Emder Synode 1571: Erinnerungsort – Kulturtransfer [1 ed.] 9783666517082, 9783525517086


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Emder Synode 1571: Erinnerungsort – Kulturtransfer [1 ed.]
 9783666517082, 9783525517086

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Aleida Siller (Hg.)

Emder Synode 1571 Erinnerungsort – Kulturtransfer

Emder Synode 1571 Erinnerungsort – Kulturtransfer Herausgegeben von Aleida Siller im Auftrag der Evangelisch-reformierten Kirche

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2022 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Ausschnitt Wort-Bild-Marke Emder Synode 450 Jahre Gestaltung Wort-Bild-Marke Emder Synode 450 Jahre auf der Umschlagrückseite: nesseins. Umschlaggestaltung: SchwabScantechnik, Göttingen Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-51708-2

Geleitwort

Unter den zahlreichen Jubiläen der vergangenen Jahre nimmt die Erinnerung an die Emder Synode vor 450 Jahren einen besonderen Platz ein – wird hier doch eines Ereignisses gedacht, das damals ungewöhnlich war, dazu weitaus im Verborgenen stattfand, dessen Wirkung aber – manchmal weit unterschätzt – bis heute anhält. 29 Vertreter niederländischer Flüchtlingsgemeinden aus dem Süden und Westen Deutschlands sowie aus den, wie sie damals genannt wurden, »Gemeinden unter dem Kreuz« in Flandern und Nordholland, haben sich 1571 unter beschwerlichen Umständen in Emden getroffen. Sie waren bewegt von dem Wunsch, ihre Gemeinden zu vernetzen, sie unter ein gemeinsames theologisches Bekenntnis zu sammeln und durch eine miteinander abgestimmte Ordnung zu verbinden. Unter den Herausforderungen der damaligen Gegenwart  – oft genug als Geflüchtete oder Häresieverdächtige im kirchlichen und gesellschaftlichen Abseits  – sollte eine Isolation der Gemeinden vermieden und ihr konfessionelles Profil in Gemeinschaft erhalten bleiben. Die auf ihre Unabhängigkeit und Selbständigkeit bedachten Gemeinden sammelten sich als Kirche zu einem Leib mit einander sich stärkenden Gliedern, sahen einen gemeinsamen Auftrag, vertraten gemeinsame Bekenntnisaussagen und stellten sich unter eine gemeinsame Ordnung. Darin wollten sie sich aber nicht durch hierarchisch geordnete Ämter geleitet und repräsentiert sehen, sondern ihr Kirche-Sein aus einem gleichrangigen Miteinander entwickeln. Sie dachten von der Gemeinde her, »von unten« also, wo »keine Gemeinde […] über andere Gemeinden […] Vorrang haben oder Herrschaft beanspruchen« sollte. Entscheidungen wurden nicht amtsmächtig »von oben herab« durchgesetzt, sondern von delegierten Mitgliedern im Diskurs erarbeitet und dann in den Gemeinden umgesetzt. Wo immer es sinnvoll und theologisch verantwortbar war, gab es dabei für die Gemeinden Freiräume, nach eigener Prägung oder den Umständen ihrer Existenz angepasst zu verfahren. Gleichzeitig waren die synodale Verbundenheit und Solidarität der Gemeinden ein hohes Gut. Dieses Prinzip lebt bis heute in der presbyterial-synodalen Ordnung der reformierten und unierten Kirchen weiter – und hat die evangelische Kirche vielleicht wie kein anderes reformatorisches Erbe geprägt.

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Geleitwort

Die Tragweite der Emder Synode ist durch die Jubiläumsfeierlichkeiten neu ins Bewusstsein gerufen worden. Wie attraktiv die damaligen Grundsätze von Emden bis heute sind, zeigt das öffentliche Interesse, das zu dem vorliegenden Band angeregt hat. Als neue Kirchenpräsidentin der Evangelisch-reformierten Kirche freue ich mich sehr, Ihnen diese Lektüre empfehlen zu können. Leer, im Januar 2022

Dr. Susanne Bei der Wieden Kirchenpräsidentin der Evangelisch-reformierten Kirche

Inhalt Geleitwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

1. Festakt »450 Jahre Emder Synode« Martin Heimbucher »In einer Krise Wegweisendes gedacht, gesagt und getan« Begrüßung des Kirchenpräsidenten der Evangelisch-reformierten Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Wolfgang Schäuble »Die Emder Synode gerade jetzt herausgehoben würdigen« Grußwort des Präsidenten des Deutschen Bundestages . . . . . . . . . 19 Irene Dingel Die Emder Synode von 1571 Erinnerungsort des reformierten Protestantismus Festvortrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Heinrich Bedford-Strohm »Bis heute zukunftsweisende Impulse« Grußwort des Vorsitzenden des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Jeannette Galjaard »Presbyterial und synodal organisiert« Grußwort der Vize-Präses der Protestantischen Kirche in den Niederlanden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Tim Kruithoff »Ein Ereignis mit europäischer Ausstrahlung« Einladung des Oberbürgermeisters der Stadt Emden . . . . . . . . . . 39

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Inhalt

2. Ausstellungseröffnung »Die Emder Synode von 1571. Kontexte – Akteure – Kulturtransfer« Kęstutis Daugirdas »Erfüllung ist dort, wo man sich mit anderen berät« Begrüßung des Wissenschaftlichen Vorstandes der Johannes a Lasco Bibliothek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Martin Heimbucher »Ein Beispiel der Hoffnung« Grußwort des Kirchenpräsidenten der Evangelisch-reformierten Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Klaas-Dieter Voß Die Emder Synode von 1571. Kontexte – Akteure – Kulturtransfer Einführung in die Ausstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53

3. Vorträge und Lehrpredigt Matthias Freudenberg Freiheit – Ordnung – Partizipation Anstöße der Emder Artikel für die Kirche von heute und morgen . . . 61 Kęstutis Daugirdas »Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen« (Mt 18,20) Der kommunikativ-kollegiale Charakter der Emder Synode . . . . . . 75 Martin Laube Ein fragiles Wagnis Überlegungen zur Aktualität der Emder Synode . . . . . . . . . . . . . 81

Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Nachweis der Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96

Vorwort

Das Jahr 2021 – nicht nur das zweite Jahr einer Pandemie, sondern das 450. nach der Emder Synode von 1571, dieser Versammlung niederländischer Flüchtlings- und Untergrundgemeinden aus der Mitte des 16. Jahrhunderts, deren Beschlüsse weit über die damaligen Gemeinden und ihre Zeit hinaus Einfluss hatten. Auf Initiative ihres Kirchenpräsidenten Martin Heim­ bucher nahm die Kirchenleitung der Evangelisch-reformierten Kirche das Jubiläumsjahr zum Anlass, in Zusammenarbeit mit anderen Institutionen und Kirchen, unter ihnen die Protestantische Kirche in den Niederlanden (PKN), an diese bedeutend gewordene Synode und ihre Wirkung zu erinnern. Zusammen mit der Stadt Emden lud die Evangelisch-reformierte Kirche deshalb am 10. Juni 2021 zu einem Festakt in die Johannes a Lasco Bibliothek ein, der ehemaligen Großen Kirche Emdens. Wie so vieles in dem Jahr fand die Veranstaltung unter den Bedingungen der Covid-19-Pandemie statt. Hatte zunächst noch die begründete Hoffnung bestanden, den Festakt wenigstens mit einer kleinen Schar geladener Gäste feiern zu können, so musste aufgrund des aktuellen Pandemiegeschehens in Emden und den damit verbundenen Regelungen des Bundes auch diesen Gästen kurzfristig abgesagt werden. Der Festakt wurde dennoch durchgeführt – ganz ohne Gäste vor Ort zwar, aber übertragen per Livestream an ein Publikum vor den Bildschirmen. Im Mittelpunkt des Programms stand die vielbeachtete Festrede von Irene Dingel, der Direktorin des Leibniz-Instituts für Europäische Geschichte in Mainz. Ihr Vortrag erscheint nun hier im Druck. Auch die anderen Redebeiträge, unter ihnen das Grußwort des Präsidenten des Deutschen Bundestages Wolfgang Schäuble, werden in diesem Band dokumentiert. Wenige Tage vor dem Festakt, am 6. Juni 2021, eröffnete die Johannes a Lasco Bibliothek ihre Ausstellung »Die Emder Synode von 1571. Kontexte – Akteure – Kulturtransfer«. Die Eröffnung fand im Rahmen einer regelmäßig in der Johannes a Lasco Bibliothek durchgeführten musikalischen Matinée statt. Auch diese Veranstaltung durfte nur ohne Publikum durchgeführt werden und wurde per Livestream in die Öffentlichkeit übertragen. Die Ausstellung war bis Anfang November 2021 zu sehen und zog ein interessiertes Publikum an, unter ihnen auch Schulklassen, Konfirmandengruppen und

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Vorwort

viele Besucher und Besucherinnen aus den Niederlanden. Die in die Ausstellung einführenden Reden werden ebenfalls in diesem Band wiedergegeben. Ergänzt wird die Dokumentation durch zwei Vorträge und eine Predigt, die im Rahmen von Veranstaltungen an anderen Orten gehalten wurden: ein Vortrag von Matthias Freudenberg im Evangelischen Forum Bonn, eine Lehrpredigt von Kęstutis Daugirdas in der Heilig-Geist-Kirche in Heidelberg und ein Vortrag von Martin Laube in der Evangelisch-Reformierten Gemeinde Göttingen. Diese Beiträge geben Anstöße und bieten Überlegungen zur Frage nach der Aktualität der Emder Synode – in der Kirche und in der demokratisch-politischen Gesellschaft. Allen Autorinnen und Autoren, die ihren Beitrag für diesen Band zur Verfügung gestellt haben, danke ich herzlich. Ebenso danke ich dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, der auch diesen Band zur Emder Synode in sein Verlagsprogramm aufgenommen hat. Hannover, im Dezember 2021

Aleida Siller

Abb. 1: Einladungskarte zum Festakt »450 Jahre Emder Synode«

Abb. 2: Programmblatt zum Festakt »450 Jahre Emder Synode«

Abb. 3: Innenseiten des Programmblattes zum Festakt »450 Jahre Emder Synode«

1. Festakt »450 Jahre Emder Synode«

Martin Heimbucher

»In einer Krise Wegweisendes gedacht, gesagt und getan« Begrüßung des Kirchenpräsidenten der Evangelischreformierten Kirche

Guten Tag hier in der Johannes a Lasco Bibliothek, in den Mauern der früheren Großen Kirche zu Emden. Die Musiker spielen hier heute vor der Kulisse des ehemaligen Emder Zeughauses, der Alten Stadthalle. Dort trat vor 450 Jahren, am 4. Oktober 1571, die Emder Synode zu ihrer ersten Sitzung zusammen. Meine Damen und Herren, ein herzliches Willkommen Ihnen allen, die Sie nun per Video an diesem Festakt teilnehmen. Die Umstände der Pandemie haben uns dazu gezwungen, dass wir heute hier nur im kleinen Kreis der Mitwirkenden vor Ort sein können. Ganz besonders begrüße ich – im Namen der Evangelisch-reformierten Kirche, der Stadt Emden und ihres Oberbürgermeisters Tim Kruithoff  – ­zunächst die Direktorin des Leibniz-Instituts für Europäische Geschichte in Mainz, Frau Professorin Irene Dingel. Sie wird die Festrede halten. Und ich begrüße den Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland, Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm aus München. Er wird im Namen der EKD ein Grußwort sprechen. Ein anderes Grußwort erreicht uns digital aus den Niederlanden. Wir freuen uns auf die Vize-Präses der Protestantischen Kirche in den Niederlanden, Frau Jaennette Galjaard. Eine besondere Ehre ist es für uns, dass auch Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble das Wort an uns richten wird. Auch sein Grußwort wird – aus Berlin – als Video eingespielt. Meine Damen und Herren, mitten in einer Krise kann Wegweisendes gedacht und gesagt und getan werden. Die Emder Synode der unterdrückten und in viele Lande versprengten niederländischen Gemeinden ist dafür ein besonderes Beispiel.

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Martin Heimbucher

In einer Situation existentieller Gefährdung finden die Vordenker dieser Gemeinden Prinzipien, die bis heute nachwirken. Artikel 1 der Emder Synode wanderte fast wörtlich in die Verfassung unserer Kirche: »Keine Gemeinde soll über andere Gemeinden, kein Pastor über andere Pastoren, kein Ältester über andere Älteste, kein Diakon über andere Diakone Vorrang haben oder Herrschaft beanspruchen.« 200 Jahre nach der Emder Synode wird das Gebot der Gleichrangigkeit dann auch als staatlicher Grundsatz formuliert werden: 1776 in der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten und 1789 in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte der französischen Nationalversammlung. Und auch jener andere Grundsatz wurde vor 450 Jahren hier in Emden gefunden, den wir heute das »Subsidiaritätsprinzip« nennen: Die Gemeinden ordnen ihre Angelegenheiten selbständig. Den Synoden wird vorgelegt, was in der Gemeinde nicht hat entschieden werden können. Dieses Prinzip der Subsidiarität bildet heute die Grundstruktur eines demokratischen, föderalen Staates und auch einer Staatengemeinschaft wie der Europäischen Union. Meine Damen und Herren, »Gemeinden unter dem Kreuz«, so nannten sich damals die unterdrückten und verfolgten Gemeinden in den Niederlanden. Sie teilten miteinander die Erfahrung der Bedrängnis, der leiblichen und der geistlichen Not. Aber sie hielten auch gemeinsam fest an jener Hoffnung, die aus dem Evangelium zu schöpfen ist: Das Kreuz ist nicht das Ende. Sondern unter dem Kreuz beginnt eine neue Geschichte. Nachher wird die Melodie von Psalm 68 anklingen, die zur ›Hymne‹ der Reformierten wurde. Der Text dazu lautet: »Gott kann, er will, er wird in Not vom Tode selbst und durch den Tod uns zu dem Leben führen.« Meine Damen und Herren, auch in einer Krise kann Wegweisendes und Zukunftsträchtiges gedacht und gesagt und getan werden. Das wollen wir heute feiern.

Wolfgang Schäuble

»Die Emder Synode gerade jetzt herausgehoben würdigen« Grußwort des Präsidenten des Deutschen Bundestages

Martin Luther kennen alle. Kaum bekannt ist dagegen, wer 74 Jahre nach dem Wittenberger Thesenanschlag verfolgte reformierte Glaubensbrüder nach Emden einlud – und warum. Der Reichstag zu Worms, die Berufung auf die Bibel und das Gewissen, die Auseinandersetzung zwischen weltlicher Macht und reformatorischem Geist, sie fehlen in keinem Geschichtsbuch zur frühen Neuzeit. Die Emder Synode ist dagegen etwas für Experten der europäischen Kirchengeschichte geblieben. Zu Unrecht, wie ihre Beschlüsse zeigen! Deshalb freue ich mich, dass die Stadt Emden und die Union Evangelischer Kirchen in der EKD an dieses Ereignis vor 450 Jahren erinnern. Ich wünsche Ihnen viel Freude und hoffe, dass sich Ihnen viele Menschen anschließen und mit Ihnen ein Fest feiern – trotz der Einschränkungen, zu denen die Pandemie uns alle immer noch zwingt. Die Anliegen der verfolgten Reformierten von damals sind heute noch hoch aktuell: Sie wollten Zusammenhalt stiften, die Unabhängigkeit der Gemeinden stärken und eine Kirchenordnung aufbauen, die gegen äußere Anfeindungen schützt. Ihre im 16. Jahrhundert formulierten Leitgedanken scheinen an einer entscheidenden Stelle der Zeitgeschichte auf: Im wichtigsten Bekenntnisschreiben evangelischer Christen des 20. Jahrhunderts, in der Barmer Theologischen Erklärung, mit der sich die Bekennende Kirche 1934 gegen die Vereinnahmung durch den Nationalsozialismus wehrte. Die Barmer Erklärung stellt die gleichen Grundsätze heraus wie einst die Synodalen von Emden: Christen handeln allein im Sinne Jesu Christi, die Kirche ist nur Gott verpflichtet. Bedrängnis, Flucht und Vertreibung sind zu allen Zeiten fürchterlich. Die Reformierten der Emder Synode kamen im Oktober 1571 unter schwierigen Umständen in Ostfriesland zusammen. Ihre Gemeinden waren klein und

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Wolfgang Schäuble

versprengt, in den Untergrund oder ins Exil getrieben. Die niederländischen Gläubigen waren entrechtet, von Verfolgung und Repression bedroht, Flamen und Wallonen standen oft auch in den Orten, an denen sie Zuflucht fanden, unter Druck. Der Herzog von Alba kannte keine Gnade, im Auftrag des mächtigen spanischen Herrschers schlug er eisern nieder, wer sich Krone und Katholischer Kirche widersetzte. Die Stadt Emden bot Flüchtlingen Schutz. Hier hatte sich damals eine große reformierte Gemeinde zusammengefunden, hier waren die von weither unter großen Mühen angereisten 29 Synodalen sicher. Sie trafen sich, um in Ruhe darüber zu beraten, wie das Gemeindeleben zu stärken und grenzüberschreitend zu organisieren war. Die Abgesandten der Flüchtlingsgemeinden beschrieben Gesetzmäßigkeiten der Gemeindeorganisation, die uns noch heute plausibel erscheinen. Die wir verstehen, selbst wenn wir sie aus dem historischen und kirchlichen Zusammenhang lösen. Flache Hierarchien und klar zugeordnete Mitwirkungsrechte stärken das Verantwortungsbewusstsein aller und fördern die Identifikation mit der jeweiligen Organisation – im Verein wie in einer Gemeinde, in Unternehmen wie in staatlichen Einrichtungen. Die Synode formulierte das Subsidiaritätsprinzip: Entschieden wird so viel wie möglich auf unterster Ebene, so wenig wie möglich wird auf die übergeordnete Ebene gehoben. Nur das Nötigste. Diesem Prinzip folgt heute die Europäische Union, sie nennt es Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung. Auch der Föderalismus in Deutschland, den unser Grundgesetz in Artikel 20 formuliert, soll den Bundesländern lokale Selbständigkeit und passgenaue Entscheidungen ermöglichen. Anders als im Zentralstaat wird kulturellen Prägungen, regionalen Traditionen und Besonderheiten Raum gegeben. Wir haben in der Pandemiebekämpfung gesehen, wie schwierig es ist, Einzelinteressen auszutarieren und eine Balance zwischen bundeseinheitlichen und länderspezifischen Maßnahmen zu finden. Im Idealfall gilt: Je mehr vor Ort entschieden werden kann, umso leichter fällt es, Kompetenzen an eine übergeordnete Autorität abzugeben. Das jedenfalls war die Idee der Synodalen von Emden. Sie mussten Vorsorge treffen, dass die Gemeinden als kleine Einheiten lebensfähig waren. Zugleich mussten sie dafür sorgen, dass der Kontakt zwischen den Gemeinden untereinander, die Verbindung zu anderen Reformierten nicht abriss. Sie garantierten Unabhängigkeit – um der Gemeinsamkeit willen. Ein hochmoderner Gedanke.

»Die Emder Synode gerade jetzt herausgehoben würdigen« 

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Längst sind wir in unserer Religionsausübung geschützt, wir können uns frei zu welcher Konfession oder Religion auch immer bekennen – oder uns entscheiden, ganz ohne kirchliche Bindung zu leben. In unserer säkularen Welt sind Christsein und Kirchenleben längst nicht mehr selbstverständlich. Das stellt die Kirchen vor eine Suche nach dem, was sie ausmacht, worauf sie sich konzentrieren will. Denn Akzeptanz erfährt die Kirche auch heute nur, wenn sie den Menschen dient – ein Grundsatz, der letztlich auch für demokratische Ordnungen gilt! Die Synode empfahl schlanke, aber feste Binnenstrukturen, damit die Gemeinden in ihren jeweiligen Umgebungen bestehen können. Wir würden sagen: als Minderheitenkirchen. Angesichts der äußeren Umstände ist – damals wie heute – Flexibilität und Pragmatismus nötig. Die Anerkennung von Vielfalt, um in den regional unterschiedlichen Zusammenhängen bestehen zu können. Die Synodalen haben sich vertieft Gedanken darüber gemacht, wie zugleich nach innen Verbindlichkeit gesichert werden kann. Sie brauchten die Gemeinde als existentiellen Schutzraum. Sie formulierten schließlich eine theologische, biblisch begründete Erklärung für die kirchliche Selbstorganisation im gegenseitigen Einvernehmen. Herrschaft ist begrenzt. Und sie zeichnet sich durch eine dienende Funktion aus. Wie es im MatthäusEvangelium heißt: »Wer unter Euch groß sein will, der sei euer Diener.« Auch das ist ein Grundverständnis von Verantwortung, das sich im kirchlichen wie politischen Kontext lesen lässt und an Aktualität kaum eingebüßt hat. Die Pandemie hat uns vor Augen geführt, wie stark die westlichen Gesellschaften heute unter Druck stehen, wie sehr unsere demokratische Ordnung in Konkurrenz zu anderen, zu autoritären Systemen. Wir müssen zeigen, dass unsere freiheitlichen Werte und demokratischen Prinzipien den Anforderungen des 21. Jahrhunderts gewachsen sind. Der Rückblick auf die Geschichte, auf einschneidende Ereignisse oder Schriften aus vergangenen Jahrhunderten, kann uns helfen, die Gegenwart zu verstehen und die Zukunft zu gestalten. Deshalb ist es angemessen, die Emder Synode gerade jetzt herausgehoben zu würdigen, ihre zeitlosen Prinzipien und Ordnungsparameter, die sich die Verfolgten in schwieriger Zeit gaben. Wir sollten sie freilegen und von Gebrauchsspuren reinigen. Wir merken, wir haben keine besseren. Denn ihr Ziel ist die Eigenverantwortung. Die Verantwortung für andere, für die Gemeinschaft. In der Verantwortung vor Gott.

Abb. 4: Der Festakt »450 Jahre Emder Synode« konnte wegen der Covid-19-Pandemie nur ohne Gäste durchgeführt werden. Er wurde deshalb live im Internet übertragen.

Irene Dingel

Die Emder Synode von 1571. Erinnerungsort des reformierten Protestantismus Festvortrag

Unser Jahrzehnt ist nicht nur das der großen Corona-Pandemie, sondern auch und weiterhin das der großen Reformationsjubiläen, auch wenn sie hinter dem Pandemie-Geschehen zu verblassen drohen. Umso wichtiger ist es, in diesem Jahr an 450 Jahre Emder Synode zu erinnern. Sie versammelte sich im Oktober 1571 im damaligen Zeughaus der Stadt Emden. Aber bevor wir uns mit den historischen Bedingungen, den verhandelten Inhalten und deren Wirkung näher beschäftigen, sollen zunächst ein paar allgemeine Überlegungen zu diesem Jubiläum die Emder Synode als herausragenden Erinnerungsort des reformierten Protestantismus würdigen.

1.

Die Emder Synode – Erinnerungsort des reformierten Protestantismus

In den 1980er und 1990er Jahren wurde der französische Historiker Pierre Nora bekannt durch seine Aufarbeitung von Geschichte und Kultur unter dem Aspekt identitätsstiftender Erinnerungsorte, sogenannter »Lieux de mémoire«.1 Diese Erforschung von Erinnerungsorten geht davon aus, dass sich die Wahrnehmung einer gemeinsamen Geschichte stets an besonderen Knotenpunkten orientiert. Denn in ihnen, so die Forschung, verdichte sich der Versuch, die wesentlichen Komponenten des »Kulturellen Gedächtnisses« einer Nation oder einer anderen Gruppierung zu sichten und zu sammeln. Aber nicht nur die Pflege des kulturellen Gedächtnisses verbindet sich mit 1 Vgl. Pierre Nora (Hg.), Les Lieux de mémoire, 7 Bd., Paris 1984–1993. Dieser Zugang wurde für Deutschland weitergeführt von Etienne François und Hagen Schulze (Hg.) Deutsche Erinnerungsorte, 3 Bd., München 2009, auf Europa bezogen von Pim den Boer / Heinz Duchhardt / Georg Kreis / Wolfgang Schmale (Hg.), Europäische Erinnerungsorte 3 Bd., München 2012.

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Irene Dingel

den »Lieux de mémoire«. Die an sie geknüpfte Erinnerung entfaltet auch Wirkung auf die Deutung von Geschichte und Gegenwart. In den historisch arbeitenden Geisteswissenschaften wurde die Erforschung von Erinnerungsorten vielfältig aufgegriffen. Denn eins ist sicher: die sich an solche »Orte« (auch im übertragenen Sinne verstanden) anlagernde Geschichte, die man immer wieder in Erzählungen präsent macht, ist für das kollektive Gedächtnis, für die kollektive Identität einer Gruppe und für ihr Zusammengehörigkeitsgefühl von großer Bedeutung. Dabei ist es wichtig zu erkennen, dass ein Erinnerungsort nicht einfach nur ein Speicher historischer Fakten ist. Vielmehr werden ihm von der sich erinnernden bzw. sich auf ihn zurückbeziehenden Gruppe Bedeutungen und Wirkungen zugeschrieben, die die nüchternen, historischen Fakten gegenwartsbezogen anreichern.2 Für das Reformiertentum ist die Emder Synode von 1571 ein solcher Erinnerungsort, an dem sich – mit Aleida Assmann zu sprechen – eine »eigentümliche Verbindung von Nähe und Ferne« ergibt, insofern die Erinnerung einen »unmittelbaren Kontakt zur Vergangenheit« herstellt. »Die Magie, die den Erinnerungsorten zugeschrieben wird, erklärt sich aus ihrem Status als Kontaktzone«,3 die den Graben zwischen Historie und Gegenwart überbrückt. Sich an die Emder Synode zurückzuerinnern und diese Erinnerung mit gegenwartsbezogenen Deutungen aufzuladen, dient dazu, die reformierte Identität neu zu sichten, ihr Ausdruck zu verleihen und sie zu stärken. Ihre Ableitung aus der Geschichte verbindet sich mit der Zuschreibung zukunftsweisender Wirkungen auf die Ausbildung gesellschaftlich-politischer Werte in der Moderne. All dies tritt deutlich zutage, wenn man sich Jubiläumspublikationen anschaut. Dabei ist die Emder Synode als Erinnerungsort eigentlich gar nicht 2 Die Diskussion um die Bedeutung von Erinnerungsorten in der historischen Forschung ist vielfältig und weit verzweigt. Vgl. dazu z. B. Bernd Henningsen / Hendriette KliemannGeisinger / Stefan Troebst, Vorwort, in: dies. (Hg.), Transnationale Erinnerungsorte: Nordund südeuropäische Perspektiven, Berlin 2009 (The Baltic Sea Region: Northern Dimensions – European Perspectives / Die Ostseeregion: Nördliche Dimensionen – Europäische Perspektiven 10), 5–9; Tilmann Robbe, Historische Forschung und Geschichtsvermittlung. Erinnerungsorte in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft, Göttingen 2009 (Formen der Erinnerung 39); Georg Kreis, Pierre Nora besser verstehen – und kritisieren, in: HISTORIE . Jahrbuch des Zentrums für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften 2 (Leverkusen-Opladen 2008/2009): Historie erinnern – Historie erzählen, 103–117; Constanze Carcenac-Lecomte, Pierre Nora und ein deutsches Pilotprojekt, in: Steinbruch deutsche Erinnerungsorte. Annäherung an eine deutsche Gedächtnisgeschichte, hg. v. Constanze Carcenac-Lecomte u. a., Frankfurt / M. u. a. 2000, 13–25. 3 Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999, 337.

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so einfach zu fassen. Denn von ihr übrig geblieben sind lediglich die 1571 verabschiedeten Artikel  – keine zu besuchende Lokalität, keine sonstigen Objekte. Nur die Schepken Christi-Darstellung, das Steinrelief, das im Jahr 1660 von in Emden inzwischen heimisch gewordenen Flüchtlingsfamilien gestiftet und am Ostportal der Großen Kirche angebracht wurde, verweist noch auf jenen Konsolidierungsprozess der niederländischen Flüchtlingsgemeinden, der in der Emder Synode seinen Abschluss fand. Die um das Schiff herum angebrachte Inschrift »Godts kerk, vervolgt, verdreven, heft Godt hyr trost gegeven« = »Der Kirche Gottes, verfolgt, vertrieben, hat Gott hier Trost gegeben«4 erinnert an eine Verfolgungssituation, die für die einheimischen Emder reformierter »Couleur« nie bestanden hatte. Ein echtes Denkmal ist also nicht vorhanden. Und dennoch wurde die Emder Synode zu einem Erinnerungsort par excellence. Denn die mit ihr verbundene Geschichtserzählung folgt einer beeindruckenden Teleologie, die die Emder Synode und damit das sich auf deutschem Boden unter einer Kirchenverfassungsstruktur zusammenfindende reformierte Exulantentum zur Wiege von Demokratie, Föderalismus und europäischer Subsidiarität stilisiert. Es wäre interessant zurückzuverfolgen, zu welchem Zeitpunkt diese Zuschreibungen jeweils zum ersten Mal auftauchten. Zum 400. Jubiläum der Emder Synode 1971 jedenfalls waren sie bereits so stark ausgeprägt, dass man eine Linie von der Emder Synode zu den 1620 auf der Mayflower aus England nach Amerika auswandernden Puritanern zog und schließlich in der amerikanischen Verwirklichung von Demokratie und Volkssouveränität Fernwirkungen der Emder Synode entdeckte. Die vermeintlichen Einflüsse, an die man beim Jubiläum vor 50 Jahren erinnerte, erstreckten sich über die Pilgrim Fathers bis hin »zu dem Entschluß des nordamerikanischen Kongresses 1776, einen Kodex der Menschenrechte zu schaffen«. Man sah »Verbindungslinien […] zu dem, was in unseren Verfassungen und Lebenswirklichkeiten an Demokratie und Menschenrechten verankert ist«.5 Durch strenge historische Quellenund Faktenanalyse wird sich dies kaum unterfüttern lassen. Der erinnernde Rückblick jedoch entdeckt phänomenologische Parallelen und gestaltet damit seinen Erinnerungsort aus. Ob es sich auch in diesem Jubiläumsjahr so verhält? Über die »calvinische Föderaltheologie« (die allerdings ihre Wurzeln 4 Vgl. dazu Elwin Lomberg, Ursachen, Vorgeschichte, Verlauf und Auswirkungen der Emder Synode von 1571, in: Emder Synode 1571–1971. Beiträge zur Geschichte und zum 400jährigen Jubiläum, bearb. u. redigiert v. Elwin Lomberg, hg. v. der Evangelisch-reformierten Kirche in Nordwestdeutschland, Neukirchen-Vluyn 1973, 7–35, hier 14 f. 5 Lomberg, Ursachen, 35.

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Irene Dingel

schon bei dem Zürcher Heinrich Bullinger hat) und den Kirchenordnungsentwurf der Emder Synode (der freilich wichtige Komponenten der Disci­ pline ecclésiastique der Pariser Generalsynode von 1559 übernimmt), sieht man jedenfalls »den Weg von Emden zu einem freiheitlichen Europa markiert«. Die Emder Synode avanciert zu einem Erinnerungsort, an dem europäische, föderal-subsidiäre Ideale ihren Ausgang nehmen.6 Dass sie dort für das kirchliche Leben festgeschrieben wurden, steht außer Zweifel. Was wir aber auch sehen, ist, wie das Erinnern geschichtliche Fakten in Gegenwartsszenarien und Zukunftsvisionen einordnet, wie es den Beitrag der Emder Synode zur Konstruktion Europas herausstellt, und dies zu einem Zeitpunkt, zu dem Europa an seinen Rändern heftig bröckelt. Der rein historische Blick mahnt demgegenüber zu Abgeklärtheit und Demut. Mag sein, dass ein Blick auf die Quellen zu ähnlichen, aber weniger vollmundigen Resultaten führt.

2.

Die Emder Synode – Eine geschichtliche Einordnung

Die Stadt Emden war in der Frühen Neuzeit sowohl unter wirtschafts- und kulturgeschichtlichem als auch reformationsgeschichtlichem Gesichtspunkt bemerkenswert. Als ostfriesischer Fernhandelshafen mit Schiffsverkehr Richtung England, Frankreich, Portugal, Spanien, aber auch in die Ostsee, hatte die Stadt spätestens in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts europäische Bedeutung erlangt. Bereits in den 30er Jahren hatte sie niederländische Flüchtlinge aufgenommen. Dieser Zustrom wuchs noch in den 1560er Jahren, ausgelöst durch das Schreckensregiment Herzog Albas, der als Statthalter der Niederlande (1567–1573) versuchte, den reformatorischen Strömungen mit blutigen Maßnahmen Einhalt zu gebieten. Es sollen um die 5.000 bis 6.000 Migranten gewesen sein, die in eine Stadt von damals ca. 10.000 Einwohnern kamen und für die man neue Stadtviertel erschließen und Wohnraum bereitstellen musste. Emden wurde zum »Genf des Nordens«. Man berichtet, dass ein Emder Bäcker zeitweise in seinem Haus 37 Personen beherbergt haben soll!7 Die sich ansiedelnden Handwerker, Tuchmacher, Schiffer etc. brachten aber ihre Kenntnisse und Fähigkeiten sowie durchaus auch 6 Vgl. Christiane Bender / Hans Graßl, Emder Ideen in modernen Verfassungen, in: Emder Synode 450 Jahre. Keine einsamen Entscheidungen, hg. v. Evangelisch-reformierte Kirche / Reformierter Bund in Deutschland, Redaktion: Isabel Metzger / Georg Rieger / Achim Detmers / A leida Siller, Leer 2020, 62–67, hier 67, dort auch das Zitat. 7 Vgl. Lomberg, Ursachen, 13.

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materiellen Wohlstand mit, so dass Gräfin Anna von Ostfriesland deren Ansiedlung nach Kräften förderte. Annas Einfluss und dem ihrer humanistisch gesinnten Berater war es geschuldet, dass das Land lange eine theologisch offene Situation bewahrte, die erst später in eine »zweigleisige Konfessionalisierung« mündete: eine calvinistische bzw. reformierte in der Stadt Emden und dem Westteil der Grafschaft, regiert von Graf Johann und unter dem theologischen Einfluss Menso Altings (1541–1612), und eine lutherische, in dem von Graf Edzard II. beherrschten östlichen Landesteil.8 Grundlagen für die reformierte Ausrichtung in Lehre und Leben hatte bereits der polnische Edelmann Johannes a Lasco (1499–1560) gelegt, den Gräfin Anna durch die Einführung des kaiserlichen Interims 1548 jedoch entlassen musste. A Lasco wich nach London aus. Er hatte als damaliger Superintendent den Coetus gegründet, d. h. den Konvent der ostfriesischen Prediger; er hatte ein Kirchenzuchtmodell eingeführt, das, angepasst an die politischen Verhältnisse, die Rechte der Obrigkeit als Notbischof der Kirche mit denen der kirchlichen Sittenzucht kombinierte, und er hatte einen Kirchenrat – später Konsistorium genannt – ins Leben gerufen. Als er in Folge des Herrschaftsantritts Maria Tudors in England als Flüchtling 1553/54 mit seiner aus niederländischen Exulanten bestehenden Londoner Gemeinde zurückkehrte und in Emden Aufnahme fand, hatte er eine ausgearbeitete Kirchenordnung im Gepäck, die langfristig Wirkung entfaltete.9 In der Tat waren es die reformierten Niederländer, die fortan die Ausgestaltung der Kirchenverfassung bestimmten. Anders als andere Flüchtlingsgemeinden in Territorien und Städten des damaligen Reichs hatten die niederländischen Migranten in Emden, abgesehen von der Armenfürsorge, keine separaten Gemeindestrukturen aufgebaut, sondern sich in die Stadtkirche integrieren können, die ihnen nicht nur theologisch, sondern auch sprachlich nahestand, während etwa die französischsprachigen Wallonen für sich blieben und eigene Gottesdienste feierten. Diese noch vorkonfessionelle kirchenpolitische Situation, wie sie sich in den zurückliegenden Jahrzehnten herausgebildet hatte, war singulär und konnte unter dem Gesichtspunkt reichsrechtlicher Bedingungen nur so lange ungefährdet bestehen bleiben, wie nicht eine reformierte bzw. calvinistische Bekenntnisbildung unmissverständlich deutlich machte, dass man von dem seit 1555 geltenden Augsburger Religionsfrieden abwich. Denn damit hätte 8 Vgl. Heinz Schilling (Hg.), Die Kirchenratsprotokolle der Reformierten Gemeinde Emden 1557–1620, Teil I: 1557–1574, bearb. v. Heinz Schilling / K laus-Dieter Schreiber, Köln / Wien 1989 (Städteforschung Reihe C: Quellen 3,1), XI . 9 Vgl. Schilling, Kirchenratsprotokolle, XI–XXI .

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man eine Reichsexekution und Krieg riskiert. Auf europäischer Ebene, auf der keine vergleichbaren Religionsfriedensregelungen existierten, fielen alle reformatorisch Gesinnten – Lutheraner wie Calvinisten – unter die geltende Häretikergesetzgebung. Sie hatten demzufolge keinen gesellschaftlichen Zivilstand und wurden verfolgt. Daher mussten die französischen Protestanten z. B. ihre Kirchenstrukturen im Untergrund aufbauen, als sie sich 1559 zu ihrer ersten Generalsynode in Paris zusammenfanden. Den Schutz des Verborgenen brauchten die Niederländer im konfessionsoffenen Emden nicht, als sie vom 4.–13. Oktober 1571 ihre erste große Synode abhielten. Aber in den Kirchenratsprotokollen der Stadt taucht die Synode trotzdem nicht auf, wohl aus politischen Gründen.10 Ebenso wenig riskierten andere in Ostfriesland amtierende Prediger oder Älteste eine Teilnahme, nur Johannes Polyander, der Prediger der französischsprachigen reformierten Gemeinde in Emden war dabei11 sowie laut Teilnehmerliste des Protokolls der Emder Synode auch Karl de Noude und Christoph Becanus.

3.

Die Emder Synode – Durchführung und Ergebnis

Schon J. F. Gerhard Goeters hat die Vergleichbarkeit der Emder Synode mit der ersten Nationalsynode der französischen Protestanten 1559 in Paris herausgestellt. Beide hatten ein ähnliches Ziel: den Zusammenschluss der verfolgten reformierten Gemeinden unter gemeinsamen, kirchenordnenden Strukturen und unter einem gemeinsamen Bekenntnis. Die Emder Synode war eine Synode von Niederländern im Exil12; sie legte den Grund für »die Bildung der niederländischen reformierten Gesamtkirche«.13 Kleinere Synoden wie z. B. der Weseler Konvent von 1568, dessen tatsächliches Stattfinden mehrfach in Frage gestellt wurde, aber dessen überlieferte Artikel für die in Emden verabschiedete Kirchenverfassung wegweisend wurden, hatten bisher stets entweder nur die Gemeindebildungen von ortsansässigen Flüchtlingen 10 Vgl. Schilling, Kirchenratsprotokolle, XX . 11 Vgl. Menno Smid, Ostfriesische Kirchengeschichte, Pewsum: Selbstverlag 1974 (Ostfries­ land im Schutze des Deiches 6), 197. 12 Flüchtlingsgemeinden gab es in London, in der Kurpfalz, in Frankfurt / M., Köln, Aachen und Wesel am Niederrhein. 13 J. F. Gerhard Goeters, Die Emder Synode von 1571, in: Emder Synode 1571–1971. Beiträge zur Geschichte und zum 400jährigen Jubiläum, bearb. u. redigiert v. Elwin Lomberg, hg. v. der Evangelisch-reformierten Kirche in Nordwestdeutschland, Neukirchen-Vluyn 1973, 183–202, hier 183.

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organisiert oder lediglich ein begrenztes Einzugsgebiet von reformierten Gemeinden erreicht.14 Emden ging darüber hinaus. Leider ist der Weg hin zur Emder Synode quellenmäßig nur recht spärlich belegt.15 Aber ein auf Heidelberg, den 30. Juni 1571 datiertes Einladungsschreiben, das zunächst Köln als Versammlungsort und den 1. Oktober 1571 als Termin vorsah,16 lässt vermuten, dass eine ganze Reihe solcher Einladungsschreiben an die verstreuten niederländischen Reformierten versandt wurde. Unterzeichnet ist der uns erhaltene Brief von Petrus Dathenus,17 Johannes Taffinus18 und Petrus Colonius.19 Wohl um den Vertretern der Exulantengemeinden in England die Teilnahme zu erleichtern, wurde schließlich Emden als Tagungsort festgelegt. Bis zum 4. Oktober wartete man auf sie, allerdings vergeblich. Auch die damals in der Kurpfalz wirkenden Theologen Dathenus und Colonius durften nicht teilnehmen, dagegen Gaspar Heydanus, Pastor in Frankenthal und Taffinus, der in der französischsprachigen Exulanten­gemeinde in Heidelberg als Pastor wirkte, schon. Dann begannen die sich über zehn Tage erstreckenden Beratungen,20 die Heydanus und Taffinus als Präses 14 In Köln und Aachen organisierte man die Gemeinden im Jahr 1570 in synodal-presbyterialer Weise. Vgl. Goeters, Die Emder Synode, 189. Der Weseler Konvent soll 36 Pastoren und Älteste niederländischer Herkunft unter der Leitung von Petrus Dathenus zusammengebracht haben. Vgl. Lomberg, Ursachen, 17. 15 Die immer noch beste Rekonstruktion hat Goeters vorgelegt; vgl. ders., Die Emder Synode, bes. 192–202; vgl. auch die Jubiläumspublikation von Matthias Freudenberg / A leida Siller, Emder Synode 1571. Wesen und Wirkungen eines Grundtextes der Moderne, 15–24. 16 Der Brief ist in deutscher Übersetzung ediert in Freudenberg / Siller, Emder Synode 1571, 67–70. 17 Petrus Dathenus (1531/32–1588) war 1550 vor der Glaubensverfolgung aus Flandern nach England geflohen. Nach dem Regierungsantritt Maria Tudors kam er nach Frankfurt / M., wo er in der flämischen Flüchtlingsgemeinde wirkte. Nach Auseinandersetzungen mit dem Frankfurter Rat fanden er und seine Gemeinde Zuflucht in Frankenthal in der Kurpfalz. 1570 wurde er Hofprediger Kurfürst Friedrichs III ., des Frommen. Vgl. Gustav Adolf Benrath, Petrus Dathenus (1531–1588) und seine Bedeutung für die Pfalz. in: Blätter für pfälzische Kirchengeschichte 79 (2012), 369–399. 18 Johannes Taffinus (Jean Taffin, 1529/30–1602), der von 1554–1557 als Bibliothekar und Sekretär von Antoine Perrenot de Granvelle gedient hatte, lernte in Antwerpen reformiertcalvinistische Strömungen kennen, wo er – nach sechsjähriger Tätigkeit in Metz – als Prediger wirkte. 1569 ging er nach Heidelberg in die Kurpfalz. Vgl. Jacob Cornelis van Slee, Art. Taffin, Johann, in: Allgemeine Deutsche Biographie 37 (1894), 348–350. 19 Biographische Informationen über Petrus Colonius (Petrus van Keulen, ca. 1530–1571) sind schwer zu ermitteln. Er kam als Glaubensflüchtling von Metz nach Heidelberg in die Kurpfalz. Vgl. aber D. Nauta, Art. Colonius, Petrus, in: Biografisch lexicon voor de geschiedenis van het Nederlands protestantisme 2 (1983), 132–134 (Biografisch lexicon voor de geschiedenis van het Nederlands protestantisme (knaw.nl) [2021-09-01]). 20 Vgl. zur Arbeit der Synode Goeters, Die Emder Synode, 194–202.

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und Assessor gestalteten.21 Versammlungsort war das damalige Zeughaus, ein Gebäude, das im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde. Hier hatte auch die französischsprachige reformierte Gemeinde ihre Predigtstätte. Das Ergebnis waren 53 kirchenordnende Artikel »ad legitimum ecclesiam ordinem«22, gefolgt von 25 Partikularartikeln zu Einzelproblemen, die sich aus Anfragen der Emder Fremdendiakonie, aus Köln, Antwerpen, Gent und Aachen ergaben.23 Hinzu kam der Entwurf einer dreistufigen Synodalordnung in insgesamt 26 weiteren Artikeln.24 Der Urtext war auf Latein abgefasst, der damaligen »lingua franca«, aber recht zügig folgten Übersetzungen ins Niederländische, Französische und Deutsche. Ein zeitgenössischer Druck scheint nicht zu existieren, zumal eine solche Publikation angesichts der religions­ politischen Situation auch nicht unbedingt ratsam gewesen wäre. Die 53 allgemeinen Artikel beginnen – analog zur »Discipline ­ecclésiastique«, der Kirchenordnung der Französischen Protestanten von 1559  – mit der Festschreibung der Gleichstellung aller Gemeinden und Ämter. Wie bei den französischen Glaubensgeschwistern, aber anders als bei den Genfern, ist von drei Ämtern die Rede: den Pastoren, Ältesten und Diakonen. Im Rahmen der von ihnen versehenen Aufgaben und Kompetenzen soll sich also das Leben der Gemeinden in nun festzulegenden, geordneten Bahnen vollziehen. Glauben und Lehre werden durch die Unterschrift unter die Confessio Belgica von 1561 und unter die Confession de Foi von 1559 definiert, die ebenfalls Ergebnis der ersten französischen Generalsynode war. Beide Bekenntnisse verstanden sich als Rechenschaft über den der Heiligen Schrift gemäßen Glauben und zielten in ihrem jeweiligen Erstellungskontext darauf, die Obrigkeiten, den spanischen König Philipp II.25 und den französischen 21 Vgl. Goeters, Emder Synode, 192. 22 Acta synodi ecclesiarum Belgicarum, quae sub cruce sunt et per Germaniam et Phrisiam orientalem dispersae, habitae Embdae 4. die Octobris anno 1571, in: Die Akten der Synode der Niederländischen Kirchen zu Emden vom 4.–13. Oktober 1571. Im latein. Grundtext mitsamt den alten niederländischen, französischen und deutschen Übersetzungen, hg. v. J. F. Gerhard Goeters, Neukirchen-Vluyn 1971 (Beiträge zur Geschichte und Lehre der reformierten Kirche 34), 54. 23 Vgl. Goeters, Emder Synode, 195. 24 Vgl. Acta, 14–54.54–72.72–88. Deutsche Übersetzung bei Freudenberg / Siller, 71–80. 80–84.84–88. 25 Die Vorrede des von Guy de Brès abgefassten Bekenntnisses wendet sich in Form eines Bittgesuchs an den spanischen König. Der Text der Confessio Belgica 1561 findet sich in kritischer Edition bei: E. F. Karl Müller (Hg.), Die Bekenntnisschriften der reformierten Kirche, Nachdr. Zürich 1987, 233–249. Vgl. auch die Einleitung ebd. XXXIV f.

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König Franz II.26, von der Rechtmäßigkeit dieses evangelischen Glaubens – und der Unrechtmäßigkeit der Verfolgung – zu überzeugen. Denn von der Vorstellung, dass politische Obrigkeiten eine gottgesetzte Macht ausübten und man im Notfall Verfolgung hinzunehmen habe, wichen auch die Reformierten nicht ab. Durch die Bedrängnisse jedoch, die sie zu ertragen hatten, erfuhren sie ihre Existenz als Leidensnachfolge, als ein Leben »unter dem Kreuz«. Die Emder Synode erstellte also kein eigenes, neues Bekenntnis, sondern ordnete sich bekenntnismäßig in das europäische Reformiertentum ein und signalisierte damit zugleich, dass eine Annäherung an die durch den Augsburger Religionsfrieden sanktionierte Confessio Augustana nicht in Frage kam. Konfessionspolitische Kompromisse zur Sicherung des Friedens, wie sie Wilhelm von Oranien zu jener Zeit erwog, war nicht die Sache der Theologen. Zur täglichen Unterweisung sollten der Genfer und der Heidelberger Katechismus herangezogen werden, oder – falls bereits ein vergleichbarer »mit Gottes Wort übereinstimmender Katechismus« im Gebrauch sei (wie es in Emden der Fall war), auch jener. Damit war gleich in den ersten Artikeln der konfessionelle Standort klar umrissen. Dem folgte eine Ordnung des gemeindlichen Lebens in wöchentlichen Konsistorien der Pastoren, Ältesten und Diakone, in viertel- bis halbjährlichen Versammlungen der Classes, d. h. benachbarter Gemeinden, in jährlichen Konventen der Flüchtlingsgemeinden in Deutschland, England oder an anderen Orten und in zweijährlichen Versammlungen aller niederländischen Gemeinden. Auf diese Weise wurde ebenfalls bereits in den ersten Artikeln die Verfassungsstruktur bestimmt, die man in den nachfolgenden Artikeln präziser als conventus classicum (Quatierzusammenkünfte – so die zeitgenössische Übersetzung), synodus provincialis (Provinzsynode) und synodus generalis (Generalsynode) beschrieb. Zwar hatte man schon in Wesel 1568 Classical­ versammlungen vorgesehen. Aber deren Institutionalisierung, nicht zuletzt als zweite Instanz in Kirchenzuchtfragen nach dem Konsistorium, war in Emden eine kirchenrechtliche Neuerung,27 die sich langfristig im Refor26 Das Bekenntnis erhielt in seinen zeitgenössischen Druckausgaben eine Widmungsvorrede an Franz II . Der Text des Bekenntnisses findet sich in kritischer Edition bei Karl Müller (Hg.), Die Bekenntnisschriften der reformierten Kirche, Nachdr. Zürich 1987, 221–232. Vgl. auch die Einleitung ebd. XXXII–XXXIV. Vgl. außerdem Emidio Campi (Bearb.), Confessio Gallicana, 1559/1571, mit dem Bekenntnis der Waldenser, 1560, in: Reformierte Bekenntnisschriften, hg. im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland v. Andreas Mühling / Peter Opitz, Bd. 2/1, Neukirchen-Vluyn 2009, 1–29. 27 Vgl. Goeters, Emder Synode, 199–201. Vgl. auch Generalia, Art. 33, in: Freudenberg / Siller, Emder Synode 1571, 76.

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miertentum etablierte. Auch bei Prüfung und Wahl der Pastoren spielte die Classis eine Rolle. Denn der Pastor sollte vom Konsistorium »mit urtheil und erkantnuß des quatiers versamblungh [d. h. der Classicalsynode] oder zweyer oder dreyer genachbarten dieneren« gewählt werden.28 Der Gewählte wurde sodann der Gemeinde vorgestellt, die ihn stillschweigend akzeptierte bzw. das Recht hatte, innerhalb von 14 Tagen Einspruch zu erheben. Es war also keine Gemeindewahl, durch die die Pastoren ins Amt kamen, sondern ein eher oligarchisches System, das Integrität von Lehre und Leben des Kandidaten im Blick hatte, und das generell üblich war, sowohl im Genfer als auch im französischen Raum. Darüber hinaus kamen den Classes Zensuraufgaben zu, die wiederum auf die Reinheit der Lehre zielten, denn – so schrieben die Synodalartikel fest – »Niemand darf ein eigenes oder von anderen verfasstes Buch über Glaubensfragen drucken oder auf andere Weise verbreiten lassen, wenn es nicht von den Pastoren der Classis oder anerkannten Theologieprofessoren unseres Bekenntnisses geprüft und gebilligt wurde«.29 Zugleich hatten die Classes bzw. die Classicalsynoden ihren festen Ort im gesamten Synodalgefüge. Über ihre Entscheidungen konnte bei der Provinzsynode Berufung eingelegt werden. Anfragen zu Lehre und Kirchenzucht sowie zu sonstigen Problemen, die durch die Provinzsynode nicht zufriedenstellend beantwortet werden konnten, gingen sodann an die Generalsynode als oberste Instanz.30 Man kann in dieser pyramidalen, von unten nach oben aufgebauten Organisation einen entfernten Vorläufer des heutigen Subsidiaritätsprinzips sehen, das übergeordnete Einheiten nur dann zur Lösung eines Problems eingreifen lässt, wenn das zuständige kleinere Forum dies nicht mehr bewältigt. Mit der Emder Synode erfolgte also eine Konsolidierung des europäischen Reformiertentums in zwei Hinsichten: auf der Ebene von Glauben und Lehre und auf der Ebene der Kirchenorganisation durch den Aufbau einer presbyterial-synodalen Kirchenverfassung. Was Glauben und Lehre anging, so schloss sich die Emder Synode an bestehende Bekenntnisse an und übernahm in der Praxis bewährte Katechismen. Auch die Abgrenzung von der römischen Kirche, unterschwellig auch vom Luthertum, kam klar zum Ausdruck, wenn man z. B. beim Abendmahl die Verwendung gewöhnlichen Brots 28 Art. 13, in: Die Akten der Synode, 21. 29 Generalia, Art. 51, in: Freudenberg / Siller, Emder Synode 1571, 79. 30 Vgl. Provinzsynoden, Art. 1, in: Freudenberg / Siller, Emder Synode 1571, 85f und den Artikel zu den Generalsynoden ebd. 87.

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empfahl und davor warnte, durch das Sprechen der Einsetzungsworte »den Anschein oder Eindruck einer Weihe der Elemente«31 hervorzurufen, oder wenn man eine nach strengen Regeln aufgestellte Kirchenzucht etablierte, die nicht nur die excommunicatio minor, d. h. den Ausschluss vom Abendmahl, sondern auch die excommunicatio maior, d. h. den Ausschluss aus der Gemeinde, vorsah. Die presbyterial-synodale Kirchenverfassung garantierte das Funktionieren des gemeindlichen Lebens ohne steuerndes Eingreifen der Obrigkeiten und damit auch überall dort, wo Gemeinden nach wie vor »unter dem Kreuz« lebten und nur im Verborgenen existieren konnten. Diese Kirchenstruktur hatte das Potenzial, das europäische Reformiertentum zu einen. Insofern führt Emden zu Recht den Ehrentitel der »Moederkerk« der europäischen Reformierten.

4.

Die Emder Synode – Ein kurzer Impuls für heute

Wenn wir heute 450 Jahre Emder Synode feiern und uns an dieses Ereignis zurückerinnern, dann reihen wir uns in eine lange und reiche Tradition reformierten Glaubens und Lebens ein. Und auch wir vergegenwärtigen uns diesen »Erinnerungsort« aus jenen Strukturen heraus, in denen wir gegenwärtig leben. Was ist uns aus der heutigen Perspektive wichtig; was sollte uns wichtig bleiben? Ich meine: der Mut zum Bekenntnis und zu jenen Werten, die reformiertes Leben bis heute prägen; die Wertschätzung von Strukturen und Verfassung, die Partizipation ermöglichen; eine Willkommenskultur, die Offenheit und Integration in eine gute Balance bringt.

31 Generalia, Art. 21, in: Freudenberg / Siller, Emder Synode 1571, 74.

Abb. 5: Die Rednerin und Redner, die ihren Beitrag live vor Ort in der Johannes a Lasco Bibliothek halten konnten: (v.l.) Kirchenpräsident Martin Heimbucher, Festrednerin Prof. Dr. Irene Dingel, EKD-Ratsvorsitzender Heinrich Bedford-Strohm, Oberbürgermeister Tim Kruithoff. Die Vertreterin der Protestantischen Kirche in den Niederlanden Vize-Präses Jeannette Galjaard und der Präsident des Deutschen Bundestages Wolfgang Schäuble hielten ihre Grußworte per Videoeinspielung. Im Hintergrund das Musikensemble Concerto Foscari unter Leitung von Alon Sariel vor dem Banner mit der Abbildung des Gebäudes »Alte Stadthalle«, in dem die Emder Synode vom 4.–13. Oktober 1571 stattfand. Die begehbare Kulisse war Teil der Ausstellung »Die Emder Synode von 1571. Kontexte – Akteure – Kulturtransfer«.

Heinrich Bedford-Strohm

»Bis heute zukunftsweisende Impulse« Grußwort des Vorsitzenden des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland

Sehr geehrter Herr Kirchenpräsident, lieber Martin, lieber Präses Nordholt, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Kruithoff, sehr geehrter Herr Daugirdas, sehr geehrte Damen und Herren, liebe Schwestern und Brüder, ich gratuliere der Reformierten Kirche, dem Reformierten Bund und der ganzen reformierten Familie von Herzen zu diesem Jubiläum »450 Jahre Emder Synode«. Ich tue das im Namen des Rates der EKD und der ganzen EKD, in der die reformierte Glaubenstradition eine der Kostbarkeiten ist, aus denen wir leben. So freue ich mich sehr, heute hier an der Küste sein zu dürfen, um diesen Tag mit Ihnen allen zu feiern. Als ich gestern Abend hier in Emden angekommen bin, musste ich noch einen kurzen Blick auf das »Meer«, ich meine natürlich die Emsmündung und den Dollart, werfen. Und ich versuchte mir vorzustellen, wie das damals wohl gewesen sein muss, als die niederländischen Glaubensflüchtlinge in kleinen Fährbooten in Ostfriesland angekommen sind. In Emden haben die Flüchtlinge die Stadt rasant wachsen lassen. Innerhalb weniger Jahre stieg die Zahl der Einwohner von 5.000 auf 20.000. Bildung, Buchdruck, Handel und Schönfärberei (natürlich im rein textilen Sinne des Wortes gemeint) ließen Emden prosperieren. Ich hatte beim Anblick des Wassers und der Wellen aber auch ganz andere Bilder von Flüchtlingen im Kopf. Flüchtlinge, die sich heute aus Verzweiflung auf lebensgefährliche Schlauchboote im Mittelmeer begeben, um nach Europa zu gelangen. Dass gerade die reformierte Kirche unser Bündnis zur Seenotrettung so nachdrücklich und großzügig unterstützt hat, war ein starkes Zeichen, für das ich Ihnen heute einmal ausdrücklich danken möchte. Es beeindruckt mich sehr, wie diese aus der 450jährigen und noch weiter zurückliegenden Geschichte geprägte Haltung der Aufnahme und der Gastfreundschaft für Geflüchtete bis heute lebendig geblieben ist. Und ich füge hinzu: Am Beispiel Emden vor 450 Jahren sieht man, wie das Ankommen und das Willkommen der geflüchteten Glaubenden zur Blüte

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Heinrich Bedford-Strohm

dieser Stadt und vieler anderer Städte am Rhein und in der Pfalz beigetragen haben. Mögen wir aus dieser historischen Erfahrung auch für heute lernen! Aus der Erfahrung der grausamen Unterdrückung lehnten die reformiert Glaubenden autoritäre Herrschaftsformen strikt ab. Und so lud man von Heidelberg aus ein mit der Absicht »eine heilsame Ordnung unter uns« aufzurichten. Und diese Ordnung hatte es für damalige Verhältnisse in sich. Der reformierte Grundgedanke lautete: »Keine Gemeinde soll über andere Gemeinden, kein Pastor über andere Pastoren, kein Ältester über andere Älteste, kein Diakon über andere Diakone Vorrang haben oder Herrschaft beanspruchen«. Das, liebe Geschwister der Evangelisch-reformierten Kirche, ist nicht weniger als die Grundlage einer modernen freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Und es ist zugleich eine der wichtigsten Gaben der Reformierten an die gesamte evangelische Kirche. Für mich persönlich ist sie am wirkkräftigsten in meinem eigenen Denken und Handeln über die vom reformierten Theologen Karl Barth verfasste Barmer Theologische Erklärung geworden, die in ihrer vierten These feststellt: »Die verschiedenen Ämter in der Kirche begründen keine Herrschaft der einen über die anderen, sondern die Ausübung des der ganzen Gemeinde anvertrauten und befohlenen Dienstes.« Was die reformierte Kirche besonders eindrücklich zeigt, tut uns als evangelischer Kirche insgesamt gut: Dass sie nämlich eine Kirche ist, die von der Basis geprägt wird. Oder um es mit den Worten Martin Heimbuchers zu sagen: »Viele sind’s, die Kirche leiten.« Dieser Impuls hat in die Städte und Gemeinden hineingewirkt. Und ich glaube, daraus gehen bis heute zukunftsweisende Impulse hervor, die wir für Kirche brauchen: Die reformierten Glaubensflüchtlinge haben der Stadt Bestes gesucht. Sie haben sich eingebracht, haben sich selbst mit ihrem Wissen, mit ihrem Können und mit ihrem Glauben integriert in »ihre« Stadt. Das ist Kirche, die nicht nur nach vorne denkt, sondern auch nach vorne handelt und das tut, wofür sie gebraucht wird. Dies und vieles mehr bleibt ein wichtiges Erbe der Emder Synode, die uns damit wichtige Aufgaben für unsere Zukunft ins Stammbuch geschrieben hat. Dafür wünsche ich Ihnen und uns allen von Herzen allen notwendigen Mut und Gottes Segen.

Jeannette Galjaard

»Presbyterial und synodal organisiert« Grußwort der Vize-Präses der Protestantischen Kirche in den Niederlanden

Liebe Brüder und Schwestern in Christus! Dieses Jahr ist ein sehr wichtiges Jahr für die Stadt Emden, insbesondere aber für die Kirchen, die zur reformierten Tradition gehören. In Emden hat es angefangen. Vor 450 Jahren kamen in Emden 29 Vertreter von verborgen lebenden Gemeinden in den Niederlanden und aus Flüchtlingsgemeinden zu einem Treffen zusammen. Die Delegierten hatten eine lange und beschwerliche Reise nach Emden hinter sich. Emden war die Stadt, in der viele Bibeln und andere Schriften für die niederländische Reformation gedruckt wurden. Als Synode von Emden wurde dieses Treffen ein wichtiger Teil der pro­ testantischen Kirchengeschichte. Der Protestantismus war damals noch jung. Viele Gläubige in den Niederlanden waren in jenen Tagen der Verfolgung und des Krieges verstreut worden. Daher entstand allmählich die Notwendigkeit für eine sie verbindende Organisationsform. Das Ziel der Synode von Emden war es, das kirchliche Netzwerk zu stärken und eine gemeinsame Kirchenordnung zu entwickeln. Die Synode legte die Regeln und Lehren der niederländischen reformierten Kirche in einem Beschlussdokument fest, das einstimmig angenommen wurde. Es bestand aus insgesamt 104 Artikeln, in denen die Vereinbarungen für das kirchliche Leben, auch über die lokale Ebene hinaus, festgehalten wurden. Der erste Artikel lautet: »Keine Gemeinde soll über andere Gemeinden, kein Pastor über andere Pastoren, kein Ältester über andere Älteste, kein Diakon über andere Diakone Vorrang haben oder Herrschaft beanspruchen.« Die Synode bekräftigte also den presbyterialen Charakter der reformierten Kirche. Außerdem organisierte sie die Gemeinden in einer geografischen Region in Classes und bekräftigte so den synodalen Charakter der Kirche. Die reformierte Kirche ist also seit der Synode von Emden presbyterial-synodal organisiert.

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Jeannette Galjaard

Die Einheit der Gemeinden bestand und besteht in der Einheit der Lehre. In Emden wurde das Niederländische Glaubensbekenntnis als Bekenntnis der reformierten Kirche in den Niederlanden angenommen. Und der Heidelberger Katechismus wurde als Lehrbuch für die Kirche akzeptiert. Die Beschlüsse der Emder Synode prägten Struktur und Ordnung der werdenden reformierten Kirche in den Niederlanden. Und auch heute sind sie grundlegende Ausgangspunkte in unserer Kirchenordnung. Sie hatten aber auch großen Einfluss auf die kirchlichen Ordnungen vieler anderer protestantischer Kirchen. Dies verbindet noch heute eine große Gruppe von Kirchen miteinander. Die Protestantische Kirche in den Niederlanden – meine Kirche – freut sich darüber und ist von ganzem Herzen bereit, auf die Stärkung der gegenseitigen Beziehungen hinzuarbeiten. Das auch deshalb, weil viele Themen der Emder Synode bis heute in Kirche, Staat und Gesellschaft äußerst aktuell sind. Ich freue mich, dass ich im Namen der Protestantischen Kirche in den Niederlanden uns allen recht herzlich zu dem wichtigen und noch immer aktuellen Ergebnis der Synode von Emden gratulieren darf und dass ich das Jubiläum mit Ihnen mitfeiern kann. Ich wünsche uns allen Gottes Segen!

Tim Kruithoff

»Ein Ereignis mit europäischer Ausstrahlung« Einladung des Oberbürgermeisters der Stadt Emden

Sehr verehrte Anwesende, liebe Gäste, liebe Bürgerinnen und Bürger, verehrte Damen und Herren vor den Bildschirmen, ich freue mich, Sie heute im Namen des Rates der Stadt Emden und im Namen der Verwaltung aus der wunderschönen Johannes a Lasco Bibliothek in Emden begrüßen zu dürfen. Blickt man sich hier um, sieht man noch die alten Mauern, die Überreste der sogenannten Moederkerk. Unsere Große Kirche war eine der ältesten Kirchen Ostfrieslands und ist wahrscheinlich in ihren ältesten Bauteilen bereits im 12. Jahrhundert errichtet worden. Im Jahr 1943 fiel sie, wie so vieles in meiner Heimatstadt, den Bombenangriffen des Zweiten Weltkriegs zum Opfer. Ihre Überreste erzählen viele Geschichten. Es ist heute ein großes Glück für unsere Seehafenstadt, dass der Wiederaufbau möglich war. Dadurch konnten etliche Zeugnisse unserer wertvollen und reichen Geschichte erhalten bleiben: Kulturschätze als Zeugnisse von Macht, Herrschaft, aber auch von Bürgertum und demokratischer Teilhabe, Zeugnisse vom Wandel und der Unbeständigkeit politischer und gesellschaftlicher Verhältnisse. Vor 450 Jahren, im Oktober 1571, fand in unserer Stadt die sogenannte Emder Synode statt und zwar in der ehemaligen Stadthalle, auch ein Gebäude, das den Bomben zum Opfer fiel. Dort wo das Gebäude stand, ist heute das Betriebsgelände der Firma Thiele-Tee, die Firma, der wir den bekannten Emder Ostfriesen-Tee zu verdanken haben. Die Emder Synode ist ein Ereignis, das trotz aller Widrigkeiten Menschen in ihrem Glauben zusammenbrachte. Sie ist ein erstaunliches Beispiel dafür, wie aus einer akuten Notlage, der Verfolgung und Flucht niederländischer Gemeinden, etwas Zukunftsweisendes entstehen konnte: eine staatsunabhängige Kirchenverfassung. Bis heute prägt das Bewusstsein für diese Geschichte unsere Stadt. Und so haben wir uns als Stadt Emden frühzeitig als einen sicheren Hafen deklariert, um Geflüchteten bei uns eine Heimat zu bieten. Vor diesem Hintergrund ist die Emder Synode, die über die Kirche hinaus auch als Modell für spätere

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Tim Kruithoff

Formen demokratischer Selbstbestimmung und Mitverantwortung gelten kann, bis heute wegweisend. Subsidiarität ist eine politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Maxime, die größtmögliche Selbstbestimmung, Eigenverantwortung und Entfaltung eines jeden Einzelnen zugrunde legt. Zugleich ist jeder Einzelne ein Teil der Gesellschaft und trägt auch für sie Verantwortung. Das ist etwas, woran man den einen oder anderen heute erinnern muss. Im Spannungsfeld von Vielfalt an Sichtweisen ist Demokratie unerlässlich und zugleich eine ständige Herausforderung für das Miteinander in einer offenen und lebendigen Gemeinschaft, für die Zusammengehörigkeit und den Gemeinsinn in unserer Stadt. Ich bin glücklich, Oberbürgermeister einer Stadt zu sein, in der ein solch besonderes und historisch bedeutsames Ereignis stattfinden konnte. Ein Ereignis mit europäischer Ausstrahlung, das bis heute nachklingt. Denn Emden ist auch heute Reformationsstadt Europas. Die Gemeinschaft der Evangelischen Kirchen in Europa (GEKE) hat unsere schöne Seehafenstadt 2017 als erste Stadt Europas mit diesem Titel ausgezeichnet! Liebens- und lebenswert, traditionell und weltoffen, kulturell, sportlich und sozial, grün und mit viel Wasser: all das ist die Stadt Emden. Gern hätte ich Sie alle heute hier persönlich in Emden begrüßt und Ihnen meine Stadt schmackhaft gemacht. Schmackhaft im wahrsten Sinne des Wortes, nämlich am besten mit Thiele Tee und Matjes von Fokken & Müller – den kulinarischen Botschaftern Niedersachsens. Em, wie wir in Ostfriesland gerne sagen, ist überraschend anders. Emden ist zwar die größte Stadt Ostfrieslands, aber wer sich auf oder ans Wasser begibt, wird ein ganz anderes Emden erleben. Es lohnt sich nicht nur ein Abstecher in den Hafen, sondern besonders das große Kanalnetz prägt Emden. Die Kanäle verbinden Emdens grünen Stadtwall mit der Innenstadt und laden zu ausgeprägten Entdeckungstouren auf und am Wasser ein. Zudem ist Emden Mittelpunkt für das kulturelle Erlebnis in Ostfriesland: die Kunsthalle, das Ostfriesische Landesmuseum, die Johannes a Lasco Bibliothek! Ich bedaure sehr, dass der persönliche Gedankenaustausch, das Gespräch von Angesicht zu Angesicht, heute nur begrenzt oder gar nicht stattfinden kann. Hat doch der Wunsch nach Austausch auf Augenhöhe damals letztendlich auch zur Emder Synode geführt. Es wäre mir eine große Freude und besondere Ehre, Sie alle später einmal hier an diesem authentischen Ort, der Johannes a Lasco Bibliothek, in unserer Seehafenstadt begrüßen zu dürfen.

»Ein Ereignis mit europäischer Ausstrahlung« 

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Herzlich bedanke ich mich an dieser Stelle bei Aleida Siller und bei meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus der Stadtverwaltung sowie bei Silke Arends, die alle viel Mühe und Zeit in die Vorbereitung des Festaktes gesteckt haben. Herzlich danke ich auch meinen Vorrednerinnen und Vorrednern. Und ich danke besonders dem Ensemble Concerto Foscari unter Leitung von Alon Sariel, das uns die wunderschöne Musik aus der Zeit der Emder Synode vorgetragen hat.

Abb. 6: Das Ensemble Concerto Foscari unter Leitung von Alon Sariel spielte im Rahmen des Festaktes Musik aus der Zeit der Emder Synode: (v. l.) Uwe Ulbrich, Lea-Rahel Bader, Peter Kuhnsch, Alon Sariel, Susanne Herre, Filip Rekiec.

Die emDer SynoDe

von 1571 KonTeXTe – AKTeUre – KULTUrTrAnSFer

AUSSTeLLUng

6. Juni – 7. november 2021 JoHAnneS A LASCo BiBLioTHeK | KirCHSTr. 22 | emDen

Abb. 7: Das Plakat zur Ausstellung »Die Emder Synode von 1571. Kontexte – Akteure – Kulturtransfer«

2. Ausstellungseröffnung »Die Emder Synode von 1571 Kontexte – Akteure – Kulturtransfer«

Kęstutis Daugirdas

»Erfüllung ist dort, wo man sich mit anderen berät« Begrüßung des Wissenschaftlichen Vorstandes der Johannes a Lasco Bibliothek

Sehr geehrte Zuschauerinnen und Zuschauer, meine Damen und Herren, mit dem Klang der elegant spielerischen Chaconne e-moll von Dietrich Buxtehude begrüße ich Sie ganz herzlich zur heutigen Sonntagsmatinée in der Johannes a Lasco Bibliothek. In ihrem Rahmen eröffnen wir unsere Ausstellung »Die Emde Synode von 1571. Kontexte – Akteure – Kulturtransfer«, die bis November zu sehen sein wird. Es ist mir eine Ehre, den Kirchenpräsidenten der Evangelisch-reformierten Kirche unter uns zu wissen. Ich grüße Sie, lieber Herr Heimbucher, sehr herzlich. Sie werden noch ein Wort an die Zuschauerinnen und Zuschauer richten. Leider können wir die heutige Veranstaltung aufgrund des Pandemiegeschehens in Emden nur unter Ausschluss von Publikum durchführen. Umso größerer Dank gebührt dem Team der Johannes a Lasco Bibliothek und dem Team der Hochschule Emden / Leer: Das Zustandekommen der Ausstellung unter diesen nicht einfachen Bedingungen und die Übertragung der Ausstellungseröffnung im Livestream sind keineswegs selbstverständlich. Chapaeu! Gleich an dieser Stelle möchte ich mich auch bei unseren Leihgebern aufrichtig bedanken: dem Alt-Schönauer Museum Hühnerfautei, dem Erkenbert Museum Frankental, dem Evangelischen Kirchenarchiv Wesel, der Evangelisch-reformierten Kirche, der Evangelischen Kirchengemeinde Wesel, den London Metropolitan Archives, dem Ostfriesischen Landesmuseum, dem Stadtarchiv Emden, dem Städtischen Museum Wesel und der Universitätsbibliothek Groningen. Der Kurator der Ausstellung, Herr Klaas-Dieter Voß, wird sich bei seiner Einführung in die Ausstellung noch namentlich bei etlichen Personen der von mir erwähnten Institutionen bedanken. Für die musikalische Umrahmung sorgen heute dankenswerterweise Vilma Pigagaitė | Sopran, Julia Krikkay | Barockvioline, Csenge Orgovan | Barock-

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violine, Claas Harders | Viola da gamba, Barbara Hartrumpf | Barockcello und Fernando Olivas | Theorbe. Und nun gestatten Sie mir einige Sätze zum Inhaltlichen. »Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.« Mit diesem Vers aus Mt 18,20 haben die Initiatoren der Emder Synode Petrus Dathenus, Johannes Taffinus und Petrus Colonius in ihrem Einladungsschreiben vom 30. Juni 1571 die Notwendigkeit einer gemein­ samen kirchlichen Zusammenkunft begründet. Bereits die Wahl des Zitats zeigt eine doppelte strukturelle Richtung, die für das Zustandekommen der Emder Synode und auch für ihre im Oktober 1571 gefällten Entscheidungen charakteristisch gewesen ist. Zum einen war man sich dessen bewusst, keine massenbewegende, wiewohl keineswegs unbedeutende Sache in Angriff zu nehmen. Zum anderen wurde der kommunikativ-kollegiale Charakter dieser Sache herausgestrichen: Die Erfüllung ist dort, wo man sich mit anderen berät – und nicht allein dekretiert. Bei der Emder Synode wurden beide Punkte vorbildlich umgesetzt. Als eine kleine Schar der meist in fremder Umgebung Weilenden versammelt, fassten die etwa 30 Synodalen knapp gehaltene, aber wohl überlegte Entscheidungen. Auf diese Weise legten sie den Grundstein für die reformierte Kirche in den Niederlanden und am Niederrhein. Entscheidungsfreudig und von dem Bewusstsein getragen, eine egalitär verfasste Gesamtkirche aufzubauen, vermochten sie eine vorbildliche presbyterial-synodale Kirchen­ordnung zu entwerfen: Gemeinde, Classis, Provinzsynode, Generalsynode. Als regulatives Band wurde hierbei das später sogenannte Subsidiaritätsprinzip gewählt: Gemeinden wurden in Classes zusammengefasst, diese wiederum in Provinzen, und zwar mit der Grundsatzbestimmung, dass die Entscheidungen möglichst vor Ort getroffen und nur im Notfall oder in übergeordneten Fragen an die nächstgrößere Einheit delegiert würden. Eine kleine, aber feine Sache, die bald nach der Emder Synode auch in den Niederlanden aufgenommen wurde. Bereits drei Jahre später, im Juni 1574 wurden die Emder Beschlüsse zu Beginn der ersten Provinzsynode der Provinzen Holland und Zeeland, die in Dordrecht tagte, verlesen und während der Verhandlungen vielfach rezipiert. Auch auf der Nationalsynode, die 1578 ebenfalls nach Dordrecht einberufen wurde, knüpfte man an die Emder Beschlüsse an und führte sie fort. Damit gingen sie endgültig in das Verfassungsrecht der niederländischen Kirchen ein. Mit den Dordrechter Synoden von 1574 und 1578 lässt sich aber nun auch der Bogen zu der Thematik der heutigen Sonntagsmatinée – die Norddeut-

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sche Orgelschule – gut spannen. Jene Synoden bestanden nämlich darauf, die Orgeln aus dem gottesdienstlichen Gebrauch zu verbannen. Zu verwen­ den waren die Orgeln nur zu musikalischen Zwecken vor und nach dem Gottesdienst. In gewissem Sinne trugen jene Synoden also ihren Teil dazu bei, die Musik zu säkularisieren – eine Entwicklung, die auch im reformiert geprägten nordwestdeutschen Raum einsetzte. Gleichwohl blieb diese Tendenz hin zur Säkularisierung der Musik nicht auf die reformierten Gebiete beschränkt. Wie die Beispiele der heute gewählten Komponisten Dietrich Buxtehude, Johann Nicolaus Hanff und Johann Adam Reincken zeigen, die allesamt versierte Organisten waren, lässt sie sich auch in den lutherischen Hansestädten beobachten. Nicht zuletzt von den Kaufmannschaften gefördert, wurden virtuose Musikstücke komponiert und zunehmend auch bei Abendmusiken aufgeführt. In der heutigen »Sonntagsmatinée in der Bibliothek« – einem öffentlichen geistlichen Konzert am Sonntagmorgen – hören Sie, meine Damen und Herren, Vokal- und Instrumentalwerke von Buxtehude, Reincken und Hanff, den wichtigsten Vertretern der Norddeutschen Orgelschule. Das Stück von Johann Nicolaus Hanff »Ich will den Herrn loben allezeit« gibt uns davon die nächste Kostprobe. Ich wünsche Ihnen ein besinnliches Vergnügen.

Abb. 8: Besucherinnen und Besucher in der Ausstellung »Die Emder Synode von 1571. Kontexte – Akteure – Kulturtransfer« in der Johannes a Lasco Bibliothek in Emden

Martin Heimbucher

»Ein Beispiel der Hoffnung« Grußwort des Kirchenpräsidenten der Evangelisch-reformierten Kirche

Gerne nehme ich den Dreiklang auf, den der Titel der Ausstellung anspielt: »Kontexte – Akteure – Kulturtransfer«. Ich will diesem Dreiklang in aller Kürze Resonanz geben, und zwar aus meiner Perspektive eines landeskirchlich Verantwortlichen.

1. Kontexte Die Emder Synode verdankt sich den durchwachsenen Erfahrungen des Jahrhunderts der Reformation. Die hier versammelten Gemeindevertreter haben die Chancen, sie haben aber auch die Risiken und Nebenwirkungen der Reformation erfahren, ja, am eigenen Leib ihrer Gemeinden erlitten. Die Gemeinden dieser Synode sind Protagonisten der Reformation und Leidtragende der Gegenreformation. Sie sind bedrängt und versprengt wegen der damals herrschenden Verquickung von religiösen und machtpolitischen Interessen. Sie leiden unter jener giftigen Melange von Religion und weltlicher Macht, mit der wir es – Gott sei’s geklagt! – bis heute noch zu tun haben, auf fast allen Kontinenten dieser Erde. Realitätsnah begrüßt uns diese Ausstellung denn auch mit Brustpanzern und Pistolen. Der Hintergrund der Emder Synode ist ein »Religionskrieg« – wenngleich wir alle wissen, dass es in solchen Kriegen weniger um die Religion geht als um die Macht. Aber die Emder Synode ist gerade deshalb ein Beispiel der Hoffnung, weil sie einen Ausweg bahnt, heraus aus der babylonischen Gefangenschaft der Kirche in Strukturen politischer Macht. Nach dem notgedrungenen leiblichen Exodus aus den Niederlanden beginnt die Synode nun auch einen geistlichen und mentalen Exodus aus der Verhaftung der Kirche im Muster weltlicher Herrschaft. Der politischen Sicherheit beraubt, sucht die Synode nach anderen Prinzipien, aus denen heraus sich Kirche entfalten kann. Und

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der erzwungenen Verstreuung zum Trotz soll dieser Neuaufbau nicht vereinzelt, sondern gemeinsam geschehen: nämlich in verbindlicher Gemeinschaft mit anderen Gemeinden. Dieses reformationsgeschichtliche Ereignis ist an Aktualität kaum zu überbieten. In unserer Kultur verblassen gegenwärtig die Institutionen  – jedenfalls in der Wahrnehmung vieler Zeitgenossen. Die überkommenen Institutionen: ob staatlich oder kirchlich, ob Schule oder Theater, ob Zeitung oder Behörde, gewinnen ihre Plausibilität kaum mehr aus sich selbst heraus: »Ich kann auch ohne Kirche glauben.« Oder: »Was brauche ich eine Partei, wenn ein Klick im Internet zur spontanen Parteinahme genügt?« Jetzt kommt es darauf an, die kommenden Generationen zu gewinnen für eine neue Praxis und ein neues Verständnis verbindlicher Gestaltung unseres gemeinsamen Lebens. Dies wird mit einer grundlegend misstrauischen oder gar verächtlichen Haltung gegenüber den Institutionen kaum gelingen. Genau deshalb bedarf es auch der historischen Erinnerung: Denn die Institutionen, wie sie heute dastehen, sind nicht Relikte einer vergangenen obrigkeitlichen Verfassung. Sondern sie verdanken sich, demokratisch oder eben synodal kontrolliert, den befreienden Aufbrüchen vergangener Generationen. So verdankt unsere Kirche der Emder Synode den unvergesslichen Hinweis auf das Prinzip der Augenhöhe untereinander – bei allem Respekt vor unterschiedlichen Verantwortlichkeiten in der Gemeinde, in der Region und für die gesamte Kirche. Artikel 1: »Keiner soll über den anderen herrschen.« Was wir brauchen ist eine stetige Erneuerung der Institutionen, auch der Institution Kirche, aus diesem Geist.

2. Akteure Die Geschichte, die hier geschrieben wird, ist Kirchengeschichte von unten. Kirchengeschichte aus der Erfahrung von Unterdrückung, Vertreibung, Vereinzelung. Die Akteure dieser Synode machen sich keine Illusionen über den Ort der Kirche in der Welt. »Wir haben hier keine bleibende Stadt, aber die zukünftige suchen wir.« So formulierte es bereits urchristliche Gemeindeerfahrung im Hebräerbrief. Auch die niederländischen Gemeinden im Exil und die in der Heimat bedrängten »Gemeinden unter dem Kreuz« finden sich im biblischen Bild des »wandernden Gottesvolkes« wieder. Beeindruckend ist es, dass und wie

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sie sich trotz der ganz und gar ungewissen Zukunftsaussichten gemeinsam auf den Weg machen. Indem sie, inspiriert von biblischen Motiven, ein neues Bild von Kirche entwerfen, ohne zu wissen, ob es sich jemals würde komplett verwirklichen lassen, ob auf niederländischem oder französischem oder deutschem Boden. Und auch das ist ein faszinierend aktueller Aspekt dieser Geschichte von 1571: Die Vordenker dieser Kirchenordnung wissen, dass die neue Struktur unabhängig von einer staatlich oder kulturell oder sprachlich vorgegebenen Einheit funktionieren muss. Auch heute bewähren sich die Prinzipien staatlicher, gesellschaftlicher oder kirchlicher Gestaltung nur dann, wenn sie nicht territorial beschränkt, sondern auf ihre globale Verantwortlichkeit hin gedacht und gemacht werden. Für die Gestaltung kirchlichen Lebens bedeutet das: »Gestalte das kirchliche Leben und Zusammenleben so, dass du es auch vor deinen Geschwistern in der weltweiten Ökumene verantworten kannst.« So denken wir in diesen Tagen besonders an unsere reformierte Schwestergemeinde in Minsk, in der belarussischen Despotie und im Exil.

3. Kulturtransfer Zum Schluss komme ich zum dritten Aspekt dieser Ausstellung, dem Kulturtransfer: Wenn etwas Wegweisendes gelingt – politisch, kulturell oder kirchlich, dann springt es nicht nur über die Grenzen von Ländern und Regionen hinweg, sondern überwindet auch die Barrieren getrennter gesellschaftlicher Sphären. Die niederländischen Flüchtlinge importierten nicht nur ihre Glaubenserfahrung, sondern auch Handwerkskunst und Kaufmannschaft, Malerei und ihr ästhetisches Empfinden. Mit Spannung und Bewegung können wir in dieser Ausstellung nachvollziehen, welche Bereicherung die damalige Glaubensmigration darstellt für die aufnehmenden Gesellschaften. Selbstverständlich hatten die Beteiligten auch damals zu tun mit Verunsicherung, Misstrauen, Fremdenangst, mit sozialen Problemen und pauschaler Ablehnung – so wie wir es bis heute angesichts weltweiter Migrationsbewegungen erleben, auch in unserem Land. Aber das historische Beispiel öffnet unseren Blick gerade für die geistvollen und segensreichen Aspekte, die auch in einer Geschichte der Not verborgen sein können. Theologisch gesprochen: Gottes kreativer Geist wirkt längst nicht nur in der Kirche und aus der Kirche heraus – wenn es denn gut geht. Sondern die schöpferische Geistkraft Gottes wirkt, wo sie will, und will

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entdeckt werden: auch in der Politik, auch im Wirtschaftsleben, auch in der bildenden Kunst und der Literatur und natürlich auch: in der Musik. Eine Kirche, eine Synode ist auch in der Fremde nicht auf sich allein gestellt. Gottes Wort gibt Orientierung und sein Geist schenkt Trost – für einen Neuanfang unter veränderten Bedingungen und in der Perspektive einer unbeugsamen Hoffnung.

Klaas-Dieter Voß

Die Emder Synode von 1571. Kontexte – Akteure – Kulturtransfer Einführung in die Ausstellung

Sehr geehrte Damen und Herren, vieles, was die Geschichte der Synoden und die Entstehung der reformierten Kirche der Niederlande im 16. Jahrhundert anbelangt, liegt noch immer im Dunklen. Die Lebensumstände der damals in den Niederlanden lebenden Protestanten unter dem Kreuz, die den Repressalien der katholischen Machthaber ausgesetzt waren, und die der im Exil lebenden Glaubensflüchtlinge, die der landeskirchlichen Herrschaft des jeweiligen Aufenthaltsortes unterstanden,1 sind der Grund dafür, warum bewusst alles vermieden wurde, um sichtbare Spuren zu hinterlassen. Das damalige Agieren im Untergrund lässt bis heute viele Fragen unbeantwortet. Als am 4. Oktober 1571 Vertreter niederländischer Gemeinden in Emden zu einer Synode zusammenkamen, nahm vor Ort kaum jemand von ihnen Notiz.2 Sie trafen sich heimlich im Gottesdienstraum der wallonischen Gemeinde, der sich im Erdgeschoss der sogenannten Stadthalle befand. Nicht einmal alle Teile der wallonischen Gemeinde Emdens werden involviert gewesen sein.3 Mitgestaltet wurde sie von einer kleinen Gruppe in dieser Gemeinde, die zur calvinischen Bewegung innerhalb der im Entstehen begriffenen niederländischen Kirche gehörte.4 Diese Synode ging in die Kir1 Vgl. Arch. JALB , Nellner Rep. 321–1, 1; Johannes Justus van Toorenenbergen, (Hg.), Ghe­ schiedenissen ende handelingen die voornemelick aengaen de Nederduytsche natie ende gemeynten, wonende in Engelant ende int bysonder tot Londen, Utrecht 1873, 6–7; Theodorus Ruys, Petrus Dathenus, Houten 1988, 106–107. 2 Vgl. Menno Smid, Ostfriesische Kirchengeschichte, Pewsum 1974, 197–199; Heinz Schilling / K laus-Dieter Schreiber (Hg.), Die Kirchenratsprotokolle der reformierten Gemeinde Emden 1557–1574, Teil I: 1557–1574, Köln / Wien 1989, 432.434. 3 Vgl. Klaas-Dieter Voß, Die französisch-reformierte Gemeinde Emdens im 16. Jahrhundert und die innergemeindlichen Kontroversen hinsichtlich ihrer theologischen Ausrichtung, in: Andreas Flick / Walter Schulz (Hg.), Von Schweden bis Südafrika. Vorträge der Internationalen Hugenotten-Konferenz in Emden 2006, Bad Karlshafen 2008, 315–337. 4 Vgl. Antoine Jan Lamping, Johannes Polyander. Een dienaar van Kerk en Universiteit, Leiden 1980, 11.

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chengeschichte ein und wurde im Rückblick als die Gründungssynode der reformierten Kirche in den Niederlanden wahrgenommen. Überliefert von damals sind aber allein die Beschlüsse, die der damalige Pastor Johannes Polyander (1535–1598) in lateinischer Sprache niederlegte und die seit Mitte des 17. Jahrhunderts als verschollen gelten. Übersetzungen und Abschriften der Originaldokumente sind jedoch erhalten geblieben und geben Einblick in die presbyterial-synodale Ordnung, die mit der Emder Synode in den niederländischen Gemeinden etabliert wurde. Es sollte kein unten und oben geben, alle Angelegenheiten der Kirche sollten von zuständigen Gremien entschieden werden. Die Idee einer ersten Synodalversammlung mit Vertretern aus allen niederländischen Gemeinden entstand nicht in Emden, sondern in der Pfalz. Dort verfasste der Theologe und Politiker Philips van Marnix, Heer van Sint Aldegonde, Souburg und Touwink (1538–1598) zusammen mit dem Pastor Gaspar Heydanus (1530–1586) am 21. März 1570 ein Schreiben an alle Gemeinden mit dem Ziel, sie »zu einem Leib zu vereinen« und eine gemeinsame niederländische Kirche aufzubauen.5 Philips van Marnix, der als Glaubensflüchtling zeitweilig in Ostfriesland als Gast des Häuptlings Unico Manninga (1529–1588) gelebt und der hier im Garten der Lütetsburg seine berühmt gewordene Schrift »Der Bienenkorb der Heiligen Römischen Kirche« verfasst hatte, war mit den Verhältnissen in Ostfriesland bestens vertraut.6 Als es 1568 in dem unweit von Emden gelegenen Heiligerlee zur ersten Schlacht des niederländischen Freiheitskampfes kam, reiste er im Auftrag Wilhelms von Oranien (1533–1584) in die Provinz Groningen, um Kontakt zu dessen Bruder, Ludwig von Nassau (1538–1574), herzustellen.7 Nach der Schlacht lagerte dieser mit seinen Truppen in Jemgum, einem Flecken unweit von Emden. Ungeachtet der Neutralität Ostfrieslands fiel wenig später der spanische Feldherr und Statthalter der Niederlande, der auch als Herzog von Alba bekannte Fernando Álvarez de Toledo (1507–1582) in Ostfriesland ein, wo es in Jemgum zu einer zweiten Schlacht kam, aus der nun die Truppen des Spaniers siegreich hervorgingen. Seine Söldner zogen plündernd und marodierend durch das Rheiderland. Berichte von den Verwüstungen und den an der Bevölkerung verübten Grausamkeiten erreichten schon bald die Seehafenstadt. Die Stadt Emden fürchtete eine Belagerung 5 Vgl. Arch. JALB , Nellner 320 C, Brief 4. 6 Vgl. C. E.H. J. Verhoef, Philips van Marnix Heer van Sint Aldegonde, Amsterdam 1985, 19. 7 Vgl. Herman Arend Enno van Gelder, Van Beeldenstorm tot Pacificatie, Amsterdam / Brüssel 1964, 111.

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und begann sofort damit, sich unangreifbar und wehrhaft zu machen. Zunächst wurden Häuser am Stadtrand niedergebrannt und Bäume gefällt, um ein freies Schussfeld zu haben. In der darauffolgenden Zeit wurden die Wallanlagen ausgebaut.8 Es entstand eine Geschützgießerei und die schon bestehenden Waffenarsenale wurden in einer durch Ankäufe vergrößerten Rüstkammer zusammengeführt, die schließlich in einem der Obergeschosse der Stadthalle untergebracht wurde. Der Beginn des Achtzigjährigen Krieges spielte sich vor den Toren Emdens ab. Die Maßnahmen zur Abwendung einer möglichen Belagerung waren derart, dass Emden aufgrund seines Bollwerkes so sicher war, dass die Stadt auch im Zusammenhang des Dreißigjährigen Krieges nie angegriffen wurde. Grund für viele niederländische Schiffseigner, sich im neutralen und sicheren Emden anzusiedeln. Im Bürgerbuch der Stadt Emden finden sich insbesondere um 1569 die Namen vieler Schiffseigentümer, die versicherten, dass die mitgebrachten Schiffe fortan unter Emder Flagge segeln sollten.9 Schon bald waren mehr Schiffe in Emden registriert als im gesamten englischen Königreich.10 Glaubensflüchtlinge aus den Niederlanden bescherten als Handwerker, Künstler und Kaufleute nicht nur Emden eine große wirtschaftliche Blüte. In den Orten ehemaliger Flüchtlingsgemeinden finden sich noch heute Spuren des in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts stattgefundenen Kulturtransfers. Reste der Emder Architektur und Bücher aus den Druckereien der ostfriesischen Hafenstadt aus dem 16. Jahrhundert, Gemälde niederländischer Maler sowie Gold- und Silberarbeiten aus Frankenthal und Wesel, nicht zuletzt aber auch Produkte des Schönauer Handzeugdrucks stellen noch heute eine Reminiszenz an die damalige Zeit dar. Die Glaubensflüchtlinge waren damals gut vernetzt, was an den Handelspraktiken, aber auch an der Präsenz bestimmter Familien an gleich mehreren Orten zugleich deutlich wird, so wie etwa die Künstlerfamilie Coninxloo, deren Mitglieder in Frankenthal und Emden als Maler in Erscheinung traten oder die Familien Commelin und du Gardin, die zu einem Getreidehändlerkonsortium gehörten und von Emden aus weitverzweigte Handelsnetze in ganz Europa aufbauten. Emden bot ihnen in vielerlei Hinsicht eine gute Ausgangslage. 8 Vgl. Heinrich Deiter, Gerardi Oldeborchs, Pastoris zu Bunda in Reiderland, kleine ostfriesische Chronicke, betreffend die Jahre 1558 bis 1605, Jahrbuch der Gesellschaft für bildende Kunst und vaterländische Altertümer zu Emden Bd. 4, Heft 2, 1881, 75–95.80–81. 9 Vgl. Else Kannegieter, Die Emder Bürgerbücher 1512–1919, Bd. I, Aurich 2013, 200–240. 10 Vgl. Bernhard Hagedorn, Ostfrieslands Handel und Schiffahrt im 16. Jahrhundert, Berlin 1910, 251.

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Emden war gut befestigt und sicher und der Ort war aufgrund seines Hafens sehr gut erreichbar, insbesondere für niederländische Schiffe. Deutlich wird das an den Reiserouten, die man damals wählte. Als Philips van Marnix die dritte Frau Wilhelms von Oranien, Charlotte de Bourbon-Montpensier (1546/47–1582), von Heidelberg nach Delft begleitete, nahm er nicht etwa den direkten Landweg, sondern reiste mit ihr zunächst nach Emden, wo sie sich einige Zeit in der Klunderburg aufhielt. Hier begab sie sich dann an Bord eines Schiffes, das von fünf niederländischen Kriegsschiffen begleitet den sicheren Weg nach Holland nahm.11 Von den Niederlanden und auch von England aus war Emden ohne Gefahr und völlig problemlos zu erreichen. In einem Brief, den Philips van Marnix Anfang Juli 1571 an die Londoner Flüchtlingsgemeinden schrieb, verweist er darum auch auf Emden als einen, wie er sich ausdrückt, bequemen und bestgelegenen Ort für eine erste gemeinsame Synode.12 Kurze Zeit zuvor hatten die in Heidelberg tätigen Pastoren Petrus Dathenus (1531/32–1588), Johannes Taffinus (1629/30–1602) und Petrus Colonius († 1571) ein Schreiben an die frommen und gläubigen Brüder in Christo verfasst und dazu eingeladen, mit ihnen über das Abhalten gemeinsamer ­Synoden ins Gespräch zu kommen, um so eine Ordnung der niederländischen Gemeinden zu schaffen.13 Nur wenige Tage später kam in Bedburg eine kleine regionale Synode zusammen, an der u. a. auch Philips van Marnix teilnahm. Hier wurde der Entschluss gefasst, eine Synode aller niederländischen Gemeinden einzuberufen, ohne aber Ort und Datum festzulegen. Als besonders geeignete Tagungsorte wurden Emden, Frankenthal und Siegen ins Auge gefasst. Willem van Zuylen van Nijevelt (1538–1608) und Gerardus van Kuilenburg (1520–?) wurden nach Emden entsandt, um mit Vertretern der dortigen Gemeinde Näheres zu besprechen.14 Hier wurde dann im Juli 1571 eine Kommission gegründet, die wenig später eine offizielle Einladung an alle niederländischen Gemeinden 11 Vgl. Aart Arnout van Schelven, Marnix van Sint Aldegonde, Utrecht 1939, 98–100. 12 Vgl. London Metropolitan Archives, CLC/180/MSO7428/002, nos. 159; Joannes Henricus Hessels, Ecclesiae Londino-Batavae Archivvm. Tomus secundus, Epistulae et Tractatus cum Reformationis tum Ecclesiae Londino-Batavae historiam illuxtratus (1544–1622). Ex autographiis mandante ecclesia Londino-Batava, Cambridge 1889, 366–369. 13 Vgl. Arch. JALB , Nellner Rep. 320 D, Nr. 5. Eine deutschsprachige Übersetzung dieses Schreibens ist enthalten in: Matthias Freudenberg / A leida Siller, Emder Synode 1571. Wesen und Wirkungen eines Grundtextes der Moderne, Göttingen 2020, 67–70. 14 Vgl. J. F. Gerhard Goeters (Hg.), Das Protokoll der Niederländer über die Beschlüsse der Synode von Bedburg am 3. und 4. Juli 1571, in: 400 Jahre Bedburger Synode, Bedburg 1971, 16.

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verschickte. Das einzige Exemplar eines solchen Einladungsschreibens ist in der niederländischen Gemeinde Londons erhalten geblieben. Unterschrieben wurde es von den Mitgliedern der Kommission, zu der auch der Emder Pastor Johannes Polyander gehörte. Wie vorsichtig, wie behutsam die erste Synode vorbereitet wurde, wird nicht zuletzt daran deutlich, dass die Einladung weder Auskunft über den Ort noch über den genauen Termin gibt. Man hatte den Einladungen versiegelte Briefe mit den entsprechenden Informationen für die Teilnehmer der Synode beigelegt, um so zu verhindern, dass diese in falsche Hände geraten konnten.15 Die wesentlichen Inhalte der Beschlüsse, die 1571 in Emden gefasst wurden, werden in der heute zu eröffnenden Ausstellung in einem Raum präsentiert, der hinter dem Banner mit der Emder Stadthalle geschaffen wurde. Mit Hilfe von Studierenden der Hochschule Emden / Leer, die im Bereich Medientechnik an einer Projektarbeit von Herrn Klaus Frerichs zum Thema »Emder Synode 1571« im WS 2020/21 teilgenommen haben, konnten wesentliche Inhalte der Emder Beschlüsse mit Hilfe unterschiedlicher Medien visualisiert und aufbereitet werden. Dafür möchte ich mich bei allen Beteiligten herzlich bedanken, aber auch für die Unterstützung der Kolleginnen und Kollegen aus anderen Häusern, wie Frau Siller von der Evangelisch-reformierten Kirche, Frau Dr. Weigel vom Erkenbert Museum in Frankenthal, Frau Herion-Frey vom Museum Hühnerfautei in Schönau, Herrn Theiß vom Evangelischen Kirchenarchiv in Wesel, Frau Heidebroek vom Städtischen Museum Wesel, Herrn Adriaan van der Laan von der Universiteitsbibliothek Groningen, Frau Dr. Kanzenbach und Herrn Schmidt vom ostfriesischen Landesmuseum, Herrn Dr. Uphoff vom Emder Stadtarchiv und last but not least bei den Kolleginnen und Kollegen aus der Johannes a Lasco Bibliothek, die zum Gelingen der Ausstellung beigetragen haben.

15 Vgl. London Metropolitan Archives, CLC/180/MSO7428/002, nos. 171; Hessels, ­Archivvm, 380–387.

Abb. 9: Postkarte mit einem Zitat aus dem Einladungsschreiben aus Heidelberg zu einer synodalen Zusammenkunft der niederländischen Gemeinden

3. Vorträge und Lehrpredigt

Matthias Freudenberg

Freiheit – Ordnung – Partizipation Anstöße der Emder Artikel für die Kirche von heute und morgen1

Im Jahr 1571 ging von Emden ein Signal nicht nur an die reformierten Kirchen, sondern auch an andere Konfessionen aus, dass die Kirche Jesu Christi in der Freiheit, in der Ordnung und in der Partizipation ihren Herzschlag hat. Abgesandte verfolgter Gemeinden in den damaligen Niederlanden sowie flämischer und wallonischer Flüchtlingsgemeinden, die sich am Niederrhein, in Ostfriesland und in der Pfalz angesiedelt hatten, waren in den äußersten Nordwesten Deutschlands gereist. Sie wollten die Gemeinden und Kirchen auf einen neuen Weg bringen, der von einem Miteinander, von Gegenseitigkeit und Gestaltungsbereitschaft geprägt war. Entstanden sind die Emder Artikel, die vom Grundgedanken geleitet sind, dass es in Gemeinde und Kirche um Beteiligung geht. In Emden wurde unterstrichen: In den nach Gottes Wort reformierten Kirchen soll der Geist der Freiheit herrschen und nicht Willkür und autoritäre Macht. 450 Jahre später blicken wir auf die Situation zurück, in der vom 4.–13. Oktober 1571 eine Synode im Exil tagte. Und wir sehen von Emden aus in die Gegenwart und Zukunft der Kirche unter der Fragestellung, welche Anstöße die Emder Artikel für die Kirche von heute und morgen geben können.

1.

Warum gab es 1571 eine Synode?

Die kirchlichen Verhältnisse der Protestanten in Westeuropa waren in jener Zeit äußerst prekär.2 Die niederländischen Untergrundgemeinden nannten 1 Vortrag im Evangelischen Forum und Kirchenkreis Bonn am 20. Januar 2021, in der Hauptversammlung des Reformierten Bundes am 9. September 2021 (in gekürzter Fassung) und am 28. September 2021 in der Neuen Kirche Emden (geplant). Der Vortragsstil wurde beibehalten. 2 Zum Ganzen vgl. Matthias Freudenberg / A leida Siller, Emder Synode 1571. Wesen und Wirkungen eines Grundtextes der Moderne, Göttingen 2020 (mit einer hochdeutschen Übersetzung der Artikel der Emder Synode und des Einladungsschreibens); in einer

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sich »Gemeinden unter dem Kreuz«, weil sie der Unterdrückung und den Angriffen der spanischen Herrschaft ausgesetzt waren und wegen ihrer reformatorischen Gesinnung angefeindet und verfolgt wurden. Seit den vierziger Jahren des 16. Jahrhunderts entstand eine große Flüchtlingsbewegung. Vor allem die Gebiete am Niederrhein, in der Pfalz, in Ostfriesland und in England waren das Ziel jener Glaubensflüchtlinge. Dort wurden Flüchtlingsgemeinden gegründet – aufgebaut in der Hoffnung, dass man bald in die Heimat zurückkehren und dort in Frieden und Freiheit leben könne. Doch diese Hoffnung trog. Unter der Statthalterschaft des Herzogs von Alba wuchs die Anzahl der Flüchtlinge erheblich und ging in die Zehntausende.3 Die Emder Synode schuf die Grundlage dafür, dass die Flüchtlingsgemein­ den und die »unter dem Kreuz« in den Niederlanden verbliebenen Gemeinden ihr kirchliches Leben selber organisieren konnten. Im Mittelpunkt stand die Notwendigkeit, die Einheit der Gemeinden sicherzustellen, Streitigkeiten zu schlichten und mit anderen protestantischen Kirchen in Europa in Kontakt zu kommen. In Emden selber sind etwa 5.000 Menschen seit Mitte der 1540er bis zur Mitte der 1570er Jahre in mehreren Wellen angekommen, zum Teil aus den Niederlanden, zum Teil aus England und hier vor allem aus London. Sie bildeten damals etwa die Hälfte der Emder Einwohnerschaft.4 Schon daran kann man erkennen, dass Flucht und Migration keineswegs erst heute ein zentrales Thema auch für die Kirchen sind. Seit 1554 ist in Emden eine französischsprachige niederländische Gemeinde verzeichnet. In dieser Situation der Verstreuung niederländischer Gemeinden in England und in deutschen Territorien auf der einen und der Untergrundexistenz reformatorisch gesinnter Gemeinden in den niederländischen Provinzen auf der anderen Seite war der Wunsch nach Verbindung und Zusammenhalt untereinander naheliegend und notwendig. Um diesen Zusammenhalt gegenüber dem vorliegenden Beitrag stärker historischen Akzentuierung: Matthias Freudenberg, Ordnung und Freiheit. 450 Jahre Artikel der Emder Synode 1571, nebst einem Genfer Gutachten zur Kindertaufe, JEKGR 70 (2021), 12–33. Anlässlich des 400. Jubiläums erschien der Band: Emder Synode 1571–1971. Beiträge zur Geschichte und zum 400jährigen Jubiläum, bearb. u. redigiert v. Elwin Lomberg, hg. v. der Evangelisch-reformierten Kirche in Nordwestdeutschland. Neukirchen-Vluyn 1973. 3 Fernando Álvarez de Toledo y Pimentel, Herzog von Alba (1507–1582), spanischer Adliger, Feldherr und Staatsmann im Dienst Karls V. und seines Sohnes, des spanischen Königs Philipp II . 4 Vgl. Heinz Schilling, Niederländische Exulanten im 16. Jahrhundert. Ihre Stellung im Sozialgefüge und im religiösen Leben deutscher und englischer Städte, Gütersloh 1972 (SVRG 187), 66.177.

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zu organisieren, galt es, Menschen und Gruppen unterschiedlicher Kultur, Prägung und konfessioneller Richtung zusammenzuführen. Es war eine große Herausforderung, zu einem verlässlichen Miteinander zu kommen, das unter der Mitwirkung aller Gemeinden transparent entwickelt wurde und alle zusammenhalten konnte. Ermutigt dazu wurden die niederländischen Gemeinden von den Protestanten in Frankreich, die ebenfalls ohne den Schutz einer ihnen gewogenen Obrigkeit auf der Nationalsynode von Paris 1559 zu einem kirchlichen Ordnungsgefüge gelangt waren und sich dieses in der Discipline ecclésiastique, der Französischen Kirchenordnung, gaben.5 Im Süden der Niederlande, beeinflusst durch die Nähe zu den Gemeinden Frankreichs, gab es Ende der 1560er Jahre bereits erste Erfahrungen mit synodalen Zusammenkünften. Die von dort kommenden Exulanten nahmen diese von der Theologie Johannes Calvins geprägte Leitungsform an ihre neuen Lebensorte mit. Die Synode in Emden machte das in Frankreich bereits angewandte synodale Ordnungsprinzip für die niederländische Kirche fruchtbar. Das Einladungsschreiben zur Synode, das am 30. Juni 1571 von Heidelberg aus versandt wurde, nennt Köln als möglichen Versammlungsort. Kurz darauf wurde jedoch Emden – vielleicht auch wegen der günstigeren Anreisebedingungen für die Engländer – für Anfang Oktober 1571 ausgewählt.6 Im Schreiben heißt es unter Berufung auf 1. Korinther 12, dass eine Synode ein großer Gewinn für die Kirche ist, da auf ihr die Einzelnen ihre Gaben und Fähigkeiten bündeln können. Schon in der Einladung wird klargestellt: Kirche lebt von Partizipation, von gegenseitiger Beratung und von Entscheidungen, die das Wohl der Gemeinden zum Gestaltungsprinzip machen. Und: Kirche ist Gemeinde Jesu Christi, die sich von ihren Gliedern her aufbaut. In ihr stehen das Ringen um Gemeinsamkeit, einmütige Entscheidungen und die Kraft des Arguments im Zentrum. Ausgeschlossen ist eine angemaßte, autoritäre oder durch Weihe verliehene Macht. Über den Ablauf der zehntägigen Synode ist kaum etwas bekannt. Sie war so terminiert, dass sie gleichzeitig mit dem Emder Herbstmarkt stattfand, um einen gewissen Schutz zu bieten, weil man so unauffälliger nach Emden reisen und sich dort versammeln konnte. Der Versammlungsraum von 1571 befand sich in einem Lagerhaus, das auch die Rüstkammer der Stadt beher5 Reformierte Bekenntnisschriften, hg. im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland v. Andreas Mühling / Peter Opitz, Bd. 2/1, Neukirchen-Vluyn 2009, 57–83. 6 Jan Remmers Weerda, Eine Einladung zur Emder Synode 1571, ZKG 60 (1941), 469–474; Übersetzung: Freudenberg / Siller, Emder Synode 1571, 67–70.

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bergte. Das Erdgeschoss diente der französischsprachigen niederländischen Gemeinde als Versammlungsort. Als Ergebnis der Beratungen liegt ein dreiteiliges Beschlussdokument in lateinischer Sprache vor. Der Teil »Generalia« enthält die grundlegenden Beschlüsse. An der Spitze stehen 53 Artikel von prinzipiellem Charakter, in denen diese Themen angesprochen werden: Zuordnung und Funktion der Gremien, Pastoren-, Ältesten- und Diakonenwahl, Taufe und Abendmahl, Ehe, Kirchenzucht, Besetzung von Pfarrstellen, Ausbildung der Pastoren, Sammlung und Aufbau von Gemeinden sowie der Umgang mit den Geflüchteten. Es folgen 25 Artikel mit Antworten zu einzelnen Anfragen aus den Gemeinden. Daran schließen sich die Beschreibungen der Gremien an, die neu eingerichtet wurden, nämlich 9 Artikel zu den Versammlungen der Classes, 16 Artikel zu den Provinzsynoden und ein Artikel zur Generalsynode. Am Schluss stehen 29 Unterschriften der aus 24 Pastoren und fünf Ältesten bestehenden Teilnehmer. An der Unterzeichnerliste ist erkennbar, dass abgesehen von England – ihnen wurde die Ausreise verwehrt – sowohl die Exilgemeinden vertreten waren als auch einige der in den niederländischen Provinzen noch bestehenden Gemeinden »unter dem Kreuz«.

2.

Bezug auf das reformatorische Kirchenverständnis

Die Leistung der Emder Synode bestand darin, dass sie einen gestuften Aufbau der Kirche von der Ortsgemeinde mit dem Konsistorium (Presbyterium) über die Classis mit ihrer Versammlung, die Provinzsynode bis hin zur Generalsynode eingeführt hat. Dabei hat die Synode auf das reformatorische Kirchenverständnis, wie es in besonderer Weise in Calvins Schriften und Kirchenordnungen dokumentiert ist, zurückgegriffen und dieses für die eigene Gegenwart fruchtbar gemacht.7 Ich nenne fünf Punkte: 1. Die Kirche Jesu Christi ist dadurch gekennzeichnet, dass allein das, was Jesus Christus tut, das Entscheidende in ihr ist. Durch die Kraft des Heiligen Geistes weckt Gott den Glauben und sammelt Menschen zur Gemeinschaft der Glaubenden. Die Kirche ist Gemeinschaft und Gemeinde, die durch die

7 Vgl. Matthias Freudenberg, Calvins Einfluss auf die Entwicklung des reformierten Verständnisses der Kirche, in: Calvins Erbe. Beiträge zur Wirkungsgeschichte Johannes Calvins, hg. v. Marco Hofheinz / Wolfgang Lienemann / Martin Sallmann, Göttingen 2011 (RHT 9), 19–44.

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Predigt des Evangeliums und die Feier der Sakramente Taufe und Abendmahl konstituiert ist. 2. Jesus Christus ist der eine Herr der Kirche und die Heilige Schrift die oberste Richtschnur für die kirchliche Verkündigung und die Kirche selber. Es bedarf keines anderen Mittlers außer Jesus Christus. 3. Vom Wort Gottes her empfängt die Kirche ihren Auftrag, ihren Weg und ihr Ziel. Folglich sind alle von Menschen gesprochenen Worte (Predigt) und Handlungen (Feier der Sakramente, Kirchenleitung, Aufsicht und Diakonie) Dienste im Auftrag des einen Herrn Jesus Christus und Funktionen seines Redens und Handelns. Alles, was in der Kirche geredet und getan wird, ist ein Mitwirken am Dienst des Hauptes Jesus Christus und deshalb keine Ausübung von Macht, sondern ein Dienst. 4. Calvin stellte den Charakter der kirchlichen Ämter als Dienste in Verbindung mit einer biblisch begründeten Ämterstruktur ins Zentrum seiner Reformen. Dadurch markierte er eine signifikante Alternative zum landesherrlichen Kirchenregiment. Die ganze Gemeinde und ihre Mitglieder mit ihren unterschiedlichen Geistesgaben sind zum Dienst beauftragt und gesandt. Seine Genfer Kirchenordnung von 1541/61 in Verbindung mit dem Lehrbuch »Institutio christianae religionis« (1559) verstand die kirchlichen Ämter als Werkzeuge Jesu Christi, der allein in der Kirche regiert.8 Um den sichtbaren Zusammenhalt der Gemeinde zu fördern und die Kirche zu konsolidieren, richtete er die Ämter der Pastoren, der Doktoren, der Ältesten und der Diakone ein. Die kollegiale Leitung der Gemeinde im Konsistorium ist ein Dienst an der Gemeinde, von der die Wahl und die Berufung in die Ämter ausgeht. 5. Im reformierten Protestantismus entstand ein ausgeprägtes Bewusstsein für die Ökumenizität der Kirche. Die andere Gemeinde und Kirche ist Teil des ganzen Leibes Jesu Christi und mit der eigenen verbunden. Die Früchte der ökumenischen Verbundenheit wurden besonders in den Gemeinden Frankreichs und der Niederlande geerntet. Ökumenische Existenz wurde zum Überlebensprinzip der Gemeinden. Mit der Synode wurde ein Instrument geschaffen, das die Einheit der Kirche und die Gemeinschaft der Gemeinden untereinander gewährleisten sollte. Die Synode setzt sich aus Abgeordneten 8 Johannes Calvin, Unterricht in der christlichen Religion, nach der letzten Ausgabe von 1559 übers. u. bearb. v. Otto Weber, bearb. u. neu hg. v. Matthias Freudenberg, Neukirchen-Vluyn 2008, 263–268 (Inst. II,15,1–6); 589f (Inst. IV,3,1); vgl. Reformierte Bekenntnisschriften, hg. im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland v. Eberhard Busch / Heiner Faulenbach, Bd. 1/2, Neukirchen-Vluyn 2006, 246–260.

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der einzelnen Gemeinden einer Region zusammen, um über den Glauben, die Lehre und das christliche Leben zu beraten und zu entscheiden. Dabei wirken das presbyteriale (die Leitung der Ortsgemeinde betreffende) und das synodale (die Einheit der Kirche betreffende) Element zusammen. Damit sind wir bei den Ereignissen von Emden und den Artikeln der Synode. Sie sind ein Beispiel dafür, dass Regeln und Ordnungen, welche der Kirche eine Struktur geben, auf theologischen Einsichten beruhen und ihnen Ausdruck verleihen. Ohne eine reflektierte Lehre von der Kirche lässt sich keine tragfähige Ordnung entfalten, die dem Aufbau der Kirche Jesu Christi dient. Dazu identifiziere ich im Folgenden fünf Schwerpunkte und versehe sie mit jeweils einer kurzen Überlegung zur Aktualisierung.

3.

Welche Schwerpunkte setzen die Emder Artikel?

3.1

Keine Über- und Unterordnung

Die wichtigste Regel steht in Artikel 1: »Keine Gemeinde soll über andere Gemeinden, kein Pastor über andere Pastoren, kein Ältester über andere Älteste, kein Diakon über andere Diakone Vorrang haben oder Herrschaft beanspruchen. Sie sollen lieber dem geringsten Verdacht und jeder Gelegenheit dazu aus dem Weg gehen.«9 Die Versammlungen der Classes und Provinzsynoden sollen nur dann Entscheidungen in Angelegenheiten der Gemeinden treffen, wenn sich in den Konsistorien keine Einigung erzielen ließ.10 Dieser antihierarchische Charakter zeigt sich auch darin, dass die Gemeinden und Amtsträger zusammenwirken sollen, statt sich gegenseitig zu dominieren. In den Gemeinden nehmen die Konsistorien bzw. Presbyterien und übergemeindlich die Versammlungen der Classes bzw. Synoden die Leitungsfunktionen wahr. Leitungsämter sind Ämter auf Zeit und verstehen sich als Dienste innerhalb des gemeinsamen kirchlichen Auftrags. Dazu gehört auch die Frage, wie Pastoren ausgebildet und gewählt werden.11 Dafür legt die Synode ein Verfahren fest. Arme Gemeinden sollen mit benachbarten Gemeinden eine Verbindung eingehen und sich einen Pastor teilen. Wenn kein Pastor zur Verfügung steht, sollen die Gemeinden durch Lektoren, Älteste und Diakone beim Gemeindeaufbau unterstützt werden. Die Gemeinde Jesu 9 Generalia, Art. 1, in: Freudenberg / Siller, Emder Synode 1571, 71. 10 Classes, Art. 3, in: Freudenberg / Siller, Emder Synode 1571, 85. 11 Generalia, Art. 36–40, in: Freudenberg / Siller, Emder Synode 1571, 77.

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Christi ist eine durch Gottes Geist begabte Gemeinde, die sich aus ihren Mitgliedern zusammensetzt und in der die Ehre Gottes und das Menschenwohl im Mittelpunkt stehen. Die paulinische Beschreibung der Kirche als Gemeinschaft der durch Gottes Geist Begabten bildet die Grundierung der Akten. Als Anstoß für Kirche heute und morgen greife ich drei Aspekte heraus. Erstens: In der Kirche gibt es Konkurrenz  – manchmal inspirierend, manchmal auch destruktiv – und die Neigung, sich Vorrang und Herrschaft über andere anzumaßen. Es zeichnet die Kirche heute und in Zukunft aus, in den Gemeinden und Gremien Instrumentarien zu fördern, die solchen Tendenzen begegnen, Mediation anbieten und zum Ausgleich der Interessen anleiten. Zweitens: Es wird vor dem Hintergrund zurückgehender finanzieller Mittel nicht nur eine pragmatisch notwendige, sondern auch eine theologisch-geistliche Aufgabe sein, das Zusammenwirken und die Verbindung von benachbarten Gemeinden weiterzuentwickeln. Es gilt, Doppelstrukturen kritisch zu prüfen, Schwerpunktgemeinden weiter zu entwickeln und Synergien zu bilden. Drittens: Nicht nur die politischen Organe, sondern auch die Kirche muss sich auf den Weg der Entbürokratisierung machen, Entscheidungen primär vor Ort fällen und die übertriebene Sorge vor Kontrollverlust beruhigen.

3.2

Freiheit in der Ordnung

An mehreren Stellen ist ausdrücklich von Freiheit die Rede. Das überrascht auf den ersten Blick. Wäre nicht zu erwarten, dass eine Ordnung der Verpflichtung und Verbindlichkeit das Wort redet? Was durchaus geschieht. Aber das ist verbunden mit der Freigabe von Entscheidungen in das Ermessen der Gemeinden. Ihnen wird freigestellt, die Amtszeiten der Ältesten und Diakone nach Zweckmäßigkeit und Notwendigkeit festzulegen.12 Bei der Gestaltung der Gottesdienste haben die Gemeinden die Freiheit, nach den vor Ort geltenden Gebräuchen zu verfahren. Ob während des Abendmahls Psalmen gesungen oder Bibeltexte verlesen werden, wird von der Synode nicht reglementiert.13 Die Konsistorien sind frei in der Wahl von Zeit und Ort ihrer Sitzungen.14 Ebenfalls sind die Gemeinden frei darin, Paten bei der 12 Generalia, Art. 15, in: Freudenberg / Siller, Emder Synode 1571, 73. 13 Generalia, Art. 21, in: Freudenberg / Siller, Emder Synode 1571, 74. 14 Generalia, Art. 6, in: Freudenberg / Siller, Emder Synode 1571, 71.

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Taufe hinzuzuziehen oder darauf zu verzichten.15 Selbst bei der Wahl des Katechismus sind die Gemeinden insofern frei, dass sie auch einen anderen als die empfohlenen benutzen können.16 Auf diese Weise unterstreicht die Synode: Wir wollen den Gemeinden größtmögliche Freiheit lassen, ihre eigenen Belange selber zu regeln. Im Rahmen klarer Beschlüsse zu Grundsatzfragen sind die Artikel von Flexibilität und Dynamik geprägt. Sie bilden eine Ordnung der Freiheit. Es werden wandlungsfähige Strukturen beschrieben, die mit Leben gefüllt werden müssen. Dass die Ordnung dem kirchlichen Leben dienen soll und nicht umgekehrt die kirchliche Praxis der Ordnung, ist eine Grundüberzeugung der Synodalen von Emden. Der Anstoß für Kirche heute und morgen liegt darin, das Moment der Freiheit in der Kirche weiterzuentwickeln und Ordnung und Freiheit in einer fruchtbaren Balance zu halten. Die presbyterial-synodale Ordnung ist eine Ordnung der Freiheit, in der die einzelnen Aufgaben daraufhin befragt werden müssen: Was dient der Verkündigung des Evangeliums? Was muss von der Landeskirche und vom Kirchenkreis vorgegeben werden? Und was können die einzelnen Gemeinden selber in Korrespondenz zu den örtlichen Gegebenheiten entscheiden? Die Gemeinden verdienen einen hohen Vertrauensvorschuss, Freiheit sachgemäß und theologisch verantwortlich zu praktizieren.

3.3

Einvernehmen – ökumenisches Netzwerk – Transparenz – Verbindlichkeit

Die im Einladungsschreiben anklingende Dringlichkeit, in gegenseitigem Einvernehmen zu beraten und zu Beschlüssen zu gelangen, prägt die Artikel.17 Gemeinsam urteilen die Kollegen über die Predigt der Pastoren bei den Versammlungen der Classes.18 Deren Präses wird gemeinsam gewählt.19 Einmütig werden die Artikel von der Synode beraten und beschlossen.20 Schon aufgrund der prekären Situation der Gemeinden liegt es auf der Hand, dass nur ein hohes Maß an Gemeinsamkeit und Einmütigkeit dazu beitragen 15 Generalia, Art. 20, in: Freudenberg / Siller, Emder Synode 1571, 74. 16 Generalia, Art. 5, in: Freudenberg / Siller, Emder Synode 1571, 71. 17 Weerda, Eine Einladung zur Emder Synode 1571, 68–75; Freudenberg / Siller, Emder Synode 1571, 67–70. 18 Classes, Art. 1, in: Freudenberg / Siller, Emder Synode 1571, 84. 19 Classes, Art. 2, in: Freudenberg / Siller, Emder Synode 1571, 85. 20 Generalia, Art. 53, in: Freudenberg / Siller, Emder Synode 1571, 80.

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kann, ihren Bestand zu sichern. Angesichts des Drucks von außen und der Existenz in der Diaspora waren Eintracht, Verlässlichkeit und Loyalität ein unverzichtbares Überlebensprinzip. Mutwillig herbeigeführter Streit bringt die Gefahr der Spaltung und Zersplitterung mit sich. Stattdessen geht es um die Einheit des gemeinsamen kirchlichen Auftrags in den verschiedenen Ämtern und auf den unterschiedlichen Verantwortungsebenen. Weiter galt es, die Anliegen der Gemeinden vor Ort mit dem ökumenischen Charakter der Kirche in Einklang zu bringen. Auf der einen Seite werden die Zuständigkeiten der Gemeinden hervorgehoben und ihnen ein hohes Maß an Entscheidungskompetenz zugewiesen. Auf der anderen Seite werden der Zusammenhalt der Gemeinden auf der Ebene der Classes, Provinzen und der Gesamtkirche betont. In ihrer bedrohten Lage bilden die Gemeinden und Classes ein Netzwerk, wie Artikel 43 betont: »Sehr nützlich ist eine Verbindung der Gemeinden untereinander in der Art, dass sie sich durch häufigen Briefwechsel über das austauschen, was in den Gemeinden allgemein und in einigen auch im Besonderen zur Förderung ihres Bestandes und Wachstums beiträgt.«21 Kommunikation und Solidarität sind die Säulen, auf denen der Zusammenhalt der Gemeinden ruht. Schließlich legt die Synode großen Wert auf Transparenz und Verbindlichkeit. Das gilt erstens für die Weitergabe der synodalen Entscheidungen, um sie an die nicht anwesenden Synodalen und ihre Gemeinden zu kommunizieren. Zweitens sind Transparenz und Verbindlichkeit in der Zusammenarbeit zwischen den synodalen Gremien erforderlich. Drittens pocht die Synode darauf, dass auch das Leben in den einzelnen Gemeinden von Transparenz gekennzeichnet ist. Ein Beispiel dafür sind die Abläufe bei der Kirchenzucht und Mitteilung an die Gemeinde über einen Ausschluss.22 Transparenz und Verbindlichkeit sind ein Grundprinzip der reformatorischen Kirche. Alle Gläubigen sind gemeinsam Leib Christi. Sie teilen nicht nur die Grundlagen ihres Glaubens, sondern setzen sich gegenseitig über die Ordnung und den Aufbau der Kirche ins Bild. Kirche lebt vom offenen und kommunizierten Wort. Der Anstoß für Kirche heute und morgen liegt in der Bereitschaft zur verbindlichen und transparenten innerkirchlichen, ökumenischen und gesellschaftlichen Kommunikation. Kirche sucht den Austausch – direkt-analog und über die Vielzahl der digitalen Kommunikationswege. Gegenseitiger 21 Generalia, Art. 43, in: Freudenberg / Siller, Emder Synode 1571, 78. 22 Generalia, Art. 31, in: Freudenberg / Siller, Emder Synode 1571, 75 f.

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Austausch und Lernen schaffen Impulse für die Arbeit der Gemeinden vor Ort. Die Jahre 2020 und 2021, in denen die Kirche sich in der Pandemie bewähren musste, haben dazu manchen Anstoß gegeben, aber auch Defizite offengelegt.

3.4

Kontextualität und Pragmatismus

Die Artikel entwickeln die synodalen Institutionen von den Gemeinden aus und richten überregionale Strukturen ein. Im Interesse der Gemeinden werden Entscheidungen zur Ausbildung von Pastoren, ihrer Berufung und zu den Aufgaben von Classis, Provinzsynode und Generalsynode getroffen. Das Denken von den Gemeinden her gibt den Artikeln die Farben der Kontextualität und des Pragmatismus: Kontextualität darin, dass die Not der Gemeinden in der Verfolgung und im Exil angesprochen wird; Pragmatismus darin, dass die Artikel lösungsorientiert am kirchlichen Leben in den Gemeinden interessiert sind. Dazu ein paar Beispiele: Der Konkurrenz unter den Pastoren und der Gefahr, dass diese eigenmächtig in anderen Gemeinden predigen, soll dadurch begegnet werden, dass sie nur mit deren Erlaubnis predigen dürfen.23 Bei Entscheidungen zu besonderen Vorfällen befasst sich die Synode mit Konfliktsituationen in der alltäglichen kirchlichen Praxis. Dazu zählt die Wiederheirat bei einem nicht dokumentierten Tod des früheren Partners oder der Wunsch nach Ehe mit einem schwerer Sünden bezichtigten Partner.24 Die Entscheidungen sind nicht von Restriktion, sondern von pragmatischem Freiheitsverständnis und Vergebungsbereitschaft geleitet. Ein solcher Pragmatismus, gepaart mit gegenseitiger Solidarität der Gemeinden, ist auch bei der sensiblen Frage erforderlich, wie man mit Durchreisenden umgehen soll. Die Nächstenliebe verlangt, diese nach Kräften zu unterstützen. Doch die Hilfe muss in einen Ausgleich gebracht werden mit der Gefahr, über Gebühr belastet oder gar ausgenutzt zu werden. Die Artikel vermeiden eine Moralisierung oder Emotionalisierung und empfehlen stattdessen ein geordnetes diakonisches Vorgehen, um Hilfe zu organisieren.25 Der Anstoß für Kirche heute und morgen liegt in der Konzentration darauf, lösungs- und umsetzungsorientiert sowie an den Bedürfnissen der Menschen interessiert das kirchliche Leben zu gestalten. Eine Lösungs- und 23 Generalia, Art. 17, in: Freudenberg / Siller, Emder Synode 1571, 73. 24 Particularia, Art. 18–20, in: Freudenberg / Siller, Emder Synode 1571, 83. 25 Generalia, Art. 44–47, in: Freudenberg / Siller, Emder Synode 1571, 78 f.

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Umsetzungsorientierung bezieht sich zuerst und zuletzt auf die Grundfragen der Menschen nach Sinn und Ziel des Lebens. In einer an der konkreten Lebenswirklichkeit partizipierenden Kirche werden Fragen nach Gott, Mensch und Welt nicht nur zugelassen, sondern nach dem Maß theologischer Verantwortung beantwortet.

3.5 Partizipation

Die Artikel gehen von einer Kirche aus, in der es sowohl Repräsentanz als auch persönliche Verantwortung gibt: Repräsentanz darin, dass eine Delegation in Gremien, beginnend beim Konsistorium, erfolgt; persönliche Verantwortung darin, dass die Mitglieder der Gemeinde am Gemeindeaufbau beteiligt sind und beispielsweise die Pastoren und Gremien auf für den Glauben aufgeschlossene Menschen aufmerksam machen. Gemeinde ist begabte Gemeinde, die von Partizipation, Teilhabe und Mitverantwortung lebt. Da ihre Mitglieder über unterschiedliche Geistesgaben verfügen, legen die Artikel das Augenmerk auf deren differenzierte Mitwirkung. Dazu ein Anstoß aus eigener Praxis: In meiner Arbeit als Pfarrer in einer Studierendengemeinde spielt Partizipation eine große Rolle.26 Ich mache gute Erfahrungen damit, Studierende in die Leitung von Gemeinde und Wohnheim sowie in die Programmarbeit einzubeziehen. Auch in die Andachten, Gottesdienste und Predigten!27 Dabei lerne ich ihre Ideen für die Entwicklung der Gemeinde kennen. Auch die Lösung von Konflikten bedarf der partizipativen Teilnahme und Teilhabe. Im Jubiläumsjahr der Emder Synode hatte ich Gelegenheit, mit einer Gruppe von Studierenden der Ev. Studierendengemeinden Saarbrücken und Trier einen Workshop zum Thema »Partizipation – im Horizont der Emder Synode 1571« zu veranstalten. Der Tagungsort Paris war bewusst gewählt – jene Stadt, in der sich 1559 Abgesandte aus französischen protestantischen Gemeinden zur Nationalsynode versammelten, um der Kirche eine Struktur zu geben. Während dieses Workshops suchten wir auch die Rue Visconti auf, in der jene Synode in einem Haus tagte. Im Zentrum des Programms standen die Lektüre der Emder Artikel und die aktuelle Frage, welche Möglichkeiten der Partizipation heute in Kirche und Gesellschaft insbesondere für 26 Vgl. Lea Matthaei / Wolfgang Ilg, Art. Partizipation und Leitung, in: Handbuch Studierendenseelsorge. Gemeinden – Präsenz an der Hochschule – Perspektiven, hg. v. Corinna Hirschberg / Matthias Freudenberg / Uwe-Karsten Plisch, Göttingen 2021, 72–81. 27 Ein Beispiel ist der Predigtband: Lass das Feuer wieder brennen. Predigten und Ansprachen mit Studierenden, hg. v. Matthias Freudenberg, Solingen 2020.

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junge Erwachsene gegeben sind oder erstrebt werden müssen. Auf diese Weise haben Studierende sowohl einen Einblick in die Emder Synode von 1571 gewonnen als auch sich zur persönlichen Auseinandersetzung mit dem Thema »Partizipation« anregen lassen.

Die Studierendengemeinde selber wird zu einem Übungsfeld für eigenes Engagement. Menschen sind nicht primär Empfänger von kirchlichen Dienstleistungen, sondern lernen sich als Subjekte kennen, die am kirchlichen Leben und ihren Gremien beteiligt sind. Diese Form von Partizipation gerade auch von jungen Erwachsenen auch in Zukunft zu kultivieren, ist eine der hervorragenden Aufgaben unserer Kirche. Ihr Leitungsprinzip ist Partizipation.

4.

Die Artikel der Emder Synode heute

450 Jahre nach den Entscheidungen der Emder Synode nimmt die Kirchenordnung der Evangelischen Kirche im Rheinland einige von deren Hauptgedanken auf: »Die Landeskirche ordnet unter Wahrung der presbyterial-synodalen Ordnung Auftrag und Dienst der Kirchengemeinden und Kirchenkreise. Sie wacht darüber, dass die Kirchengemeinden, Kirchenkreise und Verbände ihren Auftrag und ihre Aufgaben erfüllen und gibt ihnen die notwendige Hilfestellung.«28 Pointiert im Jubiläumsjahr 2021 der Emder Synode hat die Landessynode in einem ergänzenden Artikel 1a der Kirchenordnung die Grundsätze der presbyterial-synodalen Gemeinschaft festgehalten.29 Unter explizitem und implizitem Bezug auf die Artikel der Emder Synode heißt es im ersten Grundsatz: »In der Evangelischen Kirche im Rheinland beansprucht kein Mitglied einer Kirchengemeinde über ein anderes, keine Kirchengemeinde über eine andere und kein Kirchenkreis über einen anderen Vorrang oder Herrschaft.«30 Der zweite Grundsatz formuliert: »Alle Kirchenleitung wird durch Presbyterien und Synoden wahrgenommen. Die Kirchengemeinden wirken durch ihre gewählten Abgeordneten und ihre Pfarrerinnen und Pfarrer an der Leitung des Kirchenkreises 28 Verfassung der Evangelischen Kirche im Rheinland vom 10.01.2003 i. d. F. v. 10.01.2019, Art. 126 (3); vgl. Hellmut Zschoch, Die presbyterial-synodale Ordnung  – Prinzip und Wandel, MEKGR 55 (2006), 199–217. 29 Verfassung der Evangelischen Kirche im Rheinland vom 10.01.2003 i. d. F. v. 15.01.2021, Art. 1a. 30 Vgl. Generalia, Art. 1, in: Freudenberg / Siller, Emder Synode 1571, 71.

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mit. Die Kirchenkreise wirken durch ihre gewählten Abgeordneten und die Superintendentinnen und Superintendenten an der Leitung der Landeskirche mit.«31 Der fünfte Grundsatz greift auf den in Emden genannten Subsidiaritätsgrundsatz zurück: »Aufgaben, die wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkung von den Kirchengemeinden nicht hinreichend erfüllt werden können, werden durch die Kirchenkreise übernommen. Aufgaben, die von den Kirchengemeinden und Kirchenkreisen nicht hinreichend erfüllt werden können, werden durch die Landeskirche wahrgenommen.«32 Schließlich erinnert der sechste Grundsatz an eine Emder Entscheidung dazu, in welchen Angelegenheiten die Synoden entscheiden: »Die Synoden entscheiden über die Angelegenheiten, die ihnen die Kirchenordnung zuweist oder die eine Mehrzahl von Kirchengemeinden oder Kirchenkreisen angeht.«33 Es ist bemerkenswert, dass eine Kirchenordnung im 450. Jahr nach der Emder Synode einige von deren grundlegenden Entscheidungen in ihre Verfassung aufnimmt und zum Ausdruck bringt, dass diese für die Kirche von heute und morgen zukunftsfähig sind. Dadurch wird deutlich, dass die Artikel der Emder Synode weit mehr als solenne Erinnerungen an vergangene Zeiten zu wecken vermögen. Sie bedeuten für die evangelische Kirche vielmehr eine Innovation von großer Tragweite. Das gilt zum einen bei der Etablierung von Gremien, die der Repräsentanz und gegenseitigen Verbindung der Gemeinden dienen, und zum anderen bei der Lösung von grundsätzlichen und kirchlich-praktischen Fragen. Über ihre Zeit hinaus bieten die Artikel der Emder Synode wichtige Hinweise für das Leben einer Kirche der Zukunft, das von Partizipation und Verantwortungsübernahme geprägt ist. Im Spannungsfeld von Flexibilität und Verbindlichkeit setzen die Artikel einen Rahmen, der geeignet ist, mit innerkirchlicher Pluralität und Interessenskollisionen kreativ und produktiv umzugehen. Wesentliche Momente eines solchen kirchlichen Wegs sind die Besinnung auf gemeinsame Überzeugungen und theologische Orientierungen, Transparenz, partizipative Strukturen und ökumenischer Zusammenhalt. Wenn wir danach fragen, welche Bedeutung die Emder Artikel in der Gegenwart und Zukunft spielen können, dann unterstreiche ich noch einmal das Moment der Partizipation. Die in den Artikeln hervorgehobenen Aspekte

31 Vgl. Generalia, Art. 6f und 53, in: Freudenberg / Siller, Emder Synode 1571, 71 f.80; Provinzsynoden, Art. 7, in: Freudenberg / Siller, Emder Synode 1571, 86. 32 Vgl. Classes, Art. 3, in: Freudenberg / Siller, Emder Synode 1571, 85. 33 Vgl. Classes, Art. 4, in: Freudenberg / Siller, Emder Synode 1571, 85.

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von Ordnung und Freiheit sollen die Partizipation der Mitglieder der Kirche bei ihren Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozessen ermöglichen. Da die Gemeinde im Sinne von 1. Korinther 12 als begabte Gemeinde angesprochen werden kann und ihre Mitglieder über unterschiedliche Geistesgaben verfügen, legen die Artikel der Emder Synode das Augenmerk auf deren differenzierte Mitwirkung. Die Mitglieder der Gemeinde sind nicht primär Empfänger von kirchlichen Dienstleistungen, sondern verstehen sich als Subjekte, die am kirchlichen Leben und ihren Gremien beteiligt sind. Diese Form von Partizipation auch in Zukunft zu kultivieren, ist eine der hervorragenden Aufgaben der Evangelischen Kirche. Und wenn die römische Kirche in mittlerer oder ferner Zukunft ihren »Synodalen Weg« in diese Richtung beschreitet, kann das nur begrüßt werden. Die Akten der Emder Synode sind eine Innovation. Partizipation gehört zum Wesenskern der Kirche. Das Teilnehmen und das Teilhaben an der Willensbildung und Entscheidungsfindung steht im Prinzip allen offen. Wenn Partizipation gelingt, bleibt die Kirche nicht wie sie ist. Menschen, insbesondere junge Erwachsene, sollen in der Kirche das Gefühl haben: Du gehörst dazu! Dein Beitrag zählt! Es braucht die Mitwirkung der vielen. Darum muss es das Ziel von kirchlicher Partizipation sein, dass Christen und Christinnen sich bewusstmachen: Wir selber sind Kirche, und diese wird durch uns erneuert. Wo das geschieht, wächst der Impuls, »Kirche für andere« (Dietrich Bonhoeffer) zu werden.34 Partizipation setzt eine Aufbruchsstimmung frei. Sie eröffnet Räume, dass im Dialog, in der Gemeinschaft und durch eigenes Tun etwas Wesentliches geschieht. Wo immer Partizipation gelingt, wird Kirche lebensrelevant. Es zählen Inhalte: Ist der Glaube tragfähig für mein Leben? Was gibt meinem Leben Sinn? Woher schöpfe ich Hoffnung? Indem Kirche und die Gemeinden diesen Fragen Raum geben, werden sie als frisch und lebendig erlebt. Partizipation bedeutet aber nicht nur, sich einzubringen, sondern auch mitzuentscheiden und Verantwortung zu übernehmen. Wenn die Emder Synode heute noch einmal stattfinden würde, wünschte ich mir, dass dort auch junge Erwachsene vertreten sind, um zu den Entscheidungen auch ihre Interessen und Erwartungen an die Kirche beizutragen.

34 Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, in: Christian Gremmels / Eberhard Bethge / Renate Bethge (Hg.), Dietrich Bonhoeffer Werke, Bd. 8, Gütersloh 1998, 560.

Kęstutis Daugirdas

»Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen« (Mt 18,20) Der kommunikativ-kollegiale Charakter der Emder Synode1

Herr, wir bitten um Dein Wort für unser Leben! Liebe Festgemeinde, der Bibelvers, welcher der heutigen Lehrpredigt zugrunde liegt, befindet sich im Matthäusevangelium, Kapitel 18: »Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.« Mit jenem Wort Jesu Christi haben die Initiatoren der Emder Synode Petrus Dathenus, Johannes Taffinus und Petrus Colonius heute vor 450 Jahren die Notwendigkeit einer gemeinsamen kirchlichen Zusammenkunft begründet. Diese führenden Persönlichkeiten der niederländischen Flüchtlingsgemeinden stellten den Vers – neben weiteren biblischen Bezügen – ihren strukturellen Überlegungen voran, die sie in ihrem am 30. Juni 1571 hier, in Heidelberg, abgefassten Einladungsschreiben artikulierten. Bereits die Wahl des Zitats zeigt die Richtung an, die für das Zustandekommen der Emder Synode und ihre im Oktober gefällten Entscheidungen charakteristisch ist. Zum einen war man sich bewusst, keine massenbewegende, wiewohl keineswegs unbedeutende Sache in Angriff zu nehmen. Zum anderen wurde der kommunikativ-kollegiale Charakter dieser Sache herausgestrichen: Die Erfüllung ist dort, wo man sich mit anderen berät – und nicht allein dekretiert oder die Entscheidungen einsam trifft. In gewissem Sinne konvergierten das Zustandekommen und die Entscheidungen der Emder Synode somit mit den Erfahrungen des Urchristentums: Man war und nahm sich als eine kleine Schar wahr, die, um ihrer Überzeugung willen Anfeindungen ausgesetzt, sich am als befreiend empfundenen Auftrag entlang kollegial zu organisieren hatte. 1 Predigt im Rahmen eines Festgottesdienstes in der Heilig-Geist-Kirche in Heidelberg am 30. Juni 2021, dem 450. Jahrestag des Einladungsschreibens aus Heidelberg zu einer synodalen Zusammenkunft der niederländischen Gemeinden.

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Wenn wir uns in den nächsten knapp zwanzig Minuten die Bedeutung der Emder Synode von 1571 vergegenwärtigen, werden vor dem Hintergrund dieser Parallelität zwei Punkte berücksichtigt. Als erstes ist es unumgänglich, sich die historischen Rahmenbedingungen vor Augen zu führen: Wie ist die Emder Synode zustande gekommen, welche Zielsetzung hatte sie, wer nahm an ihr teil und wie wirkte sich das auf ihre Beschlüsse aus? Im zweiten Schritt sollen die Grundsatzentscheidungen der Emder Synode in ihrem Zuschnitt dargelegt werden. Dabei rückt weniger der Inhalt der einzelnen Artikel, sondern vielmehr ihre Grundidee und ihr regulatives Prinzip in den Fokus. Erstens: Zu den historischen Rahmenbedingungen Blickt man auf die Zielsetzung der Emder Synode zurück, darf man nicht übersehen, dass dies eine Kirchenversammlung von Exulanten war. Einberufen und beschickt wurde sie überwiegend von den Mitgliedern der wallonischen und flämischen Flüchtlingsgemeinden, die in den Nachbargebieten der Niederlande Zuflucht vor den Repressalien der katholisch gesinnten habsburgischen Obrigkeit gefunden hatten. Vor allem unter der Herrschaft des Herzogs von Alba, der von 1567 bis 1573 als Statthalter der Spanischen Niederlande fungierte und dessen Truppen gegen die reformiert Gesinnten brutal vorgingen, war es zu einem Massenexodus gekommen. Hieraus erwuchs die Notwendigkeit, das kirchliche Leben so zu organisieren, dass es den neuen Bedingungen Rechnung trug. Mit ihren Beschlüssen zielte die Emder Synode also auf die Selbstorganisation jener Gemeinden, die ihrer Selbstwahrnehmung nach »unter dem Kreuz« waren. Dabei muss angemerkt werden, dass die Emder Synode nicht die erste Zusammenkunft war, die sich mit dieser Aufgabe befasste. Ihr war der Weseler Konvent vorangegangen, der vermutlich im ausgehenden Herbst 1568 getagt hatte und dessen Beschlüsse den Aufbau presbyterial-synodaler Kirchenstrukturen vorzeichneten. Die bisherige Forschung ist sich aber einig, dass der Weseler Konvent noch nicht als eine Synode mit kirchenrechtlich bindender Kraft anzusehen sei. Diese Rolle fiel erst der Emder Synode zu, die sich die Frage nach verbindlichen, übergreifenden Kirchenstrukturen explizit zu eigen gemacht und entsprechende Lösungen erarbeitet hat. Der Synode selbst ging das bereits zitierte und verlesene Einladungsschreiben voraus, das die Pastoren Dathenus, Taffinus und Colonius an niederländische Gemeinden in der Pfalz, am Niederrhein, in Ostfriesland sowie an die in den Niederlanden verbliebenen Gemeinden richteten. Darin wurde über die Notwendigkeit der Abhaltung gemeinsamer Synoden reflektiert, auf

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denen »über die vielfältigen Aufgaben, die dem Gemeindeaufbau dienen, gründlich und gemeinsam beraten, nachgedacht und verhandelt werden« könne. Eine solche Notwendigkeit gemeinsamer Synoden begründeten die Unterzeichneten dreifach. Zum einen sahen sie diese in der Aufforderung Christi angelegt, sich in seinem Namen zu versammeln (Mt 18,20). Zum anderen wurde der lehrmäßige Nutzen der gemeinschaftlichen Beratungen betont: Auf diese Weise könne die Reinheit der Lehre und ihre Einheit gefördert werden. Drittens und letztens erachteten Dathenus, Taffinus und Colonius gemeinsame Beratungen als unumgänglich, die, überregional beschickt, das große Ganze – den gemeinsamen Bestand der Gemeinden – im Auge behalten sollten. Den seitens der protestantisch gesinnten Stände in den Niederlanden unternommenen Versuchen, die Synode im Sinne des Befreiungskampfes gegen die in den Niederlanden herrschenden spanischen Habsburger politisch zu instrumentalisieren, widersetzte man sich dadurch, dass politische Anliegen im Einladungsschreiben keine Aufnahme fanden. Bedacht auf den Aufbau einer überregionalen kirchlichen Struktur, die von politischen Gegebenheiten weder unmittelbar abhängig noch mit diesen verwoben war, lud man zu Beratungen nach Köln ein. Im Laufe der anschließenden Monate legte man sich dann aber aus pragmatischen Gründen auf Emden als Austragungsort fest. Ausschlaggebend für die Ortswahl war vermutlich der Wunsch, auch den Vertretern der Flüchtlingsgemeinden in England die Anwesenheit bei den Beratungen zu ermöglichen: Emden war von England aus bequem mit dem Schiff zu erreichen. Zwar erhielten die in England Weilenden von den dortigen Obrigkeiten keine Erlaubnis, nach Emden zu reisen. An dem Verfahren der Einberufung der Emder Synode ist aber abzulesen, dass man seitens ihrer Organisatoren an eine länderübergreifende kirchliche Zusammenkunft gedacht hatte. Von daher erblickten manche Kirchenhistoriker in der Vergangenheit in der Emder Synode eine Art Generalsynode, die sie als solche dann auch gelegentlich so bezeichnet haben. In Wirklichkeit sah der Rahmen der Emder Synode allerdings viel bescheidener aus. Sieht man von den fehlenden Abgesandten aus England ab, wurde die Synode vom Kirchenrat der Emder Ortsgemeinde in seinen Protokollen kaum erwähnt, auch ist von ihr kein Vertreter bei der Synode bekannt. Unter den Teilnehmern der Synode sind nur die drei Vertreter der französischsprachigen Flüchtlingsgemeinde in Emden verzeichnet, nämlich ihr Pastor Johannes Polyander und die Ältesten Karl de Noude und Christoph Becanus. Insgesamt nahmen an den Emder

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Verhandlungen, die sich vom 4. bis zum 13. Oktober 1571 erstreckten, 29 Abgesandte teil, die sich aus 24 Pastoren und fünf Ältesten zusammensetzten. Mehrheitlich entstammten sie den niederländischen Flüchtlingsgemeinden in deutschen Territorien bzw. Städten, die nicht immer über eigene Gemeindestrukturen verfügten, sondern, wie etwa die niederländischsprachigen Flüchtlinge in Emden, der städtischen Gemeinde lose angeschlossen waren. So unterzeichneten beispielsweise die zu jener Zeit im Emder Exil weilenden Johannes Arnoldi und Petrus Gabriel die gefassten Synodalbeschlüsse als Pastoren der Gemeinde zu Amsterdam – ein klarer Hinweis auf eine Notsituation, der man in organisatorischer Hinsicht überhaupt erst Herr werden musste. Man kam nach Emden, um über recht unüberschaubare kirchenorganisatorische Verhältnisse zu beraten und um Lösungen zu finden, die den Bestand der niederländischen reformierten Gemeinden im Sinne einer Gesamtkirche gewährleisteten. Wie sahen nun diese Lösungen aus? Zweitens: Die Grundsatzentscheidungen der Emder Synode Ungeachtet der unsicheren Zukunft und der suboptimalen Bedingungen, unter denen die Synodalen ihre Arbeit zu verrichten hatten, gelang es der Emder Synode, einen knapp gehaltenen, aber für die kirchenorganisatorische Systematik richtungweisenden Entwurf auszuarbeiten. Während der zehntägigen Beratungen einigte man sich auf 53 Artikel Generalia, welche die allgemeinen Richtlinien bezüglich der lehrmäßigen Bestimmungen, der presbyterial-synodalen Kirchenorganisation, der Amtshandlungen und der Kirchenzucht absteckten. Es folgten 25 Artikel Partikularia, die sich der konkreten Anliegen der Gemeinden annahmen und diese im Einklang mit den Generalia zu regeln suchten. Den abschließenden Teil bildeten 26 Bestimmungen mit einer Art Geschäftsordnung für eine presbyterial-synodal verfasste Kirche. Für unsere Zusammenhänge ist die strukturelle Umrahmung der 53 Artikel der Generalia und das die 26 Bestimmungen der presbyterial-synodalen Geschäftsordnung durchziehende regulative Prinzip besonders aussagekräftig. Charakteristisch für die prinzipielle Ausrichtung der Generalia ist ihr vielzitierter Eingangsartikel. Darin hielten die Synodalen in anti-römischer Positionierung ihr Grundsatzanliegen fest, dass es in der Kirche keine Hierarchie geben dürfe. In der damaligen deutschen Übersetzung, die man von dem auf Latein abgefassten Original alsbald angefertigt hat, klingt das wie folgt: »Es soll kein kirch, kein diener [= Prediger], kein eltester, kein diack einigen vorschub [= Primat] noch herschungh uber den anderen haben, sondern sollen sich vielmehr alles argwohns und boser gelegenheit vermeiden«.

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Mit einer solchen antihierarchischen Bestimmung meinten die in Emden Zusammengekommenen freilich nicht das andere Extrem, etwa einen uneingeschränkten Kongregationalismus im Sinne der absoluten Autonomie der Einzelgemeinde. Um dieser Gefahr zu wehren, die gerade unter den Bedingungen des Exils akut war, schlossen die Synodalen die Generalia mit einem Artikel ab, in dem sie die kirchenrechtlich bindende Kraft der übergemeindlichen Synodalbeschlüsse betonten und auf diese Weise die Idee der Gesamtkirche wachhielten. Der Artikel 53 lautet nämlich: »Diese articulen, zu der rechter ordnungh der kirchen gehörendt, seind also mit einmutigem sinne uffgesatzt. Doch das dieselb nach nutz der kirchen jederzeit geendert, gemehret und gemindert mögen und sollen werden, das soll in macht keiner besonderer kirchen [= Einzelgemeinde] sein, sonderen sollen allen fleiß anwenden, daß diese ordnungh so lang gehalten werde, biß das auf dem synodo anders verordnet werde.« Das reibungslose Zusammenspiel zwischen der Einzelgemeinde und den über sie hinausgehenden gesamtkirchlichen Strukturen sollte nach der Meinung der Emder Synodalen jedenfalls von dem sogenannten Subsidiaritätsprinzip gewährleistet werden. Auch wenn dieses Prinzip begrifflich nicht artikuliert wurde, ist es in den 26 Bestimmungen für eine presbyterial-synodal verfasste Kirche deutlich erkennbar. Vor allem jene Artikel, welche die Entscheidungswege der Gesamtkirche von der konsistorial geleiteten Gemeinde über die Classical- und Provinzsynoden bis hin zu den Generalsynoden ins Auge fassten, sind von ihm durchdrungen. So wird in Artikel 3 bezüglich der Classicalversammlungen festgehalten, dass auf dieser Ebene solche Fragen behandelt werden sollten, die vom Konsistorium auf Gemeindeebene nicht gelöst werden konnten. Und Artikel 1 der Bestimmungen für die Provinzsynoden hält ausdrücklich fest, dass die von den Classicalversammlungen zu den Provinzsynoden Delegierten nur die Fragen mitzubringen hätten, die auf den vorangegangenen zwei Ebenen nicht entschieden werden konnten oder alle angingen: »Wer zur Provinzsynode entsandt wird, soll ein Bestätigungsschreiben und die vorzulegenden Fragen in schriftlicher Form mitbringen. Dabei wird nur das aufgeschrieben, was in den Konsistorien und Versammlungen der Classes nicht entschieden werden konnte oder was alle Gemeinden der Provinz angeht. Die Provinzsynode soll nicht durch unnötige Fragen aufgehalten werden.« Entsprechendes sollte auch für die Generalsynoden gelten, deren genaue Durchführung die Teilnehmer der Emder Synode allerdings nicht näher definierten.

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Zusammenfassend lässt sich im Hinblick auf die Bedingungen der Emder Synode und ihre Grundsatzentscheidungen Folgendes festhalten. Erstens: Es war eine Kirchenversammlung von Exulanten, einberufen und beschickt überwiegend von Mitgliedern der niederländischen Flüchtlingsgemeinden, die in den Nachbargebieten der Niederlande Zuflucht vor den Repressalien der katholischen Obrigkeiten gefunden hatten. Man kam nach Emden, um über kirchenorganisatorische Verhältnisse zu beraten und um Lösungen zu finden, die den Bestand der Gemeinden im Sinne einer Gesamtkirche gewährleisteten. Dies schlug sich – zweitens – in der Grundidee und dem regulativen Prinzip der Beschlüsse nieder. Bedacht auf den Aufbau einer nicht-hierarchisch verfassten presbyterial-synodalen Kirchenstruktur suchten die Synodalen zugleich die Gefahren einer absoluten Autonomie der Einzelgemeinden zu vermeiden. In ihren Augen eignete sich hierfür das später so genannte Subsidiaritätsprinzip am besten, welches das Zusammenspiel zwischen der Einzelgemeinde und den über sie hinausgehenden gesamtkirchlichen Strukturen von Classicalversammlungen, Provinz- und Generalsynoden ermöglichen sollte. Kurz und bündig: Als eine kleine Schar der meist in fremder Umgebung Weilenden versammelt, fassten die Emder Synodalen knapp gehaltene, aber wohlüberlegte Entscheidungen. Damit legten sie den Grundstein für die reformierte Kirche in den Niederlanden und am Niederrhein. Entscheidungsfreudig und von dem Bewusstsein getragen, eine egalitär verfasste Gesamtkirche aufzubauen, vermochten sie eine vorbildliche presbyterial-synodale Kirchenordnung zu entwerfen. Auf diese Weise lenkten die Emder Synodalen ihre eigene Kreuzeserfahrung in positive Bahnen, gemäß dem tröstlichen Wort des Herrn: »Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.« Amen.

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Ein fragiles Wagnis Überlegungen zur Aktualität der Emder Synode1

Die Emder Synode von 1571, deren 450jähriges Jubiläum in diesem Jahr gefeiert wurde, hat für die kirchliche Ordnung und das damit verbundene Selbstverständnis des reformierten Protestantismus eine prägende Bedeutung. Im städtischen Zeughaus versammelten sich Vertreter der in den Niederlanden ›unter dem Kreuz‹ – also im Untergrund – lebenden reformierten Gemeinden einerseits und der in deutschen Territorien entstandenen niederländischen Flüchtlingsgemeinden andererseits, um gemeinsam zu überlegen, wie sich trotz räumlicher Entfernung, angesichts verschiedener Prägungen und in betonter Wahrung der jeweiligen Selbständigkeit gleichwohl organisatorische Formen der Verbindung und des Zusammenhalts finden lassen.2 Es handelte sich also um eine niederländische Synode auf deutschem Boden – mit der Aufgabe, die weit verstreuten Gemeinden zu einer gemeinsamen niederländisch-reformierten Kirche zusammenzuführen. Dabei war Emden als Versammlungsort keineswegs zufällig gewählt. Seit den 1540er Jahren lebten dort niederländische Flüchtlinge – in den 1570er Jahren stellten sie fast die Hälfte der Emder Einwohnerschaft; zudem gab es seit 1554 eine französischsprachige niederländische Gemeinde.3 Das in Heidelberg verfasste Einladungsschreiben zur Synode benennt die Aufgabe der Versammlung, lässt aber zugleich die Vorbehalte erkennen, die dem Vorhaben entgegenschlugen: »Wir sind überzeugt, dass dringend etwas im Interesse und zum Nutzen unserer niederländischen Gemeinden geschehen muss. Keiner soll dieses Vorhaben falsch verstehen, als ob wir uns irgendein Recht oder eine Autorität über die Gemeinden Christi anmaßen 1 Vortrag in der Evangelisch-Reformierten Gemeinde Göttingen am 23. Juli 2021 im Rahmen einer Festwoche zum Emder-Synoden-Jubiläum. 2 Vgl. dazu und zum folgenden den geschichtlichen Überblick bei Matthias Freudenberg / ​ Aleida Siller, Emder Synode 1571. Wesen und Wirkungen eines Grundtextes der Moderne, Göttingen 2020, 15–66. 3 Vgl. Freudenberg / Siller, Emder Synode 1571, 16 f.

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oder uns gar heimlich in sie einschleichen. […] Wir wollen lediglich einen Weg aufzeigen, auf dem mit vereinten Sinnen und Herzen eine heilsame Ordnung unter uns aufgerichtet werden kann.«4 Damit ist der Grundton gesetzt. Es geht um die Etablierung einer kirchlichen Ordnung, welche den Zusammenhalt der re­formierten Gemeinden sichert und es ermöglicht, eventuelle Streitfragen in geregelter Weise auszutragen – ohne im Gegenzug die Freiheit und Selbständigkeit der einzelnen Gemeinden über Gebühr einzuschränken. Die Ergebnisse der Beratungen tragen diesem Anliegen Rechnung. Zunächst heißt es programmatisch: »Keine Gemeinde soll über andere Gemeinden, kein Pastor über andere Pastoren, kein Ältester über andere Älteste, kein Diakon über andere Diakone Vorrang haben oder Herrschaft beanspruchen.«5 Damit ist dem bis dahin gängigen hierarchisch-episkopalen Kirchenverständnis  – sei dieses römisch-katholisch oder auch lutherisch geprägt – der Boden entzogen. An dessen Stelle tritt ein strikt egalitär-synodales Modell, welches die Kirche von ihren Mitgliedern und Gemeinden her aufbaut. Im Mittelpunkt stehen die – jeweils selbständigen – Ortsgemeinden mit ihren Presbyterien. Sie treten in regelmäßigen Abständen zu regionalen Classes zusammen; die nächste Stufe bilden die Provinzsynoden, alle zwei Jahre soll dann schließlich eine Generalsynode aller niederländischen Gemeinden tagen. Entscheidend ist nun, dass die ›höheren‹ Ebenen keineswegs umstandslos das Recht haben, in die Belange der ›niederen‹ Ebenen einzugreifen. Vielmehr wird gerade umgekehrt gedacht: Die Ortsgemeinden sind und bleiben selbständig; die Aufgabe der Classes, Provinz- und Generalsynoden besteht lediglich darin, die gemeinschaftliche Verbundenheit und wechselseitige Unterstützung der Gemeinden zu gewährleisten, ihnen – wo möglich – Entlastung zu schaffen und sich nur mit solchen Fragen zu befassen, die auf den jeweils ›niedrigeren‹ Ebenen nicht haben entschieden werden können. Durchgängig sind die Beschlüsse der Emder Synode von der Absicht getragen, dass in und zwischen den Gemeinden ein Geist gegenseitiger Anerkennung und wechselseitigen Einvernehmens herrschen möge. Es geht darum, gerade angesichts der prekären Lage im Exil oder ›unter dem Kreuz‹ ein hohes Maß an Gemeinsamkeit und Einmütigkeit zu bewahren – und eben deshalb Streit, Spaltung oder gar Zersplitterung möglichst zu vermeiden. Im Folgenden soll es nun nicht darum gehen, einen historisch-kirchengeschichtlichen Blick auf die Emder Synode zu werfen – also die Vorgeschichte, 4 Das Einladungsschreiben zur Emder Synode, in: Freudenberg / Siller, Emder Synode 1571, 67–70, hier 67. 5 Die Akten der Emder Synode, in: Freudenberg / Siller, Emder Synode 1571, 71–92, hier 71.

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den Verlauf und die Nachwirkungen der Emder Synode aufzuschlüsseln. Vielmehr soll der Versuch unternommen werden, aus gegenwärtiger Perspek­ tive nach der bleibenden oder vielleicht gar unabgegoltenen Aktualität der Emder Synode und ihrer Beschlüsse zu fragen – und zwar weniger für die Kirche und ihre innere Ordnung als vielmehr für unsere Gesellschaft und das politisch-demokratische Gemeinwesen. Denn nicht selten war im Vorfeld des Jubiläums der Emder Synode davon die Rede, dass ihre Beschlüsse eine weit über den Horizont der Kirche hinaus reichende politisch-gesellschaftliche Wirkung entfaltet hätten. Exemplarisch wird dann zumeist auf das sogenannte Subsidiaritätsprinzip verwiesen, das nach dem Grundsatz ›So niedrig wie möglich und so hoch wie nötig‹ die möglichst weitreichende Selbständigkeit der lokalen und regionalen Hierarchieebenen betont. Obgleich nicht dem Namen nach, habe es doch der Sache nach seine Wurzel in jener Bestimmung der Emder Synode, der zufolge den höheren Provinz- und Generalsynoden nur vorgelegt werden solle, »was in den Konsistorien und Versammlungen der Classes nicht entschieden werden konnte oder was alle Gemeinden der Provinz angeht«.6 Auf den ersten Blick erscheint diese Genealogie schlagend, und in der Tat war es der Emder Stadtsyndikus Johannes Althusius, der den Subsidiaritätsgedanken zu Beginn des 17. Jahrhunderts in seinen bahnbrechenden Entwurf einer allgemeinen Staatslehre aufnahm.7 Bei näherem Hinsehen jedoch erhält dieses Bild schon bald Risse. Denn zum einen finden sich entsprechende Motive bereits bei den Polis-Stadtstaaten im alten Griechenland; zum anderen beginnt die ›moderne‹ Geschichte des Subsidiaritätsprinzips erst im Jahre 1891 mit der Enzyklika Rerum novarum von Papst Leo XIII. Es liegt auf der Hand, dass er sich wohl kaum auf reformierte Traditionen beruft; vielmehr stehen hier mit Aristoteles und Thomas von Aquin eigene Säulenheilige Pate. Das bedeutet: Man sollte vorsichtig sein gegenüber allzu vorschnellen Versuchen, die Errungenschaften der Moderne auf das Konto des Protestantismus oder gar des Reformiertentums zu buchen. Zum einen sind solche Herkunftsgeschichten schlicht zu schön, um wahr zu sein. Es muss eine Reihe verschiedener Faktoren zusammenkommen, bis sich ein Gedanke erfolg6 Provinzsynoden, Art. 1 in: Freudenberg / Siller, Emder Synode 1571, 85 f. 7 Vgl. Johannes Althusius, Politica methodice digesta et exemplis sacris et profanes illustrata, Herborn 1603. Zur Geschichte des Subsidiaritätsprinzips vgl. insbesondere Peter ­Blickle / Thomas Hüglin / Dieter Wyduckel (Hg.), Subsidiarität als rechtliches und politisches Ordnungsprinzip in Kirche, Staat und Gesellschaft, Berlin 2002.

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reich in der gesellschaftlichen Wirklichkeit festsetzen und entsprechende Wirkungen entfalten kann. Zum anderen aber – und darauf kommt es vor allem an  – können derlei Betrachtungen einen durchaus zweischneidigen Effekt haben. Denn mit der Behauptung eines geschichtlichen Ursprungs ist über die aktuelle Bedeutung dieses Ursprungs noch nichts ausgesagt. Selbst wenn die Moderne von der Reformation ihren Ausgang genommen hätte, wäre über die gegenwärtige Bedeutung der Reformation damit nichts entschieden – ganz im Gegenteil: Es könnte ja sein, dass die Reformation mit dem Anstoß zur Moderne ihren weltgeschichtlichen Auftrag vollbracht und sich nun mehr und mehr überlebt hat. Gerade das Reformiertentum hat mit dieser Zweischneidigkeit historischer Genealogien bereits seine Erfahrungen machen müssen. Es war niemand anders als der Gründervater der Soziologie, Max Weber, der in seiner Protestantischen Ethik den Calvinismus – näherhin dessen US -amerikanische Spielart des Puritanismus – dafür feierte, mit seinem asketischen Berufsethos den notwendigen Anstoß gegeben zu haben für den Durchbruch des modernen Kapitalismus.8 Doch statt aus dieser Genealogie Funken zu schlagen für die bleibende Gegenwartsbedeutung des Calvinismus, leitete Max Weber dann zum klagenden Abgesang auf die Religion über. Sie habe ihren geschichtlichen Auftrag erfüllt und sei nun nur mehr ein verblassendes, absterbendes Relikt vergangener Zeiten.9 Diese Falle gilt es zu vermeiden. Daher soll im Folgenden nicht das prachtvolle Gemälde einer vom reformierten Emden ausgehenden Erfolgsgeschichte etwa des Subsidiaritätsgedankens gemalt werden, um dann wehrlos der Frage ausgesetzt zu sein, ob es zur gegenwärtigen Pflege und zukünftigen Weiterentwicklung dieser Errungenschaft des ursprünglichen reformierten Erblassers noch bedarf. Stattdessen legt es sich nahe, einmal umgekehrt anzusetzen und von einer kritischen Betrachtung der heutigen gesellschaftlichpolitischen Gegenwartslage aus die Frage zu stellen, ob und in welcher Weise sich eine Rückbesinnung auf die Beschlüsse der Emder Synode vielleicht als fruchtbar und hilfreich erweisen könnte. Es geht dann nicht um historische Erbschaftsstreitigkeiten, sondern um sachliche Merkposten, Einsichten und Anregungen. Zwei exemplarische Problemfelder seien benannt.

8 Vgl. Max Weber, Die protestantische Ethik und der »Geist« des Kapitalismus, in: ders., Asketischer Protestantismus und Kapitalismus. Schriften und Reden 1904–1911, hg. von Wolfgang Schluchter, Tübingen 2014 (MWG I/9), 97–425. 9 Vgl. Weber, Ethik, 421–423.

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I. Unermüdlich betont Jürgen Habermas, exemplarisch und eindringlich etwa im Postskriptum seines großen Spätwerks Auch eine Geschichte der Philosophie10, dass die demokratische Ordnung eines Gemeinwesens einen tragenden politischen Wertkonsens der jeweiligen Bürgerinnen und Bürger voraussetzt – eine gleichsam eingelebte ›Sittlichkeit‹11 in Form gemeinsam geteilter Wertüberzeugungen, welche die gleichberechtigte Anerkennung des jeweils Anderen zum Ausdruck bringen, die Ordnungen und Regeln des Miteinanders festlegen und zumal bei Auseinandersetzungen und Konflikten die gemeinsame Akzeptanz der jeweiligen Entscheidungsverfahren sicherstellen. Kurzgefasst: Jede demokratische Verfassungsordnung bedarf eines ihre normative Kraft verbürgenden vorpolitischen Gemeinsinns. Oder mit den berühmten Worten Ernst-Wolfgang Böckenfördes: »Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.«12 Nun hat sich in Deutschland mit dem Übergang in die postsäkularmultireligiöse Gesellschaft seit der Wiedervereinigung ein tiefgreifender Wandel vollzogen. Die Prägekraft des historisch gewachsenen und vornehmlich christlich bestimmten Werterahmens nimmt deutlich ab; im Gegenzug wächst die Aufgabe der Integration kultureller und kollektiver Minderheiten, die ihrerseits Anspruch auf soziale und politische Gleichberechtigung erheben. Auf der einen Seite also kann die gemeinsame politische Lebensform nicht mehr ausreichend von einer historisch gewachsenen ›Sittlichkeit‹ zehren; auf der anderen Seite jedoch steigen die Anforderungen, auf der Ebene der politischen Kultur ein gemeinsames Solidaritätsbewusstsein zu entwickeln, um die konfligierenden Auffassungen und Werthaltungen pluraler Traditionen, Kulturen und Minderheiten unter dem Dach einer gemeinsamen politischen Ordnung zusammenzuhalten. Das allein lässt schon fragen, wie diese Quadratur des Kreises gelingen können soll. Denn eine solche, von einem gleichsam »verfassungspatriotische[n] Gewebe«13 getragene politische Kultur lässt sich nicht einfach staatlich dekretieren oder mit rechtlich-administrativen Mitteln erzeugen. Vielmehr kann sie allein 10 Vgl. Jürgen Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Bd. 2: Vernünftige Freiheit. Spuren des Diskurses über Glauben und Wissen, Frankfurt a. M. 2019, 767–807. 11 Vgl. Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Bd. 2, 796. 12 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, Frankfurt a. M. 1991, 92–114, hier 112. Zur Debatte um dieses sogenannte ›Böckenförde-Theorem‹ vgl. Horst Dreier, Staat ohne Gott. Religion in der säkularen Moderne, München 2018, 189–214. 13 Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Bd. 2, 796.

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aus einer gemeinsamen staatsbürgerlichen Praxis erwachsen  – die freilich ihrerseits nur dauerhaft Bestand haben kann, wenn ihr eine solche solidaritätsstiftende politische Kultur bereits zugrunde liegt.14 Doch es kommt noch eine weitere Komplikation hinzu. Denn vor dem Hintergrund dieser als solcher bereits angespannten Konstellation drängt sich heute eine Reihe globaler Probleme auf, welche – weit über die nationalstaatlichen Grenzen hinaus – eine verstärkte internationale Zusammenarbeit notwendig machen. Zu denken ist hier an die Regulierung der internationalen Finanz- und Kapitalmärkte, an die Gefahren oligopolistischer Medienkonzerne – wie Google, Facebook oder Apple –, aber selbstverständlich auch an die heraufdämmernde Katastrophe des Klimawandels oder die Herausforderungen durch die internationalen Migrations- und Flüchtlingsströme. Trotz der hier dringend notwendigen Kooperationen sind es doch immer noch vor allem nationalstaatliche Akteure, Interessen und Agenden, welche das politische Handeln bestimmen. Angesichts der nur sehr eingeschränkten Durchschlagskraft der Vereinten Nationen oder der Europäischen Union – die zudem beide in ihren Entwicklungen stagnieren – sei ›global governance‹, wie Habermas bitter bemerkt, ein schlichter Euphemismus: »Trotz des beschleunigten Wachstums eines dichten Netzes internationaler Organisationen steht der über Weltmärkte zusammengewachsenen Weltgesellschaft als politischer Akteur nur eine nach wie vor fragmentierte Staatenwelt gegenüber.«15 Der entscheidende Punkt liegt jedoch noch an anderer Stelle. Denn für das Funktionieren transnationaler Demokratien wie etwa der Europäischen Union bedarf es ebenfalls einer gemeinschaftsstiftenden und -sichernden politischen Kultur. Ob und wie sich eine solche »sittliche Substanz«16 entwickeln kann, erscheint jedoch sehr fraglich. Die harten und tiefgreifenden Konflikte, welche  – zumal nach dem Brexit  – zwischen der Europäischen Union und den osteuropäischen Mitgliedstaaten Polen und Ungarn aufgebrochen sind, machen schmerzhaft bewusst, dass bisher jedenfalls ein gemeinsamer ›europäischer Geist‹, eine gemeinsame politische Kultur fehlen, aus welchen die demokratische Willensbildung in Europa ihre Kraft ziehen könnte. Das aber bedeutet: Auf der einen Seite bedarf es für die Lösung der globalen Herausforderungen unserer Zeit handlungsfähiger transnationaler Ordnungen; auf der anderen Seite ist nicht zu erkennen, aus welchen Quellen 14 Vgl. Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Bd. 2, 796 f. 15 Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Bd. 2, 799 f. 16 Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Bd. 2, 800.

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sich die für das Funktionieren solcher Ordnungen notwendige gemeinsame politische Kultur speisen könnte. Dabei geht es um weit mehr als nur ein akademisches Problem. Denn die doppelte Erfahrung nationalstaatlicher Überforderung einerseits und transnationaler Defizite andererseits lässt bei den Bürgern ein wachsendes Gefühl politischer Ohnmacht aufkommen und untergräbt damit die allgemeine Akzeptanz der bestehenden politischen Ordnung. Das bedeutet: Auf der einen Seite macht der Schwund einer geschichtlich eingelebten ›Sittlichkeit‹ die Einübung einer gemeinsamen staatsbürgerlichen Praxis, also die je eigene Mitwirkung am demokratischen Willensbildungsprozess nur um so dringlicher, damit es gelingt, den nicht mehr einfach vorweg gegebenen Gemeinsinn auszubilden, zu stärken und zu stabilisieren. Auf der anderen Seite jedoch erscheinen die politischen Entscheidungsprozesse zunehmend intransparent und unbeeinflussbar, während sich die nationalen Öffentlichkeiten, »in die viele relevante Themen gar nicht mehr vordringen, […] in Arenen der Ablenkung und der Verdrossenheit und zunehmend auch des nationalistischen Ressentiments«17 verwandeln. Für den Einzelnen wird damit fraglich, ob und in welcher Weise es überhaupt noch sinnvoll ist, sich politisch zu engagieren, an den jeweiligen politischen Debatten und Entscheidungsprozessen mitzuwirken und so für eine Verbesserung der bestehenden Lebensverhältnisse einzutreten. In dieser drohenden Verkümmerung der motivationalen Ressourcen, der Durchsetzung eines resignativen Defätismus erblickt Habermas die größte Gefahr unserer gegenwärtigen Zeit: Wozu noch für die Verbesserung der Welt eintreten, wenn sich ohnehin nichts ändern lässt? Was hat dieses düstere Krisenszenario nun mit der Emder Synode zu tun? Warum könnte es sinnvoll sein, sich angesichts dieser Sachlage an die Einsichten und Beschlüsse der Emder Synode zu erinnern? Hier lohnt sich jetzt ein näherer Blick auf das, was als Ursprung des modernen Subsidiaritätsprinzips bezeichnet wird. Zur Erinnerung: Es geht darum, dass die reformierten Gemeinden ihre Angelegenheiten möglichst selbständig und in eigener Verantwortung regeln sollen. Den jeweils höheren Ebenen – also den Provinz- und Generalsynoden – möge nur jeweils das vorgelegt werden, »was in den Konsistorien und Versammlungen der Classes nicht entschieden werden konnte oder was alle Gemeinden der Provinz angeht«.18 Das bedeutet: Die jeweils höheren Ebenen kommen nur und erst dann ins Spiel, wenn 17 Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Bd. 2, 801. 18 Die Akten der Emder Synode, in: Freudenberg / Siller, Emder Synode 1571, 71–92, hier 85 f.

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eine bestimmte Frage innerhalb der Ortgemeinde und ihrer Classis selbst nicht geklärt werden kann oder es einen alle Gemeinden betreffenden Regelungsbedarf gibt; zugleich bleibt deren Autorität und Reichweite auf diese allgemeine Regelungsebene beschränkt. Darin wirkt sich natürlich ein gegen die römisch-katholische Amtshierarchie, aber wohl auch gegen das landesherrliche Kirchenregiment gerichteter strikt antihierarchischer Grundzug aus. Entscheidender jedoch ist Folgendes: Die ›Gemeindevorrangregel‹ – wie sie jetzt einmal genannt sei – sichert mit der Selbständigkeit der Gemeinde zugleich die Teilhabe des einzelnen Mitglieds an den Entscheidungen dieser Gemeinde.19 Indem die Gemeinde selbst die maßgebliche Entscheidungsebene bleibt, sind die entsprechenden Prozesse transparent und bleibt das einzelne Mitglied nachvollziehbar in diese Prozesse eingebunden. Anders formuliert: Es kommt bleibend auf den einzelnen Christenmenschen und seine Mitwirkung in der Gemeinde an. Sein Engagement und seine Partizipation werden gerade nicht durch undurchsichtige ›Weisungen einer höheren Behörde‹ ausgebremst oder außer Kraft gesetzt, sondern durch die erklärte Nichthintergehbarkeit der gemeindlichen Selbständigkeit vielmehr gestärkt und gefördert. Das mutet dem einzelnen Christenmenschen viel zu und verlangt auch der versammelten Gemeinde bisweilen viel ab. Aber damit wird eben diejenige ›politische‹ Praxis und Kultur eingeübt, die mit ihrem solidaritätsstiftenden Gemeinsinn auch der übergemeindlichen Ordnung mit ihren Entscheidungsprozessen den notwendigen Rückhalt gibt. Vielleicht sei mir eine kurze Seitenbemerkung gestattet: In der einschlägigen Forschung wird seit einiger Zeit betont, dass gerade die protestantische Synodalkultur zur Etablierung eines staatsbürgerlich-demokratischen Gemeinsinns in der jungen Bundesrepublik einen nicht zu unterschätzenden Beitrag geleistet habe – und zwar eben dadurch, dass durch die synodale Einbeziehung der Mitglieder in die kirchlichen Entscheidungsprozesse ein gleichsam ›demokratiekultureller‹ Lernprozess in Gang gebracht worden sei.20

19 Das gilt unbeschadet dessen, dass in den Beschlüssen der Emder Synode von der Rolle des einzelnen Mitglieds innerhalb der Gemeinde gar keine Rede ist. Anders formuliert: Die strikte Egalitätsverpflichtung im ersten Artikel der Synodenbeschlüsse (vgl. Freudenberg / Siller, Emder Synode 1571, 71) gilt allein dem Verhältnis zwischen den Gemeinden, nicht den Rangverhältnissen innerhalb einer Gemeinde. 20 Vgl. dazu Reiner Anselm, Protestantismus und Demokratie in historischer Längsschnittperspektive, in: Hans Michael Heinig (Hg.), Aneignung des Gegebenen. Entstehung und Wirkung der Demokratie-Denkschrift der EKD, Tübingen 2017, 1–22.

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Nun wäre es überaus kurzschlüssig, angesichts der eben skizzierten globalen Herausforderungen und Probleme einfach nur ein Loblied auf die Wahrung regionaler, föderaler oder gar nationaler Selbständigkeit anzustim­men. Auch wenn der bundesdeutsche Föderalismus sich auf vielen Gebieten bewährt, muss man doch zugeben, dass die Herausforderungen der gegenwärtigen Corona-Pandemie schonungslos auch die Grenzen seiner Belastungsfähigkeit haben zutage treten lassen. Und an dem schlichten Umstand, dass die globalen Probleme unserer Zeit nur von entsprechend handlungsfähigen transnationalen Organisationen und Akteuren in Angriff genommen werden können, führt ebenfalls kein Weg vorbei. Mithin geht es nicht an, niedere und höhere Ebenen einfach gegeneinander auszuspielen. Auch wenn die Europäische Union in vielen Dingen intransparent, schwerfällig und nur wenig handlungsfähig erscheint, sind Europamüdigkeit oder gar die Ablehnung der europäischen Einigung keine akzeptablen Auswege. Doch auch hier kann die Emder Synode einen Impuls geben. Auch sie spielt ja die verschiedenen Ebenen keineswegs gegeneinander aus. Neben der Gemeindeebene hat auch die Ebene der Provinz- und Generalsynode ihr unverzichtbares Recht; sonst wäre es zur Synode selbst ja gar nicht gekommen. Entscheidend ist vielmehr die Wahrung des rechten Ausgleichs zwischen den verschiedenen Ebenen, indem etwa Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten klar geregelt und gegeneinander abgegrenzt werden – und indem betont beides festgehalten wird: die Selbständigkeit der einzelnen Gemeinden ebenso wie ihre Zusammengehörigkeit in der einen Kirche. Das Geheimnis besteht darin, dass die Selbständigkeit der Gemeinde die Notwendigkeit von ›lokalen‹ Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen impliziert, die in dem Maße, in dem die Einzelnen an ihnen mitwirken und in sie eingebunden sind, die Ausbildung eben jenes solidaritätsstiftenden Gemeinsinns befördern, der für das Gedeihen der Gesamtkirche und ihres Ordnungsgefüges unverzichtbar ist. Die Beschlüsse der Emder Synode lassen sich als das Gründungsdokument einer gerade im Entstehen befindlichen Kirche verstehen – mit dem die Mitglieder der Synode vorsichtig, behutsam und sensibel auszuloten versuchen, wie es gelingen kann, die verstreuten Gemeinden ›unter dem Kreuz‹ in ihrer Selbständigkeit zu bewahren und doch zugleich zu einem gemeinsamen, als Gemeinschaft erkennbaren und einander solidarisch verbundenen Ganzen zusammenzuführen. Vielleicht liegt eben darin der gerade für unsere Zeit hilfreiche Hinweis: dass der Ausgleich zwischen Wahrung der Selbständigkeit und notwendiger Handlungsfähigkeit auf der Gesamtebene eine heraus-

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fordernde Angelegenheit ist, die nicht ein für alle Mal behauptet und dekretiert werden kann, sondern immer wieder neu kritisch überprüft, sensibel austariert und für die Zukunft gewonnen werden muss. II.

Das zweite Problemfeld nimmt die antihierarchisch-egalitäre Stoßrichtung der Emder Synode auf, wie sie betont im ersten Artikel der dortigen Beschlüsse zum Ausdruck kommt: »Keine Gemeinde soll über andere Gemeinden, kein Pastor über andere Pastoren, kein Ältester über andere Älteste, kein Diakon über andere Diakone Vorrang haben oder Herrschaft beanspruchen. Sie sollen lieber dem geringsten Verdacht und jeder Gelegenheit dazu aus dem Weg gehen.«21 Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass dieser Artikel nicht das innere Verhältnis zwischen Amtsträgern und Gemeindemitgliedern betrifft, sondern vor allem auf das Verhältnis zwischen den Gemeinden zugeschnitten ist. Hier soll strikt darauf geachtet werden, dass sich die Gemeinden wechselweise als gleichrangig anerkennen. Keine Gemeinde soll sich über andere erheben, Vorrang beanspruchen oder gar Vorschriften machen dürfen. Die nachfolgenden Bestimmungen zeigen dann, worauf diese erklärte Gleichrangigkeit zielt: Es geht um den vorsichtig tastenden Versuch, die verstreuten reformierten Gemeinden zu einer kirchlichen Einheit zusammenzuschließen, ohne hierarchische Autoritäten einzuführen und die jeweilige Selbständigkeit der Einzelgemeinden zu beschneiden. Offenbar will man im Respekt vor dem jeweiligen Anderssein des Anderen einander nicht zu nahe treten, Streit, Zwist und Ärger nach Möglichkeit vermeiden oder zumindest eindämmen – und gleichwohl dazu kommen, in der Vielzahl der Einzelgemeinden zugleich die eine Kirche Jesu Christi erkennbar werden zu lassen. »Keiner soll dieses Vorhaben falsch verstehen«, heißt es entsprechend im Einladungsschreiben, »als ob wir uns irgendein Recht oder eine Autorität über die Gemeinden Christi anmaßen oder uns gar heimlich in sie einschleichen. Auch wenn im Hintergrund unseres Schreibens die leidenschaftliche Gesinnung zugunsten der Gemeinden Christi steht, wollen wir nicht selbstherrlich auftreten und Vorschriften machen. Wir wollen lediglich einen Weg aufzeigen, auf dem mit vereinten Sinnen und Herzen eine heilsame Ordnung unter uns aufgerichtet werden kann.«22 21 Die Akten der Emder Synode, in: Freudenberg / Siller, Emder Synode 1571, 71–92, hier 71. 22 Das Einladungsschreiben zur Emder Synode, in: Freudenberg / Siller, Emder Synode 1571, 67–70, hier 67.

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Entscheidend ist die Formulierung »mit vereinten Sinnen und Herzen«. Sie benennt die unabdingbare Voraussetzung, damit ein solches Unterfangen gelingen kann. Es müssen alle an einem Strang ziehen, ja mehr noch: Es muss eine gemeinschaftliche Verbundenheit gegeben sein, damit der anspruchsvolle Spagat gelingen kann, aus Vielem eine Einheit werden zu lassen, die zugleich das Viele bewahrt. Man darf sich das nicht zu naiv vorstellen: Vielfalt ist keineswegs immer nur ein buntlebendiger Strauß von Verschiedenem, das sich wechselseitig bereichernd nebeneinanderstellen lässt. Vielmehr kann Vielfalt auch durchaus anstrengend sein. Früher oder später führt sie zu Streit und Konflikt – wenn aus dem Nebeneinander ein Gegeneinander wird, wenn Unvereinbarkeiten zutage treten, wenn um Aufmerksamkeit gerungen wird oder einfach Unverträglichkeiten hinzukommen. Mithin lautet die entscheidende Frage, wie es gelingen kann, mit solchen Konflikten so umzugehen, dass nicht hinterrücks doch hierarchische Autoritäten eingeführt und unliebsame Auffassungen schlicht ausgegrenzt werden oder umgekehrt die Gemeinschaft im unversöhnlichen Streit auseinanderbricht. Damit ist eine Grundfrage der politischen Kultur und Auseinander­setzung in liberal-demokratischen Gesellschaften benannt. Die Lösung dafür bietet das Instrument der auf Ausgleich und Kompromiss ausgerichteten politischen Debatte. Der Konflikt soll so ausgetragen werden, dass die streitenden Positionen und Auffassungen gleichrangig zur Geltung kommen und dann in geregelten Verfahren nach Kompromissen und Lösungen gesucht wird, die zum einen die Rechte der unterlegenen Minderheit wahren und zugleich zum anderen von allen Beteiligten als verbindliche Entscheidungen akzeptiert werden können. Gegenwärtig ist freilich zu sehen, dass eben dieses demokratische Leitbild von populistischen Strömungen zunehmend in Frage gestellt wird. Es scheint, dass die gleichsam selbstverständliche Geltung derjenigen politisch-verfassungspatriotischen Kultur, wie sie sich in der Geschichte der Bundesrepublik herausgebildet hat, seit einiger Zeit deutlich an Rückhalt verliert – dass eben dieses Ethos gemeinsamer Verständigung mit den entsprechenden Verhaltensweisen und Spielregeln nicht mehr allgemein geteilt wird. Möglicherweise wirken sich hier die Folgen eben jener Entwicklungen aus, die vorhin grob skizziert worden sind. Auffällig ist jedenfalls, dass das liberale Ethos des Diskurses – die wechselseitig unterstellte Erwartung also, im freien und vernünftigen Austausch von Gründen Konflikte zu lösen und, wenn nicht zu einer Einigung, so doch zu einer das gemeinsame Zusammenleben ermöglichenden Verständigung

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zu gelangen – zunehmend in die Defensive gerät. Das ist zum einen dort zu erkennen, wo populistische Akteure sich diesem Diskurs und seinem Verständigungsansinnen explizit verweigern. Zum anderen wird aber auch in der politischen Theorie das Diskursprinzip kritisch hinterfragt. Lassen sich wirklich alle politischen Streitfragen so behandeln, dass sie durch vernünftige Debatten und Diskurse entschärft und einer Lösung zugeführt werden können? Aus der Versenkung taucht dabei plötzlich Carl Schmitt wieder auf, der mit seiner scharfen Liberalismuskritik einst zu den Totengräbern der Weimarer Demokratie zählte. Seiner Überzeugung nach ist das elementare Kennzeichen des Politischen der Streit, geprägt durch die Grundunterscheidung von Freund und Feind. Es wäre gefährlich, so Schmitt, diese Konfliktsignatur des Politischen zu verharmlosen. Es gehe hier um einen Antagonismus, der nicht zerredet werden könne, sondern in dem es schlussendlich auf die Durchsetzung von Entscheidungen ankomme. Entsprechend lautet der Vorwurf Schmitts an den neuzeitlichen Liberalismus, durch seine Betonung von Diskurs und Verständigung dem Charakter des Politischen auszuweichen, Staat und Gesellschaft gleichsam zu entpolitisieren, der verhängnisvollen Illusion verfallen zu sein, dass sich durch vernünftige Debatten und Diskurse alle normativen Entscheidungsfragen lösen lassen – und so letztlich Staat und Gesellschaft in Beliebigkeit, Chaos und Zerfall zu stürzen. Für den Liberalismus bestehe das politische Ideal letztlich darin, »daß nicht nur die gesetzgebende Körperschaft, sondern die ganze Bevölkerung diskutiert, die menschliche Gesellschaft sich in einen ungeheuren Klub verwandelt und die Wahrheit sich auf diese Weise durch Abstimmung von selbst ergibt […]. Wie der Liberalismus in jeder politischen Einzelheit diskutiert und transigiert, so möchte er auch die metaphysische Wahrheit in eine Diskussion auflösen. Sein Wesen ist Verhandeln, abwartende Halbheit, mit der Hoffnung, die definitive Auseinandersetzung, die blutige Entscheidungsschlacht, könnte in eine parlamentarische Debatte verwandelt werden und ließe sich durch eine ewige Diskussion ewig suspendieren«.23 Solche Sätze lösen ein tiefes Unwohlsein aus, weil sie die populistische Grundhaltung wiedererkennen lassen, die sich darin ausspricht – die grundsätzliche Verachtung einer demokratischen Kultur, die auf Austausch und Anerkennung, Verständigung und Kompromiss angelegt ist. Hier wird das 23 Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, Berlin 7 1996, 66 f.

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Bemühen um Ausgleich und Verständigung als solches abgelehnt. Es geht dann nicht lediglich darum, dass in der politischen Arena gegensätzliche Auffassungen aufeinandertreffen, dass sich Gräben auftun, die zu überbrücken vor große Anstrengungen und Schwierigkeiten stellt. Die entscheidende Herausforderung besteht dann vielmehr darin, dass sich eine der beiden Seiten allen Versuchen, zu einer Verständigung zu kommen, grundsätzlich entzieht  – weil sie die diesen Versuchen zugrunde liegende liberal-demokratische Kultur grundsätzlich ablehnt und stattdessen daran interessiert ist, im kompromisslosen ›Kampf‹ den eigenen Machtanspruch durchzusetzen. Wie kann nun in dieser Konstellation die Erinnerung an die Emder Synode hilfreich sein? Natürlich könnte man nun darauf verweisen, dass doch gerade sie für jenen liberalen Geist der Verständigung steht, der von populistischer Seite so hart angegangen wird. Und in der Tat ist in den Akten immer wieder von der ›Einmütigkeit‹ die Rede, die in allen Konflikten zu bewahren und bei allen Entscheidungen anzustreben sei. Doch was ist mit dieser Erinnerung gewonnen? Wirkt es nicht auf geradezu rührende Weise hilflos, im Rückgang auf die Emder Synode den Geist einmütiger Verständigung zu beschwören, wenn das entscheidende Problem heute gerade darin besteht, dass das populistische Gegenüber an einer solchen Verständigung erklärtermaßen kein Interesse hat? Also nochmals: Erschöpft sich die Erinnerung an die Emder Synode darin, mit ihr einen Ursprungsort jenes Bemühens um Ausgleich und Verständigung zu feiern, das zur ›sittlichen Substanz‹ moderner, liberaldemokratisch verfasster Gesellschaften gehört? Oder kann uns die Emder Synode darüber hinaus auch eine Anregung geben für die Frage, wie wir unsere gegenwärtig zunehmend brüchiger werdende politische Kultur stabilisieren und lebendig erhalten können? Wird die Frage nach der Aktualität der Emder Synode auf diesen schwierigen Kernpunkt zugespitzt, sollte man sich vor allzu schnellen und selbstgewissen Antworten hüten. Darum sei hier zum Schluss auch nur eine vorsichtige Überlegung angedeutet. Die Emder Synode ist weit davon entfernt, ihr Bemühen um wechselseitige Anerkennung und Verständigung vollmundig als ein selbstverständlich geteiltes und fraglos geltendes Prinzip auszugeben. Vielmehr haben sich die Synodalen geradezu vorsichtig tastend darum bemüht, die verstreuten Gemeinden zu einer Kirche zu sammeln. Überdeutlich stand ihnen die Gefahr vor Augen, dass ihr Vorhaben einer Gemeinschaft selbständig und gleichrangig Verschiedener missverstanden werden oder auch schlicht scheitern könnte. Ihre Idee war, durch die gleichrangige Beteiligung aller Gemeinden an den gemeinsam zu regelnden Angelegenheiten den

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Wurzelboden für einen gleichsam reformierten ›Gemeinsinn‹ zu schaffen, für das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit zu einer Kirche, an deren Aufbau und Gedeihen alle gleichermaßen verantwortlich beteiligt sind. Anders formuliert: In Emden begann ein Experiment, dessen Ausgang alles andere als gewiss war und dessen Gelingen bis heute immer wieder neu auf der Kippe stand und steht. Gleiches gilt mithin für die daraus erwachsene politisch-demokratische Kultur: Sie ist, indem sie ein wechselseitiges Interesse an Ausgleich und Verständigung voraussetzt, überaus anspruchsvoll. Es wäre sträflich, sie einfach nur als gegebenen, sicheren Besitz hinzunehmen und sich der Aufgabe zu entschlagen, für ihre Förderung, Pflege und Weitergabe Sorge zu tragen. Diese Förderung wiederum schließt vor allem ein, durch die Beteiligung aller an der politischen Praxis und ihren Entscheidungsprozessen die gemeinschaftliche Anerkennung der Verbindlichkeit dieser Praxis und ihrer Verfahren zu stärken. Vielleicht ist es eben das, was die Aktualität der Emder Synode im Kern ausmacht: Sie hilft uns dazu, uns neu bewusst zu machen, dass unsere demokratisch-politische Kultur ein fragiles Wagnis ist, das unseres Einsatzes und Engagements wert ist, das dieses Einsatzes und Engagements aber auch unablässig bedarf. Das mag nicht allzu viel sein, ist aber doch auch nicht nichts. Und für das Gemeinwesen einzutreten und für seine Gestaltung Verantwortung zu übernehmen – das ist schließlich schon immer ein Merkzeichen reformierten Christseins gewesen.

Autorinnen und Autoren

Prof. Dr. Heinrich Bedford-Strohm, Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) bis November 2021 Prof. Dr. Kęstutis Daugirdas, Wissenschaftlicher Vorstand der Stiftung Johannes a Lasco Bibliothek Große Kirche Emden Prof. Dr. Dr. h. c. Irene Dingel, Direktorin des Leibniz-Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abteilung für Abendländische Religionsgeschichte Prof. Dr. Matthias Freudenberg, Landespfarrer bei der Evangelischen Studierendengemeinde Saarbrücken und Lehrbeauftragter an der Universität des Saarlandes und an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal Jeannette Galjaard, Vize-Präses der Protestantischen Kirche in den Niederlanden (PKN) bis November 2021 Dr. Martin Heimbucher, Kirchenpräsident der Evangelisch-reformierten Kirche bis Juli 2021 Tim Kruithoff, Oberbürgermeister der Stadt Emden Prof. Dr. Martin Laube, Professor für Systematische Theologie (Lehrstuhl für Reformierte Theologie) an der Universität Göttingen Dr. Wolfgang Schäuble MdB, Präsident des Deutschen Bundestages bis Oktober 2021 Dr. Klaas-Dieter Voß, Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung Johannes a Lasco Bibliothek Große Kirche Emden und Lehrbeauftragter am Institut für Evangelische Theologie der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg Herausgeberin Aleida Siller, Pastorin der Evangelisch-reformierten Kirche und bis Dezember 2021 Beauftragte für das Jubiläumsjahr der Emder Synode von 1571

Nachweis der Abbildungen

Abb. 1: Design nesseins Abb. 2: Design nesseins, unter Verwendung eines Ausschnittes aus der niederlän­ dischen Übersetzung der Emder Akten von Jan de Roye (1571), Historisches Archiv der Stadt Köln, Best._295_H_235 Geistliche Abt., Seite 1 Abb. 3: Design nesseins Abb. 4: Foto Axel Pries Abb. 5: Foto Axel Pries Abb. 6: Foto Axel Pries Abb. 7: Johannes a Lasco Bibliothek Abb. 8: Foto Klaas-Dieter Voß Abb. 9: Design nesseins