Ethik und Ökonomie in Hegels Philosophie und in modernen wirtschaftsethischen Entwürfen 9783787318667, 3787318666

Die Verfasserin untersucht mit dem Verhältnis von Ethik und Ökonomie ein höchst aktuelles Thema und zeigt, wie Hegels Be

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German Pages 298 [300] Year 2008

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Ethik und Ökonomie in Hegels Philosophie und in modernen wirtschaftsethischen Entwürfen
 9783787318667, 3787318666

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HEGELSTUDIEN BEIHEFT 49

HEGELSTUDIEN Herausgegeben von WALTER JAESCHKE UND LUDWIG SIEP Beiheft 49

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

ETHIK UND ÖKONOMIE IN HEGELS PHILOSOPHIE UND IN MODERNEN WIRTSCHAFTSETHISCHEN ENTWÜRFEN

von ALBENA NESCHEN

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-7873-1866-7

© Felix Meiner Verlag, Hamburg 2008. ISSN 0440-5927. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: Type & Buch Kusel, Hamburg. Druck und Bindung: Druckhaus »Thomas Müntzer«, Bad Langensalza. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

inhalt

VORWORT ...........................................................................................

9

EINLEITUNG ...................................................................................................

11

erstes kapitel Der wirtschaftliche Reichtum im Kontext von Religion, Ethik und Politik in Hegels früher philosophischer Phase (1785–1797) .......

25

A. Die Berücksichtigung der sinnlichen Bedürfnisse in Religion und Ethik in den Berner Schriften ....................................................

29

a) Die Konzeption einer Vernunftreligion und die Sphäre der Bedürfnisse ..................................................................................... b) Das Problem der Unverhältnismäßigkeit von Reichtum und Eigentum .......................................................................................... c) Die Kritik an der Absonderung gesellschaftlicher Gruppen nach wirtschaftlichen Interessen ................................................... d) Das Problem der Trennung der Kirche vom Staat und von der Wirtschaft .................................................................................. e) Die Kollision der Pflichten und die moralische Klugheit beim wirtschaftlichen Handeln ..................................................... f) Die Beschäftigung Hegels mit dem Berner Finanzwesen .......... B. Die Liebe als ethisches Prinzip und ihr Verhältnis zum Eigentum in Hegels Frankfurter Schriften .......................................................... a) Hegels Kritik an der Kantischen Ethik ........................................ b) Die Liebe und das Prinzip des Eigentums .................................. c) Analyse der überlieferten biographischen Notizen zu Hegels ökonomischen Auseinandersetzungen......................................... d) Das Problem der wirtschaftlichen Armut .................................... e) Auswertung der biographischen Notizen zu Hegels Hinwendung zur Politischen Ökonomie von James Steuart ..... f) Die Eigentumspolitik des antiken Lykurg: Ein Beziehungspunkt zwischen Hegel und Steuart ....................

29 37 41 45 47 49

55 57 60 64 69 71 77

6

Inhalt

g) Die Überwindung des einseitigen, wirtschaftlichen Lebens durch Politik, Kunst und Religion .................................................

82

zweites kapitel Die wirtschaftliche Sphäre der Bedürfnisse und der Arbeit innerhalb Hegels Konzeption der Sittlichkeit in seiner Jenaer Phase (1801–1807)

89

A. Die frühe Substanzmetaphysik als Grundlegung der Wissenschaften

92

a) Die frühe Logik als Methode der Erkenntnis des Absoluten und seiner Struktur ......................................................................... b) Die philosophische Kritik an den Einzelwissenschaften vor dem Hintergrund der metaphysischen Konzeption Hegels ...... B. Hegels frühe systematische Ethik und die Kritik am bourgeois im Naturrechtsaufsatz von 1802 ......................................................... a) Die Bestimmung der lebendigen Sittlichkeit im Volk .............. b) Das sittliche Ganze als substantielle sittliche Individualität .... c) Die Wirtschaft in der Individualität des ethischen Gemeinwesens ................................................................................. d) Die Negativität in der realen Gestalt der Sittlichkeit: Der ethische Kontrast zwischen dem Stand der Freien und dem Stand der Unfreien ................................................................ e) Die Realität der Sittlichkeit als Tragödie und Komödie ............. f) Resümee der frühen Jenaer Phase ................................................ C. Die Ökonomie und das Prinzip der Subjektivität in Hegels zweiter Jenaer Phase ab 1803/04 ......................................................... a) Der Entwurf zur Geistesphilosophie von 1803/04: Die Arbeit als bewusstseinsimmanente Mitte des empirischen Bewusstseins ............................................................. 1. Das Anerkanntsein im Volk .................................................... 2. Die ökonomische Sphäre als das Anderssein des Volksgeistes ................................................................................ b) Die Selbstgestaltungen des Willens als ein System von politischen und wirtschaftlichen Institutionen in Hegels Entwurf von 1805/06 ..................................................................... 1. Hegels Theorie der Subjektivität als neues Fundament der praktischen Philosophie ........................................................... 2. Die Macht des allgemeinen Willens in der Wirtschaft ........

92 99

103 103 106 108

115 122 127

130

130 132 133

137 138 142

Inhalt

3. Die Kritik am Misstrauen des wirtschaftenden Standes im Staat ....................................................................................... c) Systematische und ökonomische Aspekte in der Phänomenologie ...........................................................................

7

148 150

drittes kapitel Die ethische Verantwortung der bürgerlichen Gesellschaft in Hegels reifer Philosophie ...........................................................................

159

A. Die theoretischen Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft ........

160

a) Der entwicklungsgeschichtliche und systematische Hintergrund .................................................................................... b) Die ethischen Aspekte der Lehre vom subjektiven Geist ........... c) Der objektive Geist als der Staat und seine Institutionen .......... d) Die Identität von Recht und Pflicht als Leitprinzip der Hegelschen Ethik.............................................................................

177

B. Die bürgerliche Gesellschaft als formale Allgemeinheit ..................

178

a) Die Wirtschaft als System der Bedürfnisse und der Arbeit ...... b) Das allgemeine Vermögen als die sichernde Basis der Wirtschaft .................................................................................

183 189

C. Die wirtschaftenden Stände und die Kritik an deren politischem Misstrauen .......................................................................

193

a) Die Ständelehre und das Prinzip der Individualität ................... b) Die Rolle des Staates in der Wirtschaft ....................................... c) Die Korporation als Selbstverwaltungsorgan der bürgerlichen Gesellschaft ............................................................... D. Der ethische Staat als Maßstab der Kritik an der Ökonomiegesellschaft .........................................................................

160 167 170

193 198 205

210

viertes kapitel Die moderne Wirtschaftsethik vor dem Hintergrund der Hegelschen Philosophie .............................................................................

219

A. Die formale Koordination im Zentrum der Ethischen Ökonomie von Peter Koslowski .............................................................................

219

8

Inhalt

a) Die grundlegende Synthese von Ethik und Ökonomie ............. b) Die Überwindung des Kantischen Formalismus ...................... c) Das Koordinationsideal als gemeinsame Grundlage von Ethik und Wirtschaft ...................................................................... d) Die Preisgerechtigkeit als oberstes Prinzip der Wirtschaftsethik .............................................................................. B. Die Vorteils-Ökonomik von Karl Homann als wirtschaftsethischer Entwurf ................................................................................. a) Das Verhältnis von Ethik und Ökonomie in Homanns „Identitätsphilosophie“................................................................... b) Die Neubewertung des Vorteilsstrebens, die Vertragstheorie und der staatliche Ordnungsrahmen als Grundpfeiler einer ethischen Gesellschaft...........................................................

219 223 228 234

241 243

246

C. Die zivilisierte Bürgergesellschaft als das wirtschaftsethische Paradigma von Peter Ulrich ................................................................ a) Die Moralisierung der ökonomischen Vernunft in der idealen Kommunikationsgesellschaft .......................................... b) Die Tugendethik in der Bürgergesellschaft .................................

259 266

schluss Zum Problem der Fundierung einer Ethik der Wirtschaft ..................

275

Siglenverzeichnis ........................................................................................ Literaturverzeichnis ................................................................................... Sachregister ................................................................................................ Namensregister ...........................................................................................

281 283 295 297

257

vorwort

Diese Abhandlung wurde im Wintersemester 2006/2007 von der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln als Dissertation angenommen. Sie ist das Ergebnis einer intensiven Forschungsarbeit, die von meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Klaus Düsing, angeregt, ermöglicht und in jeder Hinsicht gefördert wurde. Ich danke ihm vom ganzen Herzen für die fruchtbaren philosophischen Gespräche, die meine Anschauungen über die Wissenschaft tiefgreifend und nachhaltig geprägt haben. Mein Dank gilt auch Herrn Prof. Dr. Klaus-Erich Kaehler für die Erstellung des Zweitgutachtens, für seine freundliche Beratung und für die philosophischen Anregungen. Meinen Herausgebern, Herrn Prof. Dr. Walter Jaeschke und Herrn Prof. Dr. Ludwig Siep, danke ich für die Aufnahme meiner Dissertation als Beiheft in der renommierten Reihe »Hegel-Studien«. Herrn Prof. Dr. Walter Jaeschke bin ich für seine hilfreichen Hinweise bei der Veröffentlichung zu bestem Dank verpflichtet. Meinem Ehemann Oliver danke ich für seine Liebe und respektvolle Unterstützung, meinen Töchtern Sophia und Maria für ihre Geduld und Verständnis. Ihnen widme ich diese Arbeit. Odenthal, im Sommer 2007

Albena Neschen

einleitung

Die zunehmende Polarisierung zwischen den wirtschaftlich reichen und armen Ländern weltweit, die Umweltzerstörung in den Entwicklungsländern sowie die soziale Unverhältnismäßigkeit in den reichen Marktgesellschaften sind Probleme unserer Epoche, die auf eine globale Verabsolutierung des wirtschaftlichen Effizienzdenkens und -handelns zurückgeführt werden. Ökonomische Argumentationsmuster nach dem Minimum-Maximum-Kalkül, d. h. mit gegebenen Mitteln ein maximales Ergebnis, oder gegebene Ziele mit minimalen Mitteln erreichen, beanspruchen allgemeine Gültigkeit und durchwalten selbst genuin ethische Lebensbereiche wie Kunst, Religion, Wissenschaft und auch Liebe und Freundschaft. In einer ökonomischen Gesellschaft erschöpft sich die soziale Verbundenheit und Kooperation der Individuen in Interaktionen auf der Grundlage des hybriden, strategischen Kalküls. Jedoch kann eine intensiv arbeitsteilige Marktgesellschaft, wie sie heute besteht, nicht auf der Grundlage der gegenseitigen Instrumentalisierung zu lediglich wechselseitigem Vorteil, sondern nur auf einer vertrauensbasierten gegenseitigen Abhängigkeit zur Bedürfnisbefriedigung bestehen. Gegenseitiges Vertrauen und Wohlwollen sind die Bedingungen für eine funktionierende Marktwirtschaft, die im Zeitalter der globalisierten Wirtschaft offenbar nicht hinreichend erfüllt werden. Die Menschen können sich heute nicht mehr darauf verlassen, durch eigene, wohlwollende und vertrauenswürdige Arbeit ihr wirtschaftliches Auskommen zu sichern. Sie sehen vielmehr ihre wirtschaftliche Existenz von den harten Marktgesetzen der heimatlos und unüberschaubar gewordenen Wirtschaft abhängig. Das Vertrauen in die Wirtschaft als stabile Basis der Existenz ist im Zeitalter des Ökonomismus bis zur Unkenntlichkeit verblasst. Die fortlaufenden Skandale aufgrund unethischer Praktiken in der Wirtschaft schärfen das gesellschaftliche Empfinden und Fordern nach einer Klärung der ethischen Voraussetzungen für eine vernünftige Weiterentwicklung unserer Wirtschaftsordnung sowie unserer Arbeits- und Lebensformen. Die heutige Gesellschaft hinterfragt das waltende ökonomische Handlungsprinzip und verlangt nach einer menschenwürdigen, ethischen Wirtschaft, die aus der gegenwärtigen »Großideologie«1 1

Ulrich, P.: Sich im ethisch-politisch-ökonomischen Denken orientieren. In: Information Philosophie. Heft 4. 2002. 24.

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Einleitung

des Ökonomismus hinausführen soll. Diese Tendenz findet ihren stärksten Ausdruck in der gegenwärtigen Wirtschaftsethik, die auf der Suche nach vernünftigen Normen für wirtschaftliches Handeln ist. Obwohl die Debatte um die Begründung ethischer Normen in der Wirtschaft kontrovers ist, haben die zahlreichen Ansätze eine Einsicht gemeinsam: Die moderne Wirtschaftswissenschaft bedarf der Rückwendung zu ihren philosophisch-ethischen Wurzeln. Die Besinnung auf ihren philosophischen Ursprung erweist sich in Anbetracht der gewonnenen Emanzipation der Wirtschaftswissenschaft jedoch als höchst problematisch. Die Ethik und die Ökonomie scheinen sich unversöhnlich gegenüberzustehen. Inzwischen wächst der öffentliche Druck und macht die Wiedergewinnung des Vertrauens in die Wirtschaft zu einer der dringlichsten, sozialen Aufgaben von Politik, Religion und Wissenschaft.2 Sie alle sind gefordert, ihren spezifischen Beitrag zu leisten. Das bedeutet für die Philosophie und die Ökonomie, dass sie ihr unversöhnliches Gegenüberstehen aufgeben und sich aufeinander einlassen müssen. Wie das Verhältnis von Ethik und Ökonomie wissenschaftlich reflektiert werden kann, ist die zentrale Frage in der gegenwärtigen Wirtschaftsethik, an der sich die Pluralität der Ansätze entzündet. Um einen ethischen Relativismus zu vermeiden, d. i. den Standpunkt, dass es aufgrund unüberschaubarer Fülle untereinander divergierender Ansätze gar keine einheitliche Begründung für Ethik in der Wirtschaft gibt, können drei paradigmatische Ansätze gemäß der Typologie in der philosophischen Ethik expliziert werden. Entsprechend der prinzipiellen Systematisierung der ethischen Grundtypen in Pflichtenlehre, Güterlehre und Tugendlehre, sind in der gegenwärtigen Wirtschaftsethik drei Paradigmen erkennbar, die je ein fundamental-ethisches Prinzip als leitend ansetzen. Die deontologische Variante der Wirtschaftsethik im Anschluss an Kant in einer individualistischen Spielart vertritt einer der Begründer der gegenwärtigen Wirtschaftsethik, Peter Koslowski. Der Utilitarismus wird von Karl Homann vertreten, wobei er ganz auf die Begründung der Ethik im Vorteilsstreben setzt. Der dritte traditionelle Ethiktypus – die Tugendlehre, wird im Ansatz von Peter Ulrich, der eine kommunikative Zivilgesellschaft tugendhafter Bürger postuliert, vertreten.3 2

Der Wiederaufbau des öffentlichen Vertrauens in die Wirtschaft ist nicht nur eine Forderung »von außen«, sondern als ein strategischer Faktor von den Fachleuten erkannt. Vgl. Weibel, P. F.: Der Wiederaufbau des Vertrauens der Öffentlichkeit in das Management – der Standpunkt der Wirtschaftsprüfer. In: Zeitschrift Führung + Organisation (zfo). Heft 4. 2004 (73. Jg.). 207–211. 3 Vgl. Ulrich, P.: Integrative Wirtschaftsethik. Grundlagen der lebensdienlichen Ökonomie. Bern. 1997. Vgl. Homann, K.: Anreize und Moral. Gesellschaftstheorie – Ethik – Anwendung. Hrsg. v. Ch. Lütge. Münster. 2003. Vgl. Koslowski, P.: Prinzipien der ethi-

Einleitung

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Auf der Suche nach einer Wirtschaftsethik auf philosophischem Boden rekurrieren diese prominenten Wirtschaftsethiker auf einen der berühmtesten deutschen Philosophen, G.W. F. Hegel, der eine originelle wirtschaftsethische Konzeption entwickelt hat und durchaus in einem modernen Sinn die Versöhnung von Ökonomie und Ethik entfaltet. Die Hinwendung zu Hegel ist jedoch problematisch, denn seine Ethik kann nur im Zusammenhang mit ihrem spekulativen Fundament und nur als Bestandteil seiner idealistischen Staatskonzeption adäquat begriffen und für die heutigen Verhältnisse fruchtbar gemacht werden. Die moderne Wirtschaftsethik erkennt das Potenzial der Hegelschen Philosophie, hat jedoch offensichtlich große Schwierigkeiten im Umgang mit Hegel. Sie werden daran deutlich, dass zum Beispiel Peter Ulrich primär die Hegel-Interpretation von J. Habermas heranzieht und deren Richtigkeit ohne nähere Untersuchung unterstellt.4 Ein anderer prominenter Vertreter der Wirtschaftsethik, Karl Homann, sieht in der Hegelschen Philosophie das vorbildliche Paradigma seines Ansatzes, er ignoriert jedoch deren spekulatives Fundament und gelangt zu einer zweifelhaften Hegel-Deutung. Entgegen den unzureichenden und noch näher zu erläuternden Versuchen, Hegels Philosophie für die gegenwärtige Wirtschaftsethik fruchtbar zu machen, wird die vorliegende Untersuchung unter Wahrung der spekulativen Annahmen und des systematischen Charakters seiner Philosophie zeigen, wie Hegel das Verhältnis von Ethik und Ökonomie bestimmt und welche Argumente er in die heutige Debatte um die Wirtschaftsethik einbringen kann. Wenngleich die Hegelsche Philosophie keine Antworten auf die Probleme der Gegenwart enthält, so bietet sie einen breiteren Horizont für deren Betrachtung. Insofern ist die Rückwendung zur klassischen deutschen Philosophie sinnvoll, jedoch nur unter der Bedingung, dass sie nicht für die heutigen Verhältnisse verkehrt und missdeutet wird.5 Hegel sieht sich mit einer ähnlichen Situation konfrontiert, wie wir sie heute im Zeitalter des Ökonomismus haben: Er lebt in der Zeit der beginnenden Industrialisierung des 19. Jahrhunderts und verfolgt die rasche wirtschaftliche Entwicklung in England, liest und nimmt die Gedanken von

schen Ökonomie: Grundlegung der Wirtschaftsethik und der auf die Ökonomie bezogenen Ethik. Tübingen. 1988. 4 Vgl. Habermas, J.: Arbeit und Interaktion. Bemerkungen zu Hegels ›Jenenser Philosophie des Geistes‹. In: Göhler, G.: Hegel, G. W. F. »Frühe politische Systeme«. Frankfurt. 1974. 786–814. 5 Dass die Beschäftigung mit den Thesen der deutschen Idealisten einen guten Sinn hat und dass dies ein Aktualitätsnachweis bedeutet, hat R.-P. Horstmann hervorgehoben. Vgl. Horstmann, R.-P.: Zur Aktualität des Deutschen Idealismus. In: Neue Hefte für Philosophie. 1995. 4 ff.

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Einleitung

Adam Smith, dem »Vater« der heutigen liberalen Wirtschaftswissenschaft, auf. Hegel würdigt die für ihn neue Politische Ökonomie und integriert sie in seine philosophische Konzeption des metaphysisch fundierten, genuin sittlichen Staates. Gleichwohl beschränkt er die Gültigkeit der ökonomischen Prinzipien nur auf die Sphäre der Bedürfnisbefriedigung und nur auf einen Teil des sozialen Ganzen, der sich darauf spezialisiert: die bürgerliche, marktwirtschaftlich organisierte Gesellschaft. Dabei hat Hegel weniger die aristotelische Trennung von Politika und Oikonomika vor Augen, als vielmehr die Harmonie des öffentlichen Lebens in der platonischen Polis. Diese Harmonie bedeutet für Hegel die Priorität des Gemeinsamen, des Politischen vor dem Privatwirtschaftlichen und deren Abgrenzung, damit die wirtschaftlichen Prinzipien die Sittlichkeit nicht unterwandern.6 Die Abgrenzung von bürgerlicher Ökonomiegesellschaft und Staat bedeutet für Hegel, wie hier einleitend skizziert sei, nicht die Trennung, sondern die Zuweisung unterschiedlicher Organisationsformen, Zwecke und Tugenden.7 Diese Abgrenzung folgt der Idee der Freiheit, die eine spezifische Bedeutung erhält. Hegels praktische Philosophie steht und fällt, wie A. Peperzak sagt, mit dem radikalen Unterschied zwischen Willkür (Wahlfreiheit) und wahrer Freiheit und mit der Priorität der letzteren.8 Die Willkür ist ein innerer Widerspruch, weil sie zugleich formal allgemein und inhaltlich nicht allgemein, sondern rein zufällig, subjektiv ist. In der Allgemeinheit als Inhalt des Willens erlangt das Subjekt die wahre Freiheit, Glückseligkeit und Selbstverwirklichung. Die subjektive Freiheit kann der Mensch nach Hegel nur dann erreichen, wenn er sie als Moment einer höheren, metaphysischen Freiheit des allgemeinen, unendlichen Geistes begreift. Das Wissen der wahrhaften Freiheit kommt einem unendlichen Wesen zu, dessen Struktur und Deduktion Hegel aus seiner spekulativen Logik transponiert. Die Einsicht in die metaphysische Freiheit kann der endliche Verstand nicht erfassen, sie kann aber von der menschlichen denkenden Vernunft erkannt werden. An dem individuellen Willen lässt sich stufenartig zeigen, wie dem Menschen die höhere Freiheit des Geistes in seinem Denken bewusst wird und er diese als Selbsterkenntnis verwirklicht. Er erreicht nicht nur seine subjektive Freiheit und Glückselig6

Vgl. Düsing, K.: Politische Ethik bei Plato und Hegel. In: Hegel Studien. Hrsg. von F. Nicolin und O. Pöggeler. Band 19. Bonn. 1984. 95–145. 7 Gerade in der Verknüpfung von sozialer Differenzierung und normativer Integration sieht L. Siep richtig die Aktualität des Hegelschen Denkens. Vgl. Siep, L.: Die Aktualität der praktischen Philosophie Hegels. In: Welsch, W./Vieweg, K. (Hrsg.): Das Interesse des Denkens. Hegel aus heutiger Sicht. München. 2003. 193. 8 Vgl. Peperzak, A.: Selbsterkenntnis des Absoluten. Grundlinien der Hegelschen Philosophie des Geistes. Stuttgart-Bad Cannstatt. 1987. 59.

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keit, sondern durchläuft einen geistigen Entwicklungs- und Bildungsprozess seiner Subjektivität hin zur Allgemeinheit. In diesem Bildungsprozess hebt sich der einzelne, egoistische Wille selbst in einem allgemeinen, sittlichen Willen auf, ohne nach Hegel die subjektive Besonderheit des einzelnen Willens aufzugeben. Der allgemeine Wille muss idealiter vor den einzelnen Willen da sein, damit sie sich auf ihn zuallererst beziehen, und er besteht nach Hegel in der Identität des Inhalts von Recht und Pflicht, die in seiner metaphysischen Freiheit begründet ist. Sie ist das Fundament der allgemeinen Sittlichkeit, die ihr reales Dasein im ethischen Staat hat. In den einzelnen Menschen erscheint die Identität von Recht und Pflicht als eine sittliche Gesinnung gegenüber dem Staat, als Tugend, die zur Pflichterfüllung und Setzung von allgemeinen Zwecken motiviert. Das Individuum realisiert seine individuelle Freiheit in der Allgemeinheit als fürsorgliches und geliebtes Mitglied in der Familie, als arbeitendes und anerkanntes Mitglied der berufsständischen Ökonomiegesellschaft oder als Mitarbeiter des sittlichen Staates. In allen sozialen Sphären gesellschaftlichen Lebens arbeiten die Individuen allgemein, vollbringen eine gesellschaftlich notwendige Arbeit. Dafür können sie sich auf die gesellschaftliche Allgemeinheit verlassen, dass sie für die gerechte Behandlung, für die Sicherung der Freiheit und der wirtschaftlichen Existenz aller sorgt. Die bürgerliche Ökonomiegesellschaft ist jedoch nicht in der Lage, diese Sorge zu tragen. Sie reißt die Menschen in ihrer Arbeit aus der Familientradition heraus, denn die Fortführung des Familienbetriebs hängt nicht von den in der Familie erlernten Geschicklichkeiten, sondern von den harten Marktgesetzen ab. So überlässt die Ökonomiegesellschaft als die neue, allgemeine Familie das wirtschaftliche Auskommen ihrer »Söhne« der Zufälligkeit des Marktes. Sie lässt insbesondere ihre sozial schwachen Mitglieder nicht am sozioökonomischen Leben teilnehmen und raubt ihnen damit die Möglichkeit, ihre individuelle Freiheit in der gesellschaftlichen Anerkennung zu realisieren. Denn die soziale Fürsorge widerspricht den ökonomischen Funktionsgesetzen, die nur auf die Steigerung des Privatwohls und des wirtschaftlichen Gewinns gerichtet sind. Aufgrund dieser immanenten Widersprüchlichkeit, Hegel nennt sie die »Dialektik« der bürgerlichen Ökonomiegesellschaft, wird sie nie reich und weise genug sein, um für ihre Söhne als eine allgemeine Familie zu sorgen. Da Hegel, anders als die gegenwärtigen wirtschaftsethischen Theoretiker, nicht daran glaubt, dass die liberale Ökonomiegesellschaft von sich aus die ethischen Normen reflektieren kann, muss sie es zulassen, dass ihre Pflichterfüllung gegenüber allen ihren Mitgliedern von den eigenen korporativen Selbstverwaltungsorganen und vom Staat überwacht wird. Erst im ethischen Staat ist nach Hegel die individuelle und die allgemeine Freiheit verwirklicht, und daher muss

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Einleitung

sich das ausdifferenzierte und selbstständige System der Wirtschaft unter Beibehaltung seiner ökonomischen Prinzipien in die höhere politische Ordnung integrieren. Diese Integration ist keine Assimilation in einem übermächtigen Staat, sie ist aber auch keine Legitimation der entfesselten Wirtschaft. Vielmehr entwickelt Hegel ein mehrstufiges Modell der Vermittlung zwischen Ökonomiegesellschaft und Staat und deren Ständen der Besitzbürger und der Staatsbürger. Vor dem Hintergrund der allgemeinen, absoluten Sittlichkeit der Staatsbürger kritisiert er den Egoismus der Besitzbürger, die primär ihren privatwirtschaftlichen Interessen nachgehen. Während die Staatsbürger sich voll für die sittliche Organisation einsetzen, nehmen sie die Besitzbürger nur in Kauf, um ihr Leben und Eigentum darin zu sichern. Obwohl das einseitig ökonomische Denken und Verhalten der Besitzbürger, wie sich unten näher zeigen soll, ethisch verwerflich ist, konstituieren sie neben den Bauern und den Staatsbürgern die lebendige Sittlichkeit im Staat. Da nur die allgemeine Sittlichkeit eine per se implementierte Ethik begründen kann, weist Hegel die egoistischen Wirtschaftsbürger nicht leichtfertig ab, sondern sucht sie in die Allgemeinheit zu vermitteln. Diese Aufgabe stellen sich auch die heutigen Theoretiker der Wirtschaftsethik. Während Peter Ulrich die egoistischen Wirtschaftsbürger für dumm erklärt und an einer harmonischen zivilisierten Marktgesellschaft von ausschließlich tugendhaften Bürgern festhält, glaubt Koslowski an die einsichtige Selbstbeschränkung der eigenen Gewinnsucht. Karl Homann dagegen befürwortet grundsätzlich den entfesselten Egoismus und sucht eine entsprechende institutionelle Ordnung für dessen Kanalisierung.9 Gegenüber diesen modernen Entwürfen zur Wirtschaftsethik ist die Hegelsche Theorie nicht die Lösung von deren Problemen, sie ist jedoch eine durchaus sinnvolle Option für eine Kritik an ihnen, so die These dieser Untersuchung. Die heutigen Entwürfe gewinnen Kontur, wenn sie auf ihre philosophiegeschichtlichen Vorfahren projiziert werden, was das Ziel der vorliegenden Arbeit in der philosophischen Rekonstruktion der wirtschaftsethischen Kritik Hegels motiviert. Um das Ziel zu erreichen und der Hegelschen Philosophie gerecht zu werden, scheint die entwicklungsgeschichtliche Methode sehr geeignet zu sein. Denn Hegels philosophischer Standpunkt gegenüber der Ökonomiegesellschaft ist nicht auf einmal entstanden und konstant geblieben, und er kann nicht isoliert von der ebenfalls

9

Vgl. Ulrich, P.: Zivilisierte Marktwirtschaft. Eine wirtschaftsethische Orientierung. Freiburg i. B. 2005.105. Vgl. Homann, K.: Ethik und Ökonomik. In: Lütge, Ch. (Hrsg.): Karl Homann. Vorteile und Anreize. Tübingen. 2002. 59. Vgl. Koslowski, P.: Prinzipien der ethischen Ökonomie. 222 f.

Einleitung

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nicht konstanten theoretischen Fundierung betrachtet werden. Die vorliegende Interpretation untersucht ihn daher in drei genetisch-chronologischen Phasen, die mit Hegels Ortswechsel und den seine Philosophie beeinflussenden Ereignissen zusammenfallen.10 Das erste Kapitel ist Hegels früher Berner und Frankfurter Phase gewidmet. Entscheidende Bedeutung für die Beurteilung der ökonomischen Verhältnisse haben beim Berner Hegel die Auseinandersetzung mit der Kantischen Ethik, das Ideal der griechischen Antike, die Kritik an der institutionalisierten christlichen Religion und die Französische Revolution. In Frankfurt haben die Zusammenarbeit mit Hölderlin, die Abkehr von Kant, die detaillierte Beschäftigung mit der modernen Politischen Ökonomie, die bis in seine späten Philosophie weiter wirkenden Lehren der gewaltsam beendeten französischen Revolution einen Einfluss auf Hegels Philosophie. Im Hinblick auf die ökonomische Problematik werden die lange vernachlässigten Schriften aus Hegels Berner und Frankfurter Zeit hier ausführlich interpretiert, insbesondere weil der junge Hegel schon damals seine kritische Stellungnahme gegenüber dem Prinzip des Eigentums der bürgerlichen Gesellschaft angedeutet hat. Im zweiten Kapitel wird Hegels Jenaer Phase erörtert, die für seine Beschäftigung mit der Ökonomie die fruchtbarste ist. In Jena ist für Hegel die Zusammenarbeit mit Schelling, die Suche nach dem logischen Erkennen des Absoluten, aber ebenso die intensive Beschäftigung mit der Ökonomie von Adam Smith von großer Bedeutung. Sehr aufschlussreich für die These dieser Untersuchung sind Hegels Jenaer Naturrechtsaufsatz von 1802/03 und das Reinschriftfragment System der Sittlichkeit ,11 in denen er seine ethische Kritik an dem selbstsüchtigen bourgeois prägnant zum Ausdruck bringt. In diesen Schriften kritisiert Hegel die Wirtschaft aus seiner substanzmetaphysischen Konzeption der absoluten Sittlichkeit im Volk heraus und sieht die Besitzbürger und deren Egoismus in scharfem Kontrast zu der Tapferkeit der Staatsbürger. Ab Mitte der Jenaer Phase entwickelt Hegel seine Theorie der Subjektivität, die den Kontrast zwischen Besitz- und Staatsbürger entschärft. Parallel zur Gewinnung einer immer tieferen Einsicht in die Funktionsweise der Ökonomie sucht Hegel nunmehr die stabilen Brücken zwischen Besitz- und Staatsbürger in einem 10

Einen sehr guten Überblick über die verschiedenen Phasen von Hegels philosophischer Entwicklung enthält das Hegel-Buch von W. Jaeschke. Vgl. Jaeschke, W.: HegelHandbuch. Leben-Werk-Schule. Stuttgart. 2003. 11 Vgl. Hegel, G. W. F.: Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts. In: Hegel, G. W. F.: Gesammelte Werke. Jenaer kritische Schriften. Hrsg. v. H. Buchner und O. Pöggeler. Band. 4. Hamburg. 1968. 417–464. Vgl. Hegel, G. W. F.: System der Sittlichkeit. In: Hegel, G. W. F.: Gesammelte Werke. Schriften und Entwürfe (1799–1808). Hrsg. von M. Baum und K. R. Meist. Band. 5. Hamburg. 1998. 277–361.

18

Einleitung

ethischen Staat. Diese werden besonders deutlich in seiner reifen Philosophie, vor allem in der Rechtsphilosophie und der Enzyklopädie,12 die im dritten Kapitel erörtert werden. Hegels neu entwickelte Konzeption der Subjektivität, die zugleich seine Ethik fundiert, verändert nicht grundsätzlich seine ethische Kritik an der Selbstsucht der modernen Bürger. Obwohl der selbstsüchtige Zweck für die Gesellschaft konstitutiv geworden ist, kann er nicht für das sittliche Ganze allein Gültigkeit beanspruchen. Im Hinblick auf die erweiterte Quellenlage durch die Veröffentlichung von Nachschriften von Hegels Vorlesungen über die Rechtsphilosophie berücksichtigt die Untersuchung auch diese, insoweit sie sich von den Originalschriften unterscheiden. Es ist jedoch besondere Vorsicht im Umgang mit den Nachschriften geboten, da sie nicht von Hegel, sondern von seinen Hörern geschrieben wurden und daher immer das persönliche Verständnis mit einfließen lassen. Abschließend sei ein Überblick über den Stand der Forschung in den verschiedenen Entwicklungsphasen von Hegels Philosophie gegeben. Während bereits zahlreiche Untersuchungen über die Rolle der bürgerlichen Gesellschaft in Hegels Konzeption sowie über Hegels Rezeption der Politischen Ökonomie vorliegen, ist die entwicklungsgeschichtliche Explikation seiner wirtschaftsethischen Kritik in der philosophischen Forschung neu. In der Hegel-Forschung hat G. Lukács mit Nachdruck auf Hegels Beschäftigung mit der Ökonomie in seiner frühen Phase aufmerksam gemacht, er verfällt jedoch einer stark ideologischen, marxistischen Interpretation.13 Eine dem Text angemessene Interpretation der praktischen Philosophie des jungen Hegel ist O. Pöggeler gelungen, er kommentiert jedoch die ökonomische Problematik in ihr nur am Rande.14 Kenntnisreiche Details über Hegels Leben in Bern enthalten die Studien von M. Bondeli, er widmet jedoch den ökonomischen Interessen wenig Aufmerksamkeit, die in Hegels eigenhändigen Exzerpten dokumentiert sind.15 Demgegenüber versucht N. Waszek historische Belege geltend zu machen, die Hegels frühe Beschäftigung mit der englischen Ökonomie in Bern beweisen.16 Über die Rolle der Ökonomie in 12

Vgl. Hegel G. W. F.: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Hrsg. von J. Hoffmeister. Hamburg. 4. Auflage 1955. Vgl. Hegel, G. W. F.: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830). Hrsg. von W. Bonsiepen und H.- Ch. Lucas. Band 20. Hamburg. 1992. 13 Vgl. Lukács, G.: Der junge Hegel. Über die Beziehungen von Dialektik und Ökonomie. 2 Bde. Frankfurt. 1973. 14 Vgl. Pöggeler, O.: Hegels praktische Philosophie in Frankfurt. In: Hegel Studien. Hrsg. Von F. Nicolin und O. Pöggeler. Band 9. Bonn. 1974. 75. 15 Vgl. Bondeli, M.: Hegel in Bern. Bonn. 1990. (Hegel-Studien: Beiheft 33) 16 Vgl. Waszek, N.: The Scottish Enlightenment and Hegel’s Account of ›Civil society‹. Dordrecht, Boston, London. 1988.

Einleitung

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Hegels Jenaer Phase liegen ebenfalls zum Teil kontroverse Untersuchungen vor. Sie versuchen jeweils den Einfluss des Aristoteles, Plato, Rousseau und der schottischen Ökonomen auf Hegel geltend zu machen. M. Riedel versucht Hegels Würdigung der Ökonomie als »Gegenstück« zu den Theorien von Plato und Rousseau zu sehen und schreibt ihr vor allem aristotelische Züge zu. Jedoch stößt er auf unüberwindliche Widersprüche, die er selbst benennt. Entgegen Aristoteles’ Bestimmung der ökonomischen Tätigkeiten lediglich in der koinonia politike, haben sie bei Hegel einen gesellschaftsbildenden Charakter.17 In der »eigentümlichen Projektion der Figur des bourgeois an den Ausgang der antiken Welt« sieht Riedel einen Widerspruch zwischen der gleichzeitigen Rezeption von antiker Polissittlichkeit und der modernen Ökonomie und unterstellt Hegel, er sei sich über die Doppelbestimmung des Menschen keineswegs im klaren. Dagegen sieht M. Bienenstock keine systematischen Schwierigkeiten Hegels in dieser Doppelbestimmung und deutet die Unterscheidung von bourgeois und citoyen, aber auch Hegels Bestimmung der ökonomischen Kategorie der Arbeit als offensichtliche Bezüge auf Rousseau.18 Während Riedel eine klare Differenz von bürgerlicher Gesellschaft und Staat bei Hegel erst in der späten Rechtsphilosophie feststellen kann, ist Horstmann der Meinung, dass er sich bereits in der Jenaer Phase dieser Differenz sicher ist. Die späteren Veränderungen in der Präsentation seiner Theorie seien nach Horstmann politisch motivierte, »didaktische Modifikationen«.19 Hegel habe die Differenz zwischen Staat und bürgerlicher Gesellschaft und das daraus folgende Primat des Staates deshalb so stark betont, weil er die entstandenen Missverständnisse mit der Veröffentlichung seiner Landständeschrift ausräumen wollte.20 Hegels Kritik an den wirtschaftenden

17

Vgl. Riedel, M.: Die Rezeption der Nationalökonomie. In: Ders. (Hrsg.): Zwischen Tradition und Revolution, Studien zu Hegels Rechtsphilosophie. Stuttgart. 1982.122 und 138. 18 Vgl. Bienenstock, M.: Der Wille bei Rousseau und beim Jenaer Hegel. Zur Entstehung von Hegels Philosophie des subjektiven Geistes. In: Hespe, F./Tuschling, B.: Psychologie und Anthropologie oder Philosophie des Geistes. Stuttgart. 1991. 150. 19 Vgl. Horstmann, R.-P.: Über die Rolle der bürgerlichen Gesellschaft in Hegels politischer Philosophie. In: Hegel-Studien.9 (1974) 212 und 238. 20 Vgl. Horstmann, R.-P.: Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft. In: Siep, L. (Hrsg.): G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Reihe: Klassiker Auslegen. Bd. 9. Berlin. 1997. 210 ff. Hegel versucht in seiner 1817 erschienenen Kampfschrift »Verhandlungen in der Versammlung der Landstände des Königreichs Württemberg im Jahre 1815 und 1816« in das politische Leben einzugreifen. Die Hauptkritik richtet sich an die wirtschaftenden Stände, die auf ihren bestehenden Rechten und Privilegien beharren und keine Einsicht in den Grundprinzipien der Sittlichkeit zeigen, wie sie Hegel versteht und wie sie zum Teil in den Reformplänen des Königs Friedrich II. enthalten sind.

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Einleitung

Ständen, die auch diese Schrift enthält, bewertet Horstmann als nicht sehr originell, da sie in den volkswirtschaftlichen Diskussionen in Hegels Zeit enthalten sei. Der politisch-systematische Zusammenhang der Hegelschen Einschätzung der Ökonomie, den Horstmann hervorhebt, ist sicherlich ein nicht zu unterschätzendes Motiv der reifen Rechtsphilosophie Hegels, es ist aber nicht das leitende. Eine entwicklungsgeschichtliche Rekonstruktion des hegelschen Standpunktes gegenüber der Ökonomie wird im Folgenden zeigen, dass lange bevor Hegel seine Staatskonzeption entwickelt hatte, ihm die Ökonomie und deren ethische Probleme bewusst waren und er diese schon seit seinen Berner Jahren in einem adäquaten Programm des sittlichen Ganzen, das er nicht immer mit dem Staat identifizierte, zu integrieren gesucht hat. Richtungsweisende Studien über Hegels Jenaer Phase haben L. Siep, der die Anerkennung als Leitprinzip der praktischen Philosophie Hegels heraushebt, und H. Kimmerle vorgelegt, der insbesondere die frühe Jenaer Naturund Geistesphilosophie Hegels interpretiert hat.21 Ohne die aristotelischen Züge in Hegels politischer Ethik abzustreiten, die vor allem M. Riedel und K.-H. Ilting22 betonen, weist K. Düsing23 die entscheidende Rolle der platonischen Philosophie für Hegel nach. Nicht die aristotelische Trennung von Ökonomie und Politik, Wirtschaft und Staat ist Hegels Idee, sondern deren moderne Vereinbarung in einem Gemeinwesen, aber insgesamt nach platonischem Vorbild. Erst vor dem Hintergrund der platonischen, holistischen Sittlichkeit lässt sich Hegels Staatslehre und seine moderne Unterordnung der Wirtschaft unter das sittliche Ganze adäquat nachvollziehen. An Platos Ideen misst sich Hegel in allen Phasen seiner philosophischen Entwicklung, und er bewundert, wenn auch kritisch, bis in die reifen Werke hinein die platonische Philosophie. Insbesondere übernimmt Hegel die platonische Ständelehre, in die er den Stand der modernen Besitzbürger eigens integriert, um der ökonomischen Entwicklung seiner Zeit Rechnung zu tragen. Entscheidend für das Verständnis der Hegelschen Interpretation der Ökonomie ist neben dem Gesamthorizont der platonischen Philosophie insbeHegels Kritik, obwohl sie sich zum Teil auch gegen den Monarchen richtete, wurde als eine strikte Parteinahme für Friedrich II. missverstanden. 21 Vgl. Siep, L.: Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie. Untersuchungen zu Hegels Jenaer Philosophie des Geistes. Freiburg. 1979. Vgl. Kimmerle, H.: Das Problem der Abgeschlossenheit des Denkens. Hegels »System der Philosophie« in den Jahren 1800–1804. In: Hegel-Studien. Beiheft 8. Bonn. 1982. 22 Vgl. Ilting, K.-H.: Hegels Auseinandersetzung mit der aristotelischen Politik. In: Göhler, G.: G. W. F. Hegel. Frühe politische Systeme. Frankfurt. 1974. 759 ff. 23 Vgl. Düsing, K.: Politische Ethik bei Plato und Hegel. 95–145. Vgl. auch Düsing, K.: Ethik und Staatslehre bei Plato und Hegel. In: Ders.: Subjektivität und Freiheit. Untersuchungen zum Idealismus von Kant bis Hegel. Stuttgart-Bad Cannstatt 2002. 236–249.

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sondere die englische Nationalökonomie. Verschiedene kenntnisreiche Studien stellen die Einflüsse auf Hegel von James Steuart (P. Chamley24), von J. J. Rousseau (M. Bienenstock25), oder auch von Fichte (A. Arndt26) dar. Es liegen aber auch kontroverse Untersuchungen vor. Während N. Waszek27 den weitaus wichtigeren Einfluss der schottischen Ökonomen, wie J. Steuart, A. Smith und J. B. Say, vor den deutschen, eher rückständig-kameralistisch orientierten Ökonomen, wie J. Justi, G. Hufeland, Th. R. Malthus und J. C. L. Sismonde auf Hegel feststellt, meint B. Priddat, dass sich Hegel zwar auf dem Niveau der Ökonomie seiner Zeit befinde, aber nicht auf dem englischen, sondern auf dem eher rückständigen deutschen Niveau.28 Als Argument führt B. Priddat Hegels »cameralistische Polizei und Korporation« in der bürgerlichen Gesellschaft an, was auch andere Interpreten, angefangen von R. Haym, auf den unfruchtbaren Gedanken geführt hat, Hegel wolle die wirtschaftliche Sphäre von einem übermächtigen Staats- und Polizeiapparat beherrscht sehen. Diese Unterstellung kann nur dann vorgenommen werden, wenn man Hegels Begriff vom Recht im engeren, üblichen Sinne als Justizrecht versteht, doch dass Hegels Begriff des Rechts ein ethischer Begriff ist, das übersehen solche Interpreten, die dann Hegel nur die halbherzige Aufnahme der liberalen englischen Ökonomie attestieren und zu einer fraglichen Würdigung der Hegelschen Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft in einer Rechtsordnung oder Wirtschaftsverfassung gelangen.29 Hinzu kommt, dass B. Priddat lediglich die ökonomische Auseinandersetzung Hegels in seiner reifen Rechtsphilosophie untersucht und sich stark von den Mitschriften der rechtsphilosophischen Vorlesungen Hegels leiten lässt. Er gelangt zu der einseitigen Schlussfolgerung, dass Hegel keine differenzierte Einsicht in die

24

Vgl. Chamley, P.: Economie politique et Philosophie chez Steuart et Hegel. Paris.

1963. 25

Vgl. Bienenstock, M.: Zur Revision der praktischen Philosophie Hegels in dem Systementwurf von 1805/06. In: Kimmerle, H. (Hrsg.): Die Eigenbedeutung der Jenaer Systemkonzeption Hegels. Berlin. 2004. 215–228. Vgl. auch Bienenstock, M.: Der Wille bei Rousseau und beim Jenaer Hegel. 134–154. 26 Vgl. Arndt, A.: Negativität und Widerspruch in Hegels Ökonomie. Voraussetzungen der Hegelschen Kritik der Politischen Ökonomie in der Auseinandersetzung mit Fichte. In: Hegel-Jahrbuch 1988. Hrsg. v. H. Kimmerle u. a. Bochum. 1988. 315–328. 27 Vgl. Waszek, N.: Hegels Lehre von der ›bürgerlichen Gesellschaft‹ und die politische Ökonomie der schottischen Aufklärung. In: Dialektik 3 (1995). 40. 28 Vgl. Priddat, B.: Hegel als Ökonom. Berlin. 1990. 11. 29 Vgl. Priddat, B.: Hegel als Ökonom. 235. Über die unbefriedigende Würdigung und Behandlung von Hegels Theorie im Buch von Priddat vgl. Petersen, Th.: Wie modern ist Hegels Theorie der »bürgerlichen Gesellschaft«? In: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie. Bd. 80 (1994). 109–116.

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Einleitung

ökonomischen Zusammenhänge habe.30 Diese Schlussfolgerung ist damit zu erklären, dass Priddat die Hegelsche Position zur Ökonomie nicht vor dem Hintergrund ihrer logisch-metaphysischen Grundlegung und nicht in ihrem systematischen Charakter betrachtet, sondern lediglich vor dem Hintergrund der Politischen Ökonomie Adam Smiths, deren Richtigkeit B. Priddat unkritisch voraussetzt. Eine reduktionistische Interpretation von Hegels Institutionenlehre in der bürgerlichen Gesellschaft vertritt ebenfalls K. Roth. Hegels Philosophie sei eine Vermittlung von »Kapitalismus und Feudalmonarchie, angereichert durch ein Konglomerat von absolutistischen, konstitutionalistischen, restaurativen, sozialistischen und nationalistischen Elementen«.31 Diese tendenziöse Einschätzung von K. Roth beruht auf seiner spezifischen und unhaltbaren Umdeutung der Hegelschen Dialektik. Er will die Dialektik nicht im Sinne von Hegel als notwendiges Ingrediens seiner spekulativen Methode verstehen, sondern reduziert die gesamte Methode Hegels auf die bloß formale Dialektik. Eine darauf beruhende Interpretation der Hegelschen praktischen Philosophie ist problematisch, da seit den nachhegelschen Filiationen der Dialektik nicht mehr von einem einheitlichen Methodenbegriff im Hegelschen Sinne gesprochen werden kann. Zurecht betont K. Düsing Hegels metaphysische Annahmen der dialektischen Methode als vollständige logische Bestimmung der absoluten Subjektivität,32 denn nur vor dem Hintergrund dieser metaphysisch-logischen Subjektivität lässt sich Hegels praktische Philosophie angemessen verstehen und für die heutige Forschung fruchtbar machen. Ein umfassender, die theoretischen und die systematischen Prämissen berücksichtigender Kommentar zu Hegels Rechtsphilosophie und Enzyklopädie ist A. Peperzak33 gelungen. Er untersucht die innere Konsistenz der Rechtsphilosophie als Entwicklung des Begriffs der Freiheit.

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In diesem Forschungsüberblick sollte noch der Aufsatz von Th. Petersen und H. F. Fulda erwähnt werden, in dem Hegels System der Bedürfnisse, und gerade die Institutionen des wirtschaftenden Standes als ein die Marktwirtschaft stabilisierender Faktor aufgefasst werden. Vgl. Petersen, Th./Fulda, H. F.: Hegels System der Bedürfnisse. In: Dialektik. 3 (1999). 129–145. 31 Roth, K.: Freiheit und Institutionen in der politischen Philosophie Hegels. Rheinfelden. 1989. 317. 32 Vgl. Düsing, K.: Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik. 3. Auflage. Bonn. 1995. 33 Vgl. Peperzak, A.: Modern Freedom. Hegel´s legal, moral and political philosophy. Dordrecht. 2001; Peperzak, A.: Zur Hegelschen Ethik. In: Henrich, D./Horstmann, R.-P. (Hrsg.): Hegels Philosophie des Rechts: die Theorie der Rechtsformen und ihre Logik. Stuttgart. 1982. 103–131. Vgl. Peperzak, A.: Hegels Pflichten- und Tugendlehre. Eine Analyse und Interpretation der »Grundlinien der Philosophie des Rechts« §§ 142–156. In: Hegel-Studien. Band 17. Hrsg. von F. Nicolin und O. Pöggeler. Bonn. 1982. 97–117.

Einleitung

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Der Überblick zum Stand der Forschung zeigt, dass Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft zwar nach wie vor diskutiert wird, dass aber seine darin enthaltene originäre wirtschaftsethische Konzeption bisher weder von der wirtschaftswissenschaftlichen noch von der philosophischen Forschung genügend beachtet wird. Ihre Explikation erscheint sinnvoll, nicht nur um die Forschungsliteratur zu bereichern, sondern Impulse für die entstehende, moderne Wirtschaftsethik zu geben. Dies soll sowohl anhand des ausschnitthaften, nicht hinreichend begründeten Hegel-Verständnisses, der zu wenig differenzierten Hegel-Kritik als auch der jeweiligen eigenen Ansätze moderner Wirtschaftsethiker, nämlich P. Koslowski, K. Homann und P. Ulrich im vierten Kapitel gezeigt werden.

erstes kapitel Der wirtschaftliche Reichtum im Kontext von Religion, Ethik und Politik in Hegels früher philosophischer Phase

Bereits die frühen Schriften Hegels enthalten Ansatzpunkte des zentralen Problems seiner ganzen Rechtsphilosophie: Die Erhaltung der Freiheitsideale der Menschen im gesellschaftlichen Leben und insbesondere, was hier thematisiert wird, unter den politisch-ökonomischen Verhältnissen in der modernen Zeit der beginnenden Industrialisierung. Die Freiheit ist für Hegel nicht die freie Willkür des einzelnen, autonomen Willens, der sich nur auf sich bezieht. Vielmehr besteht die Freiheit des einzelnen Willens darin, sich ohne Zwang auf einen allgemeinen Willen oder Geist, der in der Gemeinschaft herrscht, zu beziehen.1 Dieser gemeinsame Geist äußert sich in den moralisch-religiösen Grundsätzen und Bräuchen des Volkes, aber auch in seiner inneren Organisation als Staat. Beide Sphären sind miteinander vereint, sie durchdringen sich in einem System der gelebten Moral. Von der Ökonomie als Wissenschaft hat der junge Hegel noch kein eigenständiges Konzept, das sich aus den überlieferten Schriften eruieren ließe. Einige relevante Stellen, die noch näher untersucht werden, deuten sein Interesse für die Ökonomie und die modernen industriellen Verhältnisse an. In Bern hat sich Hegel mit wirtschaftspolitischen Fragen beschäftigt, wie z. B. mit der Finanzverfassung Berns.2 Von einer ernsthaften Beschäftigung mit der Ökonomie erst in Frankfurt berichtet sein Biograph Rosenkranz. Hegel »fesselten« damals die Verhältnisse des Erwerbs und des Besitzes in England. Er soll Exzerpte aus englischen Zeitungen über die dort geführten Parlamentsverhandlungen über die Armentaxe verfertigt haben und einen Kommentar über das Werk des englischen Nationalökonomen James Steuart geschrieben haben.3 Dieser für die Problemstellung dieser Arbeit so wichtige Kommentar ist leider nicht überliefert, auf die Einzelheiten wird unten näher eingegangen. Diejenigen frühen Schriften Hegels, die jetzt zur Verfügung stehen, haben einen lediglich fragmentarischen Charakter, da sie nicht vollständig überliefert wurden und oder kleine Studien zu bestimmten Themen darstel-

1

Vgl. dazu den Aufsatz von Duso, G.: Freiheit, politisches Handeln und Repräsentation beim jungen Hegel. In: Fulda, H.F./Horstmann R.-P.: Rousseau, die Revolution und der junge Hegel. Stuttgart. 1991. 245 ff. 2 Vgl. GW 1. 223–233. 3 Vgl. Rosenkranz, K.: G. W. F. Hegel’s Leben. Berlin 1844. 86.

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Erstes Kapitel

len.4 Trotz des knappen Materials aus der frühen Phase Hegels in Bern und in Frankfurt lässt sich sein Standpunkt gegenüber der Wirtschaft und der Ökonomie im Zusammenhang mit der Vorstellung einer Volksreligion und der Kritik an der bestehenden christlichen Religion erkennen. Die Religion bildet insgesamt den Rahmen, in dem Hegel die ökonomischen Verhältnisse erörtert. In seinen Berner Schriften räumt er der Religion die zentrale Rolle für die Erhaltung der Freiheitsideale der Menschen ein. »VolksReligion – die grosse Gesinnungen erzeugt – und nährt – geht Hand in Hand mit der Freyheit«.5 Ethik und Religion gehören für Hegel zusammen6 und haben denselben Zweck: die Moralität im Leben der Menschen zu verstärken, ohne dabei seine Sinnlichkeit außer Acht zu lassen, welche die äußeren politisch-ökonomischen Bedingungen der Zeit prägen. Die Ethik soll ein vollständiges System aller Ideen sein – der Idee des autonomen Willens, der Natur, des Menschenwerks oder des Staates und der Schönheit oder Poesie, das in der Idee einer neuen, sinnlichen Religion gipfelt. Eine so verstandene Religion als Idee garantiert die »allgemeine Freiheit und Gleichheit der Geister!« und die »ewige Einheit unter uns«.7 Hegel beschäftigt primär die Frage, wie eine solche Volksreligion im Zeichen der Aufklärung8 beschaffen sein muss, um die lebendige, moralische Religion sowohl des einzelnen Individuums als auch des Volkes, dem es angehört, zu sein. Die Untersuchung dieses Problems hat für Hegel folgende Aspekte: Erstens muss eine Vernunftreligion

4

Die Fragmente aus der Berner Zeit und Frankfurter Zeit hat als erster Herman Nohl gesammelt und herausgegeben. Die Berner Arbeiten Hegels sind in der Historisch-Kritischen Ausgabe zugänglich, die in der vorliegenden Arbeit verwendet wird, dagegen sind die Frankfurter Schriften noch nicht erschienen, deshalb wird hier die Theorie-Werkausgabe, verwendet. Vgl. Hegel, G. W. F.: Werke 1. Frühe Schriften. Auf der Grundlage der Werke von 1832–1845 neu editierte Ausgabe von E. Moldenhauer und K. M. Michel, Frankfurt. 1971. 255–267. 5 Hegel, G. W. F.: Gesammelte Werke. Hrsg. von F. Nicolin und G. Schüler. Band 1. Hamburg. 1989. 110. (zitiert als GW 1. Seitenzahl.) 6 Diese These Hegels ist nicht selbstverständlich und keineswegs unumstritten gewesen. Vgl. Henrich, D.: Konstellationen. Probleme und Debatten am Ursprung der idealistischen Philosophie (1789–1795). Stuttgart 1991, 114 ff. G. Lukács konstatiert, dass Hegel dabei die historische Rolle der Religion überschätzt. Vgl. Lukács, G.: Der junge Hegel. Bd. 1. 44 f. 7 Hegel, G. W. F.: Werke 1. Hrsg. von E. Moldenhauer und K. M. Michel F. Band 1. Frankfurt. 1971. 236 (zitiert als Werke 1. Seitenzahl). Dieses Zitat stammt aus dem Fragment »Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus«, über dessen Autor entgegen den philologischen Fakten, die für Hegel sprechen, bei einigen Forschern immer noch Zweifel bestehen. Vgl. Pöggeler, O.: Hölderlin, Hegel und das älteste Systemprogramm. In: Hegel-Studien. Beiheft 9. Bonn. 1973. 211–259. 8 Für Ch. Jamme zeigt Hegel gegenüber der deutschen Aufklärung als der geistigen

Der wirtschaftliche Reichtum im Kontext von Religion, Ethik und Politik

27

auf den Kantischen Postulaten der praktischen Vernunft beruhen und zweitens muss sie die Sinnlichkeit der Menschen und ihre gegenwärtigen physisch-ökonomischen Lebensbedingungen berücksichtigen.9 Für Hegel heißt das, die Religion muss den ganzen Menschen, nicht nur seine Vernunft, ansprechen und sein gesamtes öffentliches Leben begleiten. Aus dieser Überlegung heraus kritisiert er die institutionalisierte, christliche Religion. Das Christentum war ursprünglich eine individuelle Vernunftreligion, aber keine Volksreligion, und bei der Etablierung zur Staatsreligion wurde sie in ihren moralischen Grundsätzen verkehrt.10 Die institutionalisierte christliche Religion als Kirche habe ihre Dogmen mit staatlicher Gewalt durchgesetzt, so Hegel.11 Der moderne Staat habe der Kirche dazu solche Rechte gegeben, die eigentlich nur ein Staat gegenüber seinen Bürgern haben darf. Lediglich auf die Aufgabe der Sicherung des Eigentums Einzelner habe er sich zurückgezogen, und diese ist ihm sogar »die Angel, um die sich die ganze Gesetzgebung dreht« geworden. Damit richtet sich Hegels Kritik an den Staat und dessen Überhöhung des Eigentums und des Reichtums. Diese Kritik hat zwei Aspekte, die entwicklungsgeschichtlich nachvollziehbar sind. Während Hegel in den frühen Berner Schriften die starke Konzentration des Privateigentums als ein Machtinstrument Einzelner gegen die Freiheit in der Gesellschaft ansieht,12 deutet er in den späteren Frankfurter Schriften das Eigentum schon als ein unabwendbares »Schicksal«13 des einzelnen Menschen, welches seine sinnlich-geistige Ganzheit zerstören kann. In Bern hängt die Beurteilung des

Bewegung zur Selbstprüfung durch Vernunft eine ambivalente Position: er wendet sich zunächst gegen die Verstandesaufklärung aller Menschen, die Aufklärung soll durch Künste und Wissenschaft nur für den Stand der Gelehrten Geltung haben, für die einfachen Menschen leistet dies die Religion, später aber akzeptiert er die Aufklärung in einer Volksreligion, und übernimmt das neue, erzieherische Programm vermittels einer neuen Mythologie zur Ideologiekritik der religiösen Legitimierung despotischer Priester und Könige. Vgl. Jamme, Ch.: Jedes Lieblose ist Gewalt. Der junge Hegel, Hölderlin und die Dialektik der Aufklärung. In: Jamme, Ch. /Schneider (Hrsg.) : Der Weg zum System. Materialien zum jungen Hegel. Frankfurt. 1990. 138 ff. 9 In diesem Sinne ist Hegels ethische Position direkter zeitbezogen als bei Kant, wie L. Siep feststellt. Vgl. Siep, L.: Praktische Philosophie im Deutschen Idealismus. Frankfurt a. M. 1992. 183. 10 Auf entsprechende Gemeinsamkeiten mit Spinozas Konzeption in dieser Frage hat F. Englisch kürzlich hingewiesen: Zu Religion und Staat bei Spinoza und Hegel. Mit einem Ausblick auf Ökonomie. In: Randfiguren. Spinoza-Inspirationen. Hannover-Laatzen. 2005. 211–242. Wie Spinoza erkennt Hegel, wenn der Staat die Religion der Religion-Kirche überlässt, vereinnahmt sie ihn und verschrumpft die Individualität. 11 Vgl. GW 1. 342. 12 Vgl. Werke 1, 439 13 Werke 1. 333.

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Erstes Kapitel

Eigentums mit der Auffassung der griechischen Antike zusammen. Hegels Schriften aus der Berner Phase erwecken den Eindruck, als ob er in der gegenwärtigen politisch-religiösen Situation die antike Sittlichkeit restituieren würde. Die griechische antike Polis ist ihm das Maß, womit Hegel in dieser Zeit alles misst.14 Für den Verfall der antiken Republiken macht er die Macht des Reichtums einzelner Bürger über das freie Volk verantwortlich. Unter dem Einfluss seines Studienfreundes F. Hölderlin sehnt er sich nach der idealisierten antiken Welt, eine Sehnsucht, die durch die umwälzenden Ereignisse der Französischen Revolution, in der Hegel lebt, genährt wird.15 Er ist in seiner Jugendzeit einer der Bewunderer der Ideen der Revolution in Frankreich, er bewundert vor allem das darin verwirklichte Streben nach Freiheit. Obwohl er von ihrem blutigen und gewaltsamen Ende enttäuscht ist, hält er sie auch später für eine historische Notwendigkeit.16 Die französische Revolution hat ihm vor allem gezeigt, dass selbst das Streben nach Freiheit, wenn es mit Gewalt durchgesetzt wird, keine Freiheit und keine bessere gesellschaftliche Ordnung bringt. Vermutlich ist das auch einer der Gründe, warum Hegels Enthusiasmus für die Wiedereinführung antiker griechischer Verhältnisse verblasst. Die Antike wird ihm in der Frankfurter Phase ein vergangenes, historisches Ideal, und nicht eine Wirklichkeit, die sich wieder einstellen könnte. Die skizzierten Veränderungen seiner philosophischen Entwicklung, die in diesem Kapitel näher untersucht werden, machen auch die Entwicklung seines wirtschaftsethischen Standpunktes plausibel. Während Hegel in Bern von der Pflichtenethik Kants und der Überlegenheit des platonischen Staates ausgeht, stellt er in Frankfurt die Seele des einzelnen Menschen in den Mittelpunkt seines Philosophierens, die inmitten von strengen Pflichtgesetzen, mannigfaltigen Eigentumsverhältnissen und erstarkten Religionsgrundsätzen bestehen muss.

14

Vgl. Pöggeler, O.: Hegels praktische Philosophie in Frankfurt. 100. Über die Zusammenarbeit mit Hölderlin vgl. Pöggeler, O.: Politik aus dem Abseits. Hegel und der Homburger Freundeskreis. In: Jamme, Ch./Pöggeler, O. (Hrsg.): Homburg vor der Höhe in der deutschen Geistesgeschichte: Studien zum Freundeskreis um Hegel und Hölderlin. Stuttgart. 1981. 75. 16 Vgl. Lukács, G.: Der junge Hegel. Bd. 1. 47. 15

A. Die Berücksichtigung der sinnlichen Bedürfnisse

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A. Die Berücksichtigung der sinnlichen Bedürfnisse in Religion und Ethik in den Berner Schriften a) Die Konzeption einer Vernunftreligion und die Sphäre der Bedürfnisse Für Hegel hat die Volksreligion, die auf Kants Postulatenlehre zurückgeht,17 primär die Aufgabe, die moralische Triebfeder in den Menschen durch die Idee von Gott als moralischem Gesetzgeber zu entwickeln. Als solche könnte eine Religion Gesetzgeber und Verwalter eines Staats werden.18 Eine so verstandene wahre Religion befriedigt zugleich das Bedürfnis der praktischen Vernunft nach einer Gottheit, die durch Naturbetrachtung und die Annahme eines Endzwecks vorgestellt werden kann. Hegel, wie Kant, verbindet das moralische Gesetz mit dem Bewusstsein einer »höheren, nach größeren Zwecken als sinnlichen bestimmten Ordnung«19 – einer Gottheit, aber nicht als praktische Erkenntnis aufgrund der Zweckmäßigkeit in der Natur, sondern als ein Glaube an einen Gott aus moralischem Interesse.20 Dieser Glaube bildet »das Gewissen, der innere Sinn für Recht und Unrecht, und das Gefühl, dass auf Unrecht Strafe, auf Rechttun Glückseligkeit folgen müsse«.21 Somit erhebt Hegel den Glauben an Gott zu einer Forderung der praktischen Vernunft. Ganz im Sinne Kants fordert er den Glauben an eine Gottheit und an die Unsterblichkeit, um hoffen zu können, dass das höchste Gut, zu dem uns der Trieb nach Glückseligkeit nach dem Maße der Sittlich-

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Kants Postulatenlehre sagt aus, dass die theoretischen Annahmen über die Unsterblichkeit und die Existenz Gottes notwendige praktische Voraussetzungen für die Möglichkeit der Vorstellung des höchsten Gutes seien. Das höchste Gut oder der Endzweck ist ein Ideal für die Vollendung des Menschen aber auch für die Welt, in der das Zusammenspiel von Moralität und der ihr angemessenen Glückseligkeit herrscht. Diese Bestimmung des höchsten Guts übernimmt Hegel aus der Kantischen Philosophie und sucht aus der moralischen Perspektive der Rechtfertigung des Gottesglaubens eine Vernunftreligion des Volkes zu konzipieren Vgl. Düsing, K.: Die Rezeption der Kantischen Postulatenlehre in den frühen philosophischen Entwürfen Schellings und Hegels. Hegel-Studien. Beiheft 9. Bonn 1973. 53–90. 18 Vgl. GW 1. 154. 19 GW 1. 91. 20 Hegel folgt damit Kants Begründung der moralischen Teleologie und der Ethiktheologie, in seiner Kritik der Urteilskraft § 85 und § 86. Vgl. Kant, I.: Werke in sechs Bänden. Hrsg. v. W. Weischedel. Bd. 5. Darmstadt. 1998. 237–620. Zu dieser Folgerung vgl. Pöggeler, O.: Hegels philosophische Anfänge. In: Jamme, Ch. /Schneider (Hrsg.) : Der Weg zum System. Materialien zum jungen Hegel. Frankfurt. 1990. 104. 21 GW 1. 91.

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Erstes Kapitel

keit verpflichtet, wirklich werden kann. Hegel betont hier, dass der Glaube keine Garantie für physische Glückseligkeit geben kann, vielmehr erlaubt der moralische Glaube eine Betrachtung der sinnlichen Welt, in der menschliche Freiheit und der Endzweck realisiert werden können. Der Glaube an eine Gottheit aus moralischem Interesse findet seinen Niederschlag in einer Vernunftreligion, die subjektiv ist, d. h. die religiös-moralischen Gebote werden einem Menschen nicht vorgegeben, sondern sie entsprechen seinen inneren Überzeugungen, Empfindungen und Handlungen oder sie berühren das Herz, wie Hegel sagt.22 Im Fragment von 1794 »Es sollte eine schwere Aufgabe …«23 beschäftigt sich der junge Hegel mit der Frage, wie eine Volksreligion als System von religiösen und moralischen Wahrheiten im Anschluss an Kants Moralitätsbegriff, den er hier als »Selbstgenügsamkeit der Pflicht und der Tugend«24 vor der Sinnlichkeit nennt, beschaffen sein soll, um von allen und ohne Zwang akzeptiert zu werden. Die Sinnlichkeit bedeutet für Hegel in diesem Fragment nicht die spontane Sinnlichkeit bei der Befriedigung physischökonomischer Bedürfnisse, sondern die sinnentleerten religiösen Praktiken, welche vernunftlose Lehren fordern.25 Die Vernunft ist hier diejenige, welche solche Lehren durchschaut, weshalb Hegel hier die Vernunft über die Sinnlichkeit erhebt: »Solche Lehren müssen also von der Vernunft sowohl wenn sie Grundsäze für den einzelen, als wenn sie allgemeinere die die Oekonomie eines ganzen Staats angehen, sich wählt – schlechterdings verworfen werden«.26 Das ist die erste Stelle, wo Hegel die Ökonomie ausdrücklich erwähnt

22

GW 1. 87. Die Unterscheidung zwischen subjektiver und objektiver Religion verwendeten bereits die Vertreter einer orthodoxen Theologie im Tübinger Stift, wo Hegel Theologie und Philosophie studiert hat. Die orthodoxe Theologie in Württemberg deute Kants Postulate ganz im Sinne der objektiven Religion, so Hegel. Sie lege die Kantische Philosophie falsch aus, indem sie Kants Postulate nicht als eine neue moralische Vernunftreligion, sondern als eine neue Rechtfertigung der kirchlichen Dogmen auslege. Diese Missdeutung gab Hegel den Anlass, die Unterscheidung zwischen subjektiver und objektiver Religion selbst neu zu formulieren. Die objektive Religion, die hier nur die theoretische Vernunftreligion ist, soll nach Hegel einen Weg zu den Herzen und den Gefühlen der Meschen finden. 23 GW 1. 141–152. 24 GW 1. 141. 25 Vernunftlos sind für Hegel solche religiösen Lehren, welche die allgemeine Menschenvernunft übersteigen. Hegel kritisiert insbesondere, wenn solche Lehren nicht bloß theoretisch bleiben, sondern zu praktischen Handlungen auffordern, die in Hegels Augen die obskure Kehrseite der christlichen Dogmatik sind. Vgl. GW 1 Werke. Bd. 1. 143. Vgl. dazu Bondeli, M.: Hegel in Bern. 135. Vgl. auch Plotnikov, N.: Gelebte Vernunft. Konzepte praktischer Rationalität beim frühen Hegel. Stuttgart-Bad Cannstatt. 2004. 49 ff. 26 GW 1. 145.

A. Die Berücksichtigung der sinnlichen Bedürfnisse

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und die in der Hegel-Forschung bisher wenig beachtet wird. M. Bondeli deutet diese Stelle folgendermaßen: Das Spannungsverhältnis zwischen Herz und Verstand im einzelnen Menschen übertrage sich auf den Staat als eine Spannung zwischen der empirischen Sinnlichkeit und der reinen Moralität. Das Spannungsverhältnis löse Hegel hier, indem er sich rigoros für die Vernunft entscheide. Die empirische Sinnlichkeit zeige sich »geradezu als Zeichen der lasterhaften Agenten der bürgerlichen Gesellschaft oder Ökonomie«.27 Die guten Männer, die einen Staat regieren, müssten trotz der ökonomischen Vorteile, welche die praktische Anwendung von theoretischen religiösen Lehren ermöglichen, sich davon abwenden und versuchen, auf die Stimme der Vernunft, der reinen Moralität, die in ihnen angelegt sei, zu hören. Der Staat als solcher habe die Aufgabe, den allgemeinen Willen gegen ökonomische Interessen einzelner zu verteidigen. Diese Interpretation ist zwar grundsätzlich die Position Hegels, die er in seinen späteren Schriften deutlicher ausarbeitet, allerdings hat er an dieser Stelle vermutlich noch etwas anderes gemeint. Verfolgt man aufmerksam Hegels Argumentation in diesem Fragment, scheint es naheliegend, dass Hegel die »Oekonomie« hier schon im Sinne von Volkswirtschaft gebraucht. Zwei Argumente gibt es dafür: Erstens war dieser Begriff Hegel keineswegs unbekannt, bereits Rousseau hat diesen Begriff definiert, und es ist bekannt, dass Hegel Rousseaus Schriften gut kannte und mehrmals namentlich erwähnte.28 Zweitens verbindet Hegel in diesem Fragment die »Oekonomie« mit dem Staat auf eine ganz spezifische Weise. Zum ersten Argument lässt sich ein Exzerpt Hegels aus seiner Gymnasialzeit (1787) aus Sulzers kurzer Begriff der Gelehrsamkeit29 heranziehen. Dort notiert Hegel unter dem Themenpunkt »Philosophie. Allgemeine Übersicht« die Unterteilung der Philosophie in Metaphysik und praktische Philosophie. Die praktische Philosophie wird dann in die allgemeine praktische Philosophie, in die Theorie der menschlichen Pflichten, in die Haushaltungswissenschaft (oeconomia) und in die Staatswissenschaft/Politik unterteilt. Im die27

In der Rolle der Vernunft gegenüber vernunftlosen Praktiken der Religion als Gottesdienst, sieht Bondeli einen gesteigerten Kantianismus oder eine Radikalisierung der Kantischen Moralität, der strategische Bedeutung hat. Damit wollte Hegel Kant entgegen den eklektischen Auslegungen in seiner Authentizität verteidigen. Vgl. Bondeli, M.: Hegel in Bern. 137. 28 Rousseau widmet der Volkswirtschaft eine sehr bemerkenswerte Abhandlung: Vgl. Rousseau, J.-J. Politische Schriften. Bd. 1: Abhandlung über die Politische Ökonomie. Vom Gesellschaftsvertrag. Politische Fragmente. Übers. und Einf. v. Ludwig Schmidts. Paderborn 1977. 9 ff. 29 Hegel, G. W. F.: Gesammelte Werke. Band 3. Frühe Exzerpte. Hrsg. v. f. Nicolin, Hamburg, 1991, Exzerpt 13. 118.

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Erstes Kapitel

sem Exzerpt wird die Haushaltungswissenschaft ganz im Sinne von Aristoteles als eine Wissenschaft über die moralischen Handlungen zur Wohlfahrt und Glückseligkeit von kleineren Gesellschaften wie der Familie bestimmt. Unterschieden davon wird die Polizeiwissenschaft, die hier unter die Staatswissenschaft fällt und sich mit den nötigen Eingriffen des Staates zur Erleichterung der »Besorgung allerart Privatbedürfnisse der Bürger« beschäftigt.30 Hegels Exzerpt aus dem Jahr 1787 ist der erste Beleg, in dem die Ökonomie als Wissenschaft vorkommt, und zwar so wie sie Aristoteles als einen von der Politik getrennten Bereich konzipierte.31 Für das zweite Argument über die Deutung der frühen Nennung der Ökonomie im Zusammenhang mit der Kritik an den mysteriösen, theoretischen Religionslehren, welche bestimmte, vernunftlose Handlungen von den Menschen fordern, spricht der eigene Ausgang dieser Gedanken. Hegel kritisiert, dass die Religion kraft ihrer theoretisch-dogmatischen Regeln, durch »diesen unmoralisch-religiösen Galimathias« die praktische Herrschaft über die Menschen im Staat erlangt und »alle natürlichen Verhältnisse«32 dort verdreht. Hegel kritisiert diesen Zustand in seiner eigenen Gegenwart, und zwar im Kirchenstaat und in Neapel, wo der Einfluss des religiösen Mischmaschs am stärksten war, und diese Länder sozial und politisch die verkommensten Europas waren.33 Ein Weg stand ihnen noch offen: »… und nur die nie ganz zerstörbare Güte der menschlichen Natur, – die hier freilich verhunzt genug ist – nur die Notwendigkeit der bürgerliche Geseze, die um es möglich zu machen, daß die Gesellschaft zur Noth zusammenhalten kan, jene Grundsäze in etwas korrigieren müssen – verhindern es, daß die Laster und böse Neigungen den Lehren, wodurch sie genährt, straflos, und gerechtfertigt werden, ganz konsequent sind –«.34 Hier spricht Hegel von »Laster« und »bösen Neigungen«, jedoch können das nicht die Ökonomiegesetze der bürgerlichen Gesellschaft sein, weil diese gerade jene korrigieren und in ihren Konsequenzen begrenzen müssen. Vielmehr meint 30

GW 3. Exzerpt 13.119. Hegel hat sich, wie Rosenkranz berichtet, schon 1788 mit der aristotelischen Ethik beschäftigt. Vgl. Rosenkranz, K.: G. W. F. Hegel’s Leben. 11. Auf das Sulzer-Exzerpt hat Franz Rosenzweig in seinem Buch »Hegel und der Staat« (1920) als erster hingewiesen. Bd. II. 118. Riedel macht darauf aufmerksam, dass es sich in diesem Exzept um den alten Traditionsbegriff handelt, weil Sulzer die bürgerliche Gesellschaft mit dem bürgerlichen Staat identifiziert. Hegel habe nach Riedel erst in der Enzyklopädie seinen Begriff der bürgerlichen Ökonomiegesellschaft in der Differenz zum Staat ausgearbeitet. Vgl. Riedel, M.: Zwischen Tradition und Revolution. 157 f. 32 GW 1. 143. 33 Vgl. GW 1. 143. Vgl. Lukás, G.: Der junge Hegel. Bd.1. 126. 34 GW 1. 143 f. 31

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Hegel hier die Auswirkungen der religiösen »Mischmasch-Lehren« für die Verwaltung eines Staates, welche »unbegreifliche Dogmen weder für Vernunft oder Verstand vorstellbar«35 sind. Eine Gegenüberstellung von Anfang und Ende des Hegelschen Gedankens zeigt, dass er hier die »Oekonomie« mit dem Gebäude eines Staates vergleicht. Der Satz beginnt mit: »Wie verworfen das Gebäude solcher Staaten oder nur Klassen von Menschen ist, wo diese Grundsätze im Schwange gehen…«36 und endet mit dem bereits angeführten Zitat, dass sie für die Ökonomie ungeeignet sind. Die bürgerlichen Gesetze der Ökonomie beschränken die Ausschweifungen und Missbräuche, zu denen die Anwendung von mystischen Lehren in der Praxis führt, und damit garantieren sie zwar nicht die innere Moral, aber den Zusammenhalt der Gesellschaft in der Not. Denn weiterhin gilt ein sündhafter Mensch, der sich mit seinem Reichtum von seinen Sünden freikauft, in der Gesellschaft als ein guter Mensch. Moralität kann man in solchen Staaten, wo derartige theoretische religiöse Lehren herrschen, gegen Reichtümer kaufen, so dass reiche Menschen keine Strafe von der Ungerechtigkeit befürchten müssen. Die wirtschaftliche Ungerechtigkeit richtet sich in solchen Staaten aber auch gegen die einfachen Menschen, die für ihre Bedürfnisbefriedigung arbeiten, da der Bettler allein kraft seines Glaubens als Bürger bessergestellt ist. In dem erörterten Text kritisiert Hegel nicht die Ökonomie der bürgerlichen Gesellschaft, wie Bondeli vermutet, sondern vielmehr die sinnentleerten religiösen Dogmen, die auf die Verwaltung des Staates übertragen, nicht nur gegen die Vernunft verstoßen, sondern auch den Wohlstand durch Arbeit verhindern, »daß es nicht nur als Glauben verdienstlicher ist, sondern daß es öffentlich veranstaltet ist, daß nur der Bettler begünstigt wird – der arbeitsame Mann hingegen sich übel befindet«.37 In diesem Text Hegels lässt sich bereits der Unterschied zwischen bürgerlichem Staat und moralischem Staat erkennen. Der bürgerliche Staat, der später mit der bürgerlichen Gesellschaft identifiziert wird, erhält gegenüber der grenzenlosen Macht des vom »religiösen Galimathias« beherrschten Staates einen wertpositiven Charakter einerseits und gegenüber der reinen Moralität des übergeordneten Staats eine wertnegative Bedeutung aufgrund der übermäßigen Betonung der ökonomischen Interessen und des Eigentums andererseits. Diese Stellung des bürgerlichen Staates hängt mit der ethischen Auffassung des Berner Hegel zusammen und lässt sich darauf zurückführen, dass einerseits die Zielscheibe seiner ethischen Kritik nicht die bürgerliche 35 36 37

GW 1. 142. GW 1. 143. GW 1. 144.

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Gesellschaft selbst, sondern die positive und institutionell gewordene christliche Religion als Beschränkung des bürgerlichen Staates ist, und dass andererseits Hegel in dieser Periode der deutschen Aufklärung noch die mögliche Wiederbelebung der antiken Polisideale erhofft. In bezug auf das Ideal der antiken, sittlichen Polis erfährt die moderne Ökonomiegesellschaft nicht nur eine wertnegative Beurteilung durch Hegel, sondern eine scharfe Kritik, die ethisch motiviert ist. Die lediglich ökonomischen Grundlagen dieser Gesellschaft stehen im Gegensatz zu Hegels ethischem Ideal der antiken griechischen Polis, in deren Gesetzgebung die »Sicherheit des Eigentums und der Industrie ein Punkt, der fast gar nicht in Betracht kam«,38 ist. Vielmehr habe die Polis durch Übertragung kostspieliger Ämter an Reiche eine gleichmäßigere Verteilung des Reichtums bewirkt39 und so die Ökonomie untergeordnet, was Hegel die Bemerkung von Lukács eingebracht hat, er unterstelle der Antike eine »fast ökonomielose Praxis«.40 Diese Unterordnung führt zur Harmonie des öffentlichen Lebens, die Hegel an der griechischen Polis und deren Volksgeist bewundert. In Anlehnung an die griechische Antike führt Hegel mythologisierend aus, dass der Volksgeist aus den Zeitumständen (sein Vater), der politischen Verfassung (seine Mutter) und der Religion (Säugamme) gebildet wird. Der Geist eines Volkes ist die Gesamtheit seiner Sitten, seiner Kultur, seines geschichtlich überlieferten Glaubens, seiner Lebensbedingungen und Lebensgewohnheiten, der natürlichen Bedürfnisse, der Triebe zu einer wohlgeordneten Sinnlichkeit.41 Das »eherne Band der Bedürfnisse«42 fesselt den Volksgeist zwar an die »Muttererde«, aber er hat die Freiheit, sie zu bearbeiten und zu verschönern. Deshalb kann er sich in diesen Fesseln gefallen, weil sie das »Werk seiner Selbstthätigkeit«,43 ein Teil seiner selbst sind. Hegel sieht die Befriedigung der sinnlichen, physischen Bedürfnisse als eine natürliche und »grobe Grundlage« des Volksgeistes, auf der sich dann feinere Empfindungen, wie die religiös-moralischen, ausbilden können. Interessant ist hier der Blick auf die Deutung der Zeitumstände als Vater des harmonischen Volksgeistes in der ursprünglichen Fassung.44 Dort heißt es: »Wenn der Vater dieses Genius glüklich ist, seine Geschäfte gut besorgt, um seinem Sohn ein gutes Auskommen ohne zu viele Noth doch

38 39 40 41 42 43 44

Werke 1. 439. Vgl. Werke 1. 439. Lukács, G. Bd.1. 89. Vgl. GW 1. 111. GW 1. 114. GW 1 .111. Vgl. GW 1 .113.

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auch nicht ganz ohne Arbeit zu verschaffen…«.45 Der Volksgeist lebt in einer glücklichen Zeit, wenn keine wirtschaftliche Not und keine übermäßige Konzentration von Reichtum herrschen, in einer Zeit, in der eine Ausgeglichenheit dieser Extreme vorliegt, so dass jeder durch eigene Arbeit sein Auskommen sichern kann. Das ist Hegels Ideal von der Polis-Wirtschaft, das er der Wirtschaft, die in die zwei Extreme der bitteren Not und des übermäßigen Reichtums zerfällt, gegenüberstellt. Die antike idealisierte Polis-Harmonie strahlt aus der Vergangenheit mit ihrer Schönheit und Größe,46 und Hegel versteckt nicht seine Sehnsucht danach, dass dieser Geist in das heutige Abendland wieder heimkehrt. Seine Bewunderung ist zugleich auch eine Verbitterung, dass der antike Volksgeist »von der Erde entflohen«47 ist. Hegel malt ein düsteres Bild vom Volksgeist seiner Zeit »ohne Muth, Zutrauen auf seine Kraft wagt er keinen kühnen Wurf, eiserne Fesseln …«.48 Für den griechischen Geist waren die natürlichen Bedürfnisse auch Fesseln, aber sie drückten ihn nicht,49 dagegen sind die Bedürfnisse des modernen Volksgeistes harte »eiserne Fesseln« geworden. Das antike Staatsideal ist für Hegel ein überlegenes Kontrastbild zu dem neuzeitlichen Sich-Zurückziehen der Bürger in ihre privaten, wirtschaftlichen Interessen und ihre dazu angepasste Privatreligion, zu der das Christentum in seiner Ausbreitung zum Staat im Staat geworden ist. Die Erstarrung der lebendigen, moralischen Vernunftgebote zu fremden und vorgegebenen Gesetzen ist Hegels Hauptkritik an der christlichen Religion. Diese Erstarrung der religiös-moralischen Gebote liegt im Kern von Hegels Begriff der Positivität. In ihrer Institutionalisierung habe die christliche Religion konsequent den Menschen der Freiheit beraubt und sei zur Religion des Privatmenschen, des bourgeois, geworden. Denn das Christentum habe die Moralität nicht in der Freiheit des Willens begründet, sondern im Wohlgefallen Gottes, das auch käuflich zu erwerben war.50 Für den Einzelnen bedeutet die Positivität die Aufhebung seiner moralischen Autonomie, für den Staat bedeutet sie den Widerspruch zwischen der Subjektivität des Einzelnen und der gesellschaftlichen Tätigkeit des sozialen Ganzen.51 Die modernen Staaten

45

Ebd. GW 1. 114. 47 GW 1. 112. 48 GW 1. 113. 49 Vgl. GW 1. 111. 50 Vgl. GW 1. 152 und 155. 51 Insbesondere G. Lukács hat den Begriff der Positivität ins Zentrum der Hegelschen Jugendschriften gestellt. Aus seiner Positivitätskritik zieht Hegel aber keineswegs die religionskritischen Konsequenzen im Sinne des frühen Marx’, wie es G. Lukács nahe legt. 46

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haben das Positive der Religion institutionalisiert, und Hegel sieht sich genötigt, diese von seinem Ideal eines Staates als genuin moralisches, lebendiges Ganzes abzugrenzen. Die Abgrenzung des moralischen Staats unternimmt er auch gegenüber dem modernen »Maschinenstaat«,52 der das öffentliche Leben genauestens regelt und kontrolliert. Ein Staat, der die Menschen als »mechanisches Räderwerk« behandelt, soll aus ethischen Gründen aufhören.53 Obschon der Staat als moralisches gesellschaftliches Ganzes keinen Zwang ausüben darf, legitimiert Hegel zwingende Eingriffe des höheren, moralischen Staates in dem Bereich der wirtschaftlichen Aktivitäten. Weil hier die bloße Legalität, d. i. die Übereinstimmung der Handlung mit dem Gesetz ohne Rücksicht auf die Triebfeder des Handelns,54 herrscht, muss die Sphäre der wirtschaftlichen Tätigkeit durch Zwangsmaßnahmen des moralischen Staates geregelt werden, und zwar nur im Namen der Moralität, die für Hegel hier noch die Kantische Moralität ist. Die Moralität erhält gegenüber der Legalität, die immer ein Zwangsmoment enthält, das Primat. Dabei legt Hegel sehr großen Wert auf die Freiwilligkeit und die Handlungsfreiheit und lehnt moralisch alles ab, was wie Zwang und Herrschaft aussieht.55 Der Stufenfolge Moralität – Legalität entspricht die Unterordnung der bürgerlichen Gesellschaft unter den moralischen Staat.

Hegel beabsichtigt nicht die Emanzipation von der Religion, sondern die Befreiung von der positiven Religion für die Moralreligion der Freiheit, wie N. Plotnikov herausarbeitet. Vgl. Lukács, G.: Der junge Hegel. Bd. 1. 56 ff. und 188 f. Vgl. Plotnikov, N.: Gelebte Vernunft. Konzepte praktischer Rationalität beim frühen Hegel. 79. 52 Auch Herder hat in seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, die oft bei Hegel im Hintergrund stehen, den wohlgeordneten Staat als eine Maschine bezeichnet. Zu diesem Bezug und weiteren Hinweisen vgl. Pöggeler, O.: Das Menschenwerk des Staates. In: Jamme, Ch./Schneider, H. (Hrsg): Mythologie der Vernunft: Hegels »ältestes Systemprogramm des deutschen Idealismus«. Frankfurt. 1984. 201 ff. 53 Vgl. Werke 1. 235. (Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus). Dahinter steht vermutlich Fichtes Forderung in seinem Naturrecht, der Staat müsse sich so vervollkommnen, dass er sich überflüssig mache. Vgl. Pöggler, O.: Das Menschenwerk des Staates. 212. 54 Das hat Kant in seiner Schrift »Metaphysik der Sitten«, Einleitung in die Rechtslehre § C, eindeutig bestimmt. Vgl. Kant, I.: Werke in sechs Bänden. Hrsg. v. W. Weischedel. Bd. 4. Darmstadt. 1998. 337 ff. (B 33 f.). 55 Hegel zielt in seinem Gedankengang, Moralität und Legalität, Moral und Politik, Privates und Öffentliches als ursprünglich identisch zu denken, auf ein umfassendes, zwangloses Handeln, das sich nicht in der zirkelhaften Selbstbezüglichkeit oder in der Autonomie des einzelnen Willens, sondern in der Gemeinschaft mit anderen behauptet. Vgl. Duso, G.: Freiheit, politisches Handeln und Repräsentation beim jungen Hegel. 246.

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b) Das Problem der Unverhältnismäßigkeit von Reichtum und Eigentum Hinter Hegels Idealisierung der Antike stehen vor allem Platos Politeia56 und vermutlich die Ausführungen des griechischen Geschichtsschreibers Thukydides.57 Plato führt in seiner Beschreibung der naturgemäßen Polis in den ersten drei Büchern das Eigentum erst gar nicht auf, und im vierten Buch bestimmt er als Aufgabe der Polis-Wächter, dass weder Reichtum noch Armut in den Staat eindringen soll, denn »das eine erzeugt Luxus und Trägheit und Neuerungssucht, das andere zur Neuerungssucht noch Knechtsinn und schlechte Leistungen«.58 Thukydides, den Hegel laut seinem Biographen Rosenkranz59 gelesen hat, berichtet in seinem Buch Der große Krieg über die Verfassungen der Volksherrschaft von den Spartanern und den Athenern zur Zeit des Perikles. Vor dem Gesetz seien alle Bürger hinsichtlich ihrer persönlichen Belange gleich gewesen, so Thukydides.60 Nur persönliche Tüchtigkeit, nicht die Zugehörigkeit zu einer höheren Schicht würde im Gemeinwesen anerkannt. Armut und bescheidene Herkunft bedeuteten nicht die Unmöglichkeit des politischen Erfolgs: »Reichtum dient uns zum Wirken und Schaffen, nicht zum Prunken und Raffen. Armut braucht man nicht zu verbergen. Wohl aber bringt es Schande, wenn einer sie nicht durch der Hände Arbeit zu überwinden trachtet. Die gleiche Sorge gilt bei uns dem Hauswesen und dem Gemeinwesen, und wenn einer seine Berufsgeschäfte betreibt, so lässt er darum die Politik nicht aus dem Auge«.61 Die Reichen hätten nach Thukydides für die Verteidigung des Volkes ihr Leben aufgeopfert, weil ihnen die Züchtigung des Feindes mehr am Herzen lag als ihr Leben.62 Das ist das Vorbild der antiken Tapferkeit, die Hegel sehr beeindruckt hat und deren Untergang er mit dem Untergang der Freiheit der antiken Republiken verbindet. Mit Thukydides kritisiert Hegel, dass sich die übermäßige Sorge um private Reichtümer nicht günstig bei der Führung des Staates ausgewirkt hat. Thukydides kritisiert dafür den berühmten Staatsmann Athens Perik-

56

Vgl. Platon: Der Staat (Politeia). Übersetzt und herausgegeben v. K. Vretska. Stuttgart. 1982. 57 Vgl. Thukydides: Der große Krieg. Übers. u. eingel. von Heinrich Weinstock. Stuttgart. 1947. 58 Platon: Der Staat (Politeia). 421e. 59 Vgl. Rosenkranz, K.: Hegels Leben. 12. Vgl. Werke 1. 414. 60 Vgl. Thukydides: Der große Krieg. Übers. u. eingel. von Heinrich Weinstock. Stuttgart. 1947. 26 f. 61 Ebd. 28. 62 Vgl. Ebd. 31.

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les, der den Krieg dafür genutzt habe, um seine eigenen Reichtümer zu vermehren. Hinsichtlich der Bedeutung des Reichtums und Eigentums Einzelner für das Gemeinwesen hat Hegel ohne Zweifel auch Rousseaus Position gekannt. Rousseau kritisiert das allzu große Eigentumsstreben in der Gesellschaft vor dem Hintergrund der Vorstellung eines Naturzustandes, in dem der »wilde« Mensch für seine Bedürfnisbefriedigung nicht auf andere Menschen angewiesen ist und noch kein Eigentum kennt.63 Der erste, der ein Stück Land eingezäunt und mit Macht ausgestatteten Menschen gefunden habe, die ihm das glaubten und sein Eigentum sicherten, der hat die Ungleichheit unter den Menschen geschaffen und einen Prozess in Gang gesetzt, der die Sittlichkeit untergrabe, indem schließlich nur noch persönliche Eigentumsinteressen gelten, so Rousseau.64 Erst in seinen späteren Frankfurter Schriften sieht Hegel das grundsätzliche Problem, dass der Staat sich in die ökonomischen Verhältnisse einmischen müsse, wenn eine unverhältnismäßige Differenz unter den Bürgern in ihrem Besitz und Reichtum vorliegt, denn diese könne die Verfassung und die Freiheit gefährden. Er zieht in den Berner Schriften wohl in Betracht, dass die Republik Privateigentum einziehen dürfe, wenn die Differenzen in ihr zu groß werden. In diesem Fall sei es »eine wichtige Untersuchung, wie viel von dem strengen Eigentumsrecht der dauerhaften Form einer Republik aufgeopfert werden müsste«.65 Hegel fragt sogar, ob der Vorwurf der Raubgier des Sansculottismus in Frankreich nicht gerechtfertigt sei, weil er doch die Reichtümer ausgeglichen habe. Seinen Standpunkt radikalisiert Hegel noch weiter, indem er die auf die Spitze getriebenen privat-ökonomischen Interessen für den Zerfall der antiken Republiken verantwortlich macht. Die wesentlichen Anregungen und Details hierzu hat er von E. Gibbon.66 Gibbon schildert, dass die Menschen im freien Rom und Athen freie Bürger in einem sittlichen Staat gewesen seien. Sie hätten selbst die Regierenden gewählt, selbst beschlossene Kriege geführt, nach eigenen Gesetzen gelebt, und die Idee des Staates sei ihnen das »Unsichtbare, das Höhere«, wofür sie arbeiteten, gewesen.67 Durch Kriege 63

Vgl. Rousseau, J.J.: Diskurs über die Ungleichheit. Neu editiert, übersetzt und kommentiert von H. Meier. Paderborn u. a. 1984. 119. 64 Vgl. Ebd. 172. 65 Werke 1. 439. 66 Vgl. GW 4. 616. Gibbon, E.: Geschichte des Verfalls und Untergangs des römischen Reiches. Deutsche Ausgabe von J. Sporschil. Leipzig. 1837. The History of the Decline and Fall of the Roman Empire. New. Ed. Basel. 1787. 67 GW 1. 368.

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und Vermehrung des Reichtums habe sich in dieser sittlichen Gesellschaft der Stand der Aristokratie herausgebildet und an Macht gewonnen. Diese Macht sei aufgrund von erlangtem Kriegsruhm und mehr noch von dem Gebrauch ihrer Reichtümer erteilt worden, unter der Bedingung, diese wieder entziehen zu können. Doch der Zustand der Übermacht der Reichen habe sich festgesetzt und später mit Gewalt behauptet. Damit sei das republikanische Prinzip, das in der Tapferkeit als Tugend lag, verloren gegangen, was Hegel mit Bezug auf Montesquieu entschieden verurteilt.68 Die republikanische Tapferkeit in der Verteidigung der Interessen des eigenen Volkes sei indirekt zur Macht durch Reichtum umgeschlagen. Denn mit dem Zerfall der Republik als Ganzes und der Reduzierung ihrer Rolle nur für die Sicherung von Eigentum, entfalle auch der Grund für die Verteidigung. Der Staat sei von wenigen Bürgern als »Staatsmaschine« geführt worden, die nur als einzelne Räder ohne Übersicht über die politischen Verhältnisse im »zerstükkelten Ganzen«69 fungiert hätten. Die Bürger seien vom Staat nur nach ihrer Brauchbarkeit beurteilt worden, und die Bürger hätten vom Staat lediglich »Erwerb und Unterhalt und noch etwa Eitelkeit«70 gewollt. Keiner habe sich mehr für das politische Ganze oder für eine allgemeine Idee interessiert, sondern nur für sich selbst, für die »Sicherheit des Eigentums, das jetzt seine ganze Welt ausfüllte«.71 Moralität habe sich im Privatleben mit Klugheit erschöpft, die von der Liebe zum Leben und dem Interesse nach seiner Verschönerung und Bequemlichkeit geleitet würde. In diesen »Zeiten der verschwundenen öffentlichen Tugend« hätten die Menschen das Bedürfnis der Vernunft nach höheren moralischen Ideen, nach dem Absoluten, Selbstständigen verspürt. Da solche Ideen im vornehmlich auf das Private konzentrierten Willen der Menschen nicht zu finden gewesen seien, habe sich die christliche Religion im Volk ausbreiten können, weil sie die Verwirklichung der moralischen Idee außerhalb des menschlichen Wollens, in der Gottheit zu finden, versprochen habe. Mit dem Einzug der Religion haben moralische Ideen das Gemüt ergriffen, und der Wert jener Güter des Privatlebens sei gesunken, ebenso seien »Verfassungen, die nur Leben und Eigentum garantieren, … nimmer für die besten gehalten«72 worden. Doch sei die Verwirklichung von Ideen, die außerhalb der Grenzen der menschlichen Macht gesetzt wird, ein Versprechen, das bodenlos sei. Dem ganzen Menschen, der in der Natur und in

68 69 70 71 72

Vgl. GW 1. 369. Ebd. Ebd. Ebd. GW 1. 164.

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der Gemeinschaft mit anderen Menschen sich selbst findet, stellt Hegel den von diesen Wurzeln entfremdeten Menschen gegenüber, der das Göttliche in einem Jenseits sucht und diesseits sich dem Egoismus und der Anhäufung von Eigentum unterwirft. Selbst unter den gut versorgten Regierenden habe die christliche Religion bald ihre Anhänger gefunden, so Hegel. Diese Lehre habe das Führen von Kriegen und das Blutvergießen zur Sünde erklärt und somit dem bequem und genüsslich lebenden früheren tapferen Krieger und jetzigen Erwerbsüchtigen gut gepasst, denn ein Krieg hätte ihr Eigentum und ihren »ruhigen und gleichförmigen Genuss« möglicherweise zerstört. Als die Feinde ihre Städte angegriffen hätten, hätten die Römer sie nicht mit Waffen, sondern mit Gebeten retten wollen, und zwar nicht ihre Stadt, sondern lediglich ihr Eigentum darin. Denn der Tod im Kampf würde die Verteidigung des allgemeinen bürgerlichen Rechts auf Eigentum bedeuten. Doch dem selbstsüchtigen Besitzbürger gehe es nicht um die Behauptung von allgemeinen Rechten, »(denn wer in Vertheidigung eines Recht stirbt, der hat es behauptet) – dieses Gefühl war einem unterdrükten Volke fremd, dem es genügte, sein Eigenthum nur aus Gnade zu haben«.73 Die christliche Religion sei für die Privatbürger die angemessene Religion einer auf Privatinteressen basierenden Gesellschaft, der Gesellschaft des Bourgeois,74 und sie stand Hegels republikanischem Ideal der Behauptung der Rechte im Kampf um Leben und Tod entgegen. Um den Kontrast zu verstärken, setzt Hegel dem modernen Besitzbürger, bourgeois, dem lediglich nach Erhalt und Vermehrung seines Reichtums strebenden Besitzbürger, das Bild des tapferen antiken Republikaners entgegen. Der Besitzbürger arbeite nicht mehr für das Ganze, für eine Idee, er arbeite entweder für sich oder gezwungen für einen anderen Einzelnen, er habe keine politische Freiheit, selbstgegebenen Gesetzen zu folgen und selbst mitbeschlossene Pläne auszuführen, nur die Sicherheit des Eigentums habe ihn interessiert, und »die Erscheinung, die ihm das ganze Gewebe seiner Zwecke, die Thätigkeit seines ganzen Lebens niederrieß, der Tod mußte ihm was schrökliches seyn, denn ihn überlebte nichts, den Republikaner überlebte die Republik und ihm schwebte der Gedanke vor, daß sie, seine Seele etwas ewiges sey«.75 Der Republikaner arbeitet nicht für sich, sondern für eine Idee und so erfüllt er »wahre Arbeit«76 im Gegensatz zu der selbstsüchtigen Arbeit des Besitzbürgers. Auch Rousseau kritisiert das »rastlose Treiben

73 74 75 76

GW 1. 377. Vgl. auch Lukács. Bd. 1. 123. Vgl. GW 1. 369 f. So exzerpiert Hegel aus Georg Forsters Ansichten vom Niederrhein.

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von Handel und Gewerbe, die nie zu befriedigende Gewinnsucht, die Weichlichkeit und die Vorliebe für Bequemlichkeit«77 der Bürger, die lieber ihr Geld in Form von Abgaben anstatt persönliche Dienste für den Staat leisten. Hegels Lob der Tugend des Republikaners wird auch von den geschichtlichen Ereignissen um die Französischen Revolution genährt. Die Tugend der Tapferkeit wird für ihn später, insbesondere in dem Jenaer Naturrechtsaufsatz, zur höchsten Tugend. Der junge Hegel war, wie damals viele Intellektuelle in Deutschland, ein begeisterter Anhänger der Französischen Revolution, er wurde aber von der gewaltsamen Durchsetzung der Diktatur der Jakobiner enttäuscht.78

c) Die Kritik an der Absonderung gesellschaftlicher Gruppen nach wirtschaftlichen Interessen Neben dem Zurückziehen der Bürger in ihre ökonomischen Interessen sieht Hegel die republikanische Freiheit auch durch die soziale Absonderung in soziale Gruppen, Stände oder wirtschaftliche Zünfte, in Gefahr, denn in diesen bildet sich ein »esprit de corps … – der bald dem Geiste des Ganzen zuwider wird«.79 Hegel gebraucht hier das französische Wort corps und dieser Gebrauch ist vermutlich nicht zufällig.80 In der Sprache des 17. und 18. Jahrhunderts war das Wort corps synonym mit Organismus aber auch Maschine, es könnte sowohl ein lebendiges als ein unlebendiges Ganzes sein. Dieser Bezug scheint insoweit interessant zu sein, da Hegel auch später die Wirtschaft als ein (lebendiges und unlebendiges) Ganzes, das wie ein Mechanismus funktioniert, beurteilt. Es zeigt sich, dass bereits der Berner Hegel die grundsätzliche Kritik an der Absonderung von gesellschaftlichen Gruppen innerhalb der Gesellschaft äußert, die auch später leitend für seine ganze Religions- und Rechtsphilosophie ist. In einem Fragment aus der Studienzeit steht die diesbezügliche Kritik im Zusammenhang mit der Ästhetik, in der späteren Berner Zeit ist die Kritik mit der Religion und der wirtschaftlichen Ständeorganisation verbunden. Aus der Stuttgarter und Tübinger Zeit ist noch Hegels Schrift »Ueber einige 77

Rousseau, J.J.: Der Gesellschaftsvertrag. Übers. v. H. Dehnhart u. W. Bahner. Köln. 1988. 3. Buch. 15 Kap. 120. 78 Mehr dazu vgl. Bondeli, M.: Hegel in Bern. 69. 79 GW 1. 125. 80 O. Pöggeler weist darauf hin, dass Hegel den Ausdruck auf Französisch aufführt, um sich nach dem Vorbild der Französischen Revolution gegen die Privilegien zu wenden. Vgl. Pöggeler, O.: Das Menschenwerk des Staates. 194.

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Charakteristische Unterschiede der alten Dichter« überliefert, die er im Studium als Pflichtarbeit geleistet hat.81 Diese Schrift stellt eine selbstständige Beschäftigung Hegels mit einem Aufsatz des damals berühmten Philosophen Christian Garve dar,82 der selbst u. a. in der Tradition des schottischen Gesellschaftstheoretikers Adam Ferguson stand.83 Ferguson seinerseits gehörte zum Kreis schottischer Philosophen, zu dem David Hume, Sir James Steuart und Adam Smith gehörten. Ferguson, der heute als Vater der Soziologie gilt, hat sich mit Fragen der modernen Arbeitsteilung und deren Auswirkung auf die Gesellschaft beschäftigt. In Hegels Text gibt es freilich keinen direkten Bezug auf die Problematik der Arbeitsteilung in England. Dieser Bezug, auf den in der neueren Hegel-Forschung Waszek84 hingewiesen hat, ist bedeutungsvoll, jedoch weit hergeholt. Die Arbeitsteilung ist auch nicht das Thema von Garves Aufsatz, den Hegel kommentiert hat. Das vordergründige Problem hier ist, dass, verglichen mit dem antiken Dichter, der moderne Dichter die Unmittelbarkeit seiner Dichtung verloren hat. Konnte der antike Dichter einfach über das, was er beobachtet, fühlt und gut kennt, ohne Rücksicht auf seine Leser schreiben, so fehle dem modernen Dichter diese Unmittelbarkeit, er wende sich mehr dem »inneren Spiel der Kräfte« zu,85 nehme mehr Rücksicht auf die Unterhaltung seines Publikums.86 Jedoch könne der moderne Dichter sich nicht mehr an ein einheitliches Publikum wenden, wie die antiken griechischen Dichter es taten, sondern müsse jetzt die Differenzierung seiner Leser nach Ständen berücksichtigen: »Dabei sind die Begriffe und die Cultur der Stände zu sehr verschieden, als das ein Dichter unserer Zeit sich versprechen könnte, allgemein verstanden und gelesen zu werden. … Ein Theil hat sich von dem System, auf welches theils das ganze Gedicht, theils die einzelnen Theile gebaut sind, schon entfernt; den anderen beschäftigen die Sorgen für die so vervielfältigten Bedürfnisse und Bequemlichkeiten des Lebens all zu sehr, als daß er Zeit und Lust bekäme, sich zu erheben und 81

Vgl. Waszek, N.: Der junge Hegel und die ›querelle des anciens et des modernes‹: Ferguson, Garve, Hegel. In: Gawoll, H.-J./Jamme, Ch.(Hrsg.): Idealismus mit Folgen: die Epochenschwelle um 1800 in Kunst und Geisteswissenschaften. München. 1994. 37. 82 Die nähere Betrachtung dieses Aufsatzes und insbesondere des Einflusses von Garve, aber auch von Herder, Rousseau und Lessing findet sich bei: Ripalda, J. M.: Aufklärung beim frühen Hegel. In: Jamme, Ch. /Schneider (Hrsg.) : Der Weg zum System. Materialien zum jungen Hegel. Frankfurt. 1990. 121 ff. 83 Vgl. Waszek, N.: Der junge Hegel und die ›querelle des anciens et des modernes‹. 38 ff. 84 Vgl. Waszek, N.: The Scottish Enlightenment and Hegel’s Account of ›Civil society‹. 205. 85 GW 1. 47. 86 GW 1. 47.

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den Begriffen der höheren Stände zu nähern«.87 Hier kann man deutlich die Kritik an dem angepassten Bürger eines sich differenzierenden Standes vernehmen, der in seiner von wirtschaftlichen Interessen bestimmten Welt für die Dichtung taub geworden ist. Hegel selbst bestätigt in seinen späteren Schriften mehrmals die Fortführung dieser Gedanken, insbesondere die neue Rolle der Dichtung unter den veränderten ökonomischen Bedingungen als Ausweg, worauf noch näher eingegangen wird. Zurückkommend auf das Problem der Absonderung der Stände im Staat, sind beim Berner Hegel zwei Konkretisierungen deutlich: der »Priesterstand« und die Zünfte, welche die wirtschaftliche Macht im Staat repräsentieren.88 Gegen den Stand der Priester wendet Hegel ein, er beanspruche ein »Depositair« 89 der religiösen Sagen zu sein und erlange dadurch eine Herrschaft über den öffentlichen Glauben. Im größeren Staat könne dadurch der kindliche, gutgläubige Geist des Volkes bald durch die Machthaber unterdrückt und missbraucht werden.90 Insbesondere bestehe diese Gefahr, wenn es sich nicht um volkstümliche Sagen handelt, von denen alle wissen, sondern um fremde Sagen, die nur vom Staat privilegierte Priester kennen und verbreiten dürften. Für die Menschen sei es eine »unendlich bequemere Sache«91 ihnen zu glauben, anstatt selbst über die religiös-moralischen Gebote und Gefühle in einer Vernunftreligion nachzudenken. Diese Herrschaft über den Glauben durch Depositäre religiöser Grundsätze bedeute Entfremdung, Bevormundung, »Unterdrückung, Entehrung, Herabwürdigung des Volks«.92 Daher sei die Absonderung in Stände für die Freiheit gefährlich, weil sich in ihnen ein eigener Geist ausbilde, der dem Staat widerspreche und sogar die Rechte, die der Staat seinen Bürgern garantiert, aufhebe. Die standesgemäße Absonderung bezieht sich bei Hegel auf die geistigen und ebenso auf die materiellen Interessen der Gesellschaft. Die Zünfte seien Gesellschaften im Staat, in denen sich Handwerker aus einer Stadt nach eigenen Prinzipien organisieren und dementsprechend ihre Mitglieder aufnehmen und ausschließen.93 Der Staat sei verpflichtet, jedem Bürger das Recht zu geben, sein Handwerk und 87

GW 1. 46. Bereits Rousseau hat in seinem »Diskurs über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen« geschrieben, dass die ungeheure Verschiedenheit in der Lebensweisen der bürgerlichen Ständen im Verhältnis zu ihrer Kultiviertheit steht und die natürliche Ungleichheit zu einer institutionalisierten Ungleichheit macht und verstärkt. Vgl. Rousseau, J.J.: Diskurs über die Ungleichheit. 163. 88 Hegel vergleicht den Priesterstand mit den Zünften. Vgl. GW 1. 319. 89 GW 1. 158. 90 Vgl. GW 1 . 123. 91 GW 1. 159. 92 GW 1. 125. 93 Vgl. GW 1. 319.

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seine Arbeit auszuüben, sofern es den bürgerlichen Gesetzen nicht entgegensteht. Wenn aber die Zünfte als Institution jemanden ausschließen würden, dann würden sie ihm zugleich das vom Staat garantierte bürgerliche Recht auf Wahl und Ausübung seines Berufs und seine Art, sich zu ernähren, rauben.94 Hegel versteckt nicht seine Erbitterung über den Staat, der sowohl der Kirche als auch den Zünften diese Rechte eingeräumt hat und damit »dem Rechte seiner Bürger entsagt«.95 Der Staat ist verpflichtet, eine solche Garantie jedem Einzelnen zu geben. »In der Natur der bürgerlichen Gesellschaft liegt, sie und die Rechte ihrer Beherrscher und Gesezgeber mögen entstanden seyn, wie sie wollen, dass darin die Rechte des einzelen Rechte des Staates geworden sind, dass der Staat verpflichtet [ist], meine Rechte als die seinigen zu behaupten, und zu beschüzen«.96 Hegel grenzt hier die bürgerliche Gesellschaft vom Staat ab, und zwar so, dass die bürgerliche Gesellschaft einen untergeordneten Bestandteil des Staates ausmacht, worauf er an dieser Stelle nicht näher eingeht. Die erwähnte Zufälligkeit der entstandenen Rechte von Beherrscher und Gesetzgeber in der bürgerlichen Gesellschaft und die Rolle des Staates erinnern an Rousseaus Beschreibung der Entstehung eines vernünftigen Staates aus dem instinkthaften Naturzustand in seinem Diskurs über die Ungleichheit. In dieser Schrift bestimmt Rousseau den Reichtum als Hauptursache für die Ungleichheit unter den Menschen im Staat. Die Usurpation der Reichen der bürgerlichen Gesellschaft, die Räubereien der Armen, die zügellosen Leidenschaften würden das natürliche Mitleid als Tugend und die Gerechtigkeit ersticken und die Menschen geizig, eifersüchtig und böse machen. In dieser Gesellschaft, so kritisiert Rousseau, bringe sich das Menschengeschlecht an den Rand seines Ruins. Deshalb sei die Notwendigkeit einer höheren Gewalt entstanden, welche die Schwachen vor der Unterdrückung und die Reichen vor Raub ihres Eigentums schützen sollte. Jedoch entwickele sich der Staat für Rousseau zu einer Institution, welche den Schwachen neue Ketten und den Reichen neue Kräfte gebracht habe. Hegel rekurriert vermutlich auf diese Gedanken Rousseaus und stellt sich den Staat als einen Pakt unter den Menschen der bürgerlichen Gesellschaft vor, welcher ihre Rechte als Einzelne, unabhängig von ihrem Reichtum oder Religion, zu sichern hat.97

94 95 96 97

Vgl. ebd. Ebd. GW 1. 327. Vgl. Rousseau, J.J.: Diskurs über die Ungleichheit. Bes. 215, 219, 255 u. 257.

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d) Das Problem der Trennung der Kirche vom Staat und von der Wirtschaft In dieser frühen Phase geht es Hegel weniger um rechtsphilosophische, sondern um religionsphilosophische Probleme. Es geht ihm in der oben zitierten Stelle um die Abgrenzung zwischen Kirche und Staat, welche sich, was die bürgerlichen Angelegenheiten anbelangt, unvereinbar gegenüberstehen. In der Kirche würde ein allgemeiner Wille von der Mehrheit der Stimmen gebildet, und dieser Zusammenschluss hätte den Schutz des Glaubens zum Zweck und nicht wie im bürgerlichen Staat die Rechte der Einzelnen. Das Zustandekommen des allgemeinen Glaubens ist für Hegel sehr zweifelhaft, insbesondere, weil das Volk unterrepräsentiert sei und dadurch die Forderung, dass der allgemeine Glaube der Kirche der Glaube aller Einzelnen sein müsse,98 unerfüllt bleibe. Wenn die Religion sich dennoch auf »positive«, für alle vorgegebene Gebote berufe und sich als Staat im Staat etabliere, dann entstünden nach Hegel notwendige Gegensätze. Diese Gegensätze müssten zugunsten des Staates gelöst werden, und zwar so, dass diejenigen religiösen Grundsätze, die dem Staat widersprechen, aufgegeben werden. Hegel befürwortet damit entschieden die Trennung von Kirche und Staat, was zugleich auch Eingriffe der Kirche in die politisch-ökonomische Entwicklung verbietet. Die ökonomischen Verhältnisse gehören für Hegel nicht in den Bereich der Religion und können nicht durch die Religion gerechtfertigt werden, denn die christliche Religion kann mit ihren Lehren nichts zur wirtschaftlichen Gerechtigkeit beitragen.99 Folgende Argumente führt Hegel auf: Erstens seien nach der christlichen Orthodoxie die wirtschaftlich bessergestellten Bürger, wie schon gezeigt, zugleich auch bessere Bürger. Zweitens bilde die von der Religion gelehrte Entschädigung ausgestandener Leiden und Entbehrungen der »Glücksgüter«100 auf dieser Erde in einer anderen Welt einen Hauptpunkt aller Religionen, der in moralisch-praktischer Hinsicht nicht ganz eindeutig sei. Für die christliche Religion sei das ganze Leben »meditatio mortis«,101 eine Vorbereitung auf den Augenblick des Todes, wenn die diesseits Hungernden und Entbehrenden himmlische Güter jenseits bekommen sollten.

98

Vgl. GW 1. 332. In seiner Abhandlung »Protestantische Ethik« hat Max Weber behauptet, dass die innere Eigenart der Religion durchaus das ökonomische Denken und Handeln bestimmt. Vgl. Weber, M.: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Tübingen. 1934. 23. In der neueren Literatur hat P. Koslowski Bezug darauf genommen. Vgl. Kapitel 4. 100 GW 1. 146. 101 GW 1. 136. 99

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Die Verachtung der Güter dieses Lebens sei aber nur »Grimasse«.102 Wer angebe, die Güter dieser Welt zu verachten, sei nur neidisch auf die Leute, die sie besitzen. Noch mehr: Derjenige ärgere sich über seine Entbehrung und leide darunter in der Hoffnung, dass sein Leid in einer anderen Welt entschädigt würde.103 Dadurch verstärke die religiöse Lehre indirekt das Gefühl, dass der Mangel an Reichtum ein Unrecht sei. Aber auch nicht alles, was entgegen der Erwartung geschehe, sei ein Unrecht. Insbesondere gilt das für die verwickelten politischen und bürgerlichen Verhältnisse in Hegels Gegenwart und auch heute. Die »Ungleichheit in der Lebensart und in den Glüksgütern hat nicht nur das Elend aller Art, sondern auch die Reizbarkeit, und die Empfänglichkeit dafür vermehrt, – zu den Schmerzen, denen wir vermöge unserer Natur und unserer von dieser so oft abweichenden Lebensart ausgesetzt sind, gesellt sich gar häufig auch Unlittichkeit, Ungeduld, die aus der Forderung entspringt, daß uns alles wohl und nach Wunsche gehen soll, und aus dem Glauben, Unrecht bei dem Unglük zu leiden«.104 Der Zustand der Verschiedenheit in Besitz und im Eigentum müsse als eine Abhängigkeit von der Natur akzeptiert werden und nicht umgangen werden, wie die Religion das versuche. Ein weiterer Kritikpunkt zur Stützung seiner Forderung, dass die Kirche nicht in das ökonomische Geschehen eingreifen dürfe, Staat und Kirche getrennte Sphären sein sollten, bildet das Recht auf Eigentum. Diese Kritik äußert Hegel im Zusammenhang mit seiner grundsätzlichen Meinung, dass die Lehre Jesu ursprünglich eine individuelle Lehre und nicht eine politische Lehre gewesen sei. Sie würde gar absurd, wenn man sie auf eine größere Gesellschaft übertragen würde. Das entscheidende Argument Hegels lautet: Die Gebote Christi stünden den bürgerlichen Rechten des Eigentums im Staat entgegen.105 Ein Staat könne gar nicht die Verachtung des Eigentums einführen, so wie Jesus lehre, weil der Staat dann keinen Sinn mehr hätte, er würde sich selbst auflösen. Jesus rate dem reichen Jüngling, der vollkommen sein will, er müsse alle Güter an die Armen austeilen. Wenn diese Forderung für alle Menschen in einer Gesellschaft gelten sollte, dann würde keine Ausgeglichenheit der Reichtümer, vielmehr nur eine absurde Verschiebung von Eigentum stattfinden. Hinzu kommt noch das Argument für das einzelne Individuum: Wenn sich die Menschen in ihrem Eigentum angegriffen fühlten, dann würden sie eher eine Erbitterung als Achtung für eine Autorität,

102 103 104 105

GW 1. 136 Vgl. GW 1. 147. GW 1. 147. Vgl. GW 1. 129.

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die über ihr Eigentum bestimmen will, empfinden. Eine Gütergemeinschaft sei nur für kleinere Gemeinschaften sinnvoll, in einer größeren Gesellschaft bedeute sie Zwang, der einen Anlass zur Verheimlichung oder zum Widersetzen gäbe. So würde die freiwillige individuelle Wohltätigkeit, wenn sie in der Gesellschaft ausgedehnt wird, in ihr Gegenteil verkehrt. Isoliere sich eine Gütergemeinschaft, wie die ersten Christen, vom Volk, dann beschränke sie die Wohltätigkeit nur auf ihre Mitglieder, und so stünde diese auf die Mitglieder beschränkte Wohltätigkeit für Hegel dem Geist der Menschenliebe überhaupt entgegen.106 Die christliche Forderung, seine Reichtümer abzugeben, sei nicht bei allen Menschen auf Zustimmung gestoßen. Vielmehr behindere sie nach Hegel die Verbreitung des Christentums, und deshalb habe man sie frühzeitig abgeschafft und gegen freiwillige, wohltätige Zahlungen als Mittel »sich im Himmel einzukaufen« ersetzt. So habe sich die katholische Kirche bereichert und höchsten weltlichen Reichtum besessen.107

e) Die Kollision der Pflichten und die moralische Klugheit beim wirtschaftlichen Handeln Die Frage, ob die persönliche moralische Vollkommenheit mit der Abgabe der Reichtümer beginnt,108 so wie Jesus dem reichen Jüngling geraten hat, stellt sich für Hegel neu und zwar insbesondere aufgrund der »verwickelten Verhältnisse unseres bürgerlichen Lebens«.109 Es handelt sich dabei um die Eigentumsverhältnisse, die in ihrer gestiegenen Mannigfaltigkeit auch mannigfaltige Pflichten erzeugen. Selbst die entschiedenste Rechtschaffenheit in der bürgerlichen Gesellschaft sei nicht eindeutig und könne eine Kollision der Pflichten hervorrufen, so Hegel.110 Eine Pflichtenkollision, die Kant leugnet, entsteht nach Hegel, wenn individuell empfundene Pflichten, Mitleid und Billigkeit mit allgemeineren Einsichten über Rechte und Gerechtigkeit widerstreiten.111 Die Pflichtenkollision ist für Hegel die Ursache für eine Tragödie, für den tragischen Untergang der nach Pflichten Handelnden, worüber unten noch die Rede sein wird.

106 107 108 109 110 111

Vgl. GW 1. 130. Vgl. GW 1. 299. Vgl. GW 1. 121. GW 1. 116. Ebd. Ebd.

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Die ökonomischen Eigentumsverhältnisse sind in Hegels Gegenwart so mannigfaltig und bestimmend geworden, dass hier »die Klugheit umsomehr aus Pflicht vorsichtig seyn mus, wenn sie nicht ihre eigne Angelegenheiten besorgt – sondern im grössern oder im kleinern einen Zweig des Wohlstands von einer grössern Menge Menschen zu befördern mithilft«.112 Im gesellschaftlichen Leben haben sich die ökonomischen Verhältnisse so eingefädelt, dass man sie nicht mehr mit dem Maß der moralischen Pflicht messen kann. In der Wirtschaft ist die Kantische Pflicht nicht mehr das Kriterium, sondern die Klugheit, die Kant von der Pflicht trennt. Sie ist nach Hegel das Handlungskriterium in der Wirtschaft, denn davon hängt jetzt das Auskommen vieler Menschen ab. Auch die Vorbilder für die persönliche moralische Vollkommenheit sind aus der Sicht der wirtschaftlichen Entwicklung nach Hegel von nur historischer Bedeutung. Diogenes sei mit wenig Essen und Kleidung zufrieden gewesen, er hatte keine Familie und keinen Erwerb. Auf diese Weise sei es leicht, moralische Vollkommenheit zu erreichen und sie zu lehren. Die Römer haben die Tugend an etwas Objektives, an die Tapferkeit der kriegerischen »römischen Natur«113 geknüpft und sich dadurch den Begriff der moralischen Vollkommenheit auf Kosten der »Erstarkung menschlicher Neigungen und Pflichten«114 zu leicht gemacht. In der christlichen Religion sei Jesus als Person ein Vorbild moralischer Vollkommenheit für seine Apostel gewesen. Sie haben ihre Familien und ihren nützlich-tätigen Wirkungskreis verlassen, um dem Vorbild ähnlich werden zu können und andere Menschen in aller Welt zu taufen. Dabei sei ihnen nicht »Tugend, Rechtschaffenheit, sondern Christus, Taufe usw.«115 das Grundlegende gewesen. Zu sehr hätten sie sich mit der Person Jesu identifiziert und seine moralischen Lehren als etwas Positives, von der Person Jesu Gegebenes und nicht als etwas Eigenes eingesehen. Das gilt in gleichem Maße für die weltfremden christlichen Lehren, die das Eigentum betreffen. Als eine gelungene Form der Moralität im privaten und öffentlichen Leben hat Hegel offensichtlich die idealisierte griechische antike Polis und insbesondere die Person des Sokrates zum Vorbild. Durch sein eigenes Beispiel der Rechtschaffenheit im bürgerlichen Leben und vorzügliche Vernunft habe Sokrates gezeigt, dass man Moralität nicht predigt, nicht bezahlt, oder etwa dafür die Familie und das Haus verlassen muss. Seine Schüler hatten mannigfaltige Interessen und Fähigkeiten und einen gemeinsamen Geist. Sokra-

112 113 114 115

GW 1. 116. GW 1. 117. Ebd. GW 1. 118.

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tes habe die Menschen nur in sich selbst hineingeführt, um sie zur Fertigkeit im Guten zu bringen.116 Hegel knüpft an die Persönlichkeit von Sokrates als Vorbild für ein rechtschaffenes bürgerliches Leben an, das Moralität und Sinnlichkeit sowohl im Privaten als auch im Öffentlichen vereinbart.

f) Die Beschäftigung Hegels mit dem Berner Finanzwesen Nach dem Studium in Tübingen wechselte Hegel nach Bern und wurde Privatlehrer in einer Patrizierfamilie. Zu diesem Zeitpunkt war Bern ein oligarchischer Patrizierstaat, der aus einer städtischen Zunftorganisation entstanden ist. Bestimmte Patrizierfamilien besaßen den Reichtum und die politische Macht und haben sich in einem regierenden Aristokratenstand abgeschieden. Die Staatsverwaltung war mit ökonomischen Interessen der Großgrundbesitzer verzahnt und das ganze Staatsgebilde bildete ein Feudalsystem. Der Reichtum der Stadt Bern stammte aus einer Zwangssäkularisation der Kirchengüter des Waadtlandes, auf die Bern Staatsanleihen an ausländische Souveräne gegeben und so durch Zinsen seine Finanzen vermehrt hatte.117 Es galt ein striktes Geheimhaltungsprinzip für die Finanzen des Staates, und es gab seinerzeit keine öffentlich zugängliche Finanzverfassung.118 Seit 1991 sind einige Fragmente dieser Studien Hegels in der historisch-kritischen Ausgabe allgemein zugänglich.119 Sie enthalten Exzerpte über die Schweizer Rechtsprechung, die Strafgesetze und das Steuersystem. Über die Besteuerung durch die Regierung Berns exzerpiert Hegel aus dem Buch Du Gouvernement de Berne. En Suisse. 1793.120 Hegel exzerpiert im Wesentlichen sinngemäß folgendes: Die Besteuerung im Staat gewinnt um so mehr an allgemeinem Interesse als sie wichtigster Maßstab für die Güte der Regierung als auch Indikator für den Wohlstand des Landes ist. Die 116

Vgl. GW 1. 118 ff. Vgl. Bondeli, M.: Hegel in Bern. 27. 118 M. Bondeli bezweifelt in seiner kenntnisreichen Studie über Hegels Berner Jahre die Korrektheit von Rosenkranz` Bemerkung, der junge Hegel habe die Berner Finanzverfassung bis ins kleinste Detail studiert. Hegels Biograph K. Rosenkranz beruft sich dabei auf Quellen, die heute nur zum Teil erhalten sind. M. Bondeli vermutet, dass Hegels Beschäftigung mit dem Finanzwesen Berns eher eine Erfassung nebensächlicher Details und eine allgemeine Skizzierung von Finanzregeln war. N. Waszek dagegen weist zu Recht darauf hin, dass Bondeli Sachverhalte für unwichtig und nebensächlich erachtet, die dem Philosophen Hegel wichtig waren, unabhängig von der Tiefe ihrer Erkenntnis. 119 Vgl. GW 3. 223–233. 120 Vgl. GW 3. 296. Das Buch erschien ohne Verfasser und Ort und wurde Louis Auguste Curtat zugeschrieben. 117

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Regierung erhebt nur zweierlei Abgaben: die Wegezölle und die Grundsteuer. Neben diesen gibt es keine weiteren Abgaben, nicht einmal Steuern auf Luxusgegenstände, und man erfreut sich der größten Freiheit bei Handel und Konsum. Es gibt aber zwei Ausnahmen, die dem Volk Vorteile und Sicherheit bringen. Zum einen ist es das Salzmonopol des Staates, der das aus dem Ausland bezogene Salz verteilt, da die Menge, die das Land produzieren kann, zu gering ist: Dies Monopol wiegt aber nicht schwer, da das Salz hier nicht teurer ist als in den Ländern, die beliefern. Zum anderen dürfen die Händler, die das Land durchreisen, um auf Jahrmärkten Waren zu verkaufen, nur mit staatlicher Lizenz diesen Beruf ausüben: Diese Vorsichtsmaßnahme wurde eingeführt, weil öffentliche Diebesbanden, die sich als Warenträger ausgaben, eine große Zahl von Verbrechen begingen. Die Wegezölle im Lande für den Transport der Güter waren so gering, dass sie sich kaum auf den Preis auswirkten. Die am wenigsten benötigten Güter waren am meisten belastet. Jedoch sind diese Steuern im Vergleich zu anderen Ländern sehr gering. Wenn man die Preise der Güter in Bern mit denen anderer Völker vergleicht, dann wird man alle Kritiker zum Schweigen bringen, die gegen diese Art von Abgaben argumentieren.121 Dieses Exzerpt Hegels belegt sein erhöhtes Interesse für ökonomische, steuerpolitische Zusammenhänge. Hegel notierte sich sehr genau die im Originaltext aufgeführten Arten von Abgaben, die der Berner Staat nicht erhob, wie z. B. Kopfsteuer, Gewerbesteuer, Stempelsteuer, Steuern auf Pachten und Sonderrechte und Steuern auf Luxusgegenstände. Die Problematisierung der Rolle der Steuer und die Aufzählung, insbesondere die Kopfsteuer und die Steuer auf Luxusgegenstände, erinnern an Rousseaus Untersuchung über die Rechtfertigung der Steuer und Abgaben für die Erreichung eines Wohlstandes nicht auf Kosten der wirtschaftlich Schwachen. Es ist naheliegend, dass Hegels Interesse für das öffentliche Finanzwesen von Rousseaus Schriften angeregt sein dürfte. Wie das Blut im menschlichen Körper ist das öffentliche Finanzwesen im Staat als Lebensnahrung hindurchverteilt, vorausgesetzt der Staat sei ein politischer Körper oder ein moralisches Wesen, die für Rousseau synonym sind.122 Die Bürger seien die Glieder des politischen Körpers, welche die Maschine zum Leben und Arbeiten bringen würden. »Das Leben des einen und des anderen bilden das gemeinsame Ich für das Ganze«,123 und der Staat kann so lange existieren, bis dieses Verhältnis gegeben sei. Wenn 121

Vgl. GW 3. 223–224 (Exzerpt 40). Für die hilfreichen Hinweise danke ich Herrn Prof. Dr. Wolfgang Remy ganz herzlich. 122 Vgl. Rousseau, J.-J. Politische Schriften. Bd. 1: Abhandlung über die Politische Ökonomie. Politische Fragmente. Übers. und Einf. v. Ludwig Schmidts. Paderborn 1977. 14 f. 123 Ebd.

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sich ein Staat aus solchen Beziehungen gebildet habe, dann sei eine seiner wichtigsten Aufgaben, die äußerste Ungleichheit der Besitztümer zu verhindern.124 Für Rousseau kommt freilich der Raub des Eigentums zwecks Verhinderung der Ungleichheit nicht in Frage. Vielmehr müsse dem Reichen die Möglichkeit entzogen werden, Reichtümer anzuhäufen. Dem könne zum einen durch die Erziehung und zum anderen durch eine vertragliche Bindung aller Bürger Rechnung getragen werden. »Ihr könnt alles haben, wenn ihr Bürger heranbildet«, so Rousseau.125 Die Bürger schließen nach Rousseau untereinander einen Gesellschaftsvertrag ab, in dem sie sich verpflichten, das Eigentum anderer und den Staat als dessen Garant zu respektieren. Um das Eigentum zu sichern, brauche der Staat finanzielle Mittel, welche die Bürger in Form von Steuern bezahlen. Die Festlegung der Besteuerung der Bürger durch den Staat könne durchaus zu Ungerechtigkeiten führen, so dass die Reichen reicher und die Armen ärmer werden. Die Steuerzahlung bedürfe demgemäss der Zustimmung des Volkes und sollte von dem Vermögen des einzelnen Steuerzahlers, aber auch von der Summe des Unterschieds zwischen dem für den Stand lebensnotwendigen Besitz und dem Überfluss der Güter abhängig sein.126 Dieser kurze Exkurs in Rousseaus Abhandlung über die Politische Ökonomie legt nahe, dass Hegels Beschäftigung mit den Berner Finanzen und Steuerpolitik stark von Rousseau, vermutlich sogar stärker als von den schottischen Ökonomen, angeregt worden ist. Hegels Beschäftigung mit den schottischen Ökonomen bereits in der Berner Phase wurde mehrfach untersucht, insbesondere in den kenntnisreichen Studien von N. Waszek, lässt sich jedoch nicht endgültig beweisen. Waszek sieht in dem ökonomischen Interesse Hegels ein Anzeichen der »systematischen Bedürfnisse seines damaligen Denkens«127 und behauptet, dass »die Wurzeln von Hegels Interesse an den schottischen Ökonomen in seinen Berner Jahren zu suchen sind«.128 Hauptargumente für Waszeks Annahme bilden die Verfügbarkeit129 der englischsprachigen diesbezüglichen Literatur für Hegel in Bern, insbesondere die Werke von Hume, Ferguson, Steuart, Smith und der größere politisch-ökonomische Kontext, in den Waszek eine von Hegel übersetzte Streitschrift stellt. Zum ersten Argument finden sich 124

Ebd. 32. Ebd. 33. 126 Ebd. 47 f. und 51. 127 Waszek, N.: Hegels Lehre von der ,bürgerlichen Gesellschaft‘ und die politische Ökonomie der schottischen Aufklärung. 41. 128 Waszek, N.: Auf dem Weg zur Reformbill-Schrift. 181. 129 Vgl. Waszek, N.: The Scottish Enlightenment and Hegel`s Account of ›Civil Society‹. Appendix IV, 282 f.; Vgl. auch Waszek, N.: Auf dem Weg zur Reformbill-Schrift. 183 f. 125

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in Hegels Schriften keine direkten Ansatzpunkte. Ein Fragment über Hume als Geschichtsschreiber ist uns noch erhalten. Doch die These, dass Hegel die schottischen Ökonomen schon damals gelesen hat, setzt die Annahme voraus, dass Hegel von der Lektüre Humes zu den schottischen Ökonomen tatsächlich übergegangen ist, bloß weil er in seinem Wirkungskreis und in der Bibliothek seines Arbeitgebers die Möglichkeit dazu hatte.130 Das zweite Argument betrifft eine vermutlich bereits in Bern erstellte, aber in Frankfurt veröffentlichte Übersetzung Hegels der Schrift »Vertrauliche Briefe über das vormalige staatsrechtliche Verhältnis des Waadtlandes zur Stadt Bern«.131 Der Verfasser Cart erörtert mit Bewunderung die englische Verfassung und Besteuerungsweise, die Hegel kritisch kommentiert. Das belegt zwar Hegels Interesse für die politisch-ökonomischen Verhältnisse Englands, erhärtet aber nicht die These, Hegel sei schon in Bern mit den schottischen Ökonomen in Berührung gekommen. Waszek hat aufgeführt, dass Hegel die Streitschrift von Cart in einem politisch-ökonomischen Kontext kommentierte und eigentlich den Berner Staat kritisieren wollte, da dieser die Bevölkerung des Kantons Waadt zwar niedrig besteuerte, sie dafür aber politisch bevormundete.132 Das ist eine indirekte Interpretation, die durchaus möglich ist. Denn Hegels Exzerpt über das Finanzwesen Berns berührt genau die Kritik an den zu niedrig bestimmten Abgaben durch die Berner Regierung. Die Verwendung dieses Exzerpts als Vorlage für die Übersetzung und Kommentierung der Cart-Schrift ist sehr wahrscheinlich, denn Hegel verwendete nachweislich auch andere Stellen aus den in Bern gemachten Exzerpten für seine Auseinandersetzung mit Cart,133 und die Schrift selbst enthält ein eigenes Kapitel über die Besteuerung des Waadtlandes durch die Berner Regierung.134 Genau dieses Kapitel hat Hegel mit einer Anmerkung versehen, die nicht nur sein Interesse für die ökonomischen Verhältnisse während der Berner Phase belegt, sondern auch seine diesbezügliche ethische Kritik zum Ausdruck bringt. Im fünften Brief seiner Streitschrift führt Cart auf, dass die hohe Besteuerung in England nicht nur einen größeren Wohlstand zur Folge habe, son-

130

Waszek, N.: Auf dem Weg zur Reformbill-Schrift. 185. Waszek gibt auch an, dass Hegel englische Bücher besaß, jedoch solche, die nicht eindeutig ökonomische Schwerpunkte haben. 131 Vgl. Hegels erste Druckschrift. Jean Jaques Cart. Vertrauliche Briefe. Göttingen. 1970. 132 Vgl. Waszek, N.: Auf dem Weg zur Reformbill-Schrift. 190. 133 Vgl. GW 3. 295. 134 Vgl. Hegels erste Druckschrift. 5. Brief. 61–84.

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dern vielmehr ein Ausdruck der Freiheit der Engländer sei: »Weil der Engländer frei ist, weil er die in der Freiheit liegenden Rechte genießt, mit einem Worte, weil er sich selbst besteuert«.135 Die selbstbestimmte Steuerabgabe wird hier mit der Bürgerfreiheit, mit der Bürgerethik und der selbstständigen Verwaltung verbunden. In seinem Kommentar dieser Stelle geht Hegel auf den Zusammenhang zwischen Höhe der Steuern und Wohlstand nicht näher ein. In den Mittelpunkt stellt er vielmehr das Problem der Freiwilligkeit der Besteuerung des Volks, das für ihn zugleich die empirische Exemplifizierung eines philosophischen Themas darstellt.136 Die Anregungen dazu findet Hegel einerseits bei Montesquieu, der am Anfang des fünften Briefs von Cart namentlich genannt wird, und andererseits bei Rousseau. Die These von Montesquieu übersetzt Hegel wie folgt: »›Wenn die ausübende Gewalt über die Erhebung der Auflagen anders als allein mit der Einwilligung des Volks verfügt, so findet keine Freiheit mehr Statt;‹ dies sagt uns Montesq. I. Th. in seinem Geist der Gesezze, und im Waadtland macht uns die Erfahrung dies noch tiefer fühlen«.137 Die philosophische Position von Montesquieu wird auf die gegebene Situation im Waadtland bezogen. Diese Auseinandersetzung Hegels steht offenbar im Zusammenhang mit seiner Beschäftigung mit Rousseaus Abhandlung über die Politische Ökonomie, die oben kurz skizziert wurde.138 Rousseau warnt darin vor gefährlichen Konsequenzen, falls die Besteuerung ohne Zustimmung des Volkes geschieht.139 Hegel führt aus, dass nicht die Höhe der Steuern, die England in seinen amerikanischen Kolonien bei der Teeeinfuhr erhob, die Amerikanische Revolution ausgelöst habe, sondern der Wegfall des Rechts zur Selbstbesteuerung und damit zur freien Selbstverwaltung. Die Selbstständigkeit der Bürger im Staat, die selbst über die Höhe ihrer Abgaben für das Gemeinwesen entscheiden, kann für Hegel, trotz seiner generellen Zustimmung zur englischen Verfassung in die-

135

Ebd. 72. Vgl. Lucas, H.-Ch.: Der junge Hegel zwischen Revolution und Reform. Politische und Rechtsphilosophische Optionen Hegels im Übergang von Bern nach Frankfurt. In: Bondeli, M./Linneweber-Lammerskitten, H.(Hrsg): Hegels Denkentwicklung in der Berner und Frankfurter Zeit. München. 1999. 258 ff. 137 Vgl. Hegels erste Druckschrift. Fünfter Brief. 61. 138 Zu dieser These vgl. auch Lucas, H.-Ch.: Der junge Hegel zwischen Revolution und Reform. 259. 139 Vgl. Rousseau, J.J.: Abhandlung über die Politische Ökonomie. 56. Die Konsequenzen, von denen Rousseau spricht, hat Hegel möglicherweise als einen möglichen Anlass zu einer Revolution aufgenommen und interpretiert, wie Lucas vermutet. Das Beispiel der Revolution in Amerika, das Hegel angibt, könnte darauf hinweisen. Vgl. Lucas, H.-Ch.: Der junge Hegel zwischen Revolution und Reform. 259. 136

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ser Sache, nicht als Kriterium für ihre Freiheit und Güte heranzogen werden, sie ist vielmehr ethisch zu kritisieren.140 Denn die beträchtliche Höhe der Steuerabgaben hat die Beschränkung bürgerlicher Rechte zur Folge gehabt, so Hegel. Von den Regierenden, welche die Abgaben einnahmen, wurde die »Sicherheit des Eigenthums in mancher Rüksicht blosgestellt«.141 Hinter dieser nicht ganz eindeutigen Problematisierung des Eigentums steht vermutlich nicht die Verteidigung seiner Sicherheit, sondern vielmehr Kritik an der ungerechtfertigten und unfreiwilligen Besteuerung des englischen Volkes, welche 1795 der Premierminister Pitt dem Parlament zur Kriegsfinanzierung abnötigte.142 Damit stellt sich Hegel in der Kommentierung der Cart-Schrift gegen die finanzpolitische Einschränkung bürgerlicher Freiheit.143 Diese Tendenz bestätigt noch eine Stelle am Anfang der Cart-Schrift, wo sich das gleiche ethisch-kritische Motiv zur Rolle des Eigentums findet. Vor allem die Sucht nach Reichtümern zerstörte die Selbstständigkeit und den herausgebildeten Gemeinschaftsgeist der Schweizer, und sie brachte den Niedergang – die Schweizer verkauften sich an den, der am meisten bezahlte und gingen selbst dem Tyrannen in die Hand, so der Autor der Schrift Cart.144 Diese Kritik an der Reichtumssucht und der in Kauf genommenen Preisgabe der bürgerlichen Freiheit sind nicht Hegels Worte, jedoch solche, die der Tendenz seiner politischen Schriften aus dieser und der späteren Zeit entsprechen. Das, was Hegel an einer Finanzverfassung interessiert, kann auch aus seiner späteren Schrift Die Verfassung Deutschlands erschlossen werden, zu der er mehrere Studien in Frankfurt erstellte. Dort nimmt Hegel Bezug auf die Rolle der Finanzeinrichtung als Mittelpunkt eines funktionierenden Staates.145 Neben der Anerkennung dieser Rolle kritisiert er: »Wenn es ehemals in Rücksicht auf Finanzen eine Art von Staatsmacht in den Reichszöllen, Abgaben der Reichsstände und der gleichen gab, so waren jene Zeiten doch so durchaus von der Idee eines Staats und dem Begriff eines Allgemeinen 140

England, das eine geringe Teetaxe für die Einfuhr in Amerika einführte, habe dort den Kampf um die Selbstständigkeit ausgelöst, so Hegel. Vgl. Werke 1.106. 141 Hegels erste Druckschrift. 81. 142 Vgl. Waszek, N.: Fox und Pitt. Spannungsfeld britischer Politik im Spiegel des Hegelschen Denkens. In: Lucas, H.-Ch./Pöggeler, O. (Hrsg.): Hegels Rechtsphilosophie im Zusammenhang der europäischen Verfassungsgeschichte. Stuttgart-Bad Cannstatt. 1986. 120. 143 Diese Position vertritt auch Rousseau. »Das englische Volk meint frei zu sein; es täuscht sich außerordentlich; nur während der Wahlen der Parlamentsmitglieder ist es frei; haben diese stattgefunden, dann lebt es wieder in Knechtschaft, ist es nichts«, so Rousseau in seiner Schrift »Der Gesellschaftsvertrag«. Buch 3. Kap. 15. 121. 144 Vgl. Hegels erste Druckschrift. 27. 145 Werke 1, 469.

B. Die Liebe als ethisches Prinzip

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entfernt, dass diese Einkünfte als vollkommenes Privateigentum des Kaisers betrachtet wurden und der Kaiser die Einkünfte verkaufen, was aber ganz unbegreiflich ist, die Stände sie kaufen oder zu einem in der Folge unablöslich gemachten Pfand machen konnten, so wie auch unmittelbare Staatsgewalt gekauft und zum Pfand genommen wurde, über welchem ein stärkerer Zug von Barbarei eines Volks, das einen Staat bildet, sich nicht auftreiben lässt«.146 Hinter dieser Beschreibung kann man unschwer die Berner Oligarchie der Zünfte wiedererkennen. Hegels Kritik gilt hier vor allem der »deutschen Finanzlosigkeit«,147 der fehlenden Finanzverfassung. Das Bedürfnis einer Finanzverfassung für Deutschland hätte man von Zeit zu Zeit zwar gespürt, aber die Stände hätten sie verhindert, um nicht zahlen zu müssen. Die Bestimmung des Staats allein durch die ökonomischen Interessen der Stände, die aufgrund ihrer wirtschaftlichen Macht auch eine politische Macht erkaufen, bringt für Hegel die barbarische Ungerechtigkeit und Unfreiheit über das Volk. Offensichtlich veranlasst Hegel auch dieses ethische Motiv, die Finanzen und die Ökonomie des Staates näher zu betrachten und der modernen englischen Ökonomie die Aufmerksamkeit zu widmen, was er dann in Frankfurt ausführt.

B. Die Liebe als ethisches Prinzip und ihr Verhältnis zum Eigentum in Hegels Frankfurter Schriften Am Anfang des Jahres 1797 wechselt Hegel nach Frankfurt, eine Stadt, die schon damals ein bedeutendes kommerzielles Zentrum war, die Stadt der »merkantilen Geldaristokratie«, wie sein Biograph Rosenkranz schreibt.148 Mit dem Ortswechsel ändern sich wesentliche Züge der Berner Philosophie Hegels. Entscheidende Änderung bringt seine selbstständige kritische Auseinandersetzung mit der Ethik Kants, die von dem Freundeskreis um Hölderlin beeinflusst wurde. Die Hauptkritik lautet: Kants Ethik berücksichtigt den ganzen, lebendigen Menschen nicht, vielmehr werden seine Neigungen und Triebe durch lebensfremde Gebote unterdrückt, und dadurch wird die Moral für den Menschen zu etwas Fremdem, »Totem«, »Positivem«. In dieser Richtung hat Hegel zu dieser Zeit vermutlich auch gegen die Politische Ökonomie von James Steuart argumentiert, die er studiert und kommentiert hat. Das Gemüt als die sinnlich-geistige Ganzheit des Menschen wird 146 147 148

Werke 1, 494. Werke 1, 491. Rosenkranz, K.: G. F. W. Hegel’s Leben. 85.

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vom rohen wirtschaftlichen Abhängigkeitsverhältnis als dem toten Mechanismus bedroht, so hat vermutlich der junge Hegel gegen Steuart eingewandt, wie sein Biograph Karl Rosenkranz berichtet. Hegels Kommentare zu Steuarts Staatswirtschaft und zu Kants Metaphysik der Sitten sind verschollen. Zur Rekonstruktion seiner Gedanken stehen zum einen die Notizen von Rosenkranz und zum anderen Hegels eigene Schriften aus der Frankfurter Zeit zur Verfügung, welche jedoch einen fragmentarischen Charakter haben und die Themen der Ethik und der Ökonomie nur am Rande behandeln. Hegels Augenmerk auf die Verwirklichung der Moralität, die in Bern das Hauptanliegen der Volksreligion war, wird in Frankfurt in seiner Auseinandersetzung mit Kants Ethik sehr deutlich. Nicht mehr Kants moralisches Sollen ist ihm Prinzip der Ethik, sondern die Liebe als Vereinigung von Sollen und Sein, von Moralität und Wirklichkeit. Hegel erkennt, dass für die Verwirklichung der Liebe die politisch-ökonomischen Lebensbedingungen in der neuaufkommenden bürgerlichen Gesellschaft eine Schranke sind. Sein Interesse richtet sich nicht nur auf das Wirklichwerden des Moralischen im einzelnen Menschen unter seinen Mitmenschen, sondern auch in Bezug auf die realen politisch-ökonomischen Bedingungen, die für Kant gemäß seiner Konzeption freilich keine Rolle spielten. Die noch näher zu untersuchende Abwandlung in der ethischen Konzeption Hegels gegenüber Kant bedingt die Änderung seiner Auffassung von der christlichen Religion, aber auch seiner Auffassung von der bürgerlichen Gesellschaft.149 Der positiv gewordenen, christlichen Religion steht Hegel nicht mehr so kritisch gegenüber, wie in seinen Berner Schriften. Vielmehr bildet der christliche Liebesbegriff eine wesentliche philosophisch-praktische Grundlage für Hegels Entwurf einer Ethik, deren Prinzip die Liebe ist. Seine Forderung an sie ist, den Menschen als ein Ganzes wahrzunehmen und ihn nicht in einen Staats- und Kirchenmenschen zu trennen. In dieser Hinsicht hat sie sogar den Vorzug vor der bürgerlichen Gesellschaft, die den Menschen zwischen Eigentum-Habenden und -Nicht-habenden trennt. Während Hegel in Bern die bürgerliche Gesellschaft von dem antiken Ideal her kritisch beurteilte, scheint er sie in Frankfurt eher neutral zu betrachten und zu versuchen, die erwähnte Trennung oder die Moralität des einzelnen Menschen mit den ökonomischen Grundsätzen der Gesellschaft, in der er lebt, zu vereinbaren. Hegel geht dabei noch nicht von den grundsätzlichen Prinzipien der bürgerlichen Gesellschaft aus, sondern von der ethisch-problematischen Stellung 149

240.

Diese Meinung vertritt auch G. Lukács. Vgl. Lukács, G.: Der junge Hegel. Bd. 1.

B. Die Liebe als ethisches Prinzip

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des moralischen Menschen darin. Deshalb kann seine Auseinandersetzung mit der Politischen Ökonomie Steuarts, welche den einzelnen Menschen im Geflecht von wirtschaftlichen Abhängigkeiten nur als eine selbstsüchtige Marionette betrachtet, aus ethischen Gesichtspunkten nur kritisch gewesen sein. Zur Rekonstruktion der ethischen Kritik an der Ökonomie Steuarts sind wir, wie gesagt, auf die spärlichen biographischen Bemerkungen angewiesen. Wegen der Knappheit des überlieferten Materials scheint es zum richtigen Verständnis von Hegels Standpunkt zur Ökonomie umso mehr erforderlich, ihn in den ökonomischen und philosophischen Gesamtkontext zu stellen. Zum einen muss die Politische Ökonomie von James Steuart herangezogen werden, und zum anderen erscheint eine nähere Betrachtung der gesamten philosophischen Position Hegels zu dieser Zeit und insbesondere die Auseinandersetzung mit Kants Ethik auch aus folgenden Gründen sinnvoll: Erstens enthält die Kritik an Kants Ethik zugleich die Grundprinzipien von Hegels eigener Ethik, zweitens ist die veränderte Stellung zu der bürgerlichen Gesellschaft und deren Ökonomie aus der veränderten Kantrezeption nachvollziehbar und drittens trägt Hegel eine Kritik an der deontologischen Ethik vor, die unabhängig von ihrer Berechtigung gegenüber Kant, durchaus für die heutige deontologische Wirtschaftsethik Gültigkeit beanspruchen kann.150

a) Hegels Kritik an der Kantischen Ethik Im Jahr 1798 hat Hegel einen Kommentar zu Kants Metaphysik der Sitten niedergeschrieben. Sein Biograph Rosenkranz, dem das Manuskript vorlag, schreibt:» Er strebte hier schon, die Legalität des positiven Rechts und die Moralität der sich selbst als gut oder böse wissenden Innerlichkeit in einem höheren Begriffe zu vereinigen, den er in diesen Kommentaren häufig schlechthin Leben, später Sittlichkeit nannte. Er protestierte gegen die Unterdrückung der Natur bei Kant und gegen die Zerstückelung des Menschen in die durch den Absolutismus des Pflichtbegriffs entstehende Kasuistik«.151 Außer dieser Notiz von Rosenkranz liegen überlieferte Fragmente aus Hegels Schriften vor, die Herman Nohl unter dem Titel Der Geist des Christentums und sein Schicksal152 zusammengefasst hat. Aus dieser Quelle lassen

150

Das wird im Kapitel 4 dieser Arbeit näher erläutert. Rosenkranz, K.: G. F. W. Hegel’s Leben. 87. 152 Vgl. Hegels theologische Jugendschriften. Hrsg. v. H. Nohl. Tübingen 1907. Nachdruck 1991. 151

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sich Hegels Kritik und die Umrisse seiner eigenen ethischen Konzeption rekonstruieren. In den Fragmenten wendet er sich unter Berufung auf die ursprünglichen moralischen Grundsätze des Christentums gegen den Rigorismus der christlichen Gesetze, die der Mensch als etwas Fremdes, als ein Sollen auffasst. In dieser Hinsicht kritisiert Hegel auch Kants »Sollensethik« als unzureichende Begründung einer Ethik, da das sittliche Subjekt zwischen Neigung und Gesetzestreue, der Möglichkeit der Erfüllung des Gesetzes und der Wirklichkeit, der Allgemeinheit der Gebote und der natürlichen Besonderheit des Menschen mit seinen Neigungen »zerrissen«153 ist. Die anthropologische Kritik, dass bei Kant die menschliche, sinnliche Natur von der strengen Pflicht unterdrückt wird, war zu Hegels Zeit unter den humanistischen Denkern, wie z. B. Goethe und Schiller, sehr verbreitet. Hegels besondere Leistung ist die philosophische Fundierung seiner ethisch-anthropologischen Kritik in den ontologisch-logischen Begriffen Möglichkeit und Wirklichkeit und Allgemeinheit und Besonderheit, welche in Kants Ethik getrennt bleiben. Hegels Kritik kann in diesen zwei Einwänden systematisiert werden,154 die im folgenden Exkurs zugrundegelegt werden. Der Exkurs zielt darauf, anhand der Kritik an Kants Ethik Hegels eigenen ethischen Standpunkt zu eruieren. Er gibt für seinen wirtschaftsethischen Standpunkt während der Frankfurter Phase die wichtigsten Aufschlüsse. Hegel trägt dabei Argumente vor, die in der heutigen, an Kant orientierten wirtschaftsethischen Forschung durchaus geltend gemacht werden können.155 Insbesondere kritisiert Hegel aus ethischen Gesichtspunkten die »Art von Objektivität«156 moralischer Gebote, d. h. ihre Auffassung als Unterwerfung unter Gebote, die der Mensch nicht selbst hervorgebracht hat. Kant habe zwar in der Autonomie des Willens das moralische Gesetz begründet, dadurch habe er aber die Positivität der objektiven Gesetze »nur zum Teil weggenommen«.157 Dem Menschen als sinnlichem Wesen erscheine dieses Gesetz als fremd, obwohl es aus seiner eigenen Vernunft stamme. Um das Sittengesetz in der Form des Kategorischen Imperativs auszuführen, müsse der Mensch seine sinnlichen Triebe und Neigungen unterdrücken. Die Sinnlichkeit bleibe der freien Vernunft unterworfen, und so ist der Mensch in seiner Ganzheit nicht frei. Deshalb kann das auch nicht die wahre Freiheit des Menschen sein – so lautet Hegels Argument gegen den Zwangscharakter des Sittengesetzes in der Form des

153 154 155 156 157

Werke 1, 324. Vgl. Düsing, K. Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik. 38 ff. Vgl. Kapitel 4 dieser Arbeit. Werke 1, 322. Werke 1, 323.

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Kategorischen Imperativs. Für die Gültigkeit dieses Arguments setzt Hegel die unten noch zu erläuternde Prämisse der Ganzheit des Menschen voraus, die Kant so nicht akzeptieren würde. Daher ist die Hegelsche Kant-Kritik nicht immanent, worauf hier nur der Hinweis ausreichen muss. Nach Hegel besteht der Unterschied zwischen einem Anhänger der positiven Religion, dem deren Gesetze als eine fremde Macht gegenüberstehen, und einem Menschen, der nach der Gesetzgebung der praktischen Vernunft unabhängig von seinen Neigungen sittlich handelt, nicht in der Freiheit der moralischen Gesinnung, wie Kant definiert, sondern lediglich darin, dass »jener den Herrn außer sich, dieser aber den Herrn in sich trägt, zugleich aber sein eigener Knecht ist«.158 Die moralische Gesinnung ist für Kant das einzige Kriterium der Moralität, sie bleibt aber nach Hegel mit den Schranken der inneren Knechtschaft behaftet. Wenn das moralische Gesetz nur um der Pflicht willen und ohne Neigung befolgt wird, dann ist seine Ausführung mangelhaft. Erst wenn die Pflichterfüllung mit einer Geneigtheit, d. h. mit einer natürlichen Neigung, von sich aus moralisch zu handeln, einhergeht, ist das Mangelhafte des Gesetzes aufgehoben.159 Das moralische Gesetz verliert dadurch seine strenge Form als Gesetz. Das Pleroma des Gesetzes,160 d. i. die mit der Neigung übereinstimmende Erfüllung, auch wenn der Mensch es sich selbst auferlegt, erfordert nicht Gehorsam, sondern »Geneigtheit moralisch zu handeln«.161 Die Geneigtheit zur Pflichterfüllung ist nach Hegel eine Tugend, diese setzt er dem Kantischen Tugendbegriff der sittlich guten Gesinnung, in dem nach Hegel »das Eine zum Herrschenden und das andere zum Beherrschten wird«,162 entgegen. Hegels Kritik am Sittengesetz Kants betrifft nicht seine Gültigkeit, sondern eher die Art seiner Ausführung. Die Unterordnung lebendiger Neigungen unter ein Gesetz der Pflicht, was nach Hegel die Lehre Kants darstellt, führt zur inneren Zerrissenheit des Menschen.163 Um seine Ganzheit wiederherzustellen, ist das Getrenntsein von Neigung und Gesetz in etwas, »was über diese Trennung erhaben ist, ein Sein, eine Modifikation des Lebens«164 aufzuheben. Die Fähigkeit zu dieser Erhabenheit hat Kant nur einem heiligen 158

Werke 1. 323. Hegel stützt seine Kritik der inneren Knechtschaft und die Forderung nach der Geneigtheit zur Pflichterfüllung auf Schillers Kant-Kritik in der Schrift Ueber Anmuth und Würde und seine Prämissen. Vgl. Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 20. Weimar. 1962. 282. 160 Werke 1. 326. 161 Werke 1. 301. 162 Werke 1. 326. 163 Werke 1. 324. 164 Ebd. 159

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Wesen zugesprochen, für Hegel dagegen findet man eine solche Struktur der Einigkeit in der Liebe, die sowohl im einzelnen Menschen als auch unter Menschen als Gefühl wirklich ist. Ein menschliches Wesen erlebt das Gefühl der Liebe als erfüllt, denn darin herrscht eine innere Einheit von Pflicht und Neigung, welche die freie, wirkliche Sittlichkeit charakterisiert. Gegen die Kantische Auffassung des Sittengesetzes erhebt Hegel auch den ontologischen Einwand, dass es ein Gesolltes, ein Objektives165 und damit ein Fremdes ist, das dem Subjekt gegenübersteht und als solches nur eine bloße Möglichkeit, getrennt vom einzelnen Subjekt als dem Wirklichen, in einer natürlichen Welt darstellt. Die Möglichkeit und die Wirklichkeit zur Erfüllung des Sittengesetzes sind entgegengesetzt, und ontologisch bleibt nach Hegel das Kantische Sittengesetz lediglich eine Möglichkeit. In seiner Logik deutet Hegel das Kantische Sittengesetz als das abstrakte Allgemeine im Gegensatz zur Besonderheit, wie er das existierende Subjekt oder die menschliche Natur bezeichnet. Ausgehend von diesen Bestimmungen gelangt Hegel zu einer nicht immanenten Kant-Kritik der Trennung von Allgemeinheit und Besonderheit. Diese gilt es in der Liebe, wo die Entgegensetzung nicht besteht, zu vereinen. Hegel geht von einer »Synthese des Subjekts und Objekts, in der das Gesetz (das Kant darum immer ein objektives nennt) seine Allgemeinheit und ebenso das Subjekt seine Besonderheit, – beide ihre Entgegensetzung verlieren« aus.166 In der Liebe als Einheit von Subjekt und Objekt sind ebenfalls die Besonderheit des Subjekts und die Allgemeinheit des Gesetzes vereinigt. Hegel deutet hier die logisch-ontologische Möglichkeit einer konkreten Allgemeinheit an, die er später fordert.167 In der konkreten Allgemeinheit sieht er die sittliche Subjektivität verwirklicht.

b) Die Liebe und das Prinzip des Eigentums Die Wendung Hegels vom Berner Kantianismus zu einem Hinausgehen über Kant und zum vereinigenden Begriff der Liebe ist von dem Einfluss Hölderlins bestimmt. Die Beziehung beider Denker ist in der Forschung ausführlich in vielerlei Hinsicht untersucht worden.168 Das, was für die Problemstellung

165

Objektiv bedeutet nach Hegel hier die Positivität des Gesollten. Werke 1. 326. 167 Vgl. Düsing, K.: Schellings und Hegels erste absolute Metaphysik (1801–1802). Zusammenfassende Vorlesungsnachschriften von I. P.V. Troxler. Herausgegeben, eingeleitet und mit Interpretationen versehen von K. Düsing. Köln. 1988. 112. 168 Vgl. u. a. Düsing, K.: Ästhetischer Platonismus bei Hölderlin und Hegel. In: Jamme, 166

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dieser Untersuchung hervorgehoben werden sollte, ist der gemeinsame Begriff der Liebe und die gemeinsame Orientierung an der griechischen Antike, insbesondere an Plato.169 In dem Gefühl der Liebe ist nach Hegel und Hölderlin die Einheit des wirklichen einzelnen Menschen mit dem möglichen allgemeinen Sittengesetz verwirklicht. Der Mensch empfindet die Liebe in der endlichen Reflexion als ein Gefühl, und dieses Gefühl kann nach Hegel und Hölderlin nicht mit logischen und ontologischen Begriffen zureichend erfasst werden. Die Liebe hat aber auch eine intersubjektive Dimension: In ihr sind »Verschiedene« vereinigt, sie bleiben zwar voneinander getrennt, jedoch sollen sie in der Liebe als Vereinigung gerade ihre Bestimmung, entgegengesetzt zu sein, verlieren.170 Für die endliche Reflexion, die an ontologische Begriffe und logische Gesetze gebunden bleibt, ist der Gedanke der Einheit von Möglichkeit und Wirklichkeit und von Allgemeinheit und Besonderheit im unbegreiflichen Gefühl der Liebe des sittlichen Subjekts unbestimmt. Hegel sucht deshalb die Liebe aus anderen, für die endliche Reflexion nachvollziehbaren Gesichtspunkten zu erhellen. Zunächst beschreibt er die Liebe als Vereinigung im Gefühl zweier Liebenden füreinander, wo die Liebe als »vollendete Einigkeit« die »Reflexion in völliger Objektlosigkeit aufhebt, dem Entgegengesetzten allen Charakter eines Fremden raubt und das Leben sich selbst ohne weiteren Mangel findet«.171 Die Liebe ist ein Gefühl, eine wahre Vereinigung, die nur unter Lebendigen stattfindet. Diese Vereinigung im Gefühl ist in der endlichen Reflexion trennbar, da zum einen die Lebendigen sterblich sind und zum anderen »an Macht sich gleich« sein sollen.172 Die Gleichheit bezieht Hegel auch auf die äußeren Umstände, auf die Eigentumsverhältnisse. Die Liebenden stehen »noch mit vielem Toten in Verbindung, jedem gehören viele Dinge zu (…) und so sind sie noch einer mannigfaltigen Entgegensetzung in dem mannigfaltigen Erwerb und Besitz von Eigentum und Rechten fähig«.173 Die Liebe strebt danach, diese Entgegensetzungen aufzuheben, denn »sie ist ein gegenseitiges Nehmen und Geben. … Julia in Ch./Pöggeler, O.(Hrsg.): Homburg vor der Höhe in der deutschen Geistesgeschichte: Studien zum Freundeskreis um Hegel und Hölderlin. Stuttgart.1981. 101–117; Pöggeler, O.: Philosophie im Schatten Hölderlins. In: Guzzoni, U./Rang, B./Siep, L. (Hrsg.): Der Idealismus und seine Gegenwart. Festschrift für Werner Marx. Hamburg. 1976. 361–377. Henrich, D.: Hegel im Kontext. Frankfurt. 9–40. Jamme, Ch.: »Ein ungelehrtes Buch«. Die philosophische Gemeinschaft zwischen Hölderlin und Hegel in Frankfurt 1797–1800. Bonn. 1983 (Hegel-Studien, Beiheft 23). 169 Vgl. Düsing, K.: Ästhetischer Platonismus bei Hölderlin und Hegel. 101–130. 170 Werke 1. 246. 171 Ebd. 172 Werke 1. 245. 173 Werke 1. 249.

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Romeo: je mehr ich gebe, desto mehr habe ich«.174 Die Vereinigung der Liebenden zerfällt dennoch in einen besitzenden, reicheren und einen ärmeren Liebenden, die in der endlichen Reflexion entgegengesetzt bleiben. Obwohl beide das Eigentum nutzen und gemeinsam in einer Gütergemeinschaft besitzen können, ist es dennoch nicht gemeinschaftlich, da immer ein gesondertes, verstecktes Recht auf Eigentum dem Reicheren beibehalten wird, nur wird davon »stillegeschwiegen«175 und der »Schein der völligen Aufhebung der Rechte«176 gewahrt. Hegel erkennt damit, dass das Eigentum als ein gesellschaftliches Problem nicht mehr von der Hand zu weisen ist, »und wenn der Besitz und Eigentum einen so wichtigen Teil des Menschen, seiner Sorgen und Gedanken ausmacht, so können auch Liebende sich nicht enthalten, auf diese Seite ihrer Verhältnisse zu reflektieren«.177 Das Eigentum ist für Hegel das Tote, das Trennende in der Liebe, das was er seinem ethischen Ideal der völligen Vereinigung von Entgegensetzungen gegenüberstellt. Für die endliche Reflexion, die an vieles Äußere, unter anderem an Eigentumsverhältnisse gebunden bleibt, ist die Liebe als Gefühl das Unfassbare und Unerkennbare im Menschen. Das unendliche Leben, in dem die Liebe alle Entgegensetzungen vereinigt, kann also nicht durch reines Denken erkannt werden. Wenn der endliche Verstand das unendliche Leben denkt, gerät er in Widersprüche der endlichen Bestimmungen untereinander, deren Gültigkeit damit aufgehoben wird.178 Die Begriffe der Vereinigung des Endlichen und Unendlichen und die Trennung derselben sind als von der Reflexion aufgestellte Bestimmungen zur Erfassung des absoluten Wahren ungeeignet. Sie weisen aber auf seine Präsenz hin. Das Absolute wird zwar vorausgesetzt, aber nicht erkannt, womit Hegel eine frühidealistische Position vertritt.179 Er begründet das Absolute metaphysisch und nennt es Sein, Leben oder auch Gott. Dieses Sein ist gleichbedeutend mit der Vereinigung, es ist absolut und unerkennbar, es kann nur geglaubt werden und bedarf keiner sinnlichen Überzeugung.180 Im metaphysisch interpretierten Sein gründet die Liebe, die für Hegel Prinzip aller Tugenden, welche dann ihre Modifikationen sind, und zugleich eine Manifestation des Einen Seins und Lebens ist. Diese Überlegungen Hegels sind in seinen Frankfurter Schriften theoretisch angedeutet, aber noch nicht entwickelt, da die Liebe ihm als ein 174 175 176 177 178 179 180

Werke 1. 248. Werke 1. 250. Werke 1. 249 f. Werke 1. 250. Vgl. Düsing, K. Schellings und Hegels erste absolute Metaphysik. 113. Ebd. Werke 1. 251.

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unbegreifliches Gefühl gilt und noch keine bleibende Gestalt hat. Vielmehr erblickt er die Gestalt der Liebe in der Person Jesu als Gottessohn, der die Liebe in sich trägt und sie zum beständigen Teil des Lebens anderer Menschen vermitteln will. Als objektivierte Liebe ist die Religion an die Objektwelt gebunden, d. h. auch an die endliche Reflexion. Die endliche Reflexion kann in Synthesis mit dem Gefühl der Liebe oder mit einer von Hegel nicht näher erläuterten intellektuellen Anschauung das unendliche Leben oder Sein begrifflich erfassen. Damit verleiht er gegen Ende seiner Frankfurter Phase um 1800 der Reflexion einen Wahrheitsgehalt und widmet sich verstärkt der Konzeption und Entwicklung einer systematischen Metaphysik als Untersuchung des Verhältnisses des Endlichen und Unendlichen. Dieses Verhältnis ist eine Entgegensetzung und gleichzeitige Bezogenheit der Entgegengesetzten aufeinander, das Hegel in einer höheren Einheit, im Absoluten begründet. Das Absolute ist für ihn nicht mehr wie für Hölderlin nur mystisch präsent, sondern vernünftig erkennbar. Damit überwindet Hegel nicht nur seine frühere, an Hölderlin orientierte Auffassung, sondern überschreitet auch die Erkenntnisrestriktion Kants über die Bedingungen der Möglichkeit der Metaphysik als Wissenschaft. In der oben geschilderten kritischen Auseinandersetzung mit Kants Ethik werden die Züge der Hegelschen Konzeption sichtbar. Es zeigt sich, dass Hegels Kritik an der Kantischen Ethik das gesamtethische Thema der Typenunterscheidung in Deontologie, Tugendlehre und Güterlehre betrifft.181 Während Kants Ethik dem Typus einer Ethik als Pflichtenlehre oder Deontologie zugeordnet werden kann, vertritt Hegel schon in seinen Frankfurter Schriften eine Ethik als Tugendlehre, wobei die Liebe zum Prinzip erhoben wird. Hegel erkennt die Notwendigkeit für eine Pflichtenlehre nicht an, weil aus dem Prinzip der Liebe keine Pflichten folgen können. Für Hegel ist die Kantische Ethik eine Ethik der Reinigung: Die Prinzipien menschlichen Handelns sollen von allem Vergänglichen und Veränderlichen frei werden. Hegels letztlich metaphysisch begründete Ethik weist dagegen einen Weg zur Vereinigung des Endlichen mit dem Unendlichen, die in der Harmonie von Neigung und Pflicht liegt. Das ethische Ideal ist eine Aufhebung der Entgegengesetzten in einer Harmonie der Liebe, die zugleich äußerlich und innerlich ist.182 181

Vgl. Siep, L.: Praktische Philosophie im Deutschen Idealismus. 1992. 188. Zu den Ethiktypen gehört neben der Pflichtenethik und der Tugendethik noch die Zwecke- oder Güterlehre. 182 Vgl. Cesa, C.: Hegel und die Kantische Moralität. In: Fricke, Ch. u. a (Hrsg.): Das Recht der Vernunft: Kant und Hegel über Denken, Erkennen und Handeln. Stuttgart-Bad Cannstatt. 1995. 295. Dass diese ethische Konzeption Hegels durchaus zukunftsgerichtet

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c) Analyse der überlieferten biographischen Notizen zu Hegels ökonomischen Auseinandersetzungen Mit der Änderung von Hegels ethischer Auffassung verändert sich seine Beurteilung der bürgerlichen Gesellschaft. In seiner Berner Phase kritisiert Hegel, dass das Sich-Zurückziehen der Bürger vom öffentlichen ins privatwirtschaftliche Leben der verderbende Grund für den Verfall der antiken Republiken gewesen ist. Damals hat sich Hegel stark an den antiken Lebensprinzipien orientiert und dementsprechend das Prinzip des Eigentums kritisiert. Demgegenüber scheint Hegel in der Frankfurter Phase die privatwirtschaftliche Sphäre des gesellschaftlichen Lebens, die Sphäre der Bedürfnisse und der Arbeit, die er in den späteren Schriften bürgerliche Gesellschaft nennt, als historische Gegebenheit, die nicht überwunden werden kann, hinzunehmen. Denn Hegel dringt immer tiefer in ihr Wesen und ihre Gesetzlichkeit ein. Damit scheint die idealisierte Antike verblasst zu sein,183 Hegel verabschiedet sich aber keineswegs endgültig vom Ideal der griechischen Polis, das ihm auch in seiner späteren Rechtsphilosophie ein Vorbild bleibt. Unter seiner veränderten ethischen Position, insbesondere seiner Abkehr von Kants strengem Sollen, stellt Hegel den ganzen Menschen mit seinen moralischen Gefühlen und sinnlichen Trieben in die Mitte der modernen Ökonomiegesellschaft und will jetzt untersuchen, wie beide Extreme, Individuum und Wirtschaft, miteinander versöhnt werden können. Die systematische Forderung seiner Konzeption zur Verwirklichung der Liebe als Prinzip der Ethik hat Hegel vermutlich veranlasst, sich ernsthafte und tiefergehende Einblicke in die Grundlagen und die Funktionsweise der Ökonomie anzueignen. Hegel ist damit der einzige bedeutende Philosoph unter den deutschen Idealisten, der die klassischen Ökonomen Englands studiert und die industrielle Revolution in England aufmerksam verfolgt hat. Die wirtschaftliche Entwicklung im damaligen England markiert den Beginn der weltweiten Industrialisierung und hat unsere Gegenwart stark geprägt. In dieser Hinsicht hat Hegel vorausschauend und sehr richtig den Beginn einer neuen geschichtlichen Epoche erkannt und sie ethisch in ihren Anfängen reflektiert. Der äußere Anlass für seine Beschäftigung mit der Ökonomie war, wie sein Biograph Rosenkranz berichtet, durch den Umzug nach Frankfurt bedingt:

ist, darauf haben E. und K. Düsing hingewiesen. Vgl. Düsing, E. und K.: Gesetz und Liebe. Untersuchungen zur Kantkritik und zum Ethik-Entwurf in Hegels Frankfurter Jugendschriften: In: Merker, B./Mohr, G./Quante, M. (Hrsg.): Subjektivität und Anerkennung. Paderborn. 2004. 14. 183 Vgl. auch Pöggeler, O.: Hegels praktische Philosophie in Frankfurt.106.

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»… Zugleich rückte er [in Frankfurt] dem unmittelbaren Schauplatz der politischen Entwicklung wieder näher und fand seine Teilnahme an derselben dadurch gesteigert. Für die Verhältnisse des Erwerbs und Besitzes fesselte ihn besonders England, teils wohl nach dem allgemeinen Zuge, den das vorige Jahrhundert für das Studium seiner Verfassung als einem Ideal empfand, teils auch wohl, weil in keinem Lande Europas die Formen des Erwerbs und des Eigentums sich so vielseitig als gerade in England ausgebildet haben und dieser Ausbildung in den persönlichen Beziehungen eine ebenso reiche Mannigfaltigkeit entspricht. Mit großer Spannung, wie seine Exzerpte aus englischen Zeitungen beweisen, folgte Hegel den Parlamentsverhandlungen über die Armentaxe als das Almosen, mit welchem die Adel- und Geldaristokratie das Ungestüm der subsistenzlosen Menge zu beschwichtigen hofften«.184 Drei Punkte des Interesses für England nennt hier K. Rosenkranz: erstens die englische Verfassung als Ideal, zweitens die Entwicklung der Eigentumsverhältnisse, welche in die menschlichen Beziehungen eine veränderte Mannigfaltigkeit bringen und drittens das Problem der staatlichen Behandlung der Armut. Für diese drei Aspekte werden im Folgenden entsprechende Stellen aus den Hegelschen Frankfurter Schriften gesucht, um einerseits mehr Licht in sein ökonomisches Denken zu bringen und andererseits die ethische Perspektive, die dahinter steht, zu explizieren. Zum ersten Aspekt, die englische Verfassung als Hegels Ideal, finden sich neben den zahlreichen biographisch-historischen Hinweisen, die insbesondere N. Waszek kenntnisreich kommentiert hat, weitere Textstellen in der Übersetzung der bereits kommentierten Cart-Schrift. Wie oben gezeigt, hat Hegel die englische Verfassung in bezug auf die Besteuerung durchaus kritisch beurteilt. Der zweite Aspekt von Hegels politischem Interesse an England betrifft die Entwicklung der Eigentumsverhältnisse, welche zugleich die menschlichen Beziehungen in ihrer Mannigfaltigkeit verändert. Dem Sinn dieses Hinweises von Rosenkranz entspricht eine Stelle aus einem der Fragmente in Der Geist des Christentums, in welchem Hegel die Erstarrung der religiösen Gebote in einem Gesetzesformalismus, der die Selbstbestimmung der Menschen ausschließt, kritisiert. In diesem Fragment fokussiert Hegel seinen Blick verstärkt auf Kants Ethik und unterstellt ihr, die Erstarrung der moralischen Gesetze nur teilweise weggenommen zu haben, wie bereits oben gezeigt wurde. Hegels Kritik richtet sich also gegen alles Lebensfremde, was aus religiösen oder moralischen Motiven von den Menschen gefordert wird. Das trifft in verstärktem Maße auf die »Forderung von Abwertung der Lebenssorgen und Verachtung der Reichtümer« zu. Denn »es ist eine Litanei, 184

Rosenkranz, K.: G. F. W. Hegel’s Leben. 85.

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die nur in Predigten oder in Reimen verziehen wird, denn eine solche Forderung hat keine Wahrheit für uns. Das Schicksal des Eigentums ist uns zu mächtig geworden, als dass Reflexionen darüber erträglich, seine Trennung von uns denkbar wäre. Aber so viel ist doch einzusehen, dass der Besitz von Reichtum, mit allen den Rechten sowie mit allen Sorgen, die damit zusammenhängen, Bestimmtheiten in den Menschen bringt, deren Schranken den Tugenden ihre Grenze setzten, innerhalb derer wohl für Pflichten und Tugenden Raum ist, die aber kein Ganzes, kein vollständiges Leben zulassen, weil es an Objekte gebunden [ist], Bedingungen seiner außer sich selbst hat, weil dem Leben noch etwas als eigen zugegeben ist, was doch nie sein Eigentum sein kann«.185 Die nähere Betrachtung des Schicksalsbegriffs gibt einen wichtigen Aufschluss über Hegels neue ethische Betrachtung des Eigentums. Das Schicksal bedeutet ihm im Kontext des Verbrechens, aber auch des Handelns in einem beschränkten Wirkungskreis, wie das menschliche Handeln immer ist, »das Bewußtsein seiner selbst (…) als eines Ganzen, dies Bewusstsein des Ganzen reflektiert, objektiviert; da dies Ganze ein Lebendiges ist, das sich verletzt hat, so kann es wieder zu seinem Leben, zu der Liebe zurückkehren«.186 Derjenige, der ein Verbrechen gegenüber einem anderen Menschen begeht oder individuell beschränkt gegen eine »Macht des Lebens«187 handelt, verletzt das Leben und kann nur in der Liebe als Vergebung das Schicksal, das ihm seine Ganzheitlichkeit wiedergibt, versöhnen.188 Denn eine Handlung könne nicht aufgehoben, sondern nur verziehen werden, und erst darauf könne die reine Moralität aufbauen. In dieser ethischen Perspektive ist das Zitat vom Schicksal des Eigentums zu sehen. Es ist nicht das bloße historische Anerkennen der industriellen Entwicklung und der gestiegenen Rolle des Eigentums. Vielmehr ist das Leben der Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft nicht mehr das ganzheitliche und völlig selbstständige Handeln und Entscheiden der freien Polisbürger. Jetzt ist ihr Leben an äußere Objekte und Bedingungen geknüpft, denen sie ausgeliefert sind und die sie nicht beeinflussen können. Das einzelne Leben ist nicht mehr eine vollständige, ganzheitliche Harmonie mit dem gemeinschaftlichen Leben, aus der es seinen Sinn früher fand. In der 185

Werke 1. 333 f. Werke 1. 306. 187 Vgl. Düsing, E. und K.: Gesetz und Liebe. 9. Interessant ist in diesem Aufsatz auch der Hinweis auf Sophokles’ Antigone im Zusammenhang mit dem Begriff des Schicksals. Hegel deutet die tragische Schuld an, die sich jemand, der im beschränkten Kreise handelt (Familienpietät von Antigone) und dabei andere sittliche Bestimmtheit des Lebens (staatliches Verbot durch Kreon) verletzt. 188 Vgl. Werke 1. 306. (Grundkonzept zum Geist des Christentums N 385–98) 186

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modernen Zeit muss dem wirklichen Leben eine Sphäre hinzugefügt werden, welche das Ideal der antiken Polis-Harmonie nicht mehr reflektiert. Hegels Anspruch, den Menschen als eine sinnlich-geistige Ganzheit zu betrachten, führt ihn zu einer bürgerlichen Ökonomiegesellschaft, wo diese Ganzheit bestehen muss. Deshalb sieht er die Notwendigkeit, die Prinzipien des Eigentums und der Ökonomie nicht isoliert, sondern im Zusammenhang mit den Prinzipien der sittlichen Gemeinschaft zu betrachten. Er erblickt gleichwohl auch die Notwendigkeit, die Ökonomie dem sittlichen Ganzen unterzuordnen. Das Unterordnungsverhältnis geht bei Hegel mit einer ethischen Kritik einher, die von der Überlegenheit des ethischen Staates ausgeht. Sie lautet: Der Reichtum in der bürgerlichen Gesellschaft ist nicht gerecht verteilt. Er ist auf wenige Bürger konzentriert, damit bringt er sowohl in die Ganzheit des individuellen als auch des gesellschaftlichen Lebens eine »Verletzung«, eine Ungleichheit unter die Menschen, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährdet und sich gegen die Liebe als Prinzip der Tugenden stellt. Das Recht auf Eigentum führt kein moralisches Moment mit sich, sondern ist lediglich als ein Recht unter anderen Rechten zu verstehen. Das Einzige, was an diesem Recht gut sein kann, ist seine rechtmäßige Durchsetzung gegenüber anderen. Die Anerkennung und Einhaltung des allgemein geltenden Rechts in der Wirtschaft ist nach Hegel eine Bürgertugend, die Rechtschaffenheit. Dieses erste Zugeständnis einer Tugend in der Sphäre der Wirtschaft nimmt er sogleich zurück. Hegel erklärt, dass die Tugend der Rechtschaffenheit die anderen Tugenden, welche die Liebe zum Prinzip haben, notwendig ausschließt. Denn dann würde man das endliche Eigentum und die unendliche Liebe verbinden, wodurch der Mensch einem »Zweiherrendienst« ausgeliefert wird, was nicht sein darf.189 Der Zweiherrendienst ist nur einem menschlichen Wesen möglich, das nicht mehr eine sinnlich-geistige Einheit bildet, sondern zwischen Pflicht und Neigung und moralischem Denken und ökonomischem Handeln zerfällt. Ohne Wirkung und Kraft bleibt nach Hegel auch die religiöse Forderung des Stifters der christlichen Religion an seine Jünger, dem Reichtum nicht größte Bedeutung beizumessen und sich sogar über die ganze Sphäre des Eigentums zu erheben.190 Durch die Berücksichtigung der Sphäre des Eigentums in seinen Predigten wollte Jesus dem wirtschaftlichen Bereich nicht etwa einen eigenen Platz einräumen, sondern das »Objekt der Pflichten, das Wesen der Sphäre der Pflichten aufzeigen, um das der Liebe entgegengesetzte

189 190

Werke 1. 334. (Geist des Christentums) Ebd. 335

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Gebiet zu zerstören«.191 Diese Zerstörung zeigt sich nach Hegel darin, dass Jesus sich zur Gerechtigkeit in den Eigentumsverhältnissen nicht äußern will. Jesus ziehe lediglich die Parabel heran, dass man die auf Erden gesammelten Schätze nach dem Tod nicht mitnehmen könne. Diese Parabel beschreibt für Hegel nicht die erfolgreiche Erhebung und Ausklammerung der Eigentumsverhältnisse in der Gesellschaft, sondern gerade die Schwäche des Menschen, sich über das Eigentum erheben zu können, weil er »nicht stark genug ist, sie ganz zu ertragen«.192 Vielmehr teilt der Mensch diese Schwäche mit den anderen, und wenn er aus moralischen Gründen versucht, sie zu überwinden, dann hat er seine Schwäche für Eigentum nicht überwunden, sondern in Gedanken unterjocht. Solche Knechtschaft zerstört nicht nur die harmonische sinnlich-geistige Ganzheit des Menschen, sie ist der Liebe als Tugend nicht gewachsen.193 Deshalb kann die Religion nicht solche überzogenen Forderungen in Bezug auf das Eigentum an die Menschen herantragen, sondern lediglich eine besinnliche »Vereinigung der Menschen im Bitten, Geben und Nehmen«, so wie in der Liebe, einsichtig machen.194 Vom ethischen Standpunkt der sinnlich-geistigen Ganzheit des Menschen her verändert Hegel seine Beziehung zur christlichen Religion und zur Kantischen Ethik im Vergleich zu seiner früheren Berner Phase. Während in Bern die institutionalisierte, positive, christliche Religion diejenige war, welche die immanente Moralität im Menschen missachtete, ist das jetzt die Kantische Ethik, welche die Ganzheit des Menschen in Pflicht und Neigung zerreißt. Trotz der bleibenden Kritik an der Positivität, wie oben ausgeführt wurde, erfährt die christliche Religion eine Aufwertung: »Hat der Staat das Prinzip des Eigentums, so ist seinem Gesetze das Gesetz der Kirche zuwider. Sein Gesetz betrifft durchaus bestimmte Rechte, den Menschen sehr unvollständig als einen habenden gedacht, dahingegen in der Kirche der Mensch ein Ganzes ist und der Zweck der Kirche als der sichtbaren, die handelt und Anstalten macht, dahin geht, ihm das Gefühl dieser Ganzheit zu geben und zu erhalten. In dem Geist der Kirche handelnd, handelt der Mensch als Ganzes, nicht nur gegen einzelne Staatsgesetze, sondern gegen den ganzen Geist derselben, gegen ihr Ganzes. Entweder ist es dem Bürger nicht mit seinem Verhältnis zum Staat oder nicht mit dem zur Kirche ernst, wenn er in beiden ruhig bleiben kann. (…) Ist aber das Prinzip des Staates ein vollständiges Ganzes, so kann Kirche und Staat unmöglich verschieden sein. Was diesem das

191 192 193 194

Ebd. Werke 1. 335. Vgl. Werke 1. 335. Werke 1. 335 f. auch 248.

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Gedachte, Herrschende ist, das ist jener ebendasselbe Ganze als ein lebendiges, von der Phantasie dargestelltes. Das Ganze der Kirche ist nur dann ein Fragment, wenn der Mensch im ganzen in einen besonderen Staat- und besonderen Kirchenmenschen zertrümmert ist«.195 In dieser Notiz Hegels steckt eine Kritik an Kants Vorstellung, dass ein moralisches Wesen in Frieden mit seiner Gesinnung sowohl in der Kirche als auch im Staat ruhig bleiben kann. Viel wichtiger für die Problemstellung dieser Untersuchung ist jedoch die Stellung der bürgerlichen Gesellschaft hinter der christlichen Kirche in ihren Funktionen als Sittlichkeitsstifter unter den Menschen. Hegels Argument lautet: Die bürgerliche Gesellschaft betrachtet den Menschen nur einseitig und zwar als »Eigentum habenden«. Der ethische Staat, der diese Einseitigkeit aufhebt und den Menschen in seiner sinnlich-geistigen Ganzheit erhält, ist Hegels Vorbild sowohl in Bern als auch in Frankfurt. In Bern identifiziert ihn Hegel mit der vergangenen griechischen Polis, in Frankfurt dagegen ist dieses Ideal nicht so hervortretend. Dafür wertet er die Religion als einen Weg, die sinnlich-geistige Ganzheit des Menschen wiederherzustellen, auf. Das ist jedoch nicht die christliche Religion, sondern die schöne Religion, welche sich an der antiken griechischen Kunst- Religion orientiert und die sich Hegel unter dem Einfluss von Hölderlin vorstellt.

d) Das Problem der wirtschaftlichen Armut Der dritte Aspekt von Hegels politischem Interesse an England, worüber Rosenkranz im oben zitierten Text berichtet hat, betrifft das Problem der Armut, das Hegel während seiner ganzen philosophischen Entwicklung begleitet. Eine große Rolle für die Wichtigkeit, die Hegel dem Problem der Armut in dieser Zeit beimisst, hat gewiss auch die Französische Revolution als Ereignis gespielt. Wir wissen, dass er dieses Ereignis näher betrachtet hat, und ihm ist sicherlich nicht entgangen, dass die Revolution durch jene Armenarmee getrieben war, welche die Aristokratie nicht mehr unter Kontrolle hatte. Während der industriellen Revolution in England wurde über das Problem der Armut debattiert und Hegel hat diese Debatten verfolgt.196 In seiner fragmentarisch erhaltenen Kommentierung hat Hegel vermutlich eine Lösung des Problems der Armut als sozial-ökonomisches Phänomen gesucht. Bereits in Bern hat er eingesehen, dass die Lösung nicht einzelnen, wohltätigen Menschen übertragen werden kann, sie ist vielmehr eine drin195 196

Werke 1. 444. Rosenkranz, K.: G. W. F. Hegel’s Leben. 85.

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gende Aufgabe des Staates. Der Staat muss die Armen unterstützen und nicht den Bürgern die Pflicht der Wohltätigkeit auferlegen, denn sie ist nach Hegel eine Pflicht an die Menschheit überhaupt.197 In seinem Berner Fragment Man mag die widersprechendsten Betrachtungen … sieht Hegel im Anschluss an Kant die Wohltätigkeit als eine persönliche Pflicht, welche aber nicht Gegenstand der bürgerlichen Verfassung sein darf. Die Verfassung regelt nach Hegel lediglich den Schutz des Lebens und des Eigentums seiner Bürger.198 In ihr kommen nur Pflichten in Betracht, die dem Recht eines anderen entspringen. Der Staat kann von seinen Bürgern nur solche Pflichten mit Zwang fordern.199 Die bürgerliche Verfassung regelt nicht die weiteren Pflichten gegenüber den anderen Mitbürgern, die nicht aus ihren Rechten im Staat gefolgert werden, wie z. B. die Wohltätigkeit. Überließe der Staat die notwendige Unterstützung der Armen den freiwilligen Gaben Einzelner, würde er so ihr Auskommen der Zufälligkeit überlassen. Diese Aufgabe sollte nach Hegel der Staat in eigener Regie übernehmen, indem er die Armenanstalten teils »schützt, teils das üppige Auswachsen eines solchen Teils, wodurch er andere notwendige [Teile] unterdrücken würde, beschränkt«.200 Der Staat dürfe jedoch nicht wie eine »Maschine, mit einer einzigen Feder (…), die allem übrigen unendlichen Räderwerk die Bewegung mitteilt« alles, auch die Gaben für Arme, berechnen, genehmigen und kontrollieren. Vielmehr hält Hegel ein Volk für glücklich, »dem der Staat in dem untergeordneteren allgemeinen Tun viel freie Hand lässt, als auch eine Staatsgewalt für unendlich stark, die durch den freieren und unpedantischen Geist ihres Volks unterstützt werden kann.«201 Die zitierte Stelle findet sich in dem Teil »Begriff des Staats« in Hegels Verfassungsschrift, die er vermutlich gegen Ende seiner Frankfurter Phase geschrieben hat. In dem oben angeführten Zitat wendet sich Hegel gegen die Vorstellung des Staates als ein Maschinenräderwerk, von dem alle »Einrichtungen, die das Wesen einer Gesellschaft mit sich bringt, ausgehen, reguliert, befohlen, beaufsichtigt, geleitet werden«.202 Namentlich nennt er die Bereiche Rechtspflege, Erziehung, Unterstützung der Armut. Die Sphäre der Bedürfnisse, welche die bürgerliche Gesellschaft ausmacht, wird nicht namentlich erwähnt. Das, was Hegel hier fordert, ist, dass »die oberste Staatsgewalt so viel als möglich der eigenen Besorgung der Bürger [überlässt]«.203 197 198 199 200 201 202 203

GW 1. 307. Werke 1. 149. GW 1. 306. Werke 1. 481. Werke 1. 485. Werke 1. 481. Werke 1. 484.

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Es ist davon auszugehen, dass Hegel diese Handlungsfreiheit auch für die Sphäre der Bedürfnisse, also für die ökonomischen Rahmenbedingungen, fordert. Diese Vermutung wird von einem Zitat aus einem späteren Werk Hegels gestützt, wo es dann heißt, ein Eingriff des Staates in die Sphäre der Arbeit und der Bedürfnisse »muss so unscheinbar als möglich seyn« und für die Menschen, die sich darin selbst nicht helfen können und in Armut geraten, nichts retten soll, »was nicht zu retten ist, sondern die leidenden Klassen anders beschäftigen«204. Das heißt, nicht durch Almosen, sondern durch Arbeit soll die Regierung die in der industriellen Revolution untergegangenen Menschen retten. Darin stecken mehrere Probleme, worauf später noch näher eingegangen wird. Hier soll lediglich der Hinweis gegeben werden, dass Hegel vermutlich die wirtschaftliche Handlungsfreiheit, und damit die ökonomischen Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft, akzeptiert und, seit dem Anfang seiner Auseinandersetzung damit, Sorge um ihre Konsequenzen für die »subsistenzlosen«, »leidenden Klassen« trägt und ihre Stellung darin ethisch thematisiert.

e) Auswertung der biographischen Notizen zu Hegels Hinwendung zur Politischen Ökonomie von James Steuart Die Argumentation gegen das Streben nur nach Reichtum und Eigentum, welches auf der anderen Seite die Armut zur Folge hat, richtet sich gegen die bürgerliche Ökonomiegesellschaft. Die Einschätzung der bürgerlichen Gesellschaft als die finanzielle Macht, welche die Gleichheit und Freiheit des Volkes bedroht, die Armut als Konsequenz in Kauf nimmt, in die menschlichen Beziehungen eingreift und bereits ein unaufhaltbares, schicksalhaftes Ausmaß angenommen hat, ist jedoch zu grob. Sie bedarf, soll sie richtig in eine philosophisch-ethische Kritik aufgenommen werden, einer näheren Differenzierung. Das hat Hegel vermutlich dazu veranlasst, die moderne politische Ökonomie aus England zu studieren. Es wird von einer Schule der Politischen Ökonomie in Schottland gesprochen, die auch als Schottische Aufklärung bezeichnet wird, zu deren prominentesten Vertretern D. Hume, J. Steuart, A. Ferguson und A. Smith zählen. Vor dem Hintergrund der gemeinsamen Wurzeln erscheint die isolierte Stilisierung von James Steuart als Merkantilist, die damals und gegenwärtig sehr verbreitet ist, unangemessen.205 204

Vgl. GW 8. 244 f. (Jenaer Systementwürfe III (1805/06). Vgl. Waszek, N.: Hegels Lehre von der ›bürgerlichen Gesellschaft‹ und die politische Ökonomie der schottischen Aufklärung. 38. 205

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Vielmehr gehörten James Steuart und Adam Smith, wie Waszek pointiert sagt, zu »einem Kontext, zu einer Debatte oder Gesprächskonstellation«.206 In dieser Debatte vertreten A. Smith und J. Steuart offenbar verschiedene Positionen.207 Hegel hat beide Theoretiker der Politischen Ökonomie gekannt. Während er sich in seinen Jenaer Schriften auf A. Smith namentlich bezieht, erwähnt er J. Steuart gar nicht. Hegels Beziehung zu J. Steuart ist daher bis heute unklar und umstritten.208 Während die heutige Forschung damit beschäftigt ist, in der Philosophie Hegels mögliche inhaltliche Bezüge zu Steuarts Theorie nachzuweisen, kann entsprechend der Problemstellung dieser Arbeit ein ethischer Bezugspunkt beider Denker expliziert werden. Vorher aber erscheint ein kurzer Exkurs über Steuarts Politische Ökonomie, die Hegel kannte und kommentierte, erforderlich. Zentraler Begriff in Steuarts Hauptwerk An Inquiry into the Principles of Political Oeconomy209 ist die Selbstbezüglichkeit oder das Eigeninteresse eines jeden Akteurs im wirtschaftlichen Geschehen, die der Staat instrumentalisiert, um die Menschen dadurch regierbar zu machen. Der selbstsüchtige Egoismus eines Familienvaters wird durch die Bedürfnisse seiner Kinder beschränkt. Betrachtet er dann die Familie als sein Selbst, dann handelt er nicht egoistisch, sondern familienegoistisch. Solche Verhältnisse finden sich in anderen sozialen Gebilden, wie z. B. im Staat210: »The subordination of children to their parents, and of servant to their masters, seems to be the most rational origin of society and government. The first of these is natural, and follows as the unavoidable consequence of an entire dependence: the second is political, and may very naturally take place as to those who can206

Vgl. Ebd. Beide Autoren beziehen sich öffentlich nicht aufeinander, es findet sich lediglich eine Briefstelle im Nachlass von A. Smith, dass er Steuarts falsche Prinzipien widerlegt habe. Vgl. Smith, A.: Glasgow Edition of the Works and Correspondence of Adam Smith. Vol. 4. Ed. E.C. Mossner and I.S. Ross, Oxford 1987.164. 208 In der neuesten Literatur vgl. Caboret, D.: The market economy and social classes in James Steuart and G. W. F. Hegel. In: The Economics of James Steuart. Ed. R. Tortajada. Routledge Studies in the History of Economics. London and New York. 1999. 57 ff. 209 Vgl. Steuart, J.: Inquiry into the Principles of Political Oeconomy. Ed. with an Introduction by A. Skinner. Edinburgh and London. 1966. 210 Auch Rousseau hat ein solches Verhältnis zwischen Staat und Familie untersucht und ist zum Ergebnis gekommen, dass diesen beiden Sphären, die bei Rousseau Volkswirtschaft und Privatwirtschaft heißen, nur die Verpflichtung gemeinsam ist, den Staat oder die Familie glücklich zu machen, nicht aber die Wege zu deren Erreichung. Im Staat gibt es die Verhaltensregeln nicht, welche für die Familie charakteristisch sind: die physische Überlegenheit des Vaters, seine Befehlspflicht in der Familie und die Unterhaltspflicht gegenüber den Bediensteten, die ihm dienen. Vgl. Rousseau, J.-J.: Abhandlung über die Politische Ökonomie.10 ff. 207

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not otherwise procure subsistence. This last species of subordination may, I think, have taken place, the moment man became obliged to labour for subsistence, but no sooner«.211 Diese Unterordnung in der Familie kann auf soziale Gruppen oder auch auf eine größere Gesellschaft übertragen werden, so Steuart. Die Ausbildung von untergeordneten, abhängigen Klassen in der Gesellschaft begründet er mit wirtschaftlichen Argumenten – wer nicht anders sein Auskommen beschaffen kann (servant, the industrious), geht in die vollständige Abhängigkeit von anderen (master, the rich), die mit den Überschüssen seine Arbeit entlohnen. »I think I may decide, that so far as the subordination is in proportion to the dependence, so far it is reasonable and just«.212 Beide, servant und master, sind bei ihrem wirtschaftlichen Auskommen auf eine übergeordnete Instanz angewiesen, die einerseits die Gerechtigkeit der Entlohnung und andererseits die Sicherung des Eigentums garantiert. Diese Instanz ist dann der politische Vater der Gemeinschaft oder wie Steuart sagt: »The statesman (this is a general term to signify the legislature and supreme power, according to the governement)«.213 Er repräsentiert die Gemeinschaft, deren Mitglieder selbstsüchtig, wirtschaftlich handeln und sorgt für ihren Wohlstand, indem er nützliche Institutionen und wirtschaftliche Operationen in Abhängigkeit von den Sitten und dem Lebensstil der Menschen einführt.214 Dazu gibt ihm nach Steuart die Politische Ökonomie die nötigen Kenntnisse, indem sie verschiedene Modelle aufstellt, wie für alle ein Unterhalt gesichert werden kann. Die praktische Aufgabe der Politischen Ökonomie sieht Steuart hauptsächlich darin, den »statesman« anzuleiten, die Beschäftigung seiner Untertanen in einem Geflecht von gegenseitigen Beziehungen und Abhängigkeiten so zu organisieren, dass sie durch ihre besonderen Vorteile veranlasst werden, für die Bedürfnisse der anderen zu arbeiten.215 Diese gegenseitige Abhängigkeit ist auch das einzige Mittel, das eine verbindende Funktion in einer Gesellschaft von selbstsüchtigen Individuen haben kann, von welchen Steuarts Ökonomie ausgeht. Deshalb muss der »statesman«, will er das Ganze regieren, seine Untertanen in Arbeit und Abhängigkeitsverhältnisse setzen: »Men were then forced to labor because they were slaves to others; men are now forced to labor because they are slaves to their own wants«.216

211 212 213 214 215 216

Steuart, J.: Inquiry into the Principles of Political Oeconomy. Bd. 1. 35. Ebd. 208. Ebd. 16. Vgl. ebd. Vgl. ebd. 17. Ebd. 51.

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Der »statesman« handelt tugendhaft, indem er wohlwollend dafür sorgt, dass alle Mitglieder ihre Beschäftigung und Auskommen haben und sich untereinander gerecht behandeln. Für ihn gilt, dass die Steigerung des eigenen Wohls das gemeinsame Wohl ebenso steigert. Wollten die Mitglieder ihre Pflicht in der Gesellschaft erfüllen, dann müssen sie sich nicht für das Gemeinwesen einsetzen, sondern lediglich ihr eigenes Wohl steigern. Moral und Politik fallen auf diese Weise nach Steuart in einer Wirtschaftsordnung zusammen.217 Die Aufgabe des Staatsmannes sei, eine geeignete Wirtschaftsordnung zu finden und seine Untertanen so zu lenken, dass sie darin ihren Vorteil sehen und so zu der Ausführung seines Plans beitragen. Da der »statesman« in seiner Macht eingeschränkt ist, ist die Gemeinschaft eine freie Gemeinschaft, in der Öffentliches und Privates vermittels der Ökonomie vereinbart werden. Die Freiheit bedeutet für Steuart die Erlaubnis, alles zu tun, was durch Gesetze nicht verboten ist, um das Wohl der Gemeinschaft zu steigern. Das Wohl der Gemeinschaft ist nicht nur durch die geschickte Lenkung von Vorteilsstreben der Untertanen durch den Staatsmann gesichert, sondern hängt für Steuart auch maßgeblich von der demographischen Entwicklung der Bevölkerung (die Anzahl der Menschen muss in Proportion zum Vorrat an Lebensmitteln stehen218), vom Betreiben des Handels und von der Außenpolitik ab.219 Steuart setzt also in seiner Konzeption auf das wohlwollende Koordinieren und Dirigieren der Wirtschaftsakteure durch den »statesman« als Garanten der Tugend, wie er sie versteht. Daran knüpft sein Zeitgenosse Adam Smith eine Kritik an und sieht in einem solchen Garanten, der so rigoristisch die Handlungen, Wünsche und Bedürfnisse der Menschen bestimmen soll, eine Gefahr für die Freiheit und Selbstständigkeit der Menschen. Vermutlich hat auch Hegel in seinem, heute nicht mehr erhaltenen Kommentar in dieser Richtung argumentiert und Steuarts Instrumentalisierung des Menschen als selbstsüchtige Marionette, die nur nach ihrem Wohlstand strebt, kritisiert. Vermutlich hat Hegel mit Smith die Freiheit und die Selbstständigkeit des Menschen, in einem von Steuarts »statesman« nach den Prinzipien der Ökonomie geleiteten Staat, in Gefahr gesehen. Diese Vermutungen werden von den biographischen Notizen von K. Rosenkranz bestätigt, welche die wesentlichen Punkte von Hegels Argumentation zusam217

Für Hegel fallen die Politik und die Ethik ebenfalls zusammen, aber nicht in einer Wirtschaftsordnung, sondern in der metaphysisch verstandenen Totalität des sittlichen Ganzen, worüber unten noch die Rede sein wird. 218 Vgl. Steuart, J.: Inquiry into the Principles of Political Oeconomy. Ed. with an Introduction by A. Skinner. 31 ff. 219 Vgl. die nähere Untersuchung bei Schmitz, H.- G.: Das Mandeville-Dilemma. Untersuchungen zum Verhältnis von Politik und Moral. Köln. 1997. 96.

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menfassen: »Alle Gedanken Hegel’s über das Wesen der bürgerlichen Gesellschaft, über Bedürfnis und Arbeit, über Theilung der Arbeit und Vermögen der Stände, Armenwesen und Polizei, Steuern u.s.w. concentrierten sich endlich in einem glossierenden Commentar, zur Deutschen Uebersetzung von Stewart’s Staatswissenschaft, den er vom 19. Februar bis 16. Mai 1799 schrieb und der noch vollständig erhalten ist. Es kommen darin viel großartige Blicke in Politik und Geschichte, viel feine Bemerkungen vor. Stewart war noch ein Anhänger des Mercantilsystems. Mit edlem Pathos, mit einer Fülle interessanter Beispiele bekämpfte Hegel das Todte desselben, indem er inmitten von Concurrenz und im Mechanismus der Arbeit wie des Verkehrs das Gemüt des Menschen zu retten strebte«.220 Diese biographische Notiz von Rosenkranz wurde in der Forschung verschieden gedeutet. Während Lukács deren Aussagekraft bezweifelt, weil er dem Biographen keine ökonomischen Kenntnisse unterstellt, geht Waszek davon aus, dass Rosenkranz Hegels eigene Termini dabei benutzt.221 Gegen Lukács lassen sich folgende Argumente hervorbringen: Rosenkranz erläutert in einem öffentlichen Brief u. a. Hegels Behandlung der Nationalökonomie, noch bevor ihm der Steuart-Kommentar vorlag.222 Insoweit ist davon auszugehen, dass ihm bei der Lektüre von Hegels Steuart-Kommentar Hegels Behandlung der Ökonomie nicht fremd war. Hierzu sei noch ein Hinweis von Waszek angeführt: Rosenkranz lebte im liberalen Königsberg und stand in enger Beziehung zu einem Staatsminister, der sich für die Besserung der Lage des Volkes und der Arbeiter eingesetzt haben soll. Deshalb schließt Waszek, dass Rosenkranz für die sozial-ökonomischen Fragen der Zeit nicht blind gewesen sein kann.223 Daraus und aufgrund der Tatsache, dass Rosenkranz oft Hegels eigene Formulierungen benutzt hat, schließt Waszek auf die gewagte These, es seien Hegels eigene Worte, die Rosenkranz bei der Beschreibung von Hegels Kommentierung des Werks vom englischen Nationalökonomen Steuart zitiert.224 Es handelt sich dabei vor allem um die Worte Gemüt, Mechanismus und Verkehr. 220

Rosenkranz, K.: G. W. F. Hegel’s Leben. 86. (Werke 1, 633.) Lukács, G.: Der junge Hegel. Bd. 1. 276. Vgl. Waszek, N.: »Das Gemüth des Menschen retten«. 282. 222 Vgl. Rosenkranz, K.: Hegel. Sendschreiben an den Hofrath und Professor der Philosophie Herrn Dr. Carl Friedrich Bachmann in Jena, Königsberg. 1834. 111. Die Veröffentlichung dieses Briefs ist auf das Jahr 1834 datiert. Dass er die Manuskripte Hegels erst seit 1839 besaß, ist aus seinem Brief an Hegels Witwe vom 29.06.1939 zu entnehmen, wo sich Rosenkranz für die Ernennung zum Hegel-Biographen bedankt. Vgl. Butzlaff, J. (Hrsg.): Karl Rosenkranz: Briefe von 1827 bis 1850. Berlin, New York 1994. 189. 223 Vgl. Waszek, N.: »Das Gemüth des Menschen retten«. 287. 224 Ebd. 282. 221Vgl.

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Der Gebrauch des Wortes Gemüt in der biographischen Notiz hat eine umfangreiche Diskussion ausgelöst und wurde für viele Forscher der eigentliche Schlüssel für die Interpretation des Hegelschen Standpunktes gegenüber Steuart und der politischen Ökonomie.225 Hegel gebraucht das Wort Gemüth in seinen Frankfurter Fragmenten im Sinne von Seele, von einer sinnlich-geistigen Ganzheit des Menschen, in der alle seine Kräfte und Vermögen vereinigt sind: »Kühnheit, die Zuversicht der Entscheidung über die Fülle des Lebens, den Reichtum der Liebe liegt in dem Gefühle desjenigen, der die ganze Menschennatur in sich trägt; ein solches Gemüth …«.226 Der sinnlich-geistigen Natur des Menschen steht eine Fülle von Handlungsmöglichkeiten gegenüber, und er entscheidet nach dem Gefühl der Liebe, die für Hegel einen ethischen Charakter hat.227 Die Ganzheit der menschlichen Natur, die für ihn in der Kantischen Lehre, aber auch in der positiven Religion zerrissen wird, wird jetzt auch von dem Mechanismus der Wirtschaft bedroht. In der arbeitsteiligen Ökonomiegesellschaft, wo Güter und Arbeit bloß mechanisch ausgetauscht werden, entsteht auch eine mechanische, »tote« Beziehung zu der eigenen Arbeit, zu den Lebensgütern und zur Gemeinschaft. Die Gleichsetzung von mechanisch und tot findet sich oft in Hegels theologischen Schriften. Er bezieht das Tote, das bloß Mechanische auf die dem Menschen fremden, seine sinnlich-emotionale Natur zerreißenden religiösen Gebote. Diese »Positivität« oder auch die Verdinglichung der ganzen menschlichen Individualität, die besonders in Frankfurt für Hegel den Ausgangspunkt bildet, bezieht er vermutlich kritisch auf Steuarts Ökonomie, und insbesondere auf seinen Absolutismus des Gewinnstrebens und der Selbstsucht, welcher die mannigfaltigen menschlichen Beziehungen auf wirtschaftliche Abhängigkeiten reduziert und die Menschen zu politischen Marionetten, zu Sklaven ihrer eigenen Bedürfnisse herabstuft. Nicht mehr sollen die Freude an der eigenen Arbeit und die Vervollkommnung des Geschicks das Wohl des einfachen Menschen steigern, wie in der antiken Welt, son225

G. Lukács argumentiert, durch diesen Wortgebrauch wollte Rosenkranz Hegel in die Nähe der Romantiker stellen, und weist nach, dass dies eine Rückständigkeit bedeutet, die man Hegel in seiner ökonomischen Auffassung nicht unterstellen kann. Vgl. Lukács, G.: Der junge Hegel. Bd 1. Frankfurt. 1973. 279. Andere Forscher haben Bezüge zwischen dem Gebrauch des Wortes Gemüth in diesem die Ökonomie betreffenden Kontext und dem späteren Gebrauch in Hegels Rechtsphilosophie hergestellt. So z. B. erwähnt Chamley als Parallelstelle § 359 der Rechtsphilosophie. Vgl. Chamley, P.: Economie politique et Philosophie chez Steuart et Hegel. 142 226 Werke 1. 355. Vgl. dazu auch Pöggeler, O.: Hegels praktische Philosophie in Frankfurt. 96 f. 227 In Bezug auf Kants Ethik sieht Hegel die Gefahr, dass das Gemüt zwischen Pflicht und Neigung zerrissen bleibt, wie oben bereits erläutert wurde.

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dern seine nach immer mehr strebende Selbstsucht, die durch ihm fremde, positive, von ihm nicht mehr überschaubare und beeinflussbare Prinzipien der marktwirtschaftlichen Konkurrenz gesteuert werden. Die Arbeit ist nicht mehr sein eigenes Werk, sondern ein außer ihm stehender Mechanismus der Arbeit und der wirtschaftlichen Konkurrenz.228 Die Termini »Concurrenz«, »Mechanismus der Arbeit« und »Verkehr« charakterisieren die wesentlichen Eigenschaften der modernen Ökonomiegesellschaft, die von einer ernsthaften Beschäftigung mit der Thematik zeugen und gleichzeitig einen Hinweis für die Orientierung zur modernen Nationalökonomie und gegen die Cameralistik geben mag.229 Unabhängig davon, dass es nicht gesichert ist, ob das Hegels Worte sind, deutet Waszek den Gebrauch der ökonomischen Termini als eine Grundsatzentscheidung Hegels schon damals für die marktwirtschaftlich organisierte Ökonomie. Gewiss gibt es gute Gründe für die Vertrauenswürdigkeit des Biographen Rosenkranz und für das wortwörtliche Zitieren Hegelscher Begriffe, jedoch bleibt Hegels Beziehung zur Ökonomie im Steuart-Kommentar auch anhand der biographischen Notizen eine Spekulation, und die Worte des Biographen können nicht für Hegels eigene Worte gelten.230

f) Die Eigentumspolitik des antiken Lykurg: Ein Beziehungspunkt zwischen Hegel und Steuart Anhand der biographischen Notizen kann wenig über Hegels Bezug zur Politischen Ökonomie in seiner frühen Phase ausgesagt werden. Die inhaltlichen Parallelen zwischen den Konzeptionen von Steuart und Hegel sind, wie noch zu zeigen ist, erst in Hegels späteren Schriften sichtbar. Demgegenüber kann von einem gemeinsamen indirekten Beziehungspunkt beider Autoren gesprochen werden, der darin besteht, dass sie eigens und unabhängig voneinander denselben Sachverhalt – die Eigentumspolitik des antiken

228

Diese Kritik hat Hegel in seinen Jenaer Schriften gegen A. Smith hervorgebracht, worüber im nächsten Kapitel berichtet wird. Vgl. GW 6. 323. 229 K. Tribe gibt den Hinweis, dass das Wort »Verkehr« als ein Losungswort der Anhänger der neuen Nationalökonomie in Deutschland gegen die Cameralistik gebraucht wurde. Mit diesem Wortgebrauch betonen sie die Freiheit des einzelnen Subjekts bei den Aktivitäten um die Befriedigung seiner Bedürfnisse. Vgl. Tribe, K.: Governino Economy. The Reformation of German Economic Discorse 1750–1840. Cambridge 1988, 208 f. zitiert nach Waszek, N.: »Das Gemüth des Menschen retten«. A. a. O. 1999. 291. 230 Vgl. Pöggeler, O.: Hegels praktische Philosophie in Frankfurt. 96.

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spartanischen Gesetzgebers Lykurg – erörtern. Vermutlich hat Steuarts Werk nicht zuletzt deshalb den jungen Hegel sehr beeindruckt und zur eigenständigen Kommentierung veranlasst, da Steuart oft auf die griechische Antike zurückgreift und die antike mit der modernen Ökonomie vergleicht. Eine Gegenüberstellung beider Interpretationen desselben Sachverhalts kann nicht als ein direkter Bezug Hegels zu Steuart gedeutet werden, allerdings könnte ein Vergleich ihre zumindest grundsätzliche Beziehung zueinander festmachen. Die historische Quelle für beide Denker bildet Plutarchs Schrift »Lykurg und seine Gesetzgebung«.231 Plutarch beschreibt die politische Lage in Sparta, ohne seine Hochachtung für die Verfassung Lykurgs zu verstecken. Lykurg habe selbst erlebt, wie die Verwirrung und die Gesetzlosigkeit seinem Vater, dem König von Sparta, den Tod brachten. Er habe die Notwendigkeit erkannt, den spartanischen Staat zu reformieren und von der Gottheit in Delphos einen Gottesspruch erhalten, dass er mehr Gott sei als Mensch und die Gottheit ihm die besten Gesetze geben werde.232 Er habe daraufhin seine Freunde und Verbündeten versammelt, sie bewaffnet und die Gegner seiner geplanten Reformen getötet. Seine Verbündeten habe er in einen Senat berufen, der zwischen Volk und König vermitteln sollte. Der Senat sollte zur Wohlfahrt des Staates beitragen und dafür sorgen, dass sich weder Tyrannei noch Demokratie einstellen, d. h. dass das Volk gehört werden muss, aber seine Vorschläge vom Senat auch abgelehnt werden dürfen. Die zweite Handlung Lykurgs sei das Verbot von Erwerbsarbeit und eine neue Verteilung der Ländereien, so dass jeder sein eigenes Auskommen bekommen habe. Lykurg habe die Bürger »beredet«, alle ihre Ländereien herzugeben und diese so verteilt, dass sie »gleich an Vermögen und Einkommen jetzt bei einander leben möchten«.233 Aufgabe der Sklaven, die Heloten hießen, sei die Bestellung der Felder und die Ernte, wobei sie den Bürgern einen bestimmten Pflichtanteil abgeben mussten. Aufgabe der Bürger sei die militärische Verteidigung des Landes. So habe Lykurg die wichtigsten »Gebrechen des Staates«, Reichtum und Armut, verbannt und damit alle Bürger für die Suche nach der Tugend motiviert. Lykurg habe daraufhin auch das Geld gleich verteilen wollen, jedoch sei sein Vorhaben auf Unwillen gestoßen.234 Er habe dann das ganze Gold und Silber aufgehoben und nur Münzen aus Eisen geprägt. So sei die Geldgier der Bürger verschwunden, mit Reichtum durften sie nicht mehr

231

Vgl. Plutarch: Lykurg und seine Gesetzgebung. Übersetzt und mit Anmerkungen begleitet von August Wettengel. Leipzig. 1811. 232 Plutarch: Lykurg. 13. 233 Ebd. 22. 234 Ebd. 24.

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prunken. Lykurg habe alles getan, um das Streben nach Reichtum zu unterdrücken, er habe sogar obligatorische gemeinschaftliche Mahle eingeführt, damit alle Bürger sich gleich gesund ernähren und keiner mehr hat, als der andere.235 Nach Lykurgs Überzeugung sei ein ganzer Staat, sowie ein einzelner Mann, nur in der Tugend glücklich, wenn er frei, genügsam und weise leben möchte.236 Die Gesetzgebung Lykurgs habe sich mehrere Jahrhunderte gehalten, bis ein reichtumssüchtiger König an die Macht gekommen sei, der die Verfassung fallen gelassen habe. Diese Beschreibung der Politik Lykurgs folgt der Originalquelle von Plutarch, die Steuart für seine Interpretation verwendet hat. Für Steuart ist die Eigentumspolitik von Lykurg »the most perfect plan of political oeconomy, in my humble opinion, anywere to be met with, either in ancient or modern times«,237 und zwar weil »it was a system, uniform and consistent in all its parts«.238 Dazu gehören die erreichte Vollbeschäftigung, die optimale Versorgung der Bürger mit Lebensgütern und die Akzeptanz des neuen Plans der Politischen Ökonomie, welcher auf die Verteidigung und die Sicherheit vor feindlichen militärischen Angriffen gerichtet war.239 Steuart erkennt gleichwohl die barbarische Behandlung der Sklaven als die arbeitende Kraft, die wesentlich zum Erfolg seiner Wirtschaftspolitik beigetragen hat, auch deshalb, da man sie im Krieg oder bei militärischen Übungen getötet habe, um ihre Anzahl nach der planmäßigen Ökonomie des Staates zu begrenzen. Steuart rechtfertigt diese Tatsachen mit den Argumenten, dass die Sklavenhaltung zu den Sitten jener Zeiten gehört hat und die spartanischen Sklaven in ihrer Funktion als Versorger der Bürger weitaus glücklicher als andere Sklaven waren.240 Dennoch lobt Steuart die auf Ausgleich zielende Wirtschaftspolitik Lykurgs und hält sie für ein Vorbild auch für die Fürsten seiner Zeit.241 Hegel nimmt in seinen Frankfurter Fragmenten an drei Stellen Bezug auf Lykurg– in zwei kurzen Fragmenten und einmal im Kontext seiner Kritik an dem Gesetzesrigorismus der Juden im Fragment Der Geist des Judentums.242 In dem ersten kurzen Fragment gibt Hegel die Geschichte um Lykurgs Vorhaben und den Ausspruch der Gottheit, wie ihn Plutarch erzählt, wieder. Am 235 236 237 238 239 240 241 242

Ebd. 27 f. Ebd. 87. Steuart, J.: Inquiry into the Principles of Political Oeconomy. 218. Ebd. 225. Ebd. 226. Ebd. 221 f. Ebd. 1966. 226. Dieser Titel des Fragments stammt von H. Nohl.

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Ende stellt er die Frage, warum die anderen Griechen Lykurgs Verfassung, die das spartanische Volk glücklich und tugendhaft gemacht haben soll, nicht bei sich eingeführt haben, zumal diese Verfassung durch den Ausspruch des allgemeinen Orakels befürwortet wurde. »Aber die Griechen waren eine freie Nation, die selbst von keinem Gotte sich Gesetze geben ließen. Dieser Beweggrund, die Bestätigung durch die Gottheit, war ihnen fremde«.243 Die griechische antike Sittlichkeit zeichnet sich für Hegel gerade dadurch aus, dass die Griechen keinen positiven, sondern nur selbst gegebenen Gesetzen folgten, wie er idealisierend ausführt. Im zweitgenannten Fragment »Fortschreiten der Gesetzgebung …« von 1798 schreibt Hegel im Kontext der Kritik an der Gesetzgebung von Moses, der den Eigentumserwerb gesetzlich verboten und den Juden das als strenges Gottesgebot vermittelt hat: »Erwerb des Eigenthums kann die Gleichheit der Bürger stöhren, und die Solonischen Geseze haben weise dafür gesorgt, die Gleichheit der Erbtheile zu erhalten (da die Lykurgischen, die diß auch erreichen wollten, den Zweck nicht erreichten s[iehe] Pauw) bei (den J) Moses das gleiche einen ganz anderen Grund«.244 Dass Hegel Plutarch bereits seit 1785 kannte, dafür sprechen einige Andeutungen in Hegels frühem Aufsatz »Unterredung zwischen Dreien«,245 wie z. B. die Redewendungen in diesem Aufsatz »Vaterlandsliebe«, »Seelengröße« gegen »Luxus« und »Schwelgerei« und sein Plädoyer für eine Gesellschaft ohne große Unterschiede darin.246 Die dritte namentliche Erwähnung von Lykurg durch Hegel findet sich im Text Der Geist des Judentums247 im Kontext der Kritik an der fehlenden bürgerlichen und religiösen Freiheit des jüdischen Volkes: »Um die Gefahr, womit der Freiheit die Ungleichheit des Reichtums droht, von ihren Staaten abzuwenden, hatten Solon und Lykurg 243

Rosenkranz, K.: G. W. F. Hegel’s Leben. 520 f. (Werke 1. 434.) editorische Bemerkung weist nach, dass Hegel hier Kornelius von Pauw: Recherche sur le Grecs. 2. Bde. Berlin 1787 heranzieht. Vgl. Jamme, Ch. /Schneider, H.: Die Geschichte der Erforschung von Hegels Jugendschriften. In: Dies. (Hrsg.): Der Weg zum System. Materialien zum jungen Hegel. Frankfurt. 1990. 48. 245 GW 1. 37–39. Über den Rückgriff auf Plutarch vgl. Pöggeler, O.: Das Menschenwerk des Staates. In: Jamme, Ch./Schneider, H.: Mythologie der Vernunft: Hegels »ältestes Systemprogramm des deutschen Idealismus«. Frankfurt. 1984.191. Pöggeler spricht von einer Beschäftigung Hegels mit Plutarch bereits in Stuttgart, aber auch in Tübingen, wo er zusammen mit Hölderlin eine Plutarch-Ausgabe geplant hat. Vgl. Pöggeler, O.: Der junge Hegel und die Lehre vom weltgeschichtlichen Individuum. In: Fulda, H. F./Horstmann R.-P.: Rousseau, die Revolution und der junge Hegel. Stuttgart. 1991.19. 246 Vgl. Ripalda, J. M.: Aufklärung beim frühen Hegel. 115. 247 In seiner Auseinandersetzung mit der Entstehung des jüdischen Staats und der jüdischen Religion charakterisiert Hegel den jüdischen Staatsmann Abraham als einen bourgeois, der nichts als seine private Freiheit erstrebte. Vgl. Marsch, W.-D.: Gegenwart Christi in der Gesellschaft. Eine Studie zu Hegels Dialektik. München. 1965. 71 ff. 244Eine

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die Rechte über Eigentum auf mancherlei Art beschränkt und manche Willkür ausgeschlossen, die zum ungleichen Reichtum hätte führen können«.248 Solon und Lykurg hätten den übermäßigen Reichtum nur deshalb beschränkt, »weil durch die sonst entstehende Ungleichheit die Freiheit der Verarmten in Gefahr kommen und sie in eine politische Vernichtung hätten geraten können«.249 Mit politischer Vernichtung meint Hegel hier den Verlust von bürgerlichen Rechten am Eigentum, die dann in Abhängigkeiten gegenüber Autoritäten führen, welche die Despotie im Staat herbeiführen. Hegel interpretiert den Zweck der Eigentumspolitik von Lykurg in der Freiheit unter den Bürgern, die durch Gleichheit des Eigentums zu sichern sei. Die antiken Griechen sollten gleich sein, weil alle frei und selbstständig waren. Die unterschiedliche Beurteilung der antiken Eigentumspolitik deckt die grundsätzlichen Differenzen in den Positionen von Steuart und Hegel auf. Während Steuart die Eigentumspolitik von Lykurg für sehr gelungen und vorbildlich für seine Gegenwart hält, erklärt sie Hegel aus ethischen Gründen für gescheitert. Er sieht in der Eigentumspolitik Lykurgs eine Beschränkung persönlicher Freiheit und Rechte, welche letztlich zu dem historischen Untergang der antiken Republik geführt hat, obwohl sie einen tugendhaften Zweck hatte. Während Hegel in den Mittelpunkt Lykurgs ethische Beweggründe für seine Politik – die Ausbildung der Tugend im Volk, um es frei und glücklich zu machen – stellt, sieht Steuart in ihm ein Vorbild für die Organisation von arbeitsteiliger Beschäftigung von Bürgern und Sklaven und für den gesicherten Unterhalt des Staates. Hegel beurteilt Lykurg als Ethiker und Steuart als Ökonomen. Vermutlich hat Steuart bei der Konzeption seines »statesman« gerade Lykurg vor Augen gehabt.250 Die aufgeführte Gegenüberstellung von Interpretationen zu demselben Sachverhalt gibt einen Aufschluss über die Grundeinstellung Hegels gegenüber der Politischen Ökonomie von Steuart. Sie bekräftigt erneut die These dieser Arbeit, dass Hegels Blick auf die Politische Ökonomie von James Steuart und insgesamt auf das ökonomische Grundprinzip der aufkommenden bürgerlichen Gesellschaft ein ethisch-kritischer ist.

248

Werke 1. 289. Werke 1. 290. (Geist des Judentums). 250 In seiner Einführung zur Neuedition von Steuarts Hauptwerk bestreitet A. Skinner, dass sich Steuart nach Lykurg richtet, gesteht aber zu, dass er zu oft die Planökonomie erörtert und das ›political matron‹ bevorzugt. Vgl. Skinner, A.: Analytical Introduction. In: Sir James Steuart. An Inquiry into the Priciples of Political Oeconomy. Edinburgh and London. 1966. LXXXII. 249

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g) Die Überwindung des einseitigen, wirtschaftlichen Lebens durch Politik, Kunst und Religion Interessanterweise hat Hegel, wenn auch fragmentarisch, einen Weg angegeben, wie die ethische Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft zu führen ist. Anhaltspunkte finden sich in einem der Fragmente der Verfassungsschrift.251 Hegel hat gegen Ende der Frankfurter Phase damit begonnen, seine Überlegungen zur Staatsverfassung Deutschlands niederzuschreiben. Er hält die Verfassung für überholt und für die Zerrissenheit und die Ohnmacht des Landes verantwortlich.252 Hegel untersucht die historischen Gründe für diesen Zustand: Die Verfassung habe sich zu einem Privatrecht zum Schutz des Eigentums entwickelt und die Bürgerstände haben diese Entwicklung durch ihre Bereicherungssucht und Macht vorangetrieben. In Bezug auf die Bürgerstände, welche die bürgerliche Gesellschaft ausmachen, führt Hegel aus, dass sie ihren Reichtum nicht gesetzlich, sondern »vom Zufall voriger Zeiten«253 haben, denn »der Besitz war früher als das Gesetz, und er ist nicht aus Gesetzen entsprungen, sondern was selbst errungen war, ist zum gesetzlichen Rechte gemacht worden«.254 Die so gefestigten Stände haben kraft ihres Eigentums die Gesetzgebung bestimmt und die politische Macht zur Vermehrung ihrer Reichtümer erlangt. In einem der Fragmente erörtert Hegel den Niederschlag dieser äußeren politisch-ökonomischen Entwicklung im Leben des einzelnen Menschen. Im Mittelpunkt des Fragments »Der immer sich vergrößernde Widerspruch …« steht der Widerspruch zwischen dem einerseits wirklichen, »dürren« Verstandesleben, wo der Einzelne mit seinen Bedürfnissen nach Arbeit, Gewinn, Besitz und Genuss der Maßstab aller Dinge ist und höchste Macht über die Wirklichkeit besitzt, und andererseits seiner inneren Welt. Die Realität der Herrschaft der ökonomischen Sphäre muss jedoch nicht mit Gewalt bekämpft werden,255 sondern als »Schicksal«, »Bestimmtheit« oder auch »Schranke« angenommen werden.256 Obwohl die251

Das hier herangezogene Fragment ist: »Der immer sich vergrößernde Widerspruch…«. Vgl. Werke 1. 457–460. 252 Hegel wusste damals noch nicht, dass der Grund dieser Ohnmacht nicht primär in der Verfassung, sondern in dem Umstand lag, dass der Kaiser gar keinen Einfluss auf die Fürsten ausüben konnte und sie sich selbst alle Freiheit zur grenzenlosen Bereicherung nahmen. 253 Werke 1, 454. 254 Ebd. 255 Vgl. Werke 1, 458. Dass »der Raub eines Eigentums, ein neues Leiden« bringt, das hat die Französische Revolution gezeigt. 256 In dieser Hegelschen Argumentation erblickt H. Kimmerle den Zusammenhang mit Hölderlins Denkrichtung. In »Empedokles« schildert Hölderlin den tragischen Un-

B. Die Liebe als ethisches Prinzip

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ses vom ökonomischen Interesse bestimmte Leben nur ethisch Verwerfliches bringt, ist es dem Leben derer vorzuziehen, die sich in ihr Inneres, in einen »immerwährenden Tod« flüchten und dieses dem realen Leben widersetzen. Denn so kann man das »schlechte«, primär von ökonomischen Interessen geleitete Leben nicht widerlegen. Vielmehr soll es durch »seine eigene Wahrheit«257 widerlegt werden. Ein neues, besseres Leben, das durch »große Charaktere einzelner Menschen«, »Bewegungen ganzer Völker«, durch Philosophie, sofern sie Metaphysik ist, durch Dichtung und Denken genährt wird, soll dem bestehenden, ökonomiegeleiteten Leben seine »Würde einer Allgemeinheit«, sein Recht, nehmen, indem es ihm zeigt, dass es nicht auf allgemeine, sondern auf partikulare Interessen gründet, dass es ein »rein Negatives geworden ist«, dessen Aufhebung ein ethisches Bedürfnis ist.258 Dahinter steht keineswegs eine von Hegel intendierte radikale »bürgerlich-demokratische Umgestaltung«,259 sondern die Notwendigkeit, das Besondere, das von partikularen Interessen geleitete Leben, als ein solches anerkannt, durch das Allgemeine zu begrenzen. Dass diese Begrenzung durch die Überlegenheit von Dichtung und Kunst im Leben des Menschen möglich ist, ist ein Gedanke, der für Hegel nicht neu ist und bereits von Herder und Schiller, vor allem aber von Hölderlin vertreten wurde. Die Poesie gewinnt für Hölderlin, Hegel und die Freunde im Homburger Kreis eine über alle anderen Wissenschaften und Künste erhabene Bedeutung als »Lehrerin der Menschheit«, 260 wie Hegel ausführt. Von der Höhe der Dichtkunst will Hegel die moralische Welt begreifen und im Anschluss an Kants Postulatenlehre ein System der Ideen als eine Ethik konzipieren. Neben der Idee des freien Willens, der moralischen Welt, der Gottheit und der Schönheit, erörtert Hegel die Idee des Menschenwerks. Darunter versteht er »das ganze elende Menschenwerk von Staat, Verfassung, Regierung, Gesetzgebung«,261 das er bis auf die Haut entblößen möchte. Der Staat sei keine Idee, weil er nicht aus Freiheit, sondern aus etwas Mechanischem bestehe, wie eine Maschine ohne Idee, die freie

tergang eines Menschen, der sich bewusst wird, dass nur die »besonderen«, partikularen Verhältnisse sein Leben und das Leben des Volks bestimmen und den Versuch, sich dem Göttlichen zu nähern, den Tod bringt. Vgl. Kimmerle, H.: Das Problem der Abgeschlossenheit des Denkens. 44 f. Zur näheren Untersuchung des Schicksalsbegriffes vgl. Plotnikov, N: Gelebte Vernunft. 237 ff. 257 Werke 1, 459. 258 Vgl. Werke 1, 458. 259 Lukács, G.: Der junge Hegel. Bd. 1. 222. 260 Werke 1. 234. Diese Stelle findet sich im Fragment Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus. 261 Werke 1. 235. (Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus).

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Erstes Kapitel

Menschen als mechanisches Räderwerk behandelt, »und das soll er nicht«.262 In einer Ethik habe ein solcher Staat keinen Platz, er soll aufhören. Die Kritik Hegels an dem Staat als einer Maschine oder einem Räderwerk kehrt immer wieder in seine Argumentation zurück, und sie hängt meistens mit dem bürgerlichen Staat zusammen, nicht mit dem sittlichen Staat als Idee für ein menschliches Zusammenleben. Charakteristisch für das erörterte, im Frühjahr 1797 entstandene Fragment ist die spürbare Wendung zu Hölderlins Idee der Schönheit als vereinigende Idee »in höherem platonischen Sinne«.263 Die Idee der Schönheit ist für Hegel die höchste, er sieht sie in der schönen Religion als eine Mythologie der Vernunft, die sowohl die Interessen des Volkes für eine Phantasiereligion als auch seiner Philosophen, Weisen und Priester für eine Begründung aus der Vernunft befriedigt.264 Während im Systemprogramm von 1797 die neue Religion einen »höheren Geist, vom Himmel gesandt« unter den Menschen stiften soll, denkt Hegel im sog. Systemfragment von 1800 265 den Geist als das unendliche Leben, zu dem sich das an irdische Bedürfnisse und an wirtschaftliche Verflechtungen gebundene, endliche Leben nur in der Religion erheben kann.266 Das unendliche Leben denkt Hegel als eine ursprüngliche Einheit des Seins, deren Glieder, die Bestimmungen des endlichen Lebens, zwar widerstreiten können, aber immer als Glieder einer Ganzheit wieder vereinigt und vervollständigt werden können.267 Der Widerstreit oder die Entgegensetzung der Glieder wird im endlichen Bewusstsein als Zerrissenheit gefühlt. Dieses Gefühl setzt das Bewusstsein der ursprünglichen Vereinigung, voraus, und sie ist für Hegel nicht nur die Immanenz des Einen Seins im Bewusstsein, sondern der vorauszusetzende Grund der Erkenntnis der Endlichkeit der Glieder. Aus diesen logischen Überlegungen heraus bestimmt Hegel im sog. Systemfragment von 262

Werke 1. 235. Ebd. Näheres darüber in Düsing, K.: Ästhetischer Platonismus bei Hölderlin und Hegel. 101–117. 264 Vgl. Werke 1. 236. 265 Werke 1. 419–427. 266 Vgl. Werke 1. 421. 267 Die logischen Grundüberlegungen zum Gedanken der Vervollständigung und der Vereinigungsphilosophie hat Hegel in dem Fragment Glauben und Sein aus dem Jahr 1798 erarbeitet. Die Bestimmungen des endlichen Lebens erfahren an ihren jeweils entgegengesetzten Bestimmungen ihre Grenzen, sie werden dadurch beschränkt. Vollständig sind sie nur in der gedachten Vereinigung als Erhebung über die Beschränkungen des endlichen Denkens. Ihre Position als entgegengesetzte Glieder einer Antinomie oder eines Widerstreits hat die endliche Reflexion zu zeigen, sie kann aber ihre Vervollständigung oder Vereinigung im Einen Sein nicht erfassen, sondern nur auf diese hinweisen. Das Thema der Vereinigung war zentral für die Diskussion in Hegels Frankfurter Freundeskreis. Nähere Erläuterung findet sich bei Düsing, K.: Das Problem der Subjektivität. 51 ff. 263

B. Die Liebe als ethisches Prinzip

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1800 das Leben als ein Beziehungsgefüge, nicht als etwas Bestehendes, sondern als ein Unendliches. Das unendliche Leben darf die endliche Reflexion und die von ihr aufgestellten Entgegensetzungen weder ausschließen, noch diese sich selbst entgegensetzen, denn dann wäre es etwas Endliches. Das Leben als Beziehungsgefüge, als ein organisches Ganzes, enthält vielmehr in sich die Entgegensetzungen, wie z. B. in der »Vielheit Lebendiger«268: Ein Teil dieser Vielheit hat das Sein in der Vereinigung, der andere Teil hat das Sein nur als Trennung von dem ersten Teil, als seine Entgegensetzung, als von einem organischen Ganzen Ausgeschlossenes. Beide Teile sind nicht streng voneinander getrennt, vielmehr so aufeinander bezogen, dass die Möglichkeit der gegenseitigen Vereinigung und Aufhebung in ihnen bereits enthalten ist. Wenn diese Vereinigung oder wie Hegel sagt das »ungeteilte Leben« als Einheit und Ganzheit angenommen wird, so sind die einzelnen individuellen Leben Darstellungen des unendlichen Lebens, welche aber die endliche Reflexion oder der Verstand als endlich fixiert. Die Vernunft erkennt diese Einseitigkeit der endlichen Reflexion und fordert die Vervollständigung des Beschränkten, indem sie jedem gesetzten Endlichen ein anderes Endliches entgegensetzt, so beide bestehen lässt und in einer Einheit oder Ganzheit aufzuheben sucht, die sie allerdings nicht erkennen kann. Die vollständige Erhebung des endlichen Lebens in ein unendliches Leben, d. h. das Begreifen des eigenen endlichen Lebens als in einem unendlichen, ewigen Leben eingebettet, ist nicht durch Verstand und Vernunft in der Philosophie, sondern nur in der Religion, im Glauben an die Gottheit, möglich.269 Jedoch kann diese religiöse Erhebung über das endliche, beschränkte Leben nie vollständig sein: Der Mensch bleibt immer auf den physisch-wirtschaftlichen Erhalt des Lebens angewiesen, er kann und darf sich nicht vollständig über sein zu bewirtschaftendes Eigentum erheben, denn es ist sein endliches, notwendiges und unaufhebbares Schicksal. Im Kontext der religiösen Erhebung sieht der junge Hegel die ökonomische Kategorie der Arbeit, die den Menschen einem »Egoismus des Habens«270 unterwirft. Die einzige Möglichkeit, das egoistische Streben nach Eigentum zu relativieren, sieht Hegel im religiösen Opfer als eine zwecklose Vernichtung von Eigentum vor und wegen der Gottheit lediglich »um des Vernichtens willen«.271 Während diese Vernichtung nicht an Zwecke gebunden ist, gibt es eine »zweckmäßige« Vernichtung, und der Mensch macht

268 269 270 271

Werke 1. 419. Werke 1. 421. Pöggeler, O.: Hegels philosophische Anfänge. 108. Werke 1. 425.

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Erstes Kapitel

»sein sonstiges partikuläres Verhältnis des zweckmäßigen Vernichtens gut und hat zugleich die Objektivität der Objekte durch eine auf sich nicht bezogene Vernichtung, ihre völlige Beziehungslosigkeit, Tod, vollendet«.272 Die Vernichtung der »Objektivität der Objekte« sowie die »zweckgemäße Vernichtung« sind Begriffe, die Hegel in dem erhaltenen Fragment nicht näher erläutert. Weil der größte Teil dieser Frankfurter Arbeit Hegels fehlt, ist die Forschung auf Vermutungen und den Rückgriff auf spätere Schriften angewiesen. In dem verlorenen ersten Teil der Schrift soll Hegel eine Verbindung von Ökonomie und Philosophie versucht haben,273 nachdem er sich schon damals mit der Ökonomie von Adam Smith wahrscheinlich beschäftigt hat.274 Während dieser Verweis eine Vermutung bleibt, können aus der etwa zwei Jahre später entstandenen Schrift »System der Sittlichkeit« einige Erklärungen herangezogen werden. Diese Schrift enthält eine Beschreibung der Arbeit, welche Aufschluss über den hier verwendeten Begriff der »zweckmäßigen« Vernichtung der Objekte gibt. Dort heißt es: »Dieses Vernichten aber ist die Arbeit«.275 Der näheren Beurteilung dieser Schrift und Hegels Begriff der Arbeit in seiner Jenaer Zeit ist das nächste Kapitel gewidmet. Hier soll nur festgehalten werden, dass das zweckmäßige Vernichten des Objekts für Hegel die Arbeit bedeutet, die hier als das »partikuläre Verhältnis« die normale, alltägliche Beziehung der Menschen zur Objektwelt bedeutet.276 Strebt der Mensch eine Erhebung über das endliche wirtschaftliche Leben an, strebt er zugleich, sich durch Arbeit von den Objekten der äußeren Welt freizumachen, er hat diese Objektivität vernichtet, wenn er die Früchte seiner Arbeit nicht für einen zwecklosen Überfluss oder für die Verwendung nur für sich bestimmt, sondern wenn er sie als ein religiöses Opfer darbietet.277 Nicht von jedem Menschen kann Hegel das kultische Opfer der Früchte der Arbeit und die vollständige Vereinigung, die Erhebung über das Endliche und die Vereinigung mit dem Unendlichen, erwarten. In der Stufenleiter der Vereinigung steht der selbstsüchtige Besitzbürger auf einer niedrigen »Stufe der Entgegensetzung und Vereinigung«.278 Diese Stufen der geistigen Erhebung bringt 272

Ebd. Vgl. Pöggeler, O.: Hegels philosophische Anfänge. 108. Dass einer Verbindung von Ökonomie und Philosophie eine spekulative Logik vorausgeht, vermuten Ch. Jamme und H. Schneider in ihrem Artikel: Die Geschichte der Erforschung von Hegels Jugendschriften. In: Dies. (Hrsg.) : Der Weg zum System. Materialien zum jungen Hegel. Frankfurt. 1990. 36 274 Vgl. Lukács, G.: Der junge Hegel. Bd. 1. 284. 275 GW 5. 284. 276 Vgl. Lukács, G.: Der junge Hegel. Bd. 1. 283. 277 Werke 1. 425. 278 Werke 1. 426. 273

B. Die Liebe als ethisches Prinzip

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Hegel mit der Natur in Verbindung. Die Natur wird für ihn die Norm des Guten und des Lebendigen, sie ist mit dem Leben identisch, sie ist Instanz gegenüber allem statutarischen Kirchenglauben und aller politischen Unfreiheit, und damit »eine sozialpolitische Implikation«.279 Zum Abschluss der Untersuchungen von Hegels früher Wirkungsphase lässt sich kurz zusammenfassen, dass die Bezüge zwischen Ethik und Wirtschaft vor allem in seiner Kritik an der Erstarrung oder, wie er sagt, der Positivität aller Lebensverhältnisse im gesellschaftlichen Leben deutlich werden. Das Vorbild der freien griechischen Sittlichkeit vor Augen habend, bekämpft Hegel die Erstarrung der religiösen Gefühle in der institutionalisierten, christlichen Religion, die moralischen Sollensforderungen in Kants Ethik und vermutlich die wirtschaftlichen Zwänge in Steuarts Politischer Ökonomie. Hegel schwebt das Ideal eines freien, harmonischen Zusammenspiels der Gefühle vor, welche die Sittlichkeit in einer ethischen Gemeinschaft konstituieren. Damit tritt er dafür ein, die wirtschaftlichen Verhältnisse, die das physische Auskommen der Menschen sichern, adäquat zu behandeln, d. h. in ihrer Bedeutung zu respektieren und sie zugleich vor dem Hintergrund des Sittlichen und Religiösen zu begrenzen. Der junge Hegel erkennt diese Notwenigkeit und sucht sie auf dem Wege einer neuen, subjektiven und schönen Religion zu lösen, die den Menschen helfen soll, sich über die Widersprüche des endlichen Lebens, zu welchen auch die wirtschaftlichen Angelegenheiten gehören, zu erheben. Während der frühe Hegel die Möglichkeit der Erhebung über die Sphäre der Wirtschaft primär im religiösen Glauben sucht, begründet er diese mit Beginn seiner Jenaer Phase im Denken und Erkennen des Absoluten, in dem Reales und Ideales, Objektives und Subjektives als miteinander identisch gedacht werden.

279

Jamme, Ch.: »Jedes Lieblose ist Gewalt«. Der junge Hegel, Hölderlin und die Dialektik der Aufklärung. 151.

zweites kapitel Die wirtschaftliche Sphäre der Bedürfnisse und der Arbeit innerhalb von Hegels Konzeption der Sittlichkeit in seiner Jenaer Phase (1801–1807) Hegel macht gleich zu Beginn seiner Dozententätigkeit an der Jenaer Universität, die er 1801 auf Einladung seines früheren Studienfreundes Schelling aufnimmt, die »Entdeckung«,1 dass die Vernunft den Gegensatz von Gefühl und Verstand im Erkennen des göttlichen Absoluten bewältigen kann. Diese Entdeckung führt ihn zur Überwindung aller gefühlsbedingten und verstandesmäßigen Rechtfertigungen der Philosophie, für die er partiell selbst in seiner Berner und insbesondere Frankfurter Phase eingetreten ist, aber auch zur klaren und ausdrücklichen Würdigung der Ökonomie innerhalb seines Systems der Wissenschaft und der wirtschaftlichen Sphäre der Bedürfnisse und der Arbeit innerhalb seiner Konzeption der Sittlichkeit. Hegel entwickelt jedoch keine eigenständige Politische Ökonomie, sie ist vielmehr ein wesentlicher, aber untergeordneter Bestandteil seines Systems.2 Die systematische Spitze von Hegels neuer Systemkonzeption ist das göttliche Absolute, das er bis 1803/04 zusammen mit Schelling und in Anlehnung an Spinoza als Substanz oder als eine allumfassende Totalität der natürlichen und sittlichen Welt denkt. Nach Hegel und Schelling können die physikalische Natur einerseits und die geistige, kulturelle, wirtschaftliche Welt andererseits als ein zusammenhängendes Ganzes nach einem inneren Einheitsprinzip – letztlich das Absolute – gedacht werden.3 Das Absolute manifestiert sich in der Natur als deren Ordnung und in der sittlichen Welt als deren Menschenorganisation. Diese Manifestationen haben nach Hegel die Wissenschaften aufzuzeigen, die er in der frühen Jenaer Zeit systematisch ordnet: Der einführende erste Teil – die Logik – entlarvt die Unfähigkeit des Verstandes, die Widersprüche des endlichen Lebens zu denken und weist auf eine sie übersteigende

1

So pointiert formuliert Peperzak Hegels Wende um 1800–1801, obwohl, wie gezeigt und wie auch Kimmerle geltend macht, Hegel bereits in Frankfurt die »Vorstudien« für diese Entdeckung erarbeitet hat. Vgl. Peperzak, A.: Zur Hegelschen Ethik. 106. Vgl. Kimmerle, H.: Das Problem der Abgeschlossenheit des Denkens. 297 f. 2 Hegel ist kein Ökonom, entgegen den Versuchen der gegenwärtigen Hegel-Interpreten, u. a. B. Priddat und K. Homann, ihn als solchen zu betrachten. Seine Ökonomie lässt sich ohne den systematischen und metaphysischen Hintergrund nicht adäquat verstehen. 3 Der Grundgedanke ist, dass Natur und Ich entgegengesetzt und zugleich im Absoluten aufeinander bezogen sind, so Hegel in seiner Differenzschrift. Vgl. GW 4. 77.

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Zweites Kapitel

Unendlichkeit, auf das Absolute hin, dessen Wesen und Struktur die Metaphysik zu erklären hat. Die Struktur des Absoluten wird dann in zwei realen Bereichen untersucht – in der Naturphilosophie und in der Philosophie des Geistes, worauf noch Religion und Kunst folgen. Während die Naturphilosophie die Manifestationen des Absoluten in der physikalischen Natur zu untersuchen hat, ist der Gegenstand der Philosophie des Geistes nach Hegel die Sittlichkeit in einem sittlichen Gemeinwesen, die entweder auf das Absolute hinweist oder das Absolute manifestiert. Vermittels der Transponierung der Logik und der Metaphysik auf die sittliche Welt sucht Hegel die immanente Sittlichkeit der organischen Ganzheit, wie die sittliche Organisation eines Volkes ist, zu erweisen. Diese Methode zielt nicht darauf, durch die Explikation der absoluten Momente im Sittlichen die Logik und Metaphysik zu begründen, sondern umgekehrt, anhand der logisch-metaphysischen Methode, die sich in der frühen Jenaer Zeit noch im Stadium der Entwicklung befand, einen Maßstab zur kritischen Beurteilung von Gesellschaftsordnungen zu erarbeiten.4 Zur lebendigen Sittlichkeit im Volk gehören für den frühen Jenaer Hegel neben der Politik noch die Ökonomie, die Kunst und die Religion.5 Während sich das Absolute in den Bereichen Politik, Kunst und Religion für Hegel offen manifestiert, finden sich in der sittlichen Sphäre der Ökonomie keine Momente des Absoluten, und sie kann daher keine wahre, absolute Sittlichkeit freisetzen.6 Die wirtschaftliche Sphäre der Bedürfnisse und der Arbeit ist nach Hegel von den Widersprüchen des endlichen Lebens dominiert. Die Widersprüchlichkeit, Hegel nennt sie Negativität, weist gemäß seiner logisch-metaphysischen Auffassung auf das Absolute hin, oder anders gesagt, sie erweist die negative Präsenz des Absoluten. Diese bedeutet für Hegel zugleich die Notwendigkeit, über die endlichen Gesetze der Ökonomie zu den Prinzipien des absoluten sittlichen Lebens in einem ethi-

4

Vgl. Siep, L.: Praktische Philosophie im Deutschen Idealismus. 147. Die Jenaer politischen Schriften Hegels enthalten eine zeitgeschichtliche Polemik in Bezug auf die Entwicklung der Rechtswissenschaft und die Verfassung, welche vor ihrem spekulativen Hintergrund zu beurteilen sind, worauf H. Kimmerle verweist. Vgl. Kimmerle, H.: Die Staatsverfassung als »Konstituierung der absoluten sittlichen Identität« in der Jenaer Konzeption des Naturrechts. In: Lucas, H.-Ch./Tuschling, B./ Vogel, U. (Hrsg.): Hegels enzyklopädisches System der Philosophie. Stuttgart-Bad Cannstatt. 2004. 130f f. 5 Kunst und Religion gehören nach Hegels Systemskizze, die er u. a. in der Differenzschrift und einigen Fragmenten aus dieser Zeit entwickelt, zur Geistesphilosophie, wie K. R. Meist zeigt. Vgl. Meist, K. R.: Hegels Systemkonzeption in der frühen Jenaer Zeit. In: Henrich, D./Düsing, K.: Hegel in Jena. Die Entwicklung des Systems und die Zusammenarbeit mit Schelling. Hegel-Studien (Beiheft 20). Bonn. 1980. 74. Im Naturrechtsaufsatz zählt Hegel Religion und Kunst zur Sittlichkeit, wie noch zu zeigen ist. 6 Vgl. Arndt, A.: Negativität und Widerspruch in Hegels Ökonomie. 321.

Die wirtschaftliche Sphäre

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schen Staat hinauszugehen. Die notwendige, metaphysisch fundierte Überwindung besteht aber nicht in der Verleumdung oder Vernachlässigung der wirtschaftlichen Sphäre des öffentlichen Lebens, sondern fordert vielmehr die Anerkennung als untergeordneter Bereich unter den höheren Prinzipien und Bereichen des sittlichen Lebens. Die Anerkennung der ökonomischen Prinzipien und ihre Unterordnung unter die Prinzipien der wahren Sittlichkeit, die für den frühen Jenaer Hegel die Prinzipien des Politischen sind, setzt die Gültigkeit seiner Annahme des Absoluten als Substanz voraus. Die Stellung und die Würdigung der Ökonomie, aber auch der ganzen praktischen Philosophie Hegels, lassen sich daher nur vor diesem substanzmetaphysischen Hintergrund adäquat verstehen. Das Prinzip der Ethik ist nicht mehr die Liebe, wie in den Frankfurter Schriften, sondern die substanzmetaphysisch begründete, absolute Tugend der Tapferkeit als die Aufopferung des eigenen Lebens für das sittliche Gemeinwesen.7 Vom Bereich der absoluten Tugend unterscheidet Hegel den Bereich der Wirtschaft, in dem Besitz und Eigentum die entscheidende Rolle spielen. Die Wirtschaft ist aber deshalb nicht vom sittlichen Leben in einem ethischen Gemeinwesen abgetrennt. Im Gegenteil, die wirtschaftliche Sphäre darf nicht isoliert bleiben, sie muss in das sittliche Ganze aufgenommen und ihm untergeordnet werden. Hegels Ausdifferenzierung und integrative Vermittlung der Wirtschaft in seiner frühen Jenaer Konzeption, in der die Sittlichkeit zentral ist, stellt eine im ersten Hauptabschnitt dieses Kapitels noch zu untersuchende, spezifisch ethische Kritik sowohl an der Politischen Ökonomie als auch am Egoismus der Besitzbürger dar. Im zweiten Hauptabschnitt dieses Kapitels wird Hegels ethische Betrachtung der Wirtschaft in seinen späten Jenaer Schriften ab 1803/04 untersucht. Die substanzielle Sittlichkeit ist nach wie vor das leitende Ziel seiner Ethik, er betrachtet sie jedoch aus einem veränderten Blickwinkel. Wie noch zu erläutern ist, verlässt Hegel seine Substanzmetaphysik und wendet sich dem Selbstbewusstsein als Ausgangspunkt der Erfahrung und Konstruktion des sittlichen Ganzen zu. Zentrale Quellen für den ersten Abschnitt dieses Kapitels sind der sog. Naturrechtsaufsatz8 und das sog. System der Sittlich-

7

Die Liebe ist für den Jenaer Hegel nicht mehr die Sittlichkeit selbst, sondern nur ein Element der Sittlichkeit. Vgl. die noch zu erörternden Jenaer Systementwürfe III. (GW 8. 210 f.) 8 Vgl. Hegel, G. W. F.: Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie, und sein Verhältnis zu den positiven Rechtswissenschaften. In: Jenaer Kritische Schriften (II). Hrsg. von H. Brockard u. Hartmut Buchner auf der Grundlage des Textes aus der kritischen Edition »Gesammelte Werke«, Bd. 4. Hamburg. 1983 (zitiert als GW 4 und die Angabe der Seitenzahl aus der historischkritischen Edition).

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Zweites Kapitel

keit9, für den zweiten die Jenaer Entwürfe zur Philosophie des Geistes10 und die Phänomenologie des Geistes.11

A. Die frühe Substanzmetaphysik als Grundlegung der Wissenschaften a) Die frühe Logik als Methode der Erkenntnis des Absoluten und seiner Struktur Hegel und Schelling vertreten ab 1801 gemeinsam die Konzeption, dass Gott oder das göttliche Absolute seiend und vernünftig erkennbar ist.12 Das Absolute denken sie als eine Vernunftidee der allumfassenden Einheit und Ganzheit des Seienden und bestimmen es strukturell als eine oberste Identität, im Anschluss an Spinozas Pantheismus – ontologisch als Substanz. Für Spinoza ist das All des Seienden ein einzelnes, selbstständiges Wesen, an dem alles andere ist – Gott oder die Natur. Im Anschluss an diese grundlegende These von Spinoza ist auch für Hegel und Schelling alles, auch die endlichen menschlichen Wesen, vom Absoluten gesetzt und wieder aufhebbar, von ihm vollständig determiniert und abhängig. Das Absolute ist zwar aller Endlichkeit enthoben, ist aber in seinen Attributen – Natur und Geist und deren besonderen Gestaltungen, die der Mensch erkennt – gegenwärtig. Hegel denkt das Absolute wesentlich als eine Einheit der Welt, der Natur und des Lebens, als eine oberste Identität von Gegensätzen wie Ursache und Wirkung,

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Vgl. Hegel, G. W. F.: System der Sittlichkeit. Critik des Fichteschen Naturrechts. Hrsg. v. H. D. Brandt auf der Grundlage des Textes aus der kritischen Edition »Gesammelte Werke«, Bd. 5. Hamburg. 2002 (zitiert als GW 5 und die Angabe der Seitenzahl aus der historisch-kritischen Edition). 10 Vgl. Hegel, G. W. F.: Jenaer Systementwürfe I. Das System der spekulativen Philosophie. Hrsg. v. K. Düsing und H. Kimmerle. Hamburg. 1986 (zit. als GW 6 und die Seitenzahl) sowie Hegel, G. W. F.: Jenaer Systementwürfe III. Naturphilosophie und Philosophie des Geistes. Hrsg. v. R.-P. Horstmann. Hamburg. 1987 (zit. als GW 8 und die Seitenzahl aus der historisch-kritischen Edition). 11 Vgl. Hegel, G. W. F.: Phänomenologie des Geistes. Hrsg. v. H.-F. Wessels/H. Clairmont. Hamburg. 1988. (zit. als GW 9 und die Seitenzahl. 12 Vgl. die umfassende Interpretation von K. Düsing. In: Schellings und Hegels erste absolute Metaphysik (1801–1802). Zusammenfassende Vorlesungsnachschriften von I. P.V. Troxler. Herausgegeben, eingeleitet und mit Interpretationen versehen von K. Düsing. Köln. 1988. Über die Zusammenarbeit von Hegel und Schelling auf dem Gebiet der praktischen Philosophie vgl. Siep, L.: Praktische Philosophie im Deutschen Idealismus. 130–141.

A. Die frühe Substanzmetaphysik als Grundlegung der Wissenschaften

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Einem und Vielem, Ideellem und Reellem. In dieser obersten Einheit sind alle Entgegensetzungen der endlichen Sphären aufgenommen und bewahrt. Das Absolute ist nicht nur ein Gedanke, eine gedachte Idee, sondern Wirklichkeit – es hat für die Welt eine konstitutive Funktion und »erscheint«13 in den Bereichen des wirklichen Lebens, so wie »das absolute Leben in jedem Lebendigen sich ausdrückt«.14 Das ist Hegels Argument für die Transponierung seiner Logik und Substanzmetaphysik in die praktische Philosophie. Die Logik und insbesondere die Dialektik sollen nach Hegel zeigen, dass die Bestimmungen des endlichen Verstandesdenkens (Reflexion) sich unvereinbar gegenüberstehen und daher keine wahre Erkenntnis ermöglichen.15 Hegel argumentiert damit gegen die traditionelle formale Logik, die als Erkenntniskriterium den Satz vom zu vermeidenden Widerspruch ansetzt. Den Widerspruch von zwei entgegengesetzten Bestimmungen hebt nach Hegel die formale Logik auf, indem sie die eine für wahr und die andere für unwahr erklärt. Wenn eine Bestimmung gültig ist, wird die andere dadurch nicht vernichtet, sie bleibt in der Entgegensetzung weiter bestehen. Wenn beide bestehen bleiben, sich aber im Widerspruch befinden, dann können sie im endlichen Denken unmöglich vereint und damit nach Hegel nicht erkannt werden.16 Eine Vereinigung der beiden bestehenden Entgegengesetzten ist aber notwendig, um wahre, vollständige Erkenntnis zu gewinnen. Deshalb fordert Hegel, den Widerspruch zu begehen, seine Unauflösbarkeit durch endliches Denken einzusehen und damit den ersten Schritt zur Erkenntnis des Absoluten zu machen.17 Der zweite Schritt besteht in der Synthesis der endlichen Reflexion und ihrer Antinomie mit der intellektuellen Anschauung als einem menschlichen, spekulativen Denkvermögen. Intellektuell angeschaut und erkannt wird nach Hegel das Absolute in seiner ideellen Struktur und Gegenwart. In der postulierten intellektuellen Anschauung verliert der Satz vom Widerspruch als Erkenntnismethode des endlichen Denkens an Gültigkeit, weil die entgegengesetzten Bestimmungen nach dem spekulativen Prinzip des Denkens der Unendlichkeit, dem »Motor

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GW 4. 421. GW 4. 417. 15 Vgl. GW 4. 446. Das ist die früheste Nennung der Dialektik in Hegels Veröffentlichungen. Er expliziert hier den Begriff der Dialektik nicht eigens, da er ihn an anderer Stelle, nämlich in der Logik, entwickelt hat. Vgl. Düsing, K.: Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik. 104. 16 Hegel erörtert hier die Frage nach den Hinsichten gemäß dem aristotelischen Satz vom Widerspruch nicht. 17 Vgl. GW 4. 208. 14

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Zweites Kapitel

des Denkens«,18 als identisch begriffen werden. Die Unendlichkeit beschreibt Hegel als ein zentrales Prinzip der Bewegung des Denkens zwischen den beiden Extremen einer Antinomie. Demnach vermögen beide Extreme, da sie als entgegengesetzte doch identisch sein sollen, in ihr Gegenteil überzugehen und zu sich zurückzukommen oder »das unvermittelte Gegenteil seiner Selbst zu sein«.19 In seiner Bewegung zwischen den Extremen kann das Denken entweder beim Extrem der Realität, des mannigfaltigen Seins, der Vielheit, oder beim entgegengesetzten Extrem der Idealität, der Einheit stehen bleiben.20 Das einseitige Festsetzen des Denkens in einem der beiden Extreme würde keine Vereinigung zwischen ihnen erlauben. Die Bewegung des Denkens zwischen den Extremen ist deshalb möglich, weil sie auf einer höheren, metaphysischen Ebene als identisch begriffen werden können. An der Identität Entgegengesetzter lässt sich im Denken der Unendlichkeit das Absolute als ihre innere Einheit erkennen. Als diese höhere Identität ist das Absolute nach Hegel nicht eine einfache Einheit, denn als solche wäre sie der Vielheit entgegengesetzt. Die Einheit würde ihre Grenze an der Vielheit haben, und somit Endlichem gegenüberstehen und selbst etwas Endliches sein. Das Absolute ist daher eine höhere Einheit, welche die Gegensätze, oder wie Hegel sagt, die Negativität in sich enthält. Offenbar hat Hegel eine komplexe Struktur vor Augen, die er anhand einer Systemskizze im Naturrechtsaufsatz aufgezeigt hat. Demnach ist das Absolute eine oberste Totalität, die in sich sowohl die gegensatzlose Indifferenz21 von Einheit und Vielheit als auch verschiedene Verhältnisse von Einheit und Vielheit enthält. In der Indifferenz sind Einheit und Vielheit enthalten, aber sie unterscheiden sich nicht voneinander, dagegen sind sie im Verhältnis als Verschiedene gesetzt. Als Verschiedene werden sie nicht vollständig vereinigt, müssen aber irgendwie aufeinander bezogen werden. Eine Beziehung ist nur als relative Identität möglich, in welcher beide bestehen bleiben und wechselseitig aufeinander bezogen werden. Diese relative Identität der entgegengesetzten Einheit und Vielheit nennt Hegel Notwendigkeit22 oder auch Verhältnis. Der Terminus Verhältnis meint in Hegels frü-

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Cruysberghs, P.: Zur Rekonstruktion eines System der Sittlichkeit im »Naturrechtsaufsatz«. In: Kimmerle, H. (Hrsg.): Die Eigenbedeutung der Jenaer Systemkonzeptionen Hegels. Berlin. 2004. 66. 19 GW 4. 431. 20 Vgl. GW 4. 431. 21 Die Indifferenz ist der Begriff Schellings für das Absolute und bedeutet eine gegensatzlose Einheit, in der die Entgegensetzungen ausgelöscht sind. Hegel sucht noch darüber hinauszugehen. 22 Vgl. GW 4. 433.

A. Die frühe Substanzmetaphysik als Grundlegung der Wissenschaften

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her Logik die verständige Beziehung verschiedener, ja sogar widerstreitender Bestimmungen als »unvollkommene Vereinigung«.23 Eine verständige Beziehung von widerstreitenden Extremen ist nur dann möglich, wenn sie selbst als Beziehungsgeflechte von Einheit und Vielheit gedacht werden. Die Extreme, die formal gleichartige Glieder enthalten, lassen sich aufeinander beziehen und unterscheiden sich nur dadurch, dass in dem einen die Einheit und in dem anderen die Vielheit überwiegt.24 Das heißt, in jeder Vielheit gibt es ein einheitliches Moment, das untergeordnet ist, und umgekehrt, in jeder Einheit gibt es ein Moment der Vielheit, das ihr unterliegt. Aus diesen Beziehungen besteht nach Hegel das Verhältnis, das zusammen mit der Indifferenz die Struktur des Absoluten als deren oberste Einheit bildet. Im Absoluten sollen also die gegensatzlose Indifferenz und das Verhältnis der Gegensätze in irgendeiner Weise identisch und in der Substanz gegenwärtig sein. Diese Weise soll offenbar in einer Metaphysik expliziert werden, zu der die Logik der endlichen Reflexion hinführt. Eine solche Metaphysik voraussetzend, postuliert Hegel, dass das Absolute gemäß seiner logisch-spekulativ erfassten Struktur in seinen Attributen zweifach »erscheint« – als eine Einheit von Indifferenz und dem Verhältnis, in dem die Einheit überwiegt (sittliche Natur, sittliche Welt), und als eine Einheit von Indifferenz und dem Verhältnis, in dem die Vielheit überwiegt (physische Natur, Universum).25 Die physische Natur und die sittliche Welt sind zwei Erscheinungsweisen des Einen Absoluten. Für Hegel ist dieses Gegenwärtigsein des Absoluten im Denken und in der Natur, anders als für Spinoza, nur ein Widerschein des Absoluten. Der Widerschein des Absoluten bedeutet dabei zweierlei – die Attribute sind nicht das Absolute selbst, und das Absolute manifestiert sich an seinen Attributen als deren innere Einheit. Das Absolute selbst kann nach Hegel als eine oberste Einheit noch vor diesen Attributen erkannt werden, womit er über Spinoza hinausgeht.26 Die Attribute bestehen nicht wie bei Spinoza gleichberechtigt nebeneinander, sondern in einer Rangfolge – die sittliche Welt steht höher als die physische Natur, der Geist höher als die Natur. Dieses Unterordnungsverhältnis ist problematisch, da Hegel sittliche und natürliche Welt nur formal als zwei verschiedene Formen des Verhältnisses von Einheit und Vielheit unterschieden hat. Strukturell ist jedoch

23

Vgl. GW 5. 280. Vgl. GW 4. 433. 25 Vgl. ebd. 26 Vgl. Düsing, K.: Von der Substanzmetaphysik zur Philosophie der Subjektivität. Zum Paradigmenwechsel Hegels in Jena. In: Kimmerle, H. (Hrsg.): Die Eigenbedeutung der Jenaer Systemkonzeptionen Hegels. Berlin. 2004.189. 24

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nach Hegel die sittliche Natur der physischen überlegen, da in ihr die Einheit überwiegt.27 Um die Struktur des Absoluten als Einheit zu erklären, verwendet Hegel in der gleichen Bedeutung verschiedene Relata, u. a. Einheit und Vielheit, Ideelles und Reelles, Freiheit und Notwendigkeit, Indifferenz und Verhältnis. Hinsichtlich der Erkennbarkeit erfasst Hegel das Absolute als eine Einheit von Anschauung und Begriff, die besonders für die Explikation der absoluten Momente der sittlichen Natur wichtig wird.28 Strukturell entspricht der Anschauung die Vielheit und dem Begriff die Einheit. Die Anschauung umfasst für Hegel das endliche Denken eines Ganzen von Bestimmungen, die in der Realität gegeben sind, wobei die realen Bestimmungen nicht zusammenhanglos, sondern als ein Ganzes gedacht werden.29 Während die Anschauung für Hegel die »lebendige Beziehung« 30 eines Individuums auf das Ganze einer bestimmten Realität ist, stellt der Begriff die gedankliche Beziehung des Verstandes auf das Einzelne dar. Der Begriff ist für den frühen Jenaer Hegel die Begrifflichkeit des Verstandes, die grundsätzliche Weise, wie der Verstand das Endliche erfasst, oder anders gesagt, der gedachte Bedeutungsinhalt von endlichen Bestimmungen, die im Unendlichen das Gegenteil ihrer selbst werden. Hegels absoluter Begriff ist das »Prinzip der Entgegensetzung und die Entgegensetzung selbst«,31 d. h. indem der Begriff sich setzt, setzt er zugleich sein Gegenteil und weiß sich doch immer als derselbe.32 Unter der Bedingung der Identität in der Unendlichkeit kann sich der Begriff zwischen den entgegengesetzten Einheit und Vielheit bewegen. Er kann sich als Vielheit, d. h. als ein einzelnes wollendes Subjekt gegenüber einer Menge von wollenden Subjekten, ebenso auch als Einheit, d. h. als identisch mit der Menge, begreifen und so selbst gemeinschaftliches Recht und Pflicht sein.33 Die Anschauung repräsentiert nach Hegel das Volk und der Begriff das

27

Vgl. GW 4. 464. Damit bringe Hegel die Asymmetrie von Subjektivität und Objektivität ins Spiel und beanspruche für das Ich zumindest noch eine Formal-Erkenntnis des Absoluten, so Ch. Schalhorn in: Hegels Jenaer Begriff des Selbstbewusstseins (1801– 1805–06). In: Kimmerle, H. (Hrsg.): Die Eigenbedeutung der Jenaer Systemkonzeptionen Hegels. Berlin. 2004. 171. 28 P. Cruysberghs vermutet, dass die Termini Anschauung und Begriff mehr als Einheit und Vielheit dem ideellen Charakter der Idee gerecht werden. Vgl. Cruysberghs, P.: Zur Rekonstruktion eines System der Sittlichkeit im »Naturrechtsaufsatz«. 66. 29 Vgl. GW 4. 440. 30 Vgl. ebd. 31 GW 4. 441. 32 Vgl. ebd. 33 Vgl. ebd. Im Hintergrund steht die Kritik an Kant, der nach Hegel zwischen Recht und Pflicht, Legalität und Moralität eine Grenze gesetzt hat und sie nicht als ursprünglich identisch begriffen hat.

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»absolute Einssein der Individualitäten«.34 Das Volk und das Einssein der Individuen sind die Relata, an deren Identität das Absolute als Widerschein in der sittlichen Welt erkennbar ist. In der Explikation dieser Momente besteht Hegels systematische Ethik, deren zentrale Voraussetzung – die Freiheit – Hegel substanzmetaphysisch begründet. Während die physische Natur der Notwendigkeit unterliegt, da in ihr auf der Seite des Verhältnisses von Einheit und Vielheit die Vielheit überwiegt, ist die sittliche Natur frei. Sie enthält zwar die Notwendigkeit in sich, aber da in ihr die Einheit prävaliert, kann sie die Notwendigkeit der Natur negieren oder negativ, unbestimmt setzen.35 Anders als in der Ethik heute, haben insbesondere die deutschen Idealisten dem praktischen Freiheitsbegriff eine grundlegende Theorie der Freiheit vorangeschickt. Bei Hegel ist der theoretische Freiheitsbegriff metaphysisch begründet. Die wahre Freiheit ist die Freiheit des göttlichen Absoluten, übertragen auf die praktische, individuelle Freiheit ist sie das Einssein mit der absoluten, der göttlichen Majestät. Da die letztere in der endlichen sittlichen Welt als die organisierte Allgemeinheit erscheint, sagt Hegel, dass die wahre Freiheit nur derjenige erreicht, der sich mit der Freiheit der Allgemeinheit identisch setzen kann. Diese Gleichsetzung ist nur im unendlichen Denken und in weiterer Entwicklung im Geist möglich, wogegen für das endliche Denken der Individuen diese Gleichsetzung noch ideell, nicht wirklich ist. Das zeigt Hegel an drei möglichen Verhältnissen von individueller und allgemeiner Freiheit, die er zugleich verwirft: erstens die Trennung (das wäre eine Abstraktion ohne Realität, wie z. B. das Leben des Wilden in Rousseaus Diskurs über die Ungleichheit oder Hobbes »nackter Naturzustand«), zweitens die Verstandesidentität (das wäre keine wahre Freiheit für den Einzelnen, da sie mit Zwang beschränkt wird), und drittens die Wahl zwischen der individuellen Freiheit und Freiheit der Allgemeinheit.36 Diese Wahl ist für Hegel nicht gegeben. Selbst wenn die individuelle Freiheit gewählt wird, wird die Freiheit der Allgemeinheit nicht vernichtet, vielmehr bleibt sie als ein Äußeres, Entgegengesetztes bestehen. Denn der Einzelne befindet sich in mannigfaltiger Beziehung zur äußeren Realität, zur Allgemeinheit, und sie beschränkt seine individuelle Freiheit notwendig und mit Zwang.37 So 34

GW 5. 279. Vgl. GW 4. 433. Hegel wirft Kant und Fichte vor, die sittliche Natur nur nach der Seite des Verhältnisses betrachtet, das Absolute lediglich als ein negativ Absolutes begriffen und dieses zum einseitigen Prinzip erhoben zu haben. 36 Vgl. GW 4. 446. 37 Vgl. GW 4. 448. Im irdischen Leben steht der Mensch z. B. unter dem Zwang seiner physischen Bedürfnisse. Nur der Tod bringt dem Einzelnen die reine Freiheit, und nur 35

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zum Beispiel stehen der Freiheit des endlichen Individuums unüberwindliche, äußere Bestimmtheiten oder Beschränkungen in Form von vorgegebenen Zwecken und Pflichten gegenüber, und diese sind für das Subjekt eine äußere Macht. In diesem Verhältnis ist das Individuum »in fremder Gewalt«.38 Die Freiheit des Einzelnen und seine Pflichten können nur in der Form der Unendlichkeit als Entgegensetzung in sich selbst und damit als Aufhebung des Endlichen vereinbart werden. Wenn das Individuum die endlichen Bestimmungen als entgegengesetzte in Einklang bringt, dann betrachtet es seine individuelle Freiheit und seine Pflicht als identisch, die Pflichterfüllung als sein Selbst.39 Wenn die Pflicht keine äußere Macht, kein Zwang mehr ist, sondern sittliche Organisation wird, dann entwickeln sich die Individuen zu der Allgemeinheit, die Hegel Volk nennt. Die Individuen haben zum sittlichen Volk keine zwanghafte und abstrakte, sondern eine konkrete, »lebendige Beziehung«40 als ein bewusstes Sich-Selbstbezwingen. Will das Individuum die Freiheit, dann muss es bewusst seine äußeren endlichen Bestimmtheiten als Einzelnes bezwingen, indem es sie in der höheren, wahren Freiheit der gesellschaftlichen Ganzheit, der es angehört, begreift.41 Ohne Beziehung auf die sittliche Organisation könnte das Individuum die wahre Freiheit nicht erreichen, es wäre vielmehr »entweder Tier oder ein Gott«.42 Damit macht Hegel mit Nachdruck darauf aufmerksam, dass es bei seiner Bestimmung der individuellen Freiheit nicht um den Verzicht und die zwanghafte Vernichtung zugunsten der Freiheit in der Allgemeinheit geht, sondern vielmehr um ein selbstbewusstes Zurücknehmen der individuellen Freiheit als eine höhere Gleichsetzung mit der Freiheit in der Allgemeinheit, in der Hegel ein Moment des Absoluten erblickt. Diese Transponierung der logisch-metaphysischen Konzeption des Absoluten auf die sittliche Organisation und die Explikation der erkennbaren Momente seiner Erscheinung bestimmt Hegels ethisches Programm. Bevor dieses in seinen Einzelheiten thematisiert wird, soll Hegels Kritik an den Einzelwissenschaften, unter die auch die Politische Ökonomie fallen würde, vorangeschickt werden.

durch die Fähigkeit zu sterben erweist sich das Subjekt als frei von Zwängen. Im Hintergrund steht hier die Aufopferung des Lebens für das Volk als die Tugend der Tapferkeit, die im Weiteren noch erklärt wird. 38 Ebd. 39 Vgl. GW 4, 447. 40 Ebd. 41 Vgl. GW 4, 449. 42 Vgl. GW 4, 467 f. Aristoteles bestimmt den Menschen als ein primär politisches Wesen, sonst wäre er Tier oder Gott, wie Hegel eben im Anschluss an ihn sagt.

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b) Die philosophische Kritik an den Einzelwissenschaften vor dem Hintergrund der metaphysischen Konzeption Hegels Die Philosophie hat nach Hegel die Erkenntnis des Absoluten zur Aufgabe, sie ist als solche die absolute Wissenschaft. Wie die Philosophie haben auch die Einzelwissenschaften, u. a. Ethik und Ökonomie, das Absolute zur Voraussetzung, sie müssen es aber nicht selbst konstituieren, sondern es sich von der Philosophie vorgeben lassen. Die absolute Philosophie versteht sich als die Grundlage der einzelnen Wissenschaften. Sie können sich aus diesem absoluten Ursprung als eigene Systeme fortentwickeln, müssen jedoch der Philosophie die Kompetenz zugestehen, die Grenze zwischen Wahrheit und subjektivem Meinen zu bestimmen.43 Entsprechend seiner frühen Jenaer Substanzmetaphysik, welche die Natur und den Geist als zwei Erscheinungsweisen des Einen Absoluten als Substanz begreift, fordert Hegel von den Natur- und Geisteswissenschaften, den »Reflex und die Herrschaft des Absoluten, aber zugleich die Verkehrtheit«44 der absoluten Idee in ihren Gegenstandgebieten darzustellen. Zwar sollen sie selbstständige Wissenschaften sein und eigene Erkenntnisse über ihren Gegenstand gewinnen, sie müssen diese aber nicht willkürlich und für sich, sondern im Hinblick auf die absolute, universale Vernunftidee sammeln. Nur so erreichen sie eine Vollendung, die Hegel zugleich als eine Verbindung der Anschauung mit dem »Logischen« oder als Aufnahme in das »rein Ideelle« fordert.45 Um das zu realisieren, müssen die Einzelwissenschaften zuerst Hegels logisch-metaphysische Methode prinzipiell anerkennen, und das heißt zugeben, dass die empirischen Gegebenheiten, die ja ihr Untersuchungsgegenstand sind, in ihrer Abgrenzung vorläufig sind und über sich in eine absolute, alles ergreifende Vernunftidee hinausführen.46 Denn diese ist nach Hegel nicht nur die Aufgabe der Einzelwissenschaften, sondern auch ihre Grundlage, ihr Sinn, ihre Grenze und ihre Berechtigung. Die absolute Idee als Maßstab bewahrt die Einzelwissenschaften vor dem zusammenhanglosen Anhäufen empirischer Erkenntnisse, denn sie gibt ihnen die innere Notwendigkeit und macht sie in ihrer Bezogenheit auf die absolute Idee und damit auf die Philosophie als die absolute Wissenschaft wahr.

43 44 45 46

Vgl. GW 4. 418. GW 4. 423. Vgl. GW 4. 418. Vgl. ebd.

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Hegel kritisiert insbesondere die Abkoppelung der Rechtswissenschaft von der Philosophie, die Kritik gilt aber ebenso für die in seiner Gegenwart noch neue Politische Ökonomie.47 Seine hauptsächliche Kritik betrifft nicht die Emanzipation der einzelnen Wissenschaften von der Philosophie, und insoweit zeigt er sich als ein moderner Denker. Obwohl er insgeheim »vor der Hand« 48 meint, dass insbesondere die Rechtswissenschaft ganz in eine entwickelte Rechtsphilosophie fallen würde, gesteht er die Selbstständigkeit der Wissenschaften als eigene Systeme oder »Totalitäten«49 unter der Bedingung zu, dass diese in systematischer oder auch ideeller Verbindung mit der Philosophie bleiben. Diese Verbindung ist real, sowohl das Absolute als auch alles in der Philosophie ist Realität, so Hegel.50 Die Philosophie ist keine realitätsfremde Wissenschaft, sondern beruht durchaus auf Erfahrung.51 Denn Erfahrung kann nach Hegel nicht allein die zusammenhanglose, leere Anschauung der mannigfaltigen Realität sein, vielmehr ist sie immer als ein Zusammenhang der Realität mit dem denkenden Subjekt anzusehen. Da die Erfahrung subjektiv ist, kann durch sie selbst nicht immer eindeutig unterschieden werden, was von der beobachteten Empirie das subjektive Meinen und was die bestehende Realität ist.52 Hier kann allein die grundlegende Philosophie den Unterschied zwischen der Wahrheit und dem subjektiven Meinen bestimmen. Wenn die absolute Philosophie etwas für nicht zur Realität gehörend erklärt hat, die Einzelwissenschaften dasselbe aber zu ihrem Prinzip erheben, dann muss die Philosophie beweisen, dass diese rein empirische Gegebenheit widersprüchlich und somit kein wahres Prinzip sein kann. Hegels Kritik an den positiven Einzelwissenschaften betrifft nicht deren Inhalt, sondern ihre positive Form.53 Sie besteht darin, eine einzelne empirische Bestimmung 47

Hegels Kritik richtet sich gegen die Verfechter der »positiven« Rechtswissenschaft, insbesondere gegen Gustav Hugo, Jacob Friedrich Fries u. a. Schon im Naturrechtsaufsatz ist die Hegelsche Position der Systematisierung der Volkssitten im Gesetzeswesen deutlich entwickelt und entscheidend für seine spätere Rechtsphilosophie. Die frühere Position erklärt, wie M. Bienenstock zeigt, warum er in seinen Berliner Jahren in dieser Debatte so radikal und polemisch gegen Carl von Savigny vorgeht. Vgl. Bienenstock, M.: Die »Ungeschicklichkeit, die wahrhaften Sitten in die Form von Gesetzen zu bringen«, ist »das Zeichen der Barbarey«: Hegels Kodifizierungsforderung um 1802. In: Verfassung und Revolution. Hegels Verfassungskonzeption und die Revolutionen der Neuzeit. Hrsg. v. E. Weisser-Lohmann/D. Köhler. Hamburg. 2000. 99 ff. 48 GW 4. 471. Hegel hat dieses Vorhaben in seiner späten Rechtsphilosophie teilweise ausgeführt. 49 Ebd. 50 Vgl. ebd. 51 Vgl. GW 4, 472. 52 Vgl. ebd. 53 Vgl. GW 4. 475.

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für die oberste zu halten und von dieser aus über die anderen Bestimmungen zu urteilen. Das wäre aber nur eine einseitige Entgegensetzung und keine wahre, vereinigende Erkenntnis. Hegels Forderung, dass die Wissenschaften in einem philosophisch begründeten System begriffen werden müssen, ist nicht nur von geschichtlicher Relevanz. Insbesondere die moderne Technisierung der Naturwissenschaften und die umstrittene Forschung an Embryonen machen die Rückbesinnung auf philosophische Begründung der Natur und des Lebens notwendig. Auch die heutige Wirtschaftswissenschaft in ihrem Erkenntnisanspruch, der zur Annahme der Autarkie und zur Abkoppelung von den Gesellschaftswissenschaften führt, gerät immer mehr ins Visier der öffentlichen und wissenschaftlichen Kritik. Die Stimmen von außen, aber auch von ihren eigenen Vertretern, dass sie sich auf ihre philosophischen Wurzeln im Rahmen einer politischen Wirtschaftsethik zurückzubesinnen habe, werden immer lauter.54 Hegel würde sagen, dass ohne Rekurs auf die Philosophie in der wissenschaftlichen Ökonomie keine wahre Erkenntnis möglich ist. Die Ökonomie macht die systematischen Verwicklungen im Prozess der Bedürfnisbefriedigung zum Gegenstand, ignoriert aber die Tatsache, dass die Bedürfnisse sich sowohl im einzelnen Menschen als auch in der Gesellschaft als einem Ganzen widerstreiten und als subjektive, einseitige Größe ungeeignet sind, ein alleiniges Kriterium der Erkenntnis zu sein. Seine Kritik an der Einseitigkeit verstandeswissenschaftlicher Prinzipien richtet Hegel in seinem Naturrechtsaufsatz explizit gegen die theoretischen Ethikbegründungen. Um sich deutlich genug von Kant zu distanzieren, bevorzugt es Hegel, nicht von Ethik zu sprechen, sondern von der Wissenschaft des Sittlichen oder von Naturrechtswissenschaften, welche das Sittliche zum Gegenstand haben.55 Er kritisiert das bisherige Naturrecht, dass dieses zwar eine übergreifende Einheit als eine Organisation der Sitten voraussetzt, aber nicht als absolute Grundlage annimmt.56 Während die empirischen Naturrechtstheorien, u. a. von Th. Hobbes, diese Einheit mehr

54

Vgl. Ulrich, P.: Sich im ethisch-politisch-ökonomischen Denken orientieren. 22 ff. Dass sich die Ökonomie nicht auf mathematische Modelle beschränken kann, sondern auch Wirtschaftspolitik ist, zeigen überzeugend R. Clement, W. Terlau und M. Kiy in ihrem Buch »Grundlagen der angewandten Makroökonomie«. München. 2006. 55 Vgl. u. a. GW 4, 419. 56 Hegel richtet seine Kritik gegen die Theorie des Naturzustands von Hobbes als ein Beispiel der empirischen Behandlungsart und gegen die Philosophien von Kant und Fichte als formale Behandlungsarten des Naturrechts. Während er Hobbes namentlich nicht nennt, kritisiert er Kant und Fichte offen.

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»bewusstlos«,57 induktiv von der Wirklichkeit ausgehend als ein theoretisches System von Rechten und Pflichten, als einen Übergang vom Chaos des Naturzustands zum Rechtszustand postulieren, vermögen die formalen Ethiktheorien das von ihnen theoretisch erkannte Absolute nicht bis zu einer positiven Organisation des Sittlichen zu bringen.58 Hegel wirft insbesondere Kant und Fichte vor, das Absolute als die reine Freiheit des Einzelnen zwar gesehen zu haben, es aber in den autonomen Willen des Subjekts, in die »Willkür des Willens«59 verlegt zu haben und dem Absoluten damit nicht »getreu geblieben«60 zu sein. Sie haben nach Hegel so die allgemeinen Rechte und Pflichten von den Subjekten getrennt und wieder mit Zwang zu verbinden versucht.61 Deren Einssein als Möglichkeit (Moralität) und Nichteinssein als Wirklichkeit (Legalität) haben sie als bestehend fixiert und getrennt, wogegen Hegel schon in seinen Frankfurter Schriften protestiert. Hegels Argument lautet, dass die Einheit von individueller Freiheit und allgemeingültigen Rechten und Pflichten vernünftig erkannt werden kann. Jedoch verstößt Hegel damit gegen Kants grundsätzliche Restriktion der Vernunfterkenntnis einer solchen Einheit und führt sie auf die »Ungeschicklichkeit«62 der Vernunft zurück, die der Verstand in den endlichen Widersprüchen verwirrt. Während Kant und Fichte die Rechte und Pflichten im autonomen Willen begründen, setzen Hobbes und Rousseau einen allgemeinen Rechtszustand an und folgern daraus die sittlichen Normen für den Einzelnen, so Hegel. Bei der Bestimmung der Rechte und Pflichten bezieht sich das empirische Naturrecht nicht allein auf das »bewusstlose«63 Innere der Empirie, wie es beansprucht, sondern auch auf die Vernunft und auf das menschliche Bewusstsein.64 Indem seine Vertreter die Erkenntnisquellen vermischen, zeigen sie nach Hegel zugleich die Notwendigkeit, dass sich die end-

57

GW 4. 422. Vgl. GW 4. 421. 59 GW 4. 435. Hegel gebraucht das Wort »Willkür« im Unterschied zu Kant in dem heutigen pejorativen Sinn. Obwohl Kant ausdrücklich die Form der Maxime zum Maßstab der Sittlichkeit bestimmt und vom Inhalt abstrahieren will, bewertet Hegel wie auch in den Frankfurter Schriften kritisch, dass der Wille immer einen Inhalt hat und als solcher eine Bestimmtheit, Einzelheit im Hegelschen Sinne darstellt. Eine Bestimmtheit, die von der obersten Position über die anderen herrscht, ist das Merkmal der von Hegel gerügten positiven Wissenschaften, unter die jetzt auch die formellen Wissenschaften fallen. 60 Vgl. GW 4. 442. 61 Vgl. GW 4. 429. 62 GW 4. 428. 63 GW 4. 430. 64 Vgl. GW 4. 430. 58

B. Hegels frühe systematische Ethik

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liche Empirie in die Unendlichkeit des menschlichen Denkens versenkt.65 Weder die empirischen noch die formalen Naturrechtstheorien vermögen nach Hegel, die ursprüngliche Verbindung der einzelnen Subjekte mit den allgemeinen Rechten und Pflichten zu zeigen. Sie ernennen entweder den subjektiven Willen oder den allgemeinen Rechtszustand zum obersten Prinzip, setzen aber beide gleichzeitig voraus.66 Hegel beansprucht nun, in seiner eigenen Konzeption der Sittlichkeit, diese Einseitigkeit der bisherigen Theorien zu vermeiden, indem er ein ganzheitliches, absolutes Prinzip zugrunde legt.67 Die absolute Sittlichkeit, von der Hegel ausgeht, ist deshalb nicht einseitig, weil sie keine festen endlichen Prinzipien und Bestimmungen ansetzt, sondern diese in ihrer eigenen Dynamik und Ausdehnung selbst setzt und aufhebt, ganz in sie übergeht und sie dann vernichtet und in dieser Bewegung »sich selbst in unentwickelter Freiheit und Klarheit genießt«.68

B. Hegels frühe systematische Ethik und die Kritik am bourgeois im Naturrechtsaufsatz von 1802 a) Die Bestimmung der lebendigen Sittlichkeit im Volk Das Sittliche ist für Hegel der »Beweger aller menschlichen Dinge«,69 es ist der zentrale Handlungsgrund in den zwischenmenschlichen Beziehungen. Weder die Liebe innerhalb der Familie, noch die gefühlsbedingten Sitten einzelner Menschen repräsentieren nach Hegel die wahre Sittlichkeit.70 Sie liegt vielmehr in den allgemeinen Sitten aller Menschen in einer Gemeinschaft. Die Sittlichkeit des Einzelnen ist für Hegel die »Sittlichkeit Aller«,71 sie durch-

65

GW 4. 430. Vgl. GW 4. 475. 67 Nach Riedel bedient sich Hegel deshalb vorzüglich der spinozistischen Metaphysik, um die Konstruktion der absoluten Sittlichkeit reiner herausarbeiten zu können, diese Metaphysik aber hindere ihn an einem geschichtlich adäquaten Verständnis des neueren Naturrechts überhaupt. Vgl. Riedel, M.: Hegels Kritik des Naturrechts. In: Ders.: Zwischen Tradition und Revolution. 91 f. 68 GW 4. 476. 69 Vgl. GW 4. 419. 70 Vgl. GW 5. 324. Die Familie denkt Hegel hier im Sinne des aristotelischen OikosBegriffs als eigenständige wirtschaftliche Einheit, während er seit der Geistesphilosophie von 1803/04 die »bürgerliche Kleinfamilie« im Auge hat. Vgl. Siep, L.: Zur Dialektik der Anerkennung bei Hegel. In: Hegel-Jahrbuch 1974. Köln. 1975. 368 (Anm. 9). 71 GW 4. 467. 66

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Zweites Kapitel

dringt ihn, wird seine Seele, oder wie er metaphorisch sagt – der Einzelne ist »ein Pulsschlag des ganzen Systems, und selbst das ganze System«.72 Das Ganze ist nicht eine Menge einzelner Individuen, sondern »die Menge ist absolute Einzelnheit«,73 ein konkretes Volk. Im Anschluss an Aristoteles’ Politik erklärt Hegel, dass das Volk der Natur nach eher als der Einzelne sei.74 Wenn der Mensch Teil eines Volkes sein will, dann »muss er gleich allen Teilen in Einer Einheit mit dem Ganzen sein«.75 Für die Individuen ist die allgemeine Sittlichkeit des Volkes eine innere Notwendigkeit, sie ist so wie das Wasser für die Fische und die Luft für die Vögel.76 Die individuelle Sittlichkeit ist in der allgemeinen Sittlichkeit weder autonom noch in ihr verloren, sie ist im Hegelschen Sinne darin aufgehoben, d. h. aufbewahrt und auf eine höhere Ebene erhoben. Das Subjekt schaut sich selbst im Volk an, es gelangt darin zur höchsten »Subjektobjektivität«.77 Hegel argumentiert damit gegen die Begründung der Sittlichkeit und des Naturrechts im autonomen Willen, die er Kant und Fichte unterstellt. Für Hegel müsste das organisierte sittliche Ganze das Entscheidende sein, worin nicht der reine Wille des Einzelnen, sondern die sittliche Natur zu ihrem Recht kommt.78 Nicht im Einzelnen, sondern im Ganzen der Individuen liegt nach Hegel die »Kraft der Sittlichkeit überhaupt«.79 Er hält die organisierte Sittlichkeit für notwendig, damit sich die individuelle Sittlichkeit an ihr konkret im Wollen des Volkes und nicht abstrakt im Wollen des Guten abgrenzen und selbst bestimmen kann. Persönliche Tugenden wie z. B. Mut, Mäßigkeit, Sparsamkeit, Freigiebigkeit sind nach Hegel nicht die wahre Sittlichkeit selbst, sondern deren verschiedene, vergängliche Ausprägungen, die Möglichkeiten des allgemeinen Geistes.80 Die wahren, wirklichen Tugenden sind die Tugenden des Ganzen, die am einzelnen Individuum als Reflex des Absoluten erscheinen.81 Das bedeutet, dass die Tugenden im Namen des organisierten Volkes zwar von einzelnen Menschen repräsentiert werden, jedoch ist ihre private Einzelheit in der höheren Energie der absoluten Sittlichkeit aufgehoben. Dadurch sind sie als Personen aber nicht absolut, sie sind immer noch leibliche, endliche Indivi72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82

Ebd. GW 5. 325. Vgl. Aristoteles: Politik. A2. 1253a. 25–29. GW 4, 467. Vgl. GW 4, 483. GW. 5. 326. Vgl. GW 4, 468. GW 4. 439 f. Vgl. GW 4, 468. Vgl. GW 5. 328. GW 4. 469.

B. Hegels frühe systematische Ethik

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duen, sie repräsentieren an sich jeweils das »stärkere Hervortreten einer Seite der Idee des Ganzen«.82 Die Idee des Ganzen, nicht der individuelle Wille, ist nach Hegel für die Ethik leitend. Demgemäss ist es ihre Aufgabe, jene wahren, absoluten und unvergänglichen Tugenden zu beschreiben, die das naturgemäße sittliche Ganze auszeichnen. Hegels spezifische Definition der Ethik als »Naturbeschreibung der Tugenden«83 enthält die drei wesentlichen Aspekte seiner Konzeption: Sie geht erstens über die Moralität der autonomen Subjekte hinaus, betont zweitens den freien, nicht zwingenden, beschreibenden Charakter der Ethik als Sittenlehre und räumt drittens der Ethik eine unselbstständige Stellung innerhalb einer übergreifenden Theorie des Allgemeinen, des politischen Ganzen und des in diesem verwirklichten Geistes ein.84 Die übergreifende Theorie ist bei dem frühen Jenaer Hegel substanzmetaphysisch fundiert und geht von einer idealisierten sittlichen Gemeinschaft aus, deren Gesetzgebung die lebendigen Sitten ausdrückt. Die Ethik erhält innerhalb der Theorie des sittlichen Ganzen die Aufgabe, den realen, lebendigen Sitten einer Gemeinschaft eine absolute, allgemeinverbindliche Form für alle ihre Mitglieder zu geben.85 Solche Gesetze sollten die allgemeinen Sitten so widerspiegeln, dass sich jeder darin in seiner Besonderheit, d. h. in seinen Vorstellungen von Gerechtigkeit, Freiheit und Religion wiederfindet.86 Das ist Hegels grundsätzlicher, spekulativer Standpunkt, von dem aus er Kants Ethik, die »positiven Rechtswissenschaften«,87 aber auch die politische Verfassung kritisiert.88 Er argumentiert, dass weder der autonome Wille noch die geschichtliche Vergangenheit eines Volkes und noch weniger der zeitgenössische Rückzug der Bürger vom öffentlichen in das privatwirtschaftliche Leben als Grundlagen für eine ethische Gesetzgebung geeignet sind.89 Denn solche Kriterien entsprechen nicht den lebendigen Sitten, sie haben daher nach Hegel keine Wahrheit, und sind ein Spiegelbild des »gegenwärtigen Todes«90 der sittlichen Gemeinschaft. Die »Zeichen des beginnenden Todes,

83

GW 4. 469. Vgl. Düsing, K.: Politische Ethik bei Plato und Hegel. 130. 85 Vgl. GW4. 420. 86 Vgl. GW 4. 482. Die Bürger sollten in der Gesetzgebung den »Gott des Volkes« erblicken und ihre Freude am Kultus haben. Die Religion gehört für Hegel in der frühen Jenaer Phase zur allgemeinen Sittlichkeit. GW 5. 326. 87 GW 4. 470 f. 88 Vgl. Kimmerle, H.: Die Staatsverfassung als »Konstituierung der absoluten sittlichen Identität« in der Jenaer Konzeption des Naturrechts. 131 ff. bes. 135. 89 GW 4. 482. 90 GW 4. 483. 84

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der für das Leben immer drohender wird«,91 sind nach Hegel deutlich, wenn das sittliche Ganze seine Herrschaft über seine Bestandteile verliert und zulässt, dass diese so stark wachsen, dass sie bald das Ganze bestimmen. Den Hintergrund hierfür bildet Hegels Auseinandersetzung mit aktuellen, verfassungsrechtlichen Fragen, die er in der bereits erörterten Verfassungsschrift darlegt und zu denen insbesondere die Vereinzelung der wirtschaftenden Bürgerstände gehört.92 Hegels grundsätzliche Kritik ist spezifisch ethisch, da sie von einem idealisierten, ethischen Ganzen ausgeht. Die gesellschaftliche Ganzheit ist für ihn ein Organismus93 oder ein System von lebendigen Sitten, Rechten, Pflichten, Gesetzen, Zwecken, Regeln etc. Es gründet in Hegels früher Jenaer Substanzmetaphysik. Das Absolute ist demgemäss das konstitutive Prinzip eines sittlichen Volkes als die positiv bestehende Substanz und lässt sich in dessen absoluter Sittlichkeit erkennen.94 Die Sittlichkeit eines Volkes repräsentieren seine Mitglieder, sie sind die Akzidenzen an der Substanz und von ihr abhängig. Alles Handeln, Denken und Sein der einzelnen Individuen hat Grund und Bedeutung im Ganzen.95 Als metaphysisch-logische Totalität muss das sittliche Volk den Widerspruch oder, wie Hegel auch sagt, die Negativität, enthalten und in sich aufheben. Mit Negativität bezeichnet Hegel hier die Sittlichkeit der Volksmitglieder, die sich nicht als Teil der organischen Volkseinheit verstehen. Um das Negative oder das Unorganische zu konkretisieren, betrachtet Hegel das Volk theoretisch als Individualität96 und praktisch als eine reale Gestalt.97

b) Das sittliche Ganze als substantielle sittliche Individualität Die Individualität eines Volkes wird nach Hegel durch die grundsätzliche Beziehung seiner Mitglieder zu ihm als oberste sittliche Einheit bestimmt. Hegel unterscheidet zwei Arten dieser Beziehung – die absolute und die relative Sittlichkeit. Die Individuen der absoluten Sittlichkeit identifizieren das

91

GW 4. 482. Vgl. das erste Kapitel dieser Arbeit. 93 Anspielung auf Fichtes § 19 der Grundlinien des Naturrechts. 94 In der metaphysisch-logischen Synthesis von Reflexion und intellektueller Anschauung, in der das Absolute erkannt wird, verschafft sich die postulierte intellektuelle Anschauung nach Hegel durch die Sittlichkeit Realität. Vgl. GW 5. 324. 95 Vgl. GW 5. 325. 96 In Anlehnung an Herders Bestimmung des Volkes als einer Einheit aus Sprache, Kultur, Geschichte in seiner Schrift »Gott«. 97 Vgl. GW 4. 479. 92

B. Hegels frühe systematische Ethik

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Volk mit der Idee des geordneten Ganzen, die Hegel auch als göttliche Idee oder Majestät bezeichnet,98 d. h. die göttliche Idee ist für sie real als sittliche Ordnung im Volk. Diese Individuen zeichnen sich nicht nur durch Liebe zum Vaterlande, sondern durch ihr »absolutes Leben für das Volk«99 aus. Sie verstehen ihr Leben und ihre Freiheit nicht als Unterwerfung, sondern als ein lebendiges Einssein mit dem Volk und sind bereit, ihr Leben für das Volk zu opfern. Durch die Selbstbezwingung bis zur völligen Aufhebung ihres Lebens beweisen diese Volksmitglieder an sich die absolute Tugend der Tapferkeit, die für den frühen Jenaer Hegel die wahrhafte Sittlichkeit ist.100 Für die Tapferen ist das »Angehören einem Volke«101 das Höchste und absolut Sittliche. Ihre Tapferkeit ist nicht nur ein Gedankending, sondern eine Realität, zu der auch der Krieg gehört.102 Der Krieg bedeutet für ein Volk die Gefahr seiner vollständigen Auslöschung, die ihm zeigt, dass seine Endlichkeit aufhebbar ist. Hegel verweist hier vermutlich auf die Verfestigung von primär wirtschaftlichen Interessen und die damit verbundene Vernachlässigung der direkten, politischen Aktivität der Bürger, wie er sie auch in seinen Berner und Frankfurter Schriften kritisiert. Diese Situation vergleicht Hegel mit der »Fäulnis der See«, wogegen der Krieg zur »sittlichen Gesundheit der Völker«103 beitragen kann. Um einerseits die Tugend der Tapferkeit hochschätzen und sich andererseits von der Verabsolutierung privatwirtschaftlichen Denkens weit genug distanzieren zu können, rechtfertigt Hegel allerdings viel zu leichtsinnig den Krieg und missachtet das Menschenrecht auf Leben, was ihm berechtigte Kritik gebracht hat.104 Die Kriegsrechtfertigung ist substanzmetaphysisch begründet: die absolute Sittlichkeit als Selbstbezwingung und Selbstauslöschung für die absolute, göttliche Idee, deren Trägerin die sittliche Organisation ist, bildet einen nicht zu überbietenden, ethischen Kontrast zu deren Negation – zur relativen Sittlichkeit der Volksmitglieder, die im Gegensatz zur Allgemeinheit leben und wirken. Die relative Sittlichkeit besteht nach Hegel in zwei Arten – als »rohe« Sittlichkeit der Bauern und als formale Rechtschaffenheit der Besitzbürger. Während die apolitischen Bauern ein einfaches Vertrauen in die sittliche 98

Vgl. GW 4. 427. GW 5. 328. 100 Vgl. GW 4. 427 und GW 5. 328. 101 GW 4. 449. 102 Vgl. GW 4. 449. 103 GW 4. 450. 104 Vgl. Waszek, N.: Fox und Pitt. Spannungsfeld britischer Politik im Spiegel des Hegelschen Denkens.126. 99

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Zweites Kapitel

Organisation haben, sehen sich die Besitzbürger in einem Abhängigkeitsverhältnis gegenüber der sittlichen Organisation. Sie nehmen sie als eine ihren wirtschaftlichen Interessen entgegengesetzte Ordnung an, der sie sich unterwerfen, um ihre eigensüchtigen Zwecke erfüllen zu können und sich selbst als Einzelne zu erhalten.105 Da die Befriedigung ihrer wirtschaftlichen Bedürfnisse in der arbeitsteiligen Gesellschaft nur im Austausch mit den anderen möglich ist, respektieren sie das allgemeingültige, formelle Eigentumsrecht. Darin besteht ihre relative Sittlichkeit als Rechtschaffenheit. Das Eigentumsrecht als die bloße formale Koordination von Eigentumsverhältnissen unter den Volksmitgliedern enthält nach Hegel aber nichts Sittliches. In diesem Recht akzeptieren die Besitzbürger die Allgemeinheit, das Recht des organisierten Volkes nur deshalb, weil sie dadurch ihr Leben, Eigentum und ihren Genuss sichern.106 Für sie ist die Tapferkeit als ein Risiko, das eigene Leben für das Volk zu verlieren, nur ein Gedanke.107 In Wirklichkeit fixieren sie ihr einzelnes Leben als Absolutes,108 der endliche Genuss und die Bequemlichkeit sind ihnen zu lieb geworden, als dass sie diese für das Volk opfern. Das, was sie für das Volk tun, sind ihre freiwilligen Spenden für die Armen und Leidenden, die sie nicht aus Menschenliebe, sondern aus »Heuchlerei«, um verehrt zu werden, tätigen. Trotz der kritischen Verurteilung der relativen Sittlichkeit der Besitzbürger, konstituiert sie neben der absoluten Sittlichkeit der Tapferen die sittliche Individualität eines Volkes.

c) Die Wirtschaft in der Individualität des ethischen Gemeinwesens Die ökonomischen Verhältnisse, die Hegel als die Sphäre der Realität oder des Praktischen bezeichnet,109 gründen in den Gefühlen der physischen Bedürfnisse der Volksmitglieder. Diese Gefühle sind rein subjektiv und von den Objekten ihrer Befriedigung getrennt. Das Gefühl der Trennung erzeugt die partikularen Bedürfnisse, und das Gefühl ihrer Befriedigung oder Aufhebung ist der Genuss.110 Die Individuen unterliegen ihren ständig wiederkehrenden

105

Vgl. GW 5. 331. Vgl. GW 5. 331. 107 Vgl. GW 5. 331. Hegel spottet, dass ihr höchster Schwung sei, »hierüber mancherlei Gedanken zu haben«. 108 Vgl. GW 5. 332. 109 Vgl. GW 4. 454. 110 Vgl. GW 5. 281. 106

B. Hegels frühe systematische Ethik

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einfachen und formlosen Bedürfnissen, wodurch ein Kreis der »unendlichen Verwicklungen«111 der Bedürfnisse und den verschiedenen Arten für deren Befriedigung entsteht. In diesem Kreis der Verwicklungen hat die Politische Ökonomie nach Hegel ein inneres Funktionsprinzip entdeckt, nach dem ein System von gegenseitigen Abhängigkeiten der Individuen begründet werden kann, die untereinander den erarbeiteten Überfluss tauschen und auf diese Weise ihre Bedürfnisse befriedigen.112 Die Wirtschaft als funktionierendes, öffentliches System ist nach Hegel deshalb so wichtig, weil es die Ungewissheit darüber, ob der angehäufte Überfluss die Not tilgen kann, verhindert. Denn im Handel als dem »höchsten Punkt der Allgemeinheit in dem Austausch des Erwerbs«113 können Not und Überfluss in der einheitlichen Form des Geldes ausgeglichen werden.114 Das gesellschaftliche System der Wirtschaft wird von zwei Hauptmomenten – Arbeit und Tausch – konstituiert. Bei ihrer Interpretation rekurriert Hegel auf die moderne Politische Ökonomie von Adam Smith und insbesondere auf seine Theorie der Arbeitsteilung.115 Hegel erkennt, dass die Arbeitsteilung eine ökonomische Zeitersparnis ermöglicht, er betrachtet aber primär deren Folgen in der Undurchsichtigkeit der eigenen Arbeit. Denn die Menschen arbeiten nicht speziell für die Befriedigung ihres partikularen Bedürfnisses, sondern allgemein für die unüberschaubare Menge und Art der Bedürfnisse anderer.116 Die fremden Bedürfnisse sind für den Einzelnen eine Macht, die über den Wert seines erarbeiteten Überflusses bestimmt. Die Unberechenbarkeit dieser Menge von verschiedenen Bedürfnissen macht auch die eigene Arbeit und das wirtschaftliche Auskommen unberechenbar und wandelbar, wie Hegel sagt, zu einem »ständig auf- und niedersteigenden Wogen«.117 Das einzig Regierende in dieser Sphäre ist »das bewusstlose, blinde Ganze der Bedürfnisse und der Arten ihrer Befriedigungen«.118 Da es in der Wirtschaft um den physischen Erhalt des sittlichen Ganzen geht, darf diese Sphäre nicht ihrem »blinden Schicksal« überlassen werden. Vielmehr soll der sittliche Staat die Stabilität und das wirtschaftliche Gleichgewicht

111

GW 4. 450. Vgl. GW 4. 450. 113 GW 5. 337. 114 Vgl. GW 5. 337. 115 Zur Entwicklung des Arbeitsbegriffs bei Hegel vgl. Arndt, A.: Zur Herkunft und Funktion des Arbeitsbegriffs in Hegels Geistesphilosophie. In: Gründer, K. und Scholtz, G. (Hrsg.): Archiv für Begriffsgeschichte. Hrsg. Band XXIX . Bonn. 1985. 99–115. 116 Vgl. GW 5. 335 und 354. 117 Vgl. GW 5. 350. 118 GW 5. 351. 112

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zwischen den Bedürfnissen und den Arten der Befriedigung erhalten. Dieses Gleichgewicht ist für Hegel atomistisch zusammengesetzt und deshalb auch genau errechenbar.119 Diese wirtschaftliche Größe bringt die Verhältnismäßigkeit der Bedürfnisse und der Güter zum Ausdruck, die ein Volk aus der rohen und »gebildeten« Natur im Durchschnitt für seine Existenz braucht. So bestimmt die Natur (die unorganische Natur – das Klima, die Fruchtbarkeit des Bodens etc. – aber auch die gebildete – die Arbeit anderer) fast von selbst das richtige Gleichgewicht von Bedürfnissen und Gütern für deren Befriedigung. Die Regierung soll nur dann in der wirtschaftlichen Sphäre intervenieren, wenn dieses Gleichgewicht durch unfruchtbare Jahre, durch »Emporkommen derselben Arbeit in anderen Gegenden«, d. h. durch Wettbewerb, oder durch »Wohlfeilheit«120 gestört wird.121 In diesem Fall soll die Regierung die Menge der erzeugten Güter gemäß den Bedürfnissen durch Steuerung der Beschäftigung und Produktion regulieren. Hegels entscheidendes Argument für die Einmischung des Staates in die Wirtschaft, das heute wieder einer Bewusstwerdung bedarf, lautet, dass ein großer Teil des Volkes seine wirtschaftliche Existenz im Vertrauen auf den Schutz des Staates begründet hat. Ein Ungleichgewicht in der Ökonomie würde das Zutrauen der Bürger in das Allgemeine »betrügen«,122 so Hegel. Anders als Adam Smith knüpft Hegel das wirtschaftliche Gleichgewicht an die Natur. Gleichwohl erkennt er das marktwirtschaftliche Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage, das sich wie durch eine unsichtbare Hand einstellt.123 Wenn 119

Vgl. GW 5. 351. Vgl. GW 5. 352. »Wohlfeilheit« wird in der Nachschrift über die Philosophie des Rechts von 1817/18 wie folgt erklärt: »Das viele Geld in einem Land ist nicht allein der Maßstab des Reichtums des Landes; denn in diesem Land ist das Geld wohlfeil, i. e. die Waren sind teuer. Wo das Geld aber selten ist, ist es teuer, und die Waren sind wohlfeil.« Vgl. G. W. F. Hegel: Die Philosophie des Rechts. Die Mitschriften Wannenmann (Heidelberg 1817/18) und Homeyer (Berlin 1818/19). Hrsg. v. K.-H. Ilting. Stuttgart. 1983. (Mitschrift Wannenmann) §104. 121. 121 A. Arndt geht davon aus, dass Hegels Rezeption der Ökonomie von seiner Auseinandersetzung mit Fichte beeinflusst wurde. Zwar vertritt Fichte eine naturrechtliche Konzeption, die das organische Ganze zum Ziel hat, er geht aber von einem »physiokratischen« Verständnis der Ökonomie aus, nach dem die Organisation nach Naturgesetzen funktioniert, die der Mensch nur lernen und leiten, aber nicht durch Arbeit verändern kann. Das Eigentum begründet Fichte dadurch, dass die Natur zweckmäßig behandelt wird. Nur die Natur ist produktiv und durch Arbeit wird ihr nur nachgeholfen. Der Staat ist für Fichte eine Reproduktionsgemeinschaft, die eine Verteilung der Arbeiten und ihre Resultate zur Aufgabe hat. Vgl. J. G. Fichtes Werke. Band III. Zur Rechts- und Sittenlehre I. Hrsg. v. I. Fichte. Berlin. 1971. 216. Vgl. Arndt, A.: Negativität und Widerspruch in Hegels Ökonomie. 315–328. 122 GW 5. 352. 123 Vgl. Smith, A.: Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und 120

B. Hegels frühe systematische Ethik

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dem Überfluss nicht die angemessenen Bedürfnisse als Nachfrage gegenüberstehen, dann würden sich nur so viele damit beschäftigen, als davon leben können. Wenn das Angebot die Nachfrage übertrifft, dann sinkt der Wert des produzierten Überflusses bis zum Gleichgewichtspreis, in dem das Angebot der Nachfrage entspricht. Doch dieses Gleichgewicht ist nach Hegel nur ökonomische Theorie, nur »müßige Indifferenz der Betrachtung«,124 in der Realität haben viele Menschen ihre physische Existenz an das wirtschaftliche System gebunden. Eine Schwankung im Gleichgewicht könnte viele ruinieren oder ihren Genuss durch den steigenden Wert stören. Hegel hat den Gleichgewichtszusammenhang in der für ihn modernen englischen Ökonomie aufgenommen, doch seine ethischen Bedenken dagegen geäußert. Am freien Markt würde sich theoretisch das Gleichgewicht einstellen, doch dann würde sich in der menschlichen Gemeinschaft die negative ökonomische Sphäre »absolut setzen«,125 und das würde die absolute Sittlichkeit untergraben. Hegel glaubt nicht an die Gleichgewichtsnatur der ökonomischen Sphäre, sondern vielmehr an ihre Herrschsucht, an das »Emporschießen in Beziehung auf die Quantität, und die Bildung zu immer größerer Differenz und Ungleichheit«126 unter den Menschen. Die Tendenz zur Ungleichheit in der Wirtschaft hat Hegel klar gesehen und kritisiert, er hat sie aber nicht pauschal abgelehnt. Im Anschluss an Adam Smith sieht Hegel ein, dass die physischen Gefühle und Bedürfnisse nicht die rohen, natürlichen Bedürfnisse bleiben, sie verfeinern sich vielmehr ständig. Der Genuss wird durch die wachsenden Reize zu einem Drang nach unendlicher Vermehrung, und er übersteigt die realen Bedürfnisse, so dass sie keinen existentiellen, naturhaften Bestand mehr haben, sie erscheinen als etwas außerhalb des genießenden Subjekts und stürzen »die ganze Erde in Unkosten«.127 Der scheinbar unendliche Genuss objektiviert sich im Besitz, der wie die Bedürfnisse keine Grenze kennt. Mit der Zunahme der Komplexität der Bedürfnisse nimmt auch die Arbeit für deren Befriedigung zu. Aber die menschliche Arbeit und der endliche Besitz sind empirisch begrenzt und nicht unendlich. Diese realen Größen wachsen nicht unendlich, vielmehr bewegen sie sich nur so, dass da, wo an einer Stelle der Besitz wächst, er an anderer Stelle abnimmt. Diese Bewegung des Besitzes durch Erzielung von Gewinnen durch Betreiben von gewerblichen Unternehmen, geleitet durch seiner Ursachen. Aus dem Englischen übertragen und mit einer umfassenden Würdigung des Gesamtwerkes herausgegeben von H. C. Recktenwald. München. 1996. 48 ff. 124 GW 5. 352. 125 GW 4. 451. 126 GW 4. 451. 127 GW 5. 353.

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Zweites Kapitel

den Trieb nach Vergrößerung des Reichtums, erzeugt in der Wirtschaft einen Wettbewerb und gliedert sie, wie wir heute sagen würden, mittelständisch, nach verschiedenen Branchen, Ständen, Gruppen etc.128 Wenn jedoch der Mittelstand von einigen »ungeheuer Reichen«129 beherrscht wird, dann wird die von der Wirtschaft erzeugte Macht ihr selbst zum Verhängnis. Die Herrschaft des Reichtums, dem die »tiefste Armut«130 gegenübersteht, zerstört das marktwirtschaftliche Gleichgewicht. Keiner arbeitet mehr für die Befriedigung seiner subjektiven Bedürfnisse – die Reichen schwelgen im Luxus, und die Armen arbeiten für die bloße Menge der Erzeugnisse. Die Arbeit wird dadurch mechanisch und »unmittelbar die höchste Rohheit«.131 Die unhaltbare Differenz zwischen Reichen und Armen prägt, wie Hegel sagt, den »weisheitslosen« Charakter der wirtschaftlichen Sphäre. Wo die »Masse des Reichtums das Ansich«,132 das ausschließliche Geltungskriterium wird, löst sich das absolute, sittliche Band des Volkes und das Volk selbst auf. Es tritt die »Bestialität der Verachtung alles Hohen«133 ein. Das ist eine nicht zu überbietende ethische Kritik am strengen Kapitalismus in der Gesellschaft, der bis heute seinen »Siegeszug«134 hält und im Mittelpunkt der öffentlichen, wirtschaftsethischen Kritik steht. Vor dem Hintergrund des sittlich organisierten Ganzen ist der rein ökonomische Charakter der wirtschaftlichen Sphäre darin ethisch verwerflich. Die Verfestigung, Ausbreitung und Verabsolutierung der wirtschaftlichen Sphäre muss nach Hegel verhindert werden, und er tritt für die Ergreifung von entsprechenden Mitteln durch die Regierung der sittlichen Organisation ein. Die Wirtschaft wird zwar »mehr bewusstlos«, wie durch eine »äußere Naturnotwendigkeit«135 wie z. B. durch den Krieg oder durch die Eifersucht anderer Stände beschränkt, das entledigt den Staat keineswegs von seiner Aufgabe in der Wirtschaft. Wie in seinen Frankfurter Schriften fordert Hegel, dass sich der Staat von der Wirtschaft nicht zurückzieht und für die Ausgewogenheit der Eigentumsverhältnisse sorgt. Wie die antike, platonische Polis soll sich die sittliche Organisation der wirtschaftlichen Sphäre bemächtigen, die Ungleichheit darin bekämpfen, aber auch für die Wertstabilität der

128

Vgl. GW 5. 353. GW 5. 353. 130 GW 5. 354. 131 GW 5. 354. 132 GW 5. 354. 133 Vgl. GW 5. 354. 134 Vgl. die exemplarische Kritik von Peter Ulrich: Sich im ethisch-politisch-ökonomischen Denken orientieren. 22–32. 135 GW 4. 451. 129

B. Hegels frühe systematische Ethik

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Ökonomie sorgen.136 Dabei reiche nach Hegel ein bloßer Grundsatz, dass jeder in der Gesellschaft zu einem wirtschaftlichen Auskommen und einer vollkommenen Sicherheit und Leichtigkeit des Erwerbs berechtigt sei, nicht aus, ja er bewirke sogar das Gegenteil – dass sich dadurch eine ökonomische Sphäre im sittlichen Ganzen unabhängig machen würde.137 Vielmehr muss das sittliche Ganze die Sphäre der Ökonomie als seine negative, unorganische und untergeordnete Sphäre integrieren und gezielt steuern, indem es den Handel oder auch den hohen Gewinn durch entsprechende Auflagen erschwert, womit Hegel seine Überlegungen der frühen Berner- und Frankfurter Phase wieder aufgreift.138 Er fordert zugleich Gerechtigkeit bei der Steuererhebung und erkennt die prinzipielle Schwierigkeit für deren Umsetzung. Die Findung von Gerechtigkeitsprinzipien bei der Besteuerung ist eine ebenso schwere Aufgabe, wie den Besitz zu berechnen, mit welchem jeder zur Steuer beitragen soll. Der Besitz an liegenden Gütern könnte zwar danach berechnet werden, wie viel daraus erwirtschaftet werden könnte, jedoch wäre das ungerecht, weil das Erwirtschaftete nicht vom Besitz, sondern von der Geschicklichkeit des Besitzers abhängt. Die Abgabe von einer konstanten Menge Güter an den Staat, wie J. Steuart fordert, würde nach Hegel die Verarmung von weniger begabten und geschickten Besitzern an Grund und Boden zur Folge haben. Sie würden daraufhin auch weniger produzieren und der Staat würde weniger einnehmen. Der Staat müsste vielmehr die produzierten Waren als Grundlage der Steuerbelastung berücksichtigen.139 Denn am Markt verlässt die eigene Produktion die Sphäre der Besonderheit und wird allgemein gehandeltes Gut, so dass nicht die private Geschicklichkeit besteuert und der Arbeitsmotivation beraubt wird, sondern das Resultat, der allgemeine marktwirtschaftliche Preis der Ware wird besteuert. Hegel erkennt, dass dadurch die Investitionen und die Nachfrage zurückgehen, hält aber an diesen Instrumenten des regierenden Staates fest, da dadurch 136

Ohne die aristotelischen Bezüge abzustreiten, die vor allem Riedel, Ilting und Horstmann deutlich machen, betont K. Düsing die zentrale Rolle des platonischen Gemeinwesens. Nicht die Trennung der Ökonomie von der Politik, wie bei Aristoteles, sondern gerade ihre Unterordnung im Gemeinwesen ist Hegels Programm. Vgl. Riedel, M.: Zwischen Tradition und Revolution, Studien zu Hegels Rechtsphilosophie. Stuttgart. 1982. 121 ff. Vgl. Horstmann, R.-P.: Jenaer Systementwürfe. In: Pöggeler, O. (Hrsg.): Hegel: Einführung in seine Philosophie. Freiburg. 1977. 55. Vgl. Düsing, K.: Politische Ethik bei Plato und Hegel. 95 ff. 137 Dass sich Hegel hier ausdrücklich auf Fichtes Bestimmungen des Eigentumsvertrages bezieht, behauptet A. Arndt. Vgl. Arndt, A.: Negativität und Widerspruch in Hegels Ökonomie. 316. 138 Vgl. GW 5. 354. 139 Vgl. GW 5. 356.

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die Erwerbssucht, auf die es ihm besonders ankommt, beschränkt wird.140 Hegel erkennt zugleich, dass der Staat bei der Begrenzung der ökonomischen Sphäre auch seine Handlungsgrenzen hat. Er darf die Wirtschaft nicht ersticken, d. h. er soll sie nur soweit begrenzen, bis er von der Warte seiner höheren Sittlichkeit die wirtschaftliche Sphäre unter sich eingeordnet hat.141 Hegel lehnt die ökonomische Sphäre somit keineswegs ab, sie hat vielmehr im sittlichen Ganzen ihre Existenzberechtigung, steht aber in einem Unterordnungsverhältnis gegenüber dem Staat als Träger einer höheren sittlichen Idee. Damit entspricht diese Unterordnung der logisch-metaphysischen Struktur der sittlichen Natur, in der die Einheit vor der Vielheit steht. Gemäß der logisch-metaphysischen Grundstruktur der wechselseitigen Beziehung von Einheit und Vielheit gibt es in der Vielheit ein einheitliches Moment. In der mannigfaltigen wirtschaftlichen Sphäre als Vielheit ist das allgemeingültige Eigentumsrecht das einheitliche Moment. Die Eigentumssachen werden nicht real-physisch getauscht, sondern ideal, in formellen Absprachen und Verträgen. Die formale Koordinierung des Eigentumsübergangs setzt das Vertrauen und die Anerkennung eines gemeinsamen Rechts voraus. Der Eigentumsübergang erfolgt nicht durch unmittelbare Besitzergreifung wie in einem Naturzustand, sondern vermittelt durch das allgemeingültige Recht. Das Erlangen von Besitz ist ein Rechtsakt und nur dann rechtskräftig, wenn es nach den allgemein anerkannten Eigentumsrechten und – pflichten geschehen ist. In deren Akzeptanz und Erfüllung hat sich die lebendige »Besonderheit«142 als anerkennende Allgemeinheit bestimmt, d. h. indem das Individuum ein Eigentümer geworden ist, hat es notwendig die anderen in ihrer Eigenschaft als Eigentümer nach geltendem allgemeinem Recht anerkannt. Wenn sich alle Individuen dem Recht unterordnen, sind sie als Eigentümer rechtlich gleichgestellt. Auf diese formelle Gleichheit in der Behandlung des Einzelnen in Eigentumssachen kommt es in der Rechtswissenschaft an.143 Jedoch ist diese Aufgabe schwierig, weil die Eigentumsverhältnisse keine fixen, sondern lebendige Verhältnisse sind und sich nicht in

140

Die gerechte und ausgewogene Verteilung des Reichtums ist der Grund, warum Hegel sich mit der Steuerproblematik beschäftigt. Hegel beschreibt die zu erhebenden Steuern, wie wir sie heute teilweise vor Augen haben. Hegels Ausführungen geben aber keinen direkten Anlass für Göhlers Behauptung, es sei »an das merkantilistische Arsenal von Privilegien, Auflagen und Schutzzölle zu denken«. Vgl. Göhler, G.: Dialektik und Politik in Hegels frühen politischen Systemen. Kommentar und Analyse. In: Ders.(Hrsg.): G. W. F. Hegel. Frühe politische Systeme. Frankfurt. 1974. 538. 141 Vgl. GW 4. 451. 142 Ebd. 143 Ebd.

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der strengen Form von Gesetzen erfassen lassen. Die Gesetze können nach Hegel unmöglich das menschliche Handeln voraussehen und in Paragraphen fixieren, denn der Mensch ist sich selbst in verschiedenen Situationen nicht gleich. Die Ungleichheit in der Sphäre der Wirtschaft, wo die menschlichen Dinge niemals ruhen,144 ist so mannigfaltig, dass sie sich kaum berechnen oder in einer Ordnung von Pflichten und Rechten erfassen lässt. Insofern stellt das Eigentumsrecht in der Wirtschaft nur einen Anschein von Recht, eine bloß formale, leere Gleichheit in der Eigentumsgesetzgebung dar.145 Sie ist leer, weil dieses Recht nur die abstrakte, formale Allgemeinheit zum Gegenstand hat. Hegel fordert, die Rechtsentscheidungen nicht allein auf der formalen Grundlage des geschriebenen Gesetzes, sondern von den richtenden Menschen finden zu lassen, die unter der Voraussetzung ihrer sittlichen Tugend die jeweilige Situation vor dem Hintergrund des Ganzen beurteilen können.146

d) Die Negativität in der realen Gestalt der Sittlichkeit: Der ethische Kontrast zwischen dem Stand der Freien und dem Stand der Unfreien Die Sittlichkeit ist nicht nur Gedanke oder gedachte Beziehung des Einzelnen auf das Volk als substantielles sittliches Ganzes, das seine Individualität prägt, sondern auch höchste Wirklichkeit in der realen Gestalt des bestehenden sittlichen Volkes. Als Individualität und als reale Gestalt ist das Volk die metaphysisch-logisch fundierte Substanz, welche die Widersprüche des Endlichen in sich aufhebt. Der oben gezeigten Unterscheidung zwischen der absoluten und relativen Sittlichkeit im Volk als Individualität entspricht das Verhältnis von der organischen und unorganischen Natur des Sittlichen in seiner realen Gestalt.147 Während die organische Natur die Organisation der Sitten und sittlichen Haltungen betrifft, verkörpert die unorganische Natur den unorganisierten, den sog. »atomistischen«148 Bereich, in dem das Sittliche nur mit Endlichem und damit Zufälligem in Verbindung steht. Zur unorganischen Natur eines Volkes zählt Hegel sowohl seine physisch-geographischen 144

GW 4. 452. Ebd. 146 Platos Bestimmung der königlichen gesetzgebenden Kunst. Vgl. Hegel, GW 4. 452 und 457. Vgl. Platon: Politikos, 294 a–c, auch Politeia 425c–426a. 147 Vgl. GW 4. 454. 148 Die Atomistik ist eine Metapher für das Bestehen von nebeneinander unzusammenhängenden Individuen. 145

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Lebensbedingungen als auch seine Wirtschaft.149 Damit macht er deutlich, dass ein sittliches Ganzes nicht lediglich in abstrakter Vernünftigkeit existiert,150 sondern sowohl von der organischen als auch von der unorganischen Natur bestimmt wird. Die Verhältnisse sind so, wie sie sind, sie müssen als Teile des sittlichen Lebens in seiner Totalität begriffen werden. Vor dem Hintergrund der organischen Sittlichkeit ist das Unorganische ein aufzugebender Bereich. »So hat sich der Weltgeist in jeder Gestalt sein dumpferes oder entwickelteres aber absolutes Selbstgefühl, und in jedem Volke, unter jedem Ganzen von Sitten und Gesetzen sein Wesen, und seiner selbst genossen«.151 Als Beispiel dafür sieht Hegel die feudale Organisation oder die Lehensverfassung an, welche, obwohl sie durch eine höher entwickelte überwunden wurde, immer noch für manche Völker Wahrheit habe und sittlich notwendig, d. h. frei152 und gerecht sei. Denn sie spiegelt die lebendigen Sitten in einem Entwicklungsstadium der Organisation wider, wenn der »Genius einer Nation überhaupt tiefer steht und ein schwächerer ist«.153 Hegel zeigt an diesem Beispiel, dass nicht eine äußere, materielle, unorganisierte, wenn auch höher entwickelte Macht die Sittlichkeit bestimmt, sondern umgekehrt, dass diese unorganische Materie vom Geist, vom sittlichen, organischen Charakter des Volkes, selbst wenn er schwach ist, beherrscht wird.154 Das Verhältnis von organischer und unorganischer Natur konkretisiert sich in der realen Gestalt des Sittlichen, die substanzmetaphysisch fundiert ist, als Entgegensetzung von zwei Gruppen von Individuen – auf der einen Seite stehen die Individuen der absoluten Sittlichkeit, die Staatsbürger, welche ihre Bedürfnisse mit den Bedürfnissen der Polis gleichsetzen, und auf der anderen Seite sind die Individuen der relativen Sittlichkeit oder die Besitzbürger, welche ihre privaten, egoistischen Interessen zum Prinzip des Handelns und Denkens machen. Da sich die sittliche Organisation »rein erhalten«155 soll, d. h. um zu verhindern, dass sich darin allgemein das privatwirtschaftliche Denken und Handeln verbreitet, teilt Hegel die Bürger in 149

Vgl. GW 4. 479. Vgl. ebd. Vgl. Hegels X. Habilitationsthese: »Principium scientiae moralis est reverentia fato habenda« (GW 5.227). 151 GW 4. 479. 152 GW 4. 482. 153 GW 4, 480. 154 In diesem Sinne, das Volk als Totalität aufgefasst zu haben, lobt Hegel Montesquieus Buch »Vom Geist der Gesetze« (GW 4. 481). Darin erblickt Bienenstock einen ersten Ansatz von Hegels späterem Begriff des »objektiven Geistes« Vgl. Bienenstock, M.: Die »Ungeschicklichkeit, die wahrhaften Sitten in die Form von Gesetzen zu bringen«, ist »das Zeichen der Barbarey«. 102 ff. 155 GW 4. 454. 150

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zwei Stände auf – die Staatsbürger im Stand der Freien und die Besitzbürger im Stand der Nichtfreien.156 In seiner frühen Jenaer Ständelehre, die grundsätzlich platonische Züge trägt,157 hebt Hegel mit den Bezeichnungen »Freie« und »Unfreie« den ethischen Charakter der Trennung hervor. Der Stand der Freien besteht aus dem »Individuum der absoluten Sittlichkeit, dessen Organe die einzelnen Individuen sind«.158 Das sind der Monarch und die regierenden Staatsbürger. In der lebendigen organischen Totalität der sittlichen Individuen schaut sich objektiv der »göttliche Selbstgenuß«159 an und ist lebendiger Geist. Die Staatsbürger arbeiten nicht primär für die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse, sondern für die Erhaltung der sittlichen Organisation. Der Staatsbürger lebt »in und mit und für sein Volk … ein allgemeines, dem Öffentlichen ganz gehöriges Leben«.160 Dieses Verständnis des Staatsbürgers, des Politikers, das heute wieder einer Bewusstwerdung bedarf, übernimmt Hegel aus der antiken griechischen Philosophie. Er erwähnt Aristoteles’ Bestimmung von politeuein und die »höhere Lebendigkeit« von Platos Philosophie, die fordert, dass die Politiker Philosophen sein sollen.161 Mit dem Bezug auf Aristoteles und Plato verweist Hegel auf umfangreiche Begründungen des Standes der Freien und beschreibt ihn vermutlich deshalb im Vergleich zum zweiten Stand nur kurz. Plato hat nach Hegel die Mitglieder des ersten Standes zu königlicher Kunst, zur Tapferkeit und zu edlen, gezügelten Sitten fähig erklärt, wogegen er die nicht zum absolut-sittlichen Leben Fähigen als gottlos, übermütig, ungerecht und als böse gewaltsame Natur bezeichnet. Nach Hegel verhalten sich in Aristoteles’ Philosophie die Besitzbürger des zweiten Standes zum edlen Stand wie Leib zum Geist, d. h. als solche, die ihren Geist nicht bei sich haben.162 Plato und Aristoteles haben nach Hegel damit den zweiten, wirtschaftenden Stand zwar beschrieben, aber nicht als eigenen Stand konzipiert.163 Mit der konzeptionellen Einführung des zweiten Standes trägt Hegel der Entwicklung der Industrie und der wissenschaftlichen Ökonomie in seiner Gegenwart Rechnung.164 Dabei ist 156

Vgl. GW 4. 455. Zu den Gemeinsamkeiten und Unterschieden vgl. Düsing, K.: Politische Ethik bei Plato und Hegel. 95–145. 158 GW 4. 455. 159 Ebd. 160 GW 4. 455. 161 Ebd. Vgl. Platon. Politeia. V. 473 b und VI. 484a ff. sowie Aristoteles. Politik. A7. 1255b 35–37. 162 Vgl. Platon. Politikos. 308e–309a. Vgl. Aristoteles Politik. A4–5. 125 4a 13 ff. 163 Vgl. GW 4. 455. In Platons Politeia umfasst der dritte Stand die Handwerker, die Bauer und die Geschäftsleute. 164 Dagegen geht Göhler in seiner Interpretation im Anschluss an Rosenzweig und 157

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ihm bei der Beurteilung der zeitgenössischen Verhältnisse die griechische antike Polissittlichkeit nach wie vor die Kontrastfolie, und er beklagt, dass sich in seiner Gegenwart der Stand der Unfreien immer mehr ausbreite und sogar auf den Stand der Freien übergehe.165 Die antike Polissittlichkeit, welche Aristoteles und insbesondere Plato vertreten, ist mit der Einführung der römischen Universalität im öffentlichen Recht, d. h. mit der formalen Gleichstellung der Stände, verschwunden, wie Hegel bereits in den Frankfurter Schriften argumentiert. Er macht das Argument auch in seinem frühen Jenaer Naturrechtsaufsatz geltend. Unabhängig von seiner historischen Richtigkeit, worauf Riedel aufmerksam gemacht hat,166 ist es vor allem ethisch motiviert. Die beiden Stände repräsentieren verschiedene Formen von Freiheit und Sittlichkeit in der Organisation, und die absolute Sittlichkeit des ersten Standes darf nicht der formalen, relativen Sittlichkeit zum Opfer fallen. Das römische Recht habe den Weg für die Vermischung beider Stände frei gemacht, und der zweite Stand habe sich »zum alleinigen Volk«167 ausgebreitet, wie Hegel an Platos gleichlautende Kritik anschließt. Damit seien die antike Polissittlichkeit und die Freiheit, so wie sie Hegel versteht, untergegangen. Der erste Stand habe sich erniedrigt, indem er nicht mehr die Gesetze sich selbst gab, sondern Befehle vom Monarchen befolgte, da dessen Nachkommen mit dem niedrigen Rang von Bürgern und Untertanen zufrieden waren.168 Als die Freiheit des tapferen ersten Standes aufgehört habe, wurde auch seine Herrschaft über den zweiten Stand aufgehoben. Das »Feuer des Genius« und der öffentliche Mut wurden nach Hegel ausgelöscht und alle versanken in die »matte Gleichgültigkeit des Privatlebens«.169 Das römische

Haering von einer »Verklärung der alten Zünfte« aus. Vgl. Göhler, G.: Dialektik und Politik in Hegels frühen politischen Systemen. 542. 165 GW 4. 455. 166 Vgl. Riedel, M.: Die Rezeption der Nationalökonomie. In: Ders. (Hrsg.): Zwischen Tradition und Revolution.125 ff. Riedel erklärt mit Hegels Fehlinterpretation des römischen Rechts jenen tragischen Widerspruch, dass Hegel den Stand der Wirtschaft als eigenen Stand im sittlichen Ganzen anerkennt und zugleich aber als Produkt des Verfalls antiker Sittlichkeit verurteilt. Das römische Recht hebt nach Riedel mit der Ausbildung des Personenbegriffs nicht die Differenz der Stände auf. Der Widerspruch zwischen der gleichzeitigen Rezeption von antiker Polissittlichkeit und der modernen Ökonomie bei Hegel führt für Riedel zu jener »eigentümlichen Projektion der Figur des bourgeois an den Ausgang der antiken Welt«, wo doch Hegel nach wie vor die klassische Aristotelische Trennung von Politik und Ökonomie anstrebe. Riedel berücksichtigt dabei nicht ernsthaft die platonischen Züge der Hegelschen Konzeption. 167 GW 4. 456. 168 GW 4. 457. 169 Ebd.

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Privatrecht habe nicht mehr das Gemeinwesen, sondern die Einzelheit, das Individuum, zum Prinzip der Gesetzgebung gemacht und der »Verdorbenheit« des zweiten Standes und der »Erniedrigung«170 des ersten Standes stattgegeben, so Hegel. Da dieses Recht sich nur auf die Regelung der Eigentumsverhältnisse der Privatmenschen beschränkt, muss es von der allgemeinen Gesetzgebung abgetrennt und nur für die ökonomische Sphäre gültig sein. Dort kann es sich zu einer unendlichen Expansion von Vorschriften entfalten, wie Hegel im Anschluss an Plato sagt, weil sich die Gesetzgebung an nichts Absolutem, Göttlichem orientiert, sondern nur an wechselnden formellen Privatinteressen der Bürger wie z. B. Rechtsgründe des Besitzes, Verträge zwischen Individuen über Sachen und Handarbeiten, Strafrecht, Eintreiben und Auflegen von Zöllen auf den Märkten und Häfen.171 Alle diese Gesetzesbestimmungen wären in ihrer strengen Gesetzesform nicht nötig, wenn die Individuen des zweiten Standes sich absolut sittlich verhalten würden. In der Wirtschaft gibt es aber kein wahres Orientierungskriterium, sondern es waltet allein die Zufälligkeit der reellen Dinge als eine »abstrakte, inhaltslose Macht überhaupt, ohne Weisheit«.172 Bei der Findung von angemessenen Vorschriften für das wirtschaftliche Handeln sind die Mitglieder des zweiten Standes in ihrer Orientierungslosigkeit »wie Kranke, die aus Unenthaltsamkeit nicht aus ihrer schlechten Diät treten wollen, und durch die Heilmittel nichts bewirken, als mannigfaltigere und größere Krankheiten zu erzeugen, während sie immer hoffen, wenn jemand ihnen ein Mittel rät, von diesem gesund zu werden«.173 Diese Orientierungslosigkeit der Wirtschaftsbürger darf sich nicht allgemein konstituieren, denn so würde die »freie Sittlichkeit« zerstört. Gleichwohl erkennt Hegel, dass die Wirtschaft eine nicht mehr wegzudenkende Sphäre des öffentlichen Lebens geworden ist und er sie nicht einfach ablehnen kann, sondern anerkennen muss. Die Anerkennung der Wirtschaft als eine endliche, begrenzte Sphäre, als einen eigenen, selbstständigen Stand ist nur in der Trennung von der Sphäre des Absolutsittlichen, des Standes der Freien, möglich. Diese Trennung ist nach Hegel aber nicht eine Ausschließung vom sittlichen Ganzen, vielmehr wird sie bewusst in das sittliche Ganze aufgenommen und auf ihren begrenzten Rechtsraum verwiesen. Darin kann der Stand an »seiner Verwirrung und der Aufhebung einer Verwirrung durch eine andere, seine völlige Tätigkeit ent-

170 171 172 173

Ebd. Ebd. GW 5. 336. GW 4. 457.

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Zweites Kapitel

wickeln«.174 Die Bürger dieser weisheitslosen Sphäre werden als Angehörige des sittlichen Ganzen zwar allgemein respektiert, jedoch nicht hinsichtlich der allgemeinen Sittlichkeit der Staatsbürger. Die Besitzbürger bilden lediglich die formale Allgemeinheit, sie sind Einzelne gegen alle, oder wie Hegel geringschätzig sagt, »bourgeois«,175 apolitische Privatleute, »politische Nullitäten«.176 Für sie bedeutet das öffentliche Leben in der Polis die Sicherung ihres Besitzes, Erwerbs und Genusses, und sie wissen, dass diese Sicherung nur durch die Tapferkeit des ersten Standes möglich ist. Deshalb nehmen sie es in Kauf, für die Bedürfnisbefriedigung des tapferen ersten Standes durch die Früchte ihrer Arbeit zu sorgen und das, so spottet Hegel, ist das »Höchste«,177 wozu sich dieser Stand aufschwingt, da er dadurch teilweise von seinem selbstsüchtigen, ökonomischen Prinzip zurücktritt. Aber diese Art der Aufopferung von Eigentum ist ohne Lebendigkeit und ohne Freiheit, denn es ist eine bloße Abgabe von erwirtschafteten Sachen zum physischen Lebenserhalt des Ganzen, so Hegel. Der erste Stand darf es nicht zulassen, dass der zweite Stand sich selbst überlassen und isoliert wird. Vielmehr muss das ethische Ganze hinnehmen, dass es darin einen großen Teil seiner Bürger »zur mechanischen und Fabrikarbeit aufopfert und ihn der Rohheit überlässt«.178 Die wirtschaftliche Entwicklung, die Hegel damals in England verfolgen konnte, war hierzulande noch nicht Realität. Diese voraussehend, zeigt sich Hegel hier als ein moderner Denker. Die sittliche Organisation darf das Dasein der Fabrikarbeiter nicht allein den Besitzbürgern, den Fabrikanten überlassen, sie muss sich dieser Sphäre annehmen und die Lebendigkeit, die lebendige Sittlichkeit darin erhalten.179 Das heißt für Hegel nicht, dass der Staat unmittelbar in die Wirtschaft eingreifen darf, vielmehr denkt Hegel an eine staatliche Unterstützung dieser Sphäre in Form von Vertrauensförderung. Das Vertrauen als eine lebendige Beziehung kann nach Hegel nur zu etwas Konkretem auf174

GW 4. 458. GW 4. 458 und GW 5. 336. Hegel bezieht sich eindeutig auf Rousseaus Bestimmungen von bourgeois und citoyen, der Besitzbürger soll eigentlich zum Staatsbürger werden. »Der Verlust, den der Mensch durch den Gesellschaftsvertrag erleidet, besteht in dem Aufgeben seiner natürlichen Freiheit und des uneingeschränkten Rechts auf alles, was ihn reizt und er erreichen kann. Sein Gewinn äußert sich in der staatsbürgerlichen Freiheit und in dem Eigentumsrecht auf alles, was er besitzt«. Rousseau, J.J.: Der Gesellschaftsvertrag. 53 (8. Kapitel des ersten Buches). 176 GW 4. 458. 177 GW 5. 338. 178 GW 5. 354. 179 Für G. Göhler handelt es sich hier um Hegels nüchternen Versuch, die Herrschaftsverhältnisse zu eliminieren und ihnen Leben einzuhauchen. Er beachtet dabei kaum, dass 175

B. Hegels frühe systematische Ethik

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gebaut werden, und dies bedeutet hier die konkrete, eigene und vom Staat anerkannte Konstitution des Standes der Wirtschaft. Die Wirtschaft kann in dieser Hinsicht als eine formal-organische Ganzheit betrachtet werden, weil das darin geltende allgemeine Recht in allen Individuen reell und durch ihren Willen und ihre Selbsttätigkeit bestimmt ist. Innerhalb der begrenzten, wirtschaftlichen Sphäre ist die eigene Konstitution ein tätiger Zusammenhang aller Individuen, ein lebendiges Allgemeines, worin sie eins sind. So werden die einzelnen Fabrikarbeiter nicht der Herrschaft einzelner Fabrikanten ausgeliefert, sondern beziehen sich auf eine, wenn auch nicht absolute, so doch allgemeine, organische Ganzheit und deren Recht. Eine solche Beziehung ist deshalb sittlich, weil sie auf »Zutrauen, Achtung und dergleichen«180 beruht, und sie hebt den auf Quantität und Ungleichheit gehenden Charakter des wirtschaftenden Standes auf. Wie in der Frankfurter Phase schwebt Hegel erneut das Bild der platonischen Polis vor, in der die Reichen verpflichtet wurden, Feste für alle auszurichten, um einerseits ihre finanzielle Macht äußerlich zu vermindern, aber auch innerlich den Drang nach unendlichem Reichtum des Einzelnen auszurotten.181 Die zuvor kritisierte »Bestialität« des reinen ökonomischen Denkens und Handelns wird in der Bestimmung seines zweiten, realen Charakters als ein lebendiges Vertrauensverhältnis relativiert und das führt Hegel über die extreme Position hinaus. Zwar bleibt die grundsätzliche ethische Kritik an dem Egoismus der bourgeois bestehen, deren Relativierung deutet jedoch bereits die Wende in Hegels systematischem Denken an. Hegel sucht nunmehr die inneren Beweggründe zu verstehen, die den äußeren ökonomischen Bestimmungen und Verhaltensweisen zugrunde liegen. Diese gegenüber dem Naturrechts-

diese Überlegungen Hegels substanz-metaphysisch und vor allem ethisch motiviert sind. Hegel sucht Wege, nicht künstlich einer Sphäre Leben einzuhauchen, sondern deren immanente Sittlichkeit zu fördern, damit sie sich in die höhere Sphäre des Volkes integrieren kann. Es muss auch energisch gegen Göhlers Meinung: »Von einem sozialkritischen Engagement gegenüber den Fabrikarbeitern könne bei Hegel nicht die Rede sein« eingewendet werden, dass Hegel ein in Deutschland zu seiner Lebzeit noch nicht brennendes gesellschaftliches Problem voraussieht und die sittliche Organisation auffordert, Mittel zu ergreifen, damit es zu dem Zustand der Fabrikarbeiter in England überhaupt gar nicht erst kommt. Diese Forderung Hegels ist durchaus ethisch motiviert, was Göhler kaum beachtet. Vgl. Göhler, G.: Dialektik und Politik in Hegels frühen politischen Systemen. 542. 180 GW 5. 354. 181 Vgl. GW 5. 355. Wenn Riedel die aristotelischen Bezüge in Hegels Konzeption sucht, stößt er hier auf unüberwindliche Widersprüche, die er selbst einsieht. Entgegen Aristoteles’ Bestimmung der ökonomischen Tätigkeiten lediglich in der koinonia politike, haben sie bei Hegel einen gesellschaftsbildenden Charakter. Vgl. Riedel, M.: Die Rezeption der Nationalökonomie. In: Ders. (Hrsg.): Zwischen Tradition und Revolution. 122.

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Zweites Kapitel

aufsatz verschobene Sichtweise des zweiten Standes im letzten Kapitel im Fragment System der Sittlichkeit erlaubt Hegel ein tieferes Verständnis der Strukturen und Vorgänge in der Wirtschaft, das er dann in seiner späteren Jenaer Geistesphilosophie182 weiterführt. Die Verschiebung der Sichtweise markiert die Wende in Hegels Behandlung des zweiten Standes und kann als ein inhaltliches Argument dafür gelten, dass das Reinschriftfragment System der Sittlichkeit nach der Niederschrift des Naturrechtsaufsatzes im Jahr 1802 entstanden sein dürfte, was in der Forschung noch umstritten ist.183 Zum Stand der Nichtfreien zählt Hegel auch den Stand der Bauern, die in der Landwirtschaft zur eigenen Bedürfnisbefriedigung arbeiten. Jedoch verrichten sie ihre Arbeit nicht nur für sich und ihre individuellen Bedürfnisse, sondern die Früchte ihrer Arbeit tragen zum materiellen Existenzfortbestand des sittlichen Ganzen bei. Insbesondere sorgen die Bauern durch ihre naturnahe Arbeit für die tapferen Bürger des ersten Standes und haben zu ihnen ein ursprüngliches, naives Vertrauensverhältnis. In dieser Hinsicht kommt dem dritten Stand der Bauern eine »formale absolute Sittlichkeit«184 zu. Damit steht der dritte Stand in der ethischen Rangfolge vor dem zweiten Stand. e) Die Realität der Sittlichkeit als Tragödie und Komödie Die Forderung, dass die Sittlichkeit nicht nur eine theoretische Konzeption, eine gedachte, sittliche Beziehung des Einzelnen auf das Ganze, sondern lebendige Realität, wie in der antiken Polis, sein soll, ist das Hauptproblem der frühen praktischen Philosophie Hegels. Den Anspruch auf Erfassung der realen Sittlichkeit ernst nehmen, heißt aber auch: ihre realen Gegensätze

182

G. W. F. Hegel: Gesammelte Werke. Band 8. Hrsg. v. R.-P. Horstmann. Hamburg. 1976. 185–262 (zitiert als GW 8 und die Seitenzahl). Verwendet werden hier die auf der Grundlage der Gesammelten Werke neu herausgegebenen Jenaer Systementwürfe III. Naturphilosophie und Philosophie des Geistes. Hrsg. von R.-P. Horstmann. Hamburg. 1987. 183 H. Kimmerle datiert den Naturrechtsaufsatz auf den November 1802, und beurteilt das Fragment System der Sittlichkeit als eine direkte Ausführung des im Aufsatz entworfenen Programms. Das Reinschriftfragment System der Sittlichkeit soll nach K. R. Meist im Sommer 1802 parallel zum Naturrechtsaufsatz entstanden sein. Vgl. Kimmerle, H.: Die Staatsverfassung als »Konstituierung der absoluten sittlichen Identität« in der Jenaer Konzeption des Naturrechts. 141. Meist, K. R.: Zur neuen Verortung des Reinschriftentwurfs als Vorlage für eine von Hegel projektierte Schrift zur »Critik des Fichteschen Naturrechts« In: G. W. F. Hegel: System der Sittlichkeit. Hrsg. von H. D. Brandt. Hamburg. 2002. XXXVIII. 184 GW 4. 455.

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aufnehmen. Das, was sein soll, ist die Anerkennung der verschiedenen Prinzipien und die Absonderung der beiden Stände in einem sittlichen Ganzen, aber so, dass der zweite Stand durch den ersten bezwungen wird.185 Nur in der untergeordneten Stellung kann der wirtschaftliche Stand in die sittliche Totalität aufgenommen werden und versöhnt neben dem Stand der Freien bestehen. Die Abspaltung der wirtschaftlichen Sphäre und die Erteilung eines eingeschränkten Wirkungsbereichs nach eigenen Prinzipien ist für Hegel ein Kompromiss, der wegen der Erhaltung des Sittlichen notwendig ist. Der zweite Stand erkennt den ersten Stand in seiner Übermacht an, weil die tapferen Bürger mit ihrem Lebensopfer zugleich das Eigentum sichern und verteidigen. Der erste Stand erkennt den zweiten an, weil dieser mächtig geworden ist und ihn erhält. Die »Versöhnung« der beiden Stände sittlichen Lebens in der realen Sittlichkeit besteht darin, dass sie sich voneinander scheiden und dennoch eine sittliche Ganzheit bilden. Hegel interpretiert diese Versöhnung mit einer Metapher aus der griechischen Mythologie ästhetisch.186 Die »Versöhnung« der Stände der Freien und Unfreien beschreibt er als eine »Tragödie im Sittlichen, welche das Absolute ewig mit sich selbst spielt«.187 Um diese ästhetische Metapher zu verstehen, 185

Vgl. GW 4. 458. Die Rolle, die den Bürgern zugesprochen wird, entspricht der Einordnung der Eumeniden in die Einheit der antiken Polis, wie sie in der Orestie des Aischylos geschildert wird. Sie sind als »unterirdische Mächte« von den Ordnungsmächten bezwungen, aber nicht völlig vernichtet, sondern dem staatlichen Leben untergeordnet. Dass für Hegel hier die Tragödie eine zeitlose Metapher ist, haben weder Lukács noch Riedel erkannt. Sie kritisieren und beklagen die »Mystik« dieser Tragödie. Riedel erklärt sogar diese »Dunkelheit« mit dem wenig einsichtigen Schluss, Hegel sei sich zu dieser Zeit über den Begriff und die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft nicht im Klaren gewesen und habe die Figur des bourgeois »eigentümlich« an den Anfang der antiken Welt projektiert. S. Arribas meint, dass die notwendige Koexistenz von bourgeois und citoyen nicht von einer Vision normativ geregelter einheitlicher Sittlichkeit motiviert sei, sondern immer ein tragisches Spannungsverhältnis im Kampf um Anerkennung und Ehre sei, das sich besonders in den Jenaer Schrifen Hegels nachvollziehen lässt. Demgegenüber interpretieren u. a. C. Menke, O. Pöggeler und K. Düsing im Sinne Hegels seine »Tragödie im Sittlichen« als Metapher. Vgl. Lukás, G.: Der junge Hegel. Bd. 2 . 465. Riedel, M.: Die Rezeption der Nationalökonomie. In: Ders.(Hrsg.): Zwischen Tradition und Revolution. 125. Arribas, S.: Bourgeois and citoyen. Struggle as Mediation of their tragic conflict in Hegel’s Jena Manuscripts. In: Hegel-Jahrbuch 1999. Berlin. 2000. 213 ff. Menke, Ch.: Tragödie im Sittlichen. Gerechtigkeit und Freiheit nach Hegel. Frankfurt a. M. 1996. Düsing, K.: Griechische Tragödie und klassische Kunst in Hegels Ästhetik. In: Gethmann-Siefert, A./Lu de Vos/Collenberg-Plotnikov (Hrsg.): Die geschichtliche Bedeutung der Kunst und die Bestimmung der Künste. München. 2005. 149. Vgl. Pöggeler, O.: Die Entstehung von Hegels Ästhetik in Jena. In: Henrich, D./Düsing, K.: Hegel in Jena. Die Entwicklung des Systems und die Zusammenarbeit mit Schelling. Hegel-Studien (Beiheft 20). Bonn. 1980. 255. 187 GW 4. 458. 186

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Zweites Kapitel

muss Hegels spezifische Theorie der Kunst herangezogen werden. Die Kunst hat die Aufgabe, das göttliche Absolute in sinnlich-anschaulicher Gestalt darzustellen. Die Tragödie als eine spezifische Form der Kunst stellt mit den Mitteln der Poesie das absolute Ideal in Handlung dar und führt notwendig zu tragischen Konflikten und Schicksalen.188 Das Tragische ist nach Hegel ein Phänomen der griechischen Sittlichkeit, welches einzelne Heroen an sich repräsentieren. In ihrem Denken und Handeln ist ihr subjektives Wollen mit dem Bestehen von Sitte und Recht des Volkes identisch, womit sie sich mit einer bestimmten sittlich-göttlichen Macht identifizieren. Dieser bestimmten Macht steht in der griechischen Mythologie des Polytheismus eine andere, ebenfalls göttliche Macht entgegen. Während der Konflikt der Mächte für die Götter ein heiteres Spiel in der Komödie ist, ist es für die Heroen als endliche Repräsentanten dieser Mächte ein tragisches Schicksal, weil sie zugleich ohne und doch durch eigenes Verschulden der einen Macht gehorcht und die andere verletzt haben. Das Tragische des Sittlichen besteht nach Hegel darin, dass es bei seiner Realisierung zwei Mächten gehorchen muss – zum einen dem Absoluten, das es manifestiert, und zum anderen der Endlichkeit, an der es sich manifestiert. Das göttliche Absolute spielt nach Hegel dieses Trauerspiel mit sich, weil es sich als Idee in der Endlichkeit offenbart und sich dabei in der realen Welt dem Leiden, der Abspaltung und dem Tod ausliefert und wieder »aus seiner Asche in die Herrlichkeit«189 erhebt. Den tragischen Konflikt zwischen der unendlichen Idee und der endlichen Realität des Sittlichen exemplifiziert Hegel sowohl an den sittlichen Personen selbst als auch an der Polis. Die tapferen Bürger des ersten Standes beweisen zwar an sich das »absolute Leben der Sittlichkeit«,190 welches in der sittlichen Organisation ein »Scheinen«191 der göttlichen Natur in ihr darstellt, geraten aber in Konflikt mit der Endlichkeit, sie opfern und verlieren ihr leibliches Bestehen. Dagegen erhalten die Besitzbürger ihr endliches Leben, die »bloß unterirdische«192 Natur des Sittlichen, und opfern dafür die lebendige, geistige Vereinigung mit dem Göttlichen. Ihr tragischer Konflikt besteht darin, dass in ihrem Geist das Göttliche zwar erscheint, es ihnen aber fremd und furchterregend ist. Der Tod des Tapferen ist nicht wirklich sein Zugrundegehen, vielmehr besiegt er den Tod, indem er sich über die Endlichkeit erhebt.

188

Vgl. Düsing, K.: Griechische Tragödie und klassische Kunst in Hegels Ästhetik.

149 f. 189 190 191 192

GW 4, 459. Vgl. GW 4, 462. Vgl. GW 4, 462. Ebd.

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Der Besitzbürger kann auch sein Zugrundegehen vermeiden, wenn er durch Furcht, Vertrauen und Gehorsam gegenüber dem Absoluten, aber auch gegenüber der absolutsittlichen Person, an der sich das Absolute manifestiert, in seinem Geist eins mit ihm wird. Der tragische Konflikt zwischen den beiden Ständen in der Polis kann nach Hegel in Anlehnung an die griechische Mythologie gelöst werden, indem der erste Stand den zweiten anerkennt und die Besitzbürger sich unter den ersten Stand der Tapferen einordnen, so dass alle eine sittliche Einheit bilden. Wenn sich dagegen die Menschen und die Polis über das tragische Schicksal erhaben glauben, dann entsteht die Komödie. Diese gibt es nach Hegel in zwei Spielarten: Während die antike Komödie das Absolute als real annimmt und nur Scherze von Kämpfen des Göttlichen und mit dem Göttlichen vorspielt, wird nach Hegel in der modernen Komödie an das Absolute gar nicht mehr geglaubt – es werden nur die komischen Verwicklungen und Widersprüche der Handelnden gezeigt.193 Die antike Komödie spielte in der antiken Polis, die Hegel offen bewundert.194 Keiner der Zuschauer nahm die Kämpfe ernst, sobald jedoch die Polis die Absonderungen einzelner Bürger oder Gruppen/Stände nicht mehr beherrschte, verwandelte sich die göttliche Komödie in ein ernstes, »übermächtiges Schicksal«.195 Die moderne Komödie wird vom modernen Menschen gespielt, der nicht an Gott, sondern nur noch an sein endliches Bestehen glaubt, wobei er in für ihn ernste, für den Zuschauer aber komische Widersprüche gerät. Das Komische besteht darin, dass er zwar auf seiner Unabhängigkeit vom Absoluten beharrt, sodann aber den Ausweg in der Verbindung mit dem absoluten Göttlichen sucht, so Hegel. Komisch ist, wenn die Menschen im modernen Vertragsstaat glauben, ihre »Habseligkeiten durch Traktate und Verträge und alle erdenklichen Verklausulierungen« 196 sichern zu können, dann der nächste »Sturmwind« das Rechtssystem vor ihren Augen wegfegt und anstelle von Rechtssicherheit ein einzelner Machtwille eintritt. Auch die bestens gesicherten Besitztümer gehen verloren, wobei Hegel vermutlich an die Umwälzungen während der Französischen Revolution denkt. Komisch ist dieses Spiel nur für die Zuschauer, die Akteure dagegen suchen verzweifelt eine Erklärung in einem übermächtigen Schicksal oder rufen alle Götter gegen dieses vermeintlich tragische Schicksal an, das sie doch am Ende annehmen. Die Suche nach der göttlichen Ursache ihres Untergangs ist nicht die Emporhebung von der

193 194 195 196

Vgl. GW 4, 459 ff. GW 4. 460. Ebd. GW 4. 461.

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Zweites Kapitel

Endlichkeit zur Unendlichkeit, sondern nur eine »Farce«197 des Glaubens. Die tragischen und komischen Konflikte können nach Hegel im substanzmetaphysischen Absoluten gelöst werden, in dem die realiter Getrennten identisch sind, und zwar so, dass in der Polis die absolute Sittlichkeit des ersten Standes vor der relativen Sittlichkeit des zweiten Standes und im sittlichen Individuum der Geist vor den natürlichen Bedürfnissen des endlichen Lebens stehen. Hegel entwickelt im hier erörterten frühen Jenaer Naturrechtsaufsatz keine Theorie der Tragödie, vielmehr verleiht er der sich in der Endlichkeit verwirklichenden absoluten Sittlichkeit in Anlehnung an die griechische antike Mythologie einen ästhetisch-tragischen Charakter. Die Tragödie ist das Schicksal des Absoluten, sich als eine göttliche Idee in einer endlichen, unvollkommenen realen Gestalt und im individuellen menschlichen Leib offenbaren zu müssen. Sowohl die endliche, reale Gestalt des Sittlichen als auch der endliche Leib werden nie göttlich, dennoch sind sie in ihrer ganzen Unvollkommenheit und Gespaltenheit die realen Träger der absoluten Idee, des Geistes. Insofern drücken Mensch und Polis das Absolute nur »verzogen«,198 d. h. indirekt und perspektivisch gebrochen, aus. Die absolute Idee ist dem menschlichen Geist immanent und der Einzelne empfindet sie als persönliche Freiheit und Selbstständigkeit. Jedoch ist diese nach Hegel nur eine negative Selbstständigkeit,199 nur eine »Nachahmung« der wahren, absoluten Freiheit, welche dem Absoluten zukommt. Nur im Geist, den Hegel als das Bewusstsein denkt, ist das Individuum eins mit ihm,200 und zwar so, dass das Absolute das Erste, das Frühere, und die endliche, persönliche Existenz das Spätere ist und ein Verhältnis zum Absoluten aufzubauen hat. Hegels Hauptargument für diese Annahme ist die Präsenz des Absoluten im menschlichen Bewusstsein, nämlich direkt im absoluten Bewusstsein des Tapferen und indirekt im empirischen Bewusstsein des Besitzbürgers. Im absoluten Bewusstsein ist das Absolute die Bezwingung der eigenen Freiheit des Individuums, des eigenen leiblichen Lebens bis zu seiner Aufhebung, wogegen das Absolute im empirischen Bewusstseins zwar gefühlt wird, dem Menschen aber fremd bleibt. Dieses Gefühl als sittlicher Reflex der Besitzbürger bezeichnet Hegel als Moralität und argumentiert damit kritisch gegen Kant, der in seiner Moralphilosophie nur die Moralität des Einzelnen in den Mittelpunkt gestellt und dann unter Selbstzwang die Verbindung mit der

197 198 199 200

Ebd. GW 4, 462. Ebd. Vgl. ebd.

B. Hegels frühe systematische Ethik

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Allgemeinheit gesucht habe. Nach Hegel hat Kant das moralische Prinzip wie das Prinzip des bürgerlichen Rechts nur im Endlichen und Einzelnen konzipiert,201 was so auf die Lehre Kants nicht zutrifft, hier aber angedeutet sei. Die Moralität des Privatmenschen beschränkt sich auf das formale Eigentumsrecht in dieser Sphäre als die einzige Vermittlung zwischen der Allgemeinheit und den Besitzbürgern, welche weiterhin in der Entgegensetzung bleiben. Jedoch begründet das Eigentumsrecht ein fast mechanisches Verhältnis der Individuen zueinander und enthält nach Hegel nichts Sittliches. Ohne Bezug auf die allgemeine Sittlichkeit ist die formale Sittlichkeit des bourgeois nicht wahrhaft.

f) Resümee der frühen Jenaer Phase Hegels frühe Jenaer Philosophie stellt nach dem Vorbild der Antike die Sittlichkeit in den Mittelpunkt, deren Untersuchung in der modernen Zeit die »Nichtübereinstimmung des absoluten Geistes und seiner Gestalt«202 feststellen muss. Die antike politische Philosophie, welche die wirtschaftliche Sphäre vom Politischen abtrennt, lässt sich in der Moderne nicht aufrechterhalten, weil sie im Zeitalter der beginnenden Industrialisierung sehr einflussreich und mächtig geworden ist. Diese Entwicklung antizipierend, erteilt Hegel der ökonomischen Sphäre in der frühen Jenaer Phase eine Anerkennung als Negativität, gleichwohl unterzieht er sie vor dem Hintergrund der allgemeinen Sittlichkeit des Volkes einer herben ethischen Kritik. Wenn sich die Wirtschaft als einzelner Bereich des gemeinsamen, sittlichen Lebens so stark isoliert und verselbstständigt, dass sie sich der Herrschaft des Ganzen entzieht, dann bringt das »Krankheit und Anfang des Todes«203 der sittlichen Organisation. Genau eine solche krankhafte Situation tritt ein, wenn sich die von Hegel gerügte Sphäre des Besitzes und des Eigentums isoliert, sich in sich als selbstständiges System begreift und für unbedingt und absolut hält.204 Dies Absolutsetzen ist strikt abzulehnen, da die Ökonomie als wissenschaftliches System sich auf Endliches bezieht, daher für Hegel nichts Absolutes enthält. Außerdem beweist das System des Erwerbs und des Besitzes an sich selbst, 201

GW 4. 477. GW 4. 484. Es gibt keine absolute Gestalt, weder die Flucht in die Gestaltlosigkeit im Kosmopolitismus, noch eine Weltrepublik sind die Wege, sondern die »schönste Gestalt« der Sittlichkeit als Volksgeist, der religiös ist, und unter der Mitwirkung der Kunst zustande kommt. 203 GW 4. 476. 204 Vgl. GW 4. 476. 202

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Zweites Kapitel

dass nur die Verflechtung und der Zusammenhalt der ökonomischen Bereiche wie z. B. Ackerbau, Manufakturen, Fabriken oder Handel zum Reichtum des Volkes führen.205 Ein einzelner Bereich, z. B. der Handel, kann sich nicht ohne die Hersteller und die Konsumenten verselbstständigen, denn er hat seinen Sinn und Bestand nur in der Verflechtung mit ihnen. Wenn er sich dennoch über diese stellt, dann kann er das ganze System handlungs- und funktionsunfähig machen. Gerade eine solche Gefahr sieht Hegel in seiner Gegenwart – die ökonomische Sphäre des sittlichen Ganzen organisiert sich immer stärker nach ihrem einseitigen Prinzip des bürgerlichen Privatrechts und der äußeren Gerechtigkeit, die doch nur Endliches, Formales an sich haben. Mit Verbitterung stellt Hegel fest, dass in seiner Gegenwart gerade dieses ökonomische Prinzip, das nur für die »innere Haushaltung des Naturrechts«,206 wie Hegel die Ökonomie versteht, eine »Oberherrschaft über das Staats- und Völkerrecht«207 erlangt. Die Staatsakte würden nach Hegel nur nach Verträgen abgewickelt, als ob darin ein privates Verhältnis gegenseitiger Leistung begriffen wäre. Ein solches Vertragsverhältnis widerspricht aber Hegels Idee vom lebendigen sittlichen Ganzen und seiner Auffassung von den Rechten und Pflichten der Bürger in einem ethischen Staat, die nicht in Verträgen festgemacht werden, sondern aus dem Ganzen der Sitten einleuchten. Der ethische Staat hebt sich in solchen Verträgen selbst auf, wenn er nicht die absolute Idee des gemeinschaftlichen Zusammenlebens, sondern privatbürgerliche Verträge oder ein Abstraktum von Rechten zugrunde legt, das nicht der lebendigen Sittlichkeit entspricht.208 Hinzu kommen Hegels Bedenken, dass der Staat, wenn er über alles Verträge mit seinen Bürgern schließen würde, die ganze Privatsphäre des Menschen durchregulieren und die bürgerliche Freiheit ganz aufheben würde, was nach Hegel der »härteste Despotismus« sein würde. Der raschen Entwicklung der Ökonomie, deren Zeitzeuge am Anfang der industriellen Revolution Hegel ist, begegnet er mit einem philosophisch-geschichtlichen Argument, das bereits in dieser frühen Jenaer Phase Hegels Konzeption der Geschichte markiert, ohne jedoch ein Fortschrittsmodell zu sein. Es ist vielmehr der Kreislauf der Geschichte der sittlichen Organisation, welche von ihrem festen Gleichgewicht von Zeit zu Zeit in ihre Extreme übergeht, diese zeitweise belebt und sie zugleich an ihre Zeitlichkeit und Abhängigkeit erinnert, dadurch ihre Selbstorganisation zerstört und wieder neu fundiert.209 Das Gleichgewicht der sittlichen Organisa-

205 206 207 208

Vgl. GW 4. 476. GW 4. 476 f. GW 4. 477. Vgl. ebd.

B. Hegels frühe systematische Ethik

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tion als des Ganzen kann nach Hegel allein die absolute Philosophie erkennen. Er plädiert entschieden dafür, dass die Philosophie das Übergreifen von einseitigen Prinzipien, wie die in der Sphäre des Erwerbs und des Besitzes, auf andere oder auf das Ganze verhindern kann,210 da sie als absolute Wissenschaft über allen Bereichen stehe und die absolute Sittlichkeit des realen Ganzen aufbewahre. Hegels Problem ist, dass die Sittlichkeit erst dann vollkommen ist, wenn sie das Negative als ihr unabdingbares Schicksal erkennt, »ihm eine Gewalt und ein Reich durch das Opfer eines Teils ihrer selbst mit Bewusstsein einräumt, ihr eigenes Leben davon gereinigt erhält«.211 So lautet Hegels Lösung des Problems der systematischen, realen Sittlichkeit in seiner frühen Jenaer Philosophie, welche die Negativität als Nihilismus des Endlichen stärker betont als in seiner späteren Philosophie. Die Kritik an der realen, relativen Sittlichkeit in der Sphäre der Wirtschaft ist in Hegels Substanzmetaphysik begründet. Das Absolute, das die Endlichkeit in sich enthält und übergreift, manifestiert sich sowohl in der natürlichen als auch in der sittlichen Welt gemäß Spinozas Lehre von Ausdehnung und Denken als Attributen der Substanz. Anders als Spinoza sucht Hegel aber die Überlegenheit der sittlichen vor der physischen Natur zu erweisen. Die bisherige Konzeption der absoluten Substanz stellt jedoch nicht die Mittel dafür bereit. Da Hegels Argument für diese Überlegenheit im absoluten Begriff, im menschlichen Bewusstsein, dem der absolute Geist innewohnt, liegt, widmet er sich in der zweiten Hälfte seiner Jenaer Dozententätigkeit verstärkt der Konzeption des Bewusstseins. Es wird für Hegel das »exklusive Kennzeichen des (sittlichen) Geistes«.212 Die allgemeine Sittlichkeit ist in dieser Phase nicht mehr zentral, bleibt aber das eigentliche Ziel seiner praktischen Philosophie.

209

Vgl. GW 4, 478. Vgl. GW 4, 477. 211 Nach Horstmann hat Hegel damit das Problem der praktischen Philosophie nicht gelöst, er habe aber das zentrale Problem seiner praktischen Geistesphilosophie entwickelt. Vgl. Horstmann, R.-P.: Über die Rolle der bürgerlichen Gesellschaft in Hegels politischer Philosophie. 212. 212 Horstmann, R.-P.: Jenaer Systementwürfe. In: Pöggeler, O. (Hrsg.): Hegel: Einführung in seine Philosophie. Freiburg/München. 1977. 57. 210

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C. Die Ökonomie und das Prinzip der Subjektivität in Hegels zweiter Jenaer Phase (1803/04–1807) a) Der Entwurf zur Geistesphilosophie von 1803/04: Die Arbeit als bewusstseinsimmanente Mitte des empirischen Bewusstseins Das Bewusstsein ist nach Hegels Konzeption von 1803/04 der Begriff des Geistes oder eine absolute Reflexion des Einzelnen auf sich selbst. Hegel konzipiert es als die Einheit zweier Extreme, die durch eine gedoppelte Mitte verbunden sind: einerseits die Trennung von Bewusstseiendem (Tätigem, Ich) und dessen, wessen es sich bewusst ist (Passivem, Gegenstand) und andererseits Einssein von seiender und aufgehobener Trennung.213 Doch dieses Einssein ist nur für ein philosophierendes Ich, »für uns«, erkennbar, für das unmittelbare, empirische Bewusstsein, »für es«, dagegen sind das Bewusstseiende und dasjenige, dessen es sich bewusst ist, noch verschieden. Das empirische Bewusstsein stellt sich auf die Seite des Tätigen und betrachtet dasjenige, dessen es sich bewusst ist, als ein Ungleiches. In dieser Betrachtung des anderen schaut das Bewusstsein eigentlich sein ungleiches, äußeres Anderssein an und hebt es in sich auf, wodurch es überhaupt zu Bewusstsein wird.214 Die Selbstbeziehung im Anderssein ist nicht eine direkt einleuchtende Einsicht, vielmehr muss sich nach Hegel das empirische Bewusstsein stufenweise zu ihr erheben und so absolutes Bewusstsein werden, welches das Anderssein nur als eine »leere inhaltslose Form« seiner selbst betrachtet.215 Diese Erhebung des empirischen zum absoluten Bewusstsein lässt sich durch eine differenzierte Untersuchung verschiedener Stufen als gedoppelten Mitten der inneren, ideellen (Gedächtnis – Sprache) und äußeren, praktischen (Arbeit – Werkzeug, Familie – Familiengut) Existenz des menschlichen Bewusstseins erkennen. Diesem Programm folgend untersucht Hegel an den entgegengesetzten Bestimmungen des Bewusstseienden und desjenigen, dessen es sich bewusst ist, zuerst die gedoppelte Mitte von Gedächtnis und Sprache, wobei das Gedächtnis eher zum Bewusstseienden und die Sprache eher zu dem, dessen es sich bewusst wird, gehören. Die gleiche viergliedrige Struktur verwendet Hegel in den nächsten Stufen – die Arbeit und das Werkzeug, die Familie und das Familiengut.216 An diesen Momenten lässt sich jeweils zeigen, dass sie die Entgegensetzungen zwischen dem Bewusstseienden

213 214 215 216

Vgl. GW 6. 273. Vgl. GW 6. 298. GW 6. 274. Vgl. auch GW 6. 298. Hegel legt in seiner Geistesphilosophie von 1803/04 anders als später in der Phäno-

C. Die Ökonomie und das Prinzip der Subjektivität

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und demjenigen, dessen es sich bewusst ist, in einer Mitte vereinen, die das theoretische, ideale Bewusstsein (Gedächtnis) und das empirische Bewusstsein (Arbeit, Familie) darstellt. Für die Themenstellung der vorliegenden Untersuchung ist Hegels Bestimmung der Arbeit von besonderem Interesse. Die Arbeit ist für Hegel eine bewusstseinsimmanente Mitte der entgegengesetzten Glieder – der subjektiven Begierde aufgrund eines physischen Bedürfnisses einerseits und des Objekts ihrer Befriedigung, des Begehrten, andererseits. Das Tier stillt seinen Hunger unmittelbar, dagegen befriedigt der Mensch sein Bedürfnis z. B. nach Essen erst, nachdem er das in der Natur Gegebene entsprechend seiner Begierde durch Arbeit verändert hat. Die Arbeit ist dann praktisches Bewusstsein,217 eine Mitte, in der die entgegengesetzten Begierde und Begehrtes, tätiger Mensch und passive Natur aufeinander bezogen sind.218 Die Arbeit ist für Hegel somit nicht nur eine mechanische Tätigkeit im Prozess der Befriedigung ständig wiederkehrender Begierden, sondern sie hat eine bleibende, bewusstseinsimmanente Existenz im Werkzeug.219 Das Werkzeug ist ein äußerer Gegenstand, der von der bewusstseinsimmanenten Arbeit bestimmt ist. Es ist ein allgemeines Mittel für die Arbeit, das in der Familie oder in der Gemeinschaft von Familien von Generation zu Generation weitergegeben und verbessert wird. menologie eine viergliedrige und damit reichhaltigere Struktur zugrunde. Zur Interpretation der Hegelschen Geistesphilosophie von 1803/04 vgl. Kimmerle, H.: Das Problem der Abgeschlossenheit des Denkens. 1982; auch Göhler, G.: Dialektik und Politik in Hegels frühen politischen Systemen. 337–610. Zur Anerkennungsproblematik darin vgl. Harris, H.S.: The Concept of Recognation in Hegel’s Jena Manuscripts. In: Hegel in Jena. HegelStudien. Beiheft 20. Bonn 1980. 229–248. Einer der führenden Theoretiker auf dem Gebiet der Wirtschaftsethik, P. Ulrich, hat, wie im vierten Kapitel noch zu zeigen ist, Hegels Jenaer Geistesphilosophie aufgenommen, sich jedoch nicht auf Hegel selbst, sondern auf die Interpretation von J. Habermas in seinem Artikel: Arbeit und Interaktion. Bemerkungen zu Hegels »Jenenser Philosophie des Geistes« bezogen. Habermas sucht Hegels Anerkennungstheorie und die Thematisierung von Sprache und Arbeit für seine Konzeption des Dialogs in einer kommunikativen Gesellschaft fruchtbar zu machen. Dass Habermas von zweifelhaften interpretatorischen Prämissen ausgeht, hat L. Siep anhand der Anerkennungsproblematik gezeigt. Vgl. Siep, L.: Zur Dialektik der Anerkennung bei Hegel. 366 ff. Habermas betont und lobt die geringere Rolle des Absoluten in Hegels Jenaer Geistesphilosophie, wogegen T. Huson nachweist, dass Hegel Geist und Natur nur deshalb als selbstständig betrachten kann, weil sie in einem metaphysischen Ganzen idealistisch verbunden sind. Vgl. Huson, Th.: Arbeit, Werkzeug und Technologie als Momente des Naturbegriffs in Hegels Jenaer »Philosophie des Geistes«. In: Vieweg, K. (Hrsg.): Hegels Jenaer Naturphilosophie. München. 1998. 187 ff. 217 Vgl. GW 6. 300. 218 Vgl. ebd. 219 Vgl. ebd.

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Zweites Kapitel

1. Das Anerkanntsein im Volk Neben der Arbeit ist das Problem der Anerkennung in dem Entwurf von 1803/04 für die Problemstellung dieser Untersuchung erhellend. Die Anerkennung ist die Bedeutung, die einzelne Familien oder Individuen einander geben. Hegel bestimmt sie zunächst näher als eine praktische Beziehung zweier Gegner, die außerhalb des organisierten Lebens in der Gemeinschaft, etwa im Naturzustand, widersprüchlich und unerreichbar ist.220 Um anerkannt zu werden, müsste jeder in einem notwendigen Kampf sein Leben und Gut einsetzen und opfern, denn die Anerkennung kommt nur durch gegenseitige Verletzung und Tod des Gegners zustande.221 Wird der Gegner getötet, kann der Sieger keine Anerkennung von ihm bekommen, vielmehr müsste er seinen erweiterten Besitz bis ins Unendliche gegen andere Angreifer verteidigen und sich dabei immer der Gefahr aussetzen. Wird der Gegner nicht getötet, dann hat der Sieger die Anerkennung ebenso wenig gewonnen – er hat nur den anderen zum Sklaven, zu einem Unselbstständigen, zu einer »Nicht-Totalität«222 gemacht und damit sich selbst der Anerkennung beraubt. Denn die Bestätigung seiner anerkannten Totalität kann ihm nur ein gleichrangiger Gegner geben. Das Bewusstsein dieses Anerkanntseins ist nach Hegel das absolute Bewusstsein, das er als »Zu-sich-selbst-Werden eines in einem anderen« und »Sich-anders-Werden in sich selbst«223 beschreibt. Dieses allgemeine, absolute Bewusstsein erkennt seine Identität mit der absoluten, lebendigen Substanz als Volk, es weiß sich darin als aufgehoben.224 Mit diesem Bewusstsein stehen sich die absolut sittlichen Volksmitglieder nicht als Einzelne gegen Einzelne im Kampf um die ausschließliche Geltung gegenüber, sie respektieren vielmehr die anderen in ihrem Besitz und Leben.225 Der einzelne Besitz ist gesichert, weil er im Volk von den anderen anerkannt ist und in diesem Sinne ein anerkanntes Eigentum aller ist, was im nächsten Abschnitt näher erläutert wird. Zu bemerken ist, dass Hegel im Entwurf von 1803/04 immer noch an der Substanzmetaphysik festhält und das Volk als lebendige Substanz und existierende Mitte, in der sich die einzelnen Mitglieder auf die anderen

220

Vgl. GW 6. 311 f. Vgl. GW 6. 308. Anders als für Fichte ist für Hegel die Aufhebung der Totalität des Anderen Voraussetzung der Anerkennung. 222 Vgl. GW 6. 311. 223 GW 6. 314. 224 Vgl. GW 6. 315. 225 Vgl. GW 6. 314. 221

C. Die Ökonomie und das Prinzip der Subjektivität

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Mitglieder beziehen, bestimmt. Diese Mitte besteht aus den geltenden Sitten Aller als deren gemeinschaftliches Werk, wie Hegel sagt, als Volksgeist.226

2. Die ökonomische Sphäre als das Anderssein des Volksgeistes Den Volksgeist denkt Hegel als eine absolute, lebendige Totalität, die als solche in sich die Negativität enthalten muss. Die Negativität ist der nicht organisierte Teil, das Unorganische des Volksgeistes. Während Hegel in der frühen Jenaer Zeit das Unorganische vom Organischen abtrennt und dann wieder integriert, konzipiert er das Unorganische in der mittleren Jenaer Zeit gemäß der veränderten theoretischen Grundlegung als das Anderssein des Volksgeistes. Der Geist wird sich demgemäss ein Anderes, ein Fremdes, indem er das Unorganische als das Andere seiner selbst setzt und es dann in sich zurücknimmt.227 Das Unorganische als das Anderssein des Volksgeistes umfasst nach Hegel, wie auch in der frühen Jenaer Phase, vor allem die Bereiche des öffentlichen Lebens, in denen das Privatwirtschaftliche im Gegensatz zur Organisation steht. In den privatwirtschaftlichen Bereichen des öffentlichen Lebens ist der Geist in seiner Existenz von der Natur abhängig. Er ist erst frei, nachdem er seine unorganische Natur als sein Anderssein setzt und in sich aufhebt. Dieses Programm untersucht Hegel an den spezifischen Geistesgestalten Sprache, Arbeit und Familienbesitz. Er sucht zu zeigen, wie in jeder Gestalt der Geist aus dem Anderssein zu sich zurückkehrt. Die Sprache des Einzelnen ist nur als ein gemeinsames, allgemeines Verständigungsmittel von Bedeutung. Der Geist, der sich in der Sprache äußerlich wird, geht in sein Anderssein – den allgemeinen Gebrauch als Verständigungsmittel in der Gesellschaft – und kehrt zurück, indem er die verhallten Namen auf bestimmte Vorstellungen seines Gedächtnisses bezieht. Der Geist wird sich in der subjektiven Tätigkeit äußerlich, er geht in sein Andersein – der Einzelne erlernt die allgemein geltenden Arbeitsregeln – und er kehrt zu sich zurück, indem er seine persönliche Geschicklichkeit verbessert und neue Werkzeuge entwickelt.228 In der Verbesserung und Weitergabe der Arbeitsmittel besteht nach Hegel das Geistige und das Allgemeine an der Arbeit.229 Sie ist nicht bloß ein natürlicher Instinkt zur Selbsterhaltung, sie ist für Hegel vielmehr Vernünftigkeit, die sich im Volke zu einem Allgemeinen macht. Von die-

226 227 228 229

Vgl. GW 6. 315. Vgl. GW 6. 317. Vgl. GW 6. 320. Vgl. GW 6. 320.

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Zweites Kapitel

sem Standpunkt aus kritisiert er, dass die allgemeine Arbeit im Zeitalter der raschen Industrialisierung und Technologisierung nicht mehr die geistige Selbstbeziehung, sondern eine formale Beziehung ist, die durch Arbeitsteilung in den Abstraktionen von Bewusstseiendem und dessen, wessen es sich bewusst ist, von tätigem Menschen und passiver Natur, zerrissen wird.230 Wie im frühen Jenaer Fragment System der Sittlichkeit, aber plastischer, argumentiert Hegel auch in der Geistesphilosophie von 1803/04, dass der Einzelne in der Gemeinschaft für die abstrakte Allgemeinheit der Bedürfnisse aller arbeitet und deshalb seine Arbeit formal und abstrakt wird. Er verweist erneut und mit aller Schärfe auf die Folgen der Arbeitsteilung in der Unsicherheit, die eigenen Bedürfnisse durch eigene Arbeit befriedigen zu können.231 Denn die Arbeit ist so für den Einzelnen nicht die geistige Reflexion über die eigene Arbeit, die allgemein wird, sondern die »blinde Abhängigkeit«232 von der anonymen Allgemeinheit. Die geistige Entwicklung durch Arbeit in der Erfindung neuer Werkzeuge wird um so bedrückender, wenn bedacht wird, dass schon eine neue technologische Erfindung – oder ein zufälliger Handel an der Börse –, was schon Hegel sieht, die Arbeit und das Auskommen einer ganzen Klasse von Menschen vernichten könnte.233 Diese Gefahren sind dem Einzelnen nicht bewusst, weil er keine Übersicht über die wirtschaftlichen Verflechtungen hat, welche durch die Technologisierung und Teilung der Arbeitsprozesse bis ins Unermessliche vorangetrieben werden. Die unüberschaubar gewordene Vereinzelung der Arbeitsprozesse führt zur Entfremdung des Menschen von seiner Arbeit und von der Natur. Indem der Mensch die Natur nicht mehr unmittelbar bearbeitet und gegen sie arbeitsteilige Maschinen einsetzt, entfernt er sich von ihr, er unterwirft sie in der Hoffnung, sich aus der Abhängigkeit von ihr zu befreien, wodurch er das Gegenteil erreicht.234 Die Maschine erleichtert zwar die Arbeit, sie wird dadurch aber nicht weniger, sie wird nur minderwertiger. Auf der einen Seite steigt mit dem Drang nach Bequemlichkeit auch die dafür zu leistende Arbeit ins Unendliche, und auf der anderen Seite vermindert die steigende Menge maschinell produzierter Güter ihren Wert und so auch den Wert der menschlichen Arbeit, so dass Hegel sagen kann: Je mehr der Mensch die Natur »unterjocht, 230

Karl Marx übernimmt diese Hegelsche Idee der Abstraktion in der Arbeit und deutet sie entscheidend um, worauf hier nur hingewiesen sei. Bienenstock, M.: Hegels Lehre vom Begriff in Marx’ Grundrissen. In: Jahrbuch für Hegelforschung. Band 1. 1995. 111–120. 231 Vgl. GW 6. 321 f. 232 GW 6. 324. 233 GW 6. 324. 234 Vgl. GW 6. 323. Auf diesen Gedanken rekurriert P. Ulrich in seiner Begründung der Arbeit, bezieht sich jedoch nur verkürzt darauf, wie im vierten Kapitel zu zeigen ist.

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desto niedriger wird er selbst«.235 Die zunehmende Arbeitsteilung führt zudem zur Begrenzung der Geschicklichkeit und der Arbeitskreativität der Fabrikarbeiter.236 Hegel kritisiert die Abstumpfung ihres Bewusstseins und bezieht sich explizit auf das Beispiel der Arbeitsteilung von Adam Smith bei der Produktion von Stecknadeln in der modernen englischen Manufaktur.237 Unter den modernen wirtschaftlichen Bedingungen kann die Arbeit nicht eine reale Gestalt des Geistes sein, in der er reflexiv zu sich kommt, sondern nur ein Ding – das Geld, das die Bedürfnisbefriedigung ermöglicht.238 Darin sieht Hegel die Formalisierung und die Ablösung der Arbeit von ihrem spezifischen Bedeutungsgehalt. Die dritte Geistesgestalt, die Hegel neben der Arbeit und der Sprache erörtert, ist der Familienbesitz. Der Geist wird im Besitz äußerlich, er geht in sein Anderssein – sein Begehren des Besitzes wird von anderen anerkannt – und der Geist kehrt zu sich zurück, der Einzelne schaut sein Anerkanntsein als Besitzer an. Der Besitz ist nicht lediglich ein einzelner Besitz, er wird vielmehr im Volke zum Besitz und Eigentum aller und zwar deshalb, weil alle gemeinschaftlich den einzelnen Besitz anerkennen.239 Wenn sich dagegen der Besitz vereinzelt, wie im Zeitalter der Ökonomisierung, dann tritt der gleiche Zerfall ein, wie bei der Vereinzelung der Arbeit. Der Besitz zerfällt in die Abstraktionen der Person und desjenigen, was ihr äußerlich als Sache erscheint. Das geistige Anerkanntsein in der Gemeinschaft verwandelt sich in die formale Einhaltung des geltenden Eigentumsrechts. Zusammenfassend gibt Hegel über die Wirtschaft als die Sphäre, in welcher der Geist in seinem Anderssein ist, ein sehr kritisches Urteil: »Das Bedürfnis und die Arbeit, in diese Allgemeinheit erhoben, bildet so für sich in einem großen Volk ein ungeheures System von Gemeinschaftlichkeit und gegenseitiger Abhängigkeit, ein sich in sich bewegendes Leben des Toten, das in seiner Bewegung blind und elementarisch sich hin und her bewegt und als ein wildes Tier 235

GW 6. 321 Die Arbeit in der Manufaktur formt und bildet nicht, sie ist die Arbeit des Knechts, wie Hegel später in der Phänomenologie des Geistes von 1807 ausführt (vgl. Abschnitt »c« dieses Kapitels). 237 Vgl. GW 6. 323. Hegel bezieht sich in der Anmerkung ausdrücklich auf Adam Smith. Die Ausgabe von Adam Smith An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations. Bd. 1. Basel. 1971 befand sich in seiner Bibliothek. Anzunehmen ist, dass Hegel diese Ausgabe und nicht die Übersetzung von Christian Garve benutzt, denn Hegel zitiert Zahlen, die sich nur aus der Originalquelle her entwirren lassen. Vgl. Hegel, G. W. F.: Jenaer Systementwürfe I. Das System der spekulativen Philosophie. Hrsg. v. K. Düsing und H. Kimmerle. Hamburg. 1986. Anmerkungen der Herausgeber. 272 f. 238 Vgl. GW 6. 324. 239 Vgl. GW 6. 324. 236

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Zweites Kapitel

einer beständigen strengen Beherrschung und Bezähmung bedarf«.240 Die Beherrschung der Wirtschaft ist nach Hegel nur von der höheren Organisation, in welcher der Geist zu sich zurückkehrt, möglich, und das ist der sittliche Staat. Diese prinzipielle Meinung vertritt Hegel auch in seinem zweiten Entwurf zur Geistesphilosophie von 1805/06. Er verändert jedoch die theoretische Fundierung, und dementsprechend fällt seine Beurteilung der Wirtschaft und der Besitzbürger verändert aus. Da sich diese Entwürfe aus Hegels mittlerer und später Jenaer Zeit wesentlich voneinander unterscheiden, müssen sie in ihrer theoretischen und praktischen Grundlegung jeweils eigens untersucht werden.241

240

GW 6. 324. Der Unterschied beider Entwürfe ist in der Forschung sowohl in der theoretischen Grundlegung als auch in der praktischen Philosophie viel diskutiert worden, hier wird ein Einblick nur in die neuere Literatur gegeben. Nach W. Schmied-Kowarzik handelt es sich weniger um einen Unterschied in der systematischen Gliederung, als vielmehr um eine besondere Spannung zwischen den Entwürfen, welche die beiden verschiedenen Einstiege in das System hervorrufen: Zum einen die grundlegende Einführung als Logik und Metaphysik, und zum anderen die Einleitung in die Geistesphilosophie, die mit dem subjektiven Bewusstsein beginnt und phänomenologisch als Bewusstseinsphilosophie entfaltet wird. K. Düsing spricht von einem »Paradigmenwechsel« in Hegels theoretischer Philosophie. Dieser Paradigmenwechsel ist auch in Hegels praktischer Philosophie deutlich. Während M. Riedel von einer »Umkehr« von Hegels früherer praktischer Philosophie spricht, sucht M. Bienenstock Riedels Meinung dahingehend zu revidieren, dass sich Hegel trotz des offensichtlichen terminologischen Wandels nicht weit von seiner früheren Position entfernt habe, weil er nach wie vor Intelligenz und Willen auf den Geist und nicht auf das Bewusstsein bezieht. Grundlage der Argumentation von Bienenstock ist Hegels Auffassung von der Arbeit, die er, wie Rousseau, in Verbindung mit dem Reflexionsbegriff als einen Akt in der Bewusstwerdung des Individuums bringt und dabei »die Reflexionsphilosophie der Subjektivität« in eine Philosophie der Arbeit transformiert. Bienenstock führt den Nachweis, dass Hegel entgegen Riedels Meinung die praktische Philosophie im Systementwurf von 1805/06 nicht aufzulösen, sondern vielmehr die theoretische und die praktische Philosophie, Intellekt und Willen in einer klassischen Weise Aristotelischer Provenienz zu verknüpfen sucht. Vgl. Schmied-Kowarzik, W.: Die Bedeutung der »Mitten« des Bewusstseins. In: Kimmerle, H. (Hrsg.): Die Eigenbedeutung der Jenaer Systemkonzeptionen Hegels. Berlin. 2004. 138 ff. Vgl. Düsing, K.: Von der Substanzmetaphysik zur Philosophie der Subjektivität. 191. Vgl. Riedel, M.: Zwischen Tradition und Revolution. 127 ff. Vgl. Bienenstock, M.: Zur Revision der praktischen Philosophie Hegels im dem Systementwurf von 1805/06. Bes. 215, 217, 218, 223 f. und 227. 241

C. Die Ökonomie und das Prinzip der Subjektivität

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b) Die Selbstgestaltungen des Willens als ein System von politischen und wirtschaftlichen Institutionen in Hegels Geistesphilosophie von 1805/06 Die Realisierung des absoluten Geistes in einem Volk ist auch im zweiten Jenaer Entwurf zur Geistesphilosophie von 1805/06 Hegels Ziel. Im Mittelpunkt steht hier die innere Differenzierung als eine Auseinandersetzung zwischen einzelnem und allgemeinem Willen, die Hegel am Leitfaden eines Prozesses der Anerkennung untersucht.242 Die Selbstgestaltungen des Willens einer Gemeinschaft als ein System politischer und wirtschaftlicher Institutionen entspricht nach Hegel einer Bildungsgeschichte des Selbstbewusstseins. Auf der theoretischen Grundlage der formalen Struktur des Selbstbewusstseins als Einheit von Allgemeinheit und Einzelheit konzipiert er den neuen Rahmen, innerhalb dessen die metaphysischen, natürlichen und sittlichen Phänomene sich zusammenschließen.243 Die Bildungsgeschichte des Selbstbewusstseins enthält bis zu diesem logischen »Schluss« verschiedene Stufen der Bewusstwerdung der Identität von einzelnem und allgemeinem Willen, angefangen von der Anerkennung der Person in ihrem unmittelbaren Dasein bis zu ihrem wissenden Willen dieser höheren Identität, welche dann den absoluten Geist manifestiert. Der allgemeine Begriff des wissenden Willens ist jener einzelne Wille, der sich mit dem allgemeinen Willen identisch weiß, oder, wie Hegel sagt, der Wille, der Intelligenz ist.244 Der denkende Wille ist das neue Fundament und der Ausgangspunkt der Hegelschen Konzeption des allgemeinen, wirklichen Willens und der Sittlichkeit im ethischen Gemeinwesen, das er auch in seinen späteren Schriften nicht mehr preisgegeben hat.245

242

Eine richtungsweisende Untersuchung darüber hat L. Siep unter dem Titel »Die Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie geschrieben«. L. Siep sieht in der Jenaer Geistesphilosophie von 1805/06 eine Annäherung Hegels an Kants Ethik, die in der Begründung von Recht und Moralität durch die Vernunft besteht, welche die menschliche Vernunft als »Besonderung« enthält, ohne in ihrer Gültigkeit von den zufälligen Bedingungen menschlichen Handelns eingeschränkt zu sein. Vgl. Siep, L.: Praktische Philosophie im Deutschen Idealismus. 187 ff. 243 Vgl. Horstmann, R.-P.: Jenaer Systementwürfe. 58. Die Rolle des logischen »Schlusses« wird unten näher erklärt. 244 Vgl. GW 8. 223. Über das Primat des Denkens bei Hegel im Vergleich zu Fichte vgl. Düsing, E.: Zum Verhältnis von Intelligenz und Wille bei Fichte und Hegel. In: Hespe, F./Tuschling, B.: Psychologie und Anthropologie oder Philosophie des Geistes. Stuttgart. 1991. 107 ff. 245 Obwohl sich Hegel bei diesem Willensbegriff nicht ausdrücklich auf Rousseaus vo-

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Die ökonomische Sphäre erlangt entsprechend der neuen Konzeption der Subjektivität, wie unten erläutert, eine neue Bedeutung, denn in dieser verwirklicht sich der erfüllte, wissende Wille der Person in seiner Identität mit dem allgemeinen Willen selbst, und zugleich verwirklicht sie den allgemeinen Geist. Hegels Behandlung der Wirtschaft in der Geistesphilosophie von 1805/06 ist keine Wiederholung des Entwurfs von 1803/04. An der wirtschaftlichen Sphäre von Arbeit und Bedürfnis kann Hegel vielmehr demonstrieren, wie der einzelne Wille im überlegenen, allgemeinen, staatlich institutionalisierten Willen erhalten, beschützt und aufgehoben wird. Um diesen Zusammenhang nachvollziehbar zu machen, sei zunächst die theoretische Fundierung des Willens in der Theorie der Subjektivität umrissen.

1. Hegels Theorie der Subjektivität als neues Fundament der praktischen Philosophie Der Geistesphilosophie von 1805/06 liegt Hegels neue »spekulative Logik« zugrunde, die zugleich metaphysische und ontologische Bedeutung hat.246 Hegel gibt dabei die Trennung von Logik des endlichen Verstandes und Metaphysik, Leben und Erkennen, Denken und Sein auf. Seine Substanzmetaphysik, an der er im Entwurf von 1803/04 noch festhält, geht in eine Subjektivitätstheorie über.247 Hegels neue spekulative Philosophie entwirft die Idee des Geistes und seiner Bewegung, sich als Wirklichkeit zu setzen und diese Wirklichkeit in sich aufzuheben.248 Der Geist setzt sein Anderssein und erfasst sich selbst darin.249 Die äußeren Dinge sind ideell aufgehoben, d. h. sie existieren nur als Selbstbeziehung und Selbsterkennen des Geistes in seinem Anderssein. Das eigentlich, wahrhaft Seiende ist somit für Hegel die sich selbst erkennende Subjektivität. Sie erkennt sich als Tätiges, als Bewegung des vernünftigen Denkens, das dann für sich werden kann, wenn es ein Anderes geworden ist. In dem Anderssein, das Hegel auch als das Gegenteil denkt, er-

lonté générale bezieht, kann davon ausgegangen werden. Vgl. Bienenstock, M.: Der Wille bei Rousseau und beim Jenaer Hegel. 150. 246 Vgl. Düsing, K.: Das Problem der Subjektivität. 159 f. 247 Vgl. Düsing, K.: Von der Substanzmetaphysik zur Philosophie der Subjektivität. 185–199. 248 Da für Hegel die Idee die wesentliche Bestimmung des Absoluten ist, ist es auch wesentlich Leben. Vgl. Düsing, K.: Die Idee des Lebens. In: Hegels Philosophie der Natur: Beziehungen zwischen empirischer und spekulativer Naturerkenntnis. Hrsg. v. R.-P. Horstmann u. M. J. Petry. Stuttgart. 1986. 278. 249 Vgl. GW 8. 185.

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kennt sich das Subjekt selbst und kehrt zurück zu sich, bezieht sein Anderssein auf sich. Diese denkende Selbstbeziehung ist die Subjektivität oder der reine Begriff seiner selbst im Anderssein. In dieser Selbstbewegung der Subjektivität vom unmittelbaren Ich zum Anderssein wird die äußere, u. a. auch die ökonomische, Realität aufgehoben, indem die Bewegung nicht im Anderssein, sondern durch die Rückkehr in das Ich einen spekulativen Schluss ermöglicht. Dasjenige Bewusstsein erreicht das reflexive Zu-Sich-Kommen nicht, welches in der ökonomischen Realität, im Anderssein, verbleibt und dort abstumpft. Hegels Auseinandersetzung mit der Ökonomie und seine Kritik an der Arbeitsteilung in der Geistesphilosophie von 1805/06 beruhen somit auf seinen veränderten logisch-metaphysischen Annahmen und insbesondere auf der Funktion des logischen Schlusses als der Einheit im Ich.250 Das Ich bildet die Mitte der Extreme Einzelheit und Allgemeinheit, in der sie zugleich aufeinander bezogen (identisch) und verschieden sind. In den Begriffsbestimmungen Einzelheit, Besonderheit und Allgemeinheit weiß das Ich jeweils von sich und erfasst sich selbst als Denkbewegung im Übergang von einer Bestimmung in die andere. Durch seine gedankliche Einteilung in entgegengesetzten Bestimmungen (Vergegenständlichung) erkennt das Ich sich selbst. Der logische Schluss ist für Hegel die Struktur der Subjektivität oder der Vernunft, die sich im Ich selbst Gegenstand wird.251 Die denkende Vernunft oder die Intelligenz hat im Ich ihr aufgehobenes Sein, nach dem sie sich selbst erfasst und sich selbst Gegenstand geworden ist.252 Da sie den äußeren Inhalt in sich aufgehoben hat, kann sie nur sich selbst zum Inhalt machen, indem sie in sich einen Unterschied zwischen dem Moment der Allgemeinheit als Zweck und dem Moment der Einzelheit als tätigem Selbst setzt. Die Mitte, in der diese zwei Momente des Ich aufeinander bezogen sind, ist nach Hegel der Trieb.253 Der Trieb hat zwei Seiten: Er ist erstens die Begierde, welche tierisch ist und nur nach Sattheit strebt, und er ist zweitens der Wille für ein erfülltes Sein des Ich.254 Im triebhaften Hervorbringen und Überwin250

Vgl. Düsing, K.: Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik. 203 ff. Vgl. auch Schmitz, H.: Hegels Logik. Bonn und Berlin. 1992. 230 ff. 251 Die logische Struktur – Oberbegriff, Mittelbegriff, Unterbegriff, die nicht nur als getrennte diskursive Begriffe aufgefasst werden dürfen – entspricht der Struktur des Geistes in Einzelheit, Besonderheit und Allgemeinheit, die für Hegel die konkrete Allgemeinheit ist. 252 Vgl. GW 8. 199 f. 253 Vgl. GW 8. 202. 254 Vgl. GW 8. 204. Diese Unterscheidung ist vermutlich die Vorprägung der späteren Analyse in der Rechtsphilosophie von Not- und Verstandesstaat (§ 183). Vgl. Horstmann, R.-P.: Über die Rolle der bürgerlichen Gesellschaft in Hegels politischer Philosophie. 209–240. M. Bienenstock weist auf Hegels Bezugnahme auf Rousseaus These einer ge-

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Zweites Kapitel

den des Gegensatzes von Ich und Ding besteht die Arbeit des Ich, die für den späten Jenaer Hegel zweiseitig ist: zum einen die bloße mechanische Tätigkeit in der Bearbeitung der Natur für die Befriedigung der Begierde und zum anderen die Befriedigung des Triebs nach erfülltem, ganzheitlichem Sein des Ich.255 Während die erste Arbeit eine abgewertete, in das System der Bedürfnisse »gebannte« Tätigkeit ist, stellt die zweite eine Tätigkeit des Geistes dar. Die mechanische Arbeit für die bloße Befriedigung der Bedürfnisse steht bei Hegel in einem Vermittlungszusammenhang mit der Natur: Die Natur »ernährt« und erhält den Menschen, er verliert jedoch durch deren mechanischen Bearbeitung den unmittelbaren Kontakt.256 Um sich die selbsttätige Arbeit gegen die Natur zu ersparen, macht sich der Mensch die Gesetze und Kräfte der Natur gegen sie selbst und für seine eigenen Zwecke zunutze. Aber in diesem Vorgehen, das Hegel als »weibliche List«257 bezeichnet, fehlt das Moment der eigenen Vergegenständlichung des Ich in der Arbeit, des geistigen Triebes als Mitte zwischen Zweck und Selbsttätigkeit. Der mechanische Trieb ist das zwischen Zweck und Tun formal »Gespannte«,258 eine lediglich formale Mitte. Als solcher ist der Trieb ein Wille, der blind ist, weil er nur auf die triebhafte Ausnutzung der Natur für seine Zwecke bedacht sei. Der Wille dagegen, der nicht nur zuschaut, sondern weiß, dass sich die Natur durch seine List selbst ihren Untergang gibt, ist nach Hegel ein »böser« Wille. Er geht über den Trieb hinaus, er ist ein wissender Wille, der erkennt, dass die äußere Gegenständlichkeit sein begriffener Inhalt ist. Das zerstörerische genseitigen Abhängigkeit von Verstand und Leidenschaften im zweiten Diskurs hin. Vgl. Bienenstock, M.: Der Wille bei Rousseau und beim Jenaer Hegel. 145. 255 Vgl. GW 8. 205 f. Der zweiseitige Begriff der Arbeit unterscheidet Hegel entschieden von den modernen schottischen Ökonomen. Für James Steuart ist die Industriearbeit eine Kunstarbeit und von der Naturproduktion als Sklavenarbeit verschieden, und für Adam Smith spielt die Natur im Arbeitsprozess kaum eine Rolle. 256 Die Verknüpfung von Natur und Arbeit in der philosophischen Konzeption ist für Hegel nicht neu. Vor ihm hat bereits Fichte in »Der geschlossene Handelsstaat« (1800) in Ansehung der Naturbearbeitung zwei Klassen unterschieden – die »Produzenten«, die der produktiven Natur die Früchte abnehmen, und die »Künstler«, welche nicht unmittelbar die Natur bearbeiten. Der Staat regelt nach Fichte vermittels des Geldes die Tauschverhältnisse der beiden Klassen. Vgl. J. G. Fichtes Werke. Band III. Zur Rechts- und Sittenlehre I. Hrsg. v. I. Fichte. Berlin. 1971. 404 ff. Anders als Fichte hat Rousseau im zweiten Diskurs die Abhängigkeit sowohl von der Natur als auch von den anderen Menschen als das Hauptmerkmal der Arbeitsteilung gekennzeichnet. Mit seinem zweifachen Begriff von Arbeit steht Hegel in der Analyse der Arbeitsteilung Rousseau näher. Vgl. Bienenstock, M.: Der Wille bei Rousseau und beim Jenaer Hegel. 146 f. 257 Vgl. GW 8. 207. Der Begriff »List« (im Entwurf von 1803/04 heißt es »Betrug«) verweist auch auf die Bedeutung, die Hegel der Natur beimisst. Der Mensch verwendet List nur gegenüber etwas Lebendigem, einer lebendigen Kraft. 258 Vgl. ebd.

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Vorgehen gegen die Natur für die Befriedigung der eigenen Zwecke und Begierden ist ein Vorgehen gegen sich selbst, wie Hegel bereits im Entwurf von 1803/04 kritisierte. Neu im Entwurf von 1805/06 ist der Gedanke, dass in der Entnaturalisierung der Arbeit der erwachende, listige Geist als denkende Selbstbeziehung auftritt. Das Subjekt der Arbeit findet sich in der Beziehung auf anderes wieder, es reflektiert über sich und weiß das Resultat seiner Arbeit als Realisierung seines willentlichen Zwecks.259 Wie im äußeren Gegenstand und dem Resultat seiner Arbeit weiß sich das Ich im anderen Ich. Intersubjektiv ist die Anerkennung in der Familie das Vertrauen, die Selbstaufgabe und das Wiederfinden im Anderen. Beide Partner erkennen ihr Einssein als Liebe, welche für Hegel eine erste »Ahndung«260 der Sittlichkeit ist. Die Liebe als Mitte entgegengesetzter Charaktere sucht ihre Erfüllung und Befriedigung, indem sie in ihrem Anderssein, der äußeren Dingheit, in die bleibende Möglichkeit ihrer materiellen Existenz übergeht. Das ist der Familienbesitz, den die Familienmitglieder als ihre bleibende Mitte aufbauen. Jedoch ist der Familienbesitz nur der Wille, das Interesse an einer gemeinsamen Mitte, die wirkliche Mitte der Liebenden ist das Kind, in dem sie ihre Liebe in einem anderen Bewusstsein anschauen und sich aufheben.261 So wie in der Familie das gegenseitige Vertrauen aufgebaut wird, tritt im Gemeinwesen die Anerkennung, die sich verschiedene Familien oder Individuen gegenseitig geben, ein. Sie wissen sich nach Hegel nicht als zwei freie, unabhängige Willen, sondern als Charaktere: Jedes weiß sein Wesen als Besitzer im und durch den anderen oder jedes Individuum schaut in dem Willen des anderen seinen eigenen anerkannten Willen, und spezifi-

259

Hegel scheint die List im Entwurf von 1805/06 als eine Verbindung von Reflexion und Intelligenz zu bewundern, worin M. Bienenstock eine Ähnlichkeit zu Rousseau sieht. Vgl. Bienenstock, M.: Zur Revision der praktischen Philosophie Hegels im Systementwurf von 1805/06. 220 f. 260 GW 8. 210. Die Liebe war in Hegels Frankfurter Schriften das Prinzip der Tugenden. Im System der Sittlichkeit hebt er ausdrücklich die natürliche Sittlichkeit der Familie als Beschreibung einer Verfassung hervor, in dem Entwurf von 1805/06 tritt dagegen die natürliche Liebe in der Familie wie auch alles bloß Natürliche zurück. Damit distanziert sich Hegel von dem Naturrecht und begründet das Recht im freien Willen des Menschen. In dieser Hinsicht sei er nach der Einschätzung von M. Bienenstock noch radikaler als Rousseau, der im Gesellschaftsvertrag (contract social) den Verlust der natürlichen Freiheit (sa liberté naturelle) begründet. Noch einen Schritt weiter (und vielleicht zu weit) geht G. Seybold in seiner Einschätzung, wenn er behauptet, Hegel habe mit seiner radikalen Willenstheorie dem Naturrecht den »Todesstoß« versetzt. Vgl. Bienenstock, M.: Der Wille bei Rousseau und beim Jenaer Hegel. 154. Vgl. Seybold, G.: Hegels »Aufhebung« des Naturrechts. In: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie. Vol. 84. 1998. 326. 261 Vgl. GW 8. 212.

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scher: sein Anerkanntsein als besitzende Person, an.262 Beide haben in ihren einzelnen Willen den gemeinsamen Willen des gegenseitigen Anerkanntseins, worin nach Hegel die Sittlichkeit überhaupt und unmittelbar das geltende Recht bestehen.263 Im allgemeinen Anerkanntsein der einzelnen Person, in ihrem erfüllten, selbstbewussten Leben, erblickt Hegel das Geistige an der unmittelbaren Existenz des praktischen Ich. Er sucht die Bestimmungen des theoretischen Ich, der Intelligenz, auf das praktische Ich, den Willen, zu übertragen, um die Wirklichkeit des Geistes zu erweisen. Der Geist ist nach Hegel wirklich in dem Wissen der Einheit von einzelnem und allgemeinem Willen, genauer in der Erkenntnis, dass der einzelne Wille als Anerkanntsein im allgemeinen Willen aufgehoben ist. Der Geist verwirklicht sich nach Hegel entsprechend der logischen Grundlegung stufenweise – als unmittelbares Anerkanntsein der Person als Bedürfniswesen, als Anerkanntsein in der wirtschaftlichen Sphäre von Arbeit und Besitz (Geist im Anderssein) und als Anerkanntsein im Staat als der Rückkehr des Geistes aus dem Anderssein. Erst im Staat als dem institutionalisierten allgemeinen Willen, in dem alle Einzelwillen aufgehoben sind, ist der Geist zu sich zurückgekehrt und wirklich. In der Wirtschaft dagegen ist der Geist in seinem Anderssein und die Einheit von einzelnem und allgemeinem Willen wird in einem gegenseitigen, formalen Vertrag realisiert, dessen Einhaltung der Staat sichert, wie im Folgenden erläutert wird.

2. Die Macht des allgemeinen Willens in der Wirtschaft Weil es in der Wirtschaft kein gegenseitiges Vertrauen und keine vollständige Anerkennung der Personen untereinander gibt, sind sie auf den sittlichen Staat und sein Recht angewiesen. Als Einzelne sind sie aber auch auf die Wirtschaft als Ganzes angewiesen. Zwar können die einzelnen Individuen auch ohne die wirtschaftlichen Beziehungen zu anderen ihre Bedürfnisse befriedigen, indem sie die Natur unmittelbar bearbeiten, aber dadurch macht sich das Bewusstsein zum Ding, es reduziert seine Tätigkeit nur auf das Um-

262

Vgl. GW 8. 218. Vgl. GW 8. 222. Die Errichtung eines Rechtszustands ist bei Hegel wie bei Rousseau erst mit der Initiierung der ökonomischen und sozialen Organisation notwendig, worauf Bienenstock zurecht hingewiesen und die Nähe beider Denker hervorgehoben hat. Vgl. Bienenstock, M.: Der Wille bei Rousseau und beim Jenaer Hegel. Zur Entstehung von Hegels Philosophie des subjektiven Geistes. In: Hespe, F./Tuschling, B.: Psychologie und Anthropologie oder Philosophie des Geistes. Stuttgart. 1991. 144 f. 263

C. Die Ökonomie und das Prinzip der Subjektivität

143

formen der Natur für das einzelne Bedürfnis.264 Wenn sich dagegen die Einzelnen auf die gemeinsamen wirtschaftlichen Beziehungen einlassen und die Arbeit teilen, dann können sie ihr unmittelbares Anerkanntsein in der Gemeinschaft erfahren. Während Hegel die Arbeitsteilung in seinem Entwurf von 1803/04 vor allem als Abstumpfung des Bewusstseins kritisiert, bedeutet sie hier darüber hinaus eine Weise des geistigen Anerkanntseins, der Vereinheitlichung von einzelnem und allgemeinem Willen.265 Die Verallgemeinerung der Arbeit wird im Entwurf von 1805/06 entsprechend der veränderten theoretischen Fundierung vor einen reichhaltigeren Hintergrund gestellt. Hegel kritisiert nach wie vor, dass die menschliche Arbeit mechanisch-abstrakt wird. Sie ist in viele Arbeitsarten vereinzelt, so dass der Einzelne nicht Meister über einen großen Arbeitsumfang werden kann, aber dafür bringt sie eine Ersparnis, wie Hegel erneut das Beispiel der Stecknadelproduktion aufgreift.266 Er macht im Entwurf von 1805/06 geltend, dass durch die Verallgemeinerung der Arbeit auch deren Vergleichbarkeit im allgemein anerkannten Wert als Geld möglich ist, was wiederum den gegenseitigen Tausch erleichtert. Im gegenseitigen Tausch finden die Partner einen gemeinsamen Willen, der eine erwirbt einen Besitz mit dem Wissen und Wollen des andern. Im anerkannten Besitz schaut der Besitzer sein Anerkanntsein als sein Dasein an, und sein Wille ist der gemeinsame, geltende Wille.267 Der gemeinsame Wille als gegenseitiges Anerkanntsein wird in einem Vertrag ausgesprochen.268 Im Vertrag geht es nach Hegel um mehr als die Einigung über

264

Vgl. GW 8. 224. Zu dieser Einschätzung auch Arndt, A.: Zur Herkunft und Funktion des Arbeitsbegriffs in Hegels Geistesphilosophie. Bes. 101 und 113 ff. A. Arndt glaubt, dass Hegels Begriff der Arbeit in Verbindung mit der Reflexion unter dem Einfluss von Hölderlin, der die Arbeit als Poiesis (Dichtung als Ursprung, Grund und Ziel des Verstandes- und Vernunfttätigkeit) denkt, entstanden ist. Anders als bei Hölderlin, hat die Arbeit bei Hegel auch ein politisches Motiv. Hegel glaubt nicht an die Polisfähigkeit der Besitzbürger in der Sphäre des Bedürfnisses und der Arbeit. Deren Ökonomie ist für den Geist etwas »Unverdauliches«. Selbst in ihrem spekulativen Aufgehobensein bleibt die wirkliche Arbeit der Endlichkeit in ihrer ganzen Härte verhaftet, so Arndt. 266 Vgl. GW 8. 224. Anm. 1. Hegels Betrachtung der Natur, über die der Mensch nicht Herr und Meister werden kann, erinnert u. a. an Hölderlin. Vgl. Hölderlin, F.: Sämtliche Werke und Briefe. Darmstadt. 1998. Bd. II. 770. Brief an seinen Bruder vom 4.06.1799. 267 Vgl. GW 8. 227. 268 Das Gelten des Wortes im Vertrag, der auch Arbeitsprozesse regelt, ist für Habermas anstößig. Er sieht darin denselben Zusammenhang von Interaktion und Arbeit, den er zuvor für die Sprache hergestellt hat: Die Sprache geht, da sie nur im Volk als ein allgemeines Kommunikationsmittel die Existenz des wirklichen Geistes manifestiert, in das kommunikative Handeln ein und gestattet als solche komplementäre Verhaltenserwartungen in der Gesellschaft. So sei Interaktion von eingelebten Kommunikationen abhängig. 265

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die Besitzübertragung, es geht um die Anerkennung der Person als Ganzes, ihres Willens, ihrer Ehre und ihres Lebens.269 Daher darf der Vertrag nicht gebrochen werden und muss per Gesetz vor einseitiger Verletzung geschützt werden. Das Gesetz verkörpert den allgemeinen Willen, der den einzelnen Willen schützt. Der allgemeine Wille als geltendes Gesetz ist in der Sphäre der Wirtschaft wesentlich, obwohl dieses nicht als ein lebendiges Anerkanntsein, sondern lediglich als formales Eigentumsrecht auftritt. Die wirtschaftenden Individuen glauben zwar nach ökonomischen Gesetzen und Gesetzmäßigkeiten zu handeln – sie glauben z. B., dass ihnen das gehört, was sie erarbeitet oder eingetauscht haben. In Wirklichkeit unterliegen sie den Gesetzen der Allgemeinheit. So hängt zum Beispiel das physische und geistige Bestehen des Einzelnen nicht von ihm selbst, sondern von der »blinden Bewegung«270 der Allgemeinheit ab, denn nicht es selbst bestimmt sein Auskommen durch Arbeit, sondern die Zufälligkeit der wirtschaftlichen Verflechtungen im gesellschaftlichen Ganzen. Die Worte »Zufälligkeit« und »Willkür«, mit denen Hegel die wirtschaftliche Sphäre beschreibt, haben für ihn eine pejorative Bedeutung. Selbst wenn der Einzelne mehr verarbeitet, um sich von der Zufälligkeit und Willkür der anderen zu lösen, erreicht er das Gegenteil – er vermindert dadurch den Wert seiner Arbeit. Der Einzelne wird in seiner wirtschaftlichen Tätigkeit dauerhaft von den anderen bestimmt, nicht nur weil er für die sich ständig verfeinernden Bedürfnisse der anderen arbeitet, auch weil sein Auskommen durch Arbeit von der zufälligen Mode oder von den technologischen Erfindungen abhängt. Einerseits wird dadurch die allgemeine Arbeit gebildeter und vollkommener, denn die vervielfältigten Bedürfnisse verlangen nach Verfeinerung der Arbeitsmethoden und Erzeugnisse, auf der anderen Seite wird die Arbeit zugleich mechanisch, abgestumpft und geistlos.271 Das erfüllte selbstbewusste Leben als das Geistige der Arbeit wird zum formalen, »leeren Tun«272 einer und derselben Arbeit. In der Wirtschaft sind die Menschen nicht nur der Zufälligkeit überlassen, sondern zu

Diesen Zusammenhang sucht Habermas auch zwischen Arbeit (besser Arbeitsprozessen) und Interaktion festzuhalten: Das gesprochene Wort des Vertrages, der die gegenseitige Anerkennung regelt, beruht auf der Interaktion und normiert die im Austausch von Arbeitsprodukten gesetzte Gegenseitigkeit. Das rechtlich sanktionierte Selbstbewusstsein ist Resultat beider Prozesse: Arbeit und Kampf um Anerkennung. Vgl. Habermas, J.: Arbeit und Interaktion. 803 ff. 269 Vgl. GW 8. 231. 270 Vgl. GW 8. 243. 271 Vgl. GW 8. 243. 272 GW 8. 243.

C. Die Ökonomie und das Prinzip der Subjektivität

145

»ganz abstumpfenden, ungesunden und unsicheren und die Geschicklichkeit beschränkenden Fabrik-, Manufakturarbeiten« verdammt.273 Die Vervielfältigung der Bedürfnisse ist die allgemeine Mode, die dem Einzelnen vorgibt, was und wie er seine Arbeit gestalten muss, will er durch eigene Arbeit bestehen. Die Arbeit wird auch dadurch von der Allgemeinheit bestimmt, dass ständig neue Arbeitstechnologien und Werkzeuge entwickelt werden, welche sie vereinfachen und beschleunigen. Der Einzelne kann sich in seiner wirtschaftlichen Existenz nicht mehr auf die eigene Geschicklichkeit verlassen, sondern ist von den zufälligen Entdeckungen und technologischen Entwicklungen anderer abhängig. Wenn durch eine neue Erfindung im Ausland die Produktivität steigt und die billigeren und besseren Produkte den inländischen Markt unterwandern, dann kann diese zufällige Erfindung ganze Industriezweige vernichten und viele Menschen arbeitslos und arm machen. Einige bereichern sich dadurch stark und können aufgrund ihrer finanziellen Macht noch leichter als die kleineren Unternehmer größere Gewinne nach dem Prinzip »wer da hat, dem wird gegeben«274 erzielen. Die Ungleichheit von Reichtum und Armut, welche die Wirtschaft erzeugt, bringt nach Hegel »die höchste Zerrissenheit des Willens, – innere Empörung und Hass«.275 Hegel bekräftigt damit in bezug auf den einzelnen Willen seinen früheren sozial-kritischen Standpunkt gegenüber der Wirtschaft. Der einzelne Wille ist in seiner geistigen Einheit mit dem allgemeinen Willen zerrissen, diese Einheit ist in der Wirtschaft nicht wirklich, sie ist zugleich eine Not und eine Notwendigkeit. Notwendig ist die Wirtschaft deshalb, weil sie den physischen Erhalt des Staates sichert. Er muss sie erhalten, indem er z. B. neue Absatzwege ins Ausland sucht und die Gewerbefreiheit sichert. Vor allem muss der Staat als der institutionalisierte, allgemeine Wille die Übersicht über die Wirtschaft haben, denn gerade das vermag der Einzelne nicht, er ist »nur ins Einzelne vergraben«.276 Der sittliche Staat darf nicht direkt in die Wirtschaft eingreifen, sondern so »unscheinbar als möglich«277 und nur in den Bereichen, in denen die Ungleichheit maßlos geworden ist. In einem von der Willkür beherrschten Bereich, in dem viele Menschen ihr Auskommen finden, soll der Staat nach Hegel »nicht retten wollen, was nicht zu retten ist«, indem er etwa ethisches Handeln erzwingt, sondern »die leidenden Klassen anders beschäftigen«278 oder ihnen finanzielle Unterstützung (Arm273 274 275 276 277 278

GW 8. 244. Ebd. GW 8. 244. GW 8. 245. Vgl. GW 8. 244. GW 8. 245.

146

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entaxen) geben. Der Staat kann das leisten, weil er über den Reichtum im Volk verfügt – während er einige zur »Rohheit, zur Abstumpfung in der Arbeit« verurteilt, lässt er andere reich werden, um ihnen dann durch Auflagen den Reichtum wieder abzunehmen und den Armen zu geben. Bei der Besteuerung der Wirtschaft soll der Staat nach Hegel die Unternehmen nicht überfordern. Die Besteuerung muss vielmehr gleichmäßig sein: »wenig von Allem, aber überall«.279 Auch hier wiederholt Hegel seine Aufforderung, nicht den Besitz, weil er zufällig ist und verschleudert werden kann, sondern die Einkünfte zu besteuern, denn diese »fühlt« jeder und will sie vom Staat gut verwendet wissen. Der relative, finanzielle Ausgleich zwischen Reichen und Armen kommt nicht nur den Armen zugute: Durch die Zahlung der Abgaben an den Staat verringern die Aristokraten den Neid und die Gefahr der gewaltsamen Beraubung.280 Das organisierte Gemeinwesen ist sowohl für die Armen als auch für die Reichen eine Macht in ihrem Leben, die sie achten, weil sie ihnen Schutz gibt. Diese Macht, die Hegel Geist des Volkes nennt, ist nicht nur das geltende Gesetz des Zusammenlebens, sie ist auch die Natur und die Substanz der Individuen selbst. Das Werden des Einzelnen zum Allgemeinen konstituiert zugleich das Allgemeine, »der allgemeine Wille ist der Wille als Aller und Jeder«.281 Die sich im Allgemeinen wissenden Individuen konstituieren das sittliche Volk und das geltende Recht als einen unmittelbaren Begriff des Geistes.282 Das Allgemeine ist dadurch nicht »blinde Notwendigkeit«, wie in der Wirtschaft, sondern durch Wissen vermittelte Notwendigkeit: »Das Allgemeine, indem es mein Leben beschützt, und es Macht über mein Leben ist, ist es diese unmittelbare Einheit – des reinen Willens, und des Daseins, – des reinen Bewusstseins und meiner selbst«.283 Aus diesem Verständnis des Selbst heraus empfindet die einzelne Person Vertrauen gegenüber der Allgemeinheit des Volkes, und wenn sie sich nicht in dieser Einheit wiederfindet, hat sie Furcht. Das Vertrauen bedeutet für den Einzelnen das Wissen seiner Selbst und seines Wesens in Einheit mit dem Volk. Für sich und seine Familie sorgend, arbeitet der einzelne Mensch für alle. Er ist im Wissen bourgeois und citoyen zugleich.284

279

Ebd. Vgl. GW 8. 249 f. 281 Vgl. GW 8. 256 und 253 ff. 282 Vgl. GW 8. 256. 283 GW 8. 253. 284 Vgl. GW 8. 261 f. M. Riedel ist der Meinung, dass sich Hegel über diese Doppelbestimmung und Differenz des Menschen mit sich, ein Problem, das die Französische Revolution gestellt habe, zu dieser Zeit (1805/06) noch keineswegs im Klaren gewesen sei, da er sie der glücklichen Freiheit der Griechen gegenüberstellt. Dagegen sieht M. Bie280

C. Die Ökonomie und das Prinzip der Subjektivität

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Dieses Wissen der Einheit ist jedoch nicht für jedes Volksmitglied erreichbar. Die Einheit von einzelnem und allgemeinem Willen existiert daher in zweifacher Weise: als Regierung (in Bezug auf die Staatsbürger), welche den allgemeinen Willen zum Prinzip hat, und als Wirtschaft (in Bezug auf die Besitzbürger), in welcher von dem allgemeinen Willen abstrahiert wird und der einzelne, egoistische Wille leitendes Prinzip ist. Der bourgeois weiß in der Allgemeinheit nur seine eigenen Interessen, und daher kommt es oft vor, dass er gegen die Mehrheit protestiert, er muss aber gehorchen. Der Uneinsichtigkeit des modernen Besitzbürgers, dass der allgemeine Wille zugleich sein eigener Wille ist, steht die »schöne, glückliche Freiheit der Griechen« gegenüber, welche aus einem tieferen Geist heraus eine Sittlichkeit als harmonische Wechselwirkung zwischen allgemeinem und einzelnem Willen, Regierung und Bürger entwickelte. Die antike unmittelbare Einheit von einzelnem und allgemeinem Willen als Sitte aller ist aber endgültig vergangen und an ihre Stelle ist das neue, höhere Prinzip der sich selbst als allgemein wissenden Individualität getreten.285 Hegel beansprucht in seiner Konzeption, dieses Prinzip der Subjektivität als denkender Selbstbezüglichkeit, das Plato nicht kannte, zu berücksichtigen.286 Angesichts der Übermacht des staatlichen Gemeinwesens gegenüber den Individuen bei Hegel kann aber bezweifelt werden, ob er das Prinzip der Individualität tatsächlich stärker als Plato beachtet.287 Hegel versteht das Prinzip der Individualität vor allem im Denken und Wissen der Allgemeinheit. Die Individuen sind zwar in ihrem äußeren Tun und insbesondere in ihren wirtschaftlichen Aktivitäten voneinander nicht frei, sie bewahren jedoch die Freiheit des Denkens und des bewussten Wissens der Einheit mit der Allgemeinheit. Im Gegensatz zum antiken, griechischen Volk ist das moderne Volk nicht so geschlossen, d. h. die Bereiche Wirtschaft, Militär, Verwaltung entwickeln sich nach eigenen Prinzipien, so nenstock keine systematischen Schwierigkeiten Hegels in dieser Doppelbestimmung und deutet die Unterscheidung von bourgeois und citoyen als eine offensichtliche Anspielung auf Rousseau. Vgl. Riedel, M.: Zwischen Tradition und Revolution. 138. Vgl. Bienenstock, M.: Der Wille bei Rousseau und beim Jenaer Hegel. 150. 285 Vgl. GW 8. 263. 286 Vgl. GW 8. 263. Diese Kritik Hegels an Plato und indirekt an den eigenen, früheren Schriften bedeutet nicht den endgültigen Abschied vom Polisideal, wie Riedel unterstellt, denn wie sich im nächsten Kapitel noch zeigen wird, bildet die antike platonische Polis zwar nicht so deutlich, aber wie vorher den Rahmen. Vgl. Riedel, M.: Zwischen Tradition und Revolution.137. 287 Plato hat die sittlichen Individuen auch ohne Rekurs auf eine Theorie der Subjektivität nicht zu unselbstständigen Momenten eines seienden sittlichen Ganzen herabgesetzt. Vgl. Düsing, K.: Politische Ethik bei Plato und Hegel. 142.

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Zweites Kapitel

dass sich die verschiedenen Berufsgruppen wie Bauern, Handwerker, Fabrikanten, Richter, Soldaten aufteilen, aber sie wissen sich im Denken als allgemein, als zu einem Ganzen gehörig. Das Prinzip der denkenden Selbstbezüglichkeit erlaubt Hegel nicht mehr seine frühere scharfe Verurteilung des ökonomischen Prinzips des bourgeois. Der bourgeois glaubt zwar egoistisch zu handeln, in Wahrheit aber handelt er im Sinne aller und in seinem Denken ist er eins mit ihnen. Der egoistische Standpunkt des bourgeois ist nach Hegel im Werden des Geistes zum absoluten Wissen der Subjektivität begriffen. Das neue theoretische Prinzip bildet die Grundlage der praktischen Philosophie Hegels und verursacht gegenüber den frühen Schriften eine spürbare Aufwertung der Sittlichkeit der Besitzbürger.

3. Die Kritik am Misstrauen des wirtschaftenden Standes im Staat Der Geist des Volkes gliedert sich selbst in zwei grundsätzliche Gruppen von Individuen – in den allgemeinen Stand und in die niederen Stände. Während die Mitglieder des ersten Standes für die Allgemeinheit oder für den Staat arbeiten, ist für den zweiten Stand das privatwirtschaftliche Prinzip entscheidend. Im Vergleich zu Hegels früher Jenaer Ständegliederung in Freie und Nicht-Freie fällt die Ständelehre Hegels im späteren Jenaer Entwurf von 1805/06 differenzierter aus. Er untergliedert beide Stände nach verschiedenen Berufsgruppen. Zum ersten Stand zählt er die Beamten des Staates – die Regierenden, die Richter, die Polizisten, die Gelehrten und die Soldaten. Ihre Gesinnung ist die ausschließliche Pflichterfüllung gegenüber dem Volk, dem sie angehören.288 Der Geist ist in diesen Ständen prinzipiell ohne Bedürfnis und Begierde, er ist »die Intelligenz, die sich selbst weiß«,289 die alle Willkür der Realität in sich tilgt. Der erste Stand ist weise, wenn er die Wirtschaft nicht durchreguliert, sondern als ein System betrachtet, »als ob es allein wäre frei sich und unabhängig seinem Begriffe nach ausbildet«.290 Die Gliederung der Wirtschaft in den »niederen« Ständen entspricht dem Vertrauensverhältnis der Mitglieder zum Allgemeinwesen. Während die Bauern dem Staat unmittelbar vertrauen und alle auferlegten Pflichten unreflektiert erfüllen, wissen die Handwerker, dass der Staat ihre Rechte schützt und vertrauen ihm deshalb. Sie erfüllen aber ihre Pflichten im Staat nur aus diesem Eigeninteresse heraus. Die Kaufleute misstrauen der organisierten Allgemeinheit 288 289 290

Vgl. GW 8. 273. GW 8. 274. GW 8. 271.

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149

vollständig, sie vertrauen lediglich ihrem formalen »Repräsentanten« – dem Geld.291 Die Gesinnung der Kaufleute liegt in der Überzeugung, dass jeder soviel bedeute, wie er Geld hat.292 Hier setzt Hegels ethische Kritik an der Gesinnung der Kaufleute an, in denen die ganze »Härte des Geistes«293 angesiedelt ist. Nicht der einzelne Bürger als anerkannte Person, sondern die »klingende Münze« hat hier das strikte Recht, das auch dann gilt, wenn die Familie, der Wohlstand und das Leben zugrunde gehen. Auf das Elend einer ganzen Klasse von Menschen gründet oft der Erfolg von Industrieunternehmen, was für Hegel eine »gänzliche Unbarmherzigkeit«294 ist. Der Geist ist in den wirtschaftenden Ständen der Bauern, Handwerker und Kaufleute außer sich, er ist sich Gegenstand geworden und schaut sein »selbstloses Inneres«295 an. Sein Inneres ist deshalb selbstlos, weil die Einheit des Geistes als »Ich=Ich« naiv in die Formel »Ich = Ding«296 verwandelt wird. Jedoch ist das Innere des Geistes nicht ein Ding, er verbleibt nicht in seinem Anderssein. Er schließt seine Bewegung aus dem Anderssein nicht im Ding, sondern im Ich. Deshalb kann Hegel sagen, dass auch der bourgeois trotz der Formel seines äußeren Handelns ein geistiges, inneres Ich hat und in seinem Denken das Allgemeine oder der »Staat überhaupt Gegenstand seines Tuns und Bemühung, und Zweck«297 ist. Diese Bestimmung, die eigentlich dem Stand der Allgemeinheit zukommt, ist nicht eine Gleichsetzung von Staatsbürger und bourgeois, denn Hegel fordert vom gesetzgebenden ersten Stand eine besondere Schärfe der rechtlichen Behandlung der Kaufleute und eine detaillierte Rechtsprechung für sie. Die Kaufleute sollen stärker besteuert werden, und da sie böser und uneinsichtiger als die Bauern sind, sollten sie ein gesondertes Strafrecht erhalten.298 Während der Geist in den wirtschaftenden Ständen ein werdender und im Stand der Allgemeinheit Wirklichkeit ist, ist er erst in der Religion mit den Weltgegebenheiten und der Natur versöhnt.299 In der Religion verschwindet das sozialweltliche Dasein des Individuums als Standesmitglied wie ein »Duftwölkchen«.300 Das Denken, dass gemäß der christlichen Religion ein jenseitiger Gott menschliches Subjekt geworden und

291 292 293 294 295 296 297 298 299 300

Vgl. GW 8. 266. Vgl. GW 8. 269. GW 8. 270. GW 8. 270. GW 8. 270. GW 8. 270. Anm. 2. GW 8. 270. Vgl. GW 8. 271. Vgl. GW 8. 281 f. GW 8. 281.

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seine vergangene Wirklichkeit jetzt der »Geist der Gemeine«301 ist, setzt der religiöse Mensch mit dem Sein identisch. Der spekulative Inhalt der Religion ist nach Hegel wahr, aber nur eine Versicherung, ohne begriffliche Einsicht. Erst Hegels spekulative Philosophie, die denselben Inhalt wie die Religion hat, soll jene Einsicht und jenes Wissen des Geistes von sich als die Identität von Leben und Erkennen leisten.302 Die spekulative Philosophie, die Hegel in seinen späteren Schriften detailliert entwickelt, bedarf aber einer Einleitung, und Hegel widmet sich dieser Aufgabe, deren Ergebnis seine Phänomenologie von 1807 ist.

c) Systematische und ökonomische Aspekte in der Phänomenologie Hegels Phänomenologie entwickelt eine systematische idealistische Geschichte des Selbstbewusstseins.303 Es handelt sich um eine stufenartige Fortentwicklung des bewusstseinsimmanenten Fürwahrhaltens als sinnliche Gewissheit, Wahrnehmung, Verstand und Vernunft, das sich immer mehr in den ihm gegenüberstehenden Gegenstand vertieft und ihn letztlich als seinen eigenen Vorstellungsgegenstand begreift, dadurch sich selbst im Anderssein erkennt. Ein solches Denken kommt nur dem Selbstbewusstsein zu, das sich in einer spezifischen Weise des Fürwahrhaltens auf seinen Gegenstand bezieht. Denn die Selbstbeziehung auf der Ebene der sinnlichen Gewissheit, der Wahrnehmung und des Verstandes ist noch nicht erfüllt, erst auf der höheren Ebene der Vernunft bekommt das Selbstbewusstsein die Gewissheit, sich selbst in seinem Gegenstand zu wissen und so »alle Realität zu sein«.304 Die höhere Ebene des Fürwahrhaltens als Vernunft ist für Hegel die Einheit des Wissens und des Seienden, d. h. sie ist nicht eine instrumentelle oder technische Vernunft, sie bemächtigt sich nicht des Seienden, vielmehr erkennt sie das Seiende als sich selbst. Als seine Vernunft stellt das einzelne Selbstbewusstsein die sittliche Substanz vor, es denkt sich als deren Moment, als das »Fürsichsein der Substanz«,305 und aufgrund dieses Denkens handelt es willentlich in ihrem Sinne. Es verlässt seine theoretische Abstraktheit und findet 301

GW 8.283. Vgl. GW 8.286. Hegel wiederholt diese Einsicht in der Enzyklopädie §1. 303 Vgl. Düsing, K.: Hegels Phänomenologie und die idealistische Geschichte des Selbstbewusstseins. In: Hegel Studien 28. Hrsg. von F. Nicolin und O. Pöggeler. Band 28. Bonn. 1993. 103–126. 304 GW 9. 133. Vgl. Näheres darüber bei Düsing, K.: Der Begriff der Vernunft in Hegels »Phänomenologie«. In: Vernunftbegriffe in der Moderne. Stuttgart. 1993. 260. 305 GW 9. 229. 302

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in sich selbst die erfüllte, praktische Allgemeinheit, die ihm Grund seines Wollens und Handelns wird.306 Insofern entstammt der Inhalt des sittlichen Wollens und Handelns für Hegel primär dem Denken der Allgemeinheit, und das Handeln ist das Werden des Geistes als Bewusstsein.307 Im Rahmen der idealistischen Geschichte des Selbstbewusstseins in der Phänomenologie greift Hegel erneut, aber plastischer, speziell hinsichtlich der Arbeit und des Werkes die bereits im Entwurf zur Geistesphilosophie von 1803/04 erörterte Anerkennungsproblematik des Herr-Knecht-Verhältnisses auf. Diese Erörterung steht vor dem Hintergrund von Hegels Grundthese, dass das Selbstbewusstsein nur als Anerkennendes und Anerkanntes gilt und seine Befriedung nur in einem anderen gleichrangigen Selbstbewusstsein findet, weil es nur vermittelt eine Erkenntnis von sich gewinnt.308 Der Herr hält sich selbst für selbstständig und den Knecht für unselbstständig. Er ist Herr, insofern er als solcher vom Knecht anerkannt ist. Das gelingt aber nicht, weil der Knecht ihm nicht gleichrangig ist, und so erfährt der Herr das Gegenteil einer anerkannten Selbstständigkeit – er bekommt lediglich die Anerkennung eines Unselbstständigen, da er den Knecht nicht anerkennt.309 Das gleiche asymmetrische Anerkennungsverhältnis findet im Bewusstsein des Knechts statt: Er hat den Kampf mit dem gleichrangigen Gegner verloren und sich aus Angst vor dem Tode entschlossen, dem Herrn zu dienen. Der Knecht hält sich für unselbstständig, er wird nicht anerkannt und arbeitet für die Bedürfnisse des für ihn selbstständigen Herrn. Da der zu bearbeitende Boden und die Werkzeuge dem Herrn gehören, sind sie für den Knecht selbstständige Dinge, er ist von ihnen abhängig. Durch ihre Nutzung erwirtschaftet er bestimmte Produkte und gewinnt dadurch eine eigene Weise des Selbstverstehens, er kommt durch die Arbeit zu sich selbst.310 Diese reflexive Rückkehr des

306

Es ist dieselbe Vernunft, die sich theoretisch und praktisch realisiert. Der Übergang von theoretischer zu praktischer Vernunft beruht auf Defiziten des theoretischen Erkennens. Vgl. Düsing, K.: Der Begriff der Vernunft in Hegels »Phänomenologie«. 254. 307 Vgl. GW 9. 218. Auch an dieser Stelle wiederholt Hegel seine Kritik am Formalismus der Kantischen Konzeption praktischer Vernunft. Eine autonome praktische Vernunft kann Gegensätzliches zum Inhalt haben, deshalb verteidigt Hegel erneut seine frühere Position, dass der Inhalt der Vernunft nur in einem sittlichen, substantiellen Ganzen zu finden sei. Anders als für Fichte, hat für Hegel das Denken vor dem Handeln, die Intelligenz vor dem Willen, den Vorrang. Vgl. Düsing, E.: Zum Verhältnis von Intelligenz und Wille bei Fichte und Hegel. 107 ff. Die vorrangige Rolle des Denkens behält Hegel auch in seinen späteren Schriften bei. 308 Vgl. GW 9. 107 ff. Solche Intersubjektivität ist für Hegel schon der Begriff des Geistes. 309 Vgl. GW 9. 114. 310 Vgl. GW 9. 114.

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knechtischen Bewusstseins durch die Arbeit ist eine erfahrene Selbstständigkeit, jedoch noch nicht das absolute Begreifen seiner selbst, da die Dinge für ihn selbstständig bestehen und er sie nicht als seine Vorstellungsgegenstände aufheben kann. Deshalb bildet seine Arbeit nicht geistig, sie ist lediglich eine technische Geschicklichkeit im Dienst seines Herrn.311 In der Umkehrung der Weise, wie sich Herr und Knecht selbst, nicht gegenseitig untereinander, ursprünglich betrachten, besteht nach Hegel die dialektische Erfahrung des Bewusstseins – der Knecht betrachtet sich als unselbstständig und erfährt in seiner Tätigkeit die Selbstständigkeit, und der Herr hält sich ursprünglich für wesentlich und erfährt intersubjektiv die unvollständige Anerkennung des knechtischen Bewusstseins. Das Verhältnis Herr – Knecht hat für Hegel keine sozialkritische Bedeutung – sie exemplifiziert weder eine bestimmte historische Phase noch die Teilung der kapitalistischen Gesellschaft in Klassen.312 Vielmehr handelt es sich in der Herr-Knecht-Problematik bei Hegel um die Darstellung eines asymmetrischen Anerkennungsverhältnisses, das nicht zur vollständigen Anerkennung führt.313 Die Entwicklungsgeschichte des Selbstbewusstseins zur Wahrheit zeigt nach Hegel zugleich die Erscheinungs- und Tätigkeitsweisen des Geistes314 oder anders gesagt – in den Erfahrungen, die das Bewusstsein mit 311

Vgl. GW 9. 116. K. Marx lobt ausdrücklich Hegels Phänomenologie, in der der Mensch in seiner eigenen Arbeit begriffen wird, und folgert, dass die Zukunft aufgrund seines Verhältnisses zur Arbeit dem Knecht gehört. Marx fand viele Nachfolger, die historische Momente in die Phänomenologie einbauten (wie z. B. H. Marcuse, E. Bloch, G. Rudolph, G. Lukács, A. Kojève, auch J. Habermas unterstellt eine politische Abhängigkeit zwischen Herr und Knecht). Unzutreffend ist ebenfalls Karl Homanns Deutung der Herr-Knecht-Problematik in der Phänomenologie, die er als ein gesellschaftskritisches Beispiel aus der philosophischen Tradition dafür ansieht, wie die Mächtigen nicht immer die Großen sind. Vgl. Marx, K.: Marx-Engels-Gesamtausgabe, 1. Abt. Bd. III, Berlin, 1932, 156. (Ökonomischphilosophische Briefe) Auch Rudolph, G.: Hegel und die Politische Ökonomie. In: Wirtschaftswissenschaft. Heft 29. Nr. 12. Berlin. 1981. 1466. Vgl. Homann, K.: Anreize und Moral. 105. Anm. 50. Problematisch bleibt bei diesem historischen Deutungsansatz die Ferne zum Hegelschen Standpunkt und die Identifizierung von Selbstbewusstsein mit dem Ich der Person, worauf hier nur hingewiesen sei. Zur Kritik und Würdigung der verschiedenen Interpretationslinien des Herr-Knecht-Kapitels vgl. Gloy, K.: Bemerkungen zum Kapitel »Herrschaft und Knechtschaft« in Hegels Phänomenologie des Geistes. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 39 (1985). 188 f. 313 Vgl. Düsing, E.: Intersubjektivität und Selbstbewusstsein. Behavioristische, phänomenologische und idealistische Begründungstheorien bei Mead, Schütz, Fichte und Hegel. Köln. 1986. 322. 314 Vgl. die nähre Erläuterung der Entsprechung von Logik und Geist in Hegels Phänomenologie bei O. Pöggeler: »Die ›Phänomenologie‹ – Konsequenz oder Krise in der Entwicklung Hegels? In: Kimmerle, H. (Hrsg.): Die Eigenbedeutung der Jenaer Systemkonzeptionen Hegels. Berlin. 2004. 261. 312

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den Grundbegriffen des Denkens macht und die zu den unterschiedlichen Gestalten des Fürwahrhaltens führen, erscheint der Geist. Hegel untersucht die Erscheinungsweisen des Geistes stufenartig von der vorgefundenen sittlichen Wirklichkeit (in der Familie, im Rechtszustand), über die Gestalten der Entfremdung des Geistes in seinem Anderssein, der anschaulichen und vorstellenden Rückkehr zu sich, und schließlich in der Rückkehr zu sich im absoluten Wissen der Identität von Einzelnem und Allgemeinem. In den vorläufigen Gestalten des Bewusstseins als Weisen des Fürwahrhaltens deutet Hegel den erwachenden Geist, der in seinem Werden begriffen noch nicht als das Absolute auftritt, metaphysisch. Die Gestalten des Geistes sind deshalb vorläufig, da sie den Schein des Bestehens endlicher Bestimmungen an sich haben, die jedoch dem reinen Begriff, dem begreifenden, absoluten Wissen nicht entsprechen. Jener Schein wird im absoluten Wissen überwunden, und der Geist tritt hier als die vollständige Beziehung seiner auf sich selbst auf.315 Der Geist weiß sich als eine Einheit seines Ansichseins, d. i. seines absoluten Inhalts in der Sittlichkeit, und seines Fürsichseins, d. h. seiner inhaltlosen Form als Selbstbewusstsein.316 Die Differenz von Inhalt und Form, von Wissen und Gegenstand, welche die vorläufigen Gestalten des Geistes charakterisiert, ist hier aufgehoben. Das absolute, denkende Wissen erkennt sich selbst in allem Anderssein – diese vollständige Selbstbeziehung kommt offensichtlich nur der absoluten Subjektivität als göttlichem Geist zu.317 Hegel denkt die göttliche Substanz nunmehr als ein göttliches Subjekt.318 Die endliche Subjektivität und das endliche Selbstbewusstsein einzelner Menschen oder Völker sind als Momente in der absoluten Subjektivität begründet, und an ihnen manifestiert sich der absolute Geist und gewinnt dadurch seine ontologische Bestimmung. In dem subjektivitätstheoretischen Programm der Phänomenologie hat das ökonomische, endliche Denken nur den Schein der Wahrheit und erweist sich vor dem Hintergrund von Hegels spekulativer Philosophie als widersprüchlich und unwahr. Hegel beschäftigt sich im Kapitel Der Geist und speziell im Abschnitt Der sich entfremdete Geist ausdrücklich mit ökonomischen Fragen, indem er die noch zu erörternde Dialektik von Reichtum und Staatsmacht 315

Vgl. GW 9. 427. Vgl. GW 9. 425. 317 Vgl. Düsing, K.: Von der Substanzmetaphysik zur Philosophie der Subjektivität. Zum Paradigmenwechsel Hegels in Jena. 197. 318 Vgl. GW 7. 171. Das Absolute konzipiert Hegel als Subjektivität und verlässt die frühere Substanzmetaphysik bereits in der Logik und Metaphysik von 1804/05. Die Substantialität verliert bei der Bestimmung des Absoluten den obersten Rang, sie bleibt aber als grundlegendes Moment erhalten – als an- und fürsichseiende Substanz. 316

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Zweites Kapitel

als Gedankeninhalte aufweist. Der Geist erfährt diese Dialektik in seiner Entfremdung, bevor er beide Gedankeninhalte in sich aufhebt. Bis etwa 1804 ist Hegel in seinen früheren Entwürfen bei der Entgegensetzung von Reichtum und Staatsmacht stehen geblieben, wobei er vor dem Hintergrund der sittlichen Substanz als der obersten Einheit die Reichtumssucht der Besitzbürger scharf verurteilt. Ab 1804 ist für Hegel die Substanz nun nicht mehr die oberste Einheit, sondern die Grundlage, auf der sich die höhere Subjektivität entwickelt. Sie ist für Hegel nach wie vor das substantielle, sittliche Gemeinwesen, dessen Lebendigkeit in der Staatsmacht als Regierung319 und in seinen Elementen wie den Familien und den privatwirtschaftlichen Unternehmen als selbstständigen Systemen besteht. Wenn sich bestimmte Systeme vom Ganzen isolieren, dann fällt das Ganze auseinander und sein Geist verfliegt. Dieser Zustand ist, wie Hegel schon im Naturrechtsaufsatz forderte, mit allen Mitteln zu bekämpfen. Er bekräftigt in der Phänomenologie erneut seine ungeheure Forderung, die wirtschaftliche Sphäre »durch die Kriege zu erschüttern, ihre sich zurecht gemachte Ordnung und Recht der Selbstständigkeit dadurch zu verletzen und zu verwirren, den Individuen aber, die sich darin vertiefend vom Ganzen losreißen und dem verletzbaren Fürsichsein und Sicherheit der Person zustreben, in jener auferlegten Arbeit ihren Herrn, den Tod, zu fühlen zu geben«.320 Diese Forderung Hegels verrät seine äußerst kritische Meinung gegenüber Staaten, die nur aus ökonomischem Interesse zusammenhalten, sie rechtfertigt aber in gar keiner Weise den Krieg und ist durchaus zu kritisieren. Hegel sieht ein, dass die wirtschaftliche Ungleichheit im Gemeinwesen, welche die Besitzbürger durch ihre Eigensucht erzeugen, zugleich seine Lebendigkeit erhält, aber nur solange die höhere Staatsmacht die Übersicht und die Macht über die Wirtschaft hat.321 Das Verhältnis des einzelnen Individuums zum substantiellen Gemeinwesen stellt das zentrale Problem der praktischen Philosophie Hegels auch in der späten Jenaer Phänomenologie dar. Während er in dem substanzmetaphysisch fundierten Naturrechtsaufsatz die beiden Stände der Freien und Nichtfreien unterscheidet und die Überlegenheit des ersten Standes zu erweisen sucht, betrachtet er diese gemäß der subjektivitätstheoretischen Grundlegung der Phänomenologie als die zwei Seiten des Ich als eines Doppelwesens – zum einen das Ich als Ansichsein (im Geist identisch mit den anderen, der selbstlose Staatsbürger) und zum anderen das Ich als Fürsichsein (als von den anderen verschieden, der selbstsüchtige Besitzbürger). Die entfremde319 320 321

Vgl. GW 9. 245. GW 9. 246. Vgl. GW 9. 249 f.

C. Die Ökonomie und das Prinzip der Subjektivität

155

ten Glieder als Gedanken sind das Gute und Schlechte, die im wirklichen Bewusstsein des Ich gegenständliche Momente sind. Das ansichseiende Ich denkt das Gute, das Bleibende als die Staatsmacht und das Schlechte, den Reichtum als das Aufzugebende. Das fürsichseiende Ich setzt die Gedankeninhalte genau umgekehrt. Die nähere Betrachtung aus der Sicht des philosophierenden Ich zeigt die Identität beider Gedankeninhalte: Die Staatsmacht ist das Werk aller und dessen Resultat, aber der Reichtum genauso. Der Reichtum kommt durch das Tun und die Arbeit aller zustande und jeder arbeitet für alle. In einem entwickelten System der gegenseitigen wirtschaftlichen Abhängigkeiten kommt der Einzelne gar nicht dazu, seine Eigensucht zu verwirklichen, denn all sein Bemühen kommt in irgendeiner Weise den anderen zugute.322 Insofern ist der Eigennutz nur ein Gedanke, aber keine Wirklichkeit. Der Reichtum, den das ansichseiende Ich für schlecht hält, erweist sich als gut. Das fürsichseiende Ich hält den Reichtum für das Gute, denn er schafft den Genuss aller, wogegen die Staatsmacht für es das Schlechte ist, weil sie den Genuss einschränkt.323 Genau das Gegenteil davon erweist sich aber als wahr: Die Staatsmacht schützt den einzelnen Genuss – ohne sie würde der isolierte Einzelne vom Zufall des Augenblicks und der Willkür anderer abhängen und womöglich gar keinen Genuss haben. Die Gedanken vom Guten und Schlechten bekommen einen entgegengesetzten Inhalt, wenn das Ich über diese aus seinem geteilten Doppelwesen heraus urteilt. Es verfehlt auf diese Weise nicht nur das Wahre, sondern wird in einem Widerspruch zerrissen. Als solches urteilt es gegenüber dem ganzheitlichen Denken des philosophierenden Ich abstrakt, wie Hegel sagt.324 Die unterschiedlichen Denkweisen von Gut und Schlecht in der Beziehung auf das Reale prägen das praktische Bewusstsein.325 So tritt das Bewusstsein in zwei realen Gestalten auf: als edelmütiges und als niederträchtiges Bewusstsein. Das edelmütige Bewusstsein setzt die Staatsmacht und den Reichtum gleich.326 Dagegen trennt das niederträchtige Bewusstsein die Staatsmacht vom Reichtum, sieht die Staatsmacht als Fessel und Unterdrückung an. Diese zwei bewusstseinsimmanenten Weisen des Fürwahrhaltens, deren ethischer Gehalt in der jeweiligen Bezeichnung offensichtlich ist, sind im Ich »geschlossen«.327 Das edelmütige Bewusstsein, das die allgemeine Substanz 322

Vgl. GW 9. 270. Vgl. GW 9. 272. 324 Vgl. GW 9. 273. 325 Vgl. ebd. 326 Gleichheit aufgrund des gemeinsamen logischen Grundes. 327 Hegel sucht hier die Transponierung der logischen Konzeption in die Subjektivitätstheorie des Geistes durchzuhalten. 323

156

Zweites Kapitel

als sein Wesen erkennt, entsagt von selbst des Besitzes und des Genusses. Seine Tugend ist der »Heroismus des Dienstes«328 am Allgemeinen. Durch diese wahrhaftige Bildung des Selbstbewusstseins zum Allgemeinen erlangt sowohl der Einzelne die Achtung vor sich selbst und den Anderen als auch die Staatsmacht ihre wahre Wirklichkeit. Dieses Selbstbewusstsein ist aber noch nicht ganzheitlich – es genießt zwar die Ehre und die Achtung, aber nicht die Erfüllung seiner Individualität. Im Hinterhalte liegt noch der Rest eines bleibenden individuellen Willens.329 Die Staatsmacht ist für das nur ansichseiende, edle Bewusstsein ein bloß versöhnter Gegensatz, noch nicht sein Selbst, noch nicht das aufgehobene Fürsichsein. Erst das selbstbewusste Aufgeben, die Entäußerung des Selbst erhebt die Staatsmacht zu ihrer wissentlichen Wirklichkeit. Das niederträchtige Bewusstsein setzt sein Fürsichsein als wesentlich und betrachtet die anderen und die Staatsmacht als unwesentlich. Es setzt sich auf diese Weise der Zufälligkeit des Augenblicks oder der Willkür anderer aus.330 Diese Zufälligkeit ist im Rechtszustand nicht gegeben, und es wird hier trotz seiner niederträchtigen Art anerkannt.331 Als Anerkanntes sieht es seine »Verworfenheit«332 ein, ist empört über sich.333 Im niederträchtigen Bewusstsein ist das reine, ganzheitliche Ich »absolut zersetzt«,334 wie Hegel kritisch bemerkt. Weder das niederträchtige Bewusstsein, noch das edelmütige Bewusstsein können den Widerspruch der gegenständlichen Wirklichkeit in sich aufheben, jedenfalls nicht getrennt voneinander. Sie müssen sich gegenseitig anerkennen und in der Mitte, in der beide dasselbe sind, manifestieren beide die Existenz des Geistes.335 Das an- und fürsichseiende Ich ist Hegels Ausgangspunkt für den Aufbau seines Systems der Wissenschaft. Dieses System ist theoretisch in der spekulativen Logik begründet, in welche die Phänomenologie einführen soll, und enthält außer der Logik noch die Philosophie der Natur und die Philosophie des Geistes. Diese Systematik, die Hegel überzeugend erst seiner im nächsten Abschnitt

328

GW 9. 274. Vgl. GW 9. 277. 330 Vgl. GW 9. 280. 331 Hegel kritisiert, dass die Vertreter der Aufklärung (Kant, Fichte) und deren Kritiker in der Romantik (Novalis’ Verabsolutierung des schöpferischen Gewissens, Schlegels Konzeption der Ironie) zwischen subjektiver Unmittelbarkeit und Rechts- und Sittenordnung getrennt hätten. 332 GW 9. 280. 333 GW 9. 280. 334 GW 9. 280. 335 Vgl. GW 9. 281. Zu dieser Argumentation vgl. auch Pöggeler, O.: Die ›Phänomenologie‹ – Konsequenz oder Krise in der Entwicklung Hegels? 262. 329

C. Die Ökonomie und das Prinzip der Subjektivität

157

noch zu betrachtenden Heidelberger Enzyklopädie von 1817336 zugrunde legt, ist bereits in seinen Schriften aus der Jenaer Phase vorgezeichnet. Hegels Jenaer Phase ist in Bezug auf die Behandlung der ökonomischen Verhältnisse, Bedürfnisbefriedigung, Arbeit und Eigentum zweifellos die fruchtbarste.337 Die Integration der Wirtschaft als eines unselbstständigen Bestandteils des sittlichen Lebens erfährt im Laufe der Jenaer Phase entsprechend den Wandlungen der logischen Methode wichtige Veränderungen. Hegel behält seine kritisch-ethische Haltung gegenüber dem selbstsüchtigen Besitzbürger bei. Diese Kritik ist in der frühen Jenaer Phase am stärksten, da Hegel noch von der Substanzmetaphysik ausgeht und die absolute Sittlichkeit des Volkes für zentral hält. In seiner zweiten Jenaer Phase ab 1804 verlässt Hegel seine frühidealistische Position und entwickelt eine davon ausgehende Subjektivitätstheorie. Das göttliche Absolute ist nach wie vor grundlegend Substanz, deren innere Differenzierung sich als eine Erhebung von der Substanz zum Subjekt erweist. Für die praktische Philosophie bedeutet diese Entwicklung, dass das Volk als sittliches Gemeinwesen seine grundlegende Bedeutung beibehält, in der näheren Betrachtung jedoch das selbstbezügliche Denken des Ich das wesentliche ist. Dieses Denken realisiert sich und bestimmt das willentliche Handeln der Volksmitglieder. Die Bildung und die Realisierung des absoluten Denkens bedeutet für Hegel die Aufhebung des einzelnen Willens im allgemeinen Willen im Prozess der Anerkennung. Die Anerkennung in der wirtschaftlichen Sphäre von Bedürfnis und Arbeit findet nicht zwischen zwei sich gegenseitig anerkennenden Personen statt, sondern wird vermittelt durch den Staat als Garant für den im Vertrag erzielten gemeinsamen Willen. So wird der einzelne Wille in seiner Arbeit, dem Erwerb und dem Besitz nicht nur von der Allgemeinheit abhängig, sondern im allgemeinen Willen als einem gewalthabenden Gesetz des Staates bewahrt und geschützt. Die wirtschaftlichen Verhältnisse sind geistlos, und daher hält Hegel ihre übergeordnete Regelung für notwendig. Denn die rasche wirtschaftliche Entwicklung generiert eine ungeheure Macht über den Einzelnen in der Vernetzung wirtschaftlicher Interessen, die nur der Staat als der institutionalisierte allgemeine Wille zu überschauen und zu begrenzen vermag. Der Staat muss aber in der Sphäre der Wirtschaft seine Macht vorsichtig ausüben, denn hier herrscht die Willkür, und die Konsequenzen der staatlichen Maßnahmen können ebenso willkürlich sein. Insbesondere muss der Staat sich der Kaufleute annehmen, da sie, wie Hegel scharf kritisiert, in 336

Vgl. GW 13. 1–247. Vgl. Bienenstock, M.: Zur Revision der praktischen Philosophie Hegels im dem Systementwurf von 1805/06. 216. 337

158

Zweites Kapitel

ihrem strengen ökonomischen Handeln keine Rücksicht auf die allgemeine Sittlichkeit nehmen. Innerhalb der Philosophie des Geistes behält die Wirtschaft ihren systematischen Ort als die negative, dem sittlichen Staat untergeordnete Sphäre, denn sie kann nicht autark bestehen, vielmehr ist sie, wie gezeigt, in vielen Hinsichten von der Allgemeinheit abhängig. Gemäß der neuen Theorie der Subjektivität verändert Hegel sein Verständnis der Subjektivität des Besitzbürgers. Seine grundsätzliche Kritik an der Verfolgung von primär privaten Interessen innerhalb der Gemeinschaft bleibt, sie fällt jedoch milder aus, denn Hegel muss jetzt die Subjektivität als ganzheitliches Denken ihrer selbst auch dem Besitzbürger zugestehen. Es ist derselbe Geist, der dem denkenden Bewusstsein des Staatsbürgers und des Besitzbürgers innewohnt, nur im Bewusstsein des Besitzbürgers ist der Geist außer sich, in seinem Anderssein. Der Geist, der nicht aus dem Anderssein zu sich zurückkehrt, ist zur Abstumpfung verurteilt. Ein abgestumpfter Geist begründet einen zerrissenen Willen vor dem Hintergrund des ganzheitlich denkenden Willens, der die Allgemeinheit selber will. Die Besitzbürger haben deshalb einen zerrissenen Willen, weil sie die Allgemeinheit nicht aufrichtig wollen, sondern sie hinnehmen, da sie auf sie angewiesen sind. Sie wollen nicht die Allgemeinheit, sondern nur die Realisierung ihrer privaten Interessen innerhalb der Allgemeinheit, sie akzeptieren das allgemeine Gesetz als den Willen aller nur, weil es ihr Eigentum und Leben schützt. Während der einzelne Wille in der Wirtschaft auf den allgemeinen Willen angewiesen ist, aber zerrissen und mit ihr nur formal verbunden bleibt, lebt er im politischen Gemeinwesen als Volk das vollkommene, selbstbewusste Leben. Hegel führt diesen Gedanken und seine ethische Kritik an den Besitzbürgern in seiner reifen Philosophie vollständig aus.

drittes kapitel Die ethische Verantwortung der bürgerlichen Gesellschaft in Hegels reifer Philosophie

Hegels Kritik am Egoismus der Besitzbürger in den Jenaer Schriften bleibt auch in seiner reifen Rechtsphilosophie von 1820 vor allem ethisch motiviert, wobei nach wie vor politische und systematische Motive diese Kritik prägen.1 Die Kritik ist vor dem Hintergrund der Hegelschen Staatskonzeption als ein System von Sitten, welches in einem übergreifenden System der Freiheitsbestimmungen des metaphysisch bestimmten Geistes aufgehoben ist, nachvollziehbar. Für das Verständnis der Hegelschen Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft ist somit seine spekulative Logik wichtig, die zugleich Metaphysik ist, und die er ausführlich in seiner Wissenschaft der Logik2 von 1812–1816 begründet. Die spekulative Logik ist bei Hegel die Grundlage der Ethik, der Ökonomie und aller Wissenschaften, die den Geist in seiner Manifestation untersuchen und die Hegel in sein System eingegliedert.3 Dem System liegt also die spekulativ-logische Idee zugrunde, dass die unendliche Subjektivität, die das Absolute selbst als die sich denkende Idee darstellt, alle speziellen Ideen des wirklichen Lebens, u. a. die Idee der Natur, des Rechts, der Kunst und der Wissenschaft fundiert. Dementsprechend ordnet Hegel die Wissenschaften systematisch in seiner Enzyklopädie der philosophischen

1

In der Rechtsphilosophie polemisiert Hegel an verschiedenen Stellen gegen die zeitgenössische Rechtswissenschaft, gegen die Kirche und die aktuellen politischen Zustände, wie auch in seinen früheren Arbeiten. Da in dieser Untersuchung die ethische Kritik im Vordergrund steht, wird die politische Polemik Hegels nur ergänzend erwähnt. 2 Hegel, G. W. F.: Wissenschaft der Logik. Erster Teil. Hrsg. v. G. Lasson. Hamburg. 1932. und Hegel, G. W. F.: Wissenschaft der Logik. Zweiter Teil. Hrsg. v. G. Lasson. Hamburg. 1934. Hegels Werk Wissenschaft der Logik gehört zu den schwersten philosophischen Texten. Sie ist eine Theorie der unendlichen Subjektivität, die das Absolute selbst als die sich denkende Idee darstellt. Für das Verständnis dieser Schrift ist die Analyse von K. Düsing unter dem Titel »Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik« unverzichtbar geworden. Er interpretiert Hegels Ontotheologie der absoluten Subjektivität als seine endgültige Lösung der idealistischen Prinzipienproblematik. Vgl. Düsing, K.: Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik. 1995. 3 Manifestation heißt Freiheit in dem spezifisch Hegelschen Sinn – der Geist kann, und das heißt er muss zugleich, sich im Anderssein durch Selbstdifferenzierung zeigen. Die Manifestation enthält beide Momente der Freiheit des Geistes – unendliche Distanz und empirische Präsenz, wie §§ 382 und 383 der Enzyklopädie zeigen. Vgl. Peperzak, A.: Selbsterkenntnis des Absoluten. 28 ff. bes. 32.

160

Drittes Kapitel

Wissenschaften,4 wobei die Idee des Rechts für das folgende Kapitel im Vordergrund steht. Die große Leistung Hegels ist, die spezielle Idee des Rechts zur Idee der Freiheit entwickelt und dabei die Ökonomie als den »Kulminationspunkt«5 der Konkretion und des Antagonismus aller in der Idee des Rechts enthaltenen Momente bestimmt zu haben. Im folgenden Kapitel werden zuerst die theoretischen und entwicklungsgeschichtlichen Fundamente der ethischen Kritik Hegels an der bürgerlichen Gesellschaft beleuchtet und dann seine Lösung des offengelegten Antagonismus diskutiert.

A. Die theoretischen Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft a) Der entwicklungsgeschichtliche und systematische Hintergrund Die Grundlinien der Hegelschen Ethik lassen sich sowohl aus seiner Rechtsphilosophie als auch aus seiner Enzyklopädie gewinnen. Die parallele Berücksichtigung beider Werke ist deshalb nötig, weil sie verschiedene, sich ergänzende systematische Schwerpunkte legen.6 In Bezug auf die wirtschaftliche Problematik führt Hegel in der ersten Auflage der Enzyklopädie von 1817 (der sog. Heidelberger Enzyklopädie) sehr prägnant seine Gedanken aus der

4

Die erste Auflage der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse ist 1817 (auch Heidelberger Enzyklopädie genannt,), die zweite in 1827, und die dritte in 1830 erschienen. Vgl. Hegel, G. W. F.: Gesammelte Werke. Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1817). Hrsg. von W. Bonsiepen und K. Grotsch. Band 13. Hamburg. 2000. (zit. als GW 13). Vgl. Hegel, G. W. F.: Gesammelte Werke. Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1827). Hrsg. von W. Bonsiepen und H.-Ch. Lucas. Band 19. Hamburg. 1989. (zit. als GW 19). Vgl. Hegel, G. W. F.: Gesammelte Werke. Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830). Hrsg. von W. Bonsiepen und H.-Ch. Lucas. Band 20. Hamburg. 1992. (zit. als GW 20). 5 Tuschling, B.: Subjektiver und objektiver Geist oder die Deduktion des Rechts aus dem Begriff des Geistes. In: Lucas, H. Ch./Tuschling, B./Vogel, U. (Hrsg.): Hegels enzyklopädisches System der Philosophie. Stuttgart-Bad Cannstatt. 2004. 328. Tuschling lobt ausdrücklich Hegels philosophisches Begreifen und Einbeziehen der Politischen Ökonomie, die ihn von allen seinen Vorgängern Hobbes, Locke, Diderot oder Rousseau unterscheidet. 6 Die Berücksichtigung lediglich der Rechtsphilosophie würde zu verkürzten Interpretationen der Ethik und der ethischen Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft führen. Vgl. Peperzak, A.: Zur Hegelschen Ethik. 108 ff. (zu den Elementen der Ethik 127 ff.). Vgl. auch Peperzak, A.: Modern Freedom: Hegel’s Legal, Moral, and Political Philosophy. 424 ff.

A. Die theoretischen Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft

161

späten Jenaer Zeit weiter, dass die Sittlichkeit als eine Vergesellschaftung in einem System freier Selbstverwirklichung durch Arbeit zu begreifen ist.7 Die bürgerliche Gesellschaft und der Staat kommen als Organisationsformen der Sittlichkeit und als Termini in der ersten Auflage kaum vor, sie sind gleichwohl als Inhalt präsent. In der zweiten und der dritten Auflage der Enzyklopädie benennt Hegel ausdrücklich die bürgerliche Gesellschaft und beruft sich auf die bereits erschienene Rechtsphilosophie von 1820. Er akzentuiert, besonders in der dritten Auflage, eher den systematischen Gehalt der bürgerlichen Gesellschaft als eine untergeordnete Sphäre der Freiheit.8 Die Freiheit des Individuums ist hier das absolute Fürsichsein der Besonderheit, die sich Selbstzweck ist und die anderen in einem atomistischen, geistlosen System ausschließt.9 Die Dialektik dieser Gesellschaft besteht darin, dass die Individuen einerseits wie autarke Atome nebeneinander bestehen und zugleich in einem System allseitiger Abhängigkeit durchgängig aufeinander bezogen sind. Diese Dialektik löst sich in einer höheren, staatlichen Sphäre, welche die Enzyklopädie von 1830 deutlicher hervortreten lässt. Sie zeigt klarer den Zusammenhang der Systemteile und die Argumentationslinie, dass der ethische Staat die Ökonomie unter seine Kontrolle bringen muss10: Da die »blinde Notwendigkeit des Systems der Bedürfnisse noch nicht in das Bewusstsein des Allgemeinen erhoben«11 wurde, hat der Staat die doppelte Aufgabe, zum

7

Vgl. Zu diesem Kommentar auch Tuschling, B.: Subjektiver und objektiver Geist oder die Deduktion des Rechts aus dem Begriff des Geistes. 307. 8 Für Peperzak entsteht dadurch den Eindruck der Isolation, dass die Ökonomie für die anderen Teile der Sozialphilosophie kaum Konsequenzen zu haben scheint. Grund dafür könnte nach Peperzak sein, dass sich Hegel in der ersten Auflage der Enzyklopädie über die relative Eigenständigkeit der Ökonomie noch nicht ganz im Klaren war und er primär eine philosophische Politik im Blick hatte. In der zweiten und dritten Auflage verändert er nicht wesentlich seine Theorie der bürgerlichen Gesellschaft. Vgl. Peperzak, A.: Hegels praktische Philosophie. Ein Kommentar zur enzyklopädischen Darstellung der menschlichen Freiheit und ihrer objektiven Verwirklichung. Stuttgart. 1991. 272 und 274. Vgl. ebenso Peperzak, A.: Modern Freedom: Hegel’s Legal, Moral, and Political Philosophy. 424 ff. 9 Vgl. GW 20, § 523 und § 156 RP. Den Gedanken über den Atomismus hat Hegel seinslogisch in einer Anmerkung im dritten Kapitel der ersten Abteilung der Seinslogik geschildert. Die Atomistik erfasst nach Hegel die Einheit »nur als einfach, trocken Fürsich-Seiendes«. Hegel, G. W. F.: Wissenschaft der Logik. Erster Teil. Hrsg. v. G. Lasson. Hamburg. 1932. 160. 10 Zu dieser Einschätzung vgl. Peperzak, A.: Modern Freedom: Hegel’s Legal, Moral, and Political Philosophy. 431 f. Vgl. auch Peperzak, A.: Der objektive Geist als zweite Natur. In: Lucas, H. Ch./Tuschling, B./Vogel, U. (Hrsg.): Hegels enzyklopädisches System der Philosophie. Stuttgart-Bad Cannstatt. 2004. 333. 11 GW 20. § 532.

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Drittes Kapitel

einen die Individuen als Personen zu erhalten, »ihr Wohl, das zunächst jeder für sich besorgt, das aber schlechthin eine allgemeine Seite hat, zu befördern, die Familie zu schützen und die bürgerliche Gesellschaft zu leiten«12 und zum anderen als freie Macht diese Sphären zu erhalten. Der Gedanke des Ineinandergehens der Besonderheit in der Allgemeinheit als freies Sein der Person, die sich selbst Zweck ist, wird prägnant und kurz in der Enzyklopädie auf den Punkt gebracht, wogegen die Rechtsphilosophie detaillierter die Vermittlung zwischen Ökonomiegesellschaft und Staat als Konzeption der sittlichen korporativen Selbstverwaltung der Wirtschaft, die im eigenen Interesse staatliche Aufgaben übernimmt, entwickelt.13 Die bürgerliche Gesellschaft und deren Ökonomie werden sowohl in der Enzyklopädie als auch in der Rechtsphilosophie innerhalb des Themenkreises um die Objektivierung der Freiheit des Willens in der Gestalt des Rechts abgehandelt. Während das Recht als einziger Inhalt im Zentrum der Rechtsphilosophie steht, ist es in der enzyklopädischen Betrachtung die unterste Realisierungsebene des freien Willens, worauf noch die Kunst, die Religion und die Philosophie folgen.14 Innerhalb des Systems der philosophischen Wissenschaften findet die Politische Ökonomie eine explizite systematische Würdigung. Sie steht in Verbindung mit Hegels grundsätzlicher Kritik, im Anschluss an den frühen

12

GW 20. § 537. In der Forschung wurden mehrere Gründe für die konzeptionellen Unterschiede zwischen der Enzyklopädie und der Rechtsphilosophie angegeben. Während R.-P. Horstmann das politische Motiv aus der Landständeschrift für die starke Differenzierung von bürgerlicher Gesellschaft und Staat verantwortlich macht, behauptet B. Tuschling, dass Hegel systematisch weder in der Enzyklopädie noch in der Rechtsphilosophie bürgerliche Gesellschaft und Staat trennt, vielmehr konzipiere Hegel Politik und Ökonomie als Daseinsformen ein und desselben Zusammenhangs der Freiheit, welcher Struktur und Prozess ist. Für Riedel ist die Nichtanwendbarkeit überlieferter antiker Begriffe aus dem Bereich der antiken Politik auf die soziale Konstellation des revolutionären Jahrhunderts um 1820 zum springenden Punkt der Hegelschen Begriffsbildung »bürgerliche Gesellschaft« als Sphäre der Differenz zwischen Staat und Familie geworden. Vgl. Horstmann, R.-P.: Über die Rolle der bürgerlichen Gesellschaft in Hegels politischer Philosophie. In: Hegel-Studien. 229 und Horstmann, R.-P.: Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft. 193–216. 211 ff. Vgl. Tuschling, B.: Objektiver Geist: Kapital. Dialektik bei Hegel, Dialektik bei Marx. In: Koslowski, P.(Hrsg.): Die Folgen des Hegelianismus: Philosophie, Religion und Politik im Abschied von der Moderne. München. 1998. 198. Vgl. Riedel, M.: Zwischen Tradition und Revolution. 139 ff. und 157. 14 Da Hegel die systematischen Teile der Geistesphilosophie wegen seines frühen Todes nicht umfassend erklärt, stellt sich die Frage, inwiefern das Recht grundlegend ist oder wie es auf diese Disziplinen wirkt. A. Peperzak erörtert verschiedene Möglichkeiten dieser Beziehung. Vgl. Peperzak, A.: Zur Hegelschen Ethik. 131. 13

A. Die theoretischen Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft

163

Jenaer Naturrechtsaufsatz, dass sich die Ökonomie, aber auch alle Einzelwissenschaften, nicht mit dem Nachdenken über das empirisch Gegebene und mit der Ableitung von Gesetzmäßigkeiten aus der scheinbar zufälligen Empirie begnügen. Nicht das Denken, sondern die persönlich gemachte Erfahrung sei das Prinzip, das jedoch einseitig ist. So wie die Naturwissenschaft Newtons eine Naturphilosophie genannt wird, so wird auch die für Hegel neue Wissenschaft der politischen Ökonomie zu den philosophischen Wissenschaften gezählt. Für Hegel ist die Wissenschaft der Ökonomie eine »rationelle Staatswissenschaft oder etwa Staatswirtschaft der Intelligenz«.15 Die Verbindung der Wirtschaftswissenschaft mit dem Staat und der Intelligenz ist nicht nur eine Würdigung, sie ist eine Forderung. Die Ökonomie als Bestandteil eines Systems der philosophischen Wissenschaften muss das philosophisch-spekulative Denken pflegen, und das bedeutet für Hegel, das Absolute als das Wesen der Dinge erkennen. Das spekulative Denken systematisiert und analysiert gleichwohl die vorgefundenen, ökonomischen Gesetzmäßigkeiten aus der Menge der Zufälligkeiten, es fasst aber diese in anderen, spekulativen Kategorien.16 Diese Erwartung im Erkenntnisanspruch stellt Hegel an die Wissenschaft der Ökonomie, und von diesem Verständnis her beurteilt er die zeitgenössische Politische Ökonomie.17 Die Ökonomie und die anderen Einzelwissenschaften haben nach Hegel denkend der Philosophie den Stoff entgegenzuarbeiten, wobei ihnen die Philosophie die Inhalte oder den wesentlichen Gehalt der Freiheit des Denkens gibt, damit sie nicht bloße Beglaubigungen und Versicherungen von erfahrenen Tatsachen oder eine unzusammenhängende Sammlung von Kenntnissen werden. Ein Inhalt hat für Hegel allein als Moment des Ganzen seine Rechtfertigung. Im Grund des sittlichen Ganzen, dessen Tatsachen nur scheinbar eine zufällige Aufeinanderfolge sind, liegt in Wahrheit der Eine lebendige Geist

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Vgl. GW 20. § 7. In der Anmerkung zu diesem Paragraphen bezieht sich Hegel auf die politischen Debatten im englischen Parlament und betont, dass die englischen Staatsmänner dem freien Handel philosophische Grundsätze unterstellen. Hegel findet es erfreulich, dass die Philosophie von den englischen Staatsmännern geehrt wird, er fordert aber zugleich die philosophische Einsicht, dass »der Geist die Ursache der Welt« ist und dass »das rechtliche, sittliche, religiöse Gefühl ein Gefühl und damit eine Erfahrung von solchem Inhalte ist, der seine Wurzel und seinen Sitz nur im Denken hat«. 16 GW 20. §§ 8, 9 und 11. 17 Dieser spekulative Zusammenhang wird von den Interpreten nicht berücksichtigt, die Hegel als Ökonom verstehen wollen, deshalb gelangen sie zu unproduktiven Schlussfolgerungen, dass Hegel ökonomisch nicht differenziert genug denkt oder keine Einsicht in die ökonomischen Zusammenhänge habe. So z. B. ist B. Priddat einer der Interpreten, die Hegel lediglich als Ökonomen lesen. Zur Kritik vgl. auch Petersen, Th.: Wie modern ist Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft. 111.

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Drittes Kapitel

als der »Werkmeister«18 der Geschichte. Die Idee oder das Absolute ist nur im Element des Denkens, das Hegels spekulative, systematische Philosophie erfasst und alle besonderen Prinzipien der Einzelwissenschaften in sich enthält.19 Hegels spekulative Philosophie ist die Aufbewahrerin der absoluten Idee, und sie begründet ein übergreifendes System von Einzelwissenschaften. Die verschiedenen Wissenschaften sind ihrerseits von der absoluten Idee durchdrungen, und sie erscheint in jeder einzelnen auf eigentümliche Weise. So zum Beispiel ist die rechtlich-sittliche Welt von der Idee der Freiheit durchdrungen, sie ist aber nur mit den Methoden der spekulativen Philosophie ergründbar, in der objektiven Realisierung ist sie die Idee des Rechts. Diese Idee oder der Begriff des Rechts und dessen Verwirklichung bilden den Gegenstand seiner Rechtsphilosophie.20 Die Analyse der in der Idee des Rechts enthaltenen Momente heißt für Hegel, in den Begriffen des öffentlichen Rechts, in denen die logischen Relationen enthalten sind, die Idee oder das Vernünftige zu ergründen. Es gilt dabei »das Erfassen des Gegenwärtigen und Wirklichen, nicht das Aufstellen eines Jenseitigen«.21 Hegel distanziert sich damit von einer Philosophie, die das Recht in einem leeren Ideal oder in den subjektiven Zwecken und Gefühlen begründet,22 aber auch von einer

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GW 20. § 24. Erinnert an Platons Demiurg im Dialog Timaios. Vgl. GW 20. §§ 12,16,13,14,15. 20 §§ 1 und 2 RP. Hegel insistiert auf der Entwicklung der Idee aus dem Begriffe und der eigenen immanenten Entwicklung der Sache selbst, hält also nicht an einer empiristischen Begründung des Rechts und der Sittlichkeit fest. Das bedeutet nicht, dass der Begriff vom Inhalt abstrahiert, vielmehr schließt er ihn in sich ein. Durch den Erweis der dem Inhalt immanenten Dialektik wird der Begriff auf seiner Suche nach einer angemessenen Weise der Realisierung seiner Freiheit in der Sittlichkeit geradezu »genötigt«, so Tuschling. Vgl. Tuschling, B.: Subjektiver und objektiver Geist oder die Deduktion des Rechts aus dem Begriff des Geistes. 327. Zur inneren Konsistenz der Rechtsphilosophie als Entwicklung des Begriffs der Freiheit auch vgl. Peperzak, A.: Zur Hegelschen Ethik. 107 ff. 21 RP, Vorrede XIX. 22 Hegel kritisiert namentlich Jacob Friedrich Fries, wie auch in seiner Wissenschaft der Logik, Einleitung, XVII. Diese Kritik hält L. Siep für fragwürdig, denn zum einen erspart sich Hegel die Auseinandersetzung mit Fries’ systematischen Ausarbeitungen und zum anderen wendet er sich vermutlich gegen Fries’ bedeutendere Kollegen Schleiermacher und Savigny, die für Hegel im Gefolge von Kant und Fichte die Begründung des Rechts im Subjekt, in seinen Gefühlen und Gewissen sowie im Empirischen und Historischen vertreten. L. Siep nennt Hegels tagespolitische Einschätzung seiner Gegner »peinlich«, weil Hegel ihre Amtsenthebung im Falle der Nichteinhaltung der allgemeinen Grundsätze des Staates rechtfertigt. Vgl. Siep, L.: Vernunftrecht und Rechtsgeschichte. Kontext und Konzept der Grundlinien im Blick auf die Vorrede. In: Ders. (Hrsg.): G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Reihe: Klassiker auslegen. Bd. 9. Berlin. 1997. Bes. 9 und 12. 19

A. Die theoretischen Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft

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solchen, die sich als »Ultraweisheit«23 darstellt und bis aufs kleinste Detail die rechtliche Wirklichkeit gestaltet. Wenn Hegel den Staat als ein in sich Vernünftiges begreifen will, dann will er nicht ein Ideal, wie der Staat sein soll, darin sehen, sondern die Vernunft, die einem organisierten Gemeinwesen real innewohnt, begreifen und darstellen. Seine Rechtsphilosophie kann daher nicht belehren, wie die Wirklichkeit sein soll. Sie kann, erst nachdem der Bildungsprozess der Wirklichkeit abgeschlossen ist, das Reale und das Ideale gegenüberstellen und das Vernünftige darin erblicken.24 Die Wirklichkeit ist für Hegel dem subjektiven Denken angehörig.25 Das Vernünftige der Wirklichkeit besteht für ihn in der Idee der Identität von Form und Inhalt des Erkennens, die in der sittlichen Welt eine Identität von Vernunft als menschlichem, begreifendem Erkennen und Vernunft als substantiellem Wesen der sittlichen wie auch der natürlichen Wirklichkeit ist.26 In diesem Sinne sind die Rechtswissenschaft und die Wirtschaftswissenschaft, Hegel nennt letztere »das System der direkten und indirekten Abgaben«,27 durchaus philosophische Wissenschaften, die jedoch eine eigentümlich positive, empirische Seite haben. Positiv bedeutet hier, dass diese Wissenschaften zwar einen ideellen, 23

RP, Vorrede XXI. Das ist der Sinn der viel zitierten und oft missverstandenen Formulierung Hegels aus der Vorrede »Was Vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist Vernünftig.«(XIX). Für Hegels Theorie der wirklichen Sittlichkeit im Zusammenhang mit der Vernünftigkeit wurden verschiedene Gründe vermutet. Zum einen sei sie von der Kritik an dem moralischen Rigorismus und Subjektivismus geleitet, um die Zerrissenheit des modernen Lebens zu überwinden, im Anschluss an Schiller und in der Nähe der Romantiker. Für Hegels Theorie der Sittlichkeit wurde auch ein historischer Grund genannt. Er habe den Anspruch des Zusammenhangs von Wirklichkeit und der Vernünftigkeit erhoben, um die historische Theologie auszuräumen, dass die Vernünftigkeit unserer ethischen Handlungen aus einer heiligen Rationalität stammt und ihren Höhepunkt in den modernen, wirklichen Institutionen findet. Für R. Pippin ist es zwar richtig, dass nach Hegel die Freiheit in der Partizipation in modernen sozialen und politischen Institutionen konstituiert wird, gleichwohl aber auch, dass es so ist, weil das Subjekt nur in seinem sozialen Dasein praktisch vernünftig sein kann. Vgl. Pippin, R.: Hegel on the Rationality and Priority of Ethical Life. In: Neue Hefte für Philosophie. Heft 35.1995.95–126. Den Kontext von Hegels Äußerung bildet Platons »Politeia« und Hegels epochengeschichtliche Deutung, die er universalisiert. 25 Vgl. GW 20. § 6. 26 RP, Vorrede XXII f. Form und Inhalt ist ein logisches Begriffspaar, das Hegel in die praktische Philosophie transponiert. Als erscheinende Freiheit manifestiert der Geist nicht einen endlichen Inhalt, sondern sich selbst, was aus dem § 383 der dritten Auflage der Enzyklopädie zu entnehmen ist. Das Wesen des Geistes ist die Allgemeinheit, die sich durch ihre Differenzierung zum empirischen Dasein bestimmt. Der Geist ist der Prozess des Offenbarens: »aktive Selbstoffenbarung, die nichts verborgen hält«. Vgl. Peperzak, A.: Selbsterkenntnis des Absoluten. 33. 27 GW 20. § 16. 24

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Drittes Kapitel

rationalen Anfang im Denken haben, der jedoch in das Zufällige der Empirie übergeht.28 Deshalb können sie nicht gänzlich in der denkenden Vernunft begründet werden, eine Seite von ihnen bleibt empirisch-zufällig und insofern unbestimmt.29 Hegel zählt die Rechtswissenschaft und die Ökonomie dennoch zu den im Denken gründenden Wissenschaften, weil sie Momente in dem Begriff des Rechts sind. Die Ökonomie ist ein Teil der sich frei wissenden Substanz der Sittlichkeit, die als Geist eines Volkes wirklich ist, sie ist auch ein Teil des Systems der philosophischen Wissenschaften.30 Die Gliederung des Systems philosophischer Wissenschaften im Ausgang von der absoluten Philosophie ist in der Enzyklopädie vergleichbar mit Hegels Jenaer systematischer Einteilung: Nach der spekulativen Logik als metaphysischer Wissenschaft von der absoluten Idee folgen die Wissenschaften der Bestimmung dieser Idee in der Natur und im Geist. Den Geist definiert Hegel als die absolute Idee, die im menschlichen Denken begriffen wird. In der Natur hat der Begriff seine vollkommene äußerliche Objektivität (Entäußerung), und er ist in dieser Objektivität mit sich identisch. Die Idee ist also eine Subjekt-Objekt-Identität, wie Hegel auch in der Logik ausführt, die nur im begreifenden Denken erkannt wird.31 Dadurch, dass die Objektivität nicht außerhalb, sondern im Geist ist, ist in ihm die absolute Negativität, d. h. er kann von allem Äußeren, von der Unmittelbarkeit abstrahieren und ist deshalb frei (oder nicht naturdeterminiert). Er ist aber wahrhaft frei, wenn er begreift (im Begriff ), dass er selbst die Welt als die Sphäre seines Seins erschafft.32 Diese metaphysische Freiheit des Geistes untersucht Hegel in einem Entwicklungsprozess von der Bewusstwerdung der Freiheit des menschlichen Geistes als einer Beziehung auf sich selbst (subjektiver Geist), dann der Freiheit des menschlichen Geistes, in der Realität eine Welt hervorzubringen (objektiver Geist), bis zur absoluten Wahrheit der Freiheit des göttlichen Geistes, sich als diese Welt hervorbringender zu wissen (absoluter Geist). In dieser Reihenfolge – subjektiver, objektiver und absoluter Geist – gliedert Hegel seine Philosophie des Geistes in der Enzyklopädie. Die ersten zwei Entwicklungsstufen sind im endlichen Geist angesiedelt. In der Endlichkeit setzt sich der Geist bewusst Schranken, um sich an ihrer Überwindung manifestieren zu können. Diese Schranken »sind die Stufen seiner Befreiung, in deren absoluter Wahrheit das Vorfinden einer Welt als einer

28 29 30 31 32

Vgl. GW 20. §12. Vgl. GW 20. §12. Vgl. GW 20. § 514. Vgl. GW 20. § 381. Vgl. GW 20. §§ 382, 384.

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vorausgesetzten, das Erzeugen derselben als einer von ihm gesetzten und die Befreiung von ihr und in ihr eins und dasselbe sind«.33 In der Endlichkeit kommt es aber nicht zur vollen Manifestation des Geistes, und deshalb ist die Endlichkeit für die Begründung einer Ethik nicht zureichend, vielmehr wäre eine solche »Bescheidenheit« des Denkens, nicht über die Endlichkeit hinauszugehen, die »schlechteste der Tugenden«.34

b) Die ethischen Aspekte der Lehre vom subjektiven Geist Hegels Theorie des subjektiven Geistes in der dritten Auflage der Enzyklopädie enthält konkrete ethische Gesichtspunkte, die für das Verständnis seiner Lehre vom objektiven Geist relevant sind.35 Im Abschnitt über den subjektiven Geist behandelt Hegel die Anthropologie als die Lehre über die Seele, die Phänomenologie als die Lehre vom Bewusstsein und die Psychologie als Lehre vom theoretischen, praktischen und freien Geist als Intelligenz, Wille und deren höhere Einheit. Intelligenz ist nach Hegel das denkende Wissen, sich selbst das unmittelbar Vorgefundene zuzuschreiben. Sie ist tätig als Erkennen des Vernünftigen im Vorgefundenen, und sie ist in ihrer denkenden Tätigkeit frei. Die Intelligenz ist frei, nicht nur ihre Denkinhalte zu setzen, sondern diese als seiend zu bestimmen, und dann ist sie Wille.36 Als Wille »tritt der Geist in Wirklichkeit, als Wissen ist er in dem Boden der Allgemeinheit des Begriffs«.37 Dieser Begriff ist seine Freiheit, die er nur im Denken hat.38 Um frei zu sein, hat sich der Wille zu einem denkenden Willen zu erheben. Das bedeutet für Hegel, sich nicht einen eigensüchtigen, sondern allgemeinen Inhalt zum Zweck zu geben. In der denkenden Zwecksetzung eines allgemeinen Inhalts und in deren praktischer Durchsetzung besteht die wahre Freiheit des Willens, die Hegel als Sittlichkeit bezeichnet.39 Der freie, denkende Wille ist die höhere Einheit von theoretischem und praktischem

33

GW 20. § 386. Vgl. auch GW 20, § 385. GW 20. § 386. Vgl. auch GW 20, § 441. 35 Vgl. GW 20. §§ 387–482. Die Philosophie des subjektiven Geistes und insbesondere den Abschnitt über die Psychologie interpretiert A. Peperzak als Hegels Fundamentalethik. Vgl. Peperzak, A.: Selbsterkenntnis des Absoluten. 49 ff. 36 Vgl. GW 20. §§ 445, 454, 465, 468. 37 GW 20. § 469 Anm. 38 Zur Interpretation vgl. u. a. Pippin, R.: Hegel, Freedom, The Will. In: Siep, L. (Hrsg.): G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Reihe: Klassiker auslegen. Bd. 9. Berlin. 1997. 31–53. 39 GW 20. § 469 Anm. 34

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Drittes Kapitel

Geist, er ist der freie Geist.40 Der freie Geist gehört noch zum subjektiven Geist, und er ist als solcher nicht das Absolute selbst, sondern nur der Begriff des absoluten Geistes. Das bedeutet, dass die absolute Idee im subjektiven und vernünftigen Willen als dessen selbstbestimmende Tätigkeit zur Verwirklichung der Idee erscheint.41 Die Idee der Freiheit kann der endliche Wille als seinen Inhalt und seine Tätigkeit im Denken gleichwohl praktisch durchsetzen und ihr entfaltetes Dasein auf dem Niveau der rechtlichen, wirtschaftlichen und politischen Einstellungen und Gewohnheiten verwirklichen. Der freie Wille ist Hegels Ausgangspunkt für die Betrachtung des Rechtssystems als ein »Reich der verwirklichten Freiheit, die Welt des Geistes aus ihm selbst hervorgebracht, als eine zweite Natur«.42 Das freie Selbst, das die anderen Menschen anerkennt und selbst Anerkennung genießt, das sich denkend und vernünftig in der Allgemeinheit selbst bestimmt und verwirklicht, von seiner Freiheit weiß und sie will, ist nach Hegel der Ausgangspunkt zur Deduktion des Rechts.43 Das Recht ist, wie Hegel sagt, das Dasein des freien Willens in der sittlichen Welt.44 Das vernünftig handelnde Subjekt wird zum Prinzip der Rechtsordnung eines gesellschaftlichen Ganzen, das Hegel in seinen Momenten (Familie, bürgerliche Gesellschaft und Staat) entfaltet.45 Sowohl die ökonomischen als auch die familiären und staatlichen Verhältnisse betreffen nicht nur bestimmte Individuen oder Gruppen von Individuen, sondern jeden einzelnen Bürger. Die frühere strikte Differenzierung der Gesellschaft

40

Vgl. GW 20. § 481. Vgl. GW 20. § 482. 42 § 4 RP »das Geistige und seine nähere Stelle und Ausgangspunkt der Wille, welcher frei ist«. Die Parallelstelle in der Enzyklopädie von 1817 findet sich unter § 400. Die Annahme des freien Willens ist in der Tradition des neueren Vernunftrechts zwischen Hobbes und Kant oder Fichte eine entweder der Deduktion nicht fähige oder nicht zwingend bedürftige Voraussetzung, wogegen sie Hegel zum ersten Mal ableitet. Vgl. Tuschling, B.: Subjektiver und objektiver Geist oder die Deduktion des Rechts aus dem Begriff des Geistes. 319 f. Der Ausdruck »zweite Natur« enthält eine Analogie, wie A. Peperzak meint, zwischen der Beziehung, die die Natur mit der logischen Idee verbindet, auf der einen Seite, und der Beziehung, welche den objektiven mit dem subjektiven Geist verbindet, auf der anderen. Wie die logische Idee sich zur Natur entäußert, indem sie der subjektivobjektiven Struktur ihres Begriffs gehorcht, so entäußert und objektiviert der subjektive Geist sich in der Form einer raum-zeitlichen Ordnung, die viele Eigenschaften mit der Natur gemeinsam hat (Vgl. GW 20. §§ 482–484). Vgl. Peperzak, A.: Der objektive Geist als zweite Natur. 338 f. 43 Diese Grundlage findet sich im Kapitel »Psychologie. Der Geist« (GW 20. §§ 440– 482). 44 Vgl. RP § 29 und GW 20. § 486. 45 Vgl. Siep, L.: Vernunftrecht und Rechtsgeschichte. Kontext und Konzept der Grundlinien im Blick auf die Vorrede. 14 f. 41

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und die Reservierung bestimmter Funktionen für spezifische Bevölkerungsgruppen widersprechen in der reifen Konzeption Hegels der Idee des freien Willens. Im Vergleich zu seiner frühen Jenaer Konzeption, in der die substantielle Sittlichkeit zentral ist, fällt Hegels reife Rechtsphilosophie mit dem neuen Prinzip der Subjektivität harmonistischer aus. Im Hinblick auf die Deduktion des Rechts analysiert Hegel in der Rechtsphilosophie den Willen in seinen drei Momenten als unmittelbaren, unterscheidenden und in sich reflektierten Willen, die den logischen Begriffsbestimmungen Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit entlehnt sind. Der unmittelbare Wille ist nach Hegel die reine Unbestimmtheit, das SichGegenwärtighaben des Ich als abstrakter Wille. Als unterscheidender Wille tritt er aus dieser Unbestimmtheit heraus und setzt sich einen bestimmten Inhalt, er gibt sich damit ein Dasein als endliches Ich. Aus der Einheit dieser beiden Stufen des Willens, die dem Verstand angehören, geht der höhere, denkende, in sich reflektierte Wille hervor, der in der Unterscheidung von Inhalt und Ich identisch mit sich bleibt, d. h. weiß, dass er derjenige ist, der die Unterscheidung macht.46 Zum unmittelbaren oder natürlichen Willen zählt Hegel praktische Gefühle von Recht und Moralität oder subjektive Triebe und Neigungen. Sie haben zwar die Vernunft zu ihrer Grundlage, sind aber noch individuell zufällig und willkürlich. Die dem Geist immanente Reflexion verlangt, über die subjektiven Bestimmungen des Willens hinauszugehen, dem Willen Vernünftigkeit und Objektivität seiner Zwecke zu verleihen. Der unmittelbare, natürliche Wille unterscheidet zwischen seinen Willensinhalten – er kann zwischen den Begierden, Neigungen und Trieben wählen und ist als solcher ein wählender, reflektierender Wille oder, wie Hegel sagt, Willkür.47 Die Willkür ist zwar seine subjektive Freiheit, aber sie ist nur eine Täuschung,48 ein Widerspruch. Denn die einzelnen Triebe und Neigungen können widerstreiten und sich gegenseitig aufheben, was 46

Vgl. RP §§ 5–16 (auch GW 20. §§ 473–478). Hegel rekurriert auf seine Bestimmungen der Einzelheit in der Wissenschaft der Logik, T. 2. 260 f. Die Einzelheit ist dort die Begriffsbestimmung der Subjektivität. In dieser Bedeutung enthält sie die Allgemeinheit in sich, sie ist damit die konkrete Allgemeinheit. Es ist nicht das einzelne, existierende Subjekt. Das begriffliche Einzelne ist diejenige Einheit, die aus freier Macht Mannigfaltiges, ihre einander entgegengesetzten Bestimmungen als ihre Negationen, hervorbringt und auf sich zurückbezieht. Es ist das in dieser Bewegung gleichbleibende und sich denkende Ich als absoluter Begriff. Die Methode der Entwicklung der Bestimmungen des Begriffs, in denen er sich selbst expliziert, d. h. die Aufstellung der ursprünglichen Allgemeinheit, deren Selbstentzweiung und die Negation der Negation mit positivem Resultat, ist die Dialektik. Düsing, K.: Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik. 250. 47 Vgl. GW 20. §§ 476. RP §§ 11, 14, 15, 17. 48 Vgl. RP §15 Anm.

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Hegel als »Dialektik der Triebe und Neigungen«49 bezeichnet. Der Wille ist ein zufälliger, endlicher Wille, der bis ins Unendliche seine Triebe wählt und abwählt.50 Das Kriterium für seine Entschlüsse zwischen verschiedenen Willensinhalten ist die Glückseligkeit, die jeder für sich durch Vergleichen und Abwägen von Mitteln und Folgen der Triebbefriedigung festmacht.51 Die Triebbefriedigung kann nicht unterdrückt werden; das Ich kann jedoch in seinem eigenen Interesse dazu aufgefordert werden, die Triebe nach dem Maßstab der Vernünftigkeit zu beschränken und zu »reinigen«.52 Dieses vernünftige Beschränken der Triebe durch Denken ist eine Erhebung ins Allgemeine. Obwohl dieses Allgemeine immer noch auf dem Boden der Bedürfnisbefriedigung bleibt, nennt es Hegel eine freilich nur formelle Allgemeinheit des Denkens, die aber schon ein Weg der Selbstbildung ist.53 Der Wille kann über die eigene vernünftige Beschränkung der Triebe und das Denken der formellen Allgemeinheit reflektieren und sich selbst in seiner reinen Allgemeinheit zum Gegenstand machen. Der reflektierende Wille enthält zwar die Momente der Natürlichkeit und der subjektiven Besonderung, er erhebt sich aber durch Denken über die subjektive Zufälligkeit der äußeren Wirklichkeit und macht die Allgemeinheit zu seinem Gegenstand, Inhalt und Zweck.54 Durch die Ausführung seiner Zwecke in die äußerliche Existenz wird der denkende, subjektive Wille objektiv. Bei den Bestimmungen des Willens als subjektiver und objektiver Wille betont Hegel, dass er die logischen Bestimmungen von Subjektivität und Objektivität »um ihrer Endlichkeit und daher ihrer dialektischen Natur willen in ihr Entgegengesetztes überzugehen«55 vor Augen hat. Das Selbstbewusstsein dieses Willens ist nach Hegel das »Prinzip des Rechts, der Moralität und aller Sittlichkeit«.56

c) Der objektive Geist als der Staat und seine Institutionen Die Sphären der Objektivierung des subjektiven Geistes bezeichnet Hegel als objektiven Geist. Als Objektivierung des subjektiven Geistes ist der objektive Geist die Vermittlung, welche der Geist für die Verwirklichung seiner 49 50 51 52 53 54 55 56

RP § 17. RP §§12, 16. Vgl. RP § 20. Auch GW 20. §§ 479 f. RP § 19. RP §§ 20, 21. Vgl. RP § 21. RP § 26. RP § 21.

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subjektiven Möglichkeiten benötigt. Diese Vermittlung durch die staatlichen Institutionen ist nicht das Absolute selbst, sondern nur seine Differenzierung in der raum-zeitlichen Ordnung der sittlichen Welt. Den objektiven Geist gliedert Hegel in drei stufenartige Entwicklungsmomente der Idee des Rechts und der Freiheit – das abstrakte Recht, die Moralität und die Sittlichkeit, welche den freien Willen in seinen Momenten der Unmittelbarkeit (rechtliche Person und Familie), im äußeren Dasein (Verhältnisse der Rechtspersonen untereinander in der bürgerlichen Gesellschaft) und als Existenz der Idee (im sittlich organisierten Staat) zum Gegenstand haben. Diese Unterteilung folgt nicht einer historischen Entwicklung oder einer Vernunft außerhalb dieser Momente, sondern ist dem Begriff immanent.57 Sie entspricht der Gliederung des Geistes in drei Ebenen: natürlicher Geist – die Familie, – dann der Geist in seiner Besonderung in relativ aufeinander bezogenen Individuen – bürgerliche Gesellschaft – und der zur organischen Wirklichkeit entwickelte Geist als die Staatsverfassung.58 Der freie Wille in seiner Unmittelbarkeit ist der Wille einer Person, die ihren Willen in eine Sache legt, wodurch sie in ein Rechtsverhältnis mit anderen Personen tritt. Die Person ist eine Persönlichkeit, wenn sie von ihrer Unendlichkeit, Allgemeinheit und Freiheit, d. h. sich als freies, selbstbestimmendes und selbstverwirklichendes Ich in seinem Anerkennen und Anerkanntsein durch die anderen weiß.59 Die rechtliche Person erwirbt ein anerkanntes Eigentum nach einem allgemein gültigen Vertrag, wodurch sie zugleich die Allgemeinheit anerkennt und ihr Anerkanntsein in Form des rechtlichen Eigentumsschutzes genießt. Der Vertrag ist allgemein gültig, wenn er nach dem Recht als Dasein der Freiheit im Äußerlichen abgeschlossen wurde. Das Recht und alle seine Bestimmungen gründen dabei nicht auf einem »erdichteten Naturzustand«, sondern allein auf der freien Persönlichkeit, die eine freie Selbstbestimmung und keine Naturbestimmung ist. Die Persönlichkeit ist eine notwendige Bedingung für jede Art von Rechten und Ansprüchen, deren Grundlage ihre Freiheit ist. Sie ist für Hegel eine Darstellung des Bewusstseins der Freiheit. Um die Freiheit der Person zu erweisen, greift Hegel auf die Gegenüberstellung von Natur-

57

Vgl. RP, § 33, auch GW 20, § 487. Die Unterteilung entspricht den begriffslogischen Bestimmungen Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit. 58 Vgl. GW 20. § 517. Vgl. RP § 157. 59 RP §§ 34, 35. Über die Doppelfunktion der Bestimmung der Persönlichkeit als Universalprinzip der Rechtsphilosophie und als Teilprinzip des abstrakten Rechts vgl. Quante, M.: »Die Persönlichkeit des Willens« als Prinzip des abstrakten Rechts. Eine Analyse der begriffslogischen Struktur der §§ 34–40 von Hegels »Grundlinien der Philosophie des Rechts«. In: Siep, L. (Hrsg.): G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Reihe: Klassiker auslegen. Bd. 9. Berlin. 1997. 73 ff.

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zustand und Rechtszustand wie im frühen Jenaer Naturrechtsaufsatz zurück. Die Freiheit ist nach Hegel nicht die Willkür einzelner Personen in einem »atomistischen« Naturzustand. Zwar ist die Person grundsätzlich frei, alles, auch ihre geistigen Geschicklichkeiten, Kenntnisse, Fähigkeiten, »Wissenschaften, Künste, selbst Religiöses«60 als Sache zu veräußern. Diese Willkür ist im allgemeinen Rechtszustand nicht gegeben, denn hier werden nur äußerliche Sachen, in die die Personen ihren freien Willen gelegt haben, gehandelt, und nicht das Innerliche, Unveräußerliche der Persönlichkeit.61 So kann zum Beispiel im Vertrag nicht die Person oder ihre Gefühle, sondern nur deren Arbeitskraft verhandelt werden. Im Arbeitsvertrag vereinbaren zwei Personen nach allgemeinem, bürgerlichem Recht eine Arbeitsleistung und deren Entlohnung und verhalten sich nicht wie der Herr und der Knecht im Naturzustand, sondern wie Personen, für die gleiches Recht gilt, das sie respektieren. So führt das bürgerliche Recht nicht nur zur formalen Sicherung des Eigentums, sondern auch zur Verwirklichung der persönlichen Freiheit: In der bestehenden Gesellschaft und nicht im fiktiven Naturzustand haben die Freiheit und das Recht ihre Wirklichkeit.62 Ein weiteres Argument in dieser Richtung sieht Hegel in der Unfähigkeit der Naturzustandstheorien, die ungerechte Verteilung des Eigentums zu erklären. Die Eigentumsverhältnisse haben nach Hegel nichts mit der Natur gemein und können nicht mit der Natur erklärt werden. Denn die Natur ist nicht frei, darum weder gerecht noch ungerecht. Was und wie viel eine Person besitzt, ist keine Naturbestimmung, sondern eine rechtliche Zufälligkeit und ein Vorzug des Ersten, der sich der Sache bemächtigt hat. Die Forderungen nach Gerechtigkeit in der Verteilung der Güter und des Bodens sind auf der Ebene des abstrakten Rechts der einzelnen Person, des einzelnen Willens im Naturrecht, nichts Zuverlässiges, sondern nur Wünsche.63 Dagegen findet die Person im allgemein geregelten Rechtszustand, insbesondere in der bürgerlichen Ökonomiegesellschaft, ihre rechtliche Freiheit, denn dort ist die Moralität nicht nur Wunsch, sondern Realität.64 60

RP § 43 Anm. J. Ritter deutet diese Stelle als eine gewagte Versachlichung des Eigentums aus dem Ich, welche die individuelle Freiheit und die Selbstbestimmung der natürlichen, besonderen Person wahren soll. Vgl. Ritter, J.: Person und Eigentum. Zu Hegels »Grundlinien der Philosophie des Rechts« §§ 34 bis 81 (1961). In: Siep, L. (Hrsg.): G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Reihe: Klassiker auslegen. Bd. 9. Berlin. 1997. 69. Hegels Anliegen ist hier vielmehr die Kritik an dem Naturzustand als einer künstlichen, paradoxen Annahme. 61 Vgl. RP § 66. 62 Vgl. GW 20. §§ 478–502, insb. 496. Vgl. auch RP §§ 34–104, insb. §§ 36, 40. 63 RP § 49. 64 Das hat J. Ritter zu der Behauptung motiviert, Hegel habe als erster in Deutschland

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Mit ›Moralität‹ bezeichnet Hegel die praktische Sphäre des Rechts, in der die formalen Bestimmungen von Moral und Recht reflektiert werden. Hegels Kapitel über die Moralität erschöpft keineswegs seine ethische Lehre, es gibt vielmehr Zeugnis für eine praktische, ja nicht moralische Perspektive.65 Denn Moralität ist für Hegel erst die zweite Entwicklungsstufe der Idee des Rechts im freien Willen, worauf noch die dritte Entwicklungsstufe in dem Subjekt des Staates und in der Selbstbestimmung seines subjektiven Willens als eines ebenso objektiven, wahrhaft konkreten Willens folgt.66 Während sich die Freiheit in dem sittlichen Subjekt des Staates realisiert, ist im moralischen Subjekt der bürgerlichen Gesellschaft die Idee der Freiheit nur ein Moment ihrer Realisation. Die Freiheit des subjektiven Willens des Besitzbürgers ist nicht mehr bloß abstrakt äußerlich, sondern ist eine Bestimmung, die der einzelne Wille für sich als die seinige weiß und als solche will. Sein Wille ist daher ein reflektierender Wille. Das Individuum dieses Willens ist nicht mehr die abstrakte Person, sondern ein Subjekt für sich, in welchem die Freiheit auf einem höheren Boden steht, da sie nicht mehr nur innerlich, sondern im Subjekt schon real wird.67 Der moralische Wille hat subjektive begriffen, dass sich die bürgerliche Gesellschaft aufgrund des von ihr gesetzten Eigentumsrechts durchsetzen wird. Vgl. Ritter, J.: Person und Eigentum. 62. 65 Vgl. Peperzak, A.: Hegels Pflichten- und Tugendlehre. Eine Analyse und Interpretation der »Grundlinien der Philosophie des Rechts« §§ 142–156. 188. Vgl. auch Peperzak, A.: Moralische Aspekte der Hegelschen Rechtsphilosophie. In: Lucas, H. Ch./Pöggeler, O. (Hrsg.): Hegels Rechtsphilosophie im Zusammenhang der europäischen Verfassungsgeschichte. Stuttgart. 1986. 458. 66 RP § 106. 67 Im Abschnitt über die Moralität kritisiert Hegel die Begründung der Ethik in der subjektiven Innerlichkeit sowie die Trennung der innerlichen Maxime von der Handlung und den Formalismus der bisherigen Lehren, insbesondere von Kant und Fichte. Vgl. Cesa, C.: Hegel und die Kantische Moralität. In: Das Recht der Vernunft: Kant und Hegel über Denken, Erkennen und Handeln. Hrsg. v. Christel Fricke u. a. Stuttgart-Bad Cannstatt. 1995. 296 und 302. Sehr umstritten in der Forschung ist der Übergang von der Moralität zur Sittlichkeit. M. Quante interpretiert diesen Übergang als einen Pragmatismus, da Hegel hier den Vorrang der Handlung und damit des Praktischen einräumt. Hegel sei, so Quante, kein Feind der Moralität, sondern ein Pragmatiker, der die Moralität für eine nicht unumkehrbare und wertvolle Errungenschaft der Moderne hält. Hegel habe nach Quante lediglich die gegenüber der gelebten Sittlichkeit externe Begründung abgelehnt. Vgl. Quante, M.: Hegels pragmatische Ethikbegründung. In: Engelhard, K./Heidemann, D.: Ethikbegründungen zwischen Universalismus und Relativismus. Berlin. 2005. 249. A. Peperzak erörtert den Hegelschen Übergang von der Moralität zur Sittlichkeit kritisch. Hegel habe zwar jene Handlung als gut bezeichnet, die mit den familiären, ökonomischen und politischen Institutionen und Sitten übereinstimmt. Dabei geht er freilich von der Faktizität der bestehenden Sitten als Kriterium für Sittlichkeit aus, sie bleiben jedoch nicht deduziert – die Sitten und das Volk in der Weltgeschichte sind Zufälligkeiten geblieben, die den allgemeinen Geist nicht tragen können. Vgl. Peperzak, A.: Selbsterkenntnis des

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Absichten und verfolgt das eigene Wohl und die Glückseligkeit. Jedoch können die subjektiven Triebe, wie bereits oben erläutert, einander widerstreiten und sich gegenseitig aufheben. Das durch die Triebbefriedigung erhoffte Glück bleibt damit der Zufälligkeit überlassen. Das wahre Glück und die Wahrheit des freien Willens können deshalb nicht in den unbestimmten individuellen Zwecken und deren Verwirklichung gesucht werden, denn der subjektive Wille bleibt abstrakt, beschränkt und formell.68 Er setzt zwar frei seine Willensinhalte als Zwecke, aber er weiß zugleich, dass deren Ausführung von anderen Willen abhängt. Erst die Identität der subjektiven Zwecke und der objektiven Abhängigkeit bei deren Erfüllung führt zur Realisierung des angestrebten subjektiven Zwecks.69 Diese Identität oder der denkende Wille in seiner Wahrheit ist als Inhalt das Wollen des Allgemein-Guten.70 Das Gute ist für Hegel eine Idee, die Idee der Freiheit, die sich selbst will, und deren Realisierung ist der absolute Endzweck der Welt. Diese Idee ist in dem Leben der Gemeinschaft als Sitte und im allgemeingeltenden Gesetz real.71 Das Gute ist aber auch das Wesentliche des subjektiven Willens und enthält eine Verpflichtung für die einzelnen Subjekte, das allgemeine Gute zur Absicht zu haben und dieses in der Welt hervorzubringen.72 Der gute Vernunftmensch weiß und will diese Pflicht, er bedarf des Kampfes mit dem schlechten Gewissen nicht, wenn er sich nur auf seine Vernunft besinnt. Wenn dagegen nicht die Vernunft, sondern der Verstand regiert, wie in der Wirtschaft, ruft die vernünftige Besinnung auf das Gute nicht die natürliche Selbstverpflichtung, sondern nur das Sollen hervor. Das Sollen des bloß moralischen Willens ist der Standpunkt des noch nicht harmonischen Verhältnisses der sich widersprechenden subjektiven und allgemeinen Willen, der »allseitige Widerspruch« auf der Suche nach dem eigenen Wohl.73 Weil Absoluten. 62. Hegel hat m. E. mehr abgelehnt als nur die externe Begründung der gelebten Sittlichkeit – selbst wenn sich der strenge Ökonomismus als lebendige Sitte festsetzen würde, würde sie nicht zur lebendigen Sittlichkeit zählen, denn sie manifestiert nicht den Geist und die Idee, sie zeigt an sich die Notwendigkeit an der eigenen Überwindung. Hegel bleibt auch in dieser Hinsicht ein Idealist und ist kein Pragmatiker. Das Denken bestimmt die Handlung. 68 RP § 108. 69 Vgl. RP § 112. Vgl. auch GW 20. § 503. 70 Vgl. RP §§ 129, 132. Vgl. auch GW 20. § 507. 71 Vgl. RP § 114. Vgl. auch GW 20. §§ 507. 72 Vgl. RP § 133. 73 Vgl. GW 20. §§ 510 f. Bei Hegel ist das Sollen nicht so sehr um der Pflicht willen konzipiert und daher nicht mit dem Kantischen kategorischen Sollen, eher mit Aristoteles’ Streben nach Eudaimonia vergleichbar. Vgl. Peperzak, A.: Moralische Aspekte der Hegelschen Rechtsphilosophie. 449. Das Sollen ist in der Sittlichkeit ebenso sehr Sein. Vgl. GW 20. § 514.

A. Die theoretischen Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft

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die gute Tat nicht aufgezwungen werden kann, muss das Interesse für das Gute in der wirtschaftlichen Sphäre erst entwickelt werden.74 Das Interesse für die Verwirklichung des allgemeinen Guten und das Interesse für die Befriedigung der privaten Triebe und Bedürfnisse sind für den reflektierenden Willen des Privatmenschen der bürgerlichen Gesellschaft verschieden. Während Hegel in der Jenaer Phase das private und das allgemeine Interesse schroff entgegensetzt und für das allgemeine argumentiert, erklärt er in der reifen Rechtsphilosophie, dass sie harmonieren sollen, weil das Subjekt sich nicht nach den zwei Seiten seiner differierenden Interessen teilt, sondern ein Ganzes, eine Identität von Einzelnem und Allgemeinem, von Subjektivem und Objektivem ist.75 Wenn das Subjekt diesen Zusammenhang nicht begreift und eigensüchtig seine Zwecke zu realisieren sucht, dann bedeuten ihm die anderen Subjekte und die objektive, äußere Welt eine Schranke, eine Abhängigkeit. Für solche selbstsüchtigen Subjekte, die nicht die objektive Welt als von ihnen selbst hervorgebracht begreifen können und sich ihr entgegenstellen, muss es formelle, festgesetzte Regelungen, konkrete Gesetze, die durch die Rechtspflege geschützt werden, geben. Das formale Recht ist deshalb notwendig, damit die guten Handlungen von wohlwollenden Menschen für die Allgemeinheit geschützt werden. Dieses Recht hat also eine doppelte Funktion: es ist das Recht der Allgemeinheit, das Wohl aller zu fördern und zu schützen gegenüber Einzelnen, und das Recht des Einzelnen auf Selbstbestimmung seiner Stellung innerhalb der Gesellschaft.76 Die Notwendigkeit eines formalen Rechts in der Sphäre der Wirtschaft ergibt sich nicht nur aufgrund der sichernden Reglementierung der Verhältnisse zwischen Willen der Allgemeinheit und einzelnem Willen zum Wohl aller, sondern auch deshalb, weil das allgemein Gute, wozu sich der moralische Wille selbst bestimmen soll, noch formal und inhaltsleer ist. Die bürgerliche Gesellschaft als Ganzes kann nach Hegel nicht dieser Inhalt sein, denn sie ist eine bloß abstrakte Allgemeinheit, ein »System der Atomistik«.77 Sie kann dem moralischen Willen nicht das Kriterium geben, was das allgemein Gute und Rechte ist. Dieses Kriterium der Allgemeinheit braucht der einzelne Wille, weil er sich in seinen Handlungen darauf bezieht und sich dadurch realisiert. Wenn das moralische Subjekt jedoch die bürgerliche, »atomistische« Gesellschaft als ein Kriterium für das Gute annimmt, könnte es sowohl das

74

Vgl. RP § 123. Vgl. auch GW 20. § 509. Vgl. RP § 124. 76 Vgl. RP § 107. 77 Vgl. GW 20. § 523. Das Gute ist in der Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft noch das Abstrakte, wie Hegel im § 141 der Rechtsphilosophie ausführt. 75

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Drittes Kapitel

Gute als auch das Böse zum Inhalt seines subjektiven Interesses machen.78 Das Böse kommt nach Hegel dann zustande, wenn das moralische Subjekt in der Gewissheit der Freiheit seines subjektiven Willens nicht die Allgemeinheit, sondern sich selbst und seine Eitelkeit zum Willensinhalt macht. Da das Böse nicht sein darf, kann der Mensch, im Gegensatz zum Tier, seinen Willensinhalt zum Guten denkend umkehren. Wenn er das nicht tut, dann trägt er für das von ihm verwirklichte Böse die Schuld.79 Genauso problematisch ist es, wenn der moralische Wille das Gute nur in seinem Gewissen ohne Rücksicht auf die Folgen ausmacht. Das subjektive Gewissen des Guten bleibt formal, solange das Gute keinen adäquaten Inhalt hat, und kann zur Handlung des Bösen führen.80 Zum Inhalt seiner nur selbst gewissen Pflicht macht der Wille »mancherlei Gutes und vielerlei Pflichten«,81 die miteinander kollidieren und das Subjekt vor eine schwierige Wahl stellen könnten. Das Subjekt ist dagegen auf der sicheren Seite, das Gute zu tun, wenn »seine in ihrer Eitelkeit verschwebende Subjektivität der reinen Gewissheit seiner selbst identisch ist mit der abstrakten Allgemeinheit des Guten; – die, somit konkrete, Identität des Guten und des subjektiven Willens, die Wahrheit derselben, ist die Sittlichkeit«.82 Die allgemeine Sittlichkeit als der wahrhafte Inhalt des Willens ist für Hegel die Vollendung des objektiven Geistes, der »zur vorhandenen Welt und zur Natur des Selbstbewusstseins gewordene Begriff der Freiheit«.83 Die Sittlichkeit ist die Freiheit des subjektiven Willens, der sich selbst mit dem allgemeinen, vernünftigen Willen der organisierten Gemeinschaft als das konkrete Gute identisch weiß. Der vernünftige allgemeine Wille der Gemeinschaft lebt in der wissenden Gesinnung ihrer Mitglieder und ist die innere Macht und

78

Vgl. RP § 137, auch GW 20. §§ 510, 511. Vgl. RP § 139, auch GW 20. §§ 511, 512. Diese Gedanken Hegels widersprechen eindeutig Karl Homanns Deutung des Eigeninteresses bei Hegel, wie im vierten Kapitel zu zeigen ist. 80 Vgl. RP §§ 137 und 140. In diesem Kontext erwähnt Hegel Platons Bestimmung der Ironie. In der Ironie gipfelt nach Hegel das Absolutsetzen des Subjektiven, der Subjektivismus. In dieser Ironie wird alles eitel, Subjekt und Sittlichkeit ohne Norm und Maß, orientierungslos und aporetisch, die in der wahrhaften Sittlichkeit aufgehoben und befreit werden. Diese Meinung Hegels bezieht L. Heyde auf die heutige praktische Philosophie und nennt sie Theorie der »gebrochenen Sittlichkeit«. Vgl. Heyde, L.: Sittlichkeit und Ironie bei Hegel. Hegels Kritik an der modernen Subjektivität in den Grundlinien der Philosophie des Rechts. In: Koslowski, P.(Hrsg.): Die Folgen des Hegelianismus: Philosophie, Religion und Politik im Abschied von der Moderne. München. 1998. 314 ff. 81 GW 20. § 508. 82 RP § 141. Vgl. auch GW 20. § 507. 83 RP § 142. 79

A. Die theoretischen Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft

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Notwendigkeit ihres Handelns, als allgemeine Sitte nach Hegel wirklich.84 Die Notwendigkeit der guten Handlungen als Sitte ist nicht eine strenge Determination, sondern eine Gewohnheit, eine, wie der Frankfurter Hegel sagt, Geneigtheit zur Pflichterfüllung als eine »zweite Natur«.85 In der sittlichen Natur der Subjekte begründet Hegel deren ethische Pflichten gegenüber der sittlichen Gemeinschaft. Die ethischen Pflichten sind nach Hegel durch die Idee der Freiheit als notwendig und im Staat als wirklich anerkannt.86

d) Die Identität von Recht und Pflicht als Leitprinzip der Hegelschen Ethik Die Gesinnung der absolutsittlichen Subjekte ist das Wissen der Substanz. Wenn sie die eigene Gesinnung bei allen Mitgliedern voraussetzen können, dann entsteht das Vertrauen in die Allgemeinheit als die wahrhafte, sittliche Gesinnung, als Tugend. Die Grundeinstellung der Subjekte gegenüber ihren allgemeinen Pflichten nennt Hegel die Tugend der Rechtschaffenheit.87 Diese Tugend, die Hegel in seinen Frankfurter und Jenaer Schriften vor dem Hintergrund der Tapferkeit als Tugend zu bezeichnen sich scheut, ist in der Rechtsphilosophie die grundlegende Tugend. Diese Aufwertung der Rechtschaffenheit geht mit der Abwertung der ehemals höchsten Tugend der Tapferkeit einher. Zwar bleibt sie die »eigentliche Tugend«, aber sie ist nur in Heroenzeiten und in Ausnahmezuständen, wie z. B. im Krieg, wichtig und nötig. In einer nach Vernunftprinzipien des allgemeinen Rechts funktionierenden Gemeinschaft, die Hegel vor Augen hat, ist eher die alltägliche Rechtschaffenheit von Bedeutung.88 Während die Rechtschaffenheit für die sittlichen Subjekte (Staatsbürger) eine innere notwendige Bestimmung und sittliche Forderung ist, ist sie für die moralischen Subjekte der bürgerlichen 84

GW 20. § 513. RP § 151. A. Peperzak nennt sie auch »vergeistigte Natur« und nimmt diesen Ausdruck zum Anlass interessanter Überlegungen über die Parallelen zwischen dem objektiven Geist und der Natur, dem Organismus des Staats und der höchsten Gestalt der Natur, dem tierischen Organismus, deren Gemeinsamkeit in ihrer Endlichkeit und ihrem Tod besteht. In: Peperzak, A.: Der objektive Geist als zweite Natur. 337 ff., 345. Auch in Peperzak, A.: Hegels Pflichten- und Tugendlehre. 171. 86 RP § 148. 87 Vgl. RP § 150. Vgl. auch GW 20. §§ 515, 516. 88 Zu dieser Argumentation kommt Hegels Vorsicht vor der zu starken Subjektivierung der Tugend hinzu. Vgl. Peperzak, A.: Hegels Pflichten- und Tugendlehre. 180. Auf diese Problematik wird noch im vierten Kapitel Bezug genommen, da es sich zeigen wird, dass sie an entscheidender Stelle fehlinterpretiert wird. 85

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Drittes Kapitel

Gesellschaft (Besitzbürger) ein moralisches Sollen, weil diese gerade in der Absetzung von den allgemeinen Sitten ihre Besonderheit und Eigentümlichkeit suchen.89 Ob als innere Bestimmung aus dem einsichtigen Wissen der Substanz oder als bloße Legalität gegenüber dem allgemeinen Recht, immer muss nach Hegel jedes Mitglied des ethischen Ganzen in der Pflichterfüllung sein Recht auf die Besonderheit des subjektiven Willens in der allgemeinen Sittlichkeit wiederfinden, damit sie allgemeine Sitte wird und seine Pflichten begründet.90 Die Rechte und Pflichten der Individuen gründen nach Hegel in dem sie verbindenden ethischen Staat, und er selbst darin, dass die Individuen durch ihre Pflichterfüllung im Staat die wahre, wirkliche Freiheit erlangen. Diese Freiheit ist ihr selbstbewusstes Wissen, nicht nur Akzidenz an der sich frei wissenden Substanz des Volkes zu sein, sondern diese sittliche Substanz selbst durch eigene Tätigkeit hervorzubringen.91 Das sittliche Subjekt gehört zugleich zur Wirklichkeit und Bestimmtheit der Substanz. Der unendliche Geist hat sein Dasein in den endlichen Menschen, die seinen Begriff als ihr »Lebensprogramm«92 erfahren. Im Fall der Kollision von allgemeinen Pflichten und individuellen Interessen hat prinzipiell der Staat die Macht zur Durchsetzung des allgemeinen Willens gegen seine Mitglieder.93

B. Die bürgerliche Gesellschaft als formale Allgemeinheit Die Sphäre des gesellschaftlichen Lebens, in der primär die privaten Interessen bestimmend sind, nennt Hegel bürgerliche Gesellschaft. Sie ist eine formelle Allgemeinheit ohne Sittlichkeit, da der Geist in ihr außer sich ist.94 89

Vgl. RP § 150 Anm. Vgl. RP § 154. 91 Vgl. GW 20. § 514. 92 Peperzak, A.: Moralische Aspekte der Hegelschen Rechtsphilosophie. 448. 93 Kein Staat darf jedoch das religiöse Gewissen seiner Bürger verletzen, wie Hegel in der dritten Auflage der Enzyklopädie von 1830 ausdrücklich die subjektive Freiheit des individuellen Gewissens würdigt. Vgl. GW 20, § 552 Anm. Unter anderen hat K. Popper Hegel als Staatsvergotter und Totalitarist denunziert. Vgl. Popper, K.: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Engl. Ausgabe. Bd. 2 Kap. 12. 27–80. Eine Übersicht findet sich bei H. Ottmann. Vgl. Ottmann, H.: Individuum und Gemeinschaft bei Hegel. Bd. 1. Hegel im Spiegel der Interpretationen. Berlin/New York. 1977. 94 Vgl. GW 20, § 523. Vgl. auch RP, § 184. Trotzdem behandelt sie Hegel in seinem Kapitel »Sittlichkeit«, um ihre konstitutive Rolle als negativen Bereich zu betonen. Hegels Hörer Griesheim notiert zu diesem Paragraphen, die bürgerliche Gesellschaft sei eine »traurige Nothwendigkeit«. Vgl. G. W. F. Hegel: Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818–1831. Bd. 4. 475. 90

B. Die bürgerliche Gesellschaft als formale Allgemeinheit

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Denn nicht die sittliche Allgemeinheit und ihre Freiheit sind leitende Prinzipien, sondern die konkrete Person als Ganzes aus verschiedenen Bedürfnissen und ihre Willkür bei der Bedürfnisbefriedigung. Unter den autonomen und selbstsüchtigen Personen der bürgerlichen Gesellschaft, Hegel nennt sie im mündlichen Vortrag wie im Naturrechtsaufsatz bourgeois,95 herrscht kein sittliches Vertrauen und Fürsorge, wie in der Familie als der untersten substantiellen Ebene des natürlichen, empfindenden Geistes.96 Das harmonische Verhältnis zwischen Rechten und Pflichten, das sich in der Familie natürlich einstellt, ist in der bürgerlichen Gesellschaft sehr problematisch. Grundsätzlich sollte jeder Bürger der bürgerlichen Gesellschaft, deren Zweck die Wirklichkeit der Freiheit ist, das Recht auf den Schutz seines Lebens und der Realisierung seiner Freiheit und seines wirtschaftlichen Auskommens haben.97 Dadurch, dass der Einzelne das Recht auf Leben hat, hat er ein Recht an der Natur, an der Erde, deren Bearbeitung ihm sein Auskommen garantiert. Da aber die Erde schon verteilt, ein anerkanntes Eigentum, ist, kann der Einzelne nicht jeden beliebigen Boden zur Deckung seiner Bedürfnisse bearbeiten, er ist auf die Zustimmung der Eigentümer angewiesen. Auf diese Weise hängt es nicht von der Natur, sondern von den Eigentümern ab, ob die wirtschaftliche Bedarfsdeckung gewährleistet wird. Die Eigentümergesellschaft behindert die natürliche Bedarfsdeckung und muss daher für das fundamentale und durch sie erschwerte Recht auf physisches Auskommen Sorge tragen.98 Diese Gesellschaft ist lediglich eine Vermittlungsplattform der Bedürfnisse und ihrer Befriedigung, auf der eine ökonomische allseitige Abhängigkeit entsteht. Die einzelnen autonomen Wirtschaftssubjekte begreifen, dass das Wohl des Einzelnen vom Wohl der anderen abhängt. Die ökonomische Abhängigkeit ist also nicht ein bloßer Mechanismus, sie bedeutet zugleich die Sicherung und die Wirklichkeit des Wohls und des rechtlichen Daseins sowohl des Einzelnen, als auch aller anderen Bürger.99 Eine solche auf ökono95

Vgl. G. W. F. Hegel: Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818–1831. Edition und Kommentar in sechs Bänden. Hrsg. v. K.-H. Ilting. Stuttgart. Bd. 4. 1973. Nachschrift Griesheim. 472. 96 Vgl. GW 20, § 518. 97 So hat schon J. Locke argumentiert: Wichtigstes Motiv eines Sozialvertrages im Ausgang aus dem Naturzustand ist nach Locke der Eigentumsschutz. Er ist auch der Zweck von gesellschaftlichen Institutionen und Gesetzen. Vgl. Locke, J.: Two Treatises of Government. Cambridge. 1960. II. 123 und 138. 98 Vgl. Hegel, G. W. F.: Die Philosophie des Rechts. Die Mitschriften Wannenmanns (Heidelberg 1817/18) und Homeyers (Berlin 1818/19). § 118. 137 f. (Mitschrift Wannenmann). 99 Vgl. RP, § 183. Heutzutage ist das ein Axiom des sozialen Lebens, sowohl in den westlichen Industrieländern als auch in den entstehenden bürgerlichen Gesellschaften

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Drittes Kapitel

mische Verhältnisse reduzierte Gemeinschaft ist kein Staat im Hegelschen Sinne, sie ist lediglich ein äußerer »Not- und Verstandesstaat«.100 Den Verstandesstaat charakterisieren zwei verschiedene Prinzipien, oder wie Hegel sagt, in ihm entzweit sich die Idee der Freiheit in zwei Momente: auf der einen Seite in die private Freiheit des Subjekts, sich nach allen Seiten beliebig zu entwickeln, und auf der anderen Seite in die Freiheit der Allgemeinheit, die Macht über diese Entwicklung der Subjekte zu haben. Diese Entzweiung hat folgende Konsequenzen: Zum einen zerstört der Mensch sich selbst durch die ungezügelten Triebbefriedigungen, und zum anderen ist er nicht sittlich integriert. Denn ihm steht eine streng formale Allgemeinheit gegenüber, welche ihn den harten ökonomischen Abhängigkeiten unterwirft und über seinen Lebensplan die unnachgiebige Macht des Geldes walten lässt.101 Diese Entzweiung in den Gegensatz von Individuum und Gesellschaft bietet »das Schauspiel ebenso der Ausschweifung, des Elends und des beiden gemeinschaftlichen physischen und sittlichen Verderbens dar«.102 Die Ausschweifung in der Sphäre, wo die Bedürfnisse die Macht ergreifen, führt deshalb zum sittlichen Verderben, weil die Menschen sich primär grenzenloser Bedürfnisbefriedigung ergeben und damit ihre anderen, sittlich-geistigen Bestimmungen zerstören. Das Elend der Menschen, deren wirtschaftliches Leben vom Zufall des Marktes abhängt, hat nach Hegel ebenfalls die bürgerliche Gesellschaft mit ihrem ungesicherten System der Bedürfnisbefriedigung zu verantworten. Deshalb ist sie aber weder abzulehnen noch dem Naturzustand des wilden Menschen gegenüberzustellen, wie Hegel Rousseau kritisiert. Rousseau habe tief ergriffen, »das Elend seines Volkes und das damit zusammenhängende sittliche Verderben, die Wuth, die Empörung der Menschen über ihr Elend, über den Widerspruch dessen, was sie fordern

in den früheren sozialistischen Ländern. Auf dem Weg in die wechselseitige Abhängigkeit müssen die letztgenannten Gesellschaften durch die herrschende Unverbindlichkeit in dem Pflichtbewusstein der Bürger, durch einen »himmelschreienden, katastrophalen Widerspruch« durchgehen, so Motroŝilova. Vgl. Motroŝilova, N.: Zur Problematik der Freiheit, der Sittlichkeit und der bürgerlichen Gesellschaft (civil society) bei Hegel. In: Dies.: Zum Freiheitsverständnis des Kantischen und nachkantischen Idealismus. Frankfurt. 1998. 57. 100 GW 20, § 523 und RP, § 183. Zur Interpretation der zwei Prinzipien vgl. Peperzak, A.: Modern Freedom: Hegel’s Legal, Moral, and Political Philosophy. 439. 101 Vgl. RP, § 185. 102 RP, § 185. Diese ethische Kritik an der in sich widersprüchlichen Ökonomie lässt B. Priddat vermuten, dass Hegel insgesamt das englische Wirtschaftssystem negativ einschätzt und hinter dem ökonomischen liberalen Konzept von A. Smith ein »gleichsam Hobbessches naturrechtliches System« auffasst und als solches kritisiert. Vgl. Priddat, B.: Hegel als Ökonom. 32 f.

B. Die bürgerliche Gesellschaft als formale Allgemeinheit

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können, und des Zustands, in dem sie sich befinden, die Erbitterung darüber, der Hohn über diesen Zustand und damit die innere Bitterkeit, den bösen Willen, der daraus entspringt«103 erkannt, aber nicht die Lösung des Antagonismus der Ökonomiegesellschaft gefunden. Auch Plato habe nach Hegel das Problem der Individualität, das Sokrates einführt, antizipiert und diesem ein Ideal des sittlichen Staates unter Ausschluss des Prinzips der Individualität, des Eigentums und der Familie entgegengesetzt. Die Lösung des Prinzipienwiderstreits liegt nach Hegel in seiner Gegenwart weder in der Platonischen Polis104 noch bei Rousseaus gesellschaftlichem Vertrag (contrat social), sondern in der denkenden Einsicht der Bürger in die höhere sittliche Notwendigkeit des Staats. Diese Einsicht sucht Hegel zu erweisen, indem er, von der subjektiven Freiheit ausgehend, die Willkür der Menschen in der äußeren, ökonomischen Allgemeinheit untersucht und letztlich das allgemeine wirtschaftliche Gebundensein der Individuen nicht als Fessel, sondern als das denkende, selbstbewusste Wissen der Notwendigkeit des sittlichen Staates, in dem die subjektive Freiheit nicht nur bedingt, sondern gänzlich realisiert ist, begreift. Diese Einsicht ist nach Hegel die Sittlichkeit und die Freiheit der Bürger, deren Leben die sittlichen Institutionen des Staates als Substanz »regieren und in diesen als ihren Accidenzen, ihre Vorstellung, erscheinende Gestalt und Wirklichkeit haben«.105 Hegels Betrachtung der Individuen lediglich als Akzidenzen an der sittlichen Substanz lässt Zweifel aufkommen, ob sein Anspruch gegenüber Plato auf Berücksichtigung der Individualität gerechtfertigt ist, wie bereits erwähnt. Um den Unterschied zu Plato in dieser Hinsicht zu unterstreichen, legt Hegel Wert darauf, dass die Individuen ihr Akzidenzsein wissen und wollen. Nichtsdestotrotz geht Hegel vom Prinzip der Individualität aus und sucht zu zeigen, dass die Erhebung des Individuums zur Allgemeinheit notwendig ist, weil es nur in der Gemeinschaft mit anderen sein Bestehen hat, auch dann, wenn die Gemeinschaft kein synthetisches, sittliches Ganzes, sondern lediglich eine formale Allgemeinheit wie die Wirtschaft ist. Denn der Wirtschaft wohnt nicht die Freiheit, sondern die Notwendigkeit inne, die auch ohne Bezug auf den Staat eine Gemeinsamkeit auf der Grundlage der gegenseiti-

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Hegel, G. W. F.: Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818–1831. 477 (Nachschrift Griesheim). Der Hörer Hegels Griesheim notiert, dass die Grenzenlosigkeit der Bedürfnisbefriedigung eine »schlechte Unendlichkeit« sei. Ebd. 476. 104 »Denn das Ideal eines Staates, wo die besondere Lage so wäre wie die Menschen sie wünschen, ist freilich Träumerei«, so notiert der Hegel-Hörer Griesheim. Vgl. Hegel, G. W. F.: Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818–1831. 478 (Nachschrift Griesheim). 105 RP, § 145. Vgl. auch RP, § 146.

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Drittes Kapitel

gen ökonomischen Abhängigkeit einzelner, autonomer Individuen stiftet.106 Hegel rekurriert damit auf die Erkenntnisse der Politischen Ökonomie, die Plato nicht kennen konnte. In der Verfolgung der privaten Interessen und Bedürfnisbefriedigungen ist die einzelne Person auf die anderen angewiesen, auch wenn ihr das widerstrebt, macht sie sich selbst zu einem »Gliede der Kette«.107 Sie muss sich dazu machen aus der Einsicht, dass ihre individuellen Zwecke an das Bestehen des Staates geknüpft sind; Hegel sagt, sie bildet sich so in die Allgemeinheit. Die Bildung des Bürgers der bürgerlichen Gesellschaft besteht im Wissen und Wollen der notwendigen gegenseitigen Abhängigkeit, zu einerseits adäquatem Benehmen und Handeln nach allgemeinen Maximen und Formen, und andererseits im Verständnis, dass die individuellen Bedürfnisse sich dem Begriff anpassen müssen. Das bedeutet, sie sind nicht spezifisch individuell und völlig willkürlich, sondern sie sollen in der Form der Allgemeinheit und des Denkens sein.108 Die Bildung des bourgeois zu diesem Verständnis der Notwendigkeit der Allgemeinheit ist eine besonders »harte Arbeit gegen die bloße Subjektivität des Benehmens, gegen die Unmittelbarkeit der Begierde, sowie gegen die subjektive Eitelkeit der Empfindung und die Willkür des Beliebens«.109 Der bourgeois muss lernen, nicht in allem nur sich und sein Interesse zu sehen, sondern wie ein zivilisierter Mensch die Zusammenhänge von Zwecken und Mitteln zu erblicken, wie seine partikularen Interessen von den anderen Menschen abhängen und wie er sich selbst auf allgemeine Weise vorzustellen habe. Die Bildung ist nach Hegel ein Prozess der Zivilisierung oder Vergeistigung der eigenen Bedürfnisse, Arbeit, des Lebensstandards, der Zusammenarbeit mit anderen in Berufsgruppen und Vereinen u. a. In diesen Momenten des sozialen Lebens bildet sich der Einzelne zum vollwertigen Mitglied der Gesellschaft, und sie sind zugleich die Momente, welche die bürgerliche Gesellschaft charakterisieren: erstens die ökonomische gegenseitige Abhängigkeit als ein System der Bedürfnisse, der Arbeit und des allgemeinen Vermögens, zweitens der Schutz des darin geltenden formalen Rechts als Rechtspflege und drittens die Vorsorge vor Verbrechen durch Polizei und Korporation. Die Zusammenstellung dieser Momente erweckt nicht den Eindruck der Kohärenz einer gesellschaftlichen Konzeption, sie betonen vielmehr den 106

Vgl. RP, § 186. Der Hörer Homeyer notiert: »Eigennutz, Willkür haben hier ihren Boden«. Vgl. G. W. F. Hegel: Die Philosophie des Rechts. Die Mitschriften Wannenmann (Heidelberg 1817/18) und Homeyer (Berlin 1818/19). § 90. 258 (Mitschrift Homeyer). 107 RP, § 187. 108 Vgl. G. W. F. Hegel: Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818–1831. Bd. 4. 483 f. (Nachschrift Griesheim). 109 RP, § 187.

B. Die bürgerliche Gesellschaft als formale Allgemeinheit

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atomistischen Charakter der bürgerlichen Gesellschaft und ihre Unfähigkeit, eine synthetische, gesellschaftliche Einheit zu bilden.110 Das ökonomische System allein kann weder das von ihm gestiftete kohärente Gemeinsame erhalten noch die Befriedigung der physischen Bedürfnisse aller Menschen darin gewährleisten, was im Folgenden näher zu erläutern ist.

a) Die Wirtschaft als System der Bedürfnisse und der Arbeit Im Abschnitt Das System der Bedürfnisse (§§ 189–208) erläutert Hegel sein Verständnis der ökonomischen Zusammenhänge in Anlehnung an die moderne Ökonomie. Er systematisiert seine Erkenntnisse in drei näher zu untersuchenden Schritten: Bedürfnisse, Arbeit und Vermögen.111 An den ökonomischen Zusammenhängen sucht Hegel zugleich die Aporien der bürgerlichen Gesellschaft zu zeigen. Die Bedürfnisse und die Arten für deren Befriedigung sind nach Hegel deshalb ein zusammenhängendes System, weil sie eine gesetzmäßige Gemeinschaftlichkeit unter sonst unabhängigen und ungemeinschaftlichen Privatpersonen erzeugen. Im anscheinenden »Wimmeln von Willkühren« und Zufälligkeiten entdeckt die Ökonomie interessanterweise gültige, allgemeine Gesetze, wie im Planetensystem, wo nur an einer einzigen sichtbaren Bewegung der Himmelskörper die Gesetze erkannt werden konnten.112 So können auch in der wirtschaftlichen Sphäre die Regeln der Vernünftigkeit und der Sittlichkeit einleuchten, wäre dort nicht der endliche, beschränkte Verstand der einzig Regierende, der nur ein »Scheinen der Vernünftigkeit«113 ist. Das »Scheinen« bedeutet für Hegel zweierlei – die Vernünftigkeit ist ein Schein und hat keine Existenz, und sie erscheint, gibt ein Zeichen ihrer Existenz, womit sie die Gegensätze von subjektiver Willkür

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Vgl. auch Peperzak, A.: Modern Freedom: Hegel’s Legal, Moral, and Political Philosophy. 442 f. 111 Hinter dieser Einteilung könnte Hegels syllogistische Dreiteilung aus der Logik vermutet werden, in der die Arbeit als Mitte zwischen den einzelnen Bedürfnissen und dem allgemeinen Vermögen auftritt. Vgl. Peperzak, A.: Modern Freedom: Hegel’s Legal, Moral, and Political Philosophy. 445. 112 Dieser Vergleich findet sich nur in der Nachschrift der Hegelschen Vorlesung über Rechtsphilosophie von K. G. v. Griesheim 1824/25, im Originaltext der Rechtsphilosophie dagegen nicht. N. Waszek macht diesen Vergleich Hegels für seine These stark, dass Hegel die moderne Ökonomie lobt. Hegels Tenor in der Behandlung der Ökonomie aus der entwicklungsgeschichtlichen Perspektive gesehen, bleibt aber eher verhalten. Vgl. Waszek, N.: Hegels Lehre von der ›bürgerlichen Gesellschaft‹ und die politische Ökonomie der schottischen Aufklärung. 36. 113 § 189 Anm. Vgl. auch §§ 64 ff. und 81 ff.

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Drittes Kapitel

und allgemeinen Interessen versöhnt. Der Verstand versöhnt die Gegensätze nicht durch vernünftige Einsicht, sondern durch moralische Forderungen, die nichts außer Unzufriedenheit verursachen. Denn sie halten an den Zufälligkeiten weiterhin fest und fordern andere, moralisierende Zufälligkeiten. Der Verstand regiert über die unendliche Menge der Bedürfnisse und die Arten ihrer Befriedigungen, und seine Wirksamkeit herauszufinden, ist die interessante Aufgabe und das Verdienst der modernen Politischen Ökonomie von A. Smith, J. B. Say und D. Ricardo, die Hegel namentlich erwähnt.114 In der Betrachtung der wissenschaftlichen Ökonomie bevorzugt Hegel den Begriff »Staatsökonomie« oder auch »Staatswirtschaft«.115 Die Erwähnung des Staates in der Bezeichnung soll vermutlich stärker Hegels Vorhaben betonen, die Ökonomie als Teil einer Staatskonzeption zu begreifen. Sie ist nicht irgendeine empirische Wissenschaft, sondern diejenige, die konkrete Vorarbeit für die Konzeption des sittlichen Staates im Hegelschen Sinne leistet. Die Vorarbeit besteht darin, an der Ökonomie als Sphäre des Verstandes, die »moralische Verdrießlichkeit«116 und die Widersprüchlichkeit zu zeigen, um die Notwendigkeit einer höheren Sphäre der Sittlichkeit und der Vernunft zu begründen. Die Rolle der Ökonomie als Sphäre des Verstandes hängt mit Hegels spezifischer Bestimmung des endlichen Verstandes als eines Erkenntnisvermögens zusammen, das kein wahres Wissen ermöglicht und die Notwendigkeit des Hinausgehens zu einer höheren, sittlichen Sphäre erweist. Die Ökonomie erhält damit in Hegels Konzeption einen vorläufigen, spezifisch-ethischen Sinn, der sowohl den schottischen als auch den deutschen Ökonomen dieser Zeit, aber auch vielen Interpreten der Hegelschen Rechtsphilosophie heutigentags weitgehend fremd bleibt.117 114

Hegel meint die Werke Smith, A.: »Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations«, von 1776, Say, J. B.: »Traité d’economie politique« von 1803 und Ricardo, D.: »On the principles of Political Economy and Taxation« von 1817. Über den Einfluss dieser Autoren auf Hegel haben Priddat und Waszek kenntnisreiche Studien geschrieben. Beide sind sich einig, dass bei Hegel keine Ricardo-Einflüsse deutlich werden. Ebenfalls ist es nicht klar, ob Hegel L. B. Say auf Französisch gelesen hat. Vgl. Priddat, B.: Hegel als Ökonom. 11. Vgl. Waszek, N.: Hegels Lehre von der ›bürgerlichen Gesellschaft‹ und die politische Ökonomie der schottischen Aufklärung. 39. 115 Ebd. Hegel verwendet die Termini »Staatsökonomie«, »Staatswirthschaft«, »Nationalökonomie« und »Politische Ökonomie« synonym. Hegels Hörer Griesheim verwendet in seinen Notizen dagegen öfter die Bezeichnung »Volkswirtschaftslehre«, Homeyer dagegen »Staatshaushaltung«. Vgl. G. W. F. Hegel: Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818–1831. Bd. 4. 486 f. (Nachschrift Griesheim). Vgl. G. W. F. Hegel: Die Philosophie des Rechts. Die Mitschriften Wannenmann (Heidelberg 1817/18) und Homeyer (Berlin 1818/19). § 97. 261. 116 RP, § 189 Anm. 117 Diesen Umstand beachten auch manche heutige Hegel-Interpreten nicht, wenn sie

B. Die bürgerliche Gesellschaft als formale Allgemeinheit

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Von der modernen Ökonomie übernimmt Hegel den Grundgedanken der Vervielfältigung und Verfeinerung der Bedürfnisse und die damit einhergehende Arbeitsteilung für deren Befriedigung. Hegel argumentiert, dass der Mensch im Unterschied zum Tier viele Bedürfnisse hat und er sie in mehrere Unterbedürfnisse zerlegen kann. So zum Beispiel hat der Mensch ein ganzes Bedürfnis nach Kleidung, aber viele Bedürfnisse nach verschiedenen Kleidungsstücken, Stoffen, Farben, Schnitten etc., die dann nach verschiedenen Seiten, z. B. nach der Bequemlichkeit unterteilt werden können. Die Vervielfältigung der Bedürfnisse hat keine Grenze, und sie werden immer abstrakter. Mit der Teilung des einzelnen Bedürfnisses teilt der Mensch auch die Mittel und die Arbeit dafür, was zu einem unendlichen Prozess wird. Die Arbeitsteilung als modernes Prinzip vervielfältigt sich industriell, wie das Beispiel der Stecknadelproduktion von Adam Smith zeigt.118 Es entsteht eine Verflechtung von Bedürfnissen und Arbeitsarten verschiedener Personen untereinander, welche nicht nur eine Abhängigkeit, sondern auch eine Sozialisation von atomistischen Einzelnen, eine Vereinheitlichung oder Vergesellschaftung von Bedürfnissen, aber auch eine Anerkennung der Arbeitsleistung anderer herbeiführt. Das Bedürfnis der konkreten Person wird zu einem gesellschaftlichen Bedürfnis, weil für dessen Befriedigung die Allgemeinheit arbeitet. Dieser Vergesellschaftungsprozess durch Arbeit zeichnet sich durch zwei gegenläufige Tendenzen aus: auf der einen Seite steht der Hang zur Nachahmung, Gleichmachung, Mode, und auf der anderen Seite das Streben nach persönlichem Hervortun.119 Das erste ist der Trieb, von dem anderen für gleich anerkannt zu werden, oder das Zutrauen, das, was dem anderen angenehm ist, ebenso haben zu wollen. Das zweite ist der Trieb, sich in dieser Gleichmachung einen eigenen Wert zu geben, was aber außerhalb des vernünftigen, allgemeinen Rahmens nur eine Abgeschmacktheit, Albernheit und Eitelkeit ist.120 feststellen, dass Hegel ein undifferenziertes, uneinsichtiges Verständnis für die seinerzeit moderne Ökonomie habe und ihn deshalb nicht in die moderne, sondern in die cameralistische Tradition zurückweisen. Vgl. u. a. Priddat, B.: Hegel als Ökonom. 18. 118 Vgl. Smith, A.: Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen. Aus dem Englischen übertragen und mit einer umfassenden Würdigung des Gesamtwerkes herausgegeben von H. C. Recktenwald. München. 1996.10 ff. 119 RP, §192. Es sind weniger die Konsumenten, welche die Vervielfältigung der Bedürfnisse vorantreiben, sondern die Produzenten, wie der Hörer Griesheim notiert. Vgl. Hegel, G. W. F.: Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818–1831. Bd. 4. 493. (Nachschrift Griesheim). 120 Vgl. G. W. F. Hegel: Die Philosophie des Rechts. Die Mitschriften Wannenmann (Heidelberg 1817/18) und Homeyer (Berlin 1818/19). §§ 95, 96. 113f (Nachschrift Wannenmann).

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Drittes Kapitel

Der Mensch als Triebwesen unterscheidet sich nach Hegel vom Tier wesentlich durch Denken. Durch denkende Abstraktion verfeinert er seine Bedürfnisse, bricht und versöhnt deren Rohheit.121 Die Vereinzelung und die Vergesellschaftung der Bedürfnisse und der Arbeit führen zwar zur Befreiung von der äußeren Natur, d. h. der Mensch hat das Gefühl, dass seine Bedürfnisbefriedigung nur von der eigenen Willkür abhängt.122 Diese angebliche Befreiung ist aber nur formal, denn die Bedürfnisse bleiben nicht auf der Ebene des unmittelbaren, natürlichen Bedarfs zum Lebenserhalt. In ihrer Vervielfältigung und Abstraktion gehen sie von der Natürlichkeit in die Einbildung über. Der Mensch, der primär seine Bedürfnisbefriedigung will, wie Hegel dem bourgeois unterstellt, wird von seinen Bedürfnissen so stark eingenommen, dass er keine Grenze zwischen den natürlichen und den eingebildeten Bedürfnissen hat und deshalb nie frei sein wird. Im Gegenteil: Durch seinen unendlichen Drang nach Luxus will er immer mehr erwerben und vergrößert damit nur seine Not und die Abhängigkeit von den äußeren Dingen.123 Im Anschluss an Rousseau kritisiert Hegel, dass die unnatürliche Erwerbs- und Genusssucht viele Menschen finanziell und geistig ruinieren kann.124 Mit dem Luxus ist die Vermehrung der Abhängigkeit und der Not verbunden. Aufgrund der Zirkulation des Kapitals stehen nicht einmal die natürlichen Ressourcen für eine unmittelbare Befriedigung des Hungers zur Verfügung, denn jeder Baum, jedes Tier gehört nicht der Natur, sondern einem Eigentümer.125 Hegel kritisiert nicht das Eigentum, sondern die bit-

121

Vgl. § 190 RP und G. W. F. Hegel: Die Philosophie des Rechts. Die Mitschriften Wannenmann (Heidelberg 1817/18) und Homeyer (Berlin 1818/19). §§ 93. 260 (Nachschrift Homeyer) 122 Vgl. §§ 184, 195. 123 Vgl. § 195 RP. Hegels Hörer Homeyer notiert: »Wenn durch die Vervielfältigung der Bedürfnisse die Not größer wird, so ist das Geistige darin das Versöhnende« (§93. 260). Vgl. G. W. F. Hegel: Die Philosophie des Rechts. Die Mitschriften Wannenmann (Heidelberg 1817/18) und Homeyer (Berlin 1818/19). 124 In der Nachschrift der Hegelschen Vorlesung über Rechtsphilosophie von Griesheim steht: »Die Reichen werden leichtsinnig, wollen noch mehr gewinnen, wagen, der Neid, dem der Trieb der Gleichheit zum Grunde liegt, dieß Alles ruiniert viele Menschen«. Der Luxus zerstört das sittliche Leben, denn die Armen werden neidisch und ebenfalls zu unsittlichen Handlungen, wie Raub, verführt. An einer anderen Stelle: »der Luxus der Gewerbestände, die Genusssucht hängt mit der Zufälligkeit des Erwerbs zusammen«. In: G. W. F. Hegel: Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818–1831. 495 und 627 (Nachschrift Griesheim). 125 Vgl. G. W. F. Hegel: Die Philosophie des Rechts. Die Mitschriften Wannenmann (Heidelberg 1817/18) und Homeyer (Berlin 1818/19). § 98. 115 f. (Nachschrift Wannenmann). Vgl. auch G. W. F. Hegel: Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818–1831. Bd. 4. 494 (Nachschrift Griesheim). In diesem Sinne argumentiert später Marx.

B. Die bürgerliche Gesellschaft als formale Allgemeinheit

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tere Abhängigkeit und die Not der Verarmten und Eigentumslosen. Diese Entgegensetzung vermag das ökonomische System nicht von sich aus zu versöhnen, der Einzelne in diesem System ist auf sich und seine Arbeit gestellt. In seiner Kritik am Luxuskonsum übersieht Hegel nicht seine marktwirtschaftliche Konsequenz in der Erhöhung der Nachfrage nach verfeinerten Produkten, die zu mehr Investitionen und Beschäftigung führen kann, wie die modernen englischen Ökonomen geltend machen. Hegel teilt jedoch deren Optimismus nicht und glaubt nicht, dass die Reichen so viel durch Luxuskonsum investieren, dass die Beschäftigungseffekte für alle langfristig erhalten werden, vielmehr unterstellt er den Reichen die unverantwortliche Verschwendungssucht.126 Neben den Bedürfnissen erörtert Hegel die Arbeit als ein Charakteristikum der Wirtschaft. Während er in der frühen Jenaer Phase die Arbeit als eine bewusstseinsimmanente Mitte zwischen dem Gegenstand als noematischem Gehalt und dem Bewusstsein untersucht, lässt er diese Theorie schon am Ende der Jenaer Phase fallen und vertritt schematisch im Entwurf von 1805/06 und vollständig ausgearbeitet in der Rechtsphilosophie die These, dass sich die Menschen durch Arbeit in die Allgemeinheit bilden, d. h. durch Arbeit allgemeinheitsfähig werden und dadurch einen Weg zur Selbstverwirklichung haben. Sich bilden, bedeutet für Hegel, fremde Meinungen nachvollziehen, sich nach ihnen richten und auf diese Weise zur gemeinsamen, allgemeinen Meinung gelangen, d. h. sie mitbestimmen. Die Bildung durch Arbeit hat nach Hegel eine theoretische und eine praktische Ebene. Die theoretische Bildung besteht zum einen in der Verbesserung der Arbeits-

126

Vgl. G. W. F. Hegel: Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818–1831. 493. (Nachschrift Griesheim). Hegel hat hier das Interesse der Produzenten am Luxuskonsum unterstrichen. B. Priddat glaubt, dass Hegel nicht die Unternehmer/Investoren des Gewerbestandes kritisiert, sondern die Kapitalgeber, die Renierer, die Nichtinvestoren des ersten Standes. Diese These ist schwerlich zu akzeptieren, insbesondere da sich Priddat dabei auf eine angebliche »Verschiebung« der Hegelschen Analyse von der Version der Nachschrift von 1819/1820 (Hervorhebung der positiven Beschäftigungseffekte der Luxusnachfrage) gegenüber den Nachschriften ab dem Jahr 1821, wo der Luxus nur als »unsittliches Unternehmerverhalten« kritisiert wird, stützt. Priddat betont, dass die Kritik Hegels in der Nachfolge von J. B. Say steht, aber nicht dessen Differenzierungen und Investitionsauswirkungen berücksichtigt. Er erkennt folgerichtig, Hegel betrachte den Luxuskonsum als Unterlassung von Beschäftigungs- und Investitionsmöglichkeiten, und die indirekten Investitionseffekte als zufällige wirtschaftliche Ergebnisse, auf die das Auskommen einer Gesellschaft sich nicht gründen kann. Dass es Hegel um eine systematische und ethische Verurteilung der ökonomischen Gesellschaft gegenüber der ethischen Gesellschaft und nicht um eine ökonomisch undifferenzierte Analyse geht, weiß auch Priddat, berücksichtigt dieses aber kaum. Vgl. Priddat, B.: Hegel als Ökonom. 129 und 131.

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Drittes Kapitel

methoden und der Erfindung neuer Technologien zur Vereinfachung der Arbeit, worauf die Menschen stolz sein können, und zum anderen darin, dass der Einzelne bei der Überfülle der Produkte und Dienstleistungen nach seinen Interessen und Bedürfnissen abwägt, kalkuliert, und sich in einer gedanklichen Schnelligkeit im Erfassen ökonomischer Zusammenhänge einübt. Seine praktische Bildung erwirbt der Mensch zum einen im täglichen Erlernen von allgemein anerkannten Geschicklichkeiten. Die Arbeit ist für Hegel mehr als eine subjektive Gewohnheit der Beschäftigung, sie ist eine persönliche Entwicklung. Die in der Arbeit gebildeten Menschen können es ohne Geschäftigkeit nicht aushalten. Die Bildung durch Arbeit bedeutet zum anderen die »Zucht«127 zur Objektivität als notwendige Eigenbeschränkung gegenüber der Natur und den anderen Menschen. Die in und durch Arbeit erlernte Rücksicht auf andere ist ein Bildungsweg von der bloßen Individualität in die Allgemeinheit. Nur vor dem Hintergrund der Arbeit als persönliche Entwicklung kann Hegel den Luxuskonsum der Reichen, wie oben ausgeführt, partiell rechtfertigen, indem er sagt, sie sollten den Armen nicht das Geld schenken, sondern ihre Arbeit nachfragen, und ihnen damit den Bildungsweg durch anerkannte Arbeit eröffnen.128 Das Problem der Selbstverwirklichung in der Arbeit ist eine der Konsequenzen der modernen Arbeitsteilung. Für die moderne Arbeitsteilung hat Hegel das prägnante Beispiel der Stecknadelproduktion in der englischen Manufaktur von Adam Smith vor Augen. Die ständige Wiederholung von bestimmten Arbeitsprozessen veranlasst die Menschen, Ideen zur Verbesserung der Werkzeuge zu entwickeln. Durch denkende Arbeit tragen sie zur Humanisierung und Erleichterung der schweren körperlichen Arbeit bei. Der Mensch überlässt der Maschine unter seiner Bedienung die körperliche Arbeit und ist davon befreit.129 Die Maschine macht zwar die menschliche Arbeit leicht, zugleich aber auch stumpf.130 Der Einzelne kann durch eigene Arbeit nicht ein ganzes Werk erstellen, er kann nicht die ganze Leistung seiner Arbeit überschauen, er verliert sich vielmehr in gleichen, mechanischen

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Vgl. RP, § 197. Vgl. Hegel, G. W. F.: Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818–1831. 497 f. (Nachschrift Griesheim). Der Hörer Griesheim notiert, dass Hegel auch den religiösen Aspekt der Arbeit hervorgehoben hat, dass die Industrie in den Ländern entwickelt ist, in denen die Religion den Verstand und die Arbeit respektiert. 129 Vgl. G. W. F. Hegel: Die Philosophie des Rechts. Die Mitschriften Wannenmann (Heidelberg 1817/18) und Homeyer (Berlin 1818/19). § 101, 118 (Mitschrift Wannenmann). Vgl. auch G. W. F. Hegel: Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818–1831. Bd. 4. 497. 502 f. (Nachschrift Griesheim). 130 Vgl. RP § 198. 128

B. Die bürgerliche Gesellschaft als formale Allgemeinheit

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Tätigkeiten. Mit dem Arbeitslohn kauft er am Markt die Arbeitsleistung anderer Menschen, um seine physischen Bedürfnisse zu befriedigen. Um seine Existenz zu sichern, begibt sich der Einzelne in die soziale Abhängigkeit, er ist auf die anderen und deren Bedürfnisse und Arbeit notwendig angewiesen. In der Bestimmung der bürgerlichen Gesellschaft als Arbeitsgesellschaft zeigt sich Hegel auf der Höhe der modernen nationalökonomischen Theoretiker seiner Zeit, er zeigt aber auch die Ambivalenz des Vergesellschaftungsprozesses der Arbeit – einerseits befreit sie von der Naturnotwendigkeit, und andererseits treibt sie den Menschen in die soziale Abhängigkeit von den anderen. Vergesellschaftet lassen sich die Bedürfnisse und die Arbeit nach Hegel in dem volkswirtschaftlichen, allgemeinen Vermögen erfassen.

b) Das allgemeine Vermögen als die sichernde Basis der Wirtschaft Die allgemeine Arbeit übersteigt die subjektiven Bedürfnisse, denn sie ist zum einen bedingt durch die Allgemeinheit und zum anderen geht sie in die allgemeine Arbeitsleistung, in das »allgemeine, bleibende Vermögen«131 aller Wirtschaftsakteure über. Dieses Vermögen ist aber nicht das Sozialprodukt oder die Summe der hergestellten Produkte und Leistungen in einer Volkswirtschaft, sondern das Bleibende, das Sichernde der Allgemeinheit, so wie das bleibende und sichere Eigentum der Familie.132 Im unendlichen Kreis der

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RP § 199. Vgl. auch GW 20, § 515. Vgl. RP § 170. In welchem Sinn Hegel das Vermögen gebraucht und was für eine Bedeutung der Abschnitt Das System der Bedürfnisse entfaltet, wird in der Forschung kontrovers diskutiert. B. Priddat interpretiert das allgemeine Vermögen bei Hegel in einer doppelten Bedeutung: Als Summe der Produkte der Arbeit und als Summe der Produktivkräfte. Nur in der ersten Bedeutung ist es mit A. Smiths »wealth of nation« als Gesamtprodukt einer Volkswirtschaft vergleichbar. In der zweiten Bedeutung schließt Hegel die Arbeitskraft arbeitsfähiger und versorgter Personen ein. Priddat nennt den äußeren Staat in diesem Hegelschen Sinn, der das allgemeine Vermögen verwaltet, ein »Versicherungsinstitut«, in dem jeder durch seine Arbeitsleistung einzahlt und die Verpflichtung dem Staat abnötigen darf, die Teilhabe am allgemeinen Vermögen nicht zu verweigern. Hegel nehme nach Priddat Smiths Modell des kapitalwirtschaftlichen Wachstumsprozesses und seine Dynamik nicht wahr, weil er an der Vermögenstheorie festhalte. Th. Petersen betont dagegen, dass Hegel keinen transitorischen Besitz im Sinne von Volkseinkommen, sondern die Struktur und die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft meint, die dem Einzelnen zweierlei ermöglicht – durch eigene Arbeit und Tätigkeit selbst seine Subsistenz zu sichern und dabei das allgemeine Vermögen zu erhalten. Hegels Theorie sei nicht, wie von Priddat unterstellt, eine halbherzige Anerkennung der modernen Ökonomie. Es sei umgekehrt, die ökonomische Theorie berücksichtige die stabilisierenden Aspekte der Wirtschaft (nicht als Versicherungsinstitut, sondern als Eigendynamik in der Selbstver132

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Drittes Kapitel

ökonomischen Verflechtungen wirkt das allgemeine Vermögen wie ein Mechanismus der Umwandlung von subjektiver Selbstsucht in den Beitrag zur Befriedigung der Bedürfnisse aller nach dem Prinzip, dass »indem jeder für sich erwirbt, produziert und genießt, er eben damit für den Genuss der Übrigen produziert und erwirbt«.133 Die Gesamtarbeitsleistung als Ganzes bedeutet für die einzelnen Individuen eine Sicherheit ihres eigenen wirtschaftlichen Auskommens, deshalb muss nach Hegel das Vermögen erhalten, aber nicht unbedingt gesteigert werden. Der Erhalt des allgemeinen Vermögens ist dann gegeben, wenn im Land keine Überproduktion entsteht, d. h. wenn die produzierten Güter auch konsumiert werden.134 Das kann aufgrund der Fehlallokation des Vermögens geschehen, die nicht nur die Schere zwischen Arm und Reich öffnet, sondern die Ökonomie selbst behindert: das Kapital wird nicht investiert, Produktionskapazitäten werden nicht ausgelastet, Einkommen wird nicht realisiert und wegen Armut wird nicht konsumiert. Diese »Dialektik«135 der bürgerlichen Ökonomiegesellschaft in ihrer unend-

waltung) nicht ausreichend. Vgl. Priddat, B.: Hegel als Ökonom. 143f und 119. Vgl. Petersen, Th./Fulda, H. F.: Hegels »System der Bedürfnisse«. In: Dialektik. Enzyklopädische Zeitschrift für Philosophie und Wissenschaften. 1999, 3. Horizonte ökonomischen Denkens. Hamburg. 1999. 142. 133 RP, § 199. Hegel bezeichnet diesen Umschlagsmechanismus als dialektische Bewegung als Vermittlung des Besonderen durch das Allgemeine. Diese Stelle deutet B. Priddat als einen Bezug auf die ökonomischen Theorien von Steuart. Vgl. Priddat, B.: Hegel als Ökonom. 24 f. N. Waszek dagegen votiert für einen gesamten Einfluss von Steuart und Smith, die er als Vertreter einer Schule, der Denkrichtung des »scottish Enlightenment« versteht. Vgl. Waszek, N.: The Scottish Enlightenment and Hegel’s Account of ›Civil society‹. Dordrecht, Boston, London. 1988. 182 ff. 134 Vgl. G. W. F. Hegel: Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818–1831. Bd. 4. 507 (Nachschrift Griesheim). Hegel stehe damit nach Priddats Meinung auf dem Steuartschen Standpunkt, dass der Markt dann ausgeglichen und das Vermögen dann gesichert ist, wenn das Arbeit-Nachfrage-Verhältnis und nicht das Angebot-Nachfrage-Verhältnis ausgeglichen ist. Priddat, B.: Hegel als Ökonom. 43 ff. 135 An dieser Dialektik hat K. Marx Anstoß genommen und sie auf spezifische Weise entwickelt, in der heutigen globalisierten Welt dagegen wird sie weiterhin ignoriert, weil sie Alltag, die absolute Herrschaft des Kapitals geworden ist. Hegel bietet als Lösung dieses Antagonismus den sittlichen Staat, Marx eine kommunistisch-sozialistische Revolution und Gesellschaft an, die er freilich nicht näher entwickelt. Wie Marx sich diese Hegelsche Dialektik, damit nach Tuschling auch Hegels Begriff des Begriffs und des Absoluten als Idee uneingeschränkt zu eigen macht und sich dabei von Hegel weit entfernt vgl. Tuschling, B.: Objektiver Geist: Kapital. Dialektik bei Hegel, Dialektik bei Marx. 209 ff. bes. 213. Auch Motroŝilova unterstreicht die Differenzen in der Theorie der bürgerlichen Gesellschaft zwischen Hegel und Marx, die Hegel nicht als eine kapitalistische Abweichung, sondern als einen unausweichlichen geschichtlichen Strukturzustand betrachtet hat. Vgl. Motroŝilova, N.: Zur Problematik der Freiheit, der Sittlichkeit und der bürgerlichen Gesellschaft (civil society) bei Hegel. 58 f.

B. Die bürgerliche Gesellschaft als formale Allgemeinheit

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lichen Gewinnsucht und die ständige Tendenz zur Überproduktion zwingt die Wirtschaft aus den eigenen Nationalgrenzen hinaus, denn sie kann nicht das Einkommen schaffen, das ihr Überschussangebot abnimmt. Der Export ist eine Möglichkeit, die Arbeit im Inland zu stabilisieren, er ist jedoch nach Hegel ein unsicherer Weg. Zwar werden Handelsverträge abgeschlossen, ihre Sicherung muss jedoch in der internationalen Wirtschaft preisgegeben werden und man muss den Markt mit seinen harten Gesetzen von Angebot und Nachfrage, die sich im Preis ausgleichen, regieren lassen. Die Flucht in den Außenhandel ist nicht die Lösung der aporetischen Überproduktion der Ökonomie, denn sie ist immer vorhanden und der Konsum auch des Auslandes begrenzt.136 Diese Überlegung äußert Hegel nur am Rande, er thematisiert die Internationalisierung der Wirtschaft nicht eigens. Er stellt nicht die heute so wichtig gewordene Frage, wie die notwendige wirtschaftliche Internationalisierung nach dem von ihm vorgelegten Rechtskonzept organisiert werden kann, z. B. wie die Nationalökonomien als durch Verträge gebundene Subsysteme einer Welt begriffen werden können. Internationale Handelsverträge können nach Hegels Konzept geschlossen werden, einen Garanten dafür kann es aber nicht geben. Die Vertragserfüllung bleibt der Zufälligkeit überlassen, da jeder Staat hauptsächlich für seine Bürger und die Entwicklung der eigenen Wirtschaft zu sorgen hat.137 Hegel konstatiert lediglich die gewaltsame Kolonisation bei der Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen eines bestimmten Volkes im Rahmen der Erörterung von Maßnahmen zur Sicherung des allgemeinen Vermögens.138 Neben dem Problem der Vermögenserhaltung erörtert Hegel das Problem der Verteilung. Das allgemeine Vermögen wird durch die Arbeitsleistung jedes einzelnen Mitglieds gebildet, wobei jedes sich daran verschieden beteiligt. Die Wirtschaftsakteure verfügen über verschiedene Mengen Kapital, die von ihrem individuellen Geschick, Gesundheit, aber auch von der Willkür anderer und dem Zufall abhängen. Umgekehrt ist die Entwicklung der individuellen Ar136

Priddat macht geltend, Hegel berücksichtige nicht, dass es nicht auf die Nachfragerzahl, sondern auf die Nachfragehöhe ankommt, d. h. die effektive Nachfrage nicht mit dem Konsum im Sinne der ökonomischen Theorie identisch ist. Hegel mangele es an Einsicht in die ökonomischen Prozesse, weil er allein die negativen Effekte der Überproduktion betrachtet. Vgl. Priddat, B.: Hegel als Ökonom. 77 f. 137 G. W. F. Hegel: Die Philosophie des Rechts. Die Mitschriften Wannenmann (Heidelberg 1817/18) und Homeyer (Berlin 1818/19). § 120. 141 (Nachschrift Wannenmann). 138 Hegel hat dabei die Kolonialmacht England vor Augen gehabt. In: G. W. F. Hegel: Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818–1831. Bd. 4. 508 (Nachschrift Griesheim). Zur Interpretation vgl. Peperzak, A.: Modern Freedom: Hegel’s Legal, Moral, and Political Philosophy. 467. Vgl. auch Horstmann, R.-P.: Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft. 210.

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Drittes Kapitel

beitsgeschicklichkeit durch das vorhandene Vermögen, aber auch durch die körperlichen und geistigen Anlagen bedingt.139 Diese Ungleichheit ist nicht zu vermeiden, und es ist, wie Hegel sagt, nur ein leerer Verstand, der die Gleichheit in der bürgerlichen Gesellschaft fordert, weil er annimmt, dass das allgemein Vernünftige in der Ökonomiegesellschaft zu suchen ist.140 Jedoch ist das Vernünftige in einer Sphäre, welche Reste des unvernünftigen Naturzustandes, also die Unrechtlichkeit und Unsittlichkeit in sich enthält, nicht zu finden.141 In der bürgerlichen Gesellschaft ist die Allgemeinheit, in der alle gleichberechtigt und nach ihrem Menschsein gelten, nur eine Einbildung, so Hegel.142 Sie ist, obzwar formell-äußerlich eine Allgemeinheit, ein organisiertes Ganzes von Personen, weil sie dem allgemeinen Recht auf Schutz und Anerkennung des Eigentums und dem Personsein gehorchen. Den Charakter einer Ganzheit verleihen der Wirtschaft ihre ständisch-organisierten Glieder. Hegel nennt sie Stände und wählt diesen Begriff nicht, um die alten Zünfte wieder einzuführen, sondern um die stabilisierende Rolle der Stände zu betonen.143 Die Bürger organisieren sich nach ihren verschiedenen Kapitalund Arbeitskraftvermögen und aufgrund des sie miteinander verbindenden ökonomischen Zusammenhangs der unendlichen Bedürfnisbefriedigung

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Vgl. § 200. G. W. F. Hegel: Die Philosophie des Rechts. Die Mitschriften Wannenmann (Heidelberg 1817/18) und Homeyer (Berlin 1818/19). § 118. 137 (Mitschrift Wannenmann). »Der Mensch hat wenig Wahl in Rücksicht auf das, zu was er sich bestimmen will« Ebd. § 102.119. In der Hochschätzung von Geschicklichkeit und Gesundheit bei der Kapitalinvestition, womit Hegel die Arbeit gegenüber der klassischen Ökonomie aufwertet, antizipiert er moderne Interpretationen der klassischen Ökonomie. Vgl. dazu Priddat, B.: Hegel als Ökonom. 149 ff. 140 In der Nachschrift Wannenmann wird die Gleichheit in der bürgerlichen Gesellschaft eine »fade Chimäre« genannt. Vgl. G. W. F. Hegel: Die Philosophie des Rechts. Die Mitschriften Wannenmann (Heidelberg 1817/18) und Homeyer (Berlin 1818/19). § 102. 119 (Mitschrift Wannenmann). Auf die notwendige Ungleichheit in der bürgerlichen Gesellschaft haben sich viele Hegel-Kritiker in dem heutigen Russland gestürzt, wie Motroŝilova berichtet. Sie kritisieren, dass das Hegelsche Konzept auf dem Schutz »bourgeois-kapitalistischer Interessen« basiert, ohne Hegels Forderungen, dass die bürgerliche Gesellschaft in Not geratenen Bürgern helfen muss, zu beachten. Vgl. Motroŝilova N.: Zur Problematik der Freiheit, der Sittlichkeit und der bürgerlichen Gesellschaft (civil society) bei Hegel. 62. 141 Der Staat muss nach Hegel verhindern, dass das sittliche Volk zu einem Aggregat von Privatmenschen wird und damit in einen Zustand der Unsittlichkeit und der Unvernunft gerät. Vgl. GW 20. § 544 Anm. 142 Vgl. RP, § 200 Anm. 143 Vgl. Petersen, Th./Fulda, H. F.: Hegels »System der Bedürfnisse«. In: Dialektik. Enzyklopädische Zeitschrift für Philosophie und Wissenschaften. 1999, 3. Horizonte ökonomischen Denkens. Hamburg. 1999. 136 f.

C. Die wirtschaftenden Stände und die Kritik an deren politischem Misstrauen 193

und der Arbeit in besonderen allgemeinen Berufsgruppen oder besonderen Subsystemen innerhalb der Gesellschaft, die Hegel Stände nennt.144

C. Die wirtschaftenden Stände und die Kritik an deren politischem Misstrauen a) Die Ständelehre und das Prinzip der Individualität Die Ständelehre Hegels ist eine Gliederung des Gesamtstaates in Gruppen von Individuen, die gemeinsame Zwecke, politische Interessen, Fähigkeiten, Arbeitsweisen und insgesamt einen vergleichbaren charakteristischen Lebensstil haben, wodurch sie eine ähnliche Bildung und Kultur pflegen und sich in mehrere kleinere Stände oder Klassen gliedern. Hegel gliedert den sittlichen Staat zunächst in drei Hauptstände, die den Bestimmungen des Willens und auch den logischen Begriffsbestimmungen entsprechen: Dem unmittelbaren Willen entspricht der natürliche Stand der Bauern, dem reflektierenden Willen der formelle, wirtschaftende Stand und dem allgemeinen Willen der denkende Stand.145 Der Stand der Bauern und der allgemeine Stand der Beamten des Staates oder alle mit staatlichen Aufgaben beauftragten Bürger, u. a. die Polizisten, die Richter, die Gelehrten, haben die Allgemeinheit zum Zweck. Während die Bauern für die unmittelbare Befriedigung der Bedürfnisse und den physischen Lebenserhalt aller arbeiten und sich durch ein unmittelbares Zutrauen in das Gemeinwesen auszeichnen, übernimmt der allgemeine Stand die Aufgaben der organisierten Allgemeinheit. Im Dienste der allgemeinen Interessen müssen die Staatsbürger von der Besorgung ihrer privatwirtschaftlichen Angelegenheiten enthoben sein, deshalb müssen sie unmittelbar vom Staat und mittelbar von 144

Vgl. RP, § 201. Die Unterscheidung zwischen den Bezeichnungen »Stand« und »Klasse« bei Hegel ist in der Forschung umstritten. A. Peperzak geht davon aus, dass Hegel die Bezeichnungen »Stände« und »Klassen« synonym verwendet, obwohl Hegel das nicht durchhält. Vgl. Peperzak, A.: Modern Freedom: Hegel’s Legal, Moral, and Political Philosophy. 449. Anm. 16. Dagegen betont M. Fischer, dass das Wort »Klasse« zu Hegels Lebzeit durchaus etwas mit ökonomischen Unterschieden zu tun hatte, wie z. B. bei der Steuerzahlung (auch heute), Einräumung von Privilegien und Übertragung von Aufgaben, in den verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Vgl. Fischer, M.: Historische und theoretische Voraussetzungen des hegelschen Klassenbegriffs. In: Hegel-Jahrbuch (1975) 108–123. Zu den Ständen als politischen Organisationen vgl. auch Hocévar, R. K.: Stände und Repräsentation beim jungen Hegel. Ein Beitrag zu seiner Staats- und Gesellschaftslehre sowie zur Theorie der Repräsentation. München. 1968. 145 Vgl. RP, § 202 und GW 20, § 528.

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Drittes Kapitel

den Bauern und den Besitzbürgern des wirtschaftenden Standes versorgt werden.146 Den zweiten Stand des Gewerbes gliedert Hegel in die Klassen oder die Unterstände der Handwerker, der Fabrikanten und der Handeltreibenden, deren gemeinsamer Zweck der Gewinn ist.147 Der Arbeitswert der Handwerker liegt nicht im Naturmaterial, sondern in seiner Umformung, seiner Anpassung an die menschlichen Bedürfnisse. »Was er vor sich bringt und genießt, hat er vornehmlich sich selbst, seiner eigenen Tätigkeit zu danken«.148 Insofern erlebt der Handwerker ein Selbstgefühl der Unabhängigkeit von der Natur, er ist aber gleichwohl abhängig von den anderen, die seine Produkte abnehmen. Der Fabrikant setzt für seine Arbeit vornehmlich Maschinen ein, um die Arbeit seiner Fabrikarbeiter zu vereinfachen und größere Mengen für größere Märkte zu produzieren. Der Händler arbeitet mit dem Geld als Tauschmittel für Produkte. Er strebt nicht die Anhäufung von Reichtum an, sondern dessen Zirkulation, weil er auf diese Weise den Gewinn maximal steigern kann. Der Gewinn wird zur unbestimmten Sucht und weitet den Handel über die Nationalgrenzen hinaus aus.149 Die Gliederung des zweiten Gewerbestandes unterscheidet sich von der Ständestruktur in Hegels spätem Jenaer Entwurf von 1805/06, insofern Hegel den Stand der Fabrikanten neu hinzufügt, heute würde man sie Unternehmer nennen. Diese explizite Berücksichtigung der Fabrikanten als Klasse des Gewerbestandes wird systematisch eingeordnet in die Entsprechung der Bestimmungen des Willens als unmittelbaren, reflektierenden und allgemeinen Willens. Die Handwerker arbeiten konkret für die Befriedigung einzelner, unmittelbarer Bedürfnisse ihrer Kunden, die Fabrikanten dagegen arbeiten abstrakt für einen allgemeineren Bedarf, und die Handeltreibenden stellen die Allgemeinheit der Arbeit her, indem sie die erzeugten Waren gegen den allgemeingültigen Wert in Geld tauschen.150 Es entsteht eine wirtschaftliche Vernetzung, in der jeder 146

Vgl. RP, § 205. Vgl. auch Hegel, G. W. F.: Die Philosophie des Rechts. Die Mitschriften Wannenmann (Heidelberg 1817/18) und Homeyer (Berlin 1818/19). § 104.120 f. (Nachschrift Wannenmann). 148 RP, § 204. 149 Vgl. G. W. F. Hegel: Die Philosophie des Rechts. Die Mitschriften Wannenmann (Heidelberg 1817/18) und Homeyer (Berlin 1818/19). §§ 121, 122 (Mitschrift Wannenmann). 150 Vgl. RP, §§ 203, 204 und 205. Vgl. auch Peperzak, A.: Modern Freedom: Hegel’s Legal, Moral, and Political Philosophy. Dordrecht-Boston, 2001. 451 f. Die Hinzufügung des Fabrikantenstandes könnte das Ergebnis der tagespolitischen Arbeit Hegels sein, wie z. B. der Verfassung seiner »Ständeschrift«, die der Vermittlung zwischen Fürst und Volk gewidmet ist. Der gebildete »Mittelstand« muss sich zusammen mit und nicht entgegen 147

C. Die wirtschaftenden Stände und die Kritik an deren politischem Misstrauen 195

»in seiner Subsistenz an seine Arbeit, an die Reflexion und den Verstand, sowie wesentlich an die Vermittelung mit den Bedürfnissen und den Arbeiten anderer angewiesen« ist.151 Hegel hat während seiner Vorlesungen über die Rechtsphilosophie mündliche Erläuterungen zu den jeweiligen Paragraphen gegeben, und so hat sich sein Hörer K. G. v. Griesheim über den Stand der Erwerbsbürger einige Vermerke gemacht, die hier kurz zusammengefasst werden, da sie deutlich die ethische Kritik unterstreichen: Der Stand des Gewerbes hat in den modernen Staaten gegenüber den anderen Ständen eine große Wichtigkeit erlangt, die aber nicht so hoch geschätzt werden sollte. Der Stand zeichnet sich aus durch Unersättlichkeit, Maßlosigkeit und Grenzenlosigkeit für die Genüsse, die durch Reichtum angeschafft werden. Das Vermögen der Besitzbürger ist so unsicher vor Verschwendung, dass es gar nicht zum allgemeinen Vermögen beitragen kann. Der Handelsstand tritt in Verbindung mit der Politik, insbesondere wenn er Außenhandel betreibt und Geldtransaktionen mit anderen Staaten über die Banken, die entsprechend auch wichtig werden, tätigt.152 Hegel vermeidet es in der Rechtsphilosophie und in seiner letzten Schrift – der dritten Auflage der Enzyklopädie von 1830, den Egoismus der Besitzbürger scharf zu kritisieren, denn er erkennt sachlich die konstitutive Rolle des Prinzips des subjektiven Willens, der Willkür der besonderen, selbstsüchtigen Zwecke in der Sphäre der Wirtschaft an. Der subjektive Wille, auch der Wille des bourgeois, ist in dem allgemeinen Willen, den Hegel in der Rechtsphilosophie zum Grundprinzip macht, reflektiert. Um das Prinzip der Individualität konsequent zu wahren, richtet Hegel seine ethische Kritik nicht an einzelne, selbstsüchtige Individuen, sondern an die bürgerliche Gesellschaft als Ganzes, weil sie die Menschen ihren ökonomischen Gesetzen unterwirft und in Arme und Reiche polarisiert. Das für Hegel zu wahrende Prinzip der Individualität findet in der bürgerlichen Gesellschaft eine Beachtung und Weiterentwicklung; die freie Person hat darin einen Raum für ihre Selbstverwirklichung, der aber zu eng für ihre vollständige individuelle Selbstbestimmung und Freiheit ist. So zum Beispiel hat das Individuum die Wahlfreiheit des Standes, wonach jeder die Zugehörigkeit zu den Ständen und Schichten des Staates wählt, auch wenn dem Fürsten und Volk um eine vernunftgemäße Verfassung bemühen. Zur Interpretation und Bedeutung dieser Hegelschen Schrift: Vgl. Jamme, Ch.: Die Erziehung der Stände durch sich selbst. Hegels Konzeption der neuständisch-bürgerlichen Repräsentation in Heidelberg 1817/18. In: Lucas, H. Ch./Tuschling, B./Vogel, U. (Hrsg.): Hegels enzyklopädisches System der Philosophie. Stuttgart-Bad Cannstatt. 2004. 149–173. 151 RP, § 204. 152 Vgl. G. W. F. Hegel: Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818–1831. Bd. 4. 520 f. (Nachschrift Griesheim).

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Drittes Kapitel

diese Wahl oft von verschiedenen, außerhalb der Person liegenden Umständen bedingt sein kann.153 Prinzipiell macht sich Hegels Subjekt frei und »aus eigener Bestimmung durch seine Tätigkeit, Fleiß und Geschicklichkeit zum Gliede eines der Momente der bürgerlichen Gesellschaft«.154 Diese Selbstbestimmung der Mitglieder zu einem Stand und damit zu Momenten der bürgerlichen Gesellschaft betont Hegel als modern gegenüber Plato, der sie nicht vorsah. Die Hegelsche moderne Selbstbestimmung beruht auf der sittlichen Gesinnung oder der Rechtschaffenheit der Mitglieder. Aus der Tugend der Rechtschaffenheit folgen die Pflichten, deren Inhalt der Stand ist und deren Erfüllung zur Standesehre führt.155 Aber die Standesehre ist nicht der Zweck, sie ist nur das Bewusstsein, ein vollwertiges und anerkanntes Mitglied eines Standes der sittlichen Gemeinschaft zu sein. Das moderne Prinzip der Selbstbestimmung zu einem Stand bewirkt zweierlei: Es belebt die sonst formelle, mechanische bürgerliche Gesellschaft und lässt das Individuum zugleich seine subjektive Befriedigung und Ehre finden. Vor dem Hintergrund der Hegelschen politischen Ethik, deren Kern in der Entsprechung von allgemeinen Rechten und subjektiven Pflichten als grundsätzliche sittliche Gesinnung, welche die Subjekte zur selbstbewussten Pflichterfüllung gegenüber der Allgemeinheit und zur eigenen Setzung von allgemeinen Zwecken und Handlungen motiviert, besteht, ist die Wirtschaft eine Sphäre, in der Rechte und Pflichten einander nur formal entsprechen.156 Zwar erzeugt die Funktionsweise der Wirtschaft einen Vermittlungszusammenhang auch ohne die sittliche Gesinnung der Bürger: Indem jeder für sich sorgt, sorgt er auch für andere oder, anders gesagt, wenn jemand sein Geld für sein Bedürfnis ausgibt, dann verpflichtet er seine Auftragnehmer, fleißig zu sein, gibt ihnen die Möglichkeit der Selbstverwirklichung durch Arbeit, verlässt sich auf sie. Die Wirtschaft funktioniert zwar nach diesem Vermittlungsprinzip, auf sich gestellt aber ist die erzeugte Vermittlung nicht gesichert, sie ist zufällig und willkürlich. Hegel stellt sich damit gegen die altliberalistische Wirtschaftsauffassung.157 Hegels ethische Forderung an

153

Die Wahlfreiheit des Standes ist Hegels stärkstes (und neben den Erhalt der Familie vielleicht einziges) Argument in der Berücksichtigung der Individualität gegenüber Plato. Vgl. § 206 Anm., auch 299 Anm. 154 RP, § 207. 155 Ebd. Der Verweis auf den Stand als Inhalt der Pflichten ist für den Herausgeber der Wannenmann-Mitschrift K.-H. Ilting unzureichend als Begründung einer Tugendlehre. Vgl. G. W. F. Hegel: Die Philosophie des Rechts. Die Mitschriften Wannenmann (Heidelberg 1817/18) und Homeyer (Berlin 1818/19). § 107. 124. Anm. 211. 156 Vgl. RP, § 207. 157 Diese Auffassung kann anhand der »Bienenfabel« von B. Mandeville exemplifiziert

C. Die wirtschaftenden Stände und die Kritik an deren politischem Misstrauen 197

die liberalistisch-bürgerliche Wirtschaftsauffassung lautet: So wie sich die Bürger aufgrund ihrer tugendhaften Gesinnung in ihrer Pflichterfüllung und Unterwerfung unter das formale Recht zu Momenten der bürgerlichen Gesellschaft machen und damit ihren Bestand sichern, so hat auch die bürgerliche Gesellschaft die Pflicht, allen ihren Mitgliedern die Teilnahme an dem sozioökonomischen Leben zu ermöglichen, damit sie zugleich sich und die Gesellschaft durch eigene Arbeit selbstbewusst verwirklichen. Die Forderung Hegels an die bürgerliche Gesellschaft, für alle ihre Mitglieder und das heißt, auch für die wirtschaftlich Schwachen zu sorgen, bedeutet nicht, dass das Individuum nun frei sei, »vor Hunger zu sterben«,158 wie sein Schüler E. Gans unterstellt. Hegel lehnt die freie Marktwirtschaft nicht ab, er stimmt aber keineswegs dem Manchesterliberalismus zu.159 Die Ökonomiegesellschaft lässt nach Hegel nicht alle Mitglieder ihre Vorteile in der Förderung der Geschicklichkeit, der Bildung, der Gesundheitsvorsorge und der Rechtspflege spüren. Sie raubt vielen das selbstbewusste Leben, die Möglichkeit der Selbstverwirklichung durch sinnvolle Arbeit und sogar den Trost in der Religion, wie Hegel seine ethischen und religiösen Vorwürfe an die bürgerliche Ökonomiegesellschaft und deren gewinnsüchtige Bürger formuliert.160 Sich selbst überlassen erzeugt die Marktwirtschaft nicht die intakte Versorgung

werden. Die »Bienenfabel« ist ein literarischer Ausdruck einer Wahrnehmung der politischen Welt, in welcher die Akteure ausschließlich als Wirtschaftssubjekte auftreten. Das Gemeinwesen ist nur dafür da, um deren Gewinnstreben zu unterstützen. Politisch sollen aber die Akteure so organisiert werden, dass jeder sich bereichern kann und dabei den öffentlichen Wohlstand erzeugt. Das ist aufgrund der von Mandeville angenommenen, eigenartigen menschlichen Psyche nur dann möglich, wenn öffentlich-moralisch genau die Handlungen kritisiert werden, denen man die wirtschaftliche Prosperität verdankt. Es entsteht eine Diskrepanz zwischen Moral und Politik – entweder wird alle Politik zugunsten der Moral oder die Moral zugunsten der Politik aufgehoben. Die Alternative wird auch als »Mandeville-Dilemma« bezeichnet. Zur näheren Interpretation vgl. Schmitz, H.G.: Das Mandeville-Dilemma. Untersuchungen zum Verhältnis von Politik und Moral. 71–91. 158 Gans, E.: Rückblicke auf Personen und Zustände. (Berlin. 1836). Nachdruck BadCannstatt. 1995. 100. 159 Vgl. Waszek, N.: Hegels Lehre von der ›bürgerlichen Gesellschaft‹ und die politische Ökonomie der schottischen Aufklärung. 43. 160 Vgl. RP, § 241. Der Hörer der Hegelschen Vorlesung Wannenmann notiert: »Er hat keine Kleider und muss, nicht in die Kirche gehend könnend, des Trostes der Religion entbehren«. Vgl G. W. F. Hegel: Die Philosophie des Rechts. Die Mitschriften Wannenmann (Heidelberg 1817/18) und Homeyer (Berlin 1818/19). § 118. 138 (Mitschrift Wannenmann). Der Hörer Griesheim notiert noch, dass die Geistlichen lieber in die Häusern der Reichen gehen, als in die Hütten der Armen, um sie auf dem »Todtenbette zu trösten«. Vgl. G. W. F. Hegel: Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818–1831. Bd. 4. 606. (Nachschrift Griesheim).

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aller Bürger mit lebensnotwendigen Gütern und Arbeit, im Gegenteil: Aufgrund der Gewinnsucht und des Egoismus ihrer machthabenden, reichen Bürger verursacht sie eine Not, eine Entzweiung der Gesellschaft in das Elend vieler und die Luxusausschweifung weniger. Hegel hält daher eine öffentliche Macht über die Wirtschaft für notwendig, welche die Pflichterfüllung gegenüber ihren sozial schwachen Mitgliedern überwacht und gesetzlich erzwingt. Hegel vertritt damit eine spezifisch wirtschaftsethische Position, die im Gegensatz zu Mandeville und im Einklang mit Rousseau steht.

b) Die Rolle des Staates in der Wirtschaft Die öffentliche Macht über die bürgerliche Gesellschaft, die aufgrund ihrer Defizite notwendig ist, ist nach Hegel der Staat als die Wirklichkeit der sittlichen Idee.161 Damit und bevor die Wirtschaft nach ihrer immanenten und von der Politischen Ökonomie nachgewiesenen Dynamik überhaupt funktionieren kann, müssen mindestens zwei Voraussetzungen, die der Staat besorgt, erfüllt sein: Zum einen muss jeder Marktteilnehmer ein Vertrauen in den Markt haben, dass er nicht betrogen wird und ungehindert daran teilnehmen kann, und zum anderen muss die notwendige Infrastruktur als Rahmenbedingung der Wirtschaft bereitgestellt werden.162 Beide Voraussetzungen sind Sache des Staates, sie können nicht von der bürgerlichen Ökonomiegesellschaft selbst erfüllt werden. Die erste Voraussetzung betrifft die Rechtspflege, die Formulierung und Einhaltung des geltenden Rechts im Staat, das nach Hegel darin besteht, die lebendigen Sitten als verbindliche Gesetze und die Grenzen für deren Anwendung im Einzelfall zu formulieren.163 Problematisch ist dabei die Festlegung des formellen Eigentumsrechts, denn es kann unmöglich alle endlichen Verhältnisse regeln. Eine solche Forderung missachtet nach Hegel den Unterschied zwischen dem Vernunft-Allgemeinen des Staates und dem Verstandes-Allgemeinen der bürgerlichen Gesellschaft.164 Das Vernunft-Allgemeine des Staates ist der allgemeine Wille (volonté générale), welcher die Identität seiner individuellen Mitglieder ist, das Verstan161

Vgl. RP, § 257. RP § 235. 163 Vgl. RP, §§ 209–218, bes. 211, 213, 214. Die Rechtspflege führt Hegel ein, um auch die politische Freiheit zu wahren: »Denn die Lust, Eigentum zu genießen, zu besitzen, zu erwerben, ist ohne Rechtspflege und politische Freiheit entflohen«, so notiert der HegelHörer Wannenmann. Vgl. G. W. F. Hegel: Die Philosophie des Rechts. Die Mitschriften Wannenmann (Heidelberg 1817/18) und Homeyer (Berlin 1818/19). § 120. 141. 164 Vgl. RP § 216 Anm. 162

C. Die wirtschaftenden Stände und die Kritik an deren politischem Misstrauen 199

des-Allgemeine dagegen ist der gemeinsame Wille (volonté de tous), der im gegenseitigen Vertrag über Erwerbungen und Handlungen nach einer allgemeingültigen Form fixiert ist. Das formale Recht kann nicht auf der Ebene des bloßen Verstandes und des selbstsüchtigen Zweckes, sondern muss im Staat ethisch-politisch fundiert werden als ein allgemeiner Wille, Sitte und geltendes Gesetz. Ein Verbrechen als Verstoß gegen den Vertrag wird vor dem Gericht als Instanz des allgemeinen Willens verhandelt, weil es sich nicht nur um den Betrug des Vertragspartners, sondern um einen Verstoß gegen die Sittlichkeit der Allgemeinheit handelt. Jeder Bürger hat das Recht, vor Gericht zu stehen, aber auch die Pflicht, sich vor Gericht zu stellen.165 Die staatliche Rechtspflege als Gesetzgebung und Gerichtsbarkeit ist in der Wirtschaft eine Voraussetzung, weil sie die Marktteilnehmer vor Betrug schützt, die Interessenkollisionen verschiedener Stände verhindert und das allgemeine Vertrauen in die Wirtschaft stärkt.166 Eine ebenfalls Vertrauen in den Markt stiftende Voraussetzung ist die staatliche Kontrolle der am Markt verkauften Lebensmittel. Denn dort werden die Waren nicht einem einzelnen Konsumenten angeboten, so dass die Verantwortung für den Erwerb nur einem bestimmten Erwerber und seiner Willkür obliegt, sondern es werden Waren für den alltäglichen Gebrauch an ein allgemeines Publikum angeboten. Daher ist die Prüfung der gesundheitlichen Risiken der Marktwaren ein allgemeines Geschäft, das von einer öffentlichen Macht vertreten und besorgt werden muss, auch nicht zuletzt aus volkswirtschaftlichen Gründen. Für den Einzelnen bedeutet es viel Arbeit, besondere Kenntnisse und Zeit, die Waren selbst zu überprüfen, weshalb er diese Aufgabe der Allgemeinheit überlässt.167 Die Vertrauensförderung in die Wirtschaft ist eine Aufgabe des Staates auch in einer anderen Hinsicht: Die einzelnen Menschen, die ihr Einkommen am Markt investieren, damit die Nachfrage erhöhen und die Arbeit sichern, müssen darauf vertrauen, dass sie ein langfristig gesichertes Einkommen erzielen können. Wenn einzelne Unternehmen oder Industriezweige die Arbeitsplätze im Inland durch den Auslandshandel unsicher machen, dann muss es eine übergeordnete Institution geben, die solche Tendenzen überschaut und aufklärt. Denn der einzelne Arbeiter oder Konsu165

Vgl. RP §§ 219–229, bes. 221. In der Mitschrift Wannenmanns ist das Argument aufgeführt, dass die Interessen der Fabrikanten und der Händler oft entgegengesetzt sind, insbesondere, wenn auf dem Markt ausländische Anbieter als Konkurrenz der Fabrikanten zugelassen werden oder Auslandsmärkte entgegen den Händlern auf dem heimischen Markt eröffnet werden. Vgl. G. W. F. Hegel: Die Philosophie des Rechts. Die Mitschriften Wannenmann (Heidelberg 1817/18) und Homeyer (Berlin 1818/19). § 120. 141. 167 Vgl. RP § 236. 166

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Drittes Kapitel

ment vermag die wirtschaftlichen Verflechtungen nicht zu überschauen und kann in seinem Vertrauen betrogen werden. Diese Entwicklung zeigt sich in der globalisierten Wirtschaft heute: Die Konsumenten überschauen nicht die Aktivitäten der großen, börsennotierten Unternehmen, deren unkontrollierte umwelt- und menschenverachtende Produktion in Drittländern nicht nur die natürlichen Lebensgrundlagen in den wirtschaftlich schwachen Ländern destabilisiert, sondern auf das eigene Land in Form von Arbeitslosigkeit und Verarmung zurückwirkt. Aus den geschilderten Voraussetzungen für die Entfaltung des Marktes wird deutlich, welche gesamtgesellschaftliche Rolle die Ökonomie in seiner Konzeption einnimmt. Anders als Adam Smith betrachtet Hegel den Markt nicht als eine Einrichtung, die über den Preis das Angebot und die Nachfrage regelt und einen Gewinn bringt, sondern als eine Einrichtung, in der Arbeit und Nachfrage zum Zwecke der allgemeinen Bedarfsdeckung aufeinandertreffen. Der Zweck der Bedarfsdeckung ist zwar primär, er schließt aber das marktwirtschaftliche Gleichgewicht und die Gewinnerzielung nicht aus, im Gegenteil: Hegel hält nach wie vor grundsätzlich an dem sich selbst einstellenden Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage fest, er hält aber die staatliche, allgemeine Vorsorge und Leitung für eine notwendige Voraussetzung dafür.168 Eine staatliche Intervention in die Wirtschaft lässt Hegel nur in Ausnahmefällen zu, und zwar wenn der Gleichgewichtsmechanismus des Marktes bei einer Kollision der Interessen von Produzenten und Konsumenten versagt und die ungehinderte Bedarfsdeckung einen staatlichen Eingriff erforderlich macht. Der Staat soll dabei den Markt nicht durchregulieren, sondern seine Funktionsfähigkeit wiederherstellen. Diese Aufgabe muss nach Hegel eine staatliche Instanz übernehmen, die zwischen den Extremen von uneingeschränkter Freiheit und strenger, staatlicher Regulierung des Gewerbes vermittelt. Die Vermittlungsinstanz ist deshalb nötig, weil die Extreme leicht ineinander umschlagen können und so die Marktdynamik paralysieren.169 Der Markt kann offenbar weder durchreguliert noch unkontrolliert zum Zwecke der Bedarfsdeckung funktionieren. Die Aufgabe der äußeren

168

Vgl. RP, § 236 Anm. Auf der einen Seite erstickt die Durchregulierung den Markt und auf der anderen Seite führt die Freiheit des Gewerbes zur blinden, egozentrisch entfesselten Gewinnsucht. Die uneingeschränkte Gewerbefreiheit führt nicht nur zur völligen Unsicherheit des Erwerbs, sie verdirbt vor allem die Gesinnung: »die Menschen werden leichtsinnig, ihr ganzes Bestreben geht auf augenblicklichen Genuß; der Luxus der Gewerbestände, die Genußsucht hängt mit der Zufälligkeit des Erwerbs zusammen«, so notiert der Hegel–Hörer Griesheim. Vgl. G. W. F. Hegel: Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818–1831. Bd. 4. 627 (Nachschrift Griesheim). 169

C. Die wirtschaftenden Stände und die Kritik an deren politischem Misstrauen 201

Stabilitätssicherung und der Schaffung der Voraussetzungen für die Marktwirtschaft überträgt Hegel der Polizei als einer Vermittlungsinstitution.170 Die Rolle der Polizei ist, die »gefährlichen Zuckungen und die Dauer des Zwischenraumes, in welchem sich die Kollisionen auf dem Wege bewusstloser Notwendigkeit ausgleichen sollen, abzukürzen und zu mildern«.171 Es fällt auf, dass die Ausdrucksweise Hegels bei den Ausführungen zur Polizei sehr gehalten und vorsichtig ist. Er gebraucht bei ihrer Beschreibung vage Verben wie »erfordern«, »können«, »bedürfen«, »notwendig machen« etc. und das Wort »Polizei« in einem weiteren Sinn als »Polis Politia«.172 Die Stellung und die Rolle der Polizei als eine über den Markt wachende Ordnung hat Hegel viel Kritik und Missverständnisse eingebracht, an denen er selbst nicht ganz unschuldig ist.173 Er erörtert die Funktionen der eigentlich staatlichen Polizei und Rechtspflege sowohl in der regierenden Gewalt des Staates als auch innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft. Diese doppelte Bestimmung bezweckt vermutlich zum einen, die relative Eigenständigkeit dieser Institutionen hervorzuheben, und zum anderen, sie als Brücke zwischen Staat und Wirtschaft zu positionieren.174 Indem die gesetzgebende und die gesetzüberwachende Gewalt die Wirtschaftskriminalität bekämpfen, erfüllen sie zwar einen staatlichen Auftrag, der aber im unmittelbaren Interesse der Bürger der Ökonomiegesellschaft steht. Damit sucht Hegel, mit dem ökonomischen Interesse die Überlegenheit und die Intervention des Staates in die Wirtschaft zu rechtfertigen. Während er in den Jenaer Schriften den Staatseingriff so unscheinbar wie möglich gestalten will, sucht er dagegen in seiner Rechtsphilosophie offen die Wege für die Vermittlung. Der Staat behält sich durch seine Institutionen das Recht auf Intervention in die Wirtschaft vor, und sein 170

RP § 237. RP § 236. 172 Vgl. G. W. F. Hegel: Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818–1831. Bd. 4. 587 (Nachschrift Griesheim). 173 Die Einführung der Polizei ist der Grund, warum Priddat Hegels »Ökonomie« als rückständig betrachtet, hier sieht er eindeutig die »cameralistische Note« in Hegels Philosophie. Peperzak betont, dass die Polizei die Aporie des Kapitalismus der bürgerlichen Gesellschaft überwinden soll und einen modernen Sinn hat. Diesen Sinn nicht leugnend, schreibt Kersting, dass obwohl Hegel die Polizei den modernen marktwirtschaftlichen Bedingungen anzupassen sucht, er jedoch in der Nachfolge des von dem Wirtschaftsliberalismus abgelehnten Polizeistaates des 18. Jahrhunderts verbleibt. Vgl. Priddat, B.: Hegel als Ökonom. 28. Vgl. Peperzak, A.: Modern Freedom: Hegel’s Legal, Moral, and Political Philosophy. 465. Vgl. Kersting, W.: Polizei und Korporation in Hegels Darstellung der bürgerlichen Gesellschaft. In: Hegel-Jahrbuch 1986. 1988. 379. 174 Vgl. § 289 RP. Hegels Konzept zielt nicht auf eine Überhöhung des Staates, sondern auf eine Reihe von Vermittlungen, die er im System der Stände als die zweite, vom Staat 171

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Drittes Kapitel

Eingreifen geschieht nicht direkt und unvermittelt, sondern unter Wahrung der subjektiven ökonomischen Interessen seiner Bürger. Die Polizei hat neben der Aufgabe der Sicherstellung der Infrastruktur und der allgemeinen Markt- und Gewerbeaufsicht175 die ethisch-politische Aufgabe, über die Pflichterfüllung der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber ihren sozial schwachen Mitgliedern zu wachen. Die moderne Ökonomiegesellschaft autonomer Subjekte hat nach Hegel das Band der Familie aufgelöst – nicht mehr die innerhalb der Familientradition erlernten Fähigkeiten bestimmen das wirtschaftliche Fortbestehen der Familien, sondern die Zufälligkeit des Marktes –, und daher hat diese Gesellschaft die Pflichten und Rechte der Familie zu übernehmen. Der aus der Familie herausgerissene »Sohn der bürgerlichen Gesellschaft«176 arbeitet in und für die bürgerliche Gesellschaft, für seine nunmehr »allgemeine Familie«.177 Er muss sich in der wirtschaftlichen Not auf sie verlassen, und sie soll die Fürsorge, die Erziehung und die Vormundschaft übernehmen. Durch ihre Arbeit erhalten die Söhne die bürgerliche Gesellschaft, sie pflegen ihre Traditionen und verbessern sie ständig. Daher hat sie die Pflicht, ihre Mitglieder durch Arbeit ein Einkommen verdienen zu lassen und bei Arbeitslosigkeit ihnen Arbeit zu verschaffen. Durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und nicht durch Almosen muss den in Armut geratenen Menschen geholfen werden, wodurch die Bildung ihres Geistes durch Selbstverwirklichung in der Arbeit und eine menschenwürdige Lebensweise gefördert wird. Um diese Pflicht zu erfüllen, sollte die reiche Ökonomiegesellschaft Maßnahmen treffen gegen die Arbeitsscheu, die Bösartigkeit und alle Laster, welche sie selbst durch ihre harten Gesetze verursacht. Sie soll jene Menschen unterstützen, die aufgrund ihrer unterprivilegierten Stellung in der bürgerlichen Gesellschaft in eine wirtschaftliche

zu sichernde soziale Basis nach der Familie institutionalisiert sieht. Die Verwaltung der Korporationsangelegenheiten soll durch ihre eigenen Vorsteher als eine eigene Sphäre dem Moment der formellen Freiheit überlassen werden. In dieser Differenzierung und Vermittlung sieht K. Fischer die Aktualität der Hegelschen Philosophie. Vgl. Fischer, K.: Die Tugend, das Interesse und der Weltlauf. In: Politisches Denken: Jahrbuch 2002. Stuttgart. 2002. 126. Vgl. Peperzak, A.: Modern Freedom: Hegel’s Legal, Moral, and Political Philosophy. 455 f. Vgl. Siep, L.: Die Aktualität der praktischen Philosophie Hegels. 2003. 191 ff. 175 In der Bestimmung solcher Polizeiaufgaben wie Monopolschutz, Eröffnung neuer Märkte, Beschäftigungsübersicht und Kolonisierung steht Hegel in der Nähe von J. Steuart. Vgl. Waszek, N.: The Scottish Enlightenment and Hegel’s Account of ›Civil society‹. 203 f. 176 RP § 238. 177 RP §239.

C. Die wirtschaftenden Stände und die Kritik an deren politischem Misstrauen 203

Misere geraten und deshalb das »Gefühl« des »Unrechts« bekommen.178 Die finanzielle Hilfe für die in Not geratenen Menschen ist nach Hegel gemeinschaftlich zu organisieren, und sie ist nicht dem zufälligen Willen einzelner, reicher Wohltäter zu überlassen.179 Denn die Reichen, welche die bürgerliche Gesellschaft in ihrer ungehinderten Entwicklung hervorbringt, werden immer reicher, und ihre Absonderung hindert sie daran, sowohl ihre eigene als auch die Abhängigkeit und Not der Armen zu sehen.180 Der reichen Klasse der bürgerlichen Gesellschaft kann die Armenhilfe in der Form von Sozialtransfers aus zwei Gründen nach Hegel nicht übertragen werden: Zum einen verschaffe die direkte Finanzierung zwar Einkommen für die Armen, aber keine Beschäftigung und Verwirklichung in der Arbeit. Zudem widerspricht sie dem selbstsüchtigen, gewinnorientierten Prinzip und der subjektiven Freiheit zur Selbstverwirklichung der Reichen, die kein Geldtransfer freiwillig vornehmen werden. Zum anderen, wenn für die Armen Beschäftigung geschaffen wird, steigt die Produktion nicht nach ökonomischen Gesetzmäßigkeiten, was eine Stagnation der Nachfrage zur Folge hat und die Produzenten in die Kolonisation treibt, wie bereits oben erwähnt. Auf der Ebene der Ökonomiegesellschaft und ihrer Marktmechanismen kann es nicht zu einer Ausgeglichenheit der Lebensverhältnisse der Bürger kommen. Überlässt sich die Gesellschaft nur den ökonomischen Gesetzmäßigkeiten, dann werden die Reichen immer reicher und die Armen ärmer. Die bürgerliche Gesellschaft wird nach ihrem selbstsüchtigen Gewinnprinzip nie reich genug sein und deshalb nie von selbst ihre Pflichten gegenüber den Bedürftigen in ihren eigenen Reihen von sich aus wahrnehmen, um dem »Übermaße der Armut und der Erzeugung des Pöbels zu steuern«.181 Der

178

RP § 241. RP § 242. Denn die Wohltäter verfolgen eigene Zwecke, die auch aus Heuchelei verfolgt werden können. Wenn sie aber am Markt teilnehmen, dann lassen sie sich auf die gegenseitige Abhängigkeit ein und lassen die anderen partizipieren. In diesem Sinne plädiert Hegel, so interpretiert Priddat, für eine »Ökonomisierung der Moral«. Für Hegel hat jedoch gerade der marktwirtschaftliche Mechanismus nichts mit Moral zu tun. Vgl. Priddat, B.: Hegel als Ökonom. 38 f. 180 RP § 243. Das ist nach B. Priddat die strengste Smith-Kritik, die Hegel gegen das liberale Wirtschaftssystem vorgetragen hat. Vgl. Priddat, B.: Hegel als Ökonom. 51 f. N. Waszek macht dagegen geltend, dass Adam Smith viele Einschränkungen macht und Ausnahmen zulässt, die ihn nicht zum Doktrinär des Laissez-faire-Kapitalismus machen. Vgl. N.: Waszek: The Scottish Enlightenment and Hegel’s Account of ›Civil society‹. 182 ff. 181 RP, § 245. Hegel nimmt hier Bezug auf die Industrialisierung in England, wo solche Erscheinungen Realität waren. Er verweist auf die »Erfolge« der dortigen Armentaxe, über deren Einführung er sich schon in Bern Exzerpte aus englischen Zeitungen macht (vgl. Kapitel 1 dieser Arbeit). B. Priddat macht auf die Argumentation von D. Ricardo in 179

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Drittes Kapitel

»Pöbel«182 ist nach Hegel eine Menschenmasse aus Armen, die nicht nur ihre Subsistenz, sondern auch das Gefühl für Recht, Rechtlichkeit und Ehre verloren hat. Das Wort »Pöbel«, das Hegel hier gebraucht, hat schon zu seiner Zeit eine pejorative, verachtende Bedeutung.183 Der Pöbel ist nach Hegel ein »gefährliches Übel«,184 das in allen Schichten und Ständen der Bevölkerung auftritt.185 Es ist nicht die Armut, sondern die Gesinnung, welche aus den Menschen Pöbel macht. Zum einen sind die Individuen selbst daran schuld, wenn sie faul und rechthaberisch sind, d. h. ohne etwas für die Gesellschaft zu tun, auf ihr Recht pochen, von ihr unterhalten zu werden oder sich auf die Zufälligkeit des Erwerbs verlassen. Zum anderen ist aber indirekt auch die bürgerliche Gesellschaft, die sie herunterkommen lässt und ihnen das Recht nimmt, Eigentümer, besitzende Person und anerkannte Persönlichkeiten zu sein. Wenn die reichen Besitzbürger durch ihre Gewinnsucht anderen Menschen die Möglichkeit auf Besitz und Eigentum rauben, dann dürfen sie nicht erwarten, dass ihr Eigentum vor den Überfällen des Pöbels gesichert sei, weil »wer keine Rechte hat, keine Pflichten hat, und umgekehrt«.186 Wenn die Armen kein Eigentum, damit kein Recht auf Eigentum, kein Recht auf Anerkanntsein, Selbstständigkeit und Selbstentwicklung zu Mitarbeitern der bürgerlichen Gesellschaft haben, dann haben die subsistenzlosen Menschen auch keine Pflichten gegenüber dieser Gesellschaft. Sie sichern ihr Auskommen außerhalb der öffentlichen Regeln durch kriminelle Handlungen, was sie und die zivilisierte Gesellschaft in den Naturzustand zurücktreibt. An dieser Stelle ist Hegels ethische Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft so laut und eindringlich, dass er keine anderen Mittel mehr weiß, als »die Polizei einzuschalten«, welche die Ökonomiegesellschaft zur Pflichterfüllung anzuhalten hat.

Bezug auf die Armenhilfe und Armengesetze aufmerksam. Er vermutet, dass Hegel von Ricardos negativer Einschätzung der Armenpolitik gelernt hat, aber seine arbeitsmarkttheoretischen Voraussetzungen nicht reflektiert, sogar sich als sein schärfster Kritiker erweist. Vgl. Priddat, B.: Hegel als Ökonom. 109f und 111. Hegel zitiert zwar den Namen von D. Ricardo, es lassen sich aber kaum Bezüge zu seiner Theorie bei Hegel finden. 182 RP, § 244. 183 Vgl. Adelung, J. Ch.: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart. Elektronische Volltext- und Faks.-Ed. nach der Ausgabe letzter Hand, Leipzig 1793–1801. Berlin. 2004. Stichwort »Pöbel«. 184 Hegel, G. W. F.: Die Philosophie des Rechts. Die Mitschriften Wannenmann (Heidelberg 1817/18) und Homeyer (Berlin 1818/19). §113, 267 (Mitschrift Homeyer). 185 Vgl. Hegel, G. W. F.: Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818–1831. Bd. 4. 608 (Nachschrift Griesheim). 186 GW 20, § 486 Anm.

C. Die wirtschaftenden Stände und die Kritik an deren politischem Misstrauen 205

In der Bestimmung der Grenze der Tätigkeiten der Polizei liegt die Schwierigkeit der Hegelschen Polizeiauffassung. Die Macht der Überwachungsbehörde der Sittlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft darf nicht uneingeschränkt sein, aber sie muss das Übermaß an Unvernünftigkeit und Unordnung, welche das ökonomische System erzeugt, eindämmen und als »visible hand« das sozial-ökonomische Gleichgewicht aufrechterhalten.187 Während die Polizei auf äußerliche Weise die besondere Subjektivität des Einzelnen mit der formellen Allgemeinheit in der Ökonomiegesellschaft verbindet, vereinigt die Korporation sie auf innerliche Weise. Die Korporation ist ein für den Gewerbestand spezifischer Zusammenschluss von Individuen, welche ein gemeinsames Interesse, eine allgemeine Standesehre und das Wohl des Einzelnen in einem Ganzen vertreten. Der Zweck der Korporation ist nicht nur die Ausbildung eines Sinnes für Gemeinsamkeit, sondern auch die Durchsetzung und Anerkennung des allgemeinen Interesses einer Gruppe von Personen im Staat.

c) Die Korporation als Selbstverwaltungsorgan der bürgerlichen Gesellschaft Die Korporation ist in Hegels Konzeption eine Selbstverwaltung der Wirtschaft, eine Genossenschaft, die in den verschiedenen Branchen ihre Mitglieder um den gemeinsamen beruflichen Zweck versammelt.188 Die einzelnen Mitglieder vertreten zwar private wirtschaftliche Interessen, aber diese sind zu einem gemeinsamen, allgemeinen Interesse gewachsen. Um die Anerkennung, die Ehre und ein standesgemäßes Leben erreichen zu können, müssen sich die einzelnen Bürger in Korporationen organisieren, und das heißt entgegen ihren egozentrischen Interessen, und für das anerkannte Gemeinsame eintreten. Denn nur dieses kann gegenüber dem Staat zur Geltung gebracht 187

Vgl. G. W. F. Hegel: Die Philosophie des Rechts. Die Mitschriften Wannenmann (Heidelberg 1817/18) und Homeyer (Berlin 1818/19). § 119 139 f. Der Hörer Wannenmann notiert: »Diese Aufsicht der Polizei soll nicht weiter gehen als es notwendig ist. Aber wo diese Stufe des Notwendigen eintritt, ist meistens nicht zu bestimmen«. Das öffentliche Leben muss frei sein, deshalb die Polizei eher geheim. Dabei ist die Gesinnung der Beamten zentral und gibt viel Freiraum für den Missbrauch. 188 Im Vergleich zu Fichte zeigt sich Hegel in der Betrachtung der Korporation als ein moderner Denker: Während Fichte die spätmittelalterlichen wirtschaftlichen Organisationen als Zünfte mit dem Staat zu verbinden sucht, trägt Hegel der modernen ökonomischen Entwicklung Rechnung und fordert eine von staatlichen Regulierungen begleitete Wirtschaftsgesellschaft. Vgl. Harada, T.: Politische Ökonomie des Idealismus und der Romantik. Korporatismus von Fichte, Müller und Hegel. Berlin. 1989. 160 ff.

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Drittes Kapitel

werden, und die organisierten Mitglieder haben darin einen Vorteil. Die Aufgaben der Korporation umfassen den Schutz der Allgemeinheit der Wirtschaftsakteure vor dem Monopol Einzelner in den verschiedenen Branchen, die Beschränkung und die Kontrolle der Produktion insbesondere von Lebensmitteln, den Ausbau der Infrastruktur etc. Viel wichtiger ist jedoch für Hegel die Aufgabe der Korporation in der Förderung der theoretischen und praktischen Bildung ihrer Mitglieder.189 Die Mitglieder, welche die Korporation nach eigenen Kriterien auswählen, erlernen Berufe und Geschicklichkeiten, bekommen verschiedene Privilegien und Ehre. In der Korporation erlangt der Einzelne einen bestimmten Status als Anerkennung für seine Tüchtigkeit, aber auch die Ehre des Ehrenamtes, sich für den uneigennützigen, allgemeinen Zweck einzusetzen. Diese Standesehre steht jedem Mitglied der Korporation offen und ist unabhängig von der persönlichen wirtschaftlichen Situation. Um ihre Aufgaben zu erfüllen, muss die Korporation Beiträge ihrer Mitglieder erheben. Indem sie die besonders Reichen zur Kasse bittet, nimmt sie ihnen zugleich den Hochmut, sie erspart den Armen die Demütigung der Armenhilfe und sichert auf eine rücksichtsvolle Weise ihre Bildung und ihr Auskommen. Die Korporation fördert dadurch nicht nur die Solidarität der Bürger untereinander, sondern auch die Tugend der Rechtschaffenheit, der wahrhaften Anerkennung und Ehre. Hegel erkennt, dass die Korporation die Freiheit des Gewerbes, d. h. alles nach eigener Fähigkeit und Geschicklichkeit herzustellen, beschränkt. Er ist aber zugleich überzeugt, dass eine allein auf marktwirtschaftlichen Prinzipien gründende Gesellschaft zu einem größeren Übel, zu einem unüberwindbaren Graben zwischen wenigen Monopolisten und unzähligen Armen führt. Eine totalitäre Diktatur des Staates über die Wirtschaft oder eine Planwirtschaft kommen für Hegel ebensowenig in Frage, denn sie wahren nicht die subjektiven Interessen und Freiheit des Willens. Hegels Lösung der Aporie der Ökonomiegesellschaft ist die Korporation als Selbstverwaltung der Wirtschaft, welche teilweise Aufgaben des Staates im Interesse der Wirtschaft übernimmt. Diese Selbstverwaltung soll im Staat vertreten sein und bei der Staatsführung mitwirken. Die Abordnung von Vertretern der verschiedenen wirtschaftenden Gesellschaftsgruppen soll nach Hegel zugleich das tiefere Verständnis in der Rolle des Staates, und zwar nicht nur bei den Vertretern selbst, sondern auch bei den Menschen, die sie vertreten, entwickeln.190 Durch die Einsicht in die Unterordnung der Wirtschaft unter den Staat entwickelt sich in der 189

Vgl. RP, §§ 250–256, bes. 251, 252, 253, 254, 255, 256. Vgl. auch Hegel, G. W. F.: Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818–1831. Bd. 4. 622 ff. (Nachschrift Griesheim). 190 Vgl. RP, § 308.

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Korporation ein »Korporationsgeist«.191 Trotz dieser Hochschätzung nimmt Hegel die Rolle und die Funktion der Korporation zurück, da sie aus egoistischen Besitzbürgern besteht und ihre Leitung deshalb häufig ungeschickt sei. Der selbstsüchtige Besitzbürger begreift den Vorrang der allgemeinen Interessen nicht direkt, er ist mehr dazu geneigt, seine öffentliche Aufgabe mit der »mühseligen und törichten Besorgung solcher geringfügiger Angelegenheiten«192 wie der privatwirtschaftlichen zu verbinden. So verwandelt sich die Korporation in einen »Tummelplatz« von »kleinen Leidenschaften und Einbildungen«,193 wodurch ihre Rolle für die Allgemeinheit verdorben wird.194 Wie aber im Staat, so auch in der bürgerlichen Gesellschaft tritt der Einzelne nicht als solcher, sondern nur als Mitglied eines Ganzen in Erscheinung. Es kann also durchaus vorkommen, dass bei einigen Mitgliedern das bürgerliche vom politischen Leben nicht unterschieden wird, dass sich diese in den Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft wie Genossenschaften, Gemeinden und Korporationen engagieren und als Abgeordnete für die Interessen anderer in die gesetzgebende Gewalt eintreten.195 Eine Garantie für die tugendhafte Gesinnung der abgeordneten Besitzbürger ist durch ihre Arbeit gegeben, aber auch durch den Verzicht auf Gehalt. Darüber hinaus ist es wichtig, dass die Vertreter von so vielen einzelnen Korporationsmitgliedern gewählt werden wie nur möglich. Denn wenn sich nicht viele an der Wahl beteiligen, dann bestimmt eine kleine Menge, wie z. B. eine Partei, die Wahl und die öffentliche Meinung aller. Das Mitwirkungsrecht aller organisierten Gruppen der Gesellschaft begründet Hegel nicht mit der demokratischen Verfassung des Staates, sondern mit der obersten Pflicht in seiner Ethik, die in der Mitgliedschaft im Staat besteht.196 Diese Pflicht ist für den Besitzbürger in seinem Verstandesdenken abstrakt, eher fernstehend. Der Staat als Idee der Durchdringung von Allgemeinheit und Besonderheit ist dagegen in

191

RP, § 289 Anm. RP, § 289 Anm. 193 Ebd. 194 Vgl. RP, §§ 287, 288, 289. Die Korporation macht nicht den Staat aus, sondern dient der Berücksichtigung organisierter Privatinteressen bei der Regierung des Staates. Dagegen meint Kersting, dass in der Korporation die Differenz zwischen bürgerlicher Gesellschaft und Staat schwindet und die Begründung des Staates aufgrund von Privatinteressen, die Hegel am modernen Naturrecht so vehement kritisiert habe, zulässt. Für W. Kersting steckt eine systematische Schwierigkeit darin, mit der von Hegel übertragenen Bedeutung der Korporationen bürgerliche Gesellschaft und Staat zu vermitteln, einen sittlichkeitsimmanenten Übergang sittlichkeitstheoretisch und logisch zu organisieren. Vgl. Kersting, W.: Polizei und Korporation in Hegels Darstellung der bürgerlichen Gesellschaft. 380 f. 195 Vgl. RP, §§ 303, 308. 196 Vgl. RP, § 258. 192

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Drittes Kapitel

den ständischen Korporationen konkret lebendig, denn die ständischen Pflichten stehen dem Einzelnen näher als die Pflicht, Mitglied des Staates zu sein. Wenn sich die einzelnen Individuen in der Korporation für die Allgemeinheit einsetzen, dann sollten sie das zuerst in ihrem Stand, in der Sphäre, in der sie sich auskennen, tun. Nicht alle verstehen die Staatsangelegenheiten und können direkt produktiv mitarbeiten, allen steht es jedoch frei, zur Bildung der öffentlichen Meinung beizutragen. Diese lässt Hegel aber nur sehr beschränkt gelten, denn sowohl der einzelne Mensch als auch das Volk können sich täuschen.197 Trotz seiner Bedenken gegen die »Staatsfähigkeit« der Besitzbürger räumt ihnen Hegel gemäß ihren Mitwirkungspflichten in der Staatsführung einige politische Funktionen ein. Die Korporation soll die Regierungsgewalt bei der Kontrolle der staatlichen Behörden »von unten«198 unterstützen. Das gilt insbesondere bei der Feststellung von Amtsmissbrauch, der nach Hegel darin besteht, im Amt neben den Aufgaben für die Allgemeinheit zugleich privatwirtschaftliche Zwecke zu verfolgen. Die Korporation soll weiterhin mitkontrollieren, dass sich die Staatsmänner nicht wie die Aristokratie isolieren und ihre Sonderstellung zu einem Instrumenten des Gewinns und der Herrschaft über die anderen verwandeln. Vielmehr muss das Benehmen der Staatsbürger Vorbild dafür werden, wie in der Beschäftigung mit den großen Interessen des Staates die subjektiven Zwecke untergehen.199 Außerdem hat die Korporation eine beratende Funktion in der gesetzgebenden Gewalt.200 Zwar können die höchsten Staatsbeamten auch ohne diese Beratung das Beste für das Volk bestimmen, denn die fürstliche Gewalt ist nach Hegel mit dem Willen des Volkes identisch und für sein Wohl tätig,201 jedoch ist in dringenden oder spezielleren Fällen die Anhörung der Korporation sinnvoll, da deren Abgeordnete zugleich gute Kenner verschiedener Branchen sind und die Interessen einer größeren Gruppe fachkundig repräsentieren.202 Die ständisch organisierte Wirtschaft ihrerseits, vertreten durch die Korporationen, zeigt in dieser beratenden Funktion ihren guten Willen für die Allgemeinheit und stellt sich nicht der Regierung entgegen. In den Korporationen kommt dadurch das »subjektive Moment der allgemeinen

197

Vgl. RP, §§ 310, 311, 316–319. Zur Kommentierung der öffentlichen Meinung, der Pressefreiheit und der Zensur vgl. Peperzak, A.:»Der Staat und Ich«. In: Hegel-Jahrbuch 1975. 88 ff. 198 Vgl. RP § 295. 199 Vgl. RP § 297, 296. 200 Vgl. RP §§ 298, 304, 314. 201 Vgl. RP § 320. 202 Diese Argumentation Hegels findet sich auch in seiner Landständeschrift. Vgl. FN 13.

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Freiheit (…) in Beziehung auf den Staat zur Existenz«.203 Die Stände und ihre Korporationen erfüllen damit im sittlichen Staat eine zwischen dem Monarchen und dem Volk vermittelnde Funktion und erlangen eine politische Bedeutung und Wirksamkeit, weil sie »wahrhaft das im Staate wirkliche Besondere an das Allgemeine« 204 anknüpfen. Für solche vermittelnde Funktion eignet sich besser der Stand der Bauern als der Gewerbestand der bürgerlichen Gesellschaft. Denn er untersteht nicht der »Sucht des Gewinns und der Veränderlichkeit des Besitzes überhaupt« und vermag kraft seiner natürlichen Sittlichkeit sich selbstlos für die anderen einzusetzen.205 Problematisch bleibt dagegen, wie oben schon erklärt, die Vertretung des »Privatstandes« der bürgerlichen Gesellschaft, weil bei der Gesetzgebung einzelne Besitzbürger mitwirken, die eigentlich keinen unmittelbaren Gemeinsinn, wie die Bauern, haben. Hegel hat für die Verbindung zwischen den in Korporationen organisierten Ständen und dem Staat zusammenfassend zwei Argumente – ein ethisches und ein systematisches Argument. Das ethische Argument wiederholt die Argumentation für die Einführung der Polizei. Weil sich die bürgerliche Gesellschaft nach ihren harten ökonomischen und aporetischen Funktionsprinzipien nicht um ihre »Söhne« kümmert und aus ihnen Pöbel macht, wie Hegel beklagt,206 muss die Korporation die Pflichten der »zweiten Familie« übernehmen und sich für die Humanisierung der Lebensverhältnisse der sozial Schwachen einsetzen.207 Das systematische Argument bezieht sich auf die sittliche Idee des gesellschaftlichen Ganzen. Sowohl in der Familie als auch in der Korporation zeigt sich die Idee des ethischen Staats, d. h. der Staat ist in ihnen der wahrhafte Grund und geht aus ihnen hervor.208 Der ethische Staat ist nach Hegel nicht das Resultat, sondern der Ursprung: Erst im Staat bilden sich Familie und bürgerliche Gesellschaft aus, nämlich nach ihrer eigentlichen Berechtigung.

203

RP § 301 Anm. Vgl. RP § 303. 205 Vgl. RP §§ 304–307. 206 Vgl. RP 253 Anm. 207 Die Korporation ist nach Hegel eine Vermittlungsinstanz zwischen Bürger und Staat. Vgl. G. W. F. Hegel: Die Philosophie des Rechts. Die Mitschriften Wannenmann (Heidelberg 1817/18) und Homeyer (Berlin 1818/19). 169. (Mitschrift Wannenmann). 208 RP § 256. 204

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Drittes Kapitel

D. Der ethische Staat als Maßstab der Kritik an der Ökonomiegesellschaft Der Staat ist für Hegel die Idee des Guten, der Geist und der allgemeine Wille, der sich denkt, weiß und verwirklicht. Der Staat existiert allgemein als Sitte und konkret im Selbstbewusstsein des Menschen als seine tugendhafte Gesinnung, die seine Pflichten, Handlungen und Zwecke bestimmt. In der Verwirklichung seiner eigenen Freiheit verwirklicht der Mensch die substantielle Freiheit des Geistes. Grundlage dieser Identität von individueller und allgemeiner Freiheit ist die metaphysisch-fundierte Freiheit der absoluten, unendlichen Subjektivität. Das Gute als Idee des sittlichen Ganzen und die Idee des vernünftigen, selbstbewussten Individuums sind nach Hegel vor dem metaphysischen Hintergrund identisch. Das erkennende Denken bestimmt den subjektiven Willen, der sich mit dem allgemeinen Willen identisch setzt. Denkend erreicht der individuelle Wille seine konkrete Freiheit und realisiert sie im Staat: Das Individuum verwirklicht frei seine subjektiven Interessen und Zwecke, wobei sie teils ungewollt auf die allgemeinen Zwecke übergehen, wie z. B. durch den Marktmechanismus bei der Bedürfnisbefriedigung, teils mit denkendem Wissen und Willen, wie bei der selbstbewussten Führung des sittlichen Staates, verallgemeinert werden. Für das sittliche Ganze handelnd, hat das Individuum die volle Gewissheit und das Gewissen, Gutes zu tun. Dieses denkende Wissen und dieser Wille ist die politische Gesinnung der Bürger als ein Zutrauen, dass ihr subjektives Interesse im Interesse und Zwecke des sittlichen Staates erhalten und befriedigt wird. Hegel nennt diese Tugend »Patriotismus« und unterstreicht, dass sie als grundsätzliche Gesinnung in dem alltäglichen Leben ebenso wichtig sei als in Ausnahmesituationen.209 Der Patriotismus bei Hegel ist nicht wie im heutigen Sinne nationalistisch gefärbt. Er bedeutet ihm lediglich, dass der Inhalt der Gesinnung und die Zwecke und Grundsätze, nach denen die Individuen handeln sollen, der politischen Verfassung des Staats als der Wirklichkeit der sittlichen Idee zu entnehmen sind.210 Im Staat als sittlichem Ganzen gründen nach Hegel die Tugenden, die Pflichten und die Zwecke, was seiner Ethik einen holistischen Charakter verleiht. Er besteht dezidiert darauf, das Prinzip der Subjektivität, der subjektiven Freiheit, die sich in der allgemeinen aufhebt, innerhalb der Staatskonzeption berücksichtigt zu haben und betont, dass darin die Stärke und Tiefe der modernen Staaten gegenüber der an-

209 210

RP § 268 Anm. Vgl. RP §§ 269, 270.

D. Der ethische Staat als Massstab der Kritik an der Ökonomiegesellschaft

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tiken, platonischen Polis liegt.211 Das Prinzip des modernen Staates in der Vereinigung von subjektivem Interesse mit dem allgemeinen Zweck bedeutet für das Individuum, dass es sowohl Pflichten gegenüber dem Staat, als auch Rechte, aber nur im Staat, nicht gegenüber dem Staat hat.212 Aus der höchsten Pflicht des Bürgers, Mitglied des Staats zu sein, folgt seine patriotische Gesinnung, d. h. die Identifikation der subjektiven Interessen mit den Aufgaben des Staates.213 Dieser starke, kategorische Imperativ widerspricht auf den ersten Blick der behaupteten Beachtung des Prinzips der Individualität. Er ergibt sich jedoch konsequent aus der spezifisch Hegelschen Konzeption des Staates und der darin enthaltenen Abgrenzung: Zum einen sucht Hegel sich vom Subjektivismus der Ethik, wie er ihn Kant und Fichte unterstellt, aber auch von der Religion als Begründung des Staats deutlich zu distanzieren.214 Zum anderen macht Hegel dezidiert darauf aufmerksam, dass die Pflichtmitgliedschaft im Staat nicht mit der Beliebigkeit und Zufälligkeit der Mitgliedschaft in der bürgerlichen Gesellschaft zu verwechseln ist. Im Staat ist die persönliche Verbindlichkeit zugleich das Dasein der subjektiven besonderen Freiheit, so dass »in ihm Pflicht und Recht in einer und derselben Beziehung vereinigt sind«.215 Indem die Personen nach den geltenden Sitten 211

Vgl. RP § 260. Vgl. RP § 261. 213 Vgl. RP § 258. Die absolute Identität von subjektiver und allgemeiner Pflicht begründet Hegel im Denken, das zum Handeln motiviert. Der Hegelsche Staat ist aber nicht, wie bei Rousseau, ein Vertragsstaat zwischen einzelnen Willen. Weil der einzelne subjektive Wille ohne die Identität mit dem allgemeinen Willen einseitig und unvernünftig ist, kann ein solches Prinzip nicht einen vernünftigen Staat, sondern lediglich eine Ökonomiegesellschaft einzelner selbstsüchtiger Personen begründen. 214 Zu diesem Argument vgl. Peperzak, A.: Hegels Pflichten- und Tugendlehre. 173. Hegel berührt zwar das Problem des Verhältnisses von Kirche und Staat, dieses bleibt in der Rechtsphilosophie letztlich noch ungeklärt. Er erwähnt lediglich, dass der Staat aus vernünftigen (Selbstbestimmung des Begriffs im Denken) und nicht aus religiösen Grundsätzen zu begründen ist. Erst in der dritten Auflage der Enzyklopädie entwickelt Hegel ein eindeutiges Verhältnis von Staat und Religion, indem er die Religion als Basis der Sittlichkeit und damit prinzipiell auch des Staates ansieht, aber in einem ganz spezifischen Sinn – für das denkende Selbstbewusstsein, dem der göttliche Geist innewohnend ist. Der Staat als die Wirklichkeit des Geistes darf nicht gegen das religiöse Gewissen verstoßen, so Hegel in der Anmerkung des § 552 in der dritten Auflage der Enzyklopädie. Es kommt freilich nur eine solche Religion in Frage, die nicht gegen den Staat polemisch wird. Über die Aktualität dieses Hegelschen Gedankenguts vgl. Cruysberghs, P.: Braucht der Staat eine Volksreligion? Über die Religion als Grundlage des Staates bei Hegel. In: Hegel-Jahrbuch 2003. Berlin. 2003. 292 f. 215 Vgl. RP § 261 Anm. In der dritten Auflage der Enzyklopädie erklärt Hegel diese Stelle wie folgt: »Es ist derselbe Inhalt, den das subjektive Bewusstsein anerkennt als Pflicht und den es an ihnen als Recht zum Dasein bringt. Die Endlichkeit des objektiven Willens ist insofern der Schein des Unterschieds der Rechte und Pflichten«. Vgl. GW 20, § 486. 212

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Drittes Kapitel

leben, erfüllen sie zugleich ihre Pflicht, anerkennende Personen zu sein und haben das Recht auf die allgemeine Anerkennung oder auf die Einhaltung der Sitten durch alle. Der rechtliche Besitz als Eigentum ist mein Recht an einer Sache, aber er ist zugleich meine Pflicht, eine rechtliche Person zu sein, was sich in Beziehung auf die anderen Personen zu deren Pflicht entwickelt, mein Recht zu respektieren. Diese Vereinigung oder Vermittlung von Recht und Pflicht im Sittlichen tritt im Standpunkt des Egoisten der bürgerlichen Gesellschaft als Differenz auseinander: Subjektives Pflichtbewusstsein und dessen Verwirklichung sind entgegengesetzt, womit die Zufälligkeit und Unvollkommenheit sowohl des Rechts als auch der Pflichterfüllung gegeben ist. Die Pflicht, Mitglied des Staates zu sein, ist mit dem Recht im Staat identisch, weil beide auf das Wollen des Guten und des sittlichen Ganzen als deren gemeinsamen Inhalt bezogen sind, welcher »selbst der allgemeine, nämlich das eine Prinzip der Pflicht und des Rechts, die persönliche Freiheit des Menschen ist«.216 Die Pflichterfüllung für das sittliche Allgemeine ist für das Subjekt eine Befreiung von der Abstraktheit des einzelnen Willens in der Gemeinschaft, von der Abhängigkeit seiner natürlichen Triebe und des Grübelns, worin das Gute besteht und was zu tun ist, oder mit Hegels Worten: »In der Pflicht befreit das Individuum sich zur substantiellen Freiheit«.217 Das subjektive und das allgemeine Interesse sind in der Idee des Guten oder des ethischen Staates als einseitige überwunden, sie stimmen in einem harmonischen Verhältnis überein. In der Pflichterfüllung für den Staat muss das einzelne Subjekt eine Befriedigung haben, und daraus muss ihm ein Recht im Staat erwachsen. Die Pflicht beschränkt zwar die Befriedigung der unendlichen physischen Bedürfnisse, aber dadurch genießt zugleich der einzelne Bürger den staatlichen Schutz seiner Person, seines Eigentums, seines Wohls und seiner Ehre. In der Pflichterfüllung für den sittlichen Staat hat die Person das Recht ihrer Erhaltung und ihres Bestehens.218 Dagegen sind in der bürgerlichen Gesellschaft und in der Familie die Pflicht und das Recht nur formal identisch und als verschiedene Denkinhalte real: »in der Familie hat der Sohn nicht Rechte desselben Inhalts als er Pflichten gegen den Vater, und der Bürger nicht Rechte desselben Inhalts

216

Vgl. RP § 261 Anm. RP § 149. Zur Kommentierung dieser Stelle auch Peperzak, A.: Hegels Pflichtenund Tugendlehre. 176. 218 Bei dieser Erörterung kommt es Hegel auf die Verknüpfung von Pflichten und Rechten in Beziehung auf den Staat und nicht, wie K. Homann meint, auf die Rechtfertigung des entfesselten Eigeninteresses an. Vgl. Kapitel 4 dieser Arbeit. 217

D. Der ethische Staat als Massstab der Kritik an der Ökonomiegesellschaft

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als er Pflichten gegen Fürst und Regierung hat«.219 Die bourgeois verbinden ihre Pflichten und Rechte nicht mit dem ethischen Staat, sondern mit ihrer Selbstsucht. Diese ist jedoch eingeschränkt, da sie sich nicht für sich, sondern in der Allgemeinheit, in der Gemeinschaft mit anderen realisiert. Diese Einsicht in die »wirkliche Notwendigkeit der Beziehung«220 der Inhalte von Recht und Pflicht auf den ethischen Staat fehlt den nur in sich vergrabenen Bürgern. Sie handeln nach dem Prinzip, was dem einen recht ist, soll auch dem anderen recht sein, und was dem einen Pflicht ist, soll dem anderen Pflicht sein. Das ist aber nach Hegel nur eine formelle, abstrakte Gleichheit, sie hat nicht einen allgemeinen Willen zum Prinzip, sondern den subjektiven, zufälligen Willen des anderen. Auf der Grundlage dieses Prinzips allein kann keine ethische Gesellschaft bestehen, sie kann aber ebenso wenig bestehen, wenn das subjektive Interesse ignoriert und missachtet wird. Das subjektive Interesse darf nicht als ein unwürdiges Moment der Pflichterfüllung verbannt werden, wie Hegel immer wieder gegen Kants Unterdrückung der Sinnlichkeit protestiert. Diese Polemik einerseits und die Besinnung auf die sich in der Allgemeinheit vollendende Individualität andererseits stehen im Hintergrund, wenn Hegel schreibt: »das Individuum muss in seiner Pflichterfüllung auf irgendeine Weise zugleich sein eigenes Interesse, seine Befriedigung oder Rechnung finden, ihm aus seinem Verhältnis im Staat ein Recht erwachsen, wodurch die allgemeine Sache seine eigene besondere Sache wird. Das besondere Interesse soll wahrhaft nicht beiseite gesetzt oder gar unterdrückt, sondern mit dem Allgemeinen in Übereinstimmung gesetzt werden, wodurch es selbst und das Allgemeine erhalten wird. Das Individuum, nach seinen Pflichten Untertan, findet als Bürger in ihrer Erfüllung den Schutz seiner Person und seines Eigentums, die Berücksichtigung seines besonderen Wohls und die Befriedigung seines substantiellen Wesens, das Bewusstsein und das Selbstgefühl, Mitglied eines Ganzen zu sein, und in dieser Vollbringung der Pflichten als Leistungen und Geschäfte für den Staat hat dieser seine Erhaltung und sein Bestehen«.221 Aus diesem eindrucksvollen Text, der für die heutige Wirtschaftsethik anstößig wurde, kann keineswegs Hegels Legitimation einer Entfesselung des Eigeninteresses gefolgert werden, vielmehr ist hier die angemessene Berücksichtigung des Eigeninteresses bei der Erfüllung der eigenen Pflichten für die Allgemeinheit angesprochen, die an Hegels frühe, von Schiller ausgehende, ethische Vorstellung als Geneigtheit zur Pflichterfüllung in Absetzung vom Kantischen Formalismus erinnert. 219 220 221

RP § 261 Anm. Ebd. Ebd.

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Drittes Kapitel

Gegen die interpretatorische Überspitzung als Entfesselung des Eigeninteresses zugunsten einer angemessenen Rückführung des subjektiven Interesses in die gesellschaftliche Allgemeinheit spricht Hegels Lösung des Dilemmas von Eigen- und Allgemeininteresse.222 Das Sich-Selbst-Überlassen des subjektiven Interesses kommt für Hegel nicht in Frage, sondern seine harmonische Überführung in die notwendige Beziehung auf den Staat. Weil die Einsicht in diese notwendige Beziehung auf den Staat in der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft fehlt, muss der Staat durch seine Institutionen diese Beziehung herstellen.223 Während die Bürger ihre subjektiven Interessen und Zwecke in der formalen Allgemeinheit der Wirtschaft unmittelbar befriedigen, erfüllen sie die allgemeinen Interessen und Zwecke als Mitglieder in den Korporationen oder in den Institutionen des Staates nur mittelbar.224 Die Institutionen sind die feste Basis des Staates, und sie vertreten die öffentliche Freiheit, da in ihnen die individuelle Freiheit realisiert und vernünftig vorhanden ist. Die Institutionen der regierenden Gewalt müssen zum Beispiel die Übersicht über die wirtschaftliche Arbeitsteilung bewahren, und dafür in allen wirtschaftlichen Zweigen entsprechende Behörden haben, die sowohl nach unten in die Arbeiterschichten als auch nach oben in die oberste Regierungsgewalt wirken.225 Hegels Institutionslehre wurde vielfach kritisiert.226 Kern der Kritik ist, dass Hegel die Idee des sittlichen Ganzen mit dem existierenden Staat identifiziert, wohlwissend, dass kein existierender Staat so vernünftig ist, wie er unterstellt.227 Hegel hält dennoch an einem Vernunftstaat fest und deutet

222

Wie noch im fünften Kapitel zu zeigen ist, hat insbesondere K. Homann Hegel die Entfesselung des Eigeninteresses unterstellt. 223 Beispiele dafür sind die Einführung der standesamtlichen Ehe oder auch der finanzpolitischen Ämter in der Wirtschaft. 224 Vgl. RP §§ 263, 264, 265 auch 258. 225 Vgl. RP § 290. Hegel vertritt eine Gewaltenteilung in gesetzgebende, regierende und fürstliche Gewalt im Anschluss an Montesquieu und der regierenden Gewalt in richterliche und polizeiliche Gewalt im Anschluss an Locke. 226 Zur Kritik der Institutionslehre vgl. Roth, K.: Freiheit und Institutionen in der politischen Philosophie Hegels. Rheinfelden. 1989. 317 und 15. Seine Einschätzung beruht auf seiner spezifischen Prämisse der Dialektik. Roth will die Dialektik nicht Hegel immanent verstehen als notwendiges Moment der spekulativen Methode, sondern folgt explizit einem eher landläufigen Sprachgebrauch von Dialektik und das heißt für ihn, die gesamte Methode Hegels als Dialektik interpretieren. Er versucht das »Dialektische dann in einem logischen Übersetzungsprozess, in dem die empirischen Phänomene in den Begründungszusammenhang der Theorie ›aufgehoben‹ und einander zugeordnet werden«. 227 A. Peperzak kritisiert in mehreren Schriften, dass Hegel das Gute und das sittliche Ganze ohne die leichteste Spur eines Arguments mit einem als Nationalstaat organisierten Volk identifiziert (§ 156). Es wäre nach Peperzak nicht so schwierig, wenn Hegel das

D. Der ethische Staat als Massstab der Kritik an der Ökonomiegesellschaft

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dafür das platonische Polisideal um. Er insistiert darauf, dass sein Staat systematisch die »Wirklichkeit der sittlichen Idee«, die Manifestation des Absoluten in staatlichen Institutionen ist und als solche Realität hat. Damit sucht er sich vermutlich von Kants Ethik abzugrenzen, an der Hegel kritisiert, dass sie in einem unbestimmten und abstrakten Reich der Zwecke gründet. In dieser Bestimmung darf Hegels Staat kein korrumpierter Staat sein, und er darf sich nicht zu einer bürgerlichen Gesellschaft reduzieren. Auch in der reifen Rechtsphilosophie hält Hegel an seiner Meinung im frühen Jenaer Naturrechtsaufsatz fest, dass eine ökonomische Gesellschaft durch Kriege erschüttert werden soll, um sich nicht festzulegen. Wenn das Volk sich im Krieg gegen andere Völker behaupten muss, dann haben seine Bürger die allgemeine Pflicht, ihr Leben und ihr Eigentum für das Volk aufzuopfern. Wenn dagegen der Staat nur eine bürgerliche Gesellschaft ist, dann ist diese Pflicht eine »schiefe Berechnung«,228 denn sie widerspricht dem ökonomischen Prinzip im Erhalt des Lebens und Eigentums. So wie der Krieg, der alles Eigentum zerstören kann, zufällig entsteht, so sollte nach Hegel der Besitz und das Eigentum als etwas Endliches und Zufälliges betrachtet werden. Anders als im frühen Jenaer Naturrechtsaufsatz stuft Hegel in der reifen Rechtsphilosophie die im Krieg demonstrierte Tapferkeit als Tugend insgesamt tiefer ein. Während sie in den Jenaer Schriften die absolute Tugend als Aufopferung für die sittliche Substanz war, ist sie jetzt nur eine formelle Tugend, da sie eher mechanisch und weniger geistig-reflektiert in der äußerlichen Welt ausgeführt wird. Das Individuum riskiert sein Leben im Dienst einer äußeren Ordnung, aber seine subjektive Meinung, sein Fürsichsein, sein eigener Geist sind dabei im »gänzlichen Gehorsam« völlig abwesend. Das Individuum muss im Krieg feindselig gegen andere Individuen kämpfen, obwohl es gegen sie eher gleichgültig, ja manchmal sogar gut gesinnt sei.229 Damit relativiert Hegel seine Verabsolutierung der Tapferkeit aus der Jenaer Zeit und beachtet stärker ihre universalmenschliche Bedeutung. In den Schlusskapiteln der Rechtsphilosophie sucht Hegel die Idee des Rechts innerhalb der Weltgeschichte von Kriegen und Völkern einzuordnen. Der Geist der Welt, der aus den einzelnen Volksgeistern hervorgebracht wird, übt sein Recht als Weltgeschichte aus, die als Weltgericht verstanden wird. sittliche Ganze mit der Menschheit als einer Völkergemeinschaft identifiziert hätte, aber Hegel habe die Unmöglichkeit der Totalisierung des objektiven Geistes gebraucht, um die Religion und die Wissenschaft als höhere Dimensionen aufzustellen. Vgl. Peperzak, A.: Moralische Aspekte der Hegelschen Rechtsphilosophie. 460 ff. Vgl. auch Peperzak, A.: Hegels Pflichten- und Tugendlehre. 172. 228 RP § 324. 229 Vgl. RP § 328.

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Drittes Kapitel

Ohne auf die Einzelheiten und Schwierigkeiten dieser Systematisierung näher einzugehen, sei hier auf zwei Gesichtspunkte hingewiesen, die mit der bürgerlichen Gesellschaft zusammenhängen. In Hegels Konzeption eines ethischen Staates bildet die griechische Polis sowohl in der Jenaer Zeit als auch in der Rechtsphilosophie den Rahmen.230 Wie auch in der späten Jenaer Phase kritisiert Hegel Plato, dass er das Prinzip der freien Individualität nicht beachtet habe, wodurch der Geist des Ganzen zerfallen sei. Insbesondere habe die Konzeption der griechischen Sittlichkeit die ökonomische Sphäre der Bedürfnisse in ihrer Freiheit missachtet und in einen »Sklavenstand«231 ausgeschlossen. Während Hegel die griechische Polis mit der schönen Individualität, die sich noch nicht in sich vertieft hat, in Verbindung bringt, ist für ihn das römische Reich das Vertiefen dieser Individualität in einer abstrakten Allgemeinheit, in der Sphäre der Entgegensetzung. Im römischen Reich sei es zum Zerfall des gesellschaftlichen Ganzen in eine Aristokratie als »kalte, habsüchtige Gewalt«232 und den verdorbenen Pöbel gekommen. Die Auflösung des Ganzen hat allen nur »Unglück und den Tod des sittlichen Lebens«233 gebracht und das Herabsinken aller zu Privatpersonen. Nicht der Staat, sondern der Geist, der sich als Welt und Weltgeschichte realisiert, hat das höchste Recht, aus dem alle Rechtsbestimmungen abgeleitet werden. Diese metaphysische Fundierung einer überstaatlichen Sittlichkeit ist deshalb nötig, weil die Rechtsgestalten des Willens endlich sind und miteinander in einen unlösbaren Konflikt geraten können. Jedoch bleibt es unklar, ob und welche Pflichten für den Einzelnen aus der so bestimmten Weltgeschichte folgen.234 Die drei Gestalten des Willens – unmittelbarer, reflektier-

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Während M. Riedel den »endgültigen Abschied vom Polisideal seiner Jugendzeit« behauptet, sucht K.-H. Ilting zu zeigen, dass Hegel die antiken Argumentationen auch in der Rechtsphilosophie vor Augen hat. Ilting macht dabei Aristotelische Einflüsse geltend. Ohne diese abzustreiten, vertritt K. Düsing die am weitesten plausible These, dass Hegel insbesondere Plato rezipiert und für seine eigene Konzeption modifiziert. Vgl. Riedel, M.: Studien zu Hegels Rechtsphilosophie. Frankfurt a.M. 1969. 96 f. Ilting, K.-H.: Hegels Auseinandersetzung mit der aristotelischen Politik. In: Göhler, G.: G. W. F. Hegel. Frühe politische Systeme. 759–85. Vgl. Düsing, K.: Politische Ethik bei Plato und Hegel. 96 ff. 231 RP § 356. 232 RP § 357. 233 Ebd. 234 A. Peperzak bemerkt, dass sich Hegel hier der gefährlichen Metaphorik des Weltgerichts bedient, die aber im Sinne der christlichen Religion als eine Vorsehung, die immer Recht hat, verstanden werden kann. Da auch die Weltgeschichte eine Reihe historischer Zufälligkeiten und Vergänglichkeiten enthalte, ist sie auch nicht die Verwirklichung des Geistes. Vielmehr ist dadurch das Ideal einer Selbstverwirklichung des Geistes innerhalb der sittlich-objektiven Welt aufzugeben und zum ewigen Leben des Geistes in der Reli-

D. Der ethische Staat als Massstab der Kritik an der Ökonomiegesellschaft

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ter und absoluter Wille – erhalten in Hegels Konzeption eine eigenständige und beschränkte Rechtssphäre – das abstrakte Recht der Persönlichkeit, das Recht des Subjekts in der bürgerlichen Gesellschaft (Moralität) und das Recht des Staates (Sittlichkeit). Diese Aufführung der Rechtsgestalten ist zugleich eine Rangordnung, wenn es um die Lösung von Konflikten geht. Wenn es aber um die wahrhafte Verwirklichung des einzelnen, menschlichen Willens geht, dann spricht der Staat nicht das höchste Recht, da er ja auch ein endlicher ist. Der einzelne Wille eines Menschen ist nur dann frei, wenn er ebenso den unendlichen Geist in den Sphären seiner Handlungen (als Person, moralisches Subjekt und Staatsbürger) realisiert und bejaht. Sein vernünftiges, geistig-religiöses Gewissen hat gegenüber dem auf dem Boden des endlichen Geistes bleibenden Staat das höhere Recht, wie Hegel in der dritten Auflage der Enzyklopädie von 1830 ausführt. Zusammenfassend kann Hegels differenzierte Konzeption des Rechts in seiner reifen Rechtsphilosophie als eine Explikation der Momente des menschlichen, endlichen Willens, welche die höhere Freiheit des Geistes manifestieren, gewürdigt werden. Diese Momente findet er in solchen endlichen Widersprüchen wie bei der Realisierung der endlichen Triebe und Neigungen, der Befriedigung der ökonomischen Bedürfnisse durch Arbeit, der Anhäufung von Besitz und Reichtum, die von der Warte des höheren Begriffs von Freiheit in vernünftig gewollte Pflichten umgewandelt werden. Hegels Rechtsphilosophie, die in diesem Sinne die Elemente einer Ethik und einer wirtschaftsethischen Kritik enthält, steht und fällt mit der Annahme eines unendlichen Geistes, dessen Freiheit der Mensch durch seine Selbstverwirklichung realisiert.

gion und Wissenschaft zu erheben. Vgl. Peperzak, A.: Moralische Aspekte der Hegelschen Rechtsphilosophie. 462 f. Vgl. auch Ottmann, H.: Die Weltgeschichte. In: Siep, L. (Hrsg.): G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Reihe: Klassiker Auslegen. Bd. 9. Berlin. 1997. 267–286.

viertes kapitel Die moderne Wirtschaftsethik vor dem Hintergrund der Hegelschen Philosophie

Die modernen Theoretiker der Wirtschafts- und Unternehmensethik suchen den Bezug zu Hegel, gelangen jedoch nicht zum tieferen Kern seiner Philosophie. Sie beziehen sich entweder sehr oberflächlich auf Hegel, so dass nicht erkennbar ist, wie sie sein systematisches Gedankengut für sich fruchtbar machen, oder sie missdeuten es, um vermutlich der eigenen Konzeption einen stärkeren philosophischen Nachdruck zu verleihen. Wie die vorangehenden Kapitel gezeigt haben, vertritt Hegel einen unmissverständlichen wirtschaftsethischen Standpunkt, der ein spekulatives Fundament hat und auf die Integration der sozioökonomischen Sphäre in das politische Leben oder der Ökonomie in eine politische Konzeption zielt. Diese Integration ist das erklärte Ziel auch der gegenwärtigen Wirtschaftstheoretiker. Daher lassen sich ihre Entwürfe der Hegelschen Konzeption gegenüberstellen und mit seinen Argumenten kritisieren. Bei den kritischen Analysen in diesem Kapitel wird überprüft, welches Verhältnis die modernen Wirtschaftsethiker zwischen Ökonomie und Ethik zugrundelegen, von welchen ethischen Annahmen sie ausgehen und wie sie auf Hegel rekurrieren. Es werden drei paradigmatische Ansätze der gegenwärtigen Wirtschaftsethik, die je einen Ethiktypus vertreten, untersucht: die »Ethische Ökonomie« von Peter Koslowski als eine deontologische Theorie, der eudämonistische Ansatz von Karl Homann als eine Variation des Utilitarismus und die »Integrative Wirtschaftsethik« von Peter Ulrich als ein moderner Entwurf der Tugendethik.

A. Die formale Koordination im Zentrum der Ethischen Ökonomie von Peter Koslowski a) Die grundlegende Synthese von Ethik und Ökonomie Für Koslowski ist die Wirtschaftsethik der anwendungsbezogene Teil einer weit gefassten »Ethischen Ökonomie«, die als Begriff der Politischen Ökonomie nachgebildet ist,1 sich jedoch von ihr in der Doppelbestimmung unterscheidet. Koslowski beansprucht, einerseits eine ökonomische Theorie des Ethischen (Ethik, die sich ökonomischer Analyseinstrumente bedient) und andererseits eine Ökonomie der ethischen Institutionen (Theorie der

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Viertes Kapitel

ethischen Regeln und Haltungen als Voraussetzungen für das Funktionieren der Wirtschaft) entwickelt zu haben.2 So, wie die Politische Ökonomie mit deskriptiven und normativen Methoden arbeitet, soll die Ethische Ökonomie die geltende Wirtschaftsordnung oder das Wirtschaftsethos beschreiben und zusätzlich anhand dieser normativ-kritischen Theorie reflektieren. Das methodische Ziel einer so konzipierten Wirtschaftsethik ist die Integration von Ethik und Ökonomie als eine Synthese von ethischen, ökonomischen, kulturellen, politischen, wissenschaftlichen und religiösen Traditionen.3 Diese Synthese hat offenbar einen metaphysischen Charakter. Die Ethik ohne Metaphysik ist nach Koslowski möglich, aber nicht wirkungsvoll, sie ist auf die Religion als Theorie der Totalität verwiesen.4 Diese Verwiesenheit auf die höhere synthetische Einheit erinnert stark an Hegels Konzeption des Verhältnisses von Endlichem und Unendlichem, da Hegel explizit beide Bereiche – Ethik und Ökonomie – in einem metaphysisch begründeten Ganzen sieht. Koslowski bezieht sich aber in dieser Hinsicht und überhaupt selten auf Hegel,5 er sieht in den Theorien von Leibniz sein Vorbild. Im Anschluss an Leibniz und seine Theorie der prästabilierten Harmonie nimmt Koslowski an, dass die von Gott geschaffene und koordinierte Welt die beste ist. Das sei so nach Koslowski, weil sie mit dem Minimum an Kosten das Maximum an Existenz möglicher Wesen verwirklicht und weil ihre Koexistenz optimal ist. Die Leibnizsche Frage nach der besten aller möglichen Welten interpretiert Koslowski nicht nur als eine metaphysische und teleologische Frage, sondern als eine politische Frage nach der besten sozialen und ökonomischen Ordnung, der besten Art und Weise der Koordination menschlicher Individuen und macht sie zum Kernproblem seiner wirtschaftsethischen Konzeption.6 Koslowski nimmt ein metaphysisch be-

1

P. Koslowski gebraucht den Terminus »Ethische Ökonomie«, weil für ihn der Begriff Wirtschaftsethik zu eng gefasst ist und kaum die nicht-moralischen Kulturdimensionen der Ökonomie berücksichtigt. Deshalb wählt er den übergeordneten Begriff »Ethische Ökonomie«, um darauf hinzuweisen, dass die Ökonomie auch die kulturwissenschaftlichen Ansätze zur Erklärung menschlichen Handelns aufnehmen soll. 2 Vgl. Koslowski, P.: Prinzipien der ethischen Ökonomie: Grundlegung der Wirtschaftsethik und der auf die Ökonomie bezogenen Ethik. Tübingen. 1988. 2 f. 3 Vgl. ebd. 5. 4 Vgl. ebd. 15. 5 Die namentliche Nennung von Hegel in seinem Hauptbuch Prinzipien der Ethischen Ökonomie ist keine Auseinandersetzung mit Hegel. 6 Vgl. Koslowski, P.: Gottes Zweck der Maximierung von Existenz bei Leibniz. Die Entdeckung des Maximierungskalküls. In: Hermanni, F./Breger, H.: Leibniz und die Gegenwart. München. 2002. 121 ff. bes. 123,129; Vgl. auch Koslowski, P.: Prinzipien der ethischen Ökonomie. 58.

A. Die formale Koordination im Zentrum der Ethischen Ökonomie

221

stimmtes, formales Koordinationsideal an und sucht seine Begründung und Verwirklichung am Markt zu erweisen. Der Markt ist für ihn eine Institution, in der ein Koordinationsmaximum realisiert wird, das sich jedoch nicht analytisch-mathematisch berechnen lässt. Die Maximierung im menschlichen, ökonomischen Handeln ist nach Koslowski nicht mechanisch, sondern vor allem geistig. Die Wirtschaft ist kein Mechanismus, der kausal-deterministisch nach dem Preissystem funktioniert. Die subjektiven Präferenzen der Nachfrager entscheiden über das Angebot und damit über das Marktgleichgewicht. Dass das Marktgleichgewicht in der klassischen Ökonomie ein Ideal oder eine regulative Idee ist, den Markt zu verstehen, und nicht die Beschreibung des empirischen Marktgeschehens ist, hat Koslowski ganz zu Recht betont. Für Koslowski ist das Marktgleichgewicht in einem geistigen Ganzen des Sozialen eingebettet, in dem die Wirtschaft ein Teil, ein Subsystem eines Gleichgewichtszusammenhangs aller gesellschaftlichen Subsysteme ist. Die Individuen, die in diesen Systemen agieren, sind einerseits die Elemente des Gleichgewichtszusammenhangs, andererseits sind sie durch ihre Teilhabe am Ganzen dessen teilhabende Organe und Glieder. Sie sind füreinander und für das Ganze zugleich Instrument und Zweck. Sie bilden ein Ganzes, das einem Organismus vergleichbar ist. Ihr Sein als Glieder einer geistig-sinnhaften Einheit ist Repräsentation der Einheit und des Ganzen im Individuum, ihre das Ganze repräsentierende Rolle drückt ihr Gliedsein an dem Ganzen aus. »Das Individuum ist weder ein atomistisches und in sich abgeschlossenes Element noch allein Instrument für eine organische Ganzheit und nach außen gerichtete Beziehung auf anderes. Das Individuum ist einerseits Beziehung in sich als selbstbezügliches Geistwesen und als ein Wesen, das Bedürfnisse für sich hat, und es ist andererseits zugleich Beziehung auf die Einheit des Sozialen, in der es sowohl Element als auch Organ und Glied ist«.7 Diese Ausführungen von Koslowski erinnern stark an den reifen Hegel und seine Bestimmung des sittlichen Ganzen. Während Hegel diese Beziehungen umfassend im sittlichen Ganzen begründet, wirken sie in der individualistischen Konzeption von Koslowski als ein Postulat der sozialen Einheit, das das formale Koordinationsideal mit Inhalt ausfüllt. Koslowski scheint nicht an der Vertiefung des Gedankens der sozialen Einheit, vielmehr an deren Abbild und Verwirklichung am Markt interessiert zu sein. Der Markt ist für ihn vor allem ein Interaktionszusammenhang divergierender wirtschaftlicher Präferenzen und kein reiner deterministischer Mechanismus von Angebot und Nachfrage. Er ist für Koslowski primär ein Diskurs zum Zwecke der Koordination, ja der zentrale Diskurs 7

Koslowski, P.: Prinzipien der ethischen Ökonomie. 193.

222

Viertes Kapitel

der Gesellschaft, weil er individuelle Zielverfolgung und Handlung, die Koordination subjektiver Bewertungen von Kosten und Erträgen, die aus der wirtschaftlichen Kooperation entstehen, und die simultane und kontinuierliche Kontrolle des Erfolgs von Strategien zu niedrigen institutionellen Kosten zulässt.8 Die Koordination des Marktes dient den Sachzwecken der Wirtschaft – der Bedarfsdeckung und der subjektiven Verwirklichung. Während die Bedarfsdeckung nach ökonomischen Kriterien erfüllt wird, ist die individuelle Wertverwirklichung nach Koslowski geistig, sie ist sogar das Telos des Marktprozesses und der Maßstab der Marktkoordination. Wenn dieses Markttelos nicht gilt, dann ist der Markt ein Mechanismus von bloß naturalen Kräften, die nicht im Gleichgewicht, sondern in einem Machtverhältnis zueinander stehen.9 Die Selbstverwirklichung in der wirtschaftlichen Sphäre hat Koslowski im Anschluss an Hegel in der Arbeit gesehen, wobei er für eine Reduktion der Dichte der Erwerbsarbeit durch kulturelle Anreicherung durch Kunst, Spiel, Wissenschaft und Spiritualität als Chance unserer Zeit plädiert. Für ihn ist die gegenwärtige wirtschaftliche Lage eine Chance der Selbstverwirklichung – nicht als Befreiung von der Arbeit, sondern als Befreiung zur eigentlichen, geistigen Tätigkeit.10 Am Markt findet neben der Bedarfsdeckung auch die Verwirklichung der Subjektivität statt. Die Subjektivität als die Selbstbezüglichkeit des geistigen Wesens Mensch ist für Koslowski die Basis für die ethische Verantwortlichkeit. Die Subjektivitätsverwirklichung und die Ethik setzen eine Wirtschaftsontologie, d. i. Theorie der Grundbestimmungen des Seinsbereichs der Wirtschaft, voraus. Diese Theorie soll nach Koslowski eine allumfassende Theorie der Gesamtwirklichkeit sein, welche dann die einzelnen Teilbereiche theoretisch fundiert. Koslowski will die Gesamtwirklichkeit, und u. a. den Teilbereich Wirtschaft, nicht als einen deterministischen Mechanismus, sondern als einen mechanismus metaphysicus sehen, d. h. von innen gesehen »entelechial« und von außen gesehen mechanistisch. »Entelechial« oder »entelechiale Effizienz« bedeutet für Koslowski in bezug auf die Wirtschaft, dass sie nicht nur technisch effizient sein, sondern auch das, was die Menschen herstellen und verbrauchen wollen, produzieren muss.11 Der Markt dient dem inhaltlichen Zweck der individuellen Zweckverfolgung und ihrer Koordination zum Maximum der Verwirklichung des eigenen Selbst. Er ist daher nach Koslowski ein teleologischer Mechanismus, der das schwierige

8 9 10 11

Vgl. Koslowski, P.: Prinzipien der ethischen Ökonomie. 196. Vgl. ebd. 200. Vgl. ebd. 145 ff. Bes. 149. Vgl. Koslowski, P.: Prinzipien der ethischen Ökonomie. 195 f.

A. Die formale Koordination im Zentrum der Ethischen Ökonomie

223

Verhältnis von Teleologie und Mechanismus, von Ethik und Ökonomie zum Zwecke der Verwirklichung eines inhaltlichen Maximums an Selbst- und Wertverwirklichung koordiniert.12 Mit dieser Konzeption sucht Koslowski das dualistische Verhältnis von Ethik und Ökonomie zu überwinden, indem er zeigt, dass am Markt ethische und ökonomische Motive zugleich das Handeln bestimmen. Koslowski ist sich aber bewusst, dass die subjektiven Motive, Maximen, Präferenzen und Handlungen nicht mechanistisch zu erklären sind. Er beansprucht daher, eine ethisch-ökonomische Theorie des Verstehens, d. h. des Verstehens von ökonomischem Handlungssinn, von den Werten des Handelns im Koordinationsbereich Wirtschaft zwischen der Fiktion absoluter Werte und der Beliebigkeit des Wertsubjektivismus, entwickelt zu haben, deren Elemente im Folgenden näher untersucht werden.13

b) Die Überwindung des Kantischen Formalismus Den Ausgangspunkt der Begründung seines Koordinationsideals bildet für Koslowski die Kantische Ethik und insbesondere deren formales Kriterium der Verallgemeinerbarkeit der Handlungsmaximen. Angewendet auf das spieltheoretische Gefangenendilemma zeigt der Kantische Imperativ in der Verallgemeinerung der Maxime die beste Lösung zur Koordination der Handlungen aller am Markt und in Gesellschaft »gefangenen« Interaktionspartner.14 Sie erreichen intersubjektiv die beste Lösung, wenn sie mit-

12

Vgl. ebd. 196 und 199. Vgl. ebd. 199, 201, 202 und 204 f. In dieser Hinsicht sieht sich Koslowski der »Österreichischen Schule« näher stehend, als der Neoklassischen Ökonomie. Die Österreichische Schule, deren prominenter Vertreter L. v. Mises ist, erkennt das Faktum der Subjektivität und Intentionalität der Wirklichkeitswahrnehmung und seine Bedeutung für die Erkenntnis der ökonomischen Wirklichkeit an. Sie neigt jedoch zu einem radikalen Subjektivismus. Dagegen vermag die neoklassische Ökonomie die subjektiven Freiheitsgrade der Wahrnehmung und Entscheidung nicht zu denken und neigt zu einem überzogenen Objektivitätsanspruch, zu einem Ultrarealismus in der Ökonomie. Mit seinem Ansatz sucht Koslowski zwischen den beiden extremen Positionen verstehend zu vermitteln. 14 Vgl. ebd. 78 f. Die Aufgabe, die das Gefangenendilemma (auch Prisoner’s Dilemma genannt) einer Gruppe stellt, in der jeder einzelne als »Schwarzfahrer« die allgemeine Regel für sich auszunutzen und für sich eine Ausnahme machen will, lautet: Wie erreicht die Gruppe, deren Koordination nicht durch zentrale Lenkung gesichert werden kann, dass jeder einzelne sich das allgemeine Gesetz und Wohl auch zur Maxime seines individuelle Handelns macht? Es stellt sich heraus, dass die gegenseitige Kooperation die beste Lösung für die beiden Gefangenen ist, die sich untereinander nicht absprechen dürfen und aufeinander vertrauen müssen. 13

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Viertes Kapitel

einander kooperieren, d. h. ohne Absprache auf die gegenseitige Einhaltung von Normen oder Regeln vertrauen. Die Kantische Ethik ist nach Koslowski eine verlässliche Versicherung dafür, dass sich in der Interaktion die anderen ebenfalls an die Regeln halten, und sie ist sogar ökonomisch effizienter als die staatliche Lösung, weil sie keine Kosten für Kontrolle und Monitoring verursacht.15 In der Wirtschaft übernimmt die Verallgemeinerungsethik die entscheidende intrasubjektive Vorkoordination der handlungsleitenden Interessen und Maximen gemäß dem Imperativ: »Handle wirtschaftsgemäß! beziehungsweise: Handle nach der Sachgerechtigkeit der Wirtschaft!«.16 Um sachgerecht zu handeln, sollen die Individuen nicht nur die eigene Bedarfsdeckung und Selbstverwirklichung, sondern die einer möglichst großen Zahl von Menschen anstreben.17 Ein allgemeiner, ethischer Verhaltenskodex kann dabei nach Koslowski handlungsleitend und vertrauensfördernd wirken. Das setzt jedoch die freie Selbstverpflichtung und Selbstrestriktion der Handelnden voraus, die jeder aufgrund der Einsicht in die nützliche Reduktion von Unsicherheit über das Entscheidungsverhalten anderer einsieht.18 Diese »Verallgemeinerungsethik« im Anschluss an Kant stößt hier an ihre Grenzen, und Koslowski erkennt ihren immanenten Dualismus von Innerlichkeit und Äußerlichkeit, von Pflicht und Neigung, von subjektiver Maxime und objektiven Folgen der Ausführung. Er wirft Kant eine idealistische Überschätzung der Innerlichkeit vor, die zur Verachtung des Ökonomischen geführt habe.19 Koslowski sucht die Kantische Pflichtenlehre in zweifacher Weise zu ergänzen: zum einen durch spezifische Güter- und Tugendlehren und zum anderen durch die Integration von Moralität und Ökonomie. Dabei beachtet er weniger, dass Kant seine Rechtslehre und das ökonomische Vorteilsstreben bewusst aus der Ethik ausgeschlossen hat, um die bloße Klugheit vom wahrhaft moralischen Willen zu differenzieren. Ebenso beachtet Koslowski nicht, dass unter den deutschen Idealisten Hegel das Spannungsverhältnis und die notwendige Integration von Ethik und Ökonomie als einziger nicht unterschätzt hat, wie in den vorherigen Kapiteln gezeigt wurde. Eine Auseinandersetzung mit der Hegelschen Kritik an Kant hätte für die Konzeption von Koslowski deshalb fruchtbar sein können, weil er, genau wie Hegel, an der Kantischen Ethik Anstoß nimmt und ein Pflichten-

15

Vgl. ebd. 81. Koslowski, P.: Wirtschaftsethik. In: Angewandte Ethik. Hrsg. Von A. Pieper und U. Thurnherr. München. 1998. 213. 17 Koslowski, P.: Prinzipien der ethischen Ökonomie. 214. 18 Vgl. ebd. 85 ff. 19 Vgl. ebd. 17. 16

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Tugend-Konzept entwirft.20 Hegel und Koslowski gehen von der Annahme aus, dass sich Ethik und Ökonomie nicht gegenseitig ausschließen, weil sie denselben Gegenstand haben – das sozioökonomische Handeln des selbstbewussten und vernünftigen Wesens Mensch in einer von ihm gewollten Gemeinschaft im Horizont einer metaphysischen Totalität.21 Trotz dieser Nähe unterscheiden sich die Ethikkonzeptionen von Hegel und Koslowski wesentlich voneinander. Während Hegel Ökonomie und Ethik in einer übergreifenden Staatskonzeption vereinigt, sucht Koslowski primär auf der Ebene der Ökonomie und mit den Mitteln des endlichen Verstandes zu argumentieren. Wirtschaft und Ethik sollen nach Koslowski ineinander gehen, sich gegenseitig ergänzen, ihre Unterschiedenheit und Zusammengehörigkeit in der Handlungsorientierung des Menschen deutlich werden lassen. Dass dieses Ineinandergehen kein harmonisches Verhältnis ist, scheint Koslowski bewusst zu sein. Er versucht, mit den ökonomischen Argumentationsmustern über Senkung von Kosten und Vermeidung von Marktversagen, der Ökonomie die ungewollte »Ehe« mit der Ethik schmackhaft zu machen. Gegen den Alleingang der Ökonomie bringt Koslowski zuerst das Argument der Wahrheit: »Das Wahre ist nicht die einzelne Handlung, sondern das Ganze«.22 Wenn jedoch die Ökonomie von der Wahrheit des Ganzen keine Notiz nimmt, dann kommt das Argument der Kosten: »Vertrauen, Zuverlässigkeit, Treu und Glauben setzen ethische Einstellungen der Wirtschaftenden voraus, die über das Modell bloßer Nutzenmaximierung hinausgehen. Da diese ethischen Haltungen Transaktionskosten senken, erhöhen sie die Leistungsfähigkeit des Marktes. (…) Ethik ist Korrektiv gegen Ökonomie- bzw. Marktversagen, weil sie die Kosten von Sanktionen und Kontrolle senkt«.23 Das ist das zentrale volkswirtschaftliche Argument von Koslowski, das seiner Meinung nach die Mühe um eine Wirtschaftsethik rechtfertigt. Da zum einen nicht alle Wirtschaftsakteure diesen volkswirtschaftlichen Zusammenhang einsehen und zum anderen die Verallgemeinerungsethik im Bereich der Wirtschaft nur geringe Anreize für ethisches Handeln bietet, ist das wirtschaftsethische Verhalten der Wirtschaftenden unwahrscheinlich,

20

Die hegelsche Kritik übersieht Koslowski zwar nicht, er setzt sich aber mit ihr nicht auseinander. Vgl. Koslowski, P.: Prinzipien der ethischen Ökonomie. 36. 21 Vgl. ebd. 19. 22 Vgl. ebd. 24. 23 Vgl. Koslowski, P.: Prinzipien der ethischen Ökonomie. 30. Das volkswirtschaftliche Argument für die Ethik gilt auch für den Staat. Ethik ist Korrektiv gegen »Staatsversagen«, weil sie ebenfalls die Kosten für die staatliche Kontrolle senkt.

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Viertes Kapitel

und die Ethik kann versagen. Erst auf einer höheren Sphäre, in der Religion, kann das Vertrauen in den Sinn von Ethik wiederhergestellt werden.24 Indem die Religion die Bereitschaft zur moralischen Vorleistung erhöht, reduziert sie die Kosten des Räsonierens über und der Anpassung an das Verhalten anderer. Die Religion kann ebenfalls versagen, doch nach dem Modell von Koslowski gibt es keine weitere Stufe mehr, dann ist das Individuum auf sich allein bzw. auf ein nicht näher bestimmtes ontologisches »Ur-Vertrauen«25 gestellt. Nach dem Modell von Koslowski wird die Ökonomie selbst in Ethik, die Ethik selbst in Religion transzendiert.26 Für diese stufenartige Transzendierung, die Koslowski als ein »Übergehen-in-anderes« oder auch als eine »Iteration von Kompensationen« beschreibt, erwähnt er den Hegelschen Begriff »Aufhebung«.27 In der dreifachen Bedeutung – negieren, bewahren und auf die höhere ethische Stufe erheben – würde die Aufhebung bedeuten, dass die Ökonomie aufgrund immanenter Defizienzen von der Ethik negiert, bewahrt und auf die höhere ethische, sodann religiöse Ebene erhoben wird. Diese Aufhebung nähert sich der Hegelschen Konzeption an, ohne dass Koslowski das erwähnt, jedoch ist der Sinn der Hegelschen »Aufhebung« nicht eine bloße »Iteration von Kompensation«, sondern eine Aufhebung im Absoluten, wahrhaft Unendlichen. Anders als Hegel hat Koslowski die Metaphysik in der Gestalt der Religion nicht deutlich expliziert. Sie bleibt als eine subjektive Präferenz von Totalität und Vollkommenheit ein abstraktes, inhaltlich unterbestimmtes, für seine ökonomische Argumentation unzureichendes Postulat im Kantischen Sinne, das Hegel kritisiert hat.28 Wenn die Religion eine moralisierende Wirkung auf die menschlichen Handlungen haben soll, dann darf sie nach Hegel nicht 24

Vgl. ebd. 37 und 40. Ebd. Neben diesem subjektiven Urvertrauen und der Religion findet sich bei Koslowski ein naturrechtliches Argument. Koslowski nimmt so etwas wie einen naturhaften Zweck der Wirtschaft an. Er beruft sich auf die naturrechtliche Tradition zwischen einem, wie Hegel sagt, empiristischen und subjektivistischen Theorierahmen. Übertragen auf die moderne Wirtschaft lautet das naturrechtliche Argument von Koslowski folgendermaßen: Wenn sich ein Manager nicht primär um den »Naturzweck« seiner Firma, sondern nur um die Gewinnmaximierung der Anteilseigner kümmert, dann kann es sein, dass er durch die Maximierung des »Shareholder-Value« zugleich das soziale Gut für alle realisiert. Die Ethik kann nicht den Individuen die identischen sozialen Zwecke auferlegen, aber sie kann ihnen zeigen, dass im Recht am besten sowohl die individuellen als auch die allgemeinen Zwecke realisiert werden, was auch Hegel in seiner Auseinandersetzung mit den Naturrechtstheorien ausgearbeitet hat. 26 Vgl. ebd. 39. 27 Ebd. 40. 28 Vgl. Kapitel 1 in dieser Arbeit. Für Hegel ist die kantische Postulatenlehre eine Theorie, bei der man zwar nicht stehen bleiben darf, von der man aber ausgehen muss. Durch 25

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die positive, institutionalisierte christliche Religion sein, sondern sie muss subjektiv sein, wie in dieser Untersuchung bereits gezeigt wurde. In Koslowskis Hauptwerk Prinzipien der Ethischen Ökonomie von 1988 findet sich dagegen kein Hinweis darüber, ob ihm diese Argumente Hegels bekannt sind und welche Religion er meint oder wie eine Religion aussehen muss, um den starken Erwartungen als oberste Zusicherungsinstanz für ethisches Handeln zu entsprechen, die ihr Koslowski aufträgt. Erst in einem Aufsatz im Jahr 2000 macht er Andeutungen, dass seine Affinität der katholischen Religion gilt.29 Er argumentiert, dass im Katholizismus die ökonomischen und die ethischen Zwecke als gleich wichtig angesehen werden, wogegen im protestantischen Glauben das ökonomische, selbstsüchtige Streben besonders gewürdigt wird, weil es einen indirekten Effekt auf die Steigerung des allgemeinen Wohls hat. Diese Andeutungen bleiben bei Koslowski schematisch, darüber hinaus thematisiert er die Rolle der Kirche nicht. Gegen Koslowski kann mit Hegel eingewendet werden, dass die Religion als Postulat viel zu unsicher, zu abstrakt ist. Darin besteht die Hauptschwierigkeit des erörterten wirtschaftsethischen Ansatzes, und sie hat dem Verfasser viel Kritik, u. a. den Vorwurf eines »umgekehrten Calvinismus«30 eingebracht: Hat früher der wirtschaftliche Erfolg als Gottwohlgefälligkeit des Handelnden gegolten, führe Koslowski umgekehrt »Kontenblätter über das Grab hinaus«31 weiter und legitimiere über die Religion die Verteilungsweisheit des Marktes. Damit verharmlose er die Gefahren, die aus einem unkontrollierten, wie W. Kersting sagt, »atemberaubenden Erfolg« des wirtschaftsliberalen Systems ausgehen.32 Darüber hinaus trifft die zu harmonistische Konzeption von Koslowski die Probleme der gegenwärtigen Wirtschaftsethik nicht wirklich, wie noch zu zeigen ist. Problematisch sind nicht nur das unsichere Fundament der Religion, sondern Koslowskis ambivalentes Verhältnis zum Staat als Garant des rechtlichsittlichen Zusammenlebens.

die Setzung der absoluten Freiheit will Hegel über Kant hinaus. Die absolute Freiheit rechtfertigt das Selbstverständnis des endlichen Selbstbewusstseins. Die Freiheit ist nach Hegel das Fundament des sittlichen Bewusstseins und sein Endzweck. Vgl. Düsing, K.: Die Rezeption der Kantischen Postulatenlehre in den frühen philosophischen Entwürfen Schellings und Hegels. Hegel-Studien. Beiheft 9. Bonn 1973. 87 f. 29 Vgl. Koslowski, P. : The Limits of Shareholder Value. In: Journal of business ethics. Vol. 27. Nr. 1. Dordrecht. 2000. 146 f. 30 Kersting, W.: Ethischer Kapitalismus? Probleme der Wirtschaftsethik. In: Ders. (Hrsg.): Recht, Gerechtigkeit und demokratische Tugend: Abhandlungen zur praktischen Philosophie der Gegenwart. Frankfurt am Main. 1997. 162. 31 Ebd. 32 Ebd. 164.

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Viertes Kapitel

c) Das Koordinationsideal als gemeinsame Grundlage von Ethik und Wirtschaft Die Wirtschaftsethik im Sinne von Koslowski ist die Lehre von den Normen und Motiven des wirtschaftlichen Handelns und des Austausches im externen Markt der Volkswirtschaft und im internen Markt der einzelnen Unternehmung. Die Normen und Motive des Handelns haben eine doppelte Natur: Sie sind einerseits ökonomisch nach dem Maximum–Minimum-Kalkül (mit gegebenen Mitteln ein maximales Ergebnis, oder gegebene Ziele mit minimalen Mitteln erzielen) und ethisch nach den Prinzipien der Gerechtigkeit bestimmt. Die Gerechtigkeit bedeutet für Koslowski, wie unten noch näher gezeigt wird, die Ethik der zwischenmenschlichen Tauschbeziehungen. Sie ist die Tugend einer Institution oder einer Person, in der alle Aspekte des Guten realisiert sind. Ethisch und gerecht sind gleichbedeutend. Der externe Markt ist jene Zone der vollständigen Konkurrenz, in der sich das Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage wie von einer unsichtbaren Hand einstellt,33 wie Adam Smith beschreibt, und der interne Markt ist das wirtschaftliche Geschehen im einzelnen wirtschaftlichen Unternehmen. Bei beiden Märkten stehen Ökonomie, Ethik und Religion in einem Koordinationsverhältnis zueinander, d. h. es findet ein koordiniertes Zusammenspiel zwischen ökonomischem Selbstinteresse, der Zusicherung von allgemeiner Regelbefolgung durch Ethik und der Zusicherung der Allgemeinheit der Ethik durch Religion statt. Auf dem externen und internen Markt kommen also unterschiedliche Arten von Interessen, Normen, Regeln, Motive verschiedener rationaler Handlungssubjekte zusammen, die ein Bild über das Wirtschaften und die Gesamtwirklichkeit, über die Rationalität des Marktes, wie Koslowski sagt, abgeben. Um dieses Bild zu verstehen, ist das Kriterium der ökonomischen Nutzenmaximierung zu eng, weil sie nicht alle Motive und Handlungen der anderen berücksichtigt.34 Am Markt ist der Mensch nicht nur homo oeconomicus, sondern homo strategus.35 Er kalkuliert in einem »global maximierenden Kalkül«36 nicht nur ökonomisch seinen Gewinn, sondern strategisch das ethische und religiöse Verhalten anderer. Dieser Kalkül kann nach Koslowski als eine regulative Idee erkannt werden,

33

Mit Rekurs auf Adam Smith. Vgl. Koslowski, P.: Prinzipien der ethischen Ökonomie.

48. 34 35 36

Vgl. ebd. 53. Vgl. ebd. 47. Vgl. ebd. 58.

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229

die an einem globalen Optimum orientiert ist. Das Optimum kann jedoch nur von einem unendlichen Bewusstsein erkannt werden, wogegen das endliche Bewusstsein in seiner Individual- und Sozialnatur entzweit ist.37 Ohne auf die Entzweiung im Subjekt näher einzugehen, folgert Koslowski aus dem global maximierenden Kalkül die Wechselwirkung von Ethik und Religion: Beide folgen nicht deterministisch aufeinander, sondern erfordern die gegenseitige freie Anerkennung ihrer Gültigkeit. Das bedeutet für Koslowski, dass die ethische Verallgemeinerung von Maximen und die Orientierung an religiöser Totalität zwei rationale Strategien sind, die das eigensüchtige ökonomische Interesse in Richtung der Akzeptanz aller anderen Wirtschaftsakteure (Inklusion von Betroffenen) und der Berücksichtigung von Nebenwirkungen ökonomischen Handelns für die anderen und die Umwelt bewegen. Diese Strategien zur Orientierung und Handlung prägen die gesuchte, am Anfang von allem stehende menschliche Denkweise als Rationalität, die weder streng ökonomischer, zweckorientierter Natur noch allein ethischer, wertorientierter Natur ist. Die Verfolgung ökonomischer und allgemeiner Zwecke geht gemeinsam und nicht getrennt einher, womit er durchaus der Hegelschen Argumentation folgt, ohne sich ausdrücklich auf Hegel zu beziehen.38 Die inhaltliche, wertende Rationalität, wie Koslowski das Denken der Allgemeinheit nennt, verbleibt im Sinne des ökonomischen Prinzips, sie ist am Markt und im Staatshandeln nötig, sie kann jedoch nicht das bestimmende Prinzip der Wirtschaft sein.39 Hier wird klar, warum sich Koslowski so vorsichtig auf Hegel bezieht: Auch für Hegel ist die denkende Vernunft nicht das allein bestimmende Prinzip in der Sphäre der Wirtschaft, aber gerade deshalb bedarf das eigensüchtige, ökonomische Denken einer höheren Ordnung, einer höheren Ebene, an der es sich orientieren kann. Koslowski dagegen zögert diese höhere Ordnung des Staates eindeutig aufzunehmen und zieht sie nur im äußersten Notfall heran. Er setzt mehr auf die Eigendynamik der Wirtschaft, welche die Regeln des ethischen Umgangs miteinander und mit der Natur erzeugt. Diese Eigendynamik der Wirtschaft nennt er Koordination, und sie bildet den Kern seiner Ethischen Ökonomie. Er nimmt, wie bereits erwähnt, ein formales Koordinationsideal an, das sowohl der Marktkoordination (der Preis koordiniert Angebot und Nachfrage) als auch der Verallgemeinerungsethik (um die eigenen Zwecke zu erfüllen, ver-

37

Koslowski zitiert den hegelschen Begriff der »Entzweiung« ohne nähere Erklärung. Vgl. ebd. 62 und 123. 38 Vgl. ebd. 70. 39 Vgl. ebd. 72.

230

Viertes Kapitel

halten sich die Individuen nach den allgemeingültigen, ethischen Regeln) zugrunde liegt.40 Die Marktkoordination bewirkt der Form nach die Anpassung der wirtschaftlichen Pläne, die ethische Koordination zielt darüber hinaus auf eine Transformation der noch nicht ausgeformten Präferenzen zu vernünftigen, d. h. nach Koslowski verallgemeinerbaren Präferenzen. Der Maßstab des Koordinierungsverfahrens und der Vernünftigkeit kommt nicht von außen, er ist das Koordinationsideal selbst. Demgemäß braucht die Ethik in der Wirtschaft nicht erzwungen zu werden, sie ist eine innere Notwendigkeit: Der autonome Wille erkennt die Notwendigkeit, sich mit anderen freien Willen frei zu vermitteln, will er seine Interessen durchsetzen. Die Autonomie des Willens soll in der ethischen und ökonomischen Koordination allein durch die Freiheit der anderen, ebenso handeln zu können, und damit nur durch das Prinzip der Koordination und nicht durch andere Zwecke eingeschränkt werden. Ethik und Ökonomie sind in der Wirtschaftsethik ausschließlich durch das formale Ideal der Koordination bestimmt.41 Doch Koslowski gesteht, dass das Ideal der Koordination nicht vollständig formal sein kann, es enthält mindestens zwei Wertinhalte: zum einen den Willensinhalt des Handelnden, dass die Koordination sein soll, und zum anderen, dass nicht einzelne Ereignisse, sondern Handlungsketten koordiniert werden müssen. Hier stößt die formalistische Konzeption von Koslowski an ihre Grenzen. Dem ersten Problem begegnet er mit dem Argument, sowohl die Wirtschaft als auch die Ethik brauchen die Frage nach dem Willensinhalt der Koordination nicht zu stellen, die gewollte Maximierung kann nach Koslowski bei allen Menschen vorausgesetzt werden. Die moderne Subjektivität als Innerlichkeit bestimmt den Willen nicht nach dem Inhalt der Maximen, sondern nach deren Verallgemeinerungsform, so Koslowski.42 Das zweite, inhaltliche Problem der formalen Ethik bei Koslowski betrifft die Bestimmung, was am Markt maximiert werden soll. Er hält das erklärte Ziel der neoklassischen Ökonomie in der Gewinnmaximierung oder in der Steigerung des Shareholder- Value für einseitig, ungeklärt und sogar irrelevant.43 Gleichwohl akzeptiert er die angeblich irrelevante Regel des Marktes »›Maximiere Deinen Gewinn‹, der wir alle ohnehin immer folgen«.44 40

Vgl. ebd. 72. Vgl. ebd. 74. 42 Vgl. ebd. 90. 43 Vgl. ebd. 75 und 113. 44 Vgl. Koslowski, P.: Die zunehmende Bedeutung und Globalisierung der Märkte. Konsequenzen für Wirtschaftsethik und Wirtschaftskultur. In: Ders. (Hrsg.): Weltwirtschaftsethos: Globalisierung und Wirtschaftsethik. Wien. 1997. 69. 41

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Anscheinend nimmt Koslowski die Schwierigkeit beim Hinausgehen über die Gesetze des Marktes nicht ernst. Für Koslowski ist der Übergang von der formalen Ethik in die materiale Ethik harmonisch aufgrund seiner Überhöhung des Marktes. Er hält den Markt für eine Institution zur Maximierung von Existenz, von Wertverwirklichung von Menschen, Gütern und Wertqualitäten, d. h. von immateriellen Gütern, die einen Öffentlichkeits- oder allgemeinnützigen Charakter haben, die sich nicht so schnell abnutzen und verbrauchen, wie materielle Güter. Doch eine solche harmonistische »Universalökonomie«45 übersteigt definitiv die Restriktionen der heutigen Ökonomie und des Marktes, die hauptsächlich mit Gewinnfaktoren operieren. Die vorgebrachten Einwände gegen den Formalismus in seiner an Kant orientierten Konzeption hat Koslowski zwar selbst vorweggenommen, aber nicht entkräftet. Mit Hegel kann gegen Koslowski eingewendet werden, dass er dem Menschen das Streben nach einem formalen Koordinationsideal unterstellt, doch die Menschen befolgen kein abstraktes, inhaltsloses Ideal. Außerdem könnte die Konzeption eines formalen Koordinationsideals, das sowohl der Ethik als auch der Ökonomie zugrunde liegt, als ein Versuch gelten, ökonomisches und ethisches Handeln gleichzusetzen. Koslowski bestreitet diese Identität und sucht zu zeigen, dass das ökonomische Denken aus ökonomischen Überlegungen (nützliche Reduktion von Unsicherheiten) über sich hinaus auf die höhere Ebene der Ethik getrieben wird. Er zieht das platonische Argument der Überlegenheit derjenigen Wissensform heran, welche die anderen in sich enthält und zur Darstellung zu bringen vermag. Ein Altruist steht nach Koslowski auch aus der Sicht der Ökonomie besser da, weil die Vorteile aus der Berücksichtigung der anderen vor den Nachteilen aus seinem Altruistensein überwiegen. Um den Einwand gegenüber seinem Formalismus in der Unterbestimmtheit der zu wollenden Zwecke zu entgehen, erklärt Koslowski, dass der Sinn der formalen Anstrengung darin besteht, »dass in der Gesellschaft die materialen Wertqualitäten und höherrangigen Güter der menschlichen Kultur verwirklicht werden und dass im einzelnen das Wachstum des inneren Menschen ermöglicht wird«.46 Diesen Sinn hat Koslowski in einer Tugendlehre und in einer Lehre vom höchsten Gut entwickelt. Damit konzipiert er eine Theorie, die alle drei Ethiktypen (Pflichten-, Tugend- und Güterlehre) berücksichtigt. Die Pflichten bestehen nach Koslowski in der Einhaltung der Regeln gemäß den Sachzwecken der Wirtschaft – der Bedarfsdeckung und der Selbstverwirklichung des Individuums.

45 46

Vgl. Koslowski, P.: Prinzipien der ethischen Ökonomie. 133. Vgl. ebd. 98.

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Viertes Kapitel

Die formale Pflichtenethik stellt das führende Prinzip zur Verfügung – das formale Koordinationsideal, an dem sich die Güterlehre (Vervollkommnung des Wirtschaftslebens) und die Tugendlehre (faires Wirtschaften) orientieren.47 In seiner Güterlehre sucht Koslowski die Einseitigkeiten der bisherigen Ethiken zu vermeiden. Das höchste Gut in Anlehnung an Aristoteles’ eudaimonia und Platons Idee des Guten48 kann Koslowski für seine Konzeption nicht fruchtbar machen, weil er an ihnen eine deutliche Benennbarkeit des Guten und eine Allgemeingültigkeit als gedankliche Sicherheit vermisst. Koslowski will es aber zugleich vermeiden, das höchste Gut utilitaristisch mit dem größtmöglichen Nutzen zu identifizieren.49 Er sucht einen Mittelweg im Anschluss an Max Schelers Unterscheidung von Wertqualitäten eines Gutes in der Rangfolge des Angenehmen, Nützlichen, Edlen und Heiligen, die das stellungnehmende Subjekt wahrnimmt, beurteilt und verwirklicht.50 Von besonderem Interesse für seine Wirtschaftsethik ist die Qualität des Nützlichen, die in den alternativen Nutzungsmöglichkeiten eines Guts besteht. Sie ergeben sich nicht allein aus der Tatsache, dass ein Gut physisch zur Verfügung steht, sondern daraus, dass der Mensch als kulturelles, rationales, emotionales und ästhetisches Wesen das Gut in seinen Qualitäten aufgrund seiner bisherigen Erfahrungen und Wertüberzeugungen einstuft. Während die Wertqualitäten des Angenehmen, Nützlichen und Edlen subjektiv erfahren werden, kann der Höchstwert des Heiligen nur in seiner Wirkung auf die Umwelt und die Öffentlichkeit wahrgenommen werden.51 Denn die Wertkategorie des Heiligen, aber auch solche Bereiche wie Kunst, Wissenschaft, oder personale Tugenden wie Tapferkeit und Gerechtigkeit

47

Vgl. ebd. 39. auch 43 f. Platos Ethik hält Koslowski für die höchstentwickelte Form einer Güterlehre, weil sie das einzelne Gute in eine Ordnung des Guten zu bringen vermag. Vgl. ebd. 104. 49 Das Kriterium der Gesamtnutzenmaximierung führt zu einer Ambivalenz und zu gänzlich verschiedenen »Zuteilungsgerechtigkeiten«. Wie die Güter verteilt werden, hängt davon ab, wie der Gesamtnutzen definiert ist, d. h. welche Fähigkeiten besitzen die Personen, Nutzen aus Einkommen zu ziehen. Je höher das Einkommen, desto größer der Nutzen, und so sind die Reichen immer besser gestellt. Die Annahmen identischer Bedarfsstruktur und Nutzungsfähigkeit sind aufgrund unterschiedlicher Erziehung, Ausbildung, sozialer Werte etc. unrealistisch und widersprechen dem Begriff der Person als eines unverwechselbaren Individuums. Vgl. ebd. 289 f. 50 Vgl. ebd. 105. Koslowski setzt sich dabei nicht mit den Begründungsproblemen der Methode Max Schelers auseinander. Zur Kritik vgl. Gerlach, J.: Das Zuordnungsverhältnis von Ethik und Ökonomik als Grundproblem der Wirtschaftsethik. In: Handbuch der Wirtschaftsethik. Band 1. Gütersloh. 1999. 863. 51 Vgl. ebd. 109 f., 112, 115. 48

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haben einen öffentlichen Wert. Koslowski nennt sie deshalb halb-öffentliche und halb-private Güter. Die halböffentlichen Güter wie Kunst, Religion und Wissenschaft fördern neben der Wirtschaft die Vereinigung unter den Menschen, die Ganzheit des sittlichen Ganzen. Für Koslowski ist diese Förderung nicht Selbstzweck, es gibt dafür ein ökonomisches Argument: Sie erhöht die wirtschaftliche Wohlfahrt und Kulturhöhe der Volkswirtschaft, schiebt die Grenze des volkswirtschaftlich realisierbaren Maximum der Wertverwirklichung hinaus.52 Neben der Wirtschaft sind die Wissenschaft, die Religion und die Kunst, die Hauptprovinzen der Kultur, eine Aufstellung, die stark an Hegel erinnert, ohne dass sich Koslowski auf Hegel bezieht. Bei der Analyse der Kultur müssen also die Leitwerte aller Subsysteme, u. a. die Effizienz, die Gerechtigkeit und Schönheit, berücksichtigt werden. Die Ökonomie als die Wissenschaft des Kultursachbereichs Wirtschaft ist zwar eine eigenständige Wissenschaft, sie ist nach Koslowski und Hegel aber im gesellschaftlichen Ganzen nicht autark. In dem Kultursachbereich Wirtschaft finden sich vielmehr Tendenzen zu einer Ausbildung der Kultur als Produktionskultur, Konsumkultur, Arbeitskultur. Im Anschluss an Hegel plädiert Koslowski dafür, die Arbeit nicht postmodern als eine Befreiung von der Arbeit, sondern als eine Befreiung in der Arbeit in einem Übergang von physisch-körperlicher in schöpferische Beschäftigung und Selbstverwirklichung anzusehen.53 Das Verhältnis der Wirtschaft zur Kunst z. B. als Kunstförderung durch private Unternehmen, Mäzene, ist Tatsache und spricht für die Notwendigkeit einer Kulturpolitik, die den postmodernen Tendenzen der Durchdringung der Gesellschaftsbereiche Wirtschaft, Religion, Kunst und Wissenschaft Rechnung trägt. Die halb-öffentlichen zu erstrebenden Kulturgüter geben dem sittlichen Ganzen Halt, sie motivieren auch zur Befolgung der ethischen Pflichten. Diese Motivation findet ihre Zusicherung und Verstärkung in den sittlichen Haltungen der Menschen als Tugenden. Die Partner handeln nach den ethischen Regeln, wenn sie sich gegenseitig auf die Regeleinhaltung verlassen können. Die sittliche Tugend als Disposition zur Einhaltung der Regeln übernimmt insofern jene Rolle der Zusicherung und führt darüber hinaus zur Ausbildung der Motivation, sich an der Produktion öffentlicher Güter zu beteiligen. Als Gewohnheit zur Pflichterfüllung ist die Tugend für den Einzelnen vorteilhaft, da die privaten Kosten der Selbsteinschränkung bei der Pflichterfüllung auf der Basis einer Geneigtheit langfristig niedriger sind, als beim Fehlen dieser Basis. Die Neigung kommt der Pflicht immer ein

52 53

Vgl. ebd. 108 und 118. Vgl. ebd. 138 f. bes. 144 ff.

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Viertes Kapitel

Stück näher, die Investition in ethisches Verhalten ist nicht ganz verloren.54 Wie im ersten Kapitel dieser Arbeit erläutert, hat bereits der junge Hegel die Geneigtheit zur Pflichterfüllung in Anlehnung an Schiller und gegen Kant aus der Überlegung der Ganzheit der Person befürwortet, doch er wäre nicht auf die Idee gekommen, ökonomische Argumente dafür zu suchen, die auch bei Koslowski nicht überzeugend sind. Wie die Tugendlehre das naturwüchsige Verhältnis von Zwecken und Mitteln zu einer Wandlung und Kultivierung bringt, so sollen sich die naturwüchsige Ökonomie der Begierden und die pflichtgemäße Ökonomie der Zwecke und Entsagungen in eine kultivierte Ökonomie der Tugenden verwandeln. Eine solche Tugendökonomie würde die enge Grenze der selbstinteressierten Ökonomie und der Verallgemeinerungsethik überschreiten. Die Tugend der Weisheit bedeutet nach Koslowski im ökonomischen Sinne, Zwecke und Pflichten identisch zu setzen, das Gesollte in Gewolltes verwandeln, was nicht nur eine innere Zufriedenheit, sondern einen Spareffekt verursacht, weil der Verbrauch identisch mit dem Nutzenzuwachs wäre. Darüber hinaus führt diese Identität zur Kultivierung der Mittel, was immer schwerer fällt, als die Zwecke zu kultivieren.55 In dieser Eigenschaft ist die Tugendlehre der Pflichtenlehre überlegen, bzw. beide gehören eng zusammen. Die Verknüpfung von Pflichten und Tugenden ist auch dem reifen Hegel ein Leitfaden, ja der Kernpunkt seiner Ethik. Während Hegel beide als identisch in Beziehung auf den sittlichen Staat setzt, sucht Koslowski diese in einem Oberbegriff der marktwirtschaftlichen Gerechtigkeit, die zugleich ethische Regel und Tugend ist, zu vereinen.56 Die Gerechtigkeit ist bei Koslowski im Anschluss an Plato das alles Durchdringende, die umfassende Tugend, »jedermann und jeder Sache gerecht zu werden und das die Welt durchdringende und fügende Gerechte in der eigenen Handlung und Produktion aufzunehmen und zu verwirklichen«.57

d) Die Preisgerechtigkeit als oberstes Prinzip der Wirtschaftsethik Der Sachzweck der Wirtschaft in der Sicherstellung von Bedarfsdeckung und Selbstverwirklichung der Marktteilnehmer erfordert die effiziente Verwendung und Verteilung von Ressourcen, aber auch die Einhaltung der Prinzipien

54 55 56 57

Vgl. ebd. 119 f. Vgl. ebd. 123. Koslowski beruft sich hier auf Hegel, ohne die Quelle zu nennen. Vgl. ebd. 125. Vgl. ebd. 127.

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der Gerechtigkeit, vor allem als Tauschgerechtigkeit bei der Bestimmung des Preises und des Tauschverkehrs.58 Die Tauschgerechtigkeit ist für Koslowski eine Form des allgemeinen Gerechtigkeitsprinzips, »jedem das Seine, vor allem sein Recht«59 zu geben, als eine beständige, vom Willen mitgetragene und von der Vernunft gelenkte Haltung. Diese sehr allgemeine Definition spezifiziert Koslowski, indem er »das Seine« als das preisliche Äquivalent für eine Leistung bestimmt. Koslowskis Imperativ dazu lautet: »Gib jedem im Tauschverkehr dasjenige, was ihm nach den unverzerrten Regeln des Preissystems zusteht«.60 Diesem Imperativ liegt offenbar eine spezielle Theorie des Preises zugrunde,61 die das Preissystem des Marktes als ein Verfahren der sozioökonomischen Willensbildung und Koordination und zugleich als ein System der sozialen Kontrolle der Richtigkeit wirtschaftlicher Strategien betrachtet. Insofern der Preis mit der Willensbildung zu tun hat, ist er keine rein ökonomische Größe, sondern auch ethischen Normen unterworfen. Die ethisch empfindlichsten Preise sind der Preis für das Darlehen, der Zins, und der Preis für die Arbeit, der Tariflohn. Koslowski ist dagegen, diese Preise zu moralisieren, aber er will sie auch nicht total freisetzen. Vielmehr sucht er zu zeigen, dass in den Prozess der Preisbildung zugleich die Gerechtigkeitskriterien hineinfließen, die für den Preis konstitutiv sind und daher ethisches Handeln rechtfertigen.62 Gerecht ist ein Preis, der zum einen den materialen Sachzweck der Wirtschaft, d. h. die Bedarfsdeckung und Selbstverwirklichung erfüllt, und zum anderen nach den Gerechtigkeitskriterien – Inklusion von Betroffenen und Berücksichtigung von Nebenwirkungen – entsteht. Die Inklusion der Betroffenen bedeutet die Beachtung der Interessen aller am Wirtschaftsgeschehen beteiligten Personen bei der Findung von individuellen Handlungsentscheidungen, und die Berücksichtigung der Nebenwirkungen bezieht sich auf die Folgen des eigenen wirtschaftlichen Handelns für andere Menschen und für die Umwelt. Diese zwei Kriterien, die Koslowski für die Gerechtigkeit postuliert, sind sehr allgemein gefasst. Sie sind als Kriterien für die Preisgerechtigkeit als faire Bestimmung des Preises jedoch nicht präzise und deshalb unzureichend, weil die Gerechtigkeit als Fairness schwierig zu bestimmen ist.63 Koslowski sucht deshalb die Fairness 58

Vgl. ebd. 225 ff. Ebd. 227. 60 Koslowski, P.: Wirtschaftsethik. 214. 61 Vgl. Koslowski, P.: Prinzipien der ethischen Ökonomie: 261 ff. 62 Vgl. ebd. 270. 63 J. Rawls bestimmt die Gerechtigkeit ebenfalls als Fairness. In einem fingierten Urzustand und in einem fingierten Urvertrag sollen den Personen die Chancen und die materiellen Güter fair verteilt werden. Über die vor diesem Zustand bestehenden wirt59

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Viertes Kapitel

konkret in den Bereichen, wo der Preismechanismus freie Räume lässt, wie z. B. bei der Einführung neuer Produkte, in der Fairness bei der Vertragsgestaltung, in der fairen Aufteilung der Konsumenten- und Produzentenrenten und überall dort, wo »Marktmacht«64 gegeben ist. Fairness bedeutet konkret für Koslowski den unmittelbaren Anschluss des individuellen Preises an den Marktpreis und die Unterlassung von Preisabsprachen der Monopolhabenden außerhalb des Marktes.65 Für ihn handelt es sich hierbei um das eigentliche ethische Problem in der Ökonomie, weil die Tugend der gerechten individuellen Preisgestaltung den Mächtigen und Wissenden vorbehalten bleibt.66 Diese müssen von ihrer Macht und ihrem Wissen zurücktreten und selbst ethisch handeln, niemand kann ihnen im Graubereich zwischen dem Kriminellen und dem Legalen das Gerechte auferlegen. Doch gerade hier zeigen sich deutlich die Schwächen der Konzeption von Koslowski. Problematisch ist dabei der Fall der Grenzmoral, der Erosion des Ethos, wenn das »Kapital der Ethik« aufgrund von zunehmender Zahl der »Schwarzfahrer« aufgezehrt wird.67 Ausgerechnet diejenigen, die maßgeblich an dieser Erosion beteiligt waren und am sittenerodierenden Markt ihr Kapital angehäuft haben, präsentiert Koslowski als diejenigen, die durch eigenes Vorbild wirtschaftsethischen Verhaltens den Erosionsprozess aufhalten sollen: Die Großunternehmen oder Branchenführer sollen aufgrund ihrer größeren finanziellen Macht auf einmal ihre eigenen Gewinnprinzipien negieren und neben ihren privaten Produktionen noch ein halb-öffentliches Gut – die Wirtschaftsethik – im eigenen Interesse produzieren, um noch mehr vom verbesserten Wirtschaftsethos zu profitieren. Die angewandte Wirtschaftsethik von Koslowski kommt den Managern und Unternehmensinhabern dabei zu Hilfe und entlastet sie in ihren komplexen Aufgaben, indem sie Entscheidungssituationen analysiert und ethisch beurteilt.68 Jede Entscheidungssituation enthält meh-

schaftlichen Verhältnissen soll jedoch ein »Schleier des Nichtwissens« in Kauf genommen werden. Vgl. Rawls, J.: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Übers. v. H. Vetter. Frankfurt a. M. 1979. 64 Koslowski, P.: Wirtschaftsethik. 215. 65 Koslowski vertritt damit die These, dass der Preis nicht ausschließlich und deterministisch auf dem Markt von Angebot und Nachfrage bestimmt wird, wovon die ökonomische Theorie ausgeht. Im auf verschiedene Weise zustande kommenden individuellen Preis sieht er freie Räume für ethische Preisgestaltung. Vgl. Koslowski, P.: Prinzipien der ethischen Ökonomie. 233 ff. 66 Vgl. ebd. 243. bes. 250. 67 Vgl. ebd. 222 f. 68 Dagegen plädiert W. Kersting entschieden dafür, dass Wirtschaftsethik nur dann ein sinnvolles und philosophisch vertretbares Unternehmen ist, wenn sie als institutionalistische Ethik, als ordnungspolitische Konzeption aufgefasst und entwickelt wird. Wirt-

A. Die formale Koordination im Zentrum der Ethischen Ökonomie

237

rere Motive verschiedenster Art, und sie sind alle miteinander verschränkt. Die Manager und alle Wirtschaftssubjekte haben nach Koslowski nicht nur die Maximierung von Shareholder-Value vor Augen. Shareholder-Value, das Zauberwort in der heutigen Betriebswirtschaftslehre, ist für Koslowski lediglich ein Kontrollprinzip für den Erfolg des Unternehmens und der Leistung seiner Mitarbeiter, nicht aber das einzige Prinzip des wirtschaftlichen Handelns.69 Dieser Vorstellung von der Wirtschaft widerspricht die Praxis, in der zunehmend gerade Großunternehmen nach dem Prinzip des ShareholderValue ihre Mitarbeiter bei steigenden Gewinnen entlassen. Der Staat ist daher gefordert, die Mitwirkungschancen aller Marktteilnehmer zu sichern. Die verschiedenen Leistungsfähigkeiten und die Kaufkraft verschiedener Personen ermöglichen ihnen einen ungleichen Zugang und ungleiches Agieren am Markt, was für Koslowski wie für Hegel nicht ungerecht ist. Wenn sich jedoch langfristig ein Ungleichgewicht der Mitwirkungschancen einstellt, dann sind Korrekturmaßnahmen seitens des, wie Koslowski sagt, »politischen Handlungszentrums der Gesellschaft möglich und notwendig«.70 Bei der Zuteilung von Mitwirkungschancen sowie elementaren Lebensgütern und bei der Erhaltung der kulturellen Gemeinsamkeit einer Volkswirtschaft, die durchaus im Hegelschen Sinne als Sittlichkeit verstanden werden darf, soll der Staat in die Wirtschaft eingreifen. Er soll lediglich formale Mindestbedingungen und keine Endzustände der Verteilung wie in einer Planwirtschaft bestimmen.71 Der Staat muss nach Koslowski sowohl die Handlungsfreiheit des Marktes sichern als auch verhindern, dass sich Zustände der ungerechten Zuteilung (nicht Verteilung) von Mitwirkungschancen bei der Realisierung des Sachzwecks der Wirtschaft festsetzen. Koslowski schränkt ein, dass das staatliche Handeln eine Antizipation eines vernünftigen Konsensus vernünftiger Personen über die Lösung des Gerechtigkeitsproblems sein soll und nicht ein Handeln nach starren Regeln. Diese Vorstellung nähert sich der Hegelschen Bestimmung des Staates als der Wirklichkeit der sittlichen Idee an, Koslowski wagt jedoch nicht, die Antizipation Wirklichkeit zu nennen und den Staat explizit zu bestimmen. Er verbleibt in dem Kantischen Horizont eines Reiches der Zwecke, das für Hegel jedoch zu abstrakt, zu unbestimmt ist. Die Vorsicht, mit der Koslowski schaftsethik ist ein moralisch obskures Unternehmen, wenn sie sich als individuenadressierte Führungsethik, als eine Sonderethik für wirtschaftliche Machthaber versteht. Vgl. Kersting, W.: Ethischer Kapitalismus? 146. Anm. 6. 69 Vgl. Koslowski, P. : The Limits of Shareholder Value. In: Journal of business ethics. Vol. 27. Nr. 1. Dordrecht. 2000. 146 f. 70 Vgl. Koslowski, P.: Prinzipien der ethischen Ökonomie. 280. 71 Vgl. ebd. 296.

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Viertes Kapitel

das »staatliche Handlungszentrum« betrachtet, ist auch die Schwäche seiner Konzeption – er will den Staat als ethische Instanz nicht thematisieren und kann dennoch nicht auf ihn verzichten. Der notwendige staatliche Eingriff in die Wirtschaft hat damit nach Koslowski einen eher unbestimmten und freilich riskanten politischen Charakter.72 Bedeutende Wirtschaftsethiker weisen Koslowskis wirtschaftsethisches Programm zurück. Es sei für den wirtschaftlichen Wettbewerb wie ein ungewolltes »illegitimes Kind«,73 das den Wettbewerb als Bedrohung empfindet. Seine Wirtschaftsethik sei eine »situative Reparaturethik«,74 und Koslowski versuche von außen ethische Kriterien und Forderungen an die autonome, wertfreie Ökonomie zu stellen. Allgemeine ethische Grundsätze werden auf ein spezifisches wirtschaftliches Problem angewendet, um es zu reparieren. Diese Methode birgt nicht nur die Gefahr, dass die reparierende Maßnahme zur Regel wird, sie trifft die brennende Problematik in der Wirtschaftsethik heute nicht wirklich. Auf Unverständnis stößt Koslowskis Indienstnahme der Religion: Wenn sie früher dem Kapitalismus verholfen habe, sich zu entfalten, so solle jetzt das kapitalistische Gewinnstreben zu ethischer Selbstbeschränkung ermutigen.75 Darüber hinaus kann eingewendet werden, dass die heutigen Manager gerade monopolhabender Großkonzerne nicht auf einem begrenzten Nationalmarkt handeln, wo sie sich auf ihre Verantwortung und Vorreiterrolle auf dem Markt einer überschaubaren Gesellschaft besinnen können. Sie messen sich vielmehr in einem globalen Wettbewerb, in dem verschiedene Kulturen und ethische Vorstellungen zusammenprallen und in dem es nicht um sittliche Werte, sondern ausschließlich um die Maximierung finanzieller Macht geht. Die fortwährende Entwicklung und Globalisierung der Wirtschaft scheint nicht Koslowski, sondern Hegel Recht zu geben. Die der Wirtschaft immanente »Dialektik«, der Widerspruch zwischen Egoismus und Gemeinwohl, treibt sie immer weiter über sich und ihre Grenzen hinaus, erlaubt ihr nicht die selbstreflexive Wertgebung, die ihr Koslowski zumutet. Die verantwortungsvolle Besinnung der Unternehmer auf ihre gesellschaftliche Rolle kann die Wirtschaft selbst nicht erzeugen, sie kann aber auch nicht erzwungen werden. Koslowski vertraut zu sehr auf die formal zu erreichende Marktkoordination, die alle einsehen und sich entsprechend verhalten, obwohl er 72

Vgl. ebd. 298. Vgl. Homann, K.: Wettbewerb und Moral. In: Lütge, Ch. (Hrsg.): Karl Homann. Vorteile und Anreize. Tübingen. 2002. 26. (zuerst 1990 erschienen). 74 Vgl. Ulrich, P.: Wirtschaftsethik auf der Suche nach der verlorenen ökonomischen Vernunft. In: Ders. (Hrsg): Auf der Suche nach einer modernen Wirtschaftsethik. Bern und Stuttgart. 1990.182. 75 Vgl. Kersting, W.: Ethischer Kapitalismus? 144. 73

A. Die formale Koordination im Zentrum der Ethischen Ökonomie

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die gegenwärtige Entwicklung der Wirtschaft keineswegs aus den Augen verloren hat. Das wird insbesondere in seiner Beurteilung der internationalen Wirtschaft deutlich, die genauso resignierend klingt wie bei Hegel: Solange ein politisches internationales Handlungszentrum, ein Weltstaat, fehlt, ist die Preisgerechtigkeit im Weltmaßstab eine Utopie und die konkrete politische Korrektur am Preisgefüge ist Vorteilsnahme durch Kartellisierung.76 Im Gegensatz zu Hegel kann sich Koslowski nicht auf die Rechtfertigung eines starken Sozialstaates in der Wirtschaft berufen, er beklagt dennoch den mit der Globalisierung einhergehenden Verlust von staatlichen Einwirkungsmöglichkeiten. Die Steuerung und Kontrolle der Wirtschaft entgleitet dem Staat zugunsten der internationalen Steuerung durch autonome, im Weltmaßstab wirkende Marktkräfte. Darüber hinaus thematisiert er eine von der Globalisierung getrennte, aber nicht ganz unabhängige gesellschaftliche Entwicklung in der Auflösung des Korporatismus und des »Verbändekapitalismus«.77 Als Grund dafür nennt er vor allem die Individualisierung des Faktors Arbeit und der Lebenschancen des Einzelnen, der nicht in eine soziale Schicht geboren wird, sondern seine Selbstverwirklichung auf dem Markt individuell ergreift. Das führt zu einem Bedeutungsverlust des Kartells des Tarifvertrages und zu einer Bedeutungssteigerung der Marktkoordination und der individuellen Vertragsabschlüsse. Hinzu kommt, dass nicht nur im nationalen Wettbewerb Unternehmen untereinander, sondern auch international Staaten um Unternehmen und Unternehmensstandorte konkurrieren. Der Staat wird zu niedrigen Steuern, damit zur Kostensenkung, und höherer Effizienz gezwungen. Es wird ein lean government – ein schlanker Staat – als Folge der zunehmenden Konkurrenz am Markt für staatliche Leistungen und als Folge der zunehmenden Globalisierung der Märkte gefordert. Der Souveränitätsverlust des Nationalstaates ist für Koslowski ambivalent: er bedeutet einerseits, dass der Souverän nicht mehr in souveräner Weise Fehlentscheidungen treffen kann, aber andererseits, dass er nicht souverän die Sicherheit seines Landes garantieren kann. Der Markt ist staatenlos geworden, Preisgerechtigkeit ohne Staat eine Utopie, so dass Koslowski nur auf die Ausbildung eines Weltwirtschaftsethos hoffen kann, in dem er dann seine globalisierte Wirtschaftsethik begründen kann.78 76

Vgl. Koslowski, P.: Prinzipien der ethischen Ökonomie. 281 ff. Koslowski, P.: Die zunehmende Bedeutung und Globalisierung der Märkte. Konsequenzen für Wirtschaftsethik und Wirtschaftskultur. In: Ders. (Hrsg.): Weltwirtschaftsethos: Globalisierung und Wirtschaftsethik. Wien. 1997. 48. Bes. 66 und 68. Eine Kapitalismuskritik findet sich auch bei Koslowski, P.: Ethik des Kapitalismus. 6. Aufl. Tübingen. 1998. 78 Koslowski konkretisiert vier Bestandteile des Weltwirtschaftsethos: Ethik des Ver77

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Viertes Kapitel

Zusammengefasst kann der wirtschaftsethische Ansatz von Peter Koslowski als ein Versuch gedeutet werden, Ökonomie und Ethik aufgrund ihres gemeinsamen Wirkungsbereichs – des vernünftigen, menschlichen Handelns – zusammen zu denken. Der Markt ist ein Mittelpunkt, an dem nicht nur ökonomische, sondern auch ethische Motivationen und Wertvorstellungen eine Rolle spielen und ihn daher mitbestimmen. Die Frage nach der ethischen Vernünftigkeit der Zwecke ist sogar der Frage nach der optimalen ökonomischen Erfüllung methodisch vorgelagert.79 Für die Bestimmung der Vernünftigkeit der Zwecke rekurriert Koslowski auf die Metaphysik von Leibniz, gelangt jedoch nicht zu einem eindeutigen Kriterium und zu einer adäquaten Bewertung des Marktes. Die formale Ethik Kants greift als Kriterium der Vernünftigkeit von Zwecken am Markt zu kurz, so Koslowski.80 Diese Einschätzung hat er mit Hegel gemeinsam. Auch Hegel nimmt für seine praktische Philosophie Anstoß an Kant, anders als Koslowski aber strebt Hegel keine Modifikation der Kantischen Lehre an, sondern eine Theorie metaphysisch fundierter allgemeiner Sittlichkeit, in der Ethik und Wirtschaft vermittelte Bestandteile einer Staatskonzeption sind. Diese Klarheit lässt sich bei Koslowski nicht finden. Zwar versucht auch er die Metaphysik für die Fundierung fruchtbar zu machen, doch sie bleibt als Religion ein Postulat. Das Soziale, wie Koslowski das gemeinsame, sittliche Leben nennt, ist die gemeinsame formale Koordination von Interessen, deren inhaltliche Ausrichtung die Antizipation des idealen Diskurses, den Richter und Politiker führen, ist. Die Antizipation dieses Diskurses in den Realbedingungen soll die Grundlage für die faktischen Diskurse von Organisationen, Märkten und Demokratien sein.81 Der ideale Diskurs soll den Reichen und Mächtigen zur Orientierung in ihrem wirtschaftlichen Handeln dienen und sie zur Preisgerechtigkeit motivieren. Der so bestimmte imaginäre Diskurs, der durchaus die Züge des Hegelschen idealisierten Staates trägt, soll den Ton der faktischen Diskurse angeben, woraufhin sich eine Wirtschaftskultur mit Gerechtigkeitssinn ausbildet, die eine angewandte Wirtschaftsethik reflektiert. Das Fehlen der Eindeutigkeit, worin der Verpflichtungsgrund und die

trages, Ethik des Respekts für die Sachregeln der Wirtschaft, die Bereitschaft und Gewohnheit, Preisgerechtigkeit walten zu lassen, und den anerkennenden Willen, das eigene Berufsethos als Wert anzuerkennen und als Verpflichtung in eigenem Wirtschaftshandeln zur Geltung bringen. Vgl. Koslowski, P.: Die zunehmende Bedeutung und Globalisierung der Märkte. Konsequenzen für Wirtschaftsethik und Wirtschaftskultur. In: Ders. (Hrsg.): Weltwirtschaftsethos: Globalisierung und Wirtschaftsethik. Wien. 1997. 74 ff. 79 Koslowski, P.: Wirtschaftsethik. 202. 80 Vgl. Koslowski, P.: Prinzipien der ethischen Ökonomie. 17. 81 Vgl. ebd. 253.

B. Die Vorteils-Ökonomik als wirtschaftsethischer Entwurf

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Vernünftigkeit der Zwecke bestehen, sind die Hauptprobleme im Ansatz von Koslowski. So wie Hegel versucht er Wirtschaft und Ethik zu vermitteln, überschätzt aber, trotz der eher zaghaften Hinzuziehung des Staates, die sich selbst einstellende Gerechtigkeit am Markt und die ethische Einsicht der Wirtschaftenden. Trotz der Kritik an Koslowski kann sein philosophisch fundiertes und kenntnisreiches Werk als der erste ernstzunehmende Versuch zur Thematisierung der Wirtschaftethik in der Gegenwart gewürdigt werden. An ihm haben solche führenden Wirtschaftstheoretiker wie Peter Ulrich und Karl Homann Anstoß genommen und Argumentationen wie z. B. über den Diskurs oder die spieltheoretische Kooperation weitergeführt.

B. Die Vorteils-Ökonomik von Karl Homann als wirtschaftsethischer Entwurf Während Koslowski für eine Durchdringung von Ethik und Ökonomie eintritt, sucht Homann deren Dualismus schon im Ansatz zu vermeiden. Er sucht philosophiehistorische Vorfahren und findet in der Hegelschen Auseinandersetzung mit der Kantischen Ethik eine solche Quelle. Wie Hegel kritisiert auch Homann Kants Auffassung der allgemeinen moralischen Regeln als ein postuliertes Sollen aus Achtung für das Gesetz. In vielen seiner zahlreichen Artikel findet sich diese Kritik an Kant und das unkritische Lob an Hegel. Hegel habe nach Homann die moralischen Pflichten nicht der Realität und ihren Funktionszusammenhängen entgegen, sondern in und mit ihnen gesetzt.82 Diese Funktionszusammenhänge habe Hegel nicht nur als sittlich, sondern, wie Homann überspitzt und nicht im Hegelschen Sinne sagt, als »sittlich zu machen«83 angesetzt. Hegel habe die Vernunftbegründung und die Vorteilsbegründung der Moral nicht entgegengesetzt, sondern beide zugleich gelten lassen. Ethik und Ökonomik84 seien, im Anschluss an Hegel, aus einer »ursprünglichen Einheit – Identität«85 wie »zwei Seiten der gleichen Medaille«, abzuleiten. Sie sind aufgrund ihrer ursprünglichen Identität aufeinander unter bestimmten Bedingungen rückführbar. So versteht Homann die »Identitätsphilosophie« Hegels, wobei erwähnt sei, dass nicht Hegel, sondern Schelling seine Philosophie so nannte.

82

Vgl. Homann, K.: Anreize und Moral. 96. Vgl. Homann, K.: Vorteile und Anreize. 48. Anm. 5. 84 Homann spricht von Ökonomik, um sich bewusst von der Politischen Ökonomie abzugrenzen. Diese Bezeichnungen werden im Folgenden als synonym gebraucht. 85 Vgl. Homann, K.: Vorteile und Anreize. 49 und 56. 83

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Viertes Kapitel

Homann ist es bekannt, dass die ursprüngliche Einheit bei Hegel metaphysisch begründet ist, doch er meint, er könnte Hegel unabhängig davon, für sich fruchtbar machen. Die Trennung der Hegelschen praktischen Philosophie von ihrem metaphysischen Fundament führt aber zu Missverständnissen. Für Hegel ist die ursprüngliche Einheit die Form des göttlichen Absoluten, das sich in den realen Gestalten des Lebens offenbart. Aufgrund ihres Ursprungs im Absoluten können die realen Gestalten, auch wenn sie sich für den endlichen Verstand widersprechen, als in der Vernunft vereint begriffen werden. Nicht der Verstand, mit dem Homann ausschließlich argumentiert, sondern die spekulative Vernunft kann nach Hegel die Identität der Gegensätze begreifen. Die realen Gestalten sind nach Hegel, aufgrund ihres durch die Vernunft erkennbaren Ursprungs im Absoluten, sittlich. Für Homann dagegen lässt es sich nicht erklären, woher bei Hegel die Bedingungen, welche die Sittlichkeit in den verschiedenen Teilbereichen des gesellschaftlichen Lebens stiften, kommen mögen. Homann hat den Eindruck, als ob diese bei Hegel »gegeben« oder evolutionär entstanden sind oder aber bei Hegelianern als »Üblichkeiten« gelten.86 Weil Homann keine Notiz von der Hegelschen theoretischen Philosophie nimmt, unterstellt er Hegel sogar, die Frage nach der Kraft, wie sich die Wirklichkeit dauerhaft sittlich hält, zu verdecken.87 Nach Homanns Einschätzung vertrete Hegel » – hinter aller spekulativen Philosophie – eine moderne eudämonistische Ethik«.88 Als Argument führt er den »Leitsatz« in Hegels Rechtsphilosophie an: »Das Individuum muss in seiner Pflichterfüllung auf irgendeine Weise zugleich sein eigenes Interesse, seine Befriedigung oder Rechnung finden«.89 Homann interpretiert diese Stelle als »die Forcierung, die Entfesselung des Eigeninteresses«,90 welches das Gemeinwohl fördert. Der von Homann zitierte und vom Kontext isolierte Halbsatz kann keineswegs als Leitsatz bezeichnet werden, denn erstens verwendet ihn Hegel nicht im Paragraphentext, sondern in der Anmerkung, und zweitens verzichtet Homann auf das Zitat der zweiten Hälfte des Satzes, die genau den ethischen Sinn angibt: »… und ihm aus seinem Verhältnis im Staat ein Recht erwachsen, wodurch die allgemeine Sache seine eigene beson86

Vgl. Homann, K.: Vorteile und Anreize. 51. Vgl. Homann, K.: Das Problem des Sollens. In: Joachim Ritter zum Gedenken. 2004. Stuttgart. 71. 88 Homann, K.: Braucht die Wirtschaftsethik eine »moralische Motivation«? In: Wirtschaftsethische Perspektiven VII. Band 228/VII. Hrsg. von Arnold. Berlin. 2004. 50. 89 Hegel, G. W. F.: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Hrsg. von J. Hoffmeister. Hamburg. 4. Auflage. 1955. § 261 Anmerkung. 90 Homann, K.: Braucht die Wirtschaftsethik eine »moralische Motivation«? 50. 87

B. Die Vorteils-Ökonomik als wirtschaftsethischer Entwurf

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dere Sache wird«. Der zweite Halbsatz passt Homann nicht ins Konzept, da er Hegels Staatsverständnis ohnehin als geschichtlich vergangen beurteilt.91 Doch die Hegelsche Rechtsphilosophie lässt sich kaum adäquat verstehen, wenn sie ihres zentralen ethischen Gehalts auf solche Weise beraubt wird. Der Staat in Hegels Philosophie ist vor allem ein genuin ethischer Staat, wie im vorigen Kapitel gezeigt wurde. Die Hegelsche Philosophie ist daher für Homanns Ansatz nicht entscheidend. Obwohl er immer wieder beteuert, der Identitätsphilosophie Hegels zu folgen, kann er dieses anspruchsvolle Programm weder erklären noch einlösen, wie im Folgenden zu zeigen ist.

a) Das Verhältnis von Ethik und Ökonomie in Homanns »Identitätsphilosophie« Die Identität bedeutet für Homann, dass die Ethik und die Ökonomie als zwei Diskurse ein und derselben Problematik menschlicher Interaktion zu verstehen sind.92 In ihrem Gegenstandsbereich sind sie nach Homann deckungsgleich, obwohl sie verschiedene Methoden und Argumente benutzen. Homann will nicht eine Brücke zwischen Ökonomie und Ethik als zwei Paralleldiskursen bauen, wie P. Koslowski. Er beansprucht, im Gegenteil, die strenge Ausdifferenzierung beider Diskurse, um unkontrollierte Ad-hocSprünge zum Zwecke der Kompensation und Korrektur zu vermeiden. Die gegenseitige Kompensierung oder Ergänzung würde nach Homann die möglichen theoretischen Erträge minimieren, die beide Disziplinen bei unabhängigem Alleingang und erhöhter Konzentration auf den eigenen Bereich erreichen würden. Damit verwendet Homann ein ökonomisches Argument für die noch zu begründende Abkoppelung der Ökonomie von der Ethik, und er beachtet weniger die Gefahr, dass Synergien, die bereits schon einmal realisiert waren, durch die Trennung in Disziplinen wieder verloren gehen, weil die ausdifferenzierten Disziplinen sich gar nicht mehr daran erinnern.93 Die theoretische Ausdifferenzierung macht für die Ökonomie den Weg für »saubere« methodische Forschung frei, die bei Bedarf von ihr in einen ethischen Diskurs »(zurück-)übersetzt«94 werden kann. Ethische Argumentation, wie z. B. das Problem der Menschenrechte, soll in der Ökonomie ausgeblendet bzw. nicht direkt, sondern nur »übersetzt«, d. h. als Vorteil-/Nachteilkalku-

91 92 93 94

Vgl. Homann, K.: Braucht die Wirtschaftsethik eine »moralische Motivation«? 55. Vgl. Homann, K.: Vorteile und Anreize. 52. Vgl. Koslowski, P.: Wirtschaftsethik – Wo ist die Philosophie? 16. Vgl. Homann, K.: Vorteile und Anreize. 52.

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lation, in den Diskurs der Ökonomie einfließen. Die Rückübersetzung ist deshalb möglich, weil beide Diskurse für Homann ursprünglich identisch sind und daher die Ökonomie eine Ethik mit anderen Mitteln ist. Aus der gegenseitigen Ausdifferenzierung und Rückübersetzung ergeben sich nach Homann, wie bereits erwähnt, große Gewinne auf beiden Seiten: Die Ethik profitiere von der Ökonomie, weil sie jetzt die Normen weit über die Gefühle und die unmittelbare Kontrolle auf anonyme Großgesellschaften nach dem Motto »ökonomisches Gewinnstreben dient der Solidarität aller« ausweiten kann. Die moderne Ethik bekommt durch die ökonomische Anreicherung ein neues »Design«,95 das aus Anreizen plus sanktionsbewährtem Kontrollsystem (als Recht) nach Homann Bestand hat. Anhand der ökonomischen Begründung lässt sich nach Homann eine präzisere und genauere Ethik entwickeln, weil sich die Menschenrechte, die Demokratie und die soziale Gerechtigkeit durch Vorteil-Nachteil-Kalkül besser erklären lassen. Homann bezeichnet sein Programm als »Endogenisierung der Moral in positive Ökonomik«,96 d. h. eine Ökonomie, die auf die Besserstellung aller durch Regeln zielt und die Solidarität aller Menschen fördert. Die Ökonomie profitiere von der Ethik, weil dadurch Transaktionskosten gesenkt werden können, wie auch Koslowski argumentierte. Darüber hinaus können ökonomische Vorteilskalkulationen durch Ethik verbessert werden, insofern sie mit den freilich rückübersetzten Visionen und Utopien wie Selbstverwirklichung, Menschenwürde, Freiheit aller, Solidarität etc. angereichert werden. Ausdifferenzierung und Rückübersetzung ist Homanns Formel der wechselseitigen Integration von Ökonomie und Ethik, die deshalb möglich sein soll, weil beide in einer ursprünglichen Einheit begriffen werden. Für diese Formel, Homann nennt sie Paradigma seiner Konzeption, beruft er sich auf Hegel, wobei er nicht den Inhalt der Hegelschen Einheit berücksichtigt, sondern lediglich ihre Form. Für Hegel ist dagegen die Form von dem Inhalt nicht zu trennen. Die daraus folgende Schwierigkeit der Hegel-Deutung Homanns zeigt sich sehr deutlich, wenn er versucht zu erklären, wie die Identität beschaffen ist. Er erklärt, wenn zwischen Ethik und Ökonomie, Eigennutz und Gemeinwohl schon immer ein Zusammenspiel stattfindet, »dann muss es auch – ›vorher‹ möglich gewesen sein«.97 Das »vorher« ist bei Homann nicht die ursprüngliche Einheit, wie bei Hegel letztlich das Absolute, sondern lediglich eine Rekonstruktion von Differenzen, d. h. erst nach dem Durchgang durch Differenzen und Differenzsetzungen kann diese Identität – hypothetisch – 95 96 97

Homann, K.: Vorteile und Anreize. 54. Homann, K.: Wirtschaftsethik: Wo bleibt die Philosophie? 220. Homann, K.: Anreize und Moral. 193.

B. Die Vorteils-Ökonomik als wirtschaftsethischer Entwurf

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entworfen werden. Die von Homann angesetzte Identität von Ethik und Ökonomie, die den Dualismus zu überwinden beansprucht, erweist sich als eine bloße Verbindung von Differenzen. Homann gesteht selbst die »schwache«98 Form von Identität. Dass er eigentlich keine Identität vor Augen hat, zeigt sich darin, dass er eine Rangfolge der Unterschiedenen annimmt. Während die Ökonomie alles mit der Vorteils-Nachteils-Kalkulation erklärt, ist die philosophische Ethik lediglich die Heuristik für die Forschung. Die Philosophie muss sich nach Homann mit der Rolle der Heuristik begnügen, um an die moderne Gesellschaft anschlussfähig zu bleiben. Das bedeutet, sie soll sich nicht in die Ökonomie und in die anderen Einzelwissenschaften einmischen und sie moralisieren, sondern das traditionelle Reservoir für Utopien, Wünsche und Träume weiter pflegen. Homann beansprucht, der Philosophie mit dieser Nebenrolle einen Bedeutungszuwachs zu geben. Für diese These rekurriert er auf Hegel. »Die in die soziale Welt und positiven Wissenschaften eingelassenen Funktionslogiken sind – historisch wie systematisch – als Realisationen genuin philosophischer Intentionen zu betrachten, und wenn deren konstruktive Weiterentwicklung, die Hegel als ›Einbildung‹ der Ideen in die Wirklichkeit bezeichnete, nicht abgebrochen, sondern fortgeführt werden soll, kann sie nur in den Sozial- und Denkstrukturen der modernen Welt erfolgen, nicht jedoch an ihnen vorbei oder gar gegen sie«.99 Die Hegelsche »Einbildung« hat aber genau den umgekehrten Sinn, sie ist eine Kritik an den Einzelwissenschaften, die sich ihre Selbstständigkeit und Unabhängigkeit von der absoluten Philosophie anmaßen. Ohne die Absolutheit der Philosophie zu beachten, von der aus Hegel die Einzelwissenschaften bestimmt, sucht Homann mit Hegel das Gegenteil zu beweisen, dass die Philosophie von ihrem Besserwissen zurücktreten und sich lediglich für die »Verbesserung der ökonomischen Logik«100 einbringen muss. Die philosophische Kritik darf nicht von außen an die Ökonomie herangetragen werden, sondern versucht eine überlegene Alternative zur Ökonomie für die positive Ökonomie und deren ungelöste Probleme anzubieten, so Homann.101 Das ist auch das von ihm anvisierte Programm einer wirtschaftsethischen Konzeption, die er als »philosophische Ethik mit ökonomischer Methode«102 reklamiert. Sie ist nach Homann philosophisch, weil sie der Begründungsfrage der Ethik gewidmet ist, und sie ist weniger philosophisch, weil sie unbegründet die ethische Tradition abweist. 98 99 100 101 102

Ebd. Homann, K.: Wirtschaftsethik: Wo bleibt die Philosophie? 223. Vgl. ebd. Vgl. ebd. 221. auch 217 f. Homann, K.: Anreize und Moral. 210.

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b) Die Neubewertung des Vorteilsstrebens, die Vertragstheorie und der staatliche Ordnungsrahmen als Grundpfeiler einer ethischen Gesellschaft Die traditionellen Ethiken, wie die antike oder die christliche Ethik, haben nach Homann ausgedient. Sie erfassen nicht die komplexen Probleme der modernen Gesellschaften, die durch die Ausdifferenzierung der Einzelwissenschaften und den Verlust des Wertekonsenses entstanden sind. Die Autoren der Tradition hätten genau gewusst, was gut und recht ist. In der Tugendethik ginge es dann nur um das Einüben des Verhaltens in Mäßigung, Tugend, Recht und Sitte, daher nennt er sie noch Handlungsethik. Diese Eigenschaften spielten früher eine Rolle, in der überschaubaren oikonomia bei Aristoteles, in den wirtschaftlichen, wie Homann sagt, »Nullsummenspielen«103 von Vor- und Nachteilen, während wir heute eine für die Antike undenkbare und unüberschaubare Wachstumswirtschaft haben. Die Ethik der Mäßigung ist nach Homann in der modernen Wettbewerbsgesellschaft obsolet geworden, sie kann den Gedanken nicht erfassen, dass individuelles Vorteilsstreben zum Motor der Solidaritätsmoral wird, dass das Streben nach individueller Besserstellung Vorteile für alle bringt. Es sei zunächst dahin gestellt, ob diese Meinung prinzipiell akzeptiert werden kann. Selbst wenn die antike Ethik die heutige ungeheure Wachstumswirtschaft nicht denken konnte, darf ein Bezug auf die antiken Philosophen nicht so unbegründet und undifferenziert ausfallen.104 Es stimmt zwar, dass die Tugendethik lange Zeit vernachlässigt wurde, daraus kann aber nicht gefolgert werden, dass sie gar keine Wirkung hat und schon gar nicht, dass sie nur eine individualistische Ethik ist.105 So zum Beispiel vertreten Plato, aber auch Hegel, eine Tugendethik vom Typ einer politischen Ethik und keine eudämonistische Ethik.106 Die ungerechtfertigte Abweisung der Tugendethik als geschichtlich vergangen könnte übergangen werden, wäre sie nicht das Argument für Ho103

Homann, K.: Anreize und Moral. 170 f. Das »Nullsummendenken« bei Homann bezieht sich auf die vormodernen, ethischen Lehren von uneigennütziger Mäßigung des eigenen Vorteilsstrebens und dem Vorrang des Gemeinwohls vor dem Eigennutz. 104 Es wird nicht klar, welche ethische Konzeptionen Homann mit den Bezeichnungen »traditionelle« oder »abendländisch-christliche Ethik« meint. Er nennt weder Autoren noch Epochen, so dass der Eindruck entstehen kann, dass er die gesamte Ethik-Tradition abweist. Undifferenziert nennt Homann die antike Ethik einmal wirkungslose, individualistische Tugendethik und ein anderes Mal eine »eudämonistische« Ethik. Vgl. Homann, K.: Braucht die Wirtschaftsethik eine »moralische Motivation«? 48. 105 Die Tugendethik gewinnt entgegen der ungerechtfertigten Verurteilung Homanns auch in der heutigen Zeit wieder an Bedeutung. 106 Homann, K.: Braucht die Wirtschaftsethik eine »moralische Motivation«? 50.

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manns eigene Konzeption. Es erweist sich, dass, antik oder modern, eine Tugendethik für Homann nicht in Frage kommt. Ohne sich aber mit den spezifischen Grundzügen der Tugendethik auseinanderzusetzen, lehnt sie Homann schlichtweg ab. Da man nach Homann in der heutigen ökonomiebesessenen Gesellschaft nicht mehr mit Tugend, Sitte, Recht und Gerechtigkeit argumentieren kann, bleibt die ökonomische Vorteilsbegründung als einzige adäquate Ethikfundierung für das 21. Jahrhundert.107 Die antiken Menschen hinterfragten nach Homann die Regeln zum Handeln nicht, sie wurden zu deren Befolgung angehalten. Der heutige Mensch dagegen gewinnt zunehmend die Kontrolle über die Bedingungen seines Handelns, er ist soweit, wie Homann übertrieben sagt, sogar seine genetische Ausstattung selbst in die Hand zu nehmen. Die Bedingungen der modernen Welt fordern nach Homann die Neubewertung nicht nur des individuellen Vorteilsstrebens, sondern des wirtschaftlichen Wettbewerbs und Wachstums. Diese Neubewertung bedeutet für ihn das Zugeständnis ihrer ausschließlichen Geltung in der Begründung der Wirtschaftsethik. Nicht die Tugend, sondern das Vorteilsstreben kann nach Homann der Kern der Begründung moralischer Regeln aus ökonomischen Vorteil-Nachteil-Kalkulationen sein. Ihm ist bewusst, dass seine Behauptung die philosophische Tradition provoziert. Er weiß, dass Kant zwischen Regeln der Klugheit und moralischen Pflichten unterscheidet, um gerade die Methoden der Berechnung für moralische Normen auszuschließen, doch für Homann ist diese Unterscheidung zu unbestimmt, »eine Restgröße, für die man nicht viel mehr als den Namen »genuine Moral«108 hat. Homann sieht die Trennung von individueller Klugheit und allgemeiner Sittlichkeit nicht ein, denn individuelle Moral kann ohnehin nur auf der Grundlage von entsprechenden institutionellen Bedingungen und den von ihnen ausgehenden Sanktionen und Belohnungen bestehen. In der modernen, anonymen Gesellschaft, in der die unmittelbare Kontrolle und Sanktion des unmoralischen Verhaltens einzelner Individuen praktisch unmöglich ist, gibt es den individualethischen Ausweg der Antike nicht. Moderne Gesellschaften verdanken sogar ihren Fortschritt, der nach Homann zugleich ökonomische und normative Dimensionen hat, solchen Interaktionsstrukturen, in denen ein einzelnes Individuum allen anderen sein Verhalten aufzwingen kann. Das demonstriert der wirtschaftliche Wettbewerb, den die Antike nicht kannte und der heute alle Bereiche des sozialen Lebens durchwaltet, so Homann. Ein Einzelner (z. B. ein einzelnes Unternehmen, das einen Vorteil hat) kann im Wettbewerb die anderen ausbeuten, 107 108

Homann, K.: Anreize und Moral. 5 ff. Bes. 9 f. Homann, K.: Vorteile und Anreize. 109.

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Viertes Kapitel

und sie können sich individuell nicht wehren, sie müssen mithalten. Solche Strukturen, welche die Leistungsschwachen ausbeuten und die Moral untergraben, sind vom Typ des Gefangenendilemmas. Das bedeutet für Homann: Kein Einzelner kann das gesellschaftlich erwünschte Resultat der Nichtausbeutung allein herstellen. Als Ausweg aus dem Dilemma sieht er nicht, wie P. Koslowski, die eigene Einsicht in die Notwendigkeit der gegenseitigen Kooperation, die dann beide Interaktionspartner besser stellt, sondern den institutionellen, ordnungspolitischen Ausweg.109 Für diesen Ausweg beruft er sich auf die Hegelsche Institutionslehre, wobei Homann sie umdeutet. Das Hegelsche »mysteriöse Hinüberswitchen«110 des eigeninteressierten Individuums beim Eintritt in die Korporation beansprucht Homann in einem »anspruchsvollen Sinne«111 zu erklären. Homann unterstellt Hegel, in den Institutionen lediglich Kontrollmechanismen zu sehen, die den Einzelnen durch Belohnungen und Sanktionen dazu veranlassen, das langfristige Wohl aller anderen in den Blick zu nehmen.112 Diese Erklärung von Homann erweist sich jedoch als reduktionistisch. Hegel bestimmt die Korporationen als Selbstverwaltungsorgane der Wirtschaft, in denen es nicht primär um die Kontrolle geht, sondern um die Förderung und Pflege des Gemeinsamen, was die eigensüchtigen Besitzbürger allgemeinheitsfähig machen soll. Neben der Aufgabe in der beruflichen Bildung ihrer Mitglieder, kümmert sich die Korporation um die Humanisierung der Lebens- und Arbeitsverhältnisse der in und durch die harten ökonomischen Abhängigkeiten der bürgerlichen Gesellschaft verarmten und sozial schwachen Menschen. Sie ist deren »zweite Familie«, die ihr sozialwirtschaftliches Auskommen garantiert. Die Korporation als sittliches Selbstverwaltungsorgan bildet darüber hinaus, wie im dritten Kapitel dieser Arbeit ausführlich betrachtet, die Basis für die Konzeption einer Repräsentativverfassung. Homann dagegen reduziert die vielschichtige Institutionslehre Hegels auf die Formel »soziale Kontrolle in und durch Institutionen«,113 die für Sittlichkeit sorgen. Diese einseitige Interpretation des ethischen Charakters der Hegelschen Korporation beruht auf der Umdeutung der Tugend als eine »Transformation« der Tugend in Rechtschaffenheit. Schon Hegel habe gewusst, dass die Rolle der individuellen Tugend in modernen Gesellschaften von den Institutionen übernommen werde, so Homann. In Hegels Rechtsphilosophie

109 110 111 112 113

Vgl. Homann, K.: Vorteile und Anreize. 59 und Anm. 14. Homann, K.: Das Problem des Sollens. 75. ebd. Vgl. ebd. 75 f. ebd. 76.

B. Die Vorteils-Ökonomik als wirtschaftsethischer Entwurf

249

§ 150, den Homann zitiert, findet sich der Gedanke, dass die eigentliche individuelle Tugend, die für Hegel die Tapferkeit ist, nur in Ausnahmesituationen, in heroischen Zeiten und weniger in einem sittlichen Rechtszustand hervortritt. Das bedeutet aber keineswegs, dass für Hegel die Institutionen die Rolle der individuellen Tugend übernehmen. In dem institutionalisierten sittlichen Leben reflektiert sich das immer metaphysisch verstandene Sittliche in den Individuen als deren Tugend der Rechtschaffenheit. Diese persönliche Tugend zeigt die Angemessenheit des Individuums, seines Charakters, an die Pflichten, welche ihm aus seinem sittlichen Leben im Rechtsstaat erwachsen. Diese Pflichten sind dem Menschen durch die Institutionen des sittlichen Staates, in dem er mit anderen Menschen friedlich und rechtlich zusammenleben will, vorgezeichnet. Im Anschluss an den »metaphysikfreien« Hegel behauptet Homann, die realen Bedingungen können durch eine Ordnungspolitik gestaltbar und reformfähig gemacht werden, indem bestimmte Handlungsregeln eingeführt, kontrolliert, belohnt und sanktioniert werden. Verhaltensänderungen können in den anonymen Großgesellschaften nur dadurch erreicht werden, dass man nicht die Spielzüge, sondern die Spielregeln ändert. Homann legt damit Wert auf die Unterscheidung zwischen Handlungen und Regeln in Anlehnung an die Unterscheidung zwischen Handlungs- und Regelutilitarismus. Alle Moral gründet auf sozialer Kontrolle, wie Homann totalitär postuliert. Die Kontrolle kann sowohl eine institutionelle Kontrolle als auch eine Selbstkontrolle der eigenen Anreize sein. Die Verhaltensregel sollen so gestaltet sein, dass gesellschaftlich Unerwünschtes und Ungesetzmäßiges sich nicht lohnen. Diese Regeln sollen nach Homann per Konsens gefunden und formuliert werden, und zwar so, dass alle einen Vorteil durch Regelbefolgung haben. Jene institutionellen Regeln sind verbindlich, deren Befolgung durch die Allgemeinheit gesichert ist, d. h. die normative Geltung einer Regel hängt von ihrer hinreichenden Implementierung ab. Die Menschen befolgen die Regeln, insofern sie dadurch einen Vorteil haben. Die Vorteile durch Selbsteinschränkung liegen in der Schaffung der Verlässlichkeit wechselseitiger Verhaltenserwartungen, die wiederum die Handlungsmöglichkeiten und die persönliche Freiheit erweitern. »Kollektive Entwicklung individueller Freiheit lautet das Programm einer metaphysikfreien ökonomischen Moralbegründung«.114 Aufgrund individueller Vorteils-/Nachteilskalkulationen stellt sich eine allgemeine ökonomische Vertrauens- und Vertragsgesellschaft ein, die alle wollen, weil sie mehr Vorteile als Nachteile haben. Homanns Konzept hängt jedoch von drei, noch zu untersuchenden Voraussetzungen ab: erstens 114

Homann, K. : Vorteile und Anreize. Tübingen. 112. Anm. 4.

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Viertes Kapitel

müssen alle Menschen nur ihren ökonomischen Vorteil darin suchen, zweitens ihn im Konsens finden und drittens muss die Allgemeinheit von einer höheren Instanz sichergestellt werden. Die erste Voraussetzung betrifft die anthropologische Annahme, dass der Mensch ein homo oeconomicus ist. Obwohl sich Homann stark dagegen wehrt, den Menschen als Nutzenmaximierer betrachten zu wollen, gesteht er die Realitätsnähe des homo oeconomicus zum Menschen ein. Das methodische Konstrukt, wie er sagt, ist ein Vorteilsautomat nicht in Bezug auf das sozial-psychologische Selbst, sondern in Bezug auf die Dilemmasituationen und die von ihnen ausgehenden Handlungsanreize. Konsequent gedacht würde das bedeuten, dass alle Interaktionen situativ mit der Ökonomie zu erklären wären und der Mensch als methodisches Konstrukt zwar nicht als Ganzes, aber als nur situativ Handelnder doch ein homo oeconomicus ist. Die ökonomisch-einseitige Erklärung von menschlichen Handlungen, auch wenn nur in bestimmten Situationen, nimmt Homann in Kauf, weil sie für ihn verlässlich ist und die stabile Grundlage für die weitergehenden moralischen, altruistischen und solidarischen Gefühle und Handlungsmotive ist. Der Mensch ist für Homann ein unergründbares Wesen, das nur methodisch als nutzenmaximierendes Abstraktum erfassbar sei. Doch ein solches künstliches Konstrukt des homo oeconomicus kann keine Freiheit haben und keine Ethik begründen. Die zweite Voraussetzung des Bestehens einer ökonomischen Vertragsgesellschaft betrifft ihre adäquate Gestaltung, so dass jeder darin seinen Vorteil finden kann. Das soll nach Homann gemäß einer Vertragstheorie geschehen, die von einem metaphysikfreien Naturzustand ohne Rechte ausgeht und einen Konsens über die Rechte festhält. Der Konsens findet für Homann auf zwei verschiedenen Ebenen statt – auf der Ebene der politischen Verfassung des Staates und auf der Ebene der wirtschaftlichen Vertragsbeziehungen. Er trennt die politische Verfassung von den Ordnungsformen und Steuerungsmechanismen der Wirtschaft, um zunächst grundsätzlich allen Formen der Interaktion Legitimität zusprechen zu können, wenn sie per Konsens akzeptiert werden können. So können nach Homann die politische Verfassung einerseits und der einfache Austauschvertrag über Wirtschaftsgüter andererseits als zwei Extreme einer Regelhierarchie betrachtet werden. Die Regeln als kollektiver Konsens entstehen innerhalb dieser Hierarchie auf verschiedenen Stufen.115 Beim Auftreten von Kollisionen mit den Interessen von 115

Diese sind von unten nach oben: einfacher Austauschvertrag, relationaler Vertrag zwischen Akteuren, Vertragsnetz, Gesellschaftsvertrag/Unternehmensverfassung, Verordnung/Satzung, einfaches Gesetz, Verfassung. Vgl. Homann, K./Kirchner, Ch.: Ordnungsethik. In: Lütge, Ch. (Hrsg.): Anreize und Moral. Gesellschaftstheorie – Ethik – Anwendung. Münster. 2003. 152.

B. Die Vorteils-Ökonomik als wirtschaftsethischer Entwurf

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beteiligten und unbeteiligten Betroffenen steigt die Regellegitimation auf einer höheren Ebene nach dem Prinzip der Delegation von Regelkomplexen von unten nach oben. In dieser Hierarchie der Regeln gibt es kein Rechtssetzungsmonopol des Staates, vielmehr scheint Homann die Rechtsetzung durch Private stärker zu legitimieren. Man brauche nur auf den einfachen wirtschaftlichen Austauschvertrag zurückzugehen, um die Legitimationsbasis der Rechtssetzung als Konsens der Parteien zu finden. Wenn sich zwei Akteure in einem Austauschvertrag einigen, dann liegt schon eine Kollektiventscheidung vor. Kommt es zu Konflikten mit den Interessen anderer Akteure, dann soll neu verhandelt werden und so weiter bis zu den Verfassungsfragen. Der Konsens in der Wirtschaft, in dem die Regeln nach ökonomischen Prinzipien festgesetzt werden, scheint für Homann musterhaft für den Konsens in der politischen Verfassung zu sein. Damit sind die Wirtschaft und der Staat nicht mehr getrennte Sphären, vielmehr in einer vom ökonomischen Kalkül dominierten Organisation verknüpft. Mit diesem Modell reduziert Homann den Staat auf eine Ökonomiegesellschaft und beansprucht damit, den Vorwurf Hegels gegen die Vertragstheorien von Hobbes und Rousseau, Hegel nannte sie empirisches Naturrecht, zu entkräften.116 Es gehe nicht um die Durchsetzung individueller Präferenzen, wie Homann die Kritik Hegels interpretiert, sondern um einen allgemeinen Konsens für Regeln, innerhalb dessen jeder seine individuellen Interessen verfolgen kann.117 Diese Interpretation trifft jedoch nicht den Kern der Hegelschen Kritik an den Vertragstheorien. Hegel akzeptiert nicht die Ökonomiegesellschaft als sittliches Gemeinwesen. Der Hegelsche Staat ist nicht, wie bei Homann, ein Vertragsstaat zwischen einzelnen Willen.118 Weil der einzelne subjektive Wille ohne die Identität mit dem allgemeinen Willen einseitig und unvernünftig ist, kann ein solches Prinzip nicht einen vernünftigen Staat, sondern lediglich eine Ökonomiegesellschaft einzelner selbstsüchtiger Personen begründen. Die Vernunft ist für Hegel letztlich metaphysisch begründet, doch das ignoriert Homann konsequent. Hegel bezweifelt die Vernünftigkeit eines gesellschaftlichen Konsensus über die Vorteile aller auch deshalb, weil jeder unter Vorteil und Glück Verschiedenes versteht. Homann übersieht diese Schwierigkeit nicht. Die Vorteile sind für ihn nicht nur monetäre Größen, sondern alles, was jeder Mensch selbst als Vorteil und Glück ansieht, u. a. Einkommen, Vermögen, Gesundheit, Freiheit, Muße,

116

Die Kritik Hegels findet sich in seinem Jenaer Naturrechtsaufsatz, die insbesondere im zweiten Kapitel dieser Arbeit umfassend erläutert wurde. 117 Homann, K.: Anreize und Moral. 62. 118 Auf diese Weise hat Hegel gegen Rousseaus Gesellschaftsvertrag argumentiert.

252

Viertes Kapitel

Zeit und die Verwirklichung eines persönlichen Lebensplans in Gemeinschaft mit anderen.119 Dennoch nimmt Homann einen gesellschaftlichen Konsens als möglich an, in dem jeder seine ökonomischen Vorteile behaupten kann. Gegen den Konsens über die Vorteile aller kann zweierlei eingewendet werden. Zum einen verändern sich die Vorstellungen über die individuellen Vorteile, die Menschen haben, ständig, manchmal kurzfristig. Ein erreichter Konsens über Regeln kann kurzfristig nicht mehr das individuelle Vorteilsdenken befriedigen, und dann würde die gleiche Situation eintreten, die Homann immer wieder an Kant kritisiert: Die Einhaltung der Regel entgegen den Neigungen. Homann würde auf diesen Einwand antworten, dass individuelle Präferenzänderungen methodisch nicht in den Blick kommen, weil die Verhaltensabweichungen der Veränderung der Restriktionen zugerechnet werden.120 Doch die Restriktionen ändern sich nicht so schnell wie das Verhalten. Der ständige Anpassungsprozess führt zu einer unendlichen Expansion der Gesetze und Vorschriften, wie bereits Hegel mit Bezug auf Plato den bodenlosen Gesetzesformalismus kritisiert. Zum anderen kann mit Hegel eingewendet werden, dass Glücksvorstellungen wie Arbeitseinkommen und Gesundheit oder Arbeitseinkommen und Muße einander widerstreiten und sich gegenseitig vernichten können. Die Glückseligkeit ist für Hegel und Kant kein allgemeiner Begriff. Unter den Vorstellungen von Vorteil und Glück herrscht die »Dialektik der Triebe und Neigungen«, wie Hegel sagt, die deren Unangemessenheit für das zu Erstrebende begründet. Hegels Einwand der »Dialektik der Triebe und Neigungen« kann durchaus gegen die Konzeption von Homann vorgebracht werden, entgegen seiner Verabsolutierung des Vorteilsdenkens. Homann würde diesen Einwand mit seinem Argument zu entschärfen suchen, dass nicht mehr der Mensch oder ein Menschenbild als Bezugspunkt der Begründung einer modernen Ethik, einer Motivationstheorie fungieren kann, sondern die Situation und deren Anreizstruktur.121 Es ist sehr fraglich, ob eine Ethik lediglich mit der Situation argumentieren kann, denn sie kommt auch heute nicht ohne ein Menschenbild aus. Gut für den Menschen ist nicht nur sein Vorteil in einer Handlungssituation, sondern das, was seinen Fähigkeiten entspricht, nicht nur denen des rationalen Egoisten, sondern auch des sozialen und politischen Lebewesens.122 Kant legt seiner Ethik das Bild des Menschen als vernünftigen

119

Vgl. Homann, K.: Anreize und Moral. 174. Auch Homann, K.: Braucht die Wirtschaftsethik eine »moralische Motivation«? 55. 120 Homann, K.: Anreize und Moral. 97. 121 Homann, K.: Braucht die Wirtschaftsethik eine »moralische Motivation«? 56. 122 Vgl. Siep, L.: Ethik und Menschenbild. Münster. 1999. 23.

B. Die Vorteils-Ökonomik als wirtschaftsethischer Entwurf

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Selbstzwecks zugrunde, und Hegel geht von der Vorstellung eines vernünftigen, sittlichen Staatsbürgers aus. Vernünftig bedeutet dabei selbstgesetzgebend, nicht instrumentell für Vorteil. Für seine Vertragstheorie und Vorteilsbegründung der Ethik sucht Homann die Konzeption von J. Buchanan fruchtbar zu machen. Nach Homann vertrete Buchanan, ohne es zu wissen, die Hegelsche Argumentationslinie, dass die Pflichten über die Gestaltung von Regeln indirekt und nicht als Sollen ins Spiel kommen.123 Nicht ein Sollen ist die Motivation zur Regeleinhaltung, sondern aus den Regeln selbst gehen die Handlungsanreize hervor. Die Anreize und deren Befolgung sind in Homanns Konzeption zentral. Sein Grundsatz lautet: Die Pflichterfüllung, er nennt sie ethische Normativität, kommt nicht durch ethische Motive oder sittliche Haltungen, sondern lediglich über Anreize zustande.124 Sie sind die Grundkategorien der Ökonomie, die sich dann nicht als eine enge Wirtschaftswissenschaft, sondern als eine Ökonomie menschlicher Interaktionen versteht.125 Homann glaubt, dass die ökonomischen Anreize nicht nur für die Ökonomie zentral sind. Er beansprucht darüber hinaus zu zeigen, dass in der gegenwärtigen modernen Gesellschaft immer mehr Lebensbereiche auf der Anreizsteuerung basieren. Alle Normen und Regeln gesellschaftlichen Lebens lassen sich nach Homann vertragstheoretisch in ökonomischen Kalkulationen rekonstruieren. Normen, Regeln, Ideen, Ideale, Prinzipien sind für Homann lediglich die Abbreviatur langer ökonomischer Kalkulationen und bilden die Heuristik für die Wahl des Paradigmas der positiven Ökonomik.126 Daher skizziert er eine ökonomische Theorie moderner Gesellschaften, die nicht moralische Normen oder Ideale begründet, sondern lediglich nach den Chancen für deren Realisierung durch menschliches Handeln nach dem Reiz-Reaktions-Schema fragt. Homann unterstellt, dass ein ökonomischer Wettbewerb um Vorteile auch in solchen Bereichen wie Politik, Wissenschaft, Erziehung, Ausbildung, zwi123

Vgl. Homann, K.: Vorteile und Anreize. 60. Diese Argumentation erinnert an das behavioristische, mechanistische Reiz-Reaktions-Schema von J. Watson. Alles menschliche Verhalten wird von ihm vollständig auf beobachtbare Veränderungen des Organismus qua Reaktionen auf bestimmte Signale und Einwirkungen der Außenwelt zurückgeführt. Der Mensch sei nach dieser Theorie eine »organische Maschine«, und er wird in seinem Wesen und Charakter vollständig von außen her konstruiert. Vgl. Watson, J.B.: Der Behaviorismus. Berlin/Leipzig. 1930. 247. Zur näheren Auseinandersetzung mit der behavioristischen Theorie in Bezug auf die Bildung des Selbstbewusstseins vgl. Düsing, E.: Intersubjektivität und Selbstbewusstsein. Behavioristische, phänomenologische und idealistische Begründungstheorien bei Mead, Schütz, Fichte und Hegel. 25-95. 125 Vgl. Homann, K.: Vorteile und Anreize. 63. 126 Homann, K.: Anreize und Moral. 65. 124

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Viertes Kapitel

schen den Organisationen, Vereinen, sogar beim Heiraten stattfindet. Damit wird die Ökonomie eine »imperialistische« Wissenschaft, sie bezieht sich auf alles, sie hat keinen Gegenstand mehr, sie ist eine universale Methode für die Erklärung und Gestaltung der Resultate von Interaktionen in Dilemmastrukturen.127 Die wertevermittelnden Instanzen wie Familie, Schule, Kirche sind für Homann »naiver Idealismus«.128 Solidarität und Gemeinsinn sind die Nebenprodukte des eigensüchtigen Handelns.129 Werte wie Freiheit, Solidarität und Familie sind für Homann ohnehin nicht handlungsleitend, vielmehr sei im Pluralismus von Werten, Religionen, Weltanschauungen und Moralbegründungen angemessen, eine verlässliche, für alle nachvollziehbare und allgemeine »Vorteil-Nachteil-Grammatik«130 anzuwenden. Eine institutionelle Rahmenordnung soll nur die Eigensucht kanalisieren, um die gewünschten allgemeinen Werte zu bekommen. Damit ist die dritte Voraussetzung für das Gelingen einer ökonomischen Vertrauensgesellschaft auf der Basis des Vertrages angesprochen. Sie betrifft die Gewährleistung der allgemeinen Befolgung der Regel durch eine höhere Instanz. Grundüberzeugung Homanns ist, dass die moderne, anonyme Welt immer weniger auf den unmittelbaren handlungsleitenden Motiven der Akteure und auf ihren individuellen Tugenden basiert und daher sanktionsfähiger Ordnungen notwendig bedarf.131 Nicht Remoralisierung durch Recht und Polizei sei angemessen, sondern Entmoralisierung und Anreizsteuerung.132 Ordnungsethik wird durch (Ordnungs-) Politik gestaltet, so Homann.133 Die Ökonomie bedarf für ihre theoretische und empirische Arbeit einer normativ-politischen Grundlage des demokratischen Staates. Homann, wie auch Koslowski, gebraucht das Wort Staat kaum, Homann umschreibt ihn mit Worten wie Demokratie, staatlicher Rahmen, sozialer Ordnungsrahmen. Die Handlungsbedingungen durch staatliche Ordnungspolitik sind so zu gestalten, dass die Akteure nicht gegen ihre Interessen, sondern in Verfolgung ihrer Interessen das Gemeinwohl, d. i. utilitaristisch das größtmögliche Glück der meisten in der Gesellschaft und die Solidarität befördern.134 Die Marktwirtschaft sei der Ort solcher Politik, und die Demokratie sei die

127 128 129 130 131 132 133 134

Vgl. Homann, K.: Vorteile und Anreize. 118. Homann, K.: Anreize und Moral. 70. Ebd. 70 f. Ebd. 83. Homann, K./Kirchner, Ch. : Ordnungsethik. 158. Homann, K.: Vorteile und Anreize. 196 ff. Homann, K./Kirchner, Ch. : Ordnungsethik. 146. Homann, K.: Wirtschaftsethik: Wo bleibt die Philosophie? 210.

B. Die Vorteils-Ökonomik als wirtschaftsethischer Entwurf

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einzige taugliche soziale Ordnung, so Homann.135 Sein Vorbild ist die ökonomische Theorie der Demokratie von J. Buchanan, die das kollektive Handeln aus den ökonomischen Vorteilskalkülen der Individuen ableitet und in einem Konsens festlegt.136 Mit Buchanan versucht Homann zu zeigen, dass die Hegelsche Philosophie mit der Demokratie kompatibel ist.137 Dieses Unternehmen kann kaum gelingen, da Hegel ausdrücklich und unmissverständlich die konstitutionelle Monarchie lehrt. Um seine Behauptung dennoch zu beweisen, nimmt Homann eine unzutreffende Prämisse in Kauf. Er unterstellt, Hegel habe deshalb die Vertragstheorie von Hobbes kritisiert, weil er sie missverständlich als umfassende Theorie über das Wesen des modernen Staats gedeutet habe.138 Wie im zweiten Kapitel dieser Arbeit gezeigt, kritisiert Hegel in seinem frühen Jenaer Naturrechtsaufsatz die Vermischung der Erkenntnisquellen – Empirie und Vernunft – bei der Konzeption der Sittlichkeit. Hegel hat Hobbes vorgeworfen, den sittlichen Rechtszustand aus einem Abstraktum des Naturzustandes, in dem jeder gegen jeden um seinen Vorteil kämpft, künstlich herausgebildet zu haben. Künstlich, weil es diesen Zustand empirisch nicht gibt; ferner sind es nicht die blanken Vorteile, die uns zur Allgemeinheit bringen, sondern die gebildeten, lebendigen Sitten, die sowohl der Familie, als auch der bürgerlichen Gesellschaft, als auch dem Staat innewohnen, weil sich der objektive Geist darin verwirklicht. In seiner Manifestation in den sozialen Sphären gesellschaftlichen Lebens kalkuliert der Geist nicht die Vor- und Nachteile. Eine solche Unterstellung verkehrt die Philosophie Hegels. Zusammenfassend kann die Konzeption Homanns als eine moderne utilitaristische Variante der Wirtschaftsethik bezeichnet werden, wobei Homann selbst die Spielart des Utilitarismus als Eudämonismus bevorzugt.139 Da die

135

Vgl. Homann, K.: Anreize und Moral. 2003. 87 f. Vgl. Homann, K.: Anreize und Moral. 91. Vgl. auch Homann, K./Kirchner, Ch. : Ordnungsethik. 150 ff. Karl Otto Apel lehnt ausdrücklich die von Homann intendierte Konsensbildung im Sinne des methodischen Individualismus ab. Apel spricht von einem Fehlschluss, wenn Homann die ethische Legitimation der demokratischen Willensbildung vom kontingenten Wollen der Individuen normativ abhängig machen will. Vgl. Apel, K.-O.: Institutionsethik oder Diskursethik als Verantwortungsethik? In: Harpes, J.-P./Kuhlmann, W.(Hrsg.): Zur Relevanz der Diskursethik. Anwendungsprobleme der Diskursethik in Wirtschaft und Politik. Münster. 1993. 194 f. Vgl. auch Apel, K.-O.: Diskursethik als Ethik der Mit-Verantwortung vor den Sachzwängen der Politik, des Rechts und der Marktwirtschaft. In: Apel, K.-O./Buckhart, H.(Hrsg.): Prinzip Mitverantwortung. Grundlage für Ethik und Pädagogik. Würzburg. 2001. 91. 137 Homann, K.: Das Problem des Sollens. 79 ff. 138 Ebd. 80. 139 Homanns Eudämonismus kann nicht im Sinne von Aristoteles gedeutet werden. 136

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Viertes Kapitel

Versuche, Handlungsregeln aus höheren ethischen Prinzipien zu begründen, in der multikulturellen Welt für Homann strittig geworden sind, muss eine universale nicht-normative Begründungsmöglichkeit gefunden werden. Im Anschluss an J. Buchanan hält Homann das individuelle Vorteilsstreben, das er auch in der traditionellen Ethik als Thema findet, für den einzigen Kandidaten. Die individuellen vorteilsgeleiteten Interessen konstituieren nach Homann den Gesellschaftsvertrag als einen Konsens über allgemeine Verhaltensregel. Die Vorteilsbegründung der Ethik bei Homann bezieht sich nicht auf Handlungen, sondern auf die Handlungsregeln, wie im Regelutilitarismus.140 Wenn die Einhaltung der Regeln Vorteile bringt, dann folgen daraus ethische Selbstbindungen an die Allgemeinheit zwecks Aufbau einer Reputation, die aber von Sanktionen seitens der staatlichen Ordnung begleitet werden. Wer sich selbst an die festgelegten Regeln hält, der macht sich für Geschäfte um gegenseitige Vorteile attraktiv, so lautet die Ethikformel Homanns, die nach seiner Überzeugung als einzige vollends das zentrale und einzige Problem der Implementierung von Normen löst. Die Vorteilserwartungen begründen nach Homann die Moral, die Moral dient dem eigenen Vorteil, insofern ist sie begründet. So lautet die utilitaristische Formel von Homann, die keine definitive Linie zwischen Moralischem und Unmoralischem zieht, daher der öffentlichen und wissenschaftlichen Diskussion darüber überlegen sein möchte. Es geht nicht mehr um Egoismus versus Gemeinwohl, sondern darum, ob das individuelle Vorteilsstreben auf Kosten anderer oder unter Einschluss des Vorteils anderer zustande kommt. Dass die Akteure das zweite vorziehen, schlussfolgert Homann daraus, dass sie einsehen, aus solcher Moralbefolgung hätten sie größere Vorteile. Trotz dieser starken Annahme und der Undefinierbarkeit der individuellen Vorteile als solcher geht Homann noch einen Schritt weiter und behauptet, es sei eine Umorientierung in der Ethik fällig. Die Etablierung moralischer Regeln sei selbst Ausdruck der Entfesselung des individuellen Vorteilsstrebens.141 Statt Appelle zur Transformation der ökonomischen Handlungslogik zu fordern, sollte man nach Homann diese benutzen und im Sinne der Moral gestalten. Hinsichtlich der Handlungsmotive sollte die Wirtschaftsethik eine Anreizethik sein, und hinsichtlich der Zugriffsebene sollte sie eine Ordnungsethik sein. Die philosophische Ethik soll einen Paradigmenwechsel von der Tugendethik zur Anreizethik, d. h. nicht durch Tugenden, sondern durch

Eudämonismus ist für Aristoteles ein sittliches Ziel, das Tugend als oberste Bedingung einschließt. Vgl. Düsing, K.: Fundamente der Ethik. 22 ff. 140 Homann, K.: Anreize und Moral. 172, auch 173, 174, 175. 141 Ebd. 177, 178 und 179.

C. Die zivilisierte Bürgergesellschaft als das wirtschaftliche Paradigma

257

Anreize sollte man zum moralischen Handeln motivieren. Die Ökonomie soll strikt positiv bleiben und ihren normativen Sinn endlich einsehen. Eine solche »Ökonomik«142 hat Homann entwickelt, eine Ethik dagegen nicht. Auf die Frage, was seine Konzeption noch mit Ethik zu tun hat, gibt Homann zwei Antworten: Zum einen habe er das Eigeninteresse, das schon immer ein Thema in der philosophisch-ethischen Tradition war, weiterentwickelt und zugespitzt, und zum anderen sei sein ethischer Standpunkt offenbar so ungewöhnlich, dass man ihn in der öffentlichen ethischen Diskussion gar nicht zu kennen scheint.143 Diese Argumente Homanns, die nicht den Inhalt seiner Konzeption verteidigen, sondern seinen Lesern und Kritikern einen Vorwurf der Unkenntnis machen, beantworten nicht die gestellte Frage. Das anspruchsvolle Programm, das am Anfang mit Bezug auf Hegel vorgetragen wird, wird von Homann kaum eingelöst. Er sucht zwar immer wieder den Bezug zu Hegel, was aber nur zu interpretatorischen Schwierigkeiten führt. Die von Homann vertretene »Identitätsphilosophie« im Anschluss an Hegels geht davon aus, dass Ethik und Ökonomie aus einer ursprünglichen Einheit abgeleitet werden, einen eigenen Weg gehen, und sich, angereichert unter veränderten Bedingungen, wieder vereinigen, was für Homann explizit die Assimilation der Ethik in die Ökonomie bedeutet.144

C. Die zivilisierte Bürgergesellschaft als das wirtschaftsethische Paradigma von Peter Ulrich Während Koslowski einen Paralleldiskurs von Ethik und Ökonomie und Homann deren Integration als »zwei Seiten einer Medaille« deklariert, konzipiert ein anderer prominenter Vertreter der gegenwärtigen Wirtschaftsethik – Peter Ulrich – eine Einbettung der Ökonomie in die politische Ethik. Die Ökonomie wird in den Horizont des vernünftigen, ethischen Handelns gestellt, daher hat die Ethik den Primat.145 Gleichwohl soll das kein emanzipatorischer Rückschritt der modernen Ökonomie in die Ethik sein, vielmehr soll die Ökonomie als eine normative Idealtheorie begriffen werden, welche die Wirtschaft als einen wesentlichen Bereich des sozialen Lebens reflektiert. 142

Vgl. Homann, K./Suchanek, A.: Ökonomik. Eine Einführung. Tübingen. 2000. Homann, K.:Anreize und Moral. 179. 144 Vgl. Gerlach, J.: Das Zuordnungsverhältnis von Ethik und Ökonomik als Grundproblem der Wirtschaftsethik. In: Handbuch der Wirtschaftsethik. Band 1. Gütersloh. 1999. 848. 145 Vgl. Ulrich, P.: Integrative Wirtschaftsethik. Grundlagen der lebensdienlichen Ökonomie. Bern. 1997. 121. 143

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Viertes Kapitel

Ethik und Wirtschaft sind ineinander verschränkt, und zwar so, dass Normativität nicht die Kehrseite der Ökonomie, sondern ihr Fundament ist. Die Aufdeckung der ethischen Fundamente der Ökonomie ist nach Ulrich die Aufgabe eines integrativen, eigenständigen Forschungsprogramms, das er Wirtschaftsethik nennt. Den Einwand, dass dieses Programm im Vergleich zur Ökonomie keinen abgrenzbaren Normenbereich als spezifischen Reflexionsinhalt erkennen lässt, versucht Ulrich zu entkräften, indem er sich von der Ökonomie als einer Wissenschaft des reinen ökonomischen Denkens und Handelns distanziert und sie im weiteren, diskursethischen Kontext als Sozialökonomie begreift. Doch die wirtschaftlichen Normen sind der identische Gegenstand von Ökonomie und Wirtschaftsethik, und Ulrich bestätigt das indirekt, indem er die ethisch-kritische Reflexion über die Normen in der Wirtschaft den Ökonomen vorbehält, denn um ihre ethischen Fundamente aufzudecken, muss man sich nach Ulrich in der Ökonomie gut auskennen, dafür reiche die Kompetenz der Philosophie nicht aus.146 Ulrich unterstellt damit, die Ökonomie sei fähig, sich selbst zu kritisieren, sich entgegen ihren ökonomischen Prinzipien zu verhalten und selbst die eigenen ethischen Wurzeln zu reflektieren. Jedoch ist eine solche Unterstellung, die Ulrich freilich nicht ausdrücklich zugibt, die sich aber aus seinen Prämissen folgern lässt, eine zu harmonistische Auffassung von der Wirtschaft. Obwohl er die Einbettung der Ökonomie in die Ethik anstrebt, bleibt seine Wirtschaftsethik in ein Stück Sozialökonomie und ein Stück politische Ethik gespalten: Sie will einerseits der Ökonomie als Sozialökonomie die Geltung verschaffen und andererseits die ethischen Legitimitätsansprüche der Wirtschaft innerhalb der Gesellschaft hinterfragen. Es ist jedoch zweifelhaft, ob Ulrich damit tatsächlich eine Einbettung der Ökonomie in die Ethik, oder ob er nicht lediglich eine Verbesserung der Ökonomie mit ethischen Mitteln erreicht. Diese Frage wird im Folgenden vor dem Hintergrund von Ulrichs wirtschaftsethischem Ansatz erörtert. Im Zentrum stehen seine zwei ethischen Hauptannahmen – die sozioökonomische Vernunftidee und die Idee einer idealen Kommunikationsgesellschaft. Für seine erste und grundlegende Annahme, dass es kein »rein« ökonomisches Denken, sondern eine Synthese aus ökonomischen und ethischen Aspekten gibt, die Ulrich eine sozioökonomische Rationalitätsidee nennt und die bereits Koslowski verteidigt hat, beruft sich Ulrich auf die Hegel-Interpretation von J. Habermas. Er folgt Habermas auch in seiner zweiten Annahme einer idealen Kommunikationsgesellschaft, in der sich freie und mündige Personen im Dialog über die zu geltenden Normen und Werte verständigen. Diese ideale Kommunikationsgesellschaft, die 146

Vgl. ebd. 117.

C. Die zivilisierte Bürgergesellschaft als das wirtschaftliche Paradigma

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nach Ulrich alle erstreben, ist der Leitgedanke für die reale Kommunikation. Ulrich setzt dabei unkritisch die Richtigkeit des Ansatzes von Habermas und darüber hinaus die Möglichkeit der Anwendung auf die Wirtschaft voraus; daher muss er nicht nur die Kritik am eigenen Ansatz, sondern auch die Kritik am Ansatz von Habermas in Kauf nehmen. Ulrich beansprucht, dass jeder einen idealen Dialog über die Werte in der Wirtschaft und über den vernünftigen Umgang mit knappen Ressourcen anstrebt und bereit ist, diesem Leitgedanken in der realen Diskussion zu folgen. Eine solche Diskussion lebt von der tugendhaften Gesinnung der debattierenden Personen, und sie ist nur in einer bereits bestehenden, staatlich organisierten und wohl geordneten Gesellschaft von tugendhaften Bürgern möglich.

a) Die Moralisierung der ökonomischen Vernunft in der idealen Kommunikationsgesellschaft Ulrich lobt ausdrücklich die fundamentale und gleichrangige Bedeutung von Arbeit und Interaktion, die der Jenaer Hegel in seiner Philosophie des Geistes von 1803/04 herausgearbeitet habe. Die heutige, aktuelle Präsenz des Hegelschen Gedankens sei vor allem Habermas zu verdanken, weil er der frühen, »realistischen Konzeption der Hegelschen Dialektik der Vernunft«147 seine Aufmerksamkeit gewidmet habe. Die Dialektik bedeutet für Ulrich die lebenspraktische Wechselwirkung des Subjekts mit seiner natürlichen und sozialen Umwelt, in der sich die Fähigkeit zur Reflexion und Selbstreflexion sowie die Ich-Identität der Person ausbildet. »In der Interaktion mit anderen Menschen lernt das Subjekt nicht nur die normativen Traditionen, sondern auch sich selbst mit den Augen der anderen Subjekte kennen; es ›spiegelt‹ sich gewissermaßen in ihnen. Auf der Basis der wechselseitigen Anerkennung der interagierenden Subjekte bildet sich ihr Selbstbewusstsein. In der Arbeit erfährt sich das Subjekt zunächst als (ohnmächtiges) Objekt, das den Naturgewalten unterworfen ist; indem es lernt, die Kausalität der Natur für seine Bedürfnisbefriedigung verfügbar zu machen, gewinnt es sich selbst als von den Objekten unterscheidbares (mächtiges) Subjekt zurück«.148 Das ist nach Ulrich die realistische Deutung der Hegelschen Dialektik in seiner Jenaer Geistesphilosophie von 1803/04. Das Thema der Beherrschung der Natur in Hegels Geistesphilosophie von 1803/04 ist jedoch nicht so eindeu147

Ulrich, P.: Transformation der ökonomischen Vernunft. Fortschrittsperspektiven der modernen Industriegesellschaft. 3. Aufl. Bern. 1993. 56. 148 Ebd.

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Viertes Kapitel

tig, wie Ulrich hier interpretiert: Einerseits kritisiert Hegel die verantwortungslose Ausbeutung der Natur für die unendliche Bedürfnisbefriedigung der Menschen aus seiner damaligen Konzeption des Absoluten heraus, das sowohl der Natur als auch dem menschlichen Geist innewohnt. Je mehr der Mensch die Natur durch Maschineneinsatz beherrscht, desto mehr entfernt er sich von ihr, desto schwächer wird er, weil seine Arbeit nicht weniger wird, aber einen geringeren Wert hat, wie bereits ausführlich im zweiten Kaptitel dieser Arbeit gezeigt wurde. Andererseits sieht Hegel in der Formung der Natur durch Arbeit die Erweckung des Geistes. Hegel habe, so Ulrich, das Kantische Faktum der Vernunft als idealen Horizont eines realen (gattungsgeschichtlichen und entwicklungspsychologischen) Bildungsprozesses begriffen, der nach Ulrich zugleich als lebenspraktischer Emanzipationsprozess gedacht werden muss: als unabschließbarer Prozess der Selbstbefreiung des Menschen aus allen Abhängigkeiten und Fremdbestimmungen, die seine potentielle Subjektstellung als handelndes Wesen verunmöglichen.149 Den modernen »Emanzipationsprozess« habe Hegel insoweit geprägt, so Ulrich in Anlehnung an Habermas,150 als er die Handlungskategorien der Arbeit und der Interaktion mit einer doppelten Selbstbefreiung verknüpft habe: einerseits der Emanzipation aus der Gewalt der äußeren Natur durch Arbeit und ihre technische Rationalisierung, andererseits der Emanzipation aus der inneren Gewalt der Menschen im Umgang miteinander durch die gegenseitige Anerkennung und kommunikative Verständigung. Diese deutet Ulrich als eine »Moralisierung und kommunikative Rationalisierung der gesellschaftlichen Interaktion«,151 die das Vorbild für seine Konzeption der Moralisierung der ökonomischen Vernunft ist. Das emanzipatorische Interesse des Menschen, das Hegel in seiner Jenaer Geistesphilosophie von 1803/04 ausarbeitet, könne als regulative Idee praktischer Vernunft gar nicht überholt werden, so Ulrich.152 Der junge Hegel habe die Ökonomie als den lebenspraktischen Schnittpunkt erkannt, in dem sich Arbeit und Interaktion maßgeblich verschränken.153 Die Wirtschaft kann als ein Produkt sozialer Verständigung gesehen werden: Die technisch-praktische Arbeit zur Herstellung von Gütern und die kommunikative Verständigung über die Verfügungsrechte dieser Güter bedingen einander wechselseitig. In dieser Wechselseitigkeit von Arbeit und Interaktion, Güterwelt und sozialer Welt, sieht Ulrich den entschei-

149 150 151 152 153

Ebd. Vgl. Habermas, J.: Arbeit und Interaktion. 796 ff. bes. 808. Ulrich, P.: Transformation der ökonomischen Vernunft. 58. Vgl. ebd. 88. Ebd. 62.

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denden Beitrag des Jenaer Hegel.154 So viel der Jenaer Hegel gelobt wird, so pauschal wird der reife Hegel abgewiesen. Die hochgepriesene »Dialektik der Vernunft« habe der reife Hegel seiner »idealistisch-metaphysischen Dialektik des ›Weltgeistes‹ geopfert«.155 Für Ulrich repräsentiert der Weltgeist die Funktionsweise des Weltmarktes. Hinter diesem fast nebenbei geäußerten, freilich unbegründeten Vergleich Ulrichs steckt mehr als ein misslungener Hegel-Bezug. Es ist die im Anschluss an Habermas massive und freilich pauschale Abweisung jeglicher Metaphysik und Notwendigkeit einer Letztbegründung in der Ethik, die Ulrich darüber hinaus mit dem ganzen »Übel des Marktes« verbindet. Die unkontrollierte Wirtschaftsentwicklung heute ist für Ulrich eine Ausprägung einer »alten Metaphysik des Marktes, die es in einer modernen Gesellschaft dringend zu entzaubern gilt«.156 Der metaphysische Zauber des Marktes bedeutet für Ulrich zum einen die nicht näher bestimmte, religiöse Vorsehung über die Reichtumsverhältnisse und den Erfolg am Markt, und zum anderen die Fiktion einer allgemeinen Effizienz, die per se gemeinwohldienlich ist, wenn jeder seinen Vorteil maximiert. Ulrichs Kritik an der so verstandenen Metaphysik des Marktes betrifft weniger Hegel als vielleicht mehr K. Homann, dessen Konzeption auf der Vorteilsmaximierung aufbaut. Denn Hegels Metaphysik entspricht keiner der beiden »Metaphysik«-Bestimmungen von Ulrich. Die Ökonomie und der Markt sind bei Hegel nicht die objektiv-sittliche Ordnung, im Gegenteil – ihr Anderssein. Die Hegelsche Bestimmung und Begründung der Ethik in der Vernunft bleibt für Ulrich ein Vorbild, seine metaphysische Fundierung dagegen ein unnötiges Opfer. In der Vernunft und ohne Metaphysik sucht Ulrich eine Begründung seiner Wirtschaftsethik zu geben. Er glaubt an ein rationales Ideal oder an eine kommunikativ-ethische Fortschrittsidee als ein allgemeingültiges Kriterium vernünftiger, wirtschaftlicher Praxis.157 Hinter der kommunikativ-ethischen Fortschrittsidee steht nach Ulrich keine göttliche Teleologie, sondern sie verweist auf eine »kulturell mögliche Entwicklungsrichtung, die der Mensch als werdendes Subjekt seiner eigenen Geschichte sich selbst längst vorgegeben hat«.158 Ulrich setzt voraus, dass jeder Mensch aus seiner Lebenserfahrung moralische Gefühle und ein intuitives Verständnis von Moralität besitzt, welche die individuelle Freiheit mit der Verbindlich154

Vgl. ebd. 175. Ebd. 56. 156 Ulrich, P.: Zivilisierte Marktwirtschaft. Eine wirtschaftsethische Orientierung. Freiburg i. B. 2005. 11. Bes. 39 ff., 160 und 167, wo Ulrich das Wort Metaphysik immer in einem pejorativen Sinn gebraucht. 157 Vgl. Ulrich, P.: Transformation der ökonomischen Vernunft. 304. 158 Ebd. 155

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keit, die Freiheit anderer Personen ebenso zu respektieren, vereinigt. Eine solche humane Moralität des Menschen ist für Ulrich ein Phänomen, ein nicht zu bezweifelndes Faktum oder Tatsache der lebenspraktischen Erfahrung. Die Vernunft ist das lebenspraktische Moralbewusstsein des Menschen, dessen wir uns immer gewiss sein können. Das unbezweifelbare Moralbewusstsein kann aus wirtschaftsethischer Sicht als sozioökonomische Rationalitätsidee vernünftigen Wirtschaftens begriffen werden, sozialökonomischrational bedeutet für Ulrich »schlicht: vernünftig«.159 Damit vertritt Ulrich die These, dass in der sozioökonomischen Vernunft das ethische Handeln in der Wirtschaft ausreichend begründet ist. Die Ethik braucht demgemäss nicht »von außen« an die Wirtschaft herangetragen zu werden, sie ist ihr immanent. Die Ethik in der Wirtschaft sollte nach Ulrich eine Reflexion über die Bedingungen und die Gültigkeit ethisch vernünftigen Wirtschaftens sein,160 die von der sozioökonomischen Idee als »ideelle Spitze«161 geleitet wird. Von dieser Spitze aus lassen sich Ökonomie und Ethik zusammendenken, und zwar so, dass die ökonomische Ratio ethisch integriert wird. Das bedeutet für Ulrich, dass das ökonomische Denken und Handeln innerhalb einer empirisch begründeten Vernunftethik verstanden werden kann, die deshalb Vernunftethik heißt, weil sie den Menschen als mündige und moralische Person in den Mittelpunkt stellt. Die sozioökonomische Idee, die alle Menschen denken können, dient zur Orientierung in wirtschaftlicher Theorie und Praxis für eine »Ideologiekritik dessen, was alles so im Namen ökonomischer Vernunft vertreten wird«.162 Eine solche Ideologiekritik richtet Ulrich gegen Ansätze, u. a. von Hobbes, Buchanan und Homann, die eine »reine« ökonomische Rationalität, eine nicht hinterfragbare normative »Logik« des Marktes annehmen. Ulrichs Ideologiekritik bedeutet, aus der Sicht einer, wie er sagt, »zivilisierten«163 und anständigen Marktgesellschaft, die Legitimitätsfrage an die Erhebung des ökonomischen Prinzips zum Organisationsprinzip einer liberalen Gesellschaft zu stellen. Zweck dieser Legitimitätsüberprüfung ist die ökonomismuskritische Erneuerung der normativen Grundlagen der Politischen Ökonomie mit »vernunftethischen« Mit-

159

Ulrich, P.: Prinzipienkaskaden oder Graswurzelreflexion? - Zum Praxisbezug der Integrativen Wirtschaftsethik. In: Ulrich, P./Breuer, M. (Hrsg.): Wirtschaftsethik im philosophischen Diskurs. Begründung und »Anwendung« praktischen Orientierungswissens. Würzburg. 2004. 129. 160 Damit stellt sich Ulrich in die transzendentalpragmatische Ethikbegründung von K. O. Apel. 161 Ulrich, P.: Prinzipienkaskaden oder Graswurzelreflexion? 129. 162 Ebd. 163 Ebd. 131.

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teln.164 Eine solche Disziplin könnte Wirtschaftsethik, aber auch »Praktische Sozialökonomie«165 heißen, die das ökonomische Handeln und die maßlos gewordene Ökonomie gedanklich aus dem Blickwinkel der lebensweltlich betroffenen Menschen wieder in die Lebenswelt einzubetten sucht.166 Diese gedankliche Arbeit soll sich in der Gestaltung von Institutionen niederschlagen, denn der einzelne betroffene Mensch handelt wirtschaftlich nicht völlig autonom, sondern gemäß der vorgefundenen institutionellen und normativen Rahmenbedingungen oder der geltenden Wirtschaftsordnung.167 Da für Ulrich die Wirtschaftsordnung ein Resultat des Dialogs freier und mündiger Bürger ist, fordert er eine »Entschränkung der politisch-ökonomischen Kommunikation als Voraussetzung der Wiedereinbindung wirtschaftlichen Handelns in rationale Politik«.168 Eine Sozialökonomie, die auf der Grundlage der Kommunikation eine Wirtschaftsordnung sucht, ist nach Ulrich eine politische Ökonomie, die deshalb auf dem Fundament einer Vernunftethik steht, weil sie vom Menschen als moralische Person und von der Idee seiner sozioökonomischen Vernunft ausgeht.169 Die in diesem Sinne vernünftigen, freien und mündigen Menschen debattieren nach Ulrich in einem herrschaftsfreien Diskurs (Dialog) über die gemeinsamen Angelegenheiten des Wirtschaftslebens und über den effizienten Umgang mit Ressourcen in arbeitsteiliger Produktion und konstituieren damit eine ideale, von Habermas entlehnte Kommunikationsgesellschaft.170 Die ideale Kommunikationsgesellschaft ist für Ulrich eine regulative Idee, d. h. in den realen Verständigungsprozessen soll nach der Verwirklichung dieser Idee getrachtet werden, und sie gebietet zugleich, die Interessen der nicht am Diskurs Beteiligten, aber davon Betroffenen, zu berücksichtigen. Die Verständigung und Einigung der Mitglieder der idealen Kommunikationsgesellschaft soll auf der Grundlage des Universalprinzips der Moral erfolgen, das in der Diskursethik aus der »Logik des Zusammenlebens«, d. h. aus der Erfahrung des Zusammenlebens, begründet werden kann. Nach dieser »Logik der Zwischenmenschlichkeit« argumentieren sie in der wechselseitigen Anerkennung, d. h. wer argumentiert, erkennt den anderen als freie Person an. Die wechsel-

164

Ebd. 130. Ulrich, P.: Transformation der ökonomischen Vernunft. 341. 166 Die Lebenswelt ist eine von J. Habermas, durch diesen von E. Husserl entlehnte Kategorie, die Ulrich zugrundelegt. Vgl. Habermas, J.: Faktizität und Geltung. Frankfurt a. M. 1998. 37 ff. 167 Ulrich, P.: Transformation der ökonomischen Vernunft. 351. 168 Ebd. 169 Ebd. 170 Ebd. 59. 165

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seitige Anerkennung und Achtung bilden nach Ulrich das Moralprinzip der idealen Kommunikationsgesellschaft.171 Mit der Annahme einer idealen Kommunikationsgesellschaft setzt sich Ulrich der gleichen Kritik aus, welche an die Diskursethik von Habermas gerichtet werden kann. Die grundsätzliche Kritik betrifft den Zirkel oder die petitio principii seiner Moral- und Ethikbegründung in einer idealen Kommunikationsgesellschaft.172 Die Normen für das Wirtschaften sollen von mündigen und argumentationsfähigen Bürgern in einem Dialog zustande kommen. Die Bürger bringen jedoch ihre moralischen Normen und Interessen, die erst begründet werden sollen, bereits in den Diskurs hinein (petitio principii). Die ideale Kommunikationsgesellschaft, in der die moralischen Normen erst begründet werden sollen, scheint selbst eine moralische Gesellschaft zu sein, die für die Individuen bestimmte Werte, Pflichten und Tugenden bereithält und die dann in ständigen Kommunikationsprozessen neu definiert werden. Auf diese Weise ist die Moral nicht begründet, sondern lediglich in ihrer Entstehung beschrieben.173 Darüber hinaus kann die Lösung der Anerkennungsproblematik im Diskurs bezweifelt werden. Die Anerkennung der Vernunftfähigkeit der Diskurspartner allein auf Grund der Lebenspraxis scheint nicht ausreichend für die Vernünftigkeit des in dem Dialog zustande gebrachten Übereinkommens. Insbesondere wenn es um die schwerwiegenden Probleme des wirtschaftlichen Umgangs mit der Knappheit von Ressourcen und Gütern geht, sind die Vernünftigkeit des Konsensus und der diesbezügliche Optimismus zu bezweifeln.174 Mit Hegel kann gegen Ulrich eingewendet werden, dass im Dialog kein vernünftiger Konsens zustande kommen kann, wenn die einzelnen Willen, die am Dialog beteiligt sind, nicht vernünftig sind. Während Hegel die gegenseitige Anerkennung als Kern seiner Ethik begründet, kann Ulrichs Behauptung, dass die »Logik des Zwischenmenschlichen« verallgemeinerbar ist, nicht akzeptiert werden, weil die Akzeptanz des hörfähigen Gesprächspartners nicht unbedingt seine Anerkennung bedeutet. Ulrich gesteht die

171

Ulrich, P.: Integrative Wirtschaftsethik. 49. Dieser Vorwurf an der Diskursethik wurde bereits mehrfach erhoben, zum ersten Mal hat ihn E. Tugendhat vorgetragen. Vgl. Tugendhat, E.: Vorlesungen über Ethik. Frankfurt a. M. 1993. 161-176. 173 Zur Kritik an dem Ansatz von J. Habermas vgl. Düsing, K.: Kants Ethik in der Philosophie der Gegenwart. In: Warum Kant heute? Hrsg. v. D. Heidemann und K. Engelhard. Berlin und New York. 2004. 246 ff. 174 Dem Wirtschaftswissenschaftler Ulrich wurde die Vernachlässigung der ökonomischen Funktionsbedingungen vorgeworfen. Vgl. Gerlach, J.: Das Zuordnungsverhältnis von Ethik und Ökonomik als Grundproblem der Wirtschaftsethik. In: Handbuch der Wirtschaftsethik. Band 1. Gütersloh. 1999. 870. 172

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fehlende Garantie der Vernünftigkeit des Konsensus zu. Er begegnet der Kritik mit der Erklärung, dass überhaupt keine moderne Vernunftethik den Zirkel vermeiden kann, denn jede Vernunftethik setze ein grundlegendes Interesse an ethischer Vernunft bei den Handlungssubjekten voraus.175 Wenn man »idealistisch« im Dialog mit den ökonomischen Interessen nicht fertig werde, dann könne die Wirtschaftsethik deontologische Argumente wie z. B. die Wahrung der Menschenwürde und die Freiheit und Chancengleichheit im realen Diskurs hineinbringen. Ulrichs Argumente hängen eng damit zusammen, dass er im Anschluss an Habermas strikt eine Letztbegründung der Ethik ablehnt.176 Das tragfähige normative Fundament rationaler Ethik ist nach Ullrich pragmatisch in der conditio humana des in einem Dialog Argumentierenden zu suchen. Der Begründungsanspruch beruht auf dem metaphysikfreien Rationalitätskriterium der pragmatischen Konsistenz des Argumentierens. Diese Konsistenz oder die lebenspraktische Unausweichlichkeit der normativen Voraussetzungen rationaler Verständigung reicht nach Ulrich als normative Begründung der Ethik aus, und deshalb kann sie auf die Letztbegründung verzichten. Nicht metaphysisch, sondern aus guten Lebenserfahrungen, welche die menschliche Identität geprägt haben, sieht Ulrich die Begründung seiner Ethik und hält damit die Frage, warum alle verbindlich ethisch handeln sollen, für überflüssig.177 Die Verbindlichkeit ist für Ulrich keine Sache der Theorie, sondern der Praxis, das freie und »zivilisierte Selber-Wollen«178 der Verbindlichkeit. Die Theorien, die solcher allgemeinen Verbindlichkeit der Ethik gewidmet sind, mögen innerhalb der akademischen Gemeinschaft ohne Letztbegründung nicht auskommen, für die Praxis seien sie »bedeutungslos« und »weltfremd«.179 Das, was Menschen zum ethischen Verhalten motiviert, sind die praktischen Lebenserfahrungen in den zwischenmenschlichen Achtungs- und Anerkennungsverhältnissen. Will man die Moralprinzipien herausfinden, dann braucht man nicht von einer realitätslosen metaphysischen Idee, sondern nur von der vorgefundenen soziokulturellen Welt auszugehen, so Ulrich. Auch deshalb ist nach Ulrich nicht der Philosoph, sondern der Wirtschaftswissenschaftler in der besseren Lage für die Findung der normativen Grundlagen der Wirtschaft, weil er gewohnt ist, erfahrungsgestützte 175

Vgl. Ulrich, P. Wirtschaftsethik auf der Suche nach der verlorenen ökonomischen Vernunft. In: Ders. (Hrsg): Auf der Suche nach einer modernen Wirtschaftsethik. Bern und Stuttgart. 1990. 203. 176 Ebd. 177 Vgl. Ulrich, P.: Zivilisierte Marktwirtschaft. Bes. 11, 39 ff., 160 und 167. 178 Ulrich, P.: Prinzipienkaskaden oder Graswurzelreflexion? 133. 179 Ebd.

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Wirklichkeitsinterpretationen zu erarbeiten. Wirtschaftsethik ist demgemäß eine Sache der Ökonomen, die in der realen Wirtschaft die »implizite Ethik«180 oder die normativen Hintergründe ökonomischer Logik erhellen sollen. Die Ökonomen sind dann auch diejenigen, die dem mündigen Bürger eine Orientierungshilfe im ethisch-politisch-ökonomischen Diskurs geben können. Diese Annahme Ulrichs überhöht die Ökonomie, sie ist aber auch nur unter problematischen Voraussetzungen glaubhaft: Zum einen setzt der reale, ethisch-politisch-ökonomische Diskurs eine politische (Streit-) Kultur über wirtschaftliche Zusammenhänge voraus, die Ulrich selbst für nur schwer fassbar hält, und zum anderen eine allgemeine politische Gesinnung der Bürger, die Ulrich als ein republikanisches Bürgerethos proklamiert, das jedoch schwerlich allen zukommt. Ulrich hält jedoch an dessen Verallgemeinerung mit einem ökonomischen Argument fest: »Der republikanischethisch gesinnte (Lebens-) Unternehmer will durchaus geschäftlich erfolgreich sein, aber als ›Erfolg‹ bzw. ›erfolgreich‹ betrachtet er von vornhinein nur Ziele und Handlungsweisen, die er vor jedermann mit guten Gründen vertreten kann«.181 Das der Wirtschaft innewohnende Bürgerethos ist das unverzichtbare Minimum an notwendiger Tugend- und Gesinnungsethik, fraglich ist jedoch wie ein Minimum die Funktion einer Leitidee der Bürgergesellschaft übernehmen kann.182

b) Die Tugendethik in der Bürgergesellschaft Ulrichs Programm der Wirtschaftsethik hat das Ziel, die entfesselte, totale Marktgesellschaft in eine zivilisierte Marktwirtschaft zu überführen und in eine Bürgergesellschaft einzubinden.183 Seine Konzeption beruht auf der Annahme, dass der Wirtschaftsbürger Geschäftssinn und Bürgersinn in sich vereinigt und darin sein Selbstverständnis hat. Diesem Bürger will Ulrichs Wirtschaftsethik eine Orientierung geben, und zwar nicht nur, wie er sich im persönlichen Wirtschaftsleben verhält, sondern auch, wie er als Staatsbürger über wirtschaftliche und gesellschaftspolitische Fragen debattiert.184 Ulrich identifiziert drei Leitideen modernen Wirtschaftens als Gehalt der angestrebten Orientierung: Erstens die bereits erläuterte Idee der sozialökonomischen Vernunft, die nicht nur eine ökonomische Vernunft, sondern 180 181 182 183 184

Ebd. 134. Ebd. 135. Ebd. 139. Ulrich, P.: Zivilisierte Marktwirtschaft. 11. Er nennt deshalb seine Lehre »Wirtschaftsbürgerkunde«. Vgl. ebd. 14.

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»hochgradig normativ«185 ist. Ökonomisch vernünftig ist nach Ulrich demnach jede Handlung oder Institution, die freie und mündige Personen in der vernunftgeleiteten Verständigung unter allen Betroffenen als legitime Form der Wertschöpfung gutheißen können.186 Die Abstraktheit dieser Vernunftidee sucht Ulrich in der zweiten Idee des sinnvollen Fortschritts zu konkretisieren. Fortschritt bedeutet für Ulrich nicht einfach Wirtschaftswachstum, sondern einen Übergang vom Wirtschaftsliberalismus zum politischen Liberalismus.187 Ob und wie dieser Übergang und dieses Umdenken möglich ist, überlässt Ulrich der Geschichte, die praktisch zeigen soll, ob die Menschen den politischen Willen zur Vernünftigkeit des Wirtschaftens entwickeln und welches die politischen Voraussetzungen dieses Umdenkens sind, die alle Menschen in die Lage versetzen, ihren persönlichen Lebensplan zu entwerfen.188 Der Politische Liberalismus muss nach Ulrich auf einem philosophisch tragfähigen Freiheitsbegriff beruhen: »Die Freiheit des Einen findet ihre legitime Grenze in der gleichen Freiheit der Anderen«.189 Das ist das liberale Prinzip, von dem aus Ulrich die intersubjektive Freiheit in der Gesellschaft bestimmt, ohne zu sagen, in welchem Verhältnis die persönliche Freiheit dazu steht. Diese intersubjektive Freiheit beruht bei Ulrich, so wie auch bei Hegel, ohne dass er sich ausdrücklich auf Hegel bezieht, auf dem Rechtsprinzip, das in der politischen Verfassung konstituiert ist. Anders als Hegel, der die konstitutionelle Monarchie vor Augen hat, betont Ulrich, dass die Verfassung demokratisch sein soll. Der Rechtsstaat muss gegenüber den partikularen Interessen seiner Bürger, die ihn ja konstituieren, zugleich neutral sein und als »starke«190 öffentliche Ordnung auftreten. Ulrich gesteht selbst, dass diese Vorstellung von der allgemeinen Bürgerfreiheit in einer liberalen Gesellschaft »anspruchsvoll«191 sei, und in der Wirtschaft wenig Wirkung hat. Er votiert für einen liberalen Staat, aber gegen eine liberale Wirtschaft. Er stellt damit seine republikanisch-liberale Konzeption der modernen neuliberalen ökonomischen Theorie entgegen. Während die letztere den Vorteilstausch der eigensüchtigen bourgeois als Leitidee der Gesellschaft favorisiert, sollen sich in Ulrichs Konzeption die Bürger gegenseitig achten und anerkennen (nach der normativen Logik des Zwischenmenschlichen), als mündige Bürger an der politischen Konstitution teilnehmen, nicht als 185 186 187 188 189 190 191

Ebd. 33. Vgl. ebd. 43. Vgl. ebd. 69. Vgl. ebd. 71. Vgl. ebd. 73. Vgl. ebd. 77. Ebd.

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Besitzbürger kraft ihres Eigentums, sondern als Wirtschaftsstaatsbürger kraft ihrer Teilnahme an der res publica, gelten.192 Die Staatsbürger konstituieren eine Gesellschaft als Rechts- und Solidarzusammenhang, nicht wie die bourgeois nur einen Marktzusammenhang. Die Wirtschaft innerhalb des Staatsbürgerstaates von Ulrich ist die soziale Marktwirtschaft als lebensdienliche Wirtschaft gegenüber der totalen, neoliberalen Marktwirtschaft reiner Besitzbürger. In der Abgrenzung zur totalen Marktwirtschaft und zum Polizeistaat positioniert Ulrich seine »voll entfaltete Bürgergesellschaft«,193 die den beiden deshalb überlegen sein soll, weil der Staat nicht als Befreier oder Beherrscher der Wirtschaft, sondern als Garant der wohlgeordneten Gesellschaft auftritt. Die Bürger leben im Staat selbstbestimmend und mitverantwortlich, sie bilden dadurch ein republikanisches Ethos aus. Jeder Bürger darf an einer solchen »anständigen Bürgergesellschaft«194 wirtschaftlich aufgrund seiner Bürgerrechte u. a. auf Erwerbsarbeit, auf Grundeinkommen, auf Teilhabe am volkswirtschaftlichen Kapital sowie aufgrund seiner ausgebildeten Fähigkeiten und des Zugangs zu Grundgütern partizipieren. Die Vorleistung des Staates besteht in der Schaffung der Infrastruktur und der allgemeinen Bedingungen für die freie Entfaltung der Bürger. Der Staat schafft damit die Voraussetzungen, die Berechtigung für eine »lebbare Freiheit« seiner Bürger, die sie durch Bildung dazu selbst befähigen. »Faire Selbstbehauptungsmöglichkeiten für alle statt ›milde Gaben‹ für Bedürftige« ist Ulrichs Credo einer vollentwickelten Bürgergesellschaft, das sehr stark an Hegel erinnert. Mit der geforderten Selbstentfaltung der Bürger und der Einbindung des gesamten Wirtschaftssystems in die tugendhafte Bürgergesellschaft glaubt Ulrich, einen neuen Leitgedanken gefunden zu haben.195 Wie in den vorangegangenen Kapiteln gezeigt wurde, hat bereits Hegel eine Pflichten- und Tugendethik entwickelt, welche die wirtschaftliche in die politische Sphäre einbindet und die durchaus ähnliche Züge hat. Wie Hegel kritisiert Ulrich die Position von Hobbes, der die Menschen als reine Egoisten und Nutzenmaximierer betrachtet. Ulrich lehnt den Besitzindividualismus (»Ich habe Besitz, also bin ich«) ab, er beschäftigt sich aber nicht tiefgehend mit der Rolle des Eigentums für die Anerkennung der Bürger untereinander. Ulrich wie Hegel lehnen das instrumentelle Gesellschaftsverständnis der bourgeois ab, die in der Hinnahme der gesellschaftlichen Ordnung lediglich für die Erfüllung von privaten Zwecken besteht. Wäh-

192 193 194 195

Vgl. ebd. 78. Vgl. ebd. 86. Vgl. ebd. 88. Vgl. ebd. 93.

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rend Hegel die Besitzbürger von den Staatsbürgern zu differenzieren und sie gleichwohl in dem sittlichen Ganzen zu integrieren und in ihrer Funktion anzuerkennen sucht, weist Ulrich die egoistischen bourgeois wenig realistisch ab. Ulrichs Wirtschaftsbürger sind keine bourgeois, sondern wirtschaftende Staatsbürger. Für ihn ist der Begriff des Wirtschaftsbürgers sogar umfassender als jener des Staatsbürgers, weil die Teilnahme an der Wirtschaft unabhängig von der nationalen Zugehörigkeit sei. Die Wirtschaftsbürger sind bereit, den privaten Erfolg und Vorteil nur unter der Bedingung der Legitimität im Lichte der Prinzipien einer wohlgeordneten Gesellschaft freier und gleicher Bürger zu verfolgen. Diese Bereitschaft begründet Ulrich in den moralischen Gefühlen der Selbstachtung und dem Gefühl, von den anderen geachtet und gemocht zu werden.196 Wer den wirtschaftlichen Vorteil dem Gefühl der Selbstachtung und der Achtung der anderen vorzieht, ist nach Ulrich schlichtweg »dumm«,197 was er auch an die Adresse geldgieriger Manager in der Wirtschaft richtet. Kluge, republikanisch gesinnte Wirtschaftsbürger dagegen spalten ihren privaten, wirtschaftlichen Erfolg nicht von dessen gesellschaftlicher Legitimität ab, sie begreifen ihn vielmehr als Teil der gesellschaftlichen Lebensqualität. Ulrich unterstellt, dass die Wirtschaftsbürger immer einen moralischen Standpunkt einnehmen können, d. h. sich in die Lage des anderen hineinversetzen und die eigene Denk- und Handlungsweise selbstkritisch hinterfragen können.198 Von diesem Standpunkt aus handeln die Wirtschaftsbürger als Konsumenten und kaufen nur Waren, die aus menschenwürdiger Produktion stammen und mit einem entsprechenden Gütesiegel versehen sind, und als Kapitalanleger, indem sie nur in solchen Unternehmen Aktien kaufen, die sich für ein nachhaltiges, vernünftiges Wirtschaften engagieren. Die republikanische Tugend der Selbstbegrenzung im privaten Vorteilsstreben soll von den Bürgern eingefordert, aber auch durch entsprechende institutionelle, politische Regelungen u. a. des wirtschaftlichen Wettbewerbs gestützt werden. Die Bürger zeigen durch ihr tugendhaftes Handeln ihre ordnungspolitische Mitverantwortung bezüglich der Rahmenordnung des Marktes. Die Tugend rechtfertigt das persönliche Opfer – auch wenn mutige und gerechtigkeitsbewusste Mitarbeiter gegen unethische Unternehmensanweisungen verstoßen und dafür schwer bestraft werden, soll nach Ulrich die wohlgeordnete, soziale Marktgesellschaft vor den persönlichen Niederlagen den Vorrang haben. Die tugendhaften Wirtschaftsbürger sollen in einem öffentlichen Dialog über die Präferenzen dis196 197 198

Vgl. ebd. 104. Vgl. ebd. 105. Vgl. ebd. 112.

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kutieren und damit herausfinden, was sie wirklich wollen. Weil gerade in wirtschaftspolitischen Fragen eine Einigung schwer erreichbar ist, soll eine politische Streitkultur helfen, faire Kompromisse zu finden. Lobbyisten, die private, nicht verallgemeinerbare Interessen vertreten, sollen unter den sanften Druck öffentlicher Legitimitätsansprüche gestellt werden. Private Interessen vertragen sich ohnehin für Ulrich nicht mit seinem republikanischen Tugendideal. Privat darf wirtschaftliches Handeln erst dann sein, wenn es den Legitimitätstest der öffentlichen Vertretbarkeit seiner Folgen, insbesondere seiner Human-, Sozial-, Demokratie- und Umweltverträglichkeit, bestanden hat.199 So wie ein Wirtschaftsbürger lassen sich nach Ulrich auch ganze Unternehmen wie einzelne, aufgeklärte, republikanische Bürger verstehen, die von ihrem Gewinn- und Bestandsicherungsstreben abweichen und die Durchsetzung einer nach republikanisch-liberalen Prinzipien organisierten Gesellschaft anstreben. Die Vorstellung Ulrichs von den Wirtschaftsbürgern und den Unternehmen, die wie Wirtschaftsbürger agieren sollen, ist stark idealisiert.200 Seine Idealisierung wäre auch nicht so scharf zu kritisieren, hätte er nicht immer wieder darauf bestanden, eine »Graswurzelreflexion von unten«, von der Empirie zu betreiben und die »Prinzipienkaskade« der Metaphysik zu vermeiden. Dennoch fällt auf die Bürger das Prinzip des republikanischen Liberalismus sozusagen von oben herab und fordert von ihnen abstrakt, das eigene Interesse und den eigenen Vorteil zu vernachlässigen für ein Ideal, das sie gegebenenfalls nicht immer einsehen. Demgegenüber ist Hegels Vorstellung des tugendhaften, rechtschaffenen Bürgers einer sittlichen Gemeinschaft überlegen. Hegel verpönt in seiner reifen Rechtsphilosophie nicht das eigene Vorteilsstreben und das selbstsüchtige Interesse. Vielmehr sollen die Bürger in ihrer rechtschaffenen Arbeit für das sittliche Ganze, für etwas Konkretes, nicht für ein abstraktes republikanisches Ideal, zugleich ihren Vorteil und ihr persönliches Interesse befördern können. Es war Hegel und nicht zuerst Marx, wie Ulrich glaubt, der das Problem der international expandierenden, unaufhaltsamen Wirtschaft und die Notwendigkeit eines starken Staates, der die Wirtschaft zähmen sollte, gesehen 199

Vgl. ebd. 127. P. Ulrich plädiert zwar im Sinne der Diskursethik für die Unterordnung der ökonomisch-strategischen Rationalität unter die kommunikative Rationalität, doch auf der Ebene der Unternehmenspolitik darf nach K.-O. Apel diese Forderung erst gar nicht gestellt werden. Damit würde nach Apel der ethisch relevante Imperativ des strategischen Wettbewerbs im Dienste der Wohlfahrt aufgehoben, als ob Ulrich die Konkurrenz auf dem Markt durch Kommunikation ersetzen wollte. Vgl. Apel, K.-O.: Institutionsethik oder Diskursethik als Verantwortungsethik? In: Harpes, J.-P./Kuhlmann, W.(Hrsg.): Zur Relevanz der Diskursethik. Anwendungsprobleme der Diskursethik in Wirtschaft und Politik. Münster. 1993. 182 f. 200

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hat. Auch für Ulrich ist das Hauptproblem in der entfesselten, globalisierten Wirtschaft die Entmachtung der Politik.201 Es ist höchst merkwürdig und nicht gerechtfertigt, wenn sich Ulrich die Frage stellt, ob wir vorbehaltlos den Verlust des Primats der Politik vor der Logik des Marktes begrüßen dürfen, und dann Hegel wie folgt heranzieht: »Der Weltmarkt fungiert gleichsam als der neue allwissende Hegel’sche Weltgeist«.202 So hat Hegel weder den Markt noch den Weltgeist gesehen, und dieser Vergleich, den Ulrich ohne nähere Quelle oder Begründung nennt, zeugt von einer pauschalen Abweisung. Ulrichs unhaltbarer Vergleich ist umso mehr zu bedauern, als er sich dadurch den Zugang zu einem großen Denker selbst versperrt, der für die eigene ordoliberalistische Konzeption (Primat des Staates vor dem Markt) viele Argumente bereits entwickelt hat. So wie Ulrich plädiert auch Hegel für einen Staat, der nicht ordnungspolitisch den Markt erstickt, sondern ihn lebensdienlich vitalisiert, d. h. ihn in die höhere staatliche Ordnung einbettet und den wirtschaftlichen Wettbewerb durch Regelungen in Grenzen fördert. Einen möglichen Lösungsweg sieht Ulrich in der Stärkung von internationalen Institutionen, welche die Wirtschaft überwachen. Diese hält er jedoch für weniger erfolgsversprechend aufgrund des zähen, politischen Kampfes führender Industriestaaten um Macht und Märkte. Er setzt in Anlehnung an Habermas vielmehr auf die Ausbildung des weltbürgerlichen Bewusstseins der sich gegenseitig achtenden Weltbürger. Die Ausweitung des Bürgersinns von der Ebene des nationalen Staats auf die ideelle Gemeinschaft aller Bürger zu einem wirtschaftsbürgerlichen Ethos ist Ulrichs Vision.203 Diese Vision einer durch Tugend gezähmten Weltwirtschaft steht nach Ulrich zwar noch dem heutigen ökonomistischen Zeitgeist entgegen und verlangt für dessen Überwindung viel Aufklärungsarbeit und Mut.204 Ulrichs Vision einer von tugendhaften Bürgern wohlgeordneten Gesellschaft mit gezähmter Wirtschaft ist durchaus mit der Hegelschen Vision eines Weltgeistes und seiner darauf gründenden praktischen Philosophie verwandt, ohne dass es Ulrich bewusst ist, denn für ihn bleibt Hegel der alte, allwissende Metaphysiker. Zusammenfassend kann Ulrichs wirtschaftsethische Konzeption als ein Entwurf empirischer, zugleich vernunftgeleiteter Tugendethik des Wirtschaftens gelten. Diese Ethik begründet Ulrich in der praktisch vorhandenen, zwischenmenschlichen Anerkennung und Achtung. Er setzt dabei moralische Gefühle und Fähigkeiten als Tatsache der lebenspraktischen Erfahrung vor-

201 202 203 204

Vgl. ebd. 161. Ebd. 167. Ebd. 181 ff. Ebd. 184.

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aus. Die ausschließliche Wendung zum Praktischen oder die Begründung des Sittlichen in der Empirie hat Hegel stark kritisiert. Hauptmotiv seiner Kritik ist die Unmöglichkeit der Verallgemeinerung der Gefühle, denn sie sind subjektiv, wandelbar, unerklärlich und unzuverlässig. Da die Erfahrung subjektiv ist, kann nicht immer eindeutig unterschieden werden, was von der beobachteten Empirie das subjektive Meinen und was die objektive Realität ist, so Hegel.205 Auch die tiefsinnigsten Untersuchungen über die Transformation der ökonomischen Vernunft erklären nicht, warum sich Menschen nicht nur wenn sie gerade moralische Gefühle haben, sondern immer und unbedingt ethisch verhalten sollen. In Ulrichs Versuch, die Diskursethik auf die Wirtschaft zuzuschneiden, ist zu bezweifeln, ob überhaupt und gerade im Anschluss an den Jenaer Hegel eine kommunikative Lösung für die Wirtschaft denkbar ist. Hegel hat zwar die Wirtschaft als Teil des sittlichen Ganzen, aber immer als den negativen, widersprüchlichen Bereich, der gezähmt werden muss, angesehen. Wie für Hegel, so ist auch für Ulrich die Ethik in der Wirtschaft vor allem in der Gesinnung der wirtschaftenden Menschen zu suchen. Während Hegel für die Begründung der Tugend auf umfassende Theorien des Selbstbewusstseins und der Subjektivität zurückgreift, besteht die Theorie von Ulrich aus unbegründeten, praktischen Annahmen dieser Tugend. Ulrich vertritt den Primat der Gesellschaft vor der individuellen Person mit ihren Neigungen, Interessen und Trieben. Diese werden von Ulrich hinsichtlich ihrer Legitimierbarkeit gegenüber den Kriterien der Wahrung der Würde und der Rechte anderer begriffen. Wollen die Menschen ihre Lebenspläne realisieren und betreffen diese andere Menschen, dann sind sie auf die Verständigung angewiesen. Für die moralischen Personen unterstellt die Diskursethik den normativen Primat der gesellschaftlichen Verständigungs- vor der Erfolgsorientierung. Während Hegel für den Primat des Politischen auf eine differenzierte Theorie der Subjektivität zurückgreift, ist in Ulrichs Konzeption nicht klar, wie die Person in sich die beiden Seiten – zum einen als autonomes Selbstbewusstsein und zum anderen als soziales Wesen – vereinigt. Vielmehr wird hier eine komplizierte Struktur des Selbstbewusstseins unbegründet vorausgesetzt, die Persönliches und Allgemeines vereinbaren soll und die aus dem Menschen primär ein moralisches Wesen macht.206

205

Vgl. GW 4, 472. Der Subjektbegriff von J. Habermas, den Ulrich unkritisch übernimmt, ist problematisch. Für Habermas liegt die gesamte Genesis des Selbst in einem gesellschaftlichen Prozess. Die Persönlichkeit bildet sich nach Habermas und Ulrich durch Sprache und Handlung in Kommunikationsprozessen. Zur Kritik am Personbegriff bei Habermas vgl. 206

C. Die zivilisierte Bürgergesellschaft als das wirtschaftliche Paradigma

273

Gegenüber der Hegelschen Subjektivitätstheorie klingt Ulrichs Rezept wie eine Beschwichtigung: Wir müssen einfach »geistig über den Sachzwängen des Marktes stehen und sie als normative Herausforderungen durchschauen, die einer politischen Bearbeitung bedürfen, anstatt sie unkritisch zu ökonomischen Denkzwängen einer wettbewerbskonditionierten Mentalität zu überhöhen«.207 Es bleibt offen, woher diese geistige Überlegenheit des Menschen über die Sachzwänge der Wirtschaft kommen mag und wie die geforderte Ideologiekritik der Wirtschaft für ein endliches Wesen begründbar ist. Ein solcher Idealismus, wie sich ihn Ulrich nicht eingesteht, kommt in die Nähe eines »utopischen Idealismus«,208 weil er nicht wie bei Hegel die Negativität des marktwirtschaftlichen Bereichs mitdenkt, sondern radikal die Unausweichlichkeit sozialsystematischer Sachzwänge leugnet. Ulrich weist die Kritik mit der Begründung ab, seine Theorie sei kein Idealismus, vielmehr eine »Graswurzelreflexion«,209 welche höhere, regulative Ideen »von unten«, von der realen Zwischenmenschlichkeit zu begründen sucht. Die Frage, ob eine solche Graswurzelreflexion eine Ideologiekritik an der für den einzelnen Menschen unüberschaubar gewordenen, international vernetzten Wirtschaft sein kann, bleibt dennoch offen.

Düsing, K.: Selbstbewusstseinmodelle. Moderne Kritiken und systematische Entwürfe zur konkreten Subjektivität. München. 1997. 53ff, bes. 55. 207 Ulrich, P.: Zivilisierte Marktwirtschaft. 161, bes. 177. 208 Apel, K.-O.: Diskursethik als Ethik der Mit-Verantwortung vor den Sachzwängen der Politik, des Rechts und der Marktwirtschaft. In: Apel, K.-O./Buckhart, H.(Hrsg.): Prinzip Mitverantwortung. Grundlage für Ethik und Pädagogik. Würzburg. 2001. 80 und 82. K.-O. Apel begründet seine Kritik damit, dass Ulrichs Konzeption darauf hinausläuft, »das Moment der quasi-naturhaften Entäußerung und tendenziellen Selbstentfremdung, das unvermeidlicherweise mit allen Institutionen verbunden ist, schlechthin aufheben zu wollen«. Das aber ist mit jeder menschlichen Kulturentwicklung unvereinbar, so Apel. Er wirft P. Ulrich darüber hinaus vor, von der Diskursethik her die Rede von den institutionellen Sachzwängen ideologiekritisch zu demaskieren und auch das Wirtschaftshandeln unmittelbar der Legitimation der Kritik im Lichte des Idealprinzips der kommunikativen Konsensbildung unhaltbar zu unterwerfen. 209 Ulrich, P.: Prinzipienkaskaden oder Graswurzelreflexion?138.

schluss Zum Problem der Fundierung einer Ethik der Wirtschaft

Die Untersuchung der modernen wirtschaftsethischen Entwürfe hat gezeigt, dass sie auf verschiedene Weise das Verhältnis von Ökonomie und Ethik, Wirtschaft und Politik, individueller Pflichterfüllung und wirtschaftlicher Faktizität bestimmen und die Möglichkeit für deren begründete Verknüpfung in einer übergeordneten Konzeption suchen. Während Koslowski die individualethische Verknüpfung in einem religiös gefärbten, formalen Koordinationsideal begründet, setzt Homann auf eine politische, institutionelle Rahmenordnung, die das entfesselte, individuelle Vorteilsstreben reguliert, und Ulrich hofft auf die Ausbildung einer zivilisierten Marktgesellschaft, die aus tugendhaften und kommunizierenden Wirtschaftsbürgern besteht. Diese Entwürfe sind untereinander divergent, dennoch haben sie eine Eigenart gemeinsam – sie gehen davon aus, dass die Wirtschaft selbst ihre Normen reflektieren kann. Die gegenwärtigen Wirtschaftsethiker scheinen es für selbstverständlich zu halten, dass die kapitalistische Marktwirtschaft, und sie allein, zu einer Maximierung des volkswirtschaftlichen Gesamtnutzens und so zur Wohlfahrt aller Menschen führt. Sie beschäftigt beim näheren Zusehen nur die Frage, ob bzw. inwieweit angesichts der vorgegebenen »Sachzwänge« des Marktsystems überhaupt noch ein Spielraum für die Moral übrig bleibt.1 Das wirtschaftliche System erscheint ihnen so effizient und für die Erfüllung der menschlichen Lebensbedürfnisse so unentbehrlich, dass sie allen Betroffenen selbstverständlich unterstellen, das rasche Wachstum der Wirtschaft zu wollen. Nur unter dieser evaluativen Voraussetzung scheinen sie die Fragen nach der Möglichkeit einer Ethik in der Wirtschaft stellen und beantworten zu können. Den modernen Theoretikern der Wirtschaftsethik kann die Hegelsche Ambivalenz des ökonomischen Fortschritts vorgehalten werden: Einerseits befreit und erleichtert die Technologisierung die Arbeit, die Arbeitsteilung als deren Konsequenz führt zur Steigerung der Produktion und vielseitigen Befriedigung der verfeinerten Bedürfnisse, andererseits ist diese Verflechtung und die gegenseitige ökonomische Abhängigkeit der Individuen untereinander eine gänzliche Abhängigkeit, eine Not. Dieser Gegensatz der Wirtschaft kann nicht immanent im ökonomischen System 1

Vgl. Apel, K.-O.: Diskursethik als Ethik der Mit-Verantwortung vor den Sachzwängen der Politik, des Rechts und der Marktwirtschaft. 80.

276

Schluss

gelöst werden, solange es allein in endlosen Kreisen seiner konstitutiven Momente – der physischen Bedürfnisse und der individuellen Willkür bei deren Befriedigung durch Arbeit – bleibt. Das ökonomische System bedarf offenbar nach Hegel einer normativen Begründung aus einem höheren Prinzip, das außerhalb seiner selbst ist. Heute sprechen die Kritiker vom »ökonomischen Zynismus«, wenn die Ökonomen den Anspruch erheben, ethische Normen selbst begründen und reflektieren zu können.2 Ob Hegels Lösung des Verhältnisses von Wirtschaft und ethischem Staat gelungen ist, mag vielleicht strittig bleiben.3 Die Unvernünftigkeit und die Widersprüchlichkeit der bürgerlichen Ökonomiegesellschaft, die er als einen »Kampfplatz des individuellen Privatinteresses aller gegen alle«4 begreift, weist auf die Notwendigkeit ihrer Aufhebung in einer höheren, vernünftigen Sphäre. Dass diese Sphäre der ethische Staat ist, folgt aus Hegels Philosophie des objektiven Geistes, die in der spekulativen Logik als Metaphysik begründet ist. Wenn die Gegensätzlichkeit der Wirtschaft nicht im objektiven Geist und damit letztlich in einer theoretischen Bestimmung des metaphysischen Denkens begründet wäre, das gerade in ihr die Manifestation des Geistes erblickt, wäre Hegels Ethik einen misslungenen Versuch,5 da sie dann in allen gemachten Analysen der Wirtschaft den Antagonismus von Sein und Sollen vergeblich zu überwinden sucht. Ohne Rücksicht auf das spekulative Fundament des Hegelschen ethischen Staates ist es wenig angemessen, die Konsequenzen seines Programms für die heutigen Verhältnisse zu interpretieren. Hegel selbst hat den ethischen Staat mit dem geschichtlich existierenden Staat identifiziert, weil er darin die Verwirklichung der metaphysischen Idee des Guten und des Vernünftigen und nicht etwa die Rechtfertigung von Unvernünftigkeiten der zeitgenössischen Staaten Europas erblickt. Die problematische Gleichsetzung der Idee des Guten mit dem Staat ist ebenfalls nur innerhalb seiner systematischen Philosophie, welche die konkrete Allgemeinheit zum Prinzip hat, folgerichtig, gleichwohl nur mit Einschränkungen zu verstehen. Denn zum einen rechtfertigt Hegel schwer nachvollziehbar den Krieg zwischen verfeindeten Völkern als eine Gelegenheit, deren Wirtschaft zu erschüttern und den Besitzbürgern die Vergänglichkeit des Eigentums zu demonstrieren, und zum anderen berücksichtigt Hegel entgegen seinen Behauptungen das Prinzip der Individualität im Staat nicht wirklich. Die 2

Vgl. Sautter, H. : Wie berechtigt ist die Kritik am Zynismus der Ökonomen? In: Wirtschaftsethische Perspektiven VII. Band 228/VII. Berlin. 2004. 27. 3 Vgl. Horstmann, R.-P.: Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft. 215. Vgl. Peperzak, A.: Modern Freedom: Hegel’s Legal, Moral, and Political Philosophy. 447. 4 Vgl. RP § 289 Anm. 5 Peperzak, A.: Der objektive Geist als zweite Natur. 354.

Zum Problem der Fundierung einer Ethik der Wirtschaft

277

individuelle, endliche Subjektivität ist bei Hegel in der metaphysischen Subjektivität des Absoluten begründet. Subjektivität versteht Hegel nicht lediglich als endliches Bewusstsein der Identität des Selbstbewusstseins in seinen Vorstellungen, sondern als eine komplexe Struktur der Selbstunterscheidung und Selbstbeziehung. Weil im Geist des Individuums letztlich – religiös und metaphysisch – die göttliche Subjektivität wohnt, kann sein sittlich und allgemein motivierter Wille zum Prinzip der Rechtsordnung im Staat erhoben werden. Der Hegelsche Staat ist die Wirklichkeit der sittlichen Idee, die höchste sittliche Substanz, an der die Individuen die Akzidenzen sind. Die Individualität aber erschöpft sich in der Konformität gegenüber Aufgaben und Gesetzen staatlicher Institutionen, sie hat keine eigenständige Geltung. Im Krieg ist die Tapferkeit, das Aufopfern des eigenen Lebens für das Volk, wie Hegel besonders in den Jenaer Schriften betont, die zentrale Bürgertugend, während der reife Hegel die Rechtschaffenheit als Loyalität der Bürger mit den Anforderungen und Gesetzen des Staates als oberste Tugend im friedlichen Rechtszustand der Gesellschaft ansieht. Politik und Ethik sind nach Hegel identisch, weil die wahre Tugend die ethische Tugend ist und diese nur als Praktizierung der bestehenden Sitten einer vernünftigen Welt möglich ist.6 Die Individuen sind zwar diejenigen, welche die Lebendigkeit des Staates ausmachen, sie haben darin jedoch keine selbstständige Bedeutung, worin das Hauptproblem der politischen Ethik Hegels liegt.7 Trotz solcher Probleme in der Hegelschen Konzeption dient sie als sehr geeignete Folie zum einen für die Kritik an den gegenwärtigen Entwürfen zur Wirtschaftsethik und zum anderen für die Gewinnung neuer Impulse in deren Weiterentwicklung. Während Hegel die individuelle Selbstständigkeit und Freiheit außerhalb des Staates in der Religion, nämlich in dem religiösen Gewissen, rettet, ist sie für den prominenten Vertreter der gegenwärtigen Wirtschaftsethik, Karl Homann, kein wirkliches Problem. Er nimmt ohne weiteres an, dass die Evidenz des persönlichen Vorteils stark genug ist, um ein

6

Vgl. Peperzak, A.: Hegels Pflichten- und Tugendlehre. 181. Vgl. Düsing, K.: Politische Ethik bei Plato und Hegel. 142. Vgl. auch Düsing, K.: Ethik und Staatslehre bei Plato und Hegel. 248 f. In der Debatte zwischen den Kommunitaristen und den Universalisten und deren ambivalente Verwandtschaft mit Hegel sucht M. Giusti die hegelsche Konzeption der Sittlichkeit in ihrer holistischen, teleologischen und substantiellen Dimension zu aktualisieren. Er behauptet, dass es bei Hegel keine Opposition zwischen vernünftiger Selbstbestimmung und sittlichem Gemeinwesen gibt. Die Hegelsche Sittlichkeit sei vielmehr eine komplexe Vermittlungsform, welche die Widersprüche, aus denen sie stammt, nicht auslöscht, sondern sie einschließt. Vgl. Giusti, M.: Geist und community. Wie hegelianisch sind die Kommunitaristen? In: Hegel-Studien. Bd. 37. Hamburg. 2002. 100 ff. bes. 102. 7

278

Schluss

regelbildendes Handeln, das stets eine Selbstbindung der Beteiligten zum Ziel hat, in Gang zu setzen.8 Das Grundproblem des Verhältnisses von persönlicher Freiheit und ethischem Staat löst Homann damit, dass er den Menschen lediglich als vorteilsstrebendes Wesen und den Staat lediglich als einen Mechanismus zur Anreizsteuerung und Kanalisierung von Vorteilsstreben begreift. Dadurch raubt er dem Menschen seine lebendige Sittlichkeit und dem Staat seine genuin ethische Aufgabe in der Förderung von Sitte und Kultur und propagiert, wie gezeigt, eine reduktionistische Lösung.9 Demgegenüber sind die Entwürfe von Peter Koslowski und Peter Ulrich inhaltlich anspruchsvoller, jedoch vermögen sie keine differenzierte Lösung des Problems in der Bestimmung eines Bereichs, wo persönliche Freiheit und ethischer Staat harmonieren, zu geben. Während sich Koslowski auf die einsichtige Selbstbeschränkung der Individuen in der Verfolgung eines formalabstrakten Optimums an allgemeiner Marktkoordination und auf deren Selbstverpflichtung in einer nicht näher bestimmten Religion verlässt, malt Ulrich das utopische, voraussetzungsreiche Bild einer modernen, zivilisierten Marktgesellschaft von ausschließlich tugendhaften Wirtschaftsbürgern, die aufgrund einer postulierten, empirischen Logik der Zwischenmenschlichkeit über die gerechte Verteilung der Ressourcen und knappen Güter, über den Umgang mit der Umwelt und die Ausbeutung der dritten Welt kommunizieren, sich Pflichten auferlegen und diese dann einhalten. Solche Modelle scheinen jedoch in Anbetracht des atemberaubenden Ökonomisierungstempos aller Bereiche sozialen Lebens und den Verlust des staatlichen Einflusses schwer nachvollziehbar zu sein. Obwohl Hegel die Entwicklung des Kapitalismus, wie er heute besteht, nicht voraussehen konnte, erweisen sich vor dem Hintergrund seiner politischen Ethik, die eine institutionelle Vermittlung zwischen einerseits Staat und Wirtschaft sowie andererseits, wenn auch problemreich, zwischen individueller Freiheit und ethischer Gemeinschaft thematisiert, die modernen Konzeptionen als entweder zu harmonistisch oder als reduktionistisch. Hegel entwickelt eine umfassend fundierte Theorie eines sittlichen Ganzen, in dem Religion, Kultur, Sitte und Wirtschaft in einem Verhältnis vermittelt sind, in dem die Normativität nicht aufgegeben ist und die Abweichungen integriert sind. Hegel lehnt nicht grundsätzlich die liberale Marktwirtschaft und das in ihr generierte Wachstum ab, er kritisiert vielmehr die wachsende Tendenz zur Polarisierung der

8

Vgl. Sautter, H. : Wie berechtigt ist die Kritik am Zynismus der Ökonomen? 25. Homann interessiert sich nicht für den Menschen und dessen Freiheit, die für jede Ethik zentral sind, sondern für die Situation, in der er handelt. Was eine solche Konzeption mit Ethik zu tun hat, ist hier nicht zu entscheiden. 9

Zum Problem der Fundierung einer Ethik der Wirtschaft

279

Gesellschaft in einige Reiche und unzählige Arme.10 Hegels Einwand gegen die moderne Politische Ökonomie seiner Zeit ist keineswegs unmodern11 und erreicht heute, wie anfangs erwähnt, eine kritische Relevanz. Hegel fordert nicht die generelle Eindämmung der Wachstumstendenz der Wirtschaft durch staatliche Maßnahmen, sondern die Übernahme der sittlichen Verantwortung für die Konsequenzen der wirtschaftlichen Expansion. Diese Forderung versteht Hegel konkret als Einhaltung der ethischen Pflicht der reichen Ökonomiegesellschaft gegenüber ihren verarmten Mitarbeitern in der Ermöglichung eines menschenwürdigen, selbstbewussten, wirtschaftlich gesicherten Lebens.12 Hegel zweifelt an der freiwilligen Pflichterfüllung der reichen Ökonomiegesellschaft, denn die Pflichten zu sozialen Abgaben stehen dem ökonomischen Prinzip einer liberalen bürgerlichen Gesellschaft entgegen, und er fordert daher die institutionelle Sicherung. Mit der Kritik am »Zynismus des Laissez-faire-Liberalismus«13 verbindet Hegel nicht die Forderung nach staatlicher Glücksbeförderung für jeden, sondern Fürsorge und Hilfe für diejenigen, die in und durch das wirtschaftliche Abhängigkeitssystem arbeitslos und sozial bedürftig geworden sind. Die Würde, sich und die Familie selbstbewusst durch Arbeit zu erhalten, fördert die Bildung zur Tugend, die darin besteht, nicht blind die institutionellen Normen zu befolgen, weil das einen persönlichen Vorteil bedeutet, wie bei Homann, sondern sie selbst aktiv mitzugestalten und damit einen politischen und wirtschaftlichen Orientierungsrahmen zu schaffen, in dem sich die Bürger frei und vernünftig bewegen können. Hegels Forderungen der sozialen Fürsorge und der Schaffung der Voraussetzungen zur Tugendbildung können heute durchaus an die Adresse der Wirtschaft, deren Entscheidungsträger und an den politischen Sozialstaat gerichtet werden.14 Der Sozialstaat ist heute zur Gänze entmach-

10

Die in der Forschung umstrittene Frage, ob Hegel liberal oder konservativ war oder wie sich das entwicklungsgeschichtlich verhält, ist in systematischer Hinsicht zweitrangig. Vgl. auch Peperzak, A.: Zur Hegelschen Ethik. 103. 11 Vgl. auch Petersen, Th.: Wie modern ist Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft? 116. 12 Das heute brennende und von Hegel thematisierte Problem der Armut in der modernen Ökonomiegesellschaft versucht H. F. Dahms in der aktuellen Debatte um die Begründung der Einführung von Mindesteinkommen zu aktualisieren. Vgl. Dahms, H. F.: Die gesellschaftliche Rationalisierung der Oekonomie. Vom garantierten Mindesteinkommen als konstitutionellem Anrecht. In: Zeitschrift für sozialwissenschaftliche Forschung und Praxis. Vol. 43. No. 2 (1992). 142 ff. 13 Vgl. Kersting, W.: Polizei und Korporation in Hegels Darstellung der bürgerlichen Gesellschaft. 377. 14 Vgl. Englisch, F.: Zu Religion und Staat bei Spinoza und Hegel. Mit einem Ausblick auf Ökonomie. In: Randfiguren. Spinoza-Inspirationen. Hannover-Laatzen. 2005. 241.

280

Schluss

tet worden, weil die neuen Zentren der wirklichen, wirtschaftlichen Macht nicht in ihm verankert sind. Die global agierenden Unternehmen interessieren sich wie »vaterlandslose Gesellen«15 nicht für das Soziale des Staates, sondern lediglich für den Wirtschaftsstandort. Gleichwohl ist Hegels metaphysisch fundierte Bestimmung des Verhältnisses von individueller Freiheit und ethischer Gemeinschaft für die heutige moderne Ethik angesichts demokratischer Willensbildungen ebenso wie angesichts moderner Selbstbewusstseinstheorien unzureichend. Die moderne Ethik, auch die Wirtschaftsethik, bedarf heute einer Fundierung im freien und selbstbewussten Subjekt. Auf der Grundlage der Theorie der Selbstbewusstseinsmodelle kann als ein allgemeines ethisches Prinzip die praktisch-dynamische selbstbezügliche Energie des Selbst als wesentlich sittliche Selbstbestimmung und deren idealen noematischen Gehalt als eine ideale Gemeinschaft einander wechselseitig und sich selbst achtender Personen aufgestellt werden. Auf der Grundlage eines solchen ethischen Prinzips kann gezeigt werden, dass sich einzelnes Selbst und Gesellschaft oder Staat nicht unvereinbar gegenüberstehen – das sich voluntativ selbstbestimmende Subjekt realisiert sich selbst in seinen Pflichten, Tugenden und Zwecken als Mitglied der ethischen Gesellschaft. Eine ethische Gesellschaft solcher Subjekte ist von praktischer Bedeutung und begründet praktische Normen, die auch unter den Bedingungen und den »Sachzwängen« der heutigen Wirtschaft zu konkreten Geboten werden. Die genaue Ausformulierung der Pflichten, Tugenden und Zwecken in der gesellschaftlichen Sphäre der Wirtschaft ist die Aufgabe der Wirtschaftsethik. Auf der Grundlage des ethischen Prinzips des freien und selbstverantwortlichen Subjekts lassen sich die noch offenen Fragen in der gegenwärtigen Wirtschaftsethik differenzieren und in ihren Voraussetzungen begründen, was jedoch eigens untersucht werden muss.

15

Ebd.

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sachregister

Absolutes 62, 89 ff., 92, 94 f., 99, 124 f., 126, 164, 244 Anderssein des Geistes 133 ff., 138, 142 Anerkennung 123, 132, 143, 151 ff., 171, 206, 265, 271 Antike, Polis 28, 34 ff., 37 ff., 48, 61, 77 ff., 112, 116, 121, 123 ff., 147, 246 f., 246 f. Arbeit 19, 42, 85 f., 109, 112, 130 ff., 133 ff. 139 ff., 143, 183 ff. 185, 187, 222 f., 260 Armut 37, 69 ff., 112, 145 f., 180, 202 f. Bedürfnisse 108 ff., 143 ff., 161, 179 ff., 182 ff., 185 ff. Begriff 96 f., 137, 166 ff. Besitz 135, 141 Besitzbürger/bourgeois 116 ff., 120, 124, 127, 146 ff., 182, 186, 178 f., 193 ff., 267 ff. Bürgerliche Gesellschaft 33 f., 64, 71, 161 f., 172, 175, 178 ff., 212 ff., 276 Dialektik 93, 161, 170, 190, 238, 259, 261 Diskurs 240, 243 f., 252, 263 f. 266 Eigentum, Eigentumsrecht 27, 37 f., 48, 114 f., 186 Endlichkeit 63, 127, 220 Entfremdung 134 Ethik passim, bes. 160, 167, 196, 207, 219 ff., 225, 228, 241 f., 243 f., 256 ff. England 52 ff., 65, 69, 120

Export 143, 183, 191 Freiheit 25, 97 f., 126, 128, 161, 166, 171, 174, 176, 179, 181, 195, 211, 230, 244, 262, 267 Geist 117, 129, 130 ff., 137 ff., 142, 144, 149, 152 ff., 163, 166 ff., 178, 215 Gerechtigkeit 113, 128, 172, 235 ff., 235 f. Individualität 106, 126, 147, 181, 195, 221 Intelligenz 142, 148, 167 Korporation/Institution 182ff., 205ff., 214, 248, 239, 248, 271 Kunst 83, 159, 162, 172, 233 Liebe 56, 60 ff., 91 Luxus 187 f. Markt, Marktgleichgewicht 110 ff., 200, 203, 221, 228, 230 f., 239, 254, 261, 271 Mechanismus 76, 179, 190, 222 Moralität 57, 126, 169 ff., 172 f. Natur 141, 159, 166, 172, 186, 229, 259 f. Negativität 90, 115, 133 Ökonomie 30 ff., 72 ff., 90, 98, 100 f., 109, 113, 127 f., 139, 163 ff., 184, 187,

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Sachregister

219 ff., 225, 241 f., 243, 253 f., 257 f., 262 Organismus 106, 115 f., 221 Philosophie passim 245, 258 Pflicht 148, 176 ff., 207 ff., 211 f., 231, 253 Polizei 182, 201 f. Recht 128, 142, 160, 164, 168 f., 175, 192, 215, 254 Rechtschaffenheit 177, 206, 249 Reichtum 37 f., 44, 49, 112, 145, 153 ff. 195 Religion, Kirche 26 f., 29 ff., 45 ff., 67 ff., 149, 159, 161 ff., 182 f., 185, 190, 220, 226 f., 233 Schicksal 27, 66, 82, 85, 124, 126 Selbstbewusstsein/Subjektivität 137 ff., 150 ff., 156, 176, 222, 272, 280 Sittlichkeit 103 ff., 106 ff., 115, 122, 167, 176, 181, 247 Sollen 56, 174, 178

Staat 27, 36, 70, 83, 110, 112 ff., 120, 145 f., 153 ff., 161 f., 165 f., 170, 180, 198 ff., 210 ff., 214 ff., 229, 237, 243, 268, 270, 278 Staatsbürger 116 f., 124, 146 ff., 148, 193 Stand 41 ff., 112, 123 f., 148 ff., 192 ff. Steuern/Besteuerung/Finanzen 49 ff., 53 ff., 113, 146 Trieb 139, 169 f., 175, 185 Tugend 107 f., 177, 210, 233, 247, 254, 269, 271 Unendlichkeit 93 f., 103, 220 Ungleichheit 111, 145 Verfassung 70, 105, 210 Verstand 82, 89, 184, 198, 242 Vertrag 143 f., 191, 250 f. Volk 107, 112, 115 Wille 102, 137, 140 f., 143 ff., 167, 169 ff., 198, 230 Wirtschaft 108, 112, 114, 116, 119, 127, 142 ff., 145, 183, 192, 260

namensegister

Adam Smith 42, 51, 71 ff., 77, 86, 110 ff., 135, 140, 184, 188, 200, 228 Apel 255, 262, 270, 273, 275 Aristoteles 19 f., 32, 93, 98, 103, 104, 113, 117 ff., 121, 232, 232, 255 Arndt 21, 90, 109 f., 113, 143 Bienenstock 21, 100, 116, 134, 136, 139, 141, 146, 157 Bondeli 18, 30 f., 49 Cart 49, 52 ff. Düsing, K. 14, 20, 22, 29, 58, 60, 66, 84, 92 ff., 95, 113, 123 f., 136, 138, 150, 153, 159, 169, 278 Düsing, E. 64, 66, 137, 151 f. Fichte 36, 97, 101, 104, 106, 113, 132, 140, 156, 164, 168, 173, 205, 211 Gibbon 38 Habermas 13, 131, 143, 152, 258 f., 260, 263, 272 Hegel Passim Hobbes 101 f., 251, 262 Hölderlin 28, 60 f., 63, 82, 84, 143, 39 Homann 89, 241 ff., 262 Horstmann 19, 113, 129 f., 137, 139, 162 Ilting 20, 110, 196, 216

Jaeschke 17 Jesus 46 ff., 63, 67 Kant 29, 36, 57 ff., 63, 70, 76, 96 f., 102, 127, 156, 213, 215, 223 f., 241 Kersting 201, 207, 236, 238, 279 Kimmerle 20, 82, 89, 90, 105, 122, 131 Koslowski 12 f., 45, 219 ff. Leibniz 220 Lukács 18, 28, 34 f., 40, 56, 76, 86, 123, 148, 152 Lykurg 77 ff., 81 Meist 90, 122 Montesquieu 39, 53, 214 Peperzak 22, 89, 159, 160 ff., 165, 167 f., 173 f. 177, 180, 183, 191, 201 f., 208, 211 f., 214 ff., 276f. Plato 19, 20, 37, 61, 115, 117f., 147, 181, 196, 231 f., 246 Plotnikov 30, 36, 83 Pöggeler 18, 36, 41, 61, 64, 76 f., 80, 85 f., 123, 156 Priddat 21, 89, 156, 163, 180, 184, 187, 189 f.184, 203 f. Riedel 19, 103, 118, 121, 136, 146, 216 Rosenkranz 32, 37, 55, 57, 65, 69, 75, 80 Roth 214 Rousseau 19, 31, 38, 43 f., 50 f., 53 f., 72, 136, 180, 186, 251

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Namenregister

Siep 20, 63, 90, 92, 103, 131, 137, 202 Steuart 71 ff., 79, 81 Thukydides 37 ff.

Ulrich 12, 101, 112, 131, 257 ff. Waszek 18, 42, 51, 65, 71 f., 75, 107, 183, 202