Einführung in den Bildungsroman 3534179129, 9783534179121

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Titel
Impressum
Inhalt
I. Gattungsbegriff
1. Begriffsbestimmung Bildungsroman
2. Herleitung des Begriffs
3. Abgrenzung des Bildungsromans vom Entwicklungs- und Erziehungsroman
II. Forschungsbericht
1. Erste Gattungsbestimmungen zum Roman im 18. Jahrhundert
2. Etablierung der Gattung Bildungsroman im 19. Jahrhundert
3. Traditionsbildungen und Revisionen im 20. und frühen 21. Jahrhundert
III. Entstehungsbedingungen der Gattung
1. Sozialhistorische Voraussetzungen
2. Die Idee der Bildsamkeit
3. Der Bildungsroman und flankierende Literaturgattungen
IV. Poetologische Bestimmungen
1. Form des Romantypus
2. Konzeption des Protagonisten
3. Kulturelle Bedeutung des Bildungsromans
V. Geschichte der Gattung
1. Tradition und Kanonisierung des männlichen Bildungsromans
2. Anfänge und Entfaltung des weiblichen Bildungsromans
3. Ausblick auf den interkulturellen Bildungsroman
VI. Analyse beispielhafter Bildungsromane
1. Christoph Martin Wieland: Geschichte des Agathon (1766/67)
2. Johann Wolfgang von Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96)
3. Novalis: Heinrich von Ofterdingen (1802)
4. Gottfried Keller: Der grüne Heinrich (1854/55)
5. Hermann Hesse: Siddhartha (1922)
6. Christa Wolf: Kindheitsmuster (1976)
7. Emine Sevgi Özdamar: Die Brücke vom Goldenen Horn (1998)
8. Ulla Hahn: Das verborgene Wort (2001)
Kommentierte Bibliographie
Synopse
Personenregister
Sachregister
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Einführung in den Bildungsroman
 3534179129, 9783534179121

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Einführungen Germanistik Herausgegeben von Gunter E. Grimm und Klaus-Michael Bogdal

Ortrud Gutjahr

Einführung in den Bildungsroman

Wissenschaftliche Buchgesellschaft

Einbandgestaltung: Peter Lohse, Büttelborn Abbildung: Symbolische Darstellung der Durchbrechung des mittelalterlichen Weltbildes, 1888. Aus: Camille Flammarion: L’atmosphère, et la météorologie populaire, Paris 1888. i akg-images.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. i 2007 by WGB (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe dieses Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Satz: Lichtsatz Michael Glaese GmbH, Hemsbach Umschlaggestaltung: schreiberVIS, Seeheim Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-darmstadt.de

ISBN 978-3-534-17912-1

Inhalt I. Gattungsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Begriffsbestimmung Bildungsroman . . . . . . . . . . . 2. Herleitung des Begriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Abgrenzung des Bildungsromans vom Entwicklungs- und Erziehungsroman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Forschungsbericht . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Erste Gattungsbestimmungen zum Roman im 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Etablierung der Gattung Bildungsroman im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Traditionsbildungen und Revisionen im 20. und frühen 21. Jahrhundert . . . . . . . .

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III. Entstehungsbedingungen der Gattung . . . . . . . . . . . . 1. Sozialhistorische Voraussetzungen . . . . . . . . . . . 2. Die Idee der Bildsamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Bildungsroman und flankierende Literaturgattungen

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IV. Poetologische Bestimmungen . . . . . . . . 1. Form des Romantypus . . . . . . . . . . 2. Konzeption des Protagonisten . . . . . . 3. Kulturelle Bedeutung des Bildungsromans

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V. Geschichte der Gattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Tradition und Kanonisierung des männlichen Bildungsromans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Anfänge und Entfaltung des weiblichen Bildungsromans 3. Ausblick auf den interkulturellen Bildungsroman . . . . VI. Analyse beispielhafter Bildungsromane . . . . . . 1. Christoph Martin Wieland: Geschichte des Agathon (1766/67) . . . . . . 2. Johann Wolfgang von Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96) . . . . . 3. Novalis: Heinrich von Ofterdingen (1802) . . . 4. Gottfried Keller: Der grüne Heinrich (1854/55) 5. Hermann Hesse: Siddhartha (1922) . . . . . . 6. Christa Wolf: Kindheitsmuster (1976) . . . . . 7. Emine Sevgi Özdamar: Die Brücke vom Goldenen Horn (1998) . . . . 8. Ulla Hahn: Das verborgene Wort (2001) . . . .

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Inhalt

Kommentierte Bibliographie

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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Sachregister

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Synopse

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I. Gattungsbegriff 1. Begriffsbestimmung Bildungsroman Der Begriff Bildungsroman bezeichnet eine zentrale und lange Zeit hoch besetzte Gattung der deutschsprachigen Literatur. Als literaturwissenschaftliche Ordnungskategorie steht der Begriff für einen im Deutschland des späten 18. Jahrhunderts entstandenen Romantypus, in dem der Bildungsgang eines jugendlichen Protagonisten zumeist von der Kindheit bis zur Berufsfindung oder Berufung zum Künstler thematisiert wird. Der Gattungsbegriff Bildungsroman steht einerseits für eine literarhistorische Innovation, insofern festgestellt werden konnte, dass sich gegenüber früheren Erzählwerken ein zukunftsweisender Romantypus herausgebildet hatte. Andererseits wurde durch werkvergleichende Untersuchungen evident, dass einer Gruppe neuartiger Romane in signifikanter Weise Form- und Inhaltsmerkmale gemeinsam sind. Die Gattung Bildungsroman ist also eine nach philologischen Kriterien zusammengestellte Textgruppe, die sich sowohl durch transhistorische Konstanten als auch epochenspezifische Ausformungen auszeichnet. Bildungsromane unterschiedlicher Epochen lassen sich somit in diachroner Analyse nach zeitübergreifend konstanten Strukturmerkmalen untersuchen. Für eine synchrone Betrachtungsweise werden hingegen Bildungsromane eines definierten Zeitraums in ihren Gemeinsamkeiten hinsichtlich epochenspezifischer Modellierung und zeittypischer Diskursformationen von Interesse. Mit der Begriffsfindung Bildungsroman war unweigerlich auch eine Traditionsbildung verbunden, denn es musste notwendig ein Roman bestimmt werden, der als erster die Gattungskennzeichen in vollem Umfang erfüllt. Als ein solches vorbildhaftes Muster der Gattung Bildungsroman wurde Johann Wolfgang von Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96) bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts gesehen. Ihm kommt als Begründungstext der Tradition des Bildungsromans herausragende Bedeutung zu, da sich nicht nur gattungstypologische Kennzeichnungen an ihm orientierten, sondern er auch zum Vorbild für nachfolgende Romane wurde. Jede Beschäftigung mit der Gattung ist deshalb notwendigerweise auf die Auseinandersetzung mit Goethes paradigmatischem Werk verwiesen. Eine Besonderheit der Gattung Bildungsroman besteht darin, dass sie weder Vorläufer in der antiken Literatur hat, da hier nur das Versepos existierte, noch auf vorbildgebende Beispiele in den zeitgenössischen europäischen Literaturen zurückgreifen konnte. Vielmehr wurde die Gattungsbestimmung zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Deutschland vornehmlich aus der Analyse deutschsprachiger Romane gewonnen. Der Bildungsroman gilt deshalb als spezifisch deutsche Literaturgattung, und bis heute wird der Begriff Bildungsroman auch in anderen Sprachen als Terminus technicus verwandt; zum Beispiel im Englischen neben Bezeichnungen wie apprenticeship no-

Systematische Ordnungskategorie

Traditionsbildendes Muster der Gattung

Bildungsroman als ,deutsche‘ Literaturgattung

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I. Gattungsbegriff

Gattungstypologischer Kern und Bildungscurriculum

Epochenspezifische Veränderungen und notwendige Ausweitung des Gattungsbegriffs

vel oder novel of formation, im Französischen neben Begriffen wie roman d’éducation oder roman de formation. Bei aller Varianz in den Kriterien, die zur Bestimmung der Gattung im Laufe der Zeit entwickelt wurden, hat sich aus einem Bündel von Merkmalen gleichsam ein gattungstypologischer Kern herausgebildet. Erzählt wird demnach die Entwicklungsgeschichte eines jugendlichen Protagonisten bis ins Erwachsenenalter hinein als Weg der Selbstfindung und zugleich sozialen Integration. Der Bildungsgang gleicht dabei einem Reifungsprozess, bei dem natürliche Anlagen in einem gesellschaftlichen Umfeld über Konfliktund Krisenerfahrungen zur Ausbildung gelangen. Gemäß dieser Grundkonzeption wird im Bildungsroman für die Hauptfigur ein Bildungscurriculum entfaltet: Nach den Kinder- und Jugendjahren unter spezifisch häuslichen Bedingungen und Erziehungsforderungen folgen Jahre der Welterkundung, in denen es durch Wanderschaft oder Reisen zur Begegnung mit bisher unbekannten soziokulturellen Kontexten kommt. In einer Abfolge von Bildungsstationen wird die Reichweite von Talenten unter Beweis gestellt und die Realisierungsmöglichkeit von Lebensplänen geprüft. Damit einher geht ein Selbstreflexions- und Reifungsprozess, denn anerzogene Wertvorstellungen wie eigene Orientierungen müssen angesichts neuer Lebensumstände ihre Brauchbarkeit erweisen. Mithin werden Weltsicht und Selbsteinschätzung im Verlauf der Entwicklung zukunftsgerichtet modifiziert, so dass die Integration in neue soziale Kontexte gelingen kann. Im Bildungsroman geht es somit um die Reifung eines Protagonisten, der in spannungsvoller Auseinandersetzung mit sozialen Ordnungen und der natürlichen Umwelt das Ziel verfolgt, eine seinen Neigungen und Wünschen angemessene und zugleich gesellschaftlich kompatible Lebensform zu finden. Insofern sich der Gattungsbegriff Bildungsroman auf eine epochenübergreifende Grundstruktur bezieht, bleibt er einer Traditionsbildung verbunden, die auf Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre zurückgeht. Darüber hinaus aber stellt jede Beschäftigung mit neueren Romanen unter gattungstypologischen Aspekten eine Herausforderung dar, die Tradition der Begriffbestimmungen Bildungsroman daraufhin zu überprüfen, ob sie dem innovativen Potential der jeweiligen Werke vor dem Hintergrund ihres spezifischen Entstehungskontextes überhaupt gerecht werden können. Denn unter literaturwissenschaftlichen Fragestellungen sind Gattungsdefinitionen vitale Einheiten im sozialhistorischen Prozess, die für Veränderungen und Erweiterungen um neue Aspekte offen gehalten werden müssen. In diesem Zusammenhang ist an den Gattungsdefinitionen zum Bildungsroman auffällig, dass sie sich, wenn vom Protagonisten die Rede ist, auf eine männliche Hauptfigur beziehen, wie dies beispielsweise in der Formulierung deutlich wird, dass im Bildungsroman „die Selbstvervollkommnung des (männlichen) Individuums im Mittelpunkt“ (Voßkamp 2004, 21) steht. Der Hinweis in Klammern fehlte in früheren gattungstypologischen Bestimmungen, denn dass allein ein männlicher Protagonist Held eines Bildungsromans sein könne, wurde als selbstverständlich vorausgesetzt. Wir werden also im Verlauf dieser Einführung zu fragen haben, weshalb das so ist und inwiefern Gattungsdefinitionen, die sich an Bildungsromanen des 18. und 19. Jahrhunderts orientieren, für die heutige Literatur modifiziert werden müssen.

1. Begriffsbestimmung Bildungsroman

2. Herleitung des Begriffs Der Gattungsbegriff Bildungsroman wurde durch den Ästhetik- und Literaturprofessor Karl von Morgenstern (1770 – 1852) geprägt, der sich in seinen um 1820 erschienenen Vorträgen und Abhandlungen als erster mit dem Wesen des im späten 18. Jahrhundert neu entstandenen Romantypus befasste. Er bestimmte den Bildungsroman als ein umfängliches Erzählwerk, das durch aufklärerische Weltsicht und humanitätsphilosophische Bildungsvorstellungen geprägt ist und für das nicht nur die Bildung eines Protagonisten, sondern auch die des Lesers konstitutiv ist. Dass Morgenstern für die Benennung dieses Typus ein Kompositum aus Bildung und Roman wählte, ist insofern bezeichnend, als dadurch die Wertschätzung von Bildung und zugleich der Aufstieg des Romans im Verlauf des 18. Jahrhunderts ihren signifikanten Ausdruck finden. Der Begriff Bildung entstammt ursprünglich der theologischen Sprache und leitet sich in seiner Bedeutung von der grundlegenden Bestimmung des Menschen ab, wie sie im ersten Buch Mose als Schöpfungsgedanke Gottes gefasst ist: „Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei“ (1/26). Nach der Genesis ist der Mensch als Geschöpf Gottes untrennbar mit einer geschlechtsspezifischen Bildlichkeit verbunden: „Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Weib“ (1/27). Von dieser alttestamentarischen Idee aus, dass sowohl der männliche wie auch der weibliche Teil der Menschheit durch Ebenbildlichkeit Gottes bestimmt ist, entstand die Imago-dei-Lehre, wonach es Ziel des menschlichen Lebens ist, dem Bild auch tatsächlich gerecht zu werden. Die religiös geprägte anthropologische Bestimmung verwies den Menschen auf ein gottgefälliges Leben, das an den zehn Geboten wie auch der Lehre Christi im Neuen Testament Orientierung finden kann. Dem liegt die Idee zugrunde, dass der Mensch von Natur aus die Anlage zur Gottesebenbildlichkeit in sich trägt, diese durch eine an der Religion orientierte Lebensweise aber erst noch herausbilden muss. Von dieser für das christliche Zeitalter verbindlichen Vorstellung über die menschliche Bestimmung wurde Bildung zu einem Schlüsselbegriff religiöser Erziehung. Erst im 18. Jahrhundert hat der Begriff durch die protestantische Glaubensrichtung des Pietismus (lat. pietas = Frömmigkeit) eine grundlegende Umdeutung erfahren. Insofern nun die persönliche Glaubensüberzeugung in den Mittelpunkt rückte und das individuelle Empfinden des Gläubigen Zeugnis über die Präsenz Gottes ablegen sollte, erfuhr die Subjektivität des Menschen eine wirkungsmächtige Aufwertung. Gegenüber der Nachahmung vorgegebener Glaubensinhalte und christlicher Werte ging es nun um deren Verinnerlichung. Somit war nicht mehr die Bildung des Einzelnen auf Gott hin entscheidend, sondern seine unverwechselbar einmalige Entwicklung durch innere Bildung, die im Dienste kulturellen Fortschritts zugleich beispielhaft für alle Menschen sein sollte. Durch diese Aufwertung der Persönlichkeitsentwicklung wechselte der Bildungsbegriff von der Religion als seinem ursprünglichen Herkunftsbereich nun auch in anthropologische, pädagogische und ästhetische Diskurse über. Denn die Vorstellung, dass der Mensch von Natur aus gut und auf Höherentwicklung angelegt sei, führte zur Ausformulierung neuer Erziehungs-

Begriffsprägung durch Morgenstern

Religiöser Bildungsbegriff

Einfluss des Pietismus

Säkularisierung des Bildungsbegriffs

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I. Gattungsbegriff

Bildung als Veredelung

Ästhetische Erziehung

Nobilitierung des Romans

programme, mit deren Hilfe diese Anlage herausgebildet werden sollte. Vor allem die Erziehung von Kindern wurde neu überdacht, und die Bedeutung weltlicher Erzieher wurde gegenüber der von Priestern und Pfarrern aufgewertet. Es erschienen in großer Zahl neue Theorien zur Erziehung, in denen die Vorstellung grundlegend war, dass Heranwachsende durch Eltern und Lehrer auf ein ethisches Ziel hin unterrichtet werden müssen, das auch im Dienste des Gemeinwohls steht. Der Begriff Bildung wurde zu einem Schlüsselbegriff des 18. Jahrhunderts, wie dies anhand des Wörterbuchs der Brüder Grimm ersichtlich wird. Bildung war sowohl in der Bedeutung von Bild oder Bildnis (lat. imago) bekannt als auch im Sinne der körperlichen Gestalt (lat. forma). Es wurde die Herausbildung von kulturellen Objektivationen (lat. formatio, institutio) darunter verstanden wie auch eine innere Verfeinerung (lat. cultus animi, humanitas). Besonders dieses letztgenannte Verständnis von Bildung als Verbesserung natürlicher Anlagen wurde in der Diskussion um die Neubestimmung des Menschen relevant. Dabei berief man sich auf den Begriff der cultura animi, den Cicero in seiner Schrift Gespräche in Tusculum (Tusculanae disputationes 45 v. Chr.) eingeführt hatte. Der Begriff Kultur, der ursprünglich die Fruchtbarmachung des Bodens (agricultura) meinte, wird dort auf die Veredelung und Vervollkommnung der menschlichen Anlage übertragen: „wie ein Acker, auch wenn er fruchtbar ist, ohne Pflege keine Frucht tragen kann, so auch die Seele nicht ohne Belehrung. Jedes ist ohne das andere wirkungslos. Pflege der Seele ist aber die Philosophie: sie zieht die Laster mit der Wurzel aus“ (Cicero 1970, 125). Zwar trägt der Mensch eine Bestimmung zum Guten in sich und ist nach Ciceros Ausführungen „von Natur“ aus „im höchsten Maße begierig und eifrig auf das Edle“ (Cicero 1970, 163), aber seiner Meinung nach kann Belehrung nur auf eine von Lastern gereinigte Seele auch veredelnd wirken. Von diesen Überlegungen aus wurde im 18. Jahrhundert die Vorstellung zentral, dass der Mensch ein bildsames, auf höhere Entwicklung angelegtes Wesen ist, das sich dieser Anlage aber erst durch Unterrichtung bewusst werden muss, um sie überhaupt herausbilden zu können. Die Bildsamkeit des Menschen bezeichnet somit das Vermögen, geistige, emotionale und körperliche Fähigkeiten in einem Lernprozess auf ein ethisches Ziel hin zu verbessern. Durch die Idee der Bildsamkeit wurden die auf Nützlichkeit und moralische Zielvorgaben ausgerichteten Erziehungsprogramme der Aufklärung überdacht und mit neuer Ausrichtung weiterentwickelt. Denn mit Bildung wurde die Vorstellung verbunden, dass der Einzelne sich nicht nur an vorgegebenen Tugendvorstellungen orientieren, sondern auch die Fähigkeit entwickeln soll, sich mittels der Einbildungskraft ein ethisches Ideal seiner selbst vorzustellen. Dabei wurde der ästhetischen Erziehung herausragende Bedeutung zugesprochen, denn Kunst sollte das Vorstellungsvermögen anregen und über die Darstellung mustergültiger Verhaltensweisen ideale Werte vermitteln. Der Bildungsroman, in dem der Bildungsweg eines Einzelnen in paradigmatischer Weise erzählt wird, konnte damit als Gattung bestimmt werden, die Vorbildliches für die Weiterentwicklung vieler leistet. Die Bedeutungsverschiebung, die der Bildungsbegriff erfuhr, und die grundlegende Veränderung von Bildungsvorstellungen sind untrennbar mit

2. Herleitung des Begriffs

der Aufwertung des Romans im 18. Jahrhundert verknüpft. Das Wort Roman geht auf den in Frankreich seit dem 12. Jahrhundert geläufigen Begriff romanz zurück, der volkssprachliche Erzählungen bezeichnete, die nicht in der gelehrten lingua latina, sondern in der allgemein verständlicheren lingua romana verfasst waren. Während im Mittelalter und noch bis ins 16. Jahrhundert hinein auch Erzählwerke in Versen als Roman bezeichnet wurden, setzte sich seit dem 17. Jahrhundert die Prosaform durch. Doch die epische Großform Roman galt als Gattung minderen Wertes, da unterstellt wurde, dass ihr keine Prinzipien dichterischen Schreibens zugrunde liegen. Gemäß einem Literaturverständnis, das sich an den Vorgaben der herrschenden Regelpoetiken orientierte, steht der Roman der dichterischen Willkür des Autors offen. Aristoteles hatte in seiner Poetik (ca. 335 v. Chr.) als narrative Gattung lediglich das in Versen verfasste Epos bestimmt. Auch Martin Opitz (1597 – 1639) hält in seinem Buch von der Deutschen Poeterey (1624) – der ersten Poetik in deutscher Sprache, die sich noch eng an die antiken Dichtungstheorien anlehnt – an der Versform für Erzählwerke fest. Johann Christoph Gottsched (1700 – 1766) verstand Dichtung dann aber als Teil eines umfassenden Erziehungs- und Bildungsprogramms und plädierte in seinem Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen (1730) für einen wirkungsästhetischen Ansatz der Literatur, wonach der Leser mittels Dichtung zu einem mündigen Bürger erzogen werden sollte. Gottsched bestimmte zwar das Drama als wichtigste Gattung für die Aufklärung, doch eröffnete sich dadurch auch dem Roman eine neue Chance. Denn insofern der zunächst noch überwiegend im Dienste der Unterhaltung stehende Roman der aufklärerischen Forderung Genüge tat, die Leser zu unterweisen und zu bilden, konnte auch er als hochstehende Gattung akzeptiert werden. Dass sich der Roman als Kunstform durchsetzte, ist also wesentlich der Debatte um den Stellenwert der ästhetischen Bildung geschuldet. Denn nicht allein wegen seiner ästhetischen Güte, sondern auch aufgrund der Wertschätzung als Bildungsmedium für ein aufgeklärtes Lesepublikum wurde der zuvor gering geachtete Roman innerhalb weniger Jahrzehnte nobilitiert. Vor dem Hintergrund der soziokulturellen Umbrüche zu Ende des 18. Jahrhunderts war mit dem Bildungsroman eine Literaturgattung entstanden, in der Modelle individueller Bildung zum Thema wurden. Die Gattung avancierte insgesamt zu einem zentralen Verständigungsmedium über die Individuationsbedürfnisse und Selbstbestimmungswünsche des aufsteigenden Bürgertums.

Der Roman als Bildungsmedium

3. Abgrenzung des Bildungsromans vom Entwicklungs- und Erziehungsroman Ein Roman ist in den seltensten Fällen ausschließlich einem einzigen gattungstypologischen Muster verpflichtet, auch wenn mit seiner Zuordnung zu einer Gattung ein spezifisches Strukturschema als dominant hervorgehoben wird. So weist der Bildungsroman häufig auch Merkmale anderer Romantypen wie des Künstler-, Reise-, Abenteuer-, Schelmen- oder Liebesro-

Überschneidungen von Entwicklung, Erziehung und Bildung

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I. Gattungsbegriff

Entwicklungsroman als Oberbegriff

mans auf. In der Forschung wird bezweifelt, dass sich der Bildungsroman von den beiden ihm affinsten Typen – nämlich dem Entwicklungsroman und dem Erziehungsroman – überhaupt eindeutig differenzieren lasse (Gerhard 1968), oder es wird kurzerhand vorgeschlagen, die drei Romanformen synonym zu gebrauchen (Stanitzek 1988, 421), zumal sich die Begriffe Entwicklung, Erziehung und Bildung im 18. Jahrhundert nur schwer voneinander abgrenzen ließen. Und tatsächlich zeigt ein Blick ins Grimmsche Wörterbuch, dass es deutliche Überschneidungen gibt: Entwickeln meint die Entfaltung einer vorgegebenen Anlage (lat. explicare); Erziehen den formenden Eingriff in die natürliche Entwicklung von Menschen, Tieren oder Pflanzen (lat. educere, extrahere); Bilden das Ausbilden einer körperlichen Gestalt oder einer inneren Anlage wie auch einen Stoff in eine Form zu bringen oder ihm ästhetische Gestalt zu geben (lat. effingere, formare). Der um 1800 äußerst populäre Begriff Bildung wurde also in einem ganz komplexen Sinne verwandt und umfasst auch Elemente von Entwicklung und Erziehung. Bildung verweist darüber hinaus aber auf eine kulturschaffende ästhetische Potenz, wie wir dies über die bisherigen Forschungsansätze hinaus durch die Abgrenzung von Entwicklungs-, Erziehungs- und Bildungsroman verdeutlichen können. In der Sekundärliteratur wird die Gattungsbezeichnung Entwicklungsroman vielfach ganz allgemein als Oberbegriff für jene Romane eingesetzt, in denen die Lebensgeschichte eines Protagonisten erzählt wird. Es werden narrative Werke darunter verstanden, „die das Problem der Auseinandersetzung des Einzelnen mit der jeweils geltenden Welt, seines allmählichen Reifens und Hineinwachsens in die Welt zum Gegenstand haben, wie immer Voraussetzung und Ziel dieses Weges beschaffen sein mag.“ (Gerhard 1968, 1) In Anlehnung an naturwissenschaftlich-biologische Erkenntnisse ist mit Entwicklung die Entfaltung von Anlagen körperlicher, geistiger und seelischer Art unter spezifischen gesellschaftlichen Bedingungen gemeint. Als „vorzüglicher Gehalt des Entwicklungsromans“ gilt, dass ein „Lebenslauf bis zum Tode“ (Stahl 1970, 116) dargestellt wird, wobei Etappen eines Weges zur Darstellung kommen, aber kein spezifisches Ziel angegeben wird. Als früheste Vorformen des Bildungsromans gelten in der Forschung zum Entwicklungsroman Wolfram von Eschenbachs mittelalterliches Versepos Parzival (ca. 1200 – 1210) und Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausens Barockroman Der abentheuerliche Simplicissimus (1668), da hier bereits eine Lebensgeschichte durch Phasen der Bewährung gegliedert ist (Gerhard 1968). Wird der Entwicklungsroman als „quasi-überhistorischer Aufbautypus“ (Köhn 1969, 435) verstanden, der sich bis zum höfischen Roman des Mittelalters zurückverfolgen lässt, so kann er auch als grundlegendes Modell für eine im 18. Jahrhundert entstandene Erzählform gelten, bei der einer individuellen Lebensgeschichte paradigmatische Bedeutung für das neue Selbstverständnis des Einzelnen zugesprochen wird. Dieser Romantypus folgt entweder dem Modell einer fiktiven Biographie-Erzählung in der dritten Person oder er orientiert sich an der Form von Autobiographie und Bekenntnisschrift in der Ich-Form. Im Entwicklungsroman ist also die Darstellung des Entwicklungsganges eines Protagonisten zentral, wobei in exemplarischer Weise private Lebensereignisse ohne Anspruch auf historische Wahrheit geschildert werden.

3. Abgrenzung des Bildungsromans

Im Erziehungsroman geht es demgegenüber um die Entwicklung eines Protagonisten auf ein Ziel hin, das durch pädagogische Instanzen vorgegeben ist. Unter Erziehungsroman wird „ein stärker didaktisches Genre, das pädagogische Probleme diskutiert, Erziehungsformen gedanklich entwirft oder exemplarisch veranschaulicht“ (Köhn 1969, 434), verstanden. Erziehung meint hier die Lenkung und Formung eines Zöglings entweder nach einem impliziten oder nicht selten einem geradezu programmatisch formulierten pädagogischen Konzept durch Lehrerfiguren. Bereits bei Aristoteles und in der griechischen Sophistik findet sich die Vorstellung, dass durch erzieherische Anstrengungen eine Naturanlage (gr. physis) durch Übung und Gewohnheit (gr. askesis oder ethos) auf ein Ziel hin ausgerichtet werden soll. Ein grundlegender Neuansatz im Erziehungsdenken wurde in Jean-Jacques Rousseaus Erziehungsroman Emil oder über die Erziehung (Émile ou de l’éducation 1762) formuliert. Der französische Philosoph und Pädagoge fordert dort eine naturgemäße Erziehung des Kindes, wobei er der Ansicht ist, dass es vor den negativen Einflüssen einer verderbten Gesellschaft geschützt und vor deren Irrtümern bewahrt werden müsse. Rousseau entwickelt ein Erziehungsmodell, wonach der Zögling durch experimentierende Erprobung und nur unvermerkte Lenkung von Erziehern eine stufenförmige Entwicklung nehmen und das erwünschte Erziehungsziel umfassender Selbstentfaltung erreichen soll. Rousseau hat mit seinem für die deutschsprachige Literatur äußerst wirkungsmächtigen Erziehungsroman bereits die allseitige Ausbildung von Anlagen im Auge, die auch für den Bildungsroman kennzeichnend wurde. Denn bei anderen Erziehungsromanen, etwa Johann Heinrich Pestalozzis Lienhard und Gertrud (1781 – 87), geht es wesentlich um die Einübung in normativ vorgegebenes Wissen und Verhalten. Dabei spielen auch Sanktionen oder deren Androhung eine nicht unerhebliche Rolle, denn da das Telos der Entwicklung durch pädagogische Instanzen festgesetzt ist, können Abweichungen vom vorgeschriebenen Weg umgehend erkannt und bis hin zur körperlichen Züchtigung geahndet werden. Nicht selten werden im Erziehungsroman aber nicht nur Erziehungskonzepte entwickelt, sondern auch bestehende Erziehungspraktiken einer kritischen Revision unterzogen, um die Unangemessenheit von Erziehungsmodellen und die Notwendigkeit neuer Ideen zur Darstellung zu bringen. Der Bildungsroman hat mit dem Erziehungsroman zunächst einmal gemeinsam, dass eine Hauptfigur im Zentrum steht, die ihre Anlagen stufenweise entfaltet, und zeichnet sich wie der Entwicklungsroman durch die Darstellung eines Reifungsprozesses aus. Entscheidender Unterschied zu den beiden verwandten Romantypen ist jedoch, dass im Bildungsroman die Fähigkeit, das eigene Gewordensein und damit gerade Erziehung und Entwicklung kritisch zu hinterfragen, als grundlegendes Bildungsvermögen zum Thema wird. Bildung umfasst immer einen körperlich-geistigen Reifungsvorgang wie auch eine Auseinandersetzung mit geschlechterdifferenten Rollenvorgaben und kulturspezifischen Wertkontexten. Der Bildungsroman setzt also im Gegensatz zum Erziehungsroman gerade die Herausbildung eigener Ansichten und Wertvorstellungen ins Zentrum und betont das Recht auf einen individuellen Lebensentwurf auch gegenüber gesellschaftlichen Normvorgaben. Weil aber eine Sozialisierung innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft ohne Erziehung schlechterdings nicht denkbar ist, muss

Erziehungsroman

Bildungsroman

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I. Gattungsbegriff

Bildung als Auseinandersetzung mit Erziehung

Bildung und kultureller Wandel

sich der Protagonist des Bildungsromans notwendig mit der eigenen Erziehung und familiären Werten beschäftigen, um sich im Dienste eigener Lebensplanung davon lösen zu können. Wir können deshalb sagen, dass der Begriff Bildungsroman einen Romantypus bezeichnet, bei dem die Auseinandersetzung mit Erziehungsvorgaben und die Entfaltung von Bildungsvorstellungen gattungsbestimmend ist. Der Bildungsroman enthält also Elemente des Erziehungsromans, die er durch ein implizites Bildungskonzept produktiv transgrediert. Im Unterschied zur Erziehung, bei welcher ein soziokulturell bestimmtes und historisch variables Erziehungsziel vorgegeben wird, geht es bei Bildung nachdrücklich um Individualität und die Möglichkeit freier Selbstentfaltung des sich Bildenden. Weil im Bildungsroman bis auf wenige Ausnahmen über Konflikte und Gefährdungen erzählt wird, die dieser selbst verantworteten Ausbildung notwendig inhärent sind, kann er nicht selbstverständlich auf die harmonische Entwicklung des Protagonisten ausgerichtet sein. Die Endgestalt der Bildung ist nicht im Vorhinein genau beschreibbar, da gerade die Eigentümlichkeit der individuellen Anlage ohne einengende Festlegung ausgeprägt werden soll. Bildung kann mithin kein geradliniger, zielgerichteter Prozess sein, weil auch Umwege, Konflikte, Brüche oder Abweichungen Teil des Bildungsprozesses sind und helfen können, die Eigenart des Einzelnen hervorzubringen. Somit wohnt dem Bildungsroman immer auch ein grenzüberschreitendes, innovatives Moment inne, das auf kulturelle Veränderung hindeutet. Denn der Bildungsgang beinhaltet nicht nur „die kritische Auseinandersetzung mit dem historischen Erbe einer Gesellschaftskultur“ (Mayer 1992, 12), sondern ist auch der Zufälligkeit von Begegnungen und Lebensereignissen geschuldet, die in ihrer Unkalkulierbarkeit zur Neuorientierung und Revision herausfordern und kreative Energie freisetzen. Wenn demnach mit dem gattungstypologischen Kern des Bildungsromans die freie Entfaltung der inneren Anlagen eines Protagonisten unter den Bedingungen äußerer Einflüsse gefasst wird, so ergibt sich damit gerade in Abgrenzung zum Entwicklungsund Erziehungsroman eine neue Perspektive. Insofern der Bildungsroman die Auseinandersetzung mit Erziehung als Vermittlungsform kulturspezifischer Werte enthält, formuliert er nämlich auch Vorstellungen über transgenerativen kulturellen Wandel. Unter dem Gattungsbegriff Bildungsroman kann demnach eine nach literaturwissenschaftlichen Kriterien zusammengestellte Gruppe von Romanen gefasst werden, in denen die erzählerische Darstellung des Bildungsweges eines Protagonisten strukturbildend und die Frage nach Bildungsmöglichkeiten in kulturell innovativem Sinne zentral ist. So verstanden ist der Bildungsroman nicht nur ein Roman über die Bildung des Protagonisten, sondern immer auch ein Roman über die Möglichkeiten von Bildung und kulturellem Wandel in einer Gesellschaft.

II. Forschungsbericht 1. Erste Gattungsbestimmungen zum Roman im 18. Jahrhundert Der Bildungsroman gehört zu den fest etablierten, literaturwissenschaftlich intensiv beforschten narrativen Gattungen. Ausgangspunkt jedes Forschungsüberblicks zum Bildungsroman ist Friedrich von Blanckenburgs Versuch über den Roman aus dem Jahre 1774, obwohl der Gattungsbegriff hier noch gar nicht eingeführt wurde. Doch in dieser ersten systematischen Analyse zu den innovativen Tendenzen des Romans im 18. Jahrhundert werden Bestimmungen vorausgenommen, die später für die Gattung maßgeblich wurden. Der Autor, der mit seinem Traktat eine Anleitung für angehende Romandichter verfassen wollte, wendet sich neben englischen Romanen wie Henry Fieldings Tom Jones (1749) in weiten Teilen der eingehenden Analyse von Christoph Martin Wielands nur wenige Jahre zuvor erschienenem Werk Geschichte des Agathon (1766/67) zu, um die Gattung Roman als wegweisend für die Aufklärung zu profilieren. Blanckenburg stellt fest, dass es hier anders als in früheren Erzählwerken nicht mehr vornehmlich um die Darstellung äußeren Geschehens geht, sondern dass wie nie zuvor das Seelenleben des Protagonisten mit psychologischer Einfühlung geschildert wird. Wielands seinerzeit hoch gelobtes Werk wird für Blanckenburg zum Paradigma eines neuen Romantypus, denn er folgert aus seiner philologischen Analyse verallgemeinernd, dass die „innre Geschichte“ eines Helden als „das Wesentliche und Eigenthümliche eines Romans“ (Blanckenburg 1965, 392) zu gelten habe. Ohne Zweifel ist Blanckenburgs Abhandlung als Ausdruck der gewachsenen Wertschätzung des Romans im 18. Jahrhundert zu sehen, da erstmals ein Roman im Kontext des zeitgenössischen literarischen Feldes in seiner Eigenart bestimmt wurde. Darüber hinaus gewinnt die Studie durch die Kennzeichnung des neuen Romantypus als fiktive Autobiographie, bei der „die Ausbildung, die Formung des Charakters“ (Blanckenburg 1965, 321) in den Mittelpunkt des Erzählens rückt, auch für die spätere Gattungsbestimmung Bedeutung. Denn ohne den Hinweis auf die psychosoziale und mentale Reifung der Hauptfigur als gleichsam „innre Geschichte“ kommen auch spätere Kennzeichnungen des Bildungsromans kaum aus. Blanckenburgs Romantheorie lässt sich somit als Vorform der Forschung zum Bildungsroman verstehen, weil durch die Analyse von Wielands Geschichte des Agathon bereits erste richtungsweisende Gattungskennzeichen herausgestellt wurden. Etwas mehr als 20 Jahre nach Blanckenburgs Traktat wurde ein bahnbrechend neues Werk zum unangefochtenen Zentrum der Auseinandersetzung um den innovativen Roman. Bereits unmittelbar nach seinem Erscheinen wurde Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96) als herausragendes

Blanckenburgs Versuch über den Roman

Neue Bestimmung des Romans durch die „innre Geschichte“

Bildsamkeit des Protagonisten

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II. Forschungsbericht

Beispiel einer neuen Romankunst gefeiert, wie dies die rege Auseinandersetzung der Zeitgenossen mit dem Werk eindrücklich belegt. In einer ausführlichen Rezension mit dem Titel Über Goethes Meister hat Friedrich Schlegel (1772 – 1829) im ersten Band des Athenaeum (1798) Wilhelm Meisters Lehrjahre zum Muster eines neuen Romantypus erklärt, bei dem Bildung zum zentralen Thema wird. Der romantische Dichter und Theoretiker kennt den Gattungsbegriff Bildungsroman zwar noch nicht, doch findet auch er Formulierungen, die in der weiteren Forschung aufgegriffen wurden. Nach Schlegel geht es in Goethes Werk um die Thematisierung der Bildung selbst, die „in mannichfachen Beispielen dargestellt, und in einfache Grundsätze zusammengedrängt“ (Schlegel 1967, 143) ist. In einer den Inhalt des Romans ausführlich würdigenden Besprechung verleiht Schlegel seiner Wertschätzung unverblümt Ausdruck: „Hat irgendein Buch einen Genius, so ist es dieses.“ (Schlegel 1967, 134) Er stellt die epochale Bedeutung von Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre noch deutlicher heraus, indem er die Französische Revolution, Fichtes Wissenschaftslehre und eben diesen einzigen Roman als „die größten Tendenzen des Zeitalters“ (Schlegel 1967, 198) bestimmt. Schlegels überaus positive Auslegung fasst nicht allein die Begeisterung in Worte, die der Roman bei vielen Zeitgenossen hervorrief, sondern betont vor allem die Hoffnung, die mit ihm verbunden wurde. Mit diesem Werk schien es erstmals möglich, an das Niveau der englischen, französischen und spanischen Romankunst anzuschließen und zugleich ein eigenständiges deutsches Gepräge zum Ausdruck kommen zu lassen. Demgegenüber mokierte Novalis sich im Jahre 1800 darüber, dass in Goethes Roman lediglich eine prosaische Welt gezeigt werde: „Das Romantische geht darinn zu Grunde – auch die Naturpoësie, das Wunderbare – Er handelt blos von gewöhnlichen menschlichen Dingen – die Natur und der Mystizism sind ganz vergessen.“ (Novalis 1968, 638 f.) Trotz seiner durchaus kritischen Würdigung von Goethes Roman in den Vorarbeiten zu verschiedenen Fragmentsammlungen (1798) hat jedoch auch Novalis schon früh erkannt, dass der Autor von Wilhelm Meisters Lehrjahre „vielleicht schon musterhafter, als es scheint“ (Novalis 1965, 642) geworden ist.

2. Etablierung der Gattung Bildungsroman im 19. Jahrhundert Morgensterns Prägung des Gattungsbegriffs

In der Tat wurde Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre zum Vorbild für das literarische Schaffen nachfolgender Autoren, wie dies bereits Jean Paul (1763 – 1825) in seiner Vorschule der Ästhetik (1804 – 13) herausstellt: „Goethens Meister hat hier einige bessere Schüler gebildet, wie Novalis’, Tiecks, E. Wagners, de la Motte Fouqués, Arnims Romane.“ (Jean Paul 1974, 252) Durch den Literaturprofessor Karl von Morgenstern, der in losem Kontakt zu Mitgliedern des Weimarer Kreises stand, wurde Goethes Erfolgsroman darüber hinaus zum Grundlagentext der Gattungsbestimmung Bildungsroman. Denn erst nachdem der Goethe-Verehrer den neuen Romantypus mit dem „bisher nicht üblichen Worte[ ] Bildungsroman“ (Morgenstern 1988, 55) belegte, konnte Wilhelm Meisters Lehrjahre als Ursprungstext der

2. Etablierung der Gattung Bildungsroman

neuen Gattung kanonisiert werden. Auch Morgenstern geht in seinem Vortrag Ueber das Wesen des Bildungsromans (1820) im Rekurs auf Blanckenburgs Versuch über den Roman davon aus, dass im Bildungsroman mit der äußeren Handlung immer auch ein Reifungsprozess als „innre Geschichte“ der Hauptfigur erzählt wird. Er spricht dem neuen Romantypus zudem eine zuvor so noch nicht formulierte wirkungsästhetische Dimension zu: „Bildungsroman wird er heißen dürfen, erstens und vorzüglich wegen seines Stoffs, weil er des Helden Bildung in ihrem Anfang und Fortgang bis zu einer gewissen Stufe der Vollendung darstellt; zweytens aber auch, weil er gerade durch diese Darstellung des Lesers Bildung, in weiterm Umfange als jede andere Art des Romans, fördert.“ (Morgenstern 1988, 64) Morgenstern legte die erste systematische Klassifizierung zum Bildungsroman vor und erhob Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre, den er zum „vorzüglichsten seiner Art, aus unserer Zeit für unsere Zeit“ (Morgenstern 1988, 71) erklärte, zum Muster der Gattung. So wurde in den zahlreichen Analysen zum Bildungsroman, die im 19. Jahrhundert erschienen sind, immer wieder Goethes Roman als herausragendes Beispiel innovativer Erzählkunst herangezogen. Karl Rosenkranz (1805 – 1879) bleibt in seiner Einleitung über den Roman (1827) zwar noch einer aufklärerischen Idee verpflichtet, wenn er meint, dass „Bildung zur Vernünftigkeit recht eigentlich Gegenstand des Romanes überhaupt“ (Rosenkranz 1988, 100) sei, doch sieht er die Grundidee von Goethes Roman darin, „das Leben überhaupt als Kunstwerk zu begreifen und diesem gemäß auch kunstvoll zu gestalten.“ (Rosenkranz 1988, 113) Mit seinen geistesgeschichtlich orientierten Ausführungen verortet Rosenkranz Goethes Werk vor dem Hintergrund der politischen Machtlosigkeit des Bürgertums und der literarischen Bestrebungen, dessen Selbstverwirklichungsansprüchen künstlerischen Ausdruck zu verleihen. Auch Theodor Mundt (1809 – 1861) würdigte Goethe in seiner Geschichte der Literatur der Gegenwart (1842) als Dichter, der von den Zeitgenossen als „Meister des Jahrhunderts anerkannt“ (Mundt 1842, 76) wurde und in seinem Bildungsroman „das Streben nach einer vornehmen Bildung“ (Mundt 1842, 18) zum Lebensziel für den Protagonisten erklärt habe. Erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wurde der Begriff Bildungsroman durch Wilhelm Dilthey (1833 – 1911) so populär, dass viele zunächst glaubten, er habe den Begriff geprägt. In seinem Buch über das Leben Schleiermachers (1870) schlägt er vor, den Terminus für diejenigen Romane einzusetzen, „welche die Schule des Wilhelm Meister ausmachen“ (Dilthey 1970, 299), und hat damit Werke wie Jean Pauls Titan, Tiecks Franz Sternbalds Wanderungen, Novalis’ Heinrich von Ofterdingen und Hölderlins Hyperion gemeint. Dilthey führt aus, dass der Bildungsroman als spezifischer Typus des Künstlerromans zu verstehen sei, und bestätigt in seinen Ausführungen im Wesentlichen bisherige Charakterisierungen. In Das Erlebnis und die Dichtung (1906) erklärt er die Entstehung des Bildungsromans auch aus den geistesgeschichtlichen Bedingungen des 18. Jahrhunderts und nennt als wichtigste Einflüsse die auf Leibniz fußende Psychologie der Entwicklung, das von Rousseau inspirierte Programm einer naturgemäßen Erziehung und das von Herder propagierte Humanitätsideal. Bedeutsam werden Diltheys Ausführungen für die nachfolgende Auseinandersetzung mit dem Bildungs-

Bildung zur Vernünftigkeit

Popularisierung des Begriffs durch Dilthey

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II. Forschungsbericht

Bildung als nationale Aufgabe

roman, weil er diesen dezidiert als deutsche Sonderform des Romans ausweist und versucht, den Bildungsgedanken der Goethezeit für die Entwicklung eines nationalen Bewusstseins dienstbar zu machen. Der Begriff des Bildungsromans gewann durch Dilthey also just um die Zeit Popularität, als mit der deutschen Reichsgründung (1870/71) die Nachfrage nach traditionsbildenden Modellen für das nationale Selbstverständnis besonders groß wurde. Bildung stand als Fähigkeit, sich mit Kunst, Literatur und Wissenschaft durch begründetes Urteil auseinandersetzen zu können, und damit als Zugehörigkeitskriterium für das Bildungsbürgertum, hoch im Kurs (Assmann 1993; Engelhardt 1986). Der Bildungsroman wurde in diesem Zusammenhang noch stärker als Ausdruck deutscher Eigenart gefasst. So mahnt Dilthey auch an, dass sich Bildung nie nur auf das Private beschränken dürfe, sondern immer auch im Dienste gemeinschaftsstiftender Ordnung stehen müsse. Diese Position verdeutlicht, dass der Begriff Bildung eine neue Gewichtung erfährt, denn es wird argumentiert, dass mit dem besonderen Interesse an individuellen Bildungsprozessen zugleich das Selbstverständnis der deutschen Nation als Gemeinschaft Gebildeter zum Ausdruck komme (Ruppert 1981). Diltheys Ausführungen zum Verhältnis von Bildung und Nation erfuhren demnach so große Resonanz, weil sie erlaubten, rückblickend einen Zusammenhang innerhalb der deutschen Geistesund Literaturgeschichte zu stiften und für die Gegenwart anschließbar zu machen. Hatte sich Bildung bis ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts vorwiegend auf den Privatbereich bezogen, so sollte sie nun mit der Etablierung der deutschen Nation zu einem öffentlich-politischen Anliegen werden.

3. Traditionsbildungen und Revisionen im 20. und frühen 21. Jahrhundert Der Bildungsroman als überzeitlich ,klassischer‘ Roman

Wertschätzung von Goethes Bildungsroman

Die weitere Forschung zum Bildungsroman nahm die von Dilthey vorgeschlagene Wende in der Bestimmung der Gattung auf, wie dies in Anders Krügers Beitrag Der neuere deutsche Bildungsroman (1906) besonders deutlich wird. Krüger stellte dezidiert fest, dass der Bildungsroman eine spezifisch deutsche Gattung sei: „eine Romanart, die ein ganz ausgesprochen nationales Gepräge trägt, die sie eigenartiger, individueller kein anderes Volk aufzuweisen hat, den deutschen Bildungsroman, der im letzten Jahrhundert ganz eigentlich der Roman der Dichter und Denker war und es voraussichtlich auch bleiben wird.“ (Krüger 1906, 270) Durch historisierende Betrachtungsweise wurde forciert versucht, den Bildungsroman, der seine Entstehung dem sozialhistorischen und geistesgeschichtlichen Kontext der Spätaufklärung verdankt, einer durch nationales Selbstverständnis geprägten Bildungsidee zu unterstellen. Vor allem sollte nun über die Auseinandersetzung mit Goethes überzeitlich gültigem ,klassischen‘ Roman das Bewusstsein für eine deutsche Kulturtradition gestärkt werden. Mit Beginn des 20. Jahrhunderts setzten sich auch Schriftsteller wieder verstärkt essayistisch mit dem Bildungsroman auseinander. So betont Hermann Hesse im Jahre 1911 in seinen Ausführungen unter dem Titel Wilhelm Meisters Lehrjahre, dass Goethes Roman bereits um 1800 zum „Evangelium

3. Traditionsbildungen und Revisionen

einer jungen Generation“ (Hesse 2002, 374) avanciert und wie kein anderer Roman zum Vorbild geworden sei, „ohne bis zur Stunde übertroffen, ja erreicht worden zu sein.“ (Hesse 2002, 374) Thomas Mann erklärt in seiner 1923 gehaltenen Rede über Geist und Wesen der deutschen Republik das Entstehen des Bildungsromans aus der Fähigkeit zur Selbstbefragung: „Die schönste Eigenschaft des deutschen Menschen, auch seine berühmteste, auch diejenige, mit der er sich selbst wohl am liebsten schmeichelt, ist seine Innerlichkeit. Nicht umsonst hat er der Welt die geistige und hochmenschliche Kunstgattung des Bildungs- und Entwicklungsromanes geschenkt, den er dem Romantypus westlicher Gesellschaftskritik als sein Eigenstes entgegenstellte, und der immer zugleich auch Autobiographie, Bekenntnis ist.“ (Mann 1993, 218) Bildung versteht Mann als ein „individualistisches Kulturgewissen“, also eine Errungenschaft, die sich zwar in einer spezifischen historischen Zeit „pietistischer, autobiographisch-bekenntnisfroher und persönlicher Kultur“ entwickelt hat, sich aber nun durchaus als Grundcharakter „des deutschen Menschen“ verstehen lässt, der „auf Pflege, Formung, Vertiefung und Vollendung des eigenen Ich, oder, religiös gesprochen, auf Rettung und Rechtfertigung des eigenen Lebens“ (Mann 1993, 218) ausgerichtet ist. Demgegenüber hat Robert Musil in nachgelassenen Aufzeichnungen die enge Verknüpfung der Gattung mit Goethes herausgehobenem Roman auf den Punkt gebracht, indem er lapidar notierte: „Wenn Bildungsroman gesagt wird, schwebt Meister mit“ (Musil 1983, 830). In umfänglichen philologischen und geistesgeschichtlichen Studien wurde Goethes Roman als Höhepunkt deutscher Prosa kanonisiert. Max Wundt (1879 – 1963) konzediert in seiner umfassenden Studie Goethes Wilhelm Meister und die Entwicklung des modernen Lebensideals (1913), dass es zwar Wielands Verdienst war, „den Bildungsroman in seiner fertigen Gestalt geschaffen zu haben“ (Wundt 1913, 56), meint aber, dass Goethes Werk höher zu bewerten sei, weil in ihm „alle Formen der Gattung“ (Wundt 1913, 68) gestaltet sind. Auch Friedrich Gundolf stellt in seiner einflussreichen Monographie mit dem schlichten Titel Goethe (1916) fest: „Bildung ist nicht nur der Gegenstand und die Richtung, sondern auch der Stil und der Gehalt des vollendeten Romans geworden. Das Werk ist der bisherige Höhepunkt deutscher darstellender Prosa“ (Gundolf 1920, 520). In seiner im selben Jahr wie Gundolfs Monographie publizierten Theorie des Romans (1916) hat Georg Lukács (1885 – 1971) Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre als herausragendes Beispiel eines Romantypus behandelt, für den „der zielbewußte und zielsichere Wille zur Bildung“ (Lukács 1963, 120) charakteristisch sei. Goethes Bildungsroman wurde aber nicht nur im Hinblick auf die Gegenwart als Gründungstext einer Tradition, sondern bald auch als Zielpunkt der Literaturentwicklung seit dem Mittelalter gesehen. In ihrer literarhistorisch und gattungstypologisch orientierten Studie Der deutsche Entwicklungsroman bis zu Goethes ,Wilhelm Meister‘ (1926) entwickelt Melitta Gerhard von Wolfram von Eschenbachs Parzival ausgehend einen Traditionszusammenhang von Entwicklungsromanen, auf denen Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre als erster vollgültiger Bildungsroman aufbaut. Wie nie zuvor werde in ihm erstmals das Zusammenwirken von individueller und gesellschaftlicher Wirklichkeit zum Thema: „Und so sehen wir in Goethes Roman für das Problem der Entwicklung des Einzelnen neben dem

Kanonisierung von Wilhelm Meisters Lehrjahre als Höhepunkt deutscher Prosa

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II. Forschungsbericht

Kritische Forschungsansätze

Ziel der harmonischen Ausbildung des Individuums zugleich das Ziel einer neuen allgemeinen Ordnung der chaotisch gewordenen Welt aufgerichtet.“ (Gerhard 1926, 159 f.) Ernst Ludwig Stahl betont in seiner geistesgeschichtlich ausgerichteten Studie Die religiöse und humanitätsphilosophische Bildungsidee und die Entstehung des deutschen Bildungsromans im 18. Jahrhundert (1934), dass die „Idee des Werdens, und zwar des Werdens in einem bestimmten Sinne und auf ein bestimmtes Ziel hin“ (Stahl 1970, 116), nämlich auf ein harmonisches Ende, das Entscheidende sei. In vergleichbarer Weise meint auch Hans H. Borcherdt in seiner monumentalen Goethe-Monographie, dass Wilhelm Meisters Lehrjahre „der vollendete Ausdruck des klassischen Bildungsgedankens“ (Borcherdt 1949, 265) sei und darin eine organisch-harmonische Bildungsidee verwirklicht werde. Er meint sogar, dass die von ihm untersuchten Bildungsromane der Goethezeit als „ewige Antworten auf die Frage nach der deutschen Lebensform“ (Borcherdt 1949, 265) zu verstehen seien. Die zu Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts formulierten historischen Untersuchungsansätze, mit denen der Bildungsroman aus dem geistesgeschichtlichen Kontext des späten 18. Jahrhunderts erklärt wurde, können demnach als ,Arbeit an der Klassik‘ verstanden werden, mit der versucht wurde, im Rekurs auf die wertgeschätzte Literatur einen deutschen Nationalcharakter zu begründen. Wie sehr die Forschungsgeschichte zum Bildungsroman nicht nur Ausdruck zeitspezifischer Orientierungsbedürfnisse ist, sondern auch Entwicklungen im Fach Germanistik widerspiegelt, machen die dezidiert forschungskritischen Ansätze deutlich, die mit den 1960er Jahren aufkamen. Bereits Fritz Martini verwahrt sich in seinem Beitrag Der Bildungsroman. Zur Geschichte des Wortes und der Theorie (1961) dagegen, allein Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre als exemplarisches Beispiel anzusehen, weil dadurch die Gewordenheit und historische Form des Romans aus dem Blick geraten würden. Er weist nach, dass nicht erst Dilthey den Begriff Bildungsroman einführte, wie dies die Forschung bis zu diesem Zeitpunkt vielfach angenommen hatte, sondern er von Karl von Morgenstern bereits in seinem Aufsatz Beiträge für Freunde der Philosophie (1817) für die Kennzeichnung der Romane Friedrich Maximilian Klingers benutzt und in zwei weiteren Vorträgen aus den Jahren 1819 und 1820 systematisch entfaltet worden war. Vor allem mahnt Martini an, dass die Tradition dieser „deutschen Romanform“ (Martini 1961, 63) auf ihre geschichtlichen Wandlungen und Brüche hin untersucht werden müsse. Auch Herbert Seidler moniert in seiner Studie Wandlungen des deutschen Bildungsromans im 19. Jahrhundert (1961), dass der deutsche Bildungsroman des 19. Jahrhunderts zu sehr im Schatten von Wilhelm Meisters Lehrjahre gestanden habe und deshalb die gattungstypologisch relevante Eigenart der späteren Romane nicht genügend bedacht worden seien. Er schlägt vor, Bildungsromane mit Hilfe neuer Kategorien, etwa der des Raumes, zu untersuchen. Mit Lothar Köhns Forschungsbericht Entwicklungs- und Bildungsroman (1969), in dem die Definitionen zum Bildungsroman und dessen Geschichte in Einzelbeispielen von Grimmelshausens Der abentheuerliche Simplicissimus bis zu Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften vorgestellt werden, ist eine Wende hin zu Überblicksdarstellungen angezeigt, die auch Romane des 20. Jahrhunderts mit einbeziehen.

3. Traditionsbildungen und Revisionen

Bereits durch den Titel Wilhelm Meister und seine Brüder (1972) betont Jürgen Jacobs mit seiner Monographie, dass auch er Goethes Roman als prägendes Muster der Gattung ansieht. Er wählt einen geistesgeschichtlichen Untersuchungsansatz, weil er meint, dass sich der Bildungsroman nur aus der „optimistischen Mentalität des Bürgertums“ (Jacobs 1972, 274) verstehen lasse. Monika Schrader kritisiert in ihrer Studie Mimesis und Poiesis (1975) hingegen, dass sich die Forschung noch immer auf Diltheys inhaltliche Bestimmungen des Bildungsromans beruft und damit einem „scheinbar unausrottbare[n] Konservatismus“ (Schrader 1975, 1) verfangen bleibt. Wenn sie allerdings kategorisch meint, „nicht die Literaturtheorie kann Ausgangspunkt und Basis ästhetischer Gattungsdefinition sein, sondern allein die Praxis der Kunstwerke selbst“ (Schrader 1975, 3), so wird außer Acht gelassen, dass sich die Gattungsbestimmungen immer schon an Romanen orientiert haben. Nach der Teilung Deutschlands begann in der DDR eine Auseinandersetzung mit den Bildungsromanen im Dienste des Versuchs, selbst „eine Romanart von nationalliterarischer Repräsentanz zu schaffen“ (Taschner 1981, 1). Zur gleichen Zeit setzte in der Bundesrepublik eine kritische Revision bisheriger Forschungsansätze ein, und es erschienen neben Überblickswerken einführende Kompendien und Arbeitsbücher für den universitären Unterricht. So wurde in den 1980er Jahren die Kritik an der bisherigen Forschungspraxis zum Bildungsroman auch in zahlreichen systematischen Abhandlungen formuliert. Rolf-Peter Janz weist in seinem Artikel zum Bildungsroman in der Sozialgeschichte der deutschen Literatur (1980) darauf hin, „daß Goethes Roman überwiegend und zu Unrecht als Idealfall eines bürgerlichen Lebenslaufs gelesen worden ist.“ (Janz 1980, 163) Auch Klaus-Dieter Sorg wendet sich in seinem Buch Gebrochene Teleologie (1983) gegen die Vorstellung, dass der Bildungsroman auf ein eindeutiges Ziel hin angelegt sei. Für ihn ist vielmehr eine unaufhebbare Antinomie von umgreifender gesellschaftlicher Ordnung und individueller Spontaneität gattungsbestimmend. Er schlägt vor, nicht mehr von Goethes Bildungsroman auszugehen, sondern diesen umgekehrt von den nachfolgenden Romanen aus neu zu lesen. Wilhelm Meisters Lehrjahre solle auf die Elemente hin untersucht werden, die von den späteren Romanen imitierend, kontrastierend und persiflierend aufgenommen wurden, da dadurch die Vielfalt in der Gattungstradition in den Blick gehoben werden könne. Rolf Selbmanns Kompendium Der deutsche Bildungsroman (1984), in dem der Forschungsstand mit annotierter Bibliographie dargelegt ist und das für eine zweite Auflage überarbeitet und erweitert wurde (1994), ist Ausdruck des gewachsenen Interesses am Bildungsroman als Gegenstand der universitären Lehre. Wie bereits in seiner Studie Theater im Roman (1981) sieht Selbmann das grundsätzliche Dilemma der Forschung darin, dass Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre als Muster eingesetzt wurde und deshalb die unmittelbar folgenden Romane wie Jean Pauls Titan, Novalis’ Heinrich von Ofterdingen und E. T. A. Hoffmanns Lebens-Ansichten des Katers Murr, die ebenfalls als Bildungsromane kanonisiert wurden, den ursprünglichen Gattungskriterien nicht mehr in vollem Umfang genügen können. Die Textsammlung Zur Geschichte des deutschen Bildungsromans (1988), die von Selbmann verdienstvollerweise herausgegeben wurde, er-

Vorschläge für neue Kategorien

Systematische Abhandlungen

Einführende Werke

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II. Forschungsbericht

Forderung nach Ausweitung der Gattungsbestimmungen

möglicht den raschen Zugriff auf verstreut publizierte und teilweise schwer zugängliche Quellen zur Gattungsbestimmung des Bildungsromans. In der Einführung zu dieser Sammlung betont Selbmann, dass der deutsche Bildungsroman innerhalb der allgemeinen Romangeschichte einen zentralen Platz einnimmt, vertritt aber zugleich die These, dass bei Morgensterns Einführung des Begriffs Bildungsroman „der so definierte Roman eine längst eingeführte Gattung“ (Selbmann 1988, 1) gewesen sei und sich das poetologische Interesse daran bereits im 19. Jahrhundert überlebt habe. Sehr richtig stellt er fest, dass sich spätestens bei Dilthey die gattungstypologischen Bestimmungen zum Bildungsroman nur noch auf historische und nicht mehr auf zeitgenössische Romane beziehen, und benennt damit eine eklatante Forschungslücke. Denn im 20. Jahrhundert erschien eine große Zahl von Romanen, die sich der Gattung Bildungsroman zuordnen lassen oder zumindest unter diesem Aspekt diskutiert werden können, darunter seit den 1980er Jahren auch Romane, die sich mit Migrationserfahrungen auseinandersetzen. Es fehlen jedoch weitgehend gattungstypologisch angelegte Monographien, welche die spezifische Neuartigkeit dieser Bildungsromane bestimmen. Selbmann schlägt vor, den Bildungsroman nicht mehr unter dem Anspruch zu erfassen, dass die Bildung inhaltliche und erzählstrategische Substanz für den gesamten Roman sein müsse, sondern plädiert für den Begriff „Bildungsgeschichte“, um ihn auf all diejenigen Romane anwenden zu können, „bei denen Bildungsstrukturen, -themen und -motive auftauchen“ (Selbmann 1988, 41). Zunehmend wird die Ausweitung der Gattungsbestimmungen gefordert. Die von Jürgen Jacobs und Markus Krause verfasste Einführung Der deutsche Bildungsroman. Gattungsgeschichte vom 18. bis zum 20. Jahrhundert (1989) stellt grundlegende Bestimmungen zum Gattungsbegriff vor und behandelt ausgehend von Wielands Geschichte des Agathon ausführlich paradigmatische Bildungsromane vor dem Hintergrund eines jeweils knapp umrissenen sozialgeschichtlichen Kontextes. Die Autoren beenden ihre Analysen mit Thomas Manns Zauberberg und kommen zu dem nach unseren Recherchen und gattungstypologischen Kennzeichnungen inakzeptablen Schluss: „Nach 1945 spielte der Bildungsroman in der Literatur der westlichen deutschsprachigen Länder, anders als in der DDR, kaum noch eine Rolle.“ (Jacobs/Krause 1989, 231) Einen weiteren groß angelegten Überblick zum Bildungsroman hat Gerhart Mayer mit seiner Studie Der deutsche Bildungsroman. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart (1992) vorgelegt. Er hält die Ausrichtung an Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre für eine unproduktive Verengung, da sich ein wissenschaftliches Konstrukt wie der Strukturtypus Bildungsroman niemals mit einem Roman in Einklang bringen lasse. Er votiert für eine Flexibilisierung der gattungstypologischen Bestimmungen, „um der historischen Wandelbarkeit der Romanart gerecht werden zu können.“ (Mayer 1992, 15) So stellt er erstmals eine beträchtliche Anzahl von Romanen des 20. Jahrhunderts unter Gattungsgesichtspunkten zusammen, lässt aber bei der Zuordnung von Bildungsromanen und Anti-Bildungsromanen zu unterschiedlichen Strukturtypen, insbesondere aber bei der Darstellung historisch variabler Merkmale, an Systematik zu wünschen übrig. In jüngster Zeit sind demgegenüber zwei diachron angelegte, so knappe wie konzise Studien erschienen, die im Hinblick auf den

3. Traditionsbildungen und Revisionen

Zusammenhang von Bild und Bildung (Voßkamp 2004) und unter dem Aspekt der Selbstreflexivität des Protagonisten (Jacobs 2005) jeweils exemplarische Bildungsromane untersuchen. Es ist auffällig, dass die Forschung zum deutschsprachigen Bildungsroman insbesondere durch Publikationen in England und Amerika wesentlich bereichert und vorangetrieben wurde. Bereits Roy Pascals Überblicksdarstellung unter dem Titel The German Novel (1956) – in der ausgehend von Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre anhand exemplarischer Werke des 19. und 20. Jahrhunderts der Bildungsroman als „story of the formation of a character up to the moment when he ceases to be self-centred and becomes society-centred“ (Pascal 1956, 11) behandelt wird – ist als erster richtungsweisender Versuch zu verstehen, den Forschungsstand an ein englischsprachiges Publikum zu vermitteln. Ab Ende der 1970er Jahre setzte dann aber bereits eine kritische Überprüfung der Sekundärliteratur ein. So plädiert Martin Swales in seiner Studie The German Bildungsroman from Wieland to Hesse (1978) für eine Revision überholter Gattungskennzeichnungen, die bereits bei genauer Analyse der kanonisierten Bildungsromane keinen Bestand mehr haben könnten (Swales 1978, 29). Mit seinem geistesgeschichtlichen Ansatz rückt er, wie viele Untersuchungen vor ihm, den Zusammenhang zwischen einem unpolitischen, auf die innere Welt gewendeten deutschen Kulturbegriff und der Vorliebe für den Bildungsroman in den Fokus des Interesses, betont aber, dass die Orientierung auf ein harmonisches Ende kein wesentliches Charakteristikum der Gattung Bildungsroman sein könne. Denn schon Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre zeichne sich durch Offenheit und eine vorbehaltvolle Indirektheit der Darstellung aus, weshalb es keine normative Lösung oder gar eine teleologische Struktur geben könne (Swales 1978, 26, 69 f.). Michael Beddow sieht in seinem Buch The Fiction of Humanity. Studies in the Bildungsroman from Wieland to Thomas Mann (1982) in der Entwicklung des Protagonisten nicht einmal mehr das Hauptanliegen des Bildungsromans, vielmehr stehe die übergeordnete Idee der Humanität im Zentrum (Beddow 1982, 2). Michael Minden betont in seiner Studie The German Bildungsroman. Incest and Inheritance (1997) nochmals, dass Diltheys Bestimmungen zum Bildungsroman dazu geführt hätten, Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre „as a novel of unproblematic personal development“ (Minden 1997, 48) zu charakterisieren und sich zu wenig auf Brüche und problematische Konstellationen einzulassen. In seiner als Überblick zur Bildungsroman-Forschung angelegten Abhandlung The German Bildungsroman: History of a National Genre (1994) hat Todd Kontje beklagt, dass in den Kanon von Bildungsromanen kaum Texte von Schriftstellerinnen aufgenommen wurden. Dieses Forschungsdesiderat machte er in seiner nachfolgenden Studie Women, the Novel, and the German Nation 1771 – 1871. Domestic Fiction in the Fatherland (1998) zum Untersuchungsgegenstand und befragt, beginnend mit Sophie von La Roches Geschichte des Fräuleins von Sternheim (1771) bis zu Eugenie Marlitts Das Geheimnis der alten Mamsell (1868), Romane von Autorinnen nach inhärenten Bildungsaspekten. Er stellt fest, dass von Schriftstellerinnen des 18. und 19. Jahrhunderts das Genre des Familienromans (domestic fiction) bevorzugt wird, bei dem in der Regel ein auf Heirat und Familiengrün-

Bildungsromanforschung in England und Amerika

Bildungsromane von Autorinnen

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II. Forschungsbericht

Weibliche Bildungsromane

Forschungsdesiderate

Tendenzen der Forschung zum Bildungsroman

dung zielender weiblicher Entwicklungsgang zum Thema wird. Da die Etablierung der bürgerlichen Gesellschaft jedoch ohne den Bereich des Privaten mit seiner geschlechtsspezifischen Rollenzuweisung undenkbar ist, sei der Familienroman, so seine These, als andere Seite des männlichen Bildungsromans zu verstehen. Zu den im Umfeld von Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre entstandenen Familienromanen zählt er Caroline von Wolzogens Agnes von Lilien (1796 – 97), Friederike Helene Ungers Julchen Grünthal (1784) und Therese Hubers Familie Seldorf (1795 – 96), Sophie Mereaus Das Blüthenalter der Empfindung (1794) sowie Johanna Schopenhauers Gabriele (1819) und bezieht sich damit auf Romane, die bereits von der feministischen Literaturwissenschaft der 1970er Jahre und der Gender-Forschung seit den 1980er Jahren untersucht worden sind (Gallas/Heuser 1990). Mit den zahlreichen Einzeluntersuchungen zur Funktion von Frauenfiguren für den Bildungsgang des männlichen Protagonisten, die verstärkt in den letzten beiden Dezennien des 20. Jahrhunderts erschienen, wurde vereinzelt auch die Frage nach weiblichen Bildungsromanen aufgeworfen (Heuser 1986; Schweitzer/Sitte 1985). Die Tendenz, Bildungsromane von Goethe aus in fortlaufender Reihe darzustellen, wie dies durch Titel wie Wilhelm Meister und seine Brüder (Jacobs 1972) oder Wilhelm Meister und seine Nachfahren (Fuhrmann 2000) angezeigt ist, greift Anja May in ihrer Dissertation Wilhelm Meisters Schwestern (2006) auf, in der sie sich jedoch lediglich auf Sophie von La Roches Geschichte des Fräuleins von Sternheim und Friederike Helene Ungers Julchen Grünthal bezieht, um Kennzeichnungen eines weiblichen Bildungsromans zu erläutern. Eine historisch umfassende, systematische Darstellung weiblicher Bildungsromane – verstanden als Romane, in denen (unabhängig vom Geschlecht des Autors) der Bildungsgang einer weiblichen Hauptfigur gestaltet ist – steht aber weiterhin aus. In der neueren Diskussion zum Bildungsroman wird gefordert, den Begriff Bildungsroman nicht allein auf Werke der deutschsprachigen Literatur anzuwenden. Selbmann hat vorgeschlagen, den deutschen Bildungsroman im Kontext der europäischen Romane zu verorten, denn die Behauptung, dass er eine spezifisch deutsche Prägung sei und eine Sonderform innerhalb der europäischen Romangeschichte darstelle, scheint ihm mit Blick auf Romane wie Dickens’ David Copperfield, Merediths Harry Richmond oder Flauberts L’Education sentimentale fragwürdig. Dass sich die Gattung Bildungsroman auch in anderen Nationalliteraturen herausgebildet hat, wird in neueren Untersuchungen betont (Hillmann/Hühn 2001; Mi-Suk 2000). Als Forschungsaufgabe stellt sich aber darüber hinaus, jene interkulturellen Bildungsromane zu untersuchen, die infolge der Arbeitsmigration nach Deutschland seit den späten 1970er Jahren erschienen sind. Diese Romane thematisieren Bildungswege als kulturübergreifende Integrationsprozesse und verleihen dem gattungstypischen Bildungscurriculum neue Dynamik. Zusammenfassend können wir sagen, dass bereits seit dem späten 18. Jahrhundert anhand exemplarischer Romane philologisch begründete Kategorien für einen neuen Romantypus erarbeitet wurden, bevor dann zu Beginn des 19. Jahrhunderts die eigentlichen Untersuchungen zum Bildungsroman mit betont geistesgeschichtlichen Ansätzen einsetzten. Der Versuch, in historisierender Manier eine deutsche Bildungstradition aus der Entstehung des Bildungsromans abzuleiten, erlebte in den 1880er Jahren vor al-

3. Traditionsbildungen und Revisionen

lem durch Diltheys Ausführungen einen Höhepunkt und trug wesentlich zur Wertschätzung der Gattung bei. Während sich die Forschung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch weitgehend mit den geistesgeschichtlichen Voraussetzungen zur Entstehung des Bildungsromans und kanonisierten Romanen des 18. und 19. Jahrhunderts auseinandersetzte, begann seit den 1970er Jahren eine kritische Revision der bisherigen Forschung und die Einbeziehung auch zeitgenössischer Romane. Kennzeichen der Forschungslage ist jedoch geblieben, dass die Bildungsromane des späten 18. und des 19. Jahrhunderts weitaus intensiver erforscht werden als die Romane des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts. Was bisher fehlt, sind systematische Analysen zum weiblichen und spezielle Untersuchungen zum interkulturellen Bildungsroman. Wenn vielfach moniert wurde, dass neuere Entwicklungen des Bildungsromans immer wieder im Rekurs auf Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre untersucht wurden, so können wir entgegenhalten, dass dies seine Berechtigung hat. Denn erst durch Goethes Roman kam der Gattung überhaupt herausragende literaturgeschichtliche Wirkungsmächtigkeit zu. Mit ihm steht ein gattungstypologisch vielfach diskutiertes, epochenübergreifendes Grundmuster zur Verfügung, das uns erlaubt, literarhistorisch argumentierend Varianzen und neue Entwicklungen in den Blick zu nehmen.

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III. Entstehungsbedingungen der Gattung 1. Sozialhistorische Voraussetzungen Aufstieg des Bürgertums

Bildungswesen

Die Entstehung einer Literaturgattung ist Ausdruck eines veränderten ästhetischen Ausdrucksbedürfnisses und verdankt sich der Entwicklung eines neuen Menschenbildes im Zuge sozialhistorischen Wandels. Der Bildungsroman entstand in einer Zeit forcierter bürgerlicher Selbstexplikation in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In dieser geistesgeschichtlichen Umbruchphase, die auch als „Sattelzeit“ (Koselleck 1979) bezeichnet wird, gehörten die Ideen der Aufklärung bereits zum kulturellen Wissen des sich konsolidierenden Bürgertums, und eine junge Autorengeneration suchte, dem neuen Selbstverständnis einen unverwechselbaren Ausdruck zu geben. Der Bildungsroman kann vor diesem Hintergrund als ästhetische Form der Verständigung über innovative Bildungsvorstellungen verstanden werden. Denn Basis für die zunehmende Hochschätzung, welche die Literatur in jener Zeit erfuhr, war die Etablierung einer sozialen Schicht, die sich über dieses Medium maßgeblich definierte. Sozialgeschichtlich war der Aufstieg eines städtischen Wirtschaftsbürgertums durch neue Handelsstrukturen und die Entstehung von Manufakturen begünstigt worden. Das merkantile Denken dieses Standes, das auf gewinnbringendes Kalkulieren und Investieren zielte, wurde von einem kaufmännischen Arbeitsethos getragen, das sich an Tugenden wie Zuverlässigkeit, Pflichterfüllung, Fleiß und Pünktlichkeit orientierte. Während dem Adel durch Geburtsstand und den in Zünften organisierten Handwerkern durch den Berufsstand ihre soziale Stellung zukam, musste sich das Bürgertum über spezifische Lebensstile, Repräsentationsformen und Wertvorstellungen erst als neue gesellschaftliche Schicht profilieren (Bourdieu 1998). Das Bürgertum befand sich in einer diskrepanten gesellschaftlichen Situation, denn obwohl es wirtschaftlich erstarkt war, blieb es politisch weitgehend machtlos. Lediglich die mittleren und unteren Verwaltungspositionen konnten von Bürgern eingenommen werden, während die einflussreichen Stellen im absolutistischen Staat dem Adel vorbehalten waren. Aber das staatlicherseits verbesserte Schulsystem und die Einrichtung neuer Universitäten, in denen die zukünftigen Beamten eine gute Ausbildung erhalten sollten, kamen auch dem Bürgertum zugute. Denn dieses setzte sich nicht nur aus wohlhabenden Stadtbürgern, sondern auch aus der mittleren Beamtenschaft zusammen, zu der mit Professoren, Lehrern und protestantischen Pfarrern die geistige Elite zählte. Mit wachsendem Wohlstand und zunehmender Bildung stieg das Selbstbewusstsein des Bürgertums, mit dem es sich von den unteren Ständen wie auch vom höfischen Adel abzugrenzen suchte, der aufgrund korrupter Machtausübung und moralisch verwerflichen Lebensstils kritisiert wurde. Demgegenüber suchte sich das Bürgertum durch ein aufstiegsorientiertes Leistungsethos und moralisch verbindliche Wertvorstellungen als soziale Gruppe zu profilieren.

1. Sozialhistorische Voraussetzungen

Gestützt wurden diese Abgrenzungsbemühungen durch eine epochal neue Bestimmung des Menschen. Bis ins Zeitalter des Barock war die Vorstellung prägend gewesen, dass der Mensch in eine von Gott gewollte Ordnung hineingeboren wird und dort eine ihm vorbestimmte soziale Position einnimmt. Nach christlicher Lehre war dem Menschen das Leben als Prüfung für seine eigentliche Jenseitsbestimmung aufgetragen. Die Kirche und der durch Gottes Gnaden nach Geburtsrecht eingesetzte Monarch bildeten unhinterfragbare Autoritäten. Doch mit den Ideen der Aufklärung vollzog sich im 18. Jahrhundert eine emanzipatorische Bewegung, die den überlieferten Autoritäten den bislang selbstverständlichen Gehorsam aufkündigte. Vor allem religiöse Vorstellungen wie die Lehre von der Erbsünde verloren an Evidenz, da der Mensch durch das Naturrecht, wie es Christian Thomasius (1655 – 1728) vertrat, als von Geburt an gut bestimmt wurde. Die Orientierung an der christlichen Offenbarung trat gegenüber der neuartigen Forderung zurück, seinen Verstand zu gebrauchen und durch Erfahrung zu lernen. Auch Immanuel Kant (1724 – 1804) betonte, dass das Leben nicht durch Gott vorherbestimmt ist, sondern durch den Einzelnen verändert und gestaltet werden kann. Mit dem in seiner Schrift Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784) programmatisch formulierten Aufruf, dass sich die Menschen aus ihrer „selbst verschuldeten Unmündigkeit“ (Kant 1968, 35) befreien sollen, gewann die Idee der Eigenverantwortlichkeit des Individuums überragende Bedeutung. Auf völlig neue Weise stellte sich nun die Aufgabe, das Leben selbst in die Hand zu nehmen und nach Möglichkeiten der Selbstverwirklichung zu suchen. So wurde mit der Aufklärung ein neues Selbstbewusstsein inauguriert, das den Einzelnen schließlich befähigen sollte, seine eigene soziale Situation zu überdenken, sich nach Maßgabe aller Möglichkeiten auszubilden und seinen Ort in der Gesellschaft selbst zu suchen. Die Fähigkeit, sich über neue Werte in Formen der Geselligkeit zu verständigen (Gutjahr/Kühlmann/Wucherpfennig 1993), und die Bereitschaft zu gemeinnützigem Wirken (Pikulik 1984) gewannen für das Ansehen des Menschen hohen Stellenwert. Es veränderte sich aber nicht nur die Beziehung des Individuums zur sozialen Ordnung, sondern auch seine Selbstbezüglichkeit grundlegend. Denn insofern die Entscheidungsbefugnis nicht mehr einer übergeordneten Instanz, sondern der eigenen Vernunft überantwortet werden sollte, wurde der Einzelne in die Pflicht genommen, sich selbst einen Orientierungsrahmen für moralisch vertretbares Handeln zu geben. Da die so emphatisch geforderte Emanzipation von überkommenen Autoritäten in der „noch grundsätzlich absolutistisch-feudal strukturierten Welt“ (Ruppert 1981, 22) außer durch Kampf wie in der Französischen Revolution (1789 – 99) gar nicht umsetzbar war, blieb zumindest die Möglichkeit, bisherige Wertvorstellungen und Glaubenssysteme neu zu durchdenken. Als eine noch dem religiösen Denken geschuldete Suchbewegung nach neuer Orientierung lässt sich in diesem Zusammenhang der Pietismus verstehen, mit dem die Empfindung des Einzelnen aufgewertet und eine Kultur der Innerlichkeit fundiert wurde. Wie sehr diese durch Philipp Jacob Spener (1635 – 1705) begründete protestantische Glaubensrichtung dem Bedürfnis nach einer Neudefinition der eigenen Lebensweise entgegenkam, macht der pietistische Glaubensweg deutlich. Um auf die Zeichen göttlicher Gna-

Die Ideen der Aufklärung

Selbstverantwortung des Menschen

Kultur der Innerlichkeit und Pietismus

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III. Entstehungsbedingungen der Gattung

,Schöne Seele‘

de vorbereitet zu sein, sollte der Gläubige in sich hineinhorchen und seine Seelenregungen beobachten, um durch das individuelle Erlebnis göttlicher Eingebung geläutert und gleichsam als neuer Mensch wiedergeboren zu werden. Es erschienen zahlreiche religiöse Bekenntnisschriften, und in kleinen Andachtszirkeln wurde über Erweckungserlebnisse berichtet, um die eigenen Erfahrungen als lehrhafte Beispiele zu vermitteln. Durch den SpenerSchüler August Hermann Francke (1663 – 1727), der davon ausging, dass den Kindern zunächst ihre Wildheit genommen und ihr Wille gebrochen werden müsse, um sie demütig und für die göttliche Gnade empfänglich zu machen, wurde der Pietismus auch zu einer wirkungsmächtigen pädagogischen Bewegung. Franckes Erziehungsprinzipien wurden für die staatliche Schulausbildung übernommen und boten für das bürgerliche Arbeitsethos eine christliche Rechtfertigung, denn der neue Glaube sollte sich lebenspraktisch durch Fleiß und Disziplin bewähren. Dass es bei diesen Erziehungsmaßnahmen auch immer um den Versuch ging, ethisch-moralische Verhaltensanweisungen im Innern des Menschen zu verankern, wird anhand des mit dem Pietismus in Deutschland populär gewordenen Begriffs der ,schönen Seele‘ deutlich. Der Begriff ist schon bei Platon und Plotin zu finden und wurde besonders von dem Pietisten Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf (1700 – 1760) und der 1722 von ihm gegründeten Herrnhuter Brüdergemeinde verwandt. Wenn hier von der Brautschaft der ,schönen Seele‘ mit Christus als Seelenbräutigam gesprochen wird, so bezieht sich der Begriff auf die unbedingte Hinwendung zum christlichen Glauben und die Verinnerlichung seiner Gebote. Friedrich Schiller (1759 – 1805) hat in seiner Abhandlung Über Anmut und Würde (1793) die ,schöne Seele‘ nicht bloß als Anlage, sondern als Ergebnis eines Verinnerlichungsprozesses gefasst: „Eine schöne Seele nennt man es, wenn sich das sittliche Gefühl aller Empfindungen des Menschen endlich bis zu dem Grad versichert hat, daß es dem Affekt die Leitung des Willens ohne Scheu überlassen darf, und nie Gefahr läuft, mit den Entscheidungen desselben im Widerspruch zu stehen. Daher sind bei einer schönen Seele die einzelnen Handlungen eigentlich nicht sittlich, sondern der ganze Charakter ist es.“ (Schiller 1992, 370) Anhand von Schillers Ausführungen wird deutlich, dass unter dem Begriff ,schöne Seele‘ die Internalisierung einer kulturell gebotenen Verhaltensweise verstanden wird, die so vollständig erfolgen soll, dass gar kein Bewusstsein mehr darüber besteht, dass es sich um eine anerzogene Norm handelt. Vielmehr wird das eigene Handeln, Denken und Fühlen gemäß moralischer Vorschrift als ,natürliche‘ Charakterdisposition empfunden. Auch Christoph Martin Wieland suchte in der dritten Fassung (1794) seines Romans Geschichte des Agathon den Begriff zu bestimmen: „Eine schöne Seele, welcher die Natur die Lineamenten der Tugend (wie Cicero es nennet) eingezeichnet hat, begabt mit der zartesten Empfindlichkeit für das Schöne und Gute, und mit angeborner Leichtigkeit, jede gesellschaftliche Tugend auszuüben, kann durch einen Zusammenfluß ungünstiger Zufälle an ihrer Entwicklung gehindert, oder an ihrer ursprünglichen Bildung verunstaltet werden. […] Eine schöne Seele kann sich verirren, kann durch Blendwerke getäuscht werden; aber sie kann nicht aufhören eine schöne Seele zu sein.“ (Wieland 1986, 664 f.) Wieland bezeichnet mit dem Begriff ,schöne Seele‘ demnach eine ,naturgegebene‘ Disposition

1. Sozialhistorische Voraussetzungen

zur Tugend. Er verbindet damit die Vorstellung von einem Charakterkern, der sich erst durch Prüfungen erweist, denn durch Tugendanfechtungen ergreife eine wahre ,schöne Seele‘ „das Verlangen sich selbst nach diesem göttlichen Ideal der moralischen Schönheit umzubilden“ (Wieland 1986, 664 f.). Pietistische Frömmelei wie überhaupt die völlige Versenkung in persönliche Glaubensinhalte und eine über die Grenzen der Rationalität hinausschießende Einbildungskraft wurden besonders seitens vernunftbetonter Aufklärer als ,Schwärmerei‘ kritisiert. So wurden Formen extremer religiöser Subjektivierung von der säkularen Strömung der Empfindsamkeit flankiert, bei der den Gefühlen, vor allem aber der Fähigkeit zu Liebe, Freundschaft und Empathie, eine hohe moralische Qualität zugesprochen wurde. In Zirkeln, in denen sich die Mitglieder als seelenverwandt erkennen sollten, und langen Briefwechseln, in denen sich die Partner ihre Gefühlsregungen mitteilten, etablierte sich ein ausgeprägter Freundschaftskult. In den zahlreich erscheinenden ,Moralischen Wochenschriften‘ wurden die neuen Tugenden propagiert, wobei die Darstellung des Gefühlslebens beispielhafter bürgerlicher Figuren zur Identifikation einladen sollte. Mit diesem Zusammenwirken von aufklärerischen Ideen, der Glaubensrichtung des Pietismus und der Betonung des Gefühls durch die Empfindsamkeit entstand in Deutschland eine spezifische Kultur der Innerlichkeit, mit der bürgerliche Kreise ihre politische Bedeutungslosigkeit zu kompensieren suchten. Im Zuge dieses Mentalitätswandels wurde die Familie als Ort der Privatheit aufgewertet. Da sich hier die Möglichkeit selbstbestimmter Lebensführung nach neuen bürgerlichen Tugenden eröffnete, wurde das Familienleben als Keimzelle einer neuen Gesellschaftsordnung verstanden, die politisch noch nicht realisierbar war. Auch die Vorstellung über die Ehe veränderte sich; sie wurde nicht mehr vornehmlich als Vernunftbündnis gesehen, sondern als Gefühls- und Geistesgemeinschaft, bei der für die Ehepartner die Erfüllung unterschiedlicher Geschlechterrollen vorgesehen war. In praktischer Hinsicht kam dem Mann die Aufgabe zu, durch seine Berufstätigkeit den Unterhalt der Familie zu sichern und dem Hause vorzustehen, während es Pflicht der Frau war, den Haushalt zu führen. Die Eheleute sollten aber nicht allein eine Zweckgemeinschaft bilden, sondern auch moralisch bildend aufeinander wirken. Von großer Wirkung für die Geschlechterdebatte um 1800 war Johann Gottlieb Fichtes (1762 – 1814) Grundlage des Naturrechts (1796), wonach die Ehe eine durch Natur notwendige Gemeinschaft von Mann und Frau ist, in welcher der rohe Geschlechtstrieb durch liebende Hingabe – insbesondere der Frau – zu einer Vorstufe moralischen Handelns transformiert werden soll. Aber auch der Hauptzweck der bürgerlichen Ehe, die Zeugung und Erziehung von Kindern, wurde nicht mehr nur im genealogischen Sinne als zukunftsweisende Aufgabe gesehen. In einer Epoche, in der die Erziehung zu neuen Werten als unabdingbares Grundanliegen für das bürgerliche Gemeinwohl erachtet wurde, kam der Familie als primärer Sozialisationsinstanz tragende Bedeutung zu. Die Erkenntnis begann sich durchzusetzen, dass nur derjenige für die bürgerliche Gesellschaft nutzbringend tätig werden kann, der auch verlässlich nach den neuen Leitideen erzogen wurde. So forderte der Pädagoge Johann Bernhard Basedow (1724 – 1790), dass in den „gesitteten Ständen“ die Kinder weniger

Empfindsamkeit

Familienordnung

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III. Entstehungsbedingungen der Gattung

Erziehung durch die Mütter

Bildung durch Lesen

zu konkretem stofflichen Wissen denn „zur moralischen Regelmäßigkeit der Wünsche und Vorsätze“ (Basedow 1965, 112) angehalten werden sollten. Gegen Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts erschien in rascher Folge eine überwältigende Anzahl einflussreicher Erziehungsschriften (vgl. Synopse im Anhang), in denen neue Erziehungsprinzipien und pädagogische Anweisungen für Erzieher formuliert werden. Dort geht es immer auch um geschlechtsspezifisch unterschiedliche Erziehungsvorgaben, denn Mädchen und Jungen sollten auf ihre unterschiedliche Rolle in Familie und Gesellschaft vorbereitet werden. Waren Frauen in ihrem Wirkungskreis weitgehend auf den familiären Bereich beschränkt, so wurde ihnen gerade in ihrem erzieherischen Einfluss auf die Kinder besondere Aufmerksamkeit zuteil. Die Vorstellung, dass moralisch integre Frauen in der Erziehung eine Vorbildfunktion übernehmen sollen, findet sich bereits in der 1698 in Deutschland erschienenen Schrift Von der Erziehung der Töchter (Traité de l’éducation des filles 1687) des französischen Geistlichen François de Salignac de la Mothe-Fénelon (1651 – 1715). Sein Anliegen, einfache, arbeitsame Ammen und Kindermädchen für eine erzieherische Tätigkeit auf den Schlössern heranzubilden, um dadurch den Sittenverfall des Adels aufzuhalten, konnte für das bürgerliche Haus übersetzt werden, insofern die Frau innerhalb der eigenen Familie vorbildhaft wirken sollte, um dem eigenen Stand moralisches Ansehen zu verleihen. In zahlreichen Erziehungstraktaten wurden Ratschläge erteilt, wie Töchter zu guten Hausfrauen und Müttern erzogen werden können. Zum repräsentativen Text über Erziehungsvorstellungen des späten 18. Jahrhunderts wurde Johann Heinrich Campes (1746 – 1818) Väterlicher Rath für meine Tochter. Ein Gegenstück zum Theophron (1789). Der Schulrat schreibt darin eine getrennte Erziehung für Mädchen bis zur Verheiratung vor, die auf die vielzitierte dreifache Bestimmung als „beglückende Gattinnen, bildende Mütter und weise Vorsteherinnen des innern Hauswesens“ (Campe 1988, 16 f.) abzielt. Dem Vater als Vorstand der Familie weist er die Aufgabe zu, die Erziehung grundsätzlich zu leiten, und der Mutter die Pflicht, durch vorbildliche Lebensweise die Töchter in weibliche Aufgaben und Fertigkeiten einzuführen. Angeborene Laster wie Schwachheit, Eitelkeit, Verführbarkeit und Kleingeistigkeit sollten zurückgedrängt und Tugenden wie Sanftmut, Gehorsam, Keuschheit und Sittsamkeit eingeübt werden. Bedenken erhebt Campe vor allen Dingen gegen die Beschäftigung junger Mädchen mit Literatur, weil diese sie von Bescheidenheit und Sittsamkeit abbringen könnte. Mit diesem Verdikt ist für die Bildungsmöglichkeiten von Frauen ein entscheidender Punkt angesprochen. Denn trotz aller Verpflichtung auf die weibliche Rolle wurde mit dem Mentalitätswandel im 18. Jahrhundert das Lesen zu einem Schlüssel für die Persönlichkeitsbildung. Da Mädchen keine Ausbildung an höheren Schulen und Universitäten zugestanden wurde, stellte die Lektüre von Büchern, die aus Bibliotheken entliehen werden konnten, eine wichtige Bildungsmöglichkeit im Hause dar. Frauen sollten sich jedoch nicht mit Fachwissen oder philosophischem Denken befassen, da Gelehrsamkeit vermännliche und sie ihrer eigentlichen Bestimmung als Mutter und Hausfrau entfremde. Höchstens wurde die maßvolle Lektüre schöner Literatur empfohlen, denn eine zu starke Vertiefung in die Bücher wurde wiederum

1. Sozialhistorische Voraussetzungen

als ,Lesewut‘ oder ,Lesesucht‘ verurteilt, die von den eigentlichen Aufgaben abhalte. So wurden in den ,Moralischen Wochenschriften‘, die sich teilweise direkt an die weibliche Leserschaft richteten, vornehmlich Fragen zur praktischen Lebensführung wie auch zu Ästhetik und Moral behandelt. Christoph Martin Wieland hat in seiner Schrift Weibliche Bildung (1786) jedoch hervorgehoben, dass „Imagination, Zartheit des Gefühls, Schönheit der Gesinnungen und Feinheit des Geschmackes“ (Wieland 1858, 180) bei Frauen weitaus besser ausgebildet seien als bei Männern. Unter weiblicher Bildung wurde also dezidiert nicht Gelehrsamkeit und die Fähigkeit zu reflektierend kritischem Denken verstanden, sondern eine ethisch-moralische Charakterbildung. Mithin ging es um die Einübung in den weiblichen Tugendkanon und die Entfaltung von Fähigkeiten, die mit dem gesellschaftlich sanktionierten Rollenverhalten kompatibel waren. Wie in den Gender-Forschungen der letzten Jahre vielfach herausgestellt, wurde mit der Konstruktion der asymmetrischen Geschlechterrollen die Frau nicht nur „aus der Generalisierungsbewegung des Menschen hinauskomplimentiert“ (Honegger 1991, 2), sondern ihr wurde auch die Bestimmung zugesprochen, die häuslichen Voraussetzungen für die Bildungsbestrebungen des Mannes zu schaffen (Frevert 1988, 28). Es wurde erwartet, dass Frauen durch ihre einfühlende Sensitivität und vorbildhafte Sittlichkeit im privaten Kreis wirken. Männer der bürgerlichen Schicht konnten hingegen die aufklärerisch emanzipatorischen Ideen, die ursprünglich theoretisch für alle Menschen gedacht waren, in weitaus größerem Umfang umsetzen. Denn ihnen stand die Möglichkeit offen, durch schulische Ausbildung, universitäres Studium, Reisen, Freundschaftsbünde und berufliche Tätigkeit an unterschiedlichsten Bildungsmöglichkeiten auch im öffentlichen Bereich zu partizipieren. Da die Rolle des Mannes nicht mehr selbstverständlich durch die Herkunft vorbestimmt war, sollten in der Erziehung bewegliches Denken und Kritikfähigkeit gefördert und Kreativität unterstützt werden. Ziel konnte es deshalb nicht mehr sein, zu blindem Gehorsam zu erziehen. Insofern nun aber die Sozialisation nicht mehr als Einübung in bestehende Normen gefasst wurde, kam der Förderung von individuellen Anlagen besondere Bedeutung zu. Propagiert wurde ein freies männliches Individuum, das lernt, seine Erziehungsvorgaben durch Bildung teilweise zu überwinden. In der Mädchenerziehung sollten hingegen ethische Grundsätze und Kenntnisse vermittelt werden, die sich mit den pflegerischen, erzieherischen und dienenden Aufgaben im häuslichen Bereich vereinbaren ließen. Zwar gab es auch Gegenstimmen wie die von Theodor Gottlieb Hippel (1741 – 1796), der in seiner Schrift Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber (1792) die Bürgerrechte für die Frau forderte, da nur durch sie „die Menschheit ihrer großen Bestimmung mit schnellen Schritten zueilen“ (Hippel 1977, 208) könne. Betty Gleim (1781 – 1827), die eine Lehranstalt für Mädchen leitete, mahnte mit ihrer Schrift Erziehung und Unterricht des weiblichen Geschlechts (1810) an, dass jungen Mädchen nicht nur eine Erziehung zur Hausfrauenrolle, sondern auch eine Entfaltung der Persönlichkeit zugestanden werden müsse (Becker-Cantarino 2000). Doch die um 1800 so rege diskutierten Ideen zur Bildung, die über die zahlreichen Erziehungsentwürfe der Zeit hinausgingen, bezogen sich weitgehend auf das männliche Subjekt. Vor diesem Hintergrund ist es nur allzu verständlich, dass entspre-

Männliche und weibliche Bildung

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III. Entstehungsbedingungen der Gattung

chend den geschlechtsspezifischen Vorstellungen der Zeit die Hauptfigur des Bildungsromans ein Jüngling in der Selbsterprobungsphase ist, auf dessen Bildungsweg Frauenfiguren in vielfältiger Weise prüfend, leitend und unterstützend auf ihn wirken.

2. Die Idee der Bildsamkeit Entwicklungsvorstellungen

Shaftesburys Moralphilosophie

Mit der neuen anthropologischen Vorstellung, dass das Leben in der Verantwortung des Einzelnen liegt, gewann die Idee der Bildsamkeit überragenden Stellenwert. Die prinzipielle Bildungsfähigkeit des Menschen wurde zunächst in Analogie zu einem botanisch-morphologischen Wachstumsbegriff verstanden. Wie Johann Friedrich Blumenbach (1752 – 1840) in seiner Abhandlung Über den Bildungstrieb und das Zeugungsgeschäft (1781) darlegte, kann die Entwicklung des Menschen analog dem pflanzlichen Wachstum gesehen werden, bei dem mit dem Keim bereits alle Anlagen vorhanden sind, die sich dann durch Metamorphose zur Blüte und Frucht entfalten. Dabei werden prinzipiell zwei Lehren unterschieden: zum einen die Präformationslehre, nach der Bildung als Vergrößerung und Fortentwicklung schon vorhandener Anlagen gesehen wird; zum anderen die Epigenesislehre, der zufolge Entwicklung sich als Neubildung aus der Verbindung von Anlage und Umwelteinflüssen bestimmen lässt. Goethe hat in seinen Vorarbeiten zu einer Physiologie der Pflanzen (1795) das Gesetz der Metamorphose, durch welche die Pflanze modifiziert wird, als Zusammenwirken von innerer Natur und äußeren Wachstumsbedingungen bestimmt. Wie sehr biologische Ansätze auch Erziehungsvorstellungen prägten, wird in Johann Heinrich Pestalozzis (1746 – 1827) Rede an sein Haus (1818) deutlich: „Unsichtbar liegen im Kind, schon ehe es geboren, die Keime der Anlagen, die sich in ihm durch sein Leben entfalten. Dem Baum gleich bilden sich die einzelnen Kräfte seines Seyns und Lebens durch die ganze Bildungsepoche des Menschen“ (Pestalozzi 1974, 266). Beim Rekurs auf naturwissenschaftliche Modelle wird jedoch immer betont, dass sich menschliche Entwicklung nicht als bewusstloses Ineinanderspiel von Anlage und Umwelt vollzieht, sondern als sittliche Entscheidung. Maßgeblich für die Vorstellung, dass der Mensch nur dann zu wahrer Bildung gelangt, wenn er die Gestaltung seines Lebens als moralische Aufgabe begreift, war der Moralphilosoph Anthony Ashley Cooper Shaftesbury (1671 – 1713) mit seiner Schrift Charakteristika der Menschen, Sitten, Meinungen, Zeiten (Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times 1711), die 1738 in Deutschland erschien. Nach seinem Ansatz zeigt sich die göttliche Ordnung in den natürlichen Charaktereigenschaften, Neigungen und Verhaltensweisen. Die Kultivierung der Affekte dient der Sittlichkeit und führt zu einer inneren Bildung (inward form), die eine vollendete Persönlichkeit auszeichnet. Moralisches Bewusstsein könne erst durch die Verbindung von Gefühl und Vernunft entstehen und müsse durch Imaginationsfähigkeit angeregt werden. Shaftesburys Thesen wurden sowohl für die Wertschätzung der Einbildungskraft im Bildungsprozess richtungsweisend wie auch für die anthropologische Idee, dass der Mensch auf Vervollkommnung ausgerichtet ist.

2. Die Idee der Bildsamkeit

Der Gedanke der Perfektibilität beschäftigte auch Immanuel Kant (1724 – 1804) in seiner Vorlesung Über Pädagogik, die er erstmals im Wintersemester 1776/77 hielt und in der es gleich zu Beginn heißt: „Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das erzogen werden muß.“ (Kant 1968, 441) Die Betonung liegt hierbei auf dem „muß“, denn nach Kants Vorstellung kann der Mensch allein durch Erziehung kultiviert und moralisch gebessert werden, um „seine Bestimmung“ (Kant 1968, 445) zu erreichen. Demnach müssen dem Kind bereits früh Erziehungsvorgaben vermittelt werden, da es beizeiten lernen soll, dass sich Handlungen an verbindlichen Prinzipien orientieren müssen. Dem Heranwachsenden soll aber durch die Auseinandersetzung mit der Kunst die Möglichkeit geboten werden, sich Handlungsspielräume zu erschließen und Entscheidungsfreiheit zu erobern. Damit wird es dem jungen Menschen – mit dem auch hier implizit ein Jüngling gemeint ist – möglich, seine soziale Verpflichtung gegenüber dem Gemeinwohl zu erkennen und zum Bürger zu reifen. Obwohl Kant also mit seiner Philosophie für die Emanzipation des Menschen von tradierten Autoritäten eintritt, macht er sich zugleich für eine Erziehung stark, in welcher der Heranwachsende zunächst durch Disziplinierung Herrschaft über sich selbst gewinnen soll, um sich dann mit kulturellen Traditionen auseinandersetzen zu können. Selbstbildung wird demnach erst durch einen individuellen Emanzipationsprozess möglich, nämlich durch die kritische Auseinandersetzung mit verbindlichen Erziehungsvorgaben. Denn durch künstlerische Betätigung kann das an Prinzipien orientierte Gewordensein teilweise überwunden und Individualität ausgebildet werden. Auch Gotthold Ephraim Lessing (1729 – 1781) geht in seiner späten Schrift Die Erziehung des Menschengeschlechts (1780) davon aus, dass der Mensch auf eine Vervollkommnung angelegt ist, die zugleich auf das Telos der Menschheitsentwicklung verweist: „Eben die Bahn, auf welcher das Geschlecht zu seiner Vollkommenheit gelangt, muß jeder einzelne Mensch (der früher, der später) erst durchlaufen haben.“ (Lessing 2001, 98) In ähnlicher Weise hat Christoph Martin Wieland in seinem Aufsatz Das Geheimnis des Kosmopoliten-Ordens von 1788 seine Bildungsvorstellungen zusammengefasst: „Die Natur […] hat einem jeden Menschen die besondere Anlage zu dem, was er sein soll, gegeben, und der Zusammenhang der Dinge setzt ihn in Umstände, die der Entwicklung derselben mehr oder weniger günstig sind; aber ihre Ausbildung und Vollendung hat sie ihm selbst anvertraut“ (Wieland o. J., 134). Auf diesem Entwicklungsgedanken basiert auch das Humanitätsideal, wie es Johann Gottfried Herder (1744 – 1803) emphatisch dargelegt hat. Er geht davon aus, dass Bildung bei der Auseinandersetzung mit der eigenen Erziehung beginnt. Im Journal meiner Reise im Jahre 1769 fragte er sich deshalb: „Wann werde ich so weit sein, um Alles, was ich gelernt, in mir zu zerstören, und nur selbst zu erfinden, was ich denke und lerne und glaube!“ (Herder 1997, 15) Bildung wird als individuelle Aufgabe jedes Einzelnen verstanden, sich im Sinne der Humanität zu vervollkommnen. Herder beruft sich dabei auf eine Idealvorstellung von Menschlichkeit, die bereits in der Antike mit Erziehung (paideia) verbunden war. Cicero entfaltete die Idee der humanitas beispielsweise in Über den Redner (De Oratore 55 v. Chr.), indem er von der Leistung des Menschen, sich durch Sprache, Vernunft und

Kant über Pädagogik

Lessing über Erziehung // Wieland über Bildung

Herder über Humanität

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III. Entstehungsbedingungen der Gattung

Humboldt über Bildung

Schiller über ästhetische Erziehung

Rechtsbewusstsein aus einem wilden, tierähnlichen Zustand herausgearbeitet zu haben, auf seine kulturschaffende Fähigkeit schließt. Von dieser als Grundbestimmung menschlichen Seins geht Herder aus und verbindet in seiner Schrift Briefe zu Beförderung der Humanität (1793 – 97) den Begriff der Humanität mit „Menschheit, Menschlichkeit, Menschenrechte[n], Menschenpflichten, Menschenwürde, Menschenliebe“ (Herder 1991, 147). Humanität meint also nicht Übernahme einer Idee, sondern aktives Wirken des Lernenden und impliziert das Vermögen, sich neue Bildungsbereiche zu erschließen. In seiner geschichtsphilosophischen Schrift Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774) fragt Herder, ob die Fortschritte in Kunst und Wissenschaft seit der Antike auch eine Verbesserung in moralischer Hinsicht bedeutet haben. Insofern er unter völkervergleichender Perspektive feststellt, dass jede Kultur eine eigenständige Entwicklung nimmt, verweist er auf die Notwendigkeit, im Bildungsprozess auch die eigene kulturelle Gewordenheit zu hinterfragen. Herder hat somit die Bildung zu einer Humanität im Blick, durch welche der Mensch sein ethisches Vermögen erweist wie auch seine Zugehörigkeit zur Menschheit realisiert. Wilhelm von Humboldt (1767 – 1835) hat eine Theorie der Bildung des Menschen entworfen, die eng mit dem Gedanken der Selbstbestimmung verknüpft ist. Nach seiner Ansicht kommt es für den Menschen darauf an, seine Anlagen auszubilden und sich den äußeren Einflüssen anzubilden. Humboldt sieht die Aufgabe des Daseins darin, „dem Begriff der Menschheit in unsrer Person, sowohl während der Zeit unsres Lebens, als auch noch über dasselbe hinaus, durch die Spuren des lebendigen Wirkens, die wir zurücklassen, einen so grossen Inhalt, als möglich, zu verschaffen“ (Humboldt 1960, 235). Wie Herder geht auch Humboldt von einer humanitätsphilosophischen Bildungsvorstellung aus, wonach es Auftrag des Menschen ist, sich zu seiner wahren Menschlichkeit auszubilden. Er fasst den Menschen als Schöpfer kultureller Objektivationen, die wiederum auf ihn zurückwirken. Da die inneren Kräfte des Menschen nur durch äußere Anregung zur Ganzheit ausgebildet werden können, kommt es im Dienste der ethischen Perfektibilität darauf an, dass durch eine Kultur auch hochwertige Bildungsmöglichkeiten angeboten werden. Dabei stellen Kunstwerke für Humboldt ein vorzügliches Bildungsmedium dar, insofern sich der Mensch erst durch die Auseinandersetzung mit künstlerisch geformten Idealen seiner Bestimmung bewusst werden und im Sinne der Humanität erfahren kann. Die Kunst legt somit nicht nur Zeugnis über die Bildung des Menschen ab, sondern wirkt auch wiederum bildungsfördernd auf ihn – und im Sinne eines kulturellen Erbes sogar auf die nachfolgenden Generationen. Die Vorstellung, dass nur über die Kunst die Bildung des Menschen möglich ist, wurde zu einer leitenden Idee der Epoche und besonders von Friedrich Schiller theoretisch gefasst. In seiner Schrift Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795) weist er dem Künstler für die ästhetische Erziehung eine herausragende Bedeutung zu, insofern er ihm den Auftrag zuschreibt, mit seinen Kunstwerken den Weg zur Humanität vorzugeben. Ästhetische Bildung wird nicht nur durch Unterricht oder das Studium der Ästhetik erreicht, sondern durch die Beschäftigung mit Kunst und den Vergleich schöner Werke. Mit dem Gedanken der ästheti-

2. Die Idee der Bildsamkeit

schen Erziehung verbindet Schiller eine Kultivierung der Affekte und des Geschmacks, die den Menschen befähigen soll, sich durch ästhetisches Urteilsvermögen und die Anregung der Einbildungskraft nach der humanistischen „Idee seiner Menschheit“ (Schiller 1992, 606) auszubilden. Die Entstehung des Bildungsromans verdankt sich zweifellos dem humanistischen Bildungsideal des ,ganzen Menschen‘, wie es in einer überwältigenden Fülle philosophischer, anthropologischer, pädagogischer und ästhetischer Schriften entfaltet wurde (Fiedler 1972; Stahl 1970). Wie nie zuvor wurde der Mensch als Schöpfer seiner selbst aufgewertet und dafür verantwortlich gemacht, durch eigene Bildung am Projekt der kulturellen Fortund ethischen Höherentwicklung der Menschheit mitzuwirken. Im humanitätsphilosophischen Sinne meint Bildung nun eindeutig nicht mehr Nachbildung eines göttlichen ,Urbildes‘, wie dies ursprünglich der Fall gewesen war (vgl. Kapitel I.1), sondern einen individuellen Selbstentwurf im Dienste der Perfektibilität. In diesem Sinne zielte Bildung nicht, wie dies im heutigen Sprachgebrauch vielfach gemeint ist, allein auf den Erwerb fachlichen Wissens und die Fähigkeit, sich durch begründetes ästhetisches Urteil mit Kunst auseinandersetzen zu können, sondern umfasst die Vorstellung von persönlichkeitsbildender Selbstverwirklichung. Damit wird auch deutlich, weshalb im Bildungsroman eine gesellschaftlich so hoch bewertete Bildungsinstitution wie die Universität nur eine marginale Rolle spielt. Denn die Aneignung von Fachwissen ist nach der humanitätsphilosophischen Bildungsvorstellung – im Übrigen auch bei Wilhelm von Humboldt – nur insofern unabdingbar, als sie fördernd auf den Ausbildungsprozess der im Menschen angelegten Humanität wirkt. Bildung ist somit nicht ohne den Erwerb von Wissen möglich, aber sie erfüllt sich nicht darin. Das Telos der Bildung liegt vielmehr im Menschen selbst. Doch um dieses Ziel zu erreichen, bedarf es der Entfaltung von unverwechselbarer Individualität durch die Auseinandersetzung mit der äußeren sozialen und einer künstlerisch geformten Welt. Dass dieser notwendige Weg durch lebensgeschichtliche Konkretion und Erfahrung nach humanitätsphilosophischer Anschauung als geradezu enthusiastische Suche nach dem bestmöglichen Selbst zu verstehen ist, dafür hat der Bildungsroman in großer Anschaulichkeit eine ästhetische Form gefunden.

Humanitätsphilosophischer Bildungsbegriff

3. Der Bildungsroman und flankierende Literaturgattungen Auch wenn es im ersten Moment paradox erscheint, ist die Entstehung des Bildungsromans als neue Literaturgattung im Zuge intensiver Diskussionen um die Notwendigkeit ästhetischer Erziehung zunächst einmal vor dem Hintergrund der Aufwertung des Theaters im 18. Jahrhundert zu verstehen. Denn wegen ihrer öffentlichen Wirksamkeit war die Bühne von vielen Dramatikern als Forum für aufklärerische Ideen entdeckt worden. Doch die Wanderbühnen, die größtenteils auf Jahrmärkten und großen Messen zur Belustigung des Publikums spielten, wurden bis ins letzte Drittel des 18. Jahrhunderts von den bildungsbeflissenen Bürgern nicht nur ästhetisch ge-

Aufwertung des Theaters

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III. Entstehungsbedingungen der Gattung

Der Briefroman

Richardsons Tugendromane

ring geschätzt, sondern waren auch unter moralischen Gesichtspunkten verpönt. Der Versuch des Leipziger Literaturprofessors und Dramatikers Johann Christoph Gottsched (1700 – 1766), in Zusammenarbeit mit der bedeutenden Theaterprinzipalin Friederike Caroline Neuber (1697 – 1760) literarisch anspruchsvolle Stücke auf die Bühne zu bringen, markiert einen entscheidenden Schritt hin zu einer umfassenden Theaterreform, die vom einfachen Stegreifspiel der umherziehenden Wanderbühnen bis zum ,stehenden Theater‘ und dem literarisch ambitionierten Nationaltheater führte. Mit neuen Stücken, wie Lessings bürgerlichen Trauerspielen Miß Sara Sampson (1755) und Emilia Galotti (1772), in denen die Selbstbehauptung der Protagonistin im Konflikt zwischen bürgerlichen Tugendforderungen und adliger Verführungsgewalt in Szene gesetzt wird, avancierte die Bühne zu einer „moralischen Anstalt“ (Schiller 1992), in der sich ein bürgerliches Publikum mit dem eigenen Wertekanon auseinandersetzen konnte. Damit wurde nicht nur das Schauspiel als hochstehende Kunstform gewürdigt, sondern auch das Theater als „[d]es sittlichen Bürgers Abendschule“ (Haider-Pregler 1980) zu einer Institution ästhetischer Bildung nobilitiert. So entwickelte sich die Bühne zu einem bevorzugten Medium bürgerlicher Selbstverständigung und Aufstiegsbestrebungen. Der Bildungsroman hat diese Wertschätzung des Theaters aufgegriffen und bekräftigt, insofern der Bühne als Forum der Selbsterprobung für die Hauptfiguren vielfach eine herausragende Rolle zukommt. Entscheidend ist aber, dass die Diskussion um bürgerliche Selbstbestimmung, die im Schauspiel auf unterschiedliche Dramenfiguren verteilt geführt wird, nun als „innre Geschichte“ eines Protagonisten erzählt wird. Es ist bezeichnend, dass die Entstehung des Bildungsromans, der eine individuelle Selbstsuche entfaltet, durch narrative Gattungen flankiert wird, in denen Formen privater Verständigung literaturfähig werden. Dies trifft insbesondere für den Briefroman zu, der als Folge von fiktiven Briefen über einen individuellen Entwicklungsprozess Aufschluss gibt oder in Form eines Briefwechsels eine Lebensgeschichte von unterschiedlichen Erzählerperspektiven aus beleuchtet. Durch den gattungstypologisch gegebenen Adressatenbezug bietet der Briefroman die Möglichkeit, eine Gesprächssituation zu fingieren, bei der unmittelbare Gefühlsäußerungen und intime Geständnisse ebenso zum Thema werden können wie ästhetische Werturteile. Dass der Briefroman in besonderer Weise für geeignet erachtet wurde, weibliche Bildung im Sinne der Erfüllung von Tugendforderungen und Charakterverfeinerung zu entfalten, zeigt die Favorisierung der tugendhaften Frau als Protagonistin dieses Genres. Zum Vorbild eines solchen Erzählens wurde vor allem der englische Schriftsteller Samuel Richardson (1689 – 1761), der in seinen Romanen bürgerliche Tugendideale und die Empfindsamkeit des Herzens gegen die unmoralische Galanterie des höfischen Adels setzte. In seinem Briefroman Pamela, or, Virtue Rewarded. In a Series of Familiar Letters from a Beautiful Young Damsel, to her Parents (1740) wird das Plotmuster der verführten Unschuld entfaltet, das später in vielen deutschsprachigen Werken aufgegriffen wurde. Die arme 15-jährige Pamela Anders kommt als Dienstmädchen in das vornehme Haus der mütterlichen Mrs. B. und wird zu einer jungen Dame erzogen. Doch nach dem Tod ihrer Förderin ist sie den Nachstellungen von deren Sohn ausgesetzt. Die junge Frau wird nach einem Fluchtver-

3. Der Bildungsroman und flankierende Literaturgattungen

such auf den Landsitz von Mr. B. verschleppt, doch als dem Entführer Pamelas Tagebuch in die Hände fällt, ist er von ihrer tugendhaften Unschuld so ergriffen, dass er sie gegen den Widerstand der Gesellschaft zur Frau nimmt. Um die trotz gewaltsamer Verführung unerschütterliche Tugendhaftigkeit der Frau geht es auch in einem weiteren Roman Richardsons mit dem Titel Clarissa, or, The History of a Young Lady (1748). Hier widersetzt sich die sittsame Titelprotagonistin aus bürgerlicher Familie dem Heiratsantrag eines gewissenlosen Aristokraten, selbst nachdem er sie in ein Londoner Bordell entführt und missbraucht hat. Clarissa stirbt als Märtyrerin bürgerlicher Verhaltenserwartung, denn erst nach ihrem Tod wird ihre moralische Unschuld seitens der Familie erkannt. Auch in Deutschland wurde der Briefroman mit einer empfindsamen Erzählerin als Protagonistin zu einer beliebten Gattung. Christian Fürchtegott Gellert (1715 – 1769) verfasste mit Das Leben der Schwedischen Gräfin von G. (1747/48) den ersten deutschsprachigen Briefroman, in dem die Titelheldin ebenfalls als Muster christlicher Tugendhaftigkeit gezeichnet ist und auf ihr Leben Rückschau hält. Als Tochter eines Landadeligen nach aufklärerischen Idealen erzogen, heiratet sie im Alter von 16 Jahren einen schwedischen Grafen. Doch ein Prinz, der es auf die junge Frau abgesehen hat, entsendet den frisch vermählten Grafen in den Krieg. Die Gräfin flieht vor den Zudringlichkeiten des Prinzen ins Ausland und heiratet, nachdem sie vom Tod ihres Mannes erfährt, dessen Freund. Als ihr vermeintlich getöteter Mann jedoch nach langjähriger Gefangenschaft unerwartet zurückkehrt, hat für die Gräfin diese Ehe Vorrecht, jedoch bleibt das wiedervereinigte Paar auch mit dem zweiten Ehemann aufs engste verbunden. Gellert entwirft in seinem Roman ein im Folgenden häufig variiertes literarisches Modell von Privatheit, bei der von der Protagonistin auch bei größten emotionalen Verwicklungen eine an Tugendnormen orientierte, moralisch integre Lösung gefunden wird. Richtungsweisend für den Bildungsroman wurde aber auch der Erziehungsroman, dem für den erzieherischen Impetus der Aufklärung besondere Bedeutung zukam. Denn zunächst glaubte man noch, mit einem Tugendkanon allgemeingültige geistige und moralisch-ethische Normen als Sozialisationsziele angeben zu können. Ein seinerzeit viel gelesener Erziehungsroman war Fénelons Die Abenteuer des Telemach (Les aventures de Télémaque 1699), in dem sich – an das vierte Buch der Odyssee anknüpfend – der jugendliche Telemach auf der Suche nach seinem Vater zu einer abenteuerlichen Reise durch den Mittelmeerraum aufmacht und dabei zum Mann heranreift. Einen kaum zu überschätzenden Einfluss auf die deutschsprachige Literatur des 18. Jahrhunderts gewann dann aber Jean-Jacques Rousseaus (1712 – 1778) Erziehungsroman Emil oder über die Erziehung (Émile ou de l’éducation 1762), der als fiktive Biographie in pädagogischer Absicht konzipiert ist und mit der Jugendgeschichte des Protagonisten Emil einen exemplarischen Entwicklungsgang in genau festgelegten Erziehungsschritten entfaltet. Demnach soll das Kind nach einer Phase körperlicher Kräftigung in einem naturverbundenen Leben die Sinnesorgane stärken und seine Verstandeskräfte frei entfalten, um dann seine altersgemäße Begeisterungsfähigkeit mit dem Lesen lehrreicher Bücher wie Daniel Defoes Robinson Crusoe (1719) zu verbinden. Außerdem sind eigene wissenschaftliche

Gellert: Das Leben der Schwedischen Gräfin von G.

Bedeutung des Erziehungsromans für den Bildungsroman

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III. Entstehungsbedingungen der Gattung

Autobiographie als individuelle Lebensgeschichte

Spezifik des Bildungsromans

Studien und das Erlernen eines Handwerks vorgesehen. Schließlich soll das sittliche und religiöse Bewusstsein ausgebildet, die Einordnung in die Gemeinschaft unterstützt und die Ichbezogenheit in Nächstenliebe überführt werden. Im Zentrum der Erziehungsvorstellungen steht zwar der Protagonist Emil, doch das fünfte Buch enthält neben allgemeinen Betrachtungen über Frauen und ihre Erziehung auch die Entwicklungsgeschichte Sophies, die dem Jüngling zur Frau bestimmt ist. Auch wenn gelegentlich vermerkt wird, dass Mann und Frau bei allen körperlichen Unterschieden von Natur aus geistig ebenbürtig sind, werden die Differenzen in ihrer ,natürlichen‘ Bestimmung deutlich hervorgehoben. Aus Sophies zukünftiger Aufgabe, Kinder zu gebären und aufzuziehen, folgt auch ihre häusliche Rolle. Sie soll zu einer liebevollen Mutter und hingebungsvollen Gattin erzogen werden, denn die anthropologische These Rousseaus lautet, dass die Frau geschaffen ist, um dem Mann gefällig zu sein. Für den Bildungsroman ist Rousseaus Emil oder über die Erziehung nicht nur ob der hier formulierten Erziehungsvorstellungen in hohem Maße prägend geworden, sondern auch im Hinblick auf die Stufenfolge der Entwicklung und die Ergänzungsfunktion der Frau für den männlichen Selbstfindungsprozess. Die Gattung Autobiographie, die es in unterschiedlichen Ausformungen bereits seit der Antike gibt, veränderte sich im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts entscheidend (Wagner-Egelhaaf 2005). Die erzählte Lebensgeschichte eines Autors war zuvor religiöse Lebensbeichte, Berufsautobiographie oder Abenteuergeschichte gewesen, doch nun wurde sie zur Darstellung einer individuellen Lebensgeschichte, deren Einzigartigkeit nachdrücklich betont wird. Auch hier wirkte Rousseau mit seiner postum erschienenen Autobiographie Bekenntnisse (Les Confessions 1782/88) prägend auf die Romane der Zeit. Geradezu programmatisch kündigt Rousseau zu Beginn des ersten Buches eine rückhaltlose Offenheit seines Erzählens an: „Ich will vor meinesgleichen einen Menschen in aller Wahrheit der Natur zeigen, und dieser Mensch werde ich sein.“ (Rousseau 1985, 37) Mit seiner schonungslosen Selbstanalyse wollte er zur Erkenntnis über den menschlichen Charakter beitragen, denn über exemplarische Lebensläufe sollte die Leserschaft für das eigene Leben lernen. So formulierte auch Herder in Bezug auf die Autobiographie: „Hätte ein einzelner Mensch nun die Aufrichtigkeit und Treue, sich selbst zu zeichnen, ganz wie er sich kennet und fühlet […]: welche lehrende Exempel wären Beschreibungen von der Art!“ (Herder 1994, 341) Der Wunsch, individuelle Existenz zur Anerkennung zu bringen, wie er der neuen Form der Autobiographie zugrunde liegt, prägt auch die Gestaltung des Bildungsromans. Während die Autobiographie aber meist aus der Altersperspektive geschrieben und mit einer Lebensbilanz verbunden ist, wird im Bildungsroman ein jungendlicher Protagonist in der Phase suchender Selbsterprobung zur Hauptfigur. Somit geht es bei der Darstellung eines Lebensweges im Bildungsroman immer auch darum, ihm in seiner unverwechselbaren Individualität gerade durch die Entfaltung des inneren Erlebens seinen signifikanten Ausdruck zu verleihen. Vor dem Hintergrund der sozialgeschichtlichen Entwicklung der ,Sattelzeit‘ mit der wirkungsmächtigen Diskursivierung humantitätsphilosophischer Bildungsvorstellungen und der Favorisierung individualitätsexplizierender Literatur gibt der Bildungsroman der epochalen Veränderung in

3. Der Bildungsroman und flankierende Literaturgattungen

der Bestimmung des Menschen ästhetische Form. Die Entstehung des Bildungsromans verdankt sich zweifelsohne der herausragenden künstlerischen Blütezeit um 1800, in welcher die deutschsprachige Literatur überzeitliche Bedeutung und in dieser Klassizität auch Weltgeltung erreichte. Auch wenn in späteren Epochen die humanitätsphilosophische Bildungsidee nur noch als historische Reminiszenz Gestalt gewann, ist für den Bildungsroman weiterhin prägend, dass mit der Entfaltung einer individuellen Lebensgeschichte auch die Reflexion über die jeweiligen geschlechtsspezifischen Erziehungsvorstellungen und Individuationswünsche verbunden ist. Darüber hinaus bleibt die Möglichkeit ästhetischer Bildung unter sich wandelnden medialen und kulturellen Bedingungen wesentliches Ferment des Bildungsromans.

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IV. Poetologische Bestimmungen 1. Form des Romantypus Das Drama als Vorbild und die Bedeutung szenischen Erzählens

Vorteile des Romans gegenüber dem Drama

Poetologische Bestimmungen zum Bildungsroman fragen nach den Prinzipien dichterischen Schreibens, die diesen Romantypus auszeichnen. Seit dem späten 18. Jahrhundert wurde in zahlreichen Untersuchungen nach der spezifischen Ausgestaltung gefragt, die den Bildungsroman von anderen Literaturformen unterscheidet. Da Blanckenburg in seinem Traktat Versuch über den Roman (1774) weder an eine Romanpoetik anknüpfen noch auf einen Kanon deutschsprachiger Romane zurückgreifen konnte, stützte er sich in seinen poetologischen Kennzeichnungen neben Wielands Geschichte des Agathon aus dem Jahre 1766/67 (vgl. Kap. III. und VI.1) vornehmlich auf die seinerzeit führenden englischsprachigen Romane wie Samuel Richardsons Pamela (1740) und Clarissa (1748) sowie Henry Fieldings Tom Jones (1749). Mit einem aufklärungsdidaktisch-wirkungsästhetischen Ansatz forderte er zunächst, die erzählte Geschichte müsse so gestaltet sein, dass sie beim Lesen moralische Empfindungen wecke. Wie dies erreicht werden könne, suchte er in einer Art gattungstheoretischer Parallelisierung zu verdeutlichen. Denn er konnte sicher sein, dass seine an ästhetischen Fragen interessierte Leserschaft das neu entstandene bürgerliche Drama hinreichend kannte. Er richtete den Roman an den Regeln des Dramas aus und machte den dramaturgischen Begriff „Scene“ zu einer Grundbestimmung des neuen Romans, insofern er forderte, der moderne Dichter solle szenisch vorstellend, mithin anschaulich erzählen: „Diese Scene ist fürs Ganze des Werks so nothwendig, als irgend eine.“ (Blanckenburg 1965, 327) Auch wenn Blanckenburg in seinen weiteren Erörterungen dem Roman als zeitgemäßerer Gattung den Vorzug gab, weil im Erzählen der gesamte Verlauf eines Entwicklungsprozesses zur Darstellung komme, während das Drama lediglich „schon fertige und gebildete Charaktere“ (Blanckenburg 1965, 390) zeigen könne, war für ihn die Fähigkeit zum szenischen Erzählen wesentlich. Und in der Tat ist diese bei den nachfolgenden poetologischen Bestimmungen weitgehend in Vergessenheit geratene Kennzeichnung für die Interpretation von Bildungsromanen besonders praktikabel. Denn da die Romane nicht selten von beträchtlichem Umfang sind und einen vielschichtigen Entwicklungsgang gestalten, eignen sich signifikante Szenen, in denen etwa eine Problemkonstellation oder eine neue Bildungsstufe verdichtet veranschaulicht wird, besonders für eine eingehendere Interpretation, um darüber eine weiter ausgreifende Deutung entwickeln zu können. Auch in poetologischen Untersuchungen des 19. Jahrhunderts wurde immer wieder auf Vergleichspunkte und Unterschiede zum Drama hingewiesen. Morgenstern betont, dass für den Roman zuerst „seine Verschiedenheit vom Drama in Betracht“ (Morgenstern 1988, 56) komme. Zwar hat Martini später kritisiert, dass Morgenstern der Poetiktradition des 18. Jahrhunderts

1. Form des Romantypus

verhaftet geblieben sei, indem er den Roman mit dem Drama konfrontiere, ohne sich grundsätzlicher auf die Gattungsästhetik der epischen Großform einzulassen (Martini 1961). Doch darf nicht vergessen werden, dass es dabei auch immer um die Nobilitierung des Romans gegenüber der anerkannten dramatischen Gattung ging. Vor allem aber konnte – anders als im Vergleich mit epischen Formen – darauf hingewiesen werden, dass mit dem breit angelegten Erzählen im Roman die ideale Voraussetzung für die Entfaltung eines Bildungsprozesses gegeben ist. Auch Morgenstern sieht den entscheidenden Vorteil der epischen Gattung darin, „daß im Roman zum Entwickeln und Auseinanderlegen der Gesinnungen mehr Zeit und Raum ist als im Drama; daß ferner im leztern die Charaktere als schon fertig da stehn, im Roman aber vor unsern Augen sich erst bilden sollen.“ (Morgenstern 1988, 57) Als entscheidendes poetologisches Kennzeichen des Bildungsromans wird somit der Erzählprozess selbst als Bildungsprozess gefasst. Der Bildungsroman hat demnach nicht nur die Bildung eines Protagonisten zum Thema, sondern entfaltet diese Entwicklung durch spezifische narrative Strategien. Vor diesem Hintergrund wollen wir uns Blanckenburgs viel zitierte Feststellung, dass „die Ausbildung und Formung, die ein Charakter durch seine mancherley Begegnisse erhalten kann, oder noch eigentlicher, seine innre Geschichte, das Wesentliche und Eigenthümliche eines Romans ist“ (Blanckenburg 1965, 392), genauer ansehen. Das Erzählen, das hier gefordert wird, soll auf einen inneren Schauplatz verweisen, auf eine charakterliche Entwicklung, die nur indirekt erschlossen werden kann. Nach Blanckenburgs Meinung ist der neue Roman biographisch ausgerichtet und psychologisch argumentierend. Aus dem Gang der Darstellung müsse zwingend und plausibel hervorgehen, weshalb sich ein Protagonist so und nicht anders entwickelt. Denn dass Blanckenburg die „innre Geschichte“ als vorzüglichstes Charakteristikum des modernen Romans erachtet, machen seine eindringlichen wie rhetorisch hoch geschraubten Forderungen deutlich: Es scheint auf den ersten Augenblick schon eine Beleidigung, – wenigstens eine strafbare Geringschätzung und Gleichgültigkeit für das, was wir selbst sind, wenn wir aus den Begebenheiten, aus dem Aeußern des Menschen das Hauptwerk in Fällen machen, wo es uns frey steht, aus dem Innern desselben, aus dem, was eigentlich Mensch ist, und heißt, unsern Endzweck zu bilden. Der Mensch selbst war ehe, als Begebenheit oder Vorfall; er läßt sich ohne sie; ein Vorfall, eine Begebenheit, eine That nicht ohne Menschen denken. Und sehr philosophisch, sehr richtig über den wahren Werth des Menschen, über das, was er zuerst seyn sollte, heißt es auch nicht gedacht, wenn wir den Gesichtspunkt, aus dem die menschliche Natur eigentlich zu betrachten, und aus dem allein des Menschen Verdienst und Unverdienst, Glück oder Elend zu entscheiden ist, über seinem Aeußern vergessen. Und ist etwan dies Innre nicht das Wichtigste bey unserm ganzen Seyn? Kann der Leser aufgeklärter werden, kann er richtiger über das denken lehren, was ihm zu wissen gerade am nöthigsten ist. – und deßwegen am nothwendigsten, weil man ihn so herzlich wenig davon lehrt – wenn seine Lehrer, seine so genannten Vormünder, ihm das, als das Wesentlichste zeigen, was es nun gerade zu gar nicht, oder nur in Beziehung auf sein Innres nur ist? – Wenn der

Die „innre Geschichte“

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IV. Poetologische Bestimmungen

Dichter nicht das Verdienst hat, daß er das Innre des Menschen aufklart, und ihn sich selber kennen lehrt: so hat er gerade – gar keins. (Blanckenburg 1965, 355 f.)

Innerlichkeitsroman

Die psychologische Dimension

Blanckenburg verbindet in seinen Ausführungen die seinerzeit viel diskutierte Innerlichkeit des Menschen mit dem neuen Romantypus. Er konzediert, dass das Innere zwar ohne eine äußere Geschichte nicht darstellbar sei und „die anschauende Verbindung zwischen dem Innern und dem Aeußern des Menschen“ (Blanckenburg 1965, 360) stets gegeben sein muss, aber er insistiert doch immer wieder auf der Priorität des inneren Geschehens: „Ich weis es, daß unser Inneres und Aeußeres so mit einander verwebt sind, daß beyde gleich sehr zu unsrer Glückseligkeit beitragen; aber ich weis auch, daß dies Innre allein von unserm Glück oder Unglück, Verdienst oder Unverdienst entscheidet.“ (Blanckenburg 1965, 357) Blanckenburg erweist sich in seinem umfänglichen Text als Pionier moderner Romanpoetik, und der Hervorhebung seiner Leistung kann nur zugestimmt werden: „Die Abkehr von der äußeren Einheit der Handlung zugunsten der ,inneren Geschichte‘ ist einer der bemerkenswerten Vorgänge in der europäischen Romankunst des 18. Jahrhunderts“ (Lämmert 1965, 556). Mit der Analyse von Bildungsromanen sind wir also immer vor die Aufgabe gestellt, das Erzählte dahingehend zu befragen, wie die Persönlichkeitsentwicklung der Hauptfigur über ein äußeres Geschehen – wie eine Reise, die Begegnung mit anderen Figuren oder die Auseinandersetzung mit Kunst – zur Darstellung gebracht wird. Vielfach wurde der Bildungsroman wegen der Entfaltung einer ,inneren Geschichte‘ auch als Innerlichkeitsroman bezeichnet. Martini meint sogar, dass mit den poetologischen Kennzeichnungen des Bildungsromans auch eine „Theorie des Innerlichkeitsromans“ (Martini 1961, 60) entwickelt wurde. So geht Stahl davon aus, dass im Bildungsroman das äußere Geschehen nur deshalb von Bedeutung sei, weil es als Einfluss auf die innere Entwicklung des Helden zur Darstellung komme: „Dahin zielt aber gerade der Bildungsroman ab – die Daseinsform eines Menschen zu erfassen und genetisch zu begreifen, kein Geschehen bloß äußerlicher Natur zu beschreiben, sondern nur solchen Ereignissen in der Erzählung Raum zu gewähren, die, in näherer oder entfernterer Weise, auf das Gestalt gewinnende Innere des Menschen einen Einfluß ausüben.“ (Stahl 1970, 115) In diesem Zusammenhang wird die Psychologisierung als wesentliches Element des Bildungsromans bestimmt: „Die Idee des Werdens, und zwar des Werdens in einem bestimmten Sinne und auf ein bestimmtes Ziel hin, muß als Grundlegendes für den Bildungsroman vorausgesetzt werden. Dieser verrät so seine Herkunft aus einer Zeit, die psychologische und pädagogische Interessen hatte und gerade diesen genetischen Gedanken, die Idee der Bildung, als ein in diesem Bereich Neues brachte.“ (Stahl 1970, 116) Auch Dilthey hat in seinen einflussreichen poetologischen Bestimmungen in Abgrenzung von der Autobiographie die psychologische Dimension des Bildungsromans hervorgehoben. Für ihn unterscheidet sich dieser Romantypus von allen vorangegangenen biographisch orientierten Dichtungen dadurch, dass eine Psychologie entfaltet wird, ohne im Individualismus zu verharren:

1. Form des Romantypus

Immer hatte es im Zusammenhang mit der Biographie Romane gegeben, die ihren Helden von der Kinderstube und dem Schulweg ab begleiteten. Solcher Einblick in das Innere eines Lebensganges mußte dahin führen, die bedeutsamen Momente desselben nach ihrer typischen Form herauszuheben. Das vollkommenste Beispiel einer solchen Darstellung ist der Tom Jones von Fielding. Aber von allen älteren biographischen Dichtungen unterscheidet sich doch der Bildungsroman dadurch, daß er bewußt und kunstvoll das allgemein Menschliche an einem Lebensverlaufe darstellt. Er steht überall in Zusammenhang mit der neuen Psychologie der Entwickelung, wie Leibniz sie begründete, mit dem Gedanken einer naturgemäßen dem inneren Gang der Seele nachgehenden Erziehung, wie er von Rousseaus Emile ausging und ganz Deutschland fortriß, und mit dem Ideal der Humanität, durch das Lessing und Herder ihr Zeitalter begeistert haben. (Dilthey 2005, 253) Das „allgemein Menschliche“, das Dilthey hier hervorhebt, verlangt bei aller Insistenz auf einer individuellen Lebensgeschichte demnach eine narrative Gestaltung durch paradigmatische Situationen oder symbolhafte Überhöhung. Georg Lukács hat in seiner 1916 veröffentlichten Theorie des Romans darauf hingewiesen, dass mit dem Erzählen eine „Geschichte der Seele“ dargelegt werde: „Der Roman ist die Form des Abenteuers des Eigenwertes der Innerlichkeit; sein Inhalt ist die Geschichte der Seele, die da auszieht, um sich kennenzulernen, die die Abenteuer aufsucht, um an ihnen geprüft zu werden“ (Lukács 1976, 78). Deutlich profiliert Lukács den neuen Romantypus gleichsam als Transposition des an der äußeren Handlung orientierten Abenteuerromans auf einen Schauplatz des Psychischen. Gekennzeichnet wird damit ein Erzählen, bei dem die geschilderten Ereignisse und Begebenheiten Rückschlüsse auf die innere Verfassung der Hauptfigur ermöglichen. Während poetologische Untersuchungen des 19. Jahrhunderts den Bildungsroman überwiegend durch Vergleiche mit anderen Literaturformen oder unter inhaltlichen Aspekten zu bestimmen suchten, wurde im 20. Jahrhundert in Einzelstudien auch die narrative Form der Romane untersucht (z. B. Tiefenbacher 1982). Besonders der Erzähler rückt dabei ins Blickfeld, da durch seine Perspektive die „innre Geschichte“ des Protagonisten zur Darstellung gelangt. Die narrative Instanz kann sowohl über die Hauptfigur erzählen als auch in der Ich-Erzählung mit ihr identisch sein. Teilweise wird innerhalb eines Romans die Erzählform gewechselt, wenn beispielsweise Briefe eingefügt sind oder lange wörtliche Figurenrede eingesetzt wird. Schrader hat herausgestellt, dass die Bildungshelden zumeist einem überlegenen Erzählerbewusstsein unterstellt sind. Insofern in den Romanen „Bildung als künstlerischer Schaffensprozess“ (Schrader 1975, 16) gefasst werden kann, sei nicht nur der Protagonist, sondern auch der Erzähler in diesen produktiven Prozess eingebunden. Die erzählte Bildungsgeschichte reflektiere also zugleich den Prozess künstlerischer Produktivität. Schrader geht von der These aus, dass der „Bildungsroman als Mimesis poietischer Produktivität“ (Schrader 1975, 21) zu verstehen ist, und schlägt vor, die Darstellung eines Bildungsweges auch unter diesem autoreflexiven Aspekt zu betrachten. Weil nämlich die Bewertung des dargestellten Entwicklungsgangs

Die Funktion des Erzählers

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IV. Poetologische Bestimmungen

durch das Bewusstsein des Erzählers geprägt ist, stehen Erzähler und Protagonist in einem spannungsreichen Verhältnis. Dies gilt auch, wenn der gereifte Ich-Erzähler über sein früheres Ich berichtet. Gerade für Bildungsromane ergeben sich aufschlussreiche Deutungsansätze, wenn nicht nur die Hauptfigur, sondern auch die Beziehung zwischen Erzähler und erzählter Figur unter dem Aspekt der Bildung betrachtet wird.

2. Konzeption des Protagonisten Der ,ganze Mensch‘

Die Konzentration auf die individuelle Entwicklungsgeschichte einer zentralen Figur kann als wesentliche poetologische Bestimmung des Bildungsromans gelten. Blanckenburg forderte, der Dichter solle nicht Helden mit unveränderlichen Eigenschaften darstellen, sondern habe die Aufgabe, „einen ganzen werdenden Menschen“ (Blanckenburg 1965, 519) durch seine Romankunst lebendig werden zu lassen. Er betont, dass die Lebensgeschichte eines Individuums in einer kausalen Verknüpfung von Ursachen und Wirkungen entwickelt werden solle, der Bildungsgang also plausibel sein müsse. Schlegel hat orientiert an Goethes Werk erläutert, dass es darum gehe, „wie die Bildung eines strebenden Geistes sich still entfaltet, und wie die werdende Welt aus seinem Innern leise emporsteigt“ (Schlegel 1967, 126). Demgegenüber hat Novalis mit seiner kritischen Anmerkung „Das Ganze ist ein nobilitirter Roman. Wilhelm Meisters Lehrjahre, oder die Wallfahrt nach dem Adelsdiplom“ (Novalis 1968, 646) deutlich gemacht, dass der Wunsch nach höherer Bildung nicht selten im Dienste des Strebens nach einem höheren sozialen Stande steht. Denn der Bildungsweg des Protagonisten bedarf zumindest ein Stück weit der Möglichkeit des selbst erprobenden Spiels und der materiellen Zweckfreiheit, will er nicht zum taktischen Aufstiegsdenken oder zu anpasserischer Eingliederung herabsinken, wie dies Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 – 1831) in seinen 1817 bis 1829 gehaltenen Vorlesungen über die Ästhetik in ironischer Weise beschrieben hat. Ohne den Begriff Bildungsroman zu gebrauchen, gibt er einen kurzen Abriss zur Konzeption der Hauptfiguren in den zeitgenössischen Romanen, die er als ,neue Helden‘ versteht: Sie stehen als Individuen mit ihren subjektiven Zwecken der Liebe, Ehre, Ehrsucht oder mit ihren Idealen der Weltverbesserung dieser bestehenden Ordnung und Prosa der Wirklichkeit gegenüber, die ihnen von allen Seiten Schwierigkeiten in den Weg legt. Da schrauben sich nun die subjektiven Wünsche und Forderungen in diesem Gegensatze ins unermeßliche in die Höhe; denn jeder findet vor sich eine bezauberte, für ihn ganz ungehörige Welt, die er bekämpfen muß, weil sie sich gegen ihn sperrt und in ihrer spröden Festigkeit seinen Leidenschaften nicht nachgibt, sondern den Willen eines Vaters, einer Tante, bürgerliche Verhältnisse usf. als ein Hindernis vorschiebt. Besonders sind Jünglinge diese neuen Ritter, die sich durch den Weltlauf, der sich statt ihrer Ideale realisiert, durchschlagen müssen und es nun für ein Unglück halten, dass es überhaupt Familie, bürgerliche Gesellschaft, Staat, Gesetze, Berufsgeschäfte usf. gibt, weil diese substantiellen Lebensbeziehungen sich mit

2. Konzeption des Protagonisten

ihren Schranken grausam den Idealen und dem unendlichen Rechte des Herzens entgegensetzen. Nun gilt es, ein Loch in diese Ordnung der Dinge hineinzustoßen, die Welt zu verändern, zu verbessern oder ihr zum Trotz sich wenigstens einen Himmel auf Erden herauszuschneiden: das Mädchen, wie es sein soll, sich zu suchen, es zu finden und es nun den schlimmen Verwandten oder sonstigen Mißverhältnissen abzugewinnen, abzuerobern und abzutrotzen. Diese Kämpfe nun aber sind in der modernen Welt nichts weiteres als die Lehrjahre, die Erziehung des Individuum an der vorhandenen Wirklichkeit, und erhalten dadurch ihren wahren Sinn. Denn das Ende solcher Lehrjahre besteht darin, daß sich das Subjekt die Hörner abläuft, mit seinem Wünschen und Meinen sich in die bestehenden Verhältnisse und die Vernünftigkeit derselben hineinbildet, in die Verkettung der Welt eintritt und in ihr sich einen angemessenen Standpunkt erwirbt. Mag einer auch noch soviel mit der Welt herumgezankt haben, umhergeschoben worden sein – zuletzt bekömmt er meistens doch sein Mädchen und irgendeine Stellung, heiratet und wird ein Philister so gut wie die anderen auch: die Frau steht der Haushaltung vor, Kinder bleiben nicht aus, das angebetete Weib, das erst die Einzige, ein Engel war, nimmt sich ohngefähr ebenso aus wie alle anderen, das Amt gibt Arbeit und Verdrießlichkeiten, die Ehe Hauskreuz, und so ist es der ganze Katzenjammer der übrigen da. (Hegel 1985, I/567 f.) Für Hegel ist die neue Form des Romans ganz wesentlich durch ,Helden‘ gekennzeichnet, die im heroischen Sinne keine mehr sind, sondern ihren Platz in der bürgerlichen Gesellschaft suchende Jünglinge. Hegel bricht den pathetisch aufgeladenen Bildungsgedanken des 18. Jahrhunderts durch die Vorstellung, dass der um Individualität ringende, schwärmerische Jüngling bei allen hochfahrenden Idealen und Bildungswünschen letztlich zur Integration in die bürgerliche Ordnung gezwungen wird. Für ihn steht die Hauptfigur, die das zeitgenössische Lesepublikum zu faszinieren vermag – wie es in der viel zitierten Wendung heißt – im „Konflikt zwischen der Poesie des Herzens und der entgegenstehenden Prosa der Verhältnisse“ (Hegel 1985, II/452). Er betrachtet den Entwicklungsgang des Protagonisten nicht als stufenförmige Höherentwicklung, sondern als schrittweisen Angleichungsprozess an die gegebene Ordnung. In ganz ähnlicher Weise – wenn auch weniger humorvoll – fasst Dilthey in knapper Form das Thema des Bildungsromans als die Geschichte eines Jünglings, „wie er in glücklicher Dämmerung in das Leben eintritt, nach verwandten Seelen sucht, der Freundschaft begegnet und der Liebe, wie er nun aber mit den harten Realitäten der Welt in Kampf gerät und so unter mannigfachen Lebenserfahrungen heranreift, sich selber findet und seiner Aufgabe in der Welt gewiß wird“ (Dilthey 2005, 252). Auch Stahl betont, dass sich mit der Gattung Bildungsroman der idealisierte Held in einen jungen Bürger verwandelt habe. Seine Bestimmung des Protagonisten lehnt sich an die Vorstellung vom ,gemischten Charakter‘ im Drama an und lautet vergleichsweise zurückgenommen: „Ein junger Mensch, der aber kein außergewöhnlicher sein soll, wird in freier Weise der Lebensform und dem Beruf entgegengebildet, die der Totalität seiner Anlagen nicht widersprechen.“ (Stahl 1970, 156) Während He-

Bildung des neuen Helden

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IV. Poetologische Bestimmungen

Liebe als Bildungserfahrung

gel im Gestus einer weisen Altersperspektive auf der notwendigen Eingliederung der Protagonisten insistiert und Stahl auf dessen Durchschnittlichkeit verweist, bleibt Dilthey einem Bildungsethos verpflichtet, das in der moralischen Höherentwicklung des Protagonisten den Endzweck der erzählten Bildungsgeschichte sieht. Hegels launige Kurzfassung eines Bildungswegs verdeutlicht aber weit mehr als emphatische poetologische Bestimmungen, dass vor dem Hintergrund einer bildungsbegeisterten Aufbruchsstimmung im neu entstandenen Romantypus bürgerliche Sozialisationsmodelle verhandelt werden. Auch in einführenden Werken des späten 20. Jahrhunderts wird in der Darstellung eines Curriculums von Bildungserfahrungen ein wesentliches Merkmal des Bildungsromans gesehen: „Typische Erfahrungen der Bildungshelden sind die Auseinandersetzung mit dem Elternhaus, die Einwirkung von Mentoren und Erziehungsinstitutionen, die Begegnung mit der Sphäre der Kunst, erotische Seelenabenteuer, die Selbsterprobung in einem Beruf und bisweilen auch der Kontakt zum öffentlich-politischen Leben.“ (Jacobs/Krause 1989, 37) Wenn hier auf „erotische Seelenabenteuer“ hingewiesen wird, so gerät damit ein Gattungsmerkmal in den Blick, das in den poetologischen Bestimmungen des 19. Jahrhunderts meist nur eine untergeordnete Rolle spielt. Interessant ist, dass schon Hegel „das angebetete Weib, das erst die Einzige, ein Engel war“ (Hegel 1985, I/568), als Garantin für die Verbürgerlichung des Jünglings benennt. Der Hegelverehrer Karl Rosenkranz hat demgegenüber festgestellt, dass die Liebesleidenschaft und die Anziehung durch das andere Geschlecht zu einem wesentlichen Bildungsfaktor des Protagonisten werden: Um zuerst zu begreifen, warum im Roman insbesondere das Interesse hervortritt, welches ein Individuum an einem anderen hat, das dem anderen Geschlecht der Gattung angehört, so ist der wesentliche Grund der, daß das Individuum für sich, ohne jene Ergänzung beharrend, stets mit einem Mangel behaftet sein würde, der in der natürlichen Differenz der Gattung unmittelbar gegeben ist. Insofern nun das Subject frei werden soll, ist nothwendig, daß auch jener Mangel aufgehoben werde. Daher die Geschlechtliebe in den Romanen. (Rosenkranz 1988, 101)

Lernen durch Irrtum

Rosenkranz betont in seiner Definition des Romans, dass die Entwicklung des Individuums notwendig mit der Geschlechtsliebe verbunden sein muss, da nur so das Schöne als „Einheit von Sinnlichem und Geistigem“ (Rosenkranz 1988, 101) dargestellt werden könne. Dabei ist unschwer zu erkennen, dass die Frau dem Sinnlichen, der Mann dem Geistigen zugeordnet wird. Dennoch geht Rosenkranz davon aus, dass sich Mann und Frau nicht nur wechselseitig anziehen, sondern auch bilden. Seine Ausführungen verweisen insofern auf einen zentralen Aspekt des Bildungsromans, als sich der adoleszente Protagonist räumlich wie zugleich emotional von seinem Elternhaus entfernt und nach neuen Gefühlsbindungen sucht. Damit werden notwendig auch erste erotische Erfahrungen zu einem wesentlichen Element der Selbsterprobung und Bildung. Dass damit nicht selten auch Enttäuschungen verbunden sind, wird geradezu als unumgänglicher Bildungsfaktor für den Protagonisten bestimmt. Stahl macht darauf aufmerksam, dass auch der Irrtum zum Bildungsprozess

2. Konzeption des Protagonisten

hinzu gehöre, wie dies Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre als erster Roman in exemplarischer Weise entfalte. Jacobs und Krause verweisen darauf, dass ein Lernprozess des Protagonisten für den Bildungsroman kennzeichnend ist: „Der Gattung sollen Werke zugerechnet werden, in deren Zentrum die Lebensgeschichte eines jungen Protagonisten steht, die durch eine Folge von Irrtümern und Enttäuschungen zu einem Ausgleich mit der Welt führt. Dieser Ausgleich ist oft nur vorbehaltsvoll und ironisch geschildert, er ist jedoch als Ziel oder zumindest als Postulat notwendiger Bestandteil einer ,Bildungs‘-Geschichte.“ (Jacobs/Krause 1989, 37) Die starke Rezeptivität des Protagonisten wird in vielen poetologischen Bestimmungen als weiteres Kennzeichen des Bildungsromans gesehen. Friedrich Schiller, der Goethe bei der Fertigstellung von Wilhelm Meisters Lehrjahre durch kritische Lektüre und Kommentare unterstützt hatte, äußerte sich bereits in einem Brief aus dem Jahre 1796 zur eigentümlichen strukturellen Anlage des Romans. Er betont, dass der Protagonist auf ganz neuartige Weise konzipiert sei, insofern er innerhalb eines ihn bildenden figuralen Energiefeldes selbst „die Bildsamkeit darstellt und ausdrückt“ (Schiller 1990, 279). Ganz in diesem Sinne meint auch Friedrich Theodor Vischer (1807 – 1887): „Der Romanheld nun heißt wirklich nur in ironischem Sinne so, da er nicht eigentlich handelt, sondern wesentlich der mehr unselbständige, nur verarbeitende Mittelpunct ist, in welchem die Bedingungen des Weltlebens, die leitenden Mächte der Cultursumme einer Zeit, die Maximen der Gesellschaft, die Wirkungen der Verhältnisse zusammenlaufen. Er macht durch diesen Lebens-Complex seinen Bildungsgang“ (Vischer 1857, 1308). Für Vischer wird der Protagonist allerdings nicht mehr allein ob seiner politischen Machtlosigkeit in die Innerlichkeit getrieben, sondern er flüchtet nun auch vor den Anforderungen der leistungsorientierten Welt ins Privatleben. Doch ist die Versenkung ins eigene Selbst auch wiederum Bedingung für die Fähigkeit zur Selbstreflexion, die ebenfalls als Kennzeichen der Protagonisten des Bildungsromans gilt. Erst durch die Kritik am Gegebenen und an der eigenen Entwicklung kann der ,Innerlichkeitsroman‘ zum Bildungsroman aufgebrochen werden, wie Wundt deutlich werden lässt: Wie sämtliche Tendenzen der Zeit in dem Gedanken der Erziehung zusammenfließen, so vereinigt der Bildungsroman alle sonst gesonderten Seiten der Romanliteratur. Die Richtung auf das Innenleben läßt ihn als einen nahen Verwandten des sentimentalen Romans erscheinen, aber indem die Subjektivität hier nicht in der leeren Gegensätzlichkeit zur Welt, sondern als sich erfüllend mit den Weltinhalten geschildert wird, nimmt er das Streben nach Welterkenntnis in sich auf und die Form des Reiseromans bietet sich oft als die gegebene Weise, dem Helden eine solche Kenntnis zu vermitteln. Damit sie ihm aber nicht bloß ein äußeres Wissen, sondern ein inneres Erleben wird, bedarf er der kritischen Stellung zur Welt, und die Kritik, die sich nicht selten zur Satire steigern kann, wird ein wesentliches Ferment des Bildungsromans. (Wundt 1913, 54 f.) Die Kritikfähigkeit erweist sich insofern als eine ganz wesentliche Bestimmung der Hauptfigur, als diese sich nur durch sie in ein reflektierendes Verhältnis zur Umwelt und zum eigenen Gewordensein setzen kann. Nicht sel-

Die Passivität des Helden

Kritik und Selbstreflexion

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IV. Poetologische Bestimmungen

Stufengang der Entwicklung

ten blickt deshalb der Protagonist selbst ironisch oder humorvoll auf seine bisherigen Entwicklungsschritte zurück, oder aber der Erzähler kommentiert aus der Distanz sein Verhalten. Jacobs sieht ein typisches Merkmal des Bildungsromans „in den Phasen der Reflexion, des resümierenden Innehaltens […], in denen der Protagonist über sich selbst und seine Erfahrungen Klarheit zu gewinnen versucht.“ (Jacobs 2005, 11 f.) Ein Kennzeichen des Bildungsromans ist also, dass die Hauptfigur in eine fördernde wie auch widerständige Welt hineinsozialisiert wird und dass sie Wünsche und Vorstellungen entwickelt, die durch Erfahrungen revidiert werden müssen. Der Protagonist bleibt zwar nicht vor Irrtümern und Niederlagen bewahrt, aber durch unerwartete Lebenswendungen wird er auch neuen Zielen und Aufgaben zugeführt. Im Bildungsroman werden mithin immer auch Modelle zur Bewältigung von Sozialisationskonflikten vorgestellt. Vor allem in Einzeluntersuchungen des 20. Jahrhunderts wurde die notwendige Auseinandersetzung des Protagonisten mit seiner Familiensituation und den Bedingungen seines Aufwachsens betont (Kaiser/Kittler 1978). Deshalb kann die Erinnerung des Protagonisten an sein früheres Leben in Form eines autobiographischen Bekenntnisses oder einer Erzählung für eine geliebte Person als typisch für den Bildungsroman gelten. Neben der Betonung einer „innren Geschichte“ als Entfaltung der Charakterbildung oder der „Geschichte der Seele“ als neuer psychologisierender Erzählweise wird der Bildungsroman in der Mehrzahl der poetologischen Ansätze dadurch gekennzeichnet, dass eine stufenweise Entwicklung zur Darstellung kommt. Morgenstern stellt mit seiner Bestimmung der Gattung den Protagonisten ins Zentrum seiner Definition: „Bildungsroman wird er heißen dürfen, erstens und vorzüglich wegen seines Stoffs, weil er des Helden Bildung in ihrem Anfang und Fortgang bis zu einer gewissen Stufe der Vollendung darstellt“ (Morgenstern 1988, 64). Dieser berühmt gewordenen Definition Morgensterns haben sich grosso modo alle weiteren poetologischen Bestimmungen des Bildungsromans angeschlossen. Rosenkranz betont, dass in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre auf neue Weise der Entwicklungsgang des Titelprotagonisten stufenförmig angelegt sei und das Ziel verfolgt werde, eine Harmonie zwischen inneren Anlagen und äußeren Verhältnissen herzustellen. Er sieht „die verschiedenen Stuffen [sic!] der Bildung“ (Rosenkranz 1988, 114) und die harmonische Ausbildung der Anlagen in Abhängigkeit von den Umwelteinflüssen als Kennzeichen des Bildungsromans. Dilthey geht davon aus, dass alle dargestellten Krisen und Dissonanzen lediglich Stufen zu einer harmonischen Lösung sind: „Eine gesetzmäßige Entwickelung wird im Leben des Individuums angeschaut, jede ihrer Stufen hat einen Eigenwert und ist zugleich Grundlage einer höheren Stufe. Die Dissonanzen und Konflikte des Lebens erscheinen als die notwendigen Durchgangspunkte des Individuums auf seiner Bahn zur Reife und zur Harmonie.“ (Dilthey 2005, 253) Stahl betont, dass im Bildungsroman Etappen der Entwicklung von der Kindheit bis zur Reife dargestellt werden: „Sobald aber dieser Entwicklung ein typisches Ziel gesetzt wird, wird sie zur Bildung.“ (Stahl 1970, 117) Reife meint hierbei ein Ziel, das der Dichter gemäß seiner eigenen Bildungsvorstellung darzustellen sucht. Ohne Zweifel verdanken sich solche poetologischen Bestimmungen den Perfektibilitätsvorstellungen um 1800. Demgegenüber wird diese teleologi-

2. Konzeption des Protagonisten

sche Vorgabe in Untersuchungen des 20. Jahrhunderts in Frage gestellt. Schon Melitta Gerhard definiert den Bildungsroman gerade als die Darstellung einer Suchbewegung, mit der „in chaotischer Welt, unter einer Überfülle von Möglichkeiten“ (Gerhard 1968, 162) ein Ziel oder zumindest eine Richtung gefunden werden soll. Auch Sorg hat betont, dass die bedeutendsten Ausformungen der Gattung Zeugnis darüber ablegen, dass sich eine Bildungsgeschichte gerade nicht in eine teleologisch orientierte Ordnung zwingen lässt (Sorg 1983). Bei komparatistischen Untersuchungen (Mi-Suk 2000; Hillmann/Hühn 2001) wird als gemeinsamer Nenner für eine gattungstypologische Zuordnung die Darstellung eines Entwicklungsganges gesehen, der zur Integration in einen neuen sozialen Zusammenhang führt.

3. Kulturelle Bedeutung des Bildungsromans Der Bildungsroman wurde in den poetologischen Bestimmungen des 19. Jahrhunderts nicht allein als neue Literaturgattung, sondern immer auch als Bildungsmedium verstanden. Mit seiner Forderung, dass der Dichter die Empfindungen des Menschen bilden soll, greift Blanckenburg den didaktischen Impetus des Aufklärungsromans auf und fordert damit einen doppelten Bildungsweg. Denn nicht nur der Held durchlaufe einen Bildungsprozess, auch der Leser solle durch die Lektüre gebildet werden. Durch die „innre Geschichte“ des Romans werde der Leser mit seinem eigenen Inneren vertraut und gleichsam zu einem modernen, den Anforderungen der Zeit gewachsenen Menschen herangebildet. Hier wird wiederum deutlich, wie stark Blanckenburg sich am Drama der Aufklärung orientiert, denn wie Lessing in seiner Wirkungsästhetik davon ausgegangen war, dass der Zuschauer über Furcht und Mitleid im Theater emotional geläutert wird, so geht es seiner Meinung nach auch im Roman um ein empathisches Miterleben von „Handlungen und Empfindungen des Menschen.“ (Blanckenburg 1965, 17) Die Darstellung im Roman finde ihren Widerhall in der Emotionalität des Lesers, sodass sich in der intimen Situation des Lesens ein Bildungsprozess vollziehen könne. Der ideale Leser des Bildungsromans des 18. Jahrhunderts führt demnach seine eigene Bildungsgeschichte bei der Lektüre des Romans gleichsam fort. Morgenstern geht davon aus, dass der Roman Bildung „zugleich darstellen und ertheilen“ (Morgenstern 1988, 64) soll. Darüber hinaus würden dem Leser „deutsches Leben, deutsche Denkart und Sitten unsrer Zeit“ (Morgenstern 1988, 65) vermittelt. Bereits Blanckenburg begründete die Entstehung eines neuen Romantypus mit dem sozialhistorischen Wandel im 18. Jahrhundert: „Die Romane entstanden nicht aus dem Genie der Autoren allein; die Sitten der Zeit gaben ihnen das Daseyn.“ (Blanckenburg 1965, XIII) Auch Dilthey sieht die Eigentümlichkeit des Bildungsromans darin, dass mit ihm das Lebensgefühl einer jungen Generation zum Ausdruck gekommen sei, die den Kampf gegen eine veraltete Welt aufzunehmen suchte. Während diese Generation in der Realität politisch machtlos gewesen sei, konnte es den Autoren durch den Entwurf möglicher Entwicklungsgänge gelingen, der Leserschaft eine neue Lebenswelt nahe zu bringen. „So sprechen diese Bildungsromane den Individualismus einer Kultur aus, die auf die Interessensphäre des Privatle-

Wirkungsästhetisches Element

Individualismus der Kultur

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IV. Poetologische Bestimmungen

Neue Anthropologie

Aspekte der Romanpoetik

bens eingeschränkt ist. Das Machtwirken des Staates in Beamtentum und Militärwesen stand in den deutschen Mittel- und Kleinstaaten dem jungen Geschlecht der Schriftsteller als eine fremde Gewalt gegenüber. Man entzückte und berauschte sich an den Entdeckungen der Dichter in der Welt des Individuums und seiner Selbstbildung.“ (Dilthey 2005, 253) Nach Diltheys Auffassung ist der Bildungsroman von dem Glauben getragen, dass die Ausbildung des Einzelnen gemäß den Idealen und Vorstellungen der Aufklärung gelingen kann. Der Bildungsroman enthalte Ideale, an denen sich eine ganze Generation orientieren konnte. Stahl betont, dass mit dem Bildungsroman eine spezifische neue Anthropologie verbunden ist. Insofern der Autor seinen Protagonisten zu einem bestimmten Entwicklungsziel hinführe, lasse er ihn zum Repräsentanten seiner Vorstellungen über die Bestimmung des Menschen werden. Die Gattung weise auf Bildungsideale ihrer Zeit hin, die der Dichter über seine individuelle Erfahrung transformiert: „Der Bildungsroman veranschaulicht so das Denken und Wollen der Jahrhunderte. Im Bildungsroman verkörpern sich die wechselnden Ideale von Menschenbildung und Menschenbestimmung; die Gegensätze der Zeiten kommen in ihnen höchst anschaulich in der plastischen dichterischen Gestaltung zum Ausdruck.“ (Stahl 1970, 118) Auch Borcherdt, der seine Studie Der Deutsche Bildungsroman in einer Textsammlung mit dem Titel Von deutscher Art in Sprache und Dichtung im Jahre 1941 publizierte, ist der Meinung, dass die Geschichte der Bildungsziele – wie sie im Bildungsroman verfolgt wird – zugleich eine deutsche Geistesgeschichte widerspiegle: „Das Ziel ist der Mensch, der seine natürlichen Anlagen durch Kultur so veredelt, dass er die höchste Humanität erreicht, die mit der Gesinnung des Christentums und der Antike übereinstimmt.“ (Borcherdt 1988, 194) Die poetologischen Bestimmungen zur Gattung Bildungsroman wurden im Wesentlichen im 19. Jahrhundert formuliert und beziehen sich auf formale, inhaltliche und wirkungsästhetische Aspekte. In Abgrenzung vom hoch geschätzten Drama, aber auch im Vergleich zu anderen epischen Formen wie dem Abenteuerroman, dem Reiseroman, der Biographie und der Bekenntnisschrift wurde die ästhetische Eigentümlichkeit des Bildungsromans bestimmt. Die inhaltliche Kennzeichnung des Bildungsromans erfolgte weitgehend über die eingehende Beschreibung der Hauptfigur und die Hervorhebung ihrer Rezeptivität. Schließlich wurde der Bildungsroman von Anfang an als literarischer Ausdruck bürgerlicher Aufstiegsbestrebungen gesehen und im Sinne einer kulturellen Selbstverständigung der Deutschen verstanden. Die Schlaglichter auf die Poetologie des Bildungsromans können lediglich Tendenzen und deren historische Bedingtheit verdeutlichen und verweisen uns darauf, dass wir mit jeder Analyse eines Bildungsromans vor die Aufgabe gestellt sind, nach dessen spezifischen impliziten poetologischen Bestimmungen zu fragen.

V. Geschichte der Gattung 1. Tradition und Kanonisierung des männlichen Bildungsromans Die Bedeutung des Bildungsromans erweist sich gerade darin, dass seine vorbildgebende Wirkung weit über das unmittelbare Gattungsmuster hinaus in die erzählende Literatur hineinreicht. Wenn wir im Folgenden die Entwicklung der Gattung betrachten, so geschieht dies einerseits in Bezug auf die Kanonisierung von Bildungsromanen, andererseits aber auch im Hinblick auf gattungstypologische Muster, die im Verlauf der Literaturgeschichte in verschiedenen Erzählwerken aufgegriffen wurden. Bereits mit den ersten Abhandlungen zum Bildungsroman, in denen Goethes (1749 – 1832) Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96) im 19. Jahrhundert zum Muster der Gattung erhoben wurde, setzte die Suche nach Texten ein, die sich zu einem Kanon von Bildungsromanen zusammenfassen lassen. Dabei wurden auch frühere Romane unter dem Aspekt möglicher Affinität zur Bildungsthematik gesichtet und als Vorformen der Gattung bezeichnet. Zu diesen Romanen zählt etwa Johann Gottlieb Schummels (1748 – 1813) Empfindsame Reisen durch Deutschland (1771/72), der sich an Laurence Sternes Eine empfindsame Reise durch Frankreich und Italien (A Sentimental Journey through France and Italy 1768) orientiert und bei dem bereits die Schilderung topographischer Gegebenheiten zugunsten der Darstellung des inneren Erlebens zurücktritt, wie dies für den Bildungsroman kennzeichnend ist. Darüber hinaus wurde Schummels Roman Aufmerksamkeit geschenkt, weil das Theater als Bildungsmedium zum Thema wird und der Erzähler mit pädagogischem Impetus eine aufklärerische Wirkungsästhetik propagiert. In anderen Romanen des späten 18. Jahrhunderts wird im sozialen Aufstieg des Protagonisten die Nähe zum Bildungsroman gesehen, wie dies für Schummels Wilhelm von Blumenthal (1780/81) gilt, in dem über die Laufbahn eines früh verwaisten Kleinbürgersohnes von den ärmlichen Anfängen in einer deutschen Kleinstadt bis zur Übernahme einer hohen Position im englischen Staatsdienst und seiner glücklichen Verheiratung erzählt wird. In Johann Carl Wezels (1747 – 1819) Herrmann und Ulrike (1780) erfährt der Sohn eines einfachen Steuereinnehmers Förderung durch einen Grafen und muss Stadien der Erziehung, Prüfung und abenteuerlichen Verfehlung durchlaufen, bis er seine Geliebte von Stand heiraten kann. Auch hier wird bereits ein Grundmuster des Bildungsromans entfaltet, insofern ein Protagonist ins Zentrum gesetzt wird, der nicht nur seine soziale Stellung verbessert, sondern überdies die Fähigkeit besitzt, aus Fehlern Schlussfolgerungen für seine weitere Lebensplanung zu ziehen. Demgegenüber erweist die weibliche Protagonistin in gefahrvollen Situationen immer wieder ihren gleich bleibend moralisch integren Charakter und wird nicht vor die Notwendigkeit der Umorientierung gestellt.

Vorformen des Bildungsromans

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V. Geschichte der Gattung Kanonisierung der Romane von Wieland und Goethe

Bestimmung von Moritz’ Anton Reiser als Antibildungsroman

Obwohl Wezels Herrmann und Ulrike seinerzeit sehr erfolgreich war und auch von Christoph Martin Wieland (1733 – 1813) außerordentlich geschätzt wurde, fand nur sein eigener Roman Geschichte des Agathon (1766/67) Aufnahme in den Kanon paradigmatischer Bildungsromane. Denn hier geht es nicht vornehmlich um den Erwerb einer geachteten sozialen Stellung, sondern wie nie zuvor in der deutschsprachigen Literatur um die „Ausbildung und Formung des Charakters“ (Blanckenburg 1965, 321), weshalb Wielands Werk bereits im frühen 19. Jahrhundert als „einer der vorzüglichsten Bildungsromane“ (Morgenstern 1988, 87) rubriziert wurde, obwohl der an moralischen Prinzipien orientierte Entwicklungsgang des Protagonisten noch stark den Vorgaben des Erziehungsromans verpflichtet bleibt (hierzu ausführlich Kap. VI.1). Demgegenüber wurde Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre dank einhelliger Meinung der Interpreten, dass es sich bei diesem Roman um den „vorzüglichsten seiner Art“ (Morgenstern 1988, 74) handle und in ihm ein „Bildungsgang ganz programmatisch“ (Stahl 1970, 151) entfaltet werde, als Muster der Gattung kanonisiert. In Goethes Roman sah man die Vorstellung der Klassik, wonach sich der Einzelne in einer organischen Entwicklung zu einer für das Gemeinwohl tätigen harmonischen Individualität herausbilden soll, in idealer Weise erfüllt. Der Protagonist Wilhelm vollendet seinen Bildungsweg, indem er sich von den väterlichen Berufsvorstellungen löst, auf dem Theater selbst erprobt und am Ende im Kreis des reformierten Landadels seine Frau findet. Ausgehend von dieser Entwicklung konnten auch Topoi des Bildungsromans bestimmt werden, zu denen ganz wesentlich die Reise als Überwindung vorgegebener Lebensführung, die Frauenfiguren als Stadien erotischer Erprobung oder Statthalterinnen familiärer Verantwortung sowie die Auseinandersetzung mit der Kunst zählen. Goethe hatte ursprünglich unter dem Titel Wilhelm Meisters Theatralische Sendung einen Roman geplant, in dem der Protagonist seine eigentliche Bildung auf dem Theater erfahren sollte. Doch durch die Bekanntschaft mit Karl Philipp Moritz (1756 – 1793), der ihm wie ein sozial benachteiligter „jüngerer Bruder“ (Goethe 1890, 94) erschien, und die Lektüre seines Romans Anton Reiser (1785 – 90) veränderte Goethe seine Pläne grundlegend (Eckle 2003). Moritz’ Kritik an der ,Theatromanie‘ hat Goethe bewogen, die Urfassung seines eigenen Romans, die bis 1910 als verschollen galt, in eine umfassendere Bildungsgeschichte umzuarbeiten (hierzu ausführlich Kap. VI.2). Insofern der geglückte Entwicklungsgang nach dem Vorbild von Goethes Bildungsroman als Gattungsspezifikum galt, wurde Moritz’ bereits zuvor veröffentlichter psychologischer Roman Anton Reiser immer wieder als „Antibildungsroman“ bezeichnet, da der erwünschte Lebensweg des Protagonisten scheitert und kein Bildungsideal aufgezeigt werde. Entfaltet wird die Entwicklung des Titelprotagonisten, der zerrieben zwischen den religiösen Forderungen seiner zerstrittenen Eltern in ärmlichen Verhältnissen heranwächst und sich nur durch Flucht in die Welt der Bücher aus seinem bedrückenden Lebensumfeld retten kann. Nach einer erniedrigenden Lehrzeit bei einem Hutmacher wird der begabte Jüngling auf einer Armenschule in Erfurt gefördert. Durch einen Mitschüler wird die Theaterleidenschaft in ihm geweckt, doch seine Pläne, auf dem Theater zu reüssieren, zerschlagen sich. Das Werk nimmt eine Sonderstellung unter den Bildungsromanen ein,

1. Tradition und Kanonisierung des männlichen Bildungsromans

insofern hier erstmals durch einen Erzähler reflektiert wird, dass Bildung der Auseinandersetzung mit dem eigenen Gewordensein bedarf, insbesondere mit den Prägungen der frühen Kindheit. Moritz, der ein wichtiger Vertreter der Erfahrungsseelenkunde war, bei der durch die Beobachtung äußerer Merkmale, Verhaltensweisen und früher Erinnerungen auf charakterliche Anlagen geschlossen wurde, thematisiert in seinem Roman die sozialen Bedingungen und psychischen Gefährdungen, die mit der notwendigen Selbsterprobung im Bildungsprozess verbunden sind. Ihm kommt das Verdienst zu, bereits zu einer Zeit, als Bildungsromane weitgehend von der humanitätsphilosophischen Bildungsidee getragen wurden, auf die Möglichkeit des Scheiterns eindrücklich hingewiesen zu haben. Dass Bildungsromane um 1800 nicht nur dem Vertrauen in die positive Entwicklungsfähigkeit des Einzelnen, sondern auch der Hoffnung auf Veränderung der gesellschaftlichen Situation Ausdruck gaben, wird anhand von Friedrich Hölderlins (1770 – 1843) Roman Hyperion oder Der Eremit in Griechenland (1797 – 99) deutlich. Die Entwicklung des Titelprotagonisten erfüllt deutlich die Grundstruktur des Bildungsromans: Hyperion wächst auf einer kleinen griechischen Insel heran, will durch Reisen die Sitten und Gebräuche verschiedener Völker kennen lernen, und durch die Begegnung mit der als ,schöne Seele‘ gezeichneten Diotima reift in ihm der Plan, zum Erzieher des daniederliegenden Gemeinwesens zu werden. Während Wieland die Handlung seines Romans in das antike Griechenland verlegt, nimmt Hölderlin deutlich auf die politische Situation in Deutschland wie auch den geistesgeschichtlichen Kontext des späten 18. Jahrhunderts Bezug. Hyperion beteiligt sich am griechischen Aufstand gegen die Türken und erkennt – in deutlicher Reminiszenz an die Französische Revolution – , dass mit den Mitteln der Gewalt das politische Ziel nicht zu erreichen ist. Er geht nach Deutschland, wo er der Machtlosigkeit und Zerrissenheit des Volkes gewahr wird, doch bleibt er trotz desillusionierender Lebenserfahrungen am Ende der brieflichen Lebensrückschau von der Sinnhaftigkeit seiner Ziele und der Erforderlichkeit ästhetischer Erziehung überzeugt und fühlt, dass er durch seine Erfahrungen zum Dichter reifen wird. Während sich bei Hölderlin die Bildung des Protagonisten erst im erfahrungsgesättigt rückblickenden Erzählen in vollem Umfang erfüllt und der Dichter als Erzieher Bedeutung gewinnt, hat Jean Paul (1763 – 1825) Ideen entwickelt, wie zukünftige Herrscher gebildet werden müssen, damit sie zum Wohle des Gemeinwesens tätig werden können. Er hatte an der Durchschnittlichkeit der Figur des Wilhelm Meister Anstoß genommen und konzipierte in seinem Roman Titan (1800 – 03) einen Protagonisten, der sich mit großer Begabung und edler Gesinnung zu einer allseitig ausgebildeten Persönlichkeit und einem idealen Herrscher entwickelt. Dabei orientiert er sich zunächst deutlich an Rousseaus Erziehungsroman, insofern sich die tugendhafte Grunddisposition der Hauptfigur durch das Heranwachsen in einer vor verderblichen Einflüssen geschützten Umgebung auf dem Lande erklärt. Die verwickelte Handlung basiert auf einer Kindsvertauschung, denn der Fürstensohn Albano wächst zunächst in Italien als vermeintlicher Sohn eines Grafen heran, der seine inneren Anlagen erkennt und ihn zu einem ,ganzen Menschen‘ erziehen will. Gestaltet wird eine im Bildungsroman häufig variierte Figurenkonstellation, mit der die Hauptfigur gegenüber einem moralisch ver-

Hoffnung auf politische Veränderung

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V. Geschichte der Gattung

Spezifik romantischer Bildungsromane

Romantische Kunstvorstellung

derbten Gegenspieler profiliert wird: Albano entwickelt sich als integre Persönlichkeit, während sich sein Freund und Antipode Roquairol als innerlich leerer Maskenmensch erweist. Deutlich wird Kritik an der dem Adel zugeschriebenen Verstellungskunst geübt, denn der arglistige Roquairol bringt sein Täuschungsspiel – als Albano verkleidet, hatte er nachts dessen Geliebte umarmt – auf der Bühne zur Aufführung und richtet sich auf offener Szene durch einen tödlichen Schuss. Dient bei Goethe die Bühne der Selbsterprobung, so ist sie hier der Ort, an dem theatrale Scheinexistenz entlarvt wird und die Hauptfigur Amoralität und Korruptheit erkennen lernt. Als der Fürstensohn am Ende seine wahre Herkunft erfährt, gibt er den Plan, die französischen Revolutionäre zu unterstützen, auf und übernimmt die Regierung eines Kleinstaates in Deutschland. Jean Pauls Titan gehörte bereits im 19. Jahrhundert zu den fest kanonisierten Bildungsromanen, da hier ein Protagonist gestaltet ist, der aufgrund seiner Anlagen fähig ist, intrigante Machenschaften zu durchschauen und sich durch seine Sittlichkeit als Herrscher zu bewähren. Um 1800 erschien darüber hinaus eine beträchtliche Zahl von Romanen, die durch Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre angeregt worden waren. Besonders die Autoren der Romantik, denen der Roman zur wichtigsten Literaturgattung wurde, waren von den eingelagerten Gedichten und der spezifischen Figurenkonstellation in Goethes Bildungsroman fasziniert, bei der unterschiedliche Lebensgeschichten auf rätselhafte Weise miteinander verknüpft sind und auf die künstlerisch veranlagte Hauptfigur einwirken. Die Romantiker nahmen in ihren vielfach Fragment gebliebenen Werken aber nicht nur verstärkt poetische Elemente und eine Narration der Verrätselung auf, sondern modifizierten auch die Struktur der Gattung. So geht die für den Bildungsroman typische Reise des Protagonisten nicht mehr allein zu verschiedenen Stationen, an denen die Begegnungen mit anderen Figuren bildend auf ihn wirken. Vielmehr führt die nicht selten ziellose Fahrt ins Blaue in geheimnisvolle, wunderbare oder gar märchenhafte Welten, in denen die Hauptfigur mit bisher nicht entdeckten Anteilen ihrer selbst bekannt wird. Auch markiert das Bildungsmedium Kunst nicht mehr lediglich ein Übergangsstadium zu einer neuen sozialen Stellung, sondern das eigentliche Sein des Protagonisten. So begibt sich die Hauptfigur des romantischen Bildungsromans häufig auf die Suche nach einem künstlerischen Ideal und wird durch die Begegnung mit Fremden, insbesondere aber durch Liebeserfahrungen, mit dem Rätsel der eigenen Herkunft konfrontiert. Entfaltet werden mit dem Bildungsgang des Protagonisten zugleich romantische Kunstvorstellungen, wie dies in Ludwig Tiecks (1773 – 1853) Fragment Franz Sternbalds Wanderungen (1798) deutlich wird. Der junge Maler Franz Sternbald verlässt seinen Meister Albrecht Dürer und wandert – von der Vorstellung beseelt, ein Bild malen zu wollen, mit dem in einem konkreten Sujet zugleich die Unendlichkeit erfassbar wird – zunächst nach den Niederlanden und dann in das durch sinnesfreudige Unbeschwertheit gekennzeichnete Italien der Hochrenaissance. Auf seiner vagabundierenden Kunstreise durchläuft der schwärmerisch veranlagte Jüngling verschiedene Bildungsstufen, bis in ihm unter dem überwältigenden Eindruck der italienischen Malerei eine neue Kunstanschauung heranreift. Der Fragment gebliebene Roman, dem Landschaftsschilderungen, Kunstbetrachtungen, Er-

1. Tradition und Kanonisierung des männlichen Bildungsromans

zählungen und Gedichte eingelagert sind, hatte einen großen Einfluss auf Malerei und Kunsttheorie der Romantik, da hier erstmals Vorstellungen über die Allegorisierung der Landschaft und die Unendlichkeitssehnsucht thematisiert wurden, wie sie für die Romantik kennzeichnend sind. Das für die Romane dieser Epoche typische Verwirrspiel um die Verbindung der Figuren wird hingegen in Clemens Brentanos (1778 – 1842) Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter. Ein verwilderter Roman von Maria (1801) auf die Spitze getrieben. Das ebenfalls wesentlich durch Wilhelm Meisters Lehrjahre inspirierte Werk gilt wegen seines verschachtelten Aufbaus und den häufigen Erzählerwechseln als der verworrenste Roman der Romantik. Auch wenn der Bildungsweg des Protagonisten eher einer Suche im Irrgarten der Verwandtschaftsbeziehungen gleicht, finden sich unter dem gattungskennzeichnenden Aspekt adoleszenter Selbsterprobung zwei Grundtendenzen des romantischen Bildungsromans ausgedrückt, nämlich die Angst, sich in der schwärmerisch ersehnten Überfülle der Möglichkeiten nicht mehr zurechtfinden zu können, und die Hoffnung, dass sich alle Lebensfragen durch einen glücklichen Zufall von selbst lösen mögen. Diese Tendenz der Harmonisierung von Widersprüchen findet sich besonders deutlich in Novalis’ (1772 – 1801) Heinrich von Ofterdingen (1802). Das postum veröffentlichte Fragment erzählt den Bildungsweg eines träumerischen Jünglings, der durch eine Reise auf poetische, märchenhafte und symbolische Weise in Erfahrungsbereiche gelangt, die in seinem Innern Widerhall finden und der zum Dichter reift, um die Welt aus ihrer pragmatischen Erstarrung zu erlösen. Dieser Roman entfaltet die romantische Idee einer progressiven Universalpoesie geradezu exemplarisch, denn die Erfahrungswelt wird immer mehr durch die Poesie transzendiert und zu einer Traumwelt entgrenzt (vgl. ausführlich Kap. VI.3). Wesentliches Kennzeichen vieler Bildungsromane ist, dass der Protagonist durch rauschhafte Erprobung der Gefühle und enttäuschende Erfahrungen in erotischen Abenteuern reift und sich am Ende einer Frau zuwendet, die sich durch moralische Integrität und Lebenstüchtigkeit auszeichnet. Nicht selten werden deshalb sinnlich verlockende Frauenfiguren, die zu überwindende Episode im Bildungsgang bleiben, den zur bürgerlichen Lebensführung probaten oder zur Muse idealisierten Frauenfiguren gegenübergestellt. Diese Spaltungstendenzen suchte Friedrich Schlegel (1772 – 1829) in seinem Fragment gebliebenen Roman Lucinde (1799) durch eine neue Liebesvorstellung zu überwinden. In der glücklichen Gewissheit, eine erfüllte Ehe zu führen, berichtet der Protagonist Julius in der zentralen Erzählpartie unter der Überschrift Lehrjahre der Männlichkeit seiner Frau Lucinde zunächst von seinen vorehelichen erotischen Abenteuern. Im Kontrast hierzu entfaltet er dann sein Ehe-Ideal, bei dem die sinnlich-körperliche und die geistig-seelische Liebe eine Einheit bilden. Damit wird deutlich, dass die im Bildungsroman häufig gestaltete Situation der Lebensbeichte des Protagonisten gegenüber der Geliebten der Selbstreflexion wie auch zugleich der Verdeutlichung der Überwindung bisheriger Lebensweisen dient. Im Hinblick auf das seit dem 18. Jahrhundert favorisierte Ideal umfassender Selbstbildung zum ,ganzen Menschen‘ wertet Schlegel die Liebeserfahrung zum Bildungserlebnis im humanistischen Sinne auf. Obwohl Schlegel mit diesem Fragment seiner Bewunderung für Goethes Wilhelm Meisters Lehr-

Romantisches Ehe- und Liebesmodell

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V. Geschichte der Gattung

Popularität des Bildungsromans im frühen 19. Jahrhundert

Veränderung der Bildungsvorstellung

jahre ein Denkmal setzen wollte, wurde es erst im 20. Jahrhundert als Bildungsroman diskutiert und gewann für eine an Mentalitätsgeschichte und Gender-Fragestellungen interessierte Forschung vor allem wegen des Entwurfs eines romantischen Liebesmodells besonderes Interesse. Als beredtes Zeugnis für die große Popularität des Bildungsromans im frühen 19. Jahrhundert kann E. T. A. Hoffmanns (1776 – 1822) Roman LebensAnsichten des Katers Murr nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler in zufälligen Makulaturblättern (1819 – 21) gelten. Denn nur, weil die Strukturmerkmale der Gattung bereits so sehr zum Wissen der damaligen Leserschaft gehörten, konnte im ironisch-spöttischen Gestus souverän darüber verfügt werden. Hoffmanns Travestie eines Bildungsromans setzt sich aus zwei deutlich voneinander abgesetzten, jedoch ineinander verwobenen Erzählsträngen zusammen. Zum einen handelt es sich um die Lebensgeschichte des Katers Murr, die von ihm selbst erzählt und mit Kommentaren zur Bildung aller Leser versehen wird, zum anderen um Bruchstücke der Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler. Die Mischung dieser beiden Lebensläufe wird damit erklärt, dass der Kater einige Rückseiten der biographischen Aufzeichnungen Kreislers als Konzeptpapier für seine eigene Niederschrift verwandt und der Setzer versehentlich dieses Manuskript in Teilen mit abgedruckt habe. In Murrs Autobiographie wird, die Stufenfolge des Bildungsromans persiflierend, über die „Monate der Jugend“ sowie die „Lebenserfahrungen des Jünglings“ als auch die „Lehrmonate“ und später die „reiferen Monate des Mannes“ berichtet. Das Pathos der Bildungsidee wird ironisiert, insofern der klischeehafte Bildungsweg des Katers immer wieder durch sein instinktgeleitetes Verhalten gebrochen wird, wobei sein Bericht bürgerliche Bildungsanstrengungen ebenso verspottet wie die Überbewertung der idealistischen Bildungsidee. Im Kreisler-Teil geht es hingegen um die problematische Stellung des romantischen Künstlers in einer banausischen Gesellschaft und um Kritik an den Gepflogenheiten bei Hofe. Unübersehbar verweist Hoffmanns parodistische Dekonstruktion bereits darauf, dass der emphatische Glaube an die Möglichkeit einer kohärenten Bildungsgeschichte zu bröckeln begann. So hat auch Goethe im zweiten Teil seines Bildungsromans unter dem Titel Wilhelm Meisters Wanderjahre oder Die Entsagenden (1821), der in erweiterter Form 1829 erschien, das Modell einer stufenweise sich vollendenden Bildung zu einer organischen Ganzheit aufgegeben und seinen Protagonisten Wilhelm in einen vielschichtigen Verweisungszusammenhang aus unterschiedlichen Episoden und Bildungsgeschichten situiert. Wilhelms Sohn wird in der so genannten „pädagogischen Provinz“ erzogen, die in unterschiedliche Bereiche, gestuft nach Ideen von Rousseau und Pestalozzi, strukturiert ist. Diese Erziehung soll ausdrücklich zur Auswanderung in die Neue Welt befähigen, die als Lebensoption auch in zahlreichen anderen Romanen in den Blick kommt. Wilhelm selbst lernt durch die erzählten Schicksale einer in Kontrasten angelegten Figurenwelt, bekennt sich zur Ausübung eines gemeinnützigen Berufs und lässt sich zum Wundarzt ausbilden. Dieser Roman, der lange Zeit im Schatten von Wilhelm Meisters Lehrjahre stand und erst in jüngerer Zeit zum Gegenstand eingehender Untersuchungen wurde, deutet bereits gesellschaftliche Umstrukturierungsprozesse an, die für nachfolgende Romane zu einem wichtigen Thema werden.

1. Tradition und Kanonisierung des männlichen Bildungsromans

Verstärkt wird nach den Selbstverwirklichungsmöglichkeiten angesichts politischer Machtlosigkeit des Bürgertums und dem Druck zunehmender Industrialisierung gefragt. Die Selbsterfahrung, die zuvor in romantischen Idealwelten möglich schien, gerät zunehmend zur Flucht in die Abgeschiedenheit, wie dies schon in Joseph Freiherr von Eichendorffs (1788 – 1857) Roman Ahnung und Gegenwart (1815) der Fall ist, wo der jugendliche Protagonist nach seiner Studienzeit auf einer Reise in verschiedene Bildungserfahrungen hineingeführt wird, aber die Zusammenhänge seines Lebens erst erschließen kann, als er sich resigniert in ein Kloster zurückgezogen hat. Eduard Mörikes (1804 – 1875) Maler Nolten (1832), der im Todesjahr Goethes in einer ersten Fassung publiziert wurde, erzählt zwar noch eine Künstlervita, bei der wie in Tiecks Franz Sternbalds Wanderungen die Kunstauffassung durch unterschiedliche Sujets der Malerei profiliert wird. Doch erstmals wird hier durch den Rückgriff auf traumatische Kindheitserfahrungen eine psychologische Erklärung für die spezifische Malweise des Protagonisten gesucht. Bei Noltens Freund Larkens wird – wie bei Roquairol in Jean Pauls Titan – der Schauspielerberuf zur zweiten Natur. Mörikes Werk, in dem Wahnsinn und Depression eine bisher nicht gekannte Rolle spielen, wurde vielfach als Ausdruck einer nachidealistischen Zeit gelesen, in der das Kunstschaffen zwar noch der Selbsterkenntnis dient, aber nicht mehr schöpferisch genial sein kann. Die Tendenz, sich angesichts des schwindenden Glaubens an die Veränderungsmöglichkeit durch Kunst einen privaten Kosmos zu schaffen, ist in Adalbert Stifters (1805 – 1868) Der Nachsommer (1857) besonders deutlich ausgestaltet. Erzählt wird über den Bildungsgang des Wiener Kaufmannssohnes Heinrich Drendorf, der in Streifzügen durch die Alpenlandschaft geologische Fachkenntnisse erwirbt und auf dem Anwesen des Freiherrn von Riesach eine nach Effizienzkriterien wie zugleich ästhetischen Gesichtspunkten wohlgeordnete Lebenswelt kennen lernt. Der Roman wird ob seiner Figurengestaltung in der Nachfolge von Wilhelm Meisters Lehrjahre gesehen, doch wird hier ein Bildungsprozess unter idealen Voraussetzungen und ohne Umwege oder Irrtümer dargestellt. Während in Novalis’ Heinrich von Ofterdingen eine konfliktfreie Entwicklung noch in einer poetisch verklärten Welt erfolgt und mit einer romantischen Poetologie verbunden ist, hat Stifter eine idealisierte Lebenswelt dargestellt, die sich gegen die Zerfallserscheinungen der modernen, durch Industrialisierung und Kommerzialisierung geprägten Gesellschaft abschottet. Dass es in der nachklassischen Zeit problematisch geworden ist, vorbildhafte Lebensläufe zu gestalten, deutet bereits der Titel des Romans Die Epigonen (1836) von Karl Leberecht Immermann (1796 – 1840) an. Es wird der Versuch unternommen, durch Nachahmung an Goethes Bildungsroman anzuschließen, denn wie Wilhelm begibt sich auch die Hauptfigur Hermann auf Reisen, um dem ungeliebten praktischen Beruf zu entgehen, und begegnet einem Mädchen, das Ähnlichkeiten mit Mignon aufweist, und einer jungen Frau, die an Natalie erinnert. Doch kann sich der Protagonist weder an den Werten der Vergangenheit orientieren noch findet er sich in der neu heraufkommenden Zeit zurecht. Gustav Freytag (1816 – 1895) hingegen hat in seinem Roman Soll und Haben (1855) die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sich immer mehr durchsetzende Vorstellung gestaltet, dass durch Bildungswissen sozialer Aufstieg möglich ist. Der strebsame Sohn

Bildungsthematik in der nachklassischen Zeit

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V. Geschichte der Gattung

Soziales Elend und moralische Integrität

Parodie des Bildungsromans in der literarischen Moderne

eines kleinen Beamten erfährt in einem angesehenen Handelshaus, was das wohlhabende Bürgertum zum faktisch ersten Stand im Staat prädestiniert, nämlich ein unbedingtes Arbeitsethos. Diesem verpflichtet er sich in einer gründlichen Ausbildung, die ihm den Weg zu bürgerlichem Glück und Ansehen ebnet. Sein klischeehaft gezeichneter jüdischer Freund ist hingegen ohne Moral und von Habgier zerfressen. In Wilhelm Raabes (1831 – 1910) Roman Der Hungerpastor (1863/64) wird der Aufstieg eines ehrgeizigen Schuhmachersohnes, der in einem kleinen Fischerdorf an der Ostsee eine „Hungerpfarre“ übernimmt, ebenfalls mit der negativen Entwicklung eines Jugendfreundes kontrastiert, welcher durch antisemitische Stereotype gekennzeichnet ist. Der Begriff ,Antibildungsroman‘, der in der Forschung vielfach für Romane eingesetzt wird, die dem Entwicklungsgang des Protagonisten ein harmonisches Ende verweigern, ist sinnvollerweise auf Romane von der Art Freytags oder Raabes anzuwenden, denn hier setzt sich der Protagonist nicht reflektierend mit bürgerlichen Erziehungsvorgaben und Normvorstellungen auseinander, sondern übernimmt sie bereitwillig, um sein Fortkommen nicht zu gefährden. Vor allem wird die Kunst nicht als Bildungsmedium verstanden, sondern im Sinne verfügbaren Wissens gehandhabt, das von einem prosperierenden Bürgertum nutz- und gewinnbringend funktionalisiert werden kann. Gegenüber diesen, das Muster des Bildungsromans lediglich in der äußeren Handlung erfüllenden Texten, hat Gottfried Keller (1819 – 1890) mit seinem Roman Der grüne Heinrich, der in der ersten Fassung 1854/55 erschien, den Bildungsweg eines Malers zum Thema gemacht, in dem die in der Zeit vielfach thematisierte Dilettantismus-Problematik reflektiert und zugleich überwunden wird. Mit Kellers Werk erreicht der Bildungsroman in seiner Bestimmung als „innre Geschichte“ in der Epoche des Realismus eine unverwechselbare Ausprägung, die für viele Autoren des 20. Jahrhunderts vorbildgebend war (vgl. ausführlich Kap. VI.4). Mit dem Naturalismus gewinnt das Thema des Bildungsaufstiegs von Kindern aus traditionell bildungsfernen Schichten besonderes Interesse. So hat etwa Hermann Sudermann (1857 – 1928) in seinem Roman Frau Sorge (1887) einen jungen Bauernsohn zur Hauptfigur gewählt, der sich durch ethische Werte geleitet aufopferungsvoll dem sozialen Niedergang der Familie entgegenstemmt. Aber auch im Heimatroman wird nun der Versuch der heranwachsenden Söhne, dem begrenzten sozialen Umfeld zu entkommen, vielfach zum Thema. In seinem Roman Heide-Peters Gabriel (1882) hat Peter Rosegger (1843 – 1918) über die Entwicklungsgeschichte und den sozialen Aufstieg des begabten Sohnes eines Heidebauern erzählt, der in die Fremde geht, um seine Ausbildung fortzusetzen, und nicht nur als erfolgreicher Dichter zurückkehrt, sondern sich als Professor eine bürgerliche Existenz schafft und darüber hinaus für seine im Elend lebenden Eltern einsteht wie auch für die selbst gegründete Familie sorgt. Deutlich verbindet der Roman den Bildungsaufstieg des Protagonisten mit der Entwicklung moralischen Bewusstseins, das ihn Verantwortung in seinem unmittelbaren sozialen Umfeld übernehmen lässt. Zu Ende des 19. Jahrhunderts meldete sich eine junge Autorengeneration zu Wort, die sich mit den auf Wohlstand und Besitz gerichteten Werten der Gründerzeitgeneration und deren überkommenen ästhetischen Vorstellungen kritisch auseinandersetzte. Durch ein Leben in der antibürgerlichen Bo-

1. Tradition und Kanonisierung des männlichen Bildungsromans

heme konnte zwar die vorherrschende Kunst als ,Epigonenklassizität‘ bespöttelt werden, aber die Entwicklung moderner Kunstvorstellungen erwies sich als schwieriges Unterfangen, wie dies Otto Julius Bierbaum (1865 – 1910) mit seiner Parodie Stilpe (1897), die im Untertitel als Ein Roman aus der Froschperspektive bezeichnet wird, deutlich werden lässt. Der Titelprotagonist wehrt sich auf der Schule gegen den Anpassungsdruck, wird unter dem Eindruck von Börnes Schriften zum Revolutionär und nach der Lektüre von Henri Murgers Roman Scènes de la vie de bohème (1847 – 49) zum Bohemien. Von der Universität als verbummelter Student relegiert, erlebt er in Berlin eine steile Karriere als gefürchteter Kritiker. Er gründet mit Freunden einen Bohemekreis und plant, mit einem Literatur-Varietétheater eine ,ästhetische Anstalt‘ zu etablieren, was jedoch an seiner Disziplinlosigkeit scheitert. Auch hier wird die Grenze zwischen Theater und Realität, wie schon bei Roquairol in Jean Pauls Titan und Larkens in Mörikes Maler Nolten, übersprungen. Stilpe erhängt sich am Ende in der Rolle eines alten betrunkenen Genies vor den Augen eines ahnungslosen Publikums. Deutlich formuliert der Roman die Gefahr der Selbstüberschätzung, die mit dem pathetischen Innovationsanspruch der literarischen Moderne verbunden ist. In Verkehrung des klassischen Bildungsromanschemas wird der Lebensweg des verkommenen Genies Stilpe dargestellt, der über alkoholische und erotische Exzesse seinen literarischen Auftrag vernachlässigt und schließlich auf der Bühne eines Vorstadt-Kabaretts endet. Mit der literarischen Moderne um 1900 entstehen aber auch Romane, in denen das Muster des Bildungsromans gerade unter dem Aspekt der Auseinandersetzung mit traditionellen Erziehungsmustern aufgegriffen wird. Ein Autor, der sich intensiv mit den Erziehungsvorstellungen und den neuen reformpädagogischen Programmen der Jahrhundertwende auseinandergesetzt hat, ist Hermann Hesse (1877 – 1962). In seinem Roman Peter Camenzind (1904) hat er, wie schon Sudermann und Rosegger, einen Bauernsohn zur Hauptfigur gemacht. Dieser wächst in einem abgelegenen Schweizer Gebirgsdorf auf, und durch die Beschäftigung mit der Literatur entsteht in ihm der Wunsch, selbst Dichter zu werden. Der in Reminiszenz an Kellers Der grüne Heinrich als „grüner Peter“ bezeichnete Protagonist kehrt nach einer durch Studien und Verfehlungen gekennzeichneten Entwicklung in sein Dorf zurück, um hier für die Gemeinschaft tätig zu werden. Die Hauptfigur ist durch den unbedingten Wunsch geprägt, sich von Erzieherfiguren zu lösen und sich jenseits vorgefertigter Bahnen zu bilden, wie dies auch für andere Romane Hesses gilt, die Affinitäten zum Bildungsroman aufweisen. So wird in seiner Erzählung Demian (1919) die durch eine rigide moralisch-religiöse Erziehung geprägte Kindheit und Jugend des Ich-Erzählers Emil Sinclair beschrieben, der durch seinen Mitschüler Demian zu einer persönlichen Ethik angeregt wird. Die Figuren, die den Lebensweg des Protagonisten bestimmen, sind als Dispositionen seines eigenen Innern gestaltet, die er sich immer mehr bewusst macht, um damit eine psychische Ganzheit zu realisieren. Hesses umfängliche Erzählung Siddhartha (1922), in der die Entwicklung eines indischen Brahmanensohnes zur Erleuchtung entfaltet wird, kann als extremes wie besonders deutliches Beispiel für eine unbedingte, am Muster des Bildungsromans orientierte Selbstsuche gelesen werden (vgl. ausführlich Kap. VI.5). Auch in Hesses Das Glasperlenspiel (1943) wird der

Alternative Lebenskonzepte und neue Bildungsvorstellungen um 1900

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V. Geschichte der Gattung

Neudeutungen der „innren Geschichte“

Bildung als Hochstapelei und Zwergenperspektive

ebenso begabte wie kritische Schüler Josef Knecht in das im Titel benannte Spiel mit sämtlichen Werten und Inhalten der Kultur eingeführt, in dem der Wunsch des Menschen nach Einheit und Versöhnung mit der Welt zur Darstellung kommt. Die Selbstreflexion als unabdingbares Ferment der Bildung wird hier besonders anschaulich durch die Verpflichtung des Protagonisten, im Orden der Glasperlenspieler jährlich einen fiktiven Lebenslauf zu schreiben, in dem das Lehrer-Schüler-Verhältnis, das Opfer für die Gemeinschaft, das Lernen an paradigmatischen Lebensläufen sowie die Einfühlung in frühere Epochen und fremde Kulturen zum Thema werden. Die Tendenz, dass die Protagonisten nicht mehr einen charakterbildenden sondern vielmehr selbstreflexiven Bildungsgang durchlaufen, verstärkt sich in vielen Romanen des 20. Jahrhunderts zusehends. Herausgehobenes Beispiel hierfür ist Robert Musils (1880 – 1942) unvollendeter Roman Der Mann ohne Eigenschaften (1930 – 43), in dem eine „innre Geschichte“ gestaltet wird, bei der die Selbsterprobung gegenüber der realen Welt prominente Bedeutung gewinnt. Der Protagonist Ulrich, dessen Versuche, ein bedeutender Mann zu werden, unbefriedigend verlaufen sind, erkennt, dass ihm die Möglichkeit mehr bedeutet als die mediokre Wirklichkeit. Im Gegensatz zum individuellen Helden des klassischen Bildungsromans entwickelt sich Ulrich zum Integrationsmoment auseinander strebender philosophisch-geistesgeschichtlicher und naturwissenschaftlicher Diskurse. Diese Konzeption verändert auch die Struktur des Erzählten entscheidend, denn an die Stelle eines erzählerischen Kontinuums tritt ein beziehungsreiches Feld von Handlungs- und Personenkomplexen. Als einer der bedeutendsten Bildungsromane des 20. Jahrhunderts gilt auch Thomas Manns (1875 – 1955) Der Zauberberg (1924), in dem über den Hamburger Patriziersohn Hans Castorp erzählt wird, der während des Besuchs bei seinem lungenkranken Vetter in einem Sanatorium in Davos zunehmend in einen Zustand der Zeitlosigkeit versetzt wird und insgesamt sieben Jahre in der Abgeschiedenheit der Schweizer Alpen bleibt, bis er am Ende in den Krieg geht. Der Roman ist nicht zuletzt aufgrund Manns eigener Hinweise auf Goethes vorbildgebendes Werk vielfach als Bildungsroman interpretiert worden, der deutliche Kritik an den Denkformen der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg formuliert. Thomas Mann, der sich in verschiedenen Essays mit Struktur und Bedeutung des Bildungsromans auseinandergesetzt hat, schrieb mit seinem Werk Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull (1954) aber auch eine Travestie des Bildungsromans, bei der das humanistische Ideal allseitiger Bildung als gewinnbringende Maskerade entlarvt wird: Felix, der Sohn eines bankrotten Sektfabrikanten, tauscht mit einem Marquis die Existenz und unternimmt mit dessen Papieren und Vermögen eine Bildungsreise, auf der er Zutritt zur adeligen Gesellschaft findet und eine Professorentochter erobert. Wie in Hoffmanns Lebens-Ansichten des Katers Murr und Bierbaums Stilpe wird der Bildungsgedanke einer ironischen Inventur unterzogen und die Entwicklung eines Künstlers dargestellt, der sein eigentliches Metier in der Hochstapelei findet. Im Hinblick auf die pikareske Erzählform lässt sich auch Die Blechtrommel (1959) von Günter Grass (*1927) als Parodie auf den Bildungsroman verstehen, denn der Ich-Erzähler Oskar Matzerath schreibt als Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt seine Lebenserinnerungen in der drit-

1. Tradition und Kanonisierung des männlichen Bildungsromans

ten Person gleich einem Schelmenroman nieder. Der Protagonist beschloss, nicht mehr zu wachsen, als er an seinem dritten Geburtstag eine Trommel geschenkt bekam, mit der er seinem Protest Ausdruck geben konnte, und wurde zu einem raffinierten Simplicissimus, der die Welt aus der Zwergenperspektive beobachtet. Der Roman macht zwar über die arretierte Entwicklung des Protagonisten die Verweigerung eines Bildungsprozesses während der Zeit des Nationalsozialismus deutlich, gestaltet damit aber zugleich einen Bildungsweg durch Erinnerung an die schuldbeladene Vergangenheit. Wie Hesse und Mann ist im 20. Jahrhundert Peter Handke (*1942) ein Autor, der in seinem Erzählwerk vielfach auf Struktur und Topoi des Bildungsromans Bezug nimmt. In die Erzählung Der kurze Brief zum langen Abschied (1972) sind nicht nur Zitate aus Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser integriert, sondern der Protagonist liest während seiner Irrfahrt quer durch die USA auch Gottfried Kellers Der grüne Heinrich und wird dadurch in seinen Reflexionen über sein bisheriges Leben geleitet wie zugleich bei der Überwindung seiner egozentrischen Denkweise unterstützt. Auch in Handkes Roman Langsame Heimkehr (1979) geht es um einen Selbstfindungsprozess, der mit einer Reise durch die USA verbunden ist. Die Romane dieses Autors nehmen die „innre Geschichte“ des Bildungsromans insofern konsequent auf, als die Protagonisten über einen irrenden oder suchenden Reiseweg ihre anfängliche Identitätskrise überwinden und zu einem neuen Selbstverständnis finden. Mitunter wird Sten Nadolnys (*1942) Roman Die Entdeckung der Langsamkeit (1983) mit dem Bildungsroman verglichen. Erzählt wird vom Lebensweg des Polarforschers John Franklin, der sich mit seiner Bedächtigkeit gegen die hektische Oberflächlichkeit des beginnenden Industriezeitalters profiliert und nach verschiedenen Expeditionen auf Forschungsreisen vergeblich die Nordwestpassage sucht. Nadolny zeichnet einen Protagonisten, der sich gegen Schnelligkeitsanforderungen sträubt, aber gerade dadurch unverwechselbare Individualität ausbilden kann. Auch Botho Strauß’ (*1944) Roman Der junge Mann (1984) wird in der Forschung als Bildungsroman betrachtet. Der Protagonist entscheidet sich als junger Mann gegen den Willen seines Vaters für das Theater und endet fünfzehn Jahre später desillusioniert in den Zwängen der Gewöhnlichkeit. Einzelne Stationen im Werdegang des Protagonisten, etwa seine Hinwendung zum Theater, oder auch das letzte Kapitel, das mit „Der Turm“ überschrieben ist, sind deutlich an Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre orientiert. Insgesamt zeigt die Entwicklung des Bildungsromans, in dem ein männlicher Protagonist im Zentrum steht, dass zunehmend Bildungswege dargestellt werden, die durch die Selbstreflexion der Protagonisten geleitet sind und als irrende Suche den Verlust der Vorstellung vom ,ganzen Menschen‘ verdeutlichen. Zugleich aber bleibt bis in die jüngste Zeit eine Orientierung an den vorbildgebenden Bildungsromanen des 18. und 19. Jahrhunderts bestehen. Elemente und Topoi der Gattung werden auf innovative Weise immer wieder aufgegriffen, um die Suche nach neuen Lebensoptionen unter Maßgabe veränderter gesellschaftlicher Verhältnisse und individueller Ansprüche zu verdeutlichen. Von daher geht es bei vielen Romanen auch nicht so sehr um die Frage, ob sie das Gattungsmuster in vollem Umfang erfüllen, sondern vielmehr darum, wie sie sich produktiv damit auseinandersetzen und darüber neue Bildungsvorstellen entwerfen.

Irrfahrt und neue Innerlichkeit

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V. Geschichte der Gattung

2. Anfänge und Entfaltung des weiblichen Bildungsromans Frage nach dem weiblichen Bildungsroman

Weibliche Bildungsansprüche in der Literatur

Seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts wurden verstärkt Romane von Autorinnen zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen. Für den Zeitraum 1770 bis 1810, also die Blütezeit des Bildungsromans, sind bisher rund 500 Romane von 80 Autorinnen recherchiert worden (Gallas/Heuser 1990, 4). Dabei wurde die Frage aufgeworfen, ob darunter auch weibliche Bildungsromane auszumachen sind. Aber kann diese Frage überhaupt sinnvollerweise gestellt werden? Der Abriss zur Idee der Bildsamkeit (Kap. III.2) und der vorhergehende Überblick über Bildungsromane, in denen die vielfältigen Selbsterprobungswünsche der durchweg männlichen Hauptfiguren zum Thema werden, hat gezeigt, dass die Bildungskonzepte der Zeit dezidiert auf die Phase männlicher Adoleszenz ausgerichtet waren. Bildung im Sinne freier Selbstexploration gehörte bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts allein zum Reifungsprozess des Mannes. Für Frauen gab es in der Regel keine Adoleszenzphase mit der Möglichkeit des Reisens, des Sammelns von Erfahrungen im Umgang mit dem anderen Geschlecht und des Ausprobierens unterschiedlicher Lebensmöglichkeiten. Die herkömmliche Erziehung zur Frau war weder mit Selbsterprobung außerhalb des Herkunftsbereichs verbunden noch auf eine Förderung kritischen Denkens ausgerichtet. Bildung bedeutete für Frauen, sich gemäß weiblicher Rollenerwartungen auszubilden und sich nach vorgegebenem Sittenkodex in schicklichem Verhalten zu üben. Wenn wir den Bildungsroman als eine Gattung bestimmt haben, in der eine produktiv-schöpferische Auseinandersetzung mit Erziehungsvorgaben im Sinne innovativer Entwicklung gestaltet wird, so scheint es kaum auch nur annähernd möglich, in realistischer Weise Protagonistinnen einen solchen Bildungsweg angedeihen zu lassen. Von daher gesehen überfordern wir Romane des 18. und 19. Jahrhunderts mit der Gattungsbezeichnung ,weiblicher Bildungsroman‘. Und doch war es gerade in der Literatur möglich, Bildungsansprüche für Frauen zu formulieren, die über die realen Möglichkeiten hinauswiesen. Denn Autorinnen, die im 18. Jahrhundert ihre Romane häufig anonym veröffentlichten, gehörten schon durch ihr Schreiben zu den ,Gebildeten‘, die sich mit Erziehungskonzepten und Bildungsvorstellungen auseinandersetzten. So liegt es nahe anzunehmen, dass sich diese Frauen auch mit Mustern weiblicher Bildung kritisch befasst haben. Schon Morgenstern hatte bei seiner Untersuchung der neuen Bildungsromane die Namen derjenigen Autorinnen genannt, die durch ihre „Familienromane“ im literarischen Leben der Zeit hervorgetreten sind, „wie vor vielen Jahren durch die ,Geschichte des Fräulein von Sternheim‘ Sophie von La Roche, viel später durch ihren von Schiller, wie ich aus seinem eigenen Munde weiß, durchgesehenen, so klar und zart, zumal im ersten Theil, gehaltenen Roman, ,Agnes von Lilien‘, Karoline von Wollzogen [sic!]; ferner Karoline Pichler durch ihren edel durchgeführten Roman ,Agathokles und andere Erzählungen‘; durch ihre ,Gabriele‘ Johanna Schopenhauer; ebenso durch ihre sinnigen Romane und Erzählungen Therese Huber und Fanny Tarnov, nebst einigen andern geschätzten Frauen unserer Tage“ (Morgenstern 1988, 94). Sich mit den Ro-

2. Anfänge und Entfaltung des weiblichen Bildungsromans

manen von Autorinnen unter dem Aspekt der Bildungsvorstellungen zu beschäftigen, eröffnet die Möglichkeit, Grundstrukturen der Auseinandersetzung mit weiblicher Erziehung im Hinblick auf die Entstehung des weiblichen Bildungsromans im 20. Jahrhundert zu erschließen. Dabei ist unabhängig vom Geschlecht des Autors dann von einem weiblichen Bildungsroman zu sprechen, wenn eine Protagonistin im Zentrum des Romangeschehens steht. Allerdings haben sich vor allem Schriftstellerinnen diesem Muster eines möglichen Bildungsromans zugewandt. Sophie von La Roches (1730 – 1807) Briefroman Geschichte des Fräuleins von Sternheim (1771) kann in diesem Zusammenhang als erstes deutschsprachiges Werk gelten, in dem die Bildungsvorstellungen einer Protagonistin im Rahmen ihrer Erziehungsvorgaben ins Zentrum gesetzt werden. Der Roman thematisiert, wie die Hauptfigur den zeitgenössischen Tugendforderungen über Prüfungen und Irrtümer hinweg zu entsprechen sucht. Schon Wieland hat in seiner Einleitung zu La Roches Roman betont, dass durch dieses Werk die Hinwendung zur Tugend befördert werden solle, und auch die Autorin hat sich explizit zu ihrer pädagogisch-didaktischen Absicht bekannt. Der Briefroman erzählt über die junge Sophie von Sternheim, die auf einem Landgut eine sorgfältige Erziehung gemäß dem weiblichen Tugendkanon erhält. Nach dem Tod ihrer Eltern ist die Adelige gezwungen, in die Residenzstadt zu einer Tante zu ziehen, die sie ohne Umschweife zur Maitresse des Fürsten machen möchte. Ein reger Briefwechsel mit der Pfarrerstochter Emilia hilft ihr, den Verführungen und Täuschungen der höfischen Gesellschaft zu widerstehen. Eine geheime Liebe zu dem sensiblen englischen Gesandtschaftssekretär Lord Seymour wird auf eine harte Probe gestellt, denn Sophie gerät durch eine Kabale bei Hofe in den Ruf einer Maitresse und heiratet den skrupellosen Lord Derby, der jedoch lediglich eine Scheintrauung arrangiert hatte. Die junge Frau erkrankt schwer und kehrt mit Unterstützung ihrer Freundin aufs Land zurück. Sie wird zur Erzieherin junger Mädchen und dann Gesellschafterin in England, von wo Lord Derby sie nach Schottland entführen lässt. Doch am Ende heiratet Sophie den ehrenwerten Lord Seymour, bekommt zwei Söhne und kann im Kreise der Familie ihr wohltätiges Leben auf dem Lande fortführen. La Roche hat das Schema von Richardsons Liebes- und Prüfungsromanen (vgl. Kap. II.3) abgewandelt und in Richtung eines weiblichen Entwicklungs- und Bildungsromans geöffnet. Die Geschichte des Fräuleins von Sternheim, die bei zeitgenössischen Autoren wie Goethe, Herder und Lenz lobende Zustimmung fand, setzt eine Protagonistin ins Zentrum, die ihre tugendhafte Erziehung gegen die Intrigen des Hofes und gegen lasterhafte Verführungsversuche zu leben sucht, indem sie an ihren Tugendgrundsätzen festhält. Deutlich werden nach dem Modell von Rousseaus Erziehungsroman bürgerlich-tugendhaftes Leben und höfischer Sittenverfall über die Entgegensetzung von Land und Residenz entfaltet. Der Topos der verführten Unschuld, der hier der Ausbildung der Selbsterkenntnis dient, wird in nachfolgenden Erzählwerken vielfach aufgegriffen. Markiert in den Bildungsromanen der Zeit die Reise zu verschiedenen Stationen der Erfahrung für den Protagonisten zugleich einen inneren Reifungsprozess, so gilt dies in gewisser Weise auch für Sophie. Sie wechselt von ihrem Elternhaus und einem protestantischen Pfarrhaus an den Hof, wo sie mit dem Laster und der Intri-

La Roches Geschichte des Fräuleins von Sternheim

Erfüllung der Tugendforderungen und Bildungsansätze

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V. Geschichte der Gattung

Opfer der Tugendnormen

Ausbildung der eigenen Anlagen

ge konfrontiert wird, sie betätigt sich erzieherisch und wird in Schottland wiederum auf eine Probe gestellt, bis sie in England die von ihr gewünschte Häuslichkeit findet. Während aber den männlichen Protagonisten in ihrem Bildungsgang eine Auseinandersetzung mit überkommenen Werten aufgetragen ist, versucht die junge Adelige gegen alle Hindernisse, gerade den durch die Eltern vermittelten Werten und Konventionen treu zu bleiben. Dabei ist sie jedoch auch fähig, aus ihren arglos begangenen Irrtümern Schlüsse zu ziehen und ihre Lebenserfahrung bei der Erziehung junger Mädchen einzubringen. Der von pädagogisierenden Einschüben durchzogene Roman entfaltet das Grundproblem der weiblichen Erziehung, dass nämlich die bloße Kenntnis der Tugendnormen für die Lebenspraxis nicht hinreichend ist, insofern erst durch das Lernen aus Erfahrung und Reflexionsfähigkeit naive Idealvorstellungen revidiert werden können. Dass Irrtümer allerdings nicht nur lehrreich, sondern mit Anpassungsdruck bis hin zur Selbstaufgabe verbunden sein können, wird in Wilhelmine Caroline von Wobesers (1769 – 1807) Elisa oder das Weib wie es seyn sollte (1795) deutlich, einem im späten 18. Jahrhundert hoch geschätzten Erziehungsroman. Trotz der väterlicherseits erzwungenen Heirat mit einem ungeliebten Mann und der Verpflichtung, den Erziehungsmaximen zu folgen, kann sie in ihrem neuen Lebenskreis – nach dem Vorbild der Sophie von Sternheim aus La Roches Roman – ein Haus für Kinder und alte Menschen errichten, um diesen Unterkunft, Pflege und Unterricht zu bieten. Erzählt wird über die Entwicklung einer ,Tugendheiligen‘, deren Selbstfindung sich in Selbstverleugnung verkehrt, indem sie sich für die Familie aufopfert. Ein Roman, in dem die geschlechtsspezifischen Differenzen bezüglich der Erziehungsvorstellungen deutlich herausgestellt werden, ist Therese Hubers (1764 – 1829) Roman Louise. Ein Beitrag zur Geschichte der Konvenienz (1796). Louise, die als einzige Tochter mit vier Brüdern in einem wohl situierten bürgerlichen Elternhaus aufwächst, wird in ihrem Interesse für die Botanik durch den Vater unterstützt und findet in dessen Bibliothek einen Ort der Selbstbildung. Nach dem Tod des Vaters wird Louise von der Mutter, die einem traditionellen Rollenkonzept verhaftet ist, in die Ehe mit einem jähzornigen Offizier gedrängt, die sich für die junge Frau als Martyrium erweist. Am Ende zieht sich Louise mit dem Vorsatz, ihr Kind nach neuen Grundsätzen aufwachsen zu lassen, aufs Land zurück. In der Vorrede des fiktiven Herausgebers wird der Roman als autobiographischer Bericht ausgewiesen, der von der Protagonistin auf Anraten eines Arztes geschrieben worden sei, um andere dazu zu ermutigen, sich von den Fesseln der Konvenienz zu befreien. Der viel diskutierte Roman wird in der Forschung als Antibildungsroman verstanden und die schwermütige Protagonistin als weibliches Gegenstück zu Karl Philipp Moritz‘ Anton Reiser gesehen. Auch Johanna Schopenhauers (1766 – 1839) Roman Gabriele (1819/20) erzählt vom Lebensweg einer jungen Adeligen, die nach dem Tod der Mutter von einer Tante in die Gesellschaft eingeführt wird und nach einer unglücklichen Liebe in eine arrangierte Ehe mit einem wesentlich älteren Vetter einwilligt. Wie in vielen Romanen der Zeit geht es auch hier um Entsagung, denn als sie sich in einen anderen Mann verliebt, vermag sie sich nicht aus ihrer Standesehe zu befreien. Demgegenüber hat Sophie Mereau (1770 – 1806), die sich intensiv mit Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre auseinandergesetzt hat, in ihrem Ro-

2. Anfänge und Entfaltung des weiblichen Bildungsromans

man Marie (1798) eine Protagonistin konzipiert, die in ländlicher Abgeschiedenheit aufwächst und durch den zufälligen Besuch eines Virtuosen angeregt wird, gegen den Willen des Vaters ihr Talent zum Lautenspiel auszubilden. Vom unbedingten Wunsch geleitet, ihr Leben selbst zu gestalten, durchlebt Marie Phasen der Erprobung und kritischen Selbsthinterfragung, vergleichbar den Protagonisten vieler Bildungsromane der Zeit. Nach der Affäre mit einem reichen Adeligen versucht sich Marie als Schauspielerin und kann ihr Leben über die Aneignung von Rollen überdenken, um am Ende eine Ehe mit dem Künstler einzugehen, der ihren Bildungsgang wesentlich initiiert hatte. Marie ist eine Figur, die der Ausbildung ihrer musischen Anlagen gegenüber den von außen an sie herangetragenen moralischen Ansprüchen Priorität einräumt. Sie durchlebt einen Entwicklungsgang, in dem sie ihre Liebes-, Bindungs- und Darstellungsfähigkeiten explorieren kann, und wird damit von einer weiblichen Opferrolle, wie sie in den Romanen der Zeit vielfach verhandelt wird, deutlich abgegrenzt. Aber nicht nur durch zumeist männliche Förderer, sondern auch durch die Literatur gelingt die Flucht aus bedrückenden familiären Verhältnissen, wie dies besonders deutlich in Friederike Helene Ungers (1751 – 1813) Julchen Grünthal (1784) ausgestaltet ist. Der Roman mit dem Untertitel Eine Pensionsgeschichte greift die um 1800 viel gescholtene ,Lesewut‘ auf und thematisiert den Einfluss von Lektüre bei der weiblichen Erziehung. Die Titelprotagonistin wurde in ländlicher Abgeschiedenheit zur Tugend erzogen und beginnt sich in einem Berliner Pensionat durch identifikatorische Lektüre von Jean-Jacques Rousseaus Roman Julie oder Die neue Héloïse (Julie, ou la Nouvelle Héloïse 1761) von den Grundsätzen ihrer tugendhaften Erziehung zu entfernen und wird für die Galanterie empfänglich. Nun überschlagen sich die sittlichen Verfehlungen geradezu: Julchen geht eine Liebesaffäre mit einem jungen Offizier ein, weist den Heiratsantrag eines ihr vom Vater zum Ehemann bestimmten Pfarrers zurück, zerstört unter dem Eindruck von Goethes Stella (1776) die Ehe ihrer Tante und flieht schließlich mit einem russischen Fürsten über die Grenze des Landes. Der bei seinem Erscheinen viel gelesene Roman problematisiert ein Erziehungskonzept, das nach einem probaten Mittel für eine tugendhafte Mädchenerziehung sucht, wobei häuslich-familiäre Verhältnisse und Pensionssituationen kontrastiv gegeneinander geführt werden. Neben der Wirkung von Lektüre wurden die Freiheitsideen und Emanzipationsbestrebungen der Französischen Revolution von Autorinnen um 1800 vielfach aufgegriffen. In ihrem Roman Die Familie Seldorf (1795/96) erzählt Huber über extreme Zurückweisungen weiblichen Rollenverhaltens: Sara Seldorf, die in ländlicher Zurückgezogenheit von ihrem Vater nach hohen Tugendforderungen erzogen wurde, wird schwanger von ihrem Geliebten zurückgelassen, der später in den Wirren der Französischen Revolution unwissentlich sein eigenes Kind tödlich verletzt. Sara wird zur Revolutionskämpferin in Männerkleidung und bekennt sich trotz des Verlustes ihrer leiblichen Tochter zur ,sozialen Mutterschaft‘. Sie nimmt den verwaisten Sohn ihres früheren Geliebten zu sich und weist den Heiratsantrag eines ihr schon lange zugetanen Freundes zurück. Der Roman lässt besonders deutlich werden, wie in geradezu programmatischer Weise Möglichkeiten weiblichen Rollentausches in der Literatur um 1800 durchdekliniert wurden.

Ermutigung durch Lektüre und die Freiheitsideen der Französischen Revolution

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V. Geschichte der Gattung Reise als Selbsterprobung

Bildungsreise nach Italien

Die Versuche – nicht selten in Männerkleidung – eine neue Rolle einzunehmen, sind zumeist mit einer Reise verbunden. In ihrem Roman Florentin (1801) setzt sich Dorothea Schlegel (1763 – 1839) mit Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre, vor allem aber mit dem Fragment Lucinde ihres Mannes Friedrich Schlegel auseinander. Obgleich der junge Maler Florentin Titelprotagonist ist und dessen abenteuerlich vagabundierendes Leben ausführlich erzählt wird, lagert Dorothea Schlegel ihrem Roman einen gleichsam Fragment bleibenden weiblichen Bildungsweg ein. Juliane begleitet Florentin und ihren Verlobten Eduard als Mann verkleidet auf Ausflügen und erprobt so spielerisch eine neue Rolle, doch bleibt sie letztlich dem ihr vorbestimmten standesgemäßen Leben verhaftet. Steht der bindungslos umherschweifende Jüngling Florentin für den adoleszenten Wunsch nach Ungebundenheit und Selbsterkundung, so bleibt die Grafentochter zwischen der Familientradition und dem Wunsch nach freier Lebensgestaltung hin und her gerissen. In Mereaus Das Blüthenalter der Empfindung (1794) begegnet der Ich-Erzähler Albert der weiblichen Protagonistin Nanette auf einer Italienreise. Sie wird in ihrem Verhalten für Albert zum Vorbild, wie dies auch für die weiblichen Hauptfiguren in Schlegels Lucinde oder Hölderlins Hyperion gilt. Vor dem Hintergrund der Französischen Revolution verlangt Nanette die gleichen Rechte wie Albert und geht am Ende mit ihm nach Amerika, um dort ein selbstbestimmtes Leben führen zu können. Dass vor allem die Italienreise auch in Romanen mit weiblichen Protagonistinnen paradigmatisch für Bildungsbestrebungen und Umorientierungen steht, wird besonders in Friederike Helene Ungers Roman Bekenntnisse einer schönen Seele. Von ihr selbst geschrieben (1806) deutlich. Mit augenfälligem Bezug auf Jean-Jacques Rousseaus Die Bekenntnisse (Les Confessions 1782) und die Binnenerzählung aus Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre, der im Verlag ihres Mannes erschienen war (vgl. Kap VI.2), erzählt Unger eine weibliche Bildungsgeschichte. Mirabella, die als Pflegekind eines Pfarrers aufwächst, ist von früh auf literarisch interessiert und liest die Schriften der französischen Klassiker und Aufklärer. Sie verliebt sich in den Bruder ihrer besten Freundin, der sie für italienische Schriftsteller begeistert. Als dieser jedoch im Krieg fällt, unternimmt Mirabella eine lange Italienreise als Gesellschaftsdame einer Prinzessin. Auch nach deren Tod bleibt sie in Italien, zieht mit einer Freundin zusammen und wendet sich ganz der Literatur zu. Dass Unger sich mit ihrem Roman keinesfalls nur an eine weibliche Leserschaft wendet, sondern zur aufklärerischen Unterrichtung der Männer beitragen wollte, wird auf der Textebene durch den Freund der ,schönen Seele‘ figuriert, dem diese ihre Lebensgeschichte erzählt. Demgegenüber hat Ida Hahn-Hahn (1805 – 1880) in ihrem Roman Gräfin Faustine (1841) über eine weibliche Protagonistin erzählt, die nach einer glücklosen Ehe mit einem brutalen Grafen auf einer Reise durch Italien in Begleitung eines väterlichen Freundes ihre künstlerische Kreativität entdeckt und nach einem ruhelosen Leben Zuflucht in einem Kloster in Rom findet. Die für junge Männer der gehobenen Stände obligatorische Bildungsreise nach Italien wird in Romanen mit einer weiblichen Hauptfigur zur Möglichkeit, bedrückenden Beziehungen zu entfliehen, wobei sich durch die Reise Wendungen hin zu einem eigenständigen Leben ergeben.

2. Anfänge und Entfaltung des weiblichen Bildungsromans

Nach den zahlreichen Romanen, in denen der aufreibende, gefahrvolle oder auch scheiternde Bildungsversuch einer Protagonistin gestaltet ist, erschienen um die Jahrhundertwende vermehrt Romane mit dezidierter Bildungsthematik. Während bis ins 19. Jahrhundert hinein Bildungsmöglichkeiten vornehmlich durch eine Reise gestaltet werden, gewinnt nun die künstlerische und intellektuelle Ausbildung zentralen Stellenwert. Eine der herausragenden Autorinnen, die sich in ihrem Schreiben vor dem Hintergrund reformpädagogischer Konzepte und Forderungen der bürgerlichen Frauenbewegung intensiv mit weiblichen Bildungswünschen auseinandergesetzt hat, ist Lou Andreas-Salomé (1861 – 1937). In ihrem Roman Ruth (1895) erzählt sie über den Bildungsweg einer wissbegierigen Schülerin, die gegenüber den Erziehungsforderungen ihres Lehrers ihre freie Selbstentfaltung einfordert und durchsetzt. Die früh verwaiste Schülerin vertraut sich auf ihrer Suche nach Wissen ihrem intellektuellen Förderer ganz an und geht nach anfänglichem Widerstand auf dessen unbedingte Gehorsamsansprüche ein. Der Lehrer baut in privaten Unterrichtsstunden eine enge emotionale Beziehung zu seiner begabten Schülerin auf und gesteht ihr seine Liebe. Doch diese will ihre Erziehung als Hilfe zur Selbstverwirklichung verstanden wissen und entschließt sich, ihren Bildungsweg selbstständig weiter zu gehen. Die umfängliche Erzählung steht im Kontext der pädagogischen Reformbewegungen um 1900 und ist ein prominentes Beispiel für die zahlreichen Texte von Autorinnen der Jahrhundertwende, in denen eine Protagonistin gezwungen ist, sich gegenüber projektiven Übergriffen seitens ihres Erziehers zu behaupten. In ihrer Erzählung Fenitschka (1898) problematisiert Andreas-Salomé die Stellung der Frau im Spannungsfeld von bürgerlicher Ehe und freier Liebe. Sie setzt eine mit Unbedingtheitsanspruch um ihre Selbstbestimmung kämpfende junge Russin ins Zentrum, die sich gegenüber den sexuellen Avancen einer Zufallsbekanntschaft in Paris verwahrt und den Heiratsantrag ihres Geliebten abweist, da sie sich an der Schwelle zu einem eigenständigen Leben begreift. Neu ist bei Andreas-Salomé, dass nun eine studierte und promovierte Frau als Protagonistin einer Bildungsgeschichte gestaltet wird, die sich als scharfsinnige Analytikerin geschlechtsspezifischer Zuschreibungen und weiblicher Bildungsbedingungen erweist. Dass Bildungsbestrebungen oft nur durch Bruch mit der Herkunftsfamilie umsetzbar waren, wird in Franziska zu Reventlows (1871 – 1918) Roman Ellen Olestjerne (1903) deutlich. Der Roman schildert nach dem Muster des Bildungsromans den Lebensweg einer Tochter aus adeligem Hause von der frühen Kindheit über die Adoleszenz bis zur Berufsfindung und Mutterschaft. Nach einer durch Konflikte mit den Eltern geprägten Kindheit wird Ellen von einem Mädchenpensionat wegen Ungehorsams relegiert und zu einem Besserungsaufenthalt in ein Pfarrhaus gegeben. Nach ihrer Ausbildung zur Lehrerin und einer gescheiterten Ehe wendet sie sich schließlich der Malerei zu und führt ein Leben in der Boheme. Um nicht durch familiäre Erziehung, gesellschaftliche Konventionen und herrschende Moralvorstellungen in ihren eigenen Vorstellungen gebrochen zu werden, entscheidet sich die Protagonistin für ein Lebensmodell jenseits des Rollenmusters, das ihr vorgezeichnet war. Mit diesem Entwicklungsweg der adeligen Titelprotagonistin in die Subkultur ist der Roman als Gegenentwurf zu bildungs-

Bildungsforderungen um 1900

Abkehr von bürgerlichen Verhaltensnormen

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V. Geschichte der Gattung

Entfaltung des weiblichen Bildungsromans

Ansätze in der DDR-Literatur

bürgerlichen Vorstellungen von Aufstiegsorientierung, Sozialintegration und Geschlechterverhältnis konzipiert. Nach zahlreichen Romanen der literarischen Moderne, in denen vor dem Hintergrund dezidierter Bildungsforderungen der bürgerlichen Frauenbewegung und der Öffnung der Universitäten für Studentinnen verstärkt weibliche Emanzipationsansprüche, künstlerische Selbstverwirklichungswünsche und Bildungsanstrengungen zum Thema werden, beginnt sich erst in den 1960er Jahren der weibliche Bildungsroman wirklich durchzusetzen. Mit der so genannten zweiten Frauenbewegung, die mit Forderungen nach Gleichstellung, Propagierung antiautoritärer Erziehung und Entwicklung neuer pädagogischer Konzepte einherging, vor allem aber aufgrund zunehmend größerer Bildungschancen durch Koedukation in den Gymnasien und die Expansion der Universitäten, wurde der Bildungsaufstieg von Frauen auch zum Gegenstand der Literatur. Deutlich finden gesellschaftliche Wandlungsprozesse und die Veränderung geschlechtsspezifischer Rollenzuschreibungen ihren Niederschlag in der Figurenkonzeption. Häufig werden Protagonistinnen gestaltet, die ihre Bildungswünsche gegen traditionsgebundene Weiblichkeitsvorstellungen und elterliche Widerstände erkämpfen. Vor allem aber werden nicht nur der Bildungsweg und die ihn flankierenden Emanzipationsansprüche dargestellt, sondern auch die psychosozialen Gestehungskosten dieser Selbstfindung hinterfragt. Neu ist also, dass es in diesen Romanen nicht allein um die Lösung von familiären Werten und das Überdenken des eigenen Gewordenseins geht, sondern zugleich um die kritische Überprüfung alternativer Lebensmodelle. Dabei wird die Erzählinstanz häufig in ein erzählendes und ein erinnertes Ich aufgespalten oder aber das Erzähler-Ich spricht zu einem Alter Ego, um der Widerständigkeit wie auch Komplexität des Bildungsprozesses Ausdruck zu verleihen. So reflektiert in Christa Wolfs (*1929) Nachdenken über Christa T. (1968) eine Ich-Erzählerin ihren eigenen Bildungsweg und schriftstellerischen Werdegang im inneren Zwiegespräch über eine früh verstorbene Freundin. Unter den Studierenden, die teils idealistisch, teils opportunistisch am Aufbau des sozialistischen Staates mitarbeiten, bleibt Christa T. in ihrer Distanz zu den gegebenen Verhältnissen eine Außenseiterin und kann erst nach einem psychischen Zusammenbruch ihr Studium beenden. Nachdem sie kurzfristig als Lehrerin gearbeitet, geheiratet und zwei Kinder bekommen hat, stirbt sie bereits 1963 überraschend an Leukämie, ohne dass sie ihren Vorsatz, Schriftstellerin zu werden, in die Tat umsetzen konnte. Mit der Darstellung des unabgeschlossenen Bildungsweges einer Protagonistin, die sich nicht in vorgegebene Verhaltensmuster einpasst, bezieht der 1968 erschienene Roman in bis dahin für die DDR-Literatur ungewöhnlicher Weise kritisch Stellung. Vor allem die spezifische Erzählsituation des Romans, bei der die IchErzählerin die erzählte Figur zu ihrem Alter Ego macht, verweist auf die Bildungsfunktion des Erinnerns. Dieser zentrale Aspekt des Erzählens wird in Wolfs acht Jahre später publiziertem Roman Kindheitsmuster (1976), in dem die Figur Christa T. namentlich genannt ist, fortgesetzt und erweitert (vgl. ausführlich Kap. VI.6). Zu den in der DDR entstandenen Romanen, die in der Bundesrepublik durch ihre Darstellung eines weiblichen Bildungsweges Beachtung fanden, gehört auch Franziska Linkerhand (1977) von Brigitte Reimann (1933 – 1973). Das postum veröffentlichte Fragment thematisiert

2. Anfänge und Entfaltung des weiblichen Bildungsromans

den Lebensweg einer jungen Frau, die sich radikal geschlechtsspezifischen Zuschreibungsmustern widersetzt, da ihr so genannte weibliche Tugenden von Anfang an als Begrenzung und Einengung erscheinen. Franziskas Selbstfindungsprozess führt zunächst aus dem bürgerlichen Elternhaus in die Ehe mit einem gewalttätigen Arbeiter, von dem sie sich bald wieder trennt, um sich durch ein Architekturstudium neu zu finden. Mit dem Eintritt in das Berufsleben wird die ehrgeizige Protagonistin mit der Trägheit der Bürokratie und dem Pragmatismus ihrer Umwelt schmerzlich konfrontiert. Dennoch versucht Franziska, die zwischen verschiedenen Männern hin und her gerissen wird, sich über ihre Berufstätigkeit selbst zu verwirklichen. Ulla Hahns (*1946) Roman Das verborgene Wort (2001) erzählt vom Bildungsgang eines Mädchens aus der Arbeiterschicht von der frühen Kindheit bis zum Erreichen neuer Bildungschancen. Die Fähigkeit zur Bildung, welche die Erzählerin in Erinnerung an ihre Kinder- und Jugendjahre entfaltet, ist durch Phantasiebegabung, Sprachsensibilität und Neigung zur Literatur bestimmt. Obwohl die Protagonistin namens Hildegard Palm in bedrückender Enge aufwächst, gleicht ihr Bildungsgang, der durch verstehende und fördernde Figuren angeregt und begleitet wird, einer stufenweisen Initiation in die Welt der Dichtung (vgl. ausführlich Kap. VI.8). Hahns Werk, das auf die Tradition des Bildungsromans geradezu emphatisch Bezug nimmt, kann als herausragendes Beispiel dafür gesehen werden, dass sich mit der Veränderung der Erziehungsvorgaben und den Bildungsmöglichkeiten für Frauen auch ein weiblicher Bildungsroman etablieren konnte.

Erkämpfter Bildungsaufstieg

3. Ausblick auf den interkulturellen Bildungsroman Seit den 1980er Jahren sind deutschsprachige Romane von Autorinnen und Autoren erschienen, die einen Teil ihrer Sozialisation in jenen Ländern erlebt haben, mit denen Deutschland seit den 1950er Jahren Anwerbeabkommen für ausländische Arbeitskräfte geschlossen hatte. Vor allem das Erlernen der deutschen Sprache, Integrationsversuche, Ausbildungsanstrengungen und die damit verbundene Möglichkeit eines Bildungsaufstiegs wurden zu Themen der Literatur. Mit der so genannten Migrationsliteratur, die den Suchbewegungen und Selbsterprobungswünschen einer Hauptfigur zwischen unterschiedlichen kulturellen Kontexten Ausdruck verleiht, wird besonders offensichtlich, dass es eine spezifische Form des Bildungsromans gibt, die bisher noch nicht beschrieben wurde und die sich als interkultureller Bildungsroman bezeichnen lässt. Bildungsromane lassen sich nämlich unter Interkulturalitätsgesichtspunkten beleuchten, sofern der Topos der Reise, der für die Darstellung des Bildungsganges kennzeichnend ist, eine zusätzliche Dimension gewinnt. Geht es mit dem Reiseverlauf des Protagonisten traditionell um die Verdeutlichung einer „innren Geschichte“, so markiert dieser im interkulturellen Bildungsroman zugleich eine Veränderung kultureller Verortung. Dies wird in der Migrationsliteratur in besonderer Weise deutlich. Denn die Protagonisten durchreisen nicht nur geographische Räume, sondern verändern in der Auseinandersetzung mit der ,Zielkultur‘ der Migration auch die Beziehung zum kulturellen Kontext ihrer Sozialisierung. Merkmale eines interkulturellen Bildungsromans können deshalb

Der interkulturelle Bildungsroman am Beispiel der Migrationsliteratur

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V. Geschichte der Gattung

Interkulturelles Erzählen

Imitation des Bildungsromans

beispielhaft an Romanen der Migrationsliteratur verdeutlicht werden. Denn nicht selten wird hier das Zwischen-Zwei-Kulturen-Sein als ständiges Unterwegssein im Sinne neuer Identitätsfindung gefasst. Damit einhergehend hat sich eine spezifische Metaphorik herausgebildet, mit welcher der Erfahrung des Lebens in unterschiedlichen Wertekontexten Ausdruck verliehen wird. Auffällig sind zum einen zahlreiche Raum-Metaphern, mit denen das Leben in Deutschland als Existenz in einem Zwischenraum oder einem dritten Raum gefasst wird. Auch die Sprachveränderungen während dieser ,Reise‘ werden in Romanen, die der Migrationsliteratur zuzurechnen sind, vielfach gestaltet. Bevorzugt wird die Zunge als Metapher für diesen sprachlichen Akkulturationsprozess eingesetzt. Die Muttersprache und die Fremdsprache werden gegeneinander geführt oder miteinander verknüpft und zu einem neuen Artikulationsmedium amalgamiert. Nicht selten wird erst in dieser neuen Sprache die Reflexion eigener kultureller Prägung möglich. Denn es geht nicht nur um das Erlernen der fremden Sprache, sondern auch um eine damit verbundene kulturelle Übersetzungsleistung und die Möglichkeit neuer Selbsterkundung und Welterschließung. Die Selbstsuche der Hauptfigur wird häufig durch eine scheinbar naive, den kulturellen Zusammenhang nicht kennende, pikareske Erzählperspektive geleitet. Mit der Insistenz auf Detailbeobachtungen, die aus dem kulturellen Bedeutungsnetz herausgelöst werden, können Bedeutungszuschreibungen aufgebrochen und Tabus umgangen werden, die kulturspezifisch regeln, was nicht ausgesprochen werden darf. Dieses Erzählen benennt – wie dies in Hans Christian Andersens Märchen Des Kaisers neue Kleider gestaltet ist – , was von den anderen noch nicht ausgesprochen wurde und deshalb so auch noch nicht gesehen werden konnte. Dass der Bildungsroman als Erzählmuster gewählt wurde, wird besonders in Alev Tekinays (*1951) Der weinende Granatapfel (1990) evident. Ihr märchenhafter Künstlerroman imitiert Novalis’ Heinrich von Ofterdingen (vgl. Kap VI.3) in Grundstruktur, einzelnen Motiven und Redewendungen überdeutlich. Ein junger Deutscher, der gerade seine Promotion in Orientalistik abgeschlossen hat, sieht in einem nächtlichen Traum seine Zukunft vor sich und fährt zur Hochzeit eines türkischen Studienfreundes in die Türkei, wo er nach dem Verfasser eines Buches sucht, in dem er Elemente seines eigenen Lebens wiederfindet. Der junge Deutsche reist kreuz und quer durch die Türkei, um den Volkssänger zu finden, verpasst ihn aber bei jeder Station. Am Ende bekommt Ferdinand seinen gerade erschienenen Gedichtband mit dem Titel Die Nachtfahrt zugeschickt und hört aus einer im Rundfunk übertragenen Gedichtlesung anlässlich des Todes des türkischen Sängers den Auftrag heraus, sein eigenes Dichten fortzuführen. Der Roman übersetzt Versatzstücke romantischer Poesievorstellungen in einen interkulturellen Bildungsroman, bei dem der Protagonist über den Umweg einer anderen Sprache und Kultur zu seiner eigenen Dichtung findet. In ihrem Roman mit dem Titel Nur der Hauch vom Paradies (1993) hat Tekinay über den Bildungsweg eines jungen, in Deutschland geborenen Türken erzählt, der zum Schriftsteller wird und auf einer Lesereise durch Deutschland sein Leben neu ordnet. Der bereits mit seinen Gedichten und einem Kinderbuch reüssierte Engin Ertürk gerät bei der Arbeit an seinem Roman Nur der Hauch vom Paradies in eine Krise, die er jedoch überwindet. Der Roman themati-

3. Ausblick auf den interkulturellen Bildungsroman

siert einerseits Kulturdifferenz – wie dies in vielen interkulturellen Romanen der Fall ist – über den Generationenkonflikt, denn Engins Familie verübelt ihm die autobiographische Offenheit seines Romans. Andererseits wird das Zwischen-den-Kulturen-Sein des Protagonisten durch unterschiedliche Verhaltenserwartungen verdeutlicht, insofern er beispielsweise in Literaturkreisen als ,Vorzeige-Türke‘ gehandelt wird und bei Lesungen seine Zuhörer verblüfft, weil er die türkische Sprache nicht richtig beherrscht. Der Roman endet ,romantisch verklärend‘ mit einer allzu versöhnlichen Einpassung, denn der Protagonist wird nicht nur zum anerkannten Schriftsteller, sondern lernt auch einen türkischen Filmemacher kennen, der sein Buch mit ihm in der Hauptrolle verfilmen möchte. Die Überwindung eines Lebensmodells, das durch die Herkunft vorherbestimmt scheint, impliziert im interkulturellen Bildungsroman zumeist die Erinnerung an die Kindheit in einer anderen Kultur. In Emine Sevgi Özdamars Roman Das Leben ist eine Karawanserei, hat zwei Türen, aus einer kam ich rein, aus der anderen ging ich raus (1992) wird die Entwicklung einer Ich-Erzählerin vor dem Hintergrund der politischen Ereignisse von der frühesten Kindheit in der Türkei bis zur Abreise nach Deutschland im Alter von 18 Jahren zum Thema. Das Heranwachsen der Erzählerin in der Familie ist durch mehrfache Wohnungswechsel gekennzeichnet, durch die sie mit verschiedenen sozialen Schichten und kulturellen Kontexten der Türkei bekannt wird. Durch Erzählungen der Großmutter sowie die Lektüre europäischer Romane und Theaterstücke wird der Bildungsgang wesentlich geprägt. Doch der Entschluss des adoleszenten Mädchens, nach Deutschland abzureisen, markiert den entscheidenden Übergang zu neuen Bildungserfahrungen, die im nachfolgenden Roman Die Brücke vom Goldenen Horn (1998) zum Thema werden. Während der ,Karawanserei-Roman‘ von der Reifung eines Mädchens zur jungen Frau als Geschichte ihrer Initiation in die türkische Kultur und Gesellschaft erzählt, geht es in Die Brücke vom Goldenen Horn um die Schwierigkeit der heranwachsenden Protagonistin, sich außerhalb der familiären Ordnung neue kulturelle Sinnzusammenhänge zu erschließen und sich als unverwechselbares Individuum einer Gesellschaft westlicher Prägung zu positionieren. Das von Goethe in seinem Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre formulierte Ideal, „mich selbst, ganz wie ich da bin, auszubilden“, sucht die Protagonistin durch vielfältige Rollenwechsel innerhalb des westeuropäischen Kulturraumes zu erreichen (vgl. ausführlich Kap. VI.7). Dass die Übernahme von neuen Rollen auch im Sinne kultureller Mimikry ein wesentliches Charakteristikum des interkulturellen Bildungsromans ist, erweist sich ebenfalls im Roman Selam Berlin (2003) von Yadé Kara (*1965). Der in Berlin geborene Protagonist Hasan Selim Khan, der teilweise in der Türkei zur Schule ging, erzählt über seine Versuche, sich in der unmittelbaren Zeit nach dem Mauerfall in der deutschen Hauptstadt ein eigenes Leben aufzubauen. Als er beim Film die Rolle eines türkischen Drogendealers spielt, der den Verführer seiner Schwester ersticht, trifft er im Darsteller dieses Gegenspielers seinen Halbbruder, den sein Vater nur wenige Jahre nach seiner Geburt mit einer Frau aus Ostberlin gezeugt hat. Karas interkultureller Bildungsroman, der zugleich als intrakultureller Wenderoman gelten kann, erzählt im ironischen Gestus von der Brüchigkeit der Werte

Erinnerung an die Herkunftskultur

Rollenspiel und Adoleszenz

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V. Geschichte der Gattung

Tendenzen der Geschichte des Bildungsromans

Zur beispielhaften Analyse von Bildungsromanen

der Elterngeneration wie auch über die naiven Versuche des jugendlichen Protagonisten, sich durch die Übernahme eines von ihm erwarteten Rollenverhaltens im Berlin nach dem Fall der Mauer sozial und in der Welt des Films künstlerisch zu etablieren. Das für den Bildungsroman typische Bildungsmedium Theater wird hier durch den Film ersetzt, denn der Protagonist muss nach der enttäuschenden Liebeserfahrung mit einer Kamerafrau und seinem Rollenspiel erkennen, dass er nicht zum Schauspieler geeignet ist und sich durch Reisen und neue Erfahrungen an anderen Orten weiterbilden muss. Für den interkulturellen Bildungsroman gewinnt die Reise insofern neue Bedeutung, als sie nicht nur die „innre Geschichte“ verdeutlicht und für die Entfaltung von Anlagen steht, sondern zur Herausforderung wird, sich mit fremden Kontexten und Wertvorstellungen auseinanderzusetzen, um darüber zu neuen Lebensmöglichkeiten und künstlerischen Ausdrucksformen zu finden. Abschließend können wir sagen, dass die Geschichte des Bildungsromans durch die Kanonisierung von Romanen im 19. Jahrhundert geprägt ist, bei denen durchweg ein männlicher Protagonist im Zentrum steht. Erzählt wird von der Auseinandersetzung mit dem eigenen Gewordensein wie auch über neue Lebensvorstellungen, die bevorzugt während einer Reise auf unterschiedlichen Etappen lehrreicher Erfahrung überprüft werden müssen. Auch Erzählwerke des 20. Jahrhunderts nehmen noch auf kanonisierte Bildungsromane des 18. und 19. Jahrhunderts Bezug oder variieren deren Muster und Topoi. Damit eröffnet sich die Möglichkeit, der Veränderung und innovativen Weiterentwicklung der Gattung Aufmerksamkeit zu schenken. Denn seit dem 18. Jahrhundert haben Romane mit einer weiblichen Hauptfigur unter geschlechterdifferenter Perspektive das Erzählmuster der Gattung erprobt. Mit den neu erkämpften Bildungsmöglichkeiten um 1900 und der Veränderung der Erziehungs- und Bildungssituation seit den 1960er Jahren konnte sich schließlich der weibliche Bildungsroman etablieren. In den entsprechenden Werken wird der Paradigmenwechsel von der Erfüllung anerzogener Vorgaben zu selbstbestimmter Lebensgestaltung häufig als Auseinandersetzung mit traditionellen Geschlechterrollen und gesellschaftlichen Widerständen gestaltet. Im interkulturellen Bildungsroman gewinnen hingegen die Frage nach der Herkunft und der Wunsch, eigene Lebensmodelle zu entwickeln, eine neue Dimension hinzu, insofern die Hauptfigur durch die Entwicklung innovativer Möglichkeiten zugleich auch zum Statthalter der Dynamik kultureller Veränderung wird. Für die Zusammenstellung von Romanen zu einem diachronen oder synchronen Textkorpus ist eine übergeordnete Fragestellung und die Festlegung von Vergleichsmerkmalen unumgänglich. Da Texte von Autorinnen bisher nur wenig systematisch unter Gattungsgesichtspunkten behandelt worden sind, empfiehlt sich ergänzend zu den hier vorgelegten Vorschlägen der Blick in einschlägige Lexika (Brinker-Gabler/Ludwig/Wöffen 1986; LosterSchneider/Pailer 2006). Die unterschiedliche literarische Qualität der Texte und die Vielschichtigkeit der Verweisungsbezüge, die in Überblicksdarstellungen notwendigerweise unberücksichtigt bleibt, kann allerdings nur durch eigene Lektüre ermessen werden. Interkulturelle Erzählwerke sind zwar teilweise zusammengestellt (Chiellino 1995 u. 2000; Gräf/Gräf 1995), wurden bislang jedoch noch nicht unter dem Aspekt der Gattungszuge-

3. Ausblick auf den interkulturellen Bildungsroman

hörigkeit übergreifend analysiert und stellen daher eine besondere Herausforderung für eigenständige Untersuchungen dar. Wenn wir uns nun im Anschluss mit beispielhaften Werken auseinandersetzen wollen, so werden in einem diachronen Überblick Beispiele für den männlichen, weiblichen und interkulturellen Bildungsroman näher erörtert. Um die Vergleichbarkeit der Analysen zu gewährleisten, werden die ausgewählten Romane jeweils knapp in Aufbau und Erzählweise sowie hinsichtlich Entstehungskontext und Rezeption vorgestellt. Daran anschließend werden wir jeden Roman in Bezug auf Erziehung und geschlechtsspezifische Individuation sowie den Zusammenhang von Bildung und kulturellem Wandel in den Blick nehmen.

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VI. Analyse beispielhafter Bildungsromane 1. Christoph Martin Wieland: Geschichte des Agathon (1766/67) Aufbau und Erzählweise

Aufenthalt bei Hippias

Begegnung mit Danae

Belehrung durch Archytas

Der Roman erzählt die Geschichte eines jugendlichen Schwärmers, der in einem adoleszenten Entwicklungsprozess mit deutlich voneinander abgegrenzten Stationen seine Ideale an der Wirklichkeit überprüfen und seine Tugendhaftigkeit erweisen muss: Auf der Suche nach einem Ort moralischer Lebensführung gerät der aus dem Athen der Antike verbannte Jüngling Agathon gleich zu Beginn seiner Reise gen Morgenland bei einem dionysischen Fest in eine Schar zügellos tanzender Thrakerinnen, vor deren liebestollen Zugriff ihn ein Überfall von Piraten gerade noch rettet. Ein unverhofftes Wiedersehen mit seiner ebenfalls gefangen genommenen Jugendfreundin Psyche auf dem Piratenschiff findet ein rasches Ende, da Agathon in Smyrna an den reichen Sophisten Hippias als Sklave verkauft wird. Der genussfreudig der Sinneslust frönende Philosoph sucht den begabten Jüngling von seiner Schwärmerei für Moral und Sitte zu kurieren und ihn zu seinem Nachfolger heranzubilden. Doch weil sich Agathon standhaft gegen die materialistisch hedonistische Erfolgsethik sträubt und seinen platonistischen Glauben an höhere Wahrheiten verteidigt, führt Hippias ihn gleichsam in eine Sinnlichkeitsfalle: zur schönen Hetäre Danae. Ohne um ihre Profession zu wissen, erliegt Agathon tatsächlich dem Reiz der erfahrenen und lebensklugen Frau. Und auch die erotische Lehrmeisterin wird von dem schönen Jüngling eingenommen, als er ihr, von reumütigen Erinnerungen an die verlorene Psyche heimgesucht, die Geschichte seiner Kindheit und Jugend erzählt. Als Hippias erkennen muss, dass Agathon in Danaes Armen nicht zum Hedonismus bekehrt, sondern von tiefer Liebe ergriffen wurde, lüftet er das Geheimnis um die Vergangenheit der Hetäre. Enttäuscht verlässt Agathon daraufhin Smyrna und bricht zu seiner nächsten Station nach Syracus auf, wo er Günstling am Hof des Tyrannen Dionysius wird und aus dessen politischem System einen Idealstaat zu formen sucht. Durch eine Hofintrige endet auch diese Unternehmung für Agathon erfolglos, und nach einer Kerkerhaft macht er sich alsbald zu seiner nächsten Station nach Tarent auf, wo er im Hause des führenden Staatsmannes Archytas aufgenommen und in vielfältigen philosophischen Gesprächen belehrt wird. Als Agathon hier endlich Psyche wieder trifft, ist er zunächst über die Nachricht bestürzt, dass sie den Sohn des Hauses geheiratet hat, doch schon bald erfährt er, dass seine Jugendfreundin niemand anderes als seine tot geglaubte Schwester ist. Der Roman endet, als der nun auch innerlich

1. Wieland: Geschichte des Agathon

freie Agathon in tränenreicher Rührung der mittlerweile zur Tugend bekehrten Danae begegnet, die dem früheren Geliebten jedoch zu verstehen gibt, dass sie künftig ein enthaltsames Leben zu führen wünscht. Die erste Fassung des umfänglichen Romans aus den Jahren 1766/67 besteht aus zwei Teilen mit mehreren Büchern, die wiederum in Kapitel untergliedert sind, deren Überschriften jeweils stichwortartig das Romangeschehen andeuten. Eingeleitet wird der Roman durch einen „Vorbericht“, in dem ein fiktiver Herausgeber die Publikation eines alten griechischen Manuskriptes rechtfertigt, das er vorgeblich in Händen hält. Dieser für den Roman des Barock übliche und auch in der Aufklärung noch durchaus häufig verwandte Legitimierungsgestus verweist auf den noch immer prekären Status des Romans im 18. Jahrhundert, der wegen seiner ,unwahren‘ Geschichten gegenüber der Geschichtsschreibung eigens gerechtfertigt werden musste. Daraus erklärt sich, dass der fiktive Herausgeber wortreich bemüht ist, die Wahrhaftigkeit seiner Geschichte zu bezeugen, indem er angibt, dass alles, was er darstelle, „mit dem Lauf der Welt übereinstimme“ (Wieland 1996, 5). Die Geschichte des Agathon gilt als der erste mehrdimensional angelegte deutschsprachige Roman, bei dem die äußere stoffliche Handlung zugunsten einer inneren moralisch-psychologischen Entwicklung auf ein Minimum reduziert ist. Dabei ist es nicht nur der Erzähler, der über den Protagonisten berichtet und seine Entwicklung kommentiert. Auch die ihm zugeordneten Lehrfiguren tragen Geschichten vor, mit denen Agathon unterschiedliche Lebensentwürfe und moralisch-philosophische Vorstellungen im Dienste seiner eigenen Bildung nahe gebracht werden. Ein den Roman grundlegend prägendes Spannungsmoment liegt in der Diskrepanz zwischen der Perspektive des Erzählers und der Weltsicht des Protagonisten. Denn während sich Agathon in idealistischer Schwärmerei über die Beschränkungen der Realität hinwegzusetzen sucht, insistiert der Erzähler immer wieder mit ironischer Distanz auf der Wirkungsmächtigkeit der äußeren Verhältnisse. Wie eine pädagogische Prüfungsinstanz erörtert er in regelmäßigen Einschüben den inneren Zustand seiner Zentralfigur und bilanziert deren Entwicklung im Gestus abgeklärter Weltsicht. Durch diese mit didaktisierendem Impetus resümierenden Passagen lässt der Erzähler den Bildungsgang Agathons als zunehmende Ernüchterung des Schwärmers durch Erfahrung deutlich werden. Mit dem Wechsel von der Erzählung in der Er-Form zur Ich-Form in den klar gegliederten Figurengesprächen wie auch vor allem in den umfänglichen Figurenerzählungen gewinnt der Roman bekenntnishaften Charakter. Den Titel Geschichte des Agathon hatte Wieland gewählt, um seinen Roman von der zeitgenössischen trivialen Unterhaltungsliteratur abzusetzen und an die innovative englische Erzählkunst im Stil von Henry Fieldings Tom Jones (1749) anzuknüpfen. Darüber hinaus ist Wielands Werk eine Vielzahl von Erzählmustern der europäischen Literatur eingelagert. So wird im Aufbau auf die Struktur des Reiseromans zurückgegriffen, mit den Figurengesprächen auf das Muster des platonischen Lehrgesprächs rekurriert und mit den didaktischen Einlassungen des Erzählers auf den Erziehungsroman im Stil Rousseaus.

Legitimierung des Romans

Mehrdimensionalität des Erzählens

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VI. Analyse beispielhafter Bildungsromane

Entstehungskontext und Rezeption Drei Fassungen des Romans

Autobiographischer Bezug

In einem Brief vom März 1761 äußerte sich Wieland erstmals darüber, dass er seit einem Jahr am Plan eines Romans arbeite, der dann 1766/67 unter dem Titel Geschichte des Agathon in der ersten Fassung erschien. Doch sollte sich Wieland nahezu die Hälfte seiner Lebenszeit mit dem Stoff beschäftigen, denn er publizierte 1773 eine zweite und 1794 sogar noch eine dritte Fassung des Romans. Als Reaktion auf Kritik am entsagungsvoll unharmonischen Ende der ersten Fassung suchte Wieland der Bildungsgeschichte Agathons einen Abschluss zu geben, der auch für die Weiterentwicklung der Menschheit vorbildhaft sein sollte. In der zweiten Fassung erzählt Danae ihre eigene Lebensgeschichte, und ihre Bildung zur ,schönen Seele‘ wird ausführlicher dargelegt. Angeregt durch ihr Beispiel richtet Agathon sein Leben neu aus, legt eine schriftliche Beichte für Archytas ab und erfährt dessen lehrreiche Lebensgeschichte, bevor er sich zum Zwecke seiner Weiterbildung auf Weltreise begibt. Erst als Agathon durch die Beobachtung fremder Völker die aufklärerische Idee bestätigt findet, dass sich die Menschheit allein durch moralische Besserung kulturell höher entwickeln kann, kehrt er im Einklang mit sich selbst zu seinen Freunden zurück. Nach dieser harmonisierenden Veränderung des Schlusses wurden in der dritten Überarbeitung des Romans schließlich stilistische Korrekturen vorgenommen, die Zwischenreden des Erzählers gekürzt und stattdessen weitere philosophische Einlassungen insbesondere von Archytas hinzugefügt. Doch wurde der Erstfassung des Romans von 1766/67 gerade auch unter gattungstypologischen Gesichtspunkten die meiste Aufmerksamkeit zuteil, denn an ihr hatte Friedrich von Blanckenburg in seinem Versuch über den Roman (1774) jene innovativen Tendenzen ausgemacht, die im Folgenden auch für die Bestimmung des Bildungsromans richtungsweisend wurden. Bereits mit Beginn der ersten Niederschriften hat sich Wieland ganz unverblümt zum autobiographischen Gehalt seines Romans bekannt: „Ich schildre darinn mich selbst, wie ich in den Umständen Agathons gewesen zu seyn mir einbilde, und mache ihn am Ende so glüklich als ich zu seyn wünschte.“ (Wieland 1975, 61) Wieland entwickelt in seinem Roman, der das meiste von seinen „Grundsätzen Erfahrungen und Gedanken“ (Wieland 1975, 29) enthalten sollte, einen an den philosophischen Systemen des antiken Griechenland orientierten Bildungsgang, der in der Vielfalt von Erziehungsetappen durchaus an seinen eigenen Lebensweg erinnert. Denn auch Christoph Martin Wieland (1733 – 1813), der als Sohn eines Pfarrers bei Biberach in Württemberg geboren wurde, durchlief Etappen einer an unterschiedlichen Glaubensvorstellungen und Ideen orientierten Erziehung: Er wurde zunächst von seinem Vater, dann von Privatlehrern in der Biberacher Stadtschule und schließlich in einem pietistisch ausgerichteten Kloster bei Magdeburg erzogen. Mit 16 Jahren begann er ein Studium der Philosophie in Erfurt, später der Jurisprudenz in Tübingen, von dem er sich zugunsten der schriftstellerischen Arbeit jedoch wieder abwandte. Auf Einladung des Schweizer Aufklärungsschriftstellers Johann Jakob Bodmer verbrachte er als dessen Schüler acht Jahre in Zürich, wurde dann Hauslehrer in Bern, wenig später Kanzleiverwalter in Biberach und danach Professor für Philosophie in Erfurt, bis er schließlich im Jahre 1772 als Erzieher der jungen Prinzen an

1. Wieland: Geschichte des Agathon

den Hof nach Weimar berufen wurde. Neben den vielfältigen erzieherischen Einflüssen war vor allem der Austausch mit seiner Cousine und Verlobten Sophie Gutermann, die als spätere Sophie von La Roche zur anerkanntesten Schriftstellerin der Aufklärung wurde, für seine dichterischen Anfänge richtungsweisend. Seit Morgensterns Prägung des Begriffs „Bildungsroman“ wendet sich die Forschung immer wieder der Frage zu, ob dieser Roman bereits das Gattungsmuster erfüllt oder lediglich als Vorform zu betrachten ist. So wird die Meinung vertreten, dass hier „die Herausbildung eines moralischen Charakters“ (Jacobs/Krause 1989, 56) „im Sinne aufklärerischer Charakterpsychologie“ (Erhart 1991, 7) das zentrale Thema sei und eine „Dominanz des Strukturtypus des Bildungsromans“ (Mayer 1992, 42) attestiert werden könne. Betont wird, dass bei Wieland eine „Bildungsgeschichte erstmals zur eindeutigen Leitlinie eines ganzen Romans wird“ (Selbmann 1994, 46), bei der sich der Protagonist „durch gedankliche Bewältigung seiner Erfahrungen […] als genuiner Held einer Bildungsgeschichte“ (Jacobs 2005, 25) erweist. Es besteht aber auch die Ansicht, dass Agathon, obwohl er „am Ende nicht mehr derselbe wie am Anfang“ (Köhn 1969, 52) ist, sich in seiner Suche nach neuer Erkenntnis lediglich „in einem philosophisch vorgegebenen Problemrahmen“ (Engel 1993, 141) bewegt.

Gattungsfrage

Auseinandersetzung mit Erziehung und geschlechtsspezifische Individuation In Wielands Roman stehen geschichtsträchtige Orte der antiken Welt für unterschiedliche kulturelle Muster und Erfahrungsbereiche, die Agathon auf seinem Bildungsweg gleich einem Erziehungscurriculum durchlaufen muss: der heilige Ort Delphi für die von einem familiären Kontext losgelöste, weltabgeschiedene religiöse Erziehung; die Vaterstadt Athen für den gescheiterten Versuch, durch politisches Wirken in einer Republik Ansehen zu erlangen; Smyrna für die philosophische Auseinandersetzung mit den der religiösen Erziehung diametral entgegengesetzten Werten und die Initiation in die Sexualität; Syracus für das Fehlschlagen von Erneuerungsversuchen in einer korrupten Tyrannis und schließlich Tarent für erneute Belehrung und Einübung in Tugendhaftigkeit durch Entsagung. Jede Entwicklungsphase wird durch Lehrmeister geprägt: die Erziehungsphase durch die tugendhaften Priester, die Loslösungsphase durch den edlen Vater, die Prüfungsphase durch den genussfreudigen Hippias, die Neuerprobungsphase durch den tyrannischen Dionysius, die Eingliederungsphase durch den ethisch-sittlichen Lehrmeister und väterlichen Freund Archytas. Weshalb Agathon von Beginn der Romanhandlung an trotz seines jugendlichen Alters geradezu ein Tugendeiferer ist, wird durch die rückgreifende Erzählung über seine Kindheit und den Beginn der Adoleszenz erklärt. Denn Agathon, der einer heimlichen Verbindung zwischen einem athenischen Aristokraten und einer Frau niederen Standes entstammt, wurde – nachdem die Mutter bei der Geburt eines zweiten Kindes (Psyche) verstorben war – bereits im Alter von drei Jahren zur Erziehung in den Tempel von Delphi verbracht und blieb dort bis zu seinem 18. Lebensjahr. Agathon ist also in einem ausschließlich sittenstreng religiösen System als Zögling von Priestern herangewachsen. So wird seine besondere „Gemütsbildung“,

Erziehungscurriculum

Bedeutung der Kindheitserzählung

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VI. Analyse beispielhafter Bildungsromane

Lernprozess

Idealisierte Frauenfiguren

die ihn „von den gewöhnlichen Menschen unterscheidet“ (215), durch seine Anlage zu einer „gefühlvolle[n] Art“ einerseits und eine familien- und weltferne Erziehung andererseits erklärt. Und in der Tat stellt der Roman Agathon als wandelnde Inkarnation der ihm einsozialisierten Tugendlehre vor. Er hat die Lektionen seiner religiösen Erziehung so gut gelernt, dass ihm die anerzogene Tugendhaftigkeit wie zu einer ,natürlichen‘ Anlage geworden ist. Agathon hat mithin die religiös fundierten Lebensprinzipien so sehr verinnerlicht, dass er unwillkürlich nach tugendhaften Grundsätzen handelt, ohne darüber nachdenken zu müssen. Sein Hang zur Schwärmerei, die einer „unvermerkte[n] Unterschiebung des Idealen an die Stelle des Würklichen“ (368) gleichkommt, begründet sich demnach durch das Festhalten an einem buchstäblich weltfremden Ideal, das in der von Agathon vertretenen Ausschließlichkeit der Lebenswirklichkeit nicht standhalten kann. Der Lernprozess Agathons wird durch einen Reiseweg veranschaulicht, der ihn an Orte unterschiedlicher kultureller Erfahrung führt, zugleich aber als innerer Weg der Erkenntnis gestaltet, bei dem er seine durch Erziehung überformte Anlage überprüfen muss. Im philosophischen Disput mit dem Sophisten Hippias, der ihm seine hedonistische Maxime – „Suche dein Bestes; oder mit andern Worten: Befriedige deine natürliche Begierden [sic!], und genieße so viel Vergnügen als du kannst“ (102 f.) – nahe zu bringen sucht, kann Agathon noch mit der pathetischen Rhetorik erlernter Lehrsätze antworten. Er gibt immer wieder seiner Schwärmerei Ausdruck und betont, „wie glücklich der Zustand der Geister sei, die den groben tierischen Leib abgelegt haben, und im Anschauen des wesentlichen Schönen, des Unvergänglichen, Ewigen und Göttlichen“ (56) ihre eigentliche Befriedung finden. Doch die Emphase unerschütterlicher Sicherheit, mit der sich Agathon gegenüber allen seelisch-körperlichen Anfechtungen gefeit glaubt, basiert gerade auf der Verkennung des Einflusses, den die religiöse Erziehung in ihm bewirkt hat. Er begreift zwar, dass alle seine „Begriffe nach diesem Urbilde gemodelt“ (221) wurden, aber seine Prägung durch die Religion durchdringt sein innerstes Wollen und Wünschen, wie dies gerade in der Begegnung mit zahlreichen Frauenfiguren deutlich wird, die für ihn scheinbar nur eine untergeordnete Rolle spielen. Den Anfang einer Reihe von Frauenfiguren, mit denen Agathon im Laufe seiner Entwicklung in Berührung kommt, bildet die Mutter, die als „sehr jung, sehr schön und eben so tugendhaft als schön“ (266) charakterisiert wird. Der Roman legt nahe, dass die früh verstorbene Mutter, die den Sohn bis zu seinem dritten Lebensjahr mit „ihrer eigenen Pflege“ (268) aufzog, ihm diese Anlage zu Schönheit und Tugendhaftigkeit mitgegeben hat, denn auch Agathon wird verschiedentlich durch diese Attribute gekennzeichnet. In Delphi begegnet Agathon dann dem verfeinerten Ebenbild seiner selbst in Gestalt eines kindlich-unschuldigen Mädchens mit dem bezeichnenden Namen Psyche. Mit ihr besteht von allem Anfang an „eine Harmonie der Herzen, ein geheime Verwandtschaft der Seelen“ (146), die keiner Worte bedarf. Psyche nimmt die Funktion eines Ich-Ideals ein, an dem sich Agathon sehnsuchtsvoll orientiert, wie zugleich einer mahnenden Gewissensinstanz, die immer dann vor seinem inneren Auge erscheint, wenn er mit bedrohlicher Weiblichkeit und damit seiner eigenen Triebhaftigkeit konfrontiert wird.

1. Wieland: Geschichte des Agathon

Wieland bietet für einen Aufklärungsroman eine erstaunliche Anzahl lüsterner Frauenfiguren auf, die dem jugendlichen Protagonisten an die Tugend wollen. Gleich einem Heiligen, der durch Versuchungen in seinem Glauben geprüft wird, erlebt Agathon einen wahren Spießrutenlauf durch das Feld des Erotischen. Er ergreift bereits im Tempelbezirk von Delphi die Flucht vor der Priesterin Pythia, die ihn mit lüsterner „Raserei“ (253) zu verführen sucht. Nach seiner Verbannung aus Athen wird er von den „frechen Stellungen“ (18) der liebestollen, sich mänadenhaft gebärdenden Frauen abgestoßen und empfindet „Ekel vor Reizungen, die mit der Schamhaftigkeit alle ihre Macht auf ihn verloren hatten.“ (18) Auch im Hause des Hippias schlägt Agathon vor Scham seine Augen nieder, als er Gemälde erblickt, die „schlüpfrige und unsittliche Gegenstände“ (51) darstellen, und selbst die schöngebildete Dienerin Cyane vermag seine Vorstellungskraft durch ein Kleid, das einem „gewebten Wind“ (70) gleicht, nicht zu reizen. Auch wenn der Erzähler mit großer Fabulierlust und Detailfreude erotische Frauenfiguren vor dem Auge Agathons (und des Lesers) Revue passieren lässt, erteilt der Jüngling den Vergnügungen, „die der Mensch mit den Tieren gemein hat“ (111), eine klare Absage, weil sie nicht moralisch bildend wirken können.

Verführerinnen

Bildung und kultureller Wandel Für Agathons Bildungsweg repräsentieren die männlichen Lehrfiguren wie die Priester, der Vater, Hippias, Dionysius und Archytas deutlich profilierte lehrreiche Lebensentwürfe, die weiblichen Verführerinnen hingegen moralisch verwerfliche Lust. Und doch kann erst durch die Hetäre Danae, die eine Kontrastfigur zum propagierten Ideal der tugendhaft-unschuldigen Frau vom Typus einer Psyche ist, der Bildungsprozess Agathons entscheidend gelenkt werden. Nicht nur weil sie eine sexuell erfahrene Frau ist, wird sie für den unschuldigen Jüngling zur „Lehrmeisterin“ (126), sondern weil sie die Fähigkeit besitzt, mit ihrem Körper Kunst zu figurieren. Bezeichnenderweise wird Danae für Agathon nämlich in dem Moment unwiderstehlich, als sie für ihn die Idee der Tugendhaftigkeit verkörpert. Auf Danaes Gut wird dem unschuldigen Jüngling eine Ballettpantomime vorgeführt, in welcher der Mythos von der Nymphe Daphne zur Darstellung kommt. Nach der Überlieferung wurde die schöne Nymphe in einen Lorbeerbaum verwandelt, um sich dem sexuellen Zugriff Apollons entziehen zu können, da es ihr sehnlichster Wunsch war, immer Jungfrau zu bleiben. In der Pantomime wird Daphne zunächst von einer nur spärlich bekleideten Tänzerin von großer körperlicher Schönheit gegeben. Doch Agathon missfällt ihre Darstellungsweise, da nach seiner Vorstellung mit der Figur „Gleichgültigkeit und Unschuld“ (136) zum Ausdruck kommen sollten. Als daraufhin Danae die Rolle der Daphne tanzt, vermag sie das Vorstellungsvermögen des Jünglings zu übertreffen: „Ihr ganzes Spiel drückte die eigenste Idee des Agathon aus, aber mit einer Anmut, mit einer Zauberei, wovon ihm seine Phantasie keine Idee gegeben hatte.“ (137) Die schöne Hetäre wirkt also erst in dem Augenblick bildend auf Agathon, als sie seine Tugendidee zu verstehen und durch die theatrale Darstellung in Kunst zu übersetzen vermag. Indem Danae Agathons moralische Einbildungskraft durch ihre Körperkunst anregt, wird sie in ganz unmittelbarem Sinne zu seinem ,weiblichen

Danae als Lehrmeisterin

Daphne-Mythos

Moralische Einbildungskraft

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VI. Analyse beispielhafter Bildungsromane

Weibliche Bildungsgeschichte

Aufklärerische Wertedebatte

Darstellung eines Charakters

Lehrkörper‘ und gibt ihm Anreiz zu einer neuen Form der Auseinandersetzung mit seinen Idealen. Denn das erzieherische Täuschungsmanöver, Agathon in die Situation zu versetzen, „sich selbst zu hintergehen, ohne es gewahr zu werden“ (145), kommt einer Aufhebung der Selbstzensur gleich und führt ihn zu einer Überschreitung seiner starren Tugendnormen. Die Schwärmerei für die Tugend wird für den Jüngling in die Leidenschaft für Danae überführbar, weil ihm die Möglichkeit geboten wird, seine durch religiöse Erziehung geweckte Einbildungskraft auf die ästhetisch vermittelte Vorstellung vom tugendhaften Körper zu übertragen. Dass diese Vorstellung ,Theater‘ im Sinne der Täuschung ist, muss Agathon durch Hippias‘ Enthüllungen zwar jäh feststellen, doch gerade der ästhetische Schein hat ihn zu einer Anschauung über seine in der Wirklichkeit notwendig versagende Tugend-Idee geführt, die für seinen Bildungsprozess unabdingbar ist. Über die für Agathons Entwicklung zentrale Begegnung mit der Hetäre Danae hat Wieland seinem Roman eine ,weibliche Bildungsgeschichte im Schnellkurs‘ eingelagert. Denn Agathon wird durch die Erzählung seiner Lebensgeschichte auch zum Lehrmeister für Danae. Er weckt ihre empathische Vorstellungskraft und setzt damit einen Bildungsprozess zur Tugendhaftigkeit in Gang. Somit werden für Agathon die anerzogenen Prinzipien durch die künstlerisch überformte erotische Erfahrung mit Danae verändert, während diese wiederum durch Agathons Erzählung wie nach einem Erweckungserlebnis in pietistischer Manier der Erotik entsagen wird. Am Ende des Romans begegnet Agathon der durch Reue und sittliche Einkehr veränderten Danae als einer ,schönen Seele‘, die nach seinem eigenen Vorbild zu einem Leben innerer Einkehr gereift ist. Wieland hat seinem Roman die aufklärerische Debatte um einen Tugendkanon eingeschrieben, mit dem sich das Bürgertum gegenüber dem Adel zu bestimmen sucht. Dass es sich bei der Etablierung eines neuen Verhaltensethos auch um Strategien der Selbstdisziplinierung handelt, wird durch Agathons Bildungsgang deutlich, der von philosophischen Systemen über die staatspolitische Sphäre bis hin zur Kultur der Innerlichkeit reicht. Der Roman ist von Anspielungen auf die zeitgenössische Adelskritik durchzogen, wie dies beispielsweise im Disput zwischen Hippias und Agathon deutlich wird. Die Sophisterei wird mit der Verstellung als höfischer Verhaltensweise gleichgesetzt, insofern sie habituell „gefällig, einschmeichelnd“ (43) ist und sie das Ziel verfolgt, „die Leidenschaften andrer Menschen zu erregen“ (42). Der alternde Hippias entspricht somit dem Typus des Hofgalans, der es versteht, sich einzuschmeicheln und sich aus jeder Situation einen Vorteil zu verschaffen. Demgegenüber steht der Jüngling Agathon mit seiner Orientierung an verbindlichen Tugendnormen und der Fähigkeit, eigene Leidenschaften „zu dämpfen“ (42), für ein neues Selbstverständnis bürgerlichen Zuschnitts. Wieland betont über seinen fiktiven Herausgeber, dass es ihm mit der Geschichte des Agathon nicht darum gehe, eine Moral zu illustrieren, sondern einen Charakter nach dem Leben zu zeichnen. Bereits hier wird als grundlegende Intention des Romans formuliert, sich von der Typologie des Tugendkanons, wie er für das frühe 18. Jahrhundert verbindlich war, zu lösen und zu einer individuellen Figurengestaltung zu kommen, damit „Agathon das Bild eines wirklichen Menschen wäre, in welchem viele ihr eigenes erken-

1. Wieland: Geschichte des Agathon

nen sollten“ (7). Dem liegt die anthropologische Vorstellung zu Grunde, dass der Mensch prinzipiell zur Tugendhaftigkeit disponiert ist, diese Anlage aber durch erzieherische Maßnahmen gefördert und durch Selbsterkenntnis erst ausgebildet werden muss. Wielands Geschichte des Agathon wird als Problematisierung der Frage verstanden, „wie der Mensch in einer korrupten Welt dem moralischen Gesetz treu bleiben könne“ (Jacobs/Krause 1989, 57). Nach unserer Analyse rückt demgegenüber verstärkt in den Blick, dass es bei Agathons Bildungsgang nicht allein um eine verstandesmäßige Auseinandersetzung mit philosophischen Denkmodellen und praktischen Verhaltensoptionen geht, sondern auch um die Infragestellung einer nach starren Normen ausgerichteten Erziehung unter den Forderungen geschlechtspezifischer Adoleszenzentwicklung. Denn erst durch die nach bürgerlichen Moralvorstellungen skandalöse erotische Beziehung mit einer Hetäre wird Agathon fähig, die ihm anerzogenen Verhaltenserwartungen zu relativieren. Problematisiert wird unter dieser Perspektive nicht vornehmlich, wie eine Lebensführung nach vorgefassten moralischen Prinzipien möglich ist, sondern ob durch Erziehung verinnerlichte Gebote so veränderbar sind, dass sie dem Wunsch nach ,eigenwilliger‘ Lebensführung überhaupt Entfaltungsspielraum eröffnen können. Wieland lässt seinen Agathon einen Bildungsgang durchlaufen, wie er mit dem Säkularisierungsschub des 18. Jahrhunderts für die Möglichkeit aufgeklärter Selbstbestimmung relevant wurde. Denn eine zuvor durch die Religion verbindlich vorgegebene Verhaltensorientierung wurde nicht nur durch eine neue Ethik abgelöst, sondern musste auch zur Gewissensforderung werden. Dieser geglückte Verinnerlichungsprozess wird bei Wieland durch den Begriff der ,schönen Seele‘ angezeigt. Am Ende des Romans erkennen Agathon und Danae einander als „schöne Seelen“ (593), und die ehemalige Hetäre ist durch den Umgang mit tugendhaften Menschen so gestärkt, „daß die zärtlichsten Verführungen der Liebe nichts über sie erhielten“ (597). Mit dem Begriff der ,schönen Seele‘ wird bei Wieland die Vorstellung von Bildung als einem Entsagungsprozess eingeführt, mit dem der Mensch Tugendforderungen so weit verinnerlicht, dass sie sein Handeln, Denken und Fühlen unwillkürlich leiten und somit wesensbestimmend werden. Mit Agathon und Danae als ,schöne Seelen‘ werden somit geschlechterdifferente, noch durch religiöse Vorstellungen geprägte Bildungswege zum Thema. Denn während Agathon durch Reflexion seiner religiösen Erziehung zur Bildung gelangt, muss die ,sündige‘ Danae den Weg der reuigen Einkehr beschreiten, um zum ethisch erwünschten Ziel zu gelangen. Wieland gibt in seinem Roman eine in der Frühaufklärung noch übliche Figurenkonzeption auf, die an einem starren Tugendkanon orientiert ist, aber die erzählte Geschichte über Agathon setzt seitens des Erzählers immer schon ein Bildungsziel voraus. Die strenge Selbstdisziplinierung wird im Laufe des Bildungsganges teilweise zurückgenommen und Agathon vermag sein zur Idealität erstarrtes Selbstbild zu revidieren, doch Wieland unterstellt seinen Protagonisten einem strengen moralischen Imperativ, dem er sich nicht entwinden soll. Wieland wollte dezidiert, dass „die Geschichte Agathons die Geschichte aller Menschen“ (543) sei: eine vorbildhafte Geschichte also, die sich ihres erzieherischen Anspruchs nie entledigt. Unter der Fragestellung nach der produktiven Veränderung einsozialisierter Ver-

,Schöne Seele‘

Erziehungsanspruch des Bildungsromans

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VI. Analyse beispielhafter Bildungsromane

haltensmuster erweist sich Wielands Geschichte des Agathon somit als Bildungsroman, der in seiner Orientierung an den Zielvorgaben der Tugendhaftigkeit noch stark dem Erziehungsroman verhaftet bleibt. Denn erst wenn der Anspruch auf Selbstbestimmung so grundlegend gefasst wird, dass der Protagonist sich von unmündig machenden Erziehungsvorgaben befreit, kann sich das ganze Potential des Bildungsromans entfalten.

2. Johann Wolfgang von Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96) Aufbau und Erzählweise

Theaterbegeisterter Kaufmannssohn

Wilhelm spielt den Hamlet

Der Roman erzählt vom Bildungsgang eines jungen Kaufmannssohnes, der den durch das Elternhaus vorgegebenen Berufsweg verlässt, um sich auf dem Theater für eine neue soziale Rolle zu erproben, und durch die Übernahme seiner Vaterpflichten sowie die Heirat mit einer adeligen Frau den Aufstieg in einen neuen Lebenskreis vollendet. Zu Beginn des Romans ist für den in Ausbildung zum Kaufmann befindlichen Wilhelm Meister die Liebe zum Theater mit der Leidenschaft für die junge Schauspielerin Mariane aufs Glücklichste vereint. Doch trennt sich der Jüngling bitter enttäuscht von seiner Geliebten, als er per Zufall eine Nachricht ihres früheren Gönners entdeckt. Nach schwerer Krise wendet er sich zur Freude seines Vaters wieder kaufmännischen Geschäften zu, die ihn jedoch erneut in die Welt des Theaters führen. Auf einer Handelsreise trifft Wilhelm im Kreise einer versprengten Wandertruppe auf die kokette Schauspielerin Philine und unmittelbar danach inmitten einer Seiltänzergesellschaft auf das androgyn wirkende Mädchen Mignon. Als Wilhelm beobachtet, dass das Kind geschlagen wird, nimmt er es kurz entschlossen zu sich. Er unterstützt finanziell den Aufbau einer kleinen Theatergruppe unter der Leitung des Schauspielerehepaares Melina, zu der sich auch bald ein alter Harfner gesellt, der in rätselhafter Verbindung zur südländisch aussehenden Mignon steht. Als die Wandertruppe die Einladung erhält, auf einem Grafenschloss zu spielen, erlebt Wilhelm eine ihm bisher verschlossene Adelswelt und intensiviert seine Auseinandersetzung mit dem bewunderten Shakespeare. Schon bald nach Verlassen des Schlosses zerschlagen sich seine Pläne, als Direktor der Gruppe ein literarisch ambitioniertes Theater aufzubauen, da die Schauspielergesellschaft von einer Räuberbande überfallen und ausgeplündert wird. Wilhelm erwacht nach einer Ohnmacht verletzt und erhält Hilfe von einer kleinen Reitertruppe, insbesondere von einer ,schönen Amazone‘, die ihm fortan nicht mehr aus dem Sinn geht. Nach seiner Genesung begibt sich Wilhelm zum Theaterprinzipal Serlo, den er überredet, die ihrer Habseligkeiten beraubten Schauspieler zu übernehmen und mit ihnen eine Inszenierung von Shakespeares Hamlet auf die Beine zu stellen. Unterstützt wird er von Serlos Schwester Aurelie, die einen Knaben namens Felix betreut und Wilhelm ihre leidvolle Lebensgeschichte erzählt. Als Wilhelm die Nachricht vom Tode seines Vaters erhält, fühlt er sich frei, seiner Neigung nachzugehen und legt seinem Jugendfreund Werner in einem ausführlichen Brief sein Vorhaben dar, sich auf dem Theater zu

2. Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre

einer öffentlichen Person auszubilden. Mit Gesprächen über die verschiedenen Formen und Möglichkeiten der Schauspielkunst und zahlreichen Proben wird Hamlet mit Wilhelm in der Titelrolle vorbereitet und die Aufführung zu einem großen Erfolg. Doch nach einer ausgelassenen Premierenfeier, die in einer Liebesnacht mit Philine endet, und wenigen weiteren Aufführungen erkennt Wilhelm, dass er nicht zum Schauspieler berufen ist. Die Lektüre der Bekenntnisse einer schönen Seele markiert eine Zäsur in Wilhelms Entwicklung. Er begibt sich aufs Land zu Aurelies früherem Geliebten Lothario, um ihn über den Tod der Schauspielerin zu informieren. Wilhelm tritt damit in den Lebenskreis des reformerischen Landadels ein. In der Turmgesellschaft, die sein Leben von fern begleitet hat, erfährt er, dass seine Lehrjahre vorüber sind und dass Felix das Kind seiner früh verstorbenen Geliebten Mariane und damit sein eigener Sohn ist. Er plant Therese zu heiraten, die mit großem Sachverstand ihr Gut verwaltet. Doch da wird er zu Lotharios Schwester Natalie gerufen, in der er unverhofft seiner ,schönen Amazone‘ wieder begegnet, die sich zudem als Nichte der ,schönen Seele‘ herausstellt. Natalie hat Mignon bei sich aufgenommen, die sich aus Sehnsucht nach ihrem Beschützer Wilhelm verzehrt. Das heranwachsende Mädchen bricht tot zusammen, als Wilhelm in ihrem Beisein Therese umarmt. Er löst sein Verlöbnis wieder, als er erkennt, dass Therese in Wirklichkeit Lothario zugetan ist, und findet in Natalie, der er in der gemeinsamen Sorge um seinen vermeintlich vergifteten Sohn Felix nahe gekommen ist, schließlich seine zukünftige Frau. Der Roman endet mit Wilhelms Worten „ich weiß, daß ich ein Glück erlangt habe, das ich nicht verdiene und das ich mit nichts in der Welt vertauschen möchte.“ (Goethe 1982, 639) Goethes äußerst komplexer Roman ist durch eine verwickelte Figurenkonstellation und ein vielschichtiges Verweisungsgefüge mit zahlreichen Vorausdeutungen und Rückgriffen sowie weit reichenden Einlassungen zu Gesellschaft und Politik, Ökonomie und Kunst wie auch zu Erziehung und Bildung gekennzeichnet. Das Werk auch nur annähernd adäquat in einer knappen Inhaltsangabe wiederzugeben, ist deshalb schier unmöglich. Der jedoch gerade durch seine polyvalente Kompositionstechnik faszinierende Roman ist in insgesamt acht Bücher aufgeteilt. Die Bücher eins bis fünf umfassen die Zeit der Hinwendung zum Theater von der Marianen-Episode bis zum Verlassen des Theaters nach den Hamlet-Aufführungen. Das gesamte sechste Buch beinhaltet die tagebuchartige Ich-Erzählung der Stiftsdame unter der Überschrift Bekenntnisse einer schönen Seele. Das siebte Buch ist der Entwirrung zuvor angedeuteter rätselhafter Zusammenhänge und miteinander verbundener Lebensläufe gewidmet. So werden Natalies verwandtschaftliche Verhältnisse erläutert und Wilhelm wird über seine Vaterschaft aufgeklärt. Im achten Buch, in dem sich Wilhelm intensiv mit der Erziehung seines Sohnes beschäftigt, kommt es nach der Revision seiner ersten Entscheidung für Therese schließlich zur Verbindung mit Natalie. Haben wir in Wielands Geschichte des Agathon noch einen vergleichsweise kontrollierenden Erzähler, der die Entwicklung des Protagonisten implizit an festgefügten Lebensprinzipien bemisst, so lässt Goethes Erzähler den Protagonisten in seinem suchenden wie irrenden Entwicklungsgang ohne belehrende oder gar verurteilende Kommentierung gewähren. Erotische Erfahrungen werden ohne moralisierenden Gestus mit zurückhaltender

Wilhelm heiratet Natalie

Komplexes Romangefüge

Gewähren lassender Erzähler

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VI. Analyse beispielhafter Bildungsromane

Bekenntnisse einer schönen Seele

Diskretion benannt, wenn der Erzähler sich beispielsweise in der Liebesszene zwischen Wilhelm und Mariane mit den Worten an die Leser richtet: „Die Alte ging murrend beiseite, wir entfernen uns mit ihr und lassen die Glücklichen allein.“ (7) In den Mignon und dem Harfner zugeordneten Gedichten überlässt der Erzähler das Wort gerade denjenigen Textfiguren, die der selbstexplikativen Sprache am wenigsten mächtig sind. „Heiß mich nicht reden, heiß mich schweigen“ (372) beginnt eines von Mignons auch jenseits des Romanzusammenhangs berühmt gewordenen Gedichten. Eine wesentliche Eigentümlichkeit des Romans besteht darin, dass unter der Überschrift Bekenntnisse einer schönen Seele ein in der Ich-Form verfasster, vom übrigen Romangeschehen deutlich abgegrenzter Erzählteil integriert ist, der die für den Bildungsroman prägende Literaturform der pietistischen Bekenntnisliteratur zitiert. Goethe hat hier auf das Manuskript einer Freundin seiner Mutter, der Stiftsdame Susanna von Klettenberg, zurückgegriffen. Zwar ist diese Vorlage nicht erhalten, aber Goethes Mutter schrieb am 9. Juli 1807 nach der Lektüre des Romans: „Das ist der Lieben Klettenbergerin wohl nicht im Traume eingefallen – daß nach so langer Zeit ihr Andencken noch grünen – blühen und Seegen den nachkommenden Geschlechtern b[r]ingen würde. Du mein Lieber Sohn! warst von der Vorsehung bestimt – zur Erhaltung und Verbreitung dieser unverwelcklichen Blätter“ (Goethe 1960, 859). Obwohl sich einzelne Begebenheiten und Personen aus dem Leben der Susanna von Klettenberg in Goethes Bekenntnisse einer schönen Seele erkennen lassen, ist zu vermuten, dass er die Aufzeichnungen der Stiftsdame umarbeitete, wie er auch eigene prägende Erlebnisse und künstlerische Anregungen seinem Roman in symbolisch verschlüsselter Form eingeschrieben hat. Entstehungskontext und Rezeption

Theatralische Sendung

Umarbeitung des Romans

Ursprünglich hatte Goethe einen Theaterroman mit insgesamt zwölf Büchern geplant, in dem er anhand Wilhelms Bühnenlaufbahn zugleich die Entwicklung des deutschsprachigen Theaters im 18. Jahrhundert darstellen wollte. Am 16. Februar 1777 vermerkte er erstmals in einer Tagebucheintragung: „In Garten dicktirt an W. Meister.“ (Goethe 1998, 38) Schon im Januar 1778 kündigte er die Vollendung des ersten Buches an, doch ab November desselben Jahres ruhte die Arbeit und kam erst im Februar 1780 wieder in Gang. Ende des Jahres 1782 fiel zum ersten Mal der vollständige Titel des Romans: Wilhelm Meisters Theatralische Sendung. Goethe arbeitete an diesem Theaterroman noch bis zum siebten Buch weiter, doch mit der Reise nach Italien im September 1786 wurde die Arbeit erneut unterbrochen und die Konzeption des Werkes grundlegend verändert. Um sich nach jahrelanger Pause endlich zum Abschließen des Werks zu zwingen, unterzeichnete Goethe im Mai 1794 einen Vertrag mit dem Berliner Verleger Johann Friedrich Unger. Die bereits fertigen sechs Bücher der Theatralischen Sendung zog Goethe bis Februar 1795 zu vier Büchern zusammen, konzipierte danach das fünfte und arbeitete im März das sechste ein, das nun zu einer Achse der neuen Romanarchitektur wurde. Wie er am 18. März 1795 an Friedrich Schiller schrieb, wurde er durch das Kapitel Bekenntnisse einer schönen Seele un-

2. Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre

verhofft in seiner „Arbeit sehr gefördert, in dem es vor und rückwärts weist und indem es begrenzt zugleich leitet und führt.“ (Goethe 1990, 7) Im Juni 1796 waren die neu geschriebenen Bücher sieben und acht fertiggestellt. Nachdem er mit großen Unterbrechungen über einen Zeitraum von fast 20 Jahren daran gearbeitet hatte, wurde der Roman schließlich unter dem Titel Wilhelm Meisters Lehrjahre 1795 und 1796 in zwei Teilen veröffentlicht. An Schiller, dem er mit Ausnahme des ersten alle Bücher im Manuskript zur Korrektur gegeben hatte, schrieb Goethe im Juli 1796 in einem Dankesbrief, dass er die Endfassung des Romans ohne dessen freundschaftliche Kritik kaum hätte zustande bringen können. Dass der Titelprotagonist autobiographische Züge trägt, wurde von Goethe selbst in einem Brief an seine enge Vertraute Charlotte von Stein vom 24. Juni 1782 konzediert, wo er ihn als das „geliebte dramatische Ebenbilde“ (Goethe 1889, 352) seiner selbst bezeichnete. Beziehen lässt sich diese Ebenbildlichkeit ganz sicher auf das Streben nach umfassender Bildung. Der als Sohn eines Juristen und kaiserlichen Rates in Frankfurt am Main geborene Johann Wolfgang Goethe (1749 – 1832) besaß als Kind nicht nur – wie der Protagonist seines späteren Romans – ein Puppentheater, sondern kam von klein auf mit den Künsten und vor allem mit dem Theater in Berührung. Nach Jahren des Privatunterrichts, den ihm zeitweise auch sein gebildeter Vater erteilte, begann er mit 16 Jahren auf dessen Wunsch hin ein Jurastudium in Leipzig. Wegen einer Tuberkuloseerkrankung musste er mit 19 Jahren ins elterliche Haus in Frankfurt zurückkehren, wo er mit Susanna Katharina von Klettenberg während der fast zweijährigen Genesungszeit religionsphilosophische Schriften las und an Erbauungsstunden der Herrnhuter Brüdergemeinde teilnahm. Seine Verehrung für Shakespeare als Genie wurde wesentlich durch Herder in der nachfolgenden Straßburger Studienzeit angeregt. Goethe hat seinem theaterbegeisterten Titelhelden die deutsche Form von Shakespeares Vornamen gegeben und ihn einen sozialen Aufstieg erleben lassen, der ihm selbst vergönnt war. Denn nach kurzer Tätigkeit als Praktikant am Reichkammergericht in Wetzlar wurde Goethe bereits 1775 in die Dienste des gerade erst 18-jährigen Herzogs Carl August in die Residenzstadt Weimar berufen, wo er zeitweilig die Leitung des Theaters übernahm und in den Adelsstand erhoben wurde. Bereits 1797, ein Jahr nach dem Erscheinen des zweiten Romanteils, publizierte der Berliner Prediger Daniel Jenisch eine Abhandlung mit dem Titel Ueber die hervorstechendsten Eigenthümlichkeiten von Meisters Lehrjahren, und seitdem ist der Strom der Interpretationen nicht abgerissen und kann kaum noch überschaut werden. Während sich die Forschung im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verstärkt mit gattungstypologischen Fragestellungen (vgl. hierzu Kap. II) und den Problemkreisen Teleologie, Bildung, Zufall und Notwendigkeit auseinandersetzte, wurde im letzten Drittel des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts der Roman mit Wielands Agathon (Saariluoma 2004) oder Moritz’ Anton Reiser (Born-Wagendorf 1989; Schings 1984) verglichen. Wilhelms Entwicklung wurde als „Sozialisationsspiel“ (Kittler 1978) interpretiert und unter dem Aspekt der Theatralität (Greiner 1989; Gutjahr 2000), der rituellen Initiation (Neumann 1992), der Utopie und Utopiekritik (Voßkamp 1985), der Subjektivität und Intersubjektivität (Saße 1998) untersucht. Verstärkt wurde die Bedeutung der

Goethes Theaterleidenschaft und sozialer Aufstieg

Interpretationsansätze

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VI. Analyse beispielhafter Bildungsromane

Frauenfiguren für Wilhelms Bildungsgang hervorgehoben (Dick 1986). Dabei rückte die Gestalt der ,schönen Seele‘ (Becker-Cantarino 1988; Beharriell 1970) und insbesondere Mignon, über die Goethe gegenüber Kanzler Friedrich von Müller am 29. Mai 1814 äußerte, dass er „das ganze Werk dieses Charakters wegen geschrieben“ (Goethe 1969, 901) habe, als Rätselfigur ins Zentrum des Interesses (Ammerlahn 1968; Brandenburg-Frank 2002; Fick 1987; Gross 1993; Janz 1999; Jirku 2000). Sie wird als „poetologische Gestalt“ (Brandenburg-Frank 2002, 198) verstanden oder als „Genius der Poesie“ (Wetzel 1999, 128). Auseinandersetzung mit Erziehung und geschlechtsspezifische Individuation Abkehr von der Kaufmannswelt

Wilhelms Bildungswunsch

Unter dem Aspekt der Auseinandersetzung mit Erziehung lässt sich Wilhelms Entwicklungsgang als Lösung von den väterlichen Erziehungsvorstellungen, Erprobung seiner Selbst und Entfaltung eines neuen Erziehungskonzeptes für den eigenen Sohn verstehen. Zu Beginn wird Wilhelm als Kaufmannssohn vorgestellt, der entgegen seinen künstlerischen Neigungen den ihm aufgetragenen Handelsgeschäften nur nachgeht, um dem Vater willfährig zu sein. Der „alte Meister“ (38) vermag die Anlagen seines Sohnes nicht zu fördern, denn dessen Talent „sich gegen Fremde zu betragen, seine Leichtigkeit, fast in allen lebenden Sprachen Korrespondenz zu führen“ (86), nimmt er lediglich als ideale Voraussetzung für vorteilhafte Geschäftsverhandlungen wahr. Der an kaufmännischem Gewinn orientierte Vater hat „Neigung zum Prächtigen“ (39) aber wenig ästhetischen Sinn, weshalb er eine von seinem Vater ererbte „Sammlung von Gemälden, Zeichnungen, Kupferstichen und Antiquitäten“ (38) verkaufte. Demgegenüber ist er bestrebt, seinen Kindern materielle „Güter zu hinterlassen, auf deren Besitz er den größten Wert legte.“ (39) Wilhelms Theaterambitionen und seine Ablehnung des väterlichen Pragmatismus sind nicht allein als Symptom eines Generationenkonflikts zu verstehen. Dies wird durch seinen Jugendfreund Werner deutlich, der den einmal eingeschlagenen Weg als Kaufmann zielorientiert weiter geht. Werner sucht seinen Gewinn zu mehren und mit Wilhelms Schwester als Frau ein bürgerliches Leben im Wohlstand zu führen. Aber Wilhelm entscheidet sich gegen dieses Lebensmuster, denn das „Ideal, das ihm sein Schwager vom Glück des bürgerlichen Lebens vorzeichnete, reizte ihn keineswegs“ (300). Der Brief, den er nach dem Tod seines Vaters von Werner erhält, bestärkt nur erneut seine Überzeugung, dass er sich selbst im wahrsten Sinne des Wortes erproben muss und deshalb sein Fortkommen nur beim Theater finden kann. In seinem Antwortbrief legt Wilhelm über sein bisheriges kaufmännisches Leben Rechenschaft ab und gesteht, dass er sogar geschäftliche Aufzeichnungen gefälscht habe, um dem „Vater gefällig zu sein“ (301). Da für Wilhelm nun keine Notwendigkeit mehr besteht, seine Neigungen zum Theater zu verheimlichen und eine soziale Rolle vorzutäuschen, die er gar nicht einnehmen möchte, beschließt er, seine Fortbildung nach eigenen Vorstellungen voranzutreiben: „ich habe, wie die Sachen jetzt stehen, an mich selbst zu denken, und wie ich mich selbst und das, was mir ein unerläßliches Bedürfnis ist, rette und erreiche.“ (303) Geradezu programmatisch lässt Goethe den Protagonisten seines Romans ein Vorhaben formulieren,

2. Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre

das sich nicht mehr auf ein äußerlich materielles Fortkommen, eine zu erfüllende Tugend oder ein festgelegtes Ziel bezieht, sondern allein auf die Möglichkeit freier Selbstentfaltung: „Daß ich Dir’s mit einem Worte sage: mich selbst, ganz wie ich da bin, auszubilden, das war dunkel von Jugend auf mein Wunsch und meine Absicht.“ (301) Doch müssen wir uns die Konsequenzen vor Augen führen, die ein solcher Schritt in jener Zeit bedeutete. Indem sich Wilhelm aus seiner angestammten sozialen Rolle löst, setzt er zugleich auch seinen bürgerlichen Status aufs Spiel. Der Anschluss an eine umherziehende Theatertruppe kam im 18. Jahrhundert einem sozialen Abstieg gleich, wie dies Wilhelm durch das Schauspielerehepaar Melina, das ohne Mitgift und den Schutz bürgerlicher Privilegien sein Auskommen finden muss, beispielhaft vor Augen geführt wird. Doch trotz dieser deutlichen Warnung geht für Wilhelm eine große Verlockung von der Theaterwelt aus, weil sich nur hier die Chance zur Selbsterprobung im Rollenspiel bietet und die Möglichkeit, jenseits bürgerlicher Moralzwänge Erfahrungen im Umgang mit dem anderen Geschlecht zu sammeln. Wilhelms Theaterlaufbahn und sein sozialer Aufstieg sind durch die Frauenfiguren des Romans deutlich strukturiert. Nachdem er mit der auf Unterstützung eines Gönners angewiesenen Schauspielerin Mariane erste Erfahrungen gesammelt hat, begegnet ihm in der koketten Philine eine Darstellerin, die ihr Rollenspiel für eigene Interessen zu nutzen weiß. Demgegenüber steht das androgyne Mädchen Mignon mit seinen poetischen Liedern, vor allem aber seiner körperlichen Kunstfertigkeit für eine Unmittelbarkeit des Ausdrucks jenseits theatraler Regeln und gesellschaftlicher Konventionen. In Aurelie begegnet Wilhelm hingegen eine Schauspielerin, die in ihrem Rollenspiel ihre eigene Gefühlswelt zur Darstellung bringt. Die schwärmerisch überformte Liebesbeziehung zu Mariane und die unter dem Eindruck der Hamlet-Premiere stehende Liebesnacht mit Philine markieren Anfang und Ende von Wilhelms ,erotischer Sendung‘ auf dem Theater. Eine besondere Attraktivität geht für Wilhelm von Frauen aus, die in ihrem Rollenverhalten nicht eindeutig festgelegt sind. So begegnet ihm Mariane im Kostüm einer Hosenrolle, wird er von Natalie als ,schöne Amazone‘ im Reiterkostüm angezogen und trifft er Therese zunächst in Männerkleidung an. Auch als er Mignon zum ersten Mal begegnet, trägt sie ein spanisches Kostüm, das ihre knabenhafte Erscheinung unterstreicht. Aber während die übrigen Frauen allein durch ihre männliche Kleidung androgyn erscheinen, gehört die geschlechtliche Unbestimmtheit zu Mignons Wesensart. Sie erlebt in der Nacht nach der Premierenfeier – in der sie „mit Entsetzen“ sehen muss, dass bei Wilhelm in Philine „eine Nebenbuhlerin ihr zuvorkam“ (548) – eine Metamorphose, denn am nächsten Tag schien sie „größer geworden zu sein“ (342). Später verlangt Mignon Frauenkleider zu tragen, aber „im langen, weißen Frauengewande“ (551) sieht sie bereits „wie ein abgeschiedner Geist“ (551) aus und stirbt auch bald darauf. In herausgehobener Weise figuriert Mignon in ihrer Fremdartigkeit, Androgynität und Erziehungsresistenz die Unbestimmtheit adoleszenter Entwicklung und die Offenheit optionaler Selbstsuche. Wilhelm sieht sich am Ende seiner Lehrjahre in der Pflicht, diese durch Mignon figurierte Freiheit und Unent-

Geringschätzung des Theaters

Bedeutung der Frauenfiguren

Attraktivität androgyner Frauen

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VI. Analyse beispielhafter Bildungsromane

schiedenheit zugunsten sozial verantwortungsvoller Rollen als Vater und Ehemann aufzugeben. Bildung und kultureller Wandel Einbildungskraft und die Lust am Rollenspiel

Theater als Bildungsinstitution

Weiblicher Bildungsroman in nuce

Wilhelms Bildungsgang ist wesentlich durch die Entfaltung seiner Einbildungskraft und damit die Fähigkeit geprägt, in der Phantasie Lebensmöglichkeiten durchspielen zu können. Gleich zu Beginn des Romans gibt der verliebte Jüngling in der ausführlichen Erzählung seiner Kindheitsgeschichte gegenüber Mariane Rechenschaft über seine künstlerischen Anlagen und seine bisherige Entwicklung, die untrennbar mit dem Theater verbunden ist. Die Mutter hatte mit dem Geschenk eines Puppenspiels sein ausgeprägtes Vorstellungsvermögen angeregt und unterstützt. Dadurch konnte sich Wilhelm bereits als Kind durch imaginäre Rollenspiele jenseits der väterlichen Verhaltenserwartungen einen Freiraum schaffen. Er wurde von der „Leidenschaft“ erfasst, alles Gelesene „in einem Schauspiele darzustellen“ (27) und entwickelte die Fähigkeit, das Gegebene in der Phantasie zu verändern. Aus seiner schwärmerischen Begeisterung für das Theater leitet Wilhelm seine „Bestimmung zum Theater“ (33) ab und sieht sich in hochfliegenden Zukunftsvisionen bereits als „den Schöpfer eines künftigen Nationaltheaters“ (33). Mit diesen Plänen wird Wilhelms Bildungsgang vor dem Hintergrund der epochalen Theaterreform des 18. Jahrhunderts konzipiert, die vom Stegreifspiel der Wanderbühnen zum regelmäßigen Theater und literarisch ambitionierten Nationaltheater führte. Für Wilhelm wird das Theater zum Medium der Selbstbildung und des sozialen Aufstiegs. Mit der einfachen Wanderbühne von Melina gelangt er auf ein Schloss und schlüpft in einer von der Hofgesellschaft inszenierten Verwechslungskomödie in die Rolle des Grafen. Bei der Truppe um Serlo nimmt Wilhelm mit der Figur des Hamlet auf der Bühne sogar die Stellung eines Prinzen ein. Doch gerade durch dieses Spiel wird ihm deutlich, dass das Theater für ihn nur ein Übergangsstadium sein kann. Durch die Fragen der Erzieherfiguren der Turmgesellschaft wird Wilhelm mit seiner bisherigen Lebensgeschichte konfrontiert, in eine neue soziale Rolle initiiert und durch die Heirat mit Natalie zu einem Mitglied der Gesellschaft des reformistischen Landadels. Wilhelms Bildungsgang, der ihn über die Bühne als Erprobungsraum für öffentliche Selbstdarstellung führt, steht mit den Bekenntnisse[n] einer schönen Seele ein weiblicher Lebensweg kontrastiv gegenüber. In den Aufzeichnungen im Stil einer pietistischen Autobiographie wird die Entwicklung einer Tochter aus adeligem Hause vom achten Lebensjahr bis ins mittlere Alter hinein als Prozess der Einkehr und Verinnerlichung geschildert. Die junge Frau grenzt sich von ihrer Mutter ab, die „von Jugend auf ähnliche Gesinnungen“ (396) hatte, die bei ihr jedoch „nicht zur Reife gediehen“ (396) sind. Die Schilderung des Bildungsgangs der ,schönen Seele‘ beginnt mit der Anregung der Einbildungskraft durch einen Blutsturz, durch den ihre „Seele ganz Empfindung und Gedächtnis“ (374) wird. In der Zeit der Rekonvaleszenz wird diese Imaginationsfähigkeit durch Unterricht und Lektüre noch weiter gefördert, denn die Krankheit führt zu einer gesteigerten Sensibilität und Aufnahmefähigkeit. Aus der früheren Kindheit ist nun „nichts

2. Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre

Wildes übrig geblieben“ (373), und das Mädchen beginnt mehr und mehr in ihrer inneren Vorstellungswelt zu leben. Die junge Adelige durchläuft zwar noch die standesübliche Initiation in einen Kreis von männlichen Heiratskandidaten, doch als ein von ihr „Narziß“ genannter junger Mann um ihre Hand anhält, weigert sie sich nach kurzer Verlobungszeit, den ihr durch Herkunft und Geschlecht vorgezeichneten Weg zu gehen. Sie erlebt das Ende ihres Brautstandes als Befreiung und „eilte mit Herz und Sinn von dieser Geschichte weg, wie man sich aus dem Schauspielhause heraussehnt, wenn der Vorhang gefallen ist“ (399). Sie wird durch die Lektüre der Schriften des Grafen von Zinzendorf zu einer Herrnhutischen Schwester und wählt ein Leben der inneren Einkehr. Dieser weibliche Bildungsroman in nuce legt Zeugnis von einem Lebensweg ab, der sich in seinem Streben nach Selbsterkenntnis von traditionellen weiblichen Rollenerwartungen absetzt: „Man hatte die gelehrten Weiber lächerlich gemacht, und man wollte auch die unterrichteten nicht leiden, wahrscheinlich weil man für unhöflich hielt, soviel unwissende Männer beschämen zu lassen“ (381). Goethe lässt aber auch deutlich werden, dass dieser Weg der Weltentsagung und Selbstversenkung ins soziale Abseits führt und kulturell nicht innovativ ist. Die ,schöne Seele‘ machte die Bekanntschaft eines Mannes, den sie Philo nennt, und den sie in Gedanken zur Figur einer Geschichte werden lässt: „Ich sah mit unbeschreiblicher Wehmut einen Agathon, der, in den Hainen von Delphi erzogen, das Lehrgeld noch schuldig war und es nun mit schweren, rückständigen Zinsen abzahlte, und dieser Agathon war mein genau verbundener Freund.“ (409) Mit dieser Reminiszenz an Wielands Agathon gibt Goethe deutlich zu verstehen, dass die Orientierung an religiös geprägten Tugendvorstellungen, wie sie noch für die Aufklärung prägend waren, für die neue Zeit kein Vorbild mehr sein kann, weshalb der Stiftsdame auch die Erziehung ihrer Neffen und Nichten untersagt wird. Es ist erst Natalie, die Nichte der ,schönen Seele‘ – und damit eine Frau der neuen Generation, die in kontrastiver Gegenüberstellung als ,schöne Amazone‘ bezeichnet wird – , die sich als moderne Erzieherin erweist, indem sie nach außen tätig wird und bestrebt ist, andere in ihrer Entwicklung zu fördern. So erläutert Natalie gegenüber Wilhelm ihre natürliche pädagogische Veranlagung: „den Trieb zu einem Talente, die Anlagen zu hundert kleinen, notwendigen Fähigkeiten“ (552) zu erkennen und zu fördern. Wilhelm begegnet in der jungen Adeligen, die mit den Erziehern der Turmgesellschaft und Förderern seiner eigenen Bildung in einem komplexen verwandtschaftlichen Verhältnis steht, einer Pädagogin neuen Zuschnitts. Sie wirkt durch vorbildgebendes Beispiel auf ihr Lebensumfeld: „Wilhelm konnte nun Natalie in ihrem Kreise beobachten; man hätte sich nichts Besseres gewünscht, als neben ihr zu leben. Ihre Gegenwart hatte den reinsten Einfluß auf junge Mädchen und Frauenzimmer von verschiedenem Alter, die teils in ihrem Hause wohnten, teils aus der Nachbarschaft sie mehr oder weniger zu besuchen kamen.“ (551) Natalies pädagogisches Credo lautet, dass es besser sei, „nach Regeln zu irren, als zu irren, wenn uns die Willkür unserer Natur hin und her treibt“ (553). Sie reflektiert zwar auf die Fehlbarkeit pädagogischer Konzepte, doch stellt sie deren grundsätzliche Nützlichkeit nicht in Frage.

Kritik am religiös geprägten Bildungsmodell

Natalie als moderne Erzieherin

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VI. Analyse beispielhafter Bildungsromane Bildung als Spiel mit Möglichkeiten

Als demgegenüber Wilhelm am Ende seines Bildungsgangs mit der Erziehungsaufgabe für Felix konfrontiert wird, bemerkt er zu seinem Erstaunen, „daß wirklich der Knabe mehr ihn als er den Knaben erziehe.“ (527) Damit wird ein ganz grundsätzlicher Paradigmenwechsel in den pädagogischen Vorstellungen angezeigt. Wilhelm sucht seinen Sohn nicht mehr nach seinen eigenen Lebensvorstellungen zu formen, wie dies noch beim „alten Meister“ der Fall war, sondern er versucht, den Selbsterprobungswünschen seines Kindes gerecht zu werden. Dass bei einer neuen Erziehung auch den unkalkulierbaren und unverfügbaren Anteilen des Selbst im Dienste produktiver Kreativität Raum gegeben werden muss und sich daraus erst Bildungsmöglichkeiten entwickeln, wird Wilhelm durch eine Spielszene mit dem Sohn unmittelbar deutlich: „Der Knabe war mit einem neuen Spielwerke beschäftigt, der Vater suchte es ihm besser, ordentlicher, zweckmäßiger einzurichten; aber in dem Augenblicke verlor auch das Kind die Lust daran. ,Du bist ein wahrer Mensch!‘ rief Wilhelm aus; ,komm, mein Sohn! komm, mein Bruder, laß uns in der Welt zwecklos hinspielen, so gut wir können!‘“ (597) Indem Wilhelm sich am Ende seinem spielenden Kind verbrüdernd gleichstellt, wird resümierend auf die Bedeutung von Einbildungskraft und Rollenspiel für seinen eigenen Bildungsgang hingewiesen. Goethe entwirft in seinem Bildungsroman einen Protagonisten, der sich im Übergang zu einer neuen Epoche weiß, in der eine althergebrachte eindimensionale Erziehung durch die Suche nach neuen Lebensformen überwunden wird. Bildung erweist sich somit in gänzlich neuer Weise als kreative Selbsterprobung, bei der Wunschvorstellungen verfolgt, zugunsten neuer Ziele aber auch wieder verworfen werden dürfen.

3. Novalis: Heinrich von Ofterdingen (1802) Aufbau und Erzählweise

Traum von der blauen Blume

Das Romanfragment erzählt von der Suche eines träumerischen Jünglings nach der blauen Blume und seiner Entwicklung zum Dichter: Im thüringischen Eisenach zur Zeit des Mittelalters träumt der 20-jährige Heinrich in seinem Elternhaus von einer blauen Wunderblume, über die ihm ein Fremder berichtet hatte und in deren Mitte ihm ein unbekanntes Mädchengesicht erscheint. Auf einer Reise, die er in Begleitung seiner Mutter zu seinem Großvater nach Augsburg unternimmt, belehren ihn die mitreisenden Kaufleute nicht nur über das Wesen des Handels, sondern regen durch ihre Erzählungen auch seine Einbildungskraft an. Sie tragen ihm die Sage vom griechischen Sänger Arion vor, der sich kraft seines betörenden Gesangs aus Gefahr befreien konnte, und erzählen ihm ein Märchen über das versunkene Atlantis, in dem einst die Verbindung von Liebe und Poesie das sagenumwobene goldene Zeitalter herbeiführen konnte. Auch auf den einzelnen Stationen der Reise wird Heinrich über die konkreten Orte hinaus vor allem durch erzählte Geschichten mit fremden Weltgegenden und Erfahrungsbereichen bekannt. Der Aufenthalt auf dem Schloss eines alten Kriegsmannes bringt ihm die Welt der Kreuzzüge nahe. Eine dort gefangen gehaltene „Morgenländerin“ namens Zulima übermittelt ihm ihre Lebensge-

3. Novalis: Heinrich von Ofterdingen

schichte und preist in ihren Liedern die Schönheiten Arabiens. Auf der nächsten Station unterrichtet ihn ein alter böhmischer Bergmann über die Gefahren und geheimen Kräfte des Bergbaus und stellt ihn dem als Einsiedler lebenden Grafen von Hohenzollern vor, der ihn mit der geschichtlichen Welt vertraut macht. Bei ihm entdeckt Heinrich alte Chroniken, in denen er auch Gestalten aus seinem Traum wieder findet, wodurch sein sehnlichster Wunsch erneut wachgerufen wird, das von der blauen Blume umschlossene Mädchen zu finden. Im Hause seines Großvaters in Augsburg angekommen, lernt Heinrich schließlich den Dichter Klingsohr kennen, der ihn in die Welt der Dichtung einführt. Aber erst durch die Liebe zu dessen Tochter Mathilde offenbart sich ihm das Wesen der Poesie wirklich. In einem erneuten Traum wird Heinrich nicht nur gewahr, dass Mathilde das gesuchte Mädchen aus der blauen Blume ist, sondern er erfährt auch, dass er seine Geliebte verlieren wird, um sie für immer zu gewinnen. Der erste Teil des Romans mit der Überschrift Die Erwartung wird durch ein von Klingsohr erzähltes allegorisches Märchen über die Liebesbeziehung zwischen Eros und Fabel abgeschlossen. Der zweite, unvollendet gebliebene Teil trägt den Titel Die Erfüllung und beginnt nach dem im Traum bereits prophezeiten Tod Mathildes. Heinrich verlässt Augsburg als Pilger in tiefer Trauer, doch die Stimme der Verstorbenen kündigt ihm die Tochter des Grafen von Hohenzollern in Gestalt des armen Hirtenmädchens Cyane als Begleiterin an. Das Fragment bricht ab, als Cyane den verzweifelten Jüngling zum alten Einsiedler Sylvester führt, der ihm die unmittelbare Sprache der Natur in Blumen und Pflanzen deutet und ihm das goldene Zeitalter vorhersagt. Wie aus hinterlassenen Notizen ersichtlich, sollte im ersten Teil des Romans Heinrichs Entwicklung zum Dichter, im zweiten Teil aber die Auflösung der Grenzen zwischen Realem und Imaginärem sowie die Poetisierung der gesamten Welterfahrung zum Thema werden. Doch bereits mit Beginn des Fragments nimmt der Erzähler die phantasiegesättigte Weltsicht des Titelprotagonisten ein und enthält sich belehrender Unterweisung oder wertender Kommentierung. Stattdessen sind der Erzählung über den Entwicklungsgang des Protagonisten geradezu programmatisch anmutende Überlegungen zur Poesie und dichterischen Existenzweise sowie in sich abgeschlossene Märchen, Geschichten und zahlreiche Gedichte eingelagert. Unter der Überschrift Zueignung wird der Roman durch zwei Sonette eingeleitet, in denen Poesie und Liebe verherrlicht werden und die Entwicklung des Protagonisten bereits in lyrischer Form angedeutet wird. Strukturbildendes Prinzip des Erzählens ist das Ineinandergreifen von Erinnerung und Vorausdeutung, mit dem die Gegenwart in einem Oszillieren zwischen Vergangenheit und Zukunft aufgehoben wird. So bleibt auch das Mittelalter zur Zeit der Kreuzzüge als erzählte Zeit sowie der von Heinrich durchreiste geographische Raum ohne konkrete Anschauung. Vielmehr wird die Entwicklung des Protagonisten durch undatierbare Zeiten (ein gewesenes und zu erreichendes goldenes Zeitalter) und imaginäre Orte (bis hin zur himmlischen, irdischen und unterirdischen Sphäre im Klingsohr-Märchen) veranschaulicht. Die äußere Reise nach Augsburg dient somit weitgehend als Bezugsrahmen für die eigentlichen Stationen der Entwicklung, die als Erzählungen und Lieder ihm begegnender Dritter poetisch markiert sind.

Heinrich beim Dichter Klingsohr

Ineinandergreifen von Erinnerung und Vorausdeutung

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VI. Analyse beispielhafter Bildungsromane

Entstehungskontext und Rezeption Fragment gebliebener Roman

Hoch besetztes Romanprojekt

Sophie von Kühn als Muse

Novalis hat an seinem Romanfragment insgesamt weniger als ein Jahr gearbeitet. Im Juni 1799 war er in spätmittelalterlichen Legendensammlungen auf die historisch nicht belegbare Gestalt des Minnesängers Heinrich von Afterdingen gestoßen, welcher der Sage nach mit Wolfram von Eschenbach, Walter von der Vogelweide und anderen Dichtern am Sängerkrieg auf der Wartburg teilgenommen hatte. Im Dezember 1799 begann Novalis mit der Niederschrift des ersten Romanteils, dessen Fertigstellung er noch unter dem Titel „Heinrich von Afterdingen“ bereits im April 1800 ankündigte. Der zweite, unvollendet gebliebene Teil und Paralipomena sind zwischen Ende Juli und Oktober 1800 entstanden. Ursprünglich war Novalis zur Idee des Romans durch die Lektüre von Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96) angeregt worden, doch als die Pläne zu seinem Heinrich von Ofterdingen festere Umrisse annahmen, verwarf er das zuvor bewunderte Werk als „undichterisch im höchsten Grade“ (Novalis 1968, 646). Bereits ein Jahr nach Novalis’ Tod im Jahre 1802 wurde sein Fragment gebliebener Roman durch die postume Drucklegung seiner Dichterfreunde Ludwig Tieck und Friedrich Schlegel der Öffentlichkeit bekannt gemacht. Novalis hatte sein Romanprojekt bereits vor Beginn der Arbeit mit großem Anspruch belegt und wollte es als Lebenswerk verstanden wissen, wie er in einem Brief an Caroline Schlegel vom 27. Februar 1799 betont: „denn ich habe Lust mein ganzes Leben an Einen [sic!] Roman zu wenden – der allein eine ganze Bibliothek ausmachen – vielleicht Lehrjahre einer Nation enthalten soll. Das Wort Lehrjahre ist falsch – es drückt ein bestimmtes Wohin aus. Bey mir soll es aber nichts, als – Übergangs Jahre vom Unendlichen zum Endlichen bedeuten.“ (Novalis 1975, 281) Auch wenn sich das Leben des Autors schwerlich auf die im Roman hoch artifizielle Entwicklung Heinrichs zum Dichter in einem unmittelbar biographisch-faktischen Sinne rückbeziehen lässt, so teilt Novalis doch mit seinem Titelprotagonisten den Wunsch nach einer romantischen Poesie und die Vorstellung, dass mit dem Tod der Geliebten dichterisches Ingenium freigesetzt wird. Novalis (1772 – 1801), der eigentlich Georg Friedrich Philipp Freiherr von Hardenberg hieß, wurde in Oberwiederstedt im Harz als Sohn eines streng pietistischen Salinendirektors geboren und zeichnete sich schon früh durch ausgesprochene Belesenheit aus. Er wurde zunächst von Hauslehrern unterrichtet, besuchte dann das Gymnasium in Eisleben und hörte während seines Jurastudiums, das er mit 18 Jahren in Jena begann und später in Leipzig und Wittenberg fortsetzte, Friedrich Schillers Geschichtsvorlesungen. Später machte er auch mit Goethe, Herder und Jean Paul Bekanntschaft und befreundete sich mit Ludwig Tieck, Friedrich Schelling und den Brüdern Schlegel. Von tief greifender Bedeutung für sein schriftstellerisches Schaffen war die Begegnung mit der erst 12-jährigen Sophie von Kühn im Jahre 1794. Novalis verlobte sich an ihrem 13. Geburtstag mit ihr und wollte sie an ihrem 16. Geburtstag heiraten, doch bereits im März 1797 starb Sophie mit 15 Jahren. Seiner gläubigen Hoffnung auf ein Wiedersehen nach dem Tod und der Vorstellung, dass die Frühverstorbene nun zur Muse seiner Dichtung geworden war, setzte Novalis mit der Figur der Klingsohr-Tochter Mathilde ein literarisches Denkmal. Auch ein weiteres Studium der Bergwerkskunde an der

3. Novalis: Heinrich von Ofterdingen

Bergakademie in Freiberg und eigene geologische Vermessungen in der Region fanden in der Episode mit dem alten Bergmann ihren Niederschlag. Doch seine literarischen Pläne, einen umfänglichen Roman zu schreiben, in dem die Verbindung von Liebe und Poesie zur Romantisierung der gesamten Welt führt, konnte Novalis aufgrund einer Tuberkulose-Erkrankung, die seinem Leben im Alter von 29 Jahren ein Ende setzte, nicht mehr vollenden. Sein nachgelassenes Romanfragment aber gilt als das romantische Werk schlechthin – und dies nicht zuletzt wegen des Motivs der blauen Blume, das zu einem Synonym für die romantische Sehnsucht nach dem Wunderbaren wurde. Zu Hauptthemen der Forschung wurden Heinrichs Entwicklung zum Dichter (Mahr 1970) und das goldene Zeitalter (Mähl 1965). Es wurde betont, dass Novalis versucht habe, „die im Roman dargestellte ,Welt‘ zu ,entwirklichen‘“ (Dahnke 1986, 92), und gefragt, ob durch die Einbeziehung einer transzendenten Welt der Bildungsroman seine einheitliche Sinngebung nicht verloren habe (Borcherdt 1949, 382). Hervorgehoben wurde auch, dass Novalis in seiner Variationstechnik, in der die Modernität des Romans (Hörisch 1982, Pfotenhauer 1977) liege, durch Goethes Bildungsroman angeregt worden sei (Walzel 1986). Die Konzeption des Protagonisten wurde unter dem Aspekt einer weiblich konnotierten Poesie (Gaál-Baróti 2000; Gutjahr 1996) wie auch der Androgynie (Horstkotte 2004) untersucht. Da Heinrich seine Anlagen immer mehr ausbildet, ohne je in wirklichen Konflikt mit der ihn umgebenden Welt zu geraten, wurde diskutiert, ob Novalis‘ Roman überhaupt als Bildungsroman zu bezeichnen sei (Jacobs/Krause 1989, 113). Heinrichs Auseinandersetzung mit seiner Herkunft und unmittelbaren Lebensumgebung verweist jedoch explizit auf einen Bildungsweg zum Künstler.

Paradigmatischer Roman der Romantik

Auseinandersetzung mit Erziehung und geschlechtsspezifische Individuation Novalis hat seinen Titelprotagonisten als dichterisch veranlagten Jüngling konzipiert, der dazu bestimmt ist, seinen Traum in buchstäblichem Sinne zu leben, und der sich damit in ganz grundlegender Weise vom Lebensweg seines Vaters abgrenzt. Denn nachdem Heinrich gleich zu Beginn des Romans den Eltern erzählt, dass er geträumt habe, erinnert sich auch der Vater eines Traumes, den er als Jüngling gehabt hatte und der nun wieder lebendig vor ihm steht. Die „Lust nach der Fremde“ (15) hatte ihn in seiner Jugendzeit nach Rom geführt, wo er eines Abends bei einem alten Mann einkehrte, der ihm „viel von alten Zeiten, von Malern, Bildhauern und Dichtern“ (15) erzählte. Durch das veranschaulichende Erzählen war dem Vater damals, als wäre er „in einer neuen Welt ans Land gestiegen“ (15), und in der darauf folgenden Nacht träumte er von einer Reise in den Harz. Auf einer grünen Aue vom Anblick einer Blume verzaubert, wurde ihm offenbart, dass er „das Wunder der Welt“ (17) gesehen habe und zu Großem bestimmt sei, wenn er auf ein „blaues Blümchen“ (17) achte. Bereits der Vater hatte also einen Jugendtraum, in dem ihm die Möglichkeit einer dichterischen Seinsweise eröffnet wurde: „Wie gelöst war meine Zunge, und was ich sprach, klang wie Musik.“ (17) Doch unmittelbar darauf folgte für ihn der Umschlag in die Alltagswelt, in der „alles wieder dunkel und eng und gewöhnlich“ (17) ist.

Abgrenzung vom Traum des Vaters

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VI. Analyse beispielhafter Bildungsromane Die Mission des Sohnes

Stationenweg vor Madonnenbildern

Heinrich als Mutter-Sohn

Im Traum hatte der Vater eine Vision seiner zukünftigen Frau: „sie hielt ein glänzendes Kind in den Armen, und reichte mir es hin“ (17). Mit der deutlichen Reminiszenz an die Ikonographie der Jungfrau Maria trägt die Mutter ein göttliches Kind, das „immer heller und glänzender“ wird und „mit blendendweißen Flügeln“ (17) davonfliegt. Die Pragmatik des Lebens, nämlich die Verantwortung für Frau und Kind, haben beim Vater die Erfüllung seines Wunsches nach einem Künstlerleben vereitelt. Doch Heinrich schließt rückblickend aus der Wehmut seines Vaters, dass ihm die fehlende Poesie durch „die friedliche Stille seines Lebens, die Bequemlichkeit seines Auskommens, die Freude sich geehrt und geliebt von seinen Mitbürgern zu sehn, und in allen Stadtangelegenheiten zu Rate gezogen zu werden“ (165) nicht ersetzt werden konnte. Der Vater steht mit seiner künstlerisch unerfüllten Lebensweise für eine nüchtern pragmatische Welt, die Heinrich mit seiner Reise hinter sich lässt, mit seinem Jugend-Traum aber auch für die an den Sohn delegierte Mission, den unausgelebten Wunsch nach genialem Künstlertum zu erfüllen. Dass Novalis die Mutter als entscheidende Bezugsperson im Werdegang seines Protagonisten konzipiert hat, deutet sich gleich zu Beginn des Romans an. Heinrich wird nämlich aus seinem vorausdeutenden Traum vom Dichtertum durch die Stimme der Mutter im direkten und übertragenen Sinne erweckt. Sie ist aber nicht allein leiblich präsent, sondern auch in zahlreichen Bildern der ,heiligen Mutter‘, denn Heinrichs Entwicklungsgang lässt sich wie ein Stationenweg vor Marienbildern lesen. Die erste Madonnen-Ikone wird ihm durch den Traum des Vaters präsentiert. Im „Kreuzgesang“ (52) der Ritter erscheint sie als Pietà: „Wo jeder, den das Schwert geschlagen, / In ihrem Mutterarm erwacht.“ (54) Zulima singt mit dem Kind auf ihrem Schoß das Sehnsuchtslied über ein „[f]ernes, mütterliches Land“ (56). Im Atlantis-Märchen, das die Kaufleute erzählen, tritt die Prinzessin als junge Mutter mit dem Kind auf dem Arm vor den Thron ihres Vaters. Im Tableau des Klingsohr-Märchens findet sich „eine liebliche Mutter mit dem Kinde an der Brust und Engel sitzend zu ihren Füßen“ (132). Schließlich trifft Heinrich mit Mathilde eine Frau, die vor „dem Bilde der himmlischen Mutter“ (118) weint und für ihn die vermittelnde Funktion einer Madonna übernimmt: „Du bist die Heilige, die meine Wünsche zu Gott bringt, durch die er sich mir offenbart, durch die er mir die Fülle seiner Liebe kund tut.“ (119) Zu Beginn des zweiten Romanteils, in dem die leibliche Mutter Heinrichs nicht mehr gegenwärtig ist, wird die Marienverehrung nun explizit religiös. Heinrich ist nach dem Tod Mathildes zum Pilger geworden und wartet darauf, dass „die heilige Mutter ein Zeichen“ (159) an ihm tut. Und tatsächlich tröstet ihn die Stimme der Gottesmutter: „härme dich nicht, ich bin bei dir“ (160). Das Mädchen Cyane (der Name bedeutet ,blaue Kornblume‘) tritt in dem Augenblick zu Heinrich, da er in einem Trauerlied der verstorbenen Mathilde gedenkt und „Gottes Mutter und Geliebte“ (162) besingt. Heinrich ist in seinem künstlerischen Werdegang explizit als Mutter-Sohn konzipiert, der sich an der als Madonna angebeteten Mutter ausrichtet. Er ist in deutlicher Reminiszenz an den göttlichen Sohn als zum Dichter berufener Jüngling gestaltet, der seinen Erlösungsauftrag erfüllen und der weltlichen Welt entsagen muss. Vor dem Hintergrund dieses religiös verbrämten Entwicklungsmodells wird auch verständlich, weshalb die Initiation in die ge-

3. Novalis: Heinrich von Ofterdingen

schlechtliche Liebe nicht stattfindet. Was auf der Handlungsebene des Romans ausgespart bleibt, ist jedoch auf der Ebene der Märchenerzählungen als poetische Spiegelung ausgestaltet. Im Atlantis-Märchen reift der Jüngling durch die Liebesvereinigung mit der kunstsensiblen Prinzessin in einer Nacht „zum Manne“ (41). Im Klingsohr-Märchen vereinigt sich Eros mit Ginnistan im Astralreich, als diese bezeichnenderweise die Gestalt seiner Mutter angenommen hat. Fabel fragt in der Unterwelt die Sphinx: „Wo ist die Liebe?“ und erhält darauf die Antwort: „In der Einbildung.“ (134) Doch diese Vorstellung wird auf der komplexen Ebene der Märchenhandlung auch als Verinnerlichung gefasst. Denn alle außer dem rational orientierten Schreiber und den Bewohnern der Unterwelt verleiben sich in einer Zeremonie, bei der die Eucharistie und Pfingsten zugleich zitiert werden, eine Mischung aus Mütterlichkeit und wahrer Poesie ein. Die Asche der Mutter wird mit dem Wasser, das die wahre Poesie bezeugt, vermischt: „Alle kosteten den göttlichen Trank, und vernahmen die freundliche Begrüßung der Mutter in ihrem Innern, mit unsäglicher Freude. Sie war jedem gegenwärtig, und ihre geheimnisvolle Anwesenheit schien alles zu verklären“ (147), denn nur durch diese Verbindung kann das goldene Zeitalter anbrechen. Bildung und kultureller Wandel Der Bildungsgang, den Novalis seinem dichterisch begabten Protagonisten angedeihen lässt, ist durch in sich abgeschlossene Geschichten wie Märchen, Sagen und Erinnerungen, die ihm während der Reise vom Elternhaus in das Haus des Großvaters mütterlicherseits erzählt werden, klar gegliedert. Das Ziel von Heinrichs Entwicklungsgang ist bereits im Initialtraum des Romans vorweggenommen, denn er wird das Mädchen finden, dessen Gesicht er in der blauen Blume sieht, und zum Künstler heranreifen. Heinrich verlässt das Vaterhaus, aber das Ziel seiner Reise liegt jenseits des Irdisch-Wirklichen in einer Rückkehr zu sich selbst auf höherer Ebene. Entgegen der üblicherweise widerstandsreichen Entwicklung in der Adoleszenzphase wird er auf den Etappen dieses Weges nicht zur Aufgabe von Wünschen gezwungen oder zur Bewältigung von Konflikten genötigt. Ganz im Gegenteil eröffnen die Lehrmeister, denen Heinrich im Verlauf seines Bildungsweges begegnet, ihm neue Erfahrungsbereiche, die stets einen Widerhall in seinem Inneren finden und seine Einbildungskraft weiter anregen. Schon sein Lehrer in Eisenach hatte „Heinrichs fruchtbare Anlagen“ (20) erkannt, und auf seiner Reise vernimmt Heinrich immer wieder Lieder und Erzählungen über fremde Weltgegenden, die ihm sein eigenes Wollen und Wünschen erschließen. Er lernt die Sprache der Poesie gleich einer Fremdsprache. Zulima schenkt ihm zum Abschied ihre Laute und ein Haarband, auf dem ihr Name in den Buchstaben ihrer „Muttersprache“ (60) geschrieben ist. Im Atlantis-Märchen erfährt er, wie ein Jüngling durch einen Karfunkelstein, auf dem „unverständliche Chiffern“ (37) stehen, zur Dichtung angeregt wurde und durch ein Lied von betörender Schönheit die „Wiederkehr eines ewigen goldenen Zeitalters“ (45) zu bewirken vermochte. Beim alten Bergmann notiert er sich die Worte eines Liedes, in dem der Bergbau mit Seelenkenntnis verglichen wird. Heinrich erlebt im Inneren des Berges eine Offenbarung über die Bedeutung der ihn umgebenden Welt, und zu-

Korrespondenz von äußerem und innerem Erleben

Entfaltung der Anlagen

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VI. Analyse beispielhafter Bildungsromane

Heinrichs Initiation zum Dichter

Das Genie der Romantik

gleich öffnet sich für ihn eine „versteckte Tapetentür“ (76) in seinem eigenen Innern: „Es war ihm, als ruhte die Welt aufgeschlossen in ihm, und zeigte ihm, wie einem Gastfreunde, alle ihre Schätze und verborgenen Lieblichkeiten.“ (75) Der Eremit veranschaulicht ihm, dass in den Märchen mehr Wahrheit liegt als in den wahren Geschichten oder Chroniken, und Heinrich fühlt nun „neue Entwickelungen seines ahndungsvollen Innern. Manche Worte, manche Gedanken fielen wie belebender Fruchtstaub, in seinen Schoß, und rückten ihn schnell aus dem engen Kreise seiner Jugend auf die Höhe der Welt.“ (89) Als Heinrich ein Buch aus der Bibliothek des Einsiedlers in einer ihm fremden Sprache in die Hände fällt, entdeckt er unter den Bildern „seine eigene Gestalt“ (90). Er ist tief gerührt, als er erfährt, dass der Schluss des Romans – in dem das Schicksal eines Dichters aufgezeichnet ist – fehlt. Die verschiedenen Lieder und Geschichten während der Reise haben Heinrich so weit gebildet, dass er nun am Ziel angelangt durch Lehrgespräche mit Klingsohr, den er seinen „Meister“ (109) nennt, auch über die Ästhetik der Dichtung unterrichtet werden kann. Seine Initiation zum Dichter aber erfährt Heinrich durch die mit Mathilde selbst erlebte Gewissheit: „Die Liebe ist stumm, nur die Poesie kann für sie sprechen. Oder die Liebe ist selbst nichts, als die höchste Naturpoesie.“ (117) Die Begegnung mit Mathilde wird als Vollendung der Bildung gestaltet, deren Erfüllung allerdings auch hier nicht im Realen vollzogen wird. Denn die Tochter des Dichters erscheint als Muse in der Sphäre des Traumes und spricht Heinrich „ein wunderbares geheimes Wort in den Mund, was sein ganzes Wesen durchklang“ (107). Mathilde wird für den zum Dichter Gebildeten zur Imago ewig währender Liebe, an der sich seine Kunst orientieren wird, denn „ihre irdische Gestalt ist nur ein Schatten dieses Bildes.“ (119) Heinrich vermag also durch seine Einbildungskraft ein eigenes poetisches Bild zu entwerfen, an dem er sich ausrichtet. Novalis hat seinen Protagonisten als Genie konzipiert, das seine inneren Anlagen ausbildet und damit einen ästhetischen Paradigmenwechsel herbeiführen kann. Mit den Dichtungsbestimmungen, von denen der Roman durchzogen ist, wird der Bildungsgang Heinrichs zugleich zu einem Curriculum dichterischer Seinsweise. Es beginnt mit einer ersten Minimalbestimmung der Kaufleute, die Heinrich bestätigen: „Ihr habt Anlage zum Dichter. Ihr sprecht so geläufig von den Erscheinungen Eures Gemüts, und es fehlt Euch nicht an gewählten Ausdrücken und passenden Vergleichungen. Auch neigt Ihr Euch zum Wunderbaren, als dem Elemente der Dichter.“ (25) Der Bergmann ergänzt belehrend, dass es um die „volle Befriedigung eines angebornen Wunsches“ (64) und die Ausbildung einer Anlage geht „für die man von der Wiege an bestimmt und ausgerüstet ist“ (64). Unmittelbar vor Heinrichs Initiation bei Klingsohr kennzeichnet der Erzähler den Dichter über die Unterscheidung zwischen den nach außen hin tätigen und den nach innen gekehrten Menschen. Dabei wird dem pragmatischen Leben des Sozialen eine deutliche Absage erteilt. Denn wenn die Seele „unablässig nach außen gerichtet“ ist und „eine emsige, schnell entscheidende Dienerin des Verstandes“ (93) sein muss, kann sich keine Poesie entfalten. Demgegenüber gewinnen die in sich gekehrten Menschen, „deren Leben ein leises Bilden ihrer innern Kräfte ist“ (93), den Reichtum ihres Lebens

3. Novalis: Heinrich von Ofterdingen

„aus Erzählungen und Schriften“ und werden dadurch mit „den zahllosen Erscheinungen der Welt bekannt“ (93 f.). Als Dichter werden nun diejenigen bestimmt, die sich durch Entsagung gegenüber der äußeren Welt auszeichnen, weil sie „schon hier im Besitz der himmlischen Ruhe sind, und von keinen törichten Begierden umhergetrieben“ (94) werden. Die Entsagung, die Heinrich mit dem Verlust der Geliebten verbindet, wird somit bereits im Vorgriff auf die eigentliche Erfahrung als wesentliches Element der dichterischen Seinsweise bestimmt. Zugleich wird mit dieser entsagenden Abkehr von der Welt des Sozialen eine neue Dichtungsvorstellung verbunden. An mehreren Stellen des Romans wird mit Heinrichs Bildungsgang nämlich auch der Übergang von einer alten zu einer neuen Epoche thematisiert. Der Jüngling verlässt mit seiner Reise die „alte Welt“, die ihm durch die Begleitung seiner Mutter „noch nicht ganz verloren“ (21) scheint. Der Großvater in Augsburg ist nicht nur in der Generationenfolge Vertreter einer vergangenen Zeit, sondern singt auch auf dem Fest zu Ehren seines Enkels: „Wird denn nie das Blatt sich wenden, / und das Reich der Alten enden?“ (101) Heinrichs Vater befindet sich mit seiner Ansicht „Träume sind Schäume“ (12) ganz in der Tradition der Schwärmerkritik und erweist sich in seinem Misstrauen gegen die Verheißungen des Traumes ebenfalls als Vertreter einer untergehenden Welt. Denn die neue Generation, wie sie durch den Sohn vertreten wird, hat es sich zum Ziel gesetzt, die pragmatische Lebenswelt durch die romantische Poesie zu überwinden. Novalis entfaltet somit die Entwicklung seines Protagonisten zum Dichter literarhistorisch als Wechsel von der rational orientierten Aufklärung zur Utopie romantischer Poesie. Gegen die „Oeconomische Natur“ (Novalis 1968, 646), die Novalis an Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre kritisiert hatte, wollte er mit seinem Protagonisten Heinrich eine poetische Natur entwerfen, bei der die idealistische Überformung der Wirklichkeit nicht durch ernüchternde Erfahrung durchbrochen wird. So gleicht Heinrichs Entwicklung tatsächlich einem Traum, in dem es keine Verneinung gibt. In diesem Sinne beginnt auch der zweite Teil des Romanfragments unter dem Titel Die Erfüllung mit einem Gedicht, in dem das Programm des weiteren Bildungsweges Heinrichs angedeutet wird: „Die Welt wird Traum, der Traum wird Welt“ (157). Auf dem Weg zu diesem poetischen Großprojekt antwortet Heinrich auf die Frage: „Wo gehen wir denn hin?“ mit der zum geflügelten Wort gewordenen Sentenz: „Immer nach Hause.“ (164) Dieser Heimweg erweist sich in Novalis’ Roman als Erfüllung des Lebens-Traumes: als Bildung zum romantischen Dichter.

4. Gottfried Keller: Der grüne Heinrich (1854/55) Aufbau und Erzählweise Der Roman entfaltet den Lebensweg eines künstlerisch ambitionierten jungen Schweizers, der sich nach Kindheit und Lehrjahren in bescheidenen Verhältnissen mit hoch gesteckten Erwartungen in München wenig erfolgreich zum Kunstmaler auszubilden sucht und nach seiner Rückkehr in die Heimatstadt bereits in jungen Jahren stirbt:

Epochenumbruch zur Romantik

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VI. Analyse beispielhafter Bildungsromane Heinrich Lees Erinnerung an Kindheit und frühe Jugend

Heinrichs Ausbildung zum Kunstmaler

Heinrichs Lehrzeit als Kunstmaler und seine Rückkehr

Der 20-jährige Heinrich Lee, der wegen seiner grünen Jacke „grüner Heinrich“ genannt wird, macht sich als angehender Kunststudent mit Postkutsche, Schiff und Eisenbahn von Zürich auf den Weg nach München. Am Reiseziel angelangt, nimmt sich der Jüngling ein Manuskript vor, in dem er vor der Abreise seine bisherige Lebensgeschichte niedergelegt hat. Darin berichtet Heinrich, dass er erst fünf Jahre alt war, als sein allseits angesehener Vater starb, und er deshalb fortan in schwierigen finanziellen Verhältnissen allein von seiner frommen Mutter erzogen wurde. Seine ausgeprägte Einbildungskraft machte ihn schon früh für phantastische Geschichten empfänglich, die er oft nicht mehr von der Realität zu unterscheiden wusste. In der Schule wurde diese Phantasiebegabung jedoch als Verstocktheit gedeutet, die ihm die Lehrer mit Strafen und Prügel auszutreiben suchten. Durch imaginäre Rollenspiele schuf er sich seine eigene Welt und entwickelte schwärmerische Begeisterung für das Theater und eine junge Schauspielerin. Sein ausgeprägter Selbstdarstellungswunsch führte ihn aber auch dazu, im Alter von zwölf Jahren heimlich die Mutter zu bestehlen, um in der Realschule mit den vermögenden Bürgersöhnen mithalten zu können. Als er sich an einem Rachefeldzug gegen einen verhassten Lehrer beteiligte, wurde er der Schule verwiesen. Die darauf folgende Lebensphase war durch das Ziel bestimmt, sich zum Maler auszubilden. Er bemühte sich in Zürich um sein Fortkommen in der Malerei und lernte zunächst beim Meister Habersaat nach Vorlagen zu malen, bis er die Zwecklosigkeit dieses Unterrichts erkannte und sich in einer Dachkammer sein eigenes Atelier einrichtete. Als er die Bekanntschaft des soeben aus Italien zurückgekehrten Aquarellisten Römer machte, lernte er unter dessen Anleitung Bilder zu kopieren. Während dieser künstlerischen Lehrzeit besuchte Heinrich immer wieder seinen Oheim im Heimatdorf der Eltern, wo er im Alter von 14 Jahren Zuneigung für die Dorfschulmeisterstochter Anna fasste und zugleich eine junge Witwe namens Judith kennen lernte, die auf ihn eine starke sinnliche Anziehungskraft ausübte. Bei seinen Aufenthalten auf dem Lande nahm er immer wieder den Kontakt zu den beiden ungleichen Frauen auf. Erst nach Annas frühem Tod glaubt er, es ihr schuldig zu sein, sich von der erotisch verlockenden Witwe zu lösen. Heinrichs Aufzeichnungen über seine Jugend enden mit dem Hinweis, dass er Judith ein letztes Mal gesehen habe, als sie in einem Wagen mit Auswanderern nach Amerika an ihm vorbeifuhr und die Hände nach ihm ausstreckte. Nach dieser Rückblende auf Kindheit und Jugendjahre, die Heinrich in Zürich und auf dem Dorf verbrachte, wechselt der Roman wieder in die Erzählgegenwart. Der Jüngling geht in München seinen Malstudien nach und befreundet sich mit zwei ungleichen Malern, dem Dänen Erikson und dem reichen talentierten Holländer Ferdinand Lys. Mit ihnen genießt er die Freiheiten seiner Studienzeit und nimmt an einem großen altdeutschen Künstlerfest teil, bei dem die Freundinnen der beiden Künstler, Agnes und Rosalie – die ihn an Anna und Judith erinnern – als Diana und Venus auf einem Festwagen mitfahren. Doch mit seiner künstlerischen Arbeit kommt Heinrich nicht wie erhofft voran. Er verschuldet sich und verbraucht die letzten Ersparnisse seiner Mutter. Als er erfährt, dass sich seine Mutter in Sorge um ihn vergrämt, entschließt er sich zur Heimkehr. Auf dem Rückweg

4. Gottfried Keller: Der grüne Heinrich

verbringt Heinrich mehrere Wochen auf dem Schloss eines Grafen und verliebt sich in dessen Pflegetochter namens Dortchen Schönfund. Zwar kann er auf einer Ausstellung zwei seiner Bilder gewinnbringend verkaufen und macht obendrein eine kleine Erbschaft, aber zu Hause erlebt er nur noch mit, wie die Mutter zu Grabe getragen wird. Aufgerieben von Schuldgefühlen, den an ihn gestellten Erwartungen nicht gerecht geworden zu sein, stirbt Heinrich nur wenig später selbst im jugendlichen Alter. Es gehört zu den erzählerischen Eigentümlichkeiten des in vier Bände aufgeteilten Romans, dass einem in Er-Form verfassten Teil ein umfänglicher in Ich-Form geschriebener Teil eingelagert ist. Dieser Abschnitt mit der Überschrift Eine Jugendgeschichte (Keller 2003, 56) beginnt im vierten Kapitel des ersten Bandes und endet erst im vierten Kapitel des dritten Bandes, sodass er mehr als die Hälfte des gesamten Romanumfangs einnimmt. Der Roman ist reich an Schilderungen der Landschaft wie auch der städtischen und dörflichen Lebenswelt, in der sich der Protagonist bewegt. Er besteht einerseits aus einem kurzen einführenden und einem langen abschließenden Abschnitt, in dem ein Er-Erzähler die Entwicklung Heinrichs von der Abreise aus Zürich bis zur Rückkehr und dem baldigen Tod erzählt. Der Erzähler entfaltet mit psychologisierender Einfühlung den Entwicklungsgang des Protagonisten, kommentiert und ironisiert dessen Verhalten und legt Rechenschaft über die Absicht seines Erzählens ab, wenn er etwa über sich selbst in der dritten Person meint: „Es ist nicht seine Absicht, so sehr es scheinen möchte, einen sogenannten Künstlerroman zu schreiben“ (576). In einer langen Rückblende kommt dagegen der Titelprotagonist als Ich-Erzähler seiner Kindheits- und Jugendgeschichte selbst zu Wort. Heinrich authentifiziert die Gedanken und Gefühle früherer Jahre in der Form biographischen Erzählens. Mit dem Rückblick auf das bisherige Leben werden denkwürdige Ereignisse und Geschichten erzählt, die in Beziehung zur eigenen Entwicklung gesetzt werden. So wird etwa Heinrichs Erinnerung an seine religiöse Erziehung um die Sage über ein kleines Mädchen ergänzt, das zum Opfer kirchlich sanktionierter Folter wurde. Auch die Gedichte im Roman stehen in direktem Bezug zur Gemütsverfassung des Protagonisten. In den Elegien im siebten Kapitel des vierten Bandes, von denen der Erzähler angibt, dass der Protagonist sie geträumt und nach dem Erwachen aufgeschrieben habe, werden Lebensverfehlungen thematisiert (813 – 816). Noch kurz vor seinem Tod hört Heinrich ein siebenstrophiges Lied im Stil einer alten Volksweise, in dem eine resignierte Lebensbilanz formuliert und sein Ende angedeutet wird: „Hab’ ich Glück, verdien’ ich’s nicht, / Glück wie Unglück mich zerbricht.“ (932)

Ich- und Er-Erzähler

Entstehungskontext und Rezeption Mehr als neun Jahre hat Keller insgesamt an seinem Roman gearbeitet. Im 1853 verfassten Vorwort vergleicht er den Entstehungsprozess mit einem langen, sehr persönlichen Brief, der des Öfteren beiseite gelegt und dann unter veränderten Bedingungen wieder aufgegriffen wurde: „So entsteht freilich nicht ein streng gegliedertes Kunstwerk, aber vielleicht ein um so treuerer Ausdruck dessen, was man war und wollte mit dem Briefe.“ (6) Bereits 1846 hatte Keller sich erste Notizen gemacht, aber erst ab 1850 arbei-

Zwei Fassungen des Romans

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VI. Analyse beispielhafter Bildungsromane

Biographische Reminiszenzen

tete er kontinuierlich an einem Manuskript, dessen Strukturierung ihm jedoch schwer fiel. Im Jahre 1854 erschienen die ersten drei Bände und 1855 schließlich der vierte Band des Romans, der mit dem plötzlichen Tod des Protagonisten endet. Doch Keller war mit diesem allzu abrupten Schluss und dem Aufbau des Romans nicht zufrieden. Er entschied sich, die Chronologie des Romans umzustellen und durchgängig in Ich-Form zu erzählen. In der zweiten, umgearbeiteten Fassung (1879/80) beginnt der Roman direkt mit der Vorgeschichte seiner Eltern und Heinrichs Kindheit. Sowohl die deutliche Kritik an der religiösen Erziehung als auch Heinrichs erotische Beziehung zu Judith wurden abgeschwächt. Vor allem aber wurde der Protagonist von Schuld entlastet, denn die Mutter stirbt erst, nachdem der Sohn heimgekehrt ist. Im Weiteren wird Heinrich, der sich von der Malerei abgewandt hat, Oberamtmann im Verwaltungsdienst einer benachbarten Gemeinde und trifft bei einem abendlichen Spaziergang auf die aus Amerika zurückgekehrte Judith, mit der er noch viele Jahre freundschaftlich verbunden bleibt. Keller wollte unbedingt, dass lediglich die zweite Fassung von 1879/80 auf dem Buchmarkt verfügbar sei, weshalb er von der ersten Fassung, die ohnehin nur schleppenden Absatz gefunden hatte, alle Restexemplare kurzerhand aufkaufte und verbrannte. Ungeachtet dieses symbolischen Aktes setzte sich jedoch die erste Fassung von 1854/55 im Laufe der Jahre mehr und mehr durch, da man in ihr die Grundproblematik Heinrichs, seine Selbstsuche nicht mit den Anforderungen konkreter Lebensbewältigung in Einklang bringen zu können, deutlicher ausgedrückt fand. Die Besonderheit von Kellers Roman liegt aber nicht allein in der Radikalität, mit der hier entgegen der Erwartung eines harmonischen Endes ein offensichtlich scheiternder Lebensentwurf thematisiert wird, sondern vor allem auch in der Deutlichkeit, mit der dem Bildungsgang des Protagonisten biographische Reminiszenzen eingeschrieben sind. Denn im Vergleich zu anderen Bildungsromanen ist Der grüne Heinrich nicht nur zeitlich und topographisch konkreter bestimmt, er scheint sich auch sehr viel expliziter auf die Lebensgeschichte des Autors zu beziehen. Als Gottfried Keller (1819 – 1890) erst fünf Jahre alt war, starb sein Vater, der ein bildungsbeflissener Drechslermeister gewesen war. Er wurde mit der drei Jahre jüngeren Schwester in seiner Geburtsstadt Zürich in bescheidenen kleinbürgerlichen Verhältnissen von der Mutter aufgezogen, die mit dem ersten Gesellen der väterlichen Drechslerei eine kurze zweite Ehe einging. Nach dem Unterricht in einer Armenschule und einem Landknabeninstitut wurde Keller im 15. Lebensjahr wegen eines Streichs von der kantonalen Industrieschule verwiesen. Es folgten eine kurze Lehre bei einem Lithographen sowie einige Monate des Unterrichts bei einem Kunstmaler, bis er im Frühjahr 1840 zur weiteren Ausbildung nach München ging. Doch Keller musste erkennen, dass er den an ihn gestellten Ansprüchen nicht genügen konnte, und beschloss, sich künstlerisch umzuorientieren. Nach etwas mehr als zwei Jahren kehrte er in die Schweiz zurück und wandte sich dem Schreiben zu. Weil die liberale Zürcher Regierung auf seine politische Lyrik aufmerksam geworden war, erhielt er nach einem Volontariat in der Staatskanzlei des Kantons ein Stipendium für einen Studienaufenthalt in Heidelberg, wo er auch die Vorlesungen von Ludwig Feuerbach besuchte. Ein weiteres Stipendium ermöglichte ihm ab 1850 einen Aufenthalt in Berlin. Hier nahm Keller

4. Gottfried Keller: Der grüne Heinrich

rege am kulturellen Leben der Stadt teil, verkehrte im literarischen Salon von Fanny Lewald, besuchte häufig das Theater und arbeitete an zahlreichen Novellen und Erzählungen sowie an seinem Roman Der grüne Heinrich. Dass der umfängliche Roman bereits zu dieser Zeit als autobiographisches Werk verstanden wurde, geht aus einer Tagebuchnotiz Karl August Varnhagen von Enses vom 30. März 1854 hervor: „Nachmittags Besuch von Herrn Gottfried Keller. Sein ,Grüner Heinrich‘ ist ein Roman wie Rousseau‘s Bekenntnisse einer ist, voll Psychologie, unbeabsichtigter Pädagogik, frischer Naturbilder, alles in edler höherer Haltung.“ (Varnhagen von Ense 1869, 14) Im Jahre 1861 wurde Keller Stadtschreiber in Zürich, doch legte er diese Tätigkeit 1875 nieder, um sich wieder ganz der Schriftstellerei zu widmen und die Erstfassung seines Romans Der grüne Heinrich umzuändern. Kellers Der grüne Heinrich gehört in seinen beiden Fassungen (Müller 1988) zu den kanonisierten und in Überblicksdarstellungen vielfach interpretierten Bildungsromanen (Beddow 1982; Hörisch 1983; Jacobs 2005; Jacobs/Krause 1989; Mayer 1992; Selbmann 1994; Sorg 1983; Swales 1978; Voßkamp 2004). Dass Keller für seinen Roman kein tröstliches Ende findet und die Lebensgeschichte Heinrichs nicht idealisierend verbrämt, galt zunächst als Mangel, später aber auch als Zeichen der Modernität des Romans (Bae 2000). Bereits Theodor Vischer hatte den Roman ein „Mittelding zwischen Roman und Selbstbiographie“ (Vischer 1881, 138 f.) genannt, doch neuere Forschungen betonen, dass sich die Polyphonie des Erzählten gerade nicht „nach einem Biographiemodell“ (Rohe 1993, 21) ordnen lasse. Wegen der psychologisierenden Ausgestaltung des Protagonisten wurde Kellers Der grüne Heinrich mit Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser verglichen (Berndt 1999), als „Bildungsroman, der vor seinem Ziel haltmacht“ (Jacobs 1972, 182), bezeichnet und als Desillusionsroman oder Antibildungsroman (Jacobs 1983; Sautermeister 1980; Sorg 1983) gesehen, der zur psychoanalytischen Interpretation (Enayat 1985) herausfordert. Dabei wurden verstärkt die „Polarität von Mütterlichem und Väterlichem“ (Kessel 1988, 6) und die Bedeutung der Meret-Legende (Berndt 1996; Brandenburg-Frank 2002; Meurer 1994) zum Thema. Vertreten wird aber auch die These, dass mit Kellers Der grüne Heinrich der Bildungsroman als Gattung insgesamt an sein Ende gekommen sei, da hier bereits der „historische Entwurf des Entwicklungs- und Bildungsromans“ (Kaiser 1981, 137) zurückgenommen werde. In diesem Zusammenhang wurde der Protagonist als „Grüner Wilhelm Meister“ (Brandenburg-Frank 2002, 199) bezeichnet, weil er sich nicht zum reifen, sozial integrierten Individuum entwickle, sondern als Gescheiterter heimkehre. Wenn wir den Roman jedoch unter dem Aspekt seiner Reflexion auf Erziehungsvorgaben und Bildungsbedingungen betrachten, ergibt sich durchaus eine andere Lesart.

Ein „Grüner Wilhelm Meister“

Auseinandersetzung mit Erziehung und geschlechtsspezifische Individuation Der Lebensweg Heinrich Lees ist deutlich in die Entwicklungsphasen Kindheit und Jugend, Aufenthalt in der Fremde und Heimkehr gegliedert. Die Kindheit und damit auch ganz wesentlich seine Erziehung sind durch die Abwesenheit des Vaters und den Versuch der Mutter geprägt, ihren einzigen

Der idealisierte Vater

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VI. Analyse beispielhafter Bildungsromane

Schulkritik

Sohn trotz schwieriger Lebensumstände nach dem Vorbild des Vaters auf den rechten Weg zu bringen. Ausführlich entfaltet Heinrich zu Beginn seiner Jugenderzählung den Bildungsgang des Vaters, der als „Bauernsohn aus einem uralten Dorfe“ (56) den ihm vorgezeichneten Lebensweg im Alter von 14 Jahren verließ. Denn seine Eingebundenheit in die festgefügten Strukturen des dörflichen Lebenskreises hinderte ihn nicht daran, „die Kühe, die er weidete, eines Morgens stehen zu lassen und, einem höheren Triebe folgend“ (59), ein Handwerk zu erlernen. Während „Wanderjahren“ (64) bildete er seine Anlagen aus und wurde dann in der Heimat wegen „seines reinen Charakters und seiner gehobenen Gesinnung“ (68) zu einem angesehenen und von allen geachteten Mitglied der Gesellschaft. Im Gegensatz zu Goethes und Novalis’ Bildungsroman setzt sich in Kellers Der grüne Heinrich der Protagonist nicht von einem pragmatisch orientierten Vater ab, sondern leidet darunter, dass er hinter dessen Können zurückbleibt. Denn obwohl der Vater nur eine „dürftige Erziehung“ (69) genossen hatte, zeichnete er sich durch „rastloses Suchen nach dem Guten und Schönen“ (67) aus und wurde zu einem anerkannten Baumeister, dessen Gebäude „das Gepräge eines beständigen Strebens nach Formen- und Gedankenreichthum“ (67) trugen. Hinter dieser Idealvorstellung bleibt Heinrich ganz bildlich in der verkleinerten „Uniform“ seines Vaters zurück, denn die „erste männliche Kleidung“, die er erhält und bis zu seinem 12. Lebensjahr trägt, ist von der Mutter aus der „Schützenkleidung des Vaters“ (133) geschneidert. Während die Witwe durch beispielgebende Lebensführung versucht, ihren einzigen Sohn zu sparsamer Lebensart und unbedingter Gottesfürchtigkeit zu erziehen, stemmt sich Heinrich als „eigensinniges Kind“ (89) entschieden gegen die mütterlichen Versuche, ihn beten zu lehren. Die Schule erlebt das phantasiebegabte Kind als Korrektionsanstalt, in der sein eigener Wille „sofort gebrochen“ (80) werden soll. So straft und züchtigt ihn ein Lehrer, weil er meint, dass das Kind „durch irgend ein böses Element verdorben sein müßte“ (81) und dass es „gefährliche Anlagen zeige“ (82). Aufgrund dieser Erfahrung geht Heinrich nur noch „mit großem Mißtrauen“ (82) in die Schule. Heinrich verurteilt in seinen Aufzeichnungen die Erziehungspraktiken der Schule aufs Schärfste: „Es wurden ausgesuchte peinliche und infamirende Strafen angewendet auf dies zarte Lebensalter, und es verging fast kein Monat ohne eine feierliche Execution an irgend einem armen Sünder.“ (135) Wie durch die kritischen Kommentare deutlich wird, versteht Heinrich seine eigene bedrückende Schulerfahrung als Beispiel gängiger Erziehungspraxis. In auktorial verallgemeinerndem Gestus formuliert er sarkastisch eine negative Erziehungslehre, die dem harmonischen Bildungsgang seines Namensvetters in Novalis’ Heinrich von Ofterdingen diametral entgegengesetzt ist: „So lange das goldene Zeitalter nicht gekommen, müssen kleine Buben geprügelt werden“ (135 f.). Ganz speziell wird der Religionsunterricht nach dem Katechismus „voll hölzerner, blutloser Fragen und Antworten“ angeprangert, der nur für den „dürren Verstand bejahrter und verstockter Menschen“ (136) geeignet scheint, aber nicht für wissbegierige Kinder. Heinrich macht seine Schulausbildung mit dafür verantwortlich, dass die Zeit der „bildsamsten Jahre“ (139) wegen fehlender Anregungen und Einfühlung seitens der Lehrer „eine kalte öde Strecke“ (139) blieb. Vor allem aber seine Relegation wird im Rückblick als Vernich-

4. Gottfried Keller: Der grüne Heinrich

tung einer Persönlichkeitsentwicklung gesehen, die einer anderen und längeren Schulbildung bedurft hätte: „denn ein Kind von der allgemeinen Erziehung ausschließen, heißt nichts Anderes, als seine innere Entwicklung, sein geistiges Leben köpfen.“ (216) Im Zuge der Erinnerung an die eigene bedrückende Kindheit fügt Heinrich die Geschichte eines kleinen Mädchens ein, die sich mehr als hundert Jahre vor seiner eigenen Kinderzeit zugetragen hat und die er der Nachwelt als abschreckendes Beispiel überliefern möchte, „da sie sonst verloren gehen würde.“ (92) Der Sage nach war Meret, ein kluges, „außerordentlich zartgebautes Mädchen“ (90) von sieben Jahren „aus einer adeligen, stolzen und höchst orthodoxen Familie“ (91), das „eine hartnäckige Abneigung gegen Gebet und Gottesdienst jeder Art zeigte“ (91). Aus diesem Grund wurde das Kind aus „einer ersten unglücklichen Ehe“ (91) von Vater und Stiefmutter zu einem strenggläubigen Pfarrherrn zur Korrektur gegeben, „um von seiner Gottlosigkeit und unbegreiflich frühzeitigen Hexerei geheilt zu werden.“ (90) Um die Brutalität der Hexenaustreibung deutlich werden zu lassen, gibt Heinrich an, aus dem Tagebuch des Pfarrers zu zitieren, in dem dieser seine Strafen und die darauf folgenden Reaktionen des Kindes notierte. Der „dumpfe, harte“ (91) Geistliche züchtigte das nackte Kind, das durch seine Ausstrahlung „erwachsene Mannspersonen verführt“ (90) haben soll, mit der Peitsche und ließ es ansonsten in einem Büßergewand gehen. Als diese Foltermaßnahmen und ein Aushungern des Kindes, das dem Kirchenmann eine „unheilvolle infernalische Erscheinung“ (91) war, nicht den gewünschten Erfolg zeigten, wandte sich die Familie endgültig von Meret ab. Bewahrt aber wird ihr Martyrium in dem von der Familie in Auftrag gegebenen Portrait: „schweres Leiden schien dem ganzen Gesichte etwas Frühreifes und Frauenhaftes zu verleihen“ (91). In Heinrichs Beschreibung des Bildes, auf dem das Kind mit Totenkopf und weißer Rose in der Hand dargestellt ist, blickt es „voll Schwermuth und wie um Hülfe flehend“ (91). Keller hat die Erzählung über Meret, die „elendiglich verstorben“ (90) ist, nach einer emblematischen Struktur aufgebaut. Das Gerede der Dorfbewohner reißt das Thema der Geschichte an (Inscriptio), das Wappen beim „Grab des Hexenkindes“ (89) und „ein altes dunkles Ölgemälde“ (90) im Pfarrhaus (Pictura) dienen der sinnbildlichen Darstellung des zu erzählenden Sachverhalts, und schließlich werden die Bilderläuterungen des Ich-Erzählers (Subscriptio) durch ein altes „diarium“ (92) als historische Quelle (Kommentar) gestützt. Dadurch wird die frühere strenggläubige Zeit vergegenwärtigt wie auch die Polyperspektive des Erzählten – aus der Sicht der Dorfleute, des Pfarrers und Heinrichs – verdeutlicht. Denn erst die Diskrepanz zwischen den unterschiedlichen Perspektiven offenbart die eigentliche Geschichte, die „eben so viel unwillkürliche Theilnahme als Abscheu“ (91) hervorruft, und enthüllt den Missbrauch des Kindes unter dem Deckmantel religiöser Erziehungsvorstellungen. Im Heimatdorf der Mutter stößt Heinrich nicht nur auf die Meret-Legende, die zum Denkbild seiner Erziehungskritik wird, sondern begegnet in Anna und Judith auch zwei Frauen, die Strebungen seiner selbst verkörpern. Die um vieles ältere Judith erscheint als erotisch verlockende Frau, von deren Sinnlichkeit Heinrich unwiderstehlich angezogen wird und die er selbst dann weiterhin aufsucht, als Anna schwer krank wird. Wie sehr die Figur

Sage vom Meretlein

Anna und Judith als Kontrastfiguren

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VI. Analyse beispielhafter Bildungsromane

der Judith sowohl Lebenslust und Erfahrungsreichtum figuriert, als auch eine zu überwindende Entwicklungsstufe markiert, wird bei der Trennung von ihr deutlich. Heinrich möchte mit ihr das „Andenken der Verirrung“ (559) verbinden und diese Erinnerung zugleich „so rein und schön als möglich retten und erhalten“ (559). Noch deutlicher wird das Bestreben, reale Erfahrungen zu verklären, in seiner Beziehung zur gleichaltrigen Anna. Die stille und zarte Schulmeistertochter wird von Heinrich im selbst gemalten Bild verewigt und zu einer Art Muse seiner Selbstreflexion, der er Briefe und Gedichte schreibt. Verstärkt wird die Transformation Annas zum Ideal mit ihrem Tod. Denn nun schwört Heinrich „bei dem besseren Theil“ (558) seiner selbst, dass er ihr auf ewig treu sein wird, weil er sich gewiss ist, in ihr „einen so klaren und lieblichen Stern für das ganze Leben zu haben“ (557). Bildung und kultureller Wandel Phantasiebegabung und Theatererfahrungen

Irrtum und neue Bildungsvorstellung

Wie bei Goethes Protagonist Wilhelm zeigt sich auch bei Heinrich bereits in der Kindheit seine Neigung, die Wirklichkeit aus der inneren Anschauung zu sehen und zu erklären. Er nimmt die vielfältigen Anregungen durch die Mutter und seine unmittelbare Nachbarschaft intensiv auf und besitzt die dichterische Gabe, „an die Vorkommnisse des Lebens erfundene Schicksale und verwickelte Geschichten anzuknüpfen, und so im Fluge heitere und traurige Romane zu entwerfen“ (125). Damit gelingt es ihm, der äußeren Realität eine eigene innere Welt entgegenzusetzen. Dass aber Heinrichs Anlage und schwärmerische Vorstellungskraft nicht mehr ausreichen, um sich den eigenen Idealvorstellungen gemäß auszubilden, macht die episodische Darstellung seiner Begeisterung für das Theater deutlich, denn sie gleicht einer sowohl verkürzten als auch ironisch gebrochenen Variante von Wilhelms Theaterlaufbahn in Goethes Bildungsroman. Nach einer Art Puppentheater spielt er „in einem großen alten Fasse Komödie“ (147) und verfasst nach biblischen Geschichten oder Volksbüchern selbst kleine Theaterstücke. In eine neue Phase seiner Theaterleidenschaft wird Heinrich durch eine „deutsche Schauspielergesellschaft“ geführt, die in der Stadt gastiert. Als eines Abends „der Faust“ (151) gegeben wird und Heinrich als Statist eine Meerkatze spielen darf, fasziniert ihn weniger die Wortkunst denn eine junge Schauspielerin. Von deren Darstellung des Gretchens ist er, besonders in der Kerkerszene, so in Bann gezogen, dass er das gespielte „Unglück für wirklich“ (155) hält. Die „volle schöne Frauengestalt“ (154) erweckt in ihm jedoch nicht nur erste Ahnungen erotischer Anziehung, sondern Heinrich durchleidet auch zum ersten Mal „die natürliche Blödigkeit vor dem lebendigen Weibe“ (158). Die Schauspielerin, bei der Heinrich am Fußende übernachten darf, beflügelt zwar – wie Mariane bei Wilhelm – seine Einbildungskraft, aber als kleiner Schuljunge, für den „im Kopf und Herz das frühe Leben zu rumoren begann“ (159), ist er noch zu unreif, um daraus für seinen Bildungsweg Konsequenzen ziehen zu können. Wie Wilhelm Meister erst den Hamlet spielen muss, um zu erkennen, dass er nicht für den Schauspielerberuf geeignet ist, so wird auch Heinrich bewusst, dass ihm als Landschaftsmaler das Talent zu innovativem Kunstschaffen fehlt. Mit der Vorstellung, dass er in seiner Kreativität die großen Vorbilder nicht übertreffen kann, lässt Keller seinen Protagonisten die Dilet-

4. Gottfried Keller: Der grüne Heinrich

tantismus-Problematik reflektieren, wie sie für die nachklassische Epoche virulent wurde. Heinrich muss sich eingestehen, dass er gegen die aufkommende Kunstindustrie und Fließbandproduktion des 19. Jahrhunderts die Idee vom Originalgenie nicht mehr verwirklichen kann. Dem gescheiterten Bildungsweg zum Maler ist jedoch in Überwindung des künstlerischen Irrtums ein Bildungsweg zum Dichter eingeschrieben. Denn dass Heinrich am Ende zum Schreiben gereift ist, wird in den Gedichten angedeutet, die er nach nächtlichen Träumen notiert und in denen er seine Seelenlage auszudrücken vermag. Heinrich beginnt nun eine Anlage auszubilden, die er bereits in seiner Schulzeit erkannt, aber dann nicht zu seiner Profession gemacht hatte: „Das einzige Element, in dem ich sicher lebte, wie in der Lebensluft, war die Sprache.“ (200) Somit sind auch die explizit von Heinrich verfassten Jugenderinnerungen Ausdruck seiner dichterischen Anfänge. Erst durch die schriftlich niedergelegten Erinnerungen werden Irrtümer und Verfehlungen als notwendiger Teil der Bildungsgeschichte evident. Unter dieser Perspektive wird auch Heinrichs Scheitern an der Landschaftsmalerei in entschiedener Weise durch das Erzählen selbst konterkariert. Denn gerade die realistischen wie zugleich poetisch verklärten Landschaftsschilderungen, die den Roman prägen, legen Zeugnis von einer Meisterschaft ab, die der Autor seinem Erzähler überantwortet. Somit hat Keller seinem Roman eine Bildungsvorstellung eingeschrieben, der Heinrich als Maler in der Tat nicht genügen kann. Doch der Erzähler erweist seine Bildung in der meisterlichen Darstellung von Heinrichs Lebensweg. Er entwickelt einen verstehenden Zugang zu Heinrichs Scheitern und zollt dem Protagonisten Respekt, indem er ihn nicht nur seine Jugenderinnerungen niederschreiben, sondern ihn auch zum Dichter werden lässt.

Heinrichs Talent zum Dichter

5. Hermann Hesse: Siddhartha (1922) Aufbau und Erzählweise Der Roman erzählt von der Entwicklung eines jungen Brahmanensohnes, der auf der Suche nach dem Sinn seines Lebens über verschiedene Stufen religiöser Erfahrung zu sich selbst findet: Siddhartha ist der außerordentlich begabte Sohn eines indischen Gelehrten, der zum Weisen und Priester ausgebildet wird. Als der Jüngling jedoch erkennt, dass er durch seine Lehrer und den ihn umgebenden Lebenskreis keine Anregungen mehr für seine Weiterentwicklung finden kann, beschließt er, sich in Begleitung des mit ihm aufgewachsenen Freundes Govinda auf Wanderschaft zu den Samanas, den Asketen, zu begeben. Er nimmt Abschied von Vater und Mutter und verbringt drei Jahre bei den Samanas, doch kommt er durch Fasten und Büßen seinem Ziel, wunschlos zu werden, nicht näher. Als ihn die Nachricht erreicht, dass der erhabene Buddha Gotama das Leid der Welt überwunden habe, macht er sich mit seinem treu ergebenen Freund zu dem Erwählten auf, den sie in einem Hain bei der Stadt Savathi finden. Während Govinda zum Jünger Buddhas bekehrt wird, erkennt Siddhartha, dass ihm auch durch die buddhistische Lehre keine Erlösung zuteil werden kann und er alle Lehrer verlassen und alle Lehren hinter

Brahmanensohn auf der Suche nach seiner Berufung

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VI. Analyse beispielhafter Bildungsromane

Stimme der Vollendung

Strukturmerkmale des Bildungsromans

sich lassen muss. Siddharthas Ziel ist es nun, sich außerhalb des religiösen Bereichs dem gewöhnlichen Leben wieder anzunähern und von sich selbst zu lernen. Er begibt sich in eine Stadt und wählt die schöne Kurtisane Kamala zu seiner Lehrmeisterin. Vom reichsten Kaufmann der Stadt namens Kamaswami wird er als Gehilfe angestellt und steigt bald zum geschätzten Mitarbeiter auf. Obwohl er im Handel keine Erfüllung findet, geht er über die Jahre hinweg dieser Tätigkeit nach, wird reich, erwirbt ein eigenes Haus sowie einen Garten vor der Stadt und bleibt der Liebhaber Kamalas. Doch mit seiner Berufstätigkeit hat Siddhartha auch seine Gelassenheit verloren und wird von Habgier erfasst. Erst durch einen mahnenden Traum erkennt er, dass sein Bemühen, ein gewöhnlicher Mensch zu werden, ein Irrweg ist. Angeekelt von seiner jahrelangen Lebensweise flieht er ohne Abschied von Kamala aus der Stadt, um seiner eigentlichen Berufung zu folgen. Auf seiner erneuten Wanderschaft stürzt Siddhartha jedoch in eine tiefe Sinnkrise und will sich im Fluss ertränken. Da vernimmt er aus seinem Inneren einen Klang, der ihm von einer anderen Form der Vollendung kündet. Nach langem tiefem Schlaf erkennt er in einem Mönch neben sich seinen Freund Govinda, der in religiöser Mission unterwegs ist. Siddhartha ahnt, dass er ausharren muss und am Fluss den Weg zu sich selbst finden kann. Er bleibt beim alten Fährmann Vasudeva, der in Siddhartha einen Erwählten erkennt. Als aufgrund der Nachricht vom nahen Tod Buddhas viele Reisende zum Fluss kommen, trifft Siddhartha erstmals seinen ihm unbekannten 11-jährigen Sohn in Begleitung seiner Mutter Kamala. Als diese durch einen Schlangenbiss getötet wird, versucht Siddhartha mit Geduld sein Kind für sich zu gewinnen, doch der Junge widersetzt sich ihm und bricht in die Stadt auf. Als Siddhartha dem Fliehenden folgen will, sieht er über das Wasser des Flusses gebeugt das Gesicht seines Vaters und begreift, dass dieser einst den gleichen Schmerz um ihn gelitten hatte wie er um seinen Sohn. Er vernimmt aus dem Fluss die Stimme der Vollendung und lässt den Sohn nun ohne zu hadern ziehen. Am Ende besucht Govinda den weise gewordenen Siddhartha und erfährt von ihm, dass es nicht auf ein Ziel ankomme, sondern auf ein Freisein von Vorstellungen und Wünschen. Obgleich Hesses Siddhartha vergleichsweise geringen Umfangs ist und vom Autor selbst als Erzählung bezeichnet wurde, weist der Text wesentliche Strukturmerkmale eines Bildungsromans auf. Der adoleszente Protagonist löst sich von den Werten seines Herkunftsmilieus, begibt sich auf Wanderschaft, setzt sich mit neuen Erfahrungsbereichen auseinander, erlebt seine Initiation in die Sexualität und findet schließlich durch Überwindung von Irrtümern zu einer ihm gemäßen Lebensweise. Entsprechend den Entwicklungsstufen, die der Titelprotagonist durchläuft, ist der Roman, der im Untertitel Eine indische Dichtung genannt wird, in zwei Teile und insgesamt zwölf Unterkapitel gegliedert. Die Kapitelüberschriften benennen jeweils die Lehrperson, der Siddhartha begegnet, oder aber seinen jeweiligen Entwicklungsstand. Der Erzähltext ist in Form einer Legende gestaltet, bei der ein anonymer Erzähler mit teilweise prophetischem Pathos über den Entwicklungs- und Prüfungsgang eines Auserwählten berichtet. Jedoch kommen der Protagonist und die ihm zugeordneten Textfiguren durch zahlreiche Gespräche in direkter Rede häufig auch selbst zu Wort. Wer nicht gerade profunde Kenntnisse über den Buddhismus besitzt, ist zum Blick in einen

5. Hermann Hesse: Siddhartha

Kommentar (Neis 1991, Pfeifer 2003) genötigt, um Eigennamen zuordnen und religiöse Begriffe entschlüsseln zu können. Hesse rekurriert mit seinem Bildungsroman auf die Buddha-Legende, die auf die Zeit zwischen dem sechsten und vierten Jahrhundert v. Chr. zurückgeht. Demnach wurde der Religionsstifter Buddha zwischen dem fünften und sechsten Jahrhundert v. Chr. als Königssohn im Himalaya geboren. Sein persönlicher Name war Siddhartha, was sinngemäß Der sein Ziel erreicht hat bedeutet. Er soll das Leben eines wandernden Pilgers geführt und sich mit asketischen Praktiken beschäftigt haben. Nachdem er allen Versuchungen widerstand, vom Weg der Wahrheit abzugehen, soll er unter einem Feigenbaum seine Erleuchtung erlebt haben. Erst damit kam ihm der Name Buddha zu, was so viel wie Der Erleuchtete heißt. Hesse hat jedoch keine um fiktive Elemente angereicherte Biographie über das Leben Siddharthas geschrieben, sondern Züge der Buddha-Legende mit Elementen der christlichen Religion, der Identitätsphilosophie und der Tiefenpsychologie zu einer individuellen Bildungsgeschichte amalgamiert. Der Entwicklungsgang des Protagonisten lässt sich also gerade nicht auf ein spezifisches Glaubenssystem oder Erziehungsmodell zurückführen. Auch Zeit und Ort der Romanhandlung entbehren jeglicher Konkretion, wodurch der Fokus der Aufmerksamkeit ganz auf die „innre Geschichte“ des Protagonisten gelenkt wird. Entstehungskontext und Rezeption Nach Vorstudien im Dezember 1919 begann Hesse mit der Niederschrift seines Romans im Februar 1920. Es waren bereits der erste Teil und einige Abschnitte des zweiten Teils entstanden, als er im Sommer desselben Jahres die unvollendete Dichtung beiseite legte. In einem Brief aus dieser Zeit äußerte Hesse, dass er nicht fortfahren könne, „weil ein Stück Entwicklung daran gezeigt werden müßte, das ich selbst noch nicht zu Ende erlebt habe“ (Hesse 1973, 457). Wie sehr der Autor hoffte, durch die Anregung neuer Lebenserfahrungen die Dichtung zum Abschluss bringen zu können, macht eine Tagebucheintragung aus demselben Jahr deutlich. „Als ich mit Siddhartha dem Dulder und Asketen zu Ende war und Siddhartha den Sieger, den Jasager, den Bezwinger dichten wollte, da ging es nicht mehr. – Ich werde ihn dennoch weiter dichten, einmal, am Tag der Tage, und er wird doch ein Sieger werden.“ (Hesse 2003, 629) Ein Vorabdruck aus dem ersten Teil des Romans erschien 1921 in der Zeitschrift Neue Rundschau mit einem Brief Hesses an den befreundeten französischen Schriftsteller Romain Rolland, ein weiterer in der Zeitschrift Genius. Erst nach mehr als eineinhalb Jahren nahm Hesse im März 1922 die Arbeit am Siddhartha-Manuskript wieder auf. Ende Mai sandte er die Reinschrift an seinen Verleger Samuel Fischer und im Oktober desselben Jahres konnte der schmale Band endlich erscheinen. Hesse hat sich selbst vielfach zum autobiographischen Gehalt seiner Dichtung bekannt und war aus Erzählungen seit frühester Kindheit mit der religiösen Vielfalt Indiens vertraut. Nicht nur der Großvater hatte jahrzehntelang in Indien gelebt, sondern auch die Mutter war dort geboren worden und der Vater hatte als Missionar in diesem Land gewirkt. Wenngleich die Bildungsgeschichte Siddharthas einem hoch artifiziellen Erzählschema folgt, nach dem der Protagonist einen stufenförmigen Bildungsgang durch-

Schaffenskrise

Biographische Bezüge

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VI. Analyse beispielhafter Bildungsromane

Religiöse Prägung und literarische Selbstsuche

lebt, hat Hesse im Roman doch unzweifelhaft seine Sinnsuche jenseits christlich geprägter Erziehungsziele zum Thema gemacht. Hermann Hesse (1877 – 1962) wurde im württembergischen Calw als Sohn des Missionars Johannes Hesse und seiner Frau Marie, der ältesten Tochter des namhaften Indologen und Missionars Dr. Hermann Gundert, in eine ausgesprochen religiöse Familie hineingeboren. Als Kleinkind lebte er einige Jahre mit seinen Eltern in Basel und wurde dann zunächst im Reallyzeum in Calw und in der Lateinschule in Göppingen erzogen, bis er das württembergische Landesexamen ablegte, um die Theologenlaufbahn einzuschlagen. Im September 1891 trat er mit 14 Jahren in das evangelische Klosterseminar Maulbronn ein, doch er wollte Dichter werden und die religiöse Familientradition nicht fortsetzen. In seinem Aufsatz Mein Glaube aus dem Jahre 1930 erinnerte sich Hesse an die Prägung durch das Elternhaus: „So groß und edel dies Christentum meiner Eltern als gelebtes Leben, als Dienst und Opfer, als Gemeinschaft und Aufgabe war – die konfessionellen und zum Teil sektiererischen Formen, in denen wir Kinder es kennen lernten, wurden mir schon sehr früh verdächtig und zum Teil ganz unausstehlich. Es wurden da manche Sprüche und Verse gesagt und gesungen, die schon den Dichter in mir beleidigten“ (Hesse 2003, 131). Nach wenigen Monaten lief Hesse aus dem theologischen Seminar davon, ein bis dahin einmaliger Vorgang in der Maulbronner Eliteschule. Die konsternierten Eltern brachten ihren 15-jährigen Sohn zunächst zu einem befreundeten Pfarrer in ein religiöses Erweckungs- und Heilungszentrum, wo ihm sein Eigensinn ausgetrieben werden sollte, doch nach einem Selbstmordversuch wurde er in einer Heilanstalt für Schwachsinnige und Epileptiker interniert. Während der vier Monate seines Aufenthalts schrieb Hesse verzweifelte Briefe nach Hause, in denen er die pietistischen Erziehungsprinzipien anprangerte, durch die seiner Erfahrung nach der Wille junger Menschen gebrochen werden sollte. Hesse wurde für ein Jahr auf ein Gymnasium, für ein weiteres in eine einjährige Mechanikerlehre geschickt, bis man ihm eine Buchhändlerlehre erlaubte. In den fünf Jahren seiner Tätigkeit als Buchhandlungsgehilfe in Tübingen und Basel eignete er sich einen beträchtlichen Teil der Weltliteratur an und begann zugleich mit seinem eigenen Schreiben. Die Erziehung, die er als leidvolle pädagogische Kolonisierung erlebt hatte, wurde zu einem zentralen Thema seines literarischen Schaffens. Angeregt durch die Lektüre der Philosophie Arthur Schopenhauers, dessen Denken von den indischen Religionen stark geprägt war, begann Hesse ab 1907 mit Yoga, Askese und Selbstkasteiung zu experimentieren. Er vertiefte sich in esoterische Schriften und unternahm 1911 eine Reise nach Sumatra, Ceylon und Singapur, wo er sich drei Monate lang mit völkerkundlichen Studien beschäftigte. Auf der Rückreise besuchte er auch Vorderindien. Die Reise, die Hesse aus gesundheitlichen Gründen abbrechen musste, hat seine Dichtung Siddhartha wesentlich angeregt. In der Forschung wird das Werk, das durch die Philosophie Schopenhauers (Hsia 2002) wie auch vor allem die indischen Religionen (Findeis 2002; Kämpchen 2002; Michels 2002; Moritz 2004) geprägt ist und vor dem Hintergrund der Buddhismus-Rezeption um 1900 (Jacobs 2004) betrachtet wird, als „künstlerische Darstellung einer Selbstfindung“ (Decloedt 1989) auf tiefenpsychologischer Grundlage (Baumann 2002) verstanden.

5. Hermann Hesse: Siddhartha

Auseinandersetzung mit Erziehung und geschlechtsspezifische Individuation Siddhartha ist ein Protagonist, der in radikaler Weise die Erziehungsvorgaben, unter denen er herangewachsen ist, hinter sich lässt. Er wendet sich vom väterlicherseits vorgesehenen Weg ab, beginnt eine Wanderschaft in die Welt, auf der er mit unterschiedlichen religiösen Lehren vertraut wird, und beschreitet schließlich einen Weg der Innerlichkeit, um zu sich selbst zu finden. Seine Entwicklung ist nach einem strengen Stufenschema konzipiert. Zu Beginn des Romans wird Siddhartha als wohlerzogener Sohn aus gutem Hause vorgestellt. Er gehört als Brahmane der obersten Kaste der Hindus an, zu der in früheren Zeiten Priester, Dichter, Gelehrte und Politiker zählten. Durch den Gesang seiner Mutter, die Lehren seines Vaters und das Gespräch mit den Weisen wird er unterrichtet. Sein Wissen erprobt er in Redewettkämpfen mit seinem Freund Govinda. Bis zur Adoleszenz erweist sich der Jüngling als ideales Erziehungsobjekt seiner Eltern: „Freude sprang in seines Vaters Herzen über den Sohn, den Gelehrigen, den Wissensdurstigen, einen großen Weisen und Priester sah er in ihm heranwachsen, einen Fürsten unter den Brahmanen.“ (Hesse 1974, 7) Seine Erziehung wird durch das Bild des Gefäßes veranschaulicht, das bereits in seiner Form vorgegeben ist und nur noch des Inhalts bedarf, um seine Funktion zu erfüllen. Aber aus Siddharthas Sicht bringt die Erziehung keine Erfüllung: „das Gefäß war nicht voll, der Geist war nicht begnügt, die Seele war nicht ruhig, das Herz nicht gestillt.“ (9) Auch auf der nächsten Station seiner Erziehung bei den Samanas erreicht Siddhartha einen Punkt, an dem er spürt, dass die Lehre, die ihm hier vermittelt wird, seiner Entwicklung und seinem Bildungswunsch nicht mehr adäquat ist. Als er dem Ältesten der Samanas seinen Entschluss mitteilt, wegzugehen, und darauf von diesem beschimpft wird, wendet er die ihm übermittelte Lehre wie eine Waffe gegen seinen Lehrer: „mit gesammelter Seele […] fing er den Blick des Alten mit seinen Blicken ein, bannte ihn, machte ihn stumm, machte ihn willenlos, unterwarf ihn seinem Willen, befahl ihm, lautlos zu tun, was er von ihm verlangte.“ (23) Durch Siddharthas suggestiven Blick wird sein Lehrer stumm und hilflos und verkörpert somit das zwanghafte Erziehungsprinzip, dem er Siddhartha hatte unterwerfen wollen und das dieser ihm nun anklagend zurückspiegelt. Bei den gewöhnlichen, nach Besitz und Reichtum strebenden Menschen in der Stadt, den so genannten „Kindermenschen“, erlebt Siddhartha das Anhäufen von Besitztümern als sinnloses Spiel. Er nimmt Abschied von den erworbenen Dingen wie auch von sinnlicher Lust. Kamala gibt ihm mit auf den Weg: „Du bist gelehrig, Siddhartha, so lerne auch dies: Liebe kann man erbetteln, erkaufen, geschenkt bekommen, auf der Gasse finden, aber rauben kann man sie nicht. Da hast du dir einen falschen Weg ausgedacht.“ (49) Im Erziehungsgang Siddharthas ist nicht nur ein durch die Eltern vorbestimmter Weg als Brahmane vorgezeichnet, sondern in der Welt der „Kindermenschen“ auch die Verbindung mit einer Frau und die Gründung einer Familie vorgesehen. Als Siddhartha nach dem Tode Kamalas versucht, seine Vaterschaft anzunehmen, muss er jedoch erkennen, dass er sich selbst schon viel zu weit von den gewöhnlichen Menschen entfernt hat, um seinen Sohn noch für das Gemeinwohl erziehen zu können. Mit dieser Absage

Stufenschema der Erziehung und Erfahrung

Begegnung mit dem Sohn

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VI. Analyse beispielhafter Bildungsromane

an die Welt des Sozialen ist ein Ethos formuliert, wonach der Erwählte in selbstversunkener Einsamkeit leben muss, um seiner Lebensphilosophie dienen zu können. Bildung und kultureller Wandel Befreiung von Erziehungsmustern

Selbstanalytischer Prozess

Siddhartha findet seinen Bildungsweg durch die ihm anerzogenen Lehren, denn erst durch sie reift er zu der Erkenntnis, dass es darüber hinaus noch andere, für ihn bedeutendere Weisheit geben müsse. So sind die Stufen, auf denen Siddhartha immer wieder mit neuen Lebensweisheiten konfrontiert wird, zugleich auch Bedingung der Möglichkeit seiner Weiterbildung. Am Ende des ersten Teils werden unter der Kapitelüberschrift Erwachen Siddharthas Überlegungen zu seinem Bildungsweg niedergelegt. Hatte er zunächst durch seinen Vater, den Brahmanen, dann durch die Samanas und schließlich durch Gotama (den Buddha) verschiedene Lehren übermittelt bekommen, so erkennt er nun, dass er sich von allen Lehren abwenden muss. Er fühlt nun, dass „sein bisheriges Leben hinter ihm zurückblieb und sich von ihm trennte.“ (34) Durch dieses Zurücklassen erzieherischer Systeme ist er gereift und stellt fest, „daß er kein Jüngling mehr, sondern ein Mann geworden sei.“ (34) Nicht also durch sexuelle Initiation wird er zum Mann, sondern durch eine innere Befreiung von vorgegebenen Erziehungsmustern. Er erkennt, dass es keine Lehren mehr sein können, die ihn zu seinem wahren Ich ausbilden, sondern nur das Ich selbst, dessen Sinn und Wesen er kennen lernen will. Markiert wird hier gleichsam ein selbstanalytischer Prozess, bei dem Siddhartha die ihm fremd gebliebenen und durch die Erziehung verstellten Anteile seines Selbst ergründen möchte: „Bei mir selbst will ich lernen, will ich Schüler sein, will ich mich kennenlernen, das Geheimnis Siddhartha.“ (35) Er fühlt sich nun wie ein „Erwachter oder Neugeborener“ (36) und entsagt seinem ersten Impuls, nach Hause zurückzukehren, da er sich weder als Asket noch als Priester oder Brahmane fühlt. Er erkennt, dass er bisher in seiner gesamten Erziehung immer „seines Vaters Sohn“ (37) geblieben ist, dass er aber in der Befreiung von vorgegebenen religiösen Systemen die ihm angemessene Vorstellung von sich selbst herauszubilden vermag. Während Novalis im zweiten Teil seines Romans Heinrich von Ofterdingen formuliert, dass die Reise „immer nach Hause“ geht, heißt es bei Hesses Siddhartha nun: „nicht mehr nach Hause, nicht mehr zum Vater, nicht mehr zurück.“ (37) Siddhartha wird als Genie gezeichnet, das sich radikal von Herkunft und Tradition löst und sich in einem fortlaufenden Abschiednehmen von vertrauten Dingen einen eigenen Weg bahnt. Die einzelnen Bildungsstufen, die er durchläuft, werden zugleich Durchgangsstufen zu einem anderen Sein. So muss Siddhartha auch erkennen, dass er nicht – wie dies Wilhelm Meister in Goethes Bildungsroman möglich war – durch die Erziehung des eigenen Sohnes seine Bildung vollendet, sondern sich im Gegenteil von allen emotionalen Bindungen und sozialen Bezügen lösen muss. Zur Darstellung kommt damit ein Bildungsweg, der den göttlichen Weg zur Erleuchtung mit der Vorstellung völliger künstlerischer Autonomie parallelisiert. Hesse gestaltet in seinem Roman den Bildungsgang eines Protagonisten, der sich radikal von der Vätertradition trennt und mit tradierten Erziehungs-

5. Hermann Hesse: Siddhartha

vorstellungen abrechnet. Er reflektiert damit reformpädagogische Bestrebungen um 1900, mit denen gefordert wurde, dass starre Erziehungskonzepte aufgegeben werden und pädagogische Förderung sich nach den Anlagen des Kindes zu richten habe. Der Roman ist aber auch von der so genannten Jugendbewegung beeinflusst, in der eine Vielzahl von Sozialprojekten und alternativen Lebensmöglichkeiten entworfen wurde, wie auch von spiritistischen Strömungen der Jahrhundertwende, die sich der technischen Moderne entgegenzusetzen suchten. In diesem Zusammenhang war das Interesse am östlichen Denken gestiegen. Neue Übersetzungen wichtiger Schriften des Buddhismus waren erschienen und Autoren unterschiedlicher Ausrichtung wie Waldemar Bonsels, Hermann Graf Keyserling, René Schickele und Stefan Zweig unternahmen Reisen nach Indien. Es entstand die Idee, Europa aus dem Geist des Ostens zu erneuern. In seiner Schrift Zarathustras Wiederkehr (1919) wandte sich Hesse dezidiert an die deutsche Jugend und empfahl die Suche nach überzeitlichen Werten durch den Weg nach innen: „Die Welt ist nicht da, um verbessert zu werden. Auch ihr seid nicht da, um verbessert zu werden. Ihr seid aber da, um ihr selbst zu sein.“ (Hesse 2004, 240) Wenn Hesse Siddhartha im Untertitel Eine indische Dichtung genannt hat, wird damit nicht so sehr auf Indien als erzählte Lebenswelt angespielt, sondern vielmehr auf eine Weltanschauung, die sich der Vielfalt indischer Religionen verdankt. Siddhartha begibt sich zwar auf eine Wanderung durch die Welt, die ihn an verschiedene Stationen führt, aber entscheidend ist sein innerer Entwicklungsgang. Denn erst die Versenkung ins eigene Selbst führt ihn zu seinem eigentlichen Bildungsziel, nämlich gerade kein weltlich fixiertes Ziel zu haben, sondern Ruhe zu erreichen und unbedingte Offenheit zu leben. Dem liegt die Vorstellung zugrunde, dass im sozialen Ich, das sich in der Welt orientiert und sich mit anderen Menschen auseinandersetzt, ein geistiges Ich verborgen ist, das Anteil am Ganzen des Lebens und Überpersönlichen hat. Hesse lässt es seinem Siddhartha zur Aufgabe werden, seiner inneren Stimme zu folgen und dieses intelligible, absolute Ich zu erreichen. Er stellt damit ohne Zweifel eine eskapistische Form der Selbstbildung dar, doch lässt er seinen Protagonisten mit der Versenkung ins eigene Ich – wenn auch in einer extremen Form der Weltabgewandtheit – einer Innerlichkeit huldigen, die seit den frühen gattungstypologischen Bestimmungen auch als Kennzeichen des Bildungsromans gilt. Die humanitätsphilosophische Bildungsvorstellung der Zeit um 1800, nach der die Herausbildung eines ethisch-moralischen Selbst im Dienste der Höherentwicklung der Menschheit steht, wird bei Hesse zu einer ausschließlich individuellen Bildungsidee transformiert, bei der die Autonomie der Persönlichkeit höchste Priorität gewinnt.

6. Christa Wolf: Kindheitsmuster (1976) Aufbau und Erzählweise Der Roman erzählt vom nachgeholten Bildungsprozess einer Frau Anfang vierzig durch die Aufarbeitung ihrer Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus:

Reformbewegungen um 1900 und der Weg nach innen

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VI. Analyse beispielhafter Bildungsromane Erinnerung an die Kindheit in der NS-Zeit

Komplexe Erzählstruktur

Erzählen über ein Alter Ego

Gemeinsam mit ihrem Ehemann, ihrer Tochter und ihrem Bruder unternimmt die Ich-Erzählerin im Sommer 1971 eine schon lang geplante Reise in ihre ehemalige Heimatstadt im heutigen Polen, aus der sie zu Kriegsende in den Westen fliehen musste. Die Rückkehr wird zu einer Reise in die Vergangenheit, insofern am Ort der Kindheit Erinnerungen wach werden, die bis in das Jahr 1933 zurückreichen. Im Bewusstsein, sich der Zeit ihres Heranwachsens nur über einen Schreibprozess annähern zu können, beschließt die Erzählerin, ihre Erinnerungen für ihre Tochter Lenka niederzulegen. Sie will sich dem Kind, das sie einmal war, in der distanzierenden dritten Person zuwenden und gibt ihm den Namen Nelly Jordan. Über diese Ende der 1920er Jahre geborene Kaufmannstochter wird erzählt, wie sie durch die Ideologie des Nationalsozialismus entscheidend geprägt wurde. In vielen Episoden aus dem Familienleben, dem Schulunterricht und dem Alltag beim Bund Deutscher Mädel wird das Heranwachsen als unmerkliches Hineinwachsen in ein unhinterfragtes politisches System beschrieben. Die Erzählerin schildert den Wunsch Nellys, sich in der Gemeinschaft eine Position zu erarbeiten wie auch ihre Versuche, der Anpassung zu entgehen und Individualität auszubilden. Aber erst als sie zu Kriegsende im Alter von sechzehn Jahren mit der Familie gen Westen flüchtet und dabei auf befreite KZ-Häftlinge trifft, begreift sie schockartig, in welcher Welt sie gelebt hat. Sie arbeitet zunächst in der Gemeindeverwaltung eines mecklenburgischen Dorfes, besucht dann wieder die Schule und wird wegen einer Tuberkuloseerkrankung zu einem längeren Sanatoriumsaufenthalt gezwungen. Erst jetzt setzt die Erinnerung an die jüngste Vergangenheit ein. Mit der Genesung Nellys im Jahre 1947 und ihrem Wunsch, wieder am sozialen Leben teilzuhaben und die eigene Zukunft zu gestalten, enden die Erinnerungen der Ich-Erzählerin. Der in achtzehn Kapitel untergliederte Roman weist eine komplexe Erzählstruktur mit ineinander verwobenen Erzählsträngen auf. Die in der dritten Person erzählte Jugendgeschichte der Protagonistin ist durch zahlreiche Vorgriffe und Rückblicke gekennzeichnet und nur in groben Zügen einem chronologischen Raster unterworfen. Die unterschiedlichen Zeitebenen des Romans sind kunstvoll ineinander verschränkt: Die Reise nach Polen zu Beginn des Romans wird in ihren einzelnen Stationen benannt und auf den 10. und 11. Juli 1971 datiert. Als Zeitraum, in dem die Erinnerungen niedergeschrieben werden, ist November 1972 bis 2. Mai 1975 angegeben. Die erzählte Zeit der Erinnerungen reicht hingegen vom Ende der 1920er Jahre bis 1947 und umfasst Kindheit und Jugend der Protagonistin Nelly vom 3. bis ungefähr 18. Lebensjahr. Der Erinnerungsbericht wird immer wieder von tagebuchartigen Aufzeichnungen zum privaten Alltag und politischen Tagesgeschehen unterbrochen. In zahlreichen essayistischen Einschüben nehmen Überlegungen zur Schwierigkeit des Erinnerns und zur Aufgabe des Schreibens programmatischen Charakter an, wie dies auch für die ersten beiden Sätze des Romans gilt: „Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.“ (Wolf 2002, 13) In didaktisierender Weise werden die Reise als Erzählanlass, die ,Wiederbegegnung‘ mit der Kindheit als Schreibimpuls und das anvisierte Ziel des Schreibprozesses umrissen, nämlich die Fremdheit im eigenen Selbst durch

6. Christa Wolf: Kindheitsmuster

Erinnerungsarbeit zu überwinden. Dazu wird für die erinnerte Zeit nicht nur eine erzählte Figur als Alter Ego, sondern auch eine kindlich-naive Erzählperspektive gewählt, über deren Funktion sich Wolf in ihrem Essay Lesen und Schreiben aus dem Jahre 1968 bereits geäußert hatte: „Und der Erzähler? […] Hält es nach fünfundzwanzig Jahren der Mühe wert, sich zu erinnern: Damals war ich glücklich und sollte es nicht sein. Versucht, schreibend, getreu zu sein, und findet: Die fünfundzwanzig Jahre haben nicht nur an ihm, sie haben auch an jener früheren Szene gearbeitet. Muß zugeben: Er hat sie nicht ,objektiv‘ erzählt – das ist nicht möglich. Es entmutigt ihn nicht. Er entschließt sich, zu erzählen, das heißt: wahrheitsgetreu zu erfinden auf Grund eigener Erfahrung.“ (Wolf 1987, 481) Dieser Anspruch, den eigenen Erfahrungen in fiktiver Form in der Literatur Ausdruck zu geben, setzte sich von der seinerzeit in der DDR propagierten Form eines sozialistischen Realismus mit harmonischer Verbindung zwischen Einzelnem und Kollektiv deutlich ab und wurde in der Forschung als ,subjektive Authentizität‘ und spezifisches Kennzeichen von Wolfs Schreiben bestimmt (Growe 1988; Quernheim 1990). Entstehungskontext und Rezeption Wolf begann mit Vorarbeiten zu Kindheitsmuster bereits ein Jahr vor ihrer 1971 unternommenen Polenreise und machte sich in den vier nachfolgenden Jahren an die eigentliche Niederschrift. Aber nicht nur die Reise der Autorin in die Stadt ihrer Kindheit verweist auf die autobiographischen Züge des Romans, sondern auch einzelne Lebensstationen. Christa Wolf wurde als Tochter eines Kaufmanns 1929 in Landsberg an der Warthe im heutigen Polen geboren, wo sie bis kurz vor Kriegsende die Schule besuchte. Nach der Flucht vor der Roten Armee arbeitete sie als Schreibhilfe in einem dörflichen Bürgermeisteramt bei Schwerin, bevor sie 1949 das Abitur in Bad Frankenhausen nachholte, in die SED eintrat, in Jena und Leipzig Germanistik studierte und dann als Redakteurin und Lektorin tätig war. Mit ihrem 1968 erschienenen Roman Nachdenken über Christa T. wurde sie von der westlichen Kritik als eine der wichtigsten Schriftstellerinnen der DDR gefeiert. Denn schon dieser Roman ist durch ein dialogisches Erzählen gekennzeichnet, bei dem sich die Ich-Erzählerin immer wieder auf den Lebensweg einer verstorbenen Freundin namens Christa T. bezieht, um darüber ihren eigenen Bildungsweg und schriftstellerischen Werdegang zu reflektieren. Ohne Zweifel handelt es sich bei diesem ausgefeilten Erzählverfahren der Romane um artifizielle Fiktionalisierungsformen autobiographischen Materials. Mit Kindheitsmuster stieg Wolf zu einer der meistbeachteten Autorinnen beider deutschen Staaten auf. In der DDR-Literaturzeitschrift Sinn und Form wurde 1977 eine Debatte darüber geführt, ob die Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus so unmittelbar mit einer Figur der sozialistischen Gegenwart verknüpft werden dürfe. Wolf wandte sich in Interviews jedoch gegen die allzu vorbildlich denkenden Protagonisten jener Bildungsromane, die zu Ende der 1950er und in den 1960er Jahren in der DDR entstanden waren, und versuchte mit ihrem Verfahren der ,subjektiven Authentizität‘ eine kritische Sichtweise auf die Bildungsmöglichkeiten des Einzelnen zu richten.

Fiktionalisierungsformen autobiographischen Materials

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VI. Analyse beispielhafter Bildungsromane Neue Form des Bildungsromans

In literaturwissenschaftlichen Interpretationen, die besonders in den 1980er Jahren in großer Zahl zu Kindheitsmuster erschienen sind, wurden besonders die Themen Erinnerung (Growe 1988; Gutjahr 1985; Schuller 1985), Vergangenheitsbewältigung (Rothe 2003; Zahlmann 1986) und Kindheit im Nationalsozialismus (Gättens 1986; Weedon 1999) untersucht. Das Werk wurde wegen seiner deutlich autobiographischen Bezüge als eine der „beachtetsten Autobiographien der siebziger Jahre“ (Frieden 1990, 121) rubriziert und mittlerweile wie selbstverständlich mit der Gattungsbezeichnung „autobiographischer Roman“ (Holdenried 2003) belegt, auch wenn es bereits im Kontext weiblicher Bildungsromane des 20. Jahrhunderts Beachtung fand (Labovitz 1988). Wenn wir den Roman, dessen Relevanz sich zweifelsohne in einem ganzen Spektrum von inhaltlichen, erzählstrukturellen und literarhistorischen Fragestellungen erweisen lässt, unter dem Aspekt der produktiven Auseinandersetzung mit der eigenen Gewordenheit durch Erziehung betrachten, lässt sich Kindheitsmuster als eine neue Form des Bildungsromans lesen, wie sie für die deutsche Literatur nach 1945 relevant wurde. Auseinandersetzung mit Erziehung und geschlechtsspezifische Individuation

Kritische Revision der Erziehung

Aufstiegsorientierung der Mutter

Die Protagonistin, zugleich Ich-Erzählerin des Romans, sieht die Aufgabe ihres Erzählens ausdrücklich darin, die Erziehung des Kindes, das sie einmal war, einer kritischen Revision zu unterziehen. Sie versucht, Kindheitserlebnisse mit Quellen wie Chroniken, Statistiken und Zeitungsberichten der damaligen Zeit in Beziehung zu setzen, um sich dadurch einen Zugang zu den Bedingungen ihrer Erziehung zu erschließen. Die Erzählerin erinnert sich, wie die zehn Jahre vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges in einem kleinen Ort des damalig deutschen Reichsgebietes geborene Nelly am Ende der Weimarer Republik und in der Zeit des Nationalsozialismus in einer kleinbürgerlichen Familie heranwächst. Der Alltag der Eltern ist durch die Arbeit in ihrem Lebensmittelladen, das Streben nach Wohlstand und den Wunsch, ihren beiden Kindern einen gesicherten Lebensweg vorzubahnen, geprägt. Der Vater, Bruno Jordan, ist als lebenspraktischer Mann gezeichnet, der zwar durch den Ersten Weltkrieg „um seine beste Jugend betrogen“ (133) worden war, aber mit zähem Willen versucht, sich hochzuarbeiten. Durch ihn wird Nelly „beizeiten in die ,Usancen‘ des praktischen Lebens“ (23) eingeführt und nach einem Aufsteiger-Ethos erzogen: „Aber am besten ist: Den andern immer um eine Nasenlänge voraus. Und überhaupt: Pünktlichkeit ist das halbe Leben. Stillstand ist Rückschritt. Man muß aus seinem Leben etwas machen.“ (166 f.) Während der Vater vor allem den wirtschaftlichen Erfolg sucht, ist die Mutter, Charlotte Jordan, durch kleinbürgerliches Standesbewusstsein bestimmt und auf sozialen Aufstieg bedacht. Durch kurzfristige Berufstätigkeit als Buchhalterin, vor allem aber die Heirat mit einem Kaufmann, ist die für ihre „Tüchtigkeit“ (133) bekannte Tochter eines armen Eisenbahners selbst bereits sozial aufgestiegen und versucht stetig, sich nach unten abzugrenzen und nach oben zu orientieren. Das neu gebaute Haus mit „Herrenzimmer“ (185) steht für den unbedingten Wunsch der Mutter, den mühsam erarbeiteten Wohlstand zu repräsentieren. Auch ihrer Tochter versucht Charlotte

6. Christa Wolf: Kindheitsmuster

Jordan Aufstiegsorientierung mit auf den Weg zu geben und legt beispielsweise größten Wert darauf, dass Nelly das Geburtstagsfest der Tochter eines Fabrikanten besucht und dort einen guten Eindruck hinterlässt. Mit zitatgestützten Hinweisen auf die Wirtschaftskrise in Deutschland, die für viele mit sozialem Abstieg verbunden war, wird von der Erzählerin der Wunsch der Eltern nach materieller Sicherheit implizit als Begründung dafür angegeben, dass sie im November 1933 wie fast alle aus dem Ort die NSDAP wählten. Die Stimmungslage der damaligen Zeit wird in der verallgemeinernden Form wiedergegeben: „Man konnte nicht mehr anders. Die hatten jetzt alles in der Hand“ (63). Als der Vater auf Drängen des SAStandartenführers Rudi Arndt in den so genannten „Marinesturm“ eintritt, sieht Nelly auf dem Gesicht der Eltern „Glanz und Heiterkeit und Übereinstimmung“ (61) leuchten. Die Erzählerin lässt deutlich werden, wie das Kind von klein auf durch die Eltern erfährt, „daß Gehorchen und Geliebtwerden ein und dasselbe ist“ (30) und dass man anderen Menschen „mit dem Deutschen Gruß“ (68) begegnet. Es wird betont, dass für das Kind keine Verhaltensalternativen sichtbar wurden, denn in der Schule wird Nelly von parteikonformen Lehrern nach Schulbüchern unterrichtet, in denen nationalsozialistisches Gedankengut verbreitet wird. Statt des imaginären Rollenspiels, das in vielen Bildungsromanen für die Selbstsuche der Protagonisten steht, thematisiert Wolf in ihrem Roman, wie ihrer Erzählerin durch den lückenlos organisierten Parteiapparat eine ,neue‘ Rolle angeboten wurde, mit der sie zugleich in alten Rollenmustern verfangen blieb. Mit beginnender Adoleszenz versucht sich Nelly ihrer alterspezifischen Entwicklung entsprechend vom traditionellen Verhaltensmuster der Mutter abzusetzen und an der von den Nationalsozialisten entworfenen Zukunftsvision teilzuhaben: „Neue Menschen wollen sie sein.“ (192) Gerade weil die Mutter dem Nationalsozialismus teilweise auch mit Ablehnung begegnet, gewinnt er für die Tochter besonderen Reiz. In der Erziehung vermittelte Vorgaben wie Ordnung und Sauberkeit, deren Erfüllung zu Hause abgelehnt wird, erlangen hier neue Attraktivität und werden übererfüllt. Nelly zeigt selbst ihre beste Freundin bei der Lagerleiterin wegen ungeputzter Schuhe an: „So tat sie ihre Pflicht, wie es sich gehörte, ohne Ansehen der Person.“ (293) Nelly möchte sich hervortun und auffallen, um Anerkennung zu gewinnen, und erfüllt gerade dadurch das ihr von den Eltern anerzogene Aufstiegsdenken. Durch Wohlverhalten und Anpassung an das System will sie innerhalb des BDM als künftige Führerin zur Elite der Nation aufsteigen. Die Heranwachsende delegiert die mit der Adoleszenz zunehmende Fähigkeit zur Selbstorientierung an die hierarchischen Strukturen der Jugendorganisation und bleibt damit an die elterlichen Erziehungsvorgaben und deren Verhaltensmuster gebunden. Für die Eltern hat das, was politisch um sie herum geschieht, scheinbar „nichts mit ihnen zu tun“ (62). Der Bau von Kasernen wird für sie lediglich zum Anlass, ihren Laden zu verlegen und zu vergrößern. Indem die Ich-Erzählerin die Entwicklung Nellys mit Zeitungsberichten aus dieser Phase kontrastiert, wird die Diskrepanz zwischen dem scheinbar privaten Familienleben und der politischen Entwicklung deutlich hervorgehoben. Während für Nelly durch die Jugendorganisation ein Weg des Aufstiegs vorgebahnt scheint, wird die Ausbildung geschlechtsspezifischer Identität

Politische Anpassung

Abgrenzung und Anpassung

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VI. Analyse beispielhafter Bildungsromane Suche nach einem weiblichen Rollenbild

für sie ein Problem: „Alles, was mit ihrem Geschlecht zu tun hatte, war über jedes erträgliche Maß hinaus kompliziert.“ (327) Da in der Familie über Sexualität nicht gesprochen wird, reimt sich Nelly ihre eigenen Vorstellungen zurecht. Als das neue Haus gebaut wird, erfährt sie zwar: „ein Mädchen soll nicht zwischen zwei Kasernen aufwachsen. Soldaten sind sinnlich“ (167), aber was das zu bedeuten hat, wird nicht erklärt. Auch das nationalsozialistische Weiblichkeitsideal bleibt ihr fremd, und als sie Berichte über den Lebensborn liest, ist sie davon abgestoßen. In dieser Situation wird die „einzige intellektuelle Frau, die Nelly in ihrer Jugend gekannt hat“ (322), die unverheiratete Lehrerin Dr. Julia Strauch, zu einem Vorbild, weil diese trotz Parteitreue die propagierte weibliche Aufgabe nicht erfüllt, denn sie „hatte es nicht für nötig befunden, zu heiraten und dem deutschen Volke Kinder zu schenken.“ (322) Dennoch kann Nelly in ihrer geschlechtsspezifischen Individuation keine positiv besetzen Erfahrungen machen. Sie bleibt „eingeklemmt zwischen der Mahnung der Mutter, sich nicht ,wegzuwerfen‘, und der Weisung des ,Schwarzen Korps‘ zur unbedingten Hingabe für den Führer.“ (327) So lautet denn auch das Resümee, das die Erzählerin über die Entwicklung der Heranwachsenden zieht: „Nelly also. Ein Fall von Not-Reife, mit sich selbst sehr unbekannt. Erzogen und gewohnt, Notbremsen zu ziehen: Strenge, Konsequenz, Verantwortungsbewußtsein, Fleiß.“ (508) Mit diesen Tugenden kann sich Nelly aber gerade nicht aus dem anerzogenen Denken befreien. Bildung und kultureller Wandel

Infragestellung bisheriger Lebensweise

Fortführung des unabgeschlossenen Bildungswegs

Der Zusammenbruch des Deutschen Reiches und die Flucht der Familie markieren nicht nur den Verlust alles materiell Erarbeiteten, sondern auch die Infragestellung der gesamten bisherigen Denk- und Lebensweise. Nach Kriegsende liegt Nelly krank auf einem Feldbett in Mecklenburg und „gerät in die Hände der Dichter“ (578). Erst durch die Literatur wird ihr die eigene Entwicklung plötzlich bewusst, spürt sie eine Diskrepanz zwischen ihrem bisherigen Selbstbild und dem, was sie gegenwärtig erlebt und wie sie sich definiert. „Nelly folgt dem plötzlich aufgekommenen Bedürfnis, über die Gedanken Buch zu führen, die, abgelöst von dem, was sie für ihre Person hält, durch ihren Kopf laufen.“ (579) Sie erkennt, dass Anlagen zu Mut und Anteilnahme durch die Erziehung verschüttet wurden, und versucht, sich diesen bisher nicht gelebten Möglichkeiten schreibend anzunähern. Mit dieser Darstellung von Nellys Entwicklung promoviert die Erzählerin das Schreiben zum zentralen Bildungsmedium, weil erst dadurch versäumte Bildungsmöglichkeiten reflektiert und gleichsam ein ,zweiter Bildungsweg‘ begonnen werden kann. Der Schreibimpuls aber geht hier von einer Bildung durch Literatur und damit der Fähigkeit aus, sich mit imaginären Lebensentwürfen auseinanderzusetzen. Unterstützt wird Nelly in ihrem Bildungswunsch durch die Mutter, die darauf besteht, „daß die Schule abgeschlossen wird. Zeugnispapiere hat sie ja gerettet. Gerettet hat sie auch ihr Verlangen nach einer höheren Bildung für ihre Kinder.“ (563 f.) Für Nelly wird die Mutter zu einer entscheidenden und zugleich ambivalent erlebten Förderin ihres Bildungsganges. Denn einerseits steht die Mutter, wie sie für die Zeit der Kindheit erinnert wird, für eine

6. Christa Wolf: Kindheitsmuster

kaufmännisch orientierte Lebensform, welche die Tochter zu überwinden sucht. Andererseits artikuliert Charlotte Jordan für die erwachsene Erzählerin aber auch Bildungsvorstellungen, die sie mit ihrem erinnernden Schreiben zu erfüllen sucht. Die Mutter hatte nämlich „gegen Ende ihre Lebens, von der Sehnsucht nach Dauer gepackt“ (80), Erinnerungen an ihr früheres Leben notiert, aber erst die Erzählerin wird fähig, dieses Vorhaben in einem langen Erinnerungsbericht über die eigene Kindheit und Jugend literarisch umzusetzen. Damit aber wird zugleich eine grundlegende Veränderung im Verhältnis der Generationen thematisiert. Charlotte Jordan vermochte gegenüber ihrer Tochter Nelly nicht über ihre schmerzlichen Kindheitserfahrungen zu sprechen: „Es gehört sich nicht, spürt sie, daß sie die Scham des Kindes nachempfindet“ (131). Im Gegensatz dazu versucht die Ich-Erzählerin, diese Schamgrenze gegenüber ihrer eigenen Tochter zu überwinden. Die Protagonistin schreibt ihre Kindheits- und Jugendgeschichte ausdrücklich für ihre Tochter Lenka, um ihr damit die Zeit ihres Heranwachsens unter den Bedingungen des Nationalsozialismus zu vermitteln. Im Gegensatz zu den vorigen Bildungsromanen wird der bisherige Lebensgang somit nicht allein im Hinblick auf zukünftige eigene Entwicklungen erzählt. Vielmehr wird die Verpflichtung zur Aufklärung der nachfolgenden Generation zum Impuls des Erinnerns. Wolf situiert ihre Protagonistin deutlich vor dem Hintergrund der in den 1960er Jahren nicht zuletzt durch die Studentenunruhen immer lauter gewordenen Forderungen der jungen Generation, dass die Eltern ihr Schweigen über ihre Erlebnisse während des Zweiten Weltkrieges brechen und sich ihrer Mitverantwortung am Nationalsozialismus stellen sollten. Kindheitsmuster wurde nicht zuletzt deshalb bald nach Erscheinen als eines der wichtigsten Werke der deutschsprachigen Literatur zum Thema Vergangenheitsbewältigung rezipiert, weil Wolf ihrer Erzählerin genau diese Aufgabe des Erinnerns überantwortet. Neu ist in ihrem Roman die Vorstellung, dass über Erinnerungsarbeit und das Eingeständnis von Schuld ein verhinderter Bildungsprozess in Gang gesetzt werden kann. Unter dem Aspekt einer gattungstypologischen Zuordnung entwirft der Roman durch seine spezifische Erzählstruktur in dreifacher Hinsicht ein Bildungsmodell. Auf der individuellen Ebene wird die Bildung der Ich-Erzählerin, die über die Erinnerung an die Kindheit im Nationalsozialismus abgespaltene, verdrängte Anteile des eigenen Selbst zu integrieren versucht, zum Thema. Auf der anderen Seite geht es mit der Erkenntnis der Erzählerin, dass die Erziehung unter den Bedingungen des Nationalsozialismus nur die Ausbildung eines reduzierten Ichs möglich werden ließ, auch um die notwendige Erinnerung und damit den nachzuholenden Bildungsprozess einer ganzen Generation. Und schließlich wird ein Bildungsangebot für die nachfolgende Generation gemacht. Damit hat Wolf einen Bildungsprozess literarisch entwickelt, der sich über ein chronologisch-biographisches Erzählmodell mitnichten darstellen lässt, sondern der grundsätzlichen Infragestellung von schreibender Erinnerung bedarf. Denn problematisiert wird, inwieweit eine Erzählerin, die den Einfluss der Erziehung im Nationalsozialismus erkennt, ihrer Erinnerung überhaupt trauen kann. So stellt sich die Erzählerin die Frage „Wann hört der Mensch auf, sich ein Bild zu machen?“ (488) Bedeutet Bildung nämlich auch, wie dies die Geschichte des Bildungsromans

Aufklärung der nachfolgenden Generation

Implizites Bildungsmodell

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VI. Analyse beispielhafter Bildungsromane

Vergangenheitsbewältigung

zeigt, sich an einem Größenselbst oder äußeren Ideal zu orientieren, so ist dieser Bezug durch die Erfahrungen des Nationalsozialismus höchst suspekt, wenn nicht obsolet geworden. Wolf beschreibt in ihrem Roman mithin einen Bildungsgang, der erst durch die Aufgabe einsozialisierter und als falsch erkannter Selbstbilder ermöglicht und als Aufarbeitung von Schuld geleistet werden kann. Sich bilden heißt in diesem Zusammenhang in aller Deutlichkeit, sich in kritischer Weise mit Erziehungsvorgaben und dem eigenen Gewordensein auseinander zu setzen. Im Gegensatz zu früheren Bildungsromanen kann sich hier der produktive Neuentwurf aber nicht mehr allein von den Werten und Zielen der Elterngeneration absetzen, sondern die Protagonistin in Wolfs Roman ist gezwungen, sich das eigene frühere Selbst vertraut zu machen, um es überhaupt überwinden zu können. Die Kindheitserlebnisse Nellys werden kritisch daraufhin geprüft, ob das Kind bereits ein Bewusstsein von Schuld hätte haben können. Dafür wird für das Gespräch mit der eigenen Vergangenheit der Kunstgriff der Selbstanrede über ein Alter Ego eingesetzt, um im Schreiben einzulösen, was als Mangel innerhalb der Gesellschaft beklagt wird: „Heftig vermißt wird die Gattung: moralisches Gedächtnis.“ (61) Mit solch emphatisch appelativen Äußerungen sucht die Erzählerin ein historisch notwendiges Aufklärungsprojekt anzumahnen. Ihr eigenes Verfahren gleicht einem selbstanalytischen Prozess, bei dem allererst durch assoziatives und episodisches Erzählen Brüche und Leerstellen sichtbar werden. Die Bildung, die hier gefordert wird, ist die Aufarbeitung eines unabgeschlossenen Bewusstseinsprozesses, der sich mit der Frage auseinandersetzt, „wie man zugleich anwesend und nicht dabeigewesen sein kann“ (65). Zwar werden in Wolfs Roman auch Bildungsstufen gestaltet, doch diese erscheinen als „Stufen, die man in den unbezwungenen Berg schlägt und an denen die Erinnerung sich zurücktasten kann.“ (127) Somit geht es in diesem Bildungsroman also nicht um ein kontinuierliches Erzählen von der Kindheit bis zum Erwachsenenalter, sondern um die Rekonstruktion einer Entwicklung, die durch ideologische Fixierung gleichsam arretiert wurde und im Sinne eines Bildungsprozesses nur weitergehen kann, wenn die Bearbeitung vergangener Erfahrungen und Traumatisierungen beginnt.

7. Emine Sevgi Özdamar: Die Brücke vom Goldenen Horn (1998) Aufbau und Erzählweise

Junge Türkin in Westberlin

Der Roman macht den Bildungsweg einer jungen Türkin zum Thema, die zu einem Arbeitsaufenthalt nach Berlin kommt und sich später in Istanbul zur Schauspielerin ausbilden lässt, um dann auf der Suche nach künstlerischen Entfaltungsmöglichkeiten erneut gen Deutschland zu reisen. Der Roman setzt mit der Ankunft einer namentlich nicht benannten IchErzählerin im Berliner Westen des Jahres 1966 ein und erzählt über ihre Orientierungsversuche in der fremden Stadt. Zunächst ist der Lebensraum der Protagonistin auf die Beschäftigungsstelle in einer Radiolampenfabrik und das Frauenwohnheim für türkische Arbeitsmigrantinnen beschränkt.

7. Emine Sevgi Özdamar: Die Brücke vom Goldenen Horn

Doch die Protagonistin beginnt, sich über Zeitungen, Film, Theater und Literatur selbst zu bilden, und wirkt bei einem türkischen Arbeiterverband mit. Nach den in der Türkei verbrachten Weihnachtsferien und einem vom Vater spendierten Deutschkurs am Bodensee tritt die Hauptfigur eine neue Stelle bei Siemens an und wird nun Dolmetscherin im dortigen Arbeiterwohnheim. Sie engagiert sich politisch in einem Studentenverband und weitet ihren Erfahrungsradius auf die beiden durch die Mauer getrennten Teile der Stadt Berlin aus. Auf einer kurzen Reise nach Paris sammelt sie mit dem spanischen Studenten Jordi sexuelle Erfahrungen und erlebt dies als große Befreiung. Wieder zurück in Berlin geht sie während der beginnenden Studentenunruhen mit verschiedenen Männern Beziehungen ein. Als sie auf Wunsch des Vaters zurück in die Türkei fährt, ist sie schwanger, ohne zu wissen von wem. Obwohl ihr die Familie und das Land der Kindheit teilweise fremd geworden sind, versucht die Erzählerin, sich in Istanbul ein neues Leben aufzubauen. Sie tritt zunächst in Kontakt mit einer surrealistischen Künstlergruppe, von der sie auch Geld für eine Abtreibung erhält. Danach beginnt sie ein Schauspielstudium, nimmt eine intensive Liebesbeziehung zu einem Intellektuellen namens Kerim auf, wird Mitglied in der Arbeiterpartei und beginnt eine Reise zur iranischen Grenze, um eine Reportage über die dortige Hungersnot zu schreiben. Aber noch vor Erreichen des Ziels wird das Vorhaben von der Geheimpolizei vereitelt. Als die Protagonistin, die mit ihrem Freund mittlerweile in einer Kommune lebt, ihre ersten Rollen auf dem Theater spielt, kommt es zum Militärputsch. Sie wird wegen ihrer politischen Meinungsäußerungen verhört und für drei Wochen inhaftiert. Nach ihrer Entlassung und der Trennung von Kerim entschließt sich die Protagonistin, nach Deutschland zurückzukehren, um dort ihre Laufbahn als Schauspielerin fortzusetzen. Deutlich werden im Roman zwei kulturell unterschiedliche Lebenswelten kontrastiert, wie dies auch durch die Zweiteilung des Romans angezeigt ist. Der in vier Kapitel unterteilte erste Teil mit der Überschrift Der beleidigte Bahnhof erzählt, von nur wenigen Rückblenden unterbrochen, über die Erlebnisse und Erfahrungen der Protagonistin in Berlin und Paris. Der in fünf Kapitel untergliederte zweite Teil mit der Überschrift Die Brücke vom Goldenen Horn handelt von der Theaterzeit in Istanbul und der Reise in die Ost-Türkei. Die Ich-Erzählerin enthält sich weitgehend der Kommentierung oder Beurteilung ihrer Lebensgeschichte und verzichtet auf die Explikation der eigenen Seelenlage. Die erzählte Geschichte ist vielmehr als Reihung von szenisch beschreibenden Episoden angelegt, die nicht selten mit ironischem Gestus über den Entwicklungs- und Bewusstseinsstand der Protagonistin Auskunft geben. Diese Darlegungen in anekdotischer Manier werden von sprunghaften Assoziationen der Erzählerin und Dialogpassagen mit wörtlicher Figurenrede flankiert und durch zahlreiche Zitate aus literarischen Werken ergänzt. Besonderes Kennzeichen des Erzählstils ist der Übergang von lakonischen Beschreibungen in szenisches Erzählen, das märchenhaften oder surreal-phantastischen Charakter annimmt, wenn tief greifende Emotionen wie Trauer und Lust zum Thema werden. Zu den sprachlichen Eigentümlichkeiten des Romans gehören Stakkatosätze, Ellipsen, Aneinanderreihungen und Wiederholungen wie auch türkische

Rückkehr in die Türkei

Lakonischer Stil und szenische Beschreibung

Spracherwerb als kreativer Prozess

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VI. Analyse beispielhafter Bildungsromane

Ausdrücke, Redewendungen, Witze und Sprichwörter, die teilweise direkt übersetzt und damit in verfremdeter Form ins Deutsche übertragen sind. Die semantisch ,inkorrekten‘ Übersetzungen lassen nicht nur das Erlernen der fremden Sprache als widerständigen und zugleich kreativen Prozess unmittelbar anschaulich werden, sondern erweitern auch das Bedeutungsfeld der Worte. Gleich Stolpersteinen im Gang des Erzählens nötigen die schöpferischen Neubildungen zum Verweilen bei der Bildlichkeit der Worte. Durch ,falsche‘ Schreibweisen wie beim immer wieder gebrauchten „Frauenwonaym“ wird die Ausdrucksweise der Arbeitsmigrantinnen, von denen die Protagonistin ihre ersten Sprechversuche ablauscht, lautmalerisch verdeutlicht. Durchgängiges Thema im dargestellten Bildungsgang ist somit immer auch ein kreativ suchender wie ironisch gebrochener Wortschöpfungsprozess hin zu einer neuen Ausdrucksweise in deutscher Sprache. Entstehungskontext und Rezeption Folgeroman des KarawansereiRomans

Als der Roman Die Brücke vom Goldenen Horn im Jahre 1998 erschien, zählte Özdamar bereits zu den erfolgreichen deutschsprachigen Gegenwartsautorinnen. Durch ihren Erzählband Mutterzunge (1990) erstmals einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden, gelang ihr mit dem Roman Das Leben ist eine Karawanserei, hat zwei Türen, aus einer kam ich rein, aus der anderen ging ich raus (1992), für den sie bereits vor Erscheinen den Ingeborg-Bachmann-Preis erhalten hatte, der endgültige Durchbruch. Doch der Roman war in dieser Form eigentlich nicht geplant gewesen. Wie Özdamar im Gespräch mitteilte, entstanden bereits im Jahre 1986 erste Notizen für einen umfänglichen Roman, in dem die Lebensgeschichte einer Protagonistin von der Kindheit in der Türkei über einen Arbeitsaufenthalt in Berlin und eine darauf folgende Schauspielausbildung in Istanbul bis zur erneuten Abreise nach Deutschland erzählt werden sollte. Doch als die Kindheits- und Jugendgeschichte der mittlerweile 18-jährigen Protagonistin niedergeschrieben war, musste Özdamar feststellen, dass die kindlich-naive Erzählperspektive nicht mehr adäquat war, um den erweiterten Bewusstseinsstand der Ich-Erzählerin zum Ausdruck zu bringen. Sie ließ die Arbeit am Roman ruhen, als Ende 1989 ihre Mutter und nur wenige Monate später ihr Vater starb. Erst nachdem sie eingeladen worden war, aus dem unvollendeten Typoskript beim Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt zu lesen, entschloss sie sich, den bereits geschriebenen ersten Teil im Jahre 1992 als eigenständigen Roman zu publizieren. Im Anschluss an zahlreiche Lesereisen mit dem gefeierten Roman und Stipendienaufenthalte arbeitete Özdamar ab 1995 die Notizen zum zweiten Teil weiter aus. Sie recherchierte in Istanbul in Zeitungsarchiven nach den für die erzählte Zeit relevanten politischen Tagesmeldungen und schrieb in Düsseldorf und Spanien am Roman, der dann 1998 unter dem Titel Die Brücke vom Goldenen Horn erschien. Dieser Teil der Lebensgeschichte der Ich-Erzählerin ist als Folgeroman des Karawanserei-Romans zu verstehen, in dem die Geschichte einer Türkin, beginnend mit den letzten Tagen vor ihrer Geburt in Anatolien im Jahre 1946 bis zu ihrem Aufbruch nach Deutschland im Alter von 18 Jahren, erzählt wird. Die Entscheidung des adoleszenten Mädchens, nach Deutschland abzureisen, markiert den entscheidenden Übergang zu neuen Bildungs-

7. Emine Sevgi Özdamar: Die Brücke vom Goldenen Horn

erfahrungen, die im nachfolgenden Roman Die Brücke vom Goldenen Horn zum Thema werden. Da die Ich-Erzählerin auch hier namenlos bleibt, von ihrem Liebhaber Jordi aber mit „Sevgilim“ (meine Liebste) angesprochen wird, kann man darin Sevgi, den zweiten Vornamen Özdamars, als autobiographische Reminiszenz vermuten. Denn auch bei diesem Roman sind die Bezüge zu Lebensdaten der Autorin frappant. Die im Jahre 1946 in der ostanatolischen Stadt Malatya geborene Emine Sevgi Özdamar ging mit 19 Jahren als Gastarbeiterin nach Westberlin und kehrte zwei Jahre später nach Istanbul zurück, wo sie eine Schauspielschule besuchte. Weil das Theater, an dem sie engagiert war, von der Regierung geschlossen wurde, verließ sie nach dem Militärputsch von 1971 erneut die Türkei. Die Zeit ab ihrer Rückkehr in das Berlin der 70er Jahre, in der sie als Assistentin, Schauspielerin und Regisseurin am Theater arbeitete, wurde im Roman Seltsame Sterne starren zur Erde (2003) als dritte Etappe des Bildungsgangs der Ich-Erzählerin verarbeitet. Dass die drei Romane als Einheit verstanden werden können, stellt zwar deren Publikation als Trilogie mit dem Titel Sonne auf halbem Weg (2006) unter Beweis, doch bleibt davon unangetastet, dass die einzelnen Teile eigenständige Romane sind. Die Brücke vom Goldenen Horn wurde als pikaresker oder autobiographischer Roman bezeichnet und die Protagonistin als „eine Art Alter ego“ (Schilling 1998) der Autorin verstanden. Doch auch wenn einzelne Lebensstationen der Autorin sich mit denen ihrer Protagonistin decken, ist durch den Wechsel im Erzählduktus und die Beschreibung surrealer Szenen eher von einer artifiziellen Inszenierung biographischen und zeitgeschichtlichen Materials zu sprechen. In einem Interview hatte Özdamar auf die Frage, ob ihr Roman eine Autobiographie sei, mit einem klaren „Nein“ geantwortet: „wenn man zu schreiben beginnt, bildet man die Vergangenheit nicht ab, sondern geht auf eine andere Reise.“ (Schmidt 1998) Nicht zuletzt wegen des vielfach variierten Topos der Reise zwischen den Kulturen wird Die Brücke vom Goldenen Horn vor allem als interkultureller Roman (Karakus 2004; Theilen 2005) unter dem Aspekt seiner sprachlichen Verfasstheit (Viehöver 2002) untersucht. Unmittelbar nach Erscheinen wurde er durch die Literaturkritik bereits mit Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser verglichen: „Unverhüllter als der Psychologe Moritz, der seine Lebensgeschichte in die dritte Person ,übersetzte‘, spricht die erotische Freibeuterin Sevgi Özdamar in der ersten Person“ (Schütte 1998). Es wurde aber auch die Frage gestellt, ob es sich hier nicht um einen „Bildungsroman ohne verwirklichte Bildungsidee“ (Sölçün 2002, 94) handele. Wenn wir den Roman in Hinblick auf die Auseinandersetzung mit Herkunft und Gewordensein untersuchen, können wir feststellen, dass hier eine neuartige Bildungsvorstellung entfaltet wird.

Biographische Parallelen

Auseinandersetzung mit Erziehung und geschlechtsspezifische Individuation Gleich zu Beginn des Romans werden als Grund für das Verlassen von Familie und Herkunftskultur zwei adoleszente Konflikte benannt. Zum einen verweigert die Protagonistin eine elterlicherseits erwartete Leistung: „Ich schaffte die Schule nicht mehr.“ (12) Und zum anderen setzt sich das junge Mädchen mit ihren Lebensvorstellungen immer deutlicher vom Verhaltens-

Konflikt mit der Mutter

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VI. Analyse beispielhafter Bildungsromane

Weibliche Tradition

Geschlechterverhältnisse

muster der Mutter ab: „Ich lachte zu Hause nicht mehr, weil der Krach zwischen mir und meiner Mutter nie aufhörte.“ (13) Das häusliche Dilemma der Erzählerin verdankt sich ihrer Begeisterung für die Bühne, denn weil sie „sechs Jahre lang Jugend-Theater gespielt hatte“ (12), blieb sie in der Schule sitzen: „Ich bekam Applaus am Theater, aber nicht zu Hause von meiner Mutter.“ (12) Um dem Konflikt zwischen mütterlichem Anspruch und eigenen Darstellungswünschen zu entgehen, will die 18-Jährige während eines einjährigen Arbeitsaufenthaltes in Deutschland Geld verdienen, um in der Türkei eine Schauspielschule besuchen zu können. Der temporäre Aufenthalt in der Fremde dient also dezidiert der Lösung von der Familie, der Möglichkeit selbstständiger Lebensführung und der Umsetzung des Plans, Schauspielerin zu werden, denn die Protagonistin ist sich sicher: „Theater ist mein Leben“ (12). Wie der Protagonist in Goethes Bildungsroman ist auch die Hauptfigur in Özdamars Die Brücke vom Goldenen Horn von ihrer ,theatralischen Sendung‘ überzeugt, doch verfügt sie nicht wie jener über die finanzielle Basis, um sich dem Theater zuwenden zu können. Zudem wird sie in ihrer geschlechtsspezifischen Individuation vor gänzlich andere Probleme gestellt. Die Lösung von der Mutter erweist sich für die Protagonistin als schmerzlicher Prozess. Bereits auf der Zugfahrt nach Deutschland, mehr aber noch in der Anfangsphase in Berlin, wird die Hauptfigur von Heimweh und Sehnsucht nach ihr geschüttelt: „Ich merkte, daß ich Frauen suchte, die meiner Mutter ähnlich waren.“ (15) Durch die türkischen Frauen im Wohnheim wird erstmals der Begriff des ,Diamanten‘ eingeführt, der sich leitmotivisch durch den ersten Teil des Romans zieht. Gleich einem anonymen Chor, der das Gesetz einfordert, warnen die Frauen: „Ihr werdet noch eure Jungfernhaut verlieren, das ist euer Diamant, ihr werdet eure Diamanten verlieren.“ (54) Just nachdem die Protagonistin mit der Forderung konfrontiert wird, ihre Virginität zu bewahren, erscheint ihr die Mutter gleich einer Hüterin der alten weiblichen Tradition nachts im Traum. Die Erzählerin wird zu einer intensiven Beobachterin der sie umgebenden Geschlechterverhältnisse und bemerkt, dass türkische Frauen danach beurteilt werden, ob sie sich mit Männern treffen oder nicht. Sie hört, wie sich Frauen wechselseitig als „Huren“ bezeichnen, und erlebt, wie Arbeiterinnen, die von der Nachtschicht in der Fabrik nach Hause kommen, von Türken als „Nutten“ (42) beschimpft werden. Sie registriert die Annäherungsversuche zwischen Männern und Frauen, beobachtet eine lesbische Szene, wird unmittelbar Zeugin der Defloration einer Arbeitskollegin und bekommt von einem anderen Mädchen einen abgetriebenen Embryo gezeigt. Sie bemerkt die sichtbaren Zeichen nach den „Ehepaaretagen“ im Siemenswohnheim, denn wenn die Paare „in der Nacht Liebe gemacht hatten und sich wegen des Korans am nächsten Morgen von Kopf bis Fuß waschen mußten, sah jeder, wer mit nassen Haaren zur Arbeit ging“ (114). Vor allem fällt ihr auf, dass sich die türkischen Ehemänner „mit der Ehre der alleinstehenden Frauen“ (115) beschäftigen. Gegenüber einem heuchlerisch restriktiv an traditionellen Wertvorstellungen und Geschlechterrollen orientierten Umgang mit Sexualität gibt der Freund des Heimleiters namens Ataman eine neue Losung aus: „gebt eure Diamanten her!“ (58) Aber erst als er der Erzählerin auf den Arm schreibt: „du mußt mit Männern schlafen,

7. Emine Sevgi Özdamar: Die Brücke vom Goldenen Horn

dich von deinem Diamanten befreien, wenn du eine gute Schauspielerin sein willst. Nur die Kunst ist wichtig, nicht der Diamant“ (103), will sie dies auch in die Tat umsetzen. Nach den Weihnachtsferien kehrt sie mit dem Vorsatz aus der Türkei nach Deutschland zurück, ihre künstlerische Laufbahn vorzubereiten, indem sie die fremde Sprache lernt und sich von der weiblichen Tradition ihrer Herkunftskultur lossagt: „Ich wollte Deutsch lernen und mich dann in Deutschland von meinem Diamanten befreien, um eine gute Schauspielerin zu werden.“ (108) Aber das Vorhaben sexueller Befreiung erweist sich als schwieriges Unterfangen, wie dies in der ironischen Beschreibung skurriler Begegnungen mit Männern unterschiedlicher Herkunft verdeutlicht wird. Ein Grieche namens Yorgi weist sie mit der Begründung „Du bist noch ein Kind“ (121) ab. In Paris wird sie von einem türkischen Studenten unverrichteter Dinge im Bett zurückgelassen mit den Worten: „Du weißt gar nicht, was du verpaßt hast, ich hätte dich zur Frau gemacht, in der Hauptstadt Ankara war ich der Geliebte einer berühmten Opernsängerin.“ (128) Erst mit dem spanischen Studenten Jordi erlebt die Protagonistin ihre Defloration. Dieses zuvor programmatisch zum Ziel der Emanzipation erhobene Ereignis ist als surreale Szene gestaltet, bei der sich die Erzählerin in ein erlebendes und ein beobachtendes Ich spaltet und mit dem Geliebten in die Luft fliegt und an die Tradition erinnert wird, von der sie sich lösen möchte: „Ich flog in die Richtung meiner Mutter, aber der Junge hielt mich fest“ (137). Dass diese buchstäblich traumhafte sexuelle Erfahrung zur Zeit der 60er Jahre und damit vor dem Hintergrund einer theorieüberfrachteten Diskussion zur sexuellen Befreiung stattfindet, wird während der Rückreise nach Berlin deutlich. Bei der Bahnhofsmission in Hannover trifft die Protagonistin den Studenten Olaf, der als Pfarrerssohn, Mann einer Frau namens Heidi und Mitglied des SDS im kruden Politjargon über den Geschlechtsakt doziert. Über diese Karikatur eines politisierten Studenten wird die Distanz der Erzählerin zu ihrer früheren Vorstellung von sexueller Befreiung deutlich. Durch ihr promiskuitives Verhalten, das im politischen Diskurs linker Gruppierungen im Deutschland der 60er Jahre als emanzipatorischer Akt propagiert wurde, löst sie sich jedoch radikal von der mütterlichen Tradition, wie dies bei ihrer Rückkehr nach Istanbul deutlich formuliert wird: „Ich hatte meine Mutter nicht wiedererkannt.“ (175)

Sexuelle Befreiung

Bildung und kultureller Wandel Für den Bildungsgang der Protagonistin ist signifikant, dass er durch männliche Lehrfiguren unterstützt wird. Bereits zu Beginn ihres Aufenthaltes in Deutschland erzählt ihr Vasif, der neue Heimleiter im türkischen Frauenwohnheim, über Brechts Stücke und das Berliner Ensemble und macht sie auf Bücher von Dostojewski, Gorki, London, Tolstoi, Joyce, Sartre und Rosa Luxemburg aufmerksam. Der kommunistische Heimleiter bringt sie zu einem türkischen Arbeiterverein sowie später zu einem Studentenverein und eröffnet ihr somit ein politisches Diskussionsforum und die Möglichkeit, mit türkischen Männern in Kontakt zu kommen. Durch Vasif, der mit seiner Frau bereits in der Türkei Theater gespielt hatte, werden die Bildungselemente zusammengeführt, die für die Protagonistin zentralen Stellenwert

Männliche Lehrfiguren

123

124

VI. Analyse beispielhafter Bildungsromane

Verbindung von Lebensgeschichte und politischer Entwicklung

Das Theater als Bildungsmedium

Grenzüberschreitungen

gewinnen: die Entwicklung politischen Bewusstseins in einer Gruppe Gleichgesinnter, das Ausleben sexueller Lust, die Selbstbildung durch die Lektüre der europäischen Literatur und schließlich die Aneignung schauspielerischer Fähigkeiten. Alle Elemente werden als eng miteinander verwoben und sich wechselseitig bedingend im Kontext der beginnenden Studentenunruhen dargestellt. Die Brücke vom Goldenen Horn ist somit ein Bildungsroman, in dem die persönliche Lebensgeschichte der Erzählerin mit den politischen Entwicklungen der Zeit unmittelbar verknüpft wird. Individueller Emanzipationsprozess und politische Bewusstwerdung der Ich-Erzählerin bedingen einander und werden vor dem Hintergrund der 68er-Bewegung und dem Militärputsch in der Türkei erzählt. So verlässt die Protagonistin Deutschland, kurz nachdem der Student Benno Ohnesorg bei einer Anti-Schah-Demonstration von der Polizei erschossen wird, gen Türkei und tritt ihre Rückreise nach Deutschland einen Tag nach dem Tod Francos am 21. November 1975 an. Dem Jargon politischer Theoriedebatten, der vielfach in der erzählten Entwicklung der Protagonistin zitiert wird, ist eine poetische Sprache entgegengesetzt, die auch als kulturelle Transformation zu verstehen ist. In Berlin gibt die Protagonistin nämlich die alte Familientradition auf, abends für die Toten zu beten: „So verlor ich langsam alle meine Toten in Berlin“ (21). Aber sie transponiert diese Form des imaginären Gesprächs und holt sich nun „Hilfe bei den Toten“ (240 f.) durch die Auseinandersetzung mit Shakespeare, Baudelaire, Brecht, Gorki, Kafka, Lorca und Tschechow und schließt damit an eine europäische Kulturtradition an. Am Theater in Istanbul gelingt es der Protagonistin, einen verstehenden Zugang zu ihrer eigenen Erziehung und Entwicklung zu finden. Sie überträgt nun den Emanzipationsanspruch, wie er in Berlin mit der sexuellen Befreiung verbunden wurde, auf das politische Theater. Die Erzählerin spielt mit Begeisterung in einem „Stück über ein Mädchen, das sich im Kapitalismus nur retten kann, indem sie eine Hure und Puffmutter wird.“ (298) Zugleich aber wird es ihr durch das Rollenspiel möglich, sich wieder ihrer Mutter anzunähern. Als sie auf der Schauspielschule eine selbst gewählte Szene darstellt, in der eine Mutter mit ihrem Kind spazieren geht, schlüpft sie abwechselnd in beide Rollen. Der alte Schauspiellehrer macht die anderen Schüler darauf aufmerksam, „wie zärtlich sie zu ihrem Kind war“ (223), und die Erzählerin erkennt dadurch: „In der Rolle der Mutter spielte ich meine Mutter nach und merkte dann, wie zärtlich meine Mutter zu mir war. So entdeckte ich am Theater meine Mutter.“ (223) Das Theater wird für die Protagonistin zum zentralen Bildungsmedium, denn nun wird ihr die Darstellung einer Emotionalität abverlangt, durch die es ihr gelingt, die Beziehung zur Mutter zu reinszenieren. Erst jetzt wird sie fähig, sich den Traditionen und Werten ihrer Familie und Herkunftskultur, von denen sie sich entfernt hatte, wieder anzunähern. Das Theater in Istanbul, an dem Stücke von Brecht gespielt werden, eröffnet für die Erzählerin die Möglichkeit, die unterschiedlichen kulturellen Erfahrungen in Deutschland und der Türkei im Spiel zusammenzuführen und gerade darüber zu neuer Selbsterkenntnis zu gelangen. In ihrem äußeren Handlungsrahmen nimmt die Entwicklung der Protagonistin mit der Ankunft in Berlin, ihrer Rückkehr in die Türkei und dem erneuten Aufbruch in die geteilte Stadt eine kreisförmige Struktur an. Unter-

7. Emine Sevgi Özdamar: Die Brücke vom Goldenen Horn

nimmt die Protagonistin die erste Reise, um Arbeit zu finden und sich von traditionellen Zwängen zu befreien, so tritt sie die zweite Reise aus politischen Gründen und um sich als Künstlerin weiterzubilden an. Der Bildungsgang aber wird nicht durch Ankunft oder Rückkehr strukturiert, sondern durch die Idee eines ständigen Unterwegsseins. Nicht von ungefähr beginnt und endet der Roman in einem Zug. Die Protagonistin erlebt ihre Bildung in Deutschland durch das Erlernen der Sprache, die Auseinandersetzung mit der europäischen Literatur und Kultur und das Ablegen tradierter Verhaltensmuster, wie dies insbesondere durch die ausführliche Darstellung ihrer erotischen Lehrzeit deutlich wird. In einer Mischung aus romantischer Dichtungsvorstellung und aufklärerischem Anspruch lautet der eigene Lebensentwurf: „Ich will poetisch leben. Ich will das passive Leben meiner Intelligenz aufwecken.“ (200) Entscheidend für die hier entwickelte Bildungsvorstellung ist der fortgesetzte Entwurf wie auch die Überschreitung des eigenen Selbst durch die Fähigkeit, immer neue Rollen anzunehmen, die ihr sowohl auf dem Theater angeboten als auch durch neue kulturelle Erfahrungsbereiche möglich werden. Das Theater ist in Özdamars Roman nicht nur auf der Inhaltsebene prägend für den Bildungsgang der Hauptfigur, sondern bestimmt auch den Erzählstil. Mit deutlicher Tendenz zum szenischen Erzählen wird die Protagonistin immer wieder in tragikomischen Lebensepisoden dargestellt, in denen sie, der Sprache und ihrer Bedeutung nicht mächtig, den Jargon ihrer jeweiligen Umgebung imitiert und in einer Art kultureller Mimikry in soziale Rollen hineinschlüpft, bei der sie sich als Agierende wie auch Zuschauerin erlebt. Die Erzählerin wechselt in immer neue Rollen und bekommt in jeder Begegnung eine neue Identität zugesprochen, wie dies durch die wechselnde Namensgebung deutlich wird. Der Heimleiter nennt sie wahlweise „Zucker“, wie auch die anderen Frauen des Wohnheims, oder speziell „Titania“, da sie in Shakespeares Ein Sommernachtstraum die Elfenkönigin gespielt hatte. Die Wohnheimleiterin bei Siemens gibt ihr den Namen „Kassandra“ (123). Yorgi bezeichnet sie als „kleine Turcala“, Jordi nennt sie „Sevgilim“ und Bodo „türkische Sultanin“ (151). Das Ich der Erzählerin erscheint so als ein Kaleidoskop unterschiedlicher Rollen, mit denen neue Erfahrungsbereiche spielerisch erprobt werden. Auch das Erlernen der fremden Sprache gleicht dem Erarbeiten eines Rollentextes, der zu einem Sprachspiel umgewandelt wird. Die Neuorientierung erfolgt zunächst durch Auswendiglernen deutscher Schlagzeilen, die naiv angewendet werden, wobei zunehmende Sprachfertigkeit und Sprachreflexion zum untrüglichen Zeichen für den fortschreitenden Bildungsprozess der Erzählerin werden. Durch die sprachliche Verfremdung des ihr Fremden wird immer eine schalkhaft-ironische wie auch analytisch-kritische Distanz zu ihrem eigenen Bildungsgang zum Ausdruck gebracht. Ist in Goethes Bildungsroman das Theater Bildungsmedium im Übergang zu einer neuen sozialen Rolle, so insistiert Özdamar in ihrem Roman auf der Fähigkeit zur Verwandlung und zum kulturspezifischen Rollenwechsel als fortwährender Bildungsaufgabe innerhalb eines kulturell vielfältigen Lebensentwurfs. Nicht zuletzt dadurch erweist sich Die Brücke vom Goldenen Horn als herausragendes Beispiel eines interkulturellen Bildungsromans.

Rollenwechsel

Sprachspiel

125

126

VI. Analyse beispielhafter Bildungsromane

8. Ulla Hahn: Das verborgene Wort (2001) Aufbau und Erzählweise

Sprachsensibles Mädchen

Darstellung der Innenwelt

Erzählt wird der Bildungsgang einer Arbeitertochter vom Vorschulalter bis zur Berufsausbildung als Befreiung aus bildungsfernem Elternhaus und einengender sozialer Umwelt: Der Roman über den Werdegang der Ich-Erzählerin namens Hildegard Palm setzt mit der Erinnerung ein, wie sie als Vorschulkind an der Hand des Großvaters zum Rhein geht. Das kleine Mädchen sucht am Ufer so genannte „Buchsteine“, anhand derer der Großvater ihr und ihrem jüngeren Bruder Geschichten erzählt. Diese phantasievolle Welt des Erzählens ist der Enge des kleinen Dorfes zwischen Düsseldorf und Köln, in dem Hildegard als Tochter eines ungelernten Arbeiters und einer Putzfrau in den 1950er Jahren heranwächst, diametral entgegengesetzt. Zu Hause ist das Kind der jähzornigen Gewalttätigkeit des Vaters, dem Unverständnis der Mutter und der bigotten Autoritätsgläubigkeit der Großmutter ausgesetzt. Doch durch die biblischen Geschichten, die im Kindergarten vorgelesen werden, bildet es seine eigene Vorstellung von einfühlend verstehenden Eltern aus. Mit dem Eintritt in die Schule und dem raschen Erlernen des Lesens erschließt sich das sprachsensible Mädchen durch selbstversunkenes Lesen eine neue Welt und beginnt, sich Schritt für Schritt von der dumpfen häuslichen Atmosphäre zu distanzieren. Nach der Grundschule erhält Hildegard entgegen dem ausdrücklichen Wunsch der Eltern eine Empfehlung für die Realschule. Als sie hier wegen ihres Dialekts gerügt wird, lernt sie in kürzester Zeit Hochdeutsch wie eine Zweitsprache und setzt sich nun ganz bewusst von der kruden Ausdrucksweise der Familie ab. Ihre Begeisterung für Friedrich Schiller, an den sie lange tagebuchartige Briefe richtet, überträgt sie mit Beginn der Pubertät auf reale männliche Objekte. Ihre hehren, literarisch überformten Liebesvorstellungen projiziert sie zunächst auf einen jungen Lehrer, dann einen italienischen Gastarbeiter, später einen Mathematikstudenten und schließlich auf einen Untersekundaner aus begütertem Hause, der wegen seiner literarischen Kenntnisse hoch besetzt wird. Trotz bester Abschlussnoten und der Möglichkeit, nach der Mittleren Reife auf ein Gymnasium zu wechseln, nimmt Hildegard auf Drängen der Eltern eine Lehrstelle in einer Pappenfabrik an. Ein damit einsetzender psychischer Abstieg, der mit beginnender Alkoholabhängigkeit einhergeht, wird erst durch das Eingreifen ehemaliger Lehrer aufgehalten. Mit der Aussicht, dass Hildegard das Abitur nachholen kann, endet der Roman. Das umfängliche Werk weist keine durchnummerierten Kapitel oder Überschriften auf. In der gebundenen Ausgabe ist stattdessen zwischen die einzelnen Erzählabschnitte gleich einem Dingsymbol jeweils das Bild eines Steins gedruckt. Dieses ungewöhnliche Gliederungszeichen betont in anschaulicher Weise die Bedeutung der Geschichten erzählenden „Buchsteine“ als Bausteine des Erzählprozesses. Der Roman ist aus weitgehend chronologisch erzählten Episoden aufgebaut, wobei die Entwicklung der Erzählerin in zeitgeschichtliche Daten und Ereignisse der Adenauer-Ära, Gespräche über Kriegserfahrungen und Schilderungen der alltäglichen Lebensweise im rheinischen Dorf eingebettet wird. Der Bildungsgang der Protagonis-

8. Ulla Hahn: Das verborgene Wort

tin wird durch eine Lektürebiographie flankiert, in der eingehende Leseerfahrungen geschildert und durch Zitate ergänzt werden. Der Abstand zwischen dem Bewusstsein der Ich-Erzählerin und dem des erzählten Ichs der Kindheit und Jugend ist deutlich markiert. Das erzählende Ich distanziert sich durch Kommentierung oder Ironisierung jedoch nur dezent von der unwissend-naiven Haltung des Kindes. Vielmehr akzeptiert die Erzählerin die frühere Sichtweise als notwendig für die Entwicklung, sie fühlt sich in das erzählte Ich ein und gibt der Darstellung seiner Innenwelt breiten Raum. Zur sprachlichen Eigentümlichkeit des Romans gehört die wörtliche Figurenrede in rheinischer Mundart. Wie in Özdamars Roman werden hier – wenn auch in anderer Weise und mit unterschiedlicher Intention – ,Stolpersteine‘ in den Gang des Lesens gelegt, denn je nach Dialektkenntnis können diese Wörter und Redewendungen erst durch den Blick in das „Wörterverzeichnis Dondorfer Platt“ (Hahn 2001, 621) im Anhang des Buches entschlüsselt werden. Dieser für die Literatur des Naturalismus geläufige, für einen Roman des frühen 21. Jahrhunderts jedoch eher ungewöhnliche Kunstgriff dient der Vergegenwärtigung des eingeschränkten Horizonts der dargestellten Lebenswelt. Darüber hinaus wird durch den Wechsel von Dialekt zu Hochdeutsch wie auch die Namensveränderung der Bildungsgang der Protagonistin unmittelbar sprachlich evident. Der Name Hildegard Palm ist in ihrem Taufschein eingetragen, und so nennen sie auch die Lehrer. „Heldejaad“ wird sie von der Familie gerufen, und den Namen Hilla gibt sich die Protagonistin selbst, als sie sich von der Familie dezidiert abzusetzen beginnt. Zu verstehen ist der Name aber auch als Hahns Hommage an die Lyrikerin Hilde Domin, deren bürgerlicher Name durch Heirat Palm lautete.

Rheinische Mundart

Entstehungskontext und Rezeption In einem zeitgleich mit dem Roman erschienenen Spiegel-Interview hat Ulla Hahn angegeben, dass sie bereits Anfang der 1990er Jahre mit der Arbeit an einzelnen Geschichten zu ihrem geplanten Prosawerk begonnen habe, an dem sie dann ab 1997 kontinuierlich geschrieben hat. Ein ursprüngliches Typoskript wurde von rund 1200 Blättern auf den Romanumfang von 600 gedruckten Seiten gekürzt. Zehn Jahre nach ihrem 1991 publizierten kürzeren Roman über eine Trennungserfahrung mit dem Titel Ein Mann im Haus hat sie mit Das verborgene Wort ein Werk vorgelegt, das in der Abfolge der Bildungsstufen autobiographische Bezüge aufweist, wie dies auch in zahlreichen Rezensionen immer wieder hervorgehoben wurde. Die 1946 geborene Ulla Hahn wuchs in Monheim am Rhein auf, machte nach Abschluss der Realschule zunächst eine Bürolehre und holte später ihr Abitur in Leverkusen nach. Sie studierte und promovierte in Germanistik, hatte Lehraufträge an den Universitäten in Hamburg, Bremen und Oldenburg inne und war bis 1989 als Literaturredakteurin bei Radio Bremen tätig. Bereits 1981 war Hahn mit ihrem ersten Gedichtband Herz über Kopf bekannt geworden und konnte nach weiteren Gedichtbänden ihren Ruf als bedeutende Lyrikerin des späten 20. Jahrhunderts festigen. Die Autorin konzediert, dass das Erzählte in Das verborgene Wort zwar einen „autobiographischen Kern“ in sich trägt, es aber erst durch die Erfindung von Figuren und

Entstehung des Romans

Autobiographische Bezüge

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VI. Analyse beispielhafter Bildungsromane

Exemplarischer Bildungsroman

Ereignissen möglich gewesen sei, sich schmerzhaften Erinnerungen schreibend anzunähern. Autobiographische und fiktive Elemente seien so gemischt, dass ununterscheidbar bleiben soll, was sich tatsächlich ereignet hat und was erfunden ist. Auf die Frage nach der Bedeutung des Schreibprozesses meinte Hahn: „es kann schon sein, dass mir die drei Jahre intensiver Schreibarbeit eine Psychoanalyse ersetzt haben.“ (Hage 2001, 181) Der von der Kritik überwiegend hoch gelobte Roman wurde wegen der Darstellung eines Ausbruchs aus vorgezeichneten Lebensbahnen in einem katholisch-rheinischen Milieu mit Heinrich Bölls Ansichten eines Clowns verglichen (Mohr 2001). Verschiedentlich wurde auch darauf hingewiesen, dass das Gespräch des Großvaters mit der Enkeltochter in Dialektsprache zu Beginn des Romans an die Eingangssequenz von Thomas Manns Buddenbrooks erinnert. In Rezensionen sah man das umfängliche Prosawerk als „anrührenden Entwicklungsroman“ (Britsch 2001), von literaturwissenschaftlicher Seite wurde es bereits als „exemplarischer Bildungsroman über eine Kindheit in der Adenauerzeit“ (Braun 2002, 15) rubriziert, doch liegen gattungsspezifische Analysen zu dieser These bislang nicht vor. Auseinandersetzung mit Erziehung und geschlechtsspezifische Individuation

Abgrenzung vom vorgegebenen Lebensziel

Negatives Beispiel eines weiblichen Lebensmodells

Zentrales Thema des Romans ist die Auseinandersetzung der Erzählerin mit den sie prägenden Erziehungsvorgaben. Auf welches Ziel ihre Erziehung hinauslaufen sollte, wird ihr in der Pubertät schlagartig bewusst. Als 14-jährige Schülerin arbeitet sie in den Ferien in einer Arzneimittelfabrik und wird durch die Gespräche der Akkordarbeiterinnen hautnah mit Vorstellungen über die weibliche Geschlechterrolle konfrontiert, die in ihrem Herkunftsmilieu gang und gäbe sind. Sie erfährt, dass für diese Frauen die Heirat höchstes Lebensziel ist, weil damit die Hoffnung auf sozialen Aufstieg verbunden ist, zumindest aber die Möglichkeit, die verhasste Arbeitswelt zu verlassen und finanziell versorgt zu werden. Dass auch Hildegard diesem weiblichen Lebensziel der Versorgungsehe entgegenstreben soll, wird durch das erzieherische Verhalten der Eltern deutlich. Der Vater verweigert der Tochter eine höhere Schulausbildung mit der Begründung, sie sei nur ein Mädchen, während der jüngere Bruder selbstverständlich zum Gymnasium gehen darf. Die Mutter animiert Hildegard zur Verbindung mit einem Gärtnersohn, weil sie darin eine gesicherte Zukunft für ihre Tochter sieht. Die auf Wunsch der Eltern begonnene Lehre in der Pappenfabrik dient nach diesem Lebensmodell lediglich als Überbrückung der Zeit bis zur Übernahme der ihr zugedachten Rolle als Ehefrau. Das Beispiel eines weiblichen Lebenslaufes, der sich nach den Vorgaben des Herkunftsmilieus ausrichtet, wird von der Erzählerin memoriert, als sie sich der für sie wegweisenden Empfehlung für die Realschule erinnert. Die neben Hildegard sitzende, zweitbeste Schülerin der Klasse, deren Vater ebenfalls ungelernter Arbeiter ist, erhielt nicht die Chance, weiter lernen zu dürfen: „Sie wurde Verkäuferin und heiratete einen Mann, der keine Kinder haben wollte. Als sie schwanger wurde und nicht abtrieb, ließ er sich scheiden. Das Kind war eine Frühgeburt und lebte nur ein paar Tage. Hannelore übernahm, nach dem Tod des Besitzers, den Lebensmittelladen, in dem sie schon gelernt hatte, und schloß sich einer Edeka-Kette an. Später, das war

8. Ulla Hahn: Das verborgene Wort

das letzte, was mir die Mutter erzählte, heiratete sie einen Witwer, der ein Rewe-Geschäft betrieb.“ (134) Einem solchen Lebensmodell versucht die Protagonistin ihre Selbstverwirklichungswünsche entgegenzusetzen. Doch Hildegards Eltern versuchen, ihre Tochter gemäß den eigenen Wertvorstellungen zu erziehen und ihr in der Tradition der so genannten „kleinen Leute“ einen Lebensweg zu weisen. Da die sprachlichen Begabungen und literarischen Neigungen der Heranwachsenden in ihr einen Oppositionsgeist gegen eingeforderte Verhaltensweisen stärken, gleicht ihr Bildungsweg über weite Strecken einem Martyrium, wie dies durch die Erinnerung an zahlreiche Strafen und körperliche Züchtigungen angezeigt wird. Negativste Erzieherfigur ist der Vater, der seiner Tochter im wahrsten Sinne des Wortes einbläut, den ihr vorgegebenen Weg als Arbeiterkind nicht zu verlassen. Er wird als brutaler, gänzlich unempathischer Erzieher gezeichnet, der seine Tochter immer dann mit dem griffbereiten Stock schlägt, wenn sie versucht, sich seinen Verhaltensforderungen zu entwinden. Der Vater sieht durch das Hochdeutsch der Tochter seine Autorität untergraben und will ihr das Gefühl, etwas Besseres zu sein, austreiben. Als das kleine Mädchen eines Tages aus den Buchstabennudeln einer Suppe am Tellerrand Wörter zusammensetzt, taucht ihr der Vater gewaltsam das Gesicht in die heiße Suppe. Die Mutter wird in ihrer widerstandslosen Akzeptanz der väterlichen Gewalt als Komplizin patriarchalen Machtmissbrauchs charakterisiert. Sie ist peinlich darauf bedacht, dass die Gewaltanwendungen, die sie mit der wiederholten Wendung „Waat, bes dä Papp no Huus kütt“ (135) der Tochter ankündigt, nicht nach außen hin sichtbar werden. Auch die mit im Haushalt lebende Großmutter mütterlicherseits ist für Hildegard keine schützende Verbündete, da sie in ihrer bigotten Kirchengläubigkeit das Verhalten des heranwachsenden Kindes nach den Kategorien Schuld und Sünde beurteilt und ein auf Angsterzeugung basierendes Erziehungsprinzip stützt: „Kinder kamen schlecht auf die Welt. Erwachsen werden hieß besser werden. Dafür sorgten die Erwachsenen, die alles besser wußten, besser konnten, besser machten, eben weil sie erwachsen waren. Kind sein hieß schuldig sein. Sündig sein. Der Reue, Buße, Strafe bedürftig, in Ausnahmefällen der Gnade.“ (15) Mit Beginn der Pubertät und dem Gewahrwerden der Geschlechtlichkeit des Körpers entwickelt Hildegard Aggressionsphantasien, die mit depressiven Einbrüchen gepaart sind. Als die Menarche einsetzt, behandelt die Mutter sie „wie eine Kranke, die Großmutter wie eine Besiegte“ (247), aber Hildegard wehrt sich gegen die Vereinnahmungsversuche der Mutter und weigert sich standhaft, deren Weiblichkeitsvorstellungen zu teilen. Als sich bei ihr „Brüste, nicht viel mehr als zwei Ideen, die unter der Haut heranwuchsen“ (251) zeigen, erkrankt zeitgleich ihre Cousine Maria an Brustkrebs, wird operiert und von ihrem Verlobten verlassen. Bei ihrem Versuch, den zahlreich geschilderten Angst erzeugenden Erlebnissen ein positives Weiblichkeitsbild entgegenzusetzen, sucht Hildegard vergebens in der Literatur Zuflucht, denn auf die sie bewegenden Fragen kann sie hier keine Antwort finden. Vor allem aber in der Arzneimittelfabrik wird sie mit dem gebotenen taktischen Verhalten gegenüber Männern unter der Prämisse einer angestrebten Versorgungsehe bekannt gemacht: „Ob man einen ranlassen würde, unter Umständen ranlassen, jemals ranlassen, eventuell ranlassen, nie-

Väterliche Gewalt

Negative Erzieherfiguren

Weiblichkeitsvorstellungen

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VI. Analyse beispielhafter Bildungsromane

mals ranlassen würde; ob einer rankommen wollte, ob er noch nicht oder schon oder beinah rangekommen sei, machte den Hauptgesprächsstoff aus.“ (284) Diese Erfahrungsberichte werden in deutlichen Kontrast zu den literarisch überformten Lebensvorstellungen gesetzt, an denen sich Hildegard in ihrem Bildungsgang zu orientieren sucht. Bildung und kultureller Wandel Fähigkeit zum Rollenspiel

Die kleine Meerjungfrau

Die Fähigkeit zur Bildung, welche die Erzählerin in Erinnerung an ihre Kinder- und Jugendjahre entfaltet, ist vor allem durch Phantasiebegabung, Sprachsensibilität und Neigung zur Literatur angelegt. Bereits mit dem großväterlichen Erzählen vermag sie Erlittenes zu bewältigen, denn durch so genannte „Wutsteine“ können kränkende Erfahrungen weggeschleudert werden: „Wut und Angst versanken in den Wellen vom Rhein.“ (273) Wie in anderen Bildungsromanen wird auch bei dieser Protagonistin eine ausgeprägte Einbildungskraft und das Vermögen, in andere Rollen zu schlüpfen, zur Voraussetzung ihrer Selbstbildung. In imaginären Gesprächen mit einer alten, „Frau Peps“ genannten Tasche werden Erfahrungen von Beschämung, Kränkung und Gewalt erzählbar. So wird in einer episodisch verdichteten Szene ein Übergriff des Vaters, über den das Kind nicht erzählen kann, als Erleben dieses Alter Ego zur Sprache gebracht: „Ein Mann, der meinem Vater sehr ähnlich gesehen habe, sei mit seinem Löffel in ihren Becher gefahren. Josäff! habe die Frau neben ihm geschrien, aber es sei schon zu spät gewesen.“ (23) Das Kind vermag sich über das imaginäre Rollenspiel sogar selbst Trost zuzusprechen. Nachdem es wegen einer zersprungenen Sammeltasse geschlagen worden ist, tritt es in einen imaginären Dialog mit der Tasche: „Wie tat sie mir leid, die arme, verhauene Frau Peps, mit den Scherben der Tasse Vergißmeinnicht. Nicht weinen, Frau Peps, nicht weinen, murmelte ich in die dunkle Öffnung der Tasche hinein und streichelte meinen Kopf, bis Frau Peps ganz ruhig wurde und ich mit dem Gesicht auf der Tasche einschlief.“ (24) Mit diesen Rollenspielen im Dienste der Schmerzbewältigung werden Urszenen des Erzählens gestaltet, denn nur durch die Figuration des Erlebten in einem imaginierten Anderen wird die Darstellung traumatischen Erlebens möglich. Zugleich wird deutlich, dass das Kind seine anerzogene religiöse Vorstellung von der Heilkraft des göttlichen Wortes auf die Imaginationskraft der poetischen Sprache überträgt, denn es glaubt an die rettende Kraft der schönen Worte und versucht immer wieder, sich und andere durch Literatur zu trösten. Durch die Lektüre von Hans Christian Andersens Märchen Die kleine Meerjungfrau erkennt Hildegard, dass sie durch Worte bereits Festgelegtes verändern kann. Sie sinnt darauf, das Erzählte umzuändern, denn sie meint, dass die Meerjungfrau, nachdem sie ihre Stimme verloren hatte, dem Prinzen hätte schreiben müssen, um die Situation zu erklären. Sie prüft daraufhin jede Geschichte, die sie hört, „ob und wie sie sich verändert hätte, wären die Personen des Lesens und Schreibens kundig gewesen“ (71), denn Lesen und Schreiben werden als Möglichkeit gesehen, einer bereits fest gefügten Geschichte eine neue Wendung zu geben. Hildegard beginnt nun auch Hefte anzulegen, in die sie Zitate und so genannte „Zauberworte“ (69) notiert, die ihr zum Schlüssel einer poetisch verklärten Welt werden.

8. Ulla Hahn: Das verborgene Wort

Dank ihrer Sprachbegabung gelingt es der Realschülerin mit dem Erlernen des Hochdeutschen, die ihr vorgegebene, sie einengende soziale Rolle zu überwinden: „Mit der Sprache wechselte ich auch Mimik und Gesten. Mein Verhältnis zur Welt.“ (189) Später heißt es: „Ich hatte mir angewöhnt, mit Eltern, Verwandten und Nachbarn eine unbestimmte Mischung aus Kölsch und Hochdeutsch zu sprechen. Kölsch für Belangloses, Hochdeutsch fürs Wichtige“ (206). In dieser Phase nimmt Friedrich Schiller – in dessen Literatur das pubertäre Mädchen ihr eigenes Fühlen und Denken ausgedrückt findet – die Position des imaginären Dialogpartners ein: „Ich schrieb an Schiller, wie ich vor Jahren mit Frau Peps geredet hatte, rückhaltlos, offen. Und schwärmerisch.“ (236) Diese Schwärmerei für die Literatur ermöglicht ihr, einen Zugang zum anderen Geschlecht jenseits der durch die Arbeiterinnen empfohlenen Taktiken zu finden. Mit einem Gastarbeiter namens Federico umarmt sie an den Ufern des Rheins mehr ,ihren Friedrich‘ Schiller als dessen italienischen Namensvetter. In der kurzen Freundschaft mit dem Mathematikstudenten Georg Schöne versucht Hildegard, ihre Vorstellung über die romantische Poesie ,an den Mann‘ zu bringen. Ein entscheidender Bildungsschritt wird durch die schwärmerische, literarisch überformte Liebe zum Untersekundaner Sigismund Mix markiert, mit dem sie sich erstmals auf gleicher Ebene über Literatur auseinandersetzen kann und über den sie das Theater kennen lernt. Erst durch diese Beziehung wird ihr eine innere Lösung vom Elternhaus möglich. Im Zusammensein mit dem literaturinteressierten Gymnasiasten entwickelt sie ein Gefühl von Erwachsensein. „Mit jedem Schritt von zu Hause weg ging ich vorwärts in meiner Lebenszeit, wurde älter und unabhängiger, bis ich, nicht alt, nicht jung, von nirgendwo kommend, Sigismund gegenüberstand. Ging ich zurück, verlief dies umgekehrt, und wenn ich um Punkt acht klingelte, war ich wieder das halbwüchsige Mädchen, aufsässig und geduckt.“ (467 f.) Dass es bei den schwärmerisch besetzten Männerfiguren auch immer um die Liebe zur Literatur geht, wird durch die Überblendung von Lebenslauf und Lektürebiographie der Protagonistin deutlich, denn die einzelnen Phasen ihrer Lebensgeschichte werden teilweise mit literaturgeschichtlichen Epochen parallelisiert. Dieser literarische Bildungsweg beginnt mit der Mündlichkeit des Erzählens und führt über Märchen, biblische Geschichten, Heiligenlegenden und Jugendbücher bis zum aufklärerischen Versuch, sich mit Worten Rechas aus Lessings Nathan der Weise dem Vater zu erklären. Mit der Adoleszenz setzt die Schwärmerei für Schillers Freiheitspathos ein, während mit der Jugendliebe Sigismund über den Gerechtigkeitsbegriff in Kleists Michael Kohlhaas und Formen des modernen Dramas diskutiert wird. Hildegard begeistert sich am Klang von Worten und ist versessen auf schöne Formulierungen, weshalb sie sich wegen eines einzigen Satzes von ihrem selbst verdienten Geld eine gebundene Ausgabe von Rilkes Gedichten kauft: „Aber der Satz ,Du mußt dein Leben ändern‘ war es wert. Bücher sollten sich um mich kümmern. Ich wollte spüren, daß ich ihnen etwas bedeutete.“ (376) Mit dem im Roman erzählten Emanzipationsprozess der Protagonistin ist ein signifikanter Generationswechsel markiert. Die Tochter, die im Arbeitermilieu eines kleinen Dorfes zur Zeit des Wirtschaftswunders in der Bundesrepublik aufwächst, löst sich über ihren Bildungsaufstieg von den Wertvorstellungen und Verhaltensweisen ihrer proletarischen Eltern. Als Hildegard zu

Sprache und soziale Rolle

Lektürebiographie

Generationenwechsel

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VI. Analyse beispielhafter Bildungsromane

Bildung durch Literatur

Rede über Kellers Der grüne Heinrich

Schulbeginn erstmals durch den Lehrer erfährt, dass der Vater ungelernter Arbeiter ist, betont die Erzählerin: „Der Vater war ungelernt. Ich würde lernen.“ (54) Mit diesem Aufstiegspathos erweist sich die Protagonistin zugleich als Vertreterin einer ganzen Generation. Denn in jener Zeit wurde es vermehrt auch Kindern aus Arbeiterfamilien möglich, eine weiterführende Schule zu besuchen und damit an sozialen Aufstiegsmöglichkeiten zu partizipieren. So konnte mit der Öffnung der Universitäten in den 1960er Jahren erstmals eine größere Zahl junger Frauen und Männer aus traditionell bildungsfernen Schichten ein Studium beginnen. Hahn erzählt in ihrem Roman von einer Protagonistin, die diesen Bildungsaufstieg erkämpft, durchleidet und erfolgreich besteht. Heißt der Imperativ der autoritätsgläubig bigotten Familie „Demütig glauben“ (51), so lautet demgegenüber die Lebensmaxime der Protagonistin: „Ich richtete mich auf. Ich wollte lernen. Wissen.“ (51) Der Roman entfaltet einen Bildungsgang durch die Literatur zur eigenen Literatur. Zum Schulanfang hatte der Großvater seiner Enkelin einen „Buchstein“ mit dichterischem Auftrag geschenkt: „Da drauf, sagte der Großvater, stehen wunderbare Jeschischten. Immer neue. Solang de lävs. Solange du lebst.“ (55) Später entdeckt die Erzählerin, dass der Großvater ihren Namen auf den Stein geschrieben hatte. Der Großvater wird gleichsam zur Figuration des ,alten Vater Rhein‘, zu einem ,romantischen‘ Gründungsmythos der eigenen literarischen Imagination. Wie schon der Titel des Romans andeutet, erreicht die Ich-Erzählerin die Fähigkeit, die ,Steine‘ der Kindheit im Erzählen zum Reden zu bringen, wie dies in Joseph von Eichendorffs Gedicht Wünschelrute formuliert ist: „Schläft ein Lied in allen Dingen, / Die da träumen fort und fort, / Und die Welt hebt an zu singen, / Triffst du nur das Zauberwort.“ (Eichendorff 1987, 328) Hahns Roman ist aber nicht nur von einer zutiefst romantischen Dichtungsvorstellung durchdrungen, wonach die pragmatische Lebenswelt wie in Novalis‘ Heinrich von Ofterdingen durch Poesie erlöst werden soll, sondern er nimmt auch deutlich Bezug auf den Bildungsanspruch des Bildungsromans. Die Kritik des Romans an verweigerten Bildungsmöglichkeiten und an Erziehungspraktiken, die eine Entfaltung von Anlagen behindern, ist in deutlicher Reminiszenz an Gottfried Kellers Der Grüne Heinrich gestaltet. Die Schulbildung, die Heinrich Lee nach seiner Relegation verwehrt wurde und der er sein Leben lang nachtrauerte, erkämpft sich Hildegard Palm über die Auseinandersetzung mit dem Lernen an diesem literarischen Beispiel. Als beste Schülerin hält Hildegard auf der Schulabschlussfeier eine Rede, in der sie über Kellers Roman spricht und damit ihre eigene Bildungsvorstellung formuliert: „Jawohl, ins Leben sei er getreten worden, wiederholte ich, aber dadurch sei ein machtvoller Drang in ihm erwacht, sich selbst zu bilden. Wie aber bildete man sich selbst? Etwa dadurch, daß man ins Leben trat? Einen Beruf ergriff? Etwas leistete? Mitnichten. Ich sang das Lob des Lesens.“ (499) Hahn feiert Kellers Der grüne Heinrich selbstreflexiv als Bildungsmedium und beglaubigt damit in ihrem zu Beginn des 21. Jahrhunderts erschienenen Werk eine tradierte poetologische Grundbestimmung, wonach der Bildungsroman nicht nur die Hauptfigur, sondern auch die Leser bildet. Hahns emphatisches Bekenntnis zum Bildungsroman in Das verborgene Wort kann uns nicht zuletzt Zeugnis sein für die Wirkungsmächtigkeit und zukunftsweisende Bedeutung dieser Gattung.

Kommentierte Bibliographie [Kommentiert sind alle Monographien.]

1. Einführungen und Überblicksdarstellungen Beddow, Michael: The Fiction of Humanity. Studies in the Bildungsroman from Wieland to Thomas Mann, Cambridge 1982. [Umfangreiche Untersuchungen zu Wielands ,Geschichte des Agathon‘, Goethes ,Wilhelm Meisters Lehrjahre‘, Kellers ,Der grüne Heinrich‘, Stifters ,Der Nachsommer‘ und Thomas Manns ,Der Zauberberg‘ unter besonderer Berücksichtigung philosophischer Aspekte.] Berger, Berta: Der moderne deutsche Bildungsroman, Nendeln 1970 [Reprint der Ausgabe Bern/ Leipzig 1942]. [Schmale Dissertation zu nach 1880 erschienenen Bildungsromanen, in denen der Niedergang der bürgerlichen Welt als entscheidendes inhaltliches Element ausgemacht wird. Zum Teil mit nationalsozialistischer ,Weltanschauung‘ kompatibel erscheinende Gedankengänge, jedoch auch Kritik am NS-Großschriftsteller Hanns Johst.] Borcherdt, Hans Heinrich: Der Roman der Goethezeit, Stuttgart/Urach 1949. [Enthält rund 40 weitgehend textimmanente Einzelanalysen wichtiger deutscher Romane vom Sturm und Drang bis zur Spätromantik, darunter solche von Moritz, Goethe, Jean Paul, Novalis, Friedrich und Dorothea Schlegel, E. T. A. Hoffmann und Eichendorff.] Bruford, Walter Horace: The German Tradition of Self-Cultivation. ,Bildung‘ from Humboldt to Thomas Mann, Cambridge 1975. [Untersuchung des Verhältnisses von Bildung und deutscher ,Innerlichkeit‘ anhand von Romanen wie Goethes ,Wilhelm Meister‘-Romanen, Stifters ,Der Nachsommer‘, Fontanes ,Frau Jenny Treibel‘ und Th. Manns ,Der Zauberberg‘ sowie philosophischer und pädagogischer Texte von Humboldt, Schleiermacher, Schopenhauer, Nietzsche.] Engel, Manfred: Der Roman der Goethezeit, Bd. 1: Anfänge in Klassik und Frühromantik: Transzendentale Geschichten, Stuttgart u. a. 1993. [Umfangreiche, hermeneutisch ausgerichtete Studie. Erläuterung relevanter philosophischer Modelle (Fichte, Rousseau, Herder, Wilhelm von

Humboldt, Hegel) sowie zeitgenössischer Romantheorien. Ausführliche geistes- und werkgeschichtlich orientierte Interpretationen zu Goethes ,Wilhelm Meisters Lehrjahre‘, Hölderlins ,Hyperion‘, Schlegels ,Lucinde‘ und Novalis‘ ,Heinrich von Ofterdingen‘.] Esselborn-Krumbiegel, Helga: Der ,Held‘ im Roman. Formen des deutschen Entwicklungsromans im frühen 20. Jahrhundert, Darmstadt 1983. [Strukturalistische Arbeit, welche die Funktionen analysiert, die „Konzeption und Aufbau der Heldenfigur“ im Gesamtgefüge verschiedener Entwicklungsromane erfüllen. Jeweils sehr kurz betrachtet werden kanonisierte Texte von Hesse, Rilke und Musil, aber auch weniger bekannte Romane etwa von Gustav Frenssen, Otto Ernst, Jakob Schaffner, Carl Hauptmann, Cäsar Flaischlen, Friedrich Huch, Otto Julius Bierbaum.] Fiedler, Ralph: Die klassische deutsche Bildungsidee. Ihre soziologischen Wurzeln und pädagogischen Folgen, Weinheim 1972. [Untersuchung des sozialhistorischen Kontextes, in dem die humanistische Bildungsidee entstand. Kritik an elitären und gegen gesellschaftliche Veränderung gerichteten humanistischen Bildungskonzepten.] Gerhard, Melitta: Der deutsche Entwicklungsroman bis zu Goethes ,Wilhelm Meister‘, Bern/München 2 1968 [erstmals Halle 1926]. [Gattungstypologische Studie. Untersuchung von Wolframs ,Parzival‘ und Grimmelshausens ,Simplicissimus‘, die der Verfasserin als Entwicklungsromane gelten; zwei weitere Kapitel zu Wielands ,Agathon‘ und Goethes ,Wilhelm Meisters Lehrjahre‘.] Germer, Helmut: The German Novel of Education from 1764 to 1792. A Complete Bibliography and Analysis, Bern u. a. 1982. Gieseke, Astrid: Die Vaterfiguren im deutschsprachigen Bildungsroman des frühen 20. Jahrhunderts, Köln 1986. [Dissertation, die den Versuch unternimmt, eine Typologie jener Vaterfiguren zu erstellen, die in Bildungsromanen etwa von Otto Ernst, Werfel, Hesse, Musil, Robert Walser, Wassermann und Thomas Mann auftreten.]

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Kommentierte Bibliographie Gohlman, Susan A.: Starting Over. The Task of the Protagonist in the Contemporary Bildungsroman, New York u. a. 1990. [Komparatistische Untersuchung von Bildungsromanen, die nach 1940 erschienen sind; Hervorhebung ihrer strukturellen Unterschiede zum ,klassischen‘ Bildungsroman. Behandelt werden Yahya Haqqis ,The Saint‘s Lamp‘, Doris Lessings ,The Four-Gated City‘, Mary McCarthys ,Birds of America‘ und Siegfried Lenz‘ ,Deutschstunde‘.] Hansel, Beate: Die Liebesbeziehungen des Helden im deutschen Bildungsroman und ihr Zusammenhang mit der bürgerlichen Konzeption von Individualität, Frankfurt am Main u. a. 1986. [Psychoanalytisch orientierte Studie zum Zusammenhang von (scheiternden) Liebesbeziehungen und narzisstischen Identitätskonstruktionen in deutschen Bildungsromanen. Knapp untersucht werden Goethes ,Wilhelm Meisters Lehrjahre‘, Novalis‘ ,Heinrich von Ofterdingen‘, Stifters ,Der Nachsommer‘, Kellers ,Der grüne Heinrich‘, Raabes ,Die Akten des Vogelsangs‘, Thomas Manns ,Königliche Hoheit‘ und Musils ,Der Mann ohne Eigenschaften‘.] Hillmann, Heinz/Peter Hühn: Der europäische Entwicklungsroman in Europa und Übersee. Literarische Lebensentwürfe der Neuzeit, Darmstadt 2001. [Komparatistische Studie, die vor allem deutsche, englische, französische und russische Entwicklungsromane untersucht, Seitenblicke auf die USA und Japan. Einzelne Kapitel zum 18. und zum 19. Jahrhundert, zur ersten und zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die behandelten Texte stammen unter anderem von Goethe, Novalis, Keller, Raabe, Kafka, Frisch, Wolf, Rousseau, Flaubert, Defoe, Fielding, Henry James, Dickens, Joyce, Rushdie, Dostojewski, Gorki, Tolstoi.] Hörisch, Jochen: Gott, Geld und Glück. Zur Logik der Liebe in den Bildungsromanen Goethes, Kellers und Thomas Manns, Frankfurt am Main 1983. [Versuch, kanonisierte Bildungsromane wie Goethes ,Wilhelm Meisters Lehrjahre‘, Kellers ,Der grüne Heinrich‘, Thomas Manns ,Der Zauberberg‘ neu zu lesen. Unter Rückgriff auf Interpretationsverfahren, die von der Psychoanalyse, der Semiologie und der Kritischen Theorie beeinflusst sind, wird analysiert, auf welche Weise in den Texten bürgerliche Sozialisationsmodelle verhandelt werden.] Jacobs, Jürgen: Wilhelm Meister und seine Brüder. Untersuchungen zum deutschen Bildungsroman, München 1972. [Überblickswerk, das sich mit der Geschichte des Terminus ,Bildungsroman‘ befasst und die geistes-

geschichtlichen Voraussetzungen für die Entstehung der Gattung darlegt. Knappe Analysen von zahlreichen deutschsprachigen Texten etwa von Goethe, Jean Paul, Novalis, Eichendorff, Tieck, Freytag, Keller, Hofmannsthal, Hans Grimm, Hesse, Thomas Mann, Döblin, Musil. Exkurse zu Blanckenburg, Hegel sowie zu französischen und englischen Romanen.] Jacobs, Jürgen/Markus Krause: Der deutsche Bildungsroman. Gattungsgeschichte vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, München 1989. [Überblickswerk, das verschiedene Gattungsbestimmungen diskutiert. Kapitel zum Bildungsroman der Aufklärung (am Beispiel Wielands), der Goethezeit (Goethe, Novalis, Jean Paul), des 19. Jahrhunderts (Stifter, Keller) und des 20. Jahrhunderts (Thomas Mann, nach 1945 erschienene Texte).] Jacobs, Jürgen: Zwischenbilanzen des Lebens. Zu einem Grundmuster des Bildungsromans, Bielefeld 2005. [Die retrospektive Selbstreflexion des Protagonisten wird als wesentliches Charakteristikum des Bildungsromans dargestellt. Betrachtet werden Wielands ,Geschichte des Agathon‘, Goethes ,Wilhelm Meisters Lehrjahre‘, Kellers ,Der grüne Heinrich‘, Thomas Manns ,Der Zauberberg‘, Hesses ,Demian‘ sowie Robert Menasses ,Selige Zeiten, brüchige Welt‘.] Kahlcke, Thomas: Lebensgeschichte als Körpergeschichte. Studien zum Bildungsroman im 18. Jahrhundert, Würzburg 1997. [Untersuchung der Sozialisationsprozesse der Protagonisten in Romanen Gellerts, Wielands und Goethes aus psychoanalytischer Perspektive. Unter Rückgriff auf Lacan wird angestrebt, die spezifische Literarizität und Historizität der Texte herauszuarbeiten.] Kim, Mi-Suk: Bildungsroman. Eine Gattung der deutschen und koreanischen Literaturgeschichte, Frankfurt am Main u. a. 2001. [Wiedergabe einflussreicher Bestimmungen der Begriffe ,Bildung‘ und ,Bildungsroman‘. Kurze Ausführungen zur typischen Struktur des Bildungsromans. Einzelanalysen von Goethes ,Wilhelm Meisters Lehrjahre‘, Thomas Manns ,Der Zauberbeg‘, Peter Handkes ,Der kurze Brief zum langen Abschied‘ sowie zu Sang-Sop Yops ,Vor dem Hurra‘.] Köhn, Lothar: Entwicklungs- und Bildungsroman. Ein Forschungsbericht, Stuttgart 1969. [Zusammenstellung verschiedener Definitionen des Entwicklungs- und Bildungsromans, Abgrenzung zum Erziehungsroman. Vorstellung allgemeiner Arbeiten zum Bildungsroman und zu dessen Geschichte. Knappe Darstellung der Forschung

Kommentierte Bibliographie bis 1968 zu einzelnen Romanen, etwa von Grimmelshausen, Wieland, Moritz, Goethe, Novalis, Jean Paul, Stifter, Keller, Hesse, Thomas Mann. Benennung von Problemen der Forschung.] Kontje, Todd: Private Lives in the Public Sphere. The German Bildungsroman as Metafiction, University Park 1992. [Schwerpunkt auf den selbstreflexiven Elementen des Bildungsromans, auf dem Verhältnis von Fiktion und Realität. Einzelanalysen von Moritz’ ,Anton Reiser‘, Goethes ,Wilhelm Meisters Lehrjahre‘, Tiecks ,Franz Sternbalds Wanderungen‘, Novalis‘ ,Heinrich von Ofterdingen‘, Jean Pauls ,Flegeljahre‘ und Hoffmanns ,Kater Murr‘.] Kontje, Todd: The German Bildungsroman. History of a National Genre, Columbia 1993. [Überblick über Theorien zum Bildungsroman vom Ende des 18. bis zum Ende des 20. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt steht die Auseinandersetzung mit Arbeiten, die seit den 1960er Jahren erschienen sind, also mit ideologiekritischen, psychoanalytischen, poststrukturalistischen sowie den Gender Studies zuzurechnenden Arbeiten.] MacLeod, Catriona: Embodying Ambiguity: Androgyny and Aesthetics from Winckelmann to Keller, Detroit 1998. [Ansätzen der Geschlechterforschung verpflichtete Arbeit, die sich mit dem Zusammenhang von Androgynie und Ästhetik etwa bei Winckelmann, Schiller und Friedrich Schlegel beschäftigt. Außerdem ausführliches Kapitel zum Zusammenhang von Pädagogik und Androgynie in Goethes ,Wilhelm Meisters Lehrjahre‘ und Auseinandersetzung mit Texten von Eichendorff, Stifter und Keller.] Mayer, Gerhart: Der deutsche Bildungsroman. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Stuttgart 1992. [Umfangreiche strukturalistische Studie, welche mittels diachronischer Betrachtung die Charakteristika des Bildungsromans zu bestimmen sucht. Allgemeine Diskussion der Gattung, dann Analysen von Wielands ,Geschichte des Agathon‘ und Goethes ,Wilhelm Meisters Lehrjahre‘. Kapitel zu Bildungsromanen der Romantik (etwa von Tieck, Jean Paul, Novalis, Hölderlin), des Bürgerlichen Realismus (Stifter, Raabe, Freytag, Keller u. a.), der Zeit um 1900 (Hollaender, Hesse u. a.), der Weimarer Republik (Wassermann, Thomas Mann, Hans Grimm u. a.). Auseinandersetzung mit Romanen des Nationalsozialismus (etwa von Goebbels, Leonhard Frank), der DDR (Becher, Dieter Noll, Brigitte Reimann u. a.), der BRD und Österreichs (Handke, Peter Weiss u. a.), Exkurs zum britischen und amerikanischen Bildungsroman.] Minden, Michael: The German Bildungsroman. Incest and Inheritance, Cambridge u. a. 1997.

[Auseinandersetzung mit den bekanntesten deutschsprachigen Bildungsromanen, namentlich Wielands ,Geschichte des Agathon‘, Goethes ,Wilhelm Meisters Lehrjahre‘, Moritz‘ ,Anton Reiser‘, Hölderlins ,Hyperion‘, Novalis‘ ,Heinrich von Ofterdingen‘, Kellers ,Der grüne Heinrich‘, Stifters ,Der Nachsommer‘ und Thomas Manns ,Der Zauberberg‘. Konzentration auf die Untersuchung von Gender-Aspekten, Fragen der Subjektivität und ästhetischen Verfahrensweisen; dabei Orientierung an poststrukturalistischen Literaturund Kulturtheorien etwa von Michel Foucault und Jacques Derrida.] Moretti, Franco: The Way of the World. The ,Bildungsroman‘ in European Culture, London 2001. [Komparatistische Untersuchung zur Entwicklung des europäischen Bildungsromans. Behandelt unter anderem Goethes ,Wilhelm Meisters Lehrjahre‘, Austens ,Pride and Prejudice‘, Stendhals ,Le Rouge et le Noir‘, Puschkins ,Eugen Onegin‘, Balzacs ,Illusions perdues‘, Flauberts ,L‘Éducation sentimentale‘, Dickens ,David Copperfield‘. Diskursanalytisch-kulturwissenschaftliche Ausrichtung, Bezüge auf verschiedene Romantheorien. Unzureichendes Inhaltsverzeichnis, Orientierung im Band schwierig.] Pascal, Roy: The German Novel. Studies, Manchester 1956. [Ausgehend von Goethes ,Wilhelm Meisters Lehrjahre‘ wird überblicksartig erstmals einem englischsprachigen Publikum der damalige Forschungsstand zum Bildungsroman präsentiert. Einzelanalysen zu wichtigen Romanen des 19. und 20. Jahrhunderts.] Redfield, Marc: Phantom Formations. Aesthetic Ideology and the Bildungsroman, Ithaca/London 1996. [Komparatistische Arbeit zu Romanen von Goethe, George Eliot und Flaubert, die der „ästhetischen Ideologie“ der Gattung des Bildungsromans nachspürt und sich dabei eines von Jacques Derrida und Paul de Man beeinflussten, dekonstruktivistischen Lektüreverfahrens bedient.] Salyámosi, Miklós: Der Weltanschauungsroman: der Entwicklungsroman der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Budapest 1998. [Darstellung der philosophischen Voraussetzungen des Weltanschauungsromans (etwa Marx, Nietzsche, Spengler). Exemplarische Untersuchungen zu Romanen von Hesse, den Brüdern Mann, Musil, R. Walser, Kafka, Wiechert und anderen unter Berücksichtigung gesellschaftlicher und politischer Zusammenhänge.] Sauer, Paul Ludwig: Geleitete Leben. Pädagogische Studien zum Bildungs- und Entwicklungsroman,

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Kommentierte Bibliographie Bd. 1: Figuren und Strukturen, Bd. 2: Bildungsmächte, Bd. 3: Erziehungsmodelle, Frankfurt am Main u. a. 2000 – 04. [Monumentale, über 1500 Seiten umfassende Studie, die unter Berücksichtigung geistesgeschichtlicher, literatursoziologischer und auch strukturalistischer Vorgehensweisen danach strebt, den genuin pädagogischen Gehalt des Bildungsromans zu ermitteln. Anhand zahlreicher Beispiele werden im ersten Band vor allem Figurenkonstellationen und gesellschaftskritische Aspekte des Genres verhandelt. Im zweiten Band unter anderem Diskussion sexualpädagogischer und religiöser Fragen; im dritten Band Thematisierung des Zusammenhangs von ästhetischen und pädagogischen Theorien. Aufgrund des unübersichtlichen Inhaltsverzeichnisses sowie des Fehlens eines Registers (und einer Bibliographie) ist die Arbeit kaum zu handhaben.] Schrader, Monika: Mimesis und Poiesis. Poetologische Studien zum Bildungsroman, Berlin u. a. 1975. [Textimmanent argumentierende Studie, welche die Gattung des Bildungsromans nicht mit Blick auf stofflich-inhaltliche Aspekte, sondern mittels der Identifizierung einer typischen Erzählstruktur bestimmen will. Exemplarisch behandelt werden Wielands ,Geschichte des Agathon‘ sowie Musils ,Der Mann ohne Eigenschaften‘.] Selbmann, Rolf: Theater im Roman. Studien zum Strukturwandel des deutschen Bildungsromans, München 1981. [Arbeit zur Thematisierung des Theaters in Bildungsromanen von Moritz, Goethe, Jean Paul, E. T. A. Hoffmann, Mörike, Tieck, Immermann und Keller.] Selbmann, Rolf: Der deutsche Bildungsroman, 2. überarb. und erw. Aufl., Stuttgart 1994. [Einführende Darstellung der Wandlungen des Bildungsbegriffs, Abriss der bisherigen Forschung sowie Diskussion von Problemen der Gattungsbestimmung. Abschnitt zur Entstehung des Bildungsromans, einzelne Kapitel zum Bildungsroman der Klassik (unter besonderer Berücksichtigung von Goethes ,Wilhelm Meister‘), des 19. sowie des 20. Jahrhunderts.] Selmeci, Andreas: Bildung zur Freiheit? Über Pädagogik, Roman und Spiel im 18. Jahrhundert, Würzburg 1994. [Untersuchung des Verhältnisses von pädagogischen, philosophischen und literarisch vermittelten Bildungskonzepten anhand von Texten etwa von Leibniz, Spinoza, Rousseau, Kant, Nietzsche sowie von Wieland, La Roche, Moritz, Goethe.] Shaffner, Randolph P.: The Apprenticeship Novel. A Study of the ,Bildungsroman‘ as a Regulative Type

in Western Literature with a Focus on Three Classic Representatives by Goethe, Maugham, and Mann, New York u. a. 1984. [Schmale Studie, die zunächst die Herkunft des Begriffs ,Bildungsroman‘ darstellt sowie verschiedene Gattungsbestimmungen diskutiert. Exemplarische Interpretationen von Somerset Maughams ,On Human Bondage‘, Goethes ,Wilhelm Meisters Lehrjahre‘ und Thomas Manns ,Der Zauberberg‘.] Sorg, Klaus-Dieter: Gebrochene Teleologie. Studien zum Bildungsroman von Goethe bis Thomas Mann, Heidelberg 1983. [Anhand von Goethes ,Wilhelm Meisters Lehrjahre‘, Stifters ,Der Nachsommer‘, Kellers ,Der grüne Heinrich‘ sowie Thomas Manns ,Der Zauberberg‘ wird zu zeigen versucht, inwiefern für den Bildungsroman die Thematisierung von Problemen konstitutiv ist, welche mit dem historischen Bedeutungszuwachs des Bürgertums und dessen Individualitätskonzepten zusammenhängen.] Stahl, Ernst Ludwig: Die religiöse und die humanitätsphilosophische Bildungsidee und die Entstehung des deutschen Bildungsromans im 18. Jahrhundert, Nendeln 1970 [Reprint der Ausgabe Bern 1934]. [Geistesgeschichtliche Untersuchung, welche die Entstehung des Bildungsromans vornehmlich aus Herders und Humboldts Bildungskonzepten erklärt.] Swales, Martin: The German Bildungsroman from Wieland to Hesse, Princeton 1978. [Diskussion verschiedener Gattungsbestimmungen, Untersuchung des Plots, der Figurenkonstruktionen und der Erzählerkommentare von Wielands ,Agathon‘, Goethes ,Wilhelm Meisters Lehrjahre‘, Stifters ,Der Nachsommer‘, Kellers ,Der grüne Heinrich‘, Thomas Manns ,Der Zauberberg‘ und Hesses ,Das Glasperlenspiel‘. Ein besonderes Augenmerk gilt selbstreflexiven und modernen Elementen der Romane.] Taschner, Winfried: Tradition und Experiment. Erzählstrukturen und -funktionen des Bildungsromans in der DDR-Aufbauliteratur, Stuttgart 1981. [Untersuchung heute wenig bekannter Romane, die bis Anfang der 1960er Jahre in der DDR erschienen sind, unter anderem von Jurij Brenzan, Eduard Claudius, Karl Mundstock, Dieter Noll, Erwin Strittmatter. Besonderes Augenmerk liegt auf dem politisch-historischen Kontext.] Tiefenbacher, Herbert: Textstrukturen des Entwicklungs- und Bildungsromans. Zur Handlungs- und Erzählstruktur ausgewählter Romane zwischen Naturalismus und Erstem Weltkrieg, Königstein 1982. [Mit Hilfe eines aus der strukturalistischen Linguistik übernommenen Instrumentariums wird ange-

Kommentierte Bibliographie strebt, die Gattungen Entwicklungs- und Bildungsroman voneinander abzugrenzen. Die behandelten Texte stammen von Hesse, Paul Ernst, Wassermann, Musil, Kafka und Heinrich Mann.]

2. Nachschlagewerke Braun, Michael: „Art. Ulla Hahn“, in: Kritisches Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, hg. von Heinz Ludwig Arnold, Band 4, München 1978 ff. (Stand: 1. 8. 2002), S. 1 – 18 und A – H. Brinker-Gabler, Gisela/Karola Ludwig/Angela Wöffen (Hg.): Lexikon deutschsprachiger Schriftstellerinnen 1800 – 1945, München 1986. Chiellino, Carmine (Hg.): Interkulturelle Literatur in Deutschland. Ein Handbuch, Stuttgart/Weimar 2000. Conze, Werner u. a. (Hg.): Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, 4 Teilbde., Teil 1: Bildungssystem und Professionalisierung in internationalen Vergleichen, hg. von Werner Conze und Jürgen Kocka, Teil 2: Bildungsgüter und Bildungswissen, hg. von Reinhart Koselleck, Teil 3: Lebensführung und ständische Vergesellschaftung, hg. von Mario Rainer Lepsius, Teil 4: Politischer Einfluß und gesellschaftliche Formation, hg. von Jürgen Kocka, Stuttgart 1985 – 92. Gräf, Bernd/Jutta Gräf (Hg.): Multinationale deutsche Literatur, Stuttgart 1995 (= Der Romanführer. Der Inhalt der Romane und Novellen der Weltliteratur, Band XXIX). Jacobs, Jürgen: „Art. Bildungsroman“, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hg. von Klaus Weimar u. a., neubearb., 3. Aufl., Bd. 1., Berlin/New York 1997, S. 230 – 233. Janz, Rolf-Peter: „Bildungsroman“, in: Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte, hg. von Horst Albert Glaser, Bd. 5: Zwischen Revolution und Restauration: Klassik, Romantik 1786 – 1815, Reinbek 1980, S. 144 – 163. Loster-Schneider, Gudrun/Gaby Pailer (Hg.): Lexikon deutschsprachiger Epik und Dramatik von Autorinnen (1730 – 1900), Tübingen 2006.

3. Exemplarische Bildungsromane [Die acht Romane, die in Kapitel VI behandelt sind, werden nach folgenden neuesten preisgünstigsten Taschenbuchausgaben zitiert:] Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Lehrjahre, hg. von Eberhard Bahr, Stuttgart 1982 [Reclam]. Hahn, Ulla: Das verborgene Wort. Roman, 7. Auflage, München 2005 [dtv].

Hesse, Hermann: Siddhartha. Eine indische Dichtung, Frankfurt am Main 1974 [Suhrkamp]. Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich, nach der ersten Fassung von 1854/55 hg. von Jörg Drews, Stuttgart 2003 [Reclam]. Novalis: Heinrich von Ofterdingen. Ein Roman, hg. von Wolfgang Frühwald, bibliographisch ergänzte Ausgabe, Stuttgart 2004 [Reclam]. Özdamar, Emine Sevgi: Die Brücke vom Goldenen Horn. Roman, 2. Auflage, Köln 2005 [Kiepenheuer & Witsch]. Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Erste Fassung, unter Mitwirkung von Reinhard Döhl hg. von Fritz Martini, bibliographisch ergänzte Ausgabe, Stuttgart 1996 [Reclam]. Wolf, Christa: Kindheitsmuster, München 2002 [Luchterhand].

4. Weitere Schriften (Primärliteratur) Basedow, Johann Bernhard: „Das Methodenbuch“, in: ders.: Ausgewählte pädagogische Schriften, besorgt von A. Reble, Paderborn 1965, S. 81 – 163. Blanckenburg, Friedrich von: Versuch über den Roman, Faksimiledruck der Originalausgabe von 1774 mit einem Nachwort von Eberhart Lämmert, Stuttgart 1965. Borcherdt, Hans Heinrich: „Der Deutsche Bildungsroman“, in: Gerhard Fricke/Franz Koch/Klemens Lugowski (Hg.): Von deutscher Art in Sprache und Dichtung, Berlin 1941, S. 3 – 55 [auch in: Rolf Selbmann (Hg.): Zur Geschichte des deutschen Bildungsromans, Darmstadt 1988, S. 182 – 238]. Campe, Joachim Heinrich: Väterlicher Rath für meine Tochter. Ein Gegenstück zum Theopron, Neudruck der Ausgabe Braunschweig 1796, mit Einleitung von Ruth Bleckwenn, Paderborn 1988. Cicero, Marcus Tullius: Gespräche in Tusculum, lateinisch-deutsch mit ausführlichen Anmerkungen neu hg. von Olof Gigon, 2. verbesserte Auflage, München 1970. Dilthey, Wilhelm: Gesammelte Schriften, XIII. Bd., erster Halbband: Leben Schleiermachers, auf Grund des Textes der 1. Auflage von 1870 und der Zusätze aus dem Nachlaß hg. von Martin Redeker, Göttingen 1970. Dilthey, Wilhelm: Gesammelte Schriften, von Bd. XVIII an besorgt von Karlfried Gründer und Frithjof Rodi, XXVI. Band: Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing, Goethe, Novalis, Hölderlin, hg. von Gabriele Malsch, Göttingen 2005. Eichendorff, Joseph von: „Wünschelrute“, in: ders.: Werke in sechs Bänden, hg. von Wolfgang Frühwald, Brigitte Schillbach und Hartwig Schultz,

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Kommentierte Bibliographie Bd. I: Gedichte, Versepen, hg. von Hartwig Schultz, Frankfurt am Main 1987, S. 328. Goethe, Johann Caspar/Cornelia Goethe/Catharina Elisabeth Goethe: Briefe aus dem Elternhaus, erster Ergänzungsband der Goethe-Gedenkausgabe, hg. von Wolfgang Pfeiffer-Belli, Zürich/Stuttgart 1960. Goethe, Johann Wolfgang: Werke, hg. im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen, IV. Abteilung, 5. Bd.: Weimar 7. November 1780 – 30. Juni 1782, Weimar 1889. Goethe, Johann Wolfgang: Werke, hg. im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen, IV. Abteilung, 8. Bd.: Italiänische Reise, August 1786 – 1788, Weimar 1890. Goethe, Johann Wolfgang: Gespräche in vier Bänden. Eine Sammlung zeitgenössischer Berichte aus seinem Umgang, hg. von Wolfgang Herwig, zweiter Band: 1805 – 1817, Zürich/Stuttgart 1969. Goethe, Johann Wolfgang: Tagebücher. HistorischKritische Ausgabe, im Auftrag der Stiftung Weimarer Klassik hg. von Jochen Golz, Bd. I,1: 1775 – 1787, hg. von Wolfgang Albrecht und Andreas Döhler, Stuttgart/Weimar 1998. Hegel, Georg Friedrich Wilhelm: Ästhetik (1835/38), 2 Bände, nach der 2. Ausgabe Heinrich Gustav Hothos (1842) redigiert und mit einem ausführlichen Register versehen von Friedrich Bassenge, Berlin 1985. Herder, Johann Gottfried: Werke in zehn Bänden, hg. von Martin Bollacher u. a., Bd. 7: Briefe zu Beförderung der Humanität, hg. von Hans Dietrich Irmscher, Frankfurt am Main 1991. Herder, Johann Gottfried: „Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele. Bemerkungen und Träume“, in: ders.: Werke in zehn Bänden, hg. von Martin Bollacher u. a., Bd. 4: Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum 1774 – 1787, hg. von Jürgen Brummack und Martin Bollacher, Frankfurt am Main 1994, S. 327 – 393. Herder, Johann Gottfried: Werke in zehn Bänden, hg. von Martin Bollacher u. a., Bd. 9.2: Journal meiner Reise im Jahre 1769. Pädagogische Schriften, hg. von Rainer Wisbert, Frankfurt am Main 1997. Hesse, Hermann: Gesammelte Briefe, erster Band 1895 – 1921, hg. von Ursula und Volker Michels, Frankfurt am Main 1973. Hesse, Hermann: „,Wilhelm Meisters Lehrjahre‘“, in: ders.: Sämtliche Werke, hg. von Volker Michels, Bd. 18: Die Welt im Buch III, Frankfurt am Main 2002, S. 371 – 390. Hesse, Hermann: „Mein Glaube“, in: ders.: Sämtliche Werke, hg. von Volker Michels, Bd. 12: Autobiographische Schriften II, Frankfurt am Main 2003, S. 130 – 134.

Hesse, Hermann: [Tagebuch 1920/1921], in: ders.: Sämtliche Werke, hg. von Volker Michels, Bd. 11: Autobiographische Schriften I, Frankfurt am Main 2003, S. 628 – 654. Hippel, Theodor Gottlieb: Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber, Nachwort von Ralph-Rainer Wuthenow, Frankfurt am Main 1977. Humboldt, Wilhelm von: „Theorie der Bildung des Menschen. Bruchstück“, in: ders.: Werke in fünf Bänden, hg. von Andreas Flitner und Klaus Giel, Bd. 1: Schriften zur Anthropologie und Geschichte, Stuttgart 1960, S. 234 – 240. Kant, Immanuel: „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“, in: ders: Werke, unveränderter photomechanischer Abdruck des Textes der von der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1902 begonnenen Ausgabe von Kants Schriften, Bd. VIII: Abhandlungen nach 1781, Berlin 1968, S. 33 – 42. Kant, Immanuel: „Über Pädagogik“, in: ders: Werke, unveränderter photomechanischer Abdruck des Textes der von der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1902 begonnenen Ausgabe von Kants Schriften, Bd. IX: Logik, Physische Geographie, Pädagogik, Berlin 1968, S. 437 – 500. Krüger, Hermann Anders: „Der neuere deutsche Bildungsroman“, in: Westermanns Monatshefte 51 (1906), 101.1, S. 257 – 272. Lessing, Gotthold Ephraim: „Die Erziehung des Menschengeschlechts“, in: ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden, hg. von Wilfried Barner u. a., Bd. 10: Werke 1778 – 1781, hg. von Arno Schilson und Axel Schmitt, Frankfurt am Main 2001, S. 73 – 99. Lukács, Georg: Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die großen Formen der Epik, Darmstadt/Neuwied 31976. Mann, Thomas: „Geist und Wesen der deutschen Republik“, in: ders.: Essays, nach den Erstdrucken, textkritisch durchgesehen, kommentiert und hg. von Hermann Kurzke und Stephan Stachorski, Bd. 2: Für das neue Deutschland, 1919 – 1925, Frankfurt am Main 1993, S. 217 – 224. Mann, Thomas: „Der Entwicklungsroman“, in: ders.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher, hg. von Heinrich Detering u. a., Bd. 15.1: Essays II, 1914 – 1926, hg. und textkritisch durchgesehen von Hermann Kurzke, Frankfurt am Main 2002, S. 173 – 176. Mann, Thomas: „[Vorrede zu einer Lesung aus ,Felix Krull‘]“, in: ders.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher, hg. von Heinrich Detering u. a., Bd. 15.1: Essays II, 1914 – 1926, hg. und textkritisch durchgesehen von Hermann Kurzke, Frankfurt am Main 2002, S. 171.

Kommentierte Bibliographie Morgenstern, Karl: „Bruchstück einer den 12./24. Dec. 1810 in Dorpat im Hauptsaal der Kaiserl. Universität öffentlich gehaltenen Vorlesung über den Geist und Zusammenhang einer Reihe philosophischer Romane“, in: Karl Morgenstern (Hg.) Dörptische Beyträge für Freunde der Philosophie, Litteratur und Kunst, Bd. III, Dorpat/Leipzig 1817, S. 180 – 195 [auch in: Rolf Selbmann (Hg.): Zur Geschichte des deutschen Bildungsromans, Darmstadt 1988, S. 45 – 54]. Morgenstern, Karl: „Ueber das Wesen des Bildungsromans. Vortrag, gehalten den 12. December 1819“, in: Karl Eduard Raupach (Hg.): Inländisches Museum, 1. Teil: I. Bd., 1. Heft, S. 46 – 61 und 2. Teil. I. Bd., 3. Heft, Dorpat 1820, S. 13 – 27 [auch in: Rolf Selbmann (Hg.): Zur Geschichte des deutschen Bildungsromans, Darmstadt 1988, S. 55 – 72]. Morgenstern, Karl: „Zur Geschichte des Bildungsromans. Vortrag gehalten 12. December 1820“, in: Karl Eduard Raupach (Hg.): Neues Museum der teutschen Provinzen Russlands, 1. Bd., 1. Heft, Dorpat 1824, S. 1 – 46 [auch in Rolf Selbmann (Hg.): Zur Geschichte des deutschen Bildungsromans, Darmstadt 1988, S. 73 – 99]. Mundt, Theodor: Geschichte der Literatur der Gegenwart. Vorlesungen, Berlin 1842. Musil, Robert: Gesammelte Werke, hg. von Adolf Frisé, Bd. I: Prosa und Stücke, Kleine Prosa, Aphorismen und Autobiographisches, Sonderausgabe, Reinbek 1983. Novalis: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, hg. von Paul Kluckhohn ({) und Richard Samuel, zweite, nach den Handschriften ergänzte, erweiterte und verbesserte Auflage in vier Bänden und einem Begleitband, Bd. 2: Das philosophische Werk I, hg. von Richard Samuel, Stuttgart 1965. Novalis: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, hg. von Paul Kluckhohn ({) und Richard Samuel, zweite, nach den Handschriften ergänzte, erweiterte und verbesserte Auflage in vier Bänden und einem Begleitband, Bd. 3: Das philosophische Werk II, hg. von Richard Samuel in Verbindung mit Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz, Stuttgart 1968. Novalis: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, hg. von Paul Kluckhohn ({) und Richard Samuel, zweite, nach den Handschriften ergänzte, erweiterte und verbesserte Auflage in vier Bänden und einem Begleitband, Bd. 4: Tagebücher, Briefwechsel, zeitgenössische Zeugnisse, bearbeitet von Dirk Schröder, Stuttgart 1975. Paul, Jean: Vorschule der Ästhetik. Kleine Nachschule zur ästhetischen Vorschule, hg. und kommentiert von Norbert Miller, Nachwort von Walter Höl-

lerer, Sonderdruck aus Bd. V der Jean-Paul-Ausgabe des Carl Hanser Verlags, München 21974. Pestalozzi, Johann Heinrich: „Rede von Pestalozzi an sein Haus, an seinem 74. Geburtstag, 12. Jänner 1818“, in: ders.: Sämtliche Werke, 25. Bd.: Schriften von 1817 – 1818, bearbeitet von Emanuel Dejung und Roland Stiefel, Zürich 1974, S. 263 – 364. Rosenkranz, Karl: „Einleitung über den Roman“, in: ders.: Aesthetische und Poetische Mittheilungen, Magdeburg 1827, S. 3 – 40 [S. 3 – 35 auch in: Rolf Selbmann (Hg.): Zur Geschichte des deutschen Bildungsromans, Darmstadt 1988, S. 100 – 119]. Rousseau, Jean-Jacques: Bekenntnisse. Aus dem Französischen von Ernst Hardt. Mit einer Einführung von Werner Krauss, Frankfurt am Main 1985. Schiller, Friedrich: [Brief an Goethe vom 28. November 1796], in: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe, hg. von Karl Richter, Bd. 8.1: Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794 bis 1805, hg. von Manfred Beetz, München/Wien 1990, S. 277 – 279. Schiller, Friedrich: „Über Anmut und Würde“, in: ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden, hg. von Otto Dann u. a., Bd. 8: Theoretische Schriften, hg. von Rolf-Peter Janz, Frankfurt am Main 1992, S. 330 – 394. Schiller, Friedrich: „Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen“, in: ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden, hg. von Otto Dann u. a., Bd. 8: Theoretische Schriften, hg. von Rolf-Peter Janz, Frankfurt am Main 1992, S. 556 – 676. Schiller, Friedrich: „Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? (Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet)“, in: ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden, hg. von Otto Dann u. a., Bd. 8: Theoretische Schriften, hg. von Rolf-Peter Janz, Frankfurt am Main 1992, S. 185 – 200. Schlegel, Friedrich: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hg. von Ernst Behler, zweiter Bd.: Charakteristiken und Kritiken I (1796 – 1801), hg. und eingeleitet von Hans Eichner, München/Paderborn/ Wien 1967. Varnhagen von Ense, Karl August: Tagebücher, elfter Bd., Hamburg 1869. Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen. Zum Gebrauche für Vorlesungen, Dritter Theil, zweiter Abschnitt: Die Künste, fünftes Heft: Die Dichtkunst, Stuttgart 1857. Vischer, Friedrich Theodor: „Gottfried Keller. Eine Studie“, in: ders.: Altes und Neues, 2. H., Stuttgart 1881.

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Kommentierte Bibliographie Vischer, Friedrich Theodor: „Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen. §§ 879 – 882: Die epische Dichtung des modernen, charakteristischen Styls oder der Roman“ (1857), in: Romantheorie. Dokumentation ihrer Geschichte in Deutschland 1620 – 1880, hg. von Eberhart Lämmert u. a., Köln/ Berlin 1971, S. 338 – 345. Wieland’s Werke in 40 Bänden, Dreiunddreissigster Theil: Kleinere politische Schriften, Berlin o. J. Wieland, Christoph Martin: „Weibliche Bildung“, in: ders.: Sämmtliche Werke in 36 Bänden, Bd. 36, Leipzig 1858, S. 177 – 183. Wieland, Christoph Martin: Briefwechsel, hg. von der Akademie der Wissenschaften der DDR, Zentralinstitut für Literaturgeschichte, durch Werner Seiffert, dritter Bd.: Briefe der Biberacher Amtsjahre (6. Juni 1760 – 20. Mai 1769), bearbeitet von Renate Petermann und Hans Werner Seiffert, Berlin 1975. Wieland, Christoph Martin: „Anhang [Zusätze und Ergänzungen zur Geschichte des Agathon von 1773, 1794 und 1800]“, in: ders.: Werke in zwölf Bänden, hg. von Gonthier-Louis Fink u. a., Bd. 3: Geschichte des Agathon, hg. von Klaus Manger, Frankfurt am Main 1986, S. 557 – 795. Wolf, Christa: „Lesen und Schreiben“; in: dies.: Die Dimension des Autors. Essays und Aufsätze, Reden und Gespräche 1959 – 1985, Darmstadt/Neuwied 1987, S. 463 – 503.

5. Forschungsliteratur Adamczyk, Rosemarie: Die realitätsbezogene Konstruktion des Entwicklungsromans bei Gottfried Keller, Frankfurt am Main 1988. [Soziologisch-historisch ausgerichtete Untersuchung von Kellers ,Der grüne Heinrich‘.] Ammerlahn, Hellmut: „Wilhelm Meisters Mignon – ein offenes Rätsel: Name, Gestalt, Symbol, Wesen und Werden“, in: DVjs 42 (1968), S. 89 – 116. Ammerlahn, Hellmut: Imagination und Wahrheit. Goethes Künstler-Bildungsroman ,Wilhelm Meisters Lehrjahre‘. Struktur, Symbolik, Poetologie, Würzburg 2003. [Ganzheitlich angelegte Analyse von Goethes ,Wilhelm Meisters Lehrjahre‘, welche die Symbolik des Romans unter Rückgriff auf Goethes ästhetische, epistemologische, biographische und naturwissenschaftliche Schriften.] Assmann, Aleida: Arbeit am nationalen Gedächtnis. Eine kurze Geschichte der deutschen Bildungsidee, Frankfurt am Main/New York 1993. [Interdisziplinäre, essayistische Arbeit zum Zusammenhang von Bildung und Nation. Kurz zur Rezeption antiker und früher christlicher Bildungs-

konzepte. Ausführungen zu Bildungsideen der Aufklärung, zum Verhältnis der Bildung zum Judentum sowie zu Geschichte und Kunst. Zum Teil soziologische Deutungen.] Bae, Jeong-Hee: Erfahrung der Moderne und Formen des realistischen Romans. Eine Untersuchung zu soziogenetischen und romanpoetologischen Aspekten in den späten Romanen von Raabe, Fontane und Keller, Würzburg 2000. Baumann, Günter: „Der Heilige und der Wüstling. Tiefenpsychologische Grundlagen von ,Siddhartha‘ und ,Der Steppenwolf‘“, in: Regina Bucher (Hg.): ,Höllenreise durch mich selbst‘, Zürich 2002, S. 43 – 58. Bartel, Heike: „Marianes Uniform und Philines Pantöffelchen: (Ver)Kleidung in Goethes ,Wilhelm Meisters Lehrjahre‘“, in: dies./Brian Keith-Smith (Hg.): ,Nachdenklicher Leichtsinn‘. Essays on Goethe and Goethe reception, Lewiston u. a. 2000, S. 135 – 154. Beck, Hans-Joachim: Friedrich von Hardenbergs ,Oekonomie des Styls‘. Die ,Wilhelm Meister‘-Rezeption im ,Heinrich von Ofterdingen‘, Bonn 1976. [Vergleichende Betrachtung von Goethes Roman und demjenigen Novalis’, die auch die „außerästhetische Realität“ einbezieht, also vor allem auf ökonomische Fragen eingeht (dies jedoch dezidiert nicht-marxistisch).] Becker, Eva D.: Der deutsche Roman um 1780, Stuttgart 1964. [Dissertation, die sich mit Texten etwa von Goethe, La Roche, Pestalozzi, Wezel, Wieland befasst. Anhand der Stilebene und der Figurenkonstruktionen sollen verschiedene Klassen von Romanen unterschieden werden („hohe“, „niedrige“, „mittlere“). Knappe Ausführungen zum Gesellschaftsbezug der Texte.] Becker-Cantarino, Barbara: „,Die Bekenntnisse einer schönen Seele‘. Zur Ausgrenzung und Vereinnahmung des Weiblichen in der patriarchalen Utopie von ,Wilhelm Meisters Lehrjahren‘“, in: Wolfgang Wittkowski (Hg.): Verantwortung und Utopie. Zur Literatur der Goethezeit. Ein Symposium, Tübingen 1988, S. 70 – 86. Becker-Cantarino, Barbara: Schriftstellerinnen der Romantik. Epoche – Werke – Wirkung, München 2000. [Auseinandersetzung mit den sozialhistorischen Bedingungen weiblichen Schreibens in der Romantik, Kapitel zum Verhältnis von Roman und Patriarchat sowie zu Briefkultur und Geselligkeit. Analysen von Hubers ,Die Familie Seldorf‘, Schlegels ,Florentin‘ sowie von Texten Günderrodes und Arnims.]

Kommentierte Bibliographie Beharriell, Frederick J.: „The Hidden Meaning of Goethe’s ,Bekenntnisse einer schönen Seele‘“, in: Jeffrey L. Sammons/Ernst Schürer (Hg.): Lebendige Form. Interpretationen zur deutschen Literatur, München 1970, S. 37 – 62. Berger, Albert: Ästhetik und Bildungsroman. Goethes ,Wilhelm Meisters Lehrjahre‘, Wien 1977. [Diskussion des Gattungsbegriffs, Erörterungen zu Schillers Aufnahme von ,Wilhelm Meisters Lehrjahre‘. Kapitel zur Ästhetik des Romans und zu deren Zusammenhang mit der Bildungsthematik. Weitgehend textimmanent.] Berndt, Frauke: „,Das Meretlein‘. Zur Ikonographie der Novelle in Gottfried Kellers ,Der grüne Heinrich‘“, in: Harald Tausch (Hg.): Historismus und Moderne, Würzburg 1996, S. 161 – 180. Berndt, Frauke: Anamnesis. Studien zur Topik der Erinnerung in der erzählenden Literatur zwischen 1800 und 1900. Moritz – Keller – Raabe, Tübingen 1999. [Analyse des Verhältnisses von Moritz’ ,Anton Reiser‘, Kellers ,Der grüne Heinrich‘ und Raabes ,Die Akten des Vogelsangs‘ zum Erinnerungsdiskurs. Herstellung von Bezügen zur antiken wie christlichen Ikonographie.] Blos, Peter: Adoleszenz. Eine psychoanalytische Interpretation, Stuttgart 1978. [Die Adoleszenz wird vom Autor in fünf Phasen gegliedert und insgesamt als letzte Stufe der genitalen Phase innerhalb der psychosexuellen Entwicklung aufgefasst.] Bohleber, Werner (Hg.): Adoleszenz und Identität, Stuttgart 1996. Bollenbeck, Georg: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt am Main 1996. [Untersuchung zur Wirkungsmacht der titelgebenden Begriffe in Deutschland vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Anhand der Begriffgeschichte wird ein politischer ,Sonderweg‘ Deutschlands nachgezeichnet.] Born-Wagendorf, Monika: Identitätsprobleme des bürgerlichen Subjekts in der Frühphase der bürgerlichen Gesellschaft. Untersuchungen zu ,Anton Reiser‘ und ,Wilhelm Meister‘, Pfaffenweiler 1989. [Unter Rückgriff auf individualpsychologische wie marxistisch-soziologische Theoreme wird die Identitätsproblematik in den im Titel genannten Werken behandelt.] Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main 1998. [Berühmte Analyse des kulturellen Konsums in der Moderne unter sozialwissenschaftlichen und philosophischen Gesichtspunkten, die auf den Zu-

sammenhang von Geschmacksurteilen und ökonomisch bedingter Klassenzugehörigkeit verweist.] Brandenburg-Frank, Sabine: Mignon und Meret. Schwellenkinder Goethes und Gottfried Kellers, Würzburg 2002. [Zunächst Diskussion des Begriffs der Schwelle, dabei Rekurs auf die Geschichte der Philosophie (Platon, Augustinus, Nietzsche, Heidegger, Benjamin). Anschließend Deutung von Goethes Mignon-Figur etwa unter mythologischen und poetologischen Gesichtspunkten. Bestimmung des Verhältnisses von Goethes ,Wilhelm Meisters Lehrjahre‘ und Kellers ,Der grüne Heinrich‘; Interpretation von Kellers Meret-Figur.] Brenner, Anne: Leseräume. Untersuchungen zu Lektüreverfahren und -funktionen in Gottfried Kellers Roman ,Der grüne Heinrich‘, Würzburg 2000. [Dissertation, die sich der Kunstrezeption von Kellers Protagonisten und ihrer Bedeutung für seine Identitätsbildung widmet. Orientierung an Lacans Psychoanalyse und Kristevas Intertextualitätstheorie sowie Foucaults Diskursanalyse und dekonstruktivistischen Lektüreverfahren.] Britsch, Eckhard: „Von einer die auszog, das Lesen zu lernen. Ulla Hahn schreibt mit ,Das verborgene Wort‘ einen anrührenden Bildungsroman“, in: Neue Westfälische (Bielefelder Tageblatt), 3. 10. 2001. Buddecke, Wolfram: C. M. Wielands Entwicklungsbegriff und die Geschichte des Agathon, Göttingen 1966. [Untersuchung des Begriffs der ,Entwicklung‘ in philosophischen und pädagogischen Schriften Wielands, zudem überwiegend textimmanente Analyse der letzten Fassung der ,Geschichte des Agathon‘.] Calhoon, Kenneth S.: Fatherland. Novalis, Freud, and the Discipline of Romance, Detroit 1992. [Ausführlich auf Freuds Psychoanalyse rekurrierender Versuch, das Denken der Romantik als wesentlich durch ,Trauerarbeit‘ geprägt zu bestimmen. Vielfache Bezugnahmen auf Goethes ,Wilhelm Meisters Lehrjahre‘, vor allem aber auf Novalis‘ ,Heinrich von Ofterdingen‘.] Campe, Joachim: Der programmatische Roman. Von Wielands ,Agathon‘ zu Jean Pauls ,Hesperus‘, Bonn 1979. [Psychologisch und marxistisch operierende Arbeit zu Wielands ,Geschichte des Agathon‘, Hippels ,Lebensläufe in aufsteigender Linie‘ und Jean Pauls ,Hesperus‘.] Chiellino, Carmine: Am Ufer der Fremde. Literatur und Arbeitsmigration 1870 – 1991, Stuttgart/Weimar 1995.

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Kommentierte Bibliographie [Umfassende Darstellung der Literatur ausländischer Autorinnen und Autoren in der Bundesrepublik seit den 1950er Jahren.] Cocalis, Susan L.: „The Transformation of Bildung from an Image to Ideal“, in: Monatshefte für deutschen Unterricht, deutsche Sprache und Literatur 70 (1978), S. 399 – 414. Curran, Jane V.: Goethe’s Wilhelm Meister’s Apprenticeship. A Reader’s Commentary, Rochester 2002. [Umfangreicher Kommentar zu ,Wilhelm Meisters Lehrjahre‘, der narrative Techniken, intertextuelle Bezüge, symbolische Bedeutungen, den historischen Kontext des Romans sowie Parallelen des Plots zur Biographie Goethes erschließt.] Czernin, Monika: „,Bin wieder da!‘ Die Autorin Ulla Hahn überrascht mit ihrem neuen Werk ,Das verborgene Wort‘“, in: Focus Nr. 34, 20.08.2001. Dahnke, Hans-Dietrich: „Novalis ,Heinrich von Ofterdingen‘, erstes Kapitel: Das Erwachen eines Dichters“, in: Werkinterpretationen zur deutschen Literatur, von einem Autorenkollektiv unter Leitung von Horst Hartmann, Berlin (DDR) 1986, S. 79 – 95. Decloedt, Leopold R.G.: „,Siddhartha. Eine indische Dichtung‘. Die künstlerische Darstellung einer Selbstfindung“, in: Germanistische Mitteilungen 30 (1989), S. 9 – 21. Dick, Anneliese: Weiblichkeit als natürliche Dienstbarkeit. Eine Studie zum klassischen Frauenbild in Goethes ,Wilhelm Meister‘, Frankfurt am Main u. a. 1986. [Enthält die Untersuchung zahlreicher Frauenfiguren aus ,Wilhelm Meisters Lehrjahre‘ und feministische Kritik am Frauenbild der deutschen Klassik.] Didon, Sybille: Kassandrarufe. Studien zu Vorkrieg und Krieg in Christa Wolfs Erzählungen ,Kindheitsmuster‘ und ,Kassandra‘, Stockholm 1992. [Untersuchung des Zusammenhangs von autoritärer Erziehung, Patriarchat und Krieg anhand der Texte Wolfs, inklusive eines Forschungsüberblicks. An Wolfgang Iser orientierte rezeptionsästhetische Ausrichtung.] Dornheim, Nicolás Jorge: „Wilhelm Meisters Schwestern. Weibliche Lehrjahre im Bildungsroman“, in: Jura Soyfer 7 (1998), H. 3, S. 22 – 26. Eckle, Jutta: „Er ist wie ein jüngerer Bruder von mir“. Studien zu Johann Wolfgang von Goethes ,Wilhelm Meisters theatralische Sendung‘ und Karl Philipp Moritz ,Anton Reiser‘, Würzburg 2003. [Umfangreiche Dissertation, die Kunst als Definitionsfeld und Reflexionsraum von Identität fasst und zunächst die Textgrundlage und Entstehungsgeschichte beider Romane dokumentiert. Darlegung der biographischen Beziehungen von Goethe und Moritz, Diskussion von Aspekten wie ,Lesesucht‘

und ,Theatromanie‘, Beschäftigung mit intertextuellen und narratologischen Zusammenhängen.] Ehrensperger, Oskar Serge: Die epische Struktur in Novalis’ ,Heinrich von Ofterdingen‘. Eine Interpretation des Romans, Winterthur 21971. [Strukturalistische Analyse der Erzählweise Novalis’.] Ehrich-Haefeli, Verena: „Vaters Haus und weite Welt: Heimat und Fremde. Zur Ausfahrt des Helden im ,Wilhelm Meister‘ und im ,Grünen Heinrich‘“, in: Eijiro Iwasaki (Hg.): Begegnung mit dem ,Fremden‘. Grenzen – Traditionen – Vergleiche, Bd. 9: Sektion 15: Erfahrene und imaginierte Fremde, hg. von Yoshinori Shichiji, München 1991, S. 352 – 360. Ehrich-Haefeli, Verena: „Rousseaus Sophie und ihre deutschen Schwestern. Zur Entstehung der bürgerlichen Geschlechterideologie“, in: Herbert Jaumann (Hg.): Rousseau in Deutschland. Neue Beiträge zur Erforschung seiner Rezeption, Berlin/ New York 1995, S. 115 – 162. Ehrich-Haefeli, Verena: „Natur und Weiblichkeit. Zur Ausarbeitung der bürgerlichen Geschlechterideologie von Rousseau bis Schiller“, in: Jürgen Söring/Peter Gasser (Hg.): Rousseauismus. Naturevangelium und Literatur, Bern/Frankfurt am Main/New York 1999, S. 155 – 197. Eichner, Hans: „Zur Deutung von ,Wilhelm Meisters Lehrjahren‘“, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts (1966), S. 165 – 196. Eikels, Kai van: Zeitlektüren: Ansätze zu einer Kybernetik der Erzählung, Würzburg 2002. [Umfangreiche Dissertation, welche die Organisation von Zeitlichkeit im Erzählen analysiert. Zahlreiche Bezüge zu moderner und postmoderne Philosophie. Veranschaulichung der Theorie anhand einer komplexen Analyse des ,Heinrich von Ofterdingen‘.] Emmel, Hildegard: Was Goethe vom Roman der Zeitgenossen nahm. Zu ,Wilhelm Meisters Lehrjahre‘, Bern/München 1972. [Schmale Untersuchung der intertextuellen Beziehungen zwischen ,Wilhelm Meisters Lehrjahre‘ und Wielands ,Geschichte des Agathon‘ sowie Moritz‘ ,Anton Reiser‘.] Enayat, Edda: Gottfried Keller: ,Der grüne Heinrich‘. Versuch einer literaturpsychologischen Werkanalyse, Freiburg 1985. [An Freuds Theorien ausgerichtete Arbeit zur zweiten Fassung des Romans. Untersucht werden besonders das Verhältnis des Protagonisten zu Vater und Mutter sowie seine psychischen Konflikte und persönlichen Defizite.] Engelhardt, Ulrich: Bildungsbürgertum. Begriffs- und Dogmengeschichte eines Etiketts, Stuttgart 1986.

Kommentierte Bibliographie [Sozialgeschichtliche Arbeit, die den spezifisch deutschen und protestantischen Traditionen nachgeht, welche den Begriff des Bildungsbürgertums prägen. Der Schwerpunkt liegt auf dem 19. Jahrhundert, weniger ausführliche Erörterungen aber auch zum Mittelalter und zur Frühen Neuzeit, zum 18. und zum 20. Jahrhundert.] Erhart, Walter: Entzweiung und Selbstaufklärung. Christoph Martin Wielands ,Agathon‘-Projekt, Tübingen 1991. [Verbindet Analyse der ,Geschichte des Agathon‘, die in Wielands Gesamtwerk verortet wird, mit allgemeineren Erörterungen zur Funktionsgeschichte der Literatur im 18. Jahrhundert. Ausführliche Rekonstruktion zentraler ästhetischer und politischer Diskurse der Zeit.] Farrelly, Daniel J.: Goethe and Inner Harmony. A Study of the ,Schöne Seele‘ in the ,Apprenticeship of Wilhelm Meister‘, Shannon 1973. [Überwiegend textnahe Arbeit zum ,Bekenntnisse einer schönen Seele‘ betitelten sechsten Buch von ,Wilhelm Meisters Lehrjahre‘. Mitunter Herstellung von Bezügen zum zeitgenössischen philosophischen wie religiösen Denken.] Fick, Monika: Das Scheitern des Genius. Mignon und die Symbolik der Liebesgeschichten in ,Wilhelm Meisters Lehrjahre‘, Würzburg 1987. [Textnahe Untersuchung der im Untertitel genannten Aspekte, die sich ausführlich mit der vorangegangenen Goethe-Forschung auseinandersetzt.] Finck, Almut: „Subjektivität und Geschichte in der Postmoderne. Christa Wolfs ,Kindheitsmuster‘“, in: Michaela Holdenried (Hg.): Geschriebenes Leben. Autobiographik von Frauen, Berlin 1995, S. 311 – 323. Findeis, Annakutty Valiamangalam K.: „Weibliche Elemente in der indischen Religion und Philosophie und deren Aufnahme in der deutschen Literatur am Beispiel von Hesses ,Siddhartha‘“, in: German Studies in India 11 (1987), S. 95 – 101. Flaake, Karin/Vera King (Hg.): Weibliche Adoleszenz. Zur Sozialisation junger Frauen, Frankfurt am Main/New York 1992. Frevert, Ute (Hg.): Bürgerinnen und Bürger. Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert, Göttingen 1988. Frieden, Sandra: „,Falls es strafbar ist, die Grenzen zu verwischen‘. Autobiographie, Biographie und Christa Wolf“, in: Angela Drescher (Hg.): Christa Wolf. Ein Arbeitsbuch: Studien, Dokumente, Bibliographie, Frankfurt am Main 1990, S. 121 – 139. Fuhrmann, Helmut (Hg.): Wilhelm Meister und seine Nachfahren: Franz Sternbald, Julius und Heinrich von Ofterdingen, Heinrich Lee und Hans Castorp.

Vorträge des 4. Kasseler Goethe-Seminars, Kassel 2000. Gaál-Baróti, Márta: „Erinnerung und Ahnung in ,Wilhelm Meisters Lehrjahre‘ und ,Heinrich von Ofterdingen‘“, in: Wolfgang Stellmacher/László Tarnói (Hg.): Goethe. Vorgaben, Zugänge, Wirkungen, Frankfurt am Main u. a. 2000, S. 183 – 195. Gättens, Marie-Luise: „Mädchenerziehung im Faschismus. Die Rekonstruktion der eigenen Geschichte in Christa Wolfs ,Kindheitsmuster‘“, in: Sylvia Wallinger/Monika Jonas (Hg.): Der Widerspenstigen Zähmung. Studien zur bezwungenen Weiblichkeit in der Literatur vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Innsbruck 1986, S. 281 – 293. Gallas, Helga/Magdalena Heuser (Hg.): Untersuchungen zum Roman von Frauen um 1800, Tübingen 1990. Gansel, Carsten: „Von Angst, Unsicherheit und anthropologischen Konstanten. Modernisierung und Adoleszenzdarstellung bei Hermann Hesse“, in: Andreas Solbach (Hg.): Hermann Hesse und die literarische Moderne. Kulturwissenschaftliche Facetten einer literarischen Konstante im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2004, S. 224 – 255. Geppert, Klaus: Die Theorie der Bildung im Werk des Novalis, Frankfurt am Main/Bern/Las Vegas 1977. [Arbeit, die sich dem Gesamtwerk Novalis’ mit dezidiert pädagogischem Interesse nähert, aber auch geschichtsphilosophische Aspekte behandelt.] Gille, Klaus: ,Wilhelm Meister‘ im Urteil der Zeitgenossen. Ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte Goethes, Assen 1971. [Darstellung der Rezeption der ,Wilhelm Meister‘Romane zu Lebzeiten Goethes. Kapitel zu Schiller, Herder, Humboldt, zur Kritik der Romantiker und des Jungen Deutschland.] Greiner, Bernhard: „Puppenspiel und Hamlet-Nachfolge: Wilhelm Meisters ,Aufgabe‘ der theatralischen Sendung“, in: Euphorion 83 (1989), S. 281 – 296. Grimminger, Rolf: Die Ordnung, das Chaos und die Kunst. Für eine neue Didaktik der Aufklärung, Frankfurt am Main 1986. [Diskussion des ästhetischen Denkens der Aufklärung, etwa bei Kant und Schlegel. Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Kunst und Natur und mit den ,Wilhelm Meister‘-Romanen Goethes. Immer wieder Rekurse auf postmoderne Vernunftkritik.] Gross, Sabine: „Diskursregelung und Weiblichkeit: Mignon und ihre Schwestern“, in: Gerhart Hoffmeister (Hg.): Goethes Mignon und ihre Schwestern. Interpretationen und Rezeption, New York 1993, S. 83 – 99.

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Kommentierte Bibliographie Growe, Ulrike: Erfinden und Erinnern. Typologische Untersuchungen zu Christa Wolfs Romanen ,Kindheitsmuster‘, ,Kein Ort. Nirgends‘ und ,Kassandra‘, Würzburg 1988. [Arbeit, die sich mit dem Problem der Autobiographik sowie der Identitätsbildung in den im Titel angeführten Texten Wolfs auseinandersetzt.] Gundolf, Friedrich: Goethe, Berlin 91920. [Monumentale Studie des berühmten Goethe-Forschers zum Leben und zum gesamten Werk Goethes.] Gutjahr, Ortrud: „,Erinnerte Zukunft‘. Gedächtnisrekonstruktion und Subjektkonstitution im Werk Christa Wolfs“, in: Wolfram Mauser (Hg.): Erinnerte Zukunft. 11 Studien zum Werk Christa Wolfs, Würzburg 1985, S. 53 – 80. Gutjahr, Ortrud/Wilhelm Kühlmann/Wolf Wucherpfennig (Hg.): Gesellige Vernunft. Zur Kultur der literarischen Aufklärung. Festschrift für Wolfram Mauser, Würzburg 1993. Gutjahr, Ortrud: „Das verdrängte Weibliche in Karl Philipp Moritz’ ,Anton Reiser‘“, in: Recherches Germaniques 26 (1996), S. 19 – 40. Gutjahr, Ortrud: „Der romantische Dichter als Mutter-Sohn in Novalis’ Bildungsroman ,Heinrich von Ofterdingen‘“, in: Irmgard Roebling/Wolfram Mauser (Hg.): Mutter und Mütterlichkeit. Wandel und Wirksamkeit einer Phantasie in der deutschen Literatur. Festschrift für Verena Ehrich-Haefeli, Würzburg 1996, S. 165 – 185. Gutjahr, Ortrud (Hg.): Adoleszenz, Würzburg 1997. Gutjahr, Ortrud: „Theaterfest und Liebesspiel. Zur Theatralität der Premierenfeier in Goethes ,Wilhelm Meisters Lehrjahre‘“, in: Denise Blondeau (Hg.): Jeux et fÞtes dans l‘œuvre de J. W. Goethe, Straßburg 2000, S. 147 – 162. Hage, Volker: „,Das Intimste formulieren.‘ Interview mit Ulla Hahn“, in: Der Spiegel Nr. 34, 20. 8. 2001. Haider-Pregler, Hilde: Des sittlichen Bürgers Abendschule. Bildungsanspruch und Bildungsauftrag des Berufstheaters im 18. Jahrhundert, Wien u. a. 1980. [Umfassende Darstellung der gesellschaftlichen und politischen Funktionen des Theaters im 18. Jahrhundert und seines Verhältnisses zu Staat, Kirche, Literatur, Poetologie und Zeitschriftenwesen. Als exemplarischer Fall wird die Entwicklung des Wiener Theaters untersucht.] Hammel, Walter: Wege der Bildung: Geschichte des Bildungsverständnisses, Hamburg 1996. [Kurze Bestimmung des Humanitäts-Begriffs, zudem Abriss der Geschichte des Humanismus von der griechischen und römischen Antike bis in die Gegenwart. Kritik des humanistischen Bildungskonzepts.]

Hardin, James Neal (Hg.): Reflection and Action. Essays on the Bildungsroman, Columbia 1991. Hemmerich, Gerd: Christoph Martin Wielands ,Geschichte des Agathon‘. Eine kritische Werkinterpretation, Nürnberg 1979. [Schmale textimmanente Studie zu einigen Motiven und Figuren in Wielands ,Geschichte des Agathon‘.] Hentig, Hartmut von: Bildung. Ein Essay, München 1996. [Beschäftigung mit allgemeinen Fragen zur Bildung, etwa nach ihren Gegenständen und nach verschiedenen Bildungsidealen. Ablehnung der Kanonisierung von Bildungsgütern und deren Ausrichtung an beruflichen Qualifikationsprofilen. Kritik an der Schulpraxis und Vorschläge zu ihrer Verbesserung.] Herde, Christiane: Jenseits der Moralsysteme: Philosophische Gespräche in Wielands ,Geschichte des Agathon‘, Darmstadt 2000. [Anhand der ,Geschichte des Agathon‘ wird Wielands Ablehnung der philosophischen Systemen Spinozas und Leibniz‘ sowie ferner Rousseaus vorgeführt.] Heuser, Magdalene: „,Spuren trauriger Selbstvergessenheit‘. Möglichkeiten eines weiblichen Bildungsromans um 1800: Friederike Helene Unger“, in: Albrecht Schöne (Hg.): Kontroversen, alte und neue, Bd. 6, Tübingen 1986, S. 3 – 42. Hörisch, Jochen: „,Übergang zum Endlichen‘. Zur Modernität des ,Heinrich von Ofterdingen‘“, in: Novalis: Heinrich von Ofterdingen, hg. von Jochen Hörisch, mit zeitgenössischen Abbildungen, Frankfurt am Main 1982, S. 221 – 242. Holdenried, Michaela: „Christa Wolf: ,Kindheitsmuster‘“, in: Romane des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2003, Bd. 3, S. 87 – 107. Honegger, Claudia: Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaft vom Menschen und das Weib 1750 – 1859, Frankfurt am Main u. a. 1992. [Historisch-kultursoziologische Studie, welche die Entwicklung der Frauenrolle vom späten 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts in politischen, psychologischen und im physiologischen Diskursen nachvollzieht.] Horstkotte, Silke: „Wilhelm Meisters Mignon und die Ambivalenz der Autorschaft“, in: German Life and Letters 57 (2004), S. 143 – 157. Hsia, Adrian: „,Siddhartha‘, Schopenhauer und die Öffnung des deutschen Geistes“, in: Michael Limberg (Hg.): Hermann Hesses ,Siddhartha‘, Stuttgart 2002, S. 90 – 102. Jacobs, Angelika: „Fragile Idole der Moderne. Die Buddha-Figur bei Victor Segalen, Fritz Mauthner und Hermann Hesse“, in: Andreas Solbach (Hg.):

Kommentierte Bibliographie Hermann Hesse und die literarische Moderne. Kulturwissenschaftliche Facetten einer literarischen Konstante im 20. Jahrhundert. Aufsätze und Materialien, Frankfurt am Main 2004, S. 322 – 354. Jacobs, Jürgen: „Fehlrezeption und Neuinterpretation von Wielands ,Agathon‘. Anmerkungen zu einem neuen Deutungsvorschlag“, in: WielandStudien 3 (1996), S. 273 – 281. Janz, Rolf-Peter: „Schwindel – ein befremdlicher Zustand. Zu Goethes ,Mignon‘“, in: Alexander Honold/Manuel Köppen (Hg.): ,Die andere Stimme‘. Das Fremde in der Kultur der Moderne. Festschrift für Klaus R. Scherpe zum 60. Geburtstag, Köln u. a. 1999, S. 299 – 309. Jirku, Brigitte E.: „Mignon: Rätsel oder Geheimnis“, in: Monatshefte für deutschsprachige Literatur und Kultur 92 (2000), Nr. 3, S. 283 – 301. Jochimsen, Maren: Die Poetisierung der Ökonomie. Novalis’ Thesen im ,Heinrich von Ofterdingen‘ als Anregungen zu einer ökologieorientierten Ökonomie, Stuttgart 1992. [Dissertation, die das Verhältnis von Poesie und Ökonomie in Novalis’ Roman zu bestimmen sucht und sich dabei eines hermeneutisch und literatursoziologisch ausgerichteten Vorgehens bedient.] Kämpchen, Martin: „Zwischen Upanishaden und Kamasutra: Hermann Hesses ,Siddhartha‘ vor dem Hintergrund der indischen Philosophie“, in: Michael Limberg (Hg.): Hermann Hesses ,Siddhartha‘, Stuttgart 2002, S. 75 – 89. Kaiser, Gerhard: Gottfried Keller. Das gedichtete Leben, Frankfurt am Main 1981. [Monographie, die Kellers Gesamtwerk zu erhellen sucht und dabei stets Verbindungen zur Biographie des Autors herstellt.] Karakus, Mahmut: „E. S. Özdamars Roman ,Die Brücke vom Goldenen Horn‘. Auf der Suche nach einer verlorenen Generation“, in: Manfred Durzak/Nilüfer Kuruyazici (Hg.): Interkulturelle Begegnungen. Festschrift für Sara Sayin, Würzburg 2004, S. 37 – 47. Kawa, Rainer: Wilhelm Meister und die Seinigen. Studien zu Metamorphose und Spiegelung beim Figurenensemble der ,Lehrjahre‘ von Johann Wolfgang von Goethe, Bucha bei Jena 2000. [Sammlung verschiedener Aufsätze, die unter Rückgriff auf Intertextualitätstheoreme die Beziehungen von (vornehmlich weiblichen) Figuren aus ,Wilhelm Meisters Lehrjahre‘ zu mythologischen, historischen und literarischen Gestalten aufzudecken streben.] Keppel-Kriems, Karin: Mignon und Harfner in Goethes ,Wilhelm Meister‘. Eine geschichtsphilosophische und kunsttheoretische Untersuchung zu

Begriff und Gestaltung des Naiven, Frankfurt am Main u. a. 1986. [Ausführungen zu Geschichtskonzeptionen von der Antike bis zur Romantik. Ausführliche Beschäftigung mit dem Begriff des Naiven in der Ästhetik des 18. Jahrhunderts. Auseinandersetzung mit der Mignon-Figur, dem Bildungsprozess des Protagonisten und weiteren Aspekten der ,Wilhelm Meister‘-Romane.] Kessel, Ruth M.: Sprechen – Schreiben – Schweigen. Mutterbindung und Vaterimago des ,Grünen Heinrich‘ im Spiegel seines kommunikativen Verhaltens, Frankfurt am Main u. a. 1988. [Textnahe Untersuchung der späten Fassung von ,Der grüne Heinrich‘; das Handeln des Protagonisten wird jedoch auch entwicklungspsychologisch und mit Blick auf das Geschlechterverhältnis gedeutet. Außerdem werden Verbindungslinien zwischen Kellers Roman und der Kaspar-Hauser-Thematik gezogen.] Kieß, Martina: Poesie und Prosa. Die Lieder in ,Wilhelm Meisters Lehrjahren‘, Frankfurt am Main 1987. [Textimmanente Interpretation der Lieder und Gedichte sowie der Sängerfiguren in Goethes ,Wilhelm Meisters Lehrjahre‘.] Kim, Nury: Allegorie oder Authentizität. Zwei ästhetische Modelle der Aufarbeitung der Vergangenheit. Günter Grass’ ,Die Blechtrommel‘ und Christa Wolfs ,Kindheitsmuster‘, Frankfurt am Main u. a. 1995. [Untersuchung des Zusammenhangs von literarischer Form und dem Erzählten sowie immanenter Gesellschaftskritik in den im Titel benannten Romanen von Grass und Wolf.] Kittler, Friedrich A.: „Über die Sozialisation Wilhelm Meisters“, in: Gerhard Kaiser/Friedrich A. Kittler: Dichtung als Sozialisationsspiel. Studien zu Goethe und Gottfried Keller, Göttingen 1978, S. 13 – 124. Klein, Erdmute: „,Der Mensch ist frei‘. Friedrich Schiller als Entwicklungshelfer für pubertierende Mädchen? In den Hungerjahren der Wohlstandsgesellschaft hieß Lesen Befreiung“, in: Rheinischer Merkur Nr. 41, 12. 10. 2001. König, Julia: Das Leben im Kunstwerk. Studien zu Goethes Mignon und ihrer Rezeption, Frankfurt am Main u. a. 1991. [Untersuchung der Mignon-Figur als „Mythos“. Analyse der Figur in Goethes ,Wilhelm Meister‘Romanen, Darstellung ihrer literarischen Rezeption bis in die heutige Zeit.] Kohn, Brigitte: „Denn wer die Weiber haßt, wie kann der leben?“ Die Weiblichkeitskonzeption in Goethes ,Wilhelm Meisters Lehrjahren‘ im Kon-

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Kommentierte Bibliographie text von Sprach- und Ausdruckstheorie des ausgehenden 18. Jahrhunderts, Würzburg 2001. [Umfangreiche Arbeit, die sprachtheoretische und feministische Analyseverfahren zu verbinden strebt. Der Weiblichkeitsdiskurs wird gemeinsam mit dem Prozess der Herausbildung moderner Individualität untersucht. Einbezogen werden sowohl Autoren wie Rousseau, Herder und Moritz als auch neuere Theorien, etwa von Michel Foucault und Judith Butler.] Koselleck, Reinhart: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1979. [Einflussreiche Analyse geschichtlicher Zeiterfahrungen und Zeitbegriffe auf Grundlage sprachlicher Zeugnisse und sozialhistorischer Daten.] Krause, Markus: „Zwischen Autonomie und Solidarität. Anmerkungen zum Bildungsroman der Studentenbewegung“, in: Wirkendes Wort 40 (1990), S. 394 – 407. Kucher, Primus-Heinz: „Emine Sevgi Özdamar und ihr Roman ,Die Brücke vom Goldenen Horn‘“, in: Werner Wintersteiner (Hg.): Literarische Neuerscheinungen, Innsbruck 2003, S. 66 – 71. Labovitz, Esther Kleinbord: The Myth of the Heroine. The Female Bildungsroman in the Twentieth century: Dorothy Richardson, Simone de Beauvoir, Doris Lessing, Christa Wolf, New York 1988. [Feministische Arbeit zu Bildungsromanen der im Titel genannten Autorinnen. Im Zentrum der Untersuchung stehen die Darstellung des Geschlechterverhältnisses, Fragen der Identitätsbildung der Protagonistinnen sowie autobiographische Aspekte der Texte.] Ladendorf, Ingrid: Zwischen Tradition und Revolution. Die Frauengestalten in ,Wilhelm Meisters Lehrjahren‘ und ihr Verhältnis zu deutschen Originalromanen des 18. Jahrhunderts, Frankfurt am Main u. a. 1990. [Untersuchung des Rollenverständnisses weiblicher Figuren Goethes, der von diesen vertretenen Liebes- und Tugendkonzeptionen sowie ihrer Einbindung in das Handlungsschema. Ein besonderes Augenmerk gilt intertextuellen Zusammenhängen, herangezogen werden alle noch erhältlichen zwischen 1750 und 1770 erschienenen deutschen Romane mit weiblicher Hauptfigur.] Lämmert, Eberhart: „Nachwort“, in: Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman, Faksimiledruck der Originalausgabe von 1774, Stuttgart 1965, S. 541 – 583. Lange, Horst: Vermittlungsformen des Ideals. Rezeptionsästhetische Studien zu den Bildungsromanen Fieldings und Wielands ,Tom Jones‘ und ,Agathon‘, Konstanz 1979.

[Komparatistische Studie, die sich gegen auf den deutschen Nationalcharakter rekurrierende Versuche der Bestimmung der Gattung Bildungsroman wendet.] Laufhütte, Hartmut: Wirklichkeit und Kunst in Gottfried Kellers Roman ,Der Grüne Heinrich‘, Bonn 1969. [Dissertation, die Kellers ,Der grüne Heinrich‘ auf ästhetischer und ideengeschichtlicher Ebene behandelt. Versuch, eine dem Roman eigene dualistische Struktur als dessen Hauptcharakteristikum nachzuweisen.] Laufhütte, Hartmut: „Entwicklungs- und Bildungsroman in der deutschen Literaturwissenschaft. Die Geschichte einer fehlerhaften Modellbildung und ein Gegenentwurf“, in: Michael Titzmann (Hg.): Modelle des literarischen Strukturwandels, Tübingen 1991, S. 299 – 314. Lehnert, Gertrud (Hg.): Inszenierungen von Weiblichkeit. Weibliche Kindheit und Adoleszenz in der Literatur des 20. Jahrhunderts, Opladen 1996. Liebsch, Dimitri: Die Geburt der ästhetischen Bildung aus dem Körper der antiken Plastik. Zur Bildungssemantik im ästhetischen Diskurs zwischen 1750 und 1800, Hamburg 2001. [Analyse des Zusammenhangs von Bildung und Ästhetik in den theoretischen Werken von Winckelmann, Wieland, Herder, Forster, Humboldt und Schiller; jedem Autor ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Dabei kritische Orientierung an den Arbeiten Niklas Luhmanns.] Mähl, Hans Joachim: Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis. Studien zur Wesenbestimmung der frühromantischen Utopie und zu ihren ideengeschichtlichen Voraussetzungen, Heidelberg 1965. [In der ersten Hälfte breit angelegte geistesgeschichtlich orientierte Analyse der Idee des goldenen Zeitalters in der griechischen wie römischen Antike und im christlichen wie im jüdischen Denken vom Mittelalter bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Ausführliche Untersuchung der Aufnahme dieser Idee im gesamten Werk Novalis’.] Mahoney, Dennis F.: The Critical Fortunes of a Romantic Novel: Novalis’s ,Heinrich von Ofterdingen‘, Columbia 1994. [Darstellung der internationalen Rezeption des ,Heinrich von Ofterdingen‘ von 1802 bis 1992.] Mahoney, Dennis F.: „The French Revolution and the Bildungsroman“, in: Gerhart Hoffmeister (Hg.): The French Revolution and the Age of Goethe, Hildesheim 1989, S. 127 – 143. Mahoney, Dennis F.: „The Apprenticeship of the Reader. The Bildungsroman of the ,Age of Goethe‘“, in: James Neal Hardin (Hg.): Reflection and Ac-

Kommentierte Bibliographie tion. Essays on the Bildungsroman, Columbia 1991, S. 97 – 117. Mahr, Johannes: Übergang zum Endlichen. Der Weg des Dichters in Novalis’ ,Heinrich von Ofterdingen‘, München 1970. [Textimmanente Deutung der Entwicklungsgeschichte in Novalis‘ Roman.] Mani, B. Venkat: „The Good Woman of Istanbul. Emine Sevgi Özdamar’s ,Die Brücke vom Goldenen Horn‘“, in: Gegenwartsliteratur 2 (2003), S. 29 – 58. Martini, Fritz: „Der Bildungsroman. Zur Geschichte des Wortes und der Theorie“, in: DVjs 35 (1961), S. 44 – 63. Marx, Friedhelm: Erlesene Helden. Don Sylvio, Werther, Wilhelm Meister und die Literatur, Heidelberg 1995. [Auf psychologische Aspekte und besonders auf Phänomene der Intertextualität abzielende Studie zu den im Titel genannten Romanen Wielands und Goethes.] May, Anja: Wilhelm Meisters Schwestern. Bildungsromane im ausgehenden 18. Jahrhundert: ,Geschichte des Fräuleins von Sternheim‘ und ,Julchen Grünthal‘, Königstein 2006. [Dissertation, die anhand der beiden Romane von La Roche und Unger die Kennzeichnungen eines weiblichen Bildungsromans zu erläutern trachtet.] Mayer, Gerhart: „Die Begründung des Bildungsromans durch Wieland. Die Wandlung der ,Geschichte des Agathon‘“, in: Jahrbuch der RaabeGesellschaft (1970), S. 7 – 36. Mayer, Mathias: Selbstbewußte Illusion. Selbstreflexion und Legitimation der Dichtung im ,Wilhelm Meister‘, Heidelberg 1989. [Deutung der ,Wilhelm Meister‘-Romane vor dem Hintergrund der Kunsttheorie Friedrich Schlegels. Besonderes Gewicht wird auf die Untersuchung der poetologischen Selbstreflexion in den Texten Goethes gelegt. In diesem Zusammenhang Exkurse zu Shakespeare und Kafka.] Meier, Hans: Gottfried Kellers ,Grüner Heinrich‘. Betrachtungen zum Roman des poetischen Realismus, Zürich/München 1977. [Werkimmanente, der Staiger-Schule anhängende Interpretation des Romans.] Meurer, Thomas: „Das ,Meretlein‘. Anmerkungen zu einem vernachlässigten Problem in Gottfried Kellers ,Grünem Heinrich‘“, in: Wirkendes Wort 44 (1994), H. 1, S. 40 – 46. Meyer-Gosau, Frauke: „Eine Bohne namens Heldejaad. Ulla Hahn rankt sich an einer rheinischen Kindheit hoch“, in: Literaturen Nr. 9, September 2001.

Michels, Volker: „,Der ganze Osten atmet Religion‘: ,Siddhartha‘ und Hermann Hesses Beziehung zu Indien und China“, in: Regina Bucher (Hg.): „Höllenreise durch mich selbst“ – Hermann Hesse: Siddhartha, Steppenwolf, Zürich 2002, S. 189 – 210. Mohr, Peter: „Wörter als Schutzschild und Rettungsanker. Kleinbürgerliches Panorama der AdenauerÄra: Ulla Hahns Roman ,Das verborgene Wort‘“, in: Landshuter Zeitung, 1. 9. 2001. Moritz, Julia: „Das Fremde als das Andere. Künstlerische Aneignung der (buddhistischen) Quellen in Hermann Hesses ,Siddhartha‘“, in: Rüdiger Sareika (Hg.): Von ,Siddhartha‘ zum ,Steppenwolf‘. Fremdheitserfahrung und Weltethos bei Hermann Hesse, Iserlohn 2004, S. 75 – 105. Müller, Dominik: Wiederlesen und weiterschreiben: Gottfried Kellers Neugestaltung des ,Grünen Heinrich‘; mit einer Synopse der beiden Fassungen, Bern u. a. 1988. [Dissertation, die Struktur, Erzählsituation und Figurenensemble des Romans analysiert und sich insbesondere mit den Unterschieden der beiden Fassungen auseinandersetzt.] Neis, Edgar: Erläuterungen zu Hermann Hesse, ,Demian‘, ,Siddharta‘, ,Der Steppenwolf‘, 8., neubearb. Aufl., Hollfeld 1991. [Schmales Bändchen für den Schulgebrauch. Enthält biographische Informationen zum Autor, kurze Inhaltsangaben der Werke sowie Deutungsansätze.] Neumann, Michael: Roman und Ritus. Wilhelm Meisters Lehrjahre, Frankfurt am Main 1992. [Konzentration auf die Initiationsrituale, die Goethes Protagonist durchläuft. Der Ausbruch aus der väterlichen Ordnung wird mit Hilfe ethnologischer wie religionswissenschaftlicher Theorien der Initiation gedeutet.] Øhrgaard, Per: Die Genesung des Narcissus. Eine Studie zu Goethe: ,Wilhelm Meisters Lehrjahre‘, Kopenhagen 1978. [Ausführliche psychologische Analyse der Figuren in ,Wilhelm Meisters Lehrjahre‘.] Owren, Heidi: Herders Bildungsprogramm und seine Auswirkungen im 18. und 19. Jahrhundert, Heidelberg 1985. [Ausführungen zu den Ursprüngen des Humanismus in der antiken Philosophie, dann Abriss des Bildungswegs Herders. Hauptteil informiert über die philosophischen und allgemeinen pädagogischen Grundlagen von Herders Bildungsvorstellungen sowie seine der Schulpraxis gewidmeten Schriften. Analyse der Herder-Rezeption Humboldts, Jean Pauls, Stifters.] Petrowski, Andrejs: Weltverschlinger, Manipulatoren

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Kommentierte Bibliographie und Schwärmer. Problematische Individualität in der Literatur des späten 18. Jahrhunderts, Heidelberg 2002. [Komparatistische Arbeit zum problematischen Verhältnis von Individuum und Welt in Schriften von de Sade, Rousseau, Laclos, Diderot, Wieland, Goethe sowie verschiedenen Schauerromanen. Dabei Rückgriff auf Diskursanalyse (Foucault) und Systemtheorie (Luhmann).] Pfeifer, Martin: Hermann Hesse, ,Siddhartha‘ ,Der Steppenwolf‘. Zum Verständnis seiner Prosa, Erläuterungen, didaktisch-methodische Hinweise, 6. überarb. Aufl., Hollfeld 2003. [Schmales Werk für den Schulunterricht. Enthält biographische Angaben zu Hesse, Sacherläuterungen zu den im Titel genannten Romanen sowie knappe Deutungsvorschläge und mögliche Aufgabenstellungen zu den Texten.] Pfotenhauer, Helmut: „Aspekte der Modernität bei Novalis. Überlegungen zu Erzählformen des 19. Jahrhunderts, ausgehend von Hardenbergs ,Heinrich von Ofterdingen‘“, in: Dieter Bänsch (Hg.): Zur Modernität der Romantik, Stuttgart 1977, S. 111 – 142. Pfotenhauer, Helmut: Literarische Anthropologie. Selbstbiographien und ihre Geschichte – am Leitfaden des Leibes, Stuttgart 1987. [Erkundung des Verhältnisses von literarischen Autobiographien und anthropologischer Wissenschaft anhand von Texten Rousseaus, Adam Bernds, Moritz’, Jean Pauls, Goethes, Chateaubriands, Stendhals und weiterer Autoren.] Pikulik, Lothar: Leistungsethik contra Gefühlskult. Über das Verhältnis von Bürgerlichkeit und Empfindsamkeit in Deutschland, Göttingen 1984. [Die Studie stellt Wandlungen des Gefühlslebens in Zusammenhang mit der Etablierung des Bürgertums dar.] Quernheim, Mechthild: Das moralische Ich. Kritische Studien zur Subjektwerdung in der Erzählprosa Christa Wolfs, Würzburg 1990. [Literaturpsychologische Arbeit, die in Wolfs Werken den letztlich scheiternden Versuch erkennt, einen neuen, Selbstverwirklichung ermöglichenden Subjektbegriff zu entwickeln.] Rohe, Wolfgang: Roman aus Diskursen. Gottfried Keller ,Der grüne Heinrich‘ (erste Fassung 1854/ 55), München 1993. [Dissertation, die sich den Beziehungen von Kellers Roman zu ästhetischen, naturwissenschaftlichen, juristischen, historischen, ökonomischen und psychologischen Diskursen widmet. Anleihen bei Theoremen Bachtins und Kristevas.] Rothe, Anne: „Das Dritte Reich als antifaschistischer Mythos im kollektiven Gedächtnis der DDR. Chris-

ta Wolfs ,Kindheitsmuster‘ als Teil- und Gegendiskurs“, in: Moshe Zuckermann (Hg.): Deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts im Spiegel der deutschsprachigen Literatur, Göttingen 2003, S. 87 – 111. Rothenbühler, Daniel: Der grüne Heinrich 1854/55: Gottfried Kellers Romankunst des „Unbekannt-bekannten“, Bern u. a. 2002. [Untersuchung der ersten Fassung von ,Der grüne Heinrich‘, die intertextuellen Bezügen zu Werken Goethes, Schillers, Jean Pauls etc. nachspürt und politische sowie Gender-Aspekte untersucht.] Ruppert, Wolfgang: Bürgerlicher Wandel. Studien zur Herausbildung einer nationalen deutschen Kultur im 18. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1981. [Eingangs Überblickskapitel zu den verschiedenen gesellschaftlichen Schichtungen im Deutschland des 18. Jahrhunderts. Hauptteil zu den Angehörigen des Bürgertums, hier ausführliche Analysen zu dessen sozialer Situation und kulturellen Orientierungen, zur Entwicklung der Kaufmannschaft, zur Struktur bürgerlicher medialer Öffentlichkeit und zur Rezeption der Aufklärungsphilosophie.] Saariluoma, Liisa: Erzählstruktur und Bildungsroman. Wielands ,Geschichte des Agathon‘, Goethes ,Wilhelm Meisters Lehrjahre‘, Würzburg 2004. [Gattungstypologische Studie, die sich mit traditionellen Bildungsroman-Definitionen kritisch befasst. Vor allem anhand der Erzählstruktur sollen die im Vergleich zu Wielands Text moderneren Elemente von Goethes Roman aufgezeigt werden.] Saße, Günter: „Vom ,heimlichen Geist des Widerspruchs‘. Der Bildungsroman im 18. Jahrhundert. Goethes ,Wilhelm Meisters Lehrjahre‘ im Spannungsfeld von Subjektivität und Intersubjektivität“, in: Monika Fludernik (Hg.): Das 18. Jahrhundert, Trier 1998, S. 69 – 89. Saße, Günter: „Der Sohn als Vater: Wilhelm Meisters Weg vom ,unbefiederten Kaufmannssohn‘ zur ,zweifelhaften Vaterschaft‘“, in: Klaus-Michael Bogdal/Ortrud Gutjahr/Joachim Pfeiffer (Hg.): Jugend. Psychologie – Literatur – Geschichte, Festschrift für Carl Pietzcker, Würzburg 2001, S. 133 – 146. Sauerbaum, Evelyn: Selbstentfaltung zwischen Autonomie und Intimität. Literarische Darstellungen weiblicher Adoleszenz in Mädchenbuch und Frauenroman, Frankfurt am Main u. a. 1999. [Der sozialpsychologischen und psychoanalytischen feministischen Theorie verpflichtete Dissertation, die sich mit Romanen zahlreicher Autorinnen jeweils sehr knapp auseinandersetzt, darunter etwa Johanna Schopenhauer, Franziska Gräfin zu

Kommentierte Bibliographie Reventlow, Helene Böhlau, Henny Koch und Else Ury. Analysiert werden in den Texten zutage tretende Moralvorstellungen, Mutter-Tochter- und Vater-Tochter-Verhältnisse sowie Darstellungen von Sexualität.] Sautermeister, Gerhard: „Gottfried Keller, Der grüne Heinrich. Gesellschaftsroman, Seelendrama, Romankunst“, in: Horst Denkler (Hg.): Romane und Erzählungen des Bürgerlichen Realismus. Neue Interpretationen, Stuttgart 1980, S. 80 – 123. Schenk, Bernd/Hans-Jürgen Fuchs (Hg.): Gesellschaftliche Leitbilder in der Literatur. Der europäische Bildungsroman und die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Ein Beitrag zum deutsch-niederländischen Kulturdialog, Fernwald 2002. Schilling, Regina: „Ein Leben auf Reisen. Die türkische Schauspielerin und Autorin Emine Sevgi Özdamar liest heute in Köln aus ihrem jüngsten Roman ,Die Brücke vom Goldenen Horn‘“, in: Kölner Stadt-Anzeiger, 23. 3. 1998. Schings, Hans-Jürgen: „Agathon – Anton Reiser – Wilhelm Meister. Zur Pathogenese des modernen Subjekts im Bildungsroman“, in: Wolfgang Wittkowski (Hg.): Goethe im Kontext. Kunst und Humanität, Naturwissenschaft und Politik von der Aufklärung bis zur Restauration, Tübingen 1984, S. 42 – 68. Schlaffer, Hannelore: Wilhelm Meister. Das Ende der Kunst und die Wiederkehr des Mythos, Stuttgart 1980. [Untersuchung, welche die Bezüge der ,Wilhelm Meister‘-Romane zur Mythologie der griechischen Antike erhellt.] Schlechta, Karl: Wilhelm Meister. Mit einer Einleitung von Heinz Schlaffer, Frankfurt am Main 1985 (erstmals 1953). [Textimmanente Studie, die ,Wilhelm Meisters Lehrjahre‘ und ,Wilhem Meisters Wanderjahre‘ als eine Einheit begreift.] Schmidt, Sabine: „Die Türkei im Banne Brechts. RPInterview mit der Autorin und Schauspielerin Emine Sevgi Özdamar“, in: Rheinische Post, 22. 4. 1998. Schneider, Margret: Etüden zum Lesen sprachlicher Formen in Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“, Zürich/Freiburg 1970. [,Close reading‘ der ,Wilhelm Meister‘-Romane; Hauptinteresse gilt den ,Lehrjahren‘.] Schößler, Franziska: Goethes Lehr- und Wanderjahre. Eine Kulturgeschichte der Moderne, Tübingen 2002. [Auf den New Historicism und Foucaults Diskursanalyse rekurrierende Studie, welche die Stellung von Goethes Romanen zu ästhetischen, medizini-

schen und ökonomischen Diskursen beschreibt und sie als dezidiert moderne Texte begreift.] Schreiber, Jens: Das Symptom des Schreibens: Roman und absolutes Buch in der Frühromantik (Schlegel, Novalis), Frankfurt am Main 1983. [Poststrukturalistische, an Lacan und Derrida orientierte Lektüre des ,Heinrich von Ofterdingen‘, kombiniert mit dem Versuch, anhand von Texten Novalis‘ und Schlegels die Romanpoetik der Romantik zu rekonstruieren.] Schütte, Wolfram: „Ganz einfach: ein großes Buch. Emine Sevgi Özdamars ,Die Brücke vom Goldenen Horn‘“, in: Frankfurter Rundschau, 28. 3. 1998. Schuller, Marianne: „Schreiben und Erinnerung. Zu Christa Wolfs ,Kindheitsmuster‘ und ,Kein Ort. Nirgends‘“, in: Jutta Kolkenbrock-Netz/Gerhard Plumpe/Hans Joachim Schrimpf (Hg.): Wege in die Literaturwissenschaft, Bonn 1985, S. 405 – 413. Schweitzer, Antonie/Simone Sitte: „Tugend, Opfer, Rebellion. Zum Bild der Frau im weiblichen Erziehungs- und Bildungsroman“, in: Hiltrud Gnüg/ Renate Möhrmann (Hg.): Frauen, Literatur, Geschichte. Schreibende Frauen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Stuttgart 1985, S. 144 – 165. Seidler, Herbert: „Wandlungen des deutschen Bildungsromans im 19. Jahrhundert“, in: Wirkendes Wort 11 (1961), S. 148 – 162 [auch in: Rolf Selbmann (Hg.): Zur Geschichte des deutschen Bildungsromans, Darmstadt 1988, S. 265 – 290]. Selbmann, Rolf: „Einleitung“, in: Rolf Selbmann (Hg.): Zur Geschichte des deutschen Bildungsromans, Darmstadt 1988, S. 1 – 44. S¸ölçün, Sargut: „Gespielte Naivität und ernsthafte Sinnlichkeit der Selbstbegegnung. Inszenierungen des Unterwegsseins in Emine Sevgi Özdamars Roman ,Die Brücke vom Goldenen Horn‘“, in: Aglaia Blioumi (Hg.): Migration und Interkulturalität in neueren literarischen Texten, München 2002, S. 92 – 111. Spies, Bernhard: Behauptete Synthesis. Gottfried Kellers Roman ,Der grüne Heinrich‘, Bonn 1978. [Streng textimmanente Studie, Konzentration auf formale Phänomene.] Stanitzek, Georg: „Bildung und Roman als Momente der bürgerlichen Kultur“, in: DVjs 62 (1988), S. 416 – 450. Steinecke, Hartmut: Romantheorie und Romankritik in Deutschland. Die Entwicklung des Gattungsverständnisses von der Scott-Rezeption bis zum programmatischen Realismus, 2 Bde., Stuttgart 1975/ 76. [Erster Band enthält Ausführungen zum Romanverständnis in Deutschland vor 1830, in der Zeit

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Kommentierte Bibliographie der Jungdeutschen und um 1848. Stets eingehende Thematisierung der Wechselwirkungen von politischer Situation und ästhetischer Anschauung sowie ausführliche Darstellung der Einflüsse ausländischer Theoretiker auf die deutsche Diskussion. Zweiter Band enthält zahlreiche Quellen.] Steinecke, Hartmut: „,Wilhelm Meister‘ und die Folgen. Goethes Roman und die Entstehung der Gattung im 19. Jahrhundert“, in: Wolfgang Wittkowski (Hg.): Goethe im Kontext. Kunst und Humanität, Naturwissenschaft und Politik von der Aufklärung bis zur Restauration, Tübingen 1984, S. 89 – 118. Steinecke, Hartmut: Romanpoetik von Goethe bis Thomas Mann. Entwicklungen und Probleme der „demokratischen Kunstform“ in Deutschland, München 1987. [Beschrieben werden die Entwicklungslinien der deutschen Romanpoetik im 19. Jahrhundert, wobei ästhetische Vorstellungen stets auf politischgesellschaftliche Zusammenhänge bezogen werden.] Steinlin, Laurenz: Gottfried Kellers materialistische Sinnbildkunst. Die Arbeit am ,Grünen Heinrich‘ 1848 – 1855 im Kontext, Bern u. a. 1986. [Darstellung der Entstehung von ,Der grüne Heinrich‘ sowie dem sozialen und politischen Kontext verpflichtete Deutung der Symbolik des Romans.] Stumpp, Gabriele: Müßige Helden. Studien zum Müßiggang in Tiecks ,Wilhelm Lovell‘, Goethes ,Wilhelm Meisters Lehrjahre‘, Kellers ,Grünem Heinrich‘ und Stifters ,Nachsommer‘, Stuttgart 1992. [Dissertation zum Verhältnis des Müßiggangs zur bürgerlichen Moral, seiner Bedeutung für die Individualität der Romanhelden sowie seines Einflusses auf die poetologische Struktur der untersuchten Werke.] Südhoff, Rüdiger M.: Die intertextuelle Sinnkonstitution im Bildungsroman der Weimarer Klassik. Poetologische Paradigmen der Aufklärungsliteratur in Goethes ,Lehrjahren‘, Stuttgart 1994. [Der Intertextualitätstheorie verpflichtete Studie zu den ,Lehrjahren‘, welche die Gattung ,Bildungsroman‘ ausführlich diskutiert.] Swales, Martin: „Irony and the Novel. Reflections on the German Bildungsroman“, in: James Neal Hardin (Hg.): Reflection and Action. Essays on the Bildungsroman, Columbia 1991, S. 46 – 68. Theilen, Ines: „Von der nationalen zur globalen Literatur. Eine Lese-Bewegung durch die Romane ,Die Brücke vom goldenen Horn‘ von Emine Sevgi Özdamar und ,Café Nostalgia‘ von Zoé Valdés“, in: Arcadia 40 (2005), H. 2, S. 318 – 337. Uerlings, Herbert: Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis. Werk und Forschung, Stuttgart 1991.

[Monumentale Novalis-Monographie, die ein langes Kapitel zum ,Heinrich von Ofterdingen‘ enthält. Detaillierte Darstellung von Wirkungsgeschichte und Forschungspositionen, umfangreiche Bibliographie.] Viehöver, Vera: „Materialität und Hermeneutik der Schrift in Emine Sevgi Özdamars Romanen ,Das Leben ist eine Karawanserei‘ und ,Die Brücke vom Goldenen Horn‘“, in: Vittoria Borsò (Hg.): Schriftgedächtnis – Schriftkulturen, Stuttgart 2002, S. 343 – 367. Voßkamp, Wilhelm: Romantheorie in Deutschland. Von Martin Opitz bis Friedrich von Blanckenburg, Stuttgart 1973. [Unter Berücksichtigung zahlreicher romantheoretischer Texte wird der stetige Reputationsgewinn der Gattung nachgezeichnet. Beleuchtung der Wechselwirkungen von Romankunst und Geschichtsphilosophie sowie des Verhältnisses des Romans zu anderen literarischen Gattungen.] Voßkamp, Wilhelm: „Utopie und Utopiekritik in Goethes Romanen ,Wilhelm Meisters Lehrjahre‘ und ,Wilhelm Meisters Wanderjahre‘“, in: ders.: (Hg.): Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie, Bd. III, Frankfurt am Main 1985, S. 227 – 249. Voßkamp, Wilhelm: „Utopian Thinking and the Concept of ,Bildung‘“, in: Klaus L. Berghahn/Reinhold Grimm (Hg.): Utopian Vision, Technological Innovation and Poetic Imagination, Heidelberg 1990, S. 63 – 74. Voßkamp, Wilhelm: „Ein anderes Selbst“. Bild und Bildung im deutschen Roman des 18. und 19. Jahrhunderts, Göttingen 2004. [Goethes ,Wilhelm Meister‘-Romane, Tiecks ,Franz Sternbalds Wanderungen‘, Mörikes ,Maler Nolten‘, Kellers ,Der grüne Heinrich‘ und Thomas Bernhards ,Auslöschung‘ werden hinsichtlich der Bedeutung der Einbildungskraft für den Bildungsgang der Protagonisten untersucht.] Wagner-Egelhaaf, Martina: Autobiographie, 2., aktual. Aufl., Stuttgart 2005. [Einführung; enthält allgemeine Erörterungen zum Verhältnis von Wirklichkeit und Fiktion in der Autobiographie. Außerdem Darstellung hermeneutischer, sozialgeschichtlicher, psychologischer, rezeptionsästhetischer, diskursanalytischer, dekonstruktivistischer und interkulturell ausgerichteter Theoriemodelle zur Autobiographie. Abriss der Geschichte der Autobiographie von der Antike bis zur Gegenwart sowie umfangreiche Bibliographie.] Walzel, Oskar: „Die Formkunst von Hardenbergs ,Heinrich von Ofterdingen‘“, in: Gerhard Schulz (Hg.): Novalis. Beiträge zu Werk und Persönlich-

Kommentierte Bibliographie keit Friedrich von Hardenbergs, 2., erw. Aufl., Darmstadt 1986, S. 36 – 95. Weedon, Chris: „Childhood Memory and Moral Responsibility. Christa Wolf’s ,Kindheitsmuster‘“, in: Helmut Peitsch/Charles Burdett/Claire Gorrara (Hg.): European Memories of the Second World War, New York 1999, S. 238 – 246. Weil, Hans: Die Entstehung des deutschen Bildungsprinzips, Bonn 1930. [Betrachtung der Geschichte der Bildung in Deutschland unter ästhetischen, psychologischen und philosophischen Gesichtspunkten. Untersuchung der soziologischen Stellung der Gebildeten und des Verhältnisses der Aristokratie sowie des Bürgertums zur Bildung.] Wellbery, David E.: „Die Enden des Menschen. Anthropologie und Einbildungskraft im Bildungsroman (Wieland, Goethe, Novalis)“, in: Karlheinz Stierle/Rainer Warning (Hg.): Das Ende. Figuren einer Denkform, München 1996, S. 600 – 639. Wetzel, Michael: Mignon: Die Kindsbraut als Phantasma der Goethezeit, München 1999. [Umfassende Studie psychologischer Provenienz, die sich der Diskurs- wie der Intertextualitätstheorie bedient. Befasst sich nicht allein mit der Mignon-Figur in den ,Wilhelm Meister‘-Romanen, sondern untersucht weit allgemeiner Gender-Konzepte um 1800, etwa bei Lichtenberg, Rousseau, Brentano.]

Wilke, Sabine: „,Worüber man nicht sprechen kann, darüber muß man allmählich zu schweigen aufhören‘. Vergangenheitsbeziehungen in Christa Wolfs ,Kindheitsmuster‘“, in: The Germanic Review 66 (1991), Nr. 4, S. 169 – 176. Wölfel, Kurt: „Friedrich Blanckenburgs ,Versuch über den Roman‘“, in: Reinhold Grimm (Hg.): Deutsche Romantheorien, Bd. 1, Frankfurt am Main 1974, S. 29 – 60. Wolff, Eugen: Mignon. Ein Beitrag zur Geschichte des Wilhelm Meister, München 1909. [Biographisch argumentierende Studie zu den ,Wilhelm Meister‘-Romanen, in deren Zentrum die Mignon-Figur rückt.] Wundt, Max: Goethes Wilhelm Meister und die Entwicklung des modernen Lebensideals, Berlin/ Leipzig 1913. [Biographisch orientierte Deutungen ablehnende Studie, die sich überwiegend textnah mit Goethes ,Lehr-‘ und ,Wanderjahren‘ befasst, aber auch auf philosophische Zusammenhänge eingeht und die verschiedenen Romangattungen des 18. Jahrhunderts darstellt.] Zahlmann, Christel: Christa Wolfs Reise ,ins Tertiär‘. Eine literaturpsychologische Studie zu ,Kindheitsmuster‘, Würzburg 1986. [Auf Freud rekurrierender Versuch, die unbewussten Inhalte von Wolfs Text zu erschließen.]

151

Synopse [Aufgenommen sind Vorformen des Bildungsromans, kanonisierte Bildungsromane und Romane, die einzelne Merkmale der Gattung aufweisen. In der linken Spalte finden sich Romane mit männlicher, in der mittleren mit weiblicher Hauptfigur. In der rechten Spalte werden exemplarische Erziehungsschriften aufgeführt. Es handelt sich um eine Auswahl zur ersten Orientierung.] Jean-Jacques Rousseau: Emil oder Über die Erziehung (franz. und dt. 1762)

1750

Johann Joachim Winckelmann: Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst und dem Unterrichte in derselben (1763)

Christoph Martin Wieland: Geschichte des Agathon (1766/67/73/94)

Johann Gottlieb Schummel: Empfindsame Reisen durch Deutschland (1771/72)

Sophie von La Roche: Geschichte des Fräuleins von Sternheim (1771)

Ernst Christian Trapp: Versuch einer Pädagogik (1780)

Johann Carl Wezel: Herrmann und Ulrike (1780) Johann Gottlieb Schummel: Wilhelm von Blumenthal (1780/81)

Karl Philipp Moritz: Anton Reiser (1785 – 90)

Johann Bernhard Basedow: Vorstellung an Menschenfreunde und vermögende Männer über Schulen, Studien und ihren Einfluß in die öffentliche Wohlfahrt (1768)

Joachim Heinrich Campe: Theopron, oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend (1783) Friederike Helene Unger: Julchen Grünthal (1784)

Johann Heinrich Campe: Väterlicher Rath für meine Tochter (1789) Theodor Gottlieb von Hippel: Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber (1792)

Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96)

Sophie Mereau: Das Blüthenalter der Empfindung (1794)

Wilhelm von Humboldt: Über den Geschlechtsunterschied (1794)

Caroline von Wobeser: Elisa oder das Weib wie es seyn sollte (1795)

Friedrich Schiller: Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795)

Synopse Therese Huber: Die Familie Seldorf (1795/96) Therese Huber: Louise. Ein Beitrag zur Geschichte der Konvenienz (1796)

Friedrich Hölderlin: Hyperion oder Der Eremit in Griechenland (1797 – 99) Ludwig Tieck: Franz Sternbalds Wanderungen (1798)

Caroline von Wolzogen: Agnes von Lilien (1796/97)

Sophie Mereau: Marie (1798)

Johann Heinrich Pestalozzi: Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts (1797)

Friedrich Schlegel: Lucinde (1799) 1800

Jean Paul: Titan (1800 – 03) Clemens Brentano: Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter (1801/02)

Dorothea Schlegel: Florentin (1801)

Novalis: Heinrich von Ofterdingen (1802)

Caroline Auguste Fischer: Die Honigmonate (1802)

Jean Paul: Flegeljahre (1804/05) Joseph von Eichendorff: Ahnung und Gegenwart (1815) E. T. A. Hoffmann: Lebens-Ansichten des Katers Murr (1819/21)

Friederike Helene Unger: Bekenntnisse einer schönen Seele. Von ihr selbst geschrieben (1806) Johanna Schopenhauer: Gabriele (1819/20)

Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder Die Entsagenden (1821/29)

Johann Heinrich Pestalozzi: Wie Gertrud ihre Kinder lehrt (1801)

Immanuel Kant: Über Pädagogik (1803) Christian Gotthilf Salzmann: Ameisenbüchlein oder Anweisung zu einer vernünftigen Erziehung der Erzieher (1805)

Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Predigten über den christlichen Hausstand (1820)

Eduard Mörike: Maler Nolten (1832) Karl Immermann: Die Epigonen (1836) 1850 Gottfried Keller: Der grüne Heinrich (1854/55 und 1879/80)

Ida Hahn-Hahn: Gräfin Faustine (1841)

Arthur Schopenhauer: Über Erziehung (1851)

153

154

Synopse Gustav Freytag: Soll und Haben (1855) Adalbert Stifter: Der Nachsommer (1857) Friedrich Fröbel: Die Menschenerziehung, 1. Band: Bis zum begonnenen Knabenalter (1862)

Wilhelm Raabe: Der Hungerpastor (1863/64) Friedrich Spielhagen: Hammer und Amboss (1869) Wilhelmine von Hillern: Die Geier-Wally (1875)

Peter Rosegger: Heide-Peters Gabriel (1882)

Johanna Spyri: Heidis Lehr- und Wanderjahre (1880)

Hermann Sudermann: Frau Sorge (1887) Wilhelm Raabe: Stopfkuchen (1891)

Wilhelm Raabe: Die Akten des Vogelsangs (1896) Otto Julius Bierbaum: Stilpe (1897)

Lou Andreas-Salomé: Ruth (1895)

Friedrich Nietzsche: Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten (1872) Tuiskon Ziller: Vorlesungen über allgemeine Pädagogik (1876)

Wilhelm Dilthey: Über die Möglichkeit einer allgemeingültigen pädagogischen Wissenschaft (1888)

Hedwig Dohm: Sibilla Dalmar (1896)

Gabriele Reuter: Aus guter Familie (1898) Lou Andreas-Salomé: Fenitschka (1898) Helene Böhlau: Halbtier! (1899)

1900

Hedwig Dohm: Schicksale einer Seele (1899) Friedrich Huch: Peter Michel (1901)

Hermann Hesse: Peter Camenzind (1904) Carl Hauptmann: Einhart der Lächler (1907) Robert Walser: Jakob von Gunten (1909)

Hedwig Dohm: Christa Ruland (1902) Franziska zu Reventlow: Ellen Olestjerne (1903)

Rudolf Steiner: Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft (1907)

Synopse Gustav Wyneken: Schule und Jugendkultur (1913)

Hermann Hesse: Demian (1919) Hermann Hesse: Siddhartha (1922)

Maria Montessori: Selbsttätige Erziehung im frühen Kindesalter (ital. 1909, dt. 1923)

Thomas Mann: Der Zauberberg (1924)

Martin Buber: Über das Erzieherische (1926) Theodor Litt: Führen oder Wachsenlassen (1927)

Franz Kafka: Der Verschollene [Amerika] (1927) Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz (1929) Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften (1930 – 43)

Arnold Zweig: Erziehung vor Verdun (1935)

Irmgard Keun: Das kunstseidene Mädchen (1932) Annette Kolb: Die Schaukel (1934)

Ernst Krieck: Nationalpolitische Erziehung (1932)

Hermann Nohl: Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie (1935)

Hermann Hesse: Das Glasperlenspiel (1943) Thomas Mann: Dr. Faustus (1947) 1950 Heimito von Doderer: Die Strudlhofstiege (1951) Thomas Mann: Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull (1954)

Wilhelm Flitner: Das Selbstverständnis der Erziehungswissenschaft in der Gegenwart (1957)

Günter Grass: Die Blechtrommel (1959)

Hugo Ball: Tenderenda der Phantast (1967)

Peter Handke: Der kurze Brief zum langen Abschied (1972)

Georg Picht: Die deutsche Bildungskatastrophe (1964)

Christa Wolf: Nachdenken über Christa T. (1968)

Alexander S. Neill: Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung. Das Beispiel Summerhill (engl. 1960, dt. 1965) Theodor W. Adorno: Erziehung zur Mündigkeit (1970)

155

156

Synopse

Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstands (1975/78 /81)

Christa Wolf: Kindheitsmuster (1976)

Hermann Kant: Der Aufenthalt (1977)

Brigitte Reimann: Franziska Linkerhand (1977)

Jean Piaget: Theorien und Methoden der modernen Erziehung (franz. 1935 – 65, dt. 1974)

Peter Handke: Langsame Heimkehr (1979) Leonie Ossowski: Wilhelm Meisters Abschied (1982) Sten Nadolny: Die Entdeckung der Langsamkeit (1983)

Brigitte Kronauer: Rita Münster (1983)

Botho Strauß: Der junge Mann (1984) Peter Handke: Die Wiederholung (1986)

Alev Tekinay: Der weinende Granatapfel (1990) Alev Tekinay: Nur der Hauch vom Paradies (1993)

Brigitte Kronauer: Berittener Bogenschütze (1987) Brigitte Kronauer: Die Frau in den Kissen (1990) Emine Sevgi Özdamar: Das Leben ist eine Karawanserei (1992) Emine Sevgi Özdamar: Die Brücke vom Goldenen Horn (1998)

2000 Ulla Hahn: Das verborgene Wort (2001) Yadé Kara: Selam Berlin (2003)

Emine Sevgi Özdamar: Seltsame Sterne starren zur Erde (2003) Feridun Zaimoglu: Leyla (2006)

Hartmut von Hentig: Ergötzen, Belehren, Befreien. Schriften zur ästhetischen Erziehung (1985)

Georg Auernheimer: Einführung in die interkulturelle Erziehung (1990)

Franz Hamburger: Erziehung in der Einwanderungsgesellschaft (1994) Hartmut von Hentig: Ach, die Werte. Ein öffentliches Bewußtsein von zwiespältigen Aufgaben. Über eine Erziehung für das 21. Jahrhundert (1999)

Personenregister Andersen, Hans Christian (1805 – 1875) 70, 130, 157 Andreas-Salomé, Lou (1861 – 1937) 67, 154 Aristoteles (384 – 322 v. Chr.) 11, 13 Ball, Hugo (1886 – 1927) 155 Basedow, Johann Bernhard (1724 – 1790) 29, 30, 152 Baudelaire, Charles (1821 – 1867) 124 Bierbaum, Otto Julius (1865 – 1910) 59, 60, 154 Blanckenburg, Friedrich von (1744 – 1796) 15, 17, 40 – 42, 44, 49, 52, 76 Blumenbach, Johann Friedrich (1752 – 1840) 32 Bodmer, Johann Jakob (1698 – 1783) 76 Böhlau, Helene (1856 – 1940) 154 Böll, Heinrich (1917 – 1985) 128 Bonsels, Waldemar (1880 – 1952) 111 Brecht, Bertolt (1898 – 1956) 123, 124 Brentano, Clemens (1778 – 1842) 55, 153 Campe, Joachim Heinrich (1746 – 1818) 30, 152 Cicero (106 – 43 v. Chr.) 10, 28, 33 Defoe, Daniel (ca. 1660 – 1731) 37 Dickens, Charles (1811 – 1870) 24 Dilthey, Wilhelm (1833 – 1911) 17, 18, 20 – 23, 25, 42, 43, 45, 46, 48 – 50, 154 Doderer, Heimito von (1896 – 1966) 155 Döblin, Alfred (1878 – 1957) 155 Dohm, Hedwig (1831 – 1919) 154 Domin, Hilde (1909 – 2006) 127 Dostojewski, Fjodor M. (1821 – 1881) 123 Eichendorff, Joseph von (1788 – 1857) 57, 132, 153 Feuerbach, Ludwig (1804 – 1872) 100 Fichte, Johann Gottlieb (1762 – 1814) 16, 29 Fielding, Henry (1707 – 1754) 15, 40, 43, 75 Fischer, Caroline Auguste (1764 – 1842) 153 Fischer, Samuel (1859 – 1934) 107 Franco, Francisco (1892 – 1975) 124 Freytag, Gustav (1816 – 1895) 57, 58, 154 Gellert, Christian Fürchtegott (1715 – 1769) 37 Gleim, Betty (1781 – 1827) 31 Goethe, Johann Wolfgang von (1749 – 1832) 7, 8, 15 – 25, 32, 44, 47, 48, 51, 52, 54 – 57, 60 – 61, 63 – 66, 71, 82 – 90, 92, 93, 97, 102, 104, 110, 122, 125, 152, 153 Gorki, Maxim (1868 – 1936) 123, 124 Gottsched, Johann Christoph (1700 – 1766) 11, 36 Grass, Günter (*1927) 60, 155 Gundert, Hermann (1814 – 1893) 108 Gundolf, Friedrich (1880 – 1931) 19

Hahn, Ulla (*1946) 69, 126 – 132, 156 Hahn-Hahn, Ida (1805 – 1880) 66, 153 Handke, Peter (*1942) 61, 155, 156 Hauptmann, Carl (1858 – 1921) 154 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1770 – 1831) 44 – 46 Herder, Johann Gottfried (1744 – 1803) 17, 33, 34, 38, 43, 63, 85, 92 Hesse, Hermann (1877 – 1962) 18, 19, 59, 61, 105 – 111, 154, 155 Hillern, Wilhelmine von (1836 – 1916) 154 Hippel, Theodor Gottlieb von (1741 – 1796) 31, 152 Hölderlin, Friedrich (1770 – 1843) 17, 53, 66, 153 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus (1776 – 1822) 21, 56, 60, 153 Huber, Therese (1764 – 1829) 24, 62, 64, 65, 153 Huch, Friedrich (1873 – 1913) 154 Humboldt, Wilhelm von (1767 – 1835) 34, 35, 152 Immermann, Karl Leberecht (1796 – 1840) 57, 153 Jean Paul (= Johann Paul Friedrich Richter) (1763 – 1825) 16, 17, 21, 53, 54, 57, 59, 92, 153 Jenisch, Daniel (1762 – 1804) 85 Joyce, James (1882 – 1941) 123 Kafka, Franz (1883 – 1924) 124, 155 Kant, Hermann (*1926) 156 Kant, Immanuel (1724 – 1804) 27, 33, 153 Kara, Yadé (*1965) 71, 156 Keller, Gottfried (1819 – 1890) 58, 59, 61, 97 – 105, 132, 153 Keun, Irmgard (1905 – 1982) 155 Keyserling, Hermann Graf (1880 – 1946) 111 Klettenberg, Susanna Katharina von (1723 – 1774) 84, 85 Klinger, Maximilian (1752 – 1831) 20 Kolb, Annette (1870 – 1967) 155 Kronauer, Brigitte (*1940) 156 Krüger, Hermann Anders (1871 – 1945) 18 Kühn, Sophie von (1782 – 1797) 92 La Roche, Sophie von (1730 – 1807) 23, 24, 62 – 64, 77, 152 Lessing, Gotthold Ephraim (1729 – 1781) 33, 36, 43, 49, 131 Lewald, Fanny (1811 – 1889) 101 Lukács, Georg (1885 – 1971) 19, 43 Mann, Thomas (1875 – 1955) 19, 22, 60, 61, 128, 155 Marlitt, Eugenie (1825 – 1887) 23

158

Personenregister Martini, Fritz (1909 – 1991) 20, 40 – 42 Mereau, Sophie (1770 – 1806) 24, 64, 66, 152, 153 Mörike, Eduard (1804 – 1875) 57, 59, 153 Morgenstern, Karl von (1770 – 1852) 9, 16, 17, 20, 22, 40, 41, 48, 49, 52, 62, 77 Moritz, Karl Philipp (1756 – 1793) 52, 53, 61, 64, 85, 101, 121, 152 Mothe-Fénelon, François de Salignac de la (1651 – 1715) 30 Motte Fouqué, Friedrich de la (1777 – 1843) 16 Müller, Friedrich von (1779 – 1849) 86 Mundt, Theodor (1809 – 1861) 17 Murger, Henri (1822 – 1861) 59 Musil, Robert (1880 – 1942) 19, 20, 60, 155 Nadolny, Sten (*1942) 61, 156 Neuber, Friederike Caroline (1697 – 1760) 36 Novalis (= Georg Friedrich Philipp Freiherr von Hardenberg) (1772 – 1801) 16, 17, 21, 44, 55, 57, 70, 90 – 97, 102, 110, 132, 153 Özdamar, Emine Sevgi (*1946) 71, 118 – 125, 127, 156 Opitz, Martin (1597 – 1639) 11 Ossowski, Leonie (*1925) 156 Pestalozzi, Johann Heinrich (1746 – 1827) 13, 32, 56, 153 Platon (ca. 428 – 348 v. Chr.) 28, 74, 75 Raabe, Wilhelm (1831 – 1910) 58, 154 Reimann, Brigitte (1933 – 1973) 68, 156 Reuter, Gabriele (1859 – 1941) 154 Reventlow, Franziska zu (1871 – 1918) 67, 154 Richardson, Samuel (1689 – 1761) 36, 37, 40, 63 Rolland, Romain (1866 – 1944) 107 Rosegger, Peter (1843 – 1918) 58, 59, 154 Rosenkranz, Karl (1805 – 1879) 17, 46, 48 Rousseau, Jean-Jacques (1712 – 1778) 13, 17, 37, 38, 43, 53, 56, 63, 65, 66, 75, 101, 152 Schelling, Friedrich (1775 – 1854) 92 Schickele, René (1883 – 1940) 111 Schiller, Friedrich (1759 – 1805) 28, 34 – 36, 47, 62, 84, 85, 92, 126, 131, 152 Schlegel, Caroline (1763 – 1809) 92 Schlegel, Dorothea (1763 – 1839) 66, 153 Schlegel, Friedrich (1772 – 1829) 16, 44, 55, 66, 92, 153

Schopenhauer, Arthur (1788 – 1860) 108, 153 Schopenhauer, Johanna (1766 – 1839) 24, 62, 64, 153 Schummel, Johann Gottlieb (1748 – 1813) 51, 152 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper (1671 – 1713) 32 Shakespeare, William (1564 – 1616) 82, 85, 124, 125 Spener, Philipp Jacob (1635 – 1705) 27, 28 Spielhagen, Friedrich (1829 – 1911) 154 Spyri, Johanna (1827 – 1901) 154 Stahl, Ernst Ludwig (1902 – 1992) 12, 20, 42, 45, 46, 48, 50, 52 Sterne, Laurence (1713 – 1768) 51 Stifter, Adalbert (1805 – 1868) 57, 154 Strauß, Botho (*1944) 61, 156 Sudermann, Hermann (1857 – 1928) 58, 59, 154 Tekinay, Alev (*1951) 70, 156 Thomasius, Christian (1655 – 1728) 27 Tieck, Ludwig (1773 – 1853) 16, 17, 54, 57, 92, 153 Tolstoi, Leo (1828 – 1910) 123 Unger, Friederike Helene (1751 – 1813) 24, 65, 66, 152, 153 Unger, Johann Friedrich (1753 – 1804) 84 Varnhagen von Ense, Karl August (1785 – 1858) 101 Vischer, Friedrich Theodor (1807 – 1887) 47, 101 Walser, Robert (1878 – 1956) 154 Walther von der Vogelweide (ca. 1170 – 1230) 92 Weiss, Peter (1916 – 1982) 156 Wezel, Johann Carl (1747 – 1819) 51, 52, 152 Wieland, Christoph Martin (1733 – 1813) 15, 19, 22, 28, 29, 31, 33, 40, 52, 53, 63, 74 – 82, 83, 85, 89, 152 Wobeser, Caroline von (1769 – 1807) 64, 152 Wolf, Christa (*1929) 68, 111 – 118, 155, 156 Wolfram von Eschenbach (ca. 1170 – 1230) 12, 19, 92 Wolzogen, Caroline von (1763 – 1847) 24, 62, 153 Wundt, Max (1879 – 1963) 19, 47 Zaimoglu, Feridun (*1964) 156 Zinzendorf, Ludwig Graf von (1700 – 1760) 28, 89 Zweig, Arnold (1887 – 1968) 155 Zweig, Stefan (1881 – 1942) 158

Sachregister Abenteuer 11, 37, 38, 43, 46, 50, 51, 55, 66 adoleszent 46, 55, 66, 71, 74, 87, 106, 121 Adoleszenz 62, 67, 71, 77, 81, 95, 109, 115, 131 Anlage 8 – 10, 12 – 14, 28, 31 – 34, 45, 47, 48, 50, 53, 54, 64, 65, 72, 78, 81, 86, 88, 89, 93, 95, 96, 102, 104, 105, 111, 116, 132 Aufführung 54, 83 aufklärerisch 9, 11, 17, 29, 31, 35, 37, 51, 66, 76, 77, 80, 125, 131 Aufklärung 10, 11, 15, 18, 22, 26, 27, 37, 40, 49, 50, 75 – 77, 79, 81, 89, 97, 117, 118 Ausbildung 8, 13 – 15, 20, 26, 28, 30, 32, 33, 35, 41, 48, 50, 52, 58, 63 – 65, 67, 69, 82, 96, 98, 100, 102, 116, 117, 120, 126, 128 Autobiographie 12, 15, 19, 38, 56, 88, 114, 121 autobiographisch 19, 48, 64, 71, 76, 85, 101, 107, 113, 114, 121, 127, 128 Bildungsbegriff 9, 10, 35 Bildungsgang 7, 8, 14, 24, 44, 47, 52, 54, 55, 57, 60, 64, 65, 69, 71, 75, 76, 80 – 82, 86, 88, 90, 95 – 97, 100, 102, 107, 110, 117, 118, 120, 121, 123, 125 – 127, 130, 132 Bildungsidee 18, 20, 39, 53, 56, 111, 121 Bildungskonzept 14, 62 Bildungsmodell 89, 117 Bildungsprozess 14, 18, 32, 34, 35, 41, 46, 49, 53, 57, 61, 68, 79, 80, 111, 117, 118, 125 Bildungsreise 60, 66 Bildungsroman, interkultureller 24, 25, 69 – 73, 125 Bildungsroman, männlicher 24, 51 – 61 Bildungsroman, weiblicher 24, 62 – 69, 88, 114 Bildungsstufe 40, 54, 110, 118, 127 Bildungsvorstellung 9, 10, 14, 26, 33 – 35, 38, 48, 56, 59, 62, 63, 104, 105, 111, 117, 121, 125, 132 Bildungsweg 10, 14, 24, 32, 43, 44, 46, 49, 52, 55, 56, 58, 61, 62, 66 – 68, 70, 77, 79, 81, 93, 95, 97, 104, 105, 110, 113, 116, 118, 129, 132 Biographie 12, 37, 43, 50, 56, 101, 107 biographisch 41 – 43, 56, 92, 99, 100, 107, 117, 121 Bühne 35, 36, 54, 59, 84, 88, 122 Drama 11, 40, 41, 45, 49, 50, 131 Einbildungskraft 10, 29, 32, 35, 79, 80, 88, 90, 95, 96, 98, 104, 130 Entsagung 64, 76, 77, 81, 89, 97 Entwicklungsgang 12, 24, 37, 40, 43, 45, 48, 49, 52, 58, 65, 83, 86, 91, 94, 95, 99, 107, 111 Entwicklungsgeschichte 8, 38, 44, 58

Entwicklungsroman 11 – 14, 19, 128 Erzieher 10, 13, 30, 53, 59, 67, 76, 88, 129 Erzieherin 63, 89 erzieherisch 13, 30, 31, 37, 64, 77, 80, 81, 110, 128 Erziehung, ästhetische 10, 34, 35, 53 Erziehung, weibliche 64, 65 Erziehungsvorgabe 14, 30, 31, 33, 58, 62, 63, 69, 82, 101, 109, 115, 118, 128 Erziehungsvorstellung 30, 32, 38, 39, 59, 64, 86, 103 Erziehungsziel 13, 14, 108 Familie 23, 24, 29, 30, 37, 44, 48, 58, 62 – 67, 71, 78, 103, 108, 109, 112, 114 – 116, 119, 121, 122, 124, 126, 127, 132 Französische Revolution 16, 27, 53, 54, 65, 66 gattungstypologisch 7, 8, 11, 14, 19, 20, 22, 25, 36, 49, 51, 76, 85, 111, 117 Generation 19, 26, 34, 49, 50, 58, 71, 72, 86, 89, 97, 117, 118, 131, 132 Geschlecht 24, 31, 46, 62, 63, 83, 89, 116, 131 geschlechterdifferent 13, 72, 81 Geschlechterrolle 29, 31, 72, 122, 128 geschlechtsspezifisch 9, 24, 30, 32, 39, 64, 67 – 69, 73, 77, 86, 93, 101, 109, 114, 116, 121, 122, 128 Herkunft 31, 42, 54, 62, 67, 71, 72, 89, 93, 106, 110, 121, 123, 124, 128 humanistisch 35, 55, 60 Humanität 17, 23, 33 – 35, 43, 50 Humanitätsphilosophie 9, 20, 34, 35, 39, 53, 111 Ideal 10, 17, 19, 21, 29, 33 – 37, 43 – 45, 50, 52 – 57, 60, 64, 71, 74, 75, 78 – 81, 96, 97, 101, 102, 104, 116, 118 Individualität 14, 33, 35, 38, 45, 52, 61, 112 individuell 9, 11 – 14, 18, 19, 21, 28, 31, 33, 35, 36, 38, 39, 43, 44, 50, 60, 61, 80, 107, 111, 118, 124 Individuum 8, 20, 27, 31, 44 – 46, 48, 50, 71, 101 Innovation 7, 59 innovativ 8, 14, 15, 17, 26, 61, 62, 72, 75, 76, 89, 104 Interkulturalität 69 interkulturell 24, 25, 69 – 73, 121 125 Jüngling 32, 33, 38, 44 – 46, 52, 54 – 56, 66, 74, 79, 80, 82, 88, 90, 91, 93 – 95, 97, 98, 105, 109, 110 Jugend 8, 37, 56, 59, 69, 74, 87, 88, 93, 94, 96, 98, 99, 101, 102, 105, 111 – 114, 116, 117, 120, 127, 130, 131

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Sachregister Kindheit 7, 48, 53, 57, 59, 67, 69, 71, 74, 77, 88, 97 – 101, 103, 104, 107, 111 – 114, 117 – 120, 127, 128, 132 Kirche 27, 103, 129 Klassik 20, 52 klassisch 18, 20, 59, 60 Konflikt 8, 14, 36, 45, 48, 67, 71, 86, 93, 95, 121, 122 Kreativität 66, 90, 104 Künstler 7, 11, 34, 56, 57, 60, 65, 71, 94, 95, 98, 99, 119 künstlerisch 17, 33 – 35, 39, 43, 54, 66 – 68, 72, 80, 84, 86, 88, 94, 97, 98, 100, 105, 108, 110, 118, 123 Kultur 10, 14, 18, 19, 23, 27, 29, 34, 49, 50, 60, 67, 69 – 71, 80, 121, 123 – 125 kulturell 8 – 11, 14, 24, 26, 28, 33 – 35, 39, 49, 50, 69 – 73, 76 – 79, 88, 89, 95, 101, 104, 110, 116, 119, 123 – 125, 130 Kunst 10, 11, 17, 18, 33 – 35, 42, 46, 52, 54, 55, 57 – 59, 79, 83, 96 – 98, 100, 104, 105, 123 Lebensmodell 67, 68, 71, 72, 128, 129 Lebensplanung 14, 51 Lebensvorstellung 72, 90, 122, 130 Lebensziel 17, 128 Lehrer 10, 26, 41, 60, 67, 76, 92, 95, 98, 102, 105, 109, 115, 124, 126, 127, 132 Lehrerin 67, 68, 116 Lesewut 31, 65 Märchen 90, 91, 94 – 96, 130, 131 modern 19, 40 – 42, 45, 49, 57, 59, 89, 131 Moderne 58, 59, 68, 111 Moral 31, 58, 67, 74, 80, 81, 87 moralisch 10, 26 – 34, 36, 37, 40, 46, 51 – 53, 55, 58, 59, 65, 74 – 77, 79, 81, 111, 118 Moralphilosophie 32 mütterlich 36, 94, 95, 101, 102, 122, 123, 129 Mythos 79, 132 Neigung 8, 32, 69, 82, 86, 104, 129, 130 Pädagoge 13, 29 Pädagogik 33, 101 pädagogisch 9, 13, 28, 30, 35, 37, 42, 51, 56, 59, 63, 67, 68, 75, 89, 90, 108, 111 Persönlichkeit 9, 30 – 32, 35, 42, 53, 54, 103 Pflicht 26, 27, 29, 30, 82, 87, 115 Phantasie 69, 79, 88, 91, 98, 102, 104, 126, 129, 130 Philosophie 10, 20, 32 – 34, 76, 107, 108, 110 philosophisch 9, 20, 30, 34, 35, 38, 39, 41, 53, 60, 74 – 78, 80, 81, 85, 111 Pietismus 9, 27 – 29 pietistisch 19, 27, 29, 76, 80, 84, 88, 92, 108 Poetik 11, 40, 42, 50 poetisch 54, 55, 57, 87, 91, 95 – 97, 105, 124, 125, 130

Reise 8, 11, 31, 33, 37, 42, 47, 50, 51 – 55, 57, 60 – 63, 66, 67, 69 – 72, 74 – 76, 78, 82, 84, 90, 91, 93 – 99, 108, 110, 112, 113, 119 – 121, 123, 125 religiös 9, 19, 20, 27 – 29, 38, 52, 59, 77, 78, 80, 81, 89, 94, 99, 100, 103, 105 – 110, 130 Religion 9, 78, 81, 102, 107, 108, 111 Rollenverhalten 31, 65, 72, 87 Roman, Familien- 23, 24, 62 Roman, Künstler- 17, 70, 99 Romanpoetik 40, 42, 50 Romantik 54, 55, 93, 96, 97 romantisch 16, 54 – 57, 70, 71, 92, 93, 97, 125, 131, 132 Sattelzeit 26, 38 Schauspiel 36, 83, 88, 89, 119 – 121, 125 Schauspieler 57, 65, 72, 82, 83, 104 Schauspielerin 65, 82, 83, 87, 98, 104, 118, 119, 121 – 123 Schöne Seele 28, 29, 53, 80, 81, 83, 84, 86, 89 Schulausbildung 28, 102, 128 Schule 16, 17, 30, 36, 52, 59, 71, 76, 98, 100, 102, 108, 112, 113, 115, 116, 121, 122, 124, 126 – 128, 132 Schwärmer 75, 97 Schwärmerei 29, 74, 75, 78, 80, 131 schwärmerisch 45, 54, 55, 87, 88, 98, 104, 131 Selbstreflexion 8, 47, 55, 60, 61, 104 Selbstverwirklichung 17, 27, 35, 57, 67, 68, 129 sinnlich 46, 55, 98, 109, 116 Sinnlichkeit 74, 103 soziale Integration 8, 68 soziale Rolle 82, 86 – 88, 125, 131 Sozialisation 13, 29, 31, 37, 46, 48, 69, 78, 81, 85, 118 Spiel 44, 60, 79, 87, 88, 90, 109, 124 Szene 40, 54, 84, 90, 104, 113, 121 – 124, 130 Tagebuch 83, 112, 126 Teleologie 21, 85 teleologisch 23, 49 Telos 13, 33, 35 Theater 21, 35, 36, 48, 51, 52, 59, 61, 71, 72, 80, 82 – 88, 98, 101, 104, 119, 121 – 125, 131 Theaterlaufbahn 87, 104 Theatromanie 52 Tradition 7, 8, 18 – 21, 24, 25, 33, 40, 51, 53, 59, 64, 66, 68, 69, 72, 89, 97, 108, 110, 115, 122 – 125, 129, 132 Vernunft 17, 27, 29, 32, 33, 45 Vorbild 7, 10, 16, 19, 30, 31, 36, 40, 51, 52, 57, 58, 60, 61, 64, 66, 76, 80, 81, 89, 102, 104, 113, 116 Vorstellungskraft 79, 80, 104 Vorstellungsvermögen 10, 79, 88 Zufall 14, 28, 55, 56, 65, 67, 82, 85