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German Pages 332 Year 2012
Veröffentlichungen des Walther-Schücking-Instituts für Internationales Recht an der Universität Kiel
Band 180
Enforced Disappearances und EMRK Von
Sara Jötten
Duncker & Humblot · Berlin
SARA JÖTTEN
Enforced Disappearances und EMRK
Veröffentlichungen des Walther-Schücking-Instituts für Internationales Recht an der Universität Kiel In der Nachfolge von Jost Delbrück herausgegeben von T h o m a s G i e g e r i c h und K e r s t i n O d e n d a h l Walther-Schücking-Institut für Internationales Recht
180
Völkerrechtlicher Beirat des Instituts: Christine Chinkin London School of Economics
Eibe H. Riedel Universität Mannheim
James Crawford University of Cambridge
Allan Rosas Court of Justice of the European Communities, Luxemburg
Lori F. Damrosch Columbia University, New York Vera Gowlland-Debbas Graduate Institute of International Studies, Geneva Rainer Hofmann Johann Wolfgang GoetheUniversität, Frankfurt a.M. Fred L. Morrison University of Minnesota, Minneapolis
Bruno Simma International Court of Justice, The Hague Daniel Thürer Universität Zürich Christian Tomuschat Humboldt-Universität, Berlin Rüdiger Wolfrum Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg
Enforced Disappearances und EMRK Von
Sara Jötten
Duncker & Humblot · Berlin
Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel hat diese Arbeit im Wintersemester 2010/2011 als Dissertation angenommen.
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© 2012 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Fremddatenübernahme: Process Media Consult GmbH, Darmstadt Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 1435-0491 ISBN 978-3-428-13724-4 (Print) ISBN 978-3-428-53724-2 (E-Book) ISBN 978-3-428-83724-3 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2010/2011 von der Juristischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel als Dissertation angenommen. Die berücksichtigte Rechtsprechung und Literatur befinden sich weitgehend auf dem Stand vom Oktober 2011. Mein Dank gilt zunächst meinem Doktorvater, Prof. Andreas Zimmermann. Bereits im zweiten Studiensemester hinterließ sein juristischer Scharfsinn bei mir großen Eindruck und ich danke ihm für die interessante und unkomplizierte Zeit, die ich als wissenschaftliche Mitarbeiterin für ihn arbeiten konnte. Prof. Thomas Giegerich übernahm die Erstellung des Zweitgutachtens und ich möchte ihm für die darin und in persönlichen Gesprächen erteilten Anregungen und Hinweise danken. Gleichfalls möchte ich Prof. Giegerich und Prof. Kerstin Odendahl als Direktoren des Walther-Schücking-Instituts für Internationales Recht (WSI) meinen Dank für die Aufnahme in die Schriftenreihe des WSI sowie die Gewährung eines Druckkostenzuschusses aus den Mitteln der Gesellschaft zur Förderung der Forschung und Lehre am WSI aussprechen. Den „WSIlern“, und hier sei namentlich nur Uschi (Dr. Ursula Heinz) als unsere Institutsmitte genannt, möchte ich dafür danken, dass ich in Kiel bereits als Hiwi eine akademische Heimat fand, die mich während der Promotion stützte und zu begeistern vermochte. Aus dem WSI stammt auch die Idee für die vorliegende Promotion, die aus einem auf einen Schmierzettel gekritzelten Vorschlag von Prof. Christian Tams hervorging und in Gesprächen mit Tobias Thienel schließlich Gestalt annahm. Unterstützung erfuhr ich auch von Seiten meiner Familie und Freunde. Ich danke von Herzen meiner Mutter, Gabi Jötten, die mir diese Promotion nicht nur finanziell ermöglicht hat, meinem Bruder, Söre Jötten, und meinem Mann, Felix Machts, die immer Vertrauen in mich hatten. Söre, Felix und Anne Pardon haben mir außerdem durch das Korrekturlesen der Arbeit sehr geholfen. Die stärkste Motivation für den Abschluss dieser Arbeit ging von der in die Promotionszeit fallenden Geburt meines Sohnes aus, dem ich diese Arbeit widme. Hamburg, im November 2011
Sara Jötten
Inhaltsverzeichnis Kapitel 1 Einleitung
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A. Das Verschwindenlassen von Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 I. Ablauf der Fälle des Verschwindenlassens und die verfolgten Ziele . . . . . . . . . . . 19 II. Weltweite Verbreitung und völkerrechtliche Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 III. Fälle des Verschwindenlassens in Europa und die Rechtsprechung der Konventionsorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 IV. Gründe für die Entwicklung dieser Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 B. Aufgeworfene Probleme und Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes . . . . . . . . 28 C. Gang der Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Kapitel 2 Die Rechte und Freiheiten der Konvention in Fällen des Verschwindenlassens
33
A. Überblick über die relevanten Rechte und Freiheiten der Konvention . . . . . . . . . . . . . 33 I. Die Entwicklung der Rechtsprechung der Konventionsorgane . . . . . . . . . . . . . . . . 34 1. Die vermissten Personen in Nordzypern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 2. Die Rechtsprechung zur südöstlichen Türkei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 3. Die Rechtsprechung in Bezug auf Tschetschenien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 4. Überblick über die relevanten Konventionsbestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . 42 a) Art. 2 (Recht auf Leben) EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 b) Art. 5 (Recht auf Sicherheit und Freiheit) und 13 (Recht auf eine wirksame Beschwerde) EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 c) Art. 3 (Verbot der Folter) und 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 d) Art. 4 (Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit) und 14 (Diskriminierungsverbot) EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44
8
Inhaltsverzeichnis e) Art. 6 (Recht auf ein faires Verfahren) EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 II. Die relevanten Rechte und Freiheiten in der weiteren Praxis und Literatur . . . . . 46 1. Menschenrechtsausschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 2. Inter-amerikanischer Gerichtshof für Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 3. Menschenrechtskammer für Bosnien-Herzegowina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 4. Ansichten in der Literatur zu den anwendbaren Menschenrechten . . . . . . . . . . 55 III. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57
B. Einzelne relevante Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 I. Die Verletzung der Beschwerdeführer in ihren Rechten und Freiheiten . . . . . . . . 60 1. Die relevante Rechtsprechung der Konventionsorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 a) Art. 3 EMRK: Das seelische Leiden der Angehörigen . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 b) Keine Verletzung von Art. 8 EMRK und eines Rechts auf Wahrheit . . . . . . 66 2. Wertende Betrachtung der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 a) Keine Erweiterung des Opferkreises über Angehörige hinaus . . . . . . . . . . . 68 b) In Hinblick auf Art. 3 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 aa) Das durch die speziellen Faktoren bestimmte familiäre Verhältnis . . . . 72 bb) Die relevante Verletzungshandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 c) In Hinblick auf Art. 8 EMRK und auf ein Recht auf Wahrheit . . . . . . . . . . . 77 aa) Auslegung von Art. 8 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 bb) Verhältnis zu Art. 3 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 d) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 II. Das relevante Pflichtenspektrum: „positive obligations“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 1. Ermittlungspflichten: „to investigate“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 a) In der Rechtsprechung der Konventionsorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 aa) In Bezug auf Art. 2 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 bb) In Bezug auf Art. 3 und 5 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 b) In anderen Menschenrechtsschutzsystemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 aa) Rechtsprechung des IAGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 bb) Praxis des Menschenrechtsausschusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 cc) Rechtsprechung der Menschenrechtskammer für Bosnien-Herzegowina 95
Inhaltsverzeichnis
9
c) In der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 d) Abschließende Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 aa) Zusätzliche Prüfung einer Verletzung der Ermittlungspflichten . . . . . . . 98 bb) Die besondere Bedeutung der Ermittlungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . 99 cc) Separate Prüfung und Feststellung der Verletzung von Ermittlungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 dd) Einheitliche Vorgehensweise in Bezug auf die Art. 2, 3 und 5 EMRK . 101 2. Weitere relevante Schutzpflichten: „to prevent/protect“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 a) Eine (präventive) Schutzpflicht in Bezug auf Art. 2 EMRK . . . . . . . . . . . . . 104 aa) Die Entscheidung Osmanog˘lu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 bb) Kritik des Sondervotums an der Entscheidung Osmanog˘lu . . . . . . . . . . 106 cc) Die weitere Entwicklung in der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 dd) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 b) Positive Pflichten in Bezug auf Art. 5 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 c) Positive Pflichten in Bezug auf Art. 3 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 III. Das Recht auf eine wirksame Beschwerde: Art. 13 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 1. Die Rechtsprechung zu Art. 13 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 a) Anknüpfungspunkt von Art. 13 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 b) Anforderungen an die Beschwerde nach Art. 13 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . 114 c) Das Verhältnis von Art. 13 EMRK zu Ermittlungspflichten aus anderen Konventionsrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 2. Wertende Betrachtung der Rechtsprechung zu Art. 13 EMRK . . . . . . . . . . . . . 119 a) Verhältnis einer Verletzung von Art. 13 EMRK zur substantiellen Verletzung des Konventionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 b) Umfang der Ermittlungspflichten nach Art. 13 EMRK und nach anderen Konventionsrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 c) Anknüpfungspunkt von Art. 13 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 d) Verhältnis von Art. 13 EMRK zu den Ermittlungspflichten . . . . . . . . . . . . . 125 e) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 C. Zusammenfassende Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
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Inhaltsverzeichnis Kapitel 3 Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung in Fällen des Verschwindenlassens
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A. Grundzüge des Beweisrechts im Verfahren vor dem EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 I. Kenntniserlangung von Beweisen durch den EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 1. Aufgaben und Kompetenzen des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 2. Aufgaben und Pflichten der Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 3. Die taktische Last . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 II. Beweismittel und ihre Zulässigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 III. Evaluation der festgestellten Beweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 1. Der Beweiswert indirekter Beweise beziehungsweise von Schlussfolgerungen . 148 2. Vermutungen und ihr Beweiswert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 3. Das Beweismaß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 IV. Die objektive Beweislast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 B. Einzelne relevante Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 I. Das anwendbare Beweismaß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 1. Darstellung der relevanten Praxis der Konventionsorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 a) Die Praxis der ehemaligen Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 b) Die Praxis des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 c) Zusammenfassende Auswertung der Praxis der Konventionsorgane . . . . . . . 162 2. Die Kritik an dieser Praxis der Konventionsorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 a) Die an der Praxis geübten Kritikpunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 b) Möglichkeiten eines geänderten Beweismaßes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 3. Eigener Vorschlag eines geänderten Beweismaßes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 a) Missverständliche Bezeichnung des Beweismaßes „proof beyond reasonable doubt“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 b) Anforderungen des EMRK-Systems an das Beweismaß . . . . . . . . . . . . . . . . 175 aa) Zielsetzung und Systematik der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 bb) Auslegung im Lichte nationaler Rechtsordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 cc) Auslegung im Lichte des übrigen Völkerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177
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dd) Materielle Gewährleistungen der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 c) Abwägung zwischen den Interessen, eine fälschliche Verurteilung oder Nichtverurteilung der beschwerdegegnerischen Partei zu vermeiden . . . . . . 178 aa) Gewicht des Interesses, eine fälschliche Verurteilung zu vermeiden . . . 179 bb) Gewicht des Interesses, eine fälschliche Nichtverurteilung zu vermeiden 180 cc) Abwägung beider Interessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 d) Kein gesteigertes Beweismaß in Fällen schwerer Menschenrechtsverletzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 e) Die Vorhersehbarkeit richterlicher Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 f) Sachverhaltsaufklärung und Kooperationsbereitschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 g) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 II. Beweisrechtliche Folgen einer Inhaftierung oder sonstigen Ausübung staatlicher Kontrolle über das Opfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 1. Entwicklung der relevanten Praxis der Konventionsorgane . . . . . . . . . . . . . . . . 187 a) Die Formulierung aus dem Urteil Aksoy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 b) Die Formulierung aus dem Urteil Velikova . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 c) Verwendung der Formulierungen in Fällen des Verschwindenlassens . . . . . 189 2. Untersuchung dieser Praxis der Konventionsorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 a) Anwendungskonstellationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 b) Die zu ziehenden Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 aa) Die Formulierung aus dem Urteil Aksoy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 bb) Die Formulierung aus dem Urteil Velikova . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 c) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 3. Wertende Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 a) Beweis der Verantwortlichkeit, nicht der Kontrolle beziehungsweise des Verletzungserfolgs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 b) Indiz zu Lasten des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 c) Die objektive Beweislast und das Beweismaß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 aa) Verlagerung der objektiven Beweislast und Beibehaltung des hohen Beweismaßes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 bb) Beibehaltung der Beweislastverteilung und Absenkung des Beweismaßes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 cc) Verlagerung der objektiven Beweislast und Absenkung des Beweismaßes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206
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Inhaltsverzeichnis dd) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 III. Beweisrechtliche Folgen einer Praxis des Verschwindenlassens . . . . . . . . . . . . . . 207 1. Darstellung der relevanten Praxis der Konventionsorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 a) Fälle des Verschwindenlassens gegen die Türkei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 b) Fälle des Verschwindenlassens gegen Russland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 2. Untersuchung dieser Praxis der Konventionsorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 a) Anwendungskonstellationen und vorgesehene Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 b) Dogmatische Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 aa) Keine „echte“ Vermutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 (1) Verlagerung der objektiven Beweislast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 (2) Rechtliche Grundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 bb) Einordnung als Randbedingung einer Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . 218 cc) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 3. Wertende Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 a) Beweiswert der durch die Randbedingung verstärkten Schlussfolgerung . . . 220 b) Die Rechtsprechung des IAGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 c) Fehlende Verantwortlichkeit des Staates für die Entführung/keine Inhaftierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 d) Verlagerung der objektiven Beweislast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 aa) Verlagerung der objektiven Beweislast und Beibehaltung des hohen Beweismaßes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 bb) Beibehaltung der Beweislastverteilung und Absenkung des Beweismaßes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 cc) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 IV. Beweisrechtliche Folgen einer mangelhaften Kooperation des beschwerdegegnerischen Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 1. Die Kooperationspflichten im Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 2. Die relevante Praxis der Konventionsorgane sowie die relevanten Regelungen in der VerfO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 a) Die Praxis der ehemaligen Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 b) Die Praxis des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 aa) Regelungen in der Verfahrensordnung des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 bb) Die Entscheidung Akkum et al. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240
Inhaltsverzeichnis
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cc) Die Entscheidung Tog˘cu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 dd) Die Entscheidungen gegen Russland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 ee) Die Entscheidung Estamirov . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 c) Zusammenfassung der Entwicklung der Rechtsprechungspraxis . . . . . . . . . 246 3. Untersuchung dieser Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 a) Schlussfolgerung als Reaktionsmöglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 b) Die Reaktionsmöglichkeit der Entscheidungen Akkum, Tog˘cu und Estamirov . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 aa) Anwendungskonstellation/prima facie-Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 bb) Die vorgesehene Erklärungslast des Staates/„burden of proof“ . . . . . . . 254 cc) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 4. Wertende Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 a) Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 b) Keine Normierung einer „Vermutungsregelung“ erforderlich . . . . . . . . . . . . 263 c) Abstellen auf einseitiges Vorbringen/prima facie-Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 d) Die objektive Beweislast und das Beweismaß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 aa) Verlagerung der objektiven Beweislast und Beibehaltung des hohen Beweismaßes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 bb) Absenkung des Beweismaßes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 e) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 C. Zusammenfassende Bewertung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 I. Vordringlichste Änderung: Absenkung des Beweismaßes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 II. Alternativ: Verlagerung der objektiven Beweislast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 III. Bedeutung der Vornahme eigener Ermittlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 Kapitel 4 Gegenstand und Inhalt des Urteils in Fällen des Verschwindenlassens
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A. Berücksichtigung einer Praxis des Verschwindenlassens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 I. Das Vorgehen des EGMR in der Entscheidung Bottazzi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 II. Der Begriff der administrativen Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277
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Inhaltsverzeichnis III. Feststellung der Unvereinbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 1. Umfassendere Abbildung der Realität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 2. Effektuierung des Menschenrechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 3. Potentielle Entlastung des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 4. Subjektive Natur des Individualverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 5. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286
B. Die Anordnung konkreter, fallspezifischer Abhilfemaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 I. Die Zulässigkeit der Anordnung konkreter Abhilfemaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . 289 1. Die Rechtsprechung des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 2. Weitgehend Zustimmung in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 3. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 II. Anordnung von Ermittlungen in Fällen des Verschwindenlassens . . . . . . . . . . . . . 293 1. Fehlende Tragfähigkeit der Argumentation des Gerichtshofes . . . . . . . . . . . . . 294 2. Vorzugswürdigkeit der Anordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 III. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 C. Konkrete Abhilfemaßnahmen allgemeiner Art . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 I. Die Rechtsprechung in den Piloturteilsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 II. Ansichten in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 III. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 D. Zusammenfassende Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 Kapitel 5 Abschließende Bewertung und Ausblick
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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 Rechtsprechungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Sachwortregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330
Abkürzungsverzeichnis AJIL Columbia JTL Cornell ILJ Duke JCIL EHRLR EJIL E. L. Rev. Human Rights Survey EuGRZ FILJ GYIL Harvard HRJ HRLJ HRLR HRQ ICLQ IRRC JCL KJ LPICT MJIL Nordic JIL NQHR NVwZ NYU JILP Rev. Trim. Dr. h. SJIL VfZ YJIL ZaöRV ZEuS ZRP
American Journal of International Law Columbia Journal of Transnational Law Cornell International Law Journal Duke Journal of Comparative and International Law European Human Rights Law Review European Journal of International Law European Law Review Human Rights Survey Europäische Grundrechtezeitschrift Fordham International Law Journal German Yearbook of International Law Harvard Human Rights Journal Human Rights Law Journal Human Rights Law Review Human Rights Quarterly International and Comparative Law Quarterly International Review of the Red Cross Journal of Civil Liberties Kritische Justiz The Law and Practice of International Courts and Tribunals Melbourne Journal of International Law Nordic Journal of International Law Netherlands Quarterly of Human Rights Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht New York University Journal of International Law and Politics Revue Trimestrielle des Droits des l‘homme Stanford Journal of International Law Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte The Yale Journal of International Law Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Zeitschrift für europarechtliche Studien Zeitschrift für Rechtspolitik
Kapitel 1
Einleitung Das Verschwindenlassen von Personen galt lange als ein lateinamerikanisches Phänomen, das mit den Schrecken der Militärdiktaturen der sechziger, siebziger und achtziger Jahre in dieser Region verknüpft war. Mit dem europäischen Rechtsraum der Nachkriegszeit wurde es in der öffentlichen Wahrnehmung nicht verbunden. Diese Einschätzung hätte allerdings bereits in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts revidiert werden müssen. Spätestens zu Beginn des 20. Jahrhunderts ließ sich nicht länger leugnen, dass dieses Verbrechen Einzug auch in Europa gehalten hatte. Insbesondere die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR)1 brachte dies ans Licht, aber auch die Tätigkeit von Nichtregierungsorganisationen (NGOs),2 von den Vereinten Nationen (VN), insbesondere der Arbeitsgruppe gegen das gewaltsame oder unfreiwillige Verschwindenlassen3 der ehemaligen VN-Menschenrechtskommission,4 und vom Europarat.5 Die andauernde Aktualität des Verbrechens, Personen in Europa verschwinden zu lassen, betonte das Europäische Parlament im Jahre 2009, als es den Sacharow-Preis, mit dem es jährlich den Einsatz für Menschenrechte und Meinungsfreiheit würdigt, 1
Im Folgenden auch als Gericht oder Gerichtshof bezeichnet. Zu nennen sind in erster Linie Amnesty International (weitere Informationen unter: www.amnesty.org); Memorial (weiter Informationen unter: www.memo.ru/deutsch/index. htm); Human Rights Watch (weitere Informationen unter: www.hrw.org). Für mehr Informationen siehe auch Enforced Disappearances Information Exchange Center, abrufbar unter www.ediec.org. 3 Working Group on Enforced or Involuntary Disappearances, zu deren Tätigkeit siehe allgemein: http://www2.ohchr.org/english/issues/disappear/index.htm; im Folgenden auch Arbeitsgruppe. Siehe die Berichte der Arbeitsgruppe zur Türkei: VN Dok. E/CN.4/1999/62/ Add.2, 28. Dezember 1998; zu Kroatien und Bosnien-Herzegowina: VN Dok. E/CN.4/1997/ 55, 15. Januar 1997; VN Dok. E/CN.4/1995/37, 12. Januar 1995; VN Dok. E/CN.4/1996/36, 4. März 1996; zum ehemaligen Jugoslawien: VN Dok. E/CN.4/1994/26/Add.1, 15. Dezember 1993. 4 Jetzt des VN-Menschenrechtsrats. Zur Tätigkeit der ehemaligen Kommission siehe insbesondere: Commission on Human Rights, Report by Nowak, VN Dok. E/CN.4/2002/71, 8. Januar 2002 (im Folgenden: Report Nowak). 5 Siehe z. B. den Bericht von Menschenrechtskommissar Hammarberg, CommDH(2009) 36, 24. November 2009 zur Lage in Russland; CoE, Parlamentarische Versammlung, Enforced Disappearances, Report to the Committee on Legal Affairs and Human Rights, Rapporteur Pourourides, Dok. 10679, 19. September 2005 (im Folgenden: Report Pourourides); CoE, Parlamentarische Versammlung, Res. 1371 (2004); CoE, Parlamentarische Versammlung, Res. 1463 (2005). 2
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Kap. 1: Einleitung
der russischen Bürgerrechtsorganisation Memorial verlieh.6 Denn es ist gerade diese NGO, die in Zusammenarbeit mit dem European Human Rights Advocacy Centre (EHRAC)7 einen Großteil der Beschwerdeführer vor dem EGMR in Fällen des Verschwindenlassens unterstützt. Ebenfalls beispielhaft für die gegenwärtige Bedeutung dieses Verbrechens in Europa ist die Tatsache, dass der EGMR am 18. September 2008 sein 10.000tes Urteil fällte8 – ausgerechnet in einer Beschwerde, die einen Fall des Verschwindenlassens in der russischen Teilrepublik Tschetschenien betraf. Zu vermuten ist, dass der Gerichtshof damit nicht zufällig zu diesem besonderen Anlass das Interesse der Öffentlichkeit auf die Existenz dieses Verbrechens lenkte, zu dem er inzwischen in über 150 Urteilen eine umfangreiche Judikatur – Untersuchungsgegenstand der weiteren Ausführungen – entwickelt hat.
A. Das Verschwindenlassen von Personen Trotz der gängigen Verknüpfung des Phänomens des Verschwindenlassens von Personen mit den Verbrechen lateinamerikanischer Militärdiktaturen entstammt dieses Phänomen ursprünglich dem europäischen Raum:9 Basierend auf einem Führererlass zu den Richtlinien für die Verfolgung von Straftaten gegen das Reich oder die Besatzungsmacht in den besetzten Gebieten vom 7. Dezember 1941 wurden bis 1944 über sechstausend Personen nach Deutschland verbracht, um sie heimlich abzuurteilen. Bekannt wurde dieses Vorgehen unter dem Begriff „Nacht und Nebel Aktion“.10 Seine eigentliche Prominenz erlangte das Phänomen des Verschwindenlassens allerdings im Zusammenhang mit dem Vorgehen zahlreicher Militärregime in Mittel- und Südamerika, insbesondere in Guatemala, Uruguay, Brasilien, Peru, Bolivien, Haiti, Mexiko, Argentinien, Honduras, El Salvador, Kolumbien und Chile.11 Die politische und juristische Aufarbeitung dieser Verbrechen dauert zum 6 Siehe dazu unter: http://www.europarl.europa.eu/news/public/story_page/015-62806292-10-43-902-20091020STO62805-2009-19-10-2009/default_de.htm. 7 Siehe für näherer Informationen unter: http://www.londonmet.ac.uk/research-units/hrsj/ affiliated-centres/ehrac/. 8 Takhayeva et al. v. Russland, 23286/04, Urteil vom 18. September 2008; Pressemitteilung Nr. 638 vom 18. September 2008. Alle Urteile des EGMR bzw. Berichte der ehemaligen Kommission, Pressemitteilungen und Resolutionen des Ministerkomitees sind, soweit keine weiteren Angaben vorhanden sind, in Hudoc abrufbar unter: http://cmiskp.echr.coe.int/ tkp197/search.asp?skin=hudoc-en. 9 Siehe auch Brody/González, HRQ 19 (1997), S. 365 (366); Milic´, S. 37 (38). 10 Siehe dazu Gruchmann, VfZ 29 (1981), S. 342 (395 zur Gesamtzahl der verschwundenen Personen); Scovazzi/Citroni, S. 4 – 7. Siehe auch Report Pourourides, Abs. 11; Report Nowak, Abs. 7; Heinz, S. 5 f. (mit der Zahl von 7.000 Personen); Amnesty International, S. 2 (ebenfalls mit der Zahl von 7.000 Personen). Siehe auch Finucane, YJIL 35 (2010), S. 171 (175 ff.) insbesondere zur völkerstrafrechtlichen Entwicklung. 11 Siehe Amnesty International mit einer Untersuchung der Praxis in Argentinien und Guatemala; Scovazzi/Citroni, S. 2; Report Pourourides, Abs. 12; Heinz, S. 6.
A. Das Verschwindenlassen von Personen
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Teil immer noch an.12 Auf völkerrechtlicher Ebene erfolgte die juristische Aufarbeitung zum einen durch die ehemalige VN-Menschenrechtskommission und den Menschenrechtsausschuss,13 in erster Linie aber innerhalb des inter-amerikanischen Menschenrechtsschutzsystems14 sowohl durch die Inter-amerikanische Menschenrechtskommission (IAKMR) als auch durch den Inter-amerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte (IAGMR), welcher sich bereits im Jahre 1988 in seinem ersten streitigen Fall mit diesem Verbrechen beschäftigte.15
I. Ablauf der Fälle des Verschwindenlassens und die verfolgten Ziele Der Begriff des zwangsweisen oder unfreiwilligen Verschwindenlassens einer Person,16 eine Übersetzung des spanischen Terminus „desaparición forcada“, wurde in den sechziger und siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts gebräuchlich,17 um einen bestimmten Sachverhalt zu benennen. Das typische Szenario beschreibt Nowak wie folgt: „In the middle of the night, a group of heavily armed men break into your house, force your husband or son out of his bed, push him into an army jeep without number plates and drive him to an unknown destination. The next morning you inquire with the local police, the closest military office, the mayor of your town or even with the minister of interior, but you always receive the same answer: All authorities deny that your husband or son has been detained by public officials, and they pretend to have no idea whatsoever about the fate or whereabouts of your loved one. But in reality, your husband or son has been kidnapped by state security forces or paramilitary groups closely associated with them, and is being detained incommunicado for a prolonged period of time in a secret destination and inter-
12
Siehe die jüngere Literatur von Scovazzi/Citroni; Pérez Solla und Ott. Der die Einhaltung des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (IPbürg) überwacht. Zur Praxis des Ausschusses im Überblick siehe Report Nowak, Abs. 17 – 25. 14 Allgemein zu diesem siehe Kokott, Das interamerikanische System; Pasqualucci; Harris/Livingstone (Hrsg.); Davidson, The Inter-American Human Rights System; Davidson, The Inter-American Court of Human Rights. 15 In Velásquez-Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Series C Nr. 4. Die Urteile des IAGMR sind abrufbar unter: http://www.corteidh.or.cr/casos.cfm. 16 Der Begriff ist absichtlich so gewählt, dass er auf die täterschaftliche Verursachung des Verschwindens hinweist. Die Person verschwindet nicht, sie wird verschwunden gelassen. Auch im spanischen und englischen Sprachgebrauch wird das Verb „to disappear“/„desaparecer“ entsprechend verwendet: Die Person „has been disappeared“ bzw. der Staat hat das Opfer verschwunden gelassen („lo desaparecieron“). 17 Dieser Terminus wurde von latein-amerikanischen NGOs das erste Mal in den sechziger/siebziger Jahren verwendet, siehe Report Pourourides, Abs. 12; Report Nowak, Abs. 8. 13
20
Kap. 1: Einleitung rogation center, subjected to the most cruel practices of torture. He may be clandestinely killed.“18
Durch das Verschwindenlassen einer Person, so wird deutlich, werden damit mehrere Ziele verfolgt:19 Zum einen entledigt sich der Staat seiner politischen Gegner, indem er diese als so genannte materielle Opfer verschwinden lässt. Anders als eine offizielle Verhaftung und Anklage dieser Personen erfolgt damit die Reaktion des Staates schnell und – gegenüber etwaigen Risiken, die rechtsstaatliche Regelungen für die Machthaber bergen – berechenbar. Unter Umständen erlangt der Staat mittels Folter nützliche Informationen von den Opfern.20 Zum anderen wird die gesamte Bevölkerung oder relevante Teile in einen Zustand von Angst und Schrecken versetzt. Durch den gezielten Staatsterrorismus wird ein Klima der Rechtlosigkeit und Straflosigkeit verbreitet.21 Insbesondere nahe Angehörige des Opfers plagt zusätzlich ein Gefühl großer Hilflosigkeit angesichts des Schicksals ihres Verwandten. Die bleibende Unsicherheit bereitet außerdem der Familie großes Leid und Schmerz.22
II. Weltweite Verbreitung und völkerrechtliche Reaktionen Dieses besondere Verbrechen verbreitete sich, ausgehend von Lateinamerika, auch in den restlichen Regionen der Welt.23 Nowak bezeichnet die systematische Praxis, Personen verschwinden zu lassen, als eines der größten menschenrechtlichen Probleme unserer Zeit.24 Das Phänomen tritt insbesondere im Zusammenhang mit innerstaatlichen Konflikten auf und wird als eine Methode eingesetzt, politischen Widerstand zu bekämpfen.25 Deutlich macht diese weltweite Verbreitung die Arbeit der VN-Arbeitsgruppe gegen das zwangsweise oder unfreiwillige Verschwindenlassen. Eingesetzt im Jahre 1980, übermittelte die Arbeitsgruppe bis ins Jahr 2010 18 Siehe das Vorwort von Nowak in Pérez Solla, S. 1. Siehe auch Grammer, S. 13 – 19 zum typischen Erscheinungsbild in Lateinamerika sowie Drucker, SJIL 25 (1989), S. 289 (299 f.); Scovazzi/Citroni, S. 8 – 10, 10 – 13 (typische Fälle aus Guatemala); UNHCR, Fact Sheet Nr. 6/ Rev. 3, 2009, S. 1 f., abrufbar unter: http://www.ohchr.org/Documents/Publications/FactSheet 6Rev3.pdf. Siehe auch Meyer-Ladewig, NVwZ 24 (2009), S. 1531 (1533) zum typischen Ablauf in Tschetschenien. 19 Zu diesen siehe Scovazzi/Citroni, S. 5, 7 – 10; Grammer, S. 29 ff., 43; Taqi, FILJ 24 (2000 – 2001), S. 940 (944 f.). 20 Drucker, SJIL 25 (1989), S. 289 (300). 21 Siehe Andreu-Guzmán, The Review International Commission of Jurists 62 – 63 (2001), S. 73 (76); Drucker, SJIL 25 (1989), S. 289 (300); von Braun/Diehl, Zeitschrift für internationale Strafrechtsdogmatik (2011), S. 214 (215). Ähnlich Lüthke, ZRP 16 (1983), S. 89; Figari Layús, MenschenRechtsMagazin (2010), S. 151 (154 f.). 22 Siehe dazu Amnesty International, S. 109 – 118. 23 Zur Verbreitung in Asien siehe Scovazzi/Citroni, S. 65 – 69, zu Afrika S. 69 – 72. 24 Nowak, EHRLR Issue 4 (1996), S. 348 (360). 25 Siehe UNHCR, Fact Sheet Nr. 6/Rev. 3, 2009, S. 2.
A. Das Verschwindenlassen von Personen
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über 53.000 Fälle des Verschwindenlassens an Staaten.26 Dabei sind alle Kontinente betroffen; der Großteil der Fälle betraf Algerien, Argentinien, Chile, Kolumbien, El Salvador, Guatemala, Irak, Peru und Sri Lanka.27 In Reaktion speziell auf das Phänomen des Verschwindenlassens von Personen haben sich verschiedene völkerrechtliche Instrumente herausgebildet.28 Zu nennen ist zunächst die rechtlich unverbindliche Erklärung über den Schutz aller Personen vor dem zwangsweisen Verschwindenlassen (Erklärung gegen das Verschwindenlassen)29 der VN-Generalversammlung aus dem Jahre 1992, die auf Vorarbeiten der Arbeitsgruppe beruht. Für den inter-amerikanischen Kontext ist insbesondere die Inter-amerikanische Konvention über das zwangsweise Verschwindenlassen30 von Bedeutung, die die folgende Definition des Verschwindenlassens in Art. 2 enthält: „[T]he act of depriving a person or persons of his or their freedom, in whatever way, perpetrated by agents of the state or by persons or groups of persons acting with the authorization, support, or acquiescence of the state, followed by an absence of information or a refusal to acknowledge that deprivation of freedom or to give information on the whereabouts of that person, thereby impeding his or her recourse to the applicable legal remedies and procedural guarantees.“
Diese Definition zog die IAKMR auch gegenüber Nicht-Vertragsparteien heran.31 Aus dem Jahre 2007 stammt die – grundsätzlich universell anwendbare – Internationale Konvention zum Schutz aller Personen vor dem zwangsweisen Ver26 Human Rights Council, Report of the Working Group on Enforced or Involuntary Disappearances, VN Dok. A/HRC/16/48, 26. Januar 2011, S. 6, Abs. 8, mit der genauen Zahl von 53.337. Zur Tätigkeit der Arbeitsgruppe siehe Andreu-Guzmán, IRRC 84 (2002), S. 803; Nowak, EHRLR Issue 4 (1996), S. 348 (348 – 350, 356 f.). 27 Siehe dazu Human Rights Council, Report of the Working Group on Enforced or Involuntary Disappearances, VN Dok. A/HRC/16/48, 26. Januar 2011, Annex 3, S. 135 ff. mit einer statistischen Aufstellung. 28 Mit diesen sowie mit der sonstigen Völkerrechtspraxis zum Verschwindenlassen von Personen – auch unter Einbezug des EMRK-Systems – beschäftigen sich die Monographien von Scovazzi/Citroni (Stand: 2007), Pérez Solla (Stand: 2006) und Ott (Stand: Januar 2011). Siehe auch Hummer/Mayr-Singer, Vereinte Nationen 5 (2007), S. 183; Milic´, S. 37 (43 f.). 29 Declaration on the Protection of Persons from Enforced Disappearances, GA Res. 47/ 133, 18. Dezember 1992. Zur Erklärung siehe UNHCR, Fact Sheet Nr. 6/Rev. 3, 2009, S. 5 f.; Nowak, EHRLR Issue 4 (1996), S. 348 (350 f.). Die Erklärung enthält keine Definition des Verschwindenlassens, siehe dazu Brody/González, HRQ 19 (1997), S. 365 (376 f.). 30 Inter-American Convention on Forced Disappearances, OAS/Ser.P AG/doc.3114, 9. Juni 1994. Dazu siehe Nowak, EHRLR Issue 4 (1996), S. 348 (351 f.). 31 Siehe Bericht Nr. 43/97, Fall 10.562, Héctor Pérez Salazar. Peru, 19. Februar 1998, Abs. 14: „Peru is not a State Party to the Forced Disappearance Convention but the mere elaboration of the definition of a ,forced disappearance‘ by the drafters of the Convention is useful for the purposes of identifying the distinct elements of the same. What is crucial is that the individual be deprived of his freedom by agents of the state or under the color of law, followed by a refusal or incapacity of the State to explain what has happened to him or to give information about his whereabouts.“ Siehe auch IAGMR, Blake v. Guatemala, Merits, Urteil vom 24. Januar 1998, Series C Nr. 36, Abs. 62.
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Kap. 1: Einleitung
schwindenlassen,32 die am 23. Dezember 2010 in Kraft getreten ist. Diese sieht in Art. 2 vor: „For the purposes of this Convention, ,enforced disappearance‘ is considered to be the arrest, detention, abduction or any other form of deprivation of liberty by agents of the State or by persons or groups of persons acting with the authorization, support or acquiescence of the State, followed by a refusal to acknowledge the deprivation of liberty or by concealment of the fate or whereabouts of the disappeared person, which place such a person outside the protection of the law.“
In einem völkerstrafrechtlichen Kontext definiert das Römische Statut33 aus dem Jahre 1998 das zwangsweise Verschwindenlassen von Personen in Art. 7 Abs. 2 (i) als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit wie folgt: „bedeutet ,zwangsweises Verschwindenlassen von Personen‘ die Festnahme, den Entzug der Freiheit oder die Entführung von Personen durch einen Staat oder eine politische Organisation oder mit Ermächtigung, Unterstützung oder Duldung des Staates oder der Organisation, gefolgt von der Weigerung, diese Freiheitsberaubung anzuerkennen oder Auskunft über das Schicksal oder den Verbleib dieser Personen zu erteilen, in der Absicht, sie für längere Zeit dem Schutz des Gesetzes zu entziehen.“
Auf diese Definition nahm der Menschenrechtsausschuss, der die Einhaltung des Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPbürg)34 überwacht, in der Beschwerde Bousroual v. Algerien Bezug.35 Außerhalb dieser spezifischen Instrumente ist das Phänomen des Verschwindenlassens von Personen auch im Rahmen des allgemeinen Menschenrechtsschutzes relevant, da einzelne vertraglich oder völkergewohnheitsrechtlich geschützte Menschenrechte verletzt sein können, auch wenn der Tatbestand des Verschwindenlassens nicht in einer speziellen Regelung genannt ist. In Anbetracht der Tatsache, dass es nach wie vor an universell anwendbaren, rechtsverbindlichen Instrumenten 32 International Convention for the Protection of All Persons from Enforced Disappearance, GA Res. 61/177, 20. Dezember 2006. Deutschland ratifizierte die Konvention am 29. September 2009. Die Überwachung dieser Konvention obliegt nach Art. 26 dem Committee on Enforced Disappearances, das unter anderem nach Art. 29 für Staatenberichte und nach Art. 30 für Mitteilungen von Individuen zuständig ist. Zur Konvention siehe u. a. UNHCR, Fact Sheet Nr. 6/Rev. 3, 2009, S. 7 – 10; Andreu-Guzmán, The Review International Commission of Jurists 62 – 63 (2001), S. 73 ff.; Figari Layús, MenschenRechtsMagazin (2010), S. 151; Hummer/Mayr-Singer, Vereinte Nationen 5 (2007), S. 183; McCrory, HRLR 7 (2007), S. 545; Tayler, The Review International Commission of Jurists 62 – 63 (2001), S. 63 ff.; Ott, S. 189 ff.; Milic´, S. 37 (44 ff.); von Braun/Diehl, Zeitschrift für internationale Strafrechtsdogmatik (2011), S. 214 (219 – 223), insbesondere zur Umsetzung ins deutsche Recht durch die Schaffung eines eigenen Straftatbestandes (S. 223 – 229). 33 Das Römische Statut ist die vertragliche Grundlage des Internationalen Strafgerichtshofes mit Sitz in Den Haag, Niederlanden. Siehe unter: http://www.icc-cpi.int/. 34 International Covenant on Civil and Political Rights, GA Res. 2200 A (XXI), 16. Dezember 1966. 35 Menschenrechtskomitee, Bousroual v. Algerien, Mitteilung Nr. 992/2001, Auffassung vom 24. April 2006, Abs. 9.2.
A. Das Verschwindenlassen von Personen
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mangelt sowie vor dem Hintergrund fehlender oder schwacher Überwachungsmechanismen, insbesondere solcher, die Individualpersonen offen stehen, kommen dem IPbürg, den inter-amerikanischen Menschenrechtsinstrumenten, insbesondere der Amerikanischen Menschenrechtskonvention (AMRK),36 sowie schließlich der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)37 eine große Bedeutung zu.
III. Fälle des Verschwindenlassens in Europa und die Rechtsprechung der Konventionsorgane Auch Europa blieb keineswegs von Fällen des Verschwindenlassens verschont. So leitete die VN-Arbeitsgruppe Fälle weiter an Weißrussland, Bulgarien, Dänemark, Frankreich, Griechenland, Montenegro, Rumänien, Russland, Serbien, Spanien, die Schweiz, die Ukraine und die Türkei sowie an das Vereinigte Königreich.38 In seinem Bericht an die Parlamentarische Versammlung des Europarates zählt Berichterstatter Pourgourides die folgenden Länder als betroffen auf:39 Zunächst sei es auf Zypern 1963 – 64 und im Jahre 1974 im Zuge der türkischen Invasion Nordzyperns zu Fällen des Verschwindenlassens gekommen. Es folgten Fälle in der Türkei im Zusammenhang mit dem bewaffneten Kampf gegen kurdische Separatisten sowie in Russland, insbesondere in der Teilrepublik Tschetschenien. Des Weiteren zählt Pourgourides Fälle in Weißrussland, der Ukraine und Aserbaidschan auf. Keine Erwähnung findet, dass es auch im Zusammenhang mit der Auflösung des ehemaligen Jugoslawiens zu einer Vielzahl von Fällen des Verschwindenlassens kam.40 Mit einigen dieser Fälle beschäftigten und beschäftigen sich noch heute auch die Überwachungsorgane des EMRK-Systems, das heißt die ehemalige Kommission sowie der EGMR. Die Praxis dieser beiden Konventionsorgane zu Fällen des Verschwindenlassens konzentriert sich auf drei Konfliktherde beziehungsweise Konfliktgebiete und richtet sich nur gegen zwei Staaten,41 gegen die Türkei und gegen Russland. 36
American Convention on Human Rights, 22. November 1969, 1144 UNTS 123. Vom 4. November 1950, BGBl. 1952-II, S. 685. Für die aktuelle Fassung der EMRK siehe unter: http://www.echr.coe.int/echr/Homepage_EN. Im Folgenden auch Konvention genannt. 38 Human Rights Council, Report of the Working Group on Enforced or Involuntary Disappearances, VN Dok. A/HRC/16/48, 26. Januar 2011, Annex 3, S. 135 – 138. 39 Report Pourgourides, Abs. 13 – 19. 40 Scovazzi/Citroni, S. 65. 41 Vgl. auch Scovazzi/Citroni, S. 188 f. Siehe aber auch die Beschwerde Palic´ v. BosnienHerzegowina, 4704/04, Urteil vom 15. Februar 2011, die einen Fall des Verschwindenlassens während des Bosnienkrieges betraf, sowie die Beschwerde Skendzˇic´ und Krznaric´ v. Kroatien, 16212/08, Urteil vom 20. Januar 2011, die einen Fall des Verschwindenlassens während des kroatischen Unabhängigkeitskrieges betraf. 37
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Kap. 1: Einleitung
Der erste Komplex relevanter Fälle betrifft die Insel Zypern. Die ehemalige Kommission befasste sich in vier Staatenbeschwerden Zyperns gegen die Türkei, erhoben 1974, 1975, 1977 und 1994, mit den so genannten „missing persons“, die im Zuge der türkischen Invasion in Nordzypern im Jahre 1974 verschwanden. Bis auf die letzte Beschwerde, die im Jahre 2001 vom EGMR entschieden wurde, erreichte keine den Gerichtshof. Die Tätigkeit der Kommission und des Ministerkomitees zeichnet sich vor allem durch politische Rücksichtnahme aus: Die Kommission befand die ersten beiden Beschwerden im Mai 1975 für zulässig und übermittelte ihren Bericht im folgenden Jahr an das Ministerkomitee.42 Im Oktober 1977 scheint das Ministerkomitee entschieden zu haben, dass das türkische Verhalten die EMRK verletzt – die Entscheidung wurde allerdings nie veröffentlicht. Im Januar 1979 entschied das Ministerkomitee, sich nicht mehr mit dem Fall zu beschäftigen und forderte die Parteien auf, Gespräche zu führen.43 Die dritte Beschwerde aus dem Jahre 1977 führte dazu, dass die Kommission am 4. Oktober 1983 einen Bericht annahm, nach welchem die Türkei Art. 5 (Recht auf Freiheit und Sicherheit) EMRK durch das Verschwindenlassen von Personen verletzt hat. Das Ministerkomitee handelte nicht; es veröffentlichte lediglich 1992 den Bericht der Kommission und beendete damit seine Befassung mit dem Fall.44 In der im Jahre 1994 eingelegten vierten Staatenbeschwerde Zyperns gegen die Türkei folgte dem Bericht der Kommission von 199945 ein Urteil des EGMR im Jahre 2001,46 in welchem der Gerichtshof Verstöße gegen die Ermittlungspflicht aus Art. 2 (Recht auf Leben) und Art. 5 EMRK und Verletzungen der Angehörigen in Art. 3 (Schutz vor Folter) EMRK feststellte. Schließlich erreichte mit dem Fall Varnava et al. endlich auch eine Individualbeschwerde die Konventionsorgane. In der Beschwerde, die 1990 erhoben wurde, rügten Angehörige das Verschwinden von neun Personen im Zuge der türkischen Invasion in Nordzypern. Vorherige Beschwerden von Individualpersonen gegen die Türkei wären daran gescheitert, dass diese das Recht auf Individualbeschwerde zur Kommission erst 1987 anerkannt hatte, gefolgt von der Anerkennung der Gerichtsbarkeit des EGMR nach Art. 46 EMRK a.F. im Jahre 1990.47 Die Kommission bestätigte 1998 die Zulässigkeit der Beschwerde
42
Zypern v. Türkei, 6780/74, 6950/75, Bericht vom 10. Juli 1976, abgedruckt in: AsmeHumanitas e.V., Bericht der Kommission des Europarats über Menschenrechte auf Zypern 1974, Iphofen, nach 1977. 43 Ministerkomitee, Resolution 32, 20. Januar 1979. 44 Zypern v. Türkei, 8007/77, Bericht vom 4. Oktober 1983, Decision and Reports, vol. 72 (1992), S. 5, veröffentlicht aufgrund von Resolution DH (92) 12, 2. April 1992. 45 Zypern v. Türkei, 25781/94, Bericht vom 4. Juni 1999. 46 Zypern v. Türkei, 25781/94, Urteil vom 10. Mai 2001. 47 Siehe Varnava et al. v. Türkei, 16064/90, 16065/90, 16066/90, 16068/90, 16069/90, 16070/90, 16071/90, 16072/90, 16073/90, Bericht vom 14. April 1998, THE LAW 2. Siehe auch Klugmann, S. 35.
A. Das Verschwindenlassen von Personen
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Varnava et al.;48 die Dritte Sektion entschied die Beschwerde 2008;49 im Jahre 2009 folgte das Urteil der Großen Kammer.50 Diese stellte, wie bereits in der vierten Staatenbeschwerde Zyperns, Verletzungen der Ermittlungspflichten aus den Art. 2 und 5 EMRK sowie hinsichtlich der Angehörigen Verletzungen des Art. 3 EMRK fest. Den zweiten Komplex relevanter Fälle bilden Beschwerden, die im Zusammenhang mit dem Kampf der Türkei im Südosten des Landes gegen kurdische Seperatisten stehen.51 Die Opfer waren dabei meist Kurden, die im Verdacht standen, die PKK zu unterstützen. Die erste Beschwerde, in der das Verschwindenlassen einer Person gerügt wurde, die Beschwerde Ertak, wurde im Jahre 1992 vom Vater einer verschwundenen Person erhoben.52 Im Jahre 1996 erging der Bericht der Kommission in der Beschwerde Kurt.53 Es folgte noch ein Bericht der Kommission in der Beschwerde C ¸ akıcı Anfang des Jahres 1998, bis der EGMR mit der Kurt-Entscheidung sein erstes Urteil in diesem Kontext erließ.54 In den Folgejahren ergingen über fünfundzwanzig Urteile zu Fällen des Verschwindenlassens, die die südöstliche Türkei betrafen. Den (vorläufigen) Abschluss der Rechtsprechung bildet die Entscheidung Nehyet Günay et al., die im Jahre 2008 erging.55 Den dritten Komplex relevanter Fälle stellen Beschwerden dar, die sich gegen Russland richten und im Zusammenhang mit dem Tschetschenienkonflikt stehen.56 Die Opfer sind meist Tschetschenen, die im Verdacht stehen, sich am Kampf gegen 48 Varnava et al. v. Türkei, 16064/90, 16065/90, 16066/90, 16068/90, 16069/90, 16070/90, 16071/90, 16072/90, 16073/90, Bericht vom 14. April 1998. 49 Varnava et al. v. Türkei, 16064/90, 16065/90, 16066/90, 16068/90, 16069/90, 16070/90, 16071/90, 16072/90, 16073/90, Urteil vom 10. Januar 2008. 50 Varnava et al. v. Türkei, 16064/90, 16065/90, 16066/90, 16068/90, 16069/90, 16070/90, 16071/90, 16072/90, 16073/90, Urteil der Großen Kammer vom 18. September 2009. 51 Siehe zu diesen Fällen auch Zwaak, in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak, S. 380 – 386; Buckley, HRLR 1 (2001), S. 35 (55 – 64). Zu dem Konflikt siehe Klugmann, S. 31 – 38 sowie Bertrand/Rigoni, Revue Études internationales 31 (2000), S. 413 (auch zum Zypernkonflikt). 52 Ertak v. Türkei, 20764/92, die Beschwerde wurde allerdings nicht als erste auch entschieden. 53 Kurt v. Türkei, 24276/94, Bericht vom 5. Dezember 1996. In diesem stellte die Kommission eine Verletzung der Art. 3 (in Bezug auf die Beschwerdeführerin), 5 und 13 (Recht auf eine wirksame Beschwerde) EMRK fest. Siehe auch Sinha, Indian Journal of International Law 40 (2000), S. 734 (737 f.). 54 Kurt v. Türkei, 24276/94, Urteil vom 25. Mai 1998. Der EGMR stellte, wie die Kommission, Verletzung der Art. 3 (in Bezug auf die Beschwerdeführerin), 5 und 13 EMRK fest. 55 Nehyet Günay et al. v. Türkei, 51210/99, Urteil vom 21. Oktober 2008. 56 Zu diesen Fällen siehe Barrett, Harvard HRJ 22 (2009), S. 133; Abdel-Monem, Vermont Law Review 28 (2003 – 2004), S. 237; Human Rights Watch. Zur Situation in Tschetschenien siehe auch CoE, Kommissar für Menschenrechte, Thomas Hammarberg, CommDH(2009)36, Bericht vom 24. November 2009.
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Kap. 1: Einleitung
die russische Zentralregierung zu beteiligen. Das erste Urteil erging im Jahre 2006 im Fall Bazorkina.57 Es folgten Urteile zu mindestens 120 weiteren Beschwerden. In Anbetracht der Tatsache, dass im Jahre 2010 Urteile in über dreißig Fällen ergingen, ist ein Ende dieser umfangreichen Rechtsprechung zu Fällen des Verschwindenlassens in Tschetschenien noch nicht in Sicht.
IV. Gründe für die Entwicklung dieser Rechtsprechung Im europäischen Menschenrechtsschutzsystem entwickelte sich damit erst spät, ab 1998, eine umfangreichere und zunehmend gefestigte Rechtsprechung des EGMR in Fällen des Verschwindenlassens. Eine der Ursachen dafür war die Ausgestaltung des Überwachungssystems der Konvention, die stark begrenzte, unter welchen Voraussetzungen die Konventionsorgane befasst werden konnten. So erreichten – im Verhältnis zu heute – wenige Beschwerden überhaupt den Gerichtshof, und unter diesen waren zusätzlich noch seltener Beschwerden, die insbesondere schwere Menschenrechtsverletzungen rügten. Denn nach dem ursprünglichen Modell befasste sich die ehemalige Kommission als vorgeschaltete Instanz zunächst mit den eingereichten Individual- und Staatenbeschwerden und erstellte einen (unverbindlichen) Bericht. Dabei musste der beschwerdegegnerische Staat das Recht auf Individualbeschwerde zur Kommission nach Art. 25 EMRK a.F. anerkennen. Der EGMR befasste sich anschließend nur dann mit dem Fall, wenn er von der Kommission oder einem betroffenen Staat angerufen wurde und der beschwerdegegnerische Staat die Zuständigkeit des EGMR anerkannt hatte.58 Erst durch das 9. Zusatzprotokoll räumten die Konventionsstaaten Individualpersonen diese Möglichkeit ebenfalls ein. Kam der Fall nicht vor den EGMR, so entschied das Ministerkomitee, ob die Konvention verletzt worden war (Art. 32 Abs. 1 EMRK a.F.). Dieses System führte dazu, dass Individualbeschwerden im Vergleich zu heute selten die Kommission und noch seltener den Gerichtshof erreichten. Gerade die Staaten, in denen Fälle schwerer Menschenrechtsverletzungen zu befürchten waren, zögerten, sich der obligatorischen Gerichtsbarkeit auch in Bezug auf Individualbeschwerden zu unterwerfen. Erst im Jahre 1994 hatte ein ausreichendes Quorum der damaligen Konventionsstaaten das 9. Zusatzprotokoll von 1990 ratifiziert, das damit in Kraft trat; 1998 trat es auch für Russland in Kraft, die Türkei und Frankreich beispielsweise ratifizierten es nie. Staatenbeschwerden hingegen wurden – ver-
57 Bazorkina v. Russland, 69481/01, Urteil vom 27. Juli 2006. Der EGMR stellte Verletzungen der Art. 2 (in substantieller und in prozeduraler Hinsicht), 3 (in Bezug auf die Beschwerdeführerin), 5 und 13 EMRK fest. 58 Art. 48 und 46 EMRK a. F. Dies tat beispielsweise die Türkei erst spät, siehe Rumpf, EuGRZ 17 (1990), S. 53 ff.
A. Das Verschwindenlassen von Personen
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mutlich aus politischer Rücksichtnahme – nur selten erhoben, insgesamt bislang in 22 Fällen,59 wobei es nur vereinzelt zu einem Urteil des EGMR kam. Mit dem 11. Zusatzprotokoll, das 1998 in Kraft trat, änderte sich dieses System grundlegend.60 Die Kommission wurde abgeschafft, ein obligatorisches Individualbeschwerdeverfahren zum EGMR eingeführt. Damit können nun alle Menschenrechtsverletzungen, die in den Anwendungsbereich der Konvention fallen, vor dem EGMR von Individualpersonen geltend gemacht werden. Dies macht es möglich, dass Individualpersonen, abseits politischer Rücksichtnahme, schwere Menschenrechtsverletzungen anprangern können. Da sich die Zuständigkeit des Gerichtshofes nunmehr auf alle Konventionsstaaten erstreckt, können sich insbesondere auch Personen an den Gerichtshof wenden, die Verletzungen von Konventionsstaaten rügen, welche größere Defizite im menschenrechtlichen Bereich aufweisen. Der Kreis der Konventionsstaaten und deren Entwicklung beziehungsweise jeweilige menschenrechtliche Situation stellt eine weitere Ursache für die spät eintretende Relevanz von Fällen des Verschwindenlassens in der Rechtsprechung des EGMR dar. So erlebten die frühen Konventionsstaaten, das heißt zur Zeit des Kalten Krieges die Staaten Westeuropas, zwischen 1950 und 1990 eine Zeit relativer Stabilität. Ausnahmen stellen unter anderem die türkische Invasion in Nordzypern, der Militärputsch in Griechenland, der Nordirlandkonflikt, die spanische Franco-Diktatur sowie der Beginn des Kampfes der Türkei in den Kurdengebieten dar.61 Gerade in solchen Situationen bürgerkriegsähnlicher Zustände, die oft mit Notstandsgesetzen einhergehen, treten schwere und systematische Menschenrechtsverletzungen auf. Außerhalb dieser Ausnahmesituationen herrschte ein relativ hoher menschenrechtlicher Standard, der zumeist verhinderte, dass dennoch vereinzelnd vorkommende schwere Menschenrechtsverletzungen die Konventionsorgane erreichten und nicht bereits auf der – dem subsidiären System der EMRK vorgeschalteten – innerstaatlichen Ebene erkannt wurden und Abhilfe erfuhren. Dies änderte sich mit dem Zusammenbruch des ehemaligen Ostblocks und dem Beitritt neuer Staaten zur Konvention, deren Rechtssysteme noch menschenrechtliche Defizite aufwiesen.62 Auch kamen neue Konfliktherde mit einhergehenden, auch schweren Menschenrechtsverletzungen in den Anwendungsbereich der Konvention sowie jedenfalls nach 59 Grabenwarter, S. 43; Wildhaber, EuGRZ 36 (2009), S. 541 (543); Drzemczewski, in: Bayefsky (Hrsg.), S. 115 (117 noch mit der Zahl von 21 Fällen). Siehe dazu auch Leach, Taking a Case, S. 16 – 18. 60 Siehe auch Sardaro, EHRLR Issue 6 (2003), S. 601 (603), der die institutionellen Reformen durch das 11. Zusatzprotokoll als Ursache dafür benennt, dass der EGMR nunmehr mit schweren Menschenrechtsverletzungen, zu denen er auch das Verschwindenlassen zählt, konfrontiert ist. 61 Vgl. auch die Aufzählung von Kamminga, NQHR 12 (1994), S. 153 (154). 62 So auch Drzemczewski, in: Bayefsky (Hrsg.), S. 115 (118); Keller, EuGRZ 35 (2008), S. 359 (361); Rudolf, EuGRZ 23 (1996), S. 497 (503); Sadurski, S. 13. Vgl. Greer, The European Convention, S. 57, 126 – 131; Mahoney, HRLJ 20 (1999), S. 1 (3); Schorm-Bernschütz, S. 3 f.; Ryssdall, EHRLR Issue 1 (1996), S. 18 (26 f.). Näher siehe Maruste, in: FS Wildhaber, S. 285.
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Kap. 1: Einleitung
Inkrafttreten des 11. Zusatzprotokolls unter die obligatorische Gerichtsbarkeit des EGMR auch in Bezug auf Individualbeschwerden.63 Eine weitere Ursache für die Zunahme von Fällen des Verschwindenlassens und anderer schwerer Menschenrechtsverletzungen in jüngerer Zeit vor dem EGMR ist, dass die Möglichkeit einer Beschwerde vor dem EGMR vermehrt in das Bewusstsein der Öffentlichkeit zu rücken scheint.64 Anwälte und auf Unterstützung bei Verfahren vor dem EGMR spezialisierte NGOs raten ihren Mandanten, sich an den EGMR zu wenden; die Urteile des EGMR erlangen mehr und mehr Bedeutung innerhalb der nationalen Rechtsordnungen und werden in der breiten Presse besprochen. Auch verwenden Opfer von Menschenrechtsverletzungen, ihre Angehörigen, Anwälte und NGOs die Verfahren vor dem EGMR und dessen Urteile als Medium, um die nationale und internationale Aufmerksamkeit auf vorliegende Menschenrechtsverletzungen zu lenken.
B. Aufgeworfene Probleme und Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes Diese Fälle des Verschwindenlassens werfen in der Rechtsprechung der Konventionsorgane besondere Probleme auf: Im Rahmen der Tatsachenfeststellung sowie der Prüfung der Begründetheit der Beschwerde stellt sich gerade das Fehlen eines Leichnams als problematisch dar. So ist regelmäßig zwischen den Parteien streitig, ob vom Tod der verschwundenen Person auszugehen ist. Auch bestreitet der beschwerdegegnerische Staat meist, für die Entführung des Opfers und dessen spätere, nicht anerkannte Inhaftierung verantwortlich zu sein. Der EGMR steht damit vor der Aufgabe, selbst eine Tatsachenfeststellung vornehmen zu müssen.65 Im Rahmen der sich anschließenden Überprüfung in rechtlicher Hinsicht ist problematisch, ob der EGMR eine Verletzung von Art. 2 EMRK, des Rechts auf Leben, annimmt – gerade auch, wenn Unsicherheiten in Bezug auf den Tod des verschwundenen Opfers im Rahmen der Tatsachenfeststellung verbleiben. Der EGMR steht ebenfalls vor der Aufgabe zu entscheiden, welche weiteren konkreten materiellen Bestimmungen der Konvention einschlägig sind, um das Phänomen des Verschwindenlassens zu erfassen. So können weitere Rechte der verschwundenen 63
Zur Situation der Menschenrechte in Russland siehe Heller, in: Hasse/Müller/Schneider (Hrsg.), S. 93 ff.; zur Situation in Ost- und Südosteuropa siehe Eicher, in: Hasse/Müller/ Schneider (Hrsg.), S. 120 ff.; zur Situation in der Türkei siehe Liese, in: Hasse/Müller/ Schneider (Hrsg.), S. 145 ff. 64 Siehe Aras, ZEuS 10 (2007), S. 219 (245); Caflisch, HRLR 6 (2006), S. 403 (405); Greer/Williams, European Law Journal 15 (2009), S. 462 (465); Greer, The European Convention, S. 37; Greer, HRQ 30 (2008), S. 680 (682); Beernaert, EHRLR Issue 5 (2004), S. 544; Ryssdall, EHRLR Issue 1 (1996), S. 18 (22). 65 Siehe auch Sardaro, EHRLR Issue 6 (2003), S. 601 (611): In Fällen schwerer Menschenrechtsverletzungen ist gerade die Tatsachenfeststellung problematisch.
B. Probleme und Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes
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Person, in erster Linie die Art. 3 und 5 EMRK, aber auch Rechte von Angehörigen verletzt sein; die einzelnen Konventionsbestimmungen können dabei in ihrem substantiellen und/oder prozeduralen Gehalt betroffen sein. Darüber hinaus sind der Gegenstand und der Inhalt des Urteils in einem Fall des Verschwindenlassens problematisch. So könnte der EGMR nicht nur die konkrete Verletzungshandlung berücksichtigen, sondern auch einbeziehen, dass diese Fälle keine Einzelfälle darstellen, sondern vielmehr Teil einer verbreiteten Praxis sind. Der Gerichtshof könnte feststellen, dass eine Praxis des Verschwindenlassens vorliegt und dass diese mit der Konvention unvereinbar ist. In Bezug auf den Inhalt des Urteils könnte der EGMR die Feststellung, dass die Konvention verletzt ist, mit der Anordnung konkreter Abhilfemaßnahmen – fallspezifischer oder allgemeiner Art – ergänzen. Neben diesen Problemen von Fällen des Verschwindenlassens im Rahmen der Tatsachenfeststellung, der Prüfung der anwendbaren Rechte und Freiheiten der Konvention sowie des Urteilsgegenstandes und -inhalts musste sich der EGMR in seiner Rechtsprechung auch mit Problemen in Bezug auf die Zulässigkeit der Beschwerden befassen: Fragen zur Jurisdiktion ratione loci traten insbesondere in den Beschwerden gegen die Türkei auf, die vermisste Personen auf Zypern betrafen. In diesen Fällen hatten sich die Konventionsorgane mit der extraterritorialen Anwendbarkeit der Konvention auseinanderzusetzen. Dieser Aspekt spielte allerdings in den sonstigen Fällen gegen die Türkei sowie in jenen gegen Russland keine Rolle und ist auch nicht spezifisch mit dem Phänomen des Verschwindenlassens verknüpft, so dass Fragen der Jurisdiktion ratione loci außerhalb der weiteren Betrachtung verbleiben können.66 Gleiches trifft auf Probleme zu, die möglicherweise die Jurisdiktion ratione personae in Bezug auf die Passivlegitimation des beschwerdegegnerischen Staates betreffen, sowie auf Probleme in Bezug auf die Jurisdiktion ratione temporis.67 Obgleich die Aktivlegitimation der Beschwerdeführer in Fällen des Verschwindenlassens durchaus problematisiert werden könnte, beschäftigt sich der EGMR mit diesem Aspekt nicht. Er hielt es nicht für problematisch, dass die Beschwerdeführer, die nahe Angehörige des verschwundenen Opfers sind, eine Verletzung von Rechten der verschwundenen Person sowie eigener Rechte geltend machten. Der Gerichtshof hätte sich damit auseinandersetzen können, ob die Beschwerdeführer eine Verletzung der Rechte der verschwundenen Person in einer ausnahmsweise zulässigen Prozessstandschaft für das verschwundene Opfer oder selbst als mittelbare Opfer 66 Siehe dazu allgemein Erberich, S. 5 – 31; Lorenz, S. 7 – 35, 62 – 126; Jankowska-Gilberg, S. 23 – 81. 67 So verschwanden die vermissten Personen in Nordzypern 1974 und damit zu einem Zeitpunkt, zu dem die Türkei die Zuständigkeit des EGMR für Individualbeschwerden noch nicht anerkannt hatte. Siehe dazu, insbesondere kritisch auch zur sechs-Monate-Regel, Kyriakou, EHRLR Issue 2 (2011), S. 190. Siehe zur temporalen Zuständigkeit des EGMR allgemein Grabenwarter, S. 108 f., auch unter Bezugnahme auf fortdauernde Verletzungen („continuing violations“).
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Kap. 1: Einleitung
geltend machten.68 Da dies aber unterblieb und der EGMR von der Aktivlegitimation ohne weitere Begründung ausgeht, ist diese Frage ohne praktische Relevanz und bleibt daher von den weiteren Ausführungen ausgeklammert. Des Weiteren ergeben sich keine spezifisch auf Fälle des Verschwindenlassens zugeschnittene Probleme im Rahmen der Feststellung, dass die innerstaatlichen Rechtsbehelfe (Art. 35 Abs. 1 EMRK) erschöpft wurden. Zwar bringt der beschwerdegegnerische Staat regelmäßig vor, dass die innerstaatlichen Rechtsbehelfe nicht erschöpft wurden, zum Beispiel weil die nationalen Ermittlungen noch andauern.69 Der EGMR kommt diesem Einwand aber zu Recht nicht nach und verweist zur Begründung meist auf die Ineffektivität der nationalen Ermittlungen.70 Die weitere Eingrenzung der Rechtsprechung, welche im Folgenden herangezogen und näher untersucht wird, erfolgt Problem orientiert. Herangezogen werden Fälle des Verschwindenlassens, in denen eine Sachverhaltskonstellation vorliegt, die die besonderen Probleme aufwirft, die im Rahmen der Tatsachenfeststellung und der Prüfung der anwendbaren Rechte und Freiheiten auftreten. Damit bleiben von der weiteren Untersuchung die Fälle ausgeschlossen, in deren Urteil der EGMR den Begriff des Verschwindenlassens zwar gebraucht, in denen die Leiche des Opfers aber aufgefunden und identifiziert wird.71 Vielmehr ist ausschlaggebend, dass die verschwundene Person beziehungsweise deren Leichnam nach wie vor unauffindbar ist. Des Weiteren ist für die von der Untersuchung erfassten Konstellationen die Rüge kennzeichnend, dass ein Mensch entführt oder auf sonstige Weise seiner Freiheit beraubt wurde, in nicht anerkannter Haft72 gehalten wird und zu Tode kommt, wobei die Verantwortlichkeit dafür dem Staat angelastet wird. Die untersuchte Judikatur der Konventionsorgane erfasst damit nicht alle Sachverhaltskonstellationen, die als ein Fall des Verschwindenlassens insbesondere nach den Definitionen der Inter-amerikanischen Konvention über das zwangsweise Verschwindenlassen, der Interna-
68
Vgl. dazu Peters, S. 239 f. So z. B. in der Beschwerde Elsiyev et al. v. Russland, 21816/03, Urteil vom 12. März 2009, Abs. 138. 70 Siehe z. B. Elsiyev et al. v. Russland, 21816/03, Urteil vom 12. März 2009, Abs. 140 f., 168. Im Fall Nasipova und Khamzatova v. Russland, 32382/05, Entscheidung vom 2. September 2010 erklärte der EGMR die Beschwerde allerdings für unzulässig. Zur Frage der Erschöpfung innerstaatlicher Rechtsbehelfe in der Türkei siehe Altiparmak, JCL 5 (2000), S. 30 ff. 71 Wie z. B. Luluyev et al. v. Russland, 69480/01, Urteil vom 9. November 2006; Akhmadova und Sadulayeva v. Russland, 40464/02, Urteil vom 10. Mai 2007; Kukayev v. Russland, 29361/02, Urteil vom 15. November 2007. Zu beachten ist, dass der Rechtsprechung des EGMR allerdings keine eigene Definition des Phänomens Verschwindenlassen zu entnehmen ist, siehe auch Pérez Solla, S. 15. 72 Es findet auch der Begriff der Inhaftierung Verwendung. Sowohl der Begriff der Haft als auch der der Inhaftierung bezeichnen dabei eine Freiheitsentziehung durch den Staat und weisen gerade nicht auf einen bestimmten Zweck der Freiheitsentziehung (Verhaftung/Inhaftierung v. Gewahrsam) bzw. auf ein bestimmtes damit verbundenes Verfahren hin. 69
C. Gang der Darstellung
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tionalen Konvention zum Schutz aller Personen vor dem zwangsweisen Verschwindenlassen sowie des Römischen Statuts bezeichnet werden könnten.
C. Gang der Darstellung Die auf jene Fälle des Verschwindenlassens eingegrenzte Rechtsprechung des EGMR, in denen die Leiche des Opfers nicht gefunden wurde, untersucht die vorliegende Arbeit damit in Bezug auf drei Fragestellungen: In dem sich an die Einleitung anschließenden Kapitel 2 widmet sie sich der Frage, welche Rechte und Freiheiten der Konvention in Fällen des Verschwindenlassens verletzt sind. Die relevante Rechtsprechung des EGMR wird dabei auch in einen Zusammenhang mit der Praxis weiterer Gerichte und internationaler Gremien gebracht, die sich gleichfalls mit der rechtlichen Erfassung des Phänomens Verschwindenlassen beschäftigen. In diesem Kapitel erfolgt dabei eine vertiefte Auseinandersetzung in Bezug auf drei Teilaspekte: Zum einen wird untersucht, ob und in welcher Hinsicht auch die Angehörigen der verschwundenen Personen Opfer von Konventionsrechtsverletzungen sind. Zum anderen wird die Bedeutung näher untersucht, die positiven Pflichten, insbesondere Ermittlungspflichten, zukommt. Schließlich wird auf die Rechtsprechung zu und den Stellenwert von Art. 13 (Recht auf eine wirksame Beschwerde) EMRK eingegangen. Außerhalb der Betrachtung bleibt das Problem, ob das humanitäre Völkerrecht Einfluss auf die untersuchte Rechtsprechung in Fällen des Verschwindenlassens hat oder haben sollte. So wird nicht darauf eingegangen, welche Normen des humanitären Völkerrechts etwaige Regelungen zu Fällen des Verschwindenlassens beinhalten.73 Auch die Frage, ob die Rechte und Freiheiten der Konvention durch die Anwendbarkeit des humanitären Völkerrechts im Zuge eines Konkurrenz- oder Spezialitätsverhältnisses verdrängt oder modifiziert werden,74 wird nicht untersucht. Das dritte Kapitel widmet sich den Problemen im Rahmen der Tatsachenfeststellung und vertieft dabei vier Aspekte: Erstens beschäftigt es sich mit der Frage, ob der EGMR in Fällen des Verschwindenlassens seine Rechtsprechung zum anzuwendenden Beweismaß ändern sollte. Zweitens untersucht es, welche Rolle die Kontrolle, die der Staat über das in nicht anerkannter Haft gehaltene Opfer ausübt, im Rahmen der Tatsachenfeststellung spielt und spielen sollte. Es folgt drittens eine 73 Siehe dazu Report Nowak, Abs. 53 – 64; Sassoli/Tougas, IRRC 84 (2002), S. 727; Ott, S. 131 ff. Ebenso wird nicht Gegenstand dieser Arbeit sein, inwiefern das Verschwindenlassen von Personen völkerstrafrechtliche Relevanz hat. Siehe dazu Anderson, MJIL 7 (2006), S. 245; Finucane, YJIL 35 (2010), S. 171; Ott, S. 157 ff. 74 Zu diesem Themenkomplex siehe Erberich, S. 33 – 60; Lorenz, S. 199 – 248; Jankowska-Gilberg, S. 82 – 102; Chevalier-Watts, International Journal of Human Rights 14 (2010), S. 584. Abresch, EJIL 16 (2005), S. 741 und Irmscher, EuGRZ 33 (2006), S. 11 (16 – 18) speziell in Bezug auf tschetschenische Fälle vor dem EGMR.
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Kap. 1: Einleitung
Analyse und Bewertung der Praxis des EGMR, im Rahmen der Tatsachenfeststellung darauf abzustellen, dass es bereits wiederholt zu ähnlichen Fällen des Verschwindenlassens gekommen ist. Viertens wird untersucht, auf welche Weise der Gerichtshof mit Mitteln des Beweisrechts auf eine mangelhafte Kooperation des beschwerdegegnerischen Staates mit dem Gerichtshof reagiert und ob diese Reaktion angemessen erscheint. Die damit vorgenommene getrennte Untersuchung der Probleme, die sich im Rahmen der anwendbaren Konventionsrechte beziehungsweise im Rahmen der Tatsachenfeststellung stellen, bedingt, dass die Interdependenzen, die zwischen diesen beiden Aspekten bestehen, zunächst zum Teil nur ungenügend berücksichtigt werden können. So ist einerseits die in Kapitel 2 behandelte Frage, welche Konventionsrechte in Fällen des Verschwindenlassens betroffen sind, gerade auch durch die tatsächliche Sachverhaltskonstellation determiniert:75 Eine Untersuchung der vom EGMR vorgenommenen rechtlichen Bewertung in Fällen des Verschwindenlassens kann nur in Bezug auf jene Beschwerden erfolgen, denen vergleichbare tatsächliche Umstände zugrunde liegen. Andererseits ist auch die Tatsachenfeststellung, die Gegenstand des 3. Kapitels sein wird, durch die im Urteil nachfolgende rechtliche Bewertung bedingt, da der EGMR nur in Bezug auf jene Tatsachen eine Feststellung betreibt, die von Bedeutung für die Prüfung der einzelnen Konventionsverletzungen sind. Des Weiteren bedient sich der Gerichtshof gerade auch des materiellen Rechts, um tatsächlichen Unsicherheiten abzuhelfen: Durch eine Ausweitung der in den einzelnen Rechten und Freiheiten der Konvention enthaltenen Garantien tritt die eigentlich erforderliche und vorgelagerte Klärung tatsächlicher Unsicherheiten in den Hintergrund. Das 4. Kapitel widmet sich der Frage, inwiefern der EGMR in seinen Urteilen zu Fällen des Verschwindenlassens berücksichtigt, dass diese nicht isoliert auftreten, sondern Teil einer verbreiteten Praxis sind. Auch wird untersucht, ob der Gerichtshof die Anordnung konkreter Abhilfemaßnahmen, fallspezifischer oder allgemeiner Art, in seinen Urteilen vornimmt oder vornehmen sollte.
75 Darauf weist auch hin: Report Nowak, Abs. 75: „If one analyses the case law, however, this qualification of an act of enforced disappearance as a cumulative human rights violation is fairly controversial and depends to a great extent on the precise facts, which are, of course, difficult to establish.“
Kapitel 2
Die Rechte und Freiheiten der Konvention in Fällen des Verschwindenlassens Fälle des Verschwindenlassens betreffen eine Vielzahl von Menschenrechtsverletzungen. Im Folgenden wird dargestellt, welche Rechte und Freiheiten der Konvention vom EGMR herangezogen und regelmäßig als verletzt festgestellt werden. Der Vorgehensweise des Gerichtshofes werden die Auffassungen anderer Menschenrechtsgremien und in der völkerrechtlichen Literatur gegenübergestellt (A.). Anschließend werden drei Aspekte, die sich als besonders relevant herausstellen, vertieft (B.): Zum einen wird analysiert, ob, unter welchen Umständen und in Bezug auf welche Bestimmungen neben den Rechten des verschwundenen Opfers auch solche der Angehörigen oder sonstiger Dritter in Fällen des Verschwindenlassens betroffen sind (I.). Zum anderen wird auf das Pflichtenspektrum der einschlägigen Konventionsartikel und damit die so genannten positiven Verpflichtungen, insbesondere die Ermittlungspflichten, näher eingegangen (II.). Schließlich wird die Bedeutung des Rechts auf eine wirksame Beschwerde (Art. 13 EMRK) untersucht (III.). In einer abschließenden Betrachtung wird der bisher vom EGMR verfolgte Ansatz bewertet (C.).
A. Überblick über die relevanten Rechte und Freiheiten der Konvention Die Konventionsorgane prüfen in Fällen des Verschwindenlassens regelmäßig eine Vielzahl von Rechten und Freiheiten. Diese Rechtsprechung soll zunächst dargestellt (I.) und daraufhin in den weiteren Kontext der völkerrechtlichen Praxis und Literatur gestellt werden (II.). Die nachfolgende Bewertung widmet sich schließlich der Frage, welche Rechte und Freiheiten der EMRK in welcher Hinsicht in Fällen des Verschwindenlassens in Zukunft relevant sein sollten (III.).
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Kap. 2: Rechte der Konvention in Fällen des Verschwindenlassens
I. Die Entwicklung der Rechtsprechung der Konventionsorgane1 In ihrer Rechtsprechung zogen die Konventionsorgane, beginnend mit den Staatenbeschwerden Zyperns gegen die Türkei bis hin zu den jüngsten Urteilen in tschetschenischen Fällen des Verschwindenlassens, eine Vielzahl von Rechten und Freiheiten der EMRK heran. 1. Die vermissten Personen in Nordzypern In ihrem Bericht zu den ersten beiden Staatenbeschwerden Zyperns gegen die Türkei, die 1974 und 1975 erhoben worden waren, untersuchte die Kommission unter anderem den Vorwurf Zyperns „es werden ca. 3.000 Personen […] noch immer vermisst, und es wird befürchtet, dass sie von der türkischen Armee umgebracht wurden.“2 Der Bericht enthält allerdings keinen separaten Abschnitt mit der Überschrift „vermisste Personen“, welcher die betroffenen Konventionsbestimmungen prüft, wie es in späteren Entscheidungen der Fall ist, sondern bezieht sich auf die vermissten Personen im Rahmen der Prüfung von Art. 2 (Recht auf Leben) EMRK unter dem Titel „Lebensberaubung“. Im Zuge dessen stellte die Kommission zwar fest, dass eine beträchtliche Anzahl von Personen noch vermisst werde und sich in türkischer Haft befunden habe oder befinde; sie sei aber nicht in der Lage sicherzustellen, ob diese Gefangenen ihres Lebens beraubt wurden.3 In Bezug auf die Verletzung weiterer Konventionsrechte bezog sich die Kommission nicht auf die vermissten Personen. In ihrem Bericht aus dem Jahre 1983 zur dritten Staatenbeschwerde Zyperns ging die Kommission nun anders vor und prüfte unter dem Titel „missing persons“ eine Verletzung von Art. 2 und 5 (Recht auf Freiheit und Sicherheit) EMRK. Sie stellte im Ergebnis eine besonders schwere Verletzung von Art. 5 EMRK fest. Obwohl es – so die Kommission – nicht auszuschließen sei, dass inhaftierte Personen inzwischen gestorben seien, könne die Kommission keine Feststellungen zu den Umständen machen, unter denen diese Personen zu Tode kamen.4 Eine Verletzung von Art. 6 (Recht auf ein faires Verfahren), 13 (Recht auf wirksame Beschwerde) und 14 1
Siehe zur Rechtsprechung des EGMR in Fällen des Verschwindenlassens auch Scovazzi/ Citroni, S. 188 – 224; Pérez Solla S. 45 – 50, 62 – 64, 74 – 77; Ott, S. 35 ff.; Claude, Intercultural Human Rights Law Review 5 (2010), S. 407 (434 ff.). 2 Zypern v. Türkei, 6780/74, 6950/75, Bericht vom 10. Juli 1976, abgedruckt in: AsmeHumanitas e.V., Bericht der Kommission des Europarats über Menschenrechte auf Zypern 1974, Iphofen, nach 1977, S. 11, Abs. 21. 3 Zypern v. Türkei, 6780/74, 6950/75, Bericht vom 10. Juli 1976, abgedruckt in: AsmeHumanitas e.V., Bericht der Kommission des Europarats über Menschenrechte auf Zypern 1974, Iphofen, nach 1977, S. 118, Abs. 349, 351. 4 Zypern v. Türkei, 8007/77, Bericht vom 4. Oktober 1983, Decision and Reports, vol. 72 (1992), S. 5 (38 f., Abs. 117 ff.).
A. Überblick über die Rechte und Freiheiten der Konvention
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(Diskriminierungsverbot) EMRK, die von Zypern auch im Zusammenhang mit den vermissten Personen gerügt worden war, stellte die Kommission nicht fest.5 In ihren Sondervoten forderten zwei Kommissionsmitglieder die Feststellung einer Verletzung von Art. 2, 3 (Verbot der Folter), 4 (Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit) und 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) EMRK in Bezug auf die Opfer und von Art. 3 und 8 EMRK in Bezug auf deren Angehörige.6 In der 1994 von Zypern eingereichten vierten Staatenbeschwerde gegen die Türkei stellte die Große Kammer des EGMR schließlich im Jahre 2001 eine Vielzahl von Verletzungen fest: Zunächst aber seien – so die Große Kammer – die Art. 2 und 5 EMRK in Bezug auf die Rechte der verschwundenen Personen nicht in ihrem substanziellen beziehungsweise materiellen Gehalt verletzt.7 Eine solche materielle beziehungsweise substantielle Verletzung („substantive violation“) eines Konventionsrechts liegt vor, wenn dieses in seiner klassischen abwehrrechtlichen Dimension betroffen ist.8 Die Große Kammer nahm allerdings eine Verletzung des prozeduralen Gehalts („procedural obligation“) der Art. 2 und 5 EMRK an und stellte damit insbesondere auf die Verletzung einer Ermittlungspflicht ab.9 Die gerügte Verletzung von Art. 4 EMRK verneinte der Gerichtshof; die Prüfung der Art. 3, 6, 8, 13, 14 und 17 EMRK unterblieb. In Bezug auf die Rechte der Angehörigen stellte der EGMR eine Verletzung von Art. 3 EMRK fest, hielt es daneben aber nicht für erforderlich, auf Art. 8 und 10 (Freiheit der Meinungsäußerung) EMRK einzugehen.10 Damit entsprach das Urteil der Großen Kammer im Wesentlichen den Feststellungen der Kommission aus dem Jahre 1999.11 In den zusammengelegten Individualbeschwerden Varnava et al. stellte die Große Kammer im Jahre 2009 eine prozedurale Verletzung von Art. 2 EMRK sowie eine ebensolche von Art. 5 EMRK in Bezug auf zwei der neun Opfer fest. In Bezug auf die Angehörigen sei Art. 3 EMRK verletzt; hingegen sei eine Prüfung von Art. 6, 8, 10,
5 Zypern v. Türkei, 8007/77, Bericht vom 4. Oktober 1983, Decision and Reports, vol. 72 (1992), S. 5 (48 f., Abs. 156 ff.). 6 Zypern v. Türkei, 8007/77, Bericht vom 4. Oktober 1983, Decision and Reports, vol. 72 (1992), S. 5, Sondervotum von M.A. Triantafyllides: Verletzung von Art. 2, 3, 4, und 8 EMRK in Bezug auf die Opfer, Art. 3 und 8 EMRK in Bezug auf die Angehörigen; Sondervotum von G. Tenekides: Art. 2, 3 und 4 EMRK, Art. 3 EMRK auch in Bezug auf die Angehörigen. 7 Siehe die Kritik hieran von Scovazzi/Citroni, S. 200. 8 Siehe dazu infra Kapitel 2, B.II. 9 Siehe dazu im Detail infra Kapitel 2, B.II.1. 10 Zypern v. Türkei, 25781/94, Urteil vom 10. Mai 2001, Abs. 130, 136 (Art. 2), 150 f. (Art. 5), 141 (Art. 4), 153 (Art. 3, 6, 8, 13, 14 und 17), 158 (Art. 3, Angehörige), 161 (Art. 8 und 10, Angehörige). 11 Zypern v. Türkei, 25781/94, Bericht vom 4. Juni 1999, Abs. 195 (Art. 4), 201, 212 f. (Art. 5), 225 (Art. 2), 236 f. (Art. 3, 8 und 10 Angehörige). Zypern hatte noch eine Verletzung von Ermittlungspflichten unter Art. 3, 6, 8, 13, 14 und 17 EMRK gerügt (Abs. 149 f., 214 ff.); die Kommission entschied jedoch, diese Beschwerden nicht zu behandeln (Abs. 218).
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Kap. 2: Rechte der Konvention in Fällen des Verschwindenlassens
12 (Recht auf Eheschließung), 13 und 14 EMRK nicht notwendig.12 Die Dritte Sektion hatte im Jahr zuvor im Wesentlichen übereinstimmend entschieden und nur abweichend eine Verletzung von Art. 5 EMRK in seinem prozeduralen Gehalt in Bezug auf alle Opfer angenommen.13 2. Die Rechtsprechung zur südöstlichen Türkei In der ersten Individualbeschwerde, die einen Fall des Verschwindenlassens in der südöstlichen Türkei betraf, in dem Fall Kurt, verfasste die Kommission 1996 ihren Bericht. Die Kommission stellte darin keine Verletzung von Art. 2 EMRK fest, da sie die Auffassung vertrat, Vorwürfe im Zusammenhang mit dem Verschwindenlassen einer Person sollten besser im Rahmen von Art. 5 EMRK behandelt werden. Auf eine Verletzung von Ermittlungspflichten, obgleich dies gerügt war, ging sie im Zusammenhang mit Art. 2 EMRK nicht ein.14 In der Folge nahm die Kommission eine Verletzung von Art. 5 EMRK an.15 Des Weiteren stellte sie eine Verletzung von Art. 3 EMRK in Bezug auf die Beschwerdeführerin, nicht aber in Bezug auf das Opfer, sowie von Art. 13 EMRK in Bezug auf die Beschwerdeführerin fest.16 Im darauf folgenden Bericht in der Beschwerde C¸akıcı Anfang des Jahres 1998 nahm die Kommission zusätzlich eine Verletzung von Art. 2 EMRK in seinem materiellen Gehalt sowie von Art. 3 EMRK in Bezug auf das Opfer an.17 Eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Auffassung der Kommission aus dem Kurt-Bericht, die Vorwürfe seien unter Art. 5 EMRK zu prüfen, erfolgte dabei nicht; die Kommission stellte in erster Linie auf tatsächliche Unterschiede ab, wie zum Beispiel auf das Auffinden einer Leiche mit dem Ausweis des Opfers.18 Im Mai des Jahres 1998 12 Varnava et al. v. Türkei, 16064/90, 16065/90, 16066/90, 16068/90, 16069/90, 16070/90, 16071/90, 16072/90, 16073/90, Urteil der Großen Kammer vom 18. September 2009, Abs. 194 (Art. 2, eine materielle Verletzung war nicht gerügt worden; Grund dafür war die Zulässigkeit ratione temporis der Beschwerden), 202 (Art. 3, Angehörige), 208 f. (Art. 5), 211 (Art. 6, 8, 10, 12, 13 und 14). 13 Varnava et al. v. Türkei, 16064/90, 16065/90, 16066/90, 16068/90, 16069/90, 16070/90, 16071/90, 16072/90, 16073/90, Urteil vom 10. Januar 2008, Abs. 133 (Art. 2), 138 (Art. 3, Angehörige), 145 (Art. 5). 14 Kurt v. Türkei, 24276/94, Bericht vom 5. Dezember 1996, Abs. 189. Die Beschwerdeführerin hatte die Verletzung von Ermittlungspflichten als separaten Verstoß gegen Art. 2 EMRK gerügt, Abs. 185. 15 Kurt v. Türkei, 24276/94, Bericht vom 5. Dezember 1996, Abs. 212. 16 Kurt v. Türkei, 24276/94, Bericht vom 5. Dezember 1996, Abs. 197, 221. Art. 14 und 18 seien nicht verletzt (Abs. 236 f.). 17 C¸akıcı v. Türkei, 23657/94, Bericht vom 12. März 1998, Abs. 254 (Art. 2), 260 (Art. 3), 271 (Art. 5), 276 (Art. 3, Angehörige), 287 (Art. 13), 292 f. (keine Verletzung von Art. 14 und 18). 18 C¸akıcı v. Türkei, 23657/94, Bericht vom 12. März 1998, Abs. 251 – 253. Auf die Unzulänglichkeit dieser Differenzierung in tatsächlicher Hinsicht weisen Scovazzi/Citroni, S. 193 hin. Kritisch auch Chevalier-Watts, Human Rights Review 11/4 (2010), S. 1 (4 f.) in Bezug auf das Urteil des EGMR.
A. Überblick über die Rechte und Freiheiten der Konvention
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schloss sich der EGMR in seinem ersten Urteil zu einem Fall des Verschwindenlassens aus der südöstlichen Türkei, in der Beschwerde Kurt, dem Bericht der Kommission an und stellte im Wesentlichen ebenfalls auf Art. 5 EMRK, nicht aber auf Art. 2 und 3 EMRK ab.19 Im Jahr darauf bestätigte der EGMR die Kommission in ihrer Feststellung einer Verletzung von Art. 2 EMRK in seinem materiellen Gehalt in der Beschwerde C ¸ akıcı.20 Die Formulierungen im darauffolgenden Urteil machen außerdem deutlich, dass der EGMR neben dieser materiellen Verletzung von Art. 2 EMRK noch des Weiteren auf eine Verletzung der Schutzpflicht („obligation to protect“) abstellte, die er mit der ungenügenden Ermittlung begründete: „Furthermore, having regard to the lack of effective procedural safeguards disclosed by the inadequate investigation carried out into the disappearance and the alleged finding of Ahmet C¸akıcı’s body […], the Court finds that the respondent State has failed in its obligation to protect his right to life. Accordingly, there has been a violation of Article 2 of the Convention on this account also.“21
Im Rahmen der Prüfung von Art. 3 EMRK bejahte der EGMR eine Verletzung in materieller Hinsicht, hielt es daneben aber nicht für erforderlich, auf eine Verletzung aufgrund der mangelhaften Ermittlungen einzugehen, da dieser Aspekt unter Art. 13 EMRK behandelt werde.22 Anders als die Kommission nahm der EGMR im Fall C ¸ akıcı zwar eine Verletzung von Art. 5 und 13 EMRK an, verneinte aber eine Verletzung von Art. 3 EMRK in Bezug auf den Bruder des Opfers.23 Während aus dem Urteil C ¸ akıcı noch nicht eindeutig hervorgeht, ob der EGMR zwei Verletzungen von Art. 2 EMRK – in materieller und in prozeduraler Hinsicht – feststellte, ändert sich dies in dem Bericht und dem Urteil in der Beschwerde Ertak, in denen eine Verletzung von Art. 2 EMRK sowohl in materieller Hinsicht als auch in Bezug auf die Verletzung der Ermittlungspflichten festgestellt wurde.24 19 Kurt v. Türkei, 24276/94, Urteil vom 25. Mai 1998, Abs. 109 (Art. 2), 117 (Art. 3), 129 (Art. 5), 134 (Art. 3, Angehörige), 142 (Art. 13), 147 (Art. 2, 3 und 5 in Verbindung mit 14), 152 (Art. 18). Kritisch dazu Hendin, Baltic Yearbook of International Law 4 (2004), S. 75 (86 f.). Siehe auch Chevalier-Watts, Human Rights Review 11/4 (2010), S. 1 (3 f.). 20 C¸akıcı v. Türkei, 23657/94, Urteil vom 8. Juli 1999, Abs. 85 – 87. 21 C¸akıcı v. Türkei, 23657/94, Urteil vom 8. Juli 1999, Abs. 87 (Hervorhebung nicht im Original). Im Ergebnis stellte der EGMR allerdings nur eine einzige Verletzung von Art. 2 EMRK ohne weitere Differenzierung fest. 22 C¸akıcı v. Türkei, 23657/94, Urteil vom 8. Juli 1999, Abs. 92, 93: „The Court does not deem it necessary to make a separate finding under Article 3 in respect of the alleged deficiencies in the investigation, as it examines this aspect under Article 13 of the Convention below.“ 23 C¸akıcı v. Türkei, 23657/94, Urteil vom 8. Juli 1999, Abs. 107 (Art. 5), 114 (Art. 13), 99 (Art. 3, Angehöriger), 116 f. (keine Verletzung von Art. 14 und 18). 24 Ertak v. Türkei, 20764/92, Bericht vom 4. Dezember 1998, Abs. 214; Urteil vom 9. Mai 2000, Abs. 133, 135 sowie im Tenor: „Holds that there has been a violation of Article 2 of the Convention on account of the death of the applicant’s son at the hands of agents of the State and the lack of an adequate and effective investigation into the circumstances surrounding his
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Kap. 2: Rechte der Konvention in Fällen des Verschwindenlassens
Mit der Timurtas¸-Entscheidung aus dem Jahre 2000 erging ein weiteres wichtiges Urteil:25 Die Kommission hatte in diesem Fall in Anwendung der Kurt-Rechtsprechung noch lediglich eine Verletzung von Art. 5 EMRK festgestellt und daneben eine Prüfung der Art. 2 und 3 EMRK nicht für notwendig befunden.26 Die Erste Sektion des Gerichtshofes prüfte nun mit folgender Argumentation ausführlich eine materielle Verletzung von Art. 2 EMRK und nahm diese im Ergebnis an:27 „Whether the failure on the part of the authorities to provide a plausible explanation as to a detainee’s fate, in the absence of a body, might also raise issues under Article 2 of the Convention will depend on all the circumstances of the case, and in particular on the existence of sufficient circumstantial evidence, based on concrete elements, from which it may be concluded to the requisite standard of proof that the detainee must be presumed to have died in custody […].“28
Anschließend prüfte und bejahte der EGMR eine Verletzung von Art. 2 EMRK in seinem prozeduralen Gehalt und verwendete im Zuge dessen den Begriff der „procedural obligations“.29 Im Tenor des Urteils stellte der EGMR ausdrücklich und nun auch separat zwei Verletzungen von Art. 2 EMRK fest.30 Daneben stellte der EGMR eine Verletzung von Art. 5 und 13 EMRK sowie von Art. 3 EMRK in Bezug auf den Beschwerdeführer fest.31 Die nachfolgende Rechtsprechung zu Fällen des Verschwindenlassens in Bezug auf die südöstliche Türkei entspricht im Wesentlichen im Vorgehen sowie im Ergebnis dem Timurtas¸-Urteil. So stellt der EGMR regelmäßig eine Verletzung von Art. 2 EMRK sowohl in materieller als auch in prozeduraler Hinsicht fest, gefolgt disappearance“. Die Verletzung weiterer Rechte war nicht gerügt worden und wurde nicht geprüft. 25 Auch als leading case bezeichnet, siehe Scovazzi/Citroni, S. 196; siehe auch ChevalierWatts, Human Rights Review 11/4 (2010), S. 1 (6 f.). 26 Timurtas¸ v. Türkei, 23531/94, Bericht vom 29. Oktober 1998, Abs. 283, 303 (Art. 2), 288, 304 (Art. 3), 299, 302 (Art. 5), 310 und 320 (Feststellung einer Verletzung von Art. 3, Angehöriger, und 13), 325 (keine Verletzung von Art. 14). 27 Timurtas¸ v. Türkei, 23531/94, Urteil vom 13. Juni 2000, Abs. 81 – 86. Eine Verletzung von Art. 3 EMRK in Bezug auf das Opfer war nicht mehr gerügt worden, Abs. 62. 28 Timurtas¸ v. Türkei, 23531/94, Urteil vom 13. Juni 2000, Abs. 82 (Hervorhebungen nicht im Original). 29 Timurtas¸ v. Türkei, 23531/94, Urteil vom 13. Juni 2000, Abs. 87 – 90. In dem Urteil im Fall Ertak v. Türkei, 20764/92, Urteil vom 9. Mai 2000 sprach der EGMR noch nicht von „procedural obligations“, aber bereits von einem „procedural aspect“ (Abs. 130) und einer „procedural protection“ (Abs. 134). 30 Timurtas¸ v. Türkei, 23531/94, Urteil vom 13. Juni 2000, am Ende: „1. Holds by six votes to one that the respondent State is liable for the death of Abdulvahap Timurtas¸ in violation of Article 2 of the Convention; 2. Holds by six votes to one that there has been a violation of Article 2 of the Convention on account of the failure of the authorities of the respondent State to conduct an effective investigation into the circumstances of the disappearance of Abdulvahap Timurtas¸“. 31 Timurtas¸ v. Türkei, 23531/94, Urteil vom 13. Juni 2000, Abs. 106 (Art. 5), 113 (Art. 13), 98 (Art. 3, Angehörige).
A. Überblick über die Rechte und Freiheiten der Konvention
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von der Annahme einer Verletzung von Art. 3 EMRK, allerdings in der Regel nur in Bezug auf die Beschwerdeführer und nicht auf die Opfer. Schließlich bejaht der EGMR, dass Art. 5 und 13 EMRK verletzt sind.32 In anderen Verfahren sah es der Gerichtshof nicht als erwiesen an, dass das Opfer vom Staat entführt beziehungsweise inhaftiert worden war. Diese tatsächlichen Unterschiede bedingten die Feststellung, dass Art. 2 EMRK nicht in materieller Hinsicht, wohl aber in prozeduraler Hinsicht verletzt sei.33 Eine Verletzung von Art. 5 EMRK stellte der EGMR ebenfalls nicht fest; in Bezug auf Art. 13 EMRK ist die Rechtsprechung uneinheitlich.34 Im Fall Osmanog˘lu ging der Gerichtshof zwar 32
So in Tas¸ v. Türkei, 24396/94, Urteil vom 14. November 2000; C¸içek v. Türkei, 25704/ 94, Urteil vom 27. Februar 2001; Akdeniz et al. v. Türkei, 23954/94, Urteil vom 31. Mai 2001, keine Verletzung von Art. 3 in Bezug auf die Angehörigen, aber in Bezug auf die Opfer (Abs. 94 – 102); ˙Irfan Bilgin v. Türkei, 25659/94, Urteil vom 17. Juli 2001, auf eine Verletzung von Art. 3 EMRK ging der EGMR nicht ein; Orhan v. Türkei, 25656/94, Urteil vom 18. Juni 2002; I˙pek v. Türkei, 25760/94, Urteil vom 17. Februar 2004; Akdeniz v. Türkei, 25165/94, Urteil vom 31. Mai 2005; Tanıs¸ et al. v. Türkei, 65899/01, Urteil vom 2. August 2005; Diril v. Türkei, 68188/01, Urteil vom 19. Oktober 2006, auf Art. 3 EMRK ging der EGMR nicht ein; Enzile Özdemir v. Türkei, 54169/00, Urteil vom 8. Januar 2008, auf Art. 13 EMRK ging der EGMR in Anbetracht der Feststellung einer prozeduralen Verletzung von Art. 2 EMRK nicht mehr ein, Abs. 78. 33 Tekdag˘ v. Türkei, 27699/95, Urteil vom 15. Januar 2004, Abs. 77 (keine Verletzung von Art. 2 in materieller Hinsicht), 82 (Verletzung von Art. 2 in prozeduraler Hinsicht); Tahsin Acar v. Türkei, 26307/95, Urteil vom 8. April 2004, Abs. 219 (keine Verletzung von Art. 2 in materieller Hinsicht), 234 (Verletzung von Art. 2 in prozeduraler Hinsicht); Erkek v. Türkei, 28637/95, Urteil vom 13. Juli 2004, Abs. 47 (keine Verletzung von Art. 2 in materieller Hinsicht), 59 (Verletzung von Art. 2 in prozeduraler Hinsicht); Tog˘cu v. Türkei, 27601/95, Urteil vom 31. Mai 2005, Abs. 102, 105 (keine Verletzung von Art. 2 in materieller Hinsicht und in Bezug auf eine Schutzpflicht), 121 (Verletzung von Art. 2 in prozeduraler Hinsicht); Nesibe Haran v. Türkei, 28299/95, Urteil vom 6. Oktober 2005, Abs. 69 (keine Verletzung von Art. 2 in materieller Hinsicht), 78 (Verletzung von Art. 2 in prozeduraler Hinsicht); Özgen et al. v. Türkei, 38607/97, Urteil vom 20. September 2005, Abs. 40 (keine Verletzung von Art. 2 in materieller Hinsicht), 49 (Verletzung von Art. 2 in prozeduraler Hinsicht); Aydın Eren v. Türkei, 57778/00, Urteil vom 21. Februar 2006, Abs. 46 (keine Verletzung von Art. 2 in materieller Hinsicht und in Bezug auf eine Schutzpflicht), 55 (Verletzung von Art. 2 in prozeduraler Hinsicht); S¸eker v. Türkei, 52390/99, Urteil vom 21. Februar 2006, Abs. 66 (keine Verletzung von Art. 2 in materieller Hinsicht), 77 (Verletzung von Art. 2 in prozeduraler Hinsicht); Kaya et al. v. Türkei, 4451/02, Urteil vom 24. Oktober 2006, Abs. 34 (keine Verletzung von Art. 2 in materieller Hinsicht), 41 (Verletzung von Art. 2 in prozeduraler Hinsicht). 34 Tekdag˘ v. Türkei, 27699/95, Urteil vom 15. Januar 2004, Abs. 91 (Art. 5), 99 (Verletzung von Art. 13); Tahsin Acar v. Türkei, 26307/95, Urteil vom 8. April 2004, Abs. 243 (Art. 5), 205 (keine Zuständigkeit in Bezug auf Art. 13); Erkek v. Türkei, 28637/95, Urteil vom 13. Juli 2004, der Gerichtshof prüfte nur Art. 2 EMRK, der allein gerügt war; Tog˘cu v. Türkei, 27601/95, Urteil vom 31. Mai 2005, Abs. 133 (Art. 5), 140 (Verletzung von Art. 13); Nesibe Haran v. Türkei, 28299/95, Urteil vom 6. Oktober 2005, Abs. 88 (Art. 5), 91 (keine Verletzung von Art. 13); Özgen et al. v. Türkei, 38607/97, Urteil vom 20. September 2005, Abs. 51 (Art. 5), 55 (Verletzung von Art. 13); Aydın Eren v. Türkei, 57778/00, Urteil vom 21. Februar 2006, Abs. 65 (Verletzung von Art. 13), Art. 5 EMRK wurde nicht geprüft; S¸eker v. Türkei, 52390/99, Urteil vom 21. Februar 2006, Abs. 90 (Art. 5), 98 (Verletzung von
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Kap. 2: Rechte der Konvention in Fällen des Verschwindenlassens
ebenfalls davon aus, dass die Verhaftung des Opfers nicht bewiesen sei, stellte aber fest, dass der Tod des Opfers zu vermuten sei.35 Eine Verletzung von Art. 2 EMRK in materieller Hinsicht durch eine Entführung und Tötung lehnte der EGMR demzufolge ab; neben einer prozeduralen Verletzung von Art. 2 EMRK nahm der EGMR allerdings noch die folgende substantielle Verletzung von Art. 2 EMRK an:36 „The Court concludes that the authorities failed to take the reasonable measures available to them to prevent a real and immediate risk to the life of Atilla Osmanog˘lu from materialising. There has, accordingly, been a violation of Article 2 of the Convention in its substantive aspect.“37
In der jüngsten Entscheidung im Fall Nehyet Günay et al. bejahte der EGMR eine Verletzung von Art. 2 EMRK in materieller und prozeduraler Hinsicht und ging auf eine Verletzung von Art. 5 und 13 EMRK nicht ein.38 3. Die Rechtsprechung in Bezug auf Tschetschenien39 Auch die Urteile in Beschwerden, die Fälle des Verschwindenlassens von Personen in Tschetschenien betrafen, entsprechen in ihrem Tenor in großen Teilen der Timurtas¸-Entscheidung. Regelmäßig stellen sie eine Verletzung von Art. 2 EMRK sowohl in materieller als auch in prozeduraler Hinsicht fest, verbunden mit einer Verletzung von Art. 3 EMRK in Bezug auf die Beschwerdeführer sowie von Art. 5 und 13 EMRK.40 Art. 13); Kaya et al. v. Türkei, 4451/02, Urteil vom 24. Oktober 2006, Abs. 45 (Art. 5), 54 (Verletzung von Art. 13). Zu Art. 13 EMRK siehe infra Kapitel 2, B.III. 35 Osmanog˘lu v. Türkei, 48804/99, Urteil vom 24. Januar 2008, Abs. 53, 59. Eine Verletzung von Art. 5 verneinte der EGMR (Abs. 104) ebenso wie von Art. 13 EMRK, da bereits eine prozedurale Verletzung von Art. 2 EMRK festgestellt worden sei (Abs. 111). 36 Osmanog˘lu v. Türkei, 48804/99, Urteil vom 24. Januar 2008, Abs. 64, 92. 37 Osmanog˘lu v. Türkei, 48804/99, Urteil vom 24. Januar 2008, Abs. 84 (Hervorhebungen nicht im Original). Zu den Gründen für diese Differenzierung siehe infra, Kapitel 2, B.II.2.a) aa). 38 Nehyet Günay et al. v. Türkei, 51210/99, Urteil vom 21. Oktober 2008, Abs. 82, 97 (Art. 2), 98 (Art. 5). Eine Verletzung von Art. 3 EMRK in Bezug auf die Beschwerdeführer wurde ebenfalls festgestellt, Abs. 104. 39 Siehe dazu auch Leach, EHRLR Issue 6 (2008), S. 731 (735 – 739); Chevalier-Watts, Human Rights Review 11/4 (2010), S. 1 (9 – 20). 40 Z.B. im ersten Urteil Bazorkina v. Russland, 69481/01, Urteil vom 27. Juli 2006; Imakayeva v. Russland, 7615/02, Urteil vom 9. November 2006; Baysayeva v. Russland, 74237/ 01, Urteil vom 5. April 2007; Alikhadzhiyeva v. Russland, 68007/01, Urteil vom 5. Juli 2007; Aziyevy v. Russland, 77626/01, Urteil vom 20. März 2008; Utsayeva et al. v. Russland, 29133/ 03, Urteil vom 29. Mai 2008; Takhayeva et al. v. Russland, 23286/04, Urteil vom 18. September 2008; Tsurova et al. v. Russland, 29958/04, Urteil vom 6. November 2008; Bersunkayeva v. Russland, 27233/03, Urteil vom 4. Dezember 2008; Akhmadova et al. v. Russland, 3026/03, Urteil vom 4. Dezember 2008; Rezvanov and Rezvanova v. Russland, 12457/ 05, Urteil vom 24. September 2009; Babusheva et al. v. Russland, 33944/05, Urteil vom
A. Überblick über die Rechte und Freiheiten der Konvention
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In wenigen Fällen kam der EGMR zu abweichenden Feststellungen, da er die Verantwortlichkeit des Staates für die Entführung beziehungsweise Inhaftierung nicht als bewiesen ansah bzw. diese außerhalb seiner Jurisdiktion ratione temporis lag.41 In der Konsequenz stellte der Gerichtshof keine Verletzung von Art. 2 EMRK in seinem materiellen, sondern nur in seinem prozeduralen Gehalt fest. Außerdem stellte er in diesen Fällen fest, dass Art. 3 EMRK in Bezug auf die Beschwerdeführer nicht verletzt sei und die Beschwerde in Bezug auf Art. 5 EMKR unzulässig ratione personae sei. Eine Prüfung von Art. 13 EMRK sei – so der EGMR weiter – in Anbetracht der Feststellung einer Verletzung von Art. 2 EMRK in prozeduraler Hinsicht nicht erforderlich.42 Schließlich ging der EGMR in der Beschwerde Medova ebenfalls davon aus, dass nicht bewiesen sei, dass Russland für die Entführung des Opfers verantwortlich sei; der Tod des Opfers – so der EGMR – sei allerdings zu vermuten.43 Die Entführer und ihr Opfer waren in eine Sicherheitskontrolle geraten und standen damit zeitweilig unter staatlicher Kontrolle.44 In Bezug zu Art. 2 EMRK stellte der EGMR neben einer Verletzung in prozeduraler Hinsicht45 daher Folgendes fest: „Accordingly, the Court finds that the State has failed to comply with its positive obligation under Article 2 of the Convention to protect the life of Mr Adam Medov.“46
Eine Verletzung von Art. 5 EMRK begründete der EGMR, da eine Verhaftung nicht bewiesen war, ebenfalls mit der Verletzung einer Schutzpflicht:
24. September 2009; Amanat Ilyasova et al. v. Russland, 27001/06, Urteil vom 1. Oktober 2009. 41 So in Tashukhadzhiyev v. Russland, 33251/04 Urteil vom 25. Oktober 2011, Abs. 59. 42 So in Shaipova et al. v. Russland, 10796/04, Urteil vom 6. November 2008, Abs. 87 (keine Verantwortlichkeit), 94, 103 (Art. 2), 111 (Art. 3), 117 (Art. 5), 124 (Art. 13); Tagirova et al. v. Russland, 20580/04, Urteil vom 4. Dezember 2008, Abs. 78 (keine Verantwortlichkeit), 85, 95 (Art. 2), 103 (Art. 3), 109 (Art. 5), 113 (Art. 13); Zakriyeva et al. v. Russland, 20583/04, Urteil vom 8. Januar 2009, Abs. 70 (keine Verantwortlichkeit), 77, 90 (Art. 2), 98 (Art. 3), 104 (Art. 5), 108 (Art. 13); Khumaydov und Khumaydov v. Russland, 13862/05, Urteil vom 28. Mai 2009, Abs. 105 (keine Verantwortlichkeit), 108, 123 (Art. 2), 131 (Art. 3), 137 (Art. 5), 141 (Art. 13); Tovsultanova v. Russland, 26974/06, Urteil vom 17. Juni 2010, Abs. 82 (keine Verantwortlichkeit), 89, 97 (Art. 2),105 (Art. 3), 111 (Art. 5), 115 (Art. 13). 43 Medova v. Russland, 25385/04, Urteil vom 15. Januar 2009, Abs. 88, 91. 44 Medova v. Russland, 25385/04, Urteil vom 15. Januar 2009, Abs. 83, 97. 45 Medova v. Russland, 25385/04, Urteil vom 15. Januar 2009, Abs. 112. Außerdem stellte der EGMR noch eine Verletzung von Art. 13 in Verbindung mit Art. 2 EMRK fest, Abs. 131; eine Verletzung von Art. 13 in Verbindung mit Art. 3 und 5 EMRK lehnte der EGMR hingegen ab, Abs. 132 f. 46 Medova v. Russland, 25385/04, Urteil vom 15. Januar 2009, Abs. 100 (Hervorhebungen nicht im Original), im Tenor lautet die Formulierung denn auch: „Holds unanimously that there has been a violation of Article 2 of the Convention on account of the State’s failure to comply with its positive obligation to protect the life of Mr Adam Medov“.
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Kap. 2: Rechte der Konvention in Fällen des Verschwindenlassens „Therefore, the Court finds that the State failed to comply with its positive obligation under Article 5 of the Convention to protect the liberty of Mr Adam Medov.“47
4. Überblick über die relevanten Konventionsbestimmungen Diese Rechtsprechung zeigt die Relevanz der folgenden Konventionsrechte auf: a) Art. 2 (Recht auf Leben) EMRK Das Recht auf Leben in Art. 2 EMRK spielte zunächst keine Rolle, da der EGMR die Verantwortlichkeit des Staates für den Tod der Opfer nicht feststellte48 und – so der EGMR – die Vorwürfe vorzugswürdig unter Art. 5 EMRK zu prüfen seien.49 Dies änderte sich Ende der neunziger Jahre in zweierlei Hinsicht:50 Zum einen nahm der EGMR dann eine Verletzung von Art. 2 EMRK in seinem materiellen Gehalt an, wenn er den (vermuteten) Tod des Opfers feststellte.51 Die Prüfung von Art. 2 EMRK trat gegenüber der von Art. 5 EMRK in den Vordergrund des Urteils. Die besondere Bedeutung, die Art. 2 EMRK in Fällen des Verschwindenlassen nunmehr zukommt, wird auch dadurch deutlich, dass der Gerichtshof eine Prüfung des Rechts auf Leben auch dann vornimmt, wenn Art. 2 EMRK vom Beschwerdeführer gar nicht gerügt wurde.52 Zum anderen prüfte der EGMR, ob Art. 2 EMRK in Bezug auf seinen prozeduralen Gehalt verletzt sei und nahm dies zumeist an.53 Der damit relevant gewordene prozedurale Gehalt von Art. 2 EMRK, der auch in Bezug auf Art. 3 und 5 EMRK eine Rolle spielt, wird in Teil B.II. näher untersucht werden. 47
Medova v. Russland, 25385/04, Urteil vom 15. Januar 2009, Abs. 125 (Hervorhebungen nicht im Original), im Tenor lautet die Formulierung allerdings lediglich: „Holds unanimously that there has been a violation of Article 5 of the Convention“. 48 So in den Verfahren, die Zypern betrafen (supra Kapitel 2, A.I.1.); Kurt v. Türkei, 24276/94, Urteil vom 25. Mai 1998. 49 Kurt v. Türkei, 24276/94, Urteil vom 25. Mai 1998, Abs. 109: „the Court is of the opinion that the applicant’s assertions that the respondent State failed in its obligation to protect her son’s life in the circumstances described fall to be assessed from the standpoint of Article 5 of the Convention.“ Siehe auch die abweichenden Meinung von Richter Gölcüklü, Orhan v. Türkei, 25656/94, Urteil vom 18. Juni 2002, Abs. 6: „[…] this case concerns nothing more than an unacknowledged disappearance, to which the only applicable provision is Article 5 of the Convention according to the Kurt judgment of 25 May 1998, but not Article 2 as the majority considered.“ 50 Buckley, HRLR 1 (2001), S. 35 (63) ist der Ansicht, es habe eine klare Entwicklung der Rechtsprechung des EGMR in Bezug auf Art. 2 EMRK in Fällen des Verschwindenlassens gegeben. 51 So z. B. in der Entscheidung C¸akıcı v. Türkei, 23657/94, Urteil vom 8. Juli 1999. 52 So in Turluyeva und Khamidova v. Russland, 12417/05, Urteil vom 14. Mai 2009, Abs. 86: „The Court considers, of its own motion, that it is appropriate to examine this complaint under Article 2 of the Convention“. 53 So auch die Einschätzung von Scovazzi/Citroni, S. 209. Zu diesem Aspekt sowie zu Schutzpflichten siehe infra Kapitel 2, B.II.
A. Überblick über die Rechte und Freiheiten der Konvention
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b) Art. 5 (Recht auf Sicherheit und Freiheit) und 13 (Recht auf eine wirksame Beschwerde) EMRK Eine Verletzung von Art. 5 EMRK, meist als besonders schwer bezeichnet, nimmt der EGMR dann an, wenn er die Verhaftung des Opfers durch den Staat feststellte. Die nicht eingestandene Inhaftierung sei, so der EGMR, eine komplette Negierung des Rechts auf Freiheit.54 Konnte der EGMR nicht feststellen, dass das Opfer verhaftet wurde, so verneint der EGMR hingegen eine Verletzung von Art. 5 EMRK. Nur in der besonderen Konstellation im Fall Medova stellte der Gerichtshof auch unter diesen tatsächlichen Gegebenheiten die Verletzung einer Schutzpflicht nach Art. 5 EMRK fest.55 Eine immer größere Rolle spielt auch Art. 13 EMRK, dessen Verletzung der EGMR regelmäßig in Fällen des Verschwindenlassens, die sich in der südöstlichen Türkei oder in Tschetschenien abspielen, feststellt.56 Dies wird in Teil B.III. näher analysiert werden. c) Art. 3 (Verbot der Folter) und 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) EMRK Schließlich stellt der EGMR in der Regel eine Verletzung von Art. 3 EMRK in Bezug auf die Beschwerdeführer fest, die meist nahe Angehörige des Opfers sind. Diese hätten, so der Gerichtshof, durch das Verschwindenlassen ihrer Angehörigen seelisches Leid („mental distress“) erfahren müssen, das eine unmenschliche Behandlung darstellt. Inwiefern neben den Personen, die verschwinden, auch weitere Personen Opfer einer Menschenrechtsverletzung in Fällen des Verschwindenlassens sind, wird Gegenstand der Untersuchung in Teil B.I. sein. Das Verbot der Folter aus Art. 3 EMRK spielt hingegen in Bezug auf das Opfer eine untergeordnete Rolle. Nur wenn besondere Umstände vorliegen, die eine Misshandlung des Opfers beweisen, ist dieser Artikel bislang von Belang.57 Art. 8 EMRK, das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, spielt ebenfalls nur dann eine Rolle, wenn besondere Umstände hinzutreten, wie beispielsweise eine Hausdurchsuchung, im Rahmen derer das Opfer entführt wurde.58 Der Rüge, durch das Verschwindenlassen sei ein Familienleben nicht mehr möglich, gab der Ge54
So schon in Kurt v. Türkei, 24276/94, Urteil vom 25. Mai 1998, Abs. 124: „The Court emphasises in this respect that the unacknowledged detention of an individual is a complete negation of these guarantees and a most grave violation of Article 5.“ 55 Medova v. Russland, 25385/04, Urteil vom 15. Januar 2009, Abs. 119 – 125. Zu dieser Schutzpflicht siehe infra Kapitel 2, B.II.2.a). 56 So auch die Einschätzung von Scovazzi/Citroni, S. 210. 57 So z. B. in Gelayevy v. Russland, 20216/07, Urteil vom 15. Juli 2010, Abs. 124 – 128. 58 Betayev und Betayeva, 37315/03, Urteil vom 29. Mai 2008, Abs. 115; Abdulkadyrova et al. v. Russland, 27180/03, Urteil vom 8. Januar 2009, Abs. 160; Zaurbekova und Zaurbekova, 27183/03, Urteil vom 22. Januar 2009, Abs. 110.
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Kap. 2: Rechte der Konvention in Fällen des Verschwindenlassens
richtshof hingegen nicht statt.59 Auch auf eine mögliche Verletzung von Art. 8 EMRK wird in Teil B.I. näher eingegangen werden. d) Art. 4 (Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit) und 14 (Diskriminierungsverbot) EMRK Keine Bedeutung misst der EGMR den Art. 4 und 14 EMRK zu. Das in Art. 4 EMRK enthaltene Verbot der Sklaverei und Zwangsarbeit kam im Rahmen der Staatenbeschwerden Zyperns gegen die Türkei zur Sprache, ohne dass der EGMR sich mit dieser Rüge befasste.60 In den Individualbeschwerden Varnava et al. hatten die Beschwerdeführer anfangs ebenfalls eine Verletzung von Art. 4 EMRK gerügt, verfolgten dies aber nicht weiter.61 Eine Verletzung von Art. 14 EMRK stützten vor allem Beschwerdeführer in Fällen gegen die Türkei darauf, dass gerade Kurden Opfer des Verschwindenlassens seien.62 Der Gerichtshof gab einer solchen Rüge allerdings nie statt63 und bestätigte damit seine auch grundsätzlich sehr zurückhaltende Rechtsprechung in Bezug zu Art. 14 EMRK in Fällen, in denen eine Verletzung von Freiheitsrechten im Vordergrund steht.64 e) Art. 6 (Recht auf ein faires Verfahren) EMRK Einige Beschwerdeführer rügten eine Verletzung des in Art. 6 EMRK garantierten Rechts auf ein faires Verfahren und bedienten sich dabei verschiedener Argumen59 Ibragimov et al. v. Russland, 34561/03, Urteil vom 29. Mai 2008, Abs. 118: „In their application form the applicants complained, relying on Article 8 of the Convention, that they could no longer enjoy family life with their close relative following his abduction by the State authorities“; Abs. 126: „The applicants’ complaint concerning their inability to enjoy family life with Rizvan Ibragimov concerns the same facts as those examined above under Articles 2 and 3 of the Convention. Having regard to its above findings under these provisions, the Court finds that no separate issue arises under Article 8 of the Convention in this respect.“ Siehe auch Betayev und Betayeva, 37315/03, Urteil vom 29. Mai 2008, Abs. 117; Lyanova und Aliyeva v. Russland, 12713/02, 28440/03, Urteil vom 2. Oktober 2008, Abs. 130. 60 Siehe supra Kapitel 2, A.I.1. 61 Varnava et al. v. Türkei, 16064/90, 16065/90, 16066/90, 16068/90, 16069/90, 16070/90, 16071/90, 16072/90, 16073/90, Urteil der Großen Kammer vom 18. September 2009, Abs. 210. 62 Siehe z. B. Kurt v. Türkei, 24276/94, Urteil vom 25. Mai 1998, Abs. 143: „The applicant contended that forced disappearances primarily affected persons of Kurdish origin. The conclusion had to be drawn that her son was on that account a victim of a breach of Article 14“. C¸akıcı v. Türkei, 23657/94, Urteil vom 8. Juli 1999, Abs. 115; Orhan v. Türkei, 25656/94, Urteil vom 18. Juni 2002, Abs. 397. Siehe in Bezug zu den tschetschenischen Fällen auch Takhayeva et al. v. Russland, 23286/04, Urteil vom 18. September 2008, Abs. 127 – 130. 63 Siehe Scovazzi/Citroni, S. 221 f., Fn. 279. 64 Zu Art. 14 EMRK im Allgemeinen siehe König/Peters, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), Kap. 21.
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tationen. So trugen sie vor, das verschwundene Opfer habe nicht das Recht erhalten, dass über eine strafrechtliche Anklage vor einem unabhängigen und unparteiischen Gericht im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK verhandelt worden sei.65 In der Beschwerde Kaya et al. trugen die Beschwerdeführer vor, die vorgenommenen Ermittlungen erfüllten nicht die Anforderungen von Art. 6 Abs. 1 EMRK.66 In Fällen gegen Russland argumentierten die Beschwerdeführer damit, dass ein zivilrechtliches Verfahren um Schmerzensgeld davon abhänge, welchen Erfolg die strafrechtliche Untersuchung habe.67 Aus unterschiedlichen Gründen stellte der Gerichtshof in allen diesen Fällen eine Verletzung von Art. 6 EMRK nicht fest beziehungsweise prüfte sie nicht. So wies er in der erst genannten Konstellation zu Recht darauf hin, dass gar kein strafrechtliches Verfahren eingeleitet worden sei und daher die in Art. 6 Abs. 1 EMRK enthaltenen Verfahrensgarantien nicht anwendbar seien.68 In der Beschwerde Kaya et al. befand der Gerichtshof, die Rüge sei untrennbar mit dem Vorwurf verbunden, dass die Behörden nicht angemessen auf ihre Beschwerde reagiert hätten, und daher vorzugsweise unter der allgemeineren Verpflichtung des Art. 13 EMRK zu prüfen.69 In den Fällen gegen Russland stellte der EGMR ebenfalls darauf ab, dass die Vorwürfe die gleichen Fragen betreffen, die bereits im Rahmen der prozeduralen Verletzung von Art. 2 EMRK und der Verletzung von Art. 13 EMRK diskutiert worden seien. Zusätzlich gebe es, so der EGMR, keine Hinweise darauf, dass die Beschwerdeführer tatsächlich eine Schadensersatzklage erheben werden.70
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Akdeniz v. Türkei, 25165/94, Urteil vom 31. Mai 2005, Abs. 134. Kaya et al. v. Türkei, 4451/02, Urteil vom 24. Oktober 2006, Abs. 46. 67 Bazorkina v. Russland, 69481/01, Urteil vom 27. Juli 2006, Abs. 151: „The applicant alleged that she had had no effective access to a court because a civil claim for damages would depend entirely on the outcome of the criminal investigation into her son’s disappearance. In the absence of any findings, she could not effectively apply to a court.“ Siehe auch Imakayeva v. Russland, 7615/02, Urteil vom 9. November 2006, Abs. 180; Baysayeva v. Russland, 74237/01, Urteil vom 5. April 2007, Abs. 150. 68 Akdeniz v. Türkei, 25165/94, Urteil vom 31. Mai 2005, Abs. 135. Das in Art. 6 EMRK grundsätzlich ebenfalls enthaltenen Recht auf Zugang zu einem Gericht erfasst nicht das Recht darauf, dass Anklage gegen private Dritte erhoben wird. So Dubowska und Skup v. Polen, 33490/96 und 34055/96, Entscheidung der Kommission vom 18. April 1997, THE LAW, Abs. 4. Siehe auch Harris/O’Boyle/Bates/Buckley, S. 236; van Dijk, in: Macdonald/ Matscher/Petzold, S. 370. Das Recht auf Zugang erfasst auch nicht das Recht darauf, dass ein strafrechtliches Verfahren gegen einen selbst eingeleitet wird, vgl. van Dijk, in: Macdonald/ Matscher/Petzold, S. 370; van Dijk, in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak, S. 563. 69 Kaya et al. v. Türkei, 4451/02, Urteil vom 24. Oktober 2006, Abs. 46, 48 f. 70 Bazorkina v. Russland, 69481/01, Urteil vom 27. Juli 2006, Abs. 153; siehe auch Imakayeva v. Russland, 7615/02, Urteil vom 9. November 2006, Abs. 182; Baysayeva v. Russland, 74237/01, Urteil vom 5. April 2007, Abs. 152; Utsayeva et al. v. Russland, 29133/03, Urteil vom 29. Mai 2008, Abs. 200; Nenkayev et al. v. Russland, 13737/03, Urteil vom 28. Mai 2009, Abs. 182. 66
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Kap. 2: Rechte der Konvention in Fällen des Verschwindenlassens
Diese Rechtsprechung des EGMR ist zu begrüßen: Das in Art. 13 EMRK garantierte Recht auf eine wirksame Beschwerde71 und nicht Art. 6 EMRK ist einschlägig, wenn weder Verfahrensgarantien im engeren Sinne in einem existenten Verfahren gerügt werden noch der Zugang zu einem Gericht72 Gegenstand der Beschwerde ist. Dies schließt allerdings nicht aus, dass im Einzelfall Art. 6 Abs. 1 EMRK beispielsweise dann verletzt ist, wenn das Recht der Angehörigen auf ein Verfahren auf Schadensersatz gegen den Staat73 tatsächlich unmittelbar verletzt ist und nicht nur potentiell und mittelbar dadurch, dass die Behörden in Bezug auf das Verschwindenlassen mangelhaft ermitteln.
II. Die relevanten Rechte und Freiheiten in der weiteren Praxis und Literatur Der dargestellten Rechtsprechung des EGMR wird die Praxis des Menschenrechtsausschusses, der nach dem Ersten Fakultativprotokoll zum IPbürg die Einhaltung des Paktes überwacht und im Zuge dessen auch für Mitteilungen von Einzelpersonen zuständig ist, des IAGMR sowie der Menschenrechtskammer für Bosnien-Herzegowina74 gegenübergestellt. Auch unter Berücksichtigung von Ansichten in der völkerrechtlichen Literatur sollen weitere Möglichkeiten herausgestellt werden, das Phänomen des Verschwindenlassens rechtlich zu erfassen. Dabei ist zu beachten, dass die Praxis dieser Gremien, mit Ausnahme der Menschenrechtskammer, nicht in Bezug auf die Rechte und Freiheiten der EMRK erging und es daher zum Teil an der Vergleichbarkeit der garantierten Rechte mangelt. Alle herangezogenen Systeme enthalten allerdings ebenfalls keine Sonderregelung zum Verschwindenlassen75 und stützen ihre Feststellungen daher auf die allgemeinen Garantien der jeweils anwendbaren Menschenrechtsverträge, das heißt auf den IPbürg, die AMRK und die EMRK.
71
Zu diesem siehe näher infra Kapitel 2, B.III. Zu diesen beiden Gewährleistungsinhalten von Art. 6 EMRK siehe Grabenwarter, S. 355 – 360, 360 – 379; van Dijk, in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak, S. 557; siehe auch Peters, S. 115; Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 6, Rn. 45 und Harris/O’Boyle/Bates/Buckley, S. 235 f. (mit dem Hinweis, dass sich das Recht auf Zugang zu einem Gericht in erster Linie auf zivilrechtliche Verfahren bezieht). 73 Zum zivilrechtlichen Charakter dieses Verfahrens siehe Peters, S. 104; Harris/O’Boyle/ Bates/Buckley, S. 215 f. 74 Die Menschenrechtskammer für Bosnien und Herzegowina wurde unter Annex 6 des Dayton Übereinkommens errichtet, um über Menschenrechtsverletzungen – u. a. in Bezug zur EMRK – zu urteilen. Siehe näher dazu Nowak, in: FS Möller, S. 771. 75 Eine Ausnahme besteht nunmehr in Bezug auf den IAGMR; dieser wendet, soweit sich seine Zuständigkeit darauf erstreckt, auch die Inter-amerikanische Konvention gegen das Verschwindenlassen an. 72
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1. Menschenrechtsausschuss76 In den wenig detaillierten Auffassungen („views“) des Menschenrechtsausschusses in Fällen des Verschwindenlassens spielen die folgenden Rechte des IPbürg eine Rolle: Art. 6 (Recht auf Leben),77 7 (Verbot der Folter),78 9 (Recht auf Freiheit) und 10 (Rechte im Fall des Freiheitsentzugs).79 Von Belang ist auch Art. 2 IPbürg, in dem allgemein geregelt ist, welche Pflichten die nachfolgenden Bestimmungen enthalten. In Art. 2 Abs. 3 ist das (akzessorische) Recht auf eine wirksame Beschwerde enthalten, das mit Art. 13 EMRK zu vergleichen ist.80 Die erste Auffassung des Ausschusses, die sich mit einem Fall des Verschwindenlassens befasste, war Bleier v. Uruguay im Jahre 1982. Der Ausschuss stellte eine Verletzung der Art. 7, 9 und 10 Abs. 1 IPbürg fest und fügte hinzu: „there are serious reasons to believe that the ultimate violation of article 6 has been perpetrated by the Uruguayan authorities.“81 Im Jahr darauf stellte der Ausschuss in der Beschwerde Quinteros v. Uruguay gleichfalls eine Verletzung von Art. 7, 9 und 10 Abs. 1 IPbürg fest sowie zusätzlich eine Verletzung von Art. 7 IPbürg in Bezug auf die Rechte der Mutter des Opfers.82 In der Beschwerde El-Megreisi v. Libyen, in der der Ausschuss ebenso eine Verletzung der Art. 7, 9 und 10 Abs. 1 IPbürg feststellte, begründete er insbesondere die Verletzung von Art. 7 IPbürg erstmals wie folgt: „Having regard to these facts, the Committee finds that Mr. Mohammed Bashir El-Megreisi, by being subjected to prolonged incommunicado detention in an unknown location, is the
76 Siehe zur Praxis auch Grammer, S. 64 – 66; Pérez Solla, S. 51 f., 64 f., 78 f., 87 f.; Scovazzi/Citroni, S. 101 – 131; Ott, S. 35 ff. 77 General Comment Nr. 6, 30. April 1982, Abs. 4: „States parties should also take specific and effective measures to prevent the disappearance of individuals, something which unfortunately has become all too frequent and leads too often to arbitrary deprivation of life. Furthermore, States should establish effective facilities and procedures to investigate thoroughly cases of missing and disappeared persons in circumstances which may involve a violation of the right to life.“ 78 Meist in Bezug auf die Misshandlung des verschwundenen Opfers, soweit erwähnt aber auch in Bezug auf dessen Angehörige. 79 Siehe die Auflistung in Bousroual v. Algerien, 991/2001, Auffassung vom 24. April 2006, Abs. 9.2: „Any act of such disappearance constitutes a violation of many of the rights enshrined in the Covenant, including the right to liberty and security of the person (art. 9), the right not to be subjected to torture or to cruel, inhuman or degrading treatment or punishment (art. 7), and the right of all persons deprived of their liberty to be treated with humanity and with respect for the inherent dignity of the human person (art. 10). It also violates or constitutes a grave threat to the right to life (art. 6).“ Siehe auch Report Nowak, Abs. 26, der zudem noch Art. 16 (Rechtsfähigkeit) IPbürg nennt. 80 So auch Richter, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), Kap. 20, Rn. 6. 81 Bleier v. Uruguay, R.7/30, Auffassung vom 29. März 1982, Abs. 14. Gerügt waren Art. 2, 3, 6, 7, 9, 10, 12.2, 14, 15, 17, 18, 19, 25 und 26 IPbürg. 82 Quinteros v. Uruguay, 107/1981, Auffassung vom 21. Juli 1983, Abs. 13 f. Gerügt waren Art. 7, 9, 10, 12, 14, 17 und 19 sowie in Bezug auf Angehörige Art. 7 und 17 IPbürg.
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Kap. 2: Rechte der Konvention in Fällen des Verschwindenlassens victim of torture and cruel and inhuman treatment, in violation of articles 7 and 10, paragraph 1, of the Covenant.“83
In seinen weiteren Auffassungen ging der Ausschuss auf eine Verletzung von Art. 10 IPbürg nicht ein, sondern beschränkte sich im Wesentlichen auf eine Prüfung der Art. 6, 7 und 9 IPbürg. So stellte er in der Beschwerde Arévalo v. Kolumbien eine Verletzung der Art. 6 und 9 IPbürg fest.84 In den Beschwerden Mojica v. Dominikanische Republik,85 Bautista v. Kolumbien,86 Coronel et al. v. Kolumbien87 sowie Celis Laureano v. Peru88 stellte der Ausschuss Verletzungen von Art. 6, 7 (nur in Bezug auf das Opfer) und 9 IPbürg fest. In Tshishimbi v. Zaire befand der Ausschuss, dass die Art. 7 und 9 Abs. 1 IPbürg verletzt seien.89 In den Beschwerden Bousroual v. Algerien,90 Boucherf v. Algerien91 und Jegatheeswara Sarma v. Sri Lanka92 stellte der Ausschuss eine Verletzung der Art. 7 und 9 IPbürg in Bezug auf das Opfer sowie von Art. 7 IPbürg in Bezug auf dessen Angehörige fest. 2. Inter-amerikanischer Gerichtshof für Menschenrechte93 Der IAGMR zog in seiner Rechtsprechung insbesondere die folgenden Rechte der AMRK heran: Art. 4 (Recht auf Leben), 5 (Verbot der Folter), 7 (Recht auf Freiheit), 83
El-Megreisi v. Libyen, 440/1990, Auffassung vom 23. März 1994, Abs. 5.4 (Hervorhebung nicht im Original). Eine Verletzung von Art. 6 IPbürg war nicht gerügt und wurde nicht geprüft. 84 Arévalo v. Kolumbien, 181/1084, Auffassung vom 3. November 1989, Abs. 11. 85 Mojica v. Dominikanische Republik, 449/1991, Auffassung vom 15. Juli 1994. 86 Bautista v. Kolumbien, 563/1993, Auffassung vom 27. Oktober 1995, Abs. 9. In diesem Fall war die Leiche des Opfers identifiziert worden. Eine Verletzung von Art. 10 IPbürg war nicht gerügt worden. 87 Coronel et al. v. Kolumbien, 778/1997, Auffassung vom 24. November 2002, Abs. 9.8. Außerdem von Art. 17 IPbürg durch das Stürmen der Wohnungen, Abs. 9.7. 88 Celis Laureano v. Peru, 540/1993, Auffassung vom 25. März 1996, Abs. 9. Auf Art. 10 IPBürg, obgleich gerügt, ging der Ausschuss nicht ein. 89 Tshishimbi v. Zaire, 542/1993, Auffassung vom 16. März 1995, Abs. 6. Gerügt waren die Art. 2 Abs. 3, 3, 5, 7, 9, 12 Abs. 1, 17, 18, 19, 20 Abs. 2 und 25, nicht aber 6 und 10 IPbürg. 90 Bousroual v. Algerien, 992/2001, Auffassung vom 24. April 2006, Abs. 10, genauer Art. 9 Absätze 1, 3 und 4 IPbürg, jeweils in Verbindung mit Art. 2 Abs. 3 IPbürg. Die Untersuchung einer Verletzung des Art. 10 IPbürg, obgleich gerügt, unterblieb, Abs. 9.9. Zusätzlich stellte der Ausschuss noch eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 IPbürg fest. 91 Boucherf v. Algerien, 1196/2003, Auffassung vom 27. April 2006, Abs. 10 jeweils in Verbindung mit Art. 2 Abs. 3 IPbürg. Eine Verletzung von Art. 6 und 10 IPbürg wurde nicht gerügt. 92 Jegatheeswara Sarma v. Sri Lanka, 950/2000, Auffassung vom 31. Juli 2003, Abs. 10. Eine Verletzung von Art. 6 IPbürg war nicht gerügt worden, Abs. 9.3; eine Untersuchung unter Art. 10 und 17 IPbürg hielt der Ausschuss nicht für erforderlich, Abs. 9.7. 93 Zur Rechtsprechung des IAGMR in Bezug auf Fälle des Verschwindenlassens siehe im Detail Scovazzi/Citroni, S. 132 – 187; Pérez Solla, S. 35 ff., 44 f., 61 f., 71 – 74, 86 f., 97 – 99 (auch zur Praxis der Inter-Amerikanischen Kommission für Menschenrechte); Benzimra-
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8 (Recht auf ein faires Verfahren) und 25 (Rechtschutzgarantie).94 Bereits im ersten Urteil des IAGMR, das einen Fall des Verschwindenlassens betraf, in VelásquezRodríguez v. Honduras aus dem Jahr 1989, wird dies deutlich: „The kidnapping of a person is an arbitrary deprivation of liberty, an infringement of a detainee’s right to be taken without delay before a judge and to invoke the appropriate procedures to review the legality of the arrest, all in violation of Article 7 of the Convention which recognizes the right to personal liberty […]. Moreover, prolonged isolation and deprivation of communication are in themselves cruel and inhuman treatment, harmful to the psychological and moral integrity of the person and a violation of the right of any detainee to respect for his inherent dignity as a human being. Such treatment, therefore, violates Article 5 of the Convention, which recognizes the right to the integrity of the person […]. The practice of disappearances often involves secret execution without trial, followed by concealment of the body to eliminate any material evidence of the crime and to ensure the impunity of those responsible. This is a flagrant violation of the right to life, recognized in Article 4 of the Convention […].“95
In späteren Urteilen spielten auch die Inter-amerikanische Konvention zur Verhinderung und Bestrafung von Folter, die 1987 in Kraft trat, sowie die Inter-amerikanische Konvention gegen das Verschwindenlassen, die 1996 in Kraft trat, jedenfalls für jene amerikanischen Staaten eine Rolle, die sie ratifiziert hatten. In der Beschwerde Velásquez-Rodríguez v. Honduras stellte der IAGMR im Ergebnis eine Verletzung der Art. 4, 5 und 7 AMRK fest.96 In der folgenden Beschwerde Godínez-Cruz v. Honduras97 erfolgte ebenfalls die Feststellung einer Verletzung der Art. 4, 5 und 7 AMRK. In Neira-Alegría et al. v. Peru98 und CaballeroDelgado und Santana v. Kolumbien stellte der IAGMR keine Verletzung von Art. 5 AMRK, sondern nur von Art. 4 und 7 AMRK fest.99 Hazan, Rev. Trim. Dr. h. 12 (2001), S. 765; Remotti Carbonell, S. 338 – 347; Ott, S. 35 ff.; Claude, Intercultural Human Rights Law Review 5 (2010), S. 407 (433 ff.); siehe auch Grammer, S. 46 – 58; Drucker, SJIL 25 (1989), S. 289 (zum Fall Velásquez-Rodríguez); Mendez/Vivanco, Hamline Law Review 13 (1990), S. 507. 94 Nowak nennt noch zusätzlich die Art. 1, 3 und 19 AMRK, Report Nowak, Abs. 26; Davidson, The Inter-American Court of Human Rights, S. 155 nennt Art. 4, 5 und 7 AMRK; ebenso Taqi, FILJ 24 (2000 – 2001), S. 940 (956). 95 Velásquez-Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Series C Nr. 4, Abs. 155 – 157. Zu diesem Urteil siehe Drucker, SJIL 25 (1989), S. 289. Siehe auch GodínezCruz v. Honduras, Merits, Urteil vom 20. Januar 1989, Series C Nr. 5, Abs. 158 ff. 96 Velásquez-Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Series C Nr. 4, Abs. 185 ff. Gerügt waren Art. 4, 5 und 7 AMRK, Abs. 159. 97 Godínez-Cruz v. Honduras, Merits, Urteil vom 20. Januar 1989, Series C Nr. 5. 98 Neira-Alegría et al. v. Peru, Merits, Urteil vom 19. Januar 1995, Series C Nr. 20. Gerügt waren Art. 4, 5, 7, 8, 25, 27 AMRK, Abs. 2. Die Feststellung einer Verletzung von Art. 5 AMRK scheiterte an den Besonderheiten des Sachverhalts: die Opfer waren während einer Gefängnisrevolte verschwunden, Abs. 86. Eine Verletzung von Art. 5 AMRK in Bezug auf die Angehörigen der Opfer war nicht gerügt worden. 99 Caballero-Delgado und Santana v. Colombia, Merits, Urteil vom 8. Dezember 1995, Series C Nr. 22. Gerügt waren Art. 4, 5, 7, 8 und 25, jeweils in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1
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Kap. 2: Rechte der Konvention in Fällen des Verschwindenlassens
Eine Verletzung von Art. 25 (Rechtschutzgarantie) AMRK zusätzlich zu einer Verletzung der Art. 4, 5 und 7 AMRK nahm der Gerichtshof erstmals im Jahre 1997 in der Beschwerde Castillo-Páez v. Peru an und begründete dies damit, dass das habeas corpus-Verfahren ineffektiv gewesen sei.100 Die Kommission hatte eine Verletzung von Art. 25 AMRK vergeblich bereits zuvor in den Beschwerden NeiraAlegría et al. v. Peru und Caballero-Delgado und Santana v. Colombia gerügt.101 Daneben berief sich die Kommission in Castillo-Páez v. Peru erstmals auf Art. 17 (Rechte der Familie) AMRK und auf ein Recht auf Wahrheit: „[…] [T]he Inter-American Commission further invoked two alleged violations. The first refers to Article 17 of the Convention concerning protection of the family, in that, according to the Commission, Mr. Castillo-Páez’ family disintegrated as a result of his disappearance. Secondly, the Commission considers that there has been a violation of the right to truth and information, in the light of the State’s lack of interest in investigating the events that gave rise to this case. It adduces that argument without citing any specific provision of the Convention, while pointing out that this right has been recognized by several international organizations.“102
Der IAGMR stellte keine solchen Verletzungen fest; die rechtlichen Folgen des Verschwindenlassens – so der Gerichtshof – seien bereits durch die anderen Feststellungen erfasst.103 Im Jahr 1998 stellte der IAGMR in der Beschwerde Blake v. Guatemala erstmals auch eine Verletzung von Art. 8 (Recht auf ein faires Verfahren) AMRK mit Bezug auf die Angehörigen des Opfers fest:104 „[…] Article 8(1) of the American Convention recognizes the right of Mr. Nicholas Blake’s relatives to have his disappearance and death to effectively investigated by the Guatemalan authorities to have those responsible prosecuted for committing said unlawful acts; to have
AMRK, Abs. 2. Eine Verletzung von Art. 8 und 5 AMRK stellte der IAGMR nicht fest, da zum einen zu wenig Zeit zwischen der Verhaftung und dem vermuteten Tod verstrichen sei und zum anderen nicht ausreichend Beweise für Folter vorlägen, Abs. 64 f. 100 Castillo-Páez v. Peru, Merits, Urteil vom 3. November 1997, Series C Nr. 34, Abs. 80 – 84 in Bezug auf Art. 25 AMRK. Gerügt waren Art. 4, 5, 7, 8, 25 AMRK, Abs. 1. 101 Caballero-Delgado und Santana v. Colombia, Merits, Urteil vom 8. Dezember 1995, Series C Nr. 22, Abs. 66: Keine Verletzung von Art. 25 AMRK. In Neira-Alegría et al. v. Peru, Merits, Urteil vom 19. Januar 1995, Series C Nr. 20 ging der IAGMR auf die Rüge gar nicht ein. 102 Castillo-Páez v. Peru, Merits, Urteil vom 3. November 1997, Series C Nr. 34, Abs. 85 (Hervorhebungen nicht im Original). 103 Castillo-Páez v. Peru, Merits, Urteil vom 3. November 1997, Series C Nr. 34, Abs. 86. 104 Blake v. Guatemala, Merits, Urteil vom 24. Januar 1998, Series C Nr. 36. Gerügt waren Art. 4, 7, 8, 13, 22 und 25 AMRK, Abs. 1. Die Prüfung der Art. 4 und 7 AMRK in Bezug auf das Opfer war unzulässig ratione temporis. Der IAGMR verneinte eine Verletzung der Art. 13, 22 und 25 AMRK. Siehe Grammer, S. 53 f., der darauf hinweist, dass sich der IAGMR aufgrund seiner beschränkten Zuständigkeit auf die Rechte der Angehörigen konzentrieren musste.
A. Überblick über die Rechte und Freiheiten der Konvention
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the relevant punishment, where appropriate, meted out; and to be compensated for the damages and injuries they sustained.“105
Ebenso stellte der IAGMR in diesem Urteil zum ersten Mal eine Verletzung von Art. 5 (Verbot der Folter) AMRK in Bezug auf die Angehörigen des Opfers fest: „The circumstances of such disappearances generate suffering and anguish, in addition to a sense of insecurity, frustration and impotence in the face of the public authorities’ failure to investigate. […] Consequently, the Court considers that such suffering, to the detriment of the mental and moral integrity of Mr. Nicholas Blake’s relatives, constitutes a violation by the State of Article 5 of the Convention in relation to its Article 1(1).“106
Damit stand im Wesentlichen fest, welche Artikel der Gerichtshof regelmäßig in Fällen des Verschwindenlassens prüfen und als verletzt befinden würde: In Bezug auf die Opfer waren dies die Art. 4 Abs. 1, 5 Abs. 1 und 2 sowie Art. 7 AMRK; in Bezug auf die Rechte der Angehörigen stellte der IAGMR auf die Art. 5 Abs. 1, 8 Abs. 1 und 25 Abs. 1 AMRK ab.107 So nahm der IAGMR in der Beschwerde Bámaca-Velásquez v. Guatemala eine Verletzung der Art. 4, 5 Abs. 1 und 2 (in Bezug auf das Opfer sowie die Angehörigen) und 7 AMRK sowie von Art. 8 und 25 (in Bezug auf das Opfer sowie die Angehörigen) AMRK an.108 Ausführlicher als noch im Urteil Castillo-Páez v. Peru ging der IAGMR auf ein Recht auf Wahrheit ein, das die Kommission auf die Art. 1 Abs. 1, 8, 13 und 25 AMRK stützte.109 Nach Ansicht des Gerichtshofes ist dieses Recht in der Feststellung einer Verletzung der Art. 8 und 25
105 Blake v. Guatemala, Merits, Urteil vom 24. Januar 1998, Series C Nr. 36, Abs. 97 (Hervorhebungen nicht im Original). 106 Blake v. Guatemala, Merits, Urteil vom 24. Januar 1998, Series C Nr. 36, Abs. 114, 116 (Hervorhebungen nicht im Original). 107 So in: Durand and Ugarte v. Peru, Merits, Urteil vom 16. August 2000, Series C Nr. 68. Der Fall bezog sich auf das gleiche Geschehen wie die Beschwerde Neira-Alegría et al. v. Peru. Der IAGMR stellte neben einer Verletzung von Art. 4 sowie von Art. 7 Abs. 1 und 5 AMRK auch eine Verletzung der Art. 7 Abs. 6 und 25 Abs. 1 und der Art. 8 Abs. 1 und 25 Abs. 1 (auch in Bezug auf die Angehörigen) AMRK fest. Eine Verletzung von Art. 5 Abs. 2 AMRK verneinte der IAGMR, Abs. 80. 19 Tradesmen v. Colombia, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 5. Juli 2004, Series C Nr. 109. Gerügt waren Art. 4, 5, 7, 8 Abs. 1 und 25 AMRK, Abs. 2; der IAGMR stellte eine Verletzung der Art. 4, 5 (auch in Bezug auf die Angehörigen) und 7 sowie von Art. 8 Abs. 1 und 25 AMRK (auch in Bezug auf die Angehörigen) fest. Pueblo Bello Massacre v. Kolumbien, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 31. Januar 2006, Series C Nr. 140. Eine Verletzung von Art. 13 AMRK sowie des Rechts auf Wahrheit stellte der Gerichtshof nicht fest, Abs. 219 f. Er stellte eine Verletzung der Art. 4 Abs. 1, 5 Abs. 1 (auch in Bezug auf die Angehörigen) und 2, 7 Abs. 1 und 2 sowie der Art. 8 Abs. 1 und 25 AMRK in Bezug auf die Angehörigen fest. 108 Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Merits, Urteil vom 25. November 2000, Series C Nr. 70. Der IAGMR stellte außerdem mehrere Verletzungen der Inter-amerikanischen Konvention gegen Folter fest, Abs. 215 ff. 109 Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Merits, Urteil vom 25. November 2000, Series C Nr. 70, Abs. 197.
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Kap. 2: Rechte der Konvention in Fällen des Verschwindenlassens
AMRK aber bereits erfasst.110 In dem Urteil der Beschwerde Anzualdo-Castro v. Peru stellte der IAGMR im Jahre 2009 zusätzlich noch eine Verletzung von Art. 3 AMRK fest,111 ebenso im Jahre 2010 in dem Verfahren Gomes-Lund et al. (Guerrilha do Araguaia) v. Brasilien.112 Eine solche Verletzung hatte der IAGMR, obgleich in Bámaca-Velásquez v. Guatemala von der Kommission gerügt,113 zuvor lediglich in dem Fall angenommen, in dem der Staat seine Verantwortlichkeit unter Art. 3 AMRK anerkannt hatte.114 In den Urteilen Serrano-Cruz Sisters v. El Salvador und Heliodoro-Portugal v. Panama stellte der IAGMR aufgrund seiner teilweisen Unzuständigkeit ratione temporis im Wesentlichen nur die Verletzung der Art. 5 Abs. 1 (in Bezug auf die Angehörigen), 8 Abs. 1 und 25 AMRK fest.115 In vielen Verfahren erkannte der beschwerdegegnerische Staat seine Verantwortlichkeit für das Verschwindenlassen an;116 sein Eingeständnis erfasste zumeist eine Verletzung der Art. 4, 5, 7, 8 und 25 AMRK. Vom Eingeständnis nicht erfasst waren in der Regel Verletzungen der Art. 5, 8 und 25 AMRK in Bezug auf die Angehörigen der Opfer. Dies hinderte den Gerichtshof allerdings nicht, diese Verletzungen zu prüfen und in der Folge festzustellen.117 110
Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Merits, Urteil vom 25. November 2000, Series C Nr. 70, Abs. 199 – 202. 111 Anzualdo-Castro v. Peru, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 22. September 2009, Series C Nr. 202. Der IAGMR stellte eine Verletzung von Art. 3, 4 Abs. 1, 5 Abs. 1 und 2 (auch in Bezug auf die Angehörigen), 7 Abs. 1 und 6 sowie der Art. 8 Abs. 1 und 25 (in Bezug auf die Angehörigen) AMRK fest. 112 Gomes-Lund et al. (Guerrilha do Araguaia) v. Brasilien, Urteil vom 24. November 2010, Series C Nr. 219. 113 Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Merits, Urteil vom 25. November 2000, Series C Nr. 70, Abs. 176 – 181. 114 So in Trujillo-Oroza v. Bolivia, Merits, Urteil vom 26. Januar 2000, Series C Nr. 64. Siehe auch Benavides-Cevallos v. Ecuador, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 19. Juni 1998, Series C Nr. 38, in dem die Leiche des Opfers allerdings identifiziert wurde. 115 Serrano-Cruz Sisters v. El Salvador, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 1. März 2005, Series C Nr. 120. Gerügt waren Art. 4, 5, 7, 17, 18, 19 und 25 AMRK, Abs. 2. Es waren zwei junge Mädchen verschwunden. Die Rüge der Art. 4, 17, 18 und 19 war unzulässig ratione temporis. Der IAGMR stellte eine Verletzung der Art. 8 Abs. 1 und 25 (auch in Bezug auf die Angehörigen), 5 (in Bezug auf die Angehörigen) fest. Heliodoro-Portugal v. Panama, Preliminary Objections, Merits, Reparations, and Costs, Urteil vom 12. August 2008, Series C Nr. 186. In diesem Fall war die Leiche des Opfers aber identifiziert worden. Der IAGMR befand, er sei unzuständig ratione temporis über die gerügte Verletzung der Art. 4, 5 (in Bezug auf das Opfer) und 13 AMRK zu entscheiden, Abs. 36. Der Gerichtshof stellte Verletzungen der Art. 5 Abs. 1 (in Bezug auf die Angehörigen), 7 sowie der Art. 8 Abs. 1 und 25 Abs. 1 (in Bezug auf die Angehörigen) AMRK fest. 116 So auch in Garrido and Baigorria v. Argentinien, Merits, Urteil vom 2. Februar 1996, Series C Nr. 26. Aus dem Urteil geht allerdings nicht hervor, welche Artikel der IAGMR als verletzt feststellt. 117 So El Caracazo v. Venezuela, Merits, Urteil vom 11. November 1999, Series C Nr. 58: Der IAGMR stellte eine Verletzung der Art. 4 Abs. 1, 5, 7, 8 Abs. 1 und 25 Abs. 1 und Abs. 2 a) AMRK fest. Trujillo-Oroza v. Bolivia, Merits, Urteil vom 26. Januar 2000, Series C Nr. 64: Der IAGMR stellte eine Verletzung von Art. 3, 4, 5 Abs. 1 und 2 (auch in Bezug auf die
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3. Menschenrechtskammer für Bosnien-Herzegowina118 In der Rechtsprechung der Menschenrechtskammer für Bosnien-Herzegowina standen Verletzungen der Art. 3 und 8 EMRK in Bezug auf die Angehörigen im Vordergrund.119 Hingegen spielte Art. 13 EMRK keine Rolle und nur in einem Fall stellte die Kammer eine Diskriminierung fest. Auf einige Verletzungen ging die Kammer regelmäßig nicht ein, da sie außerhalb ihrer temporalen Zuständigkeit
Angehörigen), 7, 8 Abs. 1 und 25 AMRK fest. Molina-Theissen v. Guatemala, Merits, Urteil vom 4. Mai 2004, Series C Nr. 106. Es war ein 14jähriger Junge entführt worden. Der IAGMR stellte eine Verletzung von Art. 4 Abs. 1, 5 Abs. 1 und 2 (auch in Bezug auf die Angehörigen), 7, 8 (auch in Bezug auf die Angehörigen), 17 (auch in Bezug auf die Angehörigen), 19 und 25 (auch in Bezug auf die Angehörigen) AMRK fest sowie außerdem eine Verletzung der Art. I und II der Inter-amerikanischen Konvention gegen das Verschwindenlassen. Gómez-Palomino v. Peru, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 22. November 2005, Series C Nr. 136. Peru hatte seine Verantwortlichkeit unter Art. 4, 5 Abs. 1 und 2 und 7 Abs. 1 – 7 sowie unter Art. 8 Abs. 1 und 25 (in Bezug auf die Angehörigen) AMRK anerkannt; zusätzlich stellte der IAGMR eine Verletzung von Art. 5 AMRK in Bezug auf die Angehörigen fest. Außerdem stellte der IAGMR eine Verletzung von Art. I b der Inter-amerikanischen Konvention gegen das Verschwindenlassen fest, Abs. 110. Blanco-Romero et al v. Venezuela, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 28. November 2005, Series C Nr. 138. Der IAGMR stellte Verletzungen der Art. 4 Abs. 1, 5 Abs. 1 (auch in Bezug auf die Angehörigen) und 2 sowie 7 Absätze 1 – 6 und der Art. 8 Abs. 1 und 25 (auch in Bezug auf die Angehörigen) AMRK fest. Zusätzlich waren noch Art. Ia,b, X und XI der Inter-amerikanischen Konvention gegen das Verschwindenlassen verletzt, Abs. 58. Goiburú et al. v. Paraguay, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 22. September 2006, Series C Nr. 153. In diesem Urteil beschäftigte sich der IAGMR erstmals mit dem Verschwindenlassen von Personen im Rahmen der Operation Condor. Der IAGMR stellte eine Verletzung der Art. 4 Abs. 1, 5 Abs. 1 (auch in Bezug auf die Angehörigen) und 2 und Art. 7 sowie der Art. 8 Abs. 1 und 25 (auch in Bezug auf die Angehörigen) AMRK fest. Paraguay hatte eine Verletzung von Art. 8 Abs. 1 und 25 AMRK nur zum Teil anerkannt, Abs. 50, sowie keine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 AMRK in Bezug auf die Angehörigen. La Cantuta v. Peru, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 29. November 2006, Series C Nr. 162: Der IAGMR stellte eine Verletzung von Art. 4 Abs. 1, 5 Abs. 1 (auch in Bezug auf die Angehörigen) und 2 und Art. 7 sowie von Art. 8 und 25 (auch in Bezug auf die Angehörigen) AMRK fest. Es wurde keine Verletzung von Art. 3 AMRK festgestellt, Abs. 121. Tiu-Tojín v. Guatemala, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 26. November 2008, Series C Nr. 190: Der IAGMR stellte Verletzungen der Art. 4 Abs. 1, 5 Abs. 1 (auch in Bezug auf eine Angehörige) und 2 und Art. 7 Abs. 1, 2, 4, 5 und 6 sowie der Art. 8 Abs. 1 und 25 Abs. 1 (auch in Bezug auf Angehörige) AMRK fest. Zusätzlich stellte der IAGMR noch eine Verletzung von Art. 19 AMRK fest. Ticona-Estrada et al. v. Bolivien, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 27. November 2008, Series C Nr. 191: Der IAGMR stellte eine Verletzung der Art. 4 Abs. 1, 5 Abs. 1 (auch in Bezug auf Angehörige) und 2 und Art. 7 sowie der Art. 8 Abs. 1 und 25 (in Bezug auf die Angehörigen) AMRK fest. Der IAGMR stellte keine Verletzung von Art. 3 AMRK fest, Abs. 71. 118 Siehe zur Rechtsprechung Pérez Solla, S. 37 f., 78, 95 – 97; Rauschning, in: FS Ress, S. 1061; Ott, S. 35 ff. Die Urteile der Menschenrechtskammer sind abrufbar unter: http:// www.hrc.ba/database/searchForm.asp. 119 Scovazzi/Citroni, S. 227. Dazu auch Rauschning, in: FS Ress, S. 1061 (1071 ff.).
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Kap. 2: Rechte der Konvention in Fällen des Verschwindenlassens
lagen, die am 14. Dezember 1995 begann, – so auf Verletzungen von Art. 2 und 3 EMRK in Bezug auf das Opfer.120 In seinem ersten Urteil im Fall Matanovic´ v. Serbien nahm die Menschenrechtskammer 1997 unter Bezugnahme auf den Bericht der Europäischen Kommission für Menschenrechte in der Beschwerde Kurt eine Verletzung von Art. 5 EMRK an; die Prüfung der Art. 2 und 3 EMRK sei, so die Kammer, nicht erforderlich.121 In seinem Sondervotum kritisierte dies Richter Nowak und forderte zusätzlich die Feststellung einer Verletzung der Art. 3 und 2 EMRK.122 Im Jahr 2001 stellte die Kammer in der Beschwerde Palic´ v. Serbien Verletzungen der Art. 2, 3 (auch in Bezug auf die Angehörigen), 5 und 8 EMRK fest.123 Die Inhaftierung incommunicado stelle, so die Kammer, eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung dar.124 Die Feststellung der Verletzung von Art. 8 EMRK, die in Bezug auf die Ehefrau des Opfers erfolgte, stützte die Menschenrechtskammer auf das Recht, die Wahrheit über das Schicksal des Angehörigen zu erfahren: „[…] Ms. Palic has sufficiently substantiated that the respondent Party is arbitrarily withholding from her information, which must be in its possession, concerning the fate of her husband, including information concerning her husband’s body, if he is no longer alive.“125
Im Fall Unkovic´ v. Bosnien-Herzegowina stellte die Kammer zunächst eine Verletzung von Art. 3 EMRK in Bezug auf den Beschwerdeführer fest, nicht aber von Art. 8 und 13 EMRK.126 In der Revision verneinte die Kammer jedoch, dass die Konvention verletzt sei.127 120 Scovazzi/Citroni, S. 227. So stellte der EGMR in der Beschwerde Grgic´ v. Serbien keine Verletzungen fest: Das Opfer sei 1992 verhaftet worden und es sei nicht bewiesen, dass die Inhaftierung auch nach Beginn der Zuständigkeit der Kammer 1995 noch angedauert habe; Grgic´ v. Serbien, CH/96/15, Entscheidung vom 5. August 1997, Abs. 11 – 19. Gerügt waren Art. 5, 8 und 10 EMRK. 121 Matanovic´ v. Serbien, CH/96/1, Entscheidung vom 11. Juli 1997, Abs. 60 f. 122 Matanovic´ v. Serbien, CH/96/1, Entscheidung vom 11. Juli 1997, Annex, Concurring Opinion of Manfred Nowak, Abs. 9, mit der Begründung, die nicht anerkannte Haft sei schon an sich eine Verletzung von Art. 3 EMRK. 123 Palic´ v. Serbien, CH/99/3196, Entscheidung vom 11. Januar 2001. In Bezug auf Art. 2 EMRK wird aus den Ausführungen nicht deutlich, ob die Kammer die Verantwortlichkeit für den (vermuteten) Tod des Opfers feststellt (so in Abs. 67, 69) oder die Verletzung von Ermittlungspflichten (so in Abs. 68). 124 Palic´ v. Serbien, CH/99/3196, Entscheidung vom 11. Januar 2001, Abs. 74: „This incommunicado detention and the suffering and fear of Colonel Palic that may safely be presumed to have been caused by it reveal inhuman and degrading treatment in violation of Article 3 of the Convention in relation to Colonel Palic.“ 125 Palic´ v. Serbien, CH/99/3196, Entscheidung vom 11. Januar 2001, Abs. 84. 126 Unkovic´ v. Bosnien-Herzegowina, CH/99/2150, Entscheidung vom 9. November 2001, Abs. 99, 101, 104. 127 Unkovic´ v. Bosnien-Herzegowina, CH/99/2150, Entscheidung vom 10. Mai 2002, Abs. 119, 127, 130. Ihrer Ansicht nach habe Bosnien-Herzegowina insbesondere durch die Verurteilung der Straftäter seine Pflichten erfüllt.
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Im März 2003 erging das Urteil der Menschenrechtskammer im Fall Selimovic´ et al. v. Serbien, in dem Angehörige von 49 bosnischen Männern rügten, dass diese seit den Massenexekutionen im Juli 1995 in Srebrenica vermisst128 seien. Die Kammer stellte Verletzungen der Art. 3 und 8 EMRK in Bezug auf die Angehörigen fest, sowie außerdem eine Diskriminierung im Zusammenhang mit Art. 3 und 8 EMRK, ohne allerdings Art. 14 EMRK zu nennen.129 Eine Prüfung von Art. 13 EMRK sah die Kammer in Anbetracht der festgestellten Verletzung der Art. 3 und 8 EMRK nicht als erforderlich an.130 Auch in den folgenden Fällen stellte die Menschenrechtskammer regelmäßig Verletzungen der Art. 3 und 8 EMRK in Bezug auf die Angehörigen fest.131 Art. 8 EMRK wird dabei als Recht auf Zugang zu Informationen verstanden, Art. 3 EMRK als Recht auf Kenntnis der Wahrheit.132 4. Ansichten in der Literatur zu den anwendbaren Menschenrechten Die völkerrechtliche Literatur wendet sich in erster Linie dagegen, das Verschwindenlassen lediglich als Verletzung des Rechts auf Freiheit (Art. 5 EMRK) einzuordnen. So kritisieren Ovey/White, dass der EGMR vor dem Hintergrund der Praxis des Menschenrechtsausschusses und des IAGMR in der Entscheidung Kurt zu vorsichtig vorgegangen sei.133 Allerdings, so die beiden Autoren, habe der EGMR in 128 Die Unterscheidung von vermissten und verschwundenen Personen wurde von Serbien aufgeworfen, von der Kammer aber als irrelevant abgetan: Selimovic´ et al. v. Serbien, CH/01/ 8365 et al., Entscheidung vom 7. März 2003, Abs. 161 – 164. 129 Selimovic´ et al. v. Serbien, CH/01/8365 et al., Entscheidung vom 7. März 2003, Abs. 181, 191, 194 – 202; andere mögliche Verletzungen waren unzulässig ratione temporis, Abs. 165 – 169. 130 Selimovic´ et al. v. Serbien, CH/01/8365 et al., Entscheidung vom 7. März 2003, Abs. 193. 131 So in Pasˇovic´, Niksˇic´ und Buric´ v. Serbien, CH/01/8569, CH/02/9611, CH/02/9613, CH/02/11195, CH/02/11391, Entscheidung vom 7. November 2003; Popovic´ v. BosnienHerzegowina, CH/02/10074, Entscheidung vom 7. November 2003, Abs. 170 (es sei nicht erforderlich, eine Verletzung von Art. 13 EMRK zu prüfen); Jovanovic´ v. Bosnien-Herzegowina, CH/02/9180, Entscheidung vom 5. Dezember 2003; Huskovic´ et al. v. Bosnien-Herzegowina, CH/02/12551 et al., Entscheidung vom 22. Dezember 2003; Mujic´ et al. v. Serbien, CH/02/10235 et al., Entscheidung vom 22. Dezember 2003, die Kammer untersuchte nicht, ob eine Diskriminierung vorlag, Abs. 71; M.C. et al. v. Serbien, CH/02/9851 et al., Entscheidung vom 22. Dezember 2003, eine Diskriminierung prüfte die Kammer nicht, Abs. 75; Malkic´ et al. v. Serbien, CH/02/9358 et al., Entscheidung vom 22. Dezember 2003, eine Diskriminierung prüfte die Kammer nicht, Abs. 100. 132 Siehe Huskovic et al. v. Bosnien-Herzegowina, CH/02/12551, Entscheidung vom 22. Dezember 2003, Abs. 65: Right to Access of Information, Abs. 77: Right to know the Truth. Ebenso Mujic´ et al. v. Serbien, CH/02/10235, Entscheidung vom 22. Dezember 2003, Abs. 59 und 65; M.C. et al. v. Serbien, CH/02/9851 et al., Entscheidung vom 22. Dezember 2003, Abs. 64 und 69; Malkic´ et al. v. Serbien, CH/02/9358 et al., Entscheidung vom 22. Dezember 2003, Abs. 89 und 94. Dazu siehe auch Rauschning, in: FS Ress, S. 1061 (1071 ff.). 133 White/Ovey, S. 148.
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jüngeren Entscheidungen eine strengere Herangehensweise entwickelt.134 Auch Nowak ist der Ansicht, dass das Verschwindenlassen jedenfalls mehr als eine gesteigerte Verletzung des Rechts auf Freiheit sei: „The minimum approach, which was at least originally applied by the European Court of Human Rights and which, in the absence of any further evidence, understands enforced disappearances as only an aggravated form of arbitrary detention, does not correspond to the extremely serious nature of this human rights violation.“135
Seiner Ansicht nach sei es erforderlich, entweder ein unabhängiges und nicht derogierbares spezifisches Recht zu garantieren, nicht verschwunden gelassen zu werden, oder rechtlich verbindlich festzulegen, dass jedes Verschwindenlassen auch eine unmenschliche Behandlung und eine Verletzung bestimmter weiterer Rechte darstellt.136 Diese Auffassung vertritt auch der zypriotische Berichterstatter Pourgourides in seinem Bericht an den Europarat.137 Als Ausgangspunkt seiner Überlegungen nennt Nowak Art. 1 Abs. 2 der Erklärung gegen das Verschwindenlassen,138 der in Bezug auf das Verschwindenlassen die Verletzung folgender Rechte nennt: „It constitutes a violation of the rules of international law guaranteeing, inter alia, the right to recognition as a person before the law, the right to liberty and security of the person and the right not to be subjected to torture and other cruel, inhuman or degrading treatment or punishment. It also violates or constitutes a grave threat to the right to life“.
Auf die Bedeutung dieser Erklärung stellt auch Pérez Solla ab, die vorschlägt, diese als Auslegungsmittel heranzuziehen.139 Scovazzi/Citroni betonen, dass im Falle des Verschwindenlassens das Recht auf eine menschliche Behandlung (Art. 3 EMRK) in Bezug auf das Opfer verletzt sei und kritisieren das Vorgehen des EGMR, eine Verletzung von Art. 3 EMRK in Bezug auf das Opfer nur dann anzunehmen, wenn besondere Umstände vorliegen.140 Auch nach Ansicht von Pérez Solla stellt das Verschwindenlassen jedenfalls eine unmenschliche Behandlung dar (Art. 3 EMRK). Außerdem seien Art. 2 und 5 EMRK verletzt sowie 134
White/Ovey, S. 148. Report Nowak, Abs. 76. 136 Report Nowak, Abs. 76: „It seems, therefore, necessary either to establish a new, independent and non-derogable human right not to be subjected to enforced disappearance or to specify in a legally binding manner that every act of enforced disappearance, in addition to arbitrary deprivation of personal liberty, constitutes an act of inhuman treatment in violation of article 7 of the International Covenant on Civil and Political Rights and a violation of certain other human rights.“ 137 Report Pourgourides, Abs. 48: „A future international instrument should therefore either establish a new, independent and non-derogable human right not to be subjected to enforced disappearance, or specify that every such act constitutes inhuman treatment in violation of Article 7 ICCPR and Article 3 ECHR.“ 138 Report Nowak, Abs. 75. 139 Pérez Solla, S. 39. 140 Scovazzi/Citroni, S. 221. 135
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das Recht auf Rechtsfähigkeit missachtet, welches allerdings in der EMRK nicht enthalten ist. In Bezug auf die Rechte der Angehörigen der verschwundenen Person können ihrer Ansicht nach die Art. 3, 8 und 13 EMRK verletzt sein.141 Ähnlich äußert sich auch Andreu-Guzmán, nach dem das Verschwindenlassen per se das Recht auf Sicherheit und Freiheit, auf Rechtsschutz und auf Rechtsfähigkeit sowie das Folterverbot verletzt.142
III. Bewertung Die vorstehende Darstellung zeigt auf, dass sich die Rechtsprechung des EGMR in Fällen des Verschwindenlassens seit der Entscheidung Kurt aus dem Jahre 1998 in erheblichem Maße fortentwickelt hat. Es ist insbesondere zu begrüßen, dass der EGMR nunmehr nicht in erster Linie eine Verletzung von Art. 5 EMRK in den Vordergrund seiner Prüfung stellt, sondern gerade auch eine Verletzung von Art. 2 EMRK umfassend prüft. Zu kritisieren ist in diesem Zusammenhang das Vorgehen der Dritten Sektion143 in der Beschwerde Nehyet Günay et al. v. Türkei aus dem Jahre 2008. Die Sektion stellte zunächst eine Verletzung von Art. 2 EMRK sowohl in substantieller als auch in prozeduraler Hinsicht fest. Vor dem Hintergrund einer prozeduralen Verletzung von Art. 2 EMRK hielt es die Kammer nicht für erforderlich, eine Verletzung der Art. 3 und 5 EMRK durch die Umstände der Inhaftierung zu untersuchen.144 Eine solche eingeschränkte Prüfung ist nicht angemessen, um das komplexe Phänomen des Verschwindenlassens zu erfassen. Der EGMR hat bislang eine Verletzung von Art. 2 EMRK in seinem substantiellen Gehalt in Fällen des Verschwindenlassens nur dann angenommen, wenn er feststellte, dass das Opfer tot ist oder der Tod zu vermuten ist. Der EGMR hat die Verpflichtung nach Art. 2 EMRK damit nicht darauf ausgedehnt, auch die Verantwortlichkeit des beschwerdegegnerischen Staates dafür zu erfassen, dass das Leben des verschwundenen Opfers bloß einem hohen Risiko ausgesetzt ist. Vielmehr hat der EGMR durchweg festgestellt, dass der Tod des Opfers zu vermuten sei oder feststehe, sobald er eine Verletzung von Art. 2 EMRK in seinem abwehrrechtlichen Gehalt bejahte. Damit hat er durch die Behebung einer tatsächlichen Zweifelsfrage 141 Pérez Solla, S. 39 – 41, 190 – 193. Sie nennt außerdem ein Recht auf Wahrheit, das sie keinem Artikel zuordnet. 142 Andreu-Guzmán, The Review International Commission of Jurists 62 – 63 (2001), S. 73 (75), er beruft sich dabei auf internationale Rechtsprechung und Literatur. 143 Die Entscheidungen gegen Russland erließ alle die 1. Sektion, so dass diese abweichende Rechtsprechung aus der abweichenden Zusammensetzung der Richterbank erklärt werden könnte. 144 Nehyet Günay et al. v. Türkei, 51210/99, Urteil vom 21. Oktober 2008, Abs. 82, 97 (Art. 2), 98: „Au vu de ce qui précède, la Cour estime qu’il n’y a pas lieu d’examiner en outre des griefs tirés des articles 3 et 5 de la Convention concernant les conditions de l’arrestation de Deham Günay.“ Eine Verletzung von Art. 3 EMRK in Bezug auf die Beschwerdeführer wurde ebenfalls festgestellt, Abs. 104.
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mit Mitteln des Beweisrechts im Rahmen der Tatsachenfeststellung145 vermieden, eine erweiterte Auslegung des Rechts auf Leben vorzunehmen. Dieses Vorgehen begegnet an sich keiner Kritik; die Feststellung des Todes im Rahmen der Tatsachenfeststellung ist vielmehr zu befürworten. Allerdings könnte dem Vorschlag des Richters Maruste in seinem Sondervotum zur Entscheidung C ¸ içek gefolgt werden und bereits dann eine substantielle Verletzung von Art. 2 EMRK angenommen werden, wenn der Tod des verschwundenen Opfers nicht feststeht, sondern nur möglich ist.146 Richter Maruste stellt auf die Lehre von den positiven Pflichten ab und führt aus: „The disappearance of a person under the control of the authorities means that their life has not been properly protected.“147
Art. 2 EMRK könnte damit die positive Pflicht enthalten, das Leben vor Risiken zu schützen.148 Dann würde der Staat aber erst recht der Verpflichtung unterliegen, selbst nicht aktiv ein Risiko für das Rechtsgut Leben zu setzen. Dies wirft die Frage auf, inwiefern der abwehrrechtliche Gehalt von Art. 2 EMRK auch lebensgefährliche, aber nicht tödliche Eingriffe erfasst.149 Der EGMR hat in seiner Rechtsprechung Art. 2 EMRK bereits dann herangezogen, wenn die staatliche Handlung nicht zum Tode führte, aber hätte führen können, mithin lebensgefährlich150 war.151 In Fortführung dieser Rechtsprechungslinie sollte der EGMR in Zukunft in Fällen des Verschwindenlassens bereits die Feststellung, dass das Leben des verschwundenen Opfers gefährdet ist und dafür der Staat die Verantwortung trägt, dazu ausreichen lassen, eine Verletzung von Art. 2 EMRK in seinem abwehrrechtlichen, das heißt substantiellen Gehalt anzunehmen.152 Dies würde auch dem Grundsatz entsprechen, die Konventionsrechte nicht restriktiv auszulegen, sondern in einer Weise, die Ziel und Zweck der Konvention am besten zu fördern geeignet ist.153 145
Dazu siehe infra, Kapitel 3, insbesondere B.III. C¸içek v. Türkei, 25704/94, Urteil vom 27. Februar 2001, Sondervotum von Richter Maruste. Siehe auch Pérez Solla, S. 39, die bereits eine schwere Bedrohung des Lebens ausreichen lässt. 147 C¸içek v. Türkei, 25704/94, Urteil vom 27. Februar 2001, Sondervotum von Richter Maruste, in fine. 148 Zu Schutzpflichten siehe infra Kapitel 2, B.II.2.a). Zu Schutzpflichten bei Rechtsgutgefährdungen siehe auch Jaeckel, S. 165 f. 149 Zu dieser Frage siehe Alleweldt, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), Kap. 10, Rn. 50 – 53; Leach, Taking a Case, S. 189. 150 Zur Einstufung des Verschwindens als lebensgefährlich siehe infra Kapitel 3, B.III. 151 Makaratzis v. Griechenland, 50385/99, Urteil vom 20. Dezember 2004, Abs. 49: „This, however, does not exclude in principle an examination of the applicant’s complaints under Article 2, the text of which, read as a whole, demonstrates that it covers not only intentional killing but also situations where it is permitted to use force which may result, as an unintended outcome, in the deprivation of life.“ Ilhan v. Türkei, 22277/93, Urteil vom 27. Juni 2000, Abs. 75 f. 152 Vgl. Ott, S. 127 f. 153 Siehe Leach, Taking a Case, S. 171 mit Verweis auf Rechtsprechung. 146
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Kritik begegnet ebenfalls die zögerliche Annahme einer Verletzung von Art. 3 EMRK in Bezug auf das verschwundene Opfer. Zwar ist es eine beweisrechtliche Frage, ob der EGMR Tatsachen, die als Misshandlungen oder gar Folter einzustufen sind, feststellen sollte, wenn keine konkreten Beweismittel in dieser Hinsicht vorliegen und er vielmehr aus Indizien schlussfolgern müsste.154 Allerdings könnte der EGMR – bei gleichzeitiger Heranziehung der Tatsachen, die er auch bislang seiner rechtlichen Bewertung zugrunde legt – den Schutzbereich von Art. 3 EMRK erweiternd auslegen. So stellt der EGMR regelmäßig fest, dass das Opfer in nicht anerkannter Haft gehalten wird. Diese festgestellte Tatsache sollte der EGMR bereits als unmenschliche Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK einstufen. Diese Bewertung stünde mit einem Verständnis der EMRK als „living instrument“ im Einklang, die es ermöglicht, bestimmte Handlungen in Anbetracht eines fortschreitend sich erhöhenden Standards im Bereich des Schutzes der Menschenrechte einer anderen rechtlichen Bewertung zu unterziehen.155 Eine solche Einstufung würde auch der dargelegten Rechtsprechung des IAGMR und des Menschenrechtsausschusses entsprechen.156 Diese beiden Gremien stufen die nicht anerkannte Inhaftierung zu Recht regelmäßig als unmenschliche Behandlung ein:157 Denn diese geht mit einer Isolation des Opfers einher, die Angst in Bezug auf das weitere Schicksal erzeugt.158 Diese Angst, so Ott, unterscheide sich nicht wesentlich von der expliziten Androhung von Folter, welche als unmenschliche Behandlung ebenfalls verboten sei.159 „[…] [P]rolonged isolation and deprivation of communication are in themselves cruel and inhuman treatment, harmful to the psychological and moral integrity of the person […].“160
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Diese Frage fällt damit in Kapitel 3. Siehe Scovazzi/Citroni, S. 221: „Once the existence of a widespread or systematic practice of disappearance has been established together with the corresponding practice of torture of prisoners, and the material victim has last been seen in the custody of State agents, torture or inhuman and degrading treatment may be presumed, together with the presumption of the death of the victim.“ 155 Siehe Selmouni v. Frankreich, 25803/94, Urteil vom 28. Juli 1999, Abs. 101: „However, having regard to the fact that the Convention is a “living instrument which must be interpreted in the light of present-day conditions“ […], the Court considers that certain acts which were classified in the past as ,inhuman and degrading treatment‘ as opposed to ,torture‘ could be classified differently in future. It takes the view that the increasingly high standard being required in the area of the protection of human rights and fundamental liberties correspondingly and inevitably requires greater firmness in assessing breaches of the fundamental values of democratic societies.“ 156 Siehe supra Kapitel 2, A.II.1. und 2., sowie Pérez Solla, S. 73, 78 f.; Benzimra-Hazan, Rev. Trim. Dr. h. 12 (2001), S. 765 (772 f.). 157 Siehe auch Ott, S. 58 – 63 mit einer näheren Analyse dieser Praxis. 158 So auch Pérez Solla, S. 84. Siehe auch Erdal/Bakirci, S. 123 ff. zur Feststellung der erforderlichen Schwere der Misshandlung und zur Rechtsprechung in Bezug auf Haftbedingungen. 159 Ott, S. 66. 160 Velásquez-Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Series C Nr. 4, Abs. 156.
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Das Opfer wird seiner Rechtssubjektivität und Würde als Mensch beraubt. Bank weist zu Recht darauf hin, dass das Opfer ohne rechtsstaatliche Schutzmechanismen der Willkür der Beamten ausgesetzt und gegebenenfalls längerfristig von der Außenwelt abgeschnitten ist; die dadurch geschaffene Situation sei geeignet, die Persönlichkeit des Opfers zu brechen.161 Die Möglichkeit einer Rechtfertigung eines Konventionsverstoßes, zum Beispiel nach Art. 2 Abs. 2 oder Art. 5 Abs. 1 S. 2 EMRK, spielte zu Recht keine Rolle in der Rechtsprechung. In aller Kürze stellt der Gerichtshof regelmäßig lediglich fest, dass keine Rechtfertigung vorgetragen wurde beziehungsweise in Betracht kommt.162 Eine nicht eingestandene, außergesetzliche Freiheitsentziehung jenseits aller Verfahren stellt einen eklatanten Verstoß gegen das Recht auf Freiheit der Person dar; ebenso ist die absichtliche, außergesetzliche Tötung einer Person nicht zu rechtfertigen.
B. Einzelne relevante Aspekte I. Die Verletzung der Beschwerdeführer in ihren Rechten und Freiheiten Wie aus der vorstehenden überblicksartigen Darstellung der Rechtsprechung der Konventionsorgane hervorgeht, stellten diese bereits in der Beschwerde Kurt darauf ab, dass die Beschwerdeführer, meist nahe Angehörige der verschwundenen Person, ebenfalls in ihren Rechten verletzt sind und konzentrierten damit ihre Ausführungen nicht lediglich auf die Verletzung der Rechte der verschwundenen Person. Im Folgenden wird die diesbezügliche Rechtsprechung einer näheren Untersuchung (1.) und Bewertung (2.) unterzogen. 1. Die relevante Rechtsprechung der Konventionsorgane Die Konventionsorgane stellen in erster Linie eine Verletzung der Angehörigen in Art. 3 EMRK fest [a)], nicht aber eine Verletzung von Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) oder eines Rechts auf Wahrheit [b)]. a) Art. 3 EMRK: Das seelische Leiden der Angehörigen Obwohl sowohl die Kommission als auch der Gerichtshof bereits in der Beschwerde Kurt eine Verletzung von Art. 3 EMRK in Hinblick auf die Leiden der 161
Bank, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), Kap. 11, Rn. 54. Siehe z. B. Amanat Ilyasova et al. v. Russland, 27001/06, Urteil vom 1. Oktober 2009, Abs. 101 (in Bezug auf Art. 2 EMRK). 162
B. Einzelne relevante Aspekte
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Beschwerdeführerin, der Mutter des Opfers, annahmen,163 kann erst das im Anschluss ergangene Urteil im Fall C ¸ akıcı als Leitentscheidung bezeichnet werden. In diesem benannte der Gerichtshof eine Reihe von speziellen Faktoren („special factors“), die darüber entscheiden, ob das Leiden der Beschwerdeführer ein solches Ausmaß und eine solche Art annimmt, dass es sich von der emotionalen Zwangslage unterscheidet, die Angehörige von Opfern einer schweren Menschenrechtsverletzung unvermeidlich trifft.164 Diese speziellen Faktoren umfassen: „Relevant elements will include the proximity of the family tie – in that context, a certain weight will attach to the parent-child bond –, the particular circumstances of the relationship, the extent to which the family member witnessed the events in question, the involvement of the family member in the attempts to obtain information about the disappeared person and the way in which the authorities responded to those enquiries. The Court would further emphasise that the essence of such a violation does not so much lie in the fact of the ,disappearance‘ of the family member but rather concerns the authorities’ reactions and attitudes to the situation when it is brought to their attention. It is especially in respect of the latter that a relative may claim directly to be a victim of the authorities’ conduct.“165
In der Beschwerde C ¸ akıcı kam der EGMR, anders als zuvor die Kommission,166 allerdings zu dem Ergebnis, Art. 3 EMRK sei nicht verletzt und begründete dies damit, dass der Beschwerde führende Bruder nicht bei der Entführung zugegen war und nicht die Hauptlast der Bemühungen trug, Anfragen und Petitionen bei den Behörden zu stellen.167 In den folgenden Urteilen in Fällen des Verschwindenlassens – sowohl in jenen, die sich gegen die Türkei richteten,168 als auch in den späteren gegen Russland169 – 163 Kurt v. Türkei, 24276/94, Bericht vom 5. Dezember 1996, Abs. 217 – 221; Kurt v. Türkei, 24276/94, Urteil vom 25. Mai 1998, Abs. 130 – 134. Zu dieser Entscheidung siehe auch Feldman, EHRLR Issue 1 (2009), S. 50 (58 f.). In der dritten Staatenbeschwerde Zyperns gegen die Türkei erwähnte die Kommission das Leiden der Angehörigen nur im Rahmen der Prüfung von Art. 5 EMRK, Zypern v. Türkei, 8007/77, Bericht vom 4. Oktober 1983, Decision and Reports, vol. 72 (1992), S. 5 (38, Abs. 118). 164 C¸akıcı v. Türkei, 23657/94, Urteil vom 8. Juli 1999, Abs. 98. Zuvor machte der EGMR deutlich, dass solche generellen Grundsätze in der Kurt Entscheidung noch nicht aufgestellt wurden. Siehe auch Feldman, EHRLR Issue 1 (2009), S. 50 (59 f.). 165 C¸akıcı v. Türkei, 23657/94, Urteil vom 8. Juli 1999, Abs. 98 (Hervorhebungen nicht im Original). 166 C¸akıcı v. Türkei, 23657/94, Bericht vom 12. März 1998, Abs. 272 – 276. 167 C¸akıcı v. Türkei, 23657/94, Urteil vom 8. Juli 1999, Abs. 99. 168 So z. B. in Timurtas¸ v. Türkei, 23531/94, Urteil vom 13. Juni 2000, Abs. 91 – 98 (Verletzung angenommen, trotzdem der Vater seinen Sohn zwei Jahre vor dessen Verschwinden nicht mehr gesehen hatte); Tas¸ v. Türkei, 24396/94, Urteil vom 14. November 2000, Abs. 77 – 80 (Verletzung angenommen); Akdeniz et al. v. Türkei, 25165/94, Urteil vom 31. Mai 2005, Abs. 101 (keine Verletzung angenommen); C¸içek v. Türkei, 25704/94, Urteil vom 27. Februar 2001, Abs. 170 – 174 (Verletzung angenommen). 169 Z.B. bereits in Bazorkina v. Russland, 69481/01, Urteil vom 27. Juli 2006, Abs. 139; Vakhayeva et al. v. Russland, 1758/04, Urteil vom 29. Oktober 2009, Abs. 162; Khantiyeva
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zog der EGMR regelmäßig diese speziellen Faktoren heran und nahm in aller Regel eine Verletzung von Art. 3 EMRK an. In manchen Beschwerden stellte der Gerichtshof eine Verletzung von Art. 3 EMRK nur in Bezug auf einige der Beschwerdeführer fest. Zur Begründung dafür, dass Art. 3 EMRK in Hinblick auf bestimmte Angehörige nicht verletzt sei, stellte der EGMR darauf ab, dass nur ein entferntes Verwandtschaftsverhältnis bestünde,170 das Kind des Opfers nach dessen Verschwinden geboren worden sei171 und insbesondere, dass diese Verwandten nicht an den Anstrengungen beteiligt waren, die die Familie unternahm, um das Schicksal der verschwundenen Person durch die Behörden aufklären zu lassen.172 Das Verhältnis der Feststellung einer Verletzung von Art. 3 EMRK in Bezug auf die Angehörigen zur zuvor erfolgten Feststellung der Verantwortlichkeit des beschwerdegegnerischen Staates für das Verschwindenlassen bleibt in der Rechtsprechung unklar. So betont der EGMR einerseits, dass die Verletzung von Art. 3 EMRK ihre Grundlage insbesondere in der Reaktion auf und der Einstellung der Behörden gegenüber dem Verschwindenlassen hat und nicht so sehr in der Tatsache, dass ein Familienangehöriger verschwunden gelassen worden sei.173 Dies legt nahe, dass nicht die Verantwortlichkeit des Staates für das Verschwindenlassen, mithin die Feststellung einer Verletzung von Art. 2 und 5 EMRK in substantieller Hinsicht, Voraussetzung dafür ist, dass Art. 3 EMRK in Bezug auf die Angehörigen verletzt ist. Vielmehr ist primär die Reaktion der Behörden, das heißt die mangelhafte Ermittlung, von Bedeutung. Dies stützt auch, dass der Gerichtshof Bezug auf die Verletzung von Art. 2 EMRK in prozeduraler Hinsicht im Rahmen der Prüfung von Art. 3
et al. v. Russland, 43398/06, Urteil vom 28. Oktober 2009, Abs. 127, eine Verletzung wurde jeweils angenommen. 170 Meshayeva et al. v. Russland, 27248/03, Urteil vom 12. Februar 2009, Abs. 125 (Nichten, Neffen und Schwägerin; entferntes Verhältnis werde auch nicht durch andere Umstände aufgewogen); Dzhambekova et al. v. Russland, 27238/03 und 35078/04, Urteil vom 12. März 2009, Abs. 307 (Onkel, Cousin). 171 Musikhanova et al. v. Russland, 27243/03, Urteil vom 4. Dezember 2008, Abs. 77 – 84; Dokayev et al. v. Russland, 16629/05, Urteil vom 9. April 2009, Abs. 105; Makharbiyeva et al. v. Russland, 26595/08, Urteil vom 21. Juni 2011, Abs. 102. 172 Musikhanova et al. v. Russland, 27243/03, Urteil vom 4. Dezember 2008, Abs. 77 – 84; Sagayev et al. v. Russland, 4573/04, Urteil vom 26. Februar 2009, Abs. 124; Dzhambekova et al. v. Russland, 27238/03, 35078/04, Urteil vom 12. März 2009, Abs. 307; Saydaliyeva et al. v. Russland, 41498/04, Urteil vom 2. April 2009, Abs. 124; Malsagova et al. v. Russland, 27244/ 03, Urteil vom 9. April 2009, Abs. 133 (einer der Beschwerdeführer war dennoch verletzt, da er die Entführer antraf); Nenkayev et al. v. Russland, 13737/03, Urteil vom 28. Mai 2009, Abs. 168. 173 C¸akıcı v. Türkei, 23657/94, Urteil vom 8. Juli 1999, Abs. 98: „The Court would further emphasise that the essence of such a violation does not so much lie in the fact of the ,disappearance‘ of the family member but rather concerns the authorities’ reactions and attitudes to the situation when it is brought to their attention. It is especially in respect of the latter that a relative may claim directly to be a victim of the authorities’ conduct.“
B. Einzelne relevante Aspekte
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EMRK nimmt.174 Die Rechtsprechungspraxis steht dazu andererseits allerdings im klaren Widerspruch: In nahezu allen Fällen, in denen der EGMR keine Verletzung von Art. 2 und 5 EMRK in substantieller Hinsicht, sondern nur von Art. 2 in prozeduraler Hinsicht feststellte, nahm er auch keine Verletzung von Art. 3 EMRK in Bezug auf die Angehörigen an: Dies betraf bei den Beschwerden, die sich gegen die Türkei richteten, die Fälle Tekdag˘, Tahsin Acar, Tog˘cu, Nesibe Haran, Aydın Eren et al. und S¸eker. Der EGMR erkannte zwar – unter Hervorhebung der Tatsache, dass gerade die Nichtvornahme einer effektiven Ermittlung Art. 3 EMRK möglicherweise verletze – an, dass: „The Court considers that the question whether the authorities’ failure to conduct an effective investigation amounted to treatment contrary to Article 3 of the Convention in respect of the applicant himself is a separate complaint from the one brought under Article 2 of the Convention which relates to procedural requirements and not to ill-treatment in the sense of Article 3.“175
Obwohl der EGMR zuvor die Mangelhaftigkeit der Ermittlungen in Bezug auf Art. 2 EMRK festgestellt hatte, stellte der Gerichtshof in den Entscheidungen Tekdag˘ und S¸eker darauf ab, dass weder Inhalt noch Ton der Antworten der Behörde auf die verschiedenen Anfragen des Beschwerdeführers eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung darstellten.176 Auch erwähnte der EGMR in dem Urteil Tekdag˘, dass es nicht wider jeden Zweifel bewiesen sei, dass der Staat in die Entführung des Opfers verwickelt gewesen sei.177 In den Beschwerden Tahsin Acar und Tog˘cu verwies der EGMR darauf, dass keine der speziellen Faktoren vorlagen, die die Feststellung einer Verletzung von Art. 3 EMRK rechtfertigen würden.178 Im Fall Nesibe Haran stellte der Gerichtshof darauf ab, dass die Beschwerdeführerin nicht bei der Entführung anwesend war und keine Anstrengungen unternommen hatte, das Schicksal des Opfers aufklären zu lassen.179 In der Beschwerde Osmanog˘lu hingegen, in der der EGMR eine Verletzung einer Schutzpflicht nach Art. 2 EMRK annahm, die direkte Verantwortlichkeit der Türkei für die Inhaftierung und den Tod aber nicht feststellte, nahm der Gerichtshof eine Verletzung von Art. 3 EMRK in Bezug auf den Vater des Opfers an. Der EGMR stellte fest, dass die Art und Weise, in
174 So in Akhmatkhanovy v. Russland, 20147/07, Urteil vom 22. Juli 2010, Abs. 139: „The Court’s findings under the procedural aspect of Article 2 are also of direct relevance here.“ Ebenso Gelayevy v. Russland, 20216/07, Urteil vom 15. Juli 2010, Abs. 147. 175 Tahsin Acar v. Türkei, 26307/95, Urteil vom 8. April 2004, Abs. 237; ähnlich auch Tog˘cu v. Türkei, 27601/95, Urteil vom 31. Mai 2005, Abs. 126. 176 Tekdag˘ v. Türkei, 27699/95, Urteil vom 15. Januar 2004, Abs. 86; S¸eker v. Türkei, 52390/99, Urteil vom 21. Februar 2006, Abs. 83. 177 Tekdag˘ v. Türkei, 27699/95, Urteil vom 15. Januar 2004, Abs. 86. 178 Tahsin Acar v. Türkei, 26307/95, Urteil vom 8. April 2004, Abs. 239; Tog˘cu v. Türkei, 27601/95, Urteil vom 31. Mai 2005, Abs. 128. Siehe auch Aydın Eren et al. v. Türkei, 57778/ 00, Urteil vom 21. Februar 2006, Abs. 58. 179 Nesibe Haran v. Türkei, 28299/95, Urteil vom 6. Oktober 2005, Abs. 83.
64
Kap. 2: Rechte der Konvention in Fällen des Verschwindenlassens
der die Behörden seine Beschwerden behandelten, eine unmenschliche Behandlung darstellten.180 In den wenigen Fällen gegen Russland, in denen der EGMR ebenfalls nur eine Verletzung von Art. 2 EMRK in prozeduraler Hinsicht feststellte, begründete der Gerichtshof seine Feststellung, dass Art. 3 in Bezug auf die Beschwerdeführer nicht verletzt sei, sondern dieser Vorwurf vielmehr offensichtlich unbegründet („manifestly ill-founded“) im Sinne von Art. 35 Abs. 3 a) EMRK sei, damit, dass er in den Fällen, in denen er eine solche Verletzung angenommen hatte, die Verantwortlichkeit des Staates für das Verschwinden festgestellt hatte. Gerade dies sei – so der EGMR – vorliegend nicht der Fall. Damit könne der Staat nicht für das Leiden der Angehörigen verantwortlich gemacht werden, das aus der Begehung der Tat als solche folgt.181 Im Anschluss daran stellte der EGMR fest: „[…] the Court is not persuaded that the investigating authorities’ conduct, although negligent to the extent that it has breached Article 2 in its procedural aspect, could have in itself caused the applicants mental distress in excess of the minimum level of severity which is necessary in order to consider treatment as falling within the scope of Article 3 […].“182
Insbesondere diese Vorgehensweise in jüngerer Zeit183 legt die Folgerung nahe, dass der EGMR in der Praxis nicht primär auf die Reaktion der Behörden auf die Beschwerden der Angehörigen abstellt. Vielmehr scheint der EGMR tatsächlich die Feststellung der Verantwortlichkeit des Staates für das Verschwindenlassen, das 180 Osmanog˘lu v. Türkei, 48804/99, Urteil vom 24. Januar 2008, Abs. 97 f. In der Beschwerde Medova v. Russland, 25385/04, Urteil vom 15. Januar 2009 nahm der EGMR zwar ebenfalls eine Verletzung von Art. 2 und hier auch von 5 EMRK aufgrund einer Schutzpflichtverletzung an, prüfte aber Art. 3 EMRK in Bezug auf die Beschwerdeführerin nicht. 181 Shaipova et al. v. Russland, 10796/04, Urteil vom 6. November 2008, Abs. 109: „It is noteworthy, however, that in those cases the State was found to be responsible for the disappearance of the applicants’ relatives. In the present case, by contrast, it has not been established to the required standard of proof ,beyond reasonable doubt‘ that the Russian authorities were implicated in Akhmed Shaipov’s kidnapping (see paragraph 87 above). In such circumstances the Court considers that this case is clearly distinguishable from those mentioned above and therefore concludes that the State cannot be held responsible for the applicants’ mental distress caused by the commission of the crime itself.“ Siehe auch Tagirova et al. v. Russland, 20580/04, Urteil vom 4. Dezember 2008, Abs. 101; Zakriyeva et al. v. Russland, 20583/04, Urteil vom 8. Januar 2009, Abs. 96; Khumaydov und Khumaydov v. Russland, 13862/05, Urteil vom 28. Mai 2009, Abs. 129; Tovsultanova v. Russland, 26974/06, Urteil vom 17. Juni 2010, Abs. 103. 182 Shaipova et al. v. Russland, 10796/04, Urteil vom 6. November 2008, Abs. 110. Siehe auch Tagirova et al. v. Russland, 20580/04, Urteil vom 4. Dezember 2008, Abs. 102; Zakriyeva et al. v. Russland, 20583/04, Urteil vom 8. Januar 2009, Abs. 97; Khumaydov und Khumaydov v. Russland, 13862/05, Urteil vom 28. Mai 2009, Abs. 130; Tovsultanova v. Russland, 26974/06, Urteil vom 17. Juni 2010, Abs. 104. 183 Aber auch die Tatsache, dass der EGMR eine Verletzung der Beschwerdeführer in Art. 3 EMRK dann nicht annahm, wenn diese erst nach der Entführung geboren wurden, siehe dazu Musikhanova et al. v. Russland, 27243/03, Urteil vom 4. Dezember 2008, Abs. 77 – 84; Dokayev et al. v. Russland, 16629/05, Urteil vom 9. April 2009, Abs. 105.
B. Einzelne relevante Aspekte
65
heißt eine Verletzung von Art. 2 und 5 EMRK in substantieller Hinsicht, als unabkömmliche Voraussetzung für eine Verletzung von Art. 3 EMRK heranzuziehen. Diese Folgerung scheint allerdings durch die Entscheidungen der Großen Kammer in der vierten Staatenbeschwerde Zyperns gegen die Türkei sowie im Fall Varnava et al. v. Türkei in Frage gestellt zu werden. In beiden Urteilen nahm der EGMR eine Verletzung von Art. 3 EMRK in Bezug auf die Angehörigen an, ohne eine substantielle Verletzung der Art. 2 und 5 EMRK festzustellen.184 In der Beschwerde Varnava et al. betonte die Große Kammer explizit, dass die Verletzung von Art. 3 EMRK ihre Grundlage insbesondere in der Reaktion der Behörden habe und dass eine Verletzung daher nicht nur in jenen Fällen anzunehmen sei, in denen die Verantwortlichkeit des Staates für das Verschwindenlassen zuvor festgestellt worden war.185 Art. 3 EMRK könne verletzt sein: „where the failure of the authorities to respond to the quest for information by the relatives or the obstacles placed in their way, leaving them to bear the brunt of the efforts to uncover any facts, may be regarded as disclosing a flagrant, continuous and callous disregard of an obligation to account for the whereabouts and fate of a missing person.“186
In der Folge bejahte der EGMR eine solche Verletzung unter Bezugnahme auf das Urteil des EGMR in der vierten Staatenbeschwerde Zyperns gegen die Türkei.187 In diesem Urteil hatte sich der EGMR allerdings nicht gesondert damit auseinander gesetzt, ob Art. 3 EMRK auch verletzt sein könne, wenn der Gerichtshof die Verantwortlichkeit des Staates für das Verschwindenlassen nicht festgestellt hatte, sondern lediglich die speziellen Faktoren aus dem C¸akıcı Urteil herangezogen.188 Der EGMR hatte die Verletzung von Art. 3 EMRK wie folgt begründet: „[…] [T]he silence of the authorities of the respondent State in the face of the real concerns of the relatives of the missing persons attains a level of severity which can only be categorised as inhuman treatment within the meaning of Article 3.“189 184 Zypern v. Türkei, 25781/94, Urteil vom 10. Mai 2001, Abs. 156 – 158; Varnava et al. v. Türkei, 16064/90, 16065/90, 16066/90, 16068/90, 16069/90, 16070/90, 16071/90, 16072/90, 16073/90, Urteil der Großen Kammer vom 18. September 2009, Abs. 200 – 202. 185 Varnava et al. v. Türkei, 16064/90, 16065/90, 16066/90, 16068/90, 16069/90, 16070/ 90, 16071/90, 16072/90, 16073/90, Urteil der Großen Kammer vom 18. September 2009, Abs. 200: „The essence of the violation is not that there has been a serious human rights violation concerning the missing person; it lies in the authorities’ reactions and attitudes to the situation when it has been brought to their attention […]. The finding of such a violation is not limited to cases where the respondent State has been held responsible for the disappearance“. 186 Varnava et al. v. Türkei, 16064/90, 16065/90, 16066/90, 16068/90, 16069/90, 16070/ 90, 16071/90, 16072/90, 16073/90, Urteil der Großen Kammer vom 18. September 2009, Abs. 200. 187 Varnava et al. v. Türkei, 16064/90, 16065/90, 16066/90, 16068/90, 16069/90, 16070/ 90, 16071/90, 16072/90, 16073/90, Urteil der Großen Kammer vom 18. September 2009, Abs. 201 f. 188 Zypern v. Türkei, 25781/94, Urteil vom 10. Mai 2001, Abs. 156. 189 Zypern v. Türkei, 25781/94, Urteil vom 10. Mai 2001, Abs. 157. Zu den Besonderheiten dieser Entscheidung siehe Grammer, S. 62 f.
66
Kap. 2: Rechte der Konvention in Fällen des Verschwindenlassens
Allerdings gilt es die Besonderheiten zu beachten, die dazu führten, dass der EGMR keine Verletzung von Art. 2 und 5 EMRK in substantieller Hinsicht in diesen beiden Fällen feststellte: In der Staatenbeschwerde war zwar eine substantielle Verletzung von Art. 2 und 5 EMRK gerügt worden, gleichzeitig forderte Zypern allerdings, davon auszugehen, dass die Opfer nach wie vor am Leben seien.190 Auch war die Beschwerde auf Geschehen beschränkt, die sich nach 1994 abspielten.191 Im Fall Varnava et al. war die Zuständigkeit des EGMR ebenfalls temporal beschränkt.192 Dies legt die Vermutung nahe, dass trotz dieser beiden Urteile weiterhin davon auszugehen ist, dass der EGMR die Feststellung einer Verletzung der Angehörigen in Art. 3 EMRK davon abhängig macht, zuvor eine Verletzung von Art. 2 und 5 EMRK in substantieller Hinsicht festgestellt zu haben. b) Keine Verletzung von Art. 8 EMRK und eines Rechts auf Wahrheit Während sich die Rechtsprechung des EGMR damit in Bezug auf die Verletzung der Angehörigen in ihrem Recht aus Art. 3 EMRK als weit entwickelt und relativ einheitlich darstellt, ist dies in Hinblick auf die Verletzung weiterer Rechte nicht der Fall. So stellten die Konventionsorgane eine Verletzung der Angehörigen der verschwundenen Person in ihrem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK) nur dann fest, wenn die Entführung des Opfers mit einer Hausdurchsuchung einherging.193 Die Kommission verwies allerdings in der dritten Beschwerde Zyperns gegen die Türkei im Zusammenhang mit dem schweren Leiden der Familie, hervorgerufen durch die Unsicherheit über das Schicksal der verschwundenen Angehörigen, auf die Resolution des Ministerrats in einer Beschwerde, in der eine Verletzung von Art. 8 EMRK durch eine Kontaktsperre angenommen worden war.194 Dieser Verweis findet sich allerdings im Rahmen der Prüfung von Art. 5 EMRK, eine Prüfung von Art. 8 EMRK erfolgte nicht. In der vierten Staatenbeschwerde trug Zypern vor: 190
151. 191
Zypern v. Türkei, 25781/94, Urteil vom 10. Mai 2001, Abs. 119, 123, 129 f., 143 f.,
Zypern v. Türkei, 25781/94, Urteil vom 10. Mai 2001, Abs. 104, 130, 151 (es war nicht bewiesen, dass sich zu diesem Zeitpunkt (20 Jahre nach der Invasion) noch Personen in Haft befanden). 192 Varnava et al. v. Türkei, 16064/90, 16065/90, 16066/90, 16068/90, 16069/90, 16070/ 90, 16071/90, 16072/90, 16073/90, Urteil der Großen Kammer vom 18. September 2009, Abs. 185, 208. 193 Z.B. in Orhan v. Türkei, 25656/94, Urteil vom 18. Juni 2002, Abs. 376 – 380; Imakayeva v. Russland, 7615/02, Urteil vom 9. November 2006, Abs. 183 – 189; Betayev und Betayeva v. Russland, 37315/03, Urteil vom 29. Mai 2008, Abs. 115; Abdulkadyrova et al. v. Russland, 27180/03, Urteil vom 8. Januar 2009, Abs. 160; Zaurbekova und Zaurbekova v. Russland, 27183/03, Urteil vom 22. Januar 2009, Abs. 110. 194 Zypern v. Türkei, 8007/77, Bericht vom 4. Oktober 1983, Decision and Reports, vol. 72 (1992), S. 5 (38, Abs. 118, Fn. 1). Auf diesen Verweis bezog sich Zypern in der vierten Staatenbeschwerde, Zypern v. Türkei, 25781/94, Bericht vom 4. Juni 1999, Abs. 162.
B. Einzelne relevante Aspekte
67
„[…] [T]he persistent failure of the authorities of the respondent State to account to the families of the missing persons constituted a grave disregard for their right to respect for family life […].“195
Der Gerichtshof stellte fest, es sei unnötig auf eine Verletzung von Art. 8 EMRK einzugehen, da er bereits eine Verletzung von Art. 3 EMRK unter Betonung der Wirkung, die die mangelnde Information auf die Familien hat, angenommen habe.196 In einigen Individualbeschwerden rügten die Beschwerdeführer – ebenfalls ohne Erfolg – eine Verletzung von Art. 8 EMRK. Dabei begründeten sie eine Verletzung auf verschiedene Art und Weise: In der Beschwerde S¸eker führte der Beschwerdeführer als Begründung an, dass die Behörden ihm keine Informationen hätten zukommen lassen, die die Umstände und die Gründe für die Entführung seines Sohnes hätten erklären können. Diese Rüge bezeichnete der EGMR als zu unspezifisch.197 Die Beschwerdeführer in den Fällen Bazorkina sowie Lyanova und Aliyeva begründeten die Verletzung von Art. 8 EMRK mit dem Leid und der Angst, die durch das Verschwinden hervorgerufen worden seien.198 Der EGMR befand, eine Prüfung sei nicht notwendig, da diese Beschwerde die gleichen Tatsachen betreffe wie jene, die bereits im Rahmen von Art. 2 und 3 EMRK untersucht worden seien.199 Mit dem gleichen Verweis auf die Prüfung der Art. 2 und 3 EMRK hielt es der EGMR auch in den Beschwerden Ibragimov et al. und Betayev und Betayeva nicht für nötig, auf Art. 8 EMRK einzugehen. Die Beschwerdeführer hatten vorgebracht, Art. 8 EMRK sei verletzt, da ein Familienleben nach der Entführung nicht mehr möglich sei.200 Mit einem darüber hinaus gehenden Recht auf Wahrheit, welches nicht an Art. 8 EMRK anknüpft, hat sich der EGMR bisher in Fällen des Verschwindenlassens noch nicht beschäftigt.201
195
Zypern v. Türkei, 25781/94, Urteil vom 10. Mai 2001, Abs. 159. Zypern v. Türkei, 25781/94, Urteil vom 10. Mai 2001, Abs. 161. 197 S¸eker v. Türkei, 52390/99, Urteil vom 21. Februar 2006, Abs. 87. Art. 8 EMRK war außerdem in Bezug auf das Opfer gerügt worden; eine Verletzung stellte der EGMR auch in dieser Hinsicht nicht fest (Abs. 85, 88 f.). 198 Bazorkina v. Russland, 69481/01, Urteil vom 27. Juli 2006, Abs. 155; Lyanova und Aliyeva v. Russland, 12713/02, 28440/03, Urteil vom 2. Oktober 2008, Abs. 127. 199 Bazorkina v. Russland, 69481/01, Urteil vom 27. Juli 2006, Abs. 157 (dem Verweis lässt sich entnehmen, dass der EGMR auf die Prüfung einer Verletzung von Art. 2 EMRK in substantieller Hinsicht und von Art. 3 EMRK in Bezug auf die Beschwerdeführerin Bezug nahm); Lyanova und Aliyeva v. Russland, 12713/02, 28440/03, Urteil vom 2. Oktober 2008, Abs. 130. 200 Ibragimov et al. v. Russland, 34561/03, Urteil vom 29. Mai 2008, Abs. 118, 126; Betayev und Betayeva v. Russland, 37315/03, Urteil vom 29. Mai 2008, Abs. 108, 117. 201 Vgl. die Ausführungen von Pérez Solla, S. 91 – 101. Siehe zu einem Recht auf Wahrheit die Praxis des IAGMR, supra Kapitel 2, A.II.2. 196
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Kap. 2: Rechte der Konvention in Fällen des Verschwindenlassens
2. Wertende Betrachtung der Rechtsprechung Zu Recht stellt der EGMR in den Urteilen zu Fällen des Verschwindenlassens von Personen auch darauf ab, dass die Rechte Dritter, insbesondere der Angehörigen des verschwundenen Opfers, verletzt sind. Nur durch eine solche Erweiterung des Kreises der Personen, die Opfer des Verschwindenlassens sind, wird die volle Dimension des Phänomens erfasst.202 So stellte die Große Kammer in der Beschwerde Varnava et al. richtigerweise fest, dass das Phänomen des Verschwindenlassens den Verwandten eine besondere Last auferlege, da sie der Unsicherheit über das Schicksal ihrer geliebten Angehörigen preisgegeben seien.203 Diese beabsichtigte Erzeugung von Unsicherheit, nicht nur bei den nahen Angehörigen und Freunden, sondern auch in der Gesellschaft insgesamt, macht gerade die besondere politische Dimension des Verbrechens aus.204 Die Erweiterung des Opferkreises durch den EGMR steht auch im Einklang mit den Instrumenten, die spezifisch das Verschwindenlassen von Personen regulieren: So enthält insbesondere die Internationale Konvention zum Schutz aller Personen gegen das Verschwindenlassen in Art. 24 Abs. 1 die folgende Legaldefinition des Opferbegriffs: „For the purpose of this Convention, ,victim‘ means the disappeared person and any individual who has suffered harm as the direct result of an enforced disappearance.“
Auch die Erklärung gegen das Verschwindenlassen stellt in Art. 1 Abs. 2 auf die Familien der verschwundenen Personen ab: „Any act of enforced disappearance […] inflicts severe suffering on them and their families.“
a) Keine Erweiterung des Opferkreises über Angehörige hinaus Vor dem Hintergrund dieser besonderen politischen Dimension des Phänomens Verschwindenlassen könnte der EGMR den Kreis der Opfer, die möglicherweise in ihren Konventionsrechten verletzt sind, über die bisherige Rechtsprechung hinaus erweitern. So könnte der Gerichtshof über bestimmte individualisierbare Personen hinaus auch auf die Gesellschaft als solche oder einen Personenkreis, wie zum Beispiel die politischen Mitstreiter des Opfers oder eine bestimmte Bevölkerungsgruppe, abstellen. Für eine solche Erweiterung spricht die besondere Zielrichtung 202 In ihrer abweichenden Meinung vertraten die Kommissionmitglieder Alkema, Trechsel und Ress in C¸akıcı v. Türkei, 23657/94, Bericht vom 12. März 1998 noch eine andere Ansicht: „an additional violation with respect to the applicant himself does not contribute demonstrably to the Convention’s effective protection but only gives rise to difficult and thorny questions.“ 203 Varnava et al. v. Türkei, 16064/90, 16065/90, 16066/90, 16068/90, 16069/90, 16070/ 90, 16071/90, 16072/90, 16073/90, Urteil der Großen Kammer vom 18. September 2009, Abs. 200: „The phenomenon of disappearances imposes a particular burden on the relatives of missing persons who are kept in ignorance of the fate of their loved ones and suffer the anguish of uncertainty. Thus the Court’s case-law recognised from very early on that the situation of the relatives may disclose inhuman and degrading treatment contrary to Article 3.“ 204 Siehe dazu supra Kapitel 1, A.I.
B. Einzelne relevante Aspekte
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dieses Verbrechens, ein Klima der Angst und Rechtsunsicherheit in der breiten Bevölkerung zu erzeugen. Diese besondere Dimension des Phänomens des Verschwindenlassens hat auch Einzug in die Rechtsprechung des IAGMR genommen, wenn auch nicht in der Gestalt, dass der Gerichtshof explizit auf eine Verletzung der Gesellschaft befand. Vielmehr stellte der Gerichtshof in seinen Entscheidungen darauf ab, dass das Verschwindenlassen darauf ausgerichtet sei, einen allgemeinen Zustand von Angst, Unsicherheit und Schrecken („general state of anguish, insecurity and fear“) zu erreichen205 sowie darauf, dass die – in diesem Fall guatemaltekische – Gesellschaft verletzt sei.206 Die besseren Argumente sprechen allerdings dagegen, dass der EGMR in seinen Urteilen eine solche Erweiterung des Kreises der Opfer vornehmen könnte. Seinen Möglichkeiten sind in dieser Hinsicht durch die EMRK Grenzen gesetzt. Diese sieht in Art. 34 vor, dass der Beschwerdeführer behauptet, in einem Recht verletzt zu sein („to be the victim of a violation“). Er muss mithin persönlich in seinen Rechten betroffen sein.207 Dies ist zum einen in Hinblick auf die Rechte der verschwundenen Personen anzunehmen. Diese können die Beschwerdeführer, die meist nahe Angehörige der verschwundenen Person sind, in Fällen des Verschwindenlassens geltend machen.208 Ob sie diese Rechte in einer ausnahmsweise möglichen Prozessstandschaft wahrnehmen209 oder selbst als mittelbare Opfer anzusehen sind,210 kann dahingestellt bleiben, da sie jedenfalls beschwerdebefugt sind. So setzt sich der EGMR auch mit der Beschwerdebefugnis der Angehörigen, die die Beschwerde in eigenem Namen einreichen und Rechte der verschwundenen Person rügen, überhaupt nicht näher auseinander, sondern geht von dieser aus. Zum anderen können die Beschwerdeführer geltend machen, in ihren eigenen Rechten, in der Praxis in Art. 3 205
Blake v. Guatemala, Merits, Urteil vom 24. Januar 1998, Series C Nr. 36, Abs. 149. Blake v. Guatemala, Merits, Urteil vom 24. Januar 1998, Series C Nr. 36, Abs. 115. Siehe auch Grammer, S. 57 f. 207 Zwaak, in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak, S. 58; Krüger/Norgaard, in: Macdonald/Matscher/Petzold, S. 663; Abraham, in: Pettiti/Decaux/Imbert (Hrsg.), Art. 25, S. 586. 208 Siehe White/Ovey, S. 31: „Where a violation of the right to life is alleged, the Court must accept an application from close relatives of the dead person.“ Siehe auch Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 34, Rn. 30; Peters, S. 239: „Jedoch kann bei Verletzungen von Art. 2 und 3 auch ein Vertreter für das Opfer klagen, selbst wenn er die Klage nicht im fremden Namen (als offengelegter Vertreter) erhebt.“ 209 So Peters, S. 239 f.: „Jedoch kann bei Verletzungen von Art. 2 und 3 auch ein Vertreter für das Opfer klagen, selbst wenn er die Klage nicht im fremden Namen (als offengelegter Vertreter) erhebt. Er handelt dann nach deutscher Terminologie in Prozessstandschaft: Er macht ein fremdes Recht in eigenem Namen geltend.“ 210 Darauf weist die folgende Formulierung des EGMR hin: Biî et al. v. Türkei, 55955/00, Urteil vom 2. Februar 2006, Abs. 22: „The Court recalls that individuals, who are the next-ofkin of persons who have died in circumstances giving rise to issues under Article 2 of the Convention, may apply as applicants in their own right“. Siehe auch Harris/O’Boyle/Bates/ Buckley, S. 797 f.; Grabenwarter, S. 55 f.; Rogge, in: FS Wiarda, S. 539 (541); Zwaak, in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak, S. 68 f.; unklar Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 34, Rn. 30; Leach, Taking a Case, S. 120 f.; Erdal/Bakirci, S. 83. 206
70
Kap. 2: Rechte der Konvention in Fällen des Verschwindenlassens
EMRK, verletzt zu sein.211 In ersterer Konstellation erstreckt sich die Beschwerdebefugnis der Beschwerdeführer allerdings nur darauf, ausnahmsweise die Verletzung der Rechte des verschwundenen Opfers geltend machen zu können. Könnten die Beschwerdeführer auch rügen, dass die Gesellschaft als Ganze oder bestimmte gesellschaftliche Gruppen in ihren Rechten verletzt seien, so würde dies bedeuten, dass eine im Konventionssystem unzulässige actio popularis erhoben würde.212 b) In Hinblick auf Art. 3 EMRK Es ist zu begrüßen, dass der EGMR eine ausdifferenzierte Rechtsprechung dazu entwickelt hat, unter welchen Voraussetzungen die Beschwerdeführer in Art. 3 EMRK verletzt sind. Im Vergleich mit der Praxis anderer Menschenrechtsgremien überzeugt diese Rechtsprechung durch die Aufstellung weitgehend klarer Anforderungen.213 Noch im Kurt Verfahren nahm die Beschwerdeführerin Bezug auf die Praxis des Menschenrechtsausschusses,214 die allerdings wenige Anhaltspunkte bereithielt. Im Jahre 1983 hatte der Ausschuss in der Mitteilung Quinteros v. Uruguay lediglich festgestellt: „The Committee understands the anguish and stress caused to the mother by the disappearance of her daughter and by the continuing uncertainty concerning her fate and whereabouts. The author has the right to know what has happened to her daughter. In these respects, she too is a victim of the violations of the Covenant suffered by her daughter in particular, of article 7.“215
Ähnlich oberflächlich erfolgte die Prüfung des IAGMR in der Beschwerde Blake v. Guatemala im Jahre 1998. Der Gerichtshof stellte darauf ab, dass die sterblichen Überreste des Opfers verbrannt worden seien und der Bruder des Opfers an Depressionen litt sowie darauf, dass:
211
Leach führt diesen Fall allerdings als Beispiel eines mittelbaren Opfers („indirect victim“) an, Taking a Case, S. 129 unter Verweis auf die Kurt-Entscheidung. Siehe auch Erdal/ Bakirci, S. 85. 212 Zu Unzulässigkeit dieser siehe Ilhan v. Türkei, 22277/93, Urteil vom 27. Juni 2000, Abs. 52; Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 34, Rn. 22; Grabenwarter, S. 53; Peters, S. 239; Leach, Taking a Case, S. 124; Reidy/Hampson/Boyle, NQHR 15 (1997), S. 161 (164). Jessberger, KJ 29 (1996), S. 290 (302) weist darauf hin, dass die „Gesellschaft“ keine rechtlich faßbare Entität darstellt. 213 So auch Grammer, S. 59; Scovazzi/Citroni bezeichnen die Spezifizierung einerseits als verständlich (S. 194), andererseits als noch nicht umfassend etabliert (S. 221). Kritisch unter Bezugnahme auf die Basic Principles and Guidelines on the Right to a Remedy and Reparation for Victims of Gross Violations of International Human Rights Law and Serious Violations of International Humanitarian Law aber Feldman, EHRLR Issue 1 (2009), S. 50. 214 Kurt v. Türkei, 24276/94, Urteil vom 25. Mai 1998, Abs. 130. 215 Quinteros v. Uruguay, 107/1981, Auffassung vom 21. Juli 1983, Abs. 14.
B. Einzelne relevante Aspekte
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„The circumstances of such disappearances generate suffering and anguish, in addition to a sense of insecurity, frustration and impotence in the face of the public authorities’ failure to investigate.“216
In späteren Urteilen nahm der IAGMR Bezug auf die speziellen Faktoren des EGMR aus dem Urteil C ¸ akıcı,217 er lehnte allerdings nie eine Verletzung der Angehörigen in Art. 5 AMRK ab.218 Auch die Menschenrechtskammer für Bosnien-Herzegowina, die eine Verletzung von Art. 3 EMRK in Bezug auf die Beschwerdeführer oft in den Mittelpunkt ihrer Prüfung stellte und als Recht auf Wahrheit („right to know the truth“) bezeichnet, griff die Rechtsprechung des EGMR auf und zog die von diesem aufgestellten, differenzierten Kriterien heran. Sie fasste sie wie folgt zusammen: „Based on the applicable caselaw described above, the special factors considered with respect to the applicant family member claiming an Article 3 violation for inhuman treatment due to lack of official information on the whereabouts of a loved one are the following: *
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216
primary consideration is the dimension and character of the emotional distress caused to the family member, distinct from that which would be inevitable for all relatives of victims of serious human rights violations; proximity of the family tie, with weight attached to parent-child relationships; particular circumstances of the relationship between the missing person and the family member; extent to which the family member witnessed the events resulting in the disappearance – however, the absence of this factor may not deprive the family member of victim status; overall context of the disappearance, i. e., state of war, breadth of armed conflict, extent of loss of life; amount of anguish and stress caused to the family member as a result of the disappearance; involvement of the family member in attempts to obtain information about the missing person – however, the absence of complaints may not necessarily deprive the family member of victim status; persistence of the family member in making complaints, seeking information about the whereabouts of the missing person, and substantiating his or her complaints.
Blake v. Guatemala, Merits, Urteil vom 24. Januar 1998, Series C Nr. 36, Abs. 114 sowie 115 f. 217 So in Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Merits, Urteil vom 25. November 2000, Series C Nr. 70, Abs. 162 f. 218 Vgl. Grammer, S. 64, Fn. 101.
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Kap. 2: Rechte der Konvention in Fällen des Verschwindenlassens As explained in the applicable caselaw discussed above, the essential characteristic of the family member’s claim under Article 3 is the reaction and attitude of the authorities when the disappearance is brought to their attention. In this respect, the special factors considered as to the respondent Party are the following: *
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response, reactions, and attitude of the authorities to the complaints and inquiries for information about the fate of missing person – complacency, intimidation, and harassment by authorities may be considered aggravating circumstances; extent to which the authorities conducted a meaningful and full investigation into the disappearance; amount of credible information provided to the authorities to assist in their investigation; extent to which the authorities provided a credible, substantiated explanation for a missing person last seen in the custody of the authorities; duration of lack of information – a prolonged period of uncertainty for the family member may be an aggravating circumstance; involvement of the authorities in the disappearance.“219
Demnach stellt die Menschenrechtskammer zur Begründung einer Verletzung der Angehörigen in Art. 3 EMRK in erster Linie auf die fehlende oder ungenügende Information über den Verbleib der verschwundenen Opfer ab sowie auf die Reaktion und Einstellung der Behörden, sobald diese von dem Verschwinden Kenntnis erlangt haben. Die damit auch für andere Gerichte als wegweisend zu bezeichnende Rechtsprechung des EGMR220 ist dennoch in verschiedener Hinsicht Kritik ausgesetzt. Dies betrifft zum einen das durch die speziellen Faktoren bestimmte familiäre Verhältnis [aa)], zum anderen die relevante Verletzungshandlung [bb)]. aa) Das durch die speziellen Faktoren bestimmte familiäre Verhältnis Richtigerweise stellt der EGMR darauf ab, dass nicht bereits die Tatsache (irgend-)eines Verwandtschaftsverhältnisses zwischen dem verschwundenen Opfer und den Beschwerdeführern dazu führt, dass diese in Art. 3 EMRK verletzt sind.221 Denn entscheidend für die Feststellung, dass großes seelisches Leiden vorliegt, kann nicht ein biologisches oder rechtliches familiäres Verhältnis sein, sondern muss gerade ein tatsächliches Verhältnis sein, das sich durch eine besondere Verbundenheit auszeichnet. So kann auch ein langfristiger Lebensgefährte des verschwundenen Opfers, obwohl weder biologisch noch rechtlich verwandt, in Art. 3
219 Unkovic´ v. Bosnien-Herzegowina, CH/99/2150, Entscheidung vom 10. Mai 2002, Abs. 114 f. (Hervorhebungen nicht im Original). 220 Vgl. Grammer, S. 59. 221 So wohl aber die Forderung von Pérez Solla, S. 85, 192.
B. Einzelne relevante Aspekte
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EMRK verletzt sein.222 Zu Recht zieht der EGMR daher die im C¸akıcı-Urteil entwickelten speziellen Faktoren heran und stellt auf die Nähe und die besonderen Umstände des familiären Verhältnisses ab. Auch das Kriterium, inwieweit der jeweilige Beschwerdeführer in die Bemühungen eingebunden war, das Schicksal der verschwundenen Person aufzuklären, ist grundsätzlich dazu geeignet aufzuzeigen, in welcher Beziehung die beiden Personen zueinander standen und wie groß die Sorge des jeweiligen Beschwerdeführers war. Allerdings betont die Menschenrechtskammer berechtigterweise, dass es kein Ausschlusskriterium sei, wenn sich ein Beschwerdeführer nicht an den Bemühungen, das Opfer aufzufinden, beteiligte. Auch der EGMR nahm eine Verletzung in einigen Fällen an, obwohl sich der Beschwerdeführer nicht selbst bemüht hatte, Ermittlungen anzustrengen.223 Eine solche Reaktion kann nur zu leicht durch andere Umstände zu erklären sein, wie Angst vor eigener Verfolgung, Angst um den Angehörigen, Einschüchterung sowie das Alter des Betroffenen. Auch kann eine Familie sich entschließen, die Verantwortung für die Suche nach dem verschwundenen Angehörigen einer bestimmten Person zuzuweisen, bestimmte soziale und familiäre Strukturen können eine Rollenverteilung bedingen und psychologische Hindernisse eine Suche unmöglich machen.224 Im Ergebnis sollte ein bestehendes biologisches oder rechtliches familiäres Verhältnis zwar ein Anzeichen dafür sein, dass in der Regel ein schweres seelisches Leiden vorliegt. Allerdings kann im Einzelfall trotz eines solchen Verhältnisses tatsächlich keine besondere Nähebeziehung vorhanden sein, so dass die Feststellung einer Verletzung von Art. 3 EMRK nicht zwingend erfolgen sollte. Andererseits kann im Einzelfall auch eine besondere Nähebeziehung vorliegen, obwohl keine eigentlichen biologischen oder rechtlichen familiären Beziehungen existieren. Obwohl dem EGMR darin zuzustimmen ist, die speziellen Faktoren heranzuziehen, sind die Ergebnisse bei der Anwendung, zu denen der EGMR in Einzelfällen gelangte, zu kritisieren. Zum einen ist die Anwendung bereits uneinheitlich,225 zum anderen scheint die Rechtsprechung Gewichtungen vorzunehmen, die nicht angemessen sind.226 So zog der EGMR im Fall C¸akıcı für seine Entscheidung, dass Art. 3 EMRK nicht verletzt ist, unter anderen Faktoren heran, dass der Beschwerdeführer
222
So im Fall Saydaliyeva et al. v. Russland, 41498/04, Urteil vom 2. April 2009, Abs. 6, 124 – 127. Die Beschwerdeführerin war die Lebensgefährtin des verschwundenen Opfers; sie hatten drei gemeinsame Kinder. 223 So z. B. in Malsagova et al. v. Russland, 27244/03, Urteil vom 9. April 2009, Abs. 133 (darauf abstellend, dass der Beschwerdeführer die Entführer angetroffen hatte). 224 So Feldman, EHRLR Issue 1 (2009), S. 50 (63); Ott, S. 98. 225 So auch die Einschätzung von Scovazzi/Citroni, S. 210; Feldman, EHRLR Issue 1 (2009), S. 50 (61 f.); Claude, Intercultural Human Rights Law Review 5 (2010), S. 407 (445). 226 So auch die Einschätzung von Scovazzi/Citroni, S. 194. Siehe auch C¸akıcı v. Türkei, 23657/94, Urteil vom 8. Juli 1999, teilweise abweichende Meinung der Richter Thomassen, Jungwiert und Fischbach, in welcher diese kritisierten, dass der EGMR darauf abgestellt hatte, dass der Bruder nicht die Hauptlast in dieser Hinsicht trug.
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Kap. 2: Rechte der Konvention in Fällen des Verschwindenlassens
„nur“ der Bruder des Opfers und nicht wie im Fall Kurt dessen Mutter war.227 Dies kritisierten die Richter Thomassen, Jungwiert und Fischbach zu Recht in ihrem Sondervotum: „However, a brother can also suffer deeply in face of the uncertainty of the fate of a sibling.“228
Im Fall Akdeniz et al. verneinte der EGMR ohne weitere Begründung, dass spezielle Faktoren vorlägen, obwohl die Beschwerdeführer nahe Angehörige der verschwundenen Opfer waren – Väter, Brüder, ein Sohn und Onkel –, einer der Entführung beiwohnte und alle Bemühungen verschiedener Intensität unternahmen, das Schicksal ihrer Verwandten aufzuklären.229 In seiner teilweise abweichenden Meinung kam Richter Fischbach, ebenfalls unter Heranziehung der speziellen Kriterien aus der C¸akıcı Entscheidung, zu einem anderen Ergebnis. Eine einheitlichere und ausgewogenere Anwendung der speziellen Kriterien erscheint damit geboten. bb) Die relevante Verletzungshandlung Die Rechtsprechung des EGMR bleibt unklar in Hinblick darauf, auf welche Verletzungshandlung die Feststellung, dass eine Verletzung von Art. 3 EMRK vorliegt, letztlich abstellt. Ihr sind vielmehr geradezu widersprüchliche Aussagen dazu zu entnehmen, ob entweder die Verantwortlichkeit des Staates für das Verschwindenlassen oder die Reaktion der Behörden, nachdem diese Kenntnis von dem Verschwinden erlangte, entscheidend sind.230 Die Rechtsprechung ist insbesondere dafür zu kritisieren, dass sie in jüngeren Urteilen eine Verletzung von Art. 3 EMRK dann ablehnte, wenn die Verantwortlichkeit des Staates für die Entführung und damit auch für die Inhaftierung und den Tod des Opfers nicht festgestellt worden war. Jedenfalls aber sollte der EGMR in der Regel eine Verletzung der Angehörigen in Art. 3 EMRK bereits dann annehmen, wenn der Staat für das Verschwindenlassen des Opfers verantwortlich ist, soweit die Angehörigen dem Opfer auch tatsächlich nahe standen.231 Denn die Tatsache, dass der Staat eine nahe stehende, geliebte Person entführte, inhaftierte und vermutlich tötete, ist an sich schon geeignet, großes seelisches Leiden hervorzurufen.232 Da dieses Leiden auch dem für das Verschwindenlassen verantwortlichem Staat direkt zuzurechnen ist, verletzt der beschwerdegegnerische Staat das Verbot der unmenschlichen und grausamen Behandlung. In diesem Zusammenhang ist auch von Bedeutung, ob die Angehörigen 227
Kritisch auch Ott, S. 97 f. C¸akıcı v. Türkei, 23657/94, Urteil vom 8. Juli 1999, teilweise abweichende Meinung der Richter Thomassen, Jungwiert und Fischbach. 229 Akdeniz et al. v. Türkei, 23954/94, Urteil vom 31. Mai 2001, Abs. 102. 230 Siehe dazu supra Kapitel 2, B.I.1.a). 231 Das heißt unter Berücksichtigung der bereits erörterten speziellen Kriterien, siehe gerade supra Kapitel 2, B.I.2.b)aa). 232 So auch Pérez Solla, S. 84 f., 192. 228
B. Einzelne relevante Aspekte
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Zeugen der Entführung waren. Ist dies der Fall, so kann diese persönliche Erfahrung das seelische Leiden noch verstärken. Die Menschenrechtskammer weist allerdings richtigerweise daraufhin, dass die Tatsache, dass dies nicht der Fall war, nicht dazu führen sollte, dass die Beschwerdeführer nicht Opfer einer Verletzung von Art. 3 EMRK sind.233 Konnte der EGMR die Verantwortlichkeit des beschwerdegegnerischen Staates für das Verschwindenlassen hingegen nicht feststellen, lag mithin keine Verletzung von Art. 2 EMRK in substantieller Hinsicht und von Art. 5 EMRK vor, so kann der EGMR auch nicht darauf abstellen, dass das Verschwinden an sich das seelische Leiden der Beschwerdeführer verursachte. Denn dieses Leiden wäre dem Staat nicht zurechenbar.234 In diesem Fall kann der EGMR damit nur entscheidend auf das Verhalten des Staates abstellen, das dieser in Reaktion auf den Vorwurf des Verschwindens an den Tag legte. Dies betrifft – wie die Menschenrechtskammer von Bosnien-Herzegowina zusammenfasste – zum einen den Umfang und die Art und Weise der Ermittlungen, die die Behörden vornahmen, zum anderen die Antworten und die Einstellung der Behörden gegenüber den Vorwürfen und Sorgen der Angehörigen. Hat der Beschwerdeführer unter der Reaktion der Behörden für einen längeren Zeitraum zu leiden und verzögert der Staat die Ermittlungen und die Erteilung von Auskünften, so verstärkt dies die Annahme, dass Art. 3 EMRK verletzt ist. Einen erschwerenden Umstand stellt es ebenso dar, wenn der Staat die Beschwerdeführer einzuschüchtern versucht, sie bedroht oder ihnen mit Gleichgültigkeit entgegentritt. In dieser Konstellation erscheint es richtig, wenn der EGMR eine Verletzung der Angehörigen in Art. 3 EMRK allein auf die Reaktion der Behörden stützt und damit unabhängig von der Verantwortlichkeit für das Verschwinden annimmt. Dies hat zum einen den praktischen Vorteil, dass die Feststellung einer Verletzung von Art. 3 EMRK in Bezug auf die Angehörigen auch in jenen Fällen möglich ist, in denen der EGMR aus Mangel an Beweisen nicht feststellten konnte, dass der Staat für das Verschwindenlassen verantwortlich ist. Darüber hinaus überzeugt es, die Reaktion der Behörden als Verhalten anzusehen, das allein geeignet ist, schweres seelisches Leiden hervorzurufen:235 Denn es ist gerade dieses Verhalten, welches die besondere 233 So auch bereits C¸akıcı v. Türkei, 23657/94, Urteil vom 8. Juli 1999, teilweise abweichende Meinung der Richter Thomassen, Jungwiert und Fischbach. Siehe auch Feldman, EHRLR Issue 1 (2009), S. 50 (62) mit dem Hinweis, dass gerade die fehlende Anwesenheit das Trauma der Angehörigen verstärken könne. 234 Dies stellte der EGMR auch selbst fest: Shaipova et al. v. Russland, 10796/04, Urteil vom 6. November 2008, Abs. 109: „concludes that the State cannot be held responsible for the applicants’ mental distress caused by the commission of the crime itself.“ Siehe auch Tagirova et al. v. Russland, 20580/04, Urteil vom 4. Dezember 2008, Abs. 101; Zakriyeva et al. v. Russland, 20583/04, Urteil vom 8. Januar 2009, Abs. 96; Khumaydov und Khumaydov v. Russland, 13862/05, Urteil vom 28. Mai 2009, Abs. 129. 235 Siehe Vermeulen, in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak, S. 411. Kritisch aber Jessberger, KJ 29 (1996), S. 290 (295) in Hinblick auf die bloße Weigerung des Staates, eine sorgfältige Untersuchung durchzuführen.
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Kap. 2: Rechte der Konvention in Fällen des Verschwindenlassens
Hilflosigkeit der Angehörigen verursacht und ihnen das Gefühl der Rechtlosigkeit und des Ausgeliefertseins vermittelt.236 Liegt mithin eine Konstellation vor, in der es entscheidend auf die Reaktion der Behörden ankommt, so sollte der EGMR eine Verletzung von Art. 3 EMRK regelmäßig in jenen Fällen annehmen, in denen er zuvor feststellte, dass das Verhalten der Behörden den prozeduralen Gehalt von Art. 2 EMRK verletzte. Bisher nahm der EGMR in allen Urteilen zu Fällen des Verschwindenlassens eine solche Verletzung von Art. 2 EMRK an. In vier Fällen gegen Russland vertrat der Gerichtshof allerdings die Ansicht, dass trotz mangelhafter Ermittlungen keine Reaktion vorlag, die besonders schweres Leiden der Beschwerdeführer – wie nach Art. 3 EMRK erforderlich – hervorrief. Der EGMR scheint somit eine gegenüber einer Verletzung des prozeduralen Gehalts von Art. 2 EMRK qualifizierte Reaktion zu fordern, damit Art. 3 EMRK verletzt ist.237 Aus seinen Ausführungen geht allerdings nicht hervor, welche weitergehenden Anforderungen der EGMR an diese Reaktion stellt. Es ist auch schwer vorstellbar, in welcher Weise die Anforderungen an die Reaktion der Behörden noch zu steigern wären. Die Ermittlungen haben zwar in erster Linie zum Ziel, die Verantwortlichen zu finden und zu bestrafen, und sind damit nicht darauf fokussiert, gerade in Bezug auf die Angehörigen der verschwundenen Person eine solche Reaktion darzustellen, die deren Leiden und Ängste gar nicht erst hervorruft oder zumindest lindert. Aber auch im Rahmen der Prüfung der Ermittlungspflichten von Art. 2 EMRK spielt bereits eine Rolle, inwiefern die Angehörigen des verschwundenen Opfers beteiligt wurden.238 Daher sollte der EGMR in Zukunft in der Regel eine Verletzung der Beschwerdeführer, soweit diese in einem Näheverhältnis zum verschwundenen Opfer stehen, in Art. 3 EMRK immer dann annehmen, wenn er auch eine Verletzung der Ermittlungspflichten nach Art. 2 EMRK feststellte. Im Gegensatz zu seinem Vorgehen in den genannten vier Entscheidungen gegen Russland müsste der EGMR es gezielt begründen, wenn er ausnahmsweise keine Verletzung von Art. 3 EMRK annähme; er dürfte sich dann nicht mit dem bloßen Verweis auf weitere, unbenannte Anforderungen begnügen.
236 Vgl. Varnava et al. v. Türkei, 16064/90, 16065/90, 16066/90, 16068/90, 16069/90, 16070/90, 16071/90, 16072/90, 16073/90, Urteil der Großen Kammer vom 18. September 2009, Abs. 200. Siehe auch Leach, EHRLR Issue 6 (2008), S. 732 (756), mit dem Hinweis darauf, dass der EGMR in sonstigen Tötungsfällen nicht auf eine Verletzung der Angehörigen in Art. 3 EMRK abstellt. 237 Shaipova et al. v. Russland, 10796/04, Urteil vom 6. November 2008, Abs. 110. Siehe auch Tagirova et al. v. Russland, 20580/04, Urteil vom 4. Dezember 2008, Abs. 102; Zakriyeva et al. v. Russland, 20583/04, Urteil vom 8. Januar 2009, Abs. 97; Khumaydov und Khumaydov v. Russland, 13862/05, Urteil vom 28. Mai 2009, Abs. 130. So auch die Einschätzung von Feldman, EHRLR Issue 1 (2009), S. 50 (64). 238 Siehe infra Kapitel 2, B.II.1.a)aa).
B. Einzelne relevante Aspekte
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c) In Hinblick auf Art. 8 EMRK und auf ein Recht auf Wahrheit Die EMRK enthält kein Konventionsrecht, welches explizit ein Recht auf Wahrheit garantiert. Damit steht dem EGMR gegenwärtig nur die Möglichkeit offen, ein existierendes Konventionsrecht so auszulegen, dass es ein Recht der Angehörigen auf Kenntnis der Wahrheit umfasst. Darüber hinausgehende Bestrebungen, die fordern, speziell in Fällen des Verschwindenlassens ein Recht auf Wahrheit heranzuziehen,239 ließen sich nur durch ein Zusatzprotokoll zur EMRK verwirklichen, welches dieses bislang noch vage240 Konzept eines solchen Rechts aufnehmen könnte. In Fortentwicklung seiner bisherigen Rechtsprechung könnte der EGMR Art. 8 EMRK, das Recht auf Achtung des Familienlebens, heranziehen. Im Rahmen dieser Prüfung könnte auch ein Recht auf Wahrheit eine Rolle spielen. Der Gerichtshof könnte sich in dieser Hinsicht an der Rechtsprechung der Menschenrechtskammer für Bosnien-Herzegowina orientieren. Die Kammer hatte bereits in der Beschwerde Palic´ im Jahre 2001 eine Verletzung von Art. 8 EMRK angenommen und wie folgt begründet: „The Chamber recalls its jurisprudence that cases of disappeared family members can raise an issue under Article 8 of the Convention if the applicant shows that the respondent Party is in possession of the body of the victim and unreasonably refuses to hand it over to the applicant. It has stated that the applicant has to substantiate that the respondent Party is arbitrarily withholding the victim’s body from him or her or withholding from him or her information concerning its whereabouts […].“241
In ihren späteren Entscheidungen stellte die Kammer darauf ab, dass Art. 8 EMRK ein Recht auf Zugang zu Informationen („Right to Access to Information“) enthält und die positive Pflicht des Staates nach Art. 8 EMRK verletzt sei, wenn Informationen unberechtigterweise zurückgehalten werden: „[…] [T]he Chamber considers that information concerning the fate and whereabouts of a family member falls within the ambit of ,the right to respect for his private and family life‘, protected by Article 8 of the Convention. When such information exists within the possession or control of the respondent Party and the respondent Party arbitrarily and without justification refuses to disclose it to the family member, upon his or her request, properly submitted to a competent organ of the respondent Party or the Red Cross, then the respondent
239 Vgl. Art. 24 Abs. 2 S. 1 der internationalen Konvention zum Schutz aller Personen gegen das Verschwindenlassen: „Each victim has the right to know the truth regarding the circumstances of the enforced disappearance, the progress and results of the investigation and the fate of the disappeared person.“ Zum Recht auf Wahrheit in Fällen des Verschwindenlassens siehe Pérez Solla, S. 91 – 101, 192; Report Nowak, Abs. 78 – 80; CoE, Parliamentary Assembly Resolution 1463 (2005), 3. Oktober 2005, para. 10.2. 240 So Report Nowak, Abs. 78. 241 Palic´ v. Serbien, CH/99/3196, Entscheidung vom 11. Januar 2001, Abs. 82 (unter Verweis auf zwei Zulässigkeitsentscheidungen, Hervorhebungen nicht im Original).
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Kap. 2: Rechte der Konvention in Fällen des Verschwindenlassens Party has failed to fulfil its positive obligation to secure the family member’s right protected by Article 8.“242
Während die Menschenrechtskammer Art. 8 EMRK damit in erster Linie als Recht auf Zugang zu Informationen versteht, könnte der EGMR im Rahmen der Prüfung einer Verletzung von Art. 8 EMRK auch beziehungsweise vorrangig darauf abstellen, dass Leid und Angst durch das Verschwinden hervorgerufen worden seien und/oder ein Familienleben nun nicht mehr möglich sei, wie es einige Beschwerdeführer vor dem EGMR erfolglos vorgetragen hatten.243 Für die Beantwortung der Frage, ob und in welcher Hinsicht der EGMR Art. 8 EMRK in Fällen des Verschwindenlassens heranziehen sollte, ist zum einen entscheidend, ob eine Auslegung dieses Konventionsrechts dieses Vorgehen zuließe [aa)]. Zum anderen spielt eine Rolle, in welchem Verhältnis die Prüfung einer Verletzung der Angehörigen in Art. 8 EMRK zu einer Verletzung insbesondere von Art. 3 EMRK stünde [bb)]. aa) Auslegung von Art. 8 EMRK In Bezug auf ersteren Aspekt ist festzustellen, dass der EGMR bislang – wenn auch gerade nicht in den relevanten Fällen des Verschwindenlassens – eine weite Auslegung von Art. 8 EMRK vorgenommen hat.244 So steht außer Zweifel, dass die Beziehung der Beschwerdeführer zum verschwundenen Opfer, jedenfalls soweit dessen Ehepartner und Kinder betroffen sind, unter den Familienbegriff von Art. 8 EMRK fällt. Des Weiteren hat der EGMR oft Gebrauch von positiven Pflichten im Rahmen seiner Rechtsprechung zu Art. 8 EMRK gemacht.245 Obgleich die Rechtsprechung durch Einzelfallentscheidungen geprägt ist, geht aus ihr hervor, dass der Staat die positive Pflicht hat, den Genuss eines Familienlebens wirksam zu fördern.246 Der EGMR hat auch ein Recht auf Informationen im Rahmen von Art. 8 EMRK herangezogen.247 Die Prüfung des EGMR könnte sich – wie bereits im Rahmen der Prüfung von Art. 3 EMRK – auch in Bezug auf Art. 8 EMRK zum einen darauf konzentrieren, dass das Verschwinden des Opfers an sich dazu führt, dass dessen Angehörige Angst und Schmerz empfinden und/oder das gemeinsame Familienleben nicht mehr möglich ist. Ein solcher Anknüpfungspunkt ist allerdings nur dann von Bedeutung, wenn die Verantwortlichkeit des Staates für die Entführung feststeht und damit auch 242 Unkovic´ v. Bosnien-Herzegowina, CH/99/2150, Entscheidung vom 10. Mai 2002, Abs. 126 (Hervorhebungen nicht im Original). 243 Siehe dazu supra Kapitel 2, B.I.1.b). 244 Siehe Harris/O’Boyle/Bates/Buckley, S. 361. 245 Heringa/Zwaak, in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak, S. 739. 246 Heringa/Zwaak, in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak, S. 739. Siehe auch Guerra et al. v. Italien, 14967/89, Urteil vom 19. Februar 1998, Abs. 58. 247 So im Fall Gaskin v. Vereinigtes Königreich, 10454/83, Urteil vom 7. Juli 1989, Abs. 38 – 49, in dem ein Waise Zugang zu Informationen über seine Vergangenheit verlangte. Siehe dazu Grabenwarter, S. 235 f.
B. Einzelne relevante Aspekte
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seine Verantwortlichkeit für die daraus resultierenden Folgen. In dieser Hinsicht ist Bezug auf den Bericht der Kommission in den Beschwerden Zyperns gegen die Türkei aus dem Jahre 1976 zu nehmen, in welchem diese eine Verletzung von Art. 8 EMRK darauf stützte, dass die Türkei für die Trennung von Familien durch Vertreibungsmaßnahmen verantwortlich war.248 Ist in den Fällen des Verschwindenlassens die Verantwortlichkeit des Staates nicht bewiesen, so kann nur darauf abgestellt werden, dass die dem Verschwinden nachfolgende Reaktion des Staates Art. 8 EMRK verletzt. Dann gewinnt an Bedeutung, dass der Staat Informationen zurückhält, die das Schicksal der verschwundenen Person betreffen.249 Die relevante Reaktion des Staates kann auch darin bestehen, dass dieser Ermittlungen unterlässt, die geeignet sind, den Angehörigen Gewissheit über das Schicksal der verschwundenen Person zu bringen. Dieses Verhalten muss, auch wenn die Menschenrechtskammer für Bosnien-Herzegowina dies nicht explizit zum Ausdruck bringt, Implikationen gerade in Bezug auf das Familienleben haben. Dass dies der Fall ist, bedarf allerdings keiner näheren Begründung: Ist ein Familienmitglied verschwunden, so ist das Familienleben zwischen dieser Person und den übrigen Familienmitgliedern zerstört. Die andauernde Ungewissheit über das Schicksal der Person verhindert auch, dass sich ein neues Familienleben herausbilden kann.250 bb) Verhältnis zu Art. 3 EMRK Während eine solche Auslegung von Art. 8 EMRK damit die Erfassung der Sachverhalte des Verschwindenlassens ermöglichen würde,251 könnte die Heranziehung dieses Konventionsrechts jedenfalls dann zu unterbleiben haben, wenn der EGMR bereits eine Verletzung von Art. 3 EMRK in Bezug auf die Angehörigen angenommen hat. Für eine solche Sichtweise scheint sich Pérez Solla auszusprechen, die eine Vermengung mit der Frage einer Verletzung von Art. 3 EMRK befürchtet.252 Denn in dieser Konstellation würde die Reaktion der Behörden auf das Verschwinden einer Person unter Umständen sowohl im Rahmen der Prüfung von Art. 2 und 3 als auch von Art. 8 EMRK zum Tragen kommen. Auch erreicht, wie gesehen, das seelische Leiden der Angehörigen gerade deshalb die nach Art. 3 EMRK geforderte Intensität, da die Beschwerdeführer mit der verschwundenen Person familiär verbunden sind. Die familiäre Situation spielt damit bereits im Rahmen der Prüfung von Art. 3 EMRK eine Rolle. 248
Zypern v. Türkei, 6780/74, 6950/75, Bericht vom 10. Juli 1976, abgedruckt in: AsmeHumanitas e.V., Bericht der Kommission des Europarats über Menschenrechte auf Zypern 1974, Iphofen, nach 1977, S. 74, Abs. 211. 249 Darauf stellt auch Rauschning, in: FS Ress, S. 1061 (1071) ab. 250 Deutlich auch Rauschning, in: FS Ress, S. 1061 (1071). 251 Siehe auch die Einschätzung von Pérez Solla, S. 95. 252 Siehe Pérez Solla, S. 97.
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Kap. 2: Rechte der Konvention in Fällen des Verschwindenlassens
Allerdings spricht entscheidend für eine kumulative Heranziehung von Art. 8 EMRK,253 dass jeweils andere Aspekte im Mittelpunkt der Prüfung stehen: So ist die familiäre Verbundenheit im Rahmen der Prüfung von Art. 3 EMRK nur ein Kriterium, um das Ausmaß des seelischen Leidens einzuschätzen. Im Mittelpunkt der Prüfung steht die Frage, ob eine unmenschliche und grausame Behandlung vorliegt. Die Prüfung einer Verletzung von Art. 8 EMRK stellt hingegen darauf ab, inwiefern gerade das Familienleben beeinträchtigt ist – entweder durch das Verschwinden an sich oder durch die Reaktion der Behörden. Die Beziehungen zwischen den Beschwerdeführern und den verschwundenen Opfern sind der zentrale Aspekt der Prüfung. Damit ist die Heranziehung von Art. 8 EMRK neben Art. 3 EMRK geeignet, die ganze Dimension des Phänomens des Verschwindenlassens zu erfassen:254 Denn Kennzeichen dieses Verbrechens ist es gerade auch, dass die nahen Angehörigen des Opfers nachhaltig in ihrem Familienleben beeinträchtigt werden. Anders als in Fällen, in denen Angehörige von auf sonstige Art und Weise ums Leben gekommenen Personen sich an den Gerichtshof wenden und dieser nicht auf eine Verletzung von Art. 8 EMRK abstellt, ist es gerade die andauernde Ungewissheit, die Fälle des Verschwindenlassens kennzeichnet. Diese macht es den verbliebenen Familienmitgliedern unmöglich, ihre familiäre Beziehung aufzuarbeiten, innerlich zu beenden oder neue Bindungen aufzunehmen. d) Fazit Die fortschrittliche Rechtsprechung des EGMR in der Anwendung von Art. 3 EMRK in Bezug auf die Angehörigen der verschwundenen Person stellt einen wichtigen Schritt in dem Bemühen dar, alle menschenrechtlichen Implikationen des Phänomens Verschwindenlassen zu erfassen. Die vom EGMR herangezogenen speziellen Faktoren aus dem C¸akıcı-Urteil sollten dabei als Möglichkeit verstanden werden, auf ein tatsächliches Näheverhältnis als entscheidendes Kriterium abzustellen, um das Ausmaß des seelischen Leidens zu bestimmen. Der EGMR sollte eine Verletzung von Art. 3 EMRK in Zukunft auch in jenen Fällen regelmäßig annehmen, in denen er zuvor keine Verantwortlichkeit des Staates für das Verschwinden feststellen konnte; in diesen Konstellationen sollte er auf die Reaktion der Behörden als maßgebliche Verletzungshandlung abstellen und eine Verletzung regelmäßig bejahen, wenn der Staat seine Ermittlungspflicht nach Art. 2 EMRK verletzt hat. Dies schließt nicht aus, dass der EGMR – anders als bislang – auch eine Verletzung von Art. 8 EMRK prüfen und regelmäßig annehmen sollte. Denn die Verantwortlichkeit des Staates für das Verschwinden und/oder die Reaktion der Behörden auf das Bemühen der Angehörigen, das Opfer aufzufinden, stellt in der Regel auch eine Verletzung des Rechts auf Achtung des Familienlebens dar.
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Siehe auch Ott, S. 110 f. Siehe auch Pérez Solla, S. 85, die von einem „rich insight“ spricht.
B. Einzelne relevante Aspekte
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II. Das relevante Pflichtenspektrum: „positive obligations“ Von großer Bedeutung in der Rechtsprechung des EGMR in Fällen des Verschwindenlassens ist das relevante Pflichtenspektrum der einzelnen Konventionsrechte, insbesondere der Art. 2, 3 und 5 EMRK. Zunächst prüft der EGMR zwar regelmäßig die klassische abwehrrechtliche Dimension der Konventionsrechte; ist diese betroffen und stellt der EGMR eine Verletzung fest, so liegt eine so genannte substantielle oder materielle Verletzung („substantive violation“) vor. Wie erörtert,255 stellt der EGMR eine substantielle Verletzung in Bezug auf Art. 2 EMRK fest, wenn bewiesen ist, dass der Staat für den Tod des Opfers verantwortlich ist. Eine substantielle Verletzung von Art. 5 EMRK nimmt der EGMR an, wenn er zuvor die nicht eingestandene Verhaftung durch den Staat festgestellt hat. In Bezug auf Art. 3 EMRK geht der EGMR von einer substantiellen Verletzung aus, wenn die Verantwortlichkeit des Staates für eine grausame und unmenschliche Behandlung des Opfers oder der Angehörigen bewiesen ist. Neben dieser abwehrrechtlichen Dimension der Konventionsrechte spielen gerade die positiven Verpflichtungen, die die einzelnen Konventionsbestimmungen enthalten,256 in Fällen des Verschwindenlassens eine Rolle. Als positive Verpflichtungen aus den Konventionsrechten sind in erster Linie Ermittlungspflichten („to investigate“) (1.) und weitere (präventive) Schutzpflichten („to prevent/protect“) (2.) in Fällen des Verschwindenlassens relevant. 1. Ermittlungspflichten: „to investigate“257 Ermittlungspflichten fordern, dass der Staat unter bestimmten Umständen nach einer behaupteten Menschenrechtsverletzung Ermittlungen bezüglich dieser Verletzung durchführen muss.258 Eine Ermittlungspflicht stellt eine so genannte prozedurale Verpflichtung („procedural obligation“) dar; das jeweilige Konventionsrecht ist in seinem prozeduralen Gehalt betroffen. Im Folgenden werden jene Ermittlungspflichten näher betrachtet, die sich aus materiellen Konventionsrechten,
255
Siehe supra Kapitel 2, A.I.4.a). Dass die Konventionsrechte positive Verpflichtungen enthalten, ist anerkannt: Dazu Grabenwarter, S. 125 – 131; Harris/O’Boyle/Bates/Buckley, S. 18 f.; Ehlers, in: Ehlers (Hrsg.), S. 39 – 41. Umfassend zu positiven Verpflichtungen Dröge; Streuer; Jaeckel, S. 103 – 181; Sudre, in: GS Ryssdal, S. 1359. 257 Siehe zu diesem Aspekt bereits umfassend Altermann. Kürzer auch Dutheil-Warolin, Rev. Trim. Dr. h. 16 (2005), S. 333 (339 ff.); Streuer, S. 193 f., 303 – 306; Zwaak, in: van Dijk/ van Hoof/van Rijn/Zwaak, S. 367 – 371; Harris/O’Boyle/Bates/Buckley, S. 48 – 52, 108 – 111; Frowein, in: Frowein/Peukert, Art. 2, Rn. 16 f., Art. 3, Rn. 25; Meyer-Ladewig, Art. 2, Rn. 20 ff.; Erdal/Bakirci, S. 219 – 225 (zu Art. 3 EMRK); Chevalier-Watts, International Journal of Human Rights 14 (2010), S. 584 (597 – 599). 258 Altermann, S. 20. 256
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Kap. 2: Rechte der Konvention in Fällen des Verschwindenlassens
nicht aber aus dem Recht auf eine wirksame Beschwerde (Art. 13 EMRK) ableiten.259 a) In der Rechtsprechung der Konventionsorgane Der EGMR entwickelte diese Ermittlungspflicht das erste Mal in Bezug auf Art. 2 EMRK in der Beschwerde McCann et al. v. Vereinigtes Königreich.260 Der Fall hatte einen Einsatz der britischen Eliteeinheit in Gibraltar zum Gegenstand, im Zuge dessen drei IRA-Mitglieder erschossen wurden. Die Erschießungen als solche, so der EGMR, seien „unbedingt erforderlich“ im Sinne von Art. 2 Abs. 2 EMRK gewesen.261 In Bezug auf die relevante Ermittlungspflicht äußerte sich der Gerichtshof wie folgt: „The Court confines itself to noting, like the Commission, that a general legal prohibition of arbitrary killing by the agents of the State would be ineffective, in practice, if there existed no procedure for reviewing the lawfulness of the use of lethal force by State authorities. The obligation to protect the right to life under this provision, read in conjunction with the State’s general duty under Article 1 of the Convention to ”secure to everyone within their jurisdiction the rights and freedoms defined in [the] Convention”, requires by implication that there should be some form of effective official investigation when individuals have been killed as a result of the use of force by, inter alios, agents of the State.“262
259 Altermann, S. 20 nennt neben diesen Pflichten auch Ermittlungspflichten aus Art. 13 EMRK (zu Art. 13 EMRK infra Kapitel 2, B.III.). 260 Siehe zu dieser Einschätzung die teilweise abweichende Meinung von Richter Bonello in Anguelova v. Bulgarien, 38361/97, Urteil vom 13. Juni 2002, Abs. 17: „The Court has also, by an admirable process of judicial activism ,created‘ the concept of a ,procedural violation‘ of Article 2 [McCann and Others v. the United Kingdom, judgment of 27 September 1995, Series A no. 324], and, more recently, of Article 3 [Assenov and Others, cited above].“ Siehe auch Ni Aolain, NQHR 19 (2001), S. 21 (28 ff.); Hendin, Baltic Yearbook of International Law 4 (2004), S. 75 (76); Abdel-Monem, Vermont Law Review 28 (2003 – 2004), S. 237 (275 ff.). Nach Ansicht von Cançado Trindade, S. 101 (111 f.) folgte der EGMR damit der bereits konstanten Rechtsprechung des IAGMR. 261 McCann et al. v. Vereinigtes Königreich, 18984/91, Urteil vom 27. September 1995, Abs. 200. 262 McCann et al. v. Vereinigtes Königreich, 18984/91, Urteil vom 27. September 1995, Abs. 161, Hervorhebung nicht im Original. Bereits die Kommission machte folgende Ausführungen (McCann et al. v. Vereinigtes Königreich, 18984/91, Bericht vom 4. März 1994, Abs. 193): „Having regard therefore to the necessity of ensuring the effective protection of the rights guaranteed under the Convention, which takes on added importance in the context of the right to life, the Commission finds that the obligation imposed on the State that everyone’s right to life shall be ”protected by law” may include a procedural aspect. This includes the minimum requirement of a mechanism whereby the circumstances of a deprivation of life by the agents of a state may receive public and independent scrutiny. The nature and degree of scrutiny which satisfies this minimum threshold must, in the Commmission’s view, depend on the circumstances of the particular case. There may be cases where the facts surrounding a deprivation of life are clear and undisputed and the subsequent inquisitorial examination may legitimately be reduced to a minimum formality. But equally, there may be other cases, where a victim dies in circumstances which are unclear, in which event the lack of any effective
B. Einzelne relevante Aspekte
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Der EGMR stellte anschließend aber keine solche Verletzung der Ermittlungspflicht fest, da die erfolgten Ermittlungen den Anforderungen genügten, sondern vielmehr eine Verletzung von Art. 2 EMRK durch die Planung und Durchführung der gesamten Operation.263 Die Rechtsprechung zog diese Ermittlungspflicht daraufhin auch in Fällen des Verschwindenlassens heran, spezifizierte sie im Folgenden und verwendete sie zudem auch in Bezug auf die Art. 3 und 5 EMRK. aa) In Bezug auf Art. 2 EMRK Bereits in der Individualbeschwerde Kurt rügte die Beschwerdeführerin die Verletzung einer Ermittlungspflicht aus Art. 2 EMRK.264 Während die Kommission auf dieses Vorbringen nicht einging, stellte der Gerichtshof im Fall Kurt unter Verweis auf das erwähnte Urteil McCann et al. fest: „It also notes in this respect that in those cases where it has found that a Contracting State had a positive obligation under Article 2 to conduct an effective investigation into the circumstances surrounding an alleged unlawful killing by the agents of that State, there existed concrete evidence of a fatal shooting which could bring that obligation into play […].“265
Solche konkreten Beweise existierten im vorliegenden Fall aber – so der EGMR – nicht, so dass der Gerichtshof im Fall Kurt noch eine Verletzung der Ermittlungs¸ akıcı stellte der EGMR pflicht verneinte.266 In der darauf folgenden Entscheidung C zwar nur eine Verletzung von Art. 2 EMRK ohne nähere Spezifizierung im Tenor fest, im Rahmen der Prüfung der Verletzung von Art. 2 EMRK machte er jedoch bereits folgende Ausführungen: „Furthermore, having regard to the lack of effective procedural safeguards disclosed by the inadequate investigation carried out into the disappearance and the alleged finding of Ahmet C¸akıcı’s body […], the Court finds that the respondent State has failed in its obligation to
procedure to investigate the cause of the deprivation of life could by itself raise an issue under Article 2 (Art. 2) of the Convention.“ 263 McCann et al. v. Vereinigtes Königreich, 18984/91, Urteil vom 27. September 1995, Abs. 164, 213 f. Die Kommission hatte noch keine Verletzung von Art. 2 EMRK festgestellt: McCann et al. v. Vereinigtes Königreich, 18984/91, Bericht vom 4. März 1994, Abs. 251. 264 Kurt v. Türkei, 24276/94, Bericht vom 5. Dezember 1996, Abs. 185: „In addition, the absence of an effective official investigation into the disappearance constitutes a separate violation of the State’s obligation under Article 2 (Art. 2) to provide an effective system of protection for the right to life.“ So auch später vor dem EGMR, Kurt v. Türkei, 24276/94, Urteil vom 25. Mai 1998, Abs. 103: „Secondly, and with reference to the McCann and Others judgment previously cited, the applicant maintained that the failure of the authorities to conduct a prompt, thorough and effective investigation into her son’s disappearance must in itself be seen as a separate violation of Article 2.“ 265 Kurt v. Türkei, 24276/94, Urteil vom 25. Mai 1998, Abs. 107 (Hervorhebungen nicht im Original). 266 Kurt v. Türkei, 24276/94, Urteil vom 25. Mai 1998, Abs. 109.
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Kap. 2: Rechte der Konvention in Fällen des Verschwindenlassens protect his right to life. Accordingly, there has been a violation of Article 2 of the Convention on this account also.“267
Dass der EGMR eine Verletzung von Art. 2 EMRK in zweierlei Hinsicht feststellte, geht endlich aus dem Tenor der Entscheidung Ertak hervor.268 Schließlich stellte der EGMR in der Entscheidung Timurtas¸ im Tenor, wie später üblich, die Verletzungen von Art. 2 EMRK in seinem substantiellen und prozeduralen Gehalt nunmehr auch separat fest269 und verwendete den Ausdruck der „procedural obligations“.270 Die Feststellung des EGMR einer Verletzung der Ermittlungspflicht im Tenor des Urteils lautet nunmehr in der Regel wie folgt: „Holds that there has been a violation of Article 2 of the Convention in respect of the failure to conduct an effective investigation into the circumstances in which [the victim] disappeared“.271
Die Feststellung einer Verletzung von Art. 2 EMRK in seinem materiellen/substantiellen Aspekt äußert der EGMR wie folgt: „Holds that there has been a substantive violation of Article 2 of the Convention in respect of [the victim]“.272
In seiner Rechtsprechung spezifizierte der EGMR auch, unter welchen Umständen eine solche Ermittlungspflicht erwächst und welche Anforderungen an eine Ermittlung zu stellen sind. Zunächst ging die Prüfung und Feststellung der Verlet267
C¸akıcı v. Türkei, 23657/94, Urteil vom 8. Juli 1999, Abs. 87 (Hervorhebungen nicht im Original). Zuvor hatte der EGMR zu den Ermittlungspflichten aus Art. 2 EMRK ausgeführt, Abs. 86: „The obligation imposed is not exclusively concerned with intentional killing resulting from the use of force by agents of the State but also extends, in the first sentence of Article 2 § 1, to imposing a positive obligation on States that the right to life be protected by law. This requires by implication that there should be some form of effective official investigation when individuals have been killed as a result of the use of force […].“ 268 Ertak v. Türkei, 20764/92, Bericht vom 4. Dezember 1998, Abs. 214; Urteil vom 9. Mai 2000, Abs. 133, 135 sowie im Tenor, Abs. 2: „Holds that there has been a violation of Article 2 of the Convention on account of the death of the applicant’s son at the hands of agents of the State and the lack of an adequate and effective investigation into the circumstances surrounding his disappearance“. 269 Timurtas¸ v. Türkei, 23531/94, Urteil vom 13. Juni 2000, Tenor, Abs. 1 und 2: „1. Holds by six votes to one that the respondent State is liable for the death of Abdulvahap Timurtas¸ in violation of Article 2 of the Convention; 2. Holds by six votes to one that there has been a violation of Article 2 of the Convention on account of the failure of the authorities of the respondent State to conduct an effective investigation into the circumstances of the disappearance of Abdulvahap Timurtas¸“. 270 Timurtas¸ v. Türkei, 23531/94, Urteil vom 13. Juni 2000, Abs. 87 – 90. In dem Urteil im Fall Ertak v. Türkei, 20764/92, Urteil vom 9. Mai 2000 sprach der EGMR noch nicht von „procedural obligations“, aber bereits von einem „procedural aspect“ (Abs. 130) und einer „procedural protection“ (Abs. 134). 271 Amanat Ilyasova et al. v. Russland, 27001/06, Urteil vom 1. Oktober 2009 (Hervorhebung nicht im Original). 272 Amanat Ilyasova et al. v. Russland, 27001/06, Urteil vom 1. Oktober 2009 (Hervorhebung nicht im Original).
B. Einzelne relevante Aspekte
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zung einer Ermittlungspflicht damit einher, dass der Gerichtshof gleichzeitig auch eine materielle Verletzung von Art. 2 EMRK annahm. Die Ermittlungspflicht schien damit an den Tod des Opfers, für den der Staat die Verantwortung trug, anzuknüpfen.273 Beide Umstände, der Tod des Opfers sowie die Verantwortlichkeit des Staates für diesen, wurden in der folgenden Rechtsprechung allerdings als Anknüpfungspunkt der Ermittlungspflicht verworfen:274 In der Beschwerde Ertak, in der der EGMR gleichwohl eine substanzielle Verletzung von Art. 2 EMRK feststellte, führte der Gerichtshofes bereits aus, dass die Ermittlungspflicht nicht nur dann zur Anwendung komme, wenn der Staat zuvor tödliche Gewalt angewendet habe,275 sondern auch, wenn der Gerichtshof zuvor festgestellt habe, dass das Opfer in nicht anerkannter Haft gehalten sei, misshandelt worden sei und dass sein Verschwinden in Umständen geschehen sei, die vermuten ließen, dass es nun tot sei.276 In der vierten Staatenbeschwerde Zyperns gegen die Türkei im Jahr 2001 stellte der EGMR eine Verletzung von Art. 2 EMRK in seinem prozeduralen Gehalt fest, obgleich er eine substanzielle Verletzung von Art. 2 EMRK verneinte.277 Zu den Umständen, unter denen Ermittlungspflichten entstehen, bemerkte der EGMR: 273 So auch in Timurtas¸ v. Türkei, 23531/94, Urteil vom 13. Juni 2000, Abs. 87: „[…] requires by implication that there should be some form of effective official investigation when individuals have been killed as a result of the use of force“. Allerdings bezog sich der EGMR bereits in der Entscheidung McCann et al. auf eine Tötung unter anderem (inter alios) durch Staatsbeamte. 274 Siehe auch Altermann, S. 36 – 40; Dröge, S. 62 – 65; Harris/O’Boyle/Bates/Buckley, S. 48 f.; Alleweldt, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), Kap. 10, Rn. 106. 275 Dies wird durch den Bezug auf die „above considerations“ in Ertak v. Türkei, 20764/ 92, Urteil vom 9. Mai 2000, Abs. 134 deutlich: „The Court reiterates that Article 2 ranks as one of the most fundamental provisions in the Convention and, together with Article 3, enshrines one of the basic values of the democratic societies making up the Council of Europe (see the McCann and Others judgment cited above, pp. 45 – 46, §§ 146 – 47). The obligation imposed is not exclusively concerned with intentional killing resulting from the use of force by agents of the State but also extends, in the first sentence of Article 2 § 1, to a positive obligation on States to protect by law the right to life. This requires by implication that there should be some form of adequate and effective official investigation when individuals have been killed as a result of the use of force […]. The procedural protection of the right to life inherent in Article 2 of the Convention entails an obligation for agents of the State to account for their use of lethal force by subjecting their actions to some form of independent and public scrutiny capable of determining whether the force used was or was not justified in a particular set of circumstances […].“ 276 Ertak v. Türkei, 20764/92, Urteil vom 9. Mai 2000, Abs. 135: „In the light of the fact that the Court has endorsed the Commission’s findings regarding the unacknowledged detention of the applicant’s son, the ill-treatment to which he was subjected and his disappearance in circumstances from which it could be presumed that he was now dead, the above considerations must apply mutatis mutandis to the instant case. It follows that the authorities were under an obligation to conduct an effective and thorough inquiry into the disappearance of the applicant’s son.“ 277 Zypern v. Türkei, 25781/94, Urteil vom 10. Mai 2001, Abs. 130. Siehe auch Varnava et al. v. Türkei, 16064/90, 16065/90, 16066/90, 16068/90, 16069/90, 16070/90, 16071/90, 16072/90, 16073/90, Urteil der Großen Kammer vom 18. September 2009, Abs. 187 – 194.
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Kap. 2: Rechte der Konvention in Fällen des Verschwindenlassens „However, in its opinion, and of relevance to the instant case, the above-mentioned procedural obligation also arises upon proof of an arguable claim that an individual, who was last seen in the custody of agents of the State, subsequently disappeared in a context which may be considered life-threatening.“278
Damit ist die vertretbare Behauptung, dass eine Person, die zuletzt lebend unter der Kontrolle des Staates gesehen wurde, in lebensbedrohlichen Umständen verschwand, ausreichend für die Annahme einer Ermittlungspflicht. In einer Individualbeschwerde, die das Verschwindenlassen einer Person in der südöstlichen Türkei betraf, übernahm der EGMR diese Rechtsprechung in der Sache, wenn auch nicht ausdrücklich, erstmals 2004 im Urteil Tekdag˘, in dem er gleichfalls keine substantielle Verletzung von Art. 2 EMRK feststellte, dennoch aber die Verletzung der Ermittlungspflicht.279 In dem Urteil Tahsin Acar stellte der EGMR ausdrücklich fest, dass es für die Annahme einer Ermittlungspflicht nicht erforderlich sei, dass die behaupteten Täter staatliche Bedienstete seien.280 Auch sei nicht erforderlich, dass der Tod des Opfers bewiesen sei, solange das Opfer unter lebensbedrohlichen Umständen verschwunden sei.281 Ebenso definierte der EGMR im Laufe der Rechtsprechung näher, welche Anforderungen an die Ermittlungen zu stellen sind:282 Sie müssten von einer institu278 Zypern v. Türkei, 25781/94, Urteil vom 10. Mai 2001, Abs. 132 (Hervorhebung nicht im Original). Siehe dazu auch Zwaak, in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak, S. 378 f. 279 Tekdag˘ v. Türkei, 27699/95, Urteil vom 15. Januar 2004, Abs. 78: „The Court reiterates that the obligation to protect the right to life under Article 2, read in conjunction with the State’s general duty under Article 1 to “secure to everyone within [its] jurisdiction the rights and freedoms defined in [the] Convention“, requires by implication that there should be some form of effective official investigation when individuals have been killed as a result of the use of force […]. This obligation extends to but is not confined to cases that concern intentional killing resulting from the use of force by agents of the State.“ (Hervorhebung nicht im Original). Im Weiteren stellte der EGMR auf die Ermittlung im Zusammenhang mit dem Verschwinden und dem behaupteten Tod des Opfers ab, Abs. 80. 280 Tahsin Acar v. Türkei, 26307/95, Urteil vom 8. April 2004, Abs. 220: „Such investigations should take place in every case of a killing resulting from the use of force, regardless of whether the alleged perpetrators are State agents or third persons.“ Siehe auch Tog˘cu v. Türkei, 27601/95, Urteil vom 31. Mai 2005, Abs. 109; Nesibe Haran v. Türkei, 28299/95, Urteil vom 6. Oktober 2005, Abs. 70. 281 Tahsin Acar v. Türkei, 26307/95, Urteil vom 8. April 2004, Abs. 226: „The Court notes that there is no proof that Mehmet Salim Acar has been killed. However, the above-mentioned procedural obligations extend, but are not confined, to cases that concern intentional killings resulting from the use of force by agents of the State. The Court considers that these obligations also apply to cases where a person has disappeared in circumstances which may be regarded as life-threatening. In this respect it must be accepted that the more time that goes by without any news of the person who has disappeared, the greater the likelihood that he or she has died.“ Siehe auch Tog˘cu v. Türkei, 27601/95, Urteil vom 31. Mai 2005, Abs. 112; Nesibe Haran v. Türkei, 28299/95, Urteil vom 6. Oktober 2005, Abs. 74. Siehe auch Mowbray, S. 28 f. 282 Dazu siehe auch Altermann, S. 24 – 35; Mowbray, ICLQ 51 (2002), S. 437 (438 – 443); Mowbray, S. 30 – 40; Dröge, S. 65 – 68; Buckley, HRLR 1 (2001), S. 35 (48 – 51); Leach, EHRLR Issue 6 (2008), S. 731 (750 – 755) in Bezug auf tschetschenische Fälle; Leach, Taking a Case, S. 194 – 198; White/Ovey, S. 157 ff.; Tulkens, in: FS Cohen-Jonathan, S. 1605 (1624 –
B. Einzelne relevante Aspekte
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tionell und tatsächlich unabhängigen Institution durchgeführt werden, der Beschwerdeführer müsste an diesen beteiligt werden und sie müssten gründlich erfolgen.283 Sie dürften nicht zögerlich, nachlässig und oberflächlich durchgeführt werden.284 Auch verwendet er die Formulierung, die Ermittlung habe umgehend, angemessen und effektiv („prompt, adequate and effective“) zu erfolgen.285 Die Effektivität bemesse sich danach, ob die Ermittlungen zur Identifizierung und Bestrafung der Verantwortlichen führen könne und ob Schritte unternommen worden seien, um die Beweismittel zu sichern.286 Besondere Anforderungen an die Effektivität der Ermittlung könnten auch daraus erwachsen, dass eine etwaige Beteiligung des Staates zu untersuchen sei.287 Die genauen Anforderungen an die Ermittlung – so der EGMR – variierten von Fall zu Fall; der Staat habe eine Ermittlung jedoch von sich aus und unabhängig von einem Antrag eines Angehörigen durchzuführen, sobald er davon Kenntnis erlange, dass eine Person unter lebensbedrohlichen Umständen verschwunden sei.288 In den Individualbeschwerden, die gegen Russland gerichtet sind und Fälle des Verschwindenlassens in Tschetschenien betreffen, stellte der EGMR von Anfang an auf die in den türkischen Fällen entwickelte und spezifizierte Ermittlungspflicht aus Art. 2 EMRK ab und stellte deren Verletzung fest – so bereits in der Entscheidung 1626); Harris/O’Boyle/Bates/Buckley, S. 49 – 51; Grabenwarter, S. 141 f.; Arai, in: van Dijk/ van Hoof/van Rijn/Zwaak, S. 1007 f.; Alleweldt, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), Kap. 10, Rn. 107; van der Wilt/Lyngdorf, International Criminal Law Review 9 (2009), S. 39 (50 – 61); Ni Aolain, NQHR 19 (2001), S. 21 (35 ff.), auch unter Hinweis auf VN Soft Law (S. 39). 283 Ertak v. Türkei, 20764/92, Urteil vom 9. Mai 2000, Abs. 135. Siehe auch Tahsin Acar v. Türkei, 26307/95, Urteil vom 8. April 2004, Abs. 222 und 225: „In all cases, however, the next-of-kin of the victim must be involved in the procedure to the extent necessary to safeguard his or her legitimate interests.“ 284 Timurtas¸ v. Türkei, 23531/94, Urteil vom 13. Juni 2000, Abs. 88 f. 285 Tas¸ v. Türkei, 24396/94, Urteil vom 14. November 2000, Abs. 72. 286 Tahsin Acar v. Türkei, 26307/95, Urteil vom 8. April 2004, Abs. 223: „The investigation must also be effective in the sense that it is capable of leading to the identification and punishment of those responsible (see Og˘ur, cited above, § 88). This is not an obligation of result, but of means. The authorities must have taken the reasonable steps available to them to secure the evidence concerning the incident.“ In Bezug auf Art. 3 EMRK siehe auch Gäfgen v. Deutschland, Urteil der Großen Kammer vom 1. Juni 2010, Abs. 116 f., 121 – 126. Die Aussagen der Großen Kammer zur Pflicht, die Täter zu bestrafen, erfolgten allerdings im Rahmen der Prüfung des Opferstatus. Die Große Kammer stellte strenge Anforderungen auf. 287 Tahsin Acar v. Türkei, 26307/95, Urteil vom 8. April 2004, Abs. 220: „However, where an involvement of State agents or bodies is alleged, specific requirements as to the effectiveness of investigation may apply.“ 288 Orhan v. Türkei, 25656/94, Urteil vom 18. Juni 2002, Abs. 334: „What form of investigation will achieve those purposes may vary in different circumstances. However, whatever mode is employed, the authorities must act of their own motion, once the matter has come to their attention. They cannot leave it to the initiative of the next of kin either to lodge a formal complaint or to take responsibility for the conduct of any investigatory procedures […].“ Siehe auch weiter zu Unabhängigkeit und Zügigkeit der Ermittlungen, Abs. 335 f. Siehe auch Tahsin Acar v. Türkei, 26307/95, Urteil vom 8. April 2004, Abs. 221 – 225.
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Kap. 2: Rechte der Konvention in Fällen des Verschwindenlassens
Bazorkina289 sowie in allen folgenden Entscheidungen. Selbst in jenen Urteilen, in denen der EGMR ausnahmsweise keine substantielle Verletzung von Art. 2 EMRK annahm, kam er zu dem Ergebnis, Art. 2 EMRK sei in prozeduraler Hinsicht verletzt.290 In der Beschwerde Medova hatte der EGMR eine Verletzung von Art. 2 EMRK zunächst in Bezug darauf festgestellt, dass die positive Schutzpflicht verletzt worden sei, eine Person, deren Leben durch das kriminelle Verhalten anderer Personen bedroht sei, durch vorbeugende Maßnahmen zu schützen.291 Auch unter diesen Umständen nahm der EGMR an, dass eine Ermittlungspflicht bestehe und verletzt sei und bestimmte deren Inhalt wie folgt: „In cases where a positive obligation to safeguard the life of persons is at stake, the investigation should be effective in the sense that it is capable of, firstly, ascertaining the circumstances in which the incident took place and any shortcomings in the taking of preventive measures and, secondly, identifying the State officials or authorities responsible […].“292
Schließlich stellte die Große Kammer im Jahre 2009 im Fall Varnava et al. ebenfalls eine Verletzung der Ermittlungspflicht aus Art. 2 EMRK, nicht aber eine substantielle Verletzung von Art. 2 EMRK fest.293 Wie schon im Urteil Orhan machte der EGMR die folgenden Ausführungen zum Zweck der Ermittlungspflicht: „The essential purpose of such investigation is to secure the effective implementation of the domestic laws which protect the right to life and, in those cases involving State agents or bodies, to ensure their accountability for deaths occurring under their responsibility. Even where there may be obstacles which prevent progress in an investigation in a particular situation, a prompt response by the authorities is vital in maintaining public confidence in their adherence to the rule of law and in preventing any appearance of collusion in or tolerance of unlawful acts […].“294
289
Bazorkina v. Russland, 69481/01, Urteil vom 27. Juli 2006, Abs. 117 – 125. So in Shaipova et al. v. Russland, 10796/04, Urteil vom 6. November 2008, Abs. 95 – 103; Tagirova et al. v. Russland, 20580/04, Urteil vom 4. Dezember 2008, Abs. 86 – 95; Zakriyeva et al. v. Russland, 20583/04, Urteil vom 8. Januar 2009, Abs. 78 – 90; Khumaydov und Khumaydov v. Russland, 13862/05, Urteil vom 28. Mai 2009, Abs. 109 – 123; Tovsultanova v. Russland, 26974/06, Urteil vom 17. Juni 2010, Abs. 90 – 97. 291 Medova v. Russland, 25385/04, Urteil vom 15. Januar 2009, Abs. 95: „Article 2 of the Convention may also imply a positive obligation on the authorities to take preventive operational measures to protect an individual whose life is at risk from the criminal acts of another individual.“ 292 Medova v. Russland, 25385/04, Urteil vom 15. Januar 2009, Abs. 103. 293 Grund dafür war auch – neben tatsächlichen Unsicherheiten sowie den von den Beschwerdeführern vorgetragenen Behauptungen, die eine substantielle Verletzung von Art. 2 EMRK nicht erfassten – die Zuständigkeit des Gerichtshofes ratione temporis, Abs. 147 ff. Varnava et al. v. Türkei, 16064/90, 16065/90, 16066/90, 16068/90, 16069/90, 16070/90, 16071/90, 16072/90, 16073/90, Urteil der Großen Kammer vom 18. September 2009, Abs. 187 – 194. 294 Varnava et al. v. Türkei, 16064/90, 16065/90, 16066/90, 16068/90, 16069/90, 16070/ 90, 16071/90, 16072/90, 16073/90, Urteil der Großen Kammer vom 18. September 2009, 290
B. Einzelne relevante Aspekte
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bb) In Bezug auf Art. 3 und 5 EMRK295 Ermittlungspflichten aus Art. 3 EMRK spielen in der Rechtsprechung zu Fällen des Verschwindenlassen hingegen eine untergeordnete Rolle. Vielmehr stellt der EGMR auf Art. 3 EMRK in seinem substantiellen Gehalt ab. So nahm der Gerichtshof zum einen regelmäßig eine Verletzung von Art. 3 EMRK in Hinblick auf die Angehörigen des Opfers in substantieller Hinsicht an,296 zum anderen auch eine Verletzung von Art. 3 in Hinblick auf das Opfer selbst, ebenfalls in substantieller Hinsicht, aber nur soweit besondere Umstände vorlagen. Auf eine Verletzung von Ermittlungspflichten aus Art. 3 EMRK ging der EGMR daneben nur selten ein, so zum Beispiel in der Beschwerde Dokuyev et al., in der der EGMR ebenfalls eine Verletzung von Art. 3 EMRK in substantieller Hinsicht auch in Bezug auf das verschwundene Opfer feststellte.297 Der EGMR nimmt zwar gleichfalls an, dass aus Art. 5 EMRK auch Ermittlungspflichten erwachsen; auch diesen kommt allerdings in Fällen des Verschwindenlassens eine eher geringe Rolle zu. So erfolgt die Prüfung der Ermittlungspflicht bereits nicht räumlich getrennt im Urteil, das heißt wie bei Art. 2 EMRK unter einer separaten Überschrift, und die Feststellung ihrer Verletzung wird auch nicht aus dem Tenor des Urteils deutlich. Auch nimmt der EGMR eine Verletzung dieser Ermittlungspflicht immer nur in Verbindung mit der Verletzung von Art. 5 EMRK in seinem substantiellen Gehalt an. Verneint der EGMR eine substantielle Verletzung von Art. 5 EMRK, so geht er auf eine Verletzung der Ermittlungspflichten nicht mehr ein. In der Beschwerde S¸arlı beispielsweise lehnte der EGMR die Feststellung einer materiellen Verletzung von Art. 5 EMRK ab, da die Verhaftung des Opfers nicht bewiesen war, und untersuchte die Effektivität der Ermittlungen unter Art. 13 EMRK.298 Abs. 191. Siehe auch schon Orhan v. Türkei, 25656/94, Urteil vom 18. Juni 2002, Abs. 334 (Hervorhebungen nicht im Original). 295 Siehe dazu ausführlich Altermann, S. 46 – 53 bzw. S. 53 – 60; sowie Mowbray, ICLQ 51 (2002), S. 437 (443 – 446 bzw. 446 – 447); Mowbray, S. 59 – 64 bzw. 70 – 72. 296 Dazu siehe näher supra Kapitel 2, B.I.1.a) und 2.a),b) (im Rahmen der Prüfung spielen allerdings Ermittlungen eine Rolle). 297 Dokuyev et al. v. Russland, 6704/03, Urteil vom 2. April 2009, Abs. 110 – 112. Siehe auch Claude, Intercultural Human Rights Law Review 5 (2010), S. 407 (443). 298 S¸arlı v. Türkei, 24490/94, Urteil vom 22. Mai 2001, Abs. 69: „[…] has examined the allegations concerning the effectiveness of the investigative procedures under Article 13 of the Convention, which requires an effective remedy in respect of arguable claims of breaches of the substantive provisions of the Convention.“ So in der Sache auch in Tekdag˘ v. Türkei, 27699/95, Urteil, Abs. 87 – 99; Tahsin Acar v. Türkei, 26307/95, Urteil vom 8. April 2004, Abs. 243 (eine Verletzung von Art. 13 EMRK prüfte der EGMR nicht); Tog˘cu v. Türkei, 27601/95, Urteil vom 31. Mai 2005, Abs. 130 – 140; Nesibe Haran v. Türkei, 28299/95, Urteil vom 6. Oktober 2005, Abs. 85 – 91 (eine Verletzung von Art. 13 EMRK verneinte der EGMR); Özgen et al. v. Türkei, 38607/97, Urteil vom 20. September 2005, Abs. 50 – 55; S¸eker v. Türkei, 52390/99, Urteil vom 21. Februar 2006, Abs. 85 – 98; Kaya et al. v. Türkei, 4451/02, Urteil vom 24. Oktober 2006, Abs. 42 – 54; Osmanog˘lu v. Türkei, 48804/99, Urteil
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Kap. 2: Rechte der Konvention in Fällen des Verschwindenlassens
Aus der Entscheidung Kurt hingegen scheint zu folgen, dass der EGMR eine Verletzung von Art. 5 EMRK in prozeduraler Hinsicht nicht davon abhängig macht, dass die Verhaftung der Person bewiesen ist, sondern nur davon, dass vertretbar behauptet wird, eine Person sei verhaftet und seitdem nicht mehr gesehen worden: „For this reason, Article 5 must be seen as requiring the authorities to take effective measures to safeguard against the risk of disappearance and to conduct a prompt effective investigation into an arguable claim that a person has been taken into custody and has not been seen since.“299
In der Praxis übernimmt der EGMR dieses Vorgehen allerdings nicht; er stellt eine Verletzung der Ermittlungspflichten nach Art. 5 EMRK immer nur dann fest, wenn die Verhaftung des Opfers zuvor festgestellt wurde.300 In den jüngeren Fällen des Verschwindenlassens, in denen der EGMR eine Verletzung von Art. 5 EMRK durch die nicht anerkannte Inhaftierung annahm, stellt er nur am Rande am Ende der Prüfung von Art. 5 EMRK überhaupt auf Ermittlungspflichten ab: „The Court further considers that the authorities should have been more alert to the need for a thorough and prompt investigation of the applicants’ complaints that their family member had been detained and taken away in life-threatening circumstances. However, the Court’s findings above in relation to Article 2 and, in particular, the conduct of the investigation leave no doubt that the authorities failed to take prompt and effective measures to safeguard him against the risk of disappearance.“301
In den Fällen gegen Russland, in denen der EGMR zu der Feststellung kam, dass die Verantwortlichkeit des Staates für die Entführung nicht bewiesen sei, ging der Gerichtshof auf Ermittlungspflichten im Rahmen seiner Ausführungen zu Art. 5 EMRK gar nicht ein; er lehnte den Vorwurf einer Verletzung von Art. 5 EMRK als unzulässig ratione personae ab.302 vom 24. Januar 2008, Abs. 100 – 104 (die Prüfung von Art. 5 EMRK in seinem prozeduralen Gehalt sowie von Art. 13 EMRK sah der EGMR nicht für erforderlich an, da er bereits eine prozedurale Verletzung von Art. 2 EMRK festgestellt hatte); Nehyet Günay et al. v. Türkei, 51210/99, Urteil vom 21. Oktober 2008, Abs. 98 (eine Prüfung von Art. 5 EMRK unterblieb im Angesicht der Feststellungen zu Art. 2 EMRK). 299 Kurt v. Türkei, 24276/94, Urteil vom 25. Mai 1998, Abs. 124 (Hervorhebung nicht im Original); siehe später auch C¸akıcı v. Türkei, 23657/94, Urteil vom 8. Juli 1999, Abs. 104; Tanıs¸ et al. v. Türkei, 65899/01, Urteil vom 2. August 2005, Abs. 160. 300 So wie in S¸arlı v. Türkei, 24490/94, Urteil vom 22. Mai 2001. 301 Khantiyeva et al. v. Russland, 43398/06, Urteil vom 29. Oktober 2009, Abs. 137 (Hervorhebung nicht im Original). Siehe auch Satabayeva v. Russland, 21486/06, Urteil vom 29. Oktober 2009, Abs. 145; Vakhayeva et al. v. Russland, 1758/04, Urteil vom 29. Oktober 2009, Abs. 178. 302 Shaipova et al. v. Russland, 10796/04, Urteil vom 6. November 2008, Abs. 115 – 117; Tagirova et al. v. Russland, 20580/04, Urteil vom 4. Dezember 2008, Abs. 104 – 109; Zakriyeva et al. v. Russland, 20583/04, Urteil vom 8. Januar 2009, Abs. 99 – 104; Khumaydov und Khumaydov v. Russland, 13862/05, Urteil vom 28. Mai 2009, Abs. 132 – 137. Siehe auch Medova v. Russland, 25385/04, Urteil vom 15. Januar 2009, Abs. 119 – 125: Der EGMR
B. Einzelne relevante Aspekte
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Ausnahmen vom gewöhnlichen Vorgehen des EGMR scheinen die Urteile in Bezug auf vermisste Personen in Zypern darzustellen. In dem Urteil der Großen Kammer in der Beschwerde Varnava et al. v. Türkei und in der vierten Staatenbeschwerde Zyperns gegen die Türkei stellte der EGMR einzig eine Verletzung von Art. 5 EMRK in seinem prozeduralen Gehalt fest.303 In Varnava et al. machte der EGMR die folgenden Ausführungen: „The Court recalls that it has found above that there was a prima facie or arguable case that two of the men were last seen in circumstances falling within the control of the Turkish or Turkish Cypriot forces […]. While there is no evidence that any of the missing persons were still in detention in the period under the Court’s consideration, it remains incumbent on the Turkish Government to show that they have since carried out an effective investigation into the arguable claim that the two missing men had been taken into custody and not seen subsequently […].“304
Es ist jedoch davon auszugehen, dass diese Entscheidungen nur scheinbar Ausnahmen darstellen, da der EGMR, wäre seine Zuständigkeit nicht begrenzt gewesen, auch materielle Verletzungen von Art. 5 EMRK festgestellt hätte.305 So stellt der EGMR in Zypern v. Türkei zwar gleichfalls darauf ab, dass lediglich eine vertretbare Behauptung vorliegt, spricht aber an anderer Stelle von unwiderlegten Beweisen dafür, dass sich Personen unter der Kontrolle der Türkei befanden.306 b) In anderen Menschenrechtsschutzsystemen Die Relevanz von Ermittlungspflichten in Fällen des Verschwindenlassens von Personen wird auch durch die Praxis der Überwachungsgremien anderer Menschenrechtsschutzsysteme gestützt. aa) Rechtsprechung des IAGMR307 So finden sich in der Rechtsprechung des IAGMR bereits in dem ersten Urteil zu einem Fall des Verschwindenlassens, in Velásquez-Rodríguez v. Honduras, Aussagen allgemeiner Art zu Ermittlungspflichten. Diese gründet der IAGMR auf Art. 1 Abs. 1 stellte zwar eine Verletzung von Art. 5 EMRK fest, ging allerdings auf Ermittlungspflichten nicht ein. 303 Zypern v. Türkei, 25781/94, Urteil vom 10. Mai 2001, Abs. 150 f. 304 Varnava et al. v. Türkei, 16064/90, 16065/90, 16066/90, 16068/90, 16069/90, 16070/ 90, 16071/90, 16072/90, 16073/90, Urteil der Großen Kammer vom 18. September 2009, Abs. 208 (Hervorhebung nicht im Original). 305 So auch die Einschätzung von Altermann, S. 58 f. 306 Zypern v. Türkei, 25781/94, Urteil vom 10. Mai 2001, Abs. 148, 150. Dazu auch Mowbray, S. 71. Siehe aber auch die teilweise abweichende Meinung von Richter Fuad in dem Urteil Zypern v. Türkei, Abs. 25. 307 Siehe dazu auch van der Wilt/Lyngdorf, International Criminal Law Review 9 (2009), S. 39 (71 f.).
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Kap. 2: Rechte der Konvention in Fällen des Verschwindenlassens
AMRK, der das Pflichtenspektrum der einzelnen Konventionsrechte spezifiziert308 und mit Art. 1 EMRK zu vergleichen ist. Anders als Art. 1 EMRK, der lediglich vorsieht, dass die Vertragsparteien die Rechte „zusichern“ („secure“), enthält Art. 1 Abs. 1 AMRK die Verpflichtung, die Rechte zu respektieren („respect“) und die freie und volle Ausübung der Rechte sicherzustellen („to ensure“). Nach Ansicht des IAGMR beinhalte letztere Verpflichtung, die Rechte sicherzustellen („to ensure“), auch die Pflicht, Ermittlungen in Bezug auf Konventionsverletzungen durchzuführen und die Verantwortlichen zu bestrafen.309 Diese Pflicht erwächst – so der IAGMR – auch dann, wenn der Staat für die eigentliche Konventionsverletzung nicht die Verantwortlichkeit trägt, so dass die mangelnde Reaktion auf die vorliegende Menschenrechtsverletzung dann den Verstoß des Staates darstellt.310 Nach Ansicht des Gerichtshofes habe der Vertragsstaat die folgende Pflicht: „The State has a legal duty […] to use the means at its disposal to carry out a serious investigation of violations committed within its jurisdiction, to identify those responsible, to impose the appropriate punishment and to ensure the victim adequate compensation.“311
Auch nach Ansicht des IAGMR sei die Ermittlungspflicht keine Ergebnis-, sondern eine Handlungspflicht und müsse von Amts wegen erfüllt werden.312 Sie bestehe so lange, wie das Schicksal der verschwundenen Personen ungeklärt
308 Velásquez-Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Series C Nr. 4, Abs. 162. Jede Verletzung eines Konventionsrechts sei daher auch eine Verletzung von Art. 1 Abs. 1 AMRK. Siehe auch Pérez Solla, S. 55, die die Heranziehung von prozeduralen Verletzungen durch den EGMR als einzigartig bezeichnet, aber auf Art. 1 Abs. 1 AMRK verweist. 309 Velásquez-Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Series C Nr. 4, Abs. 166: „As a consequence of this obligation, the States must prevent, investigate and punish any violation of the rights recognized by the Convention and, moreover, if possible attempt to restore the right violated and provide compensation as warranted for damages resulting from the violation.“ (Hervorhebung nicht im Original). Siehe auch Godínez-Cruz v. Honduras, Merits, Urteil vom 20. Januar 1989, Series C Nr. 5, Abs. 175. 310 Velásquez-Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Series C Nr. 4, Abs. 172: „An illegal act which violates human rights and which is initially not directly imputable to a State (for example, because it is the act of a private person or because the person responsible has not been identified) can lead to international responsibility of the State, not because of the act itself, but because of the lack of due diligence to prevent the violation or to respond to it as required by the Convention.“ Siehe auch Godínez-Cruz v. Honduras, Merits, Urteil vom 20. Januar 1989, Series C Nr. 5, Abs. 182; Caballero-Delgado and Santana v. Colombia, Merits, Urteil vom 8. Dezember 1995, Series C Nr. 22, Abs. 56. 311 Velásquez-Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Series C Nr. 4, Abs. 174 (Hervorhebungen nicht im Original). Siehe auch Abs. 176. Siehe auch Godínez-Cruz v. Honduras, Merits, Urteil vom 20. Januar 1989, Series C Nr. 5, Abs. 184. 312 Velásquez-Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Series C Nr. 4, Abs. 177. Siehe auch Godínez-Cruz v. Honduras, Merits, Urteil vom 20. Januar 1989, Series C Nr. 5, Abs. 188; Heliodoro-Portugal v. Panama, Preliminary Objections, Merits, Reparations, and Costs, Urteil vom 12. August 2008, Series C Nr. 186, Abs. 144 f.
B. Einzelne relevante Aspekte
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sei.313 Im Fall Velásquez-Rodríguez v. Honduras wie auch in Godínez-Cruz v. Honduras stellte der IAGMR auf die Verletzung der Ermittlungspflicht im Zusammenhang mit der Feststellung einer Verletzung von Art. 4 (Recht auf Leben) AMRK ab.314 Die besondere Bedeutung der Ermittlungspflicht in Bezug auf das Recht auf Leben hob der IAGMR in der Beschwerde Pueblo Bello Massacre v. Kolumbien hervor: „In particular, since full enjoyment of the right to life is a prior condition for the exercise of all the other rights […], the obligation to investigate any violations of this right is a conditions for ensuring this right effectively. Thus, in cases of extrajudicial executions, forced disappearances and other grave human rights violations, the State has the obligation to initiate, ex officio and immediately, a genuine, impartial and effective investigation, which is not undertaken as a mere formality predestined to be ineffective. This investigation must be carried out by all available legal means with the aim of determining the truth and the investigation, pursuit, capture, prosecution and punishment of the masterminds and perpetrators of the facts, particularly when State agents are or may be involved.“315
Der IAGMR nahm in dem Urteil Pueblo Bello Massacre v. Kolumbien explizit auf die vom EGMR entwickelten prozeduralen Pflichten („procedural obligation“) Bezug und stellte eine Verletzung der Art. 4, 5 (Verbot der Folter) und 7 (Recht auf Freiheit) AMRK mit der Begründung fest, dass Kolumbien keine ernst gemeinte, umfassende und effektive Ermittlung durchgeführt habe.316 In dem Urteil der Beschwerde Blake v. Guatemala machte der IAGMR folgende Ausführungen in Bezug auf eine Ermittlungspflicht im Zusammenhang mit Art. 8 (Recht auf ein faires Verfahren) AMRK: „[…] Article 8(1) of the American Convention recognizes the right of Mr. Nicholas Blake’s relatives to have his disappearance and death to effectively investigated by the Guatemalan authorities to have those responsible prosecuted for committing said unlawful acts; to have the relevant punishment, where appropriate, meted out; and to be compensated for the damages and injuries they sustained.“317
In der Beschwerde Durand and Ugarte v. Peru stützte der IAGMR das Recht der Angehörigen darauf, dass Ermittlungen durchgeführt werden, auf Art. 8 Abs. 1 in
313
Velásquez-Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Series C Nr. 4, Abs. 181. Siehe auch Godínez-Cruz v. Honduras, Merits, Urteil vom 20. Januar 1989, Series C Nr. 5, Abs. 191. 314 Velásquez-Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Series C Nr. 4, Abs. 188. Nicht aber in Bezug auf Art. 7 und 5, Abs. 186 f. So auch Godínez-Cruz v. Honduras, Merits, Urteil vom 20. Januar 1989, Series C Nr. 5, Abs. 198. 315 Pueblo Bello Massacre v. Kolumbien, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 31. Januar 2006, Series C Nr. 140, Abs. 143 (Fußnoten weggelassen, Hervorhebungen nicht im Original). Siehe auch Abs. 145. 316 Pueblo Bello Massacre v. Kolumbien, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 31. Januar 2006, Series C Nr. 140, Abs. 147 f., 150. 317 Blake v. Guatemala, Merits, Urteil vom 24. Januar 1998, Series C Nr. 36, Abs. 97.
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Kap. 2: Rechte der Konvention in Fällen des Verschwindenlassens
Verbindung mit Art. 25 Abs. 1 (Rechtsschutzgarantie) AMRK.318 Auch in dem Urteil Bámaca-Velásquez v. Guatemala stützte der IAGMR die Feststellung einer Verletzung des Art. 1 Abs. 1 AMRK in Verbindung mit den Art. 4, 5, 7, 8 und 25 AMRK auf die Verletzung der Ermittlungspflicht.319 Damit zieht der IAGMR Ermittlungspflichten in Fällen des Verschwindenlassens im Zusammenhang mit einer Vielzahl von Konventionsrechten heran und nicht lediglich in erster Linie, wie der EGMR, im Zusammenhang mit dem Recht auf Leben. Insbesondere im Zusammenhang mit Art. 8 AMRK (Recht auf ein faires Verfahren) in Bezug auf die Angehörigen spielen Ermittlungspflichten eine Rolle. Allerdings trennt der IAGMR im Rahmen seines Urteils nicht so stringent und klar zwischen prozeduralen und substantiellen Verletzungen eines Konventionsrechts wie der EGMR; im Tenor wird lediglich eine Verletzung festgestellt. bb) Praxis des Menschenrechtsausschusses Auch der Menschenrechtsausschuss hat die Existenz von Ermittlungspflichten gerade im Zusammenhang mit dem Verschwindenlassen von Personen anerkannt. In seinen General Comments finden sich die folgenden Aussagen: „[…] States should establish effective facilities and procedures to investigate thoroughly cases of missing and disappeared persons in circumstances which may involve a violation of the right to life.“320 „A failure by a State Party to investigate allegations of violations could in and of itself give rise to a separate breach of the Covenant. […] As with failure to investigate, failure to bring to justice perpetrators of such violations could in and of itself give rise to a separate breach of the Covenant. These obligations arise notably in respect of those violations recognized as criminal under either domestic or international law, such as torture and similar cruel, inhuman and degrading treatment (article 7), summary and arbitrary killing (article 6) and enforced disappearance (articles 7 and 9 and, frequently, 6).“321
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Durand and Ugarte v. Peru, Merits, Urteil vom 16. August 2000, Series C Nr. 68, Abs. 130. So auch in Anzualdo-Castro v. Peru, Preliminary Objection, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 22. September 2009, Series C Nr. 202, Abs. 168 f. (Art. 8 Abs. 1 und 25 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 und 2 AMRK); Serrano-Cruz Sisters v. El Salvador, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 1. März 2005, Series C Nr. 120, Abs. 106 f. (Art. 8 Abs. 1 und 25 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 AMRK). 319 Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Merits, Urteil vom 25. November 2000, Series C Nr. 70, Abs. 213 f. 320 General Comment Nr. 6, Abs. 4 (Hervorhebungen nicht im Original); so auch in den Auffassungen übernommen: Arevalo v. Kolumbien, 181/1084, Auffassung vom 3. November 1989, Abs. 10; Mojica v. Dominikanische Republik, 449/1991, Auffassung vom 15. Juli 1994, Abs. 5.5; Bautista v. Kolumbien, 563/1993, Auffassung vom 27. Oktober 1995, Abs. 8.3; Celis Laureano v. Peru, 540/1993, Auffassung vom 25. März 1996, Abs. 8.3. 321 General Comment Nr. 31, Abs. 15, 18 (Hervorhebungen nicht im Original).
B. Einzelne relevante Aspekte
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Darüber hinaus sind die Auffassungen des Ausschusses, die per se nicht so ausdifferenziert sind wie die Urteile des EGMR beziehungsweise des IAGMR, in Fällen des Verschwindenlassens in Bezug auf Ermittlungspflichten nicht sehr aussagekräftig: Der Ausschuss stellt auf Ermittlungspflichten zum einen in Bezug auf Art. 4 Abs. 2 des Ersten Fakultativprotokolls322 und zum anderen ohne näheren Bezug auf einen Artikel des Paktes ab.323 Schließlich erwähnt der Ausschuss Ermittlungspflichten im Zusammenhang mit Art. 2 Abs. 3 IPbürg.324 cc) Rechtsprechung der Menschenrechtskammer für Bosnien-Herzegowina Die Menschenrechtskammer für Bosnien-Herzegowina zog Ermittlungspflichten im Zusammenhang mit Art. 5 EMRK unter Bezugnahme auf die Kurt-Rechtsprechung des EGMR zwar heran,325 jedoch nur in jenen Fällen, in denen die Inhaftierung im Zeitraum der temporalen Zuständigkeit der Kammer andauerte.326 Damit blieb die Kammer hinter der Rechtsprechung des EGMR zurück.327 In der Rechtsprechung der Kammer spielen Ermittlungen vielmehr im Zusammenhang mit den Art. 3 und 8 EMRK in Bezug auf die Rechte der Angehörigen eine Rolle. Im Fall Selimovic et al. v. Serbien heißt es: „Both Articles 3 and 8 of the European Convention impose a positive obligation on the respondent Party ,to investigate thoroughly into allegations of arbitrary deprivations of 322 Bleier v. Uruguay, R.7/30, Auffassung vom 29. März 1982, Abs. 13.3; Quinteros v. Uruguay, 107/1981, Auffassung vom 21. Juli 1983, Abs. 11. Diese Ermittlungspflichten scheinen aber gegenüber dem Ausschuss zu bestehen und sind damit mit den Kooperationspflichten aus Art. 38 EMRK zu vergleichen. 323 Quinteros v. Uruguay, 107/1981, Auffassung vom 21. Juli 1983, Abs. 15: „The Human Rights Committee reiterates that the Government of Uruguay has a duty to conduct a full investigation into the matter. There is no evidence that this has been done.“ 324 Z.B. in Tshishimbi v. Zaire, 542/1993, Auffassung vom 16. März 1995, Abs. 7 zu dem Umfang der Pflichten in Art. 2 Abs. 3 IPbürg. Art. 2 Abs. 3 IPbürg ist allerdings mit Art. 13 EMRK vergleichbar. 325 Palic´ v. Serbien, CH/99/3196, Entscheidung vom 11. Januar 2001, Abs. 60: „For this reason, the Court sees Article 5 as requiring the authorities to take effective measures to safeguard against the risk of disappearance and to conduct a prompt effective investigation into an arguable claim that a person has been taken into custody and has not been seen since […].“ 326 So nicht in Grgic´ v. Serbien, CH/96/15, Entscheidung vom 5. August 1997, Abs. 17: Nach Ansicht der Kammer sprachen jedoch keine Beweise dafür, dass die Inhaftierung des Opfers nach Beginn der Zuständigkeit der Kammer noch andauerte. Damit kam, so die Kammer, auch die Ermittlungspflicht nicht zur Anwendung. Die Kammer nahm auch Bezug auf die Rechtsprechung des IAGMR. 327 Dieser hatte im Fall Varnava et al. v. Türkei, 16064/90, 16065/90, 16066/90, 16068/90, 16069/90, 16070/90, 16071/90, 16072/90, 16073/90, Urteil der Großen Kammer vom 18. September 2009, Abs. 208 und im Fall Zypern v. Türkei, 25781/94, Urteil vom 10. Mai 2001, Abs. 150 prozedurale Verletzungen von Art. 5 EMRK angenommen.
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Kap. 2: Rechte der Konvention in Fällen des Verschwindenlassens liberty even in cases where it cannot be established, although it is alleged, that the deprivation of liberty is attributable to the authorities‘ […].“328
In weiteren Fällen prüfte die Menschenrechtskammer im Rahmen einer Verletzung von Art. 3 EMRK in Bezug auf die Angehörigen, ob eine effektive Ermittlung stattfand.329 c) In der Literatur In der Literatur streitet Altermann zum einen für eine Ausweitung der Rechtsprechung des EGMR in Bezug auf Ermittlungspflichten, zum anderen aber auch für eine Einschränkung: Seiner Ansicht nach ist zu begrüßen, dass Ermittlungspflichten nicht daran anknüpften, dass der Staat, auch nur möglicherweise, zuvor konventionswidrig gehandelt habe.330 Damit sei die Annahme einer Ermittlungspflicht unabhängig davon, ob zuvor eine materielle Verletzung des jeweiligen Konventionsrechts bejaht worden sei. Der EGMR solle daher eine Ermittlungspflicht in Bezug auf Art. 5 EMRK, die gerade auch in Fällen des Verschwindenlassens relevant ist, auch dann annehmen, wenn nicht bewiesen ist, dass der Staat für die Freiheitsentziehung verantwortlich ist. Es sei ausreichend, wenn vertretbar behauptet werde, dass eine Verletzung von Art. 5 EMRK vorliege.331 Ebenso befürwortet Altermann, wie auch Wildhaber,332 eine Ausweitung der Ermittlungspflichten auch auf andere Konventionsrechte.333 Dem schließt sich auch Pérez Solla an, die eine allgemeine Pflicht zur Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen fordert.334 Hingegen kritisiert Al328
Selimovic´ et al. v. Serbien, CH/01/8365 et al., Entscheidung vom 7. März 2003, Abs. 168 (Hervorhebungen nicht im Original). So auch in Jovanovic´ v. Bosnien-Herzegowina, CH/02/9180, Entscheidung vom 5. Dezember 2003, Abs. 71; Huskovic´ et al. v. BosnienHerzegowina, CH/02/12551 et al., Entscheidung vom 22. Dezember 2003, Abs. 61; Mujic´ et al. v. Serbien, CH/02/10235 et al., Entscheidung vom 22. Dezember 2003, Abs. 52; M.C. et al. v. Serbien, CH/02/9851 et al., Entscheidung vom 22. Dezember 2003, Abs. 60; Malkic´ et al. v. Serbien, CH/02/9358 et al., Entscheidung vom 22. Dezember 2003, Abs. 81. Siehe auch Selimovic´ et al. v. Serbien, CH/01/8365 et al., Entscheidung vom 7. März 2003, Abs. 179 und Abs. 191: „The Chamber considers the failure of the respondent Party to in any way clarify the fate and whereabouts of the Bosniak men missing from Srebrenica during the period of 10 – 19 July 1995 through a meaningful and effective investigation and a full statement of disclosure of all relevant facts, made known to the public, a particularly egregious violation of the rights of the applicants protected under Article 3 of the European Convention.“ 329 So z. B. umfassend in Popovic´ v. Bosnien-Herzegowina, CH/02/10074, Entscheidung vom 7. November 2003, Abs. 143 – 158, 162. Siehe auch Huskovic´ et al. v. Bosnien-Herzegowina, CH/02/12551 et al., Entscheidung vom 22. Dezember 2003, Abs. 87; Mujic´ et al. v. Serbien, CH/02/10235 et al., Entscheidung vom 22. Dezember 2003, Abs. 72; M.C. et al. v. Serbien, CH/02/9851 et al., Entscheidung vom 22. Dezember 2003, Abs. 76; Malkic´ et al. v. Serbien, CH/02/9358 et al., Entscheidung vom 22. Dezember 2003, Abs. 101. 330 Siehe Altermann, S. 128 – 144. So auch Dröge, S. 64. 331 Altermann, S. 91 f. Zur abweichenden Praxis des EGMR siehe supra Kapitel 2, B.II.1.a)bb) sowie Altermann, S. 60. 332 Wildhaber, HRLJ 23 (2002), S. 161. 333 Altermann, S. 150 – 156. 334 Pérez Solla, S. 55. Siehe auch Reidy/Hampson/Boyle, NQHR 15 (1997), S. 161 (168 f.).
B. Einzelne relevante Aspekte
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termann, dass der EGMR Ermittlungspflichten aus Art. 2 EMRK auch in jenen Fällen annahm, in denen der Tod nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit bewiesen war, das heißt gerade in den Fällen des Verschwindenlassens.335 Er schlägt vor, in den Fällen, in denen zumindest die staatliche Ingewahrsamnahme erwiesen ist, Ermittlungspflichten lediglich im Rahmen von Art. 5 EMRK zu prüfen.336 Tulkens sowie Harris/O’Boyle/Warbrick hingegen vertreten die Auffassung, die Ermittlungspflicht sei unabhängig davon, ob der Tod feststehe. Ihrer Ansicht nach entsteht sie auch dann, wenn der Staat für den Tod keine Verantwortung trägt.337 White und Ovey scheinen zu fordern, dass eine Ermittlungspflicht daran anknüpft, dass die direkte oder indirekte Verantwortlichkeit des Staates für den Tod möglich ist. Sie gehen weder darauf ein, ob eine Ermittlungspflicht auch dann besteht, wenn bewiesenermaßen der Staat keine Verantwortung trägt, noch darauf, ob der Tod bewiesen sein muss, scheinen letzteres aber vorauszusetzen.338 Auch Ni Aolain stellt darauf ab, dass ein Zusammenhang zwischen dem Handeln Privater und dem Staat besteht.339 Mowbray kritisiert nicht, dass der EGMR Ermittlungspflichten aus Art. 2 EMRK dann annahm, wenn der Tod einer Person nicht bewiesen war.340 Im Gegensatz zu diesen Ermittlungspflichten nach Art. 2 EMRK erwüchsen solche nach Art. 3 und 5 EMRK – so Mowbray – in der Rechtsprechung allerdings nur, wenn die Verantwortlichkeit des Staates für die jeweilige Verletzung glaubhaft gemacht worden sei.341 Nach Ansicht von Jessberger, der Ermittlungspflichten nicht nur im Rahmen der EMRK erörtert, reicht es aus, wenn hinreichende Anhaltspunkte bestehen, dass ein Menschenrecht verletzt worden ist. Die Untersuchungspflicht als Annex-Verpflichtung sei nicht auf besonders schwere Menschenrechtsverletzungen begrenzt; je wichtiger allerdings das Menschenrecht sei, desto weniger streng seien die Anforderungen an das Verdachtsmoment.342
335 Altermann, S. 38 – 40, mit Bezug auf die Beschwerden Tekdag˘ v. Türkei und Zypern v. Türkei. 336 Altermann, S. 40. 337 Tulkens, in: FS Cohen-Jonathan, S. 1605 (1624); Harris/O’Boyle/Bates/Buckley, S. 48 f. 338 White/Ovey, S. 161 f. 339 Ni Aolain, NQHR 19 (2001), S. 21 (40 f.) mit besonderer Betonung der Bedeutung vorangegangener Drohungen. Buckley, HRLR 1 (2001), S. 35 (64) wirft diese Frage lediglich auf. 340 Mowbray, S. 28 f., 226; Mowbray, ICLQ 51 (2002), S. 437 (437 f.). 341 Mowbray, S. 227: „[…] when states have received credible complaints that persons have been subject to ill-treatment […] by state agents. […] The Court has developed a separate positive obligation under Article 5 requiring states to conduct effective investigations where they have been presented with an arguable claim that a person in custody has disappeared.“ 342 Jessberger, KJ 29 (1996), S. 290 (298).
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Kap. 2: Rechte der Konvention in Fällen des Verschwindenlassens
d) Abschließende Bewertung Ermittlungspflichten spielen in der Rechtsprechung in Fällen des Verschwindenlassens zu Recht eine große Rolle, welche in Zukunft noch verstärkt werden sollte. Allerdings ist auch den Bedenken Rechnung zu tragen, die gegen Ermittlungspflichten hervorgebracht wurden. aa) Zusätzliche Prüfung einer Verletzung der Ermittlungspflichten So besteht die Gefahr, dass die Feststellung einer Verletzung von Ermittlungspflichten als Verurteilung zweiter Klasse angesehen wird.343 Das mit dem Urteil verbundene Unwerturteil und die Reaktion anderer Staaten, Organisationen und Personen könnten abgeschwächt ausfallen gegenüber der Situation, in der eine substantielle Verletzung festgestellt wird. Dieser Gefahr gilt es zu begegnen, indem der EGMR die intensive Prüfung einer substantiellen Verletzung der einschlägigen Konventionsbestimmungen nicht unterlässt. Somit ist Tulkens, Altermann und Smith darin zuzustimmen, dass die Prüfung von prozeduralen Pflichten diejenige der substantiellen Pflichten ergänzen, nicht aber ersetzen sollte.344 Berücksichtigt der EGMR dies, so ist die Rechtsprechung in der Lage, den vielschichtigen Sachverhalt des Verschwindenlassens in seiner Gesamtheit zu erfassen – sowohl in Hinblick auf die aktive und unmittelbare Verantwortlichkeit des Staates für die Freiheitsentziehung und Tötung als auch in Hinblick auf seine nachgelagerte Passivität in Bezug auf die Durchführung von Ermittlungen. Gerade diese dem eigentlichen Verschwinden nachfolgende Passivität des Staates ist ein wesentlicher Bestandteil des Phänomens Verschwindenlassen, welcher den besonderen Unrechtsgehalt mitbestimmt und nur über die Annahme einer Verletzung der Ermittlungspflicht erfasst werden kann. Kommt der EGMR dieser Forderung nach und prüft in allen Fällen intensiv, ob eine materielle Verletzung der Konventionsrechte vorliegt, so bedeutet dies, dass eine weit reichende Tatsachenfeststellung erforderlich wird.345 Die Prüfung der Verletzung einer Ermittlungspflicht hingegen fordert in erster Linie, dass der EGMR tatsächliche Feststellungen in Hinblick auf die Reaktion des Staates auf den Vorwurf einer Konventionsverletzung macht; diese Tatsachen werden in der Regel einfach festzustellen sein. Es besteht daher die Gefahr, dass der EGMR sich auf die Prüfung der Verletzung von Ermittlungspflichten konzentrieren könnte, um weit reichende 343 Vgl. Scovazzi/Citroni, S. 200 f.; Wiesbrock, S. 249 f. Meyer-Ladewig, Art. 2, Rn. 29 spricht von einer Verwässerung. Siehe auch Labita v. Türkei, 26772/95, Urteil vom 6. April 2000, gemeinsame teilweise abweichende Meinung der Richter Pastor Ridruejo, Bonello, Makarczyk, Tulkens, Straznicka, Butkevych, Casadevall und Zupancic, Abs. 1. 344 Tulkens, in: FS Cohen-Jonathan, S. 1605 (1626); Altermann, S. 116 f.; Smith, EHRLR Issue 2 (2009), S. 206 (207, 225 – 227). Siehe aber auch Strasser, in: FS Wiarda, S. 595 (603 f.), der vorschlägt, der EGMR sollte sich auf die Prüfung prozeduraler Verletzungen konzentrieren. 345 Zu dieser Tatsachenfeststellung siehe im Detail infra Kapitel 3.
B. Einzelne relevante Aspekte
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tatsächliche Feststellungen zu vermeiden.346 Denn die umfassende Klärung der Vorwürfe in tatsächlicher Hinsicht stellt den EGMR vor eine Reihe von Herausforderungen, da seine personelle und finanzielle Ausstattung auf solche Ermittlungen nicht ausgelegt ist und seine Arbeitsüberlastung die zeitraubende Tatsachenfeststellung nicht oder jedenfalls nicht in vielen Fällen zulässt.347 Diese Lage, in der sich der EGMR befindet, so ist zu vermuten, nahm der Gerichtshof jedenfalls auch zum Anlass für die Entwicklung von Ermittlungspflichten.348 Zudem hat der EGMR das Selbstverständnis, kein Gericht erster Instanz zu sein; dementsprechend hat der EGMR, wie in Kapitel 3 untersucht werden wird, nur zögerlich mit Mitteln des Beweisrechts auf die tatsächlichen Unsicherheiten reagiert, die Fälle des Verschwindenlassens aufwerfen. Für die Zukunft kann nur gehofft werden, dass es der EGMR vermeidet, aus diesen praktischen Gründen von einer umfassenden tatsächlichen und rechtlichen Prüfung der Vorwürfe abzusehen. bb) Die besondere Bedeutung der Ermittlungspflichten Die besondere Bedeutung der Ermittlungspflichten liegt darin, dass sie die Verurteilung des Staates jedenfalls für prozedurale Verletzungen dann ermöglichen, wenn die Feststellung einer substantiellen Verletzung an tatsächlichen Unsicherheiten scheitert.349 Damit wird die Gefahr eines „Freispruchs“ und damit eines gänzlichen Misserfolges der Beschwerde vermieden.350 Gegenüber beziehungsweise in Ergänzung zu einer Verurteilung wegen einer Verletzung eines Konventionsrechts in substantieller Hinsicht bringt die Verurteilung wegen einer prozeduralen Verletzung weitere Vorteile: So werden die Pflichten des Konventionsstaates klar definiert.351 Dem Staat wird ein weiterer, doppelt wirkender Anreiz geboten, mit dem Gerichtshof zusammenzuarbeiten: Unterlässt der beschwerdegegnerische Staat die Ermittlungen, verletzt er seine prozeduralen Pflichten aus der EMRK. Gleichzeitig wird eine Verurteilung aufgrund einer Verletzung des substantiellen Gehalts der Konventionsrechte ebenfalls wahrscheinlicher.352 Die Aussagen zu Art und Umfang der Ermittlungen sind geeignet, auch losgelöst vom entschiedenen Fall, Einfluss auf das nationale System zu haben. In vergleichbaren zukünftigen Fällen steht nunmehr 346
Dies erkennt auch Smith, EHRLR Issue 2 (2009), S. 206 (225 f.). Smith, EHRLR Issue 2 (2009), S. 206 (226) stellt auf eine psychologische Erkärung ab: Die Richter würden eine Kompromißentscheidung vorziehen. 348 Siehe Meyer-Ladewig, NVwZ 24 (2009), S. 1531; so auch die Einschätzung von Altermann, S. 115; Mowbray, S. 30, jeweils unter Verweis auf den Report of the Evaluation Group to the Committee of Ministers on the European Court of Human Rights, 27. September 2001, Abs. 63, abrufbar unter: https://wcd.coe.int/ViewDoc.jsp?id=226195&Lang=fr. 349 Vgl. Hendin, Baltic Yearbook of International Law 4 (2004), S. 75 (109). 350 So auch Alleweldt, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), Kap. 10, Rn. 110. Vgl. auch Wiesbrock, S. 251; Reidy/Hampson/Boyle, NQHR 15 (1997), S. 161 (168 f.). 351 Siehe auch Ni Aolain, NQHR 19 (2001), S. 21 (35). 352 Smith, EHRLR Issue 2 (2009), S. 206 (226). 347
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fest, welche Ermittlungen durchzuführen sind, damit der Konventionsstaat sich konventionsgerecht verhält und eine erneute Verurteilung vermeidet. Alleweldt nennt dies den eindeutig objektiven Charakter der Untersuchungspflicht; sie schütze nicht nur das konkrete Opfer, sondern auch die Allgemeinheit.353 Der EGMR schafft die Voraussetzungen dafür, dass zukünftigen Verletzungen der Konvention auf nationaler Ebene vorgebeugt wird, indem die erforderlichen Ermittlungen durchgeführt werden und damit jedenfalls keine prozedurale Verletzung der Konventionsrechte mehr vorliegt. Die Ermittlungen könnten aber auch dazu beitragen, einer erfolgten materiellen Verletzung von Konventionsrechten bereits auf der nationalen Ebene abzuhelfen, so dass die Opfereigenschaft im Verfahren vor dem EGMR entfiele. Ist eine Beschwerde dennoch zulässig und der innerstaatliche Rechtsweg erschöpft, so wären die den Vorwürfen zugrunde liegenden Tatsachen aufgrund der Ermittlungen jedenfalls bereits untersucht worden und damit die Tatsachenfeststellung durch den EGMR wesentlich erleichtert.354 Die Subsidiarität des Konventionssystems wird damit gestärkt355 und der EGMR, jedenfalls potenziell, entlastet.356 Durch die Heranziehung von Ermittlungspflichten wird aber nicht nur dem Staat klar vor Augen geführt, welche Pflichten er hat, sondern es werden auch die Rechte der Opfer der Menschenrechtsverletzung und/oder der betroffenen Angehörigen definiert.357 cc) Separate Prüfung und Feststellung der Verletzung von Ermittlungspflichten Das Vorgehen des EGMR, eine Verletzung von Art. 2 EMRK in seinem prozeduralen Gehalt neben einer Verletzung von Art. 2 EMRK in substantieller Hinsicht in separaten Abschnitten zu prüfen und im Tenor zur Feststellung verschiedener, separater Verletzungen zu kommen, ist zu begrüßen. Die vom EGMR vorgenommene klare Gliederung der Prüfung erscheint insbesondere gegenüber dem Vorgehen des IAGMR vorzugswürdig. Der EGMR betont damit die Vielschichtigkeit der Verletzungen, die das Phänomen des Verschwindenlassens kennzeichnet. Auch vermeidet er die Gefahr, eine der Dimensionen des Konventionsrechts gegenüber der anderen zu vernachlässigen. Gerade dies erscheint hingegen in Bezug auf Art. 5 EMRK der Fall zu sein: Im Rahmen der Prüfung einer Verletzung von Art. 5 EMRK geht der EGMR zwar auf Ermittlungspflichten ein, er trennt diese Prüfung aber nicht von der Untersuchung einer Verletzung von Art. 5 EMRK in substantieller Hinsicht. Für dieses Vorgehen, das im Gegensatz zum Vorgehen im Rahmen der Prüfung einer 353
Alleweldt, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), Kap. 10, Rn. 110. Altermann, S. 115. 355 Siehe auch Hoffmann, S. 113, 166 f. 356 Die Entlastung des EGMR als zumindest faktisches Ziel der Ermittlungspflichten nennt auch Altermann, S. 114 f. 357 So auch Ni Aolain, NQHR 19 (2001), S. 21 (35). 354
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Verletzung von Art. 2 EMRK steht, gibt es keinen einleuchtenden Grund, so dass auch hier eine getrennte Prüfung der Ermittlungspflicht in Zukunft wünschenswert wäre. dd) Einheitliche Vorgehensweise in Bezug auf die Art. 2, 3 und 5 EMRK358 Auch in Hinblick auf die Umstände, unter denen der EGMR Ermittlungspflichten heranziehen sollte, sprechen gute Gründe dafür, das Vorgehen in Bezug auf die Art. 3 und 5 EMRK dem Vorgehen in Bezug auf Art. 2 EMRK anzugleichen. Im Rahmen der Prüfung einer Verletzung von Art. 2 EMRK in seinem prozeduralen Gehalt geht der EGMR richtigerweise davon aus, dass die Ermittlungspflicht auch dann besteht, wenn eine Verantwortlichkeit des Staates für die Verletzung des Rechts auf Leben nicht feststeht oder sogar ausgeschlossen werden kann. Dies rechtfertigt sich aus der Funktion der Ermittlungspflicht: Diese hat zum Ziel, die effektive Umsetzung des nationalen Rechts sicherzustellen, das dem Schutz des Lebens dient.359 Damit enthält sie eine präventive Organisationspflicht in Hinblick auf ein effektives Strafverfolgungssystem,360 die auch dazu dient, das Vertrauen der Öffentlichkeit in den Rechtsstaat zu erhalten.361 Staatlicher Machtmissbrauch soll verhindert werden, indem Straffreiheit der individuell Verantwortlichen vermieden wird; in dieser Hinsicht wirken Ermittlungspflichten generalpräventiv362 und als Verlängerung der Schutzpflicht.363 Auch ist die Durchführung zeitnaher Ermittlungen durch nationale Behörden besser als spätere Ermittlungen durch den EGMR dazu geeignet, die Effektivität des materiellen Menschenrechtsschutzes zu gewährleisten.364 Gerade der Gedanke der Generalprävention greift auch gegenüber Rechtsverletzungen ein, die von Privaten ausgehen. So ist das Rechtsgut Leben in den nationalen Rechtsordnungen auch vor Verletzungen durch Private geschützt, insbesondere durch strafrechtliche Normen. Daraus folgt, dass eine Ermittlungspflicht auch dann besteht, wenn der Staat nicht für die Verletzung des Rechts auf Leben verantwortlich ist. Würde schließlich eine Ermittlungspflicht nur zusätzlich zu einer materiellen Verletzung angenommen werden, so würde sie in der Praxis einen Großteil ihrer Bedeutung einbüßen, die darin besteht, zumindest eine Verurteilung wegen einer 358 Zur Problematik der Übertragung der Ermittlungspflichten auf weitere Konventionsrechte siehe ausführlich Altermann, S. 150 ff. 359 Varnava et al. v. Türkei, 16064/90, 16065/90, 16066/90, 16068/90, 16069/90, 16070/ 90, 16071/90, 16072/90, 16073/90, Urteil der Großen Kammer vom 18. September 2009, Abs. 191. Siehe auch schon Orhan v. Türkei, 25656/94, Urteil vom 18. Juni 2002, Abs. 334. Siehe auch Altermann, S. 113. 360 Altermann, S. 114. 361 Varnava et al. v. Türkei, 16064/90, 16065/90, 16066/90, 16068/90, 16069/90, 16070/ 90, 16071/90, 16072/90, 16073/90, Urteil der Großen Kammer vom 18. September 2009, Abs. 191. Siehe auch schon Orhan v. Türkei, 25656/94, Urteil vom 18. Juni 2002, Abs. 334. 362 Altermann, S. 113; Grabenwarter, S. 128. 363 Grabenwarter, S. 128. 364 Altermann, S. 116.
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prozeduralen Verletzung zu ermöglichen und damit einen „Freispruch“ zu verhindern.365 Die gleichen Erwägungen sprechen auch dafür, Ermittlungspflichten im Rahmen der Art. 3 und 5 EMRK dann anzunehmen, wenn der Staat keine Verantwortlichkeit trägt, wenn mithin zuvor keine Verletzung des jeweiligen Artikels in seinem substantiellen Gehalt festgestellt wurde. Denn auch diese Rechte sind vor Angriffen Privater, insbesondere durch das nationale Strafrecht, geschützt; damit rechtfertigt die Funktion der Ermittlungspflichten eine solche Anwendung. Der EGMR müsste folglich seine Rechtsprechung ändern, auf eine Verletzung der Ermittlungspflichten nach Art. 5 EMRK nur dann einzugehen, wenn er auch eine substantielle Verletzung dieses Konventionsrechts feststellt. Auch in Bezug auf Ermittlungspflichten nach Art. 3 EMRK, deren Anwendungsbereich bisher weitgehend ungeklärt ist,366 sollte es mithin nicht entscheidend sein, ob die Misshandlung vom Staat ausgeht oder nicht. Des Weiteren ist dem EGMR darin zuzustimmen, Ermittlungspflichten nach Art. 2 EMRK auch bereits dann anzunehmen, wenn der Tod des verschwundenen Opfers nicht festgestellt und nur das Verschwinden des Opfers unter lebensbedrohlichen Umständen bewiesen werden konnte.367 Zwar kann die Erwägung allein, dass andernfalls eine wichtige Funktion von Ermittlungspflichten, die Überwindung tatsächlicher Unsicherheiten, an denen die Feststellung einer Verletzung in substantieller Hinsicht scheitert, entfallen würde, dies nicht ausreichend begründen. Es ist vielmehr auf die Bedeutung des Rechts auf Leben abzustellen:368 Die fundamentale Bedeutung dieses Rechts erfordert eine Vorverlagerung des Schutzes. Bereits eine Bedrohung des Rechts auf Leben, auf welche der EGMR in den Fällen des Verschwindenlassens bei der Heranziehung der Ermittlungspflichten abstellte, rechtfertigt die Vornahme von Ermittlungen. So ist Jessberger darin zuzustimmen, dass bei „besonders schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen die an die Qualität der Anhaltspunkte und Verdachtsmomente für das Vorliegen einer Verletzungshandlung zu stellenden Anforderungen weniger streng sein“369 sollten. Diese Begründung lässt sich auch auf die ebenfalls fundamentalen Rechte aus Art. 3 und 5 EMRK übertragen. Bereits der Verdacht einer Freiheitsentziehung beziehungsweise einer Misshandlung ist mithin ausreichend, damit eine Ermittlungspflicht des Staates angenommen werden kann. Der EGMR sollte Ermittlungspflichten in Fällen des Verschwindenlassens in Zukunft auch konsequent in Hinblick auf eine Verletzung des Opfers in Art. 3 EMRK prüfen. Die Feststellung der Verletzung von Ermittlungspflichten nach Art. 3 EMRK 365
Vgl. Reidy/Hampson/Boyle, NQHR 15 (1997), S. 161 (168 f.). Harris/O’Boyle/Bates/Buckley, S. 108. Siehe infra Kapitel 2, B.III.1.c) und 2.d) zum Verhältnis zu Art. 13 EMRK. 367 Siehe aber Altermann, S. 40, der dieses Vorgehen als inkonsequent bezeichnet. 368 Vgl. bereits supra Kapitel 2, A.III. die Begründung für eine Verletzung von Art. 2 EMRK in substantieller Hinsicht bei bloßer Lebensgefährdung. 369 Jessberger, KJ 29 (1996), S. 290 (298). 366
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in Bezug auf das Opfer könnte in der Praxis daran scheitern, dass der EGMR noch nicht einmal hinreichende Verdachtsmomente erkennt, die auf eine Misshandlung der verschwundenen Person hindeuten. In den Fällen, in denen keinerlei Informationen über das Schicksal der Verschwundenen nach ihrer Entführung/Verhaftung vorhanden sind und damit auch eine Verletzung von Art. 3 EMRK in substantieller Hinsicht vom EGMR abgelehnt wird, könnte der EGMR diese tatsächliche Unsicherheit nur durch eine weit reichende Schlussfolgerung beheben: Er müsste davon ausgehen, dass der Verdacht einer Misshandlung einer verschwundenen Person – gegebenenfalls unter bestimmten zusätzlichen Umständen – regelmäßig vorliegt. Eine solche Schlussfolgerung könnte sich zum Beispiel darauf stützen, dass die Leichen von Personen, die entführt/verhaftet wurden und deren Leichname gefunden wurden, regelmäßig Spuren von Misshandlungen aufwiesen. Dieser Verdacht würde dafür ausreichen, eine Ermittlungspflicht zum Entstehen zu bringen, wenn auch vielleicht nach Ansicht des EGMR nicht dafür, eine substantielle Verletzung von Art. 3 EMRK festzustellen. Vorzugswürdig erscheint es allerdings, wenn der EGMR – wie an anderer Stelle dargelegt370 – regelmäßig eine substantielle Verletzung von Art. 3 EMRK in Bezug auf das Opfer annehmen würde und, auf diese gestützt, dann auch eine prozedurale Verletzung von Art. 3 EMRK bejahen könnte. Die Annahme einer Verletzung von Art. 8 EMRK in seinem prozeduralen Gehalt erscheint hingegen nicht erforderlich zu sein. Eine solche Feststellung hätte zum Inhalt, dass der beschwerdegegnerische Staat auf den Vorwurf hin, das Familienleben sei verletzt, nicht die erforderlichen Ermittlungen durchführte. Im Rahmen der Prüfung einer substantiellen Verletzung von Art. 8 EMRK spielen die mangelhaften Ermittlungen allerdings regelmäßig bereits auch eine Rolle: Sie sind eine der relevanten Verletzungshandlungen, durch die das Familienleben verletzt wird.371 Eine erneute Prüfung dieser Ermittlungspflichten würde eine unnötige Verdoppelung darstellen und sollte daher unterbleiben. Die gleiche Argumentation spricht auch gegen die Feststellung einer prozeduralen Verletzung von Art. 3 EMRK in Bezug auf die Angehörigen. Es erscheint auch nicht erforderlich zu sein, eine weitergehende Konkretisierung der Anforderungen, die an die Ermittlungen zu stellen sind, zu fordern. Der EGMR hat diese bereits hinreichend spezifiziert; weitergehende detaillierte Vorgaben würden verhindern, die Umstände des jeweiligen Einzelfalls zu berücksichtigen.
2. Weitere relevante Schutzpflichten: „to prevent/protect“ Weitere positive Pflichten des Staates, bestimmte Maßnahmen zum Schutz vor Menschenrechtsverletzungen zu ergreifen, spielen in der Rechtsprechung des EGMR 370
Siehe supra Kapitel 2, A.III. Siehe supra Kapitel 2, B.I.1.b) und 2.c). Selbst wenn das Familienleben bereits durch das Verschwinden an sich verletzt sein sollte, vertieft die mangelhafte Ermittlung diese Verletzung. 371
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in Fällen des Verschwindenlassens nur in Bezug auf einige Artikel und in wenigen Konstellationen eine Rolle. In erster Linie stellt der EGMR auf eine Verletzung des klassischen, abwehrrechtlichen Gehalts eines Konventionsrechts oder auf die Verletzung der Ermittlungspflicht ab. a) Eine (präventive) Schutzpflicht in Bezug auf Art. 2 EMRK In zwei Entscheidungen zog der EGMR für die Feststellung einer Verletzung von Art. 2 EMRK eine andere Begründung heran als die einer Verletzung des abwehrrechtlichen oder prozeduralen Gehalts: In den Entscheidungen Osmanog˘lu und Medova bezog sich der EGMR auf eine präventive Schutzpflicht.372 In diesen Fällen scheiterte die Feststellung einer Verletzung von Art. 2 EMRK in seinem klassischen abwehrrechtlichen Verständnis daran, dass der EGMR die Verantwortlichkeit des Staates für den (vermuteten) Tod373 nicht als bewiesen ansah.374 Bereits in der Beschwerde Aydın Eren et al. v. Türkei aus dem Jahr 2006 hatte die Vierte Sektion des EGMR auf eine präventive Schutzpflicht abgestellt, im Ergebnis aber eine Verletzung verneint, da eine Kenntnis oder fahrlässige Unkenntnis einer besonderen Bedrohung des Opfers nicht gegeben war.375 Zur Begründung dieser präventiven Schutzpflicht nahm die Kammer – ebenso wie später der EGMR im Fall Osmanog˘lu – Bezug auf die Osman Entscheidung.376 aa) Die Entscheidung Osmanog˘lu In dem im Jahre 2008 entschiedenen Fall Osmanog˘lu stellte die Erste Sektion des EGMR darauf ab, dass Art. 2 EMRK auch die Pflicht des Staates enthalte, die er372
Ähnlich ging der EGMR bereits in den Beschwerden Koku v. Türkei, 27305/95, Urteil vom 31. Mai 2005 sowie Osman v. Vereinigtes Königreich, 23452/94, Urteil vom 28. Oktober 1998, Abs. 115 – 122 vor. Siehe auch Dröge, S. 48 – 50; Mowbray, S. 15 – 22; Buckley, HRLR 1 (2001), S. 35 (51 – 55); Hendin, Baltic Yearbook of International Law 4 (2004), S. 75 (79 – 81). 373 Diesen stellte der EGMR jeweils fest, Osmanog˘lu v. Türkei, 48804/99, Urteil vom 24. Januar 2008, Abs. 59 und Medova v. Russland, 25385/04, Urteil vom 15. Januar 2009, Abs. 91. 374 So die Feststellung in Osmanog˘lu v. Türkei, 48804/99, Urteil vom 24. Januar 2008, Abs. 71 und in Medova v. Russland, 25385/04, Urteil vom 15. Januar 2009, Abs. 95. Der EGMR stellte außerdem jeweils eine Verletzung der Ermittlungspflicht nach Art. 2 EMRK fest: Osmanog˘lu, Abs. 85 – 92; Medova, Abs. 101 – 112. 375 Aydın Eren et al. v. Türkei, 57778/00, Urteil vom 21. Februar 2006, Abs. 42, 46. Der EGMR nahm nur eine Verletzung der Ermittlungspflicht an (Abs. 55). 376 Aydın Eren et al. v. Türkei, 57778/00, Urteil vom 21. Februar 2006, Abs. 39, 40: „Pour qu’il y ait une obligation positive, il doit être établi que les autorités savaient ou auraient dû savoir sur le moment qu’un ou plusieurs individus étaient menacés de manière réelle et immédiate dans leur vie du fait des actes criminels d’un tiers, et qu’elles n’ont pas pris, dans le cadre de leurs pouvoirs, les mesures qui, d’un point de vue raisonnable, auraient sans doute pallié ce risque [….].“
B. Einzelne relevante Aspekte
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forderlichen Maßnahmen zu treffen, um das Leben der seiner Herrschaft unterworfenen Personen zu schützen.377 Diese Pflicht definierte der EGMR näher wie folgt: „This involves a primary duty on the State to secure the right to life by putting in place effective criminal-law provisions to deter the commission of offences against the person, backed up by law-enforcement machinery for the prevention, suppression and punishment of breaches of such provisions. It also extends in appropriate circumstances to a positive obligation on the authorities to take preventive operational measures to protect an individual whose life is at risk from the criminal acts of another individual […].“378
Diese Pflicht sei begrenzt379 und erwachse – so der EGMR weiter – unter den folgenden Umständen: „For a positive obligation to arise, it must be established that the authorities knew or ought to have known at the time of the existence of a real and immediate risk to the life of an identified individual or individuals from the criminal acts of a third party and that they failed to take measures within the scope of their powers which, judged reasonably, might have been expected to avoid that risk […].“380
Dies sei, so der EGMR, im Fall Osmanog˘lu der Fall, da das Verschwinden des Opfers als lebensbedrohlich einzustufen sei, das Opfer zuvor bedroht und die Entführung den Behörden tags darauf angezeigt worden sei.381 Die Türkei treffe damit die folgende Pflicht: „[…] the action which was to be expected from the domestic authorities was not to prevent the disappearance of the applicant’s son – which had already taken place – but to take preventive operational measures to protect his life, which was at risk from the criminal acts of other individuals […].“382
Damit bezieht sich die Pflicht, den Eintritt eines Risikos zu verhindern, auf den Zeitpunkt, zu dem das Opfer bereits entführt war,383 und folglich nicht darauf, dass die Behörden die Entführung als solche hätten verhindern müssen. Diese Pflicht ist 377
Osmanog˘lu v. Türkei, 48804/99, Urteil vom 24. Januar 2008, Abs. 71: „,the first sentence of Article 2 § 1 enjoins the State not only to refrain from the intentional and unlawful taking of life, but also to take appropriate steps to safeguard the lives of those within its jurisdiction“. 378 Osmanog˘lu v. Türkei, 48804/99, Urteil vom 24. Januar 2008, Abs. 72 (Hervorhebungen nicht im Original). Siehe schon Osman v. Vereinigtes Königreich, 23452/94, Urteil vom 28. Oktober 1998, Abs. 115. 379 Osmanog˘lu v. Türkei, 48804/99, Urteil vom 24. Januar 2008, Abs. 73. 380 Osmanog˘lu v. Türkei, 48804/99, Urteil vom 24. Januar 2008, Abs. 74 (Hervorhebungen nicht im Original). Siehe schon Osman v. Vereinigtes Königreich, 23452/94, Urteil vom 28. Oktober 1998, Abs. 116. 381 Osmanog˘lu v. Türkei, 48804/99, Urteil vom 24. Januar 2008, Abs. 75. 382 Osmanog˘lu v. Türkei, 48804/99, Urteil vom 24. Januar 2008, Abs. 76 (Hervorhebungen nicht im Original). 383 Osmanog˘lu v. Türkei, 48804/99, Urteil vom 24. Januar 2008, Abs. 76.
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eine Handlungs- und keine Ergebnispflicht. Sie beinhaltet, Ermittlungen durch Zeugenbefragungen vorzunehmen.384 Der EGMR kam zu folgendem Ergebnis: „The Court concludes that the authorities failed to take the reasonable measures available to them to prevent a real and immediate risk to the life of Atilla Osmanog˘lu from materialising. There has, accordingly, been a violation of Article 2 of the Convention in its substantive aspect.“385
bb) Kritik des Sondervotums an der Entscheidung Osmanog˘lu Diese mit vier zu drei Stimmen ergangene Entscheidung kritisierten in ihrer gemeinsamen teilweise abweichenden Meinung die Richter Türmen, Vajic und Steiner. Ihrer Ansicht nach gibt es zwar eine eng zu verstehende präventive Pflicht des Staates, Maßnahmen zu ergreifen, um eine Person vor dem kriminellen Verhalten anderer zu schützen. Diese greife aber ein, bevor dieses Verhalten eingetreten sei.386 Eine solche präventive Pflicht des Staates sei im vorliegenden Fall nicht betroffen. Eine präventive Schutzpflicht, die eingreift, nachdem das Leben des Opfers durch das kriminelle Verhalten anderer bedroht sei, sei hingegen identisch mit der prozeduralen Pflicht des Staates, Ermittlungen durchzuführen.387 Diese Auffassung steht auch im Einklang mit der Ansicht der Zweiten Sektion des EGMR in der Beschwerde Tog˘cu v. Türkei aus dem Jahre 2005. Dort hatte der Beschwerdeführer Folgendes vorgetragen: „The applicant submitted that the failure of the authorities to take reasonable steps to investigate or to protect his son whose forced disappearance had been reported to them, 384 Osmanog˘lu v. Türkei, 48804/99, Urteil vom 24. Januar 2008, Abs. 77, 79. Weiter stellt der EGMR darauf ab, dass eine Freiheitsberaubung zwar in der Türkei strafbar sei und es eine Pflicht gebe, in einem solchen Fall zu ermitteln, die Türkei dieser Pflicht aber nicht nachgekommen sei, Abs. 82 f. 385 Osmanog˘lu v. Türkei, 48804/99, Urteil vom 24. Januar 2008, Abs. 84 (Hervorhebungen nicht im Original). Die Feststellung im Tenor lautet: „2. Holds by four votes to three that the respondent State failed to protect the life of the applicant’s son, in violation of Article 2 of the Convention“. 386 „The positive obligation of the State to take measures to protect an individual from criminal acts of other individuals is preventive in nature. It relates to a phase before such an incident occurs.“ 387 „[…] in the present judgment, the lack of an effective investigation constitutes the basis of a finding of a substantive violation of Article 2 (see paragraph 92). Furthermore, the same lack of effective investigation is also the reason for finding a violation of Article 2 in its procedural aspect. Finding two violations for the same reason with the same facts is rather unusual in the Court’s case-law. […] In fact, the “preventive operational measures“ required by the majority to prevent a real and immediate risk to the life of the applicant’s son after his disappearance (see paragraph 81 of the judgment), such as making enquiries, taking statements, securing eyewitnesses, etc., all relate purely to the investigation which is examined under the procedural limb of Article 2.“
B. Einzelne relevante Aspekte
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disclosed a failure on the part of the Government to comply with their positive obligation under Article 2 of the Convention to take positive steps to protect the right to life.“388
Der Gerichtshof entschied aber, es sei angemessener, auf das vorgetragene Versagen der Regierung, das Verschwindenlassen zu untersuchen, im Rahmen der Prüfung der Ermittlungspflicht einzugehen.389 cc) Die weitere Entwicklung in der Rechtsprechung Diese Kritik der abweichenden Meinung scheint der EGMR aufgenommen zu haben. Denn in den nachfolgenden Fällen, die sich gegen Russland richteten und in denen der EGMR die Verantwortlichkeit des Staates für die Entführung und den Tod ebenfalls nicht feststellte, ging der EGMR lediglich auf eine Verletzung der Ermittlungspflicht, nicht aber auf eine präventive Schutzpflicht ein.390 Die Beschwerdeführer hatten sich zwar nur auf eine Verletzung des abwehrrechtlichen und des prozeduralen Gehalts von Art. 2 EMRK berufen, dies hätte allerdings nicht ausgeschlossen, dass der EGMR auch die präventive Schutzpflicht, die er in der Entscheidung Osmanog˘lu entwickelte, hätte heranziehen können.391 Allerdings unterscheiden sich diese Entscheidungen von der früheren darin, dass der EGMR nicht feststellte, dass der Tod des Opfers zu vermuten sei. Damit lagen der rechtlichen Würdigung unterschiedliche Tatsachen zugrunde. Gleichwohl hätte der EGMR, hätte er die beweisrechtlichen Maßstäbe aus der Entscheidung Osmanog˘lu auch in den späteren Urteilen gegen Russland herangezogen, auch in diesen Fällen zur Feststellung gelangen können, dass der Tod des Opfers zu vermuten sei. So geht der EGMR auch in den vier Fällen gegen Russland davon aus, dass zwar kein Beweis dafür existiert, dass das Opfer getötet worden sei; er nimmt allerdings eine Bedrohung des Lebens an.392 Der EGMR hätte von dieser Lebensgefährlichkeit auf den Tod der verschwundenen Personen schließen können. Auch zog der EGMR in der Entscheidung Osman v. Vereinigtes Königreich, in der er die präventive Schutzpflicht entwickelte, diese auch in Bezug auf den Beschwerdeführer heran, der nicht ver388 Tog˘cu v. Türkei, 27601/95, Urteil vom 31. Mai 2005, Abs. 103 (Hervorhebungen nicht im Original). 389 Tog˘cu v. Türkei, 27601/95, Urteil vom 31. Mai 2005, Abs. 105. 390 So in Shaipova et al. v. Russland, 10796/04, Urteil vom 6. November 2008; Tagirova et al. v. Russland, 20580/04, Urteil vom 4. Dezember 2008; Zakriyeva et al. v. Russland, 20583/ 04, Urteil vom 8. Januar 2009; Khumaydov und Khumaydov v. Russland, 13862/05, Urteil vom 28. Mai 2009. 391 So hatte sich der Beschwerdeführer in der Entscheidung Medova auch nicht auf die Verletzung einer präventiven Schutzpflicht berufen, der EGMR prüfte diese aber dennoch, Medova v. Russland, 25385/04, Urteil vom 15. Januar 2009, Abs. 93 – 95. 392 Tagirova v. Russland, 20580/04, Urteil vom 4. Dezember 2008, Abs. 87; Shaipova v. Russland, 10796/04, Urteil vom 6. November 2008, Abs. 96; Zakriyeva et al. v. Russland, 20583/04, Urteil vom 8. Januar 2009, Abs. 79; Khumaydov und Khumaydov v. Russland, 13862/05, Urteil vom 28. Mai 2009, Abs. 110.
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Kap. 2: Rechte der Konvention in Fällen des Verschwindenlassens
storben war,393 so dass davon ausgegangen werden kann, dass der Tod keine Voraussetzung dafür ist, eine präventive Schutzpflicht nach Art. 2 EMRK anzunehmen. Die Entscheidung des EGMR in der Beschwerde Medova, die im Jahre 2009 erging, steht zur aufgezeigten Entwicklung der Rechtsprechung nicht im Widerspruch. Zwar stellte der EGMR auch in diesem Fall auf die aus der Entscheidung Osmanog˘lu bekannten „preventive operational measures“ ab.394 Allerdings waren die Entführer mit ihrem Opfer in diesem Fall in eine Kontrolle von Sicherheitskräften geraten und diese hatten die Gruppe nach kurzer Überprüfung und Rückversicherung weiterziehen lassen, so dass sich dieser Fall in tatsächlicher Hinsicht erheblich von den anderen unterschied. Der EGMR stellte fest: „The Court considers that the authorities’ decision to release the six men, which resulted in the disappearance of Mr Medov, constituted a breach of the positive obligation to take preventive measures to protect those whose life is at risk from the criminal acts of other individuals.“395
dd) Bewertung Dem EGMR ist darin zuzustimmen, eine Verletzung einer Schutzpflicht aus Art. 2 EMRK zwar im Fall Medova, nicht aber – unter Abweichung von der Osmanog˘luRechtsprechung – in den anderen vier Fällen gegen Russland anzunehmen. Denn eine solche präventive Schutzpflicht, die erst dann eingreift, wenn das Opfer bereits entführt ist, bezeichneten die drei Richter in ihrem Sondervotum in der Beschwerde Osmanog˘lu zu Recht als identisch mit der Ermittlungspflicht. Genau wie diese fordert sie den Staat dazu auf, Ermittlungen zu ergreifen. Diese sind darauf ausgelegt, das Opfer zu finden; zu diesem Zweck sollen Beweise gesichert und insbesondere Zeugen vernommen werden.396 Damit hat die präventive Schutzpflicht gegenüber der Ermittlungspflicht, wie sie sonst in Fällen des Verschwindenlassens herangezogen wird, zwar ein anderes Ziel: Sie dient dazu, das verschwundenen Opfer zu schützen, während die Ermittlungspflichten in erster Linie darauf abzielen, die Verantwortlichen zu identifizieren und zur Rechenschaft zu ziehen. Allerdings ist die Verwirklichung beider Ziele mit den gleichen Methoden angestrebt. Es erscheint daher vorzugswürdig, wenn der EGMR in Zukunft keine präventive Schutzpflicht heranzöge, sondern die Ermittlungspflicht dahingehend erweiterte, dass diese auch zum Ziel hat, das Opfer zu finden und vor weiteren Beeinträchtigungen zu schützen. Die Anforderungen an die Ermittlung könnten in Anbetracht dessen wachsen; so müsste 393
Osman v. Vereinigtes Königreich, 23452/94, Urteil vom 28. Oktober 1998, Abs. 115 – 122. Beschwerdeführer waren Mutter und Sohn. Der Beschwerde lag die Abgabe von Schüssen auf den Sohn und den Vater, welcher verstarb, zugrunde. 394 Medova v. Russland, 25385/04, Urteil vom 15. Januar 2009, Abs. 88, 95. 395 Medova v. Russland, 25385/04, Urteil vom 15. Januar 2009, Abs. 99 (Hervorhebung nicht im Original). Im Tenor lautet die Formulierung: „4. Holds unanimously that there has been a violation of Article 2 of the Convention on account of the State’s failure to comply with its positive obligation to protect the life of Mr Adam Medov“. 396 Osmanog˘lu v. Türkei, 48804/99, Urteil vom 24. Januar 2008, Abs. 79 – 81.
B. Einzelne relevante Aspekte
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die Ermittlung insbesondere zeitnah erfolgen, damit überhaupt noch die Chance besteht, das Opfer lebend zu finden und somit sein Leben zu schützen. Die erweiterte Ermittlungspflicht sollte gerade auch in jenen Fällen greifen, in denen der EGMR nicht feststellt, dass der Tod des Opfers zu vermuten ist. Es ist ausreichend, dass lediglich das Risiko einer Verletzung des Rechts auf Leben beziehungsweise einer Misshandlung vorliegen muss. Für diese Sichtweise sprechen die gleichen Überlegungen, die bereits im Rahmen der Ermittlungspflichten herangezogen wurden, um zu begründen, dass der Eintritt der Verletzung nicht festgestellt werden muss, sondern ein plausibler Verdacht ausreicht, dass es zu einer Verletzung gekommen ist.397 Im Fall Medova knüpft der EGMR, anders als im Fall Osmanog˘lu, die Verletzung der präventiven Schutzpflicht nicht daran, dass Ermittlungen nicht durchgeführt wurden, sondern daran, dass der Staat zu einem bestimmten Zeitpunkt die Kontrolle über das Opfer und seine Entführer ausübte und diese beendete, ohne Maßnahmen zum Schutz des Opfers zu ergreifen. Der Inhalt der Pflicht ist damit ein ganz anderer: Der Staat hat nicht nach erfolgter Entführung Ermittlungen vorzunehmen, um das Opfer zu schützen, sondern er hat Maßnahmen zu ergreifen, um das Opfer zu schützen, wenn es sich unter seiner Kontrolle befindet und die Verantwortlichen vor Ort Grund haben, eine Lebensbedrohung, die von Privaten ausgeht, anzunehmen. Dem EGMR ist darin zuzustimmen, dass Art. 2 EMRK, der ausdrücklich eine positive Pflicht der Konventionsstaaten statuiert, das Leben zu schützen, so auszulegen ist, dass eine solche präventive Schutzpflicht erfasst ist.398 Diese Pflicht erwächst auch bereits dann, wenn der Tod nicht eingetreten ist oder jedenfalls nicht festgestellt werden kann, sondern lediglich das Leben bedroht wird. Gegenüber diesen speziellen Schutzpflichten, deren Heranziehung und Verwendung durch den EGMR in Zukunft nur befürwortet werden kann, bringt es allerdings keinen Erkenntnisgewinn mit sich, auf eine generelle Pflicht der Staaten, Menschenrechtsverletzungen zu verhindern, abzustellen. Daher ist auch der Rechtsprechung des IAGMR in dieser Hinsicht wenig zu entnehmen, in der eine solche Pflicht oft nur zu unspezifisch aufgestellt wird.399 397
Für die Begründung siehe supra Kapitel 2, B.II.1.d)dd). Ebenso sprechen dafür auch die Überlegungen, die dafür sprechen, eine substantielle Verletzung von Art. 2 EMRK dann anzunehmen, wenn lediglich eine Lebensgefährdung festgestellt werden kann, siehe supra Kapitel 2, A.III. 398 Diese Rechtsprechung griff auch der IAGMR auf unter Bezugnahme auf die Entscheidungen Kilic und Osman in: Pueblo Bello Massacre v. Kolumbien, Merits, Reparations and Costs, Urteil vom 31. Januar 2006, Series C Nr. 140, Abs. 124. 399 So bereits in dem Urteil Velásquez-Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Series C Nr. 4, Abs. 187: „The guarantee of physical integrity and the right of detainees to treatment respectful of their human dignity require States Parties to take reasonable steps to prevent situations which are truly harmful to the rights protected.“ Siehe auch Abs. 188 sowie Abs. 175: „[…] subjecting a person to official, repressive bodies that practice torture and assassination with impunity is itself a breach of the duty to prevent violations of the rights to life and physical integrity of the person, even if that particular person is not tortured or assassinated, or if those facts cannot be proven in a concrete case.“
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Kap. 2: Rechte der Konvention in Fällen des Verschwindenlassens
b) Positive Pflichten in Bezug auf Art. 5 EMRK Bereits in der Beschwerde Kurt stellte der EGMR darauf ab, dass Art. 5 EMRK die Pflicht enthält, Maßnahmen zu ergreifen, die wirksam gegen das Risiko des Verschwindenlassens schützen.400 Allerdings traf der EGMR diese Aussage im Zusammenhang mit der Feststellung, dass der Staat das Opfer in nicht anerkannter Haft gehalten habe. Nur in einem Fall, im Fall Medova, in dem der EGMR es nicht als bewiesen erachtete, dass der Staat für die Entführung/Inhaftierung verantwortlich war, stellte der EGMR dennoch eine Verletzung von Art. 5 EMRK fest.401 In allen anderen Fällen erfolgte die Feststellung einer Verletzung von Art. 5 EMRK nur dann, wenn die Inhaftierung durch den Staat feststand.402 In der Beschwerde Medova stellte der EGMR auf die positive Pflicht des Staates ab, die Freiheit der Bürger zu schützen; diese positive Pflicht habe den gleichen Umfang wie die Pflicht nach Art. 2 EMRK zum Schutz des Lebens.403 Sie sei verletzt, da der Staat es unterlassen habe, das Opfer zu befreien, als es mit seinen Entführern in die Sicherheitskontrolle geraten sei.404 Folglich stellte der EGMR fest: „Therefore, the Court finds that the State failed to comply with its positive obligation under Article 5 of the Convention to protect the liberty of Mr Adam Medov.“405
Auf eine präventive Schutzpflicht unter Art. 5 EMRK ging der EGMR in der Beschwerde Osmanog˘lu nicht ein.406 Dies ist auch zu begrüßen, da auch eine prä400
Kurt v. Türkei, 24276/94, Urteil vom 25. Mai 1998, Abs. 124: „The Court emphasises in this respect that the unacknowledged detention of an individual is a complete negation of these guarantees and a most grave violation of Article 5. Having assumed control over that individual it is incumbent on the authorities to account for his or her whereabouts. For this reason, Article 5 must be seen as requiring the authorities to take effective measures to safeguard against the risk of disappearance […].“ (Hervorhebung nicht im Original). 401 Siehe auch Ott, S. 51. 402 In den Fällen Tagirova v. Russland, 20580/04, Urteil vom 4. Dezember 2008; Shaipova v. Russland, 10796/04, Urteil vom 6. November 2008; Zakriyeva et al. v. Russland, 20583/04, Urteil vom 8. Januar 2009; Khumaydov und Khumaydov v. Russland, 13862/05, Urteil vom 28. Mai 2009 verwarf der EGMR die Rüge einer Verletzung von Art. 5 EMRK als unzulässig ratione personae. 403 Medova v. Russland, 25385/04, Urteil vom 15. Januar 2009, Abs. 123. 404 Medova v. Russland, 25385/04, Urteil vom 15. Januar 2009, Abs. 124: „[…] it considers that the authorities’ failure to put an end to Mr Medov’s arbitrary deprivation of liberty while they had every means of doing so constituted a breach of the State’s positive obligation under Article 5 of the Convention.“ 405 Medova v. Russland, 25385/04, Urteil vom 15. Januar 2009, Abs. 125. 406 In Osmanog˘lu v. Türkei, 48804/99, Urteil vom 24. Januar 2008, Abs. 103 f. stellte der EGMR keine Verletzung von Art. 5 EMRK fest. Auf die Frage, ob eine Verletzung aufgrund mangelnder Ermittlungen vorliegt, ging der EGMR nicht ein, Abs. 103: „With regard to the applicant’s complaint under the same Article concerning the lack of an investigation, the Court, having regard to the above findings of violations stemming from the lack of an investigation, does not deem it necessary to examine separately whether the same failure also gives rise to a violation of Article 5 of the Convention.“
B. Einzelne relevante Aspekte
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ventive Schutzpflicht unter Art. 5 EMRK mit dem Inhalt, Ermittlungen durchzuführen, besser als Ermittlungspflicht und damit als prozeduraler Gehalt von Art. 5 EMRK einzustufen ist. In der Beschwerde Medova knüpfte die Schutzpflicht hingegen daran an, dass Russland zu einem Zeitpunkt Kontrolle über das Opfer und seine Entführer ausgeübt und es unterlassen hatte, die Freiheitsberaubung durch die privaten Täter zu beenden. In dieser besonderen Konstellation ist die Heranziehung einer präventiven Schutzpflicht, wie bereits in Bezug auf Art. 2 EMRK, auch im Zusammenhang mit Art. 5 EMRK zu befürworten.407 c) Positive Pflichten in Bezug auf Art. 3 EMRK Der EGMR nahm eine Verletzung von Art. 3 EMRK in Bezug auf das Opfer nur dann an, wenn Misshandlungen bewiesen waren. Auf Schutzpflichten des Staates im Zusammenhang mit Art. 3 EMRK stellte der EGMR in Fällen des Verschwindenlassens in Bezug auf das Opfer nicht ab. Möglich wäre, eine Schutzpflicht des Staates daran anzuknüpfen, Misshandlungen oder deren Risiko zu verhindern beziehungsweise das Opfer vor diesen zu schützen, wenn diese von Privaten ausgehen oder auszugehen drohen. In dieser Hinsicht sollte sich die Rechtsprechung an den präventiven Schutzpflichten orientieren, die in Bezug auf Art. 2 EMRK bereits analysiert wurden und insbesondere im Urteil Medova herangezogen wurden. Damit ist der Anwendungsbereich dieser präventiven Schutzpflichten im Zusammenhang mit Art. 3 EMRK allerdings ebenfalls sehr eng.
III. Das Recht auf eine wirksame Beschwerde: Art. 13 EMRK408 In der Rechtsprechung zu Fällen des Verschwindenlassens, wie auch in anderen Fällen meist schwerer und oft auch systematischer Menschenrechtsverletzungen, spielt Art. 13 EMRK, das Recht auf eine wirksame Beschwerde, eine zunehmende Rolle.409 Art. 13 EMRK garantiert ein akzessorisches Recht auf Beschwerde in Bezug auf die Konventionsrechte.410 Diese müssen nicht verletzt sein, ihre Verletzung muss lediglich vertretbar behauptet werden.411 407
Vgl. auch Ott, S. 53. Siehe zu Art. 13 allgemein: Arai, in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak, S. 997 ff.; Frowein, in: Frowein/Peukert, Art. 13; Richter, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), Kap. 20; Grabenwarter, S. 414 ff.; Harris/O’Boyle/Bates/Buckley, S. 557 ff.; White/Ovey, S. 131 – 142; speziell zu Ermittlungspflichten aus Art. 13 EMRK siehe Altermann, S. 70 – 93; zu positiven Pflichten aus Art. 13 EMRK Mowbray, S. 205 – 220. 409 Vgl. auch die Einschätzung von Richter, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), Kap. 20, Rn. 5, 95, 112 – 114. Siehe auch Strasser, in: FS Wiarda, S. 595 (597), der Art. 13 EMRK als zuvor praktisch wertlos bezeichnet. 410 Grabenwarter, S. 414, 416; Frowein, in: Frowein/Peukert, Art. 13, Rn. 1; Richter, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), Kap. 20, Rn. 16; Schweizer, in: Karl (Hrsg.), 4. Lieferung, Art. 13, Rn. 36 – 41. 408
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Kap. 2: Rechte der Konvention in Fällen des Verschwindenlassens
Im Folgenden wird zunächst die Rechtsprechung des EGMR darauf hin untersucht (1.), in welchen Anwendungskonstellationen der EGMR Art. 13 EMRK heranzog und eine Verletzung feststellte [a)]. Daraufhin werden die Anforderungen, die der EGMR in Fällen des Verschwindenlassens an eine wirksame Beschwerde stellt, dargestellt [b)] sowie anschließend das Verhältnis von Art. 13 EMRK zu den bereits besprochenen Ermittlungspflichten, die sich aus den materiellen Konventionsrechten ergeben [c)]. Abschließend erfolgt eine Bewertung der Bedeutung von Art. 13 EMRK in Fällen des Verschwindenlassens (2.). 1. Die Rechtsprechung zu Art. 13 EMRK a) Anknüpfungspunkt von Art. 13 EMRK Bereits in der ersten Individualbeschwerde, die einen Fall des Verschwindenlassens betraf, in der Beschwerde Kurt, stellten die Konventionsorgane eine Verletzung von Art. 13 EMRK fest.412 Auch in den folgenden Urteilen, die Fälle des Verschwindenlassens in der südöstlichen Türkei betrafen, erfolgte regelmäßig die Feststellung, dass Art. 13 EMRK verletzt ist.413 Dabei stützte sich die Feststellung darauf, dass der Beschwerdeführer vertretbar behauptete („arguable claim“), dass eine Person verschwunden sei414 und dass damit verschiedene Konventionsrechte verletzt seien. Die Kommission machte in diesem Zusammenhang deutlich, dass die Feststellung eines „Verschwindenlassens“ nicht automatisch eine Verletzung von Art. 13 EMRK nach sich zieht.415 411
Siehe dazu ausführlicher Richter, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), Kap. 20, Rn. 16, 19 – 25. Siehe auch Altermann, S. 73; Frowein, in: GS Ryssdal, S. 545 (546 – 549) auch zur historischen Entwicklung sowie Frowein, in: Frowein/Peukert, Art. 13, Rn. 2 – 4; Mowbray, S. 206; Arai, in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak, S. 998, 1000 – 1006; Harris/O’Boyle/Bates/ Buckley, S. 560 f.; Leach, Taking a Case, S. 341 – 346. 412 Kurt v. Türkei, 24276/94, Bericht vom 5. Dezember 1996, Abs. 222 – 230; Kurt v. Türkei, 24276/94, Urteil vom 25. Mai 1998, Abs. 135 – 142. 413 So z. B. in: C¸akıcı v. Türkei, 23657/94, Urteil vom 8. Juli 1999, Abs. 108 – 114; Timurtas¸ v. Türkei, 23531/94, Urteil vom 13. Juni 2000, Abs. 107 – 113; Tas¸ v. Türkei, 24396/94, Urteil vom 14. November 2000, Abs. 88 – 93; C¸içek v. Türkei, 25704/94, Urteil vom 27. Februar 2001, Abs. 175 – 181; Tanıs¸ et al. v. Türkei, 65899/01, Urteil vom 2. August 2005, Abs. 222 – 227. Nicht aber in: Ertak v. Türkei, 20764/92, Urteil vom 9. Mai 2000 (es war nur Art. 2 EMRK gerügt); Tahsin Acar v. Türkei, 26307/95, Urteil vom 8. April 2004, Abs. 205 (keine Jurisdiktion); in Nesibe Haran v. Türkei, 28299/95, Urteil vom 6. Oktober 2005, Abs. 89 – 91; Enzile Özdemir v. Türkei, 54169/00, Urteil vom 8. Januar 2008, Abs. 78 und in Osmanog˘lu v. Türkei, 48804/99, Urteil vom 24. Januar 2008, Abs. 111 (aufgrund der Feststellung einer prozeduralen Verletzung von Art. 2 EMRK spielt Art. 13 EMRK keine separate Rolle); Nehyet Günay et al. v. Türkei, 51210/99, Urteil vom 21. Oktober 2008, Abs. 49. 414 Kurt v. Türkei, 24276/94, Urteil vom 25. Mai 1998, Abs. 140. 415 C¸akıcı v. Türkei, 23657/94, Bericht vom 12. März 1998, Abs. 286: „It would not however adopt the submission of the applicant that a finding of a ”disappearance” automatically entails a violation of Article 13 of the Convention.“
B. Einzelne relevante Aspekte
113
Die Verletzung von Art. 13 EMRK prüfte der EGMR in Bezug auf die vertretbare Behauptung der Verletzung einer Anzahl anderer Konventionsrechte: Zunächst stellte der EGMR noch nicht explizit fest, dass eine Verletzung von Art. 13 in Verbindung mit einem weiteren Artikel erfolgte,416 wie es in späteren Fällen geschah; im Rahmen der Prüfung nahm der Gerichtshof allerdings zum Teil Bezug auf die Art. 2, 3 und/oder 5 EMRK.417 In den späteren Entscheidungen gegen Russland stellte der EGMR regelmäßig eine Verletzung von Art. 13 EMRK explizit in Verbindung mit anderen Artikeln fest; so erfolgte die Feststellung einer Verletzung von Art. 13 anfangs in Verbindung mit den Artikeln 2 und 3, nicht aber mit Art. 5 EMRK.418 Dies änderte sich im Jahre 2008 und der Gerichtshof stellte im Folgenden meist eine Verletzung von Art. 13 in Verbindung nur mit Art. 2, nicht aber mit Art. 3 und 5 EMRK fest.419 Schließlich stellte der EGMR eine Verletzung von Art. 13 in Verbindung mit Art. 8 EMRK und Art. 1 des Ersten Zusatzprotokolls in Fällen fest, in denen die Verhaftung der verschwundenen Person mit einer ungesetzlichen Hausdurchsuchung einherging.420 Die Rechtsprechung ist uneinheitlich in Hinblick auf die Frage, ob Art. 13 EMRK in Verbindung mit der vertretbaren Behauptung einer Verletzung von Art. 2 EMRK verletzt sein kann, wenn zuvor keine Verletzung von Art. 2 EMRK in seinem substantiellen, sondern nur in seinem prozeduralen Gehalt festgestellt wurde.421 In jenen Fällen gegen Russland, in denen der EGMR keine Verletzung von Art. 2 EMRK in seinem substantiellen Gehalt feststellte, sah er eine gesonderte Prüfung einer Verletzung von Art. 13 in Verbindung mit der prozeduralen Verletzung von Art. 2 416
Regel.
Dies bezeichnet auch Richter, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), Kap. 20, Rn. 24 noch als
417 In der Beschwerde Kurt nahm der EGMR eine Abgrenzung zu Art. 5 EMRK vor, Kurt v. Türkei, 24276/94, Urteil vom 25. Mai 1998, Abs. 140. In C¸akıcı v. Türkei, 23657/94, Urteil vom 8. Juli 1999, Abs. 113 nahm der EGMR Bezug auf die Art. 2 und 3 EMRK. In Akdeniz v. Türkei, 25165/94, Urteil vom 31. Mai 2005, Abs. 140 nahm der EGMR Bezug auf die Art. 2, 3 und 5 EMRK. 418 So z. B. in Bazorkina v. Russland, 69481/01, Urteil vom 27. Juli 2006, Abs. 158 – 165; Imakayeva v. Russland, 7615/02, Urteil vom 9. November 2006, Abs. 190 – 197 (auch nicht in Verbindung mit Art. 8 EMRK); Baysayeva v. Russland, 74237/01, Urteil vom 5. April 2007, Abs. 153 – 159. 419 Ibragimov et al. v. Russland, 34561/03, Urteil vom 29. Mai 2008, Abs. 131 – 138; Sangariyeva et al. v. Russland, 1839/04, Urteil vom 29. Mai 2008, Abs. 106 – 110; Amanat Ilyasova et al. v. Russland, 27001/06, Urteil vom 1. Oktober 2009, Abs. 133 – 139. Eine nur scheinbare Ausnahme stellte die Entscheidung Dokuyev et al. v. Russland, 6704/03, Urteil vom 2. April 2009, Abs. 132 – 139 dar, in der der EGMR allerdings eine Verletzung von Art. 3 EMRK nicht lediglich in Bezug auf die Beschwerdeführer, sondern in Bezug auf das Opfer festgestellt hatte. 420 So z. B. in: Karimov et al. v. Russland, 29851/05, Urteil vom 16. Juli 2009, Abs. 150; Babusheva et al. v. Russland, 33944/05, Urteil vom 24. September 2009, Abs. 135. 421 Zu der in Fällen des Verschwindenlassens nicht relevanten Frage, ob eine Verletzung von Art. 13 EMRK auch möglich ist, wenn erwiesenermaßen kein pflichtwidriges Vorverhalten des Staates vorliegt, siehe Altermann, S. 138, 144 f.
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Kap. 2: Rechte der Konvention in Fällen des Verschwindenlassens
EMRK nicht als erforderlich an.422 Abweichend von dieser Rechtsprechung hatte der EGMR zuvor auch in jenen Fällen eine Verletzung von Art. 13 EMRK angenommen, in denen er keine Verletzung des substantiellen Gehalts von Art. 2 EMRK, sondern nur des prozeduralen festgestellt hatte. Dies begründete er damit, dass zwar die Verantwortlichkeit nicht wider jeden Zweifel bewiesen sei, dies aber nicht die Annahme einer vertretbaren Behauptung einer – wohl substantiellen – Verletzung von Art. 2 EMRK im Rahmen der Prüfung von Art. 13 EMRK hindere.423 Der EGMR stellte die Verletzung von Art. 13 EMRK damit allerdings auch in diesen Fällen nicht in Verbindung mit einer prozeduralen Verletzung von Art. 2 EMRK fest.424 b) Anforderungen an die Beschwerde nach Art. 13 EMRK425 In Bezug auf die Anforderungen, die an die von Art. 13 EMRK geforderte Beschwerde zu stellen sind, machte der EGMR in dem Urteil Kurt folgende Ausführungen, in denen er maßgeblich – wie auch in den späteren Urteilen – auf die Durchführung gründlicher und effektiver Ermittlungen abstellte: „The Court recalls that Article 13 guarantees the availability at the national level of a remedy to enforce the substance of the Convention rights and freedoms in whatever form they might happen to be secured in the domestic legal order. The effect of Article 13 is thus to require the provision of a domestic remedy to deal with the substance of the relevant Convention complaint and to grant appropriate relief, although Contracting States are afforded some discretion as to the manner in which they conform to their Convention obligations under this provision. In the view of the Court, where the relatives of a person have an arguable claim that the latter has disappeared at the hands of the authorities, the notion of an effective remedy for the purposes of Article 13 entails, in addition to the payment of compensation where appropriate, a thorough and effective investigation capable of leading to the iden-
422 Shaipova et al. v. Russland, 10796/04, Urteil vom 6. November 2008, Abs. 124; Tagirova et al. v. Russland, 20580/04, Urteil vom 4. Dezember 2008, Abs. 113; Zakriyeva et al. v. Russland, 20583/04, Urteil vom 8. Januar 2009, Abs. 108; Khumaydov und Khumaydov v. Russland, 13862/05, Urteil vom 28. Mai 2009, Abs. 141; Tovsultanova v. Russland, 26974/06, Urteil vom 17. Juni 2010, Abs. 115. Auch schon z. B. in Nesibe Haran v. Türkei, 28299/95, Urteil vom 6. Oktober 2005, Abs. 89 – 91. 423 Tekdag˘ v. Türkei, 27699/95, Urteil vom 15. Januar 2004, Abs. 92 – 99; Tog˘cu v. Türkei, 27601/95, Urteil vom 31. Mai 2005, Abs. 134 – 140; Özgen et al. v. Türkei, 38607/97, Urteil vom 20. September 2005, Abs. 52 – 55; Aydın Eren et al. v. Türkei, 57778/00, Urteil vom 21. Februar 2006, Abs. 60 – 65; S¸eker v. Türkei, 52390/99, Urteil vom 21. Februar 2006, Abs. 94 – 98; Kaya et al. v. Türkei, 4451/02, Urteil vom 24. Oktober 2006, Abs. 50 – 54. 424 Zu Frage, ob Anknüpfungspunkt auch der behauptete prozedurale Verstoß sein kann, siehe Altermann, S. 74 – 84. 425 Siehe auch ausführlich Richter, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), Kap. 20, Rn. 26 – 64; sowie auch Grabenwarter, S. 419 – 424; Harris/O’Boyle/Bates/Buckley, S. 562 – 567, 572 – 574; Schweizer, in: Karl (Hrsg.), 4. Lieferung, Art. 13, Rn. 57 ff.; siehe auch Altermann, S. 85 – 89 mit Bezug auf die Ermittlungspflichten nach Art. 13 EMRK sowie Arai, in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak, S. 1008 f.
B. Einzelne relevante Aspekte
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tification and punishment of those responsible and including effective access for the relatives to the investigatory procedure […].“426
In der weiteren Rechtsprechung präzisierte der EGMR, dass eine Beschwerde sowohl in der Praxis als auch per Gesetz effektiv zu sein habe.427 Des Weiteren stellte er fest, dass die Anforderungen, die an die Beschwerde im Rahmen von Art. 13 EMRK zu stellen sind, von der Art und Schwere der Vorwürfe abhängen.428 Schließlich stellt der EGMR regelmäßig darauf ab, dass in Ermangelung der Durchführung effektiver Ermittlungen auch keine anderen Beschwerdemöglichkeiten, insbesondere in Hinblick auf eine Entschädigung, zugänglich waren.429 Der EGMR nahm auch eine inhaltliche Abgrenzung der nach Art. 13 EMRK geforderten Ermittlungen zu den Ermittlungspflichten vor, die sich aus anderen Konventionsrechten, insbesondere aus Art. 2 und 5 EMRK, ergeben. So bezeichnete der EGMR die Anforderungen nach Art. 13 EMRK als weitergehend als die Pflicht nach Art. 2 und 5 EMRK, eine effektive Ermittlung in Bezug auf das Verschwinden durchzuführen.430 c) Das Verhältnis von Art. 13 EMRK zu Ermittlungspflichten aus anderen Konventionsrechten Die Rechtsprechung des EGMR in Hinblick auf das Verhältnis von Art. 13 EMRK zu den bereits untersuchten Ermittlungspflichten aus anderen Konventionsrechten ist uneinheitlich.431 Wie gesehen,432 stellt der EGMR jedenfalls keine Verletzung von Art. 13 EMRK in Verbindung mit der Verletzung des prozeduralen Gehalts anderer Konventionsrechte, insbesondere des Rechts auf Leben, fest.433 Auch bezeichnet er 426 Kurt v. Türkei, 24276/94, Urteil vom 25. Mai 1998, Abs. 139 f. (Hervorhebungen nicht im Original). 427 Bazorkina v. Russland, 69481/01, Urteil vom 27. Juli 2006, Abs. 160: „[…] the remedy required by Article 13 must be ,effective‘ in practice as well as in law, in particular in the sense that its exercise must not be unjustifiably hindered by acts or omissions by the authorities of the respondent State […].“ 428 Kurt v. Türkei, 24276/94, Urteil vom 25. Mai 1998, Abs. 139; Timurtas¸ v. Türkei, 23531/94, Urteil vom 13. Juni 2000, Abs. 111. 429 Tas¸ v. Türkei, 24396/94, Urteil vom 14. November 2000, Abs. 93; Bazorkina v. Russland, 69481/01, Urteil vom 27. Juli 2006, Abs. 163. 430 Zu Art. 5 EMRK siehe Kurt v. Türkei, 24276/94, Urteil vom 25. Mai 1998, Abs. 140. Zu Art. 2 EMRK siehe C¸içek v. Türkei, 25704/94, Urteil vom 27. Februar 2001, Abs. 178; Bazorkina v. Russland, 69481/01, Urteil vom 27. Juli 2006, Abs. 161; aktueller auch Vakhayeva et al. v. Russland, 1758/04, Urteil vom 29. Oktober 2009, Abs. 183. Vorsichtiger noch Tas¸ v. Türkei, 24396/94, Urteil vom 14. November 2000, Abs. 93 („may be broader“). Siehe auch Richter, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), Kap. 20, Rn. 104, die von „breiteren“ Anforderungen spricht. 431 Siehe dazu allgemein auch Mowbray, S. 210 – 220. 432 Siehe supra Kapitel 2, B.III.1.a). 433 So auch Altermann, S. 82.
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Kap. 2: Rechte der Konvention in Fällen des Verschwindenlassens
die inhaltlichen Anforderungen, die Art. 13 EMRK an die Ermittlungen stellt, als weitergehend als die der Ermittlungspflichten aus Art. 2 und 5 EMRK.434 Unklar bleibt, in welchem Verhältnis Art. 13 EMRK zu einer prozeduralen Verletzung von Art. 2 EMRK steht.435 In den meisten Fällen, in denen der EGMR eine Verletzung von Art. 2 EMRK in seinem substantiellen Gehalt zusätzlich zu der Feststellung einer Verletzung des prozeduralen Gehalts feststellte, nahm er auch eine Verletzung von Art. 13 EMRK an. In nahezu allen diesen Fällen des Verschwindenlassens gegen Russland stellte der Gerichtshof auch explizit eine Verletzung von Art. 13 in Verbindung mit Art. 2 EMRK fest.436 In vier der Entscheidungen, die gegen die Türkei ergingen und in denen der EGMR eine materielle Verletzung von Art. 2 EMRK feststellte, nahm der Gerichtshof keine Verletzung von Art. 13 EMRK an, in allen anderen schon.437 In den Urteilen Enzile Özdemir und Osmanog˘lu begründete der EGMR dies wie folgt: „Having regard to the violation of Article 2 of the Convention under its procedural head […] the Court does not find it necessary to examine the same facts also in the context of Article 13.“438
Eine ähnliche Begründung findet sich auch in einigen jener Urteile, in denen der EGMR keine substantielle Verletzung von Art. 2 EMRK, sondern nur eine prozedurale festgestellt hatte. Der Gerichtshof kam in einem Teil dieser Urteile nicht zu dem Ergebnis, dass Art. 13 EMRK verletzt sei.439 Er zog in einigen Urteilen die folgende Begründung heran: „The Court observes that the complaint made by the applicants under this Article has already been examined in the context of Article 2 of the Convention. Having regard to the findings of a violation of Article 2 under its procedural head […], the Court considers that, whilst the
434
Siehe soeben supra Kapitel 2, B.III.1.b). Anders noch die Einschätzung der Rechtsprechung durch Arai, in: van Dijk/van Hoof/ van Rijn/Zwaak, S. 1013 f. 436 Nur im Urteil Magomadov und Magomadov v. Russland, 68004/01, Urteil vom 12. Juli 2007 erwähnt der EGMR Art. 13 EMRK gar nicht. 437 Diese vier Entscheidungen sind Ertak v. Türkei, 20764/92, Urteil vom 9. Mai 2000 (Art. 13 EMRK wird überhaupt nicht erwähnt); Enzile Özdemir v. Türkei, 54169/00, Urteil vom 8. Januar 2008, Abs. 78; Osmanog˘lu v. Türkei, 48804/99, Urteil vom 24. Januar 2008, Abs. 111; Nehyet Günay et al. v. Türkei, 51210/99, Urteil vom 21. Oktober 2008, Abs. 49 (der EGMR prüft nur die Art. 2, 3 und 5 EMRK). 438 Osmanog˘lu v. Türkei, 48804/99, Urteil vom 24. Januar 2008, Abs. 111; siehe ähnlich schon Enzile Özdemir v. Türkei, 54169/00, Urteil vom 8. Januar 2008, Abs. 78. 439 So in den Fällen: Tahsin Acar v. Türkei, 26307/95, Urteil vom 8. April 2004, Abs. 205 (keine Jurisdiktion); Erkek v. Türkei, 28637/95, Urteil vom 13. Juli 2004 (in dem Urteil findet Art. 13 EMRK keine Erwähnung); Varnava et al. v. Türkei, 16064/90, 16065/90, 16066/90, 16068/90, 16069/90, 16070/90, 16071/90, 16072/90, 16073/90, Urteil der Großen Kammer vom 18. September 2009 (der EGMR hielt es nicht für notwendig, auf Art. 13 EMRK einzugehen). 435
B. Einzelne relevante Aspekte
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complaint under Article 13 taken in conjunction with Article 2 is admissible, there is no need to make a separate examination of this complaint on its merits […].“440
Hingegen stellte der EGMR in sechs Entscheidungen, die allesamt Fälle des Verschwindenlassens in der Türkei betrafen, eine Verletzung von Art. 13 EMRK fest, ohne darauf einzugehen, dass er zuvor eine Verletzung des prozeduralen Gehalts von Art. 2 EMRK und nicht des substantiellen angenommen hatte.441 Die Rechtsprechung ist mithin zum einen nicht einheitlich in Bezug darauf, ob eine Verletzung von Art. 13 in Verbindung mit Art. 2 EMRK in seinem substantiellen Gehalt dann festgestellt wird, wenn zuvor bereits eine Verletzung von Art. 2 EMRK in seinem prozeduralen Gehalt angenommen wurde. Zum anderen ist unklar, ob und wie die Frage, ob der EGMR zuvor eine substantielle Verletzung von Art. 2 EMRK annahm, die Feststellung einer Verletzung von Art. 13 in Verbindung mit Art. 2 EMRK in seinem substantiellen Gehalt beeinflusst. Auch in Hinblick auf das Verhältnis von Art. 13 EMRK zu Art. 5 EMRK bleibt die Rechtsprechung in Teilen unklar. In den früheren Urteilen differenzierte der EGMR nicht explizit danach, in Verbindung mit welchem Konventionsrecht Art. 13 EMRK als akzessorisches Recht verletzt ist, nahm aber eine Abgrenzung der Ermittlungspflichten nach Art. 13 EMRK zu denen nach Art. 5 EMRK vor.442 Nunmehr, da er eine Differenzierung vornimmt, lehnt der EGMR eine Verletzung von Art. 13 in Verbindung mit Art. 5 EMRK in jenen Fällen ab, in denen eine materielle Verletzung von Art. 5 EMRK zuvor festgestellt wurde. Dies begründet der Gerichtshof damit, dass die speziellen Garantien des Art. 5 Abs. 4 und 5 EMRK in einem lex specialisVerhältnis zu Art. 13 EMRK stünden und dessen Anforderungen absorbierten.443 Stellt der EGMR hingegen keine substantielle Verletzung von Art. 5 EMRK fest, so bleibt das weitere Vorgehen des Gerichtshofes uneinheitlich: In der Beschwerde 440
Shaipova et al. v. Russland, 10796/04, Urteil vom 6. November 2008, Abs. 124; siehe auch Tagirova et al. v. Russland, 20580/04, Urteil vom 4. Dezember 2008, Abs. 113; Zakriyeva et al. v. Russland, 20583/04, Urteil vom 8. Januar 2009, Abs. 108; Khumaydov und Khumaydov v. Russland, 13862/05, Urteil vom 28. Mai 2009, Abs. 141; Tovsultanova v. Russland, 26974/06, Urteil vom 17. Juni 2010, Abs. 115. Auch schon z. B. in Nesibe Haran v. Türkei, 28299/95, Urteil vom 6. Oktober 2005, Abs. 89 – 91. 441 Tekdag˘ v. Türkei, 27699/95, Urteil vom 15. Januar 2004, Abs. 92 – 99; Tog˘cu v. Türkei, 27601/95, Urteil vom 31. Mai 2005, Abs. 134 – 140; Özgen et al. v. Türkei, 38607/97, Urteil vom 20. September 2005, Abs. 52 – 55; Aydın Eren et al. v. Türkei, 57778/00, Urteil vom 21. Februar 2006, Abs. 60 – 65; S¸eker v. Türkei, 52390/99, Urteil vom 21. Februar 2006, Abs. 94 – 98; Kaya et al. v. Türkei, 4451/02, Urteil vom 24. Oktober 2006, Abs. 50 – 54. 442 Siehe supra Kapitel 2, B.III.1.a) und c). 443 Siehe z. B. Kaplanova v. Russland, 7653/02, Urteil vom 29. April 2008, Abs. 132. Noch weniger spezifisch in Bazorkina v. Russland, 69481/01, Urteil vom 27. Juli 2006, Abs. 165 („no separate issues arise in respect of Article 13 in connection with Article 5 of the Convention, which in itself contains a number of procedural guarantees related to the lawfulness of detention.“); siehe auch Imakayeva v. Russland, 7615/02, Urteil vom 9. November 2006, Abs. 197; Baysayeva v. Russland, 74237/01, Urteil vom 5. April 2007, Abs. 159; Alikhadzhiyeva v. Russland, 68007/01, Urteil vom 5. Juli 2007, Abs. 96.
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Kap. 2: Rechte der Konvention in Fällen des Verschwindenlassens
S¸arlı ging der Gerichtshof auf die Verletzung von Ermittlungspflichten nicht im Rahmen einer Verletzung von Art. 5 EMRK in seinem prozeduralen Gehalt ein, sondern im Rahmen von Art. 13 EMRK.444 In späteren Fällen gegen Russland hingegen ging der EGMR auf Ermittlungspflichten weder im Rahmen der Prüfung von Art. 5 EMRK noch von Art. 13 in Verbindung mit Art. 5 EMRK ein.445 Die Rechtsprechung des EGMR zum Verhältnis von Art. 3 und 13 EMRK ist ebenfalls uneinheitlich.446 Aus ihr geht jedenfalls hervor, dass der EGMR eine Prüfung einer Verletzung von Art. 13 in Verbindung mit Art. 3 EMRK dann nicht für notwendig befindet, wenn sich diese auf die seelischen Leiden der Angehörigen bezieht. Insofern beruhe – so der EGMR – die Feststellung einer Verletzung von Art. 13 in Verbindung mit Art. 2 EMRK auf dem gleichen Unvermögen des Staates.447 Hat der EGMR allerdings eine materielle Verletzung von Art. 3 EMRK in Bezug auf das verschwundene Opfer angenommen, so widerspricht er sich in seiner weiteren Vorgehensweise: In der Beschwerde Dokuyev et al. geht der EGMR auf die Verletzung von Ermittlungspflichten im Rahmen der Prüfung von Art. 3 EMRK sowie von Art. 13 in Verbindung mit Art. 3 EMRK ein.448 In der Beschwerde C ¸ akıcı hingegen hielt es der EGMR im Rahmen der Prüfung von Art. 3 nicht für erforderlich, auf eine Verletzung aufgrund der mangelhaften Ermittlungen einzugehen, da dieser Aspekt unter Art. 13 EMRK behandelt werde.449 Im Rahmen der Prüfung von 444 S¸arlı v. Türkei, 24490/94, Urteil vom 22. Mai 2001, Abs. 69. Siehe schon supra Kapitel 2, B.II.1.a)bb). 445 Shaipova et al. v. Russland, 10796/04, Urteil vom 6. November 2008; Tagirova et al. v. Russland, 20580/04, Urteil vom 4. Dezember 2008; Zakriyeva et al. v. Russland, 20583/04, Urteil vom 8. Januar 2009; Khumaydov und Khumaydov v. Russland, 13862/05, Urteil vom 28. Mai 2009. 446 So auch die allgemeine Einschätzung von Arai, in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak, S. 1014 – 1016; Vermeulen, in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak, S. 411. 447 Sangriyeva et al. v. Russland, 1839/04, Urteil vom 29. Mai 2008, Abs. 109: „As regards the applicants’ reference to Article 3 of the Convention, the Court notes that it has found a violation of the above provision on account of the applicants’ mental suffering as a result of the disappearance of their close relative, their inability to find out what had happened to him and the way the authorities had handled their complaints. However, the Court has already found a violation of Article 13 of the Convention in conjunction with Article 2 of the Convention on account of the authorities’ conduct that led to the suffering endured by the applicants. The Court considers that, in the circumstances, no separate issue arises in respect of Article 13 in connection with Article 3 of the Convention.“ Siehe jüngst auch Vakhayava et al. v. Russland, 1758/04, Urteil vom 29. Oktober 2009, Abs. 186. 448 Dokuyev et al. v. Russland, 6704/03, Urteil vom 2. April 2009, Abs. 110 – 112 (Art. 3), 137 (Art. 13). Auch Richter, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), Kap. 20, Rn. 106 stellt auf eine solche zusätzlich Heranziehung ab, die den Sinn habe, „zumindest indirekt auf die Schaffung innerstaatlicher Abhilfe hinzuwirken“ und die „Tatsachenermittlung im betroffenen Staat zu stärken“. 449 C¸akıcı v. Türkei, 23657/94, Urteil vom 8. Juli 1999, Abs. 92, 93: „The Court does not deem it necessary to make a separate finding under Article 3 in respect of the alleged deficiencies in the investigation, as it examines this aspect under Article 13 of the Convention below.“
B. Einzelne relevante Aspekte
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Art. 13 EMRK ging der EGMR allerdings in der Folge nicht auf die Misshandlung der Opfer ein.450 2. Wertende Betrachtung der Rechtsprechung zu Art. 13 EMRK Der Ansatz des EGMR, Art. 13 EMRK gerade in Fällen des Verschwindenlassens regelmäßig heranzuziehen und eine Verletzung dieses Rechts auf eine wirksame Beschwerde festzustellen, ist vor dem Hintergrund der Funktion, die Art. 13 EMRK erfüllt, zu begrüßen: Art. 13 ist Ausdruck des Grundsatzes der Subsidiarität des Überwachungsmechanismus der EMRK.451 Dies bedeutet zum einen, dass Art. 13 EMRK der sach- und beweisnäheren innerstaatlichen Instanz den Vorrang einräumt.452 Damit kann dem Vorwurf einer Menschenrechtsverletzung sach- und zeitnah nachgegangen werden – anders als dies oft Jahre nach der behaupteten Verletzung und aus der entfernten Straßburger Sicht möglich ist. Damit wirkt Art. 13 EMRK auf die Errichtung oder Verbesserung der innerstaatlichen Rechtsschutzmechanismen hin, die bestimmte Vorzüge für den effektiven Schutz der Menschenrechte aufweisen. Zum anderen bewirken die von Art. 13 EMRK geforderten innerstaatlichen Beschwerdemöglichkeiten, dass Menschenrechtsverletzungen bereits auf der nationalen Ebene abgeholfen wird453 und daher den EGMR nicht mehr beschäftigen. Dadurch kann der Überlastung des EGMR entgegengewirkt werden.454 Steht eine innerstaatliche Beschwerdemöglichkeit offen, so sollten den EGMR weniger Beschwerden überhaupt erreichen. Die Beschwerden, die den Gerichtshof 450 C¸akıcı v. Türkei, 23657/94, Urteil vom 8. Juli 1999, Abs. 109 – 114. Siehe auch Akdeniz et al. v. Türkei, 23954/94, Urteil vom 31. Mai 2001, Abs. 109 – 114: Der EGMR stellte nur auf Art. 2 EMRK im Rahmen der Prüfung von Art. 13 EMRK ab, obwohl er zuvor eine materielle Verletzung von Art. 3 EMRK in Bezug auf die verschwundenen Opfer festgestellt hatte (Abs. 98). Allerdings differenzierte der EGMR zu diesem Zeitpunkt noch nicht, wie später, explizit danach, in Verbindung mit welchem Konventionsrecht Art. 13 EMRK verletzt ist. 451 So auch Richter, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), Kap. 20, Rn. 114; Harris/O’Boyle/Bates/ Buckley, S. 557; Grabenwarter, S. 414 f.; Arai, in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak, S. 998; Hoffmann, S. 145; Strasser, in: FS Wiarda, S. 595 (595 f.); Leach, Taking a Case, S. 161; O’Boyle, in: Bayefsky (Hrsg.), S. 169 (174). Art. 13 EMRK ist insofern auch als Pendant zum Erfordernis der Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges anzusehen. Siehe auch Tas¸ v. Türkei, 24396/94, Bericht vom 9. September 1999, Abs. 253: „The Commission recalls that Article 13 of the Convention, together with Article 1 of the Convention, reflects the fact that the machinery of protection established by the Convention is subsidiary to the national systems“. 452 Richter, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), Kap. 20, Rn. 105. 453 Keller, EuGRZ 35 (2008), S. 359 (361). 454 Siehe Richter, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), Kap. 20, Rn. 112; Helfer, EJIL 19 (2008), S. 125 (146). Siehe auch Tas¸ v. Türkei, 24396/94, Bericht vom 9. September 1999, Abs. 253: „It would emphasise that a failure to provide effectively-functioning mechanisms of redress seriously undermines the protection to be afforded by the Convention, since the Convention organs cannot, and should not be required to, act as a first instance tribunal, a role which the national authorities are in the best position to fulfil.“
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Kap. 2: Rechte der Konvention in Fällen des Verschwindenlassens
dennoch beschäftigen, sollten immerhin eine Aufarbeitung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht durch die innerstaatlichen Instanzen erfahren haben, die der EGMR seinem Urteil zugrunde legen kann. Damit würde die zeit- und ressourcenaufwendige Tatsachenermittlung entfallen und der EGMR könnte eine umfassendere Bearbeitung der wenigen und bereits auf der nationalen Ebene behandelten Fälle vornehmen.455 Schließlich ist Art. 13 EMRK gerade auch für die Beseitigung systematischer oder struktureller Defizite wichtig:456 Er wirkt auf die Schaffung von Mechanismen hin, die über den entschiedenen Fall hinaus in ähnlich gelagerten Fällen eingreifen. a) Verhältnis einer Verletzung von Art. 13 EMRK zur substantiellen Verletzung des Konventionsrechts Richtigerweise fordert der EGMR im Rahmen der Prüfung von Art. 13 EMRK in Fällen des Verschwindenlassens lediglich die vertretbare Behauptung einer Verletzung des jeweiligen anderen Konventionsrechts, an das Art. 13 EMRK anknüpft. Dennoch scheint der EGMR in einzelnen Fällen des Verschwindenlassens gegen Russland die Prüfung von Art. 13 EMRK und die Feststellung von dessen Verletzung davon abhängig zu machen, ob zuvor eine Verletzung dieses anderen Rechts in seinem substantiellen Gehalt festgestellt wurde.457 Damit wäre die Feststellung einer Verletzung von Art. 13 EMRK doch nicht unabhängig davon, ob der EGMR zuvor eine Verletzung eben dieses Konventionsrechts in substantieller Hinsicht angenommen hat.458 In diesen Fällen ging der EGMR – zu Recht459 – nicht auf eine Verletzung von Art. 13 in Verbindung mit Art. 2 EMRK in seinem prozeduralen Gehalt ein, sondern verwies auf die Feststellung einer Verletzung von Art. 2 EMRK in dieser Hinsicht. Er sprach darüber hinaus allerdings überhaupt nicht an, ob Art. 13 in Verbindung mit Art. 2 EMRK in seinem substantiellen Gehalt verletzt sei: Zwar war Art. 2 EMRK in dieser Hinsicht nicht verletzt, dies schließt aber nicht aus, dass eine solche Verletzung vertretbar behauptet wurde. Der EGMR hätte dies zumindest prüfen müssen; es ist auch davon auszugehen, dass zumindest die vertretbare Behauptung einer substantiellen Verletzung von Art. 2 EMRK durchaus vorlag.
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Vgl. auch Harris/O’Boyle/Bates/Buckley, S. 557. So auch Richter, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), Kap. 20, Rn. 114. 457 Shaipova et al. v. Russland, 10796/04, Urteil vom 6. November 2008, Abs. 124; Tagirova et al. v. Russland, 20580/04, Urteil vom 4. Dezember 2008, Abs. 113; Zakriyeva et al. v. Russland, 20583/04, Urteil vom 8. Januar 2009, Abs. 108; Khumaydov und Khumaydov v. Russland, 13862/05, Urteil vom 28. Mai 2009, Abs. 141. 458 Eine solche Unabhängigkeit fordert auch Altermann, S. 91 f. 459 Dazu infra Kapitel 2, B.III.2.c). 456
B. Einzelne relevante Aspekte
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b) Umfang der Ermittlungspflichten nach Art. 13 EMRK und nach anderen Konventionsrechten In Fällen des Verschwindenlassens betont der EGMR zu Recht die Bedeutung von Ermittlungen als Teil des Rechts auf eine wirksame Beschwerde. Denn diese Sachverhalte kennzeichnet gerade die Ungewissheit der Angehörigen in Bezug auf das Schicksal der verschwundenen Person: Ein Verfahren, das beispielsweise der Haftüberprüfung dient, ist zum Scheitern verurteilt, wenn gerade die Inhaftierung nicht eingestanden wird. Die Aufdeckung des tatsächlichen Geschehens, insbesondere der Verantwortlichkeiten, ist damit Grundlage für jede weitere Beschwerde, auch für eine solche, mit der Entschädigung erlangt werden kann. Gerade in den Entscheidungen, die in Fällen des Verschwindenlassens gegen Russland ergangen sind, ist das Recht auf eine wirksame Beschwerde damit in erster Linie ein Recht auf die Durchführung von Ermittlungen. Allerdings steht außer Frage, dass der Umfang der Pflichten, die aus dem Recht auf eine wirksame Beschwerde insgesamt folgen, weiter ist als die prozeduralen Pflichten aus den materiellen Konventionsrechten. Insbesondere sind die Ermittlungen im Rahmen von Art. 13 EMRK auch als Vorbedingung der Effektivität jeder weiteren Beschwerdemöglichkeit, insbesondere eines zivilrechtlichen Anspruchs auf Zahlung einer Entschädigung, relevant – auf diese Verknüpfung weist der EGMR denn auch regelmäßig hin.460 Hingegen erscheint es zweifelhaft, ob sich der Umfang der Ermittlungspflichten nach Art. 13 EMRK tatsächlich von jenen Ermittlungspflichten unterscheidet, die aus den materiellen Konventionsrechten folgen. So ist es zwar gerechtfertigt, von einer anderen Zielrichtung der Ermittlungen nach Art. 13 EMRK auszugehen: Diese sind auch oder sogar in letzter Konsequenz darauf ausgerichtet, dass eine zivilrechtliche Beschwerde möglich wird mit der Chance, Entschädigung zu erlangen. Die Ermittlungspflichten aus den materiellen Konventionsrechten verfolgen hingegen primär das Ziel, die strafrechtliche Verantwortung festzustellen.461 Ob der EGMR darüber hinaus aber auch gesteigerte Anforderungen an die Ermittlungen an sich stellt, lässt sich der Rechtsprechung nicht eindeutig entnehmen.462 Der oft verwendete Satz – „The Court further reiterates that the requirements of Article 13 are broader than a Contracting State’s obligation under Article 2 to conduct an effective investigation“463 – kann gerade auch so verstanden werden, dass 460
Auf die Entschädigung als weitergehende Anforderung stellen auch Altermann, S. 87; Dröge, S. 69 und Irmscher, EuGRZ 33 (2006), S. 11 (15) ab; vgl. auch Mowbray, S. 212 in seiner Analyse des Urteils Kaya v. Türkei. 461 Siehe White/Ovey, S. 158. Darauf stellt auch Irmscher, EuGRZ 33 (2006), S. 11 (15) ab. 462 Einen ganz anderen Ansatz vertritt Streuer, S. 308 f., die der Rechtsprechung zu entnehmen scheint, dass die Pflichten aus Art. 13 EMRK auch weniger weit reichend können als jene aus den Art. 2, 3 oder 5 EMRK. Zu den Widersprüchen in dieser Argumentation siehe überzeugend Altermann, S. 87 – 89. 463 So z. B. in Bazorkina v. Russland, 69481/01, Urteil vom 27. Juli 2006, Abs. 161.
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Kap. 2: Rechte der Konvention in Fällen des Verschwindenlassens
er sich nicht auf den Umfang der Ermittlungen nach Art. 13 EMRK, sondern auf den Umfang der gesamten Pflichten nach Art. 13 EMRK bezieht. Auf eine Kongruenz der Ermittlungspflichten weist demgegenüber gerade hin, dass der EGMR im Rahmen von Art. 13 EMRK gar nicht umfassend prüft, ob effektive Ermittlungen durchgeführt wurden. Vielmehr stellt er lediglich fest, dass die Ermittlung ineffektiv gewesen sei und jede weitere Beschwerdemöglichkeit, auch zivilrechtlicher Art, vereitelt habe. Zum Teil mit, zum Teil ohne expliziten Verweis auf die Prüfung des prozeduralen Gehalts von Art. 2 EMRK nimmt der EGMR damit Bezug auf die bereits erfolgte Prüfung der Ermittlungspflichten im Rahmen von Art. 2 EMRK.464 Diese Vorgehensweise spricht entscheidend dafür, dass sich die Ermittlungspflichten inhaltlich entsprechen.465 Auch eine Analyse der Anforderungen, die der EGMR an die Ermittlungspflichten jeweils stellt, rechtfertigt nicht den Schluss, dass die Ermittlungspflichten im Rahmen von Art. 13 EMRK weiterreichend sind.466 So ist die Beteiligung der Angehörigen des Opfers an den Ermittlungen in beiden Konstellationen vorgesehen.467 Auch in anderer Hinsicht entsprechen sich die Pflichten,468 zum Beispiel in Bezug auf die Anforderungen an die rechtliche und tatsächliche Unabhängigkeit der ermittelnden Stelle. Schließlich müssen auch die Ermittlungen nach Art. 13 EMRK dazu geeignet sein, zur Identifizierung und Bestrafung der Verantwortlichen zu führen und nicht lediglich dazu, einen zivilrechtlichen Entschädigungsprozess möglich zu machen.469 Im Ergebnis sprechen daher die besseren Argumente dafür, davon auszugehen, dass sich die Ermittlungspflichten, die sich aus Art. 13 EMRK ergeben, mit denen decken, die aus materiellen Konventionsrechten folgen.470 c) Anknüpfungspunkt von Art. 13 EMRK Die zu beobachtende Tendenz des EGMR, im Urteil deutlich hervorzuheben, in Verbindung mit welchem anderen Konventionsrecht eine Verletzung des akzessorischen Art. 13 EMRK geprüft wird, hat erheblich zur weiteren Präzisierung der 464
So z. B. in Magomadova et al. v. Russland, 33933/05, Urteil vom 17. September 2009, Abs. 129. Mit explizitem Verweis in Bazorkina v. Russland, 69481/01, Urteil vom 27. Juli 2006, Abs. 163. 465 So auch die Einschätzung von Mowbray, S. 219. 466 Siehe aber Richter, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), Kap. 20, Rn. 106: Art. 13 EMRK sichere einen effektiven Zugang zum Untersuchungsverfahren und die Erlangung von Entschädigung in Bezug auf Art. 3 EMRK und van der Wilt/Lyngdorf, International Criminal Law Review 9 (2009), S. 39 (49). 467 So auch Irmscher, EuGRZ 33 (2006), S. 11 (15). Siehe aber Grabenwarter, S. 416, der in dieser Hinsicht zu differenzieren scheint. 468 Siehe auch Altermann, S. 86 f.; Mowbray, S. 219; Harris/O’Boyle/Bates/Buckley, S. 573. 469 Siehe auch Altermann, S. 88 f. 470 So auch Altermann, S. 85, 89; Irmscher, EuGRZ 33 (2006), S. 11 (15): Art. 13 EMRK sei lex generalis hinsichtlich strafrechtlicher Ermittlungen.
B. Einzelne relevante Aspekte
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Rechtsprechung beigetragen. Die Anforderungen, die der EGMR an die wirksame Beschwerde stellt, können so in eine Verbindung mit dem Gewicht des jeweils anderen Konventionsrechts gebracht werden, wie es der EGMR selbst fordert. Aus dem deckungsgleichen Umfang der jeweiligen Ermittlungspflichten aus Art. 13 EMRK und aus dem anderen Konventionsrecht, insbesondere aus den Art. 2, 3 und 5 EMRK, folgt, dass der EGMR zu Recht eine Verletzung von Art. 13 EMRK in Verbindung mit dem prozeduralen Gehalt des jeweils anderen Konventionsrechts nicht annimmt. Anknüpfungspunkt der vertretbaren Behauptung der Verletzung eines anderen Rechts kann richtigerweise nur eine Verletzung von dessen substantiellem Gehalt sein,471 ohne dass der EGMR allerdings eine solche Verletzung auch tatsächlich hätte feststellen müssen. Eine Ermittlungspflicht daran zu knüpfen, dass vertretbar behauptet wird, eine deckungsgleiche Ermittlungspflicht sei verletzt worden, erweist sich nicht als sinnvoll,472 sondern vielmehr als überflüssig. Die in Art. 13 EMRK darüber hinaus enthaltenen Anforderungen an die Beschwerde, wie die Möglichkeit, zivilrechtlich Entschädigung zu erlangen, scheint der EGMR nicht an die Verletzung prozeduraler Pflichten zu knüpfen: So soll die Entschädigung insbesondere nicht für die mangelhafte Ermittlung im Rahmen des prozeduralen Gehalts von Art. 2, 3 und/oder 5 EMRK möglich sein, sondern vielmehr für die Verletzung dieser Konventionsrechte in materieller Hinsicht.473 Der EGMR sollte in den Fällen des Verschwindenlassens eine Verletzung von Art. 13 EMRK nicht nur regelmäßig an die vertretbare Behauptung einer Verletzung von Art. 2 EMRK in substantieller Hinsicht anknüpfen, sondern auch in Bezug auf die Art. 3, 5 und 8 EMRK prüfen. In Hinblick auf Art. 3 EMRK könnte Anknüpfungspunkt von Art. 13 EMRK zum einen die vertretbare Behauptung einer Verletzung von Art. 3 EMRK in Bezug auf das Opfer sein. Ob eine solche Verletzung vertretbar behauptet wird, sollte der EGMR prüfen, auch dann, wenn er – wie meist – zuvor eine solche Verletzung von Art. 3 EMRK aus Mangel an Beweisen nicht feststellen konnte. Diese Feststellung schließt nicht aus, dass zumindest eine vertretbare Behauptung vorliegt und damit ein Anknüpfungspunkt für die Feststellung einer Verletzung von Art. 13 EMRK. Zum anderen könnte der EGMR die Feststellung einer Verletzung von Art. 13 EMRK daran anknüpfen, dass eine vertretbare Behauptung einer Verletzung von Art. 3 EMRK in Bezug auf die seelischen Leiden der Angehörigen vorliegt. Eine solche Verletzung von Art. 3 EMRK stellt der Gerichtshof regelmäßig fest, so dass es außer Zweifel steht, dass eine vertretbare Behauptung existiert. Der Gerichtshof 471 So auch Altermann, S. 82 – 84, 92; Strasser, in: FS Wiarda, S. 595 (599). Dies scheinen auch Harris/O’Boyle/Bates/Buckley, S. 574 zu teilen, die eine Anknüpfung an die Verletzung von Schutzpflichten annehmen. 472 So auch Altermann, S. 75, 83 f. 473 In Bazorkina v. Russland, 69481/01, Urteil vom 27. Juli 2006, Abs. 159 weist Russland allerdings auch darauf hin, dass Entschädigung für die mangelhafte Ermittlung möglich sei. Die restlichen Ausführungen Russlands sowie die des EGMR (Abs. 162) stellen allerdings auf die vertretbare Behauptung der substantiellen Verletzung von Art. 2 und 3 EMRK ab.
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Kap. 2: Rechte der Konvention in Fällen des Verschwindenlassens
lehnt eine Feststellung allerdings regelmäßig ab mit dem Argument, eine Prüfung unter Art. 13 in Verbindung mit Art. 3 EMRK sei in dieser Konstellation bereits von der Prüfung des Art. 13 in Verbindung mit Art. 2 EMRK erfasst.474 Dem liegt wohl zugrunde, dass die mangelhafte Ermittlung zum einen zumindest eine Ursache für das seelische Leiden der Angehörigen und zum anderen Anknüpfungspunkt der Feststellung einer Verletzung von Art. 13 in Verbindung mit Art. 2 EMRK – dann in seinem prozeduralen Gehalt – ist. Ist allerdings davon auszugehen, dass Anknüpfungspunkt von Art. 13 EMRK nur die vertretbare Behauptung einer Verletzung eines Konventionsrechts in seinem substantiellen und nicht in seinem prozeduralen Gehalt sein kann,475 so erweist sich diese Begründung als nicht tragfähig. Der Vorwurf, Art. 13 EMRK sei in Verbindung mit Art. 3 EMRK in Bezug auf die Leiden der Angehörigen verletzt, kann damit nicht von der Feststellung einer Verletzung von Art. 13 in Verbindung mit Art. 2 EMRK erfasst sein. Auch unter der Prämisse, dass Art. 13 EMRK zumindest auch an die prozedurale Verletzung des Konventionsrechts anknüpft, ist die Argumentation des EGMR allerdings nicht zwingend: Denn die seelischen Leiden der Angehörigen werden nicht immer nur durch die mangelnden Ermittlungen verursacht,476 welche einer Verletzung von Art. 2 EMRK in seinem prozeduralen Gehalt zugrunde liegen. Schließlich ist jedenfalls eine separate Feststellung einer Verletzung von Art. 13 in Verbindung mit Art. 3 EMRK im Lichte eines effektiven Menschenrechtsschutzes vorzuziehen, da nur auf diese Weise die besondere Dimension des Verschwindenlassens dargestellt wird. Aus den gleichen Erwägungen sollte der EGMR auch auf eine Verletzung von Art. 13 EMRK in Verbindung mit der substantiellen Verletzung der Angehörigen in Art. 8 EMRK eingehen. Der EGMR lehnt eine Anknüpfung von Art. 13 EMRK an Art. 5 EMRK mit dem Argument ab, die speziellen Garantien des Art. 5 Abs. 4 und 5 EMRK stünden in 474 So in Kukayev v. Russland, 29361/02, Urteil vom 15. November 2007, Abs. 119: „As regards the applicants’ reference to Article 13 in conjunction with Article 3 of the Convention, the Court notes that it has found above that the applicant endured severe mental suffering on account of, inter alia, the authorities’ inadequate investigation into his son’s disappearance (see paragraphs 108 – 110 above) and that it has also found a violation of Article 13 of the Convention in connection with Article 2 of the Convention on account of lack of effective remedies in a situation, such as the applicant’s one, where the investigation was ineffective (see paragraph 117 above). Having regard to these findings, the Court is of the opinion that the applicant’s complaint under Article 13 in conjunction with Article 3 is subsumed by those under Article 13 in conjunction with Article 2 of the Convention. It therefore does not consider it necessary to examine the complaint under Article 13 in connection with Article 3 of the Convention.“ Eine noch andere Sichtweise vertraten die Kommissionsmitglieder Trechsel, Norgaard, Martinez, Ress und Herndl in ihrer abweichenden Meinung in Kurt v. Türkei, 24276/94, Bericht vom 5. Dezember 1996. Ihrer Ansicht nach schließe die Feststellung einer Verletzung von Art. 13 EMRK aus, dass die Beschwerdeführer in Art. 3 EMRK verletzt seien, da: „the applicant’s own sufferings are taken into account in connection with the allegations of a lack of an effective redress“. 475 Zu diesem Ergebnis siehe supra Kapitel 2, B.III.2.c). 476 Siehe dazu supra Kapitel 2, B.I.2.b)bb).
B. Einzelne relevante Aspekte
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einem lex specialis-Verhältnis zu Art. 13 EMRK und absorbierten dessen Anforderungen.477 Diese Absätze enthalten das Recht zu beantragen, dass ein Gericht über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung entscheidet und einen Anspruch auf Entschädigung. Entgegen der Argumentation des EGMR erscheint es vorzugswürdig, in Fällen des Verschwindenlassens eine Verletzung von Art. 13 in Verbindung mit Art. 5 EMRK zu prüfen: So steht zum einen bereits nicht lediglich eine Verletzung von Art. 5 Abs. 4 und 5 EMRK in den relevanten Fällen in Rede, vielmehr stellt das Verschwindenlassen eine komplette Negation des Rechts auf Freiheit dar. Art. 13 EMRK würde damit nicht lediglich an Art. 5 Abs. 4 und 5 EMRK anknüpfen, sondern an den gesamten Artikel. Zum anderen ist der Ansicht des EGMR zu widersprechen, dass Art. 5 Abs. 4 und 5 EMRK nicht Anknüpfungspunkt von Art. 13 EMRK sein kann.478 Denn es ist möglich und sinnvoll, dass Art. 13 EMRK in Verbindung mit Art. 5 Abs. 4 und 5 EMRK fordert, eine Ermittlung in Bezug auf die vertretbare Behauptung einer Verletzung der in Art. 5 Abs. 4 und 5 EMRK garantierten Rechte durchzuführen. Eine solche Ermittlung, ob eine richterliche Haftprüfung vorgenommen wurde, ist gerade nicht Gegenstand der Garantie des Art. 5 Abs. 4 EMRK – jedenfalls nicht seines substantiellen Gehalts. Ebenso verhält es sich in Bezug auf Art. 5 Abs. 5 EMRK. d) Verhältnis von Art. 13 EMRK zu den Ermittlungspflichten Vor diesem Hintergrund bleibt die Frage zu beantworten, in welchem Verhältnis Art. 13 in Verbindung mit Art. 2, 3 und/oder 5 EMRK zu den Ermittlungspflichten aus den materiellen Konventionsrechten, insbesondere aus den bereits genannten Art. 2, 3 und 5 EMRK, steht. Es wurde bereits festgestellt, dass Art. 13 EMRK nicht an die prozedurale Verletzung eines anderen Konventionsrechts anknüpft. In Bezug auf das Verhältnis von Art. 13 EMRK zu den Ermittlungspflichten aus den Art. 2, 3 und 5 EMRK bieten sich drei Sichtweisen an: Zunächst könnte die Prüfung von Art. 13 EMRK in einem Alternativverhältnis zu der Prüfung von Ermittlungspflichten aus den materiellen Konventionsrechten stehen. Ein solches Alternativverhältnis könnte zum einen zur Folge haben, dass der EGMR lediglich eine Ermittlungspflicht aus den materiellen Konventionsrechten prüft und eine Verletzung feststellt. Eine Prüfung von Art. 13 EMRK unterbliebe.479 Zum anderen könnte sich die Prüfung auf die Ermittlungspflichten aus Art. 13 EMRK konzentrieren. Statt in
477
Siehe supra Kapitel 2, B.III.1.c). So auch Grabenwarter, S. 417; Arai, in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak, S. 1017 und Grabenwarter, in: Ehlers (Hrsg.), S. 207; wohl auch Claude, Intercultural Human Rights Law Review 5 (2010), S. 407 (453 f.). Gegen die Anknüpfung aber Harris/O’Boyle/Bates/ Buckley, S. 561; Frowein, in: Frowein/Peukert, Art. 13, Rn. 10; Strasser, in: FS Wiarda, S. 595 (597, 598 f.). 479 So Irmscher, EuGRZ 33 (2006), S. 11 (15): Art. 13 EMRK werde konsumiert und sei nur verletzt, wenn Entschädigungsrechtsbehelfe nicht zur Verfügung standen. 478
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Kap. 2: Rechte der Konvention in Fällen des Verschwindenlassens
einem alternativen Verhältnis zu stehen, könnte der EGMR die Pflichten schließlich auch kumulativ heranziehen. Die Rechtsprechung ist insoweit, wie gesehen, in verschiedener Hinsicht uneinheitlich:480 So unterscheidet sie sich in Hinblick auf das Konventionsrecht, in Verbindung mit dem der EGMR eine Verletzung von Art. 13 EMRK prüft. Aber auch im Zusammenhang mit einem bestimmten Konventionsrecht ist oft keine klare Linie ersichtlich.481 Für die erste Möglichkeit – die Feststellung nur einer Verletzung des prozeduralen Gehalts eines materiellen Konventionsrechts – sprechen sich Pettiti und Richter Gölcüklü aus: Es sei überflüssig, neben einer Verletzung von Konventionsrechten in ihrem prozeduralen Gehalt auch eine Verletzung von Art. 13 EMRK anzunehmen.482 Beiden Verletzungen lägen die gleichen tatsächlichen Umstände zugrunde.483 Gegen die alleinige Heranziehung von Art. 13 EMRK wird vorgebracht, dass von Art. 13 EMRK, anders als von Art. 2 und 3 EMRK, im Notstandsfall abgewichen werden könne.484 Die besseren Argumente sprechen allerdings für eine kumulative Anwendung beider Ermittlungspflichten:485 So unterscheiden sich Art. 13 EMRK und die Ermittlungspflichten aus den materiellen Konventionsrechten in ihrer jeweiligen Funktion:486 Art. 13 EMRK ist in erster Linie Ausdruck der Subsidiarität des Überwachungssystems der Konvention. Als solche zielt die Norm auf die Schaffung oder Verbesserung innerstaatlicher Verfahrensstrukturen ab; sie will auf diese Weise die effektive Wirksamkeit der Konvention sicherstellen. Die Funktion der Ermittlungspflichten aus den materiellen Konventionsrechten ist hingegen nicht in vergleichbarer Weise darauf ausgerichtet, die Subsidiarität des Konventionssystems sicherzustellen. Vielmehr verlängern die Ermittlungspflichten den jeweiligen Schutz des materiellen Konventionsrechts und wirken auch generalpräventiv.487 Ein ku480
So auch die Einschätzung von Irmscher, EuGRZ 33 (2006), S. 11 (15). Siehe supra Kapitel 2, B.III.1.c). 482 Drzemczewski/Giakoumopoulos, in: Pettiti/Decaux/Imbert (Hrsg.), Art. 13, S. 460; Kaya v. Türkei, 22729/93, Urteil vom 19. Februar 1998, abweichende Meinung von Richter Gölcüklü, Abs. 13; Ergi v. Türkei, 23818/94, Urteil vom 28. Juli 1998, abweichende Meinung von Richter Gölcüklü, Abs. 1. 483 Akdeniz et al. v. Türkei, 23954/94, Urteil vom 31. Mai 2001, teilweise abweichende Meinung von Richter Gölcüklü, Abs. 3: „Under Article 13 no separate issue arises because the Court found a violation of Article 2 in its procedural aspect, so that the same facts are at issue.“ 484 Harris/O’Boyle/Bates/Buckley, S. 109. 485 So im Ergebnis auch Altermann, S. 91; Dröge, S. 70 (allerdings unter der Prämisse, dass sich die Pflichten unterschieden); wohl auch Grabenwarter, S. 416; Frowein, in: GS Ryssdal, S. 545 (550); Leach, Taking a Case, S. 186 f., 202 f. Siehe auch Richter, in: Grote/ Marauhn (Hrsg.), Kap. 20, Rn. 104, 106 zu Art. 2 und 3 EMRK. Arai, in: van Dijk/van Hoof/ van Rijn/Zwaak, S. 1008 stellt ebenfalls die kombinierte Kraft der kumulativen Verwendung heraus. 486 Auf die Funktion stellt auch Richter, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), Kap. 20, Rn. 106 ab in Bezug auf Art. 3 EMRK. 487 Siehe zur Funktion dieser Ermittlungspflichten supra Kapitel 2, B.II.1.d)bb). 481
B. Einzelne relevante Aspekte
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mulatives Heranziehen beider Ermittlungspflichten würde mithin beiden Funktionen zur Geltung verhelfen. Des Weiteren unterscheiden sich zwar, wie gesehen, die Ermittlungspflichten nicht ihrem Umfang nach, aber in Hinblick auf ihre Zielrichtung. Auch dieser Unterschied legt eine kumulative Verwendung nahe: Die Feststellung, dass Ermittlungspflichten im Rahmen von Art. 13 EMRK verletzt wurden, verbindet der EGMR damit, dass dadurch auch weitere Beschwerdemöglichkeiten vereitelt wurden, insbesondere diejenige, die auf die Erlangung einer Entschädigung auf zivilrechtlichem Wege ausgerichtet ist. Damit geht die Feststellung einer Verletzung von Art. 13 EMRK in Verbindung mit Art. 2, 3 und/oder 5 EMRK über die Feststellung einer Verletzung der Ermittlungspflichten aus diesen Konventionsrechten hinaus und ist daher keinesfalls überflüssig.488 Aber auch die Feststellung einer Verletzung der Art. 2, 3 und/oder 5 EMRK in ihrem prozeduralen Gehalt ist nicht unnötig: Sie macht die enge Verknüpfung der Ermittlungspflichten mit dem jeweiligen materiellen Konventionsrecht deutlich.489 Schließlich spricht für eine kumulative Prüfung der Ermittlungspflichten auch, eine größtmögliche Effektuierung des Menschenrechtsschutzes zu erreichen. Eine Rechtsprechung des EGMR, die in Zukunft konstant auf Ermittlungspflichten sowohl im Rahmen der Prüfung der Art. 2, 3 und 5 EMRK als auch in Bezug auf Art. 13 in Verbindung mit diesen Konventionsrechten eingeht, ist auch nicht als verwirrend zu bezeichnen,490 sondern würde vielmehr die bisherige Verwirrung beseitigen. e) Fazit Im Ergebnis sollte der EGMR daher in Zukunft Ermittlungspflichten separat im Rahmen der Prüfung der materiellen Konventionsrechte ansprechen, insbesondere auch konsequent in Verbindung mit Art. 3 und 5 EMRK neben Art. 2 EMRK.491 Kumulativ sollte der Gerichtshof ebenfalls Art. 13 EMRK in Verbindung mit der vertretbaren Behauptung einer Verletzung dieser Rechte in ihrem substantiellen Gehalt prüfen, ohne dabei in seiner Vorgehensweise zwischen den Artikeln zu unterscheiden. Aus der Prüfung sollte klar hervorgehen, in Verbindung mit welchem Konventionsrecht der Gerichtshof Art. 13 EMRK heranzieht. Die Verletzung von Art. 3 EMRK in seinem substantiellen Gehalt kann sich dabei auch auf die Angehörigen als Beschwerdeführer beziehen. Eine Verletzung von Art. 13 EMRK sollte der Gerichtshof auch ex officio nach dem Grundsatz iura novit curia prüfen.492 488 Auf diesen Aspekt weisen auch Harris/O’Boyle/Bates/Buckley, S. 573 hin. Nach Mowbray, S. 220 und Harris/O’Boyle/Bates/Buckley, S. 574 könne die Rechtsprechung so verstanden werden, dass eine kumulative Anwendung dann angenommen wird, wenn die Untersuchung die Grundlage dafür ist, dass andere Beschwerden ergriffen werden können. 489 Altermann, S. 91. 490 So aber Pérez Solla, S. 76 in Bezug auf Art. 3 und 13 EMRK. 491 Siehe zu diesem Ergebnis bereits supra Kapitel 2, B.II.1.d). 492 So auch Strasser, in: FS Wiarda, S. 595 (602). Zu dieser Fähigkeit des EGMR allgemein siehe Leach, Taking a Case, S. 173 f.
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Kap. 2: Rechte der Konvention in Fällen des Verschwindenlassens
C. Zusammenfassende Bewertung Die Untersuchung der Rechtsprechung der Konventionsorgane zeigt auf, dass der EGMR zwar auf eine Vielzahl einzelner Konventionsartikel abstellt, jedoch nicht den Versuch unternimmt, das Phänomen des Verschwindenlassens ganzheitlich zu erfassen. Die Prüfung des Gerichtshofes ist ausschließlich auf die einzelnen Konventionsbestimmungen ausgerichtet. Es erfolgen keine einleitenden, allgemeinen Ausführungen zum Phänomen Verschwindenlassen. Auch nimmt der EGMR nur selten493 Bezug auf internationale Instrumente, die sich speziell gegen das Verschwindenlassen von Personen richten. Dieses Vorgehen lässt sich damit erklären, dass der EGMR nach Art. 34 EMRK damit befasst ist zu entscheiden, ob der Beschwerdeführer „in einem der in dieser Konvention oder den Protokollen dazu anerkannten Rechte verletzt“ ist. Allerdings schließt dies nicht per se aus, dass der EGMR die Prüfung der Verletzung einzelner Konventionsrechte in einen größeren Kontext einordnet und auch andere internationale Instrumente zum Schutz vor dem Verschwindenlassen als Auslegungshilfe heranzieht. Für die Entwicklung einer ganzheitlicheren Vorgehensweise könnte sich der EGMR in Zukunft an der Rechtsprechung des IAGMR orientieren. Bezüge zu dessen Ansatz finden sich bereits im Bericht der Kommission im Fall Kurt, ohne dass die Konventionsorgane diese Herangehensweise allerdings weiter verfolgten: „While it notes that the Inter-American Court has held that the forced disappearance of human beings is a multiple and continuous violation of many rights under the American Convention, in the absence of more concrete indicators, the Commission considers that the disappearance of a person while in official custody concerns primarily issues of deprivation of liberty and security of person.“494
Aus der Rechtsprechung des IAGMR geht hervor, dass dieser das Verschwindenlassen als einen einheitlichen Vorgang begreift und einen ganzheitlichen Ansatz verfolgt:495 Seiner Ansicht nach erschöpft sich das Phänomen des Verschwindenlassens nicht in der Aneinanderreihung verschiedener Handlungen, die gegebenenfalls jede für sich Menschenrechte verletzen. Das Verschwindenlassen stellt mehr als eine unmittelbare Verletzung zahlreicher Konventionsbestimmungen dar; die Bedeutung geht über die Summe der einzelnen Verletzungen hinaus:
493
So z. B. in Varnava et al. v. Türkei, 16064/90, 16065/90, 16066/90, 16068/90, 16069/ 90, 16070/90, 16071/90, 16072/90, 16073/90, Urteil der Großen Kammer vom 18. September 2009, Abs. 89 – 92 unter Bezugnahme auf die Erklärung gegen das Verschwindenlassen, die Internationale Konvention zum Schutz aller Personen gegen das Verschwindenlassen sowie die Inter-amerikanische Konvention gegen das Verschwindenlassen. Siehe aber Leach, Taking a Case, S. 172 f. mit Fällen, in denen der EMGR andere internationale Instrumente heranzog. 494 Kurt v. Türkei, 24276/94, Bericht vom 5. Dezember 1996, Abs. 201 (Hervorhebung nicht im Original). 495 So auch Grammer, S. 47 f.; Claude, Intercultural Human Rights Law Review 5 (2010), S. 407 (429 – 431).
C. Zusammenfassende Bewertung
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„The phenomenon of disappearances is a complex form of human rights violation that must be understood and confronted in an integral fashion. […] The forced disappearance of human beings is a multiple and continuous violation of many rights under the Convention that the States Parties are obligated to respect and guarantee. […] The practice of disappearances, in addition to directly violating many provisions of the Convention, such as those noted above, constitutes a radical breach of the treaty in that it shows a crass abandonment of the values which emanate from the concept of human dignity and of the most basic principles of the inter-American system and the Convention. The existence of this practice, moreover, evinces a disregard of the duty to organize the State in such a manner as to guarantee the rights recognized in the Convention, as set out below.“496
Eine solche ganzheitliche Herangehensweise an das komplexe Phänomen Verschwindenlassen befreit den EGMR nicht davon, wie zuvor die Prüfung der einzelnen Konventionsbestimmungen zu betreiben und je nach Lage der Tatsachen und nach der rechtlichen Bewertung im Einzelfall eine Verletzung festzustellen.497 Allerdings könnte ein solches ganzheitliches Vorgehen dazu beitragen, eine größere Kontinuität der Rechtsprechung in Fällen des Verschwindenlassens herzustellen. Der EGMR könnte den zu entscheidenden Einzelfall in einer einleitenden Betrachtung in den weiteren Kontext des Phänomens Verschwindenlassen und der bisherigen Rechtsprechung stellen und im Zuge dessen darauf eingehen, welche Konventionsbestimmungen er im Folgenden prüfen wird.498 Aus diesen Ausführungen könnte hervorgehen, dass sich das Ausmaß der Menschenrechtsverletzungen gerade nicht nur aus der Summe der einzelnen Verstöße gegen die Konventionsbestimmungen ergibt, sondern darüber hinausgeht. Die einzelnen Verletzungshandlungen, die der EGMR im Rahmen der weiteren Prüfung der jeweiligen Konventionsverletzung heranzieht, könnten in diesen Ausführungen in einen Kontext gestellt werden, um die Komplexität des Verbrechens aufzuzeigen. Damit würde der EGMR ein Gegengewicht zur späteren Separierung des Vorgangs in verschiedene einzelne Verletzungshandlungen setzen. Auch könnte der EGMR im Zuge dessen aufzeigen, dass Opfer des Verschwindenlassens nicht nur die verschwundene Person ist, sondern gerade auch die Beschwerdeführer als deren nahe Angehörige.499 Der EGMR könnte ebenfalls auf die besondere Zielrichtung des Verschwindenlassens auch gegen die Gesellschaft als Ganzes oder bestimmte Gruppen eingehen. Dieses Vorgehen hätte nicht zur Folge, dass das Verfahren unzulässigerweise einer actio popularis entspricht, da die Feststellungen, insbesondere im Tenor, nach wie vor auf den konkreten Sachverhalt bezogen wären.
496 Velásquez-Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Series C Nr. 4, Abs. 150, 155, 158 (Hervorhebungen nicht im Original). Siehe auch Godínez-Cruz v. Honduras, Merits, Urteil vom 20. Januar 1989, Series C Nr. 5, Abs. 158 ff. Siehe Janis/Kay/ Bradley, S. 167 mit der Ansicht, dies entspräche dem Vorgehen des EGMR. 497 Zu den Vorteilen des „multiple-rights approach“ siehe Ott, S. 129. 498 Siehe auch Claude, Intercultural Human Rights Law Review 5 (2010), S. 407 (433), die ebenfalls dafür eintritt, dass der EGMR sich an dem Vorgehen des IAGMR orientiert. 499 Vgl. auch Grammer, S. 54.
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Kap. 2: Rechte der Konvention in Fällen des Verschwindenlassens
Das besondere Ausmaß der Menschenrechtsverletzungen in Fällen des Verschwindenlassens hat der EGMR bislang in der Weise zum Ausdruck gebracht, dass er eine qualifizierte Verletzung bestimmter Konventionsartikel feststellte.500 So bezeichnet er eine Verletzung von Art. 5 EMRK meist als sehr oder besonders schwer („very/particularly grave/serious“)501 und spricht davon, dass dieses Recht komplett negiert werde.502 In Hinblick auf Art. 2 EMRK betont der EGMR, dass dieser Artikel eine der grundlegendsten Bestimmungen der Konvention ist.503 Erstere Vorgehensweise kritisierte Richter Gölküklü in der Beschwerde Akdeniz et al. mit den Worten: „In the Convention system there is either ,violation‘ or ,no violation‘. There is no ,most grave violation‘ (paragraph 106), ,particularly grave violation‘ (paragraph 108), ,serious violations‘ (paragraph 131) or ,gravity of violation‘. Qualifying adjectives of this kind must be avoided in the text of judicial decisions, which must always remain neutral by employing dispassionate language.“504
Während Richter Gölküklü zwar darin zuzustimmen ist, dass nicht rechtliche, sondern gefühlsbetonte Aussagen und Qualifizierungen in einem Urteil fehl am Platze sind, ist die Betonung der Schwere der Verletzung durch den EGMR dennoch zu begrüßen. Die Qualifizierung einer Verletzung der Konvention als schwer, sehr schwer oder besonders schwer ist zwar in der EMRK und der Verfahrensordnung (VerfO)505 nicht explizit vorgesehen; sie sollte aber als von der Freiheit der Richter bei der Abfassung des Urteils erfasst angesehen werden. Es ist eine rechtliche Frage, wie intensiv die Verletzung einer Konventionsbestimmung im Einzelfall ausfällt. Die Qualifizierung der Verletzung von Art. 5 EMRK als schwer bringt zum Ausdruck, dass sich die Verletzung ausnahmsweise nicht nur auf einzelne Garantien dieser Norm bezieht, sondern dem Opfer durch die nicht erfolgte Anerkennung der Inhaftierung bereits die Basis für diese einzelnen Garantien entzogen wird. Auch spielt die Schwere der Verletzung bei der nachfolgenden Bemessung der Entschädigung
500
Eine weitere Möglichkeit, die gesteigerte Schwere der Verletzung hervorzuheben, könnte darstellen, eine Praxis dieser Menschenrechtsverletzung festzustellen. Von dieser Möglichkeit machte der EGMR aber keinen Gebrauch in Fällen des Verschwindenlassens. 501 So schon in Zypern v. Türkei, 8007/77, Bericht vom 4. Oktober 1983, Decision and Reports, vol. 72 (1992), S. 5 (38, Abs. 119); Kurt v. Türkei, 24276/94, Bericht vom 5. Dezember 1996, Abs. 212. 502 So schon in Kurt v. Türkei, 24276/94, Urteil vom 25. Mai 1998, Abs. 124. Siehe auch Rezvanov und Rezvanova v. Russland, 12457/05, Urteil vom 24. September 2009, Abs. 110 („particularly grave“), 108: „It has also stated that unacknowledged detention is a complete negation of these guarantees and discloses a very grave violation of Article 5“. 503 So z. B. in Rezvanov und Rezvanova v. Russland, 12457/05, Urteil vom 24. September 2009, Abs. 78: „ranks as one of the most fundamental provisions“. 504 Akdeniz et al. v. Türkei, 23954/94, Urteil vom 31. Mai 2001, teilweise abweichende Meinung von Richter Gölküklü, Abs. 6 (kursive Hervorhebungen im Original unterstrichen). 505 Die aktuelle VerfO des EGMR ist abrufbar unter: http://www.echr.coe.int/ECHR/ homepage_en.
C. Zusammenfassende Bewertung
131
eine Rolle,506 so dass es auch aus diesem Grund bereits möglich erscheint, eine Bewertung der Intensität der Verletzung an früherer Stelle des Urteils vorzunehmen. Die vom EGMR inzwischen verfolgte Herangehensweise, die Verletzung einer Vielzahl von Konventionsrechten und -freiheiten zu prüfen,507 sollte sich im Ergebnis regelmäßig auf die folgenden Artikel beziehen: *
*
*
*
*
In Bezug auf Art. 2 EMRK sollte der EGMR eine Verletzung in substantieller Hinsicht auch bereits dann feststellen, wenn das Leben des verschwundenen Opfers nur gefährdet ist. Unter dem Gesichtspunkt einer präventiven Schutzpflicht sollte der EGMR hingegen eine Verletzung von Art. 2 EMRK nur ausnahmsweise508 heranziehen. Eine Verletzung von Art. 2 EMRK in seinem prozeduralen Gehalt wird in der Regel anzunehmen sein. Der EGMR sollte eine Verletzung des Opfers in Art. 3 EMRK bereits dann annehmen, wenn er die nicht anerkannte Inhaftierung feststellt. Während die Prüfung einer präventiven Schutzpflicht ebenfalls nur ausnahmsweise eine Rolle spielen sollte,509 sollte der EGMR Ermittlungspflichten auch in Bezug auf eine Verletzung des Opfers in Art. 3 EMRK heranziehen. Daneben wird regelmäßig eine substantielle Verletzung von Art. 3 EMRK in Bezug auf die Angehörigen vorliegen. Eine Verletzung von Art. 5 EMRK sowohl in seinem substantiellen als auch in seinem prozeduralen Gehalt sollte der EGMR ebenfalls gesondert prüfen und regelmäßig feststellen. Art. 8 EMRK, das Recht auf Achtung des Familienlebens, sollte der Gerichtshof gleichfalls heranziehen und in Hinblick auf eine Verletzung des substantiellen Gehalts einer Prüfung unterziehen. Schließlich sollte der EGMR auf eine Verletzung von Art. 13 EMRK in Verbindung mit der vertretbaren Behauptung einer Verletzung der Art. 2, 3 (in Bezug auf das Opfer und die Beschwerdeführer), 5 und 8 EMRK in ihrem substantiellen Gehalt eingehen.
506 507 508 509
Harris/O’Boyle/Bates/Buckley, S. 860. Für einen solchen „multiple-rights approach“ siehe auch Pérez Solla, S. 38 f. Zu den Ausnahmen siehe supra Kapitel 2, B.II.2.a)dd). Zu den Ausnahmen siehe supra Kapitel 2, B.II.2.c).
Kapitel 3
Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung in Fällen des Verschwindenlassens In Fällen des Verschwindenlassens ist der der Beschwerde zugrunde liegende Sachverhalt unklar und umstritten. So trägt der Beschwerdeführer vor, das Opfer sei entführt oder auf sonstige Weise seiner Freiheit beraubt worden. Anschließend sei es in nicht anerkannter Haft gehalten worden und zu Tode gekommen, wobei die Verantwortlichkeit dafür dem Staat anzulasten sei. Der beschwerdegegnerische Staat hingegen bestreitet regelmäßig das Vorliegen dieser Tatsachen;1 er trägt unter Umständen vor, das Opfer sei zwar entführt worden, dies sei aber dem Staat nicht zurechenbar. Auch bestreitet er meist, dass das Opfer inhaftiert worden und zu Tode gekommen sei, jedenfalls soweit der Staat dafür die Verantwortung trägt. Aus prozesstaktischen Erwägungen bleibt dem beschwerdegegnerischen Staat auch gar keine andere Wahl, um seiner drohenden Verurteilung zu entgehen: Streitet er den von dem Beschwerdeführer vorgetragenen Sachverhalt nicht ab, so erscheint seine Verurteilung als sicher. Eine Rechtfertigung des dann klar vorliegenden Verstoßes kommt nicht in Betracht, komplizierte Rechtsfragen stellen sich jedenfalls in Bezug auf einige der einschlägigen Konventionsartikel, Art. 2 und 5 EMRK, in diesem Fall nicht.2 Der EGMR steht somit vor der Aufgabe, eine Tatsachenfeststellung vorzunehmen.3 Diese ist erforderlich, damit der Gerichtshof eine rechtliche Bewertung des dann feststehenden Sachverhalts vornehmen und damit ein Urteil im konkreten anhängigen Verfahren fällen kann.4 Denn der Subsumtion des Sachverhalts unter die einzelnen Konventionsbestimmungen ist die Klärung tatsächlicher Fragen notwen1
Vgl. auch Sardaro, EHRLR 6 (2003), S. 601 (611). Dazu siehe supra Kapitel 2, A.III. 3 Siehe auch Meyer-Ladewig, NVwZ 24 (2009), S. 1531, der die Tatsachenfeststellung im Zusammenhang mit Fällen gegen Russland wegen Operationen der Sicherheitskräfte in Tschetschenien als wesentliche Schwierigkeit bezeichnet. 4 Leach/Paraskova/Uzelac, S. 22; Benzing, S. 11; Jörg Nowak, S. 26. Über die Bedeutung für den Fortgang der konkreten Beschwerde hinaus hat die Feststellung der Tatsachen durch eine unabhängige und neutrale Instanz wie den EGMR an sich bereits eine wichtige Funktion im Rahmen des Menschenrechtsschutzes. Siehe Koroteev, EHRAC Bulletin Summer 2009, S. 14; Jörg Nowak, S. 29 – 32; Frowein, in: Lillich (Hrsg.), S. 237 (251); Ramcharan, in: Ramcharan (Hrsg.), S. 1: „Fact-finding is at the heart of human rights activity.“ 2
Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
133
digerweise logisch vorgelagert.5 Gelingt es dem Gerichtshof nicht, alle Sachverhaltsaspekte aufzuklären, so kann auch die rechtliche Bewertung der Vorwürfe des Beschwerdeführers nicht umfassend erfolgen. Es verbleibt die Ungewissheit, ob eine eigentlich vorliegende Menschenrechtsverletzung nunmehr endgültig ungerügt bleiben muss. Die Feststellung des relevanten Sachverhalts ist insbesondere aus drei Gründen in Fällen des Verschwindenlassens ausgesprochen problematisch: Zum einen wird der den vom Beschwerdeführer vorgetragenen Sachverhalt bestreitende Staat auch im Rahmen der Tatsachenfeststellung durch den Gerichtshof nicht von diesem Standpunkt abrücken. Er wird in der Regel jegliche Kooperation mit dem Gerichtshof, die den Beweis dieses Sachverhalts erleichtern könnte, vermeiden und die Anstrengungen des Beschwerdeführers und des Gerichtshofes in dieser Hinsicht sogar zu vereiteln trachten.6 Zum anderen, aber auch gerade wegen dieser Haltung des beschwerdegegnerischen Staates, befindet sich der Beschwerdeführer typischerweise in einer Situation der Beweisnot.7 Außenstehende haben in Fällen von Menschenrechtsverletzungen, die im Verborgenen8 und in Bereichen stattfinden, die der staatlichen Kontrolle unterliegen, meist keine Möglichkeiten, ihre Vorwürfe ohne Mitwirkung des beschwerdegegnerischen Staates zu beweisen. So trägt der Beschwerdeführer vor, dass sich das Opfer in staatlicher, nicht eingestandener Haft befand, aber er kann regelmäßig keine Dokumente oder Zeugenbeweise beibringen, welche dies belegen.9 Selten kommt es vor, dass das Opfer von anderen Mithäftlingen, die später die Freiheit erlangten, in Haft gesehen wurde. Andere Beweismittel, wie Haftbücher 5
Es stellt daher einen wichtigen Bestandteil der judikativen Funktion dar, siehe Brown, S. 82; Leach/Paraskova/Uzelac, S. 22. 6 Siehe auch die Einschätzung von Sardaro, EHRLR 6 (2003), S. 601 (611). 7 Siehe z. B. den EGMR in einem Fall des Verschwindenlassens: Isigova et al. v. Russland, 6844/02, Urteil vom 26. Juni 2008, Abs. 153: „It is inherent in the proceedings relating to cases of this nature, where individual applicants accuse State agents of violating their rights under the Convention, that in certain instances it is only the respondent State that has access to information capable of corroborating or refuting these allegations.“ (Hervorhebungen nicht im Original). Siehe auch die Aussage von Richter Bonello mit Bezug auf Fälle von Folter, die auch auf die Situation der Angehörigen verschwundengelassener Personen übertragbar ist, wobei es zu beachten gilt, dass in letzteren Fällen das Opfer, anders als das Folteropfer, nicht mit einer Aussage zur Verfügung steht, Sevtap Veznedaroglu v. Türkei, 32357/96, Urteil vom 11. April 2000, Zweite Kammer, teilweise abweichende Meinung von Richter Bonello, Abs. 14: „Independent observers are not, to my knowledge, usually invited to witness the rack, nor is a transcript of proceedings in triplicate handed over at the end of each session of torture; its victims cower alone in oppressive and painful solitude, while the team of interrogators has almost unlimited means at its disposal to deny the happening of, or their participation in, the gruesome pageant. The solitary victim’s complaint is almost invariably confronted with the negation ,corroborated‘ by many.“ Siehe auch Leach, EHRLR Issue 6 (2008), S. 731 (744); Buckley, HRLR 1 (2001), S. 35 (63). 8 Siehe Loucaides, Essays, S. 163 zu Fällen von Folter. 9 Siehe Rudolf, EuGRZ 23 (1996), S. 497.
134
Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
oder Unterlagen über die vorgenommene Militär-/Sicherheitsaktion, im Zuge derer die Entführung geschah, unterliegen der Kontrolle des Staates oder sind nicht aussagekräftig. Auch für den Tod des Opfers gibt es oft keinen direkten Beweis, da der Leichnam gerade nicht auffindbar ist und keine sonstigen Beweismittel zugänglich sind. Schließlich kann sich der Gerichtshof für die der Beschwerde zugrunde liegenden Tatsachen in Fällen des Verschwindenlassens regelmäßig gerade nicht auf die Feststellungen der nationalen Gerichte berufen. Das Erfordernis, die innerstaatlichen Rechtsbehelfe zu erschöpfen, hat zwar in der Regel zur Folge, dass der Sachverhalt im Rahmen des nationalen Instanzenzuges aufgeklärt wurde und nunmehr zwischen den Parteien nicht mehr umstritten ist.10 In den Fällen des Verschwindenlassens aber erfolgte gerade keine oder jedenfalls keine konventionsgerechte Befassung nationaler Gerichte und Behörden;11 die relevanten Tatsachen werden nunmehr erstmalig vom EGMR aufgeklärt und festgestellt. Aber auch bereits losgelöst von den besonderen Problemen, die Fälle des Verschwindenlassens im Rahmen der Tatsachenfeststellung aufwerfen, stellt sich die Tatsachenfeststellung im System der EMRK generell als problematisch dar. Denn das Beweisrecht des EGMR – ebenso wie das der ehemaligen Kommission – ist wenig entwickelt beziehungsweise befindet sich noch in der Entwicklung.12 Auch die völkerrechtliche Literatur beschäftigte sich nur verhalten mit diesem Thema.13 So 10
Leach, Taking a Case, S. 62. Siehe auch Meyer-Ladewig, NVwZ 24 (2009), S. 1531. 12 So Fitzpatrick, in: Bayefsky (Hrsg.), S. 65 (68 f.) mit dem Hinweis, dass dies wohl damit zu erkären ist, dass die Tatsachen der meisten Beschwerden Gegenstand innerstaatlicher Verfahren waren. Erdal, E. L. Rev. Human Rights Survey 26 (2001), S. 68 (69) spricht von einem „lack of a set of evidential rules by which the Convention organs are bound“. Buergenthal, in: GS Ryssdal, S. 123 (132 f.) schlägt vor, dass der EGMR sich an der Rechtsprechung des IAGMR in Bezug auf beweisrechtliche Fragen orientieren könne. 13 In der jüngeren Literatur, die sich mit dem Thema des Verschwindenlassens beschäftigt, erfolgt zumeist zwar eine fallbezogene Darstellung der Praxis des EGMR, die auch beweisrechtliche Aspekte anspricht, diese Aspekte werden allerdings nicht in einem Zusammenhang untersucht und bewertet. Auch bleiben wichtige jüngste Entwicklungen in Fällen gegen Russland außerhalb der Betrachtung; siehe Scovazzi/Citroni; Pérez Solla. Siehe aber Claude, Intercultural Human Rights Law Review 5 (2010), S. 407 (410 ff.). Losgelöst von Fällen des Verschwindenlassens widmen sich bislang nur wenige Monographien und Aufsätze ausführlicher oder auch nur am Rande dem Beweisrecht oder ausgewählten beweisrechtlichen Aspekten im Verfahren des EGMR. Die vor Inkrafttreten des 11. Zusatzprotokolls erschienene Literatur beschäftigt sich dabei meist in erster Linie mit der Tatsachenfeststellung durch die ehemalige Kommission; siehe Frowein, in: Lillich (Hrsg.), S. 237 ff.; Schorm-Bernschütz (unter Berücksichtigung der Rechtsprechung bis August 2003); Kokott, Beweislastverteilung, S. 372 – 421; Kokott, The Burden of Proof, S. 141 – 235; Liddy, Irish Law Times 18 (2002), S. 281 (persönlicher Erlebnisbericht einer Tatsachenermittlung); Loucaides, Essays, S. 157 – 169; Wolfrum, in: FS Wildhaber, S. 915; Dutheil-Warolin, Rev. Trim. Dr. h. 16 (2005), S. 333; Erdal, E. L. Rev. Human Rights Survey 26 (2001), S. 68; Erdal/Bakirci, S. 230 ff. (in Bezug auf Art. 3 EMRK); Krüger (zur Kommission); Krüger, in: FS Nørgaard; Leach/Paraskeva/ Uzelac; Mahoney, in: FS Cremona, S. 119; Rudolf, EuGRZ 23 (1996), S. 497; Rogge, in: 11
Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
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stellte Wolfrum im Jahre 2007 fest: „As far as the taking and assessment of evidence is concerned, the European Court of Human Rights may not have fully developed an adequate approach.“14 In Bezug auf Fälle schwerer Menschenrechtsverletzungen wie Folter stellte Rudolf 1996 fest, dass die Rechtsprechung zwar von einem Bemühen um einen Ausweg aus der Beweisnot gekennzeichnet ist; der Suche nach praktikablen Lösungen werde dabei aber – so Rudolf – regelmäßig der Vorrang vor der Rechtsklarheit über die anwendbaren Regeln eingeräumt.15 Richter Zupancˇicˇ verlieh in seiner teilweise abweichenden Meinung aus dem Jahre 2000 der Hoffnung Ausdruck, dass sich ein Beweisrecht nunmehr – nach über vierzig Jahren Tätigkeit durch die Konventionsorgane – herausbilden werde, da der Gerichtshof immer häufiger als ein erstinstanzliches Gericht zu fungieren habe, das eine Tatsachenfeststellung vornimmt: „It will have to allow for situations in which, as in this case, its own hearings will be akin to first-instance hearings before the national courts. The Court will have to hear witnesses, permit the cross-examination of hostile witnesses, directly examine and evaluate material evidence, etc. The Court will have to establish its own evidentiary rules pertaining to the burden of proof, the risk of non-persuasion, the principle in dubio pro reo, etc. These rules are already present in our jurisprudence, albeit in a rudimentary form.“16
Richter Bonello begrüßte in seinem Sondervotum im Fall Tahsin Acar aus dem Jahre 2004 allerdings bereits einige neue beweisrechtliche Entwicklungen in der Rechtsprechung, welche in der folgenden Untersuchung eine Rolle spielen werden: „Some trail-blazing judgments by the Court have demonstrated how effective in the defence of human rights its recent forays into resourceful judicial engineering have been: reliance on rebuttable inferences, shifting of the burden of proof, and a possible lowering of the ,beyond reasonable doubt‘ quantum.“17 Macdonald/Matscher/Petzold, S. 677; Smith, EHRLR Issue 2 (2009), S. 206; Leach, Taking a Case, S. 62 – 71; O’Boyle, Santa Clara Law Review 20 (1980), S. 697 (715 – 718) (zur Kommission). Schließlich verfolgen einige Autoren den Ansatz, das Beweisrecht vor internationalen Gerichten umfassend darzustellen. Im Zuge dessen fehlt zwangsläufig eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem System der EMRK. Vielmehr wird in diesen Arbeiten wiederholt der Versuch unternommen, systemübergreifende Grundsätze herauszustellen; dabei fehlt allerdings nicht selten der Hinweis, dass in menschenrechtlichen Verfahren gerade Besonderheiten zu beachten sind (Amerasinghe, S. 19 f.; Kazazi, S. 9). Siehe früh schon Sandifer; Witenberg, Recueil des cours 56 (1936-II), S. 1 ff.; Evensen, Acta Scandinavica Juris Gentium 25 (1955), S. 44 ff.; Cheng, S. 302 ff. Jüngst auch Niyungeko; Fabri/Sorel; Brown, S. 83 – 118; Kazazi; Amerasinghe; Lillich (Hrsg.); Lillich/Hannum/Anaya/Shelton, S. 979 (Kursbuch); Benzing (S. 701 f. zu Fällen des Verschwindenlassens, S. 736 f.: Es gebe eine erhöhte Aufmerksamkeit für das Beweisrecht in der völkerrechtlichen Literatur). 14 Wolfrum, FS Wildhaber, S. 915. 15 Rudolf, EuGRZ 23 (1996), S. 497, es ließen sich dennoch gewisse Entwicklungslinien erkennen. 16 Rehbock v. Slowenien, 29462/95, Urteil vom 28. November 2000, teilweise abweichende Meinung von Richer Zupancˇicˇ (Hervorhebungen nicht im Original). 17 Tahsin Acar v. Türkei, 26307/95, Urteil vom 4. April 2004, Zustimmendes Sondervotum von Richter Bonello, Abs. 13 (Hervorhebungen nicht im Original, Fußnote weggelassen).
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Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
Im Folgenden wird zunächst eine allgemeine Einführung in die Grundzüge des Beweisrechts im Verfahren vor dem EGMR vorgenommen (A.), welche die im darauf folgenden Teil B. vertieften beweisrechtlichen Aspekte, die besonders relevant in Fällen des Verschwindenlassens von Personen sind, in einen größeren Kontext einordnet. Teil B. widmet sich der Frage, welches Beweismaß in Fällen des Verschwindenlassens Verwendung findet beziehungsweise finden sollte (I.). Anschließend wird das Vorgehen des EGMR untersucht, an die Kontrolle über das Opfer durch den Staat – meist die Inhaftierung – beweisrechtlich anzuknüpfen, um der Beweisnot des Beschwerdeführers abzuhelfen (II.). Es folgt eine Analyse und Bewertung des Vorgehens des EGMR, den Umstand, dass es wiederholt zu Fällen des Verschwindenlassens kam, im Rahmen seiner Tatsachenfeststellung heranzuziehen (III.). Schließlich soll eine Antwort auf die Frage gefunden werden, mit welchen beweisrechtlichen Mitteln der EGMR auf die mangelhafte Kooperation des beschwerdegegnerischen Staates reagieren kann (IV.). In Teil C. folgen schließlich eine abschließende Analyse der Probleme, die Fälle des Verschwindenlassens im Rahmen der Tatsachenfeststellung aufwerfen, sowie eine Bewertung der beweisrechtlichen Lösungsansätze des EGMR als Reaktion auf diese Probleme. Erst in diesem Rahmen kann ausreichend berücksichtigt werden, dass sich die vier separat behandelten einzelnen Aspekte gegenseitig bedingen und beeinflussen und daher nur in der Gesamtschau eine abschließende Bewertung möglich ist.18
A. Grundzüge des Beweisrechts im Verfahren vor dem EGMR Das Beweisrecht ist das Recht, das regelt, unter welchen Voraussetzungen eine Tatsache durch das Gericht als existent angenommen wird und damit in die Entscheidung einfließt.19 Es ist Teil des Verfahrensrechts20 und findet grundsätzlich auf Tatsachen Anwendung.21 Als rechtlich relevante Tatsachen kommen zum einen Tatsachen in Betracht, die vom Beschwerdeführer vorgebracht wurden und sich konkret auf diesen beziehen, zum anderen Hintergrundfakten des Falles und schließlich Tatsachen, die die Einlassung des beschwerdegegnerischen Staates
18
Auf diese Interdependenzen zwischem dem Beweismaß, Vermutungen, der Beweislast und dem Gebrauchmachen von prima facie-Beweisen weist auch Wolfrum, in: FS Wildhaber, S. 915 (924) hin: „It is […] decisive […] whether the whole system is coherent.“ 19 Wolfrum, in: FS Wildhaber, S. 915; Benzing, S. 11. Vgl. auch Ramcharan, in: Ramcharan (Hrsg.), S. 64; Erdal, E. L. Rev. Human Rights Survey 26 (2001), S. 68 (72). 20 Brown, S. 85; Benzing, S. 11. 21 So allgemein Thirlway, EPIL, S. 302. Siehe auch Amerasinghe, S. 50 mit Bezug zur Beweislast. Thienel, GYIL 50 (2007), S. 543 (556). Niyungeko, S. 69 ff. bezeichnet dies als die traditionelle Sichtweise.
A. Grundzüge des Beweisrechts im Verfahren vor dem EGMR
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betreffen, wie zum Beispiel in Bezug auf eine vorgetragene Rechtfertigung.22 Rechtsfragen im Gegensatz zu Tatsachen unterliegen in der Regel nicht dem Beweis; vielmehr kommt der Grundsatz „iura novit curia“ zur Anwendung, der besagt, dass das Gericht das Recht zu kennen hat.23 In den Fällen, in denen das Verschwindenlassen einer Person gerügt wird, bedarf es zumeist der Feststellung der Tatsachen, die nach dem Vortrag des Beschwerdeführers die Konventionsverletzung begründen:24 Im Rahmen der Prüfung einer Verletzung des Rechts auf Leben, Art. 2 EMRK, in seinem materiellen Gehalt betrifft dies insbesondere die Frage, ob das Opfer tot ist und Tatsachen vorliegen, die die Verantwortlichkeit des Staates für den Tod begründen. In Bezug zu Art. 5 EMRK ist die (nicht eingestandene) Inhaftierung des Opfers festzustellen. Daneben kann eine Tatsachenfeststellung auch in Bezug auf Hintergrundtatsachen, welche zum Beispiel die Einbettung des konkreten Falles in einen größeren Konflikt oder Zusammenhang betreffen, betrieben werden. Hingegen spielen Tatsachen, auf die sich eine von Seiten des Staates vorgebrachte Rechtfertigung stützen könnte, in der Regel keine Rolle.25 Die Zuständigkeit für die Tatsachenfeststellung liegt seit Inkrafttreten des 11. Zusatzprotokolls beim EGMR26 – dies ergibt sich nicht zuletzt aus Art. 3827 EMRK, der dem Gerichtshof die Kompetenz zur Vornahme von Ermittlungen zuweist. Zuvor war in erster Linie die Kommission für die Tatsachenfeststellung zuständig.28 Der EGMR unternahm nur sehr selten und eingeschränkt eine eigene Tatsachenfeststellung; in den meisten Fällen übernahm er die Feststellungen der Kommission.29 22 Siehe zu dieser Einteilung auch Schorm-Bernschütz, S. 43 f. Eine etwas andere Einteilung nimmt Erdal, E. L. Rev. Human Rights Survey 26 (2001), S. 68 (70) unter Bezugnahme auf Rogge, in: Macdonald/Matscher/Petzold, S. 677 (678) vor sowie auch Smith, EHRLR Issue 2 (2009), S. 206 (208 f.). 23 Amerasinghe, S. 50; Benzing, S. 356 – 359; Thienel, GYIL 50 (2007), S. 543 (556); Wolfrum, in: FS Wildhaber, S. 915 (918 f.). Abweichend dazu Niyungeko, S. 102 f. Allerdings werden verschiedene Ausnahmen diskutiert, siehe dazu Amerasinghe, S. 53 f.; Erdal, E. L. Rev. Human Rights Survey 26 (2001), S. 68 (70); Niyungeko, S. 99 ff.; Wolfrum, in: FS Wildhaber, S. 915 (919); Thienel, GYIL 50 (2007), S. 543 (556 ff., auch zu der Frage, ob der EGMR das Beweisrecht fälschlicherweise auf eine Rechtsfrage angewendet hat, nämlich auf die Frage, ob eine Behandlung die Schwelle überschritten habe, die von Art. 3 EMRK noch toleriert werde). 24 Beispiele führt Erdal, E. L. Rev. Human Rights Survey 26 (2001), S. 68 (70) an. 25 Siehe zur Irrelevanz der Frage der Rechtfertigung supra Kapitel 2, A.III. 26 Siehe Niyungeko, S. 22; Erdal, E. L. Rev. Human Rights Survey 26 (2001), S. 68 (69, 71); Fitzpatrick, in: Bayefsky (Hrsg.), S. 65 (68). Zur näheren Zuständigkeit für Ermittlungen innerhalb des Gerichtshofes siehe Schorm-Bernschütz, S. 68 ff. 27 Art. 38 EMRK wurde durch das 14. Zusatzprotokoll geändert. 28 Siehe Art. 28 a) EMRK a.F. Siehe Clements, EHRLR Issue 3 (1999), S. 266 (270); Drzemczewski, in: Bayefsky (Hrsg.), S. 115 (121); Erdal, E. L. Rev. Human Rights Survey 26 (2001), S. 68 (69). 29 Siehe dazu die umfassende Studie von Leach/Paraskeva/Uzelac sowie O’Boyle, Santa Clara Law Review 20 (1980), S. 697 (726); Drzemczewski, in: Bayefsky (Hrsg.), S. 115 (123 f.).
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Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
Gleichzeitig behielt der Gerichtshof sich aber das grundsätzliche Recht zur Tatsachenfeststellung vor.30 Nach der heutigen Rechtslage gilt es, die Kompetenz des Gerichtshofes zu der Kompetenz der Konventionsstaaten in eine Beziehung zu setzen. So obliegt nach der Rechtsprechung des EGMR die Tatsachenfeststellung primär den nationalen Organen, insbesondere der nationalen Judikative:31 Dies ist Ausdruck der Subsidiarität des EGMR;32 der Gerichtshof versteht sich im Grundsatz gerade nicht als Gericht erster Instanz, vielmehr sei er dem nationalen Rechtsweg nachgeordnet. Daher nahm der EGMR in ständiger Rechtsprechung zunächst nur dann selbst eine Tatsachenfeststellung vor, wenn zwingende Umstände dazu führten, von den Feststellungen der nationalen Gerichte abzuweichen.33 In der neueren Rechtsprechung des Gerichtshofes findet sich die folgende, leicht geänderte Aussage: „The Court is sensitive to the subsidiary nature of its role and recognises that it must be cautious in taking on the role of a first-instance tribunal of fact, where this is not rendered unavoidable by the circumstances of a particular case.“34
Der EGMR fügte hinzu: „Where allegations are made under Articles 2 and 3 of the Convention, however, the Court must apply a particularly thorough scrutiny […].“35
Auch nahm der Gerichtshof in Fällen, in denen eine adäquate Ermittlung des Sachverhalts auf der nationalen Ebene fehlte, eine eigene Tatsachenfeststellung vor, ohne auf den Aspekt der Subsidiarität überhaupt einzugehen.36 Daraus lässt sich schließen, dass der EGMR in den behandelten Fällen des Verschwindenlassens richtigerweise seine – gegenüber den nationalen Autoritäten grundsätzlich subsidiäre – Kompetenz zur Tatsachenfeststellung ausübt. Denn diese 30 Siehe z. B. Kurt v. Türkei, 24276/94, Urteil vom 25. Mai 1998, Abs. 98; vgl. auch Schorm-Bernschütz, S. 36 – 43; Fitzpatrick, in: Bayefsky (Hrsg.), S. 65 (69); Eudes, S. 120. 31 Tanli v. Türkei, 26129/95, Urteil vom 10. April 2001, Abs. 110; Klaas v. Deutschland, 15473/89, Urteil vom 22. September 1993, Abs. 29. 32 Smith, EHRLR Issue 2 (2009), S. 206 (207 f.). 33 Tanli v. Türkei, 26129/95, Urteil vom 10. April 2001, Abs. 110; Klaas v. Deutschland, 15473/89, Urteil vom 22. September 1993, Abs. 29 f.: „cogent elements to lead it to depart“. Siehe auch Smith, EHRLR Issue 2 (2009), S. 206 (207 f.). 34 Khadzhialiyev et al. v. Russland, 3013/04, Urteil vom 6. November 2008, Abs. 78; Tsurova et al. v. Russland, 29958/04, Urteil vom 6. November 2008, Abs. 98 (Hervorhebung jeweils nicht im Original). Siehe auch Smith, EHRLR Issue 2 (2009), S. 206 (208). 35 Tanli v. Türkei, 26129/95, Urteil vom 10. April 2001, Abs. 110; Avsar v. Türkei, 25657/ 94, Urteil vom 10. Juli 2001, Abs. 284; angelegt auch schon in Ribitsch v. Österreich, 18896/ 91, Urteil vom 4. Dezember 1995, Abs. 32. In dem Fall Buldan v. Türkei, 28298/95, Urteil vom 20. April 2004, Abs. 76 fügte der EGMR hinzu: „even if certain domestic proceedings and investigations have already taken place.“ So auch in Khadzhialiyev et al. v. Russland, 3013/04, 6. November 2008, Abs. 78; Tsurova et al. v. Russland, 29958/04, Urteil vom 6. November 2008, Abs. 98. Siehe auch Fitzpatrick, in: Bayefsky (Hrsg.), S. 65 (69). 36 So z. B. im Fall Tanıs¸ et al. v. Türkei, 65899/01, Urteil vom 2. August 2005, Abs. 158 ff.
A. Grundzüge des Beweisrechts im Verfahren vor dem EGMR
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Fallkonstellationen kennzeichnen gerade, dass eine angemessene Tatsachenfeststellung auf der nationalen Ebene fehlte und grundlegende Verletzungen der EMRK vorgetragen werden. In seiner Praxis zu Fällen des Verschwindenlassens äußert der EGMR außerdem sein Bedauern darüber, dass keine sorgfältigen Ermittlungen durch nationale Behörden oder Gerichte vorgenommen wurden,37 verbunden mit der Feststellung: „The Court would stress […] that the evaluation of the evidence and the establishment of the facts is a matter for the Court, and it is incumbent on it to decide on the evidentiary value of the documents submitted to it […].“38
Die Tatsachenfeststellung folgt beweisrechtlichen Regeln, die sich in erster Linie aus der EMRK und aus der VerfO des Gerichtshofes ergeben. Aus der EMRK ist vor allem Art. 38 zu nennen; Art. 25 d) EMRK ermächtigt den EGMR, sich eine VerfO zu geben. Diese enthält insbesondere in dem Annex, der Untersuchungen betrifft und am 7. Juli 2003 eingefügt wurde, beweisrechtliche Regelungen. Viele grundlegende beweisrechtliche Aspekte, wie der des anwendbaren Beweismaßes und Fragen der Beweislast, werden nicht oder jedenfalls nicht explizit geregelt.39 Sie haben sich in der Praxis der ehemaligen Kommission und des Gerichtshofes herausbilden müssen. Dabei sowie bei der Gestaltung seiner VerfO ist der Gerichtshof weitgehend frei.40 Seinem Ermessen setzt in erster Linie die EMRK selbst Grenzen. Im Einzelnen sind menschenrechtliche Erwägungen, wie sie sich zum Beispiel aus Art. 6 EMRK ergeben,41 und insbesondere der Grundsatz des fairen Verfahrens zu beachten.42 Das Konventionssystem fügt sich außerdem in den breiteren Kontext des internationalen (Menschen-)Rechtsschutzes ein; der EGMR kann sich daher bei der Entwicklung seines Beweisrechts an völkerrechtlichen Rechtsquellen orientieren, insbesondere an beweisrechtlichen Regelungen oder Aussagen in anderen internationalen (Menschen-)Rechtssystemen.43
37 Aziyevy v. Russland, 77626/01, Urteil vom 20. März 2008, Abs. 78; Utsayeva et al. v. Russland, 29133/03, Urteil vom 29. Mai 2008, Abs. 164; Astamirova et al. v. Russland, 27256/03, Urteil vom 26. Februar 2009, Abs. 80; Khasuyeva v. Russland, 28159/03, Urteil vom 11. Juni 2009, Abs. 109. 38 Aziyevy v. Russland, 77626/01, Urteil vom 20. März 2008, Abs. 70; Astamirova et al. v. Russland, 27256/03, Urteil vom 26. Februar 2009, Abs. 72. 39 Dies ist bei internationalen Gerichten häufig der Fall, siehe Brown, S. 84. 40 Schorm-Bernschütz, S. 35 f. 41 So stellt Richter Zupancˇicˇ in seiner teilweise abweichenden Meinung auf diesen Aspekt ab: „Needless to say, in establishing these procedural precepts we must above all strictly follow the guarantees of Article 6, as we require of all the signatories of the Convention.“ (Rehbock v. Slowenien, 29462/95, Urteil vom 28. November 2000). 42 Vgl. Schorm-Bernschütz, S. 35 f. 43 Schorm-Bernschütz, S. 50 f.
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Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
Der Prozess der Tatsachenfeststellung kann in mehrere Phasen unterteilt werden:44 Zunächst müssen die Beweise zur Kenntnis des Gerichts gebracht werden. Dies geschieht, indem Beweismittel vorgelegt oder ermittelt werden oder auf sonstige Weise zur Kenntnis des Gerichts gebracht werden. „Evidence consists of elements which are presented to a tribunal in order to prove or disprove the existence of facts which are claimed to exist or to have existed.“45 In dieser Phase stellt sich die Frage, wie – insbesondere durch wen – Beweismittel zur Kenntnis des Gerichts gebracht werden. Damit wird nach subjektiven Beweislasten gefragt (I.). Die einzelnen Beweismittel müssen zulässig sein; dies betrifft insbesondere auch die Zulässigkeit des in Fällen des Verschwindenlassens so wichtigen indirekten Beweises (II.). In einer weiteren Phase werden die Beweismittel vom Gericht evaluiert. Im Rahmen dieser Evaluation findet der Grundsatz der freien Beweiswürdigung Anwendung; weiterhin werden Schlussfolgerungen und unter Umständen auch Vermutungen herangezogen. Es stellt sich außerdem die Frage, welches Beweismaß heranzuziehen ist (III.). Im Anschluss daran kann es unter Umständen zu einer Entscheidung unter Heranziehung der Verteilung der objektiven Beweislast kommen (IV.).
I. Kenntniserlangung von Beweisen durch den EGMR Ganz allgemein betrachtet stehen sich in Hinblick auf die Frage, durch wen Beweismittel zur Kenntnis des Gerichts gebracht werden, in der Theorie zwei Konzepte46 gegenüber: Nach dem einen Modell in seiner Reinform ist die Beibringung von Beweismitteln Aufgabe der Parteien. Auf einer der Parteien ruht in Bezug auf eine bestimmte Tatsache in diesem Fall die so genannte subjektive Beweislast.47 Sie wird auch als Beweisführungslast oder formelle Beweislast bezeichnet und als die einer Partei obliegende Last definiert, durch eigene Tätigkeit den Beweis einer Tatsache zu führen, um einen Prozessverlust zu vermeiden.48 Dieses Modell wird adversarial system genannt; es ist durch eine kontradiktorische Streitführung 44 Zum Teil findet sich eine Unterteilung in drei Phasen: Beibringung oder Aufdeckung von Beweisen, Zulässigkeit des Beweises, Auswertung von zulässigem Beweis; vgl. die Gliederung bei Schorm-Bernschütz, S. 33; Brower, in: Lillich (Hrsg.), S. 147; Jörg Nowak, S. 26. 45 Amerasinghe, S. 31. 46 Siehe Jörg Nowak, S. 118 – 120. Benzing, S. 132 nennt drei Prozessmodelle: das kontradikatorische Verfahren, den Verhandlungsgrundsatz sowie die Inquisitionsmaxime. 47 Auch „burden of evidence“, „evidential burden“, „burden of adducing evidence“ oder „duty of passing the judge“ genannt, siehe Kazazi, S. 25 in Bezug auf Länder des common law Rechtskreises. Siehe auch Barceló, Cornell ILJ 42 (2009), S. 23 (27): „burden of production“. Die subjektive Beweislast ist nicht mit der so genannten objektiven Beweislast zu verwechseln, zu dieser siehe infra Kapitel 3, A.IV. Zu den unterschiedlichen Begrifflichkeiten siehe auch den Rechtsvergleich von Habscheid, in: FS Baumgärtel, S. 105. 48 Rosenberg, S. 16, zitiert aus Nierhaus, S. 246; Dürig, S. 10.
A. Grundzüge des Beweisrechts im Verfahren vor dem EGMR
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geprägt.49 Im deutschen Verfahrensrecht entsprechen ihm zumindest im Grundsatz all jene Verfahren, in denen der Beibringungs- oder Verhandlungsgrundsatz gilt.50 Das Gericht selbst ist dabei nicht in der Lage, Beweismittel zu erheben oder anzufordern, sondern vielmehr auf die von den Parteien vorgebrachten Beweise im Rahmen seiner Tatsachenfeststellung beschränkt.51 Nach dem gegensätzlichen Modell ist es Aufgabe und Pflicht des Gerichts, Beweise zu erheben und zu seiner Kenntnis zu bringen. Das Gericht ist im Grundsatz dazu in der Lage und dafür zuständig, Beweise zu erheben und dabei nicht auf die Parteien angewiesen. Das Gericht entscheidet nicht bereits deshalb zu Lasten einer der Parteien, weil diese einen Beweis nicht erbringt, da auf den Parteien grundsätzlich gerade keine subjektiven Beweislasten ruhen.52 In diesem Modell gilt der aus dem deutschen Recht bekannte (Amts-)Ermittlungs- oder Untersuchungsgrundsatz; es wird auch inquisitorial system genannt.53 Die Grenzen zwischen diesen beiden theoretischen Konzepten verwischen in der Praxis zumeist.54 So sind oftmals sowohl die Parteien in gewisser Weise in die Beweisführung einbezogen als auch das Gericht; beide haben Aufgaben und Kompetenzen in Bezug auf die Beibringung der Beweise. Auch das Verfahren vor dem EGMR ist nicht eindeutig einem der beiden theoretischen Modelle zuzuordnen;55 es trägt jedenfalls Züge beider Konzepte. Gleichwohl wird in der Literatur der Versuch unternommen, das Verfahren vor dem EGMR in eines der beiden Modelle einzuordnen. So ordnen einige Autoren das Verfahren im Grundsatz dem adversarial system zu, erkennen bestimmte Kompetenzen des Gerichtshofes, die eine Neigung zum inquisitorial system nahe legen, jedoch gleichfalls an.56 Der Großteil der Literatur betonen hingegen gerade, dass das Verfahren vom Untersuchungsgrundsatz bestimmt sei und daher ein inquisitorial system darstelle. Es trage nur ausnahmsweise auch Züge eines adversarial systems, wie zum Beispiel dadurch, dass die Parteien zur Kooperation bei der Beweisermittlung verpflichtet seien.57 49
Schorm-Bernschütz, S. 53. Siehe Schorm-Bernschütz, S. 53 f. Dies betrifft zum Beispiel den Zivilprozess. 51 Schorm-Bernschütz, S. 53 f. 52 Kokott, Beweislastverteilung, S. 378 f.; Schorm-Bernschütz, S. 137; Dürig, S. 10; Dörre, S. 76. 53 Siehe Schorm-Bernschütz, S. 53. Der Untersuchungsgrundsatz gilt beispielsweise im Verwaltungsprozess nach § 86 Abs. 1 VwGO und im Verfassungsprozess nach § 26 Abs. 1 BVerfGG. 54 So auch Schorm-Bernschütz, S. 54. 55 Siehe Villiger, S. 105. 56 Wolfrum, in: FS Wildhaber, S. 915 (917 f.); Bothe, in: Ipsen, S. 249 (257); siehe auch Callewaert, in: Macdonald/Matscher/Petzold, S. 721 – 724 mit einer Differenzierung danach, ob die local remedies-Regel betroffen ist. 57 Doehring, S. 491 f.; Dörre, S. 76 – 79; Erdal, E. L. Rev. Human Rights Survey 26 (2001), S. 68 (71); Kokott, The Burden of Proof, S. 192; Leach/Paraskeva/Uzelac, S. 17; Meyer-Ladewig, Art. 38, Rn. 2; Rudolf, EuGRZ 23 (1996), S. 497 (499); Schorm-Bernschütz, 50
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Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
Ausgangspunkt der folgenden Untersuchung, durch wen Beweismittel zur Kenntnis des EGMR gebracht werden, kann – jenseits der Kontroverse um die Einstufung des Verfahrens vor dem EGMR als ein inquisitorial oder adversarial system – nur sein, wie sich Aufgaben und Zuständigkeiten des Gerichtshofes einerseits und der Parteien andererseits in Bezug auf die Beibringung von Beweisen darstellen. Zu diesem Zweck ist die EMRK, die VerfO sowie die Rechtsprechungspraxis heranzuziehen. 1. Aufgaben und Kompetenzen des EGMR So ergibt sich aus der EMRK und der VerfO bereits, dass der Gerichtshof bestimmte Aufgaben und Kompetenzen in diesem Zusammenhang hat. Zentrale Norm ist dabei Art. 38 EMRK, die vorsieht, dass der Gerichtshof mit den Vertretern der Parteien die Rechtssache prüft („examine the case“) und, falls erforderlich, Ermittlungen („investigations“) vornimmt. Die Ermittlungen durch den Gerichtshof sind in der Anlage betreffend Ermittlungen der VerfO näher konkretisiert:58 Danach kann die Kammer des Gerichtshofes proprio motu jede Ermittlungsmaßnahme ergreifen, die sie als dafür geeignet erachtet, die Tatsachen aufzuklären (Art. A1 des Anhanges). Damit ist der EGMR in der Lage, selbstständig im Wege von Ermittlungen Beweise zu erheben. Die Kenntniserlangung des Gerichts von Beweisen ist damit nicht davon abhängig, dass die Parteien diese Beweise beibringen. Dies lässt den Schluss zu, dass subjektive Beweislasten im Verfahren vor dem EGMR nicht existieren.59 Es obliegt damit nicht einer der Parteien, Beweise für das S. 55 ff.; Thienel, GYIL 50 (2007), S. 543 (545 – 548); Thürer/Dold, EuGRZ 32 (2005), S. 1 (7); Wiesbrock, S. 232; grundsätzlich auch Schellenberg, S. 218. 58 Die VerfO sieht in Art. 58 Abs. 1 des Weiteren vor, dass der EGMR die Fristen für die Einreichung schriftlicher Bemerkungen und auch für das Vorlegen weiterer Beweise im Staatenbeschwerdeverfahren festlegt. Art. 59 Abs. 1 VerfO sieht vor, dass die Kammer oder der Präsident die Parteien in Individualbeschwerdeverfahren dazu einlädt, weitere Beweise und schriftliche Bemerkungen einzureichen. Zu den Ermittlungen im Einzelnen siehe die Studie von Leach/Paraskeva/Uzelac sowie den zusammenfassenden Aufsatz ders., NQHR 28 (2010), S. 41 – 77. 59 So auch Wiesbrock, S. 232 f.; Thienel, GYIL 50 (2007), S. 543 (546 – 548); Villiger, S. 106. Eine Ausnahme vom Grundsatz, subjektive Beweislasten im Verfahren vor dem EGMR abzulehnen, wird insbesondere in Bezug auf die local remedies-Regel diskutiert, da der Gerichtshof seine Feststellungen in Bezug auf diese regelmäßig ausschließlich auf das Vorbringen einer der jeweiligen Parteien stützt. Siehe Zwaak, in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/ Zwaak, S. 154 f.; Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 35, Rn. 8 – 10; Robertson, ICLQ 39 (1990), S. 191. Schorm-Bernschütz, S. 57 f. und Zwaak, in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/ Zwaak, S. 154 f. weisen allerdings zu Recht daraufhin, dass der EGMR durchaus abweichend von seiner vorherrschenden Rechtsprechung in einzelnen Fällen proprio motu die Voraussetzungen der local remedies-Regel zu beweisen trachtete. Damit verfolgte der EGMR ein Vorgehen, welches mit der Annahme subjektiver Beweislasten nicht zu vereinbaren ist. Vorzugswürdig erscheint es daher, die Ansicht zu vertreten, dass der EGMR auch in diesem Fall keine subjektive Beweislast im eigentlichen Sinne annahm. Vielmehr könnte er die Verletzung von Mitwirkungspflichten, die gegenüber dem EGMR bestehen, mit der Rechtsfolge einer
A. Grundzüge des Beweisrechts im Verfahren vor dem EGMR
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Bestehen einer Tatsache vorzubringen, damit nicht automatisch zu ihren Lasten entschieden wird. Diesen Grundsatz hat der Gerichtshof auch bereits früh in seiner Praxis, im Staatenbeschwerdeverfahren Irland v. Vereinigtes Königreich, ausdrücklich anerkannt: „In order to satisfy itself as to the existence or not in Northern Ireland of practices contrary to Article 3 (art. 3), the Court will not rely on the concept that the burden of proof is borne by one or other of the two Governments concerned. In the cases referred to it, the Court examines all the material before it, whether originating from the Commission, the Parties or other sources, and, if necessary, obtains material proprio motu.“60
2. Aufgaben und Pflichten der Parteien Die Ablehnung subjektiver Beweislasten im Verfahren vor dem EGMR schließt aber nicht aus, dass die Parteien des Verfahrens ebenfalls Aufgaben und Pflichten im Zusammenhang mit der Kenntniserlangung von Beweisen durch den EGMR haben. So muss der Antragssteller nach Art. 46 b) und g) VerfO in Bezug auf Staatenbeschwerden und nach Art. 47 Abs. 1 d) und h) VerfO in Bezug auf Individualbeschwerden seinem Antrag eine kurze Darstellung des Sachverhalts und alle einschlägigen Unterlagen in Kopie beifügen. Nach Art. 38 EMRK haben die betreffenden Staaten alle zur wirksamen Durchführung der Ermittlungen erforderlichen Erleichterungen zu gewähren. Diese Mitwirkungspflichten der Staaten sind insbesondere in der Anlage betreffend Ermittlungen zur VerfO näher ausgestaltet.61 Diese Pflichten der Parteien, insbesondere die Pflicht zur Kooperation mit dem Gerichtshof, mögen zwar in der Sache einer subjektiven Beweislast ähneln;62 sie unterscheiden sich von dieser aber in Hinblick auf ihre Rechtsfolge und die Art der Verpflichtung. So führt ihre Missachtung nicht automatisch zu einer nachteiligen Entscheidung, wie es im Falle der Nichterfüllung der subjektiven Beweislast der Fall wäre.63 Vielmehr wird es Gegenstand der folgenden Untersuchung sein, welche negativen Entscheidung verknüpft haben. Der Grund dafür dürfte darin liegen, dass der EGMR bei der Frage, ob die innerstaatlichen Rechtsbehelfe erschöpft wurden, in besonderem Maße von der Mitwirkung der Parteien abhängig ist: Als außerhalb des nationalen Rechtssystems stehende Institution kann der Gerichtshof die Existenz, die Ergreifung sowie die Wirksamkeit der Rechtsbehelfe kaum allein beurteilen. Auch sind die Interessen zwischen den Parteien klar verteilt und die Beweismittel sind diesen leicht zugänglich. 60 Irland v. Vereinigtes Königreich, 5310/71, Urteil vom 18. Januar 1978, Abs. 160 (Hervorhebungen nicht im Original). Siehe auch Tomasi v. Frankreich, 12850/87, Bericht vom 11. Dezember 1990, Abs. 91. 61 Zu einzelnen typischen Mitwirkungsverpflichtungen siehe Schorm-Bernschütz, S. 165 ff., sowie ausführlich infra Kapitel 3, B.IV. Siehe allerdings auch Smith, EHRLR Issue 2 (2009), S. 206 (215), der skeptisch gegenüber einer Kooperationspflicht der Staaten aus Art. 28 Abs. 1 a) EMRK a.F. zu sein scheint. 62 Schorm-Bernschütz, S. 140. 63 Zu dieser Rechtsfolge einer Nichterfüllung der subjektiven Beweislast siehe Kokott, Beweislastverteilung, S. 378.
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Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
genaue Folge eine Verletzung der Kooperationspflichten, insbesondere durch den beschwerdegegnerischen Staat, nach sich zieht.64 Des Weiteren unterscheiden die Kooperationspflichten von subjektiven Beweislasten, dass sie Handlungs- und keine Ergebnispflichten darstellen: Die Partei ist zur Vornahme einer aktiven Handlung oder zu einer Duldung verpflichtet, soweit diese ihr möglich ist. Eine subjektive Beweislast hingegen fordert von der Partei, auf der sie ruht, ein bestimmtes Ergebnis herbeizuführen, das heißt konkret, ausreichende Beweise beizubringen. Wird dieses Ergebnis nicht erreicht, so entscheidet der Gerichtshof zu Lasten dieser Partei und dies unabhängig davon, ob die Herbeiführung des Erfolgs für die jeweilige Partei möglich war. 3. Die taktische Last Von einer subjektiven Beweislast und bestimmten Pflichten der Parteien gegenüber dem Gericht im Verfahren ist die so genannte taktische Last zu unterscheiden: Sie sieht vor, dass sich die Partei, auf der die objektive Beweislast ruht,65 in der Praxis regelmäßig bemühen wird, Beweise auch unaufgefordert und ohne dazu verpflichtet zu sein, beizubringen. Dies ist zwar unter Umständen rechtlich nicht gefordert und aufgrund der – gleichwohl oft theoretischen – Möglichkeit des EGMR, proprio motu Beweise zu erheben, auch nicht erforderlich, entspricht aber der Interessenlage und der Prozesstaktik und ist aufgrund der Arbeitsüberlastung des Gerichtshofes auch erwünscht.
II. Beweismittel und ihre Zulässigkeit Tatsachen werden anhand bestimmter Beweismittel dem Gericht zur Kenntnis gebracht. Welche unterschiedlichen Beweismittel es gibt, ist in der EMRK selbst nicht geregelt. Die VerfO hingegen kennt verschiedene Beweismittel: Zu diesen zählt das Dokument, die Anhörung von Zeugen, Sachverständigen oder einer anderen Person und die Ermittlung vor Ort. Diese Beispiele sind aber, wie aus Art. A1 Abs. 1 des Anhanges betreffend Ermittlungen folgt, nicht abschließend.66 Diese Beweismittel können in Einzelfällen unzulässig sein und dürften daher in der zeitlich nachfolgenden Phase der Evaluation der Beweismittel nicht herangezogen werden.67 So dürfen schriftliche Bemerkungen oder andere Dokumente nach Ablauf der dafür gesetzten Frist nach Art. 38 Abs. 1 S. 1 VerfO eigentlich nicht mehr eingereicht werden. Geschieht dies dennoch, dürfen sie gem. S. 2 vorbehaltlich einer anders
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Siehe dazu infra Kapitel 3, B.IV. Zu dieser infra Kapitel 3, A.IV. Im Einzelnen zu den Beweismitteln siehe Schorm-Bernschütz, S. 81 – 114. Zur Unzulässigkeit siehe Schorm-Bernschütz, S. 116 – 119.
A. Grundzüge des Beweisrechts im Verfahren vor dem EGMR
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lautenden Entscheidung des Präsidenten der Kammer nicht zur Akte genommen werden.68 Im Grundsatz folgt der EGMR dem Prinzip der freien Zulassung von Beweisen.69 Der Gerichtshof orientiert sich gerade nicht an dem aus dem deutschen Prozessrecht bekannten Strengbeweisverfahren oder an Verfahren aus dem common law, die ebenfalls strenge Zulässigkeitskriterien für Beweismittel aufstellen. So ist neben dem direkten Beweis grundsätzlich auch der indirekte Beweis („circumstantial evidence“) zulässig, dem insbesondere in Fällen des Verschwindenlassens eine große Bedeutung zukommt. Einen direkten oder auch unmittelbaren Beweis kennzeichnet, dass der Richter das Vorhandensein der Haupttatsache durch eigene Wahrnehmung selbst erfasst.70 Allerdings wird der Zeugenbeweis des Augenzeugen, der die Tat beobachtet hat, traditionell zu den unmittelbaren Beweisen gezählt, obwohl in der Sache ebenfalls nur ein indirekter Beweis vorliegt.71 Indirekte Beweise, auch mittelbare Beweise oder Indizienbeweise genannt, unterscheidet von direkten Beweisen, dass sie nur über einen oder mehrere Zwischenschritte zum Beweis der Haupttatsache geeignet sind. Sie beziehen sich auf den Beweis einer Hilfstatsache, des so genannten Indizes. Von dieser Hilfstatsache wird nun auf die Existenz der Haupttatsache beziehungsweise zunächst auf eine weitere, zwischengeschaltete Hilfstatsache geschlossen.72 Dabei macht ein belastendes Indiz die Existenz der Haupttatsache wahrscheinlicher, ein entlastendes unwahrscheinlicher.73 Dieser Schluss von dem Indiz auf die Haupttatsache erfolgt unter Heranziehung einer Schlussfolgerung („inference“). Eine Schlussfolgerung ist eine Methode des logischen Denkens; sie basiert zumeist auf der allgemeinen Lebenserfahrung74 und erwächst aus den konkreten Umständen der Beweislage im jeweiligen Fall.75 Es ist auch möglich, dass verschiedene indirekte Beweise als eine Beweiskette fungieren; in einem solchen Fall sind mehrere Indizien gestaffelt hintereinander geschaltet. So kann von einer Hilfstatsache erst auf eine andere Hilfstatsache gefolgert werden und so weiter, bis schließlich am Ende der Beweiskette die 68 Schorm-Bernschütz, S. 118 weist darauf hin, dass eine solche anders lautende Entscheidung aber die Regel darstellt. Abweichungen von Art. 38 VerfO sind auch nach Art. 31 VerfO möglich. 69 Nachova et al. v. Bulgarien, 43577/98, 43579/98, Große Kammer, Urteil vom 6. Juli 2005, Abs. 147: „In the proceedings before the Court, there are no procedural barriers to the admissibility of evidence“. Siehe auch Schorm-Bernschütz, S. 117, sowie Ausnahmen von diesem Prinzip, S. 117 ff.; Drzemczewski, in: Bayefsky (Hrsg.), S. 115 (126 in Bezug auf die ehemalige Kommission); Smith, EHRLR Issue 2 (2009), S. 206 (209); Erdal, E. L. Rev. Human Rights Survey 26 (2001), S. 68 (73); Erdal/Bakirci, S. 235; Reid, S. 39. 70 So die enge Definition von Bender/Nack/Treuer, S. 145. 71 Bender/Nack/Treuer, S. 146. 72 Benzing, S. 578; Bender/Nack/Treuer, S. 145. 73 Bender/Nack/Treuer, S. 148. Siehe auch Smith, EHRLR Issue 2 (2009), S. 206 (214). 74 Amerasinghe, S. 224; Benzing, S. 677. 75 Amerasinghe, S. 224. Siehe auch Smith, EHRLR Issue 2 (2009), S. 206 (214).
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Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
Schlussfolgerung auf die Haupttatsache folgt. Von dieser Beweiskette, bei der der Satz gilt, dass eine Kette nur so stark ist wie ihr schwächstes Glied,76 ist ein Beweisring zu unterscheiden.77 Bei diesem ist von jedem Indiz ohne Zwischenschritt auf die Haupttatsache zu folgern. Sind die Indizien dabei unabhängig voneinander, so gilt der Satz, dass die Gesamtbeweiskraft aller Indizien das Produkt der Beweiskraft der einzelnen Indizien ist.78 In den Fällen des Verschwindenlassens spielte der Indizienbeweis bereits in der Beschwerde Kurt eine wichtige Rolle. In dieser und in einigen späteren Urteilen schien der EGMR allerdings die Zulässigkeit dieses Beweises einschränken zu wollen. Im Urteil der Beschwerde Kurt bemängelte der EGMR in Hinblick auf die vorgelegten Indizien, dass keine konkreten Beweise („concrete evidence“) den Tod des Opfers sowie die Verantwortlichkeit des Staates bewiesen und verneinte im Ergebnis eine Verletzung von Art. 2 EMRK.79 In der darauf entschiedenen Beschwerde C ¸ akıcı stellte der EGMR den Tod und die Verantwortlichkeit des Staates anhand von Indizien fest, die – so der Gerichtshof – auf konkreten Elementen („concrete elements“) basierten: „The Court finds on this basis that there is sufficient circumstantial evidence, based on concrete elements, on which it may be concluded beyond reasonable doubt that Ahmet C¸akıcı died following his apprehension and detention by the security forces.“80
Der gleiche Ausdruck findet sich auch im Leiturteil Timurtas¸ : „Whether the failure on the part of the authorities to provide a plausible explanation as to a detainee’s fate, in the absence of a body, might also raise issues under Article 2 of the Convention will depend on all the circumstances of the case, and in particular on the existence of sufficient circumstantial evidence, based on concrete elements, from which it
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Bender/Nack/Treuer, S. 163. So das Vorgehen von Bender/Nack/Treuer, S. 159 ff. 78 Bender/Nack/Treuer, S. 160. Sind die Indizien hingegen abhängig voneinander, lässt sich die Gesamtbeweiskraft nicht anhand dieser Formel bestimmen. Bender/Nack/Treuer, S. 160 f. unterscheiden dann zwischen positiver und negativer Abhängigkeit und schlagen vor, die Indizien zu einer Indizienfamilie zusammenzufassen. 79 Kurt v. Türkei, 24276/94, Urteil vom 25. Mai 1998, Abs. 107 f.: „[T]he Court must carefully scrutinise whether there does in fact exist concrete evidence which would lead it to conclude that her son was, beyond reasonable doubt, killed by the authorities […]. It is to be observed in this regard that the applicant’s case rests entirely on presumptions deduced from the circumstances of her son’s initial detention bolstered by more general analyses of an alleged officially tolerated practice of disappearances and associated ill-treatment and extra-judicial killing of detainees in the respondent State. The Court for its part considers that these arguments are not in themselves sufficient to compensate for the absence of more persuasive indications that her son did in fact meet his death in custody.“ (Hervorhebung nicht im Original). Dazu siehe auch Chevalier-Watts, Human Rights Review 11/4 (2010), S. 1 (4). 80 C¸akıcı v. Türkei, 23657/94, Urteil vom 8. Juli 1999, Abs. 85. 77
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may be concluded to the requisite standard of proof that the detainee must be presumed to have died in custody […].“81
Damit könnte diese frühe Rechtsprechung in Fällen des Verschwindenlassens die Zulässigkeit des Indizienbeweises davon abhängig machen, dass dieser auf gewissen konkreten Elementen („concrete elements“) beruht. Allerdings spezifizierte der EGMR nicht, was diese konkreten Elemente genau kennzeichnet, so dass eine solche Eingrenzung bereits als zu unbestimmt zu kritisieren wäre. Außerdem basiert selbstverständlich auch der Indizienbeweis auf einem konkreten Beweismittel, das sich allerdings nicht unmittelbar auf die Haupttatsache bezieht, sondern deren Vorliegen nur mittelbar wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher macht. Eine Eingrenzung der Zulässigkeit des indirekten Beweises ist mit dieser Forderung nach „konkreten Elementen“ daher nicht verbunden. Zu Recht rückte der Gerichtshof von dieser Rechtsprechung auch in den Folgeentscheidungen ab und zog ohne nähere Ausführungen indirekte Beweise heran.82 Bestehende Zweifel in Hinblick auf den konkreten Beweiswert eines Indizes lassen sich im Rahmen der sich anschließenden Beweiswürdigung berücksichtigen.83
III. Evaluation der festgestellten Beweise Diese zulässigen Beweise werden nunmehr vom EGMR evaluiert. Im Rahmen dieser Evaluation zieht der EGMR den Grundsatz der freien Beweiswürdigung heran:84 Alle festgestellten Beweise werden vom EGMR in einer umfassenden Zusammenschau gewürdigt; dabei ist der Gerichtshof grundsätzlich frei in der Entscheidung, welches Gewicht er den einzelnen Beweismitteln zuweist.85 So berücksichtigt der EGMR im Rahmen der Beweiswürdigung von Zeugenaussagen auch kulturelle Besonderheiten und die sprachlichen Barrieren. Dies ist insbesondere bei 81 Timurtas¸ v. Türkei, 23531/94, Urteil vom 13. Juni 2000, Abs. 82 (Hervorhebung nicht im Original). Diese Passage der Timurtas¸-Entscheidung wird von vielen darauf folgenden Urteilen, die Fälle des Verschwindenlassens behandeln, zitiert, z. B. in Bazorkina v. Russland, 69481/01, Urteil vom 27. Juli 2006, Abs. 109; Imakayeva v. Russland, 7615/02, Urteil vom 9. November 2006, Abs. 140. 82 Siehe Barrett, Harvard HRJ 22 (2009), S. 133 (140) mit Verweis auf die Fälle Umarov, Musayeva und Akhiyadova. 83 Siehe dazu infra Kapitel 3, A.III.1. 84 So in Nachova et al. v. Bulgarien, 43577/98, 43579/98, Urteil vom 26. Februar 2004, Abs. 166: The Court „has adhered to the principle of free assessment of all evidence“. Siehe auch Smith, EHRLR Issue 2 (2009), S. 206 (209); Benzing, S. 501; Reid, S. 39; SchormBernschütz, S. 119 f.; Tigroudja, in: Ruiz Fabri/Sorel (Hrsg.), S. 115 (132). 85 Nachova et al. v. Bulgarien, 43577/98, 43579/98, Urteil vom 26. Februar 2004, Abs. 166: The Court „has resisted suggestions to establish rigid evidentiary rules“. Nachova et al. v. Bulgarien, 43577/98, 43579/98, Große Kammer, Urteil vom 6. Juli 2005, Abs. 147: „In the proceedings before the Court, there are no procedural barriers to the admissibility of evidence or pre-determined formulae for its assessment.“ Siehe auch Schorm-Bernschütz, S. 119.
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Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
Aussagen von Augenzeugen der Entführung einer verschwundenen Person von Belang, die oft erst Jahre nach der Tat gemacht werden und in mehreren Zwischenschritten in eine Konventionssprache übersetzt werden müssen.86 In der Regel erfahren im Rahmen der Beweiswürdigung dennoch die einzelnen Beweismittel eine Abstufung nach ihrem Aussagegehalt. Diese folgt aber keinen festgelegten Regeln, sondern ist vielmehr der allgemeinen Lebenserfahrung und der Logik geschuldet. Sie führt oft dazu, dass direkte Beweismittel stärker gewichtet werden als indirekte Beweismittel und der Gerichtshof zögert, Feststellungen allein auf Indizien zu stützen. 1. Der Beweiswert indirekter Beweise beziehungsweise von Schlussfolgerungen Diese in der Praxis existente Abstufung des Beweiswerts der Beweismittel wirft gerade in Fällen des Verschwindenlassens erhebliche Probleme auf. Denn diesen Beschwerden liegen Sachverhalte zugrunde, für deren Beweis es an direkten Beweismitteln von Anfang an mangelt beziehungsweise die dem Beschwerdeführer und dem Gerichtshof ohne die Kooperation des beschwerdegegnerischen Staates nicht zugänglich sind. Insbesondere im Rahmen der Prüfung einer Verletzung von Art. 2 EMRK in seinem materiellen Gehalt stehen meist keine direkten Beweismittel in Bezug auf die entscheidenden Haupttatsachen, den Tod des Opfers sowie die Umstände, die die Verantwortlichkeit des Staates für diesen begründen, zur Verfügung. Die Leiche ist nicht auffindbar; Augenzeugen für die Tötung oder andere, zum Beispiel dokumentarische Beweismittel in dieser Hinsicht liegen nicht vor. Die Feststellung einer Verletzung von Art. 5 EMRK setzt den Nachweis voraus, dass das Opfer durch den Staat seiner Freiheit beraubt wurde, wofür ebenfalls in der Regel keine direkten Beweise vorhanden sind. So wird die Entführung und Inhaftierung des Opfers gerade nicht protokolliert.87 Der konkrete Beweiswert, der einem indirekten Beweis im Rahmen der Beweiswürdigung zugewiesen wird, hängt davon ab, welches Gewicht der Schlussfolgerung zukommt, mit Hilfe derer von der Hilfstatsache auf die Haupttatsache gefolgert wird. Die Bedeutung von Schlussfolgerungen („inferences“) bestätigte der Gerichtshof bereits im Verfahren Irland v. Vereinigtes Königreich: „such proof may follow from the coexistence of sufficiently strong, clear and concordant inferences […].“88 Es ist grundsätzlich eine Frage des Einzelfalls, ob ein Indiz das Vorliegen der 86 Siehe C¸akıcı v. Türkei, 23657/94, Bericht vom 12. März 1998, Abs. 192: „In relation to the oral evidence, the Commission has been aware of the difficulties attached to assessing evidence obtained orally through interpreters (in some cases via Kurdish and Turkish into English): it has therefore paid careful and cautious attention to the meaning and significance which should be attributed to the statements made by witnesses appearing before its Delegates“. Siehe auch Liddy, Irish Law Times 18 (2002), S. 281 (286). 87 Vgl. Scovazzi/Citroni, S. 190 f. 88 Irland v. Vereinigtes Königreich, 5310/71, Urteil vom 18. Januar 1978, Abs. 161. Danach ständige Rechtsprechung.
A. Grundzüge des Beweisrechts im Verfahren vor dem EGMR
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Haupttatsache, auf deren Beweis es sich bezieht, so wahrscheinlich macht, dass das Gericht diese Tatsache feststellt. Mit Hilfe einer Schlussfolgerung kann ein weiterer Beweis überflüssig gemacht werden, sie kann aber auch nur neben anderen Beweismitteln gewürdigt werden.89 Der EGMR hat auf die Beweisnot in Fällen des Verschwindenlassens im Verlauf seiner Rechtsprechung reagiert und bestimmte indirekte Beweise regelmäßig herangezogen, die Tatsachenfeststellung entscheidend auf diese gestützt und ihnen damit einen hohen Beweiswert zugewiesen.90 Im Rahmen der Prüfung einer Verletzung von Art. 2 EMRK in seinem materiellen Gehalt zog der EGMR in der Timurtas¸-Leitentscheidung zum Nachweis des Todes des Opfers die folgenden Umstände heran: Zunächst nennt er die seit der Inhaftierung verstrichene Zeitspanne, während der kein Lebenszeichen von dem Opfer erhalten wurde.91 Außerdem zieht der EGMR heran, dass das Opfer inhaftiert wurde. Schließlich fügt der Gerichtshof an, dass die nicht anerkannte Inhaftierung einer Person, derer der Staat aufgrund terroristischer Aktivitäten habhaft zu werden versucht, lebensbedrohlich sein kann.92 In den Fällen gegen Russland hat der EGMR diese Umstände inzwischen weiter gefasst: Er stellt nunmehr darauf ab, dass das Opfer zuletzt in den Händen von dem Staat zuzurechnenden Sicherheitskräften gesehen wurde, seitdem keine Neuigkeiten bekannt wurden, viele Jahre verstrichen sind, eine Entführung und nicht anerkannte Verhaftung in Tschetschenien lebensbedrohlich sei, die Regierung keine Erklärung für das Verschwinden gab und die offizielle Untersuchung keine Ergebnisse lieferte.93 Als entscheidende Indizien für den Nachweis des Todes sind daher auszumachen, dass das Opfer in nicht anerkannter Haft gehalten wurde beziehungsweise auf sonstige Weise seiner Freiheit beraubt wurde und dies dem Staat zurechenbar ist. Des 89
Schorm-Bernschütz, S. 124 f. Abweichend Benzing, S. 677, nach dem tatsächliche Vermutungen das Beweismaß absenken. 90 Barrett, Harvard HRJ 22 (2009), S. 133 (139): „In the first three Chechnya enforced disappearance cases brought before it, the Court demonstrated a willingness to find state responsibility on the basis of circumstantial evidence derived from the surrounding facts. This marks a great step forward for the Court: when the ECtHR addressed enforced disappearances in Turkey, it took six years (from 1998 to 2004) and over twenty cases to reach a similar result.“ Vgl. Auch Abdel-Monem, Vermont Law Review 28 (2003 – 2004), S. 237 (291 f.). 91 Timurtas¸ v. Türkei, 23531/94, Urteil vom 13. Juni 2000, Abs. 83, 85, hier sechseinhalb Jahre. Siehe auch Scovazzi/Citroni, S. 197 f., die zu Recht kritisieren, dass der Gerichtshof anfangs eine nicht nachzuvollziehende Differenzierung in der Dauer der Zeit machte. Kritisch auch Hendin, Baltic Yearbook of International Law 4 (2004), S. 75 (105) sowie ChevalierWatts, Human Rights Review 11/4 (2010), S. 1 (6 ff.). 92 Timurtas¸ v. Türkei, 23531/94, Urteil vom 13. Juni 2000, Abs. 85. In der Beschwerde Enzile Özdemir v. Türkei, 54169/00, Urteil vom 8. Januar 2008, stellt der EGMR ebenfalls auf die Dauer des Verschwindens (Abs. 49) sowie auf die Lebensbedrohlichkeit der nicht anerkannten Verhaftung (Abs. 45) ab. 93 Imakayeva v. Russland, 7615/02, Urteil vom 9. November 2006, Abs. 141; siehe auch Khaydayeva et al. v. Russland, 1848/04, Urteil vom 5. Februar 2009, Abs. 103 – 104; Dzhabayeva v. Russland, 13310/04, Urteil vom 2. April 2009, Abs. 83 – 84.
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Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
Weiteren ist entscheidend, dass eine gewisse Zeitspanne seither ohne Nachricht verstrichen ist.94 Während letztere Hilfstatsache meist zwischen den Parteien unumstritten ist, beschäftigt sich der Hauptteil der Prüfung, ob vom Tod des Opfers auszugehen ist, damit festzustellen, dass das Opfer zuvor durch den Staat seiner Freiheit beraubt wurde. Damit konzentriert sich die Tatsachenfeststellung im Rahmen der Prüfung von Art. 2 EMRK in seinem materiellen Gehalt auf die Feststellung einer Hilfstatsache. Diese Hilfstatsache wiederum stellt die relevante Haupttatsache im Rahmen der sich regelmäßig anschließenden Prüfung einer Verletzung von Art. 5 EMRK dar. Die besondere Bedeutung, die diese Hilfstatsache für den Beweis des Todes hat, jedenfalls soweit es wiederholt zu ähnlichen Fällen des Verschwindenlassens gekommen ist und daher von der Lebensbedrohlichkeit einer nicht anerkannten Inhaftierung auszugehen ist, wird in Kapitel 3, B.III. ausführlich untersucht. Die Kontrolle des Staates über das Opfer zum vermuteten Todeszeitpunkt wiederum spielt eine Rolle beim Beweis der Verantwortlichkeit des Staates für den Tod. Dieser Aspekt wird in Kapitel 3, B.II. näher untersucht. In Bezug auf bestimmte weitere indirekte Beweismittel haben sich in der Rechtsprechung des EMGR zu Fällen des Verschwindenlassens ebenfalls Grundsätze herausgebildet.95 Dies betrifft zum einen den Beweiswert von Haftbüchern („custody records“). In diesen sind die verschwundenen Personen meist gerade nicht als inhaftierte Personen geführt. Nach Ansicht des EGMR folge daraus aber gerade nicht, dass sich die relevante Person nicht in staatlicher Haft befunden habe. Den Haftbüchern komme insofern kein (negativer) Beweiswert zu, da sie unvollständig geführt seien.96 Des Weiteren scheint der Gerichtshof als ein den Staat belastendes Indiz heranzuziehen, dass der Staat keine oder nur unzureichende nationale Ermittlungen im Zusammenhang mit dem Verschwinden des Opfers geführt hat.97 In Kapitel 3, B.IV. wird näher analysiert, dass die Tatsache, dass der beschwerdegegnerische Staat die Kooperation mit dem Gerichtshof verweigert, als ein ihn belastendes Indiz einzustufen ist.
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So in Aziyevy v. Russland, 77626/01, Urteil vom 20. März 2008, Abs. 76. Auch der IAGMR hat die besondere Bedeutung indirekter Beweise in Fällen des Verschwindenlassens schon früh erkannt, siehe Pasqualucci, S. 208. 96 Orhan v. Türkei, 25656/94, Urteil vom 18. Juni 2002, Abs. 313. 97 So in Imakayeva v. Russland, 7615/02, Urteil vom 9. November 2006, Abs. 141; Khaydayeva et al. v. Russland, 1848/04, Urteil vom 5. Februar 2009, Abs. 103 – 104; Dzhabayeva v. Russland, 13310/04, Urteil vom 2. April 2009, Abs. 83 – 84. Siehe auch die Forderung von Richter Bonello in Pruneanu v. Moldawien, 6888/03, Urteil vom 16. Januar 2007, teilweise abweichende Meinung von Richter Bonello, beigetreten von Richter Traja und Richter Mijovic, Abs. 3. Altermann, S. 168 ff. weist richtigerweise darauf hin, dass mangelnde Ermittlungen keine Umkehr der Beweislast nach sich ziehen. Damit können die mangelhaften oder fehlenden nationalen Ermittlungen zum einen eine Verletzung des prozeduralen Gehalts eines Konventionsrechts begründen (siehe dazu bereits ausführlich supra Kapitel 2, B.II.1.) und zum anderen im Rahmen der Tatsachenfeststellung herangezogen werden, um die vom Beschwerdeführer vorgetragenen Tatsachen zu stützen (so auch White/Ovey, S. 179). 95
A. Grundzüge des Beweisrechts im Verfahren vor dem EGMR
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2. Vermutungen und ihr Beweiswert Im Rahmen der Beweiswürdigung können neben Schlussfolgerungen („inferences“) auch Vermutungen („presumptions“) eine Rolle spielen. Eine solche „echte“ Vermutung – auch als „presumption[s] of law“ oder „legal presumption[s]“98 bezeichnet – liegt vor, wenn eine Tatsache, die Vermutungsfolge, aus einer anderen (Hilfs-)Tatsache, der Vermutungsbasis, folgt.99 Diese Folgerung muss, anders als im Fall einer bloßen Schlussfolgerung, vom Gericht vorgenommen werden und weist daher einen sehr hohen Beweiswert auf. Dabei ist die Vermutung aber widerlegbar.100 Eine Vermutung beruht – und dies unterscheidet sie von einer bloßen Schlussfolgerung – auf einer rechtlichen Grundlage.101 Dabei folgen Vermutungen im internationalen Recht nicht wie meist im nationalen Recht aus Gesetzen, sondern aus den allgemeinen Quellen des Völkerrechts, das heißt aus Verträgen, Gewohnheitsrecht und insbesondere den allgemeinen Rechtsgrundsätzen.102 Die EMRK und die VerfO sehen keine Vermutung vor. Es ist aber davon auszugehen, dass Vermutungen im System des EMRK auch in Präzedenzentscheidungen ihre „rechtliche“ Grundlage haben können.103 Diese Auffassung kann sich zum einen darauf stützen, dass dies in common law Ländern der Fall sein kann,104 sowie zum anderen auf die besondere Bedeutung, die vorangegangenen EGMR-Entscheidungen für die spätere Rechtsprechung zukommt. Auch scheint der Übergang zwischen einer Rechtsgrundlage basierend einerseits auf einer Präzedenzentscheidung und andererseits auf einer durch eine ständige Rechtsprechung geschaffenen EMRK-spezifischen Norm des Gewohnheitsrechts fließend zu sein. Von diesen „echten“ Vermutungen sind Schlussfolgerungen („inferences“) abzugrenzen, die fälschlicherweise ebenfalls als Vermutungen bezeichnet werden. Diese Schlussfolgerungen werden als „presumptions of fact“ oder „judicial pre98
Amerasinghe, S. 211; Kazazi, S. 239 f. Amerasinghe, S. 211: „A presumption requires that a finding of a basic fact give rise to the existence of a presumed fact.“ Pasqualucci, S. 209 unter Verweis auf das Black’s Law Dictionary: „A presumption is ,[a] legal inference or assumption that a fact exists, based on the know or proven existence of some other fact or group of facts‘“. Siehe auch Dürig, S. 91: Statt sich auf eine Tatsache zu beziehen, kann auch die Entscheidung einer Rechtsfrage Gegenstand einer Vermutung sein. Siehe aber auch Franck/Prows, LPICT 4 (2005), S. 197 (200), die auch Schlussfolgerungen unter den Begriff der „presumtion“ verstehen. Weiter gefasst ist auch die Definition von Niyungeko, S. 104, siehe S. 127 ff. zur Unterscheidung von Vermutungen und Schlussfolgerungen. 100 Unwiderlegliche Vermutungen sind nur „verkürzt gefaßte Gesetzestatbestände“, Dürig, S. 91; siehe auch Kazazi, S. 257 f.; Amerasinghe, S. 222 f.; ähnlich Benzing, S. 675 (unwiderlegliche Vermutungen ordnen materielle Rechtsfolgen an), 680 f. (es sind keine unwiderleglichen Vermutungen bekannt). 101 Amerasinghe, S. 211. 102 Kazazi, S. 245; Amerasinghe, S. 218. Siehe auch Benzing, S. 680, es dürfe nicht auf ein zu formales Verständnis von Gesetz abgestellt werden. 103 Siehe Amerasinghe, S. 218; Kazizi, S. 250 f. 104 Kazazi, S. 240. 99
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Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
sumptions“105 bezeichnet; sie basieren auf der Lebenserfahrung und dem gesunden Menschenverstand sowie Geboten der Logik und gerade nicht auf einer rechtlichen Grundlage.106 Im Einzelfall können sie große Überzeugungskraft und einen damit verbundenen hohen Beweiswert haben. Der EGMR hat schon 1978 in der Beschwerde Irlands gegen Großbritannien neben der Bedeutung von „inferences“ auch die Bedeutung von „presumptions of fact“ anerkannt: „such proof may follow from the coexistence […] of similar unrebutted presumptions of fact.“107 In Fällen, die das Verschwindenlassen von Personen betreffen, nimmt der EGMR ebenfalls auf „presumptions of fact“ Bezug. Die folgende Formulierung aus dem Urteil Velikova, die der EGMR in der Orhan-Entscheidung, die das Verschwindenlassen einer Person betraf, heranzog, entwickelt eine „presumptions of fact“, die darauf abstellt, dass der Staat die nahezu ausschließliche Kenntnis über das fragliche Geschehen hat: „Where the events in issue lie wholly, or in large part, within the exclusive knowledge of the authorities, as in the case of persons within their control while in custody, strong presumptions of fact will arise in respect of injuries and death occurring during that detention. Indeed, the burden of proof may be regarded as resting on the authorities to provide a satisfactory and convincing explanation.“108
Diese „presumptions of fact“ wird Gegenstand der Untersuchung in Kapitel 3, B.II. sein. In Kapitel 3, B.IV. wird die Frage analysiert, ob eine „echte“ Vermutung daran anknüpft, dass der Staat nicht mit dem Gerichtshof kooperiert. 3. Das Beweismaß Die in der Beweiswürdigung heranzuziehenden Beweismittel müssen das Gericht zu einem bestimmten Grad vom Vorliegen der behaupteten Tatsache überzeugen. Wird dieser Grad an Gewissheit erreicht, so stellt das Gericht die Tatsache als bewiesen fest, legt sie ihren weiteren Feststellungen zugrunde und nimmt schließlich auf ihrer Grundlage die rechtliche Bewertung vor. Der erforderliche Überzeugungsgrad wird durch das angewendete Beweismaß bestimmt.109 Weder die Konvention selbst noch die VerfO regeln allerdings, welches Beweismaß der EGMR
105 Amerasinghe, S. 212, 223; Kazazi, S. 240; Auburn, in: Malek (Hrsg.), S. 136; Benzing, S. 677. Smith, EHRLR Issue 2 (2009), S. 206 (214) weist darauf hin, dass der EGMR die Begriffe austauschbar verwendet. 106 Auburn, in: Malek (Hrsg.), S. 136. 107 Irland v. Vereinigtes Königreich, 5310/71, Urteil vom 18. Januar 1978, Abs. 161. Siehe auch Kommission in Zypern v. Türkei, 25781/94, Bericht vom 4. Juni 1999, Abs. 133. 108 Zuerst in Velikova v. Bulgarien, Urteil vom 18. Mai 2000, Abs. 70; Orhan v. Türkei, 25656/94, Urteil vom 18. Juni 2002, Abs. 327 (Hervorhebung nicht im Original). Auf dieses Urteil stellt auch Hendin, Baltic Yearbook of International Law 4 (2004), S. 75 (97 f.) ab. 109 Schorm-Bernschütz, S. 120; Erdal, E. L. Rev. Human Rights Survey 26 (2001), S. 68 (73); Dennis, S. 370; Barceló, Cornell ILJ 42 (2009), S. 23 (30); Benzing, S. 506.
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anzuwenden hat.110 Wie in Kapitel 3, B.I. näher dargestellt und kritisch bewertet wird, zieht der EGMR in ständiger Rechtsprechung das Beweismaß „proof beyond reasonable doubt“ heran.
IV. Die objektive Beweislast Möglich ist, dass die Evaluation der Beweise nicht zur Feststellung einer Tatsache führt, da das erforderliche Beweismaß nicht erreicht wurde. Das Verbot des nonliquet111 fordert in diesem Fall, dass der Gerichtshof dennoch eine Entscheidung trifft. Der Ausgang dieser Entscheidung wird durch die so genannte objektive Beweislast112 bestimmt. Diese legt fest, zu Lasten welcher Partei das Gericht zu entscheiden hat, wenn eine Tatsache nicht zum geforderten Beweismaß bewiesen ist.113 Diese Beweislosigkeit tritt ein, obwohl das Gericht alle Beweise, die zu seiner Kenntnis gelangt sind, berücksichtigte. Die objektive Beweislast bestimmt mit anderen Worten, welche Partei das Risiko trägt, dass eine Tatsache nach Ausschöpfung aller verfügbaren Beweise ungeklärt bleibt. Die Gefahr eines non-liquet besteht insbesondere dann, wenn ein hohes Beweismaß zur Anwendung kam. Die Bedeutung der objektiven Beweislast ist daher umso größer, je höher das Beweismaß, das das Gericht heranzieht,114 und je prekärer die Beweislage ist. Welche Partei in Verfahren vor dem EGMR diese objektive Beweislast trägt, regelt – jedenfalls nicht explizit – weder die EMRK noch die VerfO. Der Rechtsprechung lässt sich entnehmen, dass die objektive Beweislast grundsätzlich auf der Partei ruht, zu deren Vorteil die Feststellung der Tatsache, deren Beweis nicht gelungen ist, gereichen würde.115 Dies entspricht dem Grundsatz „actori incumbit probatio“.116 Äußerungen des EGMR, die gegen eine solche Zuweisung der objek110
Drzemzcewski, in: Bayefsky (Hrsg.), S. 115 (126, noch in Bezug auf die VerfO der ehemaligen Kommission); Schorm-Bernschütz, S. 120. 111 Dieses sieht vor, dass das Gericht in der Rechtssache entscheiden muss, auch wenn bestimmte Tatsachen unklar bleiben. Siehe Schorm-Bernschütz, S. 135, 137 (auch zur Geltung im Verfahren vor dem EGMR); Kokott, The Burden of Proof, S. 157 – 160. 112 Auch „burden of proof“, „legal burden“, „persuasive burden“, „the risk of nonpersuasion“ genannt, siehe Kazazi, S. 24 in Bezug auf Länder des common law-Rechtskreises. Siehe auch Barceló, Cornell ILJ 42 (2009), S. 23 (27); Benzing, S. 591. 113 Siehe Kazazi, S. 29: „[…] the risk that the issue or case will be decided to the detriment of the party that bears the burden of proof of an essential issue“. Benzing, S. 587; Thienel, GYIL 50 (2007), S. 543 (548). 114 So auch Prütting, S. 66; Kokott, The Burden of Proof, S. 196 f.; Thienel, GYIL 50 (2007), S. 543 (544 f.). 115 Siehe Wiesbrock, S. 233 und Krüger, in: FS Nørgaard, S. 249 (251) (etwas ungenau: der Beschwerdeführer); Thienel, GYIL 50 (2007), S. 543 (550); Leach/Paraskeva/Uzelac, S. 17; Schorm-Bernschütz, S. 143; Meyer-Ladewig, Art. 2, Rn. 31. 116 Die wörtliche Übersetzung – dem Kläger obliegt der Beweis – ist insofern nicht ganz zutreffend, als dass es nicht darauf ankommt, welche formelle Position im Verfahren die Partei einnimmt, zu deren Vorteil die Tatsache gereichen würde (so auch Benzing, S. 595 f.). Siehe auch Aktas v. Türkei, 24351/94, Urteil vom 24. April 2003, Abs. 272; Timurtas¸ v. Türkei,
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tiven Beweislast, die dann zweideutig als „burden of proof“ bezeichnet wird, zu sprechen scheinen, beziehen sich hingegen auf die nicht existierende subjektive Beweislast.117 In Fällen des Verschwindenlassens gelingt regelmäßig in erster Linie der Beweis der Tatsachen nicht, die der Beschwerdeführer vorträgt und die eine Verletzung von Art. 2 EMRK in seinem materiellen Gehalt begründen sollen, mithin der Tod des Opfers und die Tatsachen, aus denen die Verantwortlichkeit des Staates für diesen folgt. Da die Feststellung dieser Tatsachen für den Beschwerdeführer von Vorteil wäre, ruht auf diesem auch grundsätzlich die objektive Beweislast. Hingegen spielen regelmäßig in Fällen des Verschwindenlassens die Tatsachen keine Rolle, auf die sich eine Rechtfertigung des Staates stützen könnte, da dieser eine solche nicht erhebt beziehungsweise sie offensichtlich unbegründet ist. Daher kann außerhalb der näheren Betrachtung bleiben, ob der EGMR für diese Tatsachen die objektive Beweislast – fälschlicherweise – ebenfalls dem Beschwerdeführer zuweisen könnte, wie aus der Entscheidung Agdas zu folgen scheint.118 23531/94, Urteil vom 13. Juni 2000, Abs. 66 in der der Ausdruck affirmanti incumbit probatio (he who alleges something must prove that allegation) gebraucht wird, allerdings in Bezug auf eine taktische Beweislast und Kooperationspflichten. Thienel, GYIL 50 (2007), S. 543 (550) spricht von einem allgemein akzeptierten Grundsatz; siehe auch Benzing, S. 670 f.; Brown, S. 93; Niyungeko, S. 26 ff. Siehe Robertson, ICLQ 39 (1990), S. 191 zur Beweislast in Bezug auf die Erschöpfung innerstaatlicher Rechtsbehelfe. 117 Siehe Irland v. Vereinigtes Königreich, 5310/71, Urteil vom 18. Januar 1978, Abs. 160: „[T]he Court will not rely on the concept that the burden of proof is borne by one or other of the two Governments concerned. In the cases referred to it, the Court examines all the material before it, whether originating from the Commission, the Parties or other sources, and, if necessary, obtains material proprio motu.“ Siehe auch Timurtas¸ v. Türkei, 23531/94, Urteil vom 13. Juni 2000, Abs. 66: „More importantly, the Court would emphasise that Convention proceedings do not in all cases lend themselves to rigorous application of the principle of affirmanti incumbit probatio (he who alleges something must prove that allegation).“ Das Verständnis dieser Aussage als Bezug auf die subjektive Beweislast wird von Benzing, S. 662 geteilt. Siehe auch Rudolf, EuGRZ 23 (1996), S. 497 (499, Fn. 29). 118 In der Beschwerde Agdas v. Türkei, 34592/97, Urteil vom 27. Juli 2004 hatte der EGMR zu entscheiden, ob eine Tötung in Notwehr geschah und damit im Sinne von Art. 2 Abs. 2 EMRK unbedingt erforderlich war. Der Gerichtshof stellte fest (Abs. 96): „[T]he Court considers that there is an insufficient factual and evidentiary basis on which to conclude that the applicant’s brother was deprived of his life by the police officers as a result of the use of force which was more than absolutely necessary within the meaning of paragraph 2 of Article 2 of the Convention.“ In der Folge verneinte er das Vorliegen einer Verletzung von Art. 2 EMRK (Abs. 96) und wies damit die objektive Beweislast für die Tatsachen, auf die sich die Rechtfertigung stützte, dem Beschwerdeführer zu. Richtigerweise kritisiert Richter Bratza in seiner teilweise abweichenden Meinung dieses Vorgehen (Abs. 2, 6): „[I]t seems to me that it must in principle be for the respondent State to establish on the evidence before the Court that the deprivation of life resulted from the use of force which was no more than ,absolutely necessary‘ for one or more of the legitimate purposes set out in paragraph 2 of Article 2 […].“ „As noted above, the test to be applied is not whether there is a sufficient evidence to satisfy the Court that the use of force was more than absolutely necessary; rather, it is whether the evidence is such as to satisfy the Court that the use of force was no more than absolutely necessary in self-defence.“ Siehe auch Thienel, GYIL 50 (2007), S. 543 (551 – 554).
A. Grundzüge des Beweisrechts im Verfahren vor dem EGMR
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Eine Schlussfolgerung berührt die Zuweisung der objektiven Beweislast nicht;119 sie stellt vielmehr eine Methode im Rahmen der Evaluation der Beweise dar, um den Zustand der Beweislosigkeit zu verhindern, so dass eine Beweislastentscheidung überhaupt nicht erforderlich wird.120 Die Zuweisung der objektiven Beweislast für die Indizien, von denen mittels der Schlussfolgerung auf die Haupttatsache gefolgert wird, richtet sich nach dem allgemeinen Grundsatz „actori incumbit probatio“: Sie ruht auf dem Beschwerdeführer, wenn das Indiz die Existenz einer Haupttatsache wahrscheinlicher macht, für die er die objektive Beweislast trägt. Im gegensätzlichen Fall ruht sie auf dem beschwerdegegnerischen Staat.121 Ob eine „echte“ Vermutung – im Gegensatz zur „unechten“ Vermutung, die eine Schlussfolgerung ist – die Zuweisung der objektiven Beweislast beeinträchtigt,122 ist hingegen umstritten. Während einige Autoren Vermutungen per se als Beweislastnormen verstehen,123 sehen andere in ihnen eine Methode, um den Zustand der Beweislosigkeit und damit eine Beweislastentscheidung gerade zu verhindern.124 Diese Auffassungen unterscheidet, dass die Rechtsfolge einer Vermutung entweder immer eine Beweislastentscheidung in Bezug auf die Tatsache oder aber die Feststellung dieser Tatsache ist. Jenseits dieser Kontroverse, die letztlich ohne praktische Auswirkungen bleibt, steht jedenfalls fest, dass eine Vermutung in erster Linie eine Verschiebung des Beweisthemas bewirkt: Gegenstand der Beweisführung ist nunmehr nicht die schwer zu beweisende Haupttatsache, die Vermutungsfolge, sondern die meist wesentlich leichter zu beweisende Hilfstatsache, die Vermutungsbasis.125 Die Beweislast für diese Vermutungsbasis bestimmt sich nach der allgemeinen Regel;126 sie trägt damit die Partei, für die ihr Vorliegen zum Vorteil gereichte. Die Vermutung selbst ist keine Tatsache, sondern eine Rechtsfrage und unterliegt damit nicht dem Beweis.127
119
Benzing, S. 677; Dennis, S. 420. Benzing, S. 677. 121 Vgl. Prütting, S. 15 f. 122 Es würde sich nicht um eine „Umkehr“ oder „Verlagerung“ der Beweislast handeln; die objektive Beweislast wechselt nicht im Laufe eines Verfahrens von einer Partei zur anderen (Amerasinghe, S. 43; Benzing, S. 671; Kazazi, S. 36, 253; Mosk, Recueil des cours 304 (2003), S. 131). Vielmehr würde sie von Anfang an anders verteilt sein. Wenn im Text davon die Rede ist, dass sich die Beweislast verlagere, ist die Wortwahl folglich damit ungenau. Die objektive Beweislast ruht eigentlich von Anfang an auf der anderen Partei. 123 So Dürig, S. 91, von ihr als h.M. bezeichnet m.w.N. Siehe auch Auburn, in: Malek (Hrsg.), S. 135; Dennis, S. 418, 421; wohl auch Benzing, S. 675, 677. 124 Amerasinghe, S. 219, 221; Kazazi, S. 251 – 255. 253: „the burden of proof never shifts, and thus technically the effect of presumptions is restricted to the burden of evidence“ (Fußnote weggelassen). 125 Dürig, S. 91; Grossen, S. 40; Niyungeko, S. 129. 126 Vgl. Benzing, S. 675. 127 Siehe Amerasinghe, S. 220. 120
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Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
Problematisch und umstritten ist nun, ob die Zuweisung der objektiven Beweislast für die Vermutungsfolge ebenfalls dem Grundsatz „actori incumbit probatio“ folgt. Die Autoren, die Vermutungen als Beweislastnormen verstehen, verneinen dies und nehmen damit eine Beweislastumkehr an:128 Die objektive Beweislast für die Vermutungsfolge ruht auf der Partei, die nicht die Beweislast für die Vermutungsbasis trägt. Dies hat zur Folge, dass diese Partei nunmehr das Risiko trägt, dass der Beweis zum geforderten Beweismaß nicht zu erbringen ist. Um das Risiko einer Entscheidung zu ihren Lasten abzuwenden, muss der volle Beweis des Gegenteils in Bezug auf die Haupttatsache erbracht werden.129 Kommt das Beweismaß „proof beyond reasonable doubt“ zur Anwendung, so bedeutet dies, dass diese Partei das Risiko trägt, das Gegenteil der Haupttatsache wider jeden vernünftigen Zweifel zu beweisen. Es reicht nicht mehr aus, dass lediglich ein vernünftiger Zweifel an dem Beweis der Haupttatsache besteht. Nach Ansicht der Gegenauffassung liegt die Wirkung einer „echten“ Vermutung nicht darin, die objektive Beweislast für die Haupttatsache, die Vermutungsfolge, der anderen Partei zuzuweisen.130 Eine Vermutung habe vielmehr zur Folge, dass ein prima facie-Beweis der Vermutungsfolge vorliegt:131 Die Partei, auf der nicht die objektive Beweislast für die Vermutungsbasis und die Vermutungsfolge ruht, trägt nach wie vor nur das Risiko des schwächeren Gegenbeweises.132 Zu ihren Gunsten wird entschieden, wenn die Vermutungsfolge nicht zum anzuwendenden Beweismaß bewiesen ist, das heißt, wenn vernünftige Zweifel an dem Vorliegen der Tatsache bestehen. Ob der EGMR in seiner Praxis in Fällen des Verschwindenlassens eine Verschiebung der objektiven Beweislast, insbesondere in Folge einer so verstandenen „echten“ Vermutung, annimmt oder nicht, soll Gegenstand der folgenden Ausführungen sein. Dabei soll untersucht werden, ob der EGMR überhaupt eine „echte“ Vermutung annimmt, anknüpfend an die Kontrolle des Staates über das Opfer (Kapitel 3, B.II.) oder an die mangelnde Kooperation des beschwerdegegnerischen Staates mit dem Gerichtshof (Kapitel 3, B.IV.). Es soll aber auch darauf eingegangen werden, ob nicht eine vom Grundsatz „actori incumbit probatio“ abweichende Zuweisung der objektiven Beweislast unter bestimmten anderen Umständen in Fällen des Verschwindenlassens zu fordern sein wird, solange der Gerichtshof am hohen Beweismaß „proof beyond reasonable doubt“ festhält. So wird zu untersuchen sein, ob die objektive Beweislast für die Tatsachen, auf die sich die Verantwortlichkeit des Staates für den Tod stützt, dann auf dem Staat lasten sollte, wenn der Tod eintrat, als sich das Opfer in Haft oder unter der sonstigen Kontrolle des Staates befand (Ka128
Siehe Dürig, S. 91; Grossen, S. 40. Benzing, S. 675; Dürig, S. 92. 130 Amerasinghe, S. 219 f. (es werde nur die subjektive Beweislast beeinflusst); Kazazi, S. 36, 253. 131 Kazazi, S. 273. Zu diesem Begriff siehe auch infra, Kapitel 3, B.I.2.b). 132 So auch Benzing, S. 677. 129
B. Einzelne relevante Aspekte
157
pitel 3, B.II.). Ebenso wird der Frage nachgegangen werden, ob die objektive Beweislast ausnahmsweise dann auf dem beschwerdegegnerischen Staat ruhen sollte, wenn dieser gar nicht oder nur mangelhaft mit dem Gerichtshof kooperiert (Kapitel 3, B.IV.).
B. Einzelne relevante Aspekte I. Das anwendbare Beweismaß Das Beweismaß („standard of proof“) bezeichnet den Überzeugungsgrad, den das erkennende Gericht erlangen muss, um eine Tatsache als bewiesen feststellen und im Folgenden von seiner Existenz ausgehen zu können.133 Je niedriger das anzuwendende Beweismaß für den Beweis einer Tatsache angesetzt wird, desto wahrscheinlicher ist eine Entscheidung zu Gunsten derjenigen Partei, auf der die objektive Beweislast für diese ruht. Ein hohes Beweismaß begünstigt damit die Partei, die nicht die objektive Beweislast trägt. In Fällen, die das Verschwindenlassen von Personen betreffen, ist insbesondere der Beweis der Tatsachen umstritten, die den Vorwürfen des Beschwerdeführers zugrunde liegen und die eine Verletzung von Art. 2 EMRK in seinem materiellen Gehalt begründen, das heißt der Tod des Opfers und die Tatsachen, die die Verantwortlichkeit des Staates für diesen begründen. Ein hohes Beweismaß in Bezug auf diese Tatsachen, für die der Beschwerdeführer grundsätzlich die objektive Beweislast trägt, gereicht diesem damit zum Nachteil. Dieser Nachteil ist in der Praxis noch durch die prekäre Beweisnot in Bezug auf diese Tatsachen verstärkt. Im Folgenden wird zunächst untersucht, welches Beweismaß die Konventionsorgane in ihrer Praxis heranziehen (1.). Dieses Beweismaß des „proof beyond reasonable doubt“ wird daraufhin einer kritischen Bewertung unterzogen (2.), die zu dem Vorschlag führt, zu Gunsten des Beschwerdeführers in Fällen des Verschwindenlassens das Beweismaß der überwiegenden Wahrscheinlichkeit heranzuziehen (3.). Dieser Vorschlag entspricht der pointiert vorgebrachten Kritik von Richter Bonello: „[T]he [standard of proof] ,proof beyond reasonable doubt‘ […] is stunting European human rights protection in areas where the highest level of protection, rather than the highest level of proof, should be the priority.“134
133
Siehe dazu bereits supra Kapitel 3, A.III.3. Anguelova v. Bulgarien, 38361/97, Urteil vom 13. Juni 2002, teilweise abweichende Meinung von Richter Bonello, Abs. 12. 134
158
Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
1. Darstellung der relevanten Praxis der Konventionsorgane Die Konventionsorgane haben sich erst relativ spät135 und dann nur vereinzelt zur Frage des anwendbaren Beweismaßes geäußert. Da die Tatsachenfeststellung vor Inkrafttreten des 11. Zusatzprotokoll in erster Linie Aufgabe der Kommission war, beschäftigte sich der EGMR erst nach 1998 ausführlicher mit diesem Aspekt. Auch erreichten erst in den neunziger Jahren Fälle in größerer Anzahl die Konventionsorgane, in denen eine Tatsachenfeststellung von Nöten war. Zuvor war dies nur in Einzelfällen und in den Staatenbeschwerden erforderlich gewesen. Neben Fällen, die das Verschwindenlassen von Personen betreffen, werden im Folgenden auch andere Fälle, meist ebenfalls Fälle schwerer Menschenrechtsverletzungen herangezogen, um die Entwicklung der Rechtsprechung nachzuzeichnen. a) Die Praxis der ehemaligen Kommission Die ehemalige Europäische Kommission für Menschenrechte äußerte sich erstmals im Jahre 1969 zur Frage des Beweismaßes im Rahmen der verbundenen Staatenbeschwerden von Schweden, Norwegen, Dänemark und den Niederlanden v. Griechenland.136 Die relevante Formulierung zum Beweismaß in dem Bericht der Unterkommission bezog sich auf eine Verletzung von Art. 3 EMRK und lautete: „[I]t must […] maintain a certain standard of proof, which is that in each case the allegations of torture and ill-treatment, as breaches of Article 3 of the Convention, must be proved beyond reasonable doubt. A reasonable doubt means not a doubt based on a merely theoretical possibility or raised in order to avoid a disagreeable conclusion, but a doubt for which reasons can be given drawn from the facts presented.“137
Dieses Beweismaß des „proof beyond reasonable doubt“ wurde im Jahre 1976 von der Kommission in ihrem Bericht zur Staatenbeschwerde Irland v. Vereinigtes Königreich bestätigt.138 Auch diese Aussage stand im Zusammenhang mit der 135
Erdal, E. L. Rev. Human Rights Survey 26 (2001), S. 68 (69). Die Beschwerde betraf unter anderem Verstöße gegen Art. 3 EMRK durch Folter und unmenschliche Behandlung durch die Militärdiktatur. Die Kommission beauftragte eine Unterkommission mit der Ermittlung der Tatsachen. Diese legte am 5. November 1969 ihren Bericht der Kommission vor. In dem Bericht sowie in dem Bericht der Kommission an das Ministerkomitee vom 18. November 1969 wurde eine Verletzung unter anderem von Art. 3 EMRK festgestellt. Eine Vorlage an den EGMR nach Maßgabe von Art. 32 EMRK a.F. erfolgte innerhalb der Dreimonatsfrist nicht, so dass sich dieser nicht mit den Beschwerden befasste. 137 Schweden, Norwegen, Dänemark und die Niederlande v. Griechenland, 3321/67, 3322/ 67, 3323/67, 3344/67, Bericht der Unterkommission vom 5. November 1969, abgedruckt in: European Commission of Human Rights, The Greek Case, Vol. II, Part 1, S. 14, Abs. 30 (Hervorhebungen nicht im Original). 138 Irland v. Vereinigtes Königreich, 5310/71, Bericht vom 25. Januar 1976, Auszüge des Berichts sind abgedruckt in: Yearbook of the European Convention on Human Rights, vol. 19 (1976), S. 512 (796): „As in the Greek case, the standard of proof applied by the Commission is that the allegations must be proved beyond a reasonable doubt.“ 136
B. Einzelne relevante Aspekte
159
Prüfung einer Verletzung von Art. 3 EMRK durch die Behandlung von Gefangenen in britischen Gefängnissen. Im Zusammenhang mit Individualbeschwerden finden sich erst in den neunziger Jahren Aussagen zum Beweismaß, in denen die Kommission ebenfalls auf das Beweismaß des „proof beyond reasonable doubt“ abstellt. Während diese Äußerungen anfangs noch in einem Zusammenhang mit der Prüfung einer Verletzung von Art. 3 EMRK stehen,139 geht die Kommission später dazu über, das Beweismaß des „proof beyond reasonable doubt“ auch in Bezug auf eine Verletzung weiterer Konventionsartikel heranzuziehen.140 In Bezug auf Fälle des Verschwindenlassens zog die Kommission bereits in ihrem Bericht im Fall Kurt im Jahre 1996 das Beweismaß des „proof beyond reasonable doubt“ heran.141 Deutlicher hob sie dieses Beweismaß im Rahmen der Prüfung einer Verletzung der Art. 2, 3, 5, 13 und 14 EMRK in dem Bericht im Fall C ¸ akıcı zwei Jahre später hervor.142 Auch in weiteren Fällen, die Fälle des Verschwindenlassens in der südöstlichen Türkei betrafen, nannte die Kommission dieses Beweismaß in ihren Ausführungen zur Tatsachenfeststellung, die einer Prüfung einzelner Konventionsbestimmungen vorangestellt war.143 In den Staatenbeschwerden, die Fälle des Verschwindenlassens im Zusammenhang mit dem Zypernkonflikt betrafen, machte die Kommission ebenfalls zunehmend präzisere Aussagen zum Beweismaß. In ihrem Bericht aus dem Jahre 1976 bleiben diese noch vage; so bemerkte die Kommission, dass ihr eine vollständige Untersuchung aller Tatsachen nicht möglich war und unterschied zwischen „allgemein bekannten Fakten; Tatsachen, die der Kommission einwandfrei glaubhaft gemacht wurden; Beweisen, die von vagen Hinweisen über einen Fall, bei dem der Tatbestand einfach liegt, bis zu starken Hinweisen reichen; Behauptungen, für die kein relevantes Beweismaterial gefunden wurde.“144 Im Bericht zu der dritten Staatenbeschwerde Zyperns gegen die Türkei aus dem Jahre 1983 finden sich keine 139 So in Diaz Ruano v. Spanien, 16988/90, Bericht vom 31. August 1993, Abs. 63 (Tod in Haft); Ribitsch v. Österreich, 18896/91, Bericht vom 4. Juli 1994, Abs. 104 (Misshandlung während eines Verhörs); Aydin v. Türkei, 23178/94, Bericht vom 7. März 1996, Abs. 163, obgleich die Ausführungen zum Beweismaß im Rahmen allgemeiner Anmerkungen erfolgen, die einer Prüfung der einzelnen Konventionsverletzungen vorgestellt sind. 140 So in Gündem v. Türkei, 22275/93, Bericht vom 3. September 1996, Abs. 145, 152, 162 in Bezug auf Art. 3, 5, 8 EMRK und Art. 1 des ZP 1; Tekin v. Türkei, 22496/93, Bericht vom 17. April 1997, Abs. 171; Mehmet Kaya v. Türkei, 22729/93, Bericht vom 24. Oktober 1996, Abs. 144; Tanrikulu v. Türkei, 23763/94, Bericht vom 15. April 1998, Abs. 211. 141 Kurt v. Türkei, 24276/94, Bericht vom 5. Dezember 1996, Abs. 195. 142 C¸akıcı v. Türkei, 23657/94, Bericht vom 12. März 1998, Abs. 192. 143 So in Timurtas¸ v. Türkei, 23531/94, Bericht vom 29. Oktober 1998, Abs. 213; Tas¸ v. Türkei, 24396/94, Bericht vom 9. September 1999, Abs. 162; S¸arlı v. Türkei, 24490/94, Bericht vom 21. Oktober 1999, Abs. 178; Akdeniz et al. v. Türkei, 23954/94, Bericht vom 10. September 1999, Abs. 385. 144 Zypern v. Türkei, 6780/74, 6950/75, Bericht vom 10. Juli 1976, abgedruckt in: AsmeHumanitas e.V., Bericht der Kommission des Europarats über Menschenrechte auf Zypern 1974, Iphofen, nach 1977, S. 31 (Fußnote weggelassen).
160
Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
allgemeinen Ausführungen zum anwendbaren Beweismaß; allerdings nimmt die Kommission bei der Bewertung einer Zeugenaussage Bezug darauf, dass diese Raum für einen vernünftigen Zweifel lasse.145 Im Jahre 1999 äußerte sich die Kommission schließlich in der vierten Staatenbeschwerde Zyperns gegen die Türkei zum anwendbaren Beweismaß und bestätigte das Beweismaß des „proof beyond reasonable doubt“ ohne Bezug zur Verletzung einer bestimmten Konventionsbestimmung.146 b) Die Praxis des EGMR Der EGMR äußerte sich erst im Jahre 1978 zur Frage des anzuwendenden Beweismaßes in der Staatenbeschwerde Irland v. Vereinigtes Königreich, in der Irland das von der Kommission angewandte Beweismaß „proof beyond reasonable doubt“ als zu streng kritisierte.147 Der EGMR schloss sich im Ergebnis der Ansicht der Kommission an und bestätigte dieses Beweismaß in einer im Folgenden oft zitierten Formulierung: „The Court agrees with the Commission’s approach regarding the evidence on which to base the decision whether there has been violation of Article 3 (art. 3). To assess this evidence, the Court adopts the standard of proof ”beyond reasonable doubt” but adds that such proof may follow from the coexistence of sufficiently strong, clear and concordant inferences or of similar unrebutted presumptions of fact. In this context, the conduct of the Parties when evidence is being obtained has to be taken into account.“148
In den Individualbeschwerden, die den Gerichtshof unter dem vormaligen Überwachungssystem der EMRK erreichten, finden sich zunächst keine expliziten Aussagen zum angewendeten Beweismaß. Erst in dem Urteil im Fall Aydin v. Türkei bestätigte der EGMR im Jahre 1997 in Bezug auf eine Verletzung von Art. 3 EMRK das Beweismaß „proof beyond reasonable doubt“ unter Verweis auf das Urteil Irland v. Vereinigtes Königreich;149 es folgten weitere Urteile.150 Daraufhin wendete der 145 Zypern v. Türkei, 8007/77, Bericht vom 4. Oktober 1983, Decision and Reports, vol. 72 (1992), S. 5 (35, Abs. 105): „leaves room for reasonable doubt“. 146 Zypern v. Türkei, 25781/94, Bericht vom 4. Juni 1999, Abs. 133. 147 Irland v. Vereinigtes Königreich, 5310/71, Urteil vom 18. Januar 1978, Abs. 161: „The Irish Government see this as an excessively rigid standard for the purposes of the present proceedings. They maintain that the system of enforcement would prove ineffectual if, where there was a prima facie case of violation of Article 3, the risk of a finding of such a violation was not borne by a State which fails in its obligation to assist the Commission in establishing the truth (Article 28, sub-paragraph (a) in fine, of the Convention).“ (Hervorhebung nicht im Original). 148 Irland v. Vereinigtes Königreich, 5310/71, Urteil vom 18. Januar 1978, Abs. 161 (Hervorhebung nicht im Original). 149 Aydin v. Türkei 23178/94, Urteil vom 25. September 1997, Abs. 73. 150 Mentes et al. v. Türkei, 23186/94, Urteil vom 28. November 1997, Abs. 66; Selkuc und Asker v. Türkei, 23184/94, 23185/94, Urteil vom 24. April 1998, Abs. 53; Tekin v. Türkei, 22496/93, Urteil vom 9. Juni 1998, Abs. 38; Labita v. Italien, 26772/95, Urteil vom 4. April 2000, Abs. 121; Veznedaroglu v. Türkei, 32357/96, 11. April 2000, Abs. 30.
B. Einzelne relevante Aspekte
161
EGMR das Beweismaß „proof beyond reasonable doubt“ auch in Bezug zu einer Verletzung von Art. 2 EMRK an151 und bestätigte es später im Rahmen seiner allgemeinen Ausführungen zu Beginn einer vorgezogenen Tatsachenfeststellung.152 Nähere Ausführungen zum Inhalt dieses Beweismaßes machte die Erste Sektion des Gerichtshofes im Jahre 2004 in dem Fall Nachova et al. v. Bulgarien, der zwei Männer der Roma-Minderheit betraf, welche im Rahmen ihrer Verhaftung durch die Polizei erschossen worden waren: „The Court has held on many occasions that the standard of proof it applies is that of ,proof beyond reasonable doubt‘, but it has made it clear that that standard should not be interpreted as requiring such a high degree of probability as in criminal trials. […] It has been the Court’s practice to allow flexibility, taking into consideration the nature of the substantive right at stake and any evidentiary difficulties involved. […] The Court has also acknowledged that its task is to rule on State responsibility under international law and not on guilt under criminal law. In its approach to questions of evidence and proof, it will have regard to its task under Article 19 of the Convention to ,ensure the observance of the engagements undertaken by the High Contracting Parties‘, but without losing sight of the fact that it is a serious matter for a Contracting State to be found to be in breach of a fundamental right […].“153
Die Große Kammer wurde mit dem Fall befasst und hob in ihrem Urteil vom 6. Juli 2005 nochmals die inhaltliche Unterscheidung des Beweismaßes „proof beyond reasonable doubt“ in Verfahren vor dem EGMR von dem Beweismaß in Strafsachen hervor: „[…] [I]t has never been its purpose to borrow the approach of the national legal systems that use that standard. Its role is not to rule on criminal guilt or civil liability but on Contracting States’ responsibility under the Convention. The specificity of its task under Article 19 of the Convention – to ensure the observance by the Contracting States of their engagement to secure the fundamental rights enshrined in the Convention – conditions its approach to the issues of evidence and proof. […] Moreover, the level of persuasion necessary for reaching a particular conclusion and, in this connection, the distribution of the burden of proof are intrinsically linked to the specificity of the facts, the nature of the allegation made and the Convention right at stake. The Court is also attentive to the seriousness that attaches to a ruling that a Contracting State has violated fundamental rights […].“154
151 Kaya v. Türkei, 22729/92, Urteil vom 19. Februar 1998, Abs. 76 – 78; Kurt v. Türkei, 24276/94, Urteil vom 25. Mai 1998, Abs. 107; Ergi v. Türkei, 23818/94, Urteil vom 28. Juli 1998, Abs. 78; Yasa v. Türkei, 22495/93, Urteil vom 2. September 1998, Abs. 97. 152 So in Tanli v. Türkei, 26129/95, Urteil vom 10. April 2001, Abs. 109; Aktas v. Türkei, 24351/94, Urteil vom 24. April 2003, Abs. 270. 153 Nachova et al. v. Bulgarien, 43577/98, 43579/98, Urteil vom 26. Februar 2004, Abs. 166. Zur vorausgegangenen Kritik des European Roma Rights Centre siehe infra Kapitel 3, B.I.2.a). 154 Nachova et al. v. Bulgarien, 43577/98, 43579/98, Große Kammer, Urteil vom 6. Juli 2005, Abs. 147 (Hervorhebungen nicht im Original). Siehe auch Osmanog˘lu v. Türkei, 48804/
162
Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
Ähnliche Ausführungen unter Bezugnahme auf die Entscheidung im Fall Nachova et al. v. Bulgarien finden sich auch in der Entscheidung des Gerichtshofes im Fall Mathew v. Niederlande. In diesem Urteil führt der EGMR auch aus, dass die Bedeutung des Beweismaßes „proof beyond reasonable doubt“ autonom zu bestimmen sei.155 Auch im Fall Ledyayeva et al. v. Russland wird das Beweismaß des „proof beyond reasonable doubt“ vom strafrechtlichen Beweismaß aus dem nationalen Recht unterschieden.156 In den Urteilen des EGMR, die Fälle des Verschwindenlassens von Personen betreffen, hielt der Gerichtshof an dem Beweismaß „proof beyond reasonable doubt“ ebenfalls fest. In seinem Urteil zur dritten Staatenbeschwerde Zyperns gegen die Türkei bekräftigte der EGMR, dass er an diesem Beweismaß festzuhalten gedenke und verwarf gleichzeitig die Kritik von Seiten Zyperns.157 Auch in der Individualbeschwerde Varnava et al. v. Türkei zog die Große Kammer das Beweismaß „proof beyond reasonable doubt“ heran.158 In seinen Urteilen zu Individualbeschwerden, die Fälle des Verschwindenlassens in der südöstlichen Türkei betrafen, bekräftigte der Gerichtshof die Geltung dieses Beweismaß gleichfalls und in Bezug auf alle in Betracht kommenden Konventionsverletzungen,159 ebenso in den Individualbeschwerden, die tschetschenische Fälle verschwundener Personen zum Gegenstand hatten.160 c) Zusammenfassende Auswertung der Praxis der Konventionsorgane Die dargestellte Praxis der Konventionsorgane scheint auf den ersten Blick einheitlich zu sein: Der Gerichtshof wendet seit der Entscheidung Irland v. Vereinigtes Königreich aus dem Jahre 1978 die Formel „proof beyond reasonable doubt“ standardmäßig und umfassend an. Er hat sich aber auch mit Kritik an diesem Beweismaß beschäftigt und Versuche unternommen, seinen Inhalt näher zu beschreiben. Schwierig ist die Beurteilung der Frage, ob sich aus der Rechtsprechung – wenn auch 99, Urteil vom 24. Januar 2008, Abs. 45. Vgl. schon Ribitsch v. Österreich, 18896/91, Bericht vom 4. Juli 1994, Abs. 110 f. 155 Mathew v. Niederlande, 24919/03, Urteil vom 29. September 2005, Abs. 156. 156 Ledyayeva et al. v. Russland, 53157/99, 53247/99, 26. Oktober 2006, Abs. 89. 157 Zypern v. Türkei, 25781/94, Urteil vom 10. Mai 2001, Abs. 112 – 115. 158 Varnava et al. v. Türkei, 16064/90, 16065/90, 16066/90, 16068/90, 16069/90, 16070/ 90, 16071/90, 16072/90, 16073/90, Urteil der Großen Kammer vom 18. September 2009, Abs. 182. 159 So in Kurt v. Türkei, 24276/94, Urteil vom 25. Mai 1998, Abs. 107 (noch zu Art. 2 EMRK); C¸akıcı v. Türkei, 23657/94, Urteil vom 8. Juli 1999, Abs. 85, 92 (noch zu Art. 2 und 3 EMRK); Orhan v. Türkei, 25656/94, Urteil vom 18. Juni 2001, Abs. 264; I˙pek v. Türkei, 25760/94, Urteil vom 17. Februar 2004, Abs. 109. 160 So bereits in Bazorkina v. Russland, 69481/01, Urteil vom 27. Juli 2006, Abs. 106; Imakayeva v. Russland, 7615/02, Urteil vom 9. November 2006, Abs. 112; Takhayeva et al. v. Russland, 23286/04, Urteil vom 18. September 2008, Abs. 66; Khumaydov und Khumaydov v. Russland, 13862/05, Urteil vom 28. Mai 2009, Abs. 93.
B. Einzelne relevante Aspekte
163
vereinzelt und vorsichtige – Ansätze einer flexibleren Handhabung des Beweismaßes erkennen lassen. Den anfänglichen Bezug, den die Verwendung des Beweismaßes „proof beyond reasonable doubt“ zu der Feststellung von Tatsachen im Rahmen der Prüfung einer Verletzung von Art. 3 EMRK aufzuweisen schien, verwarf der Gerichtshof – wie auch die ehemalige Kommission.161 Auch zogen die Konventionsorgane dieses Beweismaß, welches zunächst in Staatenbeschwerdeverfahren entwickelt wurde, in Individualbeschwerden heran. Allerdings betonte der Gerichtshof in der Entscheidung der Staatenbeschwerde Zypern v. Türkei im Jahre 2001, dass er das Beweismaß „proof beyond reasonable doubt“ anwende „all the more so since it was first articulated in the context of a previous inter-State case“.162 Bei der Anwendung des Beweismaßes „proof beyond reasonable doubt“ differenzieren die Konventionsorgane auch nicht danach, ob der Beschwerdeführer oder der beschwerdegegnerische Staat die objektive Beweislast für die in Frage stehende Tatsache trägt, obwohl sich in der Praxis die Tatsachenfeststellung auf Tatsachen bezieht, für die grundsätzlich der Beschwerdeführer die Beweislast trägt. In Hinblick auf den genaueren Inhalt des Beweismaßes „proof beyond reasonable doubt“ definierten die Konventionsorgane, unter welchen Umständen ein vernünftiger Zweifel anzunehmen ist: „A reasonable doubt means not a doubt based on a merely theoretical possibility or raised in order to avoid a disagreeable conclusion, but a doubt for which reasons can be given drawn from the facts presented.“163
Die standardmäßig vorgenommene Ergänzung „but adds that such proof may follow from the coexistence of sufficiently strong, clear and concordant inferences or of similar unrebutted presumptions of fact“ stellt sich nicht als nähere Erläuterung des Beweismaßes dar. Vielmehr ordnet sich diese Aussage in den Kontext der zulässigen Beweismittel und ihres Beweiswertes ein.164 Der Gerichtshof ist auch der Kritik entgegengetreten, das Beweismaß sei unzulässigerweise dem nationalen Strafverfahrensrecht entnommen worden.165 Der Inhalt des Beweismaßes scheint vielmehr autonom vom Beweismaß in Strafsachen zu bestimmen zu sein.166 161
Siehe auch Smith, EHRLR Issue 2 (2009), S. 206 (211). Zypern v. Türkei, 25781/94, Urteil vom 10. Mail 2001, Abs. 113. 163 Schweden, Norwegen, Dänemark und die Niederlande v. Griechenland, 3321/67, 3322/ 67, 3323/67, 3344/67, Bericht der Unterkommission vom 5. November 1969, abgedruckt in: European Commission of Human Rights, The Greek Case, Vol. II, Part 1, S. 14, Abs. 30. Später vom Gerichtshof übernommen in: Klamecki v. Polen, 31583/96, Urteil vom 3. April 2003, Abs. 122; Gennadi Naoumenko v. Ukraine, 42023/98, Urteil vom 10. Februar 2004, Abs. 109; Shamayev et al. v. Georgien und Russland, 36378/02, Urteil vom 12. April 2005, Abs. 338. 164 Siehe dazu supra Kapitel 3, A.II. und III. 1. und 2. 165 Nachova et al. v. Bulgarien, 43577/98, 43579/98, Große Kammer, Urteil vom 6. Juli 2005, Abs. 147; Osmanog˘lu v. Türkei, 48804/99, Urteil vom 24. Januar 2008, Abs. 45; Ribitsch v. Österreich, 18896/91, Bericht vom 4. Juli 1994, Abs. 110 f. 162
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Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
Zweifelhaft bleibt, ob sich aus einzelnen Entscheidungen folgern lässt, dass der EGMR in Ausnahmefällen unterschiedliche Beweismaßstäbe bei der Prüfung der verschiedenen Konventionsbestimmungen anlegt beziehungsweise zumindest zu einer „flexiblen“ Handhabung des Beweismaßes neigt.167 Für eine solche Annahme spricht, dass die Große Kammer in der Entscheidung Varnava et al. erwähnte, dass die Rechtsprechung Situationen anerkannt habe, in denen die Schwere dieses Beweismaßes abgemildert werden könne.168 Für ein flexibles Beweismaß könnte die folgende Aussage der Großen Kammer in dem Fall Nachova et al. v. Bulgarien, in dem allerdings gleichfalls das Beweismaß „proof beyond reasonable doubt“ bestätigt wird, sprechen: „[…] [T]he level of persuasion necessary for reaching a particular conclusion […] [is] intrinsically linked to the specificity of the facts, the nature of the allegation made and the Convention right at stake.“169
Ein unterschiedliches Beweismaß in Bezug auf die Prüfung verschiedener Konventionsbestimmungen scheint die Große Kammer im Fall Öcalan v. Türkei herangezogen zu haben.170 Die Sektion hatte in ihrer Entscheidung noch das Beweismaß „proof beyond reasonable doubt“ sowohl im Rahmen der Prüfung einer Verletzung von Art. 3 als auch von Art. 5 Abs. 1 EMRK herangezogen.171 Die Große 166 Osmanog˘lu v. Türkei, 48804/99, Urteil vom 24. Januar 2008, Abs. 45: „it must be stressed at the outset that this particular evidential criterion has an autonomous meaning in the Court’s proceedings“. Siehe auch Leach/Paraskeva/Uzelac, S. 15. 167 So ist Erdal der Ansicht, der Gerichtshof habe sich praktisch von diesem Beweismaß abgewendet, E. L. Rev. Human Rights Survey 26 (2001), S. 68 (85). So auch Kokott, The Burden of Proof, S. 202. Siehe auch Scovazzi/Citroni, S. 213 mit Bezug zum Fall Bazorkina v. Russland: „While not departing from its established requirement of evidence ,beyond reasonable doubt‘, the Court in fact applied a presumption of death in a case where the death of the victim seems more ,likely‘ than ,beyond reasonable doubt‘“; sowie S. 220: „This criterion has been applied in a rather flexible way.“ Sethi, Human Rights Brief 8/3 (2001), S. 29 ist der Ansicht, der EGMR habe sich in der Timurtas¸-Entscheidung vom Beweismaß „proof beyond reasonable doubt“ verabschiedet. Siehe auch Vermeulen, in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/ Zwaak, S. 424 f.: Das Beweismaß sei verändert im Rahmen der Feststellung von Haftbedingungen bei der Prüfung von Art. 3 EMRK. 168 Varnava et al. v. Türkei, 16064/90, 16065/90, 16066/90, 16068/90, 16069/90, 16070/ 90, 16071/90, 16072/90, 16073/90, Urteil der Großen Kammer vom 18. September 2009, Abs. 182: „[…] even in individual cases, the Court’s case-law has identified situations in which the rigour of this rule may be mitigated.“ 169 Nachova et al. v. Bulgarien, 43577/98, 43579/98, Große Kammer, Urteil vom 6. Juli 2005, Abs. 147 (Hervorhebungen nicht im Original). 170 So Thienel, GYIL 50 (2007), S. 543 (582). 171 Öcalan v. Türkei, 46221/99, Urteil vom 12. März 2003, Abs. 92, 101 sowie 219, 229. In Hinblick auf die Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK ging es um die Frage, ob die Türkei durch die Verhaftung Öcalans in Kenia völkerrechtswidrig gehandelt habe. Abs. 92 lautet: „[…] [I]t must be established to the Court ,beyond all reasonable doubt‘ that the authorities of the State to which the applicant has been transferred have acted extra-territorially in a manner that is inconsistent with the sovereignty of the host State and therefore contrary to international law […].“ (Hervorhebung nicht im Original).
B. Einzelne relevante Aspekte
165
Kammer stimmte lediglich in Bezug zu Art. 3 EMRK mit diesem Beweismaß überein.172 Im Rahmen der Prüfung einer Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK machte sie die folgenden Ausführungen: „[…] [T]the Court requires proof in the form of concordant inferences that the authorities of the State to which the applicant has been transferred have acted extra-territorially in a manner that is inconsistent with the sovereignty of the host State and therefore contrary to international law […]. Only then will the burden of proving that the sovereignty of the host State and international law have been complied with shift to the respondent Government. However, the applicant is not required to adduce proof ,beyond all reasonable doubt‘ on this point, as was suggested by the Chamber […].“173
Diese Ausführungen können als Abkehr von dem Beweismaß „proof beyond reasonable doubt“ verstanden werden174 – allerdings, ohne dass die Große Kammer das nunmehr anwendbare Beweismaß nennen würde: „Proof in the form of concordant inferences“ bezeichnet ein Beweismittel, nicht ein Beweismaß. Von diesem Einzelfall abgesehen, in dem der Gerichtshof sich explizit gegen das Beweismaß „proof beyond reasonable doubt“ aussprach, hielt der EGMR bislang – zumindest verbal – an diesem Beweismaß fest. 2. Die Kritik an dieser Praxis der Konventionsorgane Diese Praxis des Gerichtshofes – wie auch die der ehemaligen Kommission – hat von verschiedenen Seiten aus Kritik erfahren. In den einzelnen Verfahren äußerte sich die Beschwerde führende Partei zum Teil kritisch gegenüber diesem hohen Beweismaß; Kritik kam auch von am Verfahren beteiligten Dritten, in abweichenden Meinungen der Richter sowie in der Literatur zum Ausdruck. Auf der Grundlage dieser Kritik, welche im Folgenden kurz dargestellt wird [a)], lassen sich verschiedene Vorschläge für ein geändertes Beweismaß unterscheiden [b)]. Dabei werden nur jene Vorschläge Gegenstand der folgenden Betrachtung sein, die eine Veränderung des Beweismaßes beinhalten, selbst wenn dies nicht ausdrücklich in Bezug auf Fälle des Verschwindenlassens geschehen sollte. Ausgeklammert bleiben
172
Öcalan v. Türkei, 46221/99, Große Kammer, Urteil vom 12. Mai 2005, Abs. 180. Öcalan v. Türkei, 46221/99, Große Kammer, Urteil vom 12. Mai 2005, Abs. 90. Dabei kamen beide Urteile allerdings zu dem gleichen Ergebnis, so dass die Feststellung in dieser Hinsicht nicht erforderlich war. 174 So Thienel, GYIL 50 (2007), S. 543 (582). Rudolf, EuGRZ 23 (1996), S. 497 (498) nennt außerdem zwei weitere – zweifelhafte – Beispiele: Pakelli v. Deutschland, 8398/78, Urteil vom 25. April 1983, Abs. 34: Hier scheinen jedoch die „particulars“ zwar nicht allein für sich genommen, wohl aber in Verbindung mit weiteren Beweisen das Beweismaß „proof beyond reasonable doubt“ zu erfüllen. Bozano v. Frankreich, 9990/82, Urteil vom 18. Dezember 1986, Abs. 59: Hier erscheint zweifelhaft, ob sich die Kommission nicht lediglich auf die Plausibilität der Aussage des Beschwerdeführers und somit auf den Beweiswert dieses einen Beweismittels bezog. 173
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Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
diejenigen Vorschläge, die auf andere beweisrechtliche Aspekte abstellen, um ein als zu hoch eingestuftes Beweismaß abzumildern.175 Im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen steht die Frage, welches Beweismaß in Fällen des Verschwindenlassens zum Beweis jener Tatsachen herangezogen werden könnte, die typischerweise unklar und strittig sind. Dies betrifft zum einen die nicht anerkannte Inhaftierung des Opfers, dessen Tod sowie die Tatsachen, die die Verantwortlichkeit des Staates dafür begründen. Da für diese Tatsachen der Beschwerdeführer grundsätzlich die objektive Beweislast trägt, wird im Folgenden nicht auf die Frage eingegangen, ob in Bezug auf das anzuwendende Beweismaß danach zu differenzieren sei, ob auf dem Beschwerdeführer oder dem beschwerdegegnerischen Staat die objektive Beweislast ruht.176 a) Die an der Praxis geübten Kritikpunkte Die an dem vom EGMR herangezogenen Beweismaß geübte Kritik kommt ganz überwiegend zu dem Ergebnis, dass das Beweismaß „proof beyond reasonable doubt“ grundsätzlich zu hoch angesetzt und – so zumindest ein Großteil der Stimmen – für das Verfahren im Rahmen der EMRK nicht angemessen sei.177 Zu den kritischen Stimmen innerhalb des Gerichtshofes zählt Richter Loucaides aus Zypern. Er gründet seine Kritik darauf, dass das Beweismaß „proof beyond reasonable doubt“ aus dem angelsächsischen Strafverfahrensrecht stamme.178 Verfahren vor dem EGMR, so Loucaides, unterschieden sich in Hinblick auf ihr Ziel und ihren Zweck, ihr Verfahren sowie die Position der Beteiligten substanziell von Strafverfahren.179 Daher sei darauf zu achten, das Beweismaß „proof beyond reasonable doubt“, welches bei Menschenrechtsverletzungen angewendet wird, von dem gleich lau175
So z. B. der Vorschlag von Wolfrum, in: FS Wildhaber, S. 915 (924); siehe auch Tigroudja, in: Ruiz Fabri/Sorel (Hrsg.), S. 115 (136). 176 Eine solche Differenzierung nimmt Thienel, GYIL 50 (2007), S. 543 (583 – 585) vor. Auch wird nicht auf ein Regelbeweismaß („basic standard of proof“) eingegangen, zu diesem siehe Thienel, GYIL 50 (2007), S. 543 (583 – 585), zu dessen Anwendungsbereich aber kritisch auf S. 583. 177 So auch Scovazzi/Citroni, S. 213; Claude, Intercultural Human Rights Law Review 5 (2010), S. 407 (461). 178 Hasan Ilhan v. Türkei, 22494/93, Urteil vom 9. November 2004, teilweise abweichende Meinung von Richter Loucaides: „I believe that it is important to bear in mind that the standard of proof ,beyond reasonable doubt‘ has its origin in the context of common law criminal procedure.“ Siehe auch Zubayrayev v. Russland, 67797/01, Urteil vom 10. Januar 2008, teilweise abweichende Meinung von Richter Loucaides, am Ende. Siehe auch die teilweise abweichende Meinung von Richter Mularoni in dem Urteil Hasan Ilhan v. Türkei. Siehe auch Loucaides, Essays, S. 160. 179 Hasan Ilhan v. Türkei, 22494/93, Urteil vom 9. November 2004, teilweise abweichende Meinung von Richter Loucaides: „Taking into account their object and procedure as well as the position of the parties, i. e. the ,accused‘ being always the State, proceedings to determine human rights violations differ substantially from criminal proceedings.“ Siehe auch Loucaides, Essays, S. 160 – 162.
B. Einzelne relevante Aspekte
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tenden Beweismaß aus dem Strafverfahren zu unterscheiden.180 Richter Loucaides kritisiert des Weiteren, dass die nähere Bedeutung der Phrase „proof beyond reasonable doubt“ im angelsächsischen Recht nicht geklärt sei.181 Er kommt zu dem Ergebnis: „The adoption of the formula of ,proof beyond reasonable doubt‘ in the context of proceedings for determination of human rights is questionable, taking into account the criminal justice context from which it emanates and the difficulties encountered as regards its interpretation, even in the legal system in which it was first developed. The Commission and the Court should not be obliged to address themselves to such a formula in assessing the evidence and in reaching their conclusions. It should be left to their conscience to decide whether they believe that any particular facts have been established or not. If there is to be a formula, the one generally uses by the International Court of Justice, i. e. ,satisfied‘, or the one used by the Inter-American Court of Human Rights, i. e. ,convinced‘, seems more appropriate.“182
Richter Bonello aus Malta kritisierte die Praxis des Gerichtshofes in entschiedenen Worten in seiner teilweise abweichenden Meinung zur Entscheidung im Fall Veznedaroglu v. Türkei: „[…] I find the standard of proof – beyond reasonable doubt – required by the Court in torture cases to be legally untenable and, in practice, unachievable.“183 Zur Begründung stützte auch er sich darauf, dass dieses Beweismaß ein Maximalstandard aus dem Strafverfahren sei, welches in Verfahren zum Schutz der Menschenrechte nicht angemessen sei: 180 Hasan Ilhan v. Türkei, 22494/93, Urteil vom 9. November 2004, teilweise abweichende Meinung von Richter Loucaides: „In view of the different objectives of the proceedings, it is submitted that when applying the ,reasonable doubt‘ formula in the context of proceedings alleging violations of human rights against a State, care should be taken to disassociate such formula from the rigid concepts and considerations of criminal justice and procedure from which the formula originates. […] Consequently, there is a substantial difference between the proof of allegations beyond ,reasonable doubt‘ against an individual accused in a criminal case and the establishment of facts beyond ,reasonable doubt‘ in human rights proceedings.“ Siehe auch Loucaides, Essays, S. 162. 181 Hasan Ilhan v. Türkei, 22494/93, Urteil vom 9. November 2004, teilweise abweichende Meinung von Richter Loucaides: „It is interesting to note that in the common law, especially in England, the phrase ,reasonable doubt‘ has given rise to confusion as a result of the many attempts of the courts to define or explain its meaning.“ Siehe näher auch Zubayrayev v. Russland, 67797/01, Urteil vom 10. Januar 2008, teilweise abweichende Meinung von Loucaides, am Ende. 182 Loucaides, Essays, S. 168, Hervorhebungen nicht im Original, Fußnote weggelassen. Der Ansicht Loucaides schließt sich auch Trechsel, in: Pettiti/Decaux/Imbert (Hrsg.), Art. 28 § 1-a, S. 659 an. 183 Veznedaroglu v. Türkei, 32357/96, 11. April 2000, teilweise abweichende Meinung von Richter Bonello, Abs. 11. Die Mehrheit war der Ansicht, es sei nicht erforderlich eigene Ermittlungen durchzuführen, da auch diese es nicht ermöglichen würden zu beschließen, dass der Vortrag der Beschwerdeführerin in Bezug auf die Misshandlungen „beyond reasonable doubt“ bewiesen sei (Abs. 30). Siehe zu einer ähnlichen Aussage auch Anguelova v. Bulgarien, 38361/97, Urteil vom 13. Juni 2002, teilweise abweichende Meinung von Richter Bonello, Abs. 10. Ihm zustimmend auch Shelton, Duke JCIL 13 (2003), S. 95 (138).
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Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
„[T]he standard of proof should be proportionate to the aim which the search for truth pursues: the highest degree of certainty, in criminal matters; a workable degree of probability in others.“184
Seiner Ansicht nach sei der EGMR das einzige Gericht in Europa, welches das Beweismaß „proof beyond reasonable doubt“ in Fällen fordert, die nicht dem Strafrecht zuzuordnen sind.185 Es sei unmöglich für Folteropfer, ihre Vorwürfe wider jeden vernünftigen Zweifel zu beweisen und unfair dies zu fordern.186 In seiner teilweise abweichenden Meinung im Fall Anguelova v. Bulgarien zwei Jahre später führte Richter Bonello aus, dass die Konvention dieses hohe Beweismaß an keiner Stelle fordere. Im Gegenteil gebe Art. 32 EMRK dem Gericht das größtmögliche Ermessen bei der Auslegung und Anwendung der Konvention. Die Konvention fordere vielmehr gerade Gegenteiliges und zwar, dass ihre Bestimmungen umfassend umgesetzt werden.187 Auch habe der EGMR die Verwendung dieses strafrechtlichen Beweismaßes niemals erklärt oder gar gerechtfertigt.188 Die Auslegung der Konvention – so Bonello – müsse darauf ausgerichtet sein, die universelle und wirksame Anerkennung und Einhaltung der Rechte zu gewährleisten: „The Convention has to be applied by the Court in such a way as to guarantee ,not rights that are theoretical or illusory, but rights that are practical and effective‘“.189
Vorsichtige Kritik kam auch in einer teilweise abweichenden Meinung, gezeichnet von acht Richtern, unter ihnen Richter Bonello, im Fall Labita v. Italien, welcher die Misshandlung eines Gefangenen im Gefängnis betraf. Die Minderheit wies darauf hin: „[…] [I]t should be borne in mind that the standard of proof ,beyond all reasonable doubt‘ is, in certain legal systems, used in criminal cases. However, this Court is not called upon to 184 Veznedaroglu v. Türkei, 32357/96, 11. April 2000, teilweise abweichende Meinung Richter Bonello, Abs. 12 (Hervorhebung nicht im Orginal). 185 Veznedaroglu v. Türkei, 32357/96, 11. April 2000, teilweise abweichende Meinung Richter Bonello, Abs. 13. 186 Veznedaroglu v. Türkei, 32357/96, 11. April 2000, teilweise abweichende Meinung Richter Bonello, Abs. 14. 187 Anguelova v. Bulgarien, 38361/97, Urteil vom 13. Juni 2002, teilweise abweichende Meinung von Richter Bonello, Abs. 9: „Nowhere does the Convention mandate the “proof beyond reasonable doubt“ standard today required of the victim to convince the Court that death or ill-treatment were induced by ethnic prejudice. Article 32, on the contrary, gives the Court the widest possible discretion as to the interpretation and the application of the Convention. What the Convention does mandate is quite the opposite: that its provisions should be given thorough implementation.“ 188 Anguelova v. Bulgarien, 38361/97, Urteil vom 13. Juni 2002, teilweise abweichende Meinung von Richter Bonello, Abs. 10: „The Court has never explained, let alone justified, why the standard of proof weighting the applicant in human rights disputes should be equivalent to that required of the State to obtain a safe and dependable criminal conviction.“ 189 Anguelova v. Bulgarien, 38361/97, Urteil vom 13. Juni 2002, teilweise abweichende Meinung von Richter Bonello, Abs. 9.
B. Einzelne relevante Aspekte
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judge an individual’s guilt or innocence or to punish those responsible for a violation; its task is to protect victims and provide redress for damage caused by the acts of the State responsible. The test, method and standard of proof in respect of responsibility under the Convention are different from those applicable in the various national systems as regards responsibility of individuals for criminal offences […].“190
Kritik an dem angewendeten Beweismaß kam ebenfalls von Seiten der Beschwerde führenden Partei in Verfahren vor den Konventionsorganen.191 Im Fall Nachova et al. v. Bulgarien rügte das European Roma Rights Centre als nach Art. 44 Abs. 3 (ehemals Art. 61 Abs. 3) VerfO beteiligter Dritter das angewendete Beweismaß in Bezug auf eine Verletzung von Art. 14 EMRK: „(i) Nothing in the Convention or Rules of Court mandates a particular standard of proof – international courts set the most appropriate standards based on their experience; (ii) The currently employed beyond-a-reasonable-doubt standard of proof, characterised by some as a 95 % or more probability of fact, is more appropriate in criminal proceedings; […] (v) There was a close relationship between the effective protection of substantive rights and the required allocation and standard of proof, hence, the pressing need for a change of practice“.192
In der völkerrechtlichen Literatur wird die Verwendung des Beweismaßes „proof beyond reasonable doubt“ durch die Konventionsorgane ebenfalls kritisch diskutiert.193 Auch von dieser Seite wird als problematisch angesehen, dass der Ausdruck „proof beyond reasonable doubt“ ursprünglich aus dem angelsächsischen Strafrecht kommt.194 Anders als der Angeklagte im Strafprozess befinde sich der beschwerdegegnerische Staat jedoch nicht in einer unterlegenen Position.195 Auch gelte die 190 Labita v. Türkei, 26772/95, Urteil vom 6. April 2000, gemeinsame teilweise abweichende Meinung der Richter Pastor Ridruejo, Bonello, Makarczyk, Tulkens, Straznicka, Butkevych, Casadevall und Zupancic, Abs. 1 (Hervorhebungen nicht im Original). 191 So z. B. von Seiten Irlands als Beschwerde führende Partei in der Staatenbeschwerde gegen das Vereinigte Königreich, siehe dazu schon supra Kapitel 3, B.I.1.b). Eine Individualperson rügte dieses Beweismaß beispielsweise in Celikbilek v. Türkei, 27693/95, Urteil vom 31. Mai 2005, Abs. 50. 192 Nachova et al. v. Bulgarien, 43577/98, 43579/98, Urteil vom 26. Februar 2004, Abs. 153. Die Ausführungen des Centre (insbesondere die nicht zitierten) weisen einen starken Bezug zu einer Prüfung der Verletzung von Art. 14 EMRK auf und sind u. U. nicht ohne weiteres auf andere Konventionsbestimmungen übertragbar. 193 Keine Kritik erfolgt aber z. B. von Rogge, in: Mcdonald/Matscher/Petzold, S. 690; Krüger, S. 12; Schellenberg, S. 221 – 224. Vorsichtig auch Dutheil-Warolin, Rev. Trim. Dr. h. 16 (2005), S. 333 (339). 194 Frowein, in: Lillich (Hrsg.), S. 237 (248); Krüger, in: FS Nørgaard, S. 249 (253) („not easy to define“); Schorm-Bernschütz, S. 121 (sie fordert daher dem Ausdruck eine eigenständige Bedeutung beizumessen, S. 122); Thienel, GYIL 50 (2007), S. 543 (578 f., 587 f.); Trechsel, in: Pettiti/Decaux/Imbert (Hrsg.), Art. 28 § 1-a, S. 658. Siehe auch Erdal, E. L. Rev. Human Rights Survey 26 (2001), S. 68 (76); Erdal/Bakirci, S. 257 f.; Krüger, S. 10, der allerdings an dem Beweismaß festhält, S. 12. Auf die strafrechtlichen Implikationen stellt auch Shelton, FILJ 12 (1989), S. 361 (386 f.) ab. 195 Wolfrum, in: FS Wildhaber, S. 915 (921).
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Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
Unschuldsvermutung aus dem Strafrecht gerade nicht zu Gunsten des beschwerdegegnerischen Staates in Verfahren vor dem EGMR.196 Kritisiert wird des Weiteren, dass ein solch hohes Beweismaß den Gerichtshof daran hindere, seine Aufgaben – den Schutz der Menschenrechte und die Gewährung von Rechtsschutz – effektiv wahrzunehmen.197 In Fällen schwerer Menschenrechtsverletzungen, in denen der Staat die Beweismittel kontrolliert oder für eine Beweissicherung hätte sorgen können, sei es eher hinzunehmen, dass ein Staat fälschlicherweise wegen einer Menschenrechtsverletzung verurteilt wird, als dass diese ungesühnt bliebe.198 Die Heranziehung des Beweismaßes „proof beyond reasonable doubt“ steigere die Ineffektivität der Verfahren zum Schutz der Menschenrechte und laufe dem Zweck der Konvention zuwider, Individuen den größtmöglichen Genuss ihrer Rechte zuzubilligen.199 b) Möglichkeiten eines geänderten Beweismaßes In Rechtsprechung und Literatur findet sich eine Vielzahl von Vorschlägen, welches Beweismaß der EGMR zu Gunsten des Beschwerdeführers – jedenfalls auch in den relevanten Fällen des Verschwindenlassens – heranziehen sollte. Diese reichen von dem niedrigen Beweismaß der überwiegenden Wahrscheinlichkeit über den so genannten „clear and convincing“-Standard bis zum Beweismaß der vollen richterlichen Überzeugung.200 Demgegenüber könnte nach Schorm-Bernschütz der Gerichtshof zwar an dem Beweismaß „proof beyond reasonable doubt“ als Regelbeweismaß festhalten, er sollte aber eine gewisse Flexibilität bei der inhaltlichen Ausgestaltung dieses Beweismaßes zulassen, um der Beweisnot des Beschwerdeführers abzuhelfen und damit zur Effektuierung der Menschenrechte beizutragen.201 Das niedrige Beweismaß der überwiegenden Wahrscheinlichkeit („preponderance of evidence“ oder auch „balance of probabilities“) schlägt Richter Bonello 196 Thienel, GYIL 50 (2007), S. 543 (578 f.). Daher sei, so Thienel, dieses Beweismaß bereits vom Grundsatz her unangemessen. Erdal, E. L. Rev. Human Rights Survey 26 (2001), S. 68 (78). 197 Thienel, GYIL 50 (2007), S. 543 (579 – 581). Siehe auch Kokott, The Burden of Proof, S. 199 f., welche auch darauf abstellt, dass eine fälschlicherweise ergangene Nichtverurteilung des Staates den Interessen des Einzelnen zuwiderlaufen würde. 198 Kokott, The Burden of Proof, S. 199 f.; Rudolf, EuGRZ 23 (1996), S. 497 (503), daher sei – so Rudolf weiter – das Beweismaß abzusenken. Sie versteht dabei das von den Konventionsorganen angewendete Beweismaß als das der vollen richterlichen Überzeugung. 199 Kokott, The Burden of Proof, S. 206. 200 Auch Kokott, The Burden of Proof, S. 205 f. kritisiert das Beweismaß: „The applicable standard is dependent on the rights involved along with many external factors including the availability and control of proof by the other state party. […] Further, applying the high standard of proof of ,beyond a reasonable doubt‘, currently used in domestic criminal proceedings, to the international legal structure appears illogical.“ Sie bleibt allerdings den Vorschlag eines geänderten Beweismaßes schuldig. Erdal, E. L. Rev. Human Rights Survey 26 (2001), S. 68 (85) ist der Ansicht, der EGMR habe in der Praxis bereits Abstand von diesem Beweismaß genommen. 201 Schorm-Bernschütz, S. 123 f.
B. Einzelne relevante Aspekte
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vor.202 Dieser Ansicht schließen sich Erdal203 und Sethi204 sowie die Beschwerdeführer in den Fällen Celikbilek205 und Orhan206 an. Das Beweismaß der überwiegenden Wahrscheinlichkeit sagt aus, dass eine Tatsache als bewiesen gilt, wenn deren Existenz als wahrscheinlicher erscheint als ihre Nichtexistenz.207 Shelton vertritt die Ansicht, der „clear and convincing“-Standard sei angemessen für Fälle schwerer und systematischer Verletzungen in Individualverfahren.208 Das Beweismaß „proof beyond reasonable doubt“ sei grundsätzlich nicht angemessen; eine Ausnahme könne höchstens in Staatenbeschwerden gemacht werden, um die Besorgnis zu zerstreuen, eine politische Motivation stehe im Vordergrund der Beschwerde.209 Dieses „clear and convincing“-Beweismaß scheint mit dem Beweismaß identisch zu sein, welches der IAGMR im Fall Velásquez-Rodríguez210 anwendete und welches auch als „proof in a convincing manner“-Standard bezeichnet wird.211 Jedenfalls scheint es ein Beweismaß zu bezeichnen, das einen Überzeugungsgrad zwischen dem hohen Standard des „proof beyond reasonable doubt“ und dem niedrigerem Standard der überwiegenden Wahrscheinlichkeit fordert.212 Abweichend dazu versteht Rudolf das von den Konventionsorganen bereits angewendete Beweismaß als das der vollen richterlichen Überzeugung.213 Sie schlägt vor, dieses in Fällen schwerer Menschenrechtsverletzungen abzusenken, wenn der Staat die Beweismittel kontrolliert oder für eine Beweissicherung hätte sorgen können. In diesem Fall solle das Beweismaß der hohen Wahrscheinlichkeit ange202 Anguelova v. Bulgarien, 38361/97, Urteil vom 13. Juni 2002, teilweise abweichende Meinung von Richter Bonello, Abs. 18; Veznedaroglu v. Türkei, 32357/96, Urteil vom 11. April 2000, teilweise abweichende Meinung Richter Bonello, Abs. 12 f. 203 Erdal, E. L. Rev. Human Rights Survey 26 (2001), S. 68 (79). 204 Sethi, Human Rights Brief 8/3 (2001), S. 29. 205 Celikbilek v. Türkei, 27693/95, Urteil vom 31. Mai 2005, Abs. 50. 206 Orhan v. Türkei, 25656/94, Urteil vom 18. Juni 2002, Abs. 263. 207 Siehe Thienel, GYIL 50 (2007), S. 543 (567); Wolfrum, in: FS Wildhaber, S. 915 (920). Vgl. Amerasinghe, S. 234, beachte aber auch die Definition von Amerasinghe auf S. 233, 242. 208 Shelton, FILJ 12 (1989), S. 361 (386), in anderen Fällen könnte das Beweismaß der überwiegenden Wahrscheinlichkeit Anwendung finden. 209 Shelton, FILJ 12 (1989), S. 361 (386 f.). 210 Velásquez-Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Series C Nr. 4, Abs. 129; siehe aber auch die abweichende Formulierung in der spanischen Fassung: „[…] la convicción de la verdad de los hechos alegados.“ Auf diese Diskrepanz weist auch Kokott, The Burden of Proof, S. 201 hin. Zum Beweismaß in diesem Fall siehe Drucker, SJIL 25 (1989), S. 289 (306 f.) mit der Ansicht, es sei unklar, welches Beweismaß der Gerichtshof heranzog, es sei aber ein geringers als das des proof beyond reasonable doubt. Siehe auch Claude, Intercultural Human Rights Law Review 5 (2010), S. 407 (422). 211 Vgl. Kokott, The Burden of Proof, S. 201; Amerasinghe, S. 239. 212 So auch Shelton, FILJ 12 (1989), S. 361 (386 f.). Vgl. Amerasinghe, S. 235, 239 f.; Kokott, The Burden of Proof, S. 201. Auch Wiesbrock, S. 244 schlägt das Beweismaß der hohen Wahrscheinlichkeit vor. 213 Rudolf, EuGRZ 23 (1996), S. 497 (498).
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Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
wendet werden.214 Richter Loucaides scheint hingegen auch inhaltlich dem Beweismaß der vollen richterlichen Überzeugung zuzuneigen, wenn er sagt: „It should be left to their [the judges’] consciences to decide whether they believe that any particular facts have been established or not.“215
Im Folgenden bezeichnet er es allerdings als angemessener, die Formel des IAGMR „convinced“ oder die des Internationalen Gerichtshofes „satisfied“ zu übernehmen.216 Das Beweismaß der vollen richterlichen Überzeugung kommt aus dem kontinental-europäischen Rechtskreis. Die Richter müssen zu der Überzeugung von der materiellen Wahrheit kommen. Dabei ist ein „für das praktische Leben brauchbare[r] Grad von Gewissheit“ ausreichend.217 Von einem gegensätzlichen Ausgangspunkt geht Thienel aus. Seiner Ansicht nach ist das Beweismaß in Fällen schwerer Menschenrechtsverletzungen nicht abzusenken, es ist vielmehr zu steigern.218 Grund dafür sei, dass die Existenz dieser Verletzungen unwahrscheinlicher sei als die gewöhnlicher Vorwürfe. Auch sei ein Gericht vorsichtiger diese Verletzungen festzustellen, da eine solche Feststellung schwerwiegende Folgen nach sich zöge.219 Er schlägt vor, ein Beweismaß heranzuziehen, welches zwar je nach Schwere des Vorwurfs variiert, jedoch unterhalb des Grades „proof beyond reasonable doubt“ verbleibt.220 Eine genaue Benennung dieses Beweismaßes erfolgt jedoch nicht; als „basic standard of proof“ zieht Thienel aber das Beweismaß der überwiegenden Wahrscheinlichkeit dem der vollen richterlichen Überzeugung vor.221 Keine Absenkung des Beweismaßes ist mit der Forderung verbunden, einen prima facie-Fall als Beweis ausreichen zu lassen. Der prima facie-Fall bezeichnet kein Beweismaß.222 Vielmehr sagt diese Formulierung lediglich aus, dass der EGMR seine Feststellungen auch auf das einseitige Vorbringen stützt, soweit er den Beweis 214
Rudolf, EuGRZ 23 (1996), S. 497 (503). Loucaides, Essays, S. 168 (Hervorhebung nicht im Original). 216 Loucaides, Essays, S. 168. Es erscheint allerdings fraglich, ob „satisfied“ ein Beweismaß bezeichnet. 217 BGHZ 53, 245 (256). Zu diesem Beweismaß siehe Nierhaus, S. 48 – 6. 218 Thienel, GYIL 50 (2007), S. 543 (581) bezeichnet diese Schlussfolgerung als „natural“. Siehe ähnlich auch Buckley, HRLR 1 (2001), S. 35 (43). 219 Thienel, GYIL 50 (2007), S. 543 (568, 583). 220 Thienel, GYIL 50 (2007), S. 543 (586 f.). 221 Siehe dazu Thienel, GYIL 50 (2007), S. 543 (584 f.). 222 Siehe auch Amerasinghe, S. 247 – 258, siehe S. 252 f.: „Such a conclusion, however, could not and does not mean that the standard of proof for facts applicable in the case as such changes“; S. 254 f.: „In this respect the standard of proof applied to prima facie evidence, if unrebutted, is not different from that which would be applied in the case in question, if it did not depend on prima facie evidence but on the total quantum of evidence.“ Benzing, S. 673 f. unterscheidet zwischen prima facie case und prima facie evidence. Ersterer diene der Prozessstrukturierung. Anders wohl die Einordnung von Barrett, Harvard HRJ 22 (2009), S. 133 (140). 215
B. Einzelne relevante Aspekte
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zum angewendeten Beweismaß „proof beyond reasonable doubt“ als erbracht ansieht.223 So lautet auch eine gängige Definition des prima facie-Beweises: „which, unexplained or uncontradicted is sufficient to maintain the proposition affirmed.“224 Damit stellt der prima facie-Beweis durchaus ein Mittel dar, um der Beweisnot des Beschwerdeführers abzuhelfen.225 Auch kann er mit dem Vorschlag einer Absenkung des Beweismaßes verknüpft werden. Einher geht eine Änderung des Beweismaßes mit der Zulassung eines prima facie-Falles allerdings nicht. Dies spiegelt die Rechtsprechung des EGMR auch wider. So betont der EGMR, soweit er in Fällen des Verschwindenlassens auf einen prima facie-Fall abstellt, oftmals gleichzeitig die Geltung des Beweismaßes „proof beyond reasonable doubt“.226 3. Eigener Vorschlag eines geänderten Beweismaßes In Bezug auf die untersuchten unklaren und strittigen Tatsachen in Fällen des Verschwindenlassens sollte der EGMR das Beweismaß „proof beyond reasonable doubt“ zu Gunsten des Beweismaßes der überwiegenden Wahrscheinlichkeit („preponderance of evidence“) ändern. Damit würde zum einen der berechtigten Kritik an dem geltenden Beweismaß abgeholfen, dieses sei jedenfalls durch seine verbale Anlehnung an das strafrechtliche Beweismaß missverständlich formuliert oder aber übertrieben hoch. Zum anderen würde mit dem Beweismaß der überwiegenden Wahrscheinlichkeit ein Standard herangezogen werden, der gerade in Fällen des Verschwindenlassens angemessen erscheint, in denen die Tatsachen strittig sind, für die der Beschwerdeführer grundsätzlich die objektive Beweislast trägt und in Bezug auf die eine Situation der Beweisnot vorliegt. a) Missverständliche Bezeichnung des Beweismaßes „proof beyond reasonable doubt“ Die Bezeichnung des Beweismaßes, welches der EGMR verwendet, mit dem Begriff „proof beyond reasonable doubt“ ist zumindest als stark missverständlich zu kritisieren und bereits deshalb abzulehnen. Zweifelhaft erscheint auch, ob es in der Sache tatsächlich ein anderes – abgesenktes – Beweismaß bezeichnet. So betont der EGMR zwar, dass dieses Beweismaß nicht mit dem strafrechtlicher Verfahren 223
Schorm-Bernschütz, S. 130. Kazazi, S. 328; Amerasinghe, S. 247. 225 Mißverständlich bleibt die Einordnung des prima facie-Beweises bei Kazazi, S. 326 – 339, der zu dem Ergebnis kommt, S. 343: „[…] under some circumstances prima facie evidence may be accepted as the minimum amount of proof required to discharge a burden of proof“. 226 So bereits in Estamirov et al. v. Russland, 60272/00, Urteil vom 12. Oktober 2006, Abs. 100, 112. Takhayeva et al. v. Russland, 23286/04, Urteil vom 18. September 2008, Abs. 66, 76; Khumaydov und Khumaydov v. Russland, 13862/05, Urteil vom 28. Mai 2009, Abs. 93, 95. 224
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Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
identisch sei und sein Inhalt vielmehr autonom zu bestimmen sei. Dennoch stellten die Konventionsorgane in ihren Entscheidungen darauf ab, dass Zweifel am Beweis einer Tatsache verbleiben, und nahmen in Folge die strittige Tatsache gerade nicht an.227 Dies weist darauf hin, dass der Gerichtshof – zumindest in einigen Fällen – das hohe strafrechtliche Beweismaß auch in der Sache anwendet. Eine umfassende inhaltliche Bestimmung des Beweismaßes „proof beyond reasonable doubt“, die eine klare Distanzierung zum Beweismaß in strafrechtlichen Verfahren erkennen lässt, erfolgt ebenfalls nicht.228 So erklärte der Gerichtshof zwar, dass der erforderliche Überzeugungsgrad untrennbar mit der Besonderheit der Tatsachen, der Natur der Vorwürfe und der geprüften Konventionsbestimmungen verknüpft sei.229 Welcher Überzeugungsgrad dies im Einzelfall sei, stellte der EGMR nicht fest; auch schien er diese Aussage als inhaltliche Präzisierung des Beweismaßes „proof beyond reasonable doubt“ zu verstehen und nicht als Abkehr von diesem.230 Selbst wenn der EGMR mit der Bezeichnung „proof beyond reasonable doubt“ ein Beweismaß benennen und verwenden würde, welches gegenüber dem hohen strafrechtlichen Beweismaß gleichen Namens abgesenkt ist, rechtfertigte dies dennoch, dieses dann nur missverständliche, aber inhaltlich gegebenenfalls angemessene Beweismaß abzulehnen. Der Grund dafür ist die Bedeutung, die der in Worten gefassten Bezeichnung des Beweismaßes zukommt.231 Denn die Entscheidung der Richter, ob ein geforderter Überzeugungsgrad erreicht ist, ist grundsätzlich nur begrenzt überhaupt in Worte zu fassen und im Urteil zu vermitteln. Sie ist in erster Linie ein innerer Prozess, der in mathematischen Wahrscheinlichkeiten und verobjektivierten Wertungen nur unzureichend ausgedrückt werden kann.232 Damit kommt einer angemessenen Wortwahl, die den inneren Prozess der Entscheidungsfindung so gut wie möglich widerspiegelt, umso mehr Bedeutung zu. Es ist daher zu fordern, dass der Gerichtshof auf missverständliche Bezeichnungen des Beweismaßes verzichtet und den Ausdruck wählt, welcher seinem Vorgehen in der Sache am besten entspricht. Wendet der EGMR damit tatsächlich nicht das aus dem 227 So in Zypern v. Türkei, 8007/77, Bericht vom 4. Oktober 1983, Decision and Reports, vol. 72 (1992), S. 5 (35, Abs. 105): „leaves room for reasonable doubt“. Zumeist formuliert der EGMR wie folgt: „there is an insufficient evidentiary basis on which to conclude that the applicant’s son was, beyond reasonable doubt, abducted and subsequently killed by State agents in police custody as alleged by the applicant“ siehe z. B. S¸eker v. Türkei, 52390/99, Urteil vom 21. Februar 2006, Abs. 65. 228 Vgl. auch Erdal, E. L. Rev. Human Rights Survey 26 (2001), S. 68 (74 f.). 229 Nachova et al. v. Bulgarien, 43577/98, 43579/98, Urteil der Großen Kammer vom 6. Juli 2005, Abs. 147. 230 So erwähnt die Große Kammer zu Beginn des Absatzes dieses Beweismaß als relevanten Standard, Nachova et al. v. Bulgarien, 43577/98, 43579/98, Urteil der Großen Kammer vom 6. Juli 2005, Abs. 147. 231 Vgl. auch Thienel, GYIL 50 (2007), S. 543 (579). 232 Siehe auch Wolfrum, in: FS Wildhaber, S. 915 (919).
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Strafrecht bekannte Beweismaß „proof beyond reasonable doubt“ an, so sollte er auch von der Verwendung dieses Ausdruckes absehen. Da aus der Rechtsprechung allerdings nicht hervorgeht, welches abgesenkte Beweismaß der EGMR unter dieser missverständlichen Bezeichnung möglicherweise heranzieht, kann ein konkreter Vorschlag einer angemessenen Bezeichnung durch den EGMR unter Beibehaltung des verwendeten Beweismaßes in der Sache nicht gemacht werden. b) Anforderungen des EMRK-Systems an das Beweismaß Der EGMR sollte daher in der Sache das Beweismaß der überwiegenden Wahrscheinlichkeit heranziehen und auch als solches bezeichnen. Dieses Beweismaß wird zunächst den Anforderungen gerecht, die das EMRK-System selbst aufstellt. Denn dieses fordert die Verwendung eines Beweismaßes, das keine übertrieben hohen Anforderungen an den Beweis der relevanten Tatsachen stellt. Dies ergibt sich zwar nicht ausdrücklich aus einer Bestimmung der EMRK oder der VerfO, insbesondere existiert keine Regelung zum Beweismaß; eine Auslegung der Konvention führt jedoch zu diesem Schluss. aa) Zielsetzung und Systematik der EMRK So verfolgt die EMRK ausweislich ihrer Präambel das Ziel, „die universelle und wirksame Anerkennung und Einhaltung der in ihr aufgeführten Rechte zu gewährleisten“. Diesen Aspekt der Wirksamkeit oder Effektivität hat der Gerichtshof mehrfach anerkannt: „The Court recalls that the Convention is intended to guarantee not rights that are theoretical or illusory but rights that are practical and effective […].“233
Innerhalb des Konventionssystems kommt dem Gerichtshof nach Art. 19 EMRK die Aufgabe zu, die Einhaltung der Verpflichtungen durch die Konventionsstaaten sicherzustellen. Diese Aufgabe bestimmt auch, wie der Gerichtshof Fragen des Beweisrechtes entscheidet: „The specificity of its task under Article 19 of the Convention – to ensure the observance by the Contracting States of their engagement to secure the fundamental rights enshrined in the Convention – conditions its approach to the issues of evidence and proof.“234
Auch steht diese Aufgabe des EGMR unter dem Erfordernis, die Einhaltung der Verpflichtungen auf eine Art und Weise sicherzustellen, die die Effektivität dieser 233 Artico v. Italien, 6694/74, Urteil vom 13. Mai 1980, Abs. 33 (Hervorhebung nicht im Original). Siehe auch Airey v. Irland, 6289/73, Urteil vom 9. Oktober 1979, Abs. 24 m.w.N. Darauf stellt auch Richter Bonello ab: Anguelova v. Bulgarien, 38361/97, Urteil vom 13. Juni 2002, teilweise abweichende Meinung von Richter Bonello, Abs. 9. 234 Nachova et al. v. Bulgarien, 43577/98, 43579/98, Urteil der Großen Kammer vom 6. Juli 2005, Abs. 147 (Hervorhebungen nicht im Original). Siehe auch Osmanog˘lu v. Türkei, 48804/99, Urteil vom 24. Januar 2008, Abs. 45.
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Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
Rechte gewährleistet.235 Damit steht auch die Sicherstellung der Einhaltung der Konventionsrechte durch den EGMR unter dem Effektivitätsgebot236 und damit auch die Ausgestaltung des Verfahrens vor dem Gerichtshof. Die Heranziehung eines niedrigeren Beweismaßes ist geeignet, Verletzungen der Konventionsrechte festzustellen und damit deren Einhaltung effektiv sicherzustellen.237 bb) Auslegung im Lichte nationaler Rechtsordnungen Im Rahmen der so genannten autonomen Interpretation sind neben der Systematik des Vertrages und seiner Zielsetzung auch die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der nationalen Rechtsordnungen zu berücksichtigen.238 Einige nationale Rechtsordnungen – die des angelsächsischen Rechtskreises – kennen zwar das Beweismaß des „proof beyond reasonable doubt“, wenden dieses allerdings im Strafverfahren an.239 Dass Verfahren zum Schutz der Menschenrechte vor dem EGMR nicht die Feststellung strafrechtlicher Verantwortlichkeit zum Gegenstand haben, hat der EGMR richtigerweise selbst festgestellt.240 Vielmehr wäre im Rahmen der autonomen Interpretation auf das Beweismaß in den nationalen Zivilverfahren abzustellen.241 Allerdings wenden die verschiedenen nationalen Rechtsordnungen in Zivilverfahren unterschiedliche Beweismaßstäbe an: Während der angelsächsische Rechtskreis grundsätzlich auf das Beweismaß der überwiegenden Wahrscheinlichkeit abstellt,242 wenden die Länder mit einer kontinental-europäischen Rechtstradition das Beweismaß der vollen richterlichen Überzeugung an.243 Unter Heranziehung der nationalen Rechtsordnungen lässt sich somit im Rahmen der autonomen Interpretation lediglich darauf schließen, dass kein Anlass dafür besteht, das hohe Beweismaß „proof beyond reasonable doubt“ heranzuziehen. Aus den nationalen Rechtsordnungen folgt vielmehr die Gemeinsamkeit, dass ein diesem Beweismaß gegenüber niedrigerer Standard heranzuziehen ist.
235 Diesen Schluss zieht auch Richter Bonello, Anguelova v. Bulgarien, 38361/97, Urteil vom 13. Juni 2002, teilweise abweichende Meinung von Richter Bonello, Abs. 9: „The Convention has to be applied by the Court in such a way as to guarantee ,not rights that are theoretical or illusory, but rights that are practical and effective‘ […].“ 236 Vgl. auch Thienel, GYIL 50 (2007), S. 543 (581). 237 Vgl. auch Kokott, The Burden of Proof, S. 205 f.; Taqi, FILJ 24 (2000 – 2001), S. 940 (983). 238 Grabenwarter, S. 32. 239 Siehe Auburn, in: Malek (Hrsg.), S. 152 – 154; Dennis, S. 392 f. 240 So in Nachova et al. v. Bulgarien, 3577/98, 43579/98, Große Kammer, Urteil vom 6. Juli 2005, Abs. 147. 241 So auch Thienel, GYIL 50 (2007), S. 543 (566). 242 Amerasinghe, S. 233; Auburn, in: Malek (Hrsg.), S. 154; Dennis, S. 394. 243 Amerasinghe, S. 233; Bender/Nack/Treuer, S. 137 ff.
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cc) Auslegung im Lichte des übrigen Völkerrechts Die EMRK ist als völkerrechtlicher Vertrag ebenfalls in den systematischen Zusammenhang mit dem übrigen Völkerrecht zu stellen.244 Auch könnte sich der Gerichtshof in der Ausgestaltung seines Verfahrensrechts an anderen völkerrechtlichen Vorbildern orientieren. Allerdings ist völkerrechtlich – und insbesondere im Bereich des Menschenrechtsschutzes – gerade nicht vorgesehen, das Beweismaß „proof beyond reasonable doubt“ heranzuziehen; soweit es überhaupt Äußerungen gibt, stellen diese auf andere Beweismaßstäbe ab. So betonte der IAGMR in der Entscheidung Velásquez-Rodríguez gerade die Flexibilität, die ein internationales Gericht in Bezug auf das Beweismaß hat: „The standards of proof are less formal in an international legal proceeding than in a domestic one.“245 Auch die Praxis anderer völkerrechtlicher Institutionen, die sich mit der Tatsachenfeststellung beschäftigen, ist bestenfalls als uneinheitlich zu bezeichnen;246 keinesfalls jedoch legt sie es nahe, das Beweismaß „proof beyond reasonable doubt“ heranzuziehen. dd) Materielle Gewährleistungen der EMRK Aus den materiellen Gewährleistungen der Konvention in der Auslegung, die sie in der Rechtsprechung des EGMR erfahren haben, lässt sich ebenfalls nicht entnehmen, dass die Konvention mit der Heranziehung des Beweismaßes der überwiegenden Wahrscheinlichkeit nicht im Einklang steht – wenn sie dieses Beweismaß auch nicht ausdrücklich fordern. Diese materiellen Gewährleistungen der EMRK, von denen insbesondere Art. 6 EMRK bedeutend ist, finden zwar unmittelbar keine Anwendung auf das Verfahren vor dem EGMR; ihre Relevanz für die Ausgestaltung auch des Verfahrensrechts vor dem EGMR ist allerdings zu Recht von Richter Zupancˇicˇ anerkannt worden, als sich dieser mit den Herausforderungen beschäftigte, denen sich der Gerichtshof als quasi erstinstanzliches Gericht in Zukunft gegenüber sehen wird: „The Court will have to establish its own evidentiary rules pertaining to the burden of proof, the risk of non-persuasion, the principle in dubio pro reo, etc. These rules are already present in our jurisprudence, albeit in a rudimentary form. Needless to say, in establishing these procedural precepts we must above all strictly follow the guarantees of Article 6, as we require of all the signatories of the Convention.“247
Aus der Rechtsprechung zu Art. 6 Abs. 2 EMRK lässt sich entnehmen, dass die ehemalige Kommission entschied, dass das hohe Beweismaß „proof beyond reasonable doubt“ selbst in strafrechtlichen Verfahren, die an der Unschuldsvermutung 244
Grabenwarter, S. 32. Velásquez-Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Series C Nr. 4, Abs. 128. 246 So Shelton, FILJ 12 (1989), S. 361 (384 f.). 247 Rehbock v. Slowenien, 29462/95, Urteil vom 28. November 2000, teilweise abweichende Meinung von Richer Zupancˇicˇ (Hervorhebung nicht im Original). 245
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Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
des Art. 6 Abs. 2 EMRK zu messen sind, nicht erforderlich ist: „Article 6 para. 2 […] of the Convention does not, however, lay down any specific rights in relation to the standard or burden of proof […]“.248 Daraus ließe sich schließen, dass erst recht in zivilgerichtlichen Verfahren und auch in solchen Verfahren, die sich mit Beschwerden von Verletzungen der Konventionsrechten befassen, ein niedrigeres Beweismaß jedenfalls zulässig ist. In Bezug auf das Beweismaß der überwiegenden Wahrscheinlichkeit erkannte der EGMR im Fall M.C. v. Vereinigtes Königreich in dessen Verwendung in einem (quasi-)zivilrechtlichen Verfahren keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK.249 Auch im Rahmen der Rechtsprechung zu Art. 13 EMRK gibt es keinen Hinweis darauf, dass die Anwendung eines niedrigeren Beweismaßes als dem des „proof beyond reasonable doubt“-Standards eine Konventionsverletzung darstellt. Zwar erfordert die Wirksamkeit der Beschwerde, welche im Rahmen der Gewährleistung des Art. 13 EMRK gegeben sein muss, auch, dass bestimmte Anforderungen an das Verfahren eingehalten werden müssen.250 Zu diesen zählt jedoch gerade nicht, dass das strengste Beweismaß zur Anwendung gelangen muss. Im Gegenteil fördert die Heranziehung eines niedrigeren Beweismaßes zu Gunsten des Beschwerdeführers gerade die Wirksamkeit der Beschwerde und wäre daher im Rahmen von Art. 13 EMRK vorzugswürdig. c) Abwägung zwischen den Interessen, eine fälschliche Verurteilung oder Nichtverurteilung der beschwerdegegnerischen Partei zu vermeiden Während damit die Anforderungen, die das EMRK-System an das Beweismaß stellt, jedenfalls dafür sprechen, das Beweismaß „proof beyond reasonable doubt“ abzulehnen und ein demgegenüber niedrigeres Beweismaß anzuwenden, spricht die folgende Abwägung dafür, gerade das Beweismaß der überwiegenden Wahrscheinlichkeit heranzuziehen: Das Beweismaß entscheidet darüber, in welches Verhältnis zwei gegenläufige Ziele des Verfahrens gesetzt werden sollen. Eines dieser Ziele ist es, eine fälschliche Verurteilung der beschwerdegegnerischen Partei zu vermeiden; das andere Ziel ist zu verhindern, dass die beschwerdegegnerische Partei aufgrund eines Sachverhalts nicht verurteilt wird, für den sie tatsächlich verantwortlich ist.251 Je höher nun das Beweismaß angesetzt wird für jene Tatsachen, 248 Steel et al. v. Vereinigtes Königreich, 24838/94, Bericht vom 9. April 1997, Abs. 71. Siehe auch die Entscheidung Bullock v. Vereinigtes Königreich, 29102/95, Entscheidung vom 16. Januar 1996, in welcher eine Verletzung von Art. 6 Abs. 2 EMRK verworfen wurde, obwohl das Beweismaß der überwiegenden Wahrscheinlichkeit – neben einer „presumption“ – zur Anwendung kam. 249 M.C. v. Vereinigtes Königreich, 11882/85, Entscheidung der Kommission zur Zulässigkeit vom 7. Oktober 1987. 250 Zu diesen siehe Grabenwarter, S. 419 – 424. 251 Zu der Relevanz dieses Aspekts für das Beweismaß (das dieser allerdings als burden of proof bezeichnet) siehe Bolding, Scandinavian Studies in Law 4 (1960), S. 9 (25 f.).
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für die die beschwerdegegnerische Partei nicht die Beweislast trägt, desto mehr wird ersteres Ziel gegenüber letzterem bevorzugt. Eine jede Absenkung des Beweismaßes würde hingegen, soweit die Beweislast auf dem Beschwerdeführer lastet, dazu führen, dass sich das Verhältnis zu Gunsten des Ziels verschiebt, eine fälschliche Nichtverurteilung zu vermeiden. Die folgende Gewichtung dieser beiden Ziele in den relevanten Konstellationen in Fällen des Verschwindenlassens kommt zu dem Ergebnis, dass die Heranziehung eines niedrigeren Beweismaßes ein angemesseneres Verhältnis der beiden Ziele herzustellen vermag. aa) Gewicht des Interesses, eine fälschliche Verurteilung zu vermeiden Im Strafrecht resultiert das hohe Gewicht, das dem Interesse beigemessen wird, die fälschliche Verurteilung einer Person zu vermeiden, daraus, dass die Verurteilung eines Individuums wegen einer Straftat, die es tatsächlich nicht begangen hat, mit einer Freiheits- oder Geldstrafe oder jedenfalls mit einem Unwerturteil verbunden ist und damit einen schwerwiegenden Eingriff in die Individualrechte des Einzelnen darstellt.252 Eine fehlerhafte Verurteilung greift nicht nur tief in die Rechte des Betroffenen ein, sie schadet auch dem allgemeinen Vertrauen in die Rechtsordnung und schwächt somit die Akzeptanz, die das Rechtssystem insgesamt genießt.253 Die Bedeutung des Interesses, eine fälschliche strafrechtliche Verurteilung zu vermeiden, unterstreicht auch die im Strafrecht geltende Unschuldsvermutung. Diese ist verfassungsrechtlich und auch nach Art. 6 Abs. 2 EMRK vorgegeben.254 Abweichend von strafrechtlichen Verfahren ist in den relevanten Fällen des Verschwindenlassens, in denen schwere Menschenrechtsverletzungen eines Staates Gegenstand des Verfahrens sind, das Interesse daran, eine fälschliche Verurteilung zu vermeiden, bedeutend geringer. Grund hierfür ist, dass nicht die Verurteilung einer Individualperson in Rede steht, sondern die eines Staates.255 Der Staat kann sich, anders als der Einzelne, nicht darauf berufen, seine Menschen- oder Grundrechte seien verletzt. Somit entfallen bereits alle grund- und menschenrechtlichen Implikationen. Des Weiteren hat zwar selbstverständlich auch der beschwerdegegnerische Staat ein schützenswertes Interesse daran, nicht wegen einer Tat verurteilt zu werden, für welche er nicht verantwortlich ist. So hat der verurteilte Staat die Pflicht das (materiell unrichtige) Urteil zu befolgen. Die Verurteilung könnte außerdem dem An252
Siehe Dennis, S. 394. Vgl. Thienel, GYIL 50 (2007), S. 543 (579). 254 Siehe Grabenwarter/Pabel, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), Kap. 14, Rn. 155 – 162, das BVerfG hat die Unschuldsvermutung als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips bezeichnet (Rn. 161). 255 Vgl. auch Kokott, The Burden of Proof, S. 199 f. Siehe aber auch Rudolf, EuGRZ 23 (1996), S. 497 (499). 253
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sehen des Staates in der nationalen und internationalen Meinung erheblichen Schaden zufügen und dies insbesondere, wenn, wie in Fällen des Verschwindenlassens, die Verletzung grundlegender Menschenrechte festgestellt wird.256 Dies hat berechtigterweise auch der EGMR bemerkt: „The Court is also attentive to the seriousness that attaches to a ruling that a Contracting State has violated fundamental rights […].“257 In Staatenbeschwerdeverfahren, denen eine erhöhte Aufmerksamkeit gezollt wird, könnte der Ansehensverlust noch gesteigert sein und die Gefahr, dass das Verfahren politisch motiviert ist, hinzukommen. Auch existiert ein objektives Interesse daran, ein Rechtssystem zu haben, welches Fehlverurteilungen vermeidet,258 um die Glaubwürdigkeit des Systems nicht insgesamt zu gefährden. Obgleich damit durchaus ein berechtigtes Interesse besteht, eine fälschliche Verurteilung des beschwerdegegnerischen Staates in Fällen des Verschwindenlassens zu vermeiden, ist diesem Interesse aber – im Vergleich zum Strafprozess – ein geringeres Gewicht beizumessen. Diese Schlussfolgerung stützt auch, dass sich der Angeklagte im Strafverfahren in der gegenüber dem Staat unterlegenen Position des Gewaltunterworfenen Individuums befindet und daher seine Rechte besonders schützenswert sind. In Verfahren vor dem EGMR befindet sich der beschwerdegegnerische Staat – anders als die angeklagte Individualperson – hingegen gerade nicht in einer unterlegenen Position.259 So haben sich die Konventionsstaaten selbst, anders als die der Strafgewalt des Staates unterworfene Einzelperson, der Konvention einschließlich der Gerichtsbarkeit des EGMR freiwillig vertraglich unterworfen. Auch kontrolliert der beschwerdegegnerische Staat in der Regel die Beweismittel; dies führt dazu, dass der Gerichtshof auf die Kooperation des Staates zur Tatsachenfeststellung angewiesen ist. bb) Gewicht des Interesses, eine fälschliche Nichtverurteilung zu vermeiden Dieses Ziel, eine fälschliche Verurteilung zu vermeiden, muss nunmehr dem Ziel, eine fälschliche Nichtverurteilung ebenfalls zu vermeiden, gegenüber gestellt werden. Dabei bedeutet – anders als im Strafrecht – die fälschlicherweise nicht ergangene Verurteilung eines beschwerdegegnerischen Staates, dass eine Menschen256 Auf das Gewicht einer völkerrechtlichen Verurteilung weisen auch Kokott, Beweislastverteilung, S. 397; Wiesbrock, S. 245; Wolfrum, in: FS Wildhaber, S. 915 (921 f.); Rudolf, EuGRZ 23 (1996), S. 497 (503); Smith, EHRLR Issue 2 (2009), S. 206 (221); White/Ovey, S. 177 f. und Barrett, Harvard HRJ 22 (2009), S. 133 (141) hin. Siehe auch den IAGMR in Velásquez-Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Series C Nr. 4, Abs. 129: „The Court cannot ignore the special seriousness of finding that a State Party to the Convention has carried out or has tolerated a practice of disappearances in its territory.“ 257 Nachova et al. v. Bulgarien, 43577/98, 43579/98, Große Kammer, Urteil vom 6. Juli 2005, Abs. 147. 258 Vgl. Kokott, Beweislastverteilung, S. 397. 259 So auch Loucaides, Essays, S. 167 („the individual being in a disadvantageous position vis-à-vis the omnipotent State“); Wolfrum, in: FS Wildhaber, S. 915 (921 f.).
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rechtsverletzung endgültig ungesühnt bleibt. Hingegen würde im strafrechtlichen Kontext eine Menschenrechtsverletzung in erster Linie dann vorliegen, wenn eine Individualperson zu Unrecht verurteilt wird. Zwar weist auch die fälschliche Nichtverurteilung einer schuldigen Person menschenrechtliche Implikationen für den Fall auf, dass der Staat aus schutzrechtlchen Überlegungen zur Ahndung verpflichtet ist. Der unmittelbare Eingriff in die Abwehrrechte des bestraften Individuums wiegt diesen gegenüber allerdings schwerer. Dies hat zur Folge, dass in Verfahren vor dem EGMR anders als in Strafverfahren gerade das Interesse, eine fälschliche Nichtverurteilung zu vermeiden, menschenrechtliche Implikationen aufweist. Die bereits angesprochene Verpflichtung des EGMR und der Konventionsstaaten, die Menschenrechte effektiv zu gewähren – auch durch eine Ausgestaltung eines effektiven EGMR-Verfahrens – spricht somit dafür, das Interesse, fälschliche Nichtverurteilungen zu vermeiden, höher zu gewichten. Für diese Gewichtung spricht auch, dass eine Menschenrechtsverletzung endgültig ungesühnt bleibt, wenn eine Verurteilung durch den EGMR nicht erfolgt.260 Damit werden nicht nur die Rechte des Beschwerdeführers und Opfers im konkreten Fall missachtet,261 vielmehr wird auch das Vertrauen der Allgemeinheit in die Funktionsfähigkeit des EMRK-Systems insgesamt verletzt. Das objektive Interesse, das insbesondere in Fällen schwerer Menschenrechtsverletzungen an der Einhaltung der Verpflichtungen besteht, wird missachtet.262 Gerade in Fällen systematischer Menschenrechtsverletzungen fehlt es im Folgenden auch an einem Anreiz für den Staat, ein gesamtes System zu ändern und die Rechte der tatsächlich oder potentiell in Gegenwart und Zukunft ebenfalls Betroffenen zu wahren. Schließlich spricht auch für eine hohe Gewichtung des Interesses, die fälschliche Nichtverurteilung des beschwerdegegnerischen Staates zu vermeiden, dass ein solcher „Freispruch“ in der Praxis meist das Resultat mangelnder Beweismittel ist. Diese sind dem Gerichtshof nicht verfügbar, da der Staat sie kontrolliert und nicht vollumfänglich mit dem Gerichtshof kooperiert.263 Erfolgt nun keine Verurteilung des beschwerdegegnerischen Staates, so wird damit unterstützt, dass der Staat auch in Zukunft ein System beibehält oder schafft, in welchem die Beweise allein seiner 260
Vgl. Thienel, GYIL 50 (2007), S. 543 (581). Vgl. Thienel, GYIL 50 (2007), S. 543 (581). Unter Umständen haben die Opfer schwerer Menschenrechtsverletzungen bereits aus allgemeinem Völkerrecht einen Anspruch auf Wiedergutmachung, siehe dazu Rombouts/Sardaro/Vandeginste, in: De Feyter/Parmentier/ Bossuyt/Lemmens (Hrsg.), S. 345. Die Situation stellt sich auch in Staatenbeschwerdeverfahren nicht anders dar: Zwar ist in diesen ein Staat Beschwerdeführer, auch dieser rügt aber die Verletzung von Menschenrechten, so dass zumindest mittelbar Individualpersonen betroffen sind. 262 Siehe Kokott, The Burden of Proof, S. 210. Zu dieser objektiven Funktion siehe Dörre, S. 58 – 61. 263 Vgl. Kokott, Beweislastverteilung, S. 398. Die beweisrechtlichen Rechtsfolgen der mangelhaften Kooperation des beschwerdegegnerischen Staates mit dem Gerichtshof werden supra in Kapitel 3, B.IV. näher vertieft. 261
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Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
Kontrolle unterliegen.264 Der Staat wird keine Verfahren schaffen, die die Konventionsrechte verfahrensrechtlich absichern, wie zum Beispiel Haftprüfungsverfahren, die Heranziehung unabhängiger Sachverständiger, regelmäßige medizinische Untersuchungen von Häftlingen etc. cc) Abwägung beider Interessen Die zwei gegenläufigen Ziele des Verfahrens stehen im Ergebnis somit jedenfalls dann in keinem angemessenem Verhältnis zueinander, wenn das Ziel, eine Verurteilung der beschwerdegegnerischen Partei für eine Tat zu vermeiden, für die sie nicht verantwortlich ist, gegenüber dem anderen Ziel – die Nichtverurteilung des Verantwortlichen zu verhindern – überwiegt. Damit ist das höchste Beweismaß „proof beyond reasonable doubt“ unangemessen für das Verfahren vor dem EGMR. Eine Abwägung der vorstehend ausgeführten Interessen deutet vielmehr darauf hin, dass die gegenläufigen Ziele zumindest in einem ausgeglichenen Verhältnis zueinander stehen,265 wenn nicht sogar von einem leichten Überwiegen des Interesses, eine fälschliche Nichtverurteilung des beschwerdegegnerischen Staates zu vermeiden, gesprochen werden kann. In diesem Fall erscheint ein Beweismaß angemessen zu sein, welches ebenfalls keines der Ziele klar gegenüber dem anderen vorzieht. Das Beweismaß der vollen richterlichen Überzeugung ist – anders als das der überwiegenden Wahrscheinlichkeit – gerade nicht geeignet dafür, das Risiko von Fehlentscheidungen gleichmäßig aufzuteilen: Der Richter nimmt eine Tatsache zu Gunsten des die Beweislast tragenden Beschwerdeführers nur dann an, wenn er von dessen Existenz voll überzeugt ist.266 Damit bevorzugt dieses Beweismaß – wie auch das Beweismaß „proof beyond reasonable doubt“ – das Ziel, eine Verurteilung des unschuldig Beklagten zu vermeiden. Das Beweismaß der überwiegenden Wahrscheinlichkeit hingegen bevorzugt keine der beiden Parteien in erheblichem Maße und stellt somit das angemessene Beweismaß dar. Im Vergleich mit einem mittleren Beweismaß berücksichtigt es dabei auch, dass das Interesse, eine fälschliche Nichtverurteilung des beschwerdegegnerischen Staates zu verhindern, tendenziell überwiegt. Ein solches mittleres Beweismaß, wie zum Beispiel das der ganz überwiegenden Wahrscheinlichkeit, wäre zwischen dem niedrigen Beweismaß der überwiegenden Wahrscheinlichkeit und den hohen Beweismaßstäben der vollen richterlichen Überzeugung sowie des „proof beyond reasonable doubt“ angesiedelt.
264 265
aus. 266
Vgl. auch Sethi, Human Rights Brief 8/3 (2001), S. 29. Von einem ausgeglichenen Verhältnis geht auch Thienel, GYIL 50 (2007), S. 543 (585) So Thienel, GYIL 50 (2007), S. 543 (584 f.).
B. Einzelne relevante Aspekte
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d) Kein gesteigertes Beweismaß in Fällen schwerer Menschenrechtsverletzungen Damit würde in Fällen des Verschwindenlassens zu Gunsten des Beschwerdeführers jedenfalls kein gesteigertes Beweismaß zu Anwendung kommen. Diese Schlussfolgerung wird von jenen Stimmen nicht geteilt, die gerade in Fällen schwerer Menschenrechtsverletzungen ein gegenüber einem Regelbeweismaß erhöhtes Beweismaß fordern.267 Der Grund dafür sei, dass gerade solche Vorwürfe nach der Lebenserfahrung unwahrscheinlicher seien.268 Dieser Kritik kann jedoch zum einen bereits im Rahmen der Anwendung des Beweismaßes der überwiegenden Wahrscheinlichkeit Rechnung getragen werden. Denn dieses Beweismaß ist hinreichend flexibel, um verschiedene Anfangswahrscheinlichkeiten einzubeziehen. Zum anderen erscheint die Prämisse bereits kritikwürdig: Gerade in Fällen des Verschwindenlassens, die eine Systematik aufweisen, steht hinter der einzelnen Verletzung eine Praxis, die jedenfalls die einzelne Menschenrechtsverletzung nicht unwahrscheinlich erscheinen lässt, soweit diese Praxis erst einmal festgestellt wurde.269 Auch spricht kein Erfahrungswert dafür, dass ein Staat zwar „einfache“ Menschenrechtsverletzungen begeht, nicht aber schwere. Dies trifft umso mehr zu, wenn die konkrete Verletzung, wie in den Fällen des Verschwindenlassens, im Kontext eines Bürgerkrieges oder einer ähnlichen Situation steht, in der es erfahrungsgemäß zur Aussetzung menschenrechtlicher Garantien und zu schweren Verletzungen grundlegender Menschenrechte kommt. Ebenso muss berücksichtigt werden, dass ein Staat erhöhte Anstrengungen unternehmen wird, gerade offensichtliche, schwere Menschenrechtsverletzungen, so sie denn vorgekommen sind, zu leugnen und zu vertuschen. e) Die Vorhersehbarkeit richterlicher Entscheidungen Das vorgeschlagene Beweismaß der überwiegenden Wahrscheinlichkeit ist dazu in der Lage, das Vertrauen in die Vorhersehbarkeit richterlicher Entscheidungen270 zu erfüllen und ausreichend Schutz vor willkürlichen Entscheidungen zu geben. Es ist, anderes als das vom EGMR herangezogene Beweismaß „proof beyond reasonable
267 Vgl. Schorm-Bernschütz, S. 123, die aus der hohen Bedeutung der Menschenrechte strenge Anforderungen an das Beweismaß folgert. Siehe Nachova et al. v. Bulgarien, 43577/ 98, 43579/98, Urteil der Großen Kammer vom 6. Juli 2005, Abs. 147. Als weitere Begründung wird angegeben, dass die Verurteilung schwerer wiegt. Dieses Argument wurde allerdings bereits berücksichtigt. Rudolf, EuGRZ 23 (1996), S. 497 (503) ist hingegen der Ansicht, bei schweren Verletzungen könne eine fälschliche Verurteilung eher hingenommen werden. 268 Thienel, GYIL 50 (2007), S. 543 (583). 269 Zur beweisrechtlichen Würdigung einer solchen Praxis des Verschwindenlassens siehe infra Kapitel 3, B.III. 270 Zur Bedeutung der Vorhersehrbarkeit siehe Benzing, S. 505.
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Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
doubt“,271 inhaltlich hinreichend bestimmt beziehungsweise bestimmbar. So betont Wolfrum zwar richtigerweise, dass der Entscheidung, ob das Beweismaß erreicht ist, ein subjektives Element inne wohnt und damit vergangene Erfahrungen sowie der berufliche Hintergrund eines jeden Richters Bedeutung erlangt.272 Richter aus einem Land mit einem kontinental-europäischen Rechtssystem bringen ein grundlegend anderes Verständnis vom Beweismaß mit: In ihrer Rechtstradition kommt es auf die innere Überzeugung an, im angel-sächsischen Rechtskreis hingegen auf ein Wahrscheinlichkeitsurteil.273 Aber auch dieses Wahrscheinlichkeitsurteil im Rahmen des Beweismaßes der überwiegenden Wahrscheinlichkeit hat selbstverständlich ein subjektives Element, da im Prozess der Bildung dieses Wahrscheinlichkeitsurteils auch subjektive Wertungen mit einfließen. Das Beweismaß der überwiegenden Wahrscheinlichkeit zwingt nun dazu, zumindest eine objektiv nachvollziehbare Gegenüberstellung der Wahrscheinlichkeiten vorzunehmen. Die einzelnen Faktoren im Rahmen der Abwägung sind zwar auch subjektiv determiniert, die Abwägung an sich folgt jedoch objektiven Maßstäben – und zwar einer Entscheidung für die Existenz der Tatsache bei einer Wahrscheinlichkeit von über fünfzig Prozent und einer Entscheidung dagegen bei fünfzig oder weniger Prozent. Das Beweismaß der überwiegenden Wahrscheinlichkeit bedingt damit, dass die Faktoren, die für und gegen die Existenz der Tatsache sprechen, offen zu legen sind. Das darauf folgende Wahrscheinlichkeitsurteil ist objektiv nachvollziehbar. Damit erfüllt dieses vorgeschlagene Beweismaß das Erfordernis, vorhersehbare Entscheidungen herbeizuführen und willkürliche zu vermeiden. f) Sachverhaltsaufklärung und Kooperationsbereitschaft Schließlich ist dem Einwand entgegen zu treten, die Annahme eines hohen Beweismaßes – wie das des „proof beyond reasonable doubt“ – fördere das Bemühen, den Sachverhalt aufzuklären und sei daher vorzugswürdig.274 Es sei zu befürchten, dass die Ermittlungen bei einem niedrigeren Beweismaß vorschnell eingestellt würden.275 Dieser Einwand wird durch die Praxis der Konventionsorgane gerade widerlegt: Ist zweifelhaft, ob die Ermittlungen Erfolg versprechend sind, so scheint es, dass der Gerichtshof von vornherein keine Ermittlungen durchführt und sich bei
271
So bereits die Kritik von Richter Loucaides in Hasan Ilhan v. Türkei, 22494/93, Urteil vom 9. November 2004, teilweise abweichende Meinung von Richter Loucaides. 272 Wolfrum, in: FS Wildhaber, S. 915 (919). Siehe auch Kazazi, S. 325: „[…] in the final analysis the issue, being a subjective measure, is discretionary and subject to human judgement.“ Siehe auch Eudes, insbesondere S. 302 ff. 273 Thienel, GYIL 50 (2007), S. 543 (571). 274 So aber das Argument von Schorm-Bernschütz, S. 123. Siehe auch Wiesbrock, S. 245, die das Bemühen hervorhebt, den Sachverhalt vollständig und wahrheitsgetreu aufzuklären. Vgl. auch Kokott, Beweislastverteilung, S. 397. 275 Schorm-Bernschütz, S. 123.
B. Einzelne relevante Aspekte
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der Prüfung der Rechtssache auf einige wenige Aspekte der Beschwerde beschränkt.276 Gleichfalls kann das Argument, ein niedrigeres Beweismaß würde die Kooperationsbereitschaft der Staaten gefährden,277 keinen Bestand haben. Zum einen spricht ebenfalls bereits die praktische Erfahrung gegen dieses Argument: Es mangelt in Fällen schwerer Menschenrechtsverletzungen schon gegenwärtig, das heißt bei Heranziehung des höchsten Beweismaßes, an der Kooperation des beschwerdegegnerischen Staates.278 Zum anderen wird der Gerichtshof bei Anwendung eines niedrigeren Beweismaßes zwar in der Regel nach wie vor auf die Kooperation des beschwerdegegnerischen Staates angewiesen sein, dies allerdings in geringerem Maße. Es würde damit keinen praktischen Unterschied hervorrufen, wenn die Kooperationsbereitschaft (noch) weiter absinkt. Schließlich kann dieses Argument auch rechtlich nicht überzeugen: Ein Beweismaß, welches das Interesse des Staates, nicht für eine Konventionsverletzung verurteilt zu werden, für die er nicht verantwortlich ist, angemessen berücksichtigt – wie dies beim Beweismaß der überwiegenden Wahrscheinlichkeit der Fall ist –, kann die Kooperationspflicht der Staaten nicht außer Kraft setzen; eine Zurückhaltung aus rein politischen Gründen, diese Kooperation nicht einzufordern, darf es in Fällen schwerer Menschenrechtsverletzungen nicht geben. g) Fazit Im Ergebnis stellt sich das Beweismaß der überwiegenden Wahrscheinlichkeit sowohl gegenüber dem derzeit angewendeten Beweismaß „proof beyond reasonable doubt“ als auch gegenüber weiteren möglichen Beweismaßstäben als angemessen in Verfahren von Fällen des Verschwindenlassens dar. Es sollte in Zukunft vom EGMR ausdrücklich im Rahmen der Prüfung derjenigen Tatsachen zugrunde gelegt werden, auf die sich die Vorwürfe des Beschwerdeführers in diesen Fällen stützen und für die dieser die objektive Beweislast trägt. Dieser Vorschlag bedarf zu seiner Umsetzung lediglich einer Änderung der Rechtsprechung. Das Vertrauen der Konventionsstaaten in die von einer kontinuierlichen Rechtsprechung geschaffenen Rechtssicherheit steht dem nicht entgegen. Aus dieser Rechtsprechung selbst folgt, dass das Beweismaß des „proof beyond reasonable doubt“ nicht mit dem strafrechtlichen Beweismaß gleichen Namens inhaltlich identisch ist, sondern sein Inhalt gerade autonom zu bestimmen ist. Ein 276 Siehe z. B. die Zurückhaltung in Imakayeva v. Russland, 7615/02, Urteil vom 9. November 2006, Abs. 118 f. im Angesicht der fehlenden Kooperation Russlands. In den Fällen des Verschwindenlassen gegen Russland nahm der EGMR keine Ermittlungen vor, er kam allerdings dennoch zu weit reichenden tatsächlichen Feststellungen. Diesen lagen andere beweisrechtliche Erwägungen zugrunde, zu diesen siehe infra Kapitel 3, B.II., III. und IV. 277 Schorm-Bernschütz, S. 123 f.; vgl. auch Kokott, Beweislastverteilung, S. 397. 278 So stellte der Gerichtshof in vielen Fällen fest, dass der beschwerdegegnerische Staat seiner Kooperationspflicht aus Art. 28 EMRK a.F/Art. 38 EMRK nicht nachgekommen ist, siehe dazu infra Kapitel 3, B.IV.
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Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
Vertrauensschutz in die bloße Benennung des Beweismaßes greift demgegenüber nicht durch. Die bisher erfolgte inhaltliche Bestimmung des Beweismaßes verblieb in einer Weise vage, die eine durchgreifende Vertrauensstellung nicht begründen konnte. Eine ergänzende Regelung innerhalb des EMRK-Vertragstextes, die durch ein Zusatzprotokoll herbeigeführt werden könnte, erscheint sowohl unrealistisch als auch unüblich. Zwar existiert auch in der VerfO des Gerichtshofes derzeit keine Regelung zum Beweismaß, eine solche könnte jedoch durch den Gerichtshof als Plenum nach Art. 25 d) EMRK beschlossen werden. Aber auch eine solche Übernahme einer Regelung zum Beweismaß in der VerfO wäre durchaus nicht üblich; sie hätte jedoch eine klarstellende und sichernde Funktion.
II. Beweisrechtliche Folgen einer Inhaftierung oder sonstigen Ausübung staatlicher Kontrolle über das Opfer Der EGMR verwendet in einer Vielzahl seiner Urteile Formulierungen, die beweisrechtliche Erleichterungen zu Gunsten des Beschwerdeführers an den Umstand anknüpfen, dass sich das Opfer in (nicht anerkannter) Haft, Gewahrsam oder unter der sonstigen Kontrolle des Staates befand. In Fällen, die das Verschwindenlassen von Personen betreffen, liegt diesen Formulierungen meist folgende Situation zugrunde: Der Beschwerdeführer behauptet, dass das Opfer zuletzt unter staatlicher Kontrolle gesehen worden sei; es sei entweder vom Staat „entführt“ oder verhaftet beziehungsweise in Gewahrsam genommen worden. Über das weitere Schicksal ist meist nichts bekannt; es gibt kein Lebenszeichen, keine Leiche und keine Zeugen, die über den späteren Verbleib des Opfers aussagen könnten oder wollten. Im Rahmen der Prüfung einer substantiellen Verletzung von Art. 2 EMRK müssen nun der Tod des Opfers sowie die Tatsachen, die die Verantwortlichkeit des beschwerdegegnerischen Staates begründen, bewiesen werden. In Bezug auf letztere Tatsachen kommt dabei jenen Formulierungen eine besondere Rolle zu, die auf den Umstand abstellen, dass sich das spätere Opfer unter der Kontrolle des Staates befand. Im Folgenden soll zunächst die Entwicklung dieser Formulierungen in der Praxis der Konventionsorgane dargestellt werden (1.), gefolgt von der Untersuchung, auf welche Anwendungskonstellationen diese Formulierungen zugeschnitten sind und welche Konsequenzen sie nach sich ziehen (2.). Abschließend erfolgt eine Bewertung der Bedeutung dieser Formulierungen für Fälle des Verschwindenlassens (3.).
B. Einzelne relevante Aspekte
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1. Entwicklung der relevanten Praxis der Konventionsorgane In der Praxis der Konventionsorgane tauchen im Rahmen der Tatsachenfeststellung im Wesentlichen zwei feststehende Formulierungen auf, die an die Inhaftierung oder die Ausübung einer sonstigen Art von Kontrolle des Staates über das Opfer anknüpfen. Dabei verwendete der EGMR die Formulierungen zunächst in Fällen, die unter anderem die Misshandlung beziehungsweise den Tod inhaftierter Personen betrafen und damit keine Fälle des Verschwindenlassens waren. Allerdings knüpfte bereits die Kommission in ihrem Bericht zu den ersten beiden Staatenbeschwerden Zyperns gegen die Türkei im Jahre 1976 eine Vermutung („presumption“) der Verantwortlichkeit der Türkei für das Schicksal von Personen daran an, dass diese im türkischen Gewahrsam waren.279 a) Die Formulierung aus dem Urteil Aksoy Die eine der beiden gebräuchlichen Formulierungen, die zuerst in der Entscheidung Aksoy aus dem Jahre 1996 Verwendung fand, lautet: „The Court considers that where an individual is taken into police custody in good health but is found to be injured at the time of release, it is incumbent on the State to provide a plausible explanation of how those injuries were caused, failing which a clear issue arises under Article 3 of the Convention […].“280
279 Zypern v. Türkei, 6780/74, 6950/75, Bericht vom 10. Juli 1976, abgedruckt in: AsmeHumanitas e.V., Bericht der Kommission des Europarats über Menschenrechte auf Zypern 1974, Iphofen, nach 1977, S. 118, Abs. 351. Siehe auch Zypern v. Türkei, 8007/77, Bericht vom 4. Oktober 1983, Decision and Reports, vol. 72 (1992), S. 5 (38, Abs. 117), in welchem auf den vorigen Bericht Bezug genommen wird. 280 Zuerst in Aksoy v. Türkei, 21987/93, Urteil vom 18. Dezember 1996, Abs. 61 (Hervorhebung nicht im Original); dann in Selmouni v. Frankreich, 25803/94, Urteil vom 28. Juli 1999, Abs. 87. Im Rahmen der Aksoy-Entscheidung nahm der EGMR Bezug auf die Urteile in den Fällen Tomasi und Ribitsch. In der Tomasi-Entscheidung des EGMR findet die Formulierung allerdings noch keine Verwendung; auch bleibt das Vorgehen des EGMR in der Sache unklar (Tomasi v. Frankreich, 12850/87, Urteil vom 27. August 1992, Abs. 108 – 111). Der vorangegangene Bericht der Kommission im gleichen Fall stellt deutlicher als das Urteil des Gerichtshofes darauf ab, dass Frankreich die Darstellung des Beschwerdeführers nicht plausibel entkräften konnte. Der Begriff der „presumption“ fällt dabei nur im Rahmen der Wiedergabe der Argumentation Frankreichs (Tomasi v. Frankreich, 12850/87, Bericht vom 11. Dezember 1990, Abs. 99 f., 108 – 111). Gleiches trifft auf das Urteil des EGMR im Fall Ribitsch zu, in dem der EGMR zwar prüfte, ob Österreich seiner Pflicht nachgekommen sei, die Verletzungen zu erklären, diese Vorgehensweise selbst aber nicht erklärte (Ribitsch v. Österreich, 18896/91, Urteil vom 4. Dezember 1995, Abs. 34). Die Kommission hingegen verwendete in diesem Fall bereits eine Formulierung, die der aus dem Aksoy-Urteil ähnelte, Ribitsch v. Österreich, 18896/91, Bericht vom 4. Juli 1994, Abs. 104. Zum Fall Ribitsch siehe auch Erdal, E. L. Rev. Human Rights Survey 26 (2001), S. 68 (83), der allerdings den Begriff der Beweislast missverständlich verwendet sowie Erdal/Bakirci, S. 245 – 250.
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Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
In den folgenden Jahren zog der EGMR die Aksoy-Formulierung in einer Vielzahl von Entscheidungen heran.281 Dabei ließ er auch den Zusatz „failing which a clear issue arises under Article 3 of the Convention“ fallen,282 um die Formulierung auch in Bezug auf andere Konventionsbestimmungen anzuwenden. Ebenso finden sich leicht abweichende Formulierungen, zum Beispiel wird auf den Tod des Opfers in Haft und nicht auf dessen Verletzungen abgestellt.283 b) Die Formulierung aus dem Urteil Velikova Die andere Formulierung, die zuerst in der Entscheidung Velikova des Jahres 2000 auftauchte, hat folgenden Inhalt: „Where the events in issue lie wholly, or in large part, within the exclusive knowledge of the authorities, as in the case of persons within their control while in custody, strong presumptions of fact will arise in respect of injuries and death occurring during that detention. Indeed, the burden of proof may be regarded as resting on the authorities to provide a satisfactory and convincing explanation.“284
In dieser Entscheidung zitierte der EGMR zunächst die bereits bekannte, erste Formulierung aus dem Urteil Aksoy unter Verweis auf das Urteil Selmouni im Zusammenhang mit der Prüfung, ob Art. 2 EMRK durch den Tod des Opfers in Haft verletzt sei.285 Der Aksoy-Formulierung lässt der EGMR kurze Ausführungen zum Beweismaß nachfolgen, an die sich die andere, nunmehr erstmals verwendete Formulierung ohne Verweis auf vorangegangene Rechtsprechung anschließt.286 Auch diese Formulierung des Urteils Velikova verwendete der EGMR in den folgenden Jahren in einer Vielzahl von Entscheidungen.287
281 Z.B. in: Selmouni v. Frankreich, 25803/94, Urteil vom 28. Juli 1999, Abs. Abs. 87; Dikme v. Türkei; 20869/92, Urteil vom 11. Juli 2000, Abs. 78; Khadisov und Tsechoyev v. Russland, 21519/02, Urteil vom 5. Februar 2009, Abs. 128. In leichter Abwandlung findet sich die Formulierung in einer noch größeren Zahl von Urteilen wieder. 282 So z. B. in: Demiray v. Türkei, 27308/95, Urteil vom 21. November 2000, Abs. 42 (im Rahmen der Prüfung von Art. 2 EMRK); Avsar v. Türkei, 25657/94, Urteil vom 10. Juli 2001, Abs. 391 (ebenfalls Art. 2 EMRK). 283 Z.B. Anguelova v. Bulgarien, 38361/97, Urteil vom 13. Juni 2002, Abs. 110; Gnyanova und Choban v. Bulgarien, 46317/99, Urteil vom 23. Februar 2006, Abs. 94. 284 Zuerst in Velikova v. Bulgarien, 41488/98, Urteil vom 18. Mai 2000, Abs. 70 (vorher zitierte die Kammer auch Selmouni, Hervorhebung nicht im Original); dann Salman v. Türkei, 21986/93, Urteil vom 27. Juni 2000, Abs. 100; Boicenco v. Moldawien, 41088/05, Urteil vom 11. Juli 2006, Abs. 70; Bazorkina v. Russland, 69481/01, Urteil vom 27. Juli 2006, Abs. 105. 285 Velikova v. Bulgarien, 41488/98, Urteil vom 18. Mai 2000, Abs. 70. 286 Velikova v. Bulgarien, 41488/98, Urteil vom 18. Mai 2000, Abs. 70. 287 So z. B. in: Salman v. Türkei, 21986/93, Urteil vom 27. Juni 2000, Abs. 100; McKerr v. Vereinigtes Königreich, 28883/95, Urteil vom 4. Mai 2001, Abs. 109; Mojsiejew v. Polen, 11818/02, Urteil vom 24. März 2009, Abs. 52.
B. Einzelne relevante Aspekte
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c) Verwendung der Formulierungen in Fällen des Verschwindenlassens Beide Formulierungen fanden nach einiger Zeit288 auch in Fällen Verwendung, die das Verschwindenlassen von Personen betrafen. Dabei zog der EGMR die Formulierungen meist im Rahmen der Prüfung einer Verletzung von Art. 2 EMRK heran – eine Verletzung von Art. 3 EMRK durch eine von den Angehörigen vermutete Misshandlung in Haft wurde zwar oft gerügt, aber meist aus Mangel an Beweisen schnell verworfen. Erstmals war dies in der Timurtas¸-Entscheidung des Jahres 2000 der Fall. Während noch die Kommission in ihrem Bericht einem ähnlich lautenden Vorschlag des Beschwerdeführers nicht nachgekommen war und auch keine Verletzung von Art. 2 EMRK festgestellt hatte,289 kam der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass das Recht auf Leben sowohl materiell als auch durch die mangelhafte Ermittlung verletzt sei. Im Rahmen der Prüfung einer Verletzung von Art. 2 EMRK in materieller Hinsicht zog der EGMR die Formulierung aus der Aksoy-Entscheidung unter Verweis auf die Urteile Tomasi, Ribitsch und Selmouni heran, einschließlich des Bezuges auf Art. 3 EMRK.290 Auch in nachfolgenden Entscheidungen, die sich gegen die Türkei richteten und Fälle des Verschwindenlassens betrafen, verwendete der EGMR die Aksoy-Formulierung im Rahmen der Prüfung, ob vom Tod des Opfers auszugehen sei in Bezug auf ¸ içek,292 Akdeniz et al.293 eine Verletzung von Art. 2 EMRK, so in den Fällen Tas¸,291 C 294 ˙ und Irfan Bilgin.
288
So nicht in den ersten relevanten Fällen des Verschwindenlassens, wie z. B. in Kurt v. Türkei, 24276/94, siehe aber das Vorgehen in Abs. 121, 124 des Urteils vom 25. Mai 1998 und Abs. 202 des Berichts vom 5. Dezember 1996 in Bezug auf Art. 5 EMRK; ebenso in C¸akıcı v. Türkei, 23657/94, Abs. 265 des Berichts vom 12. März 1998. 289 Timurtas¸ v. Türkei, 23531/94, Bericht vom 29. Oktober 1998, Abs. 272: „The applicant submits that the disappearance of his son constitutes a violation of the State’s obligations under Article 2. He argues that where his son was taken into detention by agents of the State it was incumbent on the State to provide a plausible explanation as to their failure to produce him alive.“ (Hervorhebung nicht im Original). 290 Timurtas¸ v. Türkei, 23531/94, Urteil vom 13. Juni 2000, Abs. 82. 291 Tas¸ v. Türkei, 24396/94, Urteil vom 14. November 2000, Abs. 63. 292 C¸içek v. Türkei, 25704/94, Urteil vom 27. Februar 2001, Abs. 145, unter Zitierung der Timurtas¸-Rechtsprechung. 293 Akdeniz et al. v. Türkei, 23954/94, Urteil vom 31. Mai 2001, Abs. 85 mit dem Zusatz: „The obligation on the authorities to account for the treatment of an individual in custody is particularly stringent where that individual dies.“ 294 ˙ Irfan Bilgin v. Türkei, 25659/94, Urteil vom 17. Juli 2001, Abs. 138.
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Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
Erst mit der Orhan-Entscheidung des EGMR aus dem Jahre 2002 hielt auch die Formulierung aus dem Urteil Velikova Einzug in die Rechtsprechung von Fällen des Verschwindenlassens.295 Im Rahmen der Prüfung von Art. 2 EMRK zog der EGMR zunächst die Aksoy-Formulierung heran, mit folgendem Zusatz: „The obligation on the authorities to account for the treatment of a detained individual is particularly stringent where that individual dies or disappears thereafter.“296
Im darauf folgenden Absatz schließt sich nun die bekannte Formulierung aus dem Urteil Velikova an. Dies geschieht allerdings unter Verweis auf das Urteil Salman, aber auch auf die Urteile C ¸ akıcı,297 Ertak298 und Timurtas¸,299 in denen der EGMR die Formulierung aus dem Urteil Velikova aber gerade nicht herangezogen hatte. In darauf folgenden Urteilen ging der EGMR ähnlich vor, so in ˙Ipek,300 Akdeniz301 und Tanıs¸ et al.302. In der zuletzt genannten Entscheidung fügte der EGMR an die Velikova-Formulierung in Bezug auf eine bestimmte Konstellation, in der das Opfer nicht verhaftet, sondern – wie im konkreten Fall – vorgeladen wurde, aus, welche Erklärungspflichten auf dem Staat lasten: „These principles also apply to cases in which, although it has not been proved that a person has been taken into custody by the authorities, it is possible to establish that he or she was officially summoned by the military or the police, entered a place under their control and has not been seen since. In such circumstances, the onus is on the Government to provide a plausible explanation as to what happened on the premises and to show that the person concerned was not detained by the authorities, but left the premises without subsequently being deprived of his or her liberty. In the absence of such an explanation, the Court’s
295 Siehe Chevalier-Watts, Human Rights Review 11/4 (2010), S. 1 (8), die dem Vorgehen des EGMR kritisch gegenübersteht, diese Kritik aber in erster Linie damit zu begründen scheint, dass der EGMR sich unzureichend mit dem Urteil Kurt auseinandersetzte. 296 Orhan v. Türkei, 25656/94, Urteil vom 18. Juni 2002, Abs. 326 (Hervorhebung nicht im Original); vgl. bereits Akdeniz et al. v. Türkei, 23954/94, Urteil vom 31. Mai 2001, Abs. 85. 297 C¸akıcı v. Türkei, 23657/94, Urteil vom 8. Juli 1999, im zitierten Abs. 85 wird in erster Linie auf die Feststellungen der Kommission Bezug genommen. 298 Ertak v. Türkei, 20764/92, Urteil vom 9. Mai 2000, Abs. 32 betrifft den Ermittlungsbericht. 299 Timurtas¸ v. Türkei, 23531/94, Urteil vom 13. Juni 2000, Abs. 82, hier verwendet der EGMR die Aksoy-Formulierung. 300 ˙ Ipek v. Türkei, 25760/94, Urteil vom 17. Februar 2004, Abs. 165, in Abs. 164 verwendet der EGMR die Aksoy-Formulierung. 301 Akdeniz v. Türkei, 25165/94, Urteil vom 31. Mai 2005, Abs. 96, in Abs. 93 verwendet der EGMR die Aksoy-Formulierung. 302 Tanıs¸ et al. v. Türkei, 65899/01, Urteil vom 2. August 2005, Abs. 160 (vor der Prüfung der einzelnen Konventionsbestimmungen, im Rahmen der allgemeinen Ausführungen zur Tatsachenfeststellung), in Abs. 200 verwendete der EGMR die Aksoy-Formulierung mit der aus der Timurtas¸-Entscheidung bekannten Ergänzung.
B. Einzelne relevante Aspekte
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examination of the case may extend beyond Article 5 of the Convention to encompass, in certain circumstances, Article 2.“303
In den darauf folgenden Fällen, die sich meist gegen Russland richteten, zog der EGMR die Formulierungen ebenfalls regelmäßig heran. Sie finden sich in der ersten Entscheidung gegen Russland, die das Verschwindenlassen von Personen zum Gegenstand hatte304 sowie zum Beispiel in den nachfolgenden Entscheidungen Imakayeva,305 Kaplanova,306 Umarov,307 Musayeva308 und Askharova.309 Auch in dem Urteil der Großen Kammer aus dem Jahre 2009 im Fall Varnava et al. verwendete der EGMR diese Formulierung aus dem Urteil Velikova.310 2. Untersuchung dieser Praxis der Konventionsorgane a) Anwendungskonstellationen Der EGMR entwickelte seine Herangehensweise aus dem Aksoy-Urteil zunächst im Zusammenhang mit einer Prüfung von Art. 3 EMRK. Während die Rüge, dass das Opfer misshandelt oder gefoltert wurde, in Fällen des Verschwindenlassens zwar nicht selten von den Beschwerdeführern erhoben wird, steht die Prüfung einer Verletzung des Opfers in Art. 3 EMRK gerade nicht im Mittelpunkt der Urteile, sondern vielmehr die Frage, ob Art. 2 EMRK in materieller Hinsicht verletzt ist.311 Allerdings fand sowohl die Formulierung aus dem Aksoy-Urteil in späteren Urteilen als auch die Formulierung aus dem Urteil Velikova Verwendung im Zusammenhang mit der Prüfung einer Verletzung von Art. 2 EMRK. Damit sind die Formulierungen jedenfalls grundsätzlich dazu geeignet, den beweisrechtlichen Problemen abzuhel303 Tanıs¸ et al. v. Türkei, 65899/01, Urteil vom 2. August 2005, Abs. 160 (Hervorhebungen nicht im Original); siehe auch ähnlich: Imakayeva v. Russland, 7615/02, Urteil vom 9. November 2006, Abs. 115. 304 Bazorkina v. Russland, 69481/01, Urteil vom 27. Juli 2006, Abs. 104 (Aksoy), 105 (Velikova). 305 Imakayeva v. Russland, 7615/02, Urteil vom 9. November 2006, Abs. 140 (Aksoy), 114 (Velikova). 306 Kaplanova v. Russland, 7653/02, Urteil vom 29. April 2008, Abs. 94 (Velikova), ohne Verwendung der Aksoy-Formulierung. 307 Umarov v. Russland, 12712/02, Urteil vom 3. Juli 2008, Abs. 85 (Velikova), ohne Verwendung der Aksoy-Formulierung. 308 Musayeva v. Russland, 12703/02, Urteil vom 3. Juli 2008, Abs. 93 (Velikova), ohne Verwendung der Aksoy-Formulierung. 309 Askharova v. Russland, 13566/02, 4. Dezember 2008, Abs. 61 (Velikova), ohne Verwendung der Aksoy-Formulierung. 310 Varnava et al. v. Türkei, 16064/90, 16065/90, 16066/90, 16068/90, 16069/90, 16070/ 90, 16071/90, 16072/90, 16073/90, Urteil der Großen Kammer vom 18. September 2009, Abs. 183, allerdings im Rahmen der Prüfung einer Verletzung von Art. 2 EMRK in seinem prozeduralen Gehalt. 311 Siehe dazu bereits supra Kapitel 2, A.III.
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Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
fen, die sich im Rahmen der Tatsachenfeststellung der Prüfung einer Verletzung von Art. 2 EMRK in Fällen des Verschwindenlassens stellen. Wie bereits erörtert,312 stellen sich beweisrechtliche Problem insbesondere in Hinblick auf die Fragen, ob vom Tod des Opfers auszugehen ist und ob der Staat für diesen Tod die Verantwortung trägt. Die Formulierungen müssten gerade zur Feststellung dieser Tatsachen geeignet sein. Dabei ist die Formulierung aus der AksoyEntscheidung auf Situationen zugeschnitten, in denen als bewiesen feststeht, dass das Opfer inhaftiert beziehungsweise in Gewahrsam genommen wurde und zu diesem Zeitpunkt unverletzt war. Auch steht fest, dass das Opfer zum Zeitpunkt seiner Entlassung Verletzungen aufwies. In der Ergänzung, die diese Aksoy-Formulierung im Urteil Orhan erfahren hat, wird dies auf Konstellationen erweitert, in denen das Opfer in Haft stirbt oder verschwindet. Der EGMR verwendet nun die Aksoy-Herangehensweise, um die strittige Verantwortung des Staates für diese Erfolge zu beweisen. Die Velikova-Formulierung ist auf Konstellationen zugeschnitten, in denen sich die fraglichen Geschehnisse so zutrugen, dass nur der Staat Kenntnis über sie oder einen Großteil von ihnen hat. Als Beispiel für eine solche Situation wird die Inhaftierung des Opfers genannt. Aus den Entscheidungen Tanıs¸ et al. und Imakayeva geht allerdings hervor, dass die Inhaftierung des Opfers nicht notwendigerweise als bewiesen feststehen muss; ausreichend sei auch, dass feststehe, dass das spätere Opfer einen Ort betrat, der der staatlichen Kontrolle unterliegt, und seitdem nicht mehr gesehen wurde. Auch die Velikova-Formulierung, ergänzt in den Entscheidungen Tanıs¸ et al. und Imakayeva, setzt voraus, dass der Tod, Verletzungen oder das Verschwinden des Opfers eingetreten sind und dient ebenfalls dazu, die Verantwortlichkeit des Staates für diese Erfolge festzustellen. Die Unterschiede in den Konstellationen, auf die die beiden Formulierungen zugeschnitten sind, erweisen sich damit als marginal:313 Während die Aksoy-Formulierung voraussetzt, dass das Opfer inhaftiert oder in Gewahrsam genommen wurde, ist nach der Velikova-Formulierung entscheidend, dass der Staat die alleinige Kenntnis über das Geschehen hat, das heißt, dass sich das Opfer unter der Kontrolle des Staates befindet und der Staat Dritten den Zugang zu und die Kommunikation mit dem Opfer untersagen kann. Nach beiden Konstellationen liegt somit eine Form von Kontrolle über das Opfer vor, die Dritten die Kenntniserlangung über das Geschehen versagt. Damit befindet sich das Opfer in einer hilflosen Situation, die es anfällig für Verletzungen seiner Rechte macht.314 Auch hinsichtlich des eingetretenen Erfolges, 312
Siehe supra Kapitel 3, B.II. Vgl. auch Smith, EHRLR Issue 2 (2009), S. 206 (218, Fn. 75). Damit ist noch nicht die Frage beantwortet, ob sie sich nicht in Hinblick auf die vorgesehenen Konsequenzen unterscheiden, dazu infra Kapitel 3, B.II.2.b). 314 So auch der EGMR in Orhan v. Türkei, 25656/94, Urteil vom 18. Juni 2002, Abs. 326: „Detained persons are in a vulnerable position and the authorities are under a duty to protect them.“ 313
B. Einzelne relevante Aspekte
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welcher dem Staat mit Hilfe der Formulierungen zugerechnet werden soll, gleichen sich die Formulierungen. Denn nach beiden rechnet der EGMR inzwischen Verletzungen, den Tod und das Verschwindenlassen zu. Schließlich werden beide Formulierungen dazu herangezogen, die zwischen den Parteien umstrittene Verantwortlichkeit des Staates für diese Erfolge festzustellen. Damit sind zunächst sowohl die Aksoy- als auch die Velikova-Formulierung zum Nachweis des Todes des Opfers nicht geeignet. Denn sie sind gerade darauf ausgerichtet, einen feststehenden Erfolg dem Staat zuzurechnen, nicht aber erst diesen Erfolg zu belegen. Die Tatsache, dass das Opfer sich zu einem bestimmten Zeitpunkt unter staatlicher Kontrolle befand und danach – meist seit vielen Jahren – nicht mehr gesehen wurde, legt nicht per se den zwischenzeitlichen Eintritt eines bestimmten Erfolges, den des Todes, nahe. So könnten, werden weitere Indizien ausgeklammert,315 auch andere Erfolge möglich sein, wie insbesondere die fortdauernde uneingestandene Inhaftierung der Person. Diese Ungeeignetheit der Formulierungen für den Nachweis des Todes wird auch in einem Zusatz zur Aksoy-Formulierung deutlich, den der EGMR in der Timurtas¸-Entscheidung verwendete: „Whether the failure on the part of the authorities to provide a plausible explanation as to a detainee’s fate, in the absence of a body, might also raise issues under Article 2 of the Convention will depend on all the circumstances of the case, and in particular on the existence of sufficient circumstantial evidence, based on concrete elements, from which it may be concluded to the requisite standard of proof that the detainee must be presumed to have died in custody […].“316
Danach ist der Nachweis des Todes gerade von anderen Indizien – von „all the circumstances of the case“ – abhängig und folgt noch nicht allein daraus, dass der Staat keine plausible Erklärung für das Schicksal des Gefangenen liefern kann. Auch zum Nachweis der Inhaftierung als Hilfstatsache sind die Formulierungen ungeeignet, da sie gerade die Inhaftierung beziehungsweise Ausübung staatlicher Kontrolle voraussetzen. Hingegen sind beide Formulierungen gerade auf die Feststellung zugeschnitten, dass der (vermutete) Tod des Beschwerdeführers dem beschwerdegegnerischen Staat zuzurechnen ist. Dies setzt voraus, dass der EGMR zum einen zuvor feststellte, dass der Tod des Opfers zu vermuten sei, und zum anderen, dass sich das Opfer unter staatlicher Kontrolle befand. In den Fällen des Verschwindenlassens erfolgt eine solche Feststellung, dass der beschwerdegegnerische Staat für den Tod verantwortlich ist, meist in aller Kürze oder nur implizit.317 315 Der EGMR zieht weitere Indizien aber regelmäßig gerade heran und stellt den (vermuteten) Tod des Opfers in erster Linie aufgrund dieser anderen Indizien fest, siehe dazu supra Kapitel 3, A.III.1. und infra Kapitel 3, B.III. 316 Timurtas¸ v. Türkei, 23531/94, Urteil vom 13. Juni 2000, Abs. 82 (Hervorhebungen nicht im Original). 317 Für eine nur implizite Feststellung siehe beispielsweise Ilyasova et al. v. Russland, 1895/04, Urteil vom 4. Dezember 2008, Abs. 66, 68, 70; Askharova v. Russland, 13566/02,
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Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
b) Die zu ziehenden Konsequenzen Wenn auch beide Formulierungen das gleiche Ziel verfolgen, nämlich die Verantwortlichkeit des Staates für einen Erfolg festzustellen, so scheinen sich doch die Konsequenzen zu unterscheiden, die sie jeweils nach sich ziehen. aa) Die Formulierung aus dem Urteil Aksoy So sieht zunächst die Aksoy-Formulierung vor, dass es dem Staat obliegt, eine plausible Erklärung dafür zu liefern, wie die Verletzungen entstanden sind. Ist der Staat dazu nicht in der Lage, liegt – so der EGMR – ein klarer Sachverhalt vor, der unter Art. 3 EMRK fällt. Letzteren Bezug zu Art. 3 EMRK fügte der EGMR in späteren Entscheidungen allerdings regelmäßig nicht an. In der Orhan-Entscheidung erklärte der EGMR außerdem, dass der Staat Rechenschaft für die Behandlung des Gefangenen abzulegen habe und dass diese Pflicht besonders stark sei, wenn das Opfer in Haft sterbe oder verschwinde. Diese Formulierung wirft im Wesentlichen zwei Fragekomplexe auf, deren Beantwortung allerdings nicht strikt getrennt erfolgen kann: Zum einen stellen sich Fragen im Zusammenhang mit der plausiblen Erklärung, die dem Staat abverlangt wird; zum anderen bedarf der Klärung, welche genaue Folge der EGMR daraus zieht, dass der Staat diese Erklärung nicht liefern kann. Zu ersterem Komplex ist zunächst zu bemerken, dass den Staat bereits grundsätzlich die Pflicht trifft, mit dem EGMR zu kooperieren und Unterstützung im Rahmen der Tatsachenfeststellung zu leisten. Es obliegt nicht allein dem Beschwerdeführer, die Tatsachen, die seinen Vorwürfen zugrunde liegen, zu beweisen, sondern den beschwerdegegnerischen Staat treffen ebenfalls Mitwirkungspflichten.318 Diese Mitwirkungspflichten könnten den Staat bereits dazu verpflichten, bestimmte Erklärungen vorzubringen, beispielsweise solche, die die Behandlung von Gefangenen betreffen. Die Formulierung „it is incumbent on the State to provide a plausible explanation“ könnte nunmehr im Sinne der Auferlegung einer subjektiven Beweislast, einer objektiven Beweislast oder einer taktischen Last verstanden werden.
Urteil vom 4. Dezember 2008, Abs. 70, 72, 74. Für eine nur implizite Feststellung, ohne Erwähnung der Formulierungen aus den Urteilen Aksoy und Velikova siehe Magomadova v. Russland, 2393/05, Urteil vom 18. Juni 2009, Abs. 135: „In the absence of any justification put forward by the Government, the Court finds that his death can be attributed to the State […].“ Für eine kurze Feststellung siehe Bersunkayeva v. Russland, 27233/03, Urteil vom 3. Dezember 2008, Abs. 102: „In the absence of any plausible explanation on the part of the Government as to the circumstances of Artur Bersunkayev’s death, the Court further finds that the Government have not accounted for the death of the applicant’s son during his detention and that the respondent State’s responsibility for this death is therefore engaged.“ (Hervorhebungen nicht im Original). 318 Siehe dazu bereits supra Kapitel 3, A.I.1. sowie infra Kapitel 3, B.IV. Auch kann der Gerichtshof proprio motu Beweise erheben.
B. Einzelne relevante Aspekte
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Gegen ersteres Verständnis spricht, dass es – wie bereits erörtert319 – keine subjektiven Beweislasten vor dem EGMR geben kann. Auch gegen das Verständnis der Aussage im Sinne einer objektiven Beweislast spricht, dass diese in Bezug auf die strittigen Tatsachen grundsätzlich auf dem Beschwerdeführer ruht und der Aussage gerade keine explizite Umkehr dieser Verteilung entnommen werden kann. So verwendet der EGMR in diesem Zusammenhang gerade nicht den Begriff des „burden of proof“. Während der Gebrauch dieses Begriffs unter Umständen darauf hindeuten könnte, dass der Gerichtshof eine Beweislastumkehr tatsächlich vornimmt oder jedenfalls eine Aussage im Zusammenhang mit der subjektiven oder objektiven Beweislast treffen möchte, lässt die fehlende Verwendung den Rückschluss zu, dass der EGMR gerade keine dieser Beweislasten benennt. Im Ergebnis ist die Formulierung daher lediglich im Sinne der Auferlegung einer taktischen Last zu verstehen: Der Staat wird aufgefordert, aktiv zu werden und gleichzeitig gewarnt, dass andernfalls eine Entscheidung zu seinen Lasten ergehen wird. Welche Anforderungen der EGMR an eine plausible Erklärung („plausible explanation“) stellt, lässt sich der Rechtsprechung nicht entnehmen. Denn entweder wird die Aksoy-Formulierung in Kombination mit anderen Vorgehensweisen320 verwendet, so dass nicht eindeutig ist, welche Erklärung welcher Vorgehensweise zuzuweisen ist, oder die Feststellung, dass keine solche Erklärung vorliegt, erfolgt ohne Begründung.321 Außerdem wird die Aksoy-Formulierung gerade in den Fällen des Verschwindenlassens, in denen keine Verletzung von Art. 2 EMRK in seinem materiellen Aspekt festgestellt wird, gar nicht herangezogen,322 so dass Hinweise darauf fehlen, unter welchen Umständen der EGMR zu dem Ergebnis kommt, dass die geforderte plausible Erklärung vorliegt. Die Entscheidung zu Lasten des Staates bezeichnete der EGMR in der AksoyEntscheidung und in einigen nachfolgenden323 mit den Worten „failing which a clear issue arises under Article 3 of the Convention“. Diese Formulierung könnte dahingehend verstanden werden, dass mit ihr eine Verletzung von Art. 3 EMRK nunmehr feststeht. Dies würde die Beantwortung einer Rechtsfrage, nämlich der Rechtsfrage, ob ein bestimmter, bereits feststehender Sachverhalt eine Konventi319
Siehe dazu supra Kapitel 3, A.I.1. Der Velikova-Formulierung bzw. der Akkum-Herangehensweise (zu letzerer siehe infra Kapitel 3, B.IV.2.b)bb) und 3.b)). So z. B. in Musikhanova et al. v. Russland, 27243/03, Urteil vom 4. Dezember 2008, Abs. 57 (Aksoy), 57 (Velikova) und 61 (Akkum). 321 So in Akdeniz et al. v. Türkei, 23954/94, Urteil vom 31. Mai 2001 Abs. 89: „Noting that the authorities have not accounted for what happened during their detention […]“; und in C¸içek v. Türkei, 25704/94, Urteil vom 27. Februar 2001, Abs. 147: „Noting that the authorities have not provided any explanation as to what occurred following Tahsin and Ali Ihsan’s apprehension […]“. 322 Der Grund liegt meist darin, dass bereits die Verhaftung bzw. Entführung des Opfers durch den Staat nicht bewiesen ist. 323 In anderen, meist späteren Entscheidungen und im Zusammenhang mit einer Verletzung von Art. 2 EMRK fehlt diese und auch eine ähnliche Formulierung. 320
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Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
onsbestimmung verletzt, darstellen. Vorzugswürdig erscheint demgegenüber aber ein anderes Verständnis: Als Konsequenz der Aksoy-Formulierung steht ein Sachverhalt als bewiesen fest, der im Weiteren eindeutig eine Verletzung von Art. 3 EMRK begründet. Damit wäre die Klärung einer Tatsachen- und keiner Rechtsfrage Konsequenz der Aksoy-Formulierung. Ein solches Verständnis wird dadurch gestützt, dass die Entscheidung einer Rechtsfrage im Rahmen der Tatsachenfeststellung, in der die Aksoy-Formulierung verwendet wird, der grundsätzlich vom Gerichtshof gepflegten Einteilung des Urteils in einen tatsächlichen – unter dem Titel: „The Court’s Assessment of the Evidence and the Establishment of the Facts“ – und einen rechtlichen – unter dem Titel: „Alleged Violation of Articles …“ – Teil widerspräche. Auch steht die aufgestellte Konsequenz in einem engen Zusammenhang mit dem ersten Teil der Aksoy-Formulierung, aus der der Bezug auf die Klärung einer tatsächlichen Frage, der der Verantwortlichkeit des Staates, deutlich hervorgeht. Schließlich stellen sich in den relevanten Fällen, sobald einmal der Sachverhalt, wie ihn der Beschwerdeführer vortrug, als bewiesen feststeht, keine komplizierten Rechtsfragen. bb) Die Formulierung aus dem Urteil Velikova Die spätere Formulierung aus dem Urteil Velikova enthält eine andere, auf den ersten Blick weiterreichende Konsequenz als noch die aus der Aksoy-Beschwerde. Sie sieht vor, dass „strong presumptions of fact“ in Bezug auf Verletzungen und Todesfälle vorliegen. Es könne sogar, so der EGMR, davon gesprochen werden, dass die Beweislast („burden of proof“) auf dem Staat ruhe, eine zufrieden stellende und überzeugende Erklärung zu liefern. Aus den Urteilen Tanıs¸ et al. und Imakayeva lässt sich in Ergänzung der VelikovaFormulierung des Weiteren entnehmen, dass die Last auf der Regierung ruht, eine plausible Erklärung dafür zu liefern, was in den fraglichen Räumlichkeiten unter staatlicher Kontrolle geschehen ist. Der Staat habe zu zeigen, dass das Opfer nicht verhaftet wurde, sondern das Gebäude wieder verließ, ohne seiner Freiheit anschließend beraubt worden zu sein.324 In Bezug auf die Anwendung auf den konkreten Fall wird in der Beschwerde Imakayeva festgestellt, dass die bloße Behauptung der Regierung, die nicht durch Beweismittel untermauert wurde, das Opfer sei von bewaffneten Banden entführt worden, um die Regierung in Verruf zu bringen, ohne Belang ist.325 In der Beschwerde Tanıs¸ et al. stellt der EGMR fest, dass die Ausführungen der Regierung nicht ausreichten, um einen vernünftigen Zweifel an den Vorwürfen der Beschwerdeführer zu erregen.326 Damit werden die Anforderungen, die der Gerichtshof an die geforderte plausible Erklärung des Staates stellt, klarer als dies noch in Bezug auf die Aksoy-Formulierung der Fall war. 324
Tanıs¸ et al. v. Türkei, 65899/01, Urteil vom 2. August 2005, Abs. 160; Imakayeva v. Russland, 7615/02, Urteil vom 9. November 2006, Abs. 115. 325 Imakayeva v. Russland, 7615/02, Urteil vom 9. November 2006, Abs. 124. 326 Tanıs¸ et al. v. Türkei, 65899/01, Urteil vom 2. August 2005, Abs. 207, dann kurz in Abs. 210 zur plausiblen Erklärung.
B. Einzelne relevante Aspekte
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In erster Linie wirft die Velikova-Formulierung aber die Fragen auf, was der Ausdruck „presumptions of fact“ bedeutet und – damit verbunden – welche Bedeutung der Aussage beizumessen ist, es könne davon gesprochen werden, dass die Beweislast („burden of proof“) für eine Erklärung auf dem Staat ruhe. Der EGMR könnte den Ausdruck „presumptions of fact“ verwendet haben, um eine Abgrenzung zu einer „presumption of law“ zu erreichen. Während erstere nur eine Schlussfolgerung bezeichnet, nicht gezogen werden muss und damit keine „echte“ Vermutung darstellt, liegt mit einer „presumption of law“ eine „echte“ Vermutung vor, die zwar im Einzelfall widerlegbar sein mag, aber zunächst herangezogen werden muss.327 Aufgrund der Wortwahl „presumptions of fact“ liegt damit nahe, dass der EGMR eine Schlussfolgerung heranzog, die er, vermutlich um dem Gedanken Ausdruck zu verleihen, dass es sich um eine Schlussfolgerung handelt, die regelmäßig zu ziehen ist und große Überzeugungskraft besitzt, „presumptions of fact“ nannte. Mit diesem Ergebnis könnte allerdings der sich anschließende Satz der VelikovaFormulierung im Widerspruch stehen: „Indeed, the burden of proof may be regarded as resting on the authorities to provide a satisfactory and convincing explanation.“328
Diese Formulierung könnte so verstanden werden, dass nunmehr die objektive Beweislast nicht auf dem Beschwerdeführer, sondern ausnahmsweise auf dem beschwerdegegnerischen Staat lastet. Damit sähe der EGMR eine Verlagerung der objektiven Beweislast als Rechtsfolge vor,329 wie sie jedenfalls nicht aus einer „presumption of fact“ folgt. Ob eine „echte“ Vermutung die Verteilung der objektiven Beweislast hingegen beeinträchtigt, ist umstritten.330 Fraglich ist aber, ob sich die Aussage tatsächlich auf die objektive Beweislast bezieht oder nicht auf die subjektive Beweislast oder eine taktische Last bezeichnet. Während gegen die erste Möglichkeit erneut grundsätzliche Bedenken bestehen,331 könnte gegen die Deutung der Formulierung als taktische Last sprechen, dass der EGMR ausdrücklich den Begriff des „burden of proof“ verwendet und damit einen Fachterminus. Anders als im Rahmen der Aksoy-Formulierung könnte dies gerade nahe legen, dass der Gerichtshof tatsächlich auch eine Beweislast und nicht eine bloße taktische Last bezeichnet. Dabei verwendet der Gerichtshof diesen Terminus in seiner Rechtsprechung allerdings auch im Zusammenhang mit dem Kon-
327
Siehe zu diesen Begrifflichkeiten bereits supra Kapitel 3, A.III.2. Velikova v. Bulgarien, 41488/98, Urteil vom 18. Mai 2000, Abs. 70 (Hervorhebungen nicht im Original). 329 So wohl auch Meyer-Ladewig, NVwZ 24 (2009), S. 1531 (1535), ohne allerdings die „Beweislast“ näher zu benennen. 330 Siehe dazu bereits supra Kapitel 3, A.IV. 331 Im Verfahren vor dem EGMR existieren keine subjektiven Beweislasten, siehe supra Kapitel 3, A.I.1. 328
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Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
zept der subjektiven Beweislast,332 so dass der Begriff „burden of proof“ nicht zwingend auch die objektive Beweislast meint. Die weitere Formulierung des Satzes, in dem der Begriff des „burden of proof“ fällt, legt vielmehr nahe, dass der EGMR nicht auf die objektive Beweislast abstellt. Denn der Staat, der die objektive Beweislast trägt, muss nicht lediglich eine „satisfactory and convincing explanation“ dafür geben, wie sich das Geschehen alternativ zutrug, er muss vielmehr den vollen Beweis des Gegenteils antreten.333 Das heißt, der beschwerdegegnerische Staat müsste wider jeden vernünftigen Zweifel beweisen, dass der Verletzungserfolg durch ein alternatives Geschehen verursacht wurde. Dass der EGMR einen solchen Beweis allerdings gerade nicht fordert, folgt aus dem Urteil Tanıs¸ et al., in dem der EGMR zunächst die Formulierung aus der Velikova-Entscheidung zitiert334 und im Rahmen der weiteren Prüfung feststellt: „[T]he Court is not satisfied that the explanations furnished by the Government, which merely refer to the outcome of the domestic proceedings, suffice to cast reasonable doubt on the applicants’ allegations […].“335
Der EGMR prüft damit, ob es der Regierung gelang, einen vernünftigen Zweifel an dem Vortrag der Beschwerdeführer zu wecken. Daraus folgt, dass die objektive Beweislast nach wie vor auf den Beschwerdeführern ruht: Dieser muss einen Beweis zum Regelbeweismaß, dem des „proof beyond reasonable doubt“, erbringen, der beschwerdegegnerische Staat lediglich einen Zweifel wecken, das heißt den Gegenbeweis erbringen. Es erscheint auch fern liegend, dass gerade in der Entscheidung Tanıs¸ et al. die „Beweislast“ ausnahmsweise nicht auf den beschwerdegegnerischen Staat übergegangen sein könnte.336 Zwar sieht die Velikova-Formulierung vor, dass diese übergehen kann („may“), nicht aber, dass dies auch eine automatische Folge ist. Auch legt die Verwendung des einleitenden Wortes „indeed“ nahe, dass diese Rechtsfolge eine zusätzlich ist, die „sogar“ eintreten kann. Es fehlt allerdings, sowohl in der Entscheidung Tanıs¸ et al. als auch in den weiteren Urteilen, eine Aussage des EGMR dazu, unter welchen (zusätzlichen) Voraussetzungen die „Beweislast“ auf dem Staat ruht. 332
Z.B. in Irland v. Vereinigtes Königreich, 5310/71, Urteil vom 18. Januar 1978, Abs. 160. Siehe auch Tomasi v. Frankreich, 12850/87, Bericht vom 11. Dezember 1990, Abs. 91. 333 Zum Gegenbeweis und zum vollen Beweis des Gegenteils siehe bereits supra Kapitel 3, A.IV. 334 Tanıs¸ et al. v. Türkei, 65899/01, Urteil vom 2. August 2005, Abs. 160. 335 Tanıs¸ et al. v. Türkei, 65899/01, Urteil vom 2. August 2005, Abs. 207 (Hervorhebung nicht im Original). Siehe zuvor auch Klaas v. Deutschland, 15473/89, Bericht vom 21. Mai 1992, Abs. 103: „[…] it is not sufficient for the Government to point at other possible causes of injuries, but it is incumbent on the Government to produce evidence showing facts which cast doubt on the account given by the victim and supported by medical evidence […].“ 336 Des Weiteren erscheint fern liegend, dass der EGMR in diesem Urteil ein anderes Regelbeweismaß als das des „proof beyond reasonable doubt“ anwendete. Vielmehr bestätigte der EGMR dieses in der Entscheidung Tanıs¸ et al. v. Türkei, 65899/01, Urteil vom 2. August 2005, Abs. 160.
B. Einzelne relevante Aspekte
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Im Ergebnis erscheint es damit vorzugswürdig, die folgende Formulierung im Sinne einer bloßen taktischen Last zu verstehen: „Indeed, the burden of proof may be regarded as resting on the authorities to provide a satisfactory and convincing explanation.“337
Damit bekräftigt dieser zweite Teil der Velikova-Formulierung lediglich, dass es nunmehr Aufgabe des beschwerdegegnerischen Staates sei, aktiv zu werden und eine durch Beweismittel untermauerte Erklärung zu liefern. Diese zweite Aussage der Formulierung steht damit dem Verständnis der ersten Aussage als einer Schlussfolgerung, einer „presumption of fact“, nicht entgegen. c) Fazit Trotz der Verwendung unterschiedlicher Begrifflichkeiten basieren die Formulierungen aus den Urteilen Aksoy und Velikova darauf, dass sich das Opfer unter einer solchen Kontrolle des Staates befindet, die es ihm erlaubt, Dritten den Zugang zum Opfer sowie die Kommunikation mit diesem zu versagen. Regelmäßig liegt eine solche Situation mit der Inhaftierung, Ingewahrsamnahme beziehungsweise Entführung durch den Staat vor. Ist diese bewiesen, so ergibt sich folgende Konsequenz: Der EGMR zieht eine Schlussfolgerung zu Gunsten des Beschwerdeführers, die zur Feststellung der Tatsachen führt, die eine Verantwortlichkeit des Staates für den Verletzungserfolg begründen.338 Diese den Staat belastende Schlussfolgerung aus der Haft kann der beschwerdegegnerische Staat nur abwenden, indem er seiner taktischen Last nachkommt und eine plausible Erklärung vorbringt, wie der Erfolg auf andere Weise verursacht wurde. Allerdings hilft eine bloße Schutzbehauptung nicht, der Staat muss diese vielmehr mit Beweisen untermauern. Der Gegenbeweis reicht allerdings aus; der volle Beweis des Gegenteils ist nicht erforderlich, da beide Formulierungen, auch die auf den ersten Blick weitergehende aus dem Urteil Velikova, keine „echte“ Vermutung enthalten oder die Verteilung der objektiven Beweislast in sonstiger Weise beeinflussen.339 3. Wertende Schlussbetrachtung Die beweisrechtlichen Erleichterungen zu Gunsten des Beschwerdeführers, die der EGMR daran anknüpft, dass der Verletzungserfolg zu einer Zeit eintrat, in der das Opfer unter staatlicher Kontrolle stand, können auch in Fällen des Verschwindenlassens fruchtbar gemacht werden. 337
Velikova v. Bulgarien, 41488/98, Urteil vom 18. Mai 2000, Abs. 70. Ähnlich auch Smith, EHRLR Issue 2 (2009), S. 206 (218 f.); Benzing, S. 701 vertritt die Ansicht, es handele sich um eine dem Anscheinsbeweis im nationalen Recht vergleichbare Erleichterung. 339 Siehe auch Rudolf, EuGRZ 23 (1996), S. 497 (500) in Bezug auf den Fall Ribitsch. 338
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Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
a) Beweis der Verantwortlichkeit, nicht der Kontrolle beziehungsweise des Verletzungserfolgs Auch in diesen Fällen ist die Verantwortlichkeit des Staates für einen Verletzungserfolg, den (vermuteten) Tod des Opfers, unklar und umstritten. Allerdings steht dieser Aspekt nicht im Zentrum der Tatsachenfeststellung. Vielmehr versucht der EGMR meist zunächst festzustellen, dass das Opfer überhaupt unter staatlicher Kontrolle stand zu dem Zeitpunkt, zu dem es zuletzt gesehen wurde. Damit muss eine der Voraussetzungen, an die die beweisrechtlichen Erleichterungen anknüpfen – die staatliche Kontrolle – überhaupt erst bewiesen werden.340 Dies unterscheidet Fälle des Verschwindenlassens von den Konstellationen, in denen die vorliegend diskutierten Formulierungen entwickelt wurden, das heißt von Fällen von Folter und Misshandlungen, auch tödlichen, in Haft. Ebenso wurden die Formulierungen aus den Entscheidungen Aksoy und Velikova gerade nicht für den Nachweis dieses Verletzungserfolges, des (vermuteten) Todes, entwickelt. In der gegenwärtigen Rechtsprechung des EGMR zu den relevanten Fällen des Verschwindenlassens zieht der Gerichtshof für den Beweis dieses Verletzungserfolgs auch keine beweisrechtlichen Überlegungen heran, die alleinig oder ausschlaggebend an die Kontrolle des Staates über das Opfer anknüpfen.341 Dies kann zwar auch nicht für die Zukunft gefordert werden,342 schließt aber nicht aus, dass der EGMR die Kontrolle des Staates über das Opfer als ein Indiz unter mehreren Indizien – unter anderem der verstrichenen Zeit, der generellen Situation in der Region, insbesondere in Bezug auf die Verbreitung des Phänomens des Verschwindenlassens,343 sowie dem Verhalten des Staates in Bezug auf Ermittlungen zum Auffinden des Verschwundenen – für den Beweis des Verletzungserfolges heranzieht und heranziehen sollte. Es scheint damit, als würden die Formulierungen es dem EGMR lediglich erleichtern, die Feststellung der Verantwortlichkeit des Staates für den vermuteten Tod des Opfers kürzestmöglich abzuhandeln. Denn hat der EGMR einmal festgestellt, dass das Opfer unter staatlicher Kontrolle stand, als es das letzte Mal gesehen wurde, und dass von seinem (vermutetem) Tod auszugehen sei, so erfolgt die Feststellung der Verantwortlichkeit des Staates für diesen Erfolg in aller Kürze oder nur implizit.344
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Zu diesem Nachweis siehe insbesondere infra Kapitel 3, B.IV. Siehe dazu bereits supra Kapitel 3, B.II.2.a) unter Verweis auf das Vorgehen nach der Timurtas¸-Rechtsprechung, aus der deutlich wird, dass der vermutete Tod gerade aufgrund anderer Beweismittel festgestellt werden muss. 342 Zur Begründung siehe supra Kapitel 3, B.II.2.a). 343 Dazu siehe infra Kapitel 3, B.III. Damit würde die Lebensbedrohlichkeit einer nicht anerkannten Inhaftierung feststehen. 344 Siehe Beispiele dazu supra Kapitel 3, B.II.2.a). 341
B. Einzelne relevante Aspekte
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b) Indiz zu Lasten des Staates In die Dogmatik des Beweisrechts fügen sich die beiden Formulierungen aus den Urteilen Aksoy und Velikova als Indizien zu Lasten des beschwerdegegnerischen Staates ein. Die Gründe, die für die Überzeugungskraft des Indizes streiten, legt der EGMR nicht in jedem einzelnen Fall dar. Das Indiz gewichtet der EGMR so stark, dass es allein für sich genommen ausreicht, den Beweis für die Zurechnung des Erfolges zu erbringen, soweit der Staat es nicht durch substantiierte Erklärungen entkräftet. Dafür zieht der EGMR die Verletzlichkeit des Opfers, das dem Staat ausgeliefert ist, heran.345 Darüber hinaus könnte aus der abweichenden Meinung des moldawischen Richters Pavlovschi in der Beschwerde Pruneanu v. Moldawien im Umkehrschluss auf die Erwägungen geschlossen werden, die die Mehrheit den Formulierungen aus den Urteilen Aksoy und Velikova zugrunde legte:346 „I have the impression that the judgment is simply based on a presumption that all Moldovan policemen apply torture against all Moldovan citizens and in all cases.“
Die Kritik Pavlovschis an diesem Vorgehen zielt in erster Linie darauf ab, dem EGMR Voreingenommenheit insbesondere gegenüber der moldawischen Polizei zu unterstellen. Dem kann allerdings entgegengehalten werden, dass die Konventionsorgane die Indizwirkung der Haft gerade in Fällen gegen Frankreich und Österreich ursprünglich entwickelten.347 Der luxemburgische Richter Spielmann nennt in seiner abweichenden Meinung im Fall Klaas v. Deutschland drei Erklärungen für die von ihm als europäisches, und nicht nur deutsches, Problem bezeichnete Polizeibrutalität: Erstens ereigneten sich Misshandlungen durch die Polizei meist ohne Zeugen und würden daher systematisch geleugnet werden. Zweitens würden festgestellte Verletzungen entweder als selbst verursacht, als Folge eines Unfalls oder als schlicht unerklärlich dargestellt werden. Drittens tolerierten die nationalen Gerichte Misshandlungen all zu oft. Damit liegt der belastenden Indizwirkung der Haft zugrunde, dass sich der einer Misshandlung ausgesetzte Beschwerdeführer grundsätzlich in Beweisnot befindet und sich allein dem Staat gegenübersieht, der alle potentiellen Beweismittel kontrolliert. Stirbt das Opfer in Haft, sind die Beschwerdeführer meist nicht in der Lage, Zeugen, wie zum Beispiel andere Mithäftlinge, für die Misshandlung zu benennen. Auch werden die Abläufe oft weder 345
So in Orhan v. Türkei, 25656/94, Urteil vom 18. Juni 2002, Abs. 326; siehe schon supra Kapitel 3, B.II.1.c). Darauf stellt auch Smith, EHRLR Issue 2 (2009), S. 206 (218) ab. Kritisch zu dieser Schlussfolgerung Chevalier-Watts, Human Rights Review 11/4 (2010), S. 1 (8) sowie Richter Gölcüklü in seiner abweichenden Meinung im Urteil Orhan, Abs. 3 – 6. 346 Diese beiden Formulierungen verwendete der EGMR, siehe Pruneanu v. Moldawien, 6888/03, Urteil vom 16. Januar 2007, Abs. 44 f. 347 Dies waren die Fälle Tomasi v. Frankreich, 12850/87, Bericht vom 11. Dezember 1990; Tomasi v. Frankreich, 12850/87, Urteil vom 27. August 1992 (dieser Fall stand im Zusammenhang mit dem korsischen Unabhängigkeitskampf); sowie Ribitsch v. Österreich, 18896/ 91, Urteil vom 4. Dezember 1995; Ribitsch v. Österreich, 18896/91, Bericht vom 4. Juli 1994.
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Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
von den Ermittlungsorganen noch von der Justiz aufgeklärt, so dass eine Praxis des Rechtsbruchs durch Tolerierung gedeihen kann.348 Schließlich könnte noch in Frage gestellt werden, ob es sich bei diesen Erwägungen, die an die den Staat belastende Wirkung seiner Kontrolle anknüpfen, tatsächlich um beweisrechtliche Erwägungen handelt.349 So könnte mit ihrer Hilfe nicht ein strittiger tatsächlicher Sachverhalt geklärt werden, sondern die materiellen Garantie der EMRK erweitert worden sein. Dann würde die Tatsache, dass ein Verletzungserfolg während der Haft eingetreten ist, nicht als belastendes Indiz zu verstehen sein. Vielmehr würde nicht auf den abwehrrechtlichen Aspekt der Konventionsbestimmungen Bezug genommen werden, sondern auf den status positivus dieser Bestimmungen. So mag zwar nicht erwiesen sein, dass in der Tat staatliche Bedienstete die Misshandlung beziehungsweise Tötung durchführten; dies kann aber auch offen bleiben. Denn selbst wenn dieser Erfolg durch andere Umstände oder Personen verursacht wurde, zum Beispiel durch Mitgefangene, ist die Verantwortlichkeit des Staates betroffen: Ihn trifft die Verpflichtung, für die Personen Sorge zu tragen, die unter seiner Kontrolle stehen, nicht nur, indem er selbst Misshandlungen unterlässt, sondern auch, indem er den Erfolgseintritt auf sonstige Weise unterbindet. Gegen ein solches Verständnis spricht allerdings bereits, dass der EGMR die Formulierungen im Rahmen der Tatsachenfeststellung heranzieht und nicht im Rahmen der Darstellung der Reichweite der Verpflichtung aus Art. 2 EMRK. Des Weiteren macht der EGMR es in sonstigen Zusammenhängen meist deutlich, wenn er erweiterte positive Verpflichtungen entwickelt.350 Die besseren Gründe sprechen daher dafür, die Vorgehensweise als eine beweisrechtliche einzustufen. Im Ergebnis stellt sich daher die Kontrolle des Staates über das spätere Opfer als ein wichtiges und meist ausschlaggebendes351 Indiz zum Beweis der Verantwortlichkeit des Staates dar. Die regelmäßige Heranziehung der feststehenden Formulierungen der Urteile Aksoy und Velikova durch den EGMR in Fällen des Verschwindenlassens hatte eine Vereinheitlichung und Vorhersehbarkeit der Rechtsprechung zur Folge. Darüber hinaus spielt es auch eine, wenngleich demgegenüber untergeordnete Rolle im Rahmen des Beweises des Verletzungserfolges, des (vermuteten) Todes.
348
Klaas v. Deutschland, 15473/89, Urteil vom 22. September 1993, abweichende Meinung von Richter Spielmann, II. The Principle. Siehe auch Smith, EHRLR Issue 2 (2009), S. 206 (218), der als Gründe die Kontrolle des Staates sowie das Interesse an der Vertuschung der Geschehnisse aufführt. 349 Siehe zu ähnlichen Überlegungen Altiparmak, JCL 5 (2000), S. 30 (45). 350 Zu diesen positive obligations siehe supra Kapitel 2, B.II. 351 Zu Recht weist Smith, EHRLR Issue 2 (2009), S. 206 (223 f.) darauf hin, dass die Schlussfolgerung im Einklang mit den übrigen Beweismitteln stehen muss und eine Frage des Einzelfalls ist.
B. Einzelne relevante Aspekte
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c) Die objektive Beweislast und das Beweismaß Die Formulierungen aus den Urteilen Aksoy und Velikova enthalten weder eine Umkehr der objektiven noch der subjektiven Beweislast, sondern sind lediglich im Sinne der Auferlegung einer taktischen Last zu verstehen.352 Auch ist mit ihnen keine Absenkung des Beweismaßes verbunden; der EGMR scheint vielmehr am – bereits generell und erst recht in dieser Konstellation als zu hoch kritisiertem353 – Beweismaß „proof beyond reasonable doubt“ festzuhalten. Für die Zukunft könnte aber als weitergehende beweisrechtliche Konsequenz aus der Kontrolle des Staates über das Opfer zu fordern sein, dass nicht der Beschwerdeführer, sondern der beschwerdegegnerische Staat die objektive Beweislast für die zu beweisenden Haupttatsachen trägt, auf Grund derer die Verantwortlichkeit des Staates für den Verletzungserfolg festgestellt werden kann.354 Die Beurteilung einer solchen Zuweisung der objektiven Beweislast an den beschwerdegegnerischen Staat hängt davon ab, ob mit ihr eine Absenkung des Beweismaßes einhergeht. Die sich dem Gerichtshof bietenden Möglichkeiten sehen folgende Abstufungen vor: Am vorteilhaftesten für den Beschwerdeführer ist die Situation, in der der beschwerdegegnerische Staat die objektive Beweislast trägt und ein hohes Beweismaß dann zu dessen Lasten zur Anwendung kommt [aa)]. Möglich ist auch, dass die Beweislast auf dem Beschwerdeführer ruht und ein niedrigeres Beweismaß anwendbar ist [bb)]. Zwischen diesen beiden Konstellationen ist die Situation einzuordnen, in der die Beweislast auf dem beschwerdegegnerischen Staat ruht, aber ein niedrigeres Beweismaß herangezogen wird [cc)]. Schließlich ist die Konstellation denkbar, dass die Beweislast auf dem Beschwerdeführer ruht und ein hohes Beweismaß anwendbar ist. Während gegen die letzte Konstellation, die derzeit die Rechtsprechung bestimmt, die in Kapitel 3, B.I. vorgebrachten Argumente sprechen, werden die übrigen drei Konstellationen im Folgenden gegenübergestellt und bewertet.
352
Siehe dazu supra Kapitel 3, B.II.2.b) und c). Siehe dazu supra Kapitel 3, B.I. Allerdings trägt der Gerichtshof der Beweisnot des Beschwerdeführers sowie dem Umstand, dass sich das Opfer unter staatlicher Kontrolle befand, dadurch Rechnung, dass die Indizwirkung der Kontrolle, soweit kein mit Beweismitteln untermauerter Gegenbeweis erfolgt, dieses hohe Beweismaß erfüllt. 354 Vgl. auch Kokott, Das interamerikanische System, S. 72: „Erwägenswert erscheint eine Verlagerung der Beweislast auch vor der Europäischen Menschenrechtskommission zugunsten von Einzelnen, die sich in staatlichem Gewahrsam befinden; denn dann ist es für die Opfer noch schwieriger, objektives Beweismaterial […] hinsichtlich der geltend gemachten Menschenrechtsverletzungen […] zu erbringen.“ Siehe auch Altermann, S. 170. Demgegenüber erscheint es fern liegend, eine Beweislastumkehr für den Nachweis des Todes zu fordern, da ein Zusammenhang zwischen staatlicher Kontrolle und der Existenz eines bestimmten Erfolges, dem Tod, nicht ohne weitere Anhaltspunkte gezogen werden kann. Auch bezieht sich die Umkehr der Beweislast nicht auf jene Umstände, auf welchen diese Umkehr gerade beruht. So trägt nach wie vor der Beschwerdeführer die objektive Beweislast dafür, dass der Staat die Kontrolle über das Opfer ausübte. 353
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Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
aa) Verlagerung der objektiven Beweislast und Beibehaltung des hohen Beweismaßes Eine Zuweisung der objektiven Beweislast an den beschwerdegegnerischen Staat bei gleichzeitiger Anwendung des hohen Beweismaßes „proof beyond reasonable doubt“ hat zur Folge, dass der Staat nunmehr den vollen Beweis des Gegenteils erbringen muss. Damit trägt der Staat das Risiko, dass der Beweis wider jeden vernünftigen Zweifel dafür gelingt, dass Tatsachen vorliegen, aus denen hervorgeht, dass er nicht die Verantwortung für den Verletzungserfolg trägt. Ein solcher voller Beweis des Gegenteils scheitert bereits, wenn zugunsten des Beschwerdeführers ein vernünftiger Zweifel besteht. In Ermangelung einer subjektiven Beweislast und vor dem Hintergrund des investigativen Charakters des EGMR-Verfahrens muss der beschwerdegegnerische Staat zwar diesen Beweis nicht grundsätzlich selbst erbringen, er trägt jedoch das Risiko der Unaufklärbarkeit des Sachverhalts. Der Gerichtshof ist nicht gänzlich frei in der Entscheidung, welche Beweislastverteilung er vornimmt;355 vielmehr liegen der Beweislastverteilung generalisierende Risikozuweisungen zugrunde.356 Im Vergleich mit der derzeitigen Situation, in der die objektive Beweislast auf dem Beschwerdeführer ruht und der EGMR gleichzeitig ein hohes Beweismaß heranzieht, sprechen aber die folgenden Argumente dafür, eine Zuweisung der objektiven Beweislast an den beschwerdegegnerischen Staat, die vom Grundsatz „actori incumbit probatio“ abweichen würde, vorzunehmen:357 In erster Linie ist der Gedanke von Verantwortungsbereichen oder Einflusssphären zu nennen.358 In den relevanten Fällen übt der beschwerdegegnerische Staat die Kontrolle über das Opfer aus, so dass sich das fragliche Geschehen im Verantwortungsbereich des Staates zuträgt. Diese Verantwortung des Staates in Bezug auf inhaftierte Personen steigert noch, dass der staatliche Einfluss über das Schicksal des Opfers nahezu grenzenlos ist. Damit wird staatliche Willkür, frei jeder Konsequenz, ermöglicht. Der Staat kontrolliert den Zugang zum und die Kommunikation mit dem Opfer und damit auch die Möglichkeit des Beschwerdeführers sowie Dritter – unter anderem auch des Gerichtshofes – Beweismittel zu erlangen. In der Folge befindet sich der Beschwerdeführer regelmäßig in Beweisnot. Für eine Zuweisung der Beweislast an den beschwerdegegnerischen Staat spricht damit auch der Gedanke der Beweisnähe.359 355
Benzing, S. 594 unter Hinweis auf das Recht auf ein faires Verfahren. So Benzing, S. 594 f. 357 Allgemein zu den Kriterien, die der Verteilung der objektiven Beweislast zugrunde liegen, siehe: Dürig, S. 97 – 132 (speziell zum Asylrecht); Nierhaus, insbesondere S. 353 – 356, 446 – 472; Prütting, S. 179 – 264 (insbesondere im Arbeitsrecht); Benzing, S. 594 – 607, der die actori-Regel als zu abstrakt und formal kritisiert (S. 597). 358 Dazu siehe Dürig, S. 102 m.w.N. sowie Nierhaus, S. 430 ff.; siehe auch Prütting, S. 257 f., der den Gedanken der Beweisnähe anerkennt, wenn auch nicht als tragenden Gesichtspunkt. 359 Zu diesem Kriterium, wenn auch kritisch, siehe Benzing, S. 599. 356
B. Einzelne relevante Aspekte
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Einen ähnlichen Gedanken, den der effektiven Kontrolle, griff Kommissionsmitglied Tenekides in seinem Sondervotum zum Bericht der Kommission zur dritten Staatenbeschwerde Zyperns gegen die Türkei aus dem Jahre 1983 auf.360 Ebenso kann sich die Verlagerung der Beweislast auf den Gedanken der Waffengleichheit der Verfahrensbeteiligten sowie den Grundsatz des fairen Verfahrens stützen:361 Der Beschwerdeführer befindet sich in einer unterlegenen Position;362 aufgrund der allgemeinen Beweisnot kann auch der EGMR, der grundsätzlich selbst investigativ tätig sein kann, die Fairness des Verfahrens nicht herstellen. Schließlich spielt auch der individualschützende und menschenrechtliche Charakter des EMRK-Verfahrens eine Rolle. Diese Gründe, die für eine Verlagerung der Beweislast sprechen, werden auch nicht dadurch außer Kraft gesetzt, dass der Staat nunmehr das Risiko eines ungleich schwerer zu führenden Negativbeweises trägt.363 bb) Beibehaltung der Beweislastverteilung und Absenkung des Beweismaßes Wenn auch eine Zuweisung der objektiven Beweislast an den beschwerdegegnerischen Staat bei gleichzeitiger Beibehaltung des hohen Beweismaßes damit gegenüber der derzeitigen Situation vorzugswürdig erscheint, sprechen die besseren Gründe dafür, stattdessen lediglich eine Absenkung des Beweismaßes auf das der überwiegenden Wahrscheinlichkeit unter Beibehaltung der Beweislastverteilung zu fordern. Diese Vorgehensweise hätte zur Folge, dass der Beschwerdeführer das Risiko trägt, dass die Verantwortlichkeit des Staates für die Entführung nicht überwiegend wahrscheinlich ist. Die grundsätzliche Vorzugswürdigkeit dieses niedrigeren Beweismaßes wurde bereits dargelegt.364 Es trägt auch den vorliegend besonders relevanten Erwägungen Rechnung, dass der beschwerdegegnerische Staat die Kontrolle über das Geschehen und die Beweismittel hat und sich der Beschwerdeführer in einer unterlegenen Verfahrensposition befindet. Gleichzeitig berücksichtigt es die gegenläufigen Interessen des Staates, der nunmehr nicht den schwierigen Negativbeweis wider jeden Zweifel erbringen muss. Gegenüber der jetzigen Konstellationen werden die Interessen des Staates zwar zurückgestellt; ihnen wird jedoch mehr Gewicht beigemessen als es im Rahmen einer Beweislastverlagerung unter Beibehaltung des hohen Beweismaßes der Fall gewesen wäre. Eine darüber hinaus gehende Besserstellung des Beschwerdeführers ist auch vor dem Hintergrund des sonstigen Vorgehens des EGMR nicht erforderlich: In der Praxis wird der Gerichtshof unter Heranziehung der 360 Zypern v. Türkei, 8007/77, Bericht vom 4. Oktober 1983, Decision and Reports, vol. 72 (1992), Sondervotum von G. Tenekides, S. 55 (56 f.). 361 Zu diesen vgl. Nierhaus, S. 449 ff.; Prütting, S. 261. 362 Dazu siehe bereits supra Kapitel 3, B.I.3.c)aa). 363 Zum Negativbeweis siehe Prütting, S. 259. 364 Siehe supra Kapitel 3, B.I.
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Schlussfolgerung aus der Kontrolle des Staates über das Opfer bei Anwendung dieses niedrigeren Beweismaßes erst recht regelmäßig zu der Feststellung gelangen, dass der Staat die Verantwortlichkeit für den Tod trägt; auch wird der EGMR seine hohen Anforderungen an den (substantiierten) Gegenbeweis beibehalten. Damit wird eine Entscheidung auf Grundlage der Beweislastverteilung überhaupt nicht relevant sein. cc) Verlagerung der objektiven Beweislast und Absenkung des Beweismaßes Die Möglichkeit, die Beweislast beim Beschwerdeführer zu belassen und ein niedrigeres Beweismaß heranzuziehen, stellt sich auch gegenüber der Konstellation, die objektive Beweislast auf den beschwerdegegnerischen Staat zu verlagern, aber das Beweismaß der überwiegenden Wahrscheinlichkeit heranzuziehen, als vorzugswürdig dar. Erstere Möglichkeit hat zur Folge, dass der Beschwerdeführer, auf dem nach wie vor die objektive Beweislast ruht, das Risiko trägt, dass die von ihm vorgetragene Tatsache nicht überwiegend wahrscheinlich ist. Ruhte die objektive Beweislast nach der anderen Konstellation auf dem beschwerdegegnerischen Staat, so trüge der Beschwerdeführer hingegen nur das Risiko, dass die von ihm vorgetragene Tatsache nicht unwahrscheinlich365 ist. Damit stellt sich die erste Möglichkeit für den Beschwerdeführer gegenüber der zweiten als unvorteilhafter dar. In der Praxis allerdings ist dieser Vorteil unter Heranziehung des Beweismaßes der überwiegenden Wahrscheinlichkeit verschwindend gering: Eine überwiegende Wahrscheinlichkeit ist bei einer Wahrscheinlichkeit größer 50 % anzunehmen; die Unwahrscheinlichkeit der Tatsache bei einer Wahrscheinlichkeit von kleiner oder gleich 50 %. Der theoretische Vorteil des Beschwerdeführers bei Heranziehung der zweiten Möglichkeit liegt mithin nur in einer Situation vor, in der die Tatsache und ihr Gegenteil gleich wahrscheinlich sind. Diese tatsächlich nur sehr geringen Unterschiede zwischen den beiden Möglichkeiten machen die Entscheidung der Frage schwierig, welche der Möglichkeiten einen angemesseneren Ausgleich zwischen den widerstreitenden Interessen herzustellen vermag. Die zugrunde liegenden Wertungsfragen sind einer so feinen Abstufung kaum zugänglich. Es ist daher auf praktische Erwägungen abzustellen. So fügt sich die Möglichkeit, lediglich eine Absenkung des Beweismaßes vorzunehmen, in die Praxis des EGMR ein, von Schlussfolgerungen Gebrauch zu machen und auf das einseitige Vorbringen des Beschwerdeführers abzustellen. Es stünde auch im Einklang mit dem Grundsatz „actori incumbit probatio“. Dieses kombinierte Vorgehen wird regelmäßig geeignet sein, das Beweismaß zu erfüllen,366 so dass ein Zustand der Beweislosigkeit gar nicht eintritt und damit auch keine Entscheidung auf Grundlage der objektiven Beweislast erforderlich wird. 365
Als Pendant zum Beweismaß der überwiegenden Wahrscheinlichkeit. Erst recht in Anbetracht der Tatsache, dass dieses abgesenkt ist. Auch jetzt schon erfüllt es regelmäßig das Beweismaß „proof beyond reasonable doubt“. 366
B. Einzelne relevante Aspekte
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dd) Fazit Im Ergebnis läst sich damit Folgendes feststellen: Für den Fall, dass der EGMR auch in Zukunft am hohen Beweismaß „proof beyond reasonable doubt“ festhalten sollte, wäre es wünschenswert, wenn der EGMR seine Rechtsprechung dahingehend ändern würde, dass er ausdrücklich von einer objektiven Beweislast des Staates für die Tatsachen ausginge, die dessen Verantwortlichkeit für einen feststehenden oder vermuteten Verletzungserfolg begründen, sobald der Nachweis gelungen ist, dass sich das Opfer unter staatlicher Kontrolle befand, als es zuletzt gesehen wurde. Als vorzugswürdig stellt sich hingegen dar, wenn der EGMR ein niedrigeres Beweismaß heranzöge: das der überwiegenden Wahrscheinlichkeit. Eine Zuweisung der objektiven Beweislast an den beschwerdegegnerischen Staat wäre dann nicht mehr erforderlich.
III. Beweisrechtliche Folgen einer Praxis des Verschwindenlassens Der Umstand, dass es – vereinfacht ausgedrückt – in dem beschwerdegegnerischen Staat wiederholt zu Fällen des Verschwindenlassens kommt, die bestimmte Gemeinsamkeiten aufweisen, spielt für den Beweis der Tatsachen der jeweils zu beurteilenden Individualbeschwerde367 eine entscheidende Rolle. Dieser Umstand einer Praxis des Verschwindenlassens ist allerdings nicht nur beweisrechtlich von Belang, sondern auch in anderen Zusammenhängen: So nahm der EGMR, insbesondere im Rahmen der Prüfung der local-remedies-rule nach Art. 35 Abs. 1 EMRK, Bezug auf eine so genannte „administrative practice“.368 Der EGMR zieht den Umstand, dass eine lebensbedrohliche Praxis existiert, auch im Zusammenhang mit der Prüfung von Ermittlungspflichten nach Art. 2 EMRK heran.369 Schließlich taucht der Vorwurf, es gebe eine Praxis, Personen verschwinden zu lassen, auch auf, um eine gesteigerte370 und/oder separate Menschenrechtsverletzung zu behaupten.371 Auf 367 In den Staatenbeschwerden, die das Verschwindenlassen von Personen zum Gegenstand hatten, untersuchten die Konventionsorgane gerade repräsentative Einzelfälle, um von diesen auf eine Vielzahl ähnlicher Fälle zu schließen. So z. B. in Zypern v. Türkei, 8007/77, Bericht vom 4. Oktober 1983, Decision and Reports, vol. 72 (1992), S. 5 (31, Abs. 90, S. 32 ff., Abs. 96 ff.). Siehe auch Smith, EHRLR Issue 2 (2009), S. 206 (220), der Bezug auf die Staatenbeschwerde Irlands gegen das Vereinigte Königreich nimmt. 368 Zu diesem Aspekt siehe Irland v. Vereinigtes Königreich, 5310/71, Urteil vom 18. Januar 1978, Abs. 159; Zypern v. Türkei, 25781/94, Urteil vom 10. Mai 2001, Abs. 99; Sardaro, EHRLR 6 (2003), S. 601 (614); Boyle/Hannum, AJIL 68 (1974), S. 440. 369 So z. B. in Tog˘cu v. Türkei, 27601/95, Urteil vom 31. Mai 2005, Abs. 112; Shaipova et al. v. Russland, 10796/04, Urteil vom 6. November 2008, Abs. 96; Zakriyeva et al. v. Russland, 20583/04, Urteil vom 8. Januar 2009, Abs. 79. Siehe dazu supra Kapitel 2, B.II.1.a)aa). 370 So auch die Einschätzung von Sardaro, EHRLR Issue 6 (2003), S. 601 (614). 371 Siehe beispielsweise die Argumentation des Beschwerdeführers in Timurtas¸ v. Türkei, 23531/94, Urteil vom 13. Juni 2000, Abs. 114: „The applicant contended that a practice of ,disappearances‘ existed in south-east Turkey in 1993 as well as an officially tolerated practice
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Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
diese drei Aspekte soll im Folgenden nicht näher eingegangen werden; denn in diesen Fällen wird der Umstand gerade nicht im Rahmen des Beweisrechts herangezogen. Vielmehr werden sich die folgenden Ausführungen darauf konzentrieren, die beweisrechtliche Einordnung dieses Umstandes und seine Bedeutung für die Tatsachenfeststellung in Fällen des Verschwindenlassens zu erörtern. Dafür wird zunächst die relevante Rechtsprechung der Konventionsorgane dargestellt (1.), gefolgt von einer kritischen Untersuchung dieser Praxis (2.). In einer wertenden Schlussbetrachtung wird anschließend insbesondere der Frage nachgegangen, ob dem Umstand, dass es wiederholt zu Fällen des Verschwindenlassens gekommen ist, die beweisrechtliche Bedeutung in der Rechtsprechung des EGMR beigemessen wird, die ihm auch zukommen sollte, oder ob eine nähere Anlehnung an die Rechtsprechung des IAGMR für die Zukunft wünschenswert erschiene (3.). Dazu sei bemerkt, dass der IAGMR bereits in dem Urteil, das erstmals einen Fall des Verschwindenlassens betraf, in Velásquez Rodríguez v. Honduras, zugelassen hatte, dass ein Beweis wie folgt zu erbringen war: „If it can be shown that there was an official practice of disappearances in Honduras, carried out by the Government or at least tolerated by it, and if the disappearance of Manfredo Velásquez can be linked to that practice, the Commission’s allegations will have been proven to the Court’s satisfaction […].“372
1. Darstellung der relevanten Praxis der Konventionsorgane a) Fälle des Verschwindenlassens gegen die Türkei Bereits in frühen Berichten und Entscheidungen, die Fälle des Verschwindenlassens betrafen und sich allesamt gegen die Türkei richteten, nahmen die Kommission und der Gerichtshof Kenntnis von der erwähnten Rechtsprechung des IAGMR, die dieser im Fall Velásquez Rodríguez entwickelt hatte. Bis zum Urteil des EGMR in der Beschwerde Timurtas¸ gingen die Konventionsorgane auf Aufforderungen der Beschwerdeführer, in die Urteilsfindung einzubeziehen, dass es wiederholt zu Fällen des Verschwindenlassens gekommen war, aber nicht ein.373 Nunof violating Article 13 of the Convention, which aggravated the breaches of which he and his son had been a victim.“ In Abs. 115 fügte der EGMR allerdings hinzu: „The Court considers that the scope of the examination of the evidence undertaken in this case and the material on the case file are not sufficient to enable it to determine whether the failings identified in this case are part of a practice adopted by the authorities.“ 372 Velásquez-Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Series C Nr. 4, Abs. 126 (Hervorhebungen nicht im Original). 373 So die Kommission in Kurt v. Türkei, 24276/94, Bericht vom 5. Dezember 1996, Abs. 189: „There is no material before the Commission which would entitle it to reach any finding as regards a practice of disappearances in Turkey.“ Siehe auch Abs. 188 zur Praxis des IAGMR. Ebenso der EGMR in Kurt v. Türkei, 24276/94, Urteil vom 25. Mai 1998, Abs. 108. Siehe auch die abweichende Meinung von Richter Pettiti, der darauf hinweist, dass die tür-
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mehr machte der Gerichtshof im Urteil Timurtas¸ allerdings die folgenden näheren Ausführungen zum Vorgehen des IAGMR: „In the inter-American system, a violation of the right to life as a consequence of a forced disappearance can be proved in two different ways. Firstly, it may be established that the facts of the case at hand are consistent with an existing pattern of disappearances in which the victim is killed. Secondly, the facts of an isolated incident of a fatal forced disappearance may be proved on their own, independently of a context of an official pattern of disappearances. Both methods are used to establish State control over the victim’s fate which, in conjunction with the passage of time, leads to the conclusion of a violation of the right to life.“374
Die Umstände der Timurtas¸-Beschwerde unterschied der EGMR nun von denen des Kurt-Falls und bezog sich dabei auf die verstrichene Zeit sowie die Tatsachen, dass das Opfer zu „places of detention“ gebracht und es wegen seiner PKK-Aktivitäten gesucht worden war. Folgende Ausführung schließt sich an: „In the general context of the situation in south-east Turkey in 1993, it can by no means be excluded that an unacknowledged detention of such a person would be life-threatening.“375
Diese letztere Formulierung, zum Teil abgewandelt und/oder ergänzt, prägte die nachfolgende Rechtsprechung.376 kischen Fälle in einem anderen Kontext stehen als die amerikanischen. Siehe kritisch dazu Scovazzi/Citroni, S. 192. Zur Argumentation der Beschwerdeführerin unter Bezugnahme auf den IAGMR siehe Abs. 101 f. Kritisch zur Bewertung durch den EGMR auch Sethi, Human Rights Brief 8/3 (2001), S. 29. Siehe auch noch C¸akıcı v. Türkei, 23657/94, Bericht vom 12. März 1998, Abs. 249; Ertak v. Türkei, 20764/92, Urteil vom 9. Mai 2000, Abs. 125; Timurtas¸ v. Türkei, 23531/94, Bericht vom 29. Oktober 1998, Abs. 274 zum Vorbringen des Beschwerdeführers. Siehe auch Zwaak, in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak, S. 381 f., der die Entscheidungen Mahmut Kaya und Kilic nennt, in denen der EGMR das „unknown perpetrator phenomen“ anerkannte. Diese Beschwerden behandelten allerdings keine Fälle des Verschwindenlassens. 374 Timurtas¸ v. Türkei, 23531/94, Urteil vom 13. Juni 2000, Abs. 80 (Hervorhebungen nicht im Original). Dabei konnte sich der EGMR auf eine Stellungnahme des Center for Justice and International Law (CEJIL) stützen, in der die Rechtsprechung des IAGMR analysiert wurde, Abs. 7, 79. 375 Timurtas¸ v. Türkei, 23531/94, Urteil vom 13. Juni 2000, Abs. 85 (Hervorhebungen nicht im Original). Unter anderem aus diesem Grund stellt der EGMR fest, dass der Tod des Opfers zu vermuten sei, Abs. 86. 376 So verwendet in Tas¸ v. Türkei, 24396/94, Urteil vom 14. November 2000, Abs. 66; C¸içek v. Türkei, 25704/94, Urteil vom 27. Februar 2001, Abs. 146; Akdeniz et al. v. Türkei, 23954/94, Urteil vom 31. Mai 2001, Abs. 88, siehe Abs. 81 zur Argumentation der Beschwerdeführer (auf dieses Urteil stellt auch Smith, EHRLR Issue 2 (2009), S. 206 (220) ab, wenn auch auf einen anderen Absatz des Urteils); Orhan v. Türkei, 25656/94, Urteil vom 18. Juni 2002, Abs. 330; Akdeniz v. Türkei, 25165/94, Urteil vom 31. Mai 2005, Abs. 99; Diril v. Türkei, 68188/01, Urteil vom 19. Oktober 2006, Abs. 54. Eine ähnliche Formulierung verwendet der EGMR in I˙pek v. Türkei, 25760/94, Urteil vom 17. Februar 2004, Abs. 167. Auf dieses Urteil stellt Solvang, EHRAC Bulletin Winter 2007, Issue 8, S. 1 (2) ab. Siehe auch Ikincisoy v. Türkei, 26144/95, Urteil vom 27. Juli 2004, Abs. 71, in dem die Leiche aufgefunden wurde.
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Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
Aus der abweichenden Meinung des Kommissionsmitglieds Loucaides in der Beschwerde Akdeniz et al. wird aber deutlich, dass diese Einschätzung der Situation in der südöstlichen Türkei nicht unumstritten war. Die Kommission hatte in diesem Fall eine Verletzung von Art. 2 EMRK in seinem materiellen Gehalt festgestellt und im Zuge dessen formuliert: „Furthermore, in light of its increased experience of the conditions pertaining in south-east Turkey at the relevant time, the Commission is satisfied that it may draw a strong inference as to the fate of the eleven missing men in the present case.“377
In seinem zum Teil zustimmendem, zum Teil abweichendem Sondervotum erklärte Kommissionsmitglied Loucaides, unterstützt von Kommissionsmitglied Busuttil, sein ablehnendes Votum einer Verletzung von Art. 2 EMRK in seinem materiellen Aspekt unter anderem wie folgt: „Furthermore, I find it unsafe to rely on what the majority has described as ,its increased experience of the conditions pertaining in south-east Turkey at the relevant time‘. Such conditions may somehow support an inference that the persons in question were killed but at the same time one cannot, in the light of such conditions, exclude the possibility of a continuing illegal detention of these persons or the possibility of them hiding after an escape.“
In zwei Urteilen zog der EGMR den Umstand einer Praxis des Verschwindenlassens in einem anderen Zusammenhang heran: In der Beschwerde Enzile Özdemir hielt der EGMR es im Zusammenhang mit der Glaubwürdigkeit des Vortrags der Beschwerdeführerin für bedeutend, dass der modus operandi der Entführung Ähnlichkeiten mit weiteren Fällen des Verschwindenlassens aufwies.378 Im Fall Osmanog˘lu zog der EGMR die Feststellung, dass das Verschwinden einer Person in der südöstlichen Türkei als lebensbedrohlich eingestuft werden kann, auch heran, um zu der Feststellung zu gelangen, dass der Tod des Opfers zu vermuten sei, obwohl er zu dem Ergebnis kam, dass die Verantwortlichkeit des Staates für das Verschwindenlassen nicht zu beweisen war: „Nevertheless, the Court is of the opinion that a finding of State involvement in the disappearance of a person is not a condition sine qua non for the purposes of establishing whether that person can be presumed dead; in certain circumstances the disappearance of a person may in itself be considered as life-threatening. In this connection the Court observes 377
Akdeniz et al. v. Türkei, 23954/94, Bericht vom 10. September 1999, Abs. 478. Enzile Özdemir v. Türkei, 54169/00, Urteil vom 8. Januar 2008, Abs. 47: „In this connection, the Court finds it significant that the modus operandi of the applicant’s husband’s abduction shows some similarities with the disappearances of persons in south-east Turkey in the mid-1990 s […].“ Der EGMR kam zu folgendem Schluss, Abs. 47: „[…] finds that there are strong inferences, based on concrete elements, on which it may be concluded beyond reasonable doubt that Mehmet Özdemir was apprehended and taken into custody as alleged and disappeared thereafter.“ Zuvor hatte der EGMR bereits die Feststellung, dass der Tod des Opfers zu vermuten sei, darauf gestützt, dass unter bestimmten Umständen das Verschwinden einer Person in der südöstlichen Türkei, die vom Staat PKK-Aktivitäten verdächtigt wird, als lebensbedrohlich angesehen werden könne (Abs. 45). 378
B. Einzelne relevante Aspekte
211
that on a number of occasions it has reached the conclusion that the disappearance of a person in south-east Turkey at the relevant time could be regarded as life-threatening […].“379
b) Fälle des Verschwindenlassens gegen Russland In Fällen des Verschwindenlassens, die sich gegen Russland richteten, etablierte sich mit dem Urteil in der Beschwerde Baysayeva die folgende Formulierung, die – ähnlich wie bereits in den türkischen Fällen – auf die vorherrschende Situation in der fraglichen Region abstellt, welche ein Verschwinden lebensbedrohlich macht: „The Court notes with great concern that a number of cases have come before it which suggest that the phenomenon of ,disappearances‘ is well known in Chechnya […]. A number of international reports point to the same conclusion […]. The Court agrees with the applicant that, in the context of the conflict in Chechnya, when a person is detained by unidentified servicemen without any subsequent acknowledgement of detention, this can be regarded as life-threatening.“380
Diese Formulierung verwendet der EGMR in einer Vielzahl darauf folgender Urteile,381 jüngst im Urteil Benuyeva et al.382 Dabei steht die Formulierung in einem Zusammenhang mit der Feststellung, ob der Tod des jeweiligen Opfers zu vermuten sei.
379
Osmanog˘lu v. Türkei, 48804/99, Urteil vom 24. Januar 2008, Abs. 57 (Hervorhebungen nicht im Original). Weiter führte der EGMR an, dass das Opfer zwar nicht einer PKKAktivität verdächtigt gewesen sei, dies führe allerdings nicht dazu, dass das Verschwindenlassen weniger lebensbedrohlich sei (Abs. 58). Siehe später auch den Fall Medova v. Russland, 25385/04, Urteil vom 15. Januar 2009. 380 Baysayeva v. Russland, 74237/01, Urteil vom 5. April 2007, Abs. 119 (Hervorhebungen nicht im Original). Der Begriff des Phänomens des Verschwindenlassens tauchte dabei bereits zuvor in der Beschwerde Imakayeva auf, Imakayeva v. Russland, 7615/02, Urteil vom 9. November 2006, Abs. 141: „The Court also notes the applicant’s reference to the available information about the phenomenon of ,disappearances‘ in Chechnya and agrees that, in the context of the conflict in Chechnya, when a person is detained by unidentified servicemen without any subsequent acknowledgement of detention, this can be regarded as life-threatening.“ Auf das Urteil Imakayeva stellen Solvang, EHRAC Bulletin Winter 2007, Issue 8, S. 1 (2 f.); Barrett, Harvard HRJ 22 (2009), S. 133 (138) und Chevalier-Watts, Human Rights Review 11/4 (2010), S. 1 (14) ab. Siehe Claude, Intercultural Human Rights Law Review 5 (2010), S. 407 (421), auch zur genauen Wortwahl des EGMR mit der Betonung des „conflict“. 381 So z. B. in Alikhadzhiyeva v. Russland, 68007/01, Urteil vom 5. Juli 2007, Abs. 61; Magomadov v. Russland, 68004/01, Urteil vom 12. Juli 2007, Abs. 98; Aziyevy v. Russland, 77626/01, Urteil vom 20. März 2008, Abs. 76; Kaplanova v. Russland, 7653/02, Urteil vom 29. April 2008, Abs. 106 (in Bezug auf den letzten Satz); Utsayeva et al. v. Russland, 29133/ 03, Urteil vom 29. Mai 2008, Abs. 162; Bersunkayeva v. Russland, 27233/03, Urteil vom 4. Dezember 2008, Abs. 101 (in Bezug auf den letzten Satz); Akhmadova et al. v. Russland, 3026/03, Urteil vom 4. Dezember 2008, Abs. 134; Karimov et al. v. Russland, 29851/05, Urteil vom 16. Juli 2009, Abs. 105 (in Bezug auf den letzten Satz). 382 Benuyeva et al. v. Russland, 8347/05, Urteil vom 22. Juli 2010, Abs. 107 (bezogen auf den letzten Satz).
212
Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
2. Untersuchung dieser Praxis der Konventionsorgane Damit haben sich in der Rechtsprechungspraxis die folgenden Formulierungen etabliert, die entweder einen Bezug zur Türkei oder zu Tschetschenien aufweisen: „In the general context of the situation in south-east Turkey […], it can by no means be excluded that an unacknowledged detention of such a person would be life-threatening.“383 „[I]n the context of the conflict in Chechnya, when a person is detained by unidentified servicemen without any subsequent acknowledgement of detention, this can be regarded as life-threatening.“384
Diese Praxis soll dahingehend untersucht werden, welche Anwendungskonstellationen mit ihr abgedeckt werden und welche Folgen sie vorsieht [a)]. Dabei soll zugleich der Versuch unternommen werden, die beweisrechtliche Bedeutung des Umstandes, dass weitere Fälle des Verschwindenlassens existieren, nach dieser Praxis der Konventionsorgane dogmatisch einzuordnen [b)]. a) Anwendungskonstellationen und vorgesehene Folgen Die genannten Formulierungen verwendet der EGMR im Rahmen der Feststellung, dass der Tod des Opfers zu vermuten sei. Dabei fällt diese Prüfung in allen diesen Fällen positiv aus; gleich im Anschluss stellt der EGMR ganz überwiegend385 auch die Verantwortlichkeit des Staates für den (vermuteten) Tod fest. In den Fällen, in denen der EGMR ausnahmsweise nicht davon ausgeht, dass der Tod des Opfers zu vermuten sei, erfolgt hingegen keine Bezugnahme auf den Umstand, dass es wiederholt zu Fällen des Verschwindenlassens kam. Vielmehr verwendet der EGMR die folgende Formulierung: „The Court has found the Russian State authorities responsible for extra-judicial executions or disappearances of civilians in the Chechen Republic in a number of cases, even in the absence of final conclusions from the domestic investigation […].“386
383
Timurtas¸ v. Türkei, 23531/94, Urteil vom 13. Juni 2000, Abs. 85. Imakayeva v. Russland, 7615/02, Urteil vom 9. November 2006, Abs. 141. 385 Mit Ausnahme der Fälle Osmanog˘lu v. Türkei, 48804/99, Urteil vom 24. Januar 2008 und Medova v. Russland, 25385/04, Urteil vom 15. Januar 2009. In diesen beiden Fällen erfolgt zwar die Feststellung, dass der Tod zu vermuten sei; dieser lässt der EGMR allerdings die Feststellung folgen, dass der Staat für die Tötung des Opfers an sich gerade nicht die Verantwortlichkeit trage. In beiden Fällen stellt der EGMR aber dennoch eine Verletzung von Art. 2 EMRK in seinem materiellen bzw. positiven Gehalt zusätzlich zu einer Verletzung des prozeduralen Gehalts fest. 386 Tagirova v. Russland, 20580/04, Urteil vom 4. Dezember 2008, Abs. 71; Shaipova et al. v. Russland, 10796/04, Urteil vom 6. November 2008, Abs. 84; Zakriyeva et al. v. Russland, 20583/04, Urteil vom 8. Januar 2009, Abs. 64; Khumaydov und Khumaydov v. Russland, 13862/05, Urteil vom 28. Mai 2009, Abs. 97 (Hervorhebung jeweils nicht im Original). Zur Kritik am Vorgehen des EGMR in der Beschwerde Tagirova siehe Smith, EHRLR Issue 2 (2009), S. 206 (225). 384
B. Einzelne relevante Aspekte
213
Allerdings zieht der EGMR in diesen Fällen den Umstand, dass es wiederholt zu ähnlichen Fällen gekommen ist, heran, um im Rahmen der Prüfung der Verletzung der Ermittlungspflicht nach Art. 2 EMRK zu begründen, dass das Leben des Opfers bedroht war.387 Der Umstand, dass wiederholt Fälle des Verschwindenlassens auftreten, dient somit in erster Linie der positiv ausfallenden Feststellung, dass der Tod des Opfers zu vermuten sei, gefolgt von der Feststellung der Verantwortlichkeit des Staates für diesen Tod gemäß Art. 2 EMRK in seinem materiellen Aspekt. In nur einem Fall, dem Fall Enzile Özdemir, zog der EGMR den Umstand auch388 in Bezug auf die Feststellung einer anderen Tatsache als den Tod heran. In diesem Fall erwähnte der EGMR den Umstand im Zusammenhang mit der Feststellung, dass der Vortrag der Beschwerdeführerin in Bezug auf die Umstände der Entführung glaubwürdig sei und kam zu dem Zwischenergebnis, dass das Opfer, wie von der Beschwerdeführerin vorgetragen, vom Staat inhaftiert worden war und danach verschwand.389 Damit zog der EGMR den Umstand, dass der modus operandi der Entführung den Umständen von anderen Fällen des Verschwindenlassens glich, heran, um nicht unmittelbar den (vermuteten) Tod zu beweisen, sondern die Glaubwürdigkeit des Vortrags der Beschwerdeführerin zu stützen und damit zunächst die Inhaftierung des Opfers festzustellen. Für diese Feststellungen führt der EGMR unterschiedliche Umstände an: Die Standardformulierungen stellen auf die nicht anerkannte Inhaftierung („unacknowleged detention“) beziehungsweise die Inhaftierung durch nicht identifizierte Bewaffnete ohne anschließende Anerkennung der Haft („detained by unidentified servicemen without any subsequent acknowledgement of detention“) ab. In einigen wenigen Fällen stellt der EGMR nicht auf die nicht anerkannte Inhaftierung, sondern auf andere Umstände – das Verschwinden einer Person unter bestimmten, nicht näher benannten Umständen, beziehungsweise das Verschwinden in Folge einer Entführung durch eine Gruppe bewaffneter Männer – ab.390 Regelmäßig findet sich ein 387
Tagirova v. Russland, 20580/04, Urteil vom 4. Dezember 2008, Abs. 87; Shaipova et al. v. Russland, 10796/04, Urteil vom 6. November 2008, Abs. 96; Zakriyeva et al. v. Russland, 20583/04, Urteil vom 8. Januar 2009, Abs. 79; Khumaydov und Khumaydov v. Russland, 13862/05, Urteil vom 28. Mai 2009, Abs. 110. 388 In Enzile Özdemir v. Türkei, 54169/00, Urteil vom 8. Januar 2008, Abs. 45 findet sich zunächst die bekannte Formulierung aus Timurtas¸ leicht abgewandelt in Bezug auf den Tod des Opfers. 389 Enzile Özdemir v. Türkei, 54169/00, Urteil vom 8. Januar 2008, Abs. 47. 390 So in Enzile Özdemir v. Türkei, 54169/00, Urteil vom 8. Januar 2008, Abs. 45: „in certain circumstances, the disappearance, in south-east Turkey, of a person suspected by the authorities of PKK involvement could be considered life-threatening“ (Hervorhebung nicht im Original). Im Rahmen der Feststellung, dass der Vortrag der Beschwerdeführerin in Bezug auf den Ablauf der Entführung glaubhaft sei, stellt der EGMR weiterhin darauf ab, dass der modus operandi der Entführung der anderer Fälle des Verschwindenlassen ähnelte (Abs. 47). Osmanog˘lu v. Türkei, 48804/99, Urteil vom 24. Januar 2008, Abs. 57: „in certain circumstances the disappearance of a person may in itself be considered as life-threatening.“ Auch in diesem
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Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
räumliches Element – „south-east Turkey“ beziehungsweise „Chechnya“ – und ein zeitliches Element – „in 1993“, „in 1994“, „at the relevant time“,391 „in the mid1990 s“, „in the context of the conflict in Chechnya“. In dem Urteil Timurtas¸ und in weiteren türkischen Fällen wurde zusätzlich auf ein personelles Element abgestellt und zwar darauf, dass sich solche Personen („such persons“) in nicht anerkannter Haft befinden. Diese Formulierung bezeichnet Personen, denen PKK-Aktivitäten vorgeworfen werden und die daher von den Behörden gesucht werden.392 In den späteren Fällen gegen Russland, wie auch im Urteil Osmanog˘lu,393 fehlt dieser Bezug auf eine besondere Personengruppe. Dies könnte darauf hinweisen, dass der EGMR nunmehr nicht mehr nur die nicht anerkannte Inhaftierung bestimmter Personen als lebensbedrohlich einstuft, sondern die jeder Person. Ein übereinstimmendes Bild bieten die dargestellten Formulierungen in Hinblick auf die vorgesehene Folge: Sie stellen darauf ab, dass eine nicht anerkannte Haft beziehungsweise ausnahmsweise das Verschwinden lebensbedrohlich („lifethreatening“) sei. Dabei scheint sich mit der Zeit eine stärkere Formulierung durchgesetzt zu haben. Noch im Urteil Timurtas¸ und in anderen Fällen gegen die Türkei verwendete der EGMR die Formulierung: „it can by no means be excluded“. In den gegenwärtig den Gerichtshof beschäftigenden Fällen gegen Russland hingegen formuliert der EGMR weniger zurückhaltend: „this can be regarded as lifethreatening“. b) Dogmatische Einordnung Aus dem Vorstehenden ergibt sich eine mittlerweile weitgehend einheitliche und gefestigte Rechtsprechung zum Umgang mit dem Umstand, dass es wiederholt zu Fällen des Verschwindenlassens kommt. Diesen Umstand zieht der EGMR, genauer gesagt die Erste Sektion, heran, um zu der Feststellung zu gelangen, dass der Tod des
Fall bezog sich der EGMR auf die Umstände der Entführung, Abs. 58: „the Court observes that the manner of his abduction shows many similarities with the disappearances of persons prior to their being killed in south-east Turkey at around the relevant time which have been examined by the Court“. Ebenso in Medova v. Russland, 25385/04, Urteil vom 15. Januar 2009, Abs. 90. In den beiden letzteren Fällen resultierte diese Vorgehensweise daraus, dass der EGMR die Verantwortlichkeit des Staates für die Entführung und damit auch eine nicht anerkannte Inhaftierung nicht als bewiesen ansah und damit auf diese Umstände nicht abstellen konnte. 391 Siehe Osmanog˘lu v. Türkei, 48804/99, Urteil vom 24. Januar 2008, Abs. 57, das Opfer verschwand 1996. 392 Timurtas¸ v. Türkei, 23531/94, Urteil vom 13. Juni 2000, Abs. 85. Explizit in Enzile Özdemir v. Türkei, 54169/00, Urteil vom 8. Januar 2008, Abs. 45: „of a person suspected by the authorities of PKK involvement“. 393 Osmanog˘lu v. Türkei, 48804/99, Urteil vom 24. Januar 2008, Abs. 58: „the lack of any suggestion that the applicant’s son might have been involved in PKK-related activities does not make his disappearance any less life-threatening.“
B. Einzelne relevante Aspekte
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Opfers zu vermuten sei.394 Die zuvor bewiesene Hilfstatsache, dass das Opfer von staatlichen Kräften entführt und seine Verhaftung nicht anerkannt wird, verbindet der EGMR mit der Erkenntnis, dass dies als lebensbedrohlich einzustufen ist. Diese Erkenntnis gründet darauf, dass der EGMR in jüngeren Fällen gegen Russland mit einer Vielzahl von Fällen befasst wurde, die nahe legten, dass das Phänomen des Verschwindenlassens von Personen in Tschetschenien eine verbreitete Praxis sei. Auch stützten internationale Berichte diese Auffassung.395 Ebenso wie bereits in den Fällen gegen die Türkei stellt der EGMR auf den Kontext ab, in dem sich der konkret zu entscheidende Fall zutrug, das heißt auf den Konflikt in Tschetschenien oder auf die Situation beziehungsweise die Umstände in der südöstlichen Türkei. Damit folgert der EGMR zunächst aus den Hilfstatsachen der Entführung und der nicht anerkannten Haft des Opfers, dass das Leben der verschwundenen Person bedroht sei. In einem zweiten, impliziten Schritt vermutet der EGMR dann den Tod des Opfers. Offen bleibt, ob der EGMR eine Entführung durch den Staat sowie eine nicht anerkannte Inhaftierung bereits an sich als lebensbedrohlich einstuft, so dass der EGMR in letzter Konsequenz den Tod des Opfers vermuten könnte. Die Ausführungen des EGMR in der Beschwerde Kurt sprechen gegen eine solche Einschätzung von Seiten des Gerichtshofes.396 Jedenfalls in Verbindung mit dem Umstand, dass ähnliche Fälle wiederholt eintraten, geht der EGMR allerdings davon aus. Damit impliziert er, dass sich durch diesen Umstand die Indizwirkung der Entführung und der Inhaftierung für den Beweis des Todes (signifikant) erhöht hat. Der Umstand, dass es wiederholt zu Fällen des Verschwindenlassens kam, ist damit als Randbedingung397 anzusehen, die die Folgerung von der Entführung und Inhaftierung auf den Tod des Opfers verstärkt. Diese Folgerung von der Entführung und Inhaftierung auf den Tod könnte als eine Vermutung oder als eine Schlussfolgerung dogmatisch eingeordnet werden. aa) Keine „echte“ Vermutung Für die Annahme, dass der EGMR von einer Vermutung Gebrauch macht, könnte sprechen, dass er zu der Feststellung gelangt, dass der Tod des Opfers zu „vermuten“ sei, und gerade nicht den Tod an sich feststellt. Zöge der EGMR eine Schlussfolgerung heran, so läge nahe, dass er den Tod nicht nur vermutet, sondern positiv feststellt. Allerdings weicht der EGMR in einigen Fällen ohne ersichtlichen Grund davon ab und stellt fest, dass das Opfer tot sein müsse.398 Auch benennt der EGMR 394
Siehe auch Meyer-Ladewig, NVwZ 24 (2009), S. 1531 (1532). Siehe die Formulierung in Baysayeva v. Russland, 74237/01, Urteil vom 5. April 2007, Abs. 119. 396 Kurt v. Türkei, 24276/94, Urteil vom 25. Mai 1998, Abs. 105 – 109. 397 Zu diesem Begriff siehe Bender/Nack/Treuer, S. 153 f., Rn. 607 f.: Randbedingungen führen zu einer Veränderung der Häufigkeitsverteilung. 398 So in Abdurzakova und Adburzakov v. Russland, 35080/04, Urteil vom 15. Januar 2009, Abs. 99; Dolsayev et al. v. Russland, 10700/04, Urteil vom 22. Januar 2009, Abs. 98; 395
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Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
sein Vorgehen gerade nicht explizit als presumption; die Kommission stellte vielmehr im Fall Akdeniz et al., wenn damit auch nur einmalig, auf eine „strong inference“ ab.399 Die vom EGMR herangezogenen Begriffe lassen damit keine eindeutige Einordnung zu. (1) Verlagerung der objektiven Beweislast Für eine Einordnung der Folgerung als Vermutung würde sprechen, wenn diese die Verteilung der objektiven Beweislast beeinflusste.400 Denn eine Schlussfolgerung berührt jedenfalls die Beweislastverteilung nicht; ob eine Vermutung hingegen die Verteilung der objektiven Beweislast beeinflusst, ist umstritten.401 Grundsätzlich ruht die objektive Beweislast für den Nachweis des Todes des Opfers auf dem Beschwerdeführer. Da die Hilfstatsachen, dass das Opfer zuvor vom Staat entführt und inhaftiert wurde, in Bezug auf diese Haupttatsache als belastend einzustufen sind, trägt auch für diese der Beschwerdeführer grundsätzlich die objektive Beweislast. Eine Beweislastverlagerung und damit eine Vermutung lägen damit dann vor, wenn der beschwerdegegnerische Staat nunmehr die objektive Beweislast für die Tatsache des Todes des Opfers trüge.402 Der EGMR macht nur in einem Fall, in Khadayeva et al., Anmerkungen, aus denen sich unter Umständen auf eine solche Verlagerung der objektiven Beweislast schließen lassen könnte. Ruhte die objektive Beweislast für die Tatsache des (vermuteten) Todes auf dem beschwerdegegnerischen Staat, so trüge dieser das Risiko der Erbringung des vollen Beweises des Gegenteils; ruhte sie aber nach wie vor auf dem Beschwerdeführer, so müsste nur der Gegenbeweis zu Gunsten des Staates erbracht werden. In der Beschwerde Khadayeva et al. trug Russland nun vor, dass das Opfer, das im Jahre 2003 verschwunden war, 2006 wegen einer Trunkenheitsfahrt belangt worden wäre. Die Beschwerdeführer hielten dem entgegen, dass das Opfer bei dieser Gelegenheit nicht identifiziert worden sei. Der Gerichtshof führte diese Argumente nun im Rahmen seiner Prüfung, ob der Tod des Opfers zu vermuten sei, an und kam selbst zu dem Ergebnis:
Bantayeva et al. v. Russland, 20727/04, Urteil vom 12. Februar 2009, Abs. 78; Vagapova und Zubirayev v. Russland, 21080/05, Urteil vom 26. Februar 2009, Abs. 87. 399 Akdeniz et al. v. Türkei, 23954/94, Bericht vom 10. September 1999, Abs. 478: „Furthermore, in light of its increased experience of the conditions pertaining in south-east Turkey at the relevant time, the Commission is satisfied that it may draw a strong inference as to the fate of the eleven missing men in the present case.“ 400 Es würde keine „Umkehr“ oder „Verlagerung“ der objektiven Beweislast stattfinden. Zu dieser Wortwahl siehe supra Seite 155, Fn. 122. 401 Siehe dazu supra Kapitel 3, A.IV. 402 Diese Frage ist nicht mit der Frage nach der Verteilung der objektiven Beweislast identisch, die in Kapitel 3, B.II.3.c) aufgeworfen und behandelt worden ist. Die dortigen Ausführungen bezogen sich auf die objektive Beweislast für die Tatsachen, die die Verantwortlichkeit des Staates für den Todeserfolg begründen und gerade nicht auf den Tod selbst.
B. Einzelne relevante Aspekte
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„The Court considers that the information and materials available do not allow it to establish conclusively that the driver found guilty of drunken driving […] was Mr Ali Khadayev […].“403 „[…] [T]he Court considers that the events in Pyatigorsk do not constitute sufficient proof that Mr Ali Khadayev is alive and finds that he must be presumed dead following his unacknowledged apprehension by State servicemen […].“404
Dieses Vorgehen belegt zwar, dass der EGMR prüft, ob der Beweis erbracht ist, dass das Opfer noch lebendig ist. Damit scheint sich die eigentliche Prüfung der Frage, ob das Opfer tot ist, in sein Gegenteil verkehrt zu haben. Allerdings wird weder aus der Formulierung „establish conclusively“ noch aus der weiteren Formulierung „sufficient proof“ erkenntlich, welches Beweismaß der EGMR heranzog. Damit ist gerade nicht klar, ob der EGMR den vollen Beweis des Gegenteils forderte, das heißt einen Beweis wider jeden Zweifel,405 oder einen bloßen Gegenbeweis, das heißt die Erregung eines vernünftigen Zweifels untermauert mit Beweismitteln. Dafür, dass der EGMR den vollen Beweis des Gegenteils forderte, könnte hingegen sprechen, dass er nicht – wie im Urteil Tanıs¸ et al. – die folgende Formulierung verwendete: „[T]he Court is not satisfied that the explanations furnished by the Government […] suffice to cast reasonable doubt on the applicants’ allegations […].“406
Mit einer ähnlichen Formulierung hätte der EGMR deutlich zum Ausdruck bringen können, dass der beschwerdegegnerische Staat nach wie vor lediglich das Risiko trägt, dass ein vernünftiger Zweifel in Bezug auf den Nachweis des Todes besteht und die objektive Beweislast damit noch auf dem Beschwerdeführer ruht. Obgleich dieser Vergleich mit der Formulierung aus dem Urteil Tanıs¸ et al. damit darauf hinweisen könnte, dass die objektive Beweislast ausnahmsweise auf dem beschwerdegegnerischen Staat lastet, lässt die undeutliche Formulierung in Khadayeva et al. keine abschließende Einschätzung zu. Vielmehr könnte die objektive Beweislast auch nach wie vor auf dem Beschwerdeführer ruhen. Dass der beschwerdegegnerische Staat in diesem Fall die Last trägt, einen Gegenbeweis zu erbringen, lässt aber nicht darauf schließen, dass eine Vermutung vorliegt. Denn auch eine Schlussfolgerung kann einen so großen Beweiswert haben, dass sie nur durch die Erbringung eines Gegenbeweises entkräftet werden kann, andernfalls aber den Beweis erbringt. An diesen Gegenbeweis könnte der EGMR auch die Anforderung 403
Khadayeva et al. v. Russland, 5351/04, Urteil vom 12. März 2009, Abs. 129. Khadayeva et al. v. Russland, 5351/04, Urteil vom 12. März 2009, Abs. 132. 405 Soweit das Beweismaß „proof beyond reasonable doubt“ anwendbar bleibt, siehe supra Kapitel 3, B.I. 406 Tanıs¸ et al. v. Türkei, 65899/01, Urteil vom 2. August 2005, Abs. 207. Siehe zuvor auch Klaas v. Deutschland, 15473/89, Bericht vom 21. Mai 1992, Abs. 103: „[…] it is not sufficient for the Government to point at other possible causes of injuries, but it is incumbent on the Government to produce evidence showing facts which cast doubt on the account given by the victim and supported by medical evidence […].“ 404
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Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
stellen, dass bloße unsubstantiierte Schutzbehauptungen jedenfalls nicht ausreichten. (2) Rechtliche Grundlage Die Frage, ob eine Vermutung oder eine Schlussfolgerung vorliegt, kann damit nicht unter Verweis auf die Verteilung der objektiven Beweislast klar entschieden werden. Gegen eine Einordnung als Vermutung spricht aber, dass der EGMR die Herangehensweise nicht auf eine rechtliche Grundlage zu stützen scheint. Denn während eine Vermutung auf einer rechtlichen Grundlage beruht, stützt sich eine Schlussfolgerung auf tatsächliche Erwägungen.407 Der EGMR begründet die Folgerung, dass eine Entführung und Inhaftierung lebensbedrohlich sind, mit tatsächlichen Erkenntnissen, die er aus der vorigen Rechtsprechung und aus internationalen Berichten bezieht.408 Auf eine rechtliche Grundlage, die ihm gebietet, diese Folgerung zu ziehen, geht der EGMR dabei nicht ein. Zwar könnte die Ansicht vertreten werden, dass eine rechtliche Grundlage für das Vorgehen des EGMR besteht, die sich auf eine völkergewohnheitsrechtliche Regel stützt, wie sie auch schon in Verfahren vor dem IAGMR, der Menschenrechtskommission und der vorhergegangenen Rechtssprechung des EGMR selbst zu Tage trat. Oder die rechtliche Grundlage könnte im etablierten Richterrecht selbst zu sehen sein. Da der EGMR allerdings selbst nicht davon auszugehen scheint, dass er dazu verpflichtet ist, eine Folgerung aus dem Umstand zu ziehen, dass es wiederholt zu ähnlichen Fällen des Verschwindenlassen gekommen ist, er vielmehr ausdrücklich auf tatsächliche Erwägungen Bezug nimmt und diese Folgerung in vielen Fällen auch überhaupt nicht heranzieht,409 ist davon auszugehen, dass eine rechtliche Grundlage nicht existiert. Somit liegt keine Vermutung, sondern dogmatisch eine Schlussfolgerung vor. bb) Einordnung als Randbedingung einer Schlussfolgerung Es bleiben die Fragen zu beantworten, wie der Beweis dieser Randbedingung410 der Schlussfolgerung gelingt und ob eine Partei, und falls ja, welche das Risiko der Beweislosigkeit trägt. Beide Aspekte setzten zunächst voraus, dass es sich bei der Randbedingung überhaupt um eine Tatsache handelt, die dem Beweis unterliegt, und nicht um einen rechtlichen Umstand. Wäre letzteres der Fall, so käme der Grundsatz „iura novit curia“ zur Anwendung. Es spricht allerdings vieles dafür, diese Randbedingung als Tatsache einzustufen: Es ist ein tatsächlicher Umstand, ob es wie407
Zu diesem Unterscheidungskriterium siehe supra Kapitel 3, A.III.2. Siehe dazu supra Kapitel 3, B.III.2.b). 409 Siehe supra Kapitel 3, B.III.2.a). Dies ist immer dann der Fall, wenn der EGMR den (vermuteten) Tod des Opfers sowie die Verantwortlichkeit des Staates für diesen im Ergebnis nicht feststellt. 410 Zu diesem Begriff siehe bereits supra, Kapitel 3, B.III.2.b). 408
B. Einzelne relevante Aspekte
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derholt zu Fällen des Verschwindenlassens kam und ob diese lebensbedrohlich waren beziehungsweise sich dieses Risiko sogar im Tod verwirklichte. Ebenso ist es ein tatsächlicher Umstand, in welchem Kontext sich der konkret gerügte Fall des Verschwindenlassens zutrug. Diese Umstände sind keiner der völkerrechtlichen Rechtsquellen zuzuordnen. Sie unterliegen somit als Tatsachen dem Beweis; für einen solchen stellt der EGMR auf internationale Berichte ab sowie darauf, dass eine Anzahl von EGMR-Fällen den Schluss nahe legt, dass das Phänomen des Verschwindenlassens weit verbreitet ist. In Bezug auf die Verteilung der objektiven Beweislast könnte auf die Kurt-Beschwerde Bezug genommen werden. Dort hatten die Konventionsorgane darauf abgestellt, dass nicht bewiesen war, dass es wiederholt zu Fällen des Verschwindenlassens gekommen war.411 Es ist allerdings nicht klar ersichtlich, ob die Konventionsorgane in dieser Beschwerde die Existenz einer Praxis („practice“) des Verschwindenlassens lediglich als Umstand im Rahmen der Beweiswürdigung heranzogen oder als einen separaten Konventionsverstoß werteten beziehungsweise als eine Verstärkung eines anderen Konventionsverstoßes ansahen. Jedenfalls aber gingen die Konventionsorgane zu Lasten der Beschwerdeführer nicht von einer Praxis aus, so dass es nahe liegt anzunehmen, dass die objektive Beweislast auf dem Beschwerdeführer ruhte. Dies entspricht auch dem allgemeinen Grundsatz, dass die Partei die objektive Beweislast für all jene Tatsachen trägt, die ihr zum Vorteil gereichen. cc) Fazit Im Ergebnis lässt sich der Umstand, dass es wiederholt zu Fällen des Verschwindenlassens kam, dogmatisch als Randbedingung einer Schlussfolgerung einordnen. Eine Verlagerung der objektiven Beweislast in Bezug auf die Tatsache des Todes scheint damit nicht einher zu gehen, auch wenn die Rechtsprechung in dieser Hinsicht keine eindeutige Aussage erlaubt. Diese Schlussfolgerung in Verbindung mit der Randbedingung zieht der EGMR in vielen Fällen heran, um von den Indizien der Entführung und der nicht anerkannten Inhaftierung des Opfers zunächst auf die Lebensbedrohlichkeit und anschließend auf den (vermuteten) Tod zu folgern.412 3. Wertende Schlussbetrachtung Diese Praxis des EGMR ist dazu geeignet, beweisrechtlichen Problemen, die Fälle des Verschwindenlassens aufwerfen, abzuhelfen.413 Letztlich stellt sie eine 411 So die Kommission in Kurt v. Türkei, 24276/94, Bericht vom 5. Dezember 1996, Abs. 189; Kurt v. Türkei, 24276/94, Urteil vom 25. Mai 1998, Abs. 101 f. (dabei stellt der EGMR explizit auf das Vorbringen der Beschwerdeführerin ab). 412 Vgl. auch Tigroudja, in: Ruiz Fabri/Sorel (Hrsg.), S. 115 (137). 413 Diese Einschätzung teilt auch Solvang, EHRAC Bulletin Winter 2007, Issue 8, S. 1 (3). Siehe auch Ott, S. 80.
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Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
Methode unter weiteren dar, wie in Ermangelung direkter Beweismittel der Beweis der umstrittenen und unklaren Tatsache des Todes geführt werden kann.414 a) Beweiswert der durch die Randbedingung verstärkten Schlussfolgerung Dabei verstärkt der Umstand einer lebensbedrohlichen Praxis des Verschwindenlassens den Beweiswert der Schlussfolgerung, die der EGMR von den bewiesenen Hilfstatsachen der Entführung und der nicht anerkannten Inhaftierung der entführten Person auf die Haupttatsache des Todes zieht. Diese Verstärkung ist auch nachvollziehbar: Während eine Entführung und nicht anerkannte Inhaftierung an sich die Wahrscheinlichkeit, dass das Opfer tot ist, zwar sicherlich erhöhen, steigert sich diese Wahrscheinlichkeit um eine Vielfaches, wenn es mit dem Wissen darum kombiniert wird, dass in Fällen, in denen die Entführung und Inhaftierung des Opfers ähnlich abliefen, das Leben des Opfers bedroht oder diesem sogar ein Ende bereitet wurde. Der Beweiswert ist dann gemindert, wenn Umstände vorliegen, die den konkret zu entscheidenden Fall von den anderen unterscheiden, wie beispielsweise Umstände, die in der Person des Opfers begründet liegen oder die den Ablauf der Entführung betreffen. Begrüßenswert wäre es, wenn der EGMR deutlicher machen würde, in welcher Größenordnung sich der Beweiswert der Indizien der Entführung und der nicht anerkannten Inhaftierung durch die Randbedingung, dass es wiederholt zu ähnlichen, lebensbedrohlichen oder gar tödlichen Fällen des Verschwindenlassens kam, steigert. Aufgrund seiner inzwischen auf zahlreiche Fälle gestützten Erfahrung und vor dem Hintergrund aktueller Berichte über Fälle des Verschwindenlassens in Tschetschenien415 sollte der EGMR das Indiz, dass eine Entführung und Inhaftierung vorliegt, die von ihrem Ablauf den Umständen weiterer lebensbedrohlicher oder tödlicher Fälle des Verschwindenlassens ähnelt, in Verbindung mit dem Ablauf einer gewissen Zeitspanne, in der es kein Lebenszeichen vom Opfer gab, als geeignet ansehen, den Beweis des Todes zu erbringen.416 In der Praxis stützt der EGMR den Beweis des Todes auch lediglich auf diese Umstände; es wäre aber vorzugswürdig, wenn der Gerichtshof ihren großen Beweiswert explizit hervorhöbe. Dies würde 414 Richtigerweise weisen Scovazzi/Citroni auch darauf hin, dass dieser Umstand im Rahmen der Prüfung von Art. 3 EMRK ebenfalls eine Rolle spielen kann, S. 221: „Once the existence of a widespread or systematic practice of disappearance has been established together with the corresponding practice of torture of prisoners, and the material victim has last been seen in the custody of State agents, torture or inhuman and degrading treatment may be presumed, together with the presumption of the death of the victim.“ 415 So z. B. von CoE, Kommissar für Menschenrechte, Thomas Hammarberg, CommDH (2009)36, Bericht vom 24. November 2009. Siehe auch den Bericht von Human Rights Watch aus dem Jahre 2005. 416 Dies fordern auch Scovazzi/Citroni, S. 198: „This […] consideration alone should have been sufficient, together with the circumstantial evidence and witnesses, to presume the death of the victim […].“
B. Einzelne relevante Aspekte
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nicht ausschließen, dass dennoch im Ergebnis der (vermutete) Tod des Opfers nicht festgestellt werden kann, da der Gegenbeweis gelingt. b) Die Rechtsprechung des IAGMR Eine Änderung der Rechtsprechung, die über diese vorgeschlagene Präzisierung hinausgeht, schlägt Taqi vor. Seiner Ansicht nach ist die Herangehensweise des EGMR in Bezug auf Fälle des Verschwindenlassens ungenügend; er fordert den EGMR auf, das Vorgehen des IAGMR heranzuziehen.417 Dieses Vorgehen wurde, so Taqi, im Urteil Velásquez-Rodríguez entwickelt und bedeute eine Absenkung der beweisrechtlichen Standards.418 Dies beinhalte unter anderem,419 so Taqi, die folgende zweigleisige Vorgehensweise: „The Inter-American Court established a rule by which it assumes governmental responsibility for the disappearance of an individual if the government carries out a general practice of disappearances and the specific case can be linked to that practice.“420
Seiner Auffassung nach verlagert sich die Beweislast auf den beschwerdegegnerischen Staat, sobald die Antragstellerin, das heißt die Kommission, bewiesen hat, dass eine solche Praxis vorliegt und ein Zusammenhang zwischen dieser und dem konkreten Fall besteht.421 Der EGMR habe – so Taqi – die Herangehensweise des IAGMR in der Timurtas¸-Entscheidung abgelehnt und die Feststellung des Todes stattdessen auf Indizien gestützt.422 Aus den Ausführungen Taqis geht insofern nicht eindeutig hervor, im Zusammenhang mit dem Beweis welcher konkreten Tatsache er die Praxis des Verschwindenlassens heranzieht, da er an zwei Stellen die generelle Praxis zum Beweis der Verantwortlichkeit des Staates für das Verschwindenlassen heranzieht,423 an anderer Stelle aber auf den Beweis des Todes abstellt.424 Dem Vorschlag Taqis, der EGMR sollte die Herangehensweise des IAGMR übernehmen, ist bereits deshalb nicht zu folgen, da er auf einem Verständnis der Herangehensweise des IAGMR beruht, das Kritik ausgesetzt ist und zukünftige 417 Taqi, FILJ 24 (2000 – 2001), S. 940 (943). Siehe auch Krüger, S. 8 – 10, welcher von einer Umkehr der Beweislast spricht und die Beschwerde Tomasi als einen Fall anführt, in dem die Konventionsorgane zu einem gleichen Ergebnis kamen. 418 Taqi, FILJ 24 (2000 – 2001), S. 940 (957 f., Fn. 112). So auch die Ansicht von Sethi, Human Rights Brief 8/3 (2001), S. 29. Siehe auch Benzing, S. 701. 419 Er spricht insbesondere auch das Beweismaß und die Zulässigkeit von Beweismitteln an, Taqi, FILJ 24 (2000 – 2001), S. 940 (957 ff.). 420 Taqi, FILJ 24 (2000 – 2001), S. 940 (958, siehe auch S. 961 f.). 421 Taqi, FILJ 24 (2000 – 2001), S. 940 (961 f.). Siehe auch Pasqualucci, S. 211 ff., die diese zweigleisige Herangehensweise ebenfalls in einen Zusammenhang mit der Beweislast stellt sowie von Braun/ Diehl, Zeitschrift für internationale Strafrechtsdogmatik (2011), S. 214 (217). 422 Taqi, FILJ 24 (2000 – 2001), S. 940 (979). 423 Taqi, FILJ 24 (2000 – 2001), S. 940 (958, 962). 424 Taqi, FILJ 24 (2000 – 2001), S. 940 (982).
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Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
Entwicklungen nicht einbezieht. Vielmehr gleichen sich die Vorgehensweisen der beiden Gerichtshöfe in der Sache bereits.425 So prüfte und stellte der IAGMR in Velásquez-Rodríguez zwar fest, dass eine generelle Praxis in Honduras zur fraglichen Zeit bestand, Personen verschwinden zu lassen. Diese Herangehensweise war von der Kommission forciert426 und von der beschwerdegegnerischen Regierung nicht abgelehnt worden.427 Im Einzelnen hatte die Kommission vorgetragen, dass die Politik des Verschwindenlassens, die von der Regierung unterstützt oder toleriert werde, dazu verwendet werde, Beweismittel zu verdecken oder zu zerstören. Wenn eine solche Politik oder Praxis dargelegt worden sei, könne – so die Kommission – das Verschwindenlassen in einem bestimmten Fall entweder mittels Indizien oder durch logische Schlussfolgerung bewiesen werden.428 Der Gerichtshof erkannte an: „If it can be shown that there was an official practice of disappearances in Honduras, carried out by the Government or at least tolerated by it, and if the disappearance of Manfredo Velásquez can be linked to that practice, the Commission’s allegations will have been proven to the Court’s satisfaction, so long as the evidence presented on both points meets the standard of proof required in cases such as this.“429
In der Folge stellte der Gerichtshof aber fest, dass es eine vernünftige Vermutung („reasonable presumption“) gebe, dass das Opfer tot sei, da es seit sieben Jahren verschwunden sei und dass Personen, die mit den Streitkräften verbunden waren oder unter deren Befehl standen, die Entführung vornahmen.430 Erst im Anschluss an diese Feststellungen fügte der IAGMR an, dass die Entführung und das Verschwinden des Opfers im konkreten Fall der zuvor festgestellten systematischen Praxis des Verschwindenlassens entsprächen.431 Damit hat der EGMR zwar die Existenz einer Praxis festgestellt, allerdings bereits ohne Bezug auf diese Praxis den Tod des Opfers sowie die Verantwortlichkeit des Staates für die Entführung festgestellt. Die Vermutung des Todes begründete der IAGMR lediglich damit, dass sieben Jahre verstrichen waren, in denen das Opfer verschwunden war; er bezog sich hingegen nicht auf andere Fälle, in denen Personen verschwanden. 425 Zur Vorgehensweise des IAGMR siehe Drucker, SJIL 25 (1989), S. 289 (309 – 315), die von einer Schlussfolgerung spricht. 426 Es ist zu vermuten, dass dies nicht zuletzt aus Gründen geschah, die in keiner Beziehung zur Beurteilung des Einzelfalles, sondern vielmehr in einem größeren (menschenrechts-) politischem Kontext standen. 427 Velásquez-Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Series C Nr. 4, Abs. 124 – 126. 428 Velásquez-Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Series C Nr. 4, Abs. 124 (Hervorhebungen nicht im Original). 429 Velásquez-Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Series C Nr. 4, Abs. 126. In Abs. 188 stellt der IAGMR in Bezug auf den Tod auch auf den Zusammenhang und die Systematik, mit denen Häftlinge exekutiert wurden, ab. 430 Velásquez-Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Series C Nr. 4, Abs. 147 e und f. 431 Velásquez-Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Series C Nr. 4, Abs. 147 g; die Feststellung erfolgte zuvor in Abs. 147 a-d.
B. Einzelne relevante Aspekte
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In dem späteren Urteil Blake v. Guatemala zog der IAGMR eine weit verbreitete Praxis des Verschwindenlassens wie folgt heran: „The Court deems it possible for the disappearance of a specific individual to be demonstrated by means of indirect and circumstantial testimonial evidence, when taken together with their logical inferences, and in the context of the widespread practice of disappearances.“432
In dem Urteil Bámaca-Velásquez aus dem Jahre 2000 stellte der IAGMR zwar auf den zweigleisigen Beweis aus Velásquez-Rodríguez ab, um die Entführung und das Verschwinden des Opfers zu beweisen.433 Die Verhaftung und Inhaftierung des Opfers in verschiedenen militärischen Einrichtungen war allerdings bereits zuvor vom Gerichtshof festgestellt worden.434 Zum Nachweis des Todes finden sich im Rahmen der Prüfung einer Verletzung von Art. 4 AMRK dann die folgenden Ausführungen: „In this case, the circumstances in which the detention by State agents of Bámaca Velásquez occurred, the victim’s condition as a guerrilla commander, the State practice of forced disappearances and extrajudicial executions […] and the passage of eight years and eight months since he was captured, without any more news of him, cause the Court to presume that Bámaca Velásquez was executed.“435
Wie insbesondere diese jüngere Praxis aufzeigt, unterscheidet sich damit die Herangehensweise des IAGMR zum Beweis des Todes nicht grundlegend von der des EGMR: Der IAGMR vermutet die Exekution des Opfers aufgrund verschiedener Umstände, zu denen unter anderem auch zählt, dass es eine Praxis des Verschwindenlassens gibt. Dieser Umstand, wie in der Rechtsprechung des EGMR auch, macht damit den Tod des verschwundenen Opfers so wahrscheinlich, dass er zu vermuten ist. Dies entspricht der vom EGMR entwickelten Herangehensweise, die ebenfalls als zweigleisig bezeichnet werden kann: Ist zum einen bewiesen, dass es eine (lebensbedrohliche beziehungsweise tödliche) Praxis des Verschwindenlassens gibt, sowie zum anderen, dass sich der konkrete Fall mit dieser verknüpfen lässt – und dabei ist entscheidend, dass die Entführung und Inhaftierung des Opfers bewiesen sind und in ihrem Ablauf dem der weiteren Fälle gleichen – so ist der Tod des Opfers zu vermuten. Das angesprochene zweigleisige Vorgehen des IAGMR, dessen Verwendung Taqi dem EGMR anrät, könnte damit höchstens abgewandelt, insbesondere in Bezug auf die Feststellung einer anderen Tatsache in Betracht kommen. Zu letzterer Mög432 Blake v. Guatemala, Merits, Urteil vom 24. Januar 1998, Series C Nr. 36, Abs. 49, diesem Fall waren die Leichen der Opfer aufgefunden worden. 433 Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Merits, Urteil vom 25. November 2000, Series Nr. 70, Abs. 130 – 132. 434 Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Merits, Urteil vom 25. November 2000, Series Nr. 70, Abs. 121 h-l. 435 Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Merits, Urteil vom 25. November 2000, Series Nr. 70, Abs. 173 (Hervorhebungen nicht im Original, Fn. weggelassen).
in C C C
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Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
lichkeit lässt sich feststellen, dass der IAGMR selbst diese zweigleisige Vorgehensweise entwickelt, um die „Vorwürfe“ der Kommission zu beweisen.436 In dem späteren Urteil Bámaca-Velásquez stellt der IAGMR darauf ab, dass das konkrete Verschwindenlassen bewiesen werden kann.437 Der zunächst verwendete Begriff der Vorwürfe ist denkbar unpräzise gehalten und nimmt gerade nicht auf konkrete Tatsachen Bezug. Auch das Verschwindenlassen als solches ist keine Tatsache, die der EGMR als eine der Haupttatsachen bei der Prüfung einer Verletzung von Art. 2 EMRK konkret feststellen muss. Das Vorgehen des IAGMR scheint damit nicht auf den Beweis einzelner relevanter Haupttatsachen abzustellen, sondern vielmehr darauf, zum einen den weiteren Kontext hervorzuheben, in dem sich die einzelne Menschenrechtsverletzung abspielte, und zum anderen das Vorliegen eines Falles des Verschwindenlassens zu bejahen. Denn während der EGMR diesen Begriff nur selten heranzieht und insbesondere keine Definition oder rechtliche Bewertung mit diesem Terminus verknüpft, verfolgt der IAGMR in dieser Hinsicht einen anderen Ansatz.438 Damit bringt die Bejahung, dass es sich um einen (typischen) Fall des Verschwindenlassens handelt, im inter-amerikanischen Kontext einen rechtlichen Mehrwert. Ein solcher Mehrwert existiert für den EGMR nicht, so dass es ihm, entgegen der Ansicht von Taqi, nicht anzuraten ist, dieses Vorgehen unverändert zu übernehmen. c) Fehlende Verantwortlichkeit des Staates für die Entführung/keine Inhaftierung Problematisch ist, dass der EGMR in zwei Fällen den Umstand, dass es wiederholt zu Fällen des Verschwindenlassens kam, heranzog, ohne es als bewiesen zu erachten, dass der Staat für die vorherige Entführung des Opfers verantwortlich war und dass eine Inhaftierung vorlag. In den Beschwerden Osmanog˘lu und Medova vertrat der EGMR die Ansicht, dass das Verschwindenlassen einer Person an sich unter bestimmten Umständen bereits als lebensbedrohlich anzusehen sei.439 Diese Lebensbedrohlichkeit, so der EGMR in Osmanog˘lu, ergebe sich aus den Erkenntnissen vorheriger Urteile.440 Er verwies auf das Urteil Akdeniz.441 Bereits dieser Verweis ist nicht tragfähig, da der EGMR in der Beschwerde Akdeniz, wie sonst auch, die Lebensbedrohlichkeit der nicht anerkannten Inhaftierung („unacknowledged detenti436 Velásquez-Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Series C Nr. 4, Abs. 126. 437 Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Merits, Urteil vom 25. November 2000, Series C Nr. 70, Abs. 130, 132. 438 Siehe dazu supra Kapitel 2, C. 439 Osmanog˘lu v. Türkei, 48804/99, Urteil vom 24. Januar 2008, Abs. 57. 440 Osmanog˘lu v. Türkei, 48804/99, Urteil vom 24. Januar 2008, Abs. 57. 441 Osmanog˘lu v. Türkei, 48804/99, Urteil vom 24. Januar 2008, Abs. 57; in Medova v. Russland, 25385/04, Urteil vom 15. Januar 2009, Abs. 90 verwies der EGMR lediglich auf Osmanog˘lu.
B. Einzelne relevante Aspekte
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on“) heranzog, nicht aber, wie der EGMR in den Urteilen Osmanog˘lu und Medova, die Lebensbedrohlichkeit eines Verschwindenlassens ohne bewiesene staatliche Verwicklung.442 Der Umstand, dass es wiederholt zu lebensbedrohlichen oder gar tödlichen Fällen des Verschwindenlassens gekommen ist, die mit einer Entführung und Inhaftierung durch den Staat einhergingen, mag zwar durchaus die Wahrscheinlichkeit steigern, dass jede Entführung, auch die durch Private, einen tödlichen Ausgang nimmt. Allerdings ist diese Steigerung der Wahrscheinlichkeit keinesfalls zwingend und jedenfalls wesentlich gemindert. Denn die Entführungen in den Fällen Osmanog˘lu und Medova unterschieden sich gerade von denen in anderen Fällen, da sie dem Staat nicht zuzurechnen waren. Auch war die anschließende nicht anerkannte Inhaftierung nicht bewiesen. Es lässt sich argumentieren, dass die gesteigerte Lebensbedrohlichkeit in Fällen, in denen der Staat Personen entführt und inhaftiert, auch mit einer gesteigerten Lebensbedrohlichkeit anderer Entführungen einhergeht. Ein Klima der Straflosigkeit und Gesetzlosigkeit könnte insofern um sich greifen. Sind diese anderen Entführungen allerdings aus ganz anderen Motiven und Interessenslagen geboren, zum Beispiel werden sie aus familiären oder finanziellen Gründen vorgenommen, oder sind ganz andere Personen Opfer des Verschwindens, die keinerlei Bezug zum schwelenden Konflikt haben, so erscheint dieser Schluss nicht tragfähig. Jedenfalls erscheint ein solcher Schluss begründungsbedürftig zu sein. Daher hätte der EGMR in beiden Fällen darauf eingehen müssen, welche Umstände es dennoch rechtfertigten, von der Lebensbedrohlichkeit der Entführungen auszugehen. Er hätte beispielsweise auf Gemeinsamkeiten im Ablauf der Entführungen hinweisen können. So hatten sich in beiden Fällen die Entführer als Polizisten beziehungsweise Geheimdienstler ausgegeben, ohne dass der EGMR ihre Identität als bewiesen erachtete,443 und im Fall Medova waren die Entführer mit ihrem Opfer durch Kräfte des Innenministeriums überprüft worden.444 Im Ergebnis sollte der EGMR in Zukunft genauer differenzieren, wenn er den Umstand heranzieht, dass es wiederholt zu tödlichen Fällen des Verschwindenlassens gekommen ist: Ist im konkreten Fall die Entführung und Inhaftierung durch den Staat nicht bewiesen, so bedarf es der Begründung, warum der Tod der verschwundenen Person dennoch aus der Lebensbedrohlichkeit einer Praxis folgt, für die der Staat die Verantwortlichkeit trägt und die sich dadurch per se bereits von dem konkreten Fall des Verschwindens unterscheidet.
442 Akdeniz v. Türkei, 25165/94, Urteil vom 31. Mai 2005, Abs. 99: „In the general context of the situation in south-east Turkey in 1994, it can by no means be excluded that an unacknowledged detention of such persons would be life-threatening […].“ 443 Osmanog˘lu v. Türkei, 48804/99, Urteil vom 24. Januar 2008, Abs. 46 – 54; Medova v. Russland, 25385/04, Urteil vom 15. Januar 2009, Abs. 85 – 88. 444 Medova v. Russland, 25385/04, Urteil vom 15. Januar 2009, Abs. 97 – 99.
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Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
d) Verlagerung der objektiven Beweislast Wünschenswert wäre es, wenn der EGMR seine insoweit unklare Rechtsprechung445 in Zukunft präzisierte, ob damit, dass das Opfer zuvor entführt und inhaftiert wurde und dieses Geschehen in seinem Ablauf ähnlichen lebensgefährlichen oder tödlichen Fällen des Verschwindenlassens glich, eine Verlagerung der objektiven Beweislast in Bezug auf die Tatsache des Todes des Opfers einherginge. Zunächst scheint eine solche Umkehr der Beweislast aus praktischen Erwägungen nicht erforderlich zu sein: Die Schlussfolgerung verbunden mit der Randbedingung erbringt in der Regel gerade den Beweis zum geforderten Beweismaß „proof beyond reasonable doubt“. Auch scheint der EGMR hohe Anforderungen an den Gegenbeweis zu stellen; so genügte in der Beschwerde Khadayeva et al. die Behauptung nicht, das Opfer sei nach seinem Verschwinden in eine Verkehrskontrolle geraten.446 Damit sind ähnlich wie in Fällen, in denen die Kontrolle des Staates als Indiz zum Beweis der Verantwortlichkeit des Staates herangezogen wird,447 bloße Schutzbehauptungen ohne untermauernde Beweismittel nicht ausreichend. Zu einer Entscheidung aufgrund der Beweislastverteilung kommt es somit regelmäßig nicht, da ein Zustand der Beweislosigkeit nicht eintritt. Ist dies allerdings ausnahmsweise der Fall, so bevorteilt eine Verlagerung der objektiven Beweislast auf den beschwerdegegnerischen Staat in Bezug auf den Nachweis des Todes grundsätzlich den Beschwerdeführer. Der Vorteil ist jedoch abhängig davon, welches Beweismaß zur Anwendung kommt: Er ist dann besonders groß, wenn der Gerichtshof ein hohes Beweismaß zu Lasten des beschwerdegegnerischen Staates heranzieht.448 aa) Verlagerung der objektiven Beweislast und Beibehaltung des hohen Beweismaßes Sollte der Gerichtshof auch in Zukunft an dem hohen Beweismaß „proof beyond reasonable doubt“ festhalten, so erscheint eine Zuweisung der objektiven Beweislast an den beschwerdegegnerischen Staat gegenüber der jetzigen Situation jedenfalls vorzugswürdig. Diese Zuweisung der Beweislast hätte in der Praxis zur Folge, dass der beschwerdegegnerische Staat das Risiko trüge, dass der Beweis wider jeden vernünftigen Zweifel gelingt, dass das Opfer nicht tot ist. Ein solcher Beweis wird praktisch nie gelingen.449 445
Zu diesem Ergebnis siehe supra Kapitel 3, B.III.2.b)cc). Khadayeva et al. v. Russland, 5351/04, Urteil vom 12. März 2009, Abs. 129, 132. 447 Siehe dazu supra Kapitel 3, B.II. 448 Zu diesem Abhängigkeitsverhältnis zwischen Beweislastverteilung und Beweismaß vgl. bereits supra Kapitel 3, B.II.3.c). 449 Die Indizien, insbesondere das durch die Randbedingung verstärkte Indiz der Inhaftierung, werden regelmäßig einen vernünftigen Zweifel daran wecken, dass das Opfer noch lebt. Der Staat wird sich in der Praxis bemühen, die durch die Randbedingung verstärkte 446
B. Einzelne relevante Aspekte
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Die Verlagerung der objektiven Beweislast auf den beschwerdegegnerischen Staat würde die Interessen des Beschwerdeführers gegenüber denen des Staates richtigerweise höher gewichten: Die Zuweisung der objektiven Beweislast abweichend vom Grundsatz „actori incumbit probatio“ kann sich zwar nicht ausschlaggebend,450 aber zumindest am Rande auf die Erwägung von Einfluss-/ und Verantwortlichkeitssphären gründen. Denn der beschwerdegegnerische Staat übt durch die festgestellte Entführung und nicht eingestandene Inhaftierung die alleinige Kontrolle über das Opfer aus. Allerdings rechtfertigt erst der Umstand, dass es im Rahmen dieser Kontrolle wiederholt zu ähnlichen tödlichen Fällen des Verschwindenlassens gekommen ist, die Verlagerung der Beweislast. Auch für diesen Umstand trägt der Staat allerdings die Verantwortung: Diese anderen tödlichen Fälle spielten sich gleichfalls unter dem alleinigen oder fast ausschließlichen Einfluss des Staates ab. Darüber hinaus kommt auch der Sanktionierungsgedanke jedenfalls zum Teil zum Tragen. So ist der Staat für die Existenz der Praxis des (tödlichen) Verschwindenlassens verantwortlich, auch wenn er im Rahmen der konkreten Beschwerde auf diese keine Einflussmöglichkeit mehr hat. Hingegen knüpft die Beweislastverlagerung nicht daran an, dass der beschwerdegegnerische Staat seine Kooperationspflichten gegenüber dem EGMR verletzt und dies zu sanktionieren ist.451 Schließlich könnte eine Verlagerung der Beweislast auch der tatsächlichen Zuweisung der Wahrscheinlichkeiten entsprechen:452 Die Annahme, dass das Opfer – ähnlich wie Opfer in vergleichbaren Fällen – zu Tode kam, ist wahrscheinlicher als die Annahme, dass es noch lebt. Die „Anfangswahrscheinlichkeit“ hat sich somit verändert: Normalerweise rechtfertigt eine gleiche oder geringere Anfangswahrscheinlichkeit, dass eine bestimmte „anomale“ Tatsache wie der Tod vorliegt, die Zuweisung der Beweislast an den Beschwerdeführer. Ist die Anfangswahrscheinlichkeit allerdings aufgrund besonderer Umstände wie vorliegt abweichend verteilt, so rechtfertigt dies die Zuweisung der objektiven Beweislast an die andere Partei. bb) Beibehaltung der Beweislastverteilung und Absenkung des Beweismaßes Wünschenswert erscheint demgegenüber allerdings eine Absenkung des Beweismaßes auf das der überwiegenden Wahrscheinlichkeit durch den Gerichtshof. In diesem Fall wäre eine Zuweisung der objektiven Beweislast an den beschwerdeSchlussfolgerung zu entkräften, z. B. indem er Umstände anführt, die den konkreten Fall von anderen lebensbedrohlichen oder tödlichen Fällen unterscheiden. 450 Wie es supra im Kapitel 3, B.II.3.c)aa) in Bezug auf den Nachweis der Tatsachen, auf die sich die Verantwortlichkeit des Staates für den festgestellten Todeserfolg stützt, der Fall war. 451 Für eine Beweislastverlagerung, die an diesen Umstand anknüpft, siehe infra Kapitel 3, B.IV. 452 Zu diesem Kriterium für die Beweislastverteilung siehe, wenn auch kritisch, Dürig, S. 99 – 102; Prütting, S. 190 – 213; Benzing, S. 598.
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Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
gegnerischen Staat nicht erforderlich.453 Eine Anwendung des Beweismaßes der überwiegenden Wahrscheinlichkeit trüge den berechtigten Interessen des Beschwerdeführers ausreichend Rechnung, wenn auch nicht in so großem Maße wie im Fall einer Verlagerung der Beweislast unter Heranziehung eines hohen Beweismaßes. So fließt auch in die Begründung der Angemessenheit des Beweismaßes der überwiegenden Wahrscheinlichkeit ein, dass der Staat Kontrolle und Verantwortlichkeit ausübt.454 Die Position des Beschwerdeführers im Rahmen der Tatsachenfeststellung wird der der anderen Partei fast455 angenähert und damit dem fair trialGrundsatz Beachtung geschenkt. Das Beweismaß der überwiegenden Wahrscheinlichkeit ist auch flexibel genug, um eine geänderte Anfangswahrscheinlichkeit zu berücksichtigen, ohne dass dafür eine Verlagerung der Beweislast erforderlich wäre. Im Zuge dessen sollte auch nicht die wichtige Rolle vergessen werden, die die Praxis des Verschwindenlassens als Randbedingung der Schlussfolgerung spielt und die regelmäßig zu einer Entscheidung zu Gunsten des Beschwerdeführers führen wird. Während die Interessen des Beschwerdeführers damit noch ausreichend berücksichtigt werden, ermöglicht dieser Vorschlag eine weitergehende Berücksichtigung der Interessen des Staates. Diesem wird kein Negativbeweis wider jeden Zweifel aufgebürdet; auch erfolgt keine Sanktionierung eines Umstandes, auf dessen Vorliegen der Staat im konkreten Verfahren gar keinen Einfluss hat. cc) Fazit Im Ergebnis sollte der EGMR in Zukunft die objektive Beweislast für den Nachweis des Todes des Opfers solange dem beschwerdegegnerischen Staat zuweisen,456 wie er an dem hohen Beweismaß „proof beyond reasonable doubt“ festzuhalten gedenkt. Diese Beweislastzuweisung sollte er an die Feststellung knüpfen, dass das Opfer entführt und inhaftiert wurde und dass es in ähnlichen Fällen im Zuge dessen zum Tod des Opfers kam. Ist dies der Fall und kann sich diese Rechtsprechung auf eine gefestigte und weitgehend einheitliche Praxis der Konventionsorgane stützen, die eine „rechtliche“ Grundlage bildet,457 so kann davon gesprochen werden, dass der EGMR nunmehr eine Vermutung – verstanden als Beweislastnorm – heranzieht und nicht lediglich von einer durch eine Randbedin453 Für die Begründung, warum diese Konstellation gegenüber der Konstellation, in der das Beweismaß der überwiegenden Wahrscheinlichkeit herangezogen wird, aber die objektive Beweislast dem beschwerdegegnerischen Staat zugewiesen wird, vorzugswürdig ist, kann auf supra Kapitel 3, B.II.3.c)cc) verwiesen werden. 454 Siehe supra Kapitel 3, B.I.3.c)aa) und bb). 455 Eine überwiegende Wahrscheinlichkeit ist bei größer 50 % anzunehmen, so dass der Vorteil des Staates gering ausfällt. 456 Oder dies zumindest ausdrücklich machen, wenn er eine solche Zuweisung der objektiven Beweislast in der Sache bereits vornehmen sollte. 457 Zu den Anforderungen, die an eine rechtliche Grundlage zu stellen sind, siehe supra Kapitel 3, A.III.2.
B. Einzelne relevante Aspekte
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gung verstärkten Schlussfolgerung, dann kombiniert mit einer Beweislastverlagerung, Gebrauch macht. Vorzugswürdig erscheint demgegenüber allerdings, dass der EGMR in Zukunft die Beweislastverteilung beibehält, aber das Beweismaß der überwiegenden Wahrscheinlichkeit heranzieht.
IV. Beweisrechtliche Folgen einer mangelhaften Kooperation des beschwerdegegnerischen Staates In circa einem Drittel der ausgewerteten Fälle, in denen sich die Konventionsorgane mit Fällen des Verschwindenlassens beschäftigten, stellte der EGMR explizit fest, dass der beschwerdegegnerische Staat seinen Verpflichtungen nach Art. 38 EMRK (beziehungsweise Art. 38 Abs. 1 a)/Art. 28 Abs. 1 a) EMRK a.F.) nicht nachgekommen sei.458 Es ist aber davon auszugehen, dass die mangelhafte Mitwirkung des beschwerdegegnerischen Staates auch in der weit überwiegenden Anzahl der übrigen Beschwerden die Tatsachenfeststellung durch den EGMR behinderte. Denn auch wenn der EGMR in diesen anderen Fällen keine explizite Verletzung von Art. 38 EMRK feststellte, rügte er regelmäßig bestimmte Mitwirkungsdefizite.459 Hingegen verneinte er nur selten eine Verletzung von Art. 38 EMRK, wenn er diese prüfte.460 Diese Zahlen belegen, dass die Kooperation des beschwerdegegnerischen Staates mit dem Gerichtshof gerade in den untersuchten Fällen des Verschwindenlassens – wie auch in anderen Fällen schwerer Menschenrechtsverletzungen – oft mangelhaft ist. Vielmehr betreibt der beschwerdegegnerische Staat eine Politik der Beweis458
Siehe auch Meyer-Ladewig, NVwZ 24 (2009), S. 1531 (1533); Lapitskaya, NYU JILP 43 (2010/2011), S. 479 (529 ff.) in Bezug auf Russland. 459 So z. B. in Magamadova und Iskhanova v. Russland, 33185/04, Urteil vom 6. November 2008, Abs. 74: „The Court notes that despite its requests for a copy of the investigation file into the abduction of Viskhadzhi Magamadov and Khaskhan Mezhiyev, the Government produced only a part of the documents from the case file. The Government referred to Article 161 of the Code of Criminal Procedure. The Court observes that in previous cases it has already found this explanation insufficient to justify the withholding of key information requested by the Court […].“ Eine mangelnde explizite Feststellung, dass Art. 38 EMRK verletzt ist, lässt damit im Rückschluss nicht den Schluss zu, dass diese Bestimmung nicht verletzt ist. Siehe auch Leach, EHRLR Issue 6 (2008), S. 731 (744 f.) zur mangelnden Mitwirkung Russlands. Die Vornahme einer separaten Prüfung von Art. 38 EMRK scheint davon abzuhängen, ob eine solche Verletzung vom Beschwerdeführer explizit gerügt wurde, so Leach, Taking a Case, S. 177. 460 So nur in den Fällen Bazorkina v. Russland, 69481/01, Urteil vom 27. Juli 2006; Alikhadzhiyeva v. Russland, 68007/01, Urteil vom 5. Juli 2007; Betayev und Betayeva v. Russland, 37315/03, Urteil vom 29. Mai 2008 (hier nimmt er eine Verletzung von Art. 34 EMRK an); Isigova et al. v. Russland, 6844/02, Urteil vom 26. Juni 2008; Dzhambekova et al. v. Russland, 27238/03, 35078/04, Urteil vom 12. März 2009; Khasuyeva v. Russland, 28159/03, Urteil vom 11. Juni 2009.
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Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
vereitelung. Gleichzeitig ist der EGMR im Rahmen der Tatsachenfeststellung, die in diesen Verfahren bereits einen höheren Stellenwert einnimmt,461 typischerweise in besonderem Maße auf die Kooperation des beschwerdegegnerischen Staates angewiesen. Grund dafür ist die Beweisnot des Beschwerdeführers, die daraus resultiert, dass die Abläufe, in Bezug auf deren Aufklärung die Kooperation des beschwerdegegnerischen Staates gefragt ist, typischerweise allein dem Staat bekannt sind.462 Der Staat hat, so stellt Loucaides zutreffend fest, jedes Interesse daran, die Existenz von Beweismittel außerhalb seiner Einflusssphäre zu verhindern: „[…] the government which resorts to methods of torture against an individual detained by its organs has every reason and every facility to see that such methods are used secretly, away from the eyes of independent witnesses.“463
In dieser Situation, die durch die Beweisnot einerseits und die mangelhafte Kooperation des beschwerdegegnerischen Staates andererseits gekennzeichnet ist, gewinnt die Frage, wie der EGMR auf die typischerweise vorliegende mangelhafte Mitwirkung des beschwerdegegnerischen Staates reagieren kann, eine besondere Bedeutung. Dem Gerichtshof stehen dabei mehrere Möglichkeiten offen: Grundsätzlich können die Reaktionsmöglichkeiten danach unterschieden werden, ob sie zum Ziel haben, nur die Erfüllung der Primärpflicht, das heißt die Kooperation im laufenden Verfahren, wiederherzustellen oder aber ob sie auch oder ausschließlich andere Ziele verfolgen. Der Gerichtshof hat jedenfalls nicht die Kompetenz, ersteres Ziel – die Erfüllung der Mitwirkungspflichten – zu verfolgen, indem er die Kooperation mit Zwang durchsetzt. Eine solche Kompetenz, beispielsweise Zeugen vorzuführen, Dokumente zu beschlagnahmen oder Besichtigungen durchzusetzen, verleiht die EMRK ihm gerade nicht.464 Auch wäre die Möglichkeit, Zwangsmaßnahmen zu ergreifen, wie beispielsweise Zwangsgelder zu verhängen, wohl auch nicht dazu geeignet, den Fortgang des Verfahrens sicherzustellen.465 Die Mitwirkung des beschwerdegegnerischen Staates im laufenden Verfahren kann daher nur auf andere Art und Weise wiederhergestellt werden, zum Beispiel indem politischer Druck von Seiten anderer Konventionsstaaten ausgeübt
461 Dazu siehe bereits supra Kapitel 3. Ein Grund dafür ist, dass eine Klärung der Tatsachen auf nationaler Ebene nicht erfolgte. Vielmehr ist gerade auch die Passivität der Behörden in Bezug auf die Untersuchung des Verschwindenlassens Gegenstand der Beschwerden. Auch streitet der beschwerdegegnerische Staat die vom Beschwerdeführer vorgetragenen Tatsachen ab. 462 Siehe dazu bereits supra Kapitel 3. 463 Siehe Loucaides, Essays, S. 163. 464 Zwaak, in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak, S. 217; Schorm-Bernschütz, S. 174 f.; Harris/O’Boyle/Bates/Buckley, S. 848. Dies wäre für ein internationales Gericht auch untypisch, siehe Benzing, S. 327. 465 Schorm-Bernschütz, S. 191. Sie weist auf die Gefahr von Verzögerungen hin sowie auf die Möglichkeit, sich von Mitwirkungspflichten freizukaufen, um eine Verurteilung zu verhindern.
B. Einzelne relevante Aspekte
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wird.466 In der Praxis halten sich die anderen Staaten jedoch mit ihrer Kritik zumeist zurück oder diese erfolgt zu verspätet, um ausreichend Druck auf den betroffenen Staat aufzubauen. Die Konventionsstaaten ergreifen auch erst recht keine Gegenmaßnahmen im klassischen völkerrechtlichen Sinne in Reaktion auf die Verletzung der Mitwirkungspflichten. Es ist daher allenfalls von theoretischem Interesse, ob überhaupt Gegenmaßnahmen in einem solchen Fall als zulässige Reaktion in Frage kämen.467 Eine weitere Möglichkeit wäre, den unkooperativen Staat in einer Resolution des Ministerkomitees zur Erfüllung seiner Mitwirkungspflichten aufzufordern.468 Allerdings ist das Ministerkomitee an sich nicht in diesen Verfahrensabschnitt eingebunden; es überwacht nach Art. 46 Abs. 2 EMRK den Vollzug der Urteile und nicht den Fortlauf des Verfahrens. Auch das vom Ministerkomitee mit der „Declaration on Compliance with Commitments Accepted by Member States of the Council of Europe“ vom 10. November 1994469 geschaffene Kontrollverfahren ist nicht dafür entwickelt worden, die Mitwirkung in einem konkreten Verfahren sicherzustellen.470 Von praktisch größerer Relevanz ist daher, wie – neben einer Verbesserung der Kooperation des Staates insgesamt, das heißt nicht bezogen auf das konkrete Verfahren471 – das laufende Verfahren, letztlich unter Verzicht auf die Mitwirkung des beschwerdegegnerischen Staates, zu einem Abschluss gebracht werden kann.472 Um eine Entscheidung in der Sache zu treffen, ist der mit der Beweisnot des Beschwerdeführers konfrontierte Gerichtshof, dessen eigene Ermittlungstätigkeit 466 Zwaak, in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak, S. 219 nennt auch die, von ihm selbst als unwahrscheinlich bezeichnete Möglichkeit, in einem Staatenbeschwerdeverfahren eine Verletzung von Art. 38 EMRK zu rügen. 467 Dagegen spricht, dass die EMRK insoweit als ein self-contained regime zu begreifen sein könnte (siehe Schorm-Bernschütz, S. 179 – 182; vgl. auch Jörg Nowak, S. 211) sowie dass die Mitwirkungspflichten, die in erster Linie gegenüber dem EGMR bestehen, sich von den herkömmlichen zwischenstaatlichen, völkerrechtlichen Pflichten unterscheiden (SchormBernschütz, S. 184; auch weist sie zu Recht darauf hin, dass die Geeignetheit möglicher Gegenmaßnahmen zur Wiederherstellung der Rechtsbefolgung sehr fraglich ist.) Siehe auch Jörg Nowak, S. 209 ff. 468 Diesen Vorschlag macht auch Zwaak, in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak, S. 219. Dies ist beispielsweise geschehen in: Chrysostomos und Papachrysostomou v. Türkei, 15299/ 89, 15300/89, Bericht vom 8. Juli 1993, Abs. 14 f.: Die Kommission bat das Ministerkomitee in einem Zwischenbericht, die Türkei zur Erfüllung seiner Verpflichtungen anzuhalten. Dies tat das Ministerkomitee mit Resolution 41 vom 19. Dezember 1991. Siehe dazu auch SchormBernschütz, S. 177. 469 Abrufbar unter: https://wcd.coe.int/ViewDoc.jsp?Ref=Decl-10.11.94&Language=lan English&Ver=original&BackColorInternet=9999CC&BackColorIntranet=FFBB55&Back ColorLogged=FFAC75. 470 So auch die Einschätzung von Schorm-Bernschütz, S. 179. 471 Diesem Zweck dient z. B. die folgende Feststellung: „the State has failed to comply with their obligations under Article 38 of the Convention“, welche sich u. a. findet in: Tahsin Acar v. Türkei, 26307/95, Urteil vom 8. April 2004, Abs. 256. 472 Zur Bedeutung des letzteren Aspekts im Bereich der Folter siehe Jörg Nowak, S. 208 f.
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Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
ebenfalls an seine Grenzen stößt, darauf angewiesen, die mangelhafte Mitwirkung des beschwerdegegnerischen Staates im Rahmen der Tatsachenfeststellung mit den Mitteln des Beweisrechts zu würdigen.473 In Beantwortung der Frage, in welcher Weise diese Würdigung erfolgt und in Zukunft erfolgen sollte, werden zunächst die Kooperationspflichten des beschwerdegegnerischen Staates näher aufgezeigt (1.), gefolgt von der Darstellung der Praxis der Konventionsorgane in Bezug auf eine Verletzung dieser Mitwirkungspflichten (2.). Die verschiedenen Reaktionsmöglichkeiten, die die Konventionsorgane entwickelten, werden im Folgenden untersucht (3.) und anschließend kritisch bewertet (4.). 1. Die Kooperationspflichten im Einzelnen474 Die von dem Gerichtshof so oft explizit oder zumindest implizit herangezogenen Mitwirkungspflichten folgen in erster Linie aus der bereits erwähnten primärrechtlichen Vorschrift des Art. 38 EMRK. Diese Bestimmung bleibt allerdings generalklauselartig: Eine nähere, konkrete Ausgestaltung der Mitwirkungshandlungen sowie eine eindeutige Aussage zur Art und zum Grad der Verbindlichkeit fehlen.475 Adressaten der Verpflichtung sind nach Art. 38 EMRK die „betreffenden Staaten“; Art. 44 A S. 2 VerfO sowie Art. A2 Abs. 1 des Anhanges betreffend Beweiserhebungen sehen vor, dass auch die nicht unmittelbar an dem Verfahren beteiligten Vertragsstaaten gewissen Pflichten unterliegen. Diese spielen, ebenso wie die Pflichten des Beschwerdeführers, in den untersuchten Fällen allerdings keine Rolle: Der Beschwerdeführer ist meist476 im eigenen Interesse dazu bereit, seine Mitwirkungspflichten vollumfänglich zu erfüllen; auf die Mitwirkung von dritten Staaten kommt es in der Praxis in Fällen des Verschwindenlassens ebenfalls nicht an. Der konkrete Umfang und die Art der Mitwirkungspflichten aus Art. 38 EMRK ergeben sich in erster Linie aus der VerfO sowie aus der Praxis der Konventionsorgane.477 Art. 38 EMRK lässt durch den Gebrauch der Formulierung „alle zur wirksamen Durchführung der Ermittlungen erforderlichen Erleichterungen“ genügend Spielraum, alle denkbaren Handlungen zu erfassen und beschränkt diese nicht auf bestimmte Maßnahmen. Sekundärrechtlich konkretisiert die Verfahrensordnung diese Mitwirkungspflichten. Dabei ist auch Art. 44 A S. 1 VerfO als Generalklausel ausgestaltet: 473 Meyer-Ladewig, NVwZ 24 (2009), S. 1531 (1532) spricht lediglich davon, dass der Gerichtshof daraus unter Umständen „Konsequenzen bei der Beweiswürdigung“ ziehe. 474 Siehe dazu auch Tigroudja, in: Ruiz Fabri/Sorel (Hrsg.), S. 115 (123 f.). 475 So auch Schorm-Bernschütz, S. 158. 476 Dies kann u. U. anders sein, wenn auf ihn z. B. in der Zwischenzeit erheblicher Druck ausgeübt wurde, seine Beschwerde nicht weiter zu verfolgen. 477 Siehe dazu Schorm-Bernschütz, S. 152 ff.; sowie auch Meyer-Ladewig, Art. 38, Rn. 15 f.; Zwaak, in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak, S. 216 – 221. Zu Kooperationspflichten allgemein im Völkerprozessrecht siehe Benzing, S. 289 ff.
B. Einzelne relevante Aspekte
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„Die Parteien sind verpflichtet, bei der Durchführung des Verfahrens mit dem Gerichtshof in vollem Umfang zusammenzuarbeiten und insbesondere alle Maßnahmen, soweit sie in ihrer Macht stehen, zu treffen, die der Gerichtshof für eine geordnete Rechtspflege für erforderlich hält.“
Im Rückschluss lassen sich aus den Art. 44B und 44C VerfO einzelne Mitwirkungspflichten entnehmen: Nach ersterer Vorschrift haben die Parteien die Anordnungen des Gerichtshofes in Bezug auf die Durchführung des Verfahrens zu befolgen. Letztere Vorschrift setzt in Abs. 1 voraus, dass die Parteien dem Gerichtshof die erbetenen Beweise und Informationen beibringen, sachdienliche Informationen von sich aus weitergeben und es auch in keiner anderen Weise an einer Mitwirkung an dem Verfahren fehlen lassen. Weitere Mitwirkungspflichten werden im Anhang betreffend Beweiserhebungen aufgeführt. Zum Teil vergleichbare Regelungen befanden sich bis zum Jahr 2003 in Art. 42 Abs. 4 VerfO a.F.478 Vor 1998 enthielten die Verfahrensordnungen keine entsprechende Vorschrift.479 Nach dem gegenwärtigen Stand der VerfO werden die Pflichten der Parteien im Fall einer Beweiserhebung durch den Gerichtshof nunmehr im Anhang detaillierter aufgeführt als dies noch in Art. 42 VerfO a.F. der Fall war. Damit unterscheiden sich die Regelungen des Anhanges zum Teil auch von den eher generellen Vorschriften der Art. 44 A, B und C VerfO. Die Kammer kann nach Art. A1 Abs. 1 des Anhanges die Parteien auffordern, dokumentarische Beweismittel vorzulegen. Art. A2 Abs. 1 des Anhanges lautet – gleichsam als weitere Generalklausel: „The applicant and any Contracting Party concerned shall assist the Court as necessary in implementing any investigative measures.“
Art. A2 Abs. 2 des Anhanges hingegen enthält wesentlich konkretere Pflichten im Fall einer Ermittlung vor Ort. Weitere Pflichten der Parteien ergeben sich aus Art. A5 des Anhanges und betreffen die Vorladung von Zeugen, Sachverständigen und weiteren Personen. 478 Art. 42 VerfO a.F. lautete auszugsweise: „1. Die Kammer kann auf Antrag einer Partei oder eines Drittbeteiligten sowie von Amt wegen alle Beweise erheben, die sie für geeignet hält, den Sachverhalt aufzuklären. Sie kann insbesondere die Parteien ersuchen, schriftliche Beweismittel vorzulegen, und beschließen, jede Person, deren Aussagen oder Erklärungen ihr für die Erfüllung ihrer Aufgaben nützlich erscheinen, als Zeugen, Sachverständigen oder in anderer Eigenschaft zu hören. 2. Die Kammer kann in jedem Stadium des Verfahrens eines oder mehrerer ihrer Mitglieder oder andere Richter des Gerichtshofes beauftragen, eine Untersuchung, einen Augenschein oder eine andere Maßnahme zur Beweiserhebung durchzuführen. […] 4. Die Parteien unterstützen die Kammer oder ihre beauftragten Mitglieder bei der Beweiserhebung.“ 479 Dies galt zum einen für die so genannte Verfahrensordnung „A“ vom 24. November 1982, die für all jene Staaten galt, die das 9. Zusatzprotokoll nicht ratifiziert hatten bzw. für Verfahren, die vor dessen Inkrafttreten anhängig gemacht worden waren. Zum anderen betraf es die so genannte Verfahrensordnung „B“ vom 27. Mai 1993, die für all jene Staaten galt, die das 9. Zusatzprotokoll ratifiziert hatten.
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Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
Die Mitwirkungspflichten der Parteien sind damit nach wie vor nur in Teilaspekten detailliert in der VerfO und insbesondere in deren Anhang geregelt. Allerdings ist deutlich die Entwicklung auszumachen, gerade auch spezielle Mitwirkungspflichten in der VerfO, insbesondere in deren Anhang, vermehrt aufzunehmen. Diese wurden zum Teil zuvor in der Rechtsprechung aus den Vorschriften, die die Mitwirkungspflicht generalklauselartig enthalten, abgeleitet. Es ist aber davon auszugehen, dass weitere konkrete Pflichten durch Auslegung der existierenden Generalklauseln, Art. 38 EMRK und Art. 44 A VerfO, gewonnen werden müssen – gerade auch um Einzelfällen gerecht zu werden. Eine solche Konkretisierung der Mitwirkungspflichten kann der Rechtsprechung der Konventionsorgane entnommen werden. Allerdings findet sich in der Praxis der Konventionsorgane selten eine positive Definition des Pflichtenspektrums.480 In der Regel werden hingegen bestimmte Handlungen oder Unterlassungen als Verletzung der Mitwirkungspflichten benannt und damit deren Umfang gleichsam negativ definiert. Aus der Rechtsprechung folgt dabei, dass die Formulierung „Ermittlung“ („investigation“) in Art. 38 EMRK so zu verstehen ist, dass sie nicht nur Ermittlungen und fact-finding hearings vor Ort erfasst, sondern auch die bloße Untersuchung von Beweismitteln durch den Gerichtshof in Straßburg.481 Der Gerichtshof erkannte als von der Formulierung, der Staat habe alle erforderlichen Mitwirkungshandlungen zu gewähren, unter anderem als erfasst an, dass schriftliche Beweismittel beigebracht werden482 sowie dass Zeugen identifiziert483 und lokalisiert werden und ihr Erscheinen vor dem Gerichtshof sichergestellt wird. Auch seien die Staaten verpflichtet, auf Dokumente, die dem Gericht vorliegen, zu reagieren sowie auf Fragen des Gerichts zu antworten.484 Die Pflichten des beschwerdegegnerischen Staates decken damit ein breites Spektrum ab: Er hat zum einen Handlungspflichten, zum Beispiel muss er Anordnungen des Gerichts befolgen und Beweise beibringen. Zum anderen hat er Unterlassungspflichten, zum Beispiel darf er Ermittlungen des Gerichts nicht behindern oder Beweismittel vernichten. Aus der Tatsache, dass diese Pflichten in der Praxis negativ definiert wurden, indem sich der Gerichtshof oder die ehemalige Kom480 Eine Ausnahme erfolgte im Verfahren Tekin. Der EGMR bezog sich auf die positive Pflicht der Vertragspartei unter Art. 28 EMRK a.F., die Mitwirkung eines Staatsanwalts, der von der Kommission als Zeuge vorgeladen wurde, sicherzustellen; Tekin v. Türkei, 22496/93, Bericht vom 17. April 1997, Abs. 171. 481 Christos Pourgourides, Report, Parliamentary Assembly, Doc. 11183, 9. Februar 2007, Abs. 55. 482 In vielen Fällen wurden angeforderte Dokumente nicht beigebracht, so z. B. in: Aytekin v. Türkei, 22880/93, Bericht vom 18. September 1997, Abs. 77; Mentes et al. v. Türkei, 23186/94, Bericht vom 7. März 1996, Abs. 145; Selkuc und Asker v. Türkei, 23184/94, 23185/94, Bericht vom 28. November 1996, Abs. 145. 483 Die Namen bestimmter staatlicher Bediensteter teilte die Türkei dem Gericht nicht mit; siehe z. B. Ergi v. Türkei, 23818/94, Bericht vom 10. Mai 1997, Abs. 118. 484 Christos Pourgourides, Report, Parliamentary Assembly, Doc. 11183, 9. Februar 2007, Abs. 11, 56. Siehe auch Leach/Paraskova/Uzelac, S. 13 f.
B. Einzelne relevante Aspekte
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mission mit ihrer Verletzung befassten, lässt sich bereits ersehen, dass die Frage nach der Reaktion auf die Verletzung dieser Pflichten von größter praktischer Bedeutung ist. Entscheidend für die weiteren Ausführungen ist, welche Reaktion an die Verletzung dieser Mitwirkungspflichten geknüpft wird oder werden sollte. Daneben kann die Frage offen bleiben, ob diese Mitwirkungspflichten als echte Rechtspflichten oder bloße Obliegenheiten, Mitwirkungslasten oder gar unverbindliche Verhaltenserwartungen485 eingeordnet werden können. Die Verwendung der Begriffe Pflicht und Verpflichtung wird beibehalten, ohne dass damit einer rechtlichen Einordnung Ausdruck verliehen werden soll. An dieser Stelle soll nur darauf hingewiesen werden, dass die im Weiteren untersuchten Mitwirkungspflichten im Verhältnis der Parteien zu dem Gerichtshof bestehen. Dies unterscheidet diese Mitwirkungspflichten von anderen Verfahrenspflichten, die der EMRK-Vertragsstaat gegenüber Personen trägt, die seiner Hoheitsgewalt unterstehen. Diese folgen aus den materiellen Normen der EMRK, wie beispielsweise gewisse Ermittlungspflichten aus Art. 2, 3 und 5 EMRK.486 Aus den Urteilen des EGMR wird diese Unterscheidung der unterschiedlichen Pflichten auch regelmäßig deutlich: Während im Tenor eine Verletzung der materiellen Normen mit den Worten „Holds that there has been a violation of Article […]“ festgestellt wird, verwendet der Gerichtshof in Bezug auf eine Verletzung der Mitwirkungspflichten die Formulierung: „Holds that there has been a failure to comply with Article 38 § 1 (a) of the Convention“.487 2. Die relevante Praxis der Konventionsorgane sowie die relevanten Regelungen in der VerfO In der Praxis der Konventionsorgane spielten diese Kooperationspflichten und insbesondere die Reaktion auf deren Verletzung zunächst in Staatenbeschwerden und zunehmend auch in Individualbeschwerden eine Rolle.488 Diese Beschwerden betrafen meist Fälle schwerer Menschenrechtsverletzungen, unter anderem auch Fälle des Verschwindenlassens von Personen. Die Konventionsorgane waren dabei weitgehend frei in ihrer Entscheidung, wie sie eine Verletzung der Mitwirkungspflichten 485
Zu letzteren Begriffen siehe Schorm-Bernschütz, S. 174. Siehe dazu bereits supra Kapitel 2, B.II. 487 Siehe z. B. Nenkayev et al. v. Russland, 13737/03, Urteil vom 28. Mai 2009, im Urteilstenor. 488 Allerdings weist Schorm-Bernschütz, S. 186 f., 194 darauf hin, dass die Konventionsorgane in einem Großteil der Fälle der Kooperationsverweigerung keine Beachtung geschenkt haben. Es gebe kaum Regelmäßigkeiten. Wolfrum, in: FS Wildhaber, S. 915 (918) weist darauf hin, dass der EGMR bisher (Stand 2007) nur zurückhaltend als Mittel zur indirekten Sanktionierung negative Konsequenzen aus der mangelnden Mitwirkung eines Staates im Rahmen der Beweiswürdigung gezogen hat. Nach Ansicht von Erdal, E. L. Rev. Human Rights Survey 26 (2001), S. 68 (80) macht der EGMR zunehmend (Stand 2001) von seiner Kompetenz Gebrauch, nachteilige Schlussfolgerungen zu ziehen. 486
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Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
mit den Mitteln des Beweisrechts im Rahmen der Tatsachenfeststellung würdigten: Weder Art. 28 Abs. 1 a) EMRK a.F. noch Art. 38 EMRK treffen diesbezügliche Regelungen. Die Verfahrensordnungen der ehemaligen Kommission und des EGMR enthielten anfangs ebenfalls keine diesbezüglichen Bestimmungen. In den Änderungen, die die Verfahrensordnung des EGMR über die Jahre erfahren hat, spiegelt sich aber jedenfalls in Teilen wider, wie die beiden Konventionsorgane in der Praxis bereits auf eine mangelhafte Mitwirkung reagierten. So wird die folgende Darstellung aufzeigen, dass in der Praxis diskutierte oder herangezogene Reaktionsmöglichkeiten Eingang in die VerfO des EGMR in ihrer heutigen Fassung gefunden haben. a) Die Praxis der ehemaligen Kommission Die Kommission war zunächst in der Staatenbeschwerde gegen Griechenland damit konfrontiert, dass der beschwerdegegnerische Staat seinen Mitwirkungspflichten nur unzureichend nachkam: Griechenland hatte einer Delegation der Kommission die Vernehmung bestimmter Zeugen sowie die Besichtigung des Averoff-Gefängnisses in Athen und eines Lagers auf Léros verweigert.489 In ihrer abschließenden Bewertung der Beweismittel kam die Kommission auf die fehlende Mitwirkung der griechischen Regierung zurück und berücksichtigte („taken into consideration“) diese bei der Frage, ob eine offizielle Tolerierung von Folter und Misshandlungen vorlag.490 Auch in den ersten drei Verfahren, die Zypern gegen die Türkei anstrengte, sah sich die Kommission damit konfrontiert, dass die Türkei ihren Mitwirkungspflichten nicht nachkam.491 Den ersten beiden, zusammengelegten Verfahren blieb die Türkei im Hauptsacheverfahren fern, da sie Zypern als antragsstellenden Staat aus politischen Gründen nicht anerkannte. Die Kommission führte ihre Ermittlungen dennoch soweit möglich durch und fertigte einen Bericht an.492 Sie rügte in diesem, dass der Delegation die Einreise in die Türkei verweigert sowie jede Zusammenarbeit mit 489 Siehe Schweden, Norwegen, Dänemark und die Niederlande v. Griechenland, 3321/67, 3322/67, 3323/67, 3344/67, Bericht der Unterkommission vom 5. November 1969, abgedruckt in: European Commission of Human Rights, The Greek Case, Vol. II, Part 1, S. 15 f., Abs. 34. Siehe auch Kamminga, NQHR 12 (1994), S. 153 (155). 490 Schweden, Norwegen, Dänemark und die Niederlande v. Griechenland, 3321/67, 3322/ 67, 3323/67, 3344/67, Bericht der Unterkommission vom 5. November 1969, abgedruckt in: European Commission of Human Rights, The Greek Case, Vol. II, Part 1, S. 413 f., 418 f., insbesondere Abs. 15. 491 Dies folgt aus dem Bericht zur vierten Staatenbeschwerde, Zypern v. Türkei 25781/94, Bericht vom 4. Juni 1999, Abs. 134. In dieser stellte die Kommission in ihrem Bericht ausdrücklich fest, dass sie nicht mit Schwierigkeiten zu kämpfen hatte, die daraus resultieren, dass eine der Partei nicht kooperierte. In Abs. 134 heißt es weiter: „It does not consider it appropriate to draw any inferences from the respondent Government’s non-cooperation at the early stages of the proceedings on the merits.“ 492 Zypern v. Türkei, 6780/74, 6950/75, Bericht vom 10. Juli 1976, abgedruckt in: AsmeHumanitas e.V., Bericht der Kommission des Europarats über Menschenrechte auf Zypern 1974, Iphofen, nach 1977, S. 21 – 24.
B. Einzelne relevante Aspekte
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türkischen oder türkisch-zypriotischen Behörden für eine Untersuchung im Norden Zyperns untersagt worden war. Dennoch kam sie zu dem Schluss, bei der Auswertung der ihr vorliegenden Beweismittel davon abzusehen, „aus der Tatsache Schlüsse zu ziehen, dass die angeklagte Regierung es trotz vielfältiger Gelegenheit unterließ, auszusagen oder Gegenbeweise über die Behauptungen der antragstellenden Regierung zu liefern“.493 Auch in dem darauf folgendem dritten Staatenbeschwerdeverfahren nahm die Türkei am Hauptsacheverfahren nicht teil; die Kommission stellte in ihrem Interim-Bericht fest, dass die Türkei ihren Verpflichtungen aus Art. 28 EMRK a.F. nicht nachgekommen sei und bestätigte dies erneut in dem endgültigen Bericht.494 Die Kommission ging allerdings nicht darauf ein, welche Konsequenzen dieses Mitwirkungsdefizit nach sich zieht. In Individualbeschwerden, die die Kommission in den neunziger Jahren beschäftigten und die Fälle schwerer Menschenrechtsverletzungen in der südöstlichen Türkei betrafen, unter anderem Fälle des Verschwindenlassens, zog die Kommission in Reaktion auf die mangelhafte Mitwirkung der Türkei eine Formulierung heran, die der Gerichtshof in ähnlicher Form 1978 in der Staatenbeschwerde Irland v. Vereinigtes Königreich entwickelt hatte.495 In dieser Entscheidung bedauerte der Gerichtshof, wie schon die Kommission im gleichen Verfahren,496 lediglich, dass die britische Regierung der Kommission nicht immer die gewünschte Unterstützung habe zukommen lassen, und betonte erneut die besondere Bedeutung der Pflicht zur Mitwirkung, ohne aber eine Verletzung dieser Pflicht tatsächlich festzustellen.497 In einer daraufhin oft zitierten Formulierung stellte der Gerichtshof fest:
493
Zypern v. Türkei, 6780/74, 6950/75, Bericht vom 10. Juli 1976, abgedruckt in: AsmeHumanitas e.V., Bericht der Kommission des Europarats über Menschenrechte auf Zypern 1974, Iphofen, nach 1977, S. 31. 494 Zypern v. Türkei, 8007/77, Bericht vom 4. Oktober 1983, Decision and Reports, vol. 72 (1992), S. 5 (15 f., 20). 495 So in Kurt v. Türkei, 24276/94, Bericht vom 5. Dezember 1996, Abs. 159: „the conduct of the Parties when evidence is being obtained may be taken into account“. (Hervorhebung nicht im Original). Diese Formulierung ist damit vorsichtiger als die des EGMR („has to be taken into account“). Aus dem Bericht geht nicht hervor, in welcher Hinsicht das Verhalten der Türkei berücksichtigt wurde. Siehe auch Selkuc und Asker v. Türkei, 23184/94, 23185/94, Bericht vom 28. November 1996, Abs. 145; Ergi v. Türkei, 23818/94, Bericht vom 20. Mai 1997, Abs. 118. 496 Diese hatte sich zwei Jahre zuvor in ihrem Bericht mit der Behauptung Irlands auseinander gesetzt, dass das Vereinigte Königreich seinen Pflichten aus Art. 28 Abs. 1 a) EMRK a.F. nicht nachgekommen sei; sie hatte allerdings keine Verletzung festgestellt und aus dem Verhalten des Vereinigten Königreichs keine konkreten Folgen ableitet. Siehe Irland v. Vereinigtes Königreich, 5310/71, Bericht vom 1976, S. 158 f., siehe auch auf S. 241 f. in Bezug auf die Beweisfeststellung im Rahmen der Verletzung von Art. 3 EMRK. Siehe auch das Sondervotum von Kommissionsmitglied K. Mangan, S. 494. 497 Irland v. Vereinigtes Königreich, 5310/71, Urteil vom 18. Januar 1978, Abs. 148.
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Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
„[T]he conduct of the Parties when evidence is being obtained has to be taken into account.“498
Aus den nachfolgenden Ausführungen im Urteil geht aber nicht hervor, ob und in welcher Weise das Verhalten der Parteien in Betracht gezogen wurde.499 Neben der Formulierung, das Verhalten sei in Betracht zu ziehen, verwendete die Kommission in ihrem Bericht aus dem Jahre 1997 in der Beschwerde Ergi auch die Formulierung, es könnten Schlussfolgerungen von großem Gewicht („strong inferences“) gezogen werden: „Having regard to the failure of the Government to provide the documents and information referred to above, the Commission finds that strong inferences may be drawn supporting the applicant’s allegations that the security forces opened fire around the village for some time and that units of the security forces were present towards the south.“500
Bis zum Bericht der Kommission im Fall C¸akıcı geht aus der Praxis allerdings nicht hervor, wie die Kommission die mangelhafte Mitwirkung tatsächlich in Betracht oder eine Schlussfolgerung aus ihr zog.501 Erst in der Beschwerde C¸akıcı, dem zweiten Fall eines Verschwindenlassens, in dem die Kommission ihren Bericht abgab und nunmehr auch eine Verletzung von Art. 2 EMRK feststellte, zog die Kommission explizit die folgende Schlussfolgerung: „It draws the strongest inferences from the failure to produce any document indicating the basis on which a body at the scene of the clash […] was identified as that of Ahmet C¸akici.“502 498 Irland v. Vereinigtes Königreich, 5310/71, Urteil vom 18. Januar 1978, Abs. 161 (Hervorhebung nicht im Original). Irland hatte zuvor vorgetragen, Abs. 161: „They maintain that the system of enforcement would prove ineffectual if, where there was a prima facie case of violation of Article 3, the risk of a finding of such a violation was not borne by a State which fails in its obligation to assist the Commission in establishing the truth (Article 28, subparagraph (a) in fine, of the Convention).“ 499 Siehe konkreter aber Richter Zekia in seinem Sondervotum, Irland v. Vereinigtes Königreich, 5310/71, Urteil vom 18. Januar 1978, in fine: „Withholding of evidence and a noncooperative attitude by a respondent State no doubt might cause the Commission to draw adverse inferences.“ 500 Ergi v. Türkei, 23818/94, Bericht vom 20. Mai 1997, Abs. 133 (Hervorhebungen nicht im Original), in Bezug auf die Verantwortlichkeit des Militärs für den Beschuss des Dorfes. Zuvor hatte die Kommission ausgeführt, dass sie aufgrund der mangelhaften Mitwirkung der Türkei, die Dokumente nicht vorgelegt und die Identität der handelnden Staatsbediensteten nicht preisgegeben hatte, das Geschehen ohne Kenntnis von möglicherweise wichtigen Beweismitteln festzustellen habe (Abs. 118). Im Ergebnis sah es die Kommission jedoch nicht als erwiesen an, dass der tödliche Schuss von türkischen Sicherheitskräften abgefeuert worden war (Abs. 133). 501 Dies schließt nicht aus, dass sie im Rahmen der Beweiswürdigung dennoch eine Rolle spielte, dies aus den Berichten aber nicht hervorgeht. 502 C¸akıcı v. Türkei, 23657/94, Bericht vom 12. März 1998, Abs. 239. Eine Leiche mit dem Ausweis des Opfers war gefunden worden, aber nach Ansicht der Kommission damit nicht als dessen Leiche identifiziert. Die Verletzung von Art. 2 EMRK stützte die Kommission dennoch unter anderem darauf, dass das Opfer offiziell als tot galt (Abs. 253). Die Kommis-
B. Einzelne relevante Aspekte
239
b) Die Praxis des EGMR Nachdem der EGMR bereits 1978 in der Staatenbeschwerde Irlands gegen das Vereinigte Königreich die Formulierung entwickelt hatte, das Verhalten der Parteien bei der Beweisfeststellung sei in Betracht zu ziehen,503 äußerte er sich erst im Jahre 2000 in der Beschwerde Timurtas¸ erneut dazu, wie die mangelhafte Kooperation beweisrechtlich zu würdigen sei.504 Die folgende Formulierung fand auch in späteren Urteilen, die das Verschwindenlassen von Personen zum Gegenstand hatte, Verwendung505 und sieht vor, aus der mangelhaften Mitwirkung Schlussfolgerungen zu ziehen: „It is inherent in proceedings relating to cases of this nature, where an individual applicant accuses State agents of violating his rights under the Convention, that in certain instances solely the respondent State has access to information capable of corroborating or refuting these allegations. A failure on a Government’s part to submit such information as is in their hands without a satisfactory explanation may not only reflect negatively on the level of compliance by a respondent State with its obligations under Article 38 § 1 (a) of the Convention (former Article 28 § 1 (a)), but may also give rise to the drawing of inferences as to the well-foundedness of the allegations. In this respect, the Court reiterates that the conduct of the parties may be taken into account when evidence is being obtained […].“506 sion stellte fest, dass die Türkei ihren Verpflichtungen aus Art. 28 Abs. 1 a) EMRK a.F. nicht nachgekommen sei (Abs. 245). Zu einer ähnlichen Schlussfolgerung siehe Tas¸ v. Türkei, 24396/94, Bericht vom 9. September 1999, Abs. 201: „It draws strong inferences in particular from the failure of the authorities to identify the authors of that report and the lack of written records as to where Muhsin Tas¸ was detained after 14 October 1993.“ 503 Siehe supra Kapitel 3, B.IV.2.a). 504 Ein Grund für dafür war, dass andere Staatenbeschwerden den Gerichtshof nicht erreichten oder der beschwerdegegnerische Staat kooperierte. In den Individualbeschwerden übernahm der Gerichtshof meist die Feststellungen der Kommission, so in: Ergi v. Türkei, 23818/94, Urteil vom 28. Juli 1998, Abs. 78 (Der Beschwerdeführer hatte den EGMR aufgefordert, weiterreichende Schlussfolgerung aus der mangelnden Mitwirkung der Türkei zu ziehen); Kurt v. Türkei, 24276/94, Urteil vom 25. Mai 1998, Abs. 98 f.; C¸akıcı v. Türkei, 23657/94, Urteil vom 8. Juli 1999, Abs. 75 f. 505 So z. B. in: Orhan v. Türkei, 25656/94, Urteil vom 18. Juni 2002, Abs. 266. Im Laufe der weiteren Tatsachenfeststellung wertete der EGMR die mangelnde Mitwirkung als Indiz dafür, dass der Vortrag der Beschwerdeführer klar, glaubwürdig und konsistent sei (Abs. 287 f.). Ebenso zog der EGMR negative Schlussfolgerungen aus der Weigerung der Türkei, den Namen des Verantwortlichen einer militärischen Einrichtung zu nennen (Abs. 315). Der EGMR stellte auch fest, dass die Türkei ihren Pflichten aus Art. 38 Abs. 1 a) EMRK nicht nachgekommen sei (Abs. 274). Siehe auch Tekdag˘ v. Türkei, 27699/95, Urteil vom 15. Januar 2004, Abs. 57, 61, ohne allerdings im Folgenden Schlussfolgerungen zu ziehen; ˙Ipek v. Türkei, 25760/94 17. Februar 2004, Abs. 112 – 127, ebenfalls ohne konkrete Schlussfolgerungen; Tahsin Acar v. Türkei, 26307/95, Urteil vom 8. April 2004, Abs. 254, ohne konkrete Schlussfolgerungen zu ziehen, siehe dazu auch die Kritik von Richter Bonello in seinem Sondervotum. 506 Timurtas¸ v. Türkei, 23531/94, Urteil vom 13. Juni 2000, Abs. 66 (Hervorhebungen nicht Original). Anschließend schloss sich der Gerichtshof der Auffassung der Kommission in der Beurteilung der Authentizität einer Fotokopie an, deren Original die Türkei nicht vorgelegt hatte, deren Echtheit sie jedoch bestritt, Abs. 67: „the Court finds it appropriate to draw an
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Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
aa) Regelungen in der Verfahrensordnung des EGMR Am 13. Dezember 2004 beschloss der Gerichtshof eine Änderung seiner VerfO, die im Jahre 2005 in Kraft trat. Diese nimmt die in der Rechtsprechung entwickelte Reaktion auf, Schlussfolgerungen aus der mangelhaften Mitwirkung zu ziehen. Die neu eingefügten und gegenwärtig noch geltenden Art. 44B und Art. 44C VerfO lauten: Art. 44B: Befolgt eine Partei eine Anordnung des Gerichtshofes in Bezug auf die Durchführung des Verfahrens nicht, so kann der Kammerpräsident alle Maßnahmen treffen, die er für angebracht hält. Art. 44C: 1. Bringt eine Partei vom Gerichtshof erbetene Beweise oder Informationen nicht bei oder gibt sie sachdienliche Informationen nicht von sich aus weiter oder lässt sie es in anderer Weise an einer Mitwirkung in dem Verfahren fehlen, so kann der Gerichtshof daraus die ihm angebracht erscheinenden Schlüsse ziehen. 2. Unterlässt oder verweigert eine beschwerdegegnerische Vertragspartei in dem Verfahren die Mitwirkung, so ist dies für sich genommen kein Grund für die Kammer, die Prüfung der Beschwerde einzustellen.
Insbesondere Art. 44C Abs. 1 VerfO erlaubt dem Gerichtshof nunmehr, solche Schlüsse/Schlussfolgerungen („inferences“) zu ziehen, die er für angemessen erachtet. Der Anhang betreffend Beweiserhebungen, der bereits im Jahre 2003 der VerfO beigefügt wurde, enthält hingegen keine Regelungen, die eine Reaktion des Gerichtshofes auf eine Verletzung der Mitwirkungspflichten betreffen. bb) Die Entscheidung Akkum et al. Als weiterer wichtiger Schritt im Rahmen der Entwicklung einer Reaktion auf die Verletzung von Mitwirkungspflichten ist das Urteil der Ersten Sektion aus dem Jahre 2005 im Fall Akkum et al. zu nennen.507 Dieser betraf keinen Fall des Verschwindenlassens; vielmehr rügten die Beschwerdeführer die Tötung von Verwandten im Zusammenhang mit einer Militäroffensive auf ein kurdisches Dorf. Die beiden Opfer waren zuletzt lebend in den Bergen gesehen worden, in denen sich auch türkische Sicherheitskräfte aufhielten. Die Beschwerdeführer trugen vor, die Opfer seien von diesen getötet worden; die Türkei hielt dem entgegen, zu den Todesfällen sei es im Zusammenhang mit einem Schusswechsel zwischen den Sicherheitskräften und PKK-Kämpfern gekommen und es sei unmöglich festzustellen, welche dieser beiden Parteien die tödlichen Schüsse abgegeben habe. Die Beschwerdeführer konnten keine Zeugen für die Abgabe der tödlichen Schüsse nennen. Dieses Unvermögen resultierte daraus, dass die Regierung die konkret involvierten Sicherheitskräfte als inference from the Government’s failure to produce the document without a satisfactory explanation.“ 507 Akkum et al. v. Türkei, 21894/93, Urteil vom 24. März 2005. Auf dieses Urteil stellen auch Erdal/Bakirci, S. 252 ab.
B. Einzelne relevante Aspekte
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potentielle Zeugen nicht benannt hatte.508 Die Leichen der Opfer wurden in der Nähe des Dorfes im Freien aufgefunden. Der EGMR stellte zunächst fest, dass es unangemessen sei den Schluss zu ziehen, dass die Beschwerdeführer ihre Vorwürfe unzureichend bewiesen hätten, da die Beweismittel nur der Türkei zugänglich gewesen seien. Vielmehr bestätigte der Gerichtshof erneut die Möglichkeit, Schlussfolgerungen aus der mangelhaften Mitwirkung der Türkei zu ziehen.509 Aus den darauf folgenden Absätzen des Urteils geht aber hervor, dass der EGMR in dieser Entscheidung eine andere Reaktionsmöglichkeit entwickelte. Ausgangspunkt seiner Überlegungen sind die „strong presumptions of fact“, die bereits aus den Urteilen Aksoy und Velikova im Zusammenhang mit der beweisrechtlichen Würdigung der Ausübung staatlicher Kontrolle über das Opfer bekannt sind.510 In Zusammenhang mit diesen „presumptions of fact“ beruft sich der EGMR auf vier vorangegangene Entscheidungen, in denen aber eine etwaige mangelhafte Kooperation des beschwerdegegnerischen Staates keine Rolle spielte.511 Der Aspekt der mangelhaften Kooperation tritt im Akkum-Urteil hingegen in den Vordergrund. Zunächst zieht der Gerichtshof eine Parallele zwischen der Situation inhaftierter Personen und derjenigen von Personen, die tot oder verletzt in einem Gebiet gefunden werden, das unter der ausschließlichen Kontrolle des Staates steht.512 Von Interesse ist vor allem die Begründung, die die Kammer für diese Parallele gibt und die darauf abstellt, dass gerade die mangelhafte Mitwirkung des Staates die Tatsachenfeststellung durch das Gericht verhindert: 508
Akkum et al. v. Türkei, 21894/93, Urteil vom 24. März 2005, Abs. 205 – 208. Akkum et al. v. Türkei, 21894/93, Urteil vom 24. März 2005, Abs. 209. 510 Siehe dazu supra Kapitel 3, B.II. Akkum et al. v. Türkei, 21894/93, Urteil vom 24. März 2005, Abs. 210: „In addition, the Court has previously held that where the events in issue lie wholly, or to a large extent, within the exclusive knowledge of the authorities – as in the case of persons in custody under those authorities’ control – strong presumptions of fact will arise in respect of injuries and deaths occurring during such detention. Thus, it has found that where an individual is taken into custody in good health but is found to be injured at the time of release, it is incumbent on the State to provide a plausible explanation of how those injuries were caused, failing which an issue will arise under Article 3 of the Convention […]. Indeed, in such situations the burden of proof may be regarded as resting on the authorities […].“ 511 Dies sind die Entscheidungen Tomasi v. Frankreich, 12850/87, Urteil vom 27. August 1992; Ribitsch v. Österreich, 18896/91, Urteil vom 4. Dezember 1995; Selmouni v. Frankreich, 25803/94, Urteil vom 28. Juli 1999; Salman v. Türkei, 21986/93, Urteil vom 27. Juni 2000. 512 Akkum et al. v. Türkei, 21894/93, Urteil vom 24. März 2005, Abs. 211: „The Court considers it legitimate to draw a parallel between the situation of detainees, for whose wellbeing the State is held responsible, and the situation of persons found injured or dead in an area within the exclusive control of the authorities of the State.“ Diese Parallele war notwendig, da die Opfer der Beschwerde Akkum et al. nicht in Haft zu Tode kamen, sondern ihre Leichen, nachdem sie sich zuvor lediglich „in den Händen der Sicherheitskräften“ befanden hatten, im Freien aufgefunden worden waren. 509
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Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
„Such a parallel is based on the salient fact that in both situations the events in issue lie wholly, or in large part, within the exclusive knowledge of the authorities. It is appropriate, therefore, that in cases such as the present one, where it is the non-disclosure by the Government of crucial documents in their exclusive possession which is preventing the Court from establishing the facts, it is for the Government either to argue conclusively why the documents in question cannot serve to corroborate the allegations made by the applicants, or to provide a satisfactory and convincing explanation of how the events in question occurred, failing which an issue under Article 2 and/or Article 3 of the Convention will arise.“513
Das weitere Vorgehen des EGMR scheint auf die Untersuchung ausgerichtet zu sein, ob der beschwerdgegnerische Staat die nunmehr auf ihm lastende Erklärungslast („burden of explaining“) erfüllen konnte.514 Bevor der EGMR diese Untersuchung durchführt, stellt er in Bezug auf den Vortrag der Beschwerdeführer fest: „The Court considers that it cannot be said either that the oral evidence warrants the conclusion that the applicants’ allegations are unfounded, or that it provided a satisfactory and convincing explanation on the part of the Government as to how the events in question occurred.“515
Daraufhin untersucht der EGMR, ob die Türkei der auf ihr ruhenden Last, die Tötungen und Verstümmelungen zu erklären, nachgekommen ist und kommt zu folgendem Ergebnis: „In the light of the above, it follows that the Government have failed to account for the killing of Mehmet Akkum and Mehmet Akan and also for the mutilation of the body of Mehmet Akkum.“516
Nach diesem Ergebnis der Tatsachenfeststellung, welche die Kammer der Prüfung einer Verletzung der einzelnen Konventionsbestimmungen voranstellt, stellt sie eine Verletzung von Art. 2 EMRK in seinem materiellen und prozessualen Gehalt fest.517
513 Akkum et al. v. Türkei, 21894/93, Urteil vom 24. März 2005, Abs. 211 (Hervorhebung nicht im Original). 514 Akkum et al. v. Türkei, 21894/93, Urteil vom 24. März 2005, Abs. 212, zuvor stellte der EGMR fest, dass die Türkei auch nicht dargelegt habe, dass die zurückgehaltenen Beweise die Vorwürfe der Beschwerdeführer nicht unterstützten: „The Government have failed to adduce any argument from which it could be deduced that the documents withheld by them contained no information bearing on the applicant’s claims. Therefore, the Court will examine whether the Government have discharged their burden of explaining the killings of the applicants’ two relatives and the mutilation of the body of Mehmet Akkum.“ (Hervorhebung nicht im Original). 515 Akkum et al. v. Türkei, 21894/93, Urteil vom 24. März 2005, Abs. 217. 516 Akkum et al. v. Türkei, 21894/93, Urteil vom 24. März 2005, Abs. 232. 517 Akkum et al. v. Türkei, 21894/93, Urteil vom 24. März 2005, Abs. 240, 243, 251.
B. Einzelne relevante Aspekte
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cc) Die Entscheidung Tog˘cu Dieses Vorgehen griff die Zweite Sektion in Bezug auf einen Fall des Verschwindenlassens bereits zwei Monate nach der Akkum-Entscheidung im Urteil Tog˘cu erstmals auf. Nach der Feststellung, dass die Türkei ihren Mitwirkungspflichten aus Art. 38 Abs. 1 a) EMRK nicht nachgekommen sei,518 zog die Sektion die bekannte Formulierung heran, ergänzte diese aber um die Begriffe „burden of proof“ und „prima facie case“: „It has previously held that, where it is the Government’s non-disclosure of crucial documents in their exclusive possession which is preventing the Court from establishing the facts, it is for the Government either to argue conclusively why the documents in question cannot serve to corroborate the allegations made by the applicants, or to provide a satisfactory and convincing explanation of how the events in question occurred. Failing this, an issue under Article 2 and/or Article 3 of the Convention will arise (see Akkum […]). However, to shift the burden of proof onto the Government in such circumstances requires, by implication, that the applicant has already made out a prima facie case.“519
Letzteres sei dem Beschwerdeführer, so der EGMR, jedoch nicht gelungen: „In the light of the contradictory versions of events put forward by the applicant in the present case, the Court cannot but conclude that he has failed to make out his case to the extent necessary for the burden to shift onto the Government to explain that the custody records withheld by them contained no relevant information concerning Ender.“520
In den nachfolgenden Individualbeschwerden, die Fälle des Verschwindenlassens in der südöstlichen Türkei betrafen, ging der Gerichtshof nur vereinzelt auf die mangelhafte Mitwirkung und die Folgen aus dieser ein.521 Auch in der Beschwerde 518
Tog˘cu v. Türkei, 27601/95, Urteil vom 31. Mai 2005, Abs. 87. Tog˘cu v. Türkei, 27601/95, Urteil vom 31. Mai 2005, Abs. 95 (Hervorhebungen nicht im Original). 520 Tog˘cu v. Türkei, 27601/95, Urteil vom 31. Mai 2005, Abs. 96. Eine Verletzung von Art. 2 EMRK wurde daher auch nur in Bezug auf den prozeduralen Gehalt festgestellt. 521 So in Tanıs¸ et al. v. Türkei, 65899/01, Urteil vom 2. August 2005, Abs. 160 ff. unter Heranziehung der „presumptions of fact“ aus dem Akkum-Urteil. In den Urteilen Nesibe Haran v. Türkei, 28299/95, Urteil vom 6. Oktober 2005; Özgen et al. v. Türkei, 38607/97, Urteil vom 20. September 2005; Aydın Eren et al. v. Türkei, 57778/00, Urteil vom 21. Februar 2006; Kaya et al. v. Türkei, 4451/02, Urteil vom 24. Oktober 2006; Ucak et al. v. Türkei, 75527/01, 11837/02, Urteil vom 26. April 2007 ging der EGMR auf Art. 38 EMRK nicht ein und stellte auch lediglich eine Verletzung der Ermittlungspflichten aus Art. 2 EMRK fest. In den Beschwerden Diril v. Türkei, 68188/01, Urteil vom 16. Oktober 2006; Enzile Özdemir v. Türkei, 54169/00, Urteil vom 8. Januar 2008; Nehyet Günay et al. v. Türkei, 51210/99, Urteil vom 21. Oktober 2008 ging der EGMR ebenfalls nicht darauf ein, ob die Türkei ihren Mitwirkungspflichten nachgekommen war, nahm aber eine Verletzung von Art. 2 EMRK nicht nur in seinem prozeduralen Gehalt an. In zwei Urteilen stellte der EGMR explizit fest, dass Art. 38 Abs. 1 a) EMRK eingehalten sei: S¸eker v. Türkei, 52390/99, Urteil vom 21. Februar 2006 (ebenfalls keine materielle Verletzung von Art. 2 EMRK festgestellt); Osmanog˘lu v. Türkei, 48804/99, Urteil vom 24. Januar 2008 (Verletzung einer Pflicht „to prevent“ aus Art. 2 EMRK). 519
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Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
Varnavan et al., die „missing persons“ in Zypern betraf und 2009 von der Großen Kammer entschieden wurde, stellte der EGMR nicht auf die Mitwirkung der Türkei ab.522 dd) Die Entscheidungen gegen Russland Hingegen spielte die mangelhafte Mitwirkung Russlands im Zusammenhang mit Beschwerden, die Fälle des Verschwindenlassens von Personen in Tschetschenien betrafen, meist eine Rolle im Rahmen der Tatsachenfeststellung.523 Auch wenn der EGMR keinen Verstoß gegen Art. 38 EMRK explizit feststellte, rügte er meist, dass Russland trotz Aufforderung die Ermittlungsakte dem Gericht nicht oder nur in unwesentlichen Teilen zugänglich gemacht hatte und sich gem. Art. 161 der russischen Strafprozessordnung darauf berief, dass diese militärische Geheimnisse und persönliche Daten enthielte.524 Der Gerichtshof stellte erstmals im Zusammenhang mit Fällen des Verschwindenlassens in der Beschwerde Imakayeva fest, dass diese Begründung die Zurückhaltung wichtiger Beweismittel nicht rechtfertigen könne und behielt diese Rechtsprechung im Folgenden bei.525 Als Reaktion auf diese mangelhafte Kooperation sieht der EGMR vor: „In view of this and bearing in mind the principles referred to above, the Court finds that it can draw inferences from the Government’s conduct in respect of the well-foundedness of the applicant’s allegations. The Court will thus proceed to examine crucial elements in the present case that should be taken into account when deciding whether the applicant’s son can be presumed dead and whether his death can be attributed to the authorities.“526
522
Varnava et al. v. Türkei, 16064/90, 16065/90, 16066/90, 16068/90, 16069/90, 16070/ 90, 16071/90, 16072/90, 16073/90, Urteil der Großen Kammer vom 18. September 2009. Allerdings stellte der EGMR in einer ähnlichen Formulierung darauf ab, dass sich das fragliche Geschehen unter der Kontrolle des beschwerdegegnerischen Staates abspielte, Abs. 183 f., siehe dazu supra Kapitel 3, B.II.1.c). 523 Siehe Meyer-Ladewig, NVwZ 24 (2009), S. 1531 (1533). 524 So bspw. in Bazorkina v. Russland, 69481/01, Urteil vom 27. Juli 2006, Abs. 43; Imakayeva v. Russland, 7615/02, Urteil vom 9. November 2006, Abs. 94, 104; Baysayeva v. Russland, 74237/01, Urteil vom 5. April 2007, Abs. 58; Magomadova v. Russland, 2393/05, Urteil vom 18. Juni 2009, Abs. 110. Siehe auch Leach, EHRLR Issue 6 (2008), S. 732 (744 f.). 525 Imakayeva v. Russland, 7615/02, Urteil vom 9. November 2006, Abs. 123: „The Court notes that despite its requests for a copy of the investigation file into the abduction […], the Government produced only a part of the documents from the file. The Government referred to Article 161 of the Criminal Procedure Code. The Court observes that in previous cases it has already found this explanation insufficient to justify the withholding of key information requested by the Court […].“ Baysayeva v. Russland, 74237/01, Urteil vom 5. April 2007, Abs. 166; sowie als jüngeres Beispiel Magomadova v. Russland, 2393/05, Urteil vom 18. Juni 2009, Abs. 119. 526 Magomadova v. Russland, 2393/05, Urteil vom 18. Juni 2009, Abs. 119 f. (Hervorhebung nicht im Original). Siehe auch fast identisch: Dolsayev et al. v. Russland, 10700/04, Urteil vom 22. Januar 2009, Abs. 87 f.; Idalova und Idalov v. Russland, 41515/04, Urteil vom 5. Februar 2009, Abs. 86 f.
B. Einzelne relevante Aspekte
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Auf diese Formulierung folgt in der Regel eine weitere Aussage, die im Rahmen der Feststellung erfolgt, ob das Opfer vom Staat entführt beziehungsweise festgenommen wurde und die die zuvor abstrakt angesprochene Möglichkeit, Schlussfolgerungen zu ziehen, konkretisiert: „Drawing inferences from the Government’s failure to submit the documents which were in their exclusive possession or to provide another plausible explanation of the events in question, the Court considers that that [the victims] were arrested […] by State servicemen during an unacknowledged security operation.“527
ee) Die Entscheidung Estamirov In Ergänzung dieser Standardformulierungen verwendet die Erste Sektion des EGMR in den Fällen des Verschwindenlassens gegen Russland des Öfteren ebenfalls eine Abwandlung seines Vorgehens aus der Akkum- sowie der Tog˘cu-Entscheidung.528 Die abgewandelte Formulierung entwickelte die Erste Sektion unter Bezug auf diese beiden Entscheidungen erstmals in der Beschwerde Estamirov, in der die Beschwerdeführer die Tötung ihrer Verwandten im Rahmen einer Säuberungsaktion in Grosny rügten. Sie lautet: „The Court has already noted the difficulties for an applicant to obtain the necessary evidence in support of his or her allegations which is in the hands of the respondent Government in cases where the Government fail to submit relevant documentation. Where the applicant makes out a prima facie case and the Court is prevented from reaching factual conclusions for lack of such documents, it is for the Government to argue conclusively why the documents in question cannot serve to corroborate the allegations made by the applicants, or to provide a satisfactory and convincing explanation of how the events in question occurred. The burden of proof is thus shifted to the Government and if it fails in its arguments, issues will arise under Article 2 and/or Article 3 […].“529
527 Aziyevy v. Russland, 77626/01, Urteil vom 20. März 2008, Abs. 74 (Hervorhebungen nicht im Original). So auch z. B. in Sangariyeva et al. v. Russland, 1839/04, Urteil vom 29. Mai 2008, Abs. 64; Musayeva v. Russland, 12703/02, Urteil vom 3. Juli 2008, Abs. 101; Turluyeva und Khamidova v. Russland, 12417/05, Urteil vom 14. Mai 2009, Abs. 81; Betayev und Betayeva v. Russland, 37315/03, Urteil vom 29. Mai 2008, Abs. 70; Gekhayeva et al. v. Russland, 1755/04, Urteil vom 29. Mai 2008, Abs. 88. 528 So z. B. in Aziyevy v. Russland, 77626/01, Urteil vom 20. März 2008, Abs. 73; Utsayeva et al. v. Russland, 29133/03, Urteil vom 29. Mai 2008, Abs. 159; Gekhayeva et al. v. Russland, 1755/04, Urteil vom 29. Mai 2008, Abs. 87; Atabayeva et al. v. Russland, 26064/02, Urteil vom 12. Juni 2008, Abs. 83; Umarov v. Russland, 12712/02, Urteil vom 3. Juli 2008, Abs. 92; Tsurova et al. v. Russland, 29958/04, Urteil vom 6. November 2008, Abs. 109; Khadayeva et al. v. Russland, 5351/04, Urteil vom 12. März 2009, Abs. 123; sowie jüngst Magomadova v. Russland, 2393/05, Urteil vom 18. Juni 2009, Abs. 124; Ustarkhanova v. Russland, 35744/05, Urteil vom 26. November 2009, Abs. 68. 529 Estamirov et al. v. Russland, 60272/00, Urteil vom 12. Oktober 2006, Abs. 112 (Hervorhebungen nicht im Original).
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Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
c) Zusammenfassung der Entwicklung der Rechtsprechungspraxis Die Reaktion der Konventionsorgane mit Mitteln des Beweisrechts auf eine Verletzung der Mitwirkungspflichten durch den beschwerdegegnerischen Staat hat eine erhebliche Ausdifferenzierung erfahren: Während es sich der Gerichtshof zunächst vorbehielt, das Verhalten der Parteien im Rahmen der Beweisaufnahme zu berücksichtigen („taken into account“), zog er später Schlussfolgerungen („inferences“) aus der mangelhaften Mitwirkung. Zusätzlich macht der Gerichtshof nunmehr regelmäßig Gebrauch von einer in den Urteilen Akkum, Tog˘cu und Estamirov entwickelten Herangehensweise: Diese kommt in Situationen zur Anwendung, in denen der beschwerdegegnerische Staat Beweismittel, die die Vorwürfe des Beschwerdeführers stützen, nicht beibringt. Sie knüpft mithin an die unterbliebene Mitwirkung und nicht allein an die Kontrolle des Staates über das Geschehen beziehungsweise die Beweismittel an. Kann der Beschwerdeführer nun seinen Fall prima facie darlegen und ist der Gerichtshof aufgrund der durch den Staat zurückgehaltenen Beweismittel nicht in der Lage, die Tatsachen festzustellen, so muss der Staat entweder darlegen, warum diese Beweismittel die Vorwürfe nicht stützen oder eine zufrieden stellende und überzeugende Erklärung dafür liefern, wie sich die Ereignisse zutrugen. Damit, so der EGMR, verlagere sich die Beweislast auf die Regierung.530 3. Untersuchung dieser Praxis Es ist zu begrüßen, dass die Konventionsorgane in ihrer Praxis die aus dem Jahre 1978 stammende Formulierung, das Verhalten der Parteien bei der Beweisaufnahme dürfe oder müsse Berücksichtigung finden („taken into account“), mittlerweile präzisierten. Eine wichtige Neuerung stellt auch Art. 44C Abs. 1 VerfO dar, der nunmehr explizit vorsieht, dass der Gerichtshof aus der mangelnden Mitwirkung die Schlussfolgerungen („inferences“) ziehen kann, die er für angemessen erachtet. Eine Untersuchung der Rechtsprechung zeigt, dass der EGMR von dieser Möglichkeit nunmehr regelmäßig Gebrauch macht [a)]. Im Rahmen der näheren Untersuchung der beschriebenen Herangehensweise aus den Entscheidungen Akkum, Tog˘cu und Estamirov wird auf die Begriffe prima facie-Fall und Beweislast („burden of proof“) einzugehen sein [b)]. Richtigerweise fanden zwei mögliche Reaktionen bisher keine Erwähnung: So machen die Konventionsorgane keinen Gebrauch von der Möglichkeit, mit einer Einstellung des Verfahrens auf die mangelnde Mitwirkung des beschwerdegegnerischen Staates zu reagieren. Vielmehr stellte die Kommission bereits in den Staatenbeschwerden gegen Griechenland 1970 fest, dass sich eine angeklagte Partei nicht durch ihre Weigerung, an dem Verfahren teilzunehmen, der Ge530 So die Formulierung in Estamirov et al. v. Russland, 60272/00, Urteil vom 12. Oktober 2006, Abs. 112.
B. Einzelne relevante Aspekte
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richtsbarkeit entziehen kann.531 Nunmehr ist dies auch ausdrücklich in Art. 44C Abs. 2 VerfO niedergelegt. Schließlich ist auch die Möglichkeit, auf die mangelhafte Mitwirkung durch eine „formal note“ zu reagieren, zu verwerfen. Diese in Art. 49 des IGH-Statuts vorgesehene Reaktion ist zu unbestimmt532 und wiese auch gegenüber der gebräuchlichen Feststellung, dass der beschwerdgegnerische Staat seinen Verpflichtungen aus Art. 38 EMRK nicht nachgekommen ist, keinen Mehrwert auf. a) Schlussfolgerung als Reaktionsmöglichkeit Der EGMR zieht in den Fällen des Verschwindenlassens gegen Russland, wie bereits gesehen, die folgende Schlussfolgerung regelmäßig heran: „Drawing inferences from the Government’s failure to submit the documents which were in their exclusive possession or to provide another plausible explanation of the events in question, the Court considers that [the victims] were arrested by State servicemen during an unacknowledged security operation.“533
Die Schlussfolgerung erfolgt damit im Zusammenhang mit dem Indiz, dass der beschwerdegegnerische Staat bestimmte Dokumente nicht beibrachte oder keine andere plausible Erklärung für die Geschehnisse abgab. Diese Umstände beziehen sich auf den Beweis der vom Beschwerdeführer vorgebrachten Tatsachen. Eine explizite Feststellung, dass der Staat seinen Mitwirkungspflichten aus Art. 38 EMRK nicht nachgekommen ist, ist nicht erforderlich; der Gerichtshof zieht die Schlussfolgerung auch heran, wenn eine solche unterbleibt534 und er nur die mangelnde Mitwirkung im Rahmen seiner Tatsachenfeststellung rügt. Von der mangelhaften Mitwirkung schlussfolgert der EGMR nun darauf, dass das spätere Opfer von staatlichen Sicherheitskräften verhaftet wurde. Ein solcher Inhalt der Schlussfolgerung ist auch von der weiten Formulierung des Art. 44C Abs. 1 VerfO erfasst. Die Verhaftung beziehungsweise Entführung des Opfers durch den Staat stellt in Fällen des Verschwindenlassens meist die Tatsache dar, deren Feststellung den meisten Raum beansprucht. Denn diese Tatsache ist als wichtiges Indiz im Rahmen der Prüfung einer Verletzung von Art. 2 EMRK in seinem substantiellen Gehalt von entscheidender Bedeutung für den Beweis der Haupttatsachen, das heißt 531 Zweiter Griechischer Fall, Bericht über den gegenwärtigen Stand der Verhandlungen vom 5. Oktober 1970, Abs. 18 – 20, zitiert aus: Zypern v. Türkei, 6780/74, 6950/75, Bericht vom 10. Juli 1976, abgedruckt in: Asme-Humanitas e.V., Bericht der Kommission des Europarats über Menschenrechte auf Zypern 1974, Iphofen, nach 1977, S. 23 f. (Abs. 57). Kritisch aber dazu noch die Kommissionsmitglieder Busuttil, S. 184 und Bulent Daver, S. 189. Siehe dazu auch Loucaides, Essays, S. 166. 532 Schorm-Bernschütz, S. 191. 533 So ähnlich in Aziyevy v. Russland, 77626/01, Urteil vom 20. März 2008, Abs. 74. 534 Auch der umgekehrte Fall kommt vor: Der EGMR stellt einen Verstoß gegen Art. 38 Abs. 1 a) EMRK explizit fest, zieht jedoch keine Schlussfolgerung.
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Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
des Todes sowie der Verantwortlichkeit des Staates für diesen.535 Daneben bezieht sich die Schlussfolgerung des EMGR auch auf andere Tatsachen: Im Rahmen der Prüfung einer Verletzung von Art. 2 EMRK in seinem prozeduralen Gehalt schlussfolgert der EGMR darauf, dass keine Ermittlungen festgestellt werden können, die den Standards der Konvention genügen.536 Seltener bezog sich die Schlussfolgerung auf die Bewertung des Beweiswertes anderer Beweismittel.537 In der Praxis des Gerichtshofes findet sich aber auch die folgende missverständliche Formulierung,538 meist im Rahmen der Feststellungen zu Art. 38 EMRK: „A failure on a Government’s part to submit such information which is in their hands without a satisfactory explanation may […] give rise to the drawing of inferences as to the wellfoundedness of the applicant’s allegations […].“539
In diesem Zusammenhang ist auch die Forderung von Richter Bonello zu nennen: „It appears to me axiomatic that, in a scenario in which the Government is at fault where evidence-building is concerned, then a legal inference of culpability on the merits of the complaint should have been drawn.“540
Die Formulierung des Gerichtshofes scheint – fälschlicherweise – vorzusehen, dass die Schlussfolgerung zur Folge hat, von der Begründetheit („well-foundedness“) der Vorwürfe des Beschwerdeführers auszugehen und damit eine Rechtsfrage, nicht aber eine Tatsachenfrage zu klären. Gegen ein solches Verständnis dieser Aussage spricht jedoch, dass der Begriff der „allegations“ auch die vorgetragenen Tatsachen bezeichnen könnte. Jedenfalls aber ist die rechtliche Bewertung des bewiesenen Sachverhalts in den Fällen des Verschwindenlassens unproblematisch, so dass die Formulierung vor diesem Hintergrund verständlich erscheint: Der Ge535 Siehe zu diesen Nachweisen supra Kapitel 3, B.II. und B.III. Im Rahmen der sich meist anschließenden Prüfung einer Verletzung von Art. 5 EMRK stellt diese Tatsache daneben die Haupttatsache dar. 536 So z. B. in Tog˘cu v. Türkei, 27601/95, Urteil vom 31. Mai 2005, Abs. 77, 87 (zur Möglichkeit, Schlussfolgerungen zu ziehen), 119 f.; Zakriyeva et al. v. Russland, 20583/04, Urteil vom 8. Januar 2009, Abs. 85. 537 So z. B. in Timurtas¸ v. Türkei, 23531/94, Urteil vom 13. Juni 2000, Abs. 67 f.: Aus der unterbliebenen Vorlage eines Originaldokuments folgerte der EGMR, dass die vorgelegte Kopie echt sei. Siehe auch Dzhamayeva et al. v. Russland, 43170/04, Urteil vom 8. Januar 2009, Abs. 78, hier spielte die Zurückhaltung der Ermittlungsakte für die Bewertung einer Zeugenaussage eine Rolle. Der Zeuge war verstorben. Allerdings verwendete der EGMR den Begriff der „inferences“ nicht. 538 Diese stammt aus Timurtas¸ v. Türkei, 23531/94, Urteil vom 13. Juni 2000, Abs. 66. 539 Tepe v. Türkei, 27244/95, Urteil vom 9. Mai 2003, Abs. 128 (Hervorhebung nicht im Original). Vergleichbar auch Tanıs¸ et al. v. Türkei, 65899/01, Urteil vom 2. August 2005, Abs. 160; Tsurova et al. v. Russland, 29958/04, Urteil vom 6. November 2008, Abs. 96, 103; Tog˘cu v. Türkei, 27601/95, Urteil vom 31. Mai 2005, Abs. 77; Utsayeva et al. v. Russland, 29133/03, Urteil vom 29. Mai 2008, Abs. 149, 154. 540 Tahsin Acar, 26307/95, Urteil vom 8. April 2004, zustimmende Meinung von Richter Bonello, Abs. 12 (Hervorhebung nicht im Original).
B. Einzelne relevante Aspekte
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richtshof könnte lediglich die Feststellung, dass bestimmte Tatsachen damit bewiesen sind, nicht explizit zum Ausdruck bringen, sondern sogleich den darauf folgenden Schritt der unproblematischen rechtlichen Einordnung vornehmen und das Ergebnis dieser Subsumtion präsentieren. Das Verwenden einer Schlussfolgerung, mit Hilfe derer die Verantwortlichkeit des Staates für die Entführung beziehungsweise Verhaftung dann festgestellt wird, wenn der beschwerdegegnerische Staat die Ermittlungsakte nicht beziehungsweise nur unvollständig vorlegt, erfolgt zwar mittlerweile in den Fällen des Verschwindenlassens, die sich gegen Russland richten, mit großer Regelmäßigkeit. Dennoch wird die Schlussfolgerung in einigen Fällen nicht gezogen, obwohl die Voraussetzungen für diese ebenso vorzuliegen scheinen: So wird die Schlussfolgerung zum einen dann nicht herangezogen, wenn bereits andere Beweismittel die Identität der Personen, die die Verhaftung beziehungsweise Entführung durchführten, belegen.541 Zum anderen wird die Schlussfolgerung dann nicht herangezogen, wenn die Identifizierung der Verantwortlichen daran scheitert, dass andere belastende und sonst regelmäßig herangezogene Indizien ausnahmsweise nicht vorliegen und in der Folge keine Verletzung von Art. 2 EMRK in seinem substantiellen Gehalt festgestellt wird. Dies war zum Beispiel in der Beschwerde Shaipova et al. der Fall, in der bei der Entführung, anders als meist sonst, keine militärischen Fahrzeuge verwendet wurden, sondern die Entführer ihre Opfer zu Fuß wegbrachten und einige der Entführer Turnschuhe trugen.542 Auch in der Beschwerde Tagirova et al. zog der EGMR keine Schlussfolgerung und verneinte die staatliche Verantwortlichkeit für die Entführung, da insbesondere erneut keine militärischen Fahrzeuge benutzt worden seien, überwiegend anonyme Zeugenaussagen vorlägen und das Opfer aufgrund seiner früheren Tätigkeit für die tschetschenische Armee auch von Aufständischen hätte entführt
541 Siehe Baysayeva v. Russland, 74237/01, Urteil vom 5. April 2007, Abs. 116 f., 160 – 167. In diesem Fall stellte der EGMR fest, dass die Entführung des späteren Opfers durch staatliche Bedienstete bewiesen sei und stützte sich dafür darauf, dass die Durchführung einer Militäroffensive im fraglichen Gebiet und Zeitraum unumstritten war sowie dass ein Video das Opfer in staatlichem Gewahrsam zeigte. Im Anschluss daran stellte der EGMR auch eine Verletzung von Art. 38 Abs. 1 a) EMRK fest; Schlussfolgerungen in Bezug auf die Identität der Entführer zog er hingegen nicht. Siehe auch Kaplanova v. Russland, 7653/02, Urteil vom 29. April 2008, Abs. 137, 139, 96 – 103. In diesem Fall stellte der EGMR ebenfalls eine Verletzung von Art. 38 Abs. 1 a) EMRK fest. Aber auch in dieser Entscheidung zog er die mangelhafte Mitwirkung nicht als belastendes Indiz heran; die Anwesenheit der Opfer in einem öffentlichen Gebäude sah der EGMR nach allen vorliegenden Beweisen, auch derer, die von der Regierung beigebracht wurden, als bewiesen an. 542 Shaipova et al. v. Russland, 10796/04, Urteil vom 6. November 2008, Abs. 85, 87. Zuvor hatte der EGMR jedoch, wie sonst auch, festgestellt, dass Russland große Teile der Ermittlungsakte ungerechtfertigterweise zurückbehalten hatte (Abs. 65, 83). Auch hatte er die generelle Möglichkeit, aus der mangelhaften Mitwirkung Schlussfolgerungen zu ziehen, anerkannt (Abs. 79).
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Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
werden können.543 Als weitere Beispiele können die Beschwerden Zakriyeva et al.,544 Khumaydov und Khumaydov545 und Tovsultanova546 angeführt werden. Aus der Rechtsprechung geht nicht klar hervor, welchen Beweiswert der EGMR dieser Schlussfolgerung in Bezug auf die Feststellung der Verantwortlichkeit des Staates für die Entführung zuweist. Die Bezeichnung der Schlussfolgerung aus der mangelnden Mitwirkung als „strong“547 oder „the strongest“548 durch die ehemalige Kommission ist in dieser Hinsicht nicht weiterführend. Jedenfalls scheint die Schlussfolgerung allein nicht auszureichen, den Beweis zu erbringen, dass der Staat das Opfer verhaftete. Dies legen die Beschwerden Shaipova et al. und Tagirova et al. nahe, in denen zwar Russland seinen Mitwirkungspflichten nicht nachkam, in denen der EGMR die von den Beschwerdeführern vorgetragene Verantwortlichkeit des Staates für die Entführungen dennoch aber nicht feststellte. Vielmehr zeigt die Praxis, dass die Schlussfolgerung erst in Kombination mit weiteren Beweisen eine Feststellung ermöglicht.549 So treten in den meisten Fällen, die das Verschwindenlassen von Personen in Tschetschenien betrafen, als weitere Indizien hinzu, dass bestimmte militärische Fahrzeuge von den Entführern verwendet wurden und diese ungehindert Sperrposten passierten,550 dass die Ergebnisse der nationalen Ermittlungen in Bezug auf die Entführung die Verwicklung des
543
Tagirova et al. v. Russland, 20580/04, Urteil vom 4. Dezember 2008, Abs. 72, 74, 75, 78. Zuvor hatte der EGMR auch hier festgestellt, dass Russland große Teile der Ermittlungsakte ungerechtfertigterweise zurückbehalten hatte (Abs. 47, 70) und dass er Schlussfolgerungen aus der unterbliebenden Mitwirkung ziehen könne (Abs. 66). Siehe zur Kritik an dieser Entscheidung Smith, EHRLR Issue 2 (2009), S. 206 (225). 544 Zakriyeva et al. v. Russland, Abs. 43, 59, 63, 66, 67, 69, 70; insbesondere waren die Zeugenaussagen nicht konsistent. 545 Khumaydov und Khumaydov v. Russland, 13862/05, Urteil vom 28. Mai 2009, Abs. 76, 92, 96, 98 – 105; auch hier mangelte es an Augenzeugen, es wurde ein ziviles Fahrzeug verwendet und der Beruf des Opfers legte eine Entführung durch Aufständische nahe. 546 Tovsultanova v. Russland, 26974/06, Urteil vom 17. Juni 2010, Abs. 77 – 80; Augenzeugen sagten nicht aus; es stand nicht fest, dass Militärfahrzeuge verwendet wurden; die Uniformen ließen sich nicht zuordnen; Aussagen der Beschwerdeführerin enthielten Widersprüche. 547 Ergi v. Türkei, 23818/94, Bericht vom 20. Mai 1997, Abs. 133; Tas¸ v. Türkei, 24396/ 94, Bericht vom 9. September 1999, Abs. 201. Siehe auch Zubayrayev v. Russland, 67797/01, Urteil vom 10. Januar 2008, teilweise abweichende Meinung von Richter Loucaides, beigetreten von Richter Spielmann: „sufficiently strong, clear and concordant inferences“. 548 C¸akıcı v. Türkei, 23657/94, Bericht vom 12. März 1998, Abs. 239: „draws the strongest inferences“. 549 Siehe zu diesen Indizien auch Barrett, Harvard HRJ 22 (2009), S. 133 (139). 550 So in fast allen Fällen, z. B. in Idalova und Idalov v. Russland, 41515/04, Urteil vom 5. Februar 2009, Abs. 90; Meshayeva et al. v. Russland, 27248/03, Urteil vom 12. Februar 2009, Abs. 99; Sagayev et al. v. Russland, 4573/04, Urteil vom 26. Februar 2009, Abs. 98; Nasukhanova et al. v. Russland, 5285/04, Urteil vom 18. Dezember 2008, Abs. 94 – 97.
B. Einzelne relevante Aspekte
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Staates ebenfalls in Betracht zogen551 sowie dass die Entführer auf eine bestimmte Art und Weise vorgingen und bestimmte Charakteristika in Bezug auf ihre Sprache und Uniformierung aufwiesen552. Diese anderen Indizien werden meist durch Zeugenaussagen von Verwandten oder Nachbarn bewiesen sowie durch die Ermittlungsakten beziehungsweise den Fortgang, den die Ermittlungen nach Aussage der Verwandten und Auskunft der nationalen Behörden nahmen. Im Verhältnis zu anderen Indizien scheint die Schlussfolgerung aus der mangelhaften Mitwirkung von eher untergeordneter Bedeutung zu sein. Dies wird dadurch untermauert, dass in einigen Fällen andere Indizien vorlagen und der Gerichtshof nun schon aufgrund dieser allein, und ohne dabei aus der mangelnden Mitwirkung Schlussfolgerungen zu ziehen, zu dem Ergebnis kam, dass die Entführung durch den Staat erfolgte.553 Dies legt nahe, dass die Schlussfolgerung aus der mangelnden Mitwirkung weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung dafür ist, die Verantwortlichkeit des Staates für die Entführung festzustellen. b) Die Reaktionsmöglichkeit der Entscheidungen Akkum, Tog˘cu und Estamirov Die in den Entscheidungen Akkum, Tog˘cu und Estamirov entwickelte Reaktion auf die mangelhafte Mitwirkung des beschwerdegegnerischen Staates zieht der EGMR mittlerweile im Großteil der bislang entschiedenen Fälle heran, die gegen Russland ergingen und das Verschwindenlassen von Personen betrafen.554 Sie findet entweder im Rahmen einer allgemeinen, der Prüfung einzelner Konventionsverletzungen vorgestellten Tatsachenfeststellung555 oder im Rahmen der Prüfung einer Verletzung von Art. 2 EMRK in seinem substantiellen Gehalt Verwendung.556 Sie dient der Feststellung, dass der Staat für die Entführung beziehungsweise Verhaftung 551 So z. B. in: Idalova und Idalov v. Russland, 41515/04, Urteil vom 5. Februar 2009, Abs. 91; Ustarkhanova v. Russland, 35744/05, Urteil vom 26. November 2009, Abs. 66. 552 So z. B. in: Meshayeva et al. v. Russland, 27248/03, Urteil vom 12. Februar 2009, Abs. 99. 553 Siehe z. B. Baysayeva v. Russland, 74237/01, Urteil vom 5. April 2007, Abs. 116 f. (hier gab es ein Video der Entführung). 554 In anderen Fällen war zum Teil die Verhaftung bereits nicht umstritten oder aufgrund anderer Beweise festzustellen, siehe z. B. Kaplanova v. Russland, 7653/02, Urteil vom 29. April 2008, Abs. 102. Hier war nicht umstritten, dass die Opfer eine Nacht in dem Gebäude des Innenministeriums verbrachten. Auch in Yusupova und Zaurbekov v. Russland, 22057/02, Urteil vom 9. Oktober 2008, Abs. 53 war bewiesen, dass das Opfer ein Gebäude des Innenministeriums betreten hatte. In Akhmadova et al. v. Russland, 3026/03, Urteil vom 4. Dezember 2008, Abs. 131 f. stellte der EGMR kurz fest, dass die Verhaftung durch Augenzeugen bewiesen sei und Russland die „factual elements“ nicht bestritten habe. In Khaydayeva et al. v. Russland, 1848/04, Urteil vom 5. Februar 2009, Abs. 101 war ebenfalls nicht umstritten, dass die Opfer verhaftet worden waren. 555 So z. B. in Karimov et al. v. Russland, 29851/05, Urteil vom 16. Juli 2009, Abs. 102. 556 So z. B. in Nenkayev et al. v. Russland, 13737/03, Urteil vom 28. Mai 2009, Abs. 142.
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Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
des späteren Opfers verantwortlich ist.557 Die missverständliche Aussage, „issues will arise under Article 2 and/or Article 3“,558 ist gerade nicht so zu verstehen, dass die Formulierung die Klärung einer Rechtsfrage vorsieht.559 In fast allen dieser Fälle kam der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass der Staat für die Entführung verantwortlich ist und bejahte in der Folge eine materielle Verletzung von Art. 2 EMRK. Durchgesetzt hat sich die folgende, der Entscheidung Estamirov entnommene Formulierung: „[W]here an applicant makes out a prima facie case and the Court is prevented from reaching factual conclusions owing to the withholding of documents by the Government, it is for the latter to argue conclusively why the documents in question cannot serve to corroborate the allegations made by the applicant, or to provide a satisfactory and convincing explanation of how the events in question occurred. The burden of proof is thus shifted to the Government, and if they fail in their arguments, issues will arise under Article 2 and/or Article 3 […].“560
Diese Formulierung ist von anderen, ähnlich erscheinenden Formulierungen zu unterscheiden – die der Urteile Aksoy und Velikova –, die jedoch nicht an die mangelhafte Mitwirkung anknüpfen und auch zum Beweis einer anderen Tatsache dienen.561 aa) Anwendungskonstellation/prima facie-Fall In dieser nunmehr gebräuchlichen Formulierung nimmt der EGMR Bezug darauf, dass er sich aufgrund des Zurückhaltens wichtiger Dokumente durch den beschwerdegegnerischen Staat (eigentlich) nicht in der Lage sieht, die Tatsachen festzustellen. In dieser Situation sieht die Formulierung aus der Estamirov-Entscheidung vor, dass der Beschwerdeführer einen prima facie-Fall darzulegen habe. Wie dargestellt bezeichnet der Ausdruck prima facie-Fall kein Beweismaß; vielmehr 557 Siehe z. B. in Aziyevy v. Russland, 77626/01, Urteil vom 20. März 2008, Abs. 74: „[…] the Court considers that that Lom-Ali and Umar-Ali Aziyev were arrested on 24 September 2000 at their house in Grozny by State servicemen during an unacknowledged security operation.“ 558 Estamirov et al. v. Russland, 60272/00, Urteil vom 12. Oktober 2006, Abs. 112. Auch z. B. in Aziyevy v. Russland, 77626/01, Urteil vom 20. März 2008, Abs. 73. 559 Zur Begründung vgl. schon supra Kapitel 3, II.2.b)aa) sowie Kapitel 3, B.IV.3.a). 560 Siehe z. B. in Amanat Ilyasova et al. v. Russland, 27001/0, Urteil vom 1. Oktober 2009, Abs. 95 (Hervorhebungen nicht im Original). 561 Diese Formulierungen wurden bereits supra in Kapitel 3, B.II. besprochen. Diese beiden Formulierungen knüpfen an die Kontrolle des Staates über das Opfer, meist die Inhaftierung, an und setzen damit bereits voraus, dass diese bewiesen ist. Mit dieser Kontrolle geht zwar auch eine Kontrolle über die Beweismittel einher und die Gefahr, dass diese vom Staat zurückgehalten werden. Eine solche Verletzung der Mitwirkungspflichten ist jedoch nicht Anknüpfungspunkt der Formulierungen. Auch dienen diese dem Beweis der Verantwortlichkeit des Staates für den Tod, nicht aber dem Beweis der Kontrolle. Siehe auch supra Kapitel 3, B.IV.2.b)bb) zur Entwicklung der Formulierung im Urteil Akkum et al. unter Bezugnahme auf diese Formulierungen.
B. Einzelne relevante Aspekte
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sagt diese Formulierung lediglich aus, dass der EGMR seine Feststellungen auch auf das einseitige Vorbringen einer Partei stützen kann.562 Der Ausdruck Fall („case“) bezieht sich auf den vom Beschwerdeführer behaupteten Sachverhalt, genauer gesagt auf die Tatsachen, welche zwischen den Parteien umstritten sind und deren Feststellung der Gerichtshof gerade betreibt, mithin auf die Verantwortlichkeit des Staates für die Entführung beziehungsweise Inhaftierung des späteren Opfers. Für diese Tatsachen muss ein Beweis vorliegen, „which, unexplained or uncontradicted is sufficient to maintain the proposition affirmed.“563 Mit anderen Worten liegt dann ein prima facie-Fall vor, wenn die vorgetragenen Tatsachen unter Zugrundelegung der zu diesem Zeitpunkt verfügbaren Beweismittel und ohne Berücksichtigung einer möglichen Widerlegung durch Beweismittel, die momentan nicht verfügbar sind und die ohne Mitwirkung des beschwerdegegnerischen Staates nicht zugänglich sind, zum erforderlichen Beweismaß bewiesen sind. Ausgeblendet wird damit die potentielle negative Beweiskraft der Beweismittel, die der beschwerdegegnerische Staat dem Gerichtshof vorenthält oder in Bezug auf die er seine Mitwirkungspflichten in sonstiger Weise verletzt. Während der EGMR zum Teil geringe Anforderungen an den Beweis eines prima facie-Falles stellt,564 legt er in anderen Entscheidungen hingegen einen höheren Maßstab an.565 Obgleich die Formulierung lautet, gerade der Beschwerdeführer habe einen prima facie-Fall darzulegen („the applicant has to make out“), bedeutet dies nicht, dass der EGMR in dieser Hinsicht lediglich Beweismittel berücksichtigt, die ihm von Seiten des Beschwerdeführers zur Kenntnis gebracht wurden. Vielmehr sind die Tatsachen, die der Beschwerdeführer vortrug und die die Verantwortlichkeit des Staates für die Entführung begründen, prima facie zu beweisen. Für diesen Beweis können grundsätzlich auch Beweismittel, die dem Gerichtshof durch Dritte, den beschwerdegegnerischen Staat oder eigene Ermittlungen bekannt sind, herangezogen werden. Eine andere Sichtweise würde verkennen, dass der Gerichtshof eigene Er562
Siehe supra Kapitel 3, B.I.2.b). Siehe Kazazi, S. 328; Amerasinghe, S. 247. 564 Ein Beispiel hierfür ist der Fall Tangiyeva, der eine außergesetzliche Tötung in Grosny zum Gegenstand hatte. Hier gab es keine Aussage eines Augenzeugen, Tangiyeva v. Russland, 57935/00, Urteil vom 29. November 2007, Abs. 81 f. Siehe auch die Kritik in der teilweise abweichende Meinung der Richter Kovler und Hajiyev, Abs. 6. 565 Ein Beispiel ist der Fall Zubayrayev, in dem der Gerichtshof zwar eine Verletzung von Art. 38 Abs. 1 a) EMRK feststellte und die bekannte Formulierung aus der Estamirov-Entscheidung heranzog, im Ergebnis aber verneinte, dass die Tatsachen wider jeden Zweifel bewiesen seien oder die (Beweis-)Last in Gänze auf den Staat übergegangen sei, Zubayrayev v. Russland, 67797/01, Urteil vom 10. Januar 2008, Abs. 74 – 77, 80, 83 – 85. Nach Ansicht von Richter Loucaides hätten hingegen überzeugende Beweismittel, insbesondere die Aussage der Mutter des Beschwerdeführers, die Verantwortlichkeit des Staates bewiesen, Zubayrayev v. Russland, 67797/01, Urteil vom 10. Januar 2008, teilweise abweichende Meinung von Richter Loucaides, beigetreten von Richter Spielmann. Loucaides geht in seinem Sondervotum allerdings nicht explizit auf den prima facie-Fall ein, erwähnt aber die starke Indizwirkung aus der mangelnden Mitwirkung des beschwerdegegnerischen Staates. 563
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Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
mittlungsbefugnisse hat und im Rahmen der Tatsachenfeststellung gerade nicht auf das Beibringen der Beweismittel nur von Seiten der Parteien angewiesen ist. In der Praxis existieren solche Beweismittel allerdings meist nicht, so dass sich der EGMR doch allein auf die ihm von Seiten des Beschwerdeführers beigebrachten Beweismittel stützt. bb) Die vorgesehene Erklärungslast des Staates/„burden of proof“ Die Formulierung aus der Entscheidung Estamirov sieht vor, dass es nunmehr Aufgabe der Regierung sei, darzulegen, warum die vorenthaltenen Beweismittel die Vorwürfe des Beschwerdeführers nicht stützten, oder eine zufrieden stellende und überzeugende Erklärung zu liefern, wie sich die Ereignisse zutrugen. Erstere Möglichkeit spielt in der Praxis keine Rolle, da der beschwerdegegnerische Staat auch im Laufe des Verfahrens die geforderten Beweismittel nicht vorlegen wird. An die Erklärung eines alternativen Geschehens erhebt der Gerichtshof hohe Anforderungen, so dass auch diese Möglichkeit einer Entlastung in der Praxis nur eine geringe Bedeutung hat. So sind bloße Behauptungen, dass sich die Ereignisse anders zutrugen als vom Beschwerdeführer vorgetragen, jedenfalls nicht ausreichend – so zum Beispiel die Behauptung, andere bewaffnete Gruppen hätten das Opfer entführt.566 Vielmehr müssen die Erklärungen durch konkrete Beweise untermauert sein.567 In der Akkum-Entscheidung bezeichnet der EGMR diese Aufgabe der Regierung, eine Erklärung für die Ereignisse zu liefern, auch als Erklärungslast („burden of explaining“).568 Gleichwohl scheint es nur in der Praxis, nicht aber in der Theorie geboten, dass gerade der Staat eine solche Erklärung und die diese unterstützenden Beweismittel vorbringt: In der Praxis kann allein der Staat, der die entscheidenden Beweismittel kontrolliert und vorenthält, diese Erklärungslast erfüllen. In der Theorie würde der EGMR auch eine mit Beweismitteln untermauerte Erklärung zu Gunsten des beschwerdegegnerischen Staates berücksichtigen, die ihm von anderer Seite oder durch eigene Ermittlungen zur Kenntnis gebracht wurde.569 Solche ver566
Wie z. B. in Aziyevy v. Russland, 77626/01, Urteil vom 20. März 2008, Abs. 70. Aziyevy v. Russland, 77626/01, Urteil vom 20. März 2008, Abs. 70: „However, this allegation was not specific and they did not submit any material to support it. The Court would stress in this regard that the evaluation of the evidence and the establishment of the facts is a matter for the Court, and it is incumbent on it to decide on the evidentiary value of the documents submitted to it […].“ (Hervorhebungen nicht im Original). Siehe u. a. auch Atabayeva et al. v. Russland, 26064/02, Urteil vom 12. Juni 2008, Abs. 80; Tsurova et al. v. Russland, 29958/04, Urteil vom 6. November 2008, Abs. 105. 568 Akkum et al. v. Türkei, 21894/93, Urteil vom 24. März 2005, Abs. 212. Siehe auch Tog˘cu v. Türkei, 27601/95, Urteil vom 31. Mai 2005, Abs. 96: „burden […] to explain“. 569 So stellte der EGMR in der Akkum-Entscheidung fest, dass er im Folgenden auch die durch eine eigene Zeugenbefragung erhaltenen Aussagen in seine Entscheidung mit einbezieht, Akkum et al. v. Türkei, 21894/93, Urteil vom 24. März 2005, Abs. 212. Dies entspricht auch den investigativen Kompetenzen des EGMR, siehe supra Kapitel 3, A.I.1. 567
B. Einzelne relevante Aspekte
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fügbaren Beweise hätte der EGMR wohl jedoch bereits in seiner Entscheidung, ob ein prima facie-Fall vorliegt, einbezogen, und hätte aus diesem Grund bereits nicht auf die Erklärung des Staates abgestellt. Schließlich sieht die Formulierung der Estamirov-Entscheidung570 vor, dass die Beweislast sich somit auf die Regierung verlagert („the burden of proof is thus shifted to the Government“). Fraglich ist, ob damit eine Verlagerung der objektiven Beweislast oder aber einer bloßen taktischen Last gemeint ist.571 Die (Beweis-)last betrifft dabei die Tatsachen, auf die sich die Verantwortlichkeit des Staates für die Entführung beziehungsweise Inhaftierung stützt. Die Aussage des EGMR, die Beweislast verlagere sich auf die Regierung, lässt von ihrem Wortlaut her beide Interpretationen zu, da der Gerichtshof den Begriff des „burden of proof“ in seiner Rechtsprechung nicht nur verwendet, um die objektive Beweislast zu bezeichnen.572 Der weitere Zusammenhang, in dem der EGMR den Begriff des „burden of proof“ verwendet, spricht allerdings dafür, dass eine bloße taktische (Erklärungs-)last gemeint ist: Denn der EGMR geht zum einen davon aus, dass sich die Beweislast somit („thus“) verlagert und könnte damit eine Verknüpfung mit der zuvor dem Staat aufgebürdeten Erklärungslast herstellen; zum anderen verknüpft das Gericht die Beweislastverlagerung mit der Voraussetzung, dass der Staat seine Erklärungen nicht erbringe („if it fails in its arguments“). Auch scheint der EGMR von der Teilbarkeit der Beweislast auszugehen.573 Da die objektive Beweislast für eine bestimmte Tatsache jedenfalls nicht teilbar ist, spricht dies dagegen, dass der EGMR mit dem Begriff „burden of proof“ die objektive Beweislast bezeichnet. Auch spricht der EGMR davon, dass sich die Beweislast verlagert („to shift“). Die objektive Beweislast für eine bestimmte Tatsache hingegen ruht während des gesamten Verfahrens auf einer Partei und wechselt nicht zwischen den Parteien.574 Gegen ein Verständnis der Formulierung im Sinne der objektiven Beweislast spricht außerdem die vom EGMR verwendete Formulierung, dass die Aussage der Regierung, dass die nationale Ermittlung keine Beweismittel ergeben hätte, die eine 570 Nicht aber die Akkum-Entscheidung, in der der Begriff des „burden of proof“ nur in einem anderen Zusammenhang fiel, siehe Akkum et al. v. Türkei, 21894/93, Urteil vom 24. März 2005, Abs. 210 unter Verweis auf Salman. Allerdings scheint Pourgourides anderer Ansicht zu sein (Report Pourgourides, Abs. 81). Er führt das Akkum-Urteil als Beispiel einer Beweislastverlagerung an. 571 Zur nicht existenten subjektiven Beweislast sowie zu diesen Begrifflichkeiten siehe supra Kapitel 3, A.I. und A.IV. Siehe Meyer-Ladewig, NVwZ 24 (2009), S. 1531 (1535), der von einem Übergang der „Beweislast“ ausgeht, ohne diese näher zu benennen. Undifferenziert auch Chevalier-Watts, Human Rights Review 11/4 (2010), S. 1 (17 – 20). 572 Zur Verwendung dieses Begriffs siehe bereits supra Kapitel 3, A.I.1. 573 Shaipova et al. v. Russland, 10796/04, Urteil vom 6. November 2008, Abs. 87: „[…] nor does the Court consider that the burden of proof can be entirely shifted to the Government.“ (Hervorhebung nicht im Original). 574 Siehe supra S. 155, Fn. 122.
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Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
Verantwortlichkeit des Staates für die Entführung belegten, ungenügend sei, um die Beweislast zu erfüllen.575 Denn die objektive Beweislast muss nicht erfüllt werden; sie kommt gerade zur Anwendung, wenn ein Zustand der Beweislosigkeit vorliegt. In die gleiche Richtung weist außerdem, dass der EGMR gerade keine Beweislastentscheidung vornimmt, nachdem er feststellte, dass der beschwerdgegnerische Staat den „burden of proof“ nicht erfüllt hat. Vielmehr zieht der EGMR Schlussfolgerungen daraus, dass die Regierung bestimmte Dokumente nicht vorgelegt und keine alternative Erklärung für die Geschehnisse geboten habe, und kommt dann zu der – positiven – Feststellung, dass die Opfer von staatlichen Bediensteten verhaftet wurden.576 Der Gerichtshof knüpft die Verlagerung des „burden of proof“ außerdem daran, dass ein prima facie-Fall dargelegt ist. Würde er mit dem Ausdruck „burden of proof“ die objektive Beweislast bezeichnen, so hätte dies folgende Konsequenz: Da mit dem prima facie-Fall keine Absenkung des Beweismaßes einhergeht, bedeutete dies, dass der EGMR zunächst einen Beweis wider jeden Zweifel gestützt auf das einseitige Vorbringen des Beschwerdeführers und zu dessen Lasten fordert, um daraufhin einen Beweis wider jeden Zweifel zu Lasten des beschwerdegegnerischen Staates zu fordern. Dies würde dem Grundsatz widersprechen, dass die objektive Beweislast für ein und dieselbe Tatsache sich niemals im Laufe eines Verfahrens verlagert. Dem könnte nur abgeholfen werden, indem entweder – entgegen voriger Annahmen – eine Absenkung des Beweismaßes bereits im Rahmen des prima facie-Falles angenommen würde oder indem der Begriff „burden of proof“ nicht im Sinne einer objektiven Beweislast verstanden würde. Schließlich ist für die Frage, ob die Formulierung eine Verlagerung der objektiven Beweislast meint, entscheidend, welche Partei diese tatsächlich in der Rechtsprechungspraxis trägt. Letzteres ist allerdings praktisch von geringer Relevanz: Denn die vom Beschwerdeführer vorgebrachten Tatsachen sind bereits prima facie bewiesen; der Staat entkräftet diesen Beweis nicht, da er seiner Erklärungslast nicht nachkommt, und damit ist der Beweis zum geforderten Beweismaß erbracht. Ein Zustand der Beweislosigkeit, in welchem eine Entscheidung aufgrund der Beweislast erst getroffen wird, existiert mithin nicht. Erst wenn der beschwerdegegnerische 575 Z. B. in Aziyevy v. Russland, 77626/01, Urteil vom 20. März 2008, Abs. 74: „The Government’s statement that the investigation did not find any evidence to support the involvement of the special forces in the abduction is insufficient to discharge them from the above-mentioned burden of proof.“ Siehe ähnlich auch in Utsayeva et al. v. Russland, 29133/03, Urteil vom 29. Mai 2008, Abs. 160; Ibragimov et al. v. Russland, 34561/03, Urteil vom 29. Mai 2008, Abs. 82; Sangariyeva et al. v. Russland, 1839/04, Urteil vom 29. Mai 2008, Abs. 64; Betayev und Betayeva v. Russland, 37315/03, Urteil vom 29. Mai 2008, Abs. 70. 576 Aziyevy v. Russland, 77626/01, Urteil vom 20. März 2008, Abs. 74: „Drawing inferences from the Government’s failure to submit the documents which were in their exclusive possession or to provide another plausible explanation of the events in question, the Court considers that that Lom-Ali and Umar-Ali Aziyev were arrested on 24 September 2000 at their house in Grozny by State servicemen during an unacknowledged security operation.“
B. Einzelne relevante Aspekte
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Staat mit Beweismitteln untermauerte Erklärungen vorbringt, stellt sich die Frage, auf welcher Partei die objektive Beweislast ruht. Dies ist dann entscheidend dafür, welche Anforderungen an diese Erklärungen zu stellen sind: Ruhte die objektive Beweislast auf dem Beschwerdeführer, trüge der beschwerdegegnerische Staat nur das Risiko eines Gegenbeweises, andernfalls das des vollen Beweises des Gegenteils.577 Der Rechtsprechung des EGMR lässt sich aber nicht entnehmen, ob sie dem beschwerdegegnerischen Staat in dieser Situation das Risiko eines bloßen Gegenbeweises oder aber des vollen Beweises des Gegenteils zuweist. Die Anforderungen, die der Gerichtshof an den Beweis stellt, werden nicht deutlich, was insbesondere daraus resultiert, dass der Gerichtshof in keinem Fall davon ausging, dass ein prima facie-Fall dargelegt wurde, der „burden of proof“ sich verlagerte, aber der beschwerdegegnerische Staat diesen nicht erfüllen konnte.578 Der Rechtsprechung lässt sich lediglich die Anforderung entnehmen, dass nicht nur unsubstantiierte Erklärungen vorzubringen sind, sondern diese mit Beweismitteln zu belegen sind. Diese Anforderung kann aber auch an den schwächeren Gegenbeweis gestellt werden, der nicht lediglich eine theoretische, alternative Erklärung fordert, sondern gerade einen vernünftigen und mit Beweismitteln untermauerten Zweifel. Die Anforderungen an den Beweis des alternativen Geschehens spielten zum einen dann keine Rolle, wenn der EGMR feststellt, dass ein prima facie-Fall dargelegt wurde, der Staat aber seiner Last nicht nachgekommen sei, und eine Verletzung von Art. 2 EMRK in substantieller Hinsicht annimmt,579 zum anderen aber auch dann nicht, wenn der EGMR feststellt, dass der Beschwerdeführer keinen prima facie-Fall dargelegt habe und die Beweislast daher nicht übergegangen sei, und er zu Lasten des Beschwerdeführers entscheidet.580 In anderen Fällen, in denen der EGMR keine Verletzung von Art. 2 EMRK in seinem substantiellen Gehalt feststellte, geht der EGMR gar nicht darauf ein, ob der Beschwerdeführer auch einen prima facie-Fall darlegte, obgleich er zuvor die aus der Estamirov-Entscheidung bekannte Formu-
577
Dazu siehe bereits supra Kapitel 3, A.IV. Dies legt nahe zu vermuten, dass der Gerichtshof, sobald Beweise den Staat entlasten, bereits feststellt, dass kein prima facie-Fall dargelegt wurde und somit gar nicht dazu kommt, sich damit auseinander zu setzen, ob und unter welchen Voraussetzungen der „burden of proof“ erfüllt wurde. 579 So in der Mehrzahl der Fälle, z. B. in Aziyevy v. Russland, 77626/01, Urteil vom 20. März 2008, Abs. 74; siehe ähnlich auch in Utsayeva et al. v. Russland, 29133/03, Urteil vom 29. Mai 2008, Abs. 160; Ibragimov et al. v. Russland, 34561/03, Urteil vom 29. Mai 2008, Abs. 82; Sangariyeva et al. v. Russland, 1839/04, Urteil vom 29. Mai 2008, Abs. 64; Betayev und Betayeva v. Russland, 37315/03, Urteil vom 29. Mai 2008, Abs. 70. 580 So in Tog˘cu v. Türkei, 27601/95, Urteil vom 31. Mai 2005, Abs. 96: „In the light of the contradictory versions of events put forward by the applicant in the present case, the Court cannot but conclude that he has failed to make out his case to the extent necessary for the burden to shift onto the Government to explain that the custody records withheld by them contained no relevant information concerning Ender.“ 578
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Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
lierung heranzog.581 Er stellt lediglich fest, dass weder die Verantwortlichkeit des Staates für die Entführung zum geforderten Beweismaß „proof beyond reasonable doubt“ bewiesen sei, noch sich die Beweislast in Gänze auf den Staat verlagert habe.582 Im Ergebnis bleibt das Verständnis der Aussage des Gerichtshofes, die Beweislast verlagere sich somit auf die Regierung, ungewiss. Gleichwohl legt die vorstehende Analyse den Schluss nahe, dass der Gerichtshof mit dem Begriff des „burden of proof“ nicht die objektive Beweislast bezeichnete, sondern eine taktische (Erklärungs-)last. cc) Fazit Die Formulierung aus der Entscheidung Estamirov zieht der EGMR in Fällen des Verschwindenlassens heran, um die Verantwortlichkeit des Staates für die Entführung beziehungsweise Inhaftierung des Opfers festzustellen. Ihre Bedeutung liegt dabei darin, dass der EGMR diese Feststellung auch auf das einseitige Vorbringen des Beschwerdeführers stützt, soweit dieses den Beweis zum geforderten Beweismaß, dem des „proof beyond reasonable doubt“, erbringt. Die mangelhafte Mitwirkung des beschwerdegegnerischen Staates und die damit einhergehenden verbleibenden Unklarheiten hindern den EGMR mithin nicht, zu einer Feststellung zu kommen. Obgleich die Analyse der Rechtsprechung keinen eindeutigen Schluss zuließ, ist zu vermuten, dass die Formulierung nicht dazu führt, dass nunmehr der beschwerdegegnerische Staat die objektive Beweislast für die Tatsachen trägt, die seine Verantwortlichkeit für die Entführung beziehungsweise Inhaftierung begründen. Vielmehr trägt der beschwerdegegnerische Staat lediglich eine taktische Last, die ihm klar und dringlich vor Augen führt, welche Konsequenz – die Feststellung seiner Verantwortlichkeit für die Entführung – eine endgültige Verweigerung der Mitwirkung hat. Diesem Ergebnis der Untersuchung scheint nur auf den ersten Blick zu widersprechen, dass der EGMR zunächst feststellt, dass ein prima facie-Fall vorliegt, und erst im Anschluss daran eine Schlussfolgerung zu Lasten des Staates aus dessen mangelhafter Mitwirkung zieht. Denn unter der Prämisse, dass ein prima facie-Fall das anwendbare Beweismaß nicht absenkt, würde dies bedeuten, dass vorläufig – 581 Shaipova et al. v. Russland, 10796/04, Urteil vom 6. November 2008, Abs. 82; ähnlich auch im weiteren Vorgehen: Tagirova et al. v. Russland, 20580/04, Urteil vom 4. Dezember 2008, Abs. 69 – 78; Zakriyeva et al. v. Russland, 20583/04, Urteil vom 8. Januar 2009, Abs. 62 – 70; Khumaydov und Khumaydov v. Russland, 13862/05, Urteil vom 28. Mai 2009, Abs. 95 – 105. 582 Shaipova et al. v. Russland, 10796/04, Urteil vom 6. November 2008, Abs. 87: „To sum up, it has not been established to the required standard of proof ,beyond reasonable doubt‘ that the security forces were implicated in the kidnapping of Akhmed Shaipov; nor does the Court consider that the burden of proof can be entirely shifted to the Government.“ Zuvor erfolgte die folgende Feststellung (Abs. 85): „[T]he information at the Court’s disposal does not suffice to establish that the perpetrators belonged to the security forces or that a security operation had been carried out in respect of Akhmed Shaipov.“
B. Einzelne relevante Aspekte
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gestützt auf das einseitige Vorbringen – bereits ein Beweis wider jeden Zweifel erbracht ist. Ist dies der Fall, so müsste der EGMR nicht noch eine diesen bereits erbrachten Beweis stützende Schlussfolgerung im Anschluss heranziehen. Dieses Vorgehen des Gerichtshofes ist aber vorzugsweise als Bekräftigung des vorläufig gefundenen Ergebnisses der Tatsachenfeststellung zu verstehen. Die Schlussfolgerung kann sich nun auf die endgültig verweigerte Mitwirkung des Staates stützen, nachdem dieser die letzte Aufforderung und Warnung verstreichen ließ, und bestätigt damit das zuvor nur vorläufig festgestellte Ergebnis. 4. Wertende Schlussbetrachtung In Anbetracht dieser vom EGMR bereits in Fällen des Verschwindenlassens herangezogenen Reaktionen auf die mangelhafte Mitwirkung des beschwerdegegnerischen Staates mit Mitteln des Beweisrechts erscheint eine weitere Präzisierung, aber auch Fortentwicklung der Rechtsprechung geboten. Dabei müssen sich die beweisrechtlichen Reaktionen, die an die mangelhafte Mitwirkung im Verfahren anknüpfen, zum einen daran messen lassen, eine klare, kontinuierliche, vorhersehbare und praktikable Praxis zu ermöglichen. Zum anderen müssen sie geeignet sein, zum Teil gegenläufige Interessen in ein angemessenes Verhältnis zu setzen. Dabei stehen sich zwei Extreme gegenüber: Auf der einen Seite besteht die Möglichkeit, bei mangelnder Mitwirkung automatisch zu einer Entscheidung zu Lasten des Staates zu kommen. Dem steht auf der anderen Seite entgegen, der mangelnden Mitwirkung keine oder jedenfalls keine den Beschwerdeführer begünstigende Wirkung beizumessen. Die Interessen, die dabei eine Rolle spielen, sind zum einen das Interesse des beschwerdegegnerischen Staates, eine irrtümliche Entscheidung zu seinen Lasten zu verhindern.583 Ein solches Fehlurteil, das entgegen der materiellen Sachlage erginge, würde auch dem Interesse des Gerichts, der Vertragsparteien und der Verfahrensbeteiligten an einer materiellen Wahrheitsfindung widersprechen. Allerdings spielen berechtigte Interessen des Staates, seine Mitwirkung zu verweigern, keine Rolle. Denn diesen zwar grundsätzlich in Einzelfällen zu berücksichtigenden Interessen, die dem Schutz von Staatsgeheimnissen oder Rechten Dritter dienen können, ist bereits im Rahmen der Entscheidung des Gerichtshofes, ob überhaupt eine Verletzung der Mitwirkungspflichten vorliegt, Rechnung getragen worden. So sieht die VerfO in Art. 33 Abs. 2 die Möglichkeit vor, bestimmte berechtigte Interessen des Staates an der Geheimhaltung von Beweismitteln zu berücksichtigen, indem der öffentliche Zugang zu diesen Dokumenten beschränkt wird.584 583
Aufgrund des Gewichts einer völkerrechtlichen Verurteilung wiegt die Gefahr einer solchen fälschlichen Verurteilung schwer, siehe Schorm-Bernschütz, S. 192; Kokott, Beweislastverteilung, S. 395. Letztere stellt zusätzlich darauf ab, dass es auch um das Gemeinschaftsinteresse der Staaten geht. 584 Russland hingegen beruft sich regelmäßig auf sein innerstaatliches Recht, auf Art. 161 der Strafprozessordnung, um seine mangelnde Mitwirkung zu rechtfertigen. Seinen Interessen
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Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
Demgegenüber würde eine irrtümliche Entscheidung zu Lasten der Beschwerdeführer eine endgültige Verweigerung von Rechtsschutz bedeuten. Schwere Menschenrechtsverstöße, an deren Ahndung ein individuelles, aber auch ein objektives Interesse besteht, blieben ungesühnt.585 Auch unterbliebe eine Sanktionierung der Verletzung der Mitwirkungspflichten – jedenfalls in Bezug auf die Entscheidung im konkreten Fall und im Rahmen der Prüfung einer Verletzung von Art. 2 EMRK in seinem substantiellen Gehalt. Eine Sanktionierung der Verletzung von Mitwirkungspflichten liegt aber im Interesse der Glaubwürdigkeit und Funktionsfähigkeit des EGMR.586 Eine Entscheidung zu Lasten des Staates, der die Durchführung des Verfahrens durch seine mangelhafte Mitwirkung erschwert, käme dem Interesse zugute, die Funktionsfähigkeit, Schnelligkeit und Effizienz des Gerichtshofes zu erhalten und zu stärken.587 a) Schlussfolgerung Das Vorgehen des EGMR – mittlerweile auch in Art. 44C Abs. 1 VerfO kodifiziert –, Schlussfolgerungen („inferences“) aus der mangelhaften Mitwirkung des beschwerdegegnerischen Staates zu ziehen, hat große praktische Relevanz in Fällen des Verschwindenlassens von Personen. Die Kritik von Richter Bonello in seinem Sondervotum im Fall Tahsin Acar scheint daher nicht mehr aktuell zu sein: „The drawing of these compelling inferences, so far, remains a forlorn hope.“588
In Zukunft sollte der EGMR solche Schlussfolgerungen allerdings nicht lediglich zum Beweis der Tatsachen, die die Verantwortlichkeit des Staates für die Entführung beziehungsweise Inhaftierung begründen,589 heranziehen, sondern auch in Bezug auf den Beweis weiterer Tatsachen. Während die Feststellung der Verwicklung des Staates in die Entführung zwar meist im Mittelpunkt der Tatsachenfeststellung
können aber durch die Regelung des Art. 33 Abs. 2 VerfO angemessen Rechnung getragen werden. Auf diese Norm beruft sich Russland allerdings nicht, siehe Imakayeva v. Russland, 7615/02, Urteil vom 9. November 2006, Abs. 123. Es besteht kein Anlass daran zu zweifeln, dass Art. 33 Abs. 2 VerfO die berechtigten Interessen des Staates angemessen berücksichtigt. 585 Schorm-Bernschütz, S. 188. 586 Den Sanktionsgedanken betont Richter Bonello in seinem Sondervotum im Fall Tahsin Acar v. Türkei, 26307/95, Urteil vom 8. April 2004, Abs. 7 – 10, in Abs. 12 heißt es: „States, in detestable circumstances such as the disappearance in question, cannot be let off with benign raps on the knuckles.“ 587 Auf die Schnelligkeit und Effizienz stellt auch Schorm-Bernschütz, S. 192 ab. 588 Tahsin Acar v. Türkei, 26307/95, Urteil vom 8. April 2004, Sondervotum von Richter Bonello, Abs. 11. 589 Nach Ansicht von Barrett, Harvard HRJ 22 (2009), S. 133 (141) zieht der EGMR die mangelnde Kooperation heran, um auf die Inhaftierung und die Tötung des Opfers zu schließen. Während er dieses Vorgehen zwar als logisch korrekt bezeichnet, würde es die mangelnde Kooperation gegenüber anderen bedeutenden Faktoren zu sehr betonen.
B. Einzelne relevante Aspekte
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steht590 und sich die mangelhafte Mitwirkung des beschwerdegegnerischen Staates regelmäßig auf den Beweis dieser Tatsache bezieht, kann sich die mangelhafte Kooperation des Staates ausnahmsweise auf den Beweis einer anderen Tatsache beziehen. In diesem Fall wäre eine Schlussfolgerung auf die Verantwortlichkeit des Staates für die Entführung nicht möglich, wohl aber auf diese andere Tatsache. Des Weiteren sollte der EGMR im Urteil deutlich machen, für den Beweis welcher Tatsache er eine solche Schlussfolgerung heranzieht: Die pauschale Aussage, die mangelhafte Mitwirkung könne Schlussfolgerungen auf die Begründetheit der Vorwürfe des Beschwerdeführers zulassen,591 ist allein nicht ausreichend. Aus dem Urteil sollte klar hervorgehen, für den Beweis welcher konkreter Tatsache der EGMR eine Schlussfolgerung auch tatsächlich zog; dies würde dem beschwerdegegnerischen Staat die Folgen seiner mangelhaften Mitwirkung vor Augen führen und die Rechtsprechung des Gerichtshofes für die Zukunft vorhersehbarer und klarer machen. Anzumerken ist dabei, dass der EGMR eigentlich nicht unmittelbar von der mangelhaften Mitwirkung auf eine Tatsache schlussfolgert.592 Vielmehr bezieht sich die Schlussfolgerung auf das Beweismittel, auf das der Beschwerdeführer seine Vorwürfe stützt und in Bezug auf das der Staat seine Mitwirkungspflichten verletzt. Aufgrund der mangelhaften Mitwirkung ist diesem – dem EGMR nicht beigebrachten – Beweismittel nunmehr eine dem Staat belastende Wirkung zuzuweisen, so dass die mangelhafte Mitwirkung mittelbar zum Beweis der Tatsache führt, auf die sich dieses Beweismittel bezieht. Es wird dabei allerdings nicht ein bestimmter Inhalt, eine bestimmte Aussage des zurückgehaltenen Beweismittels fingiert, sondern lediglich ein den Staat in Bezug auf den Beweis einer bestimmten Tatsache belastender Beweiswert angenommen. Der EGMR sollte außerdem in seinen Urteilen deutlicher machen, welchen Beweiswert er dieser Schlussfolgerung zuweist und dabei von einem hohen Beweiswert ausgehen. Bezieht sich der Beschwerdeführer zum Beweis der von ihm vorgetragenen Tatsache lediglich auf ein Beweismittel, das aufgrund der mangelhaften Mitwirkung des Staates nicht verfügbar ist, und liegen keine weiteren Beweismittel vor, so sollte der Gerichtshof die Schlussfolgerung als geeignet ansehen, den Beweis auch allein zu erbringen.593 Denn geht der Gerichtshof davon aus, dass dieses Be590
Der EGMR zieht diese Tatsache dann im Weiteren gerade als Indiz zum Nachweis des Todes und der Verantwortlichkeit des Staates für diesen heran, siehe supra Kapitel 3, B.II. und III. 591 Z.B. in Timurtas¸ v. Türkei, 23531/94, Urteil vom 13. Juni 2000, Abs. 66. 592 Auch Benzing, S. 334 spricht nur davon, dass dies „in letzter Konsequenz“ der Fall sein könne. 593 Es scheint, als würde der EGMR der Schlussfolgerung in der Praxis bislang ein geringeres Gewicht beimessen und sie jedenfalls als nicht allein hinreichenden Beweis bewerten. Allerdings könnte dies auch daran liegen, dass in der Praxis meist andere Beweismittel existieren, wenn dies auch zum Teil recht schwache Indizien sind, wie die Vorgehensweise, Kleidung und Sprache der Entführer.
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Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
weismittel existiert und der beschwerdegegnerische Staat es entgegen seiner Verpflichtung zurückhält,594 so kann es dafür keine andere Erklärung geben, als dass dieses Beweismittel den Vortrag des Beschwerdeführers stützt.595 Allerdings ist auch eine solche Schlussfolgerung mit einem hohen Beweiswert widerlegbar.596 Zu Recht knüpfte der EGMR bisher die Schlussfolgerung nicht an die Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 38 EMRK. Denn solange der EGMR einen solchen Verstoß nicht in all jenen Verfahren feststellt, in denen er auch Mitwirkungsdefizite rügt, erschiene eine solche Verknüpfung willkürlich. Wünschenswert wäre, wenn der EGMR einen Verstoß gegen Art. 38 EMRK nicht nur in den Fällen explizit prüfen und feststellen würde, in denen der Beschwerdeführer einen solchen Verstoß vorträgt. Vielmehr sollte der EGMR auch ohne eine solche Rüge auf Art. 38 EMRK eingehen. Dies hätte zur Folge, dass die Verwendung der Schlussfolgerung aus der mangelhaften Mitwirkung mit der Feststellung, dass Art. 38 EMRK nicht befolgt wurde, nunmehr einherginge. Auch sollte der Gerichtshof, wenn der beschwerdegegnerische Staat eine Mitwirkungspflicht verletzt hat, die Anlass für eine Schlussfolgerung zu seinen Lasten gibt, diese konsequent heranziehen. Damit würden jene Fälle unterbleiben, in denen der EGMR zwar ein Mitwirkungsdefizit feststellte, eine konkrete Schlussfolgerung jedoch ohne Begründung nicht zu ziehen schien. Die vorgeschlagene präzisierte und weitergehende Verwendung einer Schlussfolgerung aus der mangelhaften Mitwirkung trüge zur Klarheit und Vorhersehbarkeit der Rechtsprechung bei. Aufgrund der großen Flexibilität, die die Methode der Schlussfolgerung kennzeichnet, stellt sie auch ein adäquates Mittel dar, um ein angemessenes Verhältnis der widerstreitenden Interessen herzustellen: Die grundsätzliche Wertung, die mangelnde Mitwirkung als für den Staat belastendes Indiz einzuschätzen, trägt dabei dem Sanktionsgedanken sowie den Interessen des Individuums, der Staatengemeinschaft und des Gerichtshofes Rechnung.597 Die Interessen des beschwerdegegnerischen Staates sowie die diesen entlastenden Beweismittel können flexibel im Einzelfall berücksichtigt werden.
594 Diese Feststellung könnte dem Gerichtshof im Einzelfall Schwierigkeiten bereiten. Dies trifft auf den regelmäßig von Russland in Fällen des Verschwindenlassens zurückgehaltenen Ermittlungsbericht der nationalen Behörden allerdings nicht zu. 595 Siehe Smith, EHRLR Issue 2 (2009), S. 206 (215 f.), siehe aber auch an anderer Stelle die Erklärung, der Staat möchte durch seine Zurückhaltung den Vorwürfen keine weitere Publizität verschaffen (S. 221); diese letztere Erklärung erwähnt auch Weissbrodt, Nordic JIL 57 (1988), S. 151 (168). Siehe auch Loucaides, Essays, S. 164. 596 Benzing, S. 333 f. 597 Für eine solche Indizwirkung auch Loucaides, Essays, S. 164; Erdal, E. L. Rev. Human Rights Survey 26 (2001), S. 68 (79 f.).
B. Einzelne relevante Aspekte
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b) Keine Normierung einer „Vermutungsregelung“ erforderlich Über diese durch die Rechtsprechung vorzunehmende Präzisierung und weitergehende Verwendung der Schlussfolgerung hinaus ist eine Änderung der VerfO, insbesondere von Art. 44C Abs. 1 VerfO, nicht erforderlich. Die Normierung einer „Vermutungsregelung“, wie sie Schorm-Bernschütz vorschlägt, würde zu großen Teilen lediglich die Praxis des Gerichtshofes aufgreifen, dabei allerdings eine starke Einschränkung gegenüber der flexiblen Formulierung des heutigen Art. 44C Abs. 1 VerfO zur Folge haben. Die vorgeschlagene „Vermutungsregelung“ von SchormBernschütz lautet: „Wenn es vernünftigerweise erwartet werden kann, daß ein gewisser Beweis existiert und in der Hand bzw. unter der Kontrolle allein einer der Parteien ist, gibt das Versäumnis dieser Partei, solchen Beweis vorzulegen bzw. eine diesbezügliche Überprüfung zuzulassen, Anlaß zu der Schlußfolgerung, daß solcher Beweis, falls er vorgelegt würde, zum Nachteil dieser Partei gereichen würde. Dies gilt jedoch nur, sofern keine anderweitigen Beweismittel zu einer abweichenden Schlußfolgerung führen.“598
Die „Vermutungsregelung“ enthält damit keine starren Aussagen zum Inhalt der Schlussfolgerung und zu deren Beweiswert. Dies ist auch zu begrüßen, da es den Spielraum, den der Gerichtshof im Einzelfall benötigt, ansonsten unzulässig einengen würde. Auch stellt die von Schorm-Bernschütz aufgestellte „Vermutungsregelung“ richtigerweise darauf ab, dass die Schlussfolgerung nicht unmittelbar zum Beweis einer Tatsache führt, sondern nur mittelbar, indem das zurückgehaltene Beweismittel zu Lasten des Staates herangezogen wird. In Bezug auf den Beweiswert der Schlussfolgerung verwendet Schorm-Bernschütz aber die Formulierung „gibt […] Anlaß zu“ und hält es für erforderlich, diese in S. 2 einzuschränken für den Fall, dass anderweitige Beweismittel zu einer abweichenden Schlussfolgerung führen. Diese in S. 2 der Vermutungsregelung enthaltene Einschränkung entspricht in der Sache der Regelung in Art. 44C Abs. 1 VerfO sowie der Praxis des Gerichtshofes, zeigt aber die auch ansonsten unnötigerweise umständliche Formulierung der „Vermutungsregelung“ auf, die die in der Praxis gebräuchliche Wortwahl nicht widerspiegelt. Schließlich bleibt die genaue Bedeutung der Formulierung „[w]enn es vernünftigerweise erwartet werden kann“ unklar; Schorm-Bernschütz selbst stellt an anderer Stelle zutreffender darauf ab, dass die Beweismittel tatsächlich allein in der Hand des Staates liegen müssen.599 Eine vernünftige Erwartung diesbezüglich ist
598
Schorm-Bernschütz, S. 194. Sie schlug diese allerdings vor, bevor Art. 44C Abs. 1 VerfO im Dezember 2004 in die VerfO eingefügt wurde. Die „Vermutungsregelung“ sei keine bloße Kodifizierung der Rechtsprechungspraxis und sei vorzugsweise durch ein Zusatzprotokoll im Primärrecht zu verankert, realistischerweise aber in die VerfO aufzunehmen, S. 194 f., 196. 599 Schorm-Bernschütz, S. 194: „Nur für den Fall, daß die entscheidenden Beweismittel tatsächlich allein in der Hand des unkooperativen Staates liegen bzw. das Gericht der Überzeugung ist, daß die angeforderten Dokumente oder ähnliches tatsächlich dieser Partei zur Verfügung stehen […].“
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Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
gerade nicht ausreichend; vielmehr muss der Gerichtshof dies als (tatsächlich) bewiesen erachten. Während damit die Aufnahme dieser von Schorm-Bernschütz vorgeschlagenen „Vermutungsregelung“ in die VerfO nicht befürwortet werden kann, bedarf Art. 44C Abs. 1 VerfO auch in sonstiger Hinsicht keiner weiteren Präzisierung. Die Formulierung, der Gerichtshof könne die ihm angebracht erscheinenden Schlüsse ziehen („such inferences as it deems appropriate“), berücksichtigt gerade, dass der Inhalt der Schlussfolgerung nicht abstrakt festgelegt werden kann, sondern in Bezug auf den jeweiligen Fall, das heißt die dort umstrittenen und relevanten Tatsachen, die vorliegenden und vorenthaltenen Beweismittel sowie die Art der Kooperationsverweigerung, entwickelt werden muss. Auch könnte die Schlussfolgerung nicht pauschal als „stark“ bezeichnet werden, da ihr Überzeugungsgrad von den Umständen des jeweiligen Falles abhängt und sie im Einzelfall gerade durch den Staat entlastende Beweise widerlegt sein kann.600 Immerhin erwägenswert schiene es Art. 44C Abs. 1 VerfO insofern zu ändern, als dass der Gerichtshof nunmehr nicht mehr eine Schlussfolgerung aus der mangelhaften Mitwirkung ziehen kann („may“), sondern muss („shall“). Allerdings ist es möglich, dass insbesondere die mangelnde effektive Teilnahme an dem Verfahren („otherwise fails to participate effectively in the proceedings“) im Einzelfall keine Auswirkungen auf die Tatsachenfeststellung hat und der Gerichtshof daher auch daraus keine Schlussfolgerung im Rahmen der Tatsachenfeststellung ziehen sollte. Auch dieser Aspekt erfordert daher keine Änderung des Art. 44C Abs. 1 VerfO. c) Abstellen auf einseitiges Vorbringen/prima facie-Fall Der Gerichtshof sollte auch in Zukunft von der Möglichkeit Gebrauch machen, seine Tatsachenfeststellung auf das einseitige Vorbringen des Beschwerdeführers zu stützen, soweit er dies aufgrund der mangelhaften Kooperation des beschwerdegegnerischen Staates für erforderlich hält. Diese Praxis des EGMR steht auch im Einklang mit der Rechtsprechung des IAGMR, auf die Beschwerdeführer vor dem EGMR Bezug nahmen:601
600 Siehe auch Smith, EHRLR Issue 2 (2009), S. 206 (223 f.), der auf das „totality of the evidence“- Prinzip abstellt. 601 So in Akkum et al. v. Türkei, 21894/93, Urteil vom 24. März 2005, Abs. 180: „The first and second applicants further argued that in the circumstances of the case, the Government were required to provide a plausible explanation of how the two Mehmets had been killed. In support of their arguments, they referred to the judgment of the Inter-American Court of Human Rights in the case of Godínez-Cruz v. Honduras, in which that court had held that “in proceedings to determine human rights violations the State cannot rely on the defense that the complainant has failed to present evidence when it cannot be obtained without the State’s cooperation“ (judgment of 20 January 1989, Inter-Am. Ct. H. R. Ser. C No. 5, § 141).“
B. Einzelne relevante Aspekte
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„In contrast to domestic criminal law, in proceedings to determine human rights violations the State cannot rely on the defense that the complainant has failed to present evidence when it cannot be obtained without the State’s cooperation.“602
In den Beschwerden, die das Verschwindenlassen von Personen in Tschetschenien betreffen und gegen Russland gerichtet sind, zieht der Gerichtshof nunmehr auch regelmäßig die bereits näher analysierte Formulierung aus der Estamirov-Entscheidung heran, die die Bereitschaft des EGMR zum Ausdruck bringt, auch ohne die Mitwirkung des beschwerdegegnerischen Staates auf der Grundlage der vom Beschwerdeführer beigebrachten Beweise zu entscheiden, und gleichzeitig eine letzte Aufforderung und Warnung an den Staat richtet. Die Formulierung aus der Estamirov-Entscheidung ist richtigerweise auch mit der (impliziten) Einschätzung des EGMR verbunden, dass die beigebrachten Beweismittel dazu geeignet sind, den Beweis der vom Beschwerdeführer behaupteten Tatsachen zu erbringen – vorläufig und soweit der Staat nicht noch aktiv wird. Damit läge ein prima facie-Fall vor. In diese Beweiswürdigung fließt bereits ein – und dies sollte der EGMR in Zukunft deutlich machen –, dass der Gerichtshof Schlussfolgerungen aus der mangelhaften Mitwirkung zieht. Eine zukünftige Normierung dieses Vorgehens in der VerfO ist weder erforderlich, noch wäre sie in Anbetracht der Regelungsdichte der VerfO gebräuchlich. So folgt die Kompetenz des Gerichtshofes, die Tatsachenfeststellung auch auf das einseitige Vorbringen zu stützen, dem in Art. 44C Abs. 2 VerfO niedergelegten Grundsatz, nach dem die mangelhafte Mitwirkung kein Grund ist, die Prüfung der Beschwerde einzustellen. Zwar steht vorliegend aufgrund der mangelhaften Mitwirkung keine Einstellung des Verfahrens im formellen Sinne in Rede. Vielmehr droht die Tatsachenfeststellung und damit die Entscheidung in der Sache zu Lasten des Beschwerdeführers auszugehen; ein eigentlich vorliegender Konventionsverstoß bliebe damit ungesühnt. Diese Folge ist von seinen praktischen Auswirkungen aber mit der Einstellung des Verfahrens vergleichbar, so dass auch der der Regelung des Art. 44C Abs. 2 VerfO zugrunde liegende Rechtsgedanke heranzuziehen ist: Würde sich der Gerichthof weigern, eine Tatsachenfeststellung auch notfalls auf das einseitige Vorbringen zu stützen, könnte der beschwerdegegnerische Staat in der Praxis eine Entscheidung zu seinen Lasten dadurch verhindern, dass er die Kooperation mit dem EGMR einstellt. d) Die objektive Beweislast und das Beweismaß Die regelmäßige Verwendung der Formulierung aus der Entscheidung Estamirov in Fällen des Verschwindenlassens in den letzten Jahren hat der Rechtsprechung eine große Kontinuität verliehen. Der Gerichtshof geht inzwischen in tatsächlich und rechtlich ähnlich gelagerten Fällen nach einem vorhersehbaren Schema vor. Dabei 602 Velásquez-Rodríguez v. Honduras, Merits, Urteil vom 29. Juli 1988, Series C Nr. 4, Abs. 135. Siehe auch Pasqualucci, S. 211 für weitere Nachweise.
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Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
blieb in der Analyse dieses Vorgehens allerdings letztlich ungeklärt, ob der EGMR die objektive Beweislast dem beschwerdegegnerischen Staat in Reaktion auf dessen mangelhafte Mitwirkung zuwies – auch wenn zu vermuten ist, dass dies nicht der Fall ist. Die vorstehende Analyse der Rechtsprechung kam vielmehr zu dem Ergebnis, dass der beschwerdegegnerische Staat wohl lediglich eine taktische Last trägt. Im Folgenden soll nunmehr zum einen untersucht und bewertet werden, ob der Gerichtshof die objektive Beweislast dem Staat, der seine Kooperation verweigert, zuweisen sollte. Ein solches Vorgehen entspräche dem von Richter Bonello in seinem Sondervotum zum Urteil Tahsin Acar im Jahre 2004 aufgeworfenem Vorschlag: „In my view the Court ought to have declared, boldly and defiantly, that, when a State defaults in its duties to investigate and hand over what evidence it has under its control, the burden of proof shifts.“603
Damit einhergehend wird zum anderen auch die Frage nach dem anzuwendenden Beweismaß zu beantworten sein, die in einem engen Zusammenhang mit der Verteilung der objektiven Beweislast steht. Eine solche Zuweisung der objektiven Beweislast an den beschwerdegegnerischen Staat kann jedenfalls nicht pauschal erfolgen, sondern nur bezogen auf jene einzelnen Tatsachen, in Bezug auf deren Beweis der beschwerdegegnerische Staat seine Mitwirkungspflichten verletzt. Diese mangelhafte Mitwirkung müsste bewiesen sein und für diesen Beweis trüge auch der Beschwerdeführer die objektive Beweislast. Das heißt, kann nach Ausschöpfung aller Beweise nicht festgestellt werden, ob ein Beweismittel existiert, dieses dem Staat zugänglich ist und er es entgegen seiner Mitwirkungspflicht zurückhält, so kann auch keine Verlagerung der objektiven Beweislast erfolgen. Andernfalls würde die Beweislastverlagerung an einen Umstand anknüpfen, für den der beschwerdegegnerische Staat bereits die Beweislast trägt; dies würde dem Staat das gesamte Risiko zuweisen und dem Beschwerdeführer ermöglichen, seinerseits überhaupt keine Bemühungen anzustreben, den Beweis zu erbringen. Problematisch ist, dass der EGMR eine Verlagerung der objektiven Beweislast – so denn die Rechtsprechung entgegen vorstehender Analyse dementsprechend verstanden wird – zusätzlich auch an die Darlegung eines prima facie-Falles zu knüpfen scheint. Trüge der Beschwerdeführer die objektive Beweislast für den Beweis des prima facie-Falles, so würde sich die objektive Beweislast für ein und dieselbe Tatsache tatsächlich im Verfahren verlagern. Dies widerspräche dem Grundsatz, dass sich die objektive Beweislast nie verlagert.604 Dieser Problematik 603 Tahsin Acar v. Türkei, 26307/95, Urteil vom 8. April 2004, Sondervotum von Richter Bonello, Abs. 12. Zweifel verbleiben, ob Richter Bonello die objektive Beweislast mit dem Begriff des „burden of proof“ bezeichnete. Siehe auch Sirin Yilmaz v. Türkei, 35875/97, Urteil vom 29. Juli 2004, teilweise abweichende Meinung von Richter Bonello, Abs. 5 – 7. 604 Siehe dazu schon supra S. 155, Fn. 122. Zunächst trüge der Beschwerdeführer das Risiko, dass ein prima facie-Fall vorliegt, verstanden als vorläufiger voller Beweis, das heißt als Beweis wider jeden Zweifel, gestützt auf das einseitige Vorbringen. Erst wenn dies gelingt,
B. Einzelne relevante Aspekte
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kann nicht dadurch abgeholfen werden, dass der beschwerdegegnerische Staat bereits die Beweislast für das Vorliegen des prima facie-Falles trägt; denn in diesem Fall knüpfte die Beweislastverlagerung gerade nicht an das Vorliegen des prima facie-Falles an, sondern träte schon ohne diese zusätzliche Voraussetzung ein. Vielmehr ist die Darlegung eines prima facie-Falles nicht als Voraussetzung einer möglichen Beweislastverlagerung anzusehen. Die Relevanz der Frage, ob dem beschwerdegegnerischen Staat die objektive Beweislast zuzuweisen ist, ist in der Praxis allerdings gering. Denn der EGMR kommt in der Regel zu dem Schluss, dass ein prima facie-Fall in Bezug auf die vom Beschwerdeführer vorgetragenen Tatsachen vorliegt; da damit – zumindest vorläufig – der volle Beweis erbracht ist, liegt kein Zustand der Beweislosigkeit vor. Auswirkungen hätte die Zuweisung der objektiven Beweislast an den beschwerdegegnerischen Staat für die Anforderungen, die an den Beweis einer alternativen Erklärung zu stellen sind: Der Staat trüge entweder das Risiko eines bloßen mit Beweismitteln untermauerten Gegenbeweises oder aber des vollen Beweises des Gegenteils.605 Der Vorteil, den der Beschwerdeführer grundsätzlich durch die Zuweisung der objektiven Beweislast an den beschwerdegegnerischen Staat hat, ist auch davon abhängig, welches Beweismaß zur Anwendung kommt: Er ist dann besonders groß, wenn der Gerichtshof ein hohes Beweismaß zu Lasten des beschwerdegegnerischen Staates heranzieht.606 aa) Verlagerung der objektiven Beweislast und Beibehaltung des hohen Beweismaßes Sollte der EGMR auch in Zukunft an dem hohen Beweismaß „proof beyond reasonable doubt“ festhalten, so wäre eine Zuweisung der objektiven Beweislast an den beschwerdegegnerischen Staat in Reaktion auf die Verletzung von Mitwirkungspflichten der jetzigen Situation gegenüber vorzugswürdig.607 Dieses Vorgehen hätte zur Folge, dass der Beschwerdeführer lediglich das Risiko trüge, dass
wenn also gerade kein Zustand der Beweislosigkeit vorliegt und eine Entscheidung zu Gunsten des Beschwerdeführers jedenfalls dann ansteht, wenn der Staat weiterhin seine Kooperation verweigert, ginge die objektive Beweislast auf den Staat über. Nun trüge dieser das Risiko, dass der volle Beweis des Gegenteils, das heißt ein Beweis wider jeden Zweifel, gelingt. Von beiden Parteien würde damit nacheinander der volle Beweis in Bezug auf dieselbe Tatsache verlangt. 605 Dazu siehe supra Kapitel 3, A.IV. 606 Zu diesem Abhängigkeitsverhältnis zwischen Beweislastverteilung und Beweismaß vgl. bereits supra Kapitel 3, B.II.3.c). 607 Diese Ansicht scheinen auch Scovazzi/Citroni, S. 206 zu vertreten: „Rather than burdening the relatives of the victims with almost insurmountable obstacles, more attention should be devoted to the obstructive behaviour of the State authorities that bear the burden of proof in cases of alleged disappearances.“
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Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
vernünftige Zweifel am Beweis der vorgetragenen Tatsache bestehen.608 Der Staat trüge das Risiko des vollen Beweises des Gegenteils der vorgetragenen Tatsache, das heißt das Risiko, dass nicht wider jeden vernünftigen Zweifel das Gegenteil der vom Beschwerdeführer vorgetragenen Tatsache bewiesen ist. Eine solche vom Grundsatz „actori incumbit probatio“ abweichende Beweislastverteilung verbunden mit der gleichzeitigen Heranziehung des höchsten Beweismaßes berücksichtigt die Interessen, die mangelhafte Mitwirkung des beschwerdegegnerischen Staates zu sanktionieren, das starke Ungleichgewicht zwischen den Parteien zu beheben und damit dem fair trial-Grundsatz Rechnung zu tragen, in angemessener Weise.609 Ein solches Vorgehen des EGMR könnte sich an der in Art. 39 der VerfO der IAKMR enthaltenen Regelung orientieren.610 Diese sieht ausdrücklich eine Vermutung („presumption“) als Reaktion auf die Kooperationsverweigerung vor, welche als Beweislastnorm verstanden werden kann: „The facts alleged in the petition, the pertinent parts of which have been transmitted to the State in question, shall be presumed to be true if the State has not provided responsive information during the maximum period set by the Commission under the provisions of Article 38 of these Rules of Procedure, as long as other evidence does not lead to a different conclusion.“
Wie auch der EGMR kann die IAKMR danach ihre Entscheidungen ebenfalls auf das einseitige Vorbringen des Beschwerdeführers stützen. Zwar geht aus der Regelung des Art. 39 der VerfO der IAKMR nicht unmittelbar hervor, welche Partei die objektive Beweislast für die zu beweisenden Tatsachen trägt und welches Beweismaß heranzuziehen ist,611 die Formulierung der „presumption“ legt aber nahe, dass die objektive Beweislast auf dem beschwerdegegnerischen Staat ruht, da Art. 39
608 Zusätzlich trüge der Beschwerdeführer das Risiko, dass die mangelhafte Mitwirkung bewiesen ist, siehe supra Kapitel 3, B.IV.4.d). 609 Siehe auch Drucker, SJIL 25 (1989), S. 289 (316 f.) zu den Gründen für eine Umkehr der Beweislast. 610 Zu beachten ist in dieser Hinsicht auch die Rechtsprechung des IAGMR. Dieser zog zwar in Erwägung, aus der mangelhaften Kooperation des beschwerdegegnerischen Staates eine Vermutung in Bezug auf die Verantwortlichkeit des Staates zu ziehen, tat dies in Anbetracht anderer Beweismittel aber nicht. Siehe Garbi und Solis Corrales v. Honduras, Merits, Urteil vom 15. März 1989, Series C Nr. 6, Abs. 160: „The lack of diligence, approaching obstructionism, in not responding to repeated requests from […] the Court, regarding the location and exhumation of the ”cadaver of La Montañita,” made the discovery of that body impossible and could support a presumption of government responsibility […]. Nevertheless, in view of the other evidence, that presumption alone does not authorize, and even less requires, a finding that Honduras is responsible for the disappearance of Francisco Fairén Garbi.“ Zu Art. 39 der VerfO der IAKMR siehe Pizzolo, S. 145 – 149. 611 Die Norm spezifiziert insbesondere nicht, welche Anforderungen an eine „different conclusion“ zu stellen sind.
B. Einzelne relevante Aspekte
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als negative Voraussetzung fordert, dass andere Beweise zu keinem anderen Schluss führen.612 Während die Zuweisung der objektiven Beweislast an den beschwerdegegnerischen Staat damit jedenfalls dann vorzugswürdig erscheint, wenn der EGMR an dem hohen Beweismaß weiterhin festhält, sprechen allerdings die folgenden Erwägungen dafür, auf andere Weise einen demgegenüber vorzugswürdigen Ausgleich der widerstreitenden Interessen herzustellen: Auf dem beschwerdegegnerischen Staat würde in dieser Konstellation das Risiko des vollen Beweises eines Negativums, des Nichtvorliegens der vom Beschwerdeführer vorgetragenen Tatsachen, ruhen. Dieser Beweis kann de facto nur gelingen, wenn der Staat den vollen Beweis einer Geschehensalternative erbringt, zum Beispiel dass das Opfer sich dem Widerstand anschloss oder Opfer organisierter Kriminalität wurde. Ein solcher Beweis gelingt ungleich schwerer als der Beweis der vorgetragenen Tatsache und belastet den beschwerdegegnerischen Staat damit stark. Auch dem Interesse an einer materiellen Wahrheitsfindung wird eine Zuweisung der objektiven Beweislast an den beschwerdegegnerischen Staat, die den Beweis des Gegenteils der eigentlich strittigen Tatsache wider jeden Zweifel fordert, nur ungenügend gerecht, da damit das Interesse an einer Aufklärung des tatsächlichen Geschehensablaufs gegenüber dem Beweis einer Alternative zu diesem vernachlässigt wird. Schließlich würde die Zuweisung der objektiven Beweislast an den beschwerdegegnerischen Staat in Reaktion auf die Verletzung der Mitwirkungspflichten über die in Art. 44C Abs. 1 VerfO vorgesehene Reaktion hinausgehen. Denn trägt der Staat nunmehr das Risiko, dass sich die Tatsache nicht beweisen lässt, so treten Schlussfolgerungen zu seinen Lasten in den Hintergrund. bb) Absenkung des Beweismaßes Daher erscheint es demgegenüber vorzugswürdig, wenn der EGMR in Zukunft vom hohen Beweismaß „proof beyond reasonable doubt“ abrückte und stattdessen das Beweismaß der überwiegenden Wahrscheinlichkeit heranzöge. Eine solche Absenkung des Beweismaßes sollte vorzugsweise auch nicht mit einer Zuweisung der objektiven Beweislast an den beschwerdegegnerischen Staat einhergehen.613 Während die Anwendung dieses niedrigeren Beweismaßes zu Gunsten des Beschwerdeführers bereits aus anderen Erwägungen wünschenswert erscheint,614 ist sie 612 Abweichend die Einschätzung von Benzing, S. 689: Es werde weder eine Vermutungsbasis gefordert noch werde die objektive Beweislast umgekehrt. Zur Rechtsprechung des IAGMR in Bezug auf eine Beweislastverlagerung in Folge mangelnder Kooperation siehe Claude, Intercultural Human Rights Law Review 5 (2010), S. 407 (416 f.). 613 Für die Begründung, warum diese Konstellation gegenüber der Konstellation, in der das Beweismaß der überwiegenden Wahrscheinlichkeit herangezogen wird, aber die objektive Beweislast dem beschwerdegegnerischen Staat zugewiesen wird, vorzugswürdig ist, kann auf Kapitel 3, B.II.3.c)cc) verwiesen werden. 614 Siehe supra Kapitel 3, B.I.
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Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
erst recht in Bezug auf jene Tatsachen zu fordern, für deren Beweis der beschwerdegegnerische Staat seinen Mitwirkungspflichten nicht nachkam. Denn in dieser Konstellation ist der beschwerdegegnerische Staat für den Zustand der Beweisnot und für die prozessual unterlegene Position des Beschwerdeführers verantwortlich. Das Interesse, eine Fehlverurteilung des Staates zu vermeiden, tritt in Anbetracht der Tatsache zurück, dass dieser jede Möglichkeit hatte, sich konventionskonform zu verhalten. Durch sein eigenes Verhalten hat der Staat die Schutzwürdigkeit seines Interesses, nicht für etwas verurteilt zu werden, für das er in Wahrheit nicht verantwortlich ist, jedenfalls in Teilen verspielt.615 Die vorgeschlagene Absenkung des Beweismaßes unter Beibehaltung der Beweislastverteilung nach dem Grundsatz „actori incumbit probatio“ steht auch im Einklang mit der Regelung in Art. 44C Abs. 1 VerfO; nach wie vor werden die aus der mangelhaften Mitwirkung zu ziehenden Schlussfolgerungen eine wichtige Rolle im Rahmen der Beweiswürdigung spielen. e) Zusammenfassung Der vom EGMR beschrittene Weg, der mangelhaften Mitwirkung des beschwerdegegnerischen Staates im Rahmen des Beweisrechts größere Bedeutung beizumessen, ist zu begrüßen. Richtigerweise zieht er Schlussfolgerungen zu Lasten des Staates616 und stützt seine Feststellung notfalls auch auf das einseitige Vorbringen des Beschwerdeführers. Sollte der EGMR auch in Zukunft an dem hohen Beweismaß „proof beyond reasonable doubt“ festhalten, so ist eine Zuweisung der objektiven Beweislast an den beschwerdegegnerischen Staat für die Tatsachen, in Bezug auf deren Beweis der beschwerdegegnerische Staat seine Mitwirkungspflichten verletzt hat, wünschenswert. Vorzugswürdig erscheint es demgegenüber, lediglich das Beweismaß der überwiegenden Wahrscheinlichkeit heranzuziehen, während die objektive Beweislast nach wie vor auf dem Beschwerdeführer ruht. Eine solche Absenkung des Beweismaßes erleichterte dem Gerichtshof auch, vermehrt Schlussfolgerungen aus der mangelhaften Mitwirkung des Staates zu ziehen, da der Beweis dieser Hilfstatsache leichter gelingen würde.
615 Siehe aber auch Wiesbrock, S. 245, die eine Absenkung des Beweismaßes unter die Schwelle der hohen Wahrscheinlichkeit ablehnt, wenn ein Staat nicht zu den behaupteten Angaben Stellung bezieht. Rudolf, EuGRZ 23 (1996), S. 497 (503) lehnt eine generelle Absenkung des Beweismaßes als Sanktion für fehlende Kooperation in Verfahren vor dem EGMR ab. 616 Siehe auch Erdal, E. L. Rev. Human Rights Survey 26 (2001), S. 68 (80) mit dem Hinweis, dass diese Schlussfolgerungen erst kürzlich eine wichtige Rolle zu spielen begannen.
C. Zusammenfassende Bewertung und Ausblick
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C. Zusammenfassende Bewertung und Ausblick Die Tatsachenfeststellung ist eine der größten Herausforderungen, die sich dem EGMR in Fällen des Verschwindenlassens stellen. Sie ist notwendigerweise der – möglichst umfassenden – rechtlichen Erfassung und Bewertung des Sachverhalts vorgelagert. Die stark fall- und problemorientierte Vorgehensweise des EGMR, mit der der Gerichtshof den Problemen im Rahmen der Tatsachenfeststellung in Fällen des Verschwindenlassens begegnet, bedarf wie gezeigt der Präzisierung und dogmatischen Aufarbeitung und Abstimmung. Dabei ist dem Gerichtshof zuzugestehen, dass er in den letzten Jahren bereits Herangehensweisen entwickelt hat, die eine weitgehend konventionsgerechte, effiziente und schnelle Entscheidung der konkreten Beschwerde ermöglichen.617 Im Zuge dessen gab er jedoch oft praktikablen Lösungen den Vorrang gegenüber der Rechtsklarheit.618 Es bieten sich verschiedene Lösungsmöglichkeiten an, mit denen der Gerichtshof den beweisrechtlichen Problemen in Fällen des Verschwindenlassens begegnen kann; die Fragen, wie hoch das Beweismaß anzusetzen ist und und wer die Beweislast trägt, sind dabei ineinander verwoben.619
I. Vordringlichste Änderung: Absenkung des Beweismaßes Dieses Vorgehen lässt sich in Zukunft in erster Linie dadurch optimieren, dass der EGMR das Beweismaß „proof beyond reasonable doubt“ verwirft und das der überwiegenden Wahrscheinlichkeit heranzieht. Ein solch abgesenktes Beweismaß in Fällen des Verschwindenlassens würde dem Beschwerdeführer – noch häufiger als derzeit – regelmäßig ermöglichen, die von ihm vorgetragenen, strittigen Tatsachen zu beweisen, in Bezug auf die er sich in einer Situation der Beweisnot befindet und für deren Beweis die Mitwirkung des beschwerdegegnerischen Staates unterbleibt. Dieser Beweis kann sich dabei auf das einseitige Vorbringen des Beschwerdeführers stützen. Die entscheidende Rolle für diesen Beweis kommt dabei verschiedenen Indizien/Schlussfolgerungen zu, die aufeinander aufbauend und sich ergänzend 617 So zieht auch Leach, EHRLR Issue 6 (2008), S. 731 (748) eine positive Bilanz in Bezug auf die Behandlung tschetschenischer Fälle: „It is therefore surely possible to discern that the Court has built on the foundations previously laid in terms of the right to life and the prohibition of torture, notably on the cases from south-east Turkey and Northern Ireland, by placing even further reliance on the inferences drawn, and the presumptions of fact made, in the Chechen cases, because of the Government’s failure of disclosure and because it has not been able (or usually even attempted) to rebut what the applicants have said or provide an alternative, plausible explanation as to what happened.“ 618 Rudolf, EuGRZ 23 (1996), S. 497. 619 Zu dem Zusammenhang zwischen diesen beiden Aspekten siehe schon supra, Kapitel 3, II.3.c) sowie Rudolf, EuGRZ 23 (1996), S. 497 (499); Kokott, The Burden of Proof, S. 20 f.
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Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
zunächst die Verantwortlichkeit des Staates für die Entführung beziehungsweise Inhaftierung, dann den Eintritt des Todes und anschließend die Verantwortlichkeit des Staates für den Tod beweisen: Für den Beweis der Verantwortlichkeit des Staates für die Entführung beziehungsweise Inhaftierung zieht der EGMR regelmäßig eine Schlussfolgerung aus der mangelhaften Mitwirkung des beschwerdegegnerischen Staates. Als Indiz für den (vermuteten) Tod stellt der EGMR auf die nicht anerkannte Inhaftierung des Opfers ab, verbunden mit der Randbedingung, dass es wiederholt zu Fällen des Verschwindenlassens kam, die die Lebensbedrohlichkeit einer solchen Inhaftierung aufzeigt. Schließlich ist die Kontrolle des Staates über das Opfer zum Zeitpunkt, in dem der Tod eintrat, meist das ausschlaggebende Indiz für den Beweis der Tatsachen, auf denen die Verantwortlichkeit des Staates für den Tod gründet.
II. Alternativ: Verlagerung der objektiven Beweislast Eine Zuweisung der objektiven Beweislast an den beschwerdegegnerischen Staat für Tatsachen, für die der Beschwerdeführer nach dem Grundsatz „actori incumbit probatio“ eigentlich die Beweislast trägt, ist nur dann wünschenswert, wenn der Gerichtshof auch in Zukunft an dem hohen Beweismaß „proof beyond reasonable doubt“ festhält. Denn in diesem Fall ist der Beschwerdeführer als Träger der objektiven Beweislast mit dem unangemessen hohen Risiko belastet, einen Beweis wider jeden vernünftigen Zweifel zu erbringen. Unter bestimmten Umständen erscheint es in dieser Konstellation interessengerechter, dieses Risiko dem Staat zuzuweisen: So sollte der Staat dann die objektive Beweislast für die Tatsachen tragen, die dessen Verantwortlichkeit für einen feststehenden oder vermuteten Verletzungserfolg begründen, sobald der Nachweis gelungen ist, dass sich das Opfer unter staatlicher Kontrolle befand, als es zuletzt gesehen wurde. Zudem sollte er ebenfalls die objektive Beweislast für den Nachweis vom Tod des Opfers tragen, wenn zuvor festgestellt wurde, dass das Opfer verhaftet und inhaftiert wurde und dass es in ähnlichen Fällen im Zuge dessen zum Tod des Opfers kam. Schließlich könnte der EGMR die objektive Beweislast für die Tatsachen, in Bezug auf deren Beweis der beschwerdegegnerische Staat seine Mitwirkungspflichten verletzt hat, diesem zuweisen.
III. Bedeutung der Vornahme eigener Ermittlungen All diese Maßnahmen scheinen eine andere Entwicklung zu begleiten: Nahmen die Konventionsorgane in den Fällen, die die Türkei betrafen, in den neunziger Jahren noch regelmäßig eigene Ermittlungen und Zeugenanhörungen vor,620 so 620 Für einen Überblick über die Fälle, in denen fact-finding betrieben wurde, siehe die umfangreiche Studie von Leach/Paraskova/Uzelac.
C. Zusammenfassende Bewertung und Ausblick
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kommt dies in den Tschetschenien-Fällen nur noch ausnahmsweise vor.621 Der EGMR erklärte dies in der Entscheidung Imakayeva wie folgt: „In previous applications raising issues of serious human rights abuses in Chechnya, where the applicants and the Government disputed the State’s involvement in the applicants’ relatives’ deaths, the Court held a hearing and obtained from the Government copies of the documents from the criminal investigation files, which served as a basis for the judgments […]. The situation in the present case is different. The applicant presents very serious allegations, supported by the evidence collected by her. The Government refused to disclose any documents which could shed light on the fate of the applicant’s son and husband and did not present any plausible explanation concerning their alleged detention or subsequent fate. In view of this patent denial of cooperation, the Court is obliged to take a decision on the facts of the case with the materials available.“622
Obwohl die Sachverhalte ebenso unklar und umstritten sind und Ergebnisse nationaler Ermittlungen fehlen beziehungsweise zurückgehalten werden, begibt sich der EGMR nicht nach Russland und vernimmt keine Zeugen in Straßburg – aufgrund der Haltung Russlands scheint dies dem Gerichtshof nicht möglich zu sein. Viel spricht dafür, dass zwischen dieser Entwicklung und der Zunahme von beweisrechtlichen Reaktionen auf die mangelnde Mitwirkung ein direkter Zusammenhang besteht. Dabei könnte eine kausale Beziehung in jedwede Richtung vorliegen: Am wahrscheinlichsten ist, dass die Arbeitsüberlastung, verbunden mit finanziellen, personellen und zeitlichen Engpässen, den Gerichtshof dazu zwang, Ermittlungen zu unterlassen;623 die dennoch erforderliche Tatsachenfeststellung konnte damit nur auf anderem Wege, durch Mittel des Beweisrechts, erreicht werden. Der Gerichtshof musste folglich Methoden entwickeln und anwenden, um eine Tatsachenfeststellung zu ermöglichen. Möglich wäre aber auch – und so legt es die Aussage aus dem Urteil Imakayeva nahe –, dass der Gerichtshof zunächst seine beweisrechtlichen Reaktionsmöglichkeiten in Fällen ausbaute, in denen die Durchführung eigener Ermittlungen an der mangelnden Kooperation des beschwerdegegnerischen Staates scheiterte oder zumindest gescheitert wäre.624 Die Existenz dieser beweisrechtlichen Möglichkeiten wäre dann kausal für die Abnahme von Ermittlungen auch in den Fällen, in denen sie unter Umständen möglich und Erfolg versprechend gewesen wären. In der Praxis verliert damit die Ermittlungskompetenz des Gerichtshofes fast jegliche Bedeutung. Selbst in Fällen schwerer Menschenrechtsverletzungen ent621 Koroteev, EHRAC Bulletin Summer 2009, S. 14 stellt fest, dass der EGMR niemals eine Ermittlung vor Ort vornahm und in nur zwei Fällen Anhörungen in Straßburg stattfanden. Siehe auch Leach, EHRLR Issue 6 (2008), S. 731 (748). 622 Imakayeva v. Russland, 7615/02, Urteil vom 9. November 2006, Abs. 118 f. (Hervorhebungen nicht im Original). 623 Siehe Leach, Taking a Case, S. 66; Claude, Intercultural Human Rights Law Review 5 (2010), S. 407 (413). Siehe auch Meyer-Ladewig, NVwZ 24 (2009), S. 1531 (1533). 624 Siehe Erdal, E. L. Rev. Human Rights Survey 26 (2001), S. 68 (80).
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Kap. 3: Beweisrechtliche Probleme im Rahmen der Tatsachenfeststellung
scheidet der EGMR nach Aktenlage;625 ermöglicht wird ihm dies unter anderem durch die beweisrechtlichen Reaktionen auf die mangelnde Mitwirkung. Die Forderung an den EGMR, auf die mangelnde Mitwirkung vermehrt mit beweisrechtlichen Folgen zu reagieren, erweist sich damit als zweischneidiges Schwert. Verbunden werden sollte diese Forderung daher mit der Hoffnung, dass der EGMR von den Konventionsstaaten personell und finanziell in die Lage versetzt wird, zumindest in Fällen schwerster Menschenrechtsverletzungen, in denen eine Sachverhaltsermittlung außerdem möglich und sinnvoll erscheint, seine fact-finding Kompetenz wahrzunehmen.626 Da dabei die Zahl der Richter durch die Anzahl der Konventionsstaaten begrenzt ist, verdient der Vorschlag Altiparmaks, eine spezialisierte Kammer einzurichten oder ein neues Ermittlungsorgan zu schaffen, Beachtung.627
625 Siehe aber Cavallaro/Brewer, AJIL 102 (2008), S. 768 (803 f.) mit dem Hinweis, dass der EGMR sich der Bedeutung einer Tatsachenermittlung bewusst sei. 626 Siehe auch Leach, Taking a Case, S. 66: „the Court’s fact-finding role is an absolutely essential element of the European Convention process“. Sardaro, EHRLR Issue 6 (2003), S. 601 (618 – 620) macht darauf aufmerksam, dass es aufgrund der Arbeitsbelastung und Ausstattung des EGMR derzeit unvermeidlich ist, Ermittlungen nur selektiv vozunehmen. Dabei spiele, so Sardaro, insbesondere eine Rolle, ob die Ermittlungen erfolgsversprechend sind. Er weist darauf hin, dass insbesondere die Begründung der Entscheidung, keine Ermittlungen vorzunehmen, wichtig sei (629). Erdal, E. L. Rev. Human Rights Survey 26 (2001), S. 68 (72) weist ebenfalls auf die Pflicht des EGMR als einzige Tatsacheninstanz hin, die Qualität seiner Urteile aufrechtzuerhalten. 627 Altiparmak, JCL 5 (2000), S. 30 (48).
Kapitel 4
Gegenstand und Inhalt des Urteils in Fällen des Verschwindenlassens Gegenwärtig bedient sich der Gerichtshof in Bezug auf den Gegenstand und Inhalt der Urteile in Fällen des Verschwindenlassens noch nicht einiger innovativer Ansätze, die er in anderen Zusammenhängen in jüngerer Zeit entwickelte. Im Folgenden wird der Vorschlag untersucht, dass sich der EGMR in Zukunft an diesen Neuerungen – insbesondere aus den Fällen Bottazzi,1 Assanidze2 und Broniowski3 – orientieren könnte. So könnte der EGMR, angelehnt an sein Vorgehen in der Beschwerde Bottazzi, im Urteil feststellen, dass eine administrative Praxis des Verschwindenlassens vorliegt, die mit der Konvention unvereinbar ist (A.). Auch könnte er konkrete und fallspezifische Abhilfemaßnahmen, wie insbesondere die Durchführung konventionsgerechter Ermittlungen, anordnen und damit seiner Rechtsprechung im Fall Assanidze folgen (B.). Schließlich könnte der EGMR sich an seinem Vorgehen in den Piloturteilsverfahren (Broniowski) orientieren und auch in Fällen des Verschwindenlassens konkrete, allgemeine Abhilfemaßnahmen anordnen (C.).
A. Berücksichtigung einer Praxis des Verschwindenlassens Bereits in der Beschwerde Kurt stellte die Beschwerdeführerin darauf ab, dass das Verschwinden ihres Sohnes Teil einer Praxis des Verschwindenlassens sei, um eine gesteigerte Verletzung zu behaupten.4 In späteren Beschwerden gegen die Türkei argumentierten die Beschwerdeführer ähnlich und forderten die Feststellung einer solchen gesteigerten Verletzung der Konvention.5 Der EGMR lehnte dies aber 1
Bottazzi v. Italien, 34884/97, Urteil vom 28. Juli 1999. Assanidze v. Georgien, 71503/01, Urteil vom 8. April 2004. 3 Als Leitentscheidung des so genannten Piloturteilsverfahrens, Broniowski v. Polen, 31443/96, Urteil vom 22. Juni 2004. 4 Kurt v. Türkei, 24276/94, Urteil vom 25. Mai 1998, Abs. 166: „The applicant requested the Court to find that there was a practice of ,disappearances‘ in south-east Turkey which gave rise to aggravated violations of Articles 2, 3 and 5 of the Convention.“ 5 So in C¸akıcı v. Türkei, 23657/94, Urteil vom 8. Juli 1999, Abs. 118 – 121 (in Bezug auf Art. 13 EMRK); Ertak v. Türkei, 20764/92, Urteil vom 9. Mai 2000, Abs. 142 – 144 (in Bezug auf Art. 2 EMRK); Timurtas¸ v. Türkei, 23531/94, Urteil vom 13. Juni 2000, Abs. 114 f. (in 2
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Kap. 4: Gegenstand und Inhalt des Urteils in Fällen des Verschwindenlassens
durchgehend ab. Zur Begründung führte er an, die Beschwerdeführer hätten diesen Vorwurf nicht begründen können,6 der Umfang der Beweisfeststellung und das verfügbare Material reichten für eine solche Feststellung nicht aus7 oder eine solche Feststellung sei nicht erforderlich, da bereits eine Verletzung von Art. 2, 5 und/oder 13 EMRK angenommen worden sei.8 Diese Rechtsprechung hatte, so ist zu vermuten, zur Folge, dass die Rüge einer Praxis des Verschwindenlassens im Sinne einer gesteigerten Konventionsverletzung in den Fällen gegen Russland keine Rolle mehr spielte. Den Zusammenhang des konkreten Falles des Verschwindenlassens mit einer Vielzahl ähnlicher Fälle würdigt der Gerichtshof damit bislang lediglich im Rahmen der Tatsachenfeststellung.9
I. Das Vorgehen des EGMR in der Entscheidung Bottazzi Anders ging der EGMR im Jahre 1999 in der Entscheidung Bottazzi v. Italien vor, in der der Beschwerdeführer die überlange Verfahrensdauer vor italienischen Zivilgerichten gerügt hatte. Der Gerichtshof stellte ausdrücklich im Hauptteil des Urteils – nicht aber im Tenor – fest, dass eine (hier judikative) Praxis mit der Konvention unvereinbar ist und verwendete die Formulierung: „This accumulation of breaches accordingly constitutes a practice that is incompatible with the Convention.“10
Zum Nachweis dieser Praxis zog der Gerichtshof heran, dass er seit 1987 bereits 65 Urteile in vergleichbaren Beschwerden gefällt hat11 und stellte fest: „The frequency with which violations are found shows that there is an accumulation of identical breaches which are sufficiently numerous to amount not merely to isolated inciBezug auf die Art. 5 und 13 EMRK); Tas¸ v. Türkei, 24396/94, Urteil vom 14. November 2000, Abs. 97 f. (in Bezug auf die Art. 2 und 13 EMRK); S¸arlı v. Türkei, 24490/94, Urteil vom 22. Mai 2001, Abs. 79 f. (in Bezug auf Art. 13 EMRK); Akdeniz et al. v. Türkei, 23954/94, Urteil vom 31. Mai 2001, Abs. 122 f. 6 So in Kurt v. Türkei, 24276/94, Urteil vom 25. Mai 1998, Abs. 169. Zur Kritik daran siehe Singh Sethi, Human Rights Brief 8/3 (2001) S. 29. 7 C¸akıcı v. Türkei, 23657/94, Urteil vom 8. Juli 1999, Abs. 121; Ertak v. Türkei, 20764/92, Urteil vom 9. Mai 2000, Abs. 144; Timurtas¸ v. Türkei, 23531/94, Urteil vom 13. Juni 2000, Abs. 115. Kritisch dazu Sardaro, EHRLR Issue 6 (2003), S. 601 (615); Reidy/Hampson/Boyle, NQHR 15 (1997), S. 161 f. (171). 8 Tas¸ v. Türkei, 24396/94, Urteil vom 14. November 2000, Abs. 98; S¸arlı v. Türkei, 24490/ 94, Urteil vom 22. Mai 2001, Abs. 80; Akdeniz et al. v. Türkei, 23954/94, Urteil vom 31. Mai 2001, Abs. 123. 9 Dazu siehe ausführlich supra Kapitel 3, B.III. 10 Bottazzi v. Italien, 34884/97, Urteil vom 28. Juli 1999, Abs. 22. 11 Bottazzi v. Italien, 34884/97, Urteil vom 28. Juli 1999, Abs. 22. Der EGMR stellt ebenfalls auf eine umfangreiche Tätigkeit der ehemaligen Kommission ab, die mehr als 1.400 Berichte erstellte.
A. Berücksichtigung einer Praxis des Verschwindenlassens
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dents. Such breaches reflect a continuing situation that has not yet been remedied and in respect of which litigants have no domestic remedy.“12
II. Der Begriff der administrativen Praxis Auch in Fällen des Verschwindenlassens könnte eine – allerdings in erster Linie administrative und nicht judikative – Praxis vorliegen, die der EGMR im Rahmen des Urteils berücksichtigen könnte. Den Begriff der administrativen Praxis verwendete der Gerichtshof aber zunächst nur in Staatenbeschwerdeverfahren – zuerst im Urteil Irland v. Vereinigtes Königreich im Jahre 1978. Er zog die folgende Definition heran: „A practice incompatible with the Convention consists of an accumulation of identical or analogous breaches which are sufficiently numerous and inter-connected to amount not merely to isolated incidents or exceptions but to a pattern or system“.13
Er stellte fest, dass eine administrative Praxis in erster Linie zur Folge hat, dass die local remedies-Regel nicht zur Anwendung gelangt.14 Schon zuvor hatte sich die ehemalige Kommission mit einer administrativen Praxis auseinandergesetzt, so in der ersten Staatenbeschwerde gegen Griechenland aus dem Jahre 1967. In ihrem Bericht aus dem Jahre 1969 stellte die Kommission fest: „[T]wo elements are necessary to the existence of an administrative practice of torture or illtreatment: repetition of acts, and official practice. By repetition of acts is meant a substantial number of acts of torture or ill-treatment which are the expression of a general situation. The pattern of such acts may be either, on the one hand, that they occurred in the same place, that they were attributable to the agents of the same police or military authority, or that the victims belonged to the same political category; or, on the other hand, that they occurred in several places ar [sic!] at the hands of distinct authorities, or were inflicted on persons of varying political affiliations. By official tolerance is meant that, though acts of torture or illtreatment are plainly illegal, they are tolerated in the sense that the superiors of those immediately responsible though cognisant of such acts, take no action to punish them or prevent their repetition; or that higher authority, in face of numerous allegations, manifests indifference by refusing any adequate investigation of their truth or falsity, or that in judicial proceedings, a fair hearing of such complaints is denied.“15
Damit zog die Kommission zwei Kriterien heran: Als objektives Merkmal eine Mehrzahl von Wiederholungen der gerügten Verletzungshandlungen, als subjektives Merkmal eine Praxis beziehungsweise Tolerierung dieser Handlungen von Seiten staatlich Bediensteter. 12
Bottazzi v. Italien, 34884/97, Urteil vom 28. Juli 1999, Abs. 22. Irland v. Vereinigtes Königreich, 5310/71, Urteil vom 18. Januar 1978, Abs. 159. 14 Irland v. Vereinigtes Königreich, 5310/71, Urteil vom 18. Januar 1978, Abs. 159 („of particular importance“). So auch Sardaro, EHRLR Issue 6 (2003), S. 601 (614). 15 Schweden, Norwegen, Dänemark und die Niederlande v. Griechenland, 3321/67, 3322/ 67, 3323/67, 3344/67, Bericht der Unterkommission vom 5. November 1969, abgedruckt in: European Commission of Human Rights, The Greek Case, Vol. II, Part 1, S. 13. 13
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Kap. 4: Gegenstand und Inhalt des Urteils in Fällen des Verschwindenlassens
Im Rahmen von Individualbeschwerden zeigten sich die Konventionsorgane zurückhaltend gegenüber der Figur der administrativen Praxis. In der Beschwerde Donnelly et al. v. Vereinigtes Königreich, in der die Beschwerdeführer 1972 unter anderem auch rügten, dass sie durch eine administrative Praxis in ihren Rechten verletzt worden seien,16 erklärte die Kommission zwar zunächst, es sei zulässig, dass die Beschwerdeführer zusätzlich zu der Rüge, sie würden durch konkrete Einzelmaßnahmen in ihren Konventionsrechten verletzt, auch geltend machten, sie würden durch eine administrative Praxis verletzt werden.17 Zwei Jahre später wies die Kommission die bereits für zulässig erklärten Beschwerden allerdings nach Art. 29 EMRK a.F. zurück18 und begründete dies im Wesentlichen mit dem Verweis auf die local remedies-Regel.19 Der EGMR gab diese Zurückhaltung in der Entscheidung Bottazzi auf und scheint auch eine weite Definition einer Praxis angenommen zu haben. Er forderte lediglich, dass eine Anhäufung identischer Konventionsverletzungen vorliegt. In seinem Sondervotum rügt Richter Türmen die damit verbundene Aufgabe des Kriteriums der offiziellen Tolerierung.20 Der zwischen den Fällen des Verschwindenlassens bestehende Zusammenhang erfüllt die Kriterien, die die Konventionsorgane über die Jahre und in einer Rechtsprechung, die nicht frei von Widersprüchen ist, zur Definition der administrativen Praxis heranzogen. Dies trifft zu in Bezug auf das objektive Kriterium, dass eine erhebliche Anzahl von Fällen21 vorliegen muss, die Ausdruck einer allgemeinen 16 Donnelly et al. v. Vereinigtes Königreich, 5577/72, 5578/72, 5579/72, 5580/72, 5581/ 72, 5582/72, 5583/72, Entscheidung vom 5. April 1973. Siehe zu dieser Entscheidung Boyle/ Hannum, AJIL 68 (1974), S. 440 ff. 17 Donnelly et al. v. Vereinigtes Königreich, 5577/72, 5578/72, 5579/72, 5580/72, 5581/ 72, 5582/72, 5583/72, Entscheidung vom 5. April 1973, THE LAW, Abs. 2: „[…] [N]either Article 25, nor any other provisions in the Convention […] prevent an individual applicant from raising before the Commission a complaint in respect of an alleged administrative practice in breach of the Convention provided that he brings prima facie evidence of such a practice and of his being a victim of it.“ Diese Entscheidung könne eine neue Ära einleiten so Boyle/Hannum, AJIL 68 (1974), S. 440. 18 Diese lautete: „Die Kommission kann jedoch ein ihr gemäss Artikel 25 unterbreitetes Gesuch durch einstimmigen Beschluss auch nach der Annahme zurückweisen, wenn sie bei der Prüfung des Gesuchs feststellt, dass einer der in Artikel 27 bezeichneten Gründe für seine Unzulässigkeit vorliegt. In diesem Fall wird die Entscheidung den Parteien mitgeteilt.“ 19 Donnelly et al. v. Vereinigtes Königreich, 5577/72, 5578/72, 5579/72, 5580/72, 5581/ 72, 5582/72, 5583/72, Entscheidung vom 15. Dezember 1975, S. 87 f. Die Kommission verwies auf die Gründe, die bereits zur Unzulässigkeit der Beschwerden gegen Einzelmaßnahmen geführt hatten und damit auf die Art. 26 und 27 EMRK a.F. Es fällt auf, dass Art. 29 EMRK a.F. nur auf Art. 27 EMRK a.F. verwies, nicht aber auf den hier eigentlich entscheidenden Art. 26 EMRK a.F., der die local remedies-Regel enthielt. 20 Bottazzi v. Italien, 34884/97, Urteil vom 28. Juli 1999, Sondervotum von Richter Türmen. Seiner Ansicht nach habe Italien gerade Maßnahmen zur Abhilfe ergriffen. 21 Reidy/Hampson/Boyle, NQHR 15 (1997), S. 161 (165 f.) werfen die Frage auf, wie viele Beschwerden, die vergleichbare Vorwürfe erheben, erforderlich sind, damit der EGMR fest-
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Situation sind, wie es die Kommission im Griechenland-Fall forderte. Bereits die Rechtsprechung selbst belegt dies: So sind bislang über hundert Entscheidungen gegen Russland in diesem Zusammenhang ergangen. Diese Fälle weisen auch ein Muster auf, da der Gerichtshof ganz überwiegend ähnliche Handlungsabläufe feststellt, die zum Verschwinden einer Person führten und für die Russland die Verantwortung trug. Unterstützt wird diese Annahme durch NGO-Berichte, aus denen hervorgeht, dass das Verschwindenlassen von Personen in Tschetschenien ein weit verbreitetes Phänomen ist und auf die der EGMR Bezug nimmt.22 Dies erkennt der EGMR in seinen Urteilen auch regelmäßig selbst an: „The Court notes with great concern that a number of cases have come before it which suggest that the phenomenon of ,disappearances‘ is well known in Chechnya […].“23
Auch das, jedenfalls in frühen Entscheidungen herangezogene subjektive Moment ist wohl anzunehmen, da es scheint, dass die Vorgesetzten der Täter zwar Kenntnis von den Taten haben, diese aber weder verhindern noch bestrafen.24 Auch finden keine beziehungsweise nur unzureichende Ermittlungen statt, wie der EGMR in ständiger Rechtsprechung feststellt.25 Der Zusatz „administrativ“ beschreibt den Zusammenhang ebenfalls zutreffend. Allerdings ist auch eine gewisse Verantwortlichkeit der Judikative für die Praxis des Verschwindenlassens auszumachen, da auch diese in vielen Fällen gar nicht, verzögert oder nicht konventionsgerecht agiert und zum Beispiel den Angehörigen der Opfer Rechtsschutz vorenthält. Es sind aber in erster Linie die Sicherheitskräfte, das heißt Teile der Exekutive, die für die Praxis des Verschwindenlassens verantwortlich sind, da der EGMR ihnen die Entführung und den Tod der Opfer zurechnet. Auch sind es Teile der Exekutive, die keine oder unzureichende Ermittlungen anstellen. Barrett weist darauf hin, dass die Fälle des Verschwindenlassens nicht davon herrührten, dass es an entsprechender Gesetzgebung mangele, sondern dass eine Kultur militärischer Brutalität und Straflosigkeit herrsche.26 Diese administrative Praxis kennzeichnet, dass den Beschwerden vergleichbare, aber separate Verletzungshandlungen zugrunde liegen. Damit gibt es keine generelle Situation, die als solche die maßgebliche Verletzungshandlung darstellt.27 Folglich unterscheiden sich die Fälle des Verschwindenlassens von all jenen Beschwerden, in stellt, dass eine Praxis existiert. Siehe auch dieselben zu den Schwierigkeiten des Nachweises einer Praxis, S. 171 f. 22 Z.B. in Baysayeva v. Russland, 74237/01, Urteil vom 5. April 2007, Abs. 119. Siehe auch Human Rights Watch, S. 7 – 12. 23 Baysayeva v. Russland, 74237/01, Urteil vom 5. April 2007, Abs. 119. Für weitere Urteile siehe supra S. 211, Fn. 381. 24 Siehe z. B. den Bericht von Human Rights Watch aus 2005, S. 9 – 12, 16 – 18. 25 Vgl. dazu Reidy/Hampson/Boyle, NQHR 15 (1997), S. 161 (165), die auf das subjektive Element aus der systematischen Vorenthaltung eines Rechtsbehelfs schließen. 26 Barrett, Harvard HRJ 22 (2009), S. 133 (143). Diese Kultur gelte es zu ändern. 27 So Sardaro, EHRLR Issue 6 (2003), S. 601 (613, Fn. 55).
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Kap. 4: Gegenstand und Inhalt des Urteils in Fällen des Verschwindenlassens
denen die gerügte Verletzungshandlung als solche ausschließlich eine generelle Situation ist.28 Sie ist auch von der Konstellation abzugrenzen, in der die gerügte Verletzungshandlung ausschließlich in einer Rechtsvorschrift liegt, sei es in einem Gesetz oder einer Verwaltungsvorschrift, ohne deren Anwendung im konkreten Fall einzubeziehen.29 Der Begriff der administrativen Praxis erweist sich vor dem Hintergrund dieses Wandels in der Rechtsprechung als flexibel genug, um ihn zur deskriptiven Erfassung des Zusammenhangs, der zwischen den verschiedenen Fällen des Verschwindenlassens, insbesondere den tschetschenischen, besteht, heranzuziehen.30
III. Feststellung der Unvereinbarkeit Angelehnt an die Entscheidung Bottazzi könnte der EGMR in seinen Urteilen zum Verschwindenlassen feststellen, dass diese Praxis des Verschwindenlassens nicht mit der Konvention vereinbar ist. 1. Umfassendere Abbildung der Realität Für eine solche Feststellung spricht, dass sie die Realität umfassender abbilden würde als dies bisher in den Urteilen der Fall ist. Die der Beschwerde zugrunde liegenden Einzelmaßnahmen würden in einen weiten Kontext eingebettet werden, welcher Art und Ausmaß des tatsächlichen Geschehens im konkreten Fall erst offenbarte.31 So resultiert die das Verbrechen besonders kennzeichnende Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit der Angehörigen gerade daraus, dass ein allgemeines Klima herrscht, das von Rechtlosigkeit gekennzeichnet ist. Existiert eine Praxis des Verschwindenlassens, so trägt dies dazu bei, dass die verbliebenen Angehörigen dem Verschwinden hilflos begegnen und kein Vertrauen in die Behörden und Gerichte setzen. Vor dem Hintergrund der herrschenden Praxis wissen die Angehörigen der 28 Sardaro, EHRLR Issue 6 (2003), S. 601 (613, Fn. 55) führt als Beispiel für eine solche generelle Situation die Haftbedingungen in einem bestimmten Gefängnis an. 29 Dies spricht das Problem der Normenkontrolle an. Dazu siehe Polakiewicz, S. 37 ff. 30 Sinha, Indian Journal of International Law 40 (2000), S. 734 (768) spricht in Bezug auf die Türkei von einer administrativen Praxis, die schwere Menschenrechtsverletzungen erlaubt; Zwaak, Leiden Journal of International Law 10 (1997), S. 99 (101 in Bezug auf Menschenrechtsverletzungen im Kampf gegen die PKK („pattern of gross and systematic violations“) und S. 108 („administrative practice of human rights violations“)); Zwaak, in: FS Baehr, S. 209 (227 f.) in Bezug auf Menschenrechtsverletzungen in der südöstlichen Türkei. In Bezug auf die Situation in Tschetschenien siehe Barrett, Harvard HRJ 22 (2009), S. 133 (142); Leach, EHRLR Issue 6 (2008), S. 732 (755) („systematic pattern“ in Bezug auf Ermittlungen); Sardaro, EHRLR Issue 6 (2003), S. 601 (613) („part of a pattern of systematic violations“). 31 Sardaro, EHRLR Issue 6 (2003), S. 601 (615). Vgl. auch Reidy/Hampson/Boyle, NQHR 15 (1997), S. 161 (164). Feldman, EHRLR Issue 1 (2009), S. 50 (67) weist darauf hin, dass eine solche Feststellung für die Angehörigen wichtig ist.
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Opfer, dass die Behörden keine beziehungsweise jedenfalls keine erfolgsversprechenden Ermittlungen vornehmen werden. Unabhängig von der umfassenden Darstellung der Tatsachen des konkreten Falles würde die Rechtsprechung des EGMR auch dazu beitragen, die Fakten schwerer und systematischer Menschenrechtsverletzungen in ihrer Gesamtheit festzustellen.32 Es würde auch die Feststellung erleichtern, dass die Internationale Konvention zum Schutz aller Personen vor dem zwangsweisen Verschwindenlassen – ihre Geltung im konkreten Fall vorausgesetzt – verletzt ist und das Bedürfnis für diese Konvention aufzeigen. Der EGMR müsste allerdings, unternähme er auch eine Tatsachenfeststellung in Bezug auf eine Praxis des Verschwindenlassens, größte Sorgfalt und Vorsicht walten lassen. Fitzpatrick weist zu Recht darauf hin, dass die Tatsachenfeststellung in Bezug auf eine spezifische Menschenrechtsverletzung sich von derjenigen unterscheidet, die eine Situation beziehungsweise Praxis betrifft. Der Nachweis einer Praxis von Menschenrechtsverletzungen bedürfe eines größeren interpretativen und nicht nur beschreibenden Verständnisses der zur Verfügung stehenden Fakten. Daher sei es umso wichtiger, Mittel und Methoden im Rahmen der Tatsachenfeststellung zu vermeiden, die unnötig voreingenommen seien.33 2. Effektuierung des Menschenrechtsschutzes Mit einer solchen umfassenderen Abbildung der Realität ginge bestenfalls auch eine Effektuierung des Menschenrechtsschutzes einher.34 Denn die Feststellung, dass die Praxis des Verschwindenlassens mit der Konvention unvereinbar ist, ist dazu geeignet, einer potentiellen Vielzahl weiterer Beschwerdeführer von Vorteil zu sein, die sich im Rahmen ihrer Beschwerde darauf berufen könnten. Darüber hinaus könnte eine solche Feststellung weitreichende Veränderungen bewirken, die über eine Wiedergutmachung der Rechtsverletzung nur gegenüber dem Beschwerdeführer hinausginge.35 Denn die politische Wirkung einer solchen Feststellung – so kann berechtigterweise vermutet werden36 – wäre von erheblichem Gewicht. Im besten Fall könnte der verurteilte Staat sich bemühen, den Ansehensverlust durch ein 32 Siehe Fitzpatrick, in: Bayefsky (Hrsg.), S. 65 (81) mit Bezug auf die Arbeit von NGOs und IGOs: „The heart and soul of human rights fact-finding is the disclosure of patterns of human rights violations.“ 33 Fitzpatrick, in: Bayefsky (Hrsg.), S. 65 (66). Sie sagt auch, dass grundsätzlich prozedurale Formalitäten und präzise beweisrechtliche Regeln wichtiger in Bezug auf den Nachweis von einzelnen Verletzungen seien. O’Boyle, in: Bayefsky (Hrsg.), S. 169 (177) weist auf das Vertrauen der Staaten hin, dass sich der EGMR erarbeitet hat. 34 Siehe Reidy/Hampson/Boyle, NQHR 15 (1997), S. 161 f. (172). 35 So auch Feldman, EHRLR Issue 1 (2009), S. 50 (67). Insoweit besteht auch eine Verknüpfung mit der Anordnung konkreter, allgemeiner Abhilfemaßnahmen im Urteil, siehe dazu infra Kapitel 4, C. 36 Siehe auch Sardaro, EHRLR Issue 6 (2003), S. 601 (616), nach dem der Grund für die Zurückhaltung gegenüber einer solchen Feststellung politischer Natur sei.
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Kap. 4: Gegenstand und Inhalt des Urteils in Fällen des Verschwindenlassens
entschlossenes Vorgehen gegen die konventionswidrige Praxis zu bekämpfen.37 Unter Umständen sähen sich andere Konventionsstaaten aufgefordert, eine Staatenbeschwerde zu erheben.38 Feldman weist darauf hin, dass diese Feststellung auch für die Angehörigen der verschwundenen Personen von großer Bedeutung sein würde.39 Es sind aber auch Wirkungen gegenläufiger Art vorstellbar: Der verurteilte Staat könnte die Urteile des EGMR – noch weniger als zuvor – vollziehen;40 auch könnte er die Kooperation mit dem Gerichtshof noch weiter41 einschränken. Gerade in Bezug auf das Verbrechen des Verschwindenlassens wäre auch eine in Zukunft noch sorgfältigere Vertuschung des Geschehens denkbar. Ob sich ein strengerer und weiterreichender Konfrontationskurs gegenüber den Konventionsstaaten, die für schwere und systematische Verletzungen verantwortlich sind, in die eine oder die andere Richtung auswirken wird, ist letztlich nicht abzusehen.42 Für eine härtere Gangart könnte aber sprechen, dass die bisherige Vorgehensweise und insbesondere die politische Zurückhaltung des Ministerkomitees des Europarats nur unzureichende Fortschritte mit sich brachten.43
3. Potentielle Entlastung des EGMR Als gleichfalls zwiespältig könnte sich die Erwartung einer potentiellen Entlastung des Gerichtshofes mittels einer solchen Feststellung erweisen. Denn einerseits könnte sich der EGMR in späteren, vergleichbaren Individualbeschwerden auf seine vorherige Feststellung der mit der Konvention unvereinbaren Praxis stützen. Bereits derzeit erleichtert der Verweis auf die Verbreitung des Phänomens Verschwindenlassen dem EGMR die Tatsachenfeststellung.44 Auch die rechtliche Beurteilung des 37
Siehe Feldman, EHRLR Issue 1 (2009), S. 50 (67). Zwaak, Leiden Journal of International Law 10 (1997), S. 99 (109) und Zwaak, in: FS Baehr, S. 209 (228). 39 Feldman, EHRLR Issue 1 (2009), S. 50 (67). 40 Dazu siehe Trochev. 41 Zur Befolgung der Urteile des EGMR durch Russland siehe Leach, Strasbourg’s oversight of Russia. 42 Zu diesem Dilemma siehe Sardaro, EHRLR Issue 6 (2003), S. 601 (613). Barrett, Harvard HRJ 22 (2009), S. 133 (142) weist darauf hin, dass die Feststellung einer konventionswidrigen administrativen Praxis aus diplomatischer Sicht problematisch wäre, da Russland nach wie vor Mitglied des Europarates ist. Eine solche Feststellung einer Verletzung der Verpflichtung nach Art. 3 der Satzung des Europarates könnte zu einem Ausschluss nach Art. 8 führen. 43 Zu dieser Zurückhaltung des Ministerkomitees siehe den Bericht der Beratenden Versammlung des Europarates vom 21. Dezember 2005, Committee on Legal Affairs and Human Rights, Rapporteur Rudolf Bindig, Doc. 10774, Abs. 49 ff. Eine Feststellung der Unvereinbarkeit der Praxis könnte auch ein Vorgehen nach Art. 8 i.V.m. Art. 3 der Satzung des Europarates erleichtern. Siehe Janis/Kay/Bradley, S. 846. 44 Siehe dazu ausführlich supra Kapitel 3, B.III. 38
A. Berücksichtigung einer Praxis des Verschwindenlassens
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Verschwindenlassens könnte unter Heranziehung der Praxis einheitlicher, kürzer und damit mit weniger Aufwand erfolgen. Möglicherweise hätte die Feststellung auch zur Folge, dass innerstaatliche Maßnahmen ergriffen werden, um dieser Praxis abzuhelfen, so dass in Folge dessen weniger Menschenrechtsverletzungen überhaupt stattfänden und damit auch den EGMR beschäftigten. Andererseits wäre es aber auch möglich, dass weitere Personen zur Einlegung einer Beschwerde ermutigt werden könnten.45 Letztlich kann diese möglicherweise im Angesicht der Arbeitsüberlastung des EGMR nachteilige Entwicklung in Fällen des Verschwindenlassens – wie in anderen Fällen schwerer und systematischer Menschenrechtsverletzungen – jedoch keine Rolle spielen: Es sind gerade diese Fälle, die unzweifelhaft der Rechtsprechung des EGMR unterliegen sollten.46 Schließlich weist Irmscher auf die Gefahr hin, dass der EGMR „Konfektionsurteile“ „von der Stange“ erlässt, die nur notdürftig an den Einzelfall angepasst sind und dass dadurch die Glaubwürdigkeit des Gerichtshofes leiden könnte.47 4. Subjektive Natur des Individualverfahrens Gegen die Vorzugswürdigkeit der Feststellung der Unvereinbarkeit der Praxis des Verschwindenlassens mit der Konvention könnte auch sprechen, dass dies die Kompetenz des EGMR im Rahmen einer Individualbeschwerde sprengt. Darauf könnte auch der EGMR mit seiner Aussage im Fall Jordan v. Vereinigtes Königreich aus dem Jahr 2001 abgezielt haben, Feststellungen in Bezug auf eine administrative Praxis lägen außerhalb der Reichweite der Beschwerde.48 Denn im Gegensatz zur Staatenbeschwerde kennzeichnet eine Individualbeschwerde gerade, dass eine subjektive Rechtsverletzung erforderlich ist.49 Individuen können sich nicht in abstracto beschweren;50 eine actio popularis ist unzulässig. 45 So Sardaro, EHRLR Issue 6 (2003), S. 601 (613), der anmerkt, der EGMR müsse dies berücksichtigen im Rahmen seiner Entscheidung, ob er eine solche Feststellung trifft. Auch könnte das Ausmaß künftiger Entschädigungszahlungen nicht außerhalb der Betrachtung bleiben. 46 So auch Wildhaber, EuGRZ 36 (2009), S. 541 (544) („offensichtliche Aufgabe“). Dies ist insbesondere auch nach Inkrafttreten des 14. Zusatzprotokolls der Fall. 47 Irmscher, EuGRZ 33 (2006), S. 11 (19). 48 So in Jordan v. Vereinigtes Königreich, 24746/94, Urteil vom 4. Mai 2001, Abs. 114: „The Court is also not prepared to conduct, on the basis largely of statistical information and selective evidence, an analysis of incidents over the past thirty years with a view to establishing whether they disclose a practice by security forces of using disproportionate force. This would go far beyond the scope of the present application.“ Die Dispositionsmaxime (so sie denn überhaupt gilt, dazu Dörre, S. 65 – 73) und der Grundsatz ne ultra petita (zu diesem siehe Dörre, S. 75 f.) sprechen hingegen grundsätzlich nicht gegen eine solche Feststellung, da die Beschwerdeführer eine Praxis entweder rügen oder jedenfalls vermutlich rügen würden, sobald der EGMR seine Rechtsprechung änderte. 49 Siehe Dörre, S. 92 f. zum Beschwerdegegenstand. 50 Sardaro, EHRLR Issue 6 (2003), S. 601 (609).
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Zu Recht sah sich die Große Kammer in der Beschwerde Bottazzi v. Italien allerdings nicht durch die Reichweite der Individualbeschwerde daran gehindert, bereits im Jahre 1999 die Unvereinbarkeit der Praxis überlanger Verfahrensdauer mit der Konvention festzustellen. Dem Gerichtshof ist darin zuzustimmen, dass eine solche Feststellung im Rahmen seiner Kompetenz liegt.51 Eine abstrakte Kontrolle liegt gerade nicht vor, da die Prüfung der Praxis eng mit den tatsächlichen und rechtlichen Fragen der konkreten Beschwerde verknüpft ist.52 Breuer weist zu Recht darauf hin, dass das Verbot von Popularklagen nur erfordere, Beschwerden gegen Vorschriften ohne jeglichen Bezug zu einem Beschwerdeführer zu verhindern. Es steht Aussagen über die Konventionswidrigkeit von auf den Beschwerdeführer anwendbaren Vorschriften im Rahmen einer zulässigerweise anhängig gemachten Beschwerde nicht entgegen.53 Es bleibt aber zu beachten, dass das Konventionssystem eigentlich nicht der Individualbeschwerde, sondern dem Staatenbeschwerdeverfahren eine objektive Überwachungsfunktion zuweist.54 So nahmen sich die Konventionsorgane bis in die neunziger Jahre nicht isoliert auftretender Menschenrechtsverletzungen auch in erster Linie im Rahmen von Staatenbeschwerden an.55 Staatenbeschwerden wurden allerdings zum einen bereits nur selten,56 zum anderen meist aus politischen Gründen erhoben.57 Nur in wenigen Fällen handelten die Beschwerde führenden Staaten vorrangig aus dem objektiven Interesse heraus, die Einhaltung der Konvention sicherzustellen.58 So unterließen es die Konventionsstaaten, Beschwerden gegen die
51 So auch Breuer, EuGRZ 35 (2008), S. 121 (122); Sardaro, EHRLR Issue 6 (2003), S. 601 (609): Die subjektive Funktion des Individualverfahrens steht einer Feststellung zur Praxis nicht entgegen. Dies würde durch eine erweiternde Interpretation des Opferbegriffs erreicht werden; es könne davon gesprochen werden, dass der einzelne Beschwerdeführer damit die Funktion einer actio popularis erfüllt. Reidy/Hampson/Boyle, NQHR 15 (1997), S. 161 (164) sind der Ansicht, dass das Verbot der action popularis in Individualverfahren in Bezug auf systematische Verletzungen nicht greift. Siehe auch die Argumentation der Beschwerdeführer in Donnelly et al., wiedergegeben von Boyle/Hannum, AJIL 68 (1974), S. 441 (446 f.), die ein Argument aus der Zulässigkeit der Beschwerde gegen einen legislativen Akt ziehen. 52 Vgl. Sardaro, EHRLR Issue 6 (2003), S. 601 (609): Die generelle Situation stelle den Hintergrund für und letztlich die Quelle der einzelnen Beschwerde dar. 53 Breuer, EuGRZ 35 (2008), S. 121 (122). 54 Siehe auch Gattini, in: FS Wildhaber, S. 271 (276): Das Staatenbeschwerdeverfahren sollte systematische Verletzungen behandeln. 55 Reidy/Hampson/Boyle, NQHR 15 (1997), S. 161 (163). 56 Siehe bereits supra Kapitel 1, A.IV. 57 So insbesondere in den Verfahren Griechenlands gegen das Vereinigte Königreich wegen der britischen Besetzung Zyperns, Zyperns gegen die Türkei sowie Irlands gegen das Vereinigte Königreich. Siehe dazu Greer, The European Convention, S. 27 f. 58 So insbesondere in den Verfahren gegen Griechenland nach dem Militärputsch sowie gegen die Türkei 1982, siehe Zwaak, in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak, S. 48.
A. Berücksichtigung einer Praxis des Verschwindenlassens
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Türkei59 und gegen Russland wegen Menschenrechtsverletzungen und insbesondere dem Verschwindenlassen von Personen zu erheben. Damit hat sich das eigentlich nach dem Konventionssystem vorgesehene Verfahren zur Bekämpfung systematischer Menschenrechtsverletzungen als ineffektiv erwiesen.60 Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass in Individualbeschwerden der Versuch unternommen wurde, die Systematik der Menschenrechtsverletzungen hervorzuheben.61 Schließlich erkennt der EGMR selbst an, dass er auch in Individualbeschwerden einem objektiven Interesse am Menschenrechtsschutz gerecht zu werden hat:62 „The Court’s judgments in fact serve not only to decide those cases brought before the Court but, more generally, to elucidate, safeguard and develop the rules instituted by the Convention, thereby contributing to the observance by the States of the engagements undertaken by them as Contracting Parties“.63
5. Zwischenergebnis Es wäre wünschenswert, dass der EGMR in Zukunft die Unvereinbarkeit der Praxis des Verschwindenlassens mit der Konvention feststellte.64 Die Möglichkeit einer damit ausgelösten Zunahme von Beschwerden und der einhergehenden Mehrbelastung des Gerichtshofes kann in Fällen schwerer und systematischer Menschenrechtsverletzungen nicht ausschlaggebend sein. Auch gegenüber der Gefahr einer Verschlechterung der Kooperationsbereitschaft der betroffenen Konventionsstaaten überwiegen die zu erwartenden Vorzüge einer solchen Feststellung. Der EGMR sollte die Feststellung, wie bereits in der Beschwerde Bottazzi, jedenfalls in den Hauptteil des Urteils aufnehmen und dabei möglichst detailliert benennen, mit welchen Konventionsbestimmungen die ebenfalls genau zu beschreibende Praxis unvereinbar ist.
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Nach der gütlichen Einigung aus dem Jahre 1995, siehe Reidy/Hampson/Boyle, NQHR 15 (1997), S. 161 (163). Zu diesem Verfahren siehe auch Zwaak, in: FS Baehr, S. 209 (212 f.). 60 Siehe auch die Einschätzung von O’Boyle, in: Bayefsky (Hrsg.), S. 169 (180): „The inter-state complaint has proved on occasion to be time-consuming, counter-productive and ultimately ineffective and has created doubts about the ability on an overcharged system to respond effectively to the most serious allegations.“ Siehe auch Greer, The European Convention, S. 41 (allerdings auch in Hinblick auf das Individualverfahren), 317. 61 Reidy/Hampson/Boyle, NQHR 15 (1997), S. 161 (164). 62 Siehe auch Colandrea, HRLR 7 (2007), S. 396 (406 f.) in Bezug auf das Piloturteilsverfahren. 63 Irland v. Vereinigtes Königreich, 5310/71, Urteil vom 18. Januar 1978, Abs. 154. Zu beachten ist allerdings, dass der EGMR diese Aussage im Kontext eines Staatenverfahrens tätigte. Siehe aber Colandrea, HRLR 7 (2007), S. 396 (407 Fn. 43). 64 Siehe ähnlich auch Sardaro, EHRLR Issue 6 (2003), S. 601 (615). In allgemeiner Form fordert dies auch Bottigliero, S. 158 f. Zu einem entsprechenden Vorgehen des IAGMR siehe Mendez/Vivanco, Hamline Law Review 13 (1990), S. 507 (542 f.).
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Kap. 4: Gegenstand und Inhalt des Urteils in Fällen des Verschwindenlassens
IV. Fazit Selbst wenn der EGMR allerdings in Zukunft die Unvereinbarkeit der Praxis des Verschwindenlassens in seinem Urteil explizit feststellte, verbleiben Zweifel daran, ob das Individualverfahren zur Bekämpfung solch systematischer und schwerer Menschenrechtsverletzungen geeignet ist. O’Boyle wirft zu Recht die folgenden Fragen auf: „The failings concerning allegations of systematic and widespread violations raise the general questions whether it is at all feasible to deal with such problems by way of a petition system which will only be called on to examine specific aspects of a wider problem, and whether one can speak sensibly about ,effectiveness‘ of human rights systems which are incapable of adequate responses to the most serious violations.“65
Solange aber keine grundlegende Umgestaltung des EMRK-Überwachungssystems erfolgt66 und die Staaten ihre Wächterfunktion im Wege einer Staatenbeschwerde nicht wahrnehmen, stellt es einen Fortschritt dar, den Zusammenhang zwischen einzelnen Fällen des Verschwindenlassens zumindest in die Urteile der Individualbeschwerden einzubeziehen, indem der EGMR – angelehnt an die Entscheidung Bottazzi – feststellt, dass die Praxis des Verschwindenlassens mit der Konvention unvereinbar ist.67 Der EGMR könnte in Zukunft die Bedeutung dieser Feststellung noch hervorheben, indem er sie nicht nur in den Hauptteil des Urteils, sondern auch in den Tenor aufnimmt.
B. Die Anordnung konkreter, fallspezifischer Abhilfemaßnahmen Urteile des EGMR sind in erster Linie Feststellungsurteile.68 Das heißt, dass der Gerichtshof die Feststellung trifft, dass die Konvention verletzt ist. Das Urteil hat grundsätzlich weder eine unmittelbar gestaltende Wirkung69 noch ist es im nationalen Recht vollstreckbar.70 Nach Art. 41 EMRK kann der Gerichtshof, wenn das 65
O’Boyle, in: Bayefsky (Hrsg.), S. 169 (180). Auch das 14. Zusatzprotokoll brachte in dieser Hinsicht keine Fortschritte. Kamminga, NQHR 12 (1994), S. 153 (164) schlug vor Inkrafttreten des 11. Zusatzprotokolls vor, dass der EGMR schwere und verbreitete Menschenrechtsverletzungen proprio motu untersuchen solle. Greer, The European Convention, S. 322 f. schlägt vor, dass der European Commissioner for Human Rights und nationale Menschenrechtsinstitutionen Beschwerden einlegen können. Tomuschat, HRLJ 13 (1992), S. 401 (406) wirft auf, ob nicht spezielle Verfahren erforderlich seien, um „Situationen“ zu untersuchen, die denen der VN ähneln. 67 Siehe auch Benzimra-Hazan, Rev. Trim. Dr. h. 12 (2001), S. 765 (771 f.). 68 Cremer, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), Kap. 32, Rn. 32; Ress, Texas International Law Journal 40 (2008), S. 359 (371); Schmahl, EuGRZ 35 (2008), S. 369. 69 Dazu siehe näher Cremer, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), Kap. 32, Rn. 59 ff. 70 Ress, Texas International Law Journal 40 (2008), S. 359 (374). 66
B. Die Anordnung konkreter, fallspezifischer Abhilfemaßnahmen
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innerstaatliche Recht nur eine unvollkommene Wiedergutmachung gestattet, eine gerechte Entschädigung zusprechen. Auch in Fällen des Verschwindenlassens enthält der Tenor des Urteils zunächst die Feststellung, dass verschiedene Konventionsartikel verletzt sind. Regelmäßig wird auch eine Entschädigung in Geld zugesprochen. In einigen Beschwerden, die das Verschwindenlassen von Personen betrafen, begehrten die Beschwerdeführer allerdings auch, dass der Gerichtshof die Anordnung treffe, Russland habe eine unabhängige Ermittlung, die den Vorgaben der Konvention entspricht, in Bezug auf die Entführung durchzuführen.71 Angelehnt an die Rechtsprechung des IAGMR forderte der Beschwerdeführer im Fall Bersunkayeva auch folgende Maßnahmen: „Those included a ,public apology‘, whereby the respondent Government should acknowledge publicly its responsibility for the violation of the applicant’s rights and those of her son, and ,allowing the applicant to contact her son, if he was alive, or indicating the place of his burial and transfer his remains to the cemetery indicated by the applicant‘.“72
Damit verlangten die Beschwerdeführer, dass der Gerichtshof konkrete Abhilfemaßnahmen fallspezifischer Art anordnet. Sie bezogen sich dabei auf die Entscheidung Assanidze v. Georgien aus dem Jahre 2004, die eine unrechtmäßige Inhaftierung betraf. Im Tenor dieses Urteils hatte der EGMR einstimmig festgestellt, dass der beschwerdegegnerische Staat die Entlassung des Beschwerdeführers zum frühestmöglichen Zeitpunkt sicherstellen müsse.73 Der Gerichtshof hatte auch in dieser Entscheidung zuvor betont, dass seine Urteile deklaratorisch seien und die Art und Weise der Ausführung der Urteile nach Art. 46 EMRK in erster Linie der Vertragspartei obliege. In diesem Fall aber – so der EGMR in Assanidze – ließe die Verletzung ihrer Natur nach keine wirkliche Wahl, wie sie zu beheben sei.74 71
So in Orhan v. Türkei, 25656/94, Urteil vom 18. Juni 2002, Abs. 450; Kaplanova v. Russland, 7653/02, Urteil vom 29. April 2008, Abs. 149 – 152; Musayeva v. Russland, 12703/ 02, Urteil vom 3. Juli 2008, Abs. 164; Bersunkayeva v. Russland, 27233/03, Urteil vom 4. Dezember 2008, Abs. 155; Medova v. Russland, 25385/04, Urteil vom 15. Januar 2009, Abs. 142 f.; Varnava et al. v. Türkei, 16064/90, 16065/90, 16066/90, 16068/90, 16069/90, 16070/90, 16071/90, 16072/90, 16073/90, Urteil der Großen Kammer vom 18. September 2009, Abs. 215; Mutsolgova et al. v. Russland, 2952/06, Urteil vom 1. April 2010, Abs. 167 f.; Khatuyeva v. Russland, 12463/05, Urteil vom 22. April 2010, Abs. 115 – 117; Giriyeva et al. v. Russland, 17879/08, Urteil vom 21. Juni 2011, Abs. 155 f.; Makharbiyeva et al. v. Russland, 26595/08, Urteil vom 21. Juni 2011, Abs. 129 f. Siehe auch Leach, EHRLR Issue 6 (2008), S. 732 (758). 72 Bersunkayeva v. Russland, 27233/03, Urteil vom 4. Dezember 2008, Abs. 155. 73 Assanidze v. Georgien, 71503/01, Urteil vom 8. April 2004, Tenor, Abs. 14 (a): „that the respondent State must secure the applicant’s release at the earliest possible date“. Zu dieser Leitentscheidung siehe u.a Shelton, Remedies, S. 282 – 284; Breuer, EuGRZ 31 (2004), S. 257; Colandrea, HRLR 7 (2007), S. 396. Ähnlich ging der EGMR auch im Fall Slawomir Musial v. Polen, 28300/06, Urteil vom 20. Januar 2009 vor, der eine Verletzung von Art. 3 EMRK durch unmenschliche Haftbedingungen betraf. 74 Assanidze v. Georgien, 71503/01, Urteil vom 8. April 2004, Abs. 202 f.
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Kap. 4: Gegenstand und Inhalt des Urteils in Fällen des Verschwindenlassens
In den Fällen Kaplanova, Musayeva und Bersunkayeva, in denen die Beschwerdeführer begehrt hatten, dass der Gerichtshof die Durchführung von Ermittlungen in Bezug auf das Verschwinden anordnet, differenzierte der EGMR nun mit den folgenden Ausführungen zwischen der Konstellation in der AssanidzeEntscheidung und der vorliegenden: „In the Court’s opinion, the present case is distinguishable from those referred to by the applicant. In particular, the Assanidze judgment ordered the respondent State to secure the applicant’s release so as to put an end to the violations of Article 5 § 1 and Article 6 § 1 […]. The Court further notes its above finding that in the present case the effectiveness of the investigation had already been undermined at its early stages by the domestic authorities’ failure to take meaningful investigative measures […]. It is therefore very doubtful that the situation existing before the breach could be restored. In such circumstances, having regard to the established principles cited above and the Government’s argument that the investigation is currently under way, the Court finds it most appropriate to leave it to the respondent Government to choose the means to be used in the domestic legal order in order to discharge their legal obligation under Article 46 of the Convention.“75
In darauf folgenden Fällen des Verschwindenlassens, in denen die Beschwerdeführer ebenfalls die Anordnung der Vornahme von Ermittlungen begehrt hatten, äußerte sich der EGMR in kürzerer Form ablehnend: „The Court notes that in several similar cases it has decided that it was most appropriate to leave it to the respondent Government to choose the means to be used in the domestic legal order in order to discharge their legal obligation under Article 46 of the Convention […]. It does not see any exceptional circumstances which would lead it to reach a different conclusion in the present case.“76
Damit, so scheint es, schob der EGMR den Bemühungen einiger Beschwerdeführer, konkrete Abhilfemaßnahmen im Urteil in Fällen des Verschwindenlassens anordnen zu lassen, jedenfalls vorerst einen Riegel vor.77 Im Folgenden wird untersucht, ob es zulässig und wünschenswert wäre, dass der Gerichtshof in Zukunft diese Rechtsprechung änderte und damit begänne, angelehnt an die Entscheidung Assanidze auch in Fällen des Verschwindenlassens konkrete, fallspezifische Abhilfemaßnahmen anzuordnen.
75 Musayeva v. Russland, 12703/02, Urteil vom 3. Juli 2008, Abs. 166. Siehe auch Kaplanova v. Russland, 7653/02, Urteil vom 29. April 2008, Abs. 152; Bersunkayeva v. Russland, 27233/03, Urteil vom 4. Dezember 2008, Abs. 157 f. 76 Mutsolgova et al. v. Russland, 2952/06, Urteil vom 1. April 2010, Abs. 167 f. Siehe ähnlich auch Khatuyeva v. Russland, 12463/05, Urteil vom 22. April 2010, Abs. 117; Medova v. Russland, 25385/04, Urteil vom 15. Januar 2009, Abs. 143; Varnava et al. v. Türkei, 16064/ 90, 16065/90, 16066/90, 16068/90, 16069/90, 16070/90, 16071/90, 16072/90, 16073/90, Urteil der Großen Kammer vom 18. September 2009, Abs. 222. Nur leicht abweichend auch Giriyeva et al. v. Russland, 17879/08, Urteil vom 21. Juni 2011, Abs. 156 und Makharbiyeva et al. v. Russland, 26595/08, Urteil vom 21. Juni 2011, Abs. 130. 77 Siehe auch Scovazzi/Citroni, S. 223, nach denen der EGMR bislang (Stand 2007) nur Entschädigung in Geld zugesprochen hat.
B. Die Anordnung konkreter, fallspezifischer Abhilfemaßnahmen
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I. Die Zulässigkeit der Anordnung konkreter Abhilfemaßnahmen Zunächst müsste es rechtlich zulässig sein, dass der EGMR überhaupt konkrete, fallspezifische Maßnahmen verbindlich anordnet. Maßstab für die Zulässigkeit ist dabei die EMRK;78 weder dieser noch der VerfO in den Art. 74 ff. lässt sich dabei aber eine explizite Aussage entnehmen.79 In der Konvention heißt es lediglich in Art. 46 Abs. 1 EMRK zur Verbindlichkeit der Urteile, dass die Vertragsparteien sich verpflichten, in allen Rechtssachen, in denen sie Partei sind, das endgültige Urteil zu befolgen. Nach Abs. 2 überwacht das Ministerkomitee den Vollzug der Urteile. Art. 41 EMRK sieht vor, dass der EGMR eine gerechte Entschädigung zusprechen kann. 1. Die Rechtsprechung des EGMR Wenn auch der EGMR bislang in einem Fall des Verschwindenlassens keine konkreten Abhilfemaßnahmen angeordnet hat, so geht er doch davon aus, dass dies grundsätzlich und unter bestimmten Voraussetzungen zulässig ist. Die Urteile bleiben jedoch vage in Hinblick auf die Frage, auf welche Kompetenzgrundlage der Gerichtshof sich dabei stützt.80 Eine konkrete Abhilfemaßnahme, die sich auf den Einzelfall bezog, traf der EGMR in der Entscheidung Assanidze.81 Er ordnete die Freilassung des Beschwerdeführers in dem Teil des Urteils an, der die Überschrift „Anwendung von Art. 41 EMRK“ trug, sowie im Tenor.82 Der Gerichtshof bezog sich allerdings im relevanten Absatz selbst auf die Pflicht der beschwerdegegnerischen Partei, die Verletzung abzustellen, und nannte Art. 46 EMRK.83 Auch in den Fällen des Ver78 Auch Breuer, EuGRZ 31 (2004), S. 257 (259) stellt auf das Prinzip der begrenzten (Einzel-)Ermächtigung ab. 79 So auch Breuer, EuGRZ 31 (2004), S. 257; Haß, S. 194. 80 Anders die Einschätzung von Breuer, EuGRZ 31 (2004), S. 257 (259), der der Ansicht ist, der EGMR stütze sich in der Assanidze-Entscheidung offenbar auf Art. 41 EMRK. So wohl auch Leach, EHRLR Issue 2 (2005), S. 148 (154). Nach Colandrea, HRLR 7 (2007), S. 396 (401 f.) hingegen stützt sich der EGMR auf Art. 1 EMRK sowie die materiellen Verpflichtungen aus der EMRK. 81 Zu der Bedeutung dieses Falles und der vorherigen Entwicklung siehe Wildhaber, in: FS Tomuschat, S. 671 (674 ff.). 82 Assanidze v. Georgien, 71503/01, Urteil vom 8. April 2004, Abs. 202 f. und Tenor, Nr. 14. Siehe auch teilweise zustimmende Meinung von Richter Costa, Abs. 6 – 8, in der dieser bedauert, dass der Gerichtshof nicht eine passendere Gelegenheit für die – auch seiner Ansicht nach grundsätzlich zulässige – Anordnung konkreter Maßnahmen abgewartet habe. Er bemerkt aber auch, dass diese die Aufgabe des Ministerkomitees, die Durchführung der Urteile zu überwachen, in rechtlicher Hinsicht, nicht aber in politischer Hinsicht vereinfachten. 83 Assanidze v. Georgien, 71503/01, Urteil vom 8. April 2004, Abs. 202. Auch im Urteil L. v. Litauen, 27527/03, Urteil vom 11. September 2007 äußerte sich der EGMR im Tenor (Nr. 5 und 6) und kurz im Teil des Urteils, der sich auf Art. 41 EMRK bezog (Abs. 74), zu der konkreten Maßnahme.
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Kap. 4: Gegenstand und Inhalt des Urteils in Fällen des Verschwindenlassens
schwindenlassens setzte sich der EGMR mit dem Begehren der Beschwerdeführer unter der Überschrift „Anwendung von Art. 41 EMRK“ auseinander,84 stellte konkret aber ebenfalls auf die Pflicht der Konventionsstaaten nach Art. 46 EMRK ab.85 In der Beschwerde Varnava et al. stellte er seine Überlegungen unter der Überschrift des Art. 46 EMRK an.86 Der Gerichtshof erkennt dabei an, dass es den Vertragsstaaten grundsätzlich freisteht, auf welche Weise sie die Konventionsverletzung beenden und Wiedergutmachung („reparation“), durch die der ursprüngliche Zustand soweit wie möglich wiederhergestellt wird, leisten wollen.87 Im Fall Assanidze stellte der EGMR darauf ab, dass es keine andere Möglichkeit zur Wiedergutmachung („remedy“) und das dringende Bedürfnis gebe, die Verletzung der Konvention abzustellen.88 2. Weitgehend Zustimmung in der Literatur Diese Entscheidung des EGMR, in jüngerer Zeit nunmehr konkrete Abhilfemaßnahmen nicht nur zu empfehlen, sondern auch im Tenor des Urteils verbindlich formuliert anzuordnen, begrüßt die Literatur mehrheitlich.89 In Hinblick auf die dogmatische Herleitung einer solchen Kompetenz herrscht dabei allerdings keine Einigkeit, soweit sich die Autoren mit dieser Frage überhaupt auseinandersetzen.90 Breuer ist der Ansicht, dass der Gerichtshof diese Kompetenz stärker dogmatisch fundieren sollte und schlägt – ebenso wie Schmahl – vor, auf eine „Annexkompetenz“ aus der Befugnis zur Feststellung der Konventionsverletzung als solcher ab84 Orhan v. Türkei, 25656/94, Urteil vom 18. Juni 2002, Abs. 450 f.; Kaplanova v. Russland, 7653/02, Urteil vom 29. April 2008, Abs. 149 – 152; Musayeva v. Russland, 12703/02, Urteil vom 3. Juli 2008, Abs. 164 – 166; Medova v. Russland, 25385/04, Urteil vom 15. Januar 2009, Abs. 142 f.; Mutsolgova et al. v. Russland, 2952/06, Urteil vom 1. April 2010, Abs. 167 f.; Khatuyeva v. Russland, 12463/05, Urteil vom 22. April 2010, Abs. 115 – 117. 85 So in Kaplanova v. Russland, 7653/02, Urteil vom 29. April 2008, Abs. 151; Musayeva v. Russland, 12703/02, Urteil vom 3. Juli 2008, Abs. 165. 86 Varnava et al. v. Türkei, 16064/90, 16065/90, 16066/90, 16068/90, 16069/90, 16070/90, 16071/90, 16072/90, 16073/90, Urteil der Großen Kammer vom 18. September 2009, Abs. 222. 87 Siehe Musayeva v. Russland, 12703/02, Urteil vom 3. Juli 2008, Abs. 165. Dies spiegelt Art. 1 EMRK wider. 88 Assanidze v. Georgien, 71503/01, Urteil vom 8. April 2004, Abs. 202 f. 89 Zustimmend: Breuer, EuGRZ 31 (2004), S. 257 (263); Colandrea, HRLR 7 (2007), S. 396 (wenn auch nicht weiterreichend, S. 411); Frowein, in: Frowein/Peukert, Art. 46, Rn. 10; Helfer, EJIL 19 (2008), S. 125 (153 f.); Leach, EHRLR Issue 2 (2005), S. 148 ff., der eine Liste mit Kriterien aufstellt, die darüber entscheiden, ob der EGMR Maßnahmen anordnet (S. 163); Ress, Texas International Law Journal 40 (2008), S. 359 (372 f.); Schmahl, EuGRZ 35 (2008), S. 369 (374); Seegers, S. 107. Vor der Assanidze-Entscheidung schon Dannemann, S. 218 – 223; Polakiewicz, S. 146 – 148 (in Bezug auf die verbindliche Festlegung von Restitutionsverpflichtungen; er hält einen Wandel der Rechtsprechung noch für unwahrscheinlich). 90 So bemängelt Leach, Taking a Case, S. 98 lediglich die Argumentation des EGMR.
B. Die Anordnung konkreter, fallspezifischer Abhilfemaßnahmen
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zustellen.91 Zulässig sei dies aufgrund des engen Zusammenhanges mit der Primärverpflichtung. Auch stellt er darauf ab, dass die EMRK noch nicht einmal die ausdrückliche Kompetenz enthält, dass der Gerichtshof eine Konventionsverletzung im Urteil feststellen darf. Er weist auf andere Vorbilder in der internationalen Gerichtsbarkeit hin sowie darauf, dass die EMRK so auszulegen sei, dass sie wirksame und konkrete Rechte enthielte.92 Nach Colandrea basiert die Kompetenz des EGMR, fallspezifische konkrete Maßnahmen anzuordnen, darauf, dass eine andauernde Verletzung beendet wird.93 Shelton scheint die Kompetenz auf Art. 41 EMRK stützen zu wollen, indem sie den Begriff der gerechten Entschädigung entsprechend weit auslegt.94 Ihrer Ansicht nach stellt die Anordnung konkreter Maßnahmen einen Fall der Wiederherstellung („restitution“) dar.95 Auch Richter Spielmann zieht Art. 41 EMRK heran.96 Loucaides stützt die Kompetenz zur Anordnung spezifischer Maßnahmen auf die Kompetenz des Gerichtshofes, restitution in integrum im Urteil festzusetzen, sowie auf Art. 46 EMRK.97 In Bezug auf die Voraussetzungen, unter denen der EGMR konkrete Abhilfemaßnahmen anordnen kann, stellt Breuer darauf ab, dass ein Fall einer „Ermessensreduzierung auf null“ vorliegen müsse.98 Des Weiteren macht er darauf aufmerksam, dass diese Kompetenz des EGMR zu einer Verschiebung des Gewichts im Verhältnis zwischen Gerichtshof und Ministerkomitee führt, da letzterem bei seiner Überwachung der Durchführung der Urteile politische „Verhandlungsmasse“ entzogen wird.99 Helfer vertritt die Auffassung, der EGMR solle konkrete Maßnahmen immer dann anordnen, wenn diese den status quo vor der Verletzung wiederherstellen würden.100 Colandrea weist darauf hin, dass das Subsidiaritätsprinzip dagegen 91
Breuer, EuGRZ 31 (2004), S. 257 (263); sich anschließend Schmahl, EuGRZ 35 (2008), S. 369 (377 f.) unter Nennung von Art. 46 EMRK. Siehe auf Haß, S. 200 – 204 unter Verweis auf die Lehre der „implied powers“. 92 Breuer, EuGRZ 31 (2004), S. 257 (261). 93 Colandrea, HRLR 7 (2007), S. 396 (401 f., 410). So wohl auch Frowein, in: Forwein/ Peukert, Art. 46, Rn. 6. 94 Shelton, Remedies, S. 280 f., es kann nur vermutet werden, dass sie die von ihr erwähnte „inherent and treaty-based power“ auf Art. 41 EMRK stützt. Siehe auch Meyer-Ladewig, Art. 41, Rn. 14 f., aber auch Art. 46, Rn. 4 ff. 95 Shelton, Remedies, S. 283. 96 Umayeva v. Russland, 1200/03, Urteil vom 4. Dezember 2008, teilweise abweichende Meinung von Richter Spielmann; Medova v. Russland, 25385/04, Urteil vom 15. Januar 2009, teilweise abweichende Meinung von Richter Spielmann. 97 Loucaides, EHRLR Issue 2 (2008), S. 182 (188 – 190): Art. 41 EMRK stehe dem nicht entgegen. Ähnlich auch Lambert Abdelgawad, ZaöRV 69 (2009), S. 471 (475), der Art. 46 Abs. 1 EMRK nennt. 98 Breuer, EuGRZ 31 (2004), S. 257 (259, 261, 263). Ähnlich auch Ress, Texas International Law Journal 40 (2008), S. 359 (373): „no discretion“; Zwaak, in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak, S. 277. 99 Breuer, EuGRZ 31 (2004), S. 257 (262). 100 Helfer, EJIL 19 (2008), S. 125 (153 f.).
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Kap. 4: Gegenstand und Inhalt des Urteils in Fällen des Verschwindenlassens
spreche, dass der Gerichtshof die umfassende Kompetenz habe, spezifische Abhilfemaßnahmen anzuordnen. Auch er ist der Ansicht, der EGMR könne dies nur, wenn es keine andere Möglichkeit der Wiederherstellung gebe.101 Villinger führt als Gründe für die Betonung des Subsidiaritätsprinzips an, dass die Konventionsstaaten unterschiedliche Verfassungssysteme und -traditionen hätten und mit unterschiedlichen Problemen bei der Umsetzung der Entscheidungen konfrontiert seien.102 Nur einige wenige Stimmen lehnen die Entscheidung des EGMR, konkrete Maßnahmen anzuordnen, als grundsätzlich unzulässig ab.103 Meyer-Ladewig weist insbesondere auf die Probleme hin, die in der Rechtsprechung entstehen könnten: So verlange der Grundsatz der Subsidiarität, dass den Staaten ein Spielraum bei der Durchführung der Urteile verbleibe; die konkreten Maßnahmen müssten eine gewisse Flexibilität haben. Der zeitliche Abstand zwischen dem angegriffenem Akt, dem Urteil des EGMR und der neuerlichen Befassung könne dazu führen, dass sich wesentliche Tatsachen änderten.104 3. Fazit Dem Gerichtshof ist mit dem Großteil der Literatur darin zuzustimmen, dass ihm grundsätzlich die Kompetenz zukommt, konkrete Maßnahmen im Urteil anzuordnen. Vorzugswürdig erscheint, die Kompetenz in Hinblick auf die Anordnung konkreter, fallspezifischer Maßnahmen nicht auf Art. 41 EMRK zu stützen, sondern auf die implizite Kompetenz, die Beendigung der Konventionsverletzung anzuordnen.105 Diese Kompetenz steht in einem engen Zusammenhang mit der Pflicht der Staaten aus Art. 46 EMRK, die Urteile zu befolgen.106 Diese Sichtweise stünde im Einklang mit der engen Auslegung, die Art. 41 EMRK in der Rechtsprechung erfahren hat.107 Sie ordnete sich auch in das allgemeine Völkerrecht ein, das eine Pflicht 101
Colandrea, HRLR 7 (2007), S. 396 (411). Villiger, in: FS Caflisch, S. 623 (632). 103 Kritisch – auch in Bezug auf das Piloturteilsverfahren – Grabenwarter, S. 96: dieser Akt prozessualer Notwehr sei verständlich, die teleologische Interpretation des Art. 46 EMRK indessen wenig überzeugend. Kritik kommt auch von Seiten Meyer-Ladewig, Art. 46, Rn. 11; ablehnend wohl Tomuschat, HRLJ 13 (1992), S. 401 (405); Beernaert, EHRLR Issue 5 (2004), S. 544 (554, Fn. 53). Siehe auch CoE, Parlamentarische Versammlung, Recommendation 1606 (2003), mit dem folgenden Vorschlag in Abs. 10 iv: „include in the ECHR an obligation on states to comply with measures imposed by the Court“, der nahelegt, das eine solche Pflicht bislang nicht existiert. 104 Dabei weist Meyer-Ladewig, Art. 46, Rn. 11 f. auf die Entscheidung Görgülü v. Deutschland hin. Siehe auch Frowein, in: FS Wildhaber, S. 261 (263 ff.); Schmahl, EuGRZ 35 (2008), S. 369 (379). 105 Vgl. auch Breuer, EuGRZ 31 (2004), S. 257 (261, 263), der von einer Annexkompetenz spricht. 106 So auch Schmahl, EuGRZ 35 (2008), S. 369 (378). 107 Shelton, Remedies, S. 194 – 200. 102
B. Die Anordnung konkreter, fallspezifischer Abhilfemaßnahmen
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zur Beendigung der Rechtsverletzung zusätzlich zur Pflicht, Wiedergutmachung zu leisten, kennt.108 Damit steht auch fest, dass eine Anordnung nur erfolgen kann, soweit die Verletzung noch andauert109 beziehungsweise eine Beendigung noch möglich ist. Außerdem ist zu fordern, dass die angeordnete Maßnahme auch geeignet ist, die andauernde Verletzung zu beenden, und dass sie das einzige Mittel dafür darstellt. Denn andernfalls wäre der nach Art. 1 und Art. 46 Abs. 1 EMRK den Staaten gewährte Ermessensspielraum, wie sie ihre Verpflichtungen aus der EMRK und dem Urteil erfüllen wollen, missachtet und damit auch der subsidiäre Charakter des EMRKÜberwachungssystems. Ohne diese Einschränkung wäre auch die dem Ministerkomitee in Art. 46 Abs. 2 EMRK zugewiesene Aufgabe, den Vollzug der Urteile zu überwachen, unzulässig beschnitten. Im Fall einer „Ermessensreduzierung auf null“ verbleibt dem Ministerkomitee allerdings kein politischer Spielraum, welcher gewahrt werden müsste. Schließlich existiert auch kein Widerspruch zwischen dem feststellenden Charakter der Urteile und einer Anordnung konkreter Maßnahmen, da die Anordnung nicht vollstreckbar, aber dennoch völkerrechtlich bindend ist.110 Ist die Anordnung verbindlich formuliert und nimmt der EGMR sie in den Tenor des Urteils auf, so erstreckt sich die Rechtskraft des Urteils auf sie.111
II. Anordnung von Ermittlungen in Fällen des Verschwindenlassens Der Antrag einiger Beschwerdeführer in Fällen des Verschwindenlassens, der Gerichtshof möge die Vornahme von Ermittlungen anordnen, die den Vorgaben der Konvention entsprechen, ist ein Antrag auf Anordnung konkreter und fallspezifischer Abhilfemaßnahmen.112 Dass der Gerichtshof eine solche Anordnung im Hauptteil des Urteils sowie im Tenor nicht trifft, bedauern die Richter Spielmann, Ziemele und Kalaydjieva in ihrem Sondervotum zur Varnava et al.-Entscheidung der Großen Kammer aus dem Jahre 2009. Sie sind der Ansicht, dass der Gerichtshof dem Ministerkomitee mit einer solchen Anordnung dessen Aufgabe, die Durchführung 108 Siehe Art. 30 und 31 des ILC Entwurfs zur Staatenverantwortlichkeit, Anlage der GARes. 56/83 vom 12. Dezember 2001. Auch Breuer, EuGRZ 31 (2004), S. 257 (260) untersucht die allgemeinen völkerrechtlichen Regelungen zur Staatenverantwortung. 109 Zur so genannten „continuing violation“ siehe auch Loucaides, in: GS Ryssdal, S. 803; van Pachtenbeke/Haeck, EHRLR Issue 1 (2010), S. 47. 110 Siehe Breuer, EuGRZ 31 (2004), S. 257 (257 f.). Siehe auch Shelton, Remedies, S. 189, 199 f. 111 Helfer, EJIL 19 (2008), S. 125 (147). 112 Vgl. Breuer, EuGRZ 31 (2004), S. 257 (262 f.) mit dem Hinweis, dass die Abgrenzung zwischen Wiederherstellung („restitution“) und Beendigung des konventionswidrigen Zustandes schwierig ist. Gerade in Fällen, in denen die Anordnung weitergehender Aufklärungsmaßnahmen gefordert wird, erscheine – so Breuer – zumindest fraglich, ob dies nicht doch eher als Maßnahme zur Beendigung denn als Wiederherstellung einzuordnen ist.
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Kap. 4: Gegenstand und Inhalt des Urteils in Fällen des Verschwindenlassens
der Urteile zu überwachen, erleichtern würde. Eine Verletzung von Art. 2 EMRK könne nicht allein durch Entschädigungszahlungen wiedergutgemacht werden; vielmehr bedinge die grundlegende Bedeutung dieses Rechts, dass der EGMR nicht zuletzt im Urteil feststelle, welche Maßnahmen er für angemessen erachte, um Wiedergutmachung zu leisten.113 1. Fehlende Tragfähigkeit der Argumentation des Gerichtshofes Den drei Richtern ist beizupflichten und dem Antrag der Beschwerdeführer auf die Anordnung der Vornahme von Ermittlungen in künftigen Fällen nachzukommen. Denn ausgehend von der grundsätzlichen Zulässigkeit der Anordnung konkreter, fallspezifischer Maßnahmen überzeugen die Argumente des EGMR, mit denen er diese ablehnt, nicht.114 So liegt, vergleichbar mit der Konstellation im Fall Assanidze, eine noch andauernde Verletzung vor. Dies stellt der EGMR in Fällen des Verschwindenlassens auch fest, indem er jeweils gesondert und explizit bejaht, dass Art. 2 EMRK in seinem prozeduralem Gehalt verletzt ist, da keine Ermittlungen durchgeführt wurden, die den Standards der Konvention entsprechen. Auch die Verletzung der Angehörigen in Art. 3 EMRK stützt der EGMR in erster Linie auf die Reaktion der Behörden auf das Verschwinden.115 Diese Pflicht, Ermittlungen durchzuführen, verletzt der beschwerdegegnerische Staat ab dem Zeitpunkt des Verschwindens beziehungsweise der Kenntnis der Behörden von diesem bis zum Zeitpunkt, in dem das Urteil ergeht. Zwar ist es richtig, dass die Wirksamkeit der Ermittlungen bereits in einer frühen Phase untergraben wurde.116 Wichtige Ermittlungsschritte, die zeitnahe nach dem Verschwinden hätten ergriffen werden müssen, sind Jahre später nicht mehr nachzuholen. Aber dennoch dauert die Verletzung noch an.117 Dies wird in der Entscheidung Varnava et al. deutlich, in der der Gerichtshof eine Verletzung von Art. 2 EMRK in seinem prozeduralem Gehalt in Bezug auf ein Verschwinden feststellte, das in den siebziger Jahren stattfand. Im Rahmen der Prüfung seiner 113 Varnava et al. v. Türkei, 16064/90, 16065/90, 16066/90, 16068/90, 16069/90, 16070/ 90, 16071/90, 16072/90, 16073/90, Urteil der Großen Kammer vom 18. September 2009, Zustimmende Meinung von Richter Spielmann, beigetreten von Richter Ziemele und Kalaydjieva. Siehe auch bereits die teilweise abweichende Meinung von Richter Spielmann in Medova v. Russland, 25385/04, Urteil vom 15. Januar 2009. 114 So auch die Einschätzung von Leach, EHRLR Issue 6 (2008), S. 732 (758). Siehe auch Loucaides, EHRLR Issue 2 (2008), S. 182 (190), der kritisiert, dass der EGMR nur in bestimmten Fallgruppen Maßnahmen anordnet. Er befürwortet eine Ausdehnung (S. 192). 115 Siehe dazu supra Kapitel 2, B.I.1.a). 116 Musayeva v. Russland, 12703/02, Urteil vom 3. Juli 2008, Abs. 166. Siehe auch Kaplanova v. Russland, 7653/02, Urteil vom 29. April 2008, Abs. 152. 117 Zur Einordnung des Verschwindenlassens als andauernde Verletzung siehe Pérez Solla, S. 162; Benzimra-Hazan, Rev. Trim. Dr. h. 12 (2001), S. 765 (774 – 777).
B. Die Anordnung konkreter, fallspezifischer Abhilfemaßnahmen
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Zuständigkeit ratione temporis stellte er fest, dass die prozedurale Pflicht so lange bestehen bleibe, wie die Person vermisst sei und insofern eine andauernde Verletzung vorliege.118 Auch die Begründung des Gerichtshofes, es sei zweifelhaft, ob die ursprüngliche Situation wiederhergestellt werden könne,119 erweist sich nicht als tragfähig.120 Die Anordnung der Vornahme von Ermittlungen stellt gerade keine Naturalrestitution dar, sondern bezweckt, die andauernde Verletzung zu beenden. Eine vollständige Wiederherstellung ist damit nicht zu fordern.121 Zur Beendigung der andauernden Rechtsverletzung ist sie geeignet und das einzige Mittel, so dass insofern die Voraussetzungen, an die der Gerichtshof und der Großteil der Literatur die Anordnung im Allgemeinen knüpft, erfüllt sind. Leach merkt auch zu Recht an, dass der Gerichtshof zu Unrecht betone, eine zukünftige Ermittlung könne keine Ergebnisse hervorbringen.122 Er ist der Ansicht, dass vielmehr nicht vermutet werden könne, dass eine zukünftige Ermittlung keine Ergebnisse hervorbringe.123 Ansonsten – so Leach – ergäbe sich auch ein Widerspruch zur Entscheidung im Fall Tahsin Acar, in der der EGMR eine Streichung der Beschwerde nicht zuließ, da die einseitige Erklärung der Türkei nicht die Selbstverpflichtung enthielt, Ermittlungen aufzunehmen.124 2. Vorzugswürdigkeit der Anordnung Der Gerichtshof sollte die damit rechtlich zulässige Anordnung der Vornahme von Ermittlungen auch vornehmen, da sie rechtspolitisch wünschenswert erscheint.125 Zunächst führt eine solche Anordnung dem beschwerdegegnerischen Staat explizit
118 Varnava et al. v. Türkei, 16064/90, 16065/90, 16066/90, 16068/90, 16069/90, 16070/ 90, 16071/90, 16072/90, 16073/90, Urteil der Großen Kammer vom 18. September 2009, Abs. 148. 119 Musayeva v. Russland, 12703/02, Urteil vom 3. Juli 2008, Abs. 166. Siehe auch Kaplanova v. Russland, 7653/02, Urteil vom 29. April 2008, Abs. 152. 120 Siehe auch Medova v. Russland, 25385/04, Urteil vom 15. Januar 2009, teilweise abweichende Meinung von Richter Spielmann. 121 Selbst von dieser Ansicht ausgehend bejaht Leach, EHRLR Issue 6 (2008), S. 732 (758 f.) aber eine Anordnung von Ermittlungen. 122 Leach, EHRLR Issue 2 (2005), S. 148 (156 f.) unter Bezugnahme auf den Fall Finucane v. Vereinigtes Königreich, Abs. 89 mit dem Hinweis des EGMR, dass dieser sogar in Fällen des Verschwindenlassens keine Ermittlungen angeordnet habe. 123 Leach, EHRLR Issue 2 (2005), S. 148 (156). 124 Leach, Taking a Case, S. 99 f.; Leach, EHRLR Issue 2 (2005), S. 148 (156 f.) unter Verweis auf Tahsin Acar v. Türkei, 26307/95, Urteil der Großen Kammer vom 6. Mai 2003, Abs. 84: die Selbstverpflichtung sollte dies auf jeden Fall („at the very least“) enthalten. Auf diese Entscheidung berufen sich denn auch einige Beschwerdeführer in den Fällen des Verschwindenlassens, siehe z. B. Musayeva v. Russland, 12703/02, Urteil vom 3. Juli 2008, Abs. 164. 125 Vgl. Leach, Taking a Case, S. 99: „eminently reasonable“.
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Kap. 4: Gegenstand und Inhalt des Urteils in Fällen des Verschwindenlassens
seine Pflichten aus dem Urteil vor Augen; im Rahmen der Orientierungswirkung126 formuliert der Gerichtshof zusätzlich auch die Pflichten der Konventionsstaaten nach der Konvention in vergleichbaren Fällen. Der betroffene Konventionsstaat wird nicht mit den oft schweren Problemen alleingelassen, die ein feststellendes Urteil ohne Hinweise zu seiner Durchführung mit sich bringen kann.127 Damit wird ein schnellerer und umfassenderer Vollzug der Urteile ermöglicht128 und somit die Effektivität des EMRK-Systems gefördert.129 Gleichzeitig wird den Staaten der Weg versperrt, ein unzulässig enges Verständnis ihrer Pflichten aus dem Urteil anzunehmen.130 Auch dem Ministerkomitee erleichtert dies die Überwachung der Durchführung der Urteile:131 Politische Rücksichtnahme ist in Hinblick auf die Überwachung des Vollzugs der angeordneten Abhilfemaßnahmen nicht möglich, wäre aber auch – da insofern eine Ermessensreduzierung auf null vorliegt – unzulässig.132 In Bezug auf die Überwachung des Vollzugs des Urteils in sonstiger Weise kann das Ministerkomitee politische Erwägungen aber nach wie vor einbeziehen, so dass ihm durchaus ein Spielraum verbleibt. Für die Beschwerdeführer, das heißt die Angehörigen der verschwundenen Person, hätte eine solche Anordnung den Vorteil, dass ihrem Interesse, die Wahrheit über das Schicksal des Verschwundenen zu erfahren, entsprochen würde. Leach weist zu Recht darauf hin, dass die Angehörigen oft stärker daran interessiert sind, die Wahrheit zu erfahren, als Geld zu erhalten.133 Die quälende Ungewissheit und 126
Zu dieser siehe Grabenwarter, S. 98 f. Vgl. Buyse, Greek Law Journal 57 (2009), S. 1 (10) allerding unter Bezug auf Maßnahmen allgemeiner Natur. Er nennt dies das pädagogische Element. 128 Helfer, EJIL 19 (2008), S. 125 (147); Greer, The European Convention, S. 160. Das durch das 14. Zusatzprotokoll eingeführte Verfahren zur Überwachung der Durchführung der Urteile in Art. 45 Abs. 4 EMRK n.F. bleibt möglich, verspricht aber, zeitraubend zu sein. Zu den Problemen in Hinblick auf den Vollzug der Urteile in Russland siehe z. B. CoE, Parliamentary Assembly, Dok. 11020 vom 18. September 2006, Abs. 56 zum Verschwindenlassen. 129 Breuer, EuGRZ 31 (2004), S. 257 (262); Helfer, EJIL 19 (2008), S. 125 (153); Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 41, Rn. 1. 130 Vgl. Helfer, EJIL 19 (2008), S. 125 (147). 131 Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 41, Rn. 1. Siehe auch Helfer, EJIL 19 (2008), S. 125 (154) mit Bezug zum Europarat. Zu den Schwierigkeiten des Ministerkomitees bei der Umsetzung siehe Leach, EHRLR Issue 6 (2008), S. 732 (759). 132 Helfer, EJIL 19 (2008), S. 125 (147) weist daraufhin, dass die Weigerung, konkrete Abhilfemaßnahmen anzuordnen, zu Unstimmigkeiten im Ministerkomitee führte. Siehe auch Greer, The European Convention, S. 160. 133 Leach, EHRLR Issue 2 (2005), S. 148 (157) unter Verweis auf Shelton. Siehe Pérez Solla, S. 142 unter Verweis auf die Madres de Plaza de Mayo, die Zahlungen ablehnten als Versuch Argentiniens sich freizukaufen sowie Scovazzi/Citroni, S. 223. Shelton, in: De Feyter/ Parmentier/Bossuyt/Lemmens (Hrsg.), S. 24 f. weist daraufhin, dass die Verfolgung und Bestrafung der Täter für die Angehörigen wichtig ist. Siehe Lapitskaya, NYU JILP 43 (2010/ 2011), S. 479 (490 ff.) zur Erfüllung der Zahlungspflichten aus den EGMR-Urteilen seitens Russland sowie zur untergeordneten Bedeutung der Zahlung für die Beschwerdeführer (532 f.). 127
B. Die Anordnung konkreter, fallspezifischer Abhilfemaßnahmen
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Hilflosigkeit gegenüber den Behörden könnte auf diese Weise ein Ende finden oder zumindest gemildert werden und damit die vom EGMR festgestellte Verletzung von Art. 3 EMRK beendet werden. Eine konkrete Anordnung unterstützt die Beschwerdeführer auch darin, Druck auf die Regierung auszuüben und die Umsetzung des Urteils einzufordern.134 Schließlich würde eine Anordnung der Vornahme von Ermittlungen in Urteilen des Verschwindenlassens auch die allgemeine Rechtssicherheit stärken.135 Greer stellt sogar in Frage, ob die bloße Feststellung einer Verletzung ohne eine klare Aussage dazu, was zur Wiedergutmachung getan werden müsste, Gerechtigkeit darstellt.136 Die Rechtsprechung würde vorhersehbarer und konstanter werden und es würde eine Gleichbehandlung der Beschwerdeführer erfolgen.137
III. Fazit Der EGMR sollte in Zukunft zumindest138 dem Antrag einiger Beschwerdeführer in Fällen des Verschwindenlassens nachkommen und die Vornahme von Ermittlungen anordnen. Aber auch ohne einen solchen entsprechenden Antrag könnte er dazu übergehen, diese Anordnung zu treffen.139 Sie sollte auch im Tenor und in imperativer Form erfolgen und nähme dann an der Rechtskraftwirkung des Urteils teil und bände den betroffenen Konventionsstaat völkerrechtlich. Die Ermittlungen sollten insbesondere zum Ziel haben, die Umstände des Verschwindens zu klären, die Verantwortlichen zu ermitteln und zu bestrafen sowie die Leiche des Opfers aufzufinden. Käme der EGMR in Zukunft diesem Vorschlag nach, so folgte er damit der Rechtsprechung des IAGMR.140 Diesem räumt bereits die AMRK im Vergleich zur EMRK eine sehr weitreichende Kompetenz in dieser Hinsicht ein.141 In Fällen des 134
Helfer, EJIL 19 (2008), S. 125 (154); Greer, The European Convention, S. 160. Helfer, EJIL 19 (2008), S. 125 (153). 136 Greer, The European Convention, S. 318. 137 Helfer, EJIL 19 (2008), S. 125 (153). 138 So auch Scovazzi/Citroni, S. 223: „at the very least“. Siehe auch Koroteev, EHRAC Bulletin, Sommer 2009, S. 14 (14 f.); Feldman, EHRLR Issue 1 (2009), S. 50 (68). Vgl. Erdal/ Bakirci, S. 74 in Bezug auf Fälle von Folter. 139 Insofern dient der Antrag nicht so sehr dazu, eine bestimmte Entscheidung vom Gericht zu beantragen (Dörre, S. 75). Der Grundsatz ne ultra petita begrenzt gerade nicht, welche Entscheidungen der EGMR trifft (Dörre, S. 74 – 76. Siehe aber auch S. 91 f. zur Unzulässigkeit eines Leistungsurteils). Siehe aber Breuer, EuGRZ 31 (2004), S. 257 (261, Fn. 48). 140 Siehe auch Schmahl, EuGRZ 35 (2008), S. 369 (374), die von einer Annährung spricht. Ebenso Antkowiak, Columbia JTL 46 (2008), S. 351 (411); Dannemann, S. 221. Kritisch zu dieser Rechtsprechung aber Cavallaro/Brewer, AJIL 102 (2008), S. 769 (824). 141 Art. 63 Abs. 1 AMRK lautet: „If the Court finds that there has been a violation of a right or freedom protected by this Convention, the Court shall rule that the injured party be ensured the enjoyment of his right or freedom that was violated. It shall also rule, if appropriate, that the consequences of the measure or situation that constituted the breach of such right 135
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Kap. 4: Gegenstand und Inhalt des Urteils in Fällen des Verschwindenlassens
Verschwindenlassens nahm der IAGMR von seiner Kompetenz umfassend Gebrauch. So ordnete er beispielsweise an, dass eine Ermittlung durchzuführen sei, um die Verantwortlichen festzustellen und zu bestrafen sowie um das Geschehene öffentlich bekannt zu machen,142 sowie dass die sterblichen Überreste der Opfer lokalisiert und an ihre Angehörigen übergeben werden sollen.143 Die Anforderungen, die der EGMR an eine konventionsgerechte Ermittlung stellt,144 sind geeignet, die Vornahme dieser Maßnahmen abzudecken.
C. Konkrete Abhilfemaßnahmen allgemeiner Art Der EGMR könnte noch einen Schritt weitergehen und in Zukunft im Urteil auch vorsehen, welche konkreten Maßnahmen, die nicht auf den spezifischen Einzelfall zugeschnitten, sondern allgemeiner Natur sind, er für erforderlich hält. Orientierung könnte dabei das Vorgehen des EGMR im Rahmen des Piloturteilsverfahrens, mit dem Urteil Broniowski als Leitentscheidung, geben.
I. Die Rechtsprechung in den Piloturteilsverfahren Im Rahmen des Piloturteilsverfahrens hat der EGMR bereits Abhilfemaßnahmen, die nicht den Einzelfall betrafen, sondern allgemeiner Art waren, im Tenor des Urteils vorgesehen. Allerdings waren diese Maßnahmen nicht ähnlich konkret gefasst, wie beispielsweise im Fall Assanidze; der EGMR verwendete aber verbindliche Formulierungen. Im Leiturteil in dieser Hinsicht, im Fall Broniowski aus dem Jahre 2004, ordnete der EGMR im Tenor an: „Holds that the respondent State must, through appropriate legal measures and administrative practices, secure the implementation of the property rights […] or provide them with equivalent redress […].“145
or freedom be remedied and that fair compensation be paid to the injured party.“ Dazu Antkowiak, Columbia JTL 46 (2008), S. 351; Benzimra-Hazan, Rev. Trim. Dr. h. 12 (2001), S. 765 (790 ff.); Pasqualucci, S. 233 ff.; Pizzolo, S. 347 ff.; sowie die Fallstudie von Cassel, in: De Feyter/Parmentier/Bossuyt/Lemmens (Hrsg.), S. 191 ff. 142 Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Merits, Urteil vom 25. November 2000, Series C Nr. 70, Tenor, Nr. 8. 143 Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Reparations, Urteil vom 22. Februar 2002, Series C Nr. 91, Tenor, Nr. 1. Siehe auch Pérez Solla, S. 165; Gomes-Lund et al. (Guerrilha do Araguaia) v. Brasilien, Urteil vom 24. November 2010, Series C Nr. 219, Tenor 9 – 18. 144 Dazu siehe supra Kapitel 2, B.II.1.a)aa). 145 Broniowski v. Polen, 31443/96, Urteil vom 22. Juni 2004, Tenor, Nr. 4. Siehe dazu auch Buyse, Greek Law Journal 57 (2009), S. 1 (3).
C. Konkrete Abhilfemaßnahmen allgemeiner Art
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In anderen Urteilen machte der EGMR von ähnlichen Formulierungen Gebrauch, zum Teil sah er noch eine zeitliche Vorgabe vor.146 Eine nähere kompetenzrechtliche Begründung lässt sich den Urteilen dabei nicht entnehmen; der EGMR betont im Urteil Broniowski lediglich, dass es grundsätzlich nicht Aufgabe des EGMR sei zu entscheiden, welche Maßnahmen der Staat im Rahmen seiner Verpflichtung nach Art. 46 EMRK zu ergreifen habe. In Hinblick auf die festgestellte systemische Situation stellte der Gerichtshof allerdings fest, dass allgemeine Maßnahmen auf nationaler Ebene unzweifelhaft erforderlich seien, um das Urteil umzusetzen.147 Um Polen bei der Erfüllung seiner Pflichten nach Art. 46 EMRK zu unterstützen, sei der Gerichtshof bestrebt, die Art der Maßnahme anzuzeigen, die ergriffen werden könnte, um die systemische Situation zu beenden.148 Des Weiteren wies der EGMR auf seine Arbeitsüberlastung hin.149 Grundsätzliche Kritik an diesem Vorgehen kommt von Seiten des Richters Zagrebelsky, der die Kompetenz des Gerichtshofes in Bezug auf die Anordnung allgemeiner Abhilfemaßnahmen im Tenor des Urteils anzweifelt. Die Beziehung zwischen dem EGMR und dem Ministerkomitee werde untergraben, wenn die an-
146
So beispielsweise in Sejdovic v. Italien, 56581/00, Urteil vom 10. November 2004, Tenor, Nr. 3 (der EGMR sieht nur vor, dass angemessene Maßnahmen ergriffen werden; siehe auch das Urteil der Großen Kammer vom 1. März 2006); Lukenda v. Slowenien, 23032/02, Urteil vom 6. Oktober 2005, Tenor, Nr. 5: „Holds by six votes to one that the respondent State must, through appropriate legal measures and administrative practices, secure the right to a trial within a reasonable time“; Xenides-Arestis v. Türkei, 46347/99, Urteil vom 22. Dezember 2005, Tenor, Nr. 5: „Holds unanimously that the respondent State must introduce a remedy which secures the effective protection of the rights laid down in Article 8 of the Convention and Article 1 of Protocol No. 1 in relation to the present applicant as well as in respect of all similar applications pending before the Court. Such a remedy should be available within three months from the date on which the present judgment is delivered and redress should be afforded three months thereafter“; Hutten-Czapska v. Polen, 35014/97, Urteil der Großen Kammer vom 19. Juni 2006, Tenor, Nr. 4; Sejdovic v. Italien, 56581/00, Urteil vom 10. November 2004, Tenor, Nr. 3 (nicht aber im Tenor des Urteils der Großen Kammer vom 1. März 2006); L. v. Litauen, 27527/03, Urteil vom 11. September 2007, Tenor, Nr. 5 (mit einer Zeitvorgabe von drei Monaten für die Gesetzesreform; siehe auch Nr. 6 des Tenors zum Einhalten der Frist). Siehe auch Wallace, EHRLR Issue 1 (2011), S. 71 (76 – 87). 147 Broniowski v. Polen, 31443/96, Urteil vom 22. Juni 2004, Abs. 193: „Although it is in principle not for the Court to determine what remedial measures may be appropriate to satisfy the respondent State’s obligation under Article 46 of the Convention, in view of the systemic situation which it has identified, the Court would observe that general measures at national level are undoubtedly called for in execution of the present judgment, measures which must take into account the many people affected.“ 148 Broniowski v. Polen, 31443/96, Urteil vom 22. Juni 2004, Abs. 194: „With a view to assisting the respondent State in fulfilling its obligation under Article 46, the Court has sought to indicate the type of measure that might be taken by the Polish State in order to put an end to the systemic situation identified in the present case.“ 149 Broniowski v. Polen, 31443/96, Urteil vom 22. Juni 2004, Abs. 190, 193. Siehe die Kritik daran von Richter Zupancic in seiner zustimmenden Meinung zu diesem Urteil.
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Kap. 4: Gegenstand und Inhalt des Urteils in Fällen des Verschwindenlassens
geordnete Maßnahme nicht die einzige Abhilfemöglichkeit darstelle.150 Richterin Fura-Sandström hingegen befürchtet in einem Sondervotum lediglich ein Handeln ultra vires im konkreten Fall, betont aber gleichzeitig die generelle Kompetenz zur Anordnung allgemeiner Maßnahmen, um ähnliche Fälle in der Zukunft zu verhindern.151
II. Ansichten in der Literatur Die Literatur kritisiert zum Teil die ungenügende rechtliche Absicherung der Kompetenz, Abhilfemaßnahmen allgemeiner Art anzuordnen.152 Zu Recht weisen einige Stimmen darauf hin, dass sich die chronische Überlastung des Gerichtshofes nicht als rechtliches Argument heranziehen lässt,153 ebenso wenig wie politische Erklärungen des Ministerkomitees.154 Garlicki ist der Ansicht, die Kompetenz des Gerichtshofes folge aus Art. 46 EMRK; der Gerichtshof – so Garlicki – nehme an, dass die Pflicht der Vertragsstaaten, das Urteil zu respektieren und umzusetzen, auch die Pflicht enthalten könne, allgemeine Abhilfemaßnahmen zu treffen.155 Breuer stützt auch diese Kompetenz auf eine sich aus der Befugnis zur Feststellung der Konventionsverletzung ergebende Annexkompetenz.156 Buyse und Colandrea weisen darauf hin, dass diese Maßnahmen nicht nur darauf abzielten, eine andauernde Rechtsverletzung im konkreten Fall und in weiteren vergleichbaren Fällen zu be150 Hutten-Czapska v. Polen, 35014/97, Urteil der Großen Kammer vom 19. Juni 2006, teilweise abweichende Meinung von Richter Zagrebelsky. Dagegen siehe Richter Zupancic in seiner teilweise zustimmenden, teilweise abweichenden Meinung zum selben Urteil, Teile I und II. Er sieht in den Piloturteilsverfahren deshalb eine „class-action“. 151 L. v. Litauen, 27527/03, Urteil vom 11. September 2007, Tenor Nr. 5 und 6: Der EGMR ordnete an, dass Litauen innerhalb von drei Monaten ein Gesetz zu verabschieden habe, das Transsexuellen bestimmte Rechte einräume; komme Litauen dem nicht nach, so müsse es dem Beschwerdeführer 40.000 Euro Entschädigung zahlen. Fura-Sandström verwies auf die Entscheidung Broniowski v. Polen, 31443/96, Urteil vom 22. Juni 2004. Zusätzlich merkte sie an, dass der Beschwerdeführer wohl selbst nicht der Meinung sei, dass diese Gesetzgebung eine Entschädigung darstellt. Der EGMR hätte primär anordnen sollen, dass Litauen Entschädigung zahlt und erst als eine weitere Maßnahme anzeigen sollen, dass neue Gesetzgebung nötig sei. 152 Breuer, EuGRZ 31 (2004), S. 445 (448); Schmahl, EuGRZ 35 (2008), S. 369 (377); Paraskeva, The International Journal of Human Rights 12 (2008), S. 415 (434) in Bezug auf das gesamte Piloturteilsverfahren. Feldman, EHRLR Issue 1 (2009), S. 50 (68) geht darauf nicht ein. 153 Siehe Richter Zupancic in seiner zustimmenden Meinung in Broniowski v. Polen, 31443/96, Urteil vom 22. Juni 2004; Buyse, Greek Law Journal 57 (2009), S. 1 (12); Schmahl, EuGRZ 35 (2008), S. 369 (377). 154 Schmahl, EuGRZ 35 (2008), S. 369 (377). Anders aber Caflisch, EuGRZ 33 (2006), S. 521 (522) der darin eine tragfähige Rechtsgrundlage sieht, solange der EGMR keinen Missbrauch betreibt und die Streitparteien tatsächlich eine gütliche Beilegung wünschen. 155 Garlicki, in: FS Wildhaber, S. 177 (185 f.), im Folgenden aber kritisch. Art. 46 und 1 EMRK nennen auch Leach/Hardman/Stephenson/Blitz, S. 175. 156 Breuer, EuGRZ 31 (2004), S. 445 (449).
C. Konkrete Abhilfemaßnahmen allgemeiner Art
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seitigen beziehungsweise Wiedergutmachung dafür zu leisten, sondern gerade auch weitere Verletzungen in der Zukunft verhindern sollten.157 Sie stellten daher eine Garantie der Nichtwiederholung dar.158 Buyse sieht die Kompetenz des EGMR, diese anzuordnen, in Art. 46 EMRK und darin, die Konventionsrechte praktisch und wirksam zur innerstaatlichen Geltung zu bringen.159 Colandrea und Cremer weisen darauf hin, dass die Staaten keine Rechtskraftpflicht aus dem Urteil treffe, solche allgemeinen Maßnahmen durchzuführen.160 Ersterer ordnet diese als Verbesserungsvorschläge („suggestion of improvements“) ein;161 Cremer vertritt die Ansicht, die Pflicht, solche allgemeinen Maßnahmen durchzuführen, sei vielmehr eine normative Implikation der EMRK.162
III. Fazit Die rechtliche Absicherung der Kompetenz des EGMR, Anordnungen allgemeiner Art in Individualbeschwerden verbindlich zu treffen, bereitet erhebliche Schwierigkeiten. Unproblematisch erscheint dies nur, wenn eine solche Anordnung die einzige Möglichkeit darstellt, die andauernden Konventionsverletzungen im konkreten Fall abzustellen und die Maßnahme damit auch als spezifische Abhilfe zu verstehen ist. Ihre besondere Bedeutung erlangt die Anordnung allgemeiner Maßnahmen allerdings dadurch, dass sie gerade nicht nur auf den Einzelfall abzielt, sondern zum einen – in die Vergangenheit gerichtet – auch die Beendigung vergleichbarer Konventionsverletzungen sowie – in die Zukunft gerichtet – die Nichtwiederholung ähnlicher Fälle bezweckt. Dadurch besteht aber nur noch eine lockere Verknüpfung der Anordnung mit der konkreten Individualbeschwerde. Diese reicht nicht aus, um die Anordnung als von der Rechtskraft des Urteils erfasst anzusehen. Cremer und Colandrea ist mithin darin zuzustimmen, dass Anordnungen
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Buyse, Greek Law Journal 57 (2009), S. 1 (8 f.) mit der Bezeichnung „Janus-faced feature“. Siehe auch Frowein, in: FS Wildhaber, S. 261 (269). 158 Colandrea, HRLR 7 (2007), S. 396 (408 ff.). 159 Buyse, Greek Law Journal 57 (2009), S. 1 (12), dies sei der „strongest legal justification“ (Hervorhebung im Original). Siehe auch Breuer, EuGRZ 31 (2004), S. 257 (261). 160 Zurückhaltung hält auch Meyer-Ladewig, Art. 46, Rn. 37 für angebracht. Wildhaber, EuGRZ 36 (2009), S. 541 (549) spricht von Empfehlungen; ähnlich Hoffmann, S. 179, 183. Schmahl, EuGRZ 35 (2008), S. 369 (378) spricht von einer „Ausdehnung jenseits der Rechtskraft“. Siehe auch Hutten-Czapska v. Polen, 35014/97, Urteil der Großen Kammer vom 19. Juni 2006, teilweise abweichende Meinung von Richter Zagrebelsky, der ebenfalls die Verbindlichkeit verneint und auf die vagen Vorgaben abstellt. Dagegen aber Sadurski, S. 25. 161 Colandrea, HRLR 7 (2007), S. 396 (411) unter Bezug auf Broniowski trotz der dort verwendeten, verbindlich erscheinenden Formulierung. 162 Cremer, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), Kap. 32, Rn. 88. Auch Wildhaber, EuGRZ 36 (2009), S. 541 (549) spricht an einer Stelle von „Empfehlungen“. Siehe zu dieser Pflicht der Staaten auch Harris/O’Boyle/Bates/Buckley, S. 878.
302
Kap. 4: Gegenstand und Inhalt des Urteils in Fällen des Verschwindenlassens
allgemeiner Art grundsätzlich lediglich Empfehlungen darstellen.163 Die Aufnahme dieser Anordnungen in den Tenor ist allerdings dazu geeignet, ihnen Autorität und Überzeugungskraft zu verschaffen.164 Über die Orientierungswirkung des Urteils wird darüber hinaus eine gewisse Verbindlichkeit geschaffen. Die Pflicht zur Vornahme allgemeiner Maßnahmen folgt dabei bereits aus Art. 1 EMRK und der allgemeinen Vertragspflicht.165 Für diese Sichtweise spricht auch, dass der EGMR Anordnungen allgemeiner Art bereits nicht so ausspezifiziert, wie er dies in Bezug auf fallspezifische Abhilfemaßnahmen tut. Vielmehr mahnt er die Änderung der Situation an, wenn auch zum Teil innerhalb einer gewissen Frist, ohne den konkreten Inhalt der erforderlichen Gesetzgebung oder der zu ändernden Vorschriften vorzugeben. Damit greift der EGMR auch nicht in unzulässiger Weise in die Kompetenz des Ministerkomitees ein, die Umsetzung der Urteile zu überwachen, da diesem ein Spielraum verbleibt. In diesem Zusammenhang ist auch zu beachten, dass das Ministerkomitee den EGMR in Resolution (2004)3 gerade aufforderte, die Ursachen eines strukturellen Problems festzustellen und die Staaten beim Finden einer Lösung zu unterstützen, so dass ein Übergriff in Kompetenzen des Ministerkomitees insofern ausgeschlossen ist.166 Ebenso wenig wird das Individualverfahren in eine unzulässige actio popularis verwandelt.167 Der EGMR wird aber in die Lage versetzt zu berücksichtigen, dass auch die Individualbeschwerde bezweckt, ein künftiges, effektiveres Schutzsystem zur Vermeidung vergleichbarer Vorfälle zu etablieren.168 Die Anordnung solcher, wenn auch nicht aus der Rechtskraft des Urteils verbindlicher, allgemeiner Maßnahmen im Urteil sollte der EGMR aus rechtspolitischen Gründen auch in Fällen des Verschwindenlassens vornehmen. Bereits 163
Dies steht auch im Einklang mit der Resolution Res(2004)3 des Ministerkomitees vom 12. Mai 2004, in der dieser die Staaten nur aufforderte, das systemische Problem und die nötigen Umsetzungsmaßnahmen zu identifizieren. Vgl. zur Erstreckung der Rechtskraft auch Polakiewicz, S. 39 f. mit dem Begriff der „thematischen Bindung“ in Bezug auf Rechtsnormen. 164 Buyse, Greek Law Journal 57 (2009), S. 1 (8); Garlicki, in: FS Wildhaber, S. 177 (190). 165 Vgl. Leuprecht, in: MacDonald/Matscher/Petzold, S. 792, 794. 166 Vgl. Caflisch, EuGRZ 33 (2006), S. 521 (522) allerdings wohl weiterreichend auch in Bezug auf die Kompetenz, Maßnahmen anzuordnen. Res(2004)3 vom 12. Mai 2004, operativer Teil I. lautet: „to identify, in its judgments finding a violation of the Convention, what it considers to be an underlying systemic problem and the source of this problem“. Siehe dazu auch CoE, Steering Committee for Human Rights (CDDH)(2003)006 Addendum final, Guaranteeing the long-term effectiveness of the control system of the European Convention on Human Rights, Anmerkungen zum Proposal C.1, abrufbar unter: http://www.coe.int/t/e/hu man_rights/cddh/3._committees/01.%20steering%20committee%20for%20human% 20rights%20 %28cddh%29/04.%20working%20documents/2003/2003_006add_en. asp#P614_80947. 167 Siehe aber auch Hutten-Czapska v. Polen, 35014/97, Urteil der Großen Kammer vom 19. Juni 2006, teilweise zustimmende, teilweise abweichende Meinung von Richter Zupancic Teile I und II. Er sieht in den Piloturteilsverfahren eine „class-action“. 168 Breuer, EuGRZ 31 (2004), S. 445 (451).
C. Konkrete Abhilfemaßnahmen allgemeiner Art
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grundsätzlich spricht für eine solche Anordnung, dass allgemeine Abhilfemaßnahmen ohne Zweifel erforderlich sind. Ohne sie würden sowohl Konventionsverletzungen in ähnlich gelagerten Fällen andauern als auch weitere in Zukunft anfallen. Somit könnte auch der enormen Arbeitsbelastung des EGMR langfristig entgegengewirkt werden. Würde der EGMR keine allgemeinen Abhilfemaßnahmen vorsehen, so wäre die effektive und wirksame Geltung der Konvention nicht gewährleistet.169 Die Anordnung konkreter allgemeiner Maßnahmen verleiht dem Urteil mehr rechtliches Gewicht und vereinfacht die Arbeit des Ministerkomitees.170 Dabei müsste der EGMR zwei Aspekte vorsichtig austarieren:171 So ist zum einen zu beachten, dass die Anordnungen nicht so unpräzise ausfallen, dass sie weder dem beschwerdegegnerischen Staat die Umsetzung des Urteils noch dem Ministerkomitee dessen Vollzug erleichtern.172 Zum anderen sollten die Anordnungen nicht zu präzise sein. Denn wäre dies der Fall, so bestünde die Gefahr, dass dies die Autorität des Gerichtshofes untergrübe, wenn der beschwerdegegnerische Staat die vorgesehenen allgemeinen Maßnahmen nicht ergriffe.173 Auch würde der EGMR in den Umsetzungsspielraum des betroffenen Staates eingreifen.174 Wildhaber weist zu Recht darauf hin, dass entscheidend für die Verbesserung der Umsetzung der Urteile durch die Anordnung konkreter, allgemeiner Maßnahmen letztlich die Einstellung des betroffenen Konventionsstaates ist.175 Hoffnung, dass der EGMR mit der Vorgabe konkreter und allgemeiner Abhilfemaßnahmen in Fällen des Verschwindenlassens den richtigen Weg einschlägt, lässt die Einschätzung von Barrett aufkommen, nach der es vorsichtige Hinweise darauf gibt, dass Russland sich 169
Siehe auch Buyse, Greek Law Journal 57 (2009), S. 1 (12). Garlicki, in: FS Wildhaber, S. 177 (190). 171 Polakiewicz, S. 153; vgl. Sardaro, EHRLR Issue 6 (2003), S. 601 (612 f.), der von einer Abwägung spricht. 172 Lukenda v. Slowenien, 23032/02, Urteil vom 6. Oktober 2005, teilweise abweichende Meinung von Richter Zagrebelsky. Dies würde die Autorität des Gerichtshofes untergraben. Siehe auch Hutten-Czapska v. Polen, 35014/97, Urteil der Großen Kammer vom 19. Juni 2006, teilweise abweichende Meinung von Richter Zagrebelsky. Auf diesen Aspekt stellt auch Buyse, Greek Law Journal 57 (2009), S. 1 (10) ab. 173 Garlicki, in: FS Wildhaber, S. 177 (190 f.); Buyse, Greek Law Journal 57 (2009), S. 1 (8). Siehe auch Sardaro, EHRLR Issue 6 (2003), S. 601 (612 f.) mit dem Hinweis, dass die Durchsetzung der Urteile vom Willen des beschwerdegegnerischen Staates abhängig sei und daher etwas gefordert werden müsse, was dieser auch umsetzt. Es sei ein gewisses Maß an Pragmatismus und politischer Zurückhaltung gefordert. 174 Polakiewicz, S. 155 f. (es sei eine „obligation of result“). Siehe auch Schmahl, EuGRZ 35 (2008), S. 369 (379 f.). Sie fordert daher eine gewisse Flexibilität. Die Kompetenz des Ministerkomitees wäre hingegen nicht berührt, da dieser den EGMR gerade aufforderte, dem Staat beim Finden von Lösungen zu unterstützen (vgl. Caflisch, EuGRZ 33 (2006), S. 521 (522). 175 Wildhaber, in: Wolfrum/Deutsch (Hrsg.), S. 69 (75). Der Gerichtshof sollte sich allerdings damit nicht befassen, so Wildhaber (S. 91). Die Kooperation nennt Buyse, Greek Law Journal 57 (2009), S. 1 (13) die Achillesferse. Siehe auch Gattini, in: FS Wildhaber, S. 271 (283); Sardaro, EHRLR Issue 6 (2003), S. 601 (612 f.). 170
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Kap. 4: Gegenstand und Inhalt des Urteils in Fällen des Verschwindenlassens
aufgefordert sah, als Antwort auf die Rechtsprechung des EGMR in Fällen des Verschwindenlassens militärische und administrative Reformen in Gang zu setzen. Dies seien zum Beispiel Änderungen der militärischen Handbücher, neue Vorschriften für Haftbücher und die Registrierung von Gefangenen sowie Richtlinien für die Untersuchung und Strafverfolgung in Fällen des Verschwindenlassens.176 Gerade solche Reformen könnte der EGMR in Zukunft als Maßnahmen allgemeiner Art in seinen Urteilen vorsehen.
D. Zusammenfassende Bewertung Die Gestaltung des Urteils in Fällen des Verschwindenlassens birgt für den Gerichtshof in Zukunft großes Potenzial. Es ist zu hoffen, dass sich der Gerichtshof zukünftig auch in Fällen des Verschwindenlassens der bereits in anderen Zusammenhängen von ihm genutzten Möglichkeiten bedient. Dies beinhaltet die Feststellung der Unvereinbarkeit der Praxis des Verschwindenlassens mit der Konvention und die Anordnung der Vornahme konventionsgemäßer Ermittlungen sowie allgemeiner Abhilfemaßnahmen. Dabei ist das Vorgehen des Gerichtshofes im Rahmen der Piloturteilsverfahren nur in Teilen auch in Fällen des Verschwindenlassens heranzuziehen: So könnte der EGMR insbesondere weitere anhängige und zukünftige Verfahren nicht zurückstellen; der Gerichtshof hat weiterhin jede dieser Individualbeschwerden separat zu entscheiden.177 Die Berücksichtigung gewisser allgemeiner Umstände könnte ihm dabei aber die Feststellung der Konventionsverletzung erleichtern.178 Die Vorgehensweise des EGMR, im Rahmen des Piloturteilsverfahrens zu kennzeichnen, aus welcher Dysfunktion im nationalen Recht die Verletzung herrührt,179 könnte der Gerichtshof zwar in Fällen des Verschwindenlassens heranziehen.180 Weitergehend 176 Barrett, Harvard HRJ 22 (2009), S. 133 (142). Siehe aber auch Leach, EHRLR Issue 6 (2008), S. 732 (759), der die Umsetzung durch Russland weitaus kritischer bewertet. 177 Schmahl, EuGRZ 35 (2008), S. 369 (371 f.) in Bezug auf Fälle aus der südöstlichen Türkei mit dem Hinweis, dass der EGMR in jedem Fall die Sachverhaltsfeststellung obliegt. 178 Schmahl, EuGRZ 35 (2008), S. 369 (372). 179 So der Kanzler des EGMR, Information note issued by the Registrar, 2005, abrufbar unter: http://www.echr.coe.int/NR/rdonlyres/DF4E8456 – 77B3 – 4E67-8944-B908143 A7E2C/ 0/Information_Note_on_the_PJP_for_Website.pdf. Siehe auch die Res(2004)3 vom 12. Mai 2004 des Ministerkomitees. Der EGMR machte bereits zuvor eine entsprechende Feststellung: Broniowski v. Polen, 31443/96, Urteil vom 22. Juni 2004, Abs. 189 und Tenor, Nr. 3: „Holds that the above violation has originated in a systemic problem connected with the malfunctioning of domestic legislation and practice […].“ 180 Dabei unterscheidet die sich mit einem einzelnen Fall des Verschwindenlassens in einem Zusammenhang stehende Praxis des Verschwindenlassens von den „systemischen Problemen“ der Piloturteilsverfahren. So ist nicht, wie im Fall Broniowski, ein fest umrissener und umfangreicher Personenkreis betroffen. Dieses Kriterium gab der EGMR allerdings in späteren Entscheidungen auf (siehe Gattini, in: FS Wildhaber, S. 271 (285 f.)). Auch rührt die
D. Zusammenfassende Bewertung
305
wäre aber die an der Entscheidung Assanidze orientierte Feststellung, dass eine Praxis des Verschwindenlassens mit der Konvention unvereinbar ist.
Verletzung nicht aus einem einzelnen gesetzgeberischen Versäumnis her; das systemische Problem ist vielmehr komplexer und beruht in erster Linie nicht auf einer fehlenden Gesetzgebung, sondern auf einer konventionswidrigen Praxis der Administration und der Judikative. Leach/Hardman/Stephenson/Blitz, S. 177 weisen darauf hin, dass das Piloturteilsverfahren effektiver für spezifische und nicht für komplexe Probleme sei.
Kapitel 5
Abschließende Bewertung und Ausblick Die Rechtsprechung des EGMR in Fällen des Verschwindenlassens von Personen hat sich seit der ersten Entscheidung im Fall Kurt im Jahre 1998 sowohl in Bezug auf die rechtliche Bewertung der Vorwürfe als auch auf die Tatsachenfeststellung erheblich weiterentwickelt. Nunmehr zieht der EGMR eine Vielzahl von Konventionsbestimmungen heran; der ganzheitlichen Erfassung des Phänomens Verschwindenlassen wäre es aber zuträglich, wenn der Gerichtshof allgemeine Ausführungen an den Beginn seiner Prüfung der einzelnen Konventionsartikel stellen würde, die der Komplexität und besonderen Schwere des Verbrechens Ausdruck verleihen würden. In Bezug auf die Prüfung einzelner Konventionsbestimmungen sollte der EGMR zusätzlich zu einer Verletzung von Art. 2 EMRK in seinem prozeduralen Gehalt auch bereits eine Verletzung von Art. 2 EMRK in substantieller Hinsicht dann feststellen, wenn das Leben des verschwundenen Opfers nur gefährdet ist. Vorgeschlagen wird ferner, dass der Gerichtshof seine Rechtsprechung dahingehend ändert, dass er eine Verletzung des Opfers in Art. 3 EMRK bereits aufgrund der nicht anerkannten Inhaftierung annimmt. Zu Recht nimmt der EGMR ebenfalls regelmäßig an, dass Art. 3 EMRK in Bezug auf die Angehörigen verletzt ist. Ermittlungspflichten sollte der Gerichtshof nicht lediglich in Hinblick auf Art. 2 EMRK, sondern auch in Bezug auf die Art. 3 und 5 EMRK heranziehen. Neben Art. 5 und 13 in Verbindung mit der vertretbaren Behauptung einer Verletzung der Art. 2, 3 (in Bezug auf das Opfer und die Beschwerdeführer), 5 und 8 EMRK sollte der EGMR auch Art. 8 EMRK in seine Prüfung mit einbeziehen. Einen Wandel vollzog die Rechtsprechung im Laufe der Zeit auch in Bezug auf die Tatsachenfeststellung in Fällen des Verschwindenlassens. Dieser führte dazu, dass der Gerichtshof nunmehr in der Regel den Tod des Opfers sowie die Verantwortlichkeit des Staates für diesen feststellt. Dabei bezieht der EGMR im Rahmen der Tatsachenfeststellung ein, dass sich das Opfer unter der Kontrolle des beschwerdegegnerischen Staates befand, dass eine Praxis des Verschwindenlassens existiert und dass der beschwerdegegnerische Staat seinen Mitwirkungspflichten gegenüber dem Gerichtshof nicht nachkommt. Die Analyse dieser bisherigen Rechtsprechung führt zu dem Vorschlag, in Zukunft eine Absenkung des Beweismaßes auf das der überwiegenden Wahrscheinlichkeit vorzunehmen. Hielte der EGMR allerdings weiterhin an dem hohen Beweismaß „proof beyond reasonable doubt“ fest, so erschiene es vorzugswürdig, dass der beschwerdegegnerische Staat die objektive Beweislast in drei Konstellationen trägt: Zum einen sollte dies der Fall in Bezug auf die Tatsachen sein, die die Verantwortlichkeit des Staates für einen
Kap. 5: Abschließende Bewertung und Ausblick
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feststehenden oder vermuteten Verletzungserfolg begründen, sobald der Nachweis gelungen ist, dass sich das Opfer unter staatlicher Kontrolle befand, als es zuletzt gesehen wurde. Zum zweiten betrifft es den Nachweis vom Tod des Opfers, wenn zuvor festgestellt wurde, dass das Opfer verhaftet und inhaftiert wurde und dass andere Opfer in ähnlichen Fällen in diesem Zusammenhang zu Tode kam. Zum dritten wird vorgeschlagen, die objektive Beweislast für die Tatsachen dem beschwerdegegnerischen Staat zuzuweisen, in Bezug auf deren Beweis er seine Mitwirkungspflichten verletzt hat. Im Zusammenhang mit dem Inhalt des Urteils nutzt der EGMR hingegen bislang in Fällen des Verschwindenlassens noch nicht die Möglichkeiten aus, deren er sich in anderen Individualbeschwerden aus jüngerer Zeit bediente. So könnte er in Zukunft den Zusammenhang zwischen einzelnen Fällen des Verschwindenlassens berücksichtigen, indem er – angelehnt an die Entscheidung Bottazzi – feststellt, dass die Praxis des Verschwindenlassens mit der Konvention unvereinbar ist. Die AssanidzeEntscheidung wiederum kann dem Gerichtshof als Orientierung dazu dienen, die Vornahme konventionsgerechter Ermittlungen verbindlich im Tenor anzuordnen. Schließlich ließen sich Teile des Piloturteilsverfahrens dafür heranziehen, konkrete Abhilfemaßnahmen allgemeiner Art im Urteil vorzusehen. Die in den Kapiteln 2 und 3 behandelten Aspekte der rechtlichen Bewertung und der Tatsachenfeststellung in Fällen des Verschwindenlassens sind dabei eng miteinander verknüpft.1 Der EGMR kombiniert die zwei möglichen Herangehensweisen: Auf der einen Seite erweitert er den Umfang der einzelnen Konventionsverpflichtungen, indem er auf positive Pflichten, insbesondere die Ermittlungspflichten abstellt. Auch bezieht er weitere Konventionsbestimmungen, wie Art. 3 in Bezug auf die Angehörigen und 13 EMRK, in seine rechtliche Würdigung ein. In diesem Zusammenhang wurde bereits im Rahmen der Untersuchung und Bewertung der Ermittlungspflichten und der anderen positiven Pflichten darauf hin gewiesen, dass der EGMR auf diesem Wege eine umfassende Tatsachenfeststellung sowie die Verwendung weitreichender beweisrechtlicher Methoden vermeidet.2 Insofern kann davon gesprochen werden, dass beweisrechtliche Probleme durch das Mittel der Anwendung und Auslegung des materiellen Rechts behoben werden.3 Denn es können Unsicherheiten in Bezug auf Tatsachen bestehen bleiben, da jedenfalls eine Verurteilung wegen einer Verletzung von Art. 2 in seinem prozeduralen Gehalt und von Art. 13 EMRK erfolgt. Dieses Vorgehen ist zwar grundsätzlich zu begrüßen; es besteht aber die Gefahr, dass der Gerichtshof eine umfängliche Tatsachenfeststellung und rechtliche Be1
Siehe schon supra Kapitel 1, C. Auf diese Gefahr weist auch Smith, EHRLR Issue 2 (2009), S. 206 (225 f.) hin. 3 Siehe Claude, Intercultural Human Rights Law Review 5 (2010), S. 407 (425). Richter, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), Kap. 20, Rn. 44 weist darauf hin, dass Art. 13 EMRK im Zusammenhang mit dem Folterverbot eine beweislastumkehrende Funktion hat. Siehe auch Dutheil-Warolin, Rev. Trim. Dr. h. 16 (2005), S. 333 (334, 347). 2
308
Kap. 5: Abschließende Bewertung und Ausblick
wertung der Beschwerde unterlässt. Ein solches Vorgehen würde zum einen das Interesse der Beschwerdeführer, der weiteren Angehörigen und Freunde des Opfers sowie der betroffenen Gesellschaft, aber auch das objektive Interesse an einer umfassenden Tatsachenfeststellung missachten. Zum anderen erfolgte lediglich eine Verurteilung zweiter Klasse4 und gerade keine umfassende rechtliche Bewertung des Geschehens. Dieser Problematik lässt sich in erster Linie dadurch entgegenwirken, dass der EGMR die sogenannten prozeduralen Pflichten nur zusätzlich zu der Prüfung einer substantiellen Verletzung heranzieht. Ergebnis der vorstehenden Analyse war aber auch, dass der Gerichtshof die sich ihm bietenden Möglichkeiten in Hinblick auf eine extensive Auslegung des Umfangs einzelner Konventionsbestimmungen, der Heranziehung weiterer Konventionsrechte sowie einer ganzheitlichen Betrachtung des Phänomens Verschwindenlassens noch nicht voll ausschöpft. Auf der anderen Seite bedient sich der EGMR auch der entgegengesetzten Herangehensweise, indem er materiell-rechtliche Probleme mit Mitteln des Beweisrechts behebt. So hat die Rechtsprechung in Fällen des Verschwindenlassens gerade auch erhebliche Entwicklungen im Bereich der Tatsachenfeststellung durchlaufen. Der EGMR macht nunmehr von beweisrechtlichen Möglichkeiten Gebrauch, um – ohne intensive eigene Ermittlungen – Tatsachen festzustellen, wie insbesondere den Tod des Opfers sowie die Tatsachen, die die Verantwortlichkeit des Staates für diesen begründen. Dadurch musste sich der Gerichtshof nicht mit einem möglicherweise zu erweiternden Umfang des Schutzbereichs einzelner Konventionsrechte auseinandersetzen. Auch dabei blieb die Rechtsprechung allerdings hinter ihren Möglichkeiten zurück. Eine weitere Möglichkeit, die Tatsachenfeststellung zu effektuieren, die sich nicht beweisrechtlicher Methoden bedient, besteht darin, den EGMR personell und finanziell in dieser Hinsicht besser auszustatten. Die durch das 14. Zusatzprotokoll nunmehr eingeführten Änderungen mögen zwar geeignet sein, dem EGMR zumindest eine gewisse Erleichterung zu verschaffen;5 es darf jedoch bezweifelt werden, ob tatsächlich Kapazitäten frei werden, die eine intensivere Befassung mit bestimmten Beschwerden ermöglichen. Daneben ist zu bedenken, dass der Gerichtshof von seiner Konzeption und Ausstattung her nicht dafür prädestiniert ist, personalintensive und zeitraubende Ermittlungen vor Ort durchzuführen und insofern als ein Gericht erster Instanz zu agieren. In diesem Zusammenhang verdient der Vorschlag von Reidy, Hampson und Boyle sowie von Sardaro Beachtung, spezielle Ermittlungseinheiten vorzusehen, welche den Richtern zuarbeiten.6
4 Dazu schon supra Kapitel 2, B.II.1.d)aa). Siehe auch Claude, Intercultural Human Rights Law Review 5 (2010), S. 407 (425 f.). 5 So Greer, The European Convention, S. 318; Keller, EuGRZ 35 (2008), S. 359 (368, Fn. 92) spricht von einer Produktivitätssteigerung von 20 – 25 %. 6 Sardaro, EHRLR Issue 6 (2003), S. 601 (630); Reidy/Hampson/Boyle, NQHR 15 (1997), S. 161 (173).
Kap. 5: Abschließende Bewertung und Ausblick
309
Die Fokussierung dieser Arbeit auf Fälle des Verschwindenlassens von Personen darf nicht den Blick darauf verschleiern, dass diese gleichsam exemplarisch für andere Fälle schwerer, systematischer Menschenrechtsverletzungen stehen. Damit kann die vorliegende Arbeit in einen Kontext zu der Frage von Kamminga gestellt werden, die dieser im Jahre 1994 aufwarf: „Is the European Convention on Human Rights sufficiently equipped to cope with gross and systematic violations?“7 Solche anderen Fälle schwerer und systematischer Menschenrechtsverletzungen beschäftigen ebenfalls seit den neunziger Jahren vermehrt den Gerichtshof, nachdem dieser zuvor in erster Linie mit dem so genannten „fine-tuning of the democratic engine“8 befasst war, bei dem der Schutz gegen Freiheitsbeschränkungen, die im guten Glauben über das hinausgingen, was „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist“,9 im Vordergrund der Rechtsprechung stand.10 Sie kennzeichnet, dass sie nicht Fälle der Feinjustierung von Rechten betreffen und damit zum Beispiel Rechtfertigungsfragen und Einschätzungsspielräume im Mittelpunkt der Rechtsprechung stehen, sondern absichtliche und schwere Verstöße meist grundlegender Garantien, wie Art. 2, 3 und 5 EMRK. Bekanntestes Beispiel eines „pattern of serious/grave violations of human rights“ ist die Situation in der südöstlichen Türkei, die Anlass zu einer Vielzahl von Beschwerden insbesondere in den neunziger Jahren war, sowie die Situation in der russischen Republik Tschetschenien.11 Neben Fällen des Verschwindenlassens geht es insbesondere um Fälle von Folter und Misshandlungen, von grausamer und unmenschlicher Behandlung und von willkürlichen Tötungen.12
7 So der Titel seines Aufsatzes, Kamminga, NQHR 12 (1994), S. 153. Eine negative Antwort kommt von Drzemczewski, in: Bayefsky (Hrsg.), S. 115 (118); siehe auch O‘Boyle, in: Bayefsky (Hrsg.), S. 169 (179 f.). Siehe auch Leuprecht, Collected Courses of the Academy of European Law V-2 (1994), S. 135 (173): „The Convention system is relatively powerless to deal with serious and systematic violations of human rights in Contracting States, a defect which is in striking contrast to the, at times, almost minute attention the Convention bodies devote to comparatively minor matters or ‘legal niceties’. This may be seen as part of a wider phenomenon: the inability of international human rights bodies to react speedily and effectively to urgent situations and to gross, systematic human rights violations, including torture, disappearances, summary executions and arbitrary arrests on a large scale.“ 8 Mahoney, HRLJ 20 (1999), S. 1 (3); Drzemczewski, in: Bayefsky (Hrsg.), S. 115 (124). Siehe auch Schorm-Bernschütz, S. 3 f. 9 Siehe den Wortlaut von Art. 8 Abs. 2, Art. 9 Abs. 2, Art. 10 Abs. 2, Art. 11 Abs. 2 EMRK. 10 Mahoney, HRLJ 20 (1999), S. 1 (2). Sadurski, S. 4 f., 14 weist darauf hin, dass dies im Widerspruch zum Entstehungsgrund der Konvention steht. 11 So Sardaro, EHRLR Issue 6 (2003), S. 601 (603). 12 Sardaro, EHRLR Issue 6 (2003), S. 601 (601 Fn. 1, 603): Die Fälle charakterisiere, dass sie eine besonders ernste Bedrohung für den Schutz der Menschenrechte insgesamt darstellten. Kamminga, NQHR 12 (1994), S. 153 (154) verwendet den Begriff „gross and systematic violations“, um „officially inspired practices of torture, political killings or ,disappearances‘“ zu bezeichnen. Zu diesen Fällen siehe auch Reidy/Hampson/Boyle, NQHR 15 (1997), S. 161.
310
Kap. 5: Abschließende Bewertung und Ausblick
Ebenso wie Fälle des Verschwindenlassens stellen diese Fälle eine Herausforderung für das EMRK-System dar: Denn auf der einen Seite sind es gerade diese Fälle, die unzweifelhaft durch die EMRK verhindert werden und nun der Rechtsprechung des EGMR unterfallen sollten.13 Auf der anderen Seite kennzeichnet diese Fälle ihre politische Brisanz. Auch stellen sie den Gerichtshof im Verfahren vor neue Herausforderungen, insbesondere im Rahmen der Tatsachenfeststellung. Daneben ist gerade der Vollzug der Urteile ebenso problematisch wie die Tatsache, dass eine (potentielle) Vielzahl ähnlicher und arbeitsintensiver Beschwerden das Gerichtssystem belasten könnte. Einige der in Bezug auf das Verbrechen des Verschwindenlassens gewonnenen Ergebnisse lassen sich auch für diese Fälle heranziehen. Zu denken ist insbesondere an die vorgeschlagenen beweisrechtlichen Erleichterungen zu Gunsten der Beschwerdeführer. Dadurch könnte die Aussage Greers relativiert werden, das Verfahren der Individualbeschwerden sei in Bezug auf Fälle schwerer und systematischer Menschenrechtsverletzungen nicht sehr effektiv.14 Letztlich ist aber darin zuzustimmen, dass gerade systematische Menschenrechtsverletzungen am effektivsten im Wege der Staatenbeschwerde zu behandeln sind.15 Da die Konventionsstaaten ihrer Wächterfunktion insofern aber nur ungenügend nachkommen,16 wäre es zu begrüßen, wenn andere Institutionen diese übernehmen. Zu denken ist insbesondere daran, dass nationalen Menschenrechtsinstitutionen, NGOs oder dem Kommissar für Menschenrechte des Europarates ein Beschwerderecht in Bezug auf bestimmte Situationen schwerer Menschenrechtsverletzungen eingeräumt wird.17 13 Wildhaber, EuGRZ 36 (2009), S. 541 (544, 551). Vgl. dazu Hampson, CDDH(2001) 021rev Provisional, Abs. 5: „The occurrence of massive human rights violations in Europe is therefore a particular challenge to the mechanisms of the Council of Europe and everything for which they stand. It is not simply that the Council of Europe must address such violations because they have occurred but that it must be seen to take effective action if it is not to lose part of its very raison d’être.“ 14 Greer, The European Convention, S. 41. Siehe auch Altiparmark, JCL 5 (2000), S. 30 (48) und Sardaro, EHRLR Issue 6 (2003), S. 601 (603 f.), nach dem es eine weitverbreitete Ansicht ist, dass das EMRK System nicht dafür gerüstet ist, mit schweren Menschenrechtsverletzungen umzugehen. 15 Siehe auch Lapitskaya, NYU JILP 43 (2010/2011), S. 479 (540 ff.). Greer, The European Convention, S. 41 weist darauf hin, dass sich Individualbeschwerden auf die spezifische Verletzung und nicht auf das Muster konzentrieren. 16 So auch CoE, Parlamentarische Versammlung, Recommendation 1606 (2003), 23. Juni 2003, Abs. 7. 17 Zu diesen Vorschlägen siehe Greer, The European Convention, S. 191 f., 311 – 315. Eine dahingehende Änderung der EMRK ist allerdings nicht abzusehen. Kamminga, NQHR 12 (1994), S. 153 (164) schlägt vor, der EGMR solle proprio motu tätig werden können; siehe auch O‘Boyle, in: Bayefsky (Hrsg.), S. 169 (179). Siehe auch CoE, Parlamentarische Versammlung, Recommendation 1606 (2003), 23. Juni 2003, mit dem Vorschlag, das Amt eines „public prosecutor“ zu schaffen (Abs. 10 ii), das vom Kommissar für Menschenrechte ausgefüllt werden könnte (Abs. 10 iii). Das 14. Zusatzprotokoll räumt immerhin dem Kommissar für Menschenrechte des Europarats verstärkte Mitwirkungsrechte ein (Art. 36 Abs. 3 EMRK). Für die Debatte um weitergehende Rechte des Kommissars siehe Gilch, S. 114 f., 134, 165 ff.
Kap. 5: Abschließende Bewertung und Ausblick
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Schließlich mögen die erarbeiteten Vorschläge gleichfalls einen Beitrag zur sogenannten Konstitutionalisierung des EMRK-Systems leisten. Dieser Begriff kennzeichnet die Debatte, den EGMR als ein Gericht zu begreifen, das nicht individuelle, sondern konstitutionelle Gerechtigkeit zum Ziel hat beziehungsweise aufgrund seiner Belastung nur haben kann,18 da ansonsten die Gefahr drohe, dass der EGMR Opfer seines eigenen Erfolgs werde19. Würde der EGMR schwere Menschenrechtsverletzungen nicht lediglich in Einzelbeschwerden behandeln, sondern im Zuge anderer Verfahren über „Situationen“ urteilen, so entspräche dies einer abstrakten Kontrolle – im Fall schwerer Menschenrechtsverletzungen wird aber wohl keine abstrakte Normenkontrolle vorliegen, sondern die abstrakte Kontrolle einer in erster Linie administrativen und judikativen Praxis. Auch andere der in Fällen des Verschwindenlassens vorgeschlagenen Lösungswege lassen sich in die Konstitutionalisierungsdebatte einordnen: Dies betrifft die Hervorhebung der Unvereinbarkeit einer Praxis schwerer Menschenrechtsverletzungen mit der EMRK auch in Einzelbeschwerden. Ebenso stellt das Piloturteilsverfahren, in dessen Rahmen der EGMR vorsieht, dass der beschwerdegegnerische Staat konkrete Maßnahmen allgemeiner Art zu treffen habe, eine Herangehensweise eines Verfassungsgerichts dar20 und kann damit als Teil des Prozesses der Konstitutionalisierung verstanden werden.21 Unter der Voraussetzung, dass das Strukturprinzip der Einfügung („embeddedness“) des EMRK-Systems in die nationale Rechtsordnungen auch als ein Teil der Konstitutionalisierung angesehen wird,22 ist in diesem Zusammenhang auch die Entscheidung des EGMR zu nennen, die Verletzung von Ermittlungspflichten und von Art. 13 EMRK in seinen Urteilen zu betonen und damit den effektiven Schutz in Fällen von Konventionsverletzungen auf nationaler Ebene zu stärken.
18
Zu dieser Debatte siehe Gerards, insbesondere S. 141 ff.; Greer, The European Convention; Greer, HRQ 30 (2008), S. 680; Sadurski; Wildhaber, EuGRZ 36 (2009), S. 541 (551 – 553 zu den verschiedenen Verständnissen des Begriffs der Konstitutionalisierung); Wildhaber, HRLJ 23 (2002), S. 161. Siehe Colandrea, HRLR 7 (2007), S. 396 (406), nach dem die Rolle des EGMR die eines Verfassungsgerichts geworden sei, welches die Vereinbarkeit von nationalem Recht mit der EMRK prüfe. 19 Keller, EuGRZ 35 (2008), S. 359 (360); Leach, Taking a Case, S. 6. 20 Garlicki, in: FS Wildhaber, S. 177 (182, 186). 21 So Buyse, Greek Law Journal 57 (2009), S. 1 (14); Sadurski, S. 5. 22 Dazu Helfer, EJIL 19 (2008), S. 125 (139), auch zu Art. 13 EMRK (144 – 146).
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Rechtsprechungsverzeichnis Chronologische Aufführung relevanter Urteile des EGMR in Fällen des Verschwindenlassens von Personen unter Zitierung des Fallnamens, der Beschwerdenummer sowie des Entscheidungsdatums. Kurt v. Türkei, 24276/94, 25. 05. 1998 C¸akıcı v. Türkei, 23657/94, 08. 07. 1999 Ertak v. Türkei, 20764/92, 09. 05. 2000 Timurtas¸ v. Türkei, 23531/94, 13. 06. 2000 Tas¸ v. Türkei, 24396/94, 14. 11. 2000 C¸içek v. Türkei, 25704/94, 27. 02. 2001 Zypern v. Türkei, 25781/94, 10. 05. 2001 S¸arli v. Türkei, 24490/94, 22. 05. 2001 Akdeniz et al. v. Türkei, 23954/94, 31. 05. 2001 I˙rfan Bilgin v. Türkei, 25659/94, 17. 07. 2001 Orhan v. Türkei, 25656/94, 18. 06. 2002 Tekdag˘ v. Türkei, 27699/95, 15. 01. 2004 ˙Ipek v. Türkei, 25760/94, 17. 02. 2004 Tahsin Acar v. Türkei, 26307/95, 08. 04. 2004 Erkek v. Türkei, 28637/95, 13. 07. 2004 Akdeniz v. Türkei, 25165/94, 31. 05. 2005 Tog˘cu v. Türkei, 27601/95, 31. 05. 2005 Tanis et al. v. Türkei, 65899/01, 02. 08. 2005 Nesibe Haran v. Türkei, 28299/95, 06. 10. 2005 Özgen et al. v. Türkei, 38607/97, 20. 09. 2005 Aydın Eren et al. v. Türkei, 57778/00, 21. 02. 2006 S¸eker v. Türkei, 52390/99, 21. 02. 2006 Bazorkina v. Russland, 69481/01, 27. 07. 2006 Diril v. Türkei, 68188/01, 19. 10. 2006 Kaya et al. v. Türkei, 4451/02, 24. 10. 2006 Imakayeva v. Russland, 7615/02, 09. 11. 2006
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Rechtsprechungsverzeichnis
Baysayeva v. Russland, 74237/01, 05. 04. 2007 Üçak et al. v. Türkei, 75527/01, 11837/02, 26. 04. 2007 Alikhadzhiyeva v. Russland, 68007/01, 05. 07. 2007 Magomadov v. Russland, 68004/01, 12. 07. 2007 Khamila Isayeva v. Russland, 6846/02, 15. 11. 2007 Enzile Özdemir v. Türkei, 54169/00, 08. 01. 2008 Osmanog˘lu v. Türkei, 48804/99, 24. 01. 2008 Aziyevy v. Russland, 77626/01, 20. 03. 2008 Kaplanova v. Russland, 7653/02, 29. 04. 2008 Utsayeva et al. v. Russland, 29133/03, 29. 05. 2008 Ibragimov et al. v. Russland, 34561/03, 29. 05. 2008 Sangariyeva et al. v. Russland, 1839/04, 29. 05. 2008 Betayev und Betayeva v. Russland, 37315/03, 29. 05. 2008 Atabayeva et al. v. Russland, 26064/02, 12. 06. 2008 Elmurzayev et al. v. Russland, 3019/04, 12. 06. 2008 Isigova et al. v. Russland, 6844/02, 26. 06. 2008 Umarov v. Russland, 12712/02, 03. 07. 2008 Musayeva v. Russland, 12703/02, 03. 07. 2008 Akhiyadova v. Russland, 32059/02, 03. 07. 2008 Takhayeva et al. v. Russland, 23286/04, 18. 09. 2008 Akhmadova und Akhmadov v. Russland, 20755/04, 25. 09. 2008 Lyanova und Aliyeva v. Russland, 12713/02, 28440/03, 02. 10. 2008 Rasayev und Chankayeva v. Russland, 38003/03, 02. 10. 2008 Khalidova et al. v. Russland, 22877/04, 02. 10. 2008 Zulpa Akhmatova et al. v. Russland, 13569/02, 13573/02, 09. 10. 2008 Yusupova und Zaurbekov v. Russland, 22057/02, 09. 10. 2008 Nehyet Günay et al. v. Türkei, 51210/99, 21. 10. 2008 Magamadova und Iskhanova v. Russland, 33185/04, 06. 11. 2008 Shaipova et al. v. Russland, 10796/04, 06. 11. 2008 Tsurova et al. v. Russland, 29958/04, 06. 11. 2008 Tagirova et al. v. Russland, 20580/04, 04. 12. 2008 Musikhanova et al. v. Russland, 27243/03, 04. 12. 2008 Bersunkayeva v. Russland, 27233/03, 04. 12. 2008 Akhmadova et al. v. Russland, 3026/03, 04. 12. 2008
Rechtsprechungsverzeichnis Ilyasova et al. v. Russland, 1895/04, 04. 12. 2008 Askharova v. Russland, 13566/02, 04. 12. 2008 Nasukhanova et al. v. Russland, 5285/04, 18. 12. 2008 Zakriyeva et al. v. Russland, 20583/04, 08. 01. 2009 Abdulkadyrova et al. v. Russland, 27180/03, 08. 01. 2009 Medova v. Russland, 25385/04, 15. 01. 2009 Abdurzakova und Abdurzakov v. Russland, 35080/04, 15. 01. 2009 Zaurbekova und Zaurbekova v. Russland, 27183/03, 22. 01. 2009 Dolsayev et al. v. Russland, 10700/04, 22. 01. 2009 Khaydayeva et al. v. Russland, 1848/04, 05. 02. 2009 Idalova und Idalov v. Russland, 41515/04, 05. 02. 2009 Ayubov v. Russland, 7654/02, 12. 02. 2009 Bantayeva et al v. Russland, 20727/04, 12. 02. 2009 Meshayeva et al. v. Russland, 27248/03, 12. 02. 2009 Sagayev et al. v. Russland, 4573/04, 26. 02. 2009 Vagapova und Zubirayev v. Russland, 21080/05, 26. 02. 2009 Astamirova et al. v. Russland, 27256/03, 26. 02. 2009 Dzhambekova et al. v. Russland, 27238/03, 35078/04, 12. 03. 2009 Khadayeva et al. v. Russland, 5351/04, 12. 03. 2009 Elsiyev et al. v. Russland, 21816/03, 12. 03. 2009 Dzhabayeva v. Russland, 13310/04, 02. 04. 2009 Dokuyev et al. v. Russland, 6704/03, 02. 04. 2009 Saydaliyeva et al. v. Russland, 41498/04, 02. 04. 2009 Dzhabrailova v. Russland, 1586/05, 09. 04. 2009 Gaziyeva et al. v. Russland, 15439/05, 09. 04. 2009 Dokayev et al. v. Russland, 16629/05, 09. 04. 2009 Malsagova et al. v. Russland, 27244/03, 09. 04. 2009 Israilova et al. v. Russland, 4571/04, 23. 04. 2009 Alaudinova v. Russland, 32297/05, 23. 04. 2009 Turluyeva und Khamidova v. Russland, 12417/05, 14. 05. 2009 Khumaydov und Khumaydov v. Russland, 13862/05, 28. 05. 2009 Nenkayev et al. v. Russland, 13737/03, 28. 05. 2009 Basayeva et al. v. Russland, 15441/05, 20731/04, 28. 05. 2009 Khasuyeva v. Russland, 28159/03, 11. 06. 2009
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Rechtsprechungsverzeichnis
Khalitova et al. v. Russland, 33264/04, 11. 06. 2009 Magomadova v. Russland, 2393/05, 18. 06. 2009 Karimov et al. v. Russland, 29851/05, 16. 07. 2009 Mutsayeva v. Russland, 24297/05, 23. 07. 2009 Asadulayeva et al. v. Russland, 15569/06, 17. 09. 2009 Magomadova et al. v. Russland, 33933/05, 17. 09. 2009 Varnava et al. v. Türkei, 16064/90, 16065/90, 16066/90, 16068/90, 16069/90, 16070/90, 16071/ 90, 16072/90, 16073/90, 18. 09. 2009 Rezvanov und Rezvanova v. Russland, 12457/05, 24. 09. 2009 Babusheva et al. v. Russland, 33944/05, 24. 09. 2009 Amanat Ilyasova et al. v. Russland, 27001/06, 01. 10. 2009 Khantiyeva et al. v. Russland, 43398/06, 29. 10. 2009 Satabayeva v. Russland, 21486/06, 29. 10. 2009 Vakhayeva et al. v. Russland, 1758/04, 29. 10. 2009 Ismailov et al. v. Russland, 33947/05, 26. 11. 2009 Ustarkhanova v. Russland, 35744/05, 26. 11. 2009 Guluyeva et al. v. Russland, 1675/07, 11. 02. 2010 Dubayev und Bersnukayeva v. Russland, 30613/05, 11. 02. 2010 Iriskhanova und Iriskhanov v. Russland, 35869/05, 18. 02. 2010 Aliyeva v. Russland, 1901/05, 18. 02. 2010 Mutsolgova et al. v. Russland, 2952/06, 01. 04. 2010 Abayeva et al. v. Russland, 37542/05, 08. 04. 2010 Mudayevy v. Russland, 33105/05, 08. 04. 2010 Sadulayeva v. Russland, 38570/05, 08. 04. 2010 Seriyevy v. Russland, 20201/05, 08. 04. 2010 Tasatayevy v. Russland, 37541/05, 08. 04. 2010 Umalatov et al. v. Russland, 8345/05, 08. 04. 2010 Khatuyeva v. Russland, 12463/05, 22. 04. 2010 Mutayeva v. Russland, 43418/06, 22. 04. 2010 Tupchiyeva v. Russland, 37461/05, 22. 04. 2010 Shakhabova v. Russland, 39685/06, 12. 05. 2010 Khutsayev et al. v. Russland, 16622/05, 27. 05. 2010 Ilyasova v. Russland, 26966/06, 10. 06. 2010 Vakayeva et al. v. Russland, 2220/05, 10. 06. 2010 Benuyeva et al. v. Russland, 8347/05, 22. 07. 2010
Rechtsprechungsverzeichnis Akhmatkhanovy v. Russland, 20147/07, 22. 07. 2010 Gelayevy v. Russland, 20216/07, 15. 07. 2010 Tovsultanova v. Russland, 26974/06, 17. 06. 2010 Batayev et al. v. Russland, 11354/05, 32952/06, 17. 06. 2010 Akhmatkhanovy v. Russland, 20147/07, 22. 07. 2010 Benuyeva et al. v. Russland, 8347/05, 22. 07. 2010 Nasipova und Khamzatova v. Russland, 32382/05, 02. 09. 2010 Merzhuyeva et al. v. Russland, 27315/06, 27449/06, 07. 10. 2010 Sasita Israilova et al. v. Russland, 35079/04, 28. 10. 2010 Dzhabirailova und Dzhabrailova v. Russland, 15563/06, 02. 12. 2010 Taymuskhanovy v. Russland, 11528/07, 16. 12. 2010 Tumayeva et al. v. Russland, 9960/05, 16. 12. 2010 Malika Dzhamayeva et al. v. Russland, 26980/06, 21. 12. 2010 Skendzˇic´ und Krznaric´ v. Kroatien, 16212/08, 20. 01. 2011 Dudarovy v. Russland, 5382/07, 10. 02. 2011 Palic´ v. Bosnien Herzegowina, 4704/04, 15. 02. 2011 Khakiyeva, Temergeriyeva et al. v. Russland, 45081/06, 7820/07, 17. 02. 2011 Murtazovy v. Russland, 11564/07, 29. 03. 2011 Matayeva und Dadayeva v. Russland, 49076/06, 19. 04. 2011 Shokkarov et al. v. Russland, 41009/04, 03. 05. 2011 Maayevy v. Russland, 7964/07, 24. 05. 2011 Malika Alikhadzhiyeva v. Russland, 37193/08, 24. 05. 2011 Giriyeva et al. v. Russland, 17879/08, 21. 06. 2011 Makharbiyeva et al. v. Russland, 26595/08, 21. 06. 2011 Beksultanova v. Russland, 31564/07, 27. 09. 2011 Tashukhadzhiyev v. Russland, 33251/04, 25. 10. 2011 Sambiyeva v. Russland, 20205/07, 08. 11. 2011
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Sachwortregister Abhilfemaßnahmen – allgemeiner Art 29, 275, 304, 307 – konkrete 29, 275 actori incumbit probatio 156, 204, 206, 227, 268, 270, 272 Administrative Praxis 207, 275, 280, 283 Adversarial system 142 Arbeitsgruppe gegen das gewaltsame oder unfreiwillige Verschwindenlassen 17, 20 f., 23 Assanidze-Entscheidung 275, 287 – 290, 294, 298, 305, 307
Beschwerde, Recht auf eine wirksame 34, 43, 46 f., 82, 127 Beschwerdeführer, Rechte der 29, 36, 38 – 41, 43, 54, 80, 127, 306 Beweislast 139 – objektive 144, 157, 163, 166, 173, 179, 185, 194 f., 197 – 199, 203 – 207, 216 – 219, 226 – 228, 255 f., 258, 265 – 270, 272, 306 f. – subjektive 140 – 144, 194 f., 197 f., 203 f. Beweislastumkehr 156, 195, 203, 226 Beweismaß 31, 136, 139 f., 149, 152 f., 156 – 178, 182 – 186, 188, 203 f., 206 f., 217, 221, 226, 228 f., 253, 256, 258, 265 – 272, 306 Beweismittel 59, 87, 133, 140, 142 f., 147 f., 150, 152, 163, 165, 170 f., 180 f., 196, 199 – 201, 204 f., 220, 222, 226, 230, 233 f., 236 f., 241, 244, 246, 248 f., 252 – 254, 256, 261 – 266, 268 Beweisnot 133, 135 f., 149, 157, 170, 173, 201, 204 f., 230 f., 270 f. Beweisrecht 32, 58, 99, 134 – 136, 157, 175, 201, 232, 236, 246, 259, 307 f. Beweisvereitelung 230 Beweiswert 147, 152, 163, 217, 220, 248, 250, 261 – 263
Bottazzi-Entscheidung 275 – 278, 280, 284 – 286, 307 Broniowski-Entscheidung 275, 298 – 301, 304 Ermittlungspflicht 24 f., 31, 35 – 37, 76, 80, 103, 107 – 109, 111 f., 115, 119, 121 – 123, 127, 131, 207, 213, 235, 307, 311 Folter, Verbot der 24, 35, 43, 47 f., 51, 57, 60, 66, 76, 80, 93 Freiheit, Recht auf 24, 34, 43, 47 f., 55 – 57, 60, 93, 96, 102, 110 f., 124 f., 131 ganzheitliche Vorgehensweise 308
128 f., 306,
Indizienbeweis 147, 150, 193, 200, 202, 221, 251, 271 Inquisitorial system 141 f. Inter-amerikanischer Gerichtshof für Menschenrechte (IAGMR) 19, 52, 59, 69 – 71, 94, 100, 109, 128, 177, 208, 224, 287, 297 Internationale Konvention zum Schutz aller Personen vor dem zwangsweisen Verschwindenlassen 22, 31, 281 Kooperationspflichten 32, 141, 144, 185, 229, 235 Kurt-Entscheidung 25, 36, 57, 70, 83, 90, 110, 112, 114, 128, 146, 159, 209, 219, 275, 306 Leben, Recht auf 24, 28, 42, 47 f., 58, 88, 102, 109, 117, 131 f., 137 Menschenrechtsausschuss 19, 22, 46, 48, 59, 70, 95 Menschenrechtskammer für Bosnien-Herzegowina 46, 55, 71 – 73, 75, 77, 96
Sachwortregister
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Piloturteilsverfahren 275, 298, 300, 304, 307, 311 Präventive Schutzpflicht 111, 131 Praxis des Verschwindenlassens 29, 229, 276, 286, 304 f., 307 prima facie-Beweis 173 prima facie-Fall 172, 243, 254, 256 – 258 265, 266 f. proof beyond reasonable doubt 153, 186, 198, 203 f., 207, 226, 228, 258, 269 – 271
Taktische Last 144, 195, 197, 199, 203, 255, 258, 266 Tatsachenfeststellung 28, 58, 98 – 100, 132, 134, 137 – 140, 150, 200, 260, 264, 271, 281 f., 306 – 308 Timurtas¸-Entscheidung 38, 40, 84, 146, 149, 189, 193, 208 f., 214, 239
Qualifizierte Konventionsverletzung 131
Varnava et al.-Entscheidung 24 f., 35, 44, 65 f., 68, 88, 91, 162, 164, 191, 244, 290, 294 Vermutungen 152, 157, 197, 199, 215, 218, 228, 268
Randbedingung einer Schlussfolgerung 215, 219, 221, 228 f., 272 Römisches Statut 22, 31 Schlussfolgerung 145, 150 f., 155, 197, 199, 206, 218 – 220, 226, 229, 239 – 241, 246, 251, 262 – 265, 270 f.
Überwiegende Wahrscheinlichkeit 157, 170 – 173, 175 f., 178, 182 – 185, 205 – 207, 227 f., 269 – 271, 306
Wahrheit, Recht auf
50 f., 67, 71, 80
Zypern 23 f., 29, 36, 44, 65 f., 79, 85, 91, 159, 162, 163, 187, 205, 236, 244