd.: 397.
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Die bereits genannten Vollzüge des Abstrahierens und Universalisierens mittels der Vernunft einerseits und des Konkretisierens und Spezifizierens mittels der Urteilskraft und der Einbildungskraft andererseits sind zwar zu unterscheiden und beide gleichermaßen notwendig; sie müssen aber sowohl innerhalb als auch außerhalb der akademischen Philosophie in einem noch höheren Maße ineinandergreifen, als es in der kantischen Moralphilosophie geschieht. So ist bspw. die herrschende medizinische Aufklärungspraxis kritisch darauf hin zu befragen, ob sie ihrem eigenen Anspruch gerecht wird, dem Patienten einen selbstbestimmten Umgang mit seiner Krankheit zu ermöglichen. Diese Überprüfung der Praxis darf man sich nicht so vorstellen, dass die Bedeutung der als Kriterien oder Maßstab verwendeten Begriffe bereits klar sei und man die Wirklichkeit nur noch mit ihnen vergleichen müsste. Es ist vielmehr so, dass der Maßstab selbst der Überprüfung bedarf. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit dem Missbrauch der Medizin im Nationalsozialismus und mit paternalistischer Bevormundung der Patienten durch Ärzte wurde im Prinzip der Autonomie eine Idee formuliert, wie es in der Praxis der Medizin besser laufen könnte und sollte. Nachdem in Orientierung an dieser Idee vor allem rechtliche Regelungen im Sinne des informed consent geschaffen wurden, ist nun zu fragen, ob die rechtlich regulierte Praxis, wie wir sie heute in der Medizin kennen, tatsächlich dieser Idee entspricht. Der Wust von zu unterschreibenden Aufklärungsbögen und von Aufklärungsgesprächen, die nur um der Befolgung der rechtlichen Regelungen willen stattfinden – ist das die Praxis, die wir im Sinne hatten? Der aufgeklärte, autonome Patient – gibt es ihn überhaupt? Ist vielleicht mit der Idee selbst etwas nicht in Ordnung? Es ist also kritisch zu fragen, was für ein Verständnis von Autonomie der üblichen Praxis und den medizinethischen Debatten zugrunde liegt und in welchen Hinsichten es möglicherweise unzureichend ist.20 Kritikbedürftig sind, wie bereits gezeigt, auch Versuche, die Reichweite des Autonomieprinzips einzuschränken auf 20 | Dieses Vorgehen der Begriffskritik halte ich für erheblich fruchtbarer als Versuche, die Orientierung an Freiheit und Autonomie z.B. zu relativieren und einzuschränken zugunsten einer größeren Orientierung an Ideen der Fürsorge und des Gemeinwohls. Ohne ein kritisch modifiziertes Verständnis von Freiheit und Autonomie, das das Festhalten an deren unbedingter und universaler Geltung ermöglicht, erzeugen solche Versuche in meinen Augen unweigerlich neue Formen paternalistischer Fremdbestimmung.
Ethik als Kritik und als Praxis
entscheidungsfähige Personen. Im Sinne einer situationsspezifischen Konkretisierung solcher Prinzipien besteht die Aufgabe der Philosophie vielmehr darin, die leiblich-sinnlichen und intersubjektiven Ermöglichungsbedingungen des freien, autonomen Wollens im Hinblick auf Situationen des Leidens, des Krankseins, des Sterbens usw. zu verdeutlichen. Angesichts dieser Bedingtheit wird klar, dass in solchen Situationen der Einschränkung oder des Verlustes kognitiver Fähigkeiten die Autonomie des Kranken nicht weniger oder gar nicht zu achten ist. Sie ist vielmehr im Gegenteil um so mehr zu achten durch »nicht-paternalistische Fürsorge«21. Gerade in Situationen der krankheitsbedingten Ferne, Unzugänglichkeit und Nicht-Verstehbarkeit des Anderen bedeutet Achtung der Person und ihrer Autonomie auch, ihn in seinem Anderssein und Fremdsein zu respektieren, ihn etwa auch unvernünftig und verrückt sein zu lassen, statt ihn zu einem Objekt allzu wohlmeinender und besserwissender Fürsorge zu machen. Eine wesentliche Dimension vernünftiger, autonomer Gestaltung menschlicher Praxis ist die Sprache. Sprache ist auch das Medium philosophisch-ethischer Reflexion. Vernunftkritik und so auch die hier verfochtene vernunftkritisch fundierte ethische Reflexion muss daher auch die Form der Sprachkritik annehmen. Die von Kant immer wieder ins Bewusstsein gehobene »Unbegreiflichkeit« dessen zu begreifen, was das Kernanliegen der (praktischen) Vernunft ist: die universale und unbedingte Gültigkeit praktischer Ideen wie der Freiheit, dieses Begreifen des Unbegreiflichen besteht aus sprachkritischer Sicht darin, dieses Unbegreifliche als das »Unbegriffliche« zu verstehen22, als das, was sich begrifflichen (definitorischen) Bestimmungen und Festlegungen des Verstandes bzw. der Sprache entzieht. Aus dieser Einsicht folgt die Notwendigkeit, dass Sprachkritik nicht als die einzige, aber doch als unverzichtbare Methode ethischer Reflexion zu verstehen und zu praktizieren ist. Was das bedeutet, möchte ich abschließend in Ansätzen skizzieren, und damit zugleich plausibel machen, dass ethische Reflexion
21 | Vgl. Th. Rehbock: Personsein in Grenzsituationen, Kap. X. 22 | Vgl. H. Blumenberg: Theorie der Unbegrifflichkeit, Frankfurt a.M. 2007. Diese kleine, aber sehr bedeutsame sprachliche Brücke, die eine noch weiter gehende Reflexion verdienen würde, verdanke ich Petra Gehring.
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das philosophische Denken insgesamt fordert und nicht auf eine Spezialdisziplin der Philosophie zu beschränken ist.23
2. Ethische Reflexion als Sprachkritik: Beispiel Medizin Um die Bedeutung von Sprachkritik als einer Methode philosophischen Denkens aufzuzeigen, ist es notwendig, Sprache nicht als Objekt wissenschaftlicher Forschung oder sprachphilosophischer Untersuchung zu verstehen, sondern als System und als Praxis, d.h. in zwei Bedeutungen oder Dimensionen, in denen die Wissenschaften und die Philosophie selbst auf Sprache angewiesen sind. Das ist uns so selbstverständlich, dass dieses vertraute Vorverständnis von Sprache gewöhnlich gar nicht zum Thema, sondern einfach vorausgesetzt wird. Zur Aufgabe der Philosophie aber gehört es, dieses Selbstverständliche bewusst zu machen und in seiner Bedeutung für das Erkennen und Gestalten der Wirklichkeit zu reflektieren. Sprache als System verstehe ich als grammatisch und begrifflich strukturiertes Medium des sinnvollen Gebrauchs sinnlicher Zeichen oder Ausdrücke in der Rede oder Kommunikation. So verstanden bedingt und ermöglicht, strukturiert und konstituiert Sprache nicht nur das gesamte menschliche Denken und Erkennen, sondern auch das sinnliche Wahrnehmen, Empfinden und Fühlen sowie das Verhalten und Handeln. Im Medium der Sprache erschließt sich uns die Wirklichkeit, im Medium der Sprache verändern und erzeugen wir auch Wirklichkeit. Wittgenstein bringt diese fundamentale, unhintergehbare Bedeutung der Sprache zum Ausdruck, indem er sagt: »Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.«24 Oder Heidegger: »Die Sprache ist das Haus des Seins.«25 Das bedeutet: Sprache ist keine unmittelbare Abbildung einer sprachunabhängigen Wirklichkeit. Wir verfügen über keinen externen Standpunkt außerhalb unserer sprachlich vermittelten Weltorientierung, von dem aus wir die Wahrheit sprachlicher Aussagen mit der Wirklichkeit vergleichen und die Bedeutungen sprachli23 | Die Konzeption der sog. Ethik-Studiengänge etwa für das Lehramtsstudium, in denen nicht mehr Philosophie bzw. das Philosophieren in seinem ganzen methodischen Spektrum des Denkens gelehrt und gelernt wird, halte ich aus diesem Grund für besonders verheerend, weil damit ein sehr irreführendes und auch abschreckendes Bild von Ethik vermittelt wird. 24 | L. Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, Frankfurt a.M. 1979, 5.6. 25 | M. Heidegger: Brief über den Humanismus, S. 313.
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cher Ausdrücke festlegen könnten. Gerade deshalb kann es auch nicht die eine – die Welt richtig abbildende – ideale Sprache geben, sondern nur eine Vielfalt möglicher Sprachen und damit eine Vielfalt möglicher Perspektiven, Hinsichten, Gesichtspunkte, in denen uns Dinge, Situationen, Menschen zugänglich, verstehbar und erkennbar werden. Die Aufgabe der Sprachkritik besteht darin, die internen Bedingungen und Grenzen jeweiliger Sprachen in Bezug auf typische Situationen des Lebens aufzuzeigen. Solche Sprachkritik ist nicht nur in theoretischer Hinsicht für das Streben nach Wahrheit, sondern auch in praktischer Hinsicht für die Ermöglichung guten und richtigen Handelns notwendig. Diese praktisch-ethische Bedeutung der Sprachkritik möchte ich abschließend am Beispiel der Medizin verdeutlichen. Die Ausbildung einer eigenen Sprache, Terminologie und Methodik unter dem Einfluss der Naturwissenschaften hat der Medizin eine neue Wahrnehmung und Erkenntnis des menschlichen Körpers, und damit neue technische Möglichkeiten eröffnet, handelnd in den menschlichen Organismus einzugreifen. Sprache bewirkt so eine Erweiterung menschlicher Handlungsmacht und damit eine Veränderung der Welt. Die an wissenschaftliche Fachsprachen zu stellenden Forderungen logisch-mathematischer Exaktheit der Begriffe und Methoden sowie der objektiven Überprüfbarkeit ihrer Aussagen haben aber auch ihren Preis. Dieser Preis besteht in einer erheblichen Eingrenzung des – mit Foucault gesprochen – medizinischen Blicks auf Schmerz, Krankheit, Leiden und Sterben, sowie auf den kranken, leidenden Menschen in seiner individuellen Situation. Edmund Husserl spricht sehr treffend von den habituellen Scheuklappen des Naturwissenschaftlers26. Oder mit einer Unterscheidung Heideggers gesprochen: Mithilfe bestimmter Sprachsysteme entdecken wir nicht nur neue Tatsachen und Aspekte der Welt, sie verdecken zugleich auch vieles, was sich mit ihren begrifflichen Mitteln nicht ausdrücken lässt. Zu dem, was verdeckt und ausgeblendet wird, gehören im Fall der Medizin, wie der Wissenschaften überhaupt, insbesondere die ethischen Fragen und Probleme, die ihr eigenes Handeln betreffen. Diese Verborgenheit des Ethischen prägt alle in medizinischer Fachsprache gehaltenen Gespräche, Äußerungen oder Texte, wie etwa Arztbriefe, Leitlinien, Studienprotokolle, Aufklärungsbögen usw. Sie wird in besonderer Weise erfahrbar, wenn man es in ethischen Fallbesprechungen, wie sie in der Medizin- und Pflegeethik 26 | E. Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie 2. Buch, Den Haag 1952, § 49, S. 183.
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beliebt sind, mit von medizinischer Sprache dominierten Fallberichten zu tun hat. D.h. nicht, dass das Ethische in diesen Darstellungen nicht präsent wäre, es ist sozusagen auf verborgene und daher auf oft umso problematischere, kritikbedürftige Weise präsent, etwa in Form einer normativen Haltung hinsichtlich der Behandlungsmethoden, die als besonders bewährt, evidenzbasiert, durch Studien abgesichert gelten und durch Leitlinien empfohlen werden. Die vermeintlich rein wertneutrale Darstellung ist tatsächlich in hohem Maße wertend und normativ. Dass das aus objektivierender, schematisierender medizinischer Sicht Beste auch das für den Patienten in seiner individuellen Situation Beste ist, wird ganz selbstverständlich vorausgesetzt. Es ist die Macht und Dominanz medizinischer Sprache und Wahrnehmung, die diesen Fehlschluss zur Folge hat und daher ethisch orientierter Sprachkritik bedarf. Damit komme ich zum Verständnis der Sprache als Praxis. Sprache als Praxis ist die Sprache als Rede, als Sprechen, als Kommunikation, und damit die Sprache als Handeln in Handlungskontexten, mit denen sie aufs engste verwoben ist. Da wir durch Sprache Wirklichkeit strukturieren, verändern und aktiv gestalten, sind wir für unsere Sprache ebenso verantwortlich wie für unser übriges Handeln. Welche Bedeutung haben die von uns verwendeten sprachlichen Ausdrücke? Welche Verbindlichkeiten gehen wir gegenüber anderen mit ihrer Verwendung ein? Was bedeutet es z.B., wenn einem Patienten gesagt wird, die vorgeschlagenen medizinischen Maßnahmen seien kurativ, sie könnten ihn heilen? Welche damit verbundenen Erwartungen können erfüllt werden, wenn die Maßnahmen langwierig sind und selbst krank machen durch in ihrer Bedeutung oft unterschätzte Nebenwirkungen? Die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke erweist sich, dem späten Wittgenstein zufolge, in ihrem sinnvollen, praktischen Gebrauch, einschließlich aller sich daraus ergebenden praktischen Folgerungen. Das gilt auch für die Bedeutung der Ausdrücke bzw. Begriffe einer Fach- oder Sondersprache, die sich aus der Alltagssprache entwickelt hat und auf diese zurückwirkt. Auch die Bedeutung medizinischer Ausdrücke bzw. Begriffe bestimmter Krankheiten, Diagnosen und Therapien lässt sich nicht intern, mit Mitteln medizinischer Fachsprache, verstehen und erläutern, sondern nur im Kontext typischer Situationen der Lebenspraxis, in denen wir krank werden, Hilfe benötigen und uns damit gegebenenfalls an die Medizin wenden. So wie diese Lebenspraxis erheblich umfassender ist als die Sonderpraxis naturwissenschaftlicher Medizin, so ist auch die der Lebenspraxis angepasste Alltagssprache in ihren Sinn- und Ausdrucksmöglichkeiten flexibler und reichhaltiger als die medizinische
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Fachsprache. Was aus logisch-mathematisch-wissenschaftlicher Sicht als ein Mangel an Exaktheit erscheint, ihre semantische Unbestimmheit und Vieldeutigkeit, ist aus lebenspraktischer und ethischer Sicht – aufgrund des erheblich größeren Spektrums vielfältiger und flexibler Ausdrucksmöglichkeiten – ihr besonderer Vorteil, ja eine notwendige Voraussetzung sprachlicher Verständigung. Ethische Fragen und Probleme der Medizin, die mit Schmerz, Krankheit, Leiden oder Sterben als Lebenssituationen zu tun haben, sind nur im Medium der allgemeinen, uns allen gemeinsamen Alltagssprache artikulierbar und diskutierbar. Die Alltagssprache ist Hauptquelle und primäres Medium ethischer Analyse und Reflexion. Das bedeutet natürlich nicht, dass die alltagssprachliche Rede sozusagen ethisch unfehlbar wäre. Im Gegenteil! Sie kann in hohem Maße kritikbedürftig sein, z.B. auch, sofern sie durch Wissenschaftssprache geprägt und infiltriert ist, ohne dass sich die Sprecher dessen bewusst sind. Wissenschaftliche Erklärungen eines Phänomens treten dann unbemerkt an die Stelle lebensweltlicher Orientierungen, womit deren grundlegende, auch ethische Bedeutung für die medizinische Praxis verkannt wird. Das ist z.B. der Fall, wenn Ärzte oder Pflegende über einen Patienten sagen, er verweigere die Nahrungsaufnahme, statt: er wolle nicht essen. Der Begriff der Nahrungsaufnahme beschreibt das Essen als einen anonymen, quasi-technischen Vorgang, der Begriff des Essens dagegen beschreibt ein mittels der eigenen Hände vollzogenes, selbstbestimmtes Handeln einer Person. Der Begriff des Verweigerns impliziert die Verletzung oder Missachtung eines Sollens, einer normativen Erwartung vonseiten des Redners, der Begriff des Nicht-Wollens die prinzipielle Anerkennung der Person des Patienten als Subjekt eines Wollens. Aus objektiver, medizinischer Sicht scheint es rational oder vernünftig zu sein, Nahrung zu sich zu nehmen, wenn physiologische Mangelerscheinungen feststellbar sind. Doch wer nicht essen will, hat möglicherweise gute Gründe dafür, und zwar auch dann, wenn er oder sie diese Gründe nicht sprachlich äußern kann und wenn diese Gründe für andere nicht verstehbar sind, wie etwa im Fall der Demenz. Im kommunikativen Umgang mit dementen Menschen bedarf es nicht nur der Alltagssprache anstelle der medizinischen Sprache, sondern außerdem der leiblich vermittelten Kommunikation, um zu verstehen, was sie wollen.27
27 | Vgl. Th. Rehbock: Wie kann ich wissen, was du willst?
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3. Ausblick: »Der kritische Weg ist allein noch offen.« Mit dem Verständnis der Ethik als Kritik und als Praxis folge ich also dem kantischen Ansatz einer kritisch-hermeneutischen Reflexion der moralischen Theorie und Praxis mittels einer Klärung und Explikation von Grundbegriffen (Prinzipien) der Moral. Diese sollen nicht als Instrumente, Verfahren, Kriterien zwecks Handlungsbewertung, Entscheidungsfindung oder Problem- und Konfliktlösung verstanden werden, sondern als Grundbegriffe einer philosophischen Erläuterungs- und Reflexionssprache, mit deren Hilfe höchste (unbedingt und universal gültige) normative Orientierungsgesichtspunkte für die Beurteilung und Kritik menschlichen Handelns bzw. der ihm zugrunde liegenden und es leitenden Normen kritisch zu reflektieren sind. Zwar folge ich nicht der Abstinenz gegenüber der Ethik, wie sie bei Wittgenstein, Adorno oder Heidegger zu finden ist. Ihre radikale Kritik der Ethik sensibilisiert aber für die Notwendigkeit einer Erweiterung, kritischen Modifizierung und Konkretisierung des kantischen Ansatzes durch Methoden der Sprach- und Begriffskritik sowie der phänomenologischen, existenzphilosophischen, sozialphilosophischen oder philosophisch-anthropologischen Analyse. Am Kernanliegen der kantischen Philosophie, der »Selbstkritik der Vernunft«, aber ist festzuhalten. Sie ist, wie Adorno sagt, »deren eigenste Moral. Ihr Gegenteil […] eines über sich selbst verfügenden Denkens ist nichts anderes als die Abschaffung des Subjekts.«28
28 | Th.W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt a.M. 1951, § 82.
Ethik im Prozess historischer Revision: Sozialphilosophie Zur Frage »Ethik — wozu und wie weiter?« Burkhard Liebsch Er wollte niemanden allzu gut kennenlernen, denn er fürchtete, etwas zu finden, das ihn vernichten könnte. C arsten J ensen1
1. Z u einem e thischen D enken , das sich nicht selbst genügt Ethik begegnet uns heute in verschiedenen − beratenden, kritisch-rekonstruktiven, interpretativen und anwendungsbezogenen − Funktionen vielerorts: verknüpft mit diversen politischen, technischen, rechtlichen, medizinischen, biologischen u.a. Problemen – wobei durchaus zweifelhaft ist, ob es sich in jedem Falle überhaupt gleichsinnig um Ethik handelt. Womöglich haben wir es hier mit einem quasi botanischen Sammelbegriff für »Ethiken« zu tun, die miteinander wenig gemein haben. In dieser unübersichtlichen Lage kann das Thema der Darmstädter Ringvorlesung Ethik − wozu und wie weiter?, in deren Kontext die folgenden Überlegungen entwickelt wurden, nicht auf die Aufforderung hinauslaufen, zu diversen, gegebenenfalls nur dem Namen nach miteinander verwandten »Ethiken« eine weitere Ethik hinzuzufügen oder sich in der einen oder anderen Weise an einer Präzisierung spezieller ethischer Fragen und Antworten zu versuchen. Vielmehr konfrontiert es uns mit der Aufforderung, »Ethik« selbst zu bedenken, das also, was unter diesem Ti1 | C. Jensen: Wir Ertrunkenen, München 2010, S. 744.
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tel (schriftlich, mündlich, ggf. in virtueller Vermittlung) getan wird, und dies in eine Beschreibung der gegenwärtigen, geschichtlichen Lage dieser eigentümlichen Praxis einzubetten. Statt nun selbst anzugeben bzw. zu definieren, was unter Ethik zu verstehen ist − definieren kann man laut Nietzsches bekanntem Diktum ja ohnehin nur, was keine Geschichte hat – und genau das steht hier im Hinblick auf »Ethik« infrage! −, könnte man es sich leicht machen und sich auf eine Beobachterposition zurückziehen, um lediglich zu beschreiben, wozu man sich mit ethischen Fragen befasst und wohin das mehr oder weniger absehbar führen wird. Doch der Titel dieser Vorlesungsreihe würde nicht so lauten, wie er vorgegeben worden ist, wenn diejenigen, die ihn formuliert haben, nicht unterstellten, dass das Wozu und das (offenbar temporal akzentuierte) Wie weiter? rückhaltlos infrage steht. Wie aber, das ist sicher nicht in einem schlichten Sinne beobachtbar oder extrapolierbar, sondern nur so zu beurteilen, dass man selbst am Geschehen ethischer Auseinandersetzung um den Sinn ethischer Praxis teilnimmt, ob als interessierter Laie, als mündiger Bürger und streitbarer Zeitgenosse, als fremdes Subjekt einer anonymen multitude, wie sie von Baruch de Spinoza über Michael Hardt und Antonio Negri beschrieben worden ist. Diese Praxis hat, wenn wir der ältesten und bis hin zu Paolo Virno zugleich beständigsten Überlieferung ethischen Denkens folgen, in die sich auch neueste, häufig als bio-politisch apostrophierte Theorien des Lebens noch einschreiben − sei es auch nur, um sich rigoros von ihr abzuheben −, ihren Ort in den sozialen und politischen Lebensformen (bioi), in denen das menschliche Leben als im transitiven Sinne »gelebtes« Gestalt annimmt. Das geschieht indessen nach allem, was wir wissen, nicht so, dass dabei dem, was summarisch Ethik genannt wird, eine eindeutige Aufgabe zukäme. Wäre es so, dann müssten wir uns heute nicht mühsam darüber verständigen, wofür dieser Begriff eigentlich steht oder stehen sollte. Dabei kann es freilich nicht bloß darum gehen, wie ein mit Argumenten gepanzerter Polemiker in der Rolle des »Experten« eine mehr oder weniger ausgefeilte ethische Theorie darzustellen, um über andere (Theorien und Theoretiker) zu triumphieren, wenn es denn stimmt − wovon ich ausgehe −, dass Ethik überhaupt nur deshalb Fragen nach ihrem Wozu und Wohin aufwirft, weil sie nicht nach dem Vorbild eines l’art pour l’art sich selbst oder denen genügt, die sie betreiben und sich dabei selbst als »Vertreter« dieser oder jener Ethik (1-n…) in Szene setzen. Ihr Sich-selbst-nicht-Ge-
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nügen kommt nicht erst in jenen Fragen 2 zum Vorschein. Es wohnt der Ethik vielmehr von Anfang an inne, wenn sie überhaupt erst als Antwort auf Herausforderungen auf den Plan tritt, über die sie nicht verfügt. Um was für Herausforderungen aber handelt es sich? Menschliches Leben lebt sich nicht bloß von allein. Es wird darüber hinaus gelebt. Deshalb wohnt dem Begriff des Lebens bereits in den Anfängen ethischen Denkens eine transitiv-intransitive Zweideutigkeit inne.3 Wir sind demnach am Leben und müssen es so oder so leben, d.h. führen, steuern, regieren − sei es umwillen eines nur leidlich erträglichen, sei es umwillen eines besseren, noch besseren oder besten Lebens.4 Und genau in dieser Zweideutigkeit und Zwiespältigkeit keimt eine Reihe von Fragen auf, die man in einem sehr weiten Sinne als »ethische« verstehen kann (und schon in der Antike so verstanden hat). Fragen wie diese: Wie kann/soll ich, können/sollen wir mein/unser Leben leben? Womit sollen wir es zubringen, womit uns beschäftigen, und wie, mit wem, mit wem nicht? Und worumwillen, wenn nicht bloß zum Zweck der Selbsterhaltung und der Verteidigung gegen äußere Gewalt? Diese altmodisch anmutende Frage nach dem Worumwillen verweist auf den Begriff des telos, ohne den man sich in der griechischen Antike schwerlich menschliches, speziell politisches Leben vorstellen konnte; und zwar so wenig, dass man ihm das telos als von Anfang an umwillen des Guten oder des Gerechten Innewohnendes zuschrieb. Daraus ergab sich, was man später als Archäologie des Lebens bezeichnet hat, die sich in dessen Teleologie 2 | Das »Wie weiter?« und das »Wohin?« meinen jeweils nicht genau das Gleiche. Letzteres unterstellt eine Ausrichtung auf ein vorgegebenes Ziel, auf einen Zweck oder auf eine neu zu justierende Orientierung, wohingegen die erste Frage mit der Negativität einer Selbstkorrektur auskommt, in der sich aus einem vorliegenden Ethikverständnis heraus erst im Zuge einer kritischen Revision eine solche Orientierung bilden könnte. Nur in diesem bescheideneren Sinne nehme ich hier die Frage nach dem »Wie weiter?« auf. 3 | Vgl. Aristoteles: Politik, Drittes Buch, 1278b − 1279a. M. Heidegger: Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Einführung in die phänomenologische Forschung, Frankfurt a.M. 1975, S. 82. 4 | So setzt v.a. die aristotelische Politik (1252bff.) an, der viele hinsichtlich der Bestimmung des Besten als des Guten, das angeblich in der Natur sprechender Lebewesen schon angelegt ist und insofern gar nicht zur Wahl stehen kann, heute nicht mehr folgen mögen.
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entfaltet, um das Leben zur Realisierung desjenigen Sinnes zu führen, den es von Anfang an ihn sich trägt.5 Aber das, so glaubte man, zeigt sich nicht wie von allein. Deshalb bedürfe das Leben in seiner archäologisch-teleologischen Verfasstheit einer ethischen Explikation, die sich im Grunde darauf schien beschränken zu können, explizit zu machen, was im Sinn menschlichen, speziell politischen Lebens ohnehin schon liegt (immer schon lag und immer liegen wird). So gesehen ist philosophische Ethik hier wirklich primär eine Form der theoria, die einer Erläuterung Gadamers zufolge »sehen lässt, was ist«6; und zwar so, dass dabei das Problem einer Hermeneutik des Lebens, die herausarbeitet, inwiefern es überhaupt als Leben zu interpretieren ist, noch nicht eigens auftritt. Ich würde nicht wagen, diese bekannten Zusammenhänge hier in Erinnerung zu rufen, wenn wir heute nicht vor der Situation stehen würden, dass alles, was einem solchen Ethikverständnis zugrunde lag, nicht mehr zu gelten scheint oder doch zumindest nicht mehr vorauszusetzen ist. Das, meine ich, sehen auch diejenigen, die wie Gadamer, MacIntyre oder sog. Neo-Aristoteliker im Rückgriff auf Wittgensteins Konzept der Lebensform, im Rekurs auf Hegels Begriff der Sittlichkeit oder auf den Begriff des ethos ein antikes Verständnis von Ethik (freilich in mehr oder weniger modifizierter Form) zu erneuern versucht haben.7 Ich gehe jedoch einen Schritt weiter, indem ich genauer eine in der antiken Ethik definitiv nicht anzutreffende (und in allen ihren Reaktualisierungen gewissermaßen unterbelichtete oder gar ganz unterschlagene) Infragestellung jeglicher Ethik näher betrachte, die mir in ihrer nicht mehr zu bestreitenden Historisierung zu liegen scheint.
5 | Vgl. P. Ricœur: Die Interpretation, Frankfurt a.M. 1974. 6 | H.-G. Gadamer: Lob der Theorie. Reden und Aufsätze, Frankfurt a.M. 1983, S. 43. 7 | Vgl. H. Schnädelbach: »Was ist Neo-Aristotelismus?«, in: W. Kuhlmann (Hg.): Moralität und Sittlichkeit. Das Problem Hegels und die Diskursethik, Frankfurt a.M. 1986, S. 38-63.
Ethik im Prozess historischer Revision: Sozialphilosophie
2. H istorisierte E thik Was bedeutet »Historisierung«? Damit ist nicht die Selbstverständlichkeit gemeint, dass man bspw. im Sinne MacIntyres eine »Geschichte der Ethik« schreiben kann, die ethisches Leben und Denken, ethische Lebensund Denkformen, »in der Geschichte« situiert und untersucht 8, wie sie womöglich auseinander hervorgehen in mehr oder weniger komplizierten Prozessen der Filiation, der Beerbung, der Fortschreibung, aber auch der Verwerfung − sei es im Zuge einer eher behutsamen Reinterpretation, sei es in einem revolutionären Prozess bestimmter Negation des Falschen. (Ob sich in diesem Sinne eine epistemologische Geschichte der Ethik als Geschichte ethischer Erkenntnis, d.h. auch: durch Erkenntnis überwundener Irrtümer schreiben ließe, lasse ich dahingestellt.9) Vielmehr meine ich eine Geschichtlichkeit der Ethik bzw. des Ethischen selbst, die sie bzw. es rückhaltlos der Geschichte aussetzt, sie nur in diesem ihrem Ausgesetztsein zu sich kommen lässt und sie darüber hinaus immer wieder dazu zwingt, sich einer Geschichtlichkeit zu überantworten, deren sie nicht mächtig ist. Und zwar so wenig, dass sie durch geschichtliche Erfahrung ihrerseits gewissermaßen bis auf die Knochen entblößt werden kann, sodass sie bzw. der von ihr inspirierte Mensch sich von neuem (und rückhaltlos) auf die Frage zurückgeworfen findet, ob, wie und in welchem Sinne menschliches Leben mit Anderen (oder auch gegen sie) zu leben bzw. lebbar sein soll. In diesem Sinne hat vor allem kollektive Gewalt immer wieder das ethische Denken herausgefordert. Allerdings hat sie nicht immer zu den gleichen Schlussfolgerungen geführt. So kommt Thukydides in seinem Bericht über den Peloponnesischen Krieg, wo er das Blutbad von Kerkyra im Abschnitt über die »Pathologie des Krieges« kommentiert, zu dem Schluss, es sei viel Schreckliches über die Stadt hereingebrochen − »wie es nun einmal ist und immer sein wird, solange das Wesen der Menschen gleich bleibt«.10 Demnach konnte man, eingedenk dieses menschlichen We8 | A. MacIntyre: Geschichte der Ethik im Überblick. Vom Zeitalter Homers bis zum 20. Jahrhundert, Weinheim 1995. 9 | Ich verwende den Begriff der epistemologischen Geschichte hier im Sinne G. Canguilhems: Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie, Frankfurt a.M. 1979. 10 | Thukydides: Der Peloponnesische Krieg, Stuttgart 1990, S. 232ff.; H. König: Politik und Gedächtnis, Weilerswist 2008, S. 340f. Vgl. M. Sahlins: »Hierarchy, Equality, and the Sublimation of Anarchy. The Western Illusion of Human Nature«,
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sens und von solchen Ereignissen belehrt, immer schon wissen, was im schlimmsten Konflikt bevorstand, den gerade der eskalierte Bürgerkrieg herauf beschwört, indem er das solidarische Ethos der politisch miteinander Befreundeten auflöst.11 Die schlimmste Gewalt und das Wesen der auf ihr Zusammenleben angewiesenen Menschen wären demnach gleichursprünglich; und sie hätten eigentlich keine Geschichte.12 Was so genannt wird, hätte nur die variablen Erscheinungsformen menschlicher Gewalt im Laufe der Zeit aufzuzeichnen und davon für die Späteren Bericht zu erstatten. So gesehen waren die Bürger mehr noch als die Fremden, die ihnen politisch gleichgültig waren, immer schon »zum Besten und zum Schlimmsten versammelt«.13 Zu dem gleichen Schluss kommt im Grunde der Thukydides-Übersetzer Thomas Hobbes im Leviathan, der wohl der erste Philosoph ist, für den die potenziell tödliche Gewalt, die Menschen einander antun können, als vorrangige Maßgabe eines sozialtheoretischen Denkens fungiert. Man kann so weit gehen, in Hobbes tatsächlich The Tanner Lectures on Human Values, Michigan, 4.11.2005; http://de.scribd. com/doc/132722394/Sahlins-The-Western-Illusion-of-Human-Nature, gesehen am 09.09.2014. 11 | H.-G. Gadamer: »Ethos und Ethik (MacIntyre u.a.)«, in: ders.: Neuere Philosophie I. Hegel · Husserl · Heidegger, Tübingen 1987, S. 350-374. Für Gadamer steht fest, dass es ein solches Ethos nur im Horizont der Polis geben kann (S. 354). 12 | Genau das sagt H. Plessner mit Blick auf diverse Erscheinungen von Unmenschlichkeit: Sie sei »an keine Epoche gebunden und an keine geschichtliche Größe, sondern eine mit dem Menschen gegebene Möglichkeit, sich und seinesgleichen zu negieren« (H. Plessner: Mit anderen Augen. Aspekte einer philosophischen Anthropologie, Stuttgart 1982, S. 205; vgl. Eugen Fink: Traktat über die Gewalt des Menschen, Frankfurt a.M. 1974, S. 195). Historisch zu entfalten wäre demnach nur noch, in welchen Formen eine derartige »Negation« sich manifestiert. Etwa in Formen prinzipienorientierten Handelns, das mit »gnadenloser« Konsequenz vollstreckt wird. 13 | Eine Formulierung, die wir noch bei Derrida antreffen, der sich allerdings nicht mit historischer Gewaltforschung auseinandergesetzt hat. J. Derrida: Politik der Freundschaft, Frankfurt a.M. 2002, S. 489, S. 492. Vgl. B.H.F. Taureck: »Gewalt im Modus der Feindschaft. Eine Überlegung zu einer kritisch-genealogischen Geschichte der Feindschaft im antiken und nachantiken Europa«, in: B. Liebsch, D. Mensink (Hg.): Gewalt Verstehen, Berlin 2003, S. 287-314. B. Liebsch: Menschliche Sensibilität. Inspiration und Überforderung, Weilerswist 2008, Kap. VII, 6.
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den ersten Sozialphilosophen überhaupt zu sehen, insoweit er »das Soziale« (im Lichte der Gewalt) systematisch ohne jegliche archäologisch-teleologische Voraussetzung denkt.14 Hobbes weiß nichts vom Guten oder Gerechten als einem in der menschlichen Natur angelegten Worumwillen. Im Gegenteil denkt er das Soziale, das also, was Menschen aufeinander verweist, was sie als aufeinander angewiesen und füreinander bedrohlich erscheinen lässt, rückhaltlos von einer radikalen Entsicherung ihrer sozialen Verhältnisse her. Aber diese Entsicherung begriff er nicht ihrerseits als eine tief greifend geschichtliche.15 Nach Hobbes kann Ethik so gesehen nur noch im Zeichen einer radikalen Entsicherung des Sozialen plausibel und glaubwürdig sein, der die moderne Sozialphilosophie ausdrücklich Rechnung zu tragen versucht. Ethik und Sozialphilosophie sind demnach nicht einfach nebeneinander zu stellen. Vielmehr hätte eine zeitgemäße Sozialphilosophie in der hier skizzierten Perspektive all jene an die − historische und geschichtlich ausgeprägte − Existenz von Menschen gebundenen Verhältnisse zu beschreiben, in denen überhaupt ethisches Verhalten im Sinne der Herausforderung möglich ist, ein wirklich lebbares Leben zu gestalten. Eine solche Zuordnung von Ethik und Sozialphilosophie ist allerdings weder der Begriffs- und Ideengeschichte noch gar der Etymologie einfach zu entnehmen. Und sie führt zu einer Verflechtung von Aufgabenstellungen: Zuerst müsste es (sozialphilosophisch) darum gehen, was sich sozial zeigt; wenn nicht ohne weiteres von sich aus, dann doch in einer interpretativen Artikulation und Darstellung, die die fraglichen sozialen Phänomene in ihren geschichtlichen und kulturellen Kontexten aufzugreifen hätte − bis hin zur Wissenschaftsgeschichte, die erst im 19. Jahrhundert die höchst umstrittene sog. »soziale Frage« aufgreift und das Problem einer Vergesellschaftung (soziologisch) zum Thema macht, das ebenfalls erst in diesem Jahrhundert terminologisch auf den 14 | Vgl. A. Honneth: Kampf um Anerkennung, Frankfurt a.M. 1994, S. 13, im Anschluss an Habermas’ Theorie und Praxis (1963), wo Hobbes bereits zum Inaugurator moderner Sozialphilosophie erhoben worden ist. 15 | Und darüber, was das heißt, das Soziale zu historisieren, entbrennt bis heute Streit. Man denke nur an J. Baudrillards Diagnose der »Implosion des Sozialen« oder an Theorien der Gesellschaft oder der sog. multitude, die gar nicht mehr aus Menschen bestehen soll; vgl. B. Liebsch: »Zur Rekonfiguration der Sozialphilosophie. Ontologie − Phänomenologie − Kritik«, in: Philosophische Rundschau 60, Heft 2 (2013), S. 91-129.
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Begriff gebracht wird; und zwar unter dem Eindruck der durch die realen sozialen Verhältnisse verschärften Erfahrung, dass jeder ggf. aus jeder sozialen Ordnung herausfallen kann. So werden Erfahrungen der Vereinzelung, der Marginalität, der Verlassenheit, des Exils, der Fremdheit zu maßgeblichen Katalysatoren eines sozialphilosophischen Denkens, das nun seinerseits die Ontogenese und die Gattungsgeschichte nachträglich im Lichte dieser Erfahrungen befragt. (Ohne diese Erfahrungen zu teilen, ist keine Sozialphilosophie möglich. Was unter diesem Titel auftritt, aber von diesen Erfahrungen keine Spur verrät, ist gewissermaßen falsch etikettiert.) So steht erst am vorläufigen Ende dieses Revisionsprozesses der Begriff eines sozial entblößten und schutzlosen Anderen in seinem radikalen Angewiesensein auf ein Leben mit und unter Anderen, die sich im Grunde niemals auf eine schlicht vorgegebene Ordnung stützen konnten, sondern jede menschliche Lebensform, die ihren Namen verdient, erst aus eigener Kraft einrichten mussten. So gesehen sind die radikalen Probleme der Sozialphilosophie erst nachträglich, durch die historisch bedingte Erfahrung weitestgehender, gewaltsamer Entsicherung aller Ordnungen des Sozialen zum Vorschein gekommen.16 Von Voltaire, der den Begriff philosophie de l’histoire geprägt hat, über Kants Begriff des Antagonismus und Hegels »ratloseste Trauer« angesichts jener »Schlachtbank«, die man Geschichte nennt17, bis hin schließlich zu jenen, die wie Levinas Hegels geschichtsphilosophische Rationalisierung all der Opfer, die angeblich einem geistigen »Endzweck« gebracht worden sind, unter dem Eindruck des Ersten und Zweiten Weltkriegs abgelehnt haben, hat sich nun aber immer mehr die Einsicht durchgesetzt, dass die Gewalt nicht nur »eine Geschichte hat«, wie man sagt, sondern auch »Geschichte macht«. Sie kommt nicht einfach nur in einer Reihe von (sich mehr oder weniger wiederholenden) Varianten in der Geschichte vor, sondern affiziert die Ge16 | Das erklärt, wie es zur immer noch anhaltenden Karriere der Frage nach dem »Anderen« kommen konnte, deren Vorläufer man nun freilich in einer weit zurückreichenden Überlieferung wiedererkennt. Das zeigt die Tradition der via negativa besonders deutlich. Vgl. K. Löwith: »Existenzphilosophie«, in: ders.: Sämtliche Schriften, Bd. 8, Stuttgart 1984, S. 1-18. E. Fink: Traktat, S. 213. D. Westerkamp: Via negativa. Sprache und Methode der negativen Theologie, München 2006, S. 224. 17 | G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, Bd. 1. Die Vernunft in der Geschichte, Hamburg 1994, S. 80.
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schichtlichkeit der Geschichte selbst. Im 20. Jahrhundert hat sie schließlich Formen angenommen, die heute niemand mehr im Sinne der Finalität eines Geistes rechtfertigen möchte, der sich wie ein Phönix aus der Asche jeglichen Untergangs sogar verjüngt und geläutert sollte erheben können, wenn wir Hegel Glauben schenken. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzt sich von Maurice Merleau-Ponty über Paul Ricœur, Emmanuel Levinas, Jan Patočka, Theodor W. Adorno und Maurice Blanchot bis hin zu Alain Finkielkraut, Enzo Traverso, Yves Ternon u.a.18 die Einsicht durch, dass (a) kollektive Gewalt in unerhört neuen Formen zu Tage getreten ist, die man nicht einfach einer unveränderlichen menschlichen Natur zuschreiben kann; insofern sie (b) in Verbindung mit spezifisch modernen Technologien der Macht und der Staatlichkeit (c) radikale Zerstörungspotenziale gezeitigt hat, die noch weit über einen Bürgerkrieg (wie im antiken Kerkyra oder im England des 17. Jahrhunderts) und über einen klassischen Krieg (wie ihn Kant und Hegel vor Augen hatten) hinausgehen. Dafür prägte Maurice Blanchot den eigentümlichen Begriff des Desasters, den man laut Levinas ganz im etymologischen Sinne des Wortes verstehen sollte. Er besagt dann: In der Welt nicht unter den Sternen sein.19 D.h. jeglicher Ordnung entzogen zu sein, die Kant im Beschluss der Kritik der praktischen Vernunft als höchsten Grund seiner Ehrfurcht beschrieb. Der bestirnte Himmel über uns und das moralische Gesetz in uns sollten demzufolge eine unverbrüchliche, auch extremster menschlicher Gewalt standhaltende Ordnung repräsentieren, deren moralische Verbindlichkeit in der Stimme des Gewissens zum Ausdruck kommen sollte, die man bekanntlich Kant zufolge nur überhören, aber niemals ganz und gar nicht hören kann. Desaströse Gewalt schlägt uns diese Sicherheit aus der Hand. Sie führt uns im Gegensatz zu Taten in einer Welt, zu der der Krieg gehört, die Möglichkeit von Untaten außerhalb jeglicher menschlichen Welt vor Augen.20 Dieser Begriff meint hier nicht die Erde − die man mit Begriffen wie terra, orbis terrarum, kosmos, globus als Boden oder Raum menschlichen Lebens auf18 | Ausführlich dazu B. Liebsch: Verletztes Leben. Studien zur Affirmation von Schmerz und Gewalt im gegenwärtigen Denken, Zwischen Hegel, Nietzsche, Bataille, Blanchot, Levinas, Ricœur und Butler, Zug 2014, Kap. V. 19 | M. Blanchot: Die Schrift des Desasters, München 2005. E. Levinas: Gott, der Tod und die Zeit, Wien 1996, S. 155. 20 | A. Finkielkraut: Die vergebliche Erinnerung, Berlin 1989, S. 36f.
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gefasst hat −, sondern die Form eines auf Dauer angelegten, verlässlichen Zusammenlebens. In diesem Sinne stoßen wir von den Anfängen des sog. Kosmopolitismus über die spanische Scholastik mit ihrer Konzeption eines Weltgemeinwohls (bonum commune orbis) bis hin zu Hannah Arendt auf einen dezidiert politischen Weltbegriff.21 Desaströse Gewalt zerstört alles (scheinbar restlos), auch die Vorstellung, sie überschreite noch eine Grenze, die ihr moralisch, menschlich, sozial, kulturell, wie auch immer, gezogen zu denken wäre.22 Seitdem desaströse Gewalt derart aufgetreten ist, wissen wir nicht im Geringsten mehr, was »uns« mit all jenen menschlich verbindet, die für sie verantwortlich sind oder aufs Neue für sie verantwortlich werden können (einschließlich unserer selbst). Sie bedeutet radikalste Fremdheit im Modus extremster und exzessivster Feindschaft, die immer dort zum Vorschein kommt, wo man jegliche Gemeinsamkeit oder Gemeinschaft mit Anderen aufkündigt.23 In diesem Sinne hatte radikale Feindschaft weit über die Verbrechen der Nazis hinaus, für die emblematisch immer wieder »Auschwitz« stehen muss, eine vielfältige Zukunft − eine Zukunft, die heute die komparative Gewaltforschung herausfordert. Nicht nur in Auschwitz (das noch Adorno allein im Blick hatte), auch anderswo, in jenen von Timothy Snyder erforschten mittel- und osteuropäischen bloodlands und in Kambodscha, in Ruanda, in Darfur etc. ist Unvergleichliches geschehen.24 Genau das, was einst eindeutig geschichtlich maßgeblich zu sein schien (Auschwitz), wird nun seinerseits »historisiert«. Am Paradox des Vergleichs von Unvergleichlichem kommen wir hier nicht vorbei.25 Dabei handelt es sich aber um relative Historisierungen außerordentlicher Verbrechen, nicht um eine absolute Historisierung im Horizont »der« (einen) Geschichte, 21 | Vgl. B. Liebsch: »Rückbindung (religio) an den Anderen − im europäischen Horizont. Zu Grenzen der Politisierung menschlicher Subjektivität«, in: E. Reinmuth (Hg.): Subjekt werden. Neutestamentliche Perspektiven und politische Theorie, Berlin/Boston 2013, S. 35-71. 22 | Insofern bin ich nicht davon überzeugt, dass bspw. Hegel mit seiner Rede von »tiefster Zerrissenheit« bereits das im Auge hatte und begrifflich adäquat gefasst hat, was bei Maurice Blanchot Desaster heißt. 23 | Vgl. B. Liebsch: Renaissance des Menschen? Zum polemologisch-anthropologischen Diskurs der Gegenwart, Weilerswist 2010. 24 | T. Snyder: Bloodlands. Europe between Hitler and Stalin, London 2010. 25 | M. Dabag, K. Platt (Hg.): Genozid und Moderne, Bd. 1, Opladen 1998.
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von der wir uns heute keine metaphysisch-einheitliche Vorstellung mehr machen können. Man sieht: die schon in der Antike bewusst gewordene, maßgeblich aber erst durch Hobbes zur wichtigsten Prämisse sozialphilosophischen Denkens erhobene Möglichkeit radikaler Entsicherung der menschlichen Verhältnisse geht inzwischen weit über sein bekanntes Diktum hinaus, der Mensch sei des Menschen Wolf. An die Stelle solcher Gemeinplätze ist längst eine differenzierte Gewaltforschung getreten, die der Gewalt nicht nur ein Vorkommen in der Geschichte, sondern eine Geschichtsmächtigkeit zuschreibt, die zur Folge hat, dass radikale Gewalt »Geschichte gemacht« und sie gewissermaßen zäsuriert hat.
3. I m geschichtlichen H orizont der Z erstörbarkeit menschlicher V erhältnisse : G ewalt und L ebensform Für die Philosophie, insbesondere die Ethik, bedeutet das, dass sie jegliche positive Voraussetzung eines menschlichen Verbundenseins, das unter allen Umständen der Gewalt standzuhalten verspricht, infrage stellen muss. Wenn die Gewalt desaströs alles zerstören kann, auch jegliches soziales Band (vinculum societatis, lien social), wie es im Anschluss an Cicero26 von John Locke und Jean-Jacques Rousseau über Emile Durkheim bis hin zu Nicole Loraux bedacht worden ist, bedeutet das nicht, dass wir die sozialen und politischen Lebensformen genau im Lichte dieser Herausforderung zu bedenken hätten, d.h. im Sinne der Frage, wie sie sich einer derartige Zerstörung widersetzen können, sollten, müssten…? Was macht sie in diesem Sinne im Geringsten zu verlässlichen, die ein gewisses Vertrauen verdienen? Welchen Ansprüchen sollten sie in diesem Sinne wenigstens gerecht zu werden versprechen? Ergibt sich hieraus etwa ein ethischer Minimalismus, der im Rekurs auf die extremste Negativität geschichtlicher Erfahrung ethisch begründet, welchen Anforderungen menschliche Lebensformen unbedingt entsprechen sollten?27 Beschwören aber unbedingte Ansprüche nicht ihrerseits kollektive Gewalt herauf? 26 | M. T. Cicero: De officiis. Vom pflichtgemäßen Handeln (lat./dt.), Stuttgart 2003, S. 48. 27 | Dieser Frage geht ein aktuelles Projekt nach, das ich im Jahre 2012 mit Michael Staudigl initiiert habe: B. Liebsch, M. Staudigl (Hg.): Bedingungslos? Zum Gewaltpotenzial unbedingter Ansprüche im Kontext politischer Theorie, Baden-
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Wie auch immer man diese aktuelle Frage en détail beantworten wird − man sieht, dass »Ethik« vor dem skizzierten Hintergrund längst kein geschichtlich unangefochtener Inbegriff einer menschlichen Lebensform (ethos, bios) etwa oder eine philosophische Teildisziplin ist, die im Rekurs auf eine Archäologie und Teleologie des Guten bzw. des Gerechten nach Bedingungen der Möglichkeit eines menschlichen Zusammenlebens fragt, das seinen Namen verdient. Vielmehr geht ethisches Denken vor diesem Hintergrund heute von einer geschichtlichen und komparativen Reflexion der Negativität aus, die in teils extremer, teils radikaler, teils desaströser Art und Weise solches Zusammenleben versehrt hat. Ohne versprechen zu können, diese Negativität nach dialektischem Vorbild als aufhebbare zu konzipieren, sieht es sich zu einer ständigen Revision der Frage gezwungen, wie die Negativität der Gewalt menschliche Lebensformen herausfordert. Genau darin besteht die Hauptaufgabe einer zeitgemäßen Sozialphilosophie, die zu erheblichen Teilen zunächst eine phänomenologisch-deskriptive Aufgabe hat, nämlich zu beschreiben, wie es um den Zusammenhang von Gewalt und Lebensform bestellt ist.28 Beide Begriffe (Gewalt und Lebensform) sind aber nun zu historisieren. Wir haben heute weder auf einen ohne weiteres einsehbaren Begriff der Gewalt noch auf eine Theorie menschlicher Lebensformen direkten, historisch unvermittelten Zugriff. Gewalt zeigt sich eben nicht von sich aus ohne weiteres und in jeder Hinsicht als Gewalt. Und was als Gewalt »zählt«, hängt u.a. davon ab, was von wem unter welchen Umständen als Verletzung erfahren und gewertet wird, die nicht einfach hinzunehmen ist. In allen diesen Hinsichten bestehen nicht zuletzt subjektiv und kulturell erhebliche Unterschiede, die nicht einfach ignoriert werden können.29 Baden 2014. Vgl. auch den aktuellen Schwerpunkt der Deutschen Zeitschrift für Philosophie (2014; 62[4]) über J.N. Shklars Politische Theorie. 28 | Vgl. den Schwerpunkt Violence – Phenomenological Contributions der Human Studies. A Journal for Philosophy and the Social Sciences 36, no. 1 (2013). Keineswegs geht es hier nur um auf Anhieb erkennbare extreme, radikale und desaströse Gewalt. Hat man die genozidale Gewalt im ruandischen Radio nicht verklausuliert angekündigt, indem man vom Herannahen eines namenlosen Windes sprach? Genügt nicht subtile, kaum als solche identifizierbare Gewalt, die unter die Haut geht, um extremste Untaten zu entfesseln? Usw. 29 | M. Staudigl (Hg.): Gesichter der Gewalt. Beiträge aus phänomenologischer Sicht, München 2014.
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Das Gleiche gilt für eine Theorie der Lebensformen, die sich nur um den Preis einer fragwürdigen Allgemeinheit und Abstraktheit unmittelbar auf das besinnen kann, worauf es für ein menschliches Leben angeblich unverzichtbar ankommt.30 Wohin auch immer »Ethik« künftig unterwegs sein wird, sie wird wenigstens Plausibilität nur in dem Maße für sich beanspruchen können, wie sie anknüpft an historisch fundierte, an sozialwissenschaftlich komplexe und an ethnografisch »dichte« Beschreibungen des fraglichen internen Zusammenhangs von Gewalt und Lebensform. Insofern wird es eine Ethik, die sich nicht auf ein Glasperlenspiel nur noch um sich selbst kreisender Begründungen normativer Positionen reduziert, nur dann als eine sinnvoll auf die erfahrene geschichtliche Wirklichkeit menschlicher Lebensformen bezogene Disziplin geben können, wenn sie sich auf eine Sozialphilosophie stützt, die sich ihrerseits in einem permanenten Prozess ihrer geschichtlichen Revision befindet, da sie über nichts A- oder Transhistorisches verfügt, das sie ohne weiteres voraussetzen dürfte. Auch die Gewalt, auf die vielfach im Modus bestimmter Negation reagiert wird, stellt kein ahistorisches Fundament dar. Denn was als solche wahrgenommen, kritisiert und ggf. als unannehmbar gebrandmarkt wird, hat sich von Thukydides’ über Hobbes’ und Hegels Zeiten bis hin zu unserem Zeitalter der Extreme, von dem Gerhard Gamm im Anschluss an Eric Hobsbawm gesprochen hat, nachhaltig gewandelt.31 Es kann demnach keine Rede davon sein, im Zeichen der hier bedachten sozialphilosophischen Historisierung der Ethik bräuchte man sich lediglich an die Geschichte, so wie sie etwa von Geschichtswissenschaftlern betrieben wird, zu wenden, um über einen zureichenden Begriff der Gewalt zu verfügen, der zugleich einen Maßstab dafür abgeben könnte, wie eine der geschichtlichen Erfahrung angemessene Ethik auszusehen hätte.
30 | Das gilt besonders für die Sozialphilosophie Martha Nussbaums, wie sie sie in Gerechtigkeit oder Das gute Leben, Frankfurt a.M. 1999, dargelegt hat. (Wenn Nussbaum etwa in ihrer ethischen, »vagen Konzeption des Guten« [S. 48ff.], die Merkmale − vom Angewiesensein auf Essen, Trinken und Schutz über eine gewisse Verbundenheit mit anderen Menschen bis hin zur Sterblichkeit − auflistet, »die uns Menschen gemeinsam« seien, so ist das gewiss nicht falsch, aber doch auch trivial und in kulturtheoretischer Hinsicht defizitär.) 31 | G. Gamm: Philosophie im Zeitalter der Extreme, Darmstadt 2009.
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Ich möchte das nur anhand der vielfach als »desaströs« eingestuften Gewalt des 20. Jahrhunderts zeigen. Die Historiker selbst erweisen sich oft als ratlos hinsichtlich der Frage, was diese Gewalt als solche eigentlich ausmacht. Hat sich »desaströse« Gewalt etwa in dem gleichen Sinne als verheerend erwiesen wie jenes bekannte Erdbeben, von dem Voltaire 1756 in seinem Poème sur le désastre de Lisbonne handelte? Geht es in beiden Fällen um eine große Zahl von Toten und um extreme Schäden? Kaum. Die desaströse Gewalt, so wie sie im 20. Jahrhundert zu Tage getreten ist, hat nicht bloß Sachen beschädigt, viele Tote »gekostet« und den Glauben an eine göttliche Fürsorge für die Welt erschüttert, sondern von Anderen zu verantwortende, systematische Verletzungen bewirkt, die schließlich nicht einmal mehr als gewiss erscheinen ließen, dass Menschen allemal einen »menschlichen« Tod sterben und nicht auch auf ganz andere Art und Weise umkommen bzw. aus der Welt getilgt werden können.32 Robert Antelme, der Überlebende von Dachau, befand in seinen Reflexionen über Das Menschengeschlecht, dass man auch angesichts extremer Gewalt allemal »nur als Mensch« sterbe; und daran könne niemand und nichts, nicht einmal die äußerste Demütigung, etwas ändern.33 Der bereits zitierte Alain Finkielkraut war sich in dieser Sache weniger sicher. Er kam zu dem Schluss, wir müssten neben Verbrechen, die sich in einer politischen Welt ereignen, auch Untaten Rechnung tragen, die den Rahmen einer solchen Welt sprengen und sogar zu zerstören scheinen, was wir unter einer (menschlichen) Welt zu verstehen hätten. Der Begriff der Welt meint hier wiederum offensichtlich nicht die Erde als Boden oder geologischen Raum, sondern in etwa das, was Hannah Arendt unter einer politischen Welt verstanden hat. Auch Arendt kam zu dem Schluss, bestimmte Verbrechen seien mit menschlichen Maßstäben eigentlich nicht mehr zu messen, nicht mehr zu bestrafen usw. Mehr noch: Sie meinte, eine menschlich-politische Welt könne es nur auf der Basis einer Praxis des Vertrauens und des Versprechens geben, ohne die in der Tat überhaupt keine verlässliche Verbindlichkeit einer Lebensform zu haben ist,
32 | Vgl. B. Liebsch: »Landschaften der Verlassenheit − Bilder des Desasters. Maurice Blanchot und Georges Didi-Huberman«, in: M. Gutjahr, M. Jarmer (Hg.): Von Ähnlichkeit zu Ähnlichkeit. M. Blanchot und die Leidenschaft des Bildlichen, Wien 2015, S. 21-52. 33 | R. Antelme: Das Menschengeschlecht, München 1990, S. 307ff.
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die sich der Gewalt zu widersetzen vermöchte.34 Praktiken des zugemuteten und in Anspruch genommenen Vertrauens wie auch Praktiken des Wort-gebens und -haltens beruhen aber wiederum auf einer elementaren Ansprechbarkeit Anderer sowie durch und für Andere, ohne die es nicht einmal zum Versuch einer »Beziehungsaufnahme« (oder der Wiederherstellung einer gewaltsam verletzten Beziehung) kommen kann. Eben diese Ansprechbarkeit scheint desaströse Gewalt vollkommen ruiniert zu haben.35 Insbesondere in ihren seriellen Erscheinungsformen hat sie vorexerziert, dass kein menschliches Gesicht, keine Geste, kein Zeichen und keine Regung (nicht einmal eigene Übelkeit als »letztes Refugium des Gewissens« [G. Anders]) sie noch erreicht oder gar ihr noch Einhalt gebieten kann, wenn sie erst einmal kategorisch angeordnet und technisch effektiv ins Werk gesetzt worden ist. So gesehen scheint desaströse Gewalt in dieser Hinsicht tatsächlich erstmals und systematisch in ganz großem Stil bis zum Äußersten gegangen zu sein: Sie hat selbst die elementarste Voraussetzung der Möglichkeit einer verlässlichen politischen Welt noch zerstört, die menschliche Ansprechbarkeit Anderer und durch Andere. Ich habe nun mehrmals gesagt: Desaströse Gewalt »scheint« dies… bewirkt zu haben. Das war keine bloße Redensart. Denn zu beweisen ist hier nichts. Weder kann man derartige Befunde eindeutig aus dem empirisch vorliegenden Material herauslesen, noch sind sie einfach in es hineinzuinterpretieren. Das musste auch Levinas einsehen, der vielleicht am entschiedensten sozialphilosophische Konsequenzen aus der fraglichen Gewalt zu ziehen versucht hat. Levinas wollte, so weit ich sehe, zu keinem Zeitpunkt einen Hehl daraus machen, dass niemals zu beweisen, sondern allenfalls zu bezeugen ist, dass es auch diese Gewalt noch mit einem menschlichen Widerstand zu tun hat, den sie zu überwinden versuchen muss, um zum Ziel zu kommen. Inbegriff dieses Widerstands war für ihn eine Nicht-Indifferenz, zu der das Opfer dieser Gewalt den 34 | H. Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1993, S. 701. Dies.: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München/Zürich 1985, § 34. 35 | D.h. nicht, dass nur noch eine »schwarze Ethik« möglich wäre, wohl aber: dass sie in Rechnung stellen muss, wie sehr Ethik heute eine desaströse, vielfach um Worte ringende, aber bezeugte Erfahrung aufnimmt, die sie vor neue, im Lichte antiker Ethik gewisse unvorhergesehene (aber nachträglich durchaus in ihr zu entdeckende) Fragen stellt. An dieser Erfahrung gleichsam vorbeigehend, ist wohl nur eine die menschlichen Verhältnisse beschönigende Ethik möglich.
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Anderen geradezu verurteilt, indem es ihm die Verantwortung für sein Tun gibt, auch gegen seinen Willen. Man kann gewiss diese Nicht-Indifferenz zu leugnen und zu überspielen versuchen, aus der Welt schaffen kann man sie dadurch nicht, davon war Levinas überzeugt. In diesem Sinne glaubte er im historischen Prozess der sozialphilosophischen Revision der Grundlagen, auf die eine zeitgemäße Ethik heute noch, selbst im Lichte desaströser Gewalt, bauen kann, wenigstens noch auf die Verlässlichkeit dieses Widerstandes gestoßen zu sein.36 Mit solchen Deutungen sind die Historiker, denen wir heute überwiegend die Rekonstruktion der fraglichen Gewalt anvertrauen, ihrerseits überfordert. Sie führen uns vor Augen, was man durch Massaker und Belagerungen, durch verheerende Überfälle und Raubzüge, durch alte und neue Kriege sowie durch genozidale Gewalt angerichtet hat. Sie rufen in Erinnerung, wie man Völker, Reiche und ganze Kulturen zum Untergang verurteilt hat. Aber vor der Frage, ob dabei jeweils eine menschliche bzw. politische Welt auf dem Spiel stand, scheuen sie zurück. Denn wie sollten sie, als Historiker, angeben können, was eigentlich eine menschliche, politische Welt aus-
36 | In diesem Sinne interpretierte Sarah Kofman auch Robert Antelmes Buch Das Menschengeschlecht: »Indem es zeigt, dass die erniedrigende Veräußerung, der die Deportierten unterworfen wurden, die Unzerstörbarkeit der Alterität, ihren absoluten Charakter, bedeutet, indem es die Möglichkeit eines ›wir‹ neuer Art eröffnet, gründet es (ohne zu gründen, denn dieses ›wir‹ ist immer schon destabilisiert) die Möglichkeit einer neuen Ethik.« Und zwar einer Ethik, die das Unzerstörbare (um einen Buchtitel von Maurice Blanchot aufzunehmen) in der scheinbar unbegrenzten Zerstörbarkeit des Menschen sucht. S. Kofman: Erstickte Worte, Wien 1988, S. 90. In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, wie weitgehend Levinas auf eine spezifisch »religiöse« bzw. »theologische« Fundierung des Alteritätsbegriffs verzichtet und sich zu einer laizistischen Ethik bekannt hat, die eine »relative Autonomie« des Politischen respektieren müsse. Keine Rede kann also davon sein, in seinem Fall liege eine generelle »theologische Wende« der Ethik vor, die ihrerseits zum »Fundament« der sozialen und politischen Verhältnisse erklärt würde. Vgl. E. Levinas: Die Unvorhersehbarkeiten der Geschichte, Freiburg i.Br./ München 2006, Kap. XIII; sowie die bedenkenswerten Einwände von D. Janicaud: La phénoménologie dans tous ses états, Paris 2009. Ders.: Die theologische Wende der französischen Phänomenologie, Wien 2014.
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macht?37 Das sind Fragen, die Hannah Arendt, aber auch viele andere nach ihr im Lichte einer weitestgehenden Zerstörung der politischen Welt Europas beschäftigt haben. Methodisch negativistisch, von der Zerstörbarkeit der menschlichen Verhältnisse her, fragte sie kontrastiv nach konkreten Bedingungen der Verlässlichkeit und Stabilität einer politischen Welt, die Fremden gegenüber gastlich aufgeschlossen und denjenigen, die ihr zugehören, ein glaubwürdiges Schutzdach sein sollte. Bis heute dauern sozialphilosophische Debatten um Fragen wie die an, was den Fremden als solchen ausmacht, was unbedingte Gastlichkeit ihm gegenüber ausmachen könnte, ob sie nicht eine sekundäre, beschränkte Gastlichkeit erfordert, die ihr in einem konkreten sozialen, rechtlichen und kulturellen Rahmen gerecht werden könnte usw. Diese Debatten bestätigen meinen Befund, dass wir hier einen nachhaltigen Prozess der historisch inspirierten Revision aller Grundlagen einer zeitgemäßen Sozialphilosophie vor uns haben, ohne die uns − das ist nun allerdings meine These − so etwas wie »Ethik« kaum mehr als glaubwürdig erscheinen kann. Allzu lange war Ethik nur eine Art Rezeptur für einander ohnehin Zugehörige (meist »Brüder«, auch »Genossen« oder »Freunde« genannt, was allemal einen gewissen Familiarismus implizierte38). Und diese Rezeptur war offenbar dazu gedacht, ein gutes, besseres oder noch besseres Leben möglich zu machen,39 das die Probe des unbedingt zu Vermeidenden, der extremen Gewalt und des Desasters möglichst nicht sollte bestehen müssen. Dass der Streit (eris) zum Bürgerkrieg (stasis) und zur rücksichtlosen Gewalt (polemos), wie sie seinerzeit nur gegen Fremde denkbar war, eskalieren kann, wussten allerdings auch die Griechen der Antike schon. Eine Ethik angesichts des Fremden − selbst für den Fall, dass er sich als radikaler Feind erweisen sollte −, war indessen nicht vorgesehen. Heute
37 | Vor der gleichen Frage professioneller Überforderung stehen auch Soziologen, Psychologen und Philosophen. In dieser Hinsicht kann es ein exklusives Expertentum nicht geben. Was eine Welt ausmacht, kann nur im öffentlichen Diskurs geklärt werden, der von der Negativität ihrer Zerstörung ausgehen muss, ohne sicher sein zu können, das Negative werde sich als sagbar und darstellbar erweisen. Gewiss sind bloße Fachdiskurse mit dieser Frage überfordert, was aber nicht dagegen spricht, sie so weit wie möglich zu Rate zu ziehen. 38 | Diesen Familiarismus hat v.a. J. Derrida in Politik der Freundschaft bloßgelegt. 39 | A.N. Whitehead: Die Funktion der Vernunft, Stuttgart 1974, S. 9.
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stehen wir vor dieser Herausforderung40; und zwar in einer Lage, die uns überdeutlich vor Augen geführt hat, wie zerbrechlich die menschlichen Verhältnisse tatsächlich sind − auch wenn sich zwischenzeitlich eine Kultur der Besserlebenden41 darüber sehr erfolgreich hinwegtäuschen kann. Die Frage ist, ob man bzw. ethisches Denken sich das weiterhin ebenfalls leisten kann.
4. A nsat zpunk te (1-5) eines sozialphilosophischen N egativismus — in e thischer P erspek tive Bis hierher habe ich lediglich eine Skizze der Situation entworfen, in der sich ethisches Denken heute unter dem Druck einer historischen Revision befindet, der man m.E. nicht ausweichen kann. Die skizzierte Lage führt im Hinblick auf die Leitfrage der o.g. Vorlesungsreihe Ethik – Wozu und wie weiter? − zu bedenkenswerten Konsequenzen. (1) Erstens geht sie nicht von einer ursprünglichen (antiken) Vorgabe aus, etwa vom Modell einer ethischen Orientierung in einem metastabilen kosmischen Rahmen (Platon) oder vom Modell der Beratung in einer konkreten Entscheidungssituation innerhalb einer gegebenen Lebensform (Aristoteles), die ihrerseits kosmisch geborgen zu sein schien (wenn wir Eugen Fink glauben).42 Viel40 | Allerdings ist nicht zu leugnen, dass heute radikal infrage steht, ob es eine konsequent dem Familiarismus absagende Ethik überhaupt geben kann. Auch Derrida hatte daran seine Zweifel. Vgl. P. Cheah, S. Guerlac: »Introduction«, in: dies. (Hg.): Derrida and the time of the political, Durham/London 2009, S. 1-37, hier: S. 20. 41 | D.h. für geschichtlich mehr oder weniger Ahnungslose (die sich wohl auch zu ihrer eigenen geschichtlichen Gegenwart mehr oder weniger ignorant verhalten). 42 | Vgl. E. Fink: Traktat, S. 129 und G. Gamm: Nicht nichts, wo Konzeptionen eines substanziellen Guten einerseits und formale, prinzipienorientierte Versionen Praktischer Philosophie andererseits als überholt zurückgewiesen werden. Zunächst wird offenbar der Rekurs auf »Andersheit« unter letztere subsumiert (S. 10), dann aber in Richtung einer »differenztheoretischen« Sozialphilosophie fortgeführt (S. 214) − mit Levinas, der freilich in eine Dialektik der Anerkennung des Anderen nicht einfach passen will, so wenig übrigens wie in ein Ethos als »Ort« der Ethik, wo man sich selbst entmächtigt, um dem Anderen Raum zu lassen (ebd., S. 238-245). Die Frage voranzutreiben, wie ein nur zu bezeugender, unverfügba-
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mehr müsste sie von der Negativität des in unserer Gegenwart Unannehmbaren ausgehen und (2) zunächst ermitteln, inwiefern wir, Andere und womöglich jeder dieses Unannehmbare auch als unbedingt zu Vermeidendes einstufen wird. (3) Darauf auf bauend müsste sie zu zeigen versuchen, ob und wie sich daraus konkrete Herausforderungen an (unterschiedliche) soziale und politische Lebensformen ergeben, die minimalen ethischen Ansprüchen (im Sinne des zu Vermeidenden) gerecht zu werden versprechen müssen. (4) Eine derart negativistisch ansetzende Sozialphilosophie müsste, statt ohne weiteres in einen theoretischen Normativismus umzuschlagen, an dieser Stelle damit rechnen, dass genau diese Maßgeblichkeit konkreter Herausforderungen einer sozialen/politischen Interpretation bedarf, die (5) ihrerseits unvermeidlich strittig sein wird. In einer negativistischen Sozialphilosophie muss deshalb dieser elementaren Strittigkeit in einer Theorie des Dissenses Rechnung getragen werden, die sich damit befasst, wer, wie und unter welchen Umständen überhaupt »zur Sprache kommt« in der Auseinandersetzung um das Strittige, besonders um das für die jeweilige Lebensform aktuell und in historischer Perspektive Maßgebliche.43 Letzteres fällt nicht, wie in diversen normativistischen Theorien, gewissermaßen vom Himmel, sondern muss motiviert werden aus der (nicht zuletzt historischen) Erfahrung, die man mit Unannehmbarem gemacht hat. Hier, meine ich, hat die Frage Wozu Ethik? ihren konkretesten Ansatzpunkt. Wie könnten wir, dem Unannehmbaren ausgesetzt, je darauf verzichten, uns auf die Lebbarkeit eines Lebens zu besinnen, das sich dem Unannehmbaren wenigstens zu widersetzen verspricht? Wo ein derartiges Ausgesetztsein freilich gar nicht realisiert wird, entspannt rer Anspruch des Anderen (an Andere), der nicht von vornherein als Anspruch auf etwas Bestimmtes auftritt, über eine irritierende Unbestimmtheit hinausgeht, um sich als spezifische ethische Herausforderung Geltung zu verschaffen, und ob es sich hier um mehr als nur um einen »Restposten von Widerfahrnissen« (ebd., S. 45, 247, 255) handelt, bleibt überdies ein Desiderat. Die auch von Gamm betonte an-archische Grundlosigkeit des Anspruchs des Anderen, der sich niemals in eindeutigen Normen verfestigen kann, nötigt uns gewiss zu einer näheren Bestimmung dessen, wonach er verlangt; aber so, dass zugleich denkbar bleibt, wie er jegliches normative Profil, das man einer politischen Lebensform geben möchte, stets von neuem produktiv überfordert. 43 | Vgl. J. Rancière: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt a.M. 2002, S. 14-32.
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sich gewiss das ethische Fragen und schrumpft am Ende zur Suche nach einem für sich selbst und die näheren Beziehungen guten und glücklichen Leben. Aber dann handelte es sich eben doch nur um eine Ethik für Besserlebende, wie sie uns Aristoteles hinterlassen hat. Zu beweisen und zwingend dafür zu argumentieren ist wohl nicht, dass uns über den Umkreis, den uns ein tief sitzender Familiarismus des ethischen Denkens vorgibt, hinausgehend auch Andere und Fremde »etwas angehen« müssen. Tatsache aber ist, dass u.a. Rechtsverletzungen weltweit gespürt werden, wie es schon Kant in seinem kosmopolitisch-philosophischen Entwurf Zum Ewigen Frieden festgestellt hat. (In unserer Gegenwart schlagen Autoren wie Luc Boltanski, Richard Rorty und Susan Sontag, mit unterschiedlichen Gründen, in die gleiche Kerbe.) D.h. der Horizont unserer zumindest potenziell ethisch relevanten Wahrnehmung hat sich dramatisch seit Langem über jenen Umkreis hinaus erweitert. (Was nicht ausschließt, dass man selbst eine sich formierende Welt-Gesellschaft noch in familiaristischen Kategorien zu deuten versucht.) Das hat eine Vielzahl von nahezu unüberschaubaren Explikationsproblemen zur Folge; etwa diese: Was wird in diesem erweiterten Horizont überhaupt als Unannehmbares erfahren, artikuliert, beklagt? Wen geht das was (und wie) an? Wo finden sich angemessene, auch virtuelle Orte (wenn nicht nur eine öffentliche Agora) der Auseinandersetzung? An wen kann oder muss diese sich richten? Wie kann die Maßgabe der (zukünftigen) Verhütung des unbedingt zu Vermeidenden in normative Vorgaben umgesetzt werden? Und können diese Vorgaben ihrerseits in Gewaltsamkeiten umschlagen (etwa wenn sie umstandslos zur Rechtfertigung militärisch-humanitärer Intervention hergenommen werden)? Etc. Diese Explikationsprobleme drehen sich gewissermaßen alle um die Ausgangsfrage, die ethisches Denken seit je her herausgefordert hat: wie ein menschliches Leben überhaupt lebbar sein kann. Da wir aber, spätestens seit Hobbes, über keine archäologisch-teleologisch gesicherte Grundlage mehr verfügen, die uns in dieser Frage verbindliche Auskunft geben könnte, sind wir auf eine sozialphilosophische, alle diese Explikationsprobleme einbeziehende Disziplinierung des immer noch virulenten ethischen Begehrens angewiesen, das sich − weltweit, aber unter jeweils spezifischen Bedingungen − im Verlangen nach einem (minimal) lebbaren Leben äußert; und zwar nicht nur des eigenen, sondern auch fremden Lebens. So hat die Frage Wozu (sozialphilosophisch grundierte) Ethik? weniger in einem telos (Zweck oder Ziel), als vielmehr in diesem Begehren m.E. nach wie vor einen über-
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aus starken Antrieb. Auch um die andere Frage Ethik – wie weiter? muss man sich keine Sorgen machen, so sehr wird das ethische Begehren von der Negativität unannehmbarer Erfahrungen vorangetrieben44 − und zwar ungeachtet dessen, dass kaum mehr die Aussicht auf politische Lebensformen glaubhaft zu machen ist, die sie im hegelschen Sinne »auf heben« könnten. Die Frage ist allerdings, wie heute und zukünftig zu vermeiden ist, dass der Nachweis der Unaufhebbarkeit des Negativen45 nicht geradewegs in einen philosophischen Defaitismus umschlägt, der paradoxerweise gerade angesichts des Mangels, den Menschen leiden, satt wird in dem bequemen, saturierten Wissen, dass Besseres als dieses Leben im Unannehmbaren, das wir gegenwärtig vor Augen haben, schlechterdings nicht zu haben ist. Das zu meinen, wäre jedoch nicht nur dogmatisch; es würde auch dem ethischen Begehren gewissermaßen den Mund verbieten, den der Defaitismus selbst nicht halten kann.
5. R esümee Nach dem hier skizzierten Verständnis ist es unabdingbar, das, was unter einer zeitgemäßen Ethik zu verstehen wäre, nicht nur historisch zu situieren, d.h. sie in einen geschichtlichen Kontext »einzubetten«, sondern sie auch selbst tiefgreifend zu historisieren, um sie auf diese Weise sinnvoll auf Herausforderungen beziehen zu können, die aus geschichtlicher Erfahrung gewissermaßen an ihre Adresse gerichtet sind; und zwar so, dass ethischem Denken keine ahistorische Substanz mehr zuzuschreiben ist. Der erst relativ spät geprägte Begriff der Sozialphilosophie steht par excellence für den Anspruch, die geschichtliche Tiefendimension der Situation zum Vorschein zu bringen, in der ethisches Denken überhaupt erst als 44 | Ich gebe zu, dass das als eine reichlich optimistische und anfechtbare Annahme erscheinen kann angesichts gegenwärtiger Revisionen der Antriebsquellen menschlichen Begehrens und Handelns. Vgl. J.N. Howe, K. Wiegandt (Hg.): Trieb. Poetiken und Politiken einer modernen Letztbegründung, Berlin 2014. 45 | Vgl. A. Hetzel (Hg.): Negativität und Unbestimmtheit, Bielefeld 2009 und B. Liebsch, A. Hetzel, H.R. Sepp (Hg.): Profile negativistischer Sozialphilosophie. Ein Kompendium, Sonderband Nr. 32 der Deutschen Zeitschrift für Philosophie, Berlin 2011. E. Angehrn, J. Küchenhoff (Hg.): Die Arbeit des Negativen. Negativität als philosophisch-psychoanalytisches Problem, Weilerswist 2014.
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solches herausgefordert wird und sich als historisch situiertes seinerseits verständlich machen muss. Eine in diesem Sinne nicht tief greifend historisierte Ethik wäre dagegen kaum mehr als Antwort auf eine radikale Infragestellung unserer selbst, unseres »sozialen« Lebens im Angewiesensein auf Andere und in der Bedrohung durch sie verständlich; eine Infragestellung, die Besserlebende zeitweise vergessen mögen, die aber unumgänglich im Spiel bleibt, wo politische Lebensformen einzurichten sind, die sich auf keinen archäologisch-teleologisch gewissen Grund mehr stützen können. Das bedeutet freilich nicht, dass uns nicht wenigstens »unzureichende«, zwar geschichtlich kontingente, aber durchaus nicht arbiträre Gründe dazu bewegen können, nach dem denkbaren normativen Profil von Lebensformen zu fragen, die wenigstens minimalen, unverzichtbaren Ansprüchen verlässlich sollten genügen können. Wir können gar nicht umhin, uns derartige Ansprüche gewissermaßen pathologisch zuzuziehen, da wir uns als leibhaftige Subjekte, die nicht nur »am Leben sind«, sondern auch um ein lebbares Leben kämpfen müssen, das durch nichts garantiert ist, unumgänglich in die Negativität des (subjektiv, intersubjektiv, kollektiv…) Unannehmbaren zu verstricken. Das Unannehmbare ist allerdings nur ein Problemtitel. Wer was unter welchen Umständen als unannehmbar erlebt, bedarf unter jeweils spezifischen geschichtlichen und kulturellen Umständen stets einer originären Explikation, der die eigene Erfahrung niemals als zureichende Berufungsinstanz wird dienen können. Stets haben wir es vielmehr mit einem strittigen, zum Dissens Anlass gebenden Explikationsbedarf zu tun, der nicht zu umgehen ist, wenn geklärt werden soll, welchen (normativen) ethischen Bedingungen besonders politische Lebensformen sollten genügen können, die ihren Namen verdienen. Die eingangs angekündigte Beschränkung meiner Überlegungen auf eine gewissermaßen sozialphilosophisch grundierte und historisierte Ethik bringt es mit sich, dass hier nur Vorbedingungen ethischen Denkens zur Sprache gekommen sind, nicht aber die Frage aufgeworfen worden ist, welche Gestalt es »positiv« annehmen könnte, nachdem sich die Berufung auf ein substanzielles Gutes oder formale Prinzipien erschöpft zu haben scheint. Aber wenn es sich so verhält, haben wir allen Grund, uns zunächst wieder eines ethischen Begehrens zu versichern, das aus dem pathos, der passio, dem Widerfahrnis des Negativen stets wieder von neuem keimt, insofern es die Lebbarkeit eines menschlichen (nicht nur des eigenen, sondern auch fremden) Lebens infrage stellt. Die Frage ist, wie es sich − über die Geschichte eines vielfach
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überzogene Ansprüche erhebenden ethischen Denkens und über dessen desaströses Scheitern aufgeklärt − dennoch immer wieder dagegen wehren kann, es sich in diesem Scheitern, sei es defaitistisch, sei es saturiert, ermüdet oder des Ethischen schlicht überdrüssig, bequem zu machen, wie es Ratgeber in Sachen Lebenskunst, Technologien des Selbst oder einer nietzscheanischen, kein Wenn und Aber mehr geltend machenden Bejahung des Lebens nahelegen. Menschliches Leben wird aber ethisch niemals derart zur Ruhe kommen können, wenn es in sich vom Begehren nach einem wirklich lebbaren Leben inspiriert ist, das sich als ethisches nicht auf das eigene − das idiotische, wie die Griechen sagten − beschränken kann, wo es sich als für den unverfügbaren Anspruch des Anderen aufgeschlossen erweist.
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Performativität und Gewalt Überlegungen zur Tragödie im Ethischen Dieter Mersch
O rte der G e walt In einer sozialen Begegnung kann es passieren, dass man sein Gegenüber als unangemessen zudringlich empfindet, während das Gegenüber glaubt, man weiche aus irrationalen Gründen zurück. Beide meinen, der jeweils andere verletze die Regeln der Kommunikation und untergrabe jede Möglichkeit eines Dialogs. Offenbar ist der Prozess der Interpersonalität, worin sich wechselseitig Verständigung konstituiert, ein Ort der Verstörung, des Missverständnisses und der Gewalt. In verschiedenen Büchern zur ›existenziellen Psychoanalyse‹ wie Das geteilte Selbst oder Knoten,1 hat Ronald D. Laing die bizarren und zum Teil verheerenden Ausmaße kommunikativer Aporien auf vielfache Weise studiert und beschrieben, die so weit gehen können, dass sie die gesamte Persönlichkeit zerstören – demgegenüber sei sich vorläufig auf das beschränkt, was als ›Szene des Performativen‹ bezeichnet werden soll und deren beinahe notwendiger Teil die Paradoxie ist, nicht um deren Auswirkungen auf die Person zu untersuchen, sondern um die Konsequenzen in Bezug auf die Möglichkeiten einer sozialen Ethik – und deren Tragödie – zu beleuchten. Insbesondere wird es darum gehen, einige Bedingungen abzuleiten, die die zwischenmenschliche Gewalt, die keineswegs nur im Physischen statthat, sondern weit subtiler in Psyche und Sozialität eindringt, als diejenige Kraft beschreibbar zu machen, die dieser Szene als Potentialität 1 | R. D. Laing, Das geteilte Selbst. Eine existenzielle Studie über geistige Gesundheit und Wahnsinn, Reinbek bei Hamburg 1980; ders., Knoten, Reinbek bei Hamburg, 1976.
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immer schon innewohnt, ohne von den jeweils beteiligten Personen intendiert zu sein. Ist man gewöhnlich versucht, die Gewalt, sei sie physisch oder psychisch, einer Handlung zuzuschreiben, teilt sie als solche notwendig die Szene des Performativen in Täter und Opfer auf. Sämtliche Gewaltdefinitionen der Jurisprudenz handeln davon; dagegen wird es den folgenden Überlegungen darauf ankommen, die in keinem Falle ausweichbare Gewaltförmigkeit der Szene selber aufzudecken, welche Laing mit der Metapher des »Knotens«, der Verschlingung zu fassen versuchte, die derart geschürzt ist, dass sie für die Beteiligten ebenso intransparent wie unentwirrbar erscheint – und es ist überflüssig hinzuzufügen, dass sich daran der gesamte Habermassche Schauplatz der Kommunikationstheorie bricht. Tatsächlich gehört die Verknotung und ihre innere Gewalt, ihre undurchdringliche Verwicklung unmittelbar zur Szene des Performativen, sodass man geneigt sein könnte, diese selbst monströs zu finden und nicht nur das, was sie okkasionell hervortreibt – und die eigentliche Frage wird sein, wie sich diese Monstrosität des Sozialen zum Ethischen verhält. Mit der ›Szene des Performativen‹ ist im übrigen eine elementare soziale Situation gemeint, die nicht auf einzelne Akte oder Äußerungen reduziert werden darf, sondern stets einen kompletten interpersonalen Prozess sowie eine Sequentialität von Handlungen, Zuständen, Gesten oder Äußerungen einschließt, die miteinander interagieren und das Soziale allererst hervorbringen. Ihre Analyse verlangt wiederum eine situative Topik der Szene, die dessen ganze Konstellation inkludiert – jenes Ensemble von Elementen, das sich auf seiner Bühne befindet und das man geneigt ist, auf einige einfache Parameter herunterzuspielen. Deshalb der Anklang ans Vokabular des Theatralen: Die Skēnē beschrieb im antiken Theater die Schaustelle wie gleichermaßen die sie abtrennende Wand, welche den heiligen Ort vom profanen Raum der Betrachter trennte und die Beteiligten auf der Bühne in ein Geschehen hineinzog, das eine eigene, für sie genauso herausgehobene wie undurchschaubare und exemplarische Welt gebar. Entscheidend für das Szenische ist also die Markierung einer Differenz – und wir entleihen uns den Ausdruck der ›Szene‹ aus dieser Sphäre, um sie als Grundelement des Sozialen für dessen Mikroanalyse fruchtbar zu machen. Denn alle Attribute scheint die soziale Situation mit dem Szenischen zu teilen: den Platz des Ereignisses wie seine Maskierung oder Unzugänglichkeit, die sich hinter dem Rücken der Beteiligten und ihren Augen verborgen spielt, das Pathische
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der Handlungen wie auch die Unübersichtlichkeit der Effekte, die die Akteure mehr zu Getriebenen denn zu Meistern ihres Schicksals machen, sowie schließlich das konsitutive Moment des Performativen, dessen prinzipielle Irreversibilität das Geschehen mit sich fortreißt, um es auf immer zu entfremden. Das Ethische ist darin eingebunden. Es verweigert aus diesem Grunde jede Generalisierung, vielmehr bleibt es stets relativ zur Szene ›regionalisiert‹. Die sich an diesem Grundsatz orientierenden Erörterungen werden daher auch nicht dessen Ortschaft als dasjenige zu rekonstruieren versuchen, das der Gewalt, die die Struktur der Szene immer schon beherrscht und darin zu einem gewissen Grade unausweichlich ist, entgegensteht oder ihr Einhalt zu gebieten vermag, sondern gleichsam als unveräußerbarer Teil eines Spiels, das denselben Konditionen gehorcht, wie die, die es einzudämmen trachtet – und es ist diese Dialektik, worin sich ihr Tragisches manifestiert.
D ie S zene des P erformativen Der Ausgangspunkt der so in Aussicht gestellten Mikroanalyse des Sozialen bildet also der Begriff des Performativen, der hier in sein Szenisches zurückgestellt wird. Zwar feiert er seit geraumer Zeit unterschiedliche Konjunkturen, doch weist er eine Anzahl übergangener Besonderheiten auf, die ihn für die Beschreibung sozialer Beziehungen besonders prädestinieren. In der Tat handelt es sich um eine komplexe Kategorie, deren Bedeutung sich nicht nur auf den Vollzug einer Praxis beschränkt – vielmehr bezieht der Begriff seine Brisanz gerade aus seiner Verwobenheit mit den Dimensionen des Leibes, der Präsenz und der Macht wie auch der Responsivität und Unverfügbarkeit. Als Kennzeichnung einer Verstrickung im Praktischen entzieht sich darum die Performanz weitgehend der Intentionalität, denn die Situierung einer Handlung untersteht nicht im vollem Umfang unserem Willen, und es ist dieser Zusammenhang, diese intime Verbindung mit dem Szenischen, die die Bestimmung des Performativen für eine Untersuchung des Verhältnisses zwischen Ethik und Gewalt interessant machen. Insbesondere erhellt der Ansatz, dass die Gewalt unmittelbar zur conditio humana hört und nur im Bereich des Menschlichen anzutreffen ist, mithin so sehr zur sozialen Praxis gehört, dass sich im Grunde jede Artikulation des Menschen, jede symbolische Form, ja jeder Begriff, den wir der Welt des Menschen und dem, was die
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Menschlichkeit des Menschen ausmacht, zuschreiben, mit der Erfahrung von Gewalt durchdrungen erscheint – sogar der Begriff der Vernunft, den Habermas ausdrücklich in Opposition zu ihr rückte: »Mein Bedürfnis ist zu zeigen, dass der Diskurs nicht einer Willkür anheimgestellt ist, sondern dass wir uns in einer Lebensform bewegen, die eigentlich nur zwei Mechanismen der Lösung von Handlungskonflikten zulässt: Gewalt oder Verständigung.«2 Nichts erscheint naiver als das – bzw. liegt die Naivität dieser Proklamation in einem allzu sehr an physischer und psychischer Traumatisierung orientierten Gewaltbegriff, der ›Druck‹, Dominanz und ›Unterdrückung‹, aber auch die subtile, durch niemanden ausgeübte Gewalt einer sich in den besten Absichten gegenseitig erdrosselnden Zuwendung ausschließt. Der vermeintlichen Alternative, die Habermas aufzeigt, wäre deshalb entgegenzuhalten, dass auch der rationale Diskurs, die Beschränkung auf die philosophische Argumentation, soweit sie sich in performativen Szenen realisiert, intrinsisch mit Gewalt verwoben sein kann – und zwar nicht nur wegen jener Superiorität, die dem vermeintlich »zwanglosen Zwang des besseren Arguments« zu eigen ist, sondern gerade durch die Geste dieser Beschränkung, ihrer Exklusion, die das Element des Diskursiven auszeichnet und in einen unbedingten Vorrang rückt. Nirgends besser demonstriert sich der sich darin abzeichnende ›Terror der Vernunft‹ als in den Platonischen Dialogen, die ihre Gesprächspartner regelmäßig zu einsilbigen Antwortgebern degradieren – und auf die Struktur solcher Regression und die damit verbundene Ausschließung und Differenzsetzung zu achten, bedeutet schon, jene Aspekte des Performativen zu thematisieren, die durch die Setzung der Rationalität als einzig legitimes Mittel der Konfliktlösung ihre eigene immanente Gewaltförmigkeit verrät: Eine Gewalt, die sich nochmals dadurch verdoppelt, dass sie im gleichen Maße ein Primat sanktioniert, wie sie diesen als Gewalt verleugnet. Um dies in seinen Konsequenzen mit größerer Allgemeinheit durchzuführen, seien im weiteren die wesentlichen Charakteristika dessen enthüllt, was gewöhnlichen dem Performativen zugeschrieben wird, um es zu dem ins Verhältnis zu setzen, was wir als ›Szene des Performativen‹ eingeführt haben. Seit dem sogenannten ›performative turn‹ scheint zumindest klar, dass die Begriffe ›Performation‹ oder das ›Performative‹, 2 | J. Habermas, Diskussionsbeitrag in: W. Oelmüller (Hg): Transzendentalphilosophische Normenbegründungen, Paderborn 1978, S. 114.
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neben denen der Sprache, des Symbolischen, des Medialen und der Materialität, zu jenem unverzichtbaren Ensemble von Begriffen gehört, das die menschliche und im Besonderen die soziale bzw. kulturelle Situation kennzeichnet.3 Die Dimension des Performativen kann, wie diese, als primordial angesehen werden. Ihr ist daher weder zu entgehen noch ist sie überschreibbar: Tatsächlich erweist sie sich – wie das ›Dass‹ oder die ›Existenz‹ selbst – als nicht negierbar, da zur Praxis notwendig ihre Ausführung, ihr Vollzug gehört, um überhaupt stattzufinden und sich im Materiellen situieren zu können. Das Praktische ist darum nicht nur symbolisch, soweit es mit Bedeutungen assoziiert ist und Intentionen gehorcht, sondern es ist auch stets Teil der Welt und folglich mit komplexen Kontextuierungen und der »Erde« im Heideggerschen Sinne, d.h. mit Existenzialität und Materialität verknüpft.4 An den Akt einer Handlung gebunden, insofern er das Moment seiner Aufführung und Ausführung, seiner aktuellen Realisation oder Exekution und Exhibition beschreibt, bleibt der Begriff des Performativen jedoch dunkel und schwer zu fassen, weil er von diesen, wie ebenfalls vom Symbolischen, nicht getrennt werden kann. So hatte Derrida in Limited Inc betont, dass, obgleich der Ausdruck – ebenso wie der des Aktes – für Austin wie für Searle als basal angenommen wird, er dennoch von diesen ebenso wenig wie auch die Ausdrücke des ›Auftauchens‹, des ›Stattfindens‹ und des Ereignisses in Augenschein genommen werden.5 So finden wir kaum eine genauere Analyse, die herausstellte, was es bedeutet, eine Handlung zu begehen, sieht man einmal von den analytischen Handlungstheorien von Georg Henrik von Wright bis Davidson ab, die jedoch, was eine Handlung sei, einseitig unter Kategorien des Teleologischen und Intentionalen stellten – als ob zum Akt notwendig eine Absicht, ein Wille zur Ausführung oder auch eine gewisse Gerichtetheit und Zielsetzung gehören.6 Die Sprechakttheorie ist diesem Urteil gefolgt, und es ist gerade diese Engführung, 3 | Dazu unsere Untersuchungen in: D. Mersch, Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis, München 2002 sowie ders., Ereignis und Respons. Elemente einer Theorie des Performativen, in: ders., J. Kertscher (Hg.): Performativität und Praxis, München 2003, S. 69-94. 4 | Vgl. M. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerks, Stuttgart 1960, S. 31ff. 5 | J. Derrida, Limited Inc, Wien 2001, S. 97. 6 | G. H. von Wright, Normen, Werte, Handlungen, Frankfurt/M 1994; D. Davidson, Handlung und Ereignis, Frankfurt a.M. 1990.
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die den sprachanalytischen Bestimmungen des Performativen an die traditionellen Ströme des juridischen Denkens anschließbar gemacht haben, die für jede Handlung ein Motiv, für jedes Motiv einen Urheber und für jeden Urheber eine Schuld oder Verantwortlichkeit reklamierten. Allein Shoshana Felman und Judith Butler haben dem Akt seine Körperlichkeit und damit auch seine Singularität und Irreversibilität zurückerstattet und so angedeutet, auf welche Weise er im Realen verankert ist und immer schon mit der Möglichkeit einer Gewaltsamkeit wie auch der Verletzlichkeit des Leibes durchfurcht ist.7 Man kann daher sagen, dass sowohl Austin als auch Searle, die den Begriff prominent gemacht haben, das eigentlich Performative des Performativs gerade nicht berücksichtigt haben: Die Sprechakttheorie formuliert nirgends wirklich eine Theorie des Performativen, vielmehr bleibt sie zuletzt in einer pragmatischen Bedeutungstheorie stecken, die das Frege-Husserlsche Modus-Problem der Semantik auf die Seite des Performativen verschieben, um es von dort aus mit Blick auf die verschiedenen Modalitäten des ›Verwendens-als‹ zu reformulieren. Entsprechend blieben ihre Analysen vollständig in den Regimen des Intentionalen und des Sinns stecken. So betont etwa Searle in seiner Kritik an Derrida: »There is no getting away from intentionality, because a meaningful sentence is just a standing possibility of the corresponding (intentional) speech act«.8 Der illokutionäre Modus meint genau dies: Etwas sagen und etwas tun sind dasselbe – der Akt der Behauptung entspricht der ausgedrückten Behauptung wie sich in ihm gleichermaßen Inhalt und Handlung kreuzen. Das heißt aber, dass zwischen beiden das Verhältnis einer Identität besteht. Folglich gibt es auch keine Dissonanz, kein Auseinanderklaffen und damit keine Behauptung, die ein Angriff wäre, die ihren Adressaten demontierte, ihn bloßstellte oder von sich distanzierte, die sich, wie im Eingangsbeispiel, merkwürdig entzöge und gerade dadurch eine Zweideutigkeit, eine Situation der Unsicherheit und des Zweifels schaffte, um 7 | S. Felman, The Scandal oft he Speaking Body. Don Juan with John L. Austin, or: Seduction in Two Languages, Stanford University Press 2002; J. Butler, Haß spricht. Zur Politik des Performativen, Frankfurt a.M. 1998; vgl. auch E. Rolf, Der andere Austin. Zur Rekonstruktion/Dekonstruktion performativer Äußerungen – von Searle über Derrida zu Cavell, Bielefeld 2009. 8 | J. R. Searle, Reiterating the Differences. A Reply to Derrida, Glyph 1 (1977), S. 198-208, hier: S. 202
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auf einen Anderen zu treffen, der aus ihr bereitwillig eine Aggression oder eine Geste der Geringschätzung ableitet. Es ist aufschlussreich, dass die Sprechakttheorie solche sequenziellen Serien abgetan und entweder aus ihren Untersuchungen zum Zwecke der Vereinfachung getilgt oder sie dem Bereich des ›Perlokutionären‹ als einem anderen, nicht zur Sprachhandlung gehörenden Effekt der Rede zugeschlagen hat – jenem Bereich also, den wir im Gegenzug als nicht trennbar vom Illokutionären erachten und der den Kern einer Überschneidung zwischen dem Medialen und dem Performativen ausmacht.9 Searle verhält sich demgegenüber eindeutig: Aspekte der Faktizität des Aktes werden ebenso ignoriert oder ausgelöscht wie die konstitutionelle Unbestimmtheit der Differenz dessen, was als Handlung und seine Folgen apostrophiert werden kann. Das diskursive Manöver ist klar: Wenn der Ausgangspunkt das Intentionale, das »Prinzip der Ausdrückbarkeit« sowie die wesentliche Konventionalität bzw. Regelgeleitetheit einer Handlung sind, dann ist jeder für das, was er sagt und tut, verantwortlich und kann umgekehrt, wie im Falle böswilliger Behauptungen oder nicht eingehaltender Versprechen, zur Verantwortung gezogen werden.10 Ersichtlich setzen Searle – und auch Austin wie ebenso nachfolgend Habermas und Karl-Otto Apel – den Glauben an die Stabilität des Subjekts fort; hingegen interessieren in unserem Zusammenhang jene Konsequenzen, die nicht gelegentlich als Koinzidenzen oder beiläufige Nebenwirkungen im kommunikativen Geschehen auftreten, etwa wenn uns ein dialogisches Missgeschick ereilt – das, was Austin als Fall einer ›Verunglückung‹ auffasste – oder wenn das Gespräch entgleitet, weil an ihm mehrere, unkontrollierbare Intentionen beteiligt sind, die das Zentrum des sprachlichen Prozesses kennzeichnen und ereignishaft dessen systematischer Indetermination und Unverfügbarkeit entspringen. Vor allem jedoch interessieren jene Augenblicke, da beide – Intentionalität und Nichtintentionalität – ineinander verschwimmen und Frakturen oder Widersprüche ausbilden, da Risse und Überlagerungen im Verlaufe einer Verständigung derart proliferieren, dass sich Wahrheit und Lüge, Versprechen und Täuschung
9 | Vgl. dazu vorläufig D. Mersch, Meta/Dia. Zwei unterschiedliche Zugänge zum Medialen, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung, Bd. 2 (2010) Hamburg, S. 185-208. 10 | J. R. Searle, Sprachakte, Frankfurt a.M. 1973, S. 35.
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oder Gewalt und Anerkennung ununterscheidbar miteinander vermischen.
P erlokutionarität und P erformativität Unsere Analyse von Performativität und Gewalt setzt genau hier an – deshalb der Rekurs auf Laing, neben Gregory Bateson und Paul Watzlawik einer der seltenen Meister des Paradoxen, des double binds in der Kommunikation, welche auf diese Weise zu den Grundfiguren der Szenen des Performativen avancieren. Die Behauptung ist: Diese und ähnliche Figurationen lassen sich über die, im engeren Sinne, Orte der Sprache und der Kommunikation hinaus verallgemeinern. Sie betreffen dann nicht nur Gesprächssituationen, sondern die generelle Struktur der Szene sozialer Beziehungen und ihrer Situierung. Ihr Charakter gleicht dabei weit eher dem Perlokutionären, nicht der Illokution, wie sie Searle in den Vordergrund rückte und dem, im Gegensatz zu seiner behavioristischen Auszeichnung bei Joshua Grice, nunmehr eine dominante Rolle zufällt, weil der Perlokution eine systematische Spaltung inhäriert. Darin liegt auch die immanente Beziehung zwischen dem Perlokutionären und dem eigentlich Medialen performativer Szenen, wobei, wie ausdrücklich hinzugefügt sei, der für Sprechakte reservierte Ausdruck des Perlokutionären an dieser Stelle nicht strikt, sondern metaphorisch verwendet wird. Während also Illokutionen Identitätsfiguren aufrufen – die Behauptung als Inhalt entspricht der Behauptung als Handlung, das Versprechen als Satz ist das Gesetz seiner Versprechung als Tat – implizieren Perlokutionen Differenzsetzungen, die eine soziale Situation ebenso sehr praktisch mediatisieren wie perforieren und dissoziieren: Etwa wenn eine Behauptung als faktischer Abbruch eines Gesprächs fungiert, eine Tröstung eine Beschwichtigung und eine Zuwendung eine Herablassung darstellt oder Schweigen sich in eine Gebärde der Arroganz verwandelt. Man kann die Liste der Beispiele unbeschränkt fortführen, etwa indem man auf den spezifischen Hochmut einer Bescheidenheit aufmerksam macht bzw. auf die Verwandlung einer Wahrheit in offene Brutalität oder eines Aktes der Zuvorkommenheit in eine Demütigung. Gleiches wäre, in einem ganz anderen Bereich, von der Schönheit zu sagen, indem das Begehren nach ihrer Ikonisierung zur Verdichtung einer Gewalt gehört, die das eigene Gesicht und den eigenen Körper affiziert und gar nicht anders kann als
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die Selbstwahrnehmung unter den fortwährenden Verdacht eines Mangels zu stellen. Der Ubiquität ihrer Präsenz durch die öffentlichen Bildökonomie schlägt dann in Terror um, die zwei unterschiedliche Realitäten kreiert: die des gewöhnlichen Lebens und die der Stars, der Celebrities als der Anderen, die zugleich in unerreichbare Ferne rücken. Diese Andeutungen mögen genügen, um deutlich zu machen, dass die performative Szene ihre eigene, unaushandelbare Wirkung generiert. Dabei ist entscheidend, dass die angezeigte Differenz oder Dissoziation nicht vorderhand als das Produkt einer intentionalen Zwecksetzung angesehen werden kann – als ob wir alle Mittel unseres Ausdrucks in der Hand hielten –, sowenig wie sie aus der Sprache ein Werkzeug macht, das dem freien Willen genügt und sich so oder so einsetzen ließe, vielmehr enthüllt die Spaltung allererst die Grenze und Möglichkeit ihrer kommunikativen Praxis. Wie ein Scharnier greifen dann Eröffnung und Verhinderung, Einschließung und Ausschließung ineinander: Das Paradigma des Perlokutionären als zugrunde liegendes Modell des Performativen offenbart ein konstitutionelles Paradox, das sich, wie man auch abgemilderter und vorsichtiger formulieren könne, als ein pragmatisches différance-Prinzip lesen lässt. Denn unter dem Eindruck der Szene und seiner ebenso entfremdenden wie transformatorischen Kraft erweist sich eine Behauptung zugleich als keine Behauptung, wie ein Versprechen kein Versprechen ist, das eingelöst werden muss, sondern immer auch etwas anderes. Und wie eine Zuwendung eine versteckte Abweisung oder die Partizipation an einem fiktional Ästhetischen eine Anästhetisierung bedeutet kann – das ist die hier vertretene These –, erzeugt die spezifische Strukturalität performativer Szenen ihre eigene Dynamik, setzt sie fort, ›ent-faltet‹ sie im buchstäblichen Sinne ständiger Faltungen neu und anders, um auf ihre je spezifische Weisen Formen der Gewalt auszubilden. Begegnungen, soziale Beziehungen, mithin auch Kommunikationen sind Ereignisse dieser unablässigen Differenzierung und Entfaltung. Anders gewendet: Das Paradox und die Multiplizierung seiner Verwerfungen, die den Sinn buchstäblich ›ent-stellen ›, spielen ihr eigenes Spiel mit den Beziehungen und der Sprache oder mit den Situationen wechselseitiger Interaktion, welche als Spiele gleichzeitig jene performativen Szenen generieren, worin Sozialität wie auch ihre Unterbrechung statthat. Die Exekution einer Handlung bedeutet dann ihren fortwährenden Austrag wie gleichfalls die Ereignung einer Differenz, die eben deshalb geeignet ist, aus einem Versprechen eine Finte, eine unannehmbare Liebesbezeu-
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gung, eine Haltung der Unterwerfung und dergleichen zu machen – und zwar nicht, weil sie so gemeint sind, sondern weil sie durch die Szenen immer schon ›gewendet‹, mithin auch der Herrschaft des Handelnden ›ent-wendet‹ und entzogen worden sind. Sagen, Handeln bedeutet folglich, stets etwas anderes sagen oder tun – eine Andersheit in sich, weil sie von Anfang an durch die Bedingungen des Szenischen bereits verwandelt wurden. Jeder performative Vollzug einer Handlung oder jede Verwendung eines Ausdrucks ›unter-zieht‹ sich in diesem Sinne ihrer ununterbrochenen ›Wendung‹ wie sie gleichzeitig szenisch einer Alterität unterliegen, die weniger die Alterität der beteiligten Anderen meint, als vielmehr jener »Ent-Wendung« oder »Ver-Anderung«, die immer schon ›an der Arbeit‹ ist und darin besteht, dass wir nirgends darüber verfügen, wohin eine Handlung oder ein Gesagtes sich gewandelt oder verschoben haben wird. Worauf diese Überlegungen also hinaus möchten ist, dass dieses ›Immer-schon-Ent-Wendet-‹ bzw. ›Verandert-sein‹ ein Indiz für das genuin Tragische der menschlichen Situation liefert. Anders formuliert: Jeder Szene des Performativen wie jedem Akt sozialer Performanz liegt die Tragödie nahe – wie sich umgekehrt sagen lässt, dass die griechische Tragödie, ihre rituelle Aufführung, die exemplarische Darstellung solcher existenziellen Paradoxien – und ihrer performativen différance – bedeutete, wobei abermals die Derridasche Wortschöpfung der différance als Metapher fungiert. Das wird deutlich, wenn diese différance, die sich im Rücken der Akteure abspielt und ihre Handlungen verwirrt, stört oder zum Scheitern verurteilt, für den Fortgang des ›Dramas‹ selber sorgt. Nichts anderes hatten auch die alten Vorstellungen des diabolé oder diábolos, wörtlich des ›Durcheinanderwerfens‹ im Auge: Etwas geschieht, dessen sich die Einzelnen auf keine Weise inne werden können, das jedoch etwas mit ihnen macht und die Potenz besitzt, sie ihrer Souveränität zu berauben, ja sogar sie über sich täuschen und im Glauben einer Herrschaft die unverfrorensten Verbrechen begehen zu lassen. Seine verhängnisvolle Kraft aber bezeugt das diabolé vor allem im Augenblick des Umschlags in Gewalt. Wir sind dann gleichsam mit einem ›Realen‹ im Lacanschen Sinne, mit der Fragilität und Instabilität des Sozialen im Maße einer machtvollen Präsenz ohne Namen konfrontiert, vermöge derer wider Willen ein Anderes auftaucht, das unheimlich oder unbotmäßig ›dazwischenfährt‹ und mit einem Mal die Schleier gutgemeinter Vorsätze und moralischer Integritäten zerreißt – und zwar so sehr, dass sowohl die antiken Reli-
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gionen als auch die ihrer christlichen und manichäistischen Nachfolger nicht zögerten, darin das Werk eines diabolischen Prinzips zu erblicken.11
Z ur S truk tur analyse des P erformativen Um diesem geheimnisvollen, gegenfinalen Wirken genauer auf die Spur zu kommen, sei im Weiteren versucht, einige Strukturelemente dessen zu entschälen, was wir zuvor die ›Szene des Performativen‹ genannt hatten. Dabei soll deutlich werden, dass wir es stets mit einer Überschneidung, einem Chiasmus zwischen Intentionalität und Nichtintentionalität bzw. Offenheit und Schließung oder Aktivität und Passivität zu tun haben. Insbesondere wäre der Begriff des Performativen weniger bedeutungstheoretisch zu lesen, als vielmehr praxeologisch, d.h. von dem her, was die Performanz einer Handlung ›anrichtet‹. Einen Wink in diese Richtung gibt die vorläufige Austinsche Bestimmung, dass etwas sagen etwas tun heißt, d.h. dass die Rede selbst eine Praxis ist, die jedoch als solche vollzogen werden muss. Ihr Vollzug bedeutet, sie sowohl in der Welt zu manifestieren, als auch auf sie zu reagieren. Vollzüge geschehen nicht für sich, vielmehr sind sie auf eine Situation – eine Szene – bezogen, worin sie sich verorten und die sie verschieben. Maßgeblich für die Unterscheidung von Performativität und Handlung ist dabei der Realisierungscharakter der Performativen: Eine Handlung vollziehen bedeutet, sie zu instantiieren, ihr eine Realität verleihen. Mit anderen Worten: Dem ›PerFormativ‹ eignet eine realitätssetzende Macht. ›Setzung‹ aber impliziert hier die Duplizität von Setzen und Gesetztsein, d.h. ebenso sehr die Dimension der Hervorbringung wie Ereignung – im Unterschied zu jenem idealistischen Verständnis, wie es Fichte als erste Setzung, der Setzung des Nicht-Ich im Ich bezeichnete, die stets noch die Freiheit des Willens und damit den Vorrang der Subjektivität aufrief.12
11 | Vgl. insb. K. Röttgers, Teufel und Engel. Bibliothek dialektischer Grundbegriffe, Bielefeld 2005. 12 | Vgl. dazu unsere Ausführungen in: D. Mersch, Das Ereignis der Setzung, in: E. Fischer-Lichte, C. Horn, M. Warstat (Hg.): Performativität und Ereignis, Tübingen Basel 2002, S. 41-56; ders., Performativität und Ereignis. Überlegungen zur Revision des Performanz-Konzeptes der Sprache, in: J. Fohrmann (Hg.): Rhetorik.
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Setzen und Gesetztsein schließen jedoch in Bezug auf den Akt ein Dreifaches ein: Ein-Setzung im Sinne der Instantiierung einer Handlung, Aus-Setzung im Sinne einer Exposition des Handelnden im Akt sowie gleichfalls seine Aussetzung gegenüber Anderen, denn was immer ich tue, wie immer ich mich zu etwas verhalte, zeige ich mich im Handeln mit, exponiere mich und setze mich mit meiner Leiblichkeit der Szene des Performativen aus und mache mich verwundbar. Hinzu kommt als drittes Moment die Ent-Setzung oder ›Trans-position‹, denn jeder Akt greift auch in die Szene ein, irritiert oder verschiebt sie, und zwar auf eine zugleich irreversible wie unkontrollierbare Weise, wie er gleichermaßen auch durch die Art der Handlung der beteiligten Anderen ›entsetzt‹ oder transponiert wird, indem diese seinen Sinn, sein Begehren und seine Richtung unterbrechen und ›auf‹ der Szene ›ent-wenden‹. Wir haben damit drei Hinsichten, drei Differenzialitäten oder Schnitte, die als Leitmotive dienen mögen, um eine Strukturanalyse der ›Szene des Performativen‹ durchführen zu können. Diese ›ur-sprüngliche‹ Triplizität der ›Setzung‹ als erstes Strukturmerkmal des Performativen schafft dabei ein dichtes Gewebe einander bedingender Differenzen, die den Akt auf mehrfache Weise zäsurieren. Bezieht sich die Setzung auf die Exposition einer Handlung im Sinne der Tatsache, dass sie ausgeführt werden und in der Welt stattfinden, d.h. im Materiellen situiert werden muss, hat die Bestimmung des Performativen weniger etwas mit der Repräsentation einer Absicht oder der Erfüllung einer Intention zu tun, auch nicht mit einer Inszenierung oder einer bewussten Aufführung, sondern mit dem Ereignis ihrer Realisation, das mannigfachen Dispositionen unterliegt. Performative Akte haben in diesem Sinne Anteil an Kontexten, Regeln und Konventionen – dies war die Austinsche und Searlesche Position –, gleichzeitig gefährden sie diese aber auch, indem jede Setzung partiell den Kontext oder seine Regeln außer Kraft setzt. Performationen besitzen insofern – worauf besonders Derrida mehrfach abgehoben hat – die Kraft zur Veränderung: Sie modifizieren die Szene, der sie entstammen.13 Deswegen gehören ›Ein-Setzung‹, ›Aus-Setzung‹ und ›Ent-Setzung‹ zusammen: Jedem Akt ist die prinziFiguration und Performanz, Schriftreihe Germanistische Symposien, Berichtband 25 2004, S. 502-535. 13 | Vgl. bes. J. Derrida, Signatur Ereignis Kontext, in: ders., Randgänge der Philosophie, Wien 2., überarb. Aufl. 1999, S. 325-351.
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pielle Fähigkeit zur Krisis inskribiert, mithin gleichermaßen zur Destabilisierung wie Transformation einer Situation, denn ›Ver-Wendung‹ schließt ›Wendung‹ ein. Der einfachste Fall einer solchen Transformation ist, gemäß Derrida, das Zitat, das als Zitat provokativ, frivol oder entlarvend wirken kann. Es untergräbt, gerade wo es eine Negation explizit zu machen vermag, die Ordnung des Sozialen, auf die es reagiert. Ähnliches gilt vom Witz, der für die klassische Sprechakttheorie gleichermaßen analytisch kaum zu bewältigen ist. Es gibt allerdings auch drastischere Beispiele: Eine übertriebene Höflichkeit kann Verachtung für den Betroffenen ausdrücken, ein unschickliches Wort eine Institution erschüttern, wie ebenfalls die Hetze, die Hate-Speech nach Judith Butler durch ihre ironische Aneignung und Entwendung, die nichts anderes tut, als sie zu wiederholen, neutralisiert werden kann. Die Sprache hält viele solcher Strategien bereit, die Szene des Performativen zu unterlaufen oder sie mit einem einzigen Ausruf umzustürzen, wie sie gleichfalls die Möglichkeit zulässt, aus einem einvernehmlichen Dialog ein Desaster zu machen, einfach durch die Tatsache, dass er geschieht, um dadurch dem Anderen sein eingeklagtes Recht auf Streit zu nehmen. Wir unterscheiden damit ›Streit‹ und ›Dialog‹: Letzterer vermag den Streitpunkt, die Quelle der Auseinandersetzung auszulöschen, und zwar dadurch, dass er – indem er stattfindet – die Problematisierung der Rede als Ort der Schlichtung aus jeder kritischen Reflexion ausnimmt. In diesem Sinne eignet der Performation eine Exzentrizität, d.h. eine Öffnung von Situationen wie auch umgekehrt ihrer Schließung oder der unabweisbaren Unmöglichkeit einer Fortsetzung. Man kann nach Niklas Luhmann nicht anders als anschließen – doch ist das Gegenteil ebenfalls der Fall: In jedem Anschluss liegt, und zwar wegen seiner performativen Dimension, die Möglichkeit eines Verrats oder einer katastrophé, eines Zerwürfnisses und damit des Untergangs einer jeden sinnvollen Anschließbarkeit. Selbstverständlich können alle diese Umkehrungen und Umschläge auch das Ergebnis einer Intrige sein, wie sie ebenso gewiss auch passieren können, weil sich stets eine unübersichtliche Anzahl von Akteuren im Spiel befinden, die einen Knäuel sich überkreuzender und einander widerstreitender Interventionen produzieren. Sogar längst vergangene Handlungen, die, wie man weiß, wie Gespenster auf der aktuellen Szene lasten, aber auch psychische Verstellungen oder Tabus sowie Hierarchien und materielle Strukturen vermögen mitzuwirken und sich tief ins Gewebe sozialer Beziehungen einzugraben. Daraus folgt als zweites Struk-
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turmerkmal ein hartnäckiger Chiasmus zwischen Intentionalität und Nichtintentionalität, der der Offenheit-Schließung gleichsam entgegenwirkt und sich in die relevanten Prozesse von Anfang an miteinschreibt. Notwendig bleibt nämlich das Performative auf einen Hintergrund bezogen, worin es sich platziert und der als solcher entgeht. Das besagt auch, dass jeder Szene, die es hervorruft, eine andere Szene vorausgegangen sein wird, welche ihre Optionen ebenso definiert wie einschnürt und zwingt, auf sie zu antworten. Performativität und Responsivität gehören insoweit zusammen. Und insofern wir nie wissen können, worauf wir im Antworten antworten, noch, was unser Antworten bedingt oder auslöst, entgleitet uns im selben Maße die Struktur des Responsiven wie dieses sich selbst als Setzungen vollbringen muss.14 Wir betreten hier den Raum jenes Nichtverfügbaren, der mit den gegenfinalen Effekten des Handelns eng verquickt ist und dessen Milieu charakterisiert. Denn jede Handlung verbindet uns mit Anderen und anderem, weshalb gleichfalls Performativität und Alterität zusammengehören: Wir sind mit ihr verwachsen, berühren sie, um im gleichen Augenblick, ähnlich einer Dialektik im Taktilen, durch sie, zuweilen auf unbotmäßige Weise, berührt zu werden. Anders ausgedrückt: Sich in Szenen des Performativen auf halten, in ihnen zu sein – zu existieren – bedeutet, auf eine ebenso gefährdete wie subtile Weise ausgesetzt zu sein. Wenn also vorhin Performativität und Aussetzung in der Bedeutung von Exposition zusammengedacht wurden, dann in dieser doppelten Hinsicht, welche die Möglichkeit einer Gewalt immer schon einschließt: Handeln heißt, im aktiv-passiven Sinne sich exponieren zu müssen, heißt sich vorzuführen, auszustellen, zugleich aber auch, sich selbst aufzudrängen und durch die schiere Präsenz Macht ausüben – wie Sich-Aussetzen gleichfalls immer meint, sich prinzipiell des Übergriffs und der Willkür anderer zu überlassen. Unvermeidbar erweisen sich so die performativen Szenen insoweit von Gewalt erfüllt, als zu ihnen ein Verhängnis und eine ›Verhangenheit‹ oder Opazität gehört, die vereitelt, über die Situation zu gebieten. Stets ist man im selben Maße Täter wie Opfer. Mehr noch: Man ist eher Leidender als der eingebildete Herr über die Lage. Jeder Exponierung öffentlichen Handelns eignet insofern – entgegen der Habermasschen Symmetriethe14 | Vgl. zum Begriff des Responsiven: B. Waldenfels, Antwort-Register, Frankfurt/M 1994 sowie unsere sich daran anschließende Überlegungen in D. Mersch, Was sich zeigt, a.a.O. (Anm. 3).
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se – der Charakter einer prinzipiellen Asymmetrie, einer Nichtwechselseitigkeit oder Non-Reziprozität. Sie legt den Bruch, den Konflikt nahe und verlangt eine fortgesetzte Bannung, Hemmung oder Eingrenzung möglicher Übergriffe, wie sie sich in der Vielzahl sozialer Rahmenbedingungen, Gesetzen, Konventionen, Normen oder Etiketten verkörpern, die ihrerseits selbst dazu tendieren, ins Repressive umzuschlagen – und ihre kompakte Massierung am Ort der Szene ist bereits ein Indiz dafür, wie viele Barrieren und Grenzziehungen erforderlich sind, um die Gewalt des Performativen in Schach zu halten, während umgekehrt ihr Fehlen, zumindest ihre zeitweise Lockerung und Enthemmung der Grund dafür zu sein scheint, weshalb z.B. in Internet-Foren der rüde Ton, die Gehässigkeit sowie eine Art sozialdarwinistisches Recht des Stärkeren vorherrscht: Medien bieten in dieser Hinsicht eine Anzahl von Optionen, sich vom Druck der Regularien zu entlasten, um dabei ständig neue Gewaltformen zu gebären. Die Sozialität, deren Bedingung dem Menschen nicht anheimgestellt ist, die ihn vielmehr allererst im doppelten Wortsinne ›definiert‹, erweist sich darum im hohen Maße als unwahrscheinlich, wie auf der anderen Seite die Ethik und das Gesetz, das sie zu garantieren suchen, an Anomie und Asozialität partizipieren.
P erformativität und Passivität Neben der Exposition oder ›Aus-Setzung‹ lassen sich darüber hinaus eine ganze Reihe weiterer nichtintentionaler Strukturmerkmale des Performativen anführen, die für dessen Szene konstitutiv sind. Dazu gehört in erster Linie das stets nahe liegende Risiko der Verfehlung. Es wird nach Hillary Putnam dadurch bedingt, »auf welche Weise« ein Akt vollzogen wird.15 Kontinuierung und Diskontinuität sind daran gekoppelt. Zwar ist, wie man handeln sollte oder es schicklich erschiene zu handeln, normativ sanktioniert, doch ist das Einhalten von Normen oder Maximen stets brüchig wie umgekehrt ein Ungehorsam gegenüber den Regeln allererst die Voraussetzung einer Verschiebung oder Öffnung der Szene bildet. Entsprechend wird ihre Stabilität jederzeit sowohl durch die permanente Instabilität des Aktes als auch durch die Tatsache seiner andauernden Unkontrollierbarkeit unterhöhlt. Hinzu kommt das, was man die ›Unfüg15 | H. Putnam, Vernunft, Wahrheit und Geschichte, Frankfurt a.M. 1990, S. 48f.
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lichkeit‹ des Leibes nennen könnte, der Umstand, dass dem Handelnden seine eigene Leiblichkeit nie ganz zur Verfügung steht, dass der Körper immer schon ›dazwischentritt‹, sich dekontrolliert und aus dem ›Bild‹ fällt – wie überhaupt der Materialität des Aktes ein eigenes Gewicht, eine eigensinnige und kaum zu verdrängende Gravitation zukommt. Sie bildet nicht das Produkt einer Intentionalität, sondern mischt sich laufend und unbotmäßig in die Abläufe ein, stört sie, verleiht ihnen eine Trägheit, eine kaum zu bewältigende Schwere. Es ist bezeichnend, dass sie in den klassischen Analysen entweder marginalisiert oder der Unbestimmtheit kontextueller Randbedingungen zugeschrieben wurde,16 und doch konfrontieren sie uns beständig sowohl mit ihrer Widerständigkeit als auch mit einem Überschuss, einer Exzedenz, die sich jeder angemessenen Theoretisierbarkeit sperrt. Als ›Setzungen‹ in der Welt erweisen sich Performationen daher als buchstäblich von der Welt durchtränkt; und es ist diese, die deren nichtantizipierbare Konsequenzen induziert, weil sie realiter in etwas eingreifen, was nicht von ihnen regiert werden kann. Verweist das performative Element somit auf die Teilnahme und Teilhabe am Realen, lässt es die Handlungen durch die selbst noch unverfügbare Wirklichkeit des Handelns allererst eine Wirklichkeit werden. Wir haben es folglich mit einer Unüberschaubarkeit oder Nichttotalisierbarkeit zu tun, die erneut im doppelten Sinne zu verstehen ist, einmal insofern der Kreis performativer Szenen mit ihren Verwerfungen und Nicht-Intentionalitäten niemals zur Gänze abgesteckt werden kann, zum anderen aber weil diese als solche selber nicht bestimmbar oder eingrenzbar wären: Wir wissen – per definitionem – nichts über das, was sich unserer Zugangsweise verwehrt: Es sprengt – buchstäblich – den Rahmen. Es kommt eine letzte Eigenschaft hinzu, die uns unmittelbar wieder zum Thema der Gewalt zurückbringt, denn jedem Akt wohnt die Besonderheit seiner Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit inne. Jeder Vollzug einer Handlung macht sie durch seine unverwechselbare Vollzugsweise sowie durch die Situation und ihr weitgespanntes Gespinst von Bezügen 16 | Der Begriff des Kontextes innerhalb der Theorie des Sozialen bezeichnet eigentlich ein Ärgernis, denn auf den Kontext beruft man sich, wo der Eigensinn der Bedeutungen gerade nicht mehr verstanden wird, indem man ihn zum Ort ihrer Verschiebung erklärt, der jedes Mal dann hervortritt, wo deren Bedingung unklar ist und Bezüge relativiert werden müssen – wo sie sich verwischen. Der Kontext deckt ab, was unbestimmt bleibt, was keine klare Kontur besitzt.
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und ›Voraus-Setzungen‹ singulär. Prinzipiell scheinen Handlungen repetierbar, wie deren Wiederaufführung, ihre Stereotypie, ja ihre zuweilen maschinelle Invarianz in Institutionen bekundet, aber im gleichen Maße bedeutet die Performation deren ›Alteration‹, die jeden Akt ebenfalls zu einer Ausnahme macht. Sie exkludiert dessen Semiotizität. Gewiss sind Handlungen, trotz ihrer Spontaneität und relativen Freiheit, symbolisch; jedes Ritual fußt auf einer Symbolisierung wie ebenso das Spiel der gegenseitigen Höflichkeitsbezeugungen, das eine Begegnung einleitet und die Szene eröffnet, oder die ›Einzigkeit der Gabe‹, das Paradox ihrer Nichterwiderbarkeit im Sinne einer ›Rück-Gabe‹17 immer an Zeichen und Verpflichtungen geknüpft sind, die in den Komplexen sozialer Abhängigkeit tiefe Furchen hinterlassen und vieles mehr. Dennoch haftet auch jedem Akt ein Nichtzeichenhaftes, eine Exklusivität der Untreue an, die ihre Verständlichkeit irritiert und die eindeutig adressierbare Bedeutung verunsichert. Ist nicht deshalb jene wechselseitige Abwehr möglich, von deren alltäglicher Szene wir unseren Ausgang nahmen? Obgleich immer wieder vollzogen, routiniert und eingeübt bleibt in jeder Begegnung trotzdem auch etwas Unvorhersehbares, eine Frage, deren ›was soll das‹, ›was will diese oder jener‹, ›warum handelt er/sie so‹ nicht nur ihr ›Gelingen‹ von Anbeginn an zu untergraben vermag, sondern – im Gegensatz zu deren säuberlicher Trennung bei Austin – das ›Gelingen/Scheitern‹ gegeneinander ununterscheidbar macht. So erweisen sich die Singularität des Aktes einerseits, die die Präsenz seiner Präsentation konstituiert, sowie die Möglichkeit seiner Nichtantizipierbarkeit und Anfälligkeit als gleichursprünglich. Die griechische Tragödie bezeichnet nichts anderes als deren fortgesetzte Reflexion. Natürlich handelte es sich um ein religiöses Fest, einen fest in die Polis eingebundenen Kult, um eine Wiederversicherung der Ungreif barkeit des Schicksals und eine rituelle Versöhnung (katharsis) herzustellen, und doch geschieht diese durch die Eröffnung exemplarischer ›Szenen‹ eines Dramas – im wörtlichen Sinne eines Handelns – im Zeichen einer ›ursprünglichen‹ Paradoxalität der menschlichen Praxis. In ihnen spielt die Gewalt eine ausgezeichnete Rolle: als Menschlichkeit, die unmenschlich wird, als Überschreitung einer Grenze, die Ethos und Gesetz miteinander konfligieren lässt, als Verlust einer Ordnung gerade durch ihre Re17 | Siehe J. Derrida, Falschgeld. Zeit geben I, München 1993. Vgl. auch M. Wetzel, J.-M. Rabaté (Hg.): Ethik der Gabe, Berlin 1993.
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instantiierung, als Begehren, das plötzlich und unerwartet auftaucht und das Netz der menschlichen Beziehungen zerreißt wie auch als Unmäßigkeit einer Tat, die das stets labile Gleichgewicht, den Ausgleich und die harmonia als notwendige Voraussetzungen des Sozialen untergräbt. Jede Handlung, das lehren diese Exempla, bleibt in ihrem Kern unkalkulierbar – nicht nur in Ansehung ihrer Folgen oder Wirkungen, sondern auch in Ansehung einer intrinsischen Gewaltsamkeit, weil sie auf eine erschreckende Weise an ihre Irreversibilität gekettet ist. Zwar kann grundsätzlich jeder performative Akt revidiert werden; doch bedingt seine Revision gleichzeitig seine Verschiebung oder Modifikation auf der Szene, ihre notorische Dekontrollierung, die ihr ihre eigenen Entropie auferlegt. Wollte man sich für ein Missgeschick, eine unbedachte Übertretung entschuldigen, ein Unheil wiedergutmachen oder eine Kränkung und einen ungerechten Angriff heilen, bedeutete ihre Entschuldigung, ihre Wiedergutmachung und Heilung womöglich ihre Verdopplung und damit ihre paradoxe Aufrechterhaltung, die im gleichen Maße auf sie zurückschlagen kann, um den eingetretenen sozialen Riss ein für alle Mal unbesänftigt zu lassen. Unmöglich, in Abwandlung eines Wortes von Franz Kafka, sich stattdessen zurückzuhalten und nicht zu handeln – denn vielleicht induzieren gerade die Askese, die Flucht oder das Schweigen eine viel weitreichendere Form von Gewalt.
D as Tr agische im E thischen Erscheinen damit für die ›Szene des Performativen‹ die stets mehrdeutigen Momente der Setzung, der Offenheit, der Materialität und Körperlichkeit, der Ereignishaftigkeit sowie die vielfältigen Chiasmen von Intentionalität und Nichtintentionalität mit ihren Aspekten der Unbestimmtheit, Unverfügbarkeit und Irreversibilität als ausschlaggebend, heißt einen Akt begehen stets, eine Schwelle überschreiten und in eine Unumkehrbarkeit eintreten, die mit dem einfachen ›Dass‹ ihres Vollzugs immer schon vorgenommen worden ist. Dies deutet auch, dass wir vom Standpunkt des Performativen je schon ins Ethische gestellt sind. Wir sind so unbedingt ins Ethische gestellt, dass es schlechterdings keine Ausnahme, keine Unterbrechung und keinen Freiraum gibt. Das Faktum der Existenz duldet daher so wenig eine Verneinung, wie eine Umdeutung oder Überschreibung. Deshalb hatte Walter Benjamin notiert, dass die »höchste Kategorie
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der Weltgeschichte (…) die Schuld« sei:18 Bei allem, was getan wird oder gemacht werden kann, übt der Mensch Gewalt aus. ›Gewalt‹ ist hier die Bezeichnung für die Machtlosigkeit, die Entwendung und Irreversibilität der Tat ›auf der Szene‹. Es gibt deshalb auch keine Intervention, keinen revolutionären Umsturz, wie unausweichlich er auch erscheinen mag, der nicht schon eine Form von Gewaltsamkeit beinhaltete und woran sich dessen ethische Brisanz entzündete. Weder kann man etwas erwirken noch etwas verändern ohne zu überschreiten oder das Gewesene und seine Ordnung hinter sich zu lassen, d.h. ohne die Negation; doch gleichzeitig gibt es auch keine Transformation ohne Deformation, keine Verwandlung ohne Entstellung. Jede Erfindung beinhaltet mithin eine Tötung. Sie zeugt von der Unheimlichkeit, die die Arbeit der Selbstentwicklung begleitet und sich ihrer Reflexion und Absicht entgegenstellt. Ihr haftet jene genuine Tragödie an, die ausdrückt, dass jedes Projekt, jeder Vorwurf einer actio oder einer Handlung wie auch jede Kreation eine unaufhebbare Ungerechtigkeit einschließt. Die menschliche Situation existiert nur aufgrund dieser adikia, dieser Ungerechtigkeit, der die Gerechtigkeit als Sekundarität, als re-actio erst nachfolgt. Deshalb hatten wir zu Anfang betont, dass die Gewalt ein zutiefst menschliches Thema ist, das nur im Bereich des Menschlichen auftaucht und allein dort Sinn hat. Man könnte sagen: Wie das Humane in einer tiefen Verschränkung mit dem Inhumanen gründet, so findet diese Verschränkung ihren Ort im Performativen, die die Gewalt unhintergehbar macht. Das bedeutet gleichzeitig: Mit dem Gesichtspunkt des Performativen wird die Dimension der Gewalt ubiquitär, und zwar sowohl als Element der actio, ihrer irreversiblen Setzung im Realen, als auch als Element der passio, der Verletzbarkeit und mehr noch der Widerfahrung des Ereignisses im Situativen, das sich nie vollständig erschließt oder kontrollieren lässt. Das klingt, als ob wir, angesichts der Nichtsuspendierbarkeit der Gewalt, überhaupt davor zurückschrecken müssten, etwas zu tun und uns auf die Welt und andere zu beziehen. Gerade ein solcher Schluss wäre allerdings fatal. Stattdessen geht es darum, den Ort der Gewalt zwischen actio und passio als ›ursprüngliche Tragödie‹ im Ethischen oder Sozialen auszumachen und als Grundbedingung der conditio humana auszuweisen. Das meint: Das Tragische bezeichnet dasjenige griechische Wort, das die Grundform der menschlichen Existenz beschreibt. Umgekehrt 18 | W. Benjamin, Das Passagenwerk, 2 Bde., Frankfurt a.M. 1982, Bd. 1, S. 92.
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bezeugt sich darin die historische Aufrichtigkeit der Tragödie und ihrer Aufführung als gleichermaßen mythische wie rituelle und existenzielle Form. Kulturell bezog sie daraus ihren Impuls wie ihr Motiv im Sinne einer Manifestation der menschlichen Situation als ›existenzieller Ethik‹: der beständigen ›Ent-Faltung‹ und ›Um-Faltung‹ der performativen Szene, die an jeder Stelle zugleich die Kräfte der Destruktion zulässt. Anders ausgedrückt: Die Szene des Performativen ist stets charakterisiert durch ein Feld von Differenzen, die sich chiastisch überschneiden und in Gestalten von lauter Paradoxa fortpflanzen. Wir haben sie, aus Gründen einer Verständlichmachung, im übertragenen Sinne als performatives différance-Prinzip entziffert. Die Akzeleration der Gewalt entsteht insbesondere durch dessen Leugnung oder Nichtachtung, etwa durch die Produktion von Souveränität und Homogenität. Nicht die Lösung oder Überwindung der Paradoxa verspricht darum eine Katharsis, eine Versöhnung innerhalb des Menschlichen – sie bildet allererst ihr Problem.
Von rechten Dingen Über den Ort der Moral heute Gerhard Gamm Um sicher Recht zu tun, braucht man sehr wenig vom Recht zu wissen. Allein um Unrecht zu tun, muß man die Rechte studiert haben. G eorg C hristoph L ichtenberg
Meinen Überlegungen zur Gegenwart der Ethik und der Ethik der Gegenwart möchte ich drei kleine Gedichtzeilen voranstellen, die H. M. Enzensberger unter dem Titel »Warnung vor der Gerechtigkeit« veröffentlicht hat: »Wir warnen Sie! Nicht auszudenken, was Ihnen zuteil würde, ginge es mit rechten Dingen zu.«1 Darum soll es gehen, um die mehrfach codierte Frage nach den rechten Dingen und dem, was uns zuteil würde, wenn alles mit rechten Dingen zuginge. Von drei verschiedenen Ausgangspunkten aus sollen Antworten gesucht werden: wozu Ethik – und wie weiter? Dazu wird der Blickwinkel, aus dem wir über Ethik, Moral und Verwandtes nachdenken, jeweils geringfügig verschoben. Es sollen ›Begriffe entworfen‹ und ›Ebenen geschaffen‹ werden (G. Deleuze), aber so, dass der Geist praktischer Philosophie in der Praxis des Philosophierens gewahrt bleibt. Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist der Widerstreit in der doppelten Bedeutung des »Wozu«: Zwischen der funktionalistischen Lesart, wo und wie die Ethik ihren Nutzen unter Beweis stellen, wozu sie im Leben, in der Wissenschaft, in der Politik usf. gebraucht werden kann und der genuin philosophischen Betrachtung: Wozu sie überhaupt gut sein 1 | H. M. Enzensberger, Warnung vor der Gerechtigkeit, in: ders., Leichter als Luft: Moralische Gedichte, Frankfurt a.M. 1999.
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könnte, um was für eine »Materie« oder einen »Gegenstand« es sich handelt, was ihr Ort wäre und was »Ort« in ihrem Zusammenhang überhaupt heißen könnte? Der erste Teil meines Beitrags – Ethik als Form und als Forum – bietet einen Einstieg, er sucht nach ersten Anhaltspunkten für die differentia specifica zwischen einer genuin philosophischen und anderen (üblichen) Betrachtungsweisen. Der zweite Teil – Ethik als Kritik der Ungleichheit – sucht die philosophische Besinnung auf das Ethische näher zu spezifizieren. Zu diesem Zweck betritt sie das Forum, das J. Rawls mit seiner »Theorie der Gerechtigkeit« geschaffen hat. Sie macht durchsichtig, bei welchen Fragen eine auf Verfahren gegründete Prinzipien-Ethik (der Gerechtigkeit) ins Schlingern gerät und es in jedem Fall besser wäre, sich von einer Analyse der Ungerechtigkeit leiten zu lassen. Es geht darum, zu zeigen, dass wir es in unserer sozialen Praxis (des Nicht-ungerecht-sein-Sollens) mit unauflöslichen Antinomien und Formen eines konstitutiven Nichtwissens zu tun haben, mit notwendigen Undingen, die nach der Seite ihrer philosophischen Reflexion und Präsentation auf ein sich verwerfendes oder verworfenes Wissen zurückgreifen müssen. Der dritte Teil beschäftigt sich mit der Ethik im öffentlichen Gebrauch, mit ihrer Funktionalisierung und Instrumentalisierung, ihrer Inszenierung und Indifferenzierung, die leicht möglich sind, weil im Mainstream der philosophischen Ethik heute eine (der modernen Gesellschaft angepasste) Ethik im Sinn eines »Denkens in Gelegenheiten« vorherrscht. Demgegenüber wird eine Ethik als »Denken in Verlegenheiten« in Betracht gezogen, deren kritischer Geist weht, wo er will. Diese Akzentverlagerung bedarf der Klärung der Grundbegriffe von Moral und Ethik. Deren Verhältnis lässt sich am besten erläutern, wenn man Moral zugleich als Grundlage und als Ausnahmezustand des Ethischen versteht.
E thik als F orm und als F orum Während die Rede von Ethik als Form darauf abzielt, sie (qua Ethos) als grundlegende Lebens- und Denkform vorzustellen: als das soziale Milieu (Medium), in dem sich unser aller Leben abspielt, richtet sich der Blick bei Ethik als Forum auf die Kommunikations- und Verständigungsprozesse, die wir über unser Leben führen: In ihre Bilder- und Zeichensprache betten
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wir unser Leben ein, über sie verstehen wir es, über sie verschaffen wir ihm Realitätsgewinne und -verluste, Evidenzen und Bestimmtheiten von unterschiedlicher Überzeugungskraft. Soziale Praxen sind mit gewöhnlichem Leben erfüllte Unterscheidungen. Ethik als Form, das heißt als soziale Praxis zu begreifen, bedeutet, in ihren grundlegenden Unterscheidungen wie gut und böse (schlecht), richtig und falsch, gleich und ungleich, zugehörig und fremdartig, nützlich/unnütz, sachlich/gefühlsbetont, aggressiv/friedfertig, engagiert/gleichgültig, kompetent/inkompetent usf. sozialisiert zu sein: in den Netzen dieser überkommenen oder uns aufgenötigten Unterscheidungen oder Praxen am Leben teilzuhaben. Form heißt, in den jeweils relevanten Unterscheidungen (Internalisierungen) zu leben, zu denken, zu fühlen und zu handeln. Forum bedeutet demgegenüber, die Form, in der wir leben, zu begreifen bzw. sich über sie zu verständigen. Ethik auf das Forum zu reduzieren, auf das also, was in den Universitäten und Akademien als Teil der praktischen Philosophie diskutiert und gelehrt wird, wird dem Form-Aspekt als ebenso konstitutivem wie umfassendem Bestandteil unseres individuellen wie öffentlichen Lebens so wenig gerecht wie die wissenschaftliche Expertise der menschlichen Erfahrung. Als Spezialfach der Philosophie, als Lehre und Darstellung abstrakter Theorien oder als kulturbeflissene Auslegung kanonischer Texte erfährt man wenig über die universelle Verbreitung, Bedeutung und Ambivalenz ethischer Intuitionen, wie sie an allen Orten und zu allen Zeiten, im Alltagsleben wie in der Politik, in der Wissenschaft und in der Literatur ihren Ausdruck gefunden haben. Unterhalb der Höhenkammliteratur der Philosophie und ihrer Debatten über Lebenswelt und Diskursethik, über Kommunitarismus und Liberalismus, Prinzipien- und (existentialistische) Situationsethik, über Wirtschafts- und Bioethik, über Umwelt- und Medienethik usf. werden ethische Fragen – ausgesprochen oder unausgesprochen – ununterbrochen und in allen Lebenslagen von den sozialen Akteuren kommuniziert. Auch wenn sie nicht explizit als solche benannt werden, laufen sie ständig mit. Auf dem allgemeinen Ethik-Forum besitzen alle gesellschaftlich relevanten Gruppen (Verbände, Parteien, Kirchen, Wissenschaftsorganisationen, Gewerkschaften usf.) ihre jeweils nach Interessen und Weltanschauungen gebündelten Stimmen bzw. Vertretungen. Philosophen sind dem gesellschaftlichen Proporz entsprechend nur in einer verschwindend geringen Anzahl vertreten. Aber falls man sie braucht, kann man sie jederzeit mieten. Welche besonderen Aufgaben stellen sich den Philosophen?
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Rechenschaft geben – Die besondere Aufgabe der Philosophie muss etwas mit der Art und Weise des Denkens (Nachdenkens) zu tun haben, damit also, wie sie (die) Ethik als Form in den Blick zu bringen versucht. Sind Philosophen Gesetzgeber, die, weil sie sich auf das Höchste aller menschlichen Vermögen, die Vernunft, kapriziert haben, glauben, gleichsam in Stellvertretung ihres reinen Interesses auftreten zu können? Oder sind sie bloß gewöhnliche Interpreten, die ihren moralischen und epistemischen Sinn an einem Gesichtspunkt aufgehängt haben, den sie in allen Selbstund Weltbeziehungen zur Sprache zu bringen versuchen? Was die Philosophen zunächst von allen anderen unterscheidet, ist eine Art Obligation: das Wahre als das Ganze nicht aus dem Blick zu verlieren, freilich unter dem schwerwiegenden Vorbehalt, nicht annehmen zu dürfen, es auch umfassen zu können.2 Vielleicht beginnt man die Beantwortung der Frage nach der Form des philosophischen Forums, d.h. der Praxis des Philosophierens damit, an zwei Bedeutungen zu erinnern, die einem Philosophen leicht in den Sinn kommen, wenn er »Forum« hört: Forum Romanum, also die römische Version dessen, was bei den alten Griechen u.a. auf der agora passierte – Verhandlungen über die bestmöglichen Lösungen in öffentlichen Angelegenheiten zu führen, sowie Kants Übersetzung bzw. lateinische Erläuterung seines Grundbegriffs vom »Gerichtshof« [der Vernunft] mit forum. An einer der wenigen Stellen, an denen Kant überhaupt von Gerechtigkeit spricht, heißt es: »Die moralische Person, welche der Gerechtigkeit vorsteht, ist der Gerichtshof (forum) und, im Zustande ihrer Amtsführung, das Gericht (judicium).«3 Wie immer man dieses Forum versteht – als »Gerichtshof« oder als Plattform der »Verständigung«, als Stätte der »Beratung« und »Begegnung«, als »Marktplatz« oder »Schauplatz«, als »Katheder« oder »Kan2 | Die Ethik ist das Ganze, aber das Ganze ist nicht die Summe seiner Teile, das seine Teile umfassende, sie bestimmende substantielle Ganze, und die Ethik keine bestimmte, sondern das ständig mitlaufende Dritte, das in allen sozialen Denkund Lebensformen mit aufgerufen wird. Das Ganze ist keine einheitliche Substanz zur machtvollen Integration der Teile, sondern das Bewusstsein der notwendigen Ergänzungsbedürftigkeit einer jeden Praxis. Es stellt sich in Betrachtung und Behandlung eines jeden Teils zwangsläufig ein. Eine Wissenschaft vom Ganzen kann es nicht geben. Kant glaubte, sie liege in der Erstellung eines universellen Prinzips. 3 | I. Kant, MSR III, 16.
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zel«, als »Stammtisch« oder »Blog« –, auf diesem Forum stehen Verhandlungen von gleich und ungleich, gerecht und ungerecht, gemein und allgemein, von frei und unfrei an vorderster Stelle. Sie stechen aus allen übrigen Unterscheidungen heraus, sowohl in der Größenordnung gesamtgesellschaftlicher und politischer Probleme, d.h. hinsichtlich der Organisation des Gemeinwohls (Ethik im weiteren Sinn der politischen Philosophie und der Sozialphilosophie), als auch in Bezug auf den Nahhorizont der individuellen und interpersonellen Erfahrungen des Einzelnen: dahingehend, wie das eigene Leben zu bemeistern sei (Ethik im engeren Sinne der Moralphilosophie).4 Ideen wie politische und gesellschaftliche Ungleichheit sind nicht nur überall im Spiel (omnipräsent); sie sind auch für das allgemeine Bewusstsein von allergrößter Bedeutung (exzeptionell). »(N)iemals empört etwas mehr als Ungerechtigkeit«, schreibt Kant, »alle anderen Übel, die wir ausstehen, sind nichts dagegen.« Ideen und Wörter wie Gerechtigkeit, Freiheit und Sinn usf., sagt der renommierte angelsächsische Philosoph D. Davidson, »sind so grundlegend und komplex wie nur möglich«.5 Sie spiegeln eine Ausnahmestellung, die sowohl ihre Allgegenwärtigkeit wie ihre Außergewöhnlichkeit (Unteilbarkeit und Unableitbarkeit) behauptet. »Grundlegend« heißt, sie helfen kognitiv eine (Vorstellungs-)Welt zu erschaffen, die sie sogleich reflexiv in Bezug auf sich selbst wie auf die Realität erneut befragen. In dieser Doppelfunktion einer wechselseitigen Voraussetzung von Sinnbedingung und Schranke, Grundlegung und Korrektiv stecken Begriffe dieser Art (Ideen) einen an Ex- und Intensität unvergleichlichen Horizont ab, der in seiner Funktion, einen Vorstellungskreis zu schließen, zugleich »lichtet« (Heidegger), d.h. Neuland erschließt. In der älteren, den epistemischen Weltzugang stärker betonenden, vorstellungstheoretischen Terminologie hieß es, derartige Begriffe seien »Bezeichnungsgegenstand und Beurteilungskategorie« zugleich. Kant schlüpft im Kontext der praktischen Philosophie/Ethik in die Rolle des (göttlichen) Gesetzgebers, wenn er ein einziges, rein formales Gesetz, eine absolute Forderung (Norm) der Vernunft, den kategorischen Imperativ, für legitim erachtet: den Menschen wie jedes vernünftige Wesen »nicht bloß als Mittel, sondern als Zweck an sich selbst« zu behan4 | Die Grenzen zwischen ihnen sind fließend, egal wie sie gezogen werden, sie haben ethischen Charakter. 5 | D. Davidson, Dialektik und Dialog. Frankfurt a.M. 1993, S. 17f.
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deln. Anders gesagt, man wird dem/einem Anderen nur gerecht, wenn man ihm den ihm gebührenden Respekt erweist: die (gleiche) Achtung, die er deshalb verdient (hat), weil er ein zum freien qua moralischen Handeln befähigtes Wesen ist. Ohne im Detail auf Bedenklichkeiten von Kants Moralkonzeption eingehen zu können – seine Platzierung der Moral in den Kontext eines Gerichtshofs der Vernunft, seine interpretatorische Anlehnung der Moral an Recht und Gerichtsbarkeit —, beschneidet das, was für die Philosophie seit Sokrates Programm und Obligation ist: Rechenschaft (über das eigene Tun) zu geben, um das Moment der Rechenschafts-Gabe – mit Betonung auf »Gabe«. In ihrem Verständnis spielt auch das anökonomische Moment eine Rolle, das sich in der Freundschaftlichkeit des Schenkens ebenso bekundet wie im Sinn einer Sorge um den Anderen. Sich sorgen um sich und andere ist eine Form praktischer Rechenschaftsgabe. Für jemand anderen einzustehen, ebenfalls. Die Freundschaftsbekundung im Geben der Gabe erinnert an den Unterschied, der zum gewöhnlichen Kauf und Verkauf von Waren besteht. In der neueren Diskussion stellt das Rechenschaft-Geben einseitig den scheinbar formalen (neutralen) Sprechakt der Recht-Fertigung heraus, sie reduziert die Rechenschafts-Gabe auf ein intelligentes Sprachspiel, um vor Gericht über die Partei des Gegners zu triumphieren. Aber an Moral, an Gerechtsein, ist etwas, das mit recht haben/recht behalten wollen, mit Sieg oder Niederlage vor Gericht partout nichts zu tun hat.6 In der Rechenschafts-Gabe teilt man (das) »Wissen« mit anderen, wie man Tisch und Bett oder Glück und Unglück mit ihnen teilt. Dabei geht es nicht um ein propositionales Wissen, eher darum, mich angesichts des Anderen einem Anspruch zu exponieren, der vor jedem propositionalen Wissen gegeben ist, dem, was Kant »Faktum der Vernunft« nennt. Das wird vollends deutlich, wenn man die Rede vom ›Rechenschaft ablegen‹ beim Wort nimmt und dabei an deren Bedeutung zweiter Teil denkt: an die Rechenschaft insgesamt, die man wie eine – für den zivilen Umgang angelegte – Rüstung ablegen muss, soll die Rechenschafts-Gabe gelingen. Von diesem Nicht-Anderen der Gerechtigkeit, das im GründeGeben als Gabe auf blitzt, sollte sich auch etwas in der Rede über und im 6 | Recht ist und bleibt in Zaum gehaltener Krieg, daran sollten wir uns mit Hobbes (bei aller Aufwertung und Wertschätzung, die das Recht in den letzten Jahrzehnten erfahren hat) immer wieder erinnern.
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Verständnis von Moral wiederfinden lassen. So gehen selbst in formale Verfahren inhaltliche Vorentscheidungen und Vorverständnisse ein, die, weil sie nicht gesehen werden (wollen), ein Unrecht darstellen. Ich werde das Verfehlen der Gerechtigkeit später an Rawls Gedankenexperiment (»Schleier des Nichtwissens«), einem Verfahren zur Ermittlung von Gerechtigkeitsprinzipien, erläutern. Verdeutlichen – Um Ethik als Forum nicht vorschnell oder allzu einseitig auf den »Gerichtshof« der Vernunft zu beziehen, scheint es dienlich, auf Kants allgemeines Verständnis dessen, was Philosophen tun, zu rekurrieren. Kant sagt, im Unterschied zur Mathematik und der Methode der Konstruktion von Begriffen besteht die Praxis des Philosophierens in der Exposition, in der Verdeutlichung, im Herausstellen spezifischer Züge und der Klärung von Begriffen. Kant spricht von »abgemessener Deutlichkeit« 7, die die Klarheit und Unterschiedenheit des diskursiven Vernunftgebrauches davon abhängig macht, was die Sache von sich aus jeweils erfordert. Der Sache eine ihr angemessene, von ihr her determinierte Deutlichkeit zu geben, ist das Geschäft von Philosophen. Es zielt darauf, ein so grundlegend wie allgemeines Welt- und Selbstverständnis zu entfalten. An der Exposition wiederum sind zwei Seiten wichtig, die, weil sie in entgegengesetzte Richtungen laufen, die Spannung und den eigentlichen Reiz der philosophischen Tätigkeit ausmachen: Verdeutlichung zielt einerseits in Richtung einer (umfassenden) Klärung, etwas klar und deutlich hervortreten und transparent werden lassen, es prägnant darzustellen, in einem Wort, Verdeutlichung drängt auf Vereindeutigung. Sie bringt aber andererseits ein Moment in Erinnerung, das den Gedanken in Richtung Deutung lenkt, d.h. auf den notwendigen Gebrauch der produktiven Einbildungskraft mit ihren weit über die jeweilige Sache hinausschießenden assoziativen Gedanken- und Gefühlsbewegungen.8
7 | I. Kant, KrV, A 731/B 759. 8 | So wird z.B. im Einfühlungsvermögen, heute Empathie, die phantasievolle, sur-reale, kognitive wie affektive Erschließung der Welt, in der wir und die anderen leben, vorausgesetzt, ohne schon etwas über »ethisch« im eigentlichen Wortsinn gesagt zu haben.
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Beide Seiten schweben in Gefahr, die Realität aus den Augen zu verlieren.9 Beide – Deutung wie Vereindeutigung – sind für das Verständnis der Ethik unabdingbar, vor allem für die Momente, die m.E. an der Ethik wichtig sind: Bildung und Kritik als die beiden für die Praxis der Rechenschafts-Gabe zentralen (psychosozialen) Dispositive. Anders gesagt, die praktische Grundfrage der Philosophie zielt auf die Praxis des Philosophierens selbst. Im Kontext von Kants Ethik einer »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« wiederholt sich dieser unter großen inneren Spannungen ausgetragene Kampf zwischen Deuten und Vereindeutigen in der Gegenüberstellung von »Wissenschaft« auf der einen und »Weltweisheit« auf der anderen Seite: zwischen Aufsuchung und Festsetzung des obersten Prinzips der Moral und der allgemeinen Menschenvernunft, die, wie Kant annimmt, in der Regel zuverlässig zwischen gut und böse, gerecht und niederträchtig zu unterscheiden weiß. Kants Ethik lehrt nichts Neues, sie stellt – wie Sokrates – nur das Prinzip von dem heraus, was die Gesprächsteilnehmer intuitiv immer schon über das Gute und Verwerfliche wissen, worauf sie in ihrem score-keeping immer schon Bezug nehmen. Kants Rede von »sittlicher« oder »moralischer Weltweisheit« sucht beides zu vereinen. Für eine Ethik im Sinne der Philosophie ist es entscheidend, diesen Kampf zwischen Wissenschaft und Weltweisheit, wissenschaftlicher Strenge und weiser Gelassenheit, zwischen dem »unfruchtbaren Einerlei« des Schul- und der Offenheit des Weltbegriffs (Schiller), zwischen Akademie und Marktplatz, Professionalisierung und Profanisierung (Banalisierung) auszutragen, d.h. sich weder auf die eine noch die andere Seite zu versteifen; sie aber auch nicht – in einer falsch verstandenen Toleranz – als zwei gleichmögliche und gleichrangige Zugänge nebeneinander zu stellen und den lieben Gott einen guten Mann sein zu lassen. Der Witz einer philosophisch bedachten Ethik liegt darin, sich zwar vom 9 | Die Deutung – immer in der Gefahrenzone der Geisterseherei – bringt den Witz der Sache heraus. Der Witz oder die Pointe ist das Ganze; nur er, der Abkömmling der Einbildungskraft, kann verhindern, dass sich die Vereindeutigungspraxis in leerem Scharfsinn verläuft. Nur derjenige, der weiß, worin der Witz der Sache liegt, kann das Schild mit der Aufschrift »Reflexionsstopp« oder »Holzweg« an der richtigen Stelle platzieren. Ihre Produktivität liegt in ihrem wechselseitigen Bedingtsein.
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akademischen Gewese auf der einen und dem öffentlichen Getöse auf der anderen Seite irritieren, aber nicht dumm machen zu lassen, und in der notwendig werdenden wechselseitigen Reflexion beider nach Expositionsund Darstellungsmodi zu fahnden, die das eine tun, ohne das andere zu lassen.
E thik als K ritik der U ngleichheit Betreten wir das Forum, das John Rawls mit seiner Theorie der Gerechtigkeit vor fast einem halben Jahrhundert geschaffen hat. Auf ihm ist eine bis heute ungemein breite und fruchtbare Diskussion um soziale Gerechtigkeit geführt worden. Um die alte Frage zu beantworten, wie eine gerechte Ordnung des Lebens auszusehen habe, geht Rawls davon aus, dass man dazu einen Standpunkt der Unparteilichkeit einnehmen müsse, der garantiere, dass die stets subjektiv bedingten Blickwinkel (der Menschen aus Fleisch und Blut) bei der Wahl bestimmter Verfassungsprinzipien oder allgemeiner: bei der Wahl einer bestimmten Ordnung der Güterverteilung, in eine objektive, für jedermann gültige Entscheidungsplattform umgewandelt werden. Wenn jemand über eine bestimmte Verteilung von Gütern und Chancen zu entscheiden hat und dabei weder etwas über sich selbst, seine Fähigkeiten und Interessen noch über seine soziale Stellung in der Gesellschaft, in der die Verteilungsprinzipien in Anschlag gebracht würden, weiß, hat er auch keine Möglichkeit festzustellen, welche der zur Entscheidung anstehenden Güterverteilungen für ihn die vorteilhafteste sein könnte. Er wird – notgedrungen – eine Wahl unter einem allgemeinen Gesichtspunkt – dem »Schleier des Nichtwissens« – treffen. Ein Urteil, das von allen interessebedingten Einflussnahmen absieht, sollte ein faires Urteil sein, weil es alle gleich behandelt. Wir kennen weder unser Geschlecht noch unsere Religion oder unsere Klassenzugehörigkeit in der nach gerechten Prinzipien einzurichtenden Gesellschaft; selbst das, was im Leben wertvoll für uns erscheint, kennen wir nicht. Kritik der Verfahrens(un)gerechtigkeit – Durch dieses formale Verfahren der Reinigung, das qua Gedankenexperiment den Namen eines »Schleiers des Nichtwissens« trägt und die beteiligten Akteure in eine Art fiktiven Naturzustand (vor dem gewöhnlichen Leben) zurückversetzt, glaubt Rawls zwei
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Prinzipien für die Verteilung der Grundgüter bestimmen zu können: ein liberales Prinzip, das gleiche Grundfreiheiten und ein Prinzip sozialer Gerechtigkeit, das Chancengleichheit fordert. Beim ersten Prinzip geht es um die Sicherung der traditionellen europäischen Freiheitsrechte wie das Recht auf freie Meinungsäußerung, auf Religionsfreiheit, Rechtssicherheit und gleiches Wahlrecht für alle. Das zweite sogenannte Differenzprinzip besagt, dass wir Ungleichheit nur dann akzeptieren können, wenn die, die in einer sozialen Ordnung am schlechtesten gestellt sind, größere Vorteile aus der Ungleichheit ziehen als aus der Gleichbehandlung aller. Falls die beiden Prinzipien in Konflikt geraten, übertrumpft das Prinzip gleicher Freiheiten das der Gleichbehandlung.10 Mein Anliegen ist nicht die Erörterung der zwei Grundprinzipien der Gerechtigkeit, die nach Rawls Auffassung eine, wie er sagt, »Beschreibung unseres Gerechtigkeitssinns« liefern, sondern die Kritik des formalen Verfahrens als angemessene (richtige, gerechtfertigte) Urteilsbasis zur Exposition unseres Gerechtigkeitssinns: Wir besitzen – so der Einwand – nicht mal ein formales, partei- und interessenunabhängiges Denkwerkzeug, das aufgrund eines rein verfahrenstechnischen Reglements zu einem in jeder Hinsicht validen Begriff von Gerechtigkeit als Fairness führen könnte.11 Die formelle Prozedur stellt gegenüber denen ein Unrecht dar, denen es verspricht, sie als frei und gleich zu behandeln. Die Ungerechtigkeit des Verfahrens besteht darin, dass die Teilnehmer, die sich auf das Gedankenexperiment einlassen, genötigt werden, von ihren ungleichen Ausgangslagen abzusehen. Es wird so getan, als hätte der Versuch, das Verfahrensniveau, d.h. den fiktiven Naturzustand zu erreichen, keine vorgängigen Kosten, als stünde dahinter kein Zweck: nämlich, die Leute zu ihrem Besten (zu planmäßiger Sicherheit) zu bekehren; sich dazu einmal mit der utopischen oder mindestens irrealen Vorstellung zu beschäftigen, sie alle wären in jeder Hinsicht Gleiche.12 Man 10 | Eine instruktive wie gründliche Darstellung vgl. K. Günther, Besser sehen durch einen Schleier. Ein Gedankenexperiment der Gerechtigkeit, in: G. Gamm, J. Kertscher, Philosophie in Experimenten, Bielefeld 2011, S. 203-235. 11 | Dass diese Einwände auch für komplexere oder höherstufigere Verfahren wie das der Beratung – unter Einschluss der an der Beratung beteiligten Personen – gelten, versteht sich von selbst. 12 | Überdies setzt das Gedankenexperiment schon Freiheit und Gleichheit voraus, die erst als Ergebnis derselben in Erscheinung treten dürften. Alle Menschen
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könnte sagen, das Gedankenexperiment selbst ist eine Verschleierung: das Aufziehen des Schleiers des Nichtwissens verschleiert das Unrecht, das darin liegt, die reale Ungerechtigkeit der Ausgangslagen vergessen machen zu müssen. Unrecht liegt in der Aufforderung des Gedankenexperiments, die Ungleichheitserfahrung nicht als gerechtigkeitsrelevantes Wissen in das Experiment hineinnehmen zu können/zu dürfen. Die Erfindung oder Erschließung dieses (Verdachts-)Arguments gegen Überlegungen unter Rückgriff auf fiktive Naturzustände gebührt in der neueren Zeit dem großen Kultur- und Aufklärungskritiker J.-J. Rousseau. Auf unnachahmliche Weise beschreibt er dieses Argument als eine perfide Strategie der Herrschenden, welche die Schlechtergestellten mit der Aussicht auf ein Leben in Gleichheit und Sicherheit ködern. Denn die Unsicherheit des Naturzustands, in der jeder Mensch dem anderen Menschen ein Wolf ist, ist für die Bessergestellten die größere Gefahr, sie haben – zumal in unruhigen Zeiten – mehr zu verlieren. Wer mehr besitzt, hat ein größeres Interesse an Sicherheit und Planmäßigkeit. In dieser Situation, schreibt Rousseau, »ersann der Reiche von der Notwendigkeit gedrängt, […] den ausgeklügelsten Plan, der dem menschlichen Geist jemals eingefallen ist. Er bestand darin, die Kräfte selbst jener, die ihn angriffen, zu seinen Gunsten einzuspannen, aus seinen Widersachern seine Verteidiger zu machen, ihnen andere Maximen einzuflößen und ihnen andere Institutionen zu geben, die für ihn ebenso günstig wären, wie das Naturrecht ihm widrig war. In dieser Absicht erfand er – nachdem er seinen Nachbarn die Entsetzlichkeit einer Situation dargestellt hatte, die sie alle die Waffen gegeneinander ergreifen ließ, die ihnen ihre Besitztümer ebenso zu einer Last machte wie ihre Bedürfnisse und in der keiner, weder in der Armut noch im Reichtum, seine Sicherheit fand – leicht Scheingründe, um sie zu diesem Ziel zu verführen. ›Vereinigen wir uns‹, sagte er zu ihnen, ›um die Schwachen vor der Unterdrückung zu schützen, die Ehrgeizigen in Schranken zu halten und einem jeden den Besitz dessen zu sichern, was ihm gehört: Lasst uns Vorschriften der Gerechtigkeit und des Friedens aufstellen, denen nachzukommen alle verpflichtet sind, die kein Ansehen der Person gelten lassen und in gewisser Weise die Launen des Glücks wiedergutmachen, indem sie den Mächtigen und den Schwachen gleisollten sich in freier und gleicher Weise zum Experiment erheben können, ein Zustand, den es so partout nicht gibt.
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chermaßen wechselseitigen Pflichten unterwerfen. Mit einem Wort: laßt uns unsere Kräfte statt sie gegen uns selbst zu richten, zu einer höchsten Gewalt zusammenfassen, die uns nach weisen Sätzen regiert, alle Mitglieder der Assoziation beschützt und verteidigt, die gemeinsamen Feinde abwehrt und uns in einer ewigen Eintracht erhält.‹ […] Dies war, oder muß der Ursprung der Gesellschaft und der Gesetze gewesen sein, die dem Schwachen neue Fesseln und dem Reichen neue Kräfte geben, die natürliche Freiheit unwiederbringlich zerstörten, das Gesetz des Eigentums und der Ungleichheit für immer fixierten, aus einer geschickten Usurpation ein unwiderrufliches Recht machten und um des Profites einiger Ehrgeiziger willen fortan das ganze Menschengeschlecht der Arbeit, der Knechtschaft und dem Elend unterwarfen.«13 Das Verfahren selbst stellt eine problematische Strategie des Unsichtbarmachens eines Unrechts dar – es gibt so wenig eine Unschuld des Verfahrens wie es eine solche der Theorie (der Gerechtigkeit) gibt. Dem Sicherheits- und Kontrollinteresse planmäßiger Lebensführung korrespondiert eine Auffassung von Gerechtigkeit, die glaubt, in der Perspektive des neutralen Beobachters ihre Fragen in Gestalt eines wissenschaftsanalogen Experiments oder einer Theorie begreifen zu müssen. Auch Theorie ist nicht unschuldig, mindestens nicht in der heute von den Wissenschaften für verbindlich erklärten Form, z.B. wenn man sie als »Netz« begreift, um »die Welt«, wie Popper sagt, »einzufangen«: »sie zu rationalisieren, zu erklären und zu beherrschen«14 und weiter die Arbeit von Philosophen und Wissenschaftlern darauf verpflichtet, »die Maschen dieses Netzes immer enger zu machen«. Sollte Sinn und Bestreben, eine freie und gerechte Welt zu schaffen, wirklich darin liegen, sie – der NSA analog – durch ein dichtes Netz von Kontrollen zu beherrschen? Kant lässt nicht den geringsten Zweifel aufkommen: Praktische Philosophie kann nicht Theorie sein: »über die Naturbestimmungen hinaus gibt es keine Theorie.«15 13 | J.-J. Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit/Discours sur l’inégalité, Kritische Ausgabe des integralen Textes, neu editiert und kommentiert v. H. Meier, Paderborn 1984, S. 215-219. 14 | K. R. Popper, Logik der Forschung, Tübingen 1971. 15 | I. Kant, Metaphysik der Sitten, Einl., Bd. VI, S. 217. Die Beherrschung der Technik, die medizinische Kontrolle von Krankheiten usf. kann ein Ziel sein; das Handeln der Menschen allein diesem Begriff von Freiheit – im einseitigen Sinn von
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Um auf Rawls zurückzukommen: Auf dem durch seine Theorie der Gerechtigkeit bereiteten Boden eines politischen Liberalismus zeigen sich alsbald gravierende Schwächen, auch bei seinen Gegnern, den Kommunitaristen. Sie bestehen in der einseitigen Fixierung der Fragen der Gerechtigkeit auf solche der Güterverteilung.16 Noch gravierender, dass Fragen nach der Entstehung und Produktion von Ungerechtigkeit weitgehend ausgeklammert bleiben. J. Shklar geht noch einen Schritt weiter, sie gibt zu bedenken, dass die gewöhnlichen Modelle der Gerechtigkeit eine überzeugende Einsicht in die politische wie persönliche Erfahrung von Ungerechtigkeit verstellen: Ungerechtigkeit überhaupt eine Genealogie sui generis aufweise und also das Negative, die Ungleichheit, nicht einfach als Kehrseite einer allgemeinen Idee der Gerechtigkeit gedacht werden kann. Die Bedeutungen von »gerecht« und »ungerecht« wiesen Asymmetrien auf, die es unmöglich machten, aus Überlegungen zu Inhalt und Umfang der Gerechtigkeit die Formen und Seinsweisen einer jeweils erfahrenen Ungerechtigkeit zu ermitteln.17 Dem Unrecht gerecht werden – Man urteilt sicher nicht voreilig, wenn man aus diesen weitläufigen Diskussionen den Schluss zieht, den weite Teile der kontinentalen Philosophie seit der Aufklärung immer energischer ge»Kontrolle über« – zu unterwerfen: Damit kann sich die Philosophie beim besten Willen nicht anfreunden. 16 | In aller Breite wird darüber gestritten, welche grundlegenden Beurteilungskriterien für das (ge)rechte Maß in Frage kommen: Ist es die alles beherrschende »Leistung« oder doch auch eine (nicht durch Leistung und Gegenleistung gedeckte) »Bedürftigkeit/Bedarf«? In welchen Umfang müssen »Verdienst« und »erworbene Rechte« – in welchen gesellschaftlichen Sphären – mit ins Kalkül gezogen werden? Eine neuere, diesbezüglich gründliche Analyse liefert: D. Miller, Grundsätze sozialer Gerechtigkeit, Frankfurt a.M. 2008. 17 | Vgl. J. Shklar, Über Ungerechtigkeit. Erkundungen zu einem moralischen Gefühl, Berlin 1992. J. Shklar gehört überdies zu den Wenigen, die ein Organ dafür haben, was die praktische Philosophie hinsichtlich ihres eigenen Tuns im besonderen Maße bedrängt: Wie man wissenschaftlich sein kann, ohne sich gänzlich der Wissenschaft zu verschreiben. Vgl. J. Shklar, Liberalismus der Furcht, Berlin 2013, S. 164ff. F. Dubet, Ungerechtigkeiten. Zum subjektiven Ungerechtigkeitsempfinden am Arbeitsplatz, Hamburg 2008.
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zogen haben: Man müsse vom Ungerechten, sei es dem Unglück, sei es dem Unrecht ausgehen. Vom Negativen geht immerhin ein verlässlicher Zwang aus, es nicht einfach bestehen zu lassen, es womöglich zu verändern. Marx zitiert zustimmend den venezianischen Mönch und Ökonomen G. Ortéz: »Statt unnütze Systeme für das Glück der Völker zu entwerfen, will ich mich darauf beschränken, die Gründe ihres Unglücks zu untersuchen.«18 Güter wie Glück, Freiheit und Gerechtigkeit machen sich nachdrücklich dort bemerkbar, wo sie fehlen. An schreiender Ungerechtigkeit tritt Gerechtigkeit negativ zutage. In den Minima Moralia 18 | In: K. Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, in: Werke, Schriften in 6 Bänden, hg. v. H. J. Lieber, Darmstadt 1962, Bd. IV, S. 780. Das Einsetzen der praktischen Philosophie bei der Ungerechtigkeit wird heute flankiert durch eine weltweite Kritik an sozialer Ungleichheit. Sie bricht sich – grob betrachtet – auf drei Ebenen Bahn: erstens als Kritik der Ungleichbehandlung in Form von Diskriminierung – Stigmatisierung, Marginalisierung, Kriminalisierung usf., aber auch aufgrund großformatiger Vorurteile (Ideologien) gegenüber Hautfarbe (Rassismus), dem Geschlecht (Chauvinismus) usf. Ethnozentrismus und Nationalismus sind weitere aktuelle Erscheinungsformen für die Alltäglichkeit der Diskriminierung. Soziale Ungleichheit ist zweitens auch durch die Sozialstruktur und bestimmte Lebenslagen bedingt. Bestimmten Gruppen ist es aufgrund ihrer Stellung im Lebensprozess der Gesamtgesellschaft verwehrt, an bestimmten Gütern und Leistungen, an Macht und Machtmitteln zu partizipieren. Sie haben keine Chance. Sie sind der Möglichkeit beraubt, ihre gruppenspezifischen Interessen gegen den Willen und Widerstand anderer durchzusetzen. Massive globale Ungleichgewichte betreffs Armut und Reichtum, Bildung und Gesundheit usf. zeigen sich heute drittens global: zwischen Erster und Dritter Welt, Nord und Süd, den Metropolen der westlichen Welt und den Megacities mit einem Leben am Existenzminimum usf. Dass die Frage sozialer Ungleichheit heute eine so ungemein starke Sogwirkung entfaltet, hat m.E. auch damit zu tun, dass das, was früher als unbeeinflussbares Unglück, als Schicksal gesehen wurde, heute verstärkt als (abzuschaffende) Ungerechtigkeit begriffen wird. Die seit einiger Zeit kursierende Rede von der Klimaungerechtigkeit zeigt das ebenso drastisch wie die Vorstellung, wir könnten sehr bald unser Schicksal – bislang bestimmt durch die Lotterie der Natur, sprich, durch unserer Gene – selbst in die programmierende Hand nehmen: eine unaufhörliche Ausweitung der Zonen, die unter das Gerechtigkeitsregime fallen.
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bringt Adorno diesen Gedanken auf den Begriff: »Ungerechtigkeit ist das Medium wirklicher Gerechtigkeit.«19 Der zeitgenössische französische Philosoph Alain Badiou schreibt, das, was Gerechtigkeit meine, sei unklar, während Ungerechtigkeit klar zutage liege. Die Grundfrage nach dem Gerechten: Wer was wem aus welchen Gründen schuldet, macht schlagartig das ganze Ausmaß der Unklarheit klar. Es ist unmöglich, das Gerechte clare et distincte durch einen diskursiven Vernunftgebrauch zu bestimmen: Es entzieht sich unserem Wissenund Sagen-können. Man könnte soziale Verhaltensweisen wie Vertrauen, Freisein, Verständigen, Verantworten notwendige Undinge nennen. Sie fordern – wie das Gerechtsein – etwas, was man unmöglich leisten kann. Es ist uns verwehrt, zu sagen, dies oder jenes sei gerecht; dennoch sehen wir uns durch das Gerecht-sein-müssen genötigt, eine passende Antwort zu finden. Wir können seinem Anspruch nicht entgehen. In jedem Akt der Notengebung, jedem Gutachten, in jeder Verteilung von materiellen und immateriellen Gütern, von Chancen und Zertifikaten, von Risiken und Gefahren(zu)lagen sind wir mit ihm konfrontiert. Es betrifft den Austausch von Aufmerksamkeiten ebenso wie von Gefühlen. Das große Problem: Aus der Erfahrung des Unrechts wächst uns nicht selbstverständlich die Einsicht zu, wie wir uns ihm gegenüber gerechterweise verhalten sollen, welchen bestimmten Umgang wir mit dem Unrecht pflegen sollten. Außer, dass es nicht sein soll, ist ihm wenig zu entlocken. Man könnte auch sagen, keine Idee, kein Wert (wie Gerechtigkeit) legt ein spezifisches Programm zu seiner Realisierung fest. An diese »missliche« Lage werden wir nicht zuletzt immer wieder erinnert, wenn wir sehen, dass trotz guter Absichten neues Unrecht aus dem alten erwächst. Die Gefahr, die wie immer mit der Stimme der Kritik nach Aufklärung und Beseitigung des Unrechts verbunden ist, ist groß, im Namen der Gerechtigkeit selbstgerecht und übergriffig zu verfahren. Wer sich moralisch im Recht wähnt, setzt sich im Handumdrehen ins Unrecht. Es ist nicht selten die Anmaßung eines Mandats, das die Kritik nicht hat, aber in Anspruch nehmen muss; sie spricht regelmäßig für andere, die sie dazu nicht autorisiert haben, sie bezieht sich immer auf ein wahres Allgemeines, über dessen umfassende Kenntnis sie in keinem 19 | Th. W. Adorno, Minima Moralia, Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt a.M. 1975, S. 95.
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Augenblick verfügt. Sie macht sich in dieser Antizipation des Übergriffs auf das wahre Allgemeine einer Idee schuldig. Weil eine Idee wie Gerechtigkeit aber immer und überall über alle Bestimmungen hinausgeht, korrumpiert ihre planmäßige Umsetzung das, was sie realisieren soll.20 Im Grunde muss sie das Wissen, das sie – zu Recht – in Anspruch nimmt, im gleichen Moment verwerfen. Philosophische Kritik besteht im Rückgriff auf das unbestimmte, ja unbestimmbare Wissen eines wahren Allgemeinen. Genauer müsste es heißen, es handelt sich um ein verworfenes Wissen, das beide Bedeutungen von »Verwerfung« im Sinn und in der Schwebe hält: »verworfen« – nach reiflicher Überlegung als bedenklich, schlecht oder irrelevant beiseitegelassen sowie »verworfen« im Sinn der Verwerfung von Gesteinsschichten, bei denen durch ein externes Ereignis die Schichten durcheinandergeraten sind. Das Verwerfliche ist einmal das Schlechte oder das, was nicht sein soll, das Gegenteil von dem, was man akzeptiert. Geologische Verwerfungen sind Störungen oder Umformungen von Gesteinsschichten: Sie sind »verschieden von« der ursprünglichen Formation, »anders als« die anfängliche Ordnung der Schichten. Bei beiden Verwerfungen – dem Verwerflichen wie dem Verschiedenen (dem Anderen und dem, was tot oder abgestorben ist) – handelt es sich um Verneinungen, um ein Negatives. Das »Nicht« gibt den Ton an, dieser muss – in ständiger Modulation begriffen – mitgehört und in das Verständnis des folgenden Satzes aufgenommen werden: Philosophisch im Sinn der praktischen Philosophie denken heißt, im Modus verworfenen Wissens zu denken, zumal bei der Ethik als Studium von rechten Dingen als Dingen der Unmöglichkeit.21 20 | Davon ist auch die erwähnte formale Umsetzung der Gerechtigkeit durch Verfahren nicht ausgenommen. Man kann die Probleme schon an der Idee studieren, wie Platon sie erdacht hat. 21 | Um den früheren Faden aufzunehmen, bei diesen »Dingen«, d.h. Ideen wie Freiheit, Gerechtigkeit usf., zeigt sich, was »grundlegend« heißt: Basis gedanklicher Operationen und höchstplatzierte Definition des Zielkorridors zu sein. Das Sinnbild der Justitia verleiht diesem Anspruch Ausdruck. Ideen sind für unser Leben und Denken von fundamentaler Bedeutung. Allein, wir sind nur dazu in der Lage, sie »negativ zu sehen«, auf der Folie oder, wie es heute heißt, dem Dispositiv des Negativsehens: im Hin und Her der doppelten Bedeutung von »schlecht« und »verschieden«. Weil es sich um das Höchste handelt, muss auch ein nicht-religiös basiertes Nachdenken über Moral so verfahren wie die negative Theologie
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Man sieht, viel ist damit nicht gewonnen, aber immerhin genug, um zu verstehen, warum Heidegger mit seiner Deutung menschlicher Existenz als Geworfenheit (des Daseins) zur Ethik nichts zu sagen hat; nicht weil, wie er vorgibt, die Zeit noch nicht reif sei, weil man erst die Frage nach dem Sein als epochalem Geschick, unter dessen Unheil drohenden Zeichen (Menetekel) wir stünden, klären müsse, sondern weil mit dem Dasein qua Geworfensein die fundamentale Einfaltung der menschlichen Existenz in Ethos und Moralität nicht ausreichend bedacht werden kann. Man ahnt vielleicht, worin philosophische Kritik besteht: darin, einen Gesichtspunkt zu gewinnen, der dazu berechtigt, die Gesamtdeutung zu verschieben und ein Gefühl davon zu vermitteln, dass in der Verschiebung die Sache besser aufgehoben, d.h. verstanden ist. Denken im Modus verworfenen Wissens wird der umfassenden Seinsweise des Menschen besser gerecht als der Ausgang bei der Geworfenheit.22
mit ihrer höchsten Sinnbedingung, der Sinngebungsinstanz »Gott«, wir können ihn bzw. es, das Gerechte als das Höchste, nur erkennen in dem, was er bzw. es nicht ist. Von daher ist auch eine Kategorie wie die, die der Cusaner für das Höchste benutzt, das Nicht-Andere, so zutreffend. Unsere abgekürzte Rede von den notwendigen Undingen versteht sich im Umkreis dieser Denkfigur einer negativen Dialektik, freilich ohne den Bezug auf göttliche Wesen. Es zeigt vielmehr in seinem Nicht-Anderssein qua Sinnbedingung auch die Möglichkeit seiner Zerstörung im radikal Bösen, z.B. der Rache. Siehe unten »Befremdliche Differenz«. 22 | So erstaunlich es anmutet, Pathos und Logos der menschlichen Existenz – ihr In-der-Welt-Sein als Geworfensein – wird allein vor dem Hintergrund einer Deutung des Menschen in seinem Ganzsein-können transparent. Ohne ein Denken des Menschen in der Differenz von Sein und Seiendem qua In-der-Welt-Sein keine Ontologie der Existenz, nicht im Sinne der philosophischen Anthropologie seiner Zeit, die glaubte, in Anlehnung, Aufnahme und Kritik dessen, was die Wissenschaften über den Menschen herausgefunden haben, verfahren zu können (der Mensch ist nicht Subjekt, nicht Vorstellungs- und Behandlungsgegenstand, als solcher erscheint er nur in der Perspektive der Wissenschaft), wohl aber als letzter, wenngleich sich entziehender Horizont, der in jeder Zeile des Daseins und seines In-der-Welt-Seins hervorlugt.
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E thik im öffentlichen A ustausch So einigermaßen selbstkritisch vorbereitet, ist es vielleicht möglich, ein anderes, hochvermintes Forum der Ethik zu betreten: Ethik im Zwielicht des öffentlichen (halb wissenschaftlichen, halb weltweisheitlichen) Gebrauchs, Ethik zwischen wissenschaftlicher Expertise und in Lebensdingen erfahrenen Ratgebern, zwischen Ethikexperten und Ethikcoaches: Ethik als ein dem Biosiegel vergleichbares Etikett, als Gütesiegel für Unbedenklichkeit, als Ticket für Unternehmen, Parteien, Gewerkschaften, Wissenschaftsorganisationen usf., mit dem man billig und bequem, aber mit großem Legitimations-, Reputations- und Repräsentationsgewinnen reisen kann. Ethik und Gesellschaft – Je weiter die Ethik als relevanter Gesichtspunkt in alle Bereiche des sozialen, wirtschaftlichen, politischen und wissenschaftlich-technischen Lebens eingedrungen ist, desto mehr hat die Gesellschaft auch die Ethik eingeholt. Ethik ist »in«. In ihrer wechselseitigen Durchdringung hat sie fast alle kritischen Möglichkeiten verloren, ja es scheint, als habe sie sich zu Tode gesiegt. Was in der neueren Ethikwelle der 70er-Jahre als Selbst- und Gesellschaftskritik begonnen wurde, erwartet als Label oder als Teil der Corporate Identity von Unternehmen und Verbänden usf. ihr nützliches, aber etwas fades Ende. Mit der Ethik, die man ins Selbstverständnis von Unternehmen aufnimmt, wappnet man sich vor Kritik von außen, in der Selbstkritik weiß man es ohnehin besser als jede andere Betrachtung von außen. Ethik in dieser Form, ob man will oder nicht, ist Teil von Unternehmensstrategien, die sich in ihnen ausstellen und in Form der Ausstellung (Leistungsschau) an der Selbstrechtfertigung der jeweiligen Institution teilhaben. Neben die Ausstellung der wirtschaftlichen Potenz, der effizienten mensch- und naturschonenden Produktion tritt die Ethik als Leuchtreklame und Selbstrechtfertigung, als Rettungsschirm für angegriffene Unternehmen. Dem korrespondiert, dass Wirtschaftsethik und Corporate Social Responsibility heute zum internationalen Standard der MBA-Programme (Master of Business Administration) gehören. Diese Kurse sind für die Studierenden eine weitere Gelegenheit, sich zu qualifizieren, d.h. in Form eines Fachs ein Werkzeug, das es im Vorgriff auf den Betriebsalltag von Managern mit Führungsaufgaben zu lernen und zu beherrschen gilt. Der Ethiker qua Ethik-Coach oder Ethik-Programmatiker oder der, der sie in Kommission nimmt, der Ethik-Kommissär, vertreibt seine Ethik
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als Produkt, als Service, als Dienstleistung für die, die zur verbesserten Menschenführung nach innen und zu Repräsentations- und Legitimationszwecken nach außen ein großes Interesse am Erfolg der jeweiligen Unternehmung haben. Ihre Initiatoren versprechen sich einen Gewinn – was sich der Ethiker dabei denkt, ist nebensächlich. Er kann sehen, dass er ein nützlicher Idiot ist, er kann auch glauben, durch sein Tun an der Verbesserung der Welt mitzuarbeiten oder die Forschungsfreiheit der Wissenschaft zu verteidigen usf., all das steht ihm frei. Der Funktionalisierung seiner Überzeugungen durch das System (der Auftraggeber, der Kommissionszwecke, der Zielvereinbarungen und learning outcomes usf.) entgeht er nicht. Sie ist ein gesellschaftlicher Mechanismus, dem man auf keine Weise entkommt. Diese Entwicklung der wechselseitigen Durchdringung von Ethik und Gesellschaft – der Vergesellschaftung der Ethik und der Ethisierung der Gesellschaft – hat die Ethik in schwerwiegendem Maße entpolitisiert und demoralisiert; mindestens dann, wenn man den Sinn des Politischen über die Sorge für das Gemeinwohl definiert. Denken in Gelegenheiten – K. Marx nennt J. Bentham – in voller Übereinstimmung mit seinem liberalistischen Widerpart J. St. Mill – einen Shopkeeper, einen Ladenbesitzer, einen Geschäftsmann, eine Krämerseele. Wichtig an dieser Kritik ist nicht das persönliche Schicksal des »unreifen Jungen«, wie Mill ihn auch nennt,23 sondern die Währungseinheit, in der der Shopkeeper denkt: Man könnte sie ein »Denken in Gelegenheiten« nennen, ein Denken auf der (Aufmerksamkeits-)Basis sich bietender Optionen. Im Kontext der philosophischen Ethik ist es wahrscheinlich der Utilitarismus, der diesem Schema: dem Denken auf der Basis von Optionsscheinen, am nächsten kommt. Dieser Denktypus ist weitverbreitet, er ragt weit in die meisten philosophischen Konzeptionen von Ethik hinein. Descartes’ moral par provision wird erst heute wirklich wahr: nicht nur die kluge Vor- und Voraussicht sowie die auf Provisionsbasis geleistete Arbeit, sondern als Denken sich bietender Gelegenheiten, die es – von occasion zu occasion – zu ergreifen gilt. Dagegen sollte die Philosophie, die praktische zumal – trotz allen Rechts der Welt, in Gelegenheiten zu denken –, das an ihr verwahren, was man ihre Verlegenheit nennen könnte. 23 | »He was a boy to the last.« J. St. Mill, Essays on Politics and Culture, New York 1963, S. 94.
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Mir scheint, wir würden dem, was wir unter Moral, Ethik und verwandten Dingen verstehen, eher gerecht, wenn wir das »Denken in Gelegenheiten« durch ein »Denken in Verlegenheiten« ersetzten. Der Geist der Ethik wäre darin besser aufgehoben. Der ethische Occasionalismus ist Geist aus dem Geist der Optimierung, der Experten, der wissenschaftlichen Strategiespiele, der Nash-Theoreme und Gefangenendilemmata, aber keiner aus dem Geist praktischer Philosophie. Er verschachert den Geist an die Formen des Geschäfts und damit letztlich an dessen Interessen. Da wäre schon die Ersetzung des Marktes durch den Marktplatz ein Gewinn. Das »Denken in Gelegenheiten« ist der Logik des Marktes nachgebildet, mit erschreckendem Dauerfeuer auf das ethische Denken, sich endlich den Gepflogenheiten des Marktes anzupassen: sie der Multioptionsgesellschaft konform in der Ethik zu verankern. »Denken in Gelegenheiten« ist die philosophisch-ethische Passform der Multioptionsgesellschaft. »Denken in Verlegenheiten« die Markierung einer befremdlichen Differenz. Die Moral verliert den Stachel der Kritik, das Unbotmäßige, das Unordentliche, in einem Wort das Ortlose: immer dort aufzutauchen, wo man sie nicht braucht. In ihrer generellen Ortlosigkeit steht sie im Begriff, sich jeglicher Kontrolle zu entziehen, ihr Geist weht, wo er will. Sie ist anders als die Wirtschaft oder das Recht, die Kunst oder die Wissenschaft in keinem gesellschaftlichen Teilgebiet zu Hause. Kein Ort, nirgends. Aber kein Forum, auf dem sie nicht – erwünschter- oder unerwünschtermaßen – auftritt. Dabei hängt sie buchstäblich in der Luft. Begreiflich an ihr sei einzig ihre Unbegreiflichkeit, so Kants Fazit am Schluss seiner Grundlegungsschrift.24 Die Philosophie bräuchte sich nur daran zu erinnern, dass sie seit Anbeginn aus einer Verlegenheit heraus argumentiert, sich nicht als das Tun begreift, das die günstige Gelegenheit ergreift, sondern sich – anders als Wissenschaft und Alltagswelt – ihre Verlegenheit eingesteht und aus dem, worüber die »Mägde lachen«, wie es in einer über Thales kolportierten Geschichte heißt, ihre Kraft schöpft.25 Sicherlich kann man daraus 24 | I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, a.a.O., S. 463. 25 | Man hört das Lachen der Mägde bis heute. Es hat sich indes in das schallende Gelächter des knechtischen Bewusstseins verwandelt. Es findet seinen unübertroffenen (dummen) Ausdruck in Ulrich Becks vielzitiertem Spott über die Ethik: Sie bewirke ungefähr so viel wie »eine Fahrradbremse am Interkontinentalflugzeug«.
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kein ordentliches Fach machen, nur in Verbindung mit dem Fach kann sie über das bloß Fachliche hinausgelangen. Ethik als Denken in Gelegenheiten betreibt die Verfachlichung auf falsche Weise.26 Rechte Dinge sind Dinge der Unmöglichkeit. Anders gesagt, die Moral bringt einen ständig in Verlegenheiten, deren wichtigste sind: an einer unbedingten Verpflichtung aus freien Stücken festhalten zu müssen; den Anderen gerecht werden zu sollen, ohne die geringste Aussicht, diese Forderung auch einlösen zu können; im Glashaus zu sitzen und mit Steinen werfen zu müssen. Anders gesagt, das Schöne an der Moral ist, dass sie ihre Apostel bestraft und ihren Experten spottet. Befremdliche Differenz – Um das zugegeben lose gestrickte Netz von Überlegungen nicht nur unverbunden auszuwerfen – noch ein Blick auf seine systematischen Knoten. »Philosophie«, hatte Adorno gesagt, »genügt nur dort sich selbst, wo sie mehr ist als ein Fach.«27 Das »Mehr als ein Fach« wirft die Frage auf, in welcher Weise die Verfachlichung den vorurteilslosen Blick auf Moral, Ethik und Verwandtes entstellt und sie mit Bezug auf die Güter wie auf die Realitätsbereiche, in denen sie eine Rolle spielt, nur als weiteres Werkzeug zur Verbesserung des Lebens wahrgenommen 26 | Sie betreibt neben der Verfachlichung die »Verfachhochschulung« des philosophischen Denkens, wie ein Konstanzer Kollege richtig sagt. G. Seebaß, Was heißt und zu welchem Ende studiert(e) man Philosophie? Konstanz 2013, S. 14. Dass man sein Handwerk, sein Fach beherrschen muss, ist selbstverständlich. »Können« ist in der Philosophie wie in allen Berufen und Berufungen die Bedingung, ohne die nichts geht. Im Fall des Philosophierens bezieht sich aber das Können auf eine Materie besonderer Art: auf die sich mit Freiheit und Gleichheit dem Leben insgesamt stellenden Probleme. Mit Nietzsche könnte man hinsichtlich der Philosophie sagen, für sie »kommen in allen Dingen […] nur die höheren Stufen in Betracht«. Aus diesem »Mehr als ein Fach«, einem Über-Fachlichen bezieht sie womöglich den eigentlichen Teil ihrer Präsentation und Legitimation. Was bloß Fach ist, lässt sich outsourcen: in der Auslagerung, dem Verkauf ganzer Studiengänge an Akademien und Firmen (»Academic Franchise«). Nach innen helfen dutzende Definitionen, ein Fach zu etablieren, die z.B. gedankenlos N. Luhmanns, einzig auf Ordnung und Verwaltung abgestellte Formel, Ethik sei »Reflexionstheorie der Moral«, übernehmen. 27 | Th. W. Adorno, Philosophie und Lehrer, in: Ders., Eingriffe. Neun kritische Modelle, Frankfurt a.M. 1970, S. 31.
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und eingesetzt wird. In jedem Fall raubt man der Moral in Form eines Denkens in Gelegenheiten das tiefe Befremden, das sie auslöst: Sich über den Differenzbegriff des Nicht-Anderen herzuschreiben, besser noch, das Nicht-Andere zu sein. Man übergeht ihr Spezifikum, allein, um sie und unser Handeln einer nach Geld- und Gefühlswerten rechnenden Angebots- und Nachfrageideologie anzupassen. Man verweist sie auf einen sozial definierten Ort, auf eine Sinn und Verstand, Reparatur und Betrieb sichernde Stelle, während sie, wie gesagt, überall im Spiel ist und mit bzw. von außerordentlichen Gütern handelt.28 Nicht nur aufgrund ihrer äußeren, vagabundierenden Natur: keinen bestimmten, arbeitsteilig in der Gesellschaft zugewiesenen Ort für ihre Fragen und Probleme zu haben, sondern auch und vor allem aufgrund ihrer Anfangs- und Begriffsstutzigkeit: eines Seins ohne Daseinsgrund, das dennoch – wie jeder leicht feststellen kann – in der Erfahrung von Unrecht nicht aufhört, die Menschen mit den Fragen seiner Abschaffung, seiner Verantwortung oder Verdrängung, seiner Verpflichtung oder Rationalisierung bzw. Invisibilisierung zu behelligen. Unrecht nötigt uns, die Frage nach seinem Grund und den Gründen immer wieder zu stellen, d.h. der Frage auf den Grund zu gehen und zu bemerken, wie brüchig die Gründe im Grundsätzlichen sind. Das wiederum hängt, wie es scheint, eng damit zusammen, wie Ethik, Moral und Verwandtes beschaffen sind. Auf der einen Seite sind die Moral und ihre erwähnten Güter wie Gerechtigkeit, Freiheit des Willens usf. die Grundlage schlechthin des Sittlichen im Sinne des Ethos, des weit- und weltläufig geregelten Zusammenlebens der Menschen. Das Ethische findet seine Verkörperung in Form von Gewohnheiten und tiefsitzenden sozialen Überzeugungen, von Weltanschauungen und Vorstellungen gegenseitigen Nutzens, oder genauer, in einer auf Recht und Freiheit gegründeten staatlichen Ordnung, den Regeln des familiären und 28 | Exzeptionell ist sie in zwei unvordenklichen Höchstplatzierungen (a) bei den Gütern, die wie Freiheit, Gleichheit, Solidarität, Liebe, Glück usf. als moralische und politische aus der Menge aller materiellen und immateriellen Güter bzw. aus den üblichen sozioökonomischen und soziokulturellen Lebensformen herausstechen und (b) bei den Teil- und Liebhabern dieser Güter, die im zuletzt unvertretbaren Einzelnen und seinem (sozialvermittelten) Selbstbezug qua Willen die letzte Adresse finden, von der sich in den Gesellschaften westlichen Zuschnitts – bis heute – im Prinzip niemand absolvieren kann und will.
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zivilgesellschaftlichen Zusammenlebens wie dem System der Arbeit und der Bedürfnisse. Auf der anderen Seite, aber in ein und derselben (grundlegenden) Hinsicht ist die Moral – wenn sie denn gesellschaftlich ortlos, philosophisch ursprungs- und begründungslos ist – der Ausnahmezustand des Ethischen, die Krisis, jederzeit und an jedem Ort für das Gute wie für das Böse offen zu sein. Die hegelsche Analyse der Moralität in Form des Gewissens zeigt das nachdrücklich.29 Anders gesagt, Moral ist das, was der Ethik in den Rücken fällt, was an bestimmten Knotenpunkten der individuellen Lebens- und allgemeinen Gesellschaftsgeschichte das Ethos derselben praktisch in Frage stellt, sie bildet ihre Schranke. Getragen von dem Impuls endgültiger Befreiung und Überschreitung wendet sie ihre subversive Kraft gegen ein gemäß den üblichen Gepflogenheiten und geteilten Gewalten eingerichtetes Leben. In ihrem unauflösbaren Widerstreit oder einer Einheit, die sich ständig in Sinnbedingung und Ausnahmezustand zersetzt, ist die Moral, um nochmals den treffenden Ausdruck von Nicolaus von Cues zu zitieren, das Nicht-Andere. Ihr Ausnahmezustand spiegelt sich in zwei Hinsichten; kognitiv in der erwähnten Unbegreiflichkeit wie praktisch, in ihrer Nutz- und Hilflosigkeit, sowohl im Blick auf die Moral als auch auf die Moralphilosophie. Der der Moral »eingepflanzte Sinn« (Kant) besitzt keinen Ort in der Welt, ungeachtet dessen, dass an ihn – als den gleichsam höchsten Punkt eines Daseins unter selbstbestimmten Gesetzen (dem Primat praktischer Vernunft) – das Selbst- und Weltverständnis vernünftiger Wesen geknüpft ist. Sie ist unbegreiflich im Rahmen der Ordnungspolitik des Sittlichen, d.h. des verständigen Lebens. Sie demonstriert im Aufstand des individuellen Gewissens, dem forum intern, die generelle Fragwürdigkeit eines im Ethos verankerten Lebens: den latenten Herrschafts- und Zwangszusammenhang eines jeden gesellschaftlich-hegemonialen Systems, ohne sich darum selbst schon ins positive Recht eines allgemein oder verbindlich Wahren zu setzen. Darin, dass sie es dennoch tut, liegt ihre größte Ge29 | Dabei muss man freilich von Interpretationen der Rechtsphilosophie Abstand halten, die die Moral (nach dem Recht) als untere Stufe im Vergleich zum Sittlichen (Familie, bürgerliche Gesellschaft und Staat) verstehen und die »niedrigere« in die »höhere« im schlechten Sinn »aufgehoben« wähnen. Eine derartige Auffassung würde den Ausnahmezustand als Spezifikum der Moral auf gefährliche Weise verharmlosen.
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fahr, eine Freiheit, ohne die sie freilich nicht wäre, was sie ist: das Vermögen des Guten und des Bösen – um an dieser Nahtstelle des Denkens auch Schelling zu Wort kommen zu lassen. Auf der anderen Seite macht der dem Ethos der Gemeinschaft eingepflanzte Sinn, wie wir hinlänglich – aber nachdrücklich mit Nietzsche – wissen, »irgendwie, irgendwo, irgendwann – ›gemein‹.«30 Moral (wie Moralphilosophie) ist zu nichts nutze, und wenn sie es wäre, wäre es mit dem, was spezifisch, d.h. wertvoll an ihr ist, schon vorbei. Man kann mit ihr nichts anfangen und muss dennoch konstatieren, dass sie nicht nichts ist und bedeutet. In einem nicht unwesentlichen Moment liegt die Moral (wie die Moralphilosophie) jenseits jeder möglichen Nutzung. Sie verliert ihren Witz, wann immer man sie in ein Handeln nach Art eines Denkens in Gelegenheiten übersetzt.31 Moral ist unnötig im Sinne von frei, ein Surplus, eine erhabene wie erhebende Zugabe, die alle Zeichen des Luxus trägt. Keine Freiheit ohne dieses luxurierende, sabbatische, sich von Natur- und Gesellschaftszwängen abstoßende Moment. Wie nichts anderem auf der Welt sind der Moral die Male des Frei- und Gerechtseinkönnens imprägniert. Nur wenn wir nichts mit ihr anzufangen wissen, besteht für sie überhaupt die Möglich30 | F. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Werke in drei Bänden, Bd. II, München 1966, S. 749. 31 | Im Begriff, ein unbegreiflicher Anfang zu sein wie unter dem praktischen Gesichtspunkt, nichts mit ihr anfangen zu können, gehen beide Aspekte zusammen. Was natürlich nicht heißt, dass man sie in anderen, ihr fremden oder äußerlichen Hinsichten nicht zu nutzen wüsste. Man kann davon ausgehen, dass Moral universal verwendbar ist. Sie kommt überall und in unvorstellbar vielen Gebrauchsformen von individuellen und kollektiven Akteuren zum Einsatz. Sie lässt sich als Waffe gebrauchen, sie kann als Mittel der Emanzipation und der Repression fungieren, sie ist Stimulans des Lebens; häufiger noch ist sie Missgriff, aber auch eine einzigartige Chance, sich weit über alles Gewöhnliche zu erheben. Man kann eine Institution oder ein Fachgebiet aus ihr machen. Man kann sie als zu lehrende Urteilskompetenz verkaufen, sie in eine Predigt verwandeln oder als Verführung einsetzen. »Und andere gibt es«, schreibt Nietzsche, »die heißen Tugend das Faulwerden ihrer Laster.« Kurz, um ihren Begriff zu bilden, sie ist das Medium unseres Lebens und als Medium: Medium und Mittel zugleich. Sie ist als Medium auch message, unvergleichliche Botschaft, die dem Leben die Farbe und Bedeutung gibt, um derentwillen es geliebt und gehasst wird.
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keit, in Erscheinung zu treten – aber auch nur negativ oder in dem Sinn, dass ihr Nicht nichts in dem, was fehlt, bemerkt wird. Von dieser aller Ökonomie spottenden Rationalität zeugt noch die für das Alltagsbewusstsein – auch empirisch gut belegte – Tatsache, dass dem, wer anderen aus Eigennutz hilft, regelmäßig Verachtung entgegenschlägt. Fast müsste man sagen, in Wirklichkeit ist die Moral dazu gemacht, nichts mit ihr anfangen zu können. Hat man das begriffen, begreift man sofort alles. Man sieht, der Ort der Moral (heute) ist komplexer als die Moral selbst – ohne freilich von der Art Metaethik zu sein, wie es der (wissenschaftliche) Dresscode den Philosophen heute vorschreibt. Primär im Modus des Erkennens über Moral zu sprechen, tut ihr Unrecht, das lässt sich bei Aristoteles’ Magna so gut wie bei Adornos Minima Moralia nachlesen. Was wiederum nicht heißt, auf diese Prädispositive vernünftiger Einsicht verzichten zu können, sondern nur – z.B. qua Vereinseitigung in Form der Meta-Ethik – an der Realität von Ethik, Moral und Verwandtem vorbeizugehen: aus einer Verlegenheit eine Gelegenheit zu sprachphilosophischen und wissenschaftstheoretischen Untersuchungen zu machen. In Logik und Wissenschaftstheorie, Sprachanalyse und Epistemologie kann man brillieren, nicht in Behandlung ethischer Dinge.32
32 | Bei diesem Schlussvortrag der Ringvorlesung »Ethik – wozu und wie weiter?« im Wintersemester 2013/2014 an der TU Darmstadt handelte es sich gleichzeitig um die Abschiedsvorlesung des Referenten vom Amt des bestallten Professors. Sie wurde vor einem breiten, nicht ausschließlich akademischen Publikum gehalten. – Zum Ende des Vortrags gesellte sich zur Verworfenheit und Verlegenheit noch das (tröstliche) Bewusstsein der Vergeblichkeit. »So bemächtigte sich«, schreibt Friedrich Schiller, »meiner sehr lebhaft die Idee: daß zwischen dem Catheder und den Zuhörern eine Art Schranke ist, die sich kaum übersteigen lässt. Man wirft Worte und Gedanken hin, ohne zu wißen und fast ohne zu hoffen, daß sie irgendwo fangen, fast mit der Überzeugung, daß sie von 400 Ohren 400mal, und oft abentheuerlich, missverstanden werden. Keine Möglichkeit sich, wie im Gespräch, an die Faßungskraft des anderen anzuschmiegen […]. Ich tröste mich damit, daß in jedem öffentlichen Amt immer nur der 100ste Theil der Absicht erfüllt wird.«
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Autorinnen und Autoren
Gerhard Gamm, Professor für Philosophie an der TU Darmstadt. Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Philosophie der Neuzeit, des Deutschen Idealismus sowie des 20. Jahrhunderts, Probleme der Bestimmbarkeit von Wissen, Sozialphilosophie der modernen Welt. Einschlägige Veröffentlichungen: Nicht nichts. Studien zu einer Semantik des Unbestimmten (2000); Der unbestimmte Mensch (2004); Philosophie im Zeitalter der Extreme (2009). Petra Gehring, Prof. Dr., lehrt Philosophie an der Technischen Universität Darmstadt. Arbeitsschwerpunkte unter anderem: Geschichte der Biowissenschaften und ihrer Technologien, Biopolitik und Bioethik. Veröffentlichungen u.a. Was ist Biomacht? Vom zweifelhaften Mehrwert des Lebens (2008); Theorien des Todes (2010, 3. Auflage 2013); Parrhesia. Foucault und der Mut zur Wahrheit (2012) (hg. gemeinsam mit Andreas Gelhard). Volker Gerhardt ist Seniorprofessor für Praktische Philosophie an der HU Berlin, Ehrendoktor der Universität Debrecen und Honorarprofessor an der Universität Wuhan. Er ist Mitglied Berlin-Brandenburgischen Akademie Wissenschaften, war deren Vizepräsident und hat von 2001 bis 2013 die Wissenschaftliche Kommission der Union der Akademien geleitet. Er ist Mitglied von Kommissionen der Nationalakademie Leopoldina, der Bayrischen und der Heidelberger Akademien und gehört der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste an. Von 2001 bis 2012 war er Mitglied im Deutschen Ethikrat. Er leitet die Akademie-Kommissionen zur Herausgabe der Werke Kants und Nietzsches. Seine neuesten Monographien sind Öffentlichkeit. Die politische Form des Bewusstseins (2012); Der Sinn des Sinns. Versuch über das Göttliche (2014); Licht und
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Schatten der Öffentlichkeit. Voraussetzungen und Folgen der digitalen Innovation (2014). Geert Hendrich, Dr. phil., langjähriger Mitarbeiter am Institut für Philosophie der TU Darmstadt, heute als freier Dozent tätig. Arbeitsschwerpunkte: Moral- und Gesellschaftstheorie der Gegenwart, Genese und Selbstverständnis der Moderne (mit den Schwerpunkten Renaissance und Aufklärung), Arabisch-islamische Philosophie in Geschichte und Gegenwart. Veröffentlichungen u.a. Islam und Auf klärung (2004); Arabisch-islamische Philosophie. Eine Einführung (2011) Andreas Hetzel, Prof. Dr., lehrt Philosophie an der Fatih University Istanbul. Arbeitsschwerpunkte: Politische Philosophie (Diskurse radikaler Demokratie), Sozialphilosophie der Moderne (Theorien der Macht), Sprachphilosophie (Pragmatik und klassische Rhetorik), Umweltethik (Antworten auf die Biodiversitätskrise). Veröffentlichungen u.a. Zwischen Poiesis und Praxis. Elemente einer kritischen Theorie der Kultur (2001); Interpretationen: Hauptwerke der Sozialphilosophie (2001 – mit Gerhard Gamm und Markus Lilienthal); Die Wirksamkeit der Rede. Zur Aktualität klassischer Rhetorik für die moderne Sprachphilosophie (2011). Christoph Hubig, Professor für Philosophie an der TU Darmstadt. Forschungsschwerpunkte: Technik- und Kulturphilosophie, anwendungsbezogene Ethik, Wissenschaftstheorie, Handlungstheorie, Philosophie der Institutionen/Macht, Pragmatismus, Dialektik im Ausgang von Hegel. Ausgewählte Publikationen: Dialektik und Wissenschaftslogik (1978); Handlung – Identität – Verstehen. Von der Handlungstheorie zur Geisteswissenschaft (1985); Technik- und Wissenschaftsethik. Ein Leitfaden (1995); Technologische Kultur (1997); Die Kunst des Möglichen, Bd. I (2006), Bd. II (2007), Bd. III (2015). Burkhard Liebsch, Prof. Dr., lehrt mit den Arbeitsschwerpunkten Prak tische Philosophie/Sozialphilosophie; Theorie der Geschichte; das Politische in kulturwissenschaftlicher Perspektive; spe zielle Forschungsthemen: Gewaltforschung, Kulturtheorie, Lebensformen, Sensibilität, Erinnerungspolitik, Europäisierung, Erfahrungen der Negativität, Geschichte des menschlichen Selbst apl. an der Universität Bochum; Veröffentlichungen u.a.: Geschichte als Antwort und Versprechen (1999); Mo-
Autorinnen und Autoren
ralische Spielräume (1999); Zerbrechliche Lebensformen (2001); Gastlichkeit und Freiheit (2005); Revisionen der Trauer (2006); Subtile Gewalt (2007); Gegebenes Wort oder Gelebtes Versprechen (2008); Für eine Kultur der Gastlichkeit (2008); Menschliche Sensibilität (2008); Renaissance des Menschen? (2010); Prekäre Selbst-Bezeugung. Die erschütterte Wer-Frage im Horizont der Moderne (2012); Verletztes Leben (2014). Dieter Mersch, Studium der Philosophie und Mathematik, Leiter des Instituts für Theorie an der Zürcher Hochschule der Künste und Sprecher des Graduiertenkollegs Sichtbarkeit und Sichtbarmachung an der Universität Potsdam. Arbeitsgebiete: Philosophische Ästhetik, Medienphilosophie, Kunsttheorie, Bildphilosophie. Publikationen: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis (2000); Medientheorien zur Einführung (2006); Posthermeneutik (2010); Ordo ab Chao/Order from Noise (2013); Epistemologien des Ästhetischen. Artistische Praktiken der Künste (2015); Ikonizität. Philosophie der Bildlichkeit (2015). Alfred Nordmann, lehrt Philosophie und Geschichte der Wissenschaften an der TU Darmstadt; zugleich Adjunct Professor am Philosophy Department der University of South Carolina; Wissenschafts- und erkenntnistheoretische Publikationen insbesondere zu Georg Christoph Lichtenberg, Heinrich Hertz, Charles Sanders Peirce, Ludwig Wittgenstein sowie zu wissenschaftsphilosophischen Aspekten der Nanotechnologie. Veröffentlichung u.a.: Wittgenstein’s Tractatus. An Introduction (2005); Technikphilosophie (2012). Theda Rehbock, Prof. Dr., außerplanmäßige Professorin am Institut für Philosophie der Technischen Universität Dresden. Arbeitsschwerpunkte: Grundbegriffe der praktischen Philosophie (Person, Autonomie, Würde u.a.); philosophisch-anthropologische, phänomenologische und sprachphilosophische Grundlagen der Ethik; Philosophie und Ethik der Medizin; ethische Grundlagen des Strafrechts und der Pädagogik/Bildung. Veröffentlichungen u.a.: Goethe und die ›Rettung der Phänomene‹. Philosophische Kritik des naturwissenschaftlichen Weltbilds am Beispiel der Farbenlehre (1995); Personsein in Grenzsituationen. Zur Kritik der Ethik medizinischen Handelns (2005); Freiheit, Autonomie und Menschenwürde des Straftäters angesichts der Herausforderungen durch die Neurowissenschaften, in: Heike Baranzke/Gunnar Duttge (Hg.), Autonomie und Würde. Leitprin-
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zipien in Bioethik und Medizinrecht, Würzburg 2013, 121-156; Person oder Sache? Zur Würde der Toten im interpersonalen Sinnhorizont, in: Constanze Demuth/Nele Schneidereit (Hg.), Interexistenzialität und Unverfügbarkeit. Leben in einer menschlichen Welt, Freiburg/München 2014. Hans-Ernst Schiller, Prof. Dr., lehrt Sozialphilosophie und Sozialethik an der Fachhochschule Düsseldorf. Er forscht zu den Grundbegriffen der Sozialphilosophie und Ethik, zur Kritischen Theorie und zu Ernst Bloch. Buchveröffentlichungen: Metaphysik und Gesellschaftskritik. Zur Konkretisierung im Werk Ernst Blochs (1982); Bloch-Konstellationen. Utopien der Philosophie (1991); An unsichtbarer Kette. Stationen kritischer Theorie (1993); Die Sprache der realen Freiheit. Sprache und Sozialphilosophie bei Wilhelm von Humboldt (1998); Das Individuum im Widerspruch. Zur Theoriegeschichte der modernen Individualismus (2006); Ethik in der Welt des Kapitals. Zu den Grundbegriffen der Moral (2011). Herausgeber zusammen mit U. Ruschig von: Staat und Politik bei Horkheimer und Adorno (2014).
Edition Moderne Postmoderne Stefan Deines Situierte Kritik Modelle kritischer Praxis in Hermeneutik, Poststrukturalismus und Pragmatismus Juni 2015, ca. 240 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3018-3
Christian W. Denker Vom Geist des Bauches Für eine Philosophie der Verdauung August 2015, ca. 500 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3071-8
Steffi Hobuß, Nicola Tams (Hg.) Lassen und Tun Kulturphilosophische Debatten zum Verhältnis von Gabe und kulturellen Praktiken 2014, 264 Seiten, kart., 27,99 €, ISBN 978-3-8376-2475-5
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Sandra Markewitz (Hg.) Grammatische Subjektivität Wittgenstein und die moderne Kultur September 2015, ca. 300 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2991-0
Marc Rölli (Hg.) Fines Hominis? Zur Geschichte der philosophischen Anthropologiekritik März 2015, 232 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2956-9
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