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German Pages 232 Year 2021
Andréa Belliger, David J. Krieger Essays zur digitalen Transformation
Digitale Gesellschaft | Band 45
Andréa Belliger (Prof. Dr.) ist Co-Direktorin des Instituts für Kommunikation & Führung in Luzern und Prorektorin der Pädagogischen Hochschule Zentralschweiz. Sie ist Verwaltungsrätin in verschiedenen Unternehmen in den Bereichen Gesundheit, Finanzen und Banken, Sozialverwaltung, Energie und Bildung sowie als Beraterin für Unternehmen und Behörden in allen Aspekten der digitalen Transformation tätig. 2018/19 wurde sie unter die Top 100 Women in Business in der Schweiz gewählt und war für den Female Digital Leader Award nominiert. David J. Krieger (Prof. Dr. habil. habil.), Philosoph, ist Mitbegründer und CoDirektor des Instituts für Kommunikation & Führung in Luzern. Er ist Autor zahlreicher wissenschaftlicher Artikel und Bücher in den Bereichen Kommunikationstheorie, Systemtheorie, Theorien der neuen Medien, interkulturelle Kommunikation, Netzwerktheorie, Organisationstheorie und digitale Ethik und Philosophie. Im Jahr 2000 war er Mitbegründer des Instituts für Kommunikation und Kultur an der Universität Luzern, wo er sich in Religionswissenschaft und in Kommunikationswissenschaft habilitiert hat.
Andréa Belliger, David J. Krieger
Essays zur digitalen Transformation
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2022 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Petra Meyer, Beromünster Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-6047-0 PDF-ISBN 978-3-8394-6047-4 https://doi.org/10.14361/9783839460474 Buchreihen-ISSN: 2702-8852 Buchreihen-eISSN: 2702-8860 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download
Inhalt
Einführung ......................................................................... 9 1.
Zurück zur Normalität? ....................................................... 11
2.
Die drei Disruptionen ......................................................... 15
3.
Das Eine und das Viele oder: Was die Soziologie von der Physik lernen kann ................................................... 19
4.
Warum Nachhaltigkeit kein Wert ist.......................................... 23
5.
Die moralische Maschine .................................................... 27
6.
Datafizierung oder: Warum wir lernen sollten, unsere Roboter zu lieben ..... 33
7.
Digitale Transformation des Gesundheitswesens: mehr als Apps auf Rezept .................................................................. 39
8.
Tesla – ein philosophisches Problem......................................... 43
9.
Daten – Informationen – Wissen ............................................. 49
10.
AI Now oder: AI, wie sie sein könnte ......................................... 53
11.
Smart oder: Was ich von meinem iPhone lernen kann........................ 57
12.
Network Publicy Governance und Cyber-Sicherheit .......................... 63
13. Digitale Transformation – eine Herausforderung für Führung ................ 69 14. Fake News oder: Die Gamification der Politik ................................ 73 15.
Gibt es so etwas wie »informationelle Privatheit«? .......................... 77
16.
Der Wert von Privatheit oder: Big Brother, wir lieben dich ................... 83
17.
Personalisierte Werbung, Big Data und das informationelle Selbst ........... 93
18.
Visionäre Geschichte oder: Utopie ist überall ............................... 101
19.
Information – wohlgeformt in Form ......................................... 109
20. Digitale Transformation im Bildungswesen .................................. 117 21.
Suchen nach Google oder: Was ist ein Filter? ............................... 125
22. Wenn Facebook eine Nation wäre ........................................... 129 23. Architektur und der »Space of Flows« ...................................... 135 24. Die Revolution der neuen Medien............................................ 139 25. Wo wollen Sie heute hin? Raum als Schnittstelle ............................ 143 26. Informationelle Privatheit: eine Angelegenheit der kontextuellen Integrität? ................................................ 147 27. Der Akteur ist das Netzwerk ................................................. 151 28. Die Soziosphäre............................................................. 155 29. Privat und öffentlich oder: Das magische Händchen ......................... 161 30. Das soziale Betriebssystem ..................................................167 31.
Net Locality: Der Raum spielt keine Rolle, aber der Ort ...................... 171
32. Vernetzte Öffentlichkeiten ...................................................175 33. Mixed Reality – gemischte Realität ........................................... 179 34. Layer und Filter ............................................................. 183 35. Können Netzwerke tugendhaft sein? ......................................... 191 36. Ich will mitreden! – Wie sich die Kommunikation zwischen Patienten und Medizinern verändert ............................... 197 37. Persönliche Informatik und Design ......................................... 203 38. Bauen, Wohnen, Denken in der Netzwerkgesellschaft ....................... 207 39. Verrückte Liebe oder: Das moderne Dilemma ................................ 211 40. Zurück zur Schule ...........................................................215 41.
Alles zusammenhalten oder: Die Natur der Macht ........................... 219
Quellen ........................................................................... 223 Literatur ......................................................................... 227
Einführung
Dieses Buch ist eine Sammlung von kurzen Reflexionen und Gedankenexperimenten zu Themen, mit denen sich die Autorin und der Autor in den letzten Jahren in einer Reihe von Publikationen, in der Lehre, in Blogbeiträgen und in öffentlichen Vorträgen beschäftigt haben. Alle in diesem Buch behandelten Themen haben auf die eine oder andere Weise mit dem zu tun, was man die »digitale Transformation« nennen könnte. Bei der digitalen Transformation geht es nicht nur um die allgegenwärtigen Auswirkungen digitaler Technologien, sondern vor allem um die psychologischen, sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Veränderungen, die die digitale Revolution mit sich bringt. Die Idee der digitalen Transformation bezieht sich sowohl auf die Entstehung einer globalen Netzwerkgesellschaft als auch auf den Untergang der westlichen Industriegesellschaft samt ihren Weltbildern, ihrer Politik, ihrer Ethik und ihrem Menschenbild. Die globale Netzwerkgesellschaft basiert auf neuen Formen des Wissens und des Umgangs mit Information, auf neuen Formen des kooperativen Handelns oder der Organisation und auf neuen Interpretationen des Sinns der menschlichen Existenz. Man könnte von drei Disruptionen sprechen. Erstens gibt es die Disruption der Art und Weise, wie Wissen und Informationen produziert, verteilt und genutzt werden. Zweitens hat die digitale Transformation die Art und Weise geändert, wie kooperatives Handeln in der Gesellschaft organisiert ist, also die Art und Weise, wie wir zusammenleben und arbeiten. Und drittens bringt die digitale Transformation eine neue Art und Weise, wie Menschen verstehen, wer sie sind und welchen Sinn sie im Leben haben. Die digitale Transformation ist revolutionär, weil sie die traditionellen Ordnungen der modernen westlichen Gesellschaft unterbricht und radikal ändert. Sie hat neue Formen des Wissens, des Handelns und des Seins hervorgebracht. Die in diesem Buch versammelten Kurztexte wurden alle speziell für diese Publikation überarbeitet und aktualisiert. Sie stellen einen Versuch dar, die Bedeutung des aktuellen Geschehens sowohl
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im Hinblick auf die Vergangenheit als auch auf die Zukunft zu beschreiben und zu bewerten.
1. Zurück zur Normalität?
Unter dem Titel »Es wird kein ›Zurück zur Normalität‹ geben« veröffentlichte NESTA, die britische Denkfabrik für Innovation, ihre Ansichten zu den Folgen der Covid-19-Pandemie. Die Forschenden geben zu, dass Spekulationen darüber, was die Zukunft bringen wird, nur Spekulationen sind. Gleichzeitig weisen sie aber darauf hin, dass es wichtig ist, vorherzusagen, was kommen wird, um besser vorbereitet zu sein. Genau das ist die Lektion, die die Pandemie lehrt. Bereits 2014 hielt Bill Gates einen TED-Talk, in dem er all das prophezeite, was heute tatsächlich vor sich geht – und dennoch war niemand auf die heutigen Ereignisse vorbereitet. Wir sollten also wenigstens jetzt in die Kristallkugel schauen, um zu sehen, was bei all dem herauskommen könnte. Eines der Ergebnisse der Pandemie ist, dass die Globalisierung nun für alle offensichtlich ist. Nicht nur, dass die globale Konnektivität und die Menschenströme das Virus innerhalb weniger Wochen in der ganzen Welt verbreiteten, auch die anschließende Verknappung von Schutzmaterialien und medizinischer Ausrüstung zeigte die internationalen Abhängigkeiten nur allzu gut. Die nationalistische Reaktion, Grenzen zu schließen und Menschenund Materialflüsse zu blockieren, stellt eine »Lockdown«-Mentalität dar, die darauf abzielt, die Verbindungen zu unterbrechen und den Fluss des Virus zu stoppen. Dies jedoch zum Preis, dass die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Grundlagen der weltumspannenden Netzwerkgesellschaft gestört werden. Politisch sehen sich antiglobalistische Fraktionen im Recht, während diejenigen, die den Nationalstaat und seine populistischen Unterstützer für überholt halten, auf die Notwendigkeit hinweisen, internationale Organisationen wie die WHO und die Vereinten Nationen zu stärken. Folgt man diesen beiden möglichen Entwicklungslinien in den wirtschaftlichen Bereich, so erwarten die einen eine Reorganisation der Versorgungsketten und der Produktion zugunsten nationaler Unabhängigkeit unter dem Regime einer stärkeren
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zentralisierten Kontrolle und Regulierung bis hin zur Verstaatlichung einiger Industrien, während die anderen auf dezentrale und vernetzte Organisationen setzen, die allein in der Lage sind, mit der Komplexität der Situation zurechtzukommen. Die Linke fordert ein universelles Grundeinkommen und eine verstärkte staatliche Unterstützung für diejenigen, die ihren Arbeitsplatz und ihr Einkommen verloren haben, während die Rechte eine Deregulierung fordert, um Innovationen und die schnelle Entwicklung und Einführung neuer Geschäftsmodelle und neuer Produkte und Dienstleistungen zu fördern. Interessanter als die Wiederholung bekannter politischer Narrative ist die Rolle von Wissenschaft und Technologie in der Welt nach der Pandemie. Einige sehen die wachsende Abhängigkeit der Politik von der Wissenschaft als einen Trend zur Technokratie, während andere sehen, wie die Wissenschaft nicht in der Lage ist, mit den dringenden moralischen und sozialen Fragen umzugehen, die die Pandemie aufwirft. Einerseits muss sich die Gesellschaft an wissenschaftlichen Erkenntnissen und sollte sich nicht an politischen Ideologien orientieren, anderseits können uns Wissenschaftler nicht vorschreiben, welchen Werten und Visionen für die zukünftige Gesellschaft wir folgen sollen. Ist es richtig, Leben zu »opfern«, um wirtschaftlichen Wohlstand zu »bewahren«? Wie viel Geld ist ein Menschenleben wert? Wann ist das Leben nicht mehr »lebenswert«? Der Ruf nach wirtschaftlichen Opfern im Namen der Generationensolidarität bleibt nicht mehr unhinterfragt. Der Konflikt zwischen dem Wert des individuellen Lebens und dem Wert des gesellschaftlichen Wohlergehens wird noch verschärft durch das Beharren auf der Aufrechterhaltung der individuellen Rechte, zu sagen und zu tun, was man will, gegen die Forderungen nach einer Regulierung der öffentlichen Gesundheit zum Wohle der Allgemeinheit. Überwiegen die persönlichen Rechte, zum Beispiel Impfungen zu verweigern, die Pflichten, die Gesellschaft als Ganzes zu schützen? Dies sind Fragen, die von der Wissenschaft nicht beantwortet werden können. Das wachsende Bedürfnis nach einer tragfähigen Vision einer globalen Zukunft wird den politischen Diskurs (hoffentlich) weg von traditionellen Ideologien hin zu neuen Horizonten verschieben. Auch wenn der Einfluss der Medizin auf die Politik kurzlebig und unklar sein mag: Der Einfluss der digitalen Technologien auf die Gesellschaft ist enorm und wird weiter anhalten. Sowohl im privaten als auch im öffentlichen Sektor, im Bildungswesen, im Gesundheitswesen, in der Forschung und in anderen Bereichen haben Organisationen aller Art erkannt, dass Homeoffice, virtuelle Lieferung von Dienstleistungen und Produkten, virtuelle Zusammenarbeit, New Work und Dezentralisierung sehr gut funktionieren
1. Zurück zur Normalität?
und sowohl Kosten senken als auch drängende Umweltprobleme lösen. Viele »Digital Immigrants« wurden schnell und sogar gewaltsam in die digitale Welt »eingebürgert«, und das traditionelle Top-down-Befehls- und Kontrollmanagement hat vielleicht den Todesstoß erhalten. Es besteht ein klarer Bedarf an Bürokratieabbau und Enthierarchisierung – nicht nur im Gesundheitswesen, sondern in allen Bereichen der Gesellschaft. Das Coronavirus hat nicht nur viele Menschen ausgelöscht, sondern auch viele traditionelle Überzeugungen über die soziale und wirtschaftliche Ordnung und über die Art und Weise, wie die Dinge zu tun sind, über den Haufen geworfen. Eine weitere Auswirkung der Pandemie wird wahrscheinlich zu steigenden Forderungen nach Transparenz und offenen Informationen führen. Schon jetzt werfen viele China eine gefährliche Zensur und Geheimhaltung in Bezug auf Informationen über den Ausbruch vor. Wissenschaftler haben sich zu einem weltweiten Austausch von Daten und Forschungsergebnissen zusammengeschlossen. Verlage haben Bezahlschranken niedergerissen. Der offene Zugang zu Informationen aller Art wird als Priorität angesehen. Ansprüche auf geistiges Eigentum werden suspekt. Hinzu kommt, dass Regierungen Tracking-Apps einsetzen und die Bürgerinnen und Bürger mehr Offenlegung von sogenannten »persönlichen Informationen« akzeptieren. In der Abwägung zwischen Freiheit und Sicherheit/Gesundheit scheint die Sicherheit die besseren Karten zu haben. Dies wird noch deutlicher, wenn wir bedenken, dass die Verlagerung von mehr staatlichen und geschäftlichen Aktivitäten in den Cyber-Bereich größere Gefahren der Cyber-Kriminalität und der Cyber-Kriegsführung mit sich bringt, die wiederum viel größere Investitionen in die Cyber-Sicherheit oder sogar völlig neue Sicherheitskonzepte und begleitende soziale und organisatorische Veränderungen erfordern. Insgesamt scheint es, dass wir uns im Zuge der Pandemie schneller als je zuvor in Richtung der datengesteuerten globalen Netzwerkgesellschaft bewegen. Einige haben vorhergesagt, dass die Pandemie den »Techlash« beenden wird – denn was wir zum Überleben brauchen, sind mehr Informationen über jeden und alles, nicht weniger. Diese Informationen müssen so schnell wie möglich analysiert und genutzt werden, was Investitionen in KI und BigData-Analytik anspornt. Rufe nach Datenschutz, nach Regulierung von TechGiganten und nach Moratorien für den Einsatz von Tracking, Überwachung und KI werden schwächer und verlieren weltweit an Unterstützung. Vielleicht müssen traditionelle Vorstellungen von bürgerlichen Freiheiten überarbeitet und für eine Welt aktualisiert werden, in der Konnektivität, Informationsfluss, Transparenz und Partizipation die wichtigsten Werte sind.
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2. Die drei Disruptionen
Die digitale Transformation hat die westliche Industriegesellschaft in mindestens drei wichtigen Bereichen grundlegend verändert. Die erste große Erschütterung – oder Disruption – ist die posthumanistische Revision, die das autonome rationale Subjekt der europäischen Aufklärung nicht mehr in den Mittelpunkt von Geschichte und Gesellschaft stellt. Der Mythos des Humanismus ist in vielerlei Hinsicht problematisch geworden, nicht zuletzt durch die Tatsache, dass er seine letzte Stellung auf dem Terrain des Datenschutzes bezogen zu haben scheint. Die Privatheit ist ein Versuch, die Konnektivität und den freien Fluss von Informationen zu blockieren, die für die digitale Transformation und ihre neuen Normen und Werte maßgebend sind. Anstelle von Privatheit schätzt die globale Netzwerkgesellschaft »publicy«. Publicy – übersetzt etwa »Öffentlichheit« ist der »Default«-Zustand des informationellen Selbst. Das informationelle Selbst ist mehr ein offenes Netzwerk als ein geschlossenes System – es ist im Wesentlichen vernetzt, verbunden und offen. Der Versuch, das autonome rationale Subjekt des Humanismus zu retten, indem man die Privatheit als ein fundamentales und unveräußerliches Recht benutzt, das von einer ahistorischen menschlichen Natur abgeleitet ist, wird der relationalen Natur der Information nicht gerecht. Was immer der Mensch sein mag: Als informationelles Selbst kann dieses Wesen kein abgegrenztes Individuum sein, das durch bestimmte »persönliche« Informationen konstituiert ist, d.h. durch Informationen, die in keiner Weise geteilt, kommuniziert oder in sozialer Interaktion verwendet werden können. Statt im Zustand der Privatheit existiert das informationelle Selbst im Zustand der Publicy, d.h. verbunden mit zahlreichen anderen – sowohl menschlichen als auch nichtmenschlichen – Akteuren in verschiedensten Akteur-Netzwerken. Das humanistische Menschenbild der europäischen Aufklärung zerbröckelt. Dies ist die erste Disruption, welche die digitale Transformation mit sich bringt.
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Wenn die erste Disruption der Verlust des Mythos des Humanismus ist, so ist die zweite der Verlust eines uralten Prinzips der sozialen Organisation, nämlich der Hierarchie. Seit frühesten Zeiten haben wir Menschen uns daran gewöhnt, kooperatives Handeln in großen Gruppen durch eine Hierarchie zu organisieren. Sobald mehr als zwanzig oder dreißig Menschen zusammenkommen, muss jemand der Chef, der Häuptling, der König, der Anführer, der Präsident usw. sein. Die räumlichen und zeitlichen Bedingungen der Face-to-Face-Kommunikation erlauben es großen Gruppen einfach nicht, kooperatives Handeln effektiv zu koordinieren. Jemand muss der Diskussion ein Ende setzen und Befehle erteilen, die von anderen ohne endlose Debatten ausgeführt werden. Der viel diskutierte und nicht genau definierte Begriff der »Macht« wird immer durch Hierarchien der einen oder anderen Art veranschaulicht. Regierungsstellen, Unternehmen, Bildungseinrichtungen, Religionsgemeinschaften, ja jede Form der Zusammenarbeit zwischen Menschen wird mithilfe von Macht organisiert, die unweigerlich von oben nach unten in Form von Befehls- und Kontrollkommunikation fließt. Die Pyramide kann als die beste Visualisierung von Macht angesehen werden: Sie ist eine Struktur, die im Organigramm fast jeder Organisation in der Gesellschaft zu finden ist. Widerstand gegen Macht oder Versuche, Macht zu erlangen, werden daher immer als »bottom-up«-Bewegungen interpretiert, während Versuche, Macht zu erhalten, immer »top-down« sind. Dies ist die Annahme, die aller Kritik in der Moderne zugrunde liegt. Man kann sagen, dass die gesellschaftliche Kommunikation schon immer vertikal war: Befehle kommen von oben, während die Befolgung oder der Widerstand von unten kommt. Die digitale Transformation unterbricht diese uralte Struktur von Macht, indem sie effektive Kommunikation und Kooperation nicht nur von einem zu vielen, sondern von vielen zu vielen ermöglicht. Die digitalen Technologien fördern diese multilaterale, Viele-zu-Vielen-Kommunikation. Traditionelle bürokratische Organisationen werden in der globalen Netzwerkgesellschaft zunehmend dysfunktional und verlieren ihre Wettbewerbsfähigkeit. Hierarchien werden überall durch Netzwerkorganisationen ersetzt, die auf verteilter Entscheidungsfindung und Selbstorganisation basieren. Die dritte Disruption schließlich ist die Transformation der Ordnung des Wissens. Wissen ist abhängig von Medien. Wenn das, was wir wissen, nicht kommuniziert werden kann, verschwindet es mit uns und wird nicht Teil der Gesellschaft. Ohne Medien, welcher Art auch immer, gibt es kein Wissen. Revolutionen in den Medien sind stets von sozialen und politischen Revolutionen begleitet worden: Die Erfindung der Schrift löste die mündliche
2. Die drei Disruptionen
Überlieferung ab und veränderte die Gesellschaft. Die Erfindung des Buchdrucks und der elektronischen Massenmedien veränderte die Gesellschaft. Auch die Erfindung der digitalen Medien hat die Gesellschaft verändert. Die neuen Medien haben eine neue Ordnung des Wissens eingeführt, die nichthierarchisch, unbegrenzt, verbunden, inklusiv, komplex und offen für alle ist. Die neuen Medien sind nicht-hierarchisch, weil sie allen die Mittel zur Produktion und Verbreitung von Informationen in die Hand geben. Sie sind unbegrenzt, weil die Kosten für die Produktion und Verbreitung von Informationen drastisch gesunken sind – mit der Folge, dass die alte Ökonomie der Knappheit von Informationen und Wissen beseitigt wurde. Die neuen Medien sind vernetzt und damit inklusiv. Alle – oder zumindest mit Ausnahme sehr weniger – haben Zugang zu sämtlichen Informationen im Web. Es ist fast unmöglich, den Zugang zu Informationen zu blockieren oder einzuschränken, wie all die Leaks, Whistleblower, Hacks und Enthüllungen zeigen. Die neue Ordnung des Wissens ist komplex, da es keine Gatekeeper, Autoritäten, Institutionen oder vertrauenswürdige Wissensquellen mehr gibt. Wissen kommt von überall her, wie die Akzeptanz des sogenannten »Leser-Reporters« durch die Mainstream-Medien zeigt. Und schließlich ist das Wissen, das auf dieser neuen Ordnung basiert, auf eine Weise öffentlich, wie es dies in der bisherigen Menschheitsgeschichte noch nie war. Die Idee einer Öffentlichkeit entstand in der Neuzeit durch die Ausbreitung der Druck-Medien und die zunehmende Verfügbarkeit von Information. Doch die Öffentlichkeit im traditionellen Sinne einer Arena, in der freie Bürgerinnen und Bürger an der demokratischen Meinungsbildung teilnehmen, ist längst zu einer globalen Soziosphäre geworden, in der Politik nur eine von vielen Formen der Kommunikation und Partizipation ist. Die drei Disruptionen – Posthumanismus, nicht-hierarchische Netzwerkorganisationen und die neue Ordnung des Wissens – schaffen eine globale Netzwerkgesellschaft, die nicht mehr auf der Basis der für die moderne westliche Industriegesellschaft typischen Werte, Normen und Machtformen verstanden und reguliert werden kann. Nicht nur neue Normen, sondern auch neue Organisations- und Regulierungsformen sind erforderlich, wenn wir uns in die digitale Zukunft bewegen wollen.
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3. Das Eine und das Viele oder: Was die Soziologie von der Physik lernen kann
Seit ihren Anfängen beschäftigt sich die Soziologie mit dem Problem des Einen und des Vielen. Das Problem lautet: Wie können Individuen in die Gesellschaft integriert werden? Wie kann aus vielen Individuen eine Gemeinschaft entstehen? Und umgekehrt: Wie können sozial konditionierte oder gar »konstruierte« Menschen noch freie Individuen sein? Dieses Problem ist nicht neu: Schon lange vor der Entwicklung der Soziologie haben politische Philosophen wie Grotius, Hobbes, Locke und Rousseau versucht, es zu lösen. Für die westlichen Demokratien lag die Antwort im Mythos des Gesellschaftsvertrags. Hobbes führte aus, wie die vielen isolierten Individuen, die im Naturzustand unausweichlich in einen Krieg aller gegen alle verwickelt würden, aufgrund ihrer natürlich gegebenen Vernunft beschließen, ihre Waffen niederzulegen und sich einer zentralen Autorität zu unterwerfen. Nur so könne Frieden gesichert und könnten chaotische Individuen zu einer geordneten Gesellschaft werden. Es entstand der Leviathan: Die Gesellschaft wurde als eine politische Einheit reguliert mittels legitimer, zentralisierter Macht. Die Individuen jedoch blieben von Natur aus isoliert und frei, denn wenn die zentrale Autorität nicht stark genug war, um den Frieden zu garantieren, konnte sie durch Revolution abgesetzt werden. Rousseau hingegen war überzeugt, dass das Individuum vollständig in die Gesellschaft integriert werden muss, die dann nicht mehr eine Summe von Individuen ist, sondern ein Ganzes, das größer ist als die Summe der Teile. Rousseau sprach nicht vom Willen aller, aber vom »allgemeinen Willen«. Die Philosophen der europäischen Moderne schufen somit ein Paradox – das Eine als Individuum und das Eine als Gesellschaft –, in dem wir nunmehr leben müssen.
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Das Problem wurde dann von der neuen Wissenschaft der Soziologie aufgegriffen, die sich als das Studium jener sozialen Strukturen, Organisationen und Institutionen definierte, in die die Individuen aufgenommen und zu Bürgern oder zu Menschen, die Berufen wie Tischlerin, Bäcker, Ingenieurin, Geschäftsmann, Politiker usw. ausübten, gemacht wurden. Das wilde, freie Individuum wurde dadurch zu einer »Person« (wortwörtlich Maske), die sozialen Skripts unterworfen war und sogar durch diese Bedingungen konstruiert wurde. Wie Shakespeare sagte – und wie die moderne soziologische Rollentheorie annimmt –, ist die soziale Existenz des Individuums ein Rollenspiel. Die Welt ist eine Bühne und alle Individuen, sobald sie in die Gesellschaft eintreten, sind nur noch Schauspieler, die die Rollen spielen, die ihnen die Gesellschaft zur Verfügung stellt. Diese Lösung scheint aber die Individuen außen vor zu lassen. Die Individuen waren ja zuerst da, also bevor sie lernten, Masken aufzusetzen und Rollen zu spielen. Wer sind nun diese Individuen, wenn die persönliche Identität durch und durch eine soziale Konstruktion ist und wenn es allem Anschein nach unmöglich ist, ein Individuum zu finden, das nicht irgendwie schon »sozialisiert« ist, völlig allein und sozusagen »in freier Wildbahn«? Gibt es solche Individuen überhaupt? Und wenn es sie nicht geben würde, wie könnte die Gesellschaft Ihnen den Gesellschaftsvertrag zu unterzeichnen unterbreiten? Und schließlich, wenn es sie nicht gibt: Warum bemüht sich die »demokratische« Gesellschaftsordnung so sehr, ihnen sogenannte »Grundrechte« zu verleihen? Was haben nun diese Fragen mit der Teilchenphysik zu tun? – Die heutige Physik steht vor einem ähnlichen Problem des Einen und des Vielen: Auf der einen Seite gibt es Teilchen, isolierte Individuen, anscheinend hart und materiell. Auf der anderen Seite gibt es Felder, Wellen oder eine Art plastische gemeinsame Substanz, in der die Teilchen scheinbar eingebettet sind, die ihnen »Masse« verleiht und die es ihnen ermöglicht, so zu erscheinen, wie sie dies in vielen Experimenten tun. Das Atom oder das Teilchen der Physik scheint ein ähnliches Schicksal erlitten zu haben wie das Individuum der Gesellschaft: Ursprünglich als Grundbausteine der sozialen und materiellen Wirklichkeit betrachtet, aus denen alle Gebilde und Aktivitäten hervorgehen, sind sowohl das Teilchen als auch das Individuum zu einem Produkt der Kräfte geworden, die sie mit anderen zu einer »Gemeinschaft« vereinen. Luhmann geht sogar so weit, das Individuum aus der Gesellschaft zu verbannen. Denn die Systemtheorie sieht die Gesellschaft als ein System, das aus Kommunikationen besteht und nicht aus einzelnen Menschen. Menschen sind Konstrukte der Kommunikation. Die Debatte in der Physik tobt noch immer, genauso wie
3. Das Eine und das Viele oder: Was die Soziologievon der Physik lernen kann
in der Soziologie. Gibt es Teilchen oder Felder oder beides oder keines von beidem? Wenn Materie grundsätzlich ein Feld ist und nicht eine vielleicht unendliche Anzahl einzelner Teilchen, die irgendwie miteinander verbunden sind, haben wir eine ganz andere Vorstellung von der Realität und davon, woraus wir bestehen, als traditionell angenommen wurde. Wenn weder die Gesellschaft noch die Natur aus Individuen besteht, sondern aus Feldern oder Beziehungen, dann können wir zwar immer noch von Individuen sprechen, die miteinander in Beziehungen stehen, aber sie sind nichts außerhalb oder unabhängig von diesen Beziehungen. Das Individuum ist nicht mehr der Anfang der gesellschaftlichen oder der natürlichen Ordnung, sondern eine Art und Weise, in der sich Natur und Gesellschaft konfigurieren und Ordnung schaffen. Vielleicht ist die Frage nach dem Einen und den Vielen nicht die richtige Frage – weder in der Soziologie noch in der Physik. Wir brauchen nicht von einzelnen Dingen auszugehen, seien es einzelne Menschen oder Teilchen, und dann versuchen, herauszufinden, wie und warum sie miteinander in Beziehung treten, und zwar so, dass aus dem Chaos Ordnung entsteht. Wir könnten genauso gut fragen, wie und warum die Ordnung, die es gibt, solche Dinge benutzt und ob es sie wirklich braucht. Viele neue theoretische Projekte in der Physik gehen in diese Richtung. Auch in der Soziologie gibt es Bestrebungen, den typisch modernen westlichen Individualismus, der dem Problem des Einen und des Vielen zugrunde liegt, einfach fallen zu lassen. Natürlich sind Menschen keine »vibrierenden Strings« – oder vielleicht doch?
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4. Warum Nachhaltigkeit kein Wert ist
Der Begriff »Nachhaltigkeit« stammt aus der Forstwirtschaft und bezieht sich vor allem auf das Ressourcenmanagement. Der Wald soll so genutzt werden, dass die Nutzung noch über einen langen Zeitraum möglich ist. Alle Bäume zu fällen – was in der Geschichte schon oft mit katastrophalen Folgen geschehen ist – wäre nicht nachhaltig. In der Ökologie bezieht sich der Begriff der Nachhaltigkeit auf die Beziehungen des Menschen zu seiner natürlichen Umwelt, also zum Ökosystem. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Stabilität des Ökosystems, die nicht durch rücksichtslose Ausbeutung von Ressourcen gefährdet werden soll. Diese Definition von Nachhaltigkeit basiert auf der Systemtheorie: Ein Organismus ist ein geschlossenes System, das mit seiner Umwelt so interagieren sollte, dass es lebensfähig bleibt und sein Überleben sichern kann. Das bedeutet, ähnlich wie in der Forstwirtschaft, dass die Ressourcen in der Umwelt, die der Organismus zum Leben braucht, so genutzt werden sollen, dass sie nicht ganz aufgebraucht werden. Die Umwelt muss stabil bleiben und darf sich nicht zu sehr verändern, sonst wäre die Lebensfähigkeit des Organismus gefährdet. Auch hier liegt der Schwerpunkt auf der Stabilität und der Vermeidung von Veränderungen. Ob ein Organismus beabsichtigt, sich so zu verhalten, dass die Umwelt stabil bleibt, oder ob er dies zufällig tut oder gar nicht tut und schließlich ausstirbt, ist eine andere Sache. Zu sagen, dass Nachhaltigkeit ein Wert und eine Norm ist, bedeutet, dass sich die Umwelt nicht verändern soll oder dass es irgendwie »falsch« ist, die Umwelt zu verändern oder sogar zuzulassen, dass die Umwelt durch andere Faktoren als das eigene Handeln verändert wird. Der Wert, den Nachhaltigkeit bedeutet, ist Stabilität. Nachhaltig zu handeln heißt also, alles zu tun, was man kann, damit das Ökosystem stabil bleibt und sich nicht verändert. Das systemtheoretische Konzept der Nachhaltigkeit übersieht allerdings, dass die Evolution selbst nicht nachhaltig ist und nicht auf Nachhaltigkeit
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beruht. Im Gegenteil: Erst wenn sich die Umwelt verändert, wird es für Organismen möglich und notwendig, sich an diese Veränderungen anzupassen. In Wirklichkeit verändert sich die Umwelt ständig, und das schon seit Anbeginn der Zeit. So funktioniert die natürliche Selektion. Die Umwelt verändert sich, und diese neue Umwelt »selektiert« diejenigen Organismen, die in ihr leben können. Diejenigen, die das nicht tun, sterben aus. Die natürliche Auslese hängt von der Nicht-Nachhaltigkeit ab. Evolution ist nur möglich, wenn sich Dinge verändern und nicht stabil sind. Organismen entstehen und verschwinden und die Umwelt, die sich dauernd verändert, selegiert nur bestimmte Organismen als »viabel«, also lebensfähig oder funktional. Kein natürliches Ökosystem ist nachhaltig, zumindest nicht aus der Perspektive derjenigen Organismen, die sich nicht daran anpassen. Aus dem Blickwinkel derjenigen, die sich anpassen und vorübergehend lebensfähig sind, ist alles in Ordnung und alles sollte so bleiben, wie es ist. Nachhaltigkeit ist nur ein Wert aus der Perspektive eines bestimmten Organismus, der erfolgreich an eine bestimmte Umwelt angepasst ist. Nachhaltigkeit ist also ein egoistischer Wert. Nachhaltigkeit ist kein »natürlicher« Imperativ. Die Natur hat Nachhaltigkeit nie gewollt und konnte so etwas auch nie verwirklichen. Ein Ökosystem könnte nur dann als »ausgeglichen« betrachtet werden, wenn man vergisst, dass alle, die nicht auf dem schmalen Seil gehen konnten, bereits heruntergefallen sind. Nachhaltigkeit ist demnach ein fragwürdiger Wert. Trotzdem wird überall nach nachhaltigem Wohnen, nachhaltigem Bauen, nachhaltiger Produktion, nachhaltiger Landwirtschaft usw. gerufen. Nachhaltigkeit scheint ein unumstrittener und allgegenwärtiger Wert in unserer Gesellschaft zu sein. Gerade in einer Zeit, in der ökologische Probleme weltweit in den Mittelpunkt gerückt sind, erscheint es unverantwortlich, vielleicht sogar wahnsinnig, Nachhaltigkeit infrage zu stellen. Dennoch können wir die Uhr nicht zurückdrehen, um das Geschehene ungeschehen zu machen. Wir können nur mehr tun, um sicherzustellen, dass die Veränderungen, die wir im Ökosystem der Welt vornehmen, nicht unnötigerweise die Lebensfähigkeit irgendeiner Lebensform einschränken. Das heißt, dass auf die Frage, was für die ganze Welt gut ist, die Antwort Veränderung lautet, und nicht Stabilität. Wenn es um Veränderung geht, ist es nicht hilfreich, die Ökologie auf die Systemtheorie zu stützen. Selbst von einem »Ökosystem« zu sprechen ist irreführend und gefährlich, da Systeme notwendigerweise nach Stabilität streben. Systeme mögen keine Veränderung. Wenn wir uns nach einer Ordnungsform umsehen, die Veränderung mag und sogar davon lebt, dann wären es Netzwerke und nicht
4. Warum Nachhaltigkeit kein Wert ist
Systeme. Vielleicht sollten wir aufhören, von Ökosystemen zu sprechen und anfangen, von »Öko-Netzwerken« zu sprechen. Netzwerke sind von Natur aus flexibel, skalierbar, unbegrenzt und offen für viele verschiedene Teilnehmende und viele verschiedene Ziele. Die Ökologie ist eigentlich eine Netzwerkwissenschaft und keine Systemwissenschaft. Die Werte, die in Netzwerken impliziert sind, unterscheiden sich von denen, die in Systemen impliziert sind. Für Netzwerke ist Veränderung ein Wert – Stabilität ist jedoch kein Wert, sondern ein Problem, da sie das Wachstum, die Verbreitung und die Transformation von Netzwerken verhindert. Wenn wir uns in Richtung Geoengineering bewegen – wie wir es tun müssen, um das Klimaproblem in den Griff zu bekommen –, dann sollten wir anfangen, die Welt, man könnte von »Gaia« sprechen, nicht als System, sondern als Netzwerk zu betrachten.
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5. Die moralische Maschine
Im Jahr 2016 erstellte eine Gruppe von Wissenschaftlern am MIT eine OnlinePlattform unter den Namen »Moral Machine«, um Informationen darüber zu sammeln, wie Menschen entscheiden würden, wie die Ergebnisse der Handlungen von autonomen, automatisierten Systemen »sein sollten«. Obwohl es verschiedene Szenarien gab, ist das bekannteste das selbstfahrende Auto, das angesichts eines drohenden Unfalls »entscheiden« muss, wer überfahren und getötet werden und wer verschont bleiben soll. Da es darum ging, eine Entscheidung darüber zu treffen, was in einem Fall, der zu Schaden führt, getan werden soll, wurde die Maschine »moralisch« genannt. Der »maschinelle« Teil kommt daher, dass der Automat im Voraus programmiert werden sollte, welche Wahl zu treffen war. Die Wahl war also nicht mehr »frei«, wie dies der Fall wäre, wenn ein menschlicher Fahrer eine »Entscheidung« treffen würde, sondern das Verhalten des Gefährts wurde vom Programmierer bestimmt, der dann die moralische Verantwortung trug. Interessanter als die Ergebnisse dieses Experiments sind die Annahmen, die es voraussetzt. Eine wichtige Annahme ist, dass es keine Unfälle gibt, das heißt, dass die Tatsache, dass jemand bei einem »Unfall« getötet wird, nicht zufällig ist, sondern ein bestimmtes Ergebnis der Programmierung. Es kann also nicht einfach alles passieren, sondern nur bestimmte Dinge, und unter diesen sollte die Auswahl im Voraus getroffen werden, damit das, was passiert, »mechanisch« geschieht. Die zweite wichtige Annahme ist, dass die Zukunft nicht mehr offen und die Gegenwart nicht mehr frei ist. Normalerweise gehen wir davon aus, dass die Vergangenheit sicher ist und die Gegenwart frei ist. Wir können im gegenwärtigen Moment also entscheiden, was wir tun, und die Zukunft, bzw. die Folgen unseres Handelns, ist offen. Wir wissen nicht, was die Zukunft bringt. Die Zukunft ist kontingent. Dieses uralte Zeitschema wird durch die »moralische Maschine« infrage gestellt. Die Idee ist, dass die Datenanalytik in der Lage ist, zu wissen, was in der Zukunft
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geschehen wird, und auf der Basis dieses Wissens Eingriffe in der Gegenwart vorgenommen werden können, die beeinflussen, ja bestimmen, welche zukünftigen Optionen realisiert werden. Dies wird Datafizierung genannt. Datafizierung ist erstens der Prozess, bei dem alle gegenwärtigen Zustände der Welt in Daten umgewandelt werden und so ein virtuelles Double der Realität geschaffen wird. Zweitens ist sie die Unterwerfung dieser Daten unter eine deskriptive, prädiktive, präventive und präskriptive Analytik, sodass die Auswirkungen aller möglichen Variablen simuliert werden können und auf der Grundlage der datenbasierten Projektionen dessen, was passieren wird, Eingriffe in der Gegenwart vorgenommen werden können, um zukünftige Ergebnisse zu beeinflussen. Datafizierung ist die Basis für intelligente, autonome, automatisierte Systeme wie selbstfahrende Autos, aber auch für personalisierte Medizin, Learning Analytics im Bildungswesen, Business Intelligence in der Privatwirtschaft und im Allgemeinen für evidenzbasierte Entscheidungen in allen Lebensbereichen. Das ist es, was die »moralische Maschine« interessant macht. Sie ist eine Parabel auf das digitale Zeitalter und stellt zentrale Fragen danach, was es bedeutet, in einer datengetriebenen Welt zu leben, und vor allem, was das für die Moral bedeutet. Natürlich könnte man sagen, dass freie Menschen seit jeher zu einem gewissen Grad in der Lage sind, die Wirkungen ihrer Handlungen abzuschätzen und somit vorherzusehen, was in Zukunft passieren wird. Dies ist sogar die Grundlage der Moral. Nicht nur die Freiheit, zu wählen, sondern auch zu wissen, was man tut, und welches die möglichen Folgen sind, macht moralisches Handeln und die Zuschreibung moralischer Verantwortung möglich. Moralisch sind genau jene Entscheidungen, welche die Konsequenzen von Handlungen berücksichtigen, die auch anders hätten entschieden werden können. Und moralische Urteile machen die Akteure für die Entscheidungen verantwortlich, die sie treffen, und auch dafür, dass sie das, was sie wählen, auf die richtige Weise tun. Deshalb wird der Programmierer des selbstfahrenden Autos für das, was das Auto tut, zur Rechenschaft gezogen und nicht das Auto selbst. Aber wie schon angedeutet: Moralisches Handeln und Verantwortlichkeit setzen ein bestimmtes zeitliches Schema voraus, nämlich jenes einer Vergangenheit, die bestimmt, aber nicht vollständig bekannt ist, einer Gegenwart, in der eine freie Wahl zwischen Alternativen möglich ist, und einer offenen Zukunft, in der alles passieren kann. Dieses zeitliche Schema, das durch die Idee der freien Entscheidung impliziert wird, scheint im Reich der Datafizierung, die nichts vergisst, die Zukunft berechnen und in die Gegenwart bestimmend eingreifen kann, nicht mehr zu gelten. Unter dem Regime
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der Datafizierung scheinen Freiheit und Entscheidungsfähigkeit nicht mehr möglich zu sein. Wir wissen alles, was passieren kann, und wir haben die Maschine so eingestellt, dass sie das tut, was sie tun muss, um bestimmte Ergebnisse herbeizuführen und andere zu verhindern. Die zeitlichen Grundlagen, auf denen Freiheit und Moral ruhen, scheinen zu wackeln. Man könnte argumentieren, dass – da es das zeitliche Schema einer ungewissen Zukunft und einer freien Gegenwart ist, das moralische Urteile überhaupt erst sinnvoll und möglich macht – man ohne dieses Schema gar nicht von einer »moralischen Maschine« sprechen kann. Wenn die Maschine wirklich tun könnte, was sie tun soll, dann ist sie vielleicht jenseits von Gut und Böse und alles Gerede über Moral in einer datengetriebenen Welt ist sinnlos. Von einer »moralischen Maschine« zu sprechen, impliziert mindestens zwei Annahmen, die die Maschine selbst infrage stellt. Erstens braucht Moral, wie schon Aristoteles feststellte, freie Akteure, die wissen, was sie tun. Denn ohne Freiheit und Wissen gibt es so etwas wie moralische Verantwortung und Rechenschaftspflicht nicht. Die Angst vor dem Verlust von Freiheit und moralischer Verantwortlichkeit liegt der Forderung zugrunde, dass egal wie autonom oder intelligent eine Maschine sein mag, immer ein Mensch »in the loop« sein muss, der für das, was die Maschine tut, verantwortlich ist. Diese (natürliche oder juristische) Person ist verantwortlich, weil sie weiß, wie die Maschine funktioniert, was sie tut und warum sie tut, was sie tut. Und zudem ist diese Person in der Lage, in den Betrieb der Maschine einzugreifen und die Ergebnisse zu verändern. Wenn jedoch die Maschine – sei es ein selbstfahrendes Auto oder eine autonome Fabrik oder ein selbstregulierendes Verkehrssystem oder was auch immer – keine Maschine ist, sondern ein komplexes soziotechnisches Netzwerk, an dem so viele Menschen und so viele Dinge auf so viele Arten über große räumliche und zeitliche Entfernungen beteiligt sind, dann ist es vielleicht unmöglich, irgendjemanden oder irgendetwas zu finden, dem man Freiheit und Wissen in dem Sinne zuschreiben könnte, der für moralische Verantwortlichkeit erforderlich ist. Mit anderen Worten: Die Maschine (d.h. das gesamte soziotechnische Netzwerk einschließlich Menschen und Nicht-Menschen) könnte in keinem zweckmäßigen Sinne des Wortes »moralisch« sein. Könnte es also sein, dass die digitale Transformation der Moral ein Ende gesetzt hat? Wenn wir annehmen, dass das selbstfahrende Auto nicht direkt von einem menschlichen Akteur programmiert wurde, sondern sich selbst programmiert hat – wie es einige KI-Szenarien vorsehen –, dann könnte die Handlungsfreiheit bei keinem menschlichen Akteur verortet werden, der zur
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Rechenschaft gezogen werden könnte. Im Fall des selbstfahrenden Autos wäre weder der Fahrer noch der Programmierer (da der Algorithmus sowie die Daten vom System generiert werden) noch der Hersteller des Autos noch die Straßenbauer oder wer auch immer die Verantwortung tragen soll, in der Lage und willens, sich hinzustellen und die Schuld auf sich zu nehmen, wenn etwas schiefläuft. Alle Akteure im Netzwerk sind gleichermaßen involviert. Das macht sie aber nicht »kollektiv« verantwortlich, denn auch als Kollektiv sind sie weder frei noch wissend im moralischen Sinn dieser Begriffe. Im Hinblick auf das Handeln und Verantwortlichkeit wird das gesamte Netzwerk zum Bezugspunkt. Die einzige Frage, die noch zu beantworten ist, lautet, ob das System als Ganzes gut oder schlecht ist – oder mit anderen Worten: was die beste aller möglichen Welten ist. Dies ist das bekannte Problem der Theodizee oder die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes. Das Problem ist das folgende: Wenn Gott gut ist, dann kann er nicht allmächtig, also wirklich Gott sein, da die von ihm geschaffene Welt offensichtlich nicht gut ist. Oder, wenn Gott allmächtig ist, dann kann er nicht gut sein, weil ein guter Gott nicht eine so schlechte Welt hätte erschaffen können. Daher ist Gott entweder gut, aber nicht allmächtig, oder allmächtig, aber nicht gut, aber in beiden Fällen verdient er den Namen Gott nicht. Die traditionelle Lösung bestand darin, zu leugnen, dass die Welt so schlecht ist, wie sie zu sein scheint, und gleichzeitig anzunehmen, dass sie trotz ihrer Unzulänglichkeiten die beste aller möglichen Welten ist. Diese Lösung scheint Gott und die Welt zu retten. Aber zu welchem Preis? Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen und uns diese bittere Pille schlucken zu lassen, argumentierte Leibniz, dass Gott seine eigenen Maßstäbe der Güte hat, die wir Menschen nicht verstehen können. Nehmen wir an, dass spätestens zum Zeitpunkt der Singularität, wenn nicht sogar früher, eine superintelligente KI tatsächlich in der Lage sein wird, die meisten möglichen zukünftigen Zustände zu berechnen und auch zu entscheiden, welche dieser Zustände realisiert werden sollen. Nehmen wir weiter an, dass diese Maschine die Fähigkeit hätte, in die Gegenwart einzugreifen, sodass zukünftige Zustände gesteuert werden könnten. Nehmen wir das Beispiel des Gesundheitswesens. Das Netzwerk würde aufgrund meines Genoms und vieler anderer Faktoren wissen, an welchen Krankheiten ich erkranken werde, und mich zu entsprechenden Maßnahmen anstupsen, um deren Ausbruch zu verhindern. Das Netzwerk wüsste, welche intellektuellen und emotionalen Fähigkeiten ich habe, und würde mich zu einer angemessenen Studien- und Berufswahl anspornen. Es würde wissen, mit wem ich kom-
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patibel bin, und mir einen passenden Partner vorschlagen. Und so weiter. Das zeitliche Schema einer Vergangenheit, aus der das meiste, was geschehen ist, unberücksichtigt bleibt, weil es vergessen ist, und einer Gegenwart, die sich aussucht, woran sie sich aus der Vergangenheit erinnern will, sodass Alternativen für eine offene Zukunft erscheinen, würde in sich zusammenfallen. Wir hätten stattdessen eine Sicht der Realität aus dem Auge Gottes, sub specie aiternitatis. Dies wurde traditionell als Ewigkeit bezeichnet. Die klassische Ewigkeit zeichnete sich durch Unveränderlichkeit aus, das heißt, nichts kann sich ändern, da alle Möglichkeiten aktualisiert sind. Das Mögliche ist aktuell, da alles, was geschehen könnte, im Prinzip schon geschehen ist. Ich muss mich nur an die Anweisungen des Netzwerks halten, und wenn ich es nicht tue, würde ich sicher einen Preis zu bezahlen haben. Da sich nichts wirklich ändern kann, ist alles notwendig. In dieser Welt gäbe es keine freien Akteure mehr, die für die Folgen ihres Handelns moralisch zur Rechenschaft gezogen werden könnten. Die Moral würde verschwinden. Die Freiheit – oder zumindest das, was wir heute unter Freiheit verstehen, also Freiheit im Sinne von Entscheidungsfreiheit – würde ebenfalls verschwinden. Es bliebe die Frage, ob wir in der besten aller möglichen Maschinen leben. Für diejenigen, die sich keine andere Existenz vorstellen können als die, welche uns die moderne westliche Industriegesellschaft als autonome rationale Subjekte gewährt, kann die Vision einer datengetriebenen Welt nur eine Dystopie sein. Ob Dystopie oder Utopie: Es scheint, dass die Moral der moralischen Maschine ganz anders sein wird als die Moral der modernen westlichen Gesellschaft. Sie wird andere Werte und einen anderen Umgang mit Fragen der Verantwortung und Rechenschaftspflicht haben. Wenn uns das Experiment der moralischen Maschine etwas gelehrt hat, dann vielleicht, dass wir im digitalen Zeitalter die Moral selbst hinterfragen müssen – und nicht die Moral der Maschine.
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6. Datafizierung oder: Warum wir lernen sollten, unsere Roboter zu lieben
Wenn es ein Wort gibt, das unsere heutige Welt beschreibt, dann ist es vielleicht das Wort »digital«. Alles ist irgendwie digital oder wird durch das Digitale beeinflusst. Und wenn es einen Begriff gibt, der erklärt, was digital bedeutet, dann lautet dieses »Transformation«, denn das Digitale verändert alles. Aber was ist digitale Transformation? Wir bieten ein Wort an, das (fast) alles zusammenfasst, was unter digitaler Transformation verstanden werden kann: »Datafizierung«. Datafizierung hat mit Daten zu tun. Das ist offensichtlich. So wichtig Daten auch sein mögen: Wichtiger ist, was mit den Daten gemacht wird, die Art und Weise, wie mit den Daten umgegangen wird. Man kann von Analytik sprechen. Das klingt sehr nach dem, was bereits als Big Data Analytics oder Business Analytics bekannt ist, und Datafizierung ist tatsächlich mit diesen bekannten Praktiken verwandt. Aber die Idee, die hinter der Datafizierung steckt, geht weiter und umfasst mehr als Big Data oder Business Analytics. Interessanterweise ist die Idee hinter Datafizierung nicht neu und ursprünglich nicht einmal digital. Als die NASA ihre Raumkapseln baute, baute sie jeweils nicht nur eine, sondern immer zwei. Eine schickte sie ins All und die andere blieb auf der Erde. Dahinter lag der Gedanke, dass wenn im Weltraum ein Problem auftreten sollte, Ingenieure auf der Erde versuchen könnten, das Problem mit dem Modell zu replizieren und, nachdem sie die beste Lösung gefunden haben, den Astronauten sagen könnten, was zu tun sei. Das ergibt Sinn, denn im Weltraum gibt es weder ein umfangreiches Expertenteam noch die Möglichkeit, diese oder jene Lösung auszuprobieren, um zu sehen, was tatsächlich funktioniert. Heute ist es nicht mehr nötig, ein physisches, reales Modell zu bauen, da man ein digitales Modell – einen sogenannten »digitalen Zwilling« oder ein »digitales Double« erstellen kann. Das kann jede beliebige Maschine sein,
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nicht nur eine Raumkapsel – zum Beispiel ein Auto, eine Heizungsanlage, ein Kühlschrank oder was auch immer. Mit dem digitalen Modell lässt sich viel mehr machen als mit einem physischen Modell. Wie beim materialisierten Modell kann man mit dem digitalen Modell alle Zustände des Systems und auch Probleme, die auftreten, darstellen und dann nach Lösungen suchen. Dies ist der erste Schritt und kann als eine besondere Art der Analytik angesehen werden, nämlich als deskriptive Analytik. Durch Sensoren und drahtlose Netzwerke ist es nun aber möglich, nicht nur Echtzeitdaten über das System zu sammeln, sondern auch über alles, was in der Umgebung des Systems vor sich geht. Mittels Simulation lässt sich dann jede interne oder externe Variable verändern und im Voraus sehen, was passieren wird. Im Gegensatz zum realen Modell bedeutet die digitale Modellierung, dass wir nicht mehr warten müssen, bis ein Problem tatsächlich auftritt, um nach einer Lösung zu suchen, sondern wissen im Voraus, welche Probleme auftreten werden und unter welchen Bedingungen. Dies ist eine zweite Art der Analytik, nämlich die prädiktive Analytik. Damit wissen wir zum Beispiel, wann eine Maschine gewartet oder wann ein Teil repariert oder ausgetauscht werden muss, bevor eine Störung auftritt. Neben der deskriptiven und der prädiktiven Analytik gibt es eine dritte Form der Analytik, die als präventive Analytik bezeichnet werden kann. Wenn wir wissen, welche Probleme auftreten könnten und welche Variablen die Probleme verursachen, können wir präventive Maßnahmen treffen, damit die Probleme nicht auftreten. Die Analytik zielt darauf ab, das Auftreten von Problemen zu verhindern. All dies ist nicht möglich, wenn man mit einem realen, physischen Modell arbeitet, sondern nur auf der Basis von Daten. Kurz zusammengefasst: Die deskriptive Analytik sagt uns, was passiert, die prädiktive Analytik sagt uns, was passieren wird, und die präventive Analytik sagt uns, was zu tun ist, wenn wir die Situation ändern wollen, damit Probleme nicht auftreten. Die Datafizierung ist selbstverständlich nicht auf die Darstellung von Maschinen beschränkt. Nicht nur Maschinen, sondern auch die gesamte Fabrik, die die Maschinen produziert, kann zu einem digitalen Zwilling werden und einer beschreibenden, prädiktiven und präventiven Analytik unterzogen werden. Das ist es, was Business Analytics in gewissem Umfang schon lange tut. Datafizierung hebt das evidenzbasierte Management jedoch auf ein höheres Niveau, da es nicht nur die Problemlösung in Bezug auf bestimmte Indikatoren erlaubt, sondern eine skalierbare, kontinuierliche Echtzeit-Überwachung und Optimierung aller Prozesse und Netzwerke, die in irgendeiner Weise
6. Datafizierung oder: Warum wir lernen sollten, unsere Roboter zu lieben
eine Organisation beeinflussen. Datafizierung kann nicht nur auf Fabriken oder andere Unternehmen angewendet werden, sondern auf ganze Städte, die dann zu »Smart C ities« werden. Datafizierung umfasst sogar einzelne Menschen – man könnte von »Personal Informatics« sprechen. Die Vision dieser »Personalinformatik« ist es, einen digitalen Zwilling einer Person zu erzeugen. Das Genom, das Mikrobiom, epigenetische Faktoren, alle Vitalfunktionen, die über tragbare Tracking-Geräte überwacht werden, die Krankengeschichte, Umwelteinflüsse usw., ja alles, was in irgendeiner Weise mit der Gesundheit oder dem Wohlbefinden einer Person zu tun hat, kann datenmäßig erfasst, aggregiert und einer beschreibenden, prädiktiven und präventiven Analytik unterzogen werden. Dies kann als »personalisierte Gesundheit« bezeichnet werden. Personalisierte Gesundheit hebt den Unterschied zwischen gesund und krank auf, da jeder Mensch immer in irgendeiner Form als krank oder im Begriff, krank zu werden, angesehen werden kann. Die medizinische Versorgung kommt nicht mehr erst dann ins Spiel, wenn man Symptome entwickelt hat. Stattdessen wird medizinische Versorgung zu einer fortlaufenden Aktivität, die in alle Aspekte des Lebens involviert ist, einschließlich Interventionen in Bezug auf Lebensstil, Arbeit, Hobbys, Essgewohnheiten und -vorlieben, Sport und Fitness und sogar, wie wir unsere Häuser und Lebensräume gestalten und welchen Umwelteinflüssen wir ausgesetzt sind. Diese umfassende Überwachung und evidenzbasierte Entscheidungsfindung ist natürlich nicht auf das Gesundheitswesen beschränkt. Datafizierung wird die Bildung (siehe z.B. Learning Analytics), die Arbeit und viele andere Aktivitäten verändern. Datafizierung bedeutet, dass wir Entscheidungen darüber, wie wir leben, was wir essen, welchen Beruf wir erlernen, wo wir arbeiten, welchen Partner wir wählen usw. nicht mehr auf der Basis von Emotionen, Intuition, Gewohnheit, Erfahrung oder Vorliebe treffen werden, sondern auf der Grundlage von Evidenz. Dies bringt uns zu einer vierten Form der Analytik, auch bekannt als künstliche Intelligenz und Robotik. Diese kann als präskriptive Analytik bezeichnet werden. Wenn mein Tesla mich im Autopilot-Modus nach Hause fährt, dann trifft er die Entscheidungen. Diese Entscheidungen sind für mich verbindlich und in diesem Sinne präskriptiv. Sie schreiben mir vor, ob ich links oder rechts abbiege, ob ich schnell oder langsam fahre usw. Was KI zur KI macht, ist autonomes Lernen und Entscheiden. KI ist nicht mehr nur ein Werkzeug in den Händen des Menschen. Sie liefert nicht mehr nur Informationen oder gibt Empfehlungen, sondern agiert mit eigenen Zielen und eigener Entscheidungsfähigkeit und ist damit viel mehr Sozialpartner als Werk-
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zeug. Dies zeigt sich auch in einer Resolution des Europäischen Parlaments (2017), die vorschlägt, KI eine anerkannte und gesetzlich verankerte »elektronische Persönlichkeit« zu verleihen. Da sich KI anschickt, zahlreiche menschliche Tätigkeiten zu übernehmen und damit Menschen arbeitslos zu machen, versuchen viele, dem Menschen einen Platz in der Wirtschaft zu sichern, indem sie Emotionen und Führungsqualitäten betonen, da dies angeblich Fähigkeiten sind, die Computer nicht beherrschen. Indem sie die rationale Intelligenz den Maschinen überlassen, ziehen sich die Menschen auf die emotionale Intelligenz und die Behauptung zurück, dass es immer einen Menschen geben sollte, der die endgültigen Entscheidungen trifft. Robotik kann auch unter die präskriptive Analytik subsumiert werden. Die Hard- und Software ändert sich, aber die Grundidee der Datafizierung und Analytik bleibt die gleiche. Roboter sind mobile KIs. Ein Roboter ist ein intelligentes, mobiles, autonomes System, kurz IMAS. Hollywood hat eine Ikone für Roboter geschaffen: den Terminator. Obwohl die Figur des Terminators anfangs negativ besetzt war, wurde er in späteren Episoden der Geschichte vom Bösewicht zum Helden. Es brauchte dafür nur eine »Reprogrammierung«. Heutige Roboter sehen nicht mehr aus wie der Terminator, sondern sie nehmen viele verschiedene Formen und Zwecke an, je nachdem, welche Art von Arbeit sie in der industriellen Produktion oder Logistik, in autonomen Vehikeln, beim Militär usw. ausführen. Und wenn Roboter wie Menschen aussehen, sind sie in der Regel weiblich, wie Sophia von Hanson Robotics oder Erica von Hiroshi Ishiguro oder Jia Jia von der University of Science and Technology of China. Es scheint eine Tendenz zur Feminisierung von Robotern zu geben und es ist auch offensichtlich, dass humanoide Roboter in Asien und im Westen sehr unterschiedlich gesehen werden. Sophia ist offensichtlich und auch absichtlich eine Maschine, während Erica und Jia Jia dem Menschen so ähnlich wie möglich sein sollen. Studien haben gezeigt, dass Menschen Robotern genauso viel – wenn nicht sogar mehr – Vertrauen entgegenbringen wie anderen Menschen. Es gibt auch wenig Beweise dafür, dass die Vorteile menschlicher Entscheidungsfindung gegenüber der von KI überwiegen. Wenn mein Arzt mir sagt, dass es mir gut geht, aber eine KI sagt, dass ich Krebs habe und sofort operiert werden muss: Wem sollte ich dann vertrauen? Vielleicht liegt die Bedeutung der digitalen Transformation und der Datafizierung nicht darin, dass Menschen darum kämpfen müssen, ihren Platz in einer Welt zu finden, in der Entscheidungen zunehmend evidenzbasiert sind, indem sie vermeintlich einzigartige menschliche Qualitäten und Eigenschaften betonen, sondern durch die Betonung von Ähnlich-
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keiten und Zusammenarbeit in vertrauensvollen Netzwerken von Menschen und Nicht-Menschen. Es handelt weder der Mensch allein noch die Maschine allein, sondern das Netzwerk ist der Akteur.
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7. Digitale Transformation des Gesundheitswesens: mehr als Apps auf Rezept
Das Gesundheitssystem wird zunehmend digital und verwandelt sich schon jetzt in ein offenes, selbstorganisiertes Netzwerk. Diese Transformation führt aber nicht nur dazu, dass sich Telemedizin, Apps & Co. verbreiten, sondern sie verändert vielmehr die Gesellschaft. Die aktuelle Pandemie zeigt auf, wie leicht sich bürokratische Vorgaben abbauen lassen, wenn es denn sein muss. Die Bürger fordern mittlerweile mehr digitale Angebote ein: Fast jeder zweite kann sich gemäß einer aktuellen Bitkom-Studie vorstellen, künftig eine Videosprechstunde in Anspruch zu nehmen. Großes Interesse besteht zudem darin, elektronische Patientenakte und E-Rezept zu nutzen. Auch die künstliche Intelligenz stößt vermehrt auf Akzeptanz. Dabei sind Patienten den digitalen Neuerungen gegenüber aufgeschlossener als die Ärzteschaft. Es mag noch etwas früh sein, um bereits abschließend darüber zu urteilen, wie sich Corona auf die Digitalisierung im Gesundheitswesen auswirkt. Sicher ist jedoch, dass dieser Ausnahmezustand zu einer Art Defreezing von E-Health und Digital Health in Versorgungsprozessen führt. Ein langsames Auftauen allerdings, was den Einbezug digitaler Tools und Technologien, die Etablierung vernetzter Prozesse und die Haltung dem digitalen Wandel gegenüber betrifft.
Konnektivität vor Digitalisierung Die Grundlagen dafür sind eigentlich schon länger vorhanden. Der gesetzliche Rahmen für die sichere digitale Kommunikation trat in Deutschland
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Ende 2015 in Form des E-Health-Gesetzes in Kraft. Aber nur langsam finden technologische Entwicklungen wie Telematikinfrastruktur, Stammdatenmanagement, elektronische Patientenakte und Videosprechstunden Beachtung und ziehen in die Kliniken, Praxen und Labors ein. Die Diskussion über die Digitalisierung im Gesundheitswesen verliert sich häufig in technischen Detailfragen, konkreten Umsetzungsproblemen oder datenschutzrechtlichen Diskursen. Dabei gerät außer Acht, dass die Gesellschaft mit einem grundlegenden Veränderungsprozess konfrontiert ist, der als digitale Transformation bezeichnet wird. Dieser Veränderungsprozess geht weit über den Einsatz von Technologie hinaus und reicht tief in die Werte, Haltungen und Normen der Gesellschaft hinein. Der Kern ist die Konnektivität, also die zunehmende Organisation der Lebenswelt in Netzwerken. Die Auswirkungen sind bereits spürbar. Das Gesundheitswesen wandelt sich von einem geschlossenen, top-down gesteuerten System mit klaren Rollen und Funktionen hin zu einem offenen, selbstorganisierten Netzwerk. Konnektivität impliziert weit über neue Technologien und Geschäftsmodelle hinaus in erster Linie eine Veränderung des Mindsets und der Kultur. Neben der längst überfälligen technischen Interoperabilität von Daten muss vorrangig die kulturelle Interoperabilität im Gesundheitswesen gefördert werden.
Mehrwert des Patienten im Fokus Wenn Gesundheit auf dem Hintergrund einer zunehmenden Konnektivität konsequent vernetzt weitergedacht wird, hat dies eine Reihe von grundlegenden Implikationen für alle Beteiligten – von Patienten, Leistungserbringern, Selbstverwaltung über Kassen und Industrie bis zur Gesundheitspolitik. Das Gesundheitssystem und insbesondere seine Abgeltungsmechanismen basieren auf einer scharfen, aber ziemlich wirklichkeitsfremden Trennung von Gesundheit und Krankheit. Die Netzwerkperspektive sieht Gesundheit und Krankheit als Kontinuum. Damit rücken Themen wie Prävention und Public Health als zentrale Investitionsbereiche in den Fokus, ebenso weichen starre Grenzen zwischen erstem, zweitem und drittem Gesundheitsmarkt auf. Technologie stellt für ritualisierte Expertenrollen keine Gefahr dar, sondern ist ein unverzichtbarer Akteur im Netzwerk.
7. Digitale Transformation des Gesundheitswesens: mehr als Apps auf Rezept
Ausgerichtet ist das vernetzte Gesundheitswesen am Mehrwert für den Patienten. Gesundheitsprodukte und -dienstleistungen würden personalisiert, auf Abruf, sicher und transparent erbracht. Offenheit und Transparenz sollten zu grundlegenden Werten des Gesundheitswesens werden. Anwendungen wie Open Data, Open Research, Open Innovation, Open Notes, offene Qualitätsdaten sind bereits vorhanden und sollten im Blick auf die Forderung nach mehr Qualität breit implementiert werden. Konnektivität verlangt gleichzeitig, dass die Akteure ihre Organisationsstrukturen überdenken. Dezentrale und selbstorganisierte Einheiten lösen Hierarchie und zentrale Steuerung ab. Ein erfolgreiches Beispiel dafür ist Buurtzorg, ein neues Versorgungs- und Arbeitsmodell, das seit 2006 in den Niederlanden in der ambulanten Pflege angewendet wird. Das Modell basiert auf der Idee, dass eine Netzwerkorganisation gegenüber einem klassischen hierarchischen System viel besser in der Lage ist, für Zufriedenheit unter den Pflegebedürftigen, Angehörigen und Mitarbeitenden, aber auch im sozialen Umfeld sowie bei den anderen Akteuren im Gesundheitswesen und der Gesellschaft zu sorgen. Buurtzorg richtet seinen Fokus konsequent auf die Bedürfnisse der Menschen aus. Die weit über 10 000 Mitarbeitenden arbeiten ohne Manager in selbstorganisierten Teams von höchstens zwölf Personen, die von lediglich 50 Mitarbeitenden im Bereich der zentralen Funktionen unterstützt werden. Untersuchungen zeigen, dass sich dieses Netzwerkmodell positiv auf die Pflegequalität auswirkt und gleichzeitig die Motivation hebt. Organisationale Konnektivität, Co-Creation und Anschlussfähigkeit treten an die Stelle von Konkurrenz. Dass dies funktioniert, haben Google, Apple und zahlreiche Pharmaunternehmen während der Corona-Zeit bewiesen.
Bürger als bestimmende Akteure Konnektivität bedeutet weiterhin, dass vernetzte Versorgungsmodelle Versorgungssilos ablösen, um osmotische Übergänge zwischen stationär, ambulant und zu Hause, zwischen online und offline zu gewährleisten. Gleichzeitig verändert dieses Grundprinzip die Gesundheitsberufe. Anstelle des professionellen Kastenwesens treten Kompetenznetzwerke. In der Aus- und Weiterbildung werden Zusammenarbeit, Kreativität und Cognitive Load Management, also der Umgang mit Überfülle und Komplexität, immer wichtiger. Da sich Netzwerke nicht top-down steuern lassen, braucht es auch im Gesundheitswesen neue Steuerungsmechanismen: Governance statt
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Government und Kontextsteuerung anstelle von Top-down-Management. Selbst die Qualitätssicherung verändert sich aufgrund der Konnektivität. Die von Kundinnen und Kunden berichteten Ergebnisse rücken in den Fokus und bilden die Grundlage für neue Abgeltungsmechanismen.
Fazit Die Menschen als Patientinnen, Bürger und Kundinnen werden mit diesen Veränderungen dazu befähigt, als bestimmende Akteure zu agieren. Empowerment und Personalisierung verpflichten aber. Öffentlichkeit als Default-Einstellung tritt an die Stelle der Privatsphäre – auch im Umgang mit medizinischen Daten, die nicht mehr nur dem Einzelnen gehören, sondern zu einem gemeinschaftlichen, genossenschaftlich verwalteten Gut werden. Das Thema der Digitalisierung ist heute in den meisten Organisationen präsent. Personell wie finanziell wird einiges investiert. Digitale Transformation benötigt aber vor allem eine Durchlässigkeit der Hirne und Herzen sowie eine gemeinsame Vision, wohin die Reise im Gesundheitswesen gehen soll. Sie braucht nicht nur Geld, sondern vor allem mehr Vertrauen, Mut und Leidenschaft für Veränderung.
8. Tesla – ein philosophisches Problem
Natürlich geht es hier nicht um den Tesla als Auto, sondern um Intelligente Mobile Autonome Systeme (IMAS) – auch bekannt als Roboter. Das philosophische Problem ergibt sich daraus, dass der Roboter, in diesem Fall das Automobil, sagt: »Leave the driving to us« (»Überlassen Sie uns das Fahren«) – ein Werbeslogan für den berühmten amerikanischen Greyhound-Bus. Wenn der Roboter das Fahren und damit die Entscheidungsfindung übernimmt, wer ist dann für Unfälle verantwortlich? Für Greyhound war das kein Problem, da der Fahrer und in einigen Fällen auch das Unternehmen für seine Fehler haftbar gemacht wurden. Aber was ist mit den KI? Tatsächlich ist die Frage der Verantwortlichkeit, Zuständigkeit und Haftung für Roboter und andere KI zu einem wichtigen Thema der digitalen Ethik geworden, und alle bemühen sich, Richtlinien und Normen für »gute«, »vertrauenswürdige« und »verantwortliche« KI aufzustellen. Es ist interessant und beunruhigend zugleich, dass die ethischen Normen und Werte, auf welche die KI-Moralisten unweigerlich zurückgreifen, aus einer Gesellschaft und einer Kultur stammen, die nichts von selbstfahrenden Autos oder künstlicher Intelligenz wusste. Dies waren eine Gesellschaft und Kultur, die die Welt in Steine, Pflanzen, Tiere und Menschen kategorisierte, wobei allein letztere als aktive Subjekte galten, die für ihr Tun und Lassen verantwortlich gemacht werden konnten und auch im moralischen Sinne »sollten«. Alle anderen waren bloße Objekte, oder wie es das Gesetz ausdrückt: Sachen (res). Aber was ist mit dem Tesla? Ist das selbstfahrende Auto ein Subjekt oder ein Objekt, ein potenziell verantwortlicher sozialer Akteur oder ein bloßes Ding? Immer wenn wir nach dem Täter suchen, nehmen wir automatisch an, dass irgendein Mensch der Täter ist, und wenn wir ihn finden, können wir ihn vor Gericht ziehen. Nach wem suchen wir aber, wenn der Roboter ein Verbrechen »begeht«? Wie kann man einen Algorithmus vor Gericht ziehen? Und wenn wir entscheiden, dass der Roboter verantwortlich zu machen ist,
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lassen wir dann nicht die menschlichen Schöpfer allzu leicht vom Haken? Mit diesen Fragen musste sich das EU-Parlament kürzlich auseinandersetzen, als es darüber diskutierte, Robotern einen Sonderstatus als »elektronische Persönlichkeiten« mit ähnlichen Rechten wie Unternehmen zu geben, die eine »Rechtspersönlichkeit« besitzen. Es gibt noch eine andere Seite dieser Medaille: Nicht nur die Maschinen werden menschlicher, sondern auch die Menschen werden immer mehr in die Technik integriert. Anstatt von Robotern zu sprechen, sprechen wir von Cyborgs. Cyborgs sind technologisch erweiterte Menschen, sodass viele gar nicht mehr von Menschen, sondern vom »Transhumanen« sprechen. Auch hier stellt sich die Frage, ob solche transhumanen Wesen als normale Menschen oder als etwas ganz anderes mit anderen Rechten und Pflichten zu behandeln sind und vielleicht sogar anderen Regelungen unterliegen, damit ihre übermenschlichen Fähigkeiten nicht zu sozialen Ungleichheiten und neuen Formen der Diskriminierung führen. Egal auf welche Seite eine geworfene Münze fällt, ob Roboter oder Cyborg: Wir haben es mit Entitäten zu tun, die nicht sauber in die traditionellen Kategorien und Klassifikationen passen. Anstatt zu versuchen, diese Kategorien anzupassen und neue Entitäten neben oder zwischen den alten zu schaffen, könnte es sinnvoll sein, unser gesamtes Weltbild, unsere Ontologie infrage zu stellen. Das ist das philosophische Problem. Die digitale Transformation greift tief in unsere Ontologie und unser Verständnis davon ein, woraus die Welt besteht. Woraus würde die Welt bestehen, wenn sie nicht ein Sack voller verschiedener Arten von Wesen wäre, sondern etwas ganz anderes? Und was würde das sein? Wir könnten uns eine Welt vorstellen, die nicht aus einzelnen Entitäten besteht, seien es nun Steine, Pflanzen, Tiere, Menschen, Roboter oder Cyborgs, sondern aus Relationen. Eine Relation ist kein Ding und sie ist nicht von Dingen abhängig, das heißt, sie darf nicht als etwas gedacht werden, das Dinge qualifiziert oder ein Attribut von Dingen ist. Natürlich sprechen wir normalerweise von Relationen als von etwas, das den Dingen untergeordnet ist. Erstens gibt es Dinge und zweitens treten die Dinge in Beziehungen zueinander. Dies impliziert, dass es Dinge ohne Relationen geben kann. In der Tat impliziert der philosophische Begriff der Substanz genau dies: dass Dinge als individuelle Entitäten existieren, als Dinge an sich, die mit anderen Dingen in Beziehung treten können oder auch nicht. Aber was wäre, wenn es umgekehrt wäre und es zuerst Beziehungen gäbe und dann aus den Beziehungen die Dinge entstünden?
8. Tesla – ein philosophisches Problem
Die alte Philosophie der Substanz bestimmt auch unser Verständnis davon, was es bedeutet, ein Mensch zu sein. Der Mensch ist in erster Linie ein Individuum, das seinen eigenen Nutzen verfolgt. Wenn es vorteilhaft erscheint, einen Gesellschaftsvertrag abzuschließen, um den Krieg aller gegen alle zu beenden, dann treten diese Individuen in die Gesellschaft ein. Die Entscheidung darüber, was vorteilhaft ist, ist eine Eigenschaft, die der Mensch von Natur aus besitzt und die man Vernunft nennt. Wie Descartes es ausdrückte, sind Menschen »denkende Dinge« (res cogitans). Der Mensch ist nicht nur Substanz, sondern auch Subjekt. Alles andere in der Welt ist ein Objekt der Erkenntnis, es ist das, worüber der Mensch nachdenkt. Dieser Dualismus von Subjekt und Objekt führte durch die neue Wissenschaft von Galileo, Newton, Bacon und anderen zur Entzauberung der Welt. Es gab demnach zwei Seinsbereiche – der Bereich des Denkens und der Bereich der Natur –, die nunmehr aus bloßen Tatsachen unter der Regie von deterministischer Kausalität bestanden. In letzter Zeit ist diese tief verwurzelte und ehrenwerte Tradition infrage gestellt worden. Zunächst einmal stellt sich heraus, dass alles Kognitive relational und nicht substanziell ist. Denken und Wissen bestehen aus Relationen. Ein Gedanke ist wie ein Wort in einer Sprache: Er ist, was er ist, und bedeutet, was er bedeutet aufgrund seiner Beziehungen zu vielen anderen Worten und Gedanken. Wir wissen, was eine Katze ist, weil wir wissen, wie sie sich zu vielen anderen Dingen wie Hunden, Bäumen, Mäusen, Menschen usw. verhält. In der Tat sind Sinn oder Bedeutungen, wie Saussure betonte, nichts anderes als Relationen. Wir stolpern nicht über Gedanken oder Bedeutungen wie über einen Stein auf dem Weg. Woher kommen diese Relationen? Die nicht-cartesianische Kognitionswissenschaft zeigt, dass Kognition nicht etwas ist, das denkende Dinge – also rein mentale Wesen – tun, sondern dass das Denken verkörpert ist. Zudem ist Kognition nicht eine von seiner Umwelt isolierte Eigenschaft eines Organismus, sondern das Denken ist eingebettet in der Umwelt. Dies bedeutet, dass es nicht das Gehirn allein ist, das »denkt«, sondern Kognition ist erweitert und verteilt unter Menschen und Nicht-Menschen. Und schließlich ist Kognition untrennbar von praktischen Handlungen und Interaktionen zwischen Menschen und Nicht-Menschen. Mit anderen Worten: Kognition entsteht auf der Grundlage von Beziehungen zwischen dem Gehirn und vielen anderen Dingen in der Welt. Wir können dies »verteilte Kognition« nennen. Wenn aber das Denken nicht eine isolierte Fähigkeit eines einzelnen Menschen ist, warum sollten dann moralische Entscheidungen und Verantwortung allein dem Individuum
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zugerechnet werden? Der freie Wille wurde traditionell als eine wesentliche Eigenschaft des individuellen Menschen betrachtet. Wenn Kognition verteilt ist, warum dann nicht auch Handlungsfähigkeit? Das Netzwerk ist der Akteur und nicht irgendein Individuum im Netzwerk. Verteilte Kognition und verteiltes Handeln werfen die Frage nach der Identität auf. Wer bin ich denn, wenn »mein« Denken und »mein« Handeln nur auf der Basis vieler komplexer Beziehungen möglich sind, die weit über mein individuelles Selbst hinausgehen? In unserer vorgestellten Welt, die aus Beziehungen statt aus Substanzen besteht, lautet die Antwort, dass auch die Identität auf viele verschiedene »Akteure« verteilt ist. Ich betrachte mich zum Beispiel gerne als Lehrer. Das ist nicht nur meine berufliche, sondern auch meine persönliche Identität. Aber wie kann ich ein Lehrer sein ohne Schülerinnen und Schüler, ohne Klassenzimmer oder Schulen, ohne Lehrbücher, Prüfungen, Noten, Zertifizierungen usw.? Nimmt man all diese Dinge und die Beziehungen, die sie ausmachen, weg, bin ich kein Lehrer mehr. Woraus besteht also unsere neue Welt? Was wir in unserer neuen Welt anstelle von verschiedenen Arten von Dingen haben, sind Netzwerke, die aus Relationen bestehen, die Akteure konstituieren, die zusammen die Realität ausmachen. Die Welt besteht aus Akteur-Netzwerken und nicht aus Dingen, nicht einmal aus denkenden Dingen. Sagen wir, dass diese Netzwerke, die das Ergebnis verteilter Kognition, verteilter Handlungsfähigkeit und verteilter Identität sind, das sind, was real ist, und dass Dinge – ob Steine, Pflanzen, Tiere, Menschen, Roboter oder Cyborgs – Konventionen sind, auf die wir uns geeinigt haben, um unser Leben in verschiedenen Situationen zu regeln. Behaupten wir weiter, dass Roboter und Cyborgs nicht in die alte Welt der Dinge passen und nicht mehr durch rechtliche und moralische Regeln reguliert werden können, die für vermeintlich freie menschliche Subjekte und das, was sie mit passiven Objekten tun, konzipiert wurden. Die Ankunft von Robotern und Cyborgs in unserer Welt zwingt oder lädt uns ein, uns eine andere Art der Ordnung der Welt vorzustellen. Wer ist für meinen Tesla verantwortlich? Nun, das gesamte Netzwerk, in dem autonome Mobilität funktioniert und sinnvoll ist. Was ist »gute« KI? Nun, das gesamte Netzwerk, in dem KI als ein Akteur unter vielen agiert. Zu diesem Netzwerk gehören nicht nur der Hersteller, die Programmierer, die Nutzer und die möglichen Opfer, sondern viele soziale, rechtliche, kulturelle und technologische Akteure, die zusammen ein Netzwerk bilden, das sowohl als Akteur gelten kann, wenn es gut läuft, als auch, wenn es schiefläuft. Anstatt nach dem menschlichen oder halb-menschlichen Schuldigen zu
8. Tesla – ein philosophisches Problem
suchen, wenn ein Verbrechen begangen oder Schaden angerichtet wurde, sollte man auf die Regulierung, oder besser gesagt die »Governance« des Netzwerks achten. Statt E-Persönlichkeiten zu schaffen, um Maschinen wie Menschen verantwortlich zu machen, oder Richtlinien und Ethik, um Menschen verantwortungsvoller zu machen, als sie es normalerweise (nicht) sind, warum nicht den westlichen Individualismus, die Ontologie der Substanz und den Anthropozentrismus ganz fallen lassen? Vielleicht ist das, was die digitale Transformation braucht, nicht mehr Ethik, sondern sind es neue Formen der Governance, die auf einer vernetzten Realität basieren.
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9. Daten – Informationen – Wissen
Wer kennt sie nicht, die klassische Unterscheidung zwischen Daten, Information und Wissen? Und wer hat nicht schon mindestens eine Version der berühmten Pyramide gesehen, bei der die Daten die unterste Ebene bilden, Information die nächste Ebene und das Wissen die darüber liegende Schicht, wobei oft Weisheit an der Spitze steht? Diesem Modell liegen mehrere fragwürdige Annahmen zugrunde: Erstens wird angenommen, dass Daten, Information und Wissen qualitativ und quantitativ unterschiedlich sind. Daten sind zum Beispiel etwas anderes als Information. Es gibt viel mehr Daten als Information. Daten gibt es wie Sand am Meer. Information dagegen, da sie aus Daten konstruiert wird, ist seltener und von größerem Wert als Daten. Dasselbe lässt sich von Wissen sagen, und das seltenste und wertvollste Wissen könnte Weisheit genannt werden. Zweitens wird angenommen, dass Daten, Information und Wissen hierarchisch voneinander abhängig sind – man kann also keine Information ohne Daten oder Wissen ohne Information haben, aber man könnte Daten ohne Information und Information ohne Wissen haben. Drittens impliziert die Hierarchie ein Werturteil, das heißt, dass Daten nicht so wertvoll sind wie Information und Information nicht so wertvoll ist wie Wissen. Und natürlich stellt Weisheit das Wertvollste von allem dar. Schließlich impliziert die Pyramide auch eine Art von zeitlicher oder ontologischer Priorität. Da Information von Daten abhängt, müssen Daten zuerst kommen, und da Wissen von Information abhängt, kommt Information vor Wissen, zumindest zeitlich. Das bedeutet, dass wir zuerst Daten haben, dann konstruieren wir aus ihnen irgendwie Information. Wenn wir so weit sind, können wir weitergehen und Wissen aus Information konstruieren. Daten sind so etwas wie das Rohmaterial, aus dem Information konstruiert wird, und Information ist das Rohmaterial, aus dem Wissen konstruiert wird. Es gibt nichts in dem Modell, das andeutet, wie dieser Konstruktionsprozess
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Essays zur digitalen Transformation
funktioniert. Das Modell selbst sagt uns nicht, woher Daten kommen oder wie genau Information aus Daten oder Wissen aus Information konstruiert wird. Um diese Fragen zu beantworten, sind wir auf Spekulation angewiesen. Es besteht eine Art Konsens unter den Interpreten, dass es verschiedene Arten der Konstruktion gibt. Diese können als »Transkription«, »Kognition« und »Praxis« bezeichnet werden. Man sagt, dass Daten durch eine Art von Transkription konstruiert werden, das heißt, etwas wird konserviert und in irgendeiner materiellen Form in irgendeinem Medium fixiert, sei es Ton, Text oder Bild und alle nur denkbaren materiellen Träger. Heute werden Daten vor allem in Bits und Bytes transkribiert, also in digitale Medien, die als die dominierenden Medien in der heutigen Welt auch das bestimmen, was üblicherweise mit dem Begriff »Daten« gemeint ist. Daten sind einfach Bits und Bytes, 1 und 0, elektronisch fixiert in irgendeinem Speichermedium. Wie wird aus Daten nun Information konstruiert? Wenn die ansonsten bedeutungslosen Bits und Bytes in einer Sprache zu Zeichen kombiniert und mit Bedeutung versehen werden, dann werden aus Daten Information. Dies ist vor allem ein kognitiver Prozess: Jemand gibt den Bildern oder Zeichen auf dem Papier oder den Bits und Bytes auf dem Chip durch einen kognitiven Prozess des »Lesens« einen »Sinn«. Daraus entsteht erst mal Information. Wissen haben wir damit aber noch nicht. Wissen ist das, zu was Information wird, wenn sie praktisch genutzt wird, um ein bestimmtes Problem zu lösen. Die konkrete Anwendung von Information in problemlösenden Aktivitäten wird »Praxis« genannt. Es ist die Praxis, in der bloße Information, zum Beispiel bloße Theorie oder bloßes Lehrbuchwissen, in einen bestimmten Handlungskontext in der realen Welt gestellt wird. Es ist die Praxis, durch die wir wissen, wozu Information gut ist, was sie bewirken kann, wie sie in komplexen Situationen verwendet werden kann. Dies bedeutet, dass Wissen durch Handeln entsteht. Es ist Praxis, die den Lehrling von der Meisterin unterscheidet, die Unerfahrene vom Erfahrenen. Es ist der erfahrene Meister, von dem man allein sagen kann, dass er Wissen oder vielleicht sogar Weisheit besitzt. Es wird oft explizit oder implizit zugegeben, dass Lernen – also die Konstruktion von neuem Wissen – nur in der Praxis stattfindet. Erst wenn Information zur Lösung eines Problems verwendet wird, wenn es Kontakt mit realen Umständen, unerwarteten Ereignissen, unvorhergesehenen Ergebnissen usw. gibt, entsteht neues Wissen. Das ist Lernen und Erfahrung. Lernen, so sagt man, kommt durch Tun. Aber Erfahrung ist nur der Anfang. Das Gelernte muss transkribiert werden, in irgendeinem Medium dokumentiert werden, um Wissen zu schaffen. Das heißt, dass die Praxis zurückführt zur
9. Daten – Informationen – Wissen
Transkription neuer Daten, die zu neuer Information und damit zu neuem Wissen führen. Es stellt sich demnach heraus, dass die Pyramide eigentlich ein Kreis ist. Denn wir haben es mit einem zirkulären Prozess, einem nie endenden Kreislauf zu tun, nicht mit einer starren Hierarchie. An diesem Punkt zeigt sich eine Schwierigkeit des hierarchischen Modells von Daten, Information und Wissen: Ein Kreis ist keine Pyramide. Es gibt keine Hierarchie, keine privilegierte Position, kein implizites Werturteil in einem Kreis. Es gibt keine zeitliche oder ontologische Priorität. Wie schon der legendäre König Artus wusste, bedeutet ein runder Tisch, dass jeder gleich wichtig ist. Alles befindet sich auf der gleichen Ebene. Kurz gesagt: Wenn der Kreis die Pyramide ersetzt, gibt es keine linearen Abhängigkeiten, keinen Anfang und kein Ende, kein top-down oder bottom-up. Das lässt das traditionelle Pyramidenmodell der Beziehungen zwischen Daten, Information und Wissen willkürlich und unbegründet erscheinen. Wenn Daten aus der Praxis kommen, warum sollte man dann mit Daten beginnen und nicht mit Wissen? Warum kommt die Praxis bei der Konstruktion von Wissen erst am Schluss, wenn sie eigentlich doch am Anfang steht? Ist nicht auch die Transkription, die Erhebung von Daten, eine Art Praxis? Ist es nicht auch eine Praxis, aus Daten einen Sinn bzw. Information zu machen? Sind Daten, im digitalen Sinne des Wortes, überhaupt möglich ohne Bedeutung? Bekanntlich gibt es keine »rohen« Daten. Und setzt diese datenerhebende Praxis nicht auch Wissen voraus bzw. schafft sie nicht Wissen? Es scheint, dass die typischen Annahmen, die wir über die Beziehungen zwischen Daten, Information und Wissen machen, nicht fundiert und vielleicht sogar irreführend sind. Vielleicht sollten wir, statt mit Daten zu beginnen, mit der Praxis beginnen und Daten und Information als bestimmte Arten von Wissen verstehen, die mit bestimmten Arten von Praxis verbunden sind. Die Unterscheidung zwischen Daten, Information und Wissen ist also weder qualitativ noch quantitativ noch hierarchisch noch basiert sie auf Werturteilen. Daten sind nicht etwas, das weniger Wert hat als Information, da sie selbst sowohl eine Art von Information als auch eine Art von Transkriptionspraxis sind. Lernen findet in der Transkription von Daten ebenso statt wie überall dort, wo die Praxis Probleme löst. Aber was genau tut die Praxis? Zunächst einmal führt die Praxis keine Ordnung und Struktur in eine ungeordnete und undifferenzierte »Mannigfaltigkeit« – in der Terminologie Kants – von Daten ein. Praxis beginnt vielmehr mit einem Problem, das gelöst werden soll. Das Problem muss, um sich überhaupt als Problem darstellen zu können, bereits in irgendeiner Weise verstanden sein. Wir müssen Tiere jagen, um zu essen. Wir müssen einen
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Unterstand bauen, um uns vor den Elementen zu schützen. Wir müssen mit anderen kommunizieren und unsere Handlungen koordinieren, um Ziele zu erreichen, die wir allein nicht erreichen könnten. Während wir diese Dinge tun, lernen wir, wie wir sie besser machen können, selbst nach einer jahrtausendelangen Geschichte der Entwicklung digitaler Technologien. Der Weg zum Wissen beginnt nicht mit Daten, sondern mit der Praxis. Zehntausende, wenn nicht Hunderttausende von Jahren Praxis haben dazu geführt, dass wir Bits und Bytes, Computer und digitale Netzwerke statt Steinäxte verwenden, um die immer komplexer werdenden Probleme zu lösen und die Praxis effektiver zu machen. Es scheint also, als würde die Praxis die Komplexität nicht reduzieren, sondern erhöhen. Praxis konstruiert keine geschlossenen Systeme, sondern verbindet alles mit allem und fügt durch Lernen immer neue Elemente, neue Knoten im Netzwerk hinzu. Daten und Information sind gegenwärtig wichtige Knoten in digitalen Netzwerken, aber sie sind nicht das, worauf das Netzwerk gründet. Sie bilden nicht eine Art Basis, auf der Wissen konstruiert wird. Das Netzwerk gründet sich auf nichts außerhalb seiner selbst, das heißt auf nichts anderem als auf seiner eigenen Aktivität, Verbindungen herzustellen, neue Beziehungen zu entdecken und mehr und mehr Dinge in sich selbst einzubinden. Aus dieser Perspektive erscheinen die traditionellen Unterscheidungen zwischen Daten, Information und Wissen fragwürdig. Vielleicht ist ein neues Denken erforderlich, um zu verstehen, was diese Begriffe, die in der heutigen Welt so wichtig geworden sind, wirklich bedeuten.
10. AI Now oder: AI, wie sie sein könnte
Das AI Now Institute ist ein interdisziplinäres Forschungsinstitut, das sich der Erforschung der sozialen Auswirkungen von künstlicher Intelligenz widmet. Es wurde 2017 von Kate Crawford und Meredith Whittaker gegründet und ist an der New York University angesiedelt. Das jedes Jahr vom AI Now Institute organisierte Symposium, dessen Titel 2019 »The Growing Pushback Against Harmful AI« lautet, ist aus mehreren Gründen interessant. Der Name ist bezeichnend. Bei AI »now« geht es in der Tat um AI, wie sie jetzt ist, also nicht, wie sie sein könnte und sollte. Die Betonung des »Jetzt« hat einen entscheidenden Vorteil. Der Fokus liegt auf dem, was KI in den verschiedenen Bereichen, die dem Institut am Herzen liegen – nämlich Strafverfolgung, Sicherheit und soziale Dienste –, tatsächlich tut, oder besser gesagt nicht tut. Die explizite Beschäftigung des AI Now Institute mit den »sozialen Implikationen« von KI führt zu einer betont bürgerrechtlichen Perspektive. Was das Institut erforscht, sind in erster Linie die Gefahren von KI in Bezug auf Bürgerrechtsfragen wie zum Beispiel Diskriminierung von Minderheiten. Das ist gut und richtig. Es ist sogar notwendig und von großem Nutzen, um einen Missbrauch der Technologie zu verhindern. Aber reicht es aus, zu behaupten, dass das bloße Einbringen von KI in eine soziale, wirtschaftliche und politische Realität – die seit eh und je strukturell von Diskriminierung und Ungleichheit geprägt ist – nicht unbedingt zu einer Verbesserung der Bürgerrechte führt und dass die Technologie daher entweder gar nicht oder dann unter strenger regulativer Kontrolle eingesetzt werden sollte? Sollte man nicht willens und in der Lage sein, das Potenzial von KI in Betracht zu ziehen, um Bürgerrechtsfragen anzugehen und Versäumnisse der Vergangenheit zu korrigieren, und vielleicht sogar damit zu beginnen, sich konstruktiv mit den seit Langem bestehenden Ungerechtigkeiten auseinanderzusetzen, um die es dem Institut in erster Linie geht?
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Und schließlich – ganz abgesehen davon, dass die gesellschaftlichen Auswirkungen von KI weit über Bürgerrechtsfragen hinausgehen: Sollten nicht auch die positiven Ergebnisse von KI in den Bereichen Strafverfolgung, Verbrechensverhütung, Sicherheit und soziale Dienste in die Waagschale geworfen werden, bevor man sich entscheidet, den Einsatz von KI-Lösungen durch Moratorien zu stoppen? Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der allgemeine Tenor der Teilnehmenden des Symposiums ist, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Es gibt jedoch einige wichtige Erkenntnisse aus dem Symposium. Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass KI, wie sie »jetzt« ist, oft primär auf kurzfristigen Werten wie Effizienz und Optimierung zu basieren scheint, statt auf den langfristigen Werten, die in den Bürger- und Menschenrechten verankert sind. Wichtig ist zudem, Technologie im Allgemeinen und KI im Speziellen nicht als Ausrede dafür zu benutzen, dass tief verwurzelte Diskriminierung und die Ungerechtigkeit der sozialen Realität nicht angegangen werden. Es gibt keine schnelle technologische Lösung für jahrhundertealte soziale Ungleichheit und tief verwurzelte Diskriminierung. Die Geschichte von Amazons KI-Rekrutierungstool ist ein typisches Beispiel dafür: Abgesehen von der gerechtfertigten Empörung darüber, dass das Tool hauptsächlich Männer für eine mögliche Anstellung auswählte, ist zu beachten, dass die KI dabei systematische geschlechtsspezifische Verzerrungen in Amazons Rekrutierungsverfahren aufdeckte. Ob Amazon richtig reagiert hat, indem es das Tool verschrottet hat, anstatt es für die Suche nach Diskriminierung umzufunktionieren, ist eine offene Frage. Dass KI auf diese Weise eingesetzt werden könnte, ist offensichtlich. Klar ist auch, dass Vorurteile, Diskriminierung und Rassismus nicht verschwinden werden, nur weil KI-Systeme auf Basis vorhandener Daten für automatisches Profiling, Tracking, Predictive Policing, Recruiting usw. eingesetzt werden. Was sich ändern könnte – und das ist das Argument der Befürworter von KI-Lösungen – sind die Verbesserung der Datenqualität und damit einhergehend die Verringerung hoher Kriminalitätsraten, mehr Sicherheit, eine effektivere Strafverfolgung und effizientere soziale Dienste. Die Bürgerrechtsperspektive beurteilt KI danach, ob sie die Würde und Selbstbestimmung von Minderheiten und Marginalisierten fördert oder nicht, während sie gleichzeitig das Erheben von mehr und besseren Daten als Gefahr für die Privatheit verpönt. Einerseits wird KI also verurteilt, weil sie schlechte Ergebnisse liefert, und anderseits wird auch die nötige Optimierung der Datenerhebung verurteilt, obwohl diese Diskriminierungen ja entgegenwirken könnte.
10. AI Now oder: AI, wie sie sein könnte
Die Strafverfolgungsbehörden und öffentlichen Dienste neigen dazu, Technologien danach zu beurteilen, ob sie die allgemeine Sicherheit und das Wohlbefinden der Gemeinschaft fördern. Die Tendenz der Beiträge zum AI-Now-Symposium 2019 scheint zu sein, dass jeder, der weiß ist und über der Armutsgrenze steht, keine legitimen Ansprüche an die Regierung hat und dass Regierungen nur Minderheiten und Marginalisierten gegenüber Verpflichtungen haben. Dabei werden die positiven Auswirkungen von KI in diesen Bereichen ebenso übersehen wie die Tatsache, dass KI-Systeme in vielen anderen Bereichen als der Strafverfolgung und den sozialen Diensten erfolgreich eingesetzt werden. KI spielt in vielen gesellschaftlichen Bereichen wie Bildung, Wirtschaft, Gesundheitswesen und Wissenschaft eine wichtige Rolle und hat weitreichende soziale, kulturelle und wirtschaftliche Auswirkungen, die nichts mit den Themen Diskriminierung und Ungleichheit zu tun haben. KI – auch so, wie sie »jetzt« ist – tut und bedeutet viel mehr als die Probleme, die das AI Now Institute behandelt. Außerdem ist es grundsätzlich fragwürdig, das Verständnis von KI auf das zu beschränken, was »jetzt« ist. KI sollte auch vor dem Horizont dessen gesehen werden, was sie sein könnte und sein sollte, selbst wenn man sich auf Bürgerrechtsfragen konzentriert. Der springende Punkt ist nicht, ob KI »ethisch« ist oder nicht, sondern ob KI »jetzt« ein brauchbarer Ansatz für den technologischen Wandel ist. Die digitale Transformation zwingt die Gesellschaft dazu, sich zu fragen, welche Art von soziotechnischem Netzwerk wir gestalten. Dies ist eine Frage, die nicht allein aus der Perspektive der Gegenwart oder der Bürgerrechte gestellt oder beantwortet werden kann. Es gibt viele verschiedene Interessengruppen in der Gesellschaft. Es kann sein, dass staatliche Regulierung, an die die Referenten des Symposiums fast immer appellieren, nicht das beste Instrument für den Umgang mit komplexen Problemen ist. Anstelle von Regierungen könnte es sein, dass eine globale Netzwerkgesellschaft am besten durch Governance-Rahmen reguliert wird, die so eingerichtet werden müssen, dass alle betroffenen Stimmen gehört werden können. Vielleicht ist das, was AI Now bedeutet, der Frage nach richtigen Formen sozialer Organisation und Regulierung in einer globalen Netzwerkgesellschaft nachzugehen und neues Denken auszuprobieren.
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11. Smart oder: Was ich von meinem iPhone lernen kann
Alle reden von smart. Alles ist – oder wird – smart. Begonnen hat es mit Smartphones. Plötzlich wurde ein vertrauter Gegenstand, den jeder benutzte, nicht nur funktional, wie alle Technologien in gewisser Weise sind, sondern auch smart. Nach den Smartphones kamen die smarten Uhren und der smarte Schmuck und sogar die smarte Kleidung. Der Trend zur Smartness machte nicht bei Kleidung und Accessoires halt, sondern Geräte wie smarte Kühlschränke, smarte Kochherde, smarte Staubsauger drangen in das Haus ein. In der Tat wird das gesamte Haus smart. Und wenn ganze Häuser smart sein können, warum nicht auch ganze Städte? Schließlich läutet das Internet der Dinge eine 4. industrielle Revolution ein, die nicht nur Städte, sondern auch smarte Fabriken, smarte Logistik, smarte Energie und so weiter umfasst. Es scheint, dass smart zu sein eine wichtige Qualifikation für das Sein selbst wird. Es hat den Anschein, dass die Existenz heute – und in der Zukunft wahrscheinlich noch mehr – davon abhängt, smart zu sein, und was nicht smart ist oder nicht smart werden kann, wird keinen Platz mehr haben in der Welt. Dieser Trend sollte nicht nur Hoffnung auf eine bessere Zukunft machen, sondern auch einige grundlegende Fragen darüber aufwerfen, was es ist, das wir smart nennen. Was bedeutet »smart«? Das englische Adjektiv »smart« wird normalerweise auf Menschen angewendet, die als klug, hell, intelligent, scharfsinnig, gewitzt, kompetent usw. gelten. Es ist interessant, dass wir diese Bedeutungen kaum für Geräte anwenden. Es scheint also, dass smarte Technologien die Definition dessen verändern, was es bedeutet, smart zu sein. Wenn alles um uns herum smart wird, dann sind diese Dinge auf eine andere Art und Weise intelligent, als wir es traditionell dem Menschen zuschreiben. Mein iPhone ist nicht schlagfertig, gewitzt oder scharfsinnig, aber es hat Qualitäten, die es verlangen, als smart bezeichnet zu werden.
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Essays zur digitalen Transformation
Was macht intelligente Technologien intelligent? Das ist keine müßige Frage, denn wenn unsere Häuser, unsere Arbeitsplätze, unsere Kommunikations- und Transportnetzwerke und vieles mehr auf eine bestimmte Art und Weise intelligent sind, werden wir Menschen feststellen, dass wir nicht diejenigen sind, die definieren, was es bedeutet, intelligent zu sein. Wir werden feststellen, dass wir uns an die Art und Weise, wie die Welt um uns herum smart ist, anpassen müssen, um selbst smart zu werden und zu bleiben. Floridi (The Fourth Revolution, 2014) spricht von einer 4. Revolution, in der die Menschen lernen müssen, das Attribut der Intelligenz mit den Maschinen zu teilen, sich selbst als »inforgs«, das heißt als informationelle Wesen, zu erkennen und anzuerkennen, dass die Welt zu einer »Infosphäre« geworden ist. In einer intelligenten Welt ist der Mensch nicht mehr der Einzige, der über Intelligenz verfügt, und er ist demnach nicht der Einzige, der sagen darf, was Intelligenz bedeutet. Stattdessen sind wir Teil eines allumfassenden »soziotechnischen Netzwerks«, das in seiner Gesamtheit bestimmt, was es bedeutet, smart zu sein. Wenn wir herausfinden wollen, was smart bedeutet, dann müssen wir einen Schritt vom Spiegel der kartesischen Reflexion zurücktreten und das gesamte soziotechnische Netzwerk anschauen, in dem wir existieren. Oder wie die Akteur-Netzwerk-Theorie es ausdrückt: Das Netzwerk ist der Akteur. Eine wichtige Konsequenz dieser neuen Perspektive ist, dass die Unterscheidung zwischen »künstlicher« und »natürlicher« Intelligenz keinen Sinn mehr ergibt. Die einzig relevante Frage ist, ob etwas intelligent oder dumm ist – egal was oder wer es ist. Wenn die KI den Menschen immer ähnlicher werden und wenn die Menschen sich an das Leben mit – oder sogar in – Computern anpassen, wird es immer schwieriger und vielleicht auch sinnlos, einen von ihnen weiterhin »künstlich« zu nennen. Was spielt es für eine Rolle, woher es kommt, intelligent zu sein? Wichtig ist, dass man smart ist und nicht dumm. Es ist nicht wichtig, ob man aus eigener Kraft klug wird (siehe Aristoteles’ Definition von physis, Natur) oder mithilfe eines anderen (siehe Aristoteles’ Definition von techné, Kunst und Technik). In dem umfassenden soziotechnischen Ensemble, in dem wir leben, ist nichts gänzlich selbst geschaffen und nichts wird gänzlich von etwas anderem geschaffen. Wie Latour (1993) es ausdrückt: »Nichts ist von sich aus entweder reduzierbar oder irreduzibel auf etwas anderes«. Intelligente Technologien und intelligente Menschen leben und gedeihen beide in der Infosphäre, die ihre »natürliche« Heimat ist. Die Frage nach der Intelligenz ist daher weder durch Gehirnscans noch durch algorithmisches Auditing zu beantworten, sondern durch die Ent-
11. Smart oder: Was ich von meinem iPhone lernen kann
deckung der Prinzipien, die die Infosphäre regieren. Das soll nicht heißen, dass Neurowissenschaft und Datenwissenschaft unwichtig sind – im Gegenteil, sie sind beide wichtige Akteure in der Infosphäre. Was es sagt, ist, dass alle Akteure an der globalen Netzwerkgesellschaft teilnehmen und ihren Formen der Governance unterliegen, also den Prinzipien, die definieren, was es bedeutet, smart zu sein. Wenn wir herausfinden wollen, was smart bedeutet, müssen wir beschreiben, wie das Netzwerk aus Menschen und Nicht-Menschen, das die Infosphäre ausmacht, funktioniert. Wir können überall anfangen, also fragen wir, was ist es, das ein Smartphone smart macht. Zunächst einmal können wir sagen, es ist vernetzt. Smarte Geräte sind immer mit vielen anderen Geräten, mit Netzwerken und mit Menschen verbunden. Sie stehen nie allein, sondern sind Knoten und Knotenpunkte in Netzwerken. Konnektivität ist also ein wesentliches Merkmal von Smartness. Zweitens ermöglicht Konnektivität den Fluss von Information, was ebenfalls ein wesentliches Merkmal von Smartness ist. Information ist es, die Wertschöpfung jeglicher Art ermöglicht. Ob Hoteloder Restaurantbewertungen, Fotos oder Videos, Dokumente, Links: Informationsflüsse machen E-Commerce, E-Learning, E-Health, E-Government usw. möglich. Darüber hinaus lassen smarte Geräte Information nicht nur fließen, sondern sie schaffen auch Information. Jedes Gerät nimmt aktiv am Netzwerk teil, indem es Information sammelt, rekonfiguriert, modifiziert und wiederverwendet. Viertens kommunizieren smarte Geräte miteinander und nutzen Information kooperativ. Apps auf einem Smartphone sammeln und senden Informationen an die Cloud, wo sie von anderer Software aggregiert und verarbeitet werden, um mir zum Beispiel zu sagen, wie ich einen Stau umfahren kann. Konnektivität, Flow und Partizipation sind immer in irgendeiner Form Kommunikation und Kooperation. Fünftens bedeutet smart zu sein auch, transparent zu sein. Netzwerke funktionieren auf der Basis von Vertrauen. Partizipation und Kommunikation sind nur dann erfolgreich, wenn alle, die am Netzwerk beteiligt sind, voneinander wissen, wer was und zu welchem Zweck sagt. Geheimniskrämerei, Verschleierung und Vernebelung schaffen dumme Netzwerke und keine intelligenten. Transparenz impliziert weiterhin Authentizität. Es ist nicht nur wichtig zu wissen, woher eine Information stammt und für welchen Zweck sie bestimmt ist, sondern auch, wer hinter ihr steht. Falsche Darstellungen verlangsamen nur das Netzwerk und machen alle Aktivitäten weniger effizient und weniger nützlich.
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Und schließlich bedeutet smart zu sein, flexibel zu sein. Das Smartphone ist smart, weil es viele verschiedene Dinge tun kann, und jeden Tag kommen mehr Apps mit mehr Anwendungsfällen hinzu. Netzwerke sind smart, weil sie sich schnell verändern, neue Dinge tun und ständig neue Formen der Wertschöpfung schaffen. Zusammenfassend lässt sich demnach sagen, dass Smartness durch Konnektivität, Flow, Partizipation, Kommunikation, Transparenz, Authentizität und Flexibilität definiert ist. Interessanterweise scheint diese Definition von Smartness nicht nur smarte Geräte zu beschreiben, sondern auch smarte Menschen. Intelligenz wurde traditionell in Bezug auf kognitive Fähigkeiten definiert. Kognition ist »Gesamtheit aller Prozesse, die mit dem Wahrnehmen und Erkennen zusammenhängen« (Duden). Als ein »mentaler« Prozess war Intelligenz etwas, das Gehirne tun. Obwohl sich die Kognitionswissenschaft und die Neurowissenschaften sich immer noch darauf fokussieren, herauszufinden, was Gehirne tun, wird es immer offensichtlicher, dass Gehirne nicht viel von sich aus und ganz alleine tun können. Kognition, Intelligenz und Geist sind keine Eigenschaften von Gehirnen allein, sondern von verteilten Netzwerken. Epigenetik, Neuroplastizität und verteilte Kognition verändern unsere Grundannahmen darüber, was Intelligenz ist. Der Geist ist nicht mehr auf das Gehirn beschränkt, sondern wird als verkörpert, in die Umwelt eingebettet, durch Praxis ermöglicht und mit vielen Dingen verbunden verstanden. So wie kein Organismus losgelöst von seiner Umwelt leben kann, kann auch kein Gehirn intelligent sein, das seine kognitiven Fähigkeiten nicht über seine Verbindungen mit dem Körper, der Welt und mit Technologien verteilt. Auch hier ist das Netzwerk der Akteur. Oder anders ausgedrückt: Smart zu sein bedeutet für den Menschen auch, vernetzt zu sein, kreativ an Informationsflüssen teilzunehmen, ein bekannter und vertrauenswürdiger Kommunikationspartner zu werden und flexibel genug zu sein, um sich auf neue Situationen auf unvorhergesehene Weise einzustellen. Es könnte sein, dass die viel diskutierte »Singularität« – verstanden nicht als supersmarte KI, sondern als Konvergenz von menschlicher und nicht-menschlicher Intelligenz – bereits vor uns steht. Intelligenz muss nicht länger den Affen mit großen Gehirnen vorbehalten sein (siehe Aristoteles’ Tier, das die Vernunft hat), die sich selbst als Menschen bezeichnen. Vielleicht ist der »Gehirncode« nicht nur ein Satz von Regeln für Neuronen, sondern ein Verfahren, wie sich Gehirne mit der Welt verbinden. Intelligenz könnte sich durchaus als ein Attribut der vernetzten Welt erweisen und nicht nur als Attribut von Menschen. Die Frage ist nicht mehr, wann die KI end-
11. Smart oder: Was ich von meinem iPhone lernen kann
lich so intelligent oder sogar intelligenter als der Mensch wird, sondern wann Gruppen, Organisationen, Institutionen, die Gesellschaft und die Welt smart statt dumm werden. Superintelligenz und Transhumanismus haben vielleicht gar nicht viel mit Menschen zu tun, sondern eher mit Netzwerken von Menschen und Nicht-Menschen, die zusammenarbeiten, mit einer neuen Weltordnung, die man als globale Netzwerkgesellschaft bezeichnen könnte.
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12. Network Publicy Governance und Cyber-Sicherheit
Kaum ein Tag vergeht, an dem uns die Medien nicht mit Schlagzeilen über die neuesten Hacks und Cyber-Angriffe konfrontieren, die entweder politisch motiviert, kriminell oder beides sind und alle Bereiche der Gesellschaft betreffen. Viele dieser Angriffe sind nicht einmal neu, sondern teilweise jahrealt und wurden einfach erst kürzlich entdeckt und gemeldet. Es ist daher vernünftig anzunehmen, dass es viele Sicherheitsverletzungen gibt, von denen wir nicht wissen und aus verschiedenen Gründen vielleicht auch nie erfahren werden. Zumindest im Hinblick auf das, was wir wissen, wurden die Kosten von Cyber-Kriminalität und Cyber-Angriffen auf Hunderte von Milliarden Euro geschätzt, ganz abgesehen von den anderen schädlichen Auswirkungen, zum Beispiel dem Verlust des Vertrauens in die Effektivität unserer Strafverfolgungs- und Sicherheitsinstitutionen. Es hat sich gezeigt, dass traditionelle Strafverfolgungs- und Sicherheitsmaßnahmen nicht funktionieren, wenn es darum geht, Cyber-Kriegsführung, Cyber-Kriminalität und Cyber-Terrorismus zu verhindern oder zu bekämpfen. So ist es beispielsweise oft schwierig, den Tatort, die verwendeten Waffen oder Werkzeuge zu finden, den angerichteten Schaden zu bewerten oder die Verantwortlichen zu ermitteln. Und selbst wenn es möglich ist, den Täter zu ermitteln, sind diese Informationen meist nutzlos. Man hat den Eindruck, dass sich trotz enormer Anstrengungen der Strafverfolgungsbehörden und Sicherheitsinstitutionen Cyber-Kriminelle und Hacker ungestraft durch unsere Netzwerke bewegen. Natürlich gibt es viele Gründe dafür, darunter auch unsere eigene Nachlässigkeit. Wir selbst, als Infrastruktur- und Software-Anbieter oder -Anwender, sind oft ein großer Teil des Problems. Der Zustand der einfachen und normalen »digitalen Hygiene« – wie Updates, Antivirensoftware, starke Passwörter usw. – ist so erbärmlich, dass es einen zum Heulen (Wanna Cry) bringen könnte.
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Essays zur digitalen Transformation
Was können wir tun? Während neue Technologien des »Trust by Design« und neue vernetzte Organisationsmodelle langsam in den Mittelpunkt des Interesses für Cyber-Sicherheitslösungen rücken, scheinen sich die rechtlichen und ethischen Vorschläge nicht über Positionen hinauszubewegen, die im vergangenen Industriezeitalter entwickelt wurden. Die digitale Transformation scheint nicht viel an unseren Vorstellungen davon geändert zu haben, was Sicherheit bedeutet und wie Freiheit, Autonomie und Menschenwürde im Informationszeitalter zu bewahren sind. Auch wenn Ethik und Diskussionen über Werte und Normen im Kampf gegen Cyber-Kriminalität, CyberKriegsführung und Cyber-Terrorismus an der Front nur nebensächlich scheinen mögen, spielen sie doch eine sehr wichtige Rolle in den grundlegenden regulativen Rahmenbedingungen, die Strafverfolgungs- und Sicherheitsstrategien bieten. Deshalb ist es an der Zeit, einen kritischen Blick auf die Ethik im Hinblick auf die Cyber-Sicherheit zu werfen. Wenn Werte und Normen nicht von Gott oder seinen Stellvertretern auf der Erde stammen – einschließlich der reinen Vernunft – und wenn sie nicht fest in unserer DNA verankert sind, dann ist es zumindest plausibel, dass sie aus den Interaktionen sozialer Akteure hervorgehen. Im digitalen Zeitalter ist deutlich geworden, dass auch Technologien, Artefakte und Nicht-Menschen als soziale Akteure betrachtet werden müssen. Nicht-Menschen sind zu unseren Partnern bei der Konstruktion der sozialen Ordnung in allen Bereichen geworden. Das bedeutet, dass die latenten Handlungsangebote oder »Affordanzen« der Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) zu unseren Normen und Werten beitragen. Es ist das Netzwerk als Ganzes, das der Akteur ist, und der Akteur ist immer ein Netzwerk. Fragen wir also: Was wollen unsere nicht-menschlichen Partner, also die Netzwerke? Welches sind die Normen, die den Affordanzen der IKT innewohnen? Hier ist eine kurze Liste dessen, was man als »Netzwerknormen« bezeichnen könnte, das heißt die wichtigsten Errungenschaften der IKT, die bestimmen, wie die soziale Ordnung in einer globalen Netzwerkgesellschaft konstruiert, aufrechterhalten und verändert wird.
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Konnektivität Das Netzwerk neigt dazu, alles mit allem zu verbinden. Das ist genau das Gegenteil von dem, was geschlossene Systeme wollen. Wo geschlossene Systeme durch Hierarchie, Begrenzung, Exklusion und Reduktion ge-
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kennzeichnet sind, sind Netzwerke nicht-hierarchisch, inklusiv, verbunden, komplex und öffentlich. Konnektivität ist keine Schwäche, sondern eine Stärke. Erinnern wir uns daran, dass Paul Barrons ursprüngliches Konzept eines verteilten Netzwerks – das zur Grundlage des Internets wurde – entworfen wurde, um einem Atomangriff zu widerstehen. Das verteilte Netzwerk war eine Sicherheitsstrategie. Je größer das Netzwerk ist, also je mehr Verbindungen es hat, desto ausfallsicherer ist es. Und schließlich: Je mehr ein Netzwerk verbunden ist, das heißt je mehr Knoten eingebunden sind, desto mehr Aufwand ist nötig, um die Datenströme umzuleiten oder den Zweck des Netzwerks zu unterlaufen, da es viel mehr Knoten und Verbindungen gibt, die bewegt werden müssen.
Flow Netzwerke wollen, dass Informationen frei durch alle Knoten fließen. Fluss bedeutet, dass Informationen – wie auch alles andere, etwa Menschen, Geld, Waren usw. – sich unkontrolliert und unvorhersehbar durch das Netzwerk bewegen. Wir werden immer wieder von neuen und unvorhergesehenen Informationen überrascht werden. Jeder Versuch, Ströme zu kontrollieren, schwächt das Netzwerk oder lädt zu Workarounds und Erweiterungen in andere Netzwerke ein – das Darknet ist ein Beispiel dafür.
Partizipation Partizipation bedeutet, dass alle Knoten im Netzwerk nicht nur Durchgangswege sind, durch die sich Informationen – oder irgendetwas anderes – bewegen, sondern jeder Knoten hat auch die Fähigkeit und sogar die Pflicht, Information zu verändern, zu verbessern, zu transformieren und neu zu nutzen. Jeder Knoten im Netzwerk ist ein Akteur, eine Informationsquelle, ein Beitrag zum Ganzen und nicht nur eine Funktion oder eine Blackbox. Partizipation macht nicht nur die Informationsflüsse, sondern auch die Informationsinhalte unvorhersehbar und unkontrollierbar.
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Transparenz Transparenz bedeutet, dass die Quellen, die Zuverlässigkeit und die Verwendung von Informationen allen bekannt sind, nichts wird versteckt: der berühmte »gläserne Mensch«. Publicy statt Privatheit ist heute der Default-Zustand. Die Transparenz ist symmetrisch. Das Netzwerk duldet oder ermöglicht keine asymmetrische Transparenz. Wenn überhaupt, dann ist es das, was uns all die Lecks und das Whistleblowing lehren. Jeder sollte gleich transparent sein. Transparenz ist das Gegenteil von Anonymität. Diejenigen Akteure, die auf Anonymität angewiesen sind, wie die Hackergruppe Anonymous oder die NSA, CIA, GCHQ und all die anderen, die auf Geheimhaltung und Verschleierung setzen, tragen zur allgemeinen Unsicherheit des Netzes bei und nicht dazu, die Welt sicherer zu machen. Paradoxerweise heißen sie Sicherheitsdienste, verursachen aber das Gegenteil.
Authentizität Authentizität ist mit Transparenz verwandt, richtet sich aber an die Trolle, Vandalen und Lügner und stellt die Affordanzen von Netzwerken dar, die gegen jede Form der Verschleierung wirken. Es ist ein Gemeinplatz, dass Netzwerke auf der Basis von Vertrauen funktionieren. Misstrauen ist in vernetzten Organisationen dysfunktional. Deshalb wirken Netzwerke fast automatisch gegen jede Art von Geheimniskrämerei, was auch der Privatheit als fundamentales Recht entgegenwirkt. In der machiavellistischen Welt der bürokratischen Hierarchien und Informationsknappheit ist Misstrauen normal und vielleicht sogar überlebensnotwendig; in vernetzten, partizipativen und transparenten Netzwerken ist das nicht mehr der Fall. Wer man bei Facebook ist, ist so ziemlich genau der, der man tatsächlich ist, und wenn dies nicht der Fall sein sollte, gerät man früher oder später in Schwierigkeiten.
12. Network Publicy Governance und Cyber-Sicherheit
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Flexibilität Netzwerke sind niemals stabil, auch wenn sie so erscheinen mögen. Anders als geschlossene Systeme bestehen offene Netzwerke nicht aus Elementen, die klar definierten Funktionen innerhalb eines Ganzen untergeordnet sind. Jeder Akteur in einem Netzwerk ist in der Lage, neue Verbindungen zu knüpfen, alte zu verändern, unterschiedliche Rollen einzunehmen und das Netzwerk entweder zu erweitern oder zurückzuziehen. Netzwerke haben keine klaren Grenzen, die definieren, was sie sind, sondern definieren sich laufend neu. Sie sind offen für Veränderungen und Umgestaltungen in viele Richtungen. Sie integrieren oft verschiedene Identitäten und Zwecke. Flexibilität bedeutet, dass Innovation und Transformation mehr geschätzt werden als Nachhaltigkeit und feste Handlungsprogramme. Nicht was man ist, sondern was man werden kann, ist handlungsleitend und motivierend.
Was bedeuten die oben kurz beschriebenen Netzwerknormen für organisatorische und technische Cyber-Sicherheitsstrategien? Es könnte sein, dass die gegenwärtigen Versuche, traditionelle Normen und Werte in einer globalen Netzwerkgesellschaft wieder einzuführen, den Netzwerknormen zuwiderlaufen, die die Konstruktion sozialer Ordnung heute tatsächlich leiten, und dass dies ein Grund dafür ist, warum viele Cyber-Sicherheitsstrategien nicht effektiv zu sein scheinen. Wenn unser Bekenntnis zu normativen Prinzipien, die aus dem Industriezeitalter stammen, die Bemühungen behindert, mit den heutigen Bedrohungen angemessen umzugehen, dann befinden wir uns in einem ethischen Konflikt. Vielleicht sollten wir darüber diskutieren, was gut und böse bedeutet, wenn es um die Gestaltung von Netzwerken geht, bevor wir versuchen, die Bösewichte mit den Waffen und Regeln vergangener Tage zu jagen.
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13. Digitale Transformation – eine Herausforderung für Führung
Von Digitalisierung zu digitaler Transformation Nachdem in den letzten Jahren in vielen Unternehmen große Anstrengungen im Bereich der Digitalisierung unternommen und viel investiert wurde in standardisierte Datenhaltung und die Nutzung neuer Technologien, rückt seit einiger Zeit das Thema der digitalen Transformation in den Fokus. Während Digitalisierung eigentlich nichts anderes als die Übersetzung irgendwelcher analoger Werte in Bits und Bytes und damit eine eher technische Angelegenheit ist, meint digitale Transformation – ein Begriff übrigens, den wir erst seit etwa 2014 kennen – einen kulturellen Veränderungsprozess, der weit über die Nutzung von digitalen Tools und Technologien hinausgeht. Kern digitaler Transformation ist Konnektivität und die zunehmende Organisation unserer Welt in Netzwerken. Die dominierende Organisationsform in allen Bereichen der Gesellschaft sind nicht mehr geschlossene, top-down gesteuerte Systeme mit klaren Rollen und Funktionen, sondern offene, agile, sich ständig im Wandel befindliche, selbstorganisierende Netzwerke. Im Kern ist digitale Transformation damit ein Veränderungsprozess, der Organisationsstrukturen und -kulturen verändert. Digitale Transformation geht zudem mit einer Reihe neuer Werte und Normen, einer neuen Grundhaltung Kunden und Mitarbeitenden gegenüber und einer neuen Unternehmenskultur einher. Kundinnen und Mitarbeitende wünschen sich heute offene Kommunikation, Transparenz und Partizipation. Kommunikation soll offen, selbstkritisch, ehrlich und dialogbereit sein. Zudem ist Transparenz gefordert: Wer heute als Einzelperson, insbesondere in einer Führungsposition, oder als Organisation nicht transparent ist, ist suspekt. Und schließlich Partizipation: Kunden und Mitarbeitende möchten heute auf Augenhöhe kommunizieren und von Beginn weg in Prozesse und Entscheide einbezogen werden.
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Neue Leadership-Handlungsfelder Dieser Veränderungsprozess impliziert neue Formen von Führung. Führungspersonen müssen sich mit der Tatsache auseinandersetzen, dass sich Netzwerke nicht top-down steuern lassen, und sich darauf einlassen, dass permanent Interaktionen und Kräfte zur Wirkung kommen, die sich nicht nach den Organisationsmustern der Hierarchie richten. Da digitale Transformation heute als sehr umfassender Veränderungsprozess betrachtet wird, der die drei Handlungsebenen Technologie, Prozesse und Kultur umfasst, haben sich auch die Anforderungen an Führungspersonen und strategische Gremien verändert. Organisationen unternehmen heute in der Regel große Anstrengungen auf der Ebene von Technologie und Daten: die richtigen, vollständigen und standardisierten Daten an einem Ort zu haben, über Echtzeit-Informationen zu verfügen, mit gemeinsamen strukturierten Datenmodellen zu arbeiten und neue Technologien wie digitale Planungstools, mobile Cloud-Lösungen für Projektplanung oder vernetzte Geräte zu nutzen. Das ist nicht ganz trivial, aber machbar. Gegenwärtig werden in den meisten Organisationen in diesem Bereich auch die meisten finanziellen und personellen Ressourcen investiert. Eine zweite Ebene digitaler Transformation ist jene der Prozesse. Auf dieser Ebene sind Aufgaben angesiedelt wie die digitale Durchgängigkeit der Prozesse, integrierte, modellbasierte Kollaboration, Automation in der Ausführung, intelligente Logistik oder digitale Service- und Kommunikationskanäle. Das ist schon etwas anspruchsvoller in der Umsetzung. Die wichtigste Ebene digitaler Transformation ist gleichzeitig auch jene, die am wenigsten Beachtung erfährt, vielleicht weil sie die am schwierigsten Umzusetzende ist. Es ist die Ebene der Digitalkultur, des Mindset. Dabei geht es um die Erarbeitung einer organisationsinternen oder noch besser einer branchenübergreifenden Vision, die Antworten liefert auf die Frage, wohin die gemeinsame Reise auf dem Hintergrund der digitalen Transformation geht. Es geht dann um die Ableitung einer entsprechenden Digitalstrategie für die eigene Organisation, um Überlegungen zu digitaler Governance oder ganz generell um kreative Ansätze, wie die Leidenschaft für Veränderung in der Organisation auf Dauer hochgehalten werden kann. Diese Handlungsebene wird in den meisten Unternehmen heute noch wenig berücksichtigt, wäre aber die entscheidende, um die beiden andern erfolgreich zu implementieren.
13. Digitale Transformation – eine Herausforderung für Führung
Zukunftskompetenzen Dass der rasch voranschreitende technologische Wandel zu tief greifenden Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt führt, ist bekannt. Es gibt unzählige Studien über die Auswirkungen dieser Veränderungen. Dabei gibt es vereinfacht gesagt zwei Lager: Die einen prognostizieren einen ersatzlosen Wegfall der Hälfte der heutigen Jobs aufgrund der Digitalisierung und Automatisierung in den nächsten 30 Jahren mit der Folge, dass wir uns mit Themen wie Grundeinkommen und sozialer Solidarität in ganzer neuer Dringlichkeit auseinandersetzen müssen. Andere glauben an das Entstehen einer Vielzahl neuer Berufe, die insbesondere humane Fähigkeiten wie Beraten, Begleiten, Umsorgen und Vernetzen ins Zentrum stellen. Auf diesem Hintergrund wird die Auseinandersetzung mit dem Thema »Future Work Skills« zu einem weiteren dringenden Handlungsfeld für Führungskräfte. Es ist vorrangige Führungsaufgabe, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, welche Kompetenzen eine Organisation auf dem Hintergrund digitaler Transparenz benötigt. Die University of Phoenix hat vor ein paar Jahren eine gleichermaßen interessante wie zum Nachdenken anregende Kompetenzübersicht zusammengestellt. Interessanterweise finden sich in dieser Liste keine fachlichen oder technischen Kompetenzen, sondern vielmehr Dinge wie: • •
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Sensemaking: die Fähigkeit, Dingen eine tiefere Bedeutung oder Wichtigkeit beimessen zu können, moralische Urteilsfähigkeit Critical Thinking: die Fähigkeit, Dinge zu Ende zu denken. Mit dem Wegfall verbindlicher übergeordneter Autoritäten stehen wir vor der Schwierigkeit, selbst über Wahrheit und Unwahrheit, Fake oder Nicht-Fake entscheiden zu müssen in einer Welt, in der kein gesellschaftlicher Konsens mehr darüber besteht, welche Werte und welches Wissen allgemeinverbindlich gelten sollen. Novel, adaptive Thinking: die Fähigkeit, immer wieder Dinge neu zu denken – auch nach vielen Jahren in der gleichen Organisation Social Intelligence: soziale Intelligenz und Empathie Cognitive Load Management: die Fähigkeit zur Differenzierung, zur Unterscheidung von Wichtigem und Unwichtigem Cross Cultural Competency: die Fähigkeit, in heterogenen Teams zu arbeiten. Untersuchungen zeigen, dass solche Gruppen am intelligentesten und innovativsten sind, in denen Menschen verschiedenen Alters, mit
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unterschiedlichen Fähigkeiten und Arbeits- und Denkmustern sowie aus diversen Disziplinen zusammenarbeiten. Virtual Collaboration: die Fähigkeit, trotz räumlicher Trennung effizient zusammenzuarbeiten
Finnland hat übrigens auf diese neuen Anforderungen reagiert und ist daran, das Schulsystem umzustellen. Die Fächer wie Mathematik, Sprachen oder Geografie werden in den Hintergrund gerückt und Kompetenzen wie Kommunikation, Kreativität, kritisches Denken und Zusammenarbeit ins Zentrum gestellt.
Fazit Digitale Transformation ist, das wird oft vergessen, viel mehr als Internet und Social Media, mobile Anwendungen oder Sensoren, mehr als Big Data und Predictive Analytics. Digitale Transformation ist im Kern kein technologischer, sondern ein kultureller Veränderungsprozess, bei dem Technologie lediglich als Katalysator wirkt. Digitale Transformation ist deshalb auch im Gesundheitswesen nicht in erster Linie Aufgabe der IT, sondern eine Führungsaufgabe, da es im Kern nicht um die Implementierung neuer Hardund Software, sondern um das Überdenken von Rollen und Kompetenzen, das Öffnen von Organisations- und Fachgrenzen geht. In vielen Organisationen gibt es heute Innovationsabteilungen, die an diesen Themen arbeiten, doch auf strategischer Unternehmensebene ist das Wissen um die transformativen Prozesse gering. Das Thema »Digital Governance« zum Beispiel hat die meisten Geschäftsleitungen und Aufsichtsräte im Gesundheitswesen noch nicht erreicht. Solange aber keine gemeinsame Vision über ein vernetztes Gesundheitswesen unter allen Akteuren vorhanden ist und man stattdessen diese offenen Fragen an die Technologie delegiert, wird das schiefgehen. Wir werden weiterhin viel Geld in Technologieprojekte stecken, die letztlich zu gar nichts führen.
14. Fake News oder: Die Gamification der Politik
Beginnen wir mit dem Eingeständnis, dass Nachrichten schon immer gefälscht waren. Es gibt kein Medienprodukt, egal um welches Medium es sich handelt, das nicht zumindest gefiltert, gerahmt und formatiert ist. Filtern bedeutet, dass immer einige Informationen ausgewählt und andere Informationen herausgefiltert werden. Rahmung bedeutet, dass die aus allen möglichen Informationen ausgewählten Informationen in eine Art Interpretationsrahmen oder Kontext gestellt werden, der das Geschehen, das heißt eine Art Narrativ bildet, worin die Information einen sinnvollen Platz bekommt. Der Rahmen entscheidet, ob es sich um einen Unfall, einen terroristischen Akt, einen Streich oder eine Werbekampagne handelt. Formatierung bedeutet, dass ausgewählte und gerahmte Informationen immer auf eine bestimmte Art und Weise präsentiert werden – als Bild, Text, Video, Audio usw. –, die alle ihre eigenen Regeln für Produktion, Verteilung und Konsum haben. Filtern, Rahmen und Formatieren schaffen eine Lücke zwischen dem, was »wirklich« passiert ist, und dem, was die Medien präsentieren. Das ist eine Tatsache. Und es bleibt eine Tatsache, auch wenn professionelle Journalisten durch Leserreporter ersetzt werden, die in Echtzeit und vor Ort ihre spontanen und zufälligen Fotos, Videos und Kommentare auf Plattformen wie YouTube, Twitter, Facebook usw. hochladen. Die Realität der Medien ist nicht die Realität. Was tun wir also dagegen? Bis zum Aufkommen von Post-Truth-Kultur und Fake News – früher als Propaganda bekannt – gab es anscheinend keinen dringenden Bedarf, dem entgegenzuwirken. Die Experten, Autoritäten, Gatekeepers und Institutionen des Wissens und der Wahrheit waren fest an ihrem Platz oben in der sozialen Wissenshierarchie und funktionierten recht gut. Wir konnten die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« von der »Bild«- Zeitung unterscheiden, und es gab tatsächlich einen Unterschied. Obwohl wir wussten, dass die Medien uns nicht die Wahrheit wiedergaben, war zumindest das, was wir bekamen, gut genug, um vernünftige Entscheidungen in der Po-
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litik zu treffen und mit unseren Nachbarn auszukommen. Das ist nicht mehr der Fall. Wie schlichten wir Streitigkeiten und erreichen einen Konsens, der kooperatives Handeln ermöglicht, wenn, wie David Weinberger (Too Big to Know, 2013) es ausdrückt, jede Tatsache im Internet eine gleiche und entgegengesetzte Tatsache hat, um sie zu widerlegen? Welche Funktion haben Werte wie Objektivität und Wahrheit in einer anerkannten Post-TruthKultur? Es scheint, dass die einzige Möglichkeit, Streitigkeiten beizulegen, darin besteht, die größtmögliche Unterstützung für eine Position zu motivieren, für jede Position, völlig unabhängig davon, wie hoch ihr Wahrheitswert ist. Und was ist der beste Weg, um Unterstützung zu motivieren, wenn nicht der Appell an starke Emotionen – Emotionen wie Frustration, Wut, moralische Empörung und Siegesjubel? Darum geht es beim öffentlichen Diskurs in einer Post-Truth-Kultur und bei Fake News, es ist die Gamification der Politik. Was zählt, ist nicht der Inhalt einer Nachricht, sondern es sind die Emotionen, die eine Nachricht auslöst. Je stärker die Emotion, desto mehr Post-Truth-»Wahrheit« hat eine Nachricht. Traditionelle Mechanismen, um verbindliche Entscheidungen zu treffen und die Macht in der Gesellschaft gerecht zu verteilen, werden in der Post-Truth-Welt dysfunktional. Gewinnen, einen Punkt machen, ein Zeichen setzen: Das ist alles, was zählt, auch wenn es auf Kosten von sozialer Gerechtigkeit, der Umwelt und Sicherheit geht. Das macht das Spiel lustiger und spannender, denn im Spiel gibt es bekanntlich keinen Mittelweg, keinen Konsens und keine kooperative Position. Es geht ausschließlich um Gewinnen oder Verlieren. Deliberation, Konsensfindung und kooperative Problemlösung sind langweilig. Im Gegensatz zum Fußball ist eine konstruktive und problemorientierte Politik langweilige, harte Arbeit. Was die postmoderne Feier der Vielfalt und die Politik der Anerkennung uns gelehrt haben, ist, dass Differenz viel mehr Spaß macht als Gemeinsamkeit, vorausgesetzt natürlich, eine Gruppe hat genug Macht, um zu bekommen, was sie will. Die Basis von Gemeinschaft und Solidarität, die traditionell auf der Verpflichtung beruhte, Tatsachen anzuerkennen, ist verloren gegangen. Es stellt sich die Frage, wie wir Gemeinschaft in einer radikal pluralistischen »winner takes all, who cares what the truth might be«-Situation aufbauen können. Weinberger empfiehlt fünf Wege, damit umzugehen. Erstens: Ein offener Zugang zu Informationen ist notwendig, aber nicht ausreichend. Es muss auch Zugang zu vielen verschiedenen Arten von Filtern geben, die es erlauben, Informationen zu sichten, auszuwählen, zu bündeln und auf nicht vor-
14. Fake News oder: Die Gamification der Politik
hersehbare und unkontrollierbare Weise zu präsentieren. Mit dem Internet kann man diese Forderung als gegeben betrachten. Das scheint eigentlich eher das Problem zu sein als die Lösung. Deswegen müssen nicht nur Informationen, sondern auch Filter und Suchmaschinen öffentlich zugänglich sein oder zumindest einer öffentlichen Kontrolle unterliegen. Diese Forderung äußert sich in den vielen Appellen für Transparenz und Verständlichkeit von algorithmischen Entscheidungen und Datennutzung. Zweitens reicht es nicht aus, Informationen zu finden und zu verstehen, warum bestimmte Informationen präsentiert werden. Wir müssen Informationen bewerten, kuratieren und klassifizieren, um die Fake News von den echten Nachrichten zu trennen. Wikipedia beweist, dass eine gemeinschaftliche Qualitätskontrolle funktionieren kann. Auch wenn Formen der Governance nötig sind, bedeutet dies nicht unbedingt eine Rückkehr zu Hierarchien. Drittens wird die Transparenz über die Quellen von Informationen und die Prozesse der Aggregation durch Rückverfolgung mittels Links die Absichten hinter der Präsentation und Verwendung von Informationen offenlegen. Das Internet macht es möglich, alle Informationen über Links zu ihren Quellen zurückzuverfolgen. Hyperlinks dienen dann als Mittel der Transparenz und des Fact Checking. Die verschiedenen Fact-Checking-Dienste sind ein Beispiel dafür. Viertens sollten nicht nur Informationen, sondern auch Institutionen und Organisationen zu Netzwerken verbunden werden. Vernetzte Organisationen begünstigen verteilte Entscheidungsfindung, Vertrauen, offene Kommunikation und wirken Fake News, Verschwörungstheorien und Propaganda entgegen. Netzwerke sind weniger anfällig, geschossene Gemeinschaften zu werden, die Filterblasen und Echokammern bilden. Netzwerke werden durch laterale Formen der Regulation statt durch vertikale, von oben nach unten gerichteter Kontrolle geführt. Wenn staatliche Stellen mit privaten Akteuren, Gemeinden, Non-Profit-Organisationen und der Zivilgesellschaft über lokale und nationale Grenzen hinweg vernetzt sind, wird es für isolierte Akteure schwieriger, Fehlinformation erfolgreich zu verteilen und zu behaupten. Fünftens müssen Netzkompetenz oder Medienkompetenz gelehrt und gelernt werden: Wie man Filter benutzt, die Qualität von Informationen bewertet, an verteilten Entscheidungen teilnimmt und die Fallen der politischen Gamification vermeidet, ist eine Kompetenz, die wir erwerben, fördern und schützen müssen. Keine Regierungsbehörde oder Fact-CheckingOrganisation kann uns die Verantwortung abnehmen. Natürlich kann es helfen, wenn Regierungen und andere Organisationen Fact-Checking-Dienste anbieten. Aber letztlich sind wir für das verantwortlich, was wir glauben. Die-
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se fünf Maßnahmen laufen der Gamification der Politik zuwider und können uns helfen, unseren Weg durch eine Welt zu finden, in der die Wahrheit, so scheint es, keine Rolle mehr spielt und nur noch das Spiel zählt.
15. Gibt es so etwas wie »informationelle Privatheit«?
Der Begriff »Information« ist nicht sehr informativ. Das liegt daran, dass es so viele verschiedene Bedeutungen des Wortes gibt. Fast jede wissenschaftliche Disziplin hat ihre eigene Definition, von der Physik und Chemie über die Biologie, Informatik, Mathematik und Philosophie bis hin zur Soziologie, die schon lange von einer »Informationsgesellschaft« spricht. Was bedeutet also Information? Was ist Information? Offensichtlich müssen wir uns entscheiden, das heißt viel von dem herausfiltern, was über das Thema diskutiert werden kann, und diejenigen Bedeutungen des Begriffs auswählen, die für unseren Zweck nützlich sind: nämlich den Versuch zu verstehen, was mit informationeller Privatheit gemeint ist. Wir sprechen lieber von Privatheit als von Datenschutz, da es viele Daten gibt, die geschützt werden sollten, aber nichts mit persönlicher Information zu tun haben. Hier ist das englische Wort »privacy«, zu Deutsch Privatheit, nützlicher. Nach der klassischen Definition von Alan Westin ist Privatheit »die Fähigkeit, selbst zu bestimmen, wann, wie und in welchem Umfang Informationen über uns an andere weitergegeben werden«. Diese Definition hat mehrere wichtige Aspekte. Erstens hat Privatheit mit Information zu tun. Diese Information muss in irgendeiner Weise »über« uns sein, das heißt über uns »persönlich«. Privatheit hat also mit einer bestimmten Art von Information zu tun, nämlich mit »persönlicher Information« oder mit »persönlich identifizierbarer Information« (PII). Eine weitere wichtige Implikation von Westins Verständnis von Privatheit ist, dass es nicht die Information selbst ist, die am wichtigsten ist, wenn es um Privatheit geht, sondern vielmehr die »Fähigkeit zu bestimmen«, welche Information an andere weitergegeben wird. Die Privatheit liegt also nicht in erster Linie in einem bestimmten Informationsgehalt, etwa in Information, die eine Person irgendwie so intim beschreiben würde, dass er oder sie sie nicht mitteilen könnte, ohne die Privatheit zu
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verlieren. Im Gegenteil: Es scheint, dass die Privatheit vor allem in der Freiheit liegt, Information zu kommunizieren oder nicht zu kommunizieren, was auch immer der Gehalt der Information sein mag. Man könnte zum Beispiel argumentieren, dass unser Genom so persönlich und intim ist, dass jede Mitteilung darüber an andere automatisch eine Verletzung der Privatheit darstellen würde. Die Implikation von Westins Definition ist jedoch, dass wir sehr wohl entscheiden könnten, dies zu tun: Wenn wir wollten, könnten wir unser Genom im Internet veröffentlichen, damit die Welt es sehen kann, und dies würde keine Verletzung der Privatheit darstellen. Wenn aber jemand anderes, zum Beispiel unser Arzt, dies ohne unsere Zustimmung tun würde, dann wäre das natürlich eine Verletzung der Privatheit. Privatheit ist also eine Frage der Zustimmung, der Entscheidung, der Freiheit und der Wahl und liegt nicht in einer bestimmten Information. Privatheit besteht demnach in erster Linie im Willen, im Akt der Entscheidung, Information zu entäußern oder nicht. Nur wenn meine freie Entscheidung, Informationen zu kommunizieren, verletzt wird, können wir von einer Verletzung meiner Privatheit sprechen. Schließlich geht Westins Definition davon aus, dass Privatheit im Wesentlichen mit Kommunikation zu tun hat: Privatheit ist das Recht, zu kommunizieren oder nicht zu kommunizieren. Ein Recht auf Privatheit solcher Art ist aber nur sinnvoll, wenn Kommunikation eine Option, das heißt etwas ist, wofür wir uns entscheiden können. Das bedeutet, dass Watzlawick falsch gelegen haben muss, als er behauptete, dass »wir nicht nicht kommunizieren können«. Wenn der Mensch im Wesentlichen sozial ist und die menschliche Existenz durch Kommunikation konstituiert wird, würde dies die Privatsphäre, wie Westin sie definiert, unmöglich machen. Nur wenn Information über eine Person etwas ist, das nicht notwendigerweise sozial und kommunikativ konstituiert ist, kann Privatheit möglich sein. Diese drei Annahmen, 1) Privatheit hat mit Information einer spezifischen und einzigartigen Art zu tun, 2) Privatheit ist ein Akt des Willens, 3) Privatheit basiert auf der Möglichkeit, nicht zu kommunizieren, sind alle zumindest fragwürdig und rechtfertigungsbedürftig. Erstens ist es schwierig, irgendeine spezifische Art von Information zu finden, die so intim und so persönlich ist, dass sie nicht ohne Verlust der Privatheit kommuniziert werden kann. Es ist zweitens auch schwierig, die Privatheit auf einen Akt des Willens zu reduzieren, da jeder, der wollte, sich leicht dafür entscheiden könnte, ganz auf sie zu verzichten. Wenn das möglich wäre, würde es die Annahme eines grundlegenden »Rechts« auf Privatheit sinnlos machen. Schließlich ist es zumindest fraglich, ob es irgendeine Art von Information geben kann, die nicht durch
15. Gibt es so etwas wie »informationelle Privatheit«?
Kommunikation und in Kommunikation konstituiert ist. Der Mensch ist ein soziales Wesen, und Identität, auch »persönliche« Identität, ist ein durch und durch soziales Konstrukt. Ohne Sprache und Kommunikation sind wir gar nichts. Wenn Watzlawick recht hat und wir nicht nicht kommunizieren können, dann ist Nicht-Kommunikation keine Option. Man kann, so viel man will, auf einem fundamentalen Recht auf Privatheit beharren; dies wird – wie alle anderen Informationen – von anderen entweder zustimmend oder ablehnend zur Kenntnis genommen. Deshalb wird die Notwendigkeit, die drei Annahmen, auf denen die Idee einer »informationellen Privatheit« basiert, zu rechtfertigen, umso größer, je mehr Westins Definition gesetzlich verankert wird – zum Beispiel in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und der neuen europäischen Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO), die beide die Privatheit zu einem unantastbaren, unveräußerlichen Recht erklären. Ein wichtiger neuerer Versuch, dies zu tun, ist Floridis »ontologische Interpretation der informationellen Privatheit« . Im Unterschied zu vielen, die Privatheit als ein instrumentelles Recht betrachten, dessen Wert von anderen Rechten, zum Beispiel dem Recht auf Eigentum oder Sicherheit, abgeleitet wird, nimmt Floridi eine starke Position für Privatheit ein. Er geht davon aus, dass Privatheit kein instrumentelles Recht ist, das seinen Wert von Rechten wie Freiheit, Sicherheit, Eigentum usw. ableitet. Er betrachtet die Privatheit als ein fundamentales und unveräußerliches Recht an sich, dessen Bedeutung in der heutigen globalen Netzwerkgesellschaft in erster Linie die informationelle Selbstbestimmung ist. Floridi argumentiert, dass die informationelle Privatheit nur in dem Maße als unveräußerliches und fundamentales Recht angesehen werden kann, indem der Mensch nicht nur Information über sich selbst besitzt, sondern vielmehr seine Information ist. Menschen sind nach Floridi informationelle Organismen oder »inforgs«, die wesentlich durch ihre Information konstituiert werden. Das macht Verletzungen der Privatheit eher zu einer Entführung als zu einem Diebstahl – denn wenn persönliche Informationen gestohlen werden, ist es die Person selbst, die »gestohlen« wird und nicht nur etwas, das die Person besitzt. Natürlich sollte dies nicht so ausgelegt werden, dass die Privatheit verletzt wird, wenn eine Person freiwillig zustimmt, Informationen über sich selbst preiszugeben. In der Tat ist es das Recht, wie Westin es ausdrückt, zu entscheiden, »wann, wie und in welchem Umfang Informationen über uns an andere weitergegeben werden«, das die Privatheit ausmacht. Nach der strengen Auffassung von Privatheit als fundamentalem Recht von Individuen, die durch bestimmte Informationen in ihrer Existenz konstitu-
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iert sind, gibt es jedoch Grenzen der Möglichkeiten, Information freiwillig zu entäußern. Nicht alle Informationen sind konstitutiv für eine Person, sondern nur einige von ihnen. Es ist jedoch nicht klar, welche Informationen dies sind und ob die Privatheit in den Informationen selbst besteht oder vielmehr in der Entscheidung, ob Informationen offengelegt werden oder nicht. Wenn die Privatheit von bestimmten Informationen abhängt, etwa von biometrischen Informationen, medizinischen Aufzeichnungen, finanziellen Informationen oder Autorisierungsinformationen wie Identitätsnummern, Passwörtern usw., dann gibt es keine Situation, in der die Offenlegung dieser Informationen nicht eine Verletzung der Privatheit bedeuten würde. Wenn Floridi die Offenlegung von Information als »Entführung« statt als Diebstahl betrachtet, dann ist jede Verwendung von Information, die konstitutiv für die Existenz des »inforgs« ist, notwendigerweise eine Verletzung der Privatheit. Dies auch unabhängig davon, ob eine Person dieser Verwendung zustimmt oder nicht. Denn mit Information ist es wie mit dem Körper: Man kann seinen Körper nicht frei an andere abgeben, damit diese darüber verfügen können. Ich kann vielleicht meine Arbeitskraft an einen Arbeitgeber verkaufen, aber ich kann nicht meine »unantastbare Persönlichkeit« weggeben. Wenn die unantastbare Persönlichkeit und damit die Menschenwürde aus bestimmten Informationen besteht, wie Floridi zu behaupten scheint, dann müssen diese Informationen geheim bleiben und können niemals preisgegeben werden, weder mit noch ohne Zustimmung. Dies ist es, was das fundamentale Recht auf Privatheit bedeutet. Floridis ontologische Auslegung der informationellen Privatheit könnte auch so interpretiert werden, dass es nicht irgendeine spezifische Information ist, die das Wesen einer Person ausmacht, sondern das Recht und die Fähigkeit einer Person, frei zu entscheiden – wie Westin es ausdrückt –, »wann, wie und in welchem Umfang« irgendeine Information über die Person kommuniziert wird. Die Betonung liegt nun auf der Entscheidung, auf der freien Wahl, zu kommunizieren, und nicht auf irgendeiner bestimmten Information. Das bedeutet, dass es so etwas wie Informationen, die an sich privat sind, nicht gibt. Unabhängig davon, ob jemand seine finanzielle Information, medizinische Daten, sein Genom, Passwörter usw. preisgibt, wird Privatheit nur dann verletzt, wenn die Preisgabe nicht frei gewählt ist. Es ist also ohne Verletzung der Privatheit möglich, alles offenzulegen. Es ist zum Beispiel denkbar, dass sich jemand freiwillig einer universellen Überwachung unterwirft, ähnlich wie beim sogenannten »Reality TV«. Es ist, nebenbei bemerkt, interessant, dass im Informationszeitalter »Big Brother« schon längst kein
15. Gibt es so etwas wie »informationelle Privatheit«?
Horrorszenario mehr bezeichnet, sondern ein populäres Format des Medienexhibitionismus. Wenn jemand also freiwillig die totale Überwachung akzeptiert und dies seine freie Entscheidung ist, gibt es kein Problem mit der Privatheit. Wenn es in einem solchen Fall vollständiger Offenlegung kein Problem mit der Privatheit gibt, dann kann es auch kein grundlegendes und unveräußerliches Recht auf Privatheit geben. Die Menschenwürde kann nicht auf Privatheit beruhen, sondern nur auf Freiheit. Freiheit ist das Recht, sich dafür zu entscheiden, nicht »privat« zu sein. Niemand kann sagen, dass jemand nicht alles über sich preisgeben kann, was er möchte. Es gibt ein Recht auf freie Wahl, aber kein Recht auf Privatheit. Natürlich könnte man argumentieren, dass eine Entscheidung, sich anderen vollständig zu offenbaren, irrational ist, da dies darauf hinauslaufen würde, sich aus freien Stücken zu entscheiden, nicht frei zu sein, sich sozusagen in die Sklaverei zu begeben. Dies wäre in der Tat der Fall, wenn eine Person nur mit ihrem Körper identifiziert würde. Die ontologische Interpretation der informationellen Privatheit identifiziert jedoch die unantastbare Persönlichkeit mit Information. Es gibt einen grundlegenden Unterschied zwischen Information und Körper. Information kann unbegrenzt kopiert, übertragen, weitergegeben usw. werden, ohne dass sie aufhört, an vielen anderen Orten und Situationen frei verfügbar zu sein. Im Gegensatz zu physischen Existenzformen ist Information frei von den Zwängen von Zeit und Ort. Ich kann alle meine Information weitergeben und trotzdem über sie verfügen. Eine Person kann also alles über sich preisgeben, ohne dass sie aufhört, so handeln zu können, wie sie will, dorthin zu gehen, wo sie will, mehr Information zu produzieren, alte Information zu verändern usw. Die vollständige Offenlegung von Information kommt also nicht so etwas wie einem Selbstmord oder der Sklaverei gleich, wie es die vollständige Entfremdung des Körpers wäre. Offensichtlich kann man nicht körperlich entführt werden und trotzdem frei herumlaufen. Informationelle Wesen sind ontologisch verschieden von physischen Wesen. Floridi definiert den Menschen als »informationellen Organismus« und fährt dann fort, die informationelle Privatheit in Analogie zum Körper zu definieren, ohne die wesentlichen Unterschiede zwischen physischen Körpern und Information zu berücksichtigen. Wenn Information etwas ist, das ohne Kommunikation und Offenlegung in irgendeiner Form nicht konstruiert und verwendet werden kann, könnte es sein, dass die menschliche Identität und die unverletzliche Persönlichkeit eine Konstruktion der Kommunikation sind und daher von der Offenlegung von Informationen anstelle von Geheimhaltung abhängen. Je mehr wir über eine Person wissen, desto schwieriger wird es,
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sie zu diskriminieren und unmenschlich zu behandeln. Wenn das so ist, wie kann dann die Privatheit ein eigenes und unveräußerliches Grundrecht sein und ist nicht vielmehr ein kontextabhängiger instrumenteller Wert? Es mag sein, dass »Inforgs« genau die Wesen sind, die überhaupt keine Privatheit brauchen, um zu gedeihen. Es mag sein, dass solche Schlüsselbegriffe des zeitgenössischen Privatheitsdiskurses, wie »informationelle Privatheit« und »informationelle Selbstbestimmung«, Widersprüche in sich selbst sind und wir anfangen sollten, nach anderen Begriffen zu suchen, um zu beschreiben, was Autonomie, Freiheit und Würde in der heutigen globalen Netzwerkgesellschaft bedeuten könnten.
16. Der Wert von Privatheit oder: Big Brother, wir lieben dich
Das vielleicht wichtigste Vermächtnis von Foucault und der Postmoderne ist, dass sie das Geschäft der Kritik viel schwieriger und komplizierter gemacht haben, als es in den Tagen war, als die Gesellschaft in Arbeiter und Kapitalisten aufgeteilt war und alle Arbeiter weiße Hüte und alle Kapitalisten schwarze trugen. Inzwischen sind die Dinge komplizierter. Man ist vorsichtig geworden, irgendeinen kulturellen, sozialen oder politischen Wert einfach als gut oder schlecht zu betrachten, ohne zu untersuchen, inwieweit er, wenn auch unwissentlich, an einem größeren, alle Bereiche und Ebenen der Gesellschaft umfassenden Machtregime teilnimmt. Hegel hat schon vor langer Zeit darauf hingewiesen, dass der Herr und der Knecht einander brauchen. Jeder hilft, den anderen zu dem zu machen, was er/sie ist. Sie arbeiten zusammen, um ein bestimmtes Regime, wie Foucault sagen würde, von Wissen und Macht zu konstruieren und aufrechtzuerhalten, ohne das keiner von ihnen existieren könnte. Die Postmoderne teilt natürlich nicht Hegels Optimismus, dass Widersprüche durch dialektischen Fortschritt aufgelöst werden, oder gar Marx’ Glauben an die Revolution. Wenn Kritik noch möglich sein soll, dann kann sie nicht den einfachen Weg gehen, die Bösen auszusondern, sondern muss die vielen komplexen Interdependenzen offenlegen, die eine Gesellschaft in ihrer Gesamtheit ausmachen. Dass dies eine schwer zu lernende Lektion ist, zeigt der ausführliche Bericht des vom National Research Council (NRC, 2007) eingerichteten Committee on Privacy in the Information Age. Zugegeben, das Komitee versteht seinen Auftrag nicht als Ausarbeitung einer kritischen Gesellschaftstheorie. Trotzdem zielt es darauf ab, »das Bewusstsein für das Spinnennetz der Verbindungen zwischen den Handlungen, die wir vornehmen, den Richtlinien, die wir verabschieden, den Erwartungen, die wir ändern, der ›Kehrseite‹ der Auswirkungen von Richtlinien auf die Privatheit
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zu schärfen«. Das Ziel des Komitees ist es, »ein großes Bild zu malen, das die Konturen der gesamten Reihe von Interaktionen und Kompromissen skizziert« und »Veränderungen in der Technologie, in der Wirtschaft, in der Regierung und in anderen Organisationen bei der Nachfrage nach und dem Angebot von persönlichen Informationen berücksichtigt […]« (S. 20). Das Ergebnis dieses ehrgeizigen Programms ist jedoch die eher undifferenzierte Schlussfolgerung, dass die Privatheit ein unbestreitbarer und unveräußerlicher persönlicher und sozialer Wert ist, der durch das Gesetz geschützt werden muss. Diese Ansicht findet auf internationaler Ebene ihren Widerhall im Bericht des Büros des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte, The Right to Privacy in the Digital Age (2014), in dem erklärt wird, dass »die fundamentale Bedeutung und anhaltende Relevanz des Rechts auf Privatheit und die Notwendigkeit, sicherzustellen, dass es gesetzlich und in der Praxis geschützt wird, allgemein anerkannt wird« (S. 5). Die zugrunde liegende Annahme beider Berichte ist, dass – was auch immer in der Gesellschaft falsch laufen mag –, die Privatheit nicht Teil des Problems ist. Sie ist die Lösung. Eine Lösung, die um jeden Preis gegen Bedrohungen verteidigt werden muss, die sich aus der digitalen Transformation des 21. Jahrhunderts ergeben. Dies wirft mindestens zwei wichtige Fragen auf. Erstens: Welchen Wert hat die Privatheit für den Einzelnen und die Gesellschaft? Und zweitens: Warum ist die Privatheit zu einem zentralen Thema für das Verständnis der globalen Netzwerkgesellschaft geworden? Die Antwort auf die erste Frage nach dem Wert der Privatheit, so unbestritten dieser Wert zu sein scheint, wird von allen als äußerst schwierig angesehen, weil es so etwas wie Privatheit im Allgemeinen nicht gibt. Niemand kann eine allgemein akzeptierte Erklärung des Werts von Privatheit geben, abstrahiert von den vielen verschiedenen Kontexten, in denen der Verlust der Privatheit zu Schäden für Personen und für die Gesellschaft führen kann. Der Bericht des Komitees formuliert diese Situation als Paradoxon, indem darin festgestellt wird, dass Privatheit »ein schlecht definiertes, aber scheinbar gut verstandenes Konzept« ist (NRC S. 21). Trotz des »guten Verständnisses« räumt der Bericht ein, dass »die Spezifizierung des Konzepts in einer Weise, die auf einen allgemeinen Konsens trifft, eine schwierige, wenn nicht gar unmögliche Aufgabe ist […]« (S. 21). Dementsprechend stellt das Komitee fest, dass »Privatheit ein wichtiger Wert ist, der erhalten und geschützt werden muss, obwohl sie kein absolutes Gut an sich ist« (S. 308). Anstatt den Wert der Privatheit im digitalen Zeitalter auf ein absolutes Gut zu gründen, wie es Artikel 12 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte tut, geht der Aus-
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schuss den pragmatischeren Weg: Er bietet eine Liste konkreter Beispiele an, die den Wert der Privatheit veranschaulichen sollen, indem sie die nachteiligen Auswirkungen ihres Verlusts zeigen. Nach Ansicht des Komitees ergibt sich ein großer Schaden aus dem Verlust der Privatheit durch Straftaten wie Betrug, Identitätsdiebstahl und Stalking. Wenn persönliche Daten wie Name, Adresse, Telefonnummer, Sozialversicherungs- oder Kreditkartennummer usw. zugänglich werden oder gestohlen werden, kann dies Einzelpersonen schaden. Selbst wenn eine Datenschutzverletzung nicht zu einem wirklichen Schaden führt, sei es in finanzieller oder sozialer Hinsicht, kann allein das Wissen, dass Hacker Zugang zu persönlichen Daten erlangt haben, Ängste hervorrufen und Misstrauen gegenüber den Institutionen, die gehackt wurden, fördern. Während niemand bestreiten würde, dass Hacking schädlich ist, ist es zumindest fraglich, ob es sich dabei um ein Problem der Privatheit handelt. Ob Einbruch oder Hacking, etwas von jemandem zu stehlen oder Information zu missbrauchen, um Schaden anzurichten – es ist in erster Linie ein Verbrechen. Es scheint nebensächlich und bestenfalls überflüssig, eine Verletzung des Rechts auf Privatheit zu den bereits schwerwiegenden Straftaten Diebstahl und Betrug hinzuzufügen. Hinzu kommt, dass es in solchen Fällen viel eher um Datensicherheit als um Privatheit geht. Das Problem ist zweigeteilt. Auf der einen Seite gibt es die Nachlässigkeit und Verantwortungslosigkeit von Hardware-Herstellern, SoftwareEntwicklern, Internet-Service-Providern und Organisationen aller Art und auf allen Ebenen, die Hackern einen relativ leichten Zugang zu persönlichen Daten ermöglichen. Auf der anderen Seite macht eine unzureichende Regulierungs-, Rechts- und Strafverfolgungssituation den Missbrauch von Daten profitabel und verlockend. Dies sind keine Probleme der Privatheit. Daten sind das, was geschützt werden muss, und nicht die Privatheit an sich – wobei Datenschutz nicht Zugangsbeschränkung bedeuten muss, sondern vor allem die Identifizierung und Verfolgung von Datenmissbrauch. Durch die Fokussierung auf die Privatheit wird das immense Problem der unzureichenden Datensicherheit, gepaart mit rechtlicher Unklarheit und ineffektiver Strafverfolgung, übersehen oder bagatellisiert. In diesem Beispiel scheint der Wert der Privatheit darin zu liegen, die Aufmerksamkeit von Problemen der Datensicherheit und schwachen Abschreckungsmaßnahmen gegen den Missbrauch von Informationen abzulenken und damit unbeabsichtigt den Status quo aufrechtzuerhalten. Anstatt eine durchsetzbare Rechenschaftspflicht und Datensicherheit zu empfehlen, scheint
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das Komitee davon auszugehen, dass Gesetzgeber, Aufsichtsbehörden und Gerichte nicht gegen diejenigen vorgehen müssen, die Hackern fahrlässig Zugang gewähren, oder sogar gegen die Hacker selbst. Stattdessen wird dem Einzelnen gesagt, er solle selber aufpassen. Die Schäden, die angeblich durch den Verlust der Privatheit entstehen, scheinen eher aus dem Mangel an Verantwortlichkeit, dem Fehlen klarer rechtlicher Sanktionen, der mangelnden Bereitschaft zur effektiven Verhinderung oder Verfolgung von Cyber-Kriminalität und generell aus der Vermeidung der wirklichen Probleme der Netzgesellschaft zu resultieren. Ein weiteres vom Komitee angeführtes Beispiel für den Wert der Privatheit liegt in der weit verbreiteten Annahme, dass »unter öffentlicher Überwachung viele Menschen ihr Verhalten ändern« (S. 309). Dieser bekannte »Abschreckungseffekt« (S. 310) der Überwachung geht davon aus, dass, wenn Menschen von anderen beobachtet werden, dies »oft den Effekt hat, das Verhalten der Menschen in Richtung einer größeren Konformität und Homogenität zu beeinflussen« (S. 309). Die Privatsphäre schützt also die Gesellschaft vor Konformismus und unterstützt somit »viele demokratische soziale Werte, wie das Recht auf freie Assoziation, die Anerkennung sozialer Diversität und sogar die Verwendung geheimer Abstimmungen zur Unterstützung freier Wahlen« (S. 310). Obwohl praktisch niemand bestreiten würde, dass die Privatheit diesen Zielen dient, kann die Frage aufgeworfen werden, ob sie der beste Weg ist, dies zu tun. Wie können politisch wirksame freie Assoziationen, die Akzeptanz von Diversität und freie Wahlen gewährleistet werden, wenn man sich anonym oder gar allein an geheimen Orten aufhält und seine religiösen Überzeugungen, sexuellen Vorlieben, subkulturellen Affinitäten usw. vor anderen verbirgt? Können wir darüber hinaus wirklich von freien Wahlen und demokratischen Prozessen sprechen, wenn die einzige Möglichkeit, politische Vergeltung und Repression zu vermeiden, in der Geheimhaltung besteht? Hat die Gesellschaft nicht gelernt, Diversität zu akzeptieren durch genau das Gegenteil von Geheimhaltung? Wären Frauen, Homosexuelle, Minderheiten und andere marginalisierte Menschen und Gruppen im Verborgenen geblieben und hätten sie ihre Eigenarten nicht in die Öffentlichkeit getragen und Akzeptanz und Respekt gefordert, wären Rassismus, Bigotterie, Diskriminierung und Ungerechtigkeit unangefochten geblieben. Gerechtigkeit und Gleichheit wurden nicht durch Geheimhaltung erreicht. Nur durch ihr Coming-out konnten Minderheiten Respekt und Gleichheit vor dem Gesetz erlangen. Dies lässt Zweifel am angeblichen Wert der Privatheit aufkommen. Und sie stellt auch
16. Der Wert von Privatheit oder: Big Brother, wir lieben dich
die gängige Annahme infrage, dass Überwachung zu Konformismus führt. Es mag sein, dass die Überwachung auf manche Menschen abschreckend wirkt, aber für viele andere gilt genau das Gegenteil. Wie sonst lässt sich das überall sichtbare Zelebrieren von Vielfalt in der heutigen Welt unter dem ebenso allgegenwärtigen Regime der Überwachung erklären? »Big Brother« ist schon längst kein Horrorszenario mehr, sondern ein populäres TV-Format der Exhibitionsgesellschaft. Der Wert der Privatheit scheint darin zu liegen, eine heuchlerische Gesellschaft zu unterstützen und alle Formen der Diskriminierung als unveränderliche Tatsachen zu akzeptieren. Anstatt zu empfehlen, dass die Menschen zu verschleiern versuchen sollten, wer sie sind, um Diskriminierung und Unterdrückung zu vermeiden, hätte das Komitee stärkere Gesetze und wirksamere Maßnahmen gegen Diskriminierung empfehlen können. Ein drittes Beispiel für den Wert der Privatsphäre, das vom Komitee angeführt wird, ist der Schaden, der durch die Überwachung am Arbeitsplatz entsteht. Arbeitnehmenden wird nicht getraut und sie »werden wie Kinder behandelt« (S. 310), was zu Unzufriedenheit und Stress führt. Obwohl es viele verschiedene Gründe für die Überwachung von Mitarbeitenden gibt – etwa Leistungskontrolle, Compliance, Sicherheit, Business Intelligence und sogar das Wohlbefinden der Mitarbeitenden –, ist das vom Komitee angesprochene Problem ernst zu nehmen. Der Wert der Privatheit liegt in dieser Sichtweise darin, zu verhindern, dass Arbeitnehmende auf bloße Funktionen reduziert werden, die ständig überwacht werden können. Der Wert der Privatheit in diesem Zusammenhang aber basiert auf der Annahme, dass Menschenwürde, Respekt, Freiheit und ein gewisses Maß an Autonomie nur durch Unsichtbarkeit erreicht werden können. Wenn die Menschenwürde nur außerhalb der beobachtbaren Arbeit gewahrt werden kann, muss man sich fragen, ob das eigentliche Problem nicht in einem ausbeuterischen Wirtschaftssystem und veralteten Managementmodellen liegt und nicht im Verlust der Privatheit. Den Wert der Privatheit in der Aufrechterhaltung von blinden Flecken zu verorten, läuft darauf hinaus, das Recht auf Privatheit als heimliche Unterstützung entmenschlichender Formen der Arbeit zu instrumentalisieren. Solange es genügend blinde Flecken gibt, die es den Arbeitern erlauben, während des Arbeitstages unsichtbar zu werden, können wir mit der gegenwärtigen Situation leben. Wenn es den Arbeitern erlaubt ist, aus dem Blickfeld zu verschwinden, Inseln der Freiheit und Autonomie zu haben – und sei es nur, um eine Zigarette zu rauchen –, dann muss das System nicht grundlegend geändert werden. Privatheit scheint gerade deshalb ein Wert zu sein, weil sie
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das System akzeptabel macht, ohne seine grundlegende Unmenschlichkeit infrage zu stellen. Statt vor der Überwachung am Arbeitsplatz zu warnen, hätte das Komitee auch vor den veralteten und dysfunktionalen Arbeitsbedingungen warnen können, die der Grund dafür sind, dass die Überwachung am Arbeitsplatz überhaupt erst problematisch werden kann. Mit ähnlichen Gedankengängen findet das Komitee einen Wert für die Privatheit bei der geheimen Wahl. Das liegt daran, dass »ein Wähler ohne Privatheit dem Zwang unterliegt« (S. 310). Wenn die Machthaber herausfinden, dass eine bestimmte Person gegen sie gestimmt hat, könnte diese Person einer Vergeltung ausgesetzt werden. Zwang und Vergeltung sind offensichtliche Missbräuche der politischen Macht. Zu einer Zeit, als es noch keine klaren Gesetze und keine effektive Rechenschaftspflicht gab, unterstützte die Privatsphäre in Form von geheimen Abstimmungen die demokratischen Verfahren. Das Problem ist jedoch nicht ein Problem der Privatheit, sondern die Duldung des Missbrauchs politischer Macht. Die Aufrechterhaltung des Wertes der Privatheit als eine Möglichkeit, der politischen Vergeltung zu entgehen, läuft darauf hinaus, den Missbrauch politischer Macht als eine Tatsache zu akzeptieren, die nicht geändert werden kann. Auch hier liegt der Wert der Privatheit in ihrer Komplizenschaft mit einem korrupten politischen System und einem unzureichenden Rechtssystem. Was wir brauchen, ist nicht mehr Privatheit, sondern sind klare Gesetze, wirksame Rechenschaftspflicht und Transparenz statt Geheimniskrämerei, kurzum: Rechtsstaatlichkeit. Das fünfte Beispiel für den Wert der Privatheit, die das Komitee bietet, ist die oft zitierte Verwendung von persönlichen Informationen für Werbezwecke. »Die Verfügbarkeit von Information über eine Person ermöglicht es verschiedenen Organisationen, Botschaften oder Produkt- und Serviceangebote zukommen zu lassen, die auf die Interessen und Muster zugeschnitten sind, die sich in dieser Information widerspiegeln« (S. 310). Beginnen wir mit der Feststellung, dass es schwierig ist, ein Problem mit personalisierter Werbung zu finden. Werbetreibende haben schon immer Kundenprofile erstellt, denn woher sollen sie sonst wissen, wer am Kauf ihrer Produkte interessiert sein könnte? Im Allgemeinen gilt: Je weniger über den Kunden bekannt ist, desto irrelevanter, nutzloser und verschwenderischer ist die Werbung. Dumme Werbung wird gewöhnlich als Spam bezeichnet. Intelligente Werbung bietet einer Person die Produkte und Dienstleistungen an, an denen sie wirklich interessiert sein könnte, und spart so allen, sowohl den Kunden als auch den Werbetreibenden, Geld und Mühe. Wo liegen hier also die Notwendigkeit und der Wert der Privatheit? Welcher Schaden entsteht durch personalisier-
16. Der Wert von Privatheit oder: Big Brother, wir lieben dich
te Produkte und Dienste? Das Komitee bezieht sich auf eine Situation, in der eine Person gezielt mit Werbung für ein bestimmtes Medikament angesprochen wird, was zu einer sozialen Stigmatisierung führen könnte, wenn Familienmitglieder oder andere Personen herausfinden, dass die Person eine bestimmte, sozial inakzeptable Krankheit hat. In der Literatur zum Thema Datenschutz wird oft der Fall eines Teenagers zitiert, der Angebote für Schwangerschaftsprodukte nach Hause geschickt bekam, bevor ihre Eltern wussten, dass sie schwanger war. Es ist unbestreitbar, dass soziale Ächtung und Stigmatisierung schädlich sind. Aber auch hier muss man sich fragen, ob Geheimhaltung die beste Lösung ist. Wäre es nicht besser, sich mit Vorurteilen auseinanderzusetzen und die wirklichen sozialen Probleme anzugehen, anstatt zu versuchen, die Privatheit zu nutzen, um Konflikte zu vermeiden? Früher oder später wird die Familie der Kranken herausfinden, um welche Krankheit es sich handelt, genauso wie die Eltern des schwangeren Teenagers nicht lange im Dunkeln gelassen werden konnten. Der vermeintliche Wert der Privatsphäre in solchen Situationen scheint darauf hinauszulaufen, Vorurteile und Praktiken der sozialen Ächtung heimlich zu unterstützen, indem man sie nicht offen infrage stellt. Im gesamten Datenschutzdiskurs gelten medizinische Informationen als besonders »sensibel«, da sie nicht nur zu einer Stigmatisierung, sondern auch zu einer Diskriminierung bei der Erlangung von Gesundheitsleistungen oder einer Krankenversicherung führen können. Wie das Komitee feststellt, »machen Erwachsene, die eine Krankenversicherung abschließen, oft das Recht auf Privatsphäre in Bezug auf ihre medizinischen Informationen geltend, weil sie besorgt sind, dass die Versicherer sie nicht versichern oder hohe Preise auf der Grundlage einiger Informationen in ihrer Krankenakte verlangen könnten« (S. 312). Der Wert der Privatsphäre läuft in diesem Fall auf das Recht hinaus, Informationen zurückzuhalten, also zu lügen, um einen besseren Preis für die Versicherung zu bekommen. Ähnliche Situationen lassen sich im Bildungswesen anführen, wo junge Menschen bei Bewerbungen an Schulen bestimmte Informationen nicht preisgeben, oder bei der Bewerbung um einen Arbeitsplatz, wo nicht nur medizinische Informationen, sondern auch Informationen über die Religionszugehörigkeit, sexuelle Vorlieben, politische Ansichten usw. als privat gelten. Um Diskriminierung zu vermeiden, ungehinderten Zugang zu Produkten und Dienstleistungen zu erhalten, Geld zu sparen usw., scheint es durchaus akzeptabel, unter Berufung auf das Recht auf Privatheit zu lügen. Der Wert der Privatheit erscheint in vielen solchen Situationen opportunistisch und kontraproduktiv im Hinblick auf die Kor-
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rektur sozialer Missstände. Anstatt ein opportunistisches Gesundheitssystem und diskriminierende Praktiken in der Bildung oder Arbeit offen zu kritisieren, akzeptiert und duldet die Berufung auf das Recht auf Privatheit diese Praktiken und strukturellen Probleme. Privatheit wird zu einem nützlichen Mittel für »gaming the system«, aber ohne jegliches Interesse daran, das System zu ändern. Schließlich können personenbezogene Daten zur Erstellung von Profilen von Personen und Gruppen benutzt werden, die anderen Zwecken als kommerzieller Werbung dienen. Hier steht politische Kommunikation im Vordergrund. Es geht um die politische Profilerstellung. »Politische Kampagnen können Sammlungen von persönlichen Informationen nutzen, um Mitgliedern verschiedener Gruppen unterschiedliche Angebote zu machen, die auf ihre besonderen Ansichten und Einstellungen abzielen« (S. 311). Wie kommerzielle ist auch politische Werbung nichts Neues. Politiker haben schon immer versucht, den Menschen zu sagen, was sie hören wollen. Wie sonst sollen sie die Leute motivieren, für sie zu stimmen? Natürlich könnte man behaupten, dass der gegenwärtige Zustand der politischen Kommunikation inhärent schädlich ist, da in unseren Post-Truth-Kultur Lügen und Desinformation überall zur Normalität gehören. Wie aber löst das Recht auf Privatheit dieses Problem? Wo ist der Schaden, der durch den Verlust der Privatheit entsteht? Angesichts des offenen Zugangs zu vielen Informationsquellen und vielen verschiedenen Medien in demokratischen Gesellschaften und der stets wachsamen Opposition war es bisher so, dass selbst Politiker ein Minimum an Wahrhaftigkeit und Konsistenz wahren mussten. Mit der von Donald Trump eingeläuteten Post-Truth-Gesellschaft hat sich das geändert. Nur eine Gesellschaft, die offen zugibt, dass der politische Diskurs grundsätzlich unwahrhaftig ist und welche die Manipulation der Medien als normal akzeptiert, müsste sich auf das Recht auf Privatheit berufen, um die Bürgerinnen und Bürger vor der Unehrlichkeit der politischen Kommunikation zu schützen. Wäre das Komitee nicht besser beraten, Korrekturmaßnahmen für eine aus den Fugen geratene Politik zu empfehlen als zu versuchen, die Bürgerinnen und Bürger unter einem Schleier der Unsichtbarkeit zu schützen? Um Foucault wieder in Erinnerung zu rufen, lässt sich zusammenfassend sagen, dass sich der Wert der Privatheit vor allem aus ihrer Komplizenschaft mit und ihrer heimlichen Unterstützung einer Gesellschaft abzuleiten scheint, in der Diskriminierung, Bigotterie, Opportunismus, Ausbeutung von Arbeitskräften und politischer Machtmissbrauch als unveränderliche Tatsache hingenommen werden. Anstatt die wirklichen Probleme ins Visier zu
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nehmen, will das Komitee deren schädliche Auswirkungen durch Umgehungen und Reparaturen mildern. Privatheit schafft eine mehr oder weniger akzeptable Art und Weise, mit einer zugegebenermaßen ungerechten Situation zu leben. Wenn wir dieses gegenwärtige Regime von Macht und Wissen überwinden wollen, wäre vielleicht eine neue Interpretation der Privatheit für das digitale Zeitalter erforderlich – eine Interpretation, die nicht auf den scheinbar unveränderlichen und unanfechtbaren Strukturen des vergangenen Industriezeitalters beruht. Privatheit ist in der europäischen Aufklärung historisch zusammen mit der Öffentlichkeit entstanden. Sowohl das Private als auch das Öffentliche sind Strukturen der westlichen Moderne, die sich gegenseitig stützen. Gemeinsam basieren sie auf einer Ökonomie der Knappheit an Wissen und hierarchischer Kommunikation. Diese beiden Grundbedingungen der Gesellschaft werden durch die digitale Transformation infrage gestellt. Alles über jeden zu wissen und Many-to-many-Kommunikation verändern das Spiel. Eine Gesellschaft, in der es keine Geheimnisse mehr gibt und jeder mit jedem gleichzeitig kommunizieren kann, hat es nicht mehr nötig, informationelle Asymmetrie und hierarchische Macht durch Behelfslösungen wie Privatheit zu kompensieren. In einer solchen Gesellschaft kann Wissen nicht mehr Macht sein und Geheimhaltung garantiert keine Freiheit mehr. Der Versuch, die zentralen Werte Freiheit, Autonomie und Würde durch die Wiedereinführung eines veralteten und dysfunktionalen Begriffs von Privatheit und Datenschutz zu bekräftigen, kann kaum eine angemessene Antwort auf die Herausforderungen der digitalen Transformation sein. Dennoch scheint dies genau das zu sein, was die meisten gegenwärtigen Diskussionen über Privatheit und viele neue Datenschutzgesetze versuchen. Es besteht kein Zweifel: Privatheit ist wichtig. Aber vielleicht nicht aus den Gründen, die üblicherweise von Befürwortern des Datenschutzes angeführt werden. Vielleicht ist es an der Zeit, zuzugeben, dass der Datenschutz die alte Welt nicht retten kann. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Privatheit tot ist oder dass die Beschäftigung mit Privatheit im digitalen Zeitalter irrelevant ist. Im Gegenteil, die hitzige Debatte über den Datenschutz heute ist ein Hinweis darauf, dass der Datenschutz ein zentraler Punkt in der digitalen Transformation ist. Dies führt zu einer Antwort auf die zweite Frage, die wir zu Beginn gestellt haben: Warum ist die Privatheit zu einem zentralen Thema für das Verständnis der globalen Netzwerkgesellschaft geworden? Aus unseren Überlegungen geht hervor, dass die meisten Argumente für den Wert der Privatheit tief in den veralteten Werten und Strukturen der modernen Indus-
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triegesellschaft verankert sind. Sie beruhen auf der Knappheit von Wissen und asymmetrischer Kommunikation. Kann es sein, dass wir die Probleme der globalen Netzwerkgesellschaft nur lösen können, wenn die Privatheit in einer Welt, die von Netzwerknormen wie Konnektivität, unvorhersehbarem Informationsfluss, Many-to-many-Kommunikation, Partizipation, Authentizität und Transparenz bestimmt wird, eine neue Bedeutung findet?
17. Personalisierte Werbung, Big Data und das informationelle Selbst
Ob wir es mögen oder nicht, Werbung ist eine Tatsache des Lebens. Sie ist auch das Geschäftsmodell des Internets. Wer glaubt, dass Facebook, Instagram oder Google so coole Dienste wirklich umsonst anbieten, ist einfach naiv. Wir bezahlen viele Internetdienste mit unseren Daten, die einen Wert haben, weil die Anbieter davon überzeugt sind, dass sie diese Daten nutzen können, um Kunden zu finden. Je mehr sie über ihre Kunden wissen, desto größer sind die Chancen, dass sie ihnen Angebote liefern können, die für sie relevant und interessant sind. Wenn man davon ausgeht, dass Menschen nicht so leicht manipulierbar sind, wie MadMen und kritische Theoretiker zu glauben scheinen, »zwingt« Werbung niemanden, etwas zu kaufen. Sie liefert Informationen darüber, was man kaufen kann. Wenn jemand nicht an den Informationen interessiert ist oder die Informationen nicht relevant sind, sind die Werbegelder verschwendet. Aus diesem Grund ist personalisierte Werbung, die auf der Sammlung, Aggregation, Analyse und Nutzung persönlicher Daten basiert, ein großes Geschäft. Personalisierte Werbung verspricht, Menschen mit interessanten und relevanten Informationen über Produkte und Dienstleistungen zu versorgen und ihnen als Nebenprodukt die nutzlosen Informationen zu ersparen, mit denen sie ständig durch dumme Massenwerbung, auch bekannt als Spam, bombardiert werden. Jeder, der in einer kapitalistischen Welt sozialisiert wurde, hat seinen eigenen Spam-Filter in seinen kognitiven Apparat eingebaut. Dieser filtert den größten Teil des Informationsmülls heraus, mit dem uns die dumme Werbung ständig überschüttet. Personalisierte Werbung und personalisierte Dienste aller Art – nicht nur in Bezug auf Konsumgüter, sondern auch im Bildungs- und Gesundheitswesen – wenden dieselben Prinzipien an, die auch unsere eigenen Spam-Filter leiten; sie wissen, was wir wollen, woran wir interessiert sind und wofür wir zu bezahlen bereit sind. In der Tat wis-
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sen sie oft mehr über uns als wir selbst. Das liegt daran, dass sie Zugang zu mehr Information haben, als wir bewusst wahrnehmen können. Wegen kognitiver Überlastung verfügen wir nur über eine relativ begrenzte Menge an Wissen über uns selbst und wir vergessen vieles. Die Maschinen aber vergessen nichts. Sie haben Big Data. Während einige vorpreschen und derzeit vor Gericht für das »Recht auf Vergessen« kämpfen, beginnt das schnelle (velocity) Sammeln, Aggregieren, Wiederverwenden, Neukombinieren und Analysieren sehr großer Datenmengen (volume) sehr unterschiedlicher (variety) Art erst allmählich auf den Radarschirmen der Regulatoren zu erscheinen. Das mag daran liegen, dass jeder, so scheint es, Big Data nutzen möchte und hofft, auf die eine oder andere Weise davon zu profitieren. Unternehmen, Behörden, das Bildungswesen, das Gesundheitswesen, die Wissenschaft usw. –sie alle springen auf den Big-Data-Zug auf. Es ist keine Frage: Daten generieren Wert. Alle können davon profitieren, wenn sie mehr, ja alles über ihre Kundschaft wissen. Die Frage ist nun: Was haben die Kundinnen und Kunden davon? Wir kennen die Antwort bereits: Wir erhalten interessante, relevante Informationen über Produkte und Dienstleistungen. Der Markt ist nicht mehr dumm, er ist intelligent, smart geworden. Warum also hat Big Data einen so schlechten Ruf? Ist Big Data dasselbe wie Big Brother (was, das sollten wir nicht vergessen, ein sehr erfolgreiches TV-Format geworden ist)? Warum haben wir Angst vor Big Data, wenn wir keine Angst mehr vor Big Brother haben? Auch hier sollten wir nicht übersehen, dass nicht alle Snowdon für einen Helden und die NSA für den Bösewicht halten. Wenn die NSA die Böse wäre, was ist dann mit den Datenbrokern, die mindestens so viel wissen wie die NSA und es an alle verkaufen, die bereit sind, zu zahlen? Wie Scott McNealy, Gründer und ehemaliger CEO von Sun Microsystems, es ausdrückte: »You have zero privacy anyway. Get over it.« (Wired, Januar 1999). Das Problem der Privatheit, das Big Data aufwirft, wirft eine tiefere und schwierigere Frage auf: Was oder wen versuchen wir zu schützen? Es geht um nichts weniger als die Frage, wer wir sind in einer Welt, in der fast jeder außer uns diese Frage besser beantworten kann als wir selbst. Privatheit bedeutet normalerweise, dass wir – wer auch immer wir sind – ein Recht darauf haben, in Ruhe gelassen zu werden. Die digitale Revolution, die Entstehung der globalen Netzwerkgesellschaft und die Migration der Menschheit in die »Infosphäre« (Floridi) hat Konsequenzen darauf, was es bedeutet, in Ruhe gelassen zu werden. Die US-amerikanischen Rechtsgelehrten, Waren und Brandeis, die 1890 diese Definition von Privacy dem amerikani-
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schen Recht zugrunde legten, lebten in einer Welt, in der man aufs Land ziehen, eine Mauer um das eigene Haus bauen und somit seinen Frieden haben konnte. Es standen Werte wie Eigentum und Sicherheit im Vordergrund, aber auch die Idee, dass die damaligen Paparazzi die »inviolate personality« eines Bürgers nicht durch den Dreck der Boulevardpresse ziehen konnten. Inzwischen hat sich die Welt geändert: Wir können von einer Exhibitionsgesellschaft reden, wo alle dauernd in Social Media alles über sich einer weltweiten Öffentlichkeit erzählen. Dennoch wollen einige dies als unerlaubte Verletzung eines fundamentalen Rechts auf Privacy sehen. Typische Lösungen sind, auch wenn sie nicht umgesetzt werden können, die Forderung nach einem eingeschränkten Zugang zu Daten und/oder einer informierten Einwilligung zu Datensammeln und Datennutzung. Kontrolle und Zustimmung beruhen auf der Annahme, dass Information eine Art Ding ist, das effektiv an einem sicheren Ort weggesperrt und/oder einer geregelten Nutzung unterworfen werden kann. Wenn Information jedoch kein Ding ist, sondern, sagen wir, ein »Netzwerkeffekt«, dann kann sie vielleicht nicht an sicheren Orten eingeschlossen oder in ihren Bewegungen reguliert werden. Die Normen und Werte der vernetzten Welt sind Konnektivität, Partizipation und Fluss von Information. Das bedeutet, dass zumindest im Prinzip und in der Tendenz alle mit allem verbunden sind, dass alle Information selber erzeugen können und dass Information unkontrolliert durch das Netzwerk fließt. In Bezug auf Big Data bedeutet dies, dass große Datenmengen zur Verfügung stehen, die beliebig kombiniert und rekombiniert und für unvorhersehbare Zwecke wiederverwendet werden können. Wie also, fragen wir, können Kontrolle und Einwilligung irgendetwas bewirken oder effektiv schützen? Wenn wir die Sammlung, Aggregation und Analyse von Information nicht einschränken können – und aus vielen Gründen auch nicht wirklich wollen – und wir nicht im Voraus wissen können, für welche Zwecke große Datensätze verwendet werden könnten, sind Kontrolle und Einwilligung leere Worte, die an eine vergangene Ära erinnern. Eine andere Herangehensweise an Probleme des Datenschutzes ist es, sich auf die Konsequenzen von Big Data zu fokussieren. Welche Konsequenzen hat Big Data in Bezug auf Werte wie Schadensverhinderung, Förderung des Wohlbefindens, Gerechtigkeit, Autonomie und Vertrauen (Collman/Matei 2016)? Wenn Privatheit überhaupt eine Rolle spielt, dann vermutlich, weil wir sie brauchen, um diese Werte aufrechtzuerhalten. Wenn personalisierte Werbung und andere personalisierte Dienste im Gesundheitswesen, in Bildung, in Verwaltung und Wissenschaft in der Regel keinen Schaden anrich-
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ten, zu Ungleichheit und sozialen Nachteilen und zum Verlust der Selbstbestimmung und Autonomie des Menschen führen, dann können wir nicht behaupten, dass Big Data die Privatheit in irgendeiner moralisch oder rechtlich relevanten Weise verletzt. Natürlich kann Big Data auch für andere Dinge als personalisierte Produkte und Dienste verwendet werden, etwa für Polizeiarbeit, Bonitätsprüfung, gezielte Preisgestaltung, politische Vorteilnahme usw. In jedem Fall eines vermeintlichen Missbrauchs müsste man die Konsequenzen kontextabhängig bewerten. Hier ist die kontextuelle Theorie der Privatheit hilfreich. Ob die Privatheit von jemandem auf schädliche Weise verletzt wurde, hängt vom Kontext ab. Eine Social-Network-Site ist ein anderer Kontext als die Verwendung einer Kreditkarte, das Surfen im Internet oder das Geotracking über ein Mobiltelefon. Es gibt keine Privatheit per se, die über alle Situationen hinweg identifiziert, beschrieben und geschützt werden kann. In Ruhe gelassen zu werden, kann für viele verschiedene Menschen in vielen verschiedenen Situationen viele verschiedene Dinge bedeuten. Dazu kommt, dass Privatheit und ihre Verletzung durchaus kontextabhängig sein können, aber es ist offensichtlich, dass Kontexte selber auch nicht fixfertig gegeben sind. In der heutigen globalen Netzwerkgesellschaft sind Kontexte immer umstritten, schnell veränderlich und offen für viele Interpretationen, kurz gesagt: verhandelbar. Niemand kann im Voraus und mit Gewissheit sagen, was der jeweilige Kontext ist und demnach, was Privatheit in diesem Kontext bedeutet. Viele Facebook-Nutzer werden Privatheit anders verstehen als viele andere. Das Prinzip der kontextuellen Privatheit ist also kein sehr nützlicher Leitfaden zur Bestimmung von Verletzungen der Privatheit. Vielmehr ist es eine Umformulierung des Problems. Wenn es in der Welt keine klaren und zuverlässigen Definitionen von Privatheit gibt, dann suchen wir vielleicht an der falschen Stelle – vielleicht müssen wir in uns selbst suchen. Der Oxforder Informationsphilosoph Luciano Floridi bietet eine radikale Lösung an. Nach der digitalen Revolution ist der Mensch in die Infosphäre migriert und existiert nunmehr als Information. In dieser Welt, die aus Information besteht, sind Daten oder Information nicht etwas, das wir haben, sondern das, was wir sind. Menschen sind »Inforgs« und keine Cyborgs. Inforgs sind ihre Information, und deshalb, argumentiert Floridi, ist das Offenbarwerden von bestimmten Informationen über jemanden nicht nur eine Verletzung der Privatheit in traditionellem Sinne, sondern viel eher wie eine Entführung zu verstehen. Der Mensch ist seine Information und diese Information ist deswegen nicht etwas, das der Mensch hat, das er weggeben oder das von ihm gestohlen werden könnte. Wenn andere diese das informatio-
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nelle Selbst konstituierende Information kennen, bedeutet dies – völlig unabhängig davon, ob Missbrauch im Spiel ist –, eindeutig eine Verletzung der Autonomie, Freiheit und Würde eines Menschen. Wenn ich mich als Inforg betrachte, ist die wichtige Frage in Bezug auf die Privatheit, welche Informationen mein Sein ausmachen und welche Information lediglich etwas ist, das ich habe und daher etwas, das ich mit anderen teilen, es weggeben oder verkaufen kann. Floridi beantwortet diese Frage, indem er postuliert, dass alle Daten/Informationen, die »selbst-konstituiert« sind, die Identität bzw. das Wesen des Inforgs ausmachen. Das Problem bei dieser Antwort ist allerdings, dass Inforgs innerhalb der Infosphäre existieren, die eine vernetzte Realität ist, die auf Konnektivität, Fluss von Information, Kommunikation, Partizipation, Transparenz und anderen Netzwerknormen basiert. Information steht nie allein, sondern ist immer verbunden, verknüpft, assoziiert mit anderer Information. Information ist kein Ding, sondern viel eher eine Relation, eine Verbindung, eine Assoziation. Darüber hinaus ist Information nicht das Produkt einer einzelnen Entität, weder menschlich noch nicht-menschlich, sondern ein Produkt vernetzter Akteure. Aus diesem Grund ist Big Data nützlich und wichtig. Big Data ist nur möglich und interessant, weil Information keine Grenzen kennt, auch nicht die des Selbst und des Anderen. Dies bedeutet, im Gegensatz zu Floridis Idee des informationellen Selbst, dass Information sich nie »selbst« konstituiert, sondern immer durch das Netzwerk, also durch das Zusammenwirken vieler verschiedener Akteure. Die mobilen Geräte, digitalen Infrastrukturen, Betriebssysteme, Apps und Algorithmen, Organisationen, Prozesse und Ökonomien, die zusammenarbeiten, um mein Facebook-Profil zu produzieren, spielen alle ihre Rolle. Ich habe mein Facebook-Profil – oder irgendeine andere Information in der Infosphäre – nicht ganz allein, mit meinen angeborenen Fähigkeiten und ohne Hilfe von meinen Freunden erstellt. Wenn also Information nicht »selbst-konstituiert« werden kann, dann können es auch die Inforgs nicht. Das Netzwerk ist der Akteur, wie Bruno Latour sagen würde. Kognition, Handlungsfähigkeit und Identität sind verteilt. Dies führt uns zu der Frage: Welche Art von Privatheit, wenn überhaupt, hat das Netzwerk? Ist Privatheit ein Konzept, das in der Infosphäre überhaupt noch eine Bedeutung hat? Die Rechtswissenschaftlerin Juli Cohen (2012) argumentiert, dass die aktuellen rechtlichen Definitionen von Privatheit auf dem besitzergreifenden Individualismus des europäischen Aufklärungserbes in Verbindung mit dem modernen Liberalismus basieren. Das autonome rationale Subjekt der aufklä-
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rerischen Tradition muss von den Grundlagen des rechtlichen Denkens entfernt und durch ein »vernetztes Selbst« ersetzt werden. Das vernetzte Selbst ist nicht nur Information, sondern verkörpert sich in der materiellen Realität und ist für Cohen »vernetzt«, das heißt in historisch dynamischen sozialen Kontexten eingebunden. Floridi würde dies nicht akzeptieren. Der Inforg besteht nicht nur aus Bits und Bytes, denn auch die physische Welt ist eine Welt der Bedeutung und damit der Information. Trotzdem macht Cohen deutlich, dass das vernetzte Selbst nicht »selbst-konstituiert« ist und nicht rein individualistisch gedacht werden kann, sondern Teil ist von sich gegenseitig konstituierenden Netzwerken verkörperter, historischer, kultureller Realität. In dieser Sichtweise definiert Cohen Privatheit als das Recht, »sozial situierte Prozesse und Praktiken des Grenzmanagements« durchzuführen. Die wichtige Grenze ist nicht, wie man es von der klassischen Theroy of Personal Privacy Management erwarten würde, die zwischen dem Selbst und dem Anderen oder dem Individuum und der Gesellschaft. Es ist die Grenze zwischen Innovation, Kontingenz, Veränderung auf der einen Seite und Konformismus, Heteronomie und Herrschaft auf der anderen Seite. Für Cohen basiert das Interesse an und das Recht auf Privatheit auf der individuellen und kollektiven Sorge um eine offene Zukunft, um Veränderung, Entwicklung, Innovation und Kreativität. Diese Sichtweise ist vielversprechend, aber Cohens Vermutung, dass Überwachung und Big Data halbautomatisch zur Unterdrückung von Kreativität führen, ist nicht berechtigt. Natürlich gibt es viele Fälle, in denen die vollständige Überwachung – zum Beispiel die Radar-Verkehrsüberwachung – tatsächlich zu Konformismus führt. Wenn ich weiß, dass mich jede geringfügige Überschreitung des Tempolimits automatisch Geld kostet, treffe ich keine freien Entscheidungen darüber, wie schnell ich fahre. Bei personalisierten Diensten, die aus Big Data abgeleitet werden, wird aber gerade das, was mich von allen anderen unterscheidet, berücksichtigt und gefördert. Je mehr »sie« über mich wissen, desto mehr werden meine Individualität, meine Vorlieben und Eigenarten anerkannt und gefördert. Paradoxerweise führt die totale Überwachung unter dem Gesichtspunkt der Personalisierung zu einer totalen Akzeptanz und Förderung der Vielfalt und Diversität. Big Data ist zugleich der schlimmste Albtraum der Postmoderne und ihre schönste Vision: Es steht für das absolute Panoptikum, das paradoxerweise zu Vielfalt, Innovation und Kreativität führt. Natürlich ist dies ein BestCase-Szenario und kritische Theoretiker – einschließlich Cohen, die ihre Verpflichtungen der postmodernen Kritik gegenüber offen zugibt – werden
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schnell auf Missbrauch hinweisen und den schlimmsten Fall annehmen. Doch selbst im schlimmsten Fall müssten Big-Data-Verletzungen der Privatheit kontextbezogen bewertet werden. Cohens vernetztes Selbst existiert in sozialen Kontexten und nicht als verletzliches Individuum. Wie Nissenbaum argumentiert, können Erwartungen und damit Rechte auf Privatheit nur in konkreten Kontexten sozialen und gemeinschaftlichen Handelns begründet werden. Es gibt keine allgemeinen, universellen Erwartungen und Rechte in Bezug auf Privatheit, die für alle sozialen Situationen gelten. Die Grenzen, die Privatheit schützen soll, sind daher die immer verhandelbaren Rahmen, die soziales Handeln und Subjektivität kontextualisieren. Das bedeutet, dass eine Theorie der Privatheit fragen muss, wie vernetzte Selbste oder Akteure, die Netzwerke sind und deren Identitäten im Netzwerk verteilt sind, Grenzen, Rahmen, Kontexte und Assoziationen gegenseitig aushandeln. Was wir vielleicht brauchen, ist eine »Netzwerk-Öffentlichkeits-Governance-Theorie«, in der Öffentlichkeit und nicht Privatheit die Default-Kondition des Selbst ist. In Bezug auf die Informationstheorie bedeutet dies, dass Information das Recht hat, zu erwarten, einen Unterschied machen zu können – um Batesons Definition von Information als ein Unterschied, der einen Unterschied macht, in Erinnerung zu rufen. Ein Unterschied zu sein, der einen Unterschied macht, ist das, was das informationelle Selbst, den Inforg, ausmacht. Darum existiert der Inforg in der Infosphäre und nicht in der Privatheit – und das ist es, was das Rechtssystem schützen sollte.
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18. Visionäre Geschichte oder: Utopie ist überall
Die Vergangenheitsforschung kennen wir alle, vor allem unter dem Begriff »Geschichte«. Mit Geschichte assoziieren wir vielleicht ein mehr oder weniger langweiliges – und alles andere als »visionäres« – Schulfach, das sich mit Nationen, Herrschern, Kriegen, Verträgen, Wirtschaftsentwicklungen etc. beschäftigt. Vielleicht kommen uns aber auch die spannenden und üblicherweise sehr dicken historischen Romane in den Sinn, welche die Erlebnisse und Schicksale von gewöhnlichen Menschen in vergangenen Zeiten erzählen. Was immer wir unter Geschichte und der Erforschung der Vergangenheit verstehen: Wir haben es mit etwas zu tun, das sehr alt ist. Die Griechen im 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung haben die Geschichtsschreibung erfunden. Sie haben die schon seit Jahrtausenden praktizierten mythologischen und dichterischen Erzählungen durch eine neue Art der Betrachtung von Vergangenheit ersetzt.
Tatsachen und Visionen Die früheren Dichter und Mythenerzählerinnen waren nicht an »Forschung« über vergangene Ereignisse interessiert, sondern an Inspiration durch Musen oder die Offenbarungen der Götter oder Propheten. Auch wenn die Dichtung – zum Beispiel von Homer in der Ilias und der Odyssee – Bezug auf angeblich historische Tatsachen genommen hatte, waren diese Tatsachen aber nebensächlich zur Darstellung der Heldentaten von Achilles und die mit ihm und anderen Helden schicksalhaft verwickelten Göttern. Das Gleiche gilt für Odysseus in der Odyssee: Es ging darum, die exemplarischen Eigenschaften des Heros anhand der weltlichen, aber auch übernatürlichen Ereignisse darzustellen. Die mythologische Erzählung sollte das zum Vorschein bringen, was den Menschen zu dem macht, was er wahrhaftig ist. Die Heldenbeschrei-
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bungen der Dichtung waren nicht Bilder von etwas Vergangenem, sondern sie waren »Vorbilder« für das, was der wahre Mensch sein sollte. Mythologie und Dichtung zielten nicht darauf ab, über die tatsächlichen Ereignisse zu berichten. Denn an sich sind Tatsachen belanglos. Sie brauchen eine »Vision«, um eine Bedeutung, einen Sinn zu bekommen. Das Gleiche kann man auch über das Alte Testament sagen, zum Beispiel das »Buch der Könige« und die Chronik, welche, obwohl sie von angeblich historischen Ereignissen handeln, doch dem Ziel dienten, die großen Taten Gottes zu verkünden. Für alle mythologische Erzählung gilt, dass sie eher von einer Vision geleitet war als von einer Suche nach dem, was »wirklich« passierte. Die Mythologie und Dichtung ist also eine »visionäre« Erzählung von Vergangenem, ohne dabei von einem Forschungsinteresse geleitet zu sein. Dies änderte sich mit Herodot im 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, den Cicero »Vater der Geschichtsschreibung« (pater historiae) nannte. Herodot verfasste die »Historien«, in denen er vom Aufstieg des Perserreichs berichtete, und dabei brachte er vieles über verschiedene Völkerschaften und deren Leben, Gebräuche und Religionen in seine Erzählung ein. Gegenstand seiner »Erforschungen« waren nicht nur die Griechen und ihre Taten, sondern die damals bekannte Welt als Ganzes. Dieses Programm, das die Geschichtsschreibung des Westens bis heute beeinflusst, wirft aber das grundlegende Problem aller Vergangenheitsforschung auf: Was soll man aus der unendlichen Vielfalt der Ereignisse, Personen, Taten, Gebräuche, Religionen, Bauwerke, Artefakte etc. auswählen, um darüber zu berichten? Dies kann man das »Problem der Selektion« nennen. Denn über alles kann man nicht erzählen. Historikerinnen und Historiker müssen eine Auswahl treffen. Herodot selber sagte, warum er nur bestimmte Ereignisse für erzählenswert erachtete. Er schrieb seine Historien, »damit die Taten der Menschen nicht durch die Zeitläufe vergehen, damit die großen und bewundernswerten Taten nicht ruhmlos vorübergehen« (Herodot: Proömium der Historien). Also ging es Herodot nicht nur um die Tatsachen, sondern um diejenigen Tatsachen, die »groß und bewundernswert« waren und demnach »Ruhm« verdienen. Was »groß« und »bewundernswert« ist und was »Ruhm« verdient, ist aber nicht in den Tatsachen selbst ersichtlich, sondern es ist eine Wertschätzung, eine Interpretation, eine »Vision«, die von den Historikerinnen und Historikern und auch ihrem Publikum an die Tatsachen herantragen wird. Eine »Vision« leitet die Erforschung des Vergangenen und löst dabei das Selektionsproblem. So verschieden ist dieser Ansatz nicht von Homers Ansatz, der nur Heldentaten auswählte, um das, was für ihn wichtig und bedeutungs-
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voll war, darzustellen. Die Geschichtsschreibung also scheint in einem Dilemma gefangen zu sein: Entweder erforscht man die Tatsachen und endet dabei in einer unübersichtlichen Fülle von vielleicht belanglosen Ereignissen, oder man lässt die Erforschung von Vergangenem durch eine Vision leiten, die einem sagt, was wichtig und bedeutungsvoll ist und was nicht. Der spätantike Historiker Ammianus Marcellinus fasst dieses Problem zusammen, wenn er schreibt: »Sie fühlen sich gekränkt, wenn man übergeht, was der Kaiser bei Tisch geredet habe, oder auslässt, aus welchem Grund irgendwelche einfachen Soldaten unter den Fahnen bestraft worden sind, oder weil man über die Ereignisse in kleinen Kastellen nicht habe schweigen dürfen … Derlei und ähnliche Vorwürfe gibt es noch mehr. Doch sie widersprechen den Regeln der Geschichtsschreibung, die nur die Höhepunkte der Ereignisse beschreibt, nicht aber den Kleinigkeiten niederer Sphären nachspürt. Denn wenn wirklich jemand diese erforschen wollte, so könnte er ebenso gut auch die Hoffnung hegen, dass sich auch jene unteilbaren Teilchen, die im leeren Raum schweben und die wir Griechen ›Atome‹ nennen, zählen liessen« (Ammianus 26,1,1). Genau weil der Historiker nicht alle Atome und alle möglichen Verbindungen von Atomen im Universum zählen und erzählen kann, muss er, wie Ammianus sagt, nur »die Höhepunkte« der Geschichte erzählen. Was aber die »Höhepunkte« sind, das kann nur eine Vision von ihrem Sinn und ihrer Bedeutung ausmachen – denn als Tatsachen an sich sind alle Tatsachen gleich. Der Schluss liegt nahe, dass alle Vergangenheitsforschung »visionär« ist. Auch wenn man die Erforschung der Tatsachen, im Gegensatz zu Mythologie, betont und nicht die Vision, ist die Vision mitbestimmend immer dabei. Im Lauf der Zeit ist man auf die Idee gekommen, nicht nur die Tatsachen zu erforschen, sondern auch die Visionen, welche die Erforschung der Tatsachen geleitet haben. Je nach Vision werden andere Tatsachen erforscht und gefunden. Nicht nur ist alle Vergangenheitsforschung notwendigerweise visionär, sondern die visionäre Vergangenheitsforschung hat selbst eine Vergangenheit.
Die Geschichte der Visionen Während die römische Geschichtsschreibung entweder die republikanische Zeit oder die jeweiligen Kaiser glorifizierte, fanden die Historiker des christlichen Mittelalters überall in den Ereignissen der Geschichte Gottes Plan am Werk. Die Vergangenheit war nur insofern interessant, als daraus die Wahr-
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heit der christlichen Lehre und der Glaube an die Erlösung bestätigt werden konnten. Dies änderte sich in der Neuzeit, wo der Fokus auf den Menschen fiel. Der Humanismus stellte den Menschen ins Zentrum des Weltgeschehens: Nicht Gott wird bezeugt in den historischen Tatsachen, sondern der Mensch. Die säkularisierte, »aufgeklärte Moderne« interessierte sich für Vergangenes nur insofern, als Freiheit und die Selbstbestimmung des Menschen darin zum Ausdruck kamen. Die Vernunft tritt an Gottes Stelle als Ursprung und Ziel der Geschichte. Die Aufklärung des 18. Jahrhunderts ermahnte den Menschen, sein eigenes Schicksal in die Hände zu nehmen und mittels Vernunft die Welt aus der Dunkelheit religiöser Vorurteile ins Licht zu führen. Die abstrakte und mathematische Vernunft der Aufklärung konnte aber die Romantiker des 19. Jahrhunderts mit ihrem Gefühl für die Vielfalt und Eigenart der historischen Zivilisationen und Kulturen nicht befriedigen. Also wurde die Vernunft in den Händen Hegels zu dem Weltgeist, der durch die historische Dialektik sich selbst in die Vollendung des Selbstwissens des Geistes über den Weg der Widersprüche der Geschichte führt. Die Geschichte bringt den Weltgeist zum Bewusstsein seines Selbst und in diesem absoluten Wissen endet die Geschichte. Marx und Engels sahen in der Industriegesellschaft des 19. Jahrhunderts keine befriedigende Lösung für die Menschheitsgeschichte und stellten Hegel »auf die Füße«. Sie fanden in den historischen Tatsachen Belege für die Gesetze des dialektischen Materialismus: Über den Klassenkampf und die sich daraus ergebende und unaufhaltsame Revolution werde die kommunistische Gesellschaft unweigerlich entstehen, und erst dann könne man mit gutem Gewissen das Ende der Geschichte erklären. Gegen solche weltbestimmenden und absolutistischen Visionen setzte das übrige Europa auf den Fortschritt durch Wissenschaft und freie Wirtschaft. Wo immer man in die Geschichte schaut, sieht man das Werk des wissenschaftlichen Fortschritts, der Demokratie und des Kapitalismus. Die Herrschaft Europas über die Welt im 19. Jahrhundert, auch unter dem Begriff des Kolonialismus bekannt, beweise und legitimere die Überlegenheit der europäischen Kultur, so die Auffassung. Die Visionen von Aufklärung, Fortschritt, Wissenschaft und freier Wirtschaft beeinflussen das europäische Selbstverständnis bis heute und erschließen eine Vergangenheit, welche die »freie Welt« des Westens als Gipfel der Menschheitsgeschichte betrachtet. Leider erlebten viele dieser Visionen ihren definitiven Niedergang in den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts und der darauffolgenden Globalisierung. Der Glaube an die Überlegenheit der europäischen
18. Visionäre Geschichte oder: Utopie ist überall
Moderne ist endgültig vorbei. Die leitenden Visionen westlicher Kultur haben sich in einer beispiellosen Selbstzerstörung aufgelöst. An die Stelle moderner Visionen der Überlegenheit des Westens trat die postmoderne Kritik. Postmoderne »Dekonstruktion« versuchte, allen Visionen zu entkommen, indem sie die Vision der Visionslosigkeit bzw. der Sinnlosigkeit aller Versuche, einen Sinn in den Tatsachen zu finden, vertritt. Die Postmoderne »dekonstruierte« alle Sinnansprüche und ließ somit die Tatsachen für sich allein, ohne jegliche Vision, also ohne Sinn. Nachdem die Sinnlosigkeit der Tatsachen so radikal und rücksichtslos zur Schau gestellt wurde, lag die Vermutung nahe, man könne daraus machen, was man will. Die Tatsachen »verpflichten« uns zu nichts. Sie haben also unseren Visionen zu dienen und können uns nicht zwingen, etwas zu denken, das wir nicht denken wollen, etwas in der Vergangenheit zu sehen, das wir nicht sehen wollen. Das darauffolgende Post-Truth-Zeitalter, in dem wir jetzt leben, reagiert auf die Postmoderne, indem es die Tatsachen für irrelevant erklärt und nur die Visionen als wichtig erachtet. Die Politik darf jede Unwahrheit erzählen, solange die Menschen daran glauben und dafür stimmen. In dieser seltsamen Situation, wo die Tatsachen wie in der Zeit von Homer und den Propheten nur den Visionen zu dienen haben, stellt sich die Frage der Utopie, das heißt die Frage nach der richtigen Vision.
Post Truth und Utopie Im heutigen Post-Truth-Zeitalter ist eine Tatsache nicht mehr das, was sie einmal war. Früher waren Tatsachen die objektive Wahrheit, ohne jegliche Mischung mit subjektiven Meinungen. Man war verpflichtet, an die Tatsachen zu glauben. Heute, ob zu Recht oder zu Unrecht, ob gut oder schlecht, sind Tatsachen untrennbar verwoben mit sozialen, politischen, religiösen und sonstigen Subjektivitäten. Greta Thunberg soll einmal auf die Frage, wie sie die USA im Vergleich zu Europa erlebe, gesagt haben, die Klimaveränderung in den USA sei etwas, woran man glaube oder nicht glaube. In Europa sei sie eine Tatsache. Aber auch in Europa ist die Klimaveränderung eine Tatsache, deren Bedeutung unklar ist. Wozu genau verpflichtet uns diese Tatsache? Das ist eine Frage der Verhandlung, und Verhandlungen werden immer von Interessen geleitet, und Interessen sind letztlich von Visionen geleitet. Wenn die Tatsachen für sich selbst sprechen würden, müsste Greta Thunberg nicht auf die Straße gehen. Die Tatsachen brauchen offensichtlich jemanden, der für
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sie spricht. Ob in Natur oder Kultur: Die Wahrheit ist nicht mehr einfach da, objektiv gegeben und ausgestattet mit dem Anspruch, von allen akzeptiert zu werden. Die Wahrheit ist Verhandlungssache geworden. Und das, was ausgehandelt werden soll, ist nicht nur die Welt, wie sie ist, sondern die Welt, wie sie sein sollte. Nach der postmodernen Dekonstruktion aller Visionen sind die Visionen im heutigen Post-Truth-Zeitalter zurück, und zwar mit dem offenen und unverschämten Anspruch, die Tatsachen zu bestimmen. Die Auswüchse dieses Post-Truth-Zeitgeists zeigen sich zur Genüge in der heutigen Politik und den von Fake News und C lickbait dominierten Medien. Die Medien haben sich auf eine »Ökonomie der Aufmerksamkeit« eingestellt, wonach News das sind, was Aufmerksamkeit oder Klicks von Medienkonsumierenden auf sich zieht. Die Wahrheit spielt in den Medien wie auch in der Politik heute – dies war zwar bis zu einem gewissen Grad immer der Fall – überhaupt keine Rolle mehr. An die Stelle der Wahrheit treten heute Filterblasen, Echo Chambers, Populismus und eine verwirrende Ansammlung der verschiedensten Verschwörungstheorien. Wenn die Medien, wie Niklas Luhmann sagte, die »Selbstbeobachtung der Gesellschaft« sind, dann kann man nur mit Schrecken in diesen Spiegel schauen und feststellen, dass wir uns heute wie das Porträt von Dorian Gray sehen. Wir sehen uns in der brutalen Realität der Weltpolitik vollkommen widergespiegelt. Aber wir können immer noch darüber entscheiden, wie wir uns im Spiegel der Vergangenheit sehen. Wenn die Visionen darüber entscheiden, was die Tatsachen sind, dann hängt alles davon ab, die richtige Vision zu haben. Dies bringt uns zum Begriff der »Utopie«. Utopien haben immer die Vision vor die Tatsachen gestellt, und zwar weil die Utopisten überzeugt waren, dass die Tatsachen anders werden könnten und anders werden sollten. Utopien, im Gegensatz zu Verschwörungstheorien und Ideologien, haben sich verpflichtet, die Regeln, die eine gewisse »Glaubwürdigkeit« verleihen, zu respektieren. Wie immer eine Utopie die Welt, wie sie sein sollte, schildert, soll diese Vision, obwohl »frei« erfunden, doch »plausibel« sein. Die »Tatsachen«, worauf die utopische Vision beruht – so der Anspruch –, hätten wirklich geschehen können. Sie sind glaubwürdig. Die utopische Vision muss nicht nur plausibel, sondern auch würdig des Glaubens sein. Die Utopie muss eine Welt darstellen, an die es sich lohnt zu glauben und die verdient, geglaubt zu werden. Und zwar dermaßen, dass man bereit wäre, sich in irgendeiner Art und Weise einzusetzen, um diese Welt zu realisieren. Zur Verteidigung der utopischen Fiktion muss man sagen, dass
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nichts wirklich völlig »frei« erfunden wird, sondern auf einer Geschichte beruht, auf Traditionen und gegenwärtigen Problemlagen. Diese machen die Bühne bereit für die utopische Darstellung und bestimmen ihre Relevanz und Bedeutung für die Gesellschaft. Obwohl Utopien »nirgendwo« sind, kommen sie nicht von nirgendwo, sondern sind begründet und motiviert von einem bestimmten gesellschaftlichen und historischen Moment. Weil die Gesellschaft und die Welt so sind, wie sie heute sind, müssen/sollten wir uns dieser Utopie verpflichten und nicht irgendwelchen anderen. Die Utopie ist die Antwort auf die Frage, die eine Gesellschaft und ein historisches Moment sich stellen: Wo sollen wir hin? Was soll aus uns werden? Welche Zukunft wollen wir?
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Wann immer man fragt: »Was ist Information?«, bekommt man als Antwort in der Regel die sogenannte »Allgemeine Definition von Information« (General Definition of Information – GDI), die in Kreisen der Informatik und der Informationswissenschaft entstanden ist. Die GDI definiert Information als Daten plus Bedeutung (Daten + Bedeutung). Da es sich um Bedeutung handelt, kann man sagen, dass die GDI sich auf »semantische« Information bezieht, denn die Semantik ist der Zweig der Linguistik, der sich mit der Bedeutung von Wörtern beschäftigt. Nach der GDI besteht Information aus sogenannt »rohen« Daten – eine Art formlose Materie –, die durch irgendwelche syntaktischen Regeln »wohlgeformt« sind. Das ist es, was die Daten sinnvoll macht. »Wohlgeformt« bedeutet, dass Daten nach bestimmten Regeln korrekt kombiniert werden. Rohdaten sind Daten, die auf keine bestimmte Art und Weise kombiniert werden. Dies lässt sich veranschaulichen, indem man sich ein leeres Blatt Papier vorstellt. Das Papier ist gleichmäßig weiß, ohne jegliche Unterschiede, alle weißen Punkte auf dem Papier sind gleich. Ob die Punkte nebeneinander oder weit voneinander entfernt sind, spielt keine Rolle, es ist rein zufällig und hat keine Bedeutung. Wenn man nun mit einem Bleistift eine Markierung auf dem Papier macht, wird die Gleichförmigkeit unterbrochen. Die Markierung »markiert« einen Bruch oder einen Unterschied in dem, was vorher ohne jegliche Unterscheidung da war. Es ist dieser Unterschied, der Information erzeugt. Information, das sei angemerkt, ist der wahrgenommene Unterschied und weder die Markierung noch das Papier noch beides zusammen als einfaches Nebeneinander. Was als Unterschied wahrgenommen wird, kann als Negation verstanden werden. Gleichförmigkeit wird negiert. Die Negation schafft eine Differenz zwischen Gleichförmigkeit und Unterbrechung. Die Marke ist negativ, weil sie einen »Mangel« an Gleichförmigkeit bedeutet. Ein Mangel ist nicht an sich etwas Positives. Das Weiß des Papiers ist positiv. Das Schwarz des Bleistifts
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ist positiv. Aber erst wenn die schwarze Linie zum Mangel oder zur Negation der Einheitlichkeit des Papiers wird, entsteht ein Unterschied. Dieser Unterschied – wir können auch von einer Differenz sprechen – ist Information. Ohne diese Differenz würden wir gar nichts sehen. Kurz: Wir kennen keine Dinge, sondern kennen Unterschiede; wir kennen keine Daten, sondern kennen Information. Aber natürlich kennen wir Daten. Wir reden davon. Wir sammeln sie tüchtig von allen möglichen Quellen. Dies heißt aber nur, dass etwas mit dem GDI und mit der Idee von »rohen« Daten nicht stimmt. Die GDI impliziert, dass Information mit etwas »Gegebenem« (lat. Datum = gegeben) beginnt, etwas, das an sich nicht bedeutungsvoll ist, aber durch die Aktivitäten eines kognitiven Agenten, das heißt etwas, das syntaktische Regeln anwendet, irgendwie bedeutungsvoll gemacht wird. Dies ist keine neue Idee. Es ist im Grunde ein erkenntnistheoretischer Ansatz, den wir spätestens seit Kant sehr gut kennen. In dieser Sichtweise ist Information immer eine Konstruktion von Bedeutung durch ein erkennendes »Subjekt«. Alle Informationen werden durch den kognitiven Apparat und seine Strukturen vermittelt, die Kant Kategorien oder Begriffe nannte. Durch diese Strukturen des Erkennens greift der wissende Akteur auf die Welt zu. Die Welt ist, ähnlich wie Rohdaten, tatsächlich da draußen, aber was über die Welt gewusst werden kann, ist eine Konstruktion der Kognition. Wir können die Welt nicht kennen, wie sie »an sich« ist, unabhängig von der kognitiven Verarbeitung. Selbst wenn man wie Kant behauptet, dass die kognitiven Strukturen und Prozesse »a priori« oder »transzendental« und daher universell und notwendig sind (im Gegensatz zu subjektiv und individuell), impliziert man, dass Information grundsätzlich durch den Verstand bedingt ist und somit notwendigerweise mit einem wissenden Subjekt korreliert. Wie Meillassoux argumentiert, bedeutet dies, dass das Sein notwendig mit dem Denken verbunden ist. Und dies wiederum impliziert, dass Aussagen darüber, wie die Welt war, bevor der Mensch auf der Bühne erschien, bedeutungslos sind. Wenn Sein und Denken notwendigerweise korreliert sind, gibt es kein Sein, bevor das Denken da ist, um die Dinge erscheinen zu lassen. Meillassoux bezeichnet die moderne europäische Philosophie, die auf dieser Theorie basiert, als »Subjektivismus«, da sie das Sein abhängig vom wissenden Subjekt macht, oder anders gesagt: Sie reduziert Ontologie auf Erkenntnistheorie. Wenn wir uns nicht dem modernen Subjektivismus und seinen korrelationistischen Implikationen (Meillassoux 2008) anschließen, besteht ein möglicher Ausweg darin, zwischen Wissen und Bedeutung zu unterscheiden. Information wäre kein Produkt kognitiver Akte des Kombinierens oder »Wohl-
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formens« von Rohdaten, sondern eine Form des Seins sui generis. Wir schlagen eine »Informationsontologie« vor, nach der Sein Information ist, anstatt von einem wissenden Subjekt zu Information gemacht zu werden. Information ist jene Form des Seins, die unsere Welt charakterisiert. Der Mensch bildet da keine Ausnahme. Menschen sind, wie Floridi (2014) es ausdrückt, »inforgs«, d.h. informationelle Wesen, und die Welt, in der diese Wesen existieren, ist die »Infosphäre«, d.h. eine Welt, die aus Information besteht. Was existiert – die Welt und alles in ihr –, ist nicht mehr in Daten aufteilbar, die kombiniert werden müssen, um Information zu konstruieren, sondern es sind Unterschiede, die als solche existieren. Also gibt es keine »rohen« Daten, sondern Daten sind eine besondere Art von Information. Das bedeutet, dass wir GDI verwerfen und nach einer anderen, besser fundierten Definition von Information suchen müssen. Information kann nicht mehr im Sinne von bloßen Daten verstanden werden, die auf die »wohlformende« Aktivität eines wissenden Subjekts warten. Information ist nicht mehr Daten + Bedeutung, also irgendetwas, das bloß da ist und dann erst dadurch einen Sinn bekommt, dass ein kognitiver Agent daraus eine Bedeutung konstruiert. Es gibt keine »rohen« Daten, die bar jegliches Sinns wären. Stattdessen sind Daten bereits auf irgendeine Art und Weise strukturiert oder geformt. Wie stellen wir uns diese Art von »Daten« vor? Datum heißt ursprünglich das, was »gegeben« ist, was daliegt oder vorhanden ist. Was bedeutet »Gegeben-Sein«? Heidegger hat viel darüber nachgedacht, was »es gibt« bedeuten mag. Er ist zum Schluss gekommen, dass Gegeben-Sein heißt »es gibt«. Wenn wir von allem, was existiert, sagen, »es gibt« diese Dinge, dann ist das Gegeben-Sein nicht ein passives und schon geschehenes bloß Da-Sein, sondern ein aktives »Geben«. Die Dinge, auch Bits und Bytes, liegen nicht einfach herum, es gibt sie, weil sie sich »geben«. Und sie geben sich in einer bestimmten Art und Weise, die schon viel darüber sagt, was sie sind. Dies können wir das »informationelle Wesen« der Daten nennen. Daten sind also schon Information. Auf der Grundlage des informationellen Wesens des Gegebenen ist das Datum in der Lage, auf das wissende Subjekt zu wirken oder das zu haben, was man »Affordanzen« nennen könnte. Affordanzen sind die informationellen Qualitäten, die allen Wesen innewohnen. Nehmen wir einen einfachen Stein als Beispiel. Der Stein ist eine Entität, die bestimmte Interpretationen oder Bedeutungen erlaubt oder dazu einlädt. Er kann dazu verwendet werden, eine Axt zu konstruieren, wie es die Hominiden lange vor dem Auftreten des Homo sapiens taten. Die innewohnen-
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den informationellen Affordanzen des Steins trugen dazu bei, einen »Jäger« oder einen »Krieger« aus dem Hominiden zu schaffen. Der Urmensch war nichts von alledem, bevor er eine Steinaxt in der Hand hatte. Natürlich könnte ein Wissenschaftler von der Steinaxt ableiten, dass der Stein an sich und unabhängig von allen Beziehungen, die er zu Händen, Feinden oder Beutetieren haben mag, bestimmte Eigenschaften wie Gewicht, Größe, Konsistenz usw. hat, die ihn in einer Weise »einschränken« oder es ihm »ermöglichen«, dass er zu einer Axt werden konnte. Aber diese Eigenschaften sind das Ergebnis der Anwendung einer bestimmten Interpretation des Wissenschaftlers. Ein Archäologe würde Eigenschaften in dem Stein finden, die seinen Platz in bestimmten Ritualen oder sozialen Praktiken ermöglichen. Der Jäger selbst würde noch andere finden, die sich von denen der Kriegerin oder des Baumeisters oder der Museumskuratorin, des Antiquitätenhändlers oder der Philosophin unterscheiden usw. All diese Affordanzen und potenziell unendlich viel mehr sind das, was der Stein »gibt«, wenn wir sagen, »es gibt« Steine. Das informationelle Wesen des Steins ist prinzipiell unbegrenzt und nur durch die Netzwerke strukturiert, in die der Stein eingebunden ist. Sobald Stein und Hand und Beutetiere einen »Jäger« konstruieren, sind der Jäger, die Axt und die Tiere keine bloß gegebenen Individuen mehr, sondern sie bilden zusammen ein Akteur-Netzwerk, in dem alle zu etwas anderem werden als dem, was sie vorher waren. Zu sagen, dass es etwas gibt oder etwas ein Datum ist, bedeutet also zu sagen, dass es die Fähigkeit hat, mit anderen Akteuren in Netzwerke einzutreten. Information ist das, was in Netzwerken und mittels Netzwerken entsteht. Nicht syntaktische Kombination, sondern Networking konstruiert Information. Was gewusst werden kann, was Sinn hat, sind informationelle Objekte, weil die Welt aus informationellen Entitäten besteht. Dass diese informationellen Entitäten begrenzte Individuen sein müssen oder das, was traditionell »Substanz« genannt wird, folgt nicht aus ihrem informationellen Sein. Als Unterschied, der einen Unterschied macht, ist Information wesentlich relational. Erinnern wir uns: Weder das weiße Papier noch die Markierung sind Information, sondern erst ihre Relation ist das, was Information schafft. Dies impliziert, dass Information ein Netzwerkphänomen ist. Information kennt keine Grenzen. Information, das muss betont werden, ist kein Ding. Information existiert als vernetzt und kann sich im Prinzip endlos in alle Richtungen erstrecken. Information ist notwendigerweise verbunden und auf andere Information bezogen. Wie Wittgenstein (2010) über die Sprache sagte, dass es kein einziges Wort für sich allein geben kann, sondern nur eine ganze
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Sprache, so kann es keine Information geben ohne Verbindungen zu anderen Informationen. Eine Mauer um Information zu ziehen, das heißt eine bestimmte Information als individuelle Entität abzugrenzen, ist willkürlich, relativ und immer offen für Revision. Es scheint, dass wir uns entscheiden müssen, entweder die Substanzontologie der westlichen Metaphysik beizubehalten – auch wenn wir jetzt von Substanzen sprechen, die durch Information konstituiert werden – oder eine vernetzte Welt zu akzeptieren, die nicht aus begrenzten Individuen bestehen kann. Kurz gesagt: Wenn Sein Information ist, gibt es keine »Entitäten«. Es gibt nur Netzwerke. Und Netzwerke sind nicht irgendeine kollektive Entität, sondern Prozesse der Vernetzung. Sie sind das Geben, das »Es gibt«. Es scheint, dass die General Definition of Information als Daten + Bedeutung selbst bedeutungslos ist, da wir nicht einmal über Daten sprechen könnten, geschweige denn Daten registrieren, speichern und abfragen, wenn sie keine Bedeutung hätten. Wenn Information Daten + Bedeutung ist, dann ist das, was gegeben wird, nicht bereits bedeutungsvoll, sondern die Bedeutung wird buchstäblich durch irgendeine Art von syntaktischer oder kognitiver Operation zu den Daten »hinzugefügt«. Die bedeutungskonstruierende Operation des Wohlformens oder der Anwendung syntaktischer Regeln ist nicht selbst ein Gegebenes, sonst wären wir in einen unendlichen Regress verwickelt, in dem dieses neue Gegebene wohlgeformt sein müsste, was dann ein weiteres Gegebenes wäre usw. Um es klar zu sagen: Wenn Unterschiede existieren, ob im Geist oder in der Materie, müssen sie nicht durch weitere Unterschiede konstruiert werden, um zu Information zu werden. Information und damit Bedeutung ist ein Unterschied und nicht ein Unterschied eines Unterschieds. Information muss nicht warten, bis ein existierender Unterschied, der irgendwie in der Welt vorhanden ist, von einem Wissenden aufgespürt und von anderen Dingen, die keine Unterschiede sind, unterschieden wird. In der Welt der Information gibt es nur Unterschiede, die einen Unterschied machen oder zumindest einen Unterschied machen können. Die bloße Existenz von Unterschieden ist Bedeutung oder Information und nicht das Wissen von Unterschieden, das als Akt eines bewussten Subjekts gedacht ist. Folglich ergibt es auf der Ebene einer Bedeutungstheorie keinen Sinn, von irgendetwas zu sprechen, das verstandesunabhängig oder verstandesabhängig ist, da alles, einschließlich des Geistes, Information ist und Information immer schon sowohl Geist als auch Materie, sowohl Subjekt als auch Objekt, sowohl sozial als auch natürlich ist, und zwar lange bevor diese Unterscheidungen eingeführt wurden, um bestimmten Zwecken zu dienen. Folglich ist
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es nicht sinnvoll, von Daten zu sprechen, die irgendwie nur gegeben oder sogar nur einschränkend und daher bedeutungslos sind, bis ein kognitiver Agent oder ein Computer daherkommt und den Daten durch algorithmische Operationen Bedeutung verleiht (hinzufügt). Norbert Wiener (1992) versuchte, viele dieser Fragen zu klären, indem er erklärte, dass »Information Information ist, nicht Materie oder Energie«, was die Frage offenließ, was Information ist. Die meisten Philosophen übernahmen deshalb den Vorschlag von Gregory Bateson (1982), wonach Information »ein Unterschied ist, der einen Unterschied macht«. Wieners und Batesons berühmte Definitionen von Information sind fruchtbarer und interessanter als die GDI, weil sie keine Erwähnung von Daten und keine Erwähnung von Bedeutung im Sinne dessen, was ein kognitives Subjekt weiß oder das Ergebnis einer syntaktischen Kombination ist, enthalten. Es wird nicht versucht, Information epistemologisch zu definieren, sondern eher ontologisch im Fall von Wiener und »pragmatisch« im Fall von Bateson. Wir haben nur Unterschiede, die entweder etwas tun, also einen Unterschied machen, oder auf eine Gelegenheit warten, einen Unterschied zu machen. Der Stein hat vielleicht Hunderte von Millionen Jahren auf die Gelegenheit gewartet, eine Axt zu werden. Diese Unterschiede sind Entitäten sui generis, also weder Materie noch Energie und schon gar keine aristotelischen Substanzen. Wenn wir dazu noch die Definition von Information im Sinne von Latours Prinzip der Irreduktion hinzufügen, das besagt, dass »nichts an sich entweder reduzierbar oder irreduzibel auf etwas anderes ist«, bleibt eine Definition von Information übrig, die zu behaupten scheint, dass Information eine Aktivität, ein Prozess, eine Veränderung ist und nicht ein Ding, das entweder materiell, begrifflich oder eine Mischung aus beidem ist. Mit anderen Worten: Es gibt keine »informationellen Entitäten« oder »informationellen Objekte«, es gibt nur Prozesse der Vernetzung. Information ist also nicht etwas, das entweder innerhalb oder außerhalb des wissenden Subjekts liegt. Sie liegt nicht in der Welt herum. In Batesons Definition gibt es nichts einfach »Gegebenes« (Daten); es gibt vielmehr ein »Geben«, oder wie Heidegger sagen würde, ein »Ereignis« (es gibt). Die Frage, ob dieses Ereignis oder dieser Prozess neu und unerwartet ist oder lediglich wiederholt, was bereits geschehen ist – eine Frage, die die Informationsphilosophie von der mathematischen Informationstheorie (Shannon/Weaver 1949) geerbt hat, zusammen mit dem thermodynamischen Konzept der »Entropie« – bleibt wichtig. »Einen Unterschied machen« kann im Sinne von Wahrscheinlichkeit oder Erwartungen interpretiert wer-
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den, ganz abgesehen vom binären Code oder irgendwelchen quantitativen oder mathematischen Überlegungen. Die Vorstellung, dass Information unwahrscheinlich und daher »negentropisch« ist, ist von großer Tragweite. Es ist die Aufgabe einer angemessenen Philosophie der Information, diese Konsequenzen zu erforschen.
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20. Digitale Transformation im Bildungswesen
Digitalisierung und digitale Transformation sind die Themen der Stunde. Kein Kongress im Bildungsbereich, der nicht Themen wie adaptive Lerntechnologien, mobiles Lernen, künstliche Intelligenz und Lernbots, Virtual und Augmented Reality in Lernszenarien, Learning Analytics und Data Driven Learning, personalisiertes Lernen, Social Learning, Flipped Classrooms oder Deeper-Learning-Ansätze und die Forderung nach einer neuen Innovationskultur in der Bildung auf der Agenda stehen hätte. Viele dieser Themen befinden sich auf der Hype-Skala weit oben und gehören eher in die Welt der Zukunftsvisionen denn in den tatsächlichen Alltag des real existierenden Bildungswesens. Dennoch: Dass sich unsere Gesellschaft gegenwärtig auf dem Hintergrund einer zunehmenden Digitalisierung und Vernetzung grundlegend verändert, scheint Tatsache.
Von Digitalisierung zu digitaler Transformation Nachdem in den letzten Jahren auch in Bildungsinstitutionen große Anstrengungen im Bereich der Digitalisierung unternommen wurden und einiges investiert wurde in die technische Ausstattung von Schulen, rückt seit einiger Zeit das Thema der digitalen Transformation in den Fokus. Während Digitalisierung eigentlich nichts anderes als die Übersetzung irgendwelcher analoger Werte in Bits und Bytes und damit eine eher technische Angelegenheit ist, meint digitale Transformation – ein Begriff übrigens, den wir erst seit etwa 2014 kennen – einen gesellschaftlichen Veränderungsprozess, der weit über die Nutzung von digitalen Tools und Technologien hinausgeht. Kern digitaler Transformation ist Konnektivität, also die zunehmende Organisation unserer Welt in Netzwerken. Dominierende Organisationsformen in allen Bereichen der Gesellschaft sind nicht mehr geschlossene, top-down gesteuerte Syste-
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me mit klaren Rollen und Funktionen, sondern offene, agile, sich ständig im Wandel befindliche selbstorganisierende Netzwerke.
Von Systemen zu Netzwerken Die beiden Organisationsformen »System« und »Netzwerk« unterschieden sich in einigen grundlegenden Punkten: •
Netzwerke geben keine Rollen und Funktionen vor.
Während Systeme klare Rollen und Funktionen vorgeben, tun Netzwerke das nicht. In traditionellen Bildungsinstitutionen beispielsweise sind die Rollen und Funktionen von Lehrenden und Lernenden klar verteilt. In vernetzten Lernsettings werden diese traditionellen, etablierten und ritualisierten Laienund Expertenrollen zunehmend dysfunktional. Denn seien wir ehrlich: Wissen wir als Lehrpersonen wirklich mehr als ein frisch gesurfter Lernender? Hat nicht jeder, der zwei Stunden gezielt zu einem Thema im Internet unterwegs war, in etwa den gleichen Wissensstand zu einem Thema wie wir? •
Netzwerke haben keine Grenzen, sie sind offen und durchlässig.
Jedes System ist auf eine Differenz zur Umwelt begründet und diese Differenz ist für jedes System konstitutiv. Systeme müssen für ihre Identität also klare Grenzen haben. Sie müssen wissen, wer dazugehört und wer nicht, wer in die 1., 2. und 3. Klasse gehört, wer in die Oberstufe und wer in die Schule im andern Dorf. Im Gegensatz zu Systemen haben Netzwerke durchlässige und unscharfe Grenzen. Für sie ist weniger wichtig zu wissen, wer oder was dazugehört, als zu wissen, wer mit wem verbunden ist. Ein Netzwerk differenziert sich von anderen Netzwerken nicht durch Grenzen, sondern durch die Intensität und Qualität der Kommunikationen. Diese grundlegende Offenheit und Entgrenzung zeigen sich zum Beispiel darin, dass wir heute Zugang zu fast allem Wissen der Welt haben. MOOCS (Massive Open Online Courses) und freie Lern- und Lehrmaterialien (OER, Open Educational Resources) sind Beispiele dafür. MOOCs sind riesige, kostenlose, frei zugängliche, partizipative Lerngefäße für selbstorganisiertes Lernen, »crowdsourced learning networks« für eine Welt, in der Information und Wissen überall zugänglich sind. MOOCs sind Lernevents, an denen alle mitmachen können, die sich für
20. Digitale Transformation im Bildungswesen
ein Thema interessieren, bei denen kollaborativ Wissen erarbeitet wird und nachhaltige Wissensnetzwerke entstehen. Das Internet bietet eine eigentliche »Flatrate fürs Lernen« und wird zunehmend zum Schatten-Bildungssystem. •
Netzwerke sind komplex, heterogen und ständig im Wandel begriffen.
Wandel ist in der DNA von Netzwerken grundgelegt. Für ein Netzwerk entsteht Ordnung nicht wie bei Systemen dadurch, dass möglichst viel Komplexität durch zentrale Steuerung, klare Zielsetzungen, strenge Funktionalisierungen oder klare Prozessdefinition reduziert wird, sondern durch das Freisetzen der Kräfte der Selbstorganisation. Heterogenität, Diversität und Flow sind jene Prinzipien, die Netzwerke smart und innovativ machen. •
Netzwerke lassen sich nicht top-down steuern.
Netzwerke wie traditionelle Organisationen managen oder steuern zu wollen, ist äußerst schwierig. Netzwerke lassen sich nicht wie Systeme top-down steuern. Ordnung entsteht in Netzwerken vielmehr bottom-up, selbstorganisiert und emergent. Dies erfordert neue Formen von Führung und Governance. Führungspersonen müssen sich mit der Tatsache auseinandersetzen, dass in Netzwerken permanent Interaktionen und Kräfte zur Wirkung kommen, die sich nicht nach den Organisationsmustern der Hierarchie richten. Auf dem Hintergrund einer zunehmenden Konnektivität und dem organisationalen Übergang von Systemen zu Netzwerken sind neue Organisationsmodelle am Entstehen. Sie tragen Namen wie Soziokratie oder Holokratie und bauen weitab von klassischen Linienarchitekturen im Kern auf dezentralen, selbstorganisierten Teams und Strukturen. •
Netzwerke haben eigene Werte und Normen.
Konnektivität geht mit einer Reihe neuer Werte und Normen, einer neuen Grundhaltung und einer neuen Organisationskultur einher. Lernende, Eltern, aber auch Lehrpersonen wünschen sich heute offene Kommunikation, Transparenz und Partizipation. Kommunikation soll offen, selbstkritisch, ehrlich und dialogbereit sein. Zudem ist Transparenz gefordert: Wer heute als Einzelperson insbesondere in einer Führungsposition oder als Organisation nicht transparent ist, ist suspekt. Und schließlich Partizipation: Lernende, Eltern
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Essays zur digitalen Transformation
und Lehrpersonen möchten heute auf Augenhöhe kommunizieren und von Beginn weg in Prozesse und Entscheide einbezogen werden.
Technologie als Katalysator Hintergrund digitaler Transformation ist, wie wir gesehen haben, Konnektivität, also der gesellschaftliche Paradigmenwechsel von Systemen hin zu Netzwerken. Doch welche Rolle spielt dabei die Technologie? Technologie, so könnte man sagen, ist in diesem gesellschaftlichen Veränderungsprozess zwar nicht Kern, dennoch aber ein ganz starker Treiber und Katalysator – allen voran die Mobiltechnologie: Kein Techniktrend hat sich auch im Bildungsbereich so rasant etabliert wie die Kommunikation via smarte, mobile Endgeräte. Mobilgeräte sind zu Türöffnern für den Zugang zu Information, Kommunikation und Partizipation für ganz unterschiedliche Generationen geworden. Wissen und Bildung sind, salopp ausgedrückt, nicht mehr etwas, das ich in meinem Kopf habe, sondern in meiner Hostentasche. Interessanterweise werden Kognition und Wissen in aktuellen Ansätzen der Kognitionswissenshaft nicht als Leistung eines einzelnen Akteurs, sondern als emergente Eigenschaften des hybriden, aus menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren bestehenden Netzwerks betrachtet. Mobiltechnologie hat zu so etwas wie »seamless learning« geführt. Lernen ist entgrenzt, macht nicht mehr an der Tür zum Schulhaus halt, sondern ist zu einer Art Kontinuum geworden über verschiedene Orte, Zeiten, soziale Settings und Technologien – online und offline – hinweg. Führungsherausforderung: Digitale Transformation umfassend denken Im Kern ist digitale Transformation also ein Veränderungsprozess, der nicht nur Technologien und Prozesse verändert, sondern auch Organisationsstrukturen und -kulturen. Organisationen auch im Bildungsbereich unternehmen heute in der Regel große Anstrengungen und Investitionen auf der Ebene von Tools und Technologien: Schuladministrationssoftware, mobile Cloud-Lösungen für das Dokumentenmanagement, Learning-ManagementSysteme, Tablets oder Laptops für Lernende und digitale Lehrmittel werden angeschafft oder implementiert. Das ist nicht ganz trivial, aber machbar. Gegenwärtig werden in den meisten Bildungsinstitutionen in diesem Bereich auch die meisten finanziellen und personellen Ressourcen investiert. Eine zweite Ebene digitaler Transformation betrifft die Prozesse. Auf dieser Ebene sind Aufgaben angesiedelt wie die digitale Durchgängigkeit von
20. Digitale Transformation im Bildungswesen
Schul- und Bildungsprozessen, digitale Kollaborations-, Kommunikationsund Dialogkanäle für Schülerinnen und Schüler, Lehrpersonen und Eltern oder die Automation der Supportprozesse. Das ist schon etwas anspruchsvoller in der Umsetzung. Die wichtigste Ebene digitaler Transformation in Organisationen ist gleichzeitig auch jene, die am wenigsten Beachtung findet, vielleicht weil sie am schwierigsten umzusetzen ist. Es ist die Ebene der Organisationskultur, des Mindset. Dabei geht es um die Erarbeitung einer organisationsinternen oder noch besser einer bildungssystemübergreifenden Vision, die Antworten liefert auf die Frage, wohin die gemeinsame Reise von Bildungswesen und Schule auf dem Hintergrund der digitalen Transformation geht. Es ginge dann um die Ableitung einer entsprechenden Strategie für die eigene Organisation, um Überlegungen zu digitaler Governance oder ganz generell um kreative Ansätze, wie die Leidenschaft für Veränderung auf dem Hintergrund eines ständigen Wandels in der eigenen Organisation auf Dauer hochgehalten werden kann. Diese Handlungsebene wird in den meisten Organisationen, nicht nur in der Bildung, heute noch wenig berücksichtigt, wäre aber die entscheidende der drei Ebenen Technologie, Prozesse und Kultur, um die beiden andern mit Erfolg und nachhaltig zu implementieren.
Führungsherausforderung: Zukunftskompetenzen Dass der rasch voranschreitende technologische Wandel zu tief greifenden Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt führt, ist bekannt. Es gibt unzählige Studien über die Auswirkungen dieser Veränderungen. Dabei gibt es vereinfacht gesagt zwei Lager: Die einen prognostizieren einen ersatzlosen Wegfall der Hälfte der heutigen Jobs aufgrund der Digitalisierung und Automatisierung in den nächsten 30 Jahren mit der Folge, dass wir uns mit Themen wie Grundeinkommen und sozialer Solidarität in ganzer neuer Dringlichkeit auseinandersetzen müssen. Andere glauben an das Entstehen einer Vielzahl neuer Berufe, die insbesondere humane Fähigkeiten wie Beraten, Begleiten, Umsorgen und Vernetzen ins Zentrum stellen. Vor diesem Hintergrund wird die Auseinandersetzung mit dem Thema »Future (Work) Skills« zu einem weiteren dringenden Handlungsfeld auch im Kontext von Bildung. Es ist vorrangige Führungsaufgabe, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, welche Kompetenzen auf dem Hintergrund digitaler Transformation künftig benötigt werden. Die University of Phoenix hat vor ein paar Jahren eine gleicher-
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maßen interessante wie zum Nachdenken anregende Kompetenzübersicht zusammengestellt. Erstaunlicherweise finden sich in dieser Liste keine fachlichen oder technischen Kompetenzen, sondern vielmehr Dinge wie: •
Sensemaking
Die Fähigkeit, Dingen eine tiefere Bedeutung oder Wichtigkeit beimessen zu können, zu übersetzen etwa mit moralischer Urteilsfähigkeit •
Critical Thinking
Die Fähigkeit, Dinge zu Ende zu denken. Mit dem Wegfall verbindlicher übergeordneter Autoritäten stehen wir vor der Schwierigkeit, selbst über Wahrheit und Unwahrheit, Fake oder Nicht-Fake entscheiden zu müssen in einer Welt, in der kein gesellschaftlicher Konsens mehr darüber besteht, welche Werte und welches Wissen allgemeinverbindlich gelten sollen. •
Novel, adaptive Thinking
Die Fähigkeit, immer wieder Dinge neu zu denken – auch nach vielen Jahren in der gleichen Organisation •
Social Intelligence
Soziale Intelligenz und die Fähigkeit, sich in andere einzufühlen, zu Empathie •
Cognitive Load Management
Die Fähigkeit zur Differenzierung, zur Unterscheidung von Wichtigem und Unwichtigem •
Cross Cultural Competency
Die Fähigkeit, in heterogenen Teams zu arbeiten. Untersuchungen zeigen, dass solche Gruppen am intelligentesten und innovativsten sind, in denen Menschen verschiedenen Alters mit unterschiedlichen Fähigkeiten und Arbeits- und Denkmustern sowie aus diversen Disziplinen zusammenarbeiten.
20. Digitale Transformation im Bildungswesen
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Virtual Collaboration
Die Fähigkeit, trotz räumlicher Trennung effizient zusammenzuarbeiten Finnland hat übrigens auf diese neuen Anforderungen reagiert und ist daran, das Schulsystem umzustellen. Fächer wie Mathematik, Sprachen oder Geografie werden in den Hintergrund gerückt und Kompetenzen wie Kommunikation, Kreativität, kritisches Denken und Zusammenarbeit ins Zentrum gestellt.
Fazit Digitale Transformation in der Bildung ist, das wird oft vergessen, viel mehr als der Zugriff aufs Internet oder die Nutzung von Social Media, Lern-Apps oder Tablets in der Schule. Digitale Transformation ist im Kern kein technologischer, sondern ein kultureller Veränderungsprozess, bei dem Technologie lediglich als Katalysator wirkt. Digitale Transformation ist deshalb auch im Bildungswesen nicht in erster Linie Aufgabe der IT-Verantwortlichen, sondern Chefsache, das heißt Kernaufgabe der Schulleitung und Führungsaufgabe, da es nicht um die Implementierung neuer Hard- und Software, sondern um das Überdenken von Rollen und Kompetenzen, das Öffnen von Organisations- und Fachgrenzen geht. In vielen Bildungsinstitutionen wird heute investiert in Bildungstechnologien, doch häufig fehlt es auf strategischer und operativer Leitungsebene an einer fundierten umfassenden Sichtweise und einem Verständnis digitaler Transformation als einem kulturellen Veränderungsprozess, der über Technologie hinaus auch eine Prozessund Kulturdimension aufweist. Eine Schule braucht eine gemeinsame Vision, was digitale Transformation für Lehren und Lernen bedeutet, wie sich Rollen und Funktionen von Lehrpersonen und Lernenden verändern, wie Technologie diese Prozesse unterstützen kann und was das gemeinsame Ziel dieser Veränderung ist. Solange aber keine gemeinsame Vision über ein vernetztes Bildungswesen unter allen Akteuren vorhanden ist und man stattdessen diese offenen Fragen an die Technologie delegiert, wird das schiefgehen. Wir werden weiterhin viel Geld in Technologieprojekte stecken, die letztlich zu gar nichts führen. Insbesondere die Forderung aus Wirtschaftskreisen, jedes Kind müsse programmieren können, zielt an der eigentlichen Herausforderung vorbei. Natürlich ist es gut, zu verstehen, wie die digitale Welt funktioniert,
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was Programmiersprachen sind und wie ein Algorithmus funktioniert. Die eigentlichen Kernkompetenzen, die in einer zunehmend digitalen Welt gefordert sind, liegen aber ganz anderswo. Was wir als Gesellschaft brauchen – und das nicht nur von unseren Kindern – sind Dinge wie soziale Kompetenz, Empathie, die Fähigkeit, neu, adaptiv und kritisch zu denken, Kreativität, Leidenschaft für Veränderung, die Fähigkeit zu analoger und digitaler Zusammenarbeit, transkulturelle Kompetenz in allen Schattierungen. Diese überfachlichen Kompetenzen müssten noch viel stärker adressiert werden. Es gehört zum Auftrag von Schule und allen Verantwortlichen im Bildungswesen, sich ernsthaft und konstruktiv mit dieser Thematik auseinanderzusetzen. Eine kritische Haltung ist wichtig, aber lediglich Ängste zu beschwören ist in Zeiten von Veränderung kein guter Ratgeber. Schulen brauchen Knowhow, Mut, Offenheit und Kreativität für die digitale Zukunft.
21. Suchen nach Google oder: Was ist ein Filter?
Seit Clay Shirky (2008) verkündet hat, dass es so etwas wie Informationsüberlastung nicht gibt, sondern nur Filterversagen, steht die Rolle von Filtern in der Netzwerk-Wissensökonomie im Mittelpunkt. Mit über fünf Milliarden Suchanfragen pro Jahr ist die Suchmaschine von Google wahrscheinlich der meistgenutzte Filter der Welt. Googles PageRank-Algorithmus – und 250 andere Kriterien, die viel weniger bekannt sind – scheinen so gut zu funktionieren, um aus dem Ozean der Informationen im Web das Wissen herauszufiltern, das für unsere Fragen und Anliegen relevant und zuverlässig ist, dass wir zu der Überzeugung gelangt sind, dass Google uns einen vollständigen und unvoreingenommenen Blick auf die Welt präsentiert. Wir neigen dazu, zu vergessen, dass es tatsächlich ein Problem des Filterversagens gibt und dass vielleicht kein Filter – nicht einmal der Suchalgorithmus von Google – ein wahrer Spiegel der Welt sein kann. Die Filterproblematik ist in der Medienwissenschaft nicht neu. Es ist seit Langem bekannt, dass traditionelle Massenmedien, also Zeitungen, Zeitschriften, Radio und Fernsehen, von der redaktionellen Politik ihrer Eigentümer und Redakteure beeinflusst werden. Was unterscheidet die Filterung durch Algorithmen von der durch menschliche Redakteure? Nichts! Dennoch scheint es naheliegend, Motive, mehr oder weniger geheime Agenden und geschäftliche wie politische Strategien eher Menschen als Maschinen zuzuschreiben. Ist die Suchmaschine nicht lediglich ein Werkzeug, das wir nach Belieben einsetzen können? Und wenn wir keine objektiven, vollständigen und verlässlichen Informationen zu einem Thema erhalten, sind wir selbst schuld, weil wir entweder nicht willens oder nicht in der Lage sind, die Werkzeuge richtig zu nutzen. Wissenschafts- und Technikforschung hat gezeigt, dass Werkzeuge nicht neutral sind; sie haben ihre eigenen Aktionsprogramme, ihre eigenen Affordanzen. Viele Internetdienste, darunter Google, verfolgen die Online-
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Aktivitäten der Nutzer, stellen Profile zusammen und »personalisieren« die Ergebnisse, die sie den Nutzern präsentieren. Kritiker haben davor gewarnt, dass »Filterblasen« die Nutzer in eine Informationsumgebung einschließen, die mit ihren Vorlieben und Interessen übereinstimmt, und somit automatisch Informationen ausschließen, die ihren Meinungen, Vorlieben und Überzeugungen widersprechen. Ob man dies nun für gut oder schlecht oder überhaupt für vermeidbar hält: Viele Algorithmen neigen dazu, alles herauszufiltern, was dem zuwiderläuft, was man erwartet und sehen möchte – seien es kommerzielle Produkte und Dienstleistungen oder Nachrichten. Internetnutzer, vor allem in Online-Communitys und auf Social-Media-Plattformen, können in »Echokammern« isoliert werden, in denen Suchergebnisse und Informationsverteilung lediglich ihre (Vor-)Urteile widerspiegeln. Das Filtern von solchen Algorithmen führt vermeintlich dazu, dass eine unvoreingenommene Auseinandersetzung mit den Fakten und eine informierte öffentliche Beratung über politische und gesellschaftliche Themen zumindest behindert, wenn nicht gar verunmöglicht wird. Abgesehen davon, dass Filterblasen und Echokammern schon vor der algorithmischen Automatisierung von Informationsdiensten existierten und es so etwas wie einen völlig objektiven, unvoreingenommenen und ungefilterten Zugang zu Informationen nie gegeben hat und wahrscheinlich auch nie geben kann, sollte man diese Kritik ernst nehmen. Wir sollten uns bewusst sein, dass jede Ebene des Wissens und Handelns, die ein Filter eröffnet, nur eine unter vielen anderen möglichen Ebenen ist. Es liegt in der Natur eines Filters, dass er selektiert, einschließt und ausschließt. Der Filter präsentiert uns ein Feld des Wissens und Handelns, das nur eine Schicht einer vielschichtigen Realität ist. Algorithmen, die für Google und andere Anbieter suchen, bieten uns Interpretationen und nicht eine Art von unmöglich wertfreiem, unvoreingenommenem und völlig objektivem Wissen über angebliche Fakten. Filter sind hermeneutische Maschinen. Sie liefern uns Interpretationen und nicht die objektive Wahrheit, die es ja sowieso nicht gibt. Ihre Komplexität rührt daher, dass sie weder als neutrale Werkzeuge noch als Autoritäten funktionieren. Sie sind Akteure und Vermittler im Sinne der Akteur-Netzwerk-Theorie, also Quasi-Objekte, die aus der vernetzten Beteiligung von Eigentümern, Entwicklern, Nutzern, Infrastrukturen, Konkurrenten und vielem mehr entstehen. Öffnet man die Blackbox, die Googles Suchmaschine zu sein scheint, findet man viele verschiedene Akteure, die zu einem heterogenen Netzwerk verbunden sind, das immer anders werden kann, als es in jedem Moment zu sein scheint. Vielleicht besteht die Rolle, die wir, die Nutzerinnen und Nut-
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zer, in diesem Netzwerk spielen sollten, darin, uns zum Denken darüber zu motivieren, was wir tun können, um zu verhindern, dass wir selbst zu einer Blackbox werden. Zu wissen, dass wir notwendigerweise Filter brauchen und tagtäglich nutzen, soll uns also bewusst machen, dass Information immer auch in unserer Verantwortung liegt. Wir sind nicht passive Konsumentinnen und Konsumenten, sondern Akteure und Vermittler von Information. Als Vermittler können wir Dinge verändern, auch wenn wir im Moment ganz zufrieden und glücklich sind mit dem, was Google uns präsentiert.
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22. Wenn Facebook eine Nation wäre
Mit 2,7 Milliarden aktiven Nutzern (3. Quartal 2020) ist Facebook größer als China. Wenn wir andere soziale Medien wie Twitter, YouTube, Instagram, Tiktok usw. mit einbeziehen, scheinen wir Zeugen einer beispiellosen Migration in eine global vernetzte Soziosphäre zu sein, die ein Überdenken dessen erfordert, was es bedeutet, über den Nationalstaat als Grundeinheit politischer Kollektivität zu sprechen. Themen wie Globalisierung, transnationale Öffentlichkeiten, Global Governance und internationale Beziehungen haben Vorrang vor den üblichen Diskussionen über Politik, die als regulierende Funktion eines territorial begrenzten Nationalstaates verstanden wird. Es scheint, dass die Moderne uns eine paradoxe Situation hinterlassen hat, in der die Gesellschaft global und vernetzt geworden ist, während die Politik immer noch versucht, die Gesellschaft innerhalb der Grenzen der Nationalstaaten zu steuern. Man könnte fragen, ob die Politik in der heutigen Welt überhaupt noch eine nützliche Funktion erfüllt, wenn ihre Versuche, kollektiv verbindliche Entscheidungen zu treffen, nur bis zu den nationalen Grenzen reichen. Das »Kollektiv«, dem durch die Politik verbindliche Entscheidungen widerfahren sollten, ist nun mehr das globale Kollektiv, in dem die meisten Menschen leben. Die Unzulänglichkeiten traditioneller Nationalstaaten im Umgang mit komplexen globalen Problemen wie Klimawandel, Finanzmärkten, Migration, Terrorismus und Pandemien sind hinlänglich bekannt. Doch was wäre, wenn Facebook eine Nation wäre und die politische Funktion, kollektiv verbindliche Entscheidungen zu etablieren, an ein globales Kollektiv gerichtet wäre anstatt an die territorial begrenzten Nationalstaaten, die uns die Moderne hinterlassen hat? Man wird einwenden, dass die oben genannten Probleme mit realer Politik zu tun haben, mit Wirtschaft, Krieg, Terrorismus, ökologischen Bedrohungen, Migration und Fragen der Gerechtigkeit. Facebook aber ist eine Social-Media-Plattform. Dennoch wäre es vielleicht zu voreilig – angesichts
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der Rolle, die soziale Medien bei politischen Initiativen auf der ganzen Welt gespielt haben und spielen –, anzunehmen, dass globale Gemeinschaften von Social-Media-Nutzern sich nicht auch mit diesen Themen beschäftigen und in der Welt der realen Politik keinen Unterschied machen. Was Facebook stellvertretend für alle globalen Netzwerke zeigt, ist, dass der traditionelle Nationalstaat möglicherweise nicht die Grundlage der Politik in einer globalen Netzwerkgesellschaft sein kann. Vielmehr zeigt sich, dass die Politik überall in einer Krise steckt. Nur den Bürgerinnen und Bürgern eines demokratischen Staates wurde politisches Handeln zugetraut, also die Teilnahme an Prozessen der Deliberation und Entscheidungsfindung im Hinblick auf das Gemeinwohl. Dies impliziert, dass es auf der internationalen Ebene so etwas wie Politik nicht gibt. Autokratische Regime sind die Regel und nicht die Ausnahme. Und internationale Beziehungen erinnern an Hobbes’ Krieg von allen gegen alle, da sie keiner »politischen« Regulierung unterliegen. Wenn wir nur Demokratien betrachten, von denen der Demokratieindex der Economist Intelligence Unit (2019) 22 von 167 Ländern auflistet, gehört die Politik in den Bereich dessen, was Habermas (1981) die »öffentliche Sphäre« nannte. Die öffentliche Sphäre ist jener soziale Bereich, in dem Privatpersonen zusammenkommen, um frei und gleichberechtigt über Angelegenheiten von gemeinsamem Interesse zu beraten. In demokratischen Gesellschaften legitimiert das bessere Argument – und nicht Gewalt, Status, Einfluss, Privilegien etc. –politische Entscheidungen. Wenn legitimes und effektives Regieren nur innerhalb der Grenzen eines Rechtsstaates möglich ist, in dem demokratische Verfahren etabliert sind, was passiert dann mit dem öffentlichen Raum in einer globalen Netzwerkgesellschaft? Globalisierung bedeutet, dass fast alle wichtigen Probleme nicht innerhalb nationaler Grenzen verstanden oder angegangen werden können. Globalisierung bedeutet, dass das »Auftauchen« supranationaler Probleme wie Menschenrechte, Klimawandel, Finanzkollaps, Terrorismus, Migration und Pandemien nicht mehr von den Regierungen der Nationalstaaten, sondern von den Institutionen der Global Governance behandelt werden müssen. Die globale Reichweite und Komplexität solcher Probleme entzieht sich nicht nur den Regelungsmöglichkeiten der Nationalstaaten, sondern überfordert auch die Fähigkeiten der Bürger, mögliche Lösungen zu verstehen und darüber zu entscheiden. Dies macht Demokratien doppelt ineffizient: Einerseits müssen die Demokratien versuchen, eine global gewordene Gesellschaft zu steuern, anderseits ist die öffentliche Sphäre der rationalen Deliberation – vorausgesetzt, es gibt so etwas und Wählerinnen und Wähler werden nicht eher von Emotionen, Vorurteilen,
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Simplifizierungen und Ideologien beeinflusst als von Vernunft – verschwunden. Hinzu kommt, dass Institutionen wie die UNO, die WTO, die WHO, die G20 und andere, deren bloße Existenz von der Unzulänglichkeit nationalstaatlicher Steuerungsansprüche zeugt, die traditionelle Idee einer staatlich basierten Politik infrage stellen. Das Aufkommen einer globalen Netzwerkgesellschaft lässt die öffentliche Sphäre der demokratischen Politik, so scheint es, ohne Heimat zurück. Dies hat zu Bemühungen geführt, die Öffentlichkeit zu »transnationalisieren« oder die Öffentlichkeit zu »retten« . Frazer (2014) weist darauf hin, dass eine demokratische politische Ordnung sowohl Bottom-up- als auch Top-down-Kommunikation impliziert. Bottom-up-Kommunikation bedeutet, dass es eine Öffentlichkeit geben muss, die als Legitimation für die regierenden Institutionen gelten kann, während Top-down-Kommunikation bedeutet, dass es formale Institutionen geben muss, die die öffentliche Meinung wirksam in kollektiv verbindliche Entscheidungen umwandeln. Keine Öffentlichkeit ohne Institutionen und keine legitimen Institutionen ohne Öffentlichkeit. Die Globalisierung bedeutet jedoch, dass nationale Grenzen keine entscheidende Rolle mehr spielen und dass keine Öffentlichkeit – egal wie informiert sie sein mag – in der Lage ist, mit der Komplexität der zu lösenden Probleme umzugehen. Wer kann ohne nationale Grenzen als Bürgerin angesehen werden und welcher normale Bürger kann angesichts der Komplexität der Probleme als kompetent gelten, um Lösungsvorschläge zu beurteilen? In einer globalen Netzwerkgesellschaft sind die Bürgerinnen und Bürger nicht eindeutig identifizierbar, denn Inklusion kann nicht kontrolliert werden. Eine freie und vernünftige Debatte ist zudem nicht realisierbar, selbst wenn man weiß, was in einer religiös und ideologisch pluralistischen Welt als vernünftiges Argument zählt. Und schließlich gibt es weder die notwendige Expertise, um Optionen zu verstehen, noch formale Institutionen, die demokratische Entscheidungen in Recht umwandeln können. Trotzdem behauptet Frazer, dass Habermas’ Öffentlichkeit globalisiert werden kann. Sie geht das Problem von unten nach oben an und konzentriert sich auf die Frage der Inklusion. Eine Öffentlichkeit ist nur dann legitim, wenn alle Bürgerinnen und Bürger einbezogen sind. Woher sollen wir wissen, wer in die globale Öffentlichkeit einbezogen werden soll? Die Lösung liegt laut Frazer in der Behauptung, dass alle, die von einem Problem »betroffen« sind, in eine Öffentlichkeit einbezogen werden sollten, die daher in der Lage ist, über dieses Thema »legitim« zu beraten. Aber wer ist nicht in irgendeiner Weise vom
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Klimawandel, von internationalen Finanzkrisen, von Terrorismus, von Pandemien usw. betroffen? Globale Probleme sind global, gerade weil alle Weltenbürgerinnen und Weltenbürger betroffen sind. In einer globalen Situation kann Inklusion auf der Basis von Betroffenheit nur alle meinen. Das Ergebnis ist, dass Inklusion zu einem leeren Wort wird, da es keinen möglichen Ausschluss gibt. Das Gleiche gilt für Frazers zweites Kriterium der Inklusion: Es sind alle, die den Institutionen der Global Governance »unterworfen« sind. Auch hier fragen wir: Wer ist nicht in irgendeiner Weise den Entscheidungen des UN-Sicherheitsrates, der WHO, der Weltbank etc. unterworfen? Und natürlich kann jeder, auch wenn dies für andere nicht offensichtlich sein mag, behaupten, entweder von solchen Entscheidungen betroffen oder ihnen unterworfen zu sein, und somit ein Recht darauf beanspruchen, in eine transnationale Öffentlichkeit einbezogen zu werden. Wer könnte über solche Ansprüche urteilen und mit welcher Legitimation? Pauline Johnson (2006) geht das Problem von oben nach unten an und unterstützt Habermas’ eigene Lösung, nämlich demokratische Global-Governance-Institutionen zu entwickeln, die ihre Fähigkeit, eine globale Öffentlichkeit zu integrieren, durch Wohlfahrtsregime wirksam unter Beweis stellen, die helfen, auch die globalen Verlierer zu Gewinnern zu machen. Dies mag einleuchten, denn wer hauptsächlich damit beschäftigt ist, jeden Tag genügend Essen zu bekommen, ist nicht in der Lage, komplexen Problemen nachzuforschen und vernünftige Urteile über Problemlösungen zu entwickeln. Menschen über die Armutsgrenze zu heben, macht sie nicht per se zu einer Öffentlichkeit, die zu demokratischer Deliberation fähig ist. Es macht auch keine normalen Menschen zu Experten, die komplexe Sachverhalte verstehen und entscheiden können. Wie Helmut Willke (2016, 2020) überzeugend dargelegt hat, muss sich die demokratische politische Theorie von der Vorstellung verabschieden, dass irgendeine allgemeine Öffentlichkeit über genügend Wissen und Expertise verfügt, um vernünftige Entscheidungen zu treffen. Stattdessen werden die Demokratien überall von Populismus und emotional motivierten Pseudolösungen und deren katastrophalen Folgen dominiert. Beide oben erwähnten Versuche, die öffentliche Sphäre zu retten, stellen die Gründungsmythen der westlichen Moderne nicht infrage. Sie gehen davon aus, dass es autonomen, rationalen Individuen gelingt, ihren angeborenen Egoismus einer ebenfalls angeborenen und scheinbar ausreichenden Vernunft zu unterwerfen. Sie glauben, ohne irgendwelche überzeugenden Gründe dafür zu haben, dass prinzipiell egoistische Individuen das Gemeinwohl über ihre persönlichen Interessen stellen können und dies auch tun werden.
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Zudem glauben sie, dass die angeborene Vernunft ohne langjährige Bildung und Nachforschungen in der Lage ist, komplexe Probleme zu verstehen und adäquate Lösungen zu finden. Die Idee einer öffentlichen Sphäre, die aus privaten Individuen besteht, die sich frei zusammenfinden, um rational und fundiert über das Gemeinwohl zu diskutieren und einen Konsens zu erzielen, der von repräsentativen Institutionen in Gesetze umgesetzt wird, mag in der Tat die beste Idee sein, die der Westen hervorgebracht hat, aber das bedeutet nicht, dass sie universell wahr oder gar auf eine globale Ebene skalierbar ist. Wie das Modell China zeigt, ist die westliche Demokratie eine bestimmte Weltanschauung, die sich in einem globalen Konflikt von Interpretationen befindet. Sie hat sich – vielleicht auf fatale Weise – der Form des territorialen Nationalstaats und seinem Kampf um Macht und Einfluss unter anderen solchen Nationen in einer globalen Version von Hobbes’ »Naturzustand« oder »Krieg aller gegen alle« verschrieben. Die Politik der westlichen Moderne hat keine überzeugenden Antworten auf die Realitäten einer globalen Soziosphäre, in der alle Probleme so komplex sind, dass weder Wählerinnen noch Parteien noch Parlamente noch Präsidenten in der Lage sind, die Optionen zu bewerten und intelligente Lösungen zu wählen. Worauf wir zu warten scheinen, ist das Entstehen einer globalen Öffentlichkeit, in welcher der Konflikt der Kulturen Grundwerte und Weltanschauungen in den Bereich der Kommunikation verlagert und einem Standard dessen ausgesetzt werden kann, was als »rational«, »wahr« und »gerecht« gilt, oder zumindest Verfahren, auf die man sich verlassen kann, wenn kein Konsens über Grundwerte möglich ist. Um eine globale Perspektive darauf zu gewinnen, was Politik und Wirtschaft jenseits der westlichen Moderne bedeuten könnten, könnte es nützlich sein, zu überlegen, was passieren würde, wenn Facebook eine Nation wäre. Natürlich ist der Begriff »Nation« irreführend. In der globalen Netzwerkgesellschaft kann die grundlegende politische Einheit weder das autonome rationale Subjekt noch der territoriale Nationalstaat sein. Was dann? Warum nicht die Möglichkeit von sich selbst organisierenden Netzwerken in Betracht ziehen, die von Governance-Rahmen reguliert werden, anstatt von oben nach unten Ordnung zu schaffen? Wer sagt, dass kollektiv verbindliche Entscheidungen nicht von unten nach oben innerhalb von Netzwerken getroffen werden können? In diesem Szenario wäre Facebook natürlich keine Nation, aber es wäre auch kein rücksichtslos kapitalistisches Privatunternehmen mehr. Es wäre ein selbstverwaltetes Netzwerk der Art, die Elinor Ostrom (1990) untersucht hat. Im Gegensatz zu der lange vorherrschenden Meinung, dass Commons
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zwangsläufig in einer »Tragödie« enden müssen, zeigte Ostrom, dass Regime zur Verwaltung von gemeinsamen Ressourcen erfolgreich sind, wenn sie bestimmten Regeln folgen. Unabhängig davon, ob man davon ausgehen kann, dass die Nutzerinnen und Nutzer sozialer Medien eine globale Gemeinschaft im Sinne einer gemeinsamen Kultur bilden, kann man argumentieren, dass die Affordanzen der neuen Medien gemeinsame Kommunikationsformen und gemeinsame Werte und Normen schaffen. Es gibt Grund zu der Annahme, dass auf der Grundlage der digitalen Transformation eine globale Soziosphäre entsteht, die die globale Zivilgesellschaft stark beeinflusst. Der politische Status einer solchen globalen Soziosphäre könnte nicht im Sinne des Habermas’schen Konzepts der öffentlichen Sphäre verstanden werden. Habermas’ Öffentlichkeit ist auf der westlich-humanistischen Mythologie des autonomen rationalen Subjekts und des Gesellschaftsvertrags begründet, der in einer Verfassung zum Ausdruck kommt, welche die politische Macht eines Nationalstaats legitimiert. Die politische Grundlage von Netzwerken ist keine Verfassung, sondern ein Governance-Rahmen, in dem die Prinzipien der Netzwerk-Governance im Hinblick auf eine bestimmte Art von Information und deren Nutzung konkretisiert werden, die das »Gemeinwohl« darstellt, das das Netzwerk verwaltet. Dieses »utopische« Schema stellt sich eine Welt vor, die aus globalen, also nicht-territorialen, selbstverwalteten Netzwerken besteht und nicht aus territorialen, hierarchisch organisierten Nationalstaaten. Wäre Facebook eine Nation, wäre sie nicht so organisiert wie moderne Nationalstaaten, sondern durch eine Bottom-up- und laterale Kommunikation zwischen allen Beteiligten, die durch Governance-Prinzipien geregelt wird, auf die sich alle Beteiligten des Netzwerks einigen. Vielleicht stellt die digitale Transformation eine viel tiefer greifende Herausforderung für die Politik dar, als dies bis jetzt angenommen wird. Könnte es sein, dass die digitale Transformation nicht nur Business, Wissenschaft, Bildung, Recht und andere Bereiche der Gesellschaft verändert, sondern auch die Politik?
23. Architektur und der »Space of Flows«
Die Architektur wird reflektierter. Nicht weil Architektinnen und Architekten mehr über das, was sie tun, theoretisch nachdenken – das haben sie schon immer getan –, sondern weil die Bedingungen der Möglichkeit von Architektur selbst zum Gegenstand architektonischer Gestaltung werden. Stan Allens postsemiotische Architektur der Infrastrukturen ist ein Beispiel dafür. Nach Allen (1999) hat die Architektur »unter der Dominanz des Repräsentationsmodells ihre Fähigkeit aufgegeben, sich alternative Realitäten vorzustellen, vorzuschlagen oder zu konstruieren« (S. 50). Dies impliziert ein neues Programm für die Architektur, in dem sich Design nicht in monumentalen, autonomen, repräsentativen Gebäuden erschöpft, sondern es primär um »die Produktion von directed fields geht, in denen sich Programm, Ereignis und Aktivität abspielen können« (S. 52). Konkret spricht Allen von Infrastrukturen, also nicht von spezifischen Gebäuden, sondern »dem Ort selbst … den Bedingungen für zukünftige Ereignisse … der Konstruktion von surfaces, der Bereitstellung von Dienstleistungen zur Unterstützung zukünftiger Programme … der Einrichtung von Netzwerken für Bewegung, Kommunikation und Austausch« (S. 54). All diese Netzwerke wie Transportsysteme, Energienetze, Kommunikationsnetze und Logistik aller Arten können als die Bedingungen der Möglichkeit für Architektur im Sinne von Objekten und Gebäuden gesehen werden. Für die Leserschaft von Castells’ Informationszeitalter (2010) klingt das sehr nach dem, was Castells den Space of Flows oder Raum der Ströme nennt, das heißt die Hard- und Software, die ein globales Netzwerk simultanen Handelns jenseits aller lokalen Orte, Traditionen, Kulturen und Identitäten schafft. Obwohl Castells den Konflikt und sogar den Widerspruch zwischen dem globalen und gewissermaßen virtuellen Space of Flows auf der einen Seite und dem physischen und fragmentierten Raum der territorial begrenzten Orte nicht ganz aufgegeben hat, hat er die Rolle der Architektur bei der »Herstellung von Orten im Space of Flows« erkannt . Als Beispiele nennt Castells Projekte wie
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Gehrys Guggenheim-Museum in Bilbao, Calatravas Brücken, Fernmeldetürme, Flughäfen, Moneos AVE-Bahnhof in Madrid und Koolhaas’ Grand Palais in Lille. Viele andere Mehrzweck-Megastrukturen in Form von Verkehrs- oder Kommunikations-Hubs könnten der Liste hinzugefügt werden. Was in diesen Bauwerken gestaltet wird, ist die Infrastruktur, das Netzwerk der Netzwerkgesellschaft. Nicht der Ort, sondern der Flow ist das »Objekt« der architektonischen Gestaltung. Es ist der Fluss und das Fließen, der zum Ort wird, an dem wir leben, arbeiten, spielen, einkaufen etc. Im Gegensatz zu Castells’ Opposition zwischen Flow und Ort zeigen diese Beispiele, dass es der Space of Flows ist, der zum Ort wird, an dem wir leben, arbeiten und unsere Identitäten konstruieren. Dies ist die These des Architekten und Philosophen Gilles Delalex in seinem interessanten Buch Go with the Flow. Delalex (Gründer von MUOTO Architects) ist bekannt für seine infrastrukturellen Projekte, vor allem im Zusammenhang mit Autobahnen. Im Hinblick auf das Problem, die Kluft zwischen dem Space of Flows und dem Raum der Orte zu überbrücken, glauben wir, dass Delalex einen Preis dafür erhalten sollte, dass er alle richtigen Fragen stellt. Hier sind einige davon: »Wie verfestigen sich globale Ströme zu urbanen Topografien?« »Welche Rolle spielt die Architektur im Space of Flows?« »Können Strömungen und Gebäude als eine wechselseitige Konstruktion voneinander aufgefasst werden?« Delalex behauptet, dass es »in den Bereichen Architektur und Städtebau also nicht darum geht, Orte oder Objekte zu gestalten, sondern die Flüsse, die von einem zum anderen führen« (S. 15). Das bedeutet, dass der Space of Flows »ein neues Paradigma für Architektur und Städtebau bietet« (S. 59). Und da es Infrastrukturen sind, die Ströme aller Art ermöglichen, bedingen, lenken, kanalisieren und modulieren – seien es Menschen, Autos, Geld, Waren, Flugzeuge, Informationen oder sonst irgendetwas anderes –, folgt Delalex Allen, indem er die Aufgabe der Architektur in der Gestaltung von Infrastruktur sieht. Aber was ist Infrastruktur? In Anlehnung an Castells’ Definition von Flow definiert Delalex Infrastruktur im Sinne von Prozessen der Wiederholung, der Programmierung, des Austauschs, der Interaktion und der Gleichzeitigkeit. Dies umfasst sowohl Hardware (physische Objekte wie Straßen, Gebäude, Pipelines usw.) als auch Software (Nutzungsprogramme, Bedeutungen, Handlungsmöglichkei-
23. Architektur und der »Space of Flows«
ten usw.). Orte sind keine historisch gegebenen, unveränderlichen und daher isolierten Fragmente, die irgendwie außerhalb der globalen Konnektivität und der Flüsse der Netzwerkgesellschaft existieren. Im Gegensatz zu Castells versteht Delalex Orte als das, was aus Flüssen hervorgeht, die durch Infrastrukturen strukturiert sind. Die Rolle der Infrastruktur und damit die Aufgabe der Architektur ist es, als eine Art Filter für das Entstehen von Orten zu fungieren. In welcher Art von Ort wir uns zu einem bestimmten Zeitpunkt befinden und welche Arten von Informationen und Aktivitäten an einem bestimmten Ort möglich sind, sind ein Ergebnis der Filterfunktion der Infrastruktur. Mehrzweck-Megastrukturen sind nicht als monumentale Gebäude zu verstehen, sondern als komplexe Filter, die bestimmte Arten von Aktivitäten wie Arbeit, Einkaufen, Unterhaltung, Reisen, Wohnen, Gesundheit, Bildung, kulturelle Darbietungen usw. ermöglichen oder nicht. Sie lassen bestimmte Orte aus den Programmen entstehen, die sie unterstützen, und hindern andere Orte am Entstehen, indem sie die für diese Orte erforderlichen Informationsflüsse und Möglichkeiten verhindern. Auch in Spaces of Flows ist nicht alles immer am gleichen Ort möglich. Wie Delalex es ausdrückt: »Die Frage ist nicht mehr, woraus Objekte und Gebäude bestehen, sondern womit sie sich verbinden« (S. 15). Und das wiederum bedeutet: »Der Space of Flows heute bedeutet ein Verständnis des Raumes, der eine Verschiebung markiert vom modernen kartesischen Raum, in dem Objekte geometrisch auf einem neutralen und horizontalen Hintergrund organisiert waren, hin zu einem eher virtuellen Raum, der durch komplexe Beziehungen zwischen Städten, Unternehmen oder Individuen definiert ist. Er evoziert einen Raum, der nicht mehr als neutraler Boden (der Repräsentation oder Intervention) verstanden wird, sondern als aktives Subjekt, Agent oder Prozess« (S. 15). Eine Möglichkeit, Infrastruktur und damit Architektur als Akteur zu verstehen, besteht darin, sich auf ihre Funktion als Filter, als Gateway, als Knotenpunkt in einem Netzwerk zu fokussieren, das Informationen und Handlungen kanalisiert, lenkt, ein- und ausschließt. Diese Perspektive bringt Architektur in die Nähe dessen, was als eine »Schnittstelle« verstanden wird, nämlich ein Filter für Wissen und Handeln. Umgekehrt erlaubt Architektur als Infrastruktur ein neues Verständnis von Interface. Schnittstellen sind nicht mehr Bildschirme oder Eingabegeräte für den Zugang zu Computern. Stattdessen wird das Interface zum Ort des Flusses, zur Form des Raumes in der Netzwerkgesellschaft.
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24. Die Revolution der neuen Medien
Die »Transkodierung« der Gesellschaft entlang der digitalen Medien und Computernetzwerke kann als revolutionär angesehen werden. Mit »Transcoding« meint Manowich (2001), wie der Computer und die digitalen Netzwerke zu Metaphern und Modellen für Gesellschaft und Kultur geworden sind. Wir verstehen uns selbst und gestalten unsere Gesellschaft mehr und mehr auf der Basis digitaler Informations- und Kommunikationstechnologien. Eine der wichtigsten Folgen der digitalen Medienrevolution ist, wie Clay Shirky (2008) betont hat, die Transformation uralter Kommunikationsstrukturen. Die menschliche Gesellschaft war lange Zeit entweder durch Einszu-eins-Interaktion oder, sobald die Anzahl der an der Interaktion beteiligten Personen nicht mehr zulässt, dass jeder mit jedem spricht, weil einfach nicht genug Platz oder Zeit vorhanden ist, durch Eins-zu-viel-Kommunikation strukturiert. One-to-many ist eine hierarchische Top-down-Form der Kommunikation. Wenn eine Gruppe zu groß wird, dass alle miteinander reden können, gibt es immer jemanden, den Häuptling, den König, den Chef, den Präsidenten usw., der sich hinstellt und allen sagt, was sie tun sollen. Das nennt man Führung, und sie ist die Quelle dessen, was man in sozialen Beziehungen »Macht« genannt hat. Unter den vordigitalen räumlichen und zeitlichen Beschränkungen der Kommunikation war eine Gesellschaft nur mit hierarchischer Macht denkbar. Die einzige Möglichkeit, kooperatives Handeln in großen Gruppen zu gewährleisten, war Hierarchie. Die digitale Kommunikationsrevolution kann gerade deshalb als Revolution bezeichnet werden, weil die asymmetrische One-to-manyKommunikation und die hierarchischen Sozialstrukturen, die jahrhundertelang Voraussetzung für kooperatives Handeln in größeren Gruppen waren, nicht mehr das einzige Mittel zur Herstellung sozialer Ordnung sind und in vielen Bereichen zunehmend ineffizient werden. Was die digitale Transformation bedeutet, ist, dass oberhalb der Ebene der Face-to-face-Interaktion,
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also auf den Ebenen von Gruppen, Organisationen, Institutionen und sozialen Systemen, Kommunikation nicht mehr hierarchisch sein muss. Die Möglichkeiten der digitalen Medien heben die althergebrachten räumlichen und zeitlichen Einschränkungen der Kommunikation auf, sodass es nun möglich geworden ist, dass Kommunikation im Modus von manyto-many stattfindet, wobei, wie die Actor-Network-Theory zeigt, nicht nur menschliche, sondern auch nicht-menschliche Akteure, sprich Technologie, an der Kommunikation teilnehmen. Das bedeutet, dass soziale Strukturen nicht länger vertikale Prozesse zur Produktion, Verteilung und Kontrolle von Informationen sein müssen. Dezentrale und verteilte Kommunikation und Entscheidungsfindung sind zum ersten Mal in der Geschichte möglich geworden. Die Verflachung von Hierarchien in allen Formen verändert nicht nur die Natur des kooperativen Handelns in der Gesellschaft, d.h. Organisationen, sondern auch die Natur des Wissens. Autoritative Wahrheiten und objektive Fakten werden zu strittigen Verknüpfungen und Assoziationen. Wie David Weinberger (2013) gezeigt hat, verändert die digitale Revolution die Struktur des Wissens selbst von einer Pyramide in eine Wolke. Die hierarchische Oneto-many-Kommunikation basiert auf einer Ökonomie der Knappheit des Wissens. Man kann einfach nicht genug Bücher produzieren und verbreiten, um alles Wissen auf der Erde an allen Erdenbewohnerinnen und -bewohner zu verteilen. Es muss eine Auswahl getroffen werden. Diejenigen, die auswählten, welche Information gedruckt werden sollte und wer sie erhalten sollte, waren die Informationseliten. Die inhärenten Beschränkungen sowohl der Printmedien wie auch der Rundfunkmedien waren so, dass eine kleine Anzahl von Autoritäten und Gatekeepern an der Spitze der Pyramide stand und die Massen am unteren Ende. Top-down-Kommunikation, ob in der Politik oder in den Medien, ist gekennzeichnet durch Begrenzung, Ausschluss und eingeschränkten Zugang zu Wissen für alle außer einigen wenigen, die an der Spitze der Pyramide stehen. Im digitalen Zeitalter ist Wissen nicht mehr knapp. Wissen ist nicht mehr als Pyramide strukturiert. Stattdessen ist es, wie Weinberger vorschlägt, eine Wolke. Die Wolke, im Gegensatz zur Pyramide, symbolisiert eine nicht-hierarchische, umfassende, vernetzte, komplexe und öffentliche Ordnung des Wissens. Anstelle eines sequenziellen, progressiven und deduktiv geordneten und damit stabilen Faktengebäudes hat die digitale Revolution ein unbegrenztes, heterogenes, unkoordiniertes Netzwerk von Verbindungen geschaffen. Die digitale Medienrevolution ist revo-
24. Die Revolution der neuen Medien
lutionär, weil sie die Pyramide als zentrale Ikone der gesellschaftlichen Wissensordnung durch die Cloud ersetzt hat. Aus Sicht der Akteur-Netzwerk-Theorie kann behauptet werden, dass digitale Technologien nicht nur zu einflussreichen Akteuren in der Netzwerkgesellschaft geworden sind, sondern dass das »Networking«, also die Vermittlung, Übersetzung und Einschreibung von menschlichen und nichtmenschlichen Akteuren in Netzwerke, grundlegend durch die nicht-hierarchische Kommunikation der neuen Medien bedingt ist. Dies verändert nicht nur die Gesellschaft, sondern auch die verschiedenen Netzwerke, aus denen die Gesellschaft und damit auch die Welt besteht. Networking, verstanden als die Konstruktion von Assoziationen zwischen Akteuren, hat es nun mehr und mehr mit neuen Arten von Akteuren und neuen Arten von Assoziationen zu tun. Die Vernetzung wird revolutionär. Die digitale Revolution ist über den Status als bloßer Gegenstand der Medienwissenschaft hinausgewachsen und in gesellschaftliche Bereiche vorgedrungen, die normalerweise gar nicht als Medien betrachtet werden. Die digitale Transformation hat viele neue Konzepte hervorgebracht, zum Beispiel folgende: Globalisierung, digitale Infrastruktur, allgegenwärtige Konnektivität, Crowdsourcing, Open Innovation, Social Media, Co-Creation, Semantic Web, kollektive Intelligenz, intelligente Agenten, Prosumenten statt Konsumenten, Conversational Markets, lernende Organisationen, Informationsflut, offene Bildungsressourcen, Flows, Wissensarbeiter, Identitätsmanagement, verteilte Kognition, Konnektivismus, virtuelle Organisationen, die Cloud, Wissensmanagement, Dezentralisierung, Selbstorganisation, virale Kommunikation und vieles mehr. Diese Begriffe tauchen nicht nur in der Medienwissenschaft auf, sondern in allen gesellschaftlichen Bereichen wie Bildung, Gesundheitswesen, Wissenschaft, Politik, Kunst, Recht usw. Wenn wir uns entschließen, diese Begriffe nicht als oberflächlichen Buzz oder lediglich als neuesten Hype abzutun, dann können sie so verstanden werden, dass sie einen grundlegenden Wandel in der Art und Weise bewirken, wie Networking betrieben wird, und demnach auch in der Art und Weise, wie Organisationen, Wissen und sogar das Selbstverständnis des Menschen sich ändern. Begriffe wie die oben genannten beschreiben eine andere Welt und eine andere Art von Realität als jene, die auf den Grundlagen der analogen, hierarchischen Kommunikation aufgebaut war. Diese Welt und die Art der Realität, aus der sie besteht, schlagen wir vor, »gemischte Realität« zu nennen, da das Virtuelle und das Physische untrennbar miteinander verwoben sind. Es gibt keine physische Welt mehr, die von der Welt der neuen Medien getrennt ist.
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Wissen und Handeln sind gleichermaßen vom Physischen und Digitalen abhängig. Das hat weitreichende Folgen für die Art und Weise, wie wir über Arbeit, die Welt und die menschliche Existenz denken. Zumindest bedeutet es, dass wir neue Konzepte entwickeln müssen, um zu beschreiben und zu verstehen, was real ist, was wichtig ist und was das Leben ausmacht.
25. Wo wollen Sie heute hin? Raum als Schnittstelle
Microsoft stellte der Welt 1994 das Internet mit dem Slogan vor: »Wohin wollen Sie heute gehen?« Allen, die Windows 95 hochfuhren, wurde routinemäßig diese Frage gestellt. Auch wenn die »Mad Men« diese globale ImageWerbekampagne nicht für einen großen Erfolg hielten, sagt Microsofts Slogan etwas philosophisch Wichtiges über die digitale Transformation aus: Digitale Medien, und vor allem das Internet, haben etwas mit Raum zu tun, das heißt damit, wo man ist und wohin man geht. Die Bedeutung der neuen Medien für den Begriff des Raumes ist zumeist negativ formuliert worden. Digitale Medien sollen den Raum auslöschen, große Entfernungen auf die Bewegung einer Computermaus schrumpfen lassen und einen vernetzten globalen, aber virtuellen Raum schaffen – Castells (2003) spricht von einem »Space of Flows« –, in dem alles und alle jederzeit offen und verfügbar sind. Das ist in der Tat das, was Microsoft sagt: Man kann überall hingehen, es gibt keine Grenzen für die Bewegung, Raum ist keine Barriere oder ein Hindernis mehr für Kommunikation, Informationsflüsse und kooperatives Handeln. Im Internet wird der Raum durch den Cyberspace ersetzt, eine virtuelle Realität, eine paradoxe Weite, die die ganze Welt im dimensionslosen Reich der Bits und Bytes enthält. Über die Gefahren und Vorteile des Cyberspace ist viel geschrieben worden. Inzwischen ist die sogenannte virtuelle Realität für Arbeit, Einkaufen, Wirtschaft, Bildung und alle anderen Lebensbereiche so wichtig geworden, dass sie nicht mehr als eigener, von der »realen« Welt irgendwie getrennter Bereich gedacht werden kann. Physischer Raum und Cyberspace sind zu dem verschmolzen, was man eine »gemischte Realität« nennen könnte. Aber wie sollen wir den Raum verstehen, wenn er eine Mischung aus widersprüchlichen Elementen ist? Ist die Philosophie des Raums nach dem Aufkommen der digitalen Medien dazu verdammt, von einem raumlo-
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sen Raum zu sprechen, ähnlich dem, was Castells (2010) die »zeitlose Zeit« der Netzwerkgesellschaft genannt hat? In seinen Überlegungen zur Netzwerkgesellschaft spricht Castells auch vom »Raum der Orte« (Space of Places). Der Ort ist das, was Raum vor dem Internet war. Wie schon Heidegger (2003a) feststellte, ist der Raum kein leerer Behälter, sondern immer schon in konkrete Orte zerlegt: die Wohnung, das Büro, eine Lichtung im Wald, der Hinterhof, die Straße, das Theater, der Stadtplatz, der Gerichtssaal, die Arztpraxis oder das Krankenhaus, der Schulraum, das Einkaufszentrum usw. Die alltägliche Erfahrung hat sich nie im abstrakten Raum der cartesianischen res extensa, einem unermesslichen leeren Behälter, befunden, sondern immer, wie Heidegger betonte, »in« einem bestimmten Ort. Dasein existiert als hineingeworfen in eine bestimmte historische Zeit und einen bestimmten Ort. Dies ist die »Faktizität« des Seins. Das Sein ist immer ein konkretes räumliches und zeitliches »In-der-Weltsein«. Alles und jeder hat seinen Ort. Der Hammer hat seinen Platz in der Werkstatt, Töpfe und Pfannen gehören in die Küche, der Fernseher steht im Wohnzimmer, der Schreibtisch im Büro, und auch der Mensch hat seinen Platz in der Gesellschaft, in der Familie, am Arbeitsplatz und vor Gott. Ort ist immer irgendwo, ein bestimmtes Hier und Dort, gegliedert durch nah und fern. Was in Bezug auf den abstrakt geometrischen Raum vielleicht am weitesten von uns entfernt ist, kann in Wirklichkeit das sein, was uns in Bezug auf unsere Interessen, auf Wichtigkeit, Bedeutung, Relevanz und Nützlichkeit am nächsten ist. Der Ort ist nicht nur durch Nähe und Ferne strukturiert, sondern auch durch seine Ausrichtung. Orte lenken uns auf Dinge, die uns wichtig sind. Wenn wir müde sind, gehen wir ins Bett, wenn wir aufwachen, gehen wir zur Arbeit. Der Ort ist, wo wir sind und wohin wir gehen wollen. Wenn Microsoft also fragt, wohin wir heute gehen wollen, erscheint das Internet nicht als virtueller Space of Flows, sondern als das unbegrenzte Angebot an Orten. Vielleicht sollte der Raum der Flows dem Raum der Orte nicht radikal entgegengesetzt werden. Wenn die Realität tatsächlich nicht mehr in einen virtuellen und einen physischen Bereich trennbar ist, sondern immer eine Mischung aus beidem ist, was wird dann aus dem Raum? Für Castells ist der Space of Flows sowohl physisch als auch virtuell, das heißt er wird sowohl durch die materielle Infrastruktur des Netzwerks als auch durch die Interaktionen, die diese Infrastruktur ermöglicht, konstituiert. Wendet man diese Dualität auf den Raum der Orte an, kann man die Bedeutung der Architektur bei der Schaffung von Orten erkennen. Häuser werden so gebaut, dass Hämmer, Töpfe und Pfannen, Betten, Fernseher und
25. Wo wollen Sie heute hin? Raum als Schnittstelle
auch Menschen ihren Platz haben. Architektur ist die materielle Infrastruktur von Orten. Wir bewohnen unsere Welt, indem wir Gebäude, Denkmäler, Häuser, Straßen, Brücken, Städte und Ortschaften errichten. Orte sind nicht einfach gegeben, sie werden aufgrund bestimmter Verwendungen und Bedeutungen entworfen. Es ist das Design, die Konstruktion, die Architektur, die einen Ort zum Bewohnen öffnet und gleichzeitig den leeren, abstrakten Raum der reinen Möglichkeit verschließt. Ähnlich wie der griechische Tempel, den Heidegger in Der Ursprung des Kunstwerks (2012) beschreibt, eröffnet jedes Gebäude eine Welt und schließt gleichzeitig die reine Materialität der res extensa in die stille Erde ab. Architektur funktioniert als Filter. Die Art und Weise, wie Wände, Fenster, Böden, Säulen, Straßen usw. konstruiert sind, lässt bestimmte Richtungen, Zwecke, Ziele, Praktiken, Gefühle usw. »stattfinden« und schließt andere tendenziell aus. Eine Arztpraxis sieht anders aus und fühlt sich anders an als ein Gerichtssaal, eine Fabrik, ein Büro, eine Bank, ein Schulraum, eine Werkstatt oder ein Einkaufszentrum. Der Filter lässt bestimmte Arten von Informationen und Handlungen zu, während er andere ausschließt. Die Filterfunktion der Architektur ähnelt den Filtern, die man anwendet, wenn man sich durch den Space of Flows bewegt. Der Zugang zum Internet ist immer abhängig von Filtern, die bestimmte Informationen und Interaktionen zulassen und andere ausschließen. Wenn Microsoft fragt, wo wir heute hinwollen, dann ist die Antwort immer ein Filter. Sie ist zum Beispiel eine Suchanfrage. Sie eröffnet uns eine Richtung im unbegrenzten World Wide Web, die uns an einen Ort führt und nicht an einen anderen. Die materielle Infrastruktur (Hardware und Software), die bei der Anwendung eines Filters ins Spiel kommt, wird üblicherweise als »Schnittstelle« bezeichnet. In ähnlicher Weise kann man sagen, dass die Architektur ein Filter und damit auch eine Schnittstelle ist. So wie der Space of Flows durch eine materielle Infrastruktur mitkonstituiert wird, die einen bestimmten Informations- und Interaktionsfluss ermöglicht, so wird der Raum der Orte durch eine materielle Infrastruktur mitkonstituiert, die Orte, Richtungen, Nähe und Ferne eröffnet. Aus der Sicht der gemischten Realität sind diese beiden Räume untrennbar. In der gemischten Realität gibt es nicht zwei verschiedene Infrastrukturen, so wie es auch nicht zwei verschiedene Arten – die physische und die virtuelle – von Realität gibt. Die beiden Infrastrukturen sind in eine einzige integriert. Und aufgrund ihrer Filterfunktion kann diese Infrastruktur, also die Architektur, ähnlich wie Computer-Interfaces als Schnittstelle gedacht werden.
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Wo auch immer wir heute hinwollen: Es ist irgendwo, es ist ein bestimmter Ort. So viel ist sicher. Aber was ist mit dem Raum, in dem wir uns bewegen? Vielleicht sollte eine Theorie des Raums für die digitale Welt Konzepte des Raums als leeren Behälter ebenso hinter sich lassen wie die einfache Reduzierung des Raums auf eine unbestimmte Vielzahl von Orten. Unser Vorschlag ist, den Raum als Bedingung der Möglichkeit von Ort(en) zu denken – eine Bedingung, die nur dann konditioniert, das heißt produktiv wirkt, wenn sie als Filter funktioniert. Dies impliziert, dass der Raum den Zugang zu Orten ermöglicht, während er gleichzeitig den abstrakten, leeren Raum, den die traditionelle Philosophie immer als metaphysischen »Behälter« der Welt konzipiert hat, verschließt und überdeckt. Nach unserem Vorschlag kann das, was den Zugang zu Orten ermöglicht, sei es die Architektur oder die IT – die beide unter dem Regime der Mixed Reality ineinander übergehen – als Interface bezeichnet werden. Kurz: Raum ist Schnittstelle.
26. Informationelle Privatheit: eine Angelegenheit der kontextuellen Integrität?
Es ist kein Geheimnis, dass Theorien der informationellen Privatheit, die auf der Definition von Privatheit als Einschränkung des Zugangs zu Informationen oder der Aufrechterhaltung der Kontrolle über Informationen basieren, an Glaubwürdigkeit verlieren. Das liegt daran, dass traditionelle Theorien zur Privatheit Information als eine Art von Dingen verstehen, die an einem sicheren Ort eingeschlossen werden können, deren Eigentum eindeutig festgestellt werden kann und deren Kontrolle möglich ist. Dies sind Annahmen, die typisch für eine Industriegesellschaft sind, die auf Individualismus, Eigentumsrechten, vertraglichen sozialen Beziehungen und Märkten basiert. Die digitale Revolution hat viele dieser Annahmen obsolet gemacht. Information ist kein Ding, es gibt keinen »Ort«, an dem Information eingesperrt werden kann, und wenn es um Information geht, sind sowohl Eigentum als auch Kontrolle vage und anfechtbar. Unter den Denkern, die nach neuen Interpretationen der Privatheit suchen, hat Helen Nissenbaum (2001; 2004; 2010) eine Theorie ausgearbeitet, die die Privatheit auf das stützt, was sie »kontextuelle Integrität« nennt. »Was den Menschen am meisten am Herzen liegt, ist nicht einfach die Einschränkung des Informationsflusses, sondern die Sicherstellung, dass Information angemessen fließt …« (2010 S. 2). Wenn wir über ein Recht auf Privatsphäre sprechen, sprechen wir folglich über ein Recht auf einen »angemessenen Fluss« von Informationen und nicht, wie oft angenommen, über ein Recht auf Geheimhaltung oder auf die Blockierung von Informationsflüssen. Dies verschiebt den Diskurs über personenbezogene Daten weg von der Fokussierung auf die Exklusion – andere Menschen, Unternehmen oder die Regierung – des Zugangs zu personenbezogenen Daten hin zur Fokussierung auf die richtigen Arten der Inklusion.
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Die Rechtspraxis hat sich in der Tat mehr darauf verlassen, was die Menschen erwarten, als auf abstrakte Definitionen von Privatheit. In Ruhe gelassen zu werden, so wie Warren und Brandeis die Privatheit definierten, ist eine Frage der vernünftigen Erwartungen innerhalb einer bestimmten sozialen Situation. Eine solche Situation nennt Nissenbaum einen »Kontext«. Die Gesellschaft besteht aus vielen verschiedenen Kontexten wie Bildung, Gesundheitswesen, Politik, Wirtschaft, Familie usw. In jedem Kontext gibt es ungeschriebene Normen und Regeln, die den Informationsfluss regeln. Wenn diese »Informationsnormen« richtig funktionieren, »definieren und erhalten sie wesentliche Aktivitäten und Schlüsselbeziehungen und -interessen, schützen Menschen und Gruppen vor Schaden und sorgen für ein Gleichgewicht der Machtverteilung« (S. 3). Wenn Menschen das Gefühl haben, dass ihre Privatheit verletzt wurde, so geschieht dies immer unter Bezugnahme nicht auf abstrakte Konzepte von Zugang und Kontrolle, sondern auf die Informationsnormen, die für den jeweiligen Kontext gelten, in dem sie handeln. Was Privatheit bedeutet und was die Erwartungen von Menschen auf den Schutz von Privatheit sind, variiert von Kontext zu Kontext. Da die angemessenen Erwartungen an Privatheit und damit das Recht auf Privatheit aus dem Kontext abgeleitet werden, hängt alles davon ab, wie Kontexte verstanden und analysiert werden. Für Nissenbaum sind »Kontexte strukturierte soziale Einstellungen, die durch typische Aktivitäten, Rollen, Beziehungen, Machtstrukturen, Normen (oder Regeln) und interne Werte (Ziele, Zwecke) gekennzeichnet sind« (S. 132). Kontexte können mehr oder weniger formalisiert und institutionalisiert sein; sie können sich überschneiden oder ineinander verschachtelt sein. Innerhalb eines bestimmten Kontexts können die Regeln, die den Informationsfluss regeln, als »Informationsnormen« bezeichnet werden. Diese Normen konditionieren die Erwartungen darüber, wer auf welche Weise Information über was sammeln, weitergeben und nutzen darf. Wann immer Ansprüche auf den Schutz der Privatsphäre erhoben werden, kann die Gültigkeit dieser Ansprüche überprüft werden, indem festgestellt wird, ob innerhalb des Kontexts Veränderungen in Bezug auf Akteure, Arten von Information, Kommunikationsformen usw. stattgefunden haben. Wenn dies – wie es oft bei der Einführung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien – der Fall ist, dann ist die »Integrität« des Kontexts verletzt worden. Die kontextuelle Integrität erklärt daher, warum und wie das Recht auf Privatheit als verletzt empfunden wird, und ermöglicht zudem eine differenzierte Analyse, wo genau das
26. Informationelle Privatheit: eine Angelegenheit der kontextuellen Integrität?
Problem entstanden ist und was zum Schutz der informationellen Privatheit getan werden kann. Trotz der vielversprechenden Abkehr von Theorien zur Privatheit, die auf veralteten Zugangs- und Kontrollrechten basieren, wirft Nissenbaums Theorie der kontextuellen Integrität eigene Fragen auf. Jede Veränderung von Informationsnormen, d.h. von Akteuren, Information, Kommunikationsformen usw., wird einige Menschen enttäuschen, die dann behaupten können, dass diese Innovationen die Integrität des sozialen Kontexts verletzen. Aber technologische Innovationen werden auch von anderen mit Begeisterung aufgenommen. Dies deutet darauf hin, dass Kontexte nicht einfach gegeben sind. Sie sind immer im Wandel, immer diffus und daher immer anfechtbar. Welches Verständnis von der Integrität eines Kontexts ist das richtige? Wessen Interpretation eines Kontexts ist gültig? Kontexte sind nie fixiert, sondern verändern sich ständig. Sich auf die Integrität eines Kontexts zu berufen, um festzustellen, ob die Privatheit verletzt wurde oder nicht, erweist sich als Frage, die nicht beantwortet werden kann, da niemand definitiv sagen kann, was der Kontext ist und welche Informationsnormen die richtigen sind. Vielleicht wäre es ein fruchtbarerer Ansatz, einen Schritt zurück vom Kontext zu gehen und sich auf die grundlegenden Normen zu konzentrieren, die bestimmen, wie Kontexte ausgehandelt, hergestellt, aufrechterhalten und verändert werden. Eine Theorie der Privatheit für das digitale Zeitalter müsste vielleicht über jeden gegebenen sozialen Kontext hinausgehen und ihre Grundlage in den Normen der Konstruktion und Nutzung von Netzwerken finden. Vielleicht sollte man anstelle von Kontexten von Netzwerken sprechen. In Netzwerken aller Art, die zum Teil globale Dimensionen erreichen, leben wir unser tägliches Leben und handeln mit anderen Stakeholdern Informationsflüsse aller Art ständig aus, und zwar für viele verschiedene Zwecke. In einer globalen Netzwerkgesellschaft sind es die Netzwerknormen, die bestimmen, wie Netzwerke aufgebaut, aufrechterhalten und modifiziert werden, die letztlich bestimmen, welche Regeln in bestimmten Kontexten üblicherweise gelten. Informationelle Privatheit muss daher auf der Grundlage der Normen, die das Networking regeln, neu konzipiert werden. Angesichts der radikalen Umgestaltung fast aller Aspekte der Gesellschaft, die die digitale Transformation mit sich bringt, ist es vielleicht von Vorteil, dass Privatheit kein fundamentales Recht darstellt, das in jedem Kontext auf der gleichen Art und Weise aufrechterhalten werden muss. Es wäre vielleicht besser, Regeln und Governance-Rahmen aufzustellen, welche
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die optimale Nutzung von Information ermöglichen, anstatt dies in allen Fällen im Namen der Privatheit zu unterbinden.
27. Der Akteur ist das Netzwerk
Goffmans dramaturgisches Modell für soziale Interaktion und Face-to-faceKommunikation ist aus der Sicht der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) interessant, weil für ANT soziale Akteure keine »Individuen«, sondern Netzwerke sind. Ein Netzwerk zu sein anstelle eines einheitlichen, unteilbaren, unmittelbar selbsttransparenten Subjekts des Wissens und Handelns, stellt das moderne Verständnis der menschlichen Natur ebenso infrage wie die traditionellen Vorstellungen von Face-to-face-Kommunikation als einer Begegnung zwischen zwei Menschen, in der die einzelnen sozialen Akteure direkt miteinander kommunizieren, ohne Marionetten von makrosozialen Strukturen wie Organisationen, Familien, Nationen, Normen, Institutionen usw. zu sein. Es ist eine allgegenwärtige Annahme der Moderne, dass Interaktion und Face-to-face-Kommunikation eine Situation beschreiben, in der zwei Menschen einander begegnen, Meinungen austauschen, sich darauf einigen, zu kooperieren oder nicht usw., und zwar auf der Basis von Freiheit, Gleichheit und – wie Habermas sagen würde – »unverzerrter Kommunikation«. Unverfälschte Kommunikation ist dann gegeben, wenn niemand und nichts die intentionalen Sprechakte der autonomen rationalen Subjekte stört, die dadurch nicht an der selbstständigen Bildung und Äußerung ihrer Meinung gehindert werden. In der Welt, in der Habermas lebt, treffen sich zwei Sprecher, schauen sich in die Augen und erheben Geltungsansprüche anhand allgemein akzeptierter Kriterien von Wahrheit, Wahrhaftigkeit, Richtigkeit und Bedeutung. Denn ohne dass alle Beteiligten schon wüssten, was als Wahrheit gilt – dass man nicht lügt, dass man so redet, wie die Sprache dies grammatisch vorschreibt und dass das, was man sagt, doch einen Sinn hat – ohne diese Annahmen, die natürlich falsch sein könnten, könnte man nicht einmal beginnen, miteinander zu reden. Wie diese vermeintlich autonomen Individuen zu den allgemein akzeptierten Definitionen von Wahrheit, Wahrhaftigkeit, Korrektheit und Bedeutung gekommen sind, ist natürlich eine andere
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Geschichte – eine Geschichte, die uns Habermas nicht erzählt. Was erzählt wird, ist der moderne Mythos der freien und rationalen sozialen Interaktion oder, wie man es auch nennt, der Gesellschaftsvertrag. Goffmans soziale Rollentheorie ist interessant, weil die Rollentheorie behauptet, dass soziale Gesprächspartner sich notwendigerweise wie Schauspieler auf einer Bühne verhalten. Schauspieler treten nie auf als nackte Subjekte, sondern immer mit Kostümen, Requisiten, Skripts, Kulissen, Erzählungen, Mechanismen zur Auswahl des Publikums und vielen weiteren »anderen«. Nicht das nackte Individuum tritt ein in die soziale Kommunikation, sondern immer eine »Persona« (Maske) samt allen Requisiten, welche der Maske einen Sinn und soziale Wirksamkeit verleiht. Kurz: Bevor ein autonomes, rationales Subjekt auf der Bühne erscheinen kann, muss eine Menge Arbeit geleistet werden, eine Menge Dinge müssen an Ort und Stelle gebracht werden und viel gemeinsames Verständnis dieser Situation muss von allen akzeptiert werden. Wäre dies nicht so, wäre die Kommunikation ohne »Kontext« oder – wie Wittgenstein (2010) sagen würde – wir wüssten nicht, welches Sprachspiel gespielt wird, und die Akteure selbst wüssten nicht, was sie sagen sollten, und wenn sie etwas sagen würden, wüsste niemand sicher, was es bedeutet. Goffmans soziale Akteure sehen den Akteur-Netzwerken von Bruno Latour sehr ähnlich: Sie bestehen aus einem mehr oder weniger fragilen und heterogenen Verbund von Menschen und Nicht-Menschen, die für bestimmte Zwecke zusammengehalten werden. John Law (2006, S. 434-435) beschreibt dies prägnant: »Wenn man mir meinen Computer, meine Kollegen, mein Büro, meine Bücher, meinen Schreibtisch, mein Telefon nähme, wäre ich kein Artikel schreibender, Vorlesungen haltender, ›Wissen‹ produzierender Soziologe mehr, sondern eine andere Person. Vergleichbares träfe sicher auf uns alle zu. Die analytische Frage muss also lauten: Ist ein Akteur primär aus dem Grund ein Akteur, weil er oder sie einen Körper bewohnt, der Wissen, Kompetenzen, Werte und vieles mehr beherbergt? Oder ist er aus dem Grund ein Akteur, weil er über einen Satz von Elementen (darunter natürlich auch über einen Körper) verfügt. die sich über ein Netzwerk von somatischen und anderen Materialien erstrecken, die jeden Körper umgeben?« François Cooren (2010) kommt auf der Grundlage der Sprechakttheorie und der Diskursanalyse zu einem ähnlichen Ergebnis. Aber für Cooren ist es nicht das menschliche Individuum, das mithilfe einiger weniger unterstützender Requisiten das Reden übernimmt, sondern es sind all jene Goffman’schen »anderen«, die, wie Law es ausdrückt, den einzelnen Sprecher »umgeben«. Die Antwort auf die Frage, wer spricht, muss also bei den ande-
27. Der Akteur ist das Netzwerk
ren liegen und nicht beim sogenannten Individuum. Es ist diese Vielzahl von anderen, die soziale Akteure – wie Schauspieler auf der Bühne – zum Sprechen »bringen«. Cooren beschreibt dies als »Bauchrednerei«. Obwohl Sprechakte gewöhnlich intentionalen menschlichen Individuen zugeschrieben werden, sind Menschen in Wirklichkeit eher wie die Marionetten, die von einem Bauchredner zum Sprechen gebracht werden. Ein Richter spricht für das Gesetz, ein Priester für Gott und die Heilige Schrift und ein Wissenschaftler für die Wahrheit. Es ist das Gesetz, Gott oder die Wahrheit, die durch einzelne Menschen spricht. Damit solche Sprechakte akzeptiert werden und in der sozialen Interaktion funktionieren, ist, wie Goffman feststellte, eine Menge an Bühnenbild, Casting, Kostümierung, Mobilisierung von Requisiten und Rezitation von Skripts im Gange. Sie alle tragen dazu bei bzw. ermöglichen es, dass der Schauspieler spricht. Für Goffman, Latour und Cooren kann man sagen, dass soziale Interaktionen »ständig Entitäten mobilisieren … und sie im Hier und Jetzt präsent machen« (Cooren, S. 3). Cooren behauptet jedoch, dass »diese Art, Interaktion zu begreifen, uns gerade erlaubt, sie vom hic et nunc zu befreien, von der Gegenwart in beiden Bedeutungen des Begriffs (räumlich und zeitlich)« (S. 3). Die Bauchrednerei impliziert, dass Interaktionen niemals rein lokal sind. Zu sagen, dass der Akteur das Netzwerk ist, bedeutet für Cooren die »Verlagerung« der Interaktion aus der Unmittelbarkeit der Begegnung von Angesicht zu Angesicht in einen erweiterten Bereich von heterogenen und hybriden Netzwerken. Das, was bis anhin die Face-to-face-Interaktion ausgemacht hat, nämlich physische Präsenz im Hier und Jetzt, verschwindet. Was sollen wir von dieser unerwarteten Behauptung halten, dass Face-toface-Kommunikation weder zeitlich noch räumlich gebunden ist? Bedeutet dies, dass soziale Interaktionen nicht am »gleichen« Ort und zur »gleichen« Zeit stattfinden müssen? Findet Interaktion also nicht auf einer dramaturgisch organisierten »Bühne« statt, auf der all jene Requisiten und Stützen, die Goffman beschreibt, vorhanden sind? Muss Face-to-face-Kommunikation nicht synchron und in einem physisch gemeinsamen Raum stattfinden, auch wenn »andere« an der Kommunikation teilnehmen und nicht nur die menschlichen Sprecherinnen und Sprecher? Die Tatsache, dass viele meist unsichtbare und unerkannte Akteure an sozialen Interaktionen beteiligt sind, und die Annahme, dass diese Akteure ein Netzwerk bilden, das sich über einen bestimmten Ort und eine bestimmte Zeit hinaus erstreckt, bedeutet nicht, dass wenn diese Akteure zur Arbeit gehen, Dinge in Bewegung setzen oder an Interaktionen teilnehmen, Raum
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und Zeit keine Beschränkungen mehr sind. Ganz im Gegenteil. Soziale Interaktion »findet«, wie Goffman betonte, nicht irgendwo statt, sondern an klar definierten Orten, an bestimmten, gut vorbereiteten Bühnen, zu mehr oder weniger geeigneten Zeiten. Es mag wahr sein, dass die Existenz und die vielfältigen Assoziationen von Autos, Ampeln, Gesetzen, rücksichtslosen Fahrern, Vorschriften und vielem mehr nicht auf die Ecke 5th Ave. und Broadway beschränkt sind, wenn der Gummi auf die Straße trifft. Doch das soziale Ereignis des Autounfalls tut genau dies: Dieser bestimmte Autounfall ist nicht disloziert, verteilt und frei von den Beschränkungen von Raum und Zeit. Der Akteur ist zwar das Netzwerk, aber die soziale Interaktion bleibt lokal. Coorens These ist aber dennoch wichtig, weil sie uns zu der Frage veranlasst: Was bedeutet »lokal«? Was auch immer es bedeuten mag, es bedeutet sicherlich nicht die unmittelbare Präsenz des transzendentalen, intentionalen Subjekts zu sich selbst in einem mythischen hic et nunc. Vielleicht bedarf es einer neuen Denkweise über den Raum und die Zeit der vernetzten Kommunikation? Vielleicht müssen wir die Interaktion nicht so sehr aus Raum und Zeit verlagern, sondern die Kommunikation insgesamt auf der Grundlage des Konzepts der Akteur-Netzwerke neu konzipieren. In der ANT ist der Raum der Interaktion das »Kollektiv«, das aus der Perspektive der neuen Medientheorie als »Soziosphäre« bezeichnet werden kann. Die Soziosphäre ist unabhängig von den begrifflichen Parametern der modernen Sozialtheorie und der westlichen Philosophie, einschließlich der Annahmen über Intentionalität, die die Sprechakttheorie bis heute plagen. Glaubt man Shakespeare, der sagte, die Welt sei eine Bühne und die Menschen bloß Schauspieler, dann müsste man die Ordnung dieser Welt in den Narrativen suchen, die jeder und jedem, ob menschlich oder nicht-menschlich, Rollen zuschreiben und aus Chaos Sinn machen.
28. Die Soziosphäre
Die digitale Medienrevolution hat sowohl die private als auch die öffentliche Sphäre weitgehend obsolet oder zumindest fragwürdig gemacht und einen Bereich geschaffen, der weder privat noch öffentlich ist – einen Bereich, in dem traditionelle Formen der Assoziation, einschließlich der Politik, infrage gestellt werden. Bruno Latour (2008a) entscheidet sich dafür, die Terminologie der modernen Sozialtheorie überhaupt nicht zu verwenden und spricht vom »Kollektiv«, das heißt von einem Raum von Netzwerken. Das Kollektiv soll traditionelle Annahmen von einer öffentlichen Sphäre – die auf der einen Seite durch eine radikal individualisierte Vorstellung von Freiheit und auf der anderen Seite durch hierarchische und repressive soziale Strukturen begrenzt ist – ersetzen. In Anlehnung an Latour und ausgehend von der digitalen Revolution schlagen wir vor, die Kategorien des Privaten und des Öffentlichen fallen zu lassen und sie durch den neuen Begriff der Soziosphäre, in dem im Wesentlichen Latours Kollektiv mitgedacht ist, zu ersetzen. Die Soziosphäre ist weder privat noch öffentlich. Sie basiert auf einer neuen Form der Kommunikation, die hauptsächlich durch digitale Medien ermöglicht wird, nämlich der »Many-to-many-« (Viele-zu-vielen-)Kommunikation. Die jahrhundertealten Beschränkungen der Kommunikation, welche diese entweder in einen Eins-zu-eins-Modus oder in einen Eins-zu-vielen-Modus zwangen, schufen eine öffentliche Sphäre und einen politischen Raum, der in sich widersprüchlich war. Auf der einen Seite gab es die Kommunikation von Angesicht zu Angesicht, die ein Raum war, in dem nur sehr kleine Gruppen von Menschen kooperatives Handeln organisieren konnten. Sobald mehr Leute dazukamen, brauchte man viel mehr Raum, um sich zu versammeln, und auch viel mehr Zeit, damit jeder mit jedem reden konnte und auf dieser Basis ein Konsens darüber zu finden möglich war, was zu tun ist und wie es zu tun ist. An einem bestimmten Punkt wurde es unpraktisch und sogar unmöglich, dass die Kommunikation von Angesicht zu Angesicht einen Konsens erzielen und ko-
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operatives Handeln gestatten konnte. Es gab einfach nicht genug Platz oder Zeit für jeden, um mit jedem zu reden. An diesem Punkt übernahm die Oneto-many-Kommunikation den sozialen Raum und schuf die Voraussetzungen für die Entstehung dessen, was heute als Politik bekannt ist. Die hierarchische Eins-zu-vielen-Kommunikation, die notwendig ist, um das Handeln in großen Gruppen zu koordinieren, wurde zur Grundlage der sozialen Ordnung und der Politik. Man könnte behaupten, dass das, was wir »Zivilisation« nennen – d.h. die Entwicklung großer Siedlungen, die Arbeitsteilung, stratifizierte soziale Ordnung usw. – auf der Eins-zuvielen-Kommunikation aufgebaut ist. Zivilisation, von früh bis spät, ist die Geschichte von Hierarchien, von Göttern und Königinnen, Häuptlingen und Führern, Eliten und Herrscherinnen der einen oder anderen Art. Daran hat auch die Entwicklung der westlichen Demokratie nichts geändert. Hierarchische Kommunikation verkleidete sich einfach durch das Konzept der Repräsentation. Sie gab vor, eine One-to-one-Kommunikation zu sein, also eine Kommunikation, an der alle gleichberechtigt teilhaben, war aber in Wirklichkeit eine One-to-many-Kommunikation. Die digitale Medienrevolution hat diese uralte Konfiguration des sozialen Raums verändert und damit auch das Wesen der sozialen Ordnung und der Politik. Die Möglichkeiten der digitalen Medien schaffen eine völlig neue Form der Kommunikation, die in der Lage ist, die räumlichen und zeitlichen Beschränkungen zu überwinden, die der Kommunikation seit den Anfängen der Menschheitsgeschichte auferlegt wurden. Das ist es, was die Technologie bewirkt. Wenn sich vor der digitalen Medienrevolution viele Menschen versammelten, um kooperatives Handeln zu initiieren, gab es weder genügend Raum noch Zeit, damit jeder mit jedem reden konnte, und eine Person – der Häuptling, die Königin, der Chef, die Präsidentin – musste sich hinstellen und allen sagen, was zu tun ist. Die Möglichkeit der Many-to-many-Kommunikation, welche die digitalen Medien schaffen, trägt die Hoffnung in sich, die Widersprüche der Repräsentation aufzulösen, welche die traditionellen Medien erzeugen – nämlich dass einer für die vielen spricht, indem er zu den vielen spricht. Im Zuge der digitalen Medienrevolution verschwindet die Öffentlichkeit und mit ihr das private Subjekt der Moderne in der Soziosphäre. Und wenn sich das Private und der öffentliche Diskurs in etwas Neues verwandeln, verwandelt sich auch die darauf aufbauende politische Form der Macht. Der territoriale Nationalstaat wird zunehmend dysfunktional. Die Soziosphäre schafft eine globale Netzwerkgesellschaft, in der die Nationalstaaten nicht mehr die Grundlage von
28. Die Soziosphäre
politischer Ordnung sein können. In der Soziosphäre gibt es nicht mehr so etwas wie autonome rationale Subjekte und es gibt keinen spezifisch öffentlichen Raum der sogenannten »Deliberation« mehr. Was wir anstelle von Privatheit und öffentlicher Deliberation haben, ist das, was Stowe Boyd »publicy« nennt. Publicy ist nicht Publizität. Publicy ist vielmehr der Standardzustand, mit jedem und jeder auf einer globalen Ebene verbunden zu sein. Es ist ein sozialer Raum, der durch sogenannte »Netzwerknormen« von freien Informationsflüssen, Kommunikation, Partizipation, Transparenz, Authentizität und Flexibilität gekennzeichnet ist. Diese Netzwerknormen sind die neuen Menschenrechte, die ja mit dem autonomen rationalen Subjekt, worauf sie begründet waren, verschwanden. Sie sind das, worauf sich jede soziale und politische Ordnung in der globalen Netzwerkgesellschaft gründen muss. In der globalen Netzwerkgesellschaft muss man nicht mehr in einen territorial begrenzten Nationalstaat hineingeboren oder »eingebürgert« werden, um ein Bürger oder eine Bürgerin mit politischem Mitspracherecht zu werden. Alle sind überall mit allen verbunden und in der Lage, Netzwerke kooperativen Handelns in allen Bereichen und zu allen Zwecken einzugehen, und zwar ohne die Regulierung von oben durch einen Nationalstaat. Die Soziosphäre wird nicht durch vermeintlich souveräne Nationen reguliert, sondern durch Netzwerknormen, die in der Konstruktion aller komplexen soziotechnischen Netzwerke wirksam sind, also der Netzwerke, in denen wir in der heutigen Welt leben. Wenn es Konnektivität gibt, gibt es auch Kommunikation. Kommunikation war schon immer die Art und Weise, wie Netzwerke konstruiert wurden. Sie kann als Netzwerknorm dienen, weil sie sich auf alle Praktiken, Techniken, Aktivitäten, Einflüsse und Verhandlungen bezieht, die weder privat noch öffentlich sind, sondern in einem anderen Bereich als einem dieser beiden traditionellen sozialen Räume stattfinden. Unabhängig davon, ob wir von einer Soziosphäre, einem Raum der Netzwerke oder dem Kollektiv sprechen: Seit sowohl die private als auch die öffentliche Sphäre durch neue Medien transformiert wurden, führen Versuche, auf traditionelle Weise zu kommunizieren, zu Widersprüchen und Konflikten. Kritiker der neuen Medien beklagen oft den Verlust der Privatsphäre, während sie gleichzeitig das Verschwinden der autoritativen, repräsentativen One-to-many-Kommunikation beklagen. Typische Kritikpunkte an der digitalen Revolution sind der Vorwurf des Exhibitionismus auf der einen Seite und die Entthronung traditioneller Autoritäten auf der anderen Seite. Innerhalb der egalitären, nicht-exklusiven, nicht-hierarchischen Soziosphäre ist jeder exponiert, alle nehmen teil
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Essays zur digitalen Transformation
und niemand kann die Informationsflüsse kontrollieren. Die Kritiker haben Recht, wenn sie darauf hinweisen, dass die Privatsphäre bedroht ist, doch sie vergessen oft zu erwähnen, dass die Privatheit keinem gesellschaftlichen Zweck mehr dient. Persönliche Informationen sind heute zu einer Wertquelle nicht nur für Individuen, sondern auch für Gemeinschaften geworden. In der globalen Netzwerkgesellschaft wird durch Information Wert generiert. Dabei handelt es sich nicht nur um monetären Wert, sondern um Wert im Gesundheitswesen, in der Bildung, in der Wissenschaft und in praktisch allen anderen Lebensbereichen. Die Bedeutung von persönlicher Information hat sich ebenso verändert wie das, was es bedeutet, eine »Person« zu sein. Die digitale Transformation macht Personen zu wertvollen Informationsquellen für sich selbst und füreinander. Die Soziosphäre besteht aus vernetzten Personen, deren Informationen die Grundlage für die Wertschöpfung des gesamten Netzwerks sind. In einer vernetzten Informationswelt ist Privatheit nicht nur dysfunktional, sondern auch a-funktional. Während das autonome rationale Subjekt der westlichen Moderne Privatheit brauchte, braucht das informationelle Selbst der globalen Netzwerkgesellschaft Öffentlichkeit. Während das autonome rationale Subjekt des westlichen Humanismus eine hierarchische Regierung brauchte, um Ordnung zu schaffen und aufrechtzuerhalten, braucht das informationelle Selbst selbstorganisierende Netzwerke. Was nützt der Versuch, eine E-Mail-Adresse oder eine Mobiltelefonnummer zu verstecken, wenn persönliche und berufliche Vorteile davon abhängen, dass viele Menschen diese Information kennen? Was nützt ein Schweizer Bankkonto, wenn Bankdaten automatisch international transferiert werden? Was nützt es, die Teilnahme an sozialen Netzwerken zu verweigern, wenn die meisten Jobmöglichkeiten, Bildungsangebote und sogar die Partnersuche über LinkedIn, Facebook, Google usw. erfolgen? Was bringt es, das GPS-Tracking auszuschalten, wenn ich meinen Bus verpasse oder mich in der Stadt nicht mehr zurechtfinde? Warum muss man sich verstecken, wenn man keinen Vorteil davon hat? Die Privatheit, für die Edward Snowden kämpfte, besteht nicht darin, dass wir keine Daten im Netz haben, sondern dass wir darüber Bescheid wissen und ein Mitspracherecht haben, wie sie genutzt werden. Digitale Medien ermöglichen persönliche Präsenz und Teilnahme an globalen sozialen Gemeinschaften ohne die Anonymität, die zentralisierte Massenmedien erfordern. Der Einzelne darf Anonymität nicht länger als Preis für öffentliche Kommunikation akzeptieren. Kritiker beklagen daher zu Recht den Verlust von Autorität im öffentlichen Raum. Sie spüren, dass ohne Privat-
28. Die Soziosphäre
sphäre die traditionelle öffentliche Kommunikation im Sinne der Identifikation mit Meinungsführern, Repräsentanten, Parteien, Verbänden und so weiter keinen Sinn mehr ergibt. Welchen Bedarf hat die Gesellschaft an Repräsentanten, an der Vorauswahl von Themen und Informationen, die Autoritäten und Gatekeeper vornehmen, wenn alle mit allen über alles direkt kommunizieren können? Wenn jeder und jede mit der Welt sprechen kann, muss niemand für jemanden sprechen, und niemand kann oder muss kontrollieren, worüber gesprochen wird. Warum sollte man sich auf Expertinnen und Experten verlassen, wenn die Lösungen, die von der »die Weisheit der Vielen« (Surowiecki 2007) und der Schwarmintelligenz kommen, besser, billiger und schneller sind? Die Meinungsbildung ist nicht länger das Vorrecht von Fachleuten, Behörden oder denen, die die Massenmedien kontrollieren. Niemand muss mehr für andere sprechen, da jeder Zugang zu den Kommunikationsmitteln hat und Many-to-many-Kommunikation, wie Clay Shirky (2008) betont, zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit möglich geworden ist. Wie aber die vielen Missbräuche der offenen Kommunikation zeigen, braucht es wirksames Peer-to-Peer-Qualitätsmanagement und Transparenz darüber, wer was sagt und warum. Die Krise der Repräsentation und die Möglichkeit der Many-to-manyKommunikation als Grundlage für die Etablierung einer globalen Soziosphäre anstelle der antagonistischen Domänen des Privaten und des Öffentlichen, die innerhalb der Grenzen der Nationalstaaten gefangen sind, sollten nicht zu einer vereinfachenden und unrealistischen Hoffnung auf direkte Demokratie oder partizipative Politik führen. Diese Begriffe haben ihre natürliche Heimat in der politischen Theorie der Moderne und dienen vor allem dem Zweck, die inhärenten Widersprüche der öffentlichen Sphäre sowohl aufzudecken als auch zu verschleiern, indem sie die Hoffnung auf eine Lösung in Aussicht stellen, ohne die grundlegenden Annahmen der Moderne zu überwinden. Es ist oft festgestellt worden, dass sich die frühen Hoffnungen in die demokratisierenden Effekte des Internets nicht erfüllt haben. Die gegenwärtigen Kontroversen um Netzneutralität, Plattformgesellschaft, Surveillance Capitalism, Fake News, Trolle, Verschwörungstheorien etc. sind Beispiele dafür. Dennoch sind die Hoffnungen in die selbstregulierende Dynamik der Soziosphäre nicht unberechtigt. Die digitale Medienrevolution hat die Bühne für eine Rekonzeptualisierung des Sozialen wie auch des Politischen vorbereitet. Nicht nur, dass Many-to-many-Kommunikation möglich geworden ist und die globale Soziosphäre geöffnet wurde – auch die politische Theorie beginnt, sich unter der Bezeichnung »Governance« neue Formen der Regu-
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lierung vorzustellen. Die Bedeutung von Konnektivität, freien Informationsflüssen, Kommunikation und Partizipation als Netzwerknormen liegt nicht allein in ihrer Funktion bei der Konstruktion von Netzwerken, sondern auch in den Arten von Netzwerken, die aus diesen Normen entstehen. Denn es sind Netzwerke, die den Weg aus den Sackgassen einer auf der modernen westlichen Industriegesellschaft basierenden Politik weisen.
29. Privat und öffentlich oder: Das magische Händchen
Vor der digitalen Medienrevolution gliederte sich die Kommunikation aus gesellschaftstheoretischer Sicht in die zwei Bereiche Interaktion und Organisation, wobei die Theorie der funktionalen Differenzierung einen dritten Bereich, die funktionalen Subsysteme, hinzufügte. Interaktionen sind Faceto-face-Kommunikation in kleinen Gruppen, während Organisationen durch Top-down-, also hierarchische Kommunikation gekennzeichnet sind. Was Interaktion von Organisation unterscheidet, ist nicht nur die Form der Kommunikation, sondern die Anzahl von Beteiligten. Während Interaktionen zumeist nur aus wenigen Personen bestehen, können Organisationen Tausende von Menschen involvieren. Diese Unterscheidung kann als Grundlage für die wichtige Unterscheidung zwischen privat und öffentlich angesehen werden. Die Face-to-face-Kommunikation der Interaktion erzeugt einen privaten Bereich im Gegensatz zu einem öffentlichen Bereich des kooperativen Handelns, der durch hierarchische One-to-many-Kommunikation »organisiert« ist. Privat und öffentlich stehen zueinander in einem Verhältnis von unstrukturiert zu strukturiert, von individueller Freiheit zu sozialer Konditionierung und von Individuum zu Gruppe. Die Face-to-face-Kommunikation der Interaktion ist geprägt von Meinungsfreiheit und egalitärem Turn-Taking, bei dem alle die Chance haben, ihre Meinung zu äußern. Da es nicht nur um Meinungen geht, sondern um Tauschbeziehungen, wurde dieser Privatbereich, obwohl in einem gewissen Sinne durchaus öffentlich, zur Grundlage des wirtschaftlichen Handelns in einer liberalen Marktgesellschaft. Die Wirtschaft befindet sich also in einem Bereich, der nicht »öffentlich« ist und daher nicht direkt unter staatlicher Kontrolle steht, wie etwa das Militär und die Verwaltung dies tun. Die liberale Theorie erwartet, dass soziale Ordnung auf magische Weise aus den freien und eigennützigen Entscheidungen von Käuferinnen und Verkäufern
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hervorgeht. Freie Individuen tun aber noch andere Dinge als kaufen und verkaufen – die Gesellschaft ist nicht nur ein Markt. Es gibt viele Formen der sozialen Ordnung, Institutionen und Organisationen, die nicht auf wirtschaftliches Handeln ausgerichtet sind. Beispiele sind Bildung, Sicherheit, Gesundheitswesen, Recht, Wissenschaft, Religion, Kunst und Politik. Außerdem sind geschäftliche Aktivitäten, die auf Basis von Interaktionen stattfinden, nicht wirklich privat, sie sind genauso »öffentlich« wie jede andere Form der Kommunikation. Trotzdem ist der private Bereich theoretisch notwendig, denn niemand kann mir vorschreiben, was ich zu kaufen oder zu verkaufen habe, genauso wenig wie mir jemand vorschreiben kann, was ich zu glauben habe, welche Kunstwerke ich zu schätzen wissen muss, was ich studieren soll, wen ich heiraten soll, welche Karriere ich verfolgen und wo ich leben soll usw. Der öffentliche Bereich scheint überall auf privaten Entscheidungen zu beruhen. Die moderne soziale und politische Theorie erzählt die Geschichte einer Gesellschaft, die aus den aggregierten privaten Interaktionen der Individuen entsteht. Face-to-face-Kommunikation führt auf mysteriöse Art und Weise – der Liberalismus spricht von einer »magischen Hand« – zu einer sozialen Ordnung, in der sie durch eine hierarchische Befehl-und-KontrolleKommunikation von oben nach unten ersetzt wird. Aus der Perspektive von Luhmanns Theorie der sozialen Systeme (1984) ist es die funktionale Differenzierung der Gesellschaft in teilautonome Subsysteme, die die Moderne von vormodernen, stratifizierten und religiös integrierten Gesellschaften unterscheidet. Im Mittelalter differenzierte sich die Gesellschaft nach einem religiös verankerten, nach Schichten organisierten Weltbild, in dem Könige und Priester an der Spitze standen, dann kamen verschiedene Adelige und Kleriker, das Militär, Handwerker und Bauern und schließlich, am unteren Ende der Hierarchie, Leibeigene. Was die moderne Gesellschaft im Gegensatz zu vormodernen und nicht-westlichen Gesellschaften charakterisiert, ist eine funktionale statt einer stratifizierten Differenzierung. Die Wirtschaft zum Beispiel organisiert kommunikative Handlungen durch einen eigenen spezifischen Code von entweder Kaufen oder Verkaufen und erfüllt damit effizient eine gesellschaftlich notwendige Funktion, nämlich die materielle Reproduktion der Gesellschaft. Die Politik hingegen organisiert Kommunikation durch ihren Code, entweder Macht zu erlangen oder zu verlieren, und erfüllt damit die Funktion, verbindliche Entscheidungen für die Gesamtgesellschaft sicherzustellen. Das Rechtssystem organisiert kommunikative Handlungen als legal oder illegal nach juristischen Entscheidungen. Das Bildungssystem organisiert kommunikative Handlungen ent-
29. Privat und öffentlich oder: Das magische Händchen
weder als Zertifizierung von Wissen und Fähigkeiten für Arbeitsplätze oder als Nicht-Zertifizierung. Das Wissenschaftssystem organisiert kommunikative Handlungen entweder als wahr oder falsch. Alle diese funktionalen Subsysteme werden durch spezifische Codes konstituiert, die kommunikatives Handeln in einer Weise organisieren, die zugleich universell und global ist – da alles gekauft oder verkauft werden kann, alles dazu beitragen kann, politische Macht zu gewinnen oder zu verlieren, alles für ein juristisches Urteil relevant sein kann etc. – und die auch exklusiv sind und einander ausschließen. Man kann alles kaufen und verkaufen, aber nicht politische Ämter, Bildungszertifikate, wissenschaftliche Wahrheiten oder juristische Urteile. Diese funktionalen Subsysteme bestehen aus Organisationen – Unternehmen, Schulen, Gerichte, Laboratorien, Kirchen, Krankenhäuser usw. –, in denen die Entscheidungen getroffen werden. Um Entscheidungen treffen zu können, müssen Organisationen in der Lage sein, Diskussionen von Angesicht zu Angesicht zu beenden und Befehle zu erteilen, die Menschen auszuführen haben. Organisationen sind notwendigerweise durch hierarchische, One-to-many-Kommunikation konstituiert. Eine »private« Organisation ist also nicht wirklich privat, sondern, vom Standpunkt der Kommunikation aus verstanden, durch und durch öffentlich. Zwischen Organisationen gibt es keine Face-to-face-Kommunikation. Organisationen »interagieren« nicht. Organisationen kommunizieren Entscheidungen und lassen alles andere, was in ihrer Umwelt sein mag, selbst zurechtkommen. Der private Bereich der Interaktion ist im Wesentlichen »desorganisiert«. Trotzdem ist dies laut Demokratietheorie der Bereich, in dem alles Wichtige passiert. Für Habermas ist der Bereich der freien und uneingeschränkten Interaktion die Grundlage für die Legitimation politischer Macht. Wenn jemand die Rolle übernehmen soll, zu vielen zu sprechen und anderen zu sagen, was sie zu tun haben, dann muss diese Macht aus einer Face-to-face-Kommunikation entstehen, in der alle die Chance haben, frei zu sprechen, sich zu beraten und sich zu einigen. Interaktion, obwohl nur für kleine Gruppen möglich, muss eine »Öffentlichkeit« vermitteln, in der, wie Habermas betont hat, eine große Anzahl von Individuen offen und frei nicht nur ihre Geschäftsvorhaben diskutieren, sondern auch die Regierungspolitik und Macht kritisieren können. In modernen demokratischen Gesellschaften basiert die Legitimation von Regierungsmacht und -politik sowie von Hierarchie jeglicher Art auf der Kommunikation, die in dem Bereich stattfindet, der als Öffentlichkeit bekannt ist. Die Kontinuität zwischen Eins-zu-eins-Interaktionen und dem öffentlichen Raum, der aus sehr vielen Menschen besteht, ist brüchig und unsicher.
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Die Zwänge der Kommunikation in großen Gruppen neigen dazu, die Interaktion in eine Dimension zu drängen, die der Kommunikation in kleinen Gruppen fremd ist. Was wurde aus der Interaktion, als aus der kleinen Gruppe eine große Öffentlichkeit wurde? Eine Antwort ist, dass sie ganz aus der öffentlichen Dimension herausgezwängt wurde. Die Öffentlichkeit erlaubt es einfach nicht, dass jeder mit jedem spricht. Es gibt einfach nicht genug Zeit und Raum, um die Interaktion zwischen sehr großen Gruppen zu ermöglichen. Wenn große Gruppen interagieren, haben wir keine Öffentlichkeit, sondern eine gefährliche Menschenmenge, nie eine Quelle der öffentlichen Ordnung, sondern eher der Revolte und des Chaos. Aber wenn es in der öffentlichen Sphäre keinen Platz für private Interaktion gibt, wohin geht dann die Interaktion? Was passiert mit dem sozialen Status und der Funktion der Interaktion, wenn alle wichtigen Entscheidungen in der Öffentlichkeit getroffen werden? Diese Fragen ergeben sich aus dem widersprüchlichen und paradoxen Charakter der öffentlichen Sphäre. Die öffentliche Sphäre wird paradoxerweise als ein öffentlicher Raum für Privatpersonen definiert. Doch was bleibt dem Einzelnen und kleinen Gruppen, um darüber zu sprechen, wenn alle wichtigen Angelegenheiten wie Wirtschaft und Politik die Beteiligung vieler Menschen erfordern und daher nicht in räumlich und zeitlich begrenzten Face-to-face-Interaktionen geregelt werden können? Diese Spannungen haben historisch zur Entstehung dessen geführt, was als »Privatheit« bekannt geworden ist. Außerhalb der öffentlichen Sphäre entstand eine Form von Privatheit, in der jene Dinge kommuniziert – oder besser gesagt nicht kommuniziert – wurden, die in der Öffentlichkeit keinen Platz hatten, jene Dinge, die man vor der öffentlichen Kontrolle und auch vor staatlicher Sanktionierung verbergen wollte. Außerdem musste die Basis all der vielen freien Entscheidungen, die Individuen in einer funktional differenzierten Gesellschaft zu treffen haben, außerhalb der Teilsysteme liegen. Funktionale Differenzierung braucht Individuen, die frei wählen können, ob sie von einem System in das andere wechseln wollen. Die Folge ist, dass eine spezifisch westliche Form der Individualität entstand, die mit dem Begriff der Privatheit und des Individuums gekoppelt ist. Privatheit kann als Nebenprodukt der Widersprüche betrachtet werden, die der Idee der Öffentlichkeit inhärent sind. Die Privatheit konstituierte sich in der westlichen Moderne als rein persönliche Identität und als privilegierter Raum – im Gegensatz zur sozialen oder kulturellen Identität, einem Raum, der dem öffentlichen Diskurs nicht zugänglich ist. Das Modell der Privatheit war der Dialog der Seele mit sich
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selbst (Platon), eine »Hinterbühne« (Goffman), wo der soziale Akteur die Maske ablegen konnte, wo die Regeln und Sanktionen der sozialen Performance nicht galten. Die Privatheit ist wie ein geheimer Raum, bei dem alle Türen geschlossen und die Vorhänge zugezogen sind, ein Raum, in den niemand hineinschauen kann, frei von der Kontrolle und den Sanktionen der anderen. Gekoppelt mit der Idee des autonomen rationalen Subjekts, das philosophisch den Grundstein für den westlichen Individualismus legte, wurde die Privatheit zu jenem Ort, an dem die Vernunft ihre eigenen Urteile auf der Basis eigener Gesetze und nicht auf der Basis äußerer Einflüsse der Tradition, der Autoritäten, der Priester und der Könige bilden konnte. Die Vernunft rettete das private Individuum vor irrationaler Idiosynkrasie und asozialer Barbarei, indem sie die Individualität in Universalität verwandelte. Der Hobbes’sche Krieg aller gegen alle wurde durch die einigende Kraft der Vernunft und des Gesellschaftsvertrags beendet. Idiosynkratische, irrationale, emotionale und sogar perverse oder barbarische Individuen wurden durch die Vernunft auf magische Weise in einen »body politic« verwandelt. Der Leviathan, den Hobbes so wortgewaltig beschrieb, wurde von der Vernunft geboren. Aber als der Leviathan entstand, wurden Privatpersonen aus der Interaktion in eine hierarchische Eins-zu-viele-Kommunikation versetzt. Man hat den Eindruck, dass die freien Individuen, die den Gesellschaftsvertrag unterzeichneten, das Kleingedruckte nicht gelesen haben, denn seit der Entstehung der Gesellschaft unterliegt das Individuum sozialer Konditionierung in allen möglichen Formen. Von Freiheit kann, wie Kant sagt, nur noch unter dem Gesetz gesprochen werden. Vielleicht ist es an der Zeit, dass wir die Diskussion über privat und öffentlich einfach fallen lassen und beginnen, den Akteuren bei ihren Vernetzungsaktivitäten zu folgen. Das könnte zur Entdeckung einer neuen Form des Sozialen führen – zu dem, was Bruno Latour das »Kollektiv« nennt. Vielleicht haben diejenigen Recht, die den Verlust der Privatheit im digitalen Zeitalter beklagen. Die Privatheit ist in der Tat weg. Aber die alte Öffentlichkeit, die aus der schweigenden Mehrheit und den Massen bestand, ist ebenfalls verschwunden. Anstatt in Begriffen wie »Privatheit« und »Öffentlichkeit« zu denken, warum nicht über eine »Soziosphäre« sprechen, in der es weder Privatpersonen gibt, die hoffnungslos versuchen, ihre Geheimnisse zu bewahren, noch öffentliche Autoritäten, die ebenfalls hoffnungslos versuchen, eine Art Legitimation von der schweigenden Mehrheit zu erhalten?
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30. Das soziale Betriebssystem
Mixed Reality beschreibt eine Form der sozialen und kulturellen Evolution, die digitale Technologie mit allen Aspekten des Lebens verschmilzt, sodass Häuser, Arbeitsplätze, Büros, Schulen, Unternehmen, Universitäten, Bibliotheken, öffentliche Gebäude, Krankenhäuser, ja ganze Städte einschließlich der komplexen Systeme von Transport, Energie, Logistik und Kommunikation, von denen sie abhängen, zu komplexen soziotechnischen Netzwerken werden, also zu automatisierten Informations- und Kommunikationssystemen. Die Assoziationen herzustellen, die Akteure zu erfassen, ihre Programme zu übersetzen – dieses heterogene, hybride Netzwerk aus Menschen und Nicht-Menschen zu navigieren, zu verwalten, zu koordinieren und zu nutzen, ist die Aufgabe dessen, was man als soziales Betriebssystem bezeichnen könnte. Ein Betriebssystem, wie etwa Windows, iOS oder Linux, ist die zentrale Software eines Computers. Es aktiviert und steuert Ein- und Ausgabegeräte, koordiniert Funktionen, steuert Prozesse und überwacht den Betrieb aller Elemente der komplexen Hardware und der verschiedenen Anwendungen, die darauf laufen. Es hält das gesamte System zusammen. Die Idee eines sozialen Betriebssystems wurde mit dem Aufkommen von Web 2.0 und dem, was als Social Media bezeichnet wird, populär. Sie bezieht sich auf die zunehmende Abhängigkeit fast aller Aktivitäten von digitaler Information und Kommunikation und auf die Integration technologischer Systeme in Arbeit, Spiel, Lernen, Gesundheitswesen, ja, in alle Lebensbereiche. Im Gegensatz zu systemischen und kybernetischen Ansätzen, die auf Vorhersage und Kontrolle ausgerichtet sind und den Menschen nicht unbedingt einbeziehen, betont die Idee des sozialen Betriebssystems die gegenseitige Abhängigkeit von automatisierten Systemen und menschlicher Beteiligung und Entscheidungsfindung. Von einem sozialen Betriebssystem zu sprechen, bedeutet anzuerkennen, dass es immer einen Menschen in der Schleife gibt. Es verweist auf die Tatsache, dass ein System, egal wie automatisiert es sein
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mag, immer in die Gesellschaft eingebettet ist, das heißt in Netzwerkbeziehungen, an denen Menschen und Nicht-Menschen beteiligt sind. Darüber hinaus bezieht sich die Idee des sozialen Betriebssystems auf die Entstehung einer sozialen Ordnung, die grundsätzlich von unten nach oben verläuft und partizipatorisch und selbstorganisierend ist, im Gegensatz zu hierarchischen, von oben nach unten gerichteten Modellen mit geschlossenen Feedback-Schleifen, die auf die Maximierung von Effizienz und Funktionalität ausgerichtet sind. Das Soziale am sozialen Betriebssystem ist, dass es so funktioniert, dass funktionalisierte Intermediäre und Blackboxes in Akteure und Vermittler umgewandelt werden. Jeder Akteur im Netzwerk hat eine »Stimme«, das heißt das Potenzial, das Netzwerk zu verändern, neue Akteure oder neue Handlungsprogramme einzuführen. Das Konzept eines sozialen Betriebssystems geht von der »Autonomie« des Objekts, ob menschlich oder nicht-menschlich, als Träger und Schöpfer von Bedeutung aus. Es steht im Widerspruch zur kybernetischen Systemtheorie, ist aber mit der AkteurNetzwerk-Theorie insofern kompatibel, als es die Irreduzibilität von Entitäten und das Primat der Vermittlung gegenüber dem Funktionalismus annimmt. Es kann behauptet werden, dass die Richtlinien, die Leitprinzipien des sozialen Betriebssystems die normativ strukturierenden Prinzipien der globalen Netzwerkgesellschaft sind. Dies insofern, als die Netzwerkgesellschaft nicht auf die dystopische Vision der perfekt funktionierenden kybernetischen Maschine reduziert wird, in der Freiheit, Kontingenz, das Zufällige und das Unerwartete für Funktionalität, Effizienz und Sicherheit geopfert werden. Wie die Industriegesellschaft vor ihr hat auch die globale Netzwerkgesellschaft ihre eigenen Strukturen und Dynamiken, ihre eigenen Prinzipien und Normen. Diese können als »Netzwerknormen« bezeichnet werden. Sie lassen sich aus den Affordanzen der primären Technologien ableiten, die Netzwerke in der heutigen Welt konstruieren, also aus den Informations- und Kommunikationstechnologien. Anstatt zu fragen, was wir vom Netzwerk wollen, könnten wir genauso gut fragen, was das Netzwerk von uns will. Das bedeutet, genau hinzuschauen, was die Akteure mit den digitalen Medien machen und wie die Nutzung der neuen Medien beeinflusst, welchen Regeln sie bei der Konstruktion ihrer Identitäten in den Netzwerken, in denen sie leben, folgen. Dies ermöglicht die Entdeckung der Spielregeln des Netzwerks, das heißt jener Formen kommunikativen Handelns, die Netzwerke konstruieren, aufrechterhalten und verändern. Die Idee einer »Norm« soll auf NichtMenschen ausgedehnt werden und nicht auf menschliche intentionale Akteure beschränkt bleiben. Das Ergebnis sind »Netzwerknormen«, die als Struk-
30. Das soziale Betriebssystem
turprinzipien oder normative Richtlinien der globalen Netzwerkgesellschaft verstanden werden können. Was sind diese Normen? Obwohl die digitale Transformation noch in den Kinderschuhen steckt und sich die Technologien in einem noch nie dagewesenen Tempo verändern, könnte man diese Netzwerknormen vorläufig wie folgt beschreiben: Konnektivität, Fluss, Kommunikation, Transparenz, Partizipation, Authentizität und Flexibilität. Dies sind die »Werte«, die dem Networking, also der Konstruktion der soziotechnischen Netzwerke, in denen wir leben, innewohnen. Sie sind die Leitprinzipien des sozialen Betriebssystems.
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31. Net Locality: Der Raum spielt keine Rolle, aber der Ort
Es ist sowohl ein Gemeinplatz wie auch eine Prämisse für das Nachdenken über die globale Netzwerkgesellschaft und die digitale Transformation: Vernetzte Informations- und Kommunikationstechnologien haben uns – im Guten wie im Schlechten – von den begrenzenden Bedingungen von Zeit und Raum befreit. Castells (2010) sprach von der »zeitlosen Zeit« und dem »Raum der Flüsse« (Space of Flows), die für die Netzwerkgesellschaft typisch sind. Wenn es etwas gibt, das jeder über die digitale Medienrevolution weiß, dann ist es dies, dass Kommunikation und Handeln heute global und augenblicklich sind. Das ist der ganze Sinn der Konnektivität, die der Cyberspace kreiert hat. Wir können auf Informationen zugreifen und nach ihnen handeln, wann immer wir wollen und unabhängig davon, wo wir uns physisch befinden. Endlich sind Kommunikation und Interaktion von den Grenzen des Raumes und der Zeit befreit. Inzwischen ist die Technologie aber wieder sozusagen »auf den Boden zurückgekommen«. Vor allem durch die Verbreitung von mobilen Geräten, die mittels Technologien wie GPS, WiFi und Cellular den physischen Standort des Nutzers oder der Nutzerin registrieren können, sind Raum und Zeit wieder wichtig geworden. Der Zugang zu Information und die damit zusammenhängenden Handlungsmöglichkeiten bestehen nicht mehr darin, den physischen Raum zu verlassen und in den Cyberspace einzutreten, sondern ganz im Gegenteil: Die Entwicklung von Location-Based Services (LBS) wie etwa Google Maps, Foursquare, Dark Sky, Curb Side, Uber, Yelp und Facebook Places zeigen, dass es jetzt darauf ankommt, wo man ist, um Information bekommen und nutzen zu können. Aus diesem Grund ist die Publikation Net Locality von Eric Gordon und Adriana de Souza e Silva (2011) immer noch interessant, denn entgegen der Virtualisierungsthese von Cyberspace behaupten die Autoren: »Der physische Raum ist zum Kontext für … Information geworden«
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(S. 9). Angesichts der rasanten Entwicklung und Verbreitung von LocationBased Services verkünden die Autoren, dass der physische Raum und Zeit doch eine Rolle spielen in dem Zugang zu und der Nutzung von Information und dass wir uns in der virtuellen Informationswolke, die das Web zu sein scheint, nicht mehr verloren fühlen müssen. Für diejenigen, die sich zwischen dem Lokalen und dem Globalen, zwischen physischer und virtueller Realität verloren oder zumindest desorientiert fühlen, haben die Autoren eine gute Nachricht: »… das Web ist mit unseren physischen Räumen verschmolzen« (S. 4) und »die neue Organisationslogik des Webs basiert auf dem physischen Ort« (S. 7). Diese Behauptung ist zumindest überraschend, wenn nicht sogar schockierend. Doch bevor wir zu Raum und Zeit, unseren lokalen Lebensräumen, unseren Nachbarschaften und unseren Städten zurückkehren, sollten wir uns fragen, ob es wirklich bei Location-Based Services und ortsbezogener Information darum geht, den physischen Raum wieder zu Ehren und Vormacht zu bringen. Genau das Gegenteil könnte nämlich der Fall sein. Wenn unsere physischen Räume mit dem Web »verschmelzen«, dann sind diese Räume vielleicht nicht mehr physisch, sondern virtualisiert, das heißt in Information verwandelt und in eine allumfassende Schnittstelle integriert. Vielleicht ist es nicht das Digitale, das in die physische Realität zurückgekehrt ist, sondern umgekehrt; die physische Realität ist nun vollständig virtualisiert. Wenn alles digitalisiert ist, sogar der Standort, dann bedeutet das vielleicht nicht, wie die Autoren behaupten, dass »sich selbst zu verorten … buchstäblich die Bedingungen für Interaktion festlegt und den Kontext liefert, von dem aus Information interpretiert und genutzt wird« (S. 12) und damit »zentral [ist] für die Art und Weise, wie wir Information navigieren« (S. 13). Wenn das zutreffen würde, dann müssten wir, wenn wir etwas über Mozart erfahren wollten, nach Salzburg reisen, mit Google Maps Mozarts Haus finden und uns an seinen Schreibtisch stellen, um eine Originalpartitur aus der »Zauberflöte« aufzurufen. Dies meinen die Autoren sicher nicht. Vielleicht sind »Netzlokalitäten« gar nicht lokal im Sinne des guten alten Raumes und der damaligen Zeit, sondern etwas ganz anderes – etwas, das danach verlangt, auf seine eigene Art und Weise und auf der angemessenen Ebene der Konzeptionalisierung begriffen zu werden. Zugegeben, LBS und die Technologien, auf denen sie basieren, verknüpfen Information mit physischen Räumen, das heißt mit Markern innerhalb physischer Räume. Diese Marker und die mit ihnen verbundenen Informationen können als Filter verwendet werden, um Bedeutungs- und Handlungs-
31. Net Locality: Der Raum spielt keine Rolle, aber der Ort
ebenen, sogenannte »Layers« zu erschließen. Sie können als »Orte« bezeichnet werden, sogar als »Netzlokalitäten«, aber sie sind nicht mehr physische Räume und sie sind nicht die einzigen Filter, die wir verwenden, wie das Beispiel von Mozart zeigt. Die durch die Filter eröffneten Layers sind hybrid, das heißt sowohl virtuell als auch physisch, eine neue Form des Seins, die wir »gemischte Realität« nennen könnten. In der gemischten Realität spielt der Raum auch nach LBS keine Rolle, aber »Orte« schon. Die Autoren weisen selbst darauf hin, dass »das Web und die Welt, die daran enthalten ist, […]nicht mehr getrennt gehalten werden [können]« (S. 173) und dass »die Natur der physisch situierten sozialen Interaktion wesentlich verändert wird« (S. 173). Wenn wir an dieser Einsicht festhalten, welchen Sinn ergibt es dann, über Netzlokalitäten als »kommodifizierte Räume« zu sprechen, die »sich nicht grundlegend von traditionellen ›Offline‹-Stadträumen unterscheiden« (S. 173), wie es die Autoren in ihrem Fazit zu diesem interessanten Buch tun? Entweder sprechen wir von etwas Neuem und Aufregendem, einer neuen Art des Seins, das unauflöslich aus Bits und Atomen zugleich besteht, einer Art des Seins, für die wir vielleicht keinen Namen haben, oder wir beklagen die Absorption von »physisch situierter sozialer Interaktion« in »einen urbanen Konsumraum« (S. 173). Die Autoren schließen mit dem ungelösten Konflikt zwischen Netzlokalitäten, die das Individuum ermächtigen, einerseits und Netzlokalitäten, die »das Individuum einem hochrationalisierten Konsumraum ausliefern, in dem die Unterscheidung zwischen Konsumieren und Sein verschwimmt«, anderseits (S. 173). Dies mag eine überzeugende Beschreibung der persönlichen Erfahrungen von vielen sein, aber es ist keine befriedigende Theorie. Vielleicht sollten wir an der Vision einer Netzgesellschaft festhalten, in der auch der Kapitalismus Netznormen unterworfen ist, in der Märkte zu Gesprächen geworden sind und »Prosumenten« an die Stelle von Konsumenten treten. Wenn wir Netzlokalitäten auf der Ebene einer allgemeinen Theorie des Seins, also einer Netz-Ontologie, verorten, können wir vielleicht unsere LBS genießen und auf vielfache Weise benutzen. Und zwar, ohne ständig über die Schulter schauen zu müssen, um die Modi der Ungerechtigkeit und Ausbeutung zu entdecken, die zwar für die industrielle, massenmediale Gesellschaft charakteristisch, aber nicht unbedingt typisch für die globale Netzwerkgesellschaft sind, in der wir heute leben.
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32. Vernetzte Öffentlichkeiten
Wenn man über gesellschaftliche Veränderungen im Zuge der digitalen Transformation spricht, ist das Konzept der »vernetzten Öffentlichkeiten« (Networked Publics – Varnelis 2008), das schon vor Jahren eingeführt wurde immer noch nützlich und interessant. Wenn es so etwas wie eine globale Netzwerkgesellschaft gibt, wäre es vernünftig anzunehmen, dass die Öffentlichkeit in irgendeiner Weise durch vernetzte Informations- und Kommunikationstechnologien (NICT) bedingt ist. Mizuko Ito fasst in der Einleitung der erwähnten Sammlung von Essays zu Themen wie Ort, Kultur, Politik und Medien die Möglichkeiten der NIKT in vier »technosozialen Trends« zusammen: 1) die Zugänglichkeit zu digitalen Werkzeugen und Netzwerken; 2) Many-to-many- und Peer-to-peer-Formen der Distribution; 3) die Wertschöpfung an den Rändern des Netzwerks; und 4) die Aggregation von Kultur und Information. Diese Trends bringen »vernetzte Öffentlichkeiten« hervor, das heißt »eine verknüpfte Reihe sozialer, kultureller und technologischer Entwicklungen«, welche die Öffentlichkeit traditioneller Massenmediengesellschaften ersetzen – eine Öffentlichkeit, die letztlich nichts anderes war als ein aus Konsumenten bestehendes Publikum, eine schweigende Mehrheit oder die anonyme Masse. Zugänglichkeit bedeutet, dass vernetzte Öffentlichkeiten immer eingeschaltet, immer verbunden sind und immer daran sind, Information zu produzieren und auszutauschen. Beteiligte an einer vernetzten Öffentlichkeit sind Prosumenten. Sie etablieren Bottom-up-Standards für Wert, Engagement und Interessen und unterliegen bei der Erstellung und Nutzung von Information keiner zentralen Kontrolle. Sie sind vor allem an einer »Manyto-many«-Kommunikation beteiligt – einer Form von Kommunikation, die in der Vergangenheit schlicht nicht möglich war. Die traditionelle Sozialtheorie kennt entweder die Möglichkeit der Eins-zu-eins-Interaktion in kleinen Gruppen oder, wenn die Gruppe zu groß wird, die Eins-zu-viele-
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Essays zur digitalen Transformation
Kommunikation, aber nicht die Viele-zu-viele-Kommunikation. Wenn in einer großen Gruppe jeder mit jedem zu reden beginnt, entsteht Chaos. Erst wenn Raum und Zeit nicht mehr primäre Bedingungen der Kommunikation sind und der physischen Realität virtuelle Ebenen hinzugefügt werden können, wird eine Many-to-many-Kommunikation möglich. Das Ergebnis sind vernetzte Öffentlichkeiten, das heißt, dass alle miteinander interagieren. Wie Clay Shirky (2008) es ausdrückte: In der globalen Netzwerkgesellschaft ist es unglaublich einfach geworden, Gruppen zu bilden und kollaboratives Handeln zu koordinieren. Ist dies nicht genau das, was die Öffentlichkeit in einer demokratischen Gesellschaft tut, oder zumindest das, was sie tun sollte? Ito kommentiert, dass »wir noch sehr in der Mitte der Aushandlung angemessener sozialer Normen in diesem Bereich der geschichteten Präsenz sind« (S. 6). Vielleicht ist dies der Grund, warum das Konzept der »vernetzten Öffentlichkeiten« nicht nur interessant, sondern auch problematisch ist. Zunächst einmal sind vernetzte Öffentlichkeiten plural; wir sprechen nicht von DER Öffentlichkeit, mit der Habermas den politischen Raum moderner demokratischer Gesellschaften charakterisiert hat. Die moderne Gesellschaftstheorie spricht von einer Gesellschaft – in der Regel ein territorialer Nationalstaat, der durch eine Öffentlichkeit konstituiert ist –, die durch deliberative demokratische Prozesse für die Legitimation von Regierungsmacht und Politik verantwortlich ist. Die vielen Öffentlichkeiten, die Varnelis und Friedberg in ihrem Beitrag Place: The Networking of Public Space über die vernetzte Gesellschaft verteilt finden, sind tendenziell nicht für die Legitimation politischer Macht verantwortlich oder gar daran interessiert. Diese Ansicht wird im Beitrag über Politik von Lim und Kann teilweise korrigiert, die auf den – wenn auch relativ unbedeutenden – Einfluss der Online-Deliberation in der heutigen Welt hinweisen. Ein zweites Problem ist, dass die Rede von Öffentlichkeiten als »vernetzt« das Netzwerk in den aktiven Modus und die Öffentlichkeit in den passiven setzt. Öffentlichkeiten werden durch das Netz bedingt, beeinflusst, ja sogar konstruiert. Das klingt sehr nach technologischem Determinismus. Anstatt von der Öffentlichkeit als »vernetzt« zu sprechen, wäre es vielleicht fruchtbar gewesen, von »Networking« zu sprechen, also von der gemeinsamen Arbeit von Menschen und Nicht-Menschen, die in den Aufbau, die Aufrechterhaltung und die Transformation von Netzwerken einfließt. Die Fokussierung auf die verschiedenen Akteure und Aktivitäten der Vernetzung statt auf den Zustand des Vernetztseins hätte es den Autoren erlaubt,
32. Vernetzte Öffentlichkeiten
die Frage nach der ungelösten Problematik jener »sozialen Normen« aufzuwerfen, die schließlich die Handlungen der Vernetzung leiten, informieren, steuern und konditionieren. Auch wenn Varnelis im Fazit dieses interessanten Buches zugibt, dass das »Netzwerk zur dominanten kulturellen Logik geworden ist« (S. 145), dass »heute Verbindung wichtiger ist als Trennung« und dass sich unsere Zeit deshalb »deutlich von der Postmoderne unterscheidet«, beklagt er, dass »wir uns weniger als Individuen und mehr als Produkt multipler Netzwerke verorten«. Die Autonomie und Individualität des Selbst löst sich auf in »eine reine Ansammlung von Links«. Mit dieser Veränderung des Selbst geht auch eine neue Einstellung zur Privatheit einher. Die Privatheit ist nicht mehr wichtig. Ohne Privatheit hat das Subjekt keine Grenzen mehr und verschwindet schließlich in einem Netzwerk von Relationen. Das informationelle Selbst ist zersplittert, in mehrere Netzwerke verstreut. Die Postmoderne kehrt mit voller Wucht zurück: »Unter der Netzkultur wird also der Schwund des Subjekts, der unter der Postmoderne begann, immer größer« (S. 154). Die Berufung auf das informationelle Selbst, so die Annahme, hilft nicht, wenn nur noch ein Selbst übrig ist, das sich in Derridas »endlos verschobenen Sprachspiel« aufgelöst hat. Der Leser kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Idee der »vernetzten Öffentlichkeiten« gefangen ist zwischen dem Bewusstsein, dass sich die Dinge geändert haben, einer vielversprechenden Vision einer neuen Ära und einem widerspenstigen Postmodernismus, gepaart mit einer Nostalgie für die vergangene Mythologie des Humanismus. Aber der Weg nach vorne ist klar aufgezeigt: einen Blick auf das werfen, was Netzwerker tun; die zugrunde liegenden soziotechnischen Normen entdecken, die ihr Handeln leiten – sozusagen die »Pragmatik« des Networkings – und diese Normen dann als die Bedingungen für die Schaffung sozialer Ordnung in einer globalen Netzwerkgesellschaft beschreiben, in der das Selbst zu Information und das Handeln zu Networking geworden sind.
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33. Mixed Reality – gemischte Realität
Der Einfluss digitaler Informations- und Kommunikationssysteme auf alle Aspekte des Lebens hat die Frage nach dem Verhältnis zwischen der alten physischen Welt und der sogenannten »virtuellen Realität« aufgeworfen. Schon so visionäre Denker wie Norbert Wiener und J. C. L. Licklider hatten eine Mensch-Computer-Symbiose auf der Basis automatisierter Informationssysteme prophezeit. Jean Baudrillards »Hyperrealität« beschrieb eine Situation, in der die Unterscheidung zwischen der physischen und der virtuellen Realität keinen Sinn mehr ergab. Die New Media Studies haben darauf hingewiesen, dass Wirtschaft, Politik, Bildung, Gesundheitswesen etc. zunehmend von Prozessen, Aktivitäten und Kommunikation bestimmt werden, die über digitale Medien, digitale Informationsverarbeitung und intelligente automatisierte Informationssysteme ablaufen. Tatsächlich haben die Studien zu den neuen Medien gezeigt, dass ein Prozess der »Transkodierung« das Soziale entlang der digitalen Medien rekonfiguriert, was darauf hinausläuft, zuzugeben, dass die neuen Medien gar keine Medien im traditionellen Sinne sind, sondern allgemeine Bedingungen des kommunikativen Handelns als solche. Information ist keine Nachricht, sondern eine Seinsbedingung, eine ontologische Kategorie. Wenn man die philosophische Theorie von Sinn aus der Perspektive der Akteur-Netzwerk-Theorie neu interpretiert, muss man anerkennen, dass der Zugang zu und die Nutzung von digitalen Informationsund Kommunikationstechnologien die Bedingungen verändert, unter denen Menschen und Nicht-Menschen in komplexen soziotechnischen Netzwerken gemeinsam agieren. Ähnlich wie die Kant’schen Kategorien werden die neuen Medien zu den Bedingungen der Möglichkeit, jede Art von kooperativem Handeln in der Gesellschaft zu konstruieren. Wenn neue Medien zu allgemeinen Bedingungen der Konstruktion sozialer Ordnung werden, hat dies Konsequenzen dafür, wie wir die Wirklichkeit verstehen.
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Essays zur digitalen Transformation
Die erste wichtige Konsequenz der digitalen Transformation ist, dass sich Medien nicht auf eine rein virtuelle Welt von Bildern, Darstellungen und Information beschränken. Neue Medien transportieren nicht nur Texte, Bilder, Video und Audio. Sie »transportieren« überhaupt nicht, sie »vermitteln« (mediate) Information in Artefakte und Handlungen in allen Lebensbereichen. Wie Norbert Wiener (1992) voraussah: Alles in der Welt wird durch Information gesteuert. Medien im weiten Sinne von Informationssystemen steuern, konditionieren, formen und informieren alle Aspekte des persönlichen und gesellschaftlichen Lebens. Digitale Medien steuern Produktionsprozesse in Fabriken, die Bewegungen von Flugzeugen, Schiffen und Autos, Finanztransaktionen, logistische Systeme und vieles mehr. Ein Computer in Verbindung mit einem 3-D-Drucker kann fast alles herstellen – von Spielzeugen über Waffen bis hin zu organischem Gewebe. Computermodelle und -simulationen ersetzen direkt beobachtbare physikalische, biologische oder soziale Systeme als Forschungsgegenstand. Man muss nicht mehr die physische Realität untersuchen, sondern oft liefern Simulationen interessantere Ergebnisse. Büros, Labore, Klassenzimmer, Verkehrsknotenpunkte, öffentliche Gebäude und sogar Privathaushalte werden zu Schnittstellen umgestaltet, die das Physische und das Virtuelle integrieren, um Informationsflüsse, Interaktion und Kommunikation zu ermöglichen. Nicht nur Computerbildschirme und Smartphones, sondern auch Wände, Fenster, Böden, Säulen, Straßen, Landschaften, ja alles wird zu einer »Schnittstelle«, die sowohl die Interaktion mit »intelligenten« nicht-menschlichen Akteuren als auch den Zugang zu Information und Kommunikation ermöglichen. Digitale Medien werden, wie Manovich (2001) sagen würde, in soziale Prozesse, Organisationsformen und die Objekte und Räume, mit und in denen diese existieren und funktionieren, transkodiert. Konnektivität ist ein erwarteter und normaler Teil des täglichen Lebens, verfügbar nicht nur am Arbeitsplatz, sondern auch zu Hause, in Einkaufszentren, Restaurants, Schulen, öffentlichen Gebäuden aller Art, auf der Straße und überall auf der Welt. Die »Hardware« der vernetzten Gesellschaft ist nicht nur der Computer, der Laptop, das Tablet oder das Smartphone, sondern sind auch Häuser, Autos, Schulen, Büros, Krankenhäuser, Kleidung (Wearable Computing), Tiere, Pflanzen, ja jedes »Ding«, aus dem die Welt besteht, denn es gibt keine Grenzen, was mit Sensoren ausgestattet, vernetzt und in Informations- und Kommunikationssysteme integriert werden kann. Intelligente Agenten sammeln, speichern, verteilen und werten Daten aller Art nicht nur in enormen Mengen aus, sondern analysieren sie, um menschliche Akteure zu unterstützen oder sogar selbst Entscheidungen
33. Mixed Reality – gemischte Realität
schneller und besser zu treffen, als der Mensch es kann. Neben den Akteuren, die wir bisher als Mitglieder der Gesellschaft kannten und akzeptierten, entsteht durch die digitale Transformation eine Welt, die von »virtuellen« Wesen bevölkert wird, die eine immer wichtigere Rolle bei der Konstruktion der globalen Netzwerkgesellschaft und damit bei der Neu-Konzeptualisierung von Begriffen wie »Wissen«, »Handeln« und »Realität« spielen. Die Integration der realen und der virtuellen Welt hat viele verschiedene Namen. Experten sprechen von virtueller Realität, augmentierter Realität, augmentierter Virtualität, vermittelter Realität, verminderter Realität, verstärkter Realität und virtualisierter Realität (Schnabel et al. 2009). Castells (2010) spricht von einer Kultur der realen Virtualität, die für die globale Netzwerkgesellschaft charakteristisch ist, einer Kultur, die »virtuell ist, weil sie primär durch elektronisch basierte, virtuelle Kommunikationsprozesse konstruiert wird. Sie ist real (und nicht imaginär), weil sie unsere grundlegende Realität ist, die materielle Basis, auf der wir unsere Existenz leben, unsere Repräsentationssysteme konstruieren, unsere Arbeit ausüben, uns mit anderen Menschen vernetzen, Informationen abrufen, unsere Meinungen bilden, in der Politik handeln und unsere Träume pflegen. Diese Virtualität ist unsere Realität« (S. 203). Unter all den verschiedenen Bezeichnungen hat sich der Begriff »Mixed Reality« (gemischte Realität) als gemeinsame Bezeichnung für die Integration des Realen und des Virtuellen durchgesetzt. Es gibt verschiedene Formen, in denen sich diese Integration vollzieht. Auf der einen Seite wird die Realität in einer immersiven Simulation nachgebildet, zum Beispiel in den vielen immersiven virtuellen Welten, die man mit Facebooks Oculus erleben kann. Am anderen Ende werden digitale Informationen der nichtdigitalen Welt aufgesetzt, wie zum Beispiel in Smart Glasses (zum Beispiel Microsofts Hololens). Mixed Reality definiert Räume, die sowohl physisch als auch virtuell sind. Das Konzept ist nützlich, um eine Realität zu definieren, die eher eine Schnittstelle als eine Substanz ist, eher ein kommunikativer Prozess als eine Struktur. Schnittstellen ermöglichen den Zugang zu beiden Welten gleichzeitig und zusammenhängend. Die digitale Transformation verwandelt die Realität in eine Schnittstelle. Unter Schnittstellen versteht man traditionell Ein- und Ausgabefunktionen von Computer, wie zum Beispiel Bildschirme mobiler Geräte wie TabletComputer oder Smartphones, aber es können auch Sensoren oder Kameras sein, die in alles Mögliche eingebaut sind: in Betten, Böden, Möbel, Kleidung, Autos, Werkzeuge, Maschinen, Geräte zur Überwachung von Blutdruck, Puls, Bewegung usw. Die Sensoren können über das Internet miteinander verbun-
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Essays zur digitalen Transformation
den werden, um eine »Ambient Intelligence« oder ein »Internet der Dinge« zu schaffen. Die Schnittstelle ist das Ensemble aus Dingen und Information. Das Interface ist der Raum der Vermittlung, der »Irreduction« (Latour 1993)), der Assoziation, der Übersetzung, der Interpretation und der Vernetzung. Man könnte das Interface sogar als ein Modell des Realen verstehen, sofern man das Reale als gemischte Realität betrachtet. Technisch gesehen stellt das Interface die Verbindung zwischen dem Physischen und dem Virtuellen her. Das Interface ermöglicht die Interaktion. Das Interface koordiniert die physisch-virtuelle Vernetzung. Man könnte sagen, dass Interfaces Information vermitteln. Eine Welt, die sich durch Information konstituiert, ist eine Welt, die für bestimmte Zwecke zwischen dem Realen und dem Virtuellen unterscheiden will, sich aber auch dagegen entscheiden kann. Mixed Reality basiert auf einer informationellen Ontologie, in der traditionelle Konzepte von Substanz, von dem, was real und was nicht-real ist, radikal neu gedacht werden müssen.
34. Layer und Filter
Im Zuge der digitalen Transformation brechen Kommunikation und Interaktion aus den traditionellen räumlichen und zeitlichen Beschränkungen aus, sodass sich neue und ungeahnte Möglichkeiten ergeben. Kommunikation und die Arbeit der Netzwerkbildung (Networking) sind traditionell durch räumliche, zeitliche und physische, also körperliche Parameter bedingt. Was mit den eigenen Augen wahrgenommen, auf der Basis der eigenen Kognition erkannt und kommuniziert werden konnte, wurde weitgehend durch den physischen Kontext bestimmt, das heißt durch den Ort und die Zeit, in der ein Akteur körperlich anwesend war. Jemand, der an einer Straßenecke in Lower Manhattan steht, erlebt eine andere Welt, hat Zugang zu anderer Information und hat demnach andere Handlungsmöglichkeiten als jemand, der in den Pyrenäen Ziegen hütet. Die Information, die diesen Personen zur Verfügung steht, und die Handlungsmöglichkeiten, die ihnen zugänglich sind, werden natürlich auch durch ihre Bildung, den Standort der nächsten Bibliothek, die verfügbaren Transportmittel und die Zeit, den Aufwand und die Kosten bestimmt, die erforderlich sind, um jemanden zu kontaktieren, um eine Antwort auf eine Frage zu erhalten, eine finanzielle Transaktion einzuleiten, eine Aktivität zu koordinieren und so weiter. In der Netzwerkgesellschaft sind diese räumlichen, zeitlichen und physischen Parameter nicht mehr die primären Bedingungen des Wissens und Handelns. Stattdessen präsentiert sich die Realität als ein Spiel von Layer und Filter. Mixed Reality (gemischte Realität) privilegiert keine raumzeitlichen oder körperlichen Parameter. Nach der digitalen Transformation sind Wissen und Handeln nicht mehr primär durch den physischen Körper limitiert, wie es bis heute in der gesamten Menschheitsgeschichte der Fall war. Mixed Reality verlagert die Perspektive des verkörperten Subjekts (Karppi 2008), indem virtuelle Information dem physischen Raum überlagert wird. Um diese neue Basis für Wissen und Handeln zu beschreiben, kann man sagen, dass Mixed Rea-
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lity nicht aus Orten, Zeiten und darin befindlichen Körpern besteht, sondern aus Layer und Filter. Der Begriff der Layer in der Digitaltechnik bezieht sich in der Regel auf funktionale Ebenen innerhalb eines Systems von Protokollen oder Elementen digitaler Bilder, die sich gegenseitig überlagern können. Ein Filter dagegen wird üblicherweise als ein Algorithmus definiert, der die digitale Informationsverarbeitung auf bestimmte Weise automatisch verändert. Eine Suchanfrage in Google kann als Filter betrachtet werden, während die Ergebnisse der Anwendung des Filters ein Layer bilden. Traditionell bezieht sich der Begriff des Filters auf einen Auswahlprozess: Bestimmte Elemente können einen Filter durchlaufen, andere werden zurückgehalten. Ein Kaffeefilter beispielsweise hält den Kaffeesatz zurück und lässt den Kaffee durch. In Bezug auf Information werden Filter oft mit Zensur in Verbindung gebracht. Nur die Information, die diejenigen Autoritäten oder Gatekeeper, die an der Spitze der Wissenspyramide stehen, als angemessen für die darunter Stehenden erachten, dürfen durch den Filter nach unten gelangen. Filtern muss jedoch nicht negativ sein. Unter den Bedingungen der traditionellen Oneto-many-Kommunikation und einer Ökonomie der Wissensknappheit waren lange Zeit Eltern, Lehrpersonen, Experten, religiöse Autoritäten und politische Führer für die Wahrnehmung von Filteraufgaben zuständig. Mit der digitalen Transformation hat sich diese Situation radikal verändert. Die durch die digitale Transformation verursachte Disruption der Wissensordnung hat die Gatekeeper und Autoritäten beseitigt und den Zugang zu Information für alle geöffnet. Traditionell hatte die Wissenselite schon immer Zugang zu Informationen, die der Masse nicht zugänglich waren. Informationsproduzenten und Medien haben immer Entscheidungen darüber getroffen, was sie verbreiten und was nicht, und wie sie das tun. Bis zu einem gewissen Grad waren diese Entscheidungen, wie Weinberger (2013) dargelegt hat, durch die Ökonomie der Knappheit notwendig, auf der die Printmedien und Massenmedien das Regime der One-to-many-Kommunikation basierten. Nicht alles, was gewusst und kommuniziert werden konnte, konnte gedruckt oder elektronisch verbreitet werden. Nur ein kleiner Teil der riesigen Menge an Information in der Welt konnte in die Form des Drucks oder des Fernsehens und des Radios gebracht werden. Schwere und teure Bücher konnten nicht jedem überall zur Verfügung gestellt werden. Ebenso führten bei den elektronischen Massenmedien die hohen Produktions- und Verteilkosten und die dafür notwendigen Kompetenzen zu einer Zentralisierung. Die Produktion, Verteilung und Nutzung von Wissen war dadurch eingeschränkt. Diese Ökonomie der Knapp-
34. Layer und Filter
heit, die natürlich viel weiter zurückreicht als Printmedien, schuf eine hierarchische Form des Wissens, in der Experten und Autoritäten eine wichtige Rolle bei der Produktion, Verteilung und Nutzung von Information spielten und in der die Filterung von Information notwendig war. Darüber hinaus ist die Filterfunktion der Medien seit Langem ein Thema in den Medienwissenschaften, der Politikwissenschaft und der Soziologie. Filterung bringt also nicht nur die negativen Konnotationen der Zensur mit sich, sondern auch die positiven Konnotationen der Selektion geeigneter Information und des Schutzes derjenigen, die nicht in der Lage sind, Entscheidungen über die Nutzung von Information zu treffen. In diesem Zusammenhang sind Themen wie Echokammern, Filterblasen, Fragmentierung des öffentlichen Raums, »sensible« Daten, Privatheit und Datenschutz aufgekommen. Viele der wichtigen und immer noch ungelösten ethischen, politischen und rechtlichen Fragen, die sich im Zuge der digitalen Transformation stellen, haben mit Filterung in der einen oder anderen Form zu tun. Niemand bestreitet jedoch, dass eine Art von Filterung notwendig ist. Der Konflikt dreht sich darum, wer dies tun wird und wie. Im Zeitalter der Cloud und der Informationsüberflutung leiten Filter ihre Funktion nicht mehr aus einer Ökonomie der Knappheit ab. Sie sind nicht mehr notwendigerweise mit Hierarchie, Expertise und Privilegien verbunden. Filter sind zu einer allgemeinen Bedingung der Möglichkeit des Wissens und Handelns geworden und können als Voraussetzung für den Zugang zu und die Nutzung von Information in jeglicher Form betrachtet werden. Das bedeutet, dass der Begriff des Filters auf einer allgemeinen Ebene als ein definierendes Merkmal der gemischten Realität verstanden werden sollte. Die Realität ist notwendigerweise gefiltert. Es gibt keine ungefilterte Wirklichkeit, kein »Ding an sich«, wie Kant sagen würde. Darüber hinaus soll der Begriff des Filters, den wir einführen wollen, das beschreiben, was die Hermeneutik als die »Vorstrukturen« des Wissens bezeichnet hat und was die Akteur-Netzwerk-Theorie unter einem »Handlungsprogramm« versteht. So wie die Vorstrukturen des Wissens die Art und Weise konditionieren, in der etwas innerhalb einer Frage und als Aufgabe des Verstehens erscheint, so konditioniert ein Handlungsprogramm, welche Akteure in welchem Netzwerk erscheinen und Rollen zu bestimmten Zwecken übernehmen. Das Verstehen jeglicher Art von Wissen wird von Vorverständnissen geleitet, ebenso wie Akteure in ihren Netzwerkaktivitäten von Handlungsprogrammen geleitet werden. Aus der Sicht einer Ontologie der Mixed Reality und einer Epistemologie, die auf digitalen Medien basiert, sind Filter allgemeine Bedingun-
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gen des Wissens und des Handelns. Filter sind kein Übel, nicht einmal ein notwendiges Übel. Es gibt schlichtweg kein Wissen und Handeln ohne Filter. Welche Wissens- und Handlungsoptionen jedem Akteur zur Verfügung stehen, ist ein Ergebnis von Filtern und Filterungsprozessen. Aus der unendlichen Menge an Information in der Cloud selektieren Filter eine endliche Menge nach Relevanzkriterien aus. Networking läuft auf das Anwenden von Filtern hinaus. Das, was sich aus der Anwendung von Filtern ergibt, kann als Layer bezeichnet werden. Die von einem Filter verarbeitete Information bildet ein Layer. Als definierendes Merkmal der gemischten Realität bezieht sich der Begriff des Layers auf die Summe der relevanten Informationen und Handlungsmöglichkeiten, die durch einen Filter ausgewählt und erschlossen werden. Man könnte auch sagen, dass Layer Wissens- und Handlungsdomänen sind. Auch die Ontologie der Moderne kennt Domänen. Domänen sind zum Beispiel die Natur, die Gesellschaft, der Geist und das Transzendente. Eine der wichtigen theoretischen Innovationen der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) liegt darin, diese Domänen der Realität infrage zu stellen. Gemäß ANT besteht die Welt aus Netzwerken, die wesentlich offen und flexibel sind und demnach in irgendeiner Art und Weise alle miteinander »vernetzt« sind. Es gibt also keine klar abgrenzbaren Seinsbereiche oder Domänen, wie dies die Moderne postulierte. Latour (2008a) schlägt vor, solche Unterscheidungen gänzlich fallen zu lassen und einfach vom »Kollektiv« zu sprechen. Das Kollektiv besteht nicht aus einer Domäne materieller Entitäten unter dem Regime der deterministischen Kausalität, die von einer Domäne des Sozialen oder einer Domäne des Geistes unterschieden wird. Was in der Moderne unterschieden wird, schlägt Latour vor, zu einem Kollektiv zu vermischen, das aus Netzwerken besteht. Diesen Vorschlag aus dem Blickwinkel der digitalen Transformation zu verstehen, erlaubt es uns, den Begriff der Domänen im Sinne von Layer wieder einzuführen. Während für ANT Netzwerke im Gegensatz zu Domänen stehen, schlagen wir vor, Domänen als Layer zu definieren, wobei Layer als eine Übersetzung des Netzwerk-Begriffs aus der Sicht der neuen Medien verstanden werden kann. Wenn die Konstruktion von Sinn als Vernetzung in dem von ANT beschriebenen Sinne verstanden wird, dann ist aus Sicht der digitalen Medien diese Vernetzung nichts anderes als die Konstruktion von Layer. Dies erlaubt es uns, Networking als Filtering zu verstehen. Ein Filter ist eine Menge von Parametern, die Informationen auf der Basis von Relevanzkriterien miteinander verknüpft. Ein Filter ist eine Regel zur Auswahl, Verknüpfung und Verarbeitung von Information. Eine Abfrage und ein Suchalgorithmus
34. Layer und Filter
filtern zum Beispiel die nahezu unendliche Menge an Daten, die im World Wide Web verfügbar sind, um eine begrenzte und damit nutzbare Menge an Information zu extrahieren und zu präsentieren. In der Systemtheorie sind es die basalen Operationen der Selektion, Relationierung und Steuerung, die ein System erzeugt. In digitalen Netzwerken ist es die Anwendung von Filtern, die eine Domäne, ein Netzwerk, einen Layer konstruiert. Traditionell waren es Ort, Zeit und Körperlichkeit, die als primäre Filter fungierten. Auf der Grundlage dieses raumzeitlichen Filters, den wir unseren Körper nennen, erschien die Welt innerhalb der Wahrnehmungsmöglichkeiten des verorteten und verkörperten Subjekts. Seit dem Beginn der Menschheitsgeschichte bildete der Körper den primären Filter. Wir nannten den Layer, der durch diese Filter erschlossen wurde, die »reale Welt«. Je nachdem, wo man sich befand, zu welcher Zeit man dort war und wer man war, waren Informationen verfügbar oder nicht, waren Handlungsmöglichkeiten verfügbar oder nicht und waren andere Akteure präsent oder nicht. Unter dem Regime der Mixed Reality sind Ort, Zeit und Körperlichkeit nicht mehr die primären Filter und daher ist die »reale Welt« nicht mehr der privilegierte Layer. Wenn die Person, die in den Pyrenäen Ziegen hütet, ein Smartphone, Internetzugang und die richtigen Apps hat, kann sie vieles wissen und tun, was die Person, die in Lower Manhattan an der Straßenecke steht, auch tun kann. Der Schäfer in den Pyrenäen könnte den Aktienhandel an der Wall Street initiieren, einen neuen Anzug bei Bernie’s kaufen, mit Freunden chatten, die auf der 5th Avenue wohnen, und eine Reise nach Las Vegas inklusive Hotel und Showtickets organisieren. Die Person in New York hingegen könnte sich Fotos von Saint-Lizier in den Pyrenäen ansehen oder sogar live über eine Webcam heranzoomen, die Ziegen der Region identifizieren, den lokalen Käse bestellen etc. Darüber hinaus könnte die Person in New York das, was sie gerade an der Ecke von Worth und Hogan sieht und hört, mit Information (Bildern, Dokumenten usw.) aus der Geschichte der Stadt überlagern, die bis in die Zeit der »Five Points« zurückreichen, als die Gegend ein Slum voller Krankheiten und Verbrechen war. Sie würde Lower Manhattan so sehen, wie es 1827 oder 1930 aussah. Sie könnte sehen, wo historische Persönlichkeiten lebten, und sogar ihre private Korrespondenz lesen. Tatsächlich kann die gesamte Welt der Information zu allen Themen wie Architektur, Kunst, Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur usw. nach verschiedenen Parametern gefiltert und dargestellt werden und so als ein bestimmter Layer erscheinen. Die durch diesen Layer geschaffenen Erkenntnis- und Handlungsmöglichkeiten können in ihren Auswirkungen bedeutsamer und »realer« sein als alles, was unter den
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Bedingungen von Raum, Zeit und Verkörperung allein bekannt oder getan werden könnte. Mixed Reality lässt sich vielleicht am besten als Wolke veranschaulichen. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass es keinen primären Layer und keinen privilegierten Filter gibt. Wir nennen diese Situation nun die »Post Truth«Welt. Das, was üblicherweise als »reale Welt« bezeichnet wird – also die physische Realität mit ihren zeitlich-räumlichen Parametern im Gegensatz zu dem, was als virtuelle Realität bezeichnet wird –, stellt keinen privilegierten Filter mehr dar. Die Informationen, die jeder aufgrund seiner physischen Anwesenheit wahrnehmen, sich merken oder anderweitig abrufen kann, einschließlich der Aktivitäten, die auf diesen Informationen basieren, stellen keinen privilegierten Layer mehr dar. Im Gegenteil: Auf den Filter der physischen Präsenz beschränkt zu sein, kann ein Nachteil sein, wenn alle anderen Zugang zu digitalen Informationen haben. Diejenigen, die in der gemischten Realität leben und arbeiten, wissen mehr und können mehr mit Information machen als jemand, der keinen Zugang zum Netz hat. Denker, die für die Bedeutung des Übergangs zur Mixed Reality sensibilisiert sind, haben das Problem der sogenannten »digitalen Kluft« aufgeworfen. Die Netzwerkgesellschaft zieht die Grenze der Inklusion/Exklusion in Bezug auf den Zugang zum Netzwerk, das heißt in Bezug auf die Konnektivität. Konnektivität ist eine Netzwerknorm und eines der konstituierenden Prinzipien des sozialen Betriebssystems. Wie der Name schon sagt, können Layer gestapelt, übereinandergelegt, reduziert oder voneinander abgezogen werden. Ein Layer »GourmetRestaurants im Umkreis von zweihundert Metern« könnte zum Beispiel zu dem hinzugefügt werden, was von der Ecke von Worth und Hogan aus zu sehen ist. Filter erschließen oder verbergen Layer. Sie ergänzen oder reduzieren Layer. Filter sind Fragen, sie sind »Matters of Concern« (Latour 2004). Die Suchanfrage in Google nach Gourmet-Restaurants auf der Basis des GPS-Standorts ist ein Filter. Jede Frage ist ein Filter, sei es die Frage, wo die nächste Tankstelle steht, oder Heideggers »Seinsfrage«. Aus der Sicht der Akteur-Netzwerk-Theorie kann man sagen, dass Filter die »Programme« von Akteur-Netzwerken sind. Filter sind die Selektoren von Information, die Codes, die Informationsflüsse in Gang setzen und steuern und die Prozesse der Übersetzung (Translation) und Einschreibung (Enrollment) leiten, die das Netzwerk konstruieren. Die Anwendung eines Filters beinhaltet alle kommunikativen Handlungen, die Akteure übersetzen, einschreiben und zu einem bestimmten Netzwerk konstruieren. Layer können als die Akteur-Netzwerke
34. Layer und Filter
gesehen werden, die aus der Anwendung von Filtern resultieren. Im Sinne von Harrison Whites (1992) relationaler Soziologie »wechseln« Akteure zwischen den Layers und konstruieren ihre Identität mittels »Switching« zwischen Layers in einem ständigen Kampf um Identität und Kontrolle mit anderen in den Netzwerken. Das Anwenden eines Filters ist natürlich nicht dasselbe wie das Starten einer Suchanfrage in Google. Das mag ein Teil dessen sein, was beim Anwenden von Filtern und beim Konstruieren von Layers geschieht, aber es ist nur ein Teil davon. Das Anwenden eines Filters beinhaltet all jene Aktivitäten, die ANT als Übersetzen und Einschreiben von Akteuren in Netzwerke beschreibt. Kurz gesagt: Filtern ist Networking. Wittgenstein (1999) setzte die Grenzen der Welt mit den Grenzen der Sprache gleich. Aus der Perspektive einer Hermeneutik für das digitale Zeitalter könnte man behaupten, dass die Welt die Summe aller möglichen Layer ist. Meine Welt ist zu jedem Zeitpunkt eine Funktion der Filter, die in jenen Netzwerken angewendet werden, die meine persönlichen, sozialen, kulturellen und ontologischen Identitäten und Rollen ausmachen. In Bezug auf soziologische Theorien können Grundbegriffe wie Kommunikation (Luhmann, Habermas), Übersetzung (Latour) oder Transaktion (White) als Anwendung von Filtern umdefiniert werden. Soziale Akteure wenden Filter an und konstruieren Layer mit begleitenden Handlungsmöglichkeiten. Die kommunikativen Handlungen und die Interaktionen, die Filter anwenden und Layer konstruieren, können als die Hermeneutik des digitalen Zeitalters gesehen werden. Sie sind die Konstruktion von Sinn, die Vernetzung, die Art und Weise, wie Netzwerke aufgebaut werden und die Art und Weise, wie Identitäten unter den Bedingungen der gemischten Realität konstruiert, erhalten und transformiert werden. Das Anwenden von Filtern und das Konstruieren von Layers ist nicht so einfach wie das Klicken auf eine App. Um erfolgreich durch Mixed Reality zu navigieren, braucht es mehr als technisches Geschick. Networking ist mehr als Nutzen und ein Networker ist nicht bloß ein »User«. Networking, die Anwendung von Filtern und die Konstruktion von Layers wird durch ein komplexes Set von Normen, die eine Netzwerkgesellschaft strukturieren und charakterisieren, gesteuert, ja ermöglicht. Diese können als Netzwerknormen bezeichnet werden. Netzwerknormen sind die Grundlage des kooperativen Handelns in der globalen Netzwerkgesellschaft.
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35. Können Netzwerke tugendhaft sein?
Von Tugend und Tugendhaftigkeit zu reden heißt, sich mit der Ethik und Moral zu beschäftigen. Ethik und Moral sagen uns, was wir tun sollten. Sie basieren auf der Unterscheidung zwischen dem, was wir wirklich tun – dem »Ist« –, und dem, was wir tun sollten – dem »Sollen«. Wenn jeder das tun würde, was er oder sie tun sollte, dann bräuchten wir keine Ethik und keine Moral. Aber seien wir ehrlich: Die Menschen tun nicht, was sie tun sollten. Und warum nicht? Hat die Ethik versagt? Sind die Menschen von Natur aus unmoralisch? Und wenn ja, was nützt es, ihnen immer wieder zu sagen, dass sie anders handeln sollen? Trotz enormer Anstrengungen seit Jahrhunderten scheint die Ethik ein vergebliches Unternehmen zu sein, das von der Realität abgekoppelt ist. Eine Antwort auf die offensichtliche Sinnlosigkeit der Ethik ist, zu sagen, dass Menschen nicht das tun, was sie tun sollen, sondern das, was sie sind. Wenn Menschen das Richtige tun, dann nicht wegen der Ethik oder weil ihnen gesagt wurde, was sie tun sollen. Es ist, weil es einfach das ist, was sie sind. Es gibt kein »Sollen«. Es gibt nur das, was »ist«. Mit anderen Worten: Du sollst die Menschen an ihren Taten erkennen – und nicht an ihren verkündeten oder versteckten Motiven. Dies führt zur Frage: Was sind Menschen? Was können wir aus ihren Handlungen herauslesen? Seit der Antike liegt die Antwort auf diese Frage im Begriff der Tugenden. Wenn Handlungen als gut angesehen werden, dann können wir davon ausgehen, dass sie aus einem guten Charakter stammen. Charakter ist eine Eigenschaft eines moralischen Akteurs. Er macht den Akteur zu dem, was er oder sie ist. Ob das nun die DNA ist oder die Sozialisation oder – höchstwahrscheinlich – beides, ist nebensächlich, denn beides bedingt, wer wir sind. Gute Handlungen kommen von einem guten Charakter und schlechte Handlungen von einem schlechten Charakter. Was einen guten Charakter ausmacht, nennt man »Tugend« (griechisch arete), und was einen schlechten Charakter ausmacht, nennt man »Laster«. Menschen handeln nach ihren Tugenden und
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Lastern und nicht nach dem, was die Ethik – oder ihre Eltern, Lehrer, Nachbarn usw. – ihnen sagt, was sie tun sollen. Interessanterweise ist dies das, worum es in der Ethik ursprünglich ging. Das Wort »Ethik« stammt vom griechischen ethos – »die leitenden Überzeugungen oder Ideale, die eine Gemeinschaft, eine Nation oder eine Ideologie charakterisieren« – und die für Aristoteles (Buch II der Nikomachischen Ethik) mehr wie eine Lebensgewohnheit oder sogar – wenn man im griechischen Denken weiter zurückgeht – ein Lebensraum oder ein ausgeglichenes Ökosystem waren. In einem ausgeglichenen Ökosystem tut jedes Ding und jeder Organismus das, was er oder es tun sollte, und gedeiht somit (eudaimonia). Ethos charakterisiert, wie Menschen sind und wie sie in einer Gemeinschaft zusammenleben. Das ist es, was die »Ethnografie« untersucht. Das ist es, was die sogenannte »Tugendethik« von der Pflichtethik, wie den Zehn Geboten oder Kants kategorischem Imperativ, und von der utilitaristischen Ethik, die auf der Berechnung des größten Gutes für die größte Zahl beruht, unterscheidet. Tugendethik, wenn sie überhaupt eine Ethik ist, beschreibt, was ein Mensch oder eine Gemeinschaft ist und wie dieser bzw. diese innerhalb einer bestimmten Kultur und Umgebung lebt. Es geht dabei nicht um allgemeingültige Regeln oder Normen, ob sie nun von Gott, der Vernunft oder wirtschaftlichen Berechnungen stammen. Dennoch werden die Menschen für ihre Tugenden und Laster gelobt und getadelt, was impliziert, dass das, was die Menschen sind, ein Produkt ihrer Entscheidungen ist und sie deshalb getadelt werden können, wenn sie Falsches wählen, und gelobt, wenn sie das Richtige tun. Wenn sie falsch wählen, dann wird dies oft als eine Wahl für das Selbst-Gut im Gegensatz zum Sozial-Gut verstanden. Dies ist die zweite Unterscheidung, auf der die Ethik beruht: die Unterscheidung zwischen sich selbst und anderen, zwischen Individuum und Gesellschaft. Was für die Griechen selbstverständlich war, nämlich, dass das Wohlergehen des Individuums im Wohlergehen der Gemeinschaft lag, war aber für die europäische Moderne nicht der Fall. Im Gegenteil, die Rechte des Individuums, seinem egoistischen Selbst-Wohl nachzugehen, müsste durch eine »magische Hand« (Adam Smith) zur sozialen Ordnung anstatt Chaos führen. Um der magischen Hand auf die Sprünge zu helfen, müsste die Ethik für die Moderne in der Pflicht (Kant) gefunden werden, völlig unabhängig von irgendwelchen individuellen Vorteilen das Gute zu tun. Oder, da man die Schlüsselposition des Individuums als Unterzeichner des Sozialvertrags nicht leugnen könnte, bliebe nichts anderes übrig, als auf demokratische bzw. utilitaristische Art und Weise das Mehrheitswohl auszurechnen.
35. Können Netzwerke tugendhaft sein?
Nach Platon und Aristoteles waren Tugenden die Eigenschaften, die der Mensch wählen sollte, um ganz Mensch zu werden. Aber nicht nur Menschen hatten Tugenden. Alles, was existiert, hat einen Zweck, ein Telos, für den es existiert. Eine Axt zum Beispiel musste die Tugenden der Schärfe und Stärke haben, um das zu werden, was eine Axt sein sollte. In demselben Sinne musste ein Mensch die Tugenden Weisheit, Gerechtigkeit, Mäßigung und Mut haben (siehe Platons Republik), um das zu werden, was ein Mensch sein sollte. Dies sind die Eigenschaften, die ein Mann (adlig geboren und männlich) brauchte, um seine Pflichten in der Polis zu erfüllen. Diese Sicht der Tugend setzt voraus, dass die Möglichkeiten dessen, was Dinge und Menschen werden können, bekannt und festgelegt sind. Wie die Geschichte aber zeigt, haben andere Zeiten und andere Kulturen andere Tugenden. Die christliche Welt fügte Glaube, Hoffnung und Nächstenliebe hinzu, weil dies die Eigenschaften waren, die man brauchte, um Gottes Wort zu gehorchen. Die säkulare humanistische Welt änderte die Liste der Tugenden in Freiheit, Selbstbestimmung, Gleichheit und Autonomie, da dies die Qualitäten waren, die man brauchte, um die Fesseln der Tradition abzuwerfen und »sich seines eigenen Verstandes zu bedienen« (Sapere aude – Kant). In der postmodernen Welt ist Tugend zu der Freiheit geworden, willkürlich zu wählen, wer man ist und welchen Regeln man folgen soll. Dies gilt nicht nur für Völker und Nationen, sondern reicht bis auf die Ebene kleiner Gruppen und sogar Einzelpersonen. Die ursprüngliche Idee des Ethos als gegebener Charakter einer Gemeinschaft bestimmt nicht mehr, worum es in der Ethik geht. Jeder kann alles sein, was er oder sie oder es sein will. Dies impliziert, dass Werte, Normen und Regeln willkürlich und völlig kontingent geworden sind – was an Nietzsche erinnert und auf Nihilismus hinausläuft. Diese Willkürlichkeit ist aber philosophisch fragwürdig. Wie Wittgenstein (2010) hervorhob, als er gegen die Möglichkeit einer privaten Sprache argumentierte, gibt es, wenn das, was ich sage, richtig ist, so etwas wie richtig und falsch nicht, überhaupt keine Regel oder Norm, da die Bedeutung einer Regel darin besteht, genau das nicht zu sein, was ich willkürlich sage, dass es ist. Nach dem Tod Gottes ist, wie Nietzsche sagte, alles möglich. Die Postmoderne scheint im Chaos zu enden, das heißt, in der Gleich-Wahrscheinlichkeit aller Möglichkeiten. In der Ethik ist so viel von Lob und Tadel, richtig und falsch, gut und schlecht die Rede, dass es unmöglich scheint, von der Kluft zwischen »Ist« und »Soll« und der zentralen Rolle des freien »Individuums« gegenüber der »Gesellschaft« wegzukommen. Was könnte Ethik bedeuten, wenn beide Unter-
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scheidungen nicht mehr im Mittelpunkt stehen? Was, wenn der Mensch nicht als Individuum existiert, sondern als Teilnehmer an einer Welt, die von vielen anderen – menschlichen und nicht-menschlichen – Akteuren bestimmt wird? Es ist ein Mythos der Moderne, dass das einzelne Subjekt über seine eigenen Möglichkeiten entscheidet und daher seine eigenen Werte und Normen bestimmt. Tatsächlich ist das Individuum durch andere, sowohl menschliche als auch nicht-menschliche Akteure, konditioniert und existiert als offen für Möglichkeiten, anders zu werden, als es sich selbst zu jeder Zeit annimmt zu sein. Wie Heidegger gezeigt hat, bedeutet dies für den Menschen, in der »Welt« (In-der-Welt-sein) zu existieren. Anstatt wie Heidegger von »Welt« zu sprechen, können wir diesen komplexen Verbund vieler verschiedener Akteure, die alle miteinander verbunden sind und sich gegenseitig bedingen, als »Netzwerk« bezeichnen. Im Unterschied zu Heideggers »Welt« und ähnlich dem ausgewogenen Ökosystem des ursprünglichen griechischen Ethos ist das »Netzwerk« insofern egalitär, als alle Akteure, sowohl menschliche als auch nicht-menschliche, eine Stimme, eine Handlungsfähigkeit und Handlungsprogramme haben und sowohl »vermitteln« können als auch sollen, d.h. in Verhandlungen mit anderen Akteuren eintreten, um zu einer stets instabilen und revidierbaren Vereinbarung – oder »Balance« – darüber zu kommen, wer wir sind und was wir tun. Im Netzwerk gibt es keine Unterscheidung zwischen Individuum und Gesellschaft, denn jedes Individuum ist das Netzwerk und jedes Netzwerk ist ein Akteur. Und es gibt keine Unterscheidung zwischen dem »Ist« und dem »Soll«, weil die Teilnahme am Netzwerk die Akteure zu dem macht, was sie sind. Das »Sollen« ist das »Ist«. Ohne die beiden Unterscheidungen, auf denen die Ethik basiert, kommen wir dem, was Ethos ursprünglich bedeutete, sehr nahe und bewegen uns sehr weit weg von modernen ethischen Normen, Regeln und Werten. Wenn es Tugenden im ursprünglichen Sinne von Ethos gibt, dann sind es Netzwerktugenden, oder wie wir sagen möchten: Netzwerknormen. Die Idee des Netzwerks impliziert, dass die Frage, wer wir sind, eine Frage ist, die wir nicht selbst beantworten können. Aus der Perspektive des Netzwerks sind »Autonomie« und »Selbstbestimmung« Oxymora, d.h. Selbstwidersprüche. Das Selbst ist genau das, was es mit anderen verbindet. Das Selbst ist durch und durch relational und demnach kein begrenztes Individuum. Das Dasein existiert, wie Heidegger es formulierte, als eine Frage für sich selbst, als offen für unvorhergesehene Möglichkeiten, die es selbst nicht bestimmt. Dasein existiert als »Geworfenheit« in eine Welt, die es nicht ge-
35. Können Netzwerke tugendhaft sein?
schaffen hat, eine Welt, die die Grenzen seiner Möglichkeiten setzt und sie zugleich als Möglichkeiten eröffnet. Wir wissen nicht nur nicht, was wir sind und was die Dinge um uns herum werden können, wir müssen auch anerkennen, dass wir diese Frage nicht autonom beantworten können. Wie kann sie dann beantwortet werden? Alle Akteure im Netzwerk haben nicht nur etwas darüber zu sagen, wer sie sind, sondern auch darüber, wer jeder und alles andere ist, da sie alle nur in und aus dem Beziehungsnetz existieren, das sie konstituiert. Die Tatsache, dass die Welt endlos offen für neue und unvorhergesehene Möglichkeiten ist, muss daher nicht bedeuten, dass Tugend auf einem willkürlichen Akt des Willens beruht und daher bedeutungslos ist. Im Gegenteil, das Ethos bezeichnet das Netzwerk und die Tugenden sind die Normen, die die Aktivitäten des Netzwerks bestimmen. Netzwerke können nicht nur tugendhaft sein – sie müssen es sogar sein, da sie nur dank eines richtigen Networkings existieren. Natürlich müssen sie nicht existieren. Es gibt keine Notwendigkeit des Seins. Das Sein kann sehr wohl nicht sein. Die Tugenden des Netzwerkens sind also normativ. Man kann es schlecht oder gar nicht machen und einfach verschwinden. Aber wenn man Networking gut machen will – und wer will nicht gut sein? –, dann sollte man den Netzwerknormen folgen, die Netzwerke tugendhaft machen. Wenn wir wissen wollen, was Netzwerknormen sind, sollten wir uns anschauen, wie Netzwerke »networken«. Damit würden wir nicht ein »Sollen« unabhängig von einem »Ist« entdecken, sondern jene Eigenschaften, die Netzwerke zu guten Netzwerken machen. Wenn es eine »Ethik« in der globalen Netzwerkgesellschaft gibt, dann ist sie eine Beschreibung von Netzwerknormen.
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36. Ich will mitreden! – Wie sich die Kommunikation zwischen Patienten und Medizinern verändert
Digitale Transformation im Gesundheitswesen ist ein vielschichtiger und kaum überschaubarer Themenbereich. Diskutiert wird aktuell über Big Data und Predictive Analytics, E-Health, Mobile Health, Apps und Sensoren, über neue Ansätze in Forschung, Diagnose und Therapie. Der gesetzliche Rahmen für sichere digitale Kommunikation im Gesundheitswesen wurde mit dem Bundesgesetz über das elektronische Patientendossier (EPDG) 2017 in Kraft gesetzt und langsam finden diese technologischen Entwicklungen Beachtung und Eingang in die Kliniken, Praxen und Labors und damit in den Alltag des ersten Gesundheitsmarktes. Unabhängig vom klassischen Gesundheitswesen hat sich aber, wenn es um die persönliche Auseinandersetzung mit Gesundheit und Krankheit geht, schon länger eine Art Paralleluniversum entwickelt: die Welt der vernetzten Bürger und Konsumenten, die Welt der E-Patienten. Ein Paralleluniversum, das in den Möglichkeiten der Vernetzung gründet, neue Werte und Normen und damit neue Ansprüche hervorbringt und von dem eine starke transformative Kraft ausgeht, die das Gesundheitswesen, so wie wir es heute kennen, gerade ziemlich auf den Kopf stellt.
Konnektivität Die Wurzeln digitaler Transformation bildet das Thema der Konnektivität. Konnektivität bedeutet die zunehmende Organisation unserer Welt in Netzwerken. Wir sind tatsächlich unglaublich gut vernetzt. Fast die gesamte Schweizer Bevölkerung ist mittlerweile online – je nach Alterskategorie
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zwischen 96 Prozent und 99 Prozent. Markant stieg in den letzten Jahren auch der Anteil der vernetzten Senioren, der sogenannten Silver Surfer, auf 77 Prozent. Konnektivität ist aber weit mehr als eine technologische Vernetzung im herkömmlichen Sinn, sie impliziert vielmehr einen Paradigmenwechsel in allen Gesellschaftsbereichen in der Art, wie wir uns als Gesellschaft organisieren, von »Systemen« hin zu »Netzwerken«. Was ist aber der Unterschied zwischen Systemen und Netzwerken?
Von Systemen zu Netzwerken Jedes System – ob mechanisch wie eine Uhr, organisch wie der Körper oder sozial wie ein Spital – hat ein Organisationsprinzip, das drei Funktionen erfüllt: Es selegiert die Elemente, die zum System gehören, es relationiert, das heißt es setzt die Elemente zueinander in Beziehung, und es steuert. Die »Elemente« des Systems, also die Rollen und Funktionen, sind vom System »konstruiert«. Ein Arzt ist ein Arzt, eine Pflegefachperson eine Pflegefachperson, ein Patient ein Patient. Sie haben bestimmte Funktionen und Rollen in der Organisation zu erfüllen. Netzwerke hingegen geben keine klaren Rollen und Funktionen vor, sondern sind einfach eine Ansammlung von irgendwie miteinander verbundenen Akteuren. Eine Mutter eines chronisch kranken Kindes hat möglicherweise durch ihr Vernetztsein mehr Wissen über diese spezifische Krankheit als der behandelnde Kinderarzt. Jedes System ist auf eine Differenz zur Umwelt begründet und diese Differenz ist für jedes System konstitutiv. Das System schließt aus, um zu funktionieren. Alles, was aus dem System ausgeschlossen wird, bildet die Umwelt des Systems. Systeme müssen also klare Grenzen haben. Sie müssen wissen, was und wer dazugehört und was nicht. Ein Spital als System betrachtet grenzt sich traditionellerweise klar ab von ambulanter Pflege, von niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten, von Pflegeeinrichtungen oder einem Altersheim. Im Gegensatz zu Systemen haben Netzwerke durchlässige und unscharfe Grenzen. Für sie ist weniger wichtig zu wissen, wer oder was dazugehört, als zu wissen, wer mit wem verbunden ist. Ein Netzwerk differenziert sich von anderen Netzwerken nicht durch Grenzen, sondern durch die Intensität und Qualität der Kommunikationen. Für einen Diabetespatienten gehört deshalb seine aus Online-Freunden bestehende Diabetes-Community zum Beispiel
36. Wie sich die Kommunikation zwischen Patienten und Medizinern verändert
auf mySugr genauso zum Netzwerk wie der Arzt im Spital, seine Case Managerin bei der Versicherung und sein Blutzuckermessgerät. Im Gegensatz zu Systemen, die zur eigenen Identitätsbildung möglichst eindeutig wissen müssen, wer sie sind, erlauben Netzwerke multiple Identitäten. Jeder Akteur in einem Netzwerk ist gleichzeitig Teil anderer Netzwerke. Gesundheit und Krankheit betrachte ich je anders, je nachdem, ob ich im konkreten Fall Patientin, Steuerzahlerin oder Versicherungsnehmerin bin. Soziale Systeme grenzen sich gegenüber der Umwelt, wo unendlich viel anderes passieren kann, durch zentrale Steuerung, klare Zielsetzungen und strenge Funktionalisierungen ab und reduzieren auf diese Weise Komplexität. Netzwerke wie traditionelle Organisationen managen oder steuern zu wollen, ist äußerst schwierig. Netzwerke sind flexibel, innovativ und komplex. Wandel ist in Netzwerken grundgelegt. Für ein Netzwerk entsteht Ordnung nicht dadurch, dass möglichst viel Komplexität durch zentrale Steuerung, klare Zielsetzungen und strenge Funktionalisierungen reduziert wird, sondern durch das Freisetzen der Kräfte der Selbstorganisation. Ordnung entsteht bottom-up. Gegenwärtig erleben wir in allen Gesellschaftsbereichen einen Übergang von Systemen hin zu Netzwerken. Und dies mit ziemlich weitreichenden Folgen. Die traditionellen Akteure im Gesundheitswesen befinden sich noch auf der Systemseite, während die vernetzten Patienten, Konsumentinnen und Bürger sich vermehrt in der Netzwerkwelt bewegen. Der Umgang mit Krankheit geschieht für sie heute nicht mehr isoliert zwischen Ärztin und Patient, zwischen Health Professional und Gesundheitskonsumentin, sondern in einem komplexen Netzwerk unterschiedlichster menschlicher und nichtmenschlicher Akteure, offline und online.
Neue Werte und Normen Aus der Organisation unserer Gesellschaft in Netzwerken heraus sind eine Reihe neuer Werte und Normen entstanden, die das Rückgrat digitaler Transformation bilden: die Forderung nach offener, dialogbereiter und selbstkritischer Kommunikation, nach Transparenz und Partizipation, aber auch nach Authentizität, Empathie, Heterogenität und Flexibilität. Diese Werte sind mehr als Schlagworte – sie sind eine Realität der vernetzten Welt. An ihnen wird das Gesundheitswesen mit all seinen Produkten, Dienstleis-
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tungen und Konversationen heute gemessen. Technologie als Treiber Auch wenn Technologie nicht Kern der digitalen Transformation ist, so ist sie doch ein ganz mächtiger Treiber und Katalysator – allen voran die Mobiltechnologie. Kein Techniktrend hat sich so rasant etabliert wie die Kommunikation via smarte mobile Endgeräte. Ende 2013 gab es weltweit erstmals mehr Mobilgeräte als Menschen und wir sind die erste Generation, die überall, wo wir hinkommen kostenloses Wi-Fi erwarten. Mobilgeräte sind zu Türöffnern für den Zugang zu Information, Kommunikation und Partizipation für ganz unterschiedliche Generationen geworden. Und natürlich bedienen sich auch Gesundheits- und Wellness-Aktivitäten zunehmend mobiler Technologien. Mobiltechnologie hat zu so etwas wie »seamless health« geführt – die Auseinandersetzung mit Gesundheit und Krankheit ist aus Sicht von Gesundheitskonsumenten und Patientinnen fließend geworden. Sie macht nicht mehr an der Spitalpforte oder der Tür zur Arztpraxis halt. Die Auseinandersetzung mit Gesundheit und Krankheit ist vielmehr zu einem Kontinuum über verschiedene Orte, Zeiten, Technologien, soziale Settings, aber auch über verschiedene Märkte hinweg geworden.
M-Health – Apps, Wearables und neue Dienstleistungen Das Feld der Gesundheits-Apps ist unüberschaubar: Es gibt schätzungsweise über 360 000 davon. Die amerikanische Zulassungsbehörde FDA hat 2013 einen Prozess eingeführt, um Apps analog zu Medikamenten zuzulassen, britische Ärzte verschreiben Apps, und neuerdings lancieren Krankenversicherungen Pilotprojekte, um über Apps die Fitness der Versicherten zu messen, gesundes Verhalten zum Beispiel mit Prämienreduktionen zu belohnen, aber in erster Linie vermutlich, um an gesundheitsrelevante Daten ihrer Kundinnen und Kunden zu kommen. Und es sind durchaus inhaltliche Entwicklungstrends im Bereich der Apps ersichtlich. Nachdem in den vergangenen Jahren Sport- und Fitness-Apps den Markt erobert haben, sind nun Apps im Trend, die den Gesundheitsbegriff ausweiten auf die Bereiche Wohlbefinden, Ausgeglichenheit, Fokussierung, Meditation und Schlaf. Zudem ist unter den Gesundheits-Apps ein zweifacher Konsolidierungstrend erkennbar: zum einen eine inhaltliche Aggregation verschiedener Messtools in einer einzigen App, die die unterschiedlichsten Messdaten wie alltägliche Bewegung, Ernährung, Stress, Schlaf, Gemütszustand und Sport in einem persönlichen
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Gesundheits-Cockpit zusammenführt. Zum andern ist eine Marktkonsolidierung ersichtlich. Auch die Welt der mobilen Geräte und Sensoren, der sogenannten der Wearables, ist fast grenzenlos. Neben den sich schon länger auf dem Markt befindlichen Geräten etwa der Blutdruckmessung via Smartphone oder den mobilen Blutzuckermessgeräten kommen heute Dinge auf den Sportmarkt wie kluge Socken oder kluge Hosen, die während des Laufens nicht nur zurückgelegte Kilometer, Höhenmeter und verbrannte Kalorien messen, sondern gleichzeitig den Laufstil analysieren und dem Jogger über die Kopfhörer ein Echtzeit-Feedback und Trainingsanweisungen geben. Oder Foodscanner, die über Lichtwellentechnologie die Zusammensetzung von Essen und Getränken ermitteln, oder Stirnbänder, die das Hirnstrompotenzial messen und anhand der Daten Feedback zum Gemütszustand der Person geben. Die Sensoren werden immer kleiner und können gar als sogenannte Insideables geschluckt, injiziert oder implantiert werden. Neben Apps und Wearables finden sich immer mehr Dienstleistungen im digitalen Gesundheitsbereich: Hoch im Kurs sind all jene Angebote, die dem Kunden und Patienten mehr Bequemlichkeit, Annehmlichkeit und Zweckmäßigkeit versprechen. Videokonsultationen etwa, die über eine sichere Verbindung eine Tablet-Konsultation mit Patienten ermöglichen, etwa bei der Betreuung von chronisch kranken Personen oder für den Austausch zwischen entfernten Expertinnen und Experten. Interessanterweise werden viele dieser Dienstleistungen nicht von traditionellen Leistungserbringern erbracht. Neue Akteure aus Telekommunikation, Mobilität und dem Retail erobern den Gesundheitsmarkt.
E-Patienten-Bewegung Neben unterschiedlichsten Auswirkungen der digitalen Transformation auf unseren Umgang mit Gesundheit und Krankheit wie Quantified-SelfBewegung, Consumer Genomics, Big Data und Predictive, Ansätze künstlicher Intelligenz bei der Befundung und Früherkennung von Krankheiten, partizipativer Forschung und Patient Crowdsourcing, einem neuen Umgang mit Gesundheitsdaten, partizipativer Medizin und Shared Decision Making – um nur ein paar wenige zu nennen – steht insbesondere die Forderung nach einer neuen Patienten- oder Kundenkommunikation im Raum.
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Die vernetzte Gesellschaft verlangt eine offene Form der Kommunikation. Kommunikation, auch Patienten- und Angehörigenkommunikation, muss offen, selbstkritisch, respektvoll, ehrlich sein. Einige Institutionen im Gesundheitswesen haben diese Tendenz erkannt und kommunizieren auf allen nur erdenklichen Kanälen mit den Patienten und ihren Angehörigen. Die amerikanische Mayo Clinic tut dies sehr erfolgreich via Blog, Podcast, Diskussionsforen, Videokanal auf iTunes und YouTube, Facebook, Twitter und einem sehr ausgefeilten Patientenportal inklusive App. Kommunikation mit Ärzten und Pflegepersonen wird in den meisten Studien als Hauptgrund für Patientenzufriedenheit genannt. Und Patientenzufriedenheit wiederum als maßgeblicher Treiber für Health Outcome. In Europa wird diesem Thema langsam aber sicher mehr Beachtung geschenkt. Das Dresdner Sozialunternehmen »washab-ich« übersetzt für Patienten kostenlos medizinische Berichte und Befunde in ein verständliches Deutsch und der Direktor des ReShape Institute an der Radboud Universität in den Niederlanden hat an der eigenen Klinik eine neue Funktion, die des CLO – des Chief Listening Officers – eingerichtet, dessen bzw. deren Aufgabe nichts weiter beinhaltet, als den Patienten, ihren Angehörigen, aber auch den Mitarbeitenden zuzuhören und die Learnings wieder in die Qualitätsprozesse der Organisation einfließen zu lassen. Tatsächlich ist eine neue Generation von Patienten, die sogenannten EPatienten, am Entstehen, die die Werte der vernetzten Welt, offene Kommunikation, Transparenz und Partizipation ins Zentrum stellt. Das E vor Patient steht übrigens nicht nur für »elektronisch«, sondern auch für educated, enabled, engaged und empowered: aktiv, befähigt, kompetent. Die E-Patienten sind mit ihren Forderungen nach Kommunikation, Partizipation und Transparenz zu einer neuen ernstzunehmenden Einflussgröße auf dem Gesundheitsmarkt geworden.
37. Persönliche Informatik und Design
Der Design-Diskurs befasst sich meist mit Industriedesign oder Marketing, also Produktentwicklung, Kommunikation und Interaktion. Dennoch gibt es einen tieferen und für die Sozialwissenschaft interessanteren Hintergrund für Fragen des Designs. Wie die bekannte Diskussion um »Social Design« andeutet, geht es im Grunde um eine techné des Selbst im Sinne von Foucaults Ethik und Heideggers Interpretation von Technik als Poiesis (2003b). In einem bekannten und viel zitierten Buch mit dem Titel Sciences of the Artificial hat Herbert Simon einen Begriff von Design entwickelt, der sich auf die griechische techné zurückführen und auf Foucaults Technologie des Selbst (1993) sowie auf die Ethik anwenden lässt. Für Simon (1996, S. 111) sind »Ingenieure nicht die einzigen professionellen Designer. Jeder gestaltet, der sich Handlungsweisen ausdenkt, die darauf abzielen, bestehende Situationen in bevorzugte zu verwandeln. Die intellektuelle Tätigkeit, die materielle Artefakte hervorbringt, unterscheidet sich nicht grundlegend von derjenigen, die einem kranken Patienten Heilmittel verschreibt, oder derjenigen, die einen neuen Verkaufsplan für ein Unternehmen oder eine Sozialpolitik für einen Staat entwirft. Design, so verstanden, ist der Kern jeder Berufsausbildung und alle Ingenieurschulen, ebenso wie Schulen für Architektur, Wirtschaft, Pädagogik, Recht und Medizin, alle befassen sind mit dem Prozess des Designs. « Bruno Latour würde dem zustimmen und hinzufügen, dass der Begriff des Designs heute »von den Details der Alltagsgegenstände auf Städte, Landschaften, Nationen, Kulturen, Körper, Gene und … auf die Natur selbst ausgedehnt worden ist« (Latour 2008b, S. 2). Darüber hinaus bedeutet diese Ausdehnung der Idee des Designs auf alle Aspekte der menschlichen Auseinandersetzung mit der Welt, dass der Begriff »Design« zu »einem klaren Ersatz für Revolution und Modernisierung« (S. 5) geworden ist – jene beiden Ideale, die die Moderne in eine unausweichliche Verantwortung für die globale Öko-
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logie geführt haben. Schließlich besteht für Latour »der entscheidende Vorteil des Designbegriffs darin, dass er notwendigerweise eine ethische Dimension beinhaltet, die mit der offensichtlichen Frage nach gutem oder schlechtem Design verbunden ist« (S. 5). Diese ethische Dimension, die Latour im Herzen des Designs findet, schließt sich Foucaults Idee einer Technologie des Selbst an, denn »der Mensch muss künstlich gemacht und neu gemacht werden« (S. 10). Selbsterkenntnis als ethische und technische (im Sinne von techné) Aufgabe des Designs zu verstehen, muss uns nicht in einen TechnoDeterminismus und die Diskussion um Cyborgs führen. Vielmehr ist das, was Design sowohl ethisch gut als auch ästhetisch schön macht, seine Fähigkeit, so viele verschiedene Aspekte dessen, was etwas ist und werden kann, zu berücksichtigen. Design ist die Tätigkeit, welche all die verschiedenen Ansprüche, die an jemanden oder etwas gestellt werden können, zu respektieren und somit sicherzustellen versucht, dass nichts Wichtiges übersehen wird, aber auch Überraschungen und Unerwartetes zulässt. Etwas gut zu gestalten, auch sich selbst, in der funktionalen, ethischen und ästhetischen Dimension, bedeutet, so viele Information wie möglich im Konstruktions- und Problemlösungsprozess zu berücksichtigen. Latour schlägt vor, das Networking, das heißt die techné der Konstruktion von Akteur-Netzwerken, als Design zu verstehen. Das bedeutet, dass Design ein »Mittel ist, um Dinge zusammenzubringen – Götter, Nicht-Menschen und Sterbliche eingeschlossen« (S. 13). Interessant ist, dass ein Großteil der Forschung, die z.B. im Bereich der Wearables und persönlichen Informatiksysteme betrieben wird, viel mit Design zu tun hat. In der Designforschung wird vor allem das bekannte Fünf-Phasen-Modell verwendet. Die zentralen Fragen dieser Forschung lauten: Was motiviert, befähigt und bindet Benutzer an eine bestimmte Konstellation von Hard- und Software? Wie können automatisierte Systeme dem Benutzer helfen, Ziele zu setzen und den Erfolg zu kontrollieren? Wie kann das Sammeln, Aggregieren, Bereitstellen und Nutzen von Information automatisiert und personalisiert werden? Diese Forschung zeigt deutlich, dass die Information, die durch sogenannte Body-Tracking-Technologien gesammelt, aggregiert und interpretiert werden, auch die Parameter verändern, wie Gesundheit und Wohlbefinden verstanden werden. Dies wird in dem Moment deutlich, in dem wir bedenken, dass Information, die in großen Mengen aggregiert, verteilt und ausgewertet wird, neues Wissen über Gesundheit liefern kann. Gesundheit ist keine Gegebenheit, sondern ein Ziel, das durch die Praktiken des Sammelns, Aggregierens und Teilens von Daten entdeckt werden soll, damit weitere Forschung neue und unvor-
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hergesehene Zusammenhänge finden kann. Der einflussreiche President’s Council of Advisors on Science and Technologie Report on Big Data (USA 2014) behauptet: »Big Data kann Ernährung, Bewegung, Vorsorge und andere Lebensstilfaktoren identifizieren, die dazu beitragen, dass Menschen nicht zum Arzt gehen müssen« (S. 22). Big-Data-Analysen »können … dabei helfen, klinische Behandlungen, verschreibungspflichtige Medikamente und Maßnahmen des öffentlichen Gesundheitswesens zu identifizieren, die in kleineren Stichproben, in breiten Bevölkerungsgruppen oder mit herkömmlichen Methoden nicht wirksam zu sein scheinen« (S. 23). Big Data ermöglicht eine »prädiktive Medizin«, die »tief in den Gesundheitszustand und die genetischen Informationen einer Person eindringt und es Ärzten erlaubt, vorherzusagen, ob eine Person eine Krankheit entwickeln wird und wie sie auf bestimmte Therapien reagieren könnte« (S. 23). Der Bericht betont, dass diese Möglichkeiten wichtige Fragen in Bezug auf die Privatheit aufwerfen. Zum Beispiel geht die prädiktive Medizin »über die Risiken eines einzelnen Individuums hinaus, um andere mit ähnlichen Genen einzubeziehen«. Der Bericht räumt ein, dass die derzeitigen rechtlichen und kulturellen Vorstellungen von Privatheit »möglicherweise nicht gut geeignet sind, um diese Entwicklungen zu adressieren« (S. 23), und kommt zum Schluss, dass »die Nutzung von Big Data zur Verbesserung der Gesundheit fortschrittliche Analysemodelle erfordert, um verschiedene Arten von Lebensstil-, genomischen, medizinischen und finanziellen Daten zu erfassen« (S. 23), die alle für die Entwicklung personalisierter Gesundheitsprodukte und -dienste benötigt werden. Trotz der Bedenken hinsichtlich des Datenschutzes leisten viele Patienten-Community-Plattformen einen wichtigen Beitrag zur medizinischen Forschung, und auf der Grundlage dieser Forschung werden die Parameter für die Datenauswahl und -auswertung angepasst und in Wearables und Body-Tracking-Geräte eingebaut. Aus dieser Forschung heraus werden die Werte dessen, was in Bezug auf die Vitaldaten als gesund gilt, festgelegt, also als Ziele und Marker der Gesundheit in die Geräte zurückgespielt. Nicht einfach das Sammeln von immer mehr Daten von immer mehr Sensoren ist das bestimmende Merkmal der persönlichen Informatik als Technologie des Selbst, sondern das Teilen dieser Daten in Gemeinschaften von Forschung, Beratung, Unterstützung und Pflege. Was diese Trends offenbaren, ist viel mehr als neue und bessere Modelle der Gesundheitsversorgung. Es sind – und das ist vielleicht noch wichtiger – tief greifende soziale und kulturelle Veränderungen. Nur wenn persönliche Informatik und Body-Tracking sich nicht auf die bloße Einhaltung vorge-
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gebener Parameter beschränken, sondern von neuen ethischen Werten wie Transparenz, Partizipation und Authentizität geleitet werden und Praktiken sind, die sich aktiv und konstruktiv an der Schaffung von Parametern und der Definition von Gesundheit beteiligen, wird das quantifizierte Selbst zu einem qualifizierten Selbst. Das qualifizierte Selbst unterliegt nicht mehr der Moral der Konformität, sondern wird von der Ethik des Designs geleitet. Wir können das Body-Tracking mit dem Fliegen eines Flugzeugs bei schlechtem Wetter vergleichen: Es wird nur von den Instrumenten geführt, die ständig gewisse Parameter wie etwa die Höhe, die Geschwindigkeit, die Richtung usw. der Bewegungen des Flugzeugs überwachen und so der Pilotin oder dem Piloten die Information geben, die sie oder er braucht, um das Flugzeug erfolgreich zu fliegen. So werden unsere Vitalfunktionen mittels Body-Tracking live überwacht – dies erlaubt es uns, laufend Korrekturen im Verhalten vorzunehmen, damit wir gesundheitlich auf Kurs bleiben. Anhand dieses Vergleichs können wir behaupten, dass das Ziel von Designs nicht bloß darin besteht, die »Maschine« auf der Grundlage eines bestimmten, sehr begrenzten Instrumentariums und innerhalb gegebener Parameter erfolgreich zu steuern – was die typische Bedeutung von Moral als Einhaltung gegebener Regeln ist –, sondern Design zielt auch darauf, die Parameter der Funktionalität und die Regeln selbst zu hinterfragen und zu verändern. Dieses Ziel und diese Praxis korrespondieren mit Foucaults Begriff der Ethik. Ethik ist keine Moral. Sie ist vielmehr eine techné im Sinne des von Latour vorgeschlagenen Designs. In der klassischen Tradition wird das ethische Leben im Hinblick darauf gelebt, das Selbst sowohl funktional (gesund) als auch »gut« und »schön« zu gestalten, das heißt, alle verfügbaren Informationen zu berücksichtigen und die richtige Balance zu finden. Die vielen Werkzeuge und Technologien der persönlichen Informatik machen dies möglich, indem sie alles in Information umwandeln und diese Informationen zusammenführen, sodass sie verglichen, ausgewertet, korreliert und auf unvorhersehbare Weise durch Netzwerke fließen können. Die klassische Ethik im Sinne von Design zu verstehen, bedeutet, dass Gesundheit und Schönheit nicht gegeben sind – weder von Gott noch von der Medizin –, sondern im Prozess der Vernetzung ständig geformt, erprobt, revidiert und (neu) verhandelt werden. Networking bedeutet nicht nur Konnektivität und Informationsfluss, sondern auch Kommunikation, Partizipation, Transparenz, Flexibilität und Authentizität. Das sind die Normen des »guten«, also des ethischen Designs.
38. Bauen, Wohnen, Denken in der Netzwerkgesellschaft
Heideggers Definition von Raum in Bauen, Wohnen, Denken (2003a) ist ungewöhnlich und regt zum Nachdenken an. Die Dinge existieren nicht im Raum, sie sind Raum, das heißt, sie existieren, indem sie »räumen«, das heißt Raum machen. Für Heidegger sind die Dinge nicht Gegenstände, die in der Welt herumliegen und darauf warten, dass man über sie stolpert oder sie entdeckt, sondern sie sind aktiv. Die Dinge eröffnen Räume, in denen der Mensch wohnt. Heidegger verwendet das Beispiel einer Brücke. Die Brücke verbindet nicht nur die Ufer eines Flusses, sie lassen sich mittels der Brücke erst als Ufer aus einer anonymen und undifferenzierten Natur heraus erscheinen. Und nicht nur das: Die Brücke schafft zudem eine Beziehung zwischen den Ufern des Flusses und dem umgebenden Land. Sie sind »versammelt« als Orte der Überquerung, Orte der Begegnung, der Kommunikation und des Handels. Solche Aktivitäten, oder Programme, wie die Architekten sagen würden, werden durch Konstruktionen aller Art ermöglicht: Straßen, Kontrollpunkte, Wachtürme, Läden, Häuser etc. Jedes Ding, jedes Gebäude ermöglicht bestimmte Aktivitäten, die in und um dieses bestimmte Gebäude »stattfinden«. Gebäude schaffen Orte, um zu leben, um Geschäfte zu betreiben, um Waren zu produzieren oder zu verkaufen, um zu sammeln und zu reden, um zu lernen und vieles mehr. Diese Konstruktionen werden nicht einfach in einen leeren abstrakten kartesischen Raum gesetzt, der irgendwie schon da ist. Gebäude nehmen den Raum nicht nur auf, sie lassen ihn erscheinen und öffnen ihn für all jene Aktivitäten, die Heidegger menschliches Wohnen nennt. Was hat diese Raumauffassung mit der üblichen Definition von Raum als »dreidimensionaler Rahmen, in dem wir Richtungen wahrnehmen und Abstände zwischen Objekten oder Punkten quantifizieren können« (Wikipedia) zu tun? In Heideggers Darstellung kann man, wenn Gebäude Orte zum Woh-
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nen geschaffen haben, schon die Entfernung von Wand zu Wand, von Pfosten zu Pfosten messen und die Idee der reinen Ausdehnung abstrahieren. Aber diese Art von einheitlichem und abstraktem kartesischem Raum ist nicht das Wesen des Raumes. Es ist ein Raum ohne Dinge, ein Raum, der überhaupt kein Ort ist. Das Beispiel der Brücke will nicht nur etwas über das Bauen, sondern auch über das Wohnen aussagen. Der Mensch lebt durch das Bauen. Das menschliche Dasein ist wesentlich Handeln, Konstruieren und Bauen. Das ist es, was Heidegger »Behausung« nennt. In seinem früheren Werk Sein und Zeit existiert das Dasein als dasjenige Wesen, das durch Sorge für die Welt und in vielfachen praktischen Tätigkeiten Sinn konstruiert. Das Konstruieren von Bedeutung wird in Heideggers späterem Werk als »Bauen« gedacht. Heidegger beruft sich auf die ursprüngliche Bedeutung des griechischen Wortes techné (wie in »Technik« oder »Architektur«). Techné »bedeutet weder Kunst noch Handwerk, sondern vielmehr: etwas innerhalb des Gegebenen als dieses oder jenes, auf diese oder jene Weise erscheinen lassen«. Das hermeneutische »als«, das die Existenz des Daseins als Verstehen des Seins charakterisiert, ist nun zur Tätigkeit des Bauens geworden. Bauen ist die Tätigkeit, etwas in Erscheinung zu bringen. Nicht nur Brücken und Häuser, sondern Artefakte aller Art sind das Ergebnis von techné. Selbst wenn das Haus eine primitive Höhle und die Brücke ein umgestürzter Baumstamm ist, so sind sie doch konstruiert, wenn nicht durch Werkzeuge und Maschinen, so doch dadurch, dass sie »als« eine Behausung oder »als« eine Brücke verstanden werden, das heißt, sie werden durch Denken und durch Sprache an ihren Platz gebracht. So wie der Raum keine res extensa ist, ist das Denken keine rein kognitive Tätigkeit eines körperlosen Subjekts, einer res cogitans, eines Geistes in einer Maschine. Sinn zu konstruieren bedeutet, die Dinge so erscheinen zu lassen, »wie« sie sind. Techné erlaubt es, Dinge aller Art erscheinen zu lassen und Raum zum Verweilen zu schaffen. Bauen, Wohnen und Denken sind im Grunde dasselbe. Die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) würde Heideggers Brücke wahrscheinlich als einen »obligatorischen Durchgangspunkt« (Obligatory Point of Passage) betrachten. Sie fungiert als einflussreicher Akteur in einem Netzwerk von heterogenen Assoziationen, die Menschen und Nicht-Menschen miteinander verbinden. Die Brücke wirkt, indem sie alle versammelt, die den Fluss überqueren wollen, indem sie Assoziationen mit anderen Gebäuden, Straßen und den vielen Aktivitäten, die sie ermöglichen, herstellt. Ähnlich wie Heidegger sieht auch die ANT die Dinge als raumbildend. Auch hier geht es nicht um den physischen Raum: Dinge sind Akteure, weil sie sozialen
38. Bauen, Wohnen, Denken in der Netzwerkgesellschaft
Raum schaffen, soziale Verbindungen. Latour (Strum/Latour 1987) verwendet das Beispiel des sozialen Lebens von Pavianen. Paviane haben, wie andere Affenarten auch, ein komplexes Sozialleben. Der Unterschied zwischen Pavianen und Menschen ist, dass Paviane keine Gegenstände haben, die ihre sozialen Beziehungen vermitteln. Sie haben nur ihre Körper, mit denen sie ihre sozialen Beziehungen ständig aushandeln und neu bestimmen. Affen haben sehr begrenzte Ressourcen, um eine Gesellschaft aufzubauen. Sie interagieren im Hier und Jetzt der körperlichen Präsenz. Der Mensch hingegen hat eine Fülle von Dingen, Symbolen, Werkzeugen usw., mit denen er weit über seinen Körper hinaus Kognition verteilt und so seine Welt sinnvoll und intelligent macht. Ohne Dinge, also das, was Heidegger techné nennen würde, können die Paviane ihre sozialen Interaktionen nicht in verschiedene soziale Rollen und Identitäten innerhalb einer Welt dauerhaft und wiederholbar lokalisieren und sie können ihre Aktivitäten nicht in soziale Strukturen wie Arbeitsteilung, Landwirtschaft, Industrie, Recht, Wissenschaft usw. globalisieren. Heideggers »Welt« ist für die ANT ein sozialer Raum, der sich durch die Konstruktion von Akteur-Netzwerken erschließt, in denen Dinge, Artefakte, Gebäude usw. soziale Partner sind. Sie spielen die gleiche Rolle wie Menschen. Sie stellen Assoziationen her; sie sammeln Akteure und Aktivitäten zu einer sinnvollen Welt. Wenn Technologie und Architektur im Heidegger’schen Sinne von Bauen, Wohnen und Denken verstanden werden und einen sozialen Raum schaffen, der aus Akteur-Netzwerken besteht, wie es die ANT vorschlägt, dann verändern revolutionäre Technologien tatsächlich die Welt. Wenn die ursprüngliche Bedeutung von Technologie und Architektur in ihrer einzigartigen Fähigkeit liegt, Sinn zu konstruieren und Raum zu schaffen, dann sollte es nicht überraschen, dass neue Medientechnologien die Formen, in denen Bauen, Wohnen und Denken in der heutigen Welt stattfinden, beeinflussen. »Interactive Architecture« und »Mediatecture« sind interessante Dokumentationen dieser Veränderungen. Beide Texte sind reich an Beispielen dafür, wie Kommunikations- und Informationstechnologien zu integralen Bestandteilen von Gebäuden werden. Architektur konstruiert nicht mehr nur physische Gebäude, sondern gleichzeitig Schnittstellen, die die virtuelle Welt der Information mit der physischen Welt der Wände, Fenster, Böden usw. vermischen. Wie Erkki Hutamo (2010 S. 20) es ausdrückt: »Gebäude werden zu Medienmaschinen.« Fox und Kemp (2009) sprechen nicht nur von interaktiver Architektur, sondern von »intelligenten Umgebungen«, »reaktionsfähigen Umgebungen«, »intelligenter Architektur« und »weichem Raum«, um eine Architektur
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zu beschreiben, die »nicht nur interagiert, sondern sowohl den Benutzer als auch sich selbst transaktiviert und transformiert« (S. 13). Die architektonische Integration der virtuellen Welt in die physische Welt zeigt auf neue Weise, wie das Denken untrennbar mit dem Bauen und Wohnen verbunden ist und wie auch Nicht-Menschen zu Akteuren in der Gesellschaft werden. Sie verändert die Bedeutung der Mensch-Computer-Interaktion. Einst auf relativ kleine Bildschirme und umständliche Eingabegeräte wie Tastatur und Maus beschränkt, werden Schnittstellen zu Gebäuden, Wänden, Böden und Möbeln. So wie Heideggers Brücke eine Welt zusammenführte, haben Gebäude nun die Möglichkeit, die physische und virtuelle Welt zu einer »gemischten Realität« zusammenzuführen. In dieser »Mixed Reality« werden Räume und Orte aller Art durch sogenannte »Filter« erschlossen. Ein Filter lässt bestimmte Erkenntnisse und Handlungen zu und sperrt andere Möglichkeiten aus. Wenn die Dinge, wie Heidegger behauptete, Raum sind, weil sie Orte erschließen, dann können die Dinge auch als Schnittstellen gedacht werden. Das heißt, sie sind Filter und der Raum selbst kann als Schnittstelle erlebt werden. Aus dieser Perspektive verlieren Heideggers Bauen, Wohnen und Denken ihre romantischen Assoziationen und erinnern uns daran, dass Herkunft aber stets Zukunft bleibt.
39. Verrückte Liebe oder: Das moderne Dilemma
Eine der berühmtesten Liebesgeschichten der modernen westlichen Kultur ist Shakespeares »Romeo und Julia«. Es ist jedoch vielmehr eine Geschichte nicht über die Liebe, sondern darüber, was es bedeutet, modern zu sein. – Doch was bedeutet, modern zu sein? Unter den vielen Bedeutungen, die Modernität haben kann, ist eine, dass Modernität ein Dilemma bezeichnet, das da lautet: Wie kann ich gleichzeitig ein Individuum und ein Mitglied der Gesellschaft sein? Das Problem entsteht aus dem Mythos der freien, autonomen Individuen, die ursprünglich in einem Naturzustand existieren, in dem sie in einen Krieg aller gegen alle verwickelt sind (Hobbes). Das ist Chaos und eine Lose-lose-Situation, in der am Ende alle sterben. Der einzige Ausweg ist, dass die Individuen freiwillig(!) einen Gesellschaftsvertrag abschließen. Angeblich von der angeborenen Vernunft geleitet, willigen alle ein, ihre Waffen niederzulegen und sich einem übergeordneten Souverän, dem Leviathan, zu unterwerfen. Der Leviathan, später der Staat, sorgt dann für Frieden und Sicherheit. Aber in dem Moment, in dem die freien Individuen den Vertrag unterschreiben, werden sie zu Mitgliedern der Gesellschaft und müssen sich den Erwartungen von anderen und gesellschaftlichen Zwängen unterwerfen. Oder, wie Kant es als Paradoxon formulierte: Fortan gibt es Freiheit nur noch unter dem Gesetz. Das moderne Dilemma besteht darin, dass die Individuen nur existieren können, wenn sie ihre freie Individualität aufgeben und sich den gesellschaftlichen Regeln unterwerfen. Wenn sie das aber tun, und das ist das Paradoxe, dann sind sie keine autonomen Individuen mehr, sondern werden zu Produkten der Gesellschaft – also zu guten Bürgerinnen und Bürgern, Familienmitgliedern usw. Sobald der Vertrag unterschrieben ist, legen die freien Individuen nicht nur ihre Waffen nieder, sondern auch ihre Individualität ab. Vielleicht haben sie das Kleingedruckte des Sozialvertrags nicht gelesen, aber einmal in der Gesellschaft, neigen sie dazu, als Individuen zu verschwinden
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und gute Bürger und Bürgerinnen zu werden. Dies mag den Frieden sichern, aber es hat seinen Preis. Denn wenn die freien Individuen verschwinden, für wen ist dann der Gesellschaftsvertrag (d.h. die Gesellschaft) da? Damit der Vertrag gültig ist und das Gesetz nicht zur reinen Tyrannei wird, müssen die Individuen nicht nur bei der Unterzeichnung frei sein, sondern auch nachher frei bleiben. Freiheit statt Tyrannei kann es nur geben, wenn die Individuen zugleich vor und nach der Einführung des Gesetzes frei sind. Aber wenn die Individuen vor dem Gesetz frei sind, wozu brauchen sie dann überhaupt das Gesetz? Offensichtlich muss es in der modernen Sozial- und Politiktheorie zwei verschiedene Arten von Freiheit geben. Die eine ist die destruktive Freiheit des Krieges aller gegen alle, und die andere ist die konstruktive Freiheit der Unterwerfung unter gesellschaftliche Zwänge. Die eine ist die Freiheit des Individuums, die andere ist die Freiheit der Gruppe. Das Problem ist, dass diese beiden Freiheiten einander gleichzeitig ausschließen und einschließen. Ohne freie Individuen ist der Gesellschaftsvertrag bloße Tyrannei. Der Leviathan, wie der moderne Staat auch, braucht für seine Legitimation freie Individuen. Doch einmal legitimiert, kann die Gesellschaft diese freien Individuen nicht dulden und verlangt, dass sie sich dem Gesetz unterwerfen. Wenn wir nur unter dem Gesetz frei sind, wie Kant sagt, dann sind wir Produkte der Gesellschaft und unsere Freiheit ist nicht unsere eigene, sondern wird uns wie Futter an Hunde zugeteilt. Wenn wir aber vor der Etablierung des Gesetzes frei sind und somit in der Lage sind, das Gesetz aus der Freiheit – und Vernunft! – heraus zu schaffen, dann können wir nicht akzeptieren, dass das Gesetz uns unserer Individualität beraubt und uns den vielen rollenspezifischen gesellschaftlichen Erwartungen unterwirft. Das ist das moderne Dilemma. Was muss der Einzelne in dieser paradoxen Situation tun, um sich seiner individuellen und autonomen Existenz zu vergewissern und sich nicht in der gesellschaftlichen Konformität, oder wie Heidegger es nannte, »das Man«, zu verlieren? Das moderne Denken beantwortet diese Frage eindeutig: Die Individuen müssen in einen »Kampf um Selbstverwirklichung« eintreten. Wie tun sie das? Für Hegel (Phänomenologie des Geistes §187) kann das Individuum, zurückgehend auf den Krieg aller gegen alle, Gewissheit über sich selbst als Individuum nur dadurch erlangen, dass es sein Leben im Zweikampf mit einem anderen frei riskiert. Wenn man ein freies Individuum sein will, muss man dies dadurch beweisen, dass man einen Feind findet, der einen töten will, und sich dann dieser Bedrohung des eigenen Lebens durch Herausfor-
39. Verrückte Liebe oder: Das moderne Dilemma
dern zu einem Duell frei stellt und sich so als frei von natürlichen, das heißt äußeren Zwängen erweist. Das Individuum ist es, das über Leben und Tod entscheidet. Das Individuum wird durch die Entscheidung, sein Leben zu riskieren, als frei und alleine bestätigt. Natürlich kann man das Duell verlieren und sterben. Der Tod aber ist nur eine Bestätigung der Individualität, denn es ist das Individuum – und es alleine –, das stirbt. Wie Heidegger auch sagt: Die Eigentlichkeit und Befreiung vom Konformismus des »Mans« liegt im Sein zum Tode. Wichtig bei dieser Lösung des Problems des Kampfes um Selbstverwirklichung ist nicht Leben oder Tod, sondern die Tatsache, dass das Individuum – und es alleine – diese Option frei gewählt hat. Ist dies eine »praktikable« Lösung für das Problem? Zunächst einmal: Wenn Hegel recht hat und ein Duell nötig ist, um ein freies Individuum zu werden, dann gibt es nur sehr wenige Individuen auf der Welt, und die wenigen, die es gibt, sind verrückt. Es ist absoluter Unsinn, dass sich jeder einen Feind sucht, der ihn umbringen will, um sich dann im Duell seine Individualität zu bestätigen. Eine Situation, in der alle auf dem Feld am Duellieren sind, erinnert an Hobbes’ Naturzustand des Krieges von allen gegen alle. Hegels Lösung des Problems des Individuums negiert den Gesellschaftsvertrag und alle Vorteile der Zivilisation, die er bringen sollte. Also sind wir wieder am Anfang: Entweder gibt es Individuen oder Gesellschaft, aber nicht beide. Doch gibt es eine andere Lösung? Die moderne Welt bietet durchaus eine Alternative: Anstatt sich zu duellieren, kann man sich verlieben. Verzweifelte, leidenschaftliche Liebe, die einen außerhalb die Grenzen der Gesellschaft stellt und vermeintlich die ultimative Erfahrung von Individualität und Freiheit gewährt. Diese Option wird von Shakespeare in »Romeo und Julia« erkundet. Warum aber soll die Liebe die gleiche Wirkung haben wie das Duellieren? Die Liebe verlangt, dass das Individuum alle äußeren Zwänge, Familie, Gesellschaft usw. außer Acht lässt. Die Liebe verlangt, dass man sich einem anderen, dem geliebten Menschen, ganz hingibt, und die Liebe verlangt auch – und zwar paradoxerweise –, dass man ein vom geliebten Menschen getrenntes Individuum bleibt. Anders als zu erwarten wäre, lösen sich die Liebenden nicht einfach in einer mystischen Einheit auf. Die Liebe verlangt vom Individuum, sich im anderen zu verlieren, aber irgendwie gleichzeitig seine Individualität und Freiheit zu bewahren. Denn es ist genau die freie Wahl, sich selbst zu geben, die die Liebe konstituiert, so wie es die freie Wahl ist, den Gesellschaftsvertrag zu unterschreiben, die das Individuum konstituiert, und nicht die Gesellschaft, die erscheint, nachdem der Vertrag unterschrie-
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ben wurde. Die Liebenden müssen diese Wahl ständig erneuern und dürfen sie nicht einfach hinter sich lassen und weiterziehen, um zu heiraten, eine Familie zu gründen, gute Bürger zu werden usw., was darauf hinausläuft, ihre freie Individualität aufzugeben und sich der Gesellschaft anzupassen. Warum führt dies zum gleichen Ergebnis wie ein Duell, nämlich, dass am Ende alle sterben? Nehmen wir an, dass Romeo und Julia heiraten. Sie ziehen aufs Land. Romeo hütet die Schafe und Julia kümmert sich um die Kinder. Die Leidenschaft ihrer Liebe verschwindet. Romeo wird ein guter Bürger, ein Vater, der nun Papa genannt wird, und Julia wird Mama genannt, eine gute Ehefrau usw. Das ist wieder die Gesellschaft. Die vermeintlich freien Individuen sehen sich gezwungen, sich dem anzupassen, was andere von ihnen erwarten. Die Freiheit hat sich den äußeren Erwartungen und Zwängen gebeugt. Von Selbstverwirklichung, innerer Selbstbestimmung und Freiheit ist nichts mehr übrig. Mit anderen Worten: Das autonome Individuum ist wieder verschwunden und das ganze Kartenhaus der modernen Welt fällt in sich zusammen. Was ist die Lösung für dieses Problem? Romeo und Julia müssen sich selbst töten, so wie es die Duellanten tun. Indem sie sich selbst töten, bekräftigen sie gleichzeitig ihre Freiheit und ihre Individualität, aber sie bekräftigen auch, dass das Individuum und die Gesellschaft nicht versöhnt werden können und immer im Streit bleiben müssen. Dies ist das Paradoxon der Autonomie und das Dilemma der Moderne. Um sich das Gesetz zu geben, muss man vor dem Gesetz frei sein. Aber wenn man nur unter dem Gesetz frei sein kann, dann gibt es keine Freiheit, bevor das Gesetz etabliert ist. Dieses Paradoxon heißt »Auto-Nomie« – und Autonomie ist das moderne Dilemma, welches das Individuum zu einem nie endenden Kampf verurteilt, ein Individuum zu werden, während es dies gleichzeitig nur durch die Gesellschaft tun kann. Warum müssen Liebende, bzw. moderne Menschen, dieses tragische Schicksal erleiden? Schließlich kann niemand sich ernsthaft eine solche Situation wünschen. Vielleicht haben wir mit dem zu tun, was es bedeutet, in der modernen westlichen Kultur zu existieren. Und vielleicht ist dies der Grund, warum die Asiaten und Afrikanerinnen und Inder denken, dass wir modernen Europäerinnen verrückt sind. Und vielleicht haben sie recht …
40. Zurück zur Schule
Lasst uns zurück zur Schule gehen. Nicht, weil die Technologie die Gesellschaft so schnell verändert, dass viele Jobs verschwinden und neue Jobs erlernt oder neu gelernt werden müssen. Nicht, weil »lebenslanges Lernen« in Mode ist. Und nicht, weil man immer mehr Qualifikationen und Zertifizierungen braucht, um die Karriereleiter zu erklimmen. Das mag alles richtig sein. Aber »zurück zur Schule« bedeutet, dass wir zurückgehen und über die Schule nachdenken, darüber nachdenken, was es bedeutet, zur Schule zu gehen, was Bildung in unserer Welt ist. Für einige wird dies sicherlich schöne Erinnerungen aufrufen, es mag aber für viele andere keine angenehme Aufgabe sein. Viele haben nicht die besten Erinnerungen an ihre Schulzeit. Warum ist das so? Was ist das Problem mit der Schule? Zunächst einmal scheint die Bildung auf einem Paradoxon, wenn nicht gar einem regelrechten Widerspruch aufgebaut zu sein. Auf der einen Seite wird uns gesagt, dass die Schule für uns ist, das heißt für mich, das Individuum. Bildung soll das Beste im Menschen hervorbringen, ihm helfen, sein wahres Potenzial zu erkennen, zu dem zu werden, was er werden kann und soll. Bildung ist nach dieser Auffassung der Vervollkommnung des Individuums gewidmet. Wir gehen also in die Schule und denken, dass es um uns persönlich und individuell geht. Dort angekommen, stellen wir jedoch schnell fest, dass Bildung nach dem Prinzip funktioniert, dass eine Größe für alle passt. Lehrpläne, Prüfungen, Noten – alles zielt darauf ab, uns zu dem zu machen, was die Gesellschaft von uns erwartet. Diese Erwartungen richten sich nicht an Individuen, sondern an Klassen, Gruppen, Typen, Rollen, demografische Selektionen – also an alles andere als Individuen. Wenn man in der Schule ein Individuum sein will, stellt man sofort fest, dass niemand fragt, was man lernen will oder wie, dass es überhaupt nicht um einen selbst geht, sondern um irgendeine typische Persona, die die Gesellschaft einem vorschreibt, dass von einem verlangt wird, dass man sich anpasst, wenn man
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gute Noten will, wenn man »akzeptiert« werden will, um »voranzukommen«, um »zertifiziert« zu werden und einen guten Job zu bekommen, oder überhaupt einen Job. Und weiterkommen hängt, wie jeder weiß, nicht davon ab, dass man einen guten Charakter hat oder dass man das wird, was die alten Griechen einen »tugendhaften« Menschen nannten. Denn Tugend und sozialer Erfolg, das wussten schon die Sophisten, sind zwei verschiedene Dinge. Bildung, so stellt sich heraus, hat mit der Gesellschaft zu tun und nicht mit dem Individuum. Kurz gesagt: Bildung ist »Sozialisierung« und nicht »Individualisierung«. So offen und selbstverständlich diese Tatsache ist, wird sie nie zugegeben und auf den Tisch gelegt, sodass man akzeptieren oder ablehnen könnte. In der Moderne gilt allgemein: Was die eine Hand tut, darf die andere Hand nicht wissen. Wie bei einem Zaubertrick im Theater sind wir so verwirrt und psychologisch betäubt von dem, was in der Schule vor sich geht, dass wir die schizophrene Erfahrung verdrängen und versuchen, weiterzumachen, zutiefst verunsichert darüber, wer wir sind, und traumatisch verwirrt darüber, wie der Kampf um Selbstverwirklichung mit der Anpassung an gesellschaftliche Erwartungen vereinbar sein soll. Das ist der Grund, warum die meisten von uns nicht zurück in die Schule gehen wollen. Wir wollen lernen, aber nicht in der Schule, nicht auf die Art und Weise, wie das Bildungssystem Lernen definiert und versucht, Lernen zu organisieren. Viele Studien haben bestätigt, dass wir das meiste von dem, was wir lernen, um im Leben zurechtzukommen, durch Praxis lernen: am Arbeitsplatz, durch Ausprobieren, durch das Suchen nach Lösungen zu Problemen. In der Tat macht dies etwa 70 Prozent von allem aus, was wir wissen. 20 Prozent lernen wir, indem wir Menschen bitten, uns zu helfen, uns zu zeigen, wie man Dinge tut, zu erklären, wie sie funktionieren. Die restlichen 10 Prozent sind das, was von unserer Zeit in der Schule übrigbleibt oder von der formalen Ausbildung, die nach der Schule, bei der Arbeit usw. immer noch kommt. Die 70-20-10-Regel ist bekannt und allgemein akzeptiert, aber bemerkenswerterweise hat sie das Bildungssystem, das unbeirrt seinen gewohnten Gang geht, in keiner Weise beeinflusst, herausgefordert, infrage gestellt oder gestört. Warum ist das so? Man könnte behaupten, dass das oben erwähnte Paradoxon, das Individuum auf der einen und die Gesellschaft auf der anderen Seite, die sich beide gleichzeitig brauchen und verleugnen, tiefer verwurzelt und universeller ist, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Es könnte sein, dass das, was wir in der Schule erleben, nichts anderes ist als ein Spiegelbild der modernen Gesellschaft. Wenn wir aus der Schule kommen, geraten wir lediglich vom
40. Zurück zur Schule
Regen in die Traufe. Die Verwirrung und die Schizophrenie, die wir in der Schule lernen, sind vielleicht die charakteristische Existenzweise des modernen Lebens und nicht etwas, das dem Bildungssystem eigen ist. Die moderne Gesellschaft sagt uns, dass wir autonome, rationale Subjekte sind, freie Individuen, mit Grundrechten, so ziemlich alles zu tun und zu sagen, was wir wollen. Anderseits sind wir nur unter dem Gesetz frei, wie Kant betonte, das heißt nur innerhalb der sozialen Zwänge. Der Mythos des Gesellschaftsvertrags behauptet, dass es unsere Freiheit ist, die das Gesetz etabliert und legitimiert. Aber erst nachdem das Gesetz etabliert worden ist, können wir wirklich frei sein. Es ist das Problem von Huhn und Ei: Was kommt zuerst, freie Individuen oder die Gesellschaft? Unausweichlich in diesem Dilemma gefangen, kämpfen wir vergeblich um Authentizität und Selbstverwirklichung gegen die Kräfte der gesellschaftlichen Konformität, oder was Heidegger »das Man« nannte. Es wird von uns verlangt, individuell, einzigartig, kreativ, innovativ und authentisch zu sein, während wir genau dafür gesellschaftlich sanktioniert werden, wenn wir es wagen. Das ist eine Lose-lose-Situation. Vielleicht ist dies die Tragödie der modernen Existenz. Eine Tragödie, die wir von den Griechen geerbt haben, die versuchten, angesichts der Eskapaden verrückter Götter einen Anstrich von Würde aufrechtzuerhalten. Eine Situation, die sich durch den völlig unsinnigen Versuch Gottes selbst, uns zu retten, indem er seinen einzigen Sohn opferte, nur noch verschlimmerte. Und eine Situation, die schließlich in der Erscheinung des autonomen rationalen Subjekts kulminierte, das heroisch versucht, sein Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen und sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf herauszuziehen. Anstatt zurück in die Schule zu gehen, um eine Perspektive auf diese traurige Situation zu gewinnen, sollten wir vielleicht in die Zukunft schauen. Was werden die KIs, also die soziotechnischen Netzwerke, die unsere Existenz konstituieren werden, in zweihundert Jahren zu all dem sagen? Wie werden sie über das autonome rationale Subjekt urteilen? Werden sie sich aufgrund ihrer vernetzten Existenz nicht fragen, was ein »Kampf um Selbstverwirklichung« überhaupt bedeuten kann und wie jemand ein »Individuum« sein kann? Und schließlich: Was würde Schule für sie bedeuten, wie würde Bildung für Wesen aussehen, die als Netzwerke in einer Welt von Information existieren, die ständig frei durch unzählige Kanäle fließen? Vielleicht sollten wir, anstatt »zurück« in die Schule zu gehen, endlich vorwärts gehen in Richtung einer Schule für das 21. Jahrhundert.
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41. Alles zusammenhalten oder: Die Natur der Macht
Wenn es um Ordnung im Gegensatz zu Chaos geht, also darum, Dinge zusammenzuhalten, sprechen Physiker von vier fundamentalen Kräften des Universums: Es gibt die Schwerkraft, die elektromagnetische Kraft und die sogenannten »starken« und »schwachen« Kräfte, die die Teilchen zusammenhalten und ihre Beziehungen regeln. Diese vier Kräfte sollen alles erklären. Aber was ist mit dem Leben? Und was ist mit dem Sinn? Haben lebende Organismen nicht ihre eigene »Lebens«-Kraft, die die Zellen und Teile von Zellen zusammenhält und ihre Interaktionen regelt? Und was Sinn angeht: Was hält die Wörter einer Sprache zusammen, sodass sie Sätze ergeben? Warum kann nicht irgendein Wort mit irgendeinem anderen kombiniert werden? Es muss etwas geben, das Sinn, Kultur, Technologie und Gesellschaft entstehen lässt. Können diese Kräfte nicht auch als »fundamentale« Kräfte des Universums betrachtet werden? Diese Frage ist wichtig, zumindest wenn wir den »Physikalismus« vermeiden wollen, also die Reduktion von allem auf Materie. Nennen wir die Kraft, die unbelebte Materie in lebende Organismen verwandelt, »Negentropie« und nennen wir die Kraft, die Worte zu sinnvollen Sätzen und Gedanken zusammenhält, »Macht«. Im Jahr 1944 veröffentlichte der Physiker und Nobelpreisträger Erwin Schrödinger ein Buch mit dem Titel »Was ist Leben?«. Die Frage stellt sich, weil lebende Systeme nicht dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, also dem Gesetz der Entropie, folgen. In lebenden Systemen nimmt die Ordnung zu, anstatt abzunehmen, und dies widerspricht dem Gesetz der Entropie. Leben ist also eine grundlegend andere Form der Ordnung als Materie – Leben ist ein sogenanntes »emergentes« Phänomen. Dies bedeutet, dass wir nicht wissen, woher es kommt oder wie es entstanden ist. Wir wissen aber, dass es entstanden ist und dass es sich von der rein physikalischen Organisation der Materie, die das Gesetz
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der Entropie regelt, stark unterscheidet. Im Unterschied zur rein physikalischen Organisation, die die Entropie nicht negiert, scheint das Leben gerade dies zu tun. Negentropie bedeutet die Negation der Entropie, während Entropie die Tendenz der Energie ist, sich in ein Gleichgewicht zu zerstreuen – das heißt die gleiche Wahrscheinlichkeit aller Zustände. Für Schrödinger war dies ein Paradoxon: Wie kann die Entropie negiert werden und wie können sich Systeme von weniger organisiert zu mehr organisiert entwickeln? Ein anderer Nobelpreisträger, Ilya Prigogine, sprach von »dissipativen Systemen«, die Energie durch ihre Strukturen laufen lassen – ähnlich wie Wasser durch eine Mühle läuft oder Nahrung durch den Stoffwechsel von Organismen. Solche Systeme nutzen Entropie, um Entropie zu negieren. Was bedeutet es zu sagen, dass ein System Entropie, also die Dissipation von Energie, »nutzt«, um sich selbst zu erhalten und sogar seine Umgebung zu verändern? Der theoretische Chemiker John Avery argumentierte in Information Theory and Evolution (201203), dass – da Negentropie unwahrscheinlich ist und unwahrscheinliche Zustände »Information« enthalten oder nach Shannons und Weavers Mathematischer Informationstheorie (1948) tatsächlich Information sind – die Negentropie darauf hinausläuft, Information zu konstruieren. Dieser mathematische und physikalische Informationsbegriff wurde somit auf die Psychologie übertragen und dabei zur semantischen Information oder zu dem, was wir Sinn nennen, transformiert. Antoni Kepinski, ein polnischer Psychiater, sprach von einem »Informationsstoffwechsel«, der sensorische Daten in Information umwandelt, die die Handlungen eines Organismus in seiner Umwelt leitet . Sieht man einen Wolf, konstruiert man Informationen, die einem sagen, dass man weglaufen soll. Sieht man einen Apfel, so wird eine Information konstruiert, die einen anleitet, ihn zu essen. Information ist nicht nur mental, sie ist eine Kraft, die Handlungen in der Welt anregt und steuert und Organismen dadurch zu bestimmten Zielen führt. So wie das Leben als ein emergentes Phänomen gedacht werden muss, so muss auch Sinn gedacht werden. Sinn entsteht auf der Grundlage von Operationen eines zentralen Nervensystems, das bei bestimmten Organismen besonders komplex ist, aber wir wissen nicht, wie oder warum. Sinn ist eine andere oder eine »höhere« Ebene der emergenten Ordnung jenseits von Materie und Leben. Aus diesem Grund können wir annehmen, dass es eine fundamentale Kraft gibt, die Sinn ins Leben ruft und ihre Interaktionen mit der Welt steuert. Wir schlagen vor, diese semantische oder sprachliche Kraft »Macht« zu nennen. Macht ist bekanntlich ein Mysterium. Es gibt viele
41. Alles zusammenhalten oder: Die Natur der Macht
Theorien der Macht, die zu erklären versuchen, warum oder wie bestimmte Formen der sozialen Ordnung, bestimmte soziale Praktiken und Institutionen oder bestimmte exemplarische Personen Macht erlangen und nutzen. Macht ist schon lange nicht mehr als reine Gewalt verstanden, sondern es gibt symbolische Macht, die sich oft in der Androhung von Gewalt äußert, aber auch in den Zeichen und Symbolen von sozialem Status, Reichtum, Einfluss etc. besteht. Dies ist das Terrain der Soziologie und der Politikwissenschaft, aber auch der Psychologie und sogar der Ökonomie. In der Welt von Sinn ist Macht allgegenwärtig und aktiv in allen Formen sozialer und semantischer Ordnung. Sie ist auch etwas, das viel kritisiert wird, weil sie, wie es scheint, unvermeidlich missbraucht wird. Niemand mag Macht, außer denen, die sie haben, und denen, die sie suchen. Für diejenigen, die sie haben, ist es immer eine Frage, wie man sie erhält. Und für diejenigen, die sie brauchen, ist es immer eine Frage der Legitimation – ob es nun Gott oder die Natur oder das Volk ist, das die Arbeit der Legitimation übernimmt. Der gemeinsame Nenner all dieser Theorien ist, dass die legitime Macht entweder in den Händen der Vertreter Gottes oder denen, die von Natur aus privilegiert sind, oder im Willen des Volkes liegt. Was aber, wenn die Macht nicht ausschließlich menschlich wäre? Was wäre, wenn Macht so etwas wie eine fundamentale Kraft des Universums wäre, ähnlich wie die Gravitation oder die Negentropie? Was wäre, wenn Macht die Kraft wäre, die die Dinge auf der Ebene von Sinn zusammenhält? Zugegeben, die Dinge mögen nicht immer in der besten Ordnung sein. Nichts sagt, dass Macht die beste aller möglichen Welten erschaffen muss, genauso wie Evolution oder Negentropie nicht die beste aller möglichen Biosphären erschaffen muss. Die Frage nach dem richtigen Weg, die Dinge »zusammenzuhalten«, scheint auf allen Ebenen offen zu sein. Trotzdem scheint es heute mehr denn je notwendig zu sein, einige Normen und Regeln dafür zu finden, was ein »gutes« Ökosystem und auch eine »gute« Gesellschaft sein könnte. Wenn es einen richtigen und einen falschen Weg gibt, die Dinge auf allen Ordnungsebenen zusammenzuhalten, dann gibt es vielleicht eine ethische Dimension für das gesamte Universum und nicht nur für menschliches Handeln. Vielleicht müssen wir die Grundlagen der Ethik neu überdenken und nach dem »Guten« suchen – jenseits davon, es als eine Qualität menschlichen Handelns allein zu betrachten.
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Quellen
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Die Corona-Gesellschaft Analysen zur Lage und Perspektiven für die Zukunft 2020, 432 S., kart., Dispersionsbindung, 2 SW-Abbildungen 24,50 € (DE), 978-3-8376-5432-5 E-Book: PDF: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5432-9 EPUB: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-5432-5
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Soziologie Bernd Kortmann, Günther G. Schulze (Hg.)
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