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German Pages 260 Year 2017
Reimer Gronemeyer, Charlotte Jurk (Hg.) Entprofessionalisieren wir uns!
Reimer Gronemeyer, Charlotte Jurk (Hg.)
Entprofessionalisieren wir uns! Ein kritisches Wörterbuch über die Sprache in Pflege und sozialer Arbeit
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Entprofessionalisieren wir uns! Reimer Gronemeyer und Charlotte Jurk | 9
Ambient Assisted Living Reimer Gronemeyer | 13
Angebot I Bernhard Heindl | 21
Angebot II Bernhard Heindl | 27
Angehörigenarbeit Thile Kerkovius | 33
Basale Stimulation Oliver Schultz | 39
Behinderung Willibald Feinig | 47
Beratung Silja Samerski | 49
Biografiearbeit Charlotte Jurk | 57
Case Management Thile Kerkovius | 67
Coach Willibald Feinig | 73
Dienstleistung Marianne Gronemeyer | 75
Ehrenamt Oliver Schultz | 85
Hilfebedarf Marianne Gronemeyer | 91
Informierte Entscheidung Silja Samerski | 101
Inklusion Reimer Gronemeyer | 109
Innovation Marianne Gronemeyer | 117
Kompetenz Margit Jandrisovits | 125
Leitlinien Beate Zimmermann | 131
Management Hans Bartosch | 141
Pflegefall Willibald Feinig | 145
Prävention Reimer Gronemeyer | 147
Professionalisierung Gustavo Esteva | 153
Qualität Charlotte Jurk | 167
Spiritualität Reimer Gronemeyer | 177
Sprachkompetenz Oliver Schultz | 183
Standard Marianne Gronemeyer | 189
Sterbequalität Thile Kerkovius | 199
System William Ray Arney | 203
Trauerarbeit Thile Kerkovius | 215
Trauma Ariane Brenssell | 219
Werte Franz Schandl | 227
Würde Bernhard Heindl | 233
Nachwort Günther W. Riehl | 243
Autoren | 253 Dank | 257
Entprofessionalisieren wir uns! Über die Sprache der Versorgungsindustrie: Wie Plastikwörter die Sorge um andere infizieren und warum wir uns davon befreien müssen Reimer Gronemeyer und Charlotte Jurk
Wörter können sein wie winzige Arsendosen, sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da. V iktor K lemperer
Die Idee zu diesem Buch ist aus einem Gefühl entstanden. Einem Gefühl des Widerwillens, ja Ekels angesichts einer zunehmend abstrakten, kalten und gleichmacherischen Sprache in allen Zweigen des Sozialen. Man hört sie auf Kongressen, liest sie in Konzepten, findet sie mittlerweile vor Ort auf Krankenhausstationen, in Heimen, sogar Kindergärten. Der vielgescholtene »Kunde« ist nur ein kleines Mosaiksteinchen des gesamten »Neusprech«, dessen stillschweigende Regeln niemand verletzen darf. Es ist an der Zeit, ein kritisches Wörterbuch dieser Sprache zu schreiben. Ständig werden wir von neuen Plastikwörtern überrollt, die das Zusammenleben der Menschen und das gegenseitige Kümmern in einen effizienten kybernetischen Steuerungsprozess mit »Outputorientierung« verwandeln. Modische Schlachtrufe wie »Inklusion« oder »Teilhabe« zum Beispiel haben innerhalb kürzester Zeit sämtliche sozialarbeiterischen und administrativen Milieus infiziert: Wer nicht für Inklusion ist, gehört zu den Unanständigen. Diese Unanständigen sind vermutlich die einzigen, die nicht inkludiert werden. Wer Inklusion sagt, hat schon gleich Recht. Ein anderes Schlagwort hat sich Bahn gebrochen und bezeichnet
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die neue Institution, in die wir eingesperrt werden sollen. Sie nennt sich »Sozialraum«. Sozialraum scheint vor allem eine »Humantechnologie« zu sein – ein Top-Down-Modell der Gemeinschaftsbildung. In ihm sind Menschen vorgesehen, die sich umeinander kümmern müssen. Dies ist im Bild eben dieser Humantechnologen die rationale Antwort eines Staats und einer Gesellschaft, die mit den vielen Therapie- und Hilfebedürftigen, die sie geschaffen haben, völlig überfordert sind. Was ist Sozialraum? Ein in den Köpfen der Planer entstandenes Ideal von Stadtquartieren, in denen deren Bewohner durch Sozialexperten nun zu einem sozialen Miteinander erzogen werden sollen? Der Entwurf eines neuen Bundesteilhabegesetzes ist geradezu infiziert von Sozialraumbezogenheit. Der Sozialraum soll retten, was durch die gezielte Zerschlagung solidarischen Miteinanders angerichtet worden ist. Die Sprache sozialer Expertise, mit der wir es zu tun haben, hat die sozialen Dienstleistungen längst rundum infiltriert und kann ihre Herkunft aus der industriellen Sphäre nicht verleugnen. Sie bleibt nicht an der Oberfläche, sondern ist der Ausdruck für einen Prozess, der aus der Sorge für andere zunehmend ein ökonomisiertes, verfahrenstechnisch geprägtes Instrument macht. Sie kennzeichnet einen Prozess der »Professionalisierung« von Pflege und sozialer Arbeit, die unter dem Vorwand der Optimierung sozialer Dienstleistung tatsächlich eine radikale Verdinglichung mitmenschlicher Zuwendung betreibt. Wenn Professionalisierung in diesem Sinne betrieben wird, führt sie zu ihrem Gegenteil: berufliche Erfahrung, Einfühlung und Wissen werden entwertet. Eine Deprofessionalisierung von oben sozusagen. Klinikärzte wissen, dass die maßgeblichen Entscheidungen heute von der Verwaltung, von den Kosten-Nutzenberechnern gefällt werden und ihr medizinisch-fachliches Wissen und Wollen dagegen kaum ins Gewicht fallen. Die sozialen Berufe haben sich zu Tode professionalisiert, indem sie sich an die Vorgaben des Managements angepasst haben und meinen, sich im Markt »gut aufstellen« zu müssen. Soziale Profis setzen sich die Tarnkappe auf. Sie üben »Empathie«, grenzen sich ab, analysieren und bewerten ihr Gegenüber – tagaus, tagein. Vor allem aber sollen sie sich mit sich selbst beschäftigen: damit, ihr Tun zu protokollieren, ihr Verhalten zu optimieren (keine Ungeduld, immer freundlich zugewandt, rational statt emotional, planend, zielorientiert). Dazu braucht es ununterbrochen Fortbildung, Fortbildung, die einübt
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und vorgibt, um was es geht: das entstörte Funktionieren einer Maschinerie, der es schon längst nicht mehr um Menschen geht, sondern um die Verwaltung statistischer Größen, die Normierung von Abläufen zur effizienten Steuerung. So professionalisiert wissen wir dann schon, was für die Hilfe Suchenden (oder zum Hilfesuchen Verurteilten) gut ist, wenn der oder die Betreffende im Türrahmen steht. Bereits im ersten Gespräch werden die Register und Kataloge der Einordnung gezogen und es kann zügig zur »Hilfeplanung« fortgeschritten werden. Keine Zeit verlieren. Man selbst zu sein ist nicht erwünscht – ungenügend. Keine Begegnung mehr mit Menschen – ob jung oder alt – die noch unverstellt wäre. Unverstellt hieße: hier bin ich mit meinen Vorurteilen, Ängsten und Unsicherheiten und da bist du. Wer bist du? Und wer bin ich? »Einem Menschen begegnen heißt, von einem Rätsel wachgehalten werden«, sagt Emanuel Lévinas. Jedoch sollen solche Rätsel ausgemerzt werden, bringen sie doch das Selbstverständnis einer Profession ins Wanken, die soziale Probleme definiert und stets einer Lösung zuführen will. Die Sprache, die mittlerweile die Landschaft des Sozialen dominiert, legt von diesem Prozess der gegenseitigen Entfremdung Zeugnis ab. Die Begrifflichkeiten, die sich in den letzten 20 Jahren im Bereich des Sozialen ausgebreitet haben, verwandeln das Miteinander der Begegnung in einen objektivierten Prozess des stets warenhaft Gleichen. Im »Reden über« bleiben die sozialen Experten sauber außen vor. Sie werden auf Fälle, Fallgruppen, Stufen, Hilfebedarfe losgelassen, die dann im Abarbeiten von Modulen und Hilfeplänen gebändigt werden sollen. So läuft’s in Behinderteneinrichtungen, in Pflegeheimen, bei den ambulanten Hausbesuchen, in der Erziehungshilfe und im Knast. Es stellte sich im Prozess der Planung dieses Buches heraus, dass wir es mit unterschiedlichen Phänomenen zu tun haben. Zum einen wollen wir darauf aufmerksam machen, in welcher Weise grundständige Begrifflichkeiten einen Bedeutungswandel erlebt haben. Dazu gehören Begriffe wie »Würde«, »Dienstleistung«, »Ehrenamt« oder »Beratung«. Eine zweite Gruppe von Begriffen stellen die Einwanderungen aus anderen Sphären der Gesellschaft dar. Dazu gehören »Angebot«, »Qualität«, »Management«, »Standard« oder »System«. Auffällig in der Sprache sozialer Experten ist die Häufung von Begriffen, die mit »Arbeit« verknüpft sind: »Trauerarbeit«, »Biografiearbeit«, »Angehörigenarbeit«. Einige Neologismen (»Coach«, »Case Management«) haben wir ebenfalls aufgenommen – etliche nicht. Wie insgesamt die Auswahl der Begriffe sich vor allem
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dem Interesse der Menschen verdankt, die sich hier schreibend mit den Worten auseinandergesetzt haben. Die Artikel dieses Wörterbuchs sind nicht im klassischen Sinn Wortanalysen und Begriffsdefinitionen. Sie sind subjektive Äußerungen. Ivan Illich würde sagen: »Ja, ich spreche von einem Vor-Urteil, also einer Haltung, nein meiner Haltung. Nicht einer Meinung, Wertung, Ausgangshypothese, sondern einer Grunddisposition. Einem Grund, auf dem ich stehe, auf dem ich be-stehe, auf den ich mich an jedem Punkt besinne …«1 Die Autorinnen und Autoren sind auf die eine oder andere Weise miteinander »verbandelt« (Ivan Illich) und nehmen unterschiedliche Perspektiven ein. Einige von ihnen üben sich im Denken mit und nach Ivan Illich. Von allen kann man sagen, dass sie nicht nur Sprachkritiker, sondern auch Sprachliebhaber sind, die wissen, dass, was wir der Sprache antun, uns selber antun.
Anmerkung 1 | Illich, Ivan: Vorlesungsnotizen, Bremen 21.01.1999.
Ambient Assisted Living Elektronische Assistenzsysteme Reimer Gronemeyer
Bei den Chewa, die in Malawi leben, und auch bei den Tswana in Botswana hat es zur kulturellen Tradition gehört, das erste Kind, das ein Paar bekam, der Großmutter oder dem Großvater zu geben. Dieses Kind hatte die Aufgabe, die Älteren zu unterstützen – bei der Feldarbeit, bei der Ernte, beim Kochen – und schließlich auch zu pflegen, wenn die eigenen Kräfte nicht mehr reichten. Die Schule, die Emanzipation, die Modernisierung haben mit dieser Tradition aufgeräumt. So geht es heute vielen Alten schlechter als früher, weil niemand mehr für sie zuständig ist – und der ganze Versorgungsapparat, den die Industriegesellschaften entwickelt haben, existiert ja nicht. Kein ambulanter Pflegedienst kommt, kein Pflegeheim bietet seine Dienste an. In den Industriegesellschaften, die mit einer alternden Bevölkerung zu tun haben und auch mit dem Zerfall der Familie und mit einem Mangel an Pflegekräften, wird den Alten wohl bald ein Kind der Gesellschaft zugeteilt werden: ein Roboter. Vorreiter ist Japan. 26 Prozent der japanischen Bevölkerung sind heute älter als 65 Jahre. (In Deutschland sind es gegenwärtig noch 17,3 Prozent.) Der Anteil der Alten könnte in Japan bis 2060 auf 40 Prozent steigen. Schon jetzt fehlen 1,7 Millionen Pflegekräfte – 2025 dürften es 2,5 Millionen sein.1 Japan bemüht sich deshalb um die Entwicklung von Dienstleistungsrobotern. Japan möchte in diesem Bereich weltweit Marktführer werden. Toyota brachte nach langer Entwicklungsarbeit 2013 die Serie »Partner Robots« auf den Markt. Dazu gehört auch HSR (Human Support Robo). Das ist ein sprechender Roboter »mit beweglichen Armen, der über ein Tablet gesteuert wird und der in der Lage ist, einem bettlägerigen Patienten einen Gegenstand zu bringen, eine Tür zu öffnen und Vorhänge auf- und zuzuziehen.«2
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Auf Initiative Japans ist 2014 die internationale Norm ISO 13482 eingeführt worden, mit der Pflegeroboter zertifiziert werden. Der Roboter »Hospi« (!) erhielt im April 2016 das ISO-Zertifikat. »Hospi« verteilt selbständig Medikamente.3 Der japanische Premier Abe möchte die Defizite von Pflegebedürftigen durch Roboter ausgleichen. Diese Roboter sollen von einer besonderen, bereits geschaffenen Versicherung bezahlt werden.4 Da blitzt schon etwas auf, was das schmeichlerische Wortgebilde »Ambient Assisted Living« nicht gleich erkennbar werden lässt. AAL – Leben in unterstützender Umgebung – da denkt man ja erst mal an ein gemütliches Wohnzimmer, das diskret technisch aufgerüstet ist. Tatsächlich ist die Rede von einem gigantischen Markt, der sich auftut. Das neue Geschäftsfeld trägt den Namen »Silver Economy«, was an die grauen Schläfen eines korrekt gekleideten Bankmanagers denken lässt. Tatsächlich dürfte sich AAL schnell als ein Haifischbecken entpuppen.5 E-Health@Home, das aus einer Förderung des BMBF hervorgegangen ist, bietet Geschäftsmodelle für die Wohnung als dritten »Gesundheitsstandort« an. Die Wohnung ist nicht mehr Heim, bietet nicht Geborgenheit, sondern ist ›Standort‹. Wie beim Militär oder in der Industrie. Und an diesem Standort herrschen die Imperative der Gesundheit. Auf der Homepage des Fraunhofer-Instituts heißt es: »Die empfundene Lebensqualität älterer Menschen soll gesteigert und die Kosten für das Gesundheitswesen gesenkt werden.«6 Die Alten sollen also Experimentierfeld für die Automatisierung von Dienstleistungen sein und im gleichen Atemzug Experimentierfeld für Einsparungen. Ergänzt werden die Technosklaven bereits jetzt durch »emotionale Roboter«, die zur Behandlung von Kognitions- und Verhaltensstörungen dienen. »Sie entwickeln eine Beziehung zum Patienten und sollen etwa bei Alzheimerkrankten zur Linderung von Demenz, Angst und Isolation eingesetzt werden.« 7 Das Geschäftsfeld ist also nicht auf technische Ausrüstung beschränkt, sondern greift deutlich weiter. Es kann kaum Zweifel daran geben, dass Ambient Assisted Living zur Grundbedingung des Lebens alter Menschen werden wird. Je weniger Dienstleistungen aus Fleisch und Blut zur Verfügung stehen, desto mehr muss technisch aufgerüstet werden. Immer mit dem Versprechen, dass den Betroffenen mehr Teilhabe ermöglicht wird, dass ihre Versorgung optimaler organisiert ist. Und so können alleinlebende Alte schon jetzt auf einem Fußboden gehen, der Alarm in der Servicezentrale auslöst, wenn der alte Mensch gefallen ist. Der Alarm wird allerdings auch ausgelöst,
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wenn ich auf dem Boden sitze und Zeitung lese. Es ist also irgendwie so etwas wie eine heiße Herdplatte, auf der die Alten tanzen … Die Jalousien können sich der Tageszeit entsprechend automatisch öffnen oder schließen, die Einnahme von Arzneimitteln wird elektronisch überwacht sein, das Unterhaltungsprogramm wird individuell auf die Person zugeschnitten, um Einsamkeitsgefühle zu verdecken. Das WC ermittelt über die Ausscheidungen kritische Gesundheitszustände und setzt entsprechende Maßnahmen in Gang, löst Alarm aus: das WC als Lebensretter, als Kontrolleur, als Gesundheitsinstanz. Die Wohnung wird barrierefrei sein, das Bad ein risikofreier Sicherheitstrakt. Dieser alternde Mensch wird zugleich die Avantgarde des gläsernen Bürgers sein und die Vorhut eines künftigen Menschen, der Dienstleistungen in erster Linie als technisch organisiert versteht. Dabei mutet die Debatte um AAL oft geradezu nostalgisch an, wenn sie von Ethikern und Theologen geführt wird, die natürlich unablässig betonen, dass die Technik dem Menschen dienen müsse und nicht umgekehrt.8 Papperlapapp: Tatsächlich sind die Alten längst die Arbeitsfläche für eine automatisierte, robotergetragene Dienstleistungsindustrie. Noch ist die Roboter-Krankenschwester9 eher ein Werbegag profitorientierter Krankenhausbetreiber. Ein Rechtsausschuss der EU, in dem alle Fraktionen vertreten waren, hat der EU-Kommission allerdings am 31. Mai 2016 vorgeschlagen, für die »ausgeklügeltsten autonomen Roboter« einen eigenen rechtlichen Status als »elektronische Person« einzurichten (neben der natürlichen und der juristischen Person). Es sollen Kriterien für geistige Schöpfungen, die von Computern oder Robotern entwickelt werden, formuliert werden, sodass diese ›Schöpfungen‹ urheberrechtlich geschützt werden können.10 Der Pflegenotstand, die Wehrlosigkeit der Alten, das Versprechen bester Versorgung macht sie zum idealen Experimentierfeld für die Robotik. Die vollautomatisierte Pflege mit totalisierter Überwachung und Kontrolle aller Körperfunktionen und seelischen Regungen dürfte das Seniorenbusiness der Zukunft werden. Und es wird von den Betroffenen über kurz oder lang – nach einer gewissen Reserviertheit gegenüber zu viel Technik – begeistert angenommen werden. Die ganz Fortschrittlichen, die Vertreter der Transhumanz, sagen: Wenn es uns nicht gelingt, den Maschinen rechtzeitig humane Werte beizubringen, drohe uns die Vernichtung. »Wir sollten die Diversität fördern und es ermöglichen, dass manche Menschen sich weiterentwickeln möchten, andere nicht«, formuliert Natasha Vita-More, die Vorsitzende des internationalen Dachverbands der Transhumanisten
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»Humanity+«: Der Gleichheitsgedanke ist überholt, sagen sie.11 Und wiederum sind die Alten das ideale Übungsfeld mit guten Gewinnaussichten. »Pressing needs of an ageing society« heißt eine Studie, die im Auftrag der Europäischen Union durchgeführt wurde. Es geht darum, durch neue Produkte und durch Service-Innovationen den Herausforderungen der alternden Gesellschaft zu begegnen und zugleich – so heißt es – neue Jobs und neues »business« zu kreieren.12 Wie nahe diese Entwicklung de facto der »Schönen neuen Welt«, die Aldous Huxley in den dreißiger Jahren beschrieben hat, kommt, kann man sehen.13 Der »Smart Ageing Prize«, der gerade der Gruppe »Activ84Health« verliehen wurde ist ein Beispiel. Das Projekt sieht so aus: Der ans Haus Gebundene, der Pflegebedürftige, kann nun mit dem Fahrrad in der Welt herumfahren. Alles virtuell versteht sich. Wer auf sein Stand-Fahrrad steigt, soll – dank Google Street View – völlig frei Städte und Landschaften virtuell erkunden, während man zugleich den Komfort des eigenen Zuhauses genießt. Bekannte Orte und Routen aus früheren Zeiten kann man aufsuchen, weil Google und das Fahrrad ›connected‹ sind. Ganz individuell natürlich. Die physischen und kognitiven Fähigkeiten werden auf diesen Reisen, die der Pflegling gar nicht mehr erhoffen durfte, gestärkt. Der Heimbewohner wird physisch aktiviert und das in einem sicheren, motivierenden Kontext mit Spaßfaktor – wie es heißt.14 Es entstehen Lebensräume, die aseptisch, risikofrei und virtuell sind – die also die größtmögliche Entfernung vom wirklichen Leben haben. Die Zukunft der Altenpflege liegt klar vor uns: Die traditionellen Milieus – Familie, Nachbarschaft, auch die kirchliche Gemeindeschwester – sind verschwunden oder lösen sich vor unseren Augen auf. Noch liegen 80 Prozent der Altenpflege in den Händen der Familie. Und das bedeutet: Sie liegt vor allem in den Händen von Frauen. Aus verschiedenen Gründen ist die Familienpflege ein Auslaufmodell. Im Jahr 2050 werden schätzungsweise 21,5 Millionen Deutsche mehr als 67 Jahre alt sein. »Drei bis sechs Millionen Menschen könnten dann pflegebedürftig sein – zugleich sinkt die Zahl der jungen Menschen, die sie pflegen können. Bereits in 15 Jahren bräuchte Deutschland dann voraussichtlich 450.000 Pflegefachkräfte mehr als heute, Technik ist ein Weg, diesem Wandel zu begegnen«, sagt Arne Manzeschke.15 Im Bayerischen Wald plant 2016 ein Investor ein Riesen-Pflegeheim für 3500 Senioren. Es würde das Zehnfache der
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Einwohnerzahl des Dorfes umfassen.16 Kann man sich ein besseres Testgebiet für AAL vorstellen? Auch wenn der klaffende Abgrund zwischen reich und arm in Zukunft bewirken sollte, dass häusliche Pflege auf der Grundlage der neuen Altersarmut wieder erzwungen wird: Es wird technologische Entlastung geben. Der schrumpfende Wohlfahrtsstaat wird den Marginalisierten vermutlich automatisierte Versorgungshilfen zur Verfügung stellen. Man könnte sich eine Art Ikea-Kette für AAL vorstellen, die eine billige roboterisierte und automatisierte Basisversorgung ins Sortiment nimmt. Die Zukunft gehört AAL, das steht kaum in Frage. Und die Durchsetzung wird sich schneller, lautloser und widerstandsloser vollziehen als wir uns das jetzt vorstellen können. Ein Roboter an meinem Bett? Pfui Teufel! So wird fast jeder jetzt sagen. Aber morgen? Wenn wir uns aber darüber klar werden wie selbstverständlich alt und jung, reich und arm sich an die Verschmelzung des Lebens mit den digitalen Welten gewöhnt haben, dann kann man ahnen, wie schnell sich die Verschmelzung bedürftiger Menschen mit automatisierten und roboterisierten Hilfesystemen durchsetzen wird. Wir stöhnen vielleicht noch auf und murmeln etwas von »kalter Technik« statt menschlicher Pflege aus Fleisch und Blut: Aber die kommende Verschmelzung wird morphinös sein. Wir werden dankbar an den Plastikbrüsten von AAL nuckeln. Während wir gegenwärtig noch mit einem Bein in der anfälligen, kritisierbaren Humanpflege stehen, tasten wir uns mit dem anderen Bein schon in die systemisch-digitale Pflegewelt, die schnell so selbstverständlich sein wird wie das Smartphone. Der erste Roboter im Pflegebereich, die Kuschelrobbe Paro, die sich von Menschen mit Demenz streicheln und schlagen lässt, ist der Türöffner.17 Spielerisch kommt AAL, nicht kriegerisch. Das Smartphone ist ja auch niemandem aufgezwungen worden. Westworld ist eine im Oktober 2016 gestartete US-amerikanische Science-Fiction-Serie. Die Serie handelt von einem futuristischen Vergnügungspark, in dem die Besucher mithilfe von Robotern in Fantasiewelten eintauchen können. Mit den lebensechten und intelligenten Roboteranimateuren ziehen die Gäste in Abenteuer. Die Gäste können ihre synthetischen Gastgeber erschießen, mit ihnen schlafen, sie vergewaltigen. Kurz: Sie können hier alles machen, was ihnen sonst nicht erlaubt ist. Hinter den Kulissen kontrolliert und überwacht eine riesige menschliche Belegschaft die Roboter und die Abenteuer der Gäste. Immer mehr künstliche Intelligenz pflanzen die Betreiber den Robotern ein – bis diese sich lang-
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sam der Tatsache bewusst werden, dass ihre Welt ganz anders ist, als sie dachten – sie beginnen zu rebellieren. Die Macht-Verhältnisse zwischen den Menschen und ihren Automaten drehen sich um. Unübersehbar taucht dabei die Frage auf, was im virtuellen Zeitalter eigentlich Realität ist. »Westworld warnt nicht mehr vor der Technologie, vor menschlicher Hybris; sie fragt, wie man mit Technologie lebt, wenn sie nun einmal da ist, was für eine Moralität in einer virtuellen Welt erforderlich ist.«18 Könnte man den Eindruck gewinnen, dass US-amerikanische Serien analytisch weiter sind als Ethikkommissionen hierzulande? Es geht nicht um die Frage, ob die AAL-Systeme in der Pflege irgendwann die Regie (um nicht zu sagen: die Herrschaft) übernehmen. Es wird von Herrschaft oder Beherrschung gar nicht mehr die Rede sein, sondern von Verschmelzung. Dann bleibt die Frage, ob die stillschweigende Verschmelzung von Mensch und Maschine in der Pflege, die ihren Lauf nehmen wird, noch wahrgenommen und reflektiert werden kann. Wissen die Gepflegten noch, was mit ihnen geschieht? Können sie sich und wollen sie sich im Zweifelsfall von den Automaten, die ihnen physisch oder psychisch implantiert sind, überhaupt noch befreien? Oder entsteht da so etwas wie ein soziales Koma, aus dem es kein Entkommen gibt? »Das Ziel ist, die Integration der Roboter in die Gesellschaft zu beschleunigen, indem wir der Bevölkerung klarmachen, dass wir sie brauchen«, sagt Satoshi Kochiyama, der die Tokio-Olympiade 2020 zu einer Olympiade für Roboter machen möchte.19 Und die Alten werden die Avantgarde sein. Ambient Assisted Living. AAL. Es wird dann besser heißen: Ambient Controlled Living – ACL.
Anmerkungen 1 | Fouchére, Arthur: Schwester Roboter, in: Le Monde diplomatique, September 2016, S. 16. 2 | Ebd. Vgl. Gronemeyer, Reimer: Der Retortensenior, in: gdi Impuls (Gottlieb Duttweiler Institut) 2, 1990, S. 24-29. Dort ist im Kern prognostiziert, was heute in die Realität umgesetzt wird. 3 | Ebd. 4 | Ebd. 5 | Das BMBF hat von 2008 bis 2012 eine Förderung »Innovation durch Dienstleistung« aufgelegt. Ein Teil davon wurde unter dem Titel »Technologie und Dienstleistung im demographischen Wandel« mit 22 Millionen Euro gefördert.
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6 | https://www.inhaus.fraunhofer.de/de/Geschaeftsfelder/Health-und-Care/ ehealth.html, letzter Zugriff 22.11.2016. 7 | Ebd. 8 | Manzeschke, A.; Weber, K.; Rother, E.; Fangerau, H.: Ethische Fragen im Bereich Altersgerechte Assistenzsysteme, Ludwigsfelde 2013; Unterstützung Pflegebedürftiger durch technische Assistenzsysteme, Berlin 2013, vorgelegt von VDI/VDE Institut+ Technik GmbH und IEGUS, Berlin 2013. 9 | Vgl. Dettmer, Markus u.a.: Mensch gegen Maschine, in: Der Spiegel 36, 2016, S. 15. Hier ist der Serviceroboter, der in einer belgischen Klinik wirkt, abgebildet. 10 | Wagner, Thomas: Denn sie fürchten das Ende, in: der Freitag 34, 25.08.2016, S. 18. 11 | Ebd. ›Transhumanismus‹ will die Grenzen menschlicher Möglichkeiten durch den Einsatz technologischer Verfahren erweitern. 12 | aal-europe.eu 13 | »Schöne neue Welt« ist ein zuerst 1932 erschienener dystopischer Roman, der eine Gesellschaft der Zukunft im Jahre 2540 n. Chr. beschreibt (»Brave New World«.), Aldous Huxley: Schöne neue Welt, Frankfurt a.M.: S. Fischer 1980. 14 | Ebd. 15 | Süddeutsche Zeitung vom 09.03.2015, Gesundheitsforum. Arne Manzeschke ist Leiter der Fachstelle für Ethik und Anthropologie am Institut T TN, München. 16 | Süddeutsche Zeitung vom 26.10.2016. Vgl., Entfernung vom Wolfsrudel. 17 | Vgl. Gronemeyer, Reimer: Das vierte Lebensalter. Demenz ist keine Krankheit, München: Pattloch 2013, S. 119ff. 18 | Dauber, Adrian: Futter für die Junkies, Zeit online vom 02.10.2016. letzter Zugriff 05.11.2016. 19 | Zit. Fouchére a.a.O.
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Angebot I Bernhard Heindl
Die am häufigsten in Umlauf gebrachten Begriffe sind auch am schwersten zu fassen. Ihre Geläufigkeit bewahrt sie vor dem Versuch der Feststellung, wie es sich tatsächlich mit ihnen verhält. So sind sie davor geschützt, genauer in Augenschein genommen zu werden und verbieten sich eine derartige Zudringlichkeit meist mit Erfolg. Denn man hat sich längst an sie gewöhnt, sodass die Wohlvertrauten gerne gesehen sind, solange sie keine Probleme machen. Dies wird dadurch verhindert, dass ihre Verwendung unbedenklich erscheint, das heißt möglichst gedankenlos erfolgt, wozu es wiederum nötig ist, dass sie hinsichtlich ihrer Bedeutung keine Aufmerksamkeit erregen, als verstünde sich diese ohnehin ganz von selbst. Sie erfreuen sich ihrer allgemeinen Beliebtheit nämlich nur, wenn sie sich als ebenso gefällig wie unauffällig erweisen; und das ist umso sicherer der Fall, je schneller sie wie gerufen zur Stelle sind, als hätten alle schon lange nach ihnen Ausschau gehalten. Ihr Auftauchen erfolgt dann mit einer Selbstverständlichkeit, die den Eindruck vermittelt, sich der Bereitstehenden bequem bedienen zu können, ohne je in die Verlegenheit zu geraten, den Sinn ihrer Verwendung in Frage stellen zu müssen. Als derart handlich und zu allem Beliebigen brauchbar erweist sich in unserer Zeit auch der Begriff ›Angebot‹. Gemeinsam mit seiner Zwillingsschwester namens ›Nachfrage‹ verkündet er die plakative Botschaft vom Verständnis einer Wirtschaft, deren größte Anstrengung erklärtermaßen darin besteht, mit allen Mitteln für das reibungslose Funktionieren des Marktes zu sorgen. Dessen Motor wird vom sogenannten freien Spiel der Kräfte angetrieben, von denen es heißt, dass sie sich gegenseitig ganz von selbst stimulieren und mit derselben Energie einander auch in Schach halten würden. So sollen sie für ständiges Wachstum und zugleich unter den sich dabei unweigerlich aufschaukelnden Gegensätzen wundersa-
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mer Weise immer wieder aufs Neue auch für einen gerechten Ausgleich sorgen. Mit dieser Propaganda feiert man sich als Hort der westlichen Freiheit und als Garant des Friedens am Höhepunkt der Zivilisation und verbindet seinen Triumph mit der Forderung, das quasi natürliche Gesetz von Angebot und Nachfrage durch keinen künstlichen Eingriff von außen zu stören, sondern im Gegenteil dafür einzutreten, dass ihm überall Geltung verschafft werde, um unter seiner Ägide möglichst vielen eine faire Chance zu dem, was man ihre ›Weiterentwicklung‹ nennt, zu verschaffen. Damit dieser Mythos sich durchsetzen und seinen Einflussbereich laufend ausdehnen kann, muss parallel dazu der Aktionsradius, in dem die Menschen nicht als Marktteilnehmer fungieren, systematisch eingeschränkt und auf das strenge Maß reduziert werden, das man vom Gehorsam der Gläubigen an das oberste Gebot der Ökonomie erwartet. Sind sie aber erst einmal erfolgreich in kaufkräftige Konsumenten und wettbewerbsfähige Produzenten verwandelt worden, dann lassen sie sich auch außerhalb der üblichen Arbeitsstätten und Handelsplätze gern zu willigen Empfängern von allerlei Dienstleistungen zur effizient betriebenen Erholung und professionellen Gestaltung ihrer Freizeit degradieren. Denn damit ist die von der Werbung angestachelte Hoffnung verbunden, dass andere (Experten) besser erledigen könnten, wofür man sonst selber zuständig wäre, aber dafür immer weniger Zeit hat, weil man sich gezwungen sieht, durch seinen persönlichen Einsatz das Florieren der Beziehung zwischen Angebot und Nachfrage zu fördern. Um dieses Joch auf Dauer ertragen zu können, hat der darunter Leidende auch nichts gegen eine Hilfe von außen einzuwenden, die ihm in Form der freundlichen Einladung entgegenkommt, die lästige Last des eigenen Lebens für den damit im Alltag Überforderten zu schultern, damit er davon erleichtert seine Anstrengungen zur Belebung des Marktes intensivieren kann. Auf solche Weise erfüllen die Bedrückten doppelt so gut ihren Zweck, indem man aus diesen ›Humanressourcen‹ gleich zweimal Kapital schlägt: Sie verhelfen durch ihre Arbeit der Wirtschaft zum geforderten Wachstum und bringen mit dem dafür sauer verdienten Lohn zusätzlich all jene Tätigkeiten in Schwung, nach denen die Nachfrage mit der Verkümmerung der eigenen Fähigkeiten zwangsläufig steigt. Damit das lukrative Geschäft nie ins Stocken gerate und womöglich das Verlangen nach einem Ausweg aus der Tretmühle entstehe, die ihre Betreiber langsam aber sicher zermürbt, erfindet man unaufhörlich neue Angebote und staffiert sie so aus, dass sie sich auch der größten Beliebtheit erfreuen
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dürfen. Schließlich will die Falle möglichst anziehend und dafür bestens präpariert sein, wenn ihr der Vogel gezielt ins Netz gehen soll. Dazu muss er möglichst unverdächtig in die gewünschte Richtung gelenkt werden, auf welche uns die sich im besten Licht präsentierenden »Hilfsangebote zu allen Lebenslagen« hinweisen. Zu ihrer grenzenlosen Verbreitung eignet sich das Internet unter sämtlichen Medien heute am besten, weil dieses Netz inzwischen den ganzen Globus umspannt. Wer wo auch immer sich leichtfertig in seine Fänge begibt, sieht sich dort einer Unzahl von lockenden Ködern gegenüber, nach denen zu schnappen die Aussicht auf eine Befreiung oder wenigstens Erleichterung von den täglichen Sorgen und Nöten verführt. Auf dem Weg in diese unbeschwerte Zukunft, in der man sich von der Wiege bis zur Bahre um nichts mehr zu kümmern hat als um das Wohlergehen des Marktes, der alles für einen besorgt, stellt man bereits jetzt von der »geschulten Säuglingsbetreuung« über den wissenschaftlich exakt ermittelten »Partner fürs Leben« bis zur »sanften Sterbehilfe« den für jedermann maßgeschneiderten Bedarf bereit, nach dem die ständig bedürftiger Werdenden auch immer begieriger lechzen. So erfüllen sie den Dienst, den sie für den allgemeinen Fortschritt zu leisten haben, am besten. Es beschränkt sich aber das Propagieren von Angeboten, wie man sieht, schon längst nicht mehr auf die klassischen Waren und Dienstleistungen, die unablässig in Verkehr gebracht werden müssen, um jenen viel beschworenen Wirtschaftskreislauf in Gang zu halten, der nie enden darf, wenn nicht alles davon Abhängige ebenfalls in Todesstarre verfallen soll. Zur Höchstleistung gedopt und dabei in steigende Geschwindigkeit versetzt – als käme man beim Rasen früher an das Ziel, welches freilich nie erreicht werden darf, weil dort der gefürchtete Stillstand droht –, wird diese gänzlich unbeherrschbar gewordene Maschinerie erst mithilfe aller Arten von »Versorgungsangeboten«, »Informationsangeboten«, »Kursangeboten«, »Programmangeboten«, »Studienangeboten«, »Wissensangeboten«, »Vortragsangeboten«, »Gesprächsangeboten«, »Lehrund Lernangeboten«, »Bildungsangeboten«, »Kulturangeboten«, »Veranstaltungsangeboten«, »Beratungsangeboten«, »Betreuungsangeboten«, »Therapieangeboten«, »Gesundheitsangeboten« usw. Die überquellende Ausschüttung dieser Glücksbringer hat ihren Ursprung in der phantastischen Einbildungskraft aller Hilfsbedürftigen, dank der sie die Illusion hegen dürfen, auf ihrem immer steiniger werdenden Weg zu einem besseren Leben endlich ein Stück weiter zu kommen. Der ständige Nach-
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schub an entsprechenden Wunschbefriedigungen und ihre Wunder wirkende Reklame lassen es schier aussichtslos erscheinen, diese uferlose Flut einzudämmen oder in der Lage zu sein, ihr auch nur irgendetwas entgegensetzen zu können. Denn sie fegt jeden Einwand von vornherein hinweg, begräbt durch ihre »flächendeckende« Verbreitung alle Bedenken im Nu unter sich und erstickt jede Frage schon bei ihrer zögerlichen Verlautbarung sogleich im Keim. Über diesen Zustand hat Robert Musil in seinen Betrachtungen über jenen »Großschriftsteller«, dessen Größe sich an dem Erfolg misst, mit dem er sein Schreiben als Geschäft betreibt, bereits 1933 festgestellt: »So, wie man sich vor ungefähr zwei Menschenaltern noch in Geschäftsbriefen mit blauen Redeblümlein geschmückt hat, könnte man heute schon alle Beziehungen von der Liebe bis zur reinen Logik in der Sprache von Angebot und Nachfrage […] ausdrücken«. 1 80 Jahre später ist diese Möglichkeit in fast allen Belangen bereits Realität geworden. Das lässt sich zum Beispiel daran erkennen, dass man eine Sache umso mehr für der Rede wert hält, je geläufiger sie in aller Munde ist, oder dass das Denken als reine Zeitvergeudung einzustufen ist, wenn es nicht dem bestimmten Zweck dient, der sich zum Einsatz dieses Mittels entschließt, das infolgedessen auch nicht die Erwartung erfüllt, die man an die Bedingung knüpft, unter der die Verwendung seines Verstandes als vernünftig und sinnvoll erscheint. Auch erregt es nur mehr selten Ärgernis, sondern versteht sich gänzlich von selbst, dass das vielfältige Angebot unserer hohen Schulen zur Vermittlung eines Wissens, das am laufenden Band entweder von ihnen selbst produziert oder aber in ihrem Vorratslager zur Weiterverhandlung kostengünstig zwischengespeichert wird, sich möglichst schnell den wechselnden Erfordernissen des Marktes anzupassen und dabei an der launigen Nachfrage vonseiten ihrer Kunden (früher altmodischer Weise Studenten genannt) zu orientieren hat. Wer sich ihren Beurteilungskriterien unterwirft, braucht sich auch nicht mehr darüber wundern, dass der feine Unterschied zwischen ›anbieten‹ und ›anbiedern‹ unter den harten Bedingungen des Wettbewerbs immer mehr zum Verschwinden gebracht wird, oder dass der Zulauf zu den imposanten Forschungsstätten ganz zufällig synchron mit dem Umfang der Töpfe wächst, die (gleichgültig von wem) zu ihrer Finanzierung bereitgestellt werden und zum Dank dafür vergessen lassen, dass diese Großzügigkeit klarerweise nur solange gilt, als sie zur schleunigsten Verwirklichung der damit verbundenen Absichten führt.
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In einer solchen Situation taucht auch kaum noch irgendwo ein Zweifel darüber auf, ob zum Beispiel derart unterschiedliche Phänomene wie Kultur und Gesundheit oder Wissen und Bildung ihrem jeweiligen Wesen nach so beschaffen sind, dass man sie als gute Investition betrachten und zum Erwerb anpreisen kann. Schließlich wird in aller Regel kein Angebot für schlechterdings Unverkäufliches, sondern üblicherweise nur für solches erstellt, was man möglichst vorteilhaft an den Mann bringen will und ohne Verlust loswerden kann. Für diese Veräußerung hat man aber mit der Erstellung solcher Angebote, wie sie oben genannt worden sind, gänzlich Unbezahlbares zu einer kostenpflichtigen Angelegenheit pervertiert. Das ist nur möglich, weil das Betreffende zuvor schon seines spezifischen Charakters beraubt worden ist. Denn man kann sich erst nach einer solchen Enteignung dazu ermächtigt fühlen, seine Beute zu bestimmten Bedingungen, wozu heutzutage vor allem das Vorhandensein von Geld gehört, auch anderen zu überlassen. Nur wer davon überzeugt ist, nicht nötig zu haben, was er sich angeeignet hat und im Überfluss zu besitzen scheint, bietet zum Verkauf an, was er selber nicht braucht. Deshalb erfolgt ein solcher Schritt immer aus einer gewissen Position der Stärke heraus, oder will wenigstens den entsprechenden Eindruck erwecken, damit das Umworbene auch genügend begehrenswert erscheint und einen guten Gewinn abzuwerfen verspricht. Dazu muss das zu verwertende Material (zum Beispiel an Studien und Kursen oder Gesprächen und Vorträgen), dessen man zuvor habhaft geworden ist, in ein möglichst profitables Wirtschaftsgut verwandelt werden, wobei der erhoffte Mehrwert dieser Produktion durch ihr ›Rating‹ vonseiten der von den Banken dafür bezahlten Spezialisten bereits im Voraus einigermaßen gut einzuschätzen ist. Bei diesem Kalkül versteht sich von selbst, dass sich das aus welcher angeeigneten Masse (an Informationen, Kursen oder Programmen) auch immer veredelte Fabrikat schließlich wie jede andere Ware am Markt behaupten muss und folglich einem permanenten Konkurrenzkampf unterworfen ist, der das entsprechende Angebot zwingt, sich entweder billiger zu verkaufen oder derart aufzuputzen, dass es den Anschein zu erzeugen vermag, es müsse tatsächlich dem Vergleichbaren vorzuziehen sein. Wie sich nämlich auf Dauer kein Angebot ohne Nachfrage aufrechterhalten lässt, so fragt auch keiner nach dem, was nicht die eigenen Fähigkeiten bestmöglich herauszustreichen versteht und als äußerst vorteilhaft zur Verwendung empfiehlt. Für die meisten vom Konsum Verwöhnten stellt aber heutzutage die ganze Welt
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ein derart vorzügliches Angebot dar, das alle Zahlungskräftigen – und allerdings auch nur diese – zu nichts anderem als dazu einzuladen scheint, unter dem fleißigen Einsatz seiner Ellenbogen kräftig zuzulangen und von allem, was einem gleichsam zur freien Auswahl geboten wird, in erlaubter Selbstbedienung soviel zu ergreifen, als in der leider begrenzten Zeit geschafft werden kann. Denn wenn das Vorhandene nicht sinnlos brachliegen, sondern seiner zweckmäßigen Bestimmung zugeführt werden soll, muss über das zur Verfügung Gestellte auch so ausgiebig wie möglich verfügt werden, ehe vorzeitig schon wieder zur Neige geht, was vor dem eigenen Abgang schnell noch einverleibt und in vollen Zügen genossen worden sein will.
Anmerkung 1 | Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften, I. Buch, Kapitel 96, Reinbek: Rowohlt 1990, S. 432.
Angebot II Bernhard Heindl Notizen zum sprachlichen Hintergrund des Begriffs ›Angebot‹. Das zugrundeliegende Wort lautet »bieten« (althd. biotan), womit seit frühester Zeit das lateinische praebere = prae-hibere = »etwas vor sich hinhalten«, von habere (in der Hand) haben, ins Deutsche übersetzt worden ist. »Bieten« bedeutet also ursprünglich die Geste, bei der man die Hand ausstreckt, in der man etwas hält. Man kann das aber mit offenen Fingern tun oder mit geballter Faust. Daher entspringen dem Bieten auch die beiden Möglichkeiten des weisenden »Gebietens« und »Verbietens«. Im mhd. gibt es für letzteres auch den Ausdruck »miss-bieten« und »widerbieten«, das heißt jemanden etwas entgegen halten (›es sich nicht bieten lassen‹). So kann man einem die Stirn oder die Spitze des Schwerts bieten (offendere), oder ihm ein Geschenk überreichen (offere), wie man zum Beispiel dem Gast Essen, Trinken und alles Nötige bietet, damit er über das ›Angebotene‹ nach Bedarf verfüge. Als eine solche Gabe bietet man auch jemanden an, an seiner Stelle und für ihn etwas (Gutes) zu tun. Aber auch eine gute Gelegenheit bietet sich oder ein herrlicher Ausblick vor dem Fenster und ein Raum mit genügend Platz für alle. Im Englischen kann to bid (ags. biddan) ebenfalls beides heißen: to bid farewell = jemanden den Abschied geben, to bid welcome = ihn willkommen heißen (einen Gruß bieten). Dem einen wird Lebewohl gesagt, der andere freudig in seiner Präsenz akzeptiert. Ähnlich lautet beim goth. anabiudan = »befehlen, anordnen, gebieten« und faúrbiudan = »verbieten« (engl: forbit), die beide auf eine noch ältere Wortgruppe mit der Wurzel *bheudh (griech: πυθ wie in: πυνθάνομαι, πυθέσθαι, fragen, forschen, erkunden) zurückgehen. Sogar Goethe sagt noch statt »bieten« zuweilen auch »beuten«: »jemanden die Stirn beuten« (trotzen). Die aind. Verbalwurzel *bhudh hat die Grundbedeutung: »wachsam, aufmerksam, achtsam sein« und die entsprechend gespannte (gleichsam vorwärts gebeug-
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te) Haltung einnehmen. Daher ist der »Bote« (nuntius) derjenige, der auf das ihm anvertraute Wort achtgibt, es gut behütet, den Gruß des Herrn überbringt und sein Gebot (oder Verbot) verkündet und der »Büttel« (lictor) das Organ, welches für Ordnung sorgt. Das »bieten« ist jedenfalls vom »bitten« durchaus zu unterscheiden, welches Wort auf die Wurzel *bheidh (griech: πιθ, wie in πείθω »überreden« (durch Bitten bewegen) und πείθομαι (sich auf jemanden verlassen = jemandem trauen, ihm vertrauen, lat. fidere) zurückgeht. Auch Grimm betont in seinem Wörterbuch, dass das »Bieten« (offere) anfänglich nicht ausdifferenziert war und erst allmählich sich in beide Richtungen zum »Gebieten« und »Verbieten« entwickelt hat. Ursprünglich hieß beides dasselbe. Der etwas zu bieten hat, muss eben beides können. Daher liegen das »Bieten« im Sinne des »Gebietens« (jubere, imperare, praecipere, mandare, edicere) und des »Verbietens« (interdicere) auch im Deutschen so nahe beieinander wie im Lateinischen prae-hibere (hinhalten, dar-reichen) und pro-hibere (fern-halten, abwehren, verhindern). In dieser Sprache weist das mandare (=manus dare) noch deutlicher auf das Ausstrecken der Hand hin, sei es, um damit eine Weisung zu erteilen oder einer Sache Einhalt zu tun. Daher werden »verbieten« und »gebieten« bei Diefenbach (Glossarium Latino-Germanicum) noch ganz gleichbedeutend mit mandare (übergeben, anvertrauen, beauftragen, anweisen, befehlen) und pronuciare (vortragen, vermelden, verkünden, öffentlich bekanntgeben) übersetzt. Denn die entsprechende Mitteilung kann eben freundlich oder feindlich (einladend oder abweisend) sein. Ein ding verbieten heißt im Mittelalter: eine Versammlung einberufen, die Männer zum Rat laden oder jemanden zu Gericht fordern, das heißt ihn »auf bieten« (arrestare). Ein »verbotenes« Buch ist also zu dieser Zeit nicht eines, das man nicht lesen darf, sondern das in Beschlag genommen worden ist. Desgleichen wird ein Gutsbesitz »verboten« das heißt in Gewahrsam genommen, bis die Schulden bezahlt sind und dann erst wieder dem rechtmäßigen Eigentümer zurückgegeben wird. Zwischen 1050 und 1350 entwickeln sich aber »gebieten« und »verbieten« langsam auseinander und lassen das »bieten« in seinem ursprünglichen Doppelsinn immer weiter hinter sich. Schon das nhd. differenziert neben dem einfachen »bieten« ein: »aufbieten« (evocare, proclamare, denutinare), »aus-bieten« (provocare, ursp. jemanden öffentlich vorladen, vorführen, noch Goethe »bietet die Fremden und Bettler aus«, um sie aus der Stadt zu vertreiben), »ent-bieten«
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(imperare, jemanden etwas sagen lassen, womit er dann umzugehen hat) »ab-bieten« (praeclamare; zum Beispiel von der Kanzel herunter reden) »für-bieten« (citare; vorladen, zum Beispiel vor Gericht) »wider-bieten« (renunciare, inderdicere; jemandem absagen, eine Freundschaft aufkündigen, etwas rückgängig machen). All diese Fälle melden einen starken Bezug vom »Bieten« zum »Sagen«. Denn ursprünglich ging ein solches Sagen wohl mit der entsprechenden Handgeste einher, die dem Gesagten erst den entschiedenen Nachdruck verlieh und es vom bloßen Gerede (sermo) unterschied. Diese Verbindung bezeugt nicht nur der »Bote« mit seinem Stab, sondern auch das »Gebiet«, ebenfalls »Biet« genannt (im Schweizerischen bis heute, zum Beispiel das »Züribiet«), womit man das Lateinische ditio übersetzt (von dicere: etwas laut verkünden, welches dicere der Wurzel *deik: »zeigen«, griech: δείκνυμι, entspringt, das heißt etwas durch entsprechende Weisung mit der Hand oder/und der Stimme »klar machen«). Das ist natürlich beim »Gebieten« und »Verbieten« besonders wichtig, weil dieses »Bieten« in beiden Richtungen möglichst offenkundig (unzweideutig) erfolgen muss. Das »Gebot« (jussum, mandatum, praeceptum) ist die unmissverständliche Anordnung des Herrschers, der sich damit soweit Gehör verschafft, als sich seine Hand (Macht) über das »Gebiet« (der Untertanen) erstreckt. Blickt man auf die Geschichte des Wortes zurück, so erkennt man den weiten Weg, den das entgegenkommende »Bieten« (offere) früherer Zeit zum heutigen »Angebot« (Offert) der Wirtschaft zurückgelegt hat. Dabei wurde der ursprüngliche Sinn geradezu auf den Kopf gestellt. Im Latein der Kleriker des Mittelalters ist die oblatio (von offere, bieten, = also das »Angebot«) gleichbedeutend mit dem Geschenk, das als »Opfer« (von offere eingedeutscht) aufgefasst wird: nomen oblationis commune est ad res omnes, quae in cultum Dei exhibentur (»der Name oblatio gilt gemeinhin für all die Dinge, die zur Verehrung Gottes dargebracht, [herausgegeben] werden«), heißt es zum Beispiel bei Thomas v. Aquin (Th. II. II. 86 c). Das Lexikon für das Lateinische des Mittelalters (»Mittellateinisches Wörterbuch«) stellt fest: oblatio (ein Wort, das in dieser substantivierten Form bei den Römern noch nicht vorkommt) = jede Gabe, die der Kirche oder einem Kloster zu Ehren Gottes überreicht wird: das kann ein Kind – wie zum Beispiel die achtjährige Hildegard von Bingen zur oblata des Klosters Disibodenberg wird – oder ein Grundbesitz sein. Noch heute heißt die Hostie der Eucharistiefeier auch Oblate. Indem man etwas »offeriert«, bezeugt man also ursprünglich mit dem entsprechenden Geschenk sei-
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nen Dank und zwar einen solchen, der keine Gegenleistung verlangt. Im Unterschied dazu wird mit dem modernen »Angebot« ein Geschäft eingeleitet, von dem man sich einen Vorteil verspricht und an das von vornherein bestimmte, im Angebot formulierte, Bedingungen geknüpft sind. Deshalb kann der Galan seiner Dame bis heute zwar seine Hand bieten, oder diese ihm die Wange zum Kuss, aber unmöglich können beide daraus »ein Angebot machen«. Und noch immer wird es niemanden einfallen, seine Liebe jemanden dadurch zu bezeugen, dass er der Angebeteten ein entsprechendes Angebot (sie zu lieben) unterbreitet. Aus demselben Grund ist man wohl besser auf der Hut, wenn einem jemand seine Zuneigung oder Freundschaft »anbieten« will. Mit der zunehmenden Bedeutung des Marktplatzes, der als das neue Herrschaftszentrum der Bürger (›nach Geldes Gnaden‹) den Hof des früheren Gebieters (›nach Gottes Gnaden‹) langsam in den Hintergrund verdrängt, verlegt sich auch die Bedeutung des »Bietens« immer mehr auf den Handel, der anfänglich noch ganz sinnfällig mit der Handreichung und der es begleitenden Rede zu tun hat. Daher meldet sich das »Bieten« nun vor allem beim Kauf und Verkauf der Waren zu Wort und schwankt bei diesem Vorgang gleichsam zwischen Gebieten und Verbieten hin und her, bis die Waage sich zwischen Angebot und Nachfrage eingependelt hat. Das ursprüngliche »Anbieten« (Hinreichen und Vorweisen der Ware zur Begutachtung) wartet darauf, was kommt. Darauf deutet auch das Präfix (»an«) beim Anbieten hin, das einen gewissen Vorbehalt zum Ausdruck bringt. Denn das Angebot spekuliert von Anfang an auf die erhoffte Gegengabe, um die von der einen zur anderen Hand hin und her geboten und dabei eifrig gefeilscht wird, bis der Pakt steht. Solange er nicht zustande gekommen ist, tritt das Anbieten weder gebietend noch verbietend in Erscheinung, sondern hält sich unentschieden in der Mitte zwischen beiden: Kommt kein Gegenangebot, wird das Angebot zurückgezogen und damit der Zugriff darauf verwehrt, was die Hand zuvor (einladend) hergezeigt und (zur Prüfung) hingestreckt hat. Diese ›Schwebehaltung‹ erzeugt den Eindruck, dass mit dem Anbieten am Markt im Unterschied zum Gebot beziehungsweise Verbot des Herrschers ein hohes Maß an Wahlfreiheit gegeben ist. Der Markt wird geradezu zum Synonym für die Freiheit vom Herrn, dem man gehorchen muss, weil er der ›Stellvertreter Gottes‹ auf Erden ist (Vicarius Dei ist seine Bezeichnung). Niemand muss dagegen ein Angebot annehmen, man kann es erlaubter Weise auch ablehnen. Also eröffnet sich mit dem Angebot nur die Möglichkeit zu einer
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Entscheidung, die damit nicht erzwungen wird. Das Angebot ist folglich das Gegenteil von no alternativ! Man geht darauf auch nicht sogleich ein, sondern nimmt es zuvor genau in Augenschein. Der es prüft, ist also kein Befehlsempfänger. Deshalb verstärkt es das Gefühl der Freiheit, weil man das vor die Nase Gehaltene (wie ein Gebot) annehmen oder (wie ein Verbot) ablehnen kann. Weil das »Angebot« quasi vorläufig noch in der Luft schwebt, geht es auch mit allerlei Hintergedanken einher. Es bezeichnet nicht mehr die einfache Geste der offen entgegengestreckten Hand beim Überreichen eines Geschenks. Vielmehr entspringt es einer strengen Berechnung. Mit dem Angebot wird also keine Beziehung gestiftet (wie im Geschenk), sondern ein Kalkül gemacht und Geschäft getätigt, das Punkt für Punkt abgehandelt wird. Daher ist es sehr die Frage, ob man zum Beispiel ›Hilfe anbieten‹ kann (statt einfach zu helfen), und was es bedeutet, dass man heutzutage bedenkenlos alles Mögliche als ein ›Angebot‹ formuliert. Schon die oberflächlichste Recherche fördert eine unendliche Zahl solcher Angebote zu Tage, die uns von der Geburt bis zum Tod und darüber hinaus begleiten, wie zum Beispiel beim dringend empfohlenen Angebot zur Nachfrage nach einer Risikoeinschätzung des ›ungeborenen Lebens‹, oder beim ebenso attraktiven Angebot (wie es angeblich bereits in einem skandinavischen Land propagiert wird) zum ökologisch einwandfreien Recycling von Leichen nach der bewährten Praxis der vorbildhaften Wiederverwertung anderer problematischer Abfallprodukte. Angeboten wird heute jedenfalls alles und jedes ganz selbstverständlich: Die fachgerechte Versorgung von Säuglingen, Kindern, Jugendlichen, Frauen und Männer jeden Alters und für jedes Problem. Angebote zur Problemlösung gibt es für überforderte Eltern und unternehmungslustige Senioren, für Alkoholiker und Drogenabhängige, Suizidgefährdete und Obdachlose, zur Sterbebegleitung und Heilung von Spielsüchtigen, für Personen mit Burnout-Problemen oder Unternehmer in Zahlungsschwierigkeiten, für Sozialleistungsbezieher und das Pflegepersonal im Spital sowie für die Angehörigen der Patienten und Patientinnen von psychiatrischen Anstalten oder der Greise und Greisinnen, die man in den Altersheimen versorgt. Dabei werden die kostengünstigsten Angebote der verschiedensten Länder überprüft. All diese ›Klienten‹ der ihnen vorstehenden Versorgungsinstitute wollen gefüttert, bemuttert, gewickelt, getröstet, bei Laune gehalten, bestens betreut und sicher verwaltet werden, um sich dann von den damit verbundenen Folgen wiederum eben-
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so professionell therapieren und von ihren täglichen Sorgen befreien zu lassen, wozu sie in all ihrem Elend und Jammer selbst nicht mehr in der Lage sind. Man fordert in ganz Europa flächendeckende Angebote zum Besuch der Ganztagsschule und zur außergerichtlichen Streitbeilegung, zur Verbraucherberatung und Unterrichtsversorgung an berufsbildenden Schulen, zur effizienten Betreuung für Menschen mit Antipositas und für Pendlergaragen, bietet überall Tageselternvereine und Carsharing an und die verschiedensten Leistungen in der Palliativmedizin und im Hospizwesen, erstellt Angebote für pflegeabhängige Schüler und Schülerinnen, Krabbelstuben, Kinderkrippen und Kriseninterventionszentren, zum Auf bau von Beratungszentren für den öffentlichen Verkehr und zur idealen Sterbebegleitung, für den vorbereitenden Schulversuch von Produktionsschulen und für biologische Nahrungsmittel sowie zur richtigen Anwendung schädlicher Pflanzenschutzmitteln, Angebote für preisgünstige Unterkünfte, karitative Notschlafstellen und Gewaltschutzzentren, für eine Schuldenberatung und die richtige Benutzung von Bankomaten, zum effizienten Auf bau der Ladeinfrastrukturen für elektrifizierte Fahrzeuge, zu mehr Bewegung und Vergnügen in der Freizeit, zur Förderung besonderer Begabungen und zur rationalen Entscheidung in Bezug auf Grippeimpfungen, zur bedarfsorientierten Mindestsicherung und Lesefrühförderung, für Wertekurse zur Integration von Asylberechtigten und bei der Anerkennungsberatung für die Flüchtlinge an der Schnittstelle zwischen arbeitsmarktpolitischer Beratung und Berufsorientierung mit dem Schwerpunkt der Verwertung mitgebrachter Qualifikationen, zum cleveren Umgang mit Glücksspielen, zur Steigerung der gesellschaftlichen Akzeptanz durch gutes Aussehen usw. usw. ohne Ausnahme und Ende. Und es ist gerade dieser völlig schrankenlose, grenzenlose und hemmungslose Gebrauch des Begriffs »Angebot«, der die Illusion von einer Freiheit in die Höhe treibt, sodass sich jeder (Konsument) durch seine Wahl (am Markt der Angebote) als Herr der Welt fühlen darf. Also sind sie jenes süße Gift, mit dem alles Beliebige geimpft wird, wonach man süchtig werden soll, damit man in dieser fiebernden Krankheit die Wirtschaft auf Hochtouren bringt.
Angehörigenarbeit Thile Kerkovius
Frau M. war die Mutter eines 40-jährigen AIDS-Kranken im Hospiz. Über Wochen hatte sie ihren Sohn begleitet, tagaus, tagein an seinem Bett gesessen, immer bereit für kleine Hilfeleistungen. Sie war eine ruhige und zurückhaltende etwa 70-jährige Frau aus dem Schwarzwald, ihr graues Haar zu einem strengen Knoten am Hinterkopf zusammen gebunden. Immer war sie darauf bedacht, bei der Pflege nicht im Wege zu sein. Sie wollte nicht zur Last fallen und war es nicht gewohnt, untätig zu sein. Deshalb hat sie gefragt, wo sie im Haus mithelfen könne, »sich nützlich machen könne«. Wir haben ihr die Pflege der Blumen um das Haus herum übertragen und ihre Hilfe in der Küche in Anspruch genommen. Dafür war sie dankbar. So konnte sie sich nützlich machen, als Angehörige auch etwas arbeiten. Ein Beispiel für Angehörigenarbeit? Vor Jahren hat uns ein Priester aus Burundi im Hospiz besucht. Er hat darüber berichtet, wie traditionell die Menschen in seinem Heimatland ihre Schwerkranken und Sterbenden betreuen und wie auch nach dem Tod die Hinterbliebenen in der sozialen Gemeinschaft aufgehoben sind. Für ein schwerkrankes Familienmitglied wird eine Person aus dem familiären Umfeld der Großfamilie abgestellt und von allen anderen Aufgaben freigestellt. Diese Person ist dann, auch im Falle einer stationären Krankenhausbehandlung, umfassend zuständig für den Kranken, Tag und Nacht zugegen und ist seine Vertraute, sein Koch, sein Essensgeber, Pflegehilfskraft, Gesprächspartner und auch Betreuer im formalen Sinne. Behandlungsmaßnahmen und Behandlungsabbrüche müssen mit ihr abgesprochen werden. Unser Priester hat diese Person, in direkter Übersetzung aus der Landessprache, den »Krankenkümmerer« genannt (mit sichtlicher Freude über dieses schöne Wort). Andere Worte/Begriffe, denen er hier in Europa begegnet sei, hätten ihn verwirrt. So sei er,
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gerade in Europa angekommen, beispielsweise vor einem Straßenschild gestanden, einem Wegweiser, auf dem zu lesen war: »Toutes directions« (Alle Richtungen). Aber das Schild zeigte in eine Richtung. Lange habe er überlegt, was man ihm mit diesem Schild wohl sagen wollte. Was hätte unser Mann wohl gedacht, wenn er ganz unvorbereitet mit dem Begriff »Angehörigenarbeit« konfrontiert worden wäre? Angehörige sind mittlerweile ein großes Thema in der Pflege und Betreuung von kranken und alten Menschen geworden. Das ist erfreulich und war nicht immer so. Aber mit Blick auf die letzten Jahrzehnte müssen wir feststellen, dass im Zuge einer rasanten Säkularisierung viel religiös geprägte und stützende Gemeinschaftlichkeit verloren gegangen ist. Wir erleben eine ebenso rasante Erosion tragender sozialer Bezüge und eine von Wohlstand und Reichtum geprägte Individualisierung von Lebensentwürfen, die zum einen die Optionen für eine weitgehende Selbstverwirklichung bietet, in Krisensituationen aber zu Isolation und Einsamkeit führen kann. Im Zuge dieser Entwicklungen sind viele der ursprünglich von einer intakten Sozialgemeinschaft übernommenen Hilfeleistungen Aufgabe professioneller Dienstleister geworden. Das gilt für alte, kranke, psychisch entgleiste, behinderte, verhaltensauffällige und sterbende Menschen gleichermaßen, um nur einige Beispiele zu nennen. Ratlos geworden und alleingelassen, übergeben wir sie den professionellen Experten. Diese sind ausgerüstet mit entsprechenden Kenntnissen ihrer jeweiligen Fachdisziplin und arbeiten mit den ihnen anvertrauten Menschen, erbringen in einer ausufernden Dienstleistungsgesellschaft mit ihrer Expertise die erwartete Dienstleistung. Der Weg zu den Angehörigen im Laufe dieser Entwicklung war ein mühsamer. Am Beispiel der Palliativbetreuung wird dies exemplarisch deutlich. Zunächst war es schon ein großer Schritt, die sterbenden Menschen in den Blick zu nehmen und sich klar darüber zu werden, wie gute und menschenwürdige Bedingungen für diesen Personenkreis aussehen könnten. Aus der ursprünglichen von Laien und ehrenamtlichen Helfern geprägten Hospizbewegung entstanden dann bald neue Fachdisziplinen (Palliativmedizin, Palliativ Care, Palliativpflege und ähnliches), die sich mit diesen Fragen beschäftigten. Das Sterben hat man zunächst als einen hochindividuellen Prozess, als ein endogenes Geschehen begriffen. Erst nach und nach kam die Einsicht, dass Menschen ja immer in ihren sozialen Bezügen sterben und um sie herum andere Menschen sind, Angehörige eben, die auch als unmittelbar Betroffene in einer existenziellen Krisensituation sind. Mit diesen
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musste man sich also auch beschäftigen. Die bisherige Betreuung war bereits professionalisiert (oder zum Beispiel in der ambulanten Hospizbetreuung »halb-professionalisiert«) und war damit Arbeit. Jetzt musste man den Arbeitsbereich auf die Angehörigen erweitern. Die Angehörigen wurden so auch Gegenstand der professionellen Betreuungskonzepte. Es entstand die »Angehörigenarbeit«. Vergleichbare Entwicklungen konnte man natürlich in all den anderen oben skizzierten Bereichen beobachten. Heute ist die Angehörigenarbeit ein wichtiger Bestandteil von Ausbildungskonzepten in der Alten- und Krankenpflege. Die Uni Bielefeld bietet einen zertifizierten Kurs zum Thema »Angehörigenarbeit auf der Grundlage des Konzeptes Gemeinsame Sorge« an. Als Thema von Semesterarbeiten entsprechender Ausbildungen taucht es verstärkt auf. In einer solchen Semesterarbeit wirbt Veronika Reus in der Zusammenfassung ihrer Arbeit für eine Sensibilisierung für das Thema »Angehörigenarbeit« und fasst zusammen: »Wir in der Pflege sind primär die ersten, die sich intensiv mit dem Thema Angehörigenarbeit auseinandersetzen müssen. Deshalb werde ich so gut mir möglich versuchen, die neuen Erkenntnisse in der Praxis umzusetzen.« Und in einer Beschreibung der Altenpflegeausbildung lesen wir: »Angehörigenarbeit – eine Notwendigkeit für ein modernes, innovativ ausgerichtetes Dienstleistungsunternehmen«. Auch im Informationsmaterial der Pflegeheime, Kliniken und Institutionen nimmt die Angehörigenarbeit einen immer wichtigeren Platz ein. Oft unter der Überschrift »Angehörigensprechstunde« wird den Angehörigen eine Fülle von Angeboten gemacht, von Schulungsmaßnahmen für Ernährung, Pflegehilfen oder Diabetesmanagement bis zu bunten Nachmittagen und geselligem Zusammensein. Und immer wieder lesen wir entsprechende Absichtserklärungen: »Die Angehörigenarbeit ist ein sehr wichtiger Bestandteil im therapeutischen und pflegerischen Prozess« (Neanderklinik Harzwald GmbH). Angehörige sind als Adressaten therapeutischer Bemühungen fest im Blick der Experten. Das ist notwendig, denn »… die Mitarbeit der Angehörigen und Betreuer ist ein wesentlicher Bestandteil im Rahmen des Qualitätsmanagements und dient der stetigen Verbesserung unseres Hauses« (Seniorenzentrum Garrel – »Haus Elisabeth«). »Vertraute Personen, sei es die Familie oder Freunde und Bekannte, sind wichtige Bezugspersonen für Menschen, die von Demenz betroffen sind«, lesen wir in der Informationsschrift vom St. Marienstift, Bistum Fulda. Wie wahr, möchte man sagen. »Daher ist die Angehörigenarbeit ein wichtiges Element in der Betreuung dieser Menschen«, lesen
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wir weiter. Und stutzen: Nicht die Angehörigen, sondern die Angehörigenarbeit ist wichtiges Element …, ist die Schlussfolgerung. Man könnte diese Aufzählungen und Beispiele unbegrenzt fortsetzen. In all diesen, zuweilen etwas holperig formulierten Absichtserklärungen wird zum einen sicher ein großes und ehrliches Bemühen deutlich, die Angehörigen mit ihrer Not endlich in den Blick zu nehmen. Das ist erfreulich und dieses Bemühen soll in gar keiner Weise geschmälert oder abgewertet werden. Aber immer wieder wird, gerade auch im Sprachgebrauch, deutlich, wie der professionelle Blickwinkel den unmittelbaren und respektvollen Zugang zu den Angehörigen verstellt. Allzu schnell werden sie (unhinterfragt?) Adressaten therapeutischer Bemühungen, professioneller Dienstleistungen, von Bespaßungsmaßnahmen oder wichtiges Element des hausinternen Qualitätsmanagements. All das sind wahrscheinlich völlig normale und konsequente Entwicklungen einer zunehmend technokratischeren Hochgeschwindigkeitsgesellschaft, in der auch die Lösung der wichtigen Menschheitsfragen und -probleme an Experten delegiert und als Dienstleistungen abruf bar werden. Wahrscheinlich ist es auch müßig, das zu beklagen und man wird so schnell zum ewig Gestrigen, der nicht mehr mithalten kann mit den notwendigen Entwicklungen der Zeit. Aber der ausschließlich professionelle Blickwinkel droht die Wahrnehmung und das Verständnis für dieses wichtige Thema zu verengen. Im Begriff »Angehörigenarbeit« scheint etwas von diesem Dilemma auf. Vielleicht darf man doch so etwas wie Wehmut äußern über eine Entwicklung, in der das Bild von einem »Krankenkümmerer« im Trommelfeuer der therapeutischen und fürsorglichen Maßnahmen und vor einem ausufernden Qualitätsmanagement verblasst. Die wichtige eigenständige Person, die ein solcher Krankenkümmerer im Geschehen darstellt; eine Person, der man als Behandler/Betreuer rechenschaftspflichtig ist und mit Respekt zu begegnen hat und die erst in einem übernächsten Schritt auch Adressat von therapeutischen Maßnahmen sein könnte, ist im Begriff »Angehörigenarbeit« nur schwer wieder zu entdecken. Möglicherweise braucht der Krankenkümmerer diese therapeutische Unterstützung ja auch gar nicht, weil er noch in einem intakten sozialen Umfeld aufgehoben ist. Es ist noch nicht lange her, dass die Menschen ein ganz anderes Verständnis von der Betreuung ihrer Sterbenden hatten. Noch bis ins frühe 19. Jahrhundert hinein war es üblich, dass der Arzt sich bei Anzeichen des nahen Todes zurückzog. Man hat diese Situation nicht mehr
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als eine Aufgabe des Mediziners (des Experten) gesehen. Jetzt waren andere gefragt, Seelsorger zum Beispiel und die Angehörigen eben. Diese sehr zentrale und eigentlich selbstverständliche Rolle, die Angehörige als Teil eines intakten sozialen Umfeldes ursprünglich hatten, scheint zum einen in einem Prozess der rasant zunehmenden Erosion intakter Sozialbezüge verloren zu gehen und wird zum andern dann von den Experten übernommen – als professionelle Arbeitsleistung. Das ist auf den ersten Blick wohl so etwas wie der Lauf der Dinge und erscheint unvermeidlich. Aber mit dem Sprachgebrauch und Begriffen wie »Angehörigenarbeit« gehen nicht nur die Rolle und die Aufgabe, sondern auch die Erinnerung an die ursprüngliche Bedeutung der Angehörigen verloren. Dieser Erinnerungsverlust könnte uns, fast wie bei einem dementen Menschen, den achtsamen Umgang mit einer so wichtigen Frage erschweren. Eine kleine abschließende Bemerkung sei erlaubt: Das kluge Rechtschreibprogramm meines Computers hat mir beim Schreiben dieses Textes jedes Mal den Begriff »Angehörigenarbeit« rot unterstrichen. Es tut sich offensichtlich schwer mit diesem Wort. Dem geht’s wie mir!
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Basale Stimulation ® oder das Knurren der Häute Oliver Schultz
® bezeichnet eine eingetragene Warenmarke.1 Basale Stimulation® ist eine solche Warenmarke. Was folgt daraus für das Schreiben über Basale Stimulation®? Im Falle einer Verwendung der Begriffe Basal und Stimulation in ihrer Paarung als Basale Stimulation® muss das Symbol ® angehängt werden. Unweigerlich tauchen also in diesem Text immer wieder diese ®s auf. Sie entstammen dem Kontext der ökonomischen Professionalität, der sich in symbolischer Gestalt immer wieder in meinen Text drängelt. Dieser Kontext bildet die Vor-Schrift meines Textes. Als Symbol jener Vor-Schrift hat das ® die Aufgabe eines aufmerksamen Wachtpostens. ® gibt acht, dass, wann immer die Rede von jener zur Marke erklärten Paarung von Basal und Stimulation ist, diese als Marke lesbar wird. Jeder Text, der von dieser Paarung spricht, wird auch ein Werbetext für diese Marke. Das Symbol ® ist glücklicherweise selbst keine geschützte Marke. Andernfalls müsste jedes ® seinerseits mit einem ® gekennzeichnet sein: ®®. Aber auch das zweite ® müsste dann von einem ® gekennzeichnet sein und das dritte auch und immer so weiter: ®®®®®®… All diese R in ihren Kreisen gäben einen grollenden, knurrenden Text von sich, dessen leicht verständliche, geradezu basale Information zu lesen wäre als: Warnung! Hier wache ich! Zutritt versperrt! Aber das Knurren des R dringt nicht durch seine Einschließung in den geschlossenen ○. Die Marke fungiert hier wörtlich (mhd. marc = Grenze) und sichtlich als ständige Grenzziehung. Durch diese schützende Eingrenzung als Ware gerät die Basale Stimulation® selbst in eine dumpfe Distanz zu ihrer eigenen grundlegenden Idee: dem Vertrauen in die Möglichkeit einer fundamentalen – basalen – Begegnung zwischen Pflegenden und Patienten.
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Allerdings habe ich nun den Begriff der Stimulation vorschnell mit dem der Begegnung übersetzt. Tatsächlich ist die Bedeutung von Stimulation selbst nicht eindeutig. »Stimulieren leitet sich ab von lat. stimulāre ›(mit dem Stachel) antreiben, quälen, anspornen, anstacheln, anregen‹.«2 Das Nebeneinander einer eher angenehmen Bedeutung wie der Anregung und den eher erschreckenden wie dem Anstacheln und Antreiben erzeugt gemischte Gefühle. Walper tilgt diese Ambivalenz, indem sie Stimulation unter Auslassung jener »negativen« Konnotationen nur im Sinne von Ermunterung verwendet.3 Nydahl und Bartoszek verwenden Stimulation gar im Sinne von Information.4 Auch bei Bienstein und Fröhlich, die das Konzept der Basalen Stimulation® entwickelt haben, taucht immer wieder der Begriff der Information zur Beschreibung der verschiedenen Stimulationen auf.5 So heißt es, gleichsam zusammenfassend: »In der multisensorischen Erfahrung, dem Ertasten, dem Riechen, Schmecken, Sehen und Hören, wachsen die gemeinsamen Anteile der Information und bieten mehr Sicherheit, ein größeres Erinnerungsvermögen und Orientierungshilfe.«6 Im Begriff ›Information‹ zeigt sich die für die naturwissenschaftlich geprägte Neuzeit charakteristische Tendenz, geistige Gehalte auf etwas Materielles zu reduzieren. Seit Descartes als dem Begründer des Rationalismus »findet sich die Auffassung, daß bei der menschlichen Sinneswahrnehmung eine Formung des Geistes durch eine dem Gehirn aufgeprägte räumliche Formung vonstatten gehe. Hier liegt die Quelle eines Körper-Geist-Problems, das für die Naturalisierung der Information bis heute eine entscheidende Rolle spielt.« 7 So erklärt unsere Informationsgesellschaft mit Hilfe ihres Kernbegriffs den Kontext der zwischenmenschlichen Begegnung zu einer Frage der Informiertheit. Auch vom ›Reiz‹ ist immer wieder die Rede. So heißt es für das vielseitige Geschehen des Aufstehens am Morgen: »erneut bieten wir unserem Körper eine Fülle von unterschiedlichen sensorischen Reizen.«8 Etymologisch weist auch der Reiz, wie schon der Stimulus, eine aggressive Herkunft auf, leitet er sich doch ab vom ›ritzen‹. Neben dem (erst sehr spät entstandenen) ›Liebreiz‹ kann man als Reizender immer auch ›schädlich auf einen Organismus einwirken‹9. Der auslösende Reiz steht ganz im Dienste einer auf kausale Übersichtlichkeit zielenden Auffassung von Wahrnehmung, wie sie der Rationalismus des 17. Jahrhunderts entwickelt hat. Mechanistisch verstanden könnte man sagen: der Reiz ritzt eine Information in unsere Wahrnehmung.
Basale Stimulation
Bienstein und Fröhlich beklagen selbst rückblickend auf die Anfänge der Basalen Stimulation®: »Der Begriff der ›Stimulation‹ […] wurde im Bereich der Pflege […] mit ständigem Anregen gleichgesetzt […]. Dabei richtete sich das Augenmerk auf das Ziel ›etwas Sichtbares‹ zu erreichen. Das Konzept erhielt damit die Dimension der Leistung, des möglichst messbaren und nachweisbaren Erfolges. […] Schon in ihrer Ausbildungszeit lernen sie, dass alles, was sie tun, der Erlangung von Gesundheit oder dem Wiedererwerb von Fähigkeiten dienen sollte. Besonders im Krankenhausbereich war und ist dieses Verhalten ausgeprägt.«10 Während eine erfolgsorientierte Versorgung sich zum überreizten Angebot steigert, stumpfen die hygienisch optimierten Krankenhäuser zu sterilen Auf bewahrungsorten ab: »Viele Patientenzimmer in bundesdeutschen Krankenhäusern sind ›reich‹ an Anregungsarmut.«11 Die Effizienz der Arbeitsvorgänge rückt in den Vordergrund: »Das Krankenhaus stellt für Mediziner, Therapeuten und Pflegende das berufliche Arbeitsfeld dar, es ist im Wesentlichen nach ihren Bedürfnissen geplant und eingerichtet. Zugespitzt kann man sogar sagen, dass der Patient zu einem Werkstück wird, welches verschiedene Berufsgruppen bearbeiten.«12 Kahle monotone Krankenzimmer, desorientierende endlose Flure, Beziehungslosigkeit … immer wieder kommen Bienstein und Fröhlich auf die belastenden Aspekte dieser Welt einer alles erfassenden Professionalisierung zu sprechen. Aus dieser kritischen Bestandsaufnahme leiten sie nun die Notwendigkeit einer »Professionalisierung der Berührung« ab. Die Folgen der Professionalisierung sollen durch eine verstärkte Professionalisierung überwunden werden. Gerade weil die pflegerische Situation sich so schwierig darstellt, müsse die »Kunst der Berührung« professionell geschult und gelernt werden. Basale Stimulation® wird zu einer Ware, die sich von den anderen Waren im Gesundheitssektor unterscheiden will und soll. Kann das gelingen? Auf den ersten Blick widerstrebt gerade das, was man unter basal versteht, der Vorstellung einer Professionalisierung. Das Basale bezeichnet das Grundlegende, das was bereits zugrunde liegt, das, worüber jeder Mensch verfügt, was da ist, einfach so, ohne dass man es erst erwerben oder erlernen müsse. Es geht um Einfachheit: »Basal meint, dass wir uns der einfachsten und elementarsten Möglichkeiten bedienen wollen um einen anderen Menschen zu erreichen und mit ihm in Kontakt zu treten.«13
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Zugleich jedoch wird dieser ›einfache und elementare‹ Kontakt so dargestellt, dass er nur durch das »Erlernen professionellen Berührens« erreichbar ist.14 Um jemanden oder etwas zu erreichen, bedarf es der erfolgreichen Überwindung einer räumlichen Trennung. Wer etwas erreicht, dessen Tun ist gelungen. Sein Ziel hingegen zu verfehlen, ist misslingendes Tun. Das Tun des Erreichens steht als zielgerichtetes Tun unter dem Primat des Gelingens. Nicht jedes Tun muss derart zielgerichtet sein. Es gibt auch zweckfreies spielerisches Tun. In der Domäne professionellen Tuns dominiert aber das effiziente und zielgerichtete Tun. Ein Tun, das gelingen soll.15 Durch die Rede von der Erreichbarkeit wird eine erkenntnistheoretische Dimension im Kontext der Berührbarkeit sichtbar, die zuvor verborgen war: Was berührbar ist, kann ich nicht nur ergreifen oder angreifen sondern auch begreifen. Der Griff nach dem Berührbaren wird durchaus denkbar als ein geistiger Zugriff. Meine Kenntnis, die den Anderen begreifend ergreift, fügt ihn in das ein, was meine Kenntnis erreichen kann. Meine Kenntnis des Anderen ist aber immer nur meine. Aus ethischer Sicht stellt sich hier die Frage nach dem guten Miteinander, in dem der Andere nicht zum Objekt meiner Kenntnisnahme wird, also wirklich anders als mein Selbst bleiben kann. Die Rede vom Anderen erzählt von der Möglichkeit eines Seins, das dem Selben entzogen bleibt. Wenn der Andere für den Selben nun aber erreichbar wird, etwa indem er Kenntnis von ihm nimmt, kann der Andere in die Kenntnis des Selben hereingenommen werden. Es droht eine Verselbigung und eine ›Aufhebung‹ des Anderen im Selben.16 Die erwähnte Grundidee der basalen Stimulation® – ›einfache Kontaktaufnahme‹ zu sein – müsste also aus einer ethischen Sicht, die den Anderen bleiben lässt, bereit sein, jederzeit den Kontakt zum Anderen da abzubrechen, wo dieser den Anderen erfolgreich zu erreichen droht. Eine solche Berührung, die den anderen aufsucht, ohne ihn zu erreichen, wäre aber aus professioneller Sicht eine misslingende, eine nicht hin-reichende Berührung. Eine Berührung aber, der es um die Freiheit des Anderen zu tun ist, müsste, bewegt von einer Skepsis gegenüber der Erreichbarkeit des Anderen, auf achtsame Art nichtprofessionell sein. Die einigermaßen paradoxe Frage wäre nun: Wie kann eine nichtprofessionelle Berührung dennoch gelingen? Bienstein und Fröhlich geben selbst einen Hinweis auf die Beantwortung dieser Frage, wenn sie konstatieren, »dass Patienten sehr viel mehr in ihren psychischen Tiefen
Basale Stimulation
wahrnehmen, als von außen beobachtet werden kann.«17 Hier ist die Rede von einem Entzogensein des Anderen. Diese Tiefe, die sich äußerer Beobachtung entzieht, droht nun im Vollzug einer professionellen basalen Stimulation® erreicht zu werden. Allerdings steht die ›Tiefe‹ in denkbar größtem Widerspruch zum Ziel der Erreichbarkeit.18 Die Tiefe ist der Ort, in dem das Sichtbare allmählich in Unsichtbares übergeht. Für eine professionelle empirische Haltung, die alles und jedes zu dokumentieren trachtet, stellt die Tiefe einen Abgrund dar, den es durch Informationen aufzuschütten und in eine Breite zu verwandeln gilt. Im Gegensatz zur Tiefe ermöglicht die Breite Überschaubarkeit. Ein Tiefenraum vor mir bietet mir eine geheimnisvolle Raumerfahrung, angefüllt mit unkenntlichen Rätseln, die sich eines hinter dem anderen verbergen und meinem Blick unerreichbar sind. Steige ich jedoch in ein Flugzeug und überfliege diese Landschaft, so vergrößere ich zwar die Unerreichbarkeit, verschaffe mir aber einen Überblick, in dem ich nun alle eben noch in der Tiefe verborgenen Dinge eines neben dem anderen identifizieren – und das heißt erkennend erreichen kann. Das aber ist nicht mehr die Erfahrung von Tiefe sondern von Breite. Die Tiefe erlaubt anders als die Breite nicht das geordnete Neben- oder Hintereinander von Informationen. Aber sie ermöglicht Berührung. Die Etymologie der Berührung ist ganz anders als der Reiz durchweg von Sanftheit begleitet.19 Vor allem aber spricht sie von einer Teilhabe des Berührenden an der Berührung: Berührung ist – schwächer als jedes Anfassen – ein sanftes Geschehen zwischen zwei Menschen. Und dennoch beginnt jede noch so sanfte Berührung mit einem Aufprall auf der Haut des Anderen. Es kommt zum Eintritt in die Sphäre des Anderen. Berührung ist ein chiasmatisches Geschehen, in dem der Selbe vom Anderen durchkreuzt wird. Der eben noch unberührte (intakte) Selbige ist, sobald er berührt ist, als Berührter auch der Andere eines Anderen. In der Berührung suchen wir einander heim. Jede berührende Haut wird zur berührten Haut des Anderen. Einander berührend bleibt keiner in jener Sicherheit, die ein Selbst zu besitzen vorgibt. Jenseits der Vorstellung von Haut als eines ausgebreiteten Organs öffnet sich in der Berührung eine Tiefe, die den Anderen berührt, ohne ihn je zu erreichen. Die Haut ist eine Schwelle zur unersichtlichen Tiefe des Anderen. Sie entzieht sich unserer Einsicht. Die Berührung mit dem unauslotbaren Anderen ist aus professioneller Sicht ein nicht zu überwindender Abgrund. Aber wir hö-
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ren, wenn wir einander nahe kommen, das sanfte Knurren unserer Häute. Die Tiefe verleiht ihm eine schöne Resonanz.
Anmerkungen 1 | »Der Begriff Basale Stimulation® ist ein von Prof. Dr. Andreas Fröhlich mit ® markenrechtlich geschützter Begriff«. Vgl. Walper, Heike: Basale Stimulation®, Stuttgart: Hospiz Verlag 2014, S. 2. In der Arbeit mit schwerbehinderten Kindern und Jugendlichen entwickelte Fröhlich die Auffassung, »dass auch schwerbehinderte Menschen Erlebnis- und Wahrnehmungsfähigkeit besitzen und über psychosoziale Kompetenzen verfügen.« Die angebotenen Wahrnehmungserfahrungen »knüpfen an frühe, vorgeburtliche Erfahrungen an« (A.a.O., S. 8). »Gemeinsam mit der Krankenschwester und Pflegewissenschaftlerin Christel Bienstein übertrug Andreas Fröhlich das Konzept Basale Stimulation® […] auf die Pflege und Förderung von Menschen mit Wahrnehmungsstörungen.« (A.a.O., S. 9). Im deutschsprachigen Raum gibt es fünf Gruppen, die »eine vertiefte Ausbildung im Konzept der Basalen Stimulation anbieten.« Vgl. Nydahl, Peter; Bartoszek, Gabriele (Hg.): Basale Stimulation, Wege in der Pflege Schwerstkranker, München: Urban & Fischer Verlag 2012, S. 264. So kann z.B. ein 1,5 jähriger Kurs zum Erwerb der Kompetenz als Praxisbegleiter(in) Basale Stimulation® gebucht werden. Vgl. www.weiterbil dung-basalestimulation.de. (Letzter Zugriff am 3.9.3016.) 2 | Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, Berlin: Akademie-Verlag 1989, Stichwort stimulieren. 3 | Walper 2014, a.a.O., S. 8. 4 | Nydahl/Bartoszek 2012, a.a.O., S. 2. 5 | Bienstein, Christel; Fröhlich, Andreas: Basale Stimulation® in der Pflege. Die Grundlagen, Bern: Hans Huber Verlag 2012, S.23f. 6 | A.a.O., S. 79. 7 | Janich, Peter: Was ist Information?, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 21. 8 | A.a.O., S. 19. 9 | Etymologisches Wörterbuch a.a.O., Stichwort reizen. 10 | Bienstein; Fröhlich a.a.O., S. 16f. 11 | A.a.O., S. 228. 12 | A.a.O., S. 20. 13 | A.a.O., S. 16. 14 | A.a.O., S. 52. 15 | Die hier vollzogene Unterscheidung von Spiel und Professionalität ist keineswegs eindeutig. Auch das Spiel kann sehr professionell betrieben werden, etwa im
Basale Stimulation
Sport oder der Kunst. Aber das Spiel birgt in sich eine Ambivalenz, insofern es ihm potenziell nicht nur um das Gelingen, sondern auch um ein Tun um seiner selbst Willen geht. Das Spiel erzeugt Selbstvergessenheit. Insofern ist die Frage wichtig: Wie spielerisch-vergesslich kann ein professionelles Tun betrieben werden? 16 | Zur Lesart von Berührung, die als erkennende Erreichbarkeit zur Vereinnahmung des ›Andern‹ durch den ›Selben‹ führt. Kapust, Antje: Berührung ohne Berührung. Ethik und Ontologie bei Merleau-Ponty und Lévinas; München: Wilhelm Fink Verlag 1999, S. 43 und S. 119; zur radikalen Ethik des Anderen als des jeder metaphysischen ›Aufhebung‹ Entzogenen s. ebd. S. 281. 17 | Bienstein/Fröhlich a.a.O., S. 16. 18 | Ich stütze mich im Folgenden auf die Überlegungen von Maurice MerleauPonty zum Phänomen der Tiefe: Merleau-Ponty, Maurice: Die Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin: Walter de Gruyter Verlag 1966, S. 297ff. und 310ff.; derselbe: Die Prosa der Welt, München: Wilhelm Fink Verlag 1993, S. 74; derselbe: Das Sichtbare und das Unsichtbare, München: Wilhelm Fink Verlag 2004, S. 18. 19 | Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, a.a.O., Stichwort rühren.
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Behinderung Willibald Feinig
BEHINDERT (zu indogermanischem Stamm für ›hinten, zurückgedrängt‹): Dauerhaft eingeschränkt, gebrechlich. Englisch: disabled, handicapped. Französisch: débile (geistig behindert), handicapé.
Er ist körperlich behindert: Es ist ihm nicht möglich, mehr als fünfzehn Meter zu Fuß zurückzulegen; eine Zange zu benutzen, sich ohne Halskrause zu bewegen. Ist nicht auch das Unvermögen, in den Bauchraum zu atmen, das Zwerchfell zu heben, dabei die Rippen zu dehnen und so den Herzmuskel massierend zu entlasten, eine körperliche Behinderung? Oder das Unvermögen, aufrecht zu gehen mit leicht schwingenden Armen? Die Kinder im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück lachten nicht, als Frauen für sie heimlich ein Kasperl-Stück aufführten. Die Unfähigkeit zu lachen oder zu weinen oder Distanz zu halten – eine seelische Behinderung. Ist auch seelisch behindert, wer Steinbrocken auf Fahrzeuge fallen lässt, die sich der Autobahnbrücke nähern; wer sich um die Guillotine auf der jetzigen Place de la Concorde drängt; wer nicht zuhören oder eine Weile mit sich allein sein oder bei Essen und Trinken nicht Maß halten kann? Oder wer sich nicht freuen kann über den Erfolg Anderer? Trisomie 21, eine fehlerhafte Zellteilung, führt zu geistiger Behinderung. Geistig behindert ist, wer 3+2 nicht zusammenzählen oder keinen vollständigen Satz bilden kann. Ich erinnere mich nicht an den Inhalt des Films, den ich vor ein paar Monaten gesehen habe, an den Namen eines Schülers, den ich einige Jahre lang in der Klasse vor mir hatte, ich kann mir die Krümmung des Uni-
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Willibald Feinig
versums nicht vorstellen und eine Reihe von Funktionen meines Handys wird mir immer ein Rätsel bleiben: Bin ich geistig behindert? Bewohner des Südsudan, Malawis oder Haїtis sind wirtschaftlich behindert – sie haben das Lebensnotwendige nicht. Ist nicht auch Europa wirtschaftlich behindert? Was hindert uns, statt Revolvern Garten-, optisches oder Baugerät, statt Sturmgewehren, panzerbrechender Munition und Tanks Bohrsysteme, Brunnenanlagen und Wasserleitungen zu bauen? Statt Atomkraftwerken Windräder oder statt in Plastik verpacktem, gentechnisch verändertem Getreide, Obst oder Gemüse aus Murcia oder Israel Spinat und Salate des Nachbarn, dessen Feld nicht zu Bauland werden müsste, weil statt einer neuen Schnellbausiedlung mit Wohnungen für Alleinstehende die verfallenden Althäuser im Ortszentrum renoviert würden, von Lehrlingen und Gesellen, die mehr von ihrem Fach verstehen als Bedienungsanleitungen zu lesen?
Beratung Silja Samerski
Für jede Lebenssituation gibt es heute ein professionelles Beratungsangebot: Fruchtbarkeitsberatung, Schwangerschaftsberatung, genetische Beratung, Stillberatung, Gesundheitsberatung, Berufsberatung, Ernährungsberatung, Familienberatung, Finanzberatung, Präventionsberatung, Pflegeberatung, psychosoziale Beratung, und schließlich auch die Sterbe- und Trauerberatung – um nur einen kleinen Ausschnitt zu nennen. Dazu kommt seit Neuestem der inflationäre Gebrauch von Apps, die ihre Nutzer ebenfalls beraten. Auch sie sagen ihnen, wie es um sie steht und was sie tun sollen: Gesundheits-Apps, Fitness-Apps, Schlaf-Apps, ErziehungsApps, die Liste lässt sich unendlich verlängern. Keine Frage – der Mensch ist von der Wiege bis zur Bahre, oder mehr noch: pränatal bis postmortem beratungsbedürftig geworden. Dieser beratungsbedürftige Mensch ist ein modernes Wesen. Bis ins 19. Jahrhundert hatte der König seine Berater, und in amtlichen Angelegenheiten konnten Advokaten zu Rate gezogen werden – beratungsbedürftige Bürger und entsprechende Experten oder gar Softwareprogramme, die dieses Bedürfnis mit Hilfe programmierter Vorgänge befriedigen, die gab es jedoch noch nicht. Offensichtlich hat erst die moderne Welt die Menschen derart ihrer Urteils- und Entscheidungsfähigkeit beraubt, dass sie lebenslange Anleitung benötigen; offenbar ist die Welt erst im Zeitalter von Pflichtschule, Retortenbabys, Gentests und Smartphone so unbegreiflich und unzugänglich geworden, dass Menschen Anweisungen brauchen beim Essen, Rennen, Freunde finden, Schwanger werden, Kindererziehen, Sterben und Trauern. In Deutschland hat der Weimarer Wohlfahrtsstaat das Beratungszeitalter eröffnet. Nachdem die neue Republik es zur Aufgabe der staatlichen Bürokratie erhoben hatte, die Gesundheit und Tüchtigkeit der Be-
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Silja Samerski
völkerung sicherzustellen, schossen Beratungs- und Fürsorgestellen wie Pilze aus dem Boden. Alkoholikerfürsorge, Mütterberatung, Säuglingsfürsorgestellen, Erziehungsberatung, Sexual- und Eheberatung und Berufsberatung unterwarfen die Weimarer Bürger in jeder Lebenslage der fürsorglichen Belagerung durch Experten. Vor allem die Arbeiterklasse sollte lernen, ihr Leben nicht mehr an Gewohnheiten, Traditionen und am Commonsense auszurichten, sondern wissenschaftlich begründete Verhaltensvorschriften zu befolgen. Besonders ausgefeilt und professionalisiert war die Beratung der Berufspädagogen. Ihr Hauptklientel bestand aus arbeitsuchenden Jugendlichen; ihr Ziel war es, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass eine kapitalistische Gesellschaft an die Wahl eines Berufes Anforderungen stellt, denen nur noch Experten gewachsen sind. Die Industrie strebte eine möglichst effiziente Ausbeutung der Arbeitskraft an, und die Kassen des Sozialstaates konnten für die steigende Zahl arbeitsloser Lohnabhängiger kaum noch aufkommen. Die Berufsberatung wurde daher mit der Aufgabe betraut, »den richtigen Mann an die richtige Stelle« zu bringen. Im Unterschied zu seinem Kollegen aus der Alkoholikerfürsorge, der den Trinker gegebenenfalls in eine Anstalt einwies, oder aus der Sexualberatung, der Paare zur Benutzung eines Pessars drängte, schien dem Berufsberater direkte Maßregelung zweckwidrig. Nicht überreden und zwingen wollte er seinen Klienten, sondern für eine rationale Entscheidung mobilisieren. Als wertvolle Arbeitskraft und potentieller Sozialfall sollte der junge Schulabgänger lernen, sich aus eigenem Antrieb für denjenigen Beruf zu entscheiden, den der Wirtschaftsexperte für ihn vorsah.1 Achtzig Jahre später erkennt man im Versuch des Weimarer Berufsberaters, der Berufswahl jugendlicher Schulabgänger eine wissenschaftliche Grundlage zu geben, die Vorläufer des heutigen Beratungswesens. Die Strategie, Klienten nicht zu zwingen oder zu überreden, sondern zu professionell präparierten, »eigenen« Entscheidungen anzuhalten, hat sich inzwischen im gesamten Beratungswesen durchgesetzt. Beratung ist heute vornehmlich Entscheidungsunterricht. Ganz gleich ob Finanzberatung, Pflegeberatung oder genetische Beratung – vorrangiges Ziel ist die sogenannte »selbstbestimmte« oder »eigenverantwortliche Entscheidung« der Klienten. Beraten heißt also nicht, wie die Umgangssprache nahelegt, einen Ratschlag geben – im Gegenteil: Empfehlungen sind in der heutigen Beratungsbranche weitgehend verpönt, das Dienstleistungsprodukt ist die eigene Entscheidung der Klienten. »Da kann ich ihnen
Beratung
nur, wenn Sie als Ratsuchender kommen […], nur soviel dazu sagen, daß Sie den Rat bei sich selbst suchen müssen«, antwortet ein genetischer Berater seiner ratlosen Klientin.2 Und selbst die bayrische Forstwirtschaft achtet penibel darauf, die Waldbesitzer nicht in fachgerechter Waldbewirtschaftung zu unterrichten, sondern im selbstbestimmten Entscheiden: »Dabei ist es Ziel unserer Beratung, den Waldbesitzer bei seinen Entscheidungen zu unterstützen. Wir geben Ihnen bei Fragen zu Wald und Forstwirtschaft Hilfe zur Meinungsbildung und Entscheidungsfindung und unterstützen Sie bei der Umsetzung der selbstgewählten Entscheidungen. Sie als Waldbesitzer müssen aber selbst entscheiden, ein Berater kann und darf dem Waldbesitzer keine Entscheidung abnehmen.«3 Beratung hat heute also die Funktion, Bürger in einer Welt, die immer undurchschaubarer und fremdbestimmter wird, zur »autonomen Selbstführung [zu] aktivieren«.4 »Autonom« bedeutet dabei nicht, sich auf sich selbst und die eigenen Sinne zu verlassen, sondern zu lernen, das eigene Denken und Handeln an wissenschaftlich konstruierten Informationen auszurichten. Entscheiden heißt hier nicht mehr, sich ein eigenes Urteil zu bilden, sondern nach professionellen Vorgaben Chancen und Risiken abzuwägen und vorprogrammierte Optionen auszuwählen. Die Fitness- und Gesundheitsapps, mit denen Anhänger des »Self-Tracking« ihre sportlichen Aktivitäten, ihren Schlaf, ihren Herzschlag, ihren Kalorienverbrauch usw. messen, treiben diese Form der »programmierten Autonomie« auf die Spitze: Sie fordern dazu auf, sich in den Kurven, Daten und Säulendiagrammen selbst zu erkennen, und die vorgegebene Optimierung dieser Werte mit der Verbesserung der eigenen Gesundheit und Lebenschancen zu verwechseln. Sie verwandeln die junge Frau in einen statistisch verrechenbaren Fall, und fordern sie dann dazu auf, für dieses Datenprofil und seine programmierte Verwaltung Verantwortung zu übernehmen. Genauso, wie der Finanzberater seinen Beratungsfall durch standardisierte Klassifizierungen wie Risikoaffinität, Vermögensstand, Wertepräferenzen usw. konstruiert und dann entsprechende Investment-Optionen zur Auswahl stellt, so erzeugen Gesundheitsapps ein Datenprofil, präsentieren es ihren Nutzern als ihr »Selbst« und halten sie zur statistisch gelenkten Selbststeuerung an. Es ist ein Kennzeichen des modernen Beratungswesens, dass diejenigen Klienten, denen am wenigsten zu helfen ist, am fürsorglichsten von Beratern belagert werden. Sei es die arbeitslose Bibliothekarin, die der Computer überflüssig gemacht hat, oder die gentestverängstigte Mitt-
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Silja Samerski
dreißigerin, der ein »erhöhtes Brustkrebsrisiko« attestiert wurde – alle durchlaufen sie Beratungsvorgänge, in denen sie zu »eigenverantwortlichen Entscheidungen« befähigt werden sollen. Hier zeigt sich das zentrale Paradox der Beratungsgesellschaft: Beratungsrituale mobilisieren zur »Selbstbestimmung«, wenn die persönliche Ohnmacht am größten ist. Angesichts dieses Paradoxes wird die soziale Funktion moderner Beratung sehr deutlich: Die Beratenen werden durch die Verabreichung vermeintlich bedeutsamer Informationen und den Aufruf zur Entscheidung für das verantwortlich gemacht, was ihnen angetan wird. Ein herausragendes Beispiel hierfür ist der mehrstufige Entscheidungsunterricht, den Schwangere heute durchlaufen. Bevor ihnen überhaupt bewusst werden kann, dass sie ein Kind erwarten, klärt ihr Arzt sie schon über Schwangerschaftsrisiken und vorgeburtliche Testmöglichkeiten auf, damit sie eine Entscheidung über den Fortgang ihrer Schwangerschaft treffen können. Mehrfach wurden Frauenärzte und Genetiker bereits zu lebenslangem Unterhalt verurteilt, weil Frauen glaubhaft machen konnten, dass deren mangelhafte Beratung die Geburt eines behinderten Kindes verschuldet hätte. Seit Februar 2010 wird diese durch die Rechtsprechung installierte Beratungspflicht durch einen gesetzlichen Beratungszwang ergänzt: Das neue Gendiagnostikgesetz macht es zur Voraussetzung für vorgeburtliche genetische Untersuchungen, vorher beim Humangenetiker vorstellig zu werden und einen genetischen Entscheidungsunterricht zu absolvieren. Durch die Aufklärung über Zellbiologie, Mendel’sche Regeln, Biostatistik und die Vor- und Nachteile verschiedener Testangebote soll die werdende Mutter befähigt werden, eine »selbstbestimmte Entscheidung« darüber zu treffen, welche Schwangerschaftsrisiken sie auf die eigene Kappe nimmt und welche Testoptionen sie wählt. Gibt dann der Test nicht das erhoffte grüne Licht, stehen weitere Beratungen an – denn jetzt muss die werdende Mutter entscheiden, ob sie ihr Kind überhaupt noch bekommen will. Nach einem positiven Schwangerschaftstest sind Frauen, die kein Kind wollen, seit 1995 vor einem Abbruch ohnehin zur Schwangerschaftskonfliktberatung gezwungen. Die Neufassung des Schwangerschaftskonfliktgesetzes (2010) verpflichtet nun auch Frauen vor einem Abbruch nach Pränataldiagnostik zur Beratung – hier allerdings durch einen Arzt. Zusätzlich offerieren Schwangerenberaterinnen, als Gegengewicht zur medizinischen Deutungsmacht, noch eine psychosoziale Beratung. Letztlich haben alle Beratungsrituale das gleiche Ziel: Frauen sollen nicht nach eigenem Gutdünken oder aus dem Bauch heraus
Beratung
handeln, sondern eine – wie es heißt – »adäquate« und »ausgewogene« Entscheidung treffen. Paradoxerweise gibt es die in den Beratungen beschworene Wahlfreiheit während der Schwangerschaft kaum. Die medizinische Schwangerenbetreuung stellt die Weichen so, dass der vorgeburtliche Check-up samt eventuellem Schwangerschaftsabbruch geradezu vorprogrammiert ist. Viele Schwangere haben daher das Gefühl, etwas entscheiden zu müssen, was letztlich schon entschieden ist. Haben sie sich bereits auf einen Test eingelassen, stecken sie sowieso in einer Mühle, nämlich zwischen den Mahlsteinen von Untersuchungen und Maßnahmen, an deren Ende meist der Schwangerschaftsabbruch steht. Was soll der Entscheidungsunterricht für Schwangere dann überhaupt? In erster Linie funktionieren die Beratungen als Sozialtechnologie, welche die Illusion von Selbstbestimmung erzeugt und den Frauen das Gefühl von Verantwortung eintrichtert: »This process of knowledge transmission creates autonomous individuals who, through the medium of choice, consent voluntarily to take personal responsibility for themselves and their relatives.«5 Eigentlich müsste es heißen: Verantwortung für die programmierte Entscheidung über das Kommen des Kindes – und deren weitreichende Folgen. Diese Erzeugung ohnmächtiger Verantwortlichkeit ist typisch für moderne Beratungsdienstleistungen. Auch in anderen Bereichen gibt es inzwischen verpflichtende Beratungen, die Bürgern für Unverantwortbares Verantwortung auf bürden. Der Gemeinsame Bundesausschuss hat beispielsweise 2007 einen Beratungszwang über Krebsfrüherkennung eingeführt. Statt Bürger – wie ursprünglich vorgesehen – zu risikobehafteten Krebs-Früherkennungsuntersuchungen zu verdonnern, müssen sie sich nun beraten lassen und selbst entscheiden. Wer nachher an Darmkrebs, Brustkrebs und Gebärmutterhalskrebs erkrankt, erhält nur dann die volle Zuzahlung, wenn eine ärztliche Beratung über die Chancen und Risiken von Früherkennung in einem Präventionspass dokumentiert ist. Wie im Falle der Schwangerenberatung zielt auch diese Beratung vor allem auf das Selbstverständnis und auf das persönliche Verhältnis zum Kommenden: Sich nicht um statistische Krankheitsrisiken scheren, Gottvertrauen haben, sich auf sein Gefühl verlassen oder unbekümmert zu sein, alles macht die Beratung über Krebsrisiken und ihr Management unmöglich. Weder Beratung noch Früherkennung können eine Krebserkrankung verhindern. Die Beratungspflicht stellt jedoch sicher, dass Bürger im Hinblick auf Krebsrisiken – also das, was ihnen geschehen könnte – »eigen-
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verantwortliche Entscheidungen« treffen. Hinterrücks können sie dann sowohl für die unnötige Biopsie als auch für den vielleicht spät erkannten Brustkrebs verantwortlich gemacht werden6. Nicht nur professionelle Berater, sondern auch digitale Berater fördern diese Responsibilisierung, also die Erzeugung und Zuweisung von Verantwortung. Nicht zufällig fördern Krankenkassen die Nutzung von Gesundheitsapps und Fitnesstrackern: Die Sensoren und Mini-Rechner bürden der Versicherten die Verantwortung für ihre Gesundheit auf; sie animieren die Versicherten, sich als Bündel aus Gesundheitsrisiken zu verstehen, das es mit Hilfe professioneller Anleitung zu managen gilt. Bisher soll diese Responsibilisierung qua digitaler Beratung lediglich zu gesundheitsbewusstem Verhalten mobilisieren, doch schon bald könnte sie auch handfeste Konsequenzen haben: Erste private Versicherungen haben bereits »Pay-as-you-live«-Tarife, also risikobezogene »personalisierte Versicherungen« eingeführt. Das heißt, jeder Versicherte soll sich nicht nur verantwortlich fühlen für seine Gesundheitsoptimierung, sondern zahlt auch selbst für seine Gesundheitsrisiken – die Versicherungsidee wird ad absurdum geführt. Während der Weimarer Republik war der Entscheidungsunterricht des Berufsberaters in erster Linie ein Instrument gewesen, die Berufswahl von Jugendlichen ohne Zwang und Gewalt an die Erfordernisse der Industriegesellschaft anzupassen. Das Ziel war klar: Der »richtige Mann« sollte an den »richtigen Platz«. Heute dagegen ist das Ziel des professionellen Entscheidungsunterrichtes nicht mehr so deutlich und explizit. Um die soziale Funktion des modernen Beratungswesens verstehen zu können, muss Beratung als Ritual analysiert werden, das vor allem symbolische Wirkung hat: Welche Entscheidung sie treffen, ob sie zum Beispiel die Option »vorgeburtlicher Test« oder die Option »kein Test« wählen, »Fortbildung« oder »Leiharbeit«, »vaginale Entbindung« oder »Kaiserschnitt«, ist zweitrangig. Wichtig dagegen ist die Tatsache, dass sie sich als »Entscheider« wahrnehmen und damit verantwortlich fühlen für das, was weiterhin mit ihnen geschieht. Den Beratenen wird also suggeriert, dass es an ihren eigenverantwortlichen Entscheidungen liegt, ob sie einen neuen Job bekommen, an Krebs erkranken oder ein behindertes Kind gebären. Je weniger Bürger ihre Lebenswelt gestalten können, und je weniger Politiker das ändern können, was krank macht – sei es der verstopfte und gefährliche Straßenverkehr, der wachsende Leistungsdruck oder die vergiftete Umwelt – desto mehr werden Bürger durch professionelle und
Beratung
digitale Beratung zur Eigenverantwortung angehalten, zur autonomen Anpassung an krankmachende Verhältnisse. Lassen wir uns also nicht mehr »verratlosen«, wie der Bremer Erziehungswissenschaftler Johannes Beck es so schön formuliert hat, sondern fangen wir an, den Rat tatsächlich wieder bei uns selbst zu suchen – ohne Beratungsexperten.
Anmerkungen 1 | Samerski, Silja: Die verrechnete Hoffnung, Von der selbstbestimmten Entscheidung durch genetische Beratung, Münster: Westfälisches Dampfboot, 2002. 2 | Samerski 2002, S. 230. 3 | www.forst.bayern.de/docs/partner-berat.html, 2001. 4 | Duttweiler, Stefanie: Beratung. In: Ulrich Bröckling, Susanne Krasmann und Thomas Lemke: Glossar der Gegenwart. Suhrkamp-Verlag Frankfurt 2004, S. 25. 5 | Koch, Lene und Svendsen, Mette N., 2005: Providing solutions, Defining Problems. The Imperative of Disease Prevention in Cancer Genetic Counselling, in: Social Science and Medicine 60, S. 823-832, S. 823. 6 | Samerski, Silja: Die Entscheidungsfalle. Wie genetische Aufklärung die Gesellschaft entmündigt. Darmstadt: WBG, 2010.
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Biografiearbeit Charlotte Jurk
Ich kann mich gut an den leichten Ärger erinnern, als ich auf der Pflegekurve meiner sterbenden Mutter Einzelheiten über unsere Familie fand. Dabei waren nur wenige biografische »Daten« erhoben worden – sie sei »Geschäftsfrau« gewesen, lebe nach dem Tod ihres Ehemannes mit einem neuen Partner zusammen und habe zwei Enkelkinder – und doch mochte ich dieses Persönliche nicht sehen auf dem Datenblatt neben Wundversorgung und Duschdauer. Wieso können das Leute lesen, die uns gar nicht kennen, die sich in keiner Weise für uns oder die Geschichte meiner Mutter interessieren? Nun, der Pflegedienst hatte die »Vorschriften« erfüllt. Biografische Daten dienen der »Arbeit« mit ihnen und dies gilt als ein »Qualitätsmerkmal« nicht nur in der Pflege alter Menschen. Von der Erfüllung solcher »Qualitätsmerkmale« hängt inzwischen die Finanzierung ganzer Institutionen ab. Meine Mutter lag ein halbes Jahr im Bett und wurde ambulant gepflegt, bevor sie starb. In dieser Zeit war sie verbunden mit ihrem »alten« Leben als zupackende, selbstbewusste – auch bestimmende Frau – aber mehr noch war sie es nicht. Denn ihre körperliche Hinfälligkeit und Schwäche, die abnehmende Kontrolle, die schwindenden Sinne – all dies waren ganz neue Herausforderungen, auf die sie überraschend gelassen reagierte. Nur eine der wechselnden Pflegerinnen konnte wirklich gut mit ihr, sie hat sie in ihrem So-sein irgendwie verstanden – ein glücklicher Zufall. Es spielte absolut keine Rolle, was meine Mutter früher einmal gemacht hatte, das, was sie preisgab in dieser existentiellen Situation reichte allemal für eine Berührung zwischen den beiden Frauen, die mir selbst fremd blieb. Was in der ambulanten Pflege an wenigen biografischen Daten erhoben wird, mag irritieren. Der Aufwand, der hier betrieben wird, ist nichts
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gegen die Pflicht der Lebensdokumentation in der stationären Altenpflege. Heime, die im Konkurrenzkampf mithalten wollen, sind angehalten und halten sich selbst an, Biografisches wesentlich umfassender zu erfragen und zu dokumentieren. Biografiearbeit gehört hier mittlerweile zu den Standards, die in der Pflegedokumentation erfüllt werden müssen. Heimaufsicht und der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) prüfen akribisch, ob »Biografie erhoben« worden ist. §80 Sozialgesetzbuch XI regelt die Pflicht der Einrichtungen, die Biografie zu dokumentieren. In der langen Liste der zu prüfenden Pflichten der Altenpflegerinnen, die der Medizinische Dienst der Krankenkassen regelmäßig begutachtet, findet sich »Biografie« neben »Stammdatenerfassung«, »Trink-/Bilanzierungsplan«, »Lagerungsplan« etc. unter 4.2.3 im »einheitlichen Pflegedokumentationssystem«. Als wäre die Biografie eben genauso ein Baustein wie »Verbandswechsel« oder »Toilettengang«. Etwas, das der Mensch so mit sich herumträgt, das zu kategorisieren und anzuordnen sei, für das eine festgelegte Zeit aufzubringen sei. In den Pflegestandards müssen 13 Punkte des AEDL (Aktivitäten und existenzielle Erfahrungen des Lebens1) abgearbeitet werden, damit das Heim eine qualitätsgerechte Versorgung nachweisen kann. »Biografie machen« heißt im Pflegealltag: Punkt 13 des AEDL muss ausgefüllt werden, sonst gibt’s Schwierigkeiten mit den Kontrollinstanzen. Eine Altenpflegerin schreibt im Internetblog: »Ich finde es schon wichtig etwas von Bewohnern zu erfahren/oder von den Angehörigen, man kriegt aber oft zu hören das ist ja ein ›AUSHORCHEN‹ und teilweise was da alles gefragt wird.«2 Kein Wunder, nehmen wir das Beispiel Senioren-Residenz Niederweiler: Abgefragt werden: »Kommunizieren, sich bewegen können, sich pflegen und kleiden können, ausscheiden können, essen und trinken können, ruhen und entspannen, eigene Sexualität leben, für Sicherheit sorgen, soziale Beziehungen, existentielle Erfahrungen« – ausgelassen wird nichts. Ein kleiner Einblick in den 8-seitigen Fragenkatalog: • »Wie wurde in der Lebensgemeinschaft kommuniziert? laut – leise – mit Mimik und Gestik – liebevoll – freundlich – taktlos – vertraut – barsch – aufgeregt • Wie war das Waschwasser? kalt – lauwarm – warm – heiß
Biografiearbeit
• Welche Muster wurden gern getragen? Streifen – kariert – Blumen – gepunktet – verschnörkelt – Motive: welche? • Gab es Toilettenrituale? Zeitung lesen beim Abführen – wenig Toilettenpapier benutzen (Kostenfaktor) – Rauchen beim Abführen – Rauchen vor/nach dem Abführen – Wasser laufen lassen, damit Urin besser läuft • Wurde häufig Alkohol konsumiert? nein – ja – welcher? • Wurde viel mit der Familie unternommen? nein – ja – was? – mit wem? • Wie wurde mit der Sexualität umgegangen? offen – eher distanziert – wurde nie thematisiert« etc. Mittels solch standardisierter Fragebögen, die sich in vielen Heimen finden, ist dann der Pflicht zur Erhebung von »Biografie« genüge getan. Punkt 13 der AEDL-Skala ist abgearbeitet. Beim nächsten Besuch der Heimaufsicht wird es keinen Punkteabzug geben. Wie ergeht es wohl Bewohnern und Angehörigen in Altenpflegeheimen, wenn sie aufgefordert werden, solch umfangreiche Daten zur Biografie zu liefern? Man mag im wahllos herausgegriffenen Vorgehen der Seniorenresidenz Niederweiler einen pragmatischen und unbeholfenen Umgang mit dem sehen, was im sozialen Bereich hohes Ansehen genießt. Denn tatsächlich verbinden Professionelle mit Biografiearbeit nicht in erster Linie die Ableistung eines Prüfkatalogs, sondern ein pädagogisches Instrument des Lernens. In der »aktivierenden« Pflege sollen Menschen angeleitet werden, »Erinnerungsarbeit« zu leisten. Unter professioneller Anleitung sollen »Stärkung autobiografischer Kompetenz«, »Bilanzierung von Lebensleistungen« und »Bewältigung des Älterwerdens«, »Identitätsbildung« und »persönliches Wachstum« gelernt werden. Biografiearbeit findet im Altenpflegeheim statt, aber auch in der Arbeit mit Jugendlichen oder psychisch kranken Menschen: Biografiearbeit hat ihren Siegeszug durch alle Bereiche sozialer Dienstleistungen angetreten3. Sie verspricht »ganz individuelle« Beschäftigung mit dem Patienten/Klienten oder Heimbewohner. Für den Pflegealltag erhofft man sich, dass die inzwischen kaum noch vorhandene Zeit für Gespräche vor den Geldgebern gerechtfertigt werden kann. Tatsächlich besteht der Glaube, nein, die Überzeugung bei Pflegerinnen, Sozialpädagogen oder Alltags-
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begleitern »Biografiearbeit« sei die Rettung menschlicher Zuwendung in den getakteten, beschleunigten und erkalteten Räumen des Sozialen. Die These sei hier gewagt, dass die im Konzept von Biografiearbeit verborgene Lehr- und Lernideologie vor allem darauf aus ist, den fremden Anderen, der oder die den Professionellen vor die Augen tritt, so rasch als möglich zu enträtseln. »Man muss dazu bereit sein, sich der Andersheit und Fremdheit des Anderen auszusetzen«, schreibt Byung Chul Han4. Und weiter: »Die Fremdheit ist heute insofern unerwünscht, als sie ein Hindernis für die Beschleunigung der Kreisläufe von Information und Kapital darstellt.«5 Das würde bedeuten, dass Biografiearbeit als Methode Zuwendung und echte Begegnung – im Sinne absichtloser Hinwendung, unvoreingenommener Wahrnehmung des Anderen – nicht ermöglicht, sondern systematisch verhindert. Tatsächlich ist es doch eine merkwürdige Vorstellung zu glauben, wenn man die Lebensdaten eines Menschen erfasse, wisse man etwas von seinem Gegenüber. Die Biografie eines Menschen enthüllt vor allem sein Geheimnis, weil stets mehr weggelassen als erzählt wird. Wie kommt es also zum Glauben, Biografie sei ein notwendiger »Produktionsfaktor« sozialer Dienstleistung? Ein Blick zurück in die Geschichte des Begriffes kann helfen, einen anderen Blick auf »Biografie« zu werfen – als ersten Schritt sozusagen, bevor die Expertinnen anfangen, allzu eifrig mit ihr zu »arbeiten«. Biografie ist im Wesentlichen eine Schöpfung des 19. Jahrhunderts. Bis von Biografie die Rede ist, herrscht der Lebenslauf (curriculum vitae), die Lebensgeschichte vor. Goethe nennt seine Lebensbeschreibung bezeichnenderweise »Dichtung und Wahrheit«, was nichts anderes bedeutet, als dass er die Erzählung eines Lebens letztlich für eine intendierte Fiktion hält: eine Mischung aus Erlebtem und Erfundenem, Geträumtem, Gedeutetem. In der Antike – und diese Vorstellung galt bis hinein in die Neuzeit – wird der Lebenslauf nicht linear, sondern zyklisch gedacht. Mittelalterliche Darstellungen zeigen noch das Lebensrad, dem jeder unterworfen ist: wie die Himmelskörper steigt der Mensch in seiner Lebenszeit auf zum Zenit seiner Kräfte, um dann wieder absteigend zum Ende des irdischen Daseins zu sinken. Anfang und Ende treffen sich und fließen in einem Punkt zusammen6. Der Mensch ist dann zu seiner Bestimmung gelangt.
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»Das Auf brechen des Lebenszyklus zur linearen Zeitgestalt entspricht dem Verlust des Bezuges auf eine kosmische Ordnung. Während eine zyklische Lebensbewegung ihren Sinn in sich tragen kann, kann und muss die lineare Entwicklung ihr Telos von außen beziehen.« 7 Einbindung in eine kosmische Ordnung, das meint das menschliche Verwoben-sein in Natur und Gottheiten, in geheime Rhythmen von großen himmlischen und kleinen irdischen Bewegungen, Verbindung mit den Ahnen und jenen, die folgen. »Die Annahme, dass die Welt aus einem Netz von Entsprechungen besteht, ist der Hintergrund, der Stoff, den alle Kulturen rund um das Mittelmeer voraussetzen.«8 Im christlichen Denken sind die Menschen gehalten in Gottes Hand. Kosmos, Natur und Mensch sind dem göttlichen Willen und seiner stets schöpferischen Kraft zu verdanken. Spätestens seit der Zeit der Aufklärung wendet sich diese abendländische Vorstellung. Gott ist tot und die Welt gehorcht dem Willen und der Planung des Menschen. Der Kosmos unterliegt den gleichen Naturgesetzen wie jedes andere Teilchen dieser Welt. Die kosmische Ordnung ist dem menschlichen Planungswillen gewichen. Die Zeit ist kein Kreislauf, sondern eine zielgerichtete Gerade in Richtung Zukunft. Und so gehen die Entwicklungstheorien ab dem 19. und insbesondere 20. Jahrhundert davon aus, dass der Mensch sich stetig steigern muss, dass das gelingende Leben im Fortschreiten bestehe. Der Ursprung des Begriffs »Karriere« liegt im Militärischen, gemeint ist damit die Folge von Rängen und Verwendungsformen, die der Einzelne durchlaufen kann. Eine Biografie zu haben, sie gar aufzuschreiben, das galt bis ins 18. Jahrhundert nichts. Lebensreflektionen wie die »Confessiones« des Augustinus (4. Jahrhundert), bestehen darin, die innere Welt als Gegensatz zur Äußeren zu bewahren und folgen gerade nicht einer linearen Entwicklung. Erst im 19. Jahrhundert beginnen die ersten Biografieschreiber mit steigendem Erfolg, das Leben berühmter Persönlichkeiten nachzuzeichnen. Dabei herrscht die Überzeugung, Geschichte und Schicksal der Person seien eben selbst gemacht. Ehrfurcht und Respekt vor den Lebensleistungen soll geweckt werden. Die heutige Flut von Biografien und Autobiografien (Amazon listet 204.171 in der Rubrik ›Bücher‹) zeugt vom Darstellungswillen gemachten Lebens. Hartmut Böhme geht davon aus, dass dieses Streben nach »Biografie« aus der Not des Individuums hervorgeht: es muss nun eine Biografie haben (wie vormals bedeutende Persönlichkeiten zupackten, aus eigener Kraft und Entschlossenheit sich ein Schicksal gemacht haben – Geschichte gemacht haben), weil vorgege-
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bene Lebensmuster von Natur, Kosmos oder Gesellschaft »zerschlagen« wurden. Geschichte ist in Einzelschicksale zerbrochen. Die Lebenserzählung wird zur Chronologie. »Es sind Erzählungen, die, des Themas und des Telos beraubt, zu bloßen linearen Folgen degenerieren. Die Chronologie als solche hält nur mühsam zusammen, was sonst als sinnlose Folge von Ereignissen, Schicksalsschlägen, Verwendungsformen auseinander fiele.«9 In Ermangelung einer Sinn-Erzählung greift das Individuum zur Chronologie und legt ungewollt damit Zeugnis vom Gelebt-Werden im Sinne eines leeren Abspulens des Zeitenlaufs ab. Welches Schulkind lernte heute nicht die entscheidende Bedeutung des »lückenlosen« Lebenslaufes, die Selbstdarstellung eines scheinbar zielgerichteten Karriere- und Berufsstrebens für sein eigenes Fortkommen zu benutzen? Die Normierung der Lebensläufe, die das Fortschreiten des Selbst dokumentieren sollen, ist so weit vorangeschritten, dass die Jungen es als ihre Pflicht sehen, im wirklichen Leben die Erfüllung des erwarteten und optimierten Werdegangs umzusetzen. Am »Selbst« muss gearbeitet werden, damit es aller Eigentümlichkeiten entkleidet wird und sich ins berufliche Anforderungsschema einpassen kann. In diesem Sinne wäre Lebenslauf als Biografie nichts weiter als ein humpelnder Ersatz für etwas, was einstmals eigensinnig »Person« genannt wurde. Der fortschreitende Lebensweg auf der breiten Straße des Erfolgs ohne Umwege, dieses selbst gemachte autonome Leben strebt – ja, wohin eigentlich? Auf ein Alter, in dem es – angewiesen auf Pflege – von sich selbst nichts mehr weiß? Vielleicht ist Biografiearbeit der Versuch einer Sinngebung des Sinnlosen. Der Versuch, »gelungenes Leben« zu produzieren, um die eigene Angst vor dem Vergehen und dem Vergessen zu bannen. Über die »Biografieforschung« findet sich ein weiterer Zugang zum Thema. Während der 1980er Jahre bildet sich eine sozialwissenschaftliche Forschung heraus, die zunächst einmal Stimmen hörbar machen will, die sonst ungehört bleiben. Das ›narrative Interview‹ befragt einfache Menschen zu ihren Alltagserfahrungen. Der akademischen Geschichtsschreibung aus Sicht der Mächtigen, diesem Blick von außen und oben, soll die Erfahrung des Alltags entgegengestellt werden. Geschichtsschreibung soll da verortet werden, wo sie hingehört: in die Mündlichkeit, die erlebte Wirklichkeit. Geschichte soll demokratisiert werden. Pierre Bourdieu stellt in einem Aufsatz 1986 kritisch fest, dass die Biografie in die Sozialwissenschaften eingewandert ist. »Die ›Lebensge-
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schichte‹ ist eine jener vertrauten Alltagsvorstellungen, die sich in das wissenschaftliche Universum hineingeschmuggelt haben; zunächst ohne Pauken und Trompeten bei den Ethnologen, dann in jüngerer Zeit und nicht ohne Getöse bei den Soziologen.« Und er macht sich Gedanken darüber, ob es überhaupt so etwas gibt wie eine konsistente Geschichte eines Lebens. Dahinter stehe die Vorstellung eines zielgerichteten Projekts. Ihm scheint das im Wesentlichen Konstrukt – Selbstpräsentation, die insbesondere dann zum Tragen kommt, wenn derjenige nach seiner Biografie befragt wird. »Alles spricht dafür, dass die Lebenserzählung umso mehr dazu neigt, sich dem offiziellen Modell der offiziellen Selbst-Präsentation anzunähern, je mehr man sich den offiziellen Fragen mittels offizieller Befragungen (deren Grenzfall die gerichtliche oder polizeiliche Befragung ist) nähert.«10 Der Befragte wird sich der Anstrengung der Selbstdarstellung, der Produktion seiner selbst, unterziehen. So meint Bourdieu, ohne die gleichzeitige Rekonstruktion des Raums, in dem die Lebensgeschichte spielt, sei sie in der sozialwissenschaftlichen Forschung als solche absurd. Sobald der Fragebogen herausgezogen wird, sobald das Interview bereits vorstrukturiert ist, sobald die Befragung einem Plan folgt, wird das Gegenüber zum Befragten, zu einer »offiziellen« Person. Solche Fragebogen-Interviews lassen sich hervorragend als Methode nutzen, erlauben sie doch die massenhafte Erfassung und den massenhaften Vergleich diverser Antworten, erlauben das Herausfiltern von Trends und Vorlieben. Jede Marktumfrage basiert genau auf diesem Verfahren. Das Problem, dass man nur das hört, was bereits vorher geplant und intendiert war, wird leichtherzig zur Seite geschoben und als »Wahrheit« erscheinen die ausgewerteten Datensätze. Der normative Charakter der oben genannten Fragebögen zur Biografie ist deutlich. Das Besondere eines Menschen ist durch vorstrukturierte Fragen und intendierte Antworten eliminiert. Ausgerechnet dies soll dazu dienen, sich dem unverwechselbaren Einzelnen zuzuwenden? Biografie also ist ein höchst zweifelhaftes Konstrukt, mit dem nun gearbeitet werden soll. Wie ist das zu verstehen? Wie gesagt: ganz pragmatisch dient der Nachweis von Biografiearbeit dazu, das Gespräch mit den »Bewohnern« als Arbeit zu verkaufen. Und doch ist zu fragen: Glauben die Erfinder der Biografiearbeit hier an eine Art archäologische Tätigkeit? Muss mittels Biografiearbeit etwas zutage gefördert werden, das nicht zutage liegt? Und was rechtfertigt diese »Enthüllungsarbeit«?
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In der Altenhilfe sieht man sich auf der »richtigen« Seite – Biografiearbeit soll das Wohlfühlen stärken. Biografiearbeit wird dabei heruntergebrochen zur Schaffung von altersgerechten »Milieus«. Immer mehr Menschen mit Demenz leben in Heimen und nun wird für sie entschieden – da sie dies ja angeblich selbst nicht mehr können – dass sie sich im Interieur ihrer Kindheit wohlfühlen. Alte Küchenschränke, Filmplakate von 1935, Musik von 1942 etc. In den neu gebauten, technisch hoch versierten Demenzstationen wird Tageslicht simuliert, das abends wie die Dämmerung schwächer zu werden beginnt. Aber auch an den Ausgängen wird es dunkler, damit die Menschen keine Lust verspüren, zur Ausgangstür zu gehen. Tapeten verschiedenster Muster können ganz nach individueller Vorliebe mittels Lasertechnik auf die Zimmerwände projiziert werden. Grundlage sind Erkenntnisse der erwähnten Biografieforschung, in der behauptet wird, die ersten 25 Jahre unseres Lebens seien die sogenannte »Prägungszeit« und in die kehrten wir als Demente wieder zurück. Biografiearbeit heißt hier: eine perfekte Scheinwelt inszenieren. Ausgerechnet auf den Vorrang der Sinne beruft man sich und baut dabei eine virtuelle Welt des Sinnenersatzes. »Im Zimmer eines ehemaligen Schreiners zum Beispiel erzeuge man zeitweise die Geräusche von Sägen, den Mittagsschlaf einer Naturfreundin untermalen Windrauschen und Vogelzwitschern.« Für acht Millionen Euro wurde ein Pflegeheim in Nürnberg für 96 demente Menschen umgebaut: Kreisförmige Flure, auf denen Menschen ziellos bis zu 30 km am Tag laufen und nie ankommen. »Treppen und Ausgangstüren, die als Fluchtwege nicht verschlossen werden dürfen, werden dunkel gestrichen, damit die Dementen, die es ins Licht zieht, sie kaum mehr wahrnehmen und unwillkürlich meiden.«11 Im Frankfurter Julie-Roger-Haus betritt man die Kulisse der 20er Jahre. Die Standuhr neben dem Klavier steht seit Jahren auf 12 Uhr. Sicherheit sollen die betagten Bewohner bekommen durch eine »vertraute Umgebung« oder was die Architekten solcher Stationen dafür halten. Hier ist Biografie zu der einen Generationenbiografie zusammengeschmolzen und wird nun das Schicksal einer jeden, die hier landet. Relativ unverhohlen werden solche Konzepte mit einer Entlastung des Personals gerechtfertigt. Die Bewohnerinnen seien ruhiger und zufriedener, das Personal weniger gestresst. Doch nicht nur dem ›Wohlfühlen‹ dient die biografische Methode in der Altenpflege. Sie soll Menschen vor ihrem Lebensende bilanzieren helfen. Als wäre das gelebte Leben als Kosten-Nutzenrechnung ein Gewinn …
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Wofür der ganze Aufwand? Der Mensch, der vor mir sitzt oder mir gegenüber, der ist seine Geschichte. Das meine ich doch wohl, wenn ich sage: Begegnung. Wenn ich Zeit habe und zuhören will, werde ich das erfahren, was dieser Mensch mir von sich sagen oder zeigen möchte. Respekt vor dem Anderen heißt Diskretion und Geheimnis zu achten. »Doch was ist aus der Kunst der Diskretion geworden, die einst die Individuen untereinander vor den gröbsten Unverschämtheiten der Selbstentblößung bewahrte? Diskretion wäre heute das zentrale Widerwort zu allem, was da läuft, sich äußert und outet. Man hat schnell vergessen, dass die bisher einzig würdige Form der ›Kommunikation‹ unter Menschen auf der Voraussetzung von Diskretion beruhte.«12 Dem fremden Anderen, der uns tagtäglich in den institutionellen »Hilfesystemen« begegnet, seine Fremdheit zu belassen, ihn gerade nicht ergründen, verbessern, bilanzieren, identifizieren zu wollen oder zu müssen – wie befreiend wäre das. Ganz im Sinne von Emanuel Lévinas, der weiß: einem Menschen begegnen heißt, »von einem Rätsel wachgehalten werden.«13
Anmerkungen 1 | AEDL: »1. Kommunizieren 2. Sich bewegen 3. Vitale Funktionen des Lebens aufrechterhalten 4. Sich Pflegen 5. Essen und Trinken 6. Ausscheiden 7. Sich kleiden 8. Ruhen und Schlafen 9. Sich beschäftigen 10. Sich als Mann oder Frau fühlen und verhalten 11. Für eine sichere Umgebung sorgen 12. Soziale Bereiche des Lebens sichern 13. Mit existentiellen Erfahrungen des Lebens umgehen.« (Vgl. http://www.pflegewiki.de/wiki/Aktivitäten_und_existenzielle_Er fahrungen_ des_Lebens) Dieses Konzept wurde von Monika Krohwinkel entwickelt und hat sich seit Anfang der 1990er Jahre in den meisten Heimen durchgesetzt. 2 | Ein Beitrag bei www.pflegeboard.de, letzter Zugriff 25.03.2016. 3 | In der Ausschreibung einer Coaching-Firma ist zu lesen: »Biografiearbeit richtet sich mittlerweile an Menschen aller Altersabschnitte. Wurde sie früher vorwiegend in der Altenarbeit eingesetzt, findet sie heute ihren Platz auch in der Jugendarbeit und vor allem im Bereich von Beratung und Coaching von Menschen im mittleren Lebensabschnitt.« (Vgl. http://www.biografiearbeit.de/was-istbiografiearbeit/biografiearbeit.htm) Biografiearbeit, Praxis für kreative Lebensgestaltung, Bochum. 4 | Han, Byung Chul: Die Austreibung des Anderen. Gesellschaft, Wahrnehmung und Kommunikation heute, Frankfurt a.M.: S. Fischer Verlage 2016, S. 86.
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5 | Ebd., S. 52. 6 | Wer mag und Gelegenheit hat, kann das gern z.B. an der Kathedrale St. Vigilio aus dem 12. Jahrhundert in Trento studieren. 7 | Böhme, Gernot: Lebensgestalt und Zeitgeschichte. In: Bios Heft 2, 1990. S. 138. 8 | Illich, Ivan: In den Flüssen nördlich der Zukunft. Letzte Gespräche über Religion und Gesellschaft mit David Caley, München: Beck 2006, S. 158. 9 | Ebd. 10 | Bourdieu, Pierre: Die biographische Illusion. Bios 1990 Heft 1. S. 79 – Die Zeitschrift Bios wurde 1988 gegründet. 11 | Zitate des Absatzes aus: Gispert, Laura; Grau, Benjamin: Demenzarchitektur – Zeit hat hier keine Bedeutung mehr. FAZ, 13.05.2012. 12 | Strauß, Botho: Der Plurimi-Faktor. Spiegel 31/13. S. 112. 13 | Lévinas, Emanuel: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg: Alber Verlag 1983, S. 120.
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Die Deutsche Gesellschaft für Care und Case Management beschreibt ihr Anliegen so: »Case Management ist eine Verfahrensweise in Humandiensten und ihrer Organisation zu dem Zweck, bedarfsentsprechend im Einzelfall eine nötige Unterstützung, Behandlung, Begleitung, Förderung und Versorgung von Menschen angemessen zu bewerkstelligen. Der Handlungsansatz ist zugleich ein Programm, nach dem Leistungsprozesse in einem System der Versorgung und in einzelnen Bereichen des Sozial- und Gesundheitswesens effektiv und effizient gesteuert werden können.« Und in einer Vorläuferdefinition (ab 2002) wird es weiter ausgeführt und endet: »… Ziel ist eine Qualitätsgewährleistung, die untrennbar verknüpft ist mit der Sicherung von Konsumentenrechten. Relevant im Case Management ist die Unterscheidung von Fallmanagement (Optimierung der Hilfe im konkreten Fall) und Systemmanagement (Optimierung der Versorgung im Zuständigkeitsbereich). Die Übergänge von Systemmanagement zum Care Management sind fließend« (Definition der Deutschen Gesellschaft für Care und Case Management). Krankenhäuser, Psychiatrien und große Pflegeheime sind komplexe, aber »gut geölte« Einrichtungen geworden, für den kranken Menschen oder den Heimbewohner, der auf die Hilfe dieser Institution angewiesen ist, kaum noch durchschaubar. Die Klagen der »Kunden« oder soll man im Sinne der oben beschriebenen Definition eher sagen, der »Konsumenten von entsprechenden Humandiensten«, sind sprichwörtlich: »Da geht es zu wie in einer Fabrik, da bist du nur eine Nummer«. Schön, wenn da endlich für eine bedarfsgerechte Behandlung und Begleitung des einzelnen Menschen gesorgt werden soll und die vielen vielleicht notwendigen Maßnahmen besser abgestimmt werden sollen. Und doch friert es den
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Leser bei der oben zitierten Definition. Die kalte und technokratische Beschreibung und eine Sprache, die man eher von Versicherungen kennt, lösen ein Frösteln aus. Entstanden ist das neue Berufsbild des Case Managers 1990 in den USA. Aufgaben der Case Manager waren vor allem die Belegungssteuerung (Planung von Aufnahmen und Entlassungen), Koordination von Diagnostik, Therapie und Pflege über Behandlungsstandards und -pfade im Hinblick auf bessere Effizienz der Leistungserbringung. Das Verfahren wurde in vielen Ländern Europas übernommen. Dabei wurde die Schwerpunktsetzung auf eine optimale Versorgung des einzelnen Patienten hervorgehoben. Die Sprache ist verdächtig. Immer häufiger begegnen wir im Gesundheitswesen und im Sozialbereich einer dem Zeitgeist geschuldeten Terminologie. Wir leben in einer Welt, in der das Leben in die Hand genommen werden muss, selbstbestimmt und autonom von der Wiege bis zur Bahre und in der man von Krankheiten, Krisen, Schicksalsschlägen nicht mehr heimgesucht oder vielleicht erfasst wird. »Gesundheit und Krankheit erscheinen uns immer weniger als Geschicke, als Fügungen, sondern immer mehr als Resultate unserer eigenen Handlungen, ja als Erzeugnisse unseres Willens.«1 Fitness, gesunde Ernährung, präventives Verhalten werden zur Bürgerpflicht, die von Krankenkassen finanziell unterstützt wird. Krankheiten werden dann folgerichtig zu lästigen Problemen, die gelöst werden müssen. Dafür braucht es Strategien und Konzepte. Die finden wir am ehesten bei den Eliten des eiligen Lebens, den Managern. Effizient müssen diese Lösungsstrategien sein, zielorientiert und möglichst reibungslose Abläufe garantieren. Susan Sontag hat in ihrem Essay »Krankheit als Metapher« eindrücklich beschrieben, wie verwendete Metaphern und ein entsprechender Sprachgebrauch unser Verständnis von Krankheit (und unser Selbstverständnis als betroffener kranker Mensch) ausgedrückt, dann aber auch geprägt haben. Sie hat die Bilder verglichen, die durch die gebräuchliche Metaphorik beim Umgang mit der Tuberkulose und der Krebserkrankung entstanden sind. Während die Tuberkulose zu einer fast romantischen und zur Vergeistigung führenden Erkrankung stilisiert wurde, hat sich im Umgang mit der Krebserkrankung eine militärische Sprache und eine Kriegsmetaphorik durchgesetzt: »Die kontrollierenden Metaphern in der Beschreibung von Krebs sind tatsächlich nicht der Ökonomie entlehnt, sondern der Sprache der Kriegsführung: Jeder Arzt und jeder be-
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mühte Patient ist mit dieser militärischen Terminologie vertraut, wenn nicht schon dagegen abgestumpft.«2 Von einsickernden Invasoren, die es auszumerzen und abzutöten gilt, von bösartigen Zellen, die mit Strahlen beschossen und vernichtet werden, von Kampf und Kreuzzug gegen den Krebs und so weiter ist da die Rede. Das war der gebräuchliche Umgang mit der Erkrankung, der häufig zu besinnungslosen Schlachten gegen den »bösartigen Feind« führte. Und die Metaphern klingen zuweilen auch über den Tod hinaus in Todesanzeigen nach: »Er hat den Kampf gegen die Krankheit verloren«. Sontags Anliegen war es, zum einen die mit einer solchen Metaphorik einhergehende Dämonisierung einer Krankheit zu demaskieren, zum andern aber deutlich zu machen, welche Wirkmächtigkeit im medizinischen Bereich in dem jeweiligen, kulturell geprägten Sprachgebrauch und seinen Metaphern liegt. Das war in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Mittlerweile hat sich ein Wandel vollzogen. Zwar finden wir, gerade im Umgang mit unheilbaren Erkrankungen, noch Reste dieser Kriegsmetaphorik. Von Painkillern ist da zuweilen die Rede, wenn es um starke Schmerzmittel geht. Doch insgesamt scheint der Sprachgebrauch sachlicher, neutraler und weniger emotional geworden zu sein. Aber zunehmend fällt uns ein anderer Sprachjargon, eine andere Metaphorik auf, die sich längst in der Medizin und den medizinischen Institutionen etabliert hat, eine Managersprache nämlich. Selbst in der Palliativmedizin redet man ganz selbstverständlich von Symptommanagement, von Schmerzmanagement und natürlich immer von Qualitätsmanagement. Hat man eine größere Wunde, die versorgt werden muss, kommt da, wo früher eine Krankenschwester die Wunde versorgt und verbunden hat, heute der Wundmanager – ein Spezialist, ausgerüstet mit einer stattlichen Zahl von Fort- und Weiterbildungen. Und über allem wacht der Case Manager. Die Selbstverpflichtung, immer eine passende Strategie zur Hand zu haben, wird von den Ärzten verinnerlicht und bringt zuweilen eigenartige Blüten hervor. Zitat aus dem abschließenden Krankenbericht der onkologischen Station einer deutschen Universitätsklinik, den der »austherapierte« Patient ins Hospiz mitbrachte: »… von einer weiteren chemotherapeutischen oder strahlentherapeutischen Behandlung haben wir dem Patienten abgeraten und uns für eine watch and wait Strategie entschieden.« Auch wenn man nicht mehr weiter weiß – Hauptsache, man hat eine Strategie!
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Was für ein Verständnis, was für eine Haltung steht hinter diesen Strategien und was drückt ein solcher Sprachgebrauch aus? Im Vergleich zur von Susan Sontag beschriebenen Kriegsmetaphorik fällt auf, dass in dieser noch viele Emotionen (Wut, Auflehnung gegen die Krankheit etc.) zum Ausdruck kamen, ein Ankämpfen gegen das als heimtückisch empfundene Schicksal. Die neue Managersprache dagegen ist vollkommen sachlich, neutral und unemotional. Gefühle oder Befindlichkeiten sind neutrale Tatbestände, Symptome allenfalls, aber sicher keine handlungsrelevanten Kategorien mehr. Eine fast unbegrenzte Verfügbarkeit wird suggeriert. Im Wikipedia-Eintrag vom 25.5.2016 zum Stichwort »Management«3 lesen wir: »Das Wort leitet sich ab von englisch manage ›handhaben, [mit etwas] zurechtkommen, etwas bewältigen, fertigbringen‹ und ›bewirtschaften, beaufsichtigen‹, dies von italienisch maneggiare ›an der Hand führen‹, zu lateinisch manus ›Hand‹; die englische Bedeutung wurde im 17./18. Jahrhundert durch französisch ménagement beeinflusst. Die etymologische Wurzel des Begriffs Management ist nicht vollständig geklärt. Als mögliche Stammbedeutungen kommen lateinisch manus agere ›an der Hand führen‹ oder mansionem agere ›das Haus (für den Eigentümer) bestellen, haushalten‹ in Frage. Die Verwendung im engeren Sinne ›etwas führen, leiten‹ ist eine Bedeutungsverengung des jungen deutschen Lehnwortes«. Managen heißt »handhaben«. Das heißt, die Krankheit wird handhabbar. »Wir haben für alles eine Lösung« heißt die heimliche Botschaft. Grenzen, Beschränkungen, Unsicherheiten sind keine (schicksalhaft) gegebenen Begleitumstände, sondern Fehler des Managements, die es zu verbessern gilt und an dem der Case Manager im Zweifelsfall noch arbeiten muss. Und überdeutlich wird: Es geht um die Koordination von Abläufen, um die Optimierung von Dienstleistungsprozessen in komplexen Institutionen, um Effizienz und Kosteneinsparung. Das bedeutet auch, handhabbar im oben genannten Sinne ist nicht mehr in erster Linie die Krankheit, sondern der Fall. Das System ist prozessorientiert, es geht um den Fall (Case). Das ist immer einer von vielen und die Personen sind austauschbar (der Patient genauso wie der Therapeut). Wenn Susan Sontag bei der Beschreibung der für die Tuberkulose und die Krebserkrankung gebräuchlichen Metaphorik noch auf die starke Psychologisierung hinweist, die hinter einem solchen Sprachgebrauch steht, könnte man heute von einer Industrialisierung sprechen, von der die aktuellen Bilder geprägt sind. Krankheiten werden offenbar als Fehler, als
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Störungen in einem geordneten Produktionsprozess verstanden, denen es mit komplexen, aus hochtechnisierten industriellen Produktionsprozessen entliehenen Strategien zu Leibe zu rücken gilt. Ein zunehmendes Unbehagen angesichts solcher Bilder ist unübersehbar. Immer mehr Menschen haben das Bedürfnis, sich abzusichern. Den Boom der Patientenverfügungen wertet Giovanni Maio als den Versuch vieler Menschen, sich davor zu bewahren in den Strudel der entmachtenden »Reparaturfabrik« Krankenhaus zu geraten und schreibt: »Offensichtlich liegt der so breiten Verwendung von Patientenverfügungen nicht zuletzt ein fehlendes Vertrauen in die Humanität der modernen Medizin zugrunde.«4 Und vielleicht auch ein fehlendes Vertrauen in eine von Gesundheitsmanagern dominierte medizinische Infrastruktur, möchte man hinzufügen. Der kritische Blick auf die oben beschriebenen Umstände wirft wieder die Frage nach unserem Verständnis von Krankheit und Gesundheit auf. Was bedeutet Krankheit für uns? Ist es eine komplizierte Funktionsstörung oder mehr und wie wollen wir behandelt werden? Brauchen wir eine fachkundige Behandlung von einem dafür ausgebildeten Spezialisten oder eine persönliche Therapie von einem Therapeuten unseres Vertrauens? Im oben geschilderten Managementsystem sind die Personen in aller Regel austauschbar. Die Therapie kann jeder Spezialist mit der dafür vorgesehenen Ausbildung übernehmen. Eine persönliche Zuständigkeit ist nicht mehr notwendig. Die alte Erkenntnis, dass ein wesentlicher Teil der Therapie in der anteilnehmenden Begegnung zwischen Therapeut und Patient geschieht, gerät aus dem Blickfeld. Kritiker dieser Entwicklung weisen darauf hin, dass die therapeutische Beziehung, die einst die ärztliche Heilkunst prägte, abgeschafft wurde und durch ein Vertragsverhältnis ersetzt ist. Krankheit als Krise verstanden, als ein Ereignis mit Wachstumspotential, vielleicht sogar als metaphysische Erschütterung eines Menschen, als ein Ereignis, in dem es um Identität und Sinnfindung geht und darum, »… dem Erleiden Raum zu geben«5, wirkt in einer solchen gut gemanagten Institution altmodisch und auf eigenartige Weise fremd und verloren. Dem geschilderten Unbehagen gegenüberzustehen scheint eine fast naive Faszination für komplizierte Technologien und das Knowhow für die Steuerung entsprechender Abläufe. Denen, die das beherrschen, traut man auch die Lösung der letzten noch offenen Fragen zu. Und wir richten es so ein, dass die großen existenziellen Fragen um Krankheit
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und Gesundheit, um biographische Krisen, um das Lebensende und den Lebenssinn zu Ereignissen werden, die mit Managementstrategien gelöst werden sollen. Wir verlieren dabei den Blick für die Einmaligkeit der Situation, die in der Begegnung mit einem kranken Menschen liegt. Maio fasst das aus dem ärztlichen Blickwinkel so zusammen: »Ein Grundproblem des oft zu beobachtenden Aktionismus in der modernen Medizin liegt daher in der unleugbaren Tatsache begründet, dass man durch den verhängten Kontrollimperativ, den man aus der Industrie entlehnt hat, den größten Teil der ärztlichen Leistung schlichtweg aus den Augen verliert.«6 Gerade im Bewusstsein für die Einmaligkeit der Situation und Begegnung liegt eine wesentliche Zusicherung für den kranken Menschen, wirklich individuell gesehen und behandelt zu werden.
Anmerkungen 1 | Maio, Giovanni: Medizin ohne Maß, Stuttgart: Trias 2014, S. 112. 2 | Sontag, Susan: Krankheit als Metapher, 3.Auflage, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuchverlag 2012, S. 56. 3 | https://de.wikipedia.org/wiki/Management, letzter Zugriff 22.11.2016. 4 | Maio, G.: a.a.O., S. 169. 5 | Ebd. 6 | Maio, Giovanni: Den kranken Menschen verstehen, Freiburg: Herder 2016, S. 17.
Coach Willibald Feinig
COACH (von englisch, ursprünglich ungarisch ›Kutsche(r)‹: Betreuer(in), Begleiter(in), Lehrer(in); [Sport: Trainer(in)]. Englisch: tutor, instructor. Französisch: consultant, mentor.
Zum zehnten, zwanzigsten, nein dreißigsten Mal stinkt die Küche, in der ganzen Wohnung riecht es nach Verbranntem, Rauch hängt unter der Decke, du reißt Fenster und Türen auf und klirrende Kälte stürzt herein, du lässt den eiernden Ventilator laufen. Wieder warst du aufgestanden, bevor der Wecker ging – sie schlief tief, mit offenem Mund, es stört dich nicht mehr, mit ihr willst du alt werden, hast Nüsse und Apfel zu den Haferflocken getan, die Herdplatte links vorn eingeschaltet (die kleine). Wieder hast du nur schnell die Zeitung geholt, wieder ist dir eingefallen, beim Schließen des Postfachs, dass der Biomüllkübel bei den Tonnen stehen geblieben ist, wieder hast du ihn im Hof gereinigt, schnell, mit dem Schlauch. Schon im Hof roch es nach Verbranntem, wieder einmal. Wieder einmal reißt du auch Klotür und -fenster auf. Die Herdplatte glüht. Während du den Inhalt des Topfs in den Müllkübel kratzst – wie schon oft, die Rosinen und Dattelstücke, kohlschwarz, lassen sich kaum lösen –, geht die Schlafzimmertür auf. Sie ist geschminkt, trägt das grüne Kostüm und das Beret, das sie sich zur Promotion des Jüngsten hat machen lassen, wirft die Handtasche über die Schulter, zieht den Griff des Rollkoffers aus, schließt die Tür, mit dem Schuh, bedacht. Der Koffer rollt über das Parkett, hält an: »Was du brauchst, ist ein Coach.« Die Räder holpern über die Schwelle, dann rattern sie über die Betonfugen im Hof. Das Tor schnappt ein. Die Straßenbahn kreischt. Du frierst im Morgenmantel, den Topf mit den schwarzen Müsliresten in der Hand.
Dienstleistung Marianne Gronemeyer
Im Evangelium des Johannes im 13. Kapitel findet sich eine Geschichte, die in den anderen Evangelien nicht erzählt wird. »Vor dem Passafest aber erkannte Jesus, daß seine Stunde gekommen war, daß er aus der Welt ginge zum Vater; und wie er die Seinen geliebt hatte, die in der Welt waren, so liebte er sie bis ans Ende. Und beim Abendessen […] da stand er vom Mahl auf, legte sein Obergewand ab und nahm einen Schurz und umgürtete sich. Danach goß er Wasser in ein Becken, fing an, den Jüngern die Füße zu waschen, und trocknete sie mit dem Schurz, mit dem er umgürtet war. Da kam er zu Simon Petrus; der sprach zu ihm: Herr, solltest du mir die Füße waschen? Jesus antwortete und sprach zu ihm: Was ich tue, das verstehst du jetzt nicht; du wirst es aber hernach erfahren. Da sprach Petrus zu ihm: Nimmermehr sollst du mir die Füße waschen! Jesus antwortete ihm: Wenn ich dich nicht wasche, so hast du kein Teil an mir. Spricht zu ihm Simon Petrus: Herr, nicht die Füße allein, sondern auch die Hände und das Haupt! […] Als er nun ihre Füße gewaschen hatte, nahm er seine Kleider und setzte sich wieder nieder und sprach zu ihnen: Wißt ihr, was ich euch getan habe? Ihr nennt mich Meister und Herr und sagt es mit Recht, denn ich bin’s auch. Wenn nun ich, euer Herr und Meister, euch die Füße gewaschen habe, so sollt auch ihr euch untereinander die Füße waschen. Ein Beispiel habe ich euch gegeben, damit ihr tut, wie ich euch getan habe. Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Der Knecht ist nicht größer als sein Herr und der Apostel nicht größer als der, der ihn gesandt hat.«
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Diese Geschichte scheint in einem Wörterbuchartikel über ›Dienstleistungen‹ ziemlich deplatziert. Es wäre sicherlich rasch Einhelligkeit darüber herzustellen, dass die ›Fußwaschung‹ – so die Überschrift über diesem Kapitel des Evangeliums – keine Dienstleistung ist. Und was Jesus seinen Jüngern tut, – oder sollte ich sagen: zumutet? – würde wohl niemand als das bezeichnen wollen, was im Branchenverzeichnis unter ›Fußpflege‹ firmiert. (Wenngleich beim allgemeinen Verfall des Sinnes für Bedeutung nicht einmal das ganz auszuschließen ist.) Die beiden Handlungen sind, obwohl sie äußerlich eine gewisse Ähnlichkeit haben mögen, ganz und gar unvergleichlich. Aber paradoxerweise offenbart ein Vergleich beider trotz oder gerade wegen ihrer Unvergleichbarkeit manches über das Wesen der Dienstleistung. Also: Was passiert da in dieser Tischgemeinde am Tag vor dem großen Fest, bei dem die Juden des Endes der Knechtschaft Israels in Ägypten gedenken? Es ist eine Situation letzten Ernstes, in der ein endgültiger Abschied bevorsteht. Jede Gebärde, jedes Wort während dieses Vorganges steht unter dem Vorzeichen dieses Abschieds und erhält von ihm seine Bedeutung. Die Fußwaschung ist in der Antike ein Ritus, der zur Gastfreundschaft gehört. Eine Geste der Ehrerbietung und Bewillkommnung, aber auch der rituellen Reinigung, die dem Gast gebührt und die den Sklaven oblag.1 Jesus setzt diesen Ritus, indem er ihn vollzieht, außer Kraft. Aus der gewohnheitsmäßigen Übung wird ein Dienst an ›den Seinen‹, dem jede Selbstverständlichkeit und Routine abgeht und der alle geltenden Regeln auf den Kopf stellt. Meine Irritation über diese Szene unterscheidet sich allerdings deutlich von der Befremdung des Petrus. Petrus will die Umkehrung der hierarchischen Ordnung, dass nämlich der Herr und Meister den Sklavendienst versieht, keinesfalls akzeptieren. Mich befremdet, mit welcher Klarheit und Entschiedenheit Jesus diese Hierarchie installiert, indem er sich Herr und Meister nennt und nennen lässt. Das ist für unsere an laue Demokratiebekenntnisse und an ein wohlfeiles Gleichheitspathos gewöhnten Ohren äußerst anstößig und vergeht sich scheinbar an der Ebenbürtigkeit der Tischgenossen. Aber wie hätte Jesus die hierarchische Ordnung außer Kraft setzen und wie hätte er seinen Jüngern »ein Beispiel geben« können, wenn er sich als ihr Herr und Meister verleugnet und sich mit ›den Seinen‹ gemein gemacht, auf eine Stufe gestellt hätte? Jesus tut, was ihm als dem Herrn und Meister
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zukommt, er sagt den Jüngern, was sie tun sollen. Jedoch fasst er diese Sollensforderung nicht in eine Regel oder in eine Norm, die ihnen Weisung gibt, wie ›man‹ sich untereinander zu verhalten habe, sondern in eine Geschichte, in eine Szene; er gibt ihnen ein ›Beispiel‹, an das sie sich erinnern können, wenn es nottut, und an dem sie eine Haltung finden können, die Rat schafft. Sein Dienst an den Jüngern besteht nicht so sehr in der Verrichtung einer niederen Tätigkeit selbst, nicht so sehr darin, was er faktisch tut, als in dem, was ihnen dieses Tun sagt. Nämlich, dass es keine geringen Tätigkeiten gibt, wenn sie dem Anderen zuliebe getan werden. Und die Ebenbürtigkeit der Jünger besteht nicht darin, dass sie ihm gleich sind, sondern darin, dass der Meister ihnen aufgibt, aber auch ohne Wenn und Aber zutraut, so zu handeln wie er, nämlich einander zu dienen. Was haben wir über den ›Dienst‹, durch diese Szene erfahren? Er ist umsonst. Er ist nichts, was man tut, sondern eine Gabe an eine oder mehrere bestimmte Personen in einer konkreten Situation. Er ist notwendig, in dem Sinn, dass er auf eine Not antwortet. Er ist nicht erniedrigend und nicht erhöhend, sondern im Gegenteil: Durch die Gabe und den Empfang des Dienstes bekommen die involvierten Personen Teil aneinander. Das heißt sie verbinden sich auf eine unverwechselbare Weise miteinander. Betrachten wir also die moderne Dienstleistung, die sich ja des Wortes ›Dienst‹ zur Beschreibung ihres Metiers bedient, im Lichte dieser Geschichte über einen von Jesus geleisteten Dienst, der aber gerade keine Dienstleistung ist. André Gorz stellt uns den Schuhputzer vor Augen, »der eine Dienstleistung verkauft, die seine Kunden ebenso in weniger Zeit selbst hätten verrichten können als in der Zeit, die sie auf ihrem Thron gegenüber einem zu ihren Füßen zusammengekrümmten Menschen verbringen. Sie bezahlen ihn nicht für den Nutzen seiner Arbeit, sondern für das Vergnügen, das sie dabei empfinden, sich bedienen zu lassen.«2 Mir kommt dieses Beispiel gelegen, weil es auch von den Füßen handelt und von ihrer Reinigung, wenn auch diesmal in beschuhtem Zustand. Die Füße gehören zu den gering geschätzten, dichterisch am wenigsten besungenen Körperteilen. Sie haben den Schmutz der Straße an sich, sind unrein. Dass sie uns den aufrechten Gang und das Stehvermögen bescheren, wird ihnen nicht hoch angerechnet.3 Die ihnen gewidmeten Tätigkeiten sind folglich gering geschätzt. Das bekommt der Schuhputzer zu spüren. Denn diese Geringschätzung seiner Dienstbotenarbeit4 bestimmt den
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Preis, den er dafür fordern kann, und das soziale Ansehen, das ihm dadurch zusteht, und das heißt: Sein Broterwerb macht, dass er arm und deklassiert zugleich ist. Und derjenige, der seinen Dienst einkauft, profitiert davon, dass er für eine Stunde geleisteter Arbeit das Fünf-, Zehn- oder Hundertfache des Mannes bekommt, dessen Arbeitskraft und Zeit er für einen lächerlichen Obulus kauft. Er kann sich obendrein – gleichsam als kostenlose Draufgabe – in einem gewissen Ansehen, einem Überlegenheits- und Machtgefühl sonnen. Nichts von dem, was der Handlung Jesu ihre Bedeutung verleiht, trifft auf die Dienstleistung des Schuhputzers zu: Sie ist nicht umsonst, sondern ein Tauschgeschäft, dessen Regeln er nicht bestimmen kann. Sie ist nicht notwendig, denn sie erfordert keine Fähigkeit, die dem Bedienten nicht zur Verfügung stünde. Der Schuhputzer kann seinem Arbeitgeber auch keine Lehre erteilen. Nicht einmal beschämen kann er ihn, denn das gesellschaftliche Ansehen, das dessen Kaufkraft genießt, gibt dem Käufer in jeder Hinsicht recht. Und schon gar nicht kann er ihm diesen Dienst als eine persönliche Zuwendung widmen, mit der das Machtgefälle infrage und die Verhältnisse auf den Kopf gestellt würden, denn die Situation ist durch das Dienstleistungsverhältnis und durch den kargen Lohn, den er einstreicht, eindeutig als eine niedere professionelle, also käufliche Tätigkeit definiert. Die Symbolkraft dieser Handlung kommt offenbar ausschließlich dem Bedienten zugute, er wird dadurch aufgewertet. Kommt hinzu, dass in der konsumistischen Gesellschaft die Fähigkeit, sich in möglichst vielen Verrichtungen vertreten zu lassen, viel mehr gilt, als die Fähigkeit, das Notwendige aus eigenen Kräften, also durch Erfindungsgabe, Geschicklichkeit, praktischen Sinn und Mühewaltung selbst zu tun. Der Schuhputzer kann sich drehen und wenden, wie er will, er wird es nicht zur Ebenbürtigkeit bringen können. Aber in dieser Ausweglosigkeit unterscheidet er sich noch einmal erheblich von jenen Schuhputzerjungen, die ich vor 50 Jahren auf einer Reise durch den Orient erlebte. Sie waren in aller Ärmlichkeit stolze Unternehmer, die mit ihrem Schuhputzkasten umherzogen und ihre Dienstleistung feilboten. Sie waren Könner, Artisten und konnten sich, sogar im Wortsinn, in ihrem Reinigungswerk, das sie mit Spucke, Armkraft und einem Minimum an Schuhwichse verrichteten, ›spiegeln‹, und das taten sie auch. Und sie konnten die angemaßte Überlegenheit ihrer Kunden ignorieren und deren Überheblichkeit verlachen, und auch das taten sie, wenn sie mit der Geste versteckt übertriebener Ehrerbietung ihren Lohn entgegennahmen.5
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Die niederen Dienstleistungen sind also keineswegs alle gleichermaßen entehrend und entwürdigend. Und trotzdem ist der zur Rechtfertigung schlechter Verhältnisse bemühte Satz: »Es kommt immer darauf an, was man daraus macht«, der jedem einzelnen die Schuld an seiner Misere aufhalst, zynisch. Keine Gesellschaft, schreibt Wendell Berry, kann auskommen ohne jene Dienste, die als ›Nigger-work‹ abqualifiziert werden. Sie sind notwendig, sie müssen getan werden; und in einigen Gesellschaften ist es gelungen, ihnen eine eigene Schönheit und Würde zu verleihen. Tatsächlich sei jemand, der diese Tätigkeiten nicht verrichten könne, nicht lebenstüchtig, unfähig, die Härten des Lebens zu bestehen. »Bevor aber diese notwendigen Tätigkeiten einer rassistischen Mentalität begegneten, konnte jemand, der sie verrichtete und sie gut machte, in ihnen seine Würdigung und Selbstanerkennung erfahren.«6 Es gibt demnach per se keine niederen Tätigkeiten. Zur Niedrigkeit müssen sie qua Apartheit erst verurteilt werden. Und es gibt an sich niemanden, der durch seine Arbeit erniedrigt wird, wenn es ihm ermöglicht ist, sie gut zu machen. Und genau das ist der springende Punkt. Die geringgeschätzten Dienstleistungen unserer Tage sind nicht nur nieder, weil sie nach Apartheitskriterien verteilt sind, sie sind es auch, weil sie das Potential, gut und schön gemacht werden zu können, mehr und mehr eingebüßt haben. Sie sind nur noch Teilfunktionen in großen maschinellen oder verfahrenstechnischen Prozessen, in denen es genau nicht ›darauf ankommt, was man daraus macht‹, sondern darauf, dass man nichts daraus macht, was dem Eigenwillen und dem Eigensinn des Akteurs entspringt, nichts, was die Serialität der Abläufe stören könnte. Sie sind tatsächlich nicht achtbar. Sie sind keine Handlungen, die gestaltet werden könnten, sondern schiere Handlangerei für den verfahrenstechnischen Komplex, während der orientalische Schuhputzer mit seiner Tätigkeit, wie bescheiden auch immer, ein Werk zustande bringen konnte. Es ist kein Zufall, dass man den Schuhputzer auf unseren Bahnhöfen oder wo sonst seine bevorzugten Wirkstätten waren, nicht mehr vorfindet. Und tatsächlich kann man sich im gehetzten Getriebe moderner Bahnhöfe ein solches Residuum der Langsamkeit nur noch als störend vorstellen. Der von André Gorz bemühte Schuhputzer mutet fast schon archaisch an. Er steht allerdings für viele niedere Tätigkeiten, die immer noch vorzugsweise von den Angehörigen »unterdrückter Klassen oder Völker«
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verrichtet werden. Den niedrigen Sozialstatus derjenigen, die in diesem Niedriglohnsektor arbeiten müssen, einer ihnen eigenen Minderwertigkeit zuzuschreiben, sei allerdings »schwieriger, wenn diese Abitur oder Hochschulabschlüsse haben.« 7 Nun ist aber nicht jede Dienstleistung eine ›Dienstbotenarbeit‹. Im modernen Dienstleistungswesen haben wir ganz andere Machtverhältnisse zu gewärtigen als in den alten und neuen Dienstbotenverhältnissen. Zunächst einmal ist festzuhalten, dass das Dienstleistungsgewerbe insgesamt zahlenmäßig einen enormen Aufschwung erfahren hat, während das produzierende Gewerbe geschrumpft und der primäre Sektor der Land-, Forst- und Fischereiwirtschaft nahezu verschwunden ist. Auf den Dienstleistungsbereich entfielen im Jahr 2015 in Deutschland 69 Prozent, auf das produzierende Gewerbe etwas über 30 Prozent der Bruttowertschöpfung, und der primäre Sektor erwirtschaftete davon nur 0,6 Prozent.8 Auf diesem Wirtschaftssektor ruhen also wesentlich die Wachstumshoffnungen der modernen Gesellschaften. Die dort arbeitenden modernen Dienstleister sind weder notwendigerweise arm noch deklassiert. Im Gegenteil, sie üben eine besondere Art von Herrschaft aus: eine nach Einkommensklassen gestufte, »entmündigende Expertenherrschaft«9. Vor den professionellen Dienstleistungen der Experten warnte Ivan Illich bereits in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts. In einer Zeit also, als gerade dem Dienstleistungssektor zugetraut wurde, einen Ausweg aus einem zunächst unlösbar scheinenden Dilemma zu weisen. In kurzer Folge erschienen gerade die schockierenden Berichte des Clubs of Rome über die »Grenzen des Wachstums«. Nach diesen warnenden Prognosen waren die unvermeidlich auf Wachstum angewiesenen industriellen Gesellschaften gleichzeitig durch eben dieses Wachstum in ihrem Bestand bedroht. Vom qualitativen Wachstum war auf einmal die Rede. Und der Dienstleistungssektor mit seinem geringen Rohstoff bedarf, schien ungestraft unlimitiert wachsen zu können. In diese Situation also trifft Illichs fundamentale Kritik der Dienstleistungsberufe und seine Warnung vor deren Ermächtigung und Expansion. »Die Experten«, schreibt er, »konnten erst dann ihre dominierende Stellung erreichen und ihre entmündigende Funktion ausüben, als die Menschen bereit waren, tatsächlich als Mangel zu empfinden, was der Experte ihnen als Bedürfnis dekretiert.«10 Keine menschliche Befindlichkeit, die unter diesen Umständen nicht zum Übelstand erklärt werden
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könnte. Immer neue Defizite lassen sich diagnostizieren und durch darauf spezialisierte Dienstleistungen scheinbar beheben; Dienstleistungen genau jener Spezialisten, die die Mißstände ›entdeckt‹ und als Problem ›erkannt‹ haben. »Die neuen Spezialisten kommen gern im Namen der Liebe daher und bieten irgendeine Form der Fürsorge an. […] Die Erzieher zum Beispiel schreiben der Gesellschaft heute vor, was gelernt werden soll, und erklären das, was früher außerhalb der Schule gelernt wurde, als nichtig. Der Ernährungswissenschaftler schreibt die ›richtige‹ Kost für den Säugling vor, der Psychiater verschreibt das ›richtige‹ Antidepressivum, und der Schulmeister – mit inzwischen unumschränkter Erziehungsgewalt – fühlt sich berechtigt, seine Methode zwischen dich und alles was du lernen willst, zu schieben. […] Die Ärzte hatten zwar immer bestimmt, was Krankheit ist und was nicht; heute aber bestimmt die dominierende Medizinzunft, welche Krankheiten die Gesellschaft tolerieren darf und welche nicht.«11 »Was einzig zählt, ist die Vollmacht des Experten, einen Menschen als Klienten oder Patienten zu definieren, die Bedürfnisse dieses Menschen zu bestimmen und ihm ein Rezept auszuhändigen, das seine neue gesellschaftliche Rolle definiert. Während die Höker und Hehler in alter Zeit verkauften, was andere verschenkten, maßen die modernen Experten sich an zu entscheiden, was verkauft werden muß und nicht verschenkt werden darf.«12 Die ›Klientelisierung‹ aller Gesellschaftsmitglieder ist das wachstumsgenerierende Geschäft der Experten. Aber Vorsicht: Der Begriff ist verräterisch. ›Klient‹ ist ein Begriff des alten römischen Rechts. Er bezeichnet einen Bürger niederen Standes, der einem Patrizier zu Diensten verpflichtet ist. Das taugt gut zur Entlarvung des Dienstleistungsschwindels. Nicht der Dienstleister dient dem Klienten, sondern umgekehrt, der Klient dient dem Dienstleister, der »gern im Namen der Liebe daherkommt.«13 Die Expansion der Dienstleistungsindustrie ist also keineswegs unbedenklich.
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Sie bewirkt dreierlei: • Sie bringt den Liebesdienst zugunsten der käuflichen Dienstleistung zum Verschwinden. • Sie schürt »die gierige Unersättlichkeit ihrer Opfer«.14 • Sie entfähigt die Menschen; und gerade darauf beruht ihr stetes Anwachsen und ihre Rechtfertigung. Denn anders als die Warenproduktion, die auf den »hedonistischen Konsumismus« (P.P. Pasolini) der Käufer zielt, ›reagiert‹ die Dienstleistungsproduktion scheinbar auf eine wachsende Hilflosigkeit der Menschen. Der Hedonismus ist immerhin kritisierbar, die Hilfsbedürftigkeit nicht.
Anmerkungen 1 | Manchmal verrichten die Frauen diesen Dienst. Penelope etwa wäscht dem als Bettler getarnten, heimkehrenden Odysseus die Füße. 2 | Gorz, André: Kritik der ökonomischen Vernunft, 2. Aufl., Berlin: Rotpunktverlag 1989, S. 200. 3 | Vgl. dazu: Jurk, Charlotte: Füße brauchen Boden – Boden braucht Füße, in: dies. und Gronemeyer, Reimer (Hg.): Bodenlos. Vom Verschwinden des Verlässlichen, Frankfurt: Brandes & Apsel 2011, S. 32ff. 4 | ›Dienstbotenarbeit‹ nennt Gorz »Leistungen, die keinen zusätzlichen Gebrauchswert schaffen und gleichwohl zu Erwerbszwecken verrichtet werden.« Ebd. 5 | Was Giorgio Agamben über das paulinische ›als-ob-nicht‹ schreibt, dass es möglich ist, ein Sklave auf eine Weise zu sein, als-ob-man-nicht-Sklave-wäre und sich damit der Definitionsmacht des scheinbar Mächtigen zu entziehen, das leuchtete in einigen dieser Schuhputzer auf. Vgl. Agamben, Giorgio: Die Zeit die bleibt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 39. 6 | »There are a number of crucial thruths, usually ignored, about what we have so long thought of as nigger work: it is necessary; no society can exist without some form of it; at times it has been done beautifully as in Japan[…]; a man who is incapable of it is less than a man, not likely to survive hardships that in the history of the human race are fairly normal; before it encountered the racist mentality the men who did such work and did it well considered themselves dignified by it.« Berry, Wendell: The Hidden Wound, zit. in Hoinacki, Lee: Letter to Theodore Kaczynski (known as Unabomber), May 22. 1996, p. 2. 7 | Gorz, A. a.a.O., S. 201.
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8 | http://de.statista.com/statistik/daten/studien/36846/umfrage/anteil-der-wirt schaftsbereiche-am-bruttoinlandsprodukt/ 9 | Illich, Ivan: Entmündigende Expertenherrschaft, in: ders. e.a.: Entmündigung durch Experten. Zur Kritik der Dienstleistungsberufe, Reinbek: Rowohlt 1979. 10 | Ebd. S. 20f. 11 | Illich, I. a.a.O., S. 14; 17; 19. 12 | Ebd. S. 15. 13 | Ebd. S. 14. 14 | Ebd. S. 7.
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Ehrenamt Schenken und Hinken – Gedanken zu einer schrägen Haltung des Ehrenamts Oliver Schultz
Ein ganz wesentlicher Aspekt des ehrenamtlichen Handelns scheint mir die wunderbare Bereitschaft zu sein, anderen Zuwendung und Zeit zu schenken. Schenken ist eine Handlung ohne Wiederkehr: Wenn ich jemandem etwas schenke, dann erhalte oder erwarte ich nicht zugleich etwas zurück. Das wäre kein Schenken sondern ein Tausch. Hinzu kommt die Freiwilligkeit. Das schenkende Tun ist ein Geschenk auch deshalb, weil ich es nicht tun muss. Nicht nur schenke ich jemandem etwas; nein, vor allem schenke ich es freiwillig. So wird die persönliche Haltung zur vorrangigen Quelle ehrenamtlichen Engagements1. Im Gegensatz dazu steht die Aufgabe, die ich zu tun verpflichtet bin. Ganz anders als in der Schenkung kann man in der »Aufgabe«, die einem offiziell zugewiesen ist, die Mühe hören, die sie darstellt, weil sie in Richtung auf etwas zu Erreichendes hin verrichtet werden muss, das höher gelegen ist als ich, das ich aber mit dem Gelingen der Aufgabe erreichen soll. Die Aufgabe ist an eine möglichst gelingende Anstrengung geknüpft, das Geschenk hingegen an ein Lassen. Ich muss nur loslassen, dann fällt mein Geschenk wie von selbst dem Adressaten der Schenkung zu. Wo die Aufgabe sich hinauf bemühen muss, begibt sich das Geschenk wie von selbst herab. Aufgabe und Geschenk stehen in gegensätzlichem Verhältnis zur Schwerkraft. Das spiegelt sich auch wider in der Verwandtschaft des Schenkens mit dem Einschenken. In diesem Sinne könnte man Schenken wie eine Hingabe verstehen, insofern ich in etwas einschenke, das niedriger gelegen ist als ich. Vielleicht ist der Akt des Schenkens, wenn einem vorüberkommenden Fremden zu trinken eingeschenkt wird, eine der Urformen
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humaner Gastlichkeit? Die frühchristlichen Hospize im Sinne von Herbergen (oder Schenken) waren in diesem Sinne Orte der Gastfreundschaft für vorbeikommende Wanderer. Aber bleiben wir einen Moment bei einer simplen praktischen Beobachtung zur Haltung des Einschenkens: Erst die schräge Haltung der Flasche ermöglicht dem Wein, sich mühelos in das Glas zu ergießen. Überraschenderweise stieß ich im etymologischen Wörterbuch unter dem Stichwort Schenken auch auf eine Verwandtschaft zum »Hinken«. Dort heißt es: »Zugrunde liegt die Wurzel (s)keng-: ›hinken; schief, schräg‹. Auszugehen ist von der Bedeutung ›einschenken, zu trinken geben‹ […] eigentl. ›das Gefäß schief halten‹.«2 In meiner künstlerischen Arbeit mit hochaltrigen und gebrechlichen Menschen mit Demenz begegne ich immer wieder Gebeugten, schwerfällig Gehenden, Schlurfenden, auch Hinkenden. Wenn ich sie abhole und zum Maltisch begleite, brauchen sie meine kraftvolle geduldige Unterstützung. Und sind nicht auch die Figuren und Linien, die sie dann in den von mir begleiteten Kunstgruppen hervorbringen, von einer ›hinkenden‹ Gangart? Sind sie nicht in ihren ›hinkenden‹ Lineaturen und Bildern am denkbar weitesten entfernt von dem, was eine professionelle künstlerische Arbeit sein soll? So weist das Hinken auf das Gegenteil des Gekonnten. ›Hinken‹ ist auf geradezu provozierende Weise nicht die Gangart der Profis. Gelangen wir also hinkend, langsam und holprig, zu einer ausdrücklich unprofessionellen Haltung des Schenkens – und des Ehrenamts? Um diese Frage zu beantworten will ich vorerst den hinteren Teil des Ehrenamtes betrachten, das Amt. Im Begriff und in der Geschichte des Amts selbst ist bereits ein ambivalenter Konflikt zwischen Freiwilligkeit und Professionalität verborgen. Unser heutiger Begriff »Amt« bezeichnet einen »Auftrag oder eine Tätigkeit, die stellvertretend für die Herrschaft in Rechtsprechung und Verwaltung ausgeübt wird, überhaupt eine von einem Höheren anvertraute Verrichtung.«3 Im Amt verwirklicht sich also ein hierarchisches Prinzip. Als Stellvertreter des Höheren wird der amtlich Befugte unweigerlich höher gestellt als der ohne Amt. Zugleich aber liegt der Ursprung des Amtes in seiner Orientierung am Gemeinwohl. So geht das bürokratisch klingende »officium« (Amt) auf das griechische »leitourgia« zurück, das eine Abgabe körperlicher oder dinglicher Art an das öffentliche Gemeinwesen bezeichnete. In seiner »Archäologie des Amtes« übersetzt Giorgio Agamben »leitourgia« entsprechend als »Dienstleistung«4. Was wir heute noch als Liturgie unserer Gottesdienste wiederfinden und was sich zum Amt
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entwickelt hat, geht auf das Glaubensgeschehen im frühen Christentum zurück. Agamben charakterisiert dieses als eine »Gemeinschaft, innerhalb deren keinerlei rechtliche Ordnung im eigentlichen Sinn möglich war. […] Die Christenheit hat nur dem Wort zu folgen, welches sie kraft innerer eigener Zustimmung als Gottes Wort anerkennt. […] Die Organisation der primitiven Gemeinschaft kann von daher nur charismatischer Art sein.«5 Was bedeutet charismatisch? Der Begriff bezeichnet die sogenannte »Gnadengabe«. Gemeint sind die verschiedenen ›Begabungen‹, zu denen sich die frühen Christen als unmittelbar von Gott sowohl befähigt als auch berufen sahen. ›Charisma‹ meint also ursprünglich nicht, wie heute üblich, die Auszeichnung einzelner Menschen, deren spezielle »Begabung« uns verleitet, sie als charismatisch in besonderer Weise anzuerkennen. Das ›Charisma‹ galt im Gegenteil als eine Gabe für alle und eine Befähigung aller, die der christlichen Urgemeinschaft zugehörten; sie war » alles in der Welt und die Welt selbst«6. Erhalt und Ausübung dieser Gaben sind eine direkt von Gott stammende Gnade. Der hierarchische Akt des ›Charismas‹ in dieser frühesten Form der leitourgia ist noch ganz und gar ein geheimnisvolles Geschehen – ein Mysterium.7 Agamben zeigt nun sehr detailliert, wie durch die Ausbildung des Priesteramtes die frühchristliche Gemeinschaft sich zunehmend zu einer von religiöser Dogmatik regulierten Organisation entwickelte.8 Dem Priester kommt dabei die Rolle des Experten zu. Seine Amtsbefugnis ist somit auch ein Instrument der Institutionalisierung einer Ordnung. Der ursprüngliche geheimnisvolle charismatische Kultus aller im Dienste eines Höheren wird nun den eigens dafür bestimmten Priestern zuerkannt. So nimmt die Geschichte des Amtes als eine Geschichte der Institutionalisierung und Professionalisierung ihren Verlauf: An die Stelle des gemeinschaftlichen Mysteriums der ›Gnadengabe‹ tritt das ›Ministerium‹, der lateinische Begriff für Dienstleistung. Um die professionalisierte Dienstleistung vom Schenken im Sinne einer schrägen Haltung abzugrenzen, möchte ich an die biblische Erzählung vom Samariter erinnern und wie Ivan Illich sie gedeutet hat. Auf die Frage eines Schriftgelehrten hin (»Wer ist mein Nächster?«) erzählt Christus, wie ein Mann überfallen wird und schwer verletzt in einem Graben am Wegesrand liegen bleibt. Nacheinander kommen ein Priester und ein Levit vorbei. Beide gehen an dem Verletzten vorüber. Schließlich kommt ein Samariter vorbei, also ein Angehöriger einer in der damaligen Hierarchie der Ethnien niedrig stehenden Volksgruppe. Er
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nimmt sich des Notleidenden an, versorgt ihn und verhilft ihm zu einer Unterkunft. Ivan Illich liest diese Erzählung im Sinne einer Überwindung des Üblichen.9 Da für den Priester als auch für den Leviten die Berührung des Verletzten Unreinheit bedeutet hätte, gehen sie an ihm vorüber. Aber auch dem Samariter war die Versorgung eines Juden aufgrund der bestehenden Hierarchie nicht erlaubt. Er war selbst zu ›unrein‹, als dass er einem Juden hätte Hilfe anbieten dürfen. An die Stelle solcher hierarchischer Verhaltensregeln tritt nun, so Illich, die »Antwort« dieses Samariters. Seine Antwort auf die Frage: »Wer ist mein Nächster?« wendet sich auf anarchische Weise ab vom Üblichen: »Mein Nächster ist der, den ich wähle, nicht der, den ich wählen muss.«10 Der Nächste »könne ein jeder sein«; »Keine Kategorie, weder Gesetz noch Brauchtum […] können bestimmen, wer dieser Nächste sein wird.«11 Die Zuwendung des Samariters sei »ein überreiches Geschenk, das aus freien Stücken denen gegeben wird, die es aus freien Stücken empfangen wollen.«12 Es gehe gerade nicht darum, die Nächstenliebe als geregeltes Verhalten einer Institution oder nur den dafür professionell Zuständigen zu überantworten. Der aus hierarchischer Sicht unwerte (›hinkende‹) Samariter ist jeder und jede. Die Frage nach dem Nächsten wird auch zur Frage nach dem Nächstliegenden: »Was kann ich tun? In diesem Augenblick, in diesem einzigartigen hic et nunc, hier und jetzt, in dem ich bin?«13 Seine Zuwendung schenkend ›hinkt‹ der Samariter über die herrschenden Gesetze hinweg. Die Kirche jedoch, so Illich, habe die Erzählung als Aufruf für eine generelle Nächstenliebe genutzt. So wurde der gute Samariter zur Gründungsfigur organisierter Gastlichkeit. Im Zuge der historischen offiziellen Anerkennung der Kirche erhielten deren Vertreter (Amtsinhaber) die »Macht, soziale Körperschaften zu gründen. Und die ersten Körperschaften, die sie gründeten, waren Samariter-Vereinigungen, die bestimmte Kategorien von Leuten zu bevorzugten Nächsten auserwählten. […] Fürsorge war nicht länger die freie Entscheidung des Hausherrn, sondern Aufgabe einer Institution.«14 Aus dem ursprünglich charismatischen Geschenk der Nächstenliebe war eine Verteilungsaufgabe geworden. Und hic et nunc? Die heutigen Hospize gehen ganz auf das Engagement individueller Bürgerinnen und Bürger zurück. Der Erfolg dieser Bewegung (es engagierten sich vorwiegend Frauen) führte zu einer zunehmenden Optimierung, die sich als Institutionalisierung und Professionalisierung ausdrückt: »Was vor 25, 20, oft noch vor wenigen Jahren Pionierarbeit
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war, ist mittlerweile zu einem Berufsfeld mit guten Karriereaussichten geworden.«15 »Insgesamt setzte bereits in den 90er Jahren eine ›Professionalisierungsdynamik‹ ein […]. Als Folge dieser Welle droht ›das Ehrenamt‹ an den Rand gedrängt zu werden; Sterben scheint einem Expertokratisierungssog (Medizinalisierung) zu unterliegen.«16 Angesichts dieser Entwicklung sind viele Ehrenamtliche und Engagierte besorgt um ihre künftige Rolle in den Hospizen: Die »Stoßseufzer einer Ehrenamtlichen«17 beklagen eine zunehmende Bürokratisierung und Verwaltung; dass die verbesserte ökonomische Ausstattung der Hospize »Begehrlichkeiten und Konkurrenz« schaffe; dass von hauptamtlicher Seite der Vorwurf geäußert werde, Ehrenamtliche besäßen »keine ausreichende Professionalität«; dass Ehrenamtliche »zu ›Helfern‹ der Professionellen ›degradiert‹« würden.18 Die Idee des hinkenden Schenkens erweist sich auf diesem Hintergrund mehr und mehr als eine ›schräge‹ Haltung und insofern als geradezu notwendige Abweichung vom Regulären (als das einer Richtschnur gemäße, das Geradlinige, Ausgeglichene19). Das Schräge wie auch das Hinkende des Schenkens folgen auch nicht dem Optimierungs- und Gelingensduktus der Professionalität. Das Schenken hat ein anarchisches Potenzial, gerade weil seine schräge und hinkende Haltung nicht zur Übernahme eines regulierten und regulierenden Amtes qualifiziert. Vielleicht ist ja der Gedanke reizvoll – und nicht länger in hierarchischer Tradition ›degradierend‹ –, als Ehrenamtliche gerade nicht in Konkurrenz mit der Professionalität der Hauptamtlichen zu gehen, sondern statt dessen sich auf eine ureigene Haltung zu besinnen, wie sie in der Geschichte des Schenkens und der Gabe verborgen sind. Hinkend und schenkend blieben die Ehrenamtlichen von aller effizienten Professionalität uneinholbar.
Anmerkungen 1 | Die zentrale Bedeutung der Haltung spiegelt sich wider; »Hospiz ist Haltung« lautet der Titel eines Handbuchs rund um Fragen zum Ehrenamt. 2 | S. Etymologisches Wörterbuch, Leipzig: Akademie 1984, S. 15. 3 | Ritter, Joachim (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 1 A-C, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1971, S. 212. 4 | Agamben, Giorgio: Opus Dei. Archäologie des Amtes, Frankfurt a.M.: Fischer 2013, S. 7.
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5 | Agamben a.a.O., S. 26. 6 | Ritter (Hg.): Bd 1 A-C, 1971, S. 996-998. 7 | Vgl. Agamben a.a.O., S. 38. 8 | Vgl. Agamben a.a.O., S. 26ff. Agamben widmet sich vorrangig der Entwicklung einer »Ontologie des Gebots« (S. 187); die Entstehung des Priesteramtes ist dabei nur einer von mehreren Aspekten. 9 | Illich, Ivan: In den Flüssen nördlich der Zukunft. Letzte Gespräche über Religion und Gesellschaft mit David Cayley, München: Beck 1971, S. 74-76. 10 | Ebd. S. 75. 11 | Ebd. S. 52. 12 | Ebd. S. 76. 13 | Ebd. S. 248. 14 | Ebd. S. 78. 15 | Heller, Andreas; Pleschberger, Sabine; Fink, Michaela; Gronemeyer, Reimer (Hg.): Die Geschichte der Hospizbewegung in Deutschland, Ludwigsburg: der hospiz verlag, 2012, S. 15. 16 | Ebd. S. 335. 17 | So der Untertitel des Beitrags von Marie Luise Bödiker in: Bödiker, Marie Luise; Graf, Gerda; Schmidbauer, Horst (Hg.): Hospiz ist Haltung. Kurshandbuch Ehrenamt, Ludwigsburg: Hospiz Verlag 2011, S. 41-43. 18 | Ebd. S. 53. 19 | S. Etymologisches Wörterbuch a.a.O.
Hilfebedarf Marianne Gronemeyer
Die meisten Substantive unserer Sprache dienen dazu, ein Etwas zu bezeichnen, das zuvor aus seiner Verbundenheit herausgelöst, vereinzelt wurde, so dass wir nun einen Begriff von einer isolierten, umgrenzten Entität haben, über die wir uns miteinander verständigen können. Begriffe sind also meistens disruptiv, sie zerstören Zusammenhang und Zusammenhalt, sie sind im Wortsinn Zerreißproben. Eine Rose ist eine Rose, ist eine Rose … mag sie auch an einem alten Rosenstock im Kirchgarten blühen, und eine Hand ist eine Hand, mag auch ihr Wesen gerade in ihrer komplementären Zweisamkeit bestehen. Es gibt aber Wörter, die ganz anders geartet sind. Sie beschreiben ein Verhältnis, eine ›Konstellation‹, stiften also Verbindungen, statt sie zu zerschneiden. ›Konstellation‹ kommt aus dem Lateinischen und ist eine Kombination aus ›cum‹ = ›zusammen mit‹ und ›stella‹ = ›Stern‹. ›Konstellation‹ bezeichnet also die »Stellung der Gestirne«, die umeinanderkreisen und deren Wesen sich gerade in ihrer Bezogenheit aufeinander offenbart. Eine solche Verhältnisbestimmung ist auch das Substantiv ›Hilfe‹. ›Hilfe‹ ist ihrem Wesen nach konvivial. Sie bezeichnet nicht einen Gegenstand oder eine Tatsache, sondern ein Zusammenspiel zwischen mindestens Zweien, die aufeinander bezogen agieren. Deren Bezüglichkeit würde ich lieber als ›Figuration‹ denn als ›Konstellation‹ beschreiben. Denn der Akt der Hilfe folgt ja nicht einer vorgegebenen Ordnung, sondern muss, der besonderen Notlage und den vorhandenen Kräften entsprechend, immer neu ausbalanciert werden. Helfer und Hilferufer müssen gleichsam aufeinander einschwingen, so dass das, was zwischen ihnen geschieht, eher einem Tanz ähnelt als dem ewigen Wandeln der Sterne. Dieser Vergleich ist befremdlich, nicht nur weil die Situation, in der Hilfe vonnöten ist, so gar nichts von der schwebenden Leichtigkeit des
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Tanzes hat, sondern auch, weil wir zweifellos beiden Tänzern zubilligen würden, dass sie hoch aktiv sind, auch wenn der eine führt und die andere geführt wird. Wenn wir aber an Hilfe denken, unterstellen wir ganz selbstverständlich, dass die ganze Aktivität bei den Helfern und die ganze Passivität bei den Hilfsbedürftigen liegt. Die einen ›produzieren‹ Hilfe, die andern ›konsumieren‹ sie. Die einen sind ihrer bedürftig, und die anderen teilen sie aus. Ganz selbstverständlich assoziieren wir mit ›Hilfe‹ ein hierarchisches Gefälle zwischen Starken und Schwachen, zwischen Gebenden und Nehmenden, Rettern und zu Rettenden, zwischen Rufern und Gerufenen und nicht ein Miteinander von Ebenbürtigen. Diese Vorstellung hat eine Geschichte. Anfangs war es geradezu umgekehrt. ›Hilfe‹ ist ja in unserer Sprache nicht nur ein Wort, sondern auch ein Schrei: »Hilfe!!!« So wie ›Feuer‹ auch einen ganz anderen Sinn annimmt, wenn es zu »Feuer!« wird. Plötzlich können wir den Befehlston hören. Der Rufer jammert nicht, er befiehlt. Eugen Rosenstock-Huessy hat darauf aufmerksam gemacht, dass die ersten sprachlichen Äußerungen der Menschheitsgeschichte Befehle sind: »Komm her!« – »Pack an!« – »Halt fest!« – »Lass los!«. Wir spüren: Die ganze Initiative der Handlung liegt bei dem, der Hilfe, Beistand, Unterstützung braucht. Während der, der Beistand leistet, gehorcht und sich dem Rufer und dessen Absichten unterordnet, ohne dabei allerdings klein und mickerig zu werden, da ja er es ist, der der Hilfestellung mächtig ist. Die Tatsache, dass er Hilfe erhält, untergräbt andererseits die Autorität des Rufers nicht, sondern stärkt sie, sofern der Gerufene tut, wozu er auf- oder angefordert ist. Die Position beider ist so ambivalent, dass sich ein unablässiger Rollenwechsel zwischen Anweisung und Angewiesenheit, zwischen Geben und Empfangen, zwischen Hilfe bekommen und Hilfe leisten vollzieht. 1 ›Hilfe‹ ist eine Figuration, in der sich beider Kräfte zu einem geteilten Miteinander, zu einem wechselseitig sich ergänzenden Tun und Lassen vereinen. SOS ist der Inbegriff eines Notrufs. Er war fast hundert Jahre vom Beginn bis zum Ende des 20. Jahrhunderts in Geltung, wurde von allen, die er anging, verstanden und mobilisierte bei jenen, die den Umständen nach zu helfen in der Lage waren, wie selbstverständlich die Bereitschaft, es auch zu tun und sogar Selbstgefährdung in Kauf zu nehmen. Er wurde mit einem Morsezeichen, dreimal kurz, dreimal lang und wieder dreimal kurz von dem in Seenot geratenen, manövrierunfähigen oder leck geschlagenen Schiff abgesetzt und galt jenen Schiffsmannschaften, die in der Nähe des havarierten Schiffes auf dem Meer unterwegs waren. Im
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Laufe ihrer Geschichte wurde diese Nothilfe immer weiter durchorganisiert, verrechtlicht, zentralisiert und technisch perfektioniert, aber ein paar charakteristische Prinzipien, die ihr aus der Anfangszeit innewohnten, blieben doch erhalten: • SOS signalisiert eine ernste Gefahr für Leib und Leben. Den Seenotruf leichtfertig oder vorschnell auszusenden, wäre ein grober Verstoß gegen die ungeschriebenen Gesetze des Meeres gewesen, weil das die fraglose Bereitschaft zu helfen unterminiert hätte. Damit das ›SOS-Signal‹ seine Wirkung tun kann, muss zwischen den Rufern einerseits und den zu Hilfe Gerufenen andererseits ein Verhältnis gegenseitiger Verantwortlichkeit und gegenseitigen Vertrauens unterstellt werden können. Weder darf die Hilfsbereitschaft in das schiere Belieben der Helfer gestellt werden, noch der Hilferuf der Willkür der Hilfesuchenden überlassen sein, damit die Selbstverständlichkeit der Hilfe nicht Schaden nimmt. • Es sind die in Not Geratenen selbst, die ihre Situation als bedrohlich, ja lebensgefährlich erfahren und deshalb um Hilfe rufen. Niemand sonst entscheidet, ob sie Hilfe brauchen oder nicht. So sind sie trotz ihrer Bedrängnis in gewissem Sinne souverän. Wenn sie Hilfe anfordern, tun sie es in dem Bewusstsein, dass sie im umgekehrten Fall ihrerseits um gefährdeter Anderer willen ›den eigenen Kurs verlassen‹2 und sich selbst in Gefahr begeben würden. Es entsteht also zwischen denen, die Hilfe gewähren, und denen, die sie benötigen, kein Machtgefälle. Die Ebenbürtigkeit zwischen den Rettern und den zu Rettenden wird nicht in Frage gestellt. Ja, die akute Gefahr, der die einen wie die anderen nun ausgesetzt sind, lässt sie sogar wechselseitig aufeinander angewiesen sein. Wohlgemerkt: Seenothilfe war von Anfang an organisierte Hilfe im großen Stil. Sie war nicht der ungeplante, augenblickliche, spontane und erbarmungsvolle Beistand in Not, wie wir ihn aus der Geschichte des barmherzigen Samariters oder des Heiligen Martin kennen, jenen beiden Urgeschichten des Helfens, in denen ein Schwacher einen Starken durch den Anblick seiner Not dazu bestimmt, sich seiner anzunehmen. Es ist schwer vorstellbar, wie eine Gesellschaft ihren Zusammenhalt ohne solche Solidar- und Gefahrengemeinschaften wie freiwillige Feuerwehr, Krankenkassen, Zünfte und Innungen (die Vorläufer der
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Gewerkschaften), Bergwacht und die verschiedenen Samariterbünde gewährleisten könnte. Mit Sorge muss man ihren Niedergang durch Bürokratisierung und ihre Anpassung an die Logik des Marktes und die Ideologie des ›Rette sich wer kann‹ beobachten, die ein untrügliches Indiz für den gesellschaftlichen Zerfall sind. Es ist erschreckend zu sehen, wie weit die Perversion der Seenothilfe inzwischen gediehen ist. Küstenwacht heißt nicht mehr, dass über diejenigen, die auf gefahrvoller Reise über das Meer kommen, gewacht wird, sondern viel eher, dass die Küsten vor ihnen bewacht werden. Und die Schiffsmannschaften, die nach alter Tradition den Ertrinkenden vor Italiens Küsten zu Hilfe eilten, mussten nach eigenem Bekunden fürchten, dass sie wegen Beihilfe zur illegalen Einwanderung belangt würden. Sie hatten aber noch offene Ohren für den Notruf: SOS, »Save our Souls«3 und nahmen die Selbstgefährdung auf sich. Eine ganz andere Gefährdung allerdings als die, die vom Sturm und vom tosenden Meer ausgeht. Die Nothilfe solcher Gefahrengemeinschaften ist eigentümlich ambivalent. Sie ist eine kunstvolle Kombination aus Freiwilligkeit und Pflicht. Sie wird einerseits aus freien Stücken geleistet, aber die Helfer können sich ihr andererseits doch nicht entziehen. Und die, die in ›Gefahr und großer Not‹ sind, haben einerseits ein Anrecht auf sie, aber sie können sie andererseits doch nicht einklagen. In dieser Nothilfe fällt auf Seiten der Helfer ein Wollen, das nicht ganz freiwillig ist, mit einem Sollen, das nicht nur befohlen ist, zusammen. Und genau dies ist die Bedingung dafür, dass ein Verhältnis auf Gegenseitigkeit entstehen kann, das auf einem fragilen Gleichgewicht gegenseitigen Respekts gründet. Im Verständnis von ›Hilfe‹ hat sich ein einschneidender Wandel vollzogen, der das Wort und die zugehörige Praxis bis zur Unkenntlichkeit entstellt hat. In der Geschichte dieses Wandels lassen sich mehrere Stationen, ja, Brüche ausmachen. Eine erste tiefgreifende Sinnentstellung ergibt sich, wenn der ›Hilferuf‹ zu einem ›Hilfebedürfnis‹ umdeklariert wird. Ich fürchte allerdings, dass wir für diesen Unterschied schon kaum noch hellhörig genug sind, ebenso wenig wie für den zwischen ›Hilfe brauchen‹ und ›hilfsbedürftig sein‹. Das Wort ›-bedürfnis‹ oder ›bedürftig‹ hat es in sich; es steckt unüberhörbar das Wort ›dürfen‹ darin. Wer hilfsbedürftig ist, kriegt bestenfalls das, was er wollen darf, die Hilfe nämlich, die für den ›Fall‹, den er oder sie repräsentiert, vorgesehen ist. Darüber hinaus muss er gewärtig sein, dass ›Hilfe‹ eine ›knappe Ressource‹ ist, die, wiederum bestenfalls,
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gerade eben für diejenigen reicht, die wirklich bedürftig sind. Das heißt: bevor mir ›Hilfe‹ gewährt wird, muss ich meine Bedürftigkeit nachweisen. Ich muss akzeptieren, dass ich verdächtig bin, verdächtig, mir Hilfe erschleichen zu wollen: Und ich muss deshalb akzeptieren, dass meine Verhältnisse durchleuchtet werden. Anders der Hilferufer: er verliert dadurch, dass er Hilfe sucht, seine Autonomie nicht, wie verzweifelt immer er auf Beistand angewiesen sein mag. Die Hilfe, die ich brauche, ist allemal eine andere als die, derer ich bedürftig bin. Sie ist weder knapp, noch ihrer Art nach bestimmt, im Gegenteil: sie ist einerseits überreichlich vorhanden und kommt andererseits in unzähligen Variationen vor. Es gibt so viele Hilfen, wie es Menschen gibt, die sie zu geben bereit sind, und das sind immer noch viele, wie sich z.B. jüngst an der großen Bereitschaft, sich um die Flüchtlinge zu kümmern, zeigte. Und die Antworten auf einen Hilferuf können unendlich verschieden ausfallen und auf ebenso verschiedene Art und Weise hilfreich sein. Ja sogar das Leid des Hilfesuchenden wird sich ändern je nachdem, welche Hilfe ihm zuteil wird. Schmerz und Leid, Not und Gefahr können nie auf nur eine vorgezeichnete, nämlich richtige, Weise gebannt, gelindert oder erträglich gemacht werden und das heißt: helfen kann jeder, auf eben die Art, die ihm oder ihr möglich und gemäß ist. Dem Hilfsbedürftigen dagegen wird überhaupt nicht geholfen in einem tätigen Sinne, er kriegt bestenfalls Hilfe, das heißt, ihm wird ein verdinglichtes Hilfsmittel, sei es ein warenförmiges Produkt, sei es eine ebenso warenförmige Dienstleistung, zugeteilt. Zwischen dem Hilfsbedürftigen und der Instanz, die Hilfe gewährt, entsteht zwangsläufig ein Machtverhältnis. Wer über die Befriedigungsmittel verfügt, die der andere benötigt, kann die Bedingungen der Zuteilung diktieren. Die dunkle Seite der Hilfsbedürftigkeit erschöpft sich jedoch nicht in diesem Machtgefälle. Das eigentlich Tückische an ihr ist, dass sie nicht einfach durch unglückliche Umstände entsteht, sondern plan- und absichtsvoll, also systematisch hergestellt wird und zwar von genau den gesellschaftlichen Instanzen, die Abhilfe versprechen. Hilfsbedürftig wird man nicht auf dieselbe Weise, wie man in Not gerät. Zum Hilfsbedürftigen wird man durch expertokratische Diagnose ernannt, um nicht zu sagen, verurteilt. Auf eigene Faust kann man es nicht werden. Immer neue Defizite werden an Menschen entdeckt. Hilfe ist also nicht mehr Hilfe in Not, sondern Hilfe zur Beseitigung eines festgestellten Defizits, einer für pathologisch erklärten Abweichung von der verordneten Normalität.
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Die Diagnose von Experten, nicht der Hilferuf einer Person entscheidet darüber, ob jemand hilfsbedürftig ist oder nicht. In einer hochtourigen Leistungsgesellschaft, die sich ständig selbst überholt, als hilfsbedürftig etikettiert zu sein, ist kein leichtes Schicksal. Es ist beschämend, stigmatisierend und deklassierend. In guten Zeiten, in Zeiten der Vollbeschäftigung und des Prosperierens konnte man es sich leisten, den Schwachen und Randständigen die Scham, als Bittsteller bloßgestellt zu sein, zu ersparen. Ihre ›Hilfsbedürftigkeit‹ wurde zur ›Anspruchsberechtigung‹ geadelt. Was vordem als eine Art Zuteilungswillkür im System staatlicher Daseinsfürsorge erfahren wurde, sollte nun transparent verrechtlicht werden. Denen, die im täglichen Kampf ums Dasein nicht mithalten konnten, wurde ein Anrecht auf Unterstützung, ein ›Recht-auf‹ verbrieft. Ich erinnere mich daran, wie in meinen Seminaren in den achtziger Jahren die ›verschämte Armut‹ in heißen Diskussion von angehenden Sozialarbeitern und Sozialarbeiterinnen als Elend der zweiten Etage gebrandmarkt wurde. Nicht nur seien die Armen arm, sie seien auch außerstande zu beanspruchen, was ihnen zustand, aus Scham, ihre Randstellung zu offenbaren, oder aus Unkenntnis der Rechtslage. Dass jemand sich aus Stolz und aus Furcht, sich abhängig zu machen, nicht in die Obhut der staatlichen Versorgungseinrichtungen begeben wollte, wurde als Verirrung wahrgenommen, als Unfähigkeit, seine eigenen Interessen zu wahren; kurz: als Mangel an staatsbürgerlichem Bewusstsein. Eine neue, rapide expandierende Dienstleistungsbranche wurde eröffnet, nämlich die Armen zu lehren, ›unverschämt‹ arm zu sein, und sie über ihre Ansprüche aufzuklären, sie sogar zu beraten, mit welchen Tricks und Finessen man sich Zugang zu den staatlichen Futternäpfen verschaffen konnte. Damit war ein Widerspruch installiert, der die soziale Arbeit zu einer Art Absurdistan werden ließ und endlose Ungereimtheiten in der täglichen Praxis herauf beschwor. In den Institutionen und zwischen ihnen entbrannte der Kampf zwischen jenen, die fanden, der beste Sozialstaat sei der, der am wenigsten koste, die ihn also kurz halten und die Sozialausgaben begrenzen wollten und denen, die parteilich für die Benachteiligten waren. Politische Korrektheit wurde von jedem, der noch einen Rest christliches Gewissen hatte, den Letzteren zugesprochen. Aber es wurde von beiden Parteien der Blick darauf verstellt, dass der eigentliche Skandal nicht ein zu niedriges Sozialbudget war, sondern die Erzeugung der Bedürftigkeit selbst, die die Menschen unfähig macht, sich selbst und einander zu helfen. »Stellt euch vor es gibt Geld, und keiner will’s ha-
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ben« – habe ich einmal in einer Streikrede zu bedenken gegeben. Der Satz stieß auf großes Unverständnis. Die wohlmeinenden Sozialarbeiter geraten mit dieser Art von Parteilichkeit für die Schwachen in eine äußerst zwielichtige Lage. Bemüht, ihren Klienten zum ›Ausgang aus ihrer nicht selbst verschuldeten Unmündigkeit‹ zu verhelfen, üben sie eine entmündigende Expertenherrschaft über sie aus, die sie noch nicht einmal bemerken, da sie selbst Gefangene des entmündigenden Dienstleistungssystems sind. Dienstleistung ist überall und wenn tatsächlich jemand bewussten Dienstleitungsverzicht übt und die versprochenen Vorteile mit einem entschiedenen ›Nein, danke!‹ ablehnt, dann sitzt er doch in der Falle von hundert anderen, die er sich nicht nur gefallen lässt, sondern äußerst angenehm und lebenserleichternd findet. Wo geholfen wird, da fallen Späne, und wer ›Hilfe‹ kriegt, wird zum Zwangskonsumenten, zum belieferungsbedürftigen Mängelwesen, das, in die totale Abhängigkeit von den Versorgungsinstitutionen geraten, zu jeder Art von Anpassung und ›Wohlverhalten‹ erpresst werden kann. Das daraus entstehende Dilemma offenbart Ivan Illich, wenn er uns folgende Situation vor Augen stellt: »Es fällt schwer, dadurch zu helfen, dass man sich weigert, Almosen zu geben. Ich erinnere mich, dass ich einmal in einem Gebiet, wo großer Hunger herrschte, die Verteilung von Nahrungsmitteln in den Sakristeien abbrach. Immer noch verspüre ich den Stachel einer anklagenden Stimme: ›Schlafe gut für den Rest deines Lebens mit Dutzenden von toten Kindern auf deinem Gewissen!‹ […]«4 In dieser besonderen Situation, deren Einzelheiten wir nicht kennen, hat Illich sich mit blutendem Herzen dazu entschlossen, keine versklavende Hilfe zu gewähren, die die Menschen endgültig ihrer Selbsterhaltungskräfte beraubt. Heute ist im Sozialarbeitsjargon kaum noch von Hilfsbedürftigen die Rede und auch nicht mehr von ihrer Anspruchsberechtigung. Immer mehr Menschen fallen in der Hochleistungsgesellschaft, die auf Beschleunigung und Steigerung des ›Outputs‹ dringt, als ›Leistungserbringer‹ aus. Andererseits sind die Möglichkeiten, anders als durch Erwerbsarbeit, sein Auskommen in der Konsumgesellschaft zu finden, fast vollständig ausgelöscht. Der Andrang auf die öffentlichen Kassen wächst. Die Fraktion derer, die strengere Reglements und rigide bürokratische Kontrollen favorisieren, gewinnt Oberwasser. Das neue Konzept in Sachen Hilfe heißt »Hilfebedarfsermittlung«. Darin wird die Pervertierung der Hilfe auf die
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Spitze getrieben, denn es geht nun überhaupt nicht mehr um Hilfe für eine wie immer in Not geratene Person, nicht einmal mehr um Menschen, denen Normalitätsdefizite nachgesagt werden, es geht ausschließlich um die Verwaltung von Störfaktoren. Menschliches Leid ist aus diesen Konzepten konsequent ausgeblendet. Mit vollkommen kalten Verfahren und ohne ›Ansehen der Person‹ wird ermittelt, welche Maßnahmen eine Beseitigung der Störung, die zu sein sich jemand herausnimmt, am ehesten garantieren. Eine schrittweise, präzise »Prozessbeschreibung« steht am Anfang der Prozedur. Deren ›Herzstück‹ ist eine Zielformulierung, die gern als ›Zielvereinbarung‹ weichgespült wird, um den Anschein zu erwecken, die Hilfesuchenden seien daran zustimmend oder gar mit eigenen Vorschlägen beteiligt gewesen. Ziele, so heißt es, seien dann wirksam aufgestellt, wenn sie »smart« formuliert sind. Im großen Oxford Wörterbuch finden sich für ›smart‹ folgende einschlägige Bedeutungen: clever, raffiniert, hart, flink. Das also ist die empfohlene Haltung gegenüber Menschen, die um Hilfe nachsuchen müssen. Kontraproduktiv ist demnach jede Art von Mitleid oder Barmherzigkeit. Die Zielformulierungen müssen weiteren Anforderungen genügen: Sie müssen »spezifisch-konkret« sein, d.h. »unmissverständlich« benennen, worum es geht; sie müssen »messbar« sein, d.h. es muss »objektiv« erkennbar sein, ob ein Ziel erreicht wurde; sie sollen »attraktiv«, d.h. »motivierend«, sein (eine offene Aufforderung zur Manipulation); sie sollen »realistisch«, d.h. erreichbar und »terminiert«, d.h. mit einer Deadline versehen sein, bis zu der eine am Klienten vollstreckte Maßnahme erwünschte Wirkung gezeitigt haben soll. Und ganz ungeniert zynisch werden von den Erfindern dieses Unwesens die Tricks ausgeplaudert, mit denen die Übertölpelung wehrloser Menschen gelingen kann: Die Zielplanung solle unbedingt mit dem jeweiligen Klienten gemeinsam erarbeitet werden und solle in ›Ich-Form‹, also als seine Willensbekundung formuliert werden. Nicht nur menschliches Leid ist in diesen Verfahren ausgeklammert, sondern die Menschen selber. Der sogenannte Hilfebedarf hat zu realen Personen aus Fleisch und Blut überhaupt keinen Bezug, sondern nur zu statistischen Profilen von Merkmalsträgern, die als bedürftig rubriziert und als Kontoposten veranschlagt werden. Die Feststellung eines ›Hilfebedarfs‹ ist so weit von dem, was einmal unter ›Hilfe‹ verstanden wurde, entfernt, dass wir es nicht nur mit einem geschichtlichen Bedeutungswandel des Hilfebegriffs zu tun haben, sondern von einer Sprachverwirrung mit verdummender Absicht ausgehen müssen.
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Ich habe andernorts von den vier apokalyptischen Reitern der Moderne gesprochen: Der Bürokratie, die alles verregelt, der Ökonomie, die alles verrechnet, der Technik, die alles menschenneutral macht, und der Wissenschaft, die das alles legitimiert.5 Im ›Hilfebedarf‹ agieren die apokalyptischen Vier gemeinsam und bringen die Hölle der verwalteten Welt hervor. Die Bürokratie hat ihre eigene Strategie, den Hilfebedarf zu produzieren. Die Ökonomie geht einen anderen Weg. Sie zeigt sich ihren Adressaten nicht mit einem strengen, drohenden Gesicht, sondern mit dem freundlichen der Verführung. Ein besonders groteskes Beispiel für die Art der Bedarfsdefinition fand ich in einem Werbeprospekt einer Versandfirma für den gehobenen Geschmack und den gefüllten Geldbeuteln: ›pro idee‹/Winter 2016. Es geht dabei um etwas so Unvermeidliches wie die Verrichtung der täglichen Notdurft, die aber wie ›pro idee‹ besorgt feststellt, falsch gemacht wird. Menschen haben einen Hilfebedarf in Sachen korrekter Darmentleerung. Und ›Hoca‹ (»Hocken statt sitzen«) soll ihnen dazu verhelfen, es richtig zu machen: »Forscher warnen* (an dieser Stelle finden sich in einem Kästchen drei Literaturangaben zu einschlägiger wissenschaftlicher Fachliteratur, unter Beachtung der wissenschaftlichen Zitationsregeln): Das aufrechte Sitzen auf dem WC widerspricht der Anatomie des Menschen und wirkt sich negativ auf die Darmentleerung aus. Durch diese 90°-Haltung klemmt der Musculus Puborectalis den Darm wie einen Gartenschlauch ab: Entleeren ist oft nur stark pressend möglich. Mit Hoca nehmen Sie stets die von Natur aus richtige Hockstellung ein« … und so weiter und so weiter. Kleine Illustrationen zum richtigen und falschen Hockwinkel erleichtern das Verständnis auch für Nichtleser. Dieses Wunder an Präzision und Lebenshilfe, das auch noch bodenschonend und rutschfest ist, kostet nur EUR 34,95. Noch vor ein paar Jahren hätte dieser Übelstand, einmal von Gesundheitsexperten erkannt, eventuell noch pädagogische Aktivitäten ausgelöst. Heute kommt man davon ab, der erzieherischen Menschenbesserung noch eine weltverändernde Wirkung zuzutrauen. Man versorgt sie gleich mit einem technogenen Milieu, das ihnen zu »automatisch gutem Verhalten« verhilft, wie es der Begründer des Behaviorismus B.F. Skinner einst propagierte. Sein Projekt, ein technogenes Milieu zu installieren, das menschliches Tun und menschliche Einsicht erübrigt und es den ›intelligenten‹ Dingen überlässt, ›automatisch gutes Verhalten‹ zu produzieren, ist weit gediehen und kann uns wirklich das Fürchten lehren.
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Anmerkungen 1 | Rosenstock-Huessy beschreibt diese Figuration zwischen Helfer und Hilferufer als eine »Abdankung dessen, dem das erste Wort verdankt wird«. Das Urbild dieser Abdankung sei »der Befehlssatz, in dem eine Tat ihren Täter suchen geht und in dem gerade der Rufer und Aussager des Befehls einen anderen braucht, der den Befehl als vernünftig anerkennt und ausführt.« Rosenstock-Huessy, Eugen: Die Sprache des Menschengeschlechts, Bd. 1, Heidelberg, Lambert Schneider 1963, S. 398. 2 | Das kann durchaus metaphorisch verstanden werden. 3 | Die Deutung »Save our Souls« oder »Save our Ship« wurde dem SOS-Ruf erst nachträglich beigegeben. Es ist aber doch bedeutsam, dass der Notruf in dieser Deutung zugleich als Gebet an Gott und als Appell an die Hilfsbereitschaft der Mitmenschen erging. 4 | Illich, Ivan: Klarstellungen, Pamphlete und Polemiken, München, Verlag C.H. Beck 1996, S. 84. 5 | Gronemeyer; Marianne: Wer arbeitet sündigt, ein Plädoyer für gute Arbeit, Darmstadt, Primusverlag 2012, S. 164ff.
Informierte Entscheidung Silja Samerski
Die »informierte Entscheidung« ist ein Schlagwort, mit dem Politik gemacht wird. Ganz gleich, ob beim Kinderkriegen, beim Sterben, in der Schule oder in der Arztpraxis: In allen Lebenslagen werden Bürgerinnen und Bürger dazu aufgefordert, »informierte Entscheidungen« zu treffen. Besonders augenscheinlich ist diese Emphase der informierten Entscheidung im Gesundheitssystem. Das Verhältnis zwischen Arzt und Patient hat sich geradezu umgestülpt: Bis in die 1980er Jahre bestimmte die Regel doctor knows best das Aufeinandertreffen von Arzt und Patient. Heute dagegen gilt der Grundsatz patient decides best. Schwangere lernen, Kaiserschnitt und vaginale Geburt abzuwägen, Krebspatienten bilanzieren die Erfolgsquoten von Chemotherapie, Bestrahlung und Totaloperation und der Palliativarzt stellt seine Patientin vor die Optionen »Sterbehilfe« oder »Weiterleben«. Patienten müssen heute also selbst entscheiden, was ihnen angetan wird. Entscheidungsunterricht, der diesen selbstoder mitentscheidenden Patienten herstellen soll, ist allgegenwärtig: Krankenkassen bieten Patientenschulungen an und stellen interaktive Entscheidungshilfen ins Netz; neue Beratungsangebote, von der Kinderwunsch- und Schwangerschaftsberatung über die Ernährungs- und Körperberatung bis hin zur Trauer- und Sterbeberatung, sprießen wie Pilze aus dem Boden und Entscheidungsforscher entwickeln Online-Tools und Programme für die autonome oder partizipative Entscheidungsfindung sowie Kriterien, um deren Qualität zu bewerten. Diese Emphase der informierten Entscheidung und das Anwachsen entsprechenden Entscheidungsunterrichtes wird fast ausnahmslos als emanzipatorische Errungenschaft gefeiert, als Befreiung von ärztlicher Bevormundung und als Bollwerk gegen staatlichen und professionellen Paternalismus. Endlich, so jubeln Bioethiker, Feministinnen, kritische
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Mediziner und Gesundheitspolitiker, sind Patienten der ärztlichen Bevormundung entkommen und können selbst bestimmen, was mit ihnen geschehen soll. Endlich scheint die Zeit der »entmündigenden Expertenherrschaft«1 vorbei und die Gefahr gebannt, dass Experten durch ihre Entscheidungsmacht die Demokratie unterminieren. Dieser Jubel über das vermeintliche Empowerment von Dienstleistungsklienten ist jedoch voreilig: Eine informierte Entscheidung zu treffen bedeutet keinesfalls, selbst bestimmen zu können. Als informiert und damit legitim gilt eine Entscheidung nur dann, wenn sie auf Expertenwissen beruht und professionell präpariert worden ist. Das Schlagwort »informierte Entscheidung« bezeichnet also nicht einen neuen Freiraum, sondern vor allem ein neues Erziehungsziel. Patienten sollen lernen, sich nicht mehr auf ihre Erfahrung und Wahrnehmung zu verlassen, sondern wissenschaftlich begründete Informationen zu konsumieren und Optionen abzuwägen. Die »informierte Entscheidung« geht also Hand in Hand mit einer neuen Form professioneller Vereinnahmung: der Programmierung des Entscheidens. Das Entscheiden ist zum Produkt einer Dienstleistungsindustrie geworden, zum Resultat von geplanten und standardisierten Entscheidungstechniken. Die »informierten Entscheidung« hat die entmündigende Expertenherrschaft also nicht zurückgedrängt – im Gegenteil: Durch die gezielte Umformung ihrer Urteilskraft werden Klienten noch stärker entmündigt als vorher. Ziel ist nicht mehr Verhaltenssteuerung, sondern, viel subtiler, die Steuerung der Selbstwahrnehmung und des Wollens.2 Wie eine solche Herstellung einer informierten Entscheidung aussehen kann, und auf welche Weise die Beratenen dabei entmündigt werden, dass zeigt das Beispiel der genetischen Krebsberatung. In der genetischen Beratung werden die Beratenen etwa ein bis zwei Stunden lang über wissenschaftliche Konstrukte wie DNA-Auf bau, Chromosomenstruktur, Vererbungsregeln und Krankheitsstatistiken aufgeklärt sowie über genetische Testmöglichkeiten samt deren Chancen und Risiken. Dadurch sollen sie zu einer informierten Entscheidung über ihren Umgang mit möglichen Genmutationen und genetischen Risiken befähigt werden. Zunächst erhält die Beratene eine Lektion in Sachen Selbstwahrnehmung: Die Genetikerin erstellt anhand von Daten wie Alter, Gesundheit, Familiengeschichte etc. ein Risikoprofil ihrer Klientin. Die statistischen Risiken, die sie von diesen Daten ableiten kann – z.B. ein familiäres Brustkrebsrisiko oder ein erhöhtes Darmkrebsrisiko – schreibt sie ihrem
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Gegenüber anschließend als etwas vermeintlich persönliches und bedeutsames zu. »Sie haben ein erhöhtes Brustkrebsrisiko!«, offenbart sie ihrer Klientin, als hätte sie damit eine Diagnose gestellt. Dieses zugeschriebene Risiko ist zentral in der Beratung: Erstens bestimmt die Risikoeinstufung, welche Präventions- und Test-Optionen der Beratenen angeboten werden. Und zweitens ist für die genetischen Experten die Bereitschaft, dieses vermeintlich persönliche Risiko ernst zu nehmen und zu managen, der Lackmus-Test für die Rationalität und Entscheidungsfähigkeit ihrer Klienten. Für was sie sich entscheiden, ob sie den Test machen lassen oder nicht, ist zweitrangig: Was zählt ist ihr Wille, das zugeschriebene Risiko zur Grundlage ihres Denkens und Handelns zu machen. Diese Forderung, auf einem statistisch berechneten Risiko eine folgenreiche, persönliche Entscheidung zu gründen, ist allerdings widersinnig: Per definitionem beziehen sich Risiken nicht auf eine konkrete Person, sondern auf einen konstruierten »Kasus«; niemals auf das »ICH« oder »DU« in einer umgangssprachlichen Aussage, sondern immer nur auf einen »Fall« aus einer statistischen Population. Ein »persönliches« Risiko ist daher ein Oxymoron, ein Widerspruch in sich. Dieses Paradox, das zahlreiche moderne Dienstleistungen bestimmt, kommt in den aufgefächerten Diskussionen über »Patientenautonomie« und »Risikokommunikation« fast nie zur Sprache. Es macht deutlich, dass die »informierte Entscheidung« eine tiefgreifende Umformung des Selbstverständnisses verlangt: Sie fordert die Bereitschaft, sich nicht mehr als einzigartiges Individuum wahrzunehmen, sondern als Mitglied von statistischen Klassen. Sie verlangt, sich nicht mehr als Mensch aus Fleisch und Blut zu verstehen, sondern als gesichtslosen statistischen Fall. Die informierte Entscheidung fordert die epistemische Verwandlung der Person. Nachdem die Genetikerin ihrem Gegenüber erklärt hat, dass sie ein Bündel aus berechenbaren Risiken ist, bietet sie ihr die Option eines Gentests an. Ergebnis des Tests wäre eine neue Risikoeinstufung. Für einen solchen Test müsste sich die Beratene »selbstbestimmt« entscheiden, wie alle Genetiker betonen. Von der neuen Risikozahl würden dann Überwachungs- und Präventionsoptionen abgeleitet, die wiederum entscheidungsbedürftig wären: Regelmäßige Checkups oder, wie im Falle von Brustkrebs, möglicherweise die Amputation der risikobehafteten Organe? Je weniger die Mediziner die angebotenen Optionen empfehlen können, desto nachdrücklicher pochen sie auf die »informierte Entscheidung« der Patienten. Daher werden diese auch nach dem Test wie-
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der zum genetischen Entscheidungsunterricht geladen und lernen, die neuen Risiken abzuwägen, um schließlich – eigenverantwortlich – eine der angebotenen Optionen auszuwählen. Sich dem Management der zugeschrieben Risiken zu entziehen, sei es aus Widerwillen, Gottvertrauen, Skepsis oder Gleichgültigkeit, das wäre aus der Sicht der Berater fatal. Es würde entweder als Folge mangelnder Information und Beratung angesehen werden oder als bewusste Entscheidung für die mehr oder weniger wahrscheinliche Erkrankung. Die genetische Beratung ist nicht etwa randständig, sondern geradezu paradigmatisch für heutigen professionellen Entscheidungsunterricht. Die Beratenen sollen zu informierten Entscheidern werden, indem sie sich einer Rationalität unterwerfen, die explizit von leibhaftigen Menschen absieht. Sie sollen sich wissenschaftliche Konstrukte zuschreiben und statistische Zahlen gegeneinander abwägen – Abstrakta, die sie letztlich nicht beurteilen können und die mit ihrer Erfahrung, ihren Sorgen und ihrer Zukunft nicht viel zu tun haben. Mit einer wirklichen Entscheidung hat dieses Abwägen von statistischen Gespinsten nicht viel gemein. Blickt man zurück in die jüngere Geschichte, dann fällt auf, dass dieses Verständnis von Entscheidung als Wahl zwischen risikobehafteten Optionen jüngeren Datums ist und aus der Entscheidungstheorie stammt. Noch vor zwei oder drei Generationen bezeichnete der umgangssprachliche Begriff »Entscheidung« kein formales Vorgehen zur Erzielung eines Endproduktes, sondern die Klärung einer Ungewissheit oder das Fällen eines Urteils. Wie man im Grimm’schen Wörterbuch nachschlagen kann, war nicht etwa »wählen« ein sinnverwandtes Wort von »entscheiden«, sondern »urteilen«, »bestimmen« oder »gewiss machen«. In der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts ist die statistische Risikoabwägung jedoch zum Inbegriff von Rationalität avanciert. Ganz gleich, ob es ums Heiraten, ums Glückspiel, ums Kinderkriegen oder um Investmententscheidungen geht: »Nichts auf der Welt ist sicher«, so der Ökonom Armin Falk, weshalb »wir gezwungen [sind], Risiken und Wahrscheinlichkeiten zu ermitteln und zu bewerten«.3 Der Kognitionspsychologe Gerd Gigerenzer ist daher angetreten, bereits Kindergartenkindern das risikoinformierte Entscheiden beizubringen: »Jede Alternative trägt ihre eigenen ungewissen Konsequenzen in sich, und diese gilt es zu vergleichen, will man eine begründete, auf Information beruhende Entscheidung treffen.« 4
Informier te Entscheidung
Diese statistische oder algorithmische Rationalität ist aus der Entscheidungstheorie hervorgegangen. Aus dem Behaviorismus, der ökonomischen Nutzentheorie sowie Probabilismus und Statistik ist Mitte des 20. Jahrhunderts ein interdisziplinäres Wissens- und Interventionsfeld entstanden, das den heutigen sowohl deskriptiven als auch normativen Begriff der rationalen Entscheidung geprägt hat. In der Entscheidungstheorie werden Wahlakte empirisch und theoretisch analysiert und mathematisch-statistisch modelliert mit dem Ziel, sie berechenbar zu machen und zu optimieren. Dabei macht es keinen Unterschied, ob die kleine Luise Schokoeis statt Vanilleeis möchte, ein älterer Herr schließlich doch heiratet, eine Wespe nicht auf dem Apfel, sondern auf der Birne landet oder der Computer eine virale Bedrohung anzeigt. Das Wort »Entscheidung« hat in der Entscheidungstheorie eine rein formale Bedeutung; es bezeichnet die Selektion einer Option als Folge eines Verfahrens oder eines Rechenvorgangs. Grundannahme ist, dass Entscheidungen auf programmgemäße Informationsverarbeitung zurückgehen, bei Menschen, Tieren und Maschinen. Im Jahre 1972 schreibt der Nobelpreis gekrönte Sozialwissenschaftler Herbert A. Simon: »Der programmierte Computer und der menschliche Problemlöser sind beide Spezies, die zur Gattung ›informationsverarbeitender Systeme‹ gehören.«5 In der Entscheidungstheorie sowie durch ihre Programme und Techniken wird also persönliches Urteilen durch regelgeleitetes Schließen, durch einen Mechanismus ersetzt. »Während die Wahrscheinlichkeitstheorie einst den Zweck hatte, das Urteilen zu beschreiben, zielt das statistische Schließen jetzt darauf, das Urteilen zu ersetzen – im Namen der Objektivität.«6 Diese Entdeckung der »Entscheidung« als neues Wissens- und Steuerungsfeld hat maßgeblich dazu beigetragen, dass heute Menschen nicht mehr durch Zwang und Unterwerfung regiert werden, sondern vornehmlich durch den Aufruf zur Selbstbestimmung, Eigenverantwortung und informierten Entscheidungen. Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts werden Unternehmer und Angestellte in der ökonomischen Literatur als »Entscheider« (decisionmaker) behandelt und ihr Handeln wird als Entscheidungshandeln erforscht und problematisiert. Mitarbeiter in Unternehmen werden nicht mehr als Rädchen im Getriebe gesehen, die sich anpassen und funktionieren müssen, sondern als decisionmaker, deren Entscheidungsfreiheit überwacht, definiert und berechenbar gemacht werden muss. Seit den 1970er und 80er Jahren werden auch Experten und Dienstleistungsklienten zunehmend als decisionmaker behandelt.
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Die neoliberale Reform des Wohlfahrtsstaates verknüpfte ökonomische und sozialpolitische Rationalitäten mit dem individuellen sowie kollektiven Streben nach Selbstbestimmung und Entscheidungsfreiheit. Durch die gezielte Förderung »informierter Entscheidungen« ist es also möglich geworden, Selbstbestimmung zu suggerieren und zugleich – oder gerade dadurch – das Denken, Wollen und Handeln an die Erfordernisse medizinischer, bildungspolitischer oder ökonomischer Rationalitäten anzupassen. Zwei Charakteristika der informierten Entscheidung machen sie als Regierungstechnik so wirksam: Erstens fordert sie meistens eine Wahl zwischen vorgegebenen Optionen. Informierte Entscheider sollen also nicht handeln, sondern zwischen definierten und bewertbaren Möglichkeiten wählen. Es geht also nicht darum, etwas eigenständig oder eigenwillig zu tun, sondern etwas – wie auf dem Computer – »anzuklicken«. Diese »Optionalisierung« ebnet bedeutsame Unterschiede ein, da alle Optionen quasi auf einer Ebene vergleichbar, ja geradezu »gleichgültig« sind. Alles kann und soll gegeneinander abgewogen werden: Ritalin oder Schulwechsel? Mammographie oder Brustamputation? Kaiserschnitt oder vaginale Geburt? Sterbehilfe oder Weiterleben? Durch diese Gleichstellung wird jede Form der Verweigerung unmöglich. In der Logik der »informierten Entscheidung« gibt es lediglich die Wahl zwischen vergleichbaren Optionen, aber kein entschiedenes »Nein« oder »Ja« als Ausdruck einer Haltung oder Erkenntnis. Die Optionalisierung hat also zwei Folgen: Der fundamentale Unterschied zwischen »Ja« und »Nein«, zwischen Bejahung und Verweigerung, wird verwischt. Das heißt, dass ein »Nein« immer als »Ja« einer anderen Option interpretiert werden kann, für deren Risiken die Entscheiderin dann Verantwortung übernehmen muss. Wer »Nein« zum vorgeburtlichen Checkup sagt, akzeptiert in der Logik der informierten Entscheidung das Risiko, ein behindertes Kind zu bekommen. Und wer sich weigert, sich halbjährlich die Brüste röntgen zu lassen, scheint das Risiko für Brustkrebs auf die eigene Kappe nehmen zu wollen. Die Optionalisierung ist also ein äußerst wirksames Mittel, Menschen zu responsibilisieren, ihnen neue Formen von Verantwortung aufzubürden. Zweitens verlangt das decisionmaking, die Entscheidungen vornehmlich auf bezifferbaren Werten zu gründen (auch subjektive Präferenzen sind der Theorie nach bezifferbar). Qualitative Unterschiede gibt es nicht, lediglich quantitative – ansonsten wäre die Entscheidung auch nicht be-
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rechenbar und für Entscheidungstheoretiker nicht rational. Die menschliche Urteilsfähigkeit, so klagen Kritiker des Homo oeconomicus, der ökonomischen Version des rationalen Entscheiders, wird auf das Abwägen von Werten reduziert. »Menschen [werden] mit der Idee vertraut […], dass vernünftige Entscheidungen auf der Grundlage von formalisierten, mechanisierten Überlegungen in Verbindung mit Messungen gefällt werden können« 7. Diese Verrechnung des Entscheidens ist sowohl die historische als auch begriffliche Voraussetzung dafür, dass heute Computer, also Rechner, als »Entscheider« funktionieren können. Im Zeitalter der Aufklärung galt der gerechte Richter als Inbegriff der Vernunft – so wie der kluge Kaufmann.8 Heute dagegen leben wir in einer Welt, in der Computer uns zunehmend die Entscheidungen abnehmen, weil sie objektiver und rationaler erscheinen. Selbstfahrende Autos entscheiden über Fahrmanöver; FOTRES, ein forensisches Software-Programm zur Risikoeinstufung, entscheidet, ob Straftäter in präventiven Sicherheitsgewahrsam kommen; und IBMs Großrechner Watson Health soll Diagnosen und Therapien auswählen und zum »Leibarzt« von morgen werden. Weit verbreitet ist bereits das Smartphone als Entscheidungsberater: Wecken oder Weiterschlafen? Bus fahren oder Laufen? Hähnchenbrust oder Veggie-Burger? Für jede Lebenssituation gibt es heute eine App, die das Entscheiden zum Produkt eines Programms macht. Die Programmierung des Entscheidens wird Alltag. »Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Anleitung eines anderen zu bedienen«, schrieb Immanuel Kant vor nunmehr 230 Jahren9. Die »informierte Entscheidung« führt ganz offensichtlich in eine neue Form der Unmündigkeit, die vielleicht noch tiefgreifender ist als diejenige, die Kant vor Augen hatte: Der eigene Verstand wird nicht menschlichen Autoritäten unterworfen – von denen er befreit werden kann – sondern wird umgeformt, durch digitale und professionelle Berater regelrecht programmiert. Kants Wahlspruch der Aufklärung: »Sapere aude! Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!«, erhält vor diesem Hintergrund eine neue Bedeutung: Wir sollten ihn als Einladung verstehen, zu überlegen statt Informationen zu konsumieren, zu handeln statt Optionen zu wählen und ein Urteil zu wagen statt eine Entscheidung zu treffen.
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Anmerkungen 1 | Illich, Ivan: Entmündigende Expertenherrschaft. In: Illich, Ivan (Hg.): Entmündigung durch Experten. Zur Kritik der Dienstleistungsberufe, Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1979 S. 7-35. 2 | Samerski, Silja: Die Entscheidungsfalle. Wie genetische Aufklärung die Gesellschaft entmündigt, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2010. 3 | Falk, Armin, 2011: Wie risikobereit sind die Deutschen? www.daimler-benz-stif tung.de/cms/index.php?page=bk15-abendvortrag, letzter Zugriff 28.5.2011. 4 | Gigerenzer, Gerd: Das Einmaleins der Skepsis. Über den richtigen Umgang mit Zahlen und Risiken, Berlin: Berlin Verlag 2002. 5 | Zitiert nach Pias, Claus: Zeit der Kybernetik – eine Einstimmung, in Cybernetics/Kybernetik. The Macy-conferences 1946-1953. Volume II/Band II, Essays and documents/Essays und Dokumente, Hg. von Pias, Claus, S. 9-41. Zürich: Diaphanes 2004, S. 25. 6 | Gigerenzer, Gerd u.a.: Im Reich des Zufalls. Wissen zwischen Wahrscheinlichkeiten, Häufigkeiten und Unschärfe. Heidelberg: Springer 1999, S. 312. 7 | Gigerenzer, Gerd u.a., 1999. 8 | Daston, Lorraine: Classical Probability in the Enlightenment, Princeton: Princeton University Press 1988. 9 | Kant, Immanuel: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? Berlinische Monatsschrift (Dezember), 1784, S. 481-494.
Inklusion Reimer Gronemeyer
»Der höchste Triumph der technokratischen Gesellschaft«, schreibt Lewis Mumford, »wäre die Integrierung aller menschlichen Tätigkeiten in ein autokratisches, monolithisches System. Das würde zu einer Lebensform führen, in der alle Funktionen, die sich nicht ins System eingliedern lassen, unterdrückt oder ausgemerzt wären.«1 Wie von einem trockenen Schwamm ist der Begriff Inklusion in die Sprache der Sozialexperten aufgesaugt worden. Warum ist er so beliebt? Weil er alles, aber auch alles – wie Lewis Mumford sagt – in das System inkludiert? Der Begriff Inklusion ist schrecklich gut gemeint – ist er aber auch gut? Als hätte man das erlösende Stichwort gefunden, reden alle von Inklusion als wäre das die Zauberformel, die soziale Probleme, Marginalisierungen, Benachteiligungen auszulöschen imstande wäre. Ich denke, wir sollten misstrauisch sein gegenüber diesem Modewort. Es ist vielleicht mehr als ein Modewort, es ist – so scheint es – der Schlüsselbegriff eines kannibalistischen Systems, das kein Außen mehr dulden kann. Peter Sloterdijk hat deutlich gemacht, wie das Weltsystem im Zuge der heutigen Globalisierung seine Entwicklung abgeschlossen hat und sich als kapitalistisches System, das sämtliche Lebensbedingungen bestimmt, etabliert. Er spricht vom Weltinnenraum des Kapitals.2 Kann man da von totaler, ja totalitärer Inklusion sprechen? Inklusion – so heißt es in der UN-Behindertenrechtskonvention – ist ein Menschenrecht. Diese Konvention ist in Deutschland seit 2009 in Kraft. Damit scheint der Begriff der Inklusion der Kritik entzogen. Stellt sich, wer Inklusion kritisiert, nicht automatisch gegen die Bemühungen um eine Integration von Behinderten? Ist der Kontrapunkt zu Inklusion: Ausgrenzung?
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Orientieren wir uns an den Analysen von Mumford und Sloterdijk, dann wächst das Misstrauen gegen den Kampagnenbegriff ›Inklusion‹. Dann kann man den Begriff als das Softwareprogramm sehen, das der Einschließung aller ökonomischen Funktionen in einen Weltinnenraum folgt und alles – auch das Soziale, das Andere, das Abweichende – zum Teil dieses Weltinnenraums werden lässt. Nichts soll draußen bleiben heißt eben auch: Nichts und niemand darf draußen bleiben. Inklusion wird von der Aktion Mensch, die sich des Themas besonders angenommen hat, als »Zugehörigkeit« übersetzt. Das stimmt aber überhaupt nicht. Erst einmal heißt Inklusion »Einschließung« (lateinisch: includere s.u.) – und das löst, wenn man genau hinhört, eher klaustrophobische Empfindungen aus. Wer will da wen einschließen? Welcher Knast öffnet seine Tore? Aber ich höre: Es ist doch ganz anders gemeint: Alle sollen dazugehören. Die Forderung nach sozialer Inklusion – so heißt es – ist verwirklicht, »wenn jeder Mensch in seiner Individualität von der Gesellschaft akzeptiert wird und die Möglichkeit hat, in vollem Umfang an ihr teilzuhaben oder teilzunehmen. Unterschiede und Abweichungen werden im Rahmen der sozialen Inklusion bewusst wahrgenommen, aber in ihrer Bedeutung eingeschränkt oder gar aufgehoben. Ihr Vorhandensein wird von der Gesellschaft weder in Frage gestellt noch als Besonderheit gesehen. Das Recht zur Teilhabe wird sozialethisch begründet und bezieht sich auf sämtliche Lebensbereiche, in denen sich alle barrierefrei bewegen können sollen.« So kann man es bei Wikipedia lesen.3 Das klingt doch sehr einladend. Ich unterschreibe sofort: Inklusion für alle. Doch halt! Ich denke unwillkürlich an den Pflanzenkübel in meinem Garten. Sieht schön aus. Aber wenn ich ihn hochhebe, dann sieht man die Asseln, die sich unter ihm verkrochen haben. Nehmen wir den schönen Pflanzenkübel, den Begriff Inklusion, einmal hoch und schauen, was drunter ist. Ich vermute: Von Inklusion muss unablässig geredet werden, weil so eine schmerzhaft empfundene Lücke zugedeckt werden soll. In dieser Gesellschaft fehlt es immer mehr an Zusammenhalt. Die absurden Unterschiede zwischen reich und arm in Deutschland; die wachsende Zahl von Menschen, besonders von Kindern, die an der Armutsgrenze leben; prekäre Arbeitsverhältnisse. Und wenn man über Deutschlands
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Grenzen hinaus schaut: 50 Prozent Jugendarbeitslosigkeit in Spanien; 2000 Tafeln in Portugal, die Menschen mit Essen versorgen, die sonst hungern würden. Die Schere zwischen reich und arm klafft und gleichzeitig nimmt die Einsamkeit der Menschen zu. Das spüren besonders die alten Menschen: bröckelnde Familien, verödete Nachbarschaften. Jeder zweite über 85-Jährige in Deutschland lebt allein. Der Zusammenhalt dieser Gesellschaft scheint im Wesentlichen durch Geld gewährleistet zu sein. Das sogenannte Betreuungsgeld zeigt die Richtung an und ist eigentlich ein ganz modernes Instrument: Selbst die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern – so signalisiert das Betreuungsgeld – können vergeldlicht werden. Liebevolle Zuwendung, die Kinder brauchen, ist nur noch zu haben, wenn dafür Geld fließt. Je schneller der gesellschaftliche Zusammenhalt schwindet, je mehr er durch eine Vergeldlichung der menschlichen Beziehungen krampfhaft gerettet werden soll, desto hysterischer muss Inklusion beschworen werden. Bisweilen könnte man denken, dass die Inklusionspropaganda geschickt Sparzwänge verdeckt. Da werden psychisch »auffällige« Kinder in normale Schulklassen ›inkludiert‹. Hilfe oder Entlastung gibt es für die Lehrenden meist nicht. So hat man – administrativ gesehen – inkludiert und gespart. Eine Lehrerin erzählt, wie sie ›Inklusion‹ erlebt: Sie hat plötzlich in ihrer Klasse mehrere »auffällige« Kinder, die sie unterrichten soll: Sie kann das nur als einen Akt, bei dem es um Einsparung geht, begreifen. Was mit Inklusion wirklich gemeint ist, das kann man an den sogenannten »inklusiven Geschäftsmodellen« sehen. Die großen Agrar- und Lebensmittelkonzerne offerieren z.B. den afrikanischen Kleinbauern Inklusion: Sie bieten an, die Kleinbauern und ihre Produkte in ihre Wertschöpfungsketten zu integrieren. Diese Modelle beinhalten aufgrund ungleicher Verhandlungsmacht hohe Kosten und Risiken für die Bauern. In einer Studie zu den problematischen Folgen inklusiver Geschäftsmodellen heißt es, die Herstellung von Ernährungssicherheit erfordere in erster Linie günstige Rahmenbedingungen für bäuerliche Investitionen sowie eine umfassende Strategie zur Stärkung der Verhandlungspositionen von Kleinproduzenten innerhalb von Wertschöpfungsketten.4 Misereor und das Forum Umwelt haben 2013 in dieser Studie nachgewiesen, dass die den Kleinbauern angebotene Inklusion tatsächlich ein ausbeuterischer Akt ist, der den Kleinbauern ihre Unabhängigkeit nehmen soll und nimmt.
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Der Begriff Inklusion, der in den letzten Jahren Karriere gemacht hat, gehört in eine Zeitgenossenschaft, in der die »Gesellschaft« verschwunden ist zugunsten des »Systems«, in das die Menschen einbezogen werden sollen. Man könnte auch sagen: Wer von Inklusion spricht, will von Gesellschaft nicht mehr reden, sondern ersetzt den sozialen Begriff durch eine kybernetische Betrachtungsweise. Inklusion ist ein Begriff, mit dem die Steuerung von Menschen, die selbst zu Subsystemen geworden sind, organisiert wird. An die Stelle der Ethik, der Lebendigkeit, der Individualität tritt dementsprechend Optimierung. Inklusion ist ein Begriff, der sich der sozialen Frage zugunsten egalisierender Steuerungsimpulse entledigt hat. Insofern ist die Karriere des Begriffs Inklusion alles andere als zufällig: Es ist das angemessene Werkzeug für ein Konglomerat, das die alte Frage nach Freiheit durch Steuerungsimpulse ablöst. Ist Inklusion also ein totalitär-technokratischer Begriff, der schmeichelnd daher kommt und seine intrigante Maske erst fallen lassen wird, wenn alles Außen vernichtet, verbrannt, ausgelöscht ist? Vielleicht ist die Erinnerung an die ›Inklusen‹ hilfreich? Das frühe Christentum bringt die »Inklusen« hervor. Das waren »Männer und Frauen, die sich freiwillig in eine sich an Kirchen, Stadtmauern oder Brücken anlehnende Klause (reclusorium) einmauern ließen, um sich ganz dem religiösen Leben und der Union mit Gott widmen zu können. Während die Eremiten die weltferne Einsamkeit und Askese suchten, ließen sich die Inklusen mitten in der Gesellschaft einschließen. Die Kirche hat später diese Einschließungen als frommen Akt anerkannt, die Inklusen wurden sogar mit kirchlichem Zeremoniell eingemauert, das Ritual enthielt Elemente der Totenmesse. Eine große Zahl der Inklusen wurde später sogar heilig gesprochen.«5 Spitäler, Irrenhäuser, Gefängnisse, Kasernen und Fabriken – das waren die Instrumente der Disziplinargesellschaft, mit denen Außenseiter aller Art von den »Normalen« abgegrenzt wurden. Mit dieser Disziplinargesellschaft, die der französische Philosoph Michel Foucault exakt beschrieben hat, ist es vorbei. Die Menschen sind keine Gehorsamssubjekte mehr.6 An die Stelle der modrig gewordenen Disziplinargesellschaft ist eine Leistungsgesellschaft getreten, die sich in Fitnessstudios, Wellnessoasen, Bürotürmen, Banken, Flughäfen, Shopping Malls, Genlabors und Gesundheitszentren konkretisiert. Marathonläufer und zivilgesellschaftlich Engagierte bevölkern die öffentlichen Räume und machen ein modernisiertes »Allzeit bereit!« anschaulich.7 Kennzeichen der Leistungsge-
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sellschaft ist eine totale Mobilmachung, in der Niemand und Nichts mehr in Ruhe gelassen werden kann, in der es kein Abseits geben darf, keinen Ort der Ruhe, der Faulheit, des Eigensinns8: Das, was einmal Gesellschaft war, kommt in Bewegung, wird zu einem gigantischen Flow, der alles mitreißt, was noch nicht mobilisiert ist. Wurzeln, Heimat, Lokalität, Nachbarschaft, Dialekte, Gemeinschaftlichkeit, Familie – alles gerät in den Mahlstrom globalisierter Prozesse, in denen die Partikel, die einmal Personen waren, herumgewirbelt werden. An die Stelle von Verbot, Gebot oder Gesetz, die zur Disziplinargesellschaft gehörten, treten Projekte, Initiativen, Motivation. Die Leistungsgesellschaft versucht, an die personalen Ressourcen heranzukommen: Aus den Leuten ist mit Befehlen nicht mehr das herauszuholen, was gebraucht wird. Der Einzelne lernt, sich als unternehmerisches Selbst zu verstehen, das alles hergeben soll. Nur so kann er zur Goldmine werden, aus der die neuen Rohstoffe, die da sind – Arbeitsbereitschaft, Engagement, Beschleunigungsfähigkeit – herausgeholt werden können. Darum verabschiedet sich die Leistungsgesellschaft von der Ausschließung. Gefängnisse und Krankenhäuser schrumpfen, elektronische Fußfesseln und ambulante Dienstleistungen, Videokameras und Teambesprechungen sind die neuen Organe der Leistungsgesellschaft. Und darum ist Inklusion das zeitgemäße politische Instrument: Der Flow, der reißende Fluss zu dem Gesellschaft geworden ist, duldet keine Sandbänke, nichts Statisches, sondern mobilisiert alles, was fest war. Wie anfangs erwähnt, stammt der Begriff Inklusion aus dem Lateinischen und bedeutet »einschließen, einsperren«.9 Cicero zum Beispiel spricht von jemandem, den man zu den nächtlichen Dieben in den Kerker »inkludiert« (»aliquem in carcerem inter fures nocturnos«). Livius schreibt vom »animus in corpore inclusus«, von der Seele, die im Körper eingeschlossen ist. Philosophiegeschichtlich gehört die »Inklusion« in die Logik. Aristoteles sagt: »Wenn A jedem oder irgendeinem B zukommen kann, kann es auch B einem A.«10 Das griechische Äquivalent ist συγκλείω.11 Es kann ›Zusammenschließen‹ und ›einschließen‹ bedeuten, wird verwendet im Blick auf Soldaten, die umzingelt sind oder es kann auf Fische, die im Netz gefangen sind, verwendet werden. Im Neuen Testament wird in Lukas 5,6 vom Fischzug des Petrus gesprochen: »Als sie dies taten, fingen sie in ihren Netzen (synekleisan) eine große Menge Fische.« Paulus nutzt den Begriff (im Römerbrief 11,32) geschichtstheologisch: Gott hat alle, »Juden und Heiden,
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unter den Ungehorsam eingeschlossen«. Das heißt, er hat sie als Ungehorsame herausgestellt und dadurch dem gleichen Urteil unterworfen, »damit er sich aller erbarme«. Gott hat die Menschen durch das Gesetz in eine Haft eingeschlossen, die sie vor der Selbstzerstörung schützt, bis der Glaube offenbart wird.12 In der dualistischen Weltbetrachtung der Gnosis erscheint die Welt als Gefängnis, in dem die Seelen eingeschlossen sind, bis der Erlöser kommt, um sie zu befreien. »Und ich ging hin zu allen den Meinen, die eingeschlossen waren, sie zu befreien, daß ich keinen ließe gebunden«, heißt es in einem gnostischen Text, in dem der Erlöser kommt, »um die eisernen Riegel zu zerschlagen, die die Seelen eingeschlossen halten.«13 Man kann sagen, dass in der Tradition der Begriff der »Inklusion« der Gegenbegriff zum Begriff der Freiheit und der Befreiung ist und eigentlich ausnahmslos eine negative Bedeutung hat. So beginnt das, was Lewis Mumford als Befürchtung formuliert hat, immer schneller zu einer Realität zu werden, wie es Byung Chul Han sagt: »Heute entwickelt sich der ganze Globus zu einem Panoptikum. Es gibt kein Außerhalb des Panoptikums. Es wird total. Keine Mauer trennt das Innen vom Außen. Google und soziale Netzwerke, die sich als Räume der Freiheit präsentieren, nehmen panoptische Formen an. Heute vollzieht sich die Überwachung nicht, wie man gewöhnlich annimmt, als Angriff auf die Freiheit. Man liefert sich vielmehr freiwillig dem panoptischen Blick aus. Man baut geflissentlich mit am digitalen Panoptikum, indem man sich entblößt und ausstellt. Der Insasse des digitalen Panoptikums ist Opfer und Täter zugleich. Darin besteht die Dialektik der Freiheit. Die Freiheit erweist sich als Kontrolle.«14
Mit dem Begriff der Inklusion stellt sich eine Welt ihr Rezept aus, das alle klaustrophoben Anwandlungen betäuben soll.
Anmerkungen 1 | Mumford, Lewis: Mythos der Maschine, Frankfurt a.M.: Fischer 1986, S. 713. 2 | Sloterdijk, Peter: Im Weltinnenraum des Kapitals. Für eine philosophische Theorie der Globalisierung, Frankfurt a.M.: 2006, S. 26 und 267f. Zitiert bei Žižek, Slavoj: Der neue Klassenkampf, Berlin: Ullstein 2015, S. 9. 3 | Siehe Wikipedia unter »Soziale Inklusion«, letzter Zugriff 20.9.2016.
Inklusion
4 | Zitiert in: http://bonnsustainabilityportal.de/?p=27434, letzter Zugriff am 19.01.2013. Vgl. ›Business Case‹ Hungerbekämpfung. Der fragwürdige Beitrag von Agribusiness und Nahrungsmittelindustrie zur Ernährungssicherheit, herausgegeben vom Forum Umwelt und Entwicklung, Berlin 2013. Autor der Misereor Studie ist Benjamin Luig. Die Studie kritisiert die sog. ›Inklusiven Geschäftsmodelle‹. 5 | Lexikon des Mittelalters, Band V, Lachen, München und Zürich: Artemis 1999, Spalte 426f. 6 | Foucault, Michel: Überwachen und Strafen, Frankfurt a.M: Suhrkamp 1977. Vgl. Han, Byung Chul: Müdigkeitsgesellschaft, 8. Auflage, Berlin: Matthes & Seitz 2013, S. 19ff. 7 | Ebd. S. 19. 8 | Diese totale Mobilmachung hat Sloterdijk, Peter: Eurotaoismus, Frankfurt a.M: 1989 untersucht. Vgl. auch Brückner, Peter: Das Abseits als sicherer Ort, Berlin: Wagenbach 1994. 9 | Georges, Karl Ernst: Kleines lateinisch-deutsches Handwörterbuch, 2. Auflage Leipzig: Hahnsche Buchhandlung 1869, Spalte 1156. 10 | Ausführungen darüber finden sich in der »Ersten Analytik« des Aristoteles. Aristoteles: Erste Analytik, Erstes Buch 24b und 25. Philosophische Schriften, Band 1, Darmstadt 1995. Im Historischen Wörterbuch der Philosophie taucht der Begriff Inklusion nur in seinen mathematisch-logischen Dimensionen auf. (Historisches Wörterbuch der Philosophie, herausgegeben von Ritter, Joachim und Gründer, Karlfried, Band 4, Basel/Stuttgart: Schwabe & Co 1976, Spalte 383f. Menne, A.: Inklusion.) 11 | Vgl. den Artikel »συνκλείο« in: Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Band VII, Stuttgart 1964, S. 744-747. 12 | Ebd. Seite 746. 13 | Ebd. Seite 747. 14 | Han, Byung-Chul: Transparenzgesellschaft, 2. Auflage, Berlin: Matthes & Seitz 2012, S. 82.
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»Die List des Teufels scheint eben gerade darin zu bestehen, dass er nichts zu tun vorgibt. In Wirklichkeit vernichtet er.«1 Die überall herumschwirrende Innovationspropaganda ist dreister als der Teufel. Sie tut nicht nur so, als sei Innovation nichts; nichts, worüber man sich aufregen oder Sorgen machen müsste. Sie preist vielmehr Innovation als Allheilmittel an. Alles, was nicht ist, wie es sein könnte, alles, was sich krisenhaft zuspitzt, alles was zum Problem zu werden droht oder bereits eins ist, könne, so das Versprechen, durch Innovation und nur durch sie zum Guten gewendet oder mindestens unschädlich gemacht werden. ›Innovation‹ ist für moderne Ohren ein Wort von makellosem Wohlklang. Auf sie richten sich (fast) alle Zukunftshoffnungen: ›Soll Rettung kommen, so kommt sie nur so‹. Und nun also die skandalöse Behauptung, sie sei Teufelswerk, sie vernichte, statt zu heilen. Und mehr noch, dies sei nicht nur ein Fehlschlag, der aus gefährlicher Selbstüberschätzung komme, sondern ihre geheime Absicht, ihr gewollter Daseinszweck, ihre eigentliche Antriebskraft. Innovation sei also planmäßige Zerstörung, die zur Rettung umgelogen werde. Kurzum: sie sei eine moderne Gestalt des Bösen. Was wird im allgemeinen Sprachgebrauch gehört, wenn das Substantiv ›Innovation‹ oder das Adjektiv ›innovativ‹ benutzt wird. ›Innovativ‹ wird als Synonym zu ›ideenreich‹ und ›erfinderisch‹ im Sinne von problemlösend und/oder vorwärtsweisend verwendet. Jemand der als innovativ gilt, ist selbstverständlich hochmotiviert, getrieben, den in ihm brodelnden Ideenreichtum zur Erscheinung zu bringen, ihn zukunftsweisend in die Tat umzusetzen. Sowohl das Substantiv als auch das Adjektiv treten mit großer Autorität als Sollensforderungen auf: Innovation muss sein.
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Die zugehörige Verbform ›innovieren‹ ist allerdings nicht gebräuchlich. Wenn wir sagen wollen, was wir tun, wenn wir innovativ sind, dann benutzen wir das Verb ›verändern‹ oder ›ändern‹. In beiden Wörtern steckt – noch hörbar – das bedeutungsschwere Adverb ›anders‹: ›Verändern‹ heißt also eigentlich ›anders machen‹. Aber genau das meint ›Innovation‹ nicht; sie verspricht nicht, es anders, sondern es besser zu machen. ›Bessern‹ und ›ändern‹ ist wirklich zweierlei. ›Verändern und ändern‹ werden allerdings kaum noch in ihrem eigentlichen, emphatischen Sinn des »Auch-anders-Könnens« gebraucht, sondern zur Bezeichnung der stupiden Herumbesserei am immer Gleichen genutzt. Innovation im Sinne des Besserns hat sich der Ideologie des »Nicht-anders-Könnens«, der Sachzwänge und folglich des Mehr-vom-Gleichen, verschrieben. Sie ist phantasielos. Das ist den Komparativen, den Steigerungsformen der Adjektive, eigen, dass sie den Ausblick auf das Andere verstellen und stattdessen die Überbietung des Gleichen als Ausweg aus bedrängter Lage ins Auge fassen. Was ich besser machen will, erzwingt keine Erneuerung und keine Umkehr, sondern nur eine Korrektur dessen, was sowieso im Gange ist. Ganz anders, wenn ich etwas gut machen will. Das nämlich zwingt dazu, mit Gewohnheiten, eingeschliffenen Verfahrensweisen und Routinen, die sich nicht bewähren, zu brechen, um einen Neuanfang zu ermöglichen. Im Begriff der Innovation wird der alchimistische Glaube, man könne aus Dreck Gold machen, transportiert. Wenn man das Schlechte nur unablässig verfeinere und verbessere, werde es in einer unabsehbaren Zukunft umschlagen ins Gute, ja zuguterletzt sogar ins Perfekte. In der Innovation steckt demnach eine nie versiegende, zukunftswärts gerichtete Triebkraft. Paradoxerweise muss dieser Logik zufolge die Perfektion ohne Unterlass angestrebt werden, ohne dass man je dort ankommen dürfte, denn Perfektion, das Zu-Ende-Gemachte, wäre der Tod der Innovation. Im Deutschen ist der Begriff ›Innovation‹ in seiner normativen Bedeutung ein junges Wort.2 Es steckt noch fast in den Kinderschuhen und hat schon eine enorme sprach- und wirklichkeitsprägende Kraft erlangt. Noch im ›Großen Meyer‹ von 1908 bezeichnet Innovation ausschließlich einen vom menschlichen Zutun unabhängigen Vorgang im Pflanzenreich: »Innovation (lat., ›Verjüngung‹), die im Pflanzenreich überaus verbreitete Erscheinung, daß die vegetative Tätigkeit von ältern Teilen fortgesetzt auf neue Ausgliederungen, z.B. von absterbenden Sprossen auf junge, übergeht«3 Im ›Fremdwörterduden‹ von 1974 findet sich dann
Innovation
neben dieser Deutung bereits die uns geläufigere Verwendung: »Entwicklung neuer Ideen, Techniken, Produkte«4, das heißt, der Begriff wandert aus der Biologie in den Bereich der Gesellschaftswissenschaften ein und bezeichnet eine bestimmte Qualität menschlicher Aktivität. Tatsächlich ist die »Gebrauchsgeschichte (des Wortes) im Deutschen […] seit dem Zweiten Weltkrieg zunächst durch steigenden Einsatz für technologische und wirtschaftliche Neuerungen gekennzeichnet.«5 Eine interessante frühe Fundstelle des englischen Wortes findet sich 1597 bei Francis Bacon in einem seiner Essays: »Of Innovations«. Bei ihm schillert ›Innovation‹ zwischen einem Geschehen in der Zeit und einem forcierten menschlichen Handeln im Dienste des Fortschritts, wobei er gleichzeitig davor warnt, die notwendigen Innovationen zu sehr zu beschleunigen: »Darum wäre es gut, wenn die Menschen mit ihren Neuerungen, dem Beispiel der Zeit selbst folgten, die sie zwar in großer Zahl, aber gemach und unaufdringlich hervorbringt.«6 Und noch weitere Monenda hat er in petto: »Auch achte man wohl darauf, dass die Verbesserung es sei, die den Wechsel der Dinge herbeiführt, nicht aber Neuerungssucht […]«. Und schließlich solle man sich an die Heilige Schrift halten, die sagt, dass »›wir auf dem zurückgelegten Wege innehalten und dann um uns blicken und ausfindig machen sollen, welches der gerade und richtige Weg ist um darauf zu wandeln‹ (Jer. 6,16).« Dieser Verweis auf die Heilige Schrift ist für moderne Innovateure vermutlich besonders anstößig. Nicht nur weil ihre nüchterne, naturwissenschaftliche Denkungsart einen solchen metaphysischen Ausrutscher nicht duldet. Sondern vor allem, weil die Mahnung, auf dem zurückgelegten Wege innezuhalten und sich umzuschauen, ihnen als geradezu kontraproduktiv erscheinen muss. Mit der Geradheit und Vorwärtsrichtung des Weges, den Bacon anstrebt, mögen seine Nachfahren allerdings sympathisieren. Es ist kein Zufall, dass der Begriff ›Innovation‹ nach dem Zweiten Weltkrieg eine steile Karriere zu machen beginnt. Mit ihm lässt sich die Auf bruchsstimmung charakterisieren, die – jedenfalls im Nachkriegsdeutschland – gern mit einem von Vergangenheit unbeschwerten Neuanfang, einer ›Stunde Null‹, assoziiert wurde. ›Innovation‹ kann geradezu als Kampf begriff gegen die alten Bezeichnungen großer historischer Umwälzungen aufgefasst werden. Epochale Umbrüche hießen früher Renaissancen, Reformationen, Revisionen und Revolutionen. Ihnen allen ist die Vorsilbe ›Re‹ gemeinsam, das heißt: Der
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›Neuanfang‹ ist gerade nicht als ›Stunde Null‹ zu denken, nicht als creatio ex nihilo. Jede Erneuerung erfordert demnach eine Rückbesinnung auf das Vergangene. Wenn ich einen Weg zurückverfolge, treffe ich auf jene Wegscheiden, an denen die Entscheidungen zugunsten des dann tatsächlich beschrittenen Weges gefallen sind. Dort könnten sich noch Spuren der verworfenen, nicht realisierten Möglichkeiten finden, die uns erlauben, die modernen Selbstverständlichkeiten als historisch gewordene und nicht naturgegebene zu erfahren, was ja die Voraussetzung dafür ist, sie in Zweifel zu ziehen. »Es ist ein großer Unterschied, ob man die Geschichte dessen schreiben will, worauf unsere Welt auf baut, oder die Geschichte dessen, was verlorengegangen ist, erzählen will.« 7 Das Bild der Vergangenheit droht für immer zu verschwinden, »wenn sich die Gegenwart nicht mehr in ihm erkennt«, sagt Walter Benjamin8, aber es gilt auch das Umgekehrte: die Gegenwart läuft sich tot, wenn sie sich nur auf sich selbst verlässt, sich nur aus sich selbst erschafft und das Andere ihrer selbst ignoriert. Innovation ist die unbußfertige Erneuerung. Ihr erscheint jede RückSicht als ein Rück-Fall. Unter dem Imperativ der Innovation werden Gegenwartskrisen niemals aus begangenen Irrtümern oder Fehlentscheidungen erklärt. Krisen sind in dieser Lesart immer und ausschließlich Resultat eines Novitätsmankos. Wer oder was in der Krise steckt, ist nicht modern genug, ist folglich innovationsbedürftig. Das alles rechtfertigt aber noch nicht die Behauptung, Innovation sei teuflisch, sei planmäßig zerstörerisch. Der Innovationsfuror nährt sich von dem Glauben – und bestärkt ihn zugleich – das jeweils Neuere sei auch zwangsläufig das Bessere. Während aber dieses Versprechen anspornend und ermutigend sein soll, ist es in Wahrheit äußerst deprimierend. Denn alles was ist, ist demnach nur auf Widerruf tolerabel, tatsächlich aber im Lichte eines künftigen Besseren bereits defizitär, mangelhaft, schon nicht mehr auf der Höhe des Sein-Sollens, wenn es in die Welt gesetzt wird. Für die industrielle Gesellschaft bedeutet das im Klartext, dass sie nichts als Müll erzeugt und das ist genau das, was sie tun muss, um das vergötzte Wachstum zu generieren. Man kann von nahezu allen Industrieprodukten, die fabriziert werden, unter der Vorgabe, dass Wachstum sein müsse, sagen, dass ihr eigentlicher Daseinszweck darin besteht, Müll zu sein. Sie werden hergestellt, so fordert es die Wachstumslogik, nicht um ihrer Brauchbarkeit und Tauglichkeit willen, sondern um ihrer möglichst schnellen Unbrauchbarkeit und Untauglichkeit willen.
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Die aber kann nur dadurch hergestellt werden, dass ständig neue Generationen von Produkten auf den Markt drängen und die alten ziemlich alt aussehen lassen, nicht zuletzt dadurch, dass die alten mit den neuen nicht mehr kompatibel sind, eine Innovation also hundert andere im Schlepptau führt. Kurzum: Industrieprodukte werden als Müll produziert, das heißt, sie sind bereits Müll, bevor sie in Gebrauch genommen werden. Sie werden dazu nicht erst durch Verschleiß, Ausmusterung oder Verschrottung. Der Superlativ des Attributs ›neu‹ annonciert den Wert eines Produktes. Man kann sich darüber entsetzen, »mit welch atemberaubender Schnelligkeit sich (zum Beispiel) die teuren Waffensysteme der USA immer wieder selber abschaffen, weil das neueste, noch Präzisere, Mächtigere, Gefährlichere Feind des Neuen ist. Wurde anfangs nur etwa alle fünf Jahre modernisiert, so ist der Rhythmus seit den siebziger Jahren immer schneller geworden.«9 Wenn der Wert eines beliebigen Gegenstands darin besteht, brandneu zu sein, der letzte Schrei, die Überbietung alles bisher Dagewesenen, dann ist er in demselben Moment, in dem er auf den Plan tritt, bereits im freien Wertverfall begriffen. Innovation im Dienste des Wachstums ist Vermüllung. Sie tut, als erschaffe sie, in Wirklichkeit vernichtet sie. Aber nicht nur die gegenwärtigen Dinge, Kenntnisse, Erfahrungen werden entwertet, sondern auch wir Zeitgenossen, die die Gegenwart bevölkern, werden zur Dienstbarkeit für das Fortschrittsprojekt erniedrigt. Klarsichtig hat Friedrich Schiller diesen unerlässlichen Preis allen Fortschrittsdenkens erkannt: »Wir wären die Knechte der Menschheit gewesen, wir hätten einige Jahrtausende die Sklavenarbeit für sie getrieben und unserer verstümmelten Natur die Spuren dieser Dienstbarkeit eingedrückt«. Jede Generation wäre also nur der Steigbügelhalter der kommenden. »Kann aber wohl der Mensch dazu bestimmt sein, über irgendeinem Zweck sich selbst zu versäumen?«10 Aber das scheint doch bestenfalls die halbe Wahrheit zu sein, denn der Begriff der Innovation wird heute zwar vorwiegend mit der Technik und der Warenproduktion in Verbindung gebracht, er spielt aber im Bereich des Sozialen eine ebenso gewichtige Rolle. Dort aber gelte eine andere Logik, die Logik der Humanisierung der Verhältnisse. Wie aber, wenn das Wesen der sogenannten sozialen Innovationen gerade darin bestünde, die menschlichen Verhältnisse zu maschinisieren, sie den Gesetzen des Maschinellen zu unterwerfen, nicht nur im Sinne einer Analogie, sondern faktisch. Im Englischen werden ›soziale Innovationen‹
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ziemlich ungeschminkt als ›social engineering‹ annonciert und damit ist klar gesagt, dass es dabei um die Produktion von Verfahren geht, die dem Machinenwesen nicht nur vergleichbar, sondern mit ihm vollständig kompatibel sind. Ins Auge springend steckt ja im Wort ›engineering‹ das Grundwort ›engine‹ und das heißt laut Oxford Wörterbuch ›Motor‹ und ›Lokomotive‹. Der ›engineer‹ ist der Ingenieuer. Aber während ersterer sich zu seiner Liaison mit der Maschine bekennt, ist es im Deutschen möglich, den Ingenieur als Künstler zu betrachten. Wir sprechen durchaus von Ingenieurskunst. Und das hängt wohl damit zusammen, dass im deutschen Begriff, trotz seiner offenkundigen Verwandtschaft mit dem englischen, nicht die ›Maschine‹, sondern das ›Ingenium‹ mitschwingt. Trotzdem wäre es heute sprachlich sehr drastisch und verräterisch vom ›Sozialingenieur‹ zu sprechen. Soziale Innovation klingt wirklich viel freundlicher, meint aber dasselbe. Soziale Neuerungen müssen – wie die technischen – in schneller Folge neuen Neuerungen weichen, je nachdem, welche Arbeits- und Konsumententugenden die Maschinerie des Marktes ihrem Entwicklungsstand entsprechend verlangt. Wer sich heute um einen anspruchsvollen Job bewirbt, kommt kaum daran vorbei, sich als ›innovativ‹ und ›flexibel‹ anzupreisen. Und Flexibilität besteht in moderner Lesart gerade darin, sich das gestern noch Gültige abzutrainieren, am besten es völlig zu verlernen, zu nichten, um sich ›frei‹ zu machen für das, was jetzt – vorläufig – im Schwange und opportun ist. »Die Fähigkeit, sich von der eigenen Vergangenheit zu lösen und Fragmentierung zu akzeptieren, ist der herausragende Charakterzug der flexiblen Persönlichkeit […]«11 Im technischen wie im sozialen Milieu gilt Innovation der Auslöschung des Alten: »[…] in allen [Hervorhebung M.G.] Bereichen des Lebens [beriefen sich] sogenannte Neuerer auf das Ansehen der Naturwissenschaft, um ihre Sichtweise zu fördern, besonders auf politischem und sozialem Gebiet. Die gesellschaftliche Organisation galt nun als etwas Geschaffenes«12, das folglich immer neu zur Disposition stand. Unverkennbar ist ›Innovation‹ ein Begriff der technokratischen Gesellschaft, die einen linearen technischen Fortschritt huldigt und deren Ziel es ist, ein technogenes Milieu herzustellen, in dem allem, »was nicht wissenschaftlich entwickelt, fabriziert, geplant und irgendjemandem verkauft worden ist,«13 das Daseinsrecht abgesprochen wird. Worüber sich die Innovationspropaganda jedoch vornehm ausschweigt, ist der ultimative Zweck all dieser innovativen Anstrengun-
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gen. In letzter Instanz geht es, worauf Günther Anders in seinen beiden Werken zur ›Antiquiertheit des Menschen‹ schon seit den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts scharfsichtig und unüberhörbar (er wurde trotzdem nicht gehört) hingewiesen hat, um den Menschenersatz bis hin zum Ersatzmenschen. Da der Mensch zur Perfektion nicht taugt, muss er durch Maschinenhilfe erst verbessert und schließlich überflüssig gemacht werden. Innovateure träumen ganz ungeniert von menschenbereinigten Verhältnissen: Schulen ohne Lehrer, Lastwagen ohne Fahrer und Pflegeheime mit Fütterungsautomaten gibt es bereits. Die hochfliegenden Träume gehen viel weiter. Es ist eine Gemeinsamkeit aller Unwörter der politisch-sozialen Sprache, dass sie nichts Konkretes, keine Ziele benennen, sondern inhaltsleer, methodisch und abstrakt bleiben und so in dem, was sie bewirken sollen, unkenntlich sind. Was ist schon dagegen zu sagen, dass man ›es‹ besser machen will, solange nicht gesagt wird, was besser gemacht werden soll. Das ist die Sprache der eleganten Macht, die sich dadurch unangreif bar macht, dass nichts gegen sie zu sagen ist. Fazit: Heißt das nun, dass moderne Gesellschaften keine Erneuerung brauchen? Soll alles beim Alten bleiben? Ist es gut so, wie es ist? Keineswegs: Ivan Illich plädierte schon vor beinah fünfzig Jahren für eine »Konviviale Erneuerung«. Die Hypothese, auf der die industrielle Gesellschaft fußte, »besagte, daß die Sklaverei mit Hilfe von Maschinen abgeschafft werden kann. Es hat sich gezeigt, daß Maschinen die Menschen versklaven. […] Nicht Werkzeuge, die ihnen die Arbeit abnehmen, brauchen die Menschen, sondern neue Werkzeuge, mit denen sie arbeiten können. Nicht weitere gut programmierte Energiesklaven brauchen sie, sondern eine Technologie, die ihnen dabei hilft, das Beste zu machen aus der Kraft und Phantasie, die jeder besitzt. […] Ich wähle den Begriff ›Konvivialität‹, um das Gegenteil der industriellen Produktivität bezeichnen zu können. Er soll für den autonomen und zwischenmenschlichen Umgang und den Umgang von Menschen mit ihrer Umwelt als Gegensatz zu den konditionierten Reaktionen von Menschen auf Anforderungen durch andere und Anforderungen durch eine künstliche Umwelt stehen.«14 Und was die Zukunftsorientierung betrifft: Was wäre, wenn wir uns einmal für die Gegenwart interessieren würden, denn sie brütet die Zukunft aus? In einer befriedeten Gegenwart müssten wir uns um die Planung einer lebbaren, friedvollen Zukunft nicht viel Gedanken oder gar Sorgen machen.
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Anmerkungen 1 | Rosenstock-Huessy, Eugen: Die Sprache des Menschengeschlechts, Bd. 1, Heidelberg: Lambert Schneider 1963, S. 491. 2 | Im Englischen verläuft die Entwicklungsgeschichte dieses Begriffs anders: Vgl. Dazu Girard, René: Die verkannte Stimme des Realen, München: Hansa 2002, S. 202ff. 3 | Meyers Großes Konversations-Lexikon, 6. Auflage, 9. Band, Leipzig/Wien: Bibliografisches Institut 1908, S. 848. 4 | Duden Fremdwörterbuch, 3. Auflage, Band 5, Mannheim/Wien/Zürich: Duden 1974, S. 328. 5 | Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Ritter, Joachim und Gründer, Karlfried: Band 4, Basel/Stuttgart: Schwabe & Co 1976, Sp. 391ff. 6 | »which indeed Innouateth greatly, but quietly, and by degrees, scarce to be perceiued…« ebd. Sp. 393. Und: Bacon, Francis: Essays, Stuttgart: Reclam 1970, S. 83. 7 | Illich, Ivan: Genus, Reinbek: Rowohlt 1983, S. 119. 8 | Agamben, Giorgio: Die Zeit, die bleibt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 159. 9 | Jungk, Robert: Menschenbeben. Der Aufstand gegen das Unerträgliche, München: Bertelsmann 1983, S. 58. Wahrscheinlich geht das Veralten heute noch schneller vonstatten. 10 | Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen, in: Schillers Werke, hg. von Chr. Christiansen, Hamburg: o.J., S. 164. 11 | Vgl.: Sennett, Richard: Der flexible Mensch, Berlin: Berlin Verlag 1998, S. 79f. Dazu auch: Gronemeyer, Marianne: Immer wieder neu oder ewig das Gleiche. Innovationsfieber und Wiederholungswahn, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2000, S. 124ff. 12 | Girard, René: Die verkannte Stimme des Realen, München: Carl Hanser Verlag 2002, S. 207. Girard fügt hinzu: »Mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts wurde Innovation zu einem Gott, dem wir auch heute noch Tag für Tag huldigen.« Ebd. 13 | Illich, Ivan: Entschulung der Gesellschaft, 4. Auflage, München: Beck 1994, S. 147. 14 | Illich, Ivan: Selbstbegrenzung. Eine politische Kritik der Technik, München: Beck 1998 (1975 zuerst auf Deutsch erschienen), S. 27f.
Kompetenz Margit Jandrisovits
Kompetenz, ein inzwischen alle Lebensbereiche durchdringender vieldeutiger Begriff von hoher manipulativer Macht, wurzelt im lateinischen competere. Ursprünglich wurde dieser Begriff nur in der Bedeutung von zusammentreffen, etwas gemeinsam erstreben verwendet.1 Im 13. Jahrhundert findet das lateinische Substantiv competentia Eingang in die Rechtssprache und regelt die den Klerikern und Angehörigen des Militärs zustehenden Einkünfte. Es kennzeichnet damit etwas, das jemand »zur Notdurfft«2 hat oder braucht. Bereits im 16. Jahrhundert kommt der Aspekt des Wettbewerbs3, der sich heute noch im englischen compete nachvollziehen lässt, hinzu. Das seit dem 18. Jahrhundert im öffentlichen Recht verwendete Adjektiv competens schließlich heißt so viel wie zuständig, befugt, rechtmäßig. Es beschränkt sich jedoch nicht auf die Zuständigkeit von Staatsorganen. Schon Anfang des 19. Jahrhunderts spricht man von competenten Personen, wenn jemand kraft seiner Einsicht und Kenntnisse über eine Sache urteilen kann. Kompetenz bedeutet dann auch die Befugnis zu etwas, »das anerkannte Vermögen zum angemessenen Handeln«4 und kommt der Bedeutung der heute gebräuchlichen Definition von fähig und zuständig näher. Kompetenz ist »[…] üblicherweise das, was ein Mensch tatsächlich kann und weiß. Die Summe der im Lebenslauf erworbenen und angewendeten Fähigkeiten, Wissensbestände und Denkmethoden ermöglichen es dem über sie verfügenden Individuum, in unterschiedlichsten Ausgangssituationen selbstbestimmt und eigenverantwortlich handeln zu können.«5 In dieser Definition erscheint Kompetenz auf den Einzelnen bezogen noch umfassend gedacht. Der kompetente Mensch ist also jener, der mit seinem Wissen und Können, mit seiner Einschätzungsgabe und Urteils-
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fähigkeit, mit entsprechendem Verantwortungsbewusstsein ausgestattet sein Leben meistert. Das »Fähigsein«, das Weinberg beschreibt, lässt an Lebenstauglichkeit denken. Kompetenz ist noch nicht in Teilkompetenzen zersplittert, scheint noch über den Verdacht, von Experten aller Art instrumentalisiert zu sein, erhaben. Von selbstbestimmtem und eigenverantwortlichem Handeln, wie es hier beschrieben wird, ließe sich im weiteren Sinne auch eine gewisse Zuständigkeit ableiten. In den letzten Jahrzehnten hat sich der Kompetenzbegriff jedoch entscheidend verändert. Er taucht meist als zusammengesetztes Nomen auf und infiltriert zunehmend unser Handeln und Denken. Es gilt eine Unzahl von Teilkompetenzen in unserer durch und durch verwalteten Welt zu erwerben. Diese sind normiert und werden am Ende eines stufenweisen Aneignungsprozesses evaluiert. Zertifikate segnen schließlich den Aufwand ab und »befähigen« die »Absolventen« zu bestimmten Tätigkeiten in dafür ausgewiesenen Bereichen, erklären sie als dafür »zuständig«. Eine per Dekret ausgestellte »Befähigung«, die nicht automatisch »Fähigkeit« impliziert, ermöglicht also eine von Experten autorisierte Form der Zuständigkeit und macht die Zertifizierten selbst wieder zu Experten. Die Spirale dreht sich weiter. Es gibt kaum einen Lebensbereich, in dem sich ohne Zertifikat ein geeigneter Handlungsspielraum eröffnet. Es geht nun nicht mehr so sehr um Können, um Fähigkeiten im weiteren alltagstauglichen Sinn, sondern um vorgefertigte Konzepte für alle Lebensbereiche, die in Fortbildungsveranstaltungen verkauft werden. In immer skurriler anmutenden Ausformungen erheben sich Wortneuschöpfungen zu »kategorischen Imperativen«. Als zu erwerbende Schlüsselkompetenzen, Kernkompetenzen, Sachkompetenzen und unzählige andere verwandte Unwörter haben sie Eingang in unsere Alltagssprache gefunden. Ihre »oszillierende Vieldeutigkeit«6 verleiht ihnen Macht. Die dafür zuständigen Erfinder, Verordner, Überprüfer, Verwalter, Nutznießer halten sich im Hintergrund. Sie leisten gute Arbeit, denn kaum jemand würde in Frage stellen, dass eine Unzahl von Kompetenzen für den beruflichen und privaten Erfolg maßgeblich ist. Darüber herrscht inzwischen breitester Konsens. Als »lebenslanges Lernen«, eine auf den ersten Blick unverdächtig erscheinende Kurzformel, ist der Auftrag zur Aneignung einer unüber-
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schaubaren Menge fragwürdiger Kompetenzen in unseren Gehirnen verankert. Lernen allerdings ist als Begriff viel weiter gesteckt als Kompetenzerwerb. Es findet institutionalisiert, aber auch außerhalb kontrollierender Einrichtungen statt. Lernen hat mit Zutrauen, Beobachten, Ausprobieren, Erfahrung sammeln, Hineinwachsen in Aufgaben aus der Notwendigkeit heraus zu tun und ist nicht automatisch zielgerichtet. Das Aneignen von Kompetenzen hingegen ist immer außengesteuert, zweckgebunden, findet organisiert statt und soll möglichst reibungs- und überraschungslos ablaufen. Schon das Kleinkind im Kindergarten erfährt mit begeisterter Zustimmung der Eltern die Förderung seiner Sprachkompetenz. Sozialkompetenz zu vermitteln gehört selbstverständlich auch zum pädagogischen Auftrag in der Früherziehung und wird auf verschiedene Art überprüft und bescheinigt. Kompetenzmodelle liefern dafür fixe Vorgaben. Ohne den Überbau der Kompetenzerweiterung läuft selbst einfaches Spielen, Singen, im Miteinander Lernen immer mehr Gefahr, als Zeitverschwendung zu gelten. So wenig wie möglich darf dem Zufall überlassen werden. Selbst die Kleinsten sind so bereits eingebunden in ein perfides lebenslanges Kontroll- und Verwaltungssystem. Sie haben, ohne es zu ahnen, den ersten Schritt in eine von Plastikwörtern beherrschte »gespenstische Phantomwelt, die zwischen Mensch und Welt geschoben ist« 7 gemacht, in eine Welt des Optimierungswahns und der Überforderung, in der Entfremdung von sich selbst und den anderen unvermeidlich ist. Sozialkompetente Experten, die uns zu sozialkompetenten Wesen machen sollen, greifen bereits früh in unser Leben ein. Mitmenschlichkeit wird verwaltet, in Modulen angeboten und trainiert. Mitgefühl, Fürsorge, Zugewandtheit verlieren sich im Sog eines diffusen normativen Konstrukts. Nachdem im Kindergarten Vorarbeit geleistet wurde, kann nun die Schule die Kompetenzaneignungsmaschinerie weiter ankurbeln und die Kinder für das Leben fit machen. Die Grundschule teilt bereits ihre zu vermittelnden Aufgabengebiete in Fach- und Methodenkompetenzen, Sozialund Personalkompetenzen auf. Später werden Lehrer mit einem Manual für Allgemeine Lebenskompetenzen ausgestattet, auf den kompetenzbasierten Lehrplan eingeschworen und auf ihre Schüler losgelassen. Diverse
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Kompetenzmessungsverfahren dienen ihnen dabei zur Überprüfung der Lerneffizienz und Qualitätssicherung. Weiter geht es dann mit der Kompetenzorientierung in der Hochschuldidaktik, wo sie solche Blüten treibt, dass laut einer Delphistudie für Lehre, Prüfung und akademische Selbstverwaltung mindestens dreißig Kompetenzen erforderlich sind. Dazu gehören die Prüfungskompetenz, die Innovationskompetenz und, kaum zu fassen, auch die Kompetenzorientierungskompetenz.8 Der Begriff ›Kompetenz‹ spukt durch Stellenangebote, Bewerbungsschreiben, beherrscht den berufstätigen Menschen, normiert sein Verhalten, macht ihn planbar, berechenbar und kontrollierbar. Feld- und Fachkompetenz, Vernetzungskompetenz, Managementkompetenz, Entscheidungskompetenz, Selbstreflexionskompetenz und Stresskompetenz sind nur einige wenige Beispiele für die Sprachverwirrung in der modernen Arbeitswelt. Die Liste der Wortungetüme ist wie die Liste der Kurse, Ratgeber, Testverfahren unüberschaubar. Die Angst, nicht mithalten zu können, standardisierte Vorgaben nicht erfüllen zu können, inkompetent zu sein, ist ständiger Begleiter. In einer späteren Lebensphase bedarf es schließlich zur Versorgung gebrechlicher, betagter Familienmitglieder einer Pflegekompetenz. Das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, in das Helfenkönnen aus der Verantwortung, aus Mitgefühl, aus der Notwendigkeit heraus, ist im jahrzehntelangen Teilkompetenzerwerb längst abhandengekommen. Während die zu pflegende Person zum Fall erklärt und ihre Pflegestufe behördlich festgelegt wird, erfahren die Angehörigen, welche Maßnahmen sie zu setzen haben. Wieder gilt es, sich entsprechende Kompetenzen anzueignen oder die Obsorge über einen professionellen Pflegedienst zu organisieren. Auf viele Menschen wartet zuguterletzt der Weg in ein Pflegekompetenzzentrum. Dort werden sie von Personen versorgt, die nachweislich klar definierte Qualifikationsstandards erfüllen und dazu legitimiert sind. Ihre erworbenen Kompetenzen ermächtigen diese Pflegeexperten nach vorgegebenen Richtlinien rational und zielorientiert mit den auf Hilfe und Zuwendung angewiesenen alten Menschen zu verfahren. Für Insassen, die als geistig und körperlich in der Lage befunden werden, ist selbst an diesem Ort der Erwerb digitaler und anderer Kompetenzen noch Teil des Beschäftigungsprogramms.
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Es scheint kein Entrinnen zu geben. Der Einzelne fühlt sich in Einzelteile zerlegt, leer, um seine Lebendigkeit und Unverwechselbarkeit betrogen. Das »Notwendige« und das »Angemessene« als Teil des früheren Kompetenzbegriffs hat seine Bedeutung verloren. Lebendig geblieben ist die Kategorie des Wettbewerbs, ein verzweifeltes Gegen- und Nebeneinander – bedürftige Ichs in Dauerbeschäftigung mit sich selbst und möglichen Konkurrenten, am Gängelband einer Heerschar von Experten – Menschen, denen die Phantasie und die Kraft fehlt, sich gegen Konditionierung und Gewöhnung an derart lebensfeindliche Vorgaben aufzulehnen. Der versprochene Mehrwert lebenslangen Aneignens normierter, verwalteter Fertigkeiten erweist sich, wie es scheint, letztendlich als uneinlösbar. Vielmehr gilt, je mehr sich ein Mensch bemüht kompetent zu sein, desto mehr entfernt er sich von sich selbst und seinen Mitmenschen, desto lebensuntüchtiger wird er.
Anmerkungen 1 | Wahrig Deutsches Wörterbuch, 9. Aufl., S. Gütersloh, München: Brockhaus 2011, S. 864. 2 | Ritter, Joachim; Gründer, Karlfried: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd.4, Basel, Stuttgart: Schwabe 1976, S. 919. 3 | Knoblauch, Hubert: Von der Kompetenz zur Performanz. Wissenssoziologische Aspekte der Kompetenz. In: Kurtz, Thomas; Pfadenhauser, Michaela (Hrsg): Soziologie der Kompetenz, Wiesbaden: Springer 2010, S. 239. 4 | Ebd. S. 239. 5 | Weinberg zit. in: Evers, Reimund: Soziale Kompetenz zwischen Rationalisierung und Humanismus – eine erwachsenenpädagogische Analyse, Münster: LIT 2000, S. 17. 6 | Pörksen, Uwe: Plastikwörter. Die Sprache einer internationalen Diktatur, 7. Aufl. Stuttgart: Klett-Cotta 2011, S. 36. 7 | Ebd. S. 17. 8 | Liessmann, Konrad Paul: Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung. Eine Streitschrift. Wien: Zsolnay Verlag 2014, S. 58.
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Leitlinien Beate Zimmermann
Leitlinien sind Empfehlungen, die Ärzte nutzen sollen, um eine Krankheit optimal zu diagnostizieren und zu behandeln. Leitlinien sollen in der Medizin das Handeln im Krankheitsfall vereinheitlichen und damit besser machen. Sie versprechen dem Patienten, die beste Behandlung nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft zu erhalten. Folgen die Ärzte den Empfehlungen der Leitlinien, machen sie nichts falsch und handeln nach bestem Wissen anderer. Es gibt Leitlinien für Diagnostik, für Therapie, für Patienten, für Ärzte, für Pflegende. An der Zahl sind es Hunderte, weltweit Tausende. Wie entsteht eine Leitlinie? Die medizinischen Leitlinien werden von Fachgesellschaften erstellt und wir alle, ob Laien oder Experten, können sie im Internet zum Beispiel unter www.leitlinien.de nachlesen. Die wichtigste Fachgesellschaft, aber nicht die einzige, die Leitlinien erstellt, ist die »Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften«. Im Internetportal der Organisation AWMF findet sich folgende Definition: »Die ›Leitlinien‹ der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften sind systematisch entwickelte Hilfen für Ärzte zur Entscheidungsfindung in spezifischen Situationen. Sie beruhen auf aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen und in der Praxis bewährten Verfahren und sorgen für mehr Sicherheit in der Medizin, sollen aber auch ökonomische Aspekte berücksichtigen. Die ›Leitlinien‹ sind für Ärzte rechtlich nicht bindend und haben daher weder haftungsbegründende noch haftungsbefreiende Wirkung.« Es gibt unterschiedliche Leitlinien. Die einfachste Form nennt sich S1 Leitlinie und ist die Empfehlung einer Expertengruppe, die weitgehendste Form ist die S3 Leitlinie. Sie soll den Stand der Wissenschaft repräsen-
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tieren. Sie bezieht sich auf die Ergebnisse großer Studien, die die Behandlung der entsprechenden Krankheit als die momentan beste beweisen sollen. Eine solch evidenz-basierte Behandlung soll praxisleitend sein und ist oft Bedingung der Honorierung durch die Krankenkasse. EBM (evidence based medicine), ins Leben gerufen von kritischen Medizinern, die überflüssigen Pharmakonsum reduzieren wollten, ist heute zum Totschlagargument gegen jegliche erfahrungsbasierte Medizin geworden. Jede Leitlinie hat ein Verfallsdatum und soll regelmäßig überprüft und erneuert werden. Leitlinien sind Textwerke von häufig über 100 Seiten und nochmals seitenlangen Literaturangaben. Für die Praxis gibt es Kurzfassungen, die der Arzt als Nachschlagewerk und Handlungsempfehlung nutzt. Eine Leitlinie soll also medizinisches Handeln standardisieren und damit berechenbar machen. Die Ärzte können im Grunde nichts mehr falsch machen, die Krankenkassen können ihre Ausgaben planen, die Industrie kann ihren Markt berechnen und die Patienten verschwinden auf diese Weise zwangsläufig. Es gibt keine kranken Menschen, deren Krankheiten individuell behandelt werden, sondern Krankheiten, für die es Behandlungsleitlinien gibt. Leitlinien werden innerhalb der Medizin kontrovers diskutiert. Ich möchte die vorhandene Kritik vorstellen, zu Anfang aber etwas zum Begriff des Leitens anmerken. Im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm finde ich unter »leiten«: »[…] immer tritt bei ihm das bestimmen einer richtung und eines zieles für einen weg hervor, wobei dieses gewöhnlicher durch persönliche führung als durch bestimmung aus der ferne, durch befehl oder beschreibung gedacht wird«. Es taucht als biblischer Begriff auf, Gott leitet: »herr, leite mich in deiner gerechtigkeit […] leite mich in deiner wahrheit […] herr, weise mir deinen weg, und leite mich auf richtiger bahn […] leite mich auf ewigem wege etc.« Leitkühe oder -hammel wissen, wo es lang geht. Wer entwickelt eine Leitlinie? Und wer wird geleitet? Leiten Fachgesellschaften? Die Politik? Die ökonomischen Notwendigkeiten? Die Marktinteressen der Industrie? Wissen die Geleiteten nicht, was zu tun ist? Es ist sicherlich hilfreich, dass die Fachgesellschaften den praktizierenden Ärzten die neuesten Untersuchungen und deren Einschätzung mitteilen, allerdings nur dann, wenn ihre Veröffentlichungen eine Diskussion und Kritik zulassen. Die Leitlinien geben vor, das ärztliche Handeln »evidenzbasiert«, also unabhängig von Vorurteilen und Interessen
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und besser zu machen. Es fällt auf, dass die Erfahrungen der Praktiker in den Leitlinien der Fachgesellschaften nicht erscheinen und somit für die Praxis und die Auseinandersetzung verloren gehen. Wie entstehen Leitlinien? In die Leitlinienkommission werden Experten berufen, die eine Leitlinie erstellen oder die Ersteller beraten sollen. Leitlinien beinhalten meist auch die Empfehlung von Arzneimitteln. Dabei entstehen Interessenkonflikte, die in den Leitlinien benannt und veröffentlicht werden sollen. • Experten bekommen Geld von der Pharmaindustrie für Studien, Beratungen und Vorträge; • Experten waren bei der Pharmaindustrie angestellt; • Experten haben Eigentümerinteressen an einem Pharmaprodukt; • Experten haben individuelle Karriereinteressen bei der Durchsetzung von Leitlinien. Es gibt eine Verpflichtung, Interessenkonflikte anzugeben. Außer der Benennung der Konflikte werden keine Maßnahmen ergriffen, um den Einfluss von industrieabhängigen Experten zu verhindern. Der zweite Kritikpunkt betrifft die für die Leitlinien genutzten Studien. Große Studien werden heute fast nur noch von der Industrie durchgeführt. Große Patientenzahlen können nur multizentrisch – in vielen Kliniken parallel und mit großem finanziellem Aufwand – durchgeführt werden. Die Industrie entscheidet, welche Studien veröffentlicht werden, welche Fragen in der Studie gestellt und beantwortet werden. Es geht dabei in der Regel nicht um Ursachenforschung, es geht um einen Vorteil gegenüber der bisherigen Behandlungslinie. Das heißt aber auch, dass es um ein Interesse der Industrie geht und nicht um eine bessere Behandlung des Patienten. An mehreren Beispielen wurde nachgewiesen, dass nur diejenigen Studien erwähnt werden, bei denen einem Medikament ein positives Ergebnis bescheinigt wurde. Negative Ergebnisse blieben in der Schublade. Im Deutschen Ärzteblatt vom 2.September 2013 wurde die Untersuchung von industrieller Einflussnahme auf Leitlinien veröffentlicht. »Zum Einfluss pharmazeutischer Unternehmen auf klinische Leitlinien liegen nur wenige Publikationen vor, insbesondere für Deutschland […]. Häufig wurde ausgezählt, wie oft Leitlinienautoren Interessenkonflikte angeben: bei 80-100 % der untersuchten Leitlinien finden sich keine Angaben, sind sie vorhanden, geben bis
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zu 90 % der Autoren finanzielle Verbindungen mit pharmazeutischen Unternehmen an. Die Auswirkungen der Interessenkonflikt auf die Inhalte der Leitlinien wurden jedoch kaum untersucht.«1 »Am Beispiel Gabapentin werden Fehlinformation und Manipulation durch ein pharmazeutisches Unternehmen besonders deutlich.« 2 Gabapentin wird in der Leitlinie »Pharmakologisch nicht interventionelle Therapie chronisch neuropathischer Schmerzen« bei Schmerzen nach Gürtelrose empfohlen. Die Studiendaten sind gerichtskundig manipuliert. »Im Rahmen eines Gerichtsverfahrens musste das pharmazeutische Unternehmen über 8000 Seiten interner Dokumente öffentlich zugänglich machen. Es bekannte sich illegaler Marketingmethoden für schuldig und zahlte 430 Millionen Dollar Strafe.« 3
Kritiker fassten die Manipulationen zusammen: • »selektive Auswertung von Patientendaten • nachträgliche Veränderung des primären Endpunktes • in Anbetracht der Ergebnisse unangemessen positive Formulierung der Zusammenfassung • Autorschaft durch Ghostwriter« 4
Und wir könnten hinzufügen: die Zurückhaltung negativer Ergebnisse. Der Leitlinienkoordinator gibt Interessenkonflikte an. Er nennt eine Zusammenarbeit mit ungefähr 20 Pharmafirmen. Das Vertrauen in medizinische Studien von Seiten der Ärzte aber auch der Öffentlichkeit ist ungebrochen. Die Ärzte sollen für all ihre Entscheidungen eine Evidenz nachweisen, die sie allerdings nur aus den großen Studien übernehmen können. So macht sich die Medizin vollkommen abhängig von einer pharmazeutischen Industrie, die Studien nur für neue und teure Produkte entwickelt, die alle Möglichkeiten nutzt, um Studien in ihrem Sinne zu gestalten und die Ergebnisse zu beeinflussen. Die Erfahrung eines Hausarztes bleibt hier immer »unwissenschaftlich«, sein Handeln bleibt immer vorläufig, da er die Zeit hat, den Verlauf einer Erkrankung, die Wirksamkeit seiner Maßnahmen mit dem Patienten zu beobachten und zu variieren. Der Hausarzt sieht einen Kranken, der neben der akuten Beschwerde, die ihn zum Arzt führt, an anderen chronischen Krankheiten leidet, der möglicherwiese in einer Lebenskrise steckt, der Traumata zu verarbeiten hat – all das keine Dimension der Krankheit,
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sondern des Kranken. Verloren geht das Wissen um den Verlauf einer Krankheit, um die Fähigkeit der Selbstheilung eines Körpers. Bleiben wir beim Schmerz nach Gürtelrose. Es gibt so unterschiedliche Methoden der Beeinflussung aus der Erfahrung der Familie, der Hausarztes, der Naturheilkunde, der chinesischen Medizin, der Homöopathie, Erfahrungen, die in keiner Studie überprüft werden können, die aber existieren und für viele Patienten und Ärzte evident sind. Sie alle werden durch die Leitlinie diskreditiert und verschwinden. Das Ignorieren einer Leitlinie könnte in der Zukunft für Ärzte und Patienten zum Problem werden: »Seit einigen Jahren werden zunehmend Versorgungsverträge zwischen den gesetzlichen Krankenversicherungen und kassenärztlichen Vereinigungen geschlossen, die verpflichtende Vorgaben zu Indikationsstellung, Ablauf der Patientenbetreuung und interprofessioneller Kooperation enthalten. Voraussetzung für die Honorierung der verabredeten Leistungen ist die schriftliche Verpflichtung der beteiligten Ärzte, dass sie die leitliniengestützten Direktiven einzuhalten gewillt sind.«5 Und umgekehrt sind Nachteile für Patienten bekannt, die sich nicht leitliniengerecht behandeln lassen wollen. Bernd Hontschik schreibt in einem Artikel über die »Grenzen der evidenzbasierten Medizin«: »Bei der Behandlung der Multiplen Sklerose spielen Interferone eine wichtige Rolle. Natürlich sind sie seit 1999 auch in Leitlinien verankert und kommen als ›immunmodulatorische Stufentherapie‹ zur Anwendung. Das Ergebnis dieser Leitlinien sieht im KV-Bereich Hessen so aus: Die Berentung einer Patientin mit MS wurde 2005 mit der Begründung abgelehnt, dass sie sich trotz dringenden ärztlichen Anratens einer Behandlung mit Betainterferonen widersetzt habe. 2006 wurde der Rehabilitationsantrag eines Leiters einer MS-Selbsthilfegruppe von seinem Rentenversicherungsträger zurückgewiesen, weil er sich bisher nicht mit Betainterferonen habe behandeln lassen. Ebenfalls im Jahre 2006 erhielt ein MS-Patient von seiner privaten Krankenkasse den unmissverständlichen Hinweis, dass man die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall einstellen werde, wenn er sich weiterhin der Behandlung mit Betainterferonen entziehen würde.«6 Wer MS-Patienten kennt, weiß, wie oft das Leben mit Interferon beschwerlicher ist als ohne. Es reicht jedoch nicht aus, nur die Pharmafreundlichkeit der Leitlinien und ihre interessengeleitete Erstellung zu kritisieren. Dies würde lediglich zu einer noch größeren Papierflut führen, noch mehr Experten aus Statistik und Pharmazie könnten noch mehr Seiten über die Vertrauenswürdigkeit einer Leitlinie produzie-
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ren, immer mehr Experten könnten Experten kontrollieren, Computerprogramme könnten weltweit Betrügereien und Manipulationen aufspüren und dennoch wäre dem Patienten nur bedingt geholfen. Weit grundsätzlichere Aspekte müssen diskutiert werden. Ich möchte zwei Aspekte nennen, die miteinander verwoben sind: 1) Leitlinien sind die Wegbereiter einer standardisierten und schließlich digitalisierbaren Medizin, die auf erfahrene Ärzte verzichten kann. 2) Leitlinien verhindern eine Weiterentwicklung in der Medizin. Ein Mathematiker aus Stuttgart schreibt in der Süddeutschen Zeitung unter dem Titel: »Der Arzt kann einpacken – Warum man mit Mathematik heilen kann, ohne etwas von Medizin zu verstehen«. »Der Arzt wird sich zu einem weitgehend computerabhängigen Helfer für Kranke entwickeln. Der Doktor herkömmlichen Stils ist dann etwas für Romantiker unter den Patienten; der Computer wird zum Leibarzt werden. Er hat das entsprechende Know-how. Eine Horrorvision? Nein, im Gegenteil. Es werden weniger Fehler passieren […] Ist die Datenbasis groß genug, wird der Computer auch hier durch Microtargeting eine Therapie vorschlagen, die haargenau auf die persönliche Situation zugeschnitten ist – wahrscheinlich besser als die meisten Ärzte«.7 Der Computer kann nur Daten miteinander verknüpfen, die Menschen zuvor eingegeben haben und die eben oft interessengeleitet, manipuliert und reduziert erhoben worden sind. Ist eine Leitlinie erst mal in der Welt beziehungsweise im Netz, kann sie sich per Computer durchsetzen. Die romantischen Ärzte dürfen dann die Wirkungen und Nebenwirkungen empathisch begleiten, nur zu entscheiden haben Patient und Arzt nichts mehr. Ludwik Fleck, ein Bakteriologe und Virologe aus Lwow in Polen, hat sich in den 20er und 30er Jahren auch philosophisch mit der wissenschaftlichen Erkenntnis in der Medizin beschäftigt. Er spricht von einem Denkstil jeder medizinischen Epoche und dem sich daraus formierenden Denkkollektiv. Unser Denkstil heute bewegt sich zwischen Genetik und Statistik, zwischen Laborwerten und bildgebenden Verfahren. Sie sind der Rahmen, in den jede Diagnostik und Krankheitsdefinition eingeklemmt ist. Jede Überarbeitung der Leitlinien nach neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen geht nur innerhalb des Denkstils vonstatten; ein Umdenken,
Leitlinien
ein Aufgreifen eines neuen Ansatzes ist nicht mehr möglich. Fleck würde diese Entwicklung die »Harmonie der Täuschung« nennen.8 Nehmen wir das ungeliebte Cholesterin als Beispiel. Seit bei einem Teil der Herzinfarktpatienten ein erhöhter Cholesterinspiegel festgestellt worden ist, wird an der Cholesterinsenkung gearbeitet und viel Geld verdient. Das Absenken der »Cholesterinnorm« im Blut bei Gesunden und Patienten hat Millionen neuer Patienten geschaffen, die Medikamente einnahmen und diätabhängig wurden. Jahre abgesenkter Cholesterinspiegel und Medikamenteneinnahme haben nicht viel verändert, so dass wir heute aus den USA hören, dass der nominelle Spiegel ziemlich irrelevant ist, aber die Risikofaktoren sowie der Lebensstil entscheidend sind. Nun werden schon gesunde Menschen mit niedrigem Cholesterinspiegel therapiert, weil sie mit einem Risiko leben, in Zukunft einen Herzinfarkt zu erleiden. Die einmal entwickelte Cholesterinhypothese wird nie verlassen, die Senkung jeglichen Cholesterinspiegels wird fast zum verpflichtenden Risikomanagement. Können sich Arzt und Patient noch dem Schuldgefühl entziehen, sollten sie nicht leitliniengerecht mit einem Laborwert umgehen und sich gegen einen Cholesterinsenker entscheiden? In einem BGH-Urteil eines Prozesses gegen einen Heilpraktiker heißt es: Dass »[…] die Anwendung nicht allgemein anerkannter Therapieformen und sogar ausgesprochen paraärztlicher Behandlungsformen rechtlich grundsätzlich erlaubt ist. Es kann dahingestellt bleiben, ob dies schon deswegen der Fall sein muss, weil sich eine Beschränkung der Methodenfreiheit aus Rechtsgründen als Hemmnis des medizinischen Fortschritts bzw. als Stillstand der Medizin darstellen würde.«9 Stillstand der Medizin durch Einhaltung formalisierter diagnostischer und therapeutischer Handlungsleitlinien? Die behauptete verbesserte Gesundheitsfürsorge durch das Versprechen der gleichen Medizin für alle würde sich damit in ihr glattes Gegenteil verwandeln. Auch im Deutschen Ärzteblatt wird in einem Artikel dieser Gedanke aufgegriffen und diskutiert. »Klinische Forschung ist gekennzeichnet durch hochgradige Formalisierung und Bürokratisierung. Dies wurde kürzlich im Lancet als mögliche Ursache des seit mehr als 30 Jahren stagnierenden pharmakologischtherapeutischen Fortschritts diskutiert. Die epochalen medizinischen Entdeckungen der goldenen Jahre 1930 bis 1965 seien von einzelnen genialen, enthusiastischen, an Kranken orientierten, vom Heilungswillen
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getriebenen, in ihrer Handlungsfreiheit wenig eingeschränkten Ärzten und Forschern erbracht worden – mit ungenügender wissenschaftlichen Qualität, mangelhafter Statistik und geringen Patientenzahlen. Mit dem modernen System der Forschungstechnologie und -kontrolle wären Penizilline, Sulfonamide, Cephalosporine, Neuroleptika, Antidepressiva, antileukämische Medikamente und Steroide vermutlich nie entdeckt worden.«10 Antrieb der Forschung war offensichtlich der »Heilungswille«, die Suche nach Lösungen und nicht der Wunsch, den Markt auszuweiten und die Rendite zu erhöhen. Gesundung ist nicht abhängig von der Einhaltung standardisierter Handlungen und Therapien. Wir wissen, wie sehr die Person des Arztes, seine Wahrnehmung, seine Einfühlung in die Krankheit eine Rolle spielen, wie die Psyche des Patienten, seine soziale Lage, die Selbstheilungskraft eines Menschen an der Gesundung mitwirken. Die Beziehung zwischen Arzt und Krankem kann in keiner Leitlinie vorgeschrieben werden. Viele Leitlinienbefürworter betonen deshalb die Notwendigkeit der individuellen Erfahrung des Arztes und die dem Individuum angepasste Anwendung der Leitlinie. Leitlinien in einer Abhängigkeit von industriebestimmten Studien, von industriebezahlten Experten, im Rahmen von Wissenschaftsbegriffen unseres aktuellen Denkstils können nicht zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung beitragen. Im Gegenteil sehe ich die Gefahr des medizinischen Stillstands und der Vorbereitung einer inhumanen digitalisierten Krankheitserfassung und Behandlung.
Anmerkungen 1 | Schott, Gisela; Dünnweber, Claudia; Mühlbauer, Bernd; Niebling, Wilhelm; Pachl, Henry; Ludwig, Wolf-Dieter: Besteht ein Einfluss pharmazeutischer Unternehmen auf Leitlinien?, Deutsches Ärzteblatt Jg. 110, Heft 35-36, S. 577. 2 | Ebd. 3 | Ebd. 4 | Ebd. 5 | Ollenschläger.G. ; Kirchner, H.; Fiene, M: Leilinien in der Medizin – scheitern sie an der praktischen Umsetzung? Der Internist, Heidelberg: Springer 2001 42(4) S. 473-483. 6 | Hontschik, Bernd: Grenzen der evidenzbasierten Medizin. Projekt Psychotherapie 2008, Heft 4, S. 17.
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7 | Hesse, Christian: Der Arzt kann einpacken – Warum man mit Mathematik heilen kann, ohne etwas von Medizin zu verstehen, Süddeutsche Zeitung vom 21.5.2014. 8 | Fleck, Ludwik: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980. 9 | NJW 1991 Heft 24 S. 1536. 10 | Kienle, Gunver; Karutz, Markus; Matthes, Harald; Matthiesen, Peter; Petersen, Peter; Kiene, Helmut: – Deutsches Ärzteblatt 2003, 100(33).
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Management Hans Bartosch
Management ist ein prima Wort. Es bringt zum Ausdruck, dass eine Organisation oder ein Unternehmen eine Spitze, also: einen Kopf hat, der Verantwortung trägt für das Ganze. Dieser Kopf ist nach offenen und offiziellen Regeln gewählt worden. Er wird überprüft von einem dazu befähigten und ebenfalls regelhaft beauftragten Aufsichtsgremium. Dieser Kopf der Organisation zeichnet sich durch grundständige als auch berufserworbene ökonomische Kompetenz in den Feldern Finanzierung und Personalführung aus. Dieser Kopf, also: dieses Management verdeutlicht die Ziele und Ausrichtung sowohl durch seine und ihre spezifische Persönlichkeit als auch durch veröffentlichte und durchaus diskutierbare Grundsätze. Dieses Management zeigt sich engagiert in ständiger eigener Weiterbildung als auch in der gezielten Bildungsförderung für die zweite und dritte Leitungsebene im Unternehmen. Wie gesagt: Management ist ein prima Wort und eine hochsinnvolle, hochnotwendige Angelegenheit. Man möge an die Alternativen denken, nicht zuletzt im Sozial- und Gesundheitswesen. Hierarchisch hochpatriarchale Strukturen bildeten häufig bis ins letzte Viertel des 20. Jahrhunderts hinein geradezu ein Aushängeschild. Oft genug legte sich ein Kranz von Ehrfurcht um Gründungsgestalten. Man möge auch an die zweite Alternative denken: In der vermeintlich hierarchiefreien Abwertung jeglichen Leitungshandelns konnte und kann sich eine Klüngelwirtschaft, eine hosenträgerflutschende Männerbünderei entwickeln oder eine letztlich latent depressive Weigerung, sich Auseinandersetzungen zu stellen.
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Also: Es ist doch ganz gut, wenn sich im Sozial- und Gesundheitswesen ein vernünftiges Management vorfinden lässt. Führung und Leitung gehören zu einer Arbeitsteilung, die es nicht-führenden Mitarbeitenden erlaubt, ihr Tagwerk verlässlich und buchstäblich sinn-voll zu erfüllen. Soviel zur Ehrenrettung des Wortes Management und zur Verteidigung einer Kultur von Führung und Leitung. Jetzt kommt der zweite Teil. Der sagt: Aus dem ganzen anderen Bereich von sozialer Arbeit, von Heilkunst und Pflege lässt sich »Management« ohne weiteren Schaden heraushalten. Beginnen wir mit dem Qualitätsmanagement. Da ich sowohl kompetente Qualitätsmanagementbeauftragte kenne als auch kluge Auditorinnen, als auch selber von QM als Türöffner für Ethikarbeit im Krankenhaus schon profitiert habe, will ich nicht das Kind mit dem Bade ausschütten. Aber, um aus meinem Herzen keine Mördergrube zu machen: Was für Toyota gut war, kann doch für Diakonie, Arbeiterwohlfahrt und kommunale Jugendhilfe nicht das Leitmedium werden, oder? Zumindest nicht mit diesem Wort »Qualitätsmanagement«. Denn worum handelt es sich bei QM? Um ein Bündel klassischer und hilfreicher innenrevisorischer Mittel, die nunmehr von externen Kostenträgern gesetz- und verordnungsweise aufgestellt werden, um Finanzmittelzuweisungen zu regulieren. Soweit so – weder gut noch schlecht. Eine kluge Innenrevision hat noch niemandem geschadet. Und dass Finanzmittelgeber Ansprüche erheben, trägt auch eine gewisse Logik. Allein: warum muss solch ein in der Tat unerotisches und unvisionäres, der jährlichen Steuererklärung an Lästigkeit vergleichbares Instrumentarium den Titel und damit die Maske der Qualität bekommen? Denn zunächst – soviel formale Logik muss sein –: es handelt sich beim üblichen Qualitätsmanagement um ein reines Quantitätsmanagement. Dann soll man es auch so nennen. Auch Quantitäten sind ja nicht böse. Wenn ich mich dafür interessiere, wie viel Quadratmeter Rangierfläche für einen Rollstuhl am Waschbecken vorgehalten wird – das berührt Fragen der Lebensqualität. Selbst ein Personalschlüssel in einer Einrichtung für Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen und hohem Assistenzbedarf, lässt Rückschlüsse auf die Rahmenbedingungen von Lebensqualität der dort alltäglich und allnächtlich lebenden Menschen zu.
Management
Die eigentliche Qualität aber, die etwa eine hochaltrige Dame oder eine depressionserkrankte Patientin oder ein mit diversen Spasmen lebender Mensch erfährt, lässt sich im Kern nie mit den üblichen Kennzahlen erfassen. Fragen Sie die Menschen selbst, dann hören Sie dies eindeutig. Auch die Arbeitsqualität von engagierten Menschen im Gesundheitsund Sozialwesen wird durch weniges so beschwert und beeinträchtigt als durch eine weitere Kaskade von Dokumentationsobliegenheiten. Potenziert wird diese ›Beschwer‹ durch jedweden Heilsanspruch an Meere und Fluten dokumentarischen Mühens. Wiederum: Fragen Sie nach, dann hören Sie dies von den Handwerkerinnen und Handwerkern der Pflege und sozialen Arbeit und Heilkunst mehr als eindeutig. Wenn es nun für ein Unternehmen im Sozial- und Gesundheitswesen klug und notwendig sein sollte, QM-Obliegenheiten gleichsam zu bedienen, dann wäre es hilfreich, sich wirklich jeglicher Überhöhung dieser revisorischen und dokumentatorischen Systeme strikt zu enthalten. Denn nichts hat mich als Menschen der Religion in den vergangenen Jahren weniger angefochten, als die teilweise hochreligiöse Ganzhingabe an solche Systeme wie ein QM. Wenn es nur das QM wäre … Da höre ich mit großer Bewunderung, dass der wahrlich ehrbare und auch im Sozialwesen böse unterschätzte Beruf des Hausmeisters gerne ersetzt wird durch einen ›Facility Manager‹. Nicht, dass ich nicht höchsten Respekt habe vor der Komplexität dieser Diener an Haus und Hof, ohne die wir alle im Müll ersticken würden. Schämen wir uns aber, oder schlimmer, verachten wir wesentliche Tätigkeiten durch gezielte Denglifizierungen? Es handelt sich übrigens um Worte, die, by the way (!), hinter den schönen Klippen von Dover so viel Verständnis finden wie unser alllärmendes Wort »Handy« … Auch Wundmanagement gibt es. Schön … Oder viel mehr: Nein, Wunden sind nicht schön. Und die komplexen medizinisch-pflegerischen Tätigkeiten rund um Wunden gehören zu den kognitiv als auch ästhetisch anspruchsvollen Seiten der Disziplin. Aber, um Himmels Willen, wie hieß das denn früher, das mit den Wunden und deren Behandlung? Lief da denn alles schief? Aber wir leben ja in Zeiten des »case managements«, sowohl im Krankenhaus als auch in der Jugendhilfe. Um welchen Fall, Akkusativ oder Genitiv, es sich hier handelt, bleibt mir schleierhaft. Anspruchsvolle Tä-
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tigkeiten von Sachbearbeitenden, die sehr gut zusammenarbeiten müssen und können mit vielen anderen Berufsgruppen, über den Tellerrand schauen und auch gezielt einen Behandlungs- oder Begleitungsprozess abschließen können, denen hängt man nun ein Schild um, was eher nach dem ›cage‹, dem Käfig klingt. Ach ja, auch Risikomanagement gibt es, ein in der Tat finanztechnisch nicht überflüssiges Instrumentarium. Aber: Kann man denn Risiken mänätschen? Flut und Tod und Gier und Verzweiflung? Hilft es nicht viel eher, sehr nüchtern und ehrlich und – pardon – ein wenig demütig zu vergegenwärtigen, dass auch bei höchster Verantwortungsbereitschaft und Klugheit nicht alles immer zum Besten laufen kann? Über Risiken und Fehler zu sprechen, gehört zu den vornehmsten Aufgaben eines Managements, das diesen Namen zu Recht trägt. Gerade daher kann es, bei Licht betrachtet, kein Risikomanagement geben. Na klar, auf der anderen Seite der Risiken und Fehler gibt es auch Eventmanagement. Weniger spaßvoll wiederum: Es gibt das Belegungsmangement. Und das Beschwerdemanagement. (Beides wesentliche Angelegenheiten bei der Führung und Organisation eines Altenheims oder einer Klinik für Suchterkrankte.) Auch IT-ler benutzen dieses »M-Wort«, allerdings in der Regel ohne große religiöse Aufladung, wenn sie von Management sprechen. Eher Vorsicht daher vor jenen Informatikern – die weibliche Form scheidet hier wohl nicht zufällig aus … –, die auch noch Dokumentationsmanagement und Kostenstellenmanagement fast schöner besingen können als Mozart seinen Gott in der Messe. Mein Fazit: Stöpsel ziehen, Luft rauslassen, Fenster aufmachen, Kopf schütteln (und zuweilen waschen) – die Kirche im Dorf lassen und daher Management dort lassen (und dort auch machen), wo es hingehört. Ansonsten: Die nüchterne Sprachwelt als auch die fein schillernde Poetik der sozialen und heilkünstlerisch-pflegenden Arbeit taucht immer dort auf und ist dort aktuell wieder neu zu lernen, wo sachliche Zusammenhänge rund um große Schicksale, alltägliche Dramen und kistenweisen Weltenhumor herrliche Urständ feiern.
Pflegefall Willibald Feinig
PFLEGEFALL (Kompositum aus Pflege (indogermanische Wurzel für ›freundliche Sorge, Hilfe, Hut, Gebrauch‹) und Fall (indogermanisch ›Sturz‹): Jemand, der ohne Hilfe Anderer nicht leben kann. Englisch: Nursing case. Französisch: dépendant(e).
Er kann sich nicht selbst das Hemd über den Kopf ziehen, die rechte Schulter nur in einem bestimmten Winkel, etwa 45 Grad, bewegen, nicht mehr schwimmen; er wird zum Pflegefall. Sie kann sich nicht bücken, nicht fegen, aufwischen, abstauben, nicht das Bett richten, die Bettwäsche waschen und wechseln – ein Pflegefall. Er ist blind; nur, wenn er die Augen nach oben verdreht, sieht er die Decke, sagt der Pfleger. Raumpflegerin: Pflegefall Büro, Wohnung Beziehungspflege, eine gepflegte Schrift: Pflegefall Kommunikation Ein gepflegter Rasen, gepflegte Parks: Pflegefall Garten Gepflegte Küche: Pflegefall Essen Sie ist in die Hände der Pfleger, Helfer, Ärzte gefallen. Er ist in die Pflege gefallen.
Prävention Reimer Gronemeyer Die moderne Medizin suggeriert, dass sich der Mensch mit Hilfe der Medizin vom Schicksal verabschieden kann. Die Präimplantationsdiagnostik – so formuliert Giovanni Maio – sei ein besonders eindrückliches »Beispiel für die kategorische Ablehnung des Schicksals, sofern man Schicksal als das versteht, was nicht sein müsste, das aber ist.«1 Die Medizin habe eine Grundeinstellung des Noch-Nicht durchgesetzt, mit der Konsequenz, »dass sie kein Sensorium mehr dafür hat, dass es bestimmte Dinge gibt, denen man nicht mit der Haltung des Ändernwollens, sondern eher mit der Haltung des Annehmens adäquat begegnen kann«.2 Hingegen herrsche in der Medizin die Devise, dass es gelte, den Menschen dem Bereich des Zufalls zu entziehen. Und weil das so ist, richtet sich gesundheitspolitisches Denken immer mehr auf Prävention. Prävention ist letztlich der Versuch, die Zukunft in den Griff zu bekommen und vom Schicksal oder vom Zufall frei zu räumen. Ungeplantes und Unvorhergesehenes werden der modernen Medizin und dem modernen Menschen unerträglich und werden darum zum Objekt der Bekämpfung: Schicksal darf nicht sein. Die moderne Medizin verspricht vielmehr, »dass mit ihr der Mensch zum Selbstgestalter seines Schicksals und zum Schöpfer seiner selbst werden kann.«3 Medizinische Experten werden längst von entfesselten Kontrollillusionen beherrscht und ihre Patienten folgen ihnen brav. Der Sachverständigenrat im Gesundheitswesen sah sich jüngst zu der Feststellung genötigt: Die größten Gefahren für die Patienten bestünden heute in unnötiger oder übertriebener Medizin.4 Erst in diesem Kontext wird das Präventionsgesetz, das seit 2016 in Deutschland gilt, in seiner gefährlichen Bedeutung erkennbar. Das Gesetz verhilft der Zwangsversorgung mit Gesundheit zum Durchbruch.5 Das Präventionsgesetz propagiert eine Auffassung, nach der Gesundheit zur machbaren und planbaren (Eigen-)Leistung wird: Jeder ist seines
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Reimer Gronemeyer
Glückes Schmied. Jeder ist für seine Gesundheit selbstverantwortlich. »Der gesunde Körper wird damit zum Qualitätsmerkmal, zu etwas, was einen auszeichnet, weil es als Zeichen dafür gilt, dass man hart genug an sich gearbeitet hat.«6 Wer krank ist, muss sich fragen, warum. Hast Du Dich genug bewegt? Hast Du gesund gegessen? Hast Du alle Vorsorgeuntersuchungen wahrgenommen? Damit wird Gesundheit zum Produkt des eigenen Handelns – und das Präventionsgesetz schafft die Rahmenbedingungen für dieses medikalisierte Selbstverständnis. Ja, es ist ein wichtiger Schritt, mit dem die tendenziell totalitäre Medikalisierung der Gesellschaft vorangetrieben wird.7 Prävention ist der zeitgenössische Versuch des Menschen, die Zukunft zu determinieren. Und dieser Versuch findet in der spätmodernen Gesellschaft seine Konkretion in der Gesundheitsprävention. Zugleich treibt Prävention die Menschen weiter in Vereinzelung, indem sie die Eigenverantwortlichkeit herausstreicht. Die Präventionsgesellschaft ist eine Gesellschaft, die kein Schicksal duldet und sie wird damit eine unbarmherzige Gesellschaft.8 Unbarmherzig auch darin, dass die Frage nach dem »warum« total ausblendet wird: Die Frage nach der gesellschaftlichen Verursachung von Leiden ist abgeschafft. Prävention entleert die Zukunft und kappt die Wurzeln der Vergangenheit. Prävention ist – bei genauer Betrachtung – das Konzept einer toten Gesellschaft, einer Gesellschaft, die zugleich falsche Versprechungen macht. Sie winkt mit mehr Sicherheit, tatsächlich produziert sie mehr Unsicherheit, mehr Angewiesenheit auf ›Versorgung‹. Wie verändert das Präventionsgesetz den Alltag? Zunächst gebiert das Präventionsgesetz eine »nationale Präventionskonferenz«, die eine nationale Präventionsstrategie erarbeiten soll. Diese wird Alte wie Junge erfassen. So wird die Pflegeversicherung jetzt Präventionsleistungen für Alte bezahlen (das heißt: niemand wird in Ruhe gelassen) und sie sieht Pflichtberatungen für Eltern vor, mit deren Hilfe zum Beispiel Schutzimpfungsprogramme durchgesetzt werden. Ärzte können künftig Präventionsempfehlungen aussprechen, mit denen Patienten an Volkshochschulen oder an Fitness-Center verwiesen werden (Kritiker sprechen da von »Bewegung auf Rezept«). Man sieht eine künftige Verschmelzung von Fitness-Center und Arztpraxis vor sich. Ach nein: Das gibt es schon. Präventionskurse werden bezuschusst und 500 Millionen Euro sollen jetzt für Präventionsprogramme in Gemeinschaftseinrichtungen wie Schulen, Kitas, Betrieben oder Pflegeeinrichtungen fließen. Das heißt: Die Gesundheits- — oder soll man sagen: die Präventionsindustrie? — ist
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dabei, ein Erziehungs- und Kontrollnetz über alle ›Lebenswelten‹ zu werfen.9 Auch die Selbsthilfegruppen, die damit – im Gegensatz zu ihrem Namen – Teil staatlich-medizinischer Programme werden, sind in dieses Programm integriert. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung erhält von den Kassen künftig jährlich einen Zuschuss von 32 Millionen Euro für Präventionsprogramme. Das bedeutet im Klartext: Diese Bundesbehörde wird aus Versicherungsbeiträgen subventioniert.10 Der Staat wird zum Handlanger für die Interessen der Gesundheitsindustrie. Oder soll man sagen: Arzt, Erzieher und Fitnessberater verschmelzen gerade zum Lebensmanager? Zu diesem Trend passt, dass Früherkennungsuntersuchungen künftig über alle Altersgruppen hinweg »angeboten« werden. Der Trend, die Teilnahme an solchen Früherkennungsprogrammen zur Bürgerpflicht zu machen, ist ja schon an bestimmten Punkten erkennbar. Wer nicht regelmäßig zum Zahnarzt geht, verliert einen Teil seines Versicherungsschutzes. Die Drohung mit dem Verlust des Versicherungsschutzes wird mit dem Fortschreiten des Präventionsgedankens um sich greifen. Wer sich nicht präventiv verhält, wird zum Außenseiter, wird zum Dissidenten – der sein Todesurteil in den Augen der Präventionsaufseher selbst schreibt. Das Präventionsgesetz zielt im Grunde auf die Produktion eines ›nachhaltigen Menschen‹, der sich selbst kontrolliert, der die angebotenen Inputs eifrig schluckt, der den Übergang vom Präventionsangebot zum Präventionszwang willig akzeptiert und seine Freiheit in der Unterwerfung unter die Gesundheitsindustrie sieht. Der Präventionsbürger löst den citoyen ab. Nebenbei sei festgehalten, dass das Präventionsgesetz wenig daran ändern wird, dass ärmere Menschen in Deutschland ein höheres Krankheitsrisiko tragen.11 Mit dem Präventionsgesetz – so dürfte es im politisch-administrativen Plastikjargon heißen – sind wir »gut aufgestellt«. Bei denen, die diese Präventionsmaschinerie in Gang setzen, gibt es offensichtlich keine Reflexion darüber, wie grundlegend die Änderungen sind, die damit verbunden sind. Darum ist ein Rückblick unerlässlich. Man kann sich eine Präventionspolitik mit Präventionsgesetz, Präventionsprogrammen und Präventionskonferenz, mit Präventionsleistungen und Präventionskursen nur in einer Welt vorstellen, die kulturell und religiös implodiert ist: Eine transzendenzlose Welt, die als vollkommen immanent und damit planbar gedacht ist.
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Ein unübersehbarer Hinweis auf das, was gerade geschieht – und was durch die Präventionsmanie vernebelt wird – ist das Verschwinden der Zukunft aus unserer Sprache. Das Futur kommt in der Alltagssprache fast nicht mehr vor. Niemand sagt: »Ich werde morgen ins Büro gehen.« Es heißt: »Ich gehe morgen ins Büro.« In der Sprache enthüllt sich schon, dass die Zukunft verschwindet, dass die Zukunft keine Überraschungen bergen darf, sondern ein verfügbarer Raum ist, in dem man sich bewegt. Die Zeit wird so verräumlicht und dafür ist das Präventionsgesetz Indiz und Motor zugleich. Die an Prävention Interessierten verärgert man sofort, wenn man den Blick zurückwendet. »Romantizismus« tönt es aus dem Mund der präventionistischen Sekte. Aber nur der Blick zurück lässt die Tücke, die in der Präventionsidee steckt, erkennen. Sokrates beginnt den PhaidrosDialog mit der Frage: »O lieber Phaidros, wohin denn und woher?« Sokrates kehrt in seiner Anfangsfrage die Chronologie um und bestimmt auf diese Weise den Menschen als einen, der auf dem Weg ist. (Während das Präventionsgesetz den Menschen in den Bunker der Sicherheitsmanie sperren will.) Es gibt – so macht die Anfangsfrage des Sokrates deutlich – zwei Blickrichtungen, die eine in die Vergangenheit, die andere in die Zukunft. SØren Kierkegaard findet in dieser doppelten Blickrichtung die zwei Grundmodelle des abendländischen Denkens wieder. Er stellt die platonische Erinnerung und die christliche Wiederholung einander gegenüber.12 Bei Platon ist alles Lernen und Suchen eine Erinnerung an das, was der Lernende eigentlich weiß. Sokrates ist als Lehrer Hebamme und nichts sonst. Wiederholung dagegen – wie sie vor allem im Gottesdienst stattfindet – ist prospektiv, sie weist nach vorn und begreift die Wiederholung als das Geschenk Gottes. Die Aporie des Lernens (›Wie ist Erkenntnis überhaupt möglich?‹) wird im Platonismus gelöst, indem die präexistente Seele vorausgesetzt wird, die sich erinnern kann. Die Aporie des Lernens wird im Christentum im Geschenk aufgelöst. Erkenntnis wird im Platonismus in der Erinnerung, im Christentum in der Erwartung möglich. Mit dem Begriff und der Sache ›Prävention‹ sind diese beiden abendländischen Grundmodelle außer Kraft gesetzt: Prävention negiert die platonische Präexistenz ebenso wie die christliche providentia dei: die Vorsehung Gottes. Man kann sogar sagen, sie will ausdrücklich die providentia dei ablösen und durch die Zukunftssicherung in eigener Hand überbieten. Nicht Sokrates, nicht Jesus, sondern der homo modernissimus spricht im Begriff der Prävention. Ja, man kann sagen, im Begriff der
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Prävention wird nicht weniger sichtbar als der Versuch, mit antiker und christlicher Herkunft Schluss zu machen. Der Mensch wird zukunftsfähig gemacht, indem man ihm die Vergangenheit und die Zukunft nimmt.13 Nur der Wahnsinn, so sagt Sokrates im Gespräch mit Phaidros, erlaubt es, in die Zukunft zu schauen. Den auf rechte Art Wahnsinnigen und Besessenen allein ist es möglich, die Zukunft vorauszusagen und so zur Lösung der obwaltenden Drangsale beizutragen. Prävention hingegen ist das Instrument der Modernen, mit dem sie die Zukunft verwaltbar machen will. In der Zukunft soll nicht der Zufall, also das, was uns zufällt, herrschen, sondern das, was wir selbst geplant haben. Man könnte sich fragen, ob man Prävention als eine moderne Variante des Wahnsinns ansehen will oder als ein bizarres Ritual, das auf eine permanente und totale Überwachung des Individuums hinausläuft; das Ritual einer Gesellschaft, die nicht mehr auf dem Weg ist wie Phaidros, sondern die zum Stillstand gekommen ist – die sich also dem Leichenhaften angenähert hat.
Anmerkungen 1 | Maio, Giovanni: Medizin in einer Gesellschaft, die kein Schicksal duldet. Eine Kritik des Machbarkeitsdenkens der modernen Medizin, in: Zeitschrift für medizinische Ethik 57, 2011, S. 79-97, hier S. 80. 2 | Ebd. 3 | Ebd. S. 81. 4 | Martens, Werner: Einfach mal abwarten, in: Süddeutsche Zeitung vom 01.04.2016, S. 18. 5 | Davon spricht Ivan Illich schon 1975. Illich, Ivan: Selbstbegrenzung. Eine politische Kritik der Technik, Reinbek: Rowohlt 1975, S. 10. 6 | Ebd. S. 85. 7 | Illich, Ivan: Die Nemesis der Medizin. Die Enteignung der Gesundheit, München: Beck 1995. 8 | Ebd. S. 87. 9 | Diesen Begriff benutzt das Präventionsgesetz. Es spricht offenbar von den neuen posttraditionalen Gesellungsformen, die sich durch eine neue Unverbindlichkeit, durch Erinnerungslosigkeit und Flüchtigkeit auszeichnen. 10 | Siehe Wikipedia zum Präventionsgesetz, letzter Zugriff 20.09.2016. 11 | So die Einschätzung des VdK im Bayerischen Rundfunk am 17.03.2016 zit. Wikipedia zum Begriff »Präventionsgesetz«.
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Reimer Gronemeyer
12 | Die folgenden Gedanken sind angeregt von Pickstock, Catherine: After Writing. On the liturgical Consummation of Philosophy, Oxford: Blackwell 1998. 13 | Dieser Gedanke ist ausführlicher entfaltet in: Gronemeyer, Reimer: »Niemand verbeuge sich vor mir, denn ich tanze nicht.« Warum man über Prävention nicht reden darf. In: psychosozial 29. Jg. 2006, Heft II, Nr. 104, S. 101-108.
Professionalisierung Gustavo Esteva
Als ich noch ein Kind war, hatte der Begriff »Bedürfnis« lediglich einen praktischen Bezug: das Scheißen. Der Begriff wurde verwendet, wenn uns unsere Mutter sagte: »Sobald ihr das Haus eures Onkels betretet, fragt ihn, wo ihr euer Bedürfnis verrichten könnt.« Es ging folglich darum, Bedürfnisse zu verrichten – nicht aber, welche zu haben. Diese Art darüber zu reden, galt für alles: Unsere »Bedürfnisse« waren durch unsere Fähigkeiten und unsere Werkzeuge definiert und durch die Art, wie wir sie gebrauchten, und sie waren strikt persönlich, unwägbar und auch unvergleichlich. Niemand konnte die Beziehung zu meinem Hund messen oder definieren; auch nicht meine Reaktion auf den ersten Roman, den ich las, nicht mein körperliches und emotionales Befinden, wenn ich Kopfschmerzen hatte, und niemand beurteilte, was ich lernen wollte. Als ich noch ein Kind war, redeten die Leute mit mir. Wörter waren Symbole, keine bloßen Zeichen oder Kategorien, und nur jedes zehnte Wort wurde an mich als ein nicht näher differenziertes Mitglied einer Menge adressiert. Als ich älter wurde, wurden aus Wörtern Begriffe und ich wurde angesprochen als Einzelexemplar einer Klasse von Menschen: Kinder, die Dünnen, die Unterentwickelten … kategorisiert nach unseren Bedürfnissen: Erziehung, Ernährung, Entwicklung. Im Verlauf meines Lebens wurden alle inzwischen gängigen Bedürfnisse hergestellt und wir wurden umgekrempelt in bedürftige Mängelwesen; das heißt: Menschen musterten und kontrollierten andere Menschen entsprechend ihren von Experten definierten Bedürfnissen. Die spöttische Bemerkung: »So perfekt professionell wie die Trauer eines Bestatters« kursierte als Slogan unter uns. Professionen und Professionelle brachten es während der ersten zwanzig Jahre meines Lebens zu beachtlicher Prominenz. Ich wurde ge-
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Gustavo Esteva
drängt, einer von ihnen zu werden, weil dies der einzig mögliche Weg war, »Jemand« zu sein – ein sehr seltsamer Ausdruck, den ich immer wieder hörte, der ja unterstellte, dass ich von lauter »Niemanden« umgeben war und mich hüten sollte, einer von ihnen zu werden. Wenn du als »unterentwickelt« gebrandmarkt wirst, werden deine Mängel identifiziert: nämlich die Waren und Dienstleistungen, die du nicht hast und die mit dem American Way of Life assoziiert werden; du brauchst Entwicklung, um jene Bedürfnisse zu befriedigen. Unterentwickelt zu sein, ist tatsächlich sehr erniedrigend. Deinem eigenen gesunden Menschenverstand kannst du nicht länger trauen, weil du der Vernunft der Professionellen trauen musst, die dich auf den Weg der Entwicklung führen. Du kannst deine Träume nicht mehr träumen, weil sie längst geträumt sind: man sollte so wie sie – die Entwickelten – sein und ihre Träume träumen. Aber Entwicklung entsteht auch durch Faszination. In den 1940er Jahren wurden Filme zu einer neuen Art der Unterhaltung. Wir eilten jedes Wochenende ins Kino, um die neuesten Filme zu sehen. Und jede Woche versorgte uns Hollywood mit neuen Attraktionen, in denen der American Way of Life als Inbegriff des Beinah-Paradieses gezeigt wurde. Nachdem er uns 1949 als unterentwickelte Weltareale disqualifiziert hatte, bot Präsident Truman uns an, mit uns alle wissenschaftlichen und technologischen Errungenschaften der Nordamerikaner zu teilen, damit wir zu ihnen aufrücken könnten. Sich entwickeln zu lassen, diese Art von Leben zu genießen, wurde mehr als eine Fantasie oder ein Ziel; es war ein Bedürfnis. Das »Bewusstsein« einer solchen Bedürftigkeit wurde eingeschleppt durch das progressive Wissen jener Experten, die die Bedürfnisse zugleich definieren und erfüllen können. In den frühen 1970er Jahren wurde erkannt, dass das Entwicklungsunternehmen Hunger und Elend verursachte und das brachte das Konzept der »Grundbedürfnisse« hervor. Man stellte staunend fest, dass es unmöglich ist, jeden Menschen auf der Erde so viel Energie verbrauchen zu lassen wie einen durchschnittlichen Amerikaner: Es war klar, dass der Planet an den ökologischen Widersprüchen zugrunde gehen würde. Andere Aspekte des American Way of Life waren ebenso unerreichbar. So begnügte man sich mit dem bescheideneren Ziel, zumindest ein Paket von Grundbedürfnissen zu befriedigen. Über die Definition dieser Bedürfnisse gab es allerdings keinen Konsens, aber die Orientierung an den ›basic human needs‹ bestimmt immer noch die entwicklungspolitischen
Professionalisierung
Anstrengungen der meisten internationalen Institutionen und nationalen Regierungen und ging 50 Jahre später in die UN Millennium Ziele ein. Im allgemeinen Sprachgebrauch bedeutet ›professionell‹ als Adverb, etwas sei gut gemacht, und als Substantiv bezeichnet es eine Person, die durch ein Zertifikat autorisiert ist, spezifische Dienstleistungen zu erbringen. Professionell ist eine Person, die jede Situation in ein »Problem« verwandeln kann, um dann eine Lösung anzubieten, an der sie maßgeblich beteiligt ist. Dieser Wortgebrauch verbirgt jedoch die eigentliche moderne Bedeutung von ›professionell‹, ›Profession‹ und ›Professionalität‹. In der Vergangenheit verfügten viele verschiedene Organisationen und Verbände, wie bestimmte Arbeiten durchzuführen waren und von wem. Professionelle erweiterten dieses Mandat, indem sie bestimmen, was zu tun ist, wie es getan werden sollte, von wem, für wen und wie ihre Vorgaben durchgesetzt werden können. Sie schreiben vor, was recht und richtig ist, und sie haben die Macht zu definieren, wer ihrem Willen unterworfen ist und ihre Anordnungen befolgen muss. Die meisten Professionen wurden autorisiert von Eliten, deren Interessen sie förderten oder unterstützten, aber bald begannen sie, auch jene Eliten zu kontrollieren. Sobald ein professionell definiertes Bedürfnis angenommen wird, wird es eher früher als später zum ›Recht auf‹ deklariert; sobald ein ›Recht auf‹ etabliert und durch Gesetz garantiert ist, sind die Macht und die Mittel bei jenen Professionellen und Institutionen konzentriert, die die entsprechenden Dienste bereitstellen – Ausbildung, Gesundheit, Jobs – und ihnen fallen Kontrolle und Reglementierung dieses ganzen Sektors als Monopol zu. Die »freien Professionen« wurden in der »liberalen Ära« des 19. Jahrhunderts geboren, als die Freiheit als höchster Wert des individuellen und kollektiven Lebens zu gelten begann. Der »liberale Staat« wurde gefeiert, als das politische Regime sich dazu verpflichtete, die Rechte des Einzelnen gegenüber der politischen Macht durch politische Repräsentanten zu gewährleisten. Bevor ich geboren wurde, genossen sogenannte »Freie Professionen« soziales Ansehen und gaben jenen Mitgliedern ethischen Rückhalt, die ihre Dienste an den Meistbietenden verkauften, indem sie sich selbst als kompetente und humane Menschen präsentierten, bereit, sich für ihre Kunden einzusetzen. Der Begriff ›Profession‹ stammt aus dem Lateinischen und hatte eine religiöse Prägung. Profession bedeutete ursprünglich ›Bekenntnis‹, also so etwas wie ein Gelübde, aber sie meinte auch ein Engagement für Freiheit und Unabhängigkeit, verbunden mit einer offenen, toleranten und großzügigen
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Haltung und mit der Lebenskunst der freien Menschen. In den 1940er und 1950er Jahren, erfuhr das Wort »professionell« einen wichtigen Bedeutungswandel. Die religiöse und ethische Aura der freien Professionen musste dafür herhalten, der neuen Klasse von geschulten Experten, die Kontrolle über die menschlichen Bedürfnisse zu gewinnen trachteten, Legitimität zu verleihen. Von Anfang an, mit Ende des 18. Jahrhunderts, wurde die Idee der modernen Demokratie als riskantes Unterfangen wahrgenommen. Madison und Hamilton, die Väter der amerikanischen Verfassung, hatten Bedenken, die Regierungsmacht dem Volk zu überlassen. Sie fürchteten den Zerfall der amerikanischen Union, wenn ein Demagoge oder ein Volksfeind die Menschen manipulierte. Sie behielten darum einer kleinen Minorität die wichtigsten Fäden der Macht vor und schufen eine Republik – nicht aber eine Demokratie –, die ein System der Repräsentation vorsieht, das es gewöhnlichen Menschen erlaubt, ihren Willen zu artikulieren und ihm Geltung zu verschaffen. Eine solche restriktive Republik wurde später Demokratie genannt und wurde zum universalen Modell. Gewaltenteilung und viele andere Instrumente wurden geschaffen, um den despotischen Charakter dieses politischen Regimes zu mildern und zu verschleiern. Im späten zwanzigsten Jahrhundert ist die despotische Natur der repräsentativen Demokratie und des »liberalen Staates« offensichtlich geworden. Die professionellen Experten machten Demokratie unmöglich: die Gesellschaft wurde als ein Nebeneinander von professionellen Diktaturen organisiert. Professionelle übernahmen die Legislative, die Exekutive und die Judikative in ihrem jeweiligen Bereich. Professionelle Katastrophen, die durch professionelle Intervention ausgelöst wurden, ließen die Professionellen noch mächtiger werden: Wirtschaftskrisen, die durch die von Ökonomen entworfenen Strategien produziert wurden, führten dazu, dass noch mehr Ökonomen berufen wurden, um die Krise zu lösen, die sie selbst herauf beschworen hatten. Wann immer eine Brücke aufgrund von Konstruktionsfehlern, die Ingenieuren unterlaufen waren, zusammenstürzte, empfahlen die Berufsverbände der Ingenieure noch mehr Ingenieure, um den Bau von Brücken zu überwachen und zu managen. Demokratie als Regierung des Volkes, der gewöhnlichen Männer und Frauen, war nicht mehr möglich; ihnen fehlte ausreichendes professionelles Wissen. Und dieses System arbeitet zum Wohle von einem Prozent der Bevölkerung, wie Occupy Wall Street eindringlich klarmachte. Was gewöhnliche Menschen in den modernen
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Demokratien auch immer an Einfluss auf die öffentlichen Angelegenheiten und auf die Regierung hatten, wurde sanft und kaum merklich durch Professionalität abgeschafft. Experten bemächtigten sich aller Regierungsfunktionen und setzten sich sogar über das formale System von Repräsentation und Rechenschaftslegung hinweg. Sie, und nur sie, haben das Wissen und die Kompetenz, Normen zu definieren, diese anzuwenden und deren Verletzung zu bestrafen. Das beliebte Sprichwort: »Entre abogados te veas«, »unter Anwälten wirst du auffallen«, wies auf einen Fluch hin: In den Händen der Anwälte zu sein, war ein Dilemma. Die Leute konnten mit Anwälten nichts anfangen. Mit Anwälten zu tun zu haben, war eine missliche Lage, weil diejenigen, die über wirtschaftliche und politische Macht verfügen, Anwälte anheuern, um das Gesetz zu ihrem eigenen Nutzen und gegen die Interessen des Volkes zu verbiegen. Wir alle leben heute unter diesem Fluch. Der traditionelle Weg, Konflikte zu lösen oder zu entschärfen, was häufig durch freundliches und sanftes Eingreifen einer von beiden Konfliktparteien akzeptierten oder gar geliebten Person erfolgte, wurde verrechtlicht, als sich die prozesssüchtige Gesellschaft durchsetzte. Die USA sind heute das herausragende Modell: Sieben von zehn der praktizierenden Anwälte leben in diesem Land. Fast alles kann in einen Prozess überführt werden und alle Arten von Verhaltensweisen und institutionellen Regeln werden derzeit im Hinblick auf potenzielle Haftbarkeit definiert und praktiziert – was wiederum das Eingreifen von Anwälten zur Folge hat. Die USA stellen heute 25 Prozent der Gefangenen weltweit, und Gefängnisinsassen sind ein sehr profitables Wirtschaftsgut geworden: private Unternehmen bauen und verwalten die Gefängnisse mit öffentlichen Mitteln und setzen die Gefangenen dazu ein, für ihre Unternehmen zu arbeiten. Im Jahr 1973 dokumentierte Ivan Illich rigoros die professionelle Kontrolle der Gesundheit durch das Medizinwesen und bezichtigte sowohl konventionelle als auch alternative Gesundheitsexperten, die größte Gefahr für die Gesundheit zu sein, einerseits gerade durch das von ihnen propagierte Streben nach Gesundheit und andererseits durch Iatrogenese, durch medizin-verursachte Krankheit. Sein Buch »Die Nemesis der Medizin – Die Enteignung der Gesundheit«, löste eine intensive Debatte aus und weckte enormes Interesse, weil es solide Beweise für die Kontraproduktivität der Gesundheitseinrichtungen und ihrer Experten lieferte. Heute ist dies alles geläufiges Wissen und es gibt statistische Beweise für das, was Illich beobachtete. Aber die
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Gesundheit wird immer noch als Bedürfnis wahrgenommen, definiert durch Medizinexperten, und sie ist in zunehmendem Maße der Gesundheitsindustrie unterworfen, z.B. den Pharma-Konzernen, in denen andere Experten teure Medikamente und kostenintensive Behandlungen entwerfen, gestalten und produzieren. Einige Freunde von mir haben bereits die Profession, die sie geliebt haben, aufgegeben. Sie sagen mir, dass sie ihren Patienten nicht länger die Wahrheit darüber sagen können, was sie wirklich über ihren Zustand denken. Sie müssen sich in vorgeschriebenen medizinischen Standards bewegen, auch wenn sie diese für einen bestimmten Patienten oder überhaupt für ungeeignet halten. Wenn etwas passiert, werden sie einem rechtlichen Verfahren ausgesetzt, das sie möglicherweise ruiniert. Die Kombination aus Rechts- und Gesundheitsexperten ist zunehmend kontraproduktiv und sogar in einigen Fällen katastrophal; aber die Expertenkaste wird immer mächtiger, gerade wegen des Schadens, den sie anrichtet: gleichwohl wird behauptet, dass nur die Experten über das Wissen, die Fähigkeit, die Kunst und die Macht verfügen, den Schaden zu beheben. Der professionelle Aufstieg zu Macht und Kontrolle wurde durch die wissenschaftliche Religion erleichtert; den allgemeinen Glauben, dass das moderne wissenschaftlich-technische System die beste Art sei, der Menschheit (und ihrer Humanität) zu dienen. Ernsthafte Wissenschaftler kennen die Grenzen ihres Faches; sie wissen durchaus, dass sie nur vorläufige Hypothesen aufstellen, die in der Regel darauf basieren, dass zuvor die von ihnen studierten Phänomene ihres Kontextes entkleidet wurden. Alle wissenschaftlichen »Tatsachen« sind konstruiert und subjektiv. Dennoch werden wissenschaftliche »Wahrheiten« in der realen Welt als reine Lehre akzeptiert. Laplaces Fähigkeit, sich an die sich ändernden politischen Umstände seiner Zeit anzupassen, ist bekannt. Napoleon war sechzehn Jahre alt, als er Mathematikunterricht bei Laplace nahm. Sobald er zum Kaiser gekrönt war, gab Laplace ihm die ersten beiden Bände seiner Arbeit und bat um eine Gelegenheit, ihm seine neuen astronomischen Theorien zu präsentieren. Als er zum Schluss kam, äußerte Napoleon seine Verwunderung: Gott kam in diesen Theorien nicht vor. »Sire, derartige Hypothesen brauche ich nicht«, soll Laplace geantwortet haben. Dabei ist es unerheblich, ob der Austausch zwischen den beiden wirklich so passiert ist oder ob es eine bloße Legende ist, wie Stephen Jay Gould vermutet. Aber der berühmte Satz, der häufig in Grundschulbüchern ent-
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halten ist, ist ein gutes Beispiel, um den historischen Wandel in der Zeit von Laplace und Napoleon zu beschreiben. Am Ende des 18. Jahrhunderts hatte die Kirche nicht mehr die Kontrolle über das, was gedacht werden sollte und durfte, aber Gott stand immer noch im Zentrum der allgemeinen Erklärung des Universums. In der Zeit von Laplace und Napoleon hat die Wissenschaft Gott verdrängt. Es war schließlich möglich, mit Stolz die Erklärungskraft der Wissenschaft zu feiern. Als Gottesersatz gewann die Wissenschaft eine religiöse, metaphysische Aura. Das Wort der Wissenschaft nahm den Platz des Wortes Gottes ein. Alexander Pope schrieb: Natur und Naturgesetze sind verborgen in der Nacht (night) Und Gott sagte: Es gelte Newton – und es wurde Licht (light).
Wissenschaftler verwenden oft gewöhnliche Worte, um ihre Kategorien und Experimente zu beschreiben. Diese Worte, in Begriffe umgewandelt, haben eine sehr ansteckende und kolonisierende Wirkung, wenn sie wieder in den alltäglichen Sprachgebrauch zurückkehren, und erzeugen häufig eine verwirrte, überschwängliche und diffuse Glaubensbereitschaft. Der verbreitete Gebrauch des Wortes »Energie« kann das illustrieren. Es wird selten in seiner ursprünglichen Bedeutung gebraucht, was wahrscheinlich Helmholtz und andere dazu veranlasste, sich dieses besonderen Wortes für ihre wissenschaftlichen Konstruktionen zu bedienen. Die meisten Menschen, die das Wort »Energie« heute verwenden, können es nicht definieren. Sie sind jedoch davon überzeugt, dass die Experten dies mit Präzision tun können. Wenn sie hören, dass es mc2 ist, sind sie verunsichert: Es ist nicht wirklich das, was sie in der Auseinandersetzung um die Kosten für Benzin oder erneuerbare Energien diskutieren wollten. Für die meisten Menschen ist »Energie« ein Geheimnis, an das sie – darin den religiösen Geheimnissen vergleichbar – glauben müssen, selbst, wenn sie es nicht verstehen können. Experten treten als Träger der wissenschaftlichen Erkenntnis auf und mit dieser Fähigkeit erzielen sie ihre schädlichste Wirkung: Sie entmündigen die Menschen, entwerten deren Erfahrungswissen und sie unterbinden nach Möglichkeit den Gebrauch und die Anwendung der Könnerschaften und der Weisheit der Menschen. Entfähigung ist die Voraussetzung für die Entstehung von Bedürfnissen. Die Einzäunung der Commons (der Allmende, die niemandem gehört, aber von allen genutzt werden kann) verwandelt die Teilhaber am Gemeingut in Menschen, die
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ein Bedürfnis nach Obdach, Nahrung und Jobs haben, nachdem sie vom Gemeingut vertrieben wurden. Wir haben kein Bedürfnis nach Luft, es sei denn, wir werden ihrer beraubt. Die Menschen benötigen Experten, sobald ihnen ihre eigenen Fähigkeiten abtrainiert wurden. Das ist genau der Vorgang, der sich in den letzten fünfzig Jahren vollzog, als Professionalität im Gesetz, in der Praxis und vor allem im allgemeinen Bewusstsein etabliert wurde. Wir leben, wie Ivan Illich warnte, im Zeitalter der entmündigenden Expertenherrschaft. Im Jahr 1972 forderte der Club of Rome, das Wirtschaftswachstum wegen der Umweltschäden zu begrenzen, die durch die Produktion materieller Güter hervorgerufen würden. Im selben Moment erkannte Illich, dass professionelle Dienstleistungen für die Kultur noch schädlicher sind. Er identifizierte einige schweigende Minderheiten, die sich der professionellen Dominanz und der heimtückischen Art und Weise, in der das soziale Gewebe untergraben und die Fähigkeit der Menschen, auf ihre eigene Weise zu leben, vernichtet wird, widersetzten. Ebenso richtete Foucault unsere Aufmerksamkeit auf den Aufstand des zum Schweigen gebrachten Wissens. Er sah die Aufgabe nicht darin, das Bewusstsein der Menschen oder das, was in ihren Köpfen ist, zu ändern – sondern die politischen, wirtschaftlichen und institutionellen Regimes in Dienst zu nehmen für die Hervorbringung von Wahrheit. Er stellte auch fest, dass das Nebeneinander von gelehrtem und Erfahrungswissen ein historisches Wissen des Kampfes erzeugt. In den frühen 1980er Jahren erwachte das Bewusstsein für die Schäden und das Versagen des Entwicklungsunternehmens und die verrückte Vorstellung, man könne das gute Leben verbindlich für alle Welt und gleichermaßen gültig für jedermann definieren, geriet in die Kritik. Die Idee der Post-Entwicklung ging um: überall beanspruchten Menschen ihren ganz eigenen gangbaren Weg, ein gutes Leben zu führen. Als mich im Jahre 1985 die »Society for International Development« nach Rom einlud, um die Zukunft der Entwicklungsstudien zu diskutieren, schlug ich vor, mit einer Archäologie zu beginnen: nur mit archäologischem Blick könne man die Ruinen, die die Entwicklung hatte entstehen lassen, erkunden. Entwicklung gehörte für mich bereits der Vergangenheit an, nicht meiner Gegenwart und noch weniger meiner Zukunft. Mit einem archäologischen Blick hatte ich diese Ruinen in meiner eigenen Welt erforscht und zwar an der Basis, in einer Welt der Bauern, der Ureinwohner und in städtischen Randgebieten. In dieser Welt war der
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Fußabdruck der Experten deutlich erkennbar und meist verheerend. Alle unsere einst so schönen Dörfer zeigten die Zeichen des Fortschritts, die von Ingenieuren und Architekten hinterlassen wurden: unfertige Häuser, in denen die Menschen höchstens die Hälfte des Jahres schlafen konnten, weil sie sich in der heißen Jahreszeit wie Öfen aufheizten, oder Häuser, die während eines Erdbebens zusammenbrachen, weil ihre Lehmwände mit Zementstreben »verstärkt« wurden und so weiter und so fort. Wenn ich in einem Dorf einen Konflikt um einen Acker mit den Nachbarn diskutieren wollte, dann brachte ein Ältester ein altes Dokument aus seiner Hütte, welches ihnen von der spanischen Krone ausgehändigt worden war, das sie aber nicht lesen konnten. Ich konnte es auch nicht lesen, da es im juristischen Jargon des 17. Jahrhunderts verfasst war. Aber die mexikanische Regierung erkannte es an und da es vom Staat anerkannt wurde, waren die Dorf bewohner nun gezwungen, einen Anwalt zu rufen, um ein Problem zu beheben, welches in der Vergangenheit mit nur wenigen Gesprächen und einer »Fiesta« gelöst worden wäre. In vielen Dörfern waren Hebammen und andere traditionelle Heiler immer häufiger gezwungen, heimlich zu agieren: das medizinische System verbot es ihnen, ihre Tätigkeit auszuüben, trotz ihrer Weisheit und ihres Wissens. Die Rebellion der 1980er Jahre erreichte ihr volles Ausmaß in den 1990er Jahren. In diesen Zeiten weltweiter Angst stellte der uruguayische Dichter Eduardo Galeano fest: »Wer keine Angst vor Hunger hat, hat Angst vor dem Essen.« Trotz der technischen Möglichkeiten, jeden Menschen auf der Erde satt zu machen, geht fast eine Milliarde Menschen jede Nacht mit leerem Magen schlafen; Hunger ist wieder unter uns, als eine Plage. Und es wächst das Bewusstsein, dass unsere Körper infiziert werden mit den Giftstoffen in der Nahrung, die als »Junk-Food« bezeichnet wird, die wir aber trotzdem kaufen, auch wenn wir versuchen, sie zu vermeiden. Die Leute wissen jetzt, dass sie nicht erwarten können, dass ausgerechnet die Regierungen und internationalen Organisationen, die dieses Chaos verursachten, es auch beseitigen könnten. Noch weniger können sie erwarten, dass die CEOs von Monsanto oder Wal-Mart in absehbarer Zeit von einer Art moralischer Erleuchtung heimgesucht werden, die ihnen nahelegt, das Gegenteil von dem zu tun, was sie jetzt tun. Immer mehr Menschen spüren, dass sie sich dieser Angelegenheiten selbst annehmen müssen. Und das ist genau das, was sie tun. Via Campesina ist eine der größten Organisationen in der Geschichte der Menschheit. Hunderte von Millionen von Menschen in hundert
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Ländern sind aktiv darin involviert, für sich selbst zu bestimmen, was sie essen wollen und wie es zu produzieren sei. Sie erklärten ihre Nahrungssouveränität und lehnten professionell definierte und produzierte Lebensmittel ab. Es ist eine Tatsache, dass Kleinbauern, vor allem Frauen, heute 70 Prozent der Menschen auf der Erde ernähren. Das Agrobusiness, das mehr als die Hälfte der Nahrungsressourcen der Welt besitzt oder besetzt, ernährt die übrigen 30 Prozent. Heute leben mehr als 60 Prozent der Menschen auf der Erde in Städten; sie können nicht nur durch ländliche Produktion ernährt werden. Die städtische Produktion von Lebensmitteln breitet sich epidemisch aus. Kuba zeigt sein Potenzial: normale Menschen produzieren heute in La Havanna mehr als 60 Prozent dessen, was sie essen. Gute Beispiele gibt es überall. The Urban Homestead liegt auf einem typischen städtischen Grund, in Pasadena, Kalifornien, mit nur 1/10 Morgen Land, um Nahrung anzubauen. Urban Homestead produziert jährlich 6000 Pfund Nahrungsmittel; darunter mehr als 2000 Eier, 25-50 Pfund Honig und erzielt über 75.000 Dollar an Einsparungen. Jules Dervaes, Mitbegründerin des Kollektivs, ist der Auffassung, dass das »Anbauen von Nahrung eine der gefährlichsten Tätigkeiten auf der Erde sei, […] denn«, erklärt sie, »man laufe Gefahr, dadurch frei zu werden«. Das gleiche Gefühl teilen Tausende, die sich für Zusammenschlüsse zwischen städtischen Konsumenten und Bauern engagieren, eine Bewegung, die in Japan begann, in Deutschland aufgegriffen wurde und sich heute in den USA und Kanada geradezu epidemisch ausbreitet. Menschen »erholen sich von der Gesundheit« und zwar überall; das heißt: sie brechen mit der Abhängigkeit vom Gesundheitssystem ihrer Länder und widersetzen sich der Diktatur der medizinischen Professionen und den pharmazeutischen Unternehmen. In der Tat kommen überall mehr und mehr Menschen davon ab, Substantive zu verwenden, welche Bedürfnisse definieren: Nahrung, Bildung, Gesundheit. Sie verwenden wieder Verben: essen, lernen, heilen … und fordern so ihre Zuständigkeit zurück, selbst zu entscheiden, was es bedeutet, gut zu leben, und wie das geht. Dies ist kein Fundamentalismus oder Sektierertum, sondern reiner Realismus auf dem Weg zur Emanzipation. Überall praktiziert zum Beispiel eine zunehmende Zahl von Menschen, Millionen, wahrscheinlich Milliarden, die Freiheit zu lernen, nachdem sie die Einschränkungen, die Frustrationen und das Versagen erlitten haben, die das System im Namen des Rechts auf Erziehung produziert hat.
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Luis Arévalo lernte sein Handwerk als Schuhmacher bei seinem Vater, in Tepito, einem Barrio in der Innenstadt von Mexico City. In sehr jungen Jahren verließ er das Haus der Familie, um in einer der größten Schuhfabriken Mexikos zu arbeiten. Nach einigen Jahren hatte er die Position des Schuhmachermeisters inne, die in der Fabrik noch wichtiger war als die des General Managers: Es gibt viele Menschen, die das Metier der Verwaltung beherrschen, aber nur sehr wenige, die wirklich die Kunst des Schuhe-Machens verstehen. Trotz des Prestiges und des hohen Einkommens, welches er in dieser Position bezog, gab Luis seinen Job auf, um den ›Freien Schuhmacherladen von Tepito‹ zu eröffnen und seine Fähigkeiten mit den jungen Tepitonern zu teilen und die Kunst der Schuhmacherei wieder zu beleben. Er wurde von den Zapatistas gebeten, sie als ihr Berater bei ihren Verhandlungen mit der Regierung zu unterstützen. Luis arbeitete mit ihnen zusammen und trug ihnen seine Ideen vor. Er unterstützte die Gründung von 17 Werkstätten, die in zapatistischen Gemeinden Schuhe produzierten. So kamen oft diese jungen Zapatistas nach Tepito, um dort den Handel zu erlernen. Luis wurde vor kurzem zur Eröffnung des 18. Geschäftes eingeladen. Aber er schlug die Einladung aus. »Die Saat ist gesät«, sagte er; »jetzt wissen sie nicht nur, wie man Schuhe herstellt, sondern auch, wie die Kunst der Schuhmacherei bereichert und weitergegeben werden kann.« Die Zapatistas produzieren derzeit alle Schuhe, die sie für verschiedenste Zwecke benötigen und verkaufen einige auf dem lokalen Markt. Das beste Beispiel für das nachprofessionelle Zeitalter sind vielleicht die Zapatistas. Seit mehr als zwanzig Jahren haben sie ihre autonome Art zu leben entwickelt. Sie bekommen kein Geld von der Regierung und dies ermöglicht es ihnen, frei von externen Experten zu sein. Ihre Kinder lernen frei in dem, was sie noch Schule nennen, aber es gibt kein zapatistisches Erziehungssystem. Sie haben großartige Kliniken mit Röntgen- und Ultraschallgeräten. Diese Kliniken werden von Nicht-Zapatistas sogar mehr in Anspruch genommen als von Zapatistas selbst. Die nämlich brauchen sie nicht: Zwanzig Jahre autonomer Prävention, mit Unterstützung durch die traditionellen Heiler und eine gesunde Lebensweise ersparen es ihnen, Kliniken aufsuchen zu müssen. Sie versorgen sich im wesentlichen selbst mit Lebensmitteln und mit dem meisten, was sie für ein glückliches Leben brauchen. In ihrem autonomen Regierungssystem bekleiden gewöhnliche Männer und Frauen, einige von ihnen weniger als zwanzig Jahre alt, die höchsten Positionen der Regierung, wo sie »gehor-
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chend regieren (mandar obediciendo: auf die Stimme des Volkes hörend regieren)« und mit einem hoch entwickelten Rechtssystem operieren. Die Zapatisten haben offen die Ketten des Professionalismus abgeschüttelt und sind der lebende Beweis dafür, wie wichtig es ist, alle Formen der professionellen Diktatur auf dem Weg zur Emanzipation zu beseitigen. Mein Vater starb, als ich 16 Jahre alt war. Ich begann als Bürojunge für den Unterhalt meiner Familie in einer Bank zu arbeiten. Zur gleichen Zeit begann ich einen Beruf zu erlernen. Mir wurde versprochen, ich werde einmal im Zentrum des großen Epos der Entwicklung stehen und dazu beitragen, den großen Kuchen zu backen und zu verteilen, indem ich gute Dienstleistungen für die Gemeinschaft bereitstellte, gute Bedingungen für die Arbeiter schüfe und gute Profite für die Aktionäre. Ich machte Karriere. Ich wurde Personalleiter bei Procter & Gamble, noch bevor ich 20 Jahre alt war. Später war ich der jüngste Direktor, der jemals für IBM gearbeitet hatte und noch später bezog ich ein sehr gutes Einkommen und erntete Prestige in meinem eigenen Expertenbüro. Aber ich wurde sowohl von Procter als auch von IBM entlassen, weil ich mich weigerte, das zu tun, was sie wollten. Es wurde klar, dass ich mich nicht im Zentrum, sondern auf der einen Seite, die nicht die beste Seite war, befunden hatte. Ich erkannte, dass ich kein anständiges Leben in einem Privatunternehmen führen könnte. Ich gab meinen Beruf auf, als ich 24 Jahre alt war. Der Versuch, ich selbst zu sein, wurde die ernsteste Herausforderung meines Lebens. Der Beruf ist nicht nur eine Sammlung von Fähigkeiten und speziellen Kenntnissen; er formt uns. Entprofessionalisierung bedeutet nicht nur, zu verlernen, was man gelernt hatte, um ein Experte zu werden; es ist eine Art von Selbstmord: Man muss sich vom eigenen Selbst lösen, um alle mit der Profession verbundenen Angewohnheiten und alles eingeübte Verhalten buchstäblich von diesem Selbst abzuschrubben. Meine Entprofessionalisierung kostete mich viel mehr Zeit als ich darauf verwandt hatte, ein Experte zu werden. Und Jahrzehnte später entdecke ich in meinem täglichen Leben noch immer ein paar Gesten oder Gewohnheiten, die aus dieser Phase meines Lebens stammen. Ja, die Zeit ist gekommen unser Leben zu entprofessionalisieren und auch unsere Gesellschaft. Genug ist genug. Es wird nicht einfach sein. Die professionellen Kartelle besetzen sehr starke Positionen der wirtschaftlichen, technischen und politischen Machthierarchie und viele Menschen sind deren Normen und Instruktionen nahezu gänzlich unter-
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worfen. Sie mögen sich vollständig missachtet und benachteiligt fühlen, wenn sie nicht den »Schutz« von professionellen Dienstleistungen durch öffentliche oder private Versicherung genießen. Sie mögen sich desorientiert fühlen, wenn sie nicht adäquate, professionelle Anleitung für ihre Arbeit, ihren Alltag, ihre Notlagen bekommen: Wie soll man Eltern sein, ein Kind bekommen, heilen, ein Gedicht schreiben oder einen Baum fällen können? Aber die Millionen, die zusammenstehen, um professionelle Dienste zurückzuweisen und allen Formen der professionellen Dominanz entgegenzutreten, überraschen die Experten immer wieder. Sie sind dabei, eine sehr aktive politische Kraft zu werden. So, wie Ivan Illich vor fünfzig Jahren feststellte: »Die Vorteile, der selbst gewählten freudigen Armut, für die diese Menschen ein Beispiel geben, werden politisches Gewicht und politische Gestalt nur dann gewinnen, wenn sie verbunden werden mit einer allgemeinen Theorie, die einer politisch begrenzten Freiheit den Vorrang gibt vor dem verbrieften Anspruch auf immer mehr kostspielige, abgepackte Bedürfnisbefriedigungsmittel.«1 Die entprofessionalisierte Gesellschaft wurde bereits geboren. Freie Männer und Frauen haben sie erschaffen, im Schoß des Alten. Sie nutzen moderne Werkzeuge »erzwungenermaßen, mit einem gewissen Respekt«, wie Ivan Illich geraten hat. Man kann unter den Zapatistas Handys, Computer, Fahrräder, Radio-Stationen, Ambulanzen und viele andere industrielle Produkte finden. Aber sie wissen, ihre Verwendung zu beschränken und zu verstehen. Statt einer wirtschaftlichen, industriellen Gesellschaft, haben sie eine Gesellschaft geschaffen und organisiert unter der Prämisse des Genügens statt unter der der Knappheit; der Gebrauchswerte anstelle der Tauschwerte; der Freiheit statt der Gesetzlichkeit; und der Autonomie und Ontonomie statt der Heteronomie. Übersetzung Marianne Gronemeyer und Anne Zulauf
Anmerkung 1 | Illich, Ivan et al.: Disabling professions, 1977, S. 39. https://www.uvm.edu/ ~asnider/Ivan_Illich/Ivan_Illich_Disabling_Professions.pdf, letzter Zugriff 06.11. 2016.
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Unsere Vision 2017: Wegen der hervorragenden Qualität unserer Leistungen sind wir für unsere Patienten, Bewohner und Klienten erste Wahl. Unser Dienstleistungsangebot ist kundenorientiert, innovativ und wissenschaftlich fundiert. Den wirtschaftlichen Erfolg und den langfristigen Bestand des gesamten Konzerns sichern unsere effizienten Strukturen und Prozesse. Kompetent, engagiert und zugewandt arbeiten wir in einem attraktiven Unternehmen und tragen maßgeblich zum gemeinsamen Erfolg bei.1 Seit Anfang der 1990er Jahre überschwemmt das Vokabular der Ökonomie alle Bereiche des Sozialen. Aus dem Hilfebedürftigen wird der Kunde, aus Behandlung wird Behandlungsangebot, wir sprechen über Bedarf und Bedarfsermittlung, Benchmarking, Marktaufstellung usw. Qualität nimmt inmitten des betriebswirtschaftlichen Neusprech eine Schlüsselstellung ein. Denn hier wird suggeriert, dass all die Umstrukturierungen, Rationalisierungen und Standardisierungen einem gemeinsamen Ziel dienen: die Güte der Sozialen Arbeit zu erhöhen, diese sogar ständig zu verbessern bis – ja, bis wohin eigentlich? Der Wille zu Qualität soll die gemeinsame Basis aller sozialen Professionen sein, ihr Wert und ihr Stolz. Qualität muss permanent »gesichert« werden, Qualität muss »gemanagt«, »verbessert« und »kontrolliert« werden. Ganze Scharen von QMBs (Qualitätsmanagementbeauftragte) sind damit beschäftigt, interne Audits – Qualitätskontrollen – durchzuführen. Und sie werden ihrerseits wieder von einer großen Zahl externer Qualitätsprüfer kontrolliert – eine regelrechte Qualitätskontrollindustrie ist da entstanden – bis eine soziale Einrichtung es dann endlich geschafft hat, ihr Qualitätszertifikat nach der internationalen Standardnorm ISO 9000 eingerahmt aufzuhängen. Qualitätskontrollen laufen in allen Bereichen
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des Sozialen permanent. Sie sind inzwischen zum Herzstück bürokratisierter und standardisierter Lebensverwaltung geworden, die zu erdrückender Lähmung jeglichen je eigenen Könnens und Verantwortens der hier beschäftigten Menschen führen. Was ist denn nun eigentlich »Qualität«? In unserer Alltagssprache hat es sich durchgesetzt, Qualität mit »dem Guten« zu identifizieren. Beide Begriffe werden synonym verwendet. Jedoch weder Wortursprung noch Begriffsgeschichte lassen das zu. Ein Blick in Meyers Lexikon von 1878 sagt uns: »Die Qualitäten der Dinge sind die Eigenschaften derselben.« Bis in die 1980er Jahre findet sich in lexikalischen Artikeln zu »Qualität« zuallererst der Hinweis auf die philosophische Bedeutung des Begriffs. Die Ursprünge eines Nachdenkens über Qualität liegen in der antiken Naturphilosophie. Aristoteles fragte sich, wie der Mensch die Welt wahrnimmt. Wie einen Gegenstand beschreiben? Hierzu stellt Aristoteles Kategorien auf: Was ist etwas? Wie viel, wie groß ist etwas? Welche Beziehung hat etwas zu Anderem und wie beschaffen ist etwas? Dies ist die Frage nach dem Quale: dem »wie beschaffen«? Qualität. »Denn Qualität im ursprünglichen Sinne ist die unterscheidende Bestimmtheit des Wesens«, schreibt Aristoteles. Und weiter: »Gute und schlechte Beschaffenheit bilden dann eine Unterabteilung dieser Bestimmtheiten […].«2 Qualität ist Eigenschaft und kann gut oder schlecht beschaffen sein. Ob die Qualitäten als Eigenschaften objektiver oder subjektiver Natur seien, war ein späteres Streitthema der Philosophiegeschichte, auf das hier nicht näher eingegangen werden soll.3 Die zweite Begriffsbedeutung listet bereits Zedlers Universallexikon von 1751 auf. Es führt auf drei Seiten den philosophischen Diskurs der Logiker zum Problem der Qualitäten aus, um dann in einem Satz eine weitere Anwendung des Begriffs vorzustellen: »Qualität heißt bei den Kauffleuten die Beschaffenheit der Waare.« Mit dem Industriezeitalter beginnt Qualität mehr und mehr zur Kennzeichnung der auswuchernden Warenwelt zu werden. Der Brockhaus von 1930 beschreibt zwar Qualität noch in erster Linie als einen philosophischen Begriff, um dann auszuführen: »Im Handelsverkehr die Beschaffenheit einer Ware nach ihren Vorzügen oder Mängeln.« So wurden Waren in Qualitätsstufen eingeteilt. (Davon wissen wir noch etwas, wenn wir heute auf dem Markt sehen können, dass Gemüse mit dem Zusatz I, II oder III gekennzeichnet wird.)
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1980 nimmt der Begriff Qualität im Brockhaus dann schon eine andere Färbung an. Hier heißt es nämlich: »Beschaffenheit einer Ware nach ihren Unterscheidungsmerkmalen gegenüber anderen Waren in Bezug auf ihre Fähigkeit, Nutzen zu stiften.« Inwiefern eine Ware den »Grad der Bedürfnisbefriedigung« erreicht, sollte demnach Qualität sogar messbar machen. Und der Brockhaus 1980 listet den neuen Begriff der Qualitätskontrolle auf: »die Überwachung der Qualität von in Massen produzierten Gütern mit statistischen Methoden«. Qualität nimmt so unter der Hand die Bedeutung von Nutzen und Bedürfnisbefriedigung an. Qualität wäre demnach eine vollständige Belieferung durch Waren. Bis ins Jahr 1980 und darüber hinaus findet sich in keiner Fachzeitschriften des Sozialen – Altenpflege, Krankenpflege, Sozialarbeit – der Begriff »Qualität«. Er taucht schlicht nicht auf. Wohl geht es um Anerkennung der Fachkrankenpflege als eigenständiger Disziplin, um Weiterbildung, angemessene Bezahlung und unzureichende Personalschlüssel. Aber nicht um Qualität. Erst Anfang der 1990er Jahre beginnt die Herrschaft von Qualität, Qualitätskontrolle und Qualitätsmanagement nach und nach in öffentliche Verwaltungen (Stichwort »Neue Steuerungsmodelle«) einzuwandern und heute finden wir sie in jedem Zweig sozialer Dienstleistung. Wie ist dieser Siegeszug zu erklären? Wie kommt es, dass alle Bereiche der sozialen Tätigkeiten nach einer Logik von »in Massen produzierten Gütern« uminterpretiert werden konnten? Qualität wird in den 1980er Jahren zu einem wichtigen Konkurrenzvorteil in der produzierenden Industrie und vom japanischen Automobilhersteller Toyota zuerst als Rationalisierungs- und Wettbewerbsinstrument erkannt und genutzt. Lean Production – schlanke Produktion – heißt das Zauberwort, mit dem Japan die amerikanische Automobilindustrie hinter sich ließ. Schneller und reibungsloser sollte produziert werden, mit weniger Ausschuss und »null Fehlern«. Dazu wurde vor allem auf das Wissen der Arbeiter gesetzt – flache Hierarchien und Gruppenarbeit dienten dazu, kontinuierlich ihr Wissen anzuzapfen, um für den Konzern »stetige Verbesserungen« zu erzwingen. »Kaizen« nennt man diese Methode. Anfangs noch hierzulande als Humanisierung der Arbeit von den Gewerkschaften begrüßt, kam bald die Ernüchterung. Eine beispiellose Verdichtung und Kontrolle der Arbeit war die Folge dieser sogenannten industriellen Revolution aus Japan.
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Inzwischen sind die zerstörerischen Auswirkungen dieser Art der Produktion erkennbar. In Japan hat man sogar einen eigenen Begriff dafür: Karoshi – »Tod durch Arbeiten«.4 Toyota hat ein Arbeitssystem erdacht, dem sich die dort Beschäftigten voll und ganz unterwerfen sollen. Die totale Verwertung von Herz, Körper und Verstand der Mitarbeiter führte zu Produkten, denen der Mythos der Fehlerlosigkeit und Perfektion anhaftete. Die unaufhörliche Kontrolle der Produkte und der Arbeitsschritte, ihre permanente Straffung und Rationierung wurde Qualitätsmanagement genannt. Qualitätsmanagement wurde als Verfahren 1987 in den internationalen Normenkatalog ISO aufgenommen. Die International Organisation for Standardization5 standardisiert die Welt6. In der langen Liste von ISO-Normen über Magnetstreifenbeschaffenheit (ISO 7810), Linsensenkschraube mit Kreuzschlitz (ISO 7047), chirurgische Implantate (5832) findet sich unter der Nummer 9000: »Qualitätsmanagementsysteme«. Wer sich der Einhaltung einer Qualitätsnorm rühmen will, muss zunächst zertifiziert und anschließend akkreditiert, also zugelassen werden. Aus marktstrategischer Sicht dient ein Zertifikat dazu, einem Unternehmen den Standard seiner Prozesse und Produkte oder Dienstleistungen nachzuweisen. Damit kann es sich auch rechtlich absichern und sich gegen Klagen schützen. Von der industriellen Massenproduktion (die vor allem ein Ziel hat: mehr vom Gleichen in kürzerer Zeit) wandert der Begriff Qualität und die Methode Qualitätsmanagement Mitte der 1990er Jahre in sämtliche Bereiche des Sozialen. Der neoliberale Umbau des Staats und seiner Daseinsfürsorge zum marktwirtschaftlichen Unternehmen ist in vollem Gange. Kurse in Sozialmanagement werden als »neue Angebote« an Hochschulen für Soziale Arbeit gefeiert. Die »freie« Wirtschaft mit seinen leistungswilligen »Selbst-Unternehmern« wird erfolgreich als Vorbild in die Köpfe der Menschen gepflanzt. Und viele glauben tatsächlich, dass es Zeit sei, den lahmen, ineffizienten und intransparenten Sozialsektor endlich mittels marktwirtschaftlicher Instrumente von Grund auf umzustülpen. Soziale Dienstleistung soll von nun an kostengünstig und effizient »produziert« werden – der Verbrauch an Dienstleistung wird hierbei flugs zur produktiven Tat umgedeutet! Schließlich arbeitet man gewinnorien-
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tiert – jeder einzelne Mitarbeiter soll mit dem »Unternehmen« identifiziert sein und zur Verbesserung der Unternehmensziele beitragen. Jetzt brauchen soziale »Unternehmen« Leitlinien, um marktschreierisch die Konkurrenz, in die sie künstlich getrieben werden, zu überbieten – »Wir erfüllen unsere Aufgaben verantwortungsbewusst und fachlich kompetent. Wir sind eine lernende, sich weiter entwickelnde Organisation, die veränderte Anforderungen schnell erkennt und bedarfsorientiert handelt.« Das schreibt sich der Landeswohlfahrtsverband Hessen ins Leitbild, ohne auch nur die geringste Auskunft darüber zu geben, was denn »fachlich kompetent«, Weiterentwicklung oder »bedarfsorientiert handeln« inhaltlich zu bedeuten hat. Klingt halt kompetent. In der sozialplanerischen Praxis wird das Vorgehen aus der Warenproduktion – ein Industriestandard – 1:1 in die Bereiche der Krankenpflege, der Pädagogik, der Betreuung und Beratung von hilfebedürftigen Menschen übernommen, d.h. simuliert. In einem ersten Schritt wird der Arbeitstag von Altenpflege, Krankenpflege, Erzieherinnen oder Sozialarbeitern in »Prozesse« zergliedert, modularisiert. Zur »Produktion« wird nun die »Hilfe beim Toilettengang« oder »Haare kämmen«, »Nahrung anreichen« oder »Aufnahmegespräch führen«. Im zweiten Schritt werden den so geschaffenen »Produktionsfaktoren« Werte in Form von Zeiteinheiten zugeordnet. Fertig ist das »Produkt« ambulante Pflege. Der oder die einzelne hilfebedürftige Person wird zu einer Trägerin von professionellem Zeitbedarf, also zu einem Rohstoff, der bearbeitet wird. Interessant ist die Definition, die sich das QM selbst gibt: »Qualität ist die Gesamtheit der Merkmale und Merkmalswerte eines Produktes oder einer Dienstleistung bezüglich ihrer Eignung, festgelegte und vorausgesetzte Erfordernisse zu erfüllen.« (ISO 8402: 1995-8) Hier offenbart sich die völlige Leere des Begriffs und mit »gut« hat Qualität auch nach eigener Definition der Qualitätslobby gar nichts zu tun. Qualität ist im Grunde eine Black Box – einmal zugemacht kann sie nicht mehr geöffnet werden, ein hermetisches Konstrukt. Qualitätserfordernisse werden vom Unternehmen, der Schule, der Sozialstation festgelegt und Qualität ist erreicht, wenn man die eigenen Erfordernisse erfüllt hat. Innerhalb dieser im Grunde völlig beliebig festlegbaren Erfordernisse hat dann QM allerdings einen totalitären Anspruch7: • Alle Ergebnisse sind lenkbar – jeder arbeitet an steter Verbesserung. • Alles soll sofort und gleichzeitig geplant werden.
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• Alle Planung basiert auf totaler Differenzierung und Messung der Tätigkeiten. • Das Ziel ist erreicht, wenn null Fehler vorliegen. Das ›Managen‹ einer solchen vollkommen inhaltsleeren Qualität funktioniert dann wie ein Regelkreis: Die Ziele werden einmal festgelegt und dann immer wieder überprüft. Neues Wissen oder ein Abweichen vom Soll ist dabei schwierig, geht es doch darum, das einst Festgeschriebene zu verbessern, aber keinesfalls darum, es grundsätzlich zu verändern. In den Normen und Standards von QM werden Tätigkeiten als »Prozesse« verstanden. Mitarbeiter werden in der Logik der QM den »Ressourcen« zugeordnet. Zusammen mit den übrigen »Materialien« sollen sie gemanagt werden. Dabei geht es wie in der Automobilfabrik um kleinstteilige Erfassung sämtlicher Handgriffe (Differenzierung) und die anschließende Messung dieser Tätigkeit (Zeittakte oder Zufriedenheitsabfragen). »Stete Verbesserung« im Sinne von QM meint: Tätigkeiten werden schneller (Verdichtung) und die Tätigkeiten werden standardisierter (personeller Ersatz jederzeit möglich). Eine Einhaltung der Norm ISO 9001 ist für Unternehmen zwar im Grunde freiwillig. Im Gesundheitswesen ist diese Norm z.B. in der medizinischen Rehabilitation allerdings gemäß SGB XI Vorschrift, sonst dürfen die Kliniken nicht vom Sozialleistungsträger belegt werden. Auch Krankenkassen schreiben heute gern in Versorgungsverträgen die Pflicht zum Qualitätsmanagement ein. Nehmen wir an, in einer Einheit des Gesundheitswesens soll QM eingeführt werden. Nun geht es also im ersten Schritt darum, die Komplexität – sagen wir, eines psychiatrischen Krankenhauses – in »Prozesse« zu zerteilen. Tägliche Handlungsabläufe, über die bislang weder groß gesprochen wurde, die auch nicht oder kaum dokumentiert wurden, werden bis ins Detail durch sogenannte Qualitätsbeauftragte von den Mitarbeitern abgefragt und anschließend in formalisierte Prozessbeschreibungen gequält. Jeder Prozess (zum Beispiel die Essensausgabe) hat ein Ziel (jeder Patient bekommt Essen), erhält eine Prozesskennzahl (Messbarkeit, Statistik – Zeitaufwand) und es werden »Schnittstellen« zugeordnet (Küche, Stationen, Hausmeister etc.). Dies alles wird im Qualitätshandbuch aufgelistet. Die Mitarbeiter werden nun verpflichtet, die festgelegten Prozessabläu-
Qualität
fe bis ins Kleinste zu befolgen. Weiterer Ausdifferenzierung sind keine Grenzen gesetzt (Unterschiede Frühstück, Nachmittagskaffee, Mittagessen – Entfernung der einzelnen Stationen von der Küche – Vorschriften für Temperatur des zubereiteten Essens, Aushängen von Listen für Kühlschrankinhalt usw.). Schließlich soll ja kontinuierlich an der »Verbesserung« der formalen Abläufe gearbeitet werden. Die Wirtschaftswissenschaftlerin Bettina Warzecha hat über QM nachgedacht. »Da werden selbstverständliche und einfachste Abläufe mühselig schriftlich dokumentiert, da wird fleißig noch einmal aufgeschrieben, was schon aufgeschrieben war. Manchmal ist schon nach dieser Einleitungsphase der QM-Prozess zu Ende. Die Mitarbeiter wissen nun genau, was sie schon vorher wussten und können wieder ihrer Arbeit nachgehen. Wenn sich die Qualitätsingenieure aber an das ›ständige Verbessern‹ heran machen, müssen die Mitarbeiter noch mehr Zeit für Dokumentation opfern. Anstelle Maschinen zu bedienen, Verwaltungsvorgänge abzuschließen, Patienten zu kurieren, Kunden zu bedienen und Schülern und Studenten etwas beizubringen, werden die Mitarbeiter im Zuge der ständigen Verbesserung mit Wichtigerem beschäftigt: mit der präzisen und stetig zu wiederholenden Messung der Einzelbestandteile all dieser Vorgänge.«8 Genau im Zerteilen der »Vorgänge« in seine Einzelbestandteile verlieren sich aber eben auch Sinn und Einzigartigkeit der Dinge, des Tätigseins. Der Schweizer Künstler Urs Wehrli9 bebildert die Absurdität des Ordnens und Messens lebendiger Zusammenhänge mit seinem Projekt, Kunst »aufzuräumen«. So wird aus dem bunten Kästchenkunstwerk von Paul Klee nach dem Auszählen der unterschiedlichen Farbquadrate eine sinnlose Statistik roter, oranger und blauer Quadrate. Die Sprache der Qualität und ihres Managements ist tot. In ihr ist es völlig unerheblich, ob Stadt oder Land, ob Kaffeemühle oder Mensch, ob heiß oder kalt. In der erstarrten Formalität vorgeschriebener Abläufe ist jegliches Besondere getilgt. Der Kern der Arbeit in einem psychiatrischen Krankenhaus – nämlich die Begegnung mit Patienten, die Beziehung zum Kranken, Blicke, Gespräche, Ungeplantes – diese unauflösliche Komplexität kommt (man könnte sagen Gott sei Dank) im QM überhaupt nicht vor. Allerdings mit der Konsequenz, dass all das Listenaushängen, Verläufe protokollieren, Materialverbrauch dokumentieren etc. im Arbeitsalltag eine erdrückende Dominanz erfährt und auch im Erleben der Mitarbeiterinnen die Wertig-
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keit der einzelnen Tätigkeiten sich verschiebt. Die Dokumentation eines Ereignisses wird wichtiger als das Ereignis selbst. Die anschließende Messung der Arbeitsleistung – also die Kennzahlenzuordnung – lässt Raum für viel Manipulation und ist sowieso nur möglich, wenn in Waren- und Produktionskategorien gedacht wird. Messen lässt sich im sozialen Bereich neben den Fixposten (Patientenzahl, Verweildauer, Kosten) nur Zeit. Zeit, die als Durchschnitt berechnet wird oder einfach willkürlich festgelegt wird. In der Pflegeversicherung werden Zeitwerte zugrunde gelegt, die schon seit Jahren gelten und die auch kaum verändert werden können. Wer hat einmal die Idee gehabt, dass eine Grundpflege 30 Minuten dauert? »Am unangenehmsten für die Mitarbeiter ist die Erkenntnis, dass das Qualitätsmanagement sie entmündigt. Denn sie sollen ihr gesamtes Wissen – auch das implizite – abgeben, das dann Teil des formalisierten Prozesses wird. Danach sind individuelle Entscheidungen nicht mehr angesagt. In der Konsequenz läuft Qualitätsmanagement auf Dienst nach Vorschrift heraus. Der galt früher zu Recht als Form des Arbeitskampfes, weil man wusste, dass nichts läuft, wenn die Leute ihren gesunden Menschenverstand ausschalten.«10
Etwas Absurdes ereignet sich da: Menschen in sozialen Institutionen, die sich als Experten für die diversen Wechselfälle des Lebens ausbilden lassen, die beraten, pflegen, betreuen, zuhören, in Krisen eingreifen – die werden zu Entmündigten im eigenen Haus. In der Fachzeitschrift »Führen und wirtschaften im Krankenhaus«11 beschreibt die Klinikkette Vitos die Instrumente, mit denen die Qualität der Versorgungspsychiatrie zurzeit erhoben wird. So sind Ärzte und Pflegepersonal damit beauftragt, diverse Beurteilungsbögen auszufüllen (CGI, Skala zur Bestimmung des aktuellen Schweregrads und der Veränderung einer psychischen Erkrankung oder GAF, Skala zur Beurteilung der psychischen, sozialen und beruflichen Funktionen eines Patienten beziehungsweise seiner Beeinträchtigung) und dies bei Aufnahme und Entlassung eines Patienten. Dann können nämlich Auswertungen durch den Computer erstellt werden und sogenannte »Ergebnisqualitätskennzahlen« errechnet werden. Wichtig dabei ist natürlich, dass die Daten bei Aufnahme und Entlassung sich deutlich steigern, damit man von »Qualitätsoptimierung« sprechen kann. Erfreuliche Grafiken zeigen dann genau den erwünschten Effekt der »ständigen Verbesserung«. Die Ver-
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fasser des Artikels beklagen allerdings noch zu große Unterschiede zwischen den Menschen, die dokumentieren. »Regelmäßige Trainings für die Ärzte, die die Scores dokumentieren, sollen die Interrater-Reliabilität (Urteilerübereinstimmung) in den Kliniken auf einen gleichen oder mindestens ähnlichen Bewertungsmaßstab bringen.« Die stete Überwachung und Kontrolle von Qualitätsnormen, wie auch die permanente Standardisierungswut der verwalterischen Planer stehen wie ein monolithischer Block dem eigenen Tun und der eigenen Kreativität in der sozialen Praxis entgegen. Nicht selten gehen die Bemühungen der Mitarbeiterinnen so weit, das Wesentliche ihres Tuns vor den Augen der Qualitätsverbesserer zu verbergen. Oder man bemüht sich, so zu tun, als ob man sich vor den ehernen Verhaltensregeln beugt, um sich einen kleinen Freiraum für Lebendiges zu erhalten. Bettina Warzecha kommt zu dem Schluss, dass die gemanagte Qualität systematisch zu einem Verfall des Wissens, einer Verschlechterung der Dienstleistungen und ansteigenden Gesamtkosten führt. Nur genau das erfasst keiner. Wer gute Arbeit machen will, sollte daher »Qualität« aus seinem Wortschatz streichen.
Anmerkungen 1 | Aus dem Leitbild einer x-beliebigen Institution des Sozialen. 2 | Aristoteles: Metaphysik. Quantität, Qualität, Relation. Berlin: 1994, S. 128. 3 | Philosophiegeschichtlich nimmt »Qualität« im 19. Jahrhundert eine besondere Stellung ein: Bei Hegel und auch Marx wurde Qualität zu einer Metapher des Fortschritts und der Weltveränderung. Der »qualitative Umschlag« von der Quantität zur Qualität wurde gedeutet als das Gesetz menschlicher Geschichte, die zum Vollkommeneren hin tendiere. Diese ideologische Aufladung von Qualität hat dem Begriff in der Geisteswissenschaft eine dynamische und positive Note angeheftet. 4 | »Nach einem vom japanischen Gesundheitsministerium veröffentlichten Report sind, wie die Nando Times berichtet, im Jahr 2001 143 Karoshi-Tote registriert worden, Männer und Frauen, darunter vor allem Büroarbeiter, Fließbandarbeiter und Fahrer. Obwohl diese Zahl einen traurigen Rekord darstellt, könnten es inoffiziell noch viel mehr gewesen sein, eine Schutzvereinigung geht von 10.000 KaroshiToten aus. Der Todesarten gibt es mehrere, nicht nur durch Stress bedingte Herzinfarkte, sondern auch Selbstmorde und andere Kollapse, manche schlafen einfach in der U-Bahn ein und wachen nicht mehr auf. Dass es die Arbeit war, die den
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Sensemann rief, wird nachträglich geprüft. Dabei müssen die Hinterbliebenen dem Arbeitsministerium beweisen, dass das Karoshi-Opfer am Tage seines Ablebens extrem belastende Arbeit hinter sich hatte. Im Karoshi-Manual ist dazu verzeichnet, dass Überarbeitung als Todesursache in Frage kommt wenn der Betreffende am Tag seines Ablebens mindestens 24 Stunden (!) gearbeitet hat oder in der Woche vor seinem Tod jeden Tag mindestens 16 Stunden. Wenn er in der Woche vor dem Zusammenbruch einen Tag frei hatte, ist es schon kein Karoshi mehr und Unterhaltsforderungen greifen ins Leere.« www.heise.de/tp/artikel/12/12609/1.html, letzter Zugriff 07.07.2016. 5 | Interessanterweise wird der Name ISO in jedem Land unübersetzt gebraucht, weil man hier zufällig eine Verbindung zum griechischen »isos« – gleich gefunden hat. 6 | 1951, als sich die Bundesrepublik Deutschland konsolidiert hatte, trat sie mit ihrer eigenen Organisation, nämlich dem Deutschen Institut für Normung (DIN) diesem Gremium bei. 7 | Total Quality Management: eine Weiterführung des QM mit totalitärer Ausrichtung: nicht Menschen, Prozesse machen Fehler – nicht einzelne, sondern alle Mitarbeiter sind für Fehler verantwortlich – null Fehler ist zwingendes Ziel – vollkommene Kundenzufriedenheit soll erreicht werden. Vgl. Wikipedia. 8 | Warzecha, Bettina: Problem: Qualitätsmanagement. Prozessorientierung, Beherrschbarkeit und Null-Fehler-Abläufe als moderne Mythen, Norderstedt: Verlag für Planung und Organisation 2009, S. 59. 9 | Hier kann Folgendes angesehen werden: https://www.youtube.com/watch ?v=F69tTcgY ToI, letzter Zugriff 11.08.2016. 10 | Warzecha, Bettina: Ungesunde Ordnung. In: www.brandeins.de/uploads/tx _b4/120_b1_10_10_warzecha_interview.pdf, letzter Zugriff 01.08.2016. 11 | Belling, Richard; Bender, Mathias: Qualitätsindikatoren in der Psychiatrie. Punkt für Punkt erfassen. In: f&w 1/2016, S. 48-52.
Spiritualität Reimer Gronemeyer
In the beginner’s mind there are many possibilities; but in the expert’s there are few. S hunriyu S uzuki
Wenn ich sehe, wie Menschen mit Demenz malen und zeichnen, verstärkt sich in mir die Vermutung, dass eben diese Menschen Ursprungsort und Quell von Spiritualität sein könnten.1 Stattdessen haben Spiritualitätsexperten damit begonnen, ›Demente‹ mit ›Spiritualität‹ zu behandeln und zu versorgen. Menschen mit Demenz sind in der Gesellschaft, in der wir leben, gewissermaßen die Symbolfiguren dessen, was gefürchtet wird: Sie haben ihre Autonomie verloren. Sie sind die Aussätzigen einer von Hirn, von Individualität, von Geld, von Konkurrenz, von Konsumismus geprägten Gesellschaft. Gäbe es sie nicht, dann müssten sie erfunden werden: Um die scheinbar Gesunden zu erschrecken. Genau betrachtet sind die Menschen mit Demenz die ohnmächtige, verzweifelte, hoffnungslose spirituelle Opposition in dieser Gesellschaft. Das ist natürlich keine gewählte Opposition, sondern ist das Gegenüber (das heißt ja ›Oppositon‹), in das die Opfer gedrängt werden. Die Verrücktheit, die in der Mehrheitsgesellschaft herrscht, wird ausgelagert.2 Auf eine bemerkenswerte Weise ist es gelungen, vom herrschenden Wahnsinn abzulenken und ihn auf die Dementen zu projizieren. Sie gelten als versorgungsbedürftig, sind es ja auch; die wahnsinnige Mehrheit nicht, sie scheint normal. Es ist angemessen und hilfreich, die Menschen mit Demenz als das Ergebnis eines Alters-Burn-out zu begreifen. Der Weg, auf dem sich dieser Burn Out verwirklicht, ist gegenwärtig nicht klar. Sind sie im Wesentlichen Opfer eines exzessiven pharmakologischen Angriffs auf die Alten? Für diese Annahme sprechen gute Gründe. Oder verkörpert ihr geistiger Zusammenbruch den Tatbestand, dass
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sie sich in einer nicht mehr verstehbaren, beschleunigungsbesessenen, das Alter entwertenden Lebenswelt vorfinden? Fakt ist: Die Zahl derer, die in der entfesselten Leistungsgesellschaft nicht mehr funktionieren, wächst – und so befinden sich die »Demenzkranken«, wie sie ja gern verschleiernd genannt werden, in guter Gesellschaft mit den Ausgebrannten (vornehm: Burn out), den Niedergeschlagenen (vornehm: Depression), den Ruinierten (vornehm: ADHS). Die Verrückten erscheinen an den Wundrändern der Gesellschaft, die sich von der Disziplinargesellschaft zur Leistungsgesellschaft entwickelt hat.3 Der flexible Mensch, den die Leistungsgesellschaft braucht, dessen innerste Ressourcen ausgeschlürft werden sollen, der sich selbst optimieren soll, um zu funktionieren: Dieser flexible Mensch ist immer in der Gefahr, das eiserne Band, mit dem sein Ich zusammengehalten wird, zu verlieren und in die zeitgemäßen Verrücktheiten abzurutschen. In die Demenz oder die Depression zum Beispiel. Sie sind die letzten Auswege eines überforderten Subjekts. Die Leistungsgesellschaft muss beunruhigt sein über diesen Wachstumssektor: Die Zahl derer, die nicht mehr richtig funktionieren, wächst. Da kommt die Spiritualität ins Spiel. Mit Tabletten ist bei den zeitgenössischen Verrücktheiten wenig bis nichts zu machen. Fehlt den Betroffenen vielleicht Spiritualität? Eignet sich Spiritualität als eine Variation auf das Coaching? Neben die medizinischen und pflegerischen Versorgungselemente treten die psychosozialen ›Bedürfnisse‹ und zur Vollversorgung zählt man neuerdings auch spirituelle Versorgungsbeigaben. Und wenn immer ein neues Defizit diagnostiziert wird, gesellen sich schnell die Experten für dieses Defizit dazu und es werden Schulungen verpflichtend, Lehrstühle gestiftet und Zertifikate ausgestellt. Der zertifizierte Spiritualitätsexperte betritt die Bühne der Dienstleistungsgesellschaft. Als Kinder haben wir Granatsplitter aus den Trümmerfeldern herausgesammelt. So wirkt die Spiritualitätsmode bisweilen auf mich: Die neuen Experten der Spiritualität sammeln aus den Trümmerfeldern der Religionen heraus, was noch (wenn auch eingeschmolzen) nachgeblieben ist. Freundlicher gesagt: Spiritualität ist eine zeitgenössische Instant-Religion, die – frisch aufgebrüht – gegen die Malaisen der Leistungsgesellschaft aufgeboten wird. Diese von ihren religiösen Herkünften abgelöste Spiritualität hat etwas Amöbenhaftes, lässt sich aber nützlich einsetzen: Sie ist Religion, die in Technokratie umgewandelt wurde.
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Noch nie sind die Menschen so hoffnungslos gewesen wie heute, was besonders am Lebensende spürbar wird. Noch nie ist deshalb wohl die Sehnsucht nach Spiritualität so groß gewesen wie heute. Und man muss sie vor ihren Experten in Sicherheit bringen. Wahre Spiritualität kann wohl nur von den nicht Akkreditierten kommen. »Die Stimmen der Ausgeschlossenen, der Alten, der Frauen, der Kinder, derer, die als verwirrt oder einfach als andersartig gelten« sind es, von denen Spiritualität zu erhoffen sein mag.4 »Mystiker ist, wer nicht aufhören kann zu wandern und wer in der Gewissheit dessen, was ihm fehlt, von jedem Ort und von jedem Objekt weiß: Das ist es nicht.« So hat es Michel de Certeau gesagt und man kann wohl an die Stelle des Begriffes Mystik unschwer den der Spiritualität setzen.5 Tatsächlich besteht die Gefahr, dass der Prozess, den Spiritualität notwendig darstellt, zu einem in Curricula und Modulen verfestigten Lehrmaterial wird, mit einem Wort: zu einer Ware, die man anbieten kann. Wie könnte denn auch von Spiritualität geredet werden in einer Zeit, in der Ethik zum abprüf baren Unterrichtsfach degeneriert ist und eine Wissenschaft die Herrschaft ergriffen hat, die nach Sinn nicht mehr fragt? Dies alles in einer Gesellschaft, die Produktion und Wachstum an die Stelle von Gerechtigkeit und Solidarität gesetzt hat. Der Spiritualitätsboom, den wir erleben, speist sich aus dubiosen Quellen und dient verdächtigen Zwecken. Ein Beispiel, das für viele steht, aus dem Bereich »Palliative Care«, wo sich – wenn ich richtig sehe – der Spiritualitätsboom zuerst eingewurzelt hat. Dort ist Spiritualität längst eine Art Produktionsfaktor für sogenanntes »gutes Sterben«. Ohne eine 160-Stunden Fachweiterbildung können Pflegekräfte heute zu »Sterbenden mit besonderen Problemen« gar nicht mehr zugelassen werden. Ärzte brauchen eine Weiterbildung in Palliativmedizin. Curricula und Module designen längst ein »gutes Sterben«.6 Was vor einigen Jahren noch erstauntes Gelächter ausgelöst hätte, ist längst Realität: Wir haben die Epoche des qualitätskontrollierten und evaluierten Sterbens betreten. Und Spiritualität ist neben der medizinischen und pflegerischen Versorgung längst als Produktionsfaktor für »gutes Sterben« hinzugetreten.7 HOPE ist ein Angebot des Deutschen Hospiz- und Palliativverbandes, ein sogenanntes »Qualitätsinstrument«, bestehend aus umfangreichen Fragebögen, in denen auch der Bereich Spiritualität bedacht wird. Zur Erfassung der spirituellen Bedingungen in einer Sterbeeinrichtung zählen diese Fragen: Gibt es einen Andachtsraum? Gibt es Rituale?
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Gibt es Gespräche? Der Fragebogen differenziert zwischen Situationsgespräch, Biografiegespräch, Ressourcengespräch, perimortaler Begleitung und Glaubensgespräch. Mit perfektionistischer Besessenheit wird das Instrumentarium ausgebaut. Das »Modul-Prognosescore« unterscheidet zwischen drei Wochen und sechs Wochen Überlebenswahrscheinlichkeit (das ist wichtig für die Begleitung). Der »Barthel-Index-Bogen« erfasst die Selbstständigkeit, dazu kommen der »Palliative-Outcome-Score«, der »Mitarbeiter-Angehörigen-Bogen« und so weiter. Der Sterbende selbst wird zur Datenquelle. Er soll ankreuzen, ob seine Angst heute leicht, mittel oder schwer ist. Er soll auch Stellung nehmen zu der Frage: Waren Sie in den vergangenen drei Tagen durch Schmerzen beeinträchtigt? Empfanden Sie in den vergangenen drei Tagen Ihr Leben als lebenswert? Hatten Sie in den vergangenen drei Tagen ein positives Selbstwertgefühl? Spiritualität wird so zum Bestandteil eines Verfahrens, das Spiritualitätsbedürfnisse abfragt und gegebenenfalls befriedigt. Spiritualitätsangebote sind die Spezialität einer dementen Gesellschaft. Wenn man sich gegen das Vergessen stemmt, gegen die Mehrheitsdemenz, dann wird man – zum Beispiel – bei Martin Luther fündig, der gesagt hat: »Dass also dieses Leben nicht ist eine Frömmigkeit, sondern ein Frommwerden, nicht eine Gesundheit, sondern ein Gesundwerden, nicht ein Wesen, sondern ein Werden, nicht eine Ruhe, sondern eine Übung, wir sind’s noch nicht, wir werden’s aber. Es ist noch nicht getan und geschehen, es ist aber im Gang und Schwang. Es ist nicht das Ende, es ist aber der Weg, es glüht und glitzert noch nicht alles, es fegt (reinigt) sich aber alles.« 8 Martin Luthers Sätze sind bruchlos auf das Thema Spiritualität zu übertragen. Spiritualität ist eine Suchbewegung und kein Besitz, ist eine Möglichkeit und keine Wirklichkeit. Vor allem ist Spiritualität kein Mittel. Und darum ist Spiritualität heute aufs höchste gefährdet. Wenn es in Verfahren umgemodelt wird, wenn es zum Gegenstand expertokratischer Angebote wird, wenn es gar zur käuflichen Dienstleistung wird, ist es schon um die Spiritualität geschehen. Rettung läge, gäbe es sie denn, in einer Deprofessionalisierung der Spiritualität. Die Menschen mit Demenz geben da Fingerzeige. Hoffnung für die Spiritualität bestünde darin, sie der Ökonomisierung, der Verwertbarkeit, der Modularisierung, der Knechtschaft in der Diagnose- und Dienstleistungsgesellschaft zu entreißen. Merke: Ein Experte für Spiritualität ist ein Oxymoron.
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Anmerkungen 1 | Dieser Artikel ist ähnlich bereits veröffentlicht in: Spiritual Care. Zeitschrift für Spiritualität in den Gesundheitsberufen, 2/2015 S. 136-139. 2 | Es wäre nicht schwierig, den Wahn der Mehrheitsgesellschaft in langen Literaturlisten zu belegen. Stellvertretend verweise ich auf: Emmott, Stephen: Zehn Milliarden, Berlin: Suhrkamp 2013 und Metz, Markus; Seeßlen, Georg: Blödmaschinen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2011. 3 | Han, Byung Chul: Müdigkeitsgesellschaft, Berlin: Matthes und Seitz 2010. 4 | Bogner, Daniel: Das Religiöse weiter denken. Mystik als heuristische Kompetenz, Nachwort zu: de Certeau, Michel: Mystische Fabel, Berlin: Suhrkamp 2010, S. 523. Wo Bogner von Gottespräsenz redet, habe ich das Wort Spiritualität eingesetzt. 5 | de Certeau, Michel a.a.O., S. 507. 6 | Der Liverpool Care Pathway, der die Betreuung Sterbender organisiert, hat erreicht, dass Sterben zu einer Diagnose geworden ist, die dann konsequent den Leitfaden für die Sterbebegleitung nach sich zieht: Punkt 6 des LCP heißt: »Religiöse und spirituelle Bedürfnisse sind erfasst.« Vgl. dazu: Gronemeyer, Reimer; Heller, Andreas: In Ruhe sterben. Was wir uns wünschen und was die moderne Medizin nicht leisten kann, München: Pattloch 2014. Vgl. auch Heller, Birgit; Heller, Andreas: Spiritualität und Spiritual Care, Bern: Huber Verlag 2014. »Advanced Care Planning« gewinnt nach der Einführung des Hospiz- und Palliativ-Gesetzes in Deutschland 2016 zunehmend Bedeutung. Sterbende Menschen werden mit ACP zu Adressaten einer Versorgungsplanung, die aus der Ars Moriendi eine Ars Administrandi macht: Sterben als Planungsaufgabe für den Betroffenen wie für die Experten. Vgl. auch Gronemeyer, Marianne: Darmstadt: WB6 2009. 7 | So Jurk, Charlotte: Von der Industrialisierung des Sterbens, in: Bioskop, Dezember 2013, S. 14f. Der Fragebogen findet sich unter www.dhpv.de und www. clara-klifo.de/startseite/hope/ 8 | 1661 erschienen in Sachsen unter dem Titel: Der Erste Teil aller Deutschen Bücher und Schrifften des theuren, seeligen Mannes Gottes, Doct. Martini Lutheri, vom XVII. Jahre an, biß auff das XXII. Aus denen Wittenbergischen, Jehnischund Eißlebischen Tomis zusammen getragen, Band 1.
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Die Sage des Lallens. Ich möchte vom Lallen sprechen. Aber darf ich überhaupt vom Lallen sprechen? Und: ist es überhaupt möglich, vom Lallen zu sprechen? Ist ›lallen‹ nicht ein ganz und gar beleidigender Ausdruck, der sich selbstverständlich verbietet? Sollte man nicht die für den professionellen Diskurs gängigen Begrifflichkeiten verwenden (zum Beispiel ›Aphasie‹ oder ›Sprachdefizit‹) um mit angemessener Nüchternheit Phänomene der unartikulierten unverständlichen Ausdrucksweise zu benennen? Denn das ist die ursprüngliche Funktion des Wortes ›lallen‹. Schaut man aber auf seine Mehrdeutigkeit, so beginnt im Lallen etwas zu rumoren, das sich der gängigen Bedeutung widersetzt und entzieht. ›Lallen‹ wird beschrieben als: »undeutlich, mit ungelenker Zunge sprechen, stammeln, unartikuliertes Sprechen«. Aber es kann auch »in den Schlaf singen«. Und: das ›La‹ im Lallen zeichnet lautmalerisch das erste kindliche Sprechen nach, das fast schon (oder noch?) Singen ist: lall lall lall. Diese Mehrdeutigkeit rückt das Lallen in die Nähe von Musik und Klang und befreit es von der Aussagefunktion, die darin besteht, dass jemand an der Sprache selbst, als ob diese nur bestünde, um etwas aussagen zu können, scheitert. Dieses Lallen ist mit einem mal nicht mehr nur Symptom eines Scheiterns. Ich begegne ihm oft bei den Menschen mit Demenz, mit denen ich male. Dürfte ich nun, nach dieser Erläuterung, von jener Dame erzählen, die ich jede Woche in einem rundum gesicherten Rollstuhl antreffe, und davon, wie sie lallt: Mamamamamam …? Aber da war noch eine zweite anfangs gestellte Frage: Ob man über das Lallen sprechen kann? Kann man über das Lallen in einer Sprache sprechen, die nicht lallt, sondern gekonnt spricht? Welche gekonnte Spra-
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che könnte vom Lallen überhaupt etwas sagen, ohne in erster Linie zu bekräftigen, dass Sprechen gekonntes Sprechen sei und dabei, ohne auch nur ein Wort darüber zu verlieren, das beredte Schweigen über das Lallen zu vergrößern? Das Lallen wohnt im Grenzgebiet des allmählichen Übergangs von Sprache in Stummheit. Führt nicht die Ausweitung des gekonnten Sprechens über das Lallen zu einer immer extremeren Verschiebung jener Grenze, wo das Lallen noch hausen kann und noch nicht ganz schweigt? Muss man möglicherweise nicht, auf der Suche nach dem anderen Sagen des Lallens, anstatt nach dem Können des Sagens, danach fragen, wie die professionelle Sprache das Schweigen und das Lallen gekonnt versagt? In seiner ›Archäologie des Schweigens‹ mahnt Foucault an: »Man müsste also mit aufmerksamem Ohr sich jenem Geraune der Welt zuneigen und versuchen, so viele Bilder, die nie in der Poesie ihren Niederschlag gefunden haben, so viele Phantasmen wahrzunehmen, die nie die Farben des Wachzustands erlangt haben.« – und fügt sogleich seine Zweifel an: »Die Wahrnehmung, die diese Worte im ungebändigten Zustand zu erfassen sucht, gehört notwendig zu einer Welt, die sie bereits in den Griff genommen hat.«1 Wir hoffen, auf immer professionellere Weise eben diese ungebändigte Welt und ihre Bewohner in den Griff zu bekommen. Was im Begriff vom ›Griff‹ sich noch an das Risiko erinnert, die Welt mit seinen eigenen Händen zu ergreifen, was also die Widerfahrnis des Anderen in ihr Kalkül wenigstens noch einbezieht, dieser Griff erweist sich nun im ›Begriff‹ als ein geisterhafter, der nur mehr verstehen aber nichts mehr berühren will. Der Begriff, so Hans Blumenberg, sei eben jenes Instrument, dass der Mensch sich angesichts seiner Schwächlichkeit inmitten einer unbändigen Welt anzufertigen wusste, um sich ihrer aus sicherer Entfernung zu bemächtigen: »Um überleben zu können […] erschuf er sich den Prototyp des Begriffs: die Falle. Sie ist Realisierung von Denken im kompakten Sinne: Vorrichtung, deren Anbringung, Auslegung, Aufhängung, Aushebung ermöglichen, dem Abwesenden das Abwesende zur Beute zu machen. […] Wer besser denkt fängt mehr.« 2
So beginnt die ›Sage des Professionellen‹: immer besser zu denken. Blumenberg zeigt, wie die Karriere des Begriffsdenkens verknüpft ist mit dem Bedürfnis nach größtmöglicher Sicherheit und nach Be-
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quemlichkeit: »Während die Falle für sie (die Jäger. Anm.d.Verf.) auf der Lauer lag, lagen sie in den Höhlen bei den Weibern und genossen die Beute vom letzten Fang.«3 Im Lallen lockert sich der begriffliche Verschlussmechanismus der professionellen Sage. Der Sinn wird weich und entweicht. Unsinn sickert durch die Sprache. Das Lallen strapaziert unsere Fertigkeit etwas begreifen und erkennen können, es treibt durch seine unfasslichen Versprecher Pfusch mit der ›professionellen Sage‹.4 So drückt sich in jedem Lallen auch das Versagen der Grundfunktion von Sprache aus, Sinn zu erzeugen. Die »Erzeugung von Sinn« aber gilt als das »Humanum« kultureller Praxis schlechthin.5 Das Lallen zu bedenken ist demnach der heikle Versuch, das, was unter der Herrschaft des Sinns in immer weiter entfernte Exile des Menschenmöglichen ausgewiesen wird, in unserem Denken und Sagen zu rehabilitieren. Es ist vielleicht ein unsinniger Versuch, der die Syntax nur ins Stolpern und zu Fall bringt. In Bachs Weihnachtsoratorium flehen die Lallenden zu Gott: »Herrscher des Himmels, erhöre das Lallen«.6 Das meint nun nicht ein professionelles Registrieren und Dokumentieren, sondern ein Aufhorchen. Gewahr werden. Ein Anerkennen. Vielleicht angesichts des eigenen Nicht-Sagen-Könnens die Bitte, durch ein Erhören des Lallens diesem den Sinn einer ›Sage‹ zu verleihen. Ein Anruf, solches Anlallen; ein flehentlicher Appell, im Erhören des Gegenübers beim verkümmerten Wort wie an der versehrten Hand genommen zu werden; dass durch das geschenkte Gehör das eigene Lallen wieder »zur Sprache« kommt wie zu der Welt, die wir miteinander teilten, als wir noch sagen konnten; diese sogenannte gemeinsame Welt, in der dem Lallen der Alten und Dementen, je fester der Griff der gekonnten professionellen Rede sie erfasst, ein immer geringfügigerer Platz zugewiesen wird. Die Furcht vor solch drohendem Versagen pocht an die Tür meines professionellen Sagens; scheucht den Gedanken auf: drohte es mir schon immer? Kann es denn sein, dass Ich von jeher lallte? Dass Du aber, dein Aufhorchen, es dereinst mit Sinn belehnst und Sprache in Gespräch verwandelst? Bittend halte ich mein erschöpftes Sprechen demjenigen hin, der es erhörend füllen möge; der es aber auch mir aus der Zunge schlagen kann. Schon seine herrliche Eloquenz schneidet mir mein ärmliches Wort ab. Immer besser denkend zeigt Sprache, wie sehr sie zur Taubheit des Besserwissens taugt. Ich kannte eine Dame mit Demenz, die in den letzten Jahren ihres Lebens fast nur mehr die immer gleiche Folge von Ziffern hersagte. Hin
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und wieder nahm sie an einer von mir geleiteten Malgruppe teil und dann schrieb sie mit zitternder Hand ungelenke Zahlen aufs Blatt. Eines Tages zeichnete sie auch in einem Bogen kleine Kringel aufs Blatt, raunte dazu ihre Zahlen und schrieb sie nieder. Und mit einem Mal dachte ich an die Wählscheiben, die die Telefone früher hatten. Es erscheint wie eine Erinnerung an uralte Zeiten: Um eine Nummer zu wählen, musste man mit dem Finger in dem Loch über der Zahl die Wählscheibe gegen einen kleinen Widerstand nach rechts schieben. Die Scheibe schnurrte dann mit einem wunderbaren Ruckeln und Brummen langsam wieder zurück. Und ich dachte: Ob sie vielleicht von einer Telefonnummer spricht? Will sie jemanden anrufen? Vielleicht war es ihre Nummer? Ihre Beharrlichkeit beim Aufsagen der immer gleichen Ziffern: endlose Anrufe, die aber, da keiner sie mehr verstand, nie angenommen und erhört wurden. Eine andere Dame bringt seit vielen Jahren schon kaum ein klares Wort heraus, hat aber dennoch sehr viel zu sagen. Ich beuge mich zu ihr, da sie im Rollstuhl sitzt, und begrüße sie. Unsere Blicke begegnen sich. Ich sehe genau, wenn sie mich sieht, wenn ihr Blick mich erreicht. Sogleich löst dieser Blickwechsel ihre Rede aus. Ein erstes, vielleicht ein zweites verständliches Wort, dann lösen sie sich schnell auf in einem unartikulierten Fluss von unverständlichen Lauten, die sie aber, indem sie mich weiter eindringlich anschaut, immer weiter an mich adressiert. Was sie mir sagen will, kann ich nicht in Gestalt von Worten erfassen. Beunruhigt von dem nagenden Gefühl, die Botschaft des Gesagten nicht empfangen zu können, und befangen in dem Glauben, dass es einen Sinn dieser Botschaft geben müsse, tröstet mich die Vorstellung es, was auch immer es sei, dennoch in die Obhut meines Bewusstseins zu nehmen; dass ich ihre »Sendung« annehme; aber wie ein Geschenk, das ich nie werde auspacken können. Ein ganz anderes Sagen ist dieses an mich adressierte Lallen und erfordert andere Arten von Annahme und Empfang. Ich muss versuchen, mich einer Art von Blindheit anzuvertrauen. Vorstellungen von erhellender Information, die mir das Gemeinte klipp und klar enthüllen mögen, sind hier fehl am Platz. Das vermeintlich Verstandene, es dient oft genug nur der Wiedererlangung meiner Ruhe und meiner Bequemlichkeit; den Empfang des Anderen lehnte es ab. Besondere Erinnerungen habe ich auch von Frau W., die gar nicht mehr sprach, mich aber ununterbrochen anblickte. Sie ließ davon nur ab, wenn es mir gelang, ihre Aufmerksamkeit auf den Pinsel zu lenken, um für wenige Minuten Farbspuren auf dem Blatt zu erzeugen. Gelall-
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te Zeichnungen. Bald richtete sie ihren Blick wieder auf mich; oft über den Tisch hinweg, wenn ich auch anderen, die da malten, meine Aufmerksamkeit widmete. Ich spürte in ihrem Blick die Klage um das eigene Verstummen, aber auch den eindringlichen, in seiner Stummheit um so stärkeren Ruf: Komm zu mir! Die Einsamkeit ist in unserer Zeit und Gesellschaft eine besonders schwere Zumutung für viele alte und demente Menschen. Nicht ihre Gebrechlichkeit, nicht Kurzsichtigkeit, Schwerhörigkeit, auch nicht das Vergessen. Vieles davon lässt sich ertragen, wenn sich die geteilte Kraft von Freunden oder Familie ihrer annimmt. Wie aber soll man das Ausbleiben von Kindern, Partnern, Menschen, die einem am Herzen liegen, ertragen? Von Menschen, die einen erhören mögen; denen man am Herzen liegen möge? Der Verlust der Sprache hat an solcher Vereinsamung großen Anteil und kappt eine der wichtigsten Verbindungen zu unseren Mitmenschen. Was können wir noch von jenen wissen, die uns nicht mehr in jener Sprache antworten, in der allein wir etwas wissen können? Verlieren wir sie, immer besser wissend, nach und nach aus dem Blick? Noch einmal Foucault: »In unserer Zeit schweigt die Erfahrung mit dem Wahnsinn in der Ruhe einer Gelehrsamkeit, die den Wahnsinn, weil sie ihn zu gut kennt, vergisst.« 7 Da rührt sich also, wie in verborgenen Höhlen der Sprache, eine Furcht vor dem zunehmenden Versagen unseres gekonnten Sagens. Das Lallen der Alten und Dementen flößt sie uns mit Macht ein. Um größerer Sicherheit willen perfektionieren und professionalisieren wir unsere Sprache. Denn das Lallen ist schwer auszuhalten, schwer zu hören; und dann fällt es schwer zu zögern; schwer, nicht schon wieder zu viel und zu gut zu sagen; zu schweigen; zu lauschen; sich zuzuraunen: da ist Anderes vernehmbar; ich verstehe es nur nicht; schwer vorstellbar, dass dies der ungeschickte aber eben doch der Versuch eines Sagens ist; der Versuch, ungekonntes und unprofessionelles und lallendes Sagen zu werden; und dass gerade diese Gefühle von Unsicherheit uns gut anstehen angesichts der Sorge, die professionelle Sprache sei allzu sehr damit befasst, Anderes in ihren Griff zu bekommen; stattdessen einräumen, dass die ›Sage der Professionalität‹ es vielleicht nötig hätte, jene andere ›Sage des Lallens‹, die oft nicht mehr als geflüsterte Anrufe sind, zu erhören und anzunehmen.
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Anmerkungen 1 | Foucault, Michel: Wahnsinn und Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973, S. 13. 2 | Blumenberg, Hans: Löwen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 50f. 3 | Ebd. 4 | ›strapazzare‹ bedeutet auch: pfuschen. S. Etymologisches Wörterbuch (1989) Berlin Akademie Verlag; Stichwort Strapaze. 5 | Mersch, Dieter: Posthermeneutik, Berlin: Akademie-Verlag 2010, S. 13. 6 | Johann Sebastian Bach, Weihnachtsoratorium, Kantate 3. 7 | Foucault, a.a.O., S. 14.
Standard Marianne Gronemeyer
›Standard‹ ist ein Allerweltswort. Im politisch-sozialen Jargon ist der Begriff zur gängigen Münze geworden und der aus ihm abgeleitete Tätigkeitsbegriff ›Standardisierung‹ bezeichnet eine allgegenwärtige Praxis. Aber gerade wegen dieser Geläufigkeit sind der Begriff und die ihm zugehörige Praxis außerordentlich folgenschwer. Ursprünglich aus dem Militärischen stammend, wo er eine Königsfahne (= king’s standard), ein aufrecht stehendes Feldzeichen als »Mittel- und Sammlungspunkt des Heeres oder eines Schiffsverbandes«1 bezeichnete, wird ›Standard‹ dann verallgemeinert zu einer ›Quelle von Autorität‹ und später zu einem mit ›Autorität ausgestatteten Vorbild von Korrektheit‹.2 Wie wirkmächtig das Wort in dieser letzteren Bedeutung schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde, lässt sich an einem behördlichen Vorstoß im damaligen England ablesen, nämlich der Einführung des ›Standard English‹: Ein oberklassenspezifischer Sprachgebrauch wurde zum ›Standard‹, also zum verbindlichen, einzig korrekten Englisch erklärt. Mit breiter Unterstützung der Erziehungsinstitutionen sollte die Mehrheit der Muttersprache sprechenden Engländer überzeugt werden, dass ihre eigene Sprache falsches, mindestens unkorrektes Englisch ist.3 ›Standard‹ wird in der Folge ganz allgemein zum Maßstab für Richtigkeit, wobei nicht zu vergessen ist, dass er, wie das Beispiel ›Standard English‹ lehrt, Ergebnis einer interessengeleiteten, machtvoll erzwungenen Setzung ist. Zunehmend erscheint der Begriff nur noch im Plural und in eben dieser pluralen Form wird seine normative Kraft gestärkt. Ähnlich wie ›Werte‹ – vorzugsweise ›unsere Werte‹ (ebenfalls ein Pluraletantum) – werden Standards zu einem generellen, umfassenden Kriterium zur Feststellung und Beurteilung von Qualität verallgemeinert. »Es ist in diesen Verwendungen oft unmöglich, seine Zustimmung zu bestimmten Standards zu
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verweigern, ohne als jemand zu gelten, der die Idee der Qualität überhaupt in Frage stellt.«4 Noch folgenreicher ist in der Begriffsgeschichte die Umdeutung von ›Quelle der Autorität‹ zur Bedeutung ›Grad des Erreichten‹.5 ›Standard‹ bezeichnet jetzt eine Durchschnittsbeschaffenheit, eine Normalgestalt, ein Mittelmaß.6 In dieser Bedeutung dient der Begriff als Maßeinheit für ein erreichtes durchschnittliches gesellschaftliches Leistungs- oder Qualitätsniveau. Der festgelegte Standard sagt also zunächst nur, was normalerweise ›geht‹, was man mit Fug und Recht erwarten kann, und nicht, was wünschbar ist. Der in der Mitte des 19. Jahrhunderts auf kommende Begriff ›Lebensstandard‹ (ursprünglich ›standard of life‹, später meist ›standard of living‹) ist das klassische Beispiel für diese Bedeutungsschicht. ›Lebensstandard‹ ist anfänglich ein rein statistischer Begriff zur Beschreibung des durchschnittlichen Versorgungsniveaus der Gesamtbevölkerung eines Landes oder eines Standes, ungeachtet der Frage, ob das Versorgungsniveau durch Selbst- oder Fremdversorgung aufrecht erhalten wird, und auch ungeachtet der Frage, wie der gesellschaftliche Reichtum verteilt ist. Noch im Brockhaus von 1968 findet sich diese wertfreie Deutung: »Lebensstandard, die von der Höhe des Einkommens und dessen Kauf kraft abhängige Art, in der ein einzelner oder ein Volk seine Lebensbedürfnisse zu befriedigen vermag. Maßstab für den internat. Vergleich des L. sind die Ergebnisse der Sozialproduktionsberechnungen für den privaten Verbrauch; in Ermangelung solcher Zahlen werden auch Arbeitsverdienste oder ähnliche Einkommenszahlen verglichen.« 7 In der Definition des Brockhaus wird allerdings schon ganz selbstverständlich vorausgesetzt, dass der Lebensstandard in Geldwerten bemessen werden kann und muss. Er zeigt sich in der Menge der Waren, die in einer Gesellschaft unter die Leute gebracht werden können. Er drückt sich in Kauf kraft und nicht in Selbsterhaltungsfähigkeit aus. Doch schon längst hatte sich kaum merklich in diese noch nüchterne, deskriptive Begrifflichkeit eine normative, präskriptive Komponente gemischt. ›Lebensstandard‹ sagt eben nicht nur, was die Bürger eines Landes im Schnitt an Mitteln zur Fristung ihres Daseins zur Verfügung haben, sondern er legt fest, was sie, um ›normal‹ leben zu können, zur Verfügung haben sollten.
Standard
• Wer hinter dem Standard zurückbleibt, fällt aus der Normalität, wird randständig, erfährt sich selbst als bedürftig und wird als bedürftig diagnostiziert. Und umgekehrt: Wer den Standard überbietet, hat Anspruch auf gesellschaftliche Anerkennung und auf gesellschaftlichen Einfluss. • Auf die Produktwelt bezogen: Was hinter dem Standard zurückbleibt, ist von minderwertiger Qualität, taugt nichts, ist bestenfalls Billigware, schlimmstenfalls ein Risiko und muss aus dem Verkehr gezogen werden. Und was weit über dem Standard liegt, ist hochpreisiges Luxusprodukt und steht nur wenigen zu. Damit wird ›Standard‹ zum Politikum. Er wird ein Indikator für Normalität und folglich für tolerierbare und nicht mehr tolerierbare, unproblematische und problematische Abweichungen. Und so gerät er in die Auseinandersetzungen politischer Interessengruppierungen um die Frage, wer ermächtigt ist, Standards zu setzen und ihre Einhaltung zu kontrollieren. Kurz: Wer darf entscheiden, was in einer Gesellschaft als normal zu gelten hat und wie Normalität geschützt werden kann und soll? In den siebziger und achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts wird diese politische Auseinandersetzung nicht mehr unter dem Begriff ›Lebensstandard‹ geführt, sondern unter dem der ›menschlichen Grundbedürfnisse‹ (›basic human needs‹) zur menschenrechtlichen Frage zugespitzt. Diverse Kataloge von menschlichen Grundbedürfnissen werden ausgetüftelt, um eine gültige Übereinkunft darüber zu erzielen, was d e r Mensch zum Leben braucht, was also jedem Menschen zum Erhalt seines Lebens als Existenzminimum garantiert werden muss, um der Menschlichkeit und um seines Menschseins willen. Die Kataloge differieren in vielerlei Hinsicht, am deutlichsten allerdings darin, ob sie sich auf materielle Bedürfnisse (Nahrung, Kleidung, Wohnung) beschränken oder das Existenzminimum auf psychosoziale Bedürfnisse (Sicherheit, Zugehörigkeit, Selbstverwirklichung) ausdehnen.8 So mit Menschenrechtspathos aufgeladen, wird das Konzept der ›basic human needs‹ jeder Kritik entzogen. Die zeitliche Nähe zwischen der Erfindung der menschlichen Grundbedürfnisse und der in den achtziger Jahren Fahrt aufnehmenden Globalisierungsdiskussion ist auffällig. Unfraglich hat die Globalisierung vom guten Leumund der ›Grundbedürfnisse‹ und des damit legitimierten ›Kampfes gegen die Armut‹9 profitiert. Wer sie allerdings als eine Standardisierung im Dienste der Globalisie-
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rung brandmarkt, begeht eine Ketzerei oder gilt als zynisch. Tatsächlich ist eine Reihe von schwerwiegenden Einwänden gegen ihre moralische Integrität zu erheben. An erster Stelle die Feststellung, dass es Grundbedürfnisse nicht gibt. Keine zwei Kulturen gleichen sich darin, was die in ihnen zusammengeschlossenen Menschen zum Leben brauchen. Was Eskimos und Wüstenbewohner und die Population einer westlichen Industrienation zum Leben brauchen, ist unvergleichlich. Und der Einwand, alle müssten schließlich etwas zu essen haben, sticht nicht, denn selbst ihr Hunger ist kulturabhängig. Die Idee der allen Menschen gemeinsamen Grundbedürfnisse ist ein Instrument der Kulturvernichtung und weltweiten Gleichmacherei. Sie befördert das kulturelle Artensterben, das sich im Zuge der Globalisierung epidemisch ausbreitet. Zweitens werden durch dieses Konzept alle Erdenbewohner erst ihrer Daseinsmächtigkeit beraubt, dann für bedürftig befunden und schließlich als ›belieferungsbedürftige Mängelwesen‹ in die Abhängigkeit von Versorgungsindustrien getrieben, im Namen der Gerechtigkeit, die mit Gleichmacherei verwechselt wird. Mit der weltweiten Standardisierung des Existenzminimums wird die staatliche Daseinsfürsorge herausgefordert und zugleich ermächtigt. Weltweit werden auf der Seite der Bürger durch eben diese Standards Versorgungsansprüche an staatliche Institutionen ermutigt, die die Eigenarbeit10 als Normalfall der Erwirtschaftung des Lebensunterhalts zunehmend bedrohen und schließlich dazu führen, dass dem Staat neben dem Gewaltmonopol auch ein Fürsorgemonopol zuwächst. ›Standard‹ wird damit zum Kampf begriff im Krieg gegen die Subsistenz. Das ist die dunkle Kehrseite des Sozialstaates. Die heute vorherrschende Verwendung von ›Standards‹ übernimmt den normativen Gehalt des Begriffs, variiert ihn aber auf eine für die Moderne charakteristische Weise. Standard bezeichnet jetzt ein normatives Noch-Nicht und wird damit zu einer Planungskategorie im Zeichen des Fortschritts. Der durch Analyse ermittelte Ist-Zustand ist nur mehr der Ausgangspunkt, die jeweilige Startposition, für den Auf bruch in eine bessere Zukunft. Er ist also per se defizitär und fordert seine Überwindung durch ökonomische, naturwissenschaftliche, technische, bürokratische und pädagogische Anstrengung. Im Bedeutungswandel des Begriffes ›Standard‹ haben wir es demnach mit drei Phasen zu tun. In der ersten Phase entsteht ein Standard durch einen Rückgriff auf die Vergangenheit, auf Tradition, Brauch, Sitte, kulturelles Gedächtnis. Um ihm Geltung zu verschaffen und Verbind-
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lichkeit zu sichern, beruft man sich auf die überkommenen Quellen der Autorität. Für die zweite Phase ist die Gegenwart der Errungenschaften das, worauf man stolz sein kann, zentral für die Definition von Qualität. Der Standard markiert den Stand des Erreichten, hinter den man nicht zurückfallen darf. In der dritten Phase delegitimieren Standards sowohl die Vergangenheit, die als überholt und rückständig gilt, wie auch die Gegenwart, die nur vorläufig ist. Standards beschreiben nun nicht mehr das Niveau des Erreichten, sondern des zu Erreichenden. Orientierungspunkt ist die Zukunft, ein verpflichtendes fortschrittsträchtiges NochNicht. ›Standards‹ sind die jeweiligen, ihrerseits vorläufigen Maßstäbe für eine planmäßig herzustellende Zukunft und ›Standardisierung‹ ist die Methode, dieses gestufte Fortschrittsprojekt zu ermöglichen. Bezweckt wird damit zweierlei: die Vereinheitlichung und die Beschleunigung aller Vollzüge im Dienste der Ertragssteigerung. Das sind die wesentlichen Merkmale des Maschinellen. Standards dienen dazu, menschliche Tätigkeiten so zu funktionalisieren, dass sie sich als Verfahrenskomponenten in maschinelle oder institutionelle Abläufe einfügen lassen. Sie sind einerseits Mittel, die institutionellen Zwecken dienen, andererseits sind sie selbst diese Zwecke. Als solche sind sie an die Stelle von Zielen getreten und zwar so unmerklich, dass der Unterschied zwischen beiden mehr und mehr verschwimmt. Die Rolle, die Standards zur Durchsetzung von Institutionszwecken spielen, lässt sich am Beispiel der Schule verdeutlichen. Sie hat sich früher als andere Institutionen der Daseinsfürsorge der Standardisierung ihrer Abläufe verschrieben. Schüler, die sich an den ihnen gesetzten Standards des geplanten Belehrungsverfahrens messen lassen – einem Lernzwang unterworfen und mit Karriereaussichten geködert – sind wie selbstverständlich bereit, diesen Mittel-Zweck-Mischmasch der Standards für ›Lern-Ziele‹ zu halten. Und die Lehrenden, zu Standardverwaltern degradiert, bestärken sie in diesem Irrglauben. Die für alle Schüler einer Altersklasse genormten Standards sollen deren Vergleichbarkeit ermöglichen. Penible Punktsysteme werden ausgetüftelt, um beim Schülervergleich Gerechtigkeit walten zu lassen. Bei der Festlegung der Standards herrscht allerdings bildungsbürokratische Willkür. Welche Talente, Begabungen, Erfahrungen und welche Herkünfte und Gepflogenheiten dem Schulerfolg förderlich und welche ihm abträglich sind, wird letztlich von den Diktaten des Marktes bestimmt und hat mit Gerechtigkeit gerade gar nichts zu tun. Was als Dienst an der Gerechtigkeit propagiert wird, dient
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im Gegenteil der Identifizierung der ›drop outs‹, die in der beinharten Konkurrenz um Rangvorteile unterliegen und das auch sollen. Denn die Sortierung in Sieger und Verlierer ist ein Hauptanliegen der standardisierten Bildungsgänge. Die Frage nach dem ›Wozu‹ ihrer Bildungsanstrengungen wird Lernenden wie Lehrenden erspart. Einzig relevant ist in den Bildungsinstitutionen (wie auch überall sonst in der Dienstleistungsindustrie) die Frage nach dem ›Wie‹: Wie können die als Ziele getarnten Standards in einer präzise vorgegebenen Zeitspanne und unter den Bedingungen permanenter Kontrolle erreicht werden? Tatsächlich haben Lern-, Tuns- und Erkenntnisziele mit Lern-, Verhaltens- und Denkstandards so wenig gemeinsam, dass man nicht einmal sagen kann, eines sei das Gegenteil des Anderen. Ziele können von Personen nicht getrennt werden. Indem ich ein Ziel verfolge, folge ich einer, nein, meiner Bestimmung. Um das tun zu können, muss das Ziel zu mir stimmen, ebenso wie ich zu ihm stimmen muss. Keine zwei Personen folgen den gleichen Zielen. Sie mögen die gleiche Aufgabe erfüllen, aber ihre Ziele differieren dabei dennoch. Zielsetzungen sind nicht notwendigerweise selbstbestimmt. Ich kann zu einem Ziel fremdbestimmt werden – in einem Akt der Berufung. Das Besondere der Berufung ist, dass durch sie eine unverwechselbare Beziehung zwischen zwei einzigartigen Personen zustande kommt, die einander auf je eigene Weise trauen. Sie werden zu einer Triade der Gegenseitigkeit; einerseits dadurch, dass der Berufene auf den Ruf hört und das Ziel vertrauensvoll bejaht, und andererseits dadurch, dass der Rufer dem Berufenen zutraut, dem Ziel gewachsen zu sein, indem er an ihm wächst. Berufener, Rufer und die durch das Ziel gesetzte, gemeinsame Aufgabe sind ebenbürtige Komponenten in dieser Konstellation, die alle gleichermaßen Anspruch darauf haben, gehört zu werden, denen also Gehorsam gebührt. Wenn ein Vor-Gehen nicht an einem Ziel (telos) orientiert ist, sondern an einem Standard, dann herrscht die Tyrannei des Standards, dem die Akteure, Lernende wie Lehrende, Vorgesetzte wie Untergebene unterworfen sind und dienstbar sein müssen; am raffiniertesten, wenn sie glauben, ihren eigenen Absichten zu folgen. Ziele stehen im Dienste des ›Guten‹, sie verweisen auf etwas, was sie übersteigt, etwas das, obwohl es angestrebt wird, doch nicht verfügbar ist. Sie können sich entziehen, auf Umwege und Abwege führen, auf denen sie sich verwandeln. Wer Ziele verfolgt, ist an die Hoffnung verwiesen und muss auf Überraschungen gefasst sein. Beides ist Gift für die Ge-
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währ, die Standards bieten. Standards verweisen nur auf sich selbst und erschöpfen sich darin, eingelöst zu werden. Sie sind die Garanten des Erwartbaren. Man kann vielleicht sagen: Wer zielstrebig, absichtsvoll und geradeaus auf sein ›Ziel‹ zugeht, hat es bereits verfehlt, denn er hat gar kein Ziel, sondern läuft am Gängelband eines Standards, während er in der Illusion lebt, aus freiem Willen und eigenem Antrieb zu agieren. Er hat nichts zu hoffen, ihm kommt kein Zufall zu Hilfe, er ist reduziert auf das Mittelmaß des nur Nützlichen. Standards werden in den »Ziegelfabriken der Nützlichkeit«11 gebacken. Ihr Geltungsanspruch ist absolut und abstrakt. Sie sind entbunden von jeder Bezüglichkeit. Sie stimmen, sie passen zu nichts und niemandem. Die Standards, die den Alltag eines Schülers oder einer Pflegerin oder eines Ingenieurs bestimmen, haben mit ihm/ihr nicht das Geringste zu tun. Sie sind nicht auf ihn oder sie abgestimmt, erlauben ihm und ihr auch nicht, ihrer Bestimmung nachzukommen. Sie lassen Begabungen, Talente, Sorgen und Befürchtungen brach liegen. Sie scheren sich auch nicht um den Augenblick, der vielleicht geschichtsträchtig wäre, ein kairos, der unergriffen vorüberzieht. Sie lassen sich durch nichts erweichen. Ihre Qualität besteht gerade in ihrer Ungerührtheit. Sie gelten ohne Ansehen der Person, der Situation und der Folgen, die sie zeitigen. Standards sind vollkommen losgelöst, unproportional, sie widersetzen sich jedem Versuch der Konkretisierung. Wir haben uns längst daran gewöhnt, das Losgelöste, das Absolute höher zu achten als das Relative, das Verbundene. ›Alles ist relativ‹, ist ein abfälliges Urteil. Aber, so Eugen Rosenstock-Huessy: »Das Relative ist wunderbarer und seltener, kostbarer und begehrenswerter als das Absolute. […] Das Relative ist das Wunder der Wirklichkeit.«12 Eine exklusive Bedeutung haben Standards in der Ökologiedebatte gewonnen. Der Kampf um eine ›nachhaltige‹ Bewirtschaftung der planetaren ›Ressourcen‹ ist ein Kampf um Standards, um sogenannte Grenzwerte, die das gerade noch erträgliche Maß an Umwelt- und Gesundheitsbelastung bestimmen. Wie viel Kohlendioxyd ist dem Klima zumutbar, welche Ozonwerte sind für die Gesundheit unbedenklich, wie viel Blei darf im Trinkwasser sein und wie viel Radioaktivität in Pfifferlingen oder Wildschweinfleisch, wie viel Pestizide kann der Boden aushalten und wie viel Dezibel das menschliche Ohr? Diese Beispiele scheinen die Behauptung, Standards seien bar jeder Bezogenheit und verwiesen nur auf sich selbst, zu widerlegen. Sie sind
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doch gerade nicht willkürlich gesetzt, sondern entstanden aus der Sorge um die menschliche Gesundheit und um bekömmliche Lebensverhältnisse. Tatsächlich aber stehen sie in keinerlei Verhältnis zu irgendeiner Wirklichkeit. Sie werden legitimiert durch andere Standards. Worauf sich ökologische Grenzwerte berufen, ist nicht das Befinden oder Wohlergehen wirklich existierender Personen, sondern der vom Medizinsystem dekretierte Gesundheitsstandard. Standards messen sich immer nur an dem, was ihresgleichen ist, an wirklichkeitsfremden, aber interessengeleiteten Resultaten von statistischen Rechenexempeln. Mit dem Anderen ihrer selbst, mit der Wirklichkeit von lebendigen Menschen stehen sie nicht in Kontakt. Der von Ivan Illich geprägte Begriff der »aperspektivischen Perspektivität« wird mir in dieser zirkulären Routine der Beweisführung, in der ein Standard sich durch den anderen legitimiert, begreiflich. Standards sind Luftnummern ohne jede Bodenhaftung. Sie geben vor, Grenzen zu markieren, in Wirklichkeit installieren sie willkürlich Grenzwerte, deren Gültigkeit bewacht, deren Übertretung bestraft und deren Verwechslung mit gutem Leben geschürt werden muss. Ein gewaltiger Markt für administrative Dienstleistungen wird damit eröffnet. Grenzen leben von der Verschiedenheit eines Hüben von einem Drüben. Sie trennen das eine vom anderen und verbinden es zugleich. Standards sind Agenten der Vereinheitlichung, der Eliminierung aller Unterschiede, der globalen Gleichmacherei.
Anmerkungen 1 | Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, Bd. 2, 2. Aufl., Artikel ›Standard‹, Berlin: Akademie Verlag 1993, S. 1342. 2 | »Standard […] soviel wie gesetzlich normal, mustermäßig […] im englischen und nordamerikanischen Maß-, Gewichts- und Münzwesen die einem bestimmten Gesetz entsprechenden Einheiten«, so zum Beispiel die Anteile des Feingoldes an der Goldlegierung. Meyers Großes Konverstionslexikon 6. Auflage, 18. Band, Leipzig und Wien 1909, S. 844. 3 | Williams, Raymond: Keywords. A Vocabulary of Culture and Society, Artikel Standard, 7. Auflage, Glasgow: William Collins Sons 1981, S. 248f. 4 | Ebd. S. 249. (Übersetzung M.G.) 5 | Ebd. S. 248. 6 | Etymologisches Wörterbuch a.a.O.
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7 | Der Neue Brockhaus. 4. Auflage 3. Band, Wiesbaden: F.A. Brockhaus 1968, S. 303. 8 | Vgl. hierzu ausführlich: Gronemeyer, Marianne: Die Macht der Bedürfnisse. Reflexionen über ein Phantom, Reinbek: Rowohlt 1988. Das Kapitel über Grundbedürfnisse ist nur in dieser Auflage enthalten. 9 | Vgl. Cayley, David: Ivan Illich in Conversation, Ontario: House of Anansi Press 1992, S. 216ff. 10 | »Entwicklung hieß seit einigen Jahrzehnten der Ersatz von Unterhaltswirtschaft durch Ware. Eigenarbeit soll der Ersatz von Ware durch eigene Tätigkeit heißen.« Illich, Ivan: Eigenarbeit, in: ders.: Vom Recht auf Gemeinheit, Reinbek: Rowohlt 1982, S. 52. 11 | Ball, Hugo: Byzantinisches Christentum, 2. Auflage, Zürich, Köln: BenzingerVerlag 1958, S. 27. 12 | Rosenstock-Huessy, Eugen: Die Sprache des Menschengeschlechts. Bd. 1, Heidelberg: Lambert Schneider 1963, S. 49.
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Sterbequalität Thile Kerkovius »›Sterbequalität‹: Deutschland auf Platz 8« vermeldet die Hessische Niedersächsische Allgemeine am 14.07.2010. Und in den Nachrichten aus Schleswig Holstein (shz.de) lesen wir am 15.07.2010: »Weltweite Studie zur Sterbequalität: Platz 8 für Deutschland«. Aber nicht über ein internationales Sportereignis, sondern über eine Studie1 wird hier berichtet. In dieser Studie wurde die Sterbequalität in 40 verschiedenen Ländern untersucht und bewertet. Man stutzt zunächst etwas. Bin ich gerade im Begriff, den subversiven Ausführungen von Autoren irgendwelcher Satirezeitschriften auf den Leim zu gehen? Das hört sich doch sehr nach Satire an. Sterbequalität?! Man kann doch nicht … Man kann. Im Auftrag der Lien-Stiftung, einer Stiftung für »radical philantrophy« mit Sitz in Singapur, hat die Economist Intelligence Unit, ein Forschungsinstitut der Wirtschaft aus London, eine internationale Studie zur Versorgung sterbender Menschen durchgeführt. Die Situation in 40 verschiedenen Ländern wurde untersucht. Mit großem Aufwand wurden eine stattliche Anzahl von Rahmenbedingungen für eine gute Versorgung sterbender Menschen untersucht, verglichen und bewertet. Wie sieht die entsprechende Infrastruktur im Land aus und wie sind die technischen und hygienischen Grundbedingungen in diesen Einrichtungen? Wie viele ausgebildete Palliativmediziner und wie viel medizinisches Fachpersonal stehen für die Bevölkerung zur Verfügung? Wie viele Hospize gibt es? Wie hoch ist der Verbrauch an Schmerzmitteln pro Kopf und haben kranke Menschen Zugang zu den notwendigen Schmerzmedikamenten in dem jeweiligen Land? Gibt es staatliche Programme für die Palliativversorgung? Gibt es Standards für Sterbebegleitung? Wie sind die Höhe der Gesundheitsausgaben und die Lebenserwartung im jeweils untersuchten Land? Und ähnliches mehr …
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Die Ergebnisse wurden anschließend international diskutiert, auch in den nationalen und internationalen Fachverbänden für Palliativversorgung und Hospizbetreuung2 . Als überraschend wurde vor allem bewertet, dass die Qualität der Palliativversorgung nicht unbedingt mit dem Status der Lebensqualität in dem Land übereinstimmte. Lebensqualität wurde dabei im Wesentlichen am materiellen Wohlstand (Lebensstandard) gemessen. Die Schweiz etwa und einige skandinavische Länder wurden im Ranking von Ländern der Dritten Welt oder Schwellenländern »getoppt«. Berücksichtigt wurde unter anderem, inwieweit die medizinische Versorgung noch zu einseitig kurativ ausgerichtet war. Grundlage der geschilderten Vergleiche war das Endergebnis der Studie. Diese gipfelte nämlich in einer Ranking-Tabelle mit allen 40 untersuchten Ländern. Über der Tabelle stand als Überschrift »Sterbequalität« (»The quality of death«). In der Studie ist von »high quality of death« und von »low quality of death« die Rede. Auf Platz 1 dieses Rankings steht Großbritannien. Deutschland belegt immerhin noch einen guten 8. Platz. Schlusslicht der Tabelle ist Indien. Klar, denkt man – Armut, verheerende hygienische Zustände in den Krankenhäusern, von Krankenversicherung keine Spur, Sterbende auf den Straßen … nicht überraschend. Und dann stutzt man. Indien, da war doch was? Dieses Sterbehaus des Mutter-Theresa-Ordens in Kalkutta, weltweit ein Symbol für eine menschliche und angemessene Reaktion auf die Not der sterbenden Menschen in den Straßen Kalkuttas und neben dem St.Christopher’s Hospice in London das vielleicht bekannteste Hospiz der Welt. Aber in einer Studie, die vor allem mit Quantitäten misst und mit an europäischen Bedingungen orientierten Standards, fällt dieses Haus offensichtlich nicht mehr ins Gewicht. Und es rettet Indien auch nicht vor dem letzten Platz in dieser Tabelle. Aber die hygienischen Bedingungen in diesem Sterbehaus in Kalkutta sind ja auch wirklich verheerend, oder? In der Fachdiskussion der Verbände für Palliativversorgung und Hospizbetreuung, folgt man den veröffentlichten Berichten, wurden zwar die empirischen Daten und Ergebnisse zur Kenntnis genommen und aufmerksam diskutiert, grundsätzliche Fragen zu den Begrifflichkeiten dieser Studie scheint es aber nicht gegeben zu haben. Was bedeutet »high quality of death« oder »low quality of death«? Wer entscheidet das für wen und wie wird so etwas gemessen? Wer wird wohl einmal darüber befinden, ob bei mir eine high quality of death oder eher eine low quality of death vorlag? Die Berichte über die Studie
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legen nahe, dass Qualität in diesem Falle aus der Summe der gemessenen Quantitäten gebildet wird: Genügend Palliativstationen, genügend Hospize, genügend Palliativmediziner und Palliativpflegekräfte, ein ausreichend hoher Schmerzmittelverbrauch pro Kopf der Bevölkerung, genügend Standards für Sterbebegleitung, genügend staatliche Programme für palliative Versorgung … ergibt die jeweilige Sterbequalität. Für alle? Es scheint sich dabei um so etwas wie den Body Mass Index für den Ernährungszustand der Palliativabteilung im jeweiligen Gesundheitswesen zu handeln. Der Qualitätsbegriff, mit dem hier offensichtlich gearbeitet wurde, ist ein aus der Industrieproduktion entnommener (produktbezogenes Qualitätsverständnis) und ein kaufmännischer (kundenbezogenes Qualitätsverständnis). Das steht in krassem Widerspruch zum umgangssprachlich verwendeten Qualitätsbegriff. Da wird Qualität als eine transzendente Größe verstanden, die, ähnlich, wie zum Beispiel der Begriff Schönheit, von der subjektiven Erfahrung einer Person abhängig und deshalb nicht messbar ist. Vollends absurd wird es, wenn dieser fragwürdige Umgang mit dem Qualitätsbegriff, wie im vorliegenden Fall, im Zusammenhang mit dem Sterben, also einer der großen existenziellen Grenzerfahrungen des Menschen, auftaucht. Wie ein Menschenleben zu Ende geht, wird dann gemessen an der Summe der zur Verfügung stehenden Versorgungsleistungen und so zu einer hohlen, statistischen Rechengröße. Rainer Maria Rilke bittet in seinem berühmten Gedicht noch um den »eignen Tod«3. Bei einem solchen Blick auf das Sterben müsste er wohl eher mit Enteignung rechnen. Und was sagt uns eine Ranking-Tabelle mit der Überschrift »Sterbequalität«? In diesem Land da auf Platz 1 stirbt man am besten? Am schönsten? Am bequemsten? Am problemlosesten? Easy? Es fehlen Worte dafür, das umgangssprachlich angemessen auszudrücken. Wahrscheinlich müsste man sagen, man stirbt dort am effizientesten versorgt. Aber ist das so? Ist der Mensch, der in Kalkutta sterbend auf der Straße aufgelesen wurde und auf einer dreckigen Gummimatte im Krankensaal dieses Sterbehauses engagiert betreut und versorgt wird, schlechter betreut als die Patientin im Einzelzimmer eines deutschen Hospizes oder einer Palliativstation? Was ist da Sterbequalität und wo geht ein Leben vielleicht in Frieden und Würde zu Ende? Es bleiben wesentliche Fragen offen und die Ranking-Tabelle mit der Überschrift »Sterbequalität« hinterlässt einen sehr faden Nachge-
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schmack, auch wenn es angesichts der eingangs geschilderten medialen Erfolgsmeldungen scheinbar niemanden mehr zu irritieren scheint.
Anmerkungen 1 | The quality of death Ranking end-of-life care across the world – A report from the Economist Intelligence Unit 2010 Commissioned by Lien foundation. http:// graphics.eiu.com/upload/eb/qualityofdeath.pdf, letzter Zugriff November 2016. 2 | Spiegel Online vom 14. Juli 2010, unter: www.spiegel.de/panorama/gesell schaft/palliativmedizin-stiftung-untersucht-sterbequalitaet-weltweit-a-706411. html, letzter Zugriff 4. November 2016. 3 | »O Herr, gib jedem seinen eignen Tod. Das Sterben, das aus jenem Leben geht, darin er Liebe hatte, Sinn und Not. Denn wir sind nur die Schale und das Blatt. Der große Tod, den jeder in sich hat, das ist die Frucht, um die sich alles dreht.« Rainer Maria Rilke
System William Ray Arney
Gesundheitssystem. Bildungssystem. Transportsystem. Atomsystem. Ökosystem. Wirtschaftssystem. Kreislauf-; Verdauungs-; Fortpflanzungs-; Nervensystem. Familiensystem. Es ist eine Tatsache, dass wir im Zeitalter der Systeme leben. Alles kann mit diesem einzigen Wort erfasst werden. Aber was ist ein System? Wir wissen, dass Systeme riesig sind; einige, wie das Ökosystem, umfassen den ganzen Globus. Systeme sind unerforschbar, außerordentlich komplex, und wegen ihrer Komplexität sind sie in einem herkömmlichen Sinn nicht begreif bar. Aber ihre Komplexität verhilft ihnen dazu, ihre Stabilität und Selbstheilungskräfte gerade durch Störungen und Ausfälle so zu verbessern, dass sie normalerweise zuverlässig funktionieren. Das heißt, sie arbeiten so lange verlässlich, bis sie irgendwann auf katastrophale Weise kollabieren, meistens aus geringfügigstem unvorhersehbarem Anlass (wie zum Beispiel ein durch ein Eichhörnchen ausgelöster großräumiger Stromausfall oder ein Kabel, das sich in der Sommerhitze so ausdehnt, dass es ein anderes Kabel tangiert und so den ganzen Nordosten Amerikas in Dunkelheit versinken lässt1). Eine einfache Definition wie die folgende fasst die wesentlichen Merkmale dessen, was ein System ausmacht, zusammen: Eine organisierte, zielgerichtete Struktur, die aus miteinander verbundenen und voneinander abhängigen Elementen (Komponenten, Einheiten, Faktoren, Gliedern, Teilen etc.) besteht. Diese Elemente beeinflussen sich fortlaufend gegenseitig (direkt oder indirekt), um ihre eigene Aktivität aufrechtzuerhalten und den Bestand des Systems sicherzustellen, damit das Systemziel erreicht wird.2 Doch solche Definitionen, die viele Worte machen, um zu der schlichten Feststellung zu gelangen, ein System sei etwas, das bestehe, um seinen Bestand zu garantieren und sein Ziel zu erreichen, sind nicht sehr
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hilfreich. Um den Begriff »System« und die Macht, mit der er in unser Leben eingreift, zu verstehen, ist es ergiebiger, nicht positiv zu bestimmen was ein System ist, sondern umgekehrt zu fragen, was es nicht ist. Ivan Illich und seine Weggefährten haben eine »Archäologie moderner Selbstverständlichkeiten« betrieben, die uns helfen könnte »zu verstehen, wie historisch neu und zufällig die meisten Elemente in der Landschaft der Moderne sind«;3 Elemente, wie »System«, die die meisten von uns als bleibende, unveränderliche Bedingungen des Lebens ansehen. Illich und seine Freunde hofften, dass ihre historischen Forschungen eine gewisse Möglichkeit eröffnen könnten, sich von dem machtvollen Einfluss zu befreien, den Erfindungen wie »System« auf unser Leben und unser kollektives Bewusstsein und unsere Vorstellungskraft ausüben. Man muss nicht tief in der Geschichte graben, um den Beginn des Denkens in »Systemen« aufzufinden. ›System‹ erschien im 20. Jahrhundert und überlagerte frühere Konzepte wie »Werkzeug«, »Instrument« und »Maschine«.4 »Die Idee eines Werkzeugs« ist laut Illich, dass es »ein Mittel sei, welches meinen beliebigen Absichten entsprechend gestaltet ist.«5 Ein Mensch kann einen Hammer – ein Werkzeug – in die Hand nehmen und ihn seinen Wünschen und Absichten entsprechend gebrauchen, um die Ziele zu erreichen, die er sich gesetzt hat. Werkzeuge können durch deren Nutzer umgestaltet werden, um anderer Ziele willen. Es lag ein erfrischender Optimismus in dieser Art von Freiheit, sich vorzustellen, die sozialen Verhältnisse könnten durch vielfältige konviviale Werkzeuge, für die Illich plädierte, zum Guten gewendet werden. In den 1970er Jahren, in denen Illich noch ganz vom Konzept der Instrumentalität ausging, glaubte er, dass es für die Menschen immer noch möglich sei, »die kommende neo-malthusianische Krise« – diese »von vielen Ökologen prognostizierte grauenhafte Apokalypse« – durch selbstbewusste, zielgerichtete und gemeinschaftliche Schaffung neuer Werkzeuge und die beharrliche Suche nach neuen Wegen zu vermeiden, so dass »ein immer größerer Anteil der Bevölkerung« die Erfahrung machen kann, »dass mehr mit immer weniger erreicht werden kann«.6 Die Menschen, so glaubte er, könnten sich an einem beständig durch frei gewählte Selbstbegrenzung erneuerten Miteinander (Konvivialität) erfreuen, wenn sie »die politischen oder rechtlichen Instrumente entdeckten und würdigten, welche in der Gesellschaft akzeptiert wurden, um ein konviviales Leben zu ermöglichen und zu beschützen«. Ivan Illich konnte sich sogar
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den Computer als ein nützliches konviviales Gerät vorstellen. Das war in den frühen 1970er Jahren. In den 1980er Jahren wurde Illich gewahr, dass das »System« das »Werkzeug« 7 und sogar die »Maschine« als dominante »moderne Selbstverständlichkeit« ersetzt hatte. Für ihn war das unterscheidende Charakteristikum des Systems der Mangel an Abstand (Distalität), an Distanz zwischen Person und System. Ein Mensch kann sich dafür entscheiden, einen Hammer aufzunehmen und ihn als Werkzeug nutzen oder auch nicht; es bestand eine Distanz zwischen einem Werkzeug und seinem Nutzer. Ein System verleibt sich den Menschen buchstäblich ein; der Mensch, selbst wenn er der Operator oder Manager des Systems ist, wird ein Teil des Systems; er wird zum Subsystem des Systems; er muss dem »Programm folgen«. Jede Maschine ist letztlich sehr einfach. Man kann sie stückweise auseinandernehmen, denn Maschinen können mit kartesianischer Logik durchschaut werden: egal, wie kompliziert ein Gegenstand ist, er kann analysiert werden – zerlegt werden – in immer einfachere Teile, von denen jedes an andere Teile so angepasst ist, dass die Kräfte auf sie verteilt werden, so dass sie bestimmte Funktionen zu erfüllen imstande sind. Die Maschinen-Metapher infiltrierte bereits die Medizin vom 19. Jahrhundert bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Der Körper, eine komplexe Maschine in einem mechanistischen Weltbild, konnte verstanden werden durch analytische Untersuchungen, die durch medizinische Verfahren wie Operation und Sektion möglich gemacht wurden. Eine Maschine, welche ein komplexes Werkzeug ist, kann verändert oder verbessert werden, um dem eigenen Zweck besser zu dienen. Diese Logik wurde auch auf den menschlichen Körper angewandt, der zum Beispiel eine bessere Ernährung oder mehr Sport zu seiner Optimierung benötigt. Ein System ist auf den ersten Blick irreduzibel kompliziert. Frühe Systemwissenschaftler sprachen von sich überlagernden Rückkopplungsund Vorwärtsschleifen – Kanälen, die Informationen transportieren – welche interagieren, zusammenhängen, sich überschneiden und andere Informationsschleifen beeinflussen. Aber die Komplexität von Systemen, so sagten sie, erhöhe sich unvermeidlich und sei daher nicht reduzierbar – und ganz gewiss nicht durch Analyse zu verstehen, ja, vom Gesichtspunkt des Systems aus, überhaupt nicht vollständig zu verstehen. Norbert Wiener, einer der Gründer der Informationswissenschaft und der Systemtheorie, gibt 1946 folgendes Beispiel eines eher einfachen
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Systems, bestehend aus einem Richtschützen im Flugzeug und einem radargesteuerten, zielsuchenden Gerät. Ein Maschinenbauingenieur hätte sich in erster Linie um genaue, verlässliche und robuste Verbindungen zwischen der Waffe und dessen Zielgerät gekümmert, sodass dieses Gespann für den Richtschützen gut handhabbar sein würde. Aber aus der Sicht des Systems sollten wir nicht die Diskussion über die Leistung bestimmter menschlicher Funktionen vernachlässigen. Zugegeben, in manchen Feuerkontrollapparaten kommt der Impuls zur Zielsuche direkt durch das Radar, aber normalerweise richtet ein Mensch die Waffe aus; oder aber ein Feuerkontrollsystem kombiniert Mensch und Radar, welche dann gemeinsam als essentieller Teil des Systems fungieren. Es ist wichtig, die Eigenschaften (der menschlichen Module) zu kennen, um sie mathematisch in die Maschinen, die sie kontrollieren, zu integrieren, mehr noch: das Ziel, das feindliche Flugzeug, wird ebenfalls von einem Menschen kontrolliert und es ist darum wünschenswert, auch die Besonderheiten von dessen Performanz zu kennen.8 Hier also, im Jahre 1946, können wir Systemanalysten in ihrem Anfangsstadium beobachten. Die Personen – Richtschützen, Piloten – mit all ihrer menschlichen Unzuverlässigkeit, müssen in eine mathematisch darstellbare Komponente im System umgedeutet werden. Der Richtschütze wird zur zufälligen Variablen, ein stochastischer Prozess, dessen Variabilität »einprogrammiert« werden muss, um ein Waffensystem wirksamer zu machen. Das Flugzeug, mit seinem menschlichen Piloten, zusammen mit dem Zielflugzeug, sind mathematisch bis zu einem gewissem Grad voraussagbar; auch diese sind zufällige Variablen, die mathematisch in das Feuerkontrollsystem einbezogen werden müssen, um die Systemfunktion zu optimieren. Je länger man über das Waffen-Schützen-Flugzeug-System nachdenkt, desto komplizierter scheint das System zu werden: die Komplexität des Systems offenbart sich. Jeder Aspekt des Systems ist einzigartig – alle Piloten ähneln anderen Piloten; jeder Pilot ist einzigartig – und insbesondere und gleichzeitig kann alles auf eine mathematische Darstellung von Informationsflüssen im System reduziert werden, in den Subsystemen (zum Beispiel der Richtschütze), den Suprasystemen (das Flugzeug zusammen mit dem Richtschützen), den Sub-Subsystemen (die Psychologie des Richtschützen) und so weiter. Im Versuch »System« zu definieren, können wir in einem ersten Schritt unser Augenmerk auf die Fachleute richten, die als Pioniere kom-
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plexe Systeme an Computern modelliert haben. Jay Forrester, welcher 1969 ein Computermodell für Veränderungen in städtischen Arealen erstellte, und Donella Meadows, welche ihm 1972 mit ihrem Weltbevölkerungsmodell folgte, bemerkten, dass ein dynamisches, nicht-lineares Modell mit mehr als zwanzig Schichten von Rückkopplungsschleifen dazu tendierte, nicht nur wie ein komplexes System nicht nur auszusehen, sondern sich auch so zu verhalten: ihre Computer-Durchläufe schienen stabil (bis sie kollabierten), sie produzierten »kontra-intuitive Effekte«, bei denen »die Ursache der Schwierigkeit weit in der Vergangenheit der Symptome oder in einem völlig anderen und entlegenen Teil des Systems liegen könnte.«9 Komplexität führt zu scheinbar einfacher Stabilität aber auch zu einer Undurchsichtigkeit des einfachen Ursache-Wirkungs-Zusammenhangs. Dies sind die wesentlichen Eigenschaften eines Systems. Ein System ist so umfassend, dass es im Dienste seiner eigenen Zwecke gut, sogar einfach und manchmal elegant funktioniert. 1983, in den frühen Jahren von Illichs »Zeitalter der Systeme«, erschien ein Zeitungsartikel in Seattle über die damals neue Boeing 757 und 767, in dem festgestellt wurde, dass niemand die Boeing 757 wirklich verstehen könne. Keine einzige Person weiß, wie sie konstruiert und gebaut ist. Wirklich niemand, auch nicht eine kleine Gruppe von Fachleuten, könne die Komplexität der Boeing durchschauen. Doch jeder könne eine 757 fliegen – unter idealen Bedingungen sogar Nicht-Piloten. Fortschrittliche Technologie, sei es in einem Flugzeug, einem Telefonsystem oder einem Computerprogramm, versucht oft, Einfachheit durch Komplexität zu erreichen.10 Das Fliegen sehr komplizierter Flugzeuge innerhalb sehr komplizierter globaler Flugkontrollsysteme ist so einfach geworden, dass die meisten Piloten heute ihre Flugzeuge selbstgesteuert fliegen lassen – eine Tatsache, auf die die FAA 2013 mit dem Erlass einer Richtlinie für Fluglinien reagierte, in der sie »die Betreiber anhält, die Befähigung zu manuellen Flugoperationen für den Bedarfsfall zu fördern«. Die FAA war besorgt, dass viele Piloten nicht mehr wüssten, wie sie in Notfällen ihr Flugzeug bedienen müssen, wenn sie sich nicht mehr völlig auf den Autopiloten, die Computer und die Checklisten für den Ernstfall verlassen können; denn sie haben ihre Flugzeuge praktisch kaum mehr ›von Hand‹ geflogen. Und so wussten Piloten oft nicht mehr, was zu tun ist, wenn irgendetwas nicht routinegemäß verlief.
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Niemand versteht umfassend, wie ein System arbeitet, und folglich sind Systeme niemals ganz oder zuverlässig voraussagbar. Sie scheinen ständig die Wirkungen zu produzieren, für die sie konstruiert wurden – das Flugzeug, es fliegt! Der Körper, er lebt! – aber technisch gesehen, kann das Verhalten von dynamischen, nicht-linearen Systemen sich entsprechend den Ausgangsbedingungen des Systems dramatisch unterscheiden. Dies verursacht den sogenannten Schmetterlingseffekt11 und ist der Grund dafür, dass man niemals mit Sicherheit wissen kann, wie die unterschiedlichen Verläufe in einem System sich tatsächlich abspielen werden. Das wurde durch den Trinity-Test der ersten Atombombe deutlich, der 1945 wirklich den Vorhang für den Auftritt des »Zeitalters der Systeme« öffnete. Die Bombe wurde durch ein System zustande gebracht. Ein letztlich einfaches Ergebnis, nämlich die Zerstörung von Hiroshima durch eine einzige Waffe, war die Folge einer landesweiten Koordination von Regierung, Industrien, Wissenschaft (eine gigantisches Zusammenwirken von Institutionen und Fachkräften aus unterschiedlichsten Disziplinen, alle zentriert in Los Alamos, NM), im Verbund mit dem militärischen Flugsystem, das schließlich die Bombe an ihr Ziel »brachte«. Und dennoch, trotz all der menschlichen Brillanz, die dieses Projekt schuf und es wie eine Aura umgab, wusste niemand, ob das implodierende Ungeheuer tatsächlich funktionieren könnte und wenn ja, was die Wirkungen sein würden. Etliche Wissenschaftler in Los Alamos wetteten, ob die Bombe die gesamte Erdatmosphäre in Brand setzen könnte oder ob sie vielleicht einfach nur New Mexico auslöschen würde oder ob das Ding ein einfacher Blindgänger wäre. Niemand wusste sicher, was der »Ertrag« dieses Gebildes sein könnte. Als die Testbombe also explodierte, stand Enrico Fermi im Freien und ließ Papierstücke fallen. Die Druckwelle trieb die Papiere in Windrichtung – und aufgrund der zurückgelegten Distanz konnte Fermi eine genaue Schätzung über die Kraft der Bombe vornehmen und so alle Wetten beschließen. Die Ursachen der Wirkungen eines Systems sind in der Komplexität verborgen und die Auswirkungen können nur nachträglich ermessen werden. Im Zeitalter der Systeme können Menschen sich nicht mehr vorstellen, eine Gerätschaft für ihre eigenen willentlichen Zwecke in Gebrauch zu nehmen; sie können lediglich Postfestum-Beobachter ihrer Stellung in den sie umgebenden Systemen sein. Zwei Anmerkungen illustrieren, wie Menschen vollständig in Systeme eingebunden sind. Robert Oppenheimer sagte über die Entscheidung der
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Mitarbeiter von Los Alamos, am Bombenprojekt teilzunehmen: »wenn man genau betrachtet, warum wir diesen Job machten, dann muss man sagen, er war eine biologische Notwendigkeit. Wenn sie ein Wissenschaftler sind, können sie solch eine Sache nicht stoppen.«12 Und Robert Wilson, der im Nachhinein mit seinem Gewissen rang, schrieb: »Unser Leben wurde darauf ausgerichtet, diese eine Sache zu tun. Es war, als wären wir programmiert worden, es zu tun, und wir haben es getan, wie Automaten.«13 Man muss sich auf Beispiele beziehen, um den Sinn dieser modernen Selbstverständlichkeit, die »System« heißt, begreiflich zu machen, denn das System ist in sich selbst kein bestimmbares Konzept. »System« ist ein »Plastikwort«, eine dieser Worthülsen, die Uwe Pörksen als Begriffe beschreibt, die nichts Bestimmtes bezeichnen, aber eine enorme Reichweite haben und ihr Anwendungsgebiet nahezu unbegrenzt ausweiten können; Wörter also, für die »dem Sprecher die Macht fehlt, sie zu definieren« und die »durch die Stimmlage, den Gesichtsausdruck oder durch Gesten nicht verdeutlicht werden können«.14 Plastikwörter besitzen Macht, nicht Bedeutung, und wenn sie dem Mund moderner Experten entstammen, werden sie zu Bausteinen, die Menschen an neue Wirklichkeitsmodelle binden. Nehmen wir zum Beispiel den folgenden Satz, der fast ganz aus Pörksens Plastikwörtern besteht: »Das System bewertet den Input Ihrer Entscheidungen, um den Informationsaustausch in Anbetracht Ihrer Entwicklung zu fördern und um für Ihre Grundbedürfnisse planen zu können.« Eine halbwegs vernünftige Person würde zurückschrecken und sich angewidert abwenden. Die meisten von uns jedoch versuchen, den Forderungen, die sie da heraushören, so gut wie möglich nachzukommen. Ein System ist ein Un-Ding. Systeme existieren nicht, außer – buchstäblich – im Auge des Betrachters. Ein System entsteht dadurch, dass wir eine Sichtweise einnehmen, die Ervin Laszlo 1972 »die Systembetrachtung der Welt«15 nannte. Ivan Illich erzählte, Heinz von Förster habe ihm in den frühen 1980er Jahren zu verstehen gegeben: »ein Mann, der einen Hund ausführt, ist ein Mann-Hund-System – ein Cyborg – würde man heute sagen«.16 Es scheint lachhaft, allerdings nur für Hirne und Augen, die nicht geübt sind, Systeme überall zu sehen. Laszlos Buch war eines der ersten Handbücher, das uns lehrte, Systeme zu sehen, wo einst Werkzeuge und Maschinen waren – oder einfach nur Männer, die mit dem Hund spazieren gehen.
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Laszlo schrieb, »führende Wissenschaftler aller Fachrichtungen erkennen nun, dass es keine Theorie ohne eine zugrundeliegende Weltanschauung gibt, welche die Aufmerksamkeit des Wissenschaftlers lenkt«. Um die Welt aus der Systemperspektive zu betrachten, muss man Verbindungen statt Grenzen sehen. Laszlos erster Grundsatz lautet: »natürliche Systeme sind Ganzheiten mit zerlegbaren Eigenschaften«. Die Systemtheorie ermutigt uns, eine allumfassende Perspektive einzunehmen: »Der Systemansatz ist […] eine ›grandiose‹ Annäherung, womit ich ›umfangreich‹, ›gigantisch‹ oder ›umfassend‹ meine«, sagte C. West Churchman.17 Und obwohl Hannah Arendt den Begriff »Systemtheorie« nicht benutzte, nahm sie diese Perspektive in ihrem Entwurf zur »conditio humana« vorweg. »Wir Modernen«, schrieb sie, existieren unter dem Regime einer »neuen Wissenschaft, welche die Natur der Erde aus einem Blickwinkel des Universums betrachtet« und leben im Schatten »der Kühnheit des Kopernikus, dessen Imagination ihn über die Erde erhob und es ihm ermöglichte, auf sie hinunterzublicken, als ob er ein Bewohner der Sonne sei.« In Konsequenz dieses Perspektivenwechsels, so Arendt, lebten wir Menschen »nun in einem weltweiten, durchgängig zusammenhängenden Ganzen«.18 Die Systemperspektive erfordert, dass man das traditionelle wissenschaftliche Forschungsgebaren über Bord wirft – z.B. das Wissen des »Spezialisten [der] sich auf Details konzentriert und die breitere Struktur, die den jeweiligen Kontext liefert, unbeachtet lässt« – denn »wir sind in der Natur umgeben von vernetzter Komplexität, von der wir selbst ein Teil sind.«19 »Eine Systemwissenschaft kann auf eine Zelle oder ein Atom als System schauen, oder kann auch ein Organ, einen Organismus, eine Familie, eine Gemeinde, eine Nation, die Wirtschaft und die Ökologie als Systeme betrachten. Und sie kann sogar die Biosphäre als System denken.«20 Systeme entpersönlichen; sie machen, dass den Menschen der Sinn und die Sinne abhanden kommen; und sie berauben die Menschen ihres Wissens darum, dass sie frei sind, sich vorzustellen, sagen wir, Werkzeuge zu gebrauchen, um die von ihnen angestrebten Ziele zu verfolgen. Menschen, die in diesem »weltweiten, eintönigen Ganzen« gefangen sind, werden zu Kleindarstellern, die sich nur noch um das Funktionieren des Systems, in das sie eingesogen sind, kümmern. Einst nahm George den Hammer in die Hand – sein Werkzeug – und traf den Nagel auf den Kopf, um seine eigene Absicht zu realisieren, vielleicht um das Haus für die Familie zu bauen. Unter der Systemperspektive »schaut die Wissenschaft nun auf eine Reihe von
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unterschiedlichen und interagierenden Dingen und registriert deren Verhalten unter unterschiedlichen Einflüssen als ein Ganzes«.21 Lassen wir also George einen Schreiner sein, der sein skeleto-musculares Subsystem in Bewegung setzt, durch eine absichtsvolle Aufforderung, gerichtet an sein Elektrolyt-Transportsubsystem, um ein zum Nageln geeignetes Instrument zu betätigen, das zwei Bretter zusammenfügt, die Teil eines Hauses sind, das seinerseits das ökonomische System und die Umwelt affiziert und […] immer so weiter. Kausalität wird durch den Austausch von Informationen, Grenzen werden durch Schnittstellen ersetzt. Die Besonderheit von Teilen – George – wird durch die Aufwertung einer Funktion ersetzt (in diesem Fall die Funktion des Subsystems, das der Hämmernde bildet) und die Würdigung von Georges Absicht wird ersetzt durch die Aufmerksamkeit, die den Systemfunktionen und Systemwirkungen gewidmet wird. Und jedes Phänomen muss stets in Bezug auf das größere Ganze – nämlich das System – gesehen werden, von dem eben dieses Phänomen vermutlich ein Subsystem ist. George trifft nicht den Nagel auf den Kopf; George leistet einen Beitrag zum Wirtschaftssystem und beeinflusst das Ökosystem und so weiter und so weiter. Und die Menschen lernen, so die Warnung Laszlos, die »Normen unserer vielfältigen ökologischen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Systeme«22 zu respektieren, denn wenn ich einen Systemirrtum begehe, das heißt, wenn ich Handlungen ausführe, die nicht »kompatibel sind mit der strukturierten Hierarchie terrestrischer Natur«, kann das zu einer vollständigen Entgleisung des Systems, die seine natürlichen »Grenzen« sprengt, führen, wie der Club of Rome und andere Unheilspropheten voraussagen. Das würde uns in »unmittelbare Gefahr«23 stürzen. Zusammen mit Barbara Duden hat Illich auch die Geschichte des Blickens, der Vision, studiert und sich gefragt, ob es nicht möglich sei, »die eigenen Augen im Zeitalter der Show in Zucht zu nehmen« und »Nein, danke« zu sagen, zu der allgegenwärtigen Versuchung, die uns heißt, den Systemblick zu übernehmen. Illich schrieb in der Überzeugung, dass es trotz allem möglich ist, sich nicht durch das historisch neue Phänomen »System« schlucken zu lassen. Aber er wusste auch um die Schwierigkeit, wachsam zu bleiben und den Sinn für Lebendigkeit zu bewahren in einer Zeit, in der »System« die »Grundmetapher für die gefühlte und erlebte Wahrnehmung geworden ist«. Der einzige Ausweg aus dieser Schwierigkeit, sagte er, bestünde darin, Freunde zu haben. »Unabhängige Kritik der etablierten Ordnung moderner, technogener, informationszentrierter
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Gesellschaft [kann] nur aus dem Milieu intensiver Gastfreundschaft erwachsen«24 – aus bewussten geselligen Treffen von nachdenklichen Menschen – und er pflegte einen Garten von Freunden, um solche Kritik zu fördern. Für seine Freundin Barbara Duden war die bedeutsamste Wahl eine zwischen »zwei existenziellen Haltungen: […] auf der einen Seite die eigene Lebendigkeit und auf der anderen Seite ein Leben, das zu anderen Leben hinzuaddiert und verwaltet werden kann.«25 Lee Hoinacki, ein weiterer Freund Illichs, wusste, dass gutes Verhalten, tugendhaftes Verhalten, noch im Zeitalter der Systeme möglich ist. Doch er dachte, dass sich tugendhaftes Verhalten nicht in einem »weltweiten, beständigen Ganzen« entfalten kann, sondern immer lokal ist; tugendhaftes Verhalten ist »die Form, Ordnung und Richtung von durch Tradition geformten Handlungen, gebunden an einen Ort und qualifiziert durch die Entscheidungen, die innerhalb der gewohnten Reichweite der Akteure getroffen werden; […] Praktiken (also), die innerhalb einer miteinander geteilten, lokalen Kultur in gegenseitigem Einvernehmen als gut angesehen werden und die mit dem Ort verbundenen Erinnerungen bereichern.«26 Dies ist nicht die Welt der Informationsflüsse, nicht die Welt einer konstitutionellen Ignoranz, nicht die Welt, in der die Menschen reduziert werden auf mathematische Darstellungen stochastischer Faktoren. Es ist ein Ort von und für Menschen mit ihren Freiheiten, ihren Wahlen und Absichten, ihren Freunden und dem restlichen menschlichen Durcheinander von Dingen, die dennoch stimmig sind, im Hier und Jetzt.
Anmerkungen 1 | Ingraham, Christopher: A terrifying and hilarious map of squirrel attacks on the U.S. power grid, Washington Post, 12.01.2016: https://www.washingtonpost. com/news/wonk/wp/2016/01/12/a-terrifying-and-hilarious-map-of-squirrel-at tacks/. Minkel, JR: »The Northeast Blackout – Five Years Later«, Scientific American, 13.08.2008: www.scientificamerican.com/article/2003-blackout-five-years-later/ 2 | www.businessdictionary.com/definition/system.html 3 | Robert, Jean: »In what kind of time do we live? Actuality of Ivan Illich through half a century: Program of the Cuernavaca Illich Symposium, 30.08.–02.09. 2016«, S. 2. 4 | Wo die »Maschine« etwas komplexer, aber noch immer eine verständliche und artikulierte Sammlung von »Werkzeugen« ist.
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5 | Cayley, David: The Rivers North of the Future: The Testament of Ivan Illich, Toronto: House of Anansi Press, 2005, S. 73. 6 | Illich, Ivan: Tools for Conviviality, London: Marion Boyers, 2001, S. 100-101ff. 7 | »Es überraschte Illich zu erkennen, dass sein Verständnis von ›Werkzeug‹ als eines Instrumentes, das nach eigenen willentlichen Absichten des Benutzers geformt werden kann, in sich selbst einer modernen Selbstverständlichkeit entsprach, welche ungefähr vom 13. bis zum 20. Jahrhundert galt. Ebenso wie ›System‹ das ›Werkzeug‹ ersetzt hatte, hatte ›Werkzeug‹ ein älteres Konzept, nämlich Aristoteles’ organon verdrängt. Wie alle anderen Dinge unterlag bei Aristoteles auch organon der Idee der vierfachen Ursache. Ein organon war also teilweise durch seine causa finalis ›verursacht‹. So hat jedes organon – ein Bleistift, ein Hammer, irgendein Ding – gleichsam seinen ihm innewohnenden Zweck. Dinge sind, was sie sind, weil sie auf einen gegebenen Zweck hin geordnet sind. Sie haben ein Ziel, einen ihnen entsprechenden Zweck, und der Benutzer konnte mit diesem bestimmten Zweck des antiken ›Werkzeugs‹ mehr oder weniger gut übereinstimmen; es war jedoch nicht vorstellbar, über ein Ding nach der eigenen willkürlichen Absicht zu verfügen.« (Cayley, Rivers North, S. 72-73ff.) 8 | Wiener, Norbert: Cybernetics: or the Control and Communication in the Animal and the Machine, 2. Edition, Cambridge, MA: The MIT Press, 1965, S. 6. 9 | Forrester, Jay W.: Urban Dynamics, Cambridge, MA: The MIT Press, 1969, S. 9. 10 | Rinearson, Peter: The quest for simplicity, Seattle Times/Seattle Post-Intelligencer, 19.06.1983, S. D4. 11 | Der Schmetterlingseffekt, bei dem gemäß der Annahme der global-systemisch denkenden Wetterexperten davon ausgegangen wird, dass der Flügelschlag eines Schmetterlings in Thailand einen Sturm in Texas auslösen kann, wurde von Edward Lorenz »entdeckt«, als der – vermutlich weil er ein bisschen faul war – beschloss, Daten mit nur drei Stellen nach dem Komma in ein computerisiertes Wettermodell einzugeben, obwohal ihm sechs Kommastellen zur Verfügung standen. Die Vorausssagen des Modells wichen trotz dieser geringfügigen Änderung der Daten erheblich von der Berechnung mit allen sechs Kommastellen ab. Lorenz folgerte daraus, dass scheinbar geringfügige Differenzen in den Ausgangsbedingungen bei deterministischen, nicht-linearen, komplex modulierten Systemen zu signifikant anderen Ergebnissen führen können. 12 | Oppenheimer, J. Robert: A speech given at a meeting of the Association of Los Alamos Scientists, Los Alamoss, NM, J. Robert Oppenheimer Papers, Library of Congress, Box 246, S. 2. 13 | Public Broadcasting Service, The Day after Trinity: J. Robert Oppenheimer and the Atomic Bomb, transcript of broadcast, 29.04.1981, S. 13-14ff.
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14 | Pörksen, Uwe: Plastic Words: The Tyranny of a Modular Language, University Park, PA: Pennsylvania University Press 1988, S. 99, 103ff. 15 | Laszlo, Erwin: The Systems View of the World: The Natural Philosophy of the New Developments in the Sciences, New York, N.Y.: George Braziller, 1972. 16 | Cayley, op. cit., S. 204. 17 | Churchman, C. West: The Systems Approach and Its Enemies, New York, N.Y.: Basic Books, 1979, S. 8. 18 | Arendt, Hannah: The Human Condition, Chicago, Ill.: University of Chicago Press, 1958, S. 248, 259, 250. 19 | Laszlo, Erwin: a.a.O., S. 13-14. 20 | Ebd. S. 14. 21 | Ebd. S. 6. 22 | Ebd. S. 120. 23 | Ebd. S. 119. 24 | Illich, Ivan: Cultivation of Conspiracy, in Hoinacki, Lee and Mitcham, Carl: The Challenges of Ivan Illich, Albany, NY: State University of New York, S. 225. 25 | Duden, Barbara: Disembodying Women, op. cit., S. 53. 26 | Hebenshausen Declaration on Soil, 05.12.1990, an verschiedenen Orten veröffentlicht.
Trauerarbeit Thile Kerkovius
In einem kleinen eindrucksvollen Buch berichtet Clive Staples Lewis, irischer Schriftsteller und Literaturwissenschaftler, über seine Trauer nach dem Tod der geliebten Frau. Der Bericht beginnt: »Niemand hat mir je gesagt, daß das Gefühl der Trauer so sehr dem Gefühl der Angst gleicht. Ich fürchte mich nicht, aber die Empfindung gleicht der Furcht«.1 Und im weiteren Verlauf seines Berichtes schreibt er: »Ich meinte, es gelte, einen Zustand zu beschreiben; einen Grundriss des Kummers zu entwerfen. Kummer hat sich indessen nicht als Zustand, sondern als ein Vorgang erwiesen«.2 Nicht erst seit Lewis wissen wir, dass Trauer ein seelischer Prozess ist, der nicht nur erlitten wird, sondern der dem betroffenen Menschen ein hohes Maß an innerer Aktivität abverlangt. Das war wohl mit dem heute geläufigen Begriff Trauerarbeit gemeint. Die erste Beschreibung und Verwendung dieses Begriffes wird Sigmund Freud zugeschrieben. In seinem Aufsatz zum Thema »Trauer und Melancholie«3 grenzt er die Trauer von der Melancholie ab. Melancholie versteht er als eine krankhafte und behandlungsbedürftige, narzisstische Ich-Störung. Die Trauer dagegen brauche keine Behandlung durch einen Arzt oder Therapeuten. Deshalb schreibt er auch konsequenterweise weiter »[…] und halten eine Störung derselben für unzweckmäßig, selbst für schädlich«4. Er beschreibt dann den Trauerprozess und in diesem Zusammenhang tauchen die Formulierungen auf: »[…] Arbeit der Trauer« und »[…] die Arbeit, welche die Trauer leistet […].«5 Mit Rückgriff auf die erste Verwendung des Begriffs bei Freud fällt also auf, dass der Begriff »Trauerarbeit« bereits eine Verkürzung/Zusammenfassung der ursprünglich verwendeten Begriffe darstellt. Es bleibt festzuhalten, dass Freud in der Trauer keinen behandlungsbedürftigen Zustand sah, ja eine (therapeutische) Störung des natürli-
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chen Prozesses für schädlich hielt. Ähnliches klingt bei Ivan Illich an. Er schrieb 1995: »Leiden, Heilen und Sterben, also wesentlich intransitive Aktivitäten, die die Kultur einst jeden einzelnen lehrte, werden heute von der Technokratie als Gegenstände politischen Gerangels beansprucht und als Funktionsstörungen behandelt, von denen die Bevölkerung durch Institutionen befreit werden soll.«6 Man kann dieser Aufzählung Illichs auch den Begriff »Trauern« hinzufügen. Auch Trauern ist eine solche intransitive Aktivität (man kann den Begriff nicht in der passiven Form verwenden), die jeder selbst erfahren und ›erlernen‹ muss. Aber sie war im günstigen Falle aufgehoben in einem sozialen Umfeld, in dem man noch den Mut hatte, solchen existenziellen Schicksalsschlägen und der damit verbundenen Endgültigkeit zu begegnen – sie trotz eigener Ohnmachtsgefühle zur Kenntnis zu nehmen. Demonstrative Gesten und Umgangsformen mit dem Ereignis (die schwarze Kleidung im Trauerjahr, der manchmal zwiespältige Pomp der Beerdigungen etc.) erinnern daran. Die Mahnung Freuds, die Trauer nicht zu stören, scheint heute zunehmend in Vergessenheit zu geraten oder für nicht mehr bedenkenswert gehalten zu werden. Individualisiert und des schützenden sozialen Rahmens beraubt, ist die Trauer zu einem Arbeitsfeld für Therapeuten und professionelle Begleiter geworden und, fast ist es absehbar, wohl bald Gegenstand einer bezahlbaren Dienstleistung. Es scheint ein Merkmal unserer heutigen Kultur zu sein, dass wir auf den »heiligen Schrecken«, der uns angesichts der Endgültigkeit existenzieller Verluste ergreift, mit professionellen Strukturen und neuen Fachdisziplinen reagieren. Die neuen Fachdisziplinen und Fachkenntnisse (am besten evidenzbasiert) decken diesen heiligen Schrecken gnädig zu und ersparen uns die Konfrontation. Und die Erleichterung über dieses gnädige Zudecken scheint dann so groß zu sein, dass uns das Illusionäre dieses Aktes gar nicht mehr auffällt. Auf dem Weg zu einer qualifizierten, standardisierten und zertifizierten Trauerbegleitung erleben wir dann einen immer technokratischeren Umgang mit dem Phänomen, der Trauer, aber auch mit den trauernden Menschen. Und im Umgang mit den Begrifflichkeiten spiegeln sich solche Tendenzen wider. Die ursprünglich von Sigmund Freud sehr behutsam verwendeten Begriffe »Arbeit der Trauer« und »die Arbeit, welche die Trauer leistet« werden als »Trauerarbeit« zu einem inflationär gebrauchten Allerweltsbegriff. Die Gefahr, dass es dabei zu einer Trivialisierung oder auch zu einem Bedeutungswandel kommt, ist deutlich zu beobachten.
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Trauerbegleitung wird zu einem neuen Arbeitsfeld, das mehr und mehr professionellen und halbprofessionellen Spezialisten vorbehalten bleibt. So wundert man sich dann auch kaum noch, wenn eine ehrenamtliche Hospizbegleiterin fragt, ob sie eine Frau, die sie zusammen mit dem sterbenden Kind über ein Jahr begleitet hat, auch nach dem Tod des Kindes weiter begleiten dürfe – sie habe ja keine spezielle Ausbildung als Trauerbegleiterin (so geschehen in der Supervisionsgruppe eines Hospizvereines). Wenn Begleitung und anteilnehmender Beistand – ursprünglich die Aufgabe eines intakten, sozialen Umfeldes – zur Arbeit werden, hat das Auswirkungen auf den Begriff »Trauerarbeit«. Dieser wird in einem solchen Geschehen zunehmend zu einem Terminus technicus, irreführend, gewissermaßen von innen nach außen verlagert und beschreibt dann die umfangreichen Maßnahmen und Aufgaben, die in diesem Fall zu leisten sind – vom trauernden Menschen selbst, aber eben auch vom Umfeld. So berichtet zum Beispiel die Koordinatorin eines ambulanten Hospizdienstes auf einem Fachtag über eine Hospizbegleiterin aus ihrer Gruppe. Diese Hospizbegleiterin sei mit den vielen intensiven Begleitungen von sterbenden Menschen zunehmend überfordert und brauche eine Pause oder einen anderen Einsatzbereich. Sie beschließt ihren Bericht mit den Worten: »Die geht jetzt in die Trauerarbeit«. Auch die Begleitung, der Beistand, ist ja jetzt zu einer Arbeit geworden, die man zu erledigen hat. Und mit einem ausschließlich therapeutischen Blick auf das Geschehen wird Trauerarbeit schnell auch noch zu einem Imperativ. Zahlreiche, mit entsprechenden Kursen ausgerüstete, Trauerbegleiter/innen tauschen sich dann in Fallbesprechungen oder Supervisionssitzungen darüber aus, ob bei der von ihnen begleiteten Person der Trauerprozess gut oder schlecht, richtig oder falsch läuft. Ähnlich, wie wir das schon mit den von Elisabeth Kübler-Ross beschriebenen Sterbephasen erlebt haben, wird die »gelungene Trauerarbeit« zum Maßstab für einen »richtigen Trauerprozess«. Über »richtig« entscheiden dabei natürlich die frisch gebackenen Experten mit ihren Fachkenntnissen. Da ist der Weg zum Plastikwort bereits geebnet. Vielleicht sollten wir behutsamer, fast möchte man sagen respektvoller, mit solchen Begriffen umgehen und gerade im Umgang mit existenziellen Lebenskrisen auf ein vermeintliches Expertentum verzichten. Der eingangs zitierte Clive Staples Lewis beschreibt schonungslos – aber sehr bewegend – die Höhen und Tiefen seines Trauerns: »Für mich steht das Programm jedenfalls fest. Ich will mich ihr so oft wie möglich in froher Stimmung zuwenden. Ich will sie sogar mit einem Lachen grüßen.
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Je weniger ich um sie trauere, um so näher fühle ich mich ihr. Ein bewundernswürdiges Programm. Nur leider nicht durchführbar. Heute abend ist wieder die ganze Hölle frischer Trauer los; die rasenden Worte, der bittere Groll, das Flattern im Magen, der Albtraum vom Nichts, das Suhlen in Tränen. Denn in der Trauer lässt sich nichts ›festnageln‹. Immer wieder taucht man aus einer Phase auf; aber sie kehrt immer wieder. Um und um. Alles wiederholt sich. Bewege ich mich im Kreis, oder darf ich hoffen, es sei eine Spirale?«7 Am Ende beschließt er, die Niederschrift zu beenden, weil der Verlust eine wohl lebenslange Geschichte geworden ist, die ihn begleitet, aber die Reflexion in dieser Form beendet werden muss, damit keine unendliche Geschichte daraus werde. Doch er zieht ein Fazit: »Soweit diese Niederschrift als Waffe gegen einen völligen Zusammenbruch gedient hat, als Sicherheitsventil, hat sie gute Dienste geleistet.«8 Nicht auszudenken, wenn man diesen Trauerprozess – oder sollte man besser sagen, diesen Lebensprozess – mit therapeutischen Interventionen gestört hätte. Als technischer Begriff oder gar als Imperativ verwendet und als Bewertungsmaßstab für einen gelungenen oder misslungenen Trauerprozess in diesem Fall genutzt, wird der Begriff »Trauerarbeit« hohl und respektlos gegenüber dieser durch die Niederschrift offenbarten höchst intimen Grenzerfahrung. Und es sei abschließend noch einmal erinnert: Nach Freud geht es um die »Arbeit, welche die Trauer leistet«. Es geht also um die Dynamik eines seelischen Prozesses und weniger um die willentliche Anstrengung oder Arbeitsleistung der trauernden Person. Und ganz sicher geht es dabei nicht um die Arbeitsleistung der professionellen Helfer.
Anmerkungen 1 | Lewis, Clive Staples: Über die Trauer, 2. Auflage, Zürich: Benzinger Verlag 1999, S. 25. 2 | Ebd. S. 75. 3 | Freud, Sigmund: Trauer und Melancholie, Wien: 1917, Freud Studienausgabe Bd. III, Frankfurt a.M.: Fischer Verlag 1969. 4 | Ebd. 5 | Ebd. 6 | Illich, Ivan: Die Nemesis der Medizin, München: Beck Verlag 1995, S. 93f. 7 | Lewis, Clive Staples a.a.O., S. 72. 8 | Ebd. S. 75.
Trauma Ariane Brenssell
Der Begriff »Trauma« ist in aller Munde. Im Alltag ist der Begriff längst angekommen, um beispielsweise auszudrücken, dass etwas Schreckliches passiert ist. Trauma ist auch ein Begriff, der immer umkämpft war. Ging es doch von jeher um die Frage, welche Folgen sozial verursachte Gewalt – Krieg, Folter, Vergewaltigung, KZ usw. – für die Einzelnen hat, ob diese öffentlich anerkannt werden und ob es ein Recht auf Entschädigungszahlungen gibt. Positiv war deshalb auch von vielen Betroffenen die Resonanz, als 1982 Trauma zur psychiatrischen Diagnose »Posttraumatische Belastungsstörung« wurde. Seitdem gibt es das Recht zu medizinischen und therapeutischen Hilfen über die Diagnosestellung. Doch sowohl die Diagnose als auch die Besetzung und Verwendung des Traumabegriffes hat verschiedene widersprüchliche Facetten, die in diesem Artikel kritisch beleuchtet werden. Die meisten Traumatisierungen werden auf sogenannte »man-madedesaster« zurückgeführt, das heißt, sie sind verursacht durch Gewalt, die von anderen Menschen ausgeübt wird. Ob und welche Folgen Gewalt für die Einzelnen hat, hängt allerdings nicht allein von der Art oder Schwere der Gewalt ab, sondern auch davon, was nach der Gewalt passiert: Ist das soziale Umfeld und ist die Gesellschaft in der Lage, angemessen zu reagieren oder bleiben Vorurteile und Stigmata – wie es etwa bei einer Vergewaltigung häufig geschieht – an den Betroffenen hängen? Gewalt ist nicht losgelöst von gesellschaftlichen Machtverhältnissen zu verstehen. Ob der klinisch-psychiatrische Begriff »Trauma« diese komplexen gesellschaftlich vermittelten Prozesse von Macht, Gewalt und ihren Folgen – respektive Traumatisierungen – adäquat fassen kann, soll im Kontrast unter anderem zur Anti-Gewalt-Arbeit diskutiert werden.
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Ariane Brenssell
Als die Frauenbewegung in den 1970er Jahren das Tabu der sexuellen Gewalt thematisierte, Gewalt gegen Frauen und Mädchen sichtbar machte und deren Folgen aufzeigte, war dies mit einer Kritik an gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnissen verbunden. Die Gewaltfolgen zur Sprache zu bringen, war – wie ein Kollege aus der Flüchtlingsarbeit betonte – auch ein »Ausdruck des Widerstandes gegen große und kleine Machthaber, gegen Militärs, autoritäre Psychiater und Gutachter, welche die Folgen von Folter und Missbrauch am liebsten verleugnen und bagatellisieren wollten«. 1 In den 1970er und 1980er Jahren gründeten Aktivistinnen erste Anlauf- und Beratungsstellen gegen Gewalt gegen Frauen. 1982 wurde eine erste Projektinitiative von Frauen zur selbsterlebten sexuellen Gewalt ins Leben gerufen: »Sie haben das Thema sexualisierte Gewalt in der Kindheit aus der Perspektive der Betroffenen in die Öffentlichkeit gebracht«.2 Aus diesen Bewegungen ist heute eine breite psychosoziale Infrastruktur für Menschen, die Gewalt erlebt haben, entstanden.3 Dezidiert spiegelt sich in ihren Angeboten die Haltung wider, dass Gewalt und die Möglichkeiten ihrer Bearbeitung gesellschaftlich vermittelt sind. Exemplarisch repräsentiert dies der Bundesverband Frauenberatungsstellen und -notrufe (bff), in dem 170 Fachberatungsstellen und Notrufe zusammengeschlossen sind, in seiner Qualitätshandreichung. Die Grundsätze der Arbeit folgen einem »parteilich-feministischen und gesellschaftskritischen Ansatz«, der aus der »Analyse gesellschaftlicher Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern« abgeleitet wird.4 »Ungleich verteilte soziale, ökonomische, rechtliche und politische Entwicklungschancen zum Nachteil von Frauen«5 spielen sowohl bei den Ursachen von Gewalt als auch bei der Bearbeitung von Gewaltfolgen eine entscheidende Rolle. Der Leitgedanke von Solidarität – »Gewalt kann jede treffen« – prägt die Arbeit, in der die Betroffenen bei der Lösung ihrer psychosozialen Problemlagen6, individuell-zugeschnitten7, differenziert und kontextbezogen unterstützt werden. Komplementär dazu gehört, neben der Beratungs- und Begleitungsarbeit, die Analyse, das Aufdecken und Verändern unterdrückender Gesellschaftsstrukturen, die Gewalt verursachen, bagatellisieren und legitimieren, zur Arbeit der Beratungsstellen. Diese Herangehensweise unterscheidet sich sowohl in der Haltung als auch in der institutionellen Verankerung von medizinisch-klinischen Traumakonzepten, denen ein individueller Behandlungsansatz sowie die dichotome Vorstellung von Krankheit und Gesundheit zugrunde liegen.
Trauma
Mit der Psychotraumatologie ist in den letzten Jahrzehnten ein breiter Fachdiskurs entstanden8, der die Deutungshoheit über die Interpretation der Folgen von Gewalt und deren Behandlungsansätze gewonnen hat. Gewalt und ihre Folgen werden hier als »Trauma« gefasst (es ist nicht mehr von Anti-Gewalt-Arbeit die Rede, sondern von Traumaarbeit, man schließt sich nicht mehr zusammen, um Erfahrungen mit Gewalt auszutauschen, sondern macht eher eine Traumatherapie). Positiv lässt sich auf der einen Seite vermerken, dass hiermit über die Krankheit – zum Beispiel als Diagnose »Posttraumatische Belastungsstörung« – öffentlich anerkannt wird, dass Gewalt individuelle Folgen haben kann. Auch hat der Fachdiskurs ganz unterschiedliche differenzierte Zugänge zum Verständnis von Trauma-Symptomen sowie eine Vielzahl von Therapien, Techniken und Methoden hervorgebracht, die unter anderem auch in der Anti-GewaltArbeit genutzt werden.9 Auf der anderen Seite jedoch ist der Blick auf die Machtverhältnisse, der seit Beginn der Anti-Gewalt-Arbeit eine zentrale Rolle spielte, verloren gegangen. Die Frage nach der Bedeutung von Machtverhältnissen und auch der Protest gegen Machtverhältnisse – so schreibt der bereits zitierte Kollege aus der Flüchtlingsarbeit – »trat zugunsten von diagnostischen Rastern, wissenschaftlichen Karrieren, Publikationsinteressen usw. […] immer mehr in den Hintergrund.«10 Wer Begriffe besetzt, erlangt Deutungshoheit. Die aktuelle Traumadiskussion steht weitgehend unter der Deutungshoheit der Medizin und ihrem naturwissenschaftlich-biomedizinischen Wissenschaftsverständnis, was für das Verständnis von Traumatisierungen heißt, dass auf Symptome und auf (neuro-)biologische Erklärungen rekurriert wird. Auch wenn in der Psychotraumatologie verschiedene und zum Teil kontrastierende (Therapie-)Schulen zum Verstehen und Behandeln von Traumata bestehen11, müssen sie sich doch als Teil eines letztlich medizinischen Dispositivs, dem psychiatrischen Diagnoseverständnis anpassen, »um einen Behandlungsauftrag zu erhalten«. 12 Seit 1982 besteht die psychiatrische Diagnose »Posttraumatische Belastungsstörung«. Sie ist in den Diagnosemanualen eine der wenigen Diagnosen, in der die Ursachen einer Störung benannt werden: ein Trauma ist eine »Reaktion auf ein belastendes Ereignis, eine Situation außergewöhnlicher Bedrohung«.13 Dennoch blendet die Diagnose gesellschaftliche Kontexte aus und legt eine symptomorientierte Betrachtung nahe.
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1. Die Diagnose Posttraumatische Belastungsstörung führt unterschiedliche Ursachen und Auslöser quasi in einem Atemzug auf: »Naturereignisse oder von Menschen verursachte Katastrophen«14 stehen nebeneinander, ein Unfall hat den gleichen Rang wie Folter und Vergewaltigung. Damit wird der Kontext der Gewalt beliebig. 2. Eine solche Entkontextualisierung wird tragfähig, wenn Gewalt und Trauma nicht mehr sozial, sondern biologisch gefasst werden. Trauma wird auf eine Quantität von Stress reduziert: Ursache ist ein außerordentlich starker Stressreiz, den der Körper und das Gehirn nicht mehr verarbeiten können. Die Frage der Verarbeitung ist so nicht mehr sozial oder gesellschaftlich gedacht, sondern wird zur Frage der Stressbewältigungsmöglichkeiten der Einzelnen. 3. Die Diagnose versteht Reaktionen auf Traumata immer pathologisch15. Die pathologischen und damit dysfunktionalen Reaktionen sollen dann behoben werden. Sobald aber Trauma zur Angelegenheit von Symptomen und Symptombeseitigung wird, geraten die sozialen und gesellschaftlich vermittelten Entstehungszusammenhänge von Gewalt und ihren Folgen aus dem Blick. Dass Gewaltfolgen als Trauma re-artikuliert werden, hat Implikationen. Menschen, die Gewalt erlebt haben, werden zu traumatisierten Menschen; mit ihnen werden Bilder von Störung und Krankheit verbunden; die naturwissenschaftlich inspirierte Diagnose-Logik verkürzt soziale, gesellschaftliche Probleme auf klinische Fragen und verschiebt sie auf das Terrain der Medizin; diese Delegation an die Medizin löst sie aus gesellschaftlichen Verhältnissen und Zuständigkeiten heraus. Damit bleiben Verhältnisse, die Gewalt bedingen, produzieren oder legitimieren unangetastet und »normal«, diejenigen aber, die Gewalt erleben und dies unter den gegebenen Bedingungen nicht bearbeiten können, sind – letztlich – unnormal. Thomas Schlingmann von der Beratungsstelle »Tauwetter« für Männer, die als Jungen sexuelle Gewalt erlebt haben, spitzt zu: »Ich habe eine Kernthese: Der Begriff Trauma und Diagnosen wie Posttraumatische Belastungsstörung sind nicht in der Lage, die Komplexität sexualisierter Gewalt und ihre möglichen Auswirkungen zu erfassen.«16 In die Diagnose Posttraumatische Belastungsstörung seien von Anfang an wenig Forderungen aus den Bewegungen eingeflossen: weder die Debatte um Vergewaltigungen noch die Forderungen der KZ-Überlebenden hätten in
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ihr einen Niederschlag gefunden. Umgekehrt jedoch habe die Diagnose weitreichenden Einfluss auf die Debatten und die Praxen des Umgangs mit Gewalt genommen: »Die Aufnahme der PTSD in das DSM hatte u.a. zur Folge, dass weltweit ein Boom der Psychotraumatologie begann. […] Und im Zuge dieses Diskurses fand zweierlei statt: 1. Die Traumadefinition wurde als Standard weltweit übernommen 2. Es entwickelte sich die moderne Traumatheorie, die den Kontext der einzelnen Gewalttat oder Situation leugnet, und allgemeingültige Aussagen für alle Situationen […] machen soll.«17 Das sei gesellschaftlich funktional: »Die Funktionalität der modernen Traumatheorie liegt in der Individualisierung und Entpolitisierung von Gewaltverhältnissen, wenn es nicht mehr möglich ist, sie komplett zu leugnen.«18 In diesem Sinne ist der Fachdiskurs um Trauma Teil einer passiven Revolution im Sinne Gramscis. Forderungen von unten werden so re-artikuliert, dass Herrschafts- und Machtstrukturen gefestigt werden. In der Reartikulation von Gewalt(-Folgen) als Trauma werden Machtverhältnisse und Gewalt entnannt. Die Idee eines naturwissenschaftlichbiomedizinischen Traumakonzepts hat die Köpfe ergriffen, auch in den Disziplinen jenseits der Medizin und auch im Alltag. Geradezu populär ist die Metapher vom Trauma als einer tickenden Zeitbombe, die nur von Traumaexperten entschärft werden kann. Und wer würde bei einer Zeitbombe nicht froh sein, wenn ein Sprengstoffexperte in der Nähe ist! Dies legt nahe, dass man sich mit der Verstörung über erlebte Gewalt besser schnell in die Hände von Experten begibt, die entsprechende Techniken haben, um mit schnellen Interventionen zu verhindern, dass aus der erfahrenen Gewalt zum Beispiel eine (noch) schlimmere, unbeherrschbare, chronische Störung wird. Dass die individuellen Folgen von Gewalt nun als Störung im Rahmen der skizzierten Traumakonzepte anerkannt werden, hat indes einen hohen Preis: die Pathologisierung, die Individualisierung und die Verfestigung einer Herrschaftsstruktur der Expertendiagnostik mit den Kehrseiten des strukturellen Ausschlusses der Betroffenen und dem Verlust einer emanzipatorischen Zuversichtlichkeit. Immer mehr Beratungs- und Therapieansätze werden auf Grundlage eines reduktionistischen Trauma-Verständnisses standardisiert und manualisiert, ein bestimmter Ansatz und Ablauf soll wirksam für alle sein. Dieses Vorgehen nach Schemata und Vorgaben19 folgt zum einen einem naturwissenschaftlich-biomedizinischen Wissenschaftsverständnis, dem
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die Idee der Messbarkeit von Symptomstärken und (Therapie-)Wirkungen zugrunde liegt. Zum anderen setzt sich hier immer mehr auch das ökonomische Paradigma durch, das den Vorgaben von Effizienz und Kosteneinsparungen im Gesundheitswesen entspricht 20. Insgesamt kann man von einem ökonomisch-naturwissenschaftlichen Paradigma21 sprechen, das ökonomische Effizienz mit naturwissenschaftlicher Messbarkeit koppelt. Für das Leiden der Menschen, aber auch für den Fall, dass standardisierte Therapien (bei ihnen) nicht wirken, werden »immer weniger die sozialen Verhältnisse«, sondern »die Menschen selbst« verantwortlich gemacht.22 »Wie Brecht sagt: Wo Hilfe ist, ist auch Gewalt.«23 Solange nicht reflektiert wird, welche Funktion der Traumadiskurs hat, bleiben Machtverhältnisse und Gewalt unhinterfragt. Solange im Diskurs das ökonomisch-naturwissenschaftlich-biomedizinische Krankheitsverständnis nicht hinterfragt wird, bleibt dieser auf eine »Erklärungsebene begrenzt […], die gesellschaftliche Mitbedingtheit«24 von Gewalt nicht erkennen kann. Aus diesen Gründen heißt es: Einspruch zu erheben gegen eine Art der Fachkundigkeit25, die einen Teil zum Ganzen macht und die Foucault 26 als pseudowissenschaftlichen Diskurs der medizinischen Pathologisierung und als »Normalitätsdiskurs« demaskierte, als einen »Monolog der Psychiatrie« mit »seinem Versuch, über seine Untersuchungsgegenstände zu verfügen«.27
Anmerkungen 1 | Ottomeyer, Klaus: Traumatherapie zwischen Widerstand und Anpassung. In: Journal für Psychologie, 2011, 19(3), S. 3. www.journal-fuer-psychologie.de/index. php/jfp/article/view/89/35; abgerufen am 17.07.2016. 2 | Daraus entstand Wildwasser, heute ein Netz von Anlauf- und Beratungsstellen sowie von Selbsthilfestrukturen, die u.a. den betroffenenkontrollierten Ansatz repräsentieren. Dieser geht u.a. davon aus, dass Menschen dazu in der Lage sind, selber über ihren Weg zu bestimmen (vgl. Wildwasser 2014). Hölling, Iris: Wildwasser e.V.(Hg.): Vom Tabu zur Schlagzeile. Berlin: 2014, S. 2. Siehe unter: www.wildwasser-berlin.de/tl_files/wildwasser/Dokumente/2014/ Dokumentation_30-Jahre-Wildwasser-eV-Berlin.pdf, abgerufen am 20.10.2016). 3 | Das Angebot wird zum Teil öffentlich finanziert, ist niedrigschwellig, garantiert Vertraulichkeit und Anonymität, ein breites Spektrum an Angeboten und vernetzte Arbeit sowie die Arbeit jenseits von Diagnosen. Die psychosozialen Versorgungs-
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strukturen umfassen auch wenige Anlaufstellen für Männer und Jungen (z.B. Tauwetter) sowie auch psychosoziale Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer und Anlaufstellen zu den Themen Erwerbslosigkeit, Migration und Beratungsstellen für Betroffene von rechter und rassistischer Gewalt. 4 | bff: Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe, Handreichung zur Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung in der Beratungsarbeit der Frauennotrufe und Frauenberatungsstellen. Berlin, 2013, S. 17. 5 | Ebd. 6 | Diese können durch anhaltende und strukturelle Gewalt fortbestehen und sind miteinander verflochten. 7 | Ansatz an der Differenziertheit der Biographie von Mädchen und Frauen – in Bezug auf ökonomische, soziale und kulturelle Bedingungen – (vgl. bff 2013, S. 18). 8 | Nach eigenen Recherchen waren im Oktober 2015 im Verzeichnis lieferbarerer Bücher 7.232 Fachbücher zum Thema Trauma gelistet. 9 | So kann man feststellen, dass zwar in der Beratung auch ähnliche Methoden und Verfahren angewandt werden, aber der institutionelle Kontext sowie die Haltungen, die Menschenbilder und die Kontextualisierung der Gewalt und ihre Verarbeitungsmöglichkeiten in soziale und gesellschaftliche Kontexte einen Unterschied ausmachen. 10 | Ottomeyer, Klaus: Traumatherapie zwischen Widerstand und Anpassung. In: Journal für Psychologie, 2011, 19(3), S. 3. [www.journal-fuer-psychologie.de/index.php/jfp/article/view/89/35; abgerufen am 17.07.2016]. 11 | Interventionen sind von daher schulgebunden unterschiedlich, wie etwa die psychoanalytische psychodynamisch imaginative Traumatherapie von Luise Reddemann oder die Narrative Expositionstherapie, die vor allem auf neurobiologischen Konzepten und Stresskonzepten basiert. 12 | Siegel, Sylvia: Unmittelbarkeit. Kritik und Brechung der Gestalttherapie. Hamburg: Argument Verlag 2013, S. 132. 13 | Dilling Horst, Mombour W., Schmidt M.H.: Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10 Kapitel V(F) Klinisch-diagnostische Leitlinien, 7. überarbeitete Auflage. Bern: Verlag Hans Huber, 2010, S. 183. 14 | Ebd. 15 | Die neu entstandenen Trauma-Ambulanzen setzen auf eine rasche Beseitigung der Symptome durch schnelle Intervention nach einer Gewalttat. Dies soll das Entstehen einer Störung verhindern. Damit wird der theoretische Widerspruch, dass Trauma einerseits als »normale Reaktion auf eine unnormales Ereignis« ver-
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standen wird, andererseits aber mit Eintritt in eine Behandlung eine Störung wird, theoretisch nicht gelöst, sondern umgangen. 16 | Schlingmann, Thomas: Wildwasser e.V. (hg.): Vom Tabu zur Schlagzeile. Berlin. 2014 S. 53: www.wildwasser-berlin.de/tl_files/wildwasser/Dokumente/2014/ Dokumentation_30-Jahre-Wildwasser-eV-Berlin.pdf, abgerufen am 20.10.2016. 17 | Ebd. S. 55. 18 | Ebd. S. 63. 19 | Maio, Giovanni: Verstehen nach Schemata und Vorgaben? Zu den ethischen Grenzen einer Industrialisierung der Psychotherapie. In: Psychotherapeutenjournal. 2011, 10(2), S. 132-137. 20 | Maio, Giovanni (2011) spricht von der Durchsetzung eines ökonomisch-naturwissenschaftlichen Paradigmas im Gesundheitswesen. 21 | Vgl. Maio, Giovanni 2011, a.a.O. 22 | Merk, Usche: Vom Trauma zur Resilienz. In: Dr. med. Mabuse, Januar/Februar 2015, Nr. 213, S. 28-30. 23 | Weber, Klaus: Kritische Psychologie. In: Studienreihe Zivilgesellschaftliche Bewegungen – institutionalisierte Politik, 2016, Nr. 33/2016, S. 3. 24 | Siegel, Sylvia: Unmittelbarkeit. Kritik und Brechung der Gestalttherapie. Hamburg: Argument Verlag 2013, S. 100. 25 | Professionalität. 26 | In Foucault, Michel: Wahnsinn und Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973. 27 | Eribon, Didier: Rückkehr nach Reims. Berlin: Suhrkamp 2016, S. 214.
Werte Franz Schandl
Dass wir etwas wert sein sollen und dazu Werte brauchen, ist das Selbstverständlichste auf der Welt. Ist es das? Allenthalben ist von Werten zu reden. Von Werten, die wir haben, oder welchen, die wir brauchen, von Wertewandel und Werteverfall und vor allem und unablässig von der Wertegemeinschaft. Denn die benötigen wir, unbedingt. Auch allen Asylwerbern würde sie artig bekommen. »Integration ist Pflicht – beim Spracherwerb, bei unseren Werten«1, sagt der neue ÖVP-Generalsekretär Peter McDonald. Sein Parteikollege, der österreichische Außenminister Sebastian Kurz hat jetzt einen »50 Punkte – Plan zur Integration von Asylberechtigten und subsidiär Schutzberechtigten in Österreich«2 vorgelegt. »Werte sollen erleb- und erlernbar werden«3, heißt es dort. In achtstündigen Crashkursen will man die Immigranten auf ihre Pflichten festlegen. Bei fehlender Integrationsbereitschaft sollen bestimmte Sozialleistungen gekürzt werden. »Wo hinein gilt es, sich zu integrieren?«4, fragt der Integrationsplan. Das fragen wir uns auch. Es war Günther Anders, der einst die »Werte« auf eine schwarze Liste setzte: »In der Tat ist der barbarische Begriff, der aus der Finanzwirtschaft stammt, erst nach 1850 in die Philosophie und erst in den Zwanziger Jahren in die Trivialsprache eingedrungen«5. Der Westen spricht von der Verteidigung der Werte und der Philosoph spricht von Barbarei. Wahrscheinlich haben beide Recht. »Denn ebenso gehört es zum Totalitarismus (und zwar zum geheimen der sogenannten ›freien Welt‹ nicht weniger als zum offen politischen), dass er versucht, den zu verwertenden Menschen auf dasjenige festzulegen und zu ›beschränken‹, was an ihm verwertbar ist; dessen Totalität zu zerstören; denjenigen Menschteil, der evidentermaßen in der Leistung nicht aufgeht, ihm aber trotzdem anhängt, zu entkräften.«6
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Tatsächlich legt der Singular offen, was der Plural verschweigt. Der Begriff des Werts hat sich ausgehend vom ökonomischen Sektor in alle gesellschaftlichen Bereiche gebohrt. Wert ist zu einem substanziellen Terminus geworden. Wenn etwas etwas wert ist, ist etwas etwas wert. Wert gilt als das Positivum sui generis. Wert ist dem gesunden Menschenverstand eine in all seinen Verästelungen zu bejahende Assoziation, keine kritische Größe. Hinter den Werten verbirgt sich die Verwertungspflicht. Es geht, so das Papier des Außenministers, um »die rasche Selbsterhaltungsfähigkeit«.7 Der Wert setzt die Werte. Er ist auch die zentrale Instanz des Selbstwerts. Bürgerliches Selbstbewusstsein verläuft auf einer Skala der Abund Aufwertung am Markt. Das jeweilige Einkommen regelt die Zugangs- und Beteiligungsmöglichkeiten, die auch über Integration und Desintegration entscheiden: Was haben? Wo dabei sein? Wie viel dürfen? Was darstellen? Die Achtung der Menschen erfolgt nicht direkt, sondern über die jeweiligen Wertigkeiten am Markt. Akzeptiert wird, wer sich verwertet. Jeder Wer ein Was! Wer kein Was, ein Nichts! Dieses Selbstwertgefühl sinkt rapide, wird der Einzelne vom Kapital nicht anerkannt. Nicht nur Arbeitslose und Immigranten spüren das, die aber ganz besonders. Dass zu Wert immer Mehrwert und Minderwert(igkeit) gehören, versteht sich von selbst, muss aber eigens erwähnt werden. Und natürlich geht es um In-Wert-Setzung, dem neoliberalen Subjekt ist die Selbstoptimierung seines Humankapitals oberste Pflicht und stete Aufgabe. Im Wert steckt auch alles drin, was uns so gespenstisch vertraut ist: die Konkurrenz, das Wachstum, das Ranking, der Preisvergleich und natürlich der Preis selbst. Mit dem Wert und seinen geprägten Worten wird das Vokabular ökonomifiziert und unsere Vorstellungskraft kanalisiert. Beides lassen wir nicht nur zu, es fällt gar nicht als Besonderheit auf. So zu sprechen erscheint uns als selbstverständlich. Wir haben keine andere Sprache. Man denke bloß an all die infizierten (und oft kaum substituierbaren) Begriffe wie Wertschätzung, Wertschöpfung, Bewertung oder wertvoll. Und die Werteworte werden mehr: Werteschulungen, Wertekatalog, Werteerziehung, Wertevermittlung, Werte-Patenschaften, vielleicht könnte man noch einen Wertekataster anlegen, wo Wertebüros mit Werteschablonen den Werteindex (Selbstverwertungskoeffizienten) von Flüchtlingen und allen anderen Subalternen ermitteln. In Werten zu denken, ist Form gewordener Inhalt, wo nur taugt, was ihnen entspricht. Dass Menschen arbeitslos und obdachlos, mittellos und
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hilflos werden dürfen, passt zu diesen Werten, das freie Niederlassungsrecht hingegen nicht. Dafür dürfen im Namen der Werte Länder bombardiert und missliebige Regimes zu Fall gebracht werden. Auch an den unfreiwillig in Moskau und in der ecuadorianischen Botschaft in London sitzenden »Dissidenten« entpuppen und entzaubern sich diese Werte ganz fulminant. Mission wie Emission der Werte sind geradezu das Grundproblem dieses Planeten, die Verwertung von Mensch und Natur ebenso wie die Entwertung ganzer Gruppen und Regionen. Die reine Gewalt, die sich an ihren ausweglosen Enden offenbart, ist in erster Linie Folge virulenter Wertexplosionen, die immer ihren Ausgang im Westen hatten. Das heißt jetzt nicht, dass wir hier in den Metropolen a priori bösartiger sind als die anderen, sondern bloß, dass unser Zerstörungspotenzial größer, weil entwickelter ist. Das Eingeforderte wird fixiert und formatiert im Wert und seinen Werten. Darin verpackt die gemeine Verwertungspflicht. Es ist zwar übel, wenn Menschen nichts wert sind, aber schlimmer noch ist, dass Menschen überhaupt etwas wert zu sein haben. Dass eine ökonomische Abstraktion – der Wert – diese Gesellschaft beherrscht, Status und Rang der Mitglieder vorgibt und via Werte verfügen möchte, was wir wollen sollen. Wer sich den Werten überlässt, gerät in die kapitalistische Klapsmühle. Das Bekenntnis ist zu dechiffrieren als Bekenntnis zur westlichen Herrschaft. Wir agieren in diesem Betriebssystem, nicht immer freiwillig, aber doch willig. Wir sind auf Betriebstemperatur, obwohl wir nicht einmal wissen, was uns betreibt. Viele kochen über. Und hurtig diskutieren wir dann nicht mehr die Unverträglichkeit der globalen Zustände, sondern welche Flüchtlinge nützlich sind, was sie kosten, was sie dürfen, wie sie zu funktionieren haben und wie sie zu sanktionieren sind. Wert und Werte produzieren solche Debatten. Sie sind nicht frei. Gerade das wäre zu erkennen und zu hinterfragen. Warum sollen wir das wollen und warum möchten wir das allen anderen aufdrängen? Dass man wollen soll, was man wollen muss, ist eine Zumutung, egal ob für Ausländer oder Inländer. Stattdessen sollten wir aber darüber sprechen, woran es fehlt und was es braucht: Gibt es genügend Deutschkurse, um die Sprache zu erlernen? Gibt es genug Unterkünfte, damit niemand im Freien schlafen muss? Gibt es genug Verpflegung und Medikamente, um die Vertriebenen zu
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versorgen? Die Liste ist unendlich und sie hilft wohl um einiges mehr als das Gelaber von der nun Wertegemeinschaft genannten Leitkultur. Denn da wurde lediglich das dumpfe Wort gegen die abgefeimte Kategorie ausgetauscht. Wir hier sind im Vergleich zu den Flüchtlingen keineswegs das geringere Problem. Das schiere Gegenteil ist richtig. Schon alleine davon auszugehen, dass wir die Geber und sie die Nehmer sind, ist absolut abwegig, Herrschaftsvergessenheit par excellence. Dass im zusehends globalen Ausnahmezustand die Aufnahmeländer großzügige Stifter sind, die Gegenleistungen einzufordern haben, ist dezidiert zu bestreiten. Bestenfalls verteilen Räuber Beutestücke an die Beraubten. Es besteht kein Grund zu dieser sittlichen Selbstadelung. Von einer freundlicheren Seite zeigten sich einige europäische Länder, als sie für Momente ihre staatliche Autorität außer Kraft setzten und die Flüchtenden einfach passieren ließen. Menschlichkeit ging vor Grenzsicherung. Das ist doch was, aber den Werten wurde dabei nicht entsprochen, sie wurden sistiert. Daran gilt es anzuschließen. Merkel und Faymann ist zugute zu halten, dass sie vorerst nicht den Orbán machten. Mit den diskutierten Obergrenzen drohen Law and Order ja wieder zurück zu kehren. Das Papier des österreichischen Außenministeriums indes behauptet ganz starrsinnig: »Österreich hat einen etablierten Wertekanon, der nicht verhandelbar ist«8. Die Wahrheit ist, dass dieser sich stets in Bewegung befindet und permanent auch verhandelt wird. Heute wird da ein anderer Kanon als 1965 oder gar 1915 Jahren gesungen. Hier soll eingefroren werden, was aufzutauen ist. Dass selbst die Werte sich wandeln, sollte als Binsenweisheit gelten. Frauen sind nicht deshalb nicht zu vergewaltigen, weil es verboten ist. Um Kinder nicht zu schlagen, braucht man keine Werte; Menschlichkeit und Respekt, Anerkennung und Empathie reichen völlig. Werte und Bürgerliches Recht sind nur Krücken, die Freundschaft, Sorge, Nächstenund Übernächstenliebe nicht ersetzen können. Übrigens ist es keine zwei Generationen her, dass Kinder nicht mehr körperlich gezüchtigt werden dürfen und dass Frauen in der Ehe von der Vormundschaft ihrer männlichen Partner juristisch befreit worden sind. Das ist ein historischer Wimpernschlag. Führende christliche Politiker wie der ehemalige ÖVPGeneralsekretär Michael Graff gingen davon aus, dass es Vergewaltigung in der Ehe gar nicht geben könne. Auch in Deutschland war sexualisierte
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Gewalt bis 1997 als außerehelich definiert. Heirat wurde somit als Auslieferungsvertrag interpretiert. Politiker wie Horst Seehofer wollten das auch beibehalten. Man soll den Mund also nicht so voll nehmen. Mehr Demut statt Demütigung wäre angesagt. Bei der unheimlichen Offensive der Werte geht es darum, die Reihen dicht zu schließen (»Wir«) und die Anderen nicht als Handelnde sondern als zu Behandelnde (»Ihr«) zu konstruieren, die man dann entweder erziehen oder ausschließen muss. Aufnahmekapazitäten sind jedoch keine Frage des Könnens, sondern des Wollens, das Miteinander eine Frage der gegenseitigen Zuneigung, nicht einer Secondhand-Staatsbürgerkunde. Da fadisieren sich Ausländer nicht weniger als Inländer. Flüchtlinge werden sich die verordneten Werteschulungen reinziehen, den Crash-Kurs über sich ergehen lassen und das wird es dann auch gewesen sein. Man kann ja auch nicht darüber abstimmen, ob das aktuell jetzt eine Völkerwanderung ist oder nicht. Hier entfaltet sich allerdings das Enorme und wie der Begriff schon sagt, setzt es Norm und Normalität außer Kraft. Das gilt es in seiner ganzen Tragweite zu erfassen. Was wir allesamt bitter benötigen, ist, dass die Menschen sich und die anderen leiden können, also Freude und Freundschaft, Bewusstsein und Reflexion, Kooperation und Verantwortung, Lust und Liebe. Aber in der ideologisch aufgeladenen, ja rassistisch vergifteten Atmosphäre ist das schwer zu begreifen. Außerdem lässt sich damit kein Krieg führen. Vom Werteritter zum Wertekrieger ist der Weg ja nicht weit. Die Frage hingegen, welche Werte wir brauchen, ist einfach zu beantworten: Keine!
Anmerkungen 1 | heute vom 23.11.2015, S. 6. »heute« ist eine Gratistageszeitung in Wien. 2 | 50 Punkte – Plan zur Integration von Asylberechtigten und subsidiär Schutzberechtigten in Österreich, Wien, November 2015: http://www.integrationsfonds. at/fileadmin/content/.../50_Punkte_Plan_zur_Integration.pdf, letzter Zugriff 11. November 2006. 3 | Ebd. S. 18. 4 | Ebd. S. 23. 5 | Anders, Günther: Ketzereien, München: C.H. Beck, 1982, S. 131.
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6 | Anders, Günther: Die atomare Drohung, 1972, 5. Aufl., durch ein Vorwort erweiterte Auflage, München: Beck 1986, S. 84. 7 | S. Anmerkung 2, S. 3. 8 | Ebd. S. 12.
Würde Bernhard Heindl
Und ich sah ihn an [den toten Vater] mit großem Schmerz, weil ich nicht würdig war, an seinem Ende bei ihm zu sein. A lbrecht D ürer , Gedenkbuch (verfasst zwischen 1514 und 1522) Witiko und Betha sahen und betrachteten in der Stadt Prag alles, was würdig war, gesehen und betrachtet zu werden. A dalbert S tif ter , Witiko (1867) Im Reich der Zwecke hat alles entweder einen P r e i s oder eine W ü r d e. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes, als Ä q u i v a l e n t, gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde. I mmanuel K ant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) Wo Recht verweigert und Armut erzwungen wird, Ignoranz herrscht und einer ganzen Bevölkerungsschicht das Gefühl gegeben wird, die Gesellschaft hätte sich verschworen, sie zu unterdrücken, zu bestehlen und zu entwürdigen, werden weder Menschenleben noch Eigentum sicher sein. (Life and times of Frederick Douglass, written by himselve, 1892)
In einer Zeit, deren wegweisende Doktrin im Glauben gründet, dass jedes Ding auf der Welt seinen Preis haben muss und nichts über diese Notwendigkeit erhaben sein darf, sagt uns der Begriff Würde nur sehr wenig. Diese verfolgt keinen Zweck und lässt sich dazu auch nicht als Mittel gebrauchen. Folglich ist die Rede von Würde gänzlich unzeitgemäß.
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Der Begriff der Würde ist umgangssprachlich durch den nebulösen Begriff des »Werts« ersetzt. Dies steht nicht im Widerspruch dazu, dass »Würde« umso häufiger in den Werbehochglanzbroschüren auftaucht. Denn er klingt eben noch aus alter Zeit hervor höchst werbewirksam (wie z.B. auch das unsägliche Gerede vom »System« umso wichtiger wird, je mehr alle Ordnung zusammenbricht), enthüllt sich selbst aber gerade in dieser Form der Propaganda angesichts der eklatanten Würdelosigkeit (z.B. in Altersheimen etc.) als lächerlich-grausame Farce, die nur mit einem möglichst bombastischen Begriff (den keiner mehr versteht) zudecken und abdichten will, was sonst fürchterlich und händeringend zum Himmel schreien würde und nach gravierender Änderung verlangte. Sie hat im allgemeinen Sprachgebrauch kaum noch etwas verloren. Ihr allmähliches Verschwinden aus der Öffentlichkeit ruft daher weder großes Bedauern hervor, noch wird es auch nur mit Sorge bemerkt. Der Abgang der Würde geht still und heimlich vor sich. Niemand scheint sie zu vermissen. Umso aufdringlicher gebärdet sich das unaufhörliche Beschwören der Werte. Ein Bewerten und Verwerten, Abwerten und Aufwerten ist auf allen Ebenen in Gang. Neuerdings wird sogar schon wieder der Ruf nach ›echt deutschen‹ Werten laut. Offenbar wird dieser Wert im Vergleich mit den Werten anderer Länder als besonders wertvoll bewertet. Hinter dem stupiden, aber Aufmerksamkeit erregenden Geschrei verbirgt sich das dunkle Raunen von den christlich-abendländischen Werten, die es vor dem Untergang zu bewahren gelte. In Wahrheit kann man sich mit ihnen zwar noch etwas Gehör verschaffen, doch ist damit kein Staat mehr zu machen. Ihre Agenda steht nicht auf der Tagesordnung. Daher taugen sie auch nicht zur Mobilisierung und halten sich verschämt im Hintergrund. Durch das überkommene Erbe fühlt man sich zu nichts mehr verpflichtet, wer davon befreit auf der Höhe seiner Zeit sein will. Man hat die beschwerliche Last auf dem Marsch in die Zukunft längst abgeworfen und geht erleichtert darüber hinweg. Ab und zu stolpert man noch ein wenig darüber, tritt sie aber auch forsch mit Füßen und prangert für diese Verachtung der eigenen Herkunft lieber alles ›Fremdländische‹ an. Der Appell an irgendwelche höheren Werte wirkt angesichts einer Wirklichkeit, in der man das Preisen von etwas mit seinem Anpreisen als Ware verwechselt, ebenso hilflos wie lächerlich. Zur politischen Propaganda dient aber die Verwertung der Werte nicht schlecht. Denn das leuchtende Fanal holt alle zusammen, die im täglichen Wettbewerb aufeinander gehetzt werden. Von diesem Kampf zermürbt, verkümmern die Entkräfte-
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ten in völliger Unscheinbarkeit. Ihr Wesen bleibt im Dunklen. Und darin glänzt es höchst selten auf. Man schätzt sie nämlich nur daraufhin ab, was von ihnen um welche Kosten wozu gebraucht werden könnte. Der darüber hinausgehende Rest ihrer Persönlichkeit wird durch die Versorgung vonseiten der öffentlichen Hand entsorgt. Solcherart endgültig stillgelegt und erledigt sollen die Entwürdigten sich zum Ausgleich für ihre Missachtung unter dem Dach jener sogenannten Wertegemeinschaft vereinen, in der man sie zu einer amorphen Masse verschweißt und dabei ihre dumpfe Wut zur Weißglut bringt. Um derart angeheizt gegen den Rest der Welt in Stellung gebracht werden zu können, muss das eigene Elend mit dem dürftigen Anstrich von zivilisatorischer Überlegenheit übertüncht werden. Also schlägt man aus dem Gerede von den ›Werten‹, unter denen jeder verstehen mag, was ihm beliebt, Kapital und stilisiert das handliche Schlagwort zur moralischen Größe hoch. Dieser gefährliche Popanz hat schon vor über 30 Jahren Günther Anders dazu gebracht, den Begriff Wert überhaupt als »barbarisch« zu brandmarken und ihn auf die schwarze Liste der Unwörter zu setzen1. Inzwischen geht jenes Evaluieren, welches alles mit allem vergleicht, indem es das Einmalige seiner Einzigartigkeit beraubt und aus der Beute den uniformen Rohstoff für die Weiterverwertung (genannt ›Ranking‹) gewinnt, noch viel brutaler vor sich. Daher lässt sich kaum mehr erahnen, dass ›Wert‹ und ›Würde‹ einst engstens miteinander verwandt waren und beide Begriffe die längste Zeit hindurch in der deutschen Sprache auf dasselbe hinwiesen. Die vorangegangenen Bemerkungen mögen zur Markierung des Kontrastes genügen, der die gern und oft in den Mund genommene Erklärung des deutschen Grundgesetzes umso schärfer ins Blickfeld rückt. Dessen erster Artikel lautet bekanntlich: »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.« Mit dem verfassungsrechtlich bestens verankerten Schutzschild gegen jede Art der Demütigung des Menschen zum willfährigen Objekt der Behandlung von seiner Geburt bis zum Tod (und über beide Grenzen hinaus) glaubte man 1949 für immer die juristische Konsequenz aus der jüngst vorangegangenen Katastrophe gezogen zu haben. Hannah Arendt meldet jedoch bereits zwei Jahre später erhebliche Zweifel an, als sie in ihrem 1951 verfassten Buch über die Ursprünge des Totalitarismus daran erinnert, dass »der Begriff der Menschenrechte, der auf der angenommenen Existenz des Menschen als solchen basiert, in dem Augenblick zusammenbrach, als diejenigen, die sich zum Glauben daran
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bekannten, zum ersten Mal mit Leuten konfrontiert waren, die wirklich all ihre anderen Eigenschaften und spezifischen Beziehungen [etwa als Flüchtlinge oder gänzlich hilflos Gewordene] verloren hatten, außer daß sie immer noch Menschen waren.«2 Mehr als 60 Jahre später geben diese mahnenden Worte angesichts des ökonomisch immer rigoroser erzwungenen und staatlich immer umfassender organisierten Umgangs mit der »Existenz des Menschen als solchen« mehr denn je zu denken. Die Skepsis wächst in dem Maße, in dem das hochtrabende Gerede von Würde nur mehr die Niederungen all des Schändlichen überdeckt, dessen Zeuge wir täglich sein müssen. Also ist es vielleicht ratsam, einige Schritte der Karriere dieses Begriffs beim Aufstieg zum höchsten Prinzip der deutschen Verfassung zurückzuverfolgen. Für einen solchen Versuch der Erinnerung gilt aber dasselbe, was auch für alles andere gilt: Wir werden dem Anspruch an uns nur gerecht, wenn wir nicht lässig übergehen, was größte Zuwendung verdient. Denn mit der uns verliehenen Befähigung zur Vernunft hat uns die Natur zugleich mit der Aufgabe betraut, möglichst klar zum Vorschein zu bringen, was uns erst etwas zu sagen hat, wenn wir ihm unsere ganze Aufmerksamkeit schenken und nicht verächtlich den Rücken zukehren. Nicht durch Geringschätzung nämlich, sondern nur im sorgsamen Achtgeben darauf, was wert ist, gewürdigt zu werden, kommt alles aus dem Dunkel ans Licht. Und erst mit seinem Aufleuchten blüht auch unser eigenes Wesen auf. Der oberste Grundsatz des noch heute gültigen »Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland« vom 23. Mai 1949 wirft sogleich die Frage auf, was die Würde jedes Erdenbewohners mit seinen Rechten als Staatsbürger zu tun haben soll. Auf der Suche nach einer Antwort stößt man auf jene »universelle Erklärung der Menschenrechte«, die sechs Monate zuvor von der Generalversammlung der UNO in Paris erlassen worden ist. In ihr wird kategorisch festgestellt: »Alle menschlichen Wesen sind frei geboren und an Würde und Rechten gleich«. Es war für die ›alte Zeit‹ (der Antike bis 1500) selbstverständlich, dass der Souverän zusammen mit den Rechten gleichzeitig auch die Würden an die Untertanen (gestaffelt auf der Stufenleiter der gesellschaftlichen Hierarchie) vergab. Das nannte man ›Investitur‹. Und diese Ausstattung (Bekleidung) mit »Würden« erfolgte nur durch die ›Gnade‹ (gratia) des allerhöchsten Souveräns, der sich dazu seiner ›Stellvertreter auf Erden‹ (Vicarius Dei) bediente. Die Schwierigkeit wird noch dadurch vermehrt, dass der ehemalige Begriff der ›dignitas‹ als einem gesellschaftlichen
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Begriff, der den Rang einer Person innerhalb der ›societas‹ bezeichnete und davon abgesehen gar keinen Sinn hatte, weshalb es unmöglich gewesen wäre, von »der Würde des Menschen« als einer unantastbaren zu sprechen, nach der französischen Revolution bzw. in der Aufklärung zu einem quasi psychologischen Begriff geworden ist (im deutschen vor allem durch Schiller und später durch einige Romantiker, vage Spuren dieser Tradition gibt es freilich bis Cicero und den Stoikern zurück), der den ›Wert‹ eines Menschen nach seinem inneren ›Charakter‹ bestimmt. Demnach kann man heute von einer ›würdigen‹ Person auch dann sprechen, wenn sie überhaupt keine gesellschaftliche Position mehr bekleidet, also gleichsam ganz ›nackt‹ und ausgeliefert ist, wie. z.B. ein Gefangener oder Flüchtling. Dabei hat man die beiden Begriffe in einem Atemzug verwendet, als bestünde wenig Unterschied zwischen ihnen3. Dasselbe lässt sich von der zuvor (am 24. Oktober 1945) proklamierten Charta sagen, in der die Vereinten Nationen ihre Entschlossenheit bekundet haben, den gründlich erschütterten »Glauben an die fundamentalen Menschenrechte sowie an die Würde und den Wert der menschlichen Person«4 wieder zu stärken. Als Vorbild dafür diente die von der französischen Nationalversammlung am 26. August 1789 abgegebene »Erklärung der Rechte des Menschen und des Bürgers«5, deren feierliche Präambel sich »unter den Schutz des höchsten Wesens«6 stellend an die »natürlichen, unveräußerlichen und heiligen Rechte des Menschen« 7 appellierte. Von ›Würde‹ war dabei keine Rede. Anstelle dessen wurden diese Rechte in 17 Punkten aufgelistet, von denen die drei wichtigsten verkünden: Artikel 1: »Die Menschen sind und bleiben frei und gleich an Rechten geboren. Soziale Unterschiede können nur im allgemeinen Nutzen begründet liegen.«8 Artikel 2: »Das Ziel jeder politischen Vereinigung ist die Erhaltung der natürlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen, nämlich der Freiheit, des Eigentums, der Sicherheit und des Widerstands, gegen Unterdrückung«.9 Artikel 3: »Der Ursprung jeder Souveränität ruht essentiell in der Nation …«.10 Diese Proklamationen wurden vom Marquis de La Fayette im Geist seines Freundes Thomas Jefferson verfasst, in dem man den Autor der ameri-
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kanischen Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 erkennt. Darin heißt es zu Beginn: »Wir halten folgende Wahrheiten für selbstverständlich, dass alle Menschen gleich erschaffen und von ihrem Schöpfer mit bestimmten unveräußerlichen Rechten, darunter mit dem Recht auf Leben und Freiheit sowie auf ein Streben nach Glück, ausgestattet worden sind«.11 Wie man sieht, weicht die Auffassung der französischen Nationalversammlung in Bezug auf jene Rechte, die für alle Menschen dieser Erde gleich sein sollen, nicht unerheblich von denen ab, die der Generalkongress der Repräsentanten der amerikanischen Kolonien zur Begründung in Anspruch nimmt, um sich von der englischen Krone loszusagen. Doch kommen beide nicht ohne die Berufung auf ein ›höheres Wesen‹ aus, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. Von Thomas Jefferson wird es sogar ausdrücklich als Urheber der Rechte angerufen, die im Unterschied von den bürgerlichen für sämtliche Menschen gelten sollen. Denn deren Rechte können über die begrenzte Gesetzgebung irgendeines Staates hinaus nur universell verbindlich (»unveräußerbar«) werden, wenn es sich dabei um keine bloße Behauptung oder gesellschaftliche Konvention handelt, sondern sie für alle Zeiten durch eine höhere Macht in der Natur des Menschen unerschütterlich verankert worden sind. Damit ist freilich noch nicht gesagt, worauf diese »heiligen und unveräußerlichen« Rechte beruhen und wie ihre über die Zeiten und Umstände hinweg in Kraft seiende Gültigkeit für alle Menschen mit der ausdrücklichen Betonung ihrer prinzipiellen (Wahl-)Freiheit zusammenpasst. Einen kühnen Vorstoß zur Beantwortung dieser Frage wagt Pico della Mirandola in der gegen Ende des 15. Jahrhunderts verfassten Schrift, die später unter dem Titel Über die Würde des Menschen berühmt werden sollte. In ihr will er gleich zu Beginn den Grund dafür wissen und sich dazu nicht nur einer alten Überlieferung anvertrauen, warum der Mensch von Natur aus dermaßen hoch über allen Dingen stehe, dass er »das glücklichste und jeglicher Bewunderung würdige Lebewesen«12 genannt werden müsse. Als Erklärung dafür dient ihm »jene Stellung, die dem Menschen in der Rangordnung des Universums zugewiesen worden ist, um welche ihn nicht nur die Tiere, sondern auch die Sterne und überirdischen Geister beneiden«.13 In diese Lage sei er gekommen, weil Gott ihm seinen Odem erst nach Vollendung der Schöpfung eingehaucht habe, als für das solcherart mit Geist erfülltem Wesen kein Platz mehr in ihr gewesen sei. Deshalb habe er den Menschen quasi außerhalb dieser Welt angesiedelt und ihn auf den Posten ihr gegenüber gestellt, von wo
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aus er sich die Vollkommenheit der vor ihm ausgebreiteten Schöpfung bestens vergegenwärtigen könne. Mit Blick auf diesen perfekten Spiegel der Wirklichkeit kann der Mensch sich selbst erkennen und muss sich dabei angesichts seiner zahlreichen Mängel eingestehen, ein »Werk höchst dubiosen Aussehens«14 zu sein. Dennoch habe er in all seiner Fehlerhaftigkeit vor den Augen seines Schöpfers Gnade gefunden, der ihn mit den Worten willkommen hieß: »Von keinen Schranken eingeengt sollst du dir dein Wesen nach jenem Willen im voraus selber bestimmen, zu dem ich dir die Macht gegeben habe«.15 Mit solchem Auftrag sei dem seiner Natur nach gänzlich Unvollendeten die Entscheidung überlassen worden, aus sich zu machen, was immer er wolle und so weit er es vermöge. Damit liege es ausschließlich an ihm selbst, im Laufe seines Lebens entweder auf ein Niveau herabzusinken, das seiner Sonderstellung gänzlich unwürdig wäre, wenn er sich nämlich von Leidenschaften aller Art beherrschen ließe wie die Tiere, oder aber in die Höhen aufzusteigen, in denen er dem Stifter seiner Freiheit immer näher kommen könne. Mit seiner Fähigkeit zur Entscheidung müsse dem Menschen aber auch das Recht zugebilligt worden zu sein, sich aller Mittel zu bedienen, die ihm jeweils dazu geeignet erscheinen, sich in die eine oder andere Richtung (nach oben oder unten hin) zu entwickeln. Mit diesen Gedanken weist der Gelehrte im Freundeskreis um Lorenzo di Medici weit über seine Zeit hinaus. Auf dem Weg dahin werden alle Verhältnisse auf den Kopf gestellt werden. Dabei verlagerte sich die Souveränität der einzigen Person, deren »Würde unantastbar« (sakrosankt) war,16 weil sie den Willen des Allerhöchsten verkörperte und ›von Gottes Gnaden‹ auserwählt worden war, an der Spitze derer zu stehen, die sich unter seiner Obhut versammelt hatten, auf jeden Einzelnen, insofern er sich darauf berufen kann, ›von Natur aus‹ frei über sich und gleichberechtigt mit allen anderen entscheiden zu können. Von hier ist es jedoch nicht weit zur Forderung, dass jeder seines eigenen Glückes Schmied sein solle. Gleich daneben meldet sich aber auch das unheimliche Grauen vor jener condition humaine zu Wort, in der die grenzenlose Entscheidungsfreiheit (etwa für Sartre) zu einem unentrinnbaren Kerker geworden ist. Darin gibt es für den Gefangenen mit der Strafe ›lebenslänglich‹ keine andere Würde mehr als »den hartnäckigen Aufstand gegen die Absurdität« seiner sinnlos gewordenen Existenz.17 Lange bevor es aber zu dieser Verzweiflung kommen sollte, stand bis zum Zusammenbruch des ancien régime und der dabei erfolgten Verlagerung der Souveränität des Einzelnen
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in den mythisch überhöhten Begriff der nation fest, dass es niemandem erlaubt sein dürfe, seinem bloßen Willen entsprechend über sich selbst zu bestimmen und das Recht in die eigene Hand zu nehmen. Vielmehr sollte jeder bekommen, was ihm gebührt und ihm in der Weise Gerechtigkeit widerfahren, dass ein Gericht höheren Orts darüber entscheidet. Ebenso wenig angemessen war es, sich selbst den Mantel der Würde umzulegen, um sich darin vor den anderen zu brüsten. Das unterschied die zeremonielle Investitur früherer Zeiten vom gewöhnlichen Investment unserer Tage. Jene fand nur vor einem sakralen Hintergrund statt, für diese steht die profane Aussicht auf Profit im Vordergrund. Dort musste man sein Haupt beugen, um erhöht zu werden, hier sich groß herausputzen, um nicht unterzugehen. Mit den alten Insignien wurden die Rechte verliehen, welche die neuen Selbstdarsteller für sich in Beschlag nehmen. Diese aber bilden jetzt die Vorhut im permanenten »Ausnahmezustand«, der von niemandem mehr erklärt werden muss, weil er für das tägliche Funktionieren der modernen Gesellschaft eine unbedingte Voraussetzung ist. Grenzenlos hemmungslos kann sie nämlich nur im rechtsfreien Raum der »Lagerhaltung« des Menschen agieren, dessen Würde im Kampf ums Überleben dem ›Recht des Stärkeren‹ weichen muss.18
Anmerkungen 1 | Anders, Günther: Ketzereien, München: Beck 1996. 2 | Zitiert nach Agamben, Giorgio: Homo sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben, Berlin: Edition Suhrkamp 2008, S. 135. 3 | All human beeings are born free and equal in dignity and rights. 4 | … in the dignity and worth of the human person … 5 | »Declaration des droits de l’ homme et du citoyen«. 6 | … sous les auspices de l’ Être suprême … 7 | … droits naturels, inalienables et sacres de l’homme. 8 | Les hommes naissent et demeurent libres et égaux en droits. Les distinctions sociales ne peuvent être fondées que sur l’utilité commune. 9 | Le but de toute association politique est la conservation des droits naturels et imprescriptibles de l’homme. Ces droits sont la liberté, la propriété, la sûreté, et la résistance à l’oppression. 10 | Le principe de toute souveraineté réside essentiellement dans la nation …
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11 | We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness. 12 | Tandem intellexisse mihi sum visus, cur felicissimum proindeque dignum omni admiratione animal sit homo, (§ 6). 13 | … et quae sit demum illa conditio quam in universi serie sortitus sit, non brutis modo, sed astris, sed ultramundanis mentibus invidiosam. (§ 6) 14 | Igitur hominem accepit opus indiscretae imaginis … (§ 18) 15 | Tu, nullis angustiis cohercitus, pro tuo arbitrio, in cuius manu te posui, tibi illam [naturam] prefines (§ 20) 16 | Deshalb fällt es z.B. Fulbert von Chartres (950-1029) nicht schwer, seinen König, Robert den Frommen, mit »Eure Heiligkeit« anzusprechen. Denn dieser verkörpert als ›Stellvertreter Gottes‹ auf Erden (innerhalb seines Herrschaftsgebietes) das höchste Amt und kann folglich auch als instrumentum dignitatis bezeichnet werden (siehe dazu Kantorowicz, Ernst: Die zwei Körper des Königs, München: dtv-wissenschaft 1990, S. 432 ff). 17 | So heißt es bei Camus im 1942 verfassten Mythos von Sisyphos: La seule dignité de l’homme: la revolte tenace contre sa condition, la perséverance dans un effort tenu pour stérile. 18 | Siehe dazu Agamben, Giorgio a.a.O.
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Nachwort Warum ein solches Wörterbuch unmöglich ist Ein Brief von Günther W. Riehl an die Herausgeber
[…] Nach Wilhelm von Humboldt passt Sprache in kein Wörterbuch, auch nicht in ein kritisches. Mag sein, dass sie sich als kognitives Werkzeug einsetzen lässt, als organon, und auch als ergon für furiose Werke, wesentlicher jedoch bleibt ihre Eigenschaft medium zu sein – Medium der Freiheit und Kriterium der Wahrhaftigkeit – und nicht zuletzt selber werktätig zu sein als unverzichtbares Lebenselement, als energeia. Als unerschöpflich und ausgesprochen wertvoll erwiese sich ihr Verwandlungspotential im Vollzug – ex opere operato –, würde sie denn öfter beherzt auch aus-gesprochen. Diesem Befund hat auch der Jacob Grimm des »Deutschen Wörterbuchs« wenig hinzuzufügen. Er sagt nichts anders, nicht einmal in seiner berühmten Vorrede. Denn auch dieses Großprojekt ist nicht etwa aus lexikalischem Interesse heraus entstanden, aus dem Bemühen um orthographische oder semantische Richtigstellung, sondern aus Not; als Antwort auf einen fundamentalen Sprachverfall seiner Zeit, der als der Fall der »Göttinger Sieben« in die Geschichte eingegangen ist. Konkret: Ein König stand nicht mehr zu seinem Wort. Der Regent von Hannover brach den Eid auf seine eigene Verfassung. Professoren, die in diesem Vorfall einen unerhörten Verfall sahen, mussten gehen, mussten um Leib und Leben fürchten und ihr Heil in der Flucht suchen. So auch Jacob Grimm. Er erfährt, dass er nicht nur ein beliebiges Wort, sondern fortan den Namen »Flüchtling« auf sich sitzen lassen muss.1 Was er dabei erfährt, ist nicht zuerst die kognitive, philologische, sondern die körperliche, existentielle Dimension, die der Sprache eigen ist, wenn sie uns persönlich betrifft. Grimm, dem das Wort abgeschnitten, seine Lebensplanung durchschnitten wurde, wird sich daher fortan kaum als ›Sprachreiniger‹
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betätigen wollen, um das Geschäft von Machthabern zu besorgen und Sprachkontrolle zu üben – durch die Sprachregelungen von spin-doctors und Marketing-Direktoren ›Kampagne zu machen‹ und ›auf Linie‹ bringen zu wollen. Grimms Anliegen beschränkt sich auch nicht darauf, der Sprachwissenschaft ein weiteres Nachschlagewerk schenken zu wollen. Stattdessen sucht er Vielfalt, Vielstimmigkeit zu dokumentieren. Nicht aufs Korrigieren, aufs Vorsagen und Vorschreiben verlegt er sich, sondern – wie bei der Märchensammlung – aufs Hören. Er lässt das Volk selbst zu Wort kommen – inklusive aller auch »unfeinen Wörter«. Was er vorlegt, ist weniger ein Duden-Wörterbuch zum korrekten Sprachgebrauch als ein Aufruf zur Feier der Sprache als Lebensenergie; der Sprache als sprudelnde Quelle, die in ihrer Vielfarbigkeit hoffentlich niemals zur Gänze lexikalisch erfassbar sein wird. Denn jeder Belegeintrag ist auch lesbar als unausgesprochener Aufruf zum Ergreifen des Wortes, zur ›Freidigkeit‹ (Luther), zur ›Redefreiheit‹ im protestantischen Sinne des ›Zeugnis Ablegens‹. Jeder Artikel lädt ein zum lustvollen, spielerischen Weiter-Sprechen, zum wagemutigen Sich-Frei-Sprechen und zum unbefangenen Wahr-Sprechen. (Der Appell ›Deprofessionalisiert euch!‹ stünde also ganz auf der Seite von Luthers Ruf zur Wiedereinsetzung des Laien als dem, dem das erste Recht im Haus der Sprache zusteht). Sobald Sprache nur noch als verwaltbares System bzw. System zur Verwaltung erlebbar ist, wenn sie erst beliebig einsetzbar geworden ist als angewandte Wissenschaft, als Kommunikationstechnologie, Nachrichten- und Propagandainstrument, dann spätestens ist bedroht, was Ivan Illich das gewöhnliche »vernakuläre Sprechen«2 nannte. Die Dimension der Sprache als Lebensquell, als körperliches Residuum, als bewohnbare zweite Haut, beginnt dann zu verblassen. Ihrer ›anthropologischen Dimension‹ ist unter solchen Umständen gar nicht ansichtig zu werden. So kann es geschehen, dass ›der Mensch‹ – eingeschlossen in Fachsprachen, eingebettet in Expertenjargons – als solcher gar nicht mehr hervorzutreten vermag. Wenn es dann noch frisch gebürsteter orwellscher »Neusprech« ist, der ihn einnimmt, ihn mit der sanften Gewalt besorgter ›Pflege‹ und ›Mildtätigkeit‹ einlullt, dann wird ein Entkommen aus dieser Sprachhülle kaum mehr möglich sein. Allein um überhaupt sagen zu können, wie bitter so ein süßer Brei weichgespülter Vokabeln schmecken kann, gehört schon die Sprachmacht einer veritablen Journalistin wie Barbara Ehrenreich3 dazu. Ehrenreich musste nicht allein die Diagnose ›Krebs‹ verarbeiten, unendlich viel schwerer fand sie es dagegen, sich den wohlmeinen-
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den Sprüchen, dem Trommelfeuer des billigen Trostes zu entwinden, wie er aus dem Mund der ›Profis‹ und der ›guten Freunde‹ nahezu pausenlos auf sie niederging, um ihr eine »positive Grundhaltung« aufzunötigen. Auf »Smile or Die!«, »Lächle oder Stirb!«, hat sich die Alternative zugespitzt, die ihr der umsorgte Neusprech hat »aufzwingen« wollten. So trägt denn auch die professionell durchgeführte Kommunikation, die technisierte Ansprache durch eine Armee beflissener Dienstleister, Coaches und Ratgeber, dazu bei, dass sich das Empfinden der Hilfsbedürftigkeit und »Therapiebedürftigkeit« ausbreiten muss, bis dahin, dass viele »keinen Schritt mehr ohne Expertenhilfe« zu tun wagen, wie Frank Böckelmann in ›seinem‹ Wörterbuch von 20114 darstellt. Die Bereitschaft, ›im Ernst‹ den Mund aufzutun und für sein Wort ›einzustehen‹, wird wohl künftig zur Rarität werden. Das »Regime der Ratgeber« herrscht flächendeckend. Von der Geburt bis zum Sterben können mittlerweile alle Lebensbereiche »an Effizienz-Trainer verpachtet« werden. Seien es »Atmen, Sprechen, Essen, Schlafen, Lernen, Arbeiten, Kooperieren, Altern, Streiten, Gehen, Verstehen, Einander-Näherkommen, Zusammenbleiben und auch die Trennung«. Trifft diese Beschreibung einer »fürsorglichen Belagerung« (Heinrich Böll)5 zu, so steckten wir alle miteinander im selben akademistisch-ökonomistischen »Sprachgefängnis«, dessen Wände täglich dichter vorrücken. Wir hätten uns, wie auch Illich6 formuliert, als in einem gemeinsamen »Sprachknast« sitzend zu entdecken, ähnlich den Insassen einer beckettschen Vorhölle. In dieses Netz oder Zwischenreich bekanntlich, kann man zwar unversehens hineingeraten, nicht aber leichthin wieder herausfinden. Im Ergebnis lässt die restlose »Ökonomisierung des Alltagslebens« Sprechen generell entbehrlich werden. Bare Zahlung genügt. Und selbst die gehört eigentlich schon der Vergangenheit an. Mit dem 01.01.2016 führen die Supermärkte nach und nach das »kontaktlose Zahlen« ein … Meines Erachtens sind die ausschlaggebenden historischen Stationen, die derart haben ›mundtot‹ machen können, noch lange nicht zu Ende erzählt und auch nicht gültig auf den Begriff gebracht. Wie sich also die Versorgungs-Industrie zum Sorge-System des Care-Kapitalismus zusammenschließen konnte und sich darüber hinaus zur allumfassenden Wohlfühl-Matrix vernetzen konnte, der auch nicht mehr das geringste Moment des Unwohlseins eines potentiellen Kunden entginge, das nicht augenblicklich seine passgenaue Warenantwort zu finden wüsste … Nicht
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allein der spezielle deutsche Sprachunterricht mit seiner Verpflichtung auf (schlechtes) Schrift-Deutsch, den Ulrich Sonnemann als wesentliche »Schule der Sprachlosigkeit« 7 ausgemacht hat, ist dafür verantwortlich zu machen. Aber er hat seinen Teil dazu beigetragen und tut es bis heute. Sicher ist nur: Der grassierende Sprachverlust ist nur als Endphase eines Jahrhunderte andauernden Vorlaufs zu begreifen. Das Ärgste ›ist‹ längst passiert. Höchstens ›nachträglich‹, wie es nach der Französischen Revolution der Fall war, ließen sich die Schreckenswörter im Wörterbuch katalogisieren. Die kritische Schwelle, an der die Sprachnot zu wenden gewesen wäre, liegt hinter uns. Deswegen hilft Kritik nicht mehr. Auch radikale nicht. Zumal sie von Intellektuellen wie Adorno, Sonnemann oder Günther Anders in geradezu unübersteigbarer Weise bereits geleistet worden ist. Und auch die schärfste Satire muss dann daneben langen, wo sie nicht wunde Punkte karikieren kann, sondern das ganze Ausmaß des Verlusts an Menschlichkeit darzustellen hätte und damit etwas, was sie nicht leisten kann. Eher wäre die »Beredsamkeit des Schweigens« 8 angebracht: beredtes, öffentliches, »begründetes, gewähltes Schweigen« (Illich). Hochkarätige Kabarettisten der Gegenwart wie Georg Schramm oder Hagen Rether ziehen eben diese Konsequenz. Sie verstummen demonstrativ oder schalten auf radikalen Ernst um und bieten Programm ›ohne Pointe‹. Einen Weg, den auch einige der sprachmächtigsten deutschen Autoren der letzten Jahre (Journalist Horst Stern etwa oder Publizist Gerd-Klaus Kaltenbrunner) beschritten haben. Womöglich ist uns die Möglichkeit zur Ernsthaftigkeit bereits genommen?! Eingeschlossen in einer kruden Sprache der Tatsächlichkeit, die nichts mehr zu sagen übrig lässt, in der multimediale Bilder das Sagen übernommen haben, in der die ›Sorge‹ allenfalls um reibungsloses ›Funktionieren‹ geht, sind menschliche Belange, der Ernst des Lebens, die conditio humana, nicht länger sagbar. Als prominenten Zeugen für diese tiefe Korrumpierung, die das gewöhnliche Sprechen befallen hat, ließe sich Pier Paolo Pasolini anführen, der in den 1970er Jahren Woche für Woche, ähnlich wie Viktor Klemperer in den 1930ern den grassierenden Sprachverfall seinem Tagebuch anvertraute, die Kolumnen der italienischen Zeitungen füllte. Der strenge Katholik, Marxist, Poet, Regisseur, der ungeliebte Sohn seines Landes, der 1975 unter ungeklärten Umständen ermordet wurde, war zugleich ein glühender Liebhaber des Lebens, dessen Ohr offen war für die Sprache der kleinen Leute und den brutal-ehrlichen Gassenjargon der Jungs von
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der Straße (raggazzi di vita). Daher auch seine Briefe an den fiktiven Jugendlichen »Genariello«. Gleich wohin Pasolini sich wendet, ob in Reichen- oder in Armen-Ghettos, trifft er auf das gleiche Paradoxon der »fließend« beherrschten Hochsprache bei gleichzeitiger »Aphasie«, das heißt auf mangelnden »Mut« als auch die »Fähigkeit zu sprechen« – zu sprechen, dort wo es darauf ankommt.9 Es regiert der völlige Pragmatismus, der »weder Erwiderungen, noch Alternativen, noch Widerstand« kennt. Der alles Körperliche und Handwerkliche aus dem alltäglichen Umgang tilgt, so dass Pasolini nur bleibt, »einen der tiefstgehenden Generationenbrüche« zu registrieren, »den die Geschichte kennt«. Wir stünden demnach vor einer »anthropologischen Mutation«, einem Abbruch, einem Vakuum, einer Situation ohne Vorbild. (Pasolini gibt allerdings an dieser Stelle die Empfehlung: »Lies wenigstens die ersten Seiten von Illichs Selbstbegrenzung«). Späterhin gehören auch Jean-Francois Lyotard und mit ihm die französischen postmodernen Denker, als deren Hauptvertreter er gilt – Michel Foucault, Jean Baudrillard, Paul Virilio u.a. – zu den aufmerksamen Protokollanten, die »die Verwandlung der Sprache in eine produktive Ware« mitverfolgt haben. Ist aber Sprache erst zum geschmeidigen Warenwirtschaftssystem mutiert, erübrigen sich alle weiteren Diskussionen, Ideologien, Meinungsstreitereien. Für ihr eindimensionales Funktionieren genügt dann der bloße Verkehr, der Betrieb, der Umsatz, die Sprache des baren Geldes. Sprache wäre demnach spätestens in den 1980er Jahren auf ihrer Nullstufe angekommen. Was sie einzig noch zu ihrem Bestand benötigt, sind »Gehirne. Mehr nicht. Jedenfalls keine Menschen.«10, womit sich auch die Funktion des kritischen Intellektuellen erübrigt hat. Er darf getrost abdanken, sich deprofessionalisieren. Was Lyotard mit seiner »Grabinschrift eines Intellektuellen« denn auch ratifiziert hat und mit seinem Ableben (1998) bestätigt hat. Nach wie vor ist dies der (postmoderne) Stand der Dinge, wonach »rasender Stillstand« (Virilio), Non-StopGetwitter, mit dem Austritt aus allem Geschichtlichen, mit dem »Ende der Geschichte« zusammenfällt. Mag sein, dass sich Schulen und Pflegeeinrichtungen etwas länger vor dem Einzug der Sprache der Allesverwertung haben bewahren lassen. Doch diese Zeit ist vorbei. Das Globalesisch der Plastikwörter dringt in jede Ritze vor, verwandelt alles historisch Gewordene in Gleich-Gültiges. Alles, was einmal Worte, Träume, Bilder, Taten, Menschen waren, transformiert sich in digitalen ›Stoff‹, in ›Code‹, um zuletzt im universalen ›Content‹ aufzugehen. Endlos recycelbar, end-
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los verwertbar als bloßer Inhalt. Mit oder ohne Sprachausgabe? Das kostet nur einen Switch. Bitteschön! Noch ein Problem? Drücken sie Enter … Angesichts der zitierten ›besten‹ Autoren wie Böckelmann, Pasolini oder Lyotard, wird noch einmal um ein paar Grade deutlicher, auf welch anderen Spuren Rosenstock-Hussey oder Ivan Illich unterwegs gewesen sind und wie weit sie die anstehenden Zeitdiagnosen längst vorweggenommen und für ihre Person überwunden haben. Für Rosenstock-Huessy (1888-1973), den Peter Sloterdijk nicht ohne Grund den »bedeutendsten Sprachphilosophen des 20. Jahrhunderts«11 nennt, sind sein Hintergrund als Rechtshistoriker und seine Teilnahme am Ersten Weltkrieg zentrale Anstöße gewesen, die ihn besonders haben aufmerksam werden lassen für die verschiedenen ›Ebenen‹ des Sprechens; für dramatische Situationen, in denen – historisch oder biographisch – jeweils gesprochen werden ›musste‹. Nicht kunstvolle Rhetorik, nimmermüdes Tagesgeschwätz oder das technische Kommunizieren unter Automaten haben ihm Sprache bedeutet. Schließlich ist es nicht ein mehr oder weniger elaborierter ›Wortschatz‹, der darüber entscheidet, ob jemand gerade spricht oder ob er gerade Phrasen drischt. Wohl aber macht es einen Unterschied, ob es eine Kriegserklärung oder ein Hochzeitsversprechen ist, das abgegeben wird. Ob ein Kind babbelt oder ein Richter Recht spricht. Um die Stufen des Sprechens ist es ihm zu tun, wie sie im Deutschunterricht als der »Schule der Sprachlosigkeit« (s.o.) gar nicht erst vorkommen. Die Phasen, in denen historisch gesprochen worden ist, fallen mehr oder weniger zusammen mit den Phasen, in denen verbindlich und vor Zeugen ›Recht‹ gesprochen wurde. Anlässe, bei denen ›im Ernst‹ das Maul aufgemacht werden musste. In denen nicht nur Bekanntes ›kommuniziert‹, vorhandene Gesetze ›umgesetzt‹, sondern ›Neues‹ angesagt sein wollte. Es könnte sein, dass es Rosenstock aus diesem ›verlorenen Geheimnis der Sprache‹ heraus möglich gewesen ist, derart zutreffende und geradezu prophetische Äußerungen zu treffen, dass sie erst heute in ganzem Umfang ›zünden‹. Unter der Überschrift »Funktionieren oder Sprechen?« beschreibt er im Jahr 194612 die »prostituierte Leerlaufsprache«, die unsere »sprachlich arme Zukunft« bestimmen wird als »das große Interim«, das dazu verurteilt ist, in »Tausenden von Ereignissen«, in »zusammenhanglosen Tatsachen« zu versinken; Themen der Postmoderne also, ganz so, als sei er Zeitgenosse von heute. Demnach befänden wir uns in einer Aus-Zeit,
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einer aus dem Kontinuum herausgefallenen Zwischenzeit, die notwendig beherrscht ist von Dauerkrise und Daueralarm. Die notorische Verwechslung von »Worten oder Namen?«, wie das folgende Kapitel überschrieben ist, führt nach Rosenstock ins »Chaos« und lässt die »Verbindung des modernen Menschen zum Wort« bankrott gehen. »Eine Hölle, die so gut funktioniert wie die Weltkriege, wird uns nicht entrinnen lassen, es sei denn, wir fänden neue Worte, neue glaubensvolle Namen, noch nicht gehörte Töne der Hoffnung, mit denen wir uns gegenseitig anrufen können. Ein pfingstlicher Geist ist unmittelbare politische Notwendigkeit geworden, denn wir müssen einander mehr zu sagen haben als der ›Kampf ums Dasein«. Das Überleben auf »dem planetarischen Horizont einer kleinen Erde« hängt daran, dass wir nicht in »Panik« verfallen und »dadurch zu überleben versuchen, dass wir den Nächsten abwürgen«. Das »Land eines allgemeinen Überlebens« lässt sich nicht erreichen über »Verkünder« und »Parteitrommler«, auch nicht über eine »neue Garnitur von Worten«, wie Amerikas berühmtester Pädagoge John Dewey propagiert, sondern »nur auf den Fittichen neuer Namen«. Verpflichtende Namen stehen über den Worten, die »wie Blechmarken« vernutzt werden. Bessere liberale »Ausdrucksweisen« genügen daher nicht. Sie tangieren nicht einmal ein System, das »Kranke isoliert« und den Tod »nicht sichtbar« werden lässt. Daher klingen sie so »hohl und unpersönlich, so abstrakt wie ihre Wissenschaften« und wie der von seiner Liberalität überzeugte John Dewey selber, der sich erlaubt, »von seiner und unserer Sprache eben so« zu sprechen, »wie wir von einer Kücheneinrichtung sprechen oder von irgendwelchen Gegenständen, die man in einem billigen Warenhaus kaufen kann.« Die Sätze sollen für sich stehen. Man könnte seitenweise fortfahren, wobei ein Satz aktueller wirken würde als der andere. Rosenstock, so darf man sagen, hat mit seiner »Lehre vom Sprechen« das Tor zu einem vergessenen Kontinent des Sprechens aufgestoßen. Das Reich der »Mündlichkeit«, das darin zu Tage tritt, könnte sich künftig als essentiell und unverzichtbar erweisen. Namen, als oberste Schicht der Sprache, spielen darin die Hauptrolle. Rosenstocks eigener könnte einer der bestimmenden sein. Zumal Rosenstock als akademischer Lehrer junge Wissenschaftler auf entsprechende Forschungswege gelotst hat, so z.B. Walter J. Ong, aus dessen Feder das maßgebliche Standardwerk zu »Mündlichkeit und Schriftlichkeit« stammt.
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Gleichauf mit ihm wäre auch der Name Illichs zu nennen, der nicht weniger intensiv als ein eminent ›mündlicher‹ Mensch unterwegs gewesen ist und Forschungen angestoßen hat, die geeignet sind, tausend Jahre Mündlichkeit wieder neu ans Licht zu heben. Allein schon der Hinweis auf die »lingua romana«13, die »tausend Jahre lang« gesprochen wurde, also »viel länger Bestand hatte als die lateinische Sprache«, mag eine Ahnung davon vermitteln, wie riesig sich der Komplex unserer eigenen europäischen Geschichte ausnimmt, der uns ›entfallen‹ ist und derart ins historische ›Unbewusste‹ hat absacken können, dass nur noch ein paar entlegene Lexika überhaupt davon Auskunft zu geben vermögen. Und doch ist es diese gewöhnliche vernakuläre ›Zunge‹ gewesen, lange bevor sich Nationalstaaten gründeten und mit ihnen nationale ›Hochsprachen‹ als »voneinander abgegrenzte Käfige«, die die Verständigung und den Frieden unter den Menschen gedeihen ließ. Daran ließe sich anknüpfen. Das sollte hoffnungsfroh stimmen. Die Wurzeln der Worte sind nicht völlig gekappt. Ihr Quellgrund lässt sich im stillen Studium wiederfinden. Worte lassen sich in einem Bad des Schweigens heilen. Wenn ›Recht‹ gesprochen wird, wenn namentlich und verbindlich aufrichtig gesprochen wird, im offenen, tastenden Gespräch, da werden sie sich erneuern. Denn man darf gewiss sein: »Die Sprache ist weiser als der, der sie spricht«. – »Die lebendige Volkssprache überwältigt allemal das Denken des einzelnen Menschen, der sie zu meistern wähnt; sie ist weiser als der Denker, der selbst zu denken meint, wo er doch nur ›spricht‹, und damit der Autorität des Sprachstoffs gläubig vertraut; sie leitet seine Begriffe unbewusst zu einer unbekannten Zukunft vorwärts.«14
Anmerkungen 1 | Eugen Rosenstock-Huessy hat hierzu unter dem Titel »Jacob Grimms Sprachlosigkeit« einen seiner Meisteraufsätze vorgelegt. Enthalten in: Das Geheimnis der Universität, Stuttgart: Kohlhammer 1958. 2 | Illich, Ivan: Genus. Zu einer historischen Kritik der Gleichheit, München: Beck 1995 (1983), S. 90. 3 | Ehrenreich, Barbara: Smile or Die. Wie die Ideologie des positiven Denkens die Welt verdummt, München: Kunstmann Verlag 2010. 4 | Böckelmann, Frank: Risiko, also bin ich. Von Lust und Last des selbstbestimmten Lebens, Berlin: Galiani Verlag 2011, S. 16, 291. Vgl. auch Böckelmanns »Jargon
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der Weltoffenheit. Was sind unsere Werte noch wert?«, Waltrop, Leipzig: Manuskriptum 2014. 5 | Böll, Heinrich: Fürsorgliche Belagerung. Roman. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1979. 6 | So in: Illich, Ivan/Sanders, Barry: Das Denken lernt schreiben, Hamburg: Hoffmann und Campe 1988. 7 | Sonnemann, Ulrich: Schulen der Sprachlosigkeit. Deutschunterricht in der Bundesrepublik, Hamburg: Hoffmann und Campe 1970. 8 | Illich, Ivan: Klarstellungen. Pamphlete und Polemiken, München: Beck 1996. S. 90. 9 | Pasolini, Pier Paolo: Lutherbriefe. Aufsätze, Kritiken, Polemiken, Wien, Bozen 1996 (1976), S. 11, 37, 41, 68, 54. Ähnlich dazu auch Pasolinis »Freibeuterschriften«, Berlin: Wagenbach 1978 (1975). 10 | Lyotard, Jean-François: Grabmal des Intellektuellen, Graz: Passagen Verlag 1985, S. 84. 11 | Dankrede anlässlich der Verleihung des Sigmund-Freud-Preises der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung am 05.11.2005 in Darmstadt. 12 | Rosenstock-Huessy, Eugen: Des Christen Zukunft oder Wir überholen die Moderne, München: agenda 1955 (1946). Die Zitate stammen aus dem ersten Kapitel »Das große Interim«. 13 | So in Illich, Ivan/Sanders, Barry: Das Denken lernt schreiben, Hamburg: Hoffmann und Campe 1988. Bes. Kapitel IV. Übersetzung und Sprache. Vgl. auch Illichs »Schule ins Museum. Phaidros und die Folgen. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 1984.« und »Im Weinberg des Textes, Frankfurt a.M.: Luchterhand 1991.« 14 | Rosenstock-Huessy, Eugen: Ostfalens Rechtsliteratur unter Friedrich II. Texte und Untersuchungen, Weimar: Hermann Böhlaus Nachfahren 1912, S. 144.
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Autoren
Arney, William Ray ist Mitglied der Fakultät für Soziologie des »EVERGREEN STATE COLLEGE« von Olympia, Washington, USA. Zu seinen Werken gehören: Experts in the Age of Systems, Medicine and the Management of Living: Taming the Last Great Beast (with Bernard J. Bergen) und Educating for Freedom: The Paradox of Pedagogy (with Donald L. Finkel). Bartosch, Hans, geb. 1962 und aufgewachsen in der Schimanski-Stadt Duisburg, evangelischer Pfarrer, Stabstelle Diakonie und Ethik, Pfeiffersche Stiftungen Magdeburg. Brenssell, Ariane, Diplom-Psychologin, Kritische Psychologin und Politikwissenschaftlerin, Professorin für Diagnostik und Intervention an der Fakultät Soziale Arbeit der Ostfalia Hochschule Braunschweig/Wolfenbüttel. Langjährige Arbeit bei Lara, dem Berliner Krisenzentrum für Frauen, die vergewaltigt wurden. Aktuelles Projekt: partizipative Forschung zusammen mit dem Bundesverband Frauenberatungsstellen und Notrufe: »Kontextualisierte Traumaarbeit in der Arbeit gegen Gewalt an Frauen«. Esteva, Gustavo ist ein unabhängiger Schriftsteller und öffentlich wirkender Intellektueller. Er hat viele Bücher und Essays verfasst, er ist Kolumnist bei einer einflussreichen mexikanischen Zeitung (»La Jornada«) und schreibt gelegentlich für »The Guardian«. Er berät die Zapatistas in ihren Verhandlungen mit der Regierung. Er lebt in dem kleinen indigenen Dorf Oaxaca (Südmexiko). Er arbeitet mit dem Centro de Encuentros y Diálogos Interculturales, der Boden-Universität in Oaxaca, zusammen, die er mitgegründet und konzipiert hat.
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Entprofessionalisieren wir uns!
Feinig, Willibald, geboren in Kärnten, Studium der Germanistik, Romanistik und Theologie in Wien und Salzburg, seit 1979 in Vorarlberg, bis 2011 Lehrer. Autor. Gronemeyer, Marianne, geb. 1941 in Hamburg. Studium der Erziehungswissenschaft, Musik, Sozialwissenschaften in Hamburg, Mainz und Bochum. Em. Professorin für Erziehungs- und Sozialwissenschaften an der Fachhochschule Wiesbaden. Arbeitsschwerpunkte: Wachstums- und Konsumkritik, Bildungspolitik. Gronemeyer, Reimer, geb. 1939 in Hamburg. Studium der Theologie und Soziologie, seit 1975 Professor für Soziologie an der Justus-Liebig-Universität in Gießen. Forschungen im Südlichen Afrika und zum Thema Alter/ Demenz. Heindl, Bernhard, geb. 1947 im unteren Mühlviertel. Seit 1973, nach dem Studium der Philosophie in Wien, wohnhaft zusammen mit seiner Frau im oberen Mühlviertel, erfüllt vom Bestreben, eben da ein ›gutes Leben‹ bis zum Ende zu führen. Jandrisovits, Margit, geb. 1957 in Wimpassing/Leitha, Österreich. Studium der Anglistik und Germanistik an der Universität Wien. Lehrtätigkeit an verschiedenen Schulen und in der Erwachsenenbildung. Langjährige Mitarbeit im Europahaus Burgenland. Jurk, Charlotte, Sozialarbeiterin und Sozialwissenschaftlerin, Arbeitsschwerpunkt: Kritik an Medikalisierung, Pathologisierung und Therapeutisierung des Lebens. Zur Zeit Vertretungsprofessur an der Hochschule Ludwigshafen, Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit. Kerkovius, Thile, geb. 1950 in Usingen, Hessen. Diplom-Pädagoge (Schwerpunkt Sozialpädagogik), psychotherapeutische Ausbildungen. War 19 Jahre Leiter des Hauses Maria Frieden, einem Hospiz im Schwarzwald für krebs- und aids-kranke Menschen. Seit Oktober 2012 im Ruhestand. Seminar- und Vortragstätigkeit. Riehl, Günther W., geb. 1953, ist nach Studium der Kunstgeschichte (MA) tätig als
selbstständiger Buchhändler und grafischer Gestalter. Er enga-
Autoren
giert sich für den
Naturschutz und ist gelegentlich publizistisch aktiv, meist mit öffentlichen Vorträgen. Samerski, Silja ist sowohl Biologin als auch promovierte Sozialwissenschaftlerin und analysiert moderne Mythen, wie z.B. den Glauben an informationstragende Gene, an Gesundheit durch Medizinkonsum, an Selbstbestimmung als Dienstleistungsprodukt oder an Wissen durch Big Data. Derzeit forscht sie an der Universität Bremen zur Digitalisierung des Gesundheitswesens sowie zu diversity und Gesundheitspraktiken. Schandl, Franz, geb. 1960 in Eberweis, Niederösterreich. Studium der Geschichte und Politikwissenschaft, Dr. phil. Lebt als Historiker und Publizist in Wien, Herausgeber der Zeitschrift Streifzüge (www.streifzuege. org). Schultz, Oliver, geb. 1966, Germanist und Bildender Künstler, leitet seit 15 Jahren künstlerische Gruppen für Menschen mit Demenz im RheinMain Gebiet. In Ausstellungen, Vorträgen und Fortbildungen berichtet er von der eigenständigen und anregenden Kunst von Menschen mit Demenz. Als Doktorand am für Institut Palliative Care und Organisationsethik der Alpen-Adria Universität Klagenfurt, IFF Wien forscht er über Ästhetik und Demenz. Zimmermann, Beate, geb. 1949, Studium der Medizin, niedergelassen
in eigener Praxis. Mitbegründerin des Genarchivs und des Patientenvereins Impatientia e.V.; Mitarbeit bei der Ausbildung von Gesundheitspromotoren in Chiapas/Mexiko.
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Dank
Für die Fertigstellung dieses Buches danken wir Anne Zulauf, die mit bewundernswerter Genauigkeit, Geduld und Kompetenz die Texte lektoriert hat. Ohne den Kontext der Stiftung Convivial wäre dieses Buch nicht zustande gekommen. Wir danken auch dem transcript Verlag dafür, dass dieses Buch in das Programm des Verlages aufgenommen wurde. Christian Petzold danken wir dafür, dass er das Foto für den Umschlag zur Verfügung gestellt hat. Und natürlich danken wir den Autorinnen und Autoren, die sich des schwierigen Themas angenommen haben, besonders Marianne Gronemeyer, deren Kontakte zu William Ray Arney und Gustavo Esteva die Voraussetzung dafür waren, dass sie zu diesem Buch beigetragen haben. Charlotte Jurk und Reimer Gronemeyer
Soziologie Uwe Becker Die Inklusionslüge Behinderung im flexiblen Kapitalismus 2015, 216 S., kart., 19,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3056-5 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3056-9 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3056-5
Gabriele Winker Care Revolution Schritte in eine solidarische Gesellschaft 2015, 208 S., kart., 11,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3040-4 E-Book: 10,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3040-8 EPUB: 10,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3040-4
Johannes Angermuller, Martin Nonhoff, Eva Herschinger, Felicitas Macgilchrist, Martin Reisigl, Juliette Wedl, Daniel Wrana, Alexander Ziem (Hg.) Diskursforschung Ein interdisziplinäres Handbuch (2 Bde.) 2014, 1264 S., kart., 2 Bde. im Schuber, zahlr. Abb. 44,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-2722-0 E-Book: 44,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2722-4
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Soziologie Silke Helfrich, Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.) Commons Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat 2014, 528 S., kart., 24,80 € (DE), ISBN 978-3-8376-2835-7 als Open-Access-Publikation kostenlos erhältlich E-Book: ISBN 978-3-8394-2835-1
Carlo Bordoni Interregnum Beyond Liquid Modernity März 2016, 136 p., 19,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3515-7 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3515-1 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3515-7
Kijan Espahangizi, Sabine Hess, Juliane Karakayali, Bernd Kasparek, Simona Pagano, Mathias Rodatz, Vassilis S. Tsianos (Hg.)
movements. Journal für kritische Migrationsund Grenzregimeforschung Jg. 2, Heft 1/2016: Rassismus in der postmigrantischen Gesellschaft September 2016, 272 S., kart. 24,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3570-6 als Open-Access-Publikation kostenlos erhältlich: www.movements-journal.org
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