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German Pages 224 [225] Year 1977
Dostojewskis Erbe in unserer Zeit
Literatur und Gesellschaft Herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften der DDR Zentralinstitut für Literaturgeschichte
Dostojewskis Erbe in unserer Zeit Neueste Forschungen sowjetischer Literaturwissenschaftler tQirn künstlerischen Erbe Dostojewskis
Akademie-Verlag • Berlin 1976
Ausgewählt und herausgegeben von Helmut Graßhoff und Gisela Jonas
Erschienen im Akademie-Verlag, 108 Berlin, Leipziger Straße 3—4 © 1976 by Akademie-Verlag, Berlin Lizenznummer: 202 • 100/238/76 Gesamtherstellung: IV/2/14 VEB Druckerei »Gottfried W i l h e l m Leibniz«, 445 Gräfenhainichen • 4590 Bestellnummer: 752 542 9 (2150/31) • L S V 8037 Printed in GDR EVP 7 , -
Inhalt
Vorbemerkung B. L.
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Sutschkow
Ein bedeutender russischer Schriftsteller G. M.
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Fridlender
Dostojewskis Stellung in der Entwicklung des russischen Realismus D. S.
Lichatschow
Auf der Suche nach dem Ausdruck des Realen
. . . .
N. I. Pruzkow Die sozial-ethische Utopie Dostojewskis M. B.
Chraptschenko 127
Mann
Der Weg zur Entdeckung des Charakters T. L.
61
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Sujet und künstlerische Methode Ju. W.
34
136
Motyljowa
Ausländische Dostojewski
Schriftsteller
des
20. Jahrhunderts
und 163
Anmerkungen
202
Personenregister
218
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Vorbemerkung
Fjodor Michailowitsch Dostojewski, den Thomas Mann als den „Dante des Ostens" und Maxim Gorki als den „russischen Shakespeare" bezeichnet haben, gilt - neben Lew Tolstoi - oft als der Inbegriff und der charakteristische Repräsentant der russischen klassischen Literatur. Seine künstlerische Meisterschaft wird von niemandem in Zweifel gezogen, namhafte und bedeutende Schriftsteller der Weltliteratur empfingen von ihm entscheidende Anregungen und sind ihm in vieler Hinsicht verpflichtet. Dostojewskis große Romane faszinieren auch heute noch breite Leserkreise durch ihre spannungsreiche Handlung, philosophische Problematik, psychologische Tiefe und humanistische Aussage. An Dostojewskis Weltsicht entzündet sich seit über hundert Jahren immer wieder ein leidenschaftlicher Meinungsstreit. Seine unbarmherzige Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft, sein grenzenloses Mitgefühl mit dem Leid und Elend der „Menschen aus dem Untergrund", die rücksichtslose Offenbarung der verborgensten Gedanken und Sehnsüchte des gegen eine menschenfeindliche Umwelt aufbegehrenden Individuums, sein qualvolles Suchen nach einem Ausweg aus dem herrschenden Chaos sowie sein religiöser Mystizismus fanden besonders in gesellschaftlichen Krisenzeiten eine außerordentlich breite Resonanz. So entfaltete sich in den zwanziger Jahren ein wahrer Dostojewski-Kult. D i e Freudsche Psychoanalyse wie auch Nietzsches „Übermenschentum" beriefen sich gleichermaßen auf seine geniale Seelenanalyse und apokalyptische Sehergabe. D i e bedeutendsten Dichterpersönlichkeiten zog in der Epoche des Expressionismus das „verbrecherische Heiligenantlitz" Dosto7
jewskis in seinen Bann. Zu einer Dostojewski-Renaissance kam es in Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg, als die alte Welt in ihren Grundfesten erschüttert und der Mensch sich seiner Einsamkeit und Entfremdung innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft von neuem bewußt wurde. An die philosophisch-ästhetischen und moralisch-religiösen Anschauungen des russischen Schriftstellers knüpfen Vertreter der verschiedensten bürgerlichen Richtungen an, vom Existenzialismus über den Neothomismus bis hin zum extremen Linksradikalismus. Die meist einseitigen Bewertungen und falschen Auslegungen seines Werkes durch die bürgerliche Literaturwissenschaft machen eine grundlegende Auseinandersetzung unumgänglich und eine kritische Neueinschätzung des literarischen Erbes des großen russischen Romanciers durch die marxistisch-leninistische Forschung dringend notwendig im Sinne der Leninschen Förderung nach einer schöpferischen Aneignung und Weiterentwicklung des Kulturerbes der Menschheit. Anläßlich des 150. Geburtstages F . M. Dostojewskis (1821 bis 1881) erschienen in der Sowjetunion zahlreiche Monographien, Sammelbände und Artikel. D i e sowjetische Dostojewski-Forschung nahm in den letzten Jahrzehnten einen beachtlichen Aufschwung, sie überwand die zeitweilig vorhandenen Tendenzen einer undifferenzierten Einschätzung des- Schriftstellers. Der vorliegende Sammelband will den deutschsprachigen Leser mit einigen der wichtigsten Beiträge und dem neusten Stand der sowjetischen Dostojewski-Forschung bekannt machen. D a bei kommen führende sowjetische Literaturwissenschaftler zu Wort, die sich seit einer Reihe von Jahren mit dem künstlerischen E r b e des großen russischen. Klassikers befassen und mit ihren Forschungen die theoretische Grundlage für ein neues marxistisch-leninistisches Dostojewski-Bild liefern. D i e Auswahl der neusten sowjetischen Erkenntnisse über Dostojewskis literarisches Werk und seine widerspruchsvollen politisch-sozialen Anschauungen, über die Spezifik seiner künstlerischen Methode und seine weltliterarische Wirkung erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit oder endgültige Lösung der aufgeworfenen Probleme, sondern will am Beispiel dieses bedeutenden und zugleich umstrittenen Schriftstellers neue Wege der sowjetischen Literaturwissenschaft bei der Erschlie-
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ßung des kulturellen Erbes f ü r die sozialistische Gesellschaft weisen. In der gegenwärtigen Epoche der sich verschärfenden Auseinandersetzung zwischen dem Sozialismus und dem Kapitalismus gewinnt Dostojewskis Schaffen an aktueller Bedeutung. D a s Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, das Problem der Selbstverwirklichung des Menschen, der Kampf der „ E r niedrigten und Beleidigten" für ein besseres und glücklicheres Dasein, aber auch die Verurteilung des kleinbürgerlichen Individualismus, des politischen Anarchismus und des linksradikalen Terrors stehen heute noch, unter veränderten historischen Bedingungen, auf der Tagesordnung. Dostojewski zeigt mit ungewöhnlichem Einfühlungsvermögen die innerliche Zerrissenheit und das Aufbegehren des Menschen gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse und kleinbürgerlichen Vorurteile der antagonistischen Klassengesellschaft. Dostojewskis „Rebellentum" und seine Kritik am kapitalistischen System, sein utopischer Gesellschaftsentwurf sowie seine ausweglose Suche nach einem spezifischen „russischen Entwicklungsweg" zum Sozialismus unter Umgehung des Kapitalismus werden aus der Widersprüchlichkeit der historischen Epoche in untrennbarem Zusammenhäng mit den politischsozialen und ökonomischen Bedingungen des vorrevolutionären Rußlands unter Berücksichtigung der objektiven und subjektiven Faktoren gesehen und eingehend analysiert. D i e Verbindung von Realismus und Phantastik, die polemische Auseinandersetzung mit der romantischen Tradition, die dynamische Sujet- und Charaktergestaltung bilden weitere Schwerpunkte des Sammelbandes. Von André Gide über Heinrich und Thomas Mann, William Faulkner und Thomas Wolfe bis hin zu Anna Seghers reicht die Traditionslinie dieses großen klassisch-humanistischen Schriftstellers, dessen Remane und E r zählungen eine ständige Überprüfung unseres Verhältnisses zum kulturellen E r b e im Hinblick auf die sozialistische Gegenwart und Zukunft verlangen. Berlin, September 1974
Helmut Graßhoff
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B. L. Sutschkow
Ein bedeutender russischer Schriftsteller
Im Kampf des russischen Volkes gegen politische und soziale Unterdrückung und für die Herausbildung vernünftiger und gerechter Beziehungen zwischen den Menschen kam der Literatur stets eine entscheidende Rolle zu. Die ständige Reflexion über das gegenwärtige und zukünftige Schicksal der Gesellschaft bestimmte ihr ethisches Pathos, dessen hervorstechendster Wesenszug - nach Lenin - die Suche nach Wahrheit wurde. Der leidenschaftliche Wunsch nach Erkenntnis, von der Liebe zum Menschen diktiert, kennzeichnet das künstlerische Schaffen des bedeutenden russischen Schriftstellers Fjodor Michailowitsch Dostojewski. Auch heute noch empfinden wir, wenn wir die stete Unrast seiner Werke auf uns wirken lassen, die Aufrichtigkeit und das qualvolle gedankliche Ringen des großen Schriftstellers, der von der Unermeßlichkeit menschlichen Leidens zutiefst ergriffen, immerfort bestrebt war, Sinn und Zweck des menschlichen Lebens auf Erden zu ergründen. Doch nicht nur von der Suche nach der Wahrheit her ist Dostojewskis literarisches Werk zu betrachten: Es wird zu einem Kampfplatz einander widerstreitender Ideen und fasziniert den Leser durch das Gigantische und Gewichtige seiner Fragestellung. Alle aufgeworfenen Fragen betrafen konkrete gesellschaftliche Probleme. Sie waren Reflex und Teil der geschichtlichen Realität, jener historischen Umbruchsepoche, als die Ausbeuterordnung ins Wanken geraten war und sich bereits eine gesellschaftliche Entwicklung abzuzeichnen begann, die neue Formen sozialer Verhältnisse ankündigte. Zu dieser Zeit geriet das bürgerliche Bewußtsein in eine Krise: Das Vertrauen in die Unerschütterlichkeit der bestehenden Ordnung war durch die Barrikadenkämpfe der Revolution von 1848, durch die Tätigkeit
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der I. Internationale und die mutigen Kämpfer der Pariser Kommune erschüttert worden. Angesichts der ernsthaften Bedrohung durch die werktätigen Massen begann die herrschende Klasse k r a m p f h a f t nach Methoden zur Aufrechterhältung dieser Ordnung zu suchen. In jener Epoche verwandelte sich das in revolutionärer Gärung begriffene Rußland aus einem Land der Leibeigenen und Gutsbesitzer in ein kapitalistisches Land. D i e zentralen sozialen und ethischen Fragen, die in den Werken Dostojewskis künstlerisch gestaltet werden, haben bis in unsere Epoche nicht ihre Bedeutung verloren, da der Kampf zwischen Kapitalismus und den Kräften des Fortschritts an Schärfe und Spannweite zugenommen hat. Das erklärt auch das weltweite Interesse am Schaffen des bedeutenden russischen Schriftstellers und die scharfen Wortgefechte um seine Persönlichkeit und um sein künstlerisches Erbe. Viele bürgerliche Kritiker Dostojewskis bemühen sich, seine Werke des objektiven historischen Gehaltes zu beraubeh und deuten die Eigenheiten seiner Romangestaltung einzig und allein aus den Charaktereigenschaften des Schriftstellers. Es besteht jedoch zwischen der psychischen Eigenart Dostojewskis - der, um die Worte Tschernyschewskis zu gebrauchen, die Wirklichkeit nicht nur darstellt, sondern auch über das Leben ein Urteil fällt - und den Ansichten, Stimmungen, Gefühlen und Handlungen seiner Helden ein gravierender Unterschied. Neben den Stimmen der Romangestalten ist stets die Stimme des Autors zu vernehmen, der seine sozialen und ethischen Ansichten verteidigt. Dostojewskis Schaffen unterscheidet sich deutlich von dem jener realistischen Schriftsteller, die die Wirklichkeit nach den äußeren Lebensumständen reproduzieren. Dostojewskis Romane sind Werke, erfüllt von Gefühlen und Ideen. D i e Handlung in seinen Romanen ist von ungestümer Dramatik und voller explosiver Spannung. In der Regel nehmen seine Helden die verschiedensten, nicht selten konträre Positionen ein. D e r Inhalt des Werkes entfaltet sich im K a m p f . ihrer Ideen, Ansichten und Stimmungen, den Dostojewski bis zur äußersten Zuspitzung führt. Mit Dostojewski fand eine,besondere Methode der künstlerischen Objektivierung des Lebens Eingang in die Weltliteratur, 12
eine Methode, die sich in erster Linie auf die Psychologie der Helden orientiert. Der Schriftsteller definierte sie als einen Realismus „im höheren Sinne", der es ihm ermöglicht, über die Darstellung der „Tiefen der menschlichen Seele" hinaus, die ideologischen und gesellschaftlichen Grundkonflikte der Übergangsepoche aufzuzeigen. Die Gestalten und Ideen in seinen Wenken sind zu einem organischen Ganzen verschmolzen, und die vielfältigen Versuche, diese Komplexität in einzelne Komponenten aufzulösen, führten stets zu einer einseitigen Auslegung dieser komplizierten Erscheinung, wonach Dostojewski einmal als Prophet der russischen Revolution, ein anderes Mal als Verfechter der Orthodoxie und Selbstherrschaft, dann wieder als abstrakter Humanist und sogar als „grausames Talent" präsentiert wurde, das an seiner eigenen Brutalität Gefallen findet. Aber das lebendige und reiche Erbe Dostojewskis läßt sich nicht in einseitige Definitionen pressen. Als politischer Polemiker ist Dostojewski nicht selten Opfer seiner eigenen Leidenschaftlichkeit geworden. Besonders deutlich kamen die Widersprüche seiner Weltanschauung in der Publizistik zum Ausdruck. Er entwickelte Gedanken, die durch ihre Tiefe und ihren Scharfsinn frappieren. Aber er verfiel dabei nicht selten in einen konservativen Utopismus, der ihn in eine erbitterte und erfolglose Polemik mit den Vertretern der revolutionären Bewegung verwickelte. Dostojewski besaß eine hervorragende Bildung, er interessierte sich lebhaft für philosophische Fragen. In einem seiner frühen Briefe an seinen Bruder schrieb er am 31. Oktober 1838, daß die „Philosophie nichts anderes als Poesie" sei, und zwar „eine höhere Stufe von Poesie"1. Viele Episoden seiner Romane - so die Legende vom Großinquisitor, das Kapitel Auflehnung im Roman Die Brüder Karamasow - und solche markanten Gestalten wie Rodion Raskolnikow, Fürst Myschkin und Iwan Karamasow werden getragen von einer philosophischen Idee und sind zugleich von hoher Poesie erfüllt. Dostojewski begann seine Schriftstellerlaufbahn, als in Rußland die Gogolsche realistische Richtung die literarische Entwicklung bestimmte und Belinskis Kritikertätigkeit ihren Zenit erreicht hatte, als solche progressive Persönlichkeiten wie Her13
zen, Ogarjow, Petraschewski u. a. im Sozialismus Möglichkeiten und Methoden zur Veränderung der sozialen Struktur in Rußland zu finden hofften. Als Sohn eines Stabsarztes am Moskauer Armenkrankenhaus war er inmitten der schiefwinkligen kleinbürgerlichen Häuser des Moskauer Armenviertels aufgewachsen, wo das Leben mühselig und beschwerlich war. Er hatte die Auswirkungen des väterlichen Despotismus und des brutalen Drills an der Internatsschule für Militäringenieure zu fühlen bekommen. Von Jugend an haßte er daher jegliche Unterdrückung der menschlichen Persönlichkeit. In seinem Erstlingswerk Arme Leute knüpfte Dostojewski an die demokratischen Traditionen in der russischen Literatur an. Der Roman Arme heute führte eine Entwicklungslinie fort, die bei Puschkin und Gogol ihren Anfang genommen hatte. Puschkins Samson Wyrin im Postmeister und Gogols Akaki Akakijewitsch in der Erzählung Der Mantel bildeten den Prototyp der „kleinen Leute", deren klägliches Schicksal die bedeutendsten russischen Schriftsteller voller Mitgefühl ihren Lesern nahegebracht hatten. Sie fanden in Dostojewskis Helden Makar Dewuschkin einen Nachfolger und zugleich die künstlerische Vollendung dieses Menschentyps, der erstmals aus psychologischer Sicht dargestellt wurde. Welche Seelengröße und welcher Edelmut, welche selbstlose Liebe und Aufopferung bewies der auf die unterste soziale Stufe herabgesunkene Petersburger Beamte Makar Dewuschkin, der seine Freundin Warenka unterstützte und verteidigte. Seine Liebe und Sympathie für die untersten Schichten bewahrte Dostojewski sein ganzes Leben hindurch. In seinen Werken spielen die tragischen Gestalten dieser „kleinen Leute" eine entscheidende Rolle. Das Eintreten für die „Erniedrigten und Beleidigten" charakterisiert seine frühe Schaffensperiode. Gleichzeitig nahmen auch spezifische Züge seines späteren Werkes bereits feste Gestalt an. Insbesondere die Idee von der Unmenschlichkeit der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung bestimmte den kritischen Gehalt seines Realismus. Als Goljadkin, der Held der Erzählung Der Doppelgänger, unklar zu empfinden beginnt, daß er in der Klassengesellschaft nur zu existieren vermag, nachdem er zu einem gemeinen, gewissenlosen Menschen ge14
worden war und er seinen schlichten, niemand behelligenden Lebensgewohnheiten untreu wurde, hält er diese seelische Belastung nicht aus und verliert den Verstand. Kann denn eine derartige Weltordnung richtig sein, die sogar die menschliche Natur deformiert? Der Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft dient Dostojewski zur Entlarvung der ungerechten sozialen Ordnung. Schon zu jener Zeit zeigte sich die Dialektik seiner künstlerischen Methode. Das Problem des Bösen, das die Gesellschaft zerstört und den Menschen beherrscht, brachte Dostojewski zu der Überzeugung, daß mit dem Rationalismus der Aufklärungsphilosophie und ihrer mechanistischen Methode nicht die komplizierte menschliche Natur und die Motive der Verhaltensweisen des Menschen zu .erklären sind. Wo liegt die wahre Ursache des Bösen: im Menschen selbst oder außerhalb von ihm? Diese Frage bildete für Dostojewski das zentrale Problem. Wenn der Mensch selbst die Quelle des Bösen ist, erscheint es sinnlos, an eine Veränderung seiner Existenzbedingungen zu denken, weil das Böse sich früher oder später der Kontrolle entzieht und selbst das vollkommenste Gesellschaftssystem zerstört. Im Grunde genommen baut auch die bürgerliche Ideologie auf dieser These die verschiedenartigsten Theorien einer angeblichen Irrealität des Sozialismus auf. Dostojewski analysiert die sittlich-moralischen Eigenschaften des Menschen und siedelt ihn an „zwischen dem Ideal eines Sodom und Gomorrha und dem Ideal einer heiligen Madonna", wobei er die Widerstandsfähigkeit der menschlichen Natur gegenüber den Kräften des Bösen, des Lasters und der Grausamkeit auf die Probe stellt. Dostojewskis Prosa jener Jahre wird geprägt durch Überlegungen über die soziale Gerechtigkeit, die mit phantastischen Traummotiven .verwoben sind. Dabei handelt es sich keineswegs um romantische Träume, wie es bei einer oberflächlichen Betrachtung des Romans Arme Leute mit seinem faszinierenden Zauber einer ausweglosen Liebe, mit der Poesie einer unversiegbaren Hoffnung und des menschlichen Strebens nach Glück erscheinen könnte. Dostojewskis Träume waren durchaus ernst zu nehmen. Bekanntlich wurde er im Jahre 1849 zusammen mit anderen Vertretern der fortschrittlichen bürgerlichdemokratischen Bewegung und Verfechtern des utopischen So15
zialismus, mit den übrigen Mitgliedern des PetraschewskiKreises, verhaftet. Für das Verlesen eines revolutionären Briefes Belinskis an Gogol sowie für den Versuch, eine Geheimdruckerei einzurichten, verurteilte das Gericht ihn „zum Tode durch Erschießen". Dieses Urteil wurde erst in letzter Minute auf dem Hinrichtungsplatz in Zwangsarbeit umgewandelt. Die zehn Jahre, die Dostojewski in Sibirien unter Sträflingen, unter den Soldaten der sibirischen Garnisonen und den Bewohnern entlegener Städte verbringen mußte, vermittelten ihm eine eingehende Kenntnis über das wahre Leben des Volkes, wie sie nur wenige seiner Zeitgenossen besaßen. Dostojewski war ein überzeugter Gegner der Leibeigenschaft, ein Streiter für die Freiheit des Denkens und des gedruckten Wortes, für eine umfassende Aufklärung des Volkes und die Beseitigung des Leibeigenschaftssystems in Rußland. Seine ethischen Ideale bildeten sich offensichtlich unter dem entscheidenden Einfluß des utopischen Sozialismus heraus, der seine Sympathie für die Unterdrückten, seine Hinwendung zur christlichen Ethik und zum historischen Evolutionismus verstärkte. Obwohl Dostojewski in den folgenden Jahren gegen die verschiedenen sozialistischen Theorien des 19. Jahrhunderts polemisierte, so konnte doch alles, was das Pathos seines reifen Schaffens ausmacht, d. h. die Ideen der Verbrüderung der Menschen und Völker, die Verteidigung der Interessen der untersten Schichten, sein streitbarer Humanismus und seine leidenschaftlichen Bemühungen, den Kapitalismus und seine Folgeerscheinungen aus dem Bereich der menschlichen Beziehungen zu eliminieren, nicht außerhalb des Sozialismus verwirklicht werden, ebensowenig wie auch das für Dostojewski entscheidende Ideal eines integren Menschen, dessen sittlichmoralische Züge, die Liebe zu den Menschen, das Gefühl der Güte und Gerechtigkeit bestimmen. Unter dem mittelbaren Einfluß der Philosophie Feuerbachs glaubte er einen solchen ihtegren Menschen in Christus zu sehen, den er als Menschengott begriff, wie dies in ähnlicher Weise auch die russischen Künstler und Schriftsteller Kramskoi, G e und Polenow taten oder auch solche Antipoden wie Lew Tolstoi und die Volkstümler. Dostojewskis Verhältnis zur Religion war äußerst kompliziert. Mit größter Aufrichtigkeit schrieb er am 28. Februar 16
1854 an N. D. Fonwisina: „ . . . ich bin ein Kind des Jahrhunderts, ein Kind des Unglaubens und des Zweifels bis zum heutigen Tage und sogar (ich weiß das) bis zum Sargdeckel." 2 Gleichzeitig bekannte er, daß ihn die Sehnsucht nach dem wahren Glauben quälte. In seinen Aufzeichnungen aus den Jahren 1875 und 1876 finden sich Betrachtungen darüber, daß die Religion in erster Linie einen moralischen Regulator darstellt. Obwohl Dostojewski der Religion eine vorwiegend irdische Bestimmung beimaß, irrte er jedoch gründlich in der Annahme, es gäbe keine andere Basis der Moral. Seit jener Zeit wuchsen inzwischen ganze Generationen von Menschen heran, die im Geiste einer revolutionären kommunistischen Moral erzogen, der Welt glänzende Beispiele wahrer Menschenliebe demonstrierten. Wenn die Moral für Dostojewski - bei allen Vorbehalten untrennbar mit der Suche nach irdischer Vollkommenheit und Harmonie verbunden ist, so macht er dafür den einzelnen selbst verantwortlich und persönlich für sein Handeln haftbar. Die Verantwortung des Menschen für seine eigenen Entscheidungen und Handlungen wird zum Hauptmotiv für sein späteres Schaffen. Dostojewski untersuchte dieses sozial-ethische Problem in all seiner Kompliziertheit, die von der ungewöhnlichen Widersprüchlichkeit der historischen Epoche herrührte. Nach Dostojewskis Rückkehr aus der Verbannung gingen in Rußland Veränderungen von außerordentlicher Tragweite vor sich: Eine revolutionäre Situation war herangereift; der Zarismus blieb mit der Bauernreform von 1861 auf halbem Wege stehen, das Land hatte endgültig den kapitalistischen Weg der Entwicklung eingeschlagen. Es begann sich das revolutionäre Zentrum nach Rußland zu verlagern, wobei die ohnehin zugespitzten sozialen Widersprüche bis zum äußersten verschärft wurden. Wenn Tolstoi diese krisenhafte Epoche unter dem Blickwinkel des patriarchalischen russischen Bauern darstellte, so wurde Dostojewski zum Schilderer eines chaotischen Rußland, das die patriarchalischen Standesprinzipien aufgegeben hatte. Er wurde zum Erforscher der geistigen Welt des Menschen, der von dem historisch Neuen aufs tiefste erschüttert und in den reißenden Strudel der bürgerlich-kapitalistischen Verhältnisse hineingerissen worden war. 2
Dostojewski
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Zwei grundsätzliche Probleme beschäftigten zu jener Zeit die russische Gesellschaft: W a r auch für Rußland der Kapitalismus mit all seinen Schrecken der Ausbeutung, der-Armut und der Abwertung aller moralischen Prinzipien unvermeidbar, und wenn ja, welche Aufgaben bringen die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse für den Menschen mit sich? D i e Geschichte bietet niemals fertige Lösungen an. Diese können nur auf Grund praktischer Erfahrung und mühsamer theoretischer Überlegungen gefunden werden. Dostojewski und Tolstoi, Herzen und Tschernyschewski, Nekrassow und Saltykow-Stschedrin wie auch die Theoretiker und Praktiker der Volkstümlerbewegung gingen trotz ihrer unterschiedlichen Ansichten alle von der Kritik und Negation der bestehenden Gesellschaftsordnung aus. Doch auf welche Weise und mit welchen Mitteln diese zu verändern und welche Ordnung an die Stelle der bestehenden zu setzen sei, war keineswegs klar. Lenin spricht davon, daß Rußland unter großen Qualen eine revolutionäre Theorie hervorgebracht habe, die dem russischen Volk den Weg zur Befreiung gewiesen hat. Seine Worte kann man freilich auch im buchstäblichen Sinne auffassen: Galgen, Gefängnisse, Zwangsarbeit und Verbannung begleiteten die Suche nach der historischen Wahrheit. Selbst die Geschichte des gesellschaftlichen Denkens weist eine höchst dramatische Entwicklung auf: Geniale Erkenntnisse der Begründer des „russischen Sozialismus" verbanden sich mit utopischen Spekulationen. Nüchternheit der Betrachtungen über das Leben und die Geschichte wurde verknüpft mit einer Idealisierung der Bauerngemeinde als dem Unterpfand für eine Neugestaltung der Gesellschaft. Man bejahte die Revolution, gab sich aber der trügerischen Hoffnung hin, auf dem „Wege der Aufklärung" eine grundlegende Veränderung der Gesellschaft durch „kritisch denkende Persönlichkeiten" zu erreichen. D i e Illusion, man könne die Selbstherrschaft als. eine aktive politische K r a f t bei der Durchsetzung demokratischer Reformen mit einbeziehen, war noch nicht überwunden. So wandte sich bekanntlich die revolutionäre Gruppe „Narodnaja W o l j a " nach ihrem Attentat auf Alexander I I . im Jahre 1881 mit ihrem Programm zur Umgestaltung der Gesellschaft nicht an das Volk, sondern an den neuen Zaren.
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Dem naiven Glauben, das Volk sei für den Sozialismus und die Revolution reif, folgte die Enttäuschung über dessen mangelnden revolutionären Geist. Schuld daran war nicht zuletzt ein anarchistisches Rebellentum, ein von innerer Verzweiflung erfüllter unheilvoller verschwörerischer Voluntarismus eines Terroristen vom Schlage Netschajews. Zu jener Zeit wurden nicht nur bestimmte Auffassungen entwickelt, die die wissenschaftliche Weltanschauung der Arbeiterklasse vorbereiteten, sondern es entstand gleichzeitig auch eine kleinbürgerlichidealistische Ideologie, wie beispielsweise die Theorie der Volkstümler vom „Helden und der Masse". Die nach dem Tode Dobroljubows und der Inhaftierung Tschernyschewskis nach 1862 ans Licht der Öffentlichkeit tretenden Publizisten und Theoretiker verfügten nicht über den weiten politischen und ästhetischen Gesichtskreis der revolutionären Demokraten. Sie machten aus deren Auffassungen ein totes Dogma oder gelangten zu einem platten Positivismus und Utilitarismus. Nach dem Abklingen der revolutionären W e l l e setzte der revolutionäre Demokrat Pissarew große Hoffnungen auf das „denkende Proletariat", d. h. auf die Intelligenz aus den nichtadligen Kreisen, die dazu bestimmt sei, den Boden für die künftige Gesellschaft vorzubereiten. Die Volkstümler der verschiedensten Richtungen - die Anhänger P. L. Lawrows, A. W . Dolguschins und N. W . Tschaikowskis - , die den Zusammenbruch des „Ins-Volk-Gehens" erlebt und den Glauben an den revolutionären Geist des Volkes verloren hatten, beschritten den Weg des Terrorismus oder gingen zu einer liberalen, legalen Betätigung über. Erst die Arbeiterbewegung und Lenin vermochten es, das russische gesellschaftliche Denken aus seiner Sackgasse herauszuführen, nachdem sie dem Volk einen weiten Spielraum für eine revolutionäre Tätigkeit erschlossen hatten. Die geistige Entwicklung des reifen Dostojewski ist untrennbar mit der geistigen Atmosphäre jener Zeit verbunden. Zum entscheidenden Faktor für seinen Platz im ideologischen Kampf jener Jahre wurde sein Verhältnis zum Kapitalismus, in dem Dostojewski eine Gefahr für den Menschen und die entscheidende Ursache für die katastrophale gesellschaftliche Situation sah und der daher für Rußland und seine zukünftige Lebensform unannehmbar sei. 2*
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Die konsequente Zielsetzung, mit der er die großen Romane seiner reifen Schaffensperiode fertigstellte, verdient höchste Bewunderung. Bestürmt von Geldverleihern, bei einem Gesundheitszustand, der durch Zuchthaus und Verbannung untergraben war, schuf er in seinen letzten Lebensjahren in hektischer literarischer Tätigkeit nacheinander eine Reihe monumentaler Werke. Seine Aufzeichnungen aus einem lotenhaus können als eine der schonungslosesten Entlarvungen des zaristischen Gesellschaftssystems gelten. Schuld und Sühne ist ein düsteres, gewaltiges Drama seelischer Verwirrungen, voller Verzweiflung und Hoffnung. Der Idiot kann als ein in der Weltliteratur einzigartiger Versuch gelten, die Gestalt eines wahrhaft edlen und seelisch vollkommenen Menschen zu schaffen. Die Dämonen sind ein Roman über die Irrwege des revolutionären Kampfes und über die Gefahren, die das anarchistische Rebellentum mit sich bringt. Der Jüngling bietet ein ungewöhnlich spannungsgeladenes Bild des Widerstandes einer jungen Seele gegen die Allmacht des; Geldes, den Egoismus und den verlockenden „Traum vom Leben eines Rothschild". Der in seiner gewaltigen Dynamik und Gedankentiefe an eine griechische Tragödie gemahnende Roman Die Brüder Karamasow stellt neben Krieg und Frieden eine der größten Schöpfungen der russischen Literatur dar. Jedes dieser Werke bildet eine eigene Welt der Leidenschaften und Ideen, menschlicher Dramen und Charaktere. Zahlreiche Gestalten aus Dostojewskis Werken gingen fest in unser Bewußtsein ein: seine Romanhelden, die von der Idee wahrer Güte getragen werden oder zwischen dem „Ideal eines Sodom und Gomorrha und dem Ideal einer heiligen Madonna" schwanken, und jene Romanfiguren, die ein Opfer der gesellschaftlichen Ungerechtigkeit werden. Gestalten wie Raskolnikow, Sonjetschka, Swidrigailow, Fürst Myschkin, Nastasja Filippowna, Stawrogin, Stepan Werchowenski, der Bauer Marej, Gruschenka, Smerdjakow, Iwan und Mitja Karamasow verallgemeinern eindrucksvoll historische und aktuelle Realitäten. Alle diese Helden wurden bei all ihrer realistischen Konkretheit zu Verkörperungen, ja fast zu Symbolen beständiger, charakteristischer Eigenschaften der Menschen in einer Welt von Besitzenden. Die zahlreichen Auseinandersetzungen und mora-
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lischen Konflikte seiner Romane, einschließlich der „NapoleonIdee" Raskolnikows, wurden durch das Streben nach Geld, Besitz und Kapital hervorgerufen. Für hunderttausend Rubel kauft Rogoshin von dem „Habenichts" Ganjetschka sein Glück und seinen Fluch - Nastasja Filippowna. Diese wirft die Hunderttausend ins Feuer, um die verhaßte Freiheit wiederzugewinnen. Der blendende Glanz des Goldes lockt den „Jüngling" wie ein Irrlicht in den Sumpf. Um die Erbschaft und die verhängnisvollen „Dreitausend" spielt sich das Drama der Brüder Karamasow ab, das mit einem Vatermord und dem Untergang eines Unschuldigen endet. Alles Unglück und Leid der „Erniedrigten und Beleidigten" in Dostojewskis Romanen ist unmittelbares Ergebnis der unmenschlichen bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse. Diese bilden sozusagen die objektive historische Grundlage seiner ethischen und philosophischen Theorien. Den gesellschaftlichen Prozeß betrachtete Dostojewski unter einem zweifachen Blickwinkel: Er stellte die Erkenntnisse und Erfahrungen des bürgerlich-kapitalistischen Westens und die historische Entwicklung Rußlands einander gegenüber. Er wurde sich immer mehr darüber klar, daß Rußland bereits den kapitalistischen Weg beschritten hatte. Für Dostojewski war der Kapitalismus untrennbar mit dem Verlust der moralischen Integrität der Persönlichkeit verbunden. Er kannte Westeuropa, wo er sich wiederholt längere Zeit aufgehalten hatte, aus eigener Anschauung. Wie Alexander Herzen - und nicht ohne dessen Einfluß - nahm auch er an, daß die bürgerliche revolutionäre Entwicklung sich in einer Agonie befinde, daß der Fortschritt des Kapitalismus durch ungeheure menschliche Opfer erkauft werde und eine lang anhaltende Periode einer krisenhaften Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft begonnen habe, die nicht imstande sei, die Ideale der Gleichheit, Freiheit und einer harmonischen Persönlichkeit zu verwirklichen. Bereits in den Winterlichen Bemerkungen über sommerliche Eindrücke unterzog er die Prinzipien der bürgerlichen Zivilisation ilnd des bürgerlichen Bewußtseins einer eingehenden Betrachtung und vernichtenden Kritik. Das vom gleißenden Licht der Gaslaternen angestrahlte nächtliche London, die damalige Metropole der kapitalistischen Welt, erschien Dostojewski als der 21
Gipfel des kapitalistischen Fortschritts, zu dessen Symbol für ihn der „Kristallpalast" wurde - ein Glasgebäude, das f ü r die Weltausstellung errichtet worden war. E r entdeckte in dem Gewimmel auf den Straßen und Plätzen der schlaflosen Stadt eine Vielzahl einsamer Menschen, die auf der Suche nach Befriedigung ihrer Bedürfnisse und nach der verlorenen Gemeinschaftlichkeit bestrebt waren, sich ähnlich einem Ameisenhaufen zu vereinigen, aber nicht fähig waren, zu einem organischen Ganzen zu verschmelzen. E r vermißte bei der nächtlichen Londoner Menschenmenge das Gefühl der Brüderlichkeit und sah nur eine einseitige Orientierung auf das Privatinteresse. Für die bürgerliche Demokratie hatte er nur Verachtung übrig, nachdem er den Mechanismus der angeblich gleichen Freiheit für jedermann, wonach alle im Rahmen des Gesetzes tun können, was sie wollen, entdeckt hatte: „Gibt die Freiheit jedem Menschen eine Million? - Nein. Was ist ein Mensch ohne eine Million? - Ein Mensch ohne eine Million ist nicht jemand, der alles macht, was er will, sondern jemand, mit dem man macht, was man will." 3 Scharfsichtig stellte Dostojewski das Fehlen einer zukunftsträchtigen Idee im Kapitalismus fest. Noch schonungsloser verurteilte Dostojewski den bürgerlichen Individualismus. Das Bekenntnis des „Menschen aus dem Untergrund" - eines verbitterten einzelnen, der sein eigenes Wollen und seine Person über alles stellt und voller Wollust seine eigenen Gefühlsbewegungen analysiert, der sich in einem verzweifelten Skeptizismus und einer boshaften Gehässigkeit gegenüber allen Menschen verzehrt - nahm viel von dem vorweg, was die bürgerliche Philosophie als eigene Offenbarung hervorbrachte. D e r H a ß gegenüber dem Fortschritt, das Verhältnis zum Bewußtsein wie zu etwas Krankhaftem, die Auffassung des Krankhaften als das Normale, das Machtstreben und das Vergnügen an der Gewalt^ der fehlende G l a u b e an den Menschen und seine Möglichkeiten, eine vernünftige und glückliche Welt zu schaffen - das ist das Credo des „Menschen aus dem Untergrund". Seine rigorosen philosophischen Thesen stehen im Einklang mit den modernen Theorien bürgerlicher Ideologen, die bemüht sind, jene Ideen zu unterdrücken und zu diffamieren, die der Menschheit den W e g zur Freiheit und zum Glück weisen. 22
Doch der „Mensch aus dem Untergrund" erleidet einen völligen moralischen Zusammenbruch, als er mit einer selbstbewußten Persönlichkeit zusammenstößt, die, wenn auch zaghaft, versucht, ihre Rechte und ihre Menschenwürde zu verteidigen. Dostojewski nahm einen kompromißlosen Kampf gegen die bürgerliche Ideologie auf, wobei er spezielle Gesichtspunkte zu ihrer Bekämpfung ausarbeitete. Auf dem Gebiet der Ethik sah er die Hauptgefahr im Positivismus und seinem Abkömmling, dem Utilitarismus, der an die Stelle des Kriteriums der Wahrheit und der Normen der menschlichen Beziehungen das Nützlichkeitsprinzip setzte. Jeremy Bentham und John Stuart Mill versuchten, gleich ihren zahlreichen Nachfolgern, dem Utilitarismus einen Anstrich von Menschenliebe zu geben, wobei sie ein Gleichheitszeichen zwischen die Nützlichkeit und das Gute setzten. In Wirklichkeit aber erhoben diese liberalen englischen Bourgeois die soziale Ungleichheit zur Norm und rechtfertigten den Malthusianismus. Die Positivisten betrachteten den Menschen als eine Einheit von physiologischen und ererbten Eigenschaften und als passives Produkt des ihn umgebenden Milieus. Die Volksmasse und das soziale Leben betrachteten sie unter dem Aspekt der Darwinschen Theorie des Existenzkampfes und sahen im Untergang und in den Leiden der Menschen die Wirkung eines Naturgesetzes, wonach die Stärkeren überleben und die Schwächeren sterben. Derartige darwinistische Auffassungen von der Gesellschaft teilte auch Bakuriin. Um die bestehende Ordnung ideologisch zu stützen, griffen einige bürgerliche Historiker und Philosophen auf die Idee des Cäsarismus zurück. Aus dem Munde Nietzsches verkündete die Bourgeoisie die Relativität und Unverbindlichkeit aller moralischen Normen und stellte ihnen das persönliche Recht des Übermenschen entgegen, der „jenseits von Gut und Böse" steht. Gleichzeitig begann die Bourgeoisie, die verschiedenartigsten sozialistischen Richtungen ihren Interessen anzupassen. Friedrich Engels wies darauf hin, daß um die Mitte des 19. Jahrhunderts der echte Sozialismus, der eine reale Gefahr für den Kapitalismus bedeutete, nur in der Theorie existierte, die ihren Niederschlag im Kommunistischen Manifest gefunden 23
hatte, auf das sich die Arbeiterbewegung stützte. W a s alle übrigen sozialistischen Richtungen anbelangt, so strebten sie zwar danach, unter Zuhilfenahme verschiedenster Rezepte und Allheilmittel die gesellschaftlichen Mißstände zu mildern, sie tasteten jedoch nicht die Grundpfeiler des Kapitalismus an. Raskolnikow teilte die Menschheit in zwei ungleiche Gruppen ein: in das sogenannte „Material" und in „außergewöhnliche Persönlichkeiten, die das ungeschriebene Recht besaßen, zur Erreichung ihrer Ziele jede beliebige Anzahl von Menschenleben zu opfern". Er hatte die alte Wucherin in der Hoffnung erschlagen, eine Bestätigung für seine Theorie zu finden. Seine Auffassung, ein Produkt des bürgerlichen Verfalls, stimmte völlig mit der objektiven Entwicklung des bürgerlichen Bewußtseins überein. Raskolnikow - ein Radikaler und überzeugter Gegner des Sozialismus - war eine große künstlerische Entdeckung Dostojewskis. Seine Gestalt nahm eine äußerst wichtige und charakteristische Erscheinung des geistigen Lebens der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und unseres Jahrhunderts vorweg - die höchst eigenartige und gefährliche Figur des konservativen Aufrührers, der zwar im Innern vom Protest gegen die soziale Ungerechtigkeit erfüllt ist, doch aus den richtigen Prämissen von der Unvollkommenheit der Welt falsche Schlußfolgerungen zieht und ein äußerst reaktionäres Programm für die gesellschaftliche Tätigkeit entwickelt. Dostojewski verurteilt Raskolnikow ohne Vorbehalte. Aber weshalb erweckt die Gestalt Raskolnikows beim Leser dennoch Mitleid? Dostojewski zeigt, daß die Theorie Raskolnikows inhuman ist und derjenige, der sie vertritt, zugrunde gehen muß. In der Gestalt des Raskolnikow ringt der Mensch um seine Selbstverwirklichung. Er erreicht sie auch letzten Endes, als Raskolnikow, gebrochen durch das Verbrechen, sich schließlich lossagt von seiner Idee, der der Autor die grenzenlose Güte und Menschlichkeit Sonjetschkas gegenüberstellt. So findet Dostojewski zum Thema der Auferstehung des Menschen im Menschen, das das wichtigste Motiv im Schaffen Tolstois antizipiert. Ewige Güte, ewige Sonjetschka! Wer aber setzt sich für jene Menschen ein, die ihr Leben inmitten von Armut, Grausamkeit und Bosheit fristen müssen? W e r erleichtert ihre tagtägliche 24
Misere und reicht ihnen voller Barmherzigkeit die Hand zur Hilfe? Was ist zu tun, damit es auf der Erde kein sinnloses Leiden und keine Demütigungen für den Menschen gibt und dieser in einer freudlosen Welt ein menschliches Leben führen kann? Eine Theorie, die gegen die wahren Bedürfnisse und Natur des Menschen gerichtet ist, die jeglicher Humanität entbehrt, löst diese „verfluchten Fragen des Daseins" nicht, erklärte Dostojewski. Daher erscheint auch die Gesellschaftsordnung, für die der Großinquisitor eintritt, so hoffnungslos und innerlich tot, da das Glück der Menschen ohne Berücksichtigung ihrer Bestrebungen und Wünsche nicht zu verwirklichen ist, da es nicht durch Unterdrückung des freien Willens, der Menschenwürde und des Schöpfertums geschaffen werden kann, indem die Menschen in eine Schar willfähriger und gedankenloser Konsumenten der Annehmlichkeiten des täglichen Lebens verwandelt werden. Mit großer Überzeugungskraft zerstört Dostojewski die Idee vom Übermenschentum und der Eigenmächtigkeit der Persönlichkeit, die „jenseits'von Gut und Böse" steht. Die Verkörperungen des zerstörenden Prinzips des Bösen in seinen Werken, Swidrigailow und besonders Stawrogin, sind ohne Zweifel starke Persönlichkeiten, dennoch kommen sie um, erdrückt von ihrer großen Selbstliebe, Einsamkeit und seelischen Kälte. Sie sind das Opfer ihrer eigenen Unmenschlichkeit. Für Dostojewski gab es keine Relativität der Moral und ihrer Werte. Das sophistische Spiel Iwan Karamasows mit moralischen Kategorien, das in der Schlußfolgerung gipfelt, daß „alles erlaubt sei" und nichts und niemand das menschliche Wollen kontrollieren und zügeln könne, führt diesen zu einem völligen geistigen Zusammenbruch und macht ihn zum moralischen Mittäter am Vatermord, der von Smerdjakow begangen wurde, dieser Verkörperung geistigen Lakaientums und seelischer Niederträchtigkeit. Nicht ohne Grund gesteht der Schöpfer der Idee vom „Übermenschen", Friedrich Nietzsche, daß Dostojewskis Humanismus seinen „untersten Instinkten zuwider geht". 4 Gegen die Eigenmächtigkeit und die Amoralität der Persönlichkeit, die sich in verzerrter Weise mit der Idee der Rebellion verbinden, wendet sich Dostojewski auch in dem Roman Die Dämonen, dessen Helden den terroristischen Losungen Netscha25
jews folgen und die geheiligten Prinzipien der revolutionären Ethik verletzen. Pjotr Werchowenski, ein fanatischer Anarchist und mißmutiger, bösartiger Zyniker, behauptet: „Das liegt gerade im Sozialismus: die alten Kräfte zerstört er, aber neue bringt er nicht auf." 5 Was aber kann dieser durchtriebene Demagoge dafür an neuen Ideen anbieten? Gewalt um der Gewalt willen, Vernichtung um der Vernichtung willen! Ausgehend von der These, daß „das Ziel die Mittel heiligt", setzt er, voller Verachtung für das Volk und voller Unglauben an dessen schöpferische Möglichkeiten, seine ganze Hoffnung auf eine kleine Schar von Verschwörern, wobei er weder vor Erpressung noch Betrug haltmacht. Derartige revolutionäre Demagogen wie Pjotr Werchowenski sind auch heutzutage noch sehr zahlreich, wir finden sie im Westen und im Osten im Lager des Linksopportunismus. Der Terrorismus und Anarchismus Netschajews stellt die dunkelste Seite in der Geschichteder russischen revolutionären Bewegung dar. Marx und Engels verurteilten ihn ebenso kompromißlos wie auch die russischen Revolutionäre. Da Dostojewskis breit angelegter Roman, der eine harte Kritik am Liberalismus, an der Idee des Übermenschen und am gesamten Gesellschaftssystem enthielt, außer den Anhängern Netschajews keine anderen revolutionären Kräfte in den Kreis der Darstellung einbezog, rief er einen zwiespältigen Eindruck hervor. So mußten die demokratischen Kreise annehmen, dieser Roman sei gegen sie in ihrer Gesamtheit gerichtet. Doch die Sache ist wesentlich komplizierter. Dostojewski verfaßte den Roman im Ausland, er analysierte nicht nur den Terrorismus Netschajews, sondern auch die westeuropäischen anarchistischen Anhänger Blanquis. Der Roman Die Dämonen ist eine Anatomie und Kritik des ultralinken Extremismus. Was die politischen Theorien angeht, von denen sich die Helden des Romans leiten lassen, so stellte Lenin fest, daß der Anarchismus „in der Vergangenheit (in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts) die Möglichkeit hatte, sich ungewöhnlich üppig zu entfalten und seine Unrichtigkeit, seine Untauglichkeit als führende Theorie der revolutionären Klasse restlos zu offenbaren" 6 . Dostojewski lehnt die Idee einer angeblich angeborenen Ver26
derbtheit und Unveränderlichkeit der menschlichen Natur ab, eine Idee, die in der bürgerlichen Philosophie viele Anhänger fand. Er nahm auch, im Unterschied zu den Aufklärern, nicht an, daß man dem Menschen als einem vernunftbegabten Wesen nur seine höheren Interessen klarmachen und seine geistige Entwicklung fördern müsse, damit sogleich in der Gesellschaft Harmonie herrsche. Dostojewski wußte, daß die objektiven Existenzbedingungen den historischen Rahmen bilden, in dem sowohl die lichten als auch die dunklen Seiten der menschlichen Natur die Überhand gewinnen können. Die Anhänger des „Ideals von Sodom und Gomorrha" in seinen Romanen der alte Karamasow, Stawrogin, der „gierige Charakter" Wersilow und andere - sind keine geborenen Verbrecher. Als ein für den historischen Sachverhalt interessierter Dichter erkannte Dostojewski, daß derartige Charaktere das Ergebnis eines ungerechten, schweren Daseins, der Lebensweise und Gewohnheiten der Gutsbesitzerklasse waren. In den Aufzeichnungen aus einem Totenhaus zeigt er, daß selbst ein notorischer Verbrecher sich stets bewußt ist, daß er ein Verbrechen begeht. Mit anderen Worten, der Mensch verhält sich der Moral gegenüber nicht neutral, sondern besitzt die Fähigkeit, zwischen Gut und Böse und dem, was moralisch oder unmoralisch ist, zu unterscheiden. Folglich kann der Mensch sein Leben ändern und verbessern. Da er auf der Suche nach der historischen Wahrheit fehlging, konnte sich Dostojewski nur vage vorstellen, welche Wege der Mensch und die Gesellschaft einschlagen müssen. Er wußte nur allzu gut, was er für die Menschen nicht wollte, doch es blieb ihm unklar, wie er sein ethisches Ideal, dem er bis zum Ende seiner Tage treu blieb, mit Leben erfüllen sollte. In seinen Überlegungen über die Zukunft wurde er von inneren Widersprüchen zerrieben, da in seinem Innern ein ständiger Kampf zwischen Rebellentum, sozialem Protest und der Idee der Demut - einer direkten Folgeerscheinung seines ethischen Ideals - vor sich ging. Dieser innere Kampf ist in seinem gesamten Spätschaffen spürbar. Dostojewski führte mit den Radikalen, hauptsächlich aber mit den Positivisten aus dem Kreis Das russische Wort, über Fragen der Ethik, des Verhältnisses zum Volk, zum Menschen und zur Kunst eine leidenschaftliche Polemik. Heute können 27
wir sagen, daß in dieser Polemik die besten Seiten seines Humanismus und seiner demokratischen Einstellung zum Ausdruck kamen. D i e russischen Positivisten vertraten die Auffassung, die Grundlage der Ethik sei das utilitaristische Prinzip, der Mensch dagegen stelle einen lebendigen Organismus dar, der sich ausschließlich durch physische und chemische Einwirkung verändere. Ihre Behauptung, das Volk sei stumpfsinnig, dumm, passiv und nur „erleuchtete Geister" trieben die gesellschaftliche Entwicklung, wenn auch im Namen der Freiheit und des Fortschrittes, voran, mußten ernsthafte Einwände hervorrufen. D i e Ansichten der russischen Positivisten konnten im Vergleich zu den Anschauungen der Ideologen der Bauernrevolution, Tschernyschewskis und Dobroljubows, ohne Zweifel nur als ein Schritt zurück angesehen werden. D i e Negierung der Kunst, die sinnlos erbitterten Beschuldigungen, die gegen Lermontow und Puschkin erhoben wurden, unterstrichen die außerordentliche Beschränktheit der positivistischen Auffassungen. Dostojewski kommt das große Verdienst zu, die Bedeutung Puschkins in seiner berühmten Moskauer Rede im Jahre 1880 für die gesamte Nation und das russische Volk für alle Zeiten sanktioniert zu haben. Weitaus dramatischer verlief seine Auseinandersetzung mit dem, was er den „heutigen Sozialismus" nannte: d. h. mit den sozialistischen Theorien um die Mitte des 19. Jahrhunderts, wie sie sich ihm in den damaligen Zeitungen und Journalen darstellten. E r bemerkte voller Bestürzung die Nähe dieser Theorien zu dem ihm verhaßten Positivismus, der für Dostojewski immer das Symbol für die bürgerliche Ideologie darstellte. Mit großer Beunruhigung beobachtete er, wie die bourgeoise Gesellschaft bemüht war, den Sozialismus ihren Zielsetzungen anzupassen. Seine Befürchtungen waren durchaus begründet. Lenin wies auf diese Tendenz hin und bemerkte dazu: „als .Sozialisten* bezeichneten sich beispielsweise oft genug sowohl die Anhänger des englischen bürgerlichen Liberalismus . . . als auch die Anhänger Bismarcks und die Freunde des Papstes Leo X I I I " 7 . Auch die sozialistischen Theorien jener Zeit wiesen verschiedenartige Schattierungen auf. Sie reichten von einem gleichmacherischen, einem katholischen Sozialismus und einem Sozialismus Lassalles und Proudhons bis zur Volkstümlerbewe28
gung und den Kreisen um S. G. Netschajew und P. N. Tkatschew. Dostojewski waren, 'wie vielen russischen Denkern und Schriftstellern jener Zeit, die Ideen des „realen Humanismus", d. h. des wissenschaftlichen Sozialismus, unbekannt, der entschieden gegen das Eindringen bürgerlicher Ansichten und Tendenzen in die sozialistische Bewegung auftrat und kritisierte, daß echte Kollektivität durch Kasernengeist ersetzt wurde. Trotz seiner heftigen Polemik anerkannte Dostojewski, wie eine Bemerkung aus dem Notizbuch der Jahre 1875 bis 1876 zeigt, „die Realität und Wahrhaftigkeit der Forderungen des Kommunismus und Sozialismus sowie die Unvermeidlichkeit einer europäischen Katastrophe" 8 . Die herannahende Revolution und die Zuspitzung der Klassenkämpfe erschreckten ihn, da er annahm, daß ihr Ergebnis die Herrschaft der Bourgeoisie sein werde und er noch immer hoffte, daß Rußland, nach seinen Worten: „. . . dem zerstörenden Wirbelwind, der in Europa seine Kreise zieht, ausweicht." Dostojewski glaubte einige Möglichkeiten zu sehen, um einer derartigen Gefahr zu entgehen. Er teilte die überaus zählebige Illusion seiner Zeit, die zaristische Regierung werde Vernunft annehmen, und hoffte, daß ein Gegengewicht gegenüber einer derartigen Gefahr die Vereinigung aller Klassen und Stände Rußlands unter der Ägide eines autoritären Prinzips bilden könnte, d. h. einer idealisierten, zum Symbol erhobenen zaristischen Macht, die die Aufgabe hätte, alle Standesinteressen miteinander zu verschmelzen und den Verfallsprozeß der Gesellschaft sowie die Verelendung des Volkes aufzuhalten und ein entsprechendes Gleichgewicht herzustellen. Wie der Starez Sossima in den Brüdern Karamasow lehrt, kann der Staat diese Mission nur auf der Grundlage des Evangeliums erfüllen. Der konservative, ja sogar reaktionäre Utopismus eines derartigen Programms ist ganz offensichtlich. Weitaus größere Hoffnungen setzte Dostojewski auf die schöpferische Kraft des russischen Volkes, darauf, daß dessen eigenständige historische Entwicklung die Erfahrungen Westeuropas nicht noch einmal durchmachen müsse. Ständig steht hinter allen Konflikten und philosophischen Kontroversen seiner Romane, hinter ihrem komplizierten dramatischen Aufbau, den seelischen Qualen und den Gedanken der Helden als Maßstab aller Maßstäbe, als eine Kraft, die in der Lage ist, 29
alle Irrtümer aufzuklären, und dem Menschen hilft, zur Wahrheit vorzudringen, der große Lehrer, Dulder und Lebensspender - das russische Volk. Ihm war das gesamte Leben und Schaffen Dostojewskis gewidmet, in der Ehrfurcht und Liebe zum russischen Volk bestand sein wahrer Glaube. Eine Zeitlang vertrat Dostojewski die Positionen der „Theorie des Bodens", der Besinnung auf das konservative Traditionsbewußtsein des „bodenständigen Volkes". Doch die „Theorie des Bodens" führt zur nationalen Abgeschlossenheit, zum Verlust der Fähigkeit zur nationalen Selbstkritik und der Möglichkeit, die Kultur als einen komplexen Prozeß zu sehen. Im Laufe der Jahre kam Dostojewski, wenn er über die historische Mission Rußlands, über dessen Platz und Schicksal inmitten der übrigen Völkerfamilie nachdachte, zu anderen Schlüssen. „Ein wirklicher Russe, ganz Russe sein", sagte er in seiner Puschkinrede, „heißt vielleicht nur . . . ein Bruder aller Menschen zu sein." 9 Die Idee der Verbrüderung aller Menschen und Völker hinterließ uns Dostojewski in seiner berühmten Rede als Vermächtnis, sie machte die Endbilanz seiner Überlegungen aus. Wie dies Zielf jedoch verwirklicht werden sollte, wußte er freilich nicht. Doch nicht nur Demut und Sanftmut fand er im russischen Volk. Im Tagebuch eines Schriftstellers wandte er sich an die Intelligenz und die Regierung und erklärte: „Ja, unserem Volk darf man wohl Vertrauen zeigen, denn es verdient es. Man rufe die Männer in den grauen Bauernkitteln herbei und frage sie nach ihren Wünschen und Bedürfnissen; sie werden die Wahrheit sagen, und so werden wir alle, vielleicht zum erstenmal, die reine Wahrheit hören." 10 Dostojewski war sich bewußt, daß in den Händen des Volkes der Schlüssel für die Zukunft lag und das russische Volk sein gewichtiges Wort sagen werde, das die Welt verändern wird. Eine große Kraft, die fähig ist, das Leben zu verändern, hielt Dostojewski für etwas Gutes. Doch gleichzeitig zeigte er mit außerordentlicher künstlerischer Ehrlichkeit den Zusammenbruch des wehrlosen Guten, d. h. im Grunde genommen den Zusammenbruch seines ethischen Ideals, das mit der unerbittlichen Realität des Lebens kollidierte. Erschütternd und hoffnungslos ist das Schicksal des Fürsten Myschkin, des selbstlosen Kämpfers für das Gute, der in einen blindwütigen 30
Wirbel der Leidenschaften und Interessen hineingezogen wird. Seine hilflose Offenheit und Herzensgüte erwiesen sich als ein zu schwacher Schutzwall gegen die mitleidslose Unvernunft 'des Lebens. Der Roman gipfelt in einem Finale von höchster Tragik, das an die Schlußzeile von Puschkins Zigeunern erinnert: „Und des Geschickes strengem Walten Ist noch kein Irdischer entflohn." Es wurde bereits zur Gewohnheit, von den. großartigen Frauengestalten Turgenjews zu sprechen. Doch von welcher elementaren Kraft des Protestes sind die Frauengestalten Dostojewskis erfüllt! All seine Sympathien sind auf Seiten der Frauen, die das Leben gebeugt und zerbrochen hat, auf seiten derjenigen, die ihr Recht und ihre Menschenwürde verteidigen und den Kampf gegen Routine und konservative gesellschaftliche Traditionen aufnehmen. Als Aglaja der Nastasja Filippowna rät, ein ehrliches Leben zu beginnen und als Waschfrau zu arbeiten, um wieviel höher als die erbitterte Generalstochter Aglaja steht diese stolze und herrliche Frau, die von einem Rausch der Liebe und Selbstverleugnung erfaßt wird und an ihrer Unbeugsamkeit zugrunde geht, wobei sie sich bewußt ist, daß sie umkommen wird und sie das Messer Rogoshins erwartet. Welch eine innere Kraft und Unversehrtheit besitzt Gruschenka, die sich ohne Zögern entschieden hat, das Schicksal des unglücklichen Mitja zu teilen! Die Unbeugsamkeit der Frauengestalten Dostojewskis ist nur eine der Formen des Protestes und Aufruhrs, der in der russischen Gesellschaft herangereift war, da sich in Rußland alles in Gärung befand, der Druck der hinfällig gewordenen gesellschaftlichen Verhältnisse unerträglich geworden war und der offene Kampf der revolutionären Kräfte gegen das zaristische Regime begonnen hatte. Alle Hauptgestalten Dostojewskis sind in den geistigen Auseinandersetzungen der vorrevolutionären Zeit angesiedelt und im Innersten bereit zur Rebellion. Dostojewski selbst war sein ganzes Leben lang ein Rebell. Trotz seiner widersprüchlichen Haltung gegenüber dem Rebellentum, schloß Dostojewski die menschliche Aktivität, die sich die Beseitigung der Ungerechtigkeit zum Ziele setzte, nicht 31
aus, da das Glück und die Freiheit des Individuums und der gesamten Menschheit sein sehnlichster Traum und seine Hoffnung waren. In den Brüdern Karamasow bricht sich auf Grund der ungewöhnlich starken künstlerischen Dialektik die Idee vom Recht des Menschen auf Rebellentum Bahn und verdrängt die Predigt der Demut und Selbstvervollkommnung des Starez Sossima. Für Rußland war zu jener Zeit die Frage, ob eine Ethik, die auf dem Humanismus basiert, die revolutionäre Tat zuläßt, von großer Bedeutung. Von ihr hing die Entscheidung jedes einzelnen Menschen mit allen sich daraus für ihn persönlich ergebenden Folgen ab: soll er am gesellschaftlichen Kampf teilnehmen oder nicht? Im Roman wird diese Frage anfangs im Rahmen einer abstrakten Ethik entschieden. Iwan fragt Aljoscha, ob er bereit sei, um den Preis des Leidens eines unschuldigen Kindes und dessen „ungerächten Tränen" das zukünftige Glück der Menschheit zu gründen? Selbstverständlich erhält er eine verneinende Antwort. Doch dieses Paradoxon ist umkehrbar und ruft einen Gegeneinwand hervor: Ist es zulässig, daß die furchtbaren Leiden der Menschheit und die künftigen Qualen der unschuldigen, ungeborenen Menschen existieren und weiter andauern, damit die „ungerächte Träne" eines einzelnen Kindes nicht vergossen wird? Auch auf diese Frage gibt es nur eine einzige, negative Antwort. So ist vielleicht dieses Paradoxon überhaupt nicht zu lösen und stellt die endgültige Antwort Dostojewskis auf die unumstößlichen Forderungen der Geschichte, der Revolution und des Kampfes der russischen Menschen um die Freiheit dar? Doch ziehen wir keine voreiligen Schlußfolgerungen. Die künstlerische Idee Dostojewskis besitzt eine tiefe Dialektik: Der Schriftsteller weist nach, daß dieses Paradoxon im Rahmen einer abstrakten Ethik nicht zu lösen ist, und er sprengt diesen Rahmen, indem er das Leben selbst in die Überlegungen einbezieht. Er fragt: Warum werden die Tränen des Kindes vergossen, warum ist menschliches Leid möglich? Weshalb weint das Kind? In der Not seines gequälten Gewissens, in einem prophetischen Traum fragt Mitja Karamasow: „Sag mir doch, warum stehen da die Mütter, warum* sind die Leute arm, warum ist das Kindelein arm, warum ist die Steppe kahl, warum umarmen und küssen sie sich nicht, 32
warum singen sie nicht frohe Lieder, warum sind die Frauen so schwarz geworden von Not und Elend, warum ernähren sie das Kindelein nicht?'' 11 Diese Fragen wurden von Dostojewski im Geiste der klassischen russischen Literatur gestellt. Was muß der Mensch tun, wenn Ungerechtigkeit das Wesen der Welt ausmacht? Es bleibt nur eines übrig: Der Mensch ist verpflichtet, das Antlitz dieser Welt zu verändern, und er kann es verändern, indem er die Quelle des Bösen beseitigt, indem er die Diener des Bösen bekämpft. - In diesem Appell liegt der objektive Sinn im Schaffen Dostojewskis beschlossen. Das humanistische und demokratische Pathos, die kompromißlose Kritik am Kapitalismus machen seine Werke zu einem wichtigen Bestandteil der russischen Literatur. Wir lehnen jegliche Versuche ab, die schon früher wie auch noch heute von der bürgerlichen Forschung unternommen wurden und noch unternommen werden, das literarische Schaffen Dostojewskis als Widerspruch zu seinen Freiheitsbestrebungen zu interpretieren. Wir verschließen keineswegs die Augen vor den Widersprüchen, die seine Seele quälten und sich in seinem künstlerischen Werk widerspiegelten. Doch diese Widersprüche wurden durch die objektive und komplizierte gesellschaftliche Entwicklung, durch die Schwierigkeiten hervorgerufen, die historische Wahrheit zu ergründen. Dostojewski verlor niemals den Glauben an die Zukunft, an die Fähigkeit der Menschen, sie vernünftig zu gestalten. „Und es wird ein allumfassendes Reich der Idee und des Lichtes anbrechen, und vielleicht bei uns in Rußland eher als irgendwo sonst"12, schrieb er voll leidenschaftlicher Überzeugung. Mit dem Appell - Fürchtet nicht das Leben! - schloß er seinen Roman Die Brüder Karamasow, den Höhepunkt seines künstlerischen Schaffens. In diesen Worten liegt eine tiefe Weisheit, da die Menschheit, die das Leben liebt und die Schwierigkeiten nicht fürchtet, sich beharrlich ihren Weg zum höchsten Glück bahnt.
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Dostojewski
G. M. Fridlender
Dostojewskis Stellung in der Entwicklung des russischen Realismus
Dostojewski und seine Epoche Dostojewski begann seine schriftstellerische Laufbahn schon in den vierziger Jahren, seine volle literarische Reife erreichte er jedoch - ebenso wie Lew Tolstoi - erst in der Nachreformzeit. Bei beiden Schriftstellern liegt der Schlüssel für die Merkmale ihres Schaffens vor allem in den historischen Besonderheiten dieser - wie Lenin sie nannte - „Übergangsperiode". Im Tagebuch eines Schriftstellers vertrat Dostojewski die Ansicht, daß es durch die Bauernreform von 1861 nicht nur zu einer „radikalen Veränderung" in dem „früheren russischen adligen Milieu, das sich auf die früheren Gutsbesitzerbegriffe stützte" 1 , gekommen sei, sondern daß sie auch die Lage aller übrigen Bevölkerungsschichten und vor allem der breiten Volksmassen einschneidend verändert habe. Und doch waren nach 1861 nach Dostojewskis Auffassung keine soliden Grundlagen für eine neue Gesellschaftsordnung geschaffen worden. In den siebziger Jahren hob er mehrfach hervor, daß die Aufhebung der Leibeigenschaft vielmehr die zerstörerischen und disharmonischen Tendenzen auf sozialökonomischem und ethischpsychologischem Gebiet, die im russischen Leben der sechziger Jahre einen kritischen Höhepunkt erreicht hatten, nur noch verstärkt habe. „Die alte Welt, die alte Ordnung - eine zwar schlechte Ordnung, aber immerhin eine Ordnung - sind unwiderbringlich versunken", schrieb Dostojewski 1873. „Und seltsam - alle die düsteren moralischen Züge der alten Ordnung - Egoismus, Zynismus, Sklaverei, Uneinigkeit und Käuflichkeit sind mit der Aufhebung der Leibeigenschaft nicht nur nicht verschwunden, sondern haben sich anscheinend vermehrt, entwickelt und gekräftigt.'34
In dem nach 1861 sich in Rußland herausbildenden kapitalistischen System erlkannte Dostojewski die zerstörerischen Kräfte, das „Chaos", das den Verfall aller positiven Normen des gesellschaftlichen und sittlichen Lebens unausbleiblich mit sich brachte. Im März 1877 schrieb er im Tagebuch eines' Schriftstellers: „Gewiß, der Mensch hat immer und zu allen Zeiten den Materialismus vergöttlicht und war geneigt, die Freiheit nur in der Versorgtheit durch das mit allen Mitteln und Kräften aufgespeicherte Geld zu sehen. Aber noch niemals war dieses Streben so offen und belehrend zum höchsten Prinzip erhoben worden wie in unserem neunzehnten Jahrhundert. ,Ein jeder für sich und nur für sich und auch jede Gemeinschaft mit anderen Menschen - nur für sich' - das ist das moralische Prinzip der meisten jetzigen Menschen. (Es ist die Grundidee der Bourgeoisie, die Ende des vorigen Jahrhunderts an die Stelle der früheren Weltordnung getreten und zur Hauptidee des ganzen jetzigen Jahrhunderts in der ganzen europäischen Welt geworden ist.) Und sogar nicht der schlechten Menschen, sondern, im Gegenteil, der arbeitenden, solchen, die weder morden noch stehlen. Die Unbarmherzigkeit gegen die niederen Massen, das Sinken der Brüderlichkeit, die Ausbeutung des Armen durch den Reichen, - gewiß, das hat es auch früher und immer gegeben, wurde aber niemals auf die Stufe der höchsten Wahrheit und Wissenschaft erhoben, wurde vom Christentum verurteilt, während es jetzt, im Gegenteil, zur Tugend erhoben wird." 3 In seiner Charakteristik der Weltanschauung russischer revolutionärer Demokraten hat Lenin darauf hingewiesen, daß zu der Zeit, „als unsere Aufklärer der vierziger bis sechziger Jahre geschrieben haben, s ä m t l i c h e gesellschaftlichen Fragen auf den Kampf gegen die Leibeigenschaft und ihre Überreste hinausliefen. Die neuen sozial-ökonomischen Verhältnisse und ihre Widersprüche befanden sich damals noch im Keimzus t a n d . N a c h dieser Definition Lenins ist durch die Volkstümlerrichtung der siebziger Jahre erstmalig und nachdrücklich die Frage nach dem Kapitalismus in Rußland aufgeworfen worden. Erst nach 1861, unter den Bedingungen einer neuen Entwicklungsstufe der kapitalistischen Wirtschaft, gewann diese Frage in Rußland an Gewicht. 5 Lenins Aufdeckung der 3*
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Ursprünge der Volkstümlerbewegung ermöglicht es, nicht nur deren Vertretern, sondern auch anderen russischen Schriftstellern der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts innerhalb der Entwicklung des russischen Geisteslebens ihren Standort zuzuweisen. Dies bezieht sich insbesondere auf Tolstoi und Dostojewski. Als „die w i r k l i c h e Tendenz der ökonomischen Entwicklung Rußlands" 6 klar zutage trat, nahmen Weltanschauung und dichterische Eigenart des „reifen" Dostojewski Gestalt an; gleichzeitig bildeten sich auch die Problematik und der Stil seiner großen Romane heraus - von Schuld und Sühne (1866) bis zu den Brüdern Karamasow (1879-1880). Ebenso wie für die Volkstümler der siebziger Jahre wurde jetzt für den Schriftsteller und Denker Dostojewski nicht das Rußland vor der Reform, sondern der N a c h r e f o r m z e i t zum Hauptgegenstand seiner Beobachtung. Hierin unterscheidet er sich grundsätzlich von vielen russischen Schriftstellern der vierziger bis fünfziger Jahre, mit denen er gemeinsam seine literarische Tätigkeit begonnen hatte. Andererseits bringt ihn diese Besonderheit Lew Tolstoi, Michail Saltykow-Stschedrin und den Belletristen der Volkstümlerrichtung aus der zweiten Hälfte der sechziger sowie der siebziger Jahre nahe, für die ebenfalls nicht die Leibeigenschaft, sondern die durch die neuen, kapitalistischen Tendenzen des russischen Gesellschaftslebens entstandenen Verhältnisse im Mittelpunkt des russischen Lebens standen. Dostojewski war sich der inneren Beziehung seines Schaffens zur Nachreformzeit und ihren Widersprüchen sehr wohl bewußt. Das zeigen deutlich seine Worte von 1873: „Wir durchleben jetzt den dunkelsten, schwierigsten und verhängnisvollsten Übergangsmoment in der ganzen Geschichte des russischen Volkes." 7 Mit den Grundzügen dieser Übergangsepoche hat Dostojewski selbst die Besonderheiten seines Schaffens nachdrücklich in Verbindung gebracht. Unter seinen Werken gibt es - im Unterschied zu Puschkin, Gogol oder Tolstoi - keinen historischen Roman. Seine nicht sehr zahlreichen Entwürfe zu historischen Themen (im Jahre 1867 plante er ein „Poem" über Mirowitsch) wurden nicht ausgeführt. Wir finden bei Dostojewski auch keine Werke, in denen er traditionelle, gleichsam „unsterbliche" Sujets der Weltliteratur wie Hamlet oder Faust 36
direkt bearbeitet hätte. Das einzige Thema, dem er seine ständige Aufmerksamkeit schenkte, bildete die russische Gegenwart. Diese seine Gegenwart beobachtete er in ihrer Bewegung und Veränderung, in ihrem fieberhaften „Umbruch" und ihrem Vorwärtsdrängen in eine nur undeutlich umrissene, ihm selbst noch völlig unbekannte Zukunft. Andere große Romanciers Rußlands - vor allem Lew Tolstoi - stellten den Umbruchsprozeß des alten, auf patriarchalischen Leibeigenschaftsverhältnissen beruhenden Rußlands vorwiegend als Veränderungen in den Lebensbedingungen der Gutsherren und Bauern dar. Dostojewski dagegen hat die andere Seite dieses Umbruchsprozesses widergespiegelt, nämlich die infolge der Entwicklung des Kapitalismus in der Stadt eintretenden neuen Lebensbedingungen - die materielle Lage der Stadtbevölkerung. In seiner Charakteristik der Gesellschaftsentwicklung in der Nachreformzeit stellte W. I. Lenin rückschauend u. a. fest, in dieser Epoche hätten die Angehörigen der breitesten Volksschichten eine Stärkung des „Selbstgefühls der Persönlichkeit" und „des Gefühls der eigenen Würde" erfahren. 8 Damals mußten die Wege zur Befreiung der Persönlichkeit allerdings erst entdeckt und die Beziehungen der Menschen zueinander sowie zu Gesellschaft und Volk neu gestaltet werden. Dieser Komplex scheinbar unlösbarer, krankhafter und zugespitzter Widersprüche erfuhr in Dostojewskis Romanen der sechziger und siebziger Jahre eine markante künstlerische Gestaltung. Dostojewski war sich über die Sonderstellung seines Schaffens im Hinblick auf die andern großen russischen Schriftsteller seiner Zeit im klaren. Im Nachwort zum Roman Der Jüngling sowie in mehreren Kapiteln seines Tagebuchs eines Schriftstellers hat er nachdrücklich auf den prinzipiellen Unterschied zwischen dem Hauptinhalt seiner Werke und der literarischen Problematik der anderen Autoren hingewiesen, die - wie etwa Turgenjew und Tolstoi - ihre Helden dem „russischen Erbadel" entnahmen. Ferner meinte er in diesem Zusammenhang im Schlußkapitel des Romans Der Jüngling, die russische Geschichte der Vorreformzeit habe „bei diesem einen Typ von gebildeten Russen", die bis zum Jahre 1861 vorwiegend dem „mittleren" Adel angehörten, „vollendete Formen des Ehr37
und Pflichtbegriffs" und überhaupt eine „Vollendung der Form" entwickelt, was dazu beitrug, auch beim Leser einen „Schein von schöner Ordnung" zu erwecken.9 Diese Formen des Adelslebens seien aber keineswegs ideal und die Adelsbegriffe von Ehre und Pflicht sogar ausgesprochen problematisch gewesen. Die Nachreformzeit zerstörte die scheinbare Ordnung und Harmonie im Leben des Adels, der „Kulturschicht" überhaupt; der schöne Typ der alten Adelshelden hörte auf zu existieren. „ . . . von dem schönen Typus lösen sich mit vergnügter Eilfertigkeit Stückchen und Bröckelchen ab und bilden herabfallend mit den Freunden der Unordnung und den Neidern einen gemeinsamen Haufen. Und es kommt keineswegs nur in vereinzelten Fällen vor, daß die Väter, die Stammhalter alter kultivierter Familien selbst schon über das lachen, woran ihre Kinder vielleicht noch glauben würden".10 Hieraus ist es zu verstehen, daß sich Lew Tolstoi in Krieg und Frieden einem „historischen Geschlecht" zuwandte, was ihm die Möglichkeit gab, an seinem Lieblingsthema, der Darstellung einer russischen Familie aus den mitteleren Kreisen festzuhalten, zugleich aber auch in der Lebensweise solcher Familien die von ihm als Künstler benötigte „Ordnung", „Abrundung" und „Schönheit" auszufinden, die aus dem Leben der „Enkel" dieser Familien schon verschwunden waren. Dostojewski dagegen hat sich selbst als einen Schriftsteller charakterisiert, der „keine Lust hat, nur im historischen Genre zu schreiben und vom Schmerz über die gegenwärtige Entwicklung erfüllt ist" 11 . Anstelle der alten Adelsfamilien mit ihrem äußeren „Anstand" und vollendeten Lebensformen wurde in der Nachreformzeit die „ z u f ä l l i g e F a m i l i e " , die Familie ohne Bindungen und feste Traditionen, zur „Keimzelle" und zu einem charakteristischen Element des russischen Lebens. Als Gestalter solcher „zufälligen Familien", in deren „Unordnung" und „Chaos" sich die allgemeine „Unordnung" und das allgemeine „Chaos" im russischen Leben der Nachreformzeit typisch widerspiegelten, wurde Dostojewski berühmt. Er hat auch die Aufgaben, die vor einem Romanschriftsteller stehen, „dessen Held zu einer zufälligen Familie gehört", im einzelnen dargelegt. Eine dieser Aufgaben erblickte er darin, über die Grenzen der noch im Mittelpunkt der bisherigen 38
Literatur stehenden Adelsthematik hinauszugelangen und statt dessen die Lebensprobleme anderer Gesellschaftsschichten stärker in die künstlerische Darstellung einzubeziehen. Obwohl nach Dostojewskis Auffassung dies bereits von Fjodor Michailowitsch Reschetnikow und anderen Schriftsteller-Demokraten der sechziger Jahre als Aufgabe der Literatur erkannt worden war, sprach er doch der russischen Prosa die Bedeutung eines „neuen Wortes" ab. Nur der Lyrik Nikolai A. Nekrassows gestand er den Wert eines „neuen Wortes" zu. 12 Doch erkannte Dostojewski an, daß in den Werken der demokratischen Schriftsteller „die Notwendigkeit von etwas Neuem", das sich nicht mehr a u f d i e G u t s b e s i t z e r o r d n u n g bez o g , ausgedrückt ist. „Ich habe das Gefühl, daß hier etwas nicht in Ordnung ist", schrieb Dostojewski, als er sowohl die vorangegangene als auch die gegenwärtige russische Literatur einer Betrachtung unterzog, „daß der große Teil der russischen Lebensordnung ganz unbeachtet und ohne einen H i s t o r i k e r geblieben ist. Es ist jedenfalls klar, daß das Leben unseres mittleren Adels, das unsere Belletristen so farbenreich geschildert haben, jetzt ein viel zu unwesentlicher und begrenzter Winkel des russischen Lebens ist. Wer wird nun der H i s t o r i k e r der anderen Winkel sein, die, wie ich glaube, furchtbar zahlreich sind? Und wenn in diesem Chaos, in dem sich das gesellschaftliche Leben schon seit langem, jetzt aber ganz besonders befindet, selbst ein Künstler von der Größe Shakespeares noch kein normales Gesetz und keinen leitenden Faden finden kann, wer wird dann wenigstens einen Teil des Chaos beleuchten? W i r haben zweifellos ein in Zersetzung begriffenes Leben, folglich auch eine sich zersetzende Familie. Aber es ist auch ein anderes Leben vorhanden, das sich auf ganz neuen Grundlagen formt. Wer wird diese Grundlagen feststellen, wer wird auf sie hinweisen? Wer kann die Gesetze dieser Zersetzung und dieser neuen Schöpfung auch nur ein wenig bestimmen und formulieren? Oder ist es noch zu früh? Aber ist denn auch alles Alte, alles Frühere schon registriert?" 1 3 Diese Unordnung und das Chaos machten die Arbeit, einen Helden aus einer zufälligen Familie darzustellen, zu „einer undankbaren Arbeit", die der schönen Form ermangelte. Diese 39
Typen seien etwas „noch im Werden Begriffenes und können darum nicht in künstlerisch vollendeter Weise dargestellt werden". Bei dieser Arbeit könnten daher durchaus „bedeutende Fehler" begangen werden, dies und das übertrieben und übersehen werden. Jedoch all diese Irrtümer und besonderen Schwierigkeiten, die ein Romanschriftsteller, „dessen Held zu einer zufälligen Familie gehört", bei seiner Arbeit zu gewärtigen habe, wobei er nicht nur unvermeidliche Fehler begehen, sondern auch „sehr vieles zu erraten" habe, würden einen „vom Schmerz über die gegenwärtige Entwicklung erfüllten" Romancier doch niemals von seiner historisch so wichtigen und dringend erforderlichen Arbeit abbringen: manche „Verwirrungen" und „Zufälligkeiten" mögen ihr zwar anhaften, aber sie könne bereits als unentbehrliches „Material für ein künftiges Kunstwerk, für ein künftiges Bild einer unordentlichen, aber bereits vergangenen Periode dienen". 1,4
Dostojewski und die 5JNatürliche Schule" Bis zum Erscheinen von Dostojewskis erstem Roman Arme Leute (1846) stellten Erzählung, Novelle und physiologische Skizze die literarischen Hauptgenres der Gogol-Schule dar. Ebenso wie Gogol seine Erzählungen der dreißiger Jahre als Vorstufe für die Gestaltung der Toten Seelen gedient hatten, waren nach ihm die Gogol-Schüler um Aufarbeitung des vom Leben gebotenen Materials für neue, realistisch verallgemeinernde Literaturwerke bemüht. Die Armen Leute stellten eines der ersten Zeugnisse des zunehmenden Reifungsprozesses der realistischen Gogol-Richtung in den vierziger Jahren dar. Dostojewski beschränkte sich in diesem Roman nicht wie seine Vorgänger auf die Darstellung Petersburger „Typen" und des Lebens in der Stadt. Sein Ziel war ein zusammenfassendes und dramatisch gesteigertes Bild des Petersburger Lebens mit all seinen sozialen Widersprüchen und Antagonismen. Dostojewski läßt eine ganze Galerie städtischer „Typen" auftreten - vom Bettler bis zum Wucherer und vom kleinen Beamten bis zum Departementsdirektor. Im Unterschied zu
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den Verfassern physiologischer Skizzen oder zu Autoren von Sittenbildern und Erzählungen aus dem Beamtenleben - man denke etwa an Jewgeni Pawlowitsch Grebenka, J a k o w Petrowitsch Butkow und andere - ordnete Dostojewski jedoch die Darstellung einzelner sozialer Typen einer einzigen, verallgemeinernden Idee unter, die den Platz jeder Person und jeder Episode bestimmt; diese werden zu Elementen der sich dramatisch entwickelnden Handlung. D i e Verteidigung der menschlichen Würde „armer Leute" ist der Kern von Dostojewskis erstem Roman; dies steht in engem Zusammenhang mit den damaligen demokratischen und utopisch-sozialistischen Ideen. Das Thema der Würde des kleinen Mannes bestimmte die Geschlossenheit des Sujets, die Auswahl und Gruppierung seiner Personen und auch die lyrische Grundstimniung und das tragische Kolorit dieses Romans. Für Wladimir Iwanowitsch Dahl, den Verfasser physiologischer Skizzen in den vierziger Jahren, stand die Darstellung eigenartiger Züge im Alltag einer bestimmten Bevölkerungsgruppe - etwa des „Uralkosaken" oder eines „Petersburger Hausmeisters" - im Vordergrund. 1 5 Dostojewski aber erkannte das Gemeinsame, das verschiedene Gruppen der „armen Leute" miteinander verbindet - vom Beamten Makar Alexejewitsch bis zur Magd Teresa und dem bettelarmen Leierkastenmann. E r stellte in seinem Roman nicht irgendwelche besonderen Lebensbedingungen dieser oder jener Kategorie der „armen Leute" in den Vordergrund, sondern den viel umfassenderen sozialen Kontrast zwischen Reichtum und Armut, zwischen Satten und Elenden. Im Unterschied zu Gogol hat Dostojewski, wie bereits von Belinski hervorgehoben wurde, 1 6 über die Schilderung des schweren Lebens und der sozialen Verelendung der Armen hinaus unter dem Einfluß des utopischen Sozialismus sich darum bemüht, im „kleinen Mann" zugleich den „großen Menschen" darzustellen, der ungeachtet all seiner Armut und sozialen E r niedrigung durchaus edler Taten, Gedanken und Gefühle fähig ist. Hierin besteht der neue Beitrag, den Dostojewski, verglichen mit Gogol, zur Entwicklung des „kleinen Mannes" als literarisches Thema geleistet hat. Gogols Bedeutung für die Entwicklung des auf ihn folgen-
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den Realismus liegt im wesentlichen darin, daß seine Porträtierungskunst das soziale Moment bei der Charakterisierung der Gestalten in den Mittelpunkt stellt. So trägt zwar im Revisor jede Person individuelle Charakterzüge, aber in erster Linie treten sie als Beamte, Gutsbesitzer und Kaufleute auf. Nicht Charakterbesonderheiten, sondern Rang, Stand und Zugehörigkeit zum sozialen Milieu bestimmen die Rolle, die jede Gestalt bei der Entwicklung des Komödiens-ujets zu spielen hat. Dasselbe trifft auch auf den L e u t n a n t Pirogow, den K o l l e g i e n a s s e s s o r (und Major) Kowaljow sowie die T i t u l a r r ä t e Popristschin und Akaki Akakijewitsch zu. Es ist ja kein Zufall, daß die beiden zuletzt Genannten als Hauptgestalten in Gogols Erzählungen über das Schicksal des armen Beamten bei ihrem vollen Namen genannt sind, während für ihre Gegenspieler - für den „General" und Departementsvorsteher, unter dem Popristschin dient, sowie für die „bedeutende Persönlichkeit" keine Vor- oder Nachnamen angegeben werden. Das unterstreicht, daß für den Sujetkonflikt in den Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen und im Mantel keineswegs Besonderheiten der individuellen Charaktere, sondern typische Züge von Vertretern der privilegierten Gesellschaftsschicht, die den „kleinen Leuten" Popristschin und Baschmatschkin gegenübergestellt werden, von Bedeutung waren. Gogols Prinzip der sozialen Typisierung erfuhr in den vierziger Jahren eine Weiterentwicklung durch die Schriftsteller der „Gogol-Richtung", zu der ja auch - zusammen mit anderen Vertretern der „Natürlichen Schule" der vierziger Jahre der junge Dostojewski mit seinem Roman Arme Leute gehörte. Eine Schwäche der Typisierungsmethode Gogols und seiner Schule liegt darin, daß die ausgeprägten, doch gleichbleibenden ethisch-sozialen Charakterisierungsmittel keine Veränderungen zuließen. Sie eigneten sich zwar vorzüglich für die Gestaltung einer s o z i a l e n S t a t i k und für die Ausmalung eines unbeweglichen, festgefügten und entwickelten Systems sozialer Beziehungen, aber nicht für die Widerspiegelung ihrer D y n a m i k , für die Schilderung einer Gesellschaft, in der die soziale und moralische Prägung der auftretenden Personen nicht mehr etwas Konstantes bleiben durfte, sondern diese in einen histo42
rischen Prozeß mit manchmal völlig unerwarteten und „phantastischen" Veränderungen einbezogen wurden. Einer der ersten Vertreter der Gogol-Schule, der in den vierziger Jahren einen neuen Weg einschlug, war Dostojewski. Bereits in den Armen Leuten wird - im Unterschied zu Gogol das Leben der Hauptpersonen nicht nur in seiner festgefügten sozialen Statik, sondern auch in seiner Dynamik dargestellt. Die Helden Gogols verbleiben gewöhnlich vom Beginn bis zum Ende ihres Lebens in ein und demselben gleichbleibenden sozialen Milieu. Das Ziel Dostojewskis besteht aber darin, das Leben der russischen Gesellschaft in seiner Entwicklung zu zeigen, bei der sich nicht nur in der Psyche und im Charakter der Menschen, sondern auch im sozialen Bereich gewisse Veränderungen ergeben. Dieser Bereich erfährt gewissermaßen in der Retorte des Großstadtlebens komplizierte chemische Wandlungen; er verliert seine festen, unverrückbaren Konturen und wird mitunter widerspruchsvoll und für den Künstler schwer zu bestimmen. Im Unterschied zu Gogol wollte Dostojewski zeigen, daß die sozialen Bedingungen nicht als etwas ein für allemal Gegebenes und Unveränderliches im Leben des Menschen zu betrachten sind, sondern daß sie sich - ebenso wie sämtliche Komponenten seiner Persönlichkeit - im komplizierten Verlauf der russischen Gesellschaftsentwicklung wandelten. Dostojewskis Verzicht auf die Gogolsche Methode war selbstverständlich kein Rückschritt. Diese hat sich für die Lösung vieler neuer Aufgaben als ungeeignet erwiesen, so daß außer Dostojewski auch andere russische Schriftsteller der vierziger und fünfziger Jahre - darunter zum Beispiel Iwan S. Turgenjew, Alexander Herzen und Lew Tolstoi - von Gogols Methode abgingen und statt dessen kompliziertere und elastischere Darstellungsmittel zur sozial-psychologischen Charakterisierung ihrer Helden verwandten. Die neue russische Schriffstellergeneration sah sich seit den vierziger Jahren vor die Aufgabe gestellt, die Gesellschaftsverhältnisse nicht mehr statisch, sondern in ihrer historischen Bewegung und Entwicklung zu zeigen und im Wandlungsprozeß der russischen Gesellschaft solche Wege ausfindig zu machen, die aus der Gegenwart in die Zukunft, aus einer Welt „toter Seelen" in eine Welt „lebendiger Seelen" führen sollten. Diese 43
Aufgabe ist von der auf Gogol folgenden russischen Literatur, darunter auch von Dostojewski, erfolgreich gelöst worden. In seiner Polemik gegen die russischen Romantiker der dreißiger Jahre hat Gogol seine realistische Ästhetik vorgetragen und ist energisch für das Recht des Schriftstellers eingetreten, alltägliche und gewöhnliche Durchschnittscharaktere und -ereignisse darzustellen. Gogol meinte, daß „der wilde Bergbewohner im Kriegerkleid" einer der beliebtesten Helden des romantischen Poems gewesen sei; die realistische Prosa aber sehe sich vor die Aufgabe gestellt, der Gestalt des Richters „im abgeschabten und mit Tabak bestäubten Frack" zur Daseinsberechtigung zu verhelfen. 17 Schon in der zweiten Hälfte der dreißiger, vor allem aber in den vierziger Jahren verwandelte sich diese Parteinahme Gogols für das Recht des Künstlers auf Darstellung der „alltäglichen" Wirklichkeit in eine neue, nicht mehr romantische, sondern realistische Auffassung vom „Phantastischen" und „Außergewöhnlichen" in der Kunst. Es war kein Zufall, daß der Realist Gogol als allgemeinste und universalste Darstellungsform die Anekdote, „ungewöhnliche Vorfälle" und „völlig unwahrscheinliche Ereignisse" (d. h. die Form eines eigenartigen künstlerischen Paradoxons) gewählt hat, durch welche die ganze „Ungereimtheit", die innere Widersprüchlichkeit und Anormalität der vom Schriftsteller widergespiegelten alltäglichen Wirklichkeit sowie die Armseligkeit des gesunden Menschenverstandes und seiner Urteilsfähigkeit unterstrichen wurden. In manchen Fällen (zum Beispiel in Die Nase, in den Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen und im Mantel) führte diese Darstellungsform zu einer regelrechten Wiedergeburt des „Außergewöhnlichen" und Phantastischen. Der Autor des Revisors und der Toten Seelen hat komische, mitunter auch tragische Konflikte in seine Darstellung des Lebens einbezogen, die - obgleich sie dem Schlamm des Alltags entstammten - in der künstlerischen Wiedergabe den eintönigen Gang des Alltags unterbrachen. Dostojewski meinte, daß die bei Gogol anzutreffende Verbindung von Realismus und „Phantastik" schon bei Puschkin vorhanden sei, allerdings in einer auf den psychologischen Realismus hinauslaufenden Form, wie Puschkins Poeme Der geizige Ritter, Pique Datne und die Ägyptischen Nächte beweisen. 44
Dostojewski setzte in seinen auf den Doppelgänger folgenden Werken die Linie dieses psychologisch vertieften Realismus fort. In diesem Realismus verband sich eingehende Beschäftigung mit der „fließenden" Wirklichkeit - das Bestreben, ihr mit den Mitteln einer realistischen Analyse der Alltagserscheinungen auf den Grund zu kommen - mit dem Interesse für psychologisch komplizierte, „phantastische" Charaktere und dramatische Momente dès menschlichen Lebens. Den Helden der Armen Leute haften nicht die Mängel der satten und gutsituierten Vertreter der herrschenden Klasse an. Sie sind frei von Egoismus, uneigennützig und aufopferungsfähig. Zugleich aber verträgt sich in ihnen das „Gute" mit dem „Bösen". So bringt Makar Alexejewitsch zwar Mitgefühl für einen hungernden Knaben auf und hilft Warenka selbstlos, zugleich aber ist er voller „Ambitionen", denn er legt großen Wert auf seinen „Adelsrang" und nennt Diener verächtlich „Bauernpack". Warenka ist Makar Alexejewitsch und Fedora durchaus dankbar für ihre Fürsorge, behandelt sie aber grausam. Diese Widersprüchlichkeit im Bewußtsein der „armen Leute" trat in Dostojewskis erstem Roman nur andeutungsweise in Erscheinung; später wurde sie zum zentralen Problem seines Schaffens. Was macht Goljadkin zu einem unglücklichen, bedauernswerten und in sein Schicksal ergebenen Hungerleider und gleichzeitig zu einem gewissenlosen Parvenü und Karrieristen? . . . fragt Dostojewski im Doppelgänger. Wie ist eine solche Verbindung von Aufopferung und Egoismus, von Liebe und Habsucht, von Gut und Böse in ein und derselben, dazu noch oft vom Schicksal geschlagenen Seele eines „armen" Menschen möglich? Die Entdeckung dieser komplizierten Verbindung von Gut und Böse, von positiven und negativen Eigenschaften in der Psyche ein und desselben Menschen nicht nur aus der wohlhabenden und privilegierten Oberschicht, sondern aus den Kreisen der vergessenen und gedemütigten städtischen Kleinbürger oder des seiner Natur nach impulsiven und edeldenkenden Petersburger „Träumers" ist die Grundlage von Dostojewskis psychologischem Realismus.
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Das Schuld und Sübne-Problem Das Thema von Schuld und Verbrechen hat schon im „gotischen" Roman der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, im romantischen Poem, im realistischen Roman der darauffolgenden Periode und im sozialen Abenteuerroman Eugène Sues eine große Rolle gespielt. In jedem dieser Genres ist das Thema jedoch auf eine andere Weise behandelt worden. In „gotischen" Romanen wie Der Mönch von Matthew Gregory Lewis, Der Wanderer Melmoth von Charles Robert Maturin oder Die Elixiere des Teufels von E . T. A. Hoffmann wurde der Kampf der Gegensätze in der Seele eines Verbrechers als direkte Widerspiegelung des Kampfes überirdischer Mächte, nämlich zwischen „Himmel" und „Hölle", dargestellt. Das mystische Kolorit dieser Romane und das Fehlen auch des kleinsten Versuchs einer nüchternen und realistischen Darstellung der menschlichen Psyche haben hierin ihre Ursache. In den Romanen Balzacs wird das Verbrechen seiner mystischen Einkleidung beraubt und dem Leser als eine „normale" Erscheinungsform der politischen Welt und des Geschäftslebens im Bürgertum vorgeführt. Das Verbrechen in den Abenteuerromanen von Eugène Sue und Paul Féval ist - ebenso wie im englischen Schauerroman der Präromantik - von einer Aura des Schrecklichen und Geheimnisvollen umgeben, doch geht dieses „Schreckliche" nicht mehr auf die Einwirkung überirdischer Mächte, sondern auf eine künstliche Zuspitzung der Darstellungsweise sowie rein literarische Kontraste von „Licht" und „Schatten" zurück. Ebenso wie die russischen und westeuropäischen Romantiker zu Beginn des 19. Jahrhunderts interessierte auch Dostojewski vornehmlich die moralisch-psychologische Seite des Verbrechens, doch verwarf er alle romantischen Schablonen und mystischen Verbrämungen. Statt dessen leuchtete er direkt in die Seele des Verbrechers hinein, um die komplizierten und gewundenen Wege, die seinen Helden zum Verbrechen geführt haben, genau zu verfolgen. Raskolnikow ist keine Verkörperung irgendwelcher überirdischer oder dämonischer Mächte (wie dies noch bei den individualistischen Helden der Romantiker üblich gewesen war), sondern ein völlig selbständiger Charakter. E r
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handelt daher auch nicht unter der Einwirkung eines Kampfes zwischen „Himmel" und „Hölle", sondern einzig und allein unter dem Einfluß realer Triebe. Äußerungen Raskolnikows wie „Der Teufel trieb mich dazu . . ." spiegeln lediglich eine subjektive Gefühlssituation des Helden wider, bilden aber keinen Gegensatz zur objektiven psychologischen Analyse seines Verbrechens, die sich durch den ganzen Roman zieht. Schuld und Sühne wurde bereits von den Zeitgenossen als einer der größten psychologischen Romane der Weltliteratur eingeschätzt und verschaffte Dostojewski für immer den Ruhm eines hervorragenden psychologischen Schriftstellers. Schon Belinski und W. M. Maikow hatten im frühen Schaffen Dostojewskis erkannt, was später in Schuld und Sühne den höchsten Grad an Tiefgründigkeit und Vollendung erreichte. Im Unterschied zu früheren Romanschriftstellern beschränkte sich Dostojewski - ebenso wie Tolstoi, - jedoch nicht darauf, seelische Prozesse lediglich in ihrer Anfangs- und Endphase und in allgemeinen Konturen aufzuzeichnen, sondern er zeigte die Gedanken- und Gefühlswelt seiner Helden in größtmöglicher Vollständigkeit: mit ihren oft überraschenden und komplizierten Wandlungen und dem ganzen Reichtum an eigenartigen Verflechtungen und ideellen Assoziationen. Diese Gefühls- und Gedankenwelt bewegt sich nicht selten innerhalb eines abgeschlossenen Kreises; aber anstelle des gesuchten Auswegs kehrt das Denken letzten Endes doch wieder zu seinem Ausgangspunkt zurück. Anders als Dostojewski interessierte Tolstoi in seinen Erzählungen und Romanen vor allem die Psyche des in seinen Idealen und Ansprüchen an die Gesellschaft völlig „normalen" Menschen. Tolstois Hauptgestalten wie Nikolenka Irtenjew und Pierre Besuchow, Lewin, Anna Karenina oder Nechljudow geraten zwar in einen Konflikt mit der Gesellschaft, doch hat dieser seine Ursache darin, daß die Gesellschaft den durchaus vernünftigen und natürlichen Bedürfnissen eines moralisch gesunden Menschen nicht zu genügen vermag. Anders bei Dostojewski: Im Mittelpunkt seines Interesses stehen Menschen, die nicht nur mit der Gesellschaft unzufrieden sind, sondern auch d e r e n K r a n k h e i t i n s i c h t r a g e n und sie in einer besonders ausgeprägten Form, die an das „Außer47
gewöhnliche" und „Phantastische" grenzt, widerspiegeln. Der bürgerliche Individualismus und Anarchismus vergiftet ihr Bewußtsein, vergiftet aber auch ihr Blut, so daß sie mit sich selbst völlig uneinig sind. Ein besonders eindringliches Beispiel haben wir in Raskolnikow vor uns. Die Krankheit und Zerrissenheit der Gesellschaft erzeugt in ihnen ein ebenso krankes und zerrissenes Bewußtsein, in dem die Umwelt eine unheilvolle, „phantastische" Gestalt annimmt. Somit steht - im Unterschied zur psychologischen Gestaltung Tolstois - für Dostojewski nicht die normale und gesunde, sondern die tief erschütterte, zerrissene und kranke Psyche im Vordergrund. Vor allem reizte ihn die Analyse von Einbildungen des Bewußtseins sowie krankhafter Zustände, die, durch das Gesellschaftsleben hervorgerufen, nicht selten einen pathologischen Charakter annehmen oder aber ans Pathologische grenzen. Da Dostojewski in der Regel die Analyse solcher krankhafter Erscheinungen interessiert hat, die die Krise der gesellschaftlichen und persönlichen Moral am markantesten widerspiegelten, muß die bei manchen bürgerlichen Gelehrten verbreitete und bereits zu Dostojewskis Lebzeiten in Umlauf gebrachte These, des Autors Helden seien weniger vom gesellschaftlichen als von einem medizinischen Gesichtspunkt aus zu betrachten, unbedingt abgelehnt werden. „Es muß entschieden werden, ob dieses Phänomen als Einzelfall in die Klinik gehört oder eine Eigenschaft ist, die sich bei anderen auf normalem Wege wiederholen kann", bemerkt eine der Personen aus dem Roman Der Jüngling,18 „Einzelfälle", die lediglich einen Facharzt interessieren könnten, behandelte Dostojewski in seinen Romanen nicht, da er es als wichtigste Aufgabe betrachtete, die Widerspiegelung gesellschaftlich-ideologischer und psychologischer Prozesse im Leben des einzelnen aufzudecken. Dostojewskis Bemühungen als Dichter gingen dahin, die historischen, ideologischen und moralischen Ursachen zu erkennen, die in der Gesellschaft zur Verbreitung von Erscheinungen geführt hatten, deren pathologische oder „phantastische" Formen bei einer sorgfältigen Analyse ihrer gesellschaftlichen und psychologischen Ursachen sich als durchaus gesetzmäßig 48
erwiesen. Dieses Bestreben lag seiner gesamten Einstellung zum Leben zugrunde, mochte er nun als Schriftsteller den Motiven von Raskolnikows Verbrechen nachspüren oder als Publizist im Tagebuch eines Schriftstellers die Frage beantworten, warum der Spiritismus in der gebildeten russischen Gesellschaft der siebziger Jahre einen so starken Anklang gefunden habe. „Der Sozialismus . . . weist auf die Anomalie der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung und somit sämtlicher gesellschaftlicher Institutionen hin. E r behauptet und beweist,' daß die heutige Zivilisation kraftlos ist, Widersprüche herbeiführt und Unterdrückung, Armut und Verbrechen hervorbringt; der Sozialismus klagt die politische Ökonomie als falsche Hypothese, als Sophistik an, die von einer Minderheit zugunsten der Mehrheit erfunden wurde; er entwirft ein schreckliches Bild der menschlichen Leiden . . ., während die Ökonomen als Physiologen der bestehenden Ordnung auftreten, wenden sich die Sozialisten deren pathologischer Seite zu, und hierin besteht unserer Meinung nach das Hauptverdienst des Sozialismus" 1 9 , war 1862 in der von Dostojewskis Bruder Michail herausgegebenen Zeitschrift Wremja zu lesen, an der der Dichter maßgeblich mitgearbeitet hat. Dostojewski trat dem revolutionären Sozialismus zwar polemisch entgegen, nichtsdestoweniger hat er als einfühlsamer Künstler nicht so sehr der „Physiologie" als vielmehr der „Pathologie" der bürgerlichen Gesellschaft, ihren Krisen und Disharmonien seine Aufmerksamkeit geschenkt, da sie das A n o r m a l e der bestehenden Ordnung am augenfälligsten widerspiegelten. In der für den einzelnen so charakteristischen Störung des seelischen Gleichgewichts erkannte er die allgemeine Zivilisationskrise. Französische Schriftsteller der Naturalistischen Schule, wie der junge Emile Zola oder die Brüder Edmond und Jules de Goncourt, teilten die Ansichten der positivistischen Naturforscher ihrer Zeit und betrachteten den Menschen nicht als gesellschaftliches, sondern als biologisches Wesen. Sie stellten sich daher in ihren Romanen bewußt die Aufgabe, ein klinisch genaues Bild der verschiedenartigsten Erkrankungen der Psyche und des Nervensystems zu entwerfen. Dostojewski dagegen 4
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interessierte nicht die medizinische, sondern die psychologische Seite eines Falles. 20 „Die Zunahme der Nervenkrankheiten ist Ausdruck der Unzufriedenheit mit dem Leben, Ausdruck des Strebens, sich aus den engen Formen, die seine freie Entfaltung behindern, herauszuarbeiten", hieß es 1863 in der Wremja,2it Dies entspricht in etwa auch der Ansicht Dostojewskis über die Ursachen der Verbreitung von Nervenkrankheiten und seelischen Anomalien in der damaligen Gesellschaft. In seinen Romanen und auch im Tagebuch eines Schriftstellers hat er nicht nur die Psyche des Verbrechers, sondern auch die des Geisteskranken und des Selbstmörders als ein charakteristisches Zeichen der Zeit und als eine in seiner Form zwar eigenartige und „phantastische", aber durch einen ganz konkreten Inhalt der Epoche bedingte Äußerung verborgener Krankheiten betrachtet. Nichts kann daher verfehlter sein und der Gestaltungskunst Dostojewskis mehr widersprechen als die gegenwärtig besonders in den USA vielfach unternommenen Versuche bürgerlicher Gelehrter, Raskolnikow und andere Helden des Dichters mit Hilfe der in der kapitalistischen Welt so modernen psychoanalytischen Theorien von Freud und Jung zu interpretieren.22 Als Entgegnung auf solche Theorien kann man Dostojewskis eigene Worte anführen: „Unbewußt tun die Menschen nur selten etwas, höchstens in einem Anfalle von Mondsucht, bei Fieber oder Delirium tremens." 23 Der Dichter übersah keineswegs die Wichtigkeit und Kompliziertheit krankhafter Affekte und seelischer Zustände im menschlichen Leben und bedauerte deren Vernachlässigung durch die damalige Wissenschaft, als Künstler jedoch nahm er eine eindeutige Abgrenzung zwischen Erscheinungen der medizinisch kranken und der normalen Psyche vor und erklärte das Seelenleben seiner Helden aus den realen Bedingungen der sich in ihren Hirnen brechenden Wirklichkeit.
Der denkende Held Während seiner Zwangsarbeit in Sibirien erlebte der junge Dostojewski, dessen Ideale sich in der Atmosphäre des utopischen Sozialismus der vierziger Jahre gebildet hatten, eine tiefe Enttäuschung. Im Unterschied zu der Ansicht vieler liberaler Zeitgenossen, daß die Widersprüche der bürgerlichen Zivilisation nur die Oberfläche der Gesellschaft berührten und sich durch die Entwicklung des Parlamentarismus und durch Vervollkommnung des Kultur- und Bildungswesens leicht überwinden ließen, vertrat Dostojewski in den sechziger und siebziger Jahren die Meinung, daß das gesellschaftliche Übel „tiefer verborgen liege", als es den scharfsinnigsten - darunter auch vielen revolutionären - Geistern seiner Epoche vorkam. In den sechziger und siebziger Jahren sah er keine einzige bedeutendere Erscheinung des russischen und westeuropäischen Lebens, die nicht von der „großen sozialen Krankheit" seiner Zeit befallen wäre. Daher kam es ihm vor, als trage jede nach außen hin scheinbar „normale" Familie offen oder verborgen die Züge einer „zufälligen Familie". In jeder kleinsten „Zelle" der Gesellschaft, in jeder auf den ersten Blick unbedeutenden und „alltäglichen" Zeitungsnotiz entdeckte er die Tragödie der gesamten Menschheit. Die Gesellschaft seiner Zeit schien ihm längst der Epoche patriarchalischer Schlichtheit, Geschlossenheit und „Harmonie" entwachsen zu sein; er sah sie in einer Phase der „Wirren" und Unruhen und des Drängens nach einer unbekannten Zukunft. Dem durch Intensität und Dynamik sich auszeichnenden Schaffen Dostojewskis liegt dieses Zeitgefühl für ein Leben zugrunde, das in seinem stürmischen Ablauf ständig die Möglichkeit neuer, tragischer Explosionen, unerwarteter Verwicklungen, Raffinessen und Krisen in sich barg. Ein Lieblingsheld Nikolai Gogols, Alexander N. Ostrowskis, aber auch Charles Dickens', Gustave Flauberts und anderer realistischer Schriftsteller des 19. Jahrhunderts war der einfache Durchschnittsmensch aus der Masse. In seinen frühen Werken besonders in den Armen Leuten und im Doppelgänger machte der junge Dostojewski in Fortsetzung der von Gogol in den Petersburger Erzählungen vorgezeichneten Linie eben4»
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falls den „Durchschnittsmenschen" zur Hauptfigur, den kleinen Beamten mit sensibler Reaktionsfähigkeit, aber ungenügender Vergeistigung, um sich über die Widersprüche seiner Umwelt zu erheben und sie mit Hilfe des Intellekts zu analysieren. Bereits zwischen 1847 und 1849 wandelte sich des jungen Dostojewskis „phantastischer Titularrat" aus den ersten Erzählungen in einen aus der Masse sich abhebenden Petersburger „Träumer". Dieser war ein junger, tief in seine Gedankenwelt versponnener Mann, der das mit intensiver Spannung erfüllte Leben eines Intellektuellen führte, welches der Autor seinen Lesern näherbringen wollte. Der denkende Held, dessen Geist unermüdlich die Widersprüche und den Sinn des Lebens zu klären sucht, steht auch im Mittelpunkt der nach der sibirischen Haft entstandenen Romane und Erzählungen. Zu seinem Lieblingshelden der sechziger und siebziger Jahre wurde nach Dostojewskis eigenen Worten der Mensch mit einer „Idee", die bis zu ihren letzten, vielleicht real noch unmöglichen, logisch jedoch denkbaren Konsequenzen verfolgt und in Theorie und Praxis erprobt wurde. Nicht nur Raskolnikow, Stawrogin und Iwan Karamasow sind von Ideen erfüllte Menschen, sondern auch zweitrangige Gestalten wie General Iwolgin oder Lebedew im Roman Der Idiot, der Kapitän Lebjadkin in den Dämonen oder Fjodor Pawlowitsch Karamasow. Jeder ist ein Philosoph, ein eigenwilliger Denker und eine komplizierte Persönlichkeit, gewillt, Grundfragen des menschlichen Daseins auf eigene Weise zu lösen. Ähnlich wie in Shakespeares Tragödien spiegeln auch die in Dostojewskis Romanen auftretenden edlen und verworfenen Helden, „Könige" wie „Narren", die Konflikte ihrer Zeit wider, wenn auch unterschiedlich formuliert - einmal in einer erhabenen Sprache, bei den andern in einer wunderlichen, mitunter zynischen und gemeinen Ausdrucksweise. Hieraus erwächst die den Romanen Dostojewskis eigene Atmosphäre eines tiefgründigen Intellektualismus. Alle handelnden Personen tragen sich ständig mit Gedanken, die jedoch meist nicht in einfache und elementare, sondern in eigenartige und komplizierte, mitunter exzentrische Formen gekleidet sind. Die Einbeziehung aller Gestalten in die Gedankenwelt und der Um52
stand, daß sich verschiedene Personen - wenn auch auf unterschiedlichem geistigen Niveau - der gleichen universalen Widersprüche der Wirklichkeit bewußt sind, führt zu ständigen und mitten im Alltagsleben ausgefochtenen philosophischen Disputen. D a ja fast jede literarische Gestalt Dostojewskis ein „potentieller Philosoph" ist, der sich zu den Grundfragen des Daseins seine ganz persönliche Meinung gebildet hat, genügt ein beliebiger Anlaß zur Entzündung von Streitigkeiten, die in ihrer Vehemenz den Leser überraschen. Von jedem Alltagsproblem ausgehend können die Gedanken der Helden Dostojewskis - ebenso wie bei Shakespeare - mühelos zu den „verflöchten" und „ewigen" Fragen des Seins überspringen, woraus sich jene „Polyphonie", jene „Vielfalt selbständiger und unvermischter Stimmen und Bewußtseine" ergibt, die M. Bachtin in seinem Buch über die Poetik Dostojewskis mit viel Geschick, aber doch in mehrfacher Hinsicht anfechtbar interpretiert hat. 2 4 Das intellektuelle Leben unterschiedlichster, in ihrer geistigen Beschaffenheit oft gegensätzlicher Helden ist auf ein und dieselben universalen philosophischen Hauptprobleme ausgerichtet, aus denen sich gleichsam ein einziges Thema zusammenfügt, das vom Autor über verschiedene „Stimmen" und in vielfältigen Variationen entwickelt wird. So gestaltet ein Komponist ein musikalisches Hauptthema über verschiedene Tonarten und Register. Dostojewskis Ästhetik kommt nicht nur, wie u. a. von W . L . Komarowitsch, L. P. Grossman und M. Bachtin hervorgehoben wurde, der musikalischen Polyphonie weitgehend nahe, sondern auch dem modernen Theater mit seinen tiefgründigen moralischen und philosophischen Problemen. D i e Verbreitung der naturalistischen Romantheorie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte gewöhnlich eine „Depsychologisierung" der Helden zur Folge. Von einer vulgärmaterialistischen Auslegung der Wechselbeziehung zwischen Physiologie und Psychologie ausgehend, führten die Naturalisten das Seelenleben ihrer Helden einfach auf Einflüsse ihrer physiologischen Konstitution, auf „Milieu" und Vererbung zurück. D i e russischen Romanciers dagegen stellten das Seelenleben ihrer Helden keineswegs armselig und primitiv dar; sogar in schlichten, kaum beachteten Menschen aus der „Menge"
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entdeckten sie ein reiches und wandlungsfähiges Innenleben. Darum kommt den Dialogen und philosophischen Disputen der handelnden Personen in Dostojewskis Romanen eine so besondere Bedeutung zu. In ihnen werden die verborgensten Motive für das Verhalten der Helden aufgespürt und ihre „Lebensphilosophie" offenbart, zugleich aber auch unter Abwägung des Pro und Contra Grenzen deutlich gemacht. Die Einbeziehung philosophischer Dialoge in das künstlerische Gefüge seiner Romane ermöglichte Dostojewski, seine lebendige und realistische Darstellung der Charaktere und Ereignisse mit einer tiefgründigen und freimütigen Erörterung der wichtigsten gesellschaftlichen und weltanschaulichen Probleme der Epoche zu verbinden. Dostojewski hat gewissermaßen die Tradition der Dialoge Piatos und späterer philosophischer Dispute aus der Zeit der Renaissance zu neuem Leben erweckt. In den Gesprächen der Brüder Karamasow entwarf er ein kompliziertes und kraftvolles Bild eines Kampfes der Ideen, in dem sich dem Leser die innere Dialektik und die Widersprüche der aufeinanderprallenden und sich bekämpfenden Weltanschauungen bis ins kleinste offenbaren. Die philosophischen Streitgespräche und Dialoge in Dostojewskis Werken sind also in bezug auf Fabel und Entwicklung der Romanhandlung keineswegs etwas Nebensächliches, keine leicht zu entbehrenden sujetfremden „Einlagen". Bei der Erörterung abstrakter Probleme lösen Dostojewskis Helden auch stets die für ihr persönliches Leben wichtigen und meist schmerzlichen Fragen. So gelangen sie zu einer Entscheidung darüber, was sie augenblicklich, in dieser Minute und unter den gegebenen, ganz bestimmten Umständen tun sollen. Aus diesem Grunde sind die leidenschaftlichen philosophischen Dialoge in den Brüdern Karamasow, aber auch in anderen Romanen Dostojewskis, niemals eine rein abstrakt-dialektische Darlegung von vornherein feststehender philosophischer Ideen, sondern behalten bis zum Schluß eine starke Dramatik und emotionale Spannung. Gleichzeitig bilden sie aber auch einen organischen Bestandteil der Fabel, ein die Handlung entscheidend vorantreibendes unentbehrliches Element. Diese Kunst der unlösbaren Verknüpfung aller intimsten Lebensfragen der Helden mit den philosophischen, sozialen und 54
ethischen Problemen der Zeit bildet einen der größten Vorzüge in Dostojewskis - wie auch in Lew Tolstois - Romanschaffen. Durch diese Besonderheit machte Dostojewski die unzerstörbare Beziehung abstrakter philosophischer Probleme zur Wirklichkeit deutlich und bereicherte andererseits die Erlebniswelt seiner Helden in einem solchen Maße, daß sie nicht nur für sich selbst, sondern gleichsam für das russische Volk und die Menschheit sprechen.
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im Romanwerk Dostojewskis Dostojewski versetzt den Leser in seinen Romanen stets mitten ins Geschehen seiner Zeit hinein. Auch wenn er die Romanhandlung um einige Jahrzehnte zurückverlegt, wie zum Beispiel in den Brüdern Karamasow, spielt sie sich im Grunde genommen in der - wie Dostojewski es selbst genannt hat - „fließenden" Wirklichkeit seiner Zeit ab. Doch diese „fließende" Gegenwart sah Dostojewski stets im Zusammenhang mit der vergangenen und der zukünftigen Geschichte Rußlands und der gesamten Menschheit. Der Dichter hat dies auch betont, indem er zum Beispiel seine Helden mit Gestalten von Cervantes, Puschkin und Schiller verglich oder sie Betrachtungen über das Buch Hiob, über Episoden aus den Evangelien, über Ereignisse der altrussischen Geschichte und der Französischen Revolution von 1789 oder über die Pariser Commune anstellen ließ. Seine Romangestalten waren nicht nur als Menschen ihrer Zeit, sondern auch als Fortsetzer und Vollender der vorangegangenen Menschheitsgeschichte gedacht. Ihnen ist aufgetragen worden, die Lösung der „ewigen Probleme", mit denen schon der biblische Hiob und Christus, Hamlet und Faust, Voltaire und Schiller gerungen haben,. aufzugreifen und zu Ende zu führen. Dies verleiht ihnen die vom Dichter beabsichtigte Monumentalität und Tragik. Um in seinen Romanen Maßstäbe zu setzen, bereicherte er sie unter Zuhilfenahme von Gestalten wie Napoleon, Rothschild, Christus und den Großinquisitor mit philosophischen und historischen Symbolen. Auch Puschkins Aleko, Hermann 55
und der Geizige Ritter, Nekrassows Wlas, der „russische Wanderer" und auch der „Boden" (als Symbol des nationalen Rußland) haben in Dostojewskis Romanen und publizistischen Schriften einen solchen symbolischen Sinn. Diese philosophischen und historischen Symbole gehen mit der gleichen Sinngebung oft aus einem Werk in ein anderes über, um zu einem künstlerischen Orientierungspunkt für die Bewertung und Darstellung der Wirklichkeit oder zu jenem „Kammerton" zu werden, auf den 'manche Gestalten und Themen „abgestimmt" sind. Erinnert sie an den „Ameisenhaufen" als Kennzeichnung eines rein rationalistisch und nur „mit dem Kopf" entworfenen sozialen Gebildes oder an Gestalten wie Napoleon und Rothschild. Nach Dostojewskis eigener Aussage stellten die Evangelien für ihn ein „ewiges Buch" dar. Er schrieb ihnen einen erhabenen und allgemeinmenschlichen Sinn zu und betrachtete ihre Hauptgestalten und -sujets als literarische Darstellung menschlicher Leidenschaften und Situationen, die nicht nur auf die Entstehungszeit der Evangelien, sondern auch auf spätere und sogar bis ins 19. Jahrhundert hineinreichende Zeiten bezogen werden können. Nach Dostojewskis Meinung werden die in den Evangelien beschriebenen Ereignisse ständig mitten im menschlichen Alltag immer wieder von den Menschen aufs neue durchlebt und stellen eine der allgemeinsten und „ewigsten" Formen des gesellschaftlichen Seins in Vergangenheit und Gegenwart dar. Hierauf ist zurückzuführen, daß Dostojewski häufig Analogieverbindungen zwischen den Helden und Ereignissen seiner Romane zu entsprechenden Typen und Episoden aus den Evangelien herstellt, so zum Beispiel zwischen dem „Mörder" Raskolnikow und der „Buhlerin" Sonja Marmeladowa einerseits und irgendwelchen Mördern und „Buhlerinnen" in den Evangelien andererseits; zwischen dem Fürsten Myschkin und Christus; zwischen der „Erweckung" Raskolnikows und jener des biblischen Lazarus; zwischen Maria und Nastasja Filippowna (aus dem Roman Der Idiot) und der biblischen Maria Magdalena; zwischen Gruschenkas sündiger Leidenschaft und einer selbstlosen, reinen Bruderliebe bei Aljoscha Karamasow und der biblischen Hochzeit zu Kanaan. 56
Dies mag auf den ersten Blick mystisch erscheinen; es wurde und wird noch heute von zahlreichen Interpreten des Schriftstellers in einem antirealistischen Sinne ausgelegt. In Wirklichkeit aber ist Dostojewskis Verknüpfung vieler Episoden und Gestalten mit Motiven der Evangelien nichts anderes als die in seinen Werken anzutreffenden Parallelen zwischen seinen Helden und manchen von Cervantes, Schiller und Puschkin geschaffenen Gestalten. Auch die Assoziationen, die sich auf die Folklore, auf Legenden und Heiligenleben der alten Literatur beziehen - für Dostojewski ein wichtiger Bestandteil der nationalen moralisch-psychologischen Tradition des russischen Menschen mit seinem feinfühligen Gewissen, seiner Leidensbereitschaft und seinem Heldentum - haben dieselbe Ursache.„Nicht nur auf Plätzen, in Palästen und Kirchen erscheint der Erlöser", ^schrieb der Dekabrist und Romantiker A. A. Bestushew-Marlinski bereits 1833, „sondern auch in der Wüste, auf dem Marktplatz, in der Volksmenge, im Kreis der Kinder und Aussätzigen, auf der Hochzeit, beim Begräbnis und auf der Hinrichtungsstätte. Er spricht mit den Zöllnern, er erlöst die Buhlerin; er streut mit den zwölf Jüngern den lebendigen Samen des Wortes in die Seelen des einfachen Volkes . . . Ein Freund verkauft ihn für einige Silberlinge an seine Feinde, überantwortet ihn durch einen Kuß den Qualen. Sein Lieblingsjünger verleugnet ihn . . . Der ängstliche Richter flüstert: ,Er ist ja unschuldig' und überläßt ihn doch dem aufgehetzten Pöbel . . . So endet denn der Erlöser der Welt durch schmähliche Hinrichtung, gekreuzigt zwischen zwei Schächern . . . Dies ist schrecklich und tröstlich zugleich. Schrecklich insofern, als wir in diesem Symbol die Welt so zu sehen bekommen, wie sie immer gewesen ist, - das wirkliche Leben, wie es bis heute ist . . . Ich sage es noch einmal, die Evangelien sind das erste Lied, der erste Akt des gewaltigen Poems oder Dramas, dessen Geschichte bis jetzt noch nicht zu Ende erzählt wurde." 25 Diese Worte des revolutionären Schriftstellers entsprechen in vielem der Interpretation der Evangelien durch Dostojewski. Die in den Brüdern Karamasow enthaltene Legende vom Großinquisitor darf als ein charakteristisches Beispiel für die komplizierte Einbeziehung der historischen „Zeit" bei Dostojewski gelten; zugleich griff sie den kühnsten Experimenten 57
dieser Art vor, die später in der realistischen Literatur des 20. Jahrhunderts unternommen wurden. Scheinbar unterscheidet sich die Funktion dieser „Legende" kaum von jener der zahlreichen „Novelleneinlagen" vieler zwischen dem 17. und dem Beginn des 19. Jahrhunderts entstandenen Romane (von Cervantes' Don Quijote bis zu Goethes Wilhelm Meisters W ander jähren oder Dickens' Pickwickiern). Dies wäre jedoch eine rein formalistische Erklärung der „Legende". Die Novelleneinlagen im Don Quijote und anderen Romanen des 17. und 18. Jahrhunderts hatten u. a. auch den Zweck, für Unterhaltsamkeit, Abwechslung und Spaßigkeit der Erzählung zu sorgen und lieferten zugleich durch den komischen, tragischen oder idyllischen Kontrast eine Nuance im Handlungsablauf. Gegen Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts gaben die Autoren dieser von ihren Vorgängern übernommenen Manier, die auf die alte, mündliche Überlieferung zurückging, einen anderen Sinn, indem sie den Inhalt der Novelleneinlagen in eine nähere Beziehung zur Hauptfabel des Romans brachten und sie benutzten, um über Ereignisse zu berichten, die in der Vorgeschichte der Fabel eine Rolle gespielt hatten oder auch Nebenlinien der Fabel darstellten. Eine besondere Bedeutung kam diesen Novelleneinlagen in den Romanen deutscher Romantiker zu, wo sie den vom Romanautor angestrebten Eindruck einer „universalen" Erfassung des Weltgeschehens ermöglichen sollten und eine verborgene mystische Beziehung aller scheinbar zusammenhanglosen Erscheinungen anklingen ließen. In der Struktur der Brüder Karamasow spielt die von Iwan erzählte Legende dagegen eine andere Rolle. Ihre Hauptfunktion ist es, Zeit und Ort der nach Dostojewskis Auffassung mit „ewigen" Problemen erfüllten Romanhandlung auszuweiten, und zwar in dem keineswegs mystischen Sinn, daß diese „ewigen" Probleme eine organische Fortsetzung der großen Fragen bilden, mit denen die Menschheit seit undenklichen Zeiten gerungen hat, und vor die sich des Dichters Gegenwart unverändert gestellt sah. Die erhabene Symbolik der „Legende" erweitert den Grundkonflikt des Romans und setzt ihn zu kulturhistorischen Kenntnissen der Menschheit in Beziehung. Dies liegt auch dem Vergleich der Karamasows mit der Fami58
lie der Grafen von Moor in Schillers Räubern oder den in der Gesprächsszene zwischen Iwan und dem Teufel gezogenen Parallelen zu mittelalterlichen Mysterien, Erzählungen über Luther oder zu Goethes Faust zugrunde. Dostojewski wollte hier mit künstlerischen Mitteln zum Ausdruck bringen, daß sich das Denken, Leiden und Kämpfen seiner Helden nicht nur auf sie persönlich und auch nicht einmal auf die Interessen ihrer Zeit beschränkt, sondern daß sie gleichsam die Bilanz der gesamten Menschheitsgeschichte in gedrängter Form „in sich tragen". In ihrem Geist ist in einer neuen, dem Vergangenen unähnlich gewordenen Form nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Vergangenheit lebendig, also die gesamte Geschichte intellektueller und moralischer Bestrebungen der verschiedenen Länder, Völker und Epochen ihre philosophische Quintessenz. Diese Idee wird in der Legende vom Großinquisitor, aber auch in anderen historischen Symbolen und Parallelen künstlerisch zum Ausdruck gebracht. Diese Auffassung von der Wechselbeziehung zwischen Geschichte und Gegenwart, zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ermöglichte es Dostojewski, seine Gegenwartsromane für Themen, Gestalten und Sujets aus der Kultur-, Literatur- und Kunstgeschichte der Vergangenheit „offenzuhalten". Seine Helden sind nicht nur der Vergangenheit, sondern auch der Zukunft zugewandt, deren Ausgangspunkte nach des Dichters Auffassung in der Gegenwart liegen - ebenso wie die geistigen Bestrebungen seiner Helden in früheren Epochen der Menschheitsgeschichte wurzeln. Nicht ohne Grund hat daher der Dichter die „prophetische" Bedeutung seiner Romane hervorgehoben. „Ich habe niemals die Ansicht begreifen können", schrieb Dostojewski im Januar 1876, „daß nur ein Zehntel aller Menschen die höhere Bildung erhalten dürfe, während die übrigen neun Zehntel nur als Material und Mittel dazu dienen, dabei aber selbst im Finstern bleiben müssen. Ich will nicht anders leben und denken als mit dem Glauben, daß alle unsere neunzig Millionen Russen (oder wieviel ihrer noch zur Welt kommen) einmal alle aufgeklärt, zu Menschen erzogen und glücklich sein werden. Ich weiß und glaube fest, daß die allgemeine Aufklärung bei uns niemandem schaden kann. Ich glaube auch, daß 59
die Herrschaft der Idee und des Lichts bei uns, in unserem Rußland, vielleicht noch schneller anbrechen kann als irgendwo in der Welt, denn bei uns gibt es auch jetzt niemand, der für die Idee der Notwendigkeit, einen Teil der Menschen zu Tieren zu machen, damit der andere Teil im Wohlstande lebe, eintreten wollte, für die Idee, die in ganz Europa der Ausdruck der Zivilisation ist." 2 6 Kampf gegen eine Gesellschaft, in der „höhere Bildung" das Privileg „eines bloßen Zehntels aller Menschen" bildete, das Begehren nach einer Zivilisation, die auch die Bedürfnisse „der übrigen neun Zehntel" befriedigt, leiteten den großen Dichter in seinem Schaffen; dies wird von bürgerlichen Interpreten geflissentlich verschwiegen. Obwohl Dostojewski nicht an die revolutionären und sozialistischen Theorien seiner Zeit glaubte, konnte er sich doch niemals mit der bürgerlichen Zivilisation abfinden, die nur wenigen zugute kam, und suchte nach Wegen, die zum Aufstieg jener „neun Zehntel" der Menschheit führen könnten, denen die Güter des kapitalistischen Fortschritts bisher noch versagt waren. In der Teilnahme des Volkes am historischen und kulturellen Entwicklungsprozeß erblickte Dostojewski die Zukunft Rußlands und der gesamten menschlichen Kultur. Diese Kennzeichen seines Schaffens sind für Ideologen der heutigen imperialistischen Reaktion, die die Macht des Kapitals mit allen Mitteln vor den Werktätigen zu rechtfertigen suchen, allerdings unannehmbar; sie machen jedoch die Werke des großen russischen Schriftstellers zum wertvollen geistigen Besitz des Sowjetvolkes und der ganzen fortschrittlichen Menschheit.
D. S. Lichatschow
Auf der Suche nach dem Ausdruck des Realen
Die Werke Dostojewskis erheben in hohem Maße den Anspruch des Authentischen und sind daher mit „Requisiten" angefüllt, die zugleich Dostojewskis poetische Technik wesentlich kennzeichnen. Dem Leser geht viel verloren, wenn er die Schauplätze der Dostojewskischen Werke nicht genauer kennt, legt doch der Dichter auf die Schilderung der örtlichen Gegebenheit in seinen Romanen und Ezählungen großen Wert; sie werden von ihm allerdings nicht eingehend beschrieben, vielmehr wird auf sie Bezug genommen etwa in dem Sinne, daß sie dem Autor wie auch dem Leser bereits „bekannt" seien. Dostojewski benötigte diese „Requisiten" nicht nur, um seine Leser von der Realität des Geschilderten zu überzeugen, sondern auch, weil er seiner Sache selbst ganz sicher- sein wollte. Seine Frau, Anna G. Dostojewskaja, berichtet in ihren Erinnerungen, wie sie von Dostojewski in Petersburg umhergeführt und mit den Schauplätzen seiner Romane bekanntgemacht wurde. „Fjodor Michailowitsch ging in den ersten Wochen unserer Ehe mit mir spazieren und führte mich eines Tages auf den Hof eines Hauses; hier zeigte er mir den Stein, unter dem Rasikolnikow die geraubten Gegenstände der Wucherin versteckt hatte."! Dostojewski dürfte es allerdings kaum darauf abgesehen haben, daß die Leser von Schuld und Sühne den darin so genau beschriebenen Stein oder das Petersburger Haus ausfindig machen sollten, in dem Raskolnikow sich einquartiert hatte, bzw. daß sie sich davon überzeugten, ob die oberste Treppe dieses Hauses tatsächlich dreizehn Stufen zählte. Topografische Genauigkeit war für Dostojewski eher Bestandteil der Schaffensmethode als künstlerischer Selbstzweck: Wie sich ein 61
Schauspieler in die von ihm darzustellenden Helden zu „verwandeln" sucht, so „verwandelte" sich für Dostojewski eine von ihm beschriebene Gestalt in Realität; unwillkürlich war er von deren Existenz überzeugt. Aus diesem G r u n d e „glaubte" Dostojewski an die in seinen Werken auftretenden Erzähler, die die Funktion haben, statt seiner zu berichten oder bestimmte Ereignisse aufzuzeichnen. Dostojewski identifizierte sich so stark mit seinen Helden, d a ß Begebenheiten, in die er sie hineinversetzt, von ihm als selbst erlebt betrachtet wurden. Das ganze Leben stellte für ihn gewissermaßen eine Art „Entäußerung" dar, zwischen ihm und seinen Erzählern bildete sich eine bestimmte geistige Verwandtschaft heraus, die sich auch auf solche Einzelheiten wie Aussehen, Umgangsformen, eine abenteuerliche Lebensauffassung oder Selbstgeißelung erstreckte. Diese innere Verwandtschaft mit seinen Erzählern war bei Dostojewski wesentlich ausgeprägter als etwa bei Gogol oder Leskow, die ihre Erzählertypen vorwiegend aus „ethnographischen" oder sozialen Gründen auftreten ließen: Sie führten sie lediglich ein, um sich selbst aus der Sphäre des Erzählens gänzlich zurückzuziehen und diese Aufgabe literarischen Gestalten „überlassen" zu können, die ihrem Schöpfer in keiner Weise ähneln sollten. Dostojewski hingegen benötigte seine Erzähler und Chronisten, um sich selbst in die Handlung einzuschalten, diese maximal zu objektivieren und die erforderliche Beteiligung des Autors am Geschehen erzielen zu können. 2 Dostojewski „erdichtete" keine Wirklichkeit, sondern gestaltete tatsächlich Geschehenes in seinen Werken literarisch, wobei er manche Fakten des Alltags, eine wirklich existierende Örtlichkeit, eine zufällige Begegnung, eine Zeitungsmeldung über irgendeinen Vorfall oder den Bericht über eine Gerichtsverhandlung künstlerisch ausgewertet und weiterentwickelt hat Es konnte auch geschehen, d a ß er eine von ihm aufgesuchte Gasse mit Gestalten seiner Phantasie bevölkerte, Türen verschiedenster Wohnungen öffnete, in Kellergewölbe hinabstieg, Lebensgeschichten von Personen erfand, die ihm unterwegs begegnet waren, oder vor Gericht gemachte Aussagen durch zusätzliche Details anreicherte. Dostojewskis Schaffensprozeß, von ihm selbst wiederholt und 62
eingehend beschrieben, ist daher von ganz spezifischer Art: „Wenn ich so durch die Straßen gehe, betrachte ich gern die mir völlig unbekannten Fußgänger, um ihre Gesichter zu studieren und Vermutungen darüber anzustellen, was sie sein könnten, wie sie leben, welchen Beruf sie ausüben und was sie in diesem Augenblick besonders beschäftigen mag." Beispielsweise fabuliert Dostojewski sofort eine Geschichte, als ihm ein Handwerker in der Begleitung eines Knaben begegnet. Es heißt bei ihm weiter: „Ich geh so dahin, und ständig steigen dabei in meinem Geiste allerlei Phantasiebilder auf, die ich mir nur zu meiner Zerstreuung ausdenke."3 Bei einer anderen Gelegenheit kam Dostojewski auf eine von ihm irgendwo gelesene Geschichte über eine Frau zu sprechen, die von ihrem Mann geschlagen worden war und die sich dann erhängte. Er führte die in seinem „Dokument" enthaltene Beschreibung der äußeren Merkmale des Mannes an: „Es heißt dort, daß er von hohem Wuchs und sehr kräftig gebaut, stämmig und blond sei." Diese protokollarische Beschreibung ergänzte Dostojewski durch eigene Angaben: „Ich würde noch hinzufügen, daß sein Haarwuchs dünn ist. Seine Haut ist blaß und aufgedunsen, seine Bewegungen sind langsam und bedächtig, er blickt mit gespannter Aufmerksamkeit um sich; er ist äußerst wortkarg, läßt daher seine Worte wie kostbare Perlen fallen und scheint sie auch über alles zu schätzen." Anschließend versuchte er, sich das Äußere der Selbstmörderin etwas genauer vorzustellen': „Sie muß sehr klein und abgemagert sein, geradezu spindeldürr . . .", was er folgendermaßen begründete: „Es kommt doch mitunter vor, daß sehr große und kräftige Männer mit einer blassen, aufgedunsenen Haut mit Vorliebe kleine, magere Frauen heiraten (eine solche Wahl ist sehr charakteristisch, wie ich bemerkt habe)." Es schließen sich noch weitere Mutmaßungen an, die Dostojewski mit früheren Beobachtungen „rechtfertigt": „Haben Sie mal gesehen, wie ein Bauer seine Frau auspeitscht? Ich hab's gesehen." Immer vom vorliegenden Dokument ausgehend fügt Dostojewski schließlich eigene Details hinzu, die lediglich durch den Zusatz „vermutlich . . . " ein wenig eingeschränkt werden.4 Im Tagebuch eines Schriftstellers aus dem Jahre 1873 können wir anhand des Aufsatzes Das Milieu genauer verfolgen, wie in 63
Dostojewskis Phantasie nach der Lektüre eines Zeitungsartikels ein regelrechter Dialog zustande kam. Anfangs stellte er nur Betrachtungen über das Gelesene an, führte dann aber als Personen, die ihm widersprachen, zunächst nur „andere" an, worauf es ihm so vorkam, als ob jetzt bereits ein ganz bestimmter Opponent auftrat, dem sich schließlich noch eine „andere Stimme" hinzugesellte. Diese wurde anschließend als „etwas slawophil eingestellte Stimme" gekennzeichnet. Hierauf meldete sich auch „irgendeine höhnische Stimme" zu Wort, die dann gleichfalls zunehmend individualisierte Züge annahm. 5 Ein weiteres recht charakteristisches Geständnis Dostojewskis findet sich auf den ersten Seiten der Weihnachtsgeschichte, wo es heißt: „Aber ich bin ja ein Romancier und habe anscheinend ein ,Geschichtchen' erdichtet. Warum füge ich aber soeben das Wörtchen .anscheinend' hinzu? Ich weiß natürlich ganz genau, daß ich hier etwas erdichtet habe, und doch kommt es mir ständig so vor, das alles hätte sich irgendwo und irgendwann einmal ereignet, genau am Vorabend des Weihnachtsfestes, in einer g a n z b e s t i nun t e n großen Stadt und bei schrecklichem Frost."6 Mit „anscheinend . . ." deutete Dostojewski also an, daß er gewissermaßen auch selbst das von ihm Erdichtete für eine wahre Begebenheit halte. „Es ereignete sich . . ." Für Dostojewski war in der Tat allein schon ein einzelnes Ereignis von großer Bedeutung, ebenso wie „eine zufällige Familie", mit deren Betrachtung er sein Tagebuch eines Schriftstellers in demselben Jahrgang 1876 einleitete, das auch die Weihnachtsgeschichte enthielt. Jede einzelne Episode stellte für Dostojewski etwas dar, das sich tatsächlich ereignen konnte und ihm bereits als ein Teil der Vergangenheit erschien. Hierbei handelte es sich jedoch nicht um eine typisierte und verallgemeinerte Erscheinung, die ja im Falle einer angestrebten Verallgemeinerung gar nicht hätte passieren können, sondern um etwas „Phantasiertes" und Erdichtetes. Hierauf ist es also zurückzuführen, daß Dostojewski für etwas, das ihm irgendwie „vorschwebte", immer wieder nach exakten Örtlichkeiten und Adressenangaben des „Wann" und „Wo" gesucht hat. So erklärt es sich auch, daß in seinen Briefen wiederholt die Bitte um möglichst viele Detailangaben geäußert wird. „Berichte mir über alles, und zwar mit recht 64
vielen Einzelheiten und Details", heißt es beispielsweise in einem Brief an seine Frau Anna Dostojewskaja. 7 Während seines Aufenthaltes im Ausland benötigte er russische Zeitungen und bat daher in seinen Briefen ständig um weitere Sendungen. In der Presse suchte er nach bestimmten Vorgängen, Ereignissen oder einzelnen Fakten: Sie stellten Realien dar, die er durch gewisse Einzelheiten ergänzte, welche im Bereich des Möglichen lagen. Hierbei arbeitete er jedoch nicht wie die Autoren „physiologischer Skizzen", die Einzelerscheinungen zu verallgemeinern suchten, sondern etwa wie ein Verfasser des um die Jahrhundertmitte in Mode gekommenen Feuilletons, das von einem konkreten, etwas Einmaliges darstellenden Ereignis ausgeht und aus der Feder eines in den Straßen herumflanierenden Beobachters stammt, der es auf interessante Neuigkeiten und Begebenheiten abgesehen hat. 8 Das Einmalige und das Individuelle betrachtete Dostojewski als das Wesen der Realität, die ihm in ihrer Vielgestaltigkeit entgegentrat. Hieraus erklärt sich, daß ihm die Wirklichkeit äußerst kompliziert, vielgestaltig, kantig und monströs erschien und er sie vorwiegend in Einzelheiten, Zufällen, Begebenheiten, Skandalen, Katastrophen, Verbrechen und auch im Abscheulichen zu erfassen suchte. Den Zugang zur Realität verschaffte sich Dostojewski vermittels seines ausgeprägten Gefühls für das Peinliche und Beschämende, für völliges menschliches Versagen und die Armseligkeit. Unzählige, manchmal unbedeutende Details verleihen der Wirklichkeit gleichsam das Aussehen eines gewaltigen Ungeheuers mit vielen Zähnen, Hörnern, Klauen sowie abstoßenden Auswüchsen auf dem Rücken und am Rachen. Der englische Bildhauer Henry Moor gliedert seine massigen, halb liegend gestalteten Figuren des öfteren in große Einzelteile, um ihre Monumentalität, Kompaktheit und Gewichtigkeit zu steigern. Ebenso verfährt Dostojewski, wenn er beispielsweise, um die Heiligkeit greifbar zu machen, Wersilow eine Ikone in Stücke zerschlagen läßt, wenn er den Verwesungsgeruch des Starez Sossima erwähnt oder die Schönheit der Nastasja Filippowna der öffentlichen Schande preisgibt. Das Streben nach Wiedergabe des Lebens in seiner Totalität führt auch dazu, daß nicht selten ein Mord im Mittelpunkt seiner bedeutendsten Werke steht. 5
Dostojewski
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Der leidenschaftliche Drang nach Erfassen der Wirklichkeit in ihrer Vielfalt sowie das Anliegen, sein Realitätsgefühl dem Leser möglichst eindringlich zu vermitteln, verband sich bei Dostojewski zugleich mit einer Furcht vor dieser Realität. Unter dieser eigenartigen Haß-Liebe hat er selbst gelitten und seine Leser damit oftmals gequält. D i e Entdeckung der Wirklichkeit ist die größte Errungenschaft des Realismus um die Mitte des 19. Jahrhunderts. D e r Begriff „Wirklichkeit" wurde damals von allen möglichen Kritikern und Schriftstellern strapaziert, jedoch von jedem anders interpretiert. Dostojewski unterschied sich grundlegend in seiner Auffassung von zeitgenössischen Schriftstellern, die die Wirklichkeit zu glätten suchten und das allgemein Übliche in Durchschnittswerten zur Darstellung brachten. E r verachtete diese - wie er sie nannte - „typisch schreibenden" Schriftsteller, die das Charakteristische zu registrieren und ein „Milieu" (dieses Wort war Dostojewski besonders verhaßt!) sowie verschiedene Klassen und Bevölkerungskategorien auszumalen suchten, dabei jedoch das Individuelle vergaßen. E r unterschied sich auch grundsätzlich von Schriftstellern, die sich nicht - wie er - von der Methode der „physiologischen Skizze" befreien konnten. D i e „typisch Schreibenden" waren für ihn eine minderwertige Gattung von Schriftstellern; ihre Typisierungsmethoden hat er mehrfach mit seinem Spott bedacht. 9 Nach Dostojewski ist die Wirklichkeit eigenwillig; sie entzieht sich oftmals einer eindeutigen Erklärung, da sie sich aus unzähligen Einzelheiten und Details zusammensetzt; das angeblich „Typische" verwarf er als ein klägliches Geistesprodukt eines Schriftstellers, dem die absolute Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit eines Fakts entgangen ist. Nur individuelle und zufällige, keineswegs geglättete oder durchschnittliche Erscheinungen können nach Dostojewskis Auffassung die der Wirklichkeit innewohnende Idee offenbaren. Das Einmalige ist möglich, folglich also auch bedeutsam. Dostojewski hat sich gelegentlich gegen den Vorwurf gewehrt, etwas von ihm Geschildertes komme in der Wirklichkeit überhaupt nicht vor; er wandte dagegen ein: unter gewissen Umständen hätte es doch immerhin geschehen' können, sei also nicht minder geeignet, die Wirklichkeit zu offenbaren und deren Idee zum Ausdruck zu bringen.
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Auch die Darstellung der Wirklichkeit sollte beim Leser den Eindruck von realen, keineswegs erdichteten Ereignissen erwecken. So erklärt sich, daß die in Dostojewskis Werken des öfteren auftretenden Erzähler, Berichterstatter, Chronisten oder Reporter nicht Berufsschriftsteller sind, sondern im Schreiben unerfahrene Autoren; auf keinen Fall sollte der Eindruck entstehen, daß ein schriftstellerisch-literarisches Produkt vorliegt. Dostojewski trat auch nicht in der' Pose selbstsicherer Allwissenheit auf - das wäre unvereinbar gewesen mit seiner Absicht, etwas wirklich Geschehenes, nichts Erdichtetes zu bieten. Darum verweist er ständig auf die Informationsquellen seines Erzählers, wobei er auch auf Widersprüche der Angaben aufmerksam macht, einander widersprechende Zeugenaussagen oder Gerüchte anführt und gelegentlich sogar feststellt, einige Fakten seien dem Erzähler unbekannt beziehungsweise unklar geblieben. Selbst den Vorgang des Sammeins von Informationen hat Dostojewski beschrieben. Er wundert sich gelegentlich selbst über die Unwahrscheinlichkeit der Vorgänge, d. h. der Schriftsteller und sein Erzähler erscheinen so, als ob sie die dargestellte Wirklichkeit voneinander unabhängig erleben; es wird darauf spekuliert, daß die Glaubwürdigkeit eines Ereignisses mit dem Grad seiner Unwahrscheinlichkeit zunimmt. Hierin hat Dostojewski methodisch etwas mit einem Hagiographen gemein, der ein religiöses Wunder beschreibt und seine Leser, die über die Unwahrscheinlichkeit des Erzählten Verwunderung äußern könnten, mit Hilfe naturalistischer oder exakter topographischer Angaben von der Glaubwürdigkeit seiner Geschichte zu überzeugen sucht. In den Werken Dostojewskis spielen Präzisierungen verschiedener Art eine bedeutende Rolle. Selbst dort, wo Elemente des Phantastischen oder Grotesken vorherrschen, sucht er ständig nach Annäherung an die Wirklichkeit; so führt er beispielsweise, um die Glaubwürdigkeit zu erhöhen, mit besonderer Vorliebe exakte Zahlenangaben ein: Der Leser erfährt, wieviel Schritte oder Stufen es bis zu einem gewissen Ziel jeweils waren, nach wieviel Tagen oder Stunden sich etwas ereignete usw. Auch hier wird hinzugefügt, von wem die betreffende Mitteilung stammt bzw. wieweit eine aus der Erinne5»
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rung geschöpfte oder in Erfahrung gebrachte Tatsache zutreffend gewesen wäre. Schließlich korrigiert Dostojewski gelegentlich sich selbst, so wenn er etwas vermerkt, was ihm später noch eingefallen oder von jemand anderem richtiggestellt worden sei. Besonders häufig weist Dostojewski auf die Rätselhaftigkeit von etwas Geschehenem, von Handlungen oder Verhaltensweisen, auf eine Unklarkeit bestimmter Ereignisse oder auf das Fehlen von Informationen hin. Beim Aufbau seines Dialogs operiert Dostojewski äußerst kunstvoll mit unvollendeten oder nur undeutlich zu verstehenden Sätzen: Der Dialog erscheint als die Fortsetzung von Beziehungen, die schon früher angeknüpft wurden; er sucht den Eindruck einer exakten Aufzeichnung des Gesprächs der jeweiligen Partner zu erwecken, die gar nicht daran zu denken scheinen, daß ihre Ausführungen von Dritten mitgehört werden könnten. Die Wirklichkeit erscheint auch hier völlig unabhängig von Autor und Leser und läßt sich daher so überaus schwer erfassen. So suchte Dostojewski mit den verschiedensten Methoden die Überzeugung zu suggerieren, daß sich alles von ihm Erzählte tatsächlich abgespielt habe. Manchmal scheint er gewisse Zugeständnisse zu machen - wenn er etwa bemerkt, einige Angaben könnten ungenau, gewisse Darstellungen tendenziös sein, oder wenn er Gerüchte anführt, die in der Gesellschaft gerade in Umlauf seien - , doch auch dies sollte letztlich die innere Unabhängigkeit des Erzählten bekräftigen und den Leser vom Wahrheitsgehalt des Erzählten überzeugen, ihn zu der Einsicht führen: „Das alles hat sich tatsächlich ereignet." Dostojewski verzichtete somit auf die Beachtung irgendwelcher ästhetischer Kodizes oder literarischer Schönheitswerte; er suchte nach unmittelbaren Lösungen. Im Jüngling beginnen die Aufzeichnungen des Erzählers mit den Worten: „Ich werde nur die Ereignisse verzeichnen und alles fremde Beiwerk, namentlich schriftstellerische Finessen, möglichst vermeiden; . . . Ich aber bin kein Schriftsteller und will kein Schriftsteller sein . . ," 10 Diese Erklärung darf als Autorenstandpunkt gelten, ähnliche Deklarationen werden in dem Roman oft und nachdrücklich formuliert. Schließlich läßt sich Dostojewski - ebenso wie sein Erzähler - ständig in ein Gespräch oder sogar in
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einen Streit mit dem Leser ein („Man wird mir darauf sagen . . . , aber ich sage darauf . . .")> er verspricht, auf eine bestimmte Sache noch gesondert zurückzukommen, fragt nach dem Standpunkt des Lesers, unterstellt diesem bestimmte Zweifel oder Fragen, beklagt sich über die Unbeholfenheit seiner eigenen Ausdrucksweise usw. Da die Realität nicht nur unter einem einzigen • Gesichtspunkt erfaßt werden kann, da sie von allen Seiten aus zu betrachten ist, müssen verschiedene Gesichtspunkte beachtet, viele Meinungen geäußert und quellenmäßig belegt werden. J e verschiedenartiger die Gesichtspunkte, desto größer die Chance der Annäherung an die Wirklichkeit. Die Relativierung stellt eine Form der Annäherung an das Absolute dar, und die Bewegung ist eine Form, die das Ewige in sich birgt. Am Schnittpunkt verschiedener Aussagen über die Realität behauptet diese jedoch ihre unabhängige Existenz. Der Welt der Ideen und der Wirklichkeit ist Erstarrung zutiefst wesensfremd - daraus resultiert Dostojewskis Abneigung gegen feststehende Urteile und Standpunkte, spitzfindige Definitionen oder programmatische Überzeugungen und Richtungen. Dies alles sind für ihn Uniformen, die er zu jener Zeit hassen gelernt hatte, als er sie selbst tragen oder dem Kommando ihrer Träger gehorchen mußte. Raskolnikows Beherrschtsein von einer Idee - wie logisch sie auch sein mag - endet in Mord und Vereinsamung, es tötet das Menschliche im Menschen ab. Der Jüngling dagegen zeigt bereits die allmähliche Befreiung eines Menschen von der Beherrschung durch eine bestimmte Idee: Zunächst noch unfreiwillig, dann aber immer bewußter handelt der junge Held im Widerspruch zu der Idee „Reichtum ist Macht" und vermag daher schrittweise die Fesseln seiner Vereinsamung zu sprengen - so wird er wieder zum Menschen. Er gewinnt, muß dann wieder verlieren, unnötig mischt er sich in fremde Angelegenheiten ein, ergibt sich zeitweilig dem Trunk, obwohl er gelobt hatte, ein asketischentsagendes Leben zu führen, aber letzten Endes doch nur, um Reichtum und Macht über die Menschen zu gewinnen. Erst als er von seiner Idee loszukommen vermag, gewinnt er seine Menschlichkeit zurück. Aus diesem Zusammenhang erklärt sich Dostojewskis Abnei-
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gung gegen ein völliges Aussprechen; er fürchtet, sich in den Schlingen seiner Überzeugungen zu verstricken. Aus dem gleichen Grund zog er es vor, der Wirklichkeit gegenüber einen emotionalen, keinen intellektuellen Standpunkt einzunehmen, wobei er „Gefühls-Ideen" für weniger bindend hielt als „Gedanken-Ideen". In einem Brief an W. S. Solowjow schrieb er einmal, es sei unmöglich, in einem literarischen Werk „einen Gedanken ganz zu Ende zu führen"11. Diese Überzeugung war jedoch nicht nur eine „Gefühls-Idee" von Öostojewski, sie lag seinem gesamten Schaffen zugrunde. Seine Helden befinden sich in einem ständigen Entwicklungsprozeß, sie lassen keine Anzeichen von Geschlossenheit oder Stabilität erkennen. Ihre Handlungen wirken immer mehr oder weniger unmotiviert, obwohl sie aus dem innersten Wesen der jeweiligen Individualität erwachsen, während das Verhalten der Figuren nicht ganz ihrer Psychologie, der Charakterzeichnung sowie ihren Impulsen entspricht. Dostojewskis Werke tragen stets den Stempel des Unvollendeten und Unausgesprochenen. Die Wirklichkeit beunruhigte Dostojewski, weil sie - nur unvollständig erkennbar - ihn zwang, Hypothesen aufzustellen bzw. einer komplizierten Erklärung vor einer einfachen den Vorzug zu geben. In dieser speziellen künstlerischen Unvollständigkeit seiner Ideen und Absichten kam Dostojewski vor allem Puschkin nahe - dem Puschkin des Eugen Onegin, der Pique Dame und des Ehernen Reiters . . . Es ist daher kein Zufall, daß ein besonderes Verhältnis zum Werk Puschkins das gesamte Dostojewskische Schaffen begleitet. Dostojewski hat in dem Bestreben, sich mit seinen Werken der Wirklichkeit anzunähern, sie „mit den Fingern zu berühren", um an sie glauben zu können, die Relativität dieser Annäherung klar empfunden und reproduziert; diese Relativität ist von ihm künstlerisch vielgestaltig und variabel enthüllt worden. Das Alltägliche betrachtete Dostojewski als etwas Individuelles und Einmaliges, das Absolute faßte er als Wechselbeziehungen und Verkettung einander bedingender Abhängigkeiten auf, Glaubwürdiges entnahm er Gerüchten und Impressionen, während er das Reale im Unwahrscheinlichen und 70
Zufälligen, das Gewöhnliche im Phantastischen 12 und das Phantastische in der Hülle des Trivialen oder Abgeschmackten aufzuspüren suchte. In seinem Drang nach möglichst konkreter Wirklichkeitserfassung war sich Dostojewski der Unabhängigkeit der Weltexistenz sowie der extremen Relativität ihrer Erkenntnis bewußt. Die Welt als solche ist keineswegs relativ, im Gegenteil: Sie ist erschreckend real und absolut; relativ sind jedoch die Methoden ihrer Erkenntnis, die untrennbar mit der Art und Weise des Erkenntnisprozesses zusammenhängt. Die Erkenntnis verschafft nur die Möglichkeit einer Annäherung an die Weit, wobei verschiedenartige Methoden angewendet werden müssen; es bedarf eines vielgestaltigen Suchens nach der Wirklichkeit sowie leidenschaftlicher Bemühungen, will man dem Realen nahekommen.
N. I. Pruzkow
Die sozial-ethische Utopie Dostojewskis
Auf den ersten Blick mag es scheinen, als habe Dostojewski jegliche Utopie abgelehnt. Zu dieser Ansicht könnte man gelangen, wenn man seine eigenen Äußerungen in Betracht zieht. Bezeichnete er sich doch nach seiner Rückkehr aus der Verbannung wiederholt als einen prinzipiellen Gegner jeglicher Utopien, Programme und Theorien, die - gestützt auf Vernunft und Wissenschaft - ein zukünftiges „Paradies auf Erden" in allen Einzelheiten voraussahen. Dostojewsiki stellte in seiner Polemik mit den revolutionären Sozialisten die Behauptung auf, je mehr der eine oder andere Denker die Menschheit liebe und über ihre künftige Glückseligkeit nachdenke, je eifriger er eine Theorie des Glückes auf Erden entwickle, desto weniger sei er in der Lage, die alltägliche Wirklichkeit zu verstehen, die lebenden Menschen mit ihren kleinen persönlichen Sorgen und Leiden zu bemerken. Es ist hier nicht der Ort, die Herkunft ähnlicher Ideen darzulegen. Halten wir jedoch fest, daß Dostojewskis Aufzeichnungen aus dem Untergrund sich gegen die abstrakten und ausgefallenen Theorien eines künftigen Glückes für die Menschheit richten. Dostojewski nannte die russischen Sozialisten und Revolutionäre seiner Zeit mit verächtlichem Spott Buchgelehrte und Träumer. Diese Kritik zeichnete sich durch eine große Einseitigkeit aus. Der russische Schriftsteller irrte sich nicht nur, sondern er verkannte und verfälschte die Praxis und Ethik der russischen revolutionären Sozialisten, die die Auffassung vertraten, daß die Liebe zur Menschheit und der Glaube an die hohen Ideale des Sozialismus nur dann von Nutzen und Dauer sein können, wenn sie mit den Bemühungen um die Befriedi72
gung der täglichen Bedürfnisse der Menschen einhergehen, wenn sie sich mit einer aktiven Teilnahme am täglichen Leben und Kampf verbinden. Dieser Axiom findet unter anderem in der Darstellung der „neuen Menschen" bei Tschernyschewski und seinen Nachfolgern seinen künstlerischen Ausdruck. Es ist eine bekannte Tatsache, daß der Revolutionär und Sozialist der Vergangenheit es nicht immer verstanden hat, eine Brücke von den gegenwärtigen Bedürfnissen des werktätigen Volkes zu jenen Idealen zu schlagen, für deren Verwirklichung sich die fortschrittlichen Kräfte in Rußland bemühten, das Volk in den Kampf einzubeziehen. Das zeigen die Memoiren der russischen Narodniki, die „ins Volk gingen", der Mitglieder der Volkstümlerorganisation Semlja i Wolja und der revolutionären Gruppe Narodnaja Wolja. Derartige Tendenzen hielt Dostojewski für einen untrennbaren Wesenszug der Sozialisten und Revolutionäre, als ständen diese völlig im Banne ihrer Zukunftspläne und vergäßen darüber das wirkliche Leben, die menschliche Natur, Individualität, Gefühl und Herz. Obgleich Dostojewski, der großes Interesse an den Tagesereignissen bekundete, seinen Äußerungen nach alle theoretischen Utopien als menschliche Verirrungen ablehnte, hielt er es dennoch durchaus für notwendig, über die in die Zukunft weisenden Wege nachzudenken und von dieser Zukunft zu träumen. Die Frage nach dem Schicksal der Völker Westeuropas und Rußlands, nach einer idealen Gesellschaftsordnung, nach einer Umerziehung des Menschen und seiner Befreiung von jeglicher Unterdrückung beschäftigte zur Zeit Dostojewskis alle denkenden Menschen. So bilden das Kernstück seines gesamten künstlerischen und publizistischen Nachlasses die Überlegungen über die Vergangenheit und Zukunft der Menschheit, über das vergangene „Goldene Zeitalter" und über die strahlende Epoche einer zukünftigen „Weltharmonie". In einer Rezension zu I. W. Omulewskis Roman Schritt für Schritt charakterisierte Saltykow-Stschedrin, einer der geistigen Antagonisten des Verfassers der Dämonen, sehr treffend die ideologische Position des Schriftstellers. Dostojewski, so schreibt Saltykow-Stschedrin, „erkennt nicht nur die Gesetzmäßigkeit der Interessen, die die gegenwärtige Gesellschaft bewegen, sondern er begibt sich auf das Gebiet der V o r a h n u n g e n 73
und V o r g e f ü h l e , die nicht das unmittelbare, sondern das in die Zukunft weisende Suchen der Menschheit zum Ziel haben." Um aber einer solchen Fragestellung gerecht zu werden, sei ein „großer künstlerischer Weitblick" erforderlich. SaltykowStschedrin spricht vom „Glorienschein" einer derartigen Aufgabe. Als Beispiel führt er den Versuch Dostojewskis an, in dem Roman Der Idiot „einen Menschen darzustellen, der eine vollkommene moralische und seelische Harmonie erreicht hat". Saltykow-Stschedrin gelangt zu der Erkenntnis, daß die vom Künstler zu lösenden Aufgaben, um das „gesteckte Ziel" zu erreichen, alle Formen des gesellschaftlichen Fortschrittes umfassen und vor dieser Aufgabe „alle übrigen Probleme der Frauenarbeit, der gerechten Verteilung der geschaffenen Werte, der Freiheit des Gedankens und ähnliches völlig verblassen."1 Saltykow-Stschedrin wies auch auf eine andere wichtige Seite der von ihm charakterisierten künstlerischen Methode Dostojewskis hin. Letzterer „diskreditiert die von ihm vertretene Sache selbst", indem er „in einer höchst abträglichen Art und Weise Menschen darstellt, deren Bestrebungen ganz und gar die gleiche Richtung verfolgen, in die offensichtlich auch die sehnlichsten Gedanken des Verfassers gehen". Tatsächlich stimmt Dostojewski mit den revolutionären und sozialistischen Kräften Rußlands in der Zielsetzung überein, in dem Glauben an die heraufziehende Epoche sozialer Harmonie, die den Menschen wahre Humanität und vollkommenes Glück bringen werde. Ähnliche offene und versteckte Berührungspunkte gibt es noch mehrere in Dostojewskis Schaffen. Doch gleichzeitig unterschied er sich in seiner Auffassung über die Prinzipien eines idealen menschlichen Zusammenlebens und die Wege zu seiner Verwirklichung entschieden von den Vertretern des „jungen Rußland". Daraus ergaben sich die widerspruchsvollen, zugespitzten Beziehungen Dostojewskis zum Sozialismus, zu den ihm bekannten sozialistischen und kommunistischen Lehren und politischen Bewegungen. In Dostojewsikis Terminologie kommen zwei Begriffe vor: p o l i t i s c h e r (an anderer Stelle: praktischer) Sozialismus und t h e o r e t i s c h e r (eigentlich: utopischer) Sozialismus.2 Der politische Sozialismus ist in den Augen Dostojewskis keine Chimäre, sondern eine für ganz Europa reale und drohende 74
politische Kraft, personifiziert durch den vierten Stand, durch das Proletariat, das von der bürgerlichen Revolution von 1789 betrogen und von der siegenden Bourgeoisie zu einer ausgebeuteten Arbeitskraft gemacht worden war. Im Tagebuch eines Schriftstellers (Ein Tagesereignis in Europa) charakterisiert Dostojewski den Kampf zwischen dem vierten Stand und der Bourgeoisie: „An der Tür klopft schon der vierte Stand, und wenn man ihm nicht öffnet, erbricht er die Tür." 3 Die Revolution und der Sozialismus in Westeuropa sind Dostojewskis Überzeugung nach nicht mehr aufzuhalten. Die Arbeiter haben die Internationale gegründet, eine Vereinigung „aller Besitzlosen, aller Arbeiter, aller Armen" und damit eine einheitliche Organisation geschaffen - das ist der Beginn der praktischen Verwirklichung des Sozialismus durch die noch nicht wahrnehmbare Weltrevolution. 4 Die Pariser Commune wird vom Schriftsteller als eine Folge von Kämpfen der besitzlosen Arbeiter und der unteren Schichten mit der Bourgeoisie eingeschätzt, die die Verwirklichung ihrer Ideale zum Ziel haben. Unter dem Begriff „politischer Sozialismus" versteht Dostojewski folglich, einen Sozialismus, der durch einen politischen Umschwung geprägt wird und als eine Revolution der werktätigen Massen mit blutigen Gewalttaten und Aktionen der Ungerechtigkeit verbunden ist. Ein solcher Sozialismus habe bereits „Europa zersetzt", da er unter den Proletariern einen aufnahmebereiten Boden gefunden habe. Da Dostojewski die Unvermeidlichkeit eines Kampfes der westeuropäischen Arbeiter gegen die bürgerliche Lebensform erkannte und im praktischen Sozialismus einen Ausdruck ihrer Bestrebungen sah, lehnte er voller Empörung den revolutionären Sozialismus ab. Der russische Schriftsteller führte zeitweise eine erbitterte Polemik gegen den revolutionären Sozialismus unter den verschiedensten Aspekten : in bezug auf seine Entwicklungsgeschichte, seinen sozialen und philosophischen, seinen moralischen und ästhetischen Gehalt, seine Organisation, Mittel und Ziele. Dieser gesamte Komplex verschiedenartigster Argumente gegen den „politischen Sozialismus" nahm bei Dostojewski den Charakter einer umfassenden historisch-kulturellen Konzeption an, die genetisch in gewissen Zügen mit den Auffassungen der Slawophilen der vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts über die unterschiedlichen 75
Entwicklungswege der Länder Westeuropas und Rußlands verbunden ist. 5 Dostojewski sieht im „politischen Sozialismus" (vor allem dem französischen) mit seinem Programm einer gewaltsamen Vereinigung der Menschheit ohne Christus eine folgenschwere und beängstigende Auswirkung des Katholizismus. Dostojewski identifiziert den Sozialismus der Praxis und der Theorie mit ähnlichen Erscheinungsformen, die vom Katholizismus, von der römischen Kirche, entwickelt worden waren. Im Roman Der Idiot (1868) spricht Myschkin erstmalig den Gedanken aus, der Sozialismus (wie sein „Bruder, der Atheismus") sei „eine Ausgeburt des Katholizismus und des katholischen Wesens". 6 Im Tagebuch eines Schriftstellers wie im 7. Kapitel des Romans Der Idiot kommt Dostojewski ausführlicher darauf zu sprechen, warum (nach seiner Auffassung) der Katholizismus das „Ungeheuer" - den Sozialismus - hervorgebracht habe, warum man erwarten müsse, daß der Katholizismus mit dem Volk besonders mit den Sozialisten, sein Spiel treiben werde, und wie diese zwei Kräfte, diese zwei Strömungen, schließlich miteinander verschmelzen werden. 7 Dostojewski glaubte, daß in der Weltgeschichte zwei entscheidende Kräfte wirken, die die Menschheit vorantreiben. Eine von ihnen ist das schon seit langer Zeit existierende Christentum, die andere Kraft ist ein Produkt der neuen Zeit: der Sozialismus. Das katholische Christentum habe jedoch die wahre Lehre des Erlösers verfälscht und sich die Verführungskünste des Teufels zu eigen gemacht. Es habe sich an die Volksmassen gewandt, sei mit dem politischen Sozialismus ein Bündnis eingegangen und seiner Zielsetzung nach faktisch zum Sozialismus übergegangen. Dieser aber benutze jedes beliebige Banner, selbst den Despotismus, u. a. bereits auch erprobte Mittel und Methoden, die von der katholischen Bewegung mit dem Ziel eines gewaltsamen staatlichen Zusammenschlusses der Menschen entwickelt worden seien. Das Bedürfnis nach einer ökumenischen Vereinigung aller Menschen zu einem Ganzen liege in der eigentlichen Natur des Menschen begründet. Das alte Rom propagierte diese Idee zuerst und beschloß als erste, sie in der Form eines weltweiten Imperiums zu verwirklichen. Diese staatliche Gemeinschaft 76
zerbrach jedoch mit dem Aufkommen des Christentums. D i e Idee als solche jedoch beherrschte auch weiterhin das Denken der „europäischen Menschheit", doch nunmehr als Ideal einer moralischen „Vereinigung der ganzen Welt in Christus". Dieses Ideal habe sich in ein östliches (griechisch-orthodoxes) eine Seelengemeinschaft und einen Brüderbund aller Menschen - und in ein westeuropäisches Ideal - das päpstliche römisch-katholische - gespalten, das zum östlichen Ideal im Gegensatz steht. 8 Der Verfasser der Brüder Karamasow drang tief in das Wesen der Lebensphilosophie der katholischen Kirche ein und formulierte sehr präzise die Ausgangsprinzipien dieser Philosophie. Das beweisen seine Darlegungen im Tagebuch eines Schriftstellers, die Drei Ideen und ganz besonders natürlich die Legende vom Großinquisitor. In ihr wird mit den Worten des 90jährigen Starez, in der Rede des römischen Kardinals sowie des Großinquisitors der Weg zur Vereinigung aller Manschen im Namen ihres gemeinsamen Glückes proklamiert. Wunder, Geheimnis und A u t o r i t ä t - diese K r ä f t e beeinflussen die physisch und seelisch leidgeprüfte Menschheit. N u r mit ihrer Hilfe könne man die Menschen vereinigen, regieren, leiten und eine „neue W e l t " aufbauen. Wahres Christentum ist, wie Iwan Karamasow meint, unvereinbar mit der Idee der Unterjochung des lebendigen menschlichen Geistes durch Gewalt oder Autorität, durch Macht oder Geheimnis, durch Wunder oder das tägliche Brot. Christus kenne keine blinde Verehrung und sklavische Begeisterung, er lasse dem Menschen die Freiheit der Wahl, die freie Entscheidung des Herzens. E r verkünde als Gegengewicht zu einem „satten Bauch" und dem „nährenden Wissen" das „aufklärende Wissen", das den Menschen beflügelt und die Wahrheit eröffnet, wonach „der Mensch nicht vom Brot allein lebt". D e r Katholizismus, der sich mit dem populären Namen Christus ein Alibi geschaffen habe, spekuliere darauf, das Paradies auf E r d e n mit antichristlichen Mitteln zu erreichen - durch D e m u t , durch Angst, Geheimnistuerei und autoritäre Gewalt, durch die Unterdrückung des freien Willens und des Gewissens der Menschen, durch Verführung zum Genuß und zu irdischen Begierden und ähnliches. 77
Doch es erweist sich, daß auch der „politische Sozialismus", diese logische Folgeerscheinung des Katholizismus und dessen natürliche Entwicklungsstufe, ebenfalls zur Degradierung der menschlichen Persönlichkeit führt: er sei ganz und gar „nach katholischer Schablone, mit katholischer Organisation und katholischem Kern"9 aufgebaut. Schigaljows Programm, das von Pjotr Werchowenski unterstützt wird, stellt eine höchst gewissenlose Steigerung der Gebote des Großinquisitors, des Statthalters des Teufels auf Erden („alle Sklaven sind auch in der Sklaverei gleich") dar. Einige Ideen seines Romanes Die Brüder Karamasow kommentierend, bezeichnet Dostojewski in einem Brief an N. A. Ljubimow (1879) Iwan Karamasow als „meinen Sozialisten", der offen bekennt, daß er mit der Ansicht des Großinquisitors über die Menschheit übereinstimme und daß der Glaube an Christus den Menschen weit höher stelle, als er in Wirklichkeit wert sei. Die Frage erhebt sich: „Verachtet oder achtet ihr die Menschheit, ihr, ihre zukünftigen Retter?" 10 Nach Dostojewskis Auffassung ist der Katholizismus antireligiös, und es existiert ein westlicher Sozialismus. Und so, wie sich der Katholizismus, der den Teufel der Versuchung akzeptiert, vom wahren Christus losgesagt habe, so bilden auch „der Sozialismus und das Christentum Antithesen"11. Der „politische Sozialismus" nimmt nach Dostojewskis Überzeugung beim „Brot auf Erden" seinen Ausgang, mit dem Brot versklavt er die menschliche Persönlichkeit und deren moralische Freiheit. Er macht aus dem Menschen einen winzigen Orgelstift, eine Taste einer großen Klaviatur, die Gesellschaft aber verwandelt er in eine „willfährige einheitliche Herde", in einen „Ameisenhaufen". Als eines der wichtigsten Argumente gegen den Sozialismus führt Dostojewski an, daß man eine ideale und gerechte Gesellschaft ohne Christus nicht begründen könne. Ohne ihn werde die Welt zu einem „Kristallpalast" allgemeiner Einförmigkeit, Sattheit und Langerweile, in dem die Seele des Menschen und seine moralischen Bedürfnisse keine Berücksichtigung finden. Der Autor der Romane Der Idiot und Die Dämonen stellt die Sixtinisphe Madonna, die das geistige Prinzip verkörpert, den nur Unbehagen auslösenden Kastenwagen gegenüber, der für die hungernde Menschheit Brot heranschafft.12 In Dostojewskis Werken finden sich sehr 78
häufig dichterische Bilder, mit denen er die. Idee einer allgemeinen abschreckenden Vereinigung der Menschen nach katholischen und sozialistischen Schablonen kennzeichnet - der T u r m v o n B a b y l o n (das zukünftige Reich des Sozialismus) ; der K r i s t a l l p a l a s t (das Gebäude des zukünftigen Lebens, das auf den Prinzipien der Vernunft ui)d der Zügelung individueller Wünsche errichtet worden ist) ; der A m e i s e n h a u f e n (das Wohlergehen auf Erden, das sich auf dem Instinkt der Selbsterhaltung und der Notwendigkeit unermüdlicher Arbeit um des eigenen Vorteils willen gründet). Der „politische Sozialismus" fängt nach Ansicht Dostojewskis mit der Umgestaltung der Menschheit am falschen Ende an. Er beginnt nicht bei den Fragen der Moral, nicht mit den Problemen einer Wandlung der Seele des Menschen, sondern sogleich mit der Organisation einer Phalanstère, einer Art sozialistischer Kommune, mit Fragen der Neuverteilung des Eigentums, mit der Organisation der Arbeit und Lebensweise, der Zerstörung der sozial-ökonomischen Beziehungen, mit der Besitzergreifung der materiellen Güter (des „Stückchens Brot") durch die hungrigen Arbeiter. In Zusammenhang damit macht Dostojewski auch seine bekannte ironisch-sarkastische Bemerkung darüber, daß „das Böse im Menschen tiefer steckt, als es die Spezialärzte annehmen"13 - nicht in der Struktur der Gesellschaft, sondern in der Seele des Menschen. Die ganze Formel vom „politischen Sozialismus", so schreibt Dostojewski in seinem Artikel Eine der modernen Unterstellungen, bestehe „vorläufig nur im Bestreben . . ., allerorts die Besitzenden durch die besitzlosen Klassen ausplündern zu lassen, und dann: ,komme, was kommen mag'." Denn, so bemerkt der Schriftsteller, „es steht eigentlich noch nicht fest, was in der Zukunft die Gesellschaft ersetzen soll, es steht nur fest, daß die gegenwärtige Gesellschaft zusammengestürzt ist". 14 Von Interesse ist in diesem Zusammenhang auch der Dialog zwischen einem Bourgeois und einem Proletarier, der von Dostojewski in seinem Artikel Ein Tagesereignis in Europa angeführt wird. Auch hier handelt es sich darum, daß die moralischen Aspekte der Struktur der zukünftigen Gesellschaft in den Überlegungen der Sozialisten keine Berücksichtigung finden und durch Wissenschaft und materiellen Vorteil, durch 79
Knüppel und durch Blutbad, im Namen des Glücks der Menschheit, durch Vernichtung von hundert Millionen Bourgeois, die sich nicht mit den Werktätigen verbrüdern wollen, ersetzt werden. Dostojewski meint, wenn er vom „politischen Sozialismus" spricht, vor allem den Anarchismus Bakunins, der in den Kreisen der internationalen und russischen Befreiungsbewegung sehr populär war. In einem gewissen Sinne ist eine derartige Identifizierung begründet, 1 5 wenn man berücksichtigt, daß dem Schriftsteller in erster Linie Tatsachen vor Augen standen, die die Praxis und Ethik der Vertreter gerade dieser Richtung (zum Beispiel der Netschajew-Gruppe) charakterisierten. In dem Artikel Gedanken über Europa spricht Dostojewski davon, d a ß der Konkurrent und Feind des gesamten bürgerlich-republikanischen Europas der Kommunismus sei, der „in seinen Grundlagen nicht nur jede Regierungsform, sondern auch den Staat selbst, auch die moderne Gesellschaft verneint" 1 6 . D e n Charakter einer der Hauptpersonen des Romans Die Brüder Karamasow erläuternd, erklärt Dostojewski 1879 in einem Brief an N. A. Ljubimow, d a ß er die Uberzeugungen des Helden als eine „ S y n t h e s e des zeitgenössischen russischen Anarchismus" auffaßt. D a n n fährt der Schriftsteller fort: „ D e r ganze Sozialismus entstand und ging aus von der Negierung der Bedeutung der historischen Wirklichkeit und führte bis zu einem Programm der Zerstörung und des Anarchismus." 1 7 Selbstverständlich identifizierte der Schriftsteller den Sozialismus „in der russischen Ausformung" auch mit dem Nihilismus, mit der Lehre von der Notwendigkeit, „alles zu erschüttern". 1 8 D e n wissenschaftlichen Sozialismus kannte Dostojewski nicht, obgleich wir bei ihm auch auf Reminiszenzen über die Internationale und Marx stoßen. Wenn auch Herzen und danach Gleb Uspenski begannen, die prinzipielle Vorrangstellung der kommunistischen Lehre von Marx vor allen übrigen „Theorien einer zukünftigen Glückseligkeit" (die Theorien Bakunins und der Soziologie der Volkstümler usw.) zu erkennen, so konnte Dostojewski, der den wissenschaftlichen Sozialismus vollkommen außer acht gelassen hat, derartige für die weitere gesellschaftliche Entwicklung bezeichnende Gegenüberstellungen nicht treffen. E r begriff auch nicht den Unterschied 80
zwischen dem revolutionär-demokratischen Sozialismus Herzens und Tschernyschewskis und dem zeitgenössischen kleinbürgerlichen Sozialismus, deshalb blieb er sozusagen „Aug in Aug" bei dessen verschiedenartigen Erscheinungsformen stehen. Unter diesen Formen waren fast immer der Anarchismus oder der Kasernengeist und ein „mechanischer" Reformismus vertreten. Für Dostojewski bedeutete die Pariser Commune durchaus keinen historischen Fortschritt. Er sah in ihr nichts Neues („im Grunde genommen ist alles wie bei Rousseau"). Als Versuch einer praktischen Gesellschaftsordnung auf neuen Grundlagen warf die Pariser Commune eine für ihn grundsätzliche und bedrückende Frage auf, die ihn sein Leben lang quälte: Was geschieht, wenn sich das sozialistische und atheistische Europa des „vierten Standes" plötzlich als fähig erweist, mit Hilfe der Vernunft und der Erfahrung, ohne Christus und selbst ohne die idealste Kirche, sich zu etablieren? In solch einem Fall wird die Notwendigkeit eines Erlösers widerlegt, verliert das russische „neue Denken" über die Rolle der „russischen Rechtgläubigkeit", über das Wesen des „russischen Sozialismus" jeglichen Wert, d. h. alles, was nach Dostojewskis eigenen Vorstellungen dem an seinen Widersprüchen zugrunde gehenden Westeuropa die Stirn bieten und der Welt den Weg zu ihrer Rettung weisen muß. Doch die Pariser Kommune wurde besiegt. Diese Niederlage, so schien es Dostojewski, bestätigte nur seine Auffassung, wonach die westliche Zivilisation - sowohl der Katholizismus, der Protestantismus wie auch der Sozialismus - unfähig seien; die Welt umzugestalten. Die Pariser Kommune erweist sich letztlich für Dostojewski nicht als die Morgenröte der Zukunft und als eine Prophezeiung, sondern als das letzte Wort einer westeuropäischen Zivilisation ohne Christus, als ihren Todeskampf. Ebenso wie die Pariser Kommune erlitten auch das russische Westlertum, die von Belinski ausgehenden revolutionär-demokratischen Ideen und die Ideen des russischen Nihilismus und Sozialismus eine Niederlage. Nach Dostojewskis Annahme hätte sich Belinski wahrscheinlich sogar von der Pariser Commune losgesagt und sie als Abweichung bezeichnet, obgleich objektiv, so hebt der Schriftsteller hervor, der von dem Kritiker gewählte Weg
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Dostojewski
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diesen unvermeidlich zur Pariser Commune und zu Felix Pyat 19 führen mußte. Der europäische Sozialismus habe während seiner gesamten Entwicklungsgeschichte vom Paradies auf Erden geträumt, habe jedoch, wenn er vom Traum zur Tat überging (wie in den Jahren 1848/1849 oder 1871), seine ganze Ohnmacht offenbart und sei unfähig gewesen, der Welt ein entscheidendes Wort zu sagen. Deshalb beschränkt er sich auf das „Köpfeabschneiden". Das Bild der „brennenden Tuilerien" (oder der „Brand von Paris") ging in die Romane und in die Publizistik Dostojewskis ein als Symbol einer sinnlosen, ungeheuerlichen Zerstörung. Diese Zerstörung erschien ihm unmoralisch. „Der Versuch mißlang", sagt der Verfasser des Tagebuchs eines Schriftstellers, „so muß die Welt zugrundegehen, denn die Kommune steht ihnen höher als das Glück der Welt und Frankreichs". So definiert Dostojewski die Unvereinbarkeit der Handlungen der aufständischen Proletarier mit der Moral und Ästhetik. Wo jedoch ist der eigentliche Drehpunkt für die Deutung des Wesens des „politischen Sozialismus" bei Dostojewski zu finden? Der Autor der Winterlichen Bemerkungen über sommerliche Eindrücke (1863) gelangte zu einer v ö l l i g e n Negierung der kapitalistischen Welt, was den A u s g a n g s p u n k t seines gesamten ideellen Suchens darstellt. Eine derartige Grundhaltung, die einen relativ rationalen Kern aufweist, war die Ursache für die grenzenlose Schwäche der soziologischen Anschauungen des Schriftstellers, und war die entscheidende Quelle des Illusionismus und des Utopismus in seinem progressiven Programm. Diese Grundhaltung trübte das Bewußtsein des Schriftstellers durch einen ausweglosen tragischen Skeptizismus, sobald er die Geschichte und zeitgenössische Situation in Westeuropa beurteilte, und führte zu einer Täuschung. Voller Zorn und Schonungslosigkeit negierte Dostojewski ohne jegliche Vorbehalte das triumphierende bürgerliche Europa, lehnte aber auch gleichzeitig das revolutionär-sozialistische Europa ab. Die westeuropäische Bourgeoisie korrumpierte und demoralisierte in den Augen Dostojewskis alles und alle - die Herren und die Arbeiter, die Kapitalisten und die Sozialisten, die Atheisten und Gläubigen, ihre seelische Ver82
fassung und ihre Philosophie, ihre Bestrebungen und ihre Ideale. In der Epoche Dostojewskis wurde der Katholizismus zur bürgerlichen Religion. E r sei vom bürgerlichen Geist erfüllt und bringe einen so schamlosen Betrug wie den „katholischen Sozialismus" hervor. D i e von Dostojewski geschaffene Gestalt des Großinquisitors könnte man sich sehr leicht nicht nur in der Rolle eines anarchistischen Sozialisten vom Schlage Bakunins, als einen Verschwörer, sondern auch als einen Ideologen des westlichen „christlichen Sozialismus" vorstellen. 2 0 Für Dostojewski verkörpern Sozialismus und Revolution, die Politiker des Sozialismus und der Revolution sowie deren Lebensphilosophie nicht eine neue und strahlende zukünftige Welt, nicht die Hoffnung der Menschheit, sondern nur die Fortsetzung der gleichen abstoßenden bürgerlichen Welt. Dostojewski glaubte sogar, daß auch die Revolutionäre und Sozialisten „für den Götzen Baal arbeiten", ihm den Weg bereiten, an seinem Triumph teilhaben oder davon träumen, dessen „Stelle einzunehmen", somit zwar die Dekoration zu verändern, doch das Wesentliche unverändert zu belassen. Eine derartige willkürliche Verquickung zweier entgegengesetzter sozialer Welten und Kulturen (der Welt der Bourgeoisie und der Welt des Sozialismus) und deren unterschiedlose Verurteilung fanden eine gewisse Begründung darin, daß der anarchistische Sozialismus vom Schlage Bakunins, der Sozialismus der Terroristen, der russische „Nihilismus" in seinen vulgären Erscheinungsformen, es dem Künstler gestatteten, sie der bürgerlichen Moral zuzurechnen. J a , im Grunde genommen besaß auch der Anarchismus eine analoge Natur und war der bürgerlichen Welt ähnlich. D i e „Sinnestäuschung" führte zur Vorstellung von einer neuen Geschichte der „westlichen Menschheit" als einer Art Verkleidungskomödie, wobei der Platz der adligen Ritter von den Bourgeois eingenommen wurde, deren Platz wiederum von den Proletarien. Vergossen wurde ein Meer an Blut, aber das „Paradies auf Erden" wurde dennoch nicht errichtet. Diese Erkenntnis verband Dostojewski mit einer einseitigen pessimistischen Beurteilung der Ergebnisse des revolutionären Kampfes in Westeuropa. Die Revolutionen von 1789 bis 1794, von 1848 und 1871 brachten nicht den Sieg der sozialen Gerechtigkeit, die „Freude einer allgemeinen Verbrüderung".
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Nach der Großen Französischen Revolution triumphierte die Dostojewski verhaßte bürgerliche Welt, die die heiligen Ideen der Freiheit begrub, nachdem sie diese für Napoleon und Rothschild eingetauscht hatte, für eine neue Sklaverei der Mehrheit und für die Herrschaft einer Minderheit. D i e revolutionären Erschütterungen um die Mitte des 19. Jahrhunderts, die mit dem Gegenschlag der Reaktion, mit dem Zerfall verschiedener Formen des vormarxistischen Sozialismus, mit dem Überlaufen der „Revolutionäre" und „Sozialisten" in das Lager „der Blutbefleckten" endeten, hatten für die Menschheit das Ideal eines allgemeinen Glückes in weitere Ferne gerückt und sie in noch größere Abhängigkeit von der bürgerlichen egoistischen Lebensphilosophie gebracht, als es sich die besten Köpfe Westeuropas und Rußlands vorgestellt hatten. Unter diesen Bedingungen konnte es scheinen (und es erschien nicht nur allein Dostojewski so!), als ob die gesamte Geschichte und geistige Kultur Westeuropas nach 1789 schwerwiegender Irrtum und Lüge war und sie nicht in der Lage sei, die großen Fragen des menschlichen Lebens zu lösen. Dies betrifft gleichermaßen die Bourgeoisie wie das Proletariat. Beide bereiten sich auf neue unvermeidliche gegenseitige Auseinandersetzungen vor und beide sind gleichermaßen im Unrecht, weil sie sich von ein- und derselben Losung leiten lassen: „Verschwinde und räume mir deinen Platz ein". Diesen Leitspruch hatte die Bourgeoisie auf ihr Banner im Kampf gegen den Feudalismus geschrieben. Das Proletariat seinerseits werde, sobald die Zeit gekommen ist, unter der gleichen Kampflosung die Bourgeoisie „verdrängen". Demnach verfolgten angeblich die Losungen und Handlungen, Deklarationen und Ziele des Antipoden der Bourgeoisie nicht das Bild des Aufbaus, sondern vorerst der Zerstörung des Alten und Unterdrückung der herrschenden Klasse, der Gewalt und der Diktatur. Aber das Proletariat proklamiert seine Kampfziele ebenfalls, wie es zu ihrer Zeit auch die kämpfende Bourgeoisie getan hatte, im Namen des Glückes der Menschheit. Eine derartige Lage der Dinge schließe jegliche Hoffnung auf eine allgemeine Verbrüderung aus und führe letztlich dazu, daß sowohl die eine als auch die andere Seite „an ihren eigenen Sünden" untergeht. 21 Dostojewski hielt es für dringend erfor-
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derlich, als Gegengewicht zum tragischen Ausgang der Entwicklung der westlichen Welt „eine russische Lösung der Frage" zu finden, um Rußland zu retten und Westeuropa vom bourgeoisen Wesen zu heilen. Dostojewski erschienen die Erfahrungen der revolutionärsozialistischen Bewegung in Rußland ohne jeden Wert. D i e Revolutionäre aus den Kreisen der russischen Intelligenz, die den Sozialismus predigten und dahin mit dem „Revolver" gelangen wollten, wurden vom Volk nicht verstanden und abgelehnt, von einem Volk, das auf seine ewige Wahrheit vertraute und nach des Schriftstellers Ansicht voll Widerwillen dem Kampf der Revolutionäre zusah, wie einer „herrschaftlichen Erfindung". 2 2 D i e persönlichen tragischen Erfahrungen Dostojewskis als Anhänger der sozialistischen Bewegung gaben ihm Veranlassung, äußerst pessimistische Folgerungen zu ziehen. Diese Erlebnisse bestimmten auch seine prinzipielle antirevolutionäre und antisozialistische Einstellung. Ja, die gesamte Situation des den kapitalistischen Weg beschreitenden, doch zur Hälfte noch an feudalistischen Formen der Leibeigenschaft festhaltenden Rußlands - Chaos und Verfall, moralische Zersetzung und Verwirrung der Geister, die Leiden von Millionen und aber Millionen, das allgemeine Durcheinander - zwangen Dostojewski, sich immer wieder von neuem bewußt zu werden, daß auch Rußland an einem „Endpunkt angelangt ist und über einem Abgrund schwebt". Der Schriftsteller verschloß vor den Tatsachen einer europäischen Proletarisierung" und einer kapitalistischen Entwicklung in Rußland nicht die Augen. Doch es schien ihm, daß tief im russischen Volk eine „ h ö h e r e Idee" verborgen sei und sich der Glaube an seine besondere Bestimmung herausbilde. D e r Schriftsteller hielt es für möglich, daß Rußland die bürgerlich-kapitalistische Entwicklung umgeht. Das russische Volk, so glaubte Dostojewski, lehnte den politischen, das heißt den revolutionären, westlichen Sozialismus ab, der die „Verbrüderung der Menschen" gewaltsam durchführte. D e r „russischen Lösung der Frage" jedoch lag eine ethische, d. h. eine christliche Auffassung zugrunde. Der Ausgangspunkt dabei war nicht der Kampf um Veränderung der sozialökonomischen Struktur (selbst die idealste Umgestaltung der Gesellschaft beseitigt nicht das Böse), sondern die
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Erkenntnis, daß die Idee der Verbrüderung in der Natur des Menschen zu suchen sei. Dem „politischen Sozialismus" sowie der gesamten bürgerlich-kapitalistischen Zivilisation (hier sind alle Menschen Besitzer und Egoisten, die voneinander abgesondert leben) konnte Dostojewski für seine „russische Lösung der Frage" somit nichts entlehnen. Anders verhielt es sich mit dem „theoretischen Sozialismus". Dieser besaß verschiedene Seiten, die der Schriftsteller sehr schätzte. Den „theoretischen" oder utopischen, träumerischen Sozialismus beurteilte Dostojewski anders als den Sozialismus, der zur Tat, zur revolutionären Praxis der Werktätigen, zur Rebellion und Verschwörung der Anarchisten und Nihilisten übergegangen war. Der Schriftsteller hatte in seiner Jugend selbst eine Zeit leidenschaftlicher Begeisterung für die sozialistischen Utopien durchlebt. Diese Periode bezeichnete er, der „große Träumer", als „den herrlichsten Augenblick in meinem ganzen Leben". Als er sich daran im Zuchthaus erinnerte, faßte er wieder neuen Mut. Später, als sich der Schriftsteller auf Grund seiner schweren und qualvollen sibirischen Erlebnisse von der Begeisterung seiner Jugend lossagte, erinnerte er sich an diesen „Augenblick" mit poetischer Begeisterung. 23 Der politische, gewalttätige Sozialismus besitzt nach Meinung Dostojewskis wenig Ideale. Seine Hauptaufgabe besteht in der Zerstörung und der Besitzergreifung des Eigentums. Der „politische Sozialismus" kennt nach Ansicht Dostojewskis keinen echten Humanismus, obgleich er, wie auch die Lehre des Großinquisitors, ebenfalls von der Liebe zum Menschen ausgeht, von der Liebe zu den Armen und Ausgebeuteten. Doch alles endete in der einen oder anderen Form der Demütigung des Menschen, einer Mißachtung seiner Möglichkeiten. In den Winterliclxn Betnerkungen über sommerliche Eindrücke verspottet der Autor die verschiedenartigsten Formeln eines „tätigen" Sozialismus gerade von diesem Aspekt aus, wobei er sich bemüht, ihr antihumanistisches Wesen (im Kapitel Versuch über den Bourgeois) nachzuweisen. Für den „theoretischen Sozialismus" nahmen Dostojewski die Orientierung auf die Zukunft ein, das Interesse am moralischen Verhalten des Menschen, die Nähe zum Christentum, allgemeine Menschlichkeit, 86
die friedlichen Wege zur Verwirklichung einer allumfassenden brüderlichen Liebe und Harmonie. Das war eine Art h u m a n i s i e r t e Religion. Bekannt ist, wie hoch Dostojewski die Tätigkeit von George Sand (Der Tod der George Sand, Einige Worte über George Sand) schätzte. Er hörte aus ihrem Schaffen ein neues Wort heraus, das jene anfänglich positiven, doch inzwischen zum Betrug gewordenen Errungenschaften (Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit) verwarf, um derentwillen so viel Blut vergossen worden war und mit denen die Große Französische Revolution geendet hatte. Die Idee der Erneuerung der Menschheit wurde weitergeführt und auf neue Grundlagen gestellt. George Sand „ist eine der hellsehendsten Vorahnerinnen . . . einer glücklicheren Zukunft, die die Menschheit erwartet". „Sie begründete ihren Sozialismus, ihre Uberzeugungen, Hoffnungen und Ideale auf dem sittlichen Gefühl des Menschen, auf dem geistigen Durste der Menschheit, auf ihrem Streben zur Vollkommenheit und Reinheit, und nicht auf der Not der Ameisen." 24 Dostojewski entdeckte in den Werken von George Sand eine Übereinstimmung mit einer der Grundideen des Christentums: Die Schriftstellerin glaubte an die menschliche Persönlichkeit, würdigte sie, anerkannte ihre Freiheit und begriff, daß „der Mensch nicht nur von Brot allein lebt". Die gesamte Charakteristik der George Sand ist gegen den „politischen Sozialismus" gerichtet und macht deutlich, was den Schriftsteller dem theoretischen Sozialismus nahebrachte. Dostojewski erkannte selbstverständlich den Zusammenhang des praktischen, revolutionären, materialistischen Sozialismus mit dem, wie er sich ausdrückte, träumerisch utopischen Sozialismus. In seinen historischen Theorien zeigte er, wie letzterer zuweilen den praktischen Sozialismus vorwegnahm und den Boden für ihn vorbereitete. Er bekannte, daß er selbst ein A n h ä n g e r Netschajews (nicht Netschajew selbst!) hätte werden können, als er durch Belinski „in die ganze H e i l i g k e i t der künftigen kommunistischen Gesellschaft" 25 eingeweiht worden war. Und dennoch schreckte eine derartige Kontinuität Dostojewski nicht ab von der Suche nach einem Paradies auf Erden, von den Träumen über die Menschen, die in diesem Paradiesgarten wohnen. 26 87
Dostojewski fühlte sich seiner geistigen N a t u r nach leidenschaftlich zu den Ideen sozial-ethischer Reformversuche, zur Suche nach Wegen der Rettung der Menschheit, zur praktischen Einflußnahme auf den Gang des Lebens in Übereinstimmung mit seinem Ideal hingezogen. D a s „Goldene Zeitalter" in der Vergangenheit der Menschheit oder Träume über seinen Anbruch in der Zukunft beherrschten hartnäckig Vernunft und Herz des Schriftstellers und lenkten seine schöpferische Energie, schärften seine Weltsicht und bestimmten auch seine Kritik an der Wirklichkeit. 2 7 W . Aleksandrow hebt mit voller Berechtigung hervor, d a ß das Bild des „Goldenen Zeitalters" im Schaffen Dostojewskis keine Zufälligkeit bedeutet. „Hier", so unterstreicht der Verfasser, „liegt der Schlüssel zur schöpferischen Methode des Schriftstellers, zu seinem gesamten Bildsystem verborgen". 2 8 Diese grundlegende Besonderheit der Beziehung zur Welt gewann nach der vom Schriftsteller durchlebten geistigen Krise und nach einer Überprüfung seiner Position und Weltanschauung feste Gestalt und trat offen zutage. D i e Frage nach einer Neugestaltung der Welt stellte in der Lebensphilosophie Dostojewskis eines der größten und brennendsten Probleme dar, das nach seiner Überzeugung bislang von der sozialen und intellektuellen Praxis der Menschheit noch nicht gelöst worden war. D e r geniale Schriftsteller, der scharfsinnige und selbständige Denker, der sich seiner unzerstörbaren Verbundenheit mit Rußland, mit dem Elend und Leid seines Volkes und dem qualvollen Suchen der russischen Intelligenz bewußt war, besaß den Mut, als Künstler die überaus schwierige Rolle eines Propheten zu übernehmen. D a s war kein Verrat an der Berufung des Künstlers, kein falscher Schritt, kein krankhafter Ausdruck einer übertrieben hohen Meinung von sich selbst, kein Zeichen des Stolzes oder des eitlen Wunsches, sich in den großen Chor der verschiedenartigsten Retter der gequälten Menschheit einzureihen. N e i n ! Dies alles machte das Pathos seiner schöpferischen Tätigkeit aus, machte ihren eigentlichen Sinn aus, um dessentwillen der bedeutende russische Künstler lebte und arbeitete. E r empfand und war sich auch dessen bewußt - ein inneres Bedürfnis, von objektiven und subjektiven Faktoren diktiert, sein gewichtiges W o r t über das Schicksal der Menschheit zu sagen. Dieses Be-
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streben, das vielen hervorragenden Schriftstellern der russischen Literatur eigen ist, war bei Dostojewski von einer besonderen Leidenschaft getragen, stellte für ihn ein Programm dar und wurde in seinem Bewußtsein zu einem höchst aktuellen Problem. In seiner begeisterten Hingabe an die Ideen einer Umgestaltung der Welt und des Menschen kann man Dostojewski nur mit Tschernyschewski, dem überragendsten Vertreter des revolutionären utopischen 1 Sozialismus in Rußland, vergleichen. Doch der Verfasser des Romans Der ]üngling ging an die Lösung der Probleme prinzipiell von einer anderen Seite heran. Halten wir jedoch fest, daß dies die andere Seite des gleichen edlen Wunsches war, eine allseitige geistige Brüderlichkeit und materielle Glückseligkeit aller Menschen und Völker, den Triumph ihrer Vereinigung und eines harmonischen Gemeinschaftslebens zu erreichen. Deshalb wandte sich Dostojewski, der als Antipode Tschernyschewskis ein zorniger und ergrimmter Gegner seiner sozialistischen Lehre war, immer wieder den Grundideen dieser Lehre zu, wobei er sich deren unvermeidlicher Anziehungskraft und Popularität bewußt war. Aber umso verbissener bekämpfte er sie, als ob er befürchten müsse, keine überzeugenden Argumente gegen die revolutionärsozialistischen Programme zu finden. Die Gründe des starken Interesses Dostojewskis für die Probleme einer idealen Ordnung des menschlichen Daseins, seine starke Hinwendung zum Sozialismus und die gleichzeitige Abkehr von ihm sind mannigfaltiger Art. Es versteht sich, daß man bei den Ursachen für Dostojewskis Sympathien für ein „Goldenes Zeitalter" vor allem auf die soziale Natur und die Originalität der ideologischen Position des Schriftstellers hinweisen muß, der im Namen der Erniedrigten und Beleidigten, im Namen all jener auftrat, die nach einem Ausspruch Gorkis, von der Ausbeuterwelt a n a r c h i s i e r t worden waren. Ein Künstler mit einer derartigen gesellschaftlichen Einstellung nahm die Ungerechtigkeit der ihn umgebenden Welt mit besonderer Schärfe wahr, und suchte beharrlich nach Mitteln zur Rettung und zum Heil der Menschheit. In Betracht zu ziehen ist auch unbedingt die Tatsache, daß der Autor der Armen Leute sich zu Beginn seiner Tätigkeit mit glühender Begeisterung den Idealen des utopischen Sozialismus 89
verschrieben hatte. Später sagte er sich von diesen Idealen los und polemisierte beständig gegen sie. Der Schriftsteller war jedoch gezwungen, den zeitgenössischen Sozialismus als ein wichtiges Tagesereignis zu akzeptieren, als eine Lehre, zu der sich ikraft der unerbittlichen Gesetze der kapitalistischen Wirklichkeit alle Ausgebeuteten und von den bürgerlichen Revolutionen Betrogenen hingezogen fühlten. Der Schriftsteller sah, wie alle diejenigen, die den richtigen Lebensweg suchten, sich sowohl Christus als auch dem Sozialismus, sowohl dem Kloster als auch der Revolution zuwandten. Letzten Endes schwankte auch Dostojewski selbst zeitweise zwischen dem einen und dem anderen hin und her. Doch es handelt sich nicht nur darum: Seine „Weltharmonie", seine „ökumenische Kirche", konstruiert der Schriftsteller nicht als ein bestimmtes sozialpolitisches und praktisches Programm, sondern als humanitäre Lehre, wobei er sich nicht nur auf das ideell-moralische Arsenal des Christentums beschränkt, sondern auch auf bestimmte Ideen des utopischen Sozialismus stützt. So setzt es nicht in Erstaunen, wenn einige Zeitgenossen Dostojewskis, besonders aus Kreisen der ideologischen Reaktion, die nicht ohne Grund von Argwohn gegen das Suchen des Schriftstellers erfüllt waren, ihn als einen Sozialisten bezeichneten und in seinem Humanismus Anklänge an die Lehren der französischen utopischen Sozialisten und der russischen Nihilisten entdeckten. Dies waren keineswegs Übertreibungen. Auch die Marxisten fanden in den Werken Dostojewskis Spuren des Sozialismus. Lunatscharski bestätigte in seinem Aufsatz Dostojewski als Denker und Künstler nicht ohne Grund, daß der Verfasser der Aufzeichnungen aus einem Totenhaus „seine inneren Bindungen an die sozialistische Wahrheit" nicht gänzlich gelöst habe, obwohl er zur gleichen Zeit „den materialistischen Sozialismus jeglicher Verdammung" 29 auslieferte. Dostojewskis Schaffen als Künstler und seine Urteile als Denker sind eng miteinander verflochten, wobei er die Wege der Menschheit in gewaltigen historischen Maßstäben vergegenwärtigt. In der Phantasie des Schriftstellers bildete sich eine historische und. sozial-ethische Konzeption heraus, die die g e s a m t e Geschichte der zivilisierten Menschheit in einem Brennpunkt zusammenfaßte. Das von der Menschheit verlorene 90
„Paradies", die ersten Jahrhunderte des Christentums, das 19. Jahrhundert, das aktuelle Geschehen sowie die mögliche Rückkehr auf neuer Grundlage zu einem zukünftigen „Goldenen Zeitalter" ergaben ein Gemälde der historischen und prähistorischen Zeit in den Romanen Dostojewskis und in seinem Tagebuch eines Schriftstellers. Diese Zeitgemälde (Bilder der Welt, der Konzeption und der Prophezeiungen über das Schicksal der Menschheit) nahmen auf verschiedenartigste Weise konkrete Gestalt an - am häufigsten in der Form des Traumbildes, das in den sozialistischen Utopien, in den Heiligenleben, der Folklore und den Werken der russischen Klassiker weit verbreitet war. Solcherart sind die symbolischen Träume Raskolnikows, Stawrogins und Wersilows. In anderen Fällen, so im Tagebuch eines Schriftstellers, wurden die obengenannten Bilder mit den künstlerischen Mitteln der kritisch-publizistischen Skizze herausgearbeitet, nahmen die Form künstlerischpublizistischer Reflexionen oder der Erinnerungen oder auch einer originellén lyrischen Abschweifung an ( D a s Goldene Zeitalter in der Tasche, Der Tod der George Sand, Einige Worte über George Sand, Land und Kinder). In das Tagebuch eines Schriftstellers fügte DQStojewski seine phantastische Erzählung Der Traum eines lächerlichen Menschen ein. Schließlich nahm das Bild der Welt im künstlerisch-publizistischen Symbol konkrete Gestalt an. So steigerte sich der Künstler- in dem realistischen Roman Die Brüder Karamasow bis zum romantischen Symbol, indem er die geniale Legende vom Großinquisitor schuf. Dieses Symbol ist verdichtet und bringt mit äußerster Offenheit die Auffassung des Schriftstellers vom Wesen der Lebensphilosophie zum Ausdruck, die - von den Völkern Westeuropas auf der Grundlage einer katholischen Interpretation des Christentums entwickelt - der wahren Lehre von Christus widersprach und daher geeignet war, auch zu einer Leitidee des Sozialismus zu werden. Welcher Platz und welche Bedeutung kommt den utopischen Elementen im Schaffen Dostojewskis zu? Worin bestehen die grundlegenden Besonderheiten des Inhalts seiner Utopie? Das Bestreben Dostojewskis, Wege zur Brüderlichkeit der Menschen, zur „Sammlung der Seelen" zu finden und zu weisen, ist keine bloße oder abstrakte Predigt, kein bloßes Anhängsel, 91
das ohne weiteres von seinen künstlerischen Schöpfungen loszulösen wäre. Diese Bemühungen nehmen bei ihm immer, wie wir bereits feststellten, im „Bild der Welt" konkrete Gestalt an, das zu gegebener Zeit in das Gewebe der Erzählungen eingeflochten wird. Viele Werke Dostojewskis sind von utopischen Motiven durchwoben, die vom lebendigen Leben, das in künstlerischen Bildern verkörpert wurde, nicht zu trennen sind. Damit will der Schriftsteller zu verstehen geben, daß seine Gedanken über die Zukunft nicht irgendwo außerhalb des zeitgenössischen Lebens, nicht außerhalb der realen Menschen, außerhalb der Geschichte und nicht selbständig als irgendeine Theorie oder Lehre existieren, wie dies für die weltfremden Theoretiker, die haltlosen Träumer unter den Sozialisten charakteristisch war. Seine Betrachtungen über die Wege der Menschheit in die Zukunft, seine Vorstellungen von einem „Goldenen Zeitalter" gehen vom Primat des Gefühls und des wirklichen Lebens gegenüber der Vernunft, den Prinzipien, Theorien und abstrakten Träumereien aus. Im Epilog zum Roman Schuld und Sühne (1866) wird vom Beginn der seelischen Erneuerung Raskolnikows gesprochen. Als antizipierendes Moment dieser Wandlung fungieren die phantastischen und sinnlosen Träume, die Trugbilder und unmittelbaren Visionen Raskolnikows. Nicht zufällig wurde gerade hier diese Widerspiegelung und Ausdrucksform der psychischen Verfassung des kranken Raskolnikows ausgewählt, der zutiefst leidet, solange er den wahren Weg des Lebens nicht kennt. Diese künstlerischen Mittel gestatteten dem Künstler, nicht nur zu verstehen zu geben, an welcher Krankheit Raskolnikow in den ersten Monaten seines Aufenthaltes im Zuchthaus leidet, sondern auch hervorzuheben, daß die allmächtige Vernunft, die leidenschaftslose Dialektik, die unerbittliche Logik, die kritische Analyse, die ihn faszinierenden Ideen und verstandesmäßig entwickelten Vorstellungen, die geltenden Regeln des täglichen Lebens, die Ideale seiner geistigen Welt - all das, was ihn ins Zuchthaus gebracht hatte - ihre Macht über ihn zu verlieren beginnen und anderen seelischen Impulsen Platz machen: der Elementarkraft unmittelbarer Gefühle. Es ist festzuhalten, daß sich bei Dostojewski eine eigene Vorstellung vom Wesen und von den Formen der Traumbilder 92
und über die durch sie gegebenen Möglichkeiten für den Künstler herausgebildet hatte. Aus der Natur der Traumbilder leitete der Schriftsteller für sich entscheidende Mittel und Methoden der Darstellung des Lebens ab, insbesondere des instinktiven Suchens des menschlichen Geistes. Dies alles steht in harmonischem Einklang mit der gesamten ideell-künstlerischen Konzeption Dostojewskis und bestimmt in vielem die Originalität seiner schöpferischen Methode. Der Traum verkörpert nach seiner Auffassung Wunschträume des Herzens, den freien Flug der Phantasie und die Vorausschau, durch ihn werden auf anschauliche Art und Weise geistige Welten und Abgründe sowie zeitliche und räumliche Dimensionen erschlossen, die dem gewöhnlichen Denken, der Vernunft allein nicht zugänglich sind. Im Traumbild durcheilt der Mensch Raum und Zeit, setzt sich hinweg über die Gesetze des Seins und des Verstandes und beschäftigt sich intensiv mit dem Heißersehnten und Gewünschten, wovon „das Herz träumt". Dieses Heißersehnte jedoch erscheint am häufigsten in Gestalt eines anderen Lebens, eines anderen Menschen. Trotz aller Phantastik sind derartige Visionen und Offenbarungen voller realer Details. Dies alles bietet ausgezeichnete Voraussetzungen für die Gestaltung von Träumen über das vergangene und das künftige „Goldene Zeitalter" der Menschheit. Zum ersten Mal tauchte ein derartiges Traumbild im Epilog des Romanes Schuld und Sühne auf. Raskolnikow, so sagt der Autor, „konnte nur fühlen". Weiter heißt es dann: „An die Stelle des theoretischen Denkens war das wirkliche Leben getreten, und ganz neue Triebe begannen sich in seiner Seele zu regen." 30 Die phantastischen Halluzinationen Raskolnikows, seine Visionen sind erfüllt von dieser Elementarkraft. Sie besitzen teilweise etwas Krankhaft-Sinnloses, nicht zu Erfassendes, Unklares, Phantastisches. In dieser Hinsicht stehen sie im Gegensatz zu den mathematisch präzisen Träumen der Wera Pawlowna in Tschernyschewskis Roman Was tun? Die Visionen der Heldin können hier nur bedingt als Träume bezeichnet und müssen als eine Methode betrachtet werden, die es dem Autor gestattet, ein greifbares Bild der Zukunft zu zeichnen und sein Programm für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft zu verkünden. Dostojewski dagegen 93
benut2t den Traum mit allen seinen spezifischen Besonderheiten, wobei er zuweilen zur Halluzination und phantastischen Vision, zuweilen sogar zur Prophezeiung und Voraussicht wird. D e r Traum wird wiederholt zum symbolischen Bild. Dieses B i l d erwächst organisch aus der T i e f e der Seele, aus der Vergangenheit des Helden, greift wichtigen Momenten einer Wende in seinem Geistesleben voraus oder begleitet sie. E r ist deshalb von den realen Geschehnissen nicht zu trennen und verschmilzt gleichsam mit der realen Wirklichkeit. D e r kranke und dann wieder genesene Raskolnikow sieht vor seiner moralischen Erneuerung in der Fieberphantasie und im wachen Zustand zwei Bilder, die sein eigenes Suchen und zwei mögliche Varianten der Zukunft symbolisieren. Im ersten Fall sieht Raskolnikow die sich verirrende Menschheit (gemeint sind die „westlichen Völker"). Sie ist vom Rationalismus besessen: Sie ist stolz auf die K r a f t ihres Verstandes und die Unumstößlichkeit der von ihr gewonnenen Wahrheiten, moralischen Überzeugungen und Glaubensrichtungen. D a s ist jener „ideale" gesellschaftliche Mechanismus, in dem alles bis ins letzte durch die Wissenschaft und den Verstand fixiert wird. D a s führt zu einer Katastrophe. In einer derartigen Gesellschaft glaubte jeder „im Alleinbesitze der Wahrheit zu sein . . . man konnte sich nicht darüber einigen, was als schlecht und ,was als gut zu betrachten s e i . . . D i e Menschen töteten einander in einer A r t von unsinnigem G r i m m e . . . D i e gewöhnlichen Handwerke wurde nicht mehr betrieben; denn jeder trug seine Ideen, seine Reformvorschläge v o r . . . die Bodenbestellung hörte auf . . . Feuersbrünste wüteten; es brach Hungersnot aus. A l l e Menschen, alle Habe ging zugrunde". N u r einige wenige „ R e i n e " und „Auserwählte" retteten sich vor der „Seuche" des Wissens und der Wissenschaft. Sie waren dazu auserwählt, „ein neues Menschengeschlecht und ein neues Leben zu begründen und die E r d e zu erneuern und zu reinigen". 3 1 Dieser „sinnlose T r a u m " ließ Raskolnikow lange nicht los, belastete qualvoll und drückend seine Erinnerungen. D a s ist verständlich. W a r er doch in der Vergangenheit selbst von den gleichen Mikroorganismen, die die Gesellschaft ins Verderben stürzten, heimgesucht worden, wie sie sich ihm in seinen krankhaften Träumen dargestellt hatten. Denn gerade unter dem 94
zerstörenden Einfluß dieser „Geister", die mit Vernunft und Willen ausgestattet waren, schuf er seine typisch „westliche" Theorie, beging ein Verbrechen und verfehlte den Weg zum Glück. Die zweite Vision war eine ganz andere, sie bildet einen Kontrast zur ersten und versetzt den Leser in die Kindheit der Menschheit zurück. Raskolnikow war gerade erst genesen und begab sich zu seiner Arbeit an das Ufer eines großen Flusses: „Von dem hohen Ufer aus übersah man weithin die Gegend. Kaum vernehmbar klang von dem fernen jenseitigen Ufer ein Lied herüber. Dort, in der unabsehbaren, vom Sonnenlicht überfluteten Steppe, hoben sich als kaum wahrnehmbare schwarze Pünktchen die Zelte der Nomaden ab. Dort war das Land der Freiheit; dort wohnten andere Menschen, ganz unähnlich denen auf dem diesseitigen Ufer; dort war gleichsam die Zeit selbst stehengeblieben, als wäre das Zeitalter Abrahams und seiner Herden noch nicht vorüber. Raskolnikow saß da und sah in die Ferne, ohne sich zu rühren und ohne sich von dem Anblicke losreißen zu können. Sein Denken wurde zum Träumen, zum bloßen Schauen; er dachte an nichts mehr; aber eine Art von Sehnsucht beunruhigte und quälte ihn."32 Das ist bereits eine Erinnerung an das „Goldene Zeitalter". Die Schwermut Raskolnikows ist verständlich. Es ist die Melancholie Dostojewskis. Die Menschheit hat das „Goldene Zeitalter" verloren. Unter den frühen Materialien zu Schuld und Sühne finden sich solche Worte des Romanhelden: „O, warum leben nicht alle im Glück? Das Bild des Goldenen Zeitalters geht bereits in den Köpfen und Herzen um. Wie sollte es nicht anbrechen!" Doch in der schwermütigen Erwartung Raskolnikows finden wir auch etwas Individuelles. War doch auch er ein „Sozialist", der davon träumte, die Menschheit zu beglücken. Er dachte über ihre Zukunft nach, doch er wählte den falschen Weg, um das „Goldene Zeitalter" heraufzuführen. In Wirklichkeit erwies er sich nur als ein „gemeiner Mörder", damit aber beraubte er sich des Rechtes, „den Menschen Glück zu wünschen und vom Goldenen Zeitalter zu träumen". 33 Irgendwo im Unterbewußtsein des Menschen - will Dostojewski sagen - leuchtet unauslöschlich das strahlende Bild des 95
„Goldenen Zeitalters", ruft Melancholie über das verlorene Paradies hervor und erweckt den Wunsch, es von neuem zu finden - sowohl in der eigenen Seele als auch in den Beziehungen zwischen den Menschen. Und diese kontemplative Erinnerung und diese Melancholie fließen mit dem Bild Sonjas zusammen, die plötzlich ebenfalls am Ufer neben Raskolnikow auftaucht. Ihre Begegnung ist bereits eine ganz andere. Bis zu diesem Zeitpunkt erschienen sie als Verfechter entgegengesetzter Prinzipien: Raskolnikow war die Verkörperung des europäischen intellektuellen Prinzips gewesen; d. h. der kritischen Analyse, des forschenden und stolzen Suchens des Verstandes, all dessen, was die Menschheit zur Katastrophe geführt hat. Sonja dagegen war die Personifizierung des religiös-poetischen Gefühls und des Kindlichen, all dessen, was von der zeitgenössischen Menschheit als Verlust beklagt wird. Doch jetzt, unter dem Einfluß seiner klärenden Träume, der Erfahrungen seines persönlichen Lebens, fühlt Raskolnikow sich geistig zu Sonja hingezogen. Über ihnen „strahlte schon die Morgenröte einer neuen Zukunft, einer völligen Wiedergeburt zu neuem Leben. Die Liebe war es, die diese Wiedergeburt bewirkt hatte. . .'