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German Pages 516 Year 2022
Philipp Mertens Dietrich Bonhoeffer und Abraham J. Heschel
Religiöse Positionierungen in Judentum, Christentum und Islam
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Herausgegeben von Christian Wiese und Nina Fischer
Band 1
Philipp Mertens
Dietrich Bonhoeffer und Abraham J. Heschel |
Zwei Konzeptionen relationalen Denkens im biographisch-werkgenetischen Vergleich
ISBN 978-3-11-077069-8 e-ISBN (PDF) 978-3-11-077196-1 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-077203-6 Library of Congress Control Number: 2022934618 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: VTeX UAB, Lithuania Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Vorwort zur Reihe Religiös-weltanschauliche Vielfalt mitsamt ihren zwiespältigen – destruktiven wie konstruktiv-bereichernden – Elementen gehört im Gefolge von Globalisierung, Migration und der durch politische Krisen erzwungenen Flucht von Millionen Menschen mehr denn je zur Signatur der Lebenswelt der meisten gegenwärtigen Gesellschaften. Interreligiöse Begegnung, Kommunikation und Positionierung stellen daher nicht eine bloße Option dar, sondern sind Ausdruck eines „dialogischen Imperativs“ (Christoph Schwöbel), von dem die friedliche Koexistenz religiöser Gemeinschaften in den jeweiligen Gesellschaften oder ganzer benachbarter Kulturen abhängt. Die kaum zu überschätzende soziale, politische und kulturelle Dynamik und Brisanz dieser Problematik, die vielfach mit Ängsten, Vorurteilen und Konflikten einhergeht, erklärt, weshalb sich die gegenwärtige Forschung intensiv mit den Herausforderungen multireligiöser Konstellationen beschäftigt. Wie lässt sich umgehen mit dem unausweichlichen Faktum der Pluralität einander widerstreitender Sinn- und Wahrheitsansprüche, die in Verbindung mit gesellschaftlichen und politischen Verwerfungen vielfach ein explosives Gemisch darstellen können? Was sind die Ursachen religiöser Konflikte, Fundamentalismen und Gewalt? Wie tragfähig sind demgegenüber Konzepte wie Multikulturalismus, Interreligiösität oder Interkulturalität, die sich mit unterschiedlichen Akzenten kritisch zu Formen religiöser Exklusivität, Aggression oder zur Uniformität religiöser bzw. religiös-nationaler „Leitkulturen“ verhalten? Die vorliegende Schriftenreihe versammelt Forschungsergebnisse eines in den vergangenen Jahren vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst geförderten interdisziplinären und interreligiösen Kooperationsprojekts der Goethe-Universität Frankfurt am Main und der Justus-Liebig-Universität Gießen. Unter dem Titel „Religiöse Positionierung: Modalitäten und Konstellationen in jüdischen, christlichen und islamischen Kontexten“ setzten sich Forscher*innen auf dem Gebiet der Religionswissenschaft, der christlichen Theologie, der Judaistik, der Islamischen Studien, der Ethnologie, der Soziologie und der Erziehungswissenschaft in historisch-systematischer und empirisch-systematischer Hinsicht mit dem Phänomen religiöser Diversität und Differenz als Grundkategorien interreligiöser und interkultureller Begegnung auseinander – mit einem Schwerpunkt auf den drei monotheistischen Religionen. Im Zentrum stand dabei die theoretisch wie gesellschaftspolitisch relevante Kernfrage nach den Möglichkeiten, Bedingungen und Grenzen eines qualifizierten religiösen Pluralismus, d. h. eines konstruktiven, respektvollen Umgangs mit religiöser Pluralität und Differenz. Im Unterschied zu konsensorientierten interreligiösen Dialogkonzepten, die auf eine konsensorientierte, relativierende Überwindung von Gegensätzen ziehttps://doi.org/10.1515/9783110771961-201
VI | Vorwort zur Reihe len, beruhen die Arbeiten des Forschungsschwerpunkts auf der Prämisse, dass die Existenz des Anderen oder des Fremden in religiös pluralen Konstellationen zu Positionierungen im Sinne einer Repräsentation und Affirmation des Eigenen nötigen. Diese für jeden interreligiösen Kontakt konstitutive Begegnung und Konfrontation mit differenten Glaubensüberzeugungen und Geltungsansprüchen lässt sich zunächst mit der Kategorie der Diversität erfassen. Diversität als Wahrnehmung von Verschiedenheit und Andersheit kann dabei als bereichernde Vielfalt, aber auch als irritierende, mit dem Eigenen unvereinbare Differenz, ja sogar als fundamentale Bedrohung des eigenen Selbstverständnisses gedeutet werden. Aus der jeweiligen Erfahrung und Deutung von Diversität und Differenz können sich ganz unterschiedliche Handlungsoptionen ergeben: die nivellierende Relativierung des eigenen wie fremden Wahrheitsanspruchs, das argumentative Werben für die eigene Position, das pragmatische Ertragen der Existenz des Anderen, religiöse Apologetik, Polemik und Diskriminierung bis hin zur missionarischen Überwältigung des Differenten oder dessen gewaltsame Unterdrückung. Möglich sind aber ebenso Formen dialogischer Annäherung, sofern die Wahrnehmung von Positionen, die der eigenen widerstreiten, zum Ausgangspunkt wechselseitiger Anerkennung wird. Angesichts dieser möglichen alternativen Folgen erfahrener Diversität stellt sich die Frage, welches Potenzial, aber auch welche Widerstände Judentum, Christentum und Islam (sowie andere religiöse Traditionen) hinsichtlich eines konstruktiv-dialogischen Umgangs mit religiöser und/oder weltanschaulicher Differenz in sich bergen, und zwar sowohl mit Blick auf die jeweils eigene plural verfasste Tradition als auch gegenüber konkurrierenden religiösen und nichtreligiösen Weltbildern. Ob religiöse Positionierungen einen eher destruktiven, integrativen oder dialogischen Charakter haben, hängt dabei offenbar nicht in erster Linie von den Inhalten der jeweils vertretenen Position ab, sondern von den historischen, politischen und kulturellen Konstellationen, in denen sie sich vollziehen, sowie von den Modalitäten, unter denen sie in gesellschaftliche Diskurse eingebracht werden. So können auch differenzbewusste Glaubensüberzeugungen pluralismusfähig sein, wenn sie sich Prinzipien epistemischer Demut verpflichtet wissen und in der Positionierung gegenüber anderen Traditionen deren Legitimität, Würde und Gültigkeit anzuerkennen vermögen. Der Begriff der Pluralismusfähigkeit religiöser Positionierungen beschreibt dabei nicht so sehr die Befähigung zu einem Standpunkt jenseits eigener Glaubens- und Wertvorstellungen, sondern eine bewusste Bejahung des Rechts des Anderen auf Anerkennung und ein Verständnis der eigenen Position im Sinne einer kritisch zu reflektierenden Standortgebundenheit im öffentlichen Diskurs. Eine der denkbaren konstruktiven Modalitäten, die in dem Forschungsverbund in den Blick genommen wurden, lässt sich im Anschluss an
Vorwort zur Reihe
| VII
sprach- und literaturwissenschaftliche Theorien – insbesondere Michail M. Bachtins – mit dem Begriff der Dialogizität erfassen. Er scheint in besonderer Weise geeignet, zu beschreiben, wie argumentative Positionen, die durch Diversität und Differenz gekennzeichnet sind, auch als solche zur Sprache gebracht werden können, ohne die Absicht, sie miteinander in Einklang zu bringen. Als theoretischer Begriff, der in deskriptiver wie normativer Perspektive nach den philosophischen, kommunikationstheoretischen und historisch-gesellschaftlichen wie politischen Bedingungen und Implikationen dialogischer Praxis fragt, verweist er auf die Möglichkeit eines dialogischen statt konfrontativen Verständnisses von Positionierung, der programmatisch von der Berechtigung einer Polyphonie womöglich auch im Dialog unaufhebbarer Pluralität und Differenz ausgeht. Auf dieser Grundlage ließe sich eine kommunikative Praxis begründen, die dazu befähigt, den eigenen Standpunkt zu affirmieren, ohne ihn monologisch geltend zu machen oder absolut zu setzen, d. h. die eigene Position klar zur Sprache zu bringen, und ohne die Gesprächspartner*innen zu überwältigen oder ihrer Position die Anerkennung zu verweigern. Die aus der Zusammenarbeit innerhalb des Forschungsschwerpunkts hervorgegangenen Monographien und Sammelbände wollen jedoch kein einheitliches normatives Modell des Umgangs mit religiöser Vielfalt vertreten. Sie repräsentieren vielmehr die Vielstimmigkeit der interdisziplinären Diskussionen, der theoretischen und methodischen Zugänge sowie der Interpretationen religiöser Positionierungen in Geschichte und Gegenwart. Die vorliegende vergleichende Studie von Philipp Mertens zum theologischen und politischen Denken Dietrich Bonhoeffers und Abraham J. Heschels bringt zwei der in ihrer Wirkungsgeschichte bedeutendsten protestantischen und jüdischen Theologen des 20. Jahrhunderts in ein posthumes Gespräch miteinander. Zentral ist dabei die Reflexion über das Potenzial der bei beiden identifizierten „relationalen Theologie“ für die Frage nach theologischen Wahrheits- und Geltungsansprüchen und für Positionierungsprozesse im Kontext des interreligiösen Dialogs. Neben den theologischen und politischen Affinitäten beider Denker, die sich u. a. aus ihrer Betonung der prophetischen Elemente der Hebräischen Bibel ergeben, kommt auch die in Bonhoeffers Anthropologie und Christologie begründete Differenz gegenüber Heschel zur Sprache – eine Frage, die für gegenwärtige Diskussionen über die Beziehungen zwischen Judentum und Christentum sowie über eine Erneuerung christlichen Selbstverständnisses im christlich-jüdischen Dialog von wesentlicher Bedeutung ist. Frankfurt, 15. Mai 2022
Christian Wiese und Nina Fischer
Vorwort des Autors – כי לעולם חסדוDenn Seine Gnade währt ewig (Ps 136)
Diese Arbeit wurde im Oktober 2019 vom Fachbereich Evangelische Theologie der Goethe-Universität Frankfurt als religionsphilosophische Dissertation angenommen. Für den Druck wurde sie nur leicht überarbeitet. Grund zum Danken gibt es reichlich, allen voran meinem Doktorvater Prof. Dr. Christian Wiese, der die Arbeit in allen Phasen ihrer Entstehung begleitet und unterstützt hat und mir gleichzeitig immer den nötigen Freiraum ließ. Prof. Wiese brachte mich zudem durch ein Seminar noch während des Zweitstudiums mit Heschel in Kontakt, sodass er auch inhaltlich entscheidenden Einfluss schon im Vorfeld genommen hat. Und schließlich hat Prof. Wiese auch die Veröffentlichung meiner Dissertation in der Forschungsreihe zu “Religiöse Positionierung: Modalitäten und Konstellationen in jüdischen, christlichen und islamischen Kontexten” initiiert. Herzlichen Dank für all das. Meinem Zweitkorrektor Prof. Dr. Heiko Schulz gilt in gleichem Maße Dank, der mit etlichen Gutachten und seiner systematisch-theologischen Perspektive die Arbeit gefördert hat. Insbesondere in der Abschlussphase und zur Drucklegung hin hat Prof. Schulz durch Beantwortung etlicher Fragen meinerseits vielfältig zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen. Prof. Dr. Rebekka Voß vom Seminar für Judaistik hat durch etliche Gutachten und praktische Tipps besonders in der Anfangsphase das Entstehen dieser Arbeit ermöglicht. Dann sei Prof. Dr. Hans-Richard Reuter erwähnt, der mich durch ein Hauptseminar zu Bonhoeffers Ethik im Jahre 2007 an der Münsteraner Theologischen Fakultät überhaupt erst auf Bonhoeffers Spur gebracht hat. Ebenfalls aus Münster gilt mein herzlicher Dank Prof. Dr. Matthias Haudel, der mir nicht nur ein guter Lehrer, sondern auch Mentor war. Sämtlichen Mitarbeitern der David M. Rubenstein Library der Duke University in Durham/NC bin ich ebenfalls zu herzlichem Dank verpflichtet, die mich während meiner Arbeit an den Heschel-Papers vorbildlich und freundlichzuvorkommend betreut haben. Für großzügige Druckkostenzuschüsse danke ich dem vom LOEWE-Programm des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst geförderten Forschungsschwerpunkt “Religiöse Positionierung: Modalitäten und Konstellationen in jüdischen, christlichen und islamischen Kontexten” an der Goethe-Universität Frankfurt und der Justus-Liebig-Universität Giessen. Aber nicht nur von universitärer Seite habe ich Unterstützung erhalten, sondern auch vonseiten einiger Stiftungen. Allen voran sei die Gerda-Henkel-Stiftung https://doi.org/10.1515/9783110771961-202
X | Vorwort des Autors in Düsseldorf erwähnt, die mich über zwei Jahre sowohl durch ein Promotionsstipendium als auch durch Sach- und Reisekostenzuschüsse großzügig gefördert hat; erst durch ihre Hilfe waren Forschungsaufenthalte in Israel und den USA möglich. Aber auch die Frankfurter Pestalozzi-Stiftung hat ihren Anteil am Gelingen der Arbeit, ebenso die Mainzer Stiftung für Jüdische Studien (namentlich Frau Wiltrud Keitlinghaus), die bereits zum Gelingen meiner Magisterarbeit beigetragen hat. Vom Verlag De Gruyter danke ich insbesondere Herrn Dr. Albrecht Döhnert und Frau Alice Meroz. Herrn Thomas Mankel (†), Frau Nicole Gerster und Herrn Lukas Link gilt mein überaus herzlicher Dank für Korrekturen und Anmerkungen. Meine Eltern haben mich zeitlebens ermutigt und vielfältig unterstützt, meinen Weg zu gehen. Vielen herzlichen Dank für all Euren Support! Auch meine Schwiegereltern haben zum Gelingen dieser Arbeit substantiell beigetragen – unter anderem mit einem neuen Laptop, als mir der Alte in San Francisco gestohlen wurde. Und last but most danke ich meiner Frau Katharina, die nach meinem Erstund Zweitstudium auch noch die Strapazen einer Dissertation mit all ihren Herausforderungen mitgetragen und mitfinanziert hat. Ihr ist diese Arbeit darum auch gewidmet. Ohne Dich wäre nichts dergleichen möglich gewesen! Frankfurt, im Frühjahr 2022
Philipp Mertens
Inhalt Vorwort zur Reihe | V Vorwort des Autors | IX 1 1.1 1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.2.4 2 2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3
Einleitung | 1 Ein nicht ganz naheliegender Vergleich: Einleitung | 1 “Relationales Denken” und “(Hebräische) Bibel”: Hinführung | 5 Hauptthese, Ziel und Definition: “Relationales Denken” | 5 Haupteinfluss: Die “(Hebräische) Bibel” und “hebräisches Denken” | 9 Forschungsstand und sonstiger Forschungszugewinn | 11 Aufbau, Methodik und untersuchtes Material | 16 Weichenstellung zu relationalem Denken: Die akademische Frühphase | 20 Biographische Hinführung | 20 Bonhoeffers Annäherung an die Bibel: Breslau und Berlin (1906–1923) | 20 Heschels Annäherung an die Bibel: Warschau, Wilna, Berlin (1907–1927) | 27 Pietismus und Chassidismus – eine tiefentheologisch erste Übereinstimmung | 31
2.2
Berlin: Der neukantianistisch-liberale Zeitgeist | 33
2.3 2.3.1
Relationalität und Bibel beim jungen Bonhoeffer | 37 Zwischen Rom und Luther, von Harnack und Barth: Das Studium (1923–1927) | 37 Sanctorum Communio (1927) | 49 Prophetentum und absoluter Gotteswille: Vikariat in Barcelona (1928) | 66 Gotteserkenntnis und das Primat der Kirche: Akt und Sein (1929–1930) | 73 Antrittsvorlesung und der Weg nach Amerika (1930) | 84
2.3.2 2.3.3 2.3.4 2.3.5 2.4 2.4.1 2.4.2
Relationalität und Bibel beim jungen Heschel | 85 Zwischen Baeck und Koigen, James und Rosenzweig: Das Studium (1927–1933/1934) | 85 Dialogische Gedichte: מענטש:( דער שם המפורש1933) | 103
XII | Inhalt 2.4.3 2.4.4 2.4.5 2.4.6 2.4.7 2.4.8 2.4.9 2.5 2.5.1 2.5.2 2.5.3 2.5.4 2.5.5 2.5.6 2.5.7
3 3.1 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.2.5 3.2.6 3.2.7 3.2.8
Göttliches Pathos und prophetisches Bewusstsein: Die Prophetie (1933/1936) | 109 Maimonides und prophetische Sukzession (1934–1937) | 122 Interim in Frankfurt (1937–1938) | 124 Don Jizchak Abravanel (1937) | 125 Erste Schritte zur prophetisch-spirituellen Mission (1938) | 127 Grundlagen einer Phänomenologie des Gebets (1938) | 131 Flucht nach Amerika (1938–1940) | 133 Zusammenfassung | 134 Biographische Ähnlichkeiten | 135 Die Phänomenologie: Grundvoraussetzung für relationales Denken | 136 Gegen den Neukantianismus: Die Tatsächlichkeit der Offenbarung | 138 Der Existentialismus: Offenbarung in Raum und Zeit | 139 Die Dialogik: Gott als personales, leidendes Gegenüber | 140 Der Mensch als Angesprochener Gottes | 142 Zwischenfazit: Vernunft und Offenbarung in relationalem Denken versöhnt | 146 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase | 148 Einführung | 148 Durchs Gebet zur Bibel und in die Nachfolge: Bonhoeffers Mittelphase | 149 Amerika: Pragmatismus, Social Gospel, Bergpredigt und ein “schwarzer Christus” (1930–1931) | 149 Beginn einer neuen Wirklichkeitsnähe: Schöpfung und Fall und die Christologie-Vorlesung (1931–1933) | 172 Auf friedensethischer Mission: Die Ökumene | 187 Prophetischer Aktivismus und erste NS-Kritik: Das Pfarramt | 192 London und der leidende Gott (1933–1935) | 199 Bibel – Gebet – Gemeinsames Leben – Kirchenkampf: Finkenwalde (1935–1937) | 204 Bergpredigt, Einfältigkeit und Glaubensgehorsam: Nachfolge (1937) | 220 Gemeinschaft im Untergrund: Die Sammelvikariate (1937–1939) | 233
Inhalt | XIII
3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4 3.3.5 3.3.6 3.3.7 3.3.8 3.4 3.4.1 3.4.2 3.4.3 3.4.4 3.4.5 4 4.1 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.4 4.2.5
Heschels Beginn in Amerika (1940–1950er) | 236 Hebrew Union College und die Phänomenologie des Gebets (1940–1945) | 236 Professur am Jewish Theological Seminary (JTS) in New York (1945–) | 243 Der Reichtum des osteuropäischen Judentums: The Earth is the Lord’s (1949) | 246 Prophetic Inspiration in the Middle Ages (1950) | 249 Die Heiligung der Zeit: The Sabbath (1951) | 250 Heschels theologische Revolution: Man is not alone (1951) | 252 Widerstand gegen das amerikanische Judentum: Man’s Quest for God (1953–1956) | 260 Erster Höhepunkt hebräischen Denkens und Durchbruch zur Tiefentheologie: God in Search of Man (1955/1956) | 270 Zusammenfassung | 284 Jenseits reiner Phänomenologie: Gottes lebendige Offenbarung | 285 Der Mensch als Beter | 288 Durch das Gebet zur Bibel: Der relationale Ausdruck des Willens Gottes | 291 Von der Orthodoxie zur Orthopraxie: Durch das Gebet von der Absolutheit Gottes zur Partnerschaft mit Ihm | 295 Praktische Auswirkungen der Relationalität zur Welt | 300 Relationalität, Bibel und prophetischer Aktivismus: Die Spätphase | 302 Einführung | 302 Bonhoeffers Konspiration und Neuformation von Kirche und Welt (1939–1945) | 302 Ein kurzes Interim in Amerika (1939) | 302 Der Eintritt in die Konspiration (1939/1940) | 305 Zwischen Konspiration und Theologie (1939–1943) | 307 Zunehmende Diesseitigkeit, Stellvertretende Schuldübernahme und Situationsbezug: Die Ethik (1940–1943) | 310 Religionslosigkeit, nicht-religiöse Interpretation und endgültige Diesseitigkeit: Die Tegeler Briefe und Bonhoeffers Ende (1943–1945) | 337
XIV | Inhalt 4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.3.4 4.3.5 4.3.6 4.3.7 4.3.8 4.4 4.4.1 4.4.2 4.4.3 4.4.4 4.4.5 4.4.6 4.4.7 5 5.1 5.1.1 5.1.2 5.1.3 5.1.4 5.1.5 5.1.6 5.1.7 5.1.8
Heschel zwischen Aktivismus und schriftstellerischer Kreativität (1960er Jahre bis 1972) | 352 Heschels Entwicklung zum Propheten: The Prophets (1962/1963) und Maimonides | 353 Hebräisches Denken und Tiefentheologie in Aktion: Interreligiöses Engagement | 359 Prophetisch-sozialer Aktivismus (1963–1972) | 368 Öffentliche Religion und Who is Man? (1960–1963) | 375 Back to the rabbinical roots: Heavenly Torah (1962ff.) | 383 Sonstige innerjüdische Impulse und Veröffentlichungen | 393 Israel: An Echo of Eternity (1967) | 394 Die letzten Lebensjahre: Chassidismus, Kierkegaard und A Passion for Truth (1969–1972) | 399 Zusammenfassung | 409 (Neue) Diesseitigkeit und Mündigkeit der Welt | 410 Situatives Denken | 412 Hebräische Bibel und hebräisches Denken | 413 Neue Verantwortlichkeit und stellvertretende Schuldübernahme | 416 Das Reden des ohnmächtigen Gottes | 418 Tiefentheologie und Theologie | 420 Bonhoeffer und Heschel: Verantwortungsträger ihrer Zeit | 422 Rückblick und Fazit: Bonhoeffer und Heschel – zwei relationale “Denker” | 426 Rückblick | 426 Biographische Voraussetzungen und Gemeinsamkeiten | 426 Gotteserkenntnis, Bibel und hebräisches Denken: Eine relationale Hermeneutik | 427 Gott: Initiator aller Relationalität | 432 Der Mensch: Relationalität in personam | 435 Bibel und Gebet: Relationale Spiritualität | 437 Verantwortung durch situatives Denken: Relationalität zum Nächsten | 439 Ernstnahme des Irdischen, Ganzheitlichkeit und Vorletztes: Relationalität zur Welt | 441 Tiefentheologie und relationale Wahrheit: Theologische Konsequenzen | 442
Inhalt | XV
5.1.9
Praxis der Relationalität: Bonhoeffer und Heschel, Propheten ihrer Zeit | 446
5.2
Hebräisches Denken statt “kultureller Osmose”: Fazit | 448
Literaturverzeichnis | 452 Personen | 479 Sachen | 487
1 Einleitung Die Ähnlichkeit, die analogia des Menschen zu Gott ist nicht analogia entis, sondern analogia relationis. […] Analogia relationis ist darum die von Gott selbst gesetzte Beziehung und nur in dieser von Gott gesetzten Beziehung analogia. Beziehung von Geschöpf zu Geschöpf ist gottgesetzte Beziehung, weil sie in Freiheit besteht und Freiheit von Gott her ist. – Dietrich Bonhoeffer, Schöpfung und Fall (1933) Prayer means to have contemplation in the presence of God – in relation to God. […] Prayer means addressing ourselves to God or the presence of God. […] The value of prayer is to live. […] I think the meaning of prayer, the first value of prayer is to become aware of living in the presence of God. – Abraham J. Heschel, Papers (1961)
1.1 Ein nicht ganz naheliegender Vergleich: Einleitung Immer wenn zwei Personen unterschiedlicher Prägung, Herkunft und sogar Religion miteinander ins Gespräch gebracht werden, stellt sich die Frage nach Sinn und Zweck. So auch in dieser Untersuchung. Denn auf den ersten Blick hat man es bei Dietrich Bonhoeffer (1906–1945) mit dem “bekannteste[n] und am meisten gelesene[n] und zitierte[n] evangelische[n] Theologe[n] unserer Zeit”1 zu tun, sogar bis in die katholische Kirche hinein.2 Nicht nur mit seinen Impulsen zu Spiritualität und den wichtigen ökumenischen Bestrebungen, sondern mindestens auch in seiner aktiven kirchenkritischen Rolle während der 1930er Jahre und besonders sein Martyrium im Kampf gegen die Unmenschlichkeit des nationalsozialistischen Regimes ist Bonhoeffer in die Geschichte eingegangen. Seit der Herausgabe der Tegeler Gefängnisbriefe durch Eberhard Bethge hält seine Bekanntheit ungebrochen an und schlägt sich in einer schier unüberschaubaren Flut an Forschungen und sonstigen Publikationen nieder.3 Bonhoeffer gilt darum als ehrenhafter protestantischer Repräsentant, wird sowohl von liberale(re)n als auch konserva-
1 Krötke: “Gottesverständnis”, 437. 2 “Nur wenige andere evangelische Theologen des 20. Jahrhunderts sind mit so vielen monographischen Untersuchungen von katholischer Seite bedacht worden wie Dietrich Bonhoeffer”, bemerkt Tietz: Dietrich Bonhoeffer, 126. 3 Das offizielle Dietrich Bonhoeffer Portal, hinter dem die Internationale Bonhoeffer-Gesellschaft Deutschsprachige Sektion steht, spricht von fast 6000 wissenschaftlichen Texten zu Bonhoeffer; vgl. http://www.dietrich-bonhoeffer.net/bibliografie (abgerufen am 15.03.2021). https://doi.org/10.1515/9783110771961-001
2 | 1 Einleitung tiven Christen gleichermaßen geschätzt und ist als einer der zehn Märtyrer des 20. Jahrhunderts an der Westminster Abbey als Statue nachgebildet. Abraham Joshua Heschel (1907–1972) dagegen ist in Deutschland geradezu unbekannt und lediglich mit einer einzigen deutschen Monographie beehrt worden. Doch von seinem Einfluss her steht er, vor allem in Amerika, Bonhoeffer in nichts nach: Sowohl als jüdischer Religionsphilosoph, der unaufhörlich an die Rückkehr zu den spirituellen Wurzeln (osteuropäisch-jüdischer Mystik) appelliert hat, als auch als Aktivist im Einsatz für Rechte vieler Unterdrückter – unter anderem der Afroamerikaner, der Vietnamesen und der sowjetischen Juden – ist Heschel bekannt geworden. So ist auch Heschels Prominenz nicht nur an sein Werk geknüpft, sondern gleichermaßen an sein Leben. Beim genaueren Hinschauen lassen sich zudem biographische Gemeinsamkeiten entdecken, um das tatsächliche Potenzial eines solchen Vergleiches überhaupt nur zu erahnen: Obwohl Bonhoeffer in Breslau geboren wird und in Berlin aufwächst, Heschel dagegen im polnischen Warschau, studieren beide fast zeitgleich kurz vor Beginn der Nazi-Diktatur an der Berliner Wilhelms-Universität, teilweise bei denselben Professoren, und agieren in diesem Umfeld bis Mitte der 1930er Jahre als Privatdozent (Bonhoeffer) bzw. freier Wissenschaftler (Heschel). Nach seiner Flucht über England in die Vereinigten Staaten von Amerika landet Heschel 1946 in New York City als Professor für jüdische Mystik und Spiritualität am Jewish Theological Seminary und wird ein enger Freund von Reinhold Niebuhr, der zeitgleich Professor am gegenüberliegenden Union Theological Seminary ist; genau dort hat Bonhoeffer Anfang der 1930er Jahre ein ganzes Studienjahr verbracht und steht auch später noch mit Niebuhr in Kontakt, der ihm helfen möchte, als Bonhoeffer kurzzeitig nach New York flüchtet, um den Repressionen durch die Nazi-Diktatur zu entrinnen. Das aber ist erst der Anfang der Gemeinsamkeiten. Trotz dieser und vieler anderer Gemeinsamkeiten sind sich Bonhoeffer und Heschel nie bewusst begegnet, geschweige denn haben sie sich gegenseitig beeinflusst, wie Heschels Tochter Susannah es bezeugt; immerhin liest Heschel in seinem letzten Lebensjahr noch Bethges Biographie zu Bonhoeffer.4 Schon vorher rezipiert Heschel Bonhoeffer indirekt, dessen Name zu Beginn der 1960er Jahre “is becoming known in ever-widening circles.”5 In einem Artikel, 4 In einer E-Mail (vom 27.03.2015) schrieb Susannah Heschel dem Verfasser: “I read Bonhoeffer for a course I was taking, and then spoke to my father about him. I purchased Bethge’s biography, which my father also read, and we discussed that book as well. A friend gave me a copy of The Cost of Discipleship, but I know that my father never read that book nor any other book by Bonhoeffer. Nor did he ever meet him in Berlin.” 5 Godsey: Theology, 13.
1.1 Ein nicht ganz naheliegender Vergleich: Einleitung
| 3
verfasst für eine christliche Leserschaft, benutzt Heschel Mitte der 1960er Jahre eine verallgemeinerte Form des Begriffs der billigen Gnade, wenn er schreibt: “Do not sell salvation too cheaply”6 – obwohl diese Begrifflichkeit auch Jahrzehnte vorher schon präsent ist und nicht zwingend einen Rückschluss auf Bonhoeffer zulässt. Explizit erwähnt Heschel aber “[t]he famous dictum of Dietrich Bonhoeffer ‘that a world has come of age … could live without the tutelage’ of God”7 in einem Vortrag im Jahr 1965, das einen zentralen Satz aus Bonhoeffers Brief vom 08. Juli 1944 an Bethge aufgreift. Allem Anschein nach kennt Heschel den Brief aber nicht nur nicht, wenn er urteilt, dass oben genannter Satz “presupposes a view of our world which is, I believe, naive.”8 Überdies erliegt er mit seinem Urteil offensichtlich auch dem Bonhoeffer-Bild seiner Zeit in Amerika, das fast ausnahmslos durch fragmentarische Veröffentlichungen, Diskussionen und Predigten um The Cost of Discipleship und Prisoner for God: Letters and Papers from Prison gezeichnet wird.9 Ersteres erscheint als gekürzte Version der Nachfolge erstmalig 1948 und schlägt sich seit Beginn der 1950er Jahre in einer Vielzahl an Predigten und Publikationen über “cheap grace” nieder.10 Noch größeres Aufsehen erregen die Gefängnisbriefe, die 1954 in Amerika veröffentlicht werden und Bonhoeffer zwischen Neo-Orthodoxie an der Seite von Karl Barth und der “Gott-isttot”-Bewegung regelrecht zerrissen und damit teils völlig missinterpretiert wird: 1945 bezeichnet der einflussreiche Theologe und ehemalige Mentor Bonhoeffers, Reinhold Niebuhr, Bonhoeffer als “neoorthodox thinker.”11 Auch John D. Godsey platziert noch 1960 Bonhoeffers “new theology” innerhalb der Neo-Orthodoxie, wenn er schreibt, dass “Bonhoeffer advocated a theology that did justice to the fact that revelation is bound to the church.”12 Doch [b]eginning in the early 1960s, a few influential thinkers began to utilize Bonhoeffer’s ideas to challenge the theological tradition in its liberal and neoorthodox forms. The radical Bonhoeffer caught on in America and Britain and by the early 1970s the German theologian
6 Heschel: Insecurity, 175 (“Protestant Renewal: A Jewish View”, 1963). 7 Ders.: Grandeur, 276 (“No Religion is an Island”, 1965). 8 Ebd., 276 (“No Religion is an Island”, 1965). Denn im Originaltext steht “God” (im Deutschen “Gott”) in Anführungsstrichen, weil Bonhoeffer hier von einem Gottesbild ausgeht, dass Gott auf einen Lückenbüßer reduziert, der nur bei den letzten Fragen in Spiel kommt; vgl. Bonhoeffer: DBW 8, 477ff. 9 Vgl. ders.: Cost u. ders.: Prisoner. 10 Vgl. z. B. Spaugh: “Understanding”, 4; Nussbaum: “Think”, 9; Lister: “Religion”, 13. 11 Haynes: Phenomenon, 13. 12 Godsey: Theology, 15.
4 | 1 Einleitung
was widely regarded as a radical critic of religion in the tradition of Freud and a soul mate of antigovernmental activists such as Father Daniel Berrigan.13
Berrigan ist aber nicht nur Verbündeter Heschels in der Anti-VietnamkriegBewegung, sondern ebenfalls einer der ersten, der die englische Übersetzung von Bethges Biographie zu Bonhoeffer Man of Vision, Man of Courage im Jahr 1970 rezensiert.14 Auch wenn Berrigan sie mit seiner Brille liest und Heschel damit beeinflusst haben mag, gibt Bethges Biographie den bisherigen Fragmenten endlich ein gesundes Fundament und lässt Bonhoeffers Gedanken langsam im Gesamtkontext verstehen. Inwieweit Bethges Biographie Heschels Bild über Bonhoeffer revidieren lässt, muss offenbleiben; klar ist, dass sich Heschels Denken in diesem letzten Lebensjahr nicht mehr wesentlich verändert, zumal er mit Beginn seiner Zeit in Amerika die wesentlichen Eckbausteine seines Denkens bereits mitgebracht hat, wie sich zeigen wird. Dass Heschel dennoch genügend inhaltliche Anknüpfungspunkte mit Bonhoeffer gehabt hätte – ja geradezu frappierende Ähnlichkeiten und Parallelen –, soll in der nachfolgenden Untersuchung herausgearbeitet werden. Und so ist diese Untersuchung auch ein kleiner Beitrag in Sachen christlich-jüdischer Dialog, freilich fiktiv geführt. Mindestens zwei spannende Fragen werden von den bisher angerissenen Aspekten aufgeworfen: 1. Welche Gemeinsamkeiten im Denken und Handeln Bonhoeffers und Heschels lassen sich de facto nachweisen? Die Ergebnisse daraus können die Grundlage für weiterführende, gegenwartsrelevante Studien bilden wie: Hermeneutik und Stellenwert der Hebräischen Bibel/des Alten Testaments in der theologischen Diskussion; die Bedeutung von Spiritualität für Theologie und Kirche; Gerechtigkeits- und Ethikfragen; und natürlich auch das Verhältnis zwischen Christentum und Judentum. 2. Existieren geistesgeschichtliche “Vorbedingungen”, die dazu führten, dass Bonhoeffer und Heschel in so ähnlicher Art und Weise dachten und (mit Berücksichtigung des unterschiedlichen Kontextes) handelten? Sofern die erste Frage überzeugend beantwortet wird, ist es schon aus geistesgeschichtlicher Perspektive lohnenswert herauszufinden, warum das Denken eines Christen dem eines Juden so derart ähneln kann. Ganz im Sinne von Andreas Pangritz (der dies in Bezug auf Leo Baeck im Vergleich zu Bonhoeffer äußert) bietet solch ein Vergleich den Anlass, “noch einmal nachzufragen, ob im gesell-
13 Haynes: Phenomenon, 15. 14 Vgl. ebd., 43.
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schaftlichen Klima der Weimarer Zeit nicht doch mehr an ‘kultureller Osmose’ möglich war, als wir seit der Shoah15 zu glauben bereit sind.”16 Um beide Fragen zu erörtern, ist es notwendig, das Denken und Handeln Bonhoeffers und Heschels auf einen gemeinsamen Nenner hin zu untersuchen, anhand dieses gemeinsamen Nenners systematisch gegenüberzustellen und entscheidende, geistesgeschichtliche Einflüsse dieses Nenners dingfest zu machen.
1.2 “Relationales Denken” und “(Hebräische) Bibel”: Hinführung 1.2.1 Hauptthese, Ziel und Definition: “Relationales Denken” Dass es einen gemeinsamen Nenner hinter Bonhoeffers und Heschels Denken und auch Handeln gibt, der beide miteinander verbindet, ist die erste Hauptthese dieser Untersuchung. Und zwar ist dieser gemeinsame Nenner ein bestimmter, und zwar konsequent relationaler Blick, mit dem beide gleichermaßen auf Gott, Welt und Mensch samt zugehöriger Theologumena schauen. Ziel dieser Untersuchung lautet darum, das hier sogenannte “relationale Denken” als wesentliches Merkmal im Denken und Handeln Bonhoeffers und Heschels aufzuzeigen, unter das sich Wesentliches von dem subsumieren lässt, das beide prägt und wodurch sie sich von ihrer geistesgeschichtlichen Umwelt in zentralen Details unterscheiden, sich aber in höchster Ähnlichkeit zueinander verhalten, obwohl Bonhoeffer Christ war, Heschel aber Jude. Der Terminus “relationales Denken” ist hierbei ein Behelf. Denn bei Bonhoeffer und Heschel selbst taucht er expressis verbis in dieser Kombination nicht auf, und auch das Adjektiv “relational” bzw. das englische Substantiv “relation” nur selten; inhaltlich-sachlich aber durchzieht es jede Facette, wie gezeigt werden soll. Ein Grund dafür mag sein, dass die Philosophie seit der Antike darüber kontrovers diskutiert, was genau “Relation“ ausmacht;17 Einigkeit besteht immerhin insoweit, dass “Relation” vorwiegend technisch-abstrakt gemeint ist, dass also eine Verbindung oder ein Bezug zwischen zwei Sachen oder Personen existiert. Genau das umfasst auch in der englischen Sprache “relation”, während “relation15 “Shoah”, hebr. für “Völkermord” und synonym zum griechischen “Holocaust”. Beide Begriffe werden in der Forschung deckungsgleich verwendet, so auch in dieser Untersuchung (in Abhängigkeit von der verwendeten Sekundärliteratur). 16 Pangritz: “Geheimnis”, 243. 17 Vgl. die ausführliche philosophiegeschichtliche Darstellung zu “Relation” bei Erler u. a.: Relation, 578–612.
6 | 1 Einleitung ship” humanwissenschaftlich konnotiert ist und das Ergebnis einer gelebten, emotionalen Verbindung zweier Menschen darstellt. Im deutschen Sprachgebrauch verhält sich dies unpräziser, da “Beziehung” sowohl technisch-abstrakte als auch eine persönlich-emotionale Implikationen beinhalten kann (wenn auch “Bezug” und “Verbindung” gleichwertige Alternativen für Ersteres sein mögen). Bonhoeffer wie Heschel – und darum auch in dieser Untersuchung – geht es immer um Beziehung respektive Verbindung in pragmatisch-sozialer Hinsicht, die intentional gelebt wird – nicht einfach lose zusammengehörig: Jeder Ausdruck Gottes, wie beide Ihn sehen, ist auf Beziehung hin angelegt, ist relational. Und das schlägt sich konsequent in der Schöpfung nieder, sowohl beim Menschen als auch den Theologumena, wie wir sehen werden. Nichts dergleichen funktioniert abstrakt, sondern ausschließlich in, aus und für die Beziehung, die Gott zum Menschen initiiert und die sich im menschlichen Miteinander niederschlägt. Essenz und Existenz gehören zusammen und bedingen sich gegenseitig. So definiert Joseph H. Britton in seiner Untersuchung zu Heschel folgerichtig: “Relational theology emphasizes a transcendentally immanent God who enters into conversation with humanity in a shared relationship of expectation, a commonality which becomes the source not only of our knowledge of God, but also of our own being.”18 Eine relationale Anthropologie beispielsweise versteht den Menschen konsequent als Beziehungswesen.19 Bei Bonhoeffer und Heschel, so wird sich zeigen, impliziert dieses relationale Denken eine Dynamik, die beide von statisch-metaphysischem Denken abgrenzen – bzw. geschichtlich-individuell statt abstrakt, weil beide um die komplexen Beziehungsgeflechte wissen und so das Individuum nicht als isolierte Entität betrachten können. Oder wie Karsten Lehmkühler es dargelegt hat:20 In fast allen exegetischen Äußerungen zu den neutestamentlichen Einwohnungsaussagen spielt die Unterscheidung zwischen ‘substanzhaften’ und ‘geschichtlichen’ Vorstellungen eine entscheidende Rolle. Diese Alternative kann auch durch Gegensatzpaare wie ‘naturhaft/personal’ oder ‘materiell-dinglich/relational’ ergänzt oder ersetzt werden.
Bonhoeffer und Heschel sind selbstredend nicht die Ersten, die Formen von Relationalität in ihrem Denkansatz berücksichtigen: Spätestens seit den Kirchenvätern sind Ansätze relationalen Denkens im Zusammenhang trinitätstheologischer
18 Britton: Heschel, 285. 19 So auch Beljin: “Menschenbild”, 193: “Charakteristisch für Bonhoeffers anthropologischen Ansatz ist die Betrachtung des Menschen als Beziehungswesen. Vier Relationsstufen lassen sich dabei feststellen: der Mensch in der Relation zur Welt, zu anderen, zu sich selbst und zu Gott.” 20 Lehmkühler: Inhabitatio, 31f.
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Überlegungen aufzufinden.21 Zudem wird deutlich werden, dass Bonhoeffer und Heschel regelrecht Teil eines größeren, interdisziplinären “relational turn” seit Beginn des 20. Jahrhunderts sind. Das hat implizit auch Raphaela J. Meyer zu Hörste-Bührer in ihrer Untersuchung zu relationalen Ansätzen in der Theologie Karl Barths gezeigt, wo ebenfalls ein guter Überblick zu diversen – auch aktuellen – relationalen Ansätzen der evangelischen Theologie zu finden ist.22 Aber nicht nur für die Theologie und (Religions-)Philosophie ist der Neuaufbruch in Sachen Relationalitäten bedeutsam. Denn just in dieser Zeit etabliert sich die soziologische Wissenschaft im deutschsprachigen Raum durch Vertreter wie Ferdinand Tönnies, Georg Simmel und Max Weber, die Bonhoeffer und Heschel ebenfalls rezipieren.23 Und auch die Soziologie kennt einen “relational turn”, setzt ihn allerdings erst mit Beginn der 1980er und 1990er Jahren an.24 Trotzdem geht es um dieselbe Entwicklung: Im Gegensatz zu substanzontologischem Denken ist dort “‘Relationalität’ [ist] zu einem zentralen Begriff unterschiedlichster soziologischer Teildiskurse avanciert.”25 Gleichermaßen jung ist der Relations21 Darauf aufmerksam macht beispielsweise Haudel: Selbsterschließung, 133f.: “Gregor von Nyssa bezeichnet diese innertrinitarische Perichorese als das höchste Paradoxon, da hier die intraund die interpersonale Dimension in der wesenseinen Interdependenz von Selbstand und Relation zusammenfallen. […] Diese Prinzipen einer relationalen Trinitätslehre stützen sich auf Athanasius und finden sich bei Augustin wieder, dessen relationale Trinitätslehre ‘ohne die Vorarbeit der griechischen Theologie, insbesondere der Kappadozier, undenkbar wäre. […]’.” 22 So lässt sich der relationale Ansatz in Rudolf Bultmanns Theologie nachweisen, wie dies schon Boutin: Relationalität in den 1970er Jahren getan hat, womit also mit Barth und Bultmann zwei wichtige Einflüsse für Bonhoeffer selbst ein relationales Element in sich tragen; und auch bei Heschel wird sich das in ähnlicher Weise bewahrheiten. 23 Alle drei Hauptvertreter rezipiert Bonhoeffer für seine Dissertation Sanctorum Communio: Gemeinschaft und Gesellschaft von Ferdinand Tönnies aus dem Jahr 1919, mehrere Werke Georg Simmels (u. a. Grundfragen der Soziologie) und auch die von Max Weber; vgl. Bonhoeffer: Sanctorum Communio, 304. Heschel erwähnt in Die Prophetie nur einmalig Weber (Heschel: Die Prophetie, 27), was seinen Hauptgrund darin haben dürfte, dass er in seiner Dissertation stärker religionsgeschichtlich arbeitet und weniger soziologisch. 24 Vgl. Dépelteau: “Promises”, v; ix. 25 Witte, Schmitz und Schmidt-Wellenburg: “Editorial”, 341. Weiter heißt es dort: “Das gilt fü r die jü ngeren Theoriedebatten und ihre prominentesten Stichwortgeber – man denke an Pierre Bourdieu, Bruno Latour, Harrison C. White, Peter Hedström oder Niklas Luhmann – ebenso wie fü r methodische Entwicklungen: Relationale Methoden wie die verschiedenen Varianten der Diskursanalyse, der geometrischen Datenanalyse oder der Netzwerkanalyse feiern, nicht erst seit ‘Big Data’, Hochkonjunktur. Dabei scheint es fast, als sei das Bekenntnis zu ‘Relationalität’ zum festen Bestandteil des Markierens soziologischer Fachidentität geworden – der Begriff hat einen geradezu normativen, wenn nicht gar hegemonialen Beiklang gewonnen, und kaum eine Autorin oder ein Autor wü rde noch von sich behaupten, ‘essenzialistisch’, ‘substanzialisierend’ oder anderweitig bewusst nichtrelational zu denken.”
8 | 1 Einleitung diskurs innerhalb der Pädagogik, die nichtsdestotrotz ebenfalls einen “relational turn” kennt und zumindest von “Theorieentwicklungsrichtung”26 spricht. Bei Bonhoeffer und Heschel ist mit “relationalem Denken” daher eine hermeneutisch-epistemische Annäherung an Gott, Welt und Mensch gemeint, bei der nicht in statisch-abstrakt und/oder substantiellen Kategorien gedacht wird, wie dies in der (v. a. antiken) Seinsphilosophie, aber auch in großen Teilen der Ichphilosophie, der Fall ist.27 Trotzdem lässt sich durchaus von “Ontologie” sprechen, wie Bonhoeffer es in Akt und Sein versucht;28 und auch Heschels Ansatz kann durchaus als “ontology of biblical thinking”29 oder als “ontology of relationship”30 bezeichnet werden. Folglich spricht Heschel nicht von dem Menschen an sich, sondern nur von dem konkreten Individuum in seinen konkreten Beziehungen innerhalb seines konkreten Kontextes, der seine konkrete Existenz prägt.31 “Denken” umfasst in diesem Zusammenhang darum aber auch mindestens zwei Facetten: Einerseits den Prozess des Denkens selbst (= Denkansatz), und andererseits das daraus resultierende Produkt dieses Denkens (= Gedachtes). Ergo subsumiert sich unter dem Sammelbegriff “relationales Denken” ein wohl durchdachter Denkansatz, der sämtliche Einzelfacetten unter sich bündelt, die als “relational” charakterisiert werden.32
26 So Künkler: Lernen, 409. 27 Zur elementaren Unterscheidung zwischen Seinsphilosophie und Ichphilosophie vgl. Anzenbacher: Einführung, 54–160. 28 Bei Bonhoeffer lässt sich dann aber eben nicht von “Substanzontologie” sprechen, weil die elementare, eigentliche Seinsweise für ihn weder aus Substanz(en) noch aus abstrakten Kategorien der Vernunft besteht, sondern sich sehr konkret in Beziehungen manifestiert. Zur Unterscheidung zwischen Eigentlichem und Uneigentlichem etc. vgl. ebd., 54ff. Einen guten Überblick über zwei Verständnisse von “Ontologie” (im Zusammenhang mit dem “Relation”-Begriff) und die daraus resultierenden Problemstellungen findet man bei Horstmann: Ontologie und Relationen, 22–27. 29 Perlman: Idea, 149. 30 Britton: Heschel, 276. 31 Vgl. 4.3.4. 32 Dass hier neutral von einem “Denken” gesprochen wird, hat seinen Grund darin, dass Bonhoeffer als Theologe eine “Theologie” entwickelt, während Heschel seinen Ansatz in den beiden Hauptwerken der Mittelphase als “Philosophie” bzw. “Religionsphilosophie” bezeichnet, und auch in der Heschel-Forschung eine einheitliche Kategorisierung unmöglich ist. So zurecht auch Britton: Heschel, 66: “[W]hereas many religious authors can clearly be identified as a ‘theologian,’ or ‘historian,’ or ‘philosopher of religion,’ Heschel defies such categorization.” Weil es sich bei Bonhoeffer und Heschel damit um konkrete theologisch-philosophische Perspektiven handelt, wird – anders als bei Meyer zu Hörste-Bührer: Gott, 4 – nicht nur lose von “relationalen Ansätzen” gesprochen, sondern von einem “relationalen Denken”. Die terminologische Diskussion, wie sie sich auch bei Meyer zu Hörste-Bührer findet, die unter anderem zwischen “relationaler
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Die Besonderheit und damit Vergleichbarkeit von Bonhoeffer und Heschel liegt somit nicht darin, dass sie einen relationalen Denkansatz entwickelt hätten, andere vor (oder nach) ihnen nicht. Vielmehr ist es die Konsequenz bzw. Dichte an Relationalität(en), die sich durch ihre beiden Denkansätze zieht und die beide unumgänglich in die Praxis führt. Das unterscheidet ihre Ansätze von anderen und zeichnet ihre Nähe zueinander aus. Aus diesem Grund sei trotz allem “relationalen Denken” davor gewarnt, diesen Terminus zu einseitig auf die Theorie bezogen zu verstehen. Denn für Bonhoeffer und Heschel gehören aufgrund der Relationalität des Menschen unweigerlich praktische Konsequenzen zum Menschsein dazu, die sich aus den bestehenden Beziehungen ableiten.33 Das ist die Ursache, weshalb bei beiden Leben und Werk untrennbar miteinander verbunden sind.34 Wenn also in dieser Untersuchung von “relationalem Denken” die Rede ist, steckt dahinter der theologisch-philosophische Ansatz Bonhoeffers bzw. Heschels, sozusagen das Gesamtkonstrukt ihres Denkens, jedoch mit notwendigerweise praktischen Konsequenzen. Letzten Endes leistet diese Untersuchung damit auch einen Beitrag zur aktuellen Forschung über relationales Denken, wenn auch keine systematische Abgrenzung zu anderen Denkern vorgenommen werden kann. 1.2.2 Haupteinfluss: Die “(Hebräische) Bibel” und “hebräisches Denken” Dass Bonhoeffers und Heschels relationale Ansätze in ihrer Art und Weise immer einzigartiger und ebenso immer prophetischer werden, hängt neben zeitgenössischen Einflüssen allen voran einerseits an dem zunehmenden Stellenwert des Theologie”, “relationaler Ontologie”, “relationalem Ansatz” und “relationalem Paradigma” unterscheidet (Vgl. Meyer zu Hörste-Bührer: Gott, 3–18 bes.; 19ff.), ist für diese Untersuchung jedoch nur bedingt hilfreich. Denn in allererster Linie geht es nicht um das Etikett, sondern die Inhalte; diesen Anspruch teilt Meyer zu Hörste-Buehrer natürlich ebenfalls. Die Positionen sollen miteinander ins Gespräch gebracht und für weitere Ableitungen fruchtbar gemacht werden. Deshalb geht es an dieser Stelle lediglich darum, Klarheit im Kommunikationsprozess zwischen Verfasser und Leser zu schaffen. Auch darum ist der Begriff “Relationalismus” im Zusammenhang dieser Untersuchung ausgeschlossen worden, da er einen der zentralen Begriffe in Karl Mannheims wissenssoziologischer Methode darstellt, die er fast zeitgleich zu Bonhoeffers und Heschels Frühphase in den 1920er Jahren entwickelt; vgl. Ritter und Gründer: Relationalismus, 612f. Im Übrigen spielt durch diese einheitliche Terminologie auch der unterschiedliche Gebrauch von “Religion” keine Rolle, der nicht eigens systematisch dargestellt werden konnte, sich aber leicht über das Sachregister herleiten lässt. 33 Green: Bonhoeffer, 3, spricht darum in Bezug auf Bonhoeffer von “the autobiographical dimension of his theology”. 34 Ohne diese mit Relationalität in Verbindung zu bringen, begründet Haynes: Phenomenon, 7, die Popularität Bonhoeffers in genau dieser “unity of action and belief”.
10 | 1 Einleitung Alten Testaments/der Hebräischen Bibel, andererseits an einer relationalen Hermeneutik, die sich besonders ab der Mittelphase durchsetzt; dies führt beide zunächst zu einer intensivierten Spiritualität und mündet letztlich in ihrer Spätphase in den sogenannten “prophetisch-sozialen Aktivismus”. So lautet die zweite Hauptthese dieser Untersuchung. Um die terminologische Schwierigkeit beider Bezeichnungen zu umgehen – sowohl “Altes Testament” als auch “Hebräische Bibel” –,35 wird nach Möglichkeit auf die Eigenbezeichnung Bonhoeffers bzw. Heschels zurückgegriffen, d. h. im Zusammenhang mit Bonhoeffer “Altes Testament”, im Zusammenhang mit Heschel “Hebräische Bibel”. Wenn es beide gemeinsam betrifft, wird summarisch von “(Hebräischer) Bibel” gesprochen. Dies kann aufseiten Bonhoeffers auch Teile des Neuen Testaments umfassen, die den Inhalten bzw. der Denkweise der Hebräischen Bibel besonders eng verbunden sind; der jeweilige Kontext gibt Auskunft darüber.36 Diese Definition wird maßgeblich durch eine weitere Begrifflichkeit unterstützt, die Heschel im Kontrast zu der bereits erwähnten griechischen Metaphysik prägt und die inhaltlich deutliche Überschneidungen zum “relationalen Denken” besitzt: “Hebrew thinking”, also “hebräisches Denken”.37 Während “relationales Denken” funktional verwendet wird – dass also eine bestimmte Komponente in ihrer Relationalität verstanden oder betrachtet wird oder zwei Komponenten sich relational zueinander verhalten –, impliziert “hebräisches Denken” zu allererst den Ursprung und die Verwurzelung im hebräisch-israelitischen Erbe, wie es von der (Hebräischen) Bibel und eben auch vom Neuen Testament überliefert wird, allen voran vom matthäischen Jesus, der sich mit der Bergpredigt (Mt 5–7) in die klassisch rabbinische Diskussion jener Zeit begibt und das Volk als einer von zahlreichen Gelehrten unterrichtet; zumindest von der Sachlage her wird hebräisches Denken damit auch Bonhoeffer spätestens mit der Nachfolge immer vertrauter. Hebräisches Denken beinhaltet dabei ein bestimmtes Gottes-, Welt- und Menschenbild, das sich signifikant vom griechischen Denken unterscheidet, auch wenn gleichzeitig angemerkt sei, dass es nicht das hebräische Denken gibt, weil
35 Während “Altes Testament” einen genuin christlichen Begriff mit gewissen SuperpositionsImplikationen darstellt, der in einer Untersuchung innerhalb des christlich-jüdischen Feldes als unpassend erscheint, lässt sich am Begriff “Hebräische Bibel” kritisieren, dass gar nicht alle Teile tatsächlich auch in hebräischer Sprache sind oder der Begriff gar anachronistisch ist (so Alkier: Neues Testament, 16). Diese Problematik kann an dieser Stelle lediglich benannt, jedoch keine letztgültige Antwort gegeben werden. 36 In ähnlicher Weise diskutiert Sommer: Revelation, 13, diese Problematik. 37 vgl. Heschel: God, 14f.
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die (Hebräische) Bibel selbst vielstimmig ist.38 Demgemäß darf eine Gegenüberstellung von zwei Denkansätzen dieser Art niemals simplifizierend als starre und schwarz-weiße Dichotomie verstanden werden; das würde weder dem hiesigen Untersuchungsgegenstand noch Bonhoeffer und Heschel selbst gerecht werden.39 Dass Bonhoeffer und Heschel in ihrem systematisierenden Denken auch gewisse Errungenschaften griechischer Denkweise implementieren, dürfte offensichtlich sein, besonders bei Bonhoeffer (Heschels Aufbau seiner Werke gleicht dagegen oftmals eher chassidisch-zirkulierendem Ansatz). Auch darum wird der Terminologie des “relationalen Denkens” Vorzug geleistet, wohl wissend, dass es die (Hebräische) Bibel ist – mit ihrem Einfluss nicht nur auf relationales Denken, sondern auch auf Hermeneutik, Spiritualität und letztlich prophetisch-sozialen Aktivismus –, der darum eine außerordentliche Wichtigkeit im christlich-jüdischen Dialog zukommt.
1.2.3 Forschungsstand und sonstiger Forschungszugewinn Da der Vergleich zwischen Bonhoeffer und Heschel nicht auf Anhieb naheliegend ist und er zudem Kompetenzen in zahlreichen Geisteswissenschaften erfordert, verwundert es nicht, dass bislang keine einzige komparative Studie veröffentlicht ist, die Bonhoeffer und Heschel gleichermaßen in den Blick nimmt.40
38 Etliche Ansätze einer Unterscheidung findet man bei Lubahn, Rodenberg und Betz, Hg.: Von Gott erkannt, in dem auch vielfältig auf Heschel verwiesen wird. Leider sind die wissenschaftlichsystematischen Untersuchungen zur Unterscheidung zwischen griechischem und hebräischem Denken sehr überschaubar und zumeist älteren Jahrgangs, wissenschaftlich nicht immer zuverlässig. Zudem handelt es sich um eine Tautologie, wenn Heschels hebräisches Denken anhand einer Publikation überprüft werden soll, die selbst substantiell von Heschel als ihrer Quelle Gebrauch macht. Dieser Diskrepanz konnte jedoch im Zuge dieser Untersuchung keine weitere Beachtung geschenkt werden. 39 Das auch realiter Bonhoeffer und Heschel selbst in beiden Denkwelten zuhause sind und mindestens fruchtbare Überschneidungen herrschen, sieht man beispielsweise in Heschels Verständnis von “Religionsphilosophie” in God in Search of Man. 40 Moltmann: Der gekreuzigte Gott, 21; 33; 49; 65; 139; 259ff.; 265f., ist einer der ganz wenigen, der überhaupt Bonhoeffer und Heschel innerhalb eines Werkes benennt – freilich ohne sie miteinander ins Gespräch zu bringen. In ähnlicher Weise auch Patel: “Bonhoeffer”, 286–295, der Martin Luther King Jr., Heschel und Bonhoeffer nebeneinander mit der Frage untersucht, “of what it means to be a person of faith in the times in which we live” (287). Etwas konkreter hat Palmisano: “Abraham Joshua Heschel And Interfaith Dialogue”, in einem unveröffentlichten Paper über Heschel und den interreligiösen Dialog auch Bonhoeffers Überlegungen zur mündig gewordenen Welt aufgegriffen, die er zumindest kurz mit Heschel ins Gespräch bringt.
12 | 1 Einleitung Lediglich die Magisterarbeit Zwei Propheten ihrer Zeit41 des Verfassers dieser Untersuchung aus dem Jahre 2014 hat bereits Bonhoeffer und Heschel miteinander ins Gespräch gebracht, dabei aber besonders die Frühphase beider mit ihren Dissertationen und den geistesgeschichtlichen Einflüssen in den Blick genommen und nach den Ursachen für ihren prophetischen Aktivismus gefragt; dass diese ersten Werke als Weichenstellung für Bonhoeffers und Heschels weitere Entwicklung und ihren späteren prophetischen Aktivismus gelten können, hat die Arbeit deutlich machen wollen, musste aber aufgrund ihres beschränkten Umfangs (von ca. 120 Seiten) in der Mittel- und Spätphase oberflächlich bleiben. Da in der Magisterarbeit bereits besagte Ergebnisse bestehen, werden zentrale Überlegungen und Formulierungen herangezogen, ohne (als Fußnote) explizit erwähnt zu werden; alles andere hätte den Lesefluss dieser Untersuchung immens beeinträchtigt. Über die Magisterarbeit hinaus wurde in dieser Untersuchung zum einen umfangreiches und teils bisher unzugängliches Quellenmaterial berücksichtigt, vorrangig aufseiten Heschels. Zum anderen wurde dem ersten Amerika-Aufenthalt Bonhoeffers samt Einfluss durch Adam Clayton Powell Sr. besondere Aufmerksamkeit geschenkt, was in der hiesigen Forschung bisher wenig Berücksichtigung fand. So verdichtet diese Untersuchung damit nicht nur die akademische Frühphase Bonhoeffers und Heschels, sondern spannt auch den Bogen in die Mittel- und Spätphase beider, zumal die Argumentationslinie dieser Untersuchung mit ihrem relationalen Denken unter dem Einfluss der (Hebräischen) Bibel eine Grundlegendere ist. Denn sie fragt nach den Ursachen und dem roten Faden von Bonhoeffers und Heschels Denken, die die Grundlage für Bonhoeffers und Heschels prophetischen Aktivismus bildet. Somit liefert diese Untersuchung auch einen substantiellen Beitrag zur Bonhoeffer- wie auch Heschel-Forschung. Dabei konnte auf ein beträchtliches Maß an Sekundärliteratur zurückgegriffen werden. Gerade aufseiten Bonhoeffers ist der Umfang schier unüberschaubar.42 Aufgrund ihrer Thematisierung von Bonhoeffers relationalem Denken sind einige Werke von besonderer Bedeutung und intensiv verarbeitet worden. So hat Jürgen Moltmann schon 1959 Bonhoeffers Ansatz in Sanctorum Communio als “Personalismus” bezeichnet, der “in der Christusgemeinschaft der Kirche”43 gipfelt. Diese Thematik greift auch Clifford Green auf, der die Bedeutung von Bonhoeffers früher “Theology of Sociality” als weichenstellend betrachtet 41 Mertens: Propheten. 42 Wie bereits erwähnt, verzeichnet das deutsche Dietrich Bonhoeffer Portal fast 6000 wissenschaftliche Texte zu Bonhoeffer; vgl. http://www.dietrich-bonhoeffer.net/bibliografie (abgerufen am 15.03.2021). 43 Moltmann: Herrschaft, 14.
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und an anderer Stelle auch schon eine Entwicklung “in die Richtung der Öffentlichkeit”44 sieht. Auch Christiane Tietz (-Steiding) leistet mit ihrer Doktorarbeit über Bonhoeffers Kritik der verkrümmten Vernunft einen wichtigen Beitrag insbesondere zu dessen Frühphase und spricht explizit von einem relationalen Personbegriff Bonhoeffers. Daran knüpft Michael DeJonge mit Bonhoeffer’s Theological Formation an, der (ebenso wie Andreas Pangritz) in seiner komparativen Studie Bonhoeffers Ansatz als “person-theology” herausstellt – Gottes freie Bindung an den Menschen im Gegensatz zur barthschen Freiheit von (als konsequente Transzendenz), wodurch auch der Mensch in seiner Relationalität charakterisiert wird. Nadine Hamilton erörtert anhand von Schöpfung und Fall Dietrich Bonhoeffers Hermeneutik der Responsivität, wohinter sich die in dieser Untersuchung so bezeichnete Relationalität zur Bibel verbirgt. Der katholische Theologe Tobias Schulte hat jüngst mit seiner Arbeit Ohne Gott mit Gott an einer Glaubenshermeneutik zu Bonhoeffer geforscht und betont darin ebenfalls den “strikt relational ausgerichtete[n] Denkansatz”45 Bonhoeffers; die Ohnmacht Gottes in Bonhoeffers spätem Denken resoniert ebenfalls mit den Ergebnissen dieser Untersuchung. Jelena Beljins kurzer Artikel (als Vorarbeit zu einer Dissertation) benennt anhand von Bonhoeffers Anthropologie klar vier Relationsstufen, nämlich zur Welt, zum Nächsten, zu sich selbst und zu Gott,46 wie sie in dieser Arbeit ganz wesentlich sind. Nicole Herrmannsdörfer, die über Bonhoeffers Verständnis von Beten, Tun des Gerechten und Warten auf Gottes Zeit unter gleichnamigem Titel geforscht hat, formuliert die Relationalitäten dementsprechend praktisch-spirituell: “Das Gebet verändert die Beziehung des Menschen zu Gott, zum Mitmenschen und zu sich selbst, aber auch zur Schöpfung und zur Geschichte.”47 Demgemäß kommt sie zu dem Schluss: “Das Beten und Tun des Gerechten vereint alle Dimensionen des Lebens, die geistlich-spirituelle und die Beziehung zu Mitmenschen und Welt.”48 Nachdem die (deutsche) Bonhoeffer-Forschung in den letzten Jahrzehnten den Schwerpunkt auf die Auslegung einzelner Werke oder Lebensabschnitte gelegt hat, liegt hiermit fast zeitgleich zur heilsgeschichtlich-harmatiologischen Werksanalyse von Dennis Dietz wieder eine Gesamtdeutung Bonhoeffers vor – in diesem Fall anhand des relationalen Denkens als rotem Faden.49 44 Green: “These”, 71. 45 Schulte: Ohne Gott, 142. 46 Vgl. Beljin: “Menschenbild”, 193. 47 Hermannsdörfer: Beten, 115. 48 Ebd., 256. 49 Damit sollte zudem auch in Ansätzen Greens Beobachtung entgegengewirkt werden, dass “while early interpreters were bold to advance theses about the nature of Bonhoeffer’s theology
14 | 1 Einleitung Aufseiten Heschels ist die Sekundärliteratur insgesamt überschaubarer, aber nicht weniger bedeutsam. Einen umfangreichen und ausgezeichneten Forschungsüberblick hat jüngst Joseph H. Britton in Abraham Joshua Heschel and the phenomenon of piety vorgelegt.50 Mit seinem Ansatz versucht er unter anderem, “the relatively parochial nature of many studies of Heschel” zu umgehen; sie seien, so Britton, zudem häufig “relatively reluctant to make connections or even comparisons between his work and that of related thinkers”.51 Er selbst fokussiert sich auf “piety as the structural spine of Heschel’s thought”52 und deutet dessen Leben und Werk letztlich als “ontology of relationship”,53 womit er grundlegende Ergebnisse zu Heschel in dieser Untersuchung bestärkt. Und auch Shai Held kommt zu dem Schluss: “Heschel’s project is a call to self-transcendence, an attempt to move humanity beyond the self-enclosed prison of purely reflexive concern, and to help us develop (or, perhaps better, to recover) our capacity for transitive concern”.54 Damit spricht er nichts anderes als die Relationalität zu Gott und zum Nächsten an. Im Fall Heschels fokussieren sich somit die aktuellen Monographien gerade stärker auf das Gesamtwerk. Jedoch sind sie – wie auch der Rest an Forschungsliteratur zu Heschel – fast ausnahmslos nicht in deutscher Sprache; die einzige Ausnahme überhaupt, die Monographie Bernhard Dolnas, versteht sich vornehmlich als eine Einführung in Leben und Werk Heschels. Diese Untersuchung soll darum auch dazu beitragen, Heschels Leben und Denken im deutschsprachigen Raum bekannter zu machen, wo er immerhin seine gesamte akademische Bildung erworben hat; in besonderem Maße will sie dabei auf ebenjene entscheidende Facette seines relationalen Denkens verweisen. Ferner berücksichtigt und verwertet diese Untersuchung bisher unveröffentlichtes Quellenmaterial, das Heschels Anfänge seiner Lehre des göttlichen Pathos verdeutlicht, was die Grundlage seines relationalen Denkens ausmacht. Um die Gemeinsamkeiten zu verdeutlichen und gleichsam die (deckungsgleichen) Ursprünge ihres Denkens hervorzuheben, wird zusätzlich immer wieder as a whole and what drove its development, more recent scholarship has tended to focus on specific topics and texts” (Green: “Discipleship”, 71). Indem zunächst eine grundlegende Analyse von Bonhoeffer (und Heschel) vorgelegt und darin gezeigt wird, dass die Relationalität tatsächlich das entscheidende Merkmal im Denken beider ist, soll unter anderem auch das methodologische Problem der (willkürlichen) Zuspitzung auf einen Aspekt umgangen werden, wie ders.: Bonhoeffer, 9, dies an komparativen Studien zu Bonhoeffer kritisiert. 50 Vgl. Britton: Heschel, 55–69. 51 Beides ebd., 67. 52 Ebd., 277. 53 Ebd., 276. 54 Held: Heschel, 233.
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auch der geistesgeschichtliche Kontext berücksichtigt werden. Darum sind auch die vergleichenden Studien aufseiten Bonhoeffers bzw. Heschels zu ihren Zeitgenossen von besonderer Bedeutung. Zu Bonhoeffer sei auf Carl-Jürgen Kaltenborns Werk über “Adolf von Harnack als Lehrer Dietrich Bonhoeffers” hingewiesen, wie auch auf Pangritz’ Nachweis der Theologie Barths im Denken Bonhoeffers, die er als “notwendige Klarstellung” formuliert, nachdem sich Bonhoeffer so explizit von Barths sogenanntem “Offenbarungspositivismus” distanziert hat.55 In eine ähnliche Richtung wie Pangritz, jedoch mit Konzentration auf Bonhoeffers Frühphase, zielen die Arbeiten von Charles Marsh und Michael DeJonge, wobei Marsh etwas breiter den geistesgeschichtlichen Einfluss rezipiert und einen Bezug zu dem jüdischen Dialogiker Martin Buber herstellt.56 Sehr spezifisch dazu ist schließlich nochmals Pangritz, der den Einfluss von Barths Römerbrief auf Bonhoeffer nachzuzeichnen versucht.57 Und Pangritz ist es schließlich auch, der Bonhoeffer anhand der Unterscheidung von “Geheimnis und Gebot” in einen direkten Vergleich zu dem jüdischen Religionsphilosophen und Lehrer Heschels, Leo Baeck, verwickelt.58 Dann sei auf den Sammelband zu “Bonhoeffer’s Intellectual Formation” hingewiesen, herausgegeben von Peter Frick, der zahlreiche geistesgeschichtliche Einflüsse analysiert.59 Dort und auch in dem gleichnamigen Sammelband zu “Bonhoeffer und Luther” wird der wohl wichtigste geistesgeschichtliche Einfluss thematisiert, nämlich Martin Luther. Was Heschel betrifft, so sind gerade in den letzten Jahren wichtige vergleichende Studien publiziert worden. In gewisser Hinsicht ähnlich zu der vorliegenden Untersuchung ist Joseph R. Palmisanos Vergleich zwischen Heschel und Edith Stein, die Palmisano bewusst in den christlichen-jüdischen Dialog positioniert.60 Besonders für die Forschungsfrage dieser Untersuchung sind Alexander Even-Chen und Ephraim Meir mit ihrer komparativen Studie zu Heschel und Buber von Bereicherung, ebenso Christian Wieses Vergleich zwischen Heschel und Hans Jonas.61 Während über Heschel lediglich eine zweibändige Biographie von Edward K. Kaplan (unter mithilfe von Samuel H. Dresner) vorliegt, konnte aufseiten Bonhoeffers eine Reihe an unterschiedlichen Biographien (v. a. die von Eberhard Bethge, Charles Marsh und Ferdinand Schlingensiepen) zur biographischen Rekonstruk55 Kaltenborn: Harnack; Pangritz: Barth. 56 Marsh: Reclaiming; DeJonge: Formation. 57 Pangritz: “Kommen”, 219–250. 58 Ders.: “Geheimnis”, 222–245. 59 Frick, Hg.: Formation. 60 Palmisano: Beyond. 61 Even-Chen und Meir: Between; Wiese: “God’s Passion”.
16 | 1 Einleitung tion zurückgegriffen werden. Darüber hinaus integriert diese Untersuchung eine breite Masse an Einzelstudien und Werksauslegungen. Von ihnen wurde nach bestem Wissen und Gewissen ein repräsentativer Teil rezipiert und integriert. Nicht zuletzt bietet diese Untersuchung auch Impulse an das gegenwärtige Christentum und Judentum selbst, was jedoch aufgrund des Umfangs dieser Untersuchung an dieser Stelle nicht eigens diskutiert werden konnte. Beispielsweise denke man nur an die Aktualität des Anspruchs Heschels und Bonhoeffers, die (Hebräische) Bibel nicht nur weiterhin im kirchlichen Kanon zu behalten, sondern seinen Stellenwert zum Lesen und Verstehen des Neuen Testaments noch aufzuwerten.62 Auch existiert nach wie vor die Hoffnung auf Rehabilitierung Bonhoeffers, der aufgrund einer bestimmten Lesart seines Aufsatzes zur “Kirche vor der Judenfrage” von 1933 bisher nicht zu den Gerechten unter den Völkern gezählt worden ist.63 Denn immerhin, so urteilt Pangritz, besteht “BONHOEFFERs [sic!] eigentliche Leistung im Blick auf die Juden [besteht] in seiner aktiven Solidarisierung, in seiner sich selbst interpretierenden Tat”.64 Mit Blick auf beide Religionen sei ferner an Bonhoeffers und Heschels wiederkehrende Impulse zu lebendiger Spiritualität gedacht, die nach wie vor im 21. Jahrhundert von Bedeutung sind, insbesondere im Zusammenhang mit ihren prophetisch-praktischen Konsequenzen. Somit ist diese Untersuchung auch ein Stück christlich-jüdischer Dialog – insofern künstlicher Natur, weil Bonhoeffer und Heschel nie miteinander gesprochen haben. Doch sie wird zeigen, wie ähnlich sich ein Christ und ein Jude in ihrem Denken und Handeln trotz bleibender Unterschiede sein können. 1.2.4 Aufbau, Methodik und untersuchtes Material Um die Gemeinsamkeiten samt der ähnlichen Entwicklung Bonhoeffers und Heschels hin zu ihrem relationalen Denken sowie ihre Verwobenheit von Person, Zeitgeschichte und Werk deutlich zu machen, wurde in dieser Untersuchung als Aufbau bewusst eine geistesgeschichtliche Darstellung gewählt.65 In den Zusammenfassungen zum Ende der jeweiligen drei Kapitel und im Rückblick war eine 62 Spätestens die Debatte um Notger Slenczkas Infragestellung der Kanonizität des Alten Testamentes macht Bonhoeffers und Heschels Gedanken brandaktuell; zur Debatte vgl. Slenczka: Vom Alten. 63 So nachzulesen in Wolfgang Hubers Vortrag “Dietrich Bonhoeffer – ein evangelischer Heiliger”, https://www.ekd.de/060203_huber_breslau.htm (abgerufen am 15.03.2021). 64 Pangritz: “Geheimnis”, 224. 65 Bereits Müller: “Kirche”, 13, hat es als größte Schwierigkeit empfunden, “systematisch die Entwicklung Bonhoeffers zu erfassen, das heißt Geschichte und System miteinander zu versöhnen.” Ähnliches gilt in Bezug auf Heschel.
1.2 “Relationales Denken” und “(Hebräische) Bibel”: Hinführung
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Systematisierung naheliegend, die die Entwicklung, Faktizität und Ähnlichkeit des relationalen Denkens von Bonhoeffer und Heschel offenbar machen soll. Es wird sich dabei zeigen, dass die bereits in den 1960er Jahren von Bethge entwickelte Aufteilung von Bonhoeffers Leben in drei Phasen nicht nur auch im Zusammenhang mit dessen relationalem Denken Sinn macht, sondern sich diese Dreiteilung auch im Leben Heschels bewährt.66 Eine graphische Darstellung dieser drei Lebensphasen findet sich am Ende dieser Einführung.67 Denn Ausgangsmotivation Bonhoeffers und Heschels ist, wie sich schnell zeigen wird, die Versöhnung ihrer traditionell-religiösen Herzensfrömmigkeit (des Herrnhuter Pietismus bzw. des Chassidismus mit den rationalen Ansprüchen, die auf sie eindringen, sei es von familiärer Seite (im Falle Bonhoeffers) oder aufgrund des persönlichen Verlustes und der dadurch erschütterten Frömmigkeit durch die Leidfrage (im Falle Heschels). Dieser erste Schritt der Versöhnung findet bei beiden im (Berliner) universitären Umfeld statt, weshalb sich diese erste Lebensphase auch als “akademische Frühphase” bezeichnen lässt. In ihr legen beide ihre wissenschaftlich-argumentativen Grundlagen, und zwar methodisch auf fast dieselbe Art und Weise; allerdings bietet nur Heschel aufgrund seiner Auseinandersetzung mit den biblischen Propheten allererste Impulse prophetischen Redens, während Bonhoeffer dies nicht im Blick hat – trotz seiner schon frühen Auseinandersetzung mit der Bibel. Bonhoeffers erster Amerika-Aufenthalt markiert einen deutlichen Wendepunkt, durch den er o. g. “Mangel” bald nachholt und mithilfe einer betendrelationalen Haltung einen ganz neuen Zugang zur Bibel bekommt. Darum ist sein Schwerpunkt dieser Mittelphase die Spiritualität, und zwar parallel zu Heschel, der Erfahrungen aus seiner Heimat wieder aufgreift; beide wirken damit schwerpunktmäßig in ihre eigene Religionsgemeinschaft hinein und prangern Missstände an. Durch diese verstärkte Relationalität werden beide in ganz neuer Qualität auch persönlich mit hineingezogen. Aber erst in der Spätphase sprengen beide konsequent den Rahmen ihrer Religion und ergreifen aufgrund eines gleichermaßen vollends ausgebauten relationalen Denkens in allen Facetten (zu Gott, zum Nächsten und zur Welt) ihren prophetischen Aktivismus und treten so den unterdrückenden Mächten ihres Kontextes entgegen. Dass trotz aller Neuerungen von Phase zu Phase ebenso kontinuierliche Bögen gezogen werden können und wesentliche Elemente bereits in der 66 Seit mindestens 1961 existiert in der Bonhoeffer-Forschung die Dreiteilung in dessen Leben; vgl. ebd., 33f. 67 Herzlichen Dank an Prof. Dr. Heiko Schulz, auf dessen Zweitgutachten diese Übersichtsgraphik zurückgeht.
18 | 1 Einleitung Frühphase angelegt sind, sollen die drei Zusammenfassungen der jeweiligen Phase deutlich machen. Mit ihrer Gesamtperspektive auf Leben und Werk Bonhoeffers (und natürlich Heschels) setzt diese Untersuchung damit konsequent um, was Ernst Feil schon vor über vierzig Jahren forderte, dass nämlich das Werk Bonhoeffers trotz bzw. wegen “kontinuierlicher Entwicklung” nicht “eklektisch rezipiert werden”68 darf. Um dem Leser den geistesgeschichtlichen Vergleich und die gemeinsamen und unterschiedlichen Einflüsse und Situationen Bonhoeffers und Heschels möglichst transparent aufzuzeigen, wurden an möglichst vielen Stellen biographische, geistige und geistliche Entwicklungen in Parallelität gesetzt. Das Quellenmaterial musste möglichst umfassend Berücksichtigung finden, da diese Untersuchung das relationale Denken im Leben und Werk Bonhoeffers und Heschels als den roten Faden herauszustellen versucht. Gleichzeitig hätte eine wirklich intensive und angemessene Würdigung aller publizierten Werke, aller Briefe und sonstigen Materialen den Umfang dieser Untersuchung bei weitem gesprengt. Im Großen und Ganzen konzentriert sich diese Untersuchung darum auf das einsehbare Quellenmaterial und legt Schwerpunkte im Werksvergleich. Im Falle Bonhoeffers wurde die Werksausgabe mit ihren 17 Bänden in den Mittelpunkt der Untersuchung gestellt, womit eine ausgezeichnet aufbereitete und leicht zugängliche Quellengrundlage zur Verfügung stand. Heschels Werke sind im Gegensatz dazu weiter verstreut und nicht kritisch redigiert. Sein massiver Nachlass (mit Briefen, Manuskripten und vielem mehr) von über 300 Boxen, der 16 verschiedene Sprachen integriert, ist nur vor Ort in der David M. Rubenstein Rare Book & Manuscript Library der Duke University in Durham/North Carolina zugänglich.69 nach bestem Wissen und Gewissen wurde eine repräsentative Grundlage an Quellen berücksichtigt, allen voran bisher unveröffentlichte Seminararbeiten und Vorarbeiten, die zur Bedeutsamkeit dieser Untersuchung beitragen. Weiterhin musste eine Vielzahl an (hauptsächlich zeitgenössischen) assoziierten Theologen und Philosophen berücksichtigt werden, die nicht nur für Bonhoeffers und Heschels individuelle Entwicklung hin zum relationalen Denken einflussreich waren, sondern auch als sogenannte “missing links” für die Gemeinsamkeiten beider mitverantwortlich gemacht werden können. Dies schlägt sich insbesondere in der akademischen Frühphase bzw. zudem in Bonhoeffers ers68 Feil: Theologie, 26. 69 Mehr zu Heschels Nachlass unter https://idn.duke.edu/ark:/87924/m1p341 (abgerufen am 15.03.2021). Die Siglierung in dieser Untersuchung erfolgt nach dem Muster “X/Y, (ggf.) Z”, wobei “X” für die jeweilige Box steht, “Y” für den darin enthaltenen Ordner und “Z” für eine etwaige Seitenzahl. Zur leichteren Identifizierung im Text wurde das unveröffentlichte Material aus Heschels Nachlass konsequent mit “Heschel: Papers” samt entsprechender Siglierung versehen; die vom Archiv verwendeten Titel des jeweiligen Ordners findet man sodann im Quellenverzeichnis.
1.2 “Relationales Denken” und “(Hebräische) Bibel”: Hinführung
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tem Amerika-Aufenthalt nieder, sodass immer wieder entsprechende Einflüsse als kurze Exkurse skizziert und integriert werden. Dabei wird sich zeigen, dass die akademische Frühphase bei beiden weichenstellende Funktion erfüllt, während die Mittelphase der Sammlung und Modifikation gilt, sodass in der Spätphase das theoretische Fundament für den prophetischen Aktivismus beider gelegt ist, infolge dessen beide tatsächlich als “Propheten ihrer Zeit” angesehen werden können.
Abb. 1: Die drei Lebensphasen Bonhoeffers und Heschels im Überblick.
2 Weichenstellung zu relationalem Denken: Die akademische Frühphase Der Faden, den der erste Adam zwischen Gott und Mensch zerschnitt, wird von Gott aus neu geknüpft, und zwar indem er in Christus seine Liebe offenbart, nun nicht mehr als Forderung und Anruf, als reines Du an den Menschen herantretend, sondern sich als Ich schenkend, sein Herz öffnend. In der Offenbarung des Herzens Gottes ist die Kirche begründet. – Dietrich Bonhoeffer, Sanctorum Communio (1930) Der Prophet faßt das Unheilspathos als einen Zustand auf, der sub specie dei unerwünscht ist. Er verkündet den Zorn als das Weh Gottes über den Verrat des Volkes. Die Verkündigung des Zornes weist nicht nur auf dessen Folgen, die in der Zukunft möglich sind, sondern auch auf dessen Anlaß, das Leid, das in der Gegenwart wirklich besteht. Immer wieder schildern die Propheten den Kummer und die Enttäuschung Gottes über die Treulosigkeit des Volkes, wie auch den inneren Kampf zwischen dem Langmut und dem Zorn. – Abraham J. Heschel, Die Prophetie (1936)
2.1 Biographische Hinführung 2.1.1 Bonhoeffers Annäherung an die Bibel: Breslau und Berlin (1906–1923) 2.1.1.1 Kindheit Dietrich Bonhoeffer, zusammen mit seiner Zwillingsschwester Sabine am 04. Februar 1906 im schlesischen Breslau geboren,1 wächst in einer gutbürgerlichtraditionsreichen Akademiker-Familie auf. Sowohl Vater Karl (1868–1948), seit 1904 Ordinarius für Psychiatrie in Breslau und ab 1912 in Berlin,2 als auch Mutter Paula (geb. von Hase; 1876–1951), examinierte Lehrerin und Organisatorin der 10köpfigen Familie,3 prägen die Kinder entscheidend: Vater Karl gut humanistisch, Mutter Paula fromm-protestantisch;4 Großvater Karl Alfred von Hase, Vater von Paula, ist Konsistorialrat und Professor für praktische Theologie gewesen und hat nicht nur die Zwillinge Dietrich und Sabine, sondern auch die jüngere Schwester Susanne getauft; dessen Vater Karl August ist renommierter Kirchen- und Dogmengeschichtler gewesen; nach dem Tod des Großvaters Karl Alfred übernimmt
1 Vgl. Bethge: DB, 23. 2 Vgl. ebd., 35 u. 43. 3 Vgl. ebd., 38. 4 Vgl. ebd., 59. https://doi.org/10.1515/9783110771961-002
2.1 Biographische Hinführung
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Hans von Hase, der ältere Bruder Paulas, die pastorale Fürsorge der Familie.5 Auch das Berliner Lebensumfeld, der Grunewald, tut sein Übriges, wo die gut betuchten und gebildeten Leute leben. In diesem Umfeld macht auch der junge Bonhoeffer seine ersten Bekanntschaften zu Juden, was ihn zeitlebens prägen wird.6 Ebendiese Spannung zwischen aufgeklärter Wissenschaft und persönlicher Frömmigkeit zieht sich durch Bonhoeffers gesamte Biographie; soviel kann an dieser Stelle vorweggenommen werden. Peter Zimmerlings Urteil trifft dabei sozusagen den Nagel auf den Kopf, die Familie nach heutigen Maßstäben und nach heutigem Vokabular einerseits als “kirchendistanziert” zu bezeichnen, während andererseits persönliche Frömmigkeit in der Kindererziehung eine nicht unerhebliche Rolle spielt, zumal auch die Erzieherin im Haus, Maria Horn, die Kinder durch ihren Herrnhuter Pietismus entscheidend beeinflusst, dessen Einflüsse sich in Bonhoeffers Frömmigkeit bis in die letzten Lebensjahre hinein finden lassen.7 2.1.1.2 Exkurs: Bonhoeffer und der (Herrnhuter) Pietismus Weil die Herrnhuter Prägung Bonhoeffer zeitlebens immer wieder einholt und sie für die Gemeinsamkeiten zu Heschel nicht unwichtig ist, dies aber sehr verstreut und punktuell geschieht, muss an dieser Stelle bereits ein kurzer Vorgriff über Bonhoeffers Auseinandersetzung mit dem Pietismus und der Herrnhuter Pietismus geschehen. Der Herrnhuter Pietismus, bekannt durch die sogenannten “Brüdergemeinen”,8 entsteht im Jahre 1727; Auslöser ist eine Abendmahlsfeier am 13. August auf dem Grundstück von Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf, nachdem Zinzendorf 1722 zahlreichen böhmisch-mährischen Glaubensflüchtlingen auf seinem Boden Asyl gewährt hat, und führt zu einer regelrechten Erweckung.9 Theologisch wichtig sind: Die Zentralität der Bibel, die Herrnhuter Christozentrik und Soteriologie in Verbindung mit Erkenntnis der Schuld und Betonung der Buße samt daraus resultierender Gleichheit aller Menschen, Nächstenliebe und JesusNachfolge, woran die Verwurzelung in der Tradition Luthers ersichtlich wird.10 Im Gegensatz zum Rationalismus seiner Zeit betont Zinzendorf als theologischer
5 Vgl. Bethge: DB, 25–29. Mehr zur bonhoefferschen Familienhistorie findet man auch im Nachlass von Bonhoeffers Schwester Susanne (Dreß), der jüngst von Jutta Koslowski herausgegeben worden ist. 6 Vgl. Marsh: Strange Glory, 11; 39. 7 Vgl. Zimmerling: “Bonhoeffer”, 246–261, bes. 247f. 8 Vgl. http://www.ebu.de/startseite (abgerufen am 15.03.2021). 9 Vgl. Zimmerling: Zinzendorf , 22; 27–30; Hauschild: Lehrbuch 2, 705. 10 Vgl. Zimmerling: Zinzendorf , 29ff.; 127ff.; Hauschild: Lehrbuch 2, 709.
22 | 2 Weichenstellung zu relationalem Denken: Die akademische Frühphase Kopf die göttliche Offenbarung aus der Schrift durch die Wirkung des Heiligen Geistes, wodurch die lebendige Stimme von Jesus Christus in den Mittelpunkt gestellt wird.11 Konkret sind es besonders die Wunden Jesu, stellvertretend für den Menschen;12 das familiäre Bild von Vater, Mutter und Kindern der zinzendorfschen Trinitätslehre bringt den relationalen Aspekt zum Ausdruck.13 Die praktischen Konsequenzen des Glaubens hebt Zinzendorf für jeden Gläubigen hervor, anstatt Professionalisierung diakonischer Bemühungen zu etablieren;14 imitatio Christi wird dabei regelrecht zum Schlagwort.15 Mit ihrer starken Frömmigkeit in relativ autarker Topographie ist die Brüdergemeine damit als klassische Kommunität zu verstehen und wird auch bald vom Protestantismus als solche anerkannt,16 obwohl die Brüderbewegung zeitlebens ökumenisch ausgerichtet ist, was Zinzendorf sogar theologisch anhand seiner sogenannten “Tropenlehre” begründet.17 Bonhoeffer selbst begleitet diese lebendige Frömmigkeit bereits seit frühester Kindheit und findet manchen Widerhall in seinem Leben, während er Zinzendorfs “modrige[n] Untergrund dieser Frömmigkeit”18 an vielen Punkten infrage stellt. Denn Bonhoeffers Praxis der Nachfolge als imitatio Christi gleicht in vielen Punkten der Herrnhuter Frömmigkeit (sogar in “Details” wie der Verwendung der Losungen), solange die Frömmigkeit nicht über der Autorität der Bibel steht und sich nicht von der Ökumene separiert.19 Mehr noch wird aber der Pietismus in seiner Breite von Bonhoeffer negativ abgewertet, und zwar auch, weil er sich durch sein Hochhalten einer bestimmten Frömmigkeit vom übrigen Protestantismus separiert habe.20 Schon zu Stu-
11 Vgl. Zimmerling: Zinzendorf , 129ff.; 138. 12 Vgl. ebd., 137; Hauschild: Lehrbuch 2, 708ff. 13 Vgl. Zimmerling: Zinzendorf , 149ff. 14 Vgl. ebd., 33f. 15 Vgl. ebd., 151. 16 Vgl. ebd., 36f. 17 Vgl. ebd., 155–157; Hauschild: Lehrbuch 2, 710. 18 Bonhoeffer: DBW 14, 210. 19 Genau diese Separation findet Bonhoeffer jedoch bei Zinzendorf vor, der sich – wie Gellert – von der offiziellen Kirche entfremdet habe, weil Maßstab seiner Frömmigkeit das eigene Herz gewesen sei; vgl. ebd., 717; s. auch Wulfleff: Freiheit, 181ff. Zu den Losungen vgl. auch Hauschild: Lehrbuch 2, 707. 20 Der Erstentwurf des Betheler Bekenntnisses, an dem Bonhoeffer 1933 federführend mitarbeitet, enthält darum auch in seinem Sinne die Verwerfung der Irrlehre des Pietismus, der Kirche als “Zusammentritt frommer Individuen” (Bonhoeffer: DBW 12, 395) verstehe; dabei ist zu bedenken, dass Bonhoeffer in dieser Phase massiv durch die Harlemer Zeit und besonders das sog. “Social
2.1 Biographische Hinführung
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dienzeiten empfindet er den Pietismus für “schwächlich und sektenhaft”,21 als könne die Kirche das Reich Gottes auf Erden erbauen, was Bonhoeffer an späterer Stelle als perfektionistisch abstempelt, zumal er dessen Enge und Strenge hinterfragt.22 In Finkenwalde, beim Aufrichten einer evangelischen Brüderschaft, möchte er der angeprangerten Separation und Fokussierung auf die eigene Frömmigkeit deshalb entgehen und distanziert sich häufig explizit von ihr.23 Terminologisch bringt er diesen Versuch schließlich mit seinem Vokabular des Letzten in Verbindung, während er – mit Bethge – davon überzeugt ist, im Vorletzten zu leben und das Letzte zu glauben.24 Den Pietismus beurteilt er somit resignativ als “letzte[n] Versuch, das evangelische Christentum als Religion zu erhalten”.25 Zimmerling weist zurecht darauf hin, “dass Bonhoeffer Barths Überzeugung von der Strukturverwandtschaft zwischen Pietismus und Aufklärung übernommen hat: Im Zentrum des Glaubens steht nicht länger Gott, sondern der Mensch.”26 Trotz aller Kritik schimmert bei Bonhoeffer dennoch immer wieder das Positive der pietistisch-persönlichen Herzensfrömmigkeit durch, was letztlich mit seinem relationalen Denken zu tun hat. Denn der Gedanke der pietas, den Bonhoeffer mit “Ehrfurcht” übersetzt und der etymologisch und inhaltlich mit dem Gospel geprägt ist, der gegen eine individualistische Engführung des Glaubens wettert. Noch im Zuge seiner Vorlesung über die sichtbare Kirche im Neuen Testament verwirft Bonhoeffer die pietistische Ansicht, Frömmigkeit konstituiere Kirche, die er sozusagen als Gegen-Pendelbewegung zum Auseinanderreißen von Wort und Tat Gottes innerhalb der vorherrschenden protestantischen Orthodoxie deutet; vgl. Bonhoeffer: DBW 14, 431. Noch innerhalb seiner Dissertation klassifiziert Bonhoeffer den Pietismus gerade nicht als individualistische Lebensauffassung; vgl. ders.: Sanctorum Communio, 154. 21 Ders.: DBW 9, 335. 22 Vgl. ebd., 345f.; ders.: Sanctorum Communio, 151; 258; ders.: DBW 11, 204; ders.: DBW 14, 545; ders.: DBW 16, 183; 309ff. deshalb spricht Bonhoeffer in seiner New Yorker Zeit von einem “unsound spiessbürgerlichen pietism”; ders.: DBW 10, 395. Zum Perfektionismus des Pietismus und dessen Weltflucht vgl. auch Wulfleff: Freiheit, 207–211. 23 Vgl. Bonhoeffer: DBW 14, 660. Die praxis pietatis, wie sie durch Spener und seine Konventikel als Zusatz neben der regulär agierenden Kirche populär werden, bewertet er grundsätzlich kritisch, weil sie sich nicht “als ein Stück der Einen [sic!], heiligen, allgemeinen christlichen Kirche versteht” (ders.: DBW 5, 32) und somit gerade jeglichen ökumenischen Bestrebungen entsagt. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass Bonhoeffer feststellen muss, dass ein Großteil der Bekenntnislosen – also gerade derjenigen, die nicht mit der Bekennenden Kirche den Weg gegen die Reichskirche gehen – nicht nur liberale, sondern gerade auch pietistische Pfarrer sind; vgl. ders.: DBW 14, 672. Dass Speners Chiliasmus für die separatistischen Tendenzen keine unerhebliche Rolle spielen, bestätigt auch Hauschild: Lehrbuch 2, 689; 693f. 24 Vgl. Bonhoeffer: DBW 8, 226. 25 Ebd., 557. 26 Zimmerling: Theologe, 131.
24 | 2 Weichenstellung zu relationalem Denken: Die akademische Frühphase Pietismus in Verbindung steht, taucht in der Inauguraldissertation explizit positiv auf. So beschreibt er dieses Phänomen als Form einer Beziehung zwischen Gott und Mensch, die es ihm zufolge nur im sozialen Raum gibt, womit Bonhoeffer den Zusammenhang von Offenbarung einerseits und Existenz von Kirche andererseits markieren will.27 Auch in einer späteren Predigt aus London findet der Pietismus positiven Anklang, weil Bonhoeffer auf die Notwendigkeit einer liebenden Haltung Gott gegenüber pocht;28 so strahlt ein wenig von Bonhoeffers frühkindlicher Herrnhuter Sozialisation durch. Ebenfalls wertschätzt er die Betonung der Beichte im Pietismus, auch wenn er sein Urteil wenig später revidiert, ebendiese Beichte sei von den Pietisten separatistisch in die Konventikel verlagert worden.29 Ambivalent ist schließlich der Verweis auf die pietistische Frömmigkeit, wenn Bonhoeffer zeitgleich ihren Stil als individualistisch-egoistisch auslegt.30 Immer wieder ist es also die lebendige Frömmigkeit, die Bonhoeffer am (Herrnhuter) Pietismus lobt, während er separatistische und individualistische Züge deutlich in ihre Schranken weist. In ganz ähnlicher Weise wird Heschel über sein Erbe des Chassidismus urteilen. 2.1.1.3 Entscheidung zur Theologie und der Einfluss Schleiermachers Für den Beruf des Theologen bzw. des Pfarrers hat Bonhoeffer sich bereits als Kind interessiert; so liest er schon vor der Konfirmandenzeit regelmäßig in der Bibel und weiß spätestens zur Konfirmandenzeit – im Alter von 15 Jahren –, dass er Theologie studieren will.31 Schon zu dieser Zeit wird klar, dass der junge Dietrich aller Wiedrigkeiten zum Trotz seinen ganz eigenen Weg geht und darin auch seinen “elementare[n] Drang nach Selbständigkeit”32 ausdrückt. Denn nicht nur
27 Vgl. Bonhoeffer: Sanctorum Communio, 251; s. auch 83f. 28 Vgl. ders.: DBW 13, 380 (Predigt zu 1 Kor 13,13 am 14.10.1934). 29 Vgl. ders.: DBW 14, 749; 753 (Lehrveranstaltung zur Beichte, vierter Kurs 1936/37). 30 Vgl. ebd., 572; 717 (Vorlesung über Seelsorge, zweiter Kurs 1935/36 u. Vortrag über die Geschichte des evangelischen Kirchenliedes, dritter Kurs 1936). 31 Vgl. Bethge: DB, 61; darauf deutet nicht nur Bonhoeffers Konfirmationsspruch (Röm 1,16), sondern auch ein Brief seines Gymnasiallehrers Dr. Richard Czeppan (vom 15.03.1921) hin, den er ihm samt einem Buch über historisch-theologische Inhalte zur Konfirmation schickt und in dem er ihn als “angehenden Theologen” anspricht. Das frühe Wissen um das Theologiestudium bekundet Bonhoeffer außerdem in einem Lebenslauf im Zuge seines Eintritts bei den “Igeln” während Studienzeiten; vgl. Bonhoeffer: DBW 9, 55. Marsh: Strange Glory, 16, datiert Bonhoeffers Entschluss und Verkündigung zum Theologiestudium sogar schon kurz nach Walters Tod, als der junge Dietrich erst 13 Jahre alt ist. 32 Bethge: DB, 62; so auch Green: Bonhoeffer, 143f.
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Vater Karl ist Human- bzw. Naturwissenschaftler, sondern auch zwei Geschwister Bonhoeffers schlagen den naturwissenschaftlichen Weg ein: Bruder KarlFriedrich wird Chemiker und arbeitet in den 1920er Jahren mit Albert Einstein und Max Planck zusammen, Christine studiert Biologie, während Klaus Jurist wird.33 Besonders mit Karl-Friedrich diskutiert er während der letzten Schuljahre intensiv und setzt sich deshalb auch mit philosophischen Fragestellungen auseinander.34 Denn Karl-Friedrich wirft ihm vor, den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen – indem er in die Fußstapfen mütterlicherseits tritt –, und verurteilt die Kirche als “ein kleinbürgerliches, langweiliges und schwächliches Gebilde”.35 Unter hermeneutischem Gesichtspunkt liefert selbst diese schulische Phase erste Hinweise. In einer (freiwilligen) Hausarbeit zum Abitur über Catull und Horaz als Lyriker nimmt Bonhoeffer bereits eine entscheidende Perspektive vorweg, die er erst Jahre später im Zuge seiner Christologie-Vorlesung theologisch reflektieren wird. Einleitend erklärt er: “Was die Dichter heute noch für uns bedeuten können, danach müssen wir suchen, nicht was sie waren.”36 Deshalb gibt Bonhoeffer zum Ende seiner Arbeit Catull als Lyriker den Vorzug vor der sogenannten “Gedankenlyrik” eines Horaz, denn – so schlussfolgert er allgemein – “Reflexionen haben noch nie die Welt erobert, aber Gefühle. Selbst die größten Gedanken müssen vergehen, große Gefühle bleiben ewig.”37 Mit diesem Votum zugunsten der Gefühle sprengt Bonhoeffer den Rahmen o. g. philosophischer Auseinandersetzung, zumindest fürs Erste. Dabei greift er schon in diesen jungen Jahren zurück auf den Vater des religiösen deutschen Idealismus und Vorreiter der religionspsychologischen Schule, den großen Berliner Theologen Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1834), der Religion auf das Gefühl (der schlechthinnigen Abhängigkeit) zuspitzt bzw. als “eine eigne Provinz im Gemüthe”38 deklariert.39 Seine Reden über Religion40 werden just in je-
33 Metaxas: Bonhoeffer, 59; Bethge: DB, 67 u. 71f.; 93. 34 Vgl. ebd., 67f. 35 Nach ebd., 61, auf den auch Marsh: Strange Glory, 17, verweist. 36 Bonhoeffer: DBW 9, 202. 37 Ebd., 218. 38 So Nowak: Schleiermacher, 101. 39 Dass Bonhoeffer in seiner phänomenologischen Grundlegung der Dissertation auf Schelers Phänomenologie des Fühlens zurückgreift und so Philosophie und Gefühle tatsächlich wieder zusammenbringt, dürfte sicher nicht ohne den Einfluss Schleiermachers geschehen sein. Dazu vgl. auch Tietz: “Schleiermacher”, 121ff. 40 Zunächst anonym publiziert Schleiermacher fünf Reden über Religion im Jahre 1799; Vgl. Nowak: Schleiermacher, 98f.; Schleiermacher: Religion, VII. Bereits 1803 literarisch Stellung bezo-
26 | 2 Weichenstellung zu relationalem Denken: Die akademische Frühphase nen letzten Schuljahren von Bonhoeffer gelesen.41 Ohne dies in seiner Hausarbeit explizit zu entfalten, dürfte Bonhoeffer mit seiner Argumentation auch seinen Entschluss zur Theologie gerechtfertigt haben. Denn Schleiermacher versteht (die christliche) Religion als “das unmittelbare Bewußtsein von dem allgemeinen Sein alles Endlichen im Unendlichen und durch das Unendliche, alles Zeitlichen im Ewigen und durch das Ewige”, als das “suchen und finden in Allem, was lebt und sich regt, in allem Werden und Wechsel, in allem Thun und Leiden und das Leben selbst im unmittelbaren Gefühl nur haben und kennen als dieses Sein”.42 Womöglich ist Schleiermachers pantheistisch gefärbtes Offenbarungs-Verständnis zu jener Zeit für Bonhoeffer in seinem philosophisch geprägten Umfeld attraktiv, wenn es in allgemeinster und größter Form mit “Geschichte” gleichgesetzt wird und konkreter “[j]ede ursprüngliche und neue Mittheilung des Weltalls und seines innersten Lebens an den Menschen”43 meint, wodurch letztlich jede Anschauung und jedes Gefühl mit Offenbarung in Verbindung gebracht wird. Später wird Bonhoeffer sich bewusst von dieser Position abgrenzen, aber zu diesem Zeitpunkt mag dahinter der Wunsch stecken, die biblischen Errungenschaften in sein Umfeld einzuordnen. Gefühle an sich, denen Bonhoeffer hier bei Catull den Vorzug gibt, könnten aber auch ebenso mit Bonhoeffers ästhetisch-emotionaler Persönlichkeit zusammenhängen, die besonders Marsh nachgezeichnet hat, und wie sie spätestens mit Bonhoeffers Faszination für die Katholische Kirche in Rom (im Gegensatz zur nüchternen Lutherischen Kirche) zutage treten wird.44 In jedem Fall lässt Bonhoeffers Vorzug der Gefühle vor der Reflexion bereits zu diesem sehr frühen Zeitpunkt erste Facetten von dem erahnen, was er später mithilfe von Barth auch theologisch unterscheiden wird: Nicht die reflektierenddistanzierte und bewertende Haltung gegenüber den Texten – in diesem Fall der römischen Lyriker – hält Bonhoeffer für bereichernd, sondern die Beziehung zum Text, um Gegenwartsbedeutung zu deduzieren; und auch im Hinblick auf die Kirche wird er diese Innenperspektive klar bevorzugen.Denn nur wer mit den Anfragen der eigenen Person und der eigenen Lebenswelt an einen Text herantritt, kann die neuralgischen Punkte eines Textes finden, die für seine Gegenwart relevant gen, publiziert Schleiermacher 1806 in zweiter Auflage ebendiese fünf Reden über Religion modifiziert unter dem Titel Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. 41 So Bethge: DB, 67. 42 Schleiermacher: Religion, 53. 43 Ebd., 114; vgl. auch 103. 44 Bonhoeffers Emotionalität lokalisiert Marsh: Strange Glory, 13, im Drang zu gewinnen; zur frühen Orientierung hin zu den Künsten vgl. ebd., 16; 19. Dass Marsh diese eher fragendphlegmatische Seite Bonhoeffers nachzeichnen möchte, zeigt auch der Titel seiner Biographie: “Strange Glory”.
2.1 Biographische Hinführung
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sind. Wir haben es also bereits zu diesem sehr frühen Zeitpunkt in Bonhoeffers Leben mit ersten Zügen seines relationalen Denkens zu tun. 2.1.2 Heschels Annäherung an die Bibel: Warschau, Wilna, Berlin (1907–1927) 2.1.2.1 Warschau und der polnische Chassidismus Abraham Joshua Heschel wird am 11. Januar 1907 als zweiter Sohn (und Jüngster von sechs Kindern) von Moshe Mordechai und Rivka Reizel Heschel im polnischen Warschau geboren,45 nur etwa 350km nordöstlich von Breslau, Bonhoeffers Geburtsort. Trotz der geographischen Nähe und – nicht nur aus jüdischer Sicht – kosmopolitischen Prägung Warschaus wächst Heschel dort in einem völlig anderen religiös-kulturellen Kontext auf, im Kontext des polnischen Chassidismus, von dem er tief geprägt wird und der als eine der wesentlichen Quellen für sein relationales Denken zu benennen ist.46 Initiator dieser Frömmigkeitsbewegung ist der charismatische Wanderprediger R. Israel ben Eliezer (ca. 1700–1760), auch “Ba‘al Shem Tov”47 bzw. kurz “Besht” genannt, der mit seiner “founding charismatic presence”48 eine intensive Wirkung auf Heschel ausübt. Nach dessen Tod folgt dem Besht sein Schüler R. Dov Baer, der sogenannte “Maggid von Mezherich”, der die Verbreitung der Bewegung mithilfe von zahlreichen Schülern voranbringt. Mindestens ebenso wichtig ist 1780 die Veröffentlichung des Werkes Toledot Ya‘akov Yosef 49 durch den Editor R. Ya‘akov Yosef von Polonnoye, in dem Predigten des Ba‘al Shem Tov zusammengestellt sind und dadurch die zentralen Lehren des Chassidismus ver-
45 Vgl. Kaplan und Dresner: Witness, 2; 10; 13. 46 Sommer: Revelation, 111: “Heschel was deeply shaped by the Ḥasidic communities in which he grew up and in which his relatives have served as rebbes for generations.” Dies beinhaltet auch “the kabbalistic literature studied in Ḥasidic circles”. Kaplan und Dresner: Witness, 2, weisen darauf hin, dass im Jahre 1917 immerhin 41 Prozent der Bevölkerung jüdisch gewesen seien, von denen die größte Gruppe der observanten Juden wiederum dem Chassidismus zuzurechnen seien, womit Warschau das bedeutendste Zentrum des europäischen Judentums jener Zeit gewesen sei und dementsprechend neben den Chassidim zahlreiche weitere Gruppierungen wie Maskilim (Aufklärer) und Mitnaggedim (Gegner der Chassidim), aber auch Zionisten und jüdische Arbeiterbewegungen dort anzutreffen gewesen seien. Heschel wird somit früh an die innerjüdische Vielfalt gewöhnt. Vgl. auch Britton: Heschel, 110ff.; 278. Neben weiteren Untersuchung sei nur exemplarisch auf Borodowski: “Sources”, 36–47, verwiesen, der Gemeinsamkeiten zwischen dem Chassidismus und Heschel anhand des Gebets verdeutlicht. 47 Dt. “Herr/Besitzer des guten Namens”. 48 Marmur: Heschel, 110. 49 “”תולדות יעקוב יוסף, dt. “Geschlechterfolge Jakob Josefs”.
28 | 2 Weichenstellung zu relationalem Denken: Die akademische Frühphase breitet werden.50 Geographisch von Podolien und Volhynien (heutige Ukraine) als eine Volks-, Laien- und teilweise Armutsbewegung ausgegangen und über Litauen nach Galizien weiter ausgebreitet,51 hat der Chassidismus Polen bereits 1754 durch die Rabbinate der Brüder R. Samuel Schmelke und R. Pinchas Horowitz in Ryczywol und Witikowinstitutionell erreicht, deren Schüler die Säulen des polnischen Chassidismus werden.52 Das Anliegen des spirituell orientierten Chassidismus lässt sich vereinfacht auf wenige Kernelemente herunterbrechen, die auch für Heschels Denken prägend sind: Auf den Sohar und den lurianischen Mythos der Kabbalah aufbauend,53 lautet das weit gefasste, eschatologische Ziel eines jeden Juden, seinen Anteil an dem sogenannten “Tiqqun ‘Olam”, der Reparatur/Wiederherstellung der Welt,54 zu ergreifen,55 was im Wesentlichen durch Erfüllung der Gebote getan wird. Denn die zehn Sefirot (= Gefäße) göttlicher Emanation, die in der Doktrin der sogenannten “Shekhinah” (= Gottes Gegenwart/Manifestation) münden und den Übergang zur irdischen Welt markieren, sind zerbrochen; immer wieder taucht darum bei Heschel das Motiv auf, die Shekhinah befinde sich im Exil.56 Besonders mit Blick auf die kabbalistischen Wurzeln wird natürlich auch Heschel das Studium der Torah, das Gebet und die Mitsvot (dt. “Gebote”) zur Wiedervereinigung mit Gott thematisieren: Die Torah wird von Heschel als Vorlage Gottes für die Schöpfung und als Quelle für Weisheit und Einsicht in die essentiellen Dinge interpretiert werden, was einen doppelten Schriftsinn vonnöten macht, da ihre Geschichten wie Kleider seien, was aber von dem gewöhnlichen Menschen nicht erkannt werde.57 Mithilfe von Meditation der Mysterien könnte die Shekhinah mit Gott wieder vereint werden.58 Durch die irdischen Mitsvot werden Paralleleffekte im Himmlischen erzielt und damit sogar Beschützer für spätere Nöte.59 Denn die 50 Zu den Entstehungstheorien und den theologischen Grundlinien des Chassidismus vgl. Dan: Teachings, 1–36. Dort finden sich auch weitere Details und Literaturhinweise nicht nur zur Entstehung der Bewegung, sondern auch zur performativen Periode seit 1815. 51 Grundlegend ist Rubenstein: Ḥasidism, 393ff.; s. auch Dan: Teachings, 15. 52 Vgl. Dynner: Men, 25f. 53 So Kaplan: Holiness, 61 u. Rubenstein: Ḥasidism, 585–692, bes. 617ff. 54 “ ;”תיקון עולםvgl. Jastrow: Dictionary, 1052; 1666. 55 Vgl. Dan: Teachings, 9ff. 56 So in Heschel: Grandeur, 169–173; 180 (“The Mystical Element in Judaism”, 1949). 57 Vgl. ebd., 172f.; 177 (“The Mystical Element in Judaism”, 1949). 58 Vgl. ebd., 180 (“The Mystical Element in Judaism”, 1949). 59 Vgl. ebd., 168 (“The Mystical Element in Judaism”, 1949). Fernerhin kennt Heschel echte Zahlen-Mystik und weiß darum, dass “the soul that abides in our body is a weak reflection of our upper soul, the seat of which is in heaven” (167).
2.1 Biographische Hinführung
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Funktion des Mystischen versteht er darin, nach dem Zerbrechen des Universums Bekanntes und Unbekanntes zusammenzuhalten und gleichzeitig das Jenseits in der Essenz des Diesseits wahrzunehmen.60 Das Fundament für die Erfüllung der Gebote ist aber im Chassidismus die Gottesbeziehung, die im Gegensatz zur klassisch-rabbinischen Orthodoxie nicht (allein) über das Schriftstudium (Bibel, Talmud, sonstige Gesetzescodices) erfolgt, sondern durch Gebet, Tanz und zahlreiche weitere körperbetonte Praktiken; sie drücken das Entflammtsein für Gott (“Hitlaḥavut”) aus und zielen auf das völlige Anhaften (“Devekut”) an Ihm auch in alltäglichen Dingen mitsamt der richtigen Herzenshaltung (“Kavanah”), wodurch der Chassidismus aus der vormaligen messianisch-kosmischen Kabbalah ein individualistisch-heilsorientiertes Judentum gemacht hat.61 Dieser ist einer der Aspekte, den Heschel immer wieder kritisieren wird: Denn für den Kabbalisten steht die universelle Erlösung über der persönlichen.62 Der polnische Chassidismus, in dem Heschel aufwächst, verkörpert in alledem eine besonders intellektuelle Form dieser Frömmigkeitsbewegung, was nicht allein wegen der Nähe zu Deutschland und in Abgrenzung zur dortigen Aufklärung geschieht, zumal auch Warschau Zentrum der Maskilim (= jüdische Aufklärer) wird.63 Vielmehr ist Glenn Dynner zufolge ebenso die jüdische Händlerschaft in Warschau als elitäre Gönnerschaft für das Aufstreben des Chassidismus entscheidend.64 Heschels Namensvetter und Vorfahre, R. Abraham Joshua Heschel von Apt/Opatów, hat nach Aussage von Dynner als Rebbe (= chassidischer Führer) für den Spender größerer Summen und dessen Geschäft gebetet; sogar die direkte Verknüpfung von Gott und Geld ist möglich, was als “Avodah be-Gashmiut” (≈ Anbetung in den alltäglichen Dingen) bekannt ist. Gleichsam ist in Polen – und so auch bei Heschel – trotz des Intellektualismus ein emotionalere Form das Chassidismus präsent, die sich auf zwei Schulen zurückführen lässt, die gleichsam maßgeblich für Heschels religiöses wie denkerisches Fundament sind: Die eine Schule ist die aus Lublin, stärker “materiell” 60 Vgl. Heschel: Grandeur, 165 (“The Mystical Element in Judaism”, 1949). 61 Vgl. ebd., 179 (“The Mystical Element in Judaism”, 1949); Rubenstein: Ḥasidism, 409 u. Dan: Teachings, 23f. S. auch Wulfleff: Freiheit, 59–72; 128–165. 62 Vgl. Heschel: Grandeur, 173 (“The Mystical Element in Judaism”, 1949). 63 Wodziński: Haskalah, 45: “Warsaw was the largest, oldest, and most important Haskalah centre in the Kingdom of Poland.” Zu den Besonderheiten der polnischen Haskalah, der jüdischen Aufklärung, mit ihrer engen Verknüpfung zum Königtum und den lokalen Händlern vgl. ebd., 34–71. 64 Vgl. Dynner: Men, 94.
30 | 2 Weichenstellung zu relationalem Denken: Die akademische Frühphase orientiert (im Sinne der Avodah be-Gashmiut) und deshalb Wunder zentrierte Doktrinen vertritt. Die andere Schule ist die aus Przysucha, die sich stärker der rabbinischen Orthodoxie angenähert hat und deshalb den Fokus auf den rigorosen Charakter und das Talmud-Studium legt; ihre Schriftbegründung mit Gen 3,22 ist besonders interessant, denn sie unterscheidet zwei erkenntnistheoretische Arten, die Heschel geprägt haben dürften und Bonhoeffers Unterscheidung von Akt und Sein bzw. dessen anthropologischem Verständnis aus Schöpfung und Fall ähneln. Deshalb seien sie hier als ein mögliches Bindeglied zumindest erwähnt: Vor dem Fall ist Adam im konstanten Modus des alleinigen Wissens Gottes gewesen (“Hitbonenut”), während er nach dem Fall diesen Zustand nur temporär erreicht. Deshalb hat Gott ihm eine rationalistische Erkenntnisweise (“Yedidah”) gegeben, womit er trotz ihrer geringeren Qualität aber immer entdecken kann, wann er im Zustand der Hitbonenut gewesen ist.65 Die Lublin-Schule legt den Fokus stärker auf die Hitbonenut, während die Przysucha-Schule aus Furcht vor dem völligen Verlust des Selbst in der Ekstase die Yedidah betont. Die Prinzipien, die hinter beiden Schulen stehen, dürften Heschel von klein auf in seiner prophetischen Mission geprägt haben, auch wenn er diese Begrifflichkeit nicht gebraucht; chassidische Gebetspraktiken u. ä. wie auch intensives Studium der Literatur des traditionell rabbinischen und des mystisch-chassidisch ausgerichteten Judentums werden zu seinem Fundament, wobei sehr schnell deutlich wird, dass er als echtes Genie ein würdiger Nachfolger des Vaters werden soll.66 2.1.2.2 Heschels Weg nach Berlin Der plötzliche Tod des Vaters zieht jedoch eine persönliche Krise im Leben des Zehnjährigen nach sich, “both psychological and cultural”,67 durch die Heschel nicht der an ihn gerichteten Erwartung folgt, “als würdiger Vertreter der Medzibozher Dynastie Nachfolger seines Vaters und Großvaters zu werden”.68 Vielmehr gerät er in einen inneren Konflikt zwischen Herz und Verstand, vertreten durch einerseits die optimistische Medzibozher Richtung des Chassidismus wie auch die spirituelle Perlow-Dynastie69 der Mutter aus Novominsk, andererseits durch den pessimistisch-realistischen Kotzker Chassidismus, begründet durch Menaḥem
65 Zu den beiden Schulen und der Unterscheidung von Hitbonenut und Yedidah vgl. Dynner: Men, 31f. 66 Vgl. Kaplan und Dresner: Witness, 5; 14; 22f.; Dolna: Gegenwart, 33. 67 Kaplan und Dresner: Witness, 36. 68 Vgl. Dolna: Gegenwart, 33. 69 Zur Perlow-Dynastie vgl. Kaplan und Dresner: Witness, xiii.
2.1 Biographische Hinführung
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Mendel von Kotzk, den Kotzker Rebbe.70 Während er den optimistischen Chassidismus zuhause kennengelernt hat, erfährt er nun durch seinen neuen Tutor Bezalel Levy, einen Gerer Chassid, den Kotzker Chassidismus mit seiner passion for truth,71 wodurch Heschel anfängt, über seinen Horizont hinauszublicken – zunächst innerhalb der vielen Strömungen des Chassidismus.72 Dennoch dürfte diese für ihn neue Richtung des Gerer Chassidismus entscheidend für sein späteres prophetisch-politisches Engagement sein, was besonders bei Kaplan deutlich wird: “Unlike the Gerer rebbe, who was active in politics and a multitude of practical decisions, the Novominsker rebbe was ‘a rabbi‘s rabbi‘ who devoted most of his waking hours to study and prayer.”73 Auch wenn Heschel mit 14 Jahren bereits qualifizierter Talmudist ist (zu jener Zeit folgen erste Publikationen) und mit 15 Jahren ordiniert wird,74 entflieht er nach und nach dieser in sich geschlossenen Welt unter dem Einfluss von Fishl Schneerson, einem westlich gebildeten Chassid.75 Wahrscheinlich durch ihn veranlasst und infolge der Auseinandersetzung mit jiddischer Poesie,76 besucht Heschel nach intensiver Polnisch- und Latein-Nachhilfe das mathematisch-naturwissenschaftliche Gymnasium in Wilna, das er mit 20 Jahren (1927) erfolgreich abschließt.77 Dort lernt er neben westlicher Bildung und Sprache auch jüdische Revolutionäre kennen und wird Mitglied einer Gruppe jiddischer Schriftsteller.78
2.1.3 Pietismus und Chassidismus – eine tiefentheologisch erste Übereinstimmung Wie gesehen, sind Bonhoeffer und Heschel von Kind auf mit einer Erweckungsbewegung in Berührung gewesen, die – wie noch im Folgenden zu zeigen ist – mit
70 Vgl. Dolna: Gegenwart, 35. 71 So der englische Name von Heschels letztem Werk, in dem er Menaḥem Mendel von Kotzk mit Søren Kierkegaard vergleicht. 72 Vgl. Kaplan und Dresner: Witness, 39ff. 73 Ebd., 43. 74 Vgl. ebd., 47; 49. 75 Vgl. ebd., 52ff.; Chassid = Anhänger des Chassidismus. Zu Schneerson vgl. auch Kaplan: “Readiness”, 24f. 76 Vgl. Kaplan und Dresner: Witness, 61–67. 77 Vgl. ebd., 68ff.; 74ff. u. ders.: “Vilna”, 278–293. S. auch den Studentenausweis unter No. 800 der Promotionsunterlagen im Archiv der Berliner Humboldt-Universität (HU). 78 Vgl. ders.: Witness, 79; 89ff.; Dolna: Gegenwart, 37.
32 | 2 Weichenstellung zu relationalem Denken: Die akademische Frühphase weiteren, bevorstehenden Einflüssen korreliert und so nachhaltig und andauernd ihr Leben und Werk charakteristisch prägen wird. Beide Bewegungen besitzen tiefentheologische79 Gemeinsamkeiten, wie Patrick Wulfleff in seiner komparativen Studie ausführlich dargelegt hat. Sie sind darum als ein erster “missing link” von Bonhoeffers und Heschels Nähe zueinander anzusehen. Wulfleff deduziert vier Kennzeichen der tiefentheologischen Gemeinsamkeiten, zunächst die “Hochschätzung religiöser Erfahrung als Kennzeichen neuzeitlicher Frömmigkeit”.80 Das sei, so entnimmt es Wulfleff der bisherigen Forschung, auch gerade das Neue der beiden Strömungen, wohinter er den “‘Vollzug’ durch eine ‘formgebende Gestaltung des Lebens’ im Sinne alltäglich gelebter Religion”81 versteht. Besonders Bonhoeffers und Heschels Mittelphasen sind ganz entscheidend von der persönlichen Frömmigkeit als Relationalität zu Gott geprägt und belegen somit ebenfalls diese Gemeinsamkeit. Dieser Zugang erdet immer wieder auch das Denken beider, ernüchtert und fokussiert im Sinne von William James’ Anti-Dogmatismus bzw. dem Motto des “simple faith” Clayton-Powell Sr. s. Unter “Popularisierung”82 versteht Wulfleff zweitens die daraus resultierende Betonung von Laienhaftigkeit, wie sie in beiden Bewegungen stark vertreten ist, auch wenn es im Chassidismus immer noch jene Zaddikim als Autoritäten gibt, während Zinzendorf durch die imitato Christi und auf Grundlage des lutherischen Priestertums aller Gläubigen wirklich eine gänzlich flache Hierarchie betont; bei Heschel, der sich bewusst in dieser Hinsicht der chassidischen Tradition widersetzt, findet sich die Popularisierung auch, wenn er beispielsweise im Zuge seines interreligiösen Engagements für einen sog. “interfaith” zu einem “Prophetentum aller Gläubigen” aufruft. Drittens zeichnet sich die “Individualisierung der Frömmigkeit”83 im (Herrnhuter) Pietismus durch die Zentralität von Jesus Christus als lebendiger Stimme 79 Die Methode der “Tiefentheologie” stammt von Heschel und legt den Schwerpunkt auf den Glaubensvollzug, sodass Dogmen erst zweitrangig werden; insbesondere mehr dazu in Heschels Mittelphase. Obwohl etwas unscharf verwendet, weil Wulfleff: Freiheit, auf dessen Grundlage dieses Kapitel basiert, diese Methode nicht kennt oder nennt, trifft sie sachlich dennoch den Kern. Denn Heschel benutzt sie in seiner großen, tiefentheologisch komparativen Studie über den Kotzker Rebbe und Kierkegaard – somit ebenfalls ein Chassid und ein herrnhuterisch-pietistisch geprägter Christ –, weil es ihm um “moments, battles, situations rather than doctrines or beliefs” (Heschel: Passion, 86) geht; vgl. Purkarthofer: Kierkegaard, 16f. fides qua creditur ist hier somit das Schlagwort, das beide Frömmigkeiten miteinander verbindet, wie in diesem Kapitel gezeigt wird. Deshalb soll der Terminus “Tiefentheologie” an dieser Stelle dafür Verwendung finden. 80 Wulfleff: Freiheit, 319. 81 Ebd., 12 (mit Verweis auf Berndt Hamm). 82 Ebd., 328. 83 Ebd., 332.
2.2 Berlin: Der neukantianistisch-liberale Zeitgeist | 33
zum Menschen aus. Dessen Konsequenz wie auch sonstiger besonderer Frömmigkeitsformen ist aber die Entfremdung von der offiziellen Kirche, wie auch Bonhoeffer es Zinzendorf und dem Pietismus mehrfach vorwirft, als ob Kirche nur ein “Zusammentritt frommer Individuen” sei; besonders in diesem Punkt wird sich seine katholische bzw. ökumenische Prägung deutlich machen und auch in die Relationalität zum Nächsten münden. Der Individualistisch-heilsorientierte Chassidismus, der besonders anfänglich die rabbinische Autorität durch eigene Gebetshäuser u. v. m. infrage gestellt hat, begegnet Heschel zwar weniger als der amerikanische Individualismus, den auch das amerikanische Judentum beeinflusst; dennoch argumentiert auch er immer wieder zugunsten des Kollektivs Israel, ohne dabei die persönlich-individuelle Ebene zu vergessen. Gerade darin, dass Bonhoeffer und Heschel gleichermaßen den extremen Individualismus in ihre Schranken weisen und statt dessen Verantwortung für den Nächsten hervorheben, lässt sich eine weitere Gemeinsamkeit entdecken. Zuletzt sei noch Wulfleffs viertes Kennzeichen, “Weltflüchtig und doch innerweltlich”,84 genannt, das sich bereits durch die relativ autarke Topographie der Herrnhuter vermuten lässt, obwohl sie bewusst ökumenisch ausgerichtet sind. Damit verbunden, hält Bonhoeffer ihnen entgegen, Wort und Tat auseinandergerissen zu haben. Diese Einseitigkeit findet man teils auch im Chassidismus durch seine jenseitige Heilsorientierung und auch in Heschels frühem Leben in Warschau, wobei das Ziel des Tiqqun ‘Olam ebenso innerweltlich verstanden wird. Tatsächlich werden aber auch Bonhoeffer und Heschel durch ihre Relationalität zur Welt und deren Ganzheitlichkeit insbesondere in ihrer Spätphase diesen Rahmen sprengen. Das erste Bindeglied zwischen Bonhoeffer und Heschel, die tiefentheologische Gemeinsamkeit zwischen Pietismus und Chassidismus, ist damit bereits deutlich.
2.2 Berlin: Der neukantianistisch-liberale Zeitgeist Wie nachfolgend gezeigt werden soll, erhalten Bonhoeffer und Heschel einen wesentlichen Teil ihrer akademischen Ausbildung an der Berliner WilhelmsUniversität, von manchem zu jener Zeit als “the greatest modern education and art center in the world”85 bezeichnet. Einerseits prägt der für diese Zeit typisch liberale Geist beide immens, andererseits setzen sich beide mit philosophischen und theologischen Strömungen jenseits dieses Lokalkolorits auseinander, was zu einem kritischen Blick gegenüber dem liberalen Geist führt. 84 Wulfleff: Freiheit, 337. 85 Clayton Powell Sr.: Against, 89.
34 | 2 Weichenstellung zu relationalem Denken: Die akademische Frühphase Wenn in Bezug auf die Berliner Universität der 1920er und 1930er Jahre von einem spezifischen Zeitgeist gesprochen werden kann, dann ist dies der liberale Geist, der sich von neuzeitlich-subjektivistischem Denken der sogenannten “Ichphilosophie”86 ableitet und vom Primat der menschlichen Vernunft geprägt ist. Dass dieser Denkansatz maßgeblichen Einzug auch in das gesamte Spektrum der Theologie erhält, wird sich spätestens bei Bonhoeffer zeigen; an dieser Stelle muss jedoch zunächst die Voraussetzung für die Applikation auf die Theologie(n) eruiert werden, deren Namensgeber kein anderer ist als der Königsberger Philosoph Immanuel Kant (1724–1804). Denn ein Blick in die Vorworte der Dissertationen Bonhoeffers und Heschels reicht bereits um zu erkennen, dass beide gegen den Neukantianismus opponieren und statt dessen auf eine tatsächliche, wirkliche Begegnung zwischen Gott und Mensch aufgrund von Offenbarung pochen. Während dies für Heschel bei den Propheten (neben den analysierten Propheten denke man auch an Abraham, Mose, Elia u. v. a.) konkret wird, vollzieht sich laut Bonhoeffer – seiner Tradition gemäß – die Verbindung von Gott mit dem Menschen durch Offenbarung im Raum der Kirche, initiiert durch Christus und konkretisiert im Heiligen Geist. Kants Denken und der daraus entstandene Neukantianismus gehen aber natürlich nicht spurlos an Bonhoeffer und Heschel vorbei, zumal sich beide während der Studienphase mit Kant beschäftigen: Bonhoeffer direkt anhand von Kants Kritik der reinen Vernunft im Zuge eines Seminars, Heschel indirekt anhand von Cohen (s. u.), den er mit dem Koigen-Kreis studiert. Exemplarisch seien an dieser Stelle Grundgedanken Kants dargelegt, besonders anhand des prominenten Vorworts zur zweiten Auflage, und einige wenige Einstreuungen zur Entwicklung des sogenannten “Idealismus”, um den Rahmen zu verstehen, in dem Bonhoeffer und Heschel innerhalb ihrer Werke argumentieren. Mit seiner Transzendentalphilosophie geht Kant einen dritten Weg zwischen spekulativem Rationalismus und (oftmals) unvernünftigem Empirismus. Ausgangspunkt ist seine Einsicht, dass trotz der Neuerungen innerhalb der Naturwissenschaften (besonders der reinen Mathematik und der Physik)87 seit Beginn der Moderne diese nicht zeigen können, was Erkenntnis ist bzw. “wie aus physisch-empirischen Wirkungszusammenhängen so etwas Subjekthaftes, Ichhaftes, Bewusstes wie mein Sehen einer braunen Kuh entstehen soll.”88 Kant unterscheidet damit diametral zwischen dem Subjekt und Objekt des Erkennens, weshalb er einerseits von einem “transzendentalen Ich” spricht und andererseits
86 Vgl. Anzenbacher: Einführung, 112. 87 Nach Vorländer, Malter und Klemme: Kant, I/270. 88 Anzenbacher: Einführung, 113.
2.2 Berlin: Der neukantianistisch-liberale Zeitgeist | 35
von dem “empirischen Ich”, das Gegenstand unterschiedlichster Anthropologien sein kann.89 So einleuchtend diese Grenze des transzendentalen Ichs zur Welt ist, wird sie gleichermaßen problematisch bei der Übertragung auf die Transzendenz Gottes im diametralen Gegenüber zur Welt,90 wie Bonhoeffer und Heschel es kritisieren werden. Ebenso schwierig ist Kants spekulative Unterscheidung zwischen Phainomen (“das, was [er]scheint”) und Noumenon (“das, was gedacht wird”). Denn einerseits pocht er darauf, “[d]aß alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfange”;91 andererseits geht er aber davon aus, “daß selbst unsere Erfahrungserkenntniß ein Zusammengesetztes aus dem sei, was wir durch Eindrücke empfangen, und dem, was unser eigenes Erkenntnißvermögen (durch sinnliche Eindrücke bloß veranlaßt) aus sich selbst hergiebt, welchen Zusatz wir von jenem Grundstoffe nicht eher unterscheiden, als bis lange Übung uns darauf aufmerksam und zur Absonderung desselben geschickt gemacht hat.”92 Kants sogenannte “transzendentale Reflexion” ist somit ein Zusammengesetztes aus dem Erkenntnisgegenstand (amorphe Masse) und dem Erkenntnisvermögen durch apriorische Formen innerhalb der Vernunft.93 Dadurch kommt Kant zu “synthetischen Urteilen a priori” – eine Erkenntnis, die die Notwendigkeit eines abgeleiteten Satzes impliziert und somit nicht rein auf Erfahrung basieren kann, weil dann nur ein Vergleichen möglich sei, niemals aber ein zwingend-notwendiger Schluss.94 Damit kommt der Vernunft eine exorbitante Bedeutung zu, was im Hinblick auf die Religion und den Zusammenhang dieser Untersuchung ganz entscheidend ist: Kant unterzieht jegliche Form von Erkenntnis der Kritik durch die Vernunft, auch die religiöse Erkenntnis, die letztlich in eine Pflichtethik zur Erfüllung des moralisch Gebotenen mündet und weder an Historizität, Offenbarung oder Gefühl als Begründung interessiert ist, sondern einzig am Gewissen.95 Denn bereits in den Kapiteln zur transzendentalen Ästhetik und transzendentalen Analytik ist die Vorentscheidung darüber gefallen, daß die drei großen Totalitätsideen der abendländischen Metaphysik, Gott, Welt und Seele, nicht zum Bereich möglicher Erkenntnis gehören, weil sie erstens mit dem Anspruch auftreten, Dinge an sich zu bezeichnen, zweitens
89 Vgl. Anzenbacher: Einführung, 117ff. 90 Vgl. ebd., 120; 371. 91 Vgl. Kant: Kritik 1, B 1. 92 Ebd., B 1f. 93 So Anzenbacher: Einführung, 117; s. auch Kant: Kritik 1, B 2. 94 Vgl. ebd., B 3; 19; s. auch Vorländer, Malter und Klemme: Kant, I/270. Zur Definition vgl. auch Deuser: Religionsphilosophie, 201. 95 Vgl. Vorländer, Malter und Klemme: Kant, II/153–192, bes. 162–171.
36 | 2 Weichenstellung zu relationalem Denken: Die akademische Frühphase
nicht den formalen Kriterien von Objektivität genügen und drittens sich der Exemplifikation durch die Wahrnehmung entziehen, somit insgesamt den allgemeinen Bedingungen von Erfahrung widerstreiten.96
Zunächst jedoch nur wenig rezipiert bzw. dann verdrängt, werden Kants Schriften erst nach dem Tode Georg Wilhelm Friedrich Hegels (1770–1831) und dem Verblassen des Deutschen Idealismus von vielen (wieder-) entdeckt. Denn zuvor nimmt Hegels System “alle wesentlichen Sinnansprüche und Motive der Philosophiegeschichte auf und bringt sie systematisch auf den Begriff”,97 wodurch Kant überhöht erscheint. Als “Vollendung der absoluten Religion” wird Hegels Philosophie so zum “Denken des Denkens Gottes, der im philosophischen System […] vollständig zum Bewusstsein seiner selbst gelangt.”98 Mit anderen Worten: Der Gott Hegels wird dem philosophischen Werk Hegels untertan, was Hegel zahlreiche Möglichkeiten unter anderem auch politischer Äußerungen ermöglicht. Jedoch verstärkt sich in den Jahrzehnten nach Hegels Tod die politische Forderung nach einer Trennung zwischen Wissenschaft und Weltanschauung, infolge dessen auch positivistisch-rationalistischer Szientismus durch seine Wissenschaftsgläubigkeit bestärkt wird;99 unter Friedrich Adolf Trendelenburg und zahlreichen seiner Schüler blüht deshalb der Neukantianismus auf. Sein wichtigster Schüler ist Hermann Cohen (1842–1918), nicht nur Begründer der Marburger Schule, sondern mit seinem religionsphilosophischen Hauptwerk Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums (posthum 1919 erschienen) dem Titel gemäß auch jemand, der eine Synthese zwischen seinem Judentum und dem kantianischen Denken sucht. Die Schwierigkeiten dieser Synthese wird Heschel bereits in Studienarbeiten deutlich markieren. Aufklärerisches, neuzeitlich-subjektivistisches Denken mit dem Primat der menschlichen Vernunft macht auch vor der Theologie nicht halt. Spätestens durch Johann Gottfried von Herder (1744–1803), Schüler und Zeitgenosse Kants, dringen wichtige Impulse in die einsetzende historische Bibelkritik ein.100 Mit ihr setzt eine regelrechte Revolution der theologischen Disziplinen ein, die den Weg der sogenannten “liberalen Theologie(n)” ebnet. Trotz definitorischer Schwierigkeiten101 lässt sich mit der Gründung des so bezeichneten “Protestantenver96 Stock u. a.: Vernunft I-II, 743; zu alledem vgl. auch Deuser: Religionsphilosophie, 200f. 97 Anzenbacher: Einführung, 164. 98 Ebd., 168. 99 Vgl. Pascher: Einführung, 40; s. auch Anzenbacher: Einführung, 172ff. 100 Vgl. Herms: Herder, 73ff. 101 Auf die Problematik des Begriffs “Liberale Theologie” weist Jacobs: Liberale Theologie, 47f., hin.
2.3 Relationalität und Bibel beim jungen Bonhoeffer
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eins” 1863 ein historischer Einschnitt feststellen, aus dem heraus Charakteristika liberaler Theologie entstehen, denen Bonhoeffer und Heschel gleichermaßen differenziert entgegentreten werden.102 Denn beide sind zwar immens durch die großen liberalen Theologen ihrer Zeit geprägt, allen voran Adolf von Harnack (1851–1930) als ein Mentor Bonhoeffers und Leo Baeck (1873–1956) als Lehrer Heschels, doch kritisieren sie beide auch kräftig.
2.3 Relationalität und Bibel beim jungen Bonhoeffer 2.3.1 Zwischen Rom und Luther, von Harnack und Barth: Das Studium (1923–1927) Zunächst führt Bonhoeffer – der Familientradition wegen – das Studium (1923– 1927) nach Tübingen, wo er sein philosophisches Wissen vertieft, hauptsächlich auf erkenntnistheoretischem Gebiet.103 Aber auch sein theologisches Profil wird dort bereits entscheidend geprägt: Von den sieben theologischen Veranstaltungen empfindet er die Auslegung des Johannes-Evangeliums durch Adolf Schlatter (1852–1838) als am wichtigsten,104 dessen Johannes-Kommentar, aber auch andere Werke, er in weiteren theologischen Tätigkeiten immer wieder schätzend zurate zieht.105 Schlatter ist vor seiner Tübinger Zeit Professor in Berlin gewesen und von Harnacks “Antipode”, weil er davon überzeugt ist, dass die Erforschung des rabbinischen Judentums und
102 Als wichtige Charakteristika sind neben der “Historisierung der ‘heiligen‘ Schriften” die “Einheitlichkeit der Weltgeschichte […]; die Zuordnung von Glaube und Vernunft […]; die Unterscheidung von öffentlicher und privater Religion […] sowie von äußerer Kirchlichkeit und innerer Religiosität; […] Antidogmatismus […]; den Theismus als Ausdruck des providentiellen und teleologischen Weltzusammenhangs; die christologische Reduktion auf Jesus als den Lehrer des Reiches Gottes, der Moral und Religiosität; die Kirche als religiös-sittliche Gemeinschaft von Individuen im Gegensatz zur verfaßten, rechtlichen Institution; die Religiosität als anthropologische Struktur” (Jacobs: Liberale Theologie, 48) zu nennen. 103 Mit einem Seminar zur Kritik der reinen Vernunft beginnt damit in Tübingen Bonhoeffers Auseinandersetzung mit Kant. Dass es sich bei dem “philosophischen Seminar”, wie es im Studienbuch heißt, um ebenjenes handeln muss, lässt sich Bonhoeffers Brief vom 03.11.1923 an seine Eltern entnehmen; vgl. Bonhoeffer: DBW 9, 63; 640. 104 Ebd., 51: “Am meisten interessierte mich bis jetzt Schlatter”. Diese spontane Position nach einer Woche an Universitätsveranstaltungen mag sicher auch ein wenig an Schlatters pietistischer Nähe zu Zinzendorf liegen. Nichtsdestotrotz macht auch Kuske: Testament, 24f., auf den immensen Einfluss durch Schlatter aufmerksam. 105 Vgl. Bonhoeffer: Nachfolge, 222; 343. Ders.: Ethik, 477; ders.: DBW 9, 269; 323; ders.: DBW 11, 158; ders.: DBW 14, 456; 477; 742 u. ders.: DBW 16, 145.
38 | 2 Weichenstellung zu relationalem Denken: Die akademische Frühphase die geistesgeschichtliche Verwurzelung im palästinischen Judentum für das Verständnis des Neuen Testaments und christlicher Theologie unerlässlich seien. Diese Argumentation wie auch Schlatters Hinweise, eine reformatorische Theologie (auch biblischer Exegese) müsse in der Ehrfurcht vor der Heiligen Schrift verwurzelt sein, nimmt Bonhoeffer ebenso auf wie letztlich auch die Wahrnehmung der erkennbaren Realität von Natur, Mensch(-sein) und Heilsgeschichte für die Systematische Theologie (wodurch eine ökumenische Weite gegeben ist).106 Die anschließende Italienreise prägt Bonhoeffer gleichermaßen intensiv und doch in ganz neuer Weise. Denn Rom weckt in ihm eine Faszination für die soziale Dimension von Kirche, initiiert durch die römisch-katholische Universalkirche und ihre Liturgie, was ihn wesentlich zu dem Thema seiner Dissertation führt.107 Während dieses Aufenthalts unternimmt er mit seinem Bruder Klaus eine kurze Reise nach Afrika, wo dem jungen Dietrich die Ungerechtigkeit gegenüber der dortigen Bevölkerung aufstößt;108 Gerechtigkeitsempfinden und Empathie können Bonhoeffer damit bereits von Jugend an attestiert werden. 2.3.1.1 Von Harnack und das Wesen des Christentums Am 16. Juni 1923 schreibt sich Bonhoeffer schließlich für das Sommersemester in Berlin ein und bekommt somit noch 6–7 Wochen der dortigen Vorlesungen mit.109 Diese Studienzeit ist allein aufgrund ihrer Dauer mindestens so bedeutsam wie Tübingen, zumal die Quellenlage mit zahlreichen erhaltenen Referaten und Hausarbeiten für Bonhoeffers Entwicklung zum relationalen Denken deutlich aussagekräftiger ist. Spätestens hier wird er in voller Breite mit der Liberalen Theologie konfrontiert, und zwar zunächst durch den bereits erwähnten von Harnack, den Bonhoeffer seit etwa 1916 als Nachbarn in Berlin-Grunewald kennt.110 Und so wird der schon betagte von Harnack zu einem echten Mentor und Einfluss für Bonhoeffer, dessen Privileg es ist, mindestens drei Semester zum ausgewählten Seminaristen-Kreis des emeritierten Dogmengeschichtlers zu gehören.111 106 Vgl. Neuer: Schlatter, 137; 139f. 107 Vgl. Bethge: DB, 87 u. 94 ob Bonhoeffer nach der Ankunft Anfang April neben den Besichtigungen noch einige Wochen studiert hat, muss an dieser Stelle offen bleiben. 108 Darauf macht Marsh: Strange Glory, 35, aufmerksam. 109 So Bethge: DB, 84; s. auch Schlingensiepen: Bonhoeffer, 42, und natürlich Bonhoeffer: DBW 9, 134, der am 27.05.1923 den Eltern von seinen Berliner Studienplänen berichtet. 110 Laut Rumscheidt: “Significance”, 209, darf diese persönliche und familiäre Verbindung keinesfalls unterschätzt werden. 111 Vgl. Bethge: DB, 95; Rumscheidt: “Significance”, 221: “In contrast [zu Reinhold Seeberg; Anm. von P. M.], Adolf von Harnack influenced not only Bonhoeffer’s theological thinking in its final phase; he influenced Bonhoeffer the human being and the citizen in rich ways.”
2.3 Relationalität und Bibel beim jungen Bonhoeffer
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Besonders das kritische, insbesondere das historisch-kritische, Denken lernt Bonhoeffer von von Harnack und ist womöglich – trotz aller Differenzen – schon vor seiner Mittelphase durch von Harnacks “Jesuanismus”112 und seinem Willen nach “Mitleben mit ihm [Jesus Christus; Anm. von P. M.]”113 implizit geprägt, bevor er Karl Barth liest und schließlich die Nachfolge anfertigen wird. Gleichzeitig fällt Bonhoeffer auch jetzt schon als jemand auf, der “dem verehrten Polyhistor, der Exellenz [sic!] von Harnack, widersprach”114 – eine Kultur, die von Harnack offenkundig fördert.115 So widersetzt Bonhoeffer sich von Harnacks letztendlicher Ablehnung der Alten Testaments und unterstreicht statt dessen mit dem ersten Clemensbrief das Positive des Alten Testaments.116 Dem entgegen steht von Harnacks rigorose Unterscheidung und Ablehnung einer Schale des Christentums von seinem Kern, der sich jenseits kultureller Veränderungen konstant durch die Geschichte hindurchziehe.117 Gegen Kollege Schlatters Ansicht, “man könne die Predigt Jesu nicht verstehen, ja überhaupt nicht richtig wiedergeben, wenn man sie nicht im Zusammenhang der damaligen jüdischen Lehren betrachte und diese allen zuvor aufrolle”,118 betont von Harnack das Evangelium in seiner Schlichtheit und Individualität mit seinen ethischen Implikationen und der Geborgenheit in Gott, dem Vater. Ihn gilt es, ins Zentrum zu stellen und in die Kultur zu integrieren, weshalb neben der “liberalen Theologie” auch der Name “Kulturprotestantismus”119 gän-
112 So Kaltenborn: Harnack, 32ff. 113 Ebd., 30; vgl. auch ebd., 31: “Harnack will ohne Zweifel Ernst machen mit der Gegenwart Jesu, was ihn zu dem Gedanken der Imitatio führt. […] Harnack geht es darum, daß das Leben in seiner Totalität dem Glauben gelebt wird.” 114 Helmut Goes nach Bethge: DB, 96. 115 So Rumscheidt: “Significance”, 220. 116 Vgl. Seminararbeit über “Das jüdische Element im ersten Clemensbrief in Bestand und Verhältnis zum Ganzen” aus dem Wintersemester 1924/25, Bonhoeffer: DBW 9, 225 (vgl. 266): “Denn auch für ihn [Clemens; Anm. von P. M.] ist es schlechthin das Buch, das zu seinem eigenen Christenglauben ganz wesentlich beiträgt”. Dagegen Harnack: Wesen, 117): “Es war Gefahr vorhanden, und sie trat wirklich ein, daß durch das Alte Testament ein inferiores, überwundenes Element in das Christentum eindrang.” Vgl. auch Kaltenborn: Harnack, 66. Trotz aller Differenzen wird die Arbeit von von Harnack mit “sehr gut” bewertet, was der prominente Lehrer “in Hinsicht auf die Vollständigkeit und Richtigkeit der Gesichtspunkte und den aufgewendeten Fleiß” (Bonhoeffer: DBW 9, 270, Fußnote) begründet. 117 Besonders in seiner später als Buch veröffentlichten Vorlesung über Das Wesen des Christentums (1899/1900) hat von Harnack diesen Ansatz populär gemacht. 118 Harnack: Wesen, 10. 119 Eine differenzierte Erklärung des Kulturprotestantismus bietet Graf: Kulturprotestantismus, 230–243, wobei in gleichem Atemzug erwähnt sei, dass Bonhoeffer selbst den Begriff im Gegen-
40 | 2 Weichenstellung zu relationalem Denken: Die akademische Frühphase gig wird, wie er dies par excellence bei Jesus zu identifizieren sucht, auch wenn dennoch nicht der Sohn, sondern allein der Vater ins Evangelium selbst gehöre, so das berühmte Diktum von Harnacks.120 Bei von Harnack dürfte Bonhoeffer darum auch mehr oder weniger zum ersten Mal von der Verwässerung des Christentums durch das einströmende griechische Element seit dem 2. Jahrhundert gehört haben, wie er selbst dies in ähnlicher Weise später auch bei Niebuhr in New York lernen und – wie Heschel – aufgreifen wird.121 Mit von Harnack (und übrigens auch mit Schlatter) unterscheidet Bonhoeffer in die andere Richtung gleichermaßen schroff zwischen jüdischen “Gottessklaven” und christlichen Kindern des “Gottvaters”122 und superpositioniert das Christentum klar über das Judentum hinaus.123 In ähnlicher Weise thematisiert er auch den neutestamentlichen Glaubensgehorsam als gehorsame “Unterwerfung unter den göttlichen Willen”,124 den er in harnackscher Weise pauschal dem jüdisch-alttestamentlichen Verständnis des Gesetzesgehorsams gegenüberstellt. Dabei mag auch schon Gedankengut Kierkegaards eingeflossen sein, der von dem absoluten Verhältnis des einzelnen zum Absoluten spricht.125 Darum wertet Bonhoeffer Clemens schließlich auch ab, der parallel zum Jüdischen und im Gegensatz zu Paulus das Werk und den Gehorsam zusammendenkt, denn schließlich ist es Paulus gewesen – so von Harnack –, “der die christliche Religion aus dem satz zu den dort erwähnten drei Varianten zu schwammig benutzt. Ihm geht es in seiner Kritik darum, einen partikularistischen Glaubensvollzug mit dem absoluten Gotteswillen zu konfrontieren, weil Gott alles in allem ist. 120 Vgl. Harnack: Wesen, 33; 36; 42; 80f.; 86–92 Drei Aspekte jesuanischer Botschaft nennt von Harnack darum, und zwar erstens “das Reich Gottes und sein Kommen”, zweitens “Gott de[n] Vater und de[n] unendliche[n] Wert der Menschenseele”, drittens “die bessere Gerechtigkeit und das Gebot der Liebe” (ebd., 33; vgl. 44). 121 Für die beginnende Katholisierung der Kirche nennt von Harnack folgende drei Hauptursachen: Erstens die Erstarrung der Religion, zweitens ihre Hellenisierung (Einfluss griechischer Ethik, Philosophie und Mysterienkulte) und drittens den Gnostizismus; vgl. ebd., 121ff. S. auch von Harnacks Dogmengeschichte und Kaltenborn: Harnack, 32ff. 122 Bonhoeffer: DBW 9, 231. 123 Zu von Harnacks negativer Darstellung des Judentums, besonders auch der Pharisäer, vgl. Harnack: Wesen, 29; 31; 45f.; 58f.; 66; 111. Zur bonhoefferschen Superposition des Christentums vgl. explizit Bonhoeffer: DBW 9, 266. Zurecht räumt Pangritz: “Geheimnis”, 232 ein, dass auch Bonhoeffer “die weitverbreitete Ignoranz der evangelischen Theologie seiner Zeit gegenüber dem Judentum” teile. Dass selbst Schlatter in ganz ähnlicher Weise antijudaistische Züge in sich trägt und eine Polemik “[f]rom a skewed ‘works-righteousness’ view of Judaism” entfaltet, zeigt McNutt: “Schlatter”, 357. 124 Bonhoeffer: DBW 9, 238. 125 Vgl. Kierkegaard: Furcht, 57.
2.3 Relationalität und Bibel beim jungen Bonhoeffer
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Judentum herausgeführt hat.”126 Fehlender Enthusiasmus habe zu wachsendem Moralismus geführt, so Bonhoeffer; ebenso der “rigoristische[n] Ernst gepaart mit dem Erwählungsbewußtsein, die Auffassung der sittlichen Tat als Bewährung.”127 Trotzdem bejaht Bonhoeffer aber (mit Schlatter und gegen von Harnack) haggadische Exegese und die beiden Rabbinen Hillel und Akiva,128 was Grundlage für seine spätere relationale Hermeneutik der Mittelphase sein dürfte.129 Aber auch der Einfluss Barths klingt darin an, wenn Bonhoeffer die haggadische Exegese gerade nicht als willkürlich und selbst produziert versteht, sondern als “paradigmatische[n] Verwendung einer gegebenen göttlichen Offenbarung.”130 Vielmehr greift Bonhoeffer literarisch zum ersten Mal auf Barths Theorem der Akt-Offenbarung zurück, das statt einer Historisierung zu einem “Ich-und-DuVerhältnis, in dem das Wort Gottes gesprochen ist”, auffordert. Denn “[n]ur in actu, im Augenblick ist sie diese Stimme”.131 2.3.1.2 Holl und Bonhoeffers Luther-Rezeption Neben von Harnack ist als zweiter wichtiger Lehrer Bonhoeffers in Berlin Karl Holl (1866–1926) zu nennen – allen voran deshalb, weil Holl ihn mit seinem prägendsten theologischen Denker in Verbindung bringt, und zwar mit dem Wittenberger Reformator Martin Luther (1483–1546). “[For] Luther is present more than anyone else at every stage of his path and in every dimension of his thought.”132 Außerdem gehört Bonhoeffer wohl zu den bedeutendsten Theologen, “die Luthers Denken in den modernen Kontext hinein verlängerten, es aktualisierten und fortsetzten”,133 wie es Tomi Karttunen formuliert. Luther ist es, von dem Bonhoeffer immense Einflüsse hinsichtlich seines relationalen Denkens erhält, die sich in diversen Seminararbeiten und Referaten 126 Harnack: Wesen, 111; Vgl. Bonhoeffer: DBW 9, 242; 256. 127 Ebd., 251; vgl. auch 255. 128 Vgl. ebd., 224f.; 257; 266; zur haggadischen Exegese als “schöpferische Geschichtsschreibung” vgl. Stemberger: Einleitung, 263. 129 Insbesondere in den Bibelarbeiten der Mittelphase steht die haggadische Exegese Pate und zeigt Bonhoeffer, wie frei man mit dem Bibeltext umgehen und dort Christus entdecken kann; vgl. dazu auch Kuske: Testament, 22. Denn “Schriftauslegung ist Gnosis, nicht einfache Übernehmung, sondern Arbeit am heiligen Texte, um ihm den ‘wahren Sinn’ zu entnehmen und ihn offenbar zu machen”, wie Bonhoeffer: DBW 9, 228, bereits jetzt weiß. 130 Ebd., 228. Dass Bonhoeffer schon in diesem Wintersemester 1924/25 Barth rezipiert, betont auch Bethge: DB, 102. 131 Beides Barth: “Menschenwort”, 439. 132 Krötke: “Dietrich Bonhoeffer And Martin Luther”, 53; vgl. auch Soosten: Sozialität, 27; Barth: Wirklichkeit, 393 u. Krötke: “Dietrich Bonhoeffer And Martin Luther”, 453. 133 Karttunen: “Lektüre”, 10.
42 | 2 Weichenstellung zu relationalem Denken: Die akademische Frühphase niederschlagen, allerdings nicht nur bei Holl, sondern auch bei Bonhoeffers Doktorvater Reinhold Seeberg und dessen Assistenten Arnold Stolzenberg. Weil trinitätstheologische Überlegungen für ihn als “letzte Undurchdringlich[keit] [sic!] und Verborgenheit der christlichen Religion”134 gelten, kann Luther laut Bonhoeffer trinitätsimmanente Spekulationen lediglich als “Beziehungen auf- und ineinander”135 denken.136 Denn auch die Bibel weiß ihm zufolge immer nur “von seiner [des Geistes] Beziehung zu uns”137 und spricht so nie als abstrakte Entität. Trotz kritischer Einwände Bonhoeffers lässt sich seine Übereinstimmung zum Verständnis von Gottes (bzw. des Geist) Gegenüber und Nähe wohl nicht leugnen. Umso stärker wird Bonhoeffer darum von Luthers Christus als Mittler und dem relationalen Verständnis vom Heiligen Geist und Glauben, im Menschen stetig schaffend, aber nicht substantiell eingegossen, sondern als “lebendige Inbeziehungsetzung zwischen Mensch und Geist”138 beeinflusst.139 Der Heilige Geist ist es nach Bonhoeffers Luther-Forschung auch, der den Glauben schafft, sodass er Gott als Subjekt und Objekt des Glaubens bezeichnen kann.140 “Unverlierbar”,
134 Bonhoeffer: DBW 9, 407; ähnlich auch im “Referat über Franks Anschauungen vom Geist und von der Gnade”, ders.: DBW 17, 37. 135 Ders.: DBW 9, 408 (Hervorhebung von P. M.) 136 Dementsprechend kann Bonhoeffer mit Frank auch lediglich die Personalität Gottes und spezifisch des Geistes in den Blick nehmen (ders.: DBW 17, 37): “Es ist nun das Problem der immanenten Trinitätslehre von jeher gewesen die Dreipersönlichkeit Gottes mit der Einpersönlichkeit irgendwie zur Identität zu bringen. Auch hier können wir nur von den Funktionen des Geistes genauer sprechen. Der Geist ist Person und trägt hypostatischen Charakter.” 137 Ebd., 38; vgl. auch 48. 138 Ders.: DBW 9, 379; vgl. 375 u. 378f. Ganz ähnlich heißt es in Bonhoeffers unter Seebergs gehaltenem “Referat über Franks Anschauungen vom Geist und von der Gnade” darum, der Geist könne nicht letzte Gewissheit sein, sondern müsse vielmehr “erst wieder vom Ich gefunden werden” (ders.: DBW 17, 32). Das neue Ich, als Folge von Schuldbewusstsein und Schuldfreiheit vom Heiligen Geist geschaffen, trete anschließend mit dem immanenten (Heiligen) Geist “in merkwürdige Wechselbeziehung” (33) und agiere “personbezogen und personschaffend” derart, dass er den “Anspruch Gottes und die Versöhnung durch Christus” (34) in der Person aktuell mache (vgl. 46f.). Treffend bezeichnet Hauschild: Lehrbuch 2, 275, Luthers theologischen Neuansatz deshalb als “Personalismus” und folgert: “Entscheidend ist die christologisch fundierte Relation zwischen Gott und Mensch, nicht eine ontologische oder sakramentale Systembildung.” 139 Die Wirkung – bzw. Stimme – des Heiligen Geistes wird dabei im Gewissen spürbar, so Bonhoeffer, und ist entweder Möglichkeit für Gnade (Frank) oder bereits positiver Schritt zur Rechtfertigung (Luther); vgl. Bonhoeffer: DBW 9, 365 u. ders.: DBW 17, 41ff. S. dazu auch Soosten: Sozialität, 166. 140 Vgl. Bonhoeffer: DBW 9, 394ff. u. ders.: DBW 17, 46 (Referat über Franks Anschauungen vom Geist und von der Gnade). Zur Thematik s. auch Karttunen: “Lektüre”, 17.
2.3 Relationalität und Bibel beim jungen Bonhoeffer
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so schreibt Bethge passenderweise, “befestigt[e] Holl in ihm das sola gratia als den einen articulus stantis et cadentis ecclesiae”, wodurch auch “[d]as cor curvum incurvatum in se für Bonhoeffer seitdem zu einem Schlüsselwort”141 wird, das vom Heiligen Geist als gratia increata nicht lediglich forensisches Urteil ist, sondern freies Geschenk im willensunfreien Menschen, auch wenn sie gleichwohl persönlich zu ergreifen ist.142 Erst dadurch, so argumentiert Bonhoeffer, entstehe der neue Mensch, simul iustus et peccator, aus dem wieder Gottes Ebenbild werde und an dessen Früchten man erkennen könne, dass der rechte Geist gegenwärtig sei und durch den eingegangenen Heiligen Geist das Gesetz Gottes in sich trage.143 Relationale Funktion erhält auch die biblische Schrift, an die nicht nur der Heilige Geist gebunden und darin verhüllt ist,144 sondern auch Christus ist nur aus der Schrift zu “bekommen”, um beides nicht gegen einander ins Felde zu führen. Das bedeutet aber, dass Christus als “Sinn und Krisis der Schrift, der ganzen Schrift, also auch des Gesetzes”,145 hermeneutischer Schlüssel zum Verständnis des Alten Testamentes ist, womit er unter Zuhilfenahme der Dialektischen Theologie (“Krisis der Schrift”) deutlich gegen von Harnack wettert. Der junge Bonhoeffer liest damit aber auch traditionell-christlich das Alte Testament von Christus her, wie er es später auch ausführlich in Schöpfung und Fall thematisieren wird.146 Die Mittlerfunktion der Schrift resultiert darum auch in einer grundsätzlichen Offenheit des biblischen Kanons, indem “die Schrift letztlich ihr eigener Maßstab”147 ist, weil es sich um keine Wortinspiration handelt. Vielmehr bindet Bonhoeffer – mit Luther – Autorität und Kanon der Schrift an die Kirche als ministerium verbi.148 Konkret sind es die Prediger als Diener am Wort 141 Bethge: DB, 97; zum Einfluss Holls vgl. auch DeJonge: Formation, 118ff. 142 Vgl. Bonhoeffer: DBW 17, 44; Lehmkühlers Urteil trifft damit an dieser Stelle nicht zu; vgl. Lehmkühler: Inhabitatio, 230ff. Dass anhand des Gnadenverständnisses (zwischen forensisch und effektiv) infolge der gemeinsamen Rechtfertigungslehre der beiden Großkirchen (1999) seit Beginn dieses Jahrtausends eine gänzlich neue Diskussion entfacht ist, kann an dieser Stelle nur erwähnt werden; mehr dazu bei Prüller-Jagenteufel: Befreit, der Bonhoeffers Ethik zur Vermittlung zwischen den kirchlichen Positionen zurate zieht. 143 Vgl. Bonhoeffer: DBW 9, 276f.; 379f. In seinem Referat über Frank hält Bonhoeffer ein “‘sukzessives Ausscheiden der adamitischen Natur’, ‘eine allmähliche Wiederherstellung des Ebenbildes Gottes’ ” (ders.: DBW 17, 46) allerdings für nur sehr begrenzt möglich. 144 Vgl. ders.: DBW 9, 394f. u. ders.: DBW 17, 44f. 145 Ders.: DBW 9, 397. 146 Ebd., 395f.: “In ihm [Christus; Anm. von P. M.] haben wir das Licht, mit dem wir ins Alte Testament hineinleuchten.” 147 Ebd., 398. 148 Vgl. ebd., 398.
44 | 2 Weichenstellung zu relationalem Denken: Die akademische Frühphase Gottes, die den Glauben weitertragen dürfen, vorausgesetzt, der Geist kommt hinzu.149 Besonders krass klingt deshalb Bonhoeffers Gedanke eines sacrificium intellectus, dass die wissenschaftliche Theologie durch den Geistbesitz – als Vorbedingung! – Wahres spricht, auch wenn es logisch falsch sein mag; denn “theologische Gedanken gehen über philosophische Deduktionen und werden von diesen nicht ergriffen”,150 auch wenn er hier im kommunikativen Geschehen zur Vorsicht rät.151 Allerdings begründet er dies auch mit Blick auf die spätere Konkordienformel der lutherischen Frühscholastik, die neben der Heiligen Schrift als Norm der Theologie nur eine schwache Vernunft akzeptiert, die die Offenbarungswahrheiten nicht fassen könne; “[d]as eigentliche und eine Prinzip der Theologie bleibt die inspirierte Schrift”.152 2.3.1.3 Seeberg, Barth und die Dialektische Theologie Als dritte Person an der Berliner Universität ist Reinhold Seeberg (1859–1935) zu nennen, Bonhoeffers Doktorvater, dessen Einfluss auf ihn jedoch im Gegensatz zu von Harnack und Holl deutlich geringer ausfällt. Im Wesentlichen ist es die Ernstnahme der sozialen Dimension, die er fruchtbringend in seiner Dissertation übernimmt.153 Statt Seeberg ist es neben Luther aber vielmehr der junge, aufstrebende Schweizer Karl Barth (1886–1968), der mit seiner dialektischen Theologie Bon149 Vgl. Bonhoeffer: DBW 9, 399f. Und so hält Bonhoeffer auch gegen Barths “Christliche Dogmatik” (erschienen 1927) mit seinem Verständnis vom Christentum als Buchreligion a) die Bibel als menschliches Zeugnis und b) den “Entscheidungscharakter der Schrift”, der im weiteren Denken Bonhoeffers eine prominente Rolle spielen wird; vgl. ebd., 474f. 150 Ebd., 403. 151 In Bonhoeffers Referat über Vernunft und Offenbarung heißt es allerdings (ebd., 328): “[A]uch Luther wollte seine Sätze als material schriftwidrig oder als formal unlogisch nachgewiesen haben, bevor er widerrufe.” 152 Vgl. ebd., 327; zu Luthers Schriftverständnis vgl. auch Hauschild: Lehrbuch 2, 292ff. Bonhoeffer kritisiert allerdings – ganz wie sein Lehrer Holl – die lutherische Frühscholastik (einschließlich Melanchthon) für ihre Spaltung zwischen Vernunft und Offenbarung, zwischen rational und irrational Nachvollziehbarem; vgl. Bonhoeffer: DBW 9, 328ff., bes. 331 u. Karttunen: “Lektüre”, 11. 153 Zu diesem Urteil kommt auch Rumscheidt: “Significance”, 221, wenn er schlussfolgert: “This exploration proposed and maintained the distinction between ‘influence’ and the ‘use of intellectual resources.’ On the basis of that differentiation, it can be said, in conclusion, that the influence Reinhold Seeberg had on Dietrich Bonhoeffer was small and limited to Bonhoeffer’s theology, essentially, albeit not exclusively, to its first phase. […] Seeberg appears not to have been someone who made a formative impact on Bonhoeffer’s life in the manner Harnack did.” Karttunen: “Lektüre”, 12, weist ferner darauf hin, dass auch Holl mit seiner ekklesiologischen Dimension der lutherischen Rechtfertigungslehre Bonhoeffer hinsichtlich der Ernstnahme der sozialen Dimension zumindest Impulse gegeben habe.
2.3 Relationalität und Bibel beim jungen Bonhoeffer
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hoeffers relationales Denken zeitlebens prägt.154 Denn bei seiner Auseinandersetzung mit dem Römerbrief hat Barth entdecken dürfen, “daß die Verfasser der Bibel persönlich von ihrer Botschaft betroffen sind; und in diesem Betroffensein eines Paulus, eines Johannes oder eines Jeremia fand er [Barth; Anm. von P. M.] die Möglichkeit, ganz neu von Offenbarung zu reden.”155 Und so muss Gott selbst nach Ansicht Barths wieder Gegenstand der Theologie sein, nicht der Mensch, weshalb auch die Bezeichnung “Theologie des Wortes Gottes” Verbreitung für die dialektische Theologie findet.156 Die Debatten (besonders) mit der liberalen Theologie sind geprägt durch etliche Paradoxien: Einerseits wird an der Beziehung zwischen Gott und Mensch festgehalten, doch kennzeichnen andererseits Schlagworte wie “Gott, der ganz Andere” die unüberbrückbare Differenz zwischen Gott und Mensch, besonders in zweiter Auflage des Römerbrief ;157 hier setzt Bonhoeffers Vorwurf des “Offenbarungspositivismus” aus den Gefängnisbriefen an. Aus Paradoxien wie dieser heraus setzt sich darum der Name “dialektische Theologie” durch. v. a. wegen der Ernstnahme Gottes als Gegenüber und Offenbarer und dessen Wort als Medium der Offenbarung ist sie mitursächlich für Bonhoeffers relationales Denken. Und so verurteilt Bonhoeffer “die Kunst, in der er sich gerade bei von Harnack und Holl selber ausgewiesen hat[te] […]. Die Texte seien nicht nur Quellen, sondern Offenbarungsträger, nicht Redaktionsstücke, sondern Kanon”,158 womit er implizit Barths programmatische Unterscheidung zwischen Menschenwort und Gotteswort aufnimmt.159 Statt eines naturwissenschaftlich-mechanistischen Weltbildes (neukantianistischer Art) fordert Bonhoeffer vielmehr, der Hoheit Jesu Christi gerecht zu werden.160 In Bonhoeffers Offenbarungsverständnis deutet sich damit bereits der duale Charakter von Akt und Sein wie auch das dialogische Denken der Dissertation an, 154 So auch DeJonge: Formation, 1. 155 Schlingensiepen: Bonhoeffer, 44. 156 Vgl. Härle: Dialektische Theologie, 683f. 157 Programmatisch heißt es in Barth: Römerbrief , 139: “Kein Einswerden von Gott und Mensch findet statt, keine Aufhebung der Todeslinie, kein proleptisches Ansichreißen der Fülle Gottes der Errettung und Enderlösung. […] Es bleibt der Mensch Mensch und Gott Gott.” Vgl. auch Pangritz: “Kommen”, 243. 158 Bethge: DB, 109; vgl. dazu Bonhoeffers Referat “Läßt sich eine historische und pneumatische Auslegung der Schrift unterscheiden, und wie stellt sich die Dogmatik dazu?”, Bonhoeffer: DBW 9, 305–323 u. Hamilton: Hermeneutik, 37. 159 “Gotteswort und Menschenwort in der christlichen Predigt” lautet der 1924 gehaltene Vortrag Barths, dessen abgedruckte Version Bonhoeffer explizit im Zuge seiner Dissertation rezipiert hat; vgl. Barth: “Menschenwort”, 426–457 u. Bonhoeffer: Sanctorum Communio, 299. 160 Vgl. ders.: DBW 9, 305ff.
46 | 2 Weichenstellung zu relationalem Denken: Die akademische Frühphase auch wenn die spätere Konsequenz noch fehlt: Denn einerseits betont er im Sinne Barths den relationalen Vollzug der Kundgabe Gottes einzelner Worte an den Menschen; dafür muss Gott vom Objekt zum Subjekt werden, weshalb Bonhoeffer hier von “funktionaler Offenbarung” spricht.161 Es scheint andererseits aber so zu sein, wie Pangritz es dargelegt hat, dass Bonhoeffer zu diesem frühen Zeitpunkt noch am reformierten finitum incapax infiniti festhält,162 womit die SeinsKategorie zumindest vorhanden ist, aber das spätere Dass noch aussteht. In dieser Weise ist auch Anschließendes zu verstehen, dass Christus in Seiner Unendlichkeit zur menschlichen Erfahrbarkeit in das Endliche des Buchstabens eingehen muss, um im Geist wahrgenommen werden zu können.163 Die hermeneutische Konsequenz daraus, dass kein äußerer Maßstab an die Bibel angelegt werden kann, lautet mit Luther, dass “scriptura sacra est sui ipsius interpres”.164 Deshalb muss der Ausleger sowohl die pneumatische als auch die historische Dimension in sich vereinen, was Bonhoeffer zu konkreten Schritten wie Textkritik oder Quellenkritik führt.165 Auf Grundlage der pneumatischen Dimension ist für Bonhoeffer selbstverständlich, dass auch das Alte Testament als Offenbarungsquelle voll anerkannt wird: Das Wort Gottes ist immer treibende Kraft Israels wie der Kirche.166 So vergleicht Bonhoeffer schließlich im Anklang an Barth jeden pneumatischen Auslegungsversuch mit Gebet bzw. der Bitte um den Heiligen Geist.167
161 Vgl. Bonhoeffer: DBW 9, 312f. 162 So Pangritz: Barth, 25. S. außerdem Bonhoeffer: DBW 9, 310: “[M]an versucht Göttliches durch Menschliches zu begreifen, indem man es nicht streng scheidet und vergißt das alte: finitum incapax infiniti.” Vgl. auch Bethge: DB, 110 u. Abromeit: Geheimnis, 199; s. auch Hauschild: Lehrbuch 2, 285; 426f. 163 Vgl. Bonhoeffer: DBW 9, 316. Vgl. auch Bonhoeffers Notiz zur barthschen Dogmatik, wenn er – frühestens Frühling 1927 – schreibt (ebd., 475) “Offenbartheit (Inspiration) ist nicht Offenbarung!” und damit die Akt- und Seins-unterscheidung aufgreift, die er in seiner Habilitation entsprechend entfaltet. 164 Ebd., 312. 165 Vgl. ebd., 317f. 166 Vgl. ebd., 321f. In einem Referat über Kirche und Eschatologie bzw. Reich Gottes spricht Bonhoeffer sogar von dem “Kampfmittel des Wortes Gottes” (ebd., 340), das der empirischen Kirche als Werkzeug zur Ausbreitung des Reiches Gottes dient. 167 Vgl. ebd., 322. Barth selbst betont mit seiner fünften These die Bedeutung des Heiligen Geistes für die Theologie, wenn er formuliert (Barth: “Menschenwort”, 455): “Die menschliche Möglichkeit der Predigt sowohl als der wissenschaftlichen Theologie steht und fällt mit der Bitte um den Heiligen Geist, durch den Gott sein Wort selbst spricht und zu Gehör bringt und sich damit zum Dienst seiner Kirche bekennt.”
2.3 Relationalität und Bibel beim jungen Bonhoeffer
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2.3.1.4 Deißmann, Sellin und der religionsgeschichtliche Einfluss In seiner Auseinandersetzung mit seinem neutestamentlichen Professor Adolf Deißmann (1866–1937) tritt erneut Bonhoeffers frühe Kritik griechischer Metaphysik zugunsten von Relationalität zutage. Denn gegen Deißmanns Zuspitzung des “ἐν Χριστῶ” als eine wie auch immer geartete stoffliche Vereinigung interessiert Bonhoeffer sich nicht für das Wie, nur das Dass der Relation: “Christus ist der Gesamtkörper, indem die Jünger sich irgendwie befinden. Bei Johannes ist es der Saft des Stockes, der die Reben speist, bei Paulus der Geist, der den Leib regiert.”168 Mit Verweis auf Barth wird darum das paulinische In-Christus-Sein und der “geistgewirkte[n] Glauben[s]”169 gerade gegen Deißmanns mystisch geprägte Erfahrungstheologie und mit Verweis auf die “Rechtfertigungsgewißheit”170 gut lutherisch auslegt, während für Johannes “das Problem Gesetz und Evangelium [,] keine Rolle”171 spiele.172 Trotzdem will Bonhoeffer auch die johanneisch gedeutete Verbindung zu Christus nicht mystisch verstanden wissen, sondern als “erlebte innige Verbundenheit mit dem Lichtreich Christi.”173 Auch in Bonhoeffers Seminararbeit über “Die verschiedenen Lösungen des Leidensproblems bei Hiob” kommt – wie schon bei von Harnack – das historischkritische Element voll zum Tragen, zumal die Arbeit bei Ernst Sellin (1867–1946) geschrieben wird, einem der Hauptvertreter der religionsgeschichtlichen Schule, der auch sonst (nicht nur) Bonhoeffer beeinflusst haben dürfte, besonders in seinem Verständnis der alttestamentlichen Prophetie, über die er in seinem Vikariat in Barcelona 1928 referieren wird.174 Auch wenn der genaue Wortlaut für diese Untersuchung nicht in allen Feinheiten relevant ist, sei zumindest darauf hingewiesen, dass Bonhoeffer das Verhältnis zwischen Gott und Mensch als “persönliche[r] Beziehung”175 ethischer Art charakterisiert; gleichzeitig ist sicher nicht zu vernachlässigen, dass sich Bonhoeffer zufolge in Hiobs Gottesbild mehr und mehr Gottes Gerechtigkeit durchsetzt, weshalb auch Hiob gerecht sein will.176 168 Bonhoeffer: DBW 9, 443 (Referat über Johannes und Paulus). 169 Ebd., 444; vgl. auch 448. 170 Ebd., 443. 171 Ebd., 444. 172 Zu Deißmanns Ansatz vgl. auch Lehmkühler: Inhabitatio, 37ff. 173 Bonhoeffer: DBW 9, 445. Dass Bonhoeffer die paulinische Position bevorzugt, wundert aufgrund seiner lutherischen und barthschen Prägung kaum und gibt ein weiteres Indiz für Bonhoeffers Weg zum relationalen Denken. 174 Für Sellins Verständnis der alttestamentlichen Propheten ist besonders auf Sellin: Prophetismus hinzuweisen. S. auch Hamilton: Hermeneutik, 47. 175 Bonhoeffer: DBW 9, 454. 176 Vgl. ebd., 459ff.
48 | 2 Weichenstellung zu relationalem Denken: Die akademische Frühphase 2.3.1.5 Philosophie, Predigten und Katechesen Neben der spezifisch theologischen Auseinandersetzung belegt Bonhoeffer in Berlin erneut Veranstaltungen auch in der Philosophie, von denen die Vorlesung zur Erkenntnistheorie bei Heinrich Maier eigens zu erwähnen ist, nicht nur aufgrund des Themas für die weitere bonhoeffersche Theologie, sondern auch deshalb, weil Maier einer der beiden philosophischen Professoren ist, bei denen Heschel maßgeblich studiert.177 Unter den Predigtentwürfen und Katechesen, die Bonhoeffer zu dieser Zeit verfasst (und teilweise umsetzt), sei auf die Predigt über Jak 1,12–25 aus dem Sommersemester 1926 hingewiesen, in der es um die Zusammengehörigkeit von Glaube und Gehorsam geht,178 und die er bereits im Zuge der Seminararbeit über den 1. Clemensbrief entdeckt hat. Denn erstens bewegt sich Bonhoeffer mit diesem Gedanken bereits zu diesem frühen Zeitpunkt – wie später in der Nachfolge – jenseits der lutherischen Renaissance seiner Zeit. Zweitens nimmt er mit dieser Zusammengehörigkeit von Glauben und Gehorsam das leitende Theologumenon seiner zehn Jahre später erscheinenden Nachfolge vorweg, das er dort unmittelbar mit relationalem Denken, unter anderem anhand des Verständnisses von Gnade, zusammenbringt. Und drittens greift er mit dem Gedanken der menschlichen Freiheit durch gehorsame Bindung an Gott179 ein klar relationales Freiheitsverständnis auf, das er in Akt und Sein konkreter einführen und schließlich innerhalb von Schöpfung und Fall etwa sieben Jahre später ausführlich exegetisch erläutern wird.180 Ökumenisch interessant ist fernerhin ein Referat Bonhoeffers für den Donnerstagskreis,181 in dem er nicht nur die Verdienste der Katholischen Kirche als Hüterin von Wissenschaft und Kunst betont. Vielmehr wertschätzt er sie als “heilige christliche Kirche”,182 solange sie noch die Bibel hat.183 177 Besonders Marsh: Reclaiming, x, macht auf den nicht zu vernachlässigenden philosophischen Einfluss dieser Zeit auf Bonhoeffer aufmerksam. 178 Vgl. Bonhoeffer: DBW 9, 533–546. 179 Vgl. ebd., 545. 180 In einer zeitgleichen Predigtmeditation zu Lk 9,51–56 vom Oktober oder November 1927 wird ebenso diese Konsequenz des Gehorsams Gott gegenüber beim jungen Bonhoeffer deutlich, wenn er darauf insistiert, Jesus als Herrn über sein ganzes Leben zu setzen; vgl. ebd., 601. 181 Zum Donnerstagskreis vgl. Bethge: DB, 126: “Seit April 1927 lud Bonhoeffer jeden Donnerstag einige dem Kindergottesdienst entwachsene Gymnasiasten ein zum ‘Lese- und Ausspracheabend’ in der Wangenheimstraße. Er entwarf ein Programm, das einer Jugendakademie wohl anstehen würde, mit systematischen, religionskundlichen, ethischen, konfessionellen, politischen und kulturellen Themen.” 182 Bonhoeffer: DBW 9, 583. 183 Diese positive Äußerung hat natürlich mit Bonhoeffers Italienreise zu tun. Bemerkenswert, wenn auch nicht ungewöhnlich nach den vorangegangen Referaten, ist die Vehemenz Bonhoef-
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Dies ist die Ausgangssituation, in der Bonhoeffer – gerade einmal 21-jährig und noch mitten im Studium – die Dissertation Sanctorum Communio bei o. g. kritischen Professor Seeberg anfertigt, in der er das Wort Gottes – als Offenbarung – an die Kirche bindet und so eine “Barriere gegen metaphysische Spekulation und transzendentale Verflüchtigung Gottes”184 schafft. Dort grenzt er sich das erste Mal grundlegend – mit Barth – kritisch gegen philosophische und theologische Stimmen seiner Zeit ab, die seiner Ansicht nach nicht Ernst machen mit der echten Offenbarung Gottes, wie die nachfolgende Analyse von Sanctorum Communio beleuchtet. 2.3.2 Sanctorum Communio (1927) 2.3.2.1 Rahmenbedingungen und Untersuchungsgegenstand Bonhoeffers (wie auch Heschels) Studienabschlüsse repräsentieren nochmals die biographische Spannung: Einerseits absolviert Bonhoeffer seinen theologischen Abschluss “nur” durch die kirchliche Prüfung beim Konsistorium der Mark Brandenburg zwischen dem 14. und dem 17. Januar 1928 mit “recht gut”.185 Andererseits kann er seine von Seeberg betreute akademische Glanzleistung der Dissertation – sie wird als einzige des Jahrgangs mit “summa cum laude” bewertet – am 17. Dezember 1927 noch vor Beendigung des offiziellen Studiums erfolgreich verteidigen.186 Wie bereits gesehen, sind es zwei Themenkomplexe, die den jungen Bonhoeffer zur Zeit seiner Dissertation brennend interessieren: Einerseits die durch Rom angeregte Frage nach dem Wesen (bzw. der Gestalt) der Kirche (Ekklesiologie), andererseits die Offenbarung Gottes, inspiriert durch Luther und Barth. So ist das Thema, die Soziologie der Kirche im Zusammenhang göttlicher Offenbarung – und damit eben keine abstrakt-dogmatische Ekklesiologie –, logisch aus dem Hauptinteresse Bonhoeffers abgeleitet und deutet einen der wenigen aber besonfers, mit der er schon zu diesem Zeitpunkt auf das Primat der Bibel pocht, wenn er abschließend formuliert (Bonhoeffer: DBW 9, 584): “Aber wir können und sollen beten, daß unsre Schwesterkirche Einkehr halte und auf Nichts schaue als aufs Wort (1 Kor 2,2).” 184 Vgl. Bethge: DB, 114. 185 Vgl. Bonhoeffer: DBW 9, 184. 186 Die Arbeit hat Bonhoeffer bereits im 6. Semester begonnen und wird nach Fertigstellung im Juli am 01.08.1927 von der Fakultät angenommen, obwohl er währenddessen noch mindestens sieben Hausarbeiten, neun katechetische und homiletische Entwürfe u. v. m. erarbeitet; Anmeldungs- und Prüfungsunterlagen wie auch die Dissertationsurkunde Bonhoeffers sind zu finden in ebd., 173–189; vgl. auch Bethge: DB, 111–128; 182. Auf die Publikation muss er jedoch (wie Heschel) drei Jahre warten.
50 | 2 Weichenstellung zu relationalem Denken: Die akademische Frühphase ders wichtigen Einflüsse seines Doktorvaters Seeberg an.187 Das deutet nicht nur Bonhoeffers Vermittlungsansatz zwischen den unterschiedlichen Spannungen an, die sich durch sein Denken ziehen – hier am Beispiel der Spannung zwischen rationaler Wissenschaft und geglaubter Kirche –, sondern legt mit der Sozialität den womöglich wichtigsten Grundstein für sein relationales Denken, auf die weitere zahlreiche geistesgeschichtliche Prägungen folgen, die Bonhoeffer im Zuge seiner Dissertation (und danach noch) rezipiert.188 Zurecht lässt sich deshalb im Sinne Clifford Greens auch von einer “Theologie der Sozialität”189 sprechen. 2.3.2.2 Die dezentrale Rolle der Bibel beim jungen Bonhoeffer Trotz seines frühen Interesses an der Bibel und den Einflüssen unter anderem durch Schlatter, der ihm Ehrfurcht vor der Heiligen Schrift eingeschärft hat, nimmt die Bibel in Sanctorum Communio nur eine untergeordnete Bedeutung ein, besonders das Alte Testament;190 weder die vorherige Erwähnung haggadischer Exegese noch die geäußerte können daran etwas ändern. Dies hat sicher auch mit der Zielsetzung der Arbeit zu tun, da die Kirche als Gegenstand seiner Untersuchung ein neutestamentliches Phänomen darstellt. 2.3.2.3 Die Wesensschau der Kirche als Individuum und Gemeinschaft Um dem Thema seiner Arbeit, einer Soziologie der Kirche im Raume der Offenbarung, gerecht zu werden, sucht Bonhoeffer nach einer wissenschaftlichen Methode, die jenseits historistisch-neukantianistischer Engführung die Kirche als soziales Gebilde wie auch als Raum der Offenbarung Gottes ernst nimmt und darum – ganz im Sinne Barths – Betroffenheit aufseiten des Beobachters zulässt. Fündig wird Bonhoeffer in der sogenannten “Phänomenologie”. 187 Zum Einfluss Seebergs vgl. Rumscheidt: “Significance”, 203f.; 221; v. a. in seiner Habilitation Akt und Sein wird sich Bonhoeffer intensiver mit Seebergs religiösem Transzendentalismus beschäftigen und ihn als “idealistisch” abstempeln; vgl. Bonhoeffer: Akt und Sein, 49, s. auch Tietz-Steiding: Kritik, 203–218. 188 Bethge: DB, 113, sieht darin ein Zusammenzwingen seiner “auseinanderlaufenden Stammbäume: die Soziologie und kritische Tradition mit der Theologie der Offenbarung; d. h. Troeltsch mit Barth”; vgl. auch Weinrich: Wirklichkeit, 216. 189 Vgl. Green: Bonhoeffer. 190 Von den insgesamt 23 Verweisen auf das Alte Testament beziehen sich lediglich 10 auf die gedruckte Version von 1930, die 185 Seiten in DBW 1 umfasst; das Neue Testament findet in der gedruckten Version mit insgesamt 145 Verweisen zwar deutlich häufigere Erwähnung, was natürlich dem ekklesiologischen Schwerpunkt von Bonhoeffers Erstlingswerk zu verdanken ist. Jedoch liegt damit der Durchschnitt insgesamt immer noch unterhalb eines Bibelstellenverweises pro Seite; zu den aufgeführten Bibelstellen vgl. auch das Register in Bonhoeffer: Sanctorum Communio, 330–332.
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Erste Inspiration erhält er durch Edmund Husserls (1859–1938) revolutionäres Hauptwerk über die Ideen zu einer reinen Phänomenologie von 1913. Husserl hat im Anschluss an die “unfruchtbaren erkenntnistheoretischen Diskussionen der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts”191 eine Wesensphilosophie (Ontologie) entwickelt, die im Sinne des “zu den Sachen selbst!”192 auf Grundlage rein formaler Logik und Mathematik zurück zu den zweifelsfrei erkennbaren Phainomena durchgedrungen ist; als “strictly correlative relationship”193 ist empirisch Gegebenes (= das Noema) auf geistig einsehbares Material bezogen (als Wesensschau der idealen Gegenstände/des Eidetischen mit den geistigen Akten, den Noesen).194 Durch die Methode der Einklammerung ist dafür “jede auf diese Gegenständlichkeit bezogene Thesis auszuschalten”,195 was Husserl auch “phänomenologische ἐποχή”196 nennt. Dadurch soll die kontextuell (bzw. existentiell) gefärbte “Umwelt”197 entfallen, “so that no judgement is made for or against it.”198 Genau deshalb wird Bonhoeffer Husserls Phänomenologie spätestens in Akt und Sein als idealistisch charakterisieren.199 Noch bedeutsamer für Sanctorum Communio ist darum Max Schelers (1874– 1928) “Wesen und Formen der Sympathie” (1913/1923), in dem Scheler eine sogenannte “Phänomenologie des Fühlens” entfaltet, dass nämlich “jegliches intentionale Erleben, auch und v. a. das Fühlen, als Erkenntnisquelle theoretisch begründet sein Recht haben soll”;200 anders als bei Husserl wird damit nicht das Gefühl oder gar das erkennende Ich “ausgeschaltet”.201 Durch die Versöhnung 191 Anzenbacher: Einführung, 147. 192 Husserl: Untersuchungen, 10; (vgl. auch Heidegger: Sein, 27) u. Anzenbacher: Einführung, 149. 193 Perlman: Idea, 55. 194 Husserl: Ideen, 203 (§ 88): “Überall ist das noematische Korrelat, das hier (in sehr erweiterter Bedeutung) ‘Sinn’ heißt, genau so zu nehmen, wie es im Erlebnis der Wahrnehmung des Urteils, des Gefallens usw. ‘immanent’ liegt, d. h. wie es, wenn wir rein dieses Erlebnis selbst befragen, uns von ihm dargeboten wird.” Vgl. auch Anzenbacher: Einführung, 147–149; s. auch Tietz-Steiding: Kritik, 43–51. 195 Husserl: Ideen, 64. 196 Ebd., 65. 197 Ebd., 56, meint damit jegliche Eigenschaft, die eine sinnliche Wahrnehmung oder Beurteilung zur Folge hatte. 198 Perlman: Idea, 50. 199 Vgl. Bonhoeffer: Akt und Sein, 58; s. auch Tietz-Steiding: Kritik, 48. 200 Sander: Scheler, 37; ebd., 47; 49; 62, bezeichnet Schelers Epistemologie damit zurecht als “ethischen Personalismus”. Zu Schelers Phänomenologie und Bonhoefers Kritik v. a. in Akt und Sein vgl. Tietz-Steiding: Kritik, 52–58. 201 Vgl. Husserl: Ideen, 137.
52 | 2 Weichenstellung zu relationalem Denken: Die akademische Frühphase von Vernunft und Sinnlichkeit hält Scheler die Einheit von Leben und Denken aufrecht und schiebt der Vereinnahmung des menschlichen durch die Psychologie einen Riegel vor. Dabei muss er feststellen, dass “Wahrheitserkenntnis an sich […] keineswegs die Garantie für sittliches Handeln”202 ist. Über die metaphysische Größe, die er später als Liebe identifiziert, schafft Scheler so nicht nur eine “Bedingung der Möglichkeit einer wahrhaft objektiv ‘sachbezogenen‘ Stellung zur Welt überhaupt”.203 Vielmehr ist sie auch die fehlende Verbindung zwischen theoretischer und praktischer Vernunft, die somit dafür sorgt, dass Vernunfterkenntnisse in Sittlichkeit münden und zusätzlich die Sinnlichkeit ernst nehmen. Deshalb wird der Mensch für Scheler ens amans (statt animal rationale).204 In der Liebe nämlich mündet deshalb auch das Personsein, wenn Sander Schelers Ansatz richtigerweise als ein “Werden durch Liebe” charakterisiert.205 Die schelersche Position des ens amans ist somit Bonhoeffers methodische Grundvoraussetzung – auch wenn die persönliche Begeisterung (besonders nach den Erfahrungen in Rom) Initiator gewesen sein mag –, um die in der Offenbarung in Christus gegebene Wirklichkeit einer Kirche Christi sozialphilosophisch und soziologisch strukturell zu verstehen. [Denn d]as Wesen der Kirche aber kann nur von innen heraus cum ira et studio verstanden werden, nie hingegen von unbeteiligter Seite. Nur wer den Anspruch der Kirche ernst nimmt und diesen nicht an anderen derartigen Ansprüchen oder seiner eigenen Vernünftigkeit relativiert, sondern ihn aus dem Evangelium heraus versteht, hat Aussicht, etwas von ihrem Wesen zu schauen. So wird unser Problem von zwei bzw. drei Seiten her angegriffen werden: Von der Dogmatik, der Sozialphilosophie und der Soziologie.206
Sowohl die Sozialphilosophie als Normwissenschaft der “letzten Beziehungen sozialer Art” als auch die Soziologie als “Wissenschaft von den Strukturen der empirischen Gemeinschaften”207 stellt Bonhoeffer so in den Dienst geisteswissenschaftlicher bzw. explizit dogmatischer Errungenschaften – ganz in der Manier, wie es, ihm zum Vorbild, Kierkegaard in Der Begriff Angst von 1844 mit der Psychologie getan hat.208 Denn auch wenn die Religionssoziologie “die 202 Sander: Scheler, 24f.; 27. 203 Ebd., 30. 204 Vgl. ebd., 30f. 205 Ebd., 100: “In der Liebe kommt die Person folglich zu sich selbst; […]. Die Würde des Menschen besteht dann darin, Repräsentant dieser Liebe zu sein, in der er selbst und die Dinge als in sich selbst wertvolle Gegebenheiten ihrem eigenen Wesen nach erscheinen können.” 206 Bonhoeffer: Sanctorum Communio, 18. 207 Beides ebd., 16. 208 Vgl. Kierkegaard: Angst/Krankheit, 20. Dass in Bonhoeffers Untersuchung, wie Weinrich: Wirklichkeit, 217, es zurecht getan hat, “eine präzise Unterscheidung von Sozialphilosophie und
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strukturelle Eigenart der Religionsgemeinschaften phänomenologisch zu untersuchen”209 beabsichtigt, ist die Dogmatik zur Erfassung der Innenperspektive nötig, was Bonhoeffer dazu bewegt, sich dem Problem von mehreren Seiten anzunähern. Mit dem Hinweis auf die dogmatische Innenperspektive macht diese Stelle allerdings auch deutlich, dass Bonhoeffer mit seinem liberalen Erbe nicht gänzlich bricht. Denn ganz besonders durch die Auseinandersetzung mit Albrecht Ritschl (1822–1889) weiß er, dass für die Erkenntnis des Glaubens die Innenperspektive der kirchlichen Gemeinde nötig ist.210 Aus dieser Perspektive untersucht Bonhoeffer die theologisch-geisteswissenschaftlichen Theoreme von “Person”, “Urstand”, “Sünde” und “Offenbarung” unter Hinzunahme soziologischen Denkens, womit er theologisches Neuland betritt.211 Dies führt Bonhoeffer am Ende seiner Untersuchung zu dem Ergebnis, dass Kirche wesenhaft nur erfasst werden könne als göttliche Tat und d. h. in der Glaubensaussage, und nur aufgrund dessen als “Erlebnis”. Die Kirche als gottgegründete Gemeinschaft erfaßt nur der Glaube. Das sogenannte “Erlebnis der Kirche” ist prinzipiell von dem Erlebnis der religiösen Gemeinschaft nicht unterschieden; dennoch gibt es ein echtes Erlebnis der Kirche, wie es ein Erlebnis der Rechtfertigung gibt.212
Theologie nicht in aller Konsequenz vorgenommen werden kann”, sei an dieser Stelle darum stellvertretend erwähnt. vgl. auch Rieger: Theologie als Funktion der Kirche, 127–129. 209 Bonhoeffer: Sanctorum Communio, 17. 210 So ebd., 31, im Hinblick auf den christlichen Personbegriff, über den nur der in der Verantwortung Stehende etwas aussagen kann. Ritschls Appell an die Innenperspektive ist in Ritschl: Unterricht, § 21, zu finden, das sich in sechster Auflage von 1903 mit Unterstreichungen in Bonhoeffers Nachlass befindet; vgl. Meyer, Bethge und Bonhoeffer: Nachlaß, 199. Auch wenn Bonhoeffer in Sanctorum Communio explizit nur Ritschls dreibändiges Hauptwerk “Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung” zitiert, repräsentiert Ritschls ein Jahr später erschienener “Unterricht” natürlich vollumfänglich dessen Denken in nuce und dürfte Bonhoeffer als Erstes begegnet sein. Ritschls Denkansatz der Innenperspektive findet sich insbesondere auch bei Ernst Troeltsch wieder, der die Soziologie in aller Breite in sein Denken integriert und damit Bonhoeffer ebenfalls stark beeinflusst; vgl. Liu: Kirche, 65f. Troeltschs Einfluss auf Bonhoeffer konnte an dieser Stelle leider nicht eigens nachgezeichnet werden. 211 Vgl. Bonhoeffer: Sanctorum Communio, 13; Bethge: DB, 99; Soosten: Sozialität, 18. Zunächst entfaltet Bonhoeffer soziologisch den christlichen Personbegriff (Kap. 2), dann sozialphilosophisch “die allgemeine Geistigkeit des Menschen als ebenfalls nur in der Sozialität möglich und wirklich” (Bonhoeffer: Sanctorum Communio, 28, Kap. 3), gefolgt von einer soziologischen Analyse der Strukturen der empirischen Gemeinschaften (Kap. 4); und schließlich befasst Bonhoeffer sich mit all diesen Erkenntnissen ausführlich mit der communio sanctorum als theologischem Phänomen (Kap. 5). 212 Ebd., 189.
54 | 2 Weichenstellung zu relationalem Denken: Die akademische Frühphase Mit der Methodik der Phänomenologie legt Bonhoeffer somit einen ersten wichtigen Baustein für sein relationales Denken, der ihn über den in Akt und Sein sogenannten “actus directus” zum gleichbedeutenden, nur praktischeren “einfältigen Gehorsam” in der Nachfolge bringen wird (als Schauen und Geschautwerden der Offenbarung in Christus). Weil Bonhoeffer im Zuge etlicher Seminararbeiten und Referate die Offenbarung Gottes/Christi im Heiligen Geist mit Luther immerzu an die Schrift gebunden hat, wird die phänomenologische Methode letztlich auch direkten Einfluss auf Bonhoeffers biblische Hermeneutik haben, wie besonders in der Mittelphase deutlich werden wird. 2.3.2.4 Existentialistische Grundlagen: Erbsünde, zerstörte Relationalität, Zeitlichkeit Im Anschluss an die methodische Klärung wendet sich Bonhoeffer mit dem zweiten Kapitel seinem christlichen und dem dazugehörigen sozialen Grundbegriff zu, der seiner Ansicht nach unweigerlich mit dem Gemeinschaftsbegriff und dem Gottesbegriff verbunden ist,213 die er allesamt relational denkt. Denn von vier philosophiegeschichtlich wichtigen Personbegriffen stellt allein ein modifizierter Typus des idealistischen Personbegriffs für Bonhoeffer ein Passendes dar, der die Dimension von dem gefallenen Menschen impliziert, der zwischen Gut und Böse unterscheiden kann.214 Das bedeutet, dass sich jedes Individuum in Isolation befindet, sowohl gegen Gott als auch den Nächsten. Dies impliziert nichts anderes, als dass der Mensch auf Beziehung angelegt und darin Ebenbild Gottes ist, welches nach dem Sündenfall im status corruptionis zerstört ist und personhaft nach und nach wiederhergestellt werden muss.215 Neben Luther steht Bonhoeffer mit diesen Gedanken auf der Grundlage des Dänen Søren Kierkegaard (1813–1855), dem Vater des sogenannten “Existentialismus”.216 Als “besondere Variante der Ichphilosophie” ist der Existentialismus 213 Vgl. Bonhoeffer: Sanctorum Communio, 19. 214 Bonhoeffer thematisiert zunächst die Personbegriffe von Aristoteles, der Stoa, dem Epikureismus und dem Ich-zentrierten Idealismus nach vornehmlich Descartes, Kant u. Hegel; vgl. ebd., 19–25. Auch wenn Bonhoeffer durch seine Freundschaft zu Franz Hildebrandt nochmal neu mit Hegel in Berührung gekommen ist, rechnet er laut Abromeit: Geheimnis, 208, spätestens ab der Christologie-Vorlesung mit ihm ab. Robinson: Christ, 229., legt mit seiner ausführlichen Studie dar, dass Bonhoeffer und Hegel “are not as different as they appear.” Dass sich damit aber von einem Bonhoeffer “im Banne der Religionsphilosophie Hegels” sprechen lässt, wie Bayer: “Christus”, 273, es tut, muss stark bezweifelt werden. 215 So z. B. auch DeJonge: Resistance, 17: “The fallen condition is, in a word, isolation.” 216 Bonhoeffer entdeckt Kierkegaard wohl erst in der Studienzeit; der früheste Beleg zu Kierkegaard im Werk Bonhoeffers findet sich in dem Brief Richard Widmanns an Bonhoeffer vom
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besorgt “um das je-meinige Selbst, um das persönliche, individuelle, subjektive Sein, das Ich, das Existenz genannt wird.”217 Weil jede menschliche Existenz real bezogen ist auf die Welt (“Weltlichkeit”, “In-der-Welt-sein”),218 legt der Existentialismus Wert darauf, dass sämtliche Komponenten mit einbezogen werden müssen, die diese menschliche Existenz tangieren, worin aber Relationalität zur Welt bereits angelegt ist. Anders als traditionellerweise mit Augustin, versteht Bonhoeffer darum die existentielle Grunddisposition des Menschen in seinem status corruptionis infolge der Erbsünde als “social conceptuality”.219 Kierkegaard folgend setzt Bonhoeffer zur Erörterung der soziologischen und sozialphilosophischen Dimension von Kirche deshalb den Glauben voraus,220 um den Menschen als nach dem Sündenfall anzuerkennen.221 Mit dem qualitativen Sprung in die Sünde, mit der “Plötzlichkeit des Rätselhaften”,222 nämlich der Sünde Adams (die sich qualitativ nicht von der Sünde anderer unterscheidet), verbindet Kierkegaard selbst – und Bonhoeffer mit ihm –
17.11.1926, in dem Widmann die Möglichkeit aktueller Konsequenzen durch Bonhoeffers Dissertation anspricht und sowohl zeitgenössische Literatur (Althaus, Barth) wie auch Kierkegaards “Angriff” erwähnt; vgl. Bonhoeffer: DBW 9, 157f. Bethge weist darauf hin, dass Bonhoeffer im Zuge eines der von Harnack-Seminare Kierkegaard an Helmut Goes weiterempfohlen habe, was ebenfalls zu jener Zeit gewesen sein dürfte; vgl. Bethge: DB, 95. In seiner Dissertation zitiert Bonhoeffer Kierkegaards Furcht und Zittern, greift außerdem auf Der Begriff Angst zurück; vgl. auch Joachim von Soosten in Bonhoeffer: Sanctorum Communio, 34; 220; s. auch Tietz: “Dietrich Bonhoeffer”, 49. 217 Beides in Anzenbacher: Einführung, 151. 218 Vgl. Heidegger: Sein, 52ff.; 59ff. 219 Green: Bonhoeffer, 50; vgl. Bonhoeffer: Sanctorum Communio, 69ff. 220 Vgl. Soosten: Sozialität, 52. 221 In Der Begriff Angst (1844) erläutert Kierkegaard als Ausgangszustand eines jeden Menschen (inkl. Adam) seine Unschuld (gemäß Gen 1–3 inkl. der Unwissenheit von Gut und Böse); dem Titel seiner Schrift entsprechend haftet dem unschuldigen Menschen dennoch eine Form von Angst an, die einhergeht mit der Tiefe des individuellen Geistes (= Synthese aus Leib und Seele). Sie hat ihren Ursprung in der “ängstende[n] Möglichkeit zu können” (Kierkegaard: Angst/Krankheit, 53), insbesondere das Gebot Gottes zu übertreten, womit – wie die biblische Grundlage bezeigt – die Sünde gesetzt ist. Laut Kierkegaard versteht einzig die Dogmatik die Sünde als tiefere Voraussetzung jenseits des Individuums, die – von der Wirklichkeit ausgehend – die Sünde voraussetzt als eine Art Axiom. Kierkegaard leitet davon eine neue Ethik ab, die, von der Realität der Erbsünde kommend, auf die einzelnen Aktsünden schließt, nicht anders herum; vgl. ebd., 24f. Von dort kann Kierkegaard zufolge eine neue Ethik die Offenbarung der Erbsünde behandeln, “nicht aber ihr Werden” (ebd., 26); die Erklärbarkeit der Erbsünde schließt er aus; vgl. auch ebd., 60 u. Tietz-Steiding: Kritik, 135f. 222 Kierkegaard: Angst/Krankheit, 37.
56 | 2 Weichenstellung zu relationalem Denken: Die akademische Frühphase nicht nur den Beginn der Triebhaftigkeit, sondern auch die historische Dimension, das Entstehen von Geschichte und der damit verbundenen Zeitlichkeit.223 Zeitlichkeit wird bei Kierkegaard damit zum Indikator für die Sündhaftigkeit, auch wenn sie selbst nicht Sünde ist, es sei denn, man lebt nur im Augenblick.224 Diese Zeitlichkeit infolge der Sünde ist es auch, die Bonhoeffer als ersten existentiellwichtigen Grundbaustein gegen den Idealismus ins Felde führt. Sie bildet die Grundlage für sein Verständnis von Sozialität.225 Als relationale Größe nimmt die Sünde so Einzug in die Welt als dritte Macht zwischen Gott und Mensch wie auch zwischen Mensch und Mensch,226 weil sie jegliche menschliche Beziehung korrumpiert. Die Konsequenzen dieser Korruption sind Gemeinschaftsbruch mit Gott und sowohl höchste Einsamkeit eines jedes Menschen als isoliertes Individuum als auch allumfassendste Gemeinschaft (durch Teilhabe an der Sünde), wodurch jeder Mensch mit Adam identifiziert wird.227 Diese incurvatio hominis in se ipso ist das wohl wichtigste Axiom im Denken Bonhoeffers, das er, wie gesehen, von Luther übernimmt. Aber nicht nur das Individuum betrifft die Erbsünde, sondern auch Kollektivpersonen wie beispielsweise das Volk Israel, das als echtes einheitliches Gegenüber von Bonhoeffer hervorgehoben wird.228 Und so ist auch die Kirche mit Kollektivschuld beladen, was weniger mit konkreten, individuellen Sünden zu tun hat, als vielmehr mit ihrer Gesamtschuld.229 Denn auch Adam wird von Bonhoeffer (auf Grundlage Kierkegaards) als Kollektivperson von isolierten Einzelnen wie als sündiges Ganzes verstanden, das nur abgelöst werden kann durch die Kol223 Vgl. Kierkegaard: Angst/Krankheit, 104 u. Barth: Wirklichkeit, 414ff.; aber auch ohne den theologisch weitreichenden Sündenfall lässt sich die existentielle Dimension der Zeitlichkeit des Menschen deuten, wie zur selben Zeit wie Bonhoeffer der Marburger Philosoph Martin Heidegger in Sein und Zeit festhält, was Bonhoeffer aber erst im Zuge von Akt und Sein ausführlich rezipieren und kritisieren wird. Zur Geschichtlichkeit vgl. Heidegger: Sein, 234; dort auch mehr zu Heidegger. 224 Vgl. Kierkegaard: Angst/Krankheit, 107f. 225 Vgl. Bonhoeffer: Sanctorum Communio, 27ff. Womöglich ist er in dem Aspekt der Zeitlichkeit menschlicher Existenz außerdem durch Bultmann beeinflusst; vgl. dazu Hamilton: Hermeneutik, 201f. 226 Vgl. Bonhoeffer: Sanctorum Communio, 38. 227 Vgl. ebd., 69f.; 71–73. Dass Bonhoeffer mit Kierkegaard gegen Augustin und andere biologistische Deutungen aufgrund der Geistigkeit des Menschen argumentiert, sei lediglich am Rande erwähnt. 228 Vgl. ebd., 74. 229 Ebd., 75: “Unsere Vorstellung von Gesamtschuld ist also nicht die einer auf bestimmte Inhalte oder Seelenteile bezogenen Verschuldung, sondern die totale Schuldhaftigkeit der einheitlichen Person ist die konkrete Gestalt der Gesamtschuld.”
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lektivgröße der Kirche als “Christus als Gemeinde existierend”, die zwar durch die Erkenntnis der Sünde die Zugehörigkeit zur alten Menschheit als peccatorum communio signalisiert, gleichsam aber in der “Einheit der neuen Menschheit in Christus aufgehoben”230 ist und damit gut lutherisch die Spannung zwischen simul iustus et peccator aushält.231 2.3.2.5 Person-Sein durch Verantwortung und Relationalität Diese theologisch-existentiellen Voraussetzungen genügen Bonhoeffer jedoch noch nicht, um auf die Sozialität der Kirche schließen zu können. Denn ihm zufolge benötigt die Person als soziales Wesen, das an Zeitlichkeit gebunden ist, eine klare ethische Schranke, die es in keinem geringerem als im Du vorfindet.232 Gegen den Transzendentalismus greift Bonhoeffer dazu das zu jener Zeit populäre sogenannte “Dialogische Denken”233 auf. Mit seinem Hauptwerk Ich und Du aus dem Jahre 1923 ist der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber (1878–1965) in aller Munde.234 Bonhoeffer ist jedoch durch das ein Jahr später veröffentlichte Werk Die Grenzen des Erziehers und seine Verantwortung von Eberhard Grisebach (1880–1945) intensiver beeinflusst, in dem es unter anderem heißt, dass der Mensch überhaupt erst “Ich” durch ein “Du” werde.235 Mithilfe der “Schranke im Endlichen”236 weist Grisebach – und mit ihm Bonhoeffer – nicht nur die idealistische Philosophie als realitätsfern in ihre Schran230 Bonhoeffer: Sanctorum Communio, 76. 231 Dass Bonhoeffer diese Repräsentanz von Einzelperson für das Kollektiv (auch zeitübergreifend) von Monadenlehre Leibniz’ ableitet, erläutert Dietz: Offenbarung, 69ff. Mit dem daraus resultierenden Begriff der “Adamsmenschheit” ermögliche Bonhoeffer “eine typologische und zeitgemäße Formulierung der Erbsündenlehre” (92). 232 Vgl. Bonhoeffer: Sanctorum Communio, 26. 233 So der gleichnamige Titel des einflussreichen Buches von Bernhard Casper. Auch findet man die Bezeichnungen “Dialogik”, “Dialogphilosophie” oder “Ich-Du-Philosophie”; vgl. Heinrichs und Sauter: Dialogik, 697 u. Anzenbacher: Einführung, 151. Zur Ablehnung des Transzendentalismus namentlich Kants durch Bonhoeffer s. auch Karttunen: “Lektüre”, 22f. 234 Vgl. Buber: “Ich”, 7, nimmt direkt zu Beginn seiner Untersuchung die Unterscheidung zwischen Ich-Du und Ich-Es vor; Das Begriffspaar Ich-Du ist dabei das für ihn Bedeutsamere, weil es die Beziehung – und damit den Dialog – ausdrückt und der Erfahrende Anteil an der Welt nimmt, was in der These mündet (ebd., 15): “Alles wirkliche Leben ist Begegnung.” Zum Vergleich zwischen Bonhoeffer und Buber s. Marsh: Reclaiming, 75f. Zu Buber s. auch Heschels Gedichte. 235 Vgl. Grisebach: Grenzen, 62; zu Bubers geringerem Einfluss vgl. auch Green: “Human Sociality”, 116, Mottu: “Similarities”, 80–95 u. Bethge: “Juden”, 178f., der den buberschen Einfluss auf Bonhoeffer wesentlich auf Gogarten und Grisebach zurückführt. 236 Grisebach: Grenzen, 63.
58 | 2 Weichenstellung zu relationalem Denken: Die akademische Frühphase ken, sondern nutzt den Widerspruch an sich als Grund für sein dialogisches Denken überhaupt, weshalb er von “kritischer Wissenschaft” bzw. auch “kritischer Philosophie” spricht:237 “Der wirkliche Mensch lebt nicht nur in der Sphäre der Idee oder der natürlichen Entwicklung, er ist in seinem Wesen widerspruchsvoll, gebrochen, er hat den Widerspruch auszuhalten”,238 was gut an Bonhoeffers existentialistische Grundlage knüpft. Bonhoeffer selbst erhebt darum gegenüber dem Idealismus den Vorwurf der μετάβασις εἰς ἄλλο γένος beim Übertritt der transzendentalen Kategorie menschlicher Geistigkeit in die Kategorie des Sozialen,239 was sich auch an seiner Begriffsverwendung der “Person” (statt des “Subjektes”) erkennen lässt.240 Die beiden Bausteine von Zeitlichkeit und konkreter Begegnung des Ich und des Du führen Bonhoeffer zufolge zur “Entscheidung”, in dem der Mensch ganz im Sinne Grisebachs “im Stande der Verantwortung”241 ist, weil er durch das Gegenüber angesprochen wird und antworten kann.242 Bonhoeffer zufolge erfordert diese Qualifikation zur Person allerdings noch etwas ganz anderes: Die sogenannte “Gottbezogenheit”243 als Begegnung zwischen Mensch und Gott, die im kierkegaardschen “Augenblick”244 geschieht.245
237 Grisebach: Grenzen, XVII u. 60f.; vgl. 48; 65; 141; 274 u. Bonhoeffer: Sanctorum Communio, 26f. zur grundsätzlichen Bedeutung Grisebachs für Bonhoeffer vgl. auch Barth: Wirklichkeit, 196. 238 Grisebach: Grenzen, 167; vgl. VIII; 3–6; 169. 239 Vgl. Bonhoeffer: Sanctorum Communio, 25. 240 Mit Weinrich: Wirklichkeit, 218. 241 Bonhoeffer: Sanctorum Communio, 28. 242 Vgl. auch Moltmann: Herrschaft, 13. Auch an dieser Stelle hat Grisebach damit seine Spuren hinterlassen, der die Wirklichkeit des Menschen als ein “Gebundensein, kein freies subjektives Tun” (Grisebach: Grenzen, 61) definiert. “Ver-antwortung” entsteht ihm zufolge durch den Anspruch des Du am Ich, der über eine unverbindliche Begegnung hinausgeht. Es ist “die reale Beziehung zu dem, der uns und unserem Begriff widerspricht” (279; vgl. auch 282) und immerzu in die Gegenwart zieht (vgl. 295). 243 Bonhoeffer: Sanctorum Communio, 28. Deshalb wird er in Akt und Sein (ders.: Akt und Sein, 137) die “kritische Philosophie” mit Anspielung auf Grisebach als selbstherrliches Philosophieren in der Sünde verurteilen. So auch Prüller-Jagenteufel: Befreit, 59. 244 Vgl. Kierkegaard: Angst/Krankheit, 98f. 245 In seiner ersten Version der Dissertation spricht Bonhoeffer noch von “Berührung” (Bonhoeffer: Sanctorum Communio, 251), wohinter Huang: Gemeinschaft, 146, Bonhoeffers frühes Religionsverständnis subsummiert, mit dem er sowohl Seebergs voluntaristisches Religionsverständnis kritisiere als auch Barths, der der zwischenmenschlichen Ebene zu wenig Raum gebe, was einmal mehr Bonhoeffers fortgeschrittene Relationalität schon in dieser Frühphase unterstreicht.
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Für ihn ist zwar schöpfungstheologisch klar, dass [d]er Mensch […] von der Allperson Gottes nicht [ist] gedacht als isoliertes Einzelwesen, sondern in naturgegebener Kommunikation mit anderen Menschen, und auch in Beziehung mit diesen nicht nur eine Seite seines an sich geschlossenen geistigen Daseins befriedigend, vielmehr erst hier seine Wirklichkeit, d. h. seine Ichheit findend. Gott schuf Mann und Weib aufeinander angelegt.246
De facto ist aber die zwischenmenschliche Beziehungsebene (und nicht nur die) durch die Erbsünde (s. o.) gestört. Deshalb ist für jede Form von Begegnung und ethischer Verantwortung die Relation zu Gott – die Gottbezogenheit (s. o.) – erforderlich, wobei nur Gott selbst in Seinem absoluten Anspruch als “undurchdringliches Du”247 – Bonhoeffer chiffriert Gott in seiner Trinität – den Menschen zur Verantwortung nötigt.248 Das bedeutet: Gott bindet sich an die Sozialität der Kirche, bleibt ihr dennoch ein Gegenüber (so in der Predigt), aber eben auch im Heiligen Geist als konkretes Du, gut lutherisch die Person schaffend.249 Darum definiert Bonhoeffer seinen Personbegriff über Zeit und den Augenblick: “Für christliche Philosophie entsteht menschliche Person nur in Relation zu der ihr transzendenten göttlichen, in Widerspruch gegen sie wie in Überwältigung durch sie.”250 Das bedeutet aber: “Person entsteht und vergeht immer wieder in der Zeit.” 251 Darum bezeichnet Bonhoeffer seinen Personbegriff im Gegensatz zum statisch-zeitlosen Verständnis des Idealismus als “dynamisch”,252 was nichts anderes als “relational” bedeutet, weil sich der Mensch erst durch die konkrete Situation und Beziehung als Person qualifiziert.253 Damit ist letztlich auch
246 Bonhoeffer: Sanctorum Communio, 50f.; vgl. 38ff. 247 Ebd., 32. 248 Vgl. ebd., 33; 38 u. Tietz-Steiding: Kritik, 118. 249 Dementsprechend schlussfolgert Weinrich: Wirklichkeit, 220f. (mit ihm Green: Bonhoeffer, 35f.) sogar, dass “alle menschliche Gemeinschaft mit Gott [wird] durch den Menschen vermittelt” werde, “und auch umgekehrt liegt ein besonderes Gewicht auf dem Gedanken, daß jede Gottesbeziehung den Menschen auf seinen sozialen Zusammenhang verweist. Der Personalismus ermöglicht es Bonhoeffer, die Offenbarung sowohl in ihrer Diesseitigkeit als auch in ihrer Transzendenz zu entfalten.” Vgl. auch Ohly: “Gott”, 62. 250 Bonhoeffer: Sanctorum Communio, 29. 251 Ebd., 28; vgl. auch Tietz-Steiding: Kritik, 117 u. Liu: Kirche, 92; 95f. 252 Vgl. Bonhoeffer: Sanctorum Communio, 29. 253 Auch Green: Bonhoeffer, 30, Prüller-Jagenteufel: Befreit, 61ff. u. Tietz-Steiding: Kritik, 117 bezeichnen Bonhoeffers Personbegriff als “relational”. Liu: Kirche, 93, sieht Bonhoeffers Personbegriff “vor allem ethisch bestimmt” und wenige Seiten später (96) ebenfalls explizit als “relational und sozial”.
60 | 2 Weichenstellung zu relationalem Denken: Die akademische Frühphase schon eine zentrale Grundlage für Bonhoeffers spätere Relationalität zur Welt gelegt.254 2.3.2.6 Die Kirche als neue Menschheit Die Verantwortlichkeit durch die Schranke zum Nächsten hat auch wesentlich damit zu tun, dass Bonhoeffer nicht nur Individualpersonen kennt, sondern auch Kollektivpersonen wie die Kirche. Weil in ihr dieselben relationalen Prinzipien gelten, könnte man vom “Ereignis personaler Beziehung”255 sprechen. Damit verbunden hat Bonhoeffers relationaler Personbegriff unmittelbare Auswirkungen auf die Sozialität der Kirche. Denn der gefallene Mensch kann aufgrund seiner incurvatio in se von sich aus weder Gott noch dem Gegenüber als Du begegnen.256 Vielmehr muss Gott selbst in Christus durch Offenbarung diese Grenze durchbrechen, die Bonhoeffer an den Heilsraum der Kirche knüpft: “Der Christ wird und ist nur in der Gemeinde Christi”.257 Denn gut lutherisch geht Bonhoeffer von der Wirkung des Heiligen Geistes (allein) durch das Wort aus, das den Menschen anspricht und Garant für Gemeinschaft statt Individualismus ist, weil Predigt verkündigt und gehört werden muss.258 Darin ist die erste Notwendigkeit von Sozialität gesetzt. Aber nicht allein das, sondern Christus selbst ist Bonhoeffer zufolge im Wort gegenwärtig, womit zum ersten Mal das lutherische finitum capax infiniti – auch gegen Barth – deutlich wird.259 Mit Barth verweist er auf das aktualisierende Christuswort in den Sakramenten und der Predigt wegen menschlicher Unvollkommenheit und Sünde.260 Soteriologische Grundlage ist die Stellvertretung Christi, die Bonhoeffer mit Luther und Paulus als “Straf- und Schuldübernahme 254 Zu diesem Ergebnis kommt auch Prüller-Jagenteufel: Befreit, 65. 255 So Barth: Wirklichkeit, 205; vgl. auch Green: “Human Sociality”, 118f. 256 Vgl. Weinrich: Wirklichkeit, 226; 230f. 257 Bonhoeffer: Sanctorum Communio, 128; oder im Stile der Dialogik formuliert: (ebd., 91): “Der Faden, den der erste Adam zwischen Gott und Mensch zerschnitt, wird von Gott aus neu geknüpft, und zwar indem er in Christus seine Liebe offenbart, nun nicht mehr als in Forderung und Anruf, als reines Du an den Menschen herantretend, sondern sich als Ich schenkend, sein Herz öffnend. In der Offenbarung des Herzens Gottes ist die Kirche begründet.” 258 Vgl. ebd., 100f. s. auch Soosten: Sozialität, 77. 259 Vgl. Bonhoeffer: Sanctorum Communio, 100f. Dies macht auch die ursprünglichere Version deutlich, dass es “Wort Christi selbst ist.” So auch Burtress: “Als ob”, 174. Gegen Abromeit: Geheimnis, 199, der Bonhoeffers Wandel vom finitum incapax infiniti zum finitum capax infiniti erst mit Akt und Sein datiert. 260 Bonhoeffer: Sanctorum Communio, 143: “[A]m Wort zerbricht die Kirche in die Gemeinde des Kreuzes und am Wort ‘erbaut’ sie sich zur Ostergemeinde”.
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Christi interpretiert”,261 als “loving-action-for-humanity”,262 in der Person und Werk untrennbar zusammenkommen.263 Die Kirche ist laut Bonhoeffer aber nicht nur Gegenüber Gottes mit Christus als ihrem Haupt und Fundament, sondern auch katholisch klingend “Christus als Gemeinde existierend”.264 Bonhoeffer bindet die Wirklichkeit der Kirche an die Offenbarung in Christus und pocht im Sinne Barths gegen Ritschl (und von Harnack) auf die Hoheit Christi und damit auf eine klare “Christologie von oben”.265 Deshalb müssen letztlich ekklesiozentrisch-traditionalistisch klingende Behauptungen wie “In Christus ist, wer in der Kirche ist”,266 in Wahrheit zwingend relational verstanden werden, sodass auch eine Vorherrschaft der Christologie vor der Ekklesiologie bestehen bleibt.267
261 Soosten: Sozialität, 65; vgl. Bonhoeffer: Sanctorum Communio, 77. 262 Green: Bonhoeffer, 56. 263 So ebd., 61. S. auch Moltmann: Herrschaft, 22ff. 264 Bonhoeffer: Sanctorum Communio, 76; 85–87; 92; 126ff.; 134; 139; 142; 144f.; 159; 180; 198; mit der Terminologie von “Christus als Gemeinde existierend” greift Bonhoeffer klar hegelsches Vokabular auf und modifiziert es sowohl mit biblischem (vgl. 1 Kor 12) als auch clementinischem Denken (dazu schon die Seminararbeit über “Das jüdische Element im ersten Clemensbrief in Bestand und Verhältnis zum Ganzen”, ders.: DBW 9, 264); vgl. auch Moltmann: Herrschaft, 24f.; Robinson: Christ, 62, u. Soosten: Sozialität, 74f. Die Nähe von Bonhoeffers Ekklesiologie in dieser Facette zum Katholizismus v. a. der sogenannten “Corpus-mysticum-Ekklesiologie” wird implizit bei Slenczka: Realpräsenz, 21, thematisiert. 265 Zur Unterscheidung einer Christologie “von unten” und “von oben” vgl. Leonhardt: Grundinformation, 204: “Für den skizzierten Ansatz [der Christologie] hat sich in der dogmatischen Fachsprache der Begriff einer “Christologie von unten” eingebürgert: Das Menschsein Jesu ist unstrittig, während seine dogmatische Bezeichnung als Sohn Gottes unter den Bedingungen von Neuzeit und Aufklärung unverständlich geworden und daher erläuterungsbedürftig ist. Demgegenüber wird die ältere dogmatische Christologie als “Christologie von oben” bezeichnet, weil für sie die Göttlichkeit Christi unstrittig war. Als erklärungsbedürftig galt die Verbindung von Göttlichem und Menschlichem.” 266 Bonhoeffer: Sanctorum Communio, 133. 267 Dies bringt sachlich auch Soosten: Sozialität, 72, zum Ausdruck, wenn er schreibt: “Der Leib ist kein gegenüber Christus selbständiger Organismus, sondern ein Funktionsbegriff, d. h. der Organismus der Gemeinde ist nur Leib kraft der Funktion, die Christus ihm verleiht […]. Der Gemeinde ist ihre Einheit in Christus immer schon vorgegeben. Aus diesem Grund kann die Beziehung von Christus und Gemeinde, darin ist Bonhoeffer mit Paulus einig, nicht umgekehrt werden.” Vgl. auch Tietz-Steiding: Kritik, 253f., die ebenfalls auf den Unterschied zwischen Christus und der Kirche hinweist. Hamilton: Hermeneutik, 407f., geht deshalb einen Schritt zu weit, wenn sie behauptet: “Die neue Menschheit ist Teil der Trinität, weil durch und mit dem Wort Christus in seinen Geschöpfen Gestalt gewinnt und zur Sprache kommt. Der neue Mensch ist darin dynamisch in die Christuswirklichkeit hineingezogen”. Nur sehr bedingt kann darum von einem
62 | 2 Weichenstellung zu relationalem Denken: Die akademische Frühphase Daraus leitet Bonhoeffer eine praktische, relationale Stellvertretung ab: Als Ebenbild Gottes, durch den Glauben in der Gottesgemeinschaft und durch das Hören auf das Wort soll der Einzelne zu Jesus Christus für den Nächsten werden, was sich im Dienst/der Arbeit am Nächsten, der Fürbitte und der Sündenvergebung konkretisiert – durch die Gesamtgemeinde, die Christus vertritt, nicht durch die organisierte Kirche oder das Amt.268 Hamilton ist darum unter vorbehaltlich relationaler Betrachtungsweise zuzustimmen, dass der Mensch Teil der Trinität wird, “weil er in der Gemeinde durch das Wort Christi mit dem Wort als wahres sprachfähiges Geschöpf Gottes Gestalt gewinnt”.269 Besonders im Zuge von Schöpfung und Fall wird dieser Aspekt weiter berücksichtigt werden. Von hier aus wird deutlich, weshalb Bonhoeffer mit Pfingsten und dem Kommen des Heiligen Geistes zwar die Realisierung der Gemeinde verbindet, die eigentliche Entstehung aber bereits mit Ostern und der Auferstehung Christi assoziiert.270 Denn die Versöhnung aller Selbstverschuldung ist durch Christus als Stellvertreter gesetzt, wie Bonhoeffer hier erneut deutlich macht; die Kirche als Sein Leib übernimmt dieses “Lebensprinzip der neuen Menschheit” durch ihr Leben in der Liebe und überwindet darin den Tod – “nicht empirisch, aber sachlich”271 – eben Stellvertretung.272 Dies schlägt sich auch in den soziologisch-relationalen Dimensionen der Kirche nieder, die sich durch den Heiligen Geist in Geistvielheit, Geistgemein-
“ekklesiozentrischen Ansatz” gesprochen werden, wie Feil dies getan hat; vgl. Feil: Theologie, 141–149. Seine Argumente sind keinesfalls zwingend, zumal es für ihn offenbar nur einen Ekklesiozentrismus vs. Christozentrismus geben kann. Dass Bonhoeffer aber sprachlich und sachlich ein ausgewogeneres Bild liefert – womöglich in Anlehnung an den liberalen Kontext (der Universität Berlin), für den er ja schreibt –, scheint undenkbar. Abgesehen von den hier vorgebrachten Beobachtungen (in ähnlicher Weise auch Abromeit: Geheimnis, 17) sei nur einmal auf Bonhoeffers Seminararbeiten und Referate hingewiesen, die besagte Christologie ja gerade stützen. Auch Marsh: Reclaiming, 76, widerspricht Feil. 268 Vgl. Bonhoeffer: Sanctorum Communio, 114f.; 117; 124–128; vgl. auch Green: Bonhoeffer, 58 u. Schließer: Everyone, 46f., die klar zwischen der theologischen und ethischen Stellvertretung in Bonhoeffers Sanctorum Communio unterscheidet. 269 Hamilton: Hermeneutik, 397 (vgl. auch 407), auch wenn Bonhoeffer an keiner Stelle seines Werkes die Trinität systematisch reflektiert und er somit solch eine Formulierung über die Teilhabe an der Trinität selbst wohl nicht gewählt hätte; diesen Gedanken formuliert nach ihm, freilich mit der Ostkirche, erst Moltmann: Trinität, 143, in prominenter Weise. 270 Vgl. Bonhoeffer: Sanctorum Communio, 96. 271 Beides ebd., 92. 272 So zurecht auch Liu: Kirche, 142: “Stellvertretung wird so zum Lebensprinzip der neuen Menschheit”.
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schaft und Geisteinheit ausdrückt.273 Bonhoeffer typologisiert darum die Kirche als “Geist- und Liebesgemeinschaft” bzw. anhand des Bildes der Familie als “geistbewegte Familie”.274 Sie ist für ihn mehr als jede religiöse oder menschliche Gemeinschaft, und in der Liebe zum Nächsten sucht sie zwar den Selbstzweck und weist damit Charakteristika von Gemeinschaft auf, ebenso aber mit der Erfüllung des Willens Gottes auch den Fremdzweck – wie in einer Gesellschaft bzw. einem Verein.275 Als “Geistgemeinschaft” theologisiert er damit die Kirche in ihrer Durchdringung von Gemeinschaft, Gesellschaft und Herrschaftsverband im Heiligen Geist,276 sodass sich zu diesem frühen Zeitpunkt Bonhoeffers Theologie “schon in die Richtung der Öffentlichkeit”277 entwickelt. Denn schon an dieser Stelle ist für ihn klar, dass die Kirche als Christus als Gemeinde existierend das “Prinzip der Stellvertretung” 278 auszuüben hat, was Bonhoeffer nicht einfach als Solidarität und erst recht nicht im kollektivistischen Sinne versteht. Weil jeder einzelne qua Menschsein für die Gesamtheit steht, hat er oder sie auch Verantwortung für das Ganze zu übernehmen. “Bonhoeffer schafft damit eine Kategorie ethischer Verantwortlichkeit, die nicht bloß in der Einzelperson, sondern auch in personalverfaßten aber transpersonalen sozialen Strukturen gegeben ist, ohne 273 Die Geistvielheit resultiert aus dem individuellen Reden des Heiligen Geistes zu jedem Einzelnen (Bonhoeffer: Sanctorum Communio, 103): “Jeder glaubt und erfährt seine Rechtfertigung und Heiligung in Einsamkeit, jeder betet in Einsamkeit, jeder ringt sich in Einsamkeit zur Gewißheit der ewigen Erwählung durch, jeder ‘besitzt’ den heiligen Geist und Christus in ihm ganz ‘für sich’.” Bonhoeffer nennt dies den “prädestinatianische[n] Kirchenbegriff” (104). Die darauf aufbauende Geistgemeinschaft ist durch die christliche Liebe in Selbstannahme, Nächstenliebe und Christusgläubigkeit konstituiert und zeigt erneut die Notwendigkeit der Beziehung zu Gott für die Beziehung zum Nächsten (108–110): “1. Die christliche Liebe ist keine menschliche Möglichkeit. […] 2. Sie ist nur möglich aus dem Glauben an Christus und aus dem Wirken des heiligen Geistes. […] 3. Die Liebe ist als Willensakt zielhaft. […] 4. Sie liebt den wirklichen Nächsten. […] Damit ist aber 5. gegeben, daß die christliche Liebe keine Grenzen kennt.” Denn ganz praktisch verweist Bonhoeffer auch auf eine Geisteinheit, besonders wo äußerliche Gegensätze herrschen, da es ihm zufolge der Geist Gottes ist, der Einheit stiftet, nicht menschliches Vermögen (vgl. 128–132). Ihm geht es also nicht um so etwas wie Seelenverwandtschaft, sondern vielmehr um die Hingabe an den wirklichen Nächsten – womit wieder einmal die existentialistische Konkretion zum Ausdruck kommt –, wie sogar Gott sich selbst in Jesus Christus in und für die Gemeinschaft hingegeben habe (vgl. 109 u. 112). Nur weil Gott wolle, könne der Mensch wollen, und zwar den Willen Gottes durch die Gottesliebe, was aber wiederum den Willen Gottes zur Gemeinschaft bedeute; so sei der Selbstzweck der Gemeinschaft in Gott selbst gegründet und gerechtfertigt (vgl. 112 u. 116). 274 Vgl. ebd., 180ff. 275 Vgl. ebd., 180. 276 Vgl. ebd., 183. 277 Green: “These”, 71. 278 Bonhoeffer: Sanctorum Communio, 92.
64 | 2 Weichenstellung zu relationalem Denken: Die akademische Frühphase dabei in einen Kollektivismus zu verfallen”,279 wie Gunter Prüller-Jagenteufel es gut zusammenfasst. Wegen des relationalen Personbegriffs muss Bonhoeffer trotz aller Wechselwirkung von theologischer und soziologischer Dimension immer wieder klar zwischen empirisch-sozialer (sichtbarer) und wesentlicher (unsichtbarer) Kirche unterscheiden.280 Darum widerspricht er einer Gleichsetzung von Kirche und Reich Gottes.281 So idealisiert er die Kirche gerade nicht als Heilsanstalt im Sinne eines Gegenstücks zur massa perditionis, wie er dies der Katholischen Kirche vorwirft; trotzdem erkennt er sie wie auch die Sekten (= Freikirchen) als Teil der communio sanctorum an, da er gegen den siebten Artikel der Confessio Augustana nicht die reine Lehre als konstitutive Bedingung für Kirche akzeptiert, sondern vielmehr die absolute Autorität des Wortes der relativen Autorität der Kirche vorzieht.282 Als letzten Baustein thematisiert Bonhoeffer den sogenannten “objektiven Geist”, der als Summe bzw. eigenständiges Mehr gegenüber der Willensverbindung zweier Individuen grundlegend in der Gemeinschaft verwurzelt ist. Dieser verknüpft laut Bonhoeffer Raum und Zeit, Geschichte und Gemeinschaft und steht mit seinem personalen Charakter sozusagen über der Gemeinschaft (oder Gesellschaft), aber immer nur durch sie.283 Erst im Eschaton kann Bonhoeffer diesen objektiven Geist mit dem Heiligen Geist identifizieren, da zum jetzigen Zeitpunkt die Kirche als communio sanctorum
279 Prüller-Jagenteufel: Befreit, 75. 280 Vgl. Bonhoeffer: Sanctorum Communio, 87. Dass Bonhoeffer diese Unterscheidung nicht konsequent problematisiere, betont Kande: “Metaphors”, 138. 281 Vgl. Bonhoeffer: Sanctorum Communio, 147f. Und auch spiritualisierende, idealisierende und ahistorisierende Ansätze, wie Bonhoeffer sie in manchen Sekten bzw. Freikirchen vorfindet, lehnt er zugunsten der Volkskirche ab, da eine echte Scheidung von Gläubigen und Nichtgläubigen seiner Ansicht nach sowieso erst am jüngsten Tag stattfindet, womit er erneut Luther ins Felde führt und darlegt (vgl. 150f.). Rainer Ebelings Versuch einer Unterscheidung zwischen Freiwilligenkirche und Sekte/Freikirche ist damit prinzipiell obsolet (Ebeling: Ringen, 97ff.). Vgl. auch Liu: Kirche, 161ff. 282 Vgl. Bonhoeffer: Sanctorum Communio, 165; 186f. Vgl. schon den Donnerstagskreis zu Studienzeiten. Notfalls mündet dies in Ungehorsam, (Vgl. ebd., 173) womit ein wichtiger theologischer Gedanke Bonhoeffers zum späteren Widerstand gegen die Deutschen Christen bereits hier vorliegt, den er in seiner Radioansprache über die Wandlung des Führerbegriffs theoretisch und in der Konspiration praktisch auch auf den Ungehorsam gegenüber dem Staat fortführen wird. 283 Vgl. ebd., 45; 47–49; 62ff; vgl. dazu auch Weinrich: Wirklichkeit, 224. Mit dem Konzept des “objektiven Geistes” finden wir eins der ganz wenigen Theoreme vor, bei denen Bonhoeffer bewusst idealistisch-hegelsches Gedankengut aufgegriffen hat; mehr dazu bei Robinson: Christ, 31ff.
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nach wie vor aufgrund von menschlicher Unvollkommenheit und Sünde als communio peccatorum existiert, gegen die es anzukämpfen gilt.284 Erst dann ist sie auch (geglaubte) neue Menschheit, infolge der Offenbarung des Gotteswillens aus der alten Menschheit Adams erschaffen, und zwar in ihrer geglaubten Größe mitsamt ihrer sozialen Struktur; Fundament wie auch Herr der neuen Menschheit ist und bleibt Christus.285 Nach dem Verlust des Urstandes infolge der Sünde Adams soll die gebrochene Gottesgemeinschaft wieder hergestellt und im Eschaton zur ecclesia visibilis verklärt werden, dessen individuelle Glieder samt ihrer Beziehungen (mit Röm 8 auch Kultur und Natur) gerichtet und vollendet werden, wodurch Kirche nach und nach zum Reich Christi wird; gleichzeitig ist die Kirche durch Christus als Fundament bereits vollendet, weshalb Bonhoeffer der Liebe Gottes als Norm o. ä. widerspricht, sondern vielmehr von dem konkreten Angebot als Realität der göttlichen Liebe zur und in der Gemeinde redet.286 Auch hinter dieser Paradoxie steckt natürlich lutherisches Denken.287 Dabei setzt er voraus, dass das Gericht ein – möglicherweise erstmaliges – Bewusstsein über die Existenz und den Willen Gottes beinhaltet,288 womit auch der relational-dialogische Aspekt erneut eine Rolle spielt.289 Gleichzeitig äußert Bonhoeffer allerdings auch seine Bedenken mit Verweis auf die Apokatastasis.290 Zur Ermöglichung von Gemeinschaft und Kommunikation im Eschaton ist dafür eine pneumatische Leiblichkeit im Zuge einer ganzheitlichen Auferstehung der Vollendeten nötig, wie Bonhoeffer es
284 Vgl. Bonhoeffer: Sanctorum Communio, 75ff.; 141; 143; 198; s. auch Soosten: Sozialität, 90ff. 285 Vgl. Bonhoeffer: Sanctorum Communio, 91; s. auch Kande: “Metaphors”, 136; Weinrich: Wirklichkeit, 221; 299 u. Hamilton: Hermeneutik, 404; 407f. 286 Vgl. Bonhoeffer: Sanctorum Communio, 36; 99. 287 Vgl. auch ebd., 150. 288 Vgl. ebd., 193f. 289 Während die Gemeinde vollendet von Liebe und innerlichster Gemeinschaft ihr Dasein bestreitet, was Bonhoeffer als “Seligkeit” bezeichnet, und der Glauben in ein Schauen der ewigen Wahrheit mündet, stellt er sich den ewigen Tod als eine vollständige Einsamkeit in seinen Sünden vor (ebd., 196): “[E]r, der nur sich selbst will, bekommt seinen Willen, aber erfährt zugleich, daß er sich damit geistlich getötet hat; denn nur in der Gemeinschaft mit anderen Menschen und mit Gott lebt der Mensch”. 290 Die Apokatastasis (gr. ἀποκατάστασις πάντων), “Wiederbringung aller Dinge” (vgl. Apg 3,21), begründet Bonhoeffer zweierlei: Erstens erscheint es ihm nach der Erkenntnis der völligen Unverdientheit der erhaltenen Gabe ganz unmöglich, andere von dieser Gabe auszuschließen; vgl. ebd., 196. Zweitens hat ihm zufolge jeder einzelne die Sünde in die Welt gebracht, und die Menschheit ist für ihn in Schuld miteinander verbunden, weshalb für Bonhoeffer keine Rechtfertigung und Heiligung denkbar ist, “wenn er (der Gläubige; Anm. von P. M.) nicht gewiß sein darf, daß Gott mit ihm auch alle die, an deren Schuld er schuld ist, zu sich ziehe” (ebd., 196).
66 | 2 Weichenstellung zu relationalem Denken: Die akademische Frühphase im Anklang an Paulus (vgl. 1 Kor 15) abschließend voraussetzt.291 Mit all diesen Facetten ist aber auch schon die Tendenz hin zu Hebräischem Denken und neuer Diesseitigkeit gelegt, was Green treffend mit der “humanisation of the human race”292 als Ziel der Inkarnation Christi bezeichnet hat. 2.3.3 Prophetentum und absoluter Gotteswille: Vikariat in Barcelona (1928) Als ein nächster wichtiger Mentor im Leben Bonhoeffers ist sein zuständiger Superintendent Max Diestel (1872–1949) zu nennen, der ihn in mehrerlei Hinsicht entscheidend beeinflusst. Ihm ist der junge Bonhoeffer bereits während seiner Arbeit im Kindergottesdienst besonders aufgefallen, und so vermittelt er ihn nach dem erfolgreichen Abschluss seines ersten kirchlichen Examens und der Promotion für sein Vikariat nach Barcelona, wo Bonhoeffer am 15. Februar 1928 eintrifft.293 Unter Pfarrer (Fritz) Olbricht genießt er von nun an viele Freiheiten, auch wenn er sich recht bald sicher ist, dass Olbricht – den Bonhoeffer dennoch schätzt – den Beruf verfehlt hat und zunehmend neidisch auf Bonhoeffers Predigt-Talent wird.294 Trotz dieser und anderer Klagen über die dortigen Bedingungen295 entdeckt Bonhoeffer in seiner Theologie sehr schnell einen “humanistischen” Zug, den er im direkten Vergleich zu Barth auf die Auslandserfahrung zurückführt und womit er eine kontextuell-kulturelle Sensibilität meint, die Grundlage für erste Entwicklungen hin zur Relationalität zur Welt ist, wie nachfolgend noch deutlich werden wird.296 Wie schon zu Berliner Zeiten, schafft Bonhoeffer sich seine Herausforderungen. Und so macht er neben den regelmäßigen Predigten seine Dissertation Sanc291 Vgl. Bonhoeffer: Sanctorum Communio, 195. 292 Green: “Human Sociality”, 121. 293 Vgl. Bonhoeffer: DBW 10, 19; 21f. u. Bethge: DB, 128ff. 294 Vgl. Bonhoeffer: DBW 10, 74; 136f; ders.: DBW 17, 71; Schlingensiepen: Bonhoeffer, 66. 295 Neben dem Negativbild der spanisch-katholischen Kirche bemängelt Bonhoeffer v. a. fehlende kirchliche Arbeit (Bonhoeffer: DBW 10, 65): “Bibelstunden, Jungmännerverein, Vortragsabende, Religionsunterricht in der Schule – gibt es nicht.” Vgl. auch ebd., 62. Faktisch scheint das aber so nicht zu stimmen, denn am 28.02. hat Bonhoeffer seiner Mutter Paula geschrieben, dass es Religionsunterricht immerhin bis zur Untertertia gibt; vgl. ebd., 33. 296 Vgl. den Tagebucheintrag vom 08.03.1928 (ebd., 27). Untermauert wird diese These durch den Brief an Walter Dreß vom 13.03.1928, in dem Bonhoeffer von einem regelrechten Angriff auf seine bisherige Dogmatik spricht – durch ein Land, “das nicht Krieg und Revolution, Jugendbewegung und Spengler erlebt hat” (ders.: DBW 17, 71), was in die Frage mündet, ob Barth hätte in Spanien schreiben können. Dietz: Offenbarung, 158, spricht entsprechend von Bonhoeffers “Hinwendung zur konkreten Welt und ihrer geschichtlichen Gegenwart”.
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torum Communio für den Druck fertig, plant bereits die Habilitation und engagiert sich zusätzlich im Religionsunterricht der höheren Klassen, für einen Kindergottesdienst und ein Weihnachtsstück. Für den Zusammenhang dieser Untersuchung ist aber besonders die vierteilige Vortragsreihe wichtig, die Bonhoeffer in den letzten Monaten vor seiner Rückreise nach Berlin hält und von denen drei noch erhalten sind.297 Sein erster Vortrag “Die Tragödie des Prophetentums und ihren bleibenden Sinn”298 (vom 13.11.1928) ist zunächst hermeneutisch bedeutsam, weil Bonhoeffer im Sinne Barths danach sucht, den biblischen Text in die Gegenwart zu transportieren: Die Fragen, die wir behandeln wollen, sind zutiefst Gegenwartsfragen, auch wenn ihr äußeres Gewand unmodern, altertümlich anmutet. Jedes Wort soll aus der Gegenwart für die Gegenwart gesprochen sein, nicht immer ausgesprochen, aber für den Beobachter unserer Tage deutlich genug.299
Bonhoeffer lässt damit in der Manier der Dialektischen Theologie mit lutherischer Färbung den Bibeltext für sich selbst sprechen, dass nämlich der Heilige Geist durch die Bindung an den Bibeltext zu den Hörern selbst reden mag. Ohne es natürlich so zu nennen, geht Bonhoeffer damit den nächsten Schritt seines relationalen Denkens, indem er die Relationalität zu Gott und zum Bibeltext zusammenbringt und bereits die Richtung hin zur Relationalität zur Welt einschlägt. In sachlicher Nähe zu Heschels Dissertation “Das prophetische Bewußtsein” beschreibt Bonhoeffer den Propheten als einen Mann, der sich von Gott in einem bestimmten, erschütternden Augenblick seines Lebens angefaßt und berufen weiß und nun nicht mehr anders kann, als hintreten unter die Menschen und den Willen Gottes verkündigen. Die Berufung ist der Wendepunkt seines Lebens geworden, und es gibt für ihn nur noch eines, dieser Berufung folgen, mag sie ihn ins Unglück, in den Tod führen.300
Diese kurze phänomenologische Schau wirkt zudem fast wie ein prophetischvisionärer Blick in die Zukunft, der inhaltlich Bonhoeffers jähes Ende vorwegnimmt. Stärker als Heschels prophetische Sympathie spricht Bonhoeffer von
297 Vgl. Bonhoeffer: DBW 10, 85; 88; 91; 95; 102f.; 105; 112; 115; 120; 130; ders.: DBW 17, 78; s. auch Bethge: DB, 138ff. 298 Vgl. Bonhoeffer: DBW 10, 285–302; s. auch Johansson: “Prophetic Existence”, 287ff. 299 Bonhoeffer: DBW 10, 285. 300 Ebd., 288.
68 | 2 Weichenstellung zu relationalem Denken: Die akademische Frühphase “furchtbare[m] Zwang […], unbegreiflich für jeden, der‘s nie erfuhr, was es heißt, wenn Jahwe einen anspricht”;301 doch wie bei Heschel ist der Ruf Gottes an den Menschen entscheidendes Kriterium prophetischer Existenz.302 Zwar interpretiert auch Heschel den Propheten als jemanden, der unter einer gewissen Unfreiheit steht, doch scheint Bonhoeffer hier eine Mittelposition zwischen ihm und Rosenzweigs Verständnis des Propheten als Marionette einzunehmen.303 Von einem Pathos Gottes und prophetischer Sympathie ist auch bei Bonhoeffer klar zu hören, wenn er in Auseinandersetzung mit dem Propheten Jeremia davon spricht, dass Gott selbst das Herz gebrochen sei –304 eine Facette, die sich ab der Mittelphase noch deutlicher ausprägen wird. Und Amos “hat gehört von der Gottlosigkeit, von der drückenden Ungerechtigkeit des Stadtlebens”.305 Und in dieser Form wird Gott als Lenker und Herr der Geschichte verstanden, der einen Plan hat und dem Gerechtigkeit wichtiger ist als Opfer.306 Nicht unberücksichtigt bleiben soll Hermannsdörfers Hinweis, dass Bonhoeffer in dieser Frühphase damit noch von einem “Gott der Ferne” redet, “der die Weltenwenden wirkt, der den bunten Teppich der Weltgeschichte webt, der Völker wachsen und sterben läßt.”307 Trotzdem ist Bonhoeffers Gott für Hermannsdörfer “nicht rein deterministisch”,308 sondern wirkt im Zusammenspiel mit dem Menschen.309 Aufschluss über diese Entschiedenheit Bonhoeffers zur Priorität des absoluten Gotteswillens bei gleichzeitiger Ferne Gottes dürfte zweierlei geben: Zum einen befindet sich Bonhoeffer noch vor seiner ersten grundlegenden “Wende vom
301 Bonhoeffer: DBW 10, 289. 302 So auch Johansson: “Prophetic Existence”, 298. 303 So auch noch 1935, wenn Bonhoeffer äußert, dass der “Prophet nur ein mehr oder weniger brauchbares Werkzeug” (Bonhoeffer: DBW 14, 370) sei und sich darin vom Verfasser des Psalters unterscheide. Zur Position Rosenzweigs s. 2.4.1. 304 Vgl. ders.: DBW 10, 300f. 305 Beides ebd., 289; damit deutet Bonhoeffer diesen Vorgang der prophetischen Erkenntnis ähnlich real zwischen Gott und Mensch wie Heschel. Denn (ebd., 292) “[d]aß der Prophet mit Gott im Bunde steht, das gibt ihm so sonderbare Worte auf die Lippen, das macht ihn so unerbittlich, so furchtbar, das hebt ihn über all das hinaus, was menschlich-psychologisch verständlich ist, entzieht ihn dem Verständnis des Psychiaters und Psychologen.” 306 Vgl. ebd., 296f. So auch Johansson: “Prophetic Existence”, 298: “He takes into account a God who is active and is acting with human beings individually. Bonhoeffer focuses not just on the message (nonreligious language etc.), but also on the person and the calling.” 307 Bonhoeffer: DBW 10, 296f. Vgl. Hermannsdörfer: Beten, 276. 308 Ebd., 276. 309 Dennoch kommt ebd., 283, zu dem abschließenden Urteil, dass bis 1932 der zornige Gott im Mittelpunkt stehe: “Sein strafendes Handeln wird als erzieherische Maßnahme gedeutet […].”
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Theologen zum Christen”, die ihn persönlich und theologisch erst in eine persönliche Nähe zu Gott versetzt. Zum anderen verweist nicht nur der Aspekt der Überzeitlichkeit von Gott, der in die Vergänglichkeit des Geschichtlichen eintritt (worüber sich ein weiteres Bindeglied zu Heschel ergibt),310 sondern auch die absolute Priorisierung des Gotteswillens erneut auf den Einfluss von Kierkegaards Existentialismus – in diesem Fall über dessen Schrift Furcht und Zittern.311 Bei berechtigter Anfrage darf trotzdem nicht das Pathos Gottes vergessen werden, das Bonhoeffer bereits zu diesem frühen Zeitpunkt herausarbeitet. Gemäß seiner hermeneutischen Einleitung schließt Bonhoeffer damit, den biblischen Text in die zeitgenössische Gegenwart hineinsprechen zu lassen, weshalb er darauf pocht, dass ein Volk, das emporkommen wolle, ernst machen müsse mit Gottes Willen und mit einem Leben in der Sittlichkeit.312 Noch geht er den letzten Schritt nicht, konkrete Herausforderungen der Zeit zu benennen, auf die es zu reagieren gilt. Die absolute Priorität Gottes bzw. Christi wird auch im zweiten Vortrag, “Jesus Christus und vom Wesen des Christentums”,313 ersichtlich, mit dessen Titel Bonhoeffer klar von harnacksche Terminologie aufgreift. Doch gerade gegen den Kulturprotestantismus adressiert Bonhoeffer mit der Terminologie Kierkegaards ein schroffes “Entweder – Oder”:314 “Zur Verzierung und Verschönerung unseres Lebens ist er [Christus; Anm. von P. M.] nicht ans Kreuz gegangen. Wollen wir ihn 310 Vgl. Bonhoeffer: DBW 10, 287. 311 Anhand von Gen 22 und der (möglichen) Opferung Isaaks analysiert Kierkegaard: Furcht, 32, die existentielle Glaubenssituation Abrahams(), die er als paradoxale “Dialektik des Glaubens” versteht. Denn “die Bewegung des Glaubens muß beständig kraft des Absurden vollzogen werden, doch wohlbemerkt so, daß man die Endlichkeit nicht verliert, sondern sie ganz und gar gewinnt” (33). Dies setzt eine unendliche Resignation der Situation voraus, weil rational betrachtet kein Ausweg aus ihr führt, als dem Schritt vor der letzten Bewegung, nämlich dem Glauben – “kraft des Absurden, kraft dessen, daß bei Gott alles möglich ist” (42). Denn “[u]m zu resignieren, dazu gehört kein Glaube, aber um das Allergeringste mehr als mein ewiges Bewußtsein zu bekommen, dazu gehört Glaube, denn dies ist das Paradox” (44). Der Glaube ist es nun auch, aus dem heraus der Einzelne “immer in der absoluten Isolation” (74) aus Liebe heraus Gott folgt, und zwar als Zeuge – womit die relationale Dimension deutlich wird, die niemals verabsolutiert werden darf; dadurch steht der Einzelne aber in einem absoluten Verhältnis zum Absoluten, woraus sich die absolute Pflicht Gott gegenüber ergibt, weil der Einzelne höher als das Allgemeine steht – “oder es hat niemals Glauben gegeben” (75; vgl. auch 57 u. 65). 312 Vgl. Bonhoeffer: DBW 10, 301; mit dem Verweis auf Sittlichkeit wird schließlich auch von Harnacks liberalem Einfluss Rechnung getragen. 313 Vgl. ebd., 302–322. 314 Ebd., 302; vgl. 312 u. Kierkegaard: Entweder. S. auch Bonhoeffers Predigt zu Röm 11,6 am 11.03.1928 in Barcelona, wo er unter anderem von den “zwei gewaltige[n] Linien” (Bonhoeffer: DBW 10, 456) spricht: “Unser Weg zum Ewigen hin war unterbrochen wir [sic!] stürzen hinab in
70 | 2 Weichenstellung zu relationalem Denken: Die akademische Frühphase haben, dann beansprucht er Entscheidendes über unser ganzes Leben zu sagen.” Damit entsagt Bonhoeffer einem falschen “Zwei-Räume-Denken” zwischen Kirche und Welt und erhebt diesen Absolutheitsanspruch Christi auch gegen Ethik, Religion und Kirche.315 Nur Christus ist für ihn Weg Gottes zum Menschen statt der eigenen Philosophie als Deutungsmuster (oder des eigenen Weges zu Gott), womit Bonhoeffer sich explizit gegen den Säkularisierungsprozess seit der Aufklärung stellt.316 Erneut spitzt er es in barthscher Manier (insbesondere gegen die von ihm so gedeutete idealistische Philosophie) auf eine relationale Hermeneutik zu: Entweder wir verfügen selbst schon über das, was ein Jesus von Nazareth zu sagen hat […]. […] Oder aber wir lassen das Neue Testament wirklich reden und sind einmal nur Hörer, vernehmen den Anspruch, den dieses Buch stellt in seiner ganzen Macht und setzen uns so im Zentrum der Sache in wirkliche Begegnung mit der Geschichte auseinander und das soll unser Weg sein.317
All dies mündet in Bonhoeffers Verständnis des Wesens des Christentums, dass der souveräne Gott, dem allein über alle Welt die Ehre gebührt, von dem ewig Anderen, Weltfernen, der sich aus dem Urgrund seines Wesens heraus in Liebe über den Menschen erbarmt, der ihm allein die Ehre gibt, der den Weg zu den Menschen geht, um dort die Gefäße seiner Ehre zu suchen, wo der Mensch nichts mehr ist, wo er verstummt, wo er Gott allein Raum gibt.318
In mittlerweile bekannter Art und Weise und im Vorgriff auf Akt und Sein kombiniert Bonhoeffer darin Barths “Gott, der ganz Andere” mit Luthers theologia crucis, die dadurch aber gerade ihren Höhepunkt und ihre Schnittmenge in der Kondeszendenz Gottes hat: Das Wesen des Christentums ist Bonhoeffer zufolge damit gerade keine Substanz, kein System oder Kernbotschaft im Sinne einer Information, sondern eine Beziehung, nämlich die des souveränen Gottes zu dem Menschen.319 Um Gott zu erkennen – oder besser von Ihm erkannt zu werden –, muss die Tiefe aus der wir kamen, mit unserer Philosophie und Kunst, unserer Sittlichkeit und Religion. Denn ein andrer Weg tut sich auf, der Weg Gottes zum Menschen, der Weg der Offenbarung der Gnade, der Weg des Christus, der Weg der Rechtfertigung aus Gnaden allein” (458). Vgl. auch Tietz-Steiding: Kritik, 123ff.; zu Bonhoeffers Religionsverständnis dieser Frühphase s. auch Huang: Gemeinschaft, 148f. 315 Vgl. Bonhoeffer: DBW 10, 302f.; 316. 316 Vgl. ebd., 303f.; 306. 317 Ebd., 307. Dabei spielt auch wieder der kierkegaardsche Augenblick der Entscheidung eine besondere Rolle (vgl. 309). 318 Ebd., 316; vgl. schon 312f. 319 So auch Tietz: Dietrich Bonhoeffer, 25.
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man in Beziehung zu Ihm stehen. Deshalb ist für Bonhoeffer der Humanismus der größte Feind des Christentums mit seiner Krönung von Sittlichkeit und Religion, der den Leib geradezu in platonischer Manier als “Kerker” der Seele versteht und die Beziehung vernachlässigt.320 Bonhoeffers Verwurzelung im hebräischen Denken, das gegen Erlösungsmythen und Mystik die leibliche Auferstehungshoffnung stark macht,321 wird immer deutlicher und verweist auf den Einfluss Schlatters. Schon zu diesem frühen Zeitpunkt formuliert Bonhoeffer gegen das traditionelle Apathieaxiom, dass “Gott die Menschen soweit liebt, daß er mit ihnen, für sie als Dokumentation seines eigenen Liebeswillens den Tod auf sich nimmt.”322 Den dritten Vortrag unter dem Thema “Grundfragen einer christlichen Ethik”323 bezeichnet Bethge als konkretesten und für jüngere Zuhörer als mitreißend.324 Darin konfrontiert er die durch irdische Dinge wie Kultur und Land beeinflussten Normen und Prinzipien325 mit den Ergebnissen seiner bisherigen Vorträge. Bonhoeffer wehrt sich dagegen, das Liebesgebot als streng jesuanisch anzusehen, sondern findet dies à la Schlatter auch bei Rabbi Hillel.326 Statt der ethischen Unterscheidung zwischen Gut und Böse pocht Bonhoeffer im Sinne des vorherigen zweiten Vortrags allein auf die Kondeszendenz Gottes (vgl. unter anderem Joh 1 u. Phil 2,5ff.), womit er sachlich wesentliche Aspekte des einfältigen Gehorsams und seiner Ethik der Spätphase vorwegnimmt, zumal der Heilige Geist bei Bonhoeffer explizit in der ethischen Handlung als Geist “nur in der Gegenwart, in der ethischen Entscheidung”327 wirksam ist. Deshalb haben “Christentum und Ethik […] gar nichts miteinander zu tun, christliche Ethik gibt es nicht, es gibt von der Idee des Christentums aus keinen Übergang zur Idee der Ethik.”328 Der Wille Gottes ist es allein, den es ihm zufolge aus der Beziehung 320 Vgl. Bonhoeffer: DBW 10, 317; s. dazu auch Bethge: DB, 151. 321 Vgl. Bonhoeffer: DBW 10, 317. 322 Ebd., 320 vgl. auch Schulte: Ohne Gott, 180f. 323 Vgl. Bonhoeffer: DBW 10, 323–345. 324 Vgl. Bethge: DB, 152. 325 Bonhoeffer: DBW 10, 330; vgl. schon 323: “Das ist die große sittliche Erneuerung durch Jesus, das Abtun der Prinzipien, der Grundsätze, mit biblischen Worten des Gesetzes und das liegt im Verfolg [sic!] des christlichen Gottesgedankens; denn gäbe es ein sittlich allgemeingültiges Gesetz, so gäbe es einen Weg des Menschen zu Gott, habe ich meine Prinzipien, so glaube ich mich gesichert sub specie aeternitatis, so verfüge ich gewissermaßen über die Beziehung zu Gott, so gäbe es ein sittliches Handeln ohne unmittelbare Beziehung zu Gott, was aber das entscheidende ist, dann werde ich wieder zum Sklaven meiner Prinzipien, ich gebe das kostbarste Gut des Menschen preis: die Freiheit.” 326 Vgl. ebd., 329. 327 Ebd., 333. 328 Ebd., 327.
72 | 2 Weichenstellung zu relationalem Denken: Die akademische Frühphase zu Ihm heraus im Augenblick zu suchen gilt.329 Und so kann Bonhoeffer kierkegaardisch behaupten, dass es keine per se schlechten Handlungen gebe, sondern sogar Mord geheiligt sein könne.330 Deshalb widersetzt sich Bonhoeffer auch der einfachen Argumentation, wie als Christ mit Krieg umzugehen sei.331 Allerdings kommt auch die prinzipiellpazifistische Sichtweise, die sich auf das Verbot zu Töten konzentriert, bei ihm nicht gut weg. Gleichzeitig kennt er natürlich das Nächstenliebegebot, durch das man seine Nächsten auch vor Krieg schützen soll. Doch noch im nationalistischen Denken verhaftet, entscheidet Bonhoeffer beim Abwägen zwischen Nächsten- (bzw. Familien-) und Feindesliebe (“Ja, ist nicht der Feind ebenso mein Nächster”?)332 zugunsten der eigenen Familie, indem er dies mit der göttlichen Ordnung der von Gott erschaffenen Völker begründet.333 Damit steht Bonhoeffer als Kind seiner Zeit theologisch dem noch nahe, was als “Uroffenbarungslehre” bezeichnet wird. Einen Hauptvertreter, Paul Althaus, hat er bereits in seiner Dissertation rezipiert, in dessen sogenanntem “Neuluthertum” sich theologische, politische und ideologische Interessen vermischen. Althaus geht von einer “‘Selbstbezeugung Gottes’ außerhalb und vor Christus”334 aus, woraus Eigengesetzlichkeiten von Ordnungen wie Familie, Volk und eben auch Nation begründet werden – eine Sichtweise, die Bonhoeffer spätestens im Zuge seiner Ethik bekämpfen wird.335 An dieser Stelle aber kann er darum noch behaupten, dass die Liebe zum Volk den Mord, den Krieg, heiligen werde.336 Mit seiner Perspektive bleibt er auch trotz seiner Ablehnung von Weltflucht verwurzelt im Denken seiner Zeit, spätestens wenn er Gott im Sinne der Jugendbewegung als “ewig jung und stark und sieghaft”337 beschreibt, was inhaltlich gerade konträr zur theologia crucis verläuft, wie Bonhoeffer selbst nur gut ein Jahr später in Amerika erkennen wird.338 329 Vgl. Bonhoeffer: DBW 10, 330; 341. 330 Vgl. ebd., 332. 331 Vgl. ebd., 336. 332 Ebd., 336. 333 Vgl. ebd., 337 u. schon 322; s. auch Bethge: DB, 153 u. Schlingensiepen: Bonhoeffer, 68f. 334 Knitter: “Uroffenbarungslehre”, 138. 335 Heimbucher: Christusfriede, 34, macht darauf aufmerksam, dass Bonhoeffer diese Stelle fast wörtlich von Althaus übernommen habe. 336 Vgl. Bonhoeffer: DBW 10, 338. 337 Ebd., 339; vgl. auch 341; zu diesem Urteil kommt schon Bethge: DB, 153. 338 Laut Bonhoeffer soll der Christ in der konkreten Situation durch die Bindung an Gott handeln (vgl. Bonhoeffer: DBW 10, 344), was Bethge: DB, 153, als “titanische[n] Augenblicksethik” bezeichnet.
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Zuletzt sei auf Bonhoeffers Predigten aus dieser Zeit verwiesen, in denen bereits mit Blick auf die Spätphase die Unterscheidung zwischen Letztem und Vorletztem, das Moment der Entscheidung und der Gedanke von Ewigkeit mitten in dieser Zeit zu finden sind.339
2.3.4 Gotteserkenntnis und das Primat der Kirche: Akt und Sein (1929–1930) Um dem gefürchteten Predigerseminar zu entkommen, entschließt Bonhoeffer sich nach dem Vikariat zur Habilitation (in Kombination mit einer Assistentenphase an der Berliner Universität), die er im Februar 1930 als Akt und Sein einreicht und erfolgreich abschließt.340 Er selbst misst der Arbeit wenig Leidenschaft und Priorität bei, nachdem er durch seine Vikariatszeit in Barcelona “das echte Leben” geschmeckt hat und seine Theologie “humanistisch(er)” geworden ist.341 Deutschland sagt ihm nicht mehr zu, besonders an dessen geistiger Überproduktion zweifelt er, zumal er eine Art “Mord am ‘Geist’ ”342 befürchtet. Deshalb rechnet er damit, “daß es mich nicht sehr lange bei der Wissenschaft halten wird.”343 Akt und Sein wirkt darum an vielen Punkten wie eine Erweiterung mit zahlreichen inhaltlichen Redundanzen zu Sanctorum Communio, wobei die abstraktere Frage nach der Erkenntnis Gottes weichenstellend sein theologisches Profil ergänzt.344 Denn sie beinhaltet zentrale Aspekte für Bonhoeffers relationales Den-
339 Vgl. Bonhoeffer: DBW 10, 461; 501f.; 507; 512. 340 Vgl. Bethge: DB, 155; 171; s. auch das Gutachten Lütgerts vom 30.04.1930 in Green, Busch Nielsen und Tietz, Hg.: DB Jahrbuch 3, 66–71, und Seebergs Notizen nach Bonhoeffer: DBW 10, 176 (Fußnote 4) u. 189; zur Befreiung vom Predigerseminar vgl. ebd., 179f. 341 So schreibt ebd., 138 im März 1929 an Detlev Albers, er müsse berufliche Entscheidungen treffen, “nicht von besonderem Belang. Ich werde mich eben habilitieren.” Von dem “große[n] Reichtum der praktischen Arbeit” (ebd., 177) berichtet Bonhoeffer in seinem Lebenslauf zur Meldung für die theologische Prüfung. 342 Ebd., 144. 343 Ebd., 169. 344 Zu dem Urteil der Erweiterung/Ergänzung kommt 1972 schon Green: Sociality, 160, wie TietzSteiding: Kritik, 13f., erläutert. Huang: Gemeinschaft, 150, bemerkt dennoch zurecht, dass Bonhoeffer nun “die Religionskritik in eine erkenntnistheoretische und ontologische Kritik der christlichen Theologie” umwandelt, was sie außerdem anhand von Bonhoeffers Wandel im Religionsverständnis verdeutlicht: “Mithilfe der christlichen Ekklesiologie konzipiert Bonhoeffer in SC A [= Erstauflage seiner Dissertation vor dem Druck; Anm. von P. M.] ein soziologisches Verständnis von Religion, während er in SC B [= gedruckte Fassung; Anm. von P. M.] Religion, isoliert von der soziologischen Perspektive, als Gegensatz zum Christentum betrachtet.” Das unterstreicht die
74 | 2 Weichenstellung zu relationalem Denken: Die akademische Frühphase ken. Eingefädelt hat er die Thematik der Arbeit und einzelne Inhalte bereits während seines Vikariats in Barcelona ebenso wie die Assistentenstelle bei seinem Betreuer, Wilhelm Lütgert (1967–1938). Denn Seeberg ist zu jener Zeit gerade in Pension gegangen.345 Wie schon in Sanctorum Communio spielt auch in Akt und Sein die Bibel (insbesondere das Alte Testament) nur eine untergeordnete Rolle.346 2.3.4.1 Die erkenntnistheoretische Fragestellung Während Bonhoeffer mit Sanctorum Communio eine Soziologie der Kirche im Zusammenhang göttlicher Offenbarung vorgelegt hat, spitzt Bonhoeffer in Akt und Sein die im Kontext der zeitgenössischen Philosophie und Theologie durch Kant und den Idealismus aufgetragene Fragestellung zu, “was ‘Sein Gottes in der Offenbarung’ bedeutet und wie es erkannt wird, wie sich Glaube als Akt und Offenbarung als Sein zueinander verhalten und dementsprechend, wie der Mensch von der Offenbarung aus gesehen zu stehen kommt, ob ihm je nur ein ‘Sein’ in der Offenbarung gäbe.”347 Dies bringt ihn unweigerlich in die Auseinandersetzung mit der Transzendentalphilosophie (zur Erkenntnis geistiger Akte) und der Ontologie (über das Sein der Offenbarung). Damit begibt sich Bonhoeffer aber auf dieselbe Ebene bzw. thematisiert dasselbe Phänomen abstrakt, was Heschel konkret anhand der biblischen Propheten analysiert hat – beide somit im Kontext der zeitgenössischen Philosophie. Während Bonhoeffer zuvor die Kirche als Raum der Offenbarung gesetzt hat, argumentiert er nun zugunsten dieses Fundamentes, was zuvor rezipierte Denker in ein neues Licht rückt. Auch wenn Bonhoeffer die transzendentalistische Bestrebung grundsätzlich dafür wertschätzt, die Daseinsweise des Menschen als denkendes und erkennendes Subjekt in reinen Akten als In-Bezug-auf darzustellen, muss er dem
Notwendigkeit der Offenbarung Gottes, die Bonhoeffer in Akt und Sein ausführlich erörtert und in seiner “Zweitausgabe” der Dissertation integriert; denn man darf nicht vergessen, dass Bonhoeffers Dissertation erst 1930 gedruckt wird – das Jahr, in dem er maßgeblich an der Habilitation arbeitet. 345 Vgl. Bonhoeffer: DBW 10, 130 u. Bethge: DB, 163f. 346 In ähnlicher Weise auch Wendel: Studien, 83. Natürlich lässt sich argumentieren, dass Bonhoeffer mit Akt und Sein eine epistemologische Fragestellung wählt und dementsprechend nicht sehr umfänglich auf die Bibel zurückgreifen muss – wobei sich auch umgekehrt argumentieren ließe, dass die Wahl des Themas von einem Desinteresse gegenüber der Bibel zeugt. Fakt ist, dass das Register Akt und Sein lediglich 64 Bibelverweise (bei einem reinen Text von 140 Seiten) hervorbringt, von denen etliche Stellen nur angedeutet sind. Die Ethik mit ihrer praktischen Gegenwartsbezogenheit dagegen kommt mit 381 Seiten reinem Text – bei also 2,7-fachem Textumfang – auf immerhin 385 Bibelverweise, sprich 6-mal so viele! 347 Bonhoeffer: Akt und Sein, 22f.
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Transzendentalismus wie auch dem Idealismus (samt Neukantianismus) gegenüber schnell attestieren, dass sich hier “Vernunft in sich selbst verfängt”348 – und zwar im Sinne des lutherischen cor curvum in se. Ebenso wie er dem Idealismus vorwirft, Gott zu vergegenständlichen,349 trifft dieses Urteil Bonhoeffers anschließend aber auch die Ontologie. Weil in der systematischen Ontologie das reine Sein als bewusstseinstranszendent geschaut werden soll,350 weist Bonhoeffer nun auch die Phänomenologie (Husserls wie Schelers) in ihre Schranken und wirft ihr letztlich vor, “sich selbst und die Welt […] zu ‘rechtfertigen’.”351 Damit steht fest: “Soweit beide – Aktbegründung des Seins und Seinsbegründung des Akts – zum ichbeschlossenen System werden, in dem das Ich sich aus sich selbst versteht, sich selbst in die Wahrheit stellen kann, vermögen sie zum Verständnis des Offenbarungsbegriffs nicht zu dienen.”352 Deshalb ist für Bonhoeffer auch klar, dass erst durch eine neue ontologische Fundierung der Existenz die Akt-Seins-Problematik geklärt werden kann.353 Zwar erhält er Impulse zur existentiellen Bestimmung der menschlichen Situation von dem Philosophen Martin Heidegger (1889–1976) und seinem Werk Sein und Zeit (1927), in dem Heidegger das Sein als in der Zeitlichkeit verortet analysiert und so die ontisch-existentiellen Möglichkeiten des menschlichen Daseins aufdeckt:354 Als “Sein-zum-Tode”355 ist das Dasein bestimmt, das als Begriff Bonhoeffer zufolge zwar eine respektable Lösung darstellt, Akt und Sein zusammengeknüpft zu haben.356 Als bewusst atheistische Philosophie der Endlichkeit lässt sie jedoch keinerlei Raum für Offenbarung und ist damit für Bonhoeffer und die Theologie nicht verwendbar.357 348 Bonhoeffer: Akt und Sein, 38; vgl. 27ff.; 52. 349 Vgl. ebd., 89; s. auch schon ders.: DBW 10, 339. Dass laut Bonhoeffer der Idealismus zudem “die Wirklichkeit des philosophierenden Menschen” übersieht und kein wirklicher Akt mehr gedacht wird, hat schon Tietz-Steiding: Kritik, 38; vgl. 39, beobachtet. 350 Vgl. Bonhoeffer: Akt und Sein, 55. 351 Ebd., 60f. – oder gar selbst schöpferisch tätig zu sein. S. auch Tietz-Steiding: Kritik, 34f.; 42ff.; 53ff. 352 Bonhoeffer: Akt und Sein, 70f. den Vorwurf, ein System aufrichten zu wollen, betrifft auch Husserl, wobei dieser laut ders.: Sanctorum Communio, 58 u. 61, zumindest Raum für die Selbstmitteilung Gottes lässt. 353 Vgl. ders.: Akt und Sein, 61. 354 Vgl. Heidegger: Sein; Bonhoeffer: Akt und Sein, 62f. S. auch Tietz-Steiding: Kritik, 76f., DeJonge: Formation, 29ff u. Zimmermann: “Bonhoeffer & Heidegger”, 102ff. 355 Heidegger: Sein, 234; vgl. auch Bonhoeffer: Akt und Sein, 63. 356 Vgl. ebd., 65. 357 Vgl. ebd., 67; s. auch Tietz-Steiding: Kritik, 79f u. Tietz: “Uses And Limits”, 34f. Bonhoeffer spricht überhaupt jeglicher Philosophie die Möglichkeit der Erkenntnis von Offenbarung ab, weil
76 | 2 Weichenstellung zu relationalem Denken: Die akademische Frühphase Aber auch gegenüber zahlreichen theologischen Strömungen bringt Bonhoeffer seine Kritik an. Er knüpft dafür an die aufgeworfenen Fragen und Probleme seiner Vorträge aus Barcelona an und sucht nach einer Vermittlungsposition aus den Stärken von Barths Dialektischer Theologie und der Theologie Luthers, die letztlich auf die Personalität Gottes hinauslaufen wird (s. u.). Zumindest in ihrer Beschreibung des zu lösenden Problems und durch die verwendete Terminologie erhält die Philosophie damit eine Funktion in der Theologie Bonhoeffers,358 ähnlich wie in Heschels Religionsphilosophie. 2.3.4.2 Relationalität durch Gottes Freiheit für den Menschen Um den skizzierten Fragen zu begegnen und gleichzeitig dem philosophischen Anspruch (auch terminologisch) genüge zu leisten, muss Bonhoeffer erneut seine existentialistischen Grundlagen des sündigen Menschen darlegen, dessen Zustand er qua Erbsünde und die incurvatio in se ipso bzw. das cor curvum in se im Stile Heideggers als “Sein-in-Adam” bezeichnet.359 Im Wesentlichen entspricht dieser Personbegriff Bonhoeffers also dem aus Sanctorum Communio.360 Lediglich das Denken in Kontinuität – in Übereinstimmung mit dem Offenbarungsverständnis – ist eine Modifikation des und damit Neuerung im Personbegriff, wie Green zu richtigerweise hervorhebt.361 Zurecht lassen
sie ihr keinen Raum ausspare und die Grenze, Christus, nicht kenne – es sei denn als christliche Philosophie; vgl. Bonhoeffer: Akt und Sein, 38; 71f. Trotz argumentativer Ablehnung sticht jedoch die heideggersche Terminologie zur ontologischen Beschreibung in Bonhoeffers Habilitationschrift derart ins Auge, dass sie Lütgert dazu verleitet, Bonhoeffer geradezu als Heideggerianer zu bezichtigen; vgl. Green, Busch Nielsen und Tietz, Hg.: DB Jahrbuch 3, 66 u. Bonhoeffer: Akt und Sein, 9. 358 Vgl. DeJonge: Formation, 33. 359 Vgl. Bonhoeffer: Akt und Sein, 39; 52; 74; 83; 136. Bonhoeffer spricht von Vergewaltigung des Daseins, wodurch das Ich – bzw. auch die Sünde – Herr sein wolle und der Mensch sein Dasein selbst in die Hand nehme und woraus der Mensch selbst nicht heraustreten könne, sondern von außen angesprochen werden müsse; vgl. ebd., 59; 135; 143ff. Zu den Konsequenzen des selbstzentrierten Menschen vgl. auch Green: Bonhoeffer, 92f. 360 So auch DeJonge: Formation, 71ff. u. Schließer: Everyone, 53f.: “On the one hand, both sin and guilt are understood as innately connected and as the very being of humans; Bonhoeffer is thereby rejecting the differentiation between sin and guilt as between act and being. In this sense, then, guilt assumes a basic anthropological quality, in its ontological significance inseparable from sin. On the other hand, however, Bonhoeffer’s use of the term guilt corresponds to the term’s general philosophical-ethical understanding as a relational term in the sense that it expresses the relationship between a person (A) and a negatively interpreted condition (x). The acceptance of responsibility here is correlated to one’s acceptance of guilt.” 361 Vgl. Green: Bonhoeffer, 13; 101. Zum Offenbarungsverständnis s. u.
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sich aus der Erbsünde resultierende harmatiologische Nuancen (“kognitiv, sozial, voluntativ und intrapersonal”362 ) bei Bonhoeffer nachzeichnen, wie Dietz es jüngst in seiner Untersuchung durchgeführt hat; doch entbehrt das nicht der Tatsache, dass die Trennung zwischen Gott und Mensch die eigentliche Sünde darstellt und die incurvatio nach sich zieht, woraus alles andere resultiert. Das Ausbrechen aus dem Sünder-Sein ist folglich nur dadurch möglich, dass der Mensch von Christus existentiell angesprochen und so in die Offenbarung hineingezogen wird, was laut Bonhoeffer wesentlich in der Predigt und durch die Sakramente geschieht.363 Das holt den natürlichen Menschen (der zunächst noch “als reuiger noch seine sündige Existenz zu retten”364 versucht) aus dem Zustand der Unwahrheit und stellt ihn in (aktual bzw. relational vermittelte) Wahrheit, die als Moment der Entscheidung zum Tod oder Leben führt.365 Die Bedeutung der soziologischen Kategorie tritt somit zutage, wie er sie zuvor in Sanctorum Communio entfaltet hat, sodass konkrete Ausdeutung der Dialektik von Glaube und “Sein in” zum Tragen kommt.366 Denn der Mensch ist Bonhoeffer zufolge nie nur einzelner und als Du Angesprochener, sondern stets schon in Gemeinschaft –367 eine Beobachtung, die Heschel exakt so in Bezug auf Israel mehrfach ab der Mittelphase äußert. Was auf den ersten Blick wie eine rein soziologische Beobachtung wirkt, entpuppt sich als Bonhoeffers Freiheitsverständnis, das er mithilfe von Kierkegaard aus der Gottebenbildlichkeit des Menschen destilliert: Gott bzw. Christus ist nicht frei vom Menschen, sondern für den Menschen, hat sich ihm offenbart, an ihn gebunden und gibt sich in der Gemeinde dem Gemeindemitglied.368 Statt der Freiheit von (barthsche Kontingenz als Unverfügbarkeit) ist für Bonhoeffer vielmehr die Freiheit für den Menschen zentral, die Gott in seinem Innersten charakterisiert: 362 Dietz: Offenbarung, 136. Zum harmatiologischen Summarum s. ebd., 383–439. 363 Vgl. Bonhoeffer: Akt und Sein, 107; s. auch Tietz-Steiding: Kritik, 283. 364 Bonhoeffer: Akt und Sein, 138. 365 Vgl. ebd., 91; 137–140; so auch schon Feil: Theologie, 43. Tietz-Steiding: Kritik, 310f., dagegen zweifelt ernsthaft die Entscheidungsfreiheit des Menschen nach Bonhoeffers Verständnis an und verweist auf das modifizierte Entscheidungsverständnis des Menschen in der Nachfolge, das als Reaktion auf die schon gefallene Entscheidung Gottes zugunsten des Menschen fungiert. Dabei bewegt Bonhoeffer sich eindeutig am biblischen Text entlang, ganz besonders an der paulinisch-neutestamentlichen Tradition (vgl. Röm 6,3ff.; Gal 2,20; aber auch Mt 16,24f. par.) – eine der wenigen Stellen, in denen komprimiert Gebrauch der Bibel gemacht wird. 366 Vgl. Bonhoeffer: Akt und Sein, 116. 367 Vgl. ebd., 110. 368 Vgl. ebd., 109.
78 | 2 Weichenstellung zu relationalem Denken: Die akademische Frühphase “God’s being is being-in-relation-to-us. This is the meaning of the incarnation: God with us, and God for us.”369 Green und DeJonge sprechen deshalb von “(Lutheran) person-theology”.370 Dies hat auch Konsequenzen für Bonhoeffers Gottesbegriff, wenn er (in Übereinstimmung mit Heidegger) auch gegen griechisch-abstrakte Metaphysik formuliert: “Einen Gott, den ‘es gibt’, gibt es nicht; Gott ‘ist’ im Personbezug, und das Sein ist sein Personsein”,371 was aufs Engste mit Bonhoeffers Christologie verknüpft ist, die zu diesem Zeitpunkt bereits theoretisch weitestgehend entwickelt ist.372 Dies bedeutet schließlich auch für den Menschen, dass er als Ebenbild Gottes erst durch den gebenden Akt wirklich frei von und für den Nächsten wird und so erst Person ist.373 Die menschliche Existenz ist somit als “fundamentally relational”374 konstituiert. Dieses ursprüngliche Verhältnis nennt Bonhoeffer deshalb auch “Geschöpf-Sein” als “Dasein durch und für Gott im Glauben, d. h. im Betroffensein von der Offenbarung.”375
369 Green: “Human Sociality”, 114; zum bonhoefferschen Freiheits-Verständnis Gottes in Akt und Sein vgl. auch ders.: Bonhoeffer, 86f. u. Feil: Theologie, 45f. Dass Barth noch in der Kirchlichen Dogmatik an der Freiheit Gottes von und damit an “seine[r] Unverfügbarkeit auch für die dogmatische Rede” festhält, wird bei Meyer zu Hörste-Bührer: Gott, 366, ersichtlich, die Barths Theologie im Hinblick auf seine Relationalität untersucht. Dass Gott bei Bonhoeffer natürlich unverfügbar bleibt und diese Freiheit-für aus dem freien Willen Gottes heraus geschieht, wird bis in die Tegeler Briefe deutlich. 370 Vgl. Green: “Human Sociality”, 114 u. DeJonge: Formation, 13. Auch Abromeit: Geheimnis, 65 hat darum das bonhoeffersche Gottesverständnis als “personality” bezeichnet. 371 Bonhoeffer: Akt und Sein, 112; so auch Schulte: Ohne Gott, 316 u. Krötke: “Gottesverständnis”, 441; 447. 372 So schon Zimmermann: “Bonhoeffer & Heidegger”, 124: “Bonhoeffer shares with Heidegger and his postmodern descendants the dislike for metaphysical conception of God, but unlike them, he does not find the solution in a denial of doctrine, but in a denial of wrong doctrine. For Bonhoeffer, a post-metaphysical conception of God cannot be derived from the rejection of substantial doctrines sanctioned by politically correct, and hence vacuous, versions of negative theology, but can be derived solely from a properly conceived Christology. God cannot ever be encountered abstractly as an object (here Heidegger is right), nor should he be relegated into the unspeakable difference, but in Christ, God is there for me, act and being come together.” 373 So Bonhoeffer: Akt und Sein, 125: “Nur im sich gebenden Akt ‘ist’ Person”. 374 Green: “Human Sociality”, 115; vgl. auch ders.: Bonhoeffer, 81: “Human beings in their existentiality are always ‘in relation to’ something beyond themselves.” 375 Bonhoeffer: Akt und Sein, 151. Auch Altenähr: Bonhoeffer, 152, betont richtigerweise, dass Bonhoeffers Verständnis von Glaube darum notwendig personal und dynamisch sei.
2.3 Relationalität und Bibel beim jungen Bonhoeffer
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2.3.4.3 Gotteserkenntnis im Akt und Sein Mit der Freiheit für und durch Gott wie auch für den Nächsten wird somit die relationale Dimension in Bonhoeffers Denken besonders deutlich, zumal für ihn Wahrheit im Sinne christlicher Theologie erst “mit dem Wort Gottes, das in der Offenbarung des Gesetzes und des Evangeliums über den Menschen und zu ihm gesprochen ist, möglich wird.”376 Formal kann sich Bonhoeffer darum der transzendentalistisch-idealistischen Erkenntnis anschließen, “daß das Wissen um sich selbst und um Gott kein ‘beziehungsloses Haben’ sei”;377 denn “[n]ur ein Denken, das aus der Wahrheit ‘ist’, in den Gehorsam Christi gebunden, vermag in die Wahrheit zu stellen.”378 Darum stimmt er natürlich Barths relationalem Ansatz zu, dass der Mensch in seiner Existenz von außen durch die Offenbarung Gottes getroffen werden muss.379 Dennoch weiß Bonhoeffer ganz im Sinne Heschels natürlich, dass sich der Glaubensakt “im konkreten, bewußten – dem Stofflichen nach reproduzierbaren – psychischen Geschehen”380 niederschlägt.381 Weil Erkenntnis der Offenbarung nach diesem Typus notwendig in Akten geschieht, nennt Bonhoeffer ihn “actus directus”.382 Gleichzeitig pocht Bonhoeffer aber gegen Barth auf die echte Geschichtlichkeit der Offenbarung innerhalb der Zeit im Sinne des finitum capax infiniti und widerspricht darum seinem “kritische[n] Vorbehalt”,383 Offenbarung als reine Möglichkeit zu verstehen, als ob Gott niemals “der Daseiende” sein könne.384 Gott, so Bonhoeffer, werde damit jeglicher Greifbarkeit und Seiner Offenbarung dadurch jeder Reflexion entzogen, was Theologie praktisch überflüssig oder unmöglich mache.385 Außerdem reicht es ihm theologisch nicht, dass die menschliche Existenz als Sein-in-Adam nur punktuell durch Akt-Offenbarungen verändert und ihrer Aktsünden überführt wird, zumal ihm zufolge der biblische Text von dem Dass der Offenbarung Gottes spricht – ganz abgesehen davon, dass der Mensch an eine
376 Bonhoeffer: Akt und Sein, 73. 377 Ebd., 73. 378 Ebd., 74; so auch Green: Bonhoeffer, 81. 379 Bonhoeffer: Akt und Sein, 87 (75; 84ff.; 91f.): “Gott ist nur im Akte des Sich-selbst-Verstehens in der Offenbarung. Für eine Reflexion auf diesen Akt ist er in meinem Bewußtsein nie vorfindlich.” S. auch Tietz-Steiding: Kritik, 241. 380 Bonhoeffer: Akt und Sein, 95f. 381 Vgl. auch Tietz-Steiding: Kritik, 235f. 382 Vgl. Bonhoeffer: Akt und Sein, 23. 383 Ebd., 79; vgl. 78; 95. 384 Vgl. ebd., 76; 79; s. auch Tietz-Steiding: Kritik, 154–157; 160 u. DeJonge: Formation, 37ff. 385 Vgl. Bonhoeffer: Akt und Sein, 85; 90.
80 | 2 Weichenstellung zu relationalem Denken: Die akademische Frühphase klare Grenze stoßen muss, um wirklich betroffen zu sein.386 Nötig ist ein echtes Sein Gottes, eine Ontologie, durch die ein Erkenntnisbegriff gefordert [wird], der die Existenz des Menschen betrifft, aber nicht im reinen Aktualismus verbleibt und ein Erkenntnisgegenstand, der im echten Sinn dem Ich so ‘entgegensteht’, daß er seine Existenzweise bedroht und begrenzt (und nicht in einer unechten Gegenständlichkeit des Seienden der Transzendierung durch Akt und Sein anheimfällt), daß er grundsätzlich frei und Erkanntwerden ist, ja, daß das Erkennen in einem Erkanntsein gründet und aufgehoben wird.387
Das Sein-in der Offenbarung muss also die Existenz des Menschen betreffen und in Kontinuität gedacht werden können, ohne in die Verfügbarkeit des Menschen zu gelangen.388 Weil dieser zweite Erkenntnistypus ontologischen Charakter besitzen soll, über den reflektiert und Theologie betrieben werden können soll, spricht Bonhoeffer neben dem actus directus von dem actus reflexus.389 2.3.4.4 Die exklusive Akt-Seins-Offenbarung in und durch die Kirche Der entsprechende Offenbarungsbegriff kann laut Bonhoeffer in nirgends anderem als “in der Konkretion des Kirchengedankens, d. h. in soziologischer Kategorie gedacht werden, in der sich dann Akt- und Seinsauslegung begegnen und in eins gezogen werden”,390 wo die relationale Akt-Offenbarung Bonhoeffer zufolge notwendig in der Zeit und damit auch im Raum der Begegnung stattfinden muss.391 Glaube und Gemeinde Christi verhalten sich somit dialektisch.392 Kirche bzw. Gemeinde ist demnach – wie in Sanctorum Communio schon – “die letzte Offenbarung Gottes als ‘Christus als Gemeinde existierend’, verordnet für die Endzeit der Welt bis zur Wiederkunft Christi”,393 konstituiert durch Verkündigung Seines Todes und Seiner Auferstehung, sodass sie als Akt-Seins386 So schon in Sanctorum Communio. Vgl. auch Tietz-Steiding: Kritik, 242. 387 Bonhoeffer: Akt und Sein, 103f. 388 Vgl. ebd., 105. 389 Vgl. ebd., 23; 90; die terminologische Unterscheidung zwischen actus directus und actus reflexus stammt von Franz Delitzsch, besitzt aber bereits altprotestantische Wurzeln mit der Unterscheidung zwischen fides directa und fides reflexa; vgl. Delitzsch: System, 301ff.; Bonhoeffer: Akt und Sein, 23 (Fußnote der Herausgeber) + 158; Tietz-Steiding: Kritik, 279–283. Aus dieser begrifflichen Unterscheidung einen Einzug des Mystischen abzuleiten, wie Wendel: Studien, 125, dies tut, überzeugt nicht. 390 Bonhoeffer: Akt und Sein, 26. 391 Vgl. dazu auch Moltmann: Herrschaft, 10. 392 So Bonhoeffer: Akt und Sein, 26. 393 Ebd., 108; vgl. auch 77; 106ff.
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Einheit der Offenbarung die einmalig geschehene Offenbarung als Sein durch Verkündigung in Predigt und Sakrament dem je gegenwärtigen Menschen aktual wird (= actus directus), und zwar als transzendentaler Akt-Vollzug durch den Transzendenten, Gott selbst.394 Ein echtes “von außen”395 ist damit Bonhoeffer zufolge sichergestellt, weil die Kirche echter Leib Christi ist.396 Der Sünder wird so in die Offenbarung Gottes hineingezogen, partizipiert an ihr und wird existentiell betroffen; und so kann er ausbrechen aus dem Zustand des Sünder-Seins durch sein Sein in der Kirche: “[D]. h. nur dadurch, daß ich mich in der Gemeinde weiß, glaube, gewährleistet die Gemeinde die Kontinuität der Offenbarung.”397 Sie ergeht – so argumentiert Bonhoeffer in dieser Frühphase noch ganz im Stile von Sanctorum Communio – nämlich immer an das personhafte Kollektiv, die Kirche. Gegen Barth formuliert, sichert sie als “transsubjektiver Bürge”398 (sprich als relationales Konstrukt von Trägern der Offenbarung) so die Kontinuität der Offenbarung und personhaft die existentielle Betroffenheit des einzelnen.399 Damit wird auch einmal mehr deutlich, warum die bereits in der Dissertation argumentierte Innenperspektive der Gemeinde zum Begreifen der Offenbarung nötig ist.400 Und dort, in der Kirche, kann Bonhoeffer sogar sagen: “Gott ist da, d. h. nicht in ewiger Nichtgegenständlichkeit, sondern – mit aller Vorläufigkeit ausgedrückt – ‘habbar’, faßbar in seinem Wort”.401 Hier liegt der fundamentale Unterschied zu Barth. Diese neue Existenz des Sein-in-Christus nennt Bonhoeffer “Glauben”, der sich in kontinuierlichen Akten (auf Christus hin) vollziehe;402 wie auch die kon394 Vgl. Bonhoeffer: Akt und Sein, 107–111. 395 Ebd., 106. 396 Darum spricht Green: Bonhoeffer, 83, bei Akt und Sein von “a social ontology”. Dass sich hinter Bonhoeffers Verständnis von Christi Leib außerdem die biblische Metapher der imago dei befindet, macht Kande: “Metaphors”, 123, zurecht deutlich: “My thesis is that the young Bonhoeffer’s take on the revelatory character of the church implies another biblical metaphor, the imago dei, on which he does not reflect thoroughly until a few years later in his course of university lectures Creation and Sin.” 397 Bonhoeffer: Akt und Sein, 111; vgl. 123. 398 Ebd., 110. 399 Vgl. ebd., 111; auf die Personhaftigkeit des transsubjektiven Kirchenbegriffs macht auch Tietz-Steiding: Kritik, 237; 258, aufmerksam. DeJonge: Formation, 57, kommt auf insgesamt drei Diskontinuitäten, die Bonhoeffer Barths Theologie vorwirft, von denen die Zweite die Diskontinuität der Kirche ist (neben dem neuen Ich und der Beziehung zum nach wie vor bestehenden alten Ich), denn “[i]f Christ comes in acts, the church is only the church in acts”. 400 Vgl. Bonhoeffer: Akt und Sein, 112. 401 Ebd., 85. 402 Vgl. ebd., 114; 149.
82 | 2 Weichenstellung zu relationalem Denken: Die akademische Frühphase tinuierlich erfahrene Gnade, ist der Glaube relational durch das Sein der Kirche gesichert und von Gott gewirkt. So wird das “einmalig Geschehene” gesichert und “als Zukunft für den je in Gegenwart lebenden Menschen in der Kirche”403 qualifiziert, welcher sowohl das Individuum als auch das Kollektiv repräsentiert. Wie zuvor thematisiert, wird Christus als Gemeinde existierend dadurch zur neuen Menschheit, da ihre Teilhaber einander tatsächlich Vergebung zusprechen dürfen, einander stellvertretend ein Christus werden, wo auch Alltag, Sünde und Tod überwunden sind.404 Nun sieht der Gläubige durch sein Sein-in-Christus (= in der Gemeinde-Sein) nicht mehr Sünde und Tod, sondern einzig Vergebung und Leben, so Bonhoeffer.405 Im reinen, gläubigen Gerichtetsein auf Christus kann Bonhoeffer deshalb sogar von Sündlosigkeit sprechen, wo ein “‘Ansehen der Sünde’ im Glauben”406 durch Reflexion möglich ist; das hebt erneut die Akt-Seins-Einheit des Menschen hervor, durch die Bonhoeffer zufolge – geradezu im Sinne von Bubers Ich-Du – eine neue Erkenntnissphäre aufgedeckt wird, nämlich die der Existenz im sozialen Bezug.407 Als Christus als Gemeinde existierend ist die Gemeinde aber nicht nur Raum der Offenbarung und dadurch Ermöglicher des actus directus, sondern auch Verwalter des sog. “actus reflexus”, als Reflexion der geschehenen Offenbarung in Christus und damit Theologie im besten Sinne nichts weniger als Grundlage und Voraussetzung jeder Predigt, weshalb Bonhoeffer den actus reflexus im Wortlaut des liberalen Ritschl auch als “Gedächtnis der Kirche” bezeichnet.408 Gegen den Transzendentalismus und die liberale Theologie gerichtet, ruft Bonhoeffer gleichzeitig zu Gehorsam und Demut des Theologen auf und plädiert für die Einbindung und Einbettung der Theologie in die Kirche, damit daraus “kirchliches Denken und Wissen”409 entstehen kann. Denn dadurch wird Bonhoeffer zufolge die Gegenständlichkeit der Offenbarung zerbrechlich und “intellektuelle Werkgerechtigkeit”410 verhindert. Von höchstem Nutzen ist das reflektierte Wissen über vergangene Worte besonders für den Prediger (predigendes Erkennen), denn aus der 403 Bonhoeffer: Akt und Sein, 107f.; 118f.: “[N]ur in der Gemeinde bin ich als Einzelner und Menschheit in Existentialität und Kontinuität erfaßt, freilich eben ‘im Glauben’, der sich aber selbst als in Kraft der Gemeinde möglich versteht, in ihr aufgehoben ist.” Vgl. auch Green: Bonhoeffer, 83. 404 Vgl. Bonhoeffer: Akt und Sein, 109; 116; 120. 405 Vgl. ebd., 120. 406 Ebd., 155. 407 Vgl. ebd., 125. 408 Vgl. ebd., 126ff. u. Ritschl: Unterricht, § 1. 409 Bonhoeffer: Akt und Sein, 128f. 410 Ebd., 130.
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Reflexion über das Sein der Offenbarung entsteht nicht nur Gewissheit auf Seiten des Predigers, sondern die Predigt wird qualifiziert durch die Verkündigung des Christuswortes und führt so wiederum als actus directus zum existentiellen “Entscheidungswort für den Hörer”411 und schafft Glauben.412 Gleichsam richtet sich die Predigt an die Kirche, wodurch die Kontinuität gesichert wird.413 Dogma – und damit das Sein der Offenbarung – ist damit aber nie Ziel, sondern Voraussetzung der Predigt und Bonhoeffer zufolge grundsätzlich systematisch,414 somit Grundlage für den Glaubensakt und als reflexiv-theologisches Erkennen der Gemeinde zur Erbauung.415 2.3.4.5 Der neue Mensch durch seine Relation zu Christus Wie zuvor schon in Sanctorum Communio, entfaltet Bonhoeffer nochmals seine Ansichten zur Wiederherstellung durch Christus im Glauben, wodurch “in Christus mir der andere zum Du geworden ist”416 und ich selbst in der Gemeinde zum Christus für andere werde.417 Denn “[i]m Glauben ‘habe’ ich Christus in seiner personhaften Gegenständlichkeit, d. h. als meinen Herrn, der Macht über mich hat, der mich versöhnt und erlöst.”418 Echte Freiheit ist darum für Bonhoeffer nur in der Gemeinde möglich, durch die Gegenwart des Heiligen Geistes.419
411 Bonhoeffer: Akt und Sein, 131. 412 Vgl. ebd., 127–130. 413 So Tietz-Steiding: Kritik, 257. 414 Vgl. Bonhoeffer: Akt und Sein, 128. 415 “Theologie” definiert Bonhoeffer deshalb auch als “[i]n den Dienst der Kirche gestelltes reflexives Denken” (ebd., 133); zur Unterscheidung zwischen glaubendem Erkennen, predigendem Erkennen und theologischem Erkennen vgl. auch Tietz-Steiding: Kritik, 272–297. 416 Feil: Theologie, 150. 417 Vgl. Bonhoeffer: Akt und Sein, 85; 109. Rieger: Theologie als Funktion der Kirche, 130, verweist darauf, daß man nach Bonhoeffer nur innerhalb der Kirche der soziologisch-theologischen Bedeutung der Liebe gerecht werde, was sicherlich ebenso in der Gottebenbildlichkeit begründet sein dürfte, aber von Rieger so nicht explizit benannt wird. 418 Bonhoeffer: Akt und Sein, 125. 419 Durch die Gabe des Heiligen Geistes schafft Christus im Menschen den Glaubensakt und erweist sich Bonhoeffer zufolge dadurch “als der freie Herr über meine Existenz” (ebd., 126), womit die Person als Akt-Seins-Einheit dargelegt wird. “Christus ist das Wort der Freiheit Gottes.” (85). Der ursprüngliche Zustand des Sünder-Seins wird damit überwunden durch das Sein-in-Christus als relationale Dimension durch das Geschenk des Glaubens, der sich in Akten durch die Außeneinwirkung der Christusperson im Sein in der Kirche vollzieht und wodurch eine kontinuierlich relational vermittelte Rechtfertigung gesichert wird (vgl. 114; 116; 124; 135).
84 | 2 Weichenstellung zu relationalem Denken: Die akademische Frühphase Christliche Existenz ist darum Gerichtetsein auf Christus “als sündige und begnadigte”420 Person, was das Dasein frei gibt.421 Der Mensch sieht dadurch nicht mehr auf sich selbst, sondern allein auf das Heil in Christus und dadurch auf die in Ihm (somit relational vermittelte) Wahrheit.422 Als von Gott Erkannter – was geradezu nach hebräischem Denken klingt – wird er ein neuer Mensch.423
2.3.5 Antrittsvorlesung und der Weg nach Amerika (1930) Der erfolgreiche Abschluss des Habilitationsverfahrens ist neben der schriftlichen Arbeit an eine Antrittsvorlesung geknüpft, die Bonhoeffer Mitte Juli 1930 hält.424 Darin erläutert er in Anknüpfung an Akt und Sein, warum er jedes Streben auf menschlicher Seite für verfehlt erachtet: Sünde und Gnade sind die Begriffe, die die Grenze zwischen zwei Personen inhaltlich bestimmen, wobei Theologie durch die Überschreitung dieser Grenze geprägt ist (gegen Barth), nämlich durch Sündenvergebung und Heiligung, indem die Selbsterkenntnis relational gebunden und die Grenze durch die “dynamische Wirklichkeit Gott”425 bestimmt ist.426 Bonhoeffer zufolge versteht der neue Mensch seine Existenz lediglich aus Christus in
420 Bonhoeffer: Akt und Sein, 113. 421 Vgl. ebd., 152f. 422 Ebd., 132f.; vgl. 149: “Er [der Mensch im Glauben; Anm. von P. M.] ist ‘in Bezug auf’ Wahrheit, weil er in der Wahrheit ‘ist’. Diese Wahrheit ist nicht mehr die selbstgesetzte Grenze des sich durchsichtigen Ich. […] Diese Wahrheit ist offenbarte, ge - | schenkte Wahrheit, ist Jesus Christus selbst, die Beziehung des Daseins auf ihn ist gesetzte Beziehung (iustitia passiva!). Und diese Beziehung als Gerichtetsein auf Christus schenkt Freiheit: Weil ‘in Christus’, darum ist das Dasein ‘in bezug auf’ Christus.” 423 Vgl. ebd., 133; s. auch Lubahn: “Gott”, bes. 11. 424 Vgl. Bonhoeffer: DBW 10, 357–378. In ihr beleuchtet er die anthropologische Dimension von Akt und Sein genauer, deren Kritikpunkte an Scheler, Tillich, Grisebach, Gogarten und co. aber wesentlich mit vorherigen Erkenntnissen bereits abdeckt sind und deshalb an dieser Stelle nicht erneut aufgerollt werden müssten. Vgl. auch DeJonge: Formation, 58 u. Green: Bonhoeffer, 74f. 425 Bonhoeffer: DBW 10, 375; vgl. 373. 426 Tietz-Steiding: Kritik, 131ff., merkt an, dass dem Menschen infolge der Betroffenheit “auch nicht die Anknüpfungsmöglichkeiten für die Offenbarung abgesprochen werden” können (134). DeJonge: Formation, 12 (vgl. auch 7 u. 118ff.), macht darauf aufmerksam, dass Bonhoeffer den überwiegenden Teil gegenwärtiger Theologen, allen voran Holl, als “theologians of conscience” betrachtet, die letztlich reine Seins-Konzepte menschlicher Möglichkeit repräsentieren: “According to Bonhoeffer’s critique, a theology of conscience treats revelation as something available to human psychological processes, thereby reducing revelation to a human possibility. In other words, Holl’s theology of conscience is a being-theology.”
2.4 Relationalität und Bibel beim jungen Heschel | 85
seiner Partizipation an der Gemeinde,427 was Bonhoeffer im Sinne seiner Habilitation als neuen Seinszustand meinen dürfte. Aber nicht nur der Habilitation, sondern auch dem zweiten kirchlichen Examen, misst Bonhoeffer relativ wenig Aufmerksam bei, auch wenn er dies laut Schreiben des Konsistoriums vom 04. September 1930 trotzdem mit “recht gut” besteht.428 Zu jenem Zeitpunkt befindet er sich bereits auf dem Weg nach Amerika, wo Bonhoeffer vom Oberkirchenrat, maßgeblich wiederum durch Diestels Engagement, hin entsendet worden ist –429 eine Reise, die Bonhoeffers Leben und Werk gänzlich auf den Kopf stellen wird.
2.4 Relationalität und Bibel beim jungen Heschel Auch Heschel gerät in ebendiese geistesgeschichtlichen Diskussionen, besonders mit (neu-)kantianistischen Prägungen, und entwickelt dadurch sein eigenes Profil relationalen Denkens, das sich jedoch in signifikanter Weise mit dem Bonhoeffers deckt, wie wir sehen werden.
2.4.1 Zwischen Baeck und Koigen, James und Rosenzweig: Das Studium (1927–1933/1934) Nach erfolgreichem Abschluss des Abiturs am 26. Juni 1927 wechselt Heschel zum Wintersemester des Jahres nach Berlin, wo er erneut eine Diskrepanz zwischen “Herz und Verstand” empfindet, auch wenn das rationale Studium de facto im Vordergrund steht. Neben dem Magisterstudium der Philosophie, Kunstgeschichte und Semitischer Philologie absolviert Heschel auch die Ausbildung an der liberalen Hochschule für die Wissenschaft des Judentums.430 Denn sein Hauptinter-
427 Vgl. Bonhoeffer: DBW 10, 377. 428 Vgl. ebd., 183f. 429 Vgl. ebd., 159; 162–165; 167; 175. 430 Heschel besucht anfänglich neben der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums auch das konservativ-orthodoxe Hildesheimer Rabbinerseminar, entschließt sich aber für die Einschreibung in der Hochschule wegen seiner Erwartung, Bibelkritik und Theologie zu erlernen – zumal beide Institutionen miteinander interagieren. Dass Heschel ab dem 31.10.1927 an der Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums studiert, geht sowohl aus der Bescheinigung der erfolgreich absolvierten Zwischenprüfung (am 16.12.1929) hervor als auch aus dessen Anmelde-Buch No. 428b; vgl. Heschel: Papers, 19/3. Zunächst allerdings in Form eines Vorstudiums für ausländische Studierende eingeschrieben, ist er ab dem 27.04.1928 Student kleiner Matri-
86 | 2 Weichenstellung zu relationalem Denken: Die akademische Frühphase esse gilt der Religion, der Hebräischen Bibel und der darin enthaltenen kritischprophetischen Tradition, womit er wohl bewusst “his ideals with the Hasidic mystical tradition of his forbears”431 kritisiert. Unter anderem deshalb studiert er bei dem Alttestamentler Sellin, dem ehemaligen Professor Bonhoeffers,432 was für den Zusammenhang dieser Untersuchung nicht unerheblich ist, da Sellin im Jahre 1912 ein Werk mit dem Titel Der alttestamentliche Prophetismus verfasst hat. Auch bei dem ebenfalls religionsgeschichtlich orientierten Alttestamentler Alfred Bertholet lernt Heschel, der Zweitgutachter seiner Dissertation wird. Und sogar bei den Neutestamentlern und dem Institutum Judaicum belegt er Kurse, dessen Direktor Hugo Greßmann mit seinem Motto “Wahre Objektivität erfordert Liebe” wohl nicht nur Bonhoeffer, sondern auch Heschel geprägt hat.433
kel (Nr. 7105/121) der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin; vgl. Kaplan und Dresner: Witness, 101. Erst infolge der bestandenen “Ergänzungsprüfung am Institut für Ausländer” am 24.04.1929 wird er “ordentlicher Student” und belegt offiziell das Hauptfach Philosophie samt der Nebenfächer Kunstgeschichte und Semitische Philologie; vgl. Heschel: Papers, 19/3, wo das Zeugnis des Deutschen Instituts für Ausländer der Universität Berlin zu finden ist, das die Ergänzungsprüfungen nach den Anforderungen eines preussischen Realgymnasiums mit befriedigendem Erfolg bescheinigt (datiert auf den 29.04.1929); ein handschriftlich angefertigter, undatierter Lebenslauf wie auch die Meldung zur Promotionsprüfung vom 12.12.1932 (Doktoranden-Buch No. 68, Journal-No. 238) belegen dies und sind im Archiv der Humboldt Universität im Bestand der Philosophischen Fakultät unter No. 800, Promotionen, “Abraham Heschel” zu finden; vgl. auch Kaplan und Dresner: Witness, 118; Dolna: Gegenwart, 37. 431 Even-Chen: “Approach”, 140; vgl. auch Kaplan und Dresner: Witness, 103. Auffällig ist, dass Heschel in seiner Zwischenprüfung an der Hochschule die Bibelwissenschaften mit “sehr gut” abschließt (ebenso wie die Religionsphilosophie und die jüdische Geschichte und Literatur und sonstige Fächer mit immerhin “gut”), die Einleitung in die Talmudwissenschaft mit “genügend” geradezu abfällt, was ein gewisses Desinteresse oder inhaltliche Differenzen andeuten mag, da Heschel innerhalb seiner chassidischen Tradition auf diesem Gebiet ja bereits Experte ist. Das Zwischenprüfungszeugnis Heschels findet man in Heschel: Papers, 19/3. Dort befindet sich auch das Anmelde-Buch, in dem zumindest die besuchten Veranstaltungen der zwei Semester 1933–34 festgehalten sind, die breit von der frühen Königszeit Israels bis hin in die Moderne reichen. 432 Vgl. Kaplan und Dresner: Witness, 103. 433 Bonhoeffer hat im Sommersemester 1924 noch eine Vorlesung zum Buch Genesis bei Greßmann hören können; vgl. Bonhoeffer: DBW 9, 640. Womöglich vermittelt er Bonhoeffer auch Aspekte der später praktizierten Kritik an der historisch-kritischen Exegese wie das psychologische Moment, auf das Hamilton: Hermeneutik, 33f., hinweist. Greßmann stirbt jedoch bereits im April 1927, sodass Heschel ihn lebendig nicht mehr erlebt. Allerdings ist die Notwendigkeit von Liebe und guter Methodik nicht nur Schelers Phänomenologie des Fühlens immens ähnlich, sondern vielleicht auch Greßmanns Motto wahrer Objektivität, was auch Kaplan und Dresner: Witness, 103, erwähnen und spätestens in Heschels Mittelphase zutage treten werden wird.
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Trotz des theologischen Interesses setzt sich Heschel während dieser Zeit ebenso intensiv mit philosophischem Denken und liberalen Positionen des Judentums auseinander – Letztere auch unter dem Sammelbegriff der “Wissenschaft des Judentums” bekannt. Einerseits lernt er bei den Philosophen Heinrich Maier und Max Dessoir; Dessoir wird sein Doktorvater. Andererseits sind da die Dozenten der Hochschule, zu denen Hanoch Albeck – ihm assistiert Heschel ab 1932 –, Leo Baeck, Ismar Elbogen und Julius Guttmann gehören; weiterhin sind der Semitist Eugen Mittwoch und der Generalist Wolfgang Köhler zu nennen.434 Besonders zu Leo Baeck und Julius Guttmann baut er enge Beziehungen auf, die über das rein Akademische hinausgehen. Sein eigentlicher Lehrer während dieser Zeit jedoch wird der als Privatgelehrter tätige jüdische Sozialphilosoph David Koigen (1879–1933), zu dessen Kreis (“Philosophische Arbeitsgemeinschaft”435 ) Heschel ab 1929 Einzug gewährt wird.436 Dort kann Heschel erstmalig “die Breite seines Zugangs zur Wirklichkeit erproben und dabei philosophisches Denken mit jüdischer Mystik und mit Lehren des Chassidismus in Verbindung bringen.”437 Koigen wird für ihn Exemplum des jüdischen Denkers, der Theorie und Praxis verknüpft, der Gegenwartsproblemen mit chassidischer Tradition begegnet und in dessen wöchentlichem Kreis er sich besonders mit Diltheys Hermeneutik und Husserls Phänomenologie, aber auch mit cohenschem Neukantianismus, James‘ Religionsphilosophie und situativem Denken, auseinandersetzt.438 Ähnlich wie Seeberg bei Bonhoeffer, erhält Heschel damit durch Koigen den Zugang zur Dimension des Sozialen.439
434 Vgl. Kaplan und Dresner: Witness, 108–118. 435 Kaplan: “Readiness”, 26. 436 Vgl. Kaplan und Dresner: Witness, 121ff.; 175f.; den Rahmen beschreibt Kaplan: “Renewal”, 437f., ausführlich. 437 Vgl. Dolna: Gegenwart, 38. 438 Vgl. Kaplan und Dresner: Witness, 125ff.; 131f. 439 Zum ersten Todestag Koigens schreibt Heschel in der Jüdischen Rundschau entsprechend (Heschel: “Todestag”, 3): Es war in ihm eine gleichzeitige echte Wirklichkeit einer naiven und einer philosophischen Haltung. […] Sein Denken pflegte mit gewaltiger Energie und nie zur Ruhe kommender Intensität alles, was ihm in Erfahrung und Beobachtung gegeben wurde, in geistige Formen zu verarbeiten. Seine Innerlichkeit, der Kreislauf des Denkens, der in unaufhörlicher Stärke sein intimes Dasein erfüllte, reagierte auf das Leben und Geschehen in der Umgebung in einer fast entrückten Ueberlegenheit. Und doch hat der eigentlich systematische Denker, der er war, nie den ‘Gelegenheitsdenker’ in ihm unterdrückt. […] Koigen sah durch das vielgestaltige Geschehen und Treiben des Menschen hindurch in die Strukturen, die die Welt strukturieren.
88 | 2 Weichenstellung zu relationalem Denken: Die akademische Frühphase Gegen Koigen wirft Heschel jedoch schließlich sehr deutlich ein, dass philosophy could not provide a foundation for Jewish renewal, for the living God cannot enter our systems, as consensual as they might become under Koigen‘s benevolent guidance. People, not codes, would save Judaism.440
Und so fundiert Heschel im wissenschaftlichen Kontext bereits zu diesem frühen Zeitpunkt seiner Laufbahn die persönliche Gottesbeziehung und Frömmigkeit – und damit Relationalität – als einen Grundpfeiler seines Denkens, weshalb er letztlich ganz im Sinne Bonhoeffers das Anliegen des wöchentlichen Kreises hinterfragt, dessen bisheriges Ziel rein theoretischer Art gewesen ist.441 Dies tut er gerade auch in kritischer Auseinandersetzung mit Schleiermacher, Rudolf Otto und Scheler und gegen Koigens sozialen Ansatz.442 Besonders kommt dies in der Sitzung vom 02.03.1930 zur Sprache, als er im Zuge der Herleitung der hebräischen חסד/Chesed (≈ Gnade, Güte) Grundgedanken seines pathetischen Gottesverständnisses entfaltet: Gott sei nicht nur notwendig für uns, sondern auch wir für Ihn, sodass jede menschliche Tat metaphysische Bedeutung nach sich ziehe.443 Statt des koigenschen moralischen Gottesbildes mitsamt dessen “mystical, neo-Platonic view of both revelation and creation”444 steht darum die persönliche Beziehung zwischen Gott und Mensch beim jungen Heschel im Fokus. Erste Auswüchse der Unvereinbarkeit von Philosophie und jüdischer Erneuerung, wie Heschel sie verstehen wird, lassen sich bereits in den folgenden zwei noch erhaltenen Studienarbeiten erahnen, die inhaltlich und vom Titel her mit “Die prophetischen Visionen in der Bibel” und “Das prophetische Bewusstsein” als Vorarbeiten zu seiner Dissertation gedient haben werden.
Dass Heschel auch Koigens Werke rezipiert, macht ebendieser letzte Satz deutlich, den er aus dem Vorwort von Koigen: Aufbau, V, zitiert. Dort heißt es weiter (VI): “Es wird gefragt: Wie aus dem Handeln und den Handlungen der Menschen ein objektives Gesamt-Gebilde werde, das man als soziales Wirkungsfeld, als, mikroskopisch gesehen, soziale Welt schlechthin bezeichnen darf.” 440 Kaplan und Dresner: Witness, 136; vgl. auch 131ff. 441 Vgl. auch Britton: Heschel, 141. 442 Zum Ansatz Koigens s. auch Urban: Theodicy, 9: “That Koigen, the East European Jew, adopts Reform Judaism’s self-characterization as a culture religion seems to be prima facie selfcontradictory. However, culture religion is for Koigen not identical with ethical religion and its rational conception of God. Each culture creates its own conception of God, and invents itself with its God. […] Koigen’s point was, as Felix Weltsch correctly noted, that a culture needs alongside the organization of knowledge also the organization of belief.” Zu Koigens methodologischem Ansatz des Kulturaktes s. auch ders.: “Religion”, 61f. 443 So Kaplan: “Renewal”, 439. 444 Urban: “Religion”, 76 (zum moralischen Gottesbild vgl. auch 63).
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2.4.1.1 Liberale Theologie und “Die prophetischen Visionen in der Bibel” In der vermutlich ersten445 von zwei wichtigen Vorarbeiten zur Dissertation analysiert Heschel “Die prophetischen Visionen in der Bibel”.446 Zunächst stellt sich jedoch die Frage, warum Heschel, der als Chassid aufwächst und damit eigentlich auf Talmud und Torah fokussiert gewesen sein dürfte, sich überhaupt so intensiv mit den (biblischen) Propheten447 beschäftigt. Eine Antwort liefert Even-Chen, der ausführlich darlegt, dass sich hinter Heschels Auseinandersetzung mit den biblischen Propheten (auch) eine Kritik gegen seinen namensgleichen Vorfahren und dessen Werk Ohev Jisrael verbergen dürfte, in dem der Apter Rebbe darauf gepocht habe, dass “the task of the prophet and of the tzadik involves the nullification of existence.”448 Denn Heschel “refused to be publicly critical of any aspect of tradition.”449 Dementsprechend wirkt die Auseinandersetzung mit den biblischen Propheten geradezu wie ein Befreiungsschlag (und ist somit aber alles andere als unabhängig von Heschels Biographie).450
445 Dass dieses umfangreiche Dokument mit 126 Seiten trotz seines deutlich höheren Umfangs gegenüber dem explizit als Referat deklarierten “prophetische[n] Bewusstsein” (vgl. Heschel: Papers, 22/10) ebenfalls Vorarbeit zur Dissertation – und zwar Frühere – sein dürfte, lässt sich daraus schließen, dass es in beiden Fällen ein deutscher maschinengeschriebener Text ist, der aber inhaltlich wesentlich elementarer den historischen Hintergrund der biblischen Prophetie analysiert, dass er sinnvollerweise vor dem (anderen) Referat zu stehen hat; das Referat “Das prophetische Bewusstsein” ist zudem inhaltlich nicht nur deutlich näher an der Dissertation, sondern eben auch wesentlich zugespitzter und enthält, wie nachfolgend zu sehen ist, bereits heschelsche Terminologie, wobei sich Vorwegnahmen wie “Eingebungsakt” (ebd., 151/1, 115) in den zahlreich analysierten biblischen Propheten finden lassen. 446 Vgl. ebd., 151/1. Weil es seiner Ergebnisse nach (zu jenem Zeitpunkt) dort keine strenge und konsequente Differenzierung der Typen von Visionen gibt (vgl. ebd., 22/10, 121), geht er historisch vor und analysiert Wesen, Stil, Struktur und Komposition, Gesetz und Soziologie der Vision, gefolgt von religionsgeschichtlichen Analogien, Kritiken und der Entstehung von Vision. Erst die nachfolgenden Arbeiten zur Prophetie sind wesentlich systematischer ausgelegt, was auch den früheren Charakter der Schrift verdeutlicht. Trotzdem verrät diese Arbeit bereits einiges über Heschels Prophetologie, gleichermaßen natürlich auch über seine geistesgeschichtlichen Einflüsse. 447 Dass Heschel sich im Zuge der Auseinandersetzung mit den biblischen Propheten, sowohl bei der Dissertation als auch der späteren Überarbeitung zu The Prophets, gerade nicht mit Abraham, Mose und Samuel, sondern mit dem Komplex der großen und kleinen Propheten (“)”נביאים befasst, sticht aus der Tradition heraus, die sich v. a. auf Abraham und Mose innerhalb der Torah konzentriert. 448 Even-Chen: “Approach”, 141. 449 Green: “Heschel”, 65. 450 Ders.: “Mystics”, 45, sieht die Gründe für Heschels Fokussierung auf die biblischen Propheten und das Auslassen mystischer Tradition vielmehr in der negativen Außenwahrnehmung jüdischer Mystik respektive des Chassidismus begründet, besonders “at a time when Judaism was
90 | 2 Weichenstellung zu relationalem Denken: Die akademische Frühphase Eine weitere Antwort mag der Einfluss des liberalen Judentums sein, dessen Hauptvertreter niemand Geringeres als Leo Baeck ist, Heschels Lehrer an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums. Dessen prominente Darstellung über Das Wesen des Judentums ist in ihrer ursprünglichen ersten Auflage von 1905 als “glänzende Apologie des Judentums als der ethischen Vernunftreligion par excellence”451 Teil einer ganzen Flut von Reaktionen auf die pauschal-negative Darstellung des pharisäisch-rabbinischen Judentums durch von Harnacks Werk Das Wesen des Christentums gewesen.452 Als wesensmäßigen Kern charakterisiert Baeck das Judentum als “ethische[n] Monotheismus”453 innerhalb seiner religionsgeschichtlichen Entwicklung.454 Die entscheidenden Protagonisten sind keine Geringeren als die Propheten. “Sie haben die Geschichte Israels geschaffen.”455 Baecks Werk repräsentiert den Höhepunkt jüdisch-liberaler Theologie, zumal Heschel Baeck als “‘the most educated man’ he ever met”456 versteht, der darum ähnlich großen Einfluss auf Heschel ausübt wie von Harnack auf Bonhoeffer. Wichtig an Heschels früher Arbeit zum Prophetismus ist zu allererst, dass er bereits hier die “klassische” Wahrheitsfrage von Prophetie an sich umgeht.457 Er versteht die Vision in ihrer literarischen Größe – nicht, wie sie psychologisch already receiving a terrible beating from Nazi propaganda.” Gleichzeitig geht Green: “Mystics”, 46, aber auch davon aus, dass Heschel “believed that the Jewish mystical tradition was truly different.” 451 Wiese: Wissenschaft, 135. 452 Vgl. auch Pangritz: “Geheimnis”, 229ff. Heschel selbst rezipiert Baecks Werk in einer späteren, deutlich erweiterten und theologisch angepassten Auflage; in seiner Dissertation (und somit wohl auch bereits zu diesem Zeitpunkt) ist es nachweislich die dritte Auflage von 1923 (Frankfurt a. M.), die “bis auf einige wenige Verbesserungen einzelner Worte” (Baeck: Wesen, 37) identisch ist mit dem hier verwendeten Text aus Band I der Werkausgabe, die auf die vierte Auflage zurückgreift; vgl. auch Heschel: Die Prophetie, 161. Ausführlich auf die Kritik Baecks an von Harnacks Verständnis und Abschätzung des Judentums geht Wiese: Wissenschaft, 35–39, ein. 453 Baeck: Wesen, 87. 454 Nur am Rande sei erwähnt, dass auch Cohen (s. u.) einen ethischen Monotheismus verfolgt; und auch Buber “considered the prophet to be the most important person in ancient Israel” (EvenChen und Meir: Between, 120). 455 Baeck: Wesen, 62. 456 Kaplan und Dresner: Witness, 116. 457 So auch Britton: Heschel, 89, jedoch erst in Bezug zur eigentlichen Dissertation “Das prophetische Bewusstsein”. Dass Heschel die“”se Wahrheitsfrage zeitlebens als “question of faith” offen lässt, während er die Frage, “how the experience of revelation and encounter between God and man can be possible”, durch die Religionsphilosophie geklärt wissen will, betont auch EvenChen: “Torah”, 71. Im Gegensatz zu den nachfolgenden Schriften erläutert er an dieser Stelle jedoch noch nicht methodisch, warum/dass es nicht möglich ist, sondern gesteht lediglich ein,
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möglich, sondern als literarischer Bericht beschaffen ist, was er dementsprechend als “Phänomenologie” versteht, und zwar als “Sichtung, Beschreibung und Analyse des Vorliegenden”.458 Heschel will damit “nicht das Rätsel lösen, sondern nur dessen Ausdruck verstehen.”459 “More than proposing a reasoned argument for the possibility of God, Heschel explores the awareness of God that is manifested in pious persons”,460 zu allererst anhand der biblischen Propheten. Diese methodische Vorentscheidung ist mindestens zum Teil beeinflusst durch seinen Lehrer Koigen, der selbst Verfechter der Phänomenologie ist.461 Doch spätestens mit der veröffentlichten Dissertation verweist Heschel aber auch auf Schelers Wesen und Formen der Sympathie und ist wohl auch schon im Philosophiestudium (über seine Einführungsveranstaltung bei Köhler) wie auch an der Hochschule (über Julius Guttmann) mit Husserls Phänomenologie in Berührung gekommen,462 worin sich die erste Überschneidung zu Bonhoeffer festmachen lässt. Phänomenologisch untersuchend, versteht Heschel unter einer “Vision” deshalb “Ereignisse[n], die in das Uebersinnliche [sic!], Uebernatürliche [sic!] hineinragen.”463 Mit diesem Anspruch verwischt Heschel bewusst die vom (Neu-)kantianismus starr-gezogene Grenze, wenn er nämlich als erstes Merkmal der Vision ihre Verwirklichung “als geoffenbarte Transzendenz” hervorhebt, als “Einschreitung, an der Tat, an der Auswirkung der göttlichen Macht, an der Immanenz, hier am einschreitenden, am Täter, am Subjekt, an der Transzendenz.”464 Besonders Cohens Versuch einer Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums ist der prominenteste Versuch neukantianistisch-jüdischer Religionsphi-
dass er sich weder um die Frage nach dem visionären Erlebnis noch um die Frage nach der Richtigkeit des überlieferten Textes bemüht habe; vgl. Heschel: Papers, 151/1, 3. 458 Ebd., 151/1, 3. Zur Phänomenologie vgl. schon 2.3.2. 459 Ebd., 151/1, 3; vgl. auch Britton: Heschel, 16. 460 Ebd., 11; so auch Perlman: Idea, 4. 461 Vgl. Koigen: Aufbau, 52: “Die Darstellung des gesamten Logos der kausalmäßigen Handlungsreihe bleibt einer besonderen Erkenntnisart, und zwar der Phänomenologie vorbehalten. […] Nur die Erscheinungen, als bildhafte Produkte, Erzeugnisse, als Sachen der Tat (Tat-Sachen) werden von ihr erkannt, und die Realität der Erscheinung selbst wird hier vollständig als organfunktionelle Äußerungen dieser Tat-Sachen ausgedrückt.” 462 Vgl. Kaplan und Dresner: Witness, 112f.; 115; 158; 165f., Kaplan: “Readiness”, 27 u. ders.: “Renewal”, 437. 463 Heschel: Papers, 151/1, 5. 464 Beides ebd., 151/1, 7.
92 | 2 Weichenstellung zu relationalem Denken: Die akademische Frühphase losophie, an dem sich Heschel abarbeitet.465 In klassisch-philosophischer Manier geht Cohen dabei der Frage nach Zusammenhang von Sein und Werden nach, dem Verhältnis also von Schöpfer zur Schöpfung bzw. von Transzendenz und Immanenz.466 Anders als vor ihm Kant, der Gott lediglich in Lückenbüßer-Funktion zur Ursächlichkeit von Moral degradiert,467 sucht Cohen nach einer Symbiose zwischen der Einzigkeit des Schöpfergottes und der Forderung nach Sittlichkeit, die von dem Primat der menschlichen Vernunft abhängt.468 Dies löst er über sein neukantianistisches Verständnis von Offenbarung, das zunächst nichts weiter besagt als, “dass Gott in Verhältnis tritt zum Menschen”.469 Erst durch die Offenbarung entsteht laut Cohen die Vernunft des Menschen zur Erkenntnis des Sittlichen (über die reine Naturerkenntnis hinaus), wodurch nur Gott alleiniger Ursprung von Sittlichkeit sein kann.470 Weil aber – gemäß dem kantianischen Paradigma – die Grenze bzw. kategoriale Differenz zwischen Transzendenz und Immanenz für Cohen unüberwindbar ist, rückt er die Offenbarung qualitativ auf die Ebene der sonstigen Schöpfung, und zwar der Vernunft: “Die Offenbarung ist die Schöpfung der Vernunft.”471 Per-
465 Exemplarisch beschreibt Cohens viertes Kapitel “Die Offenbarung” (107–122) in nuce dessen neukantianistischen Ansatz, wie er für den Zusammenhang dieser Untersuchung besonders bedeutsam ist; s. auch Kaplan und Dresner: Witness, 154ff. Auch der jüdische Philosoph Ernst Cassirer mit seinen Wurzeln im Marburger Neukantianismus ist als wichtiger Einfluss, zumal Heschel kurzzeitig überlegt, bei ihm in Hamburg zu studieren, da er dessen “ambition to embrace all forms of culture” (ebd., 156) schätzt. Weil Heschel aber letztlich die rationale Begründung für die Liebe Gottes fehlt, verwirft er nicht nur Cassirers Ansatz, sondern grundsätzlich die neukantianistisch-rationalistische Denkweise; vgl. ebd., 154–158. 466 Vgl. Cohen: Religion, 107; dass sich hinter dieser klassisch-griechischen Unterscheidung von “εἶναι” (dt. “sein”) und “γίγνομαι” (dt. “werden”) ebenso jüdisches Denken auf Grundlage der Sinai-Offenbarung an Mose (Ex 3f.) verbergen könnte, mag zutreffen, wie Albertini: Verständnis, 13, dies in ihrer Untersuchung zu zeigen versucht. 467 Zu Kants sogenanntem moralischen Gottesbeweis vgl. Kant: Kritik 2 & 3, § 87, 450: “Folglich müssen wir eine moralische Weltursache (einen Welturheber) annehmen, um uns gemäß dem moralischen Gesetze einen Endzweck vorzusetzen; und so weit als das letztere nothwendig ist, so weit (d. i. in demselben Grade und aus demselben Grunde) ist auch das erstere nothwendig anzunehmen: nämlich es sei ein Gott.” 468 Vgl. Erlewine: “Reclaiming”, 202f. 469 Cohen: Religion, 107. 470 Vgl. ebd., 107f. 471 Ebd., 108; Erlewine: “Reclaiming”, 186 (vgl. auch 188 unten): “For Cohen, prophecy is nothing other than rationality, an unpacking of the conceptual content inherent in the idea of ethical monotheism”. Um dies sicherzustellen, spekuliert Cohen hinsichtlich der biblischen Texte: Das Hören der Stimme Gottes am Sinai darf lediglich ein rein geistiges Hören sein; Mose wird
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fektibilitätsdenken als Vollendung der menschlichen Vernunft durch die Offenbarung ist dabei das individuelle Ziel.472 Auch wenn Heschel Cohens grundsätzliche Transzendenz Gottes aufgreift, widerspricht er ihm dennoch explizit. Denn die prophetischen Visionen versteht Heschel als direkten Kontakt zwischen Subjekt (= Gott) und Visionär, und zwar mithilfe der sogenannten “Visionität”, dem optischen Charakter des visionären Erlebnisses, “wonach sich Gott in der Natur, im Geschehen und in den Dingen sichtbar und ermittelbar offenbart”.473 Bei Cohen erhält Gott keine eigene “Stimme”, keinen Charakter und keine Gefühle. Bei Heschel ist dies aber gerade Ursprung bzw. Indikator für die Gemeinschaft bzw. Intimitätsbeziehung zwischen Gott und Mensch; er spricht sogar von einer “Harmonie, [zu] einem Kontakt”,474 was nach Schleiermacher klingt, mit dem sich wohl auch Heschel während des Studiums beschäftigt.475 Die Diskrepanz zum philosophischen Geist seiner Zeit mithilfe der Phänomenologie bezeichnet Edward Kaplan deshalb als Heschels “lifelong oppositional strategy, his polemical approach to religious and philosophical debate”,476 besonders gegen ein neukantianistisches Weltbild zugunsten Gottes als handelndem Subjekt in Interaktion mit dem Menschen.477 Den Vorwurf, dass Gott in neukantiatistischer Prägung keine Stimme erhalte, greift Heschel allerdings nicht von der Phänomenologie selbst auf, sondern durch den Existentialismus, namentlich mittels des jüdischen Vertreters Franz Rosenzweig (1866–1929). Dies lässt sich dem zweiten Merkmal über die Vergangenheit der Vision und damit der Dimension des Historischen entnehmen, was erneut auf Kierkegaard fußt und der somit Bindeglied zwischen Bonhoeffer und Heschel
zum “Lehrer des Monotheismus” (Cohen: Religion, 113), dessen Bericht über seine Sünde hinzugedichtet worden ist, um ihn vor dem Volk nicht als Halbgott erscheinen zu lassen; Moses Vermächtnis – natürlich rein geistiger Art – sind die Satzungen und Rechte Gottes als Grundlage dafür, dass Israel als Nation verstanden werden kann, denen Cohen diametral die Sinnlichkeit entgegenstellt. 472 Vgl. ebd., 110–122. 473 Heschel: Papers, 151/1, 8; vgl. auch 122. “However, unlike Kant, Heschel believes that direct encounters with reality are possible”, urteilen Even-Chen und Meir: Between, 266. So auch Erlewine: “Reclaiming”, 190. 474 Heschel: Papers, 151/1, 8. 475 So Kaplan und Dresner: Witness, 133. 476 Ebd., 171. 477 Vgl. ebd., 158 u. Erlewine: “Reclaiming”, 195; dass sich Heschels Kritik an Kant auch auf die Vorherrschaft der Ethik innerhalb des Religionsverständnisses konzentriert, betonen Even-Chen und Meir: Between, 176.
94 | 2 Weichenstellung zu relationalem Denken: Die akademische Frühphase ist.478 Im Gegensatz zu Kierkegaard bindet Rosenzweig die Zeitlichkeit aber weniger an die (Erb-) Sünde; vielmehr spielt die Zeit für ihn als konstitutiver Bestandteil der Wirklichkeit aufgrund der Erfahrung der Sprache die zentrale Rolle.479 Rosenzweigs sogenanntes “neues Denken” vollzieht sich damit in Raum und Zeit und nimmt explizit Abstand von den klassisch-philosophischen Ontologien.480 Aber auch der Einfluss der Dialogik kommt, ähnlich wie Bonhoeffer, in diesem Zusammenhang zum Tragen. Denn Heschel thematisiert als drittes Merkmal der Vision den sogenannten “Moment des Persönlichen” – in der Zeit – als “Dialog zwischen Gott und dem Visionär”,481 womit erneut der Neukantianismus gerügt wird. In ebendieser Art wirft aber schon Rosenzweig nicht nur dem Idealismus, sondern insbesondere auch dem Neukantianismus – namentlich Cohen – vor, “die Stimme, welche in einer Offenbarung die jenseits des Denkens entspringende Quelle göttlichen Wissens zu besitzen behauptete”,482 zum Schweigen gebracht zu haben. Als einer der Ersten verknüpft Rosenzweig darum die zwei grundlegenden Aspekte, die für das dialogische Denken ursächlich sind und Heschels Analyse des prophetischen Ereignisses fundieren: Einerseits die Zeit, in der Kommunikation geschieht, andererseits die Ernstnahme der Offenbarung Gottes als transzendentes Gegenüber.483 478 Rosenzweigs wichtiges (jüdisch-)religionsphilosophisches Werk, Der Stern der Erlösung von 1921, rezipiert Heschel ausführlich, wobei erstaunlich ist, dass Heschel Rosenzweig in seiner Dissertation nur einmal nennt; vgl. Marmur: Heschel, 145. Nicht nur wird auf Kierkegaards Schrift Furcht und Zittern rekurriert, sondern zunächst ist es die massive Thematisierung des Todes bzw. der Angst vor dem Tod als historische Dimension, der kein Mensch entweichen kann und wodurch Rosenzweigs Denken sofort in nächste Nähe zu Heideggers (erst 1927 verfasstem) Sein und Zeit bzw. dessen Existenzial des “Sein-zum-Tode” (Heidegger: Sein, 42) und natürlich zu Kierkegaards Der Begriff Angst gerückt wird; vgl. Rosenzweig: Stern, 3f. u. Casper: Denken, 82f; zum Verhältnis des Todes zur Angst bei Heidegger s. auch Heidegger: Sein, 265f.). Dies ist nicht verwunderlich, denn immerhin hat Rosenzweig die Grundlinien verfasst, als er “wie ein Wurm in die Falten der nackten Erde […] vor den herzischenden Geschossen des blind unerbittlichen Tods” (Rosenzweig: Stern, 3) im Ersten Weltkrieg dient. Das Weglassen dieser Dimension macht er der Philosophie als “Schein der Voraussetzungslosigkeit” (ebd., 5) zum Vorwurf. 479 Casper: Denken, 109: “Indem Sprache sich ereignet, geschieht Zeit. Es ereignet sich eine Zeit, eine geschichtliche Weile als Helle der Wirklichkeit, die sich selbst auseinander- und darlegt.” 480 Vgl. dazu Rosenzweig: “Denken”. 481 Heschel: Papers, 151/1, 8. 482 Rosenzweig: Stern, 6. 483 So auch Casper: Denken, 107. Die entscheidenden Stellen im Stern der Erlösung findet man v. a. innerhalb des zweiten Teils des zweiten Buches unter der Überschrift “Offenbarung oder die allzeiterneuerte Geburt der Seele”; vgl. Rosenzweig: Stern, 174–228, wo Rosenzweig ein zu Heschel teils diametrales Propheten-Verständnis äußert, das an entsprechender Stelle aufgegriffen wird.
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Der Tod als “Schlußstein der Schöpfung”484 wird bei Rosenzweig zum Grundstein der Offenbarung, weil ihm die Liebe den Kampf ansagt.485 Offenbarung Gottes resultiert laut Rosenzweig (im Sinne Kierkegaards) als “das Sichauftun eines Verschlossenen”486 im Menschen. Nicht Wesenhaftigkeit sichert die Tatsächlichkeit der Offenbarung Gottes, sondern die in ihrem Wesen unbeständige – Rosenzweig nennt sie “treulose” – Liebe, die jeden Augenblick erneuert werden muss als Selbsthingabe des Liebenden.487 Die Nähe zu Barths Verständnis von Akt-Offenbarung ist offensichtlich. Keine Eigenschaft ist sie, sondern vielmehr “stirbt der Mensch in den Liebenden hinüber und steht in ihm wieder auf”.488 Weil diese “momenthafte Selbstverwandlung, Selbstverleugnung”489 in Augenblicken geschieht, versteht Rosenzweig die Liebe als ein Ereignis.490 Dies ist aber gerade das, was Heschel später mit “prophetischer Sympathie” bezeichnet und worin sich deutliche Ähnlichkeiten auch zu Scheler zeigen. Dieser Liebe Gottes und dem Menschen als Gottes Gegenüber entspringt der dialogische Charakter von Rosenzweigs Philosophie. “Der trotzige Stolz des freien Willens”491 im Menschen ist es laut Rosenzweig aber erst, der die demütig-stolze Ehrfurcht als Liebe des Geliebten ermöglicht. Diese Liebe, auch “Gegenliebe” genannt, hat nach Rosenzweig den Charakter von Ewigkeit im Gegensatz zur Augenblicklichkeit der Liebe des Liebenden.492
484 Rosenzweig: Stern, 174. 485 Tod und Liebe spiegeln einerseits die geschöpflich-endliche Vergangenheit wider, andererseits “einzig Gegenwart” (ebd., 174), womit Rosenzweig auf die Unterscheidung von erster Offenbarung in der Schöpfung – als Verweis auf Gottes Weisheit und Seiner Weltbejahung – und einer “zweiten” Offenbarung hinaus will, durch die der Schöpfer personell offenbart wird im Gegenzug zum heidnisch-mythischen Gottesverständnis immanenten Charakters, sodass Rosenzweig letztlich zwischen dem Gott des Heidentums und dem Gott des Glaubens unterscheidet (vgl. 174f.). 486 Vollständig heißt es (ebd., 179f.): “das Sichauftun eines Verschlossenen, nichts als die Selbstverneinung eines bloßen stummen Wesens durch ein lautes Wort, einer still ruhenden Immerwährendheit durch einen bewegten Augenblick. Im Aufleuchten eines solchen Augen-blicks wohnt die Kraft, das geschaffene Sein, das von diesem Aufleuchten getroffen wird, aus dem geschaffenen ‘Ding’ umzufärben in ein Zeugnis eines geschehenen Offenbarens.” 487 Vgl. ebd., 181. 488 Ebd., 182. 489 Ebd., 182. 490 Vgl. ebd., 183. 491 Ebd., 186. 492 Vgl. ebd., 188. Statt einer Steigerung der Liebe – wie auf Seiten des Liebenden – hält er höchstens so etwas für möglich, das als “existentieller Schauer der Liebe” zu Beginn verstanden werden kann (vgl. ebd.). Ansonsten aber höre Gott nie auf, so Rosenzweig, die “Seele” zu lieben (vgl. 189).
96 | 2 Weichenstellung zu relationalem Denken: Die akademische Frühphase Diese Gegenliebe sieht er auch als “treuen Glauben” an, weil nur infolge der “finstre[n] Verschlossenheit des Selbst” Treue ermöglicht wird, zu der sich die Seele entscheiden muss.493 Auch wenn Heschel jegliche Erbsündenlehre ablehnt, muss er anhand der Figur des Visionärs zugeben, dass dieser nur bedingt frei ist, da die Vision nicht eigens gewollt ist.494 Anders als bei Rosenzweig (und Bonhoeffer), ist bei Heschel der Prophet allerdings keine Marionette Gottes, sondern fast Gott ebenbürtig im Umgang mit Visionen.495 Denn für Heschel verhält es sich so, “dass Gott des Propheten bedarf”,496 der durch persönliche Anteilnahme an der Prophetie teilhat, womit sachlich das später so benannte “göttliche Pathos” und die “prophetische Sympathie” vorweggenommen werden. Das wird auch deutlich, wenn er zwischen drei Facetten der Vision unterscheidet:497 Zunächst ist da die Apperzeption der göttlichen Mitteilung – “what happened to him” – als kein bloßes Empfangen, sondern als bewusst gewolltes Nehmen, gefolgt von der Reaktion des Menschen als Gegenwirkung zu dem “what happened in him”.498 Terminologisch relevant in dieser ersten Vorarbeit ist Heschels erstmalige Verwendung von “anthropotropisch” (= Sendung der Vision durch Gott bzw. Empfang auf menschlicher Seite) versus “theotropisch” (= aktive “Teilnahme an der visionären Handlung” des Menschen).499 Idealtypisch unterscheidet Heschel (hier und auch später noch) den Beter mit seiner expressiven Form als klassischen Vertreter den Theotropismus von dem Propheten, der durch seine impressive Form klassischer Vertreter des Anthropotropismus ist.500 Der Ursprung der Vision ist übernatürlich und wird von Heschel (im Zuge der Abgrenzung vom Kultus) in seiner momenthaften Akt-Haftigkeit beschrieben.501
493 Vgl. Rosenzweig: Stern, 190f. 494 Vgl. Heschel: Papers, 151/1, 10. 495 Rosenzweig: Stern, 198, versteht den Propheten gerade nicht als aktiven Part gegenüber Gott, sondern “unmittelbar aus ihm tönt die Stimme Gottes, unmittelbar aus ihm spricht Gott als Ich”, womit die Person des Propheten völlig hinter die Offenbarung zurücktritt, da “Gott schon von seinen Lippen Besitz genommen” hat. 496 Heschel: Papers, 151/1, 22. 497 Vgl. ebd., 151/1, 48. 498 Beides Britton: Heschel, 89, der darum diese prophetische Eingebung zurecht als “necessarily responsive rather than originary” (15) charakterisiert. 499 Vgl. Heschel: Papers, 151/1, 48f. Heschel kombiniert das griechische τρόπος (= Wende) als Begriff des Initiators und verbindet ihn mit dem Ziel, also entweder auf den Menschen (gr. ἄνθρωπος) oder auf Gott (gr. θεός) hin. 500 Vgl. auch ebd., 151/1, 63–65. 501 Vgl. ebd., 151/1, 60; s. auch 80.
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Dessen Resultat/Phänomen ist nicht nur immer relational, sondern sogar – ganz im Sinne Bonhoeffers – sozial: “Das metaphysische Gesetz der Vision ist das Ethos Gottes.” 502 Denn “[n]ur weil Gott in ein Verhältnis zum Menschen kommen wollte, hat er sich den Sinnen des Visionärs offenbart”503 – wiederum gegen den Neukantianismus, aber auch gegen Schleiermacher und die religionspsychologische Schule.504 Diese “dynamische”505 Situation der Vision mündet bei Heschel in einer Gottesvorstellung, die er zwischen Abstraktion und Anthropomorphismus ansiedelt.506 Denn Gott tritt ihm zufolge immer nur in Seiner Erscheinung auf – nie an sich – als sogenannte “Anthropomorphe [sic!] Natur”,507 was für ihn auch bedeutet, dass “[d]as Dogma der Theologie von der absoluten Gestaltlosigkeit Gottes […] ein unerreichbares Ideal [ist]. Eine religiöse Wirklichkeit kann in der absoluten dogmatischen Enge unmöglich gedeihen.”508 Wie Bonhoeffer setzt auch Heschel sich in diesem Zusammenhang mit religionsgeschichtlichen Aspekten auseinander und unterscheidet zwischen Offenbarung und Vision.509 Letztendlich nivelliert er all diese Abgrenzungen jedoch wieder, weil er im Sinne seiner anfangs erläuterten historischen Darstellungsweise 502 Heschel: Papers, 151/1, 46. 503 Ebd., 151/1, 47. 504 Gegen Schleiermacher und die religionspsychologische Schule legt Heschel das Gewicht auf das Moment der Offenbarung des transzendenten Gottes gegenüber dem Menschen/Propheten, der bei Schleiermacher pantheistisch gefärbt ist; so auch Britton: Heschel, 9f. Schleiermacher verknüpft “Weissagung” zwar mit den biblischen Propheten, allerdings lediglich als “ein Vorausbilden der andern Hälfte einer religiösen Begebenheit” (Schleiermacher: Religion, 114), womit eine Art vorahnendes Gefühl gemeint sein dürfte. 505 Heschel: Papers, 151/1, 91; 94. 506 An diese Problematik schließt sich Heschel zufolge die Engellehre als zweite Läuterungsmöglichkeit an, weil sie “sowohl als optische Erscheinung wie als Wortverkünder Gott vertreten”, wodurch ein “Verschwinden Gottes aus der Vision festzustellen” (beides ebd., 151/1, 81) sei. 507 Ebd., 151/1, 25; Green: “Heschel”, 69: “Heschel stands counter to the neo-Kantians of his age”. 508 Heschel: Papers, 151/1, 77. 509 Heschel versteht die Vision als Fortsetzung der Offenbarung, die laut Jes 40,5 – als Gegenvers zu Dtn – wiederkommen wird.; vgl. ebd., 151/1, 55; später (80), belegt er dies damit, dass bereits im Dtn ein polemischer Ton gegen die sichtbare Offenbarung vorhanden sei. Während er die Offenbarung aber als grundlegend allgemeingültige Lehre (in Form der Torah) versteht, die monologischen Charakter besitzt und an die gesamte Öffentlichkeit gerichtet ist, um die Gott wirbt, interpretiert er die Vision als aktuelles Urteil, subjektiv dialogisch und in enger Verbindung zum Kultus mit Bezug auf die Zukunft (vgl. 56ff.). Diese Verbindung schafft er über die betende Priesterschaft, die einen persönlichen Umgang mit Gott impliziert, wodurch die Ähnlichkeit zur Vision gegeben ist (vgl. 65). Die Vision selbst ist somit als Erweiterung des Gebets
98 | 2 Weichenstellung zu relationalem Denken: Die akademische Frühphase zu dem Ergebnis kommt, dass die Vision eine “Art der Offenbarung”510 bleibt, in der sich anthropotropische, theotropische und optische Linien vermischen und so der dialogisch-relationale Charakter zutage tritt: “Die visionäre Erscheinung ist nur dem Individuum, dem Visionär wahrnehmbar, und ist eben nur in der Beziehung dar [sic!]”.511 Erste Anklänge an die Relationalität zur Welt lassen sich darin entdecken, dass Heschel einerseits “[d]ie Ursache der zeitgenössischen Krise […] im Fehlen der V.[ision], des anthropotropischen Erlebnisses” 512 festmacht (wobei sich fragen lässt, inwiefern der Mensch diese Dimension überhaupt beeinflussen kann), andererseits spätestens in seiner Zeit in Amerika die Menschen zu spiritueller Erneuerung durch Gebet aufruft. Zudem nimmt Heschel auch schon zu diesem frühen Zeitpunkt weitreichende hermeneutische Konsequenzen vorweg: Jede Vision versteht er als einen persönlichen Bericht (visio obliqua), der subjektiv durch die persönliche Eigenart des Propheten gefärbt ist.513 Das setzt voraus, dass der Inhalt des visionären Urteils einmalig ist und dessen Beurteilung der Erscheinung relational geschieht, aus der Beziehung des Visionärs zu Gott.514 2.4.1.2 “Das prophetische Bewusstsein” und der James’sche Einfluss Mit “Das prophetische Bewusstsein” liegt eine zweite Vorarbeit zu Heschels Dissertation vor, ein Referat für das philosophische Seminar seines Doktorvaters Max Dessoir. Nicht nur an dem gleichnamigen Titel zur Dissertation515 lässt sich erkennen, dass im Vergleich zur ersten Vorarbeit ein wesentliche Entwicklung ge-
durch Antwort Gottes und aus dem Geiste des Kultischen zu verstehen, denn “[i]m Mittelpunkt jedes Gottesdienstes steht noch heute die optische Erscheinung eines heiligen Dinges” (62; vgl. 86). Aber nicht nur die Offenbarung, sondern auch die von Heschel so bezeichnete “Erhabenheitspoesie” als Typus der theotropischen Linie grenzt Heschel von der Vision ab, von denen wiederum zahlreiche Subtypen (theophanisch, symbolisch, apokalyptisch etc.) bestehen. 510 Heschel: Papers, 151/1, 83. 511 Ebd., 151/1, 58. Dementsprechend verdeutlicht Heschel anhand der Samuel-Berufung “Die Geburt der Viaion [sic!] aus dem Geiste der Offenbarung” (ebd., 151/1, 84), anhand des Deboraliedes die Geburt aus der Erhabenheitspoesie, dann aus dem Gebet wie auch aus dem Kultus, was den Entwicklungscharakter der Vision andeutet; vgl. ebd., 151/1, 85–88. 512 Ebd., 151/1, 65; vgl. auch 82 u. 87. 513 ebd., 151/1, 28: “Jeder Visionär hat seine Vision gesehen, erlebt, und gestaltet in einer ihm eigenen Art.” 514 Vgl. ebd., 151/1, 52. 515 Erst im Druck wird die Dissertation Die Prophetie heißen.
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schieht, der sich unter anderem in der systematischen Reflexion, der philosophisch tragfähige(re)n Argumentation und der prophetologischen Terminologie niederschlägt. Wohl um das Prophetische in seiner allgemeinen Bedeutung – und damit auch für die Philosophie – zu rechtfertigen, leitet Heschel sein Referat deshalb mit einer Klarstellung über die Titulierung des Prophetischen ein – ein Terminus, der seiner Ansicht nach vielfach profan gebraucht wird, ohne jedoch genau zu wissen, was dahintersteckt.516 Als entscheidenden Unterschied der Prophetie zum psychischen Vorgang, ergo als conditio sine qua non von biblischem Prophetismus, nennt Heschel den von ihm so bezeichneten “Vorgang der Eingebung”,517 den er als “unmittelbares Teilhaftigwerden an dem sonst unzugänglichen transzendenten Vermögen der Wesen und Erscheinungen”518 und damit der Metaphysik zugehörig definiert; den Vorgang der Eingebung stellt er damit dem Ergebnis von Betrachtung oder Erwägung – als Eigenleistung – diametral entgegen.519 Erneut wendet sich Heschel also dezidiert gegen den Neukantianismus (insbesondere Cohens). Beide Aspekte, die transzendente Eingebung (durch Gott) und die Deutung (durch den Propheten), kommen laut Heschel im Propheten zusammen, ohne die die Eingebung “stumm und gestaltlos”520 bliebe.521 Methodisch geht Heschel nun einen Schritt weiter und analysiert im Sinne der zuvor bereits eingeführten Phänomenologie die psychologisch fassbare Seite des Propheten – eine Facette, die durch den Einfluss des zu jener Zeit im Koigen-Kreis intensiv rezipierten William James und besonders dessen Hauptwerk The varieties of religious experiences zustande kommt.522 Der amerikanische Psychologe und Religionsphilsoph William James (1842– 1910) ist durch mehrfache Schul- und Studienaufenthalte mit der Ritschl-Schule vertraut und hat mit seinen religionspsychologischen Studien unter anderem Georg Wobbermins These weiterentwickelt, dass das genuin Religiöse nur auf dem Weg des Zirkels “zwischen den empirisch-geschichtlich als religiös bezeichneten
516 Vgl. Heschel: Papers, 22/10, 3. 517 Ebd., 22/10, 3. 518 Ebd., 22/10, 4. 519 Dass Heschels Verweigerung – “to nail down the religious experience to something purely psychological” – grundlegenden Bestand haben wird, und dass er darin mit Buber übereinstimmt, machen Even-Chen und Meir: Between, 231, deutlich. 520 Heschel: Papers, 22/10, 6. 521 Noch in den 1960er Jahren hält Heschel exakt diese Unterscheidung aufrecht, wie sie in Paragraph 4 seiner Anmerkungen an Kardinal Bea (ebd., 52/4) zu finden ist. 522 Vgl. Kaplan: “Renewal”, 439 u. Kaplan und Dresner: Witness, 132f. .
100 | 2 Weichenstellung zu relationalem Denken: Die akademische Frühphase Phänomenen und der eigenen religiösen Erfahrung”523 erkannt werden kann. Für James ist grundsätzlich klar: “The roots of man’s virtue are inaccessible to us”,524 weshalb er niemals religiöse Erfahrung relativiert. Als Empiriker lässt er vielmehr “immediate luminousness, […] philosophical reasonableness, and moral helpfulness”525 als wirkliche Kriterien zur Bewertung religiöser Erfahrung zu. “In other words, not its origin, but the way in which it works on the whole […]. This is our own empiricist criterion”,526 was Pragmatismus par excellence darstellt.527 Auch auf allgemeinerer Ebene ist sein pragmatistischer Ansatz für Heschel (und ab der Mittelphase auch für Bonhoeffer) insofern maßgeblich, weil James die reale Welt in den Blick nimmt und von ihr zu deduzieren versucht, um zu einer Art objektiven Philosophie bzw. Religionswissenschaft zu gelangen (anstatt Antworten oder Theorien auf Fragen zu geben, die niemand gestellt hat).528 In Bezug auf die Religion ist James zufolge deshalb das Erleben eines nicht-sichtbaren transzendenten Gegenübers das wohl wichtigste Element, das immer eine Reaktion beim Subjekt des Erlebens hervorrufe (s. o.), wobei diese Erlebnisse oftmals auf bestehende religiöse Systeme (wie die großen Religionen) adaptiert würden.529 Damit bildet auch, wie zuvor anhand von Schleiermacher gesehen und doch ganz anders, die Emotionalität die entscheidende Sphäre, die als religiöses Gefühl James zufolge ganz eigenständig bleibt.530 Deshalb wählt James als Untersuchungsgegenstand zur Annäherung an das Phänomen “Religion” ausschließlich die persönliche religiöse Erfahrung (hauptsächlich durch Autobiographien vermittelt) und hält im Gegensatz dazu nichts von rationalistischen Gottesbeweisen oder überhaupt dogmatischer Theologie, besonders dann, wenn sie nicht zum praktischen Handeln veranlassen.531 Während theologische und philosophische Formeln darum sekundär sind, ist für He-
523 Lessing: Geschichte, 306. In dem Essay “Reflex Action and Theism” aus seiner Schrift The will to believe rekurriert James zudem explizit auf Schleiermacher; vgl. James: Will, 112. Auch Schopenhauer, Hegel und viele andere große deutsche Philosophen sind ihm geläufig. 524 Ders.: Varieties, 30. 525 Ebd., 28. 526 Ebd., 29. 527 Vgl. ders.: Will, 25ff., wo er Religion noch allgemeiner kennzeichnet als: 1. Die ewigeren Dinge für die Besten zu erachten, 2. sogar jetzt schon damit besser zu leben, wodurch das Universum zum “Thou” mutiere. 528 Vgl. ebd., 174 u. bes. auch 281, wo James gegen Hegels Theorien und die seiner “Nachfolger” wettert; s. auch ders.: Varieties, 393. 529 Vgl. ebd., 57. 530 Vgl. ebd., 52. 531 Vgl. ebd., 74f.; 382; ders.: Will, 85: “Cognition, in short, is incomplete until discharged in act”.
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schel (wie auch für Bonhoeffer) James’ Ansicht epistemologisch wichtig, dass das Gefühl eine tiefere Quelle von Religion trifft.532 Dennoch sieht er Konzeptionen und Konstrukte für notwendig, die jedoch von religiöser Erfahrung erst abgeleitet werden müssten,533 Emotion und Ratio haben folglich ihren Platz.534 Aus diesem Grunde erhält das Gebet als “inward communication or conversation with the power recognized as divine” bzw. als “intercourse with God” entscheidende Bedeutung für die Religion: “Prayer is religion in act; that is, prayer is real religion. It is prayer that distinguishes the religious phenomenon from such similar or neighboring phenomena as purely moral or aesthetic sentiment.”535 Besonders für Heschels Untersuchung der Propheten, aber später auch des Gebets und seiner Tiefentheologie, ist deshalb James’ Fokus auf den Akt des Gebets konstitutiv als “the very movement itself of the soul, putting itself in a personal relation of contact with the mysterious power of which to call it.”536 Bei dieser Verbindung geschieht es, dass “energy from on high flows in to meet demand, and becomes operative within the phenomenal world”,537 was in christlich-jüdischer Terminologie nichts anderes als Offenbarung darstellt. James nennt diese Phänomene “automatisms” bzw. auch “inspiration”, die “moves the very organs of their [der Gläubigen; Anm. von P. M.] body”.538 Das Gebet selbst leitet James von dem Phänomen mystischer Erfahrung ab, die er anhand ihrer Unaussprechlichkeit und dennoch noëtischer Qualität charakterisiert, geprägt durch Kurzlebigkeit ihrer Erfahrung und Passivität.539 Besonders Heschel setzt sich in seiner Untersuchung über die Propheten mit diesem Aspekt auseinander, auch wenn er die Passivität des Propheten/Betenden mit seinem Verständnis von prophetischer Sympathie in seine Schranken weisen wird, während Bonhoeffer in seinem Referat über das Prophetentum die Aktivität des Propheten – mit James’ Worten – als “mouthpiece of the Almighty”540 verstehen wird, der hinter der Prophetie zurücktritt. Ähnlich wie der Philosophie zuvor 532 James: Varieties, 393: “Philosophy lives in words, but truth and fact well up into our lives in ways that exceed verbal formulation.” Dahinter steckt die sogenannte “reflex-action”-Theorie mit “triadic-reflex pattern”, die besagt, dass (ders.: Will, 123) “[a]ny mind […] must first get its impression from the object which it confronts; they define what that object is, and decide what active measures its presence demands; and finally react.” 533 Vgl. ders.: Varieties, 374; 392f. 534 Vgl. ders.: Will, 63; 70. 535 Ders.: Varieties, 400. 536 Ebd., 400. 537 Ebd., 411. 538 Allesamt ebd., 412. 539 Vgl. ebd., 328ff. 540 Ebd., 414.
102 | 2 Weichenstellung zu relationalem Denken: Die akademische Frühphase (wie oben gesehen), spricht James aber auch jeder mystischen Erfahrung (namentlich des Propheten) ihren Absolutheitsanspruch ab.541 Als entscheidendes Kriterium einer Religion bzw. eines religiösen Lebens stellen für ihn vielmehr die guten Früchte das Entscheidende dar.542 Auf allgemeiner Suche nach Wahrheit heißt es bei ihm deshalb typisch pragmatistisch: “The truest scientific hypothesis is that which, as we say, ‘works’ best”.543 Exakt diese zentralen Erkenntnisse durch James implementiert Heschel in seiner Untersuchung und stützt sich so auf den Nachlass der biblischen Propheten als einzig greifbare Grundlage,544 womit er sogleich auch wieder seinen Lehrer Baeck zu Wort kommen lässt. Denn Baeck bezeichnet die Propheten sogar als “Poeten”, weil sie dem Geschauten Sprache verleihen müssten, dabei sprachlich auf die Umwelt zurückgriffen und so ihrer Verantwortung für die Entstehung der Bibel als ruhendem Element autoritativen Charakters nachgingen – oder staunend schwiegen.545 So tritt bei Baeck “das Gebot aus dem Geheimnis Gottes” hervor, um das Gebot für den Menschen in der Welt zu sein, bei dem Transzendenz und Immanenz zusammenkommen und im Bund ihr Siegel finden.546 Für Heschel ist mit Baeck der Aspekt der Stiftung durch göttliche Offenbarung essentiell. Erst dadurch sei, so Baeck, das Judentum als klassische Erscheinung von Religion zu verstehen, woran er wiederum die Auserwählung Israels knüpft.547 Offenbarung als wesentlichen Bestandteil der Religion verortet er in “jener unergründlichen seelischen Tiefe, wo das Menschliche vom Göttlichen aufgenommen wird”,548 regelrecht eine Vorwegnahme von Heschels Tiefentheologie.549 541 Vgl. James: Varieties, 366ff. 542 Vgl. ebd., 288; ohne dass James dies selbst erwähnt, bestätigt er aber damit gerade den biblischen Anspruch an einen Propheten, der daran gemessen wird, ob seine Prophetie in Erfüllung geht (vgl. Dtn 18,18–22). 543 Ders.: Will, xii. 544 Auch deshalb passt Heschel für Brill: “Aggadic”, 4, “nicely with those early twentieth century thinkers who fostered the great age of modern theological mysticism: William James, Dean W. R. Inge, Evelyn Underhill, and Friedrich Heiler.” 545 Vgl. Baeck: Wesen, 53; wobei auch James von der “ineffability” spricht; vgl. James: Varieties, 329. 546 Vgl. Baeck: Wesen, 120ff.; s. auch Pangritz: “Geheimnis”, 234. 547 Vgl. Baeck: Wesen, 87–89. 548 Ebd., 63. 549 Zeitweise wirkt es aber auch neukantianistisch, wenn ebd., 69, die Propheten Israels als Offenbarungsträger aus dem “Wesensbesitz des israelitischen Denkens” herleitet und Gottes Gedanken als “erhaben über die Gedanken des Menschen, so hoch der Himmel über der Erde ist” (68) transzendieren lässt.
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Gegen den Mangel an Erklärungen über ein prophetisches Bewusstsein betont Heschel allerdings die dialektische Spannung zwischen “scheuerfüllte[r] Distanz” wg. “unnahbare[r] Heiligkeit als Kluft” und faktischen Kontakt zwischen Gott und Prophet, wie er dies bereits in der ersten Vorarbeit über die prophetischen Visionen in der Bibel als Dialog zwischen Gott und Visionär bezeichnet hat.550 Auch an dieser Stelle werden – wie bei Baeck – auf religionsgeschichtliche Ähnlichkeiten hingewiesen, diese jedoch eindeutig abgelehnt, beispielsweise die Inspirationsmantik; denn als Teil des Offenbarungsaktes geht es Heschel bei der Eingebung um die Mitteilung eines transzendenten Willens, sodass der Prophet “lediglich Exponent der göttlichen Macht” ist, der “zuweilen eine tiefgründige Beziehung, eine persönliche Verbundenheit mit dem Schicksal des Volkes”551 teilt. An den “Beziehungswechsel zwischen Gott und Prophet”552 knüpft Heschel nicht nur erneut den ungeheuerlichen Gedanken der beiderseitigen Abhängigkeit zwischen Gott und Prophet und verschärft ihn; man erkennt vielmehr erneute Züge dessen, was er später als “das göttliche Pathos” und “die prophetische Sympathie” bezeichnen wird.553 2.4.2 Dialogische Gedichte: מענטש:( דער שם המפורש1933) Doch nicht nur wissenschaftliche Ambitionen treiben Heschel zu dieser Zeit an. Denn noch bevor er sein eigentliches Erstlingswerk, die Dissertation, in den Druck gegeben hat, veröffentlicht er 1933 in Warschau, nach Abschluss der letzten Prüfungen zur Dissertation, unter dem Titel “ מענטש:( ”דער שם המפורשdt. “Der unaussprechliche Name – Mensch”) 66 jiddische Gedichte über den unaussprechlichen Gottesnamen, die zwar Heschels “intime” Beziehung zu Gott und sein Gottesbild verdeutlichen, dabei aber nicht unkritisch sind.554 Sie stellen eine erste wichtige Ausdrucksform seiner kabbalistisch-chassidischen Spiritualität dar, die 550 Vgl. Heschel: Papers, 22/10, 11; Baeck: Wesen, 64. 551 Heschel: Papers, 22/10, 11. 552 Ebd., 22/10, 7. 553 Vgl. ebd., 22/10, 7f. 554 Auch wenn die Veröffentlichung des Sammelbandes erst nach Abschluss der Dissertation erfolgt, sind zahlreiche Gedichte bereits zuvor entstanden und teils publiziert; vgl. Kaplan und Dresner: Witness, 18ff. Alan Brill rechnet sie der “in zikh (thing itself) school of Yiddish poetry” (Brill: “Aggadic”, 2) zu. Even-Chen: “Approach”, 144f., macht zurecht darauf aufmerksam, dass bereits der Titel mit seiner Fokussierung auf den Menschen die Kritik aufnimmt, die Heschel im Zuge der Auseinandersetzung mit der Prophetie geäußert hat – dass er sich gegen die selbstauflösenden Tendenzen seiner mystisch orientierten Vorfahren emanzipiert.
104 | 2 Weichenstellung zu relationalem Denken: Die akademische Frühphase allerdings – das erkennt man allein an seiner Sprache – noch nicht den Anspruch erheben, in die westlich-moderne Welt wirken zu wollen.555 Gleichzeitig hebt Heschel bereits zu diesem frühen Zeitpunkt die Wichtigkeit des Menschen für Gott hervor,556 womit er sich im Sinne der Auseinandersetzung mit den biblischen Propheten ein Stückweit gegenüber seinem Erbe emanzipiert.557 Nicht nur Spiritualität allerdings, sondern auch theologische und hermeneutische Aspekte transportieren die Gedichte.558 Und die hängen mit seinen wissenschaftlichen Ambitionen jener Zeit zusammen, zumal implizit eine Auseinandersetzung mit bereits erwähnten Buber und seinem Ansatz von Ich und Du stattfindet.559 Bubers Dialogik560 setzt bei dem “Apriori der
555 Der kabbalistische Einfluss ist unter anderem in “( ”פַארגעּבּונגdt. “Vergebung”) zu erkennen, wenn Heschel den ( גלגולdt. “Rollen”), die für die Kabbalah typische Seelenwanderung, aufgreift; vgl. Heschel: Poems, 176f. Zur persönlichen Gottesbeziehung Heschels vgl. Even-Chen: “Name”, 26: “As we shall see in reading them, the poems testify to a real relationship between God and Heschel.” Vgl. auch Kaplan und Dresner: “Vilna”, 288. 556 Vgl. allein den Titel der Sammlung und auch den ersten Teil (“”דער מענטש איז הייליק, dt. “Der Mensch ist heilig”); so auch Even-Chen: “Name”, 24ff. 557 Ders.: “Approach”, 151, erkennt darum in dieser Gedichtsammlung: “There can be little doubt that Heschel thought of himself as fulfilling a prophetic mission.” 558 Vgl. Kaplan und Dresner: Witness, 183, der sicher nicht unrecht damit hat, dass “the poet’s persona and the author are not identical”. Dennoch ist davon auszugehen, dass Heschel mit den Gedichten aber Theologie kommuniziert, die zumindest seiner entsprechen dürfte. 559 Dies erkennt man allein an dem programmatischen Titel von Heschels “( ”איך אּון דּוIch und Du), wobei auch in ““( ”דָאס טייערסטע ווָארטdas teuerste Wort”) explizit das “Ich und Du”Vokabular auftaucht; vgl. Heschel: Poems, 30f.; 58f. u. Even-Chen: “Name”, 31f. Heschel ist dem zu jener Zeit wohl populärsten jüdischen Philosophen in Deutschland im akademischen Jahr 1929/30 zum ersten Mal persönlich begegnet, so Kaplan und Dresner: Witness, 150. Aber ganz anders als Buber, der v. a. die interpersonale Beziehung im Blick hat und darin die Verbindung zum ewigen Du (= Gott) sieht, legt er den Fokus auf “the great intimacy between God and man” (Even-Chen und Meir: Between, 22; 29f.; 93). 560 Obwohl Buber auf der kantianischen Ichphilosophie und dem Existentialismus fußt, von wo aus er das transzendentale Ich ins Verhältnis zu den drei metaphysischen Urphänomenen Gott, Welt und Mensch setzt, erscheint bei ihm im Gegensatz zu Kierkegaard und Rosenzweig der Stellenwert der Zeitlichkeit jedoch äußerst blass, auch wenn er die Momenthaftigkeit und Beziehung bzw. Begegnung in alleiniger Gegenwart festhält; vgl. Buber: “Ich”, 13ff. Die Nähe zu Kierkegaard und Grisebach (und letztlich auch Bonhoeffer) wird bei Bubers kulturanthropologischen und entwicklungspsychologischen Begründungen zur Ursprünglichkeit des Ich-Du Grundwortes dennoch deutlich. Als Hauptvertreter der jüdischen Renaissance jener Zeit ist Buber auch bekannt für seinen “hebräischen Humanismus” (ders.: Jude, 112): “Nicht der Hebraismus, sondern der hebräische Humanismus – das Wort in seinem großen historischen Sinne gefaßt muß der Kern einer jüdischen Regenerationsbewegung sein.” Vgl. auch Schaeder: Buber u. Volkmann: “Humanismus”, 181–193. Sein Ansatz fußt auf der biblischen Gottebenbildlichkeit
2.4 Relationalität und Bibel beim jungen Heschel | 105
Beziehung”561 an, wodurch der Mensch erst am Du zum Ich wird.562 Auch wenn er die Notwendigkeit der gegenständlichen Wahrnehmung betont – denn niemand könne in bloßer Gegenwart leben –,563 verbindet er das Grundwort Ich-Du mit der Ewigkeit, die mithilfe von Beziehung(en) erahnt werden könne.564 Darum unterscheidet Buber zwischen dem “Ich-Du” und “Ich-Es”: Entweder ist das transzendentale Ich beteiligt und geht mit dem ganzen Wesen eine Beziehung zum Gegenüber ein; oder es betrachtet unbeteiligt, abgegrenzt und dadurch distanziert.565 Anschließend modifiziert Buber die Triade der kantischen Urphänomene (Gott, Welt, Mensch) darin, dass er erstens vom Leben mit der Natur, zweites vom Leben mit den Menschen und drittens vom Leben mit den geistigen Wesenheiten spricht, während er in jedem dieser drei Urphänomene “den Saum des ewigen Du”566 erkennt. Auch wenn Buber relational denkt,567 sind die früheren Berührungspunkte zum pantheistisch-mystischen Denken nach wie vor ersichtlich.568 Denn Gott droht bei Buber letztlich, im irdischen Gegenüber zu versinken,569 während Heschel – in Übereinstimmung mit Rosenzweig und Co-
des Menschen (vgl. Gen 1,26), zumal er der Hebräischen Bibel, dialogisch gelesen, höchsten Stellenwert beimisst und damit Heschel beeinflusst haben dürfte; hermeneutisch unterscheidet er zur Aktualisierung des antiken Textes zwischen zeitlich Bedingtem und Überzeitlichem, wobei auch die Hebräische Sprache für ihn bereits den Moment der Unmittelbarkeit fördern soll; vgl. Woppowa: Widerstand, 142ff. 561 Buber: “Ich”, 31. 562 Vgl. ebd., 22–38; s. auch Even-Chen und Meir: Between, 26f. 563 Vgl. Buber: “Ich”, 38. 564 Vgl. ebd., 37; s. auch 75 u. Even-Chen und Meir: Between, 27. 565 Vgl. Buber: “Ich”, 7–9. Buber bezeichnet diese Unterscheidung auch als Beziehung vs. Erfahrung; vgl. ebd., 9. Even-Chen und Meir: Between, 33, macht daran Bubers Willen deutlich, statt das Eigenwesen anzustreben, eine Person zu werden: “[T]he more contact one has with a you, the more real one is, and the fuller one shares in reality.” Auch wenn Bonhoeffer seinen Personbegriff insbesondere mit der Erbsünde in Verbindung bringt, existiert in diesem Punkt eine bemerkenswerte Ähnlichkeit. 566 Buber: “Ich”, 10. 567 So auch Casper: Denken, 265 u. Wehr: Martin Buber, 126f. 568 Even-Chen und Meir: Between, 28, sprechen von “panentheistic thought”, urteilen jedoch an späterer Stelle, dass Buber ein Mystiker sei, “who loses himself in the All”, der “evolved into a related man, who finds God in the engagement in the world and in relationship to his fellow human beings” (214). 569 Nachdem Buber in seinen vordialogischen Werken den Fokus v. a. im Sinne Nietzsches auf das Entwicklungspotential im Menschen als “Werde, der du bist” gelegt hat – ein Ausspruch, der schon von Scheler (vgl. 2.3.2) her bekannt ist –, wirkt diese immanente Ausrichtung in Ich und Du deutlich auf das Gottesbild nach und wird Casper: Denken, 261 zufolge erst durch Bubers
106 | 2 Weichenstellung zu relationalem Denken: Die akademische Frühphase hen (bzw. Kant) – nicht nur Gottes bleibendes Gegenüber betont, sondern Gott auch als “exceptional und extraordinary”570 hervorhebt.571 Die persönlich-intimen Gottesbegegnungen, die Heschel im Gegensatz zu Buber aufgrund seiner chassidischen Frömmigkeit besitzt,572 treten in diesen GeAuseinandersetzung mit der Bibel in den 1920er und 1930er Jahren stärker als transzendentes Gegenüber personalisiert; vgl. auch Even-Chen und Meir: Between, 69. Aber auch der dritte Teil von Ich und Du, Bubers Entfaltung des ewigen Du, bestätigt den Verdacht des in der Unpersönlichkeit versinkenden Gottesverständnisses: Ausgehend von dem eingeborenen Du im Menschen schlussfolgert Buber nämlich, dass Gott prinzipiell schon immer da ist (vgl. Buber: “Ich”, 76f.; 82). Gegen die Tendenz, zum Es gemacht zu werden, müsse Gott nicht aus irgendetwas erschlossen oder abgeleitet werden, sondern vielmehr – so die steile These – stehe die echt initiierte Beziehung als einziges Kriterium im Mittelpunkt, was Buber formulieren lässt (ebd., 77): “[W]er das Wort Gott spricht und wirklich Du im Sinn hat, spricht, in welchem Wahn immer er befangen sei, das wahre Du seines Lebens an, das von keinem andern eingeschränkt zu werden vermag und zu dem er in einer Beziehung steht, die alle andern einschließt.” Nicht nur lässt sich sein Gottesverständnis damit pluralistisch sehr weit dehnen, auch wenn er immerhin anhand des dialogischen Primats mystisch und buddhistisch verstandene Einigung bzw. Versenkung von der Gottheit explizit ausschließt (ebd., 85ff.). Tatsächlich spielt aber die Grenze zwischen Transzendenz und Immanenz auch hier keine wahrnehmbare Rolle; von Offenbarung ist gar nicht erst die Rede. Dies wird besonders deutlich auch in Bubers Rekurs auf Barth, von dessen Ausdrucksweise er sich aber signifikant unterscheidet, wenn er von Gott als “das ganz Andere” (ebd., 80) spricht, eben nicht als “dem ganz Anderen”. Zudem geht es Buber dabei v. a. um die andere Seite, Gott als “das ganz Gegenwärtige” (ebd., 80). So mag man Even-Chen und Meir: Between, 74, darin zustimmen, dass “the transcendent aspect of God is not absent in I and Thou”, führt aber letztlich – wie Bonhoeffers Anklage gegenüber Barths “Offenbarungspositivismus” – zur Möglichkeit Gottes, sodass Gott nicht greifbar wird und somit kein personales Gegenüber ist. Spätere Aussagen wie “Wer wahrhaft zur Welt ausgeht, geht zu Gott aus” (Buber: “Ich”, 96), unterstützen die These pan(en)theistischer Tendenzen, wie auch Even-Chen und Meir: Between, 93, im Gegensatz zu Heschel feststellen. Die eigentliche Offenbarung wird sogar als Moment-bedingte Veränderung am Menschen beschrieben (vgl. Buber: “Ich”, 110). Und so wundert es auch nicht, dass Buber im Gegensatz zu Rosenzweig und Heschel “was not to fight Hegelian monism as such, or the monism prevailing from Ionia to Jena, but to combat Gnosticism, which he saw as threatening real religiosity” (Even-Chen und Meir: Between, 111). 570 Ebd., 67. 571 Green: “Mystics”, 39, liest Heschel offenbar nur partiell, wenn er meint, dass “[t]here is not yet a clear distinction made here between identifying with God – with God’s love for humanity, with God’s pain and God’s pathos – and a claim that God and man are ultimately identical, something the mature Heschel would not have said. […] There is no effort here to preserve the ‘otherness’ of God.” Die Sammlung der Gedichte könnten tatsächlich diesen Eindruck erwecken, wie auch Meir: Dialogical Thought, 89, anmerkt. Faktisch widerspricht diese Tendenz aber nicht nur Heschels erste Vorarbeit, sondern natürlich auch die zeitgleich entstehende Dissertation über das prophetische Bewusstsein. 572 Vgl. Kaplan: “Sacred”, 217f.; s. auch Even-Chen und Meir: Between, 67; 212; 236, wobei beide auch darum wissen, dass Buber “was one of the people who understood that the spiritual forces
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dichten dagegen besonders zum Vorschein, und nur er selbst benutzt die Phänomenologie für die Gottesbegegnung,573 da Buber sie als kontraproduktiv gegenüber der Beziehung ablehnt.574 Auch ansonsten übernimmt Heschel Bubers Position zu Ich und Du nicht unkritisch, sondern er hat deutliche Anfragen an die Fokussierung auf das Individuum.575 Trotz aller Kritik schätzt Heschel Bubers relationales Personenverhältnis in philosophischem Kontext als einen wichtigen Einfluss, welches er also anhand der echten Transzendenz Gottes und dessen Immanenz im Moment der Offenbarung philosophisch entscheidend modifiziert. Das dialogische Element schlägt sich in Heschels Gedichten auf vielerlei Weise nieder. In “( ”מיליָאנען אויגן שטיקן זיךdt. “Millionen Augen sind verstopft”) ist von einem aktiven Ringen mit Gott und nach geforderter Wiederherstellung der Welt die Rede, was Even-Chen und andere dazu veranlasst anzunehmen, dass Heschel in diesen Gedichten zum ersten Mal seiner Überzeugung Raum gibt, dass “the idea of an omnipotent God was not a Biblical-Jewish concept, but rather an idea that entered Judaism under influence of Islam. The idea that God needs human cooperation reflects the Biblical-Prophetic faith.”576 Denn auch in “( ”רּוף דּורך די נעכטdt. “Ruf durch die Nacht”) äußert Heschel wegen des Elends der Stadt Gott gegenüber die Frage, warum Er nicht helfe;577 die Frage, wo Gott sei, taucht ebenso auf.578 Diese Beobachtung unterstreicht in jedem Fall Heschels Metaphysik-Kritik (schon aus den Vorarbeiten), die auch eine statische Omnipotenz-Vorstellung trifft. Allerdings wird sich schnell zeigen, dass sich Heschels biblisch verstandener Gottesbegriff mit all seinen Überlegungen über Gottes Allmacht deutlich von dem unterscheidet, was nach ihm etwa Jonas formulieren wird.579 hidden in Hasidism could lead to a renewal of Jewish life” (212). Nur am Rande sei erwähnt, dass beide auch ein deutlich unterschiedliches Verständnis vom Chassidismus haben; Vgl. Even-Chen und Meir: Between, 235. 573 So Kavka: “Meaning”, 124f. 574 Vgl. Buber: “Ich”, 8ff. 575 Noch acht Monate vor seinem Tod kritisiert Heschel (in einem Interview über die Zukunft des Jüdischen Museums, Heschel: Papers, 42/1) an Bubers Position, das “Thou” sei “much clearer than ‘I’.” Oder wie, (Kaplan: Holiness, 82f.) es für das Jahr 1935 formuliert: “To put it briefly, Heschel considered Buber’s ‘theology’ to be best a philosophical anthropology, despite its religious overtones”. 576 Even-Chen: “Name”, 46; s. auch Heschel: Poems, 34f. Auch in “( ”זעלּבסטמערדערdt. “Selbstmord”, 36f.) besteht der Aufruf zum Handeln, nachdem Gott vergessen worden ist. Zu weiteren ethischen Forderungen vgl. “( ”ווַארטן אויגן מענטשלעכעdt. “Menschliche Augen warten”, 38f.), “( ”ָאן ַא נָאמעןdt. “ohne Namen”, 180ff.) u. “( ”איידעלער פריינטdt. “vornehmer Freund”, 182f.). 577 Ebd., 50: “? דּו,( ”פַארווָאס העלפסטּו נישט – דּוdt. “Warum hilfst Du nicht – Du, Du?”). 578 Vgl. ebd., 192ff. 579 Vgl. Held: Heschel, 10ff., mit Verweis auf Heschels The Prophets; s. auch Jonas: Gottesbegriff , 17; 33ff.; 39; 41; 43, dessen Argumentation natürlich zu bedenken ist, dass sich Freiheit des
108 | 2 Weichenstellung zu relationalem Denken: Die akademische Frühphase Das Gedicht mit dem Titel “( ”גָאט גייט מיר נָאך אּומעטוםdt. “Gott geht mir immerzu nach”) drückt andererseits die Nähe Gottes aus, während “דָאס טייערסטע ( ”ווָארטdt. “Das teuerste Wort”) Gottes Größe und des Menschen Niedrigkeit und damit die Ungleichheit hervorhebt.580 Dass Gott aber auch zwischen dem Einzelnen und der Welt steht – wohinter sich wohl chassidisch-kabbalistisches Erbe befindet, mit dem Heschel sich gleichzeitig kritisch auseinandersetzt –,581 betont “”צווישן מיר אּון וועלט582 (dt. “Zwischen mir und Welt”), hiermit taucht eine deutliche Überschneidung zu Bonhoeffers “Gottbezogenheit” auf.583 Auch lässt sich ein Gedicht (“”נויט, dt. “Not”) passend zum später als “Tiefentheologie” bezeichneten Vorgang ausfindig machen, der das Moment des Unaussprechlichen prozessiert.584 Und auch die Aspekte von göttlichem Pathos und prophetischer Sympathie lassen sich finden, wenn in “( ”גָאטס טרערןdt. “Gottes Tränen”) davon die Rede ist, dass der Mensch Gottes Tränen abwischt und so Gott den Menschen braucht, gleichzeitig Gottes Mitleiden mit den Schwachen und zugunsten der Armen ausgedrückt wird; dabei bleibt Heschel nicht frei von deutlicher Kritik gegenüber Gott.585 Auch ist Nächstenliebe ein Thema (in “”גָאט און מענטש, dt. “Gott und Mensch”), die wiederum Liebe zu Gott ausdrückt, weshalb menschliches Leid für Gott schlimmer als Blasphemie ist, so Heschel.586 Überhaupt nimmt Heschel auch die menschlichen Beziehungen in den Blick, was teils zu profanen Liebesgedichten führt;587 zugleich weist er aber auch ernüchtert darauf hinweist, dass die Liebe von Mensch zu Mensch oft unbeantwortet bleibt.588 Menschen und Allmacht Gottes schon logisch ausschließen (33ff.), aber auch nur nach der von Heschel abgelehnten griechischen Denkweise, wie auch Held: Heschel, 12f., mit Verweis auf die nach Heschel von Gott selbst gewählte Machteinschränkung verdeutlicht. 580 Vgl. Heschel: Poems, 56–61. 581 Vgl. Even-Chen: “Approach”, 155ff. u. Green: “Mystics”, 43. 582 Heschel: Poems, 114f. 583 Vgl. 2.3.2. 584 Vgl. Heschel: Poems, 62f. 585 Vgl. ebd., 42f. + 64–67; s. auch Even-Chen: “Name”, 28; 32; 38 u. “( ”ּתשּובהdt. “Umkehr”), Heschel: Poems, 200f. Even-Chen und Meir: Between, 36f., machen darauf aufmerksam, dass Heschel in späterer Zeit ganz besonders den Handlungswillen Gottes hervorhebt, indem der Mensch zum “Es” Gottes wird, allein aus menschlicher Sicht. 586 Vgl. Heschel: Poems, 44f. vg. auch “( ”קַאמף אּון זיגebd., 46), das die menschliche Sympathie als Ausdruck des Miteinanders statt des eigensinnigen Siegeswillens für wichtig erklärt. 587 Vgl. “( ”צּו ַא פרוי אין חלוםdt. “zu einer Frau im Traum”) in ebd., 88f. 588 Vgl. “( ”פּון הַארץ צּו הַארץdt “Von Herz zu Herz”) in ebd., 48f.
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Neben der relationalen Ebene lassen sich immer wieder Assoziationen natürlicher Theologie finden.589 Alles in allem sind die frühen Gedichte folglich ein zentraler Indikator für Heschels Relationalität zu Gott.
2.4.3 Göttliches Pathos und prophetisches Bewusstsein: Die Prophetie (1933/1936) 2.4.3.1 Rahmenbedingungen und Untersuchungsgegenstand Obwohl Heschel im Gegensatz zu Bonhoeffer auch offiziell und inhaltlich von Anfang an zwei Studiengänge mit insgesamt vier Fächern belegt und die ersten Jahre zudem mit dem Vorstudium für Ausländer beschäftigt ist, kann er dennoch 1930 sein Regelstudium an der Universität abschließen und in den Jahren 1930–1932 seine Dissertation anfertigen, die er schließlich am 09. Dezember 1932 einreicht. Die mündlichen Prüfungen (am 23.02.1933) besteht er gerade so (“sustinuit”), aber die Dissertation wird von Dessoir und Bertholet immerhin mit “valde laudabile”590 bewertet. Nach zwei weiteren Semestern mit insgesamt 40 Semesterwochenstunden591 beendet er im Juli 1934 auch das Studium an der Hochschule und wird in diesem Zuge ein weiteres Mal ordiniert.592 Doch erst 1936 kann er die Dissertation unter dem Titel “Die Prophetie” veröffentlichen.593 Schon während der Studienzeit liegt Heschels Fokus auf der Hebräischen Bibel, was sich materialiter in zwei Vorarbeiten niederschlägt, die aber natürlich auf nichts anderes abzielen als seine anschließende Dissertation über “Das propheti-
589 “( ”אין פַארנַאכטןdt. “In den Dämmerungen”): Der Mensch repräsentiert die Ewigkeit, Gott und das Leben sind kein Zufall, und alles in der Welt fungiert als Tür zu Gott. In “צּו ַאפרוי אין ( ”חלוםdt. “Zu einer Frau im Traum”) sind es die Augen, die von Gott grüßen. In “”רעכט אויף ווּונדער (dt. “Recht auf Wunder”) ist es die Schönheit als Gottesbeweis. Und schließlich steht Gott in “”ים (dt. “Meer”) den Wellen des Meeres entgegen; vgl. Heschel: Poems, 70–75; 88f.; 107f.; 163. 590 = “sehr lobenswert”, was in etwa einem “magna cum laude” entsprechen dürfte; Vgl. Kaplan und Dresner: Witness, 169–171; 174f.. Interessanterweise wird Heschel laut der Archivunterlagen der Humboldt Universität bereits am 12.12.1932 exmatrikuliert. 591 Vgl. dazu das Anmelde-Buch No. 428b der Berliner Hochschule u. Heschel: Papers, 19/3. 592 Vgl. Kaplan und Dresner: Witness, 198. 593 Wie auch Bonhoeffer muss Heschel noch drei weitere Jahre auf die Publikation warten; wegen fehlender finanzieller Mittel kann er jedoch auch erst 1936 seine Doktor-Urkunde in Empfang nehmen. Die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten erschwert diesen Prozess erheblich, sodass er letztendlich bei der Polnischen Akademie für Künste und Wissenschaft publiziert; vgl. ebd., 178–181; 198–201; 214–217. Überlieferte Entwürfe aus Heschel: Papers, 152/1+2 erhalten an dieser Stelle ebenso wenig explizite Beachtung wie Bonhoeffers Sanctorum Communio, was den Umfang dieser Arbeit gesprengt hätte.
110 | 2 Weichenstellung zu relationalem Denken: Die akademische Frühphase sche Bewusstsein” der biblischen Propheten – genau genommen nur der “vorexilischen Schriftpropheten”.594 Von seinem Ansatz her hat Heschel sich wohl von James inspirieren lassen, mit er sich schon in den Vorarbeiten auseinandergesetzt hat: Als Untersuchungsgegenstand wählt Heschel die biblischen Propheten zur Analyse religiöser Erfahrung und ergänzt seine Methodik durch die zeitgenössischen Einflüsse wie die Phänomenologie. Wie Bonhoeffer auch, geht es Heschel sachlich somit um die Analyse und Beschreibung der Tatsächlichkeit des für die eigene Religion typischen Offenbarungsmoments in konkret zeitlicher Dimension. Doch während er analytisch rekonstruiert, leistet Bonhoeffer einen kreativ-konstruierenden Beitrag, der außerdem einen höheren soziologischen Anteil beinhaltet. Wie bei Bonhoeffer, schwingt auch hier der Wunsch mit, die eigene Frömmigkeit der Gottesbegegnung theologisch-philosophisch zu untermauern und gegen zeitgenössische Ansichten abzugrenzen, was beide unter anderem mittels der schelerschen Phänomenologie rechtfertigen können, wie noch zu sehen sein wird. 2.4.3.2 Die zentrale Rolle der Bibel Womöglich aufgrund des rekonstruierenden Ansatzes und dem damit verbundenen bewussteren Fokus auf die biblischen Texte nimmt hier die Hebräische Bibel einen deutlich höheren Raum ein als parallel bei Bonhoeffer: Auf den 183 Seiten der gedruckten Fassung von 1936 verweisen laut Stellenverzeichnis 302 Einträge/Zeilen auf sie.595 Das bedeutet: Heschel verwendet doppelt so viele Bibelstellen in einer Arbeit mit vergleichbarem Umfang, obwohl er ausschließlich die Hebräische Bibel heranzieht. 2.4.3.3 Das Phänomen prophetischen Bewusstseins Ebenso wie Bonhoeffer vor ihm, reflektiert Heschel seinen methodologischen Ansatz im Vorwort der Dissertation: Er fokussiert sich gemäß der beiden Vorarbeiten auf “Wesen und Aufbau des prophetischen Bewußtseins”,596 anstatt “über die Wahrheit der prophetischen Aussagen zu urteilen”,597 womit er nicht nur James folgt, sondern auch klar in Husserls phänomenologischer Spur der Einklammerung bleibt, doch ohne dessen implizite Ausschaltung der Transzendenz Got-
594 Heschel: Die Prophetie, 5. 595 Zum Stellenverzeichnis vgl. ebd., 189–192. 596 Ebd., 1. 597 Ebd., 2.
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tes.598 “Nicht das Noumenon, sondern das Phainomenon” hält er für “das religiöse Guthaben des Propheten”,599 das es zu analysieren gilt – einer der entscheidenden Ansätze für sein Denken und die Gemeinsamkeiten zu Bonhoeffer, der Heschel zeitlebens prägen wird.600 Wie zuvor in der gleichnamigen Vorarbeit festgestellt, geht es Heschel zufolge den biblischen Propheten nämlich nicht um Substanz oder Wesen Gottes, sondern sie wollen (und können nur) “die Funktion, den Ausdruck verstehen”.601 Zwar ignoriert Heschel historisch-kritische Erkenntnisse und den Ansatz liberaler Theologie(en) damit nicht grundsätzlich. Denn beispielsweise rekurriert er bei seiner Analyse von Jesaja gerade nicht auf die deuterojesajanischen Kapitel, analysiert in der überarbeiteten Version seiner Dissertation, The Prophets, sogar gesondert Deuterojesaja, womit er wahrlich nicht als “literalist [n]or dogmatist”602 bezeichnet werden kann, wie Chester zurecht feststellt.603 Doch im Gegensatz zu seinem (und Bonhoeffers) Lehrer Sellin, der einen religionsgeschichtlichen Ansatz wählt und so zwar auf die Besonderheit des israelitischen Prophetismus hinzuweisen versucht, kommt Heschel zu wesentlich greifbareren Ergebnissen. Sellin dagegen muss notgedrungen aufgrund seines historisch-liberalen Zugangs im Bereich von Wahrscheinlichkeiten bleiben und kratzt regelrecht an der Oberfläche der alttestamentlichen Berichte.604 598 Dazu vgl. Husserl: Ideen, 125. S. auch Perlman: Idea, 81f.: “There is no attempt, in Husserl’s theory of knowledge, to prove the adequacy of thought to things, which allows truth to be deduced from the judgement. Truth is the function of a judgement which is correlated to its intuition because judgments presuppose truth and intuition is the very course of thought toward truth, a rational penetration into the data of experience.” Brill: “Aggadic”, 3, möchte Heschels “phenomenological method of comparative religion”, die von Geradus van de Leeuw stamme, auf Heschels Zweitkorrektor Alfred Bertholet zurückgeführt wissen, ohne jedoch diese Position auch nur annähernd zu begründen. 599 Heschel: Die Prophetie, 161f. 600 Zurecht schlussfolgert darum Marmur: “In Search”, 14: “Of all philosophical schools which might have attracted Heschel in the course of his intellectual development, it was the phenomenological method which had the most significant impact.” 601 Heschel: Die Prophetie, 161f. Darum ist Heschels Ansatz an anderer Stelle auch als “phenomenology of religion” (Lycka: “Philosophy”, 47) bezeichnet worden. 602 Chester: Divine pathos, 71. 603 So auch Erlewine: “Reclaiming”, 183. Ein zentraler Grund für den Vorzug der Hochschule vor dem Rabbinerseminar ist auch darin begründet, dass Heschel sich mit der Bibel und konkret der historisch-kritischen Exegese seiner Zeit auseinandersetzen will, wie gesehen; s. auch Kaplan und Dresner: Witness, 104. 604 Immerhin sind Sittlichkeit und Gerechtigkeit für den liberalen Theologen Sellin wohltuende Klänge in seinen Ohren, auch wenn sich die Validität von Offenbarung seiner Ansicht nach eben-
112 | 2 Weichenstellung zu relationalem Denken: Die akademische Frühphase Aber nicht nur gegen die Einseitigkeiten der religionsgeschichtlichen Schule mit ihren historistischen Grundlagen ist Heschels These gerichtet, wenn er das prophetische Leben mit Erfahrungsvorgängen in Verbindung bringt, “in denen konkret reale, transzendente Gegebenheiten geistiger Art an das Bewußtsein herantreten.”605 Vielmehr spricht er sich gegen dogmatische Theologie(n) aus, worunter er seiner ersten Vorarbeit entsprechend die abstrakte (v. a. protestantische) Theologie griechischer Metaphysik verstehen dürfte, die dazu tendiert “to construct creedal formulations for the prophets torn free from their specific experiences.”606 Und auch erneut gegen Cohen und den Transzendentalismus (neu-)kantianischer Art konstatiert Heschel bei den Propheten eine Überschreitung transzendental-immanenter Grenzen, wenn er expressis verbis auf “Visionen und Auditionen” hinweist, die als “vollendetes Gedankengut”607 den Propheten als Gegenüber treffen; Offenbarung ist somit zurecht als “experience sui generis”608 kategorisiert worden. Auch wenn sich Heschel des “schwer lösbare[n] Problem[s] der Offenbarungsgrenzen”609 bewusst ist, thematisiert er dennoch den Sinn und das Wesen des Prophetischen, das sich im Akt der Eingebung – phänomenologisch gesprochen als Noëse – manifestiere und in Form und Inhalt der prophetischen Offenbarung (= die Noumena) unterscheiden lasse, womit Heschel über Rosenzweig zu Barth und damit sachlich auch zu Bonhoeffers Unterscheidung von Akt und Sein durchdringt.610 Letztlich behauptet Heschel sogar, bei den Propheten “deutliche Vorstellungen über den Hergang der Eingebung und ein Wissen um
falls nicht überprüfen lässt; vgl. Sellin: Prophetismus, 33–71; 246. Heschel dagegen philosophiert auch unter Mithilfe des bereits studierten James’schen Pragmatismus über die “Innenwelt des Propheten” (Heschel: Die Prophetie, 2) in seiner Wahrnehmung, wodurch er neben der Gotteserfahrung die menschliche Komponente berücksichtigen kann. Ähnlich zu Bonhoeffer lässt sich somit auch bei Heschel eine Art Vermittlungsposition zwischen Ernstnahme der Akt-Offenbarung bei den Propheten und den Ergebnissen liberaler Theologie erkennen “Only by recovering the Sitz im Leben of the prophet, but in a way that is radically open to prophetic experience, can the onesided poles of dogmatic theology and biblical criticism be avoided.” Erlewine: “Reclaiming”, 186. 605 Heschel: Die Prophetie, 2; vgl. auch Perlman: Idea, 112. 606 Erlewine: “Reclaiming”, 185. 607 Beides Heschel: Die Prophetie, 2. 608 Novak: “Phenomenology”, 38. 609 Heschel: Die Prophetie, 3. 610 Vgl. ebd., 3–5. Diese Grenzüberschreitung ist natürlich erst Grundlage dafür, dass Heschel von einem relationalen Verhältnis zwischen Gott und Mensch sprechen kann, das er im Zusammenhang von Tatsächlichkeit der Offenbarung Gottes aufgrund Seines Pathos in Beziehung mit dem Menschen entfaltet. Wie bei Rosenzweig, lässt sich mit Novak: “Theopolitics”, 40, darum von “dynamic ‘giving’ ” der Offenbarung sprechen.
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Art und Aufbau ihrer Erfahrung”611 festzustellen, womit er wiederum auf James’ Pragmatismus wie auch Husserls bzw. Schelers Phänomenologie (des Fühlens) zurückgreift, auch gegen Kants und Cohens Maxime der Vernunft.612 Im Gegensatz zu den beiden Vorarbeiten (und damit auch gegenüber Baeck und Sellin) sprengt Heschel in dieser ersten wissenschaftlichen Arbeit die Trennung zwischen sittlich-religiöser und politisch-ethischer Dimension, wie sie von Kant und schließlich dem Neukantianismus her angelegt ist, wenn er das Primat des Religiösen im Prophetischen betont, aber nicht gegen politisch-ethische Kategorien, sondern als Grundlage für die politische Dimension als dessen Konsequenz.613 Denn er ist sich überaus bewusst, dass “die klassischen Propheten sich nicht als Zukunftsschauer und Wahrsager betrachtet haben, sondern im wesentlichen als Gegenwartsbeurteiler und Künder von sofort zu realisierender Wirklichkeit”,614 abgeleitet von der religiösen Erfahrung. Mithilfe von Scheler (und gegen Rosenzweig) betont Heschel auch die Persönlichkeit des Propheten, sodass neben der “überpersönliche[n], rein gegenständliche[n] Rezeptivität” auch seine “affektiv emotionale[n] Spontaneität”615 nicht übersehen werden dürfe. Denn “[d]er Prophet ist nicht als ein kausal bestimmtes, von außen geleitetes Wesen denkbar, das automatisch, ohne Beteiligung des Willens, blind und notwendig wirken könnte”616 – ganz anders, als es religionsgeschichtliche Inspirationstheorien ekstatischer oder poetischer Art Heschels Ansicht nach gern hätten, um eins zu werden.617 Mithilfe der klaren Transzendenz Gottes, die er schon bei Cohen und besonders bei Rosenzweig gefunden hat, widerspricht Heschel darum auch jeder unio mystica-Vorstellung. 611 Heschel: Die Prophetie, 3. 612 Selbst Friedman: “Heschel”, 294, gesteht Heschel dies zu. Vgl. auch Perlman: Idea, 60. 613 Vgl. Heschel: Die Prophetie, 5. 614 Ebd., 5. 615 Ebd., 3. 616 Ebd., 3. 617 Vgl. ebd., 8; 11; 40–47. Unter anderem setzt Heschel sich mit dem jüdischen Platoniker Philo von Alexandria auseinander, der den Propheten als ein “willenloses Organ des Herrn” (16) versteht; vgl. auch Erlewine: “Reclaiming”, 184. Aber auch gegen seinen Zweitkorrektor Bertolet behauptet Heschel sich, der den Propheten als “Ekstatiker” betrachtet, dessen Wesen “mehr an das eines Verrückten oder Rasenden als eines geistig Normalen” (Bertolet: Kulturgeschichte, 264) erinnert. Dies tut er sowohl durch die biblische Überlieferung selbst, als auch logisch-argumentativ mit Hinblick darauf, dass die Person und Offenbarung nicht ernstgenommen würden und in ein “subjektloses Ereignis” bzw. eine “Objekt-Objekt-Beziehung” (Heschel: Die Prophetie, 50) mündeten. Wie bereits zuvor gesehen, argumentiert Heschel mit der Persönlichkeit des Propheten wohl auch gegen seinen namensgleichen Vorfahren. Aber auch gegen Gustav Hölschers “scheinwissenschaftliches Mäntelchen” (ebd., 25) der Verquickung unterschiedlicher Epochen und Phänomene und der damit verbundenen Darstellung des Propheten als “Kind der kannaanäisch-
114 | 2 Weichenstellung zu relationalem Denken: Die akademische Frühphase Vielmehr geht es Heschel zufolge um die “Bezogenheit des Inhaltes auf die geschichtliche Situation”618 bzw. das Volk, womit das telos der Prophetie jenseits des Propheten liegt. Durch die Persönlichkeit des Propheten “ist man beinahe versucht, von einer ‘Mitoffenbarung’ des Propheten zu sprechen”.619 Trotzdem plädiert Heschel für die Eindeutigkeit und den “logischen Gehalt der Prophetie”.620 Telos von Religion ist also gerade nicht, wie Schleiermacher es postuliert hat, das Gefühl; das stellt lediglich ein Nebenprodukt des Angesprochenwerdens durch Gott dar, womit Heschel inhaltlich bereits die prophetische Sympathie des Propheten thematisch einführt und seinen Ich-Du-Personalismus voraussetzt. Das prophetische Bewusstsein ist darum offen für das “Mitteilungsbedürfnis Gottes”,621 deren Verhältnis Heschel folglich als Subjekt-Subjekt-Struktur charakterisiert.622 2.4.3.4 Das göttliche Pathos Ausgehend von der Annahme tatsächlich stattgefundener, authentischer Augenblicke der Offenbarung Gottes, analysiert Heschel mithilfe der schelerschen Phänomenologie des Fühlens die eingegebenen Inhalte der biblischen Propheten. Das Ergebnis ist sein “göttliches Pathos”, das er als “Motiv der Eingebungsinhalte”623 versteht und das Relationalität zwischen Gott und Mensch par excellence darbietet. Denn Heschel meint damit Äußerungen, die fast stets subjektiv motiviert sind, sodaß jedes Urteil, das Gott durch den Mund des Propheten kundgibt, gleichsam ein Gefühl, eine Gemütslage ausdrückt. In den prophetischen Worten, wenn wir sie vom Standpunkt der Motivation betrachten, hören wir unmittelbar den Wunsch oder den Zorn, die Enttäuschung oder die Liebe, die Stimmung oder die Leidenschaft Gottes in seiner Beziehung zum Volk.624
vorderasiatischen Mantik und Zauberkunst” (Heschel: Die Prophetie, 21) weist Heschel zurück, in dessen Kontext “Ekstase” deutlich negativ verstanden werde; vgl. ebd., 25–27. 618 Beides ebd., 52; vgl. auch 56f. 619 Ebd., 54. 620 Ebd., 52. 621 Ebd., 51. 622 Vgl. ebd., 54. Dass Heschel mit Baeck den Propheten gleichsam dennoch als “Poeten” bezeichnen kann, weil er den Vorgang der prophetischen Eingebung psychologisch fassen und beschreiben muss, ist bereits in der zweiten Vorarbeit deutlich geworden; dies entfaltet Heschel anschließend im zweiten Teil seiner Untersuchung mit neuer prophetologischer Terminologie. 623 Ebd., 57. 624 Ebd., 57.
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Während Heschel also ein “subjektives Verwebtsein in die Angelegenheiten der Nation”625 aufseiten Gottes ohne berechenbare Gesetzmäßigkeit feststellt, ist der Prophet ihm zufolge nur mittelbar mit dem Schicksal des Volkes verbunden.626 Während Bonhoeffer also mit Barth von der Betroffenheit des Menschen spricht, geht Heschel schon zu diesem frühen Zeitpunkt seiner Biographie noch den Schritt weiter und hält sogar Gott für betroffen bzw. explizit für leidend.627 Damit legt Heschel die entscheidende Grundlage für den leidenden Gott, den er im Nachgang der (zu diesem Zeitpunkt noch ausstehenden) Shoah thematisieren wird.628 Konkret begegnet Heschel bei Amos das Pathos des Widerstrebens und der Abscheu als “Ekel vor ungerechter Vornehmheit und [den] Widerwillen gegen unechte Frömmigkeit”.629 Dem entgegnet Amos mit der Ankündigung Gottes über Verheerung der samaritanischen Paläste und der Zerstörung der Kultstätten, letztlich auch Untergang des Volkes. Heschel entdeckt so ein Pathos der “Enttäuschung über die Undankbarkeit Israels”,630 dem aber auch ein Pathos der Zuneigung folgt.631 Hoseas Pathosvorstellung der Abneigung versteht Heschel hauptsächlich als Zorn und Hass, dem gegenüber seiner Ansicht nach allerdings auch ein ebenso starkes Pathos der Zuneigung und Liebe Gottes zu Israel besteht.632 Dennoch erblickt er immer wieder die Rede von Konsequenzen, einem “Eingriff in den Verlauf der Geschichte”.633 Heschel hält also auch reale Unglücksereignisse für tatsächliche Konsequenzen des transzendenten Gottes im Gegensatz zum Neukantianismus.634 Versinnbildlicht dargestellt wird Israel dabei “als Gattin, als treu-
625 Heschel: Die Prophetie, 57. 626 Vgl. ebd., 57. 627 So ebd., 180. 628 Vgl. auch Merkle: Approaching God, 3; 14; dass “God’s suffering runs as a consistent theme through Jewish stories”, wie Breslauer: Spirituality, 82, hervorhebt, mag erklären, warum Heschel zu diesem frühen Zeitpunkt seines Lebens theologisch schon diesen Schritt weiter ist als Bonhoeffer. 629 Heschel: Die Prophetie, 58. 630 Ebd., 58. 631 Vgl. ebd., 59. 632 Vgl. ebd., 59. 633 Ebd., 59. 634 Zurecht urteilt Michael: “Concept”, 128f., darum: “Heschel is concerned to show the limits of reason and the validity of religious faith, to break through the modern person’s objectivity and rationality and to reawaken our spirituality, so that we can enter a dialectical interaction
116 | 2 Weichenstellung zu relationalem Denken: Die akademische Frühphase loses Weib und als Knabe”.635 Gott sei Gatte, enttäuschter Ehemann und Vater, so formuliert Heschel, worin das “Pathos der Enttäuschung und der Eifersucht” ersichtlich werde. Auch hier werden die Gefühle Gottes als Reaktion auf menschliches Fehlverhalten verstanden, sodass Heschel es für möglich hält, dass Gott tatsächlich durch das Verhalten des Menschen beeinflusst werden kann. Bei Jesaja entdeckt Heschel schwerpunktmäßig das Pathos der Enttäuschung und Müdigkeit infolge des sündhaften und treulosen Volkes vor.636 Eifer oder Eifersucht (hebr. “)”קנאה, gepaart mit Zorn, Vaterliebe und Erbarmen, komplettieren das Bild, wobei Heschel betont, dass bei Jesaja vielmehr die Folgen bzw. Wirkung des Pathos im Fokus stünden anstatt der Motive.637 Der Tag des Herrn als Vergeltungsschlag stehe zeitnah an, und zwar durch die “historischen Mächte als Werkzeuge Gottes”.638 Als letzten Propheten in dieser Reihe erwähnt Heschel Jeremia, bei dem “der Pathoscharakter vollständiger, reiner und reicher als in den Reden der anderen Propheten”639 zutage trete. Die Entfremdung des Volkes werde deutlich am Bild des treuen Vaters, dessen Schmerz in Zorn aufgrund von Götzendienst des Volkes umgewandelt werde. Besonders anhand von Jeremia beobachtet Heschel, dass es sich bei dem göttlichen Pathos um einen willensmäßigen Gemütszustand handelt und keine Wesenseigenschaft Gottes;640 damit bleibt er ganz in der Spur seiner zweiten Vorarbeit, in der er bereits die Frage nach der Ontologie Gottes abgelehnt hat (und ebenfalls in dieser Arbeit mehrfach tut), aber ganz in der Spur auch Bonhoeffers argumentiert.641 2.4.3.5 Prophetische Sympathie und pathetische Theologie Das dialogische Element der Gedichte konkretisiert sich im Gegenüber des göttlichen Pathos und der so genannten “prophetischen Sympathie” aufseiten des Menschen und damit der “Frage nach der Beziehung des Propheten zu diesem Gegenstand”642 der göttlichen Offenbarung. Heschel benennt dies als “Mitgenomwith God and a forge a meaningful relationship with the Creator through consciously working towards tikkun olam.” 635 Heschel: Die Prophetie, 60. 636 Vgl. ebd., 63. 637 Vgl. ebd., 63. 638 Ebd., 64. 639 Ebd., 65. 640 Vgl. ebd., 66. 641 So auch Kavka: “Meaning”, 127. 642 Heschel: Die Prophetie, 68.
2.4 Relationalität und Bibel beim jungen Heschel | 117
menheit, ein Gleichgefühl, […] das menschliche Korrelat der göttlichen Offenbarung”643 und nutzt so implizit Schelers Gedanken interpersonaler Philosophie des Fremdverstehens für die Gott-Prophet-Beziehung. Scheler kennt vier aufeinander aufbauende Gefühle des Fremdverstehens: Einsfühlung, Nachfühlen, Mitfühlen und geistige Liebe.644 Mit “Einsfühlung” bezeichnet er das konstitutive Fundament jeglicher Erfassung des lebendigen Gegenübers.645 Grundlage des Menschen für das Nach- oder gar Mitfühlen ist eine echte Teilnahme am Gefühlsleben des Anderen. Es können laut Scheler sogar neue und fremde Gefühle nachempfunden werden – aufgrund des Fundus an vorhandenen Gefühlen –, um “unser Leben zu erweitern und uns über die Enge unseres realen Erlebens hinauszuführen”,646 was Scheler als “Offenbarung” bezeichnet.647 Aber nicht nur das direkte Nach- und Mitfühlen ist ihm zufolge möglich, sondern sogar ein Ablösen der Gefühle von ihrer konkreten Erfahrung, um die Gefühle des Anderen zu verstehen – freilich nicht rein rational.648 Dies spitzt sich im “Wesen des Fremdleidens”649 zu, was Heschel für sein Verständnis von prophetischer Sympathie aufgreift. Denn der Prophet kann an dem Gefühlsleben Gottes teilnehmen; ihm wird dieses Gefühlsleben “offenbart”, wie Scheler es nennt, sodass der Prophet versteht, ohne die konkrete Erfahrung bzw. Perspektive Gottes direkt erlebt zu haben. Dadurch vollzieht sich im Propheten eine Art Perspektivwechsel, die von Scheler mit “Gesinnungswandel” oder “Herzenswandel” im Sinne einer Umkehrung/Bekehrung verstanden wird.650 Bei Amos entdeckt Heschel dadurch die Differenzierung von Eingebung des Pathos und Erlebnis der Sympathie; einen gewissen Druck auf den Propheten zur Parteinahme für Gott kann er dabei (wieder) nicht verheimlichen.651 Die prophetische Sympathie findet Heschel deutlich auch bei Hosea vor, der auf Geheiß Gottes eine Ehe mit der unzüchtigen Gomer eingeht, um das Gefühl der Apostasie des Volkes Israel wirklich nachempfinden zu können.652 Jesaja solidarisiert sich 643 Heschel: Die Prophetie, 70. 644 Nach Sander: Scheler, 82. 645 Vgl. ebd., 82. 646 Scheler: Wesen, 60. 647 Vgl. auch Sander: Scheler, 83. 648 Vgl. ebd., 84. 649 Scheler: Wesen, 71. 650 Vgl. ebd., 70. Zwei Arten von Sympathie entdeckt Britton: Heschel, 161, darum bei Heschel: “the first type is a joint feeling with others; the second type is a feeling for others.” So auch Held: Heschel, 159f.. 651 Vgl. Heschel: Die Prophetie, 74; s. auch Erlewine: “Reclaiming”, 192. 652 Vgl. Heschel: Die Prophetie, 82.
118 | 2 Weichenstellung zu relationalem Denken: Die akademische Frühphase laut Heschel mit dem göttlichen Pathos der Enttäuschung und Müdigkeit, worin die Parteinahme für Gott erkenntlich wird.653 Und auch Jeremia versteht Heschel als ein besonderes Beispiel sowohl von innerer Auseinandersetzung mit dem göttlichen Pathos als auch von dem “völlige[n] Ergriffensein” 654 der Sympathie, was insbesondere den Zorn Gottes betrifft, den der Prophet immer wieder (bewusst) mitfühlt und zu dem er sich zeitweise genötigt fühlt.655 Damit bestätigt sich der Verdacht aus den beiden Vorarbeiten, dass die Freiheit der Propheten durchaus eingeschränkt ist, auch wenn – anders als bei Rosenzweig und Bonhoeffer – sie keine Marionetten Gottes sind. Dass sich das Phänomen des göttlichen Pathos aber auch mit philosophischem Denken vereinbaren lässt, will Heschel unter Hinzunahme aristotelischer Philosophie deutlich machen: Im Offenbarungsereignis entdeckt er zwei Momente, einen Anfang und einen Verlauf (bzw. eine Wende und ein Ziel), Potentialität und Aktualität, wobei er zugleich von “Wendung” und “Richtung” spricht.656 Auch wenn sich laut Heschel das eine nicht von dem anderen extrahieren lässt, weil er es als einen fließenden Übergang versteht, kann er immerhin die Bedeutsamkeit der Wendung aufseiten des Senders verorten, die der Richtung aufseiten des Empfängers. Gleichsam – und vielleicht noch wichtiger – leitet Heschel daraus die Möglichkeit ab, von der Richtung auf die Wendung schließen zu können, die er als Startpunkt immer gewollt-initiativ darlegt.657 Heschel nennt die Wendung nichts weniger als “Ekstase” (s. o.) Gottes, ein Ereignis göttlicher Gabe und ein mittelbar Werden des Göttlichen im “Wortgeben” als “Für-den-MenschenWerden”.658 Besonders mit letzterem Ausdruck zeigt er deutlich, dass auch Heschel (wie Bonhoeffer) in kritischer Auseinandersetzung mit Heideggers Sein und
653 Vgl. Heschel: Die Prophetie, 84–86. 654 Ebd., 87. 655 Vgl. ebd., 88f. u. 92ff. Ohne dass Heschel es zu diesem frühen Zeitpunkt bereits thematisieren würde, legt er mit der Anteilnahme des Propheten an Gottes Offenbarung bereits den Grundstein nicht nur für die menschliche Färbung der Prophetie, sondern letztlich auch der Torah, wie er es in God in Search of Man und in Heavenly Torah entfalten wird. Heschel entpuppt sich damit schon hier als ein moderner Vertreter einer so genannten partizipatorischen Theologie (engl. “participatory theology”), wo “the wording in the Pentateuch is a joint effort involving heavenly and earthly contributions; or the wording may be entirely human response to God’s real but nonverbal revelation” (Sommer: Revelation, 2). Sie wird er im Gegensatz zum stenographischen Modell ausformulieren, nach dem “all words of the Pentateuch are God’s” (2), was nichts anderes darstellt als das Resultat relationalen Denkens. 656 Vgl. Heschel: Die Prophetie, 102f. 657 Vgl. ebd., 104f. 658 Ebd., 106.
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Zeit versucht, eine existentialistische Ontologie herzuleiten.659 Im Gegensatz zur unmittelbaren “Entladung einer Immanenz”660 bleibt der Gott Israels aber natürlich “wesensmäßig der Unoffenbarte”,661 wie er bereits in der zweiten Vorarbeit deutlich gemacht hat. Vielmehr geht es ihm um die Beziehung zweier distinkter Entitäten, die durch das Wort mittelbar in Kontakt treten, initiiert durch Gott. Darum greift Heschel die bereits bekannte Unterscheidung zwischen der Wendung Gottes zum Menschen als “anthropotropisch” und dessen Gegenstück vom Menschen zu Gott als “theotropisch” zurück.662 Auch wenn er beiden Typen sowohl biblische Literatur – Psalmen vs. Propheten – als auch Haupterlebnisträger – Prophet vs. Priester – zuweisen kann, wirft er dem Priester als theotropischem Archetypus extremer als zuvor Weltabgewandtheit und ethischen Indifferentismus vor.663 Heschel zufolge ist er geradezu verantwortlich für die Theodizeeproblematik, während der anthropotropische Typus sich durch die Prädikate “Mut statt Demut; Handeln statt Dulden; Wille statt Wunsch; Forderung statt Sehnsucht”664 auszeichnet. Er wolle lediglich Gott “haben”, so Heschel, womit er den Bogen zu Baecks ethischem Monotheismus schließt, bei dem der Prophet v. a. in seiner Sittlichkeit wahrgenommen wird, wie in der ersten Studienarbeit gesehen. Dennoch kennt (und schätzt) Heschel neben dem anthropotropischen Typus eine Art Mischform der Gotteserkenntnis, die er als “deutende Betrachtung der Umwelt”665 beschreibt und gleichsam als “Verstehen Gottes durch seinen Ausdruck”666 interpretiert – nichts anderes als eine Vorwegnahme der später thematisierten Relationalität zur Welt aus der Beziehung zu Gott selbst. Heschel hält den Geist Gottes zur Auslegung (um)weltlicher Zusammenhänge im Kontrast zur
659 Ähnlich zu Heideggers Vorlesung über Phänomenologie und Theologie betont Heschel auch “for the fullness of religion to be grasped and appreciated, one must first attend carefully to its pretheological origins”, wie Britton: Heschel, 45, zeigt. Heschels offensichtliche Auseinandersetzung mit Heidegger wird jedoch erst in Who is Man? besonders evident, wie Perlman: Eclipse, gezeigt hat. 660 Heschel: Die Prophetie, 109; Heschel begründet dies mithilfe von Mana–Erlebnissen primitiver Völker. 661 Ebd., 107. 662 Vgl. ebd., 114. 663 Vgl. ebd., 118f. 664 Ebd., 119. 665 Ebd., 128. 666 Ebd., 128.
120 | 2 Weichenstellung zu relationalem Denken: Die akademische Frühphase via eminentiae für nötig (vgl. auch Ps 33, 5 u. ä.).667 Deshalb spricht er sich erneut gegen “Erkenntnis” Gottes aus, die nur nach dem Wesen Gottes und – Heschel benutzt nun den existentialistischen Begriff – nach Seinem Dasein fragt,668 was ja bereits an seiner Methode liegt.669 Statt Apathie Gottes – oder sogar “Allgemeinheit, Übernatürlichkeit und Allmacht” –, wie Heschel dies im Taoismus, Aristotelismus und Islam vorfindet, betont er immer wieder Gottes emotionale Auseinandersetzung mit der menschlichen Geschichte, “daß er die Welt erlebt und nicht eindruckslos regiert.”670 Auch wenn Gottes Wille frei bleibt – Heschel nennt dies “Okkasionalität” und stellt sie mithilfe der “Subjektivität Gottes” apathischer Kausalität entgegen –, hebt er Gottes “transzendente Aufmerksamkeit”671 hervor, die in seiner kontinuierlichen “Pathosbereitschaft” der Welt zugewandt ist und sich im Ereignis des Pathos aktualisiert.672 Hierin liegt also bereits die Grundlage für Heschels Drang nach Gerechtigkeit in seiner Spätphase.673 Dementsprechend erlebt sich der Prophet laut Heschel als Objekt des göttlichen Subjekts, einerseits im “gewaltsame[n] Hineingestelltsein” in das göttliche Pathos – wie Heschel bereits am Anfang seiner Untersuchung dargelegt hat –,674 andererseits in der “Geborgenheit im Bewußtsein Gottes”.675 2.4.3.6 Religion der Sympathie Seine Untersuchung abschließend, fragt Heschel nach dem subjektiven Verhalten gegenüber der göttlichen Offenbarung, was er wissenschaftlich in der religiö-
667 Vgl. Heschel: Die Prophetie, 127. 668 Vgl. ebd., 130. 669 So auch Britton: Heschel, 93 (s. auch 278): “Through Verstehen, one does not merely acquire rational concepts about the nature of God; one becomes open to the presence of God and to the possibility of a divine-human relationship.” Es geht ihm also auch hier um das Phainomenon Gottes, nicht das Noumenon (s. o.). 670 Heschel: Die Prophetie, 131; vgl. 138–158. Even-Chens Urteil (vgl. Fußnote 576) trifft somit auch auf die Dissertation zu. 671 Ebd., 163. 672 Vgl. ebd., 164f. 673 Held: Heschel, 161 (vgl. auch 190f.), urteilt darum: “[I]n the prophetic conception of the world, there can be no relationship with God devoid of, or divorced from, a passion for justice.” 674 Burrows: “Die Prophetie”, 398f., kritisiert zurecht an Heschels Die Prophetie einige Redundanzen, von denen es dieser eine Aspekt stellvertretend deutlich macht. 675 Heschel: Die Prophetie, 164. Dies unterstreicht laut Heschel die gebietende, gebende (nicht nehmende) Subjektivität Gottes (vgl. 165).
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sen Anthropologie verortet.676 Er denkt an eine relationale “Religion der Sympathie”, die er einem “praktisch vollziehbare[n] Ritus”677 entgegenstellt und somit sachlich dieselbe Kritik übt wie Bonhoeffer, der sich gerade gegen “Religion” ausspricht.678 Diese unio sympathetica, für die Heschel wiederum auf Scheler zurückgreift, richtet sich explizit gegen den Neukantianismus und jeglichen Historismus.679 Denn “Sympathie” ist auf die Gegenwart gerichtet, dreht sich somit um die aktuelle Situation und entspringt klar der Relationalität zu Gott.680 Heschel will konsequent eine theozentrische Perspektive hervorheben, wie gerade gesehen:681 “Jedes Gotterfassen ist ein Von-Gott-Erfaßtwerden, jedes Gottschauen ein Geschautwerden”,682 womit auch Heschel – wie Bonhoeffer in fast demselben Vokabular des erkannt Werdens – Gottes Personalität hervorhebt.683 Darum sind die Propheten seiner Darstellung nach auch weder Volks- noch Fürstenvertreter, sondern Gottes Vertreter.684
676 Vgl. Heschel: Die Prophetie, 166. 677 Ebd., 167. 678 Heschel konnotiert den Begriff “Religion” hier und auch später noch genau andersherum als Bonhoeffer (anfangs mit Barth), der Religion gerade aufseiten des Ritus und menschlicher Bestrebungen der Offenbarung entgegenstellt. Inhaltlich meinen sie aber dasselbe, denn Heschel kann deshalb ohne Weiteres von einem “Dialogcharakter” der Religion in einer “Art von Zwiesprache” (beides ebd., 168) reden, bei der die Sympathie als “Ausfluß einer Übereinstimmung und Gleichförmigkeit des göttlichen und menschlichen Pathos” (169) gekennzeichnet ist. Denn “Gott und Menschen stehen sich nicht in ihrer Wesensverschiedenheit gegenüber, sondern begegnen einander” (169). 679 Vgl. ebd., 171; 178f. Als einer der wenigen thematisiert auch Britton: Heschel, 94ff., bes. 96, den schelerschen Einfluss auf Heschels pathetische Theologie, den selbst Perlman: Idea nicht registriert. 680 Vgl. Heschel: Die Prophetie, 179 u. Erlewine: “Reclaiming”, 205, der auf die “radical religious significance of the present” hinweist; Sympathie grenzt Heschel unter anderem auch gegen “Imitatio” ab, wie er sie im Christentum vorfindet, weil sie nur auf vergangene Taten (Christi) gerichtet seien und “Erfüllung in sich” trügen. 681 Kaplan: Holiness, 134, spricht darum von Heschels “lifetime commitment to a theocentric vision”. So ist auch das Gewissen nicht als Quelle von Prophetie zulässig, ebenso wenig das schleiermachersche Gefühl; vgl. Heschel: Die Prophetie, 170–174. 682 Ebd., 182. 683 Darum ist auch das Pathos eine “emotionale Stellungnahme” und “relative, auf die Menschen ausgerichtete Zuständigkeit” (beides ebd., 177). 684 Vgl. ebd., 174.
122 | 2 Weichenstellung zu relationalem Denken: Die akademische Frühphase 2.4.4 Maimonides und prophetische Sukzession (1934–1937) An die Ordination im Juli 1934 durch die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums schließt sich zunächst eine Phase freier Tätigkeiten an, die Heschel auch zur Abfassung einer popularwissenschaftlichen Biographie über den jüdischen Religionsphilosophen Maimonides (Moshe ben Maimon, gest. 1204) nutzt, beauftragt durch Erich Reiss zum 800. Geburtstag von Maimonides.685 Drei Punkte der Biographie sind für diesen Zusammenhang von besonderem Interesse: Erstens wirkt Maimonides auf der spanischen Halbinsel, sprich im mittelalterlichen Schmelztiegel zwischen Judentum, Christentum und Islam bei aristotelisch-philosophischer Renaissance. Nicht nur dürfte er darin Vorbild für Heschels späteres interreligiöses Engagement sein, sondern auch Heschels Beurteilung der aristotelisch-apathischen Theo-Philosophie prägen, von der er sich immer wieder distanziert. Zweitens betont Heschel darum mit Maimonides nicht nur die Superiorität der Propheten gegenüber dem “Wissen des hochverehrten Aristoteles” aufgrund ihrer “göttliche[n] Erleuchtung”,686 sondern auch die Möglichkeit der prophetischen Erleuchtung nach Abschluss des biblischen Kanons.687 Er hält es also immer noch für möglich, dass Gott durch Menschen auf ganz besondere Art und Weise redet,688 was methodisch durch die Phänomenologie und den damit verbundenen Sympathie-Gedanken möglich wird, den Heschel v. a. in seiner Mittelphase auf die Allgemeingültigkeit jenseits ausgewählter Propheten übertragen wird.689
685 Vgl. Kaplan und Dresner: Witness, 198; 202; vgl. Heschel: Maimonides. 686 Beides ebd., 28. 687 Vgl. ebd., 28ff. 688 Dass Heschel grundsätzlich und auf allgemeiner Ebene des Judentums das prophetische Reden, also den Anthropotropismus, vermisst, hat er bereits im Zuge seiner ersten Vorarbeit zur Dissertation deutlich gemacht. 689 Die Phänomenologie (des Propheten/des Gebets) als Grundlage anhaltender prophetischer Erleuchtung betont auch Kavka: “Meaning”, 124. Dass er als Vertreter einer partizipatorischen Theologie damit aber nicht in eine grundsätzliche Auflösung des biblischen Kanons verfallen wird, sodass alles Reden Gottes innerhalb der jüdischen Tradition gleichermaßen wichtig würde – wie Sommer: Revelation, 4; 147; 213; 217 u.a., es auch im Zusammenhang mit Heschel entfaltet hat –, hängt insbesondere damit zusammen, dass er das ab der Mittelphase thematisierte Sinai-Erlebnis und die damit verbundene Gabe der Torah im Gegensatz zu den anderen Vertretern dieser Richtung doch als ein fixes historisches Ereignis versteht: “The core of participatory theory of revelation is the realization that all Torah, ancient, medieval, and modern, is a response to the event at Sinai” (241). Dies fungiert bei Heschel in ähnlicher Weise als Anker wie bei Bonhoeffer die Inkarnation Christi.
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Und drittens fließen bei Maimonides speziell in dessen letzter Lebensphase Theorie und Praxis zusammen, nachdem er sich zuvor verschärft auf die Kontemplation konzentriert hat.690 Ebendiese Tendenz hin zum prophetischen Aktivismus nach intensiver intellektueller und spiritueller Auseinandersetzung werden wir auch bei Heschel feststellen. Die Biographie über Maimonides ist somit ein Paradebeispiel für Heschels erst in der Mittelphase explizit thematisiertes “situatives Denken”, durch das die eigene Situation des Lesers mit in die Analyse des Textes hineingetragen wird.691 Dementsprechend findet man bereits in der Berliner Zeit erste prophetisch mahnende Worte Heschels. So bezeichnet er 1936 das deutsche Judentum als “Marranen von Heute”, charakterisiert durch “Jüdisches als Äußerlichkeit”, doch “Marranen verschiedenen Grades […]. Solche Opfer der Unaufrichtigkeit können – wie die historische Erfahrung lehrt – tragisch werden.”692 Nur Umkehr und Aufklärung über Umkehr können Heschel zufolge dabei helfen, denn “[u]m die Einsetzung Gottes zum König in uns geht es in diesen Tagen.”693 Schon früh lässt sich darin erkennen, dass Heschel zwar Gottes Göttlichkeit als “absolute, durch sich selbst bestehende Realität” versteht, das Königsein Gottes aber “nur in einem Verhältnis bestehen”694 kann. Drastisch formuliert: Es “hängt die Königswürde Gottes von uns ab”.695 Spätestens seit dieser Zeit sieht er es darum als seine Aufgabe an, “die Erkenntnisse Osteuropas” “anhand „klassische[r] Themen der mystischen und religiösen Tradition des Judentums in einer für Juden und Christen – gläubig oder nicht gläubig – verständlichen Sprache zu behandeln”.696
690 Vgl. Heschel: Maimonides, 274; die erste Wandlung verortet Heschel infolge des Todes von Maimonides Bruder David, was v. a. ethische Konsequenzen hat; vgl. ebd., 140–156. 691 Gut auf den Punkt bringt es Britton: Heschel, 95: “The study of Maimonides, while evoking the historical period of his life and providing the essential details, is most notable for its examinations of the philosopher’s thinking process – another example of ‘situational thinking’.” 692 Heschel: “Marranen”, 2; vgl. auch ders.: Grandeur, 70 (“The Meaning of Repentance”, 1936) u. Kaplan und Dresner: Witness, 239. 693 Heschel: “Marranen”, 2. 694 Beides ebd., 2. 695 ebd., 2. Darin fühlt sich Even-Chen: “Omnipresence”, 48, zurecht in seinem vormaligen Urteil zur Nicht-Allmächtigkeit Gottes (vgl. Fußnote 576) bestätigt. Denn “[t]his is also a source of weakness: God’s rule is dependent on human recognition.” S. auch Even-Chen und Meir: Between, 63: “Heschel alludes to the immense power held by man.” 696 Dolna: Gegenwart, 43.
124 | 2 Weichenstellung zu relationalem Denken: Die akademische Frühphase 2.4.5 Interim in Frankfurt (1937–1938) Die Leidenschaft für ein lebendiges Judentum ist es auch, die Heschel 1937 an das Freie Jüdische Lehrhaus nach Frankfurt führt, das von Rosenzweig und Buber 1920 gegründet worden ist. Ursprünglich 1919 als Freie jüdische Volkshochschule initiiert,697 dient es zu jener Zeit als wohl bekannteste Institution jüdischen Lernens. Mittels Rückbesinnung auf die geistigen Stärken des Judentums will man Widerstand gegen den seit Ende des 19. Jahrhunderts entstehenden Antisemitismus698 leisten, was Buber bereits um die Wende zum 20. Jahrhundert hin als “jüdische Renaissance” bezeichnet hat.699 Dort, im Freien Jüdischen Lehrhaus, wird deshalb auf Rosenzweigs Initiative zum “neuen Lernen” und “neuen Denken” hin ein Erinnern praktiziert – durch gemeinschaftlich-dialogische Auseinandersetzung mit traditionell-jüdischen Texten.700 Im Zuge von Rosenzweigs Erkrankung und letztendlichem Tode 1929 lässt Buber mehr und mehr sein eigenes dialogisches Denken in die praktische Pädagogik mit einfließen.701 Der pädagogische Ansatz Bubers bleibt aber nicht allein in Frankfurt, sondern manifestiert sich in zahlreichen jüdischen Lehrhäusern. So auch in Berlin, wo Heschel 1935 zum ersten Mal doziert und nach dem akademischen Jahr 1929/30 erneut auf Buber trifft, was im März 1937 in Heschels Anstellung als spiritus rector des Frankfurter Lehrhauses mündet – ein nächster Schritt Heschels hin zu “seiner” jüdischen Renaissance, um die weitgehend assimilierte Judenschaft von innen her zum geistig-geistlichen Widerstand gegen das natio-
697 Vgl. Kaplan und Dresner: Witness, 209. 698 Der moderne “Antisemitismus”, der sich von dem älteren religiösen “Antijudaismus” durch seinen “rassisch gearteten Judenhass[es]” unterscheidet, entsteht erst Ende des 19. Jahrhunderts; vgl. Brenner: Geschichte, 243 u. Wiese: Wissenschaft, 28–35. 699 Vgl. den gleichnamigen Artikel in Buber: Schriften 3, 143–147; s. auch Brenner: Geschichte, 289. 700 Vgl. Rosenzweig: “Lernen”; ders.: “Denken”; s. auch Müller-Commichau: Identitätslernen, 50ff. u. Sommer: Revelation, 180–182. Zu Rosenzweig und dem Freien jüdischen Lehrhaus s. auch Meir: Dialogical Thought, 69–78. 701 Auf seinem dialogphilosophisch ausgerichteten hebräischen Humanismus fußend, entfaltet Buber Erziehung als die “gewußte und gewollte […] Auslese der wirkenden Welt durch den Menschen” (Buber: Erziehung, 24), in dem die Umkehrung des Machtwillens entscheidende Bedeutung besitzt, um aus dieser Bindung heraus in Freiheit – Freiheit als “Verbundenwerdenkönnen” (27) –, Verantwortung, Vielheit, Vielfältigkeit und Individualität zu führen. Interessanterweise gleicht Bubers Freiheitsverständnis der Bindung an den Nächsten praktisch dem Freiheitsverständnis Bonhoeffers.
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nalsozialistische Regime und später gegen den amerikanischen Materialismus zuzurüsten.702 Dieser Frankfurter Zeit entspringen auch erste wissenschaftliche Abhandlungen, die sich allesamt streng philosophisch mit dem mittelalterlich-jüdischen Aristoteliker Salomo ibn Gabirol (ca. 1021–1057) beschäftigen.703 Sie alle legen in Nähe zu Maimonides die Synthese von jüdischer Theologie mit aristotelischer Ontologie dar und zeigen, dass sich Heschel auch in diesen akademischphilosophischen Kreisen bewegen kann, was schließlich auch nicht unwichtig für seine spätere Berufung an das Jewish Theological Seminary in New York ist. Die Auseinandersetzung mit mittelalterlicher Ontologie hilft ihm zudem in späteren Werken bei seiner Kritik aus relationaler Perspektive.704
2.4.6 Don Jizchak Abravanel (1937) Es sind überwiegend popularwissenschaftliche Biographien, mit denen Heschel sich in jener Zeit einen Namen macht und die auch sein eigenes Denken prägen. Denn “[a]s a writer, he considered life stories to be theology in action, models of situational thinking.”705 Und so entsteht nach dem Werk über Maimonides Heschels zweite popularwissenschaftliche Biographie, diesmal über Don Jizchak Ab-
702 Vgl. Kaplan und Dresner: Witness, 178; 209; 245f. Damit verbunden ist außerdem Heschels Leitung der Mittelstelle für jüdische Erwachsenenbildung bei der Reichsvertretung der Juden in Deutschland. Susannah Heschel zufolge erfolgt die erste Anfrage Bubers im November 1936; so auch Kaplan: “Sacred”, 219. Dies mündet schließlich in Heschels Umzug nach Frankfurt am 03.03.1937; vgl. Heschel: Grandeur, xv. Laut Arbeitsbuch Nr. 202/307341 des Arbeitsamtes Frankfurt (Vgl. ders.: Papers, 19/3) wird er offiziell als wissenschaftlicher Mitarbeit angestellt. 703 Allen voran schreibt Heschel über den “Begriff des Seins in der Philosophie Gabirols”, dann über den “Begriff der Einheit in der Philosophie Gabirols” und schließlich über “Das Wesen der Dinge nach der Lehre Gabirols”, was bereits durch die Verbindung zum Hebrew Union College in ihrem Annual 1939 veröffentlicht wird; vgl. dazu insgesamt auch Kaplan und Dresner: Witness, 258f. 704 Sachlich trifft damit im Blick auf Heschels eigene spätere Werke das Urteil zu (ebd., 259), dass “[b]y 1938, however, metaphysics (medieval or modern) was not Heschel’s essential concern, nor was building an academic career […].” Denn bereits mit seinem in Die Prophetie eingeschlagenen Weg über das prophetische Bewusstsein, den immer wieder auftauchenden Abgrenzungen gegenüber griechischem Denken ebendieser aristotelischen Prägung und insbesondere mit seiner immer stärkeren Fokussierung auf die relationale fides qua creditur – das, was er ab der Mittelphase als “Tiefentheologie” bezeichnen wird – grenzt Heschel sich geradezu bewusst ab von der fides quae creditur, die aus ebendieser aristotelischen Prägung resultiert. 705 Ebd., 252.
126 | 2 Weichenstellung zu relationalem Denken: Die akademische Frühphase ravanel (1437–1509), einen wiederum mittelalterlichen, spanisch-jüdischen Philosophen, was im Lichte gerade erwähnter Kritik am aristotelischen Einfluss zunächst merkwürdig erscheint.706 Denn auch Abravanel verknüpft als Kind seiner Zeit und seines Kontextes die jüdische Tradition mit den Vorzügen philosophischen Denkens, die ihn zur Ehrfurcht gegenüber Christen führt.707 Zwar befähigt ihn dies zu einer umfassenden Bildung, jedoch erkennt er Heschel zufolge ebenfalls – wie Maimonides –, dass die unmittelbare Gemeinschaft mit Gott als das größte Wunder nicht durch philosophische Spekulation, sondern durch göttliche Gnade entsteht.708 Überdies lässt Abravanel die aristotelisch-philosophische Tradition nicht unkritisiert, pocht (gegen Aristoteles’ Ewigkeitsverständnis der Welt) auf die Kontingenz der Schöpfung (creatio ex nihilo) und die Handlungsmöglichkeit Gottes in der Welt (creatio continua),709 was inhaltliche Parallelen zu Heschels Neukantianismus-Kritik aufweist. Der philosophische Einfluss lässt sich bei Abravanel aber natürlich nicht leugnen, wenn Heschel eine Emanation zwischen Geist und Materie ausfindig macht.710 Trotzdem interessiert Abravanel (im Gegensatz zu Maimonides wohl, so Heschel) ganz besonders die Zukunft des Kollektivs Israels, die er gerade nicht in emanatorischer Sicht versteht, sondern “in konkreter Diesseitsgegebenheit […]. Nicht die mystische Seligkeit in Gott oder in dem von Gott ausgestrahlten ‘aktiven Intellekt’, sondern die historische Umformung der Menschheit ist das, was ihn vor allem bewegt”.711 Zwar sieht Heschel Abravanel nicht als Prophetentypus, aber als Forscher mit “minutiöse[r] Analyse”,712 dessen Hermeneutik Heschel in situativ denkerischer Manier lobt, weil er die historische Methode in die Bibelexegese eingeführt habe. Darum versteht er ihn als den erste[n] Humanist[en] des Judentums. Ihn [Abravanel; Anm. von P. M.] interessiert nicht nur der biblische Text, sondern auch das biblische Zeitalter. Er besitzt den unerschütterlichen Glauben an die gleiche Offenbarungsquelle der biblischen Bücher, aber auch den sicheren
706 In beiden Fällen darf natürlich nicht vergessen werden, dass sie Auftragsarbeiten sind und Heschels Motivation auch pekuniärer Natur ist. 707 Vgl. Heschel: Abravanel, 6; 15; 28. 708 Vgl. ebd., 15f. (Herv. auch bei Heschel). 709 Vgl. ebd., 17–19. 710 Vgl. ebd., 20f. 711 Ebd., 29. 712 Ebd., 23. Dementsprechend deutet Abravanel die Unterdrückung der Juden als Anzeichen messianischer Zeiten, infolge dessen er Berechnungen über die Ankunft des Messias anhand der Hebräischen Bibel anstellt; vgl. ebd., 24.
2.4 Relationalität und Bibel beim jungen Heschel | 127
Blick für die Ungleichartigkeit in Stil und Aufbau. […] Abravanel ist der wahre Begründer der Wissenschaft des Judentums […].713
Nichts weniger als exakt diese Spannung zwischen unerschütterlichem Glauben an das Wirken Gottes bei gleichzeitigem Wissen um die historische Entstehung der biblischen Schrift ist bereits aus Heschels Umgang mit den biblischen Propheten hervorgegangen und zieht sich durch die späteren Phasen. Und auch die Priorisierung der Hebräischen Bibel gegenüber dem Talmud,714 die er dem Leser mit dieser Biographie wahrlich vermitteln möchte, wird dabei deutlich. Leider muss Heschel aber feststellen, dass der Einfluss Abravanels auf die jüdische Tradition nur sehr eingeschränkt stattgefunden hat. So auch die spätere Formel “some are guilty, but all are responsible”, die vermutlich in dieser Arbeit Heschels zum ersten Mal angedeutet wird, wenn es da heißt: “Durch die Einzelnen hat das Volk Teil an der Schuld, durch das Volk nehmen die Einzelnen Teil an der Huld.”715 2.4.7 Erste Schritte zur prophetisch-spirituellen Mission (1938) Heschels Wunsch, “to establish piety as the foundation of a living Judaism”,716 schlägt sich aber nicht allein in seiner Tätigkeit am Freien Jüdischen Lehrhaus und in den Veröffentlichungen nieder. Vielmehr sucht er auch aktiv nach Verbündeten, um in der westlichen Welt das zu praktizieren und zu implementieren, was mit der hebräischen “( ”חסידותdt. “Frömmigkeit”) gemeint ist – als Essenz seiner eigenen Tradition gewissermaßen. Fündig wird Heschel aber gerade nicht (so sehr) innerhalb seiner eigenen Religion, sondern knüpft zu jener Zeit eine Verbindung zu den Frankfurter Quäkern und besonders zu dessen Leiter Rudolf Schlosser, initiiert durch Buber.717 Gerade diese Erfahrung prägt seinen späteren Dialog zum Christentum in positiver Weise. Heschels Rede “Versuch einer Deutung”718 vom Februar 1938 ist federführend und kommuniziert nicht nur im Geiste der biblischen Propheten, sondern legt bereits Grundlagen einer “systematology”719 , die Heschel schließlich mit Man is not alone und God in Search of Man in den USA fertigstellen wird. 713 Heschel: Abravanel, 25f. 714 Vgl. ebd., 29. 715 Vgl. ebd., 5. 716 Kaplan und Dresner: Witness, 259. 717 Vgl. ebd., 259. 718 Eine Mitschrift der deutschen Rede (durch Margarethe Lachmund) ist zu finden in Heschel: Papers, 271/5, 1962 publiziert in Lachmund, Hg.: Begegnung. 719 Kaplan und Dresner: Witness, 282.
128 | 2 Weichenstellung zu relationalem Denken: Die akademische Frühphase Aber was berechtigt nun Kaplan, Heschel an diesem Abend als einen prophetischen Zeugen zu bezeichnen?720 Im Gegensatz zu den bisherigen Arbeiten greift Heschel in seinem “Versuch einer Deutung” konkret “[d]ie Welt, in der wir leben”,721 auf und bringt sie mit biblischen Inhalten in Verbindung. Die Welt charakterisiert er als Trägerin vom “Wappen der Dämonen an ihrem Eingang”.722 Denn die Völker hätten ihre Sicheln zu Schwertern umgeschmiedet und die Winzermesser zu Speeren (wohl aus Jo 4,10) als “Umkehrung der prophetischen Worte”723 (der Völkerwallfahrt vom Zion, vgl. Jes 2), womit Heschel naheliegenderweise die nationalsozialistische Bedrohung im Sinn hat.724 Aus “den lebendigen Quellen [zu], denen wir das Wissen um die letzten Dinge verdanken”725 , entfaltet und rechtfertigt Heschel gegenüber den Zuhörern darum nicht nur seine Prophetologie mit ihren zwei Arten der Gotteserkenntnis, einerseits das anthropotropisch-Prophetische und andererseits die deutende Betrachung der Welt (“Weltschau”) als theotropische Mischform.726 Dabei beruft er sich, wie gerade gesehen, auf besagte Weltschau zur Deutung der nationalsozialistischen Bedrohung, wohinter sich nichts weniger als die Relationalität zur Welt verbirgt, die als “Kundgebung in ihrem echten, unverfälschten Sinn”727 verstanden werden muss. Heschel denkt darin wohl auch an echte Betroffenheit. Denn “[a]us den Vorgängen der Geschichte spricht der Geist Gottes, und unser Leben ist Umgang mit diesem Geist oder seine Verneinung”.728
720 Vgl. Kaplan und Dresner: Witness, 261; Palmisano: Beyond, 24, spricht vom “prophetic call”. 721 Heschel: Papers, 271/5, 1. Auch in den späteren Veröffentlichungen tauchen die nachfolgend aufgegriffenen Motive auf, sofern nicht explizit anders erläutert. 722 Ebd., 271/5, 1. 723 Ebd., 271/5, 1. 724 Zur Beschreibung der zunehmenden Sündhaftigkeit des Menschlichen Dafür benutzt er biblisch-anthropologische Bilder von der Gottebenbildlichkeit und dem Kainsmal an der Stirn, von denen Letzteres immer deutlicher hervortrete und drohe, Ersteres immer gründlicher zu verwischen; vgl. ebd., 271/5, 1. 725 Ebd., 271/5, 1. 726 Ebd., 271/5, 1: “Die Kundgebung durch das Wort an den Geist des Menschen und die Kundgebung durch die Geschichte an das Leben der Menschen. Die Profeten haben ihr Wissen entweder im Ereignis der Offenbarung empfangen oder in der Weltschau gewonnen.” 727 Ebd., 271/5, 2. 728 Ebd., 271/5, 2. Der Terminus “Weltschau” taucht im Englischen später nicht mehr auf, sondern geht faktisch in seiner natürlichen Theologie – s. God in Search of Man – auf, Gott (unter der Führung des Heiligen Geistes) in der Welt zu erkennen. Damit lehnt Heschel klar – hier wie anderswo – “Apotheose der Geschichte” ab.
2.4 Relationalität und Bibel beim jungen Heschel | 129
Anstatt die Schuld dafür bei anderen zu suchen, spricht Heschel vom Gericht über die Menschen des Glaubens durch Gott selbst.729 Denn Gott ist Heschel zufolge vergessen und im Tempel eingesperrt worden, weshalb der Gläubige den Namen Gottes und Sein Wort nicht mehr tragen darf.730 Ohne dass Heschel dies so sagt, wirkt es beinahe so, als ob er die Menschen des Glaubens mit den zuvor thematisierten “Marranen von heute” in Verbindung setzt.731 Denn lediglich wenn “der Name aus unserem Herzen hervorbricht wie ein Schrei”732 , ist es Heschel “[R]echt, Ihn bei Namen zu nennen”,733 womit er auf nichts anderes abzielt als auf die sogenannte “Kavanah”, die er seinen chassidischen Wurzeln entnimmt und zeitgleich anhand des Gebets phänomenologisch herleitet. Und so kann Heschel immerhin dadurch Trost ausdrücken, dass im Falle der Verbannung der Zuhörer (“wir alle”) Gott mit in die Verbannung zieht.734 Die zuvor in “Die Marranen von heute” gemachte Abhängigkeit Gottes vom Menschen (dort in Seiner Rolle als König) wird hier durch das Motiv von Gottes Exil erweitert.735 Abgesehen von ihrer unmittelbaren Wirkung auf die Zuhörer “recycelt” Heschel den Text mehrfach unter besonderer Berücksichtigung des jeweiligen Kontextes. Zwei frühe englische Versionen (von 1943 und nochmals leicht erweitert 1944)736 sind insofern interessant, da sie die wesentlich fortgeschrittene nationalsozialistische Tyrannei, den damit verbundenen längst ausgebrochenen Krieg
729 Vgl. Heschel: Papers, 271/5, 3. Dass es Gott selbst ist, der richtet, hat Heschel anfangs bereits anhand des Volkes Israel verdeutlicht, “die Worte aus dem Munde der Profeten oder die Strafe von den ‘Waffen des göttlichen Zorns’ ” (1) empfing. Und auch mit dem Besht rät er dazu, in der konkreten Bedrohung die Schuld bei sich selbst zu suchen und Buße zu tun (vgl. 2). 730 Vgl. ebd., 271/5, 3. 731 Zu den “Marranen von heute” vgl. 2.4.4. Allerdings bezeichnet ebd., 271/5, 2, die “Menschen des Glaubens” auch als “die Gemeinde derer, die IHM Treue halten”, was diesen Eindruck ein wenig entkräftet. 732 Ebd., 271/5, 3. 733 Ebd., 271/5, 3. 734 Kavka: “Meaning”, 113: “God is never actually absent from those who suffer but us with them in their exile and oppression.” 735 Vgl. auch Kaplan und Dresner: Witness, 261 u. Kaplan: “Sacred”, 221. 736 Zu den diversen Versionen vgl. auch ders.: Radical, 46 u. Kavka: “Meaning”, 116f. Teile werden außerdem 1951 in Man is not alone unter der Überschrift “The Hiding God”(Heschel: Man, 151ff.) integriert, bevor der Artikel 1955 in Man’s Quest for God als “The Meaning of this Hour” (ders.: Man’s Quest, 145–151) veröffentlicht wird. Diese Art der Veröffentlichung und Wiederveröffentlichung ist typisch für Heschel, der seine Manuskripte und Ideen wiederholt zu nutzen weiß, wodurch das eigentliche Quellenmaterial von Heschel insgesamt etwas überschaubarer wird.
130 | 2 Weichenstellung zu relationalem Denken: Die akademische Frühphase und den Völkermord der Juden (im besonderem Maße in Polen) mit einbeziehen und anprangern, weshalb sie unter dem Titel “The Meaning of this War”737 erscheinen. Der Grundtenor bleibt derselbe, jedoch spricht Heschel hier von “spiritual disaster”, denn “[t]he vision of the sacred has all but died in the soul of man.”738 Noch intensiver als zuvor macht er den Säkularisierungsprozess der westlichen Welt verantwortlich für die Katastrophe und pocht statt dessen auf den Stellenwert der drei Größen: Geist, Torah und Gott;739 “the perceived dominance of naturalism and Deweyan pragmatism in America at the time”740 stößt bei Heschel somit gleichermaßen auf Kritik. Bereits zu diesem frühen Zeitpunkt appelliert er daran, die Menschheit nicht mit Panzern und Flugzeugen retten zu wollen.741 Und so ruft Heschel (im Gegensatz zum Ende der Rede) dazu auf, Gott endlich wieder hineinzulassen – “into our banks and factories, into our Congress and clubs, into our homes and theaters”742 . Nur so könne der Mensch wieder menschlich werden und letztlich mithelfen, die Welt zu erlösen.743 So oder so zeigt die Rede respektive der Artikel damit die praktischen Ergebnisse von Heschels Dissertation, die ihn aufgrund des relationalen Denkens (und damit Handelns) nicht nur zur ernsthaften Begegnung mit dem biblischen Text bringt. Wichtige Themen wie die spätere Relationalität zur Welt und Begriffe wie “Tiefentheologie” und “preconceptual thinking” werden angeschnitten, die in die essentielle Vereinigung von Gotteserkenntnis mit Gebet und Spiritualität münden.744 Speziell für diesen Zusammenhang ist Heschels prophetisches Mahnen, das er aus seiner “Weltschau” ableitet. Denn sie taucht in der Form später nicht mehr auf, und auch der durch die Geschichte richtende Gott verliert an Bedeutung, wodurch dem Menschen eine unglaublich hohe Eigenverantwortung obliegt, wie schon mehrfach gesehen.745
737 Heschel: Grandeur, 209–212 (“The Meaning of This War”, 1944). 738 Beides ebd., 210 (“The Meaning of This War”, 1944). 739 Vgl. ebd., 211 (“The Meaning of This War”, 1944). 740 Kavka: “Meaning”, 113. 741 Vgl. Heschel: Grandeur, 211 (“The Meaning of This War”, 1944). 742 Ebd., 211 (“The Meaning of This War”, 1944). 743 Vgl. ebd., 211f. (“The Meaning of This War”, 1944). 744 Vgl. Kaplan und Dresner: Witness, 259–262. 745 Mit Even-Chen und Meir: Between, 63f.; Even-Chen: “Omnipresence”, 52, kommt deshalb zu dem Schluss: “If God’s might is responsible for the Holocaust, then this is a deity to be feared and avoided. I believe that this is a turning point in Heschel’s theology. The conception of God would have the ability to save his sons and would choose not to do so could undermine Heschel’s belief in Him. Heschel therefore begins to stress that God is not almighty and that man bears responsibility for this world.” Allerdings hat Heschel bereits vorher die Eigenverantwortung des Menschen
2.4 Relationalität und Bibel beim jungen Heschel | 131
2.4.8 Grundlagen einer Phänomenologie des Gebets (1938) Aber nicht nur für das Prophetische legt Heschel erste wichtige Grundsteine, die seine späteren Werke dominieren werden, sondern auch hinsichtlich des Gebets bzw. Spiritualität, die er hier als Grundlage seines jüdischen Denkens etabliert.746 So berichtet er seinem französischen Bekannten Henry Corbin schon 1938 von der Entwicklung einer Phänomenologie des Gebets,747 die sich einem Entwurf aus jener Zeit entnehmen lässt.748 Verbunden mit der Kritik am kantianischen Paradigma “transzendentaler Reflexion” bzw. der damit verbundenen praktischen Erfahrung, Erlebnisse immerzu im “Licht der Aehnlichkeit” zu bewerten, attestiert Heschel dem Menschen “eine Scheu, den Dingen ins Gesicht zu sehen”,749 was er auch als “Umweg” bezeichnet.750 Weil Heschel dasselbe Phänomen auch beim Beten feststellt, dies mit dem bereits bekannten Gespräch zu vergleichen,751 untersucht er mithilfe seiner Phänomenologie Redeformen und unterscheidet dementsprechend zwischen transitiver Anrede, reflektierender Selbstanrede (= Monolog) und intransitiver Rede. Letztere setzt ihm zufolge keine angesprochene Person voraus und besitzt “zuweilen mehr Emanationskraft und Resonanzweite”.752 Dementsprechend versteht er den Ursinn der Rede nicht in ihrem Fremdzweck, sondern in sich selbst, im Umgang mit den Worten, was auf den ersten Blick ein wenig befremdlich klingt, aber im Zuge seines Duktus einen Zweck hat.753
ausführlich thematisiert, sodass sie nicht als neuer Impuls aufgrund eines nun nicht mehr allmächtigen Gottes plötzlich in Erscheinung tritt. Zudem muss Even-Chen im Zusammenhang mit Heschels Auseinandersetzung mit der Staatengründung Israels (bes. Fußnote 662) eingestehen, dass Heschel (nunmehr erneut?) von dem Eingreifen Gottes in die Geschichte ausgeht. 746 So auch Kaplan und Dresner: Witness, 259: “In Frankfurt, Heschel defined his unique role: to establish piety as the foundation of a living Judaism.” 747 Auf dieser Phänomenologie des Gebets fußen die wichtigen Essays aus der ersten Zeit in Amerika. Zahlreiche Gedanken zum Gebet befinden sich außerdem im Nachlass, Heschel: Papers, 197/3. 748 Vgl. ebd., 152/1. 749 Beides ebd., 152/1, 1. 750 Die Ursache für diese Denkhaltung des “Umwegs” kann Heschel nicht eruieren – vielleicht ein “tragische[r] Abfall vom sehenden Denken” (ebd., 152/1, 1), was nach einer Anspielung auf “den” Sündenfall oder eine Entwicklung klingt. 751 Vgl. ebd., 152/1, 2. 752 Ebd., 152/1, 3. 753 Vgl. ebd., 152/1, 3f.
132 | 2 Weichenstellung zu relationalem Denken: Die akademische Frühphase Denn Heschel zufolge haben genau “[z]wei Erscheinungen […] aus den Beziehungen der Menschen zu den Worten”754 die von ihm avisierte Sachlage erhalten, das Dichten und das Beten. Mithilfe seines phänomenologischen Zugangs sucht er dies darzulegen, indem er erläutert, dass “Worte existierende Wesenheiten, nicht nur Zeichen oder Etiketten”755 seien.756 Dieser Anlauf ist zwar lang, aber letztendlich zielt Heschel mit seiner Argumentation auf die zuvor schon thematisierte Kavanah: Der Betende fühlt sich relational ein in die bestehenden Worte eines (bereits verfassten) Gebets und vergegenwärtigt sich innerlich die gesprochenen Dinge, womit die phänomenologische Einsfühlung Schelers erneut zum Tragen kommt: “Dem Betenden sind die Worte Wesen, um deren Sinn und Gunst er wirbt, an deren Geist er teilhaben will. [E]ine Hauptaufgabe ist es, sich zu den Worten zu stellen und zu ihnen zu stehen.”757 Deshalb sind für Heschel auch Ernst, Intensität des Meinens und Andacht beim Beten nötig.758 Ohne dass Heschel es so nennt, spricht er an dieser Stelle bereits von dem nachfolgend thematisierten “Gebet als Einfühlung”. Man bekommt zudem den Eindruck, als ob Heschel an dieser Stelle bereits von dem so genannten “Gebet als Ausdruck” spricht, dem spontanen Gebet. Denn er unterscheidet zunächst innerhalb des Gesprächs zwischen Inhalt und Akt der Mitteilung und macht deutlich, dass im Gespräch der Inhalt bereits vergangen ist – man erzählt beispielsweise ein Erlebnis –, während im Gebet der Inhalt erst währenddessen entsteht.759 Dass es beim Beten primär um die Beziehung zu Gott und sich selbst und weniger um den Wissenstransfer geht, macht er anschließend nochmals deutlich.760 Gleichzeitig weiß Heschel aber darum, dass das Gebet kein üblicher Dialog ist, sondern vielmehr ein Anrufen,761 womit er die Ungleichheit zwischen Gott und Mensch deutlich machen will. 754 Heschel: Papers, 152/1, 4; vgl. auch 8. 755 Ebd., 152/1, 5. 756 Am Beispiel des musikalischen Werkes legt Heschel darum dar, dass ihr Notenbestand seit der Komposition kontinuierlich bestehe, auch wenn die Töne nicht erklängen; vgl. ebd., 152/1, 6f. Und ebenso ist für Heschel klar, dass das Wort der Körper für den Geist – bzw. das Denken – ist, kontinuierlich besteht und die Beziehung zu den Dingen der Welt ermöglicht (vgl. 8). Worte haben also relationalen Charakter. 757 Ebd., 152/1, 9. 758 Vgl. ebd., 152/1, 9f. 759 Vgl. ebd., 152/2, 10. 760 Ebd., 152/1, 11: “Das Ziel des Betenden ist nicht, Ihn [Gott; Anm. von P. M.] etwas wissen zu lassen. Beten ist eher Erfahrung, Einsicht in sich selbst [sic!] Spiegelung der eigenen Person, denn Mitteilung an den Allwissenden.” 761 Vgl. ebd., 152/1, 11.
2.4 Relationalität und Bibel beim jungen Heschel | 133
Den terminologisch entscheidenden Schritt weiter geht Heschel schließlich mit dem schon während der Flucht veröffentlichten Artikel “Das Gebet als Äußerung und Einfühlung”, der 1939 in der “Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums” erscheint. Erneut geht es um das Verhältnis von Wort und Mensch, wodurch der Mensch, so Heschel, erst zum Betenden werde.762 Um aus dem Alltag die Wendung hin zum Gebet zu vollziehen, beschreibt Heschel den Vorgang als “Einfühlung in das Gebetswort” (engl. “act of empathy”), wodurch “das Wort der Meister und der Mensch der Empfänger”763 ist. Dem gegenüber steht die unmittelbare Form der Äußerung (engl. “act of expression”), wenn “das Gefäß des Wortes zu eng ist für das überquellende Gefühl”;764 dass aber grundsätzlich Worte ihre Begrenzung haben, macht Heschel immer wieder deutlich –765 ein Motiv, das er in God in Search of Man als “preconceptual thinking” entfalten wird. “Denn Beten heißt letztendlich Gott verstehen, die um ihn kündenden Worte verstehen”,766 wodurch die relationale Dimension des Gebets aufs Äußerste verdeutlicht wird.
2.4.9 Flucht nach Amerika (1938–1940) Mit diesen prophetisch-spirituellen Grundlagen, abgeleitet aus seiner chassidischen Tradition und den philosophischen Errungenschaften, wird Heschel jedoch erst in den 1950er Jahren die Ruhe und Muße haben, um seine volle Wirksamkeit zu entfalten. Denn am 28. Oktober 1938 muss er – wie zahlreiche andere ausländische Juden – über Nacht die Verbannung aus Deutschland erleiden und gelangt mithilfe seiner Familie nach einigen zehrenden Wochen wieder in Warschau.767 Dort kann er zumindest einer Einladung des Instituts für judaistische Wissenschaft folgen, um Vorlesungen über Religionsphilosophie und die Bibel zu halten.768 762 Vgl. Heschel: “Gebet”, 562. 763 Ebd., 564. 764 Ebd., 565. 765 Vgl. ebd., 566. 766 Ebd., 567. 767 Die Frankfurter Anstellung endet offiziell am 28.02.1939; praktisch wird sie durch die abrupte Verhaftung im Oktober des Vorjahres beendet, obwohl Heschel dann doch weiterhin einreisen darf; vgl. dazu das Dokument II3 1/12 Rev. des Polizeipräsidenten Frankfurts in ders.: Papers, 20/6; s. auch Kaplan und Dresner: Witness, 274f.; 283. 768 So Heschel am 01.12.1938 an Irene Zernik in Jerusalem; Vgl. Heschel: Papers, 20/7.
134 | 2 Weichenstellung zu relationalem Denken: Die akademische Frühphase Ein Visum für die USA ist schwierig zu erhalten – trotz der Maßnahmen durch Julian Morgenstein, den Präsidenten des Hebrew Union College, die Heschel und andere jüdische Wissenschaftler vor der nationalsozialistischen Bedrohung schützen sollen.769 Weil der Weg über London vielversprechender wirkt, flüchtet Heschel am 13. August 1939 dorthin, sechs Wochen vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, und verbringt dort die nächsten neun Monate. So kann er zumindest physisch der Shoah entkommen.770 Aus der Not macht er eine Tugend und gründet in der kurzen Zeit seines England-Aufenthaltes das Institute for Jewish Learning771 – in Reminiszenz an das Freie jüdische Lehrhaus in Frankfurt –, um seiner prophetisch-spirituellen Mission auch in dieser Zeit nachzukommen und den ebenfalls geflüchteten Juden vor Ort wenigstens spirituellen Halt zu bieten.772 Doch just einen Tag nach der Eröffnung, am 30. Januar 1940, erhält Heschel schließlich sein amerikanisches Visum und tritt damit die Reise in eine neue Heimat an, in die er aber, wie Dresner und Kaplan zurecht im Sinne dieser Untersuchung urteilen, sein wesentliches Fundament an philosophischer und theologisch-spiritueller Erkenntnis bereits mitbringt.773
2.5 Zusammenfassung Dieser erste Teil hat die akademische Frühphase Bonhoeffers und Heschels in den Blick genommen. Beiden steht trotz völlig unterschiedlicher Motivation – Auslandserfahrung vs. Flucht vor der bevorstehenden Bedrohung – die Überfahrt in die Vereinigten Staaten bevor, eine Zeit weiterer Eindrücke und Einflüsse. In Bestätigung des zweigliedrigen Zieles dieser Untersuchung konnten bereits bis hierhin zahlreiche gemeinsame oder phänomenologisch ähnliche Ein769 So teilt es Heschel in einem Brief (vom 24.04.1939) an Irene Zernik mit; vgl. Heschel: Papers, 20/7; s. auch Kaplan und Dresner: Witness, 283. Die Einladung ist zunächst nicht als eine permanente Stelle gedacht, sondern als “research fellow”, sodass sie keine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung in den USA zulässt. 770 Mithilfe von Ruth Horovitz und Irene Zernik wendet Heschel den Blick gen London, wo sein Bruder Rabbiner einer konservativen Gemeinde ist, um von dort erneut das Visum für die Vereinigten Staaten zu beantragen. Aus den Briefen an Frau Zernik vom 08.02. und vom 24.04.1939 geht zudem hervor, dass sie vermutlich einen Betrag stellt, durch den Heschel das Visum nach England erhält; vgl. Heschel: Papers, 20/7 u. Kaplan und Dresner: Witness, 284f.; 289; 294. 771 So im Brief vom 20.04.1940 an Frau Zernik; vgl. Heschel: Papers, 20/7. 772 Vgl. Kaplan und Dresner: Witness, 297ff. Das Proposal samt Curriculum gibt Auskunft darüber, dass neben jüdischen Fächern auch allgemeinbildende Inhalte vermittelt werden, z. B. zur Geschichte Englands; vgl. Heschel: Papers, 22/6. 773 Vgl. Kaplan und Dresner: Witness, 301.
2.5 Zusammenfassung
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flüsse und Parallelen, charakteristische Gemeinsamkeiten und geistesgeschichtliche Überschneidungen zwischen Bonhoeffer und Heschel aufgezeigt werden. Sie sind verantwortlich für ihre Entwicklung zu einem relationalen Denken, das sich mehr und mehr angleicht, sich jedoch von ihre zeitgenössischen Einflüssen unterscheidet.
2.5.1 Biographische Ähnlichkeiten Der erste Teil in Bonhoeffers und Heschels Leben und Werk ist gezeichnet durch die akademische Auseinandersetzung – ganz besonders zur Überprüfung und Reifung des kindlichen Glaubens und Gottesbildes. Denn beide wachsen in einer Spannung zwischen Herzensfrömmigkeit und rationalen Herausforderungen auf. Während es bei Bonhoeffer von Beginn an der Spagat zwischen wissenschaftlichem Humanismus und Herrnhuter Pietismus ist, liegt bei Heschel der Spagat zwischen zwei chassidischen Richtungen vor, einerseits mit der Betonung des Herzens (Ba‘al Shem Tov), andererseits mit der Betonung des Verstandes (Kotzker Rebbe). Tiefentheologisch, so hat sich gezeigt, sind beide damit einer gleichermaßen lebendigen Frömmigkeit ausgesetzt, die nicht nur die individuelle religiöse Erfahrung hochschätzt, sondern als eine starke Laienbewegung zu einer gewissen Weltflucht neigt, der Bonhoeffer und Heschel aber aus diversen Gründen fernbleiben.774 Dass jedoch nur Heschel in dieser Frühphase ernsthaft aus einer lebendigen Frömmigkeit und dem persönlichen Zugang zur Bibel lebt, wird sich besonders in der Mittelphase zeigen, in der Bonhoeffer durch seinen ersten Amerika-Aufenthalt entschieden zum Christen wird, wie selbst und Bethge nach ihm es markant formuliert haben.775 Dennoch können diese grundlegenden Traditionen als erste Wurzeln ihres relationalen Denkens betrachtet werden, da sie die persönliche Beziehung zu Gott intendiert, weshalb mit diesen biographischen Ähnlichkeiten von einer ersten wichtigen Gemeinsamkeit zu sprechen ist. Denn das hat Auswirkungen auf Bonhoeffers und Heschels Berufswahl, in der beide zunächst der an sie gestellten Erwartung nicht entsprechen: Statt in die Naturwissenschaft, Juristerei oder die professionelle Pianistentätigkeit einzusteigen, wendet sich Bonhoeffer der Theologie zu; Heschel ergreift trotz seines chassidischen Erbes, seiner Fähigkeiten und seiner Bildung nicht die väterliche Linie als
774 Vgl. 2.1.3. 775 Bethge: DB, 246ff.
136 | 2 Weichenstellung zu relationalem Denken: Die akademische Frühphase Rebbe, sondern lässt sich anfangs an einem (naturwissenschaftlichen) Realgymnasium und dann an der Berliner Universität in Philosophie säkular ausbilden, gepaart mit der Ordination an der liberalen Hochschule für die Wissenschaft des Judentums.776 Des Weiteren sei der künstlerisch-ästhetische Ausdruck erwähnt, der sich bei Bonhoeffer in der Pianistentätigkeit niederschlägt, bei Heschel in dem (Nebenfach-) Studium der Kunstgeschichte und der Poesie. Und so ringen beide zwischen dieser zunächst minder (Bonhoeffer) oder stärker (Heschel) ausgeprägten Herzensfrömmigkeit, der Philosophie und den liberalen Strömungen ihrer Religion, positionieren sich zunehmend deutlich und stellen ihre Anfragen sowohl an die eine als auch an die andere Einseitigkeit. Denn das Unterscheiden zwischen Glaube und Vernunft ist ihnen regelrecht in die Wiege gelegt, was sie dann auch fast zeitgleich ab 1924 bzw. 1927 an der Berliner Wilhelms-Universität bis in ihre jeweilige Geisteswissenschaft hinein professionalisieren. Dort in Berlin, umgeben von dem Zeitgeist des Neukantianismus, etablieren Bonhoeffer und Heschel gleichermaßen mehr und mehr einen dritten Weg, der wissenschaftlichen Ansprüchen genügen will, aber auch das Positive der (nichtrationalistischen) Tradition stark macht, dessen gemeinsamer Nenner als hermeneutischer Schlüssel die “Relationalität” ist und in ihrer Gesamtheit in “relationales Denken” mündet. Dies findet seinen literarischen Niederschlag in diversen Seminararbeiten, den Dissertationen und den sich anschließenden Werken.
2.5.2 Die Phänomenologie: Grundvoraussetzung für relationales Denken Damit im wissenschaftlichen Rahmen überhaupt ein relationales Denken möglich wird, ist methodisch eine Grundvoraussetzung bei Bonhoeffer und Heschel unabdingbar, und zwar ihr Rückgriff auf die Phänomenologie als zweite wichtige Gemeinsamkeit. Denn infolge der Aufklärung ist die menschliche Vernunft zum Primat der Erkenntnis geworden: Besonders (neben Descartes) ist Kants Transzendentalismus mitsamt dessen neukantianistischer Rezeption verantwortlich dafür, dass die Relation zwischen Erkennendem und Erkanntem unterbunden und zu einer geradezu unüberwindbaren Grenze geworden ist. Das erkennende Subjekt erhebt sich so über sein Erkenntnisobjekt, und sogar Gott wird von der Vernunft von oben herab kritisch beurteilt und erhält Seinen (untergeordneten) Platz. Heschel und Bonhoeffer wollen dagegen bewusst die Aussagekraft und Bandbreite ihres Untersuchungsgegenstandes (Gott und Seine Offenbarung) erhalten
776 Vgl. 2.1.1, 2.1.2, 2.3.1 u. 2.4.1.
2.5 Zusammenfassung
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und ihm auf Augenhöhe begegnen. Bereits in seiner ersten überlieferten Vorarbeit zur Dissertation weist Heschel darum bei der religionsgeschichtlichen Analyse von biblischen Visionen darauf hin, dass die “klassische” Wahrheitsfrage von Prophetie nicht zu beantworten sei, weshalb er sich auf die Sichtung des literarischen Berichtes konzentriert; in der zweiten Vorarbeit analysiert er unter Mithilfe von James die psychologisch fassbare Seite des Propheten.777 Bonhoeffer kann zwar historisch-kritisch arbeiten, argumentieren und rekonstruieren, wie er bei von Harnack und Holl gelernt und gezeigt hat; inspiriert durch Barth, macht er sich aber dafür stark, dass für theologische Aussagen die biblischen Texte nicht nur Quellen (zur Analyse), sondern auch Offenbarungsträger – mindestens auf Augenhöhe des Lesers – und damit Richtschnur des Glaubens als verwirklichter Gotteswille sind, die den Leser relational ansprechen.778 Im Einklang mit seiner Catull-Hausarbeit will er den Leser in die Texte mit hineinziehen, womit seine relationale Hermeneutik bereits vorgebildet ist.779 Auf die Inspiration der Schrift als dem einen Prinzip der Theologie pocht er auch anhand von Luther, gleichzeitig gegen die Spaltung von Vernunft und Offenbarung, wie er sie in der lutherischen Frühscholastik entdeckt. Und sogar der haggadischen Exegese begegnet er mit Wertschätzung, die auf den ersten Blick willkürlich wirkt, Bonhoeffer zufolge aber aus der Beziehung heraus als “paradigmatische[n] Verwendung einer gegebenen göttlichen Offenbarung”780 von ihm eingestuft wird. In alledem ist für ihn klar, dass es immerzu Christus ist, der aus dem Alten Testament spricht. In ihren Qualifikationsschriften nähern sich Bonhoeffer und Heschel darum mithilfe der schelerschen Phänomenologie ihrem Untersuchungsgegenstand an, Bonhoeffer der soziologischen Gestalt der Kirche (Sanctorum Communio) bzw. der Gotteserkenntnis an sich (Akt und Sein), Heschel den alttestamentlichen Propheten und ihrem “prophetischen Bewusstsein”. Dies impliziert für Bonhoeffer zwar eine gewisse Objektivität, doch die Notwendigkeit der Innenperspektive zur Beschreibung der Kirche bzw. der Offenbarung muss er zur theologischen Bewertung voraussetzen, sodass er methodisch bereits Relationalität voraussetzt und schließlich auch die klassische Phänomenologie als rechtfertig machend in ihre Schranken weist. Auch Heschel schlägt diese Richtung ein, bleibt in seiner Dissertation jedoch bei der Analyse;781 erst mit seiner Biographie zu Maimonides –
777 Vgl. 2.4.1. 778 Vgl. 2.3.1 u. 2.3.3. 779 Vgl. 2.1.1 u. 3.4.3. 780 Bonhoeffer: DBW 9, 228. 781 Vgl. 2.4.3.
138 | 2 Weichenstellung zu relationalem Denken: Die akademische Frühphase und anschließend auch der zu Abravanel – geht er den Schritt weiter und trägt zumindest implizit seine eigene persönliche Note in den Text hinein, was auf nichts weniger als sein später so bezeichnetes “situatives Denken” abzielt.782 Dort und speziell in seinem prophetisch-mahnenden “Versuch einer Deutung”783 sprengt Heschel diesen Rahmen, indem er nicht nur seine eigene Betroffenheit durch biblische Texte ausdrückt, sondern seinen Kontext miteinbezieht, was nichts anderes vorwegnimmt als die Relationalität zur Welt. Bonhoeffer wie Heschel ist somit klar, dass die Offenbarung Gottes nicht mit rationalistischen Methoden von außen zu erkennen oder zu greifen ist. Dass sie trotz aller Kritik aber nicht grundsätzlich gegen jede Errungenschaft der modernen, liberal-aufgeklärten Wissenschaften sind, zeigt sich gleichermaßen, wenn Bonhoeffer bei seinem Insistieren auf die Notwendigkeit gerade genannter Innenperspektive ebenso auf Ritschl zurückgreift und Heschel seinen Fokus auf die biblische Prophetie vermutlich von Baeck erhält.784 erhält.
2.5.3 Gegen den Neukantianismus: Die Tatsächlichkeit der Offenbarung Durch den Kontakt auf Augenhöhe und die eigene Betroffenheit fundieren Bonhoeffer und Heschel gegen den Neukantianismus die Tatsächlichkeit der Offenbarung des transzendenten Gottes als ihre dritte Gemeinsamkeit, womit sie von Anfang an ein echtes “Berühren” zwischen Transzendenz und Immanenz meinen. Durch Barth für die Betroffenheit durch Gott sensibilisiert, führt Bonhoeffer die tatsächliche Offenbarung Gottes ins Felde gegen die Dominanz von Historismus und naturwissenschaftlich-mechanistischem Rationalismus; doch sprengt er in gleichem Atemzug Barths Engführung (und die seiner reformierten Tradition eines finitum (in)capax infiniti) und pocht vielmehr mit Luthers theologia crucis auf das finitum capax infiniti.785 Wiederum mit Barth appelliert Bonhoeffer dabei and die Offenbarung Gottes in Akten, bei denen Gott selbst Akteur bleibt, weshalb auch die Innenperspektive (als Teilnahme an der Offenbarung) für ihn unabdingbar ist. Diesen Akt der Offenbarung im Moment aus menschlicher Perspektive zu erkennen, benennt Bonhoeffer in seiner Habilitation Akt und Sein als “actus directus” und unterscheidet davon den “actus reflexus”, die Reflexion über die be-
782 Vgl. 2.4.4, 2.4.6 u. 3.3.8. 783 Vgl. 2.4.7. 784 Vgl. 2.4.3 mit 2.4.1. 785 Vgl. 2.3.1.
2.5 Zusammenfassung
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reits geschehene Offenbartheit.786 Letzteres meint nichts anderes als die Auslegung der Schrift – theologisches Erkennen –, die er im Sinne der Innenperspektive notwendig an die Kirche bindet – den Raum, in dem wiederum die aktuale Offenbarung durch Verkündigung der Schrift bzw. predigendes Erkennen geschieht. So kann er Vernunft und Offenbarung verknüpfen und das geoffenbarte Gotteswort gegen Historismus und philosophisch-einvernehmende Strömungen der Zeit schützen. Darum ist Altes und Neues Testament für ihn als Offenbarungsquelle nur relational erkennbar und “von Christus getrieben”, auch wenn er sie in seinen beiden streng akademischen Werken verhältnismäßig marginal zur Wort kommen lässt. Heschel konzentriert sich mithilfe der Phänomenologie auf die prophetischen Visionen bzw. das prophetische Bewusstsein und somit auf die menschliche Seite der Beziehung zwischen Prophet(en) und Gott, wie sie sich in den biblischen Aufzeichnungen niederschlägt; darin nimmt der biblische Text einen wesentlich höheren Stellenwert bei ihm ein.787 Ihm entlockt Heschel den Gedanken von tatsächlich geoffenbarter Transzendenz, die zwar in die Immanenz einschreitet, aber gleichzeitig Gegenüber bleibt: Gott greift eigenständig in den materiellen Raum ein (in Form einer Vision), was von dem Visionär wahrgenommen wird.788 Wie bei Bonhoeffer differenziert er dabei zwischen Offenbarung im Moment und dem biblischen Bericht über dieselbe. Diesen Moment der Offenbarung bezeichnet er auch als “Vorgang der Eingebung” (was Bonhoeffers “actus directus” entspricht),789 diametral dem psychologischen Vorgang entgegenstehend, auch wenn die Eingebung durch die Deutung des Propheten/Visionärs (in Entsprechung zu Bonhoeffers “actus reflexus”) ergänzt werden muss und darin als psychischer Vorgang psychologisch fassbar ist. Diese Bewegung Gottes zum Menschen, die Heschel auch als “Anthropotropismus” bezeichnet, kann er auch aristotelisch verpacken, indem der Moment der Offenbarung den Übergang von Potentialität in Richtung Aktualität darstellt, was für Heschel aber nichts mit Substanz-Offenbarung zu tun hat. 2.5.4 Der Existentialismus: Offenbarung in Raum und Zeit In gemeinsamer Kritik an idealistischem Denken insistierten Bonhoeffer und Heschel gleichermaßen lautstark, dass die zuvor thematisierte tatsächliche Offenba786 Vgl. 2.3.4. 787 Vgl. 2.4.3. 788 Vgl. 2.4.1, 2.4.3 u. 2.4.2. 789 Vgl. 2.4.1 mit 2.3.4.
140 | 2 Weichenstellung zu relationalem Denken: Die akademische Frühphase rung nie abstrakt stattfinden könne. Vielmehr müsse sie sich als Akt-Offenbarung, in Augenblicken vollzogen, notwendig in Raum und Zeit abspielen. Dies erörtern beide durch die Rezeption von existentialistischem Denken – Bonhoeffer besonders bei Kierkegaard, Heschel bei Rosenzweig –,790 womit die vierte zentrale Gemeinsamkeit zwischen beiden deutlich wird, der Einfluss des Existentialismus. Bonhoeffer begründet die Zeitlichkeit wie Kierkegaard mit der Erbsünde, an der er als Lutheraner zwar festhält, aber die er gegen die augustinische Tradition relational konnotiert. Heschel implementiert die Zeitlichkeit über Rosenzweigs Sprachphilosophie, weil sich Sprache in Zeit ereignet. Nur implizit benutzt Bonhoeffer auch dieses Argument, wenn es um die Notwendigkeit von Leiblichkeit nach der Auferstehung der Toten geht, durch die erst Kommunikation möglich ist.791
2.5.5 Die Dialogik: Gott als personales, leidendes Gegenüber Dass Gott Beziehung zum Menschen will, damit Person ist und gleichzeitig Gegenüber und klare Grenze bleibt, führt zur fünften Gemeinsamkeit zwischen Bonhoeffer und Heschel. Beide rezipieren wegen der tatsächlichen Offenbarung Gottes in Raum und Zeit und ebendieser Personalität Gottes als das Du zum Ich die zeitgenössische Dialogik und ergreifen gleichermaßen die Möglichkeit, ihr religiösfrommes Erbe des Herrnhuter Pietismus bzw. des Chassidismus mit philosophischem Denken zu versöhnen, was aufgrund der tiefentheologischen Ähnlichkeit, wie gesehen ein bedeutsamer Grund der Gemeinsamkeiten zwischen Bonhoeffer und Heschel und ihre erste wichtige Gemeinsamkeit darstellt. Bonhoeffer, der stark durch Luthers “Personalismus” geprägt ist, hegt keinerlei Interesse für abstrakte Spekulationen über eine immanente Trinität Gottes. Statt diese Undurchdringlichkeit der Trinität zu beleuchten,792 greift er vielmehr nach den Beziehungen Gottes zum Menschen, womit Bonhoeffer im Einklang mit von Harnack den besonders im Mittelalter populären ontologischen Gotteslehren widerspricht, die durch den Einfluss des griechischen Denkens das Christentum verwässert und zu einer Erstarrung der Religion geführt hätten. Darum betont er das relationale Verständnis vom Heiligen Geist, von Glauben und Gnade, im Menschen stetig schaffend, aber nicht substantiell eingegossen, sondern als “lebendige Inbeziehungsetzung zwischen Mensch und Geist”.793
790 Vgl. 2.3.2, 2.3.4, 2.4.1 u. 2.4.3. 791 Vgl. 2.3.2. 792 Vgl. 2.3.1 u. 2.3.2. 793 Bonhoeffer: DBW 9, 379.
2.5 Zusammenfassung
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In alledem ist es immerzu Christus, der als Mensch gewordener und darin sich selbst erniedrigender Gott relationales Bindeglied und Mittler im Zentrum des Geschehens steht. Sowohl Seine Hoheit als auch seine Selbsterniedrigung sucht Bonhoeffer, gegen jegliche rationalistisch geprägten Bilder eines einseitig historischen Jesus (von unten) zu verteidigen, wie er sie insbesondere in der liberalen Theologie vorfindet. Gleichwohl steht Bonhoeffers Christus als tatsächlich Mensch Gewordener auch gegen Barths Verständnis von Gott als dem ganz Anderen bzw. ewig Transzendenten.794 Vielmehr bindet sich Gott in Christus aus Freiheit-für an den Menschen.795 Mithilfe von Grisebach und Seebergs Hinweis auf die Ernstnahme des Sozialen entwickelt Bonhoeffer eine reale Schranke der ethisch-sozialen Sphäre, die er auch gegen eine Realitätsferne des Idealismus ins Felde führt. Mit Kierkegaard pocht Bonhoeffer darum auf ein absolutes Verhältnis des Einzelnen zum Absoluten und die absolute Priorität des Gotteswillens bzw. des Anspruches Christi.796 Aus der Beschäftigung mit den biblischen Propheten gelangt Bonhoeffer außerdem über die Betroffenheit des Propheten zu einem Pathos Gottes (s. u.) und damit der persönlichen Betroffenheit und Emotionalität Gottes, welches der Prophet aus der Beziehung zu Ihm erkennt;797 Bonhoeffers Verwurzelung in der theologia crucis hilft dabei. Dass überhaupt die Kernbotschaft des Christentums keine Information (im Sinne eines abstrakten Bekenntnisses) oder Ethik (im Sinne eines Wissens um Gut und Böse bzw. Richtig und Falsch) ist, sondern die Beziehung zwischen dem souveränen Gott und den Menschen, hebt Bonhoeffer ebenfalls hervor. Ihn zu erkennen bzw. von Ihm erkannt zu sein, macht er immerzu stark, weil Gott als Subjekt und Objekt des Glaubens selbst Glauben schafft.798 Dass Gott in Bonhoeffers Betrachtung dennoch etwas fern und dominant wirkt, darf dabei nicht übersehen werden und hat biographische Gründe.799 Aufgrund von Heschels jüdischer Identität ist es natürlich der (nicht-trinitarische) Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der erschafft, sich offenbart und Beziehung zum Menschen sucht. Gott ist für ihn klar handelndes Subjekt in Interaktion mit dem Menschen bzw. dem Propheten, dem Er Sein Pathos mitteilt.800 Damit
794 Vgl. 2.3.1 u. 2.5.3. 795 Vgl. 2.3.4. 796 Vgl. 2.3.1 u. 2.3.3. 797 Vgl. 2.3.3. 798 Vgl. 2.3.2. 799 Vgl. 2.3.3. 800 Vgl. 2.4.3.
142 | 2 Weichenstellung zu relationalem Denken: Die akademische Frühphase stellt Heschel sich gegen Cohens apersonalen Gott801 und – im Einklang mit Bonhoeffer – gegen jegliche abstrakte Theologie griechisch-denkender Prägung, womit in dieser Ablehnung griechischen Denkens eine sechste Gemeinsamkeit zwischen Bonhoeffer und Heschel angelegt ist. Heschels Gottesvorstellung ist trotz nicht vorhandener Mittlerfunktion Christi darum alles andere als fern oder abstrakt. Denn zum einen identifiziert er ebenfalls den Heiligen Geist, der aus den Vorgängen der Geschichte spricht, zum anderen verkündet Gott Seinen Willen (nicht Seine Substanz) als Inhalt seiner Offenbarung, was er auch als “Ekstase Gottes”, als “Für-den-Menschen-Werden” bzw. Aus-Sich-Heraustreten Gottes für den Menschen bezeichnet, wobei Gott als Gegenüber immer klar besteht.802 Damit setzt sich Heschel in ganz ähnlicher Weise von Buber ab wie Bonhoeffer von Barth,803 und er kann sogar in ein aktives Ringen mit Gott und in Anklage übergehen, die an Seiner Omnipotenz rütteln (die Heschel im Zuge seiner MetaphysikKritik804 sowieso infrage stellt).
2.5.6 Der Mensch als Angesprochener Gottes Die Relationalität Gottes hat für Bonhoeffer wie auch Heschel ebenfalls Auswirkungen auf das menschliche Gegenüber. Denn beide gehen von der Gottebenbildlichkeit des Menschen (imago Dei) nach Gen 1 aus. Als siebente Gemeinsamkeit ist somit gesetzt, dass der Mensch nach dem Ebenbild Gottes als relationales Wesen erschaffen ist. Diese zunächst oberflächlich wirkende Gemeinsamkeit schlägt sich jedoch aufgrund der konsequenten Relationalität beider in etlichen Ähnlichkeiten nieder. Bonhoeffer geht sogar so weit, dass er die Ebenbildlichkeit nicht nur in der Relationalität zu Gott, sondern auch zum Nächsten verortet, in der Erschaffung von Mann und Frau. Durch die Erbsünde, die Bonhoeffer wie Luther und Kierkegaard ebenfalls relational versteht, ist die Ebenbildlichkeit des Menschen jedoch zerstört, weil sie als dritte Macht zwischen Gott und den Menschen wie auch zwischen zwei Menschen hinzutritt; der Mensch befindet sich dadurch gegen Gott und Menschen in höchster Einsamkeit – theologisch gesprochen verkrümmt in sich selbst (incurvatio in se ipso) –, auch wenn er gleichzeitig durch seine Teilhabe an der Sünde in weitester Gemeinschaft steht, was Bonhoeffer im Stile Heideggers
801 Vgl. 2.4.1. 802 Vgl. 2.4.3 u. 2.4.7. 803 Vgl. 2.4.2 mit 2.3.1. 804 Vgl. vgl. 2.4.3.
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auch als “Sein-in-Adam”805 bezeichnet. Um diese Trennung zwischen Mensch und Gott bzw. dem Nächsten zu überwinden, muss zunächst der Heilige Geist zum konkreten Du hinzutreten und die Selbstverkrümmung durchbrechen, was Bonhoeffer als “Gottbezogenheit” bezeichnet und was als tatsächlicher Akt oder Offenbarung Gottes zu verstehen ist;806 zur Überwindung der Sünde ist jedoch nicht allein punktuelle Akt-Offenbarung und Sündenvergebung ausreichend, wodurch “lediglich” Aktsünden vergeben würden, sondern Offenbarung muss Bonhoeffer zufolge als Sein – in Kontinuität – gedacht werden, um den Zustand des Sein-inAdam zu überwinden und in den Zustand des Sein-in-Christus zu überführen.807 Damit soll die Selbstsucht im korrumpierten Menschen wieder in eine schenkende Beziehung umgekehrt und die zerstörte Gottebenbildlichkeit nach und nach wiederhergestellt werden, wenngleich der Mensch durch seine relationale Teilhabe – mit den Worten Luthers – simul iustus et peccator bleibt.808 Auf soziologischer Ebene entfaltet Bonhoeffer deshalb mit Grisebach, dass der Mensch erst durch die konkrete Begegnung als Ich mit dem Du und dem Moment der “Gottbezogenheit” innerhalb konkreter Zeit zur Entscheidung und damit in den Stand der Verantwortung geführt und so überhaupt erst Person wird. Dies betrifft aber theologisch natürlich auch das Angesprochenwerden durch Gott selbst, das in echte Betroffenheit mündet.809 Dies geschieht bei Bonhoeffer aber nur in der soziologischen Konkretion des Kirchengedankens, wo die einmal geschehene Offenbarung als Sein (in Form des biblischen Wortes) innerhalb der Predigt von Tod und Auferstehung Christi aktualisiert wird und so gleichzeitig die Kontinuität sichergestellt ist, weshalb Kirche zum “transsubjektiven Bürgen” der Offenbarung Gottes wird.810 Als so genannte “Geist- und Liebesgemeinschaft” bzw. “geistbewegte Familie” besitzt die gegenwärtige Kirche durch ihre relationale Bindung an den Heiligen Geist damit Selbst- wie auch Fremdzweck, nämlich intern eine neue Gemeinschaft darzustellen als auch extern Gottes Willen durchzusetzen, weshalb Bonhoeffer trotz lutherischer sola gratia den Glauben und Werke zusammen denken kann.811 Indem einer für den Nächsten stellvertretend zum Christus und somit Abbild des göttlichen Du wird (in der Predigt, Seelsorge usw.), wird das Individuum durch sein in-der-Gemeinde-Sein existentiell betroffen, wo 805 Vgl. 2.3.1, 2.3.2 u. 2.3.4. 806 Vgl. 2.3.2. 807 Vgl. 2.3.4. 808 Vgl. 2.3.2. 809 Vgl. 2.3.3. 810 Vgl. 2.3.4. 811 Vgl. dazu die Predigt zu Jak 1,12–25, 2.3.1.
144 | 2 Weichenstellung zu relationalem Denken: Die akademische Frühphase er an der Vergebung und Gnade Christi, dessen Leben und sogar an dessen Sündlosigkeit relational partizipiert, was für Bonhoeffer nichts anderes ist als im Glauben zu sein, wo sogar ein Ansehen der Sünde im Glauben möglich ist.812 Denn konkret wird einer für den Nächsten stellvertretend zum Christus und somit Abbild des göttlichen Du, weshalb Bonhoeffer die Kirche in dieser Frühphase als “Christus als Gemeinde existierend” bezeichnet.813 Schon jetzt ist die Kirche Offenbarungs- und Heilsraum, wo Christus und der Heilige Geist im Wort relational gegenwärtig sind, bis zum Eschaton aber als communio sanctorum et peccatorum nach wie vor durchsetzt von Unvollkommenheit und Sünde, sodass Bonhoeffer auch hier Luther darin folgt, von sichtbarer und unsichtbarer Kirche zu sprechen, ohne gegenwärtig scheiden zu können, sondern erst im Eschaton. Denn auch Kollektivpersonen wie das Volk Israel oder die soziologische Gestalt der Kirche sind von der Erbsünde betroffen; aber darum dringt die geglaubte Kirche letztendlich zur neuen Menschheit durch und hat schließlich keinen partiellen Charakter mehr. So sind für Bonhoeffer auch die eschatologischen Ansichten klar relational geprägt, wenn er den ewigen Tod als vollständige Einsamkeit in Sünden versteht und die Auferstehung notwendig ganzheitlichleiblich sein muss, um Gemeinschaft und Kommunikation zu ermöglichen. Damit denkt er einmal mehr hebräisch und überwindet die griechisch-platonischen Elemente. Die Beziehung ist somit das alles verbindende Element von Gott, Welt und Mensch, das zwingend in Kirche als “Christus als Gemeinde existierend” mündet. Auch deshalb steht das wahre Christentum einer Ethik als Prinzip diametral entgegen und wird sogar u. U. – mit den Worten Kierkegaards – kraft des Absurden als absolutes Verhältnis zum Absoluten suspendiert.814 Weil Heschel als Jude der Erbsündenlehre wenig abgewinnen kann, sondern die “Störung” zwischen Gott und Mensch als eine Haltung des Menschen betrachtet, nicht als dessen Natur, fällt diese theologische Diskussion darüber kleiner aus. Vielmehr konzentriert er sich in seiner Frühphase auf die für ihn greifbaren Momente der Offenbarung. Deswegen ist es der (alttestamentliche) Prophet, der von Gottes Pathos erschüttert wird.815 Entscheidend ist aber, dass der Prophet den Beziehungswillen Gottes erwidert, was Heschel zu dem Ausdruck der “unio sympathetica” führt, der im Gegensatz zur ontologischen unio mystica die Relation zur Grundlage hat.816 Diese “prophetische Sympathie”, die
812 Vgl. schon 2.3.1 u. 2.3.4. 813 Vgl. 2.3.2. 814 Vgl. 2.3.3. 815 Vgl. 2.4.3 u. 2.5.5. 816 Vgl. 2.4.3.
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Heschel auf Grundlage von Schelers Phänomenologie des Fühlens entwickelt, umfasst eine echte Teilnahme (des Propheten) am Gefühlsleben des anderen (Gott), sodass der Prophet sogar die Gefühle Gottes erleben kann, ohne selbst dabei gewesen zu sein (“Perspektivwechsel”), auch wenn dies nicht immer ganz freiwillig geschieht.Anschließend muss diese prophetische Sympathie versprachlicht werden, sodass der Prophet laut Heschel auch ein Poet ist, um den erkannten “Moment des Unaussprechlichen”817 irgendwie in Worte zu kleiden und kommunizieren zu können. Durch die (mindestens implizite) Beurteilung der Gegenwart und seinen Charakter färbt der Prophet den prophetischen Inhalt, freilich unter der Leitung des Geistes Gottes und der Frage nach dem Dasein Gottes, der sich ebenfalls emotional mit der menschlichen Geschichte auseinandersetzt.818 Weder das Angesprochenwerden noch die Kommunikation sind somit reine “Einbahnstraße” vonseiten Gottes.819 Aber der Prophet ist Re-Akteur, den Heschel als Archetypus des Anthropotropismus von dem Priester als Archetypus des Theotropismus abgrenzt (der durch sein Gebet/den Kultus als Sender hin zu Gott agiert). Die soziologische Komponente taucht bei Heschel in der Rolle des Propheten auf, der mit seiner Botschaft Gott vor dem Volk vertreten muss; in diese Rolle wächst auch Heschel hinein, der das Prophetische in die Gegenwart überträgt und die von ihm so bezeichnete “Religion der Sympathie” zu dieser frühen Zeit bereits selbst ausübt.820 Dies hat mit seinem bis dato stärker entwickelten relationalen Element gegenüber der Welt zu tun, der hier so bezeichneten “Weltschau”821 als Mischform zwischen Anthropotropismus und Theotropismus. Aber auch praktische Grundlagen zu einer Phänomenologie des Gebets entwickelt Heschel, die unmittelbar mit seiner Anthropologie zusammenhängen.822 Dafür thematisiert er die Kavanah, die offene, innere Herzenshaltung.823 Zudem führt er die Unterscheidung zwischen “Gebet als Einfühlung” (engl. “act of empathy”) als relationales Einfühlen in bestehende Worte und Gebete ein und dem “Gebet als Äußerung” (engl. “act of expression”), womit er das frei formulierte Gebet meint.
817 Vgl. 2.4.1. 818 Vgl. 2.4.3. 819 Vgl. schon 2.4.1. 820 Vgl. 2.4.3, 2.4.4 u. 2.4.7. 821 Vgl. 2.4.7. 822 Vgl. 2.4.8. 823 Vgl. dazu auch 2.1.2.
146 | 2 Weichenstellung zu relationalem Denken: Die akademische Frühphase 2.5.7 Zwischenfazit: Vernunft und Offenbarung in relationalem Denken versöhnt Somit lassen sich die ersten sieben Gemeinsamkeiten bei Bonhoeffer und Heschel aufzeigen – teils erst in Grundlagen –, die ihr bisheriges relationales Denken begründen und charakterisieren: 1.
Biographische Ähnlichkeiten (pietistische bzw. chassidische Herzensfrömmigkeit in Spannung zu rationalen Herausforderungen) 2. Die Phänomenologie zur Begegnung auf Augenhöhe (gegen die liberale Theologie) 3. Die Tatsächlichkeit der Offenbarung (gegen den Neukantianismus) 4. Die Offenbarung in Raum und Zeit (Existentialismus) 5. Gott als konkrete Person und als Gegenüber, der Beziehung will (Dialogik) 6. Die Ablehnung von griechischem Denken (Metaphysik-Kritik) 7. Die Gottebenbildlichkeit des Menschen als relationales Wesen (Anthropologie) All diese Gemeinsamkeiten unterstreichen, dass Bonhoeffer und Heschel bereits zum Abschluss dieses ersten Teils eine Versöhnung von Vernunft und Offenbarung erzielen können, die sowohl Ziel als auch Grundlage für die weitere Entfaltung und Schärfung ihres relationalen Denkens ist.824 Was Bonhoeffer in zwei akademischen Werken als wissenschaftliches Fundament über die Soziologie der Kirche und die Gotteserkenntnis in Akt und Sein gelegt hat, entfaltet Heschel neben seiner Dissertation außerdem in zwei Biographien und wissenschaftlichen Artikeln zu jüdischen Denkern des Mittelalters, mit denen er seine Position der Superiorität biblischer Prophetie gegenüber der Philosophie unterstreicht; bei Maimonides findet sich außerdem der Gedanke der prophetischen Sukzession, der im Laufe der Untersuchung noch mehrfach aufgegriffen werden wird; Abravanel als wahrer Begründer der Wissenschaft des Judentums ist Vorbild von unerschütterlichem Glauben an die Bibel als Offenbarungsquelle bei gleichzeitigem Blick für den historisch gewachsenen Text.825 824 Darum ist Gregor und Zimmermann: “Bonhoeffer”, 5, im Hinblick auf Bonhoeffer zuzustimmen, die Bonhoeffers Bezug zur Philosophie als “faith seeking understanding” bezeichnen. Britton: Heschel, 278, hebt gegen Heschels Kritiker deshalb deutlich hervor, dass “his work is based in a much more sophisticated intellectual apparatus which combines a highly personal religious conviction with a scholarly intellectual formation in philosophy (especially the modern German tradition).” Denn “[t]he relational dimension of Heschel’s theology allows him to cross what is often perceived to be an unbridgeable intellectual chasm” (285). 825 Vgl. 2.4.4 u. 2.4.6.
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Das bisherige relationale Denken Heschels und Bonhoeffers hat sich damit schwerpunktmäßig auf die Relationalität zu Gott konzentriert. Bei Bonhoeffer haben sich außerdem in Verbindung dazu wichtige Ansätze zur Relationalität zum Nächsten gezeigt sowie die relationale Annäherung an den biblischen Text. Heschel dagegen hat schon den Blick hin zur Relationalität zur Welt gewagt. Es wird sich zeigen, wie in den weiteren Phasen all diese Relationalitäten weiterentwickelt werden und schließlich ein rundes Bild ihres gemeinsamen relationalen Denkens ergeben werden, dessen Grundlagen und Wurzeln aber bereits in dieser akademischen Frühphase liegen. Mit diesem Fundament wagen Bonhoeffer und Heschel den Schritt über den Ozean in die Vereinigten Staaten von Amerika, namentlich nach New York –826 eine Zeit, mit der weitere prägende Erfahrungen verbunden sind und die schließlich bei beiden zu den ersten großen und wichtigen Werken führen.
826 Vgl. 3.2.1 u. 3.3.2.
3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase Aus der Erweckung durch den Geist Gottes kommt Erneuerung der Kirche, niemals durch Restauration, niemals durch eigenmächtiges Aufhebenwollen der Gerichte Gottes. Nur durch seine Gerichte hindurch, nicht aber an ihnen vorbei kommt Gott wieder zu seiner Gemeinde. – Dietrich Bonhoeffer, Bibelarbeit zu Esra und Nehemia (1936) The supreme goal of prayer is to express God, to discover the self in relation to God. – Abraham J. Heschel, Man’s Quest for God (1954)
3.1 Einführung Eingeleitet durch eine neue Lebenssituation in den Vereinigten Staaten von Amerika, beginnt sowohl für Bonhoeffer als auch für Heschel ein neues Kapitel und damit verbundene neue Impulse im relationalen Denken beider. Nachdem Heschel 1938 in seiner Rede vor den Frankfurter Quäkern bereits den wichtigen Baustein der Relationalität zur Welt seinem Denken hinzugefügt hat, wird Bonhoeffer im Zuge seines Amerika-Aufenthaltes “nachziehen”. Das tut er aber nicht nur theoretisch, sondern durch sein Engagement in der Ökumene und als theologischer Leiter diverser (teils illegaler) Predigerseminare, was mit dieser Phase letztendlich in den Werken Gemeinsames Leben und – für diese Untersuchung ganz besonders wichtig – Nachfolge mündet. Grundlage dafür ist bei Bonhoeffer und Heschel ein vertiefter bzw. ganz neuer Zugang zur Bibel und ein Fokus auf das Gebet als essentielle Grundlage für gelebte relationale Spiritualität. Besonders bei Bonhoeffer, der in seiner Frühphase intensiv über die Sozialität und menschliche Macht nachgedacht hat, wird sich ein Element in dieser Mittelphase durch die Amerika-Erlebnisse und aufgrund der drohenden Gefahr durch den Nationalsozialismus verdichten, das wesentlicher Bestandteil der späteren Befreiungstheologie ist, nämlich das Problem menschlicher Macht, wie schon Green deutlich gemacht hat;1 ein wesentlicher Impuls kommt aber in besonderem Maße aus der Begegnung mit dem sogenannten “So-
1 Green: Bonhoeffer, 183: “Bonhoeffer diagnoses the way the strengths of the ego can operate in the mode of dominating power and destroy the true sociality of existence: in the domination of others, the isolation of the self, and the inner division manifest in conscience, the individual subverts relations of love and mutuality and is cut off from others.” https://doi.org/10.1515/9783110771961-003
3.2 Durchs Gebet zur Bibel und in die Nachfolge: Bonhoeffers Mittelphase
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cial Gospel” und der afroamerikanischen Frömmigkeit zustande, wie ebenfalls gezeigt werden soll. Auch bei Heschel hinterlässt der Einfluss Amerikas seine Spuren, insbesondere innerhalb der Spätphase, wenn Heschel seine prophetische Rolle vollends ergreift, nachdem er durch die Überarbeitung seiner Prophetologie für The Prophets dafür erneut sensibilisiert worden ist. Doch zuvor ist es nötig, dass Heschel auch die Phänomenologie des Gebets ausformuliert und seine Gesamtwerke Man is not Alone und God in Search of Man entwickelt, was in ebendiesem zweiten Teil der Untersuchung zur Sprache kommen wird.
3.2 Durchs Gebet zur Bibel und in die Nachfolge: Bonhoeffers Mittelphase Schon mit Akt und Sein ist bei Bonhoeffer ein zunehmendes Desinteresse für die Universität zu erkennen gewesen. Dies nimmt insofern seinen Höhepunkt darin, dass “[s]eine Suche nach einer Philosophie, in der man die christliche Gotteslehre und Anthropologie dem wissenschaftlichen Denken und den Zeitgenossen nachvollziehbar machen könnte, [war] nach der gründlichen Analyse in ‘Akt und Sein’ bei Transzendentalisten wie Ontologen negativ ausgefallen” war. “Er stand an der Schwelle einer Neuorientierung”,2 wie Bonhoeffers Schwager Hans Christoph von Hase im Nachhinein urteilt.
3.2.1 Amerika: Pragmatismus, Social Gospel, Bergpredigt und ein “schwarzer Christus” (1930–1931) Mit diesem Unmut und gleichzeitiger Hoffnung macht Bonhoeffer sich im Herbst 1930 auf zu neuen Ufern und verbringt gute zehn Monate in den Vereinigten Staaten von Amerika. Obwohl er kurz nach seinem Aufenthalt in Amerika noch der Auffassung ist, “daß man drüben außerordentlich wenig ‘für unsere Verhältnisse’ lernen kann”,3 wird er zur Zeit der Haft einräumen, dass sich eine Veränderung in seinem Leben höchstens während seiner ersten Auslandsaufenthalte ereignet habe.4 Schon 1936 beschreibt er diese Veränderung, durch die sein relationales
2 Bonhoeffer: DBW 10, 598. 3 Ebd., 280 (Studienbericht an das Kirchenbundesamt). 4 Vgl. ders.: DBW 8, 397 (Brief an Bethge vom 22.04.1944).
150 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase Denken auch auf die persönlich-spirituelle Ebene übergeht und die für diese gesamte zweite Lebensphase charakteristisch ist, mit folgenden Worten: Ein wahnsinniger Ehrgeiz, den manche an mir gemerkt haben, machte mir das Leben schwer und entzog mir die Liebe und das Vertrauen meiner Mitmenschen. Damals war ich furchtbar allein und mir selbst überlassen. Das war schlimm. Dann kam etwas anderes, etwas, was mein Leben bis heute verändert hat und herumgeworfen hat. Ich kam zum ersten Mal zur Bibel. Das ist auch wieder sehr schlimm zu sagen. Ich hatte schon oft gepredigt, ich hatte schon viel von der Kirche gesehen, darüber geredet und geschrieben – und ich war noch kein Christ geworden, sondern ganz wild und ungebändigt mein eigener Herr. Ich weiß, ich habe damals aus der Sache Jesu Christi einen Vorteil für mich selbst, für eine wahnsinnige Eitelkeit gemacht. Ich bitte Gott, daß das nie wieder so kommt. Ich hatte auch nie, oder doch sehr wenig gebetet. Ich war bei aller Verlassenheit ganz froh an mir selbst. Daraus hat mich die Bibel befreit und insbesondere die Bergpredigt. Seitdem ist alles anders geworden.5
Trotz aller “Kontinuität im Wandel”6 handelt es sich um eine echte “Wende vom Theologen zum Christen”,7 die laut Bethge sogar die Bonhoeffer-Familie wahrgenommen hat.8 Bonhoeffer selbst spricht schließlich von einer “Abkehr vom Phraseologischen hin zum Wirklichen”9 – die sein Schwager Hans Christoph von Hase treffend auf die Zeit zwischen 1928 und 1931 eingrenzt, also innerhalb der beiden Auslandsaufenhalte (Barcelona und Amerika).10 Sie hängt auch mit der “problematic of power in human social relations” zusammen, die Bonhoeffer im Vergleich zu Luther als “late medieval theologian dealing with ‘the hypertrophy of the negative conscience’ in the Catholic penitential piety’ ”11 . stärker betont, wie Green erkannt hat.12 5 Vgl. Bonhoeffer: DBW 14, 112f. (Brief an Elisabeth Zinn vom 27.01.1936). 6 Abromeit: Geheimnis, 9. 7 Bethge: DB, 246ff. 8 Vgl. Bonhoeffer: DBW 8, 497 (Brief von Bethge vom 26.06.1944); Green: Bonhoeffer, 150f. u. Altenähr: Bonhoeffer, 18ff. Schlingensiepen: Bonhoeffer, 111, nennt diesen Prozess “nach der Rückkehr aus den USA” eine “sehr grundsätzliche[n] Richtungsentscheidung, eine[r] völlige Neuorientierung”, die “bei ihm gekommen sein muss”. 9 Bonhoeffer: DBW 8, 397 (Brief an Bethge vom 22.04.1944). 10 Auch Bethge: DB, 250 u. Green: Bonhoeffer, 148, anerkennen das Prozesshafte der Wende Bonhoeffers. 11 Beides ebd., 124; vgl. auch 136ff. 12 Dass ebd., 105ff., daraus schließt, dass die Trennlinie zur Mittelphase erst in der zweiten Jahreshälfte von 1932 anzusetzen sei, dürfte damit zusammenhängen, dass er als Ankerpunkt die “fruition in the summer of 1932” (105) setzt, während in dieser Untersuchung der Blick auf den Wurzeln liegt; darum sei nicht verschwiegen, dass Green den Einfluss vornehmlich New Yorks auf Bonhoeffers Entwicklung nicht gebührend genug berücksichtigt. Wenn er auf Bonhoeffers “inau-
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Allerdings ist dies erst Resultat seiner Zeit in Amerika aus der Begegnung mit dem Social Gospel, der Bergpredigt samt pazifistischer Lesart und afroamerikanischer Frömmigkeit, gepaart mit der pragmatistischen Philosophie am Union Theological Seminary. Wie von Hase darum zurecht hervorhebt, hat Bonhoeffer gerade in seinem Anlauf gegen den letzten, ihm in seiner Auseinandersetzung mit der Philosophie noch fehlenden Komplex des Pragmatismus und Behaviorismus mehr gelernt, als er glaubte; denn er lernte, was der deutschen Theologie an Wirklichkeitsnähe fehlte und welche echten theologischen Fragen hinter den ethischen und gesellschaftspolitischen Herausforderungen der Kirchen standen.13
Dass von Hase mit dieser Terminologie der Wirklichkeitsnähe nichts anderes meint als das, was in dieser Untersuchung den fehlenden Baustein der Relationalität zur Welt bezeichnet, wird sich im Laufe dieses zweiten Teils deutlich zeigen. Denn die einzigartige Kombination von wirklichkeitsnaher Philosophie und dem Social Gospel am Union Theological Seminary in New York City, die neue Begeisterung für die Bergpredigt und den Erfahrungen einer “Wolke von Glaubenszeugen” sowohl dort als auch in der afroamerikanischen Abyssinian Baptist Church sind es, die Bonhoeffers ersten Amerikaaufenthalt für sein weiteres Leben und Denken so entscheidend prägen, dass sie persönlich wie auch theologisch als eine Art neue Weichenstellung zu verstehen sind. Dass dies – anders, als Eric Metaxas es gern hätte – keine einseitige Bekehrung vom Liberalismus zu einer konservativ bzw. einseitig evangelikalen Form des Christentums ist, wird dabei deutlich werden,14 zumal Bonhoeffer bereits in seiner Frühphase sehr differenziert die vernunftorientierte liberale Theologie in ihre Schranken gewiesen hat, wohl wissend um ihre positiven Errungenschaften. Vielmehr ist diese Wende im Sinne Greens als eine Entlarvung ihrer selbst “in contradiction of his own teaching”15 zu verstehen, die allerdings ohne den ers-
gural lecture and seminar papers from his year at Union Seminary” rekurriert, die “continue to paint the portrait of the isolated, self-imprisoned I, violating social relationships in its knowing and its intellectual power” (111), trifft dies nicht nur bis 1932 zu, sondern auch darüber hinaus. Auch Abromeit: Geheimnis, 11 (vgl. auch 91), datiert Bonhoeffers Wende ins Jahr 1932 als “vorgezogene ‘Krise um 30’ ”; doch beginnt das “direkte[n] Gespräch mit Gott” als Begründung – neben sozialpsychologischen Komponenten ja bereits in Amerika auf ganze neue Weise. 13 Bonhoeffer: DBW 8, 600f. 14 Vgl. Metaxas: Bonhoeffer, 108f. Dagegen hält Green: “Hijacking Bonhoeffer”. Das Mataxas Versuch, Bonhoeffer für seinen Evangelikalismus zu vereinnahmen, nicht neu ist, hat spätestens Haynes: Phenomenon, 65ff., aufgezeigt. 15 Green: “Discipleship”, 80.
152 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase ten Amerika-Aufenthalt undenkbar ist; insbesondere die Berührung mit der afroamerikanischen Frömmigkeit zieht eine sehr persönlich-erweckliche Komponente und Bonhoeffers “personal liberation”16 vom selbstzentrierten Ego nach sich. Worin aber dieser konkrete Einfluss im Einzelnen auf Bonhoeffers relationales Denken liegt, soll nachfolgend dargelegt werden; zudem wird sich im Weiteren zeigen, dass genau dieser Einfluss mit entscheidend für die Nähe zu Heschel ist. 3.2.1.1 Das Union Theological Seminary und der Einfluss des Pragmatismus Warum verschlägt es Bonhoeffer nach seinem Auslandsvikariat in Barcelona und seinen akademischen Qualifikationen der Dissertation und Habilitation eigentlich erneut ins Ausland und zudem in ein Studium, obwohl er doch eigentlich sowohl für die kirchliche als auch für die universitäre Laufbahn alle Anforderungen erfüllt hat? Ausschlaggebende Person des bevorstehenden Amerika-Aufenthaltes zum wiederholten Mal Superintendent Diestel: Nachdem Barcelona ein erster Schritt hin in die internationale und ökumenisch-kirchliche Welt gewesen ist, regt er “aus ökumenischen Absichten”17 auch diesen Auslandsaufenthalt an. Als “Sloane-Fellow”18 studiert Bonhoeffer deshalb ab Spätsommer 1930 für ein Jahr am New Yorker Union Theological Seminary.19 Anfängliche Euphorie kehrt sich jedoch bald in Frust über das studentische Niveau um.20 Denn als Hochburg des amerikanischen Liberalismus stellt Bonhoeffer am Union nicht nur Mangel an Theologie fest, sondern auch Überheblichkeit gegenüber Fundamentalisten, Sündenbewusstsein und sogar gegenüber Christus selbst.21 Insgesamt beschleunige das Union den Säkularisierungsprozess des Christentums in Amerika.22 Immerhin hält er dem Pfarramtsanwärter zugute, dass er “viel mehr von den Dingen des täglichen Lebens”23 weiß – die bereits angedeutete Facette, die 16 Green: Bonhoeffer, 3. 17 Bethge: DB, 179. 18 Vgl. ebd., 194. 19 Vgl. Bonhoeffer: DBW 10, 197f. (Brief an Großmutter Julie vom 06.09.1930); laut Bethge: DB, 183ff. u. Marsh: Strange Glory, 102 erreicht Bonhoeffer New York am 15.09.1930. 20 Vgl. Bonhoeffer: DBW 10, 206f. (an Schwester Sabine am 07.11.1930). Vgl. auch den späteren Bericht, ebd., 264: “Die Vorbildung zum Seminary in Highschool und College lehrt den Studenten zwar sehr vielerlei, aber eines nicht, nämlich selbständig arbeiten. Die textbook-methode und die völlige wissenschaftliche Bevormundung durch den Professor hat verheerende Folgen.” 21 Vgl. ebd., 219–221 (Brief vom 19.12.1930) u. 264 (Studienbericht für das Kirchenbundesamt). Zur Gesamtstellung des Union Theological Seminary innerhalb der liberalen Theologie Amerikas vgl. auch Ahlstrom: History, 776f. 22 Vgl. Bonhoeffer: DBW 10, 267. 23 Ebd., 264.
3.2 Durchs Gebet zur Bibel und in die Nachfolge: Bonhoeffers Mittelphase
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Bonhoeffer als letzte wichtige Relationalität (gegenüber der konkreten Welt) nun zu implementieren beginnt, nachdem seine Theologie durch seinen BarcelonaAufenthalt nach eigenen Worten bereits humanistischer geworden ist. Bonhoeffer selbst wird in diesem Umfeld als bedingungsloser Barthianer wahrgenommen, womit er aber tatsächlich längerfristig das dortige akademische Klima beeinflussen kann.24 In New York werde, so Bonhoeffer, über fast alles gepredigt, nur nicht über das Evangelium; statt dessen stehe dort “[e]in fortschrittsgläubiger ethischer und sozialer Idealismus der, man weiß nicht ganz woher, sich das Recht nimmt, sich ‘christlich’ zu nennen.”25 Hauptgrund für die Verflachung der amerikanischen Theologie ist Bonhoeffer zufolge der so genannte “Pragmatismus”, den er in New York in demselben Jahr kennenlernt wie Heschel während des Studiums in Berlin. Aus dem überschaubaren Maß an Veranstaltungen und Wochenstunden am Union26 sind dafür zwei Professoren besonders bedeutsam: Durch den deutschstämmigen Reinhold Niebuhr (1892–1971) lernt er die kirchliche Vielfalt, soziale und ethische Fragen in Bezug auf die afroamerikanische Bevölkerung und auch deren Schriftsteller kennen;27 bei Eugene W. Lyman (1872–1948) studiert Bonhoeffer nicht nur John Dewey und Alfred North Whitehead, sondern geht in einem individuellen Tutorium besonders dem Pragmatismus von James nach, was ihn trotz aller Kritik ungemein gefesselt haben muss.28 Dieser ist es aber laut Bonhoeffer, der am Union zu einem
24 Bonhoeffers Schwager Hans Christoph von Hase in Bonhoeffer: DBW 10, 601. Dieses Urteil wundert auch nicht, wenn im Zuge der Darlegung von Akt und Sein der Gotteserkenntnis stark barthianisch klingend die Rede von der “absolutely free personality” Gottes als “absolutely transcendent” (ebd., 427) ist, wie Bonhoeffer es in dem Artikel “Concerning the Christian Idea of God” als Nachgang eines Essays bei Lyman formuliert. “The only task of my theological thinking must be to make room for the transcendent personality of God in every sentence” (ebd., 427), freilich des gesprochenen Wortes. Dieses Wort ist aber niemand Geringeres als Christus selbst, weshalb die Offenbarung Gottes nur personal (und damit relational) stattfinden kann (vgl. 428). Darum gesteht Bonhoeffer dem Leser in streng barthianischer Art ein: “God remains always and entirely subject” (431), sodass der Glaube (engl. “faith”) “nothing but the act of receiving this word of God” (431) bedeutet. Der Mensch scheint geradezu zur Passivität verdammt zu sein und kann nichts tun, denn “God remains in His hiddenness” (432) und muss dem Menschen Kreuz und Auferstehung Christi offenbaren. 25 Ebd., 272. 26 Bonhoeffer belegt neun Wochenstunden im ersten Semester, elf Stunden plus “extrawork” im zweiten Semester am Union belegt; vgl. Green: “Bonhoeffer’s Courses”, 46. 27 Niebuhr ist seit 1928 am Union und – wie Barth – ohne Doktortitel Professor geworden; vgl. Bonhoeffer: DBW 10, 279 u. Handy: History, 175. 28 Lyman ist selbst Student an deutschen Universitäten (Halle, Marburg, Jena, Heidelberg) gewesen und seit 1918 Professor für Religionsphilosophie am Union; vgl. ebd., 148 u. Bonhoeffer:
154 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase langsamen aber stetigen Zersetzungsprozess der christlichen Theologie führt, aus dem Kritik sowohl gegenüber politischem, sozialem und ökonomischem wie auch theologischem und kirchlichem Konservativismus resultiert.29 Denn “Wahrheit ‘gilt’ nicht, sondern ‘works’, und das ist ihr [der Amerikaner; Anm. von P. M.] Kriterium. […] Auch Gott ist nicht geltende, sondern ‘wirkende’ Wahrheit, d. h. er ist im Prozeß des menschlichen Lebens tätig oder er ‘ist’ gar nicht.”30 Immerhin, so lobt er, vollzögen sich dadurch Denken und Leben in großer Nähe, und man rede nicht mehr von einem unbeteiligten Gott,31 wie Bonhoeffer dies ja bereits gegenüber dem Neukantianismus ausführlich kritisiert hat. Während er fest an der Tatsächlichkeit des transzendenten Gottes gegenüber der immanenten Welt festhält, verfällt für ihn in dieser amerikanischen Strömung jegliche Transzendenz Gottes, ebenso paulinische und lutherische Autorität, sodass das “justification by faith nicht wichtig, sondern gleichgültig sei.”32 Deshalb pocht Bonhoeffer mit äußerster Vehemenz auf das christliche Alleinstellungsmerkmal der Gnade Gottes, die jenseits rationaler oder pragmatistischer Erkenntnis stehe.33 Obwohl Bonhoeffers Kritik vernichtend wirkt, nimmt er doch einige der Impulse für sein eigenes relationales Denken auf und sät eine erste Grundlage für die später entwickelte Relationalität zur Welt.34 Denn James’ Ansatz der persönlichen religiösen Erfahrung, durch die die unterschiedlichen Ideen und Religionen als Systeme erst sekundär verstanden werden und somit auch die Dogmatik nicht ohne Vorannahmen existiert, schlägt in dieselbe Kerbe wie Bonhoeffers Unter-
DBW 10, 268f.; 281; eine kurze und schematische Gegenüberstellung von Bonhoeffers Religionsverständnis zu dem Deweys bietet Locigno: “Religion”, 5–8. 29 So Bonhoeffer: DBW 10, 263 (Studienbericht für das Kirchenbundesamt). 30 Ebd., 269, vermutlich nach James: Will, xii. Vgl. auch Tietz: Dietrich Bonhoeffer, 34. 31 Vgl. Bonhoeffer: DBW 10, 269. 32 So ebd., 270, laut Aussage eines nicht namentlich genannten Professors am Union Theological Seminary. 33 Vgl. ebd., 421f. (Essay über “The Religious Experience of Grace and the Ethical Life”). Niebuhr entgegnet, dass diese derart transzendente Form der Gnade ohne jeglichen ethischen Nutzen sei; vgl. ebd., 423 (Fußnote 23). S. auch den späteren Aufsatz “[concerning] the Christian idea of God”, in dem Bonhoeffer die grundlegenden soteriologischen Facetten wie Kreuz, Auferstehung und Sündenvergebung (aus seiner lutherischen Sicht) erläutert; vgl. ebd., 432. 34 So auch Wüstenberg: “Influences”, 144: “In sum, the year 1931 indicates a turning point in Bonhoeffer’s adaption of philosophy: Bonhoeffer started reading William James […]. James argues that if religion is true, it has meaning in life, but if it has no meaning in life, then it is false. This pragmatic argument is important for Bonhoeffer because of the value that James attributed to life and, more generally, of the earthbound-ness of pragmatism as a philosophy of life.”
3.2 Durchs Gebet zur Bibel und in die Nachfolge: Bonhoeffers Mittelphase
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scheidung des actus directus vom actus reflexus.35 Während James jedoch zum religiösen Pluralismus neigt, hält Bonhoeffer unbeirrt an Christus als Offenbarung Gottes fest und hebt Seinen Tod am Kreuz als Tod Gottes (samt notwendiger Trinitätslehre) hervor, wodurch deutlich wird, dass er hier bewusst einen Kontrapunkt zur amerikanischen Theologie und ihrer sozial-praktischen Form setzen will.36 Gleichzeitig versteht er den Glauben nun stärker als Tat, als “action”, wie schon Feil betont hat,37 womit Bonhoeffer allererste Ideen hin zur teuren durch Glaubensgehorsam aus der Nachfolge andeutet; der Glaube ist somit aktiv geartet, weil sich der Mensch darin Gott komplett ausliefert.38 3.2.1.2 Reinhold Niebuhr und das Social Gospel Noch gezielter als bereits James selbst schlägt Niebuhrs Kritik an jeder “Doktrinund Systemgläubigkeit” bei Bonhoeffer ein. Denn er macht Bonhoeffer darauf aufmerksam, dass “the question of how to be in the world – how one analyzes the contemporary social situation and responds to its needs and conflicts – mattered more to theology than all the parsing of sacred doctrines.”39 Zwar hat Seeberg Bonhoeffer theoretisch die Bedeutung des Sozialen gelehrt, was jedoch mehr zu einem System als zum realen Leben geführt hat. Niebuhr zielt nun direkt in das Herz dessen, was innerhalb dieser Untersuchung als “Relationalität zur Welt” bezeichnet wird, eine tatsächliche “Berührung” zwischen Individuum und Welt impliziert und sich so in der Theologie – als ein wichtiger Teil des relationalen Denkens – niederschlägt. Niebuhrs Denken, dessen anthropologischer Fokus sich gut mit dem Pragmatismus von James verträgt,40 ist zu jener Zeit in einem Umbruch, was insofern für 35 Die Kritik steht auch in nächster Nähe zu von Harnack, indem James die dogmatische Theologie als ein durch das Christentum adaptiertes philosophisch-religiöses System und Produkt versteht, das seiner Ansicht nach zu großen Teilen keinerlei praktische Relevanz besitzt, zumal er mit Hiob auf die Unaussprechlichkeit der Größe Gottes verweist. Vgl. James: Varieties, 382; 386. Bonhoeffer wiederholt dementsprechend in dem durch das Lyman-Seminar entstandenen englischsprachigen Aufsatz “[c]oncerning the Christian idea of God” von 1932 (veröffentlicht in The Journal of Religion Nr. 12), dass “Christian thinking has to be conscious of its particular premise, that is, of the premise of the reality of God, before and beyond all thinking” (Bonhoeffer: DBW 10, 424); vgl. auch Feil: Theologie, 55. 36 Zum James’schen Wahrheitspluralismus vgl. James: Varieties, 114f. u. ders.: Will, vii. Und s. Bonhoeffer: DBW 10, 423–433, bes. 432f. 37 So Feil: Theologie, 56; 122f. 38 Vgl. ebd., 123. 39 Marsh: Strange Glory, 106f. (nach den Worten von Larry Rasmussen). 40 Auch wenn Niebuhr sowohl Dewey als auch den Pragmatismus für unangemessen gegenüber der menschlichen Komplexität hält.vgl. Niebuhr: Moral Man, 35.
156 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase Bonhoeffer ganz entscheidend ist, weil dieser seine eigene zweite Wende vorwegnimmt.41 In alledem ist und bleibt aber der sozial-orientierte Einfluss des Social Gospel bei Niebuhr bestehen und beeinflusst Bonhoeffer immens mit seiner Nähe zur sozialen Frage des europäischen Christentums, das “all diese Dinge durchaus nicht aus-, sondern einschließe, aber daß die Bewertung unterschiedlich sei”.42 Darum ist für Bonhoeffer mit seinem Interesse an sozialen Strukturen klar, dass das Social Gospel “für mich auf lange Zeit hinaus bestimmend sein”43 wird. Das (nicht ausschließlich) amerikanische Phänomen des so genannten “Social Gospel” kocht – wie auch die “Soziale Frage” in Deutschland – im 19. Jahrhundert auf, zu Beginn des Industriezeitalters und den damit verbundenen Herausforderungen.44 Die Wurzeln liegen bereits im 17. Jahrhundert mit der aufkommenden Sklavenfrage; konkretere Konzepte zur “Sozialen Frage” begegnen ab dem 18. Jahrhundert – besonders in der zweiten Hälfte –, um mithilfe des christlichen Glaubens Lösungen für die sich häufenden gesellschaftlichen Missstände zu finden.45 41 Marsh: Strange Glory, 108: “It is the Niebuhrian voice that resonates in Bonhoeffer’s eventual resolve as a member of the German resistance ‘to speak of God at the center of life and address men and women … as responsible human beings.’ ” 42 Zur Nähe von Social Gospel und “Sozialer Frage” des 19. Jahrhunderts s. Deichmann: “Gospel”, 204: “The American social Gospel coincided with and was related to similar developments in other countries, especially Canada, Great Britain, Germany and other parts of Western Europe. The impact of both its theologies and practices extends past the fifty years or so (1865–1915) of its prominence, through the twentieth century American civil rights movement, and beyond.” Vgl. auch Hauschild: Lehrbuch 2, 745f.; 776–782; 797–809. 43 Bonhoeffer: DBW 10, 279. Im Zuge seines ökumenischen Engagements im Jahre 1932 verfasst Bonhoeffer sogar ein Memorandum über den Social Gospel – etwas, an das man sich erinnern soll; vgl. ders.: DBW 12, 203–212. Während in seinem ersten Bericht das Social Gospel dem Namen nach überwunden sei, “der Sache nach aber noch kräftig vorhanden” (ders.: DBW 10, 278), heißt es in seinem Memorandum deutlicher, dass sein geistiger Einfluss auf intellektuelle amerikanische Kreise (sicher denkt er auch an Niebuhr) stärker als irgendein anderer kirchlicher Einfluss sei, was die Sache für Bonhoeffer und auch sein Denken besonders brisant macht. 44 Vgl. Andjelic: Glaube, 18; Phillips: Kingdom, xviii, macht mithilfe von David Thomson darauf aufmerksam, dass der Ausdruck wie auch das Phänomen “Social Gospel” wohl zunächst in den 1880er Jahren in Großbritannien prominent wird und womöglich ursprünglich von Karl Marx aus seinem kommunistischen Manifest stammt. Zur “sozialen Frage” s. o. 45 Andjelic: Glaube, 18–23, bes. 23, sieht in der Gruppe der Initiatoren außerdem Kongregationalisten und Baptisten, obwohl Bonhoeffer: DBW 12, 205 gerade in den Fundamentalisten und von Erweckung geprägten christlichen Strömungen seiner Zeit der beginnenden 1930er Jahre deutliche Widerstände wahrnimmt. Als Strömungen innerhalb des diversen Phänomens werden von Bonhoeffer sowohl Methodismus und Unitarismus als auch Darwinismus und Pragmatismus genannt.
3.2 Durchs Gebet zur Bibel und in die Nachfolge: Bonhoeffers Mittelphase
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Unter den Hauptvertretern des Social Gospel spielt (nicht nur) für Bonhoeffer besonders der deutschstämmige Walter Rauschenbusch (1861–1918) eine wichtige Rolle.46 Denn Rauschenbusch wird inhaltlich-theologisch mehr und mehr durch eine Wiederbelebung der Propheten (und Jesu in seiner prophetischen Rolle) geprägt und ist damit als Lehrer sozialer Gerechtigkeit von besonderer Bedeutung – nicht nur als geistiger Vorläufer Niebuhrs.47 Niebuhr wiederum wird auch ein wichtiges Gegenüber für Heschel, während Rauschenbusch sich (wohl auch durch Niebuhrs Einfluss) im direkten Visier von Bonhoeffer befindet und als “[e]rster großer Lehrer des social Gospel”48 tituliert wird. Rauschenbusch gehört Bonhoeffer zufolge gegenüber vielen anderen zu den Vertretern eines gemäßigten Social Gospel, indem er Jesus gerade nicht auf einen reinen sozial-humanitären Verkünder reduziert, sondern auch die Stellen des Neuen Testaments ernst nimmt, die sich auf das Individuum beziehen, und damit dem evolutionären Denken der ursprünglichen Güte des Menschen entgegensteht, was Bonhoeffer aufgrund seines Erbsündenverständnisses natürlich begrüßt.49 Trotzdem wirft Bonhoeffer ihm – wie vielen anderen Vertretern des Social Gospel – einen “mangelnden Gehorsam gegen die Schrift”50 vor. Zwar würdigt er, dass die ethische Dimension der Propheten und die Lehre Jesu ernst genommen würden; explizit lobt er darum die Zentralität des Dekalogs, die Interpretation der Bergpredigt und das Ideal der Nächstenliebe, das Jesus in seinem Leben und im Kreuz vorgelebt habe, und die damit verbundene Reich-Gottes-Theologie deklariert er außerdem als “gut biblisch”.51 Doch die biblische Botschaft werde im Social Gospel missverstanden: “Nicht Lehre von Christus, sondern Christi Lehre. Sie ist der Höhepunkt der biblischen Verkündigung, die vorher in der Ethik des Prophetentums gipfelte.”52 Christus kommt laut Bonhoeffer also nicht zu Seinem Recht, woraus ein Fehlen der eschatologischen Dimension resultiert und womit
46 Nicht nur namentlich nimmt Rauschenbusch den meisten Raum bei Bonhoeffer ein, sondern ist auch theologisch am prägendsten, sowohl für Niebuhr als auch für Bonhoeffer. Einen kurzen biographischen Abriss findet man bei Andjelic: Glaube, 31f., dem sich eine ausführliche Analyse seiner Werke und seines Engagements anschließt. 47 Niebuhr hält ebd., 10, zufolge am 22.11.1957 einen Vortrag über Rauschenbusch als Initiator der Wiederbelebung der Propheten als Lehrer der sozialen Gerechtigkeit. 48 Bonhoeffer: DBW 12, 206 (Memorandum, vgl. Fußnote 43). 49 Vgl. ebd., 206. Laut Andjelic: Glaube, 34, ist Rauschenbusch ursprünglich stark durch Erweckungsprediger wie Dwight L. Moody geprägt worden und wendet sich erst ab 1886 bevorzugt den sozialen Fragen zu. 50 Bonhoeffer: DBW 12, 211. 51 Ebd., 210; vgl. 208ff. 52 Ebd., 208.
158 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase geschichtlicher Evolutionismus/Fortschrittsdenken und die zu positive Sicht auf die menschliche Natur einhergehen.53 Bonhoeffer hält statt dessen Christus als Mittler hoch wie auch Gott als Herrn und Gegenüber der Geschichte, zumal ihm zufolge das Neue Testament den Evolutionsgedanke nicht kennt.54 Aber er gesteht dem Social Gospel zu, dass “hier die praktische soziale Notlage gezeigt und die Christenheit in ihren Dienst gerufen wird”.55 Doch unter keinen Umständen will er Theologie oder gar die biblische Botschaft zugunsten ihrer Praxisrelevanz verlieren. Mit diesem Fokus befindet er sich nach dem dezentralen Stellenwert der Bibelexte während der universitären Qualifikationsschriften wieder in der Spur seiner Jugend. Doch Rauschenbusch und auch Niebuhr konfrontieren ihn auch mit einer neuen Dimension, die er eigens so noch nicht hat wahrnehmen können, weil er sich trotz aller Kritik immer noch in der deutschen, theorielastigen Geistesgeschichte befindet. Denn durch Rauschenbusch und Niebuhr eröffnet sich auf akademisch-theologischer Ebene für ihn eine ganz neue Tiefe seiner Theologie, die der Welt als Gegenüber Gottes durch Relationalität, ohne die gerade monierten Punkte von Gott als Herrn der Geschichte oder Jesus als Mittler einbüßen zu müssen. Genau das nämlich ist gerade Bonhoeffers Verdienst, sowohl dem Anliegen Niebuhrs nachzukommen, die Welt ernst zu nehmen und Gottes Nähe darin zu suchen, gleichzeitig aber Christus wie auch der Schrift als persönlichem Gegenüber – durch Relationalität – allerhöchste Priorität einzuräumen, um einen fruchtbaren Dialog in Gang zu bringen und praktische Konsequenzen zu ziehen. Rauschenbuschs (und auch Niebuhrs) Einfluss auf Bonhoeffer betrifft somit die Konkretion in der Überwindung des westlich geprägten Individualismus durch ein sozial relevantes Christentum, das auf der alttestamentlichen Prophetie und Jesus (als Prophet) fußt.56 Denn Bonhoeffers Theologie ist theoretisch bereits auf Sozialität angelegt; durch Rauschenbusch folgt nun ganz praktisch, “daß die Ursachen der wahrgenommenen sozialen Krise in der Struktur des Systems und in ungerechten sozialen Verhältnissen liegen.”57 Nicht nur das Individuum in seiner gesellschaftlichen Herausforderung wird zum Gegenstand von Theologie, 53 Vgl. Bonhoeffer: DBW 12, 210f. Die Kritik gegen das Social Gospel, Gottesreich auf Erden vollends realisieren zu wollen, hat Bonhoeffer sich bereits im Studium erarbeitet, sei es die Säkularisierung des Reiches Gottes unter anderem durch Leibniz und Hegel und/oder falsche Identifikation mit der empirischen Kirche; diese sei vielmehr “der einsame Wegweiser über die Welt hinaus auf das Reich Gottes” (ders.: DBW 9, 349). 54 Vgl. ders.: DBW 12, 210; vgl. auch aus derselben Zeitders.: DBW 11, 272. 55 Ders.: DBW 12, 209. 56 Vgl. Andjelic: Glaube, 17. 57 Ebd., 97.
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sondern die Gesellschaft selbst; die Lösung liegt ihm zufolge in einem gerechten System, dessen Antworten er im bereits erwähnten Prophetentum findet. Denn [i]hre Religion war auf diesseitige Probleme orientiert, erkannte das Böse nicht nur im Menschen, sondern auch in seinem kollektiven Wesen und in den Strukturen der gesellschaftlichen Macht. Das prophetische Ideal war eine gerechte Gesellschaftsordnung, und die Propheten riefen zur Wiederherstellung der Gerechtigkeit in sozialen Beziehungen auf. Ihre Einsichten über Gerechtigkeit, Gottesbild, Moral, Sünde, Erlösung wie auch die Offenbarung der Gerechtigkeit und Liebe Gottes in Jesus müssen nach Rauschenbusch die christliche Dogmatik und Praxis prägen, die so ihr prophetisches Erbe wiederbelebt.58
Nach und nach wird Bonhoeffer diese Diesseitigkeit der Theologie in sein eigenes Denken implementieren, was in seinen Briefen aus der Haft schließlich kulminiert, ohne sich oder seine bisherigen Wurzeln zu verleugnen. Mit der Frage, ob gerechte Gesellschaftsstrukturen möglich sind und in welchem Verhältnis sie zur menschlichen Konstitution stehen, beschäftigt sich auch Niebuhr zur Zeit von Bonhoeffers erstem Amerika-Aufenthalt 1930 und befindet sich mitten in einem Umbruch hin zu einem “Christian Realism”; mit dem überschreitet er trotz seiner kontinuierlichen Orientierung am Social Gospel den bis dato vertretenen Pazifismus, der seinen literarischen Niederschlag schließlich in “Moral Man and Immoral Society” aus dem Jahre 1932 findet – also nach Bonhoeffers Rückkehr nach Deutschland.59 Doch auch schon in Schriften aus den 1920er und 1930er Jahren, also bereits vor seiner Begegnung mit Bonhoeffer, wird der Einfluss Rauschenbuschs und der biblischen Propheten immer deutlicher, wenn Niebuhr von Gott trotz – oder gerade wegen – Seiner Liebe auch von einem gerechten Richter spricht, der Gerechtigkeit innerhalb der Geschichte fordert.60 In seiner “Interpretation of Christian Ethics” wird er darum letztlich unzweifelhaft fordern, es sei “necessary for our generation to return to the faith of prophetic Christianity to solve its problems”, d. h. “with a stronger emphasis upon its prophetic and a lesser emphasis upon its rationalistic inheritance, to develop a more adequate
58 Andjelic: Glaube, 97. 59 Dies ist eine der zentralen Thesen von Milenko ebd., 9; vgl. auch Marsh: Strange Glory, 122. Zwar liest Bonhoeffer das Werk erst 1934, aber die inhaltliche Auseinandersetzung damit dürfte bereits zuvor in Amerika begonnen haben, was implizit auf seine Nachfolge und explizit auf die Ethik einwirken wird, wie noch zu zeigen ist; vgl. Bonhoeffer: DBW 13, 171. Ebenso sind Niebuhrs zentrale Gedanken zum prophetischen Christentum bereits vorhanden, wie sie dann in An Interpretation of Christian Ethics aus dem Jahre 1935 ausführlicher entfaltet werden werden, auch wenn Bonhoeffer ihren literarischen Niederschlag wohl erst im Zuge seiner zweiten AmerikaReise 1939 zur Kenntnis nehmen wird. 60 So Andjelic: Glaube, 157f. S. auch Niebuhr: Interpretation, 13.
160 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase social ethic within terms of its understanding of the total human situation.”61 Damit spricht er Bonhoeffers Wertschätzung der Bibel gänzlich aus dem Herzen und weist ihm darin gleichzeitig eine ganz neue Perspektive auf die Bibel auf, da Bonhoeffer in seinen akademischen Frühwerken theologisch v. a. einen Blick für das Neue Testament gehabt und das Alte Testament lediglich auf Christus hin gelesen hat. Hermeneutisch entscheidende Komponente Niebuhrs, die all diesen Gedanken zugrunde liegt und im Weiteren auch Bonhoeffer entscheidend prägen wird, ist das, was Heschel als “hebräisches Denken” versteht. Auch wenn Niebuhr dieses Vokabular so nicht benutzt, meint er inhaltlich dasselbe, indem er sich immer wieder gegen platonisch-dualistisches Denken wehrt, das sein Hoffnung lediglich auf das Jenseits setzt.62 So kritisiert er auch Bonhoeffers frühe Soteriologie mithilfe dieser Perspektive, deren Gnadenverständnis zu transzendent gedacht sei.63 Und ganz im Sinne der bonhoefferschen Gefängnisbriefe problematisiert Niebuhr deshalb nicht den Tod an sich, sondern die Sünde, um tragischen Konsequenzen von falschen Ewigkeiten und der Endlichkeit zu entkommen.64 Statt dessen insistiert er immer wieder auf ein prophetisches, hebräisches Christentum, das mithilfe des “Mythos” von Gott als Schöpfer zu einer Diesseitigkeit durchdringt, jedoch ohne Glorifizierung des Ist-Zustandes; denn durch das Schöpfertum bleibe Gott, so Niebuhr, sowohl Richter als auch Erlöser.65 Sowohl im Sinne Bonhoeffers als auch Heschels ist Niebuhrs Schöpfergott den alttestamentlichen Propheten und auch Jesus sowohl nahe als auch stets ein transzendentes Gegenüber, womit er explizit die Einseitigkeiten von Barths Gottesparadigma als gänzlich Anderem und Schleiermachers Religionsverständnis als Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit verwirft.66 Statt in eine “asocial quest for the absolute”67 zu verkommen, bleibt Religion damit nicht nur an die Moral gekoppelt, sondern auch an real korrumpierte Menschen in der realen Welt; als eine Konsequenz der Sünde nennt Niebuhr den Imperialismus, der aus einem Drang nach Ordnung mit egozentrischen Impulsen entsteht.68 Mit diesem Verhältnis von gesamtgesellschaftlicher Gerech-
61 Niebuhr: Interpretation, 61. Vgl. auch Andjelic: Glaube, 112 und Crouter: Niebuhr, 4; 14; 17 u.a. 62 So Niebuhr: Moral Man, 61; vgl. auch ders.: Interpretation, 19; 46. 63 Vgl. Bonhoeffer: DBW 10, 423 (Fußnote 5 zum Essay über “The Religious Experience of Grace and the Ethical Life” vom Winter 1930/31). 64 So Young: “Bonhoeffer And Niebuhr”, 288ff. 65 Vgl. Niebuhr: Moral Man, 61; ders.: Interpretation, 117f. 66 Vgl. ders.: Moral Man, 68f.; so auch Andjelic: Glaube, 153f.; 156. 67 Niebuhr: Moral Man, 70. 68 Vgl. ders.: Interpretation, 52.
3.2 Durchs Gebet zur Bibel und in die Nachfolge: Bonhoeffers Mittelphase
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tigkeit und individueller Moral, die sich gegenseitig bedingen müssten, verknüpft Niebuhr die klassisch-protestantische Individualsicht mit dem Anliegen des Social Gospel.69 Für Bonhoeffers relationales Denken ist in diesem Zusammenhang ausreichend zu wissen, dass das System/Kollektiv “Gesellschaft” mit ihren Menschen als ein konkretes Gegenüber mehr und mehr ins Visier gerät und bereits von den biblischen Propheten kritisiert worden ist. Denn zunächst ist Bonhoeffer sichtlich irritiert von Niebuhrs Ansatz –70 den er freilich explizit erst 1932 in Moral Man and Immoral Society formuliert, aber als Prinzip sicherlich bereits früher kommuniziert –, es gebe keine absoluten Werte, die sich von der Bibel in die Realität übertragen ließen, sondern vielmehr gleiche es einem Wettstreit um das Richtige anhand sozialer Konsequenzen zwischen Freiheit und Solidarität auf Grundlage o. g. biblischer Erkenntnisse.71 Denn Bonhoeffer, der bis dato noch im Erbe des Nationalismus gestanden hat, ist zunächst vom Pazifismus fasziniert, bevor er mit Ernüchterung ab 1940 mit biblisch-dogmatischer Fundierung Niebuhr folgen wird. Aber nicht nur Niebuhr ist in dieser Hinsicht prägend. Praktische Aspekte hinsichtlich einer Relationalität zur Welt erhält Bonhoeffer außerdem durch das Seminar bei dem kontroversen Harry Ward (1873–1966), “a forceful crusader for the social Gospel”.72 Denn das Seminar ist “designed to equip seminarians with the skills to interpret and evaluate ‘current events in the light of the principles of Christian ethics.’ Students were required to read and analyze newspaper articles, political journals, government reports, and various legal documents – all from the perspective of ‘the Jesus of the proletariat.’ ”73 Mindestens ebenso praktisch ist außerdem Charles Webbers (1893?–1982) Kurs “Church and Community”, bei dem es um gelebte Theologien geht, in dem Bonhoeffer “fast jede Woche eine Visitation solcher character building agencies [ge]macht”.74
69 Vgl. Niebuhr: Moral Man, 257f. 70 Marsh: Strange Glory, 108, wirft zurecht sogar ein, dass Bonhoeffer Niebuhr niemals explizit Dankbarkeit äußert über die theologischen Impulse. 71 Vgl. Niebuhr: Moral Man, 174f. 72 Handy: History, 147f. Ward ist seit 1918 Professor für Ethik am Union. 73 Marsh: Strange Glory, 124. 74 Weiter heißt es bei Bonhoeffer: DBW 10, 287: “Settlements, YMCA, home missions, cooperative houses playgrounds, children court, night schools, socialist schools, asyls, youth organisations, Association for advance of coloured people.” Webbers dazugehöriges Buch “A History of the Development of Social Education in the United Neighborhood Houses of New York” hat Bonhoeffer laut Marsh: Strange Glory, 122, regelrecht verschlungen. Zur Altersangabe vgl. N.N.: “Webber”, B00010.
162 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase 3.2.1.3 Christlicher Pazifismus auf Grundlage der Bergpredigt Neben den wichtigen Impulsen durch das Social Gospel vonseiten Rauschenbuschs, Niebuhrs und co. wird der noch nationalistisch geprägte Bonhoeffer durch einen christlichen Pazifismus auf Grundlage der Bergpredigt herausgefordert – vorgelebt und erläutert durch seinen Kommilitonen und bleibenden Freund Jean Lasserre und die “erste[n] ökumenische[n] Konfrontation”.75 Die Bergpredigt (Mt 5–7) mitsamt des Friedensgebotes Jesu begeistert ihn derart, dass er schließlich sieben Jahre später mit seiner Nachfolge eine theologische Auslegung vorlegen wird, die den literarischen Höhepunkt dieser Ausrichtung darstellt. Damit verbunden keimen erneut Indien-Reisepläne auf,76 deren erste Ansätze in der Vikariatszeit 1928 liegen; leider kommt diese Reise in den Osten niemals zustande, in dem doch wundersamerweise das Evangelium entsprungen sei, wie Bonhoeffers Großmutter Jahre später bei seinem letzten Versuch anmerken wird, nach Indien zu gelangen, um Gandhis gewaltlosen Widerstand kennenzulernen.77 Immerhin schlägt Bonhoeffer inhaltlich die Brücke, indem er sich mit Gandhis Autobiographie und so seinen Versuchen des gewaltlosen Widerstandes (“Satyagraha”78 ) auseinandersetzt,79 was Lasserre “delighted”.80 Denn neben Leo Tolstois “The Kingdom of God is within You” ist es die Bergpredigt, die “went straight to my [Gandhis; Anm. von P. M.] heart.”81 Aus dieser Haltung gewaltlosen Widerstandes auf Grundlage der Bergpredigt ist Bonhoeffers weiteres Handeln innerhalb dieser zweiten Phase zu verstehen.
75 Bethge: DB, 191. Dass Heimbucher: Christusfriede, 39, es entgegen der Position Bethges für übertrieben erachtet, “von einem ‘großen Einfluß’ der pazifistischen Haltung Lasserres auf Bonhoeffer zu sprechen”, verwundert. Denn in gleichem Atemzug, schon auf S.36, hat er selbst Bonhoeffers Wandel hin zu friedensethischer Gesinnung dokumentiert. Und auch der Einfluss der Bergpredigt, dem Friedensdokument schlechthin, wird ihn über Jahre hin begleiten. Bonhoeffers ehemaliger Student Wolf-Dieter Zimmermann berichtet darum mit vollster Überzeugung von Bonhoeffers “‘Wende zum Pazifismus’, die beide [Bonhoeffer und Lasserre; Anm. von P. M.] in New York verband” (Zimmermann: Bruder Bonhoeffer, 17). 76 So noch 1934, wie Bonhoeffer in einem Brief an Niebuhr äußert; vgl. Bonhoeffer: DBW 13, 171. 77 Vgl. Marsh: Strange Glory, 220f. 78 Gandhi: Story, 291f. 79 Vgl. Marsh: Strange Glory, 221, der auf Julius Rieger als Quelle verweist. 80 Ebd., 131. 81 Gandhi: Story, 77 (zum Stellenwert Tolstois vgl. 93 u. 136).
3.2 Durchs Gebet zur Bibel und in die Nachfolge: Bonhoeffers Mittelphase
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3.2.1.4 Adam Clayton Powell Sr. und Bonhoeffers schwarzer Christus Als letzter entscheidender Einfluss Bonhoeffers aus dieser Zeit ist die afroamerikanische Kirche, Kultur und Theologie zu nennen –82 das, was später in die so genannte “Black (Liberation) Theology” mündet – die Bonhoeffer (besonders posthum) sogar wiederum mitgeprägt haben könnte.83 Nachdem seine Suche nach einer “Wolke der Glaubenszeugen” (nach Hebr 11) unter den weißen Kirchen vergeblich gewesen ist,84 wird Bonhoeffer schließlich in der Harlemer Abyssinian Baptist Church fündig, unweit des Union Theological Seminary, wohin ihn sein Mitstudent Albert Franklin Fisher eingeladen hat.85 Denn dort – und nur dort, in den “Negerkirchen”86 – hört er nach eigenen Angaben das Evangelium. Dort bekommt der Glaube im Gegensatz zum Social Gospel des Union “nicht nur eine soziale, sondern auch eine emotionale, ja körperliche Dimension zurück”, wie Renate Wind feststellt:87 “[T]he whole way [zurück von der Abyssinian Baptist Church; Anm. von P. M.] Bonhoeffer speaking excitedly […] of the preaching, the congregants’ participation, and ‘especially the singing of black spirituals’.”88 Aber nicht nur in der Rolle des Rezipienten ist Bonhoeffer aktiv, sondern schnell übernimmt er (zusammen mit Fisher) eine “Gruppe Negerjungens”89 wie auch andere Aktivitäten und erhält dadurch Einzug in ihre Häuser wie auch (wiederum durch Fisher) die Verbindung “zu den Führern der jungen Negerbewegung
82 So Bonhoeffer: DBW 10, 274: “Dieser persönliche Umgang mit den Negern war für mich eines der entscheidendsten und erfreulichsten Ereignisse in meinem amerikanischen Aufenthalt.” 83 Vgl. hierzu Young: Black And African Theologies und v. a. Cone: Black theology, 28 (Fußnote 4), der Bonhoeffer (und auch Barth und Niebuhr) explizit zu denen zählt, deren Theologie er als “black” bezeichnet. Denn dieses Label steht bei Cone dafür, ob jemand für “the oppressed of the land” streitet. Diese explizite Färbung der bonhoefferschen Theologie entsteht freilich erst durch diese Amerika-Phase; dass er damit im Nachhinein aber wiederum die (schwarze) Befreiungstheologie der 1960er Jahre beeinflusst haben könnte, diskutieren Roberts: Black Theology, 45 und Haynes: Phenomenon, 54–56. 84 Vgl. Williams: Jesus, 16; 19. 85 Vgl. Bonhoeffer: DBW 10, 274; s. auch Bethge: DB, 187 und Porter II: “Alliance”, 120. 86 Bonhoeffer: DBW 10, 274. 87 Vgl. Wind: Rad, 70. 88 So Marsh: Strange Glory, 116f. (nach dem Zeugnis des Mitstudenten Myles Horton) Diese Emotionalität als Besonderheit der afroamerikanischen Christen betont auch Clayton Powell Sr., Pastor der Abyssinian (Clayton Powell Sr.: Against, 279): “The Jews nationalized religion; the Romans organized religion; the Greeks philosophized religion; the Anglo-Saxons individualized religion. […] I believe that the colored people are going to emotionalize religion.” Dass Clayton Powell Sr. diese Komponente sogar bewusst fördert, hebt Young: No Difference, 118, hervor. 89 Bonhoeffer: DBW 10, 282.
164 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase im Howard college [sic!] in Washington”.90 So bekommt Bonhoeffer Einblicke in das wirkliche Gesicht Amerikas, dass von Rassenhass geprägt ist;91 mithilfe dieser Erfahrungen erlangt er die wohl entscheidende, wegweisende Sensibilisierung für seine frühzeitige Positionierung gegen die Nazis und ihren Rassenhass insbesondere gegenüber Juden.92 Auch wenn Bethge mit seiner großen Biographie von 1966 bereits relativ früh den afroamerikanischen Einfluss auf Bonhoeffer während seines AmerikaAufenthaltes benannt hat, ist das Ausmaß dieses Einflusses vonseiten der deutschen Forschung bisher nur peripher thematisiert worden, was unter anderem daran liegen mag, dass Bonhoeffer selbst diesen Einfluss schriftlich nie wirklich thematisiert hat.93 Dass die amerikanische Forschung an diesem Punkt (naheliegenderweise) fortgeschrittener ist,94 dürfte zwar offensichtlich sein, rechtfertigt aber nicht das nahezu vollständige Ausblenden im deutschsprachigen Sektor. Besonders deutlich wird diese Diskrepanz anhand von Rev. Adam Clayton Powell Sr. (1865–1953), dem Pastor und Hauptprediger der Abyssinian Baptist Church, der Bonhoeffer während seiner sechs Monate dort sowohl theologisch als auch persönlich entscheidend prägt; weder Bethge noch Schlingensiepen erwähnen ihn jedoch in ihren Biographien. Um das Ausmaß des Einflusses durch die Abyssinian Baptist Church und Clayton Powell Sr. zu begreifen, muss man sich zunächst einmal den Rahmen vergegenwärtigen. Harlem (Upper Manhattan, nördlich des Central Park), in dessen Zentrum ab 1908 die Abyssinian residiert – nur 3km entfernt vom Union –, ist zu jener Zeit nationaler Magnet von
90 Bonhoeffer: DBW 10, 274. Fisher hat zuvor am Howard College studiert. 91 Ebd., 282. 92 Dementsprechend Williams: Jesus, 123: “As a result of his time in Harlem, the twenty-sevenyear-old Bonhoeffer was clear from the beginning of the Nazi threat that the mixture of race, nationalism, and religion was lethal.” Vgl. auch ebd., 54; 57; 75; 78. Bethge: “Juden”, 177, ergänzt, dass schon “die ständige jüdische Präsenz in der Familie” keinen Antisemitismus zugelassen habe. Denn nicht nur wächst er im Umfeld zahlreicher Juden auf, sondern dürfte außerdem durch von Harnack schon vorgewarnt gewesen sein, der sich – mindestens seit 1890 – gegen Adolf Stoeckers Rassendiskriminierung ausgesprochen hat, besonders auf den “Fahnen des evangelischen Christentums” (nach Kaltenborn: Harnack, 84). Bethge: “Juden”, 178, weiß allerdings von “erhebliche[n] Elemente[n] von Antisemitismus” bei von Harnack. 93 Umso begrüßenswerter ist der übersetzte Vortrag “Bonhoeffer als Schüler des ‘schwarzen Christus’ in Harlem” von Reggie Williams im Bonhoeffer Rundbrief vom November 2015, Williams: “Bonhoeffer als Schüler”, 25–41. 94 Dass selbst von amerikanischer Seite aus hier “further reflection” nötig ist, hebt Porter II: “Alliance”, 117, hervor.
3.2 Durchs Gebet zur Bibel und in die Nachfolge: Bonhoeffers Mittelphase
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Erneuerung, der so bezeichneten “Harlem Renaissance”.95 Geradezu als “Megachurch” strahlt Abyssinian als theologisch-kirchlicher Leuchtturm und “epicenter of Christian life”96 in das ganze Land hinaus, was allen voran an Clayton Powell Sr. liegt.97 Dass Clayton Powell Sr. Bonhoeffer massiv darin beeinflusst haben dürfte “to see familiar things in a previously hidden dimension”,98 ist besonders in den letzten Jahren vonseiten der amerikanischen Forschung immer wieder betont worden. Als “prophetic, Spiritual interpreter of the Bible”99 kombiniert Clayton Powell Sr. “the fire of a revivalist preacher with great intellect and social vision”.100 Grundlage ist ein “simple faith in God”,101 den er im Geiste von James damit begründet, dass die meisten Menschen nicht an Doktrinen, sondern an praktischer Interpretation von dem Geiste Jesu interessiert seien.102 Wesentlichen Einfluss auf Bonhoeffers praktisch orientierte, relationale Hermeneutik wie auch den besonders in der Nachfolge thematisierten einfältigen Ge95 Williams: Jesus, 37f.: “Between the late nineteenth century and the mid-1930s, Harlem, New York, was the destination of choice for masses of people caught on the wrong side of a global color line. The Harlem Renaissance was birthed in the course of an increasing black mobility, most notably the Great Migration. […] Both the Great Migration and the Harlem Renaissance embodied hope that mobilized a transition from an abstract representation by oppressive political powers of colored people as fictional characters in a worldwide narrative of white supremacy to an authentic representation of the global ‘colored’ world. The Harlem Renaissance saw a proliferation of music, art, and literature that coincided with a developing political and theological black selfunderstanding in the formation of black culture from the Harlem community in Manhattan. It was the rebirth of blackness transpiring in America – a Renaissance in Harlem.” “Harlem became the symbol of liberty and the Promised Land to Negroes everywhere”, so der Zeitzeuge Clayton Powell Sr.: Against, 71. 96 Porter II: “Alliance”, 118. 97 Neun weitere bezahlte Angestellte, sieben Bibelklassen, die größte Erwachsenenbildungsstätte und das größte Lehrer-Trainings-Center von ganz Amerika vervollständigen das Bild der Abyssinian. “Today”, so schreibt Clayton Powell Sr.: Against, 288, Ende der 1930er Jahre, “it [Abyssinian] is considered the largest and most effective social, religious and educational institution in the world” mit zwischen “some seven thousand members” (so Marsh: Strange Glory, 116) und “fourteen thousand members” (so Metaxas: Bonhoeffer, 108). 98 Marsh: Strange Glory, 119. 99 Clingan: Against, x. 100 Metaxas: Bonhoeffer, 108; vgl. auch Young: No Difference, 117. 101 Clayton Powell Sr.: Against, 275: “The Negro does not try to rationalize God, the Bible and religion, but by faith he accepts all three”. 102 Ders.: Palestine, 98f.; 130; 166 u. ders.: Against, 64: “The majority of men do not care a lollipop about church doctrines; they are looking for a practical translation of the spirit of Jesus Christ in the everyday life of its members. […] Christ came to give the world, not a set of doctrines and creeds, but an example of perfect manhood.” S. auch Clingan: Against, 26.
166 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase horsam übt ebenfalls Clayton Powell Sr. aus: “Although we read the Bible primarily to get the words of God, our ultimate aim is to see the face and life of Jesus Christ with the view of imitating that life.”103 Noch deutlicher wird bei ihm der Wunsch, der Bibel auf Augenhöhe und in Gehorsam entgegenzutreten, wenn er im Sinne der alten Rabbinen formuliert: “I used to try to go through the whole Bible, but now I am trying to let the Bible go through me.”104 Deshalb ruft er zur Rückkehr zur Bibel als “highest place in your affections” auf, um eine “wonderful transformation in your life”105 zu erzielen, sodass es “will cultivate the mind.”106 Diese Einstellung wird Bonhoeffer intensiv nach seiner Rückkehr aus den Staaten adaptieren, insbesondere in Gemeinsames Leben. Auch wenn aus heutiger Sicht manche der Ansichten Clayton Powell Sr.s fundamentalistisch klingen,107 dürften seine drei praktischen Schritte zum Umgang mit der Bibel Bonhoeffer immens geprägt haben: – – –
Bibel Memorieren statt simples Lesen die Bibel Beten persönlich wichtige Bibelverse Weitergeben108
Und auch die Spirituals, die Clayton Powell zur Lebendigkeit des Bibelverständnisses verwendet, gehen an Bonhoeffer nicht spurlos vorüber.109 Ziel des simplen Glaubens beim Lesen der Bibel ist Clayton Powell Sr. zufolge gerade nicht die Trennung von Gottes- und Menschenwort innerhalb der Bibel, wie dies vonseiten der liberalen Theologie propagiert wird.110 Vielmehr vertritt er eine Vielschichtigkeit des Glaubens und lässt somit offene Fragen und sogar Gegensätzlichkeiten bewusst stehen.111 Besonders in Bonhoeffers Gefängnisbriefen wird dies auftau-
103 Clayton Powell Sr.: Palestine, 151. 104 Ebd., 206. 105 Beides ebd., 199. 106 Ebd., 200; vgl. auch ebd., 192. Weiterhin begründet ebd., 196 den Stellenwert der Bibel damit, dass “all pre-eminently useful characters in the Church had an inexpressible passion for the word of God.” 107 Besonders Aussagen wie ebd., 201. 108 Vgl. ebd., 206; s. auch Clingan: Against, 19f. 109 Ebd., 14: “His [Clayton Powells; Anm. von P. M.] use of Spirituals to interpret the Bible was a basic motif under-girding his opposition to the cheap grace of racist Fundamentalists and Liberals in his efforts to transform the world come of age.” Zu Bonhoeffers Inspiration durch die Spirituals vgl. Bonhoeffer: DBW 10, 224; 275 u. ders.: DBW 15, 454. 110 Vgl. Clingan: Against, 78. 111 Vgl. ebd., 77.
3.2 Durchs Gebet zur Bibel und in die Nachfolge: Bonhoeffers Mittelphase
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chen, was durch die in Harlem stattfindenden Jazz-Improvisationen auf der Hand liegt, wenn er schlussendlich von “cantus firmus” und einer “Polyphonie des Lebens” spricht.112 Dies hat für Clayton Powell Sr. christologische Konsequenzen. Auf den ersten Blick etwas moralistisch klingend, pocht er darauf, dass “Jesus was the only ideal ever seen by the human eye. […] Jesus is the only morally perfect man who ever walked this earth. […] In Christ alone no sin is found. […] Aside from Jesus, there is no man in all this world good enough in thought, word and act to be your moral ideal.”113 Allerdings “[l]ately”, wie Marsh feststellt, he had begun to dwell on Jesus as one who wandered into distressed and lonely places to share the struggles of the poor as a friend and counselor. Bonhoeffer’s later formulation of the ‘Christological incognito’ bears the impress of Powell’s decisive awakening, of Christ going incognito into the world, ‘an outcast among outcasts,’ hiding himself in weakness.114
Das, was Bonhoeffer zuvor als relativ abstrakte theologia crucis gekannt hat, wird nun in die konkrete Situation von Unterdrückung hinein transportiert und bietet damit eine theologisch existentielle Prägung für Bonhoeffers relationales Denken. Clayton Powell Sr. schafft es so, Bonhoeffers lutherisches Fundament und die durch die Sozialität gefärbte Theologie mit der konkreten Relationalität zur Welt und den konkreten Menschen zu verbinden. Damit nimmt er zentrale Gedanken auch der späteren afroamerikanischen Befreiungstheologie vorweg,115 die Bonhoeffer nach seiner Rückkehr nach Berlin in die KonfirmandenBetreuung integrieren wird; aber auch sein Widerstand gegen die Nazis und die in der Tegeler Haft entstehende theologische Formel von Christus als “Mensch für andere” greifen diese Prägung auf, wenn Bonhoeffer über ein religionsloses Christentum nachdenken wird.116 Man findet darum an dieser Stelle einen 112 So auch Holland: “Manhattan”, 374: “Theology, Bonhoeffer suggested, is neither a neat harmony nor a mere symphony, but it is a polyphony. A polyphony in this context is a musical piece in which two or more different melodies come together in a satisfying way. According to Bonhoeffer, the church’s cantus firmus, its fixed traditional melody, must remain in place yet invite the addition and innovation of other voices into the flow of the music. The introduction of this metaphor into his theology marked a movement in his thought from the imitation motif of The Cost of Discipleship or Nachfolge to the more improvisational style of his later works, such as Ethics and Letters and Papers from Prison.” 113 Clayton Powell Sr.: Palestine, 152f. 114 Marsh: Strange Glory, 117f. 115 So bei Cone: Black theology, 202f. 116 Vgl. Williams: Jesus, 104; 107.
168 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase entscheidenden Wendepunkt Bonhoeffers weg vom nationalistischen Denken im Anklang an eine falsch verstandene, pseudo-lutherische Uroffenbarungslehre, wie es nachweislich noch 1929 in seinen Vorträgen in Barcelona vorherrscht. Clayton Powell Sr. selbst wird dadurch auch als Vertreter eines Social Gospel sichtbar, der nicht zuletzt ebenfalls durch die Bergpredigt wie auch Gandhi geprägt ist, wie er dies pointiert im Watchman Examiner darlegt.117 Dies hat für ihn derartige Folgen, dass er sachlich das anprangert, was Bonhoeffer in der Nachfolge unter “billiger Gnade” definieren wird, wenn er darauf hinweist, dass “[w]e have thousands of people in our churches who profess the name of Christ without the life of Christ.”118 Die Behauptung, Bonhoeffer habe zwei seiner markantesten Begrifflichkeiten, nämlich “billige Gnade” (engl. “cheap grace”) und “mündig gewordene Welt” (engl. “world come of age”), daher maßgeblich von Clayton Powell Sr. kopiert, lässt sich allerdings nur sehr schwer nachweisen.119 Was Clingan zu-
117 Vgl. Clayton Powell Sr.: Palestine, 95. Ders.: Against, 271: “Jesus was the outstanding exponent of spiritual meekness. Jesus advocated the policy of non-resistance.” Vgl. auch ders.: Palestine, 190: “Mahatma Gandhi, who is the greatest embodiment of moral force in this universe.” so auch Clingan: Against, 54. 118 Clayton Powell Sr.: Palestine, 122. 119 Diese These hat Ralph G. Clingan vor einigen Jahren aufgestellt (Clingan: Against, ix): “After learning from Powell, he [Bonhoeffer; Anm. von P. M.] calls others to work against cheap grace in a world come of age because they love Jesus, phrases he hears Powell use in spite of death threats from Fundamentalists during the six months he attends Abyssinian Baptist Church with Union Seminary classmate Frank Fisher.” Unterstützt wird diese These durch Heschels Tochter Susannah (in einer E-Mail vom 27.03.2015), die auf Anfrage des Verfassers darlegt, dass Heschel den Ausdruck “Do not sell salvation too cheaply” in seinem Vortrag zu “Protestant Renewal: A Jewish View” von 1963 (Heschel: Insecurity, 175) nicht von Bonhoeffer übernommen habe, sondern dass “[t]he phrase ‘cheap grace’ does not originate with Bonhoeffer, but with the New York pastor Adam Clayton Powell. It was a phrase that was invoked very very often in the 1960s. Bonhoeffer was not well known in the US until the 1960s, and I am well aware of some of my father’s friends (e. g., the Berrigan brothers) citing him.”Gegen Clingans und Susannah Heschels These spricht jedoch manches. Denn (Abraham) Heschel selbst weiß nichts von der Verbindung beider Begrifflichkeiten zu Clayton Powell Sr.: “World come of age” bringt Heschel im Jahr 1965 mit “[t]he famous dictum of Dietrich Bonhoeffer” (ders.: Grandeur, 276 in “No Religion is an Island”) in Verbindung; “Do not sell salvation too cheaply” (ders.: Insecurity, 175, “Protestant Renewal: A Jewish View”,1963)) ordnet er niemandem explizit zu, wobei diese allgemeinere Formulierung schon Jahrzehnte bekannt ist, wie ein Zeitungsartikel des Pastor Edward Williams aus dem Jahr 1929 verdeutlicht; vgl. Williams: “Followers”, 32. Im Jahr 1970 – zu jenem Zeitpunkt bereits Theologie-Professor am Union Theological Seminary in New York City und damit unweit der Abyssinian Baptist Church – greift der afroamerikanische Befreiungstheologe James H. Cone den Ausdruck “cheap grace” auf (Cone: Black theology, 131), bringt ihn erstaunlicherweise nicht mit Clayton Powell Sr. in Verbindung, sondern mit Bonhoeffer. Der ebenfalls afroamerikanische
3.2 Durchs Gebet zur Bibel und in die Nachfolge: Bonhoeffers Mittelphase
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gute gehalten werden muss, ist, dass er einer der ganz wenigen ist, die überhaupt zu Adam Clayton Powell Sr. geforscht haben. Denn klar ist: Der Einfluss Clayton Powell Sr.s auf Bonhoeffer ist immens und vonseiten der deutschen Forschung bisher weitestgehend übersehen worden.120 So behauptet Clayton Powell Sr. sogar, dass das Glauben vom Kopf her und die Zustimmung zu biblischen Wahrheiten nicht rette –121 quasi eine Prolepse dessen, was Bonhoeffer 1934 mit seiner Ge-
Reggie Williams erwähnt Clingans These in seiner aktuellen Studie zu Bonhoeffers schwarzem Christus überhaupt nicht, sondern argumentiert zugunsten Bonhoeffers umgekehrt, dass “[s]ome of his words and phrases have become part of our common Christian language, such as ‘cheap grace’ to describe a confession of faith without corresponding biblical obedience and ‘costly grace’ to explain a lifestyle of obedience that actively corresponds with a confession of faith” (Williams: Jesus, 138). Auch eine Google-Schlagwortsuche zu “cheap grace” (vom 23.02. 2021) ergab auf den ersten zehn Seiten ausschließlich Treffer zu Bonhoeffer. Die einzige Ausnahme stellt der Wikipedia-Eintrag zu “The Cost of Discipleship” dar, der behauptet: “The term ‘cheap grace’ was coined by The Rev. Adam Clayton Powell, Sr., then-pastor of Abyssinian Baptist Church in Harlem, NY” (https://en.wikipedia.org/wiki/The_Cost_of_Discipleship, abgerufen am 18.01. 2022). Nur: Der Quellennachweis, aus dem dies hervorgehen soll, fehlt, sodass dieser Eintrag ebenfalls nicht belastbar ist. Wenn man amerikanische Zeitschriften durchsucht, wird diese Beobachtung noch verstärkt: Erst mit Beginn der 1950er Jahre entdeckt man die Begrifflichkeit “cheap grace” öffentlich, die entweder explizit oder zumindest implizit mit Bonhoeffers Ausführungen in seiner Nachfolge in Verbindung stehen; vgl. exemplarisch Spaugh: “Understanding”, 4 (1951) und Kann: “Horizons”, 13 (1964). Die einzige Verbindung zwischen “cheap grace” und “Clayton Powell Sr.” ist de facto Clingan selbst (Susannah Heschel dürfte sich auf seine These stützen, die Anfang der 1960er Jahre gerade fünf Jahre alt ist). Doch er kann nicht einmal überzeugend darlegen, dass Clayton Powell Sr. die eben genannten Ausdrücke tatsächlich so geprägt haben soll, sondern erweckt mit einem suggestiven Schreibstil den Anschein eines Zitates: “The world come of age no longer appreciated the creeds and confessions of the church but actions” (Clingan: Against, 65). Bei Clayton Powell Sr. findet man lediglich folgendes (Clayton Powell Sr.: Against, 63): “The Church is no longer judged by its creeds and confessions, but by its deeds.” Ähnliches Phänomen betrifft Clayton Powell Sr.s Palestine and Saints in Ceasar’s Household: Weder dort noch in Against the Tide ließ sich “cheap grace” oder “world come of age” finden. Dies betrifft ebenso andere Quellen wie die in der am 11.09.1911 in der New York Age veröffentlichten Predigt “A Graceless Church”: Beide Begrifflichkeiten tauchen nicht annähernd auf; vielmehr geht es Clayton Powell Sr. um eine fehlende Willkommenskultur. 120 Beispielsweise hätte eine neue Forschungsarbeit zur Nachfolge Clingans These und den damit verbundenen afroamerikanischen Einfluss auf Bonhoeffers Werk thematisieren müssen; bei Schmitz: Nachfolge, 15–32 (“Stand der Forschung”) findet man jedoch mit zwei Ausnahmen (Godsey, Green) lediglich deutsche Publikationen. Clingans Untersuchung hält nicht, was sie verspricht oder suggeriert, sollte aber als pointierter Hinweis auf den afroamerikanischen Einfluss auf Bonhoeffers Theologie ernst genommen werden. Zu einem ähnlichen Ergebnis hinsichtlich Clingan kommt übrigens Frick: “Grace”, 138 (Fußnote). 121 Vgl. Clayton Powell Sr.: Palestine, 131f.; vgl. auch ebd., 166: “It is not a matter of how much we know about the philosophy of men and the Bible, but of how much of these we practice.”
170 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase horsams-Maxime gegenüber der Bergpredigt und 1936 mit seiner Aktualisierung des extra ecclesiam nulla salus est tun wird, auch wenn er bereits zu Studienzeiten (Predigt zu Jak 1,12–25) Glaube und Werke durch Relationalität zusammengenommen hat.122 Deshalb kann Clayton Powell Sr. von Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten auch nicht unbeeindruckt bleiben, auch wenn er sich als mehr versteht, als “nur” als “Negro”.123 Mit dieser Form von Christologie verbindet sich darum für Bonhoeffer eine Facette, die von Christus selbst durch die Liebesgebote (vgl. Mt 5,44; 22,37–40 par.) kommuniziert und praktiziert wird: Die so genannte “empathic nature of Stellvertretung”124 – bereits bei Sanctorum Communio theoretisch angelegt – nimmt endlich “Farbe” an und wird lebendig. “In den Harlemer Kirchen wird Dietrich klar, wie sehr die Sanctorum Communio in seinem Kopf immer noch die Kirche seiner eigenen bürgerlichen Herkunft ist.”125 Die emotionale Komponente, die Bonhoeffer in Harlem kennenlernt, macht sich bemerkbar in seiner Empathie für die Schwarzen als die Unterdrückten und Benachteiligten Amerikas. Und so überwindet er – durch Empathie – die Rassenproblematik.126 Dies zeigt sich an Begebenheiten, in denen Bonhoeffer mit dem farbigen Fisher nach rassistischen Anfeindungen ein Lokal verlässt,127 zum anderen Lasserre gegenüber, als im Kino ein anti-französisches Manifest vollzogen wird.128 Clayton Powell Sr. appelliert auf Grundlage des oben genannten “simple faith” und des Social Gospel deshalb an die Einheit der Denominationen und
122 “For Bonhoeffer and Powell, fidelity to the life and ministry of Jesus depended on acknowledging life in this world and affirming that Christians should act to relieve suffering”, so Williams: Jesus, 95. Zu Bonhoeffers Indien-Plänen vgl. Bonhoeffer: DBW 10, 228; 245. 123 Clayton Powell Sr.: Palestine, 186; vgl. auch Clingan: Against, 25; 31; 66f. 124 Williams: Jesus, 126. 125 Wind: Rad, 69. 126 Mit Porter II: “Alliance”, 119, und Young: “Bonhoeffer And Niebuhr”, 299f. Williams: “Developing”, 50, macht darauf aufmerksam, dass für Bonhoeffers Erkenntnisprozess womöglich die Reise nach Cuba entscheidend gewesen sei: “Cuba represented evidence of healthy empathic learning that marked the nascent stages of Bonhoeffer’s identification with outcasts, and his emergence from the lingering influence of the narcissistic white Christ of postcolonial German nationalism.” 127 So Bethge: DB, 192; zu Bonhoeffers grundsätzlich negativer Bewertung der Rassentrennung in den Südstaaten vgl. Bonhoeffer: DBW 10, 224; s. auch 212f. u. 251; s. auch Young: No Difference, 14: “Bonhoeffer’s witness is a denunciation of the racism that threatens to sabotage the possibilities for life together in the next century.” 128 Vgl. Marsh: Strange Glory, 110; Williams: Jesus, 28f. Diese letztgenannte Begebenheit interpretiert Lasserre selbst sogar als den ausschlaggebenden Moment für Bonhoeffers Wende hin zum Pazifismus; vgl. Kelly und Nelson: Cost, 101f.
3.2 Durchs Gebet zur Bibel und in die Nachfolge: Bonhoeffers Mittelphase
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dadurch an die “salvation of the world”,129 womit er Bonhoeffers Herrnhuter Prägung bestärkt und dem zukünftigen ökumenischen Engagement die Türen öffnet. Clayton Powell Sr.s Ekklesiologie stellt sich, ausgehend von der neutestamentlichen Apostelgeschichte (bes. Apg 2), als eine Modellkirche (für Schwarze) dar, unter anderem mit Erziehung von Pünktlichkeit und besseren Beziehungen zwischen Weißen und Schwarzen “to establish the kingdom of social justice.”130 Diese geradezu berühmt gewordene Predigt “The model church” zu Apg 2, die Clayton Powell Sr. nach eigenen Angaben zum ersten Mal bereits 1911 gehalten hat,131 wird am 27. November 1930, ein Jahr nach der großen Depression, im “Watchman Examiner: A National Baptist Paper” veröffentlicht und ist Bonhoeffer deshalb mit höchster Wahrscheinlichkeit bekannt.132 Die darin markierte Modellkirche führt ihre Mitglieder durch sechs Phasen, die Bonhoeffer theoretisch kennt, aber die in der Art neu für ihn sind und die er nach seiner Rückkehr teils umsetzt.133 Diese Erfahrungen, verbunden mit einer ganz neuen persönlichen Hingabe, sind nicht nur maßgeblich für das Entstehen der Nachfolge, sondern für Bonhoeffers relationales Denken überhaupt, besonders hinsichtlich der Relationalität zur Welt.134 Und natürlich ist mit den Erfahrungen in Amerika ein ganz neuer Stellenwert der Bibel verbunden,135 der seinen Höhepunkt schließlich in der Nachfolge finden, aber spätestens durch Schöpfung und Fall eingeleitet werden wird.136
129 Clayton Powell Sr.: Palestine, 102; vgl. auch ders.: Against, 31. 130 Ebd., 288. 131 Vgl. ebd., 68. 132 Vgl. auch Williams: Jesus, 95, und Porter II: “Alliance”, 118. 133 Nach Williams: Jesus, 96ff., lauten diese sechs Phasen: 1. Überführung von Sünde. 2. Rettender und praktisch gelebter Glaube: “Powell and the post-New York Bonhoeffer emphasized the concreteness of discipleship in a discernable connection between faith and everyday living” (97). 3. Verwalterschaft (man denke an Bonhoeffers Sorge für die Konfirmanden in Berlin. 4. Erkannte Verantwortung. 5. Seelen retten. 6. Geisterfüllte Mitgliedschaft. Weil der Mensch ein soziales Wesen ist, so Clayton Powell Sr., solle die Kirche aber auch ein sozialer Treffpunkt sein; vgl. Clayton Powell Sr.: Palestine, 210. Der Bogen zu Clayton Powell Sr.s Christologie wird dadurch geschlossen, dass es schon in der ersten Kirche nach Apg 2 Ziel gewesen sei, den Nöten der Gemeinschaft zu begegnen; vgl. ebd., 133. 134 Vgl. Bethge: DB, 190f.; 307; 468ff.; Schlingensiepen: Bonhoeffer, 90. 135 Wendel: Studien, 81, spricht darum von der “[w]iedergefundene[n] Naivität des Bibelverstehens”; oder in ganz ähnlicher Weise Gabriel Marcels sekundäre Reflexion bzw. Paul Ricoeurs zweite Naivität (vgl. 82). 136 Green: Bonhoeffer, 179 schlussfolgert dementsprechend: “Since it [personal commitment; Anm. von P. M.] originated in a discovery of the Bible as a personal word to himself, it is natural to find Bonhoeffer’s theology taking a more exegetical form during the 1930s.”
172 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase 3.2.2 Beginn einer neuen Wirklichkeitsnähe: Schöpfung und Fall und die Christologie-Vorlesung (1931–1933) Zurückgekehrt nach Berlin, führt es Bonhoeffer – nach dem ursprünglichen Pessimismus diesmal mit neuer Inspiration – als Privatdozenten und Assistenten zurück an die Berliner Universität, was er mit einem unliebsamen Studentenpfarramt an der Technischen Hochschule Berlin und dem Engagement in der Ökumene-Bewegung kombiniert.137 Bevor seine neuen Herausforderungen jedoch Fahrt aufnehmen, genießt er jedoch zunächst noch das Privileg, in Bonn bei Barth einige Vorlesungen zu erleben und – vermittelt durch den New Yorker Kommilitonen Erwin Sutz – ihn persönlich zu treffen.138 Bonhoeffers neu gewonnene Wirklichkeitsnähe lässt sich bereits seiner ersten Vorlesung entnehmen. Trotz aller Langeweile über die “Geschichte der Systematischen Theologie des 20. Jahrhunderts” im Wintersemester 1931/32 kann er mit Verweis auf Luther die Studenten dazu auffordern, “[d]en konkreten Christus […] auch stets in einer konkreten Situation zu verkündigen”.139 Hauptgrund dieser Forderung ist die neu entdeckte, lebendige Christologie à la Clayton Powell Sr., deren Mangel er als Ursache für die Kraftlosigkeit der deutschen kirchlichen Botschaften ansieht.140 Mit dieser Art Standortbestimmung, in der Bonhoeffer “die Linien seiner eigenen Herkunft mit kritischer Liebe nachzeichnet”,141 vervollständigt er sein relationales Denken um die Dimension der konkreten Welt, indem er nun “erstmalig die Frage nach der konkreten Ethik mit der Frage nach Christus […] in der konkreten Situation”142 verbindet.143 Dass er einmal mehr Gottes Freiheitfür betont, indem Er sich “ganz ans Wort gebunden”144 hat, wird die Kontinuität deutlich, gleichzeitig aber auch die erneuerte biblische Fokussierung, war es doch zuvor die freie Bindung an den Menschen.145 137 Vgl. Bonhoeffer: DBW 12, 1; Bethge: DB, 213ff.; Schlingensiepen: Bonhoeffer, 94ff.; zur Entwicklung der Ökumene-Bewegung vgl. Hauschild: Lehrbuch 2, 841–847. 138 Vgl. Bonhoeffer: DBW 11, 15f. 139 Ebd., 213. Die Langeweile drückt er Erwin Sutz gegenüber aus; vgl. ebd., 63 (Brief vom 28.02.1932). 140 Vgl. ebd., 213. 141 Bethge: DB, 257. 142 Feil: Theologie, 164. 143 Dass Bonhoeffer darin sachlich auch Barths Entwicklung innerhalb seiner beiden ersten Auflagen des Römerbrief kritisiert, legt Pangritz: “Kommen”, 220ff., bes. 243f., ausführlich dar. 144 Bonhoeffer: DBW 11, 211. 145 Das parallele Seminar über “Die Idee der Philosophie und die protestantische Theologie”, die nur fragmentarisch überliefert ist, spielt nur eine untergeordnete Rolle; sie weist erneut auf die Grenze der Philosophie hin; vgl. ebd., 214f.
3.2 Durchs Gebet zur Bibel und in die Nachfolge: Bonhoeffers Mittelphase
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In “Das Wesen der Kirche”146 aus dem Sommersemester 1932 greift Bonhoeffer die konkrete Auseinandersetzung mit nationalsozialistischen Phänomenen (Forderung nach Führertum) auf und betont in Vorwegnahme seiner Spätphase die Verweltlichung der Kirche.147 Vielmehr wird sie qualifiziert als “Ort des gegenwärtigen Christus in der Welt”, als der “Ort Gottes selbst” 148 – “mitten in [der] Kultur”, die als “kritische Mitte”149 immer auch Gegenüber bleibt, sodass kein Mensch über sie verfügen kann. Besonders interessant ist hier auch Bonhoeffers intensives Ringen mit Bekenntnissen, was zeigt, wie sehr es ihm um die Konkretion des Glaubens aus der Beziehung zur Welt gelegen ist, weshalb er unter anderem behauptet, urchristlich könne nicht mehr bekannt werden, denn “[a]uch aus Rücksicht auf noch nicht Glaubende muß das Wort wahr und klar sein.”150 Im Sinne seiner Amerika-Erfahrungen macht er deutlich, dass das erste Bekenntnis der christlichen Gemeinde vor der Welt immer die Tat ist, weshalb das Wortbekenntnis als “Arcanum”151 für ihn in den Gottesdienst gehört – ein Terminus der Alten Kirche über die der Öffentlichkeit gegenüber verborgenen sakramentalen Handlungen, den Bonhoeffer jedoch in der Spätphase neu entdecken und ergreifen wird.152 Mit dieser Position bringt er sich aber “in ein anhaltend gespanntes Verhältnis zur Bekennenden Kirche”,153 so Pangritz. 3.2.2.1 Schöpfung und Fall (1932/33) Unter den Veranstaltungen im Wintersemester 1932/33 ist es insbesondere die Vorlesung über “Schöpfung und Sünde”, die für größte Aufmerksamkeit sorgt und auf Initiative der Studenten schließlich als Schöpfung und Fall publiziert wird.154 146 Vgl. Bonhoeffer: DBW 11, 239–303. 147 Ebd., 247; vgl. auch 251: “[Die] Kirche hat ihren eigentlichen Ort verloren, ist verweltlicht.”. 148 Beides ebd., 247. 149 Beides ebd., 248. 150 Ebd., 284. Umgekehrt hält er die Ordination auf das Apostolikum für “nicht angemessen”, “nur noch evangelisch oder katholisch” (Beides ebd., 285). Aus dem Entwurf eines Katechismus jener Zeit wird dennoch einmal mehr deutlich, wie eng Bonhoeffer die Christus-Offenbarung an den Raum der Kirche bindet, was seiner lutherischen Prägung nach über Wortverkündigung und Sakrament geschieht, sodass er einen Geist der Hoffnung unter allen Völkern gegen den Heiligen Geist als Geist der Erfüllung ausspielen kann; Vgl. ebd., 235. 151 Ebd., 285. 152 Vgl. dazu Feil: Theologie, 165. 153 Pangritz: “Aspekte”, 759. 154 Auch deshalb setzt Green: Bonhoeffer, 140f., Bonhoeffers Wende wohl auch “in the latter half of 1932”. Die zeitgleiche Besprechung und Diskussion systematisch-theologischer Neuerscheinungen (Bonhoeffer: DBW 12, 153–178) wie auch die dogmatische Übung zur theologischen Psychologie (178–199) fallen lediglich durch die kurze Thematisierung von Frömmigkeit auf, “geübt durch Lesen der Bibel, durch Meditation, durch Gebet” (199).
174 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase Besonders aufgrund ihrer relationalen Hermeneutik ist Bonhoeffers Auslegung der beiden Schöpfungsberichte samt “Sündenfall” (Gen 1–3) für diese Untersuchung von größter Bedeutung. Denn bis dato hat er lediglich in einer Studienarbeit zum Verhältnis von historischer zu pneumatischer Exegese bei Seeberg erste hermeneutische Ansätze reflektiert; zuletzt hat ihm aber sein AmerikaAufenthalt, besonders in personam durch Niebuhr und Clayton Powell Sr., zahlreiche neue Impulse mit auf den Weg gegeben. Allerdings verleugnet Bonhoeffer auch nicht seine Vergangenheit, sodass Schöpfung und Fall155 als Paradebeispiel für Bonhoeffers Synthese von Tradition und liberalem Denken gelten kann. Denn Bonhoeffer greift darin sehr wohl und wertschätzend die wissenschaftlichen Forschungserkenntnisse seiner Zeit auf.156 Gleichzeitig weist er mit seiner “Theologischen Auslegung”157 die Wissenschaft in ihre Schranken, indem er bewusst den biblischen Endtext zugrunde legt.158 Denn wie zuvor schon, fühlt Bonhoeffer sich dem kirchlichen Raum als Ort der Auslegung verpflichtet und liest traditionellerweise das Alte Testament von Christus her. Doch nach Amerika ist Bonhoeffers Theologie durch ihren Wirklichkeitsbezug zum lebendigen Gott ambitionierter, was sich erstens in der Christologie niederschlägt: Christus ist nicht mehr “nur” Grenze und Gegenüber, sondern auch echte Mitte.159 Als “[d]as Neue”, “das Ende des Alten”,160 tritt Er als Mittler161 an 155 Auf diese, die gedruckte, Version konzentriert sich die nachfolgende Analyse. 156 Vgl. Hamilton: Hermeneutik, 40ff., die anhand der Unterscheidung von Gut und Böse zeigt, wie Bonhoeffer Hans Schmidts Erkenntnisse zum inhärenten Bedeutungsumfang jenseits von Lust- und Leidvoll mit einfließen lässt. Dadurch will Bonhoeffer dem hebräischen Wortlaut gerecht werden, wodurch “seine Auslegung der Schrift dem Text verbunden zu sein [scheint] als die vieler anderer, die sich eben diese vermeintlich kritisch-exegetische Auslegung auf die Fahnen schrieben” (46). Hier wie auch an anderen Stellen geht Bonhoeffer somit grundlegende Schritte mit seinen Lehrern von Harnack, Deißmann und Sellin. 157 Bonhoeffer: Schöpfung, 22. 158 Darum ist für Bonhoeffer klar, dass trotz zweier Schöpfungsberichte von ein und derselben Sache berichtet wird; vgl. ebd., 77; s. auch Hamilton: Hermeneutik, 51–56, die deutlich macht, wie Bonhoeffer sich trotz teilweise positiver Rezeption von Hans Schmidt diesen in seine Grenzen weist, der aufgrund quellenscheidender Methodik zu einer möglicherweise dahinter liegenden Baals-Tradition vordringt. Mit Wendel: Studien, 84, Woyke: “Hermeneutics”, 24 u. Hamilton: Hermeneutik, 27f.; 40ff.; 411f. Ebd., 100 weist außerdem darauf hin, dass Bonhoeffer mit dieser christologischen Deutung besonders gegenüber von Harnack darzulegen versucht, “dass das Alte Testament eben nicht zu verwerfen sei”. 159 So schon Feil: Theologie, 168; 170f. u. zuletzt Hamilton: Hermeneutik, 21. 160 Beides Bonhoeffer: Schöpfung, 21. 161 Der Begriff “Mittler” taucht explizit erst in der Christologie-Vorlesung auf, existiert aber sachlich bereits zu diesem Zeitpunkt.
3.2 Durchs Gebet zur Bibel und in die Nachfolge: Bonhoeffers Mittelphase
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die Stelle des Adam, der sich an die Stelle des Baumes des Lebens in der Mitte des Gartens gesetzt hat (zu Gen 3,6). Dadurch nimmt Bonhoeffer bereits Entscheidendes Seiner nicht-religiösen Interpretation der Tegeler Briefe vorweg: “Die Grenze des Menschen ist in der Mitte seines Daseins, nicht am Rand.”162 Dies findet zweitens in der Hermeneutik seinen Niederschlag, weil ihm in der Bibel nun ganz praktisch der Christus praesens begegnet: “Christus ist die Mitte der Schrift.”163 Wie schon in der Frühphase im Sinne Barths und in dessen Römerbrief angelegt, versteht Bonhoeffer die “Auslegung der Schrift doch als dynamisches Geschehen im Leser selbst”;164 es geht ihm um ein ganzheitliches, ein gläubiges Verstehen der Schrift, das mit den Worten Hamiltons als “sakramentales Geschehen” anzusehen ist, “weil sich in ihm nicht ein Verstehen der Schrift ereignet, sondern das Verstandenwerden durch das Wort, d. h. in ihm eine neue Wirklichkeit wahr wird.”165 Wirklichkeit und Wort sind aber niemand Geringeres als Christus selbst, der Logos, wie in der Christologie-Vorlesung noch deutlicher werden wird.166 In Überwindung der Erbsünde spricht statt der Lüge derjenige, “der von Anfang an die Wahrheit ist und der Weg und das Leben, der im Anfang war, Gott selbst, Christus, der heilige Geist”167 – und zwar zum Leser des Textes (bzw. Hörer der Vorlesung). Darum beginnt die Textauslegung – im Sinne seiner Christologie-Vorlesung – mit dem ἄρρητον, dem Schweigen.168 Dass Bonhoeffer den Christus praesens aber nicht substantiell versteht, sondern im Sinne von Luthers Bindung des Heiligen Geistes an das Wort wie auch in seinem Verständnis von “Christus als Gemeinde existierend” relational, macht er von Anfang an deutlich (beispielsweise anhand der Auslegung von Gen 1,3): Gott spricht, d. h. er schafft ganz frei und bleibt auch in seinem Schaffen seinem Werk gegenüber noch ganz frei. Er ist nicht an das Werk gebunden, aber er bindet sein Werk an sich. Er geht nicht substantiell in sein Werk ein, sondern seine Beziehung zu seinem Werk 162 Bonhoeffer: Schöpfung, 80. Weiter heißt es (ebd., 81): “Dort wo die Grenze ist – der Baum der Erkenntnis –, dort ist nun auch der Baum des Lebens, d. h. der lebenspendende Gott selbst. Er ist Grenze und Mitte unseres Daseins zugleich”. 163 Ebd., 22 (Fußnote 4). 164 Hamilton: Hermeneutik, 413; vgl. 21. Vgl. Bonhoeffer: Schöpfung, 21–23 u. Wendel: Studien, 83. Burtress: “Als ob”, 172: “Und natürlich kannte er [Bonhoeffer; Anm. von P. M.] Barths ‘Römerbrief’. In der Tat ist die dort beschriebene und durchgeführte theologische Exegese in Bonhoeffers ‘Schöpfung und Fall’ so ähnlich, daß die beiden Bücher als ein Gespann betrachtet werden sollten.” 165 Hamilton: Hermeneutik, 414. 166 Bonhoeffer: Schöpfung, 29. 167 Ebd., 28. 168 Vgl. ders.: DBW 12, 280.
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ist sein Befehl; d. h. er ist nie anders in der Welt, als indem er schlechthin jenseits der Welt ist. Er ist als Wort in der Welt, weil er der schlechthin Jenseitige ist, und er ist der schlechthin Jenseitige, weil er im Wort in der Welt ist.169
Ganz im Sinne von Bonhoeffers Frühphase bleibt Gott Seiner Schöpfung – und damit auch dem Text gegenüber – transzendent und somit materialiter strikt von ihr getrennt, um nicht in den zur Zeit der Abfassung dieses Schöpfungungsberichtes sonst üblichen Pantheismus zu geraten.170 Doch als Akt-Seins-Offenbarung hat Gott in Christus sich an die Schrift gebunden und ist in ihr relational gegenwärtig. Denn lediglich Christus durchbricht überhaupt diese Grenze und geht im Sinne des bereits mehrfach thematisierten finitum capax infiniti in Seine Schöpfung ein.171 Aufgrund der Brüchigkeit der Schrift (“Knechtsgestalt”)172 ist dies aber nur im Glauben (bzw. in der Kirche) zu erkennen, und zwar als “kreatorischer, d. h. sakramentaler, Zirkel”173 –, sodass von einer “Akt-Seins-Offenbarung der Schrift” gesprochen werden kann. “Die Schrift ist Gottes Wort, weil es Gott gefällt, sich an das Menschenwort zu binden, weil er durch dieses nach dem Menschen greift.”174 Darum ist er auch keiner der typischen Inspirationslehren zuzurechnen. Mit dieser Nähe Gottes – “Gott selbst in Menschengestalt”175 – begründet Bonhoeffer den notwendig anthropomorphistischen Charakter besonders im Zuge der 169 Bonhoeffer: Schöpfung, 38f. In diesem Sinne verstehe ich auch Hamilton: Hermeneutik, 396, die davon ausgeht, es gehe Bonhoeffer “in der Kirche als Leib Christi nicht um eine neue Inkarnation, sondern tatsächlich um eine Menschwerdung Christi in seiner Gemeinde als wirklicher Gemeinde. Im sakramentalen Geschehen des Wortes, das sich in seinem Anspruch das Du der wahren Person wieder schafft, ereignet sich so das Sakrament mitten in der kreatürlichen Welt, weil Gott dieses ‘Element mit seinem besonderen Wort benennt, anspricht und heiligt, indem er ihm den Namen gibt.’ ” 170 Vgl. Bonhoeffer: Schöpfung, 38. S. auch Schulte: Ohne Gott, 77. Den historischen Kontext des Textes nimmt Bonhoeffer damit ernst. Lediglich das göttliche Wort als Befehl ist in der Welt und hält sie als creatio continua (vgl. Bonhoeffer: Schöpfung, 39 u. 43f.). Denn das Wort versteht er bereits als Werk (vgl. 39). 171 ebd., 59: “Geschaffene Freiheit heißt hier nun – und das ist das über alles bisherige Tun Gottes Hinausgehende, das Einmalige κατ᾽ ἐξοχήν – daß Gott selbst in sein Geschaffenes eingeht. Jetzt befiehlt er nicht nur, und sein Wort geschieht, sondern jetzt geht er selbst in das Geschaffene ein und schafft so Freiheit.” Insofern ist Lehmkühler: Inhabitatio, 233, recht zu geben, der in diesem Zusammenhang auf Bonhoeffers “Rede der ‘alten Dogmatiker’ von der ‘Einwohnung der Trinität in Adam’ ” verweist. 172 Bonhoeffer: Schöpfung, 29. 173 Hamilton: Hermeneutik, 396. 174 Ebd., 387. Was zunächst noch nach einer Nähe zu Bultmann klingt, geht letztlich doch weit auseinander. 175 Bonhoeffer: Schöpfung, 68.
3.2 Durchs Gebet zur Bibel und in die Nachfolge: Bonhoeffers Mittelphase
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Auslegung des zweiten Schöpfungsberichtes als “offenkundige Mythologie”, da “wir ‘Gott an sich’ eben so oder so nicht denken können”,176 weshalb Bonhoeffer auch die Nennung des Eigennamens Gottes (hier “יהוה/JHWH”, im Neuen Testament dann “Jesus Christus”) an dieser Stelle bemerkt.177 Bonhoeffer ringt intensiv mit der historischen Kritik im Hinblick auf seine “Akt-Seins-Einheit des Schriftverständnisses”178 und versucht gleichzeitig, die “alte Bildersprache der magischen Welt in die neue Bildersprache der technischen Welt zu übersetzen, aber immer unter der Voraussetzung, daß dort wie hier wir die Gemeinten sind, daß wir uns in die geöffnete Bereitschaft begeben, das damals über den Menschen des magi- | schen [sic!] Weltbildes Gesagte uns sagen zu lassen”.179 Der Text wird dadurch tatsächlich “unsere Urgeschichte, wirklich unsere eigene, jenes einzelnen Anfang, Schicksal, Schuld, Ende”,180 worin Hamilton bereits eine Vorwegnahme des Alttestamentlichen aus den Briefen entdeckt.181 Theologisch bedeutsam ist weiterhin die Auslegung von Vers 26ff. (Erschaffung des Menschen), weil Bonhoeffer die bereits in Akt und Sein angedeutete Freiheit Gottes als etwas ungeheuerlich Neues interpretiert, die wiederum Relationalität par excellence darbietet: Der Schöpfer erschafft sich im Menschen ein Gegenüber als Seine imago, in der Er nicht nur sich selbst erkennt und zu der Er Beziehung haben kann. Dies erfordert laut Bonhoeffer Freiheit. Denn “[n]ur das Freie selbst wäre nicht tot”.182 Und so geschieht es als zentrales Element des Evangeliums, daß Gottes Freiheit sich an uns gebunden hat, daß seine freie Gnade allein an uns wirklich wird, daß Gott nicht für sich frei sein will, sondern für den Menschen. Weil Gott in Christus frei ist für den Menschen, weil er seine Freiheit nicht für sich behält, darum gibt es für uns ein 176 Bonhoeffer: Schöpfung, 69. 177 Beim späteren Bericht des Paradieses merkt Bonhoeffer Ähnliches an und weist gleichzeitig darauf hin, dass es gar nicht möglich sei, anders als im Märchen darüber zu reden, wie die junge Erde wohl gewesen sein mag; vgl. ebd., 76. Passagen wie diese möchte er darum immer innerhalb des Gesamttextes als eine Einheit deuten und darum auch “seinen Zuhörern ein Geschehen zwischen Gott und Mensch aufzeigen, welches uns auch oder gerade heute etwas angeht, ein Geschehen also, das nicht einfach in einem Tatsachenbericht aufgehen kann, der in seiner historischen Bedingtheit ein für alle Mal vergangen ist, wenn die Geschichte ihren Lauf nimmt” (Hamilton: Hermeneutik, 60; vgl. auch 62f.). Zum Mythos bei Bonhoeffer im Vergleich zu Bultmann auch ebd., 172ff.; 279–291, die letztlich von einem “konträre[n] Begriff des Mythischen bzw. Mythologischen” (188) spricht. 178 So ebd., 67, gegen Mayer: Christuswirklichkeit, 136. 179 Bonhoeffer: Schöpfung, 77. 180 Ebd., 77. 181 Vgl. Hamilton: Hermeneutik, 390. 182 Bonhoeffer: Schöpfung, 56.
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Denken der Freiheit nur als des “Freiseins für…”. Daß Gott frei ist, heißt für uns in der Mitte durch Christus Existierende und um unser Menschsein in seiner Auferstehung Wissende nichts als daß wir frei sind für Gott.183
Die Relationalität zum Nächsten qua Ebendbildlichkeit leitet Bonhoeffer über ein Analogiedenken ab.184 Die Gottebenbildlichkeit spiegelt sich also darin wider, dass der Mensch in seiner Freiheit (als “justitia passiva”185 ) an Gott gebunden ist und sich darum an den Nächsten bindet: “Beziehung von Geschöpf zu Geschöpf ist gottgesetzte Beziehung, weil sie in Freiheit besteht und Freiheit von Gott her ist.”186 “Freiheit und Geschöpflichkeit sind für Bonhoeffer also korrelierende Termini”,187 wie Schulte richtigerweise feststellt. Weil diese Ebenbildlichkeit der Freiheit nicht substanzontologisch, sondern relational geschieht als eine Beziehung “und sonst nichts”188 – aus der Gebundenheit an Gott zur Freiheit für den Nächsten –, nennt Bonhoeffer sie “analogia relationis”.189 Seine relationale Haltung macht Bonhoeffer auch anhand des Einswerdens von Adam und Eva deutlich, das niemals als “Verschmelzung” verstanden werden dürfe.190 Bonhoeffer ist somit gerade nicht an dem Wie interessiert, 183 Bonhoeffer: Schöpfung, 59; vgl. auch Green: “Human Sociality”, 116f u. Prüller-Jagenteufel: Befreit, 67. 184 So schon Moltmann: Herrschaft, 31: “Er [Bonhoeffer; Anm. von P. M.] denkt offensichtlich auch nicht an die Analogie mitmenschlicher Beziehungen zu den inneren Relationen der Trinität Gottes. Sämtliches Analogiedenken ist bei ihm auf die Realpräsenz Gottes in Christus bezogen, auf das ‘Eingehen Gottes’ in die geschaffene Wirklichkeit.” Dass Gott – und damit auch Seine Trinität – im Geheimnis lebt, macht Bonhoeffer: DBW 13, 361, auch in der Predigt zu 1 Kor 2,7–10 an Trinitatis (27.05.1934) deutlich. Vgl. dazu Krötke: “Bedeutung”, 345f. 185 Bonhoeffer: Schöpfung, 61. 186 Ebd., 61; vgl. auch 59. Exakt diesen Gedankengang wird Bonhoeffer so auch noch 1941 in seinen Gedanken zu William Patons Schrift “The Church and the New Ordner in Europe” äußern; ders.: DBW 16, 540. S. dazu auch Tietz-Steiding: Kritik, 229f. Trotz der laut Bonhoeffer inhaltlichen Identität spiegelt der zweite Schöpfungsbericht (ab Gen 2,4ff.) für ihn die Beziehung zwischen Gott und Mensch noch intensiver wider. Denn es geht “um die nahe Welt und um den nahen Herrn auf der Erde, im Paradies mit Adam zusammenlebend. Dort: der-Mensch-für-Gott, hier: Gott-fürden-Menschen, dort der Schöpfer und Herr, hier der nahe, väterliche Gott” (Bonhoeffer: Schöpfung, 67 (Hervorhebung von P. M.)). 187 Schulte: Ohne Gott, 80. 188 Bonhoeffer: Schöpfung, 58. 189 Vgl. ebd., 61. “Konsequent lehnt er [Bonhoeffer; Anm. von P. M.] individualistische und substantielle, d. h. metaphysische Begründungsversuche der menschlichen Freiheit ab, da diese ihre letztendliche Ursprünglichkeit verfehlen würden”, wie Schulte: Ohne Gott, 78, anmerkt. Zurecht hat darum schon Mayer: Christuswirklichkeit, 118, darauf hingewiesen, dass Bonhoeffer durch die analogia relationis den “Mittelweg zwischen rein akthafter und rein seinshafter Auffassung der Gottebenbildlichkeit” vollzogen hat. S. auch Prüller-Jagenteufel: Befreit, 70. 190 Bonhoeffer: Schöpfung, 91: “Sie sind nun nicht mehr ohne einander, sind eines und doch zwei. Und das Einswerden der zwei ist das Geheimnis selbst, das Gott durch sein Tun an dem
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wie in der Christologie-Vorlesung besonders deutlich werden wird.191 Statt großer Spekulationen ist es ihm vielmehr um die Einheit und Leiblichkeit gelegen.192 Darum impliziert diese analogia relationis für Bonhoeffer auch den Aspekt des Freiseins-Von in Analogie zum Schöpfer, die den Menschen als Herrn über die Schöpfung setzt und ihn an die Schöpfung bindet – bei gleichzeitigem Wissen darum, dass es Gottes Schöpfung ist, wodurch erneut einer Vergeistlichung Vorschub geleistet werden soll. Andernfalls verfalle man, so Bonhoeffer, einer Erdfremdheit, und die Welt werde nicht als Schöpfung Gottes anerkannt; dieser Weg dorthin zurück sei aber einzig über Gott und den Bruder zu gehen.193 Schließlich sei auch Jesus Christus tatsächlich im Leib gekommen, weil Gott sich im Leib verherrlicht.194 Tietz hat zurecht bemerkt, dass die bonhoeffersche analogia relationis in letzter Konsequenz auch bedeuten müsse, dass dann “nicht nur der Mensch auf Gott angewiesen, sondern auch Gott auf den Menschen”195 angewiesen sei. Dies impliziert in der Tat aber nicht erst die analogia relationis, sondern bereits Bonhoeffers relationale Stellvertretung und die Freiheit-Für aus den Frühschriften. Nun hebt Bonhoeffer die Bindung Gottes an den Menschen als äußerst emphatisch hervor und weiß gleichzeitig um das Leiden Gottes (zumindest) durch den Tod am Kreuz, wie auch Tietz selbst festgestellt hat.196 In alledem wie auch in der noch in den Gefängnisbriefen thematisierten Ohnmacht Gottes darf nur nicht vergessen wer-
schlafenden Adam begründet hat. Sie sind vom Ursprung her eins gewesen und erst im Einswerden kehren sie wieder zum Ursprung zurück. Aber dies Einswerden ist niemals die Verschmelzung der zwei, die Aufhebung ihrer Geschöpflichkeit als Einzelne, sondern die letzte mögliche Verwirklichung des einander Gehörens, das gerade auf ihrem von einander Verschiedensein begründet ist.” Vgl. auch Hamilton: Hermeneutik, 197, die in diesem Zuge explizit von “Relationalität” bei Bonhoeffer spricht und einen Bezug zu Bultmann herstellt. 191 Dies impliziert auch Bonhoeffers Auslegung von Gen 2,7 über den Menschen als Geist-LeibWesen. Zwar betont Lehmkühler berechtigterweise, Bonhoeffers Hervorhebung des menschlichen Körpers als dadurch unterschieden, dass – mit den Worten Bonhoeffers – “er die Existenzform des Geistes auf Erden ist” (Bonhoeffer: Schöpfung, 73; vgl. Lehmkühler: Inhabitatio, 233. Vgl. zur Thematik auch Dahill: “Con-Formation”, 178f.). Αber auch hier zeigt Bonhoeffer wenig Interesse für die Ontologie von Gottes Geist, denn lediglich die Aussage “dieser Geist ist Leben, macht den Menschen lebendig” legt ein wenig mehr dar, was er konkret unter dem Geist versteht. Einzig wichtig scheint ihm eines zu sein (Bonhoeffer: Schöpfung, 73): “Als Mensch leben heißt als Leib im Geist Leben.” 192 Vgl. ebd., 73f. 193 Vgl. ebd., 61–63. S. auch Prüller-Jagenteufel: Befreit, 76f., der im Zusammenhang der Ursünde den Zerbruch der Relation zur Schöpfung hervorhebt. 194 Vgl. Bonhoeffer: Schöpfung, 73. 195 Tietz-Steiding: Kritik, 307. 196 Vgl. Tietz: “Gott”, 25–41.
180 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase den, dass Gott selbst diese Bindung gewählt hat und somit nicht in seinem Wesen verankert ist. Wie schon in der Frühphase interpretiert Bonhoeffer den Sündenfall (Gen 3) als eine Transformation vom imago-dei-Menschen zum sicut-deus-Menschen – eine echte Zerstörung der Schöpfung und nicht allein ethischer Fehltritt –, dessen Wille zur Nicht-Geschöpflichkeit nur Gott selbst durchbrechen könne.197 So treten auch Freiheit und Geschöpflichkeit auseinander, da Adam sich nun nicht mehr im Gehorsam vor Gott weiß.198 Diese Tat ist nicht nur endgültig und damit unaufhebbar, sondern auch allumfassend; kein Mensch kann sich aus ihr lösen, sprich die Schuld liegt voll und ganz bei jedem selbst.199 Damit zerfällt letztlich auch die analogia relationis, die als Entzweiung natürlich auch Auswirkungen auf die Relationalität zum Nächsten mit sich bringt.200 Mit dem Sündenfall tritt folglich der Mensch in die Mitte – dorthin, wo vorher der Baum des Lebens als Synonym für Gott gestanden hat.201 Aus dem “ungebrochenen Gehorsam”,202 dem urständlichen Synonym zum “actus directus” bzw. dem späteren “einfältigen Gehorsam”, ist völliger Ungehorsam samt incurvatio in se ipso geworden.
197 Vgl. Bonhoeffer: Schöpfung, 126ff. 198 Vgl. ebd., 95. 199 Vgl. ebd., 97; 111f. Die Schlange hat “lediglich” das Gebot Gottes infrage gestellt und – in diesem Fall richtigerweise – die Konsequenzen als sicut deus angekündigt, das für Bonhoeffer nichts anderes ist als der Tod und damit Alleinsein, den Gott Adam (und Eva) zuvor angedroht hat; vgl. ebd., 96ff.; 107ff. Schlingensiepen: Bonhoeffer, 131, weist darauf hin, dass Bonhoeffer exakt einen Tag nach der Machtübernahme Hitlers zur Auslegung des Versprechen der Schlange gelangt, infolge des Essens der Frucht vielmehr Gott gleich zu sein. 200 Vor Gott verstecken sich Adam und Eva in ihrer Scham, was Bonhoeffer als Anerkennung der Grenze interpretiert. Sie könnten nicht mehr vor Gott stehen, denn nun hätten sie ein Gewissen entwickelt; vgl. Bonhoeffer: Schöpfung, 116ff. Schon in Akt und Sein hat Bonhoeffer sich gegen das Gewissen als Stimme Gottes ausgesprochen und darin seine frühen Lehrer Holl klar widersprochen; vgl. auch DeJonge: Formation, 122ff. Und auch anhand der Sexualität, die zum leidenschaftlichen Hass werde, deutet Bonhoeffer die Entzweiung als neue Grenze und daraus resultierendem Anspruch des Einen auf den Anderen, in dessen Folge als Zeichen außerdem die Scham samt Verhüllung eintritt; vgl. Bonhoeffer: Schöpfung, 115f. u. Hamilton: Hermeneutik, 108f. 201 Vgl. Bonhoeffer: Schöpfung, 107; Abromeit: Geheimnis, 256, macht mit Otto Weber darauf aufmerksam, dass “Mitte” als Wende – freilich aus Glauben – verstanden werden müsse. Tatsächlich bedarf es dieser Wende, in diesem Fall der Entscheidung zur Sünde Bonhoeffer; im Sinne von Bonhoeffers Akt und Sein sollte dann aber auch gleichzeitig das Sein-in-Adam als “Zustand” berücksichtigt werden, in dem sich der Sünder anschließend befindet und aus dem nur das Angesprochenwerden durch Christus samt anschließender Wende hin zum Sein-in-Christus führen kann. 202 Bonhoeffer: Schöpfung, 79.
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Deshalb ist es dem Menschen auch nicht möglich, einen echten Anfang (hebr. בראשית, Gen 1,1) denken zu können, sondern nur in einem stetigem Warum und somit einem circulus vitiosus zu landen.203 Dies sind für Bonhoeffer darum “gottlose Fragen”;204 hinter den Anfang – auch den Gottes mit Seiner Schöpfung – könne man nicht zurück, zumal dies nicht als zeitlicher Anfang zu verstehen sei, sondern – so notiert ein Teilnehmer – “immer ‘vor’ dem Augenblick, in dem ich mich darauf besinne, das heißt: vor meiner Existenz.”205 Und so bleibt auch die Schöpfung laut Bonhoeffer nur deshalb gut, weil sie auf den Schöpfer und Sein Gutsein verweist. Vom Anfang hört der Mensch darum laut Bonhoeffer lediglich von Gott selbst.206 Den Fluch Gottes über allem kann Bonhoeffer schließlich sogar positiv deuten, weil über der verfluchten Welt immer noch Gott steht, zumal auch Seine Verheißung.207 Denn Gott bejaht dennoch die geschaffene – und damit gefallene – Welt als Erhalter.208 Er tritt nun mit Seinem ordnenden, bändigen Handeln auf, womit Bonhoeffer seine “Erhaltungsordnungen” einführt und implizit gegen jede Uroffenbarungslehre Stellung bezieht.209 203 Bonhoeffer: Schöpfung, 26f. “Darum ist kritische Philosophie die systematische Verzweiflung an ihrem eigenen, an jedem Anfang.” Zurecht charakterisiert Green: Bonhoeffer, 200, den Sündenfall bei Bonhoeffer als “drama of a power struggle fought with the weapon of knowledge”; vgl. dazu Bonhoeffer: Schöpfung, 27. 204 Ebd., 30. 205 Ebd., 44 (Fußnote). 206 Vgl. ebd., 29; 33. 207 Vgl. ebd., 126f. Die Verheißung aufs Kreuz entdeckt Bonhoeffer bereits mit Gen 4,1, nach der Vertreibung Adams und Evas aus dem Paradies und trotz des Brudermordes Kains an Abel; vgl. ebd., 131ff. 208 Vgl. ebd., 129. 209 Erhaltungsordnungen sind somit keine Schöpfungsordnungen, sondern – im Sinne seiner späteren Mandantenlehre – nach dem Sündenfall erschaffen. Damit wettert er nicht nur deutlich gegen Lutheraner seiner Zeit wie Paul Althaus, Emmanuel Hirsch oder auch Werner Elert, sondern auch gegen seine eigene Position im Letzten der Vorträge in Barcelona; vgl. ebd., 129f. u. Strom: Ethik, 339f. Der Terminus “Erhaltungsordnung” wird relativ bald danach wieder von Bonhoeffer eingestellt, auch wenn der Gedanke dahinter Bestand hat und in Bonhoeffers Mandatenlehre einfließt; vgl. dazu auch Harvey: “Path”, 93. Speziell im Betheler Bekenntnis vom Sommer 1933 entlarvt Bonhoeffer damit auch nichtchristliche oder gar heidnische Urkunden völkischer Gesetze, willkürliche Gründe der eigenen Vernunft oder des eigenen frommen Erlebens. Denn allein Jesus Christus richtet und “treibet die Schrift”, von dem man – gut lutherisch wie auch barthianisch – im Wort Gottes durch den Heiligen Geist hört; vgl. Bonhoeffer: DBW 12, 364–368; 387f. In ähnlicher Weise wird Bonhoeffer im Oktober 1934 im Zuge eines Referats über die Theologie Barths urteilen, dass die Deutschen Christen im NS-Staat und in Hitler eine neue Offenbarung vernommen hätten; vgl. ders.: DBW 13, 306. Und deshalb verwerfen die Verfasser des Betheler Bekenntnisses auch eine rein geschichtliche Urkunde der Schrift zur Mitteilung religiös-sittlicher
182 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase 3.2.2.2 Die Christologie-Vorlesung (1933) Bonhoeffers letzte und ebenso wichtige universitäre Veranstaltung ist seine Christologie-Vorlesung im Sommersemester 1933,210 die deutlicher denn je im akademischen Umfeld den Einfluss aus Amerika erkennen lässt, was sich – mit den Worten Hans-Jürgen Abromeits – in einer “erfahrungsbezogenen Christologie”211 ausdrückt. Besonders auffällig ist die Intensivierung der theologia crucis, die sich vornehmlich durch den afroamerikanischen Einfluss weiterentwickelt.212 Was auf den ersten Blick weltfremd wirkt, ist (mithilfe der lutherischen ZweiReiche-Lehre) ein theologischer Angriff auf die weltlichen Autoritäten, die nur durch Gott selbst ihre Macht haben.213 Im Gegensatz zur akademischen Frühphase steht somit mehr und mehr die Person Jesu Christi im Zentrum des Geschehens.214 Trotz dieser Akzentverschiebung von dem anthropologischen hin zum christologischen Schwerpunkt in Bonhoeffers Theologie bleibt die klare Bindung der Offenbarung Jesu Christi an den Raum der Kirche bestehen, und mit Green lässt sich tatsächlich von einer “strengthening of the theology of sociality”215 sprechen.216 Das kierkegaardsche “Ärgernis κατ᾽ ἐξοχήν”217 bleibt bestehen. Wie zuvor, wird durch den Appell an das Schweigen (ἄρρητον) zum Hören auf das Wort eine geradezu sakrale Stimmung verbreitet, die durch die Doppeldeu-
Wahrheiten wie auch eine gleichnishafte Übertragung der Heilsgeschichte, z. B. die Erwählung Israels, ebenso die Irrlehre der geschichtlichen Stunde als Gottesoffenbarung oder jegliche Rassenordnungen; vgl. Bonhoeffer: DBW 12, 366–376. 210 Vgl. ebd., 280–348; wie auch bei den anderen Vorlesungen, basiert die Analyse des Inhalts auf Mitschriften. Laut ebd., 279, existiert für die Christologie-Vorlesung etwa ein halbes Dutzend an Mitschriften, von denen für die Herausgeber der Bonhoeffer-Werkausgabe zahlreiche nicht zugänglich waren. 211 Der Untertitel von Abromeits Werk lautet: “Dietrich Bonhoeffers erfahrungsbezogene Christologie”. 212 Besonders Green: Bonhoeffer, 240f., bemerkt die Weiterentwicklung und das Erstarken der theologia crucis, ohne sie jedoch mit dem afroamerikanischen Einfluss in Verbindung zu bringen. 213 Bonhoeffer: DBW 12, 309: “Der Staat hat seinen eigentlichen Ursprung erst mit der Kirche am Kreuz, insofern dieses Kreuz die Ordnung erfüllt und bejaht und sie zugleich durchbricht. Daraus ergibt sich, das Kreuz Christi ist uns gegenwärtig in der doppelten Gestalt der Kirche und des Staates.” Vgl. auch Tietz: Dietrich Bonhoeffer, 53. 214 So auch Feil: Theologie, 175f. 215 Green: Bonhoeffer, 236. 216 Christologie ist darum für Bonhoeffer “Zentrum des Wissenschaftsraumes” (Bonhoeffer: DBW 12, 281). Zur wechselseitigen Beziehung von personaler und korporativer Dimension in Anknüpfung an Sanctorum Communio s. auch Green: “These”, 72. 217 Kierkegaard: Einübung, 65; vgl. auch 72; 110f.
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tigkeit des gerade allpräsenten “Logos” – als (biblisches) Wort und (durch Joh 1) Christus selbst – noch an Mysteriosität zunimmt.218 Anker und Axiom Bonhoeffers ist darum der Menschgewordene, “nicht etwa das ‘Menschwerden Gottes’ ”.219 Zur methodischen Annäherung an die zentrale Frage der Christologie nimmt Bonhoeffer deshalb eine Unterscheidung vor, die sich fast identisch so auch in Heschels God in Search of Man befindet: Einerseits die von den Naturwissenschaften thematisierte Frage nach der Ursache, andererseits die von den Geisteswissenschaften behandelte Frage nach dem Sinn.220 Die erste Frage als Wie-Frage ordnet Bonhoeffer der (überhöhten) Vernunft zu – als Frage nach der Immanenz, dem Innewohnenden.221 Die zweite Frage als “Frage der entsetzten, entthronten Vernunft wie auch [der] Frage des Glaubens” mündet in der christologischen, schlechthin existentiell-religiösen Wer-Frage: “Wer bist Du, bist Du Gott selbst?”,222 die die Transzendenz trifft und natürlich Bonhoeffers relationales Denken repräsentiert. Denn der Mensch kann die Wer-Frage nicht selbst beantworten,223 zumal nach dem Sündenfall die Selbstoffenbarung des Logos/Christus erforderlich ist.224
218 Vgl. Bonhoeffer: DBW 12, 280; zum qualifizierten Schweigen s. ders.: DBW 11, 330. Zum “Geheimnis Christi” vgl. Abromeit: Geheimnis. In seinem Aufsatz “Was soll der Student der Theologie heute tun?” erläutert Bonhoeffer es als unausweichlich, im Zuge der theologia sacra auf das Kreuz Christi zu stoßen, was Bonhoeffer als “Gericht über seine [des Studenten] ganze Vitalität” (Bonhoeffer: DBW 12, 411) deutet. Das theologische Arbeiten definiert er – schon im Sinne von Akt und Sein – als “verantwortliches Lernen, Hören, Aufmerksamwerden, auf das Wort Gottes, das da mitten in der Welt offenbar geworden ist, Selbstbescheidung angesichts der über alle Maßen wichtigen Sache” (ebd., 417). Die relationale Offenheit gegenüber dem Reden Gottes ist für Bonhoeffer damit conditio sine qua non eines erfolgreichen Theologiestudiums. 219 Schulte: Ohne Gott, 153; vgl. auch Krötke: “Gott”, 322f. 220 Vgl. Bonhoeffer: DBW 12, 281. 221 Die “Immanenz”, von lat. von “in” und “manere”, dt. “innen bleiben”, zielt bei Bonhoeffer im Zusammenhang von Christus auf die substanzontologische Frage ab, bei der der Untersuchende distanziert bleibt; vgl. dazu auch Apel: Philosophisches Wörterbuch, 127f. 222 Beides Bonhoeffer: DBW 12, 282; DeJonge: Formation, 87, nennt dies die “transition from material to factual Christological discourse”. Abromeit: Geheimnis, 82, weist darauf hin, dass die Wer-Frage “Gemeingut der Dialektischen Theologie” (Barths und Brunners) gewesen sei und sie womöglich ihren Ursprung bei Albert Schweitzer habe. Ziegler: “Christ”, 25ff., bes. 39–41, zieht zudem eine Parallele zu Kierkegaard. Vgl. auch Bethge: “Christologie”, 79f. Lehmkühler: “Christologie”, 56, bringt die Wer-Frage schließlich mit Luther in Verbindung: “Die ‘Wer-Frage’ als einzig mögliche Basis der Christologie entspricht der coram-Struktur bei Luther: Nur im Angesicht Christi kann rechte Christologie betrieben werden.” 223 Vgl. Bonhoeffer: DBW 12, 283; 286. 224 Vgl. ebd., 283.
184 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase Das verbietet somit auch die Infragestellung der Dass-Frage der Offenbarung und ihre Denkbarkeit, an der Bonhoeffer zufolge die Aufklärung und die moderne Theologie gescheitert sind.225 Weil Jesus Christus lebt und nur in Ihm Heil ist, kommt man an Ihm nicht vorbei, wie Bonhoeffer betont, weshalb er nur zwei Möglichkeiten sieht: Entweder muss der Mensch vor Christus sterben oder aber der Mensch tötet Christus.226 Nur dort aber ist “Jesus mit dem Menschen fertig geworden”,227 der sich durch die Wer-Frage angesprochen weiß; dadurch wird aus dem Egozentrismus ein Christozentrismus, der uns letztlich an unseren Nächsten bindet, wie in Schöpfung und Fall gesehen.228 Und deswegen kann Bonhoeffer im Kontrast zu den pragmatistischen Prägungen aus Amerika behaupten, dass allein Christus die Wahrheit ist und von Ihm herkommt, nicht “als zeitlose Wahrheit, sondern in den konkreten Augenblick hineinbrechende Wahrheit als die Anrede Gottes an uns.”229 Und weil Gott sich im sozialen Raum der Kirche offenbart, geschieht die Wahrheit “nur in der Gemeinschaft von zweien”.230 Bonhoeffers Wahrheitsverständnis ist somit klar relational.231 Infolge dieser relationalen Wahrheit ergeben sich für Bonhoeffer zwei Konsequenzen: Erstens muss die Wer-Frage zur Person Christi Seinem Werk vorgeordnet sein, weil “er [als Sohn ins Fleisch eingegangen; Anm. von P. M.] in der Zweideutigkeit der Geschichte sein Werk tun will incognito”.232 Zweitens beginnt Bonhoeffer seine Vorlesung darum mit dem gegenwärtigen Christus vor dem historischen Jesus.233 Dies führt Bonhoeffer zu seiner grundlegenden christologischen Bestimmung, indem er aus der Gegenwart Christi notwendig die Spannung des Chalce-
225 Vgl. Bonhoeffer: DBW, 284f. 226 Vgl. ders.: DBW 12, 286ff. 227 Ebd., 288. 228 S. auch Green: Bonhoeffer, 227. 229 Bonhoeffer: DBW 12, 298. 230 Ebd., 298. 231 So auch Abromeit: Geheimnis, 314; s. auch Kierkegaard: Einübung, 212ff. 232 Vgl. Bonhoeffer: DBW 12, 291. 233 Vgl. ebd., 291. Überhaupt lässt sich laut Bonhoeffer der geschichtliche Christus nicht von dem Gegenwärtigen trennen, sodass der Zugang zum historischen Christus ebenfalls ausschließlich über Relationalität – bzw. durch Glauben funktioniert, über das Medium der Schrift, die zwar mit Mitteln der historisch-kritischen Exegese gelesen werden will, die aber niemals das historische Faktum Jesus Christus absolut verneinen oder bejahen kann; vgl. ebd., 311ff. u. Krötke: “Gott”, 325ff.
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donense “‘[a]ntispekulativ’ ”234 bestätigt, dass Jesus Christus ganz Gott als auch ganz Mensch ist.235 Entscheidend ist vielmehr Christi Pro-me-Sein als “wesenhafte Bezogenheit auf mich”,236 denn nur “Christus und nur Christus wird von Bonhoeffer als AktSeins-Einheit im Sinne einer Einheit von Wesen und Wirken gedacht.”237 Damit sucht er eine “strikt relational, und damit seinem Personbegriff entsprechende, ausgerichtete Interpretation des Chalcedonense.”238 Jegliche abstrakte Spekulation wird abgelehnt, was zu radikal klingenden Aussagen führt wie: “Gott in seiner zeitlosen Ewigkeit ist nicht Gott. […] Allein in Jesus Christus ist Gott gegenwärtig.”239 Wie schon in der Frühphase, gibt es Gott als Isolierten für Bonhoeffer schlicht nicht: “Christ can be thought of only in relational terms. […] Which is to say, God’s very being, too, is relational.”240 Nirgends anders ist Christus zu bekom-
234 Schulte: Ohne Gott, 155. 235 Vgl. Bonhoeffer: DBW 12, 294; 327. Das Chalcedonense als altkirchliches Bekenntnis bekräftigt er darum, weil es (Hamilton: Hermeneutik, 389) “in seiner paradoxen Formulierung auf die Person Jesus hinweist, anstatt in abstrakter Spekulation über ein überzeitliches Wie der zwei Naturen Jesu zu verbleiben.” Denn das Geheimnis Christi wird darin hervorgehoben; so auch Abromeit: Geheimnis, 192f., Krötke: “Gott”, 318ff. u. Lehmkühler: “Christologie”, 64. 236 Bonhoeffer: DBW 12, 295. 237 Tietz-Steiding: Kritik, 306. 238 Schulte: Ohne Gott, 159f. Bei Bonhoeffer: DBW 12, 336, darf es also “nach dem Chalcedonense nicht mehr heißen, wie ist die Verschiedenheit der Naturen und die Einheit der Person zu denken, sondern: wer ist dieser Mensch, von dem gesagt wird, er sei Gott?” Im zweiten Teil seiner Vorlesung über den geschichtlichen Christus entgegnet Bonhoeffer darum dem seit der Alten Kirche bestehenden Doketismus, den Ebioniten, den Monophysiten und den Nestorianern, dem Modalismus und Subordinatianismus (315–338) mit der lutherischen communicatio idiomatum, die er mit dem finitum capax infiniti, non per se sed per infinitum begründet – das aber wiederum mit nichts anderem als der Bibel selbst (330–332); zur Verbindung von Luthers communicatio idiomatum und Bonhoeffers pro-me-Sein s. auch Lehmkühler: “Christologie”, 59–63. Und so ist Jesus Christus, “und zwar gerade als der Mensch” (341), Bonhoeffer zufolge – durch Gottes Wort – als Gott qualifiziert, womit er jeder Teilung in zwei isolierte vorfindliche Gegebenheiten entgegenwirkt; vgl. dazu auch DeJonge: Formation, 90f. Gleichzeitig bleibt Christus als wirklicher Mensch peccator pessimus, der als letztes Ärgernis – mit den Worten Bonhoeffers – durch das historische Faktum des leeren Grabes von Erniedrigung zur Erhöhung hindurchgedrungen ist; vgl. Bonhoeffer: DBW 12, 344; 347. 239 Ebd., 294; auch Bethge: “Christologie”, 89f., markiert Bonhoeffers Relationalität an diesem Punkt deutlich. Nicht wundern darum die Beobachtungen von Krötke: “Gott”, 318, “dass in der Christologievorlesung kaum auf traditionelle Bestimmungen der Göttlichkeit Gottes wie ‘Allmacht’, ‘Einheit’, ‘Unendlichkeit’ usw. zurückgegriffen wird. Wer Gott als Gott ist, das kommt vielmehr heraus, indem verstehbar wird, wer dieser Jesus als Gott ist.” 240 Rasmussen: “Ethics”, 216.
186 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase men als “in der ärgerlichen Gestalt ihrer Verkündigung. Der verkündigte Christus ist der wirkliche Christus”241 : In Wort, Sakrament und Gemeinde.242 Green ist darum zuzustimmen, dass Bonhoeffer die Person Christus in denselben Kategorien beschreibt wie den Menschen.243 Das extra nos Christi darf trotz alledem nicht übersehen werden, zumal für Bonhoeffer bei aller Ablehnung von Spekulationen “die christologische Frage ihrem Wesen nach eine ontologische Frage”244 darstellt; mit diesem Anspruch weist Bonhoeffer einmal mehr die liberale Tradition besonders von Harnacks zurück, der Jesus auf seine Persönlichkeit reduziert hat, wie Lehmkühler zurecht anmerkt.245 Das pro me schlägt sich wesenhaft in dem “In-der-Mitte-Sein”246 Christi nieder, wodurch der Gedanke der Stellvertretung auf den Plan rückt und zum “Herz der Vorlesung”247 wird. Denn “Christus ist als der pro me Daseiende der Mittler”248 – für den Menschen, die Geschichte und die Natur: Für den Menschen als Gericht und Rechtfertigung, indem Christus stellvertretend “das erfüllte Gesetz ist”,249 aber nicht nur als Grenze, sondern eben auch als Mitte. Für die Geschichte ist Christus Grenze und Mitte in der Gestalt von Kirche und Staat;250 durch Christi Mitte in der Natur erhält die Kreatur zwischen Knechtschaft und Befreiung/Erlösung neue Hoffnung.251 Christus ist somit die Mitte jeglichen menschlichen Lebens in historischer, politischer und natürlicher Existenz. Das ist die wesentliche Neuerung Bonhoeffers und laut Wolf Krötke “die entscheidende Einsicht”, “dass man
241 Bonhoeffer: DBW 12, 295. 242 Abromeit: Geheimnis, 92 nennt dies “[p]ersonal-ontologische[n] Ansatz”. Die Transzendenz begegnet als soziale und personale Transzendenz: “Gott bleibt Schöpfer und Herr, aber er begegnet dem Menschen unten, ja, in Christus sogar ganz unten.” So auch (Green: Bonhoeffer, 235): “In other words, Christ is Christ in his social relation with humanity, and by his presence creates a new social community and new social relationships among human beings. Christ is truly Christ and human beings are truly human in the sociality of Christ and humanity.” 243 Vgl. ebd., 235 Ähnlich auch Abromeit: Geheimnis, 89: “Die Frage nach Christus und die Frage nach dem Menschen sind nicht identisch, aber sie liegen so ineinander, daß sie nicht unbeschadet voneinander gelöst werden können.” 244 Bonhoeffer: DBW 12, 284. 245 Vgl. Lehmkühler: “Christologie”, 58. 246 Bonhoeffer: DBW 12, 307. 247 Abromeit: Geheimnis, 273. 248 Bonhoeffer: DBW 12, 307. 249 Ebd., 307. 250 Vgl. ebd., 309f. 251 Vgl. ebd., 310.
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Jesus Christus ‘Aktualität’ nicht erst zusprechen muss”,252 die natürlich auch politische Sprengkraft mit sich bringt, weil Christus damit zu einem “more active, present agent”253 in der ganzen Welt wird, wodurch immer stärker auch die Relationalität zur Welt in den Fokus rückt.254 Aber natürlich hat dies auch innerkirchliche Sprengkraft, denn “auf Christus kann die Gemeinde nicht zurückkommen wie auf etwas, dessen man sich von Zeit zu Zeit erinnert.”255 Die Art und Weise, wie Christus in der Welt gegenwärtig ist, ergibt sich aber notwendig aus der theologia crucis als Gegenpol zum Kulturprotestantismus: “Der Sinn der Geschichte geschieht im erniedrigten Christus”256 – immer zeitgleich in der Dreiheit von Inkarnation, Kreuzigung und Auferstehung.257 Denn letztendlich soll laut Bonhoeffer “die Verherrlichung Gottes im Menschen” auch “zugleich die Verherrlichung des Menschen selbst” sein, “der Leben in Ewigkeit mit dem trinitarischen Gott haben soll.”258
3.2.3 Auf friedensethischer Mission: Die Ökumene Noch gar nicht wirklich in Berlin angekommen, stolpert Bonhoeffer schon in die ökumenische Arbeit hinein, initiiert durch die ökumenische Konferenz in Cambridge im Sommer 1931, was für ihn “fortan ein Stück seiner selbst”259 werden
252 Krötke: “Gott”, 331. 253 Green: Bonhoeffer, 236; vgl. auch 181; 238; Feil: Theologie, 173; Abromeit: Geheimnis, 33; 91. 254 Oder mit den Worten von ebd., 319: “Für den Erfahrungsbezug der Christologie Dietrich Bonhoeffers ist wichtig zu sehen, daß er den Christus praesens im Kampf für Frieden, Gerechtigkeit und für die Juden am Werk sieht.” 255 Krötke: “Gott”, 331 Laut Bonhoeffer muss – wie schon gesehen – Christus die Mitte natürlich auch der Kirche sein, womit er fest auf dem steht, was ein Jahr später in Barmen I festgehalten und Grundlage der Bekennenden Kirche wird – in Abgrenzung von der Reichskirche. 256 Bonhoeffer: DBW 12, 308; die starke Akzentuierung der theologia crucis (gegen den Kulturprotestantismus) betonen auch Abromeit: Geheimnis, 234; 278f., Green: Bonhoeffer, 241 u. Schulte: Ohne Gott, 179. 257 Ebd., 179: “So wie die Kreuzigung Jesu Voraussetzung für den Erweis der Liebe Gottes über den Tod hinaus ist, so sind die Inkarnation und das Leben Jesu die Voraussetzung dafür, dass der Mensch überhaupt von der dem Menschen bedingungslos zugewandten Liebe Gottes erfahren kann.” 258 Bonhoeffer: DBW 12, 342; Krötke: “Gott”, 323, verwundert die nur spartanische Überlieferung dieses doch so zentralen theologischen Gedankens bei Bonhoeffer, weil nicht klar wird, “dass diese Christologie ganz im Horizont der Eschatologie entworfen ist.” 259 Bethge: DB, 232; vgl. auch Bonhoeffer: DBW 11, 21 u. 125–131 (Bonhoeffers Bericht über die Cambridge-Konferenz) u. Heimbucher: Christusfriede, 45f.
188 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase wird. Dies mag auch an dem thematischen Schwerpunkt dieser ersten Konferenz liegen – es geht um friedensethische Fragestellungen im Lichte möglicher Abrüstungen. Bonhoeffer ist von Amerika her nun voll und ganz auf den pazifistischen Spuren der Bergpredigt.260 Aber auch Diestel macht wieder seinen Einfluss geltend, sodass Bonhoeffer prompt zum deutschen Jugendvertreter der Vereinigung des Weltbundes gewählt wird, des Weiteren zum Sachverständigen für Jugendarbeit.261 Ihm fehlt dort jedoch die Konkretion – der Wirklichkeitsbezug –, auch wenn er immerhin dankbar ist für die Herausgabe einer Resolution.262 Ohne dies so zu benennen, deutet Bonhoeffer mit seinem Wunsch gegenüber der Christenheit auf das rechte Wort zur rechten Zeit seine neu entdeckte Relationalität zur Welt an.263 Aus dieser Relationalität zur Welt, gepaart mit dem Fokus auf die Bibel,264 nimmt Bonhoeffers Engagement zunehmend prophetische Züge an.265 Dies schlägt sich in Christi Wirklichkeitsnähe und dem Wunsch nach konkreten Geboten – besonders dem Friedensgebot – nieder. Auslöser für erste öffentliche Äußerungen ist der sog. “Fall Dehn”, bei dem Bonhoeffer mithilfe seiner Erhaltungsordnungen sowie seinen Bezug zu Gandhi erste pazifistische Äußerungen formuliert.266 Die friedensethischen Impulse und den Ruf zum konkreten Gebot
260 Vgl. Bonhoeffer: DBW 11, 126. Im Januar 1936 wird Bonhoeffer an Elisabeth Zinn schreiben (ders.: DBW 14, 113): “Der christliche Pazifismus, den ich noch kurz vorher – bei der Disputation, auf der auch Gerhard war! – leidenschaftlich bekämpft hatte, ging mir auf einmal als Selbstverständlichkeit auf.” 261 Vgl. ders.: DBW 11, 24f.; 62; s. auch Bethge: DB, 232. 262 Vgl. Bonhoeffer: DBW 11, 129–131. 263 Vgl. ebd., 131. 264 So insistiert Bonhoeffer auch darauf, dass die Bibel nicht nur für, sondern “gegen uns” (ebd., 353 (Ansprache in Gland am 29.08.1932)) gelesen wissen will, um den Ruf Christi zu vernehmen. Sein Appell ad fontes, nämlich zur wirklichen Bibel und zum wirklichen Luther, macht Bonhoeffers streitenden, scheidenden Charakter deutlich auch im Aufsatz “Was soll der Student der Theologie heute tun?” deutlich; vgl. ders.: DBW 12, 419. 265 Dementsprechend wird Bonhoeffer in seinem Aufsatz “Was soll der Student der Theologie heute tun?” vom Sommer/Herbst 1933 die Rolle des Theologiestudiums prophetisch auslegen, zur Prüfung der Geister in der Kirche Christi, und zwar durch die Beschäftigung mit der Heiligen Schrift und den Bekenntnissen, dem Unterscheiden zwischen der “lautere[n], wahrhaftige[n] Lehre des Evangeliums Jesu Christi” und “Menschenlehre, Menschengesetz, falsche[r] Lehre und Abgötterei” (ebd., 418). 266 Anfang 1932 wird der jüngst zum Professor berufene Günther Dehn in voller Breite angefeindet, nachdem er “das Recht zum Krieg in Frage gestellt und demgegenüber auch ‘die Möglichkeit des Opfers, des Verzichtes auf das Recht der Selbstbehauptung’ erwogen” (Heimbucher: Christusfriede, 49) hat. Bonhoeffer: DBW 11, 67, macht darum in einem ersten Entwurf (an die
3.2 Durchs Gebet zur Bibel und in die Nachfolge: Bonhoeffers Mittelphase
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entwickelt Bonhoeffer jedoch wesentlich in der ökumenischen Bewegung im Zuge einiger Vorträge und Aufsätze, unter anderem im tschechischen Čiernohorské kúpele (Juli 1932) und im schweizerischen Gland (August 1932). Grundlage Bonhoeffers ist kein abstrakter Friedensbegriff, sondern “[d]er gekreuzigte Christus [ist] unser Friede”,267 der in der Predigt und im Sakrament gegenwärtig werden müsse. Denn Christus ist nicht fern von der Welt, nicht an einer weltfernen Region unseres Daseins, er ging in die tiefste Tiefe der Welt, sein Kreuz ist mitten in der Welt.268
An diese “irdisch orientierte” theologia crucis koppelt Bonhoeffer seinen Appell zum Frieden: Und dieses Kreuz Christi ruft nun über die Welt des Hasses und den Zorn und das Gericht und verkündigt den Frieden. Es soll heute kein Krieg mehr sein – das Kreuz will es nicht. […] Die Kirche Christi steht gegen den Krieg und für den Frieden unter den Menschen, zwischen Völkern, Klassen und Rassen.269
Der neue Wirklichkeitsbezug macht sich dabei auch im Einfluss des Social Gospel bemerkbar, mit dem Bonhoeffer hier wie auch zeitgleich im Betheler Bekenntnis der Erde eine zentrale Rolle beimisst und dadurch Wesentliches der späteren neuen Diesseitigkeit vorwegnimmt.270 Grundlage für Bonhoeffer ist, dass der Glaube an das Reich Gottes nur dort möglich ist, wer Gott und Erde gleicherma-
Theologische Fakultät in Halle) deutlich, dass er Krieg für Sünde hält: “[I]n ihm zeigt sich unverhüllt der Zustand der gestörten Schöpfungsordnungen; er verstößt gegen das Friedensgebot Gottes.” Darüber hinaus vertieft und konkretisiert er in seinem öffentlichen Vortrag “Recht auf Selbstbehauptung” an der Technischen Hochschule am 04.02.1932 diese Gedanken: Gegen die westliche “Geschichte der Kriege” – die er als gegen die Natur gerichtet ansieht – richtet Bonhoeffer die (fern-)östliche Leidensbereitschaft am Beispiel der “gewaltige[n] Tat Gandhis” durch dessen “passive[r] Resistenz” (allesamt 220). Während Bonhoeffer dabei das westliche Verständnis auf Selbstbehauptung als individuelles Selbstverständnis definiert, favorisiert er (tendenziell) den Osten mit einem verantwortlichen Leben, bei dem der Mensch (bzw. ein Volk) nicht für sich selbst, sondern für den anderen – sprich das Kollektiv – lebt (vgl. 222f.) was seinem relationalen Personbegriff wesentlich nähersteht. Als Idealtypus und letztendliche Begründung nennt er Jesus selbst, der “das Opfer der Menschheit” vollbracht habe, indem er “frei war zum Tode” (226). 267 Bonhoeffer: DBW 11, 355 (Ansprache in Gland am 29.08.1932). 268 Ebd., 356 (Ansprache in Gland am 29.08.1932). 269 Ebd., 356 (Ansprache in Gland am 29.08.1932). 270 Vgl. ders.: DBW 13, 14; 39 (Betheler Bekenntnis), Green: “Christus”, 26f. u. ders.: “Discipleship”, 83f.
190 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase ßen liebt.271 Und so ist jedes Abrutschen in Einseitigkeiten zu unterbinden, zumal beide – Reich Gottes und Erde – ineinander verschränkt sind, ähnlich wie Kirche und Staat aufeinander bezogen bleiben und sich gegenseitig begrenzen.272 Dies schlägt sich auch in einem Bedeutungswandel von “Religion” nieder, den Bonhoeffer “zunehmend nicht mehr als das auf ein religiöses Apriori gestützte erkenntnistheoretische Missverständnis der Offenbarung, sondern vielmehr als ein Gegenteil zum Reich Gottes” (Huang: Gemeinschaft, 154) ansieht, wie Ying Huang für diese Jahre (1932 bis 1935) ausführlich nachgezeichnet hat – sozusagen ein nächster Schritt hin zur Relationalität zur Welt, die schließlich in den Überlegungen zu einem religionslosen Christentum zur letzten Konsequenz geführt werden wird. Weil für Bonhoeffer die Kirche der Christus praesens ist, muss sie den Frieden auch ausleben, jedoch nicht zu Ungunsten von Gerechtigkeit und Wahrheit.273 Deshalb negiert er einen absoluten irdischen Frieden, der womöglich Recht und Wahrheit unterdrückt – ggf. ist Kampf nötig.274 Denn nur die Ausrichtung auf Jesus Christus um des Hörens der Offenbarung willen ist für Bonhoeffer rechtens, woraus sich neben dem bereits thematisierten relationalen Wahrheitsbegriff auch ein relational verstandener Friedensbegriff ergibt.275 Grundlage sind die bereits erwähnten “Erhaltungsordnungen” als “Formen der Zweckgestaltung gegen die Sünde”,276 in der nicht nur der Mensch, sondern auch die gesamte Schöpfung Gottes auf Christus hin neugeschaffen werden soll.277 Aber auch mithilfe seiner zeitgleich thematisierten Gottebenbildlichkeit des Menschen argumentiert er, indem mir Christus im Bruder begegnet, “dem Deutschen im Engländer, dem Franzosen
271 Vgl. Bonhoeffer: DBW 12, 265 (Aufsatz “Dein Reich komme!”, Berlin 1933). 272 Vgl. ebd., 273ff. (Aufsatz “Dein Reich komme!”, Berlin 1933). 273 Vgl. ders.: DBW 11, 356f. (Ansprache in Gland am 29.08.1932). Ewigen Frieden der Liebe Gottes verortet Bonhoeffer erst im Eschaton. 274 Bonhoeffer thematisiert in seinem Grußwort zu ebendieser Tagung auch das in Deutschland herrschende Gefühl ungerechter Behandlung durch den Versailler Vertrag, durch den Deutschland zum Alleinschuldigen am Ersten Weltkrieg gemacht wird; vgl. ebd., 347 (Vortrag zur theol. Begründung der Weltbundarbeit in Čiernohorské kúpele im Juli 1932). 275 Vgl. ebd., 338ff. (Vortrag zur theol. Begründung der Weltbundarbeit in Čiernohorské kúpele im Juli 1932); s. auch Heimbucher: Christusfriede, 109. S. auch (Bonhoeffer: DBW 12, 233 (Vortrag “Christus und der Friede” im Dezember 1932)): “[E]s gibt nur den Zugang zum Feind nur über das Gebet zum Herrn aller Völker.” 276 Ders.: DBW 11, 337 (Vortrag zur theol. Begründung der Weltbundarbeit in Čiernohorské kúpele im Juli 1932). 277 Vgl. ebd., 341f. (Vortrag zur theol. Begründung der Weltbundarbeit in Čiernohorské kúpele im Juli 1932).
3.2 Durchs Gebet zur Bibel und in die Nachfolge: Bonhoeffers Mittelphase
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im Deutschen.”278 Kriegsdienst kann Bonhoeffer dementsprechend geradezu kategorisch ablehnen, weil wahrer Friede letztlich aber doch nur in Gott zu finden sei.279 In prophetischer Manier appelliert Bonhoeffer an die ökumenische Bewegung, durch ihre eigene Theologie zur Kirche zu werden, um mehr zu sein als eine “zeitgemäße kirchliche Zweckorganisation”.280 Er weiß um die Zerrissenheit der ökumenischen Bewegung, hält aber gerade ihre Einheit für nötig, um als die eine Kirche “in der Vollmacht des in ihr gegenwärtigen lebendigen Christus”,281 durch ein qualifiziertes Schweigen Evangelium und Gebot konkret in die jeweilige Situation hinein sprechen zu können.282 Indem Bonhoeffer die genaue Kenntnis der Sachlage der Welt fordert,283 etabliert er nichts anderes als die Relationalität zur Welt, weshalb er in diesem Zusammenhang sogar von einem “ethischen Sakrament der Wirklichkeit” spricht, das als “diese Wirklichkeit selbst ganz begründet ist in ihrer Beziehung auf die Schöpfungswirklichkeit.”284 Daraus kann sich Bonhoeffer zufolge gerade auch ein konkretes “geht nicht in diesen Krieg”285 ergeben, das jedoch immer verwurzelt ist im Wort der Sündenvergebung. Deshalb muss nach Bonhoeffer das Gebot auch immer wieder neu gegeben werden und nie ein für allemal, sodass sogar die Bergpredigt als Gesetz abgelehnt wird.286
278 Bonhoeffer: DBW 11, 353 (Ansprache in Gland am 29.08.1932). 279 Vgl. ders.: DBW 12, 234f. (Vortrag “Christus und der Friede” im Dezember 1932). Vgl. auch Heimbucher: Christusfriede, 89. 280 Bonhoeffer: DBW 11, 328 (Vortrag zur theol. Begründung der Weltbundarbeit in Čiernohorské kúpele im Juli 1932); vgl. ders.: DBW 12, 263. Ihm “fehlt theologische Verankerung, gegen die die Wellen von rechts und links vergebens anstürmen”, so ders.: DBW 11, 329 (Vortrag zur theol. Begründung der Weltbundarbeit in Čiernohorské kúpele im Juli 1932); im die Tagung einleitenden Grußwort hat er womöglich schon explizit von dem Eindringen der NS-Ideologie in die Kirche gesprochen (vgl. 349). 281 Ebd., 331; vgl. 343 (Vortrag zur theol. Begründung der Weltbundarbeit in Čiernohorské kúpele im Juli 1932). Nur in Demut und aus der Vergebung kann die Kirche wiederum von Vergebung und der einen Wahrheit Christus sprechen, allein aus der erwartenden Erlösung (vgl. 343f.; 347). 282 Zurecht verweist Duchrow: “Kirche”, 32, auf den bedrohten Weltfrieden, an den Bonhoeffer wohl denkt. 283 Vgl. Bonhoeffer: DBW 11, 331ff. (Vortrag zur theol. Begründung der Weltbundarbeit in Čiernohorské kúpele im Juli 1932). 284 Ebd., 334 (Vortrag zur theol. Begründung der Weltbundarbeit in Čiernohorské kúpele im Juli 1932); vgl. auch Heimbucher: Christusfriede, 66. 285 Bonhoeffer: DBW 11, 334. 286 Vgl. ebd., 335 (Vortrag zur theol. Begründung der Weltbundarbeit in Čiernohorské kúpele im Juli 1932).
192 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase Statt Gesetz geht es Bonhoeffer vielmehr darum, “den Ruf Christi im Glauben gehorsam” zu vernehmen und “sich durch diesen Ruf der Welt verantwortlich”287 zu wissen. Zum ersten Mal taucht damit die Verbindung von Gehorsam und Glauben auf, wie Bonhoeffer sie schließlich prominent in der Nachfolge entfalten wird; schon jetzt ist sie in gerade thematisiertem Sinne an die Verantwortung für die Welt geknüpft.288 Darum führt Bonhoeffer in diesem Zusammenhang den epistemisch-hermeneutisch wichtigen Begriff der “Einfältigkeit” ein, der zuvor ausführlich Erläutertes chiffriert: Der einfältige Leser verstehe die Bergpredigt ganz unmissverständlich,289 womit Bonhoeffer auf nichts anderes abzielt als auf die in Schöpfung und Fall und in der Christologie-Vorlesung entfaltete relationale Hermeneutik. Mit dem “einfältigen Glauben” bzw. dem “einfältigen Gehorsam”290 formt Bonhoeffer außerdem zwei Begriffspaare praktischer Spiritualität bzw. Ethik, die im Prinzip nichts anderes als den actus directus meinen – aktuale Gotteserkenntnis statt Reflexion und somit Nicht-Wissen um Gut und Böse –, die er besonders prominent in der Nachfolge verwenden wird; der Ursprung dieses Begriffs dürfte bei Kierkegaard liegen.291 Menschliche Möglichkeiten schließt er somit aus, damit keinesfalls die Sünde gerechtfertigt und die Gnade billig werde – die Terminologie in Nachfolge.292 Gegen den Vorwurf, die Kirche sei tot, führt Bonhoeffer Gott selbst ins Felde, “der die sterbende Kirche zum Leben gerufen hat gegen und trotz uns und durch uns, aber er allein tut’s.”293 Gefangen im Schrecken der Nacht weiß die Kirche nicht, ob der kommende Herr hilft oder richtet.294
3.2.4 Prophetischer Aktivismus und erste NS-Kritik: Das Pfarramt Neben all den universitären und ökumenischen Tätigkeiten ist Bonhoeffers Kernaufgabe jedoch der “Hilfsdienst als Stadtvikar”,295 wo er für den Aufbau einer Stu-
287 Bonhoeffer: DBW 11, 353 (Ansprache in Gland am 29.08.1932). 288 So auch Schmitz: Nachfolge, 354f. 289 Vgl. Bonhoeffer: DBW 12, 232 (Vortrag “Christus und der Friede” im Dezember 1932). 290 Ebd., 233f. (Vortrag “Christus und der Friede” im Dezember 1932). 291 Vgl. Kierkegaard: Einübung, 104. 292 Vgl. Bonhoeffer: DBW 12, 234f. (Vortrag “Christus und der Friede” im Dezember 1932) u. ders.: DBW 17, 116ff. 293 Ders.: DBW 11, 351 (Ansprache in Gland am 29.08.1932). 294 Vgl. ebd., 352; 355 (Ansprache in Gland am 29.08.1932). 295 Ebd., 23.
3.2 Durchs Gebet zur Bibel und in die Nachfolge: Bonhoeffers Mittelphase
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dentenarbeit als Studentenpfarrer an der Technischen Hochschule Berlins abgestellt wird.296 Seine Befürchtungen, dass all seine Bemühungen bei den Studenten im Sande verlaufen, bewahrheiten sich schnell, weshalb er nach einiger Zeit diesen Posten aufgibt.297 Trotz aller Rückschläge greift er zu Altbewährtem und knüpft Beziehungen, wo er kann.298 3.2.4.1 In den Slums von Berlin Wesentlich erfolgreicher ist Bonhoeffer als Leiter einer Konfirmandengruppe aus dem (damals) sozial benachteiligten Stadtteil Prenzlauer Berg (vormals Wedding).299 Ganz im Sinne seiner Amerika-Theologie des schwarzen Christus und womöglich beeinflusst durch Wards und Webbers Seminare, nimmt er sich in den Berliner “Slums” eine Wohnung, um seinen Schützlingen und deren Familien räumlich wie auch emotional nahe zu sein.300 In diese Richtung gehen auch die etwa ein Jahr später beabsichtigen Pläne für eine Jugendstube für Erwerbslose, die Bonhoeffer zusammen mit Anneliese Schnurmann und mithilfe ihrer Finanzierung in Berlin-Charlottenburg aufbaut.301
296 Vgl. Bonhoeffer: DBW 11, 33; Bethge: DB, 269. Zu diesem und anderen Zwecken findet am 15.11.1931 endlich auch die Ordination statt; vgl. Bonhoeffer: DBW 11, 39. 297 Vgl. ebd., 83. In seinem Bericht an das Berliner Konsistorium nennt er zahlreiche Versuche vor Ort, die schließlich “als gescheitert angesehen werden” (76) müssen; immerhin hat Bonhoeffer es bis dato in unterschiedliche Verbindungshäuser für Vorträge geschafft und kann dadurch einen Zuwachs an Studenten unter den vier Gottesdiensten verbuchen, die er in der Berliner Dreifaltigkeitskirche veranstaltet. 298 So lautet einer seiner abschließenden Vorschläge schließlich, statt des Studentenpfarramts eine Professur für christliche Weltanschauungsfragen an der Technischen Hochschule einzurichten, um von innen her – aus Beziehungen – Einfluss auf das studentische Leben nehmen zu können; vgl. ders.: DBW 12, 77. Dieser Vorschlag wird schließlich sogar von anderer Stelle aufgenommen und weiterempfohlen; vgl. ders.: DBW 13, 67. 299 Vgl. ders.: DBW 11, 43; s. auch Bethge: DB, 272ff. Bonhoeffer berichtet, dass die Konfirmanden manchmal – oftmals erzählt er von Erlebnissen aus New York – mit offenem Munde staunend zuhören; vgl. Bonhoeffer: DBW 17, 105. 300 So auch Williams: Jesus, 38f.; 132 u. Braun: Wirken, 302, die den praktischen Ausdruck von Bonhoeffers relationalem Denken darlegt: “Zum gelungenen Umgang Bonhoeffers mit jungen Menschen trägt ebenfalls seine bewusst und kontinuierliche Entscheidung bei, sich in zeitlicher Hinsicht für sie zu [sic!] einzubringen und sie als Gegenüber ernst zu nehmen. Dass er als Wissenschaftler sogar stellenweise die Vorbereitung seiner Lehrveranstaltungen vernachlässigte, zeigt die hohe Priorisierung der Begleitung der Konfirmanden. Auch an Bonhoeffers Studentenarbeit wird ersichtlich, wie eng bei ihm zeitlicher Einsatz und Erfolg miteinander verbunden sind.” 301 Vgl. Bonhoeffer: DBW 11, 112.
194 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase 3.2.4.2 Erste NS-Kritik Durch die Herausforderung vonseiten des Nationalsozialismus sieht Bonhoeffer sich bereits vor der Machtübernahme Hitlers gezwungen, über den Führerbegriff zu reflektieren, was seine zunehmende Relationalität zur Welt deutlich macht. Trotz seiner Wandlungen im Begriff erkennt Bonhoeffer unter der jungen Generation im Bild des Führers ein verbindlich-verbindendes Wahrzeichen.302 Doch fehlende Reflexion und Idealismus gegenüber einem sich verwirklichenden Reich Gottes auf Erden bergen für Bonhoeffer die Gefahr in sich, Nachschub für das Nazi-Regime zu werden.303 Er verwirft deshalb die Loslösung des Führertums von Ämtern hin zu einer charismatischen Persönlichkeit, durch dessen Autorität und Einfluss nicht nur der Individualismus leidet, sondern sich sogar ein Glauben an den Führer ergibt.304 Darum fordert er von einem Führer eine klare Begrenztheit der eigenen Aufgabe; andernfalls “gleitet das Bild des Führers über in das des Verführers.”305 Weil als letzte Autorität Gott für Bonhoeffer nicht infrage gestellt werden darf, muss für ihn der Führer in Ehrfurcht vor Gott verwurzelt sein.306 Nach Hitlers Machtübernahme am 30. Januar 1933 gehört Bonhoeffer dann auch zu den “sehr wenigen, die bereits zur Zeit der staatlichen Ariergesetzgebung vom 7. April 1933 am Schreibtisch saßen und Thesen über die Konsequenzen in staatlicher und kirchlicher Hinsicht erarbeiteten. […] Im August 1933 wird Bonhoeffer eindeutig folgern, daß man einer Kirche nicht mehr angehören kann, die Juden ausschließt.”307 Bonhoeffer ist geschult und sensibilisiert durch seine Erfahrungen in Harlem, zumal enge Freunde wie Hildebrandt von der Stigmatisierung und konkreten Not durch das sog. “Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums” betroffen sind; auch Pfarrer mit jüdischen Wurzeln werden aus ihrem Amt enthoben. Deshalb bildet sich, um den finanziellen Nöten der Betroffenen zu begegnen, im laufenden Jahr 1933 der sog. “Pfarrernotbund”, der wiederum in die sog. “Bekennende Kirche” mündet, in deren Kirchenkampf mit den 302 Vgl. Bonhoeffer: DBW 12, 241 (Aufsatz “Wandlungen des Führerbegriffes in der jungen Generation”). 303 Vgl. ebd., 246 (Vortrag “Der Führer und der Einzelne in der jungen Generation”). 304 Sicher spielt an dieser Stelle auch Max Webers Warnung vor einem unsachlichen Machstreben des Politikers mit hinein, das Weber neben der Verantwortungslosigkeit als eine von zwei Todsünden auf dem Gebiet der Politik ansieht; vgl. Weber und Dahrendorf: Politik, 63. 305 Bonhoeffer: DBW 12, 257 (Vortrag “Der Führer und der Einzelne in der jungen Generation”); an dieser Stelle bricht im Übrigen der Radio-Vortrag ab; vgl. ebd., 47 (Rundschreiben an Kollegen und Freunde am 02.02.1933). 306 Vgl. ebd., 259 (Vortrag “Der Führer und der Einzelne in der jungen Generation”). 307 Bethge: DB, 322f.
3.2 Durchs Gebet zur Bibel und in die Nachfolge: Bonhoeffers Mittelphase
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deutschen Christen und dem nationalsozialistischem Regime Bonhoeffer Vorreiter wird.308 In pazifistischer Manier und mit theologischem Know-How ist eine von Bonhoeffers ersten Reaktionen der Aufsatz “Die Kirche vor der Judenfrage” vom April 1933, der auch Bonhoeffers zunehmend prophetische Rolle widerspiegelt.309 Auf Grundlage einer noch recht starren lutherischen Zwei-Reiche-Lehre erläutert er die Gewaltentrennung von Kirche und Staat, wodurch die Kirche normalerweise nicht unmittelbar politisch handeln solle.310 Allerdings benennt er den Fall, “wo der Staat gerade in seiner Staatlichkeit, d. h. in seiner mit Gewalt, Recht und Ordnung schaffenden Funktion bedroht sei.”311 Dies treffe dann zu, so Bonhoeffer, wenn der Staat entweder zu wenig oder zu viel Ordnung und Recht walten lasse, wodurch im ersten Fall eine bestimmte Personengruppe rechtlos werde. Der zweite Fall richte sich gegen die christliche Verkündigung der Kirche, womit sich der Staat selbst in seiner Autorisierung durch die Kirche beschneide und dadurch selbst verneine,312 was mit der Arisierung und dem Kirchenkampf beides akut der Fall sei. Neben dem Einspruch einzelner Christen nennt Bonhoeffer insgesamt drei mögliche Handlungsmöglichkeiten der Kirche: Erstens die Frage nach der Legitimation, womit die Kirche den Staat auf seine Verantwortung aufmerksam mache; zweitens durch Dienst an den Opfern. Und drittens – damit übertritt Bonhoeffer die klassische Zwei-Reiche-Lehre – nennt er als Möglichkeit, “nicht nur die Opfer unter dem Rad zu verbinden, sondern dem Rad selbst in die Speichen zu fallen”,313 womit er ein direkt politisches Handeln der Kirche fordert, wenn ihre eigene Existenz oder die des Staates bedroht sei. Es geht dabei weniger um ein revolutionäres Handeln als vielmehr um “resistance against tyranny” bzw. “even
308 Zur Entstehung der Bekennenden Kirche vgl. Hauschild: Lehrbuch 2, 872–881. 309 Vgl. Bonhoeffer: DBW 12, 349–358. Auch international wird die Frage der “racial discrimination” bei einem Ökumene-Treffen in Sofia thematisiert; vgl. ebd., 133. 310 Vgl. ebd., 351; s. auch Bethge: DB, 322. Durch den “Vormarsch” als Ort der Veröffentlichung entgeht Bonhoeffer offenbar der Zensur durch Goebbels, wie Zerner: “Bonhoeffer”, 241, anmerkt. Ob Bonhoeffer darum bewusst strategisch diesen Ort der Veröffentlichung gewählt hat, um gezielter auch von Lutheranern und sogar Deutschen Christen gelesen zu werden, muss offen bleiben; die Anfangszitate Luthers (vgl. Bonhoeffer: DBW 13, 349) erwecken aber geradezu den Eindruck. Ebenso lässt sich nur spekulieren, ob die noch recht starre lutherische Lehre ein Relikt aus seiner Frühphase ist oder er bewusst mit ihr spielt, um mit den Denkmustern seiner Leser dennoch seinen eignen Punkt deutlich zu machen. 311 Ders.: DBW 12, 352. 312 Vgl. ebd., 352f. 313 Ebd., 353; vgl. 354.
196 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase counter-revolutionary resistance”. “In some respect, he anticipates a military action by the ‘Wehrmacht’ from above in order to save the authority of the state against the Nazi movement.”314 Diese dritte Möglichkeit des aktiven politischen Handelns der Kirche zu jener Zeit zieht Bonhoeffer allerdings nur infolge eines evangelischen Konzils in Betracht, dadurch aber der Kirche selbst ein gehöriges Maß an politischer Bedeutsamkeit beimisst.315 Dennoch widerspricht Bonhoeffer explizit dem “zwangsmäßigen Ausschluß der getauften Juden aus unseren christlichen Gemeinden”,316 dem im statu confessionis bei gleichzeitiger Unterstützung der Juden zu begegnen sei – andernfalls sei mit dem Verlust von Jesus Christus selbst zu rechnen, wie Bonhoeffer in einem Memorandum schreibt.317 Denn judenchristlich ist gerade derjenige für Bonhoeffer, “der die Zugehörigkeit zum Volk Gottes, zur Kirche Christi bedingt sein läßt durch die Beobachtung eines göttlichen Gesetzes.”318
314 Allesamt Pangritz: “Fall”, 106; so auch Schmitz: Nachfolge, 323; 394; gegen Bethge: DB, 325 (und mit ihm Krötke: “Wagnis”, 424), der diese dritte Möglichkeit fälschlicherweise als “im Voraus verbindliche Normen für revolutionäres Handeln” deutet. Diese antirevolutionäre Deutung begründet Pangritz: “Fall”, 105, mit der Formel, dem Rad selbst in die Speichen zu fallen, die er auf Schiller zurückführt und dort seitdem als “quotation of ‘winged word’ indicating a person’s resistance against the run of history” bedeutet; in diesem Sinne wiederholt Bonhoeffer schließlich in einer Studie zum “Personal- und Sachethos”, zeitgleich zur Ethik, diese Formel als “Auftrag [der Kirche; Anm. von P. M.] gegenüber den weltlichen Ordnungen selbst im Sinne der Korrektur, der Verbesserung, bzw. des Hinarbeitens auf eine neue weltliche Ordnung” (Bonhoeffer: DBW 16, 551). Aber auch Max Weber (1864–1920), den Bonhoeffer ausführlich rezipiert hat, stellt sich im Zusammenhang der Eigenschaften eines Berufspolitikers die Frage, “was für ein Mensch man sein muß, um seine Hand in die Speichen des Rades der Geschichte legen zu dürfen” (Weber und Dahrendorf: Politik, 61ff.). Neben Leidenschaft (im Sinne von Sachlichkeit) und Augenmaß ist es das Verantwortungsgefühl des Politikers, mit dem sich Bonhoeffer nochmals ausführlich in seiner Ethik auseinandersetzen wird, wenn er die stellvertretende Schuldübernahme aus Verantwortungsbewusstsein thematisieren wird, um ganz praktisch dem Rad des Nazi-Regimes in die Speichen zu fallen. Auch der Einfluss Webers dürfte somit an dieser Stelle sichtbar sein; so auch Krötke: “Pazifismus”, 422. 315 Ein verbindliches Konzil fordert Bonhoeffer auch in anderem Kontext, auch wenn er zeitgleich festhält, dass es ein verbindliches Konzil nicht mehr gibt; vgl. Bonhoeffer: DBW 12, 85; 91; 354; 176. Falcke: “Konzilsgedanke”, 104f., zählt jene Zeit Bonhoeffers betreffend sechs Erwähnungen eines Konzils, auch wenn er gleichzeitig feststellen muss, dass sein Gebrauch nirgends kirchenrechtlich fixiert ist, er ihn vielmehr sehr lose benutzt. 316 Bonhoeffer: DBW 12, 354; vgl. auch ebd., 65 u. 403f. 317 Vgl. ebd., 360; 409–414. 318 Ebd., 356. So versteht er auch den Nationalsozialismus als irdischen Fehlversuch pseudoheilsgeschichtlichen Handelns mit göttlichem Anspruch; vgl. ebd., 355–358 (Aufsatz “Was ist Kirche?”)
3.2 Durchs Gebet zur Bibel und in die Nachfolge: Bonhoeffers Mittelphase
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Zwar hält Bonhoeffer grundsätzlich noch – das erfordert schon seine Ekklesiologie – an der Juden-Mission zu Christus und dem damit verbundenen christlichen Superpositionismus in gewisser Hinsicht fest und benutzt dafür weiterhin die althergebrachte Vorstellung jüdischer Gesetzlichkeit;319 auch wenn diese erste Hälfte Bonhoeffers nach “theological anti-Judaism lurking in the Lutheran confrontation of ‘law’ and ‘gospel’ ”320 klingt, hält Stephen R. Haynes dagegen, dass “Bonhoeffer invoked the witness-people myth not because he was ‘Lutheran’ (although Luther was an important conduit for witness-people theology), but because he was a Christian theologian seeking to grasp the mystery of Jewish suffering in a situation of crisis.”321 Bethge legt sogar schlüssig dar, “daß vielmehr in nuce schon ihre Überwindung angegangen wird.”322 Er versteht das erwähnte Gericht über die Juden letztendlich “als warnendes Wort an die eigene Kirche”.323 Die sog. “Judenfrage” offenbart für Bonhoeffer darum letztlich geradezu das Problem der Kirche: Viele Verständige hätten Kopf und Bibel verloren.324 Deshalb implementiert Bonhoeffer wenig später als federführender Verfasser im Betheler Bekenntnis325 nicht nur die Heilige Schrift als Einheit von Altem und Neuem Testament, sondern Jesus von Nazareth als verheißener “Messias Israels”, “König der Kirche” und “Sohn des lebendigen Gottes”.326 “Die Heilige Schrift allein ist das Zeugnis der göttlichen Offenbarung”.327 So hebt das Bekenntnis den absoluten Herrschaftsanspruch Gottes hervor, die Schuld aller – auch am Tode Jesu und mit der Notwendigkeit zur Umkehr – und verwirft alles Nationalistische/Völkische.328 319 Vgl. Bonhoeffer: DBW 12, 354f. 320 Pangritz: “Fall”, 102. 321 Haynes: “Bonhoeffer”, 47; an späterer Stelle (51) meint er sogar, dass “we do not possess any documentary evidence that he recognized his reliance on the witness-people tradition or sought to escape its grasp.” 322 Bethge: “Juden”, 185. 323 Ebd., 186. 324 Vgl. Bonhoeffer: DBW 12, 58 (Brief an Erwin Sutz vom 14.04.1933). 325 An dem Betheler Bekenntnis zur Vertretung der Bekennenden Kirche arbeitet Bonhoeffer neben Landesbischof Martin Sasse mit, was entscheidend seine Handschrift jener Zeit trägt; vgl. ebd., 362–407; s. auch Bethge: DB, 352–357. Die Genese des Betheler Bekenntnisses ebenso wenig wie seine Rezeptionsgeschichte oder überhaupt zeitgeschichtliche Details können an dieser Stelle nicht berücksichtigt werden. Offensichtlich hat Bonhoeffer selbst den Wunsch eines Bekenntnisses an Bodelschwingh berichtet; vgl. Bonhoeffer: DBW 12, 107; 109 (Briefe von von Bodelschwingh vom 31.07. u. 01.08.1933). Erste Entwürfe stammen aus dem Sommer 1933. 326 Ebd., 363. 327 Ebd., 363. Auch hier finden wiederum Bonhoeffers Erhaltungsordnungen aus Schöpfung und Fall mit all ihren Assoziationen der gefallenen Welt ihren Platz; vgl. ebd., 377f.; 382. 328 Vgl. ebd., 382–402; s. auch Green: Bonhoeffer, 243f.
198 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase 3.2.4.3 Predigten Neben den Themen der Frühphase329 spiegeln auch die Predigten immer stärker Bonhoeffers Wirklichkeitsnähe und Relationalität zur Welt wider, die neben dem Aufruf zur Umkehr und dem Sieg Gottes im Sinne von Clayton Powell Sr. das simple Evangelium und den Anbruch des Reiches Gottes kommunizieren; das legt Bonhoeffer nicht im Sinne dieser “unverfrorenen, scheinheiligen Vergeistigung des Evangeliums”330 aus, sondern anhand praktischer Resultate, dass nämlich Taube hören, Blinde sehen usw.331 Am Reformationsfest 1932 noch fordert Bonhoeffer deshalb die Kirche zum Tun der “erste[n] Werke”332 auf – freilich im Zusammenhang mit Luthers sola fide und gegen die Nazis, nachdem die NSDAP in jenem Jahr über 30% an Stimmen erhalten hat.333 Statt Luthers Reformation zu feiern, begrüßt Bonhoeffer die Auseinandersetzung mit der Bibel, um Gottes Wort zu hören und auf Gottes Wunder zu hoffen.334 Denn für Bonhoeffer ist “[d]ie Stunde unserer Kirche [ist] nahe herbeigerückt.“335 Trotz zunehmender Wirklichkeitsnähe findet man in Bonhoeffers Gottesbild zu diesem Zeitpunkt allerdings immer noch Züge eines eher fernen, dominanten Gottes, der Menschen durch Strafen prüft.336 Ein halbes Jahr später, mit dem Einzug des Arierparagraphen auch in die Kirche, ist für Bonhoeffer das Maß endgültig voll, wie er es anhand des Vergleiches
329 So predigt Bonhoeffer über die menschliche incurvatio und Gottes Werk durch Christi Menschwerdung, Leiden und Auferstehung; vgl. Bonhoeffer: DBW 11, 441; 451; 456f.; 459ff.; 462ff. Auch gegen die Vernunft-Dominanz plädiert er immer wieder, nicht nur über ein Nicht-WissenWollen vor Gott als actus directus, sondern er warnt sogar davor, Christus begreifen zu wollen; (vgl. ebd., 425; 452). 330 Ebd., 430; s. auch 410 (Predigt zu Lk 16,19–31 am 29.05.1932). 331 Vgl. ebd., 404; s. auch Williams: “Developing”, 56. 332 Bethge: DB, 285. 333 Vgl. Bonhoeffer: DBW 12, 430. 334 Vgl. ebd., 426ff.; vgl. auch 447 und 467 (Predigt zu Mt 16,13–18 am 23.07.1933). Denn im Sinne der relationalen Hermeneutik macht er deutlich, dass Christus selbst von der Kanzel redet und den eigentlich schwachen Glauben stärken will; vgl. ebd., 443ff. (Predigt zu Mt 8,23ff. am 15.05.1933). Dieser wird konkretisiert im Folgen der Gebote Christi statt in Waffenmacht, womit der pazifistische Aspekt Bonhoeffers wider das mittlerweile dominante Nazi-Regime einmal mehr hervortritt; vgl. ebd., 452f. (Predigt zu Ri 6 am 26.02.1933). 335 Ebd., 430 (Predigt zu Offb 24f.7 zum Reformationsfest am 06.11.1932). 336 Vgl. ebd., 430 (Predigt zu Offb 24f.7 zum Reformationsfest am 06.11.1932). Hermannsdörfer: Beten, 277, kommt deshalb zu dem scharfen Urteil: “Die Berliner Predigten sind vom Bild des durch Strafe zum Guten wirkenden Gottes gekennzeichnet.” Sie leitet daraus außerdem ab, dass Bonhoeffer seit dieser Zeit implizit die lutherische Unterscheidung zwischen deus absconditus und deus revelatus aufgegriffen habe.
3.2 Durchs Gebet zur Bibel und in die Nachfolge: Bonhoeffers Mittelphase
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zum goldenen Kalb darstellt.337 Und so polarisiert Bonhoeffer zwischen dem Propheten Mose und dem Priester Aaron fast in ebensolcher Weise, wie Heschel fast zeitgleich in seiner Dissertation zwischen “Anthropotropismus” und “Theotropismus” unterscheidet:338 “Der Priester gegen den Propheten, die Weltkirche gegen die Kirche des Glaubens, Aaronskirche gegen Mosekirche”.339 Nur wenig später folgt Bonhoeffers klares Urteil: “Sie [die Aaronskirche] wollen wirklich eine Kirche mit Göttern und Priestern und Religion bleiben, aber eine Aaronskirche – ohne Gott.”340 Ungeduld, dann die frömmelnde Forderung nach Wundern und schließlich die maßlose Opferbereitschaft prangert er an der sog. “Aaronskirche” an.341 Wenige Wochen danach lokalisiert Bonhoeffer darum die wahre “Kirche der kleinen Schar”342 jenseits der Massen als Kirche des Christusbekenntnisses, die Gott selbst allein baut.343 Trotz aller negativen Entwicklungen hält Bonhoeffer an Gottes Sieg fest – ganz im Sinne der Predigt zum Reformationsfest 1932 (s. o.) –, was sich in der zukünftigen Regentschaft Christi über die ganze Welt zeigen soll.344 Bonhoeffers neuentdeckte Relationalität zur Welt zwingt ihn immer wieder zur bewusst politischen Predigt.345 3.2.5 London und der leidende Gott (1933–1935) Trotz aller Ambitionen zeichnen sich mehr und mehr Schwierigkeiten und innere Spannungen für Bonhoeffer in Deutschland auf, denn auch die kirchenpo337 Vgl. Bonhoeffer: DBW 12, 459ff. (Predigt zu Ex 32 am 28.05.1933); vgl. auch Bonhoeffers Katechismusentwurf (ders.: DBW 11, 230): “In jedem andern [außer Christus; Anm. von P. M.] betest du zum Gott deiner Wünsche. Nur einer ist es, der selbst zu dir kommt, so daß du ihm nicht mehr entgehst.” 338 Vgl. ders.: DBW 12, 465. 339 Ebd., 460. 340 Ebd., 462. 341 Vgl. ebd., 462ff., bes. 464: “[D]as Ende der Weltkirche und die Erscheinung des Wortes Gottes [aktuell freilich durch Bonhoeffer verkündet; Anm. von P. M.] wiederholt sich in unserer Kirche Tag für Tag, Sonntag für Sonntag.” Vgl. auch Hermannsdörfer: Beten, 270f., die die Ungeduld in Verbindung mit menschlicher Selbstrechtfertigung bringt. 342 Bonhoeffer: DBW 12, 467 (Predigt zu Mt 16,13–18 am 23.07.1933). 343 Vgl. ebd., 468f. 344 Vgl. ebd., 454–456 (Predigt zu 1 Petr 1,7–9 an Himmelfahrt am 25.05.1933). Diesen Punkt stärkt auch Green: Bonhoeffer, 244. 345 Vgl. Bonhoeffer: DBW 12, 238 “Politisch” muss hier als Bezug auf das Öffentliche verstanden werden, da jeder Mensch qua Menschsein politisch ist. Damit widerspricht Bonhoeffer sehr offensichtlich dem Konsens der 1933 abgehaltenen Tagung des Weltbundes in Sofia; Vgl. ebd., 137.
200 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase litischen Ereignisse nehmen ihn ab Sommersemester 1933 voll in Anspruch.346 Deshalb flüchtet Bonhoeffer regelrecht nach London, wo er ab Oktober 1933 für eineinhalb Jahre Pfarrer zweier kleiner Londoner Auslandsemeinden (Sydenham und St. Paul) wird, was de facto auch das Ende seiner universitären Laufbahn bedeutet.347 Trotz räumlicher Distanz engagiert er sich nach wie vor für die Ökumene und greift kontinuierlich in den Kirchenkampf in Deutschland ein, was den Konflikt zur Reichskirche immer größer werden lässt.348 Auch als Solidarität mit den judenchristlichen Pfarrern rechtfertigt er seinen Weggang aus Deutschland und kümmert sich in seiner Fürsorge auch immer wieder um jüdische Migranten, muss sich aber schnell bei Barth für diese vermeintliche Flucht ins einfache Pfarramt entschuldigen, das natürlich keine Lebensaufgabe darstelle, sondern “doch mehr als Intermezzo” gedacht sei.349 Hier in London intensiviert Bonhoeffer die Auseinandersetzung mit der Bergpredigt, der Suche nach dem konkreten Gebot und friedensethischen Fragestellungen.350 Deshalb schmiedet er zum dritten Mal Pläne für einen längeren Indien-Aufenthalt bei Gandhi und hofft nicht nur auf ein “Christentum orientalischer Herkunft”, sondern hegt den Gedanken, dass “in dem dortigen ‘Heidentum’ vielleicht mehr christliches steckt als in unserer ganzen Reichskirche”351 – ein Wunsch, der dann doch nicht gelingt.
346 Vgl. Bonhoeffer: DBW 12, 97; s. auch Bethge: DB, 350f. So ist Hockenos’ Tendenz, Bonhoeffer innerhalb der Bekennenden Kirche als Randfigur zu bezeichnen, sicherlich nicht unberechtigt; vgl. Hockenos: “Struggle”, 2 Bonhoeffer selbst hält fast niemanden in Berlin zu theologisch vernünftigem Wort für fähig; vgl. Bonhoeffer: DBW 12, 51. Den Weg der Kirche hält er für dunkel wie selten, befürchtet sogar eine völkische Nationalkirche aufgrund der Einführung des Arierparagraphen und erwägt mehrmals, eine Freikirche zu gründen (vgl. 118; 123; 126; 129; 131f.); s. dann auch ders.: DBW 13, 128; 159. Barth fragt er deshalb sogar, ob man in einer Kirche bleiben könne, die nicht mehr Kirche sei; vgl. ders.: DBW 12, 124ff. Die Spannung zwischen Pfarramt und Dozentur tut sich immer weiter auf; lediglich das Zusammensein mit Studenten muntert ihn punktuell auf; vgl. ders.: DBW 11, 74; 90; ders.: DBW 12, 46. 347 Zunächst beantragt Bonhoeffer an der Universität eine Beurlaubung, wo er dann zwischenzeitlich sogar im Gespräch für eine systematisch-theologische Professur gewesen ist. Das Gefühl des Außenseiters bleibt jedoch; Vgl. ebd., 118; 121; ders.: DBW 13, 61f. 348 So Bethge: DB, 381, Bonhoeffer: DBW 12, 146 u. ders.: DBW 13, 15; erste Erwähnung der Londoner Stelle findet man in Bonhoeffers Brief an Erwin Sutz vom 17.07.1933; zwischenzeitlich wird ihm auch die Mission vorgeschlagen, wobei er dann (zunächst kommissarisch) in London angestellt wird; vgl. ders.: DBW 12, 98; 108; 140 u. ders.: DBW 13, 27. 349 Vgl. ebd., 12f.; 31; 33; 75; 227. 350 Vgl. ebd., 75; 130; 148; 172; 204. 351 Ebd., 146; in der Predigt zu Lk 13,15 am 08.07.1934 wird Gandhi von Bonhoeffer sogar als Exempel christlicher Demut, Buße und Sündenbekenntnis erwähnt; vgl. ebd., 372.
3.2 Durchs Gebet zur Bibel und in die Nachfolge: Bonhoeffers Mittelphase
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Immerhin kann Bonhoeffer die theologischen Errungenschaften rund um die Bergpredigt (Friedensethik, Glaube und Gehorsam) weiter innerhalb der ökumenischen Bewegung einbringen und erhofft sich selbst von ihrer Seite Unterstützung zu erhalten, indem er dort für die Anerkennung der Bekennenden Kirche als rechte deutsche evangelische Kirche argumentiert, was jedoch nur bedingt gelingt.352 Umgekehrt ist seine Erfahrung innerhalb der Ökumene – neben dem Einfluss der Bergpredigt und Gandhi – wiederum auch nicht ohne Bedeutung für sein eigenes pazifistisches Denken.353 Der wichtigste Höhepunkt dafür in diesem Zusammenhang ist die WeltbundKonferenz in Fanø vom 24.–30. August 1934, wo Bonhoeffer auch seinen alten Studienfreund aus New York, Jean Lasserre, wiedersieht.354 Zunächst unsicher, ob er überhaupt hinfahren soll,355 feuert Bonhoeffer schließlich in prophetischer Manier und enger Relationalität zur Welt entscheidende Thesen über “Die Kirche und die Welt der Nationen”, mit denen er auf die Entscheidung abzielt, ob sich der Weltbund tatsächlich als Kirche versteht oder lediglich ein Zweckverband sein will.356 Denn “[n]ur als Kirche kann er [der Weltbund; Anm. von P. M.] vollmächtig das Wort Christi den Kirchen und Völkern sagen”,357 weil Bonhoeffers Grundvoraussetzung des relational verstandenen Friedens auf Erden “jenseits aller Grenzen völkischer, politischer, sozialer, rassischer Art”358 die Bindung an Christus ist, dessen Sieg im Glauben errungen werden muss: “Die Mächte der Dämonen werden nicht durch Organisationen gebrochen, sondern durch Gebet und Fasten. […] Nicht der Pazifismus ist der Sieg, der die Welt überwunden hat, sondern der Glaube (1. Joh 5,4), der alles von Gott erwartet und auf die Wiederkunft Christi und sein Reich hofft. Erst dann wird die Ursache des Übels, nämlich der Teufel und die Dämonen, vernichtet werden.”359 Besonders an dieser Stelle (aber auch später noch) 352 Vgl. Bonhoeffer: DBW 13, 117; 120; 162; 166. S. dazu auch Bethge: DB, 438 u. Heimbucher: Christusfriede, 115ff. 353 So Reuter: “Pazifismus”, 18: “Was seinen [Bonhoeffers; Anm. von P. M.] Pazifismus motiviert und ihm Konkretion verleiht, ist die Erfahrung der Ökumene, der Christenheit als Weltchristenheit, der universalen Kirche als transnationaler Gemeinschaft aus und in allen Völkern.” So auch Rasmussen: DB, 106. 354 Vgl. Bethge: DB, 450. 355 Vgl. Bonhoeffer: DBW 13, 178. 356 Zum konkreten Kontext s. auch Heimbucher: Christusfriede, 135. Neben den hiesigen Thesen und der Rede über die “Kirche und die Völkerwelt” hat Bonhoeffer offenbar einen Plenarvortrag zum Thema “Die Kirche und die Welt der Nationen” gehalten, der jedoch nicht überliefert ist; so Krötke: “Pazifismus”, 409. 357 Bonhoeffer: DBW 13, 295. 358 Ebd., 299. 359 Ebd., 297. Vgl. auch Bethge: DB, 447.
202 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase wird somit deutlich, wie eng Spiritualität/Gebet und politisches Handeln bei Bonhoeffer zusammenhängen.360 Denn wie in Gland macht er deutlich, dass Friede sein soll, “weil Christus in der Welt ist, d. h. Friede soll sein, weil es eine Kirche Christi gibt, um deretwillen allein die ganze Welt noch lebt”.361 Nichts anderes als Bonhoeffers Vorstellung von Christus als Gemeinde existierend schwingt somit (noch) mit. Darum liegt Bonhoeffers Hoffnung “in einem präzedenzlosen Handeln der ökumenischen Kirche: Einer verbindlichen Entscheidung gegen jede Beteiligung von Christen am drohenden Krieg.”362 Und darum kann dieser Ruf Christi vom Frieden Bonhoeffer zufolge nur von einem großen ökumenischen Konzil ausgehen – das nach seinen Worten in Fanø versammelt ist; andernfalls mache man sich mitschuldig.363 Denn im Sinne seines Aufsatzes von 1933 versucht Bonhoeffer wohl nichts anderes, als an den Weltbund zu appellieren, in kirchlicher Autorität “dem Rad in die Speichen zu fallen”.364 In alledem hält Bonhoeffer stärker als jemals anders das Verbot der Tötung als ein Prinzip hoch, auch gegen Kierkegaards Ansatz (nach Gen 22), das Tötungsgebot könne dispensiert werden:365 “[D]er Gott der Bergpredigt”366 pocht ihm zufolge auf “unbedingten, blinden Gehorsam”367 gegenüber seinen Geboten. 360 So auch Tjaden: “Fürbitte”, 123ff. 361 Bonhoeffer: DBW 13, 299; vgl. dazu auch Reuter: “Pazifismus”, 19. 362 Heimbucher: Christusfriede, 165. “Frieden, Frieden und nochmals Frieden”(Krötke: “Pazifismus”, 410) ist Bonhoeffers Thema, zumal “Kämpfe [werden] nicht mit Waffen gewonnen [werden], sondern mit Gott” (Bonhoeffer: DBW 13, 300). Ein Weg der Sicherheit ist für ihn deshalb ausgeschlossen; vgl. Heimbucher: Christusfriede, 147 u. Krötke: “Pazifismus”, 417. 363 Vgl. Bonhoeffer: DBW 13, 301. Und erst in dieser ökumenischen Einheit mit einer Stimme – darauf hat Falcke: “Konzilsgedanke”, 108f., hingewiesen – hat die Kirche natürlich die Schlagkraft, das Wort vom Frieden zu sprechen. Die wenig später stattfindende Jugendkonferenz im französischen Bruyan-Artois “highlighted the contrasting ‘confessing’ stance of the continental participants with the more ‘pragmatic’ approach to social ethics of the British, while at the same time seeking to maintain common ground between them”. (Clements: “Between”, 119) 364 So Heimbucher: Christusfriede, 149; ebd., 154ff., erläutert darum ausführlich die “starke, wenn auch nicht ungeteilte Resonanz” (154) auf seinen Vortrag, während Krötke: “Pazifismus”, 405, Bonhoeffers Zufriedenheit darüber ausdrückt, dass sich die ökumenische Bewegung zu einer Entschließung zur kirchlichen Lage in Deutschland durchgeschlagen habe, in der sie ein autokratisches Kirchenregiment bzw. die Anwendung von Gewaltmethoden mit dem wahren Wesen der Kirche für unvereinbar erklärt. Dass Bonhoeffer tatsächlich ein komplexes Widerstandsdenken entwickelt, in dem “the most powerful and precious form of political resistance is the divine word entrusted to the church”, hat zuletzt DeJonge: Resistance, 10, dargelegt. 365 Vgl. Bonhoeffer: DBW 13, 296ff. vgl. dazu auch Reuter: “Pazifismus”, 24. 366 Bonhoeffer: DBW 13, 296. 367 Ebd., 298.
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Aber auch im lokalen Gemeindekontext Londons platziert Bonhoeffer seine Schlussfolgerungen aus der Bergpredigt und ruft zur Entscheidung auf, aus der Gnade und dem Gericht Jesu Christi in eine lebendige Beziehung zu Jesus Christus einzutreten.368 Drastischer denn je klingen darum Worte zugunsten einer Frei(willigen)kirche bei Bonhoeffer an.369 Denn in der wahren Kirche werde “ausschließlich von Christus und seinem Willen und seinem Trost geredet”,370 um die zur Reinheit der Lehre vom Glauben an die allein rechtfertigende Gnade in Jesus Christus und die Normierung des Glaubens allein durch die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments aufzurufen.371 Die Person Jesu Christi, sowohl als göttlicher Mittler als auch in seiner Niedrigkeit, steht dabei immer wieder im Fokus.372 Aber nicht nur Christus selbst ist der Mittler, sondern der Pfarrer, der ihn verkündigt; er ist Diener der Gemeinde, gleichzeitig bevollmächtigter Botschafter und Stellvertreter, getragen von der Gemeinde, und – wie Bonhoeffer klar in Relationalität zur Welt kommuniziert – in der Gefahr der Unterdrückung und Verfolgung.373 Grundsätzlich steht und fällt Bonhoeffer zufolge nämlich das Christentum mit seinem Protest gegen Gewalt, Stolz und Stärke.374
368 Vgl. Bonhoeffer: DBW 13, 322f.; 344; 346; 361; 363; 370–373; 378; 380; 387; 391–397; 399; 403; 408; 417 (Predigten) u. ebd., 291 (Jahresbericht 1933/34). in ebensolchem Bericht ein Jahr später (ebd., 307) thematisiert er noch drastischer die Heimatgemeinde als einen “Schauplatz des Kampfes zw. Mächten der Irrlehre, der Verkehrung des reinen Evangeliums von Jesus Christus als unserem alleinigen Herrn, der brutalen Gewaltanwendung gegen Pfarrer und Bischöfe der Kirche Christi und der Schar derer, die keine anderen Waffen hatten und haben wollten als das Bekenntnis zu Christus als dem Herrn aller Herren.” Denn dahinter steckt der “Erfolg” Bonhoeffers, dass sich die Londoner deutlich auf die Seite der Bekennenden Kirche schlagen. 369 Vgl. ebd., 291 (Jahresbericht 1933/34) Auch unter den Pfarrern Londons kann Bonhoeffer darum ihre Eigenständigkeit gegenüber dem Reichspräsidenten Ludwig Müller kommunizieren, dem sie ihr Vertrauen entsagen; vgl. ebd., 71 (Brief von Hans Besig vom 08.01.1934); 77 (Auslandspfarrer Londons an den Reichspräsidenten). Zu Bonhoeffers Überlegungen und Diskussionen mit Hildebrandt hinsichtlich einer angedachten Freikirche und der letztendlichen Entscheidung der Bekennenden Kirche durch die Barmer Theologische Erklärung (entstanden Ende Mai 1934 ohne den Einfluss Bonhoeffers, wesentlich durch Barth geprägt), nicht Freikirche zu werden, s. auch Ebeling: Ringen, 176–186. 370 Bonhoeffer: DBW 13, 292 (Jahresbericht 1933/34). 371 Vgl. ebd., 42 (Erklärung an die Reichskirchenregierung vom 29.11.1933); s. auch 73 (Baron Bruno Schröder an Ludwig Müller vom 09.01.1934). 372 Vgl. ebd., 315; 335; 339; 375 (Predigten). 373 Vgl. ebd., 315; 317; 347; 349; 378 (Predigten). 374 Vgl. ebd., 411 (Predigt zu 2 Kor 12,9, vermutlich 1934); auf die Facette, dass Bonhoeffer die Entmachtung der Welt fokussiere, pocht auch immer wieder Green: Bonhoeffer, 243.
204 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase Das bringt ihn theologisch (wie zuvor, mithilfe der theologia crucis) drastischer als jemals zuvor und entgegen des traditionellen Apathieaxioms dorthin, davon auszugehen, dass Gott ein leidender Gott ist: What is the reason for this new conception of the meaning of weakness in the world? Why is suffering holy? Because God has suffered in the world of man, and wherever he comes, he has to suffer from man again. God has suffered on the cross. It is therefore that all human suffering and weakness is sharing God’s own suffering and weakness in the world. We are suffering: God is suffering much more. Our God is a suffering God. Suffering conforms man to God. The suffering man is in the likeness of God […] Wherever a man in physical or social or moral or religious weakness is aware of his existence and likeness with God, there he is sharing God’s life, then he feels God’s being with him, there he is open for God’s strength […].375
Die Nähe zu Heschels Pathos-Theologie ist geradezu erschütternd. Auch klingt die Note der persönlichen Verbundenheit zu Gott immer stärker durch.376 Eben daraus leitet Bonhoeffer ab, dass der Mensch in seiner Schwachheit erst Christus in der Welt abbilde; so warnt er seine Zuhörer immer wieder auch vor falscher Selbstverherrlichung und vor Götzendienst, ohne zu wollen, aus falscher Askese per se weltliche Dinge loswerden zu wollen.377 Darum spielt aber auch der Tod, der bei Bonhoeffer wie auch bei Heschel keine negative Assoziation beinhaltet, eine nicht seltene Rolle in den Predigten, weil er in Frieden mündet.378 3.2.6 Bibel – Gebet – Gemeinsames Leben – Kirchenkampf: Finkenwalde (1935–1937) 3.2.6.1 Einführung Trotz aller positiven Erfahrungen zieht es Bonhoeffer schließlich in alte wie neue Gefilde und folgt damit der Ermahnung Barths zurück nach Deutschland. Obwohl Bonhoeffer noch gut fünf Jahre zuvor mit der Habilitation dem Predigerseminar 375 Bonhoeffer: DBW 13, 412 (Predigt zu 2 Kor 12,9, vermutlich 1934). 376 S. auch Hermannsdörfer: Beten, 277, die Bonhoeffers “deutliche Veränderung” anhand der Abend-Predigt zu Spr 16,9 (Bonhoeffer: DBW 13, 404–408, vermutlich aus 1934) bemerkt: Vielmehr spreche Bonhoeffer von einem “geduldigen Gott, der manchmal Jahre lang darauf wartet, dass der Mensch Gottes Pläne erkennt und sich ihm zuwendet.” 377 Vgl. ebd., 327; 358ff.; 362f.; 367f.; 376; 379; 406; 409; 412; 414. Schutte: Widerspruch, 207, leitet von der Schwachheit des Menschen als Repräsentation der imago Dei eine Aufwertung des leidenden Menschen ab, den sie in Kontrast zu sozialdarwinistischen anthropologischen Vorstellungen jener Nazi-Zeit setzt: “Diese christologische Aufwertung der Armen und Kranken ist verbunden mit der Ablehnung der Degradierung von Menschen aufgrund äußerer Merkmale.” 378 Vgl. Bonhoeffer: DBW 13, 328; 330f.; 419f.
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entflohen ist, ergreift er nun die Chance und ist ab April 1935 bis zur Schließung im Herbst 1937 Direktor des Predigerseminars der Bekennenden Kirche in Finkenwalde, um seine akademischen wie auch kirchlich-pastoralen Ambitionen zu bündeln, die ihn bereits seit dem Studium begleiten und nochmals entscheidend in und durch Amerika geprägt haben.379 Denn [a]n die Universität glaube ich nicht mehr, habe ja eigentlich nie daran geglaubt – zu ihrem Ärger. Die gesamte Ausbildung des Theologennachwuchses gehört heute in kirchlichklösterliche Schulen, in denen die reine Lehre, die Bergpredigt und der Kultus ernstgenommen werden – was gerade alles drei auf der Universität nicht der Fall ist und unter gegenwärtigen Umständen unmöglich ist. Es muß auch endlich mit der theologisch begründeten Zurückhaltung gegenüber dem Tun des Staates gebrochen werden – es ist ja doch alles nur Angst.380
Die Bergpredigt (Mt 5–7), verbunden mit der reinen Lehre und dem Kultus (natürlich auf Grundlage der Bibel),381 zieht sich somit in Bonhoeffers Denken der Mittelphase durch wie ein roter Faden, was aber an den theologischen Fakultäten deutschchristlicher Prägung gerade nicht gelehrt wird. Diese Neuausrichtung auf Christusnachfolge und Gemeinschaftsbildung stellen aber nun auch eine neue Form des Widerstandes dar.382
379 Bereits vor dem Sommer 1934 hat er von der Bekennenden Kirche das Angebot als Leiter eines Predigerseminars erhalten: Im Tagebuch von Julius Rieger (Eintrag vom 09.06.1934) wird Bonhoeffers Option als “Schulungsleitung für Pfarrer, Vikare und Studenten” (Bonhoeffer: DBW 13, 150; vgl. auch 187; 204; 281) zum ersten Mal erwähnt. Tatsächlich existiert das Predigerseminar mit 23 Kandidaten samt Bruderschaft zunächst in Zingst, was jedoch nur Interim ist und bereits am 14. Juni 1935 wieder geräumt werden muss; vgl. Bethge: DB, 487f. Zur den historischen Eckdaten vgl. Bonhoeffer: Nachfolge, 8; Bethge: DB, 481; 486ff.; 660; Metaxas: Bonhoeffer, 261ff. Neben dem Büchlein Gemeinsames Leben existieren zahlreiche Manuskripte von Vorlesungen und Vorträgen, die an dieser Stelle berücksichtigt wurden. 380 Bonhoeffer: DBW 13, 204 (Brief an Erwin Sutz vom 11.09.1934). 381 “Reine Lehre” bezieht Bonhoeffer auf das “recte docetur” aus CA VII, wie er es bereits in ebendieser Art und Weise Akt und Sein verwendet hat und das sich in der Verkündigung in Predigt und Sakrament manifestiert; vgl. ders.: Akt und Sein, 127. “Kultus” bezeichnet dabei die äußere Erscheinungsform (ders.: Sanctorum Communio, 140): “Die empirische Kirche ist die organisierte Heils‘anstalt’, in deren Mittelpunkt der Kultus mit Predigt und Sakrament, soziologisch ausgedrückt, die ‘Versammlung’ der Glieder steht.” 382 So zuletzt DeJonge: Resistance, 120–127. Dementsprechend berichtet Bonhoeffer seinem Bruder Karl-Friedrich (Bonhoeffer: DBW 13, 272f. (Brief vom 14.01.1935)): “Ich glaube zu wissen, daß ich eigentlich erst innerlich klar und wirklich aufrichtig sein würde, wenn ich mit der Bergpredigt wirklich anfinge, Ernst zu machen. Hier sitzt die einzige Kraftquelle, die den ganzen Zauber und Spuk einmal in die Luft sprengen kann, bis von dem Feuerwerk nur ein paar ausgebrannte Reste übrig bleiben. Die Restauration der Kirche kommt gewiß aus einer Art Mönchtum, das
206 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase Damit verbunden ist auch Bonhoeffers jüngster Wunsch nach einem klösterlichen Umfeld zur Ausbildung der Theologen, unter anderem durch Jesu Gemeinschaft mit seinen Jüngern initiiert und schon lange in Bonhoeffers theologischem Freiheits-Verständnis – zuletzt in Schöpfung und Fall – angelegt.383 theologisch kulminiert diese Mittelphase Bonhoeffers darum in der persönlichfrommen Anwendung der relationalen Christozentrik durch die Auseinandersetzung mit der Bergpredigt samt praxis pietatis, weshalb Bonhoeffer den Sommer 1935, die Anfangsphase des neu gegründeten Predigerseminars, als “die beruflich und menschlich ausgefüllteste Zeit bisher”384 beschreiben kann, in der er mehr gelernt habe als je zuvor. 3.2.6.2 Relationaler Personbegriff in concreto: Die Gemeinschaft Den Gemeinschaftsbegriff entfaltet Bonhoeffer entsprechend von seiner relationalen Christologie her, “daß ein Christ den andern braucht um Jesu Christi willen. Es heißt zweitens, daß ein Christ zum andern nur durch Jesus Christus kommt. Es heißt drittens, daß wir in Jesus Christus von Ewigkeit her erwählt, in der Zeit angenommen und für die Ewigkeit vereinigt sind.”385 Die Mittlerschaft Christi, die relationale Soteriologie und auch die Stellvertretung Christi durch den Nachfolger fließen somit ganz praktisch in das gemeinsame Leben ein, weshalb christliche Gemeinschaft für ihn eben auch keine psychische, sondern vielmehr eine pneumatisch-relationale Wirklichkeit darstellt.386
mit dem alten nur die Kompromißlosigkeit eines Lebens nach der Bergpredigt in der Nachfolge Christi gemeinsam hat. Ich glaube, es ist an der Zeit, hierfür die Menschen zu sammeln.” Vgl. auch Schmitz: Nachfolge, 382. 383 Bereits 1933 hat Bonhoeffer über ein evangelisches Kloster nachgedacht; vgl. Bonhoeffer: DBW 12, 131. Für die Einrichtung des Bruderhauses nennt er gegenüber dem Rat der Evangelischen Kirche der altpreussischen Union sachlich fünf Gründe: 1. Jungen Pfarrern droht Vereinzelung; 2. christliches Leben scheint neu erwacht zu sein (wohl durch die Bergpredigt); 3. Gruppe völlig freier, einsatzbereiter Pastoren zur Entscheidung durch das Wort Gottes und zur Scheidung der Geister soll nicht in klösterlicher Abgeschiedenheit, sondern für den Dienst vorbereitet werden; 4. Geistliches Refugium; 5. dieser über die einzelne Gemeinde hinausgehende Dienst ist von einigen zu tun; vgl. ders.: DBW 14, 75f.; 78; 198. 384 Ebd., 97f. 385 Ders.: DBW 5, 18. 386 Vgl. ebd., 18ff. u. Marsh: Reclaiming, 94f.: “In liberating the person for life with others, Jesus Christ discloses far more than the simple dialogical meeting of I and other; rather, he actively refigures the self in faith such that openness to and life for the other become the new ontological description of being-in Christ. As such, the mediation of Jesus Christ empowers a relating to the other (what Bonhoeffer here calls ‘spiritual love’) that allows the other to remain in its dif-
3.2 Durchs Gebet zur Bibel und in die Nachfolge: Bonhoeffers Mittelphase
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Dies betrifft konkret die Tischgemeinschaft.387 Sie erinnert an die geschenkte Ruhe Gottes nach seiner Arbeit und verkörpert somit den Sabbat,388 was gewisse Ähnlichkeiten zu Heschels Sabbat-Verständnis aufweist. Die Arbeit selbst deutet Bonhoeffer in terminologischer Übereinstimmung mit Buber als ein Stellen des Menschen in die Es-Welt, wobei der Christ durch unablässiges Gebet zum Du Gottes hindurchbrechen müsse.389 Aber natürlich spielt auch der relationale Personbegriff eine wichtige Rolle, zunächst in der Dienstaufforderung an die Bruderschaft,390 die er als Gegenpol zum “Kampf des natürlichen Menschen um Selbstrechtfertigung” verordnet, dem nur durch einen “Geist der Gnade”391 zu entfliehen sei. Statt zu lästern, fordert er vielmehr Zuhören, tätige Hilfsbereitschaft und Tragen des Anderen.392 Übertroffen werden sie lediglich durch den Dienst mit dem Wort Gottes, eine freie und persönliche Ermutigung mit dem Wort und Willen Gottes untereinander.393 Schlichtes, demütiges Dienen statt “Personenkult” ist somit Bonhoeffers Motto.394 Beichte und Abendmahl verbinden schließlich Bonhoeffers relationalen Personbegriff mit dem christologischen Stellvertreter-Gedanken – sozusagen zum “Christus als Bruder existierend”, indem ein Bruder dem Nächsten zur Gnade gemacht ist, der stellvertretend für und vor Christus steht.395 Ohrenbeichte vor dem Bruder statt Verborgenheit lautet die Devise – um der Erfahrung der “völlige[n] Verlorenheit und Verdorbenheit” und “um der Gewißheit der göttli-
ference, even within our common history in life with God.” Zum gesamten Komplex christlicher Gemeinschaft bei Bonhoeffer s. auch Kelly und Nelson: Cost, 158–172. 387 Denn erstens sei Christus als Geber der Gaben und als Schöpfer der Welt mit dem Vater und dem Heiligen Geist zu erkennen, zweitens gegeben um Christi willen und drittens als Zeichen der Gegenwart Christi, so Bonhoeffer; vgl. Bonhoeffer: DBW 5, 56f. Dass Bonhoeffer zunächst den Fokus auf die Tischgemeinschaft legt, nimmt Dahill: “Con-Formation”, 180f., als Anlass dafür, wie wichtig bei Bonhoeffer die leibliche Gemeinschaft für die Nachfolge Jesu ist. 388 Vgl. Bonhoeffer: DBW 5, 57. 389 Vgl. ebd., 59. 390 Vgl. ebd., 79; 85. 391 Beides in ebd., 78. 392 Vgl. ebd., 83–86. 393 Vgl. ebd., 87ff. 394 Vgl. ebd., 90f. 395 Vgl. ebd., 94f.; s. auch ders.: DBW 14, 750. Freilich geschieht dies, wie bereits in Sanctorum Communio theologisch hergeleitet und parallel auch in der Seelsorge-Vorlesung aus dem Wintersemester 1935/36 praktisch entfaltet, nie direkt von Mensch zu Mensch, sondern immer über das gemeinsame Gebet und das Hören auf Gottes Wort; vgl. ebd., 562.
208 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase chen Vergebung”396 willen. Vier Durchbrüche können nach Bonhoeffer in der Beichte geschehen, erstens zur Gemeinschaft, zweitens zum Kreuz, drittens zum neuen Leben und viertens zur Gewissheit göttlicher Vergebung.397 In Entsprechung zum glaubenden Gehorsam macht Bonhoeffer die Beichte natürlich nicht zum Gesetz, allerdings gehört sie zur Nachfolge und ist somit aus relationaler Sicht teurer Gnade essentiell für die Beziehung zu Gott und auch zum Nächsten.398 Als den Höhepunkt der Beichte und auch der gesamten Gemeinschaft definiert Bonhoeffer das Abendmahl, das als verbum visibile399 der Gemeinschaft mit Freuden gefeiert werden soll.400 Letztlich geht es ihm um nichts anderes als eine ganzheitliche Nachfolge, die in einem Leben unter dem Wort des Evangeliums konkret wird.401 Andernfalls lande man, so Bonhoeffer in einer Lehrveranstaltung zur Beichte (Wintersemester 1936/37), bei einem billigen Ablass bzw. der “Verwechslung der teuren Gnade mit billiger Gnade”402 – der Terminus, der besonders in der zeitgleich entstehenden Nachfolge exponierte Stellung einnimmt. Zum Schutz der Gemeinschaft thematisiert Bonhoeffer diverse Stufen des Gemeindezucht-Verfahrens, das trotz aller Härte die Person gewinnen will und somit dennoch beziehungsorientiert bleibt, bevor erst als allerletzter Schritt das “Anathema” ausgesprochen wird.403 Christliche Gemeinschaft ist für Bonhoeffer also nichts Selbstverständliches, sondern geradezu eine “gnädige Vorwegnahme der letzten Dinge”,404 zumal der Christ in missionarischer Absicht eigentlich mitten unter die Feinde in ferne Länder gehört.405
396 Beides Bonhoeffer: DBW 5, 98; vgl. auch ders.: DBW 14, 559f.; 869f; vgl. ebd., 829f. (Vortrag “Schlüsselgewalt und Gemeindezucht” im Mai 1937), wo Bonhoeffer die Gesamtgemeinde autorisiert, in göttlicher Vollmacht Sünden zu vergeben, wobei Sünde immer als Sünde bekannt werden müsse. 397 Vgl. ders.: DBW 5, 94–98. 398 Vgl. ebd., 96. Jeder Beichtende kann und soll darum selbst wieder die Beichte hören, um “Mißbrauch der Beichte zur Ausübung geistlicher Gewaltherrschaft über die Seelen” (ebd., 100) zu verhindern. 399 Ders.: DBW 14, 479 (Homiletik-Vorlesung aus dem WS 1935/36). 400 Vgl. ders.: DBW 5, 101f. 401 Vgl. ders.: DBW 14, 149; dies fordert Bonhoeffer an dieser Stelle von seinen Kandidaten der Theologie, jedoch gilt dies seiner Ansicht nach auch für den Christen grundsätzlich, wie in der Nachfolge deutlich werden wird. 402 Ebd., 751f. 403 Vgl. ebd., 836–840 (Vortrag “Schlüsselgewalt und Gemeindezucht” im Mai 1937). 404 Ders.: DBW 5, 16. 405 Vgl. ebd., 15.
3.2 Durchs Gebet zur Bibel und in die Nachfolge: Bonhoeffers Mittelphase
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3.2.6.3 Relationale Hermeneutik par excellence: Die Andacht Immerzu ist es die Zentralität von Bibel und Gebet, die sich auch in der gottesdienstlichen Ordnung des Tages niederschlägt. Und zwar ist es die Andacht zum gemeinsamen Tagesbeginn, bestehend aus “Lob und Dank, Schriftlesung und Gebet”,406 die dem Menschen aus der Auferstehung Christi “neues Leben und Heil”407 bringen soll.408 Bonhoeffers relationale Hermeneutik wird als erstes in dem von alters her gewichtigen Psalmengebet sichtbar. Weil hier niemand anderes als Jesus Christus selbst “durch den Mund seiner Gemeinde”409 betet, lässt sich partout nicht zwischen Gotteswort und Menschenwort unterscheiden.410 So kann er selbst Rachepsalmen etwas abgewinnen, bei denen es Bonhoeffer zufolge im übertragenen Sinne um die Feinde der Sache Gottes geht.411 Der Psalter ist deshalb nichts anderes als “das Gebetbuch Jesu Christi im eigentlichen Sinn”412 bzw. “Das Gebetbuch der Bibel”,413 weshalb es sich laut Bonhoeffer so von allen anderen Büchern der Bibel unterscheidet.414 Der einzelne kann in der Andacht an Christi Gebet partizipieren; er kann lernen, was es heißt zu beten, was gebetet werden soll und als Gemeinschaft zu beten.415 Der Psalter stellt dabei das Paradebeispiel der Synthese von Schriftgehorsam und Gebet dar, denn “christliches Gebet ist an die heilige Schrift gebundenes Gebet”416 . Anschließend folgt die Schriftlesung als “Offenbarungswort für alle Menschen, für alle Zeiten”417 und nimmt einen ähnlich hohen Stellenwert in der An406 Bonhoeffer: DBW 5, 37. 407 Ebd., 35. 408 Dementsprechend schreiben die Brüder an Freunde und Förderer (ders.: DBW 14, 91): “Wir haben hier gelernt, die Bibel wieder betend zu lesen.” 409 Ders.: DBW 5, 39. 410 Ebd., vgl. 38; ders.: DBW 14, 370; 376. So auch Mayer: Christuswirklichkeit, 139. 411 Bonhoeffer: DBW 5, 130: “Gott haßt und richtet seine Feinde an dem einzigen Gerechten, und dieser bittet für die Feinde Gottes um Vergebung. Nur im Kreuz Jesu Christi ist die Liebe Gottes zu finden.” Vgl. auch die Bibelarbeit über König David, ders.: DBW 14, bes. 880. 412 Ders.: DBW 5, 39. 413 So der Titel der veröffentlichten Bibelarbeit (in DBW 5), die auf der Freizeit Greifswalder Theologiestudenten vom 30.07. bis zum 02.08.1935 gehalten worden ist; vgl. auch ders.: DBW 14, 29; 64; 369–377. 414 Vgl. ders.: DBW 5, 108. 415 Vgl. ebd., 40–43; 107 u. ders.: DBW 14, 371. 416 Ebd., 372 (Vortrag “Christus in den Psalmen”). 417 Ders.: DBW 5, 44.
210 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase dacht ein.418 In geradezu biblizistischer419 Art und Weise stellt er klar, “daß die Bibel allein die Antwort auf alle unsere Fragen ist, und daß wir nur anhaltend und etwas demütig zu fragen brauchen, um die Antwort von ihr zu bekommen”420 . Als “Wort von Gott für den einzelnen Menschen”421 soll die Schriftmeditation durch die Begegnung mit Christus verändern, indem man den Tag über das Wort unter der Leitung des Heiligen Geistes hin- und herbewegt.422 Diese “existentielle Dringlichkeit”423 lebt Bonhoeffer als “prime example of a hermeneutical life”424 seinen Studenten vor, wie er sie insbesondere in personam Clayton Powell Sr.s zuvor selbst erfahren hat. Denn “[i]m Gegensatz zu Luther geht es ihm dementsprechend nicht darum die Schrift danach zu bewerten, ob sie ‘Christum treibet’, sondern gegenteilig, dass sie ‘Christum treibet’.”425 Denn “[i]n jedem Wort der Schrift lässt der ganze Gott sich finden”426 , wie Bonhoeffer es in der Homiletik-Vorlesung formuliert.427 Wie schon anhand seiner Vorlesungen gesehen, negiert Bonhoeffer kritischexegetische Methoden zwar nicht per se, “[n]ur daß das nicht der Gebrauch ist, der das Wesen der Bibel erschließt, sondern nur ihre Oberfläche.”428 Der Laie ist ihm zufolge darum oft klarer als der Theologe (mit all seinem Detailwissen).429 Und deshalb ist Bonhoeffer sogar zu einem sacrificium intellectus bereit, wodurch ihm die Schrift täglich wunderbarer wird, beispielsweise die tatsächliche “Aufer-
418 Kelly und Nelson: Cost, 79, kommen darum zu dem Schluss, dass “[i]t is this prayerful reliance on the Scriptures that help explain how Bonhoeffer could be self-assured and fearless enough to state categorically that one course of action was acceptable to God while another way of living was an implicit denial of Jesus Christ and a failure to listen to the Holy Spirit.” 419 Auch Hamilton: Hermeneutik, 69ff., spricht von einer “Art fromme[m] Biblizismus” (69), grenzt ihn aber explizit vom evangelikalen Biblizismus ab (vgl. 394). 420 Bonhoeffer: DBW 14, 144f. (Brief an Rüdiger Schleicher vom 08.04.1936). 421 Mayer: Christuswirklichkeit, 135. 422 Vgl. Bonhoeffer: DBW 14, 946–950. 423 Hamilton: Hermeneutik, 339. 424 Frick: “Understanding”, 17. 425 Hamilton: Hermeneutik, 341; vgl. auch 343. 426 Bonhoeffer: DBW 14, 484 (Vorlesung über Homiletik). 427 Zu diesem gesamten Komplex vgl. auch Bammel: “Verständnis”, 47ff. 428 Bonhoeffer: DBW 14, 145. Als moderne Erscheinung greift ihm zufolge ihre absolute Notwendigkeit schon deshalb nicht, da ansonsten alles Vorherige falsch sein müsste; vgl. ebd., 375 (Vortrag “Christus in den Psalmen” im Juli/August 1935). 429 Vgl. ebd., 196; dass Bonhoeffer mit dieser letzten Erkenntnis über die Klarheit der Laien gegenüber der Schrift praktisch-hermeneutisch in die Nähe des Freien Jüdischen Lehrhauses in Frankfurt rückt, wo Heschel fast zeitgleich arbeitet, dürfte ihm nicht bewusst gewesen sein.
3.2 Durchs Gebet zur Bibel und in die Nachfolge: Bonhoeffers Mittelphase
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stehung vom wirklichen Tod (nicht vom Schlaf) zum wirklichen Leben, von der Gottesferne und Gottlosigkeit zum neuen Leben mit Christus in Gott. Gott hat gesagt – und wir wissen es durch die Bibel: siehe ich mache alles neu”430 . Anstatt die Fremdheit eines Textes aufzulösen – womit er gegen von Harnack und Bultmann argumentiert –, will Bonhoeffer es meinen, “wie es die Bibel meint”.431 Darum weist er die sog. intellektuelle Redlichkeit klar in ihre Grenzen, die er als von Harnack-Schüler “auch und gerade in Dingen des Glaubens”432 fordert.433 In diesem Sinne verbietet sich Bonhoeffer, “bei dunklen Stellen der Schrift die allegorische Auslegung anzuwenden”, während Gott selbst “sein Wort nicht in seinem grammat[ikalisch]-logisch-eindeutigen [sic!] Sinn erschöpft sein läßt”.434 Bonhoeffer dagegen schlägt in alledem mit dem Bild vom Durstigen und dem trüb-beschwerlichen Wasser vor, man müsse trotzdem die Gegenwart vor der
430 Bonhoeffer: DBW 5, 148 (Brief an Schleicher vom 08.04.1936). 431 Ders.: DBW 14, 148; vgl. auch ebd., 358f. (homiletische Übung im Sommersemester 1935), wo Bonhoeffer die Auferstehung mit einer ganz neuen Welt in Verbindung bringt, wohinter sich keine abstrakte Seelenlehre verbirgt, sondern eine Treue Gottes auch zur tatsächlichen Erde. Bonhoeffers Auseinandersetzung mit Bultmann lässt sich bereits in Akt und Sein nachzeichnen, was für diese Untersuchung jedoch nur eine untergeordnete Rolle spielt; zur dortigen Kritik Bonhoeffers vgl. auch Frick: “Bultmann”, 227ff., der außerdem mit einer Ausnahme “no discernible influence” (229) Bultmanns auf Bonhoeffer während der Finkenwalder Zeit feststellt und dies auch schließlich auf Bonhoeffers religionsloses Christentum ausweiten wird (vgl. 233). Spätestens in dem Tegeler Brief an Bethge vom 18.07.1944 widerspricht Bonhoeffer explizit Bultmann und behauptet, “diese Mythologie ist die Sache selbst!” (Bonhoeffer: DBW 8, 482 u. Hamilton: Hermeneutik, 141ff., bes. 187ff., u. 284. S. auch schon die entsprechenden Gedanken zur Mythologie in Schöpfung und Fall. Zur Kritik Bonhoeffers an von Harnack vgl. Kaltenborn: Harnack, 29. 432 Hamilton: Hermeneutik, 176. 433 Bonhoeffer zufolge kann es somit weder darum gehen, “die biblische Botschaft durch das Sieb der eigenen Erkenntnis” laufen zu lassen, was letztlich “direkt ins Heidentum” (beides Bonhoeffer: DBW 14, 401) führt; vgl. auch Mayer: Christuswirklichkeit, 139. Noch ist ein einfaches Ausweichen (mit Verweis auf Naumann) angemessen, auch wenn er sich während der Tegeler Haft eingestehen muss, die intellektuelle Redlichkeit zu stark vernachlässigt zu haben (vgl. Bonhoeffer: DBW 14, 402). Trotzdem stellt er sich gegen jede Kritik bzw. die “Auffindung der ewigen Lehre, beziehungsweise der allgemeinen ethischen Norm, beziehungsweise des Mythos, den die heilige Schrift enthält” (406; vgl. auch 413), weil mit jeder Kritik die Wahrheit durch das Subjekt der Vergegenwärtigung bereits feststeht. Darum: “Die Unterscheidung zwischen Ewigem und Zeitlichem, Zufälligem und Notwendigem … in der Bibel ist fundamental falsch (408).” 434 Ebd., 416; zur rabbinisch-haggadischen Exegese, mit der sich Bonhoeffer wohl bei Schlatter während der Studienzeit beschäftigt hat. Bonhoeffer bemerkt aus seiner relationalen Haltung heraus deshalb in den Evangelien den stärkeren Fokus auf das leere Grab als auf die Berichte des Auferstandenen, sozusagen das Dass vor dem Wie (vgl. 355 u. die Christologie-Vorlesung). Dennoch betont er nach wie vor die “Tatsache der leiblichen Auferstehung” (746) des Christen, mit der die Heilige Schrift auch die Identität des Menschen vor und nach dem Tod begründe.
212 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase christlichen Botschaft rechtfertigen.435 Denn “[e]s wird der Sache selbst zugetraut, daß dort, wo sie wirklich zu Wort kommt, in sich selbst sie das Gegenwärtigste sei; es bedarf dann gar keines besondern Aktes mehr”,436 weil die Sache selbst Christus ist.437 An dieser Stelle schließt sich somit hermeneutisch der Zirkel der Hoheit Christi bzw. von Bonhoeffers relationalem Wahrheitsverständnis, wie er es schon in der Christologie-Vorlesung entwickelt hat. Seinen Schwager Rüdiger führt Bonhoeffer deshalb zu der letztendlichen Entscheidung, “ob wir dem Wort der Bibel trauen wollen oder nicht, ob wir uns von ihm halten lassen wollen, wie von keinem andern Wort im Leben und im Sterben.”438 In Kombination mit der Relationalität zur Welt appelliert Bonhoeffer deshalb, man müsse immerzu fragen, was Gott hier (und jetzt) sagen will; denn die ganze Bibel des Alten und Neuen Testaments für ist ihn der Ort, wo Gott sich finden lassen will, was nirgendwo anders hinführt als unters Kreuz.439 435 Vgl. Bonhoeffer: DBW 14, 400 u. 403 (Vortrag “Vergegenwärtigung neutestamentlicher Texte” in Hauteroda am 23.08.1935). 436 Ebd., 403f. 437 Ebd., 404: “Das concretissimum der christlichen Botschaft und Textauslegung ist nicht ein menschlicher Akt der Vergegenwärtigung, sondern immer Gott selbst, ist der Heilige Geist.” Denn “der schlechthin Einmalige Menschgewordene, Gestorbene, Auferstandene und diese Einmaligkeit Christi in der Geschichte erfüllt das ganze Neue Testament (411).” In der Bibelarbeit zu König David wird David darum nicht nur als Zeuge und Vorbild Christi und seiner Auferstehung verstanden, sondern sogar als eine Art Repräsentant (ebd., 879): “Also, Christus war realiter, nach dem Fleisch und Verheißung in David – und David war sein Zeuge.” Wenig später dann (881): “Von der Inkarnation her fällt der Schatten auf David.” So definiert Bonhoeffer als Ziel dieser Auslegung “David in seiner Person, seinem Amt, seinem Wort und seiner Geschichte als den, in dem nach dem Zeugnis des Neuen Testaments Christus selbst war, als Vorbild und Schatten Christi zu verstehen.” (ebd., 882). Auch Davids Wehrlosigkeit vor Goliath, die natürlich pazifistisch motiviert ist, oder auch das Missverständnis, David könne selbst die Kirche bauen, obwohl nur Gott seine Kirche baue, zeugen von Bonhoeffers Bestreben nach Gegenwartsrelevanz der biblischen Texte (vgl. 884; 892). 438 Ebd., 148. 439 Vgl. ebd., 146. In der Homiletik-Vorlesung ermahnt Bonhoeffer darum seine Vikare, dass dies auch der Ort der Entscheidung zwischen Fluch und Erlösung, Errettung und Verlorenheit sei, und warnt sie vor unsachgemäß subjektiver Färbung; vielmehr solle man “[d]en Leuten mit dem Text ins Gesicht springen” (ebd., 490; vgl. 331; 340; 484; 494–497; 504; 506; 529; 650) und zunächst um den Heiligen Geist beten (vgl. 486). Bonhoeffer redet deshalb nicht nur von Schriftgemäßheit, sondern auch von Textgemäßheit, weil man nicht über die Schrift urteilen noch vom Dogmatischen her predigen solle (vgl. 322; 324). Auch Katechetik und Konfirmandenunterricht drehen sich deshalb um die Worte der Heiligen Schrift: Den Kindern solle bei aller Liebe das Auswendiglernen beigebracht werden, um anschließend für Predigt und eigene Bibellese mündig zu werden (vgl. 535f.; 538f.; 625; 788f.).
3.2 Durchs Gebet zur Bibel und in die Nachfolge: Bonhoeffers Mittelphase
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Der theologisch-hermeneutisch besonders stark verwurzelten Schriftlesung folgt an dritter Stelle der Andacht das gemeinsame Lied, und zwar als “lobende, dankende, bittende Stimme der Kirche”,440 sodass faktisch das Lied auch in die Kategorie “Gebet” fällt, gleichsam als fromme Poesie aber nicht gepredigtes Wort ist.441 Deshalb ermahnt er die brüderliche Gemeinschaft, dass die richtige Herzenshaltung Grundvoraussetzung ist, womit er das Pendant zur hebräischen Kavanah aufgreift, womöglich von Kierkegaard inspiriert.442 Denn die Hoffnung liege nach reformatorischem Glauben nicht in Waffen, sondern im Gebet.443 Wenn er davon ausgeht, daß die Worte allein noch gar nicht den Sinn erreichen, der Gesang aber weit darüberhinaus geht,444 erinnert dies an Heschels Akt der Empathie und sogar Tiefentheologie.445 Das die Andacht abschließende gemeinsame Gebet soll am besten frei stattfinden,446 womit Bonhoeffer auch Heschels “Akt des Ausdrucks” inhaltlich aufgreift. Neben dem gemeinsamen Tag existiert in Finkenwalde auch der einsame Tag, der sich insbesondere durch Schweige-Einheiten und “einsame Andachten” auszeichnet.447 Als “demütiges Schweigen”448 soll man auf das Wort hören, von dem man nichts geringeres erwarte “als die schlichte Begegnung mit dem Worte Gottes”.449 Deshalb soll das Schweigen sowohl morgens als auch abends dominieren, wenn der Christ seine tägliche Meditationszeit abhält, die in diesem Falle aus der Schriftbetrachtung, dem Gebet und der Fürbitte besteht.450 Im Gegensatz zur Schriftlesung innerhalb der Gemeinschaft pocht Bonhoeffer bei der persönlichen Schriftbetrachtung auf kurze, ausgewählte Texte, die als für sich persönlich gegeben angesehen, gebetet und angehört werden sollen.451 Ziel
440 Bonhoeffer: DBW 5, 49. 441 Vgl. ders.: DBW 15, 719 (Vortrag über die Geschichte des evangelischen Kirchenliedes vor 1500–2000 Menschen im Olympiastadion Berlin am 05.08.1936); s. auch 216. 442 Vgl. ders.: DBW 5, 50; Kierkegaard: Einübung, 225; 234. 443 Vgl. Bonhoeffer: DBW 14, 714 u. 720 (vgl. o. g. Vortrag); s. auch 237; 241 u. ders.: DBW 5, 115. 444 Vgl. ebd., 50. 445 Um dennoch den Inhalt des Gesangs in den Vordergrund zu stellen, soll der Gesang nur einstimmig sein – als eine geistliche Sache; vgl. ebd., 51f. 446 Vgl. ebd., 53ff. 447 Vgl. ebd., 67. 448 Ebd., 68. 449 Ebd., 69. In seiner Christologie-Vorlesung hat Bonhoeffer deshalb von “qualifiziertem Schweigen” gesprochen. 450 Vgl. ebd., 69. 451 Vgl. ebd., 70.
214 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase dieser Betrachtung ist im Sinne Barths (und Heschels) die persönliche Betroffenheit.452 Sie schließt sich ganz natürlich an das Gebet an, weil es “Bereitschaft für die Aneignung des Wortes, und zwar für mich in meiner persönlichen Lage, in meinen besonderen Aufgaben, Entscheidungen, Sünden und Versuchungen”453 darstellt. Statt Philologie am griechischen Text appelliert Bonhoeffer darum lieber zum Gebrauch des Luthertextes.454 Gleichsam fordert er für den persönlichen Umgang als Teil der Andacht(en) morgens und abends je ein Kapitel aus dem Alten Testament und mindestens je ein halbes Kapitel aus dem Neuen Testament zu lesen, und zwar als lectio continua.455 Grundhaltung zur Annäherung an den Text ist somit in alledem das Gebet, zu allererst um den Heiligen Geist.456 Denn im Sinne von Schöpfung und Fall kann “real freedom [can] never be freedom from the biblical text, but must be found within the biblical text.”457 Zwar soll die Meditationszeit den Christen in die “wirkliche Welt Gottes”458 bringen, doch pocht Bonhoeffer gleichzeitig darauf, dass der Christ seine Nachfolge in der unchristlichen Welt bewahren müsse. Dies ist eine der etwas theoretisch klingenden Stellen, zumal Bonhoeffers eigene Realität wohl anders ausfällt. Immerhin versucht Bonhoeffer, durch kirchliche Aktivitäten dem Rückzug Einhalt zu gebieten, was freilich nur bedingt gelingt, weshalb er in den Tegeler Briefen die Bücher Gemeinsames Leben und auch die Nachfolge als “gefährlich” bezeichnen wird.459 Die abschließende Fürbitte öffnet spirituell zumindest den Horizont für
452 S. auch Hamilton: Hermeneutik, 182ff. 453 Bonhoeffer: DBW 5, 72. 454 Vgl. ders.: DBW 14, 149; 948. 455 Vgl. ders.: DBW 5, 44 u. Hamilton: Hermeneutik, 124ff., die Bonhoeffers Ambitionen der lectio continua in die Nähe zur altprotestantischen Orthodoxie und zum Pietismus (Speners, Franckes und Zinzendorfs) stellt. Darum sind die Meditationstexte für die Brüder des zweiten Kurses zwischen Ende September und Anfang November 1936 fortlaufend 1 Thess, 2 Thess und Phlm; vgl. Bonhoeffer: DBW 14, 249; 788f. Weiterhin sollen die Kandidaten möglichst viele Bibelstellen auswendig kennen, einige Stellen mit wissenschaftlichen Hilfsmitteln durchgearbeitet haben und einiges mehr. Die Bekenntnisschriften und mindestens ein größeres dogmatisches Werk soll man außerdem gründlich kennen wie auch die zeitgenössischen Weltanschauungen und nicht nur mindestens 30 Lieder aus dem Gesangbuch, sondern auch den kleinen Katechismus bzw. wichtigste Fragen aus dem Heidelberger Katechismus; vgl. ebd., 151f. 456 Vgl. ebd., 948. 457 Slot: “Freedom”, 121. 458 Bonhoeffer: DBW 5, 75. 459 Das mag einer der zentralen Gründe sein, weshalb Barth gegenüber der Bruderschaft skeptisch ist; vgl. ders.: DBW 14, 251. Bonhoeffer selbst beabsichtigt allerdings eine Wirksamkeit nach außen, wie sie beispielsweise in der Finkenwalder Volksmission, die durch Wiedereinführung von Bibellese und Gebet, durch Abendpredigten (je Bruder 10min), Hausbesuche, Andachten
3.2 Durchs Gebet zur Bibel und in die Nachfolge: Bonhoeffers Mittelphase
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die Gemeinschaft, durch die der Christ den Bruder vor Gott und unter das Kreuz Christi bringe.460 3.2.6.4 Prophetischer Aktivismus in Kirchenkampf und Ökumene Trotz dieses (sicherlich unbeabsichtigten) Rückzugs aus dem sozialen Netz der säkularen Welt ertönt immer wieder Bonhoeffers prophetische Stimme – in Briefen, Bibelarbeiten, Predigten, Vorträgen, Aufsätzen und nicht zuletzt in Lehrveranstaltungen –, vor allem gegen die Irrlehren der Reichskirche bei gleichzeitig pazifistischer Gesinnung, wie mehrfach gesehen.461 Es ist dezidiert die “Nachfolge Christi – was das ist, möchte ich wissen – es ist nicht erschöpft in unserem Begriff des Glaubens.”462 Der später so bedeutsame terminus technicus taucht erstmalig 1934 auf und wird treffenderweise anhand der Bergpredigt auf das Halten der Gebote zugespitzt. Nichts weniger als die Nachfolge Christi ist für Bonhoeffer zuletzt die entscheidende Trennungslinie von (wahrer) Kirche zum Nazi-Staat, da Reichsbischof Müller orthodoxer Theologie zustimmen würde, weshalb für Bonhoeffer nur die Orthopraxie den Unterschied machen kann.463 Pazifismus und Widerstand gehören für Bonhoeffer somit unweigerlich zusammen.464 Statt falsch verstandener theologisch begründeter Zurückhaltung gegenüber den nationalsozialistischen Machenschaften begibt er sich damit bewusst auf staatlich überwachtes Terrain, wo er jederzeit mit dem nationalsozialistischen Regime in Konflikt geraten kann – und schließlich auch tut.465 Eine der ersten Konsequenzen (durch die Teilhabe an und Kinderstunden konkret wird; vgl. Bonhoeffer: DBW 14, 176; 255. Ähnlich auch Außermair: “Wichtige Ressourcen”, 43: “The goal of the seminar was not monastic withdrawal from the world, but innermost concentration for service in the world, for increasing the ability to face upcoming political challenges. Bonhoeffer’s understanding of the world, suffering as the key to change, eschatology as the theological foundation of resistance, the arcane discipline and the rediscovery of silence – all these elements, together with a process of ‘essentializing’, help explain Bonhoeffer’s astonishing potential for the eventuality of required political resistance.” 460 Vgl. Bonhoeffer: DBW 5, 73. 461 Vgl. ders.: DBW 14, 757; 769. Theodor Heckel, einer seiner größten Widersacher auf kirchlicher Ebene, fordert deshalb vom Landeskirchenamt, den als “Pazifist und Staatsfeind” verschrieenen Bonhoeffer seines Amtes als Direktor zu entheben; vgl. ebd., 126 (Brief vom 07.03.1936). In ähnlicher Weise Kelly und Nelson: Cost, 36f.: “His ideas on moral leadership emanate from his conviction that Christians must rekindle in their hearts and in their parish life the relationship with Jesus Christ they professed at their baptism or confirmation.” 462 Bonhoeffer: DBW 13, 129 (Brief an Erwin Sutz vom 28.04.1934). 463 Vgl. ebd., 171 (Brief an Reinhold Niebuhr vom 13.07.1934). 464 So auch Krötke: “Pazifismus”, 409. 465 Auch Bethge: DB, 484, macht auf diesen “neuen Gegner” Bonhoeffers aufmerksam, der durch das am 03.07.1935 eingerichtete Kirchenministerium mitsamt seiner Gesetzgebung zur Si-
216 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase einem illegalen Predigerseminar) ist sein Entzug der Lehrerlaubnis an der Berliner Universität.466 In alledem ist es immerzu der kontinuierliche Aufruf zum Gehorsam gegenüber Gott und Seinem Willen, den Bonhoeffer aus nichts anderem ableitet als von seinem relationalen Denken auf Grundlage von Bibel und Gebet.467 Denn das Wort Gottes kann nur stärker sein, zu dessen Rückkehr Bonhoeffer anhand von Esra aufruft.468 Bonhoeffer befindet sich zu dieser Zeit der Mittelphase damit sehr klar noch in der erwartenden Haltung, dass Gott selbst es ist, der Veränderung schenkt, wenn sich die Christen nur im Gehorsam Gott unterordnen.469 Denn [a]us der Erweckung durch den Geist Gottes kommt Erneuerung der Kirche. Niemals durch Restauration, niemals durch eigenmächtiges Aufhebenwollen der Gerichte Gottes. Nur durch seine Gerichte hindurch, nicht aber an ihnen vorbei kommt Gott wieder zu seiner Gemeinde. Die Erweckung führt aus dem Gericht in die Gnade. Darum ist das Gebet um die Erweckung der Anfang einer echten Erneuerung der Kirche.470
Anhand des Wiederaufbaus von Jerusalem appelliert Bonhoeffer darum dazu, den Anfechtungen zu trotzen, “indem er [Nehemia; Anm. von P. M.] die Gemeinde aufruft, nicht auf sich zu sehen, sondern auf den ‘großen, schrecklichen Herrn’ ”471 , anstatt selbständig die zerstörte Kirche eigenmächtig wieder aufzubauen. In diesem Sinne zieht Bonhoeffer Gott selbst zur Verantwortung für die Synodenbeschlüsse von Barmen und Dahlem und damit auch die Bildung der Bekennenden Kirche, deren klare Grenze als wahre Kirche zur Reichskirchenregierung gezogen worden sei.472 Doch trotz vorhandener Bekenntnisse von Barmen und
cherung der Deutschen Evangelischen Kirche vom September des Jahres in Erscheinung tritt, mit der “die Bekennende Kirche organisatorisch fast zum Erliegen gebracht wurde, indem sie die Risse in ihren Reihen unheilbar machten.” 466 Vgl. Bonhoeffer: DBW 14, 168; 214; 230; 234. 467 Vgl. ebd., 951; 962; 964; 970; 972 (Predigten). Aber auch thematisieren die bereits angerissenen Lehrveranstaltungen Bonhoeffers diese Richtung, z. B. die homiletischen Übungen; vgl. ebd., 633; 642f.; 644; 651 (Predigten). 468 Ebd., 941 (Bibelarbeit zu Esra und Nehemia): “Zurück unter die Schrift, unter das Schriftwort allein, zum einfältigen Gehorsam gegen das Wort Gottes – so allein durfte die neue Gemeinde vor ihrem Gott stehen.” Zu den mittlerweile bekannten Begriffen Bonhoeffers, die er mit Luthers sola scriptura kombiniert, vgl. ebd., 942 (Bibelarbeit zu Esra und Nehemia); s. auch 110. 469 Vgl. ebd., 934; 984 (Bibelarbeit zu Esra und Nehemia). 470 Ebd., 931 (Bibelarbeit zu Esra und Nehemia). 471 Ebd., 940 (Bibelarbeit zu Esra und Nehemia). 472 Vgl. ebd., 668 (Aufsatz “Zur Frage nach der Kirchengemeinschaft”, Sommer 1935).
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Dahlem herrscht in der Bekennenden Kirche keine Einheit; neben den Bekenntnissen verweist Bonhoeffer darum auch immer wieder auf die lutherischen solae.473 In der Kirche geht es laut Bonhoeffer in erster Linie um die Heilstat Gottes, die sich kirchlich durch Wort und Sakrament manifestiert, wodurch eine Grenze der Kirche erst dort entsteht, wo sich Kirche und Unglaube scheiden, was sich in nichts geringerem als im Bekenntnis niederschlägt.474 Durch die Freude am “Gesetz” (bzw. an den biblisch-alttestamentlichen Geboten) nimmt Bonhoeffer zufolge so “die Gemeinde Gottes aufs neue das Evangelium” als “Rechtfertigung vor ihrem Herrn”475 in Empfang, dessen Konsequenz in nichts anderes zu münden habe als Kirchenzucht. Denn “[d]ie Gemeinde Gottes darf nicht durch heidnische Elemente verunreinigt werden.” Aber – so formuliert er in Anklang an die gerade thematisierten Artikel – “kein völkischer, kein rassischer, kein politischer Gedanke, konnte zu diesem beispiellosen Opfer verpflichten”476 , sondern die Scheidung erfolgt nur aufgrund des Wortes Gottes, nie aus Eigenmächtigkeit, um sich aufs Hören des Wortes zu bringen. Das Bekenntnis versteht er somit nicht als statischtheologischen Entscheid, sondern mit der Entscheidung, sich als wahre Kirche zu verstehen.477 Praktisch sieht Bonhoeffer die Ökumene in der Pflicht gegenüber der Bekennenden Kirche, sich der Bekenntnisfrage zuzuwenden, da andernfalls beide 473 In einem “Aufruf an unsere Brüder im Amt”, unterzeichnet auch von Bonhoeffer, wird gefordert (Bonhoeffer: DBW 14, 68; vgl. auch 66f.; 122; 124): “Geboten ist uns vor dem allen und über dem allen, in unserem Amt und in unserer Gemeinde Ernst zu machen damit, daß die Bekennende Kirche allein aus dem Wort, allein aus der Gnade, allein aus dem Glauben lebt”. Krötke: “Kein zurück”, 45, betont zurecht, dass es nur wenige Theologen in jener Zeit gegeben habe, die die Barmer Theologische Erklärung so ernst genommen hätten wie Bonhoeffer, weshalb er zu zeigen versucht, wie stark Bonhoeffers Theologie auch im Verhältnis zu den Barmer Thesen steht. Darum argumentiert er in einem “Gutachten über mögliche Irrlehre in der Bekennenden Kirche” vom Juni 1936, dass die Oeynhausener Synode in seinen Augen notwendige Konsequenz – und damit keine Irrlehre – ist für all diejenigen, die Dahlem zugestimmt hätten; vgl. Bonhoeffer: DBW 14, 702. 474 Ebd., 664 (Aufsatz “Zur Frage nach der Kirchengemeinschaft”, Sommer 1935): “Das Bekenntnis ist auf Grund der Theologie von der Kirche vollzogene Entscheidung über ihre Grenzen.” Vgl. auch ebd., 655ff. Irrlehre wiegt Bonhoeffers Meinung darum sogar noch schwerer als eine Versündigung im Wandel, weil sie a) bereits die Berufung ins Amt voraussetzt und b) durch sie “die Quelle des Lebens der Gemeinde und der Gemeindezucht verdorben” (ebd., 841, Vortrag “Schlüsselgewalt und Gemeindezucht” im Mai 1937) wird. Deshalb kann er daraus nur schlussfolgern, dass jegliche Irrlehre durch die Amtsträger ausgeschlossen werden müsse, definitiv aber nicht durch einen Eingriff von außen (vgl. 842f.). 475 Ebd., 943 (Bibelarbeit zu Esra und Nehemia). 476 Beides ebd., 944 (Bibelarbeit zu Esra und Nehemia). 477 Vgl. ebd., 673 (Aufsatz “Zur Frage nach der Kirchengemeinschaft”, Sommer 1935).
218 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase auseinanderbrechen würden.478 Darum versucht Bonhoeffer spätestens seit Fanø aufs Äußerste, die Bekennende Kirche als gültige Kirche und damit als entsprechenden Dialogpartner und aufzunehmenden Teil der Ökumene herauszustellen.479 Denn “Christus und Antichrist liegen im Streit”.480 Natürlich ist es für ihn die Reichskirche, die dem Antichristen dient, was jedoch von vielen Seiten – einschließlich zahlreicher seiner internationaler ökumenischer Bekanntschaften – nicht erkannt wird.481 Dies macht er auch anhand der Dahlemiten und ihrer Entscheidung deutlich, “daß sich die Reichskirchenregierung durch Lehre und Tat selbst von der christlichen Kirche geschieden hat”,482 was praktisch die Bildung einer eigenen Kirchenleitung nach sich gezogen habe.483 In diesem Zusammenhang fällt die prominente und hochtrabende Formulierung Bonhoeffers zum extra ecclesiam nulla salus. Denn für ihn ist die Frage nach der Kirchengemeinschaft im Kern die Frage nach der Heilsgemeinschaft, was konsequent im Einklang mit der ersten Barmer These bedeutet: “Wer sich wissentlich von der Bekennenden Kirche in Deutschland trennt, trennt sich vom Heil.”484 Dahinter steckt natürlich wieder das “Christus als Gemeinde existierend”, denn le-
478 Vgl. Bonhoeffer: DBW 14, 382ff. (Aufsatz “Die Bekennende Kirche und die Ökumene”, August 1935). 479 Vgl. ebd., 378ff.; 384; 388ff.; 395; 398 (Aufsatz “Die Bekennende Kirche und die Ökumene”, August 1935); dass Bonhoeffer schon in Fanø beabsichtigte, “dass sich die Konferenz unzweideutig auf die Seite der Bekennenden Kirche in Deutschland stellen möge”, hebt Krötke: “Pazifismus”, 405, hervor. 480 Bonhoeffer: DBW 14, 240 (Brief vom 23.09.1936 an Bonhoeffers ehemalige Londoner Gemeinde St. Paul). 481 Vgl. Bonhoeffers Brief an Leonard Hodgson vom 18.07.1935, ebd., 54; dieser berichtet ihm gegenüber in seiner Antwort vom 26.07., dass “I do not see that it can ever be the duty of the Faith and Order Movement to decide the questions” (ebd., 60), ob die Reichskirche überhaupt noch Kirche ist. Vgl. auch ebd., 392. 482 Ebd., 667 (Aufsatz “Zur Frage nach der Kirchengemeinschaft”, Sommer 1935). 483 Andersherum äußert Bonhoeffer in Weiterentwicklung seines Aufsatzes von 1933 über “Die Kirche vor der Judenfrage”, dass jede Gemeinde das Recht habe, aufgrund von Irrlehre das Kirchenregiment abzusetzen; vgl. ebd., 316 (Vorlesung über die Kirchenverfassung im Sommersemester 1936). Diese Position leitet Bonhoeffer von seinem Verständnis lutherischer “Konfession” ab, deren einziges Merkmal “das Stehen in der Buße ist (aus dem Grund des Nichtverfügens über Gott und seine Wahrheit)” (309), was ihm zufolge nicht nur zu grundsätzlicher Ökumenizität des Luthertums führt, sondern auch in die einzige Unterscheidbarkeit zwischen Kirche (des Evangeliums), die eben in Buße und damit Gehorsam Gott gegenübersteht und vom Heiligen Geist geleitet wird, und derjenigen Größe, die somit nicht Kirche sein kann und will – womit Bonhoeffer natürlich auf die Reichskirche abzielt. 484 Ebd., 676 (Aufsatz “Zur Frage nach der Kirchengemeinschaft”, Sommer 1935); s. auch Krötke: “Gottesverständnis”, 444.
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diglich in der Bekennenden Kirche wird Christus realiter verkündigt und ist somit im verkündigten Wort gegenwärtig, durch das aber als conditio sine qua non erst wahre Kirche konstituiert wird.485 Bonhoeffers extra ecclesiam ist somit weniger sein Urteil als vielmehr eine Feststellung, natürlich fußend auf seiner relationalen Denkweise.486 Bis in politische Ebenen hinein fungiert Bonhoeffer in nichts weniger als der Rolle, die zu biblischer Zeit die Propheten inne hatten bzw. schließlich Jesus selbst, als deren Stellvertreter Bonhoeffer sich selbst verstehen muss. Denn sowohl vom Neuen Testament als auch von den reformatorischen Bekenntnisschriften her widerspricht er (noch anders als 1933) jeder Trennung von Kirche und Politik und jeder Grenze zwischen Nationen und Rassen.487 Anhand des Davididen Serubbabel und dessen Umgang mit dem Laubhüttenfest erklärt Bonhoeffer die Errichtung einer “Notkirche”488 – nämlich den Neubau der (Bekennenden) Kirche gegen den Willen des Nazi-Staates –, was von zersetzenden Kräften natürlich als “Hochverrat gegen den persischen König”489 gedeutet wird. Denn trotz fehlender Beschlüsse ist ihm grundsätzlich klar, dass die bestehenden Kirchenausschüsse aufgrund der Einmischung des Staates in kirchliche Angelegenheit nicht anerkannt werden können.490 Expliziter als je zuvor tritt Bonhoeffer nun für das Judentum ein, wenn er mit Joh 4,22 klarstellt, dass das Heil von den Juden komme.491 Denn “Gott wurde Mensch im Volke Israel. […] Jesus war Jude aus dem Samen Davids.”492 Und nicht explizit Israel ist es ihm zufolge gewesen, das Jesus gekreuzigt hat, sondern
485 Vgl. Bonhoeffer: DBW 14, 677; dass Bonhoeffer so auch in seiner Zeit verstanden worden ist, belegt Helmut Gollwitzers Stellungnahme; vgl. ebd., 681 (Aufsatz “Zur Frage nach der Kirchengemeinschaft”, Sommer 1935). Zum “extra ecclesiam” vgl. auch Feil: Theologie, 68ff.; bes. 118, der unterstreicht, dass diese Aussage nur in ihrem relationalen Charakter richtig verstanden werden kann. 486 Darum definiert Hauerwas: Performing, 199, dementsprechend: “To be excommunicated is not to be ‘thrown out’, but rather to be told that we are already ‘outside’. Excommunication is a call to come home by helping us locate how we have alienated ourselves from God and those that gather to worship God.” 487 Vgl. Bonhoeffer: DBW 14, 379 (Aufsatz “Die Bekennende Kirche und die Ökumene”, August 1935). 488 Ebd., 935 (Bibelarbeit zu Esra und Nehemia). 489 Ebd., 939 (Bibelarbeit zu Esra und Nehemia). 490 Vgl. ebd., 702 (“Gutachten über mögliche Irrlehre in der Bekennenden Kirche”, Juni 1936). 491 Vgl. ebd., 756; in der Trauerfeier für seine Großmutter Julie (15.01.1936) macht Bonhoeffer darauf aufmerksam, dass sie am Schicksal der Juden mitgelitten habe; vgl. ebd., 924. 492 Ebd., 803 (Vortragskonzept zum Konfirmandenunterricht, vierter Kurs 1936/37).
220 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase “die Kirche der Untreue, des Verrates und der Verleugnung”.493 “Israel nach dem Fleisch hat alle [Gaben] empfangen der Verheißung.”494 Insgesamt bleibt Bonhoeffer mit seinen Ansichten damit im Wesentlichen allein und wird wahlweise als Außenseiter oder als Radikaler wahrgenommen.495 Die Ökumenische Bewegung kann er darum nicht überzeugen, sodass im Sommer 1936 in Chamby nicht nur Vertreter der Bekennenden Kirche und des Lutherischen Rates zugegen sind, sondern auch des Reichskirchenausschusses.496 Infolge einer “gewisse[n] Resignation im Blick auf den Ökumenischen Rat”497 legt Bonhoeffer im Februar 1937 schließlich seine Ämter als Jugendsekretär nieder, “was das letzte Auftreten von Männern der Leitung der Bekennenden Kirche auf einer regulären ökumenischen Sitzung”498 bedeutet. 3.2.7 Bergpredigt, Einfältigkeit und Glaubensgehorsam: Nachfolge (1937) Sieben Jahre nach begonnener Auseinandersetzung mit der Bergpredigt und fünf Jahre nach Beginn seiner friedensethischen Mission vollendet Bonhoeffer diese Mittelphase mit der Abfassung seiner Nachfolge: Die “Nachfolge Christi – was das ist, möchte ich wissen – es ist nicht erschöpft in unserem Begriff des Glaubens.”499 Es verwundert nicht, dass der Terminus bereits 1934 auftaucht und anhand der Bergpredigt auf das Halten der Gebote zugespitzt wird. Mindestens ebenso wichtig wie die Bergpredigt ist, wie gesehen, die Begegnung mit der afroamerikanischen Theologie und Frömmigkeit des schwarzen Christus, die ihn selbst zu einer persönlichen Wende hin zu lebendiger Frömmigkeit wie Befreiung vom eigenen Ego bewogen hat.500 Dementsprechend klingt es im Vorwort geradezu autobiographisch: 493 Bonhoeffer: DBW 14, 630. 494 Ebd., 876; vgl. 598 (Bonhoeffers Skizze zum Votum “Von Barmen nach Oeynhausen” vom 10.01.1936). Besonders über die relationale Hermeneutik mitsamt theologischer Auslegung zu Sach 3,15 wird deutlich, dass “die ganze erneuerte Kirche Gottes vor dem Richterstuhl” (ebd., 863, Predigt am 21.07.1935) gestanden habe. 495 Von einem “Radikalen” spricht Tödt: “Der schwere Weg in den aktiven Widerstand: Dietrich Bonhoeffers theologisch-ethische Reflexionen anläßlich seiner Teilnahme an Umsturzvorbereitungen gegen das Hitlerregime”, 203, was jedoch ganz anders. 496 Vgl. Bethge: DB, 624. 497 Ebd., 627. 498 Ebd., 634. 499 Bonhoeffer: DBW 13, 129 (Brief an Erwin Sutz vom 28.04.1934). 500 Mit Green: Bonhoeffer, 153: “The title of the book therefore states in one word exactly what Bonhoeffer himself had done: he had become a disciple, a Christian, one who followed along after Christ.” Oder ebd., 3: “The book Discipleship is the direct theological expression of Bonhoeffer’s
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Wenn die Heilige Schrift von der Nachfolge Jesu spricht, so verkündigt sie damit die Befreiung des Menschen von allen Menschensatzungen, von allem, was drückt, was belastet, was Sorge und Gewissensqual macht. In der Nachfolge kommen die Menschen aus dem harten Joch ihrer eigenen Gesetze unter das sanfte Joch Jesu Christi.501
Der eine Pfeiler der Nachfolge ist damit die neu gefundene Relationalität zu Christus und zur Bibel, die sich inhaltlich in der Auslegung der Bergpredigt niederschlägt.502 Als der andere Pfeiler muss die historische Situation des Kirchenkampfes gesehen werden – und damit die Relationalität zur Welt –, die Bonhoeffer “zum produktiven Anlass von Theologie nimmt.”503 Denn statt der Zustimmung zur protestantischen Orthodoxie – so argumentiert er – müsse als Trennungslinie gegenüber Müller und der Reichskirche vielmehr der Gehorsam gegenüber der Bergpredigt erfolgen, die “– und zwar in einem andern als dem reformatorischen Verständnis – wieder in Erinnerung zu bringen ist”.504 In Finkenwalde selbst beeindruckt Bonhoeffers Kolleg zur Nachfolge im Neuen Testament am stärksten, wo es natürlich auch schon um die alleinige Bindung an Jesus Christus und das Kreuz geht.505 3.2.7.1 Der Schlüsselbegriff: Glaubensgehorsam Von seiner eigenen Erweckung und inneren Befreiung herkommend und auf die Herausforderungen des Kirchenkampfes blickend, entwickelt Bonhoeffer anhand der Bergpredigt ein soteriologisch-ethisches Programm, das vor Relationalität nur so strotzt – und zwar als komplementäre Gegenposition aufseiten des Menschen zu der Christologie: Aus der existentiellen Grundfrage, wer Christus für mich ist,
personal liberation in 1932.” So Bethge: DB, 761, der die Nachfolge als Teil seiner “Beruf(ung)sfindung” und des bewussten Ergreifens des Christseins versteht. 501 Bonhoeffer: Nachfolge, 23. 502 Green: Bonhoeffer, 162: “The book, then, interprets discipleship in a way that joins together the biblical text and Bonhoeffer’s own experience.” 503 Schmitz: Nachfolge, 406. Erst die nationalsozialistische Bedrohung und die Entstehung der Reichskirche bescheren Bonhoeffer wohl die letztendliche Notwendigkeit, seine Gedanken in Buchform zu präsentieren. 504 Bonhoeffer: DBW 13, 171 (Brief vom 13.07.1934). 505 Vgl. ders.: DBW 14, 71 (Rundbrief der Brüder vom 05.08.1935). Durch die Vorlesungen, die Bonhoeffer in Finkenwalde hält, reift somit das Gesamtkonzept der Nachfolge; über die unterschiedlichen Entstehungsstufen gibt Bethge: DB, 515–517, Auskunft. Das Manuskript zur Nachfolge stellt Bonhoeffer schließlich kurz vor der Zwangsschließung Finkenwaldes im Herbst 1937 fertig. So schreibt Bonhoeffer am 24.10.1936 an Erwin Sutz noch, er hoffe, die Nachfolge bis Ende des Semesters fertiggestellt zu haben; vgl. Bonhoeffer: DBW 14, 257.
222 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase folgen notwendigerweise zwei Möglichkeiten, von denen der Weg der Nachfolge das Sterben des Menschen (in Christus) nach sich zieht.506 Nachfolge ist demnach umgekehrt auch “der Weg aus der Sünde”.507 Nichts anderes als die von Bethge so bezeichnete “Ausschließlichkeit der Herrschaft Christi”508 in allen Lebensbereichen will Bonhoeffer darum konsequent durchsetzen, dessen einzig richtige Reaktion der absolute Gehorsam gegenüber Christus ist.509 Zu diesem Zweck verbindet Bonhoeffer die lutherische Lehre der theologia crucis mit einer Art katholisch-frommer “Ernsthaftigkeit”, wofür er einmal mehr mächtig kritisiert wird.510 Mit diesem Gehorsam durch den Machtanspruch Christi konfrontiert Bonhoeffer die vom Nationalsozialismus zersetzte Reichskirche und ihr falsch verstandenes Evangelium, gegen das er bereits in Amerika sensibilisiert worden ist.511 Als “Schlüsselformel”512 entwickelt Bonhoeffer darum im zweiten Kapitel der Nachfolge den sog. “Glaubensgehorsam”: Nur der Glaubende ist gehorsam, und nur der Gehorsame glaubt.513
Diese ethische Maxime ist nichts anderes als eine prolongierte relational-soteriologische Maxime unter “wechselseitigen, zirkulären Bedingungen”,514 de506 So auch Schmitz: Nachfolge, 328 (vgl. auch 258; 407): “Der innere Zusammenhang der ‘Nachfolge’ zur ‘Christologie’-Vorlesung ist so eng, dass Bonhoeffer geradezu das gesamte in der Vorlesung entworfene und dargelegte christologische Modell konzeptionell für die ‘Nachfolge’ übernimmt.” 507 Dietz: Offenbarung, 277. 508 Bethge: DB, 806. 509 “Zweifellos ist im Buch ‘Nachfolge’ dieser Gehorsam ‘das Hauptthema’ ”, wie Tietz: “Nur”, 172, zurecht schlussfolgert. 510 S. auch Williams: “Developing”, 55f. u. Metaxas: Bonhoeffer, 56: “He considered the union of both churches: ‘The unification of Catholicism and Protestantism is impossible, although it would do both parties much good.’ In a few years he would incorporate the best of both into his Christian communities at Zingst and Finkenwalde – and be roundly criticized for it by many German Lutherans.” 511 Williams: Jesus, 104: “A spiritualized gospel is what Bonhoeffer read as the opiate religion of white racism that made African Americans meek in the face of their incomparably harsh fate.” In ähnlicher Weise auch Gregor: “Following-After”, 152ff., der Bonhoeffers Kritik an idealistischem Denken und Christusnachfolge als Alternative zu billiger Gnade in Nähe zu Kierkegaard diskutiert. 512 Mit Bethge: DB, 516. 513 Bonhoeffer: Nachfolge, 52; mit Bethge: DB, 516. Dementsprechend Tietz: “Nur”, 170f.: “Nur wer im Glauben das von Gott Gebotene tut, erfüllt Gottes Gebot und ist also gehorsam.” 514 Beides ebd., 172f.
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ren “Bedingungsgleichgewicht” ausschließlich in der Nachfolge Christi erfüllt ist. Epistemische Bedingung für den Glaubensgehorsam ist die sog. “Einfältigkeit” bzw. der “einfältige Gehorsam”, den Bonhoeffer bereits 1932 im Vortrag “Christus und der Friede” benutzt hat und der prinzipiell nichts anderes meint als die glaubende Erkenntnis bzw. den actus directus, den er sachlich schon seit Sanctorum Communio verfolgt und in Akt und Sein terminologisch entwickelt hat; die Kontinuität zur Frühphase ist damit einmal mehr evident.515 Dass er nun aber diesen neuen Begriff verwendet, dürfte seit Amerika dem mehrfachen Appell zum “simple faith” – besonders durch Clayton Powell Sr. – geschuldet sein, wodurch Bonhoeffers Sprache simpler und klarer wird. Wendel spricht darum von “antiintellektualistische[m] Akzent”516 . Andererseits hat der “einfältige Gehorsam” aber auch inhaltliche Gründe, dass er nämlich dem Anspruch Christi auf die ganze Existenz des Menschen auch terminologisch Gewicht verleihen möchte. Stärker noch als zuvor betont Bonhoeffer, dass der einfältig Gehorsame nichts anderes mehr sieht als ausschließlich Christus: Die einzige gebotene Reflexion des Nachfolgenden geht darauf, ganz unwissend, ganz unreflektiert zu sein im Gehorsam, in der Nachfolge, in der Liebe. […] Das Gute Christi, das Gute in der Nachfolge, geschieht ohne Wissen.517
Dieser einfältige Gehorsam ist die epistemische Grundvoraussetzung für Bonhoeffers eigentliche, soteriologische Forderung, dass nämlich die Gnade teuer bleiben muss: “Gnade als Voraussetzung ist billigste Gnade; Gnade als Resultat teure Gnade. [...] Das bedeutet, daß eine Erkenntnis nicht getrennt werden kann von der Existenz, in der sie gewonnen ist.”518 Das relationale Denken Bonhoeffers tritt damit von Beginn an sehr deutlich zutage, setzt die Innenperspektive voraus und hebt die Prozesshaftigkeit der Gnade hervor, an der in der Nachfolge Christi (relational) partizipiert wird und die den Nachfolger durch imitatio Christi verändert: “Gnade ist also ‘nicht eine Eigen-
515 Liu: Kirche, 184ff., weitet eine Kontinuität zur Frühphase sogar auf den Begriff der Nachfolge aus. 516 Wendel: Studien, 133. 517 Bonhoeffer: Nachfolge, 155. Vgl. dazu auch die Vorlesung über das neue Leben bei Paulus, ders.: DBW 14, 620. Dementsprechend spricht Kierkegaard: Einübung, 100, den Bonhoeffer schon während der Studienzeit kennengelernt hat, von der nur einen Zeit gegenüber Gott, der Gegenwart. 518 Bonhoeffer: Nachfolge, 37f.
224 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase schaft neben anderen Eigenschaften Gottes’, sondern die ‘umgreifende Dimension der Wirklichkeit Gottes’.”519 Mit dieser Stoßrichtung fußt Bonhoeffer neben der Bergpredigt selbst einmal mehr auf Kierkegaard (vor allem Einübung im Christentum) und dem afroamerikanischen Einfluss.520 Bonhoeffer wehrt sich damit gegen jede Art von Gnade als eine Art metaphysische Größe, die umsonst habbar wird und die Sünde statt des Sünders rechtfertigt, die Situation des Sünders jedoch unverändert lässt; andernfalls würde man sich der Welt anpassen und lediglich eine Statusveränderung zum Gerechtfertigten erleben, eine Art neues Etikett.521 Vielmehr hat die Gnade für Bonhoeffer erstens einen unschätzbaren Wert (den er in biblischen Ausdrücken näher beschreibt), zweitens hat die Gnade Gott seinen Sohn gekostet. Drittens kostet sie uns das Leben, weil wir von nun an Nachfolger sind, viertens der Sünde ihre Existenzberechtigung. Fünftens muss sie also letztlich “immer wieder gesucht”522 werden. Diese teure Gnade muss “vor der Welt behütet werden”;523 ihren Verlust bringt Bonhoeffer gleichsam mit dem “Zusammenbruch der organisierten Kirchen” in Verbindung, und zwar “heute”.524 Bonhoeffers Fokus ist somit naheliegenderweise die Kirche; das ist im Weiteren alles andere als unbedeutend.525 Nicht als “fromme Sonderleistung”526 “Einzelner, zu der die Masse des Kirchenvolkes nicht verpflichtet werden konnte”,527 versteht Bonhoeffer die teure 519 Schulte: Ohne Gott, 235, mit Rückgriff auf Beintker: “Rechtfertigung”, 11. Ähnlich Frick: “Grace”, 148: “Grace is not merely a static doctrine, but a call to demonstrate with one’s deeds the tangibility of following Christ in this world. Unless grace is acted upon, it becomes God’s word of judgement over us.” Feil: Theologie, 181, nennt das Verständnis von teurer Gnade “personal”, dürfte aber dasselbe wie “relational” meinen. Barth: Wirklichkeit, 290, spricht deshalb im Zuge der Ethik von einer “relationale[n] Freiheit des Menschen zum Guten”. Und Prüller-Jagenteufel: Befreit, 215, bezeichnet Bonhoeffers Gnadenverständnis sogar explizit als “relational”. Zu Bonhoeffers Innenperspektive vgl. schon Akt und Sein. 520 Dementsprechend fordert Kierkegaard: Einübung, 74, “das Christentum wieder in die Christenheit einzuführen”. 521 Vgl. Bonhoeffer: Nachfolge, 29f. Hermannsdörfer: Beten, 159 (vgl. auch 253), betont dementsprechend zwar Bonhoeffers Unterscheidung zwischen Rechtfertigung und Heiligung, doch betont gleichermaßen: “Dennoch ist beides letztlich nicht voneinander zu trennen, so dass sich Bonhoeffers Ansatz als forensische Rechtfertigung mit effektiven Folgen kennzeichnen lässt.” 522 Bonhoeffer: Nachfolge, 31. Von Gnade kann Bonhoeffer deshalb reden, “weil sie in die Nachfolge Jesu Christi ruft” (ebd., 31), den Sünder rechtfertige, weil sie Gott seinen Sohn gekostet habe und in der Inkarnation Christi kulminiere; vgl. Feil: Theologie, 181. 523 Bonhoeffer: Nachfolge, 31. 524 Ebd., 40. 525 So auch Schmitz: Nachfolge, 254; 260. 526 Bonhoeffer: Nachfolge, 34. 527 Ebd., 33, womit er sich dem Urteil seines Lehrers von Harnack anschließt.
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Gnade. Vielmehr ist sie ein “göttliches Gebot an alle Christen”,528 die gerade nicht zu klösterlicher “Weltflucht”529 führen soll, sondern in gehorsame Nachfolge Jesu mitten in der Welt. Die Notwendigkeit von Glaube und Gehorsam zum Erhalt von bzw. zur Partizipation an der teuren Gnade Christi ist in nichts Geringerem begründet als in dem Ruf Jesu Christi in die Nachfolge.530 Allerdings ist der Eintritt in den Glauben als Antwort auf den Ruf Christi in die Nachfolge eine “spezielle Situation”,531 weil er als erster Gehorsamsschritt gleichsam die Voraussetzung für den Glauben ist, aber keinerlei Verdienstlichkeit beinhalten soll.532 Deshalb kommt Bonhoeffer zu dem Schluss, daß dieser Schritt nur recht geschieht, wenn wir ihn nicht im Blick auf unser Werk, das getan werden muß, sondern allein im Blick auf das Wort Jesu Christi hin tun, das uns dazu ruft. Dieser Ruf ist seine [Jesu Christi; Anm. von P. M.] Gnade, die aus dem Tod in das neue Leben des Gehorsams ruft.533
Schon beim Eintritt in die Nachfolge ist somit der einfältige Gehorsam Voraussetzung als gläubige Reaktion auf die Gnade im Ruf Christi. Andernfalls oder für sich genommen ist dieser Schritt nach Bonhoeffer “als rein äußerliches Tun ein totes Werk des Gesetzes”.534 Somit siedelt er diesen ersten Gehorsamsschritt in der iustitia civilis an, womit klar werden soll, dass diese Tat nicht des lutherisch verstandenen unfreien Willens zugeordnet ist aufgrund der incurvatio hominis in se ipso.535 Dennoch schafft dieser erste Schritt eine ganz neue Existenz des Gehorsamen als einen “Zirkel zwischen Glaubensakt und Gehorsamsakt”536 Erst dann folgt die “freie Luft der Entscheidung”537 und das eigentliche Leben in der Gemeinde bei ständiger Gefahr, aus dem Zirkel wieder hinaus zu fallen, “wenn der Jünger der Begierde trotzdem freien Lauf lässt”538 .
528 Bonhoeffer: Nachfolge, 34; s. auch Norris: “Church”, 328 u. 335. 529 Bonhoeffer: Nachfolge, 34. 530 Vgl. ebd., 31f. mit Verweis auf Mk 1,17 u. Joh 21,22; 51f. in ähnlicher Weise hat schon Kierkegaard: Einübung, unterschieden “zwischen dem Bewunderer und dem Nachfolger” (245); aber “[n]ur der ‘Nachfolger’ ist der wahre Christ”. 531 Tietz: “Nur”, 174. 532 So auch ebd., 176; 178. 533 Bonhoeffer: Nachfolge, 55; vgl. Tietz: “Nur”, 178. 534 Bonhoeffer: Nachfolge, 54. 535 Vgl. ebd., 53. 536 Tietz: “Nur”, 174; vgl. Bonhoeffer: Nachfolge, 53; 55. 537 Ebd., 59. 538 Tietz: “Nur”, 180.
226 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase Dadurch rückt der aus der lutherischen Tradition bereits bekannte Christus als Mittler auch in den Fokus der Nachfolge statt eines eigenmächtigen Handelns oder des Befolgens eines “Lehrsystems”, einer “Programmatik” oder eines “Mythos”.539 Dadurch wird jegliches unmittelbare Verhältnis des Nachfolgenden jenseits von Christus (insbesondere durch die in Barcelona noch erwähnte Uroffenbarungslehre unmöglich: “‘Gottgegebene Wirklichkeiten’ gibt es für den Nachfolger Jesu nur durch Jesus Christus hindurch.”540 3.2.7.2 Relationales Denken und die Einheit von Gesetz und Gnade in der Bergpredigt Mit der Auslegung der Bergpredigt und der Einheit von Gesetz und Gnade durch die Mittlerschaft Christi macht Bonhoeffer auch eine Weiterentwicklung durch – hin zu dem, was anfangs als “hebräisches Denken” definiert worden ist. Denn mehr und mehr dringt Bonhoeffer zu dem hebräischen Jesus vor, der ganz natürlich – und damit auch der Stoff der Bergpredigt – verwurzelt ist in der Torah. Statt eines griechischen Denkens, das er bereits in seiner akademischen Frühphase gleichermaßen mit Schlatter wie auch von Harnack verworfen hat, führt Bonhoeffer somit implizit aus, was er später in den Tegeler Briefen explizieren wird, nämlich von dem Alten Testament her zu denken. Die Bergpredigt selbst als Jesu Auslegung der Torah bietet zahlreichen Stoff halakhischer Art, besonders die sechs Antithesen aus Mt 5.541 Anhand von Mt 5,17–20542 wird Bonhoeffers grundsätzlich positive Einstellung gegenüber den alttestamentlichen Geboten und dem Verhältnis zur Gnade außerdem deutlich. 539 Vgl. Bonhoeffer: Nachfolge, 46ff. 540 Ebd., 91; im Ethik-Manuskript “Die Geschichte und das Gute [Zweite Fassung]” wird Bonhoeffer dementsprechend das Verhalten des Nachfolgers als “wirklichkeitsgemäß” bezeichnen, und Jesus Christus wird zu “dem Wirklichen”; vgl. ders.: Ethik, 261. 541 Zum Zusammenhang von Altem und Neuem Testament bei Bonhoeffer und den Einfüssen durch Barth und Wilhelm Vischer vgl. Kuske: Testament, 18–21; spätestens mit der dritten Suche nach dem historischen Jesus ist auch in der Exegese die hebräische Verwurzelung Jesu vollends betont worden; zu dieser Entwicklung vgl. Wright: New Testament u. bes. ders.: Jesus, 1–144. 542 Bonhoeffer: Nachfolge, 115, stellt seiner Auslegung folgende Bibelübersetzung voran, die sich mit geringer Abweichung an der Luther-Übersetzung der damaligen Zeit orientiert: “Ihr sollt nicht wähnen, daß ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen. Denn ich sage euch wahrlich: Bis daß Himmel und Erde zergehe, wird nicht zergehen der kleinste Buchstabe noch ein Jota vom Gesetz, bis daß es alles geschehe. Wer nun eines von diesen kleinsten Geboten auflöst und lehrt die Leute also, der wird der Kleinste heißen im Himmelreich; wer es aber tut und lehrt, der wird groß heißen im Himmelreich. Denn ich sage euch: Es sei denn eure Gerechtigkeit besser denn die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.”
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Zwar betont Bonhoeffer dabei sehr deutlich, dass mit Jesus von Nazareth, dem Christus/Messias, etwas völlig Neues begonnen habe;543 im Gegensatz zum explizit erwähnten Marcion schlussfolgert er aber: “Christus setzt das Gesetz des Alten Bundes in Kraft.”544 Diese Inkraftsetzung begründet Bonhoeffer mit Christi Vollmacht, der die Einhaltung des “Gesetz[es] des Alten Bundes”545 von seinen Nachfolgern fordert, jedoch mit einer entscheidenden Wendung: “Allein dadurch, daß Christus seine Nachfolge an dieses Gesetz bindet, wird es ein neues Gebot.”546 Den einfältigen Gehorsam dem Gesetz gegenüber als Nachfolge definiert Bonhoeffer als “bessere Gerechtigkeit”, indem er seine Erkenntnisse aus “Akt und Sein” auf das Offenbarungsverständnis des alttestamentlichen Gesetzes anwendet und dabei einerseits vor einer “Vergottung des Gesetzes und Vergesetzlichung Gottes”547 warnt, indem Gott im Gesetz selbst aufgeht; andererseits empfindet er die Trennung vom Gesetz als gewaltsame Aneignung des Heilsbesitzes. Beides verwirft Bonhoeffer deshalb als Leugnung Gottes.548 Vielmehr hat Christus als Einziger das Gesetz erfüllt, woraus nicht nur Seine Autorität zur Gesetzeslehre resultiert, sondern auch qua vollkommener Gottesgemeinschaft die Mittlerschaft von Christus zwischen Nachfolger und Gesetz, die dem Nachfolger den Weg zum Gesetz über das Kreuz Christi ermöglicht.549 Somit ist der Nachfolger zwar an die Gesetzeserfüllung gebunden, jedoch relational durch Christus vermittelt, und er erlebt durch Christus die Gerechtigkeit Gottes. Dies ist für Bonhoeffer die “bessere Gerechtigkeit” – besser als die Gerechtigkeit der Schriftgelehrten und Pharisäer, die laut Bonhoeffer versuchen, das Gesetz unmittelbar und buchstäblich zu erfüllen.550 Denn Jesus ist die Gerechtigkeit.551
543 Vgl. Bonhoeffer: Nachfolge, 115. 544 Ebd., 116; zu Marcion – Häretiker der Kirche des 2. Jahrhunderts – und dem Marcionismus vgl. Hauschild: Lehrbuch 1, 74f. 545 Bonhoeffer: Nachfolge, 117. 546 Ebd., 117. 547 Ebd., 117f. 548 Vgl. ebd., 118. 549 Ebd., 119: “Wer an ihm bleibt in der Nachfolge, an ihm, der das Gesetz erfüllte, der tut und lehrt das Gesetz in der Nachfolge.” 550 Kierkegaard: Einübung, 115, spricht sogar von der Selbstzufriedenheit des Judentums zur Zeit Christi durch die Pharisäer und Schriftgelehrten, sodass neben Harnack auch Kierkegaard nicht unmaßgeblich ist für Bonhoeffers relativ einseitige Sicht auf das Judentum und ihren Umgang mit dem Gesetz, wie es ganz besonders noch 1933 in “Die Kirche vor der Judenfrage” deutlich geworden ist. 551 Vgl. Bonhoeffer: Nachfolge, 120.
228 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase “Bessere Gerechtigkeit” ist darum “nicht nur ein zu leistendes Gut, sondern die vollkommene und wahre persönliche Gottesgemeinschaft selbst”.552 “Gerechtigkeit” versteht Bonhoeffer damit ebenfalls nicht (unmittelbar) als statisches Gut und Messlatte o. ä., sondern als personale Größe in Form von Christus.553 Der Nachfolger Jesu partizipiert an dieser besseren Gerechtigkeit durch nichts weniger als durch seine Beziehung zu Christus und dessen vollkommene Erfüllung des Gesetzes. Praktisch ist es damit der Glaube, der nötig ist, damit der sündige Mensch an der Rechtfertigung Gottes in Jesus Christus teilhat.554 Aufgrund der imitatio Christi ist in der Nachfolge dann, ebenfalls diese Gerechtigkeit zu tun,555 aber auf Grundlage des von Christus bereits erfüllten Gesetzes im einfältigen Gehorsam.556 Damit erkennt man spätestens mit der Nachfolge, dass Bonhoeffer zwar nach wie vor scharfe Formulierungen zur Priorität des Gotteswillens und Seiner Gerechtigkeit bringt, wodurch man den Eindruck eines strafenden Gottes erhalten könnte, wie er es 1928 und 1932/33 hat anklingen lassen und nun zeitgleich noch in Predigten ausdrückt: “Der Gottlose muß sterben, damit Gottes Gerechtigkeit siege.”557 Doch Tietz wirft zurecht ein: “Diese Verurteilung geschieht in Jesus Christus: Im Tod Jesu Christi, in den alle Menschen eingeschlossen sind, tötet Gott ‘alles, was Fleisch ist auf Erden’ – und so wird sichtbar, ‘daß keiner gerecht ist, als Gott allein’.”558 Der Anspruch Gottes bleibt also bestehen, wie gesehen. Bonhoeffer ist es von höchster Wichtigkeit, dass nicht die Sünde gerechtfertigt wird.559 Doch Gott selbst in Jesus Christus hat diesen Maßstab erfüllt. Wenn man Bonhoeffers Pathos-Vorstellungen von 1928 und den leidenden Gott auf Grundlage der theologia crucis aus dem Jahre 1934 mit diesen hier vergleicht, lässt sich in die eine Richtung erkennen, dass Bonhoeffer trotz scharfer Formulierungen hinsichtlich
552 Bonhoeffer: Nachfolge, 120. 553 Bonhoeffer macht mit seiner Auslegung von Mt 7,1 (“Richtet nicht”) deutlich, dass jedes menschliche Richten niemals gut genug sei; ebd., 176. 554 Vgl. Tietz: “Rechtfertigung”, 90–97, zur Zusammengehörigkeit von Rechtfertigung und Heiligung (= Nachfolge), die diesbezüglich ebenfalls auf Bonhoeffers Predigt zu Jakobus aus der Studienzeit hinweist. 555 Vgl. Bonhoeffer: Nachfolge, 121. 556 Nichts anderes meint das Tun des Außerordentlichen (“περισσόν”), von dem Bonhoeffer anhand von Mt 5,20 spricht; vgl. ebd., 148f. Die einzig erlaubte Reflexion, die Bonhoeffer zulässt, ist, dass der Gehorsam unreflektiert ausgeübt wird; vgl. ebd., 155. Zum Außerordentlichen vgl. auch Kierkegaard: Einübung, 84. 557 Bonhoeffer: DBW 14, 986 (Predigt zu Ps 58 am 11.07.1937). 558 Tietz: “Rechtfertigung”, 83, mit Bonhoeffer: Nachfolge, 271. 559 So Tietz: “Rechtfertigung”, 85f.
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des Charakters Gottes ausbalancierter wirkt: Gott straft die Sünde, doch Er nimmt die Konsequenzen daraus selbst auf sich, damit der Sünder gerechtfertigt werden kann. Und das gilt laut Bonhoeffer allen Menschen. In die andere Richtung ließe sich aber auch fragen, inwiefern Bonhoeffer 1928 bzw. 1932 die theologia crucis nicht zumindest schon mitgedacht hat, die ihn seit seiner Frühphase theologisch begleitet. Das würde Hermannsdörfers harsches Urteil über Bonhoeffers Gott, der durch Strafe zum Guten wirke, in seiner Einseitigkeit merklich entkräften.560 Vielmehr ist es der Zorn Gottes, der zwar vernachlässigt werden darf, der aber Seinen Sohn Jesus Christus trifft.561 3.2.7.3 Teure Gnade und Absonderung von der Welt Bonhoeffer versucht, seine Theorie der teuren Gnade auch jenseits der Evangelien zu belegen, was er im zweiten Teil seiner Nachfolge hauptsächlich anhand von Paulus tut.562 Dass die Kirche als der paulinische Leib Christi, konstituiert durch den Heiligen Geist, die logische Sukzession ist, ist für ihn seit Sanctorum Communio selbstevident.563 Somit ist “[d]as Äquivalent zur Nachfolge […] das Leben der Gläubigen in der Gemeinde”,564 dessen Eintritt die Taufe markiert und in deren Tod der Täufling von der Sünde gerechtfertigt ist.565 Die Heiligung als Erhaltungsprozess der Neuschöpfung der Gerechtfertigten sichert dabei die teure Gnade.566 Mit dem anfangs angedeuteten Situationsbezug gegen die Reichskirche und dem persönlichen Willen an den Absolutheitsanspruch Christi entsteht aller-
560 Spätestens für 1941 formuliert Bonhoeffer im Andachtsvorschlag zu Jer 2,1 und Eph 1,22f. genau umgekehrt (Bonhoeffer: DBW 16, 650): “Erkennt in Gottes Zorn gegen euch, daß er euch liebt, er will wieder euer Herr sein.” 561 Vgl. ders.: DBW 5, 129 u. Tietz: “Rechtfertigung”, 88. 562 Vgl. Bonhoeffer: Nachfolge, 215–304. 563 Vgl. ebd., 232; so auch Green: Bonhoeffer, 154. 564 Schmitz: Nachfolge, 139. 565 Vgl. Bonhoeffer: Nachfolge, 221ff.; vgl. auch Schmitz: Nachfolge, 138f. 566 Bonhoeffer: Nachfolge, 285: “Sie [die Gemeinde der Heiligen; Anm. von P. M.] ist vielmehr gerade die Gemeinde, die sich des Evangeliums von der Sündenvergebung würdig erweist, indem hier wahrhaftig Gottes Vergebung verkündigt wird, die nichts mehr mit Selbstverleugnung zu schaffen hat; die Gemeinde derer, denen wahrhaftig Gottes teure Gnade widerfahren ist, und die darin des Evangeliums würdig wandeln, daß sie es nicht verschleudern und wegwerfen.” Dies entspricht laut Krötke: “Kein zurück”, 58, in Grundzügen “dem theologischen Denkmodell von ‘Rechtfertigung und Heiligung’, das Barmen II den Rahmen gibt.” Dass sich diese Prozesshaftigkeit später in der Ethik auch auf das Gute beziehen wird, das gerade nicht als Abstraktion zu verstehen sei, betont Bethge: DB, 809. Vgl. auch Schmitz: Nachfolge, 143; 259.
230 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase dings ein Fokus auf eine missverständliche Form von Heiligkeit, die Bonhoeffer während der Tegeler Zeit bereuen wird. Weil nämlich der Blick auf den erhöhten Christus als Mächtigen im Kampf gegen das Böse gerichtet ist, sich dies aber im Rahmen des Kirchenkampfes niederschlägt, weil Christus als Gemeinde existiert, versteht Bonhoeffer diese Heiligkeit als “Reinheit der Gemeinde”,567 die nur durch Abgrenzung unbefleckt und rein bleiben kann. Die Nachfolge “erstrahlt” deshalb als das “most ecclesiastical and ‘anti-world’ book”568 aus Bonhoeffers Feder. Mit “Heiligung” meint Bonhoeffer in diesem Zusammenhang allerdings keine räumliche Abgrenzung von der Welt, sondern eine qualitative Unterscheidung.569 Ihm geht es dabei also nicht darum, das irdische Diesseits zu verwerfen, womit er sich einer platonischen Spiritualisierung annähern würde; diese Position hat er bereits zahlreich seit Beginn seiner theologischen Laufbahn verworfen. Deshalb unterscheidet Bonhoeffer terminologisch zwischen “Welt” und “Erde” und kennt außerdem den “Raum”.570 Noch zu Beginn der Nachfolge, wenn Bonhoeffer diejenigen lobt, die in der Erkenntnis der teuren Gnade in der Welt leben können, ohne sich an sie zu verlieren,571 wird “Welt” zum ersten Mal erwähnt, tendenziell neutral: Ihre Konnotation entspricht seiner Konsequenz aus der Entdeckung Luthers, dass Nachfolge Jesu mitten in der Welt gelebt werden müsse.572 Zwar ist die Erde im Sinne von Schöpfung und Fall von Gott als wertvoll geschaffen;573 doch sie benötigt Erneue-
567 Schmitz: Nachfolge, 259. 568 Green: Bonhoeffer, 155; vgl. Bonhoeffer: DBW 8, 541f. (Brief vom 21.07.1944 an Bethge) u. Feil: Theologie, 277–285. 569 Nichts weiter als “Absonderung” meint ursprünglich der biblische Begriff der Heiligkeit; es geht hier also nicht so sehr um eine räumliche, sondern um eine qualitative Absonderung von der “Welt”; zur Etymologie von “קדש/kdš” vgl. Müller: קדש, 590–609. Darum auch Pangritz: “Aspekte”, 761. 570 Vgl. auch Schmitz: Nachfolge, 158f. Bonhoeffer spricht sehr deutlich von einem “ZweiRäume-Denken”, einerseits der Raum der Kirche, andererseits der Raum der Welt; vgl. Bonhoeffer: Nachfolge, 37 Diese klare Trennung in zwei Räume zieht sich durch die ganze Nachfolge. Immerhin wird durch dieses Zwei-Räume-Denken einmal mehr deutlich, welch großen Stellenwert Bonhoeffers lutherische Verwurzelung in der Erbsündenlehre hat. Dass Bonhoeffer in der Ethik genau diesen kritischen Punkt beheben möchte, macht Wiebering: “Zwei Räume”, 79), deutlich: “Die Aufspaltung der Wirklichkeit in zwei Räume hat Bonhoeffer deswegen bekämpft, weil dadurch die Versöhnung zwischen Gott und der Wirklichkeit in Jesus Christus rückgängig gemacht wurde.” 571 Vgl. Bonhoeffer: Nachfolge, 43. 572 Vgl. ebd., 35. 573 Vgl. ebd., 265.
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rung.574 Gleichzeitig macht Bonhoeffer deutlich, dass Jesus trotz selbstverständlicher Askese und Enthaltsamkeit575 die Güter der Erde zum Gebrauch gereinigt habe, zumal ohne “sich mit seinen Jüngern aristokratisch abzusondern”.576 “Welt” meint somit nicht die materiell-statische, sondern vielmehr die unerlöste Welt, wo noch die Sünde herrscht. Denn “um ihres Fleisches Willen kam Christus in die Welt”.577 “Welt” steht somit auch als Chiffre für die Reichskirche, weil Christus nicht ihr Herr ist, in dem doch die Sünde erst durch das Sein-in-Christus – bzw. einfach Nachfolge respektive Heiligung – durchbrochen wird.578 Darum ist es für Bonhoeffer notwendigerweise billige Gnade, wenn der Christ in der Welt bleibt, anstatt sich unter die Herrschaft Christi zu begeben.579 Jeder Verweltlichung der Kirche bzw. des Christentums ist entgegenzuwirken, die er dem Christentum seit dessen Ausbreitung attestiert.580 So werden in der Bergpredigt die Jünger als “Fremdlinge in der Welt”581 bezeichnet, weil teure Gnade immer nur aus der Beziehung zu Christus heraus mit einfältigem Gehorsam empfangen werden kann. “Die Gemeinde Christi aber [hat] eine andere ‘Gestalt’ als die Welt”,582 weshalb es Bonhoeffer zufolge auch Berufe gibt, die mit der christlichen Gemeinde unvereinbar sind. Doch im Sinne seiner Friedensethik plädiert er zunächst dazu, “[i]m Beruf bei Gott [zu] bleiben”; das “heißt eben mitten in der Welt am Leibe Christi in der sichtbaren Gemeinde bleiben, im Gottesdienst und 574 Vgl. die Auslegung der dritten Seligpreisung (Mt 5,5: “Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen.”), wo Bonhoeffer anhand von Offb 21,2 für die Erneuerung der Gestalt der Erde auf Grundlage der theologia crucis argumentiert (Bonhoeffer: Nachfolge, 104): “Gott verläßt die Erde nicht. Er hat sie erschaffen. Er hat seinen Sohn auf die Erde gesandt. […] Von Golgatha her, wo der Sanftmütigste starb, soll die Erde neu werden.” Vgl. ders.: Schöpfung, 25f. s. auch Kuske: Testament, 114. 575 Vgl. Bonhoeffer: Nachfolge, 164 mit Verweis auf Mt 6,16–18. 576 Ebd., 193. 577 Ebd., 265. Darum lässt sich mit Feil: Theologie, 250ff., die “Welt” in Bonhoeffers Nachfolge als verloren bezeichnen. 578 Vgl. schon Akt und Sein. Diese Deutung wird auch durch Bonhoeffers Beispiel der Ehe deutlich, wenn er die These aufstellt, dass die Ehe der Christen anders aussehen werde “als die Ehe der Welt” (Bonhoeffer: Nachfolge, 265), denn erstere partizipiere – theologisch gesprochen – an der Freiheit Gottes in Jesus Christus und sei damit zur Freiheit auf den Ehepartner erlöst, wie Bonhoeffer es bereits in Schöpfung und Fall dargelegt hat. 579 Vgl. ebd., 29ff. 580 Vgl. ebd., 32f. 581 Ebd., 103. 582 Ebd., 263.
232 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase im Leben in der Nachfolge das lebendige Zeugnis der Überwindung dieser Welt ausrichten.”583 “Welt” hat in diesem Zusammenhang damit zwangsläufig eine andere Konnotation als die spätere “Weltlichkeit” der Tegeler Briefe, ist jedoch nicht (ursprünglich) als Absonderung von der irdischen Welt gedacht; vielmehr geht es Bonhoeffer um eine Art Perfektibilität im Prozess von Heiligung und kirchlicher Frömmigkeit.584 Die Welt steht damit neben der Sünde und dem (unerlösten) Gesetz als eine der drei Herrschaftsmächte dem Leib Christi diametral gegenüber.585 Deutliche Tendenzen bzw. Missverständnisse hin zur Absonderung von der (in diesem Fall irdischen) Welt existieren in diesen Formulierungen damit ganz real, besonders wenn Bonhoeffer unter anderem von einem Durchzug der Gemeinde schreibt, alle weltliche Freundschaft zu verlassen, um der Heimat, dem Himmel, entgegen zu ziehen,586 wobei man darin auch – wie Prüller-Jagenteufel es tut – eine Stärke sehen kann, als Gemeinde der Welt gegenüber wie ein Spiegel zu sein.587 Diese Unschärfe ist letztlich auch in Bonhoeffers schwammigen Begriff der “Welt” verwurzelt. Verstärkt wird die Absonderungstendenz durch Bonhoeffers dreifaches Heiligungsverständnis: “Ihre Heiligung wird sich bewähren in der klaren Absonderung von der Welt. Ihre Heiligung wird sich in einem Wandel bewähren, der des Heiligtums Gottes würdig ist. Ihre Heiligung wird verborgen sein im Warten auf den Tag Jesu Christi.”588 Gleichzeitig betont er die Übung der Gemeindezucht, wie gesehen.589 Trotz aller Unschärfe ist der “‘politische[n] Charakter’ ”590 in Bonhoeffers Heiligungsbegriff aber unübersehbar. Dass auch an dieser Stelle als letztes Ziel
583 Beides Bonhoeffer: Nachfolge, 255. 584 In diesem Sinne ist auch die “‘Weltfremdheit’ des christlichen Lebens” (ebd., 261) zu verstehen, weil die Welt “zum Abbruch reif” (ebd., 255) sei. Denn “[t]he theology of Discipleship should not be read as otherworldly, escapist, or irrelevant to the struggle against National Socialism; it should be understood as forming a strong Christian identity – ecclesial and personal – for nurturing faithful life in the public and political world in which Bonhoeffer lived”, wie Green: “Christus”, 28, betont. 585 Vgl. Bonhoeffer: Nachfolge, 252. 586 Vgl. ebd., 266f. 587 Prüller-Jagenteufel: Befreit, 214: “Als Gemeinde der Nachfolge ist die Kirche von der Welt radikal unterschieden, aber eben nicht getrennt; sie steht in der Welt, aber sie steht gegen die Welt, insofern sie sündige Welt ist, und damit gerade für die Welt.” 588 Bonhoeffer: Nachfolge, 277. 589 Vgl. ebd., 286. 590 Ebd., 277; auch Frick: “Grace”, 137, zeigt, dass Bonhoeffers “theology of grace has a decidedly social-political dimension.”
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des Christen die (natürlich relationale ) Gleichgestaltung mit dem Bilde Christi zur Wiederherstellung der zerstörten Gottebenbildlichkeit verdeutlicht wird,591 zeigt wiederum die Kontinuität schon zu Bonhoeffers Frühphase, die trotz aller Weiterentwicklung besteht. Das Gericht nach Werken ohne Ansehen der Person592 ist dagegen ein deutlich anderer Schwerpunkt als dort, hat er doch anfangs noch intensiv von der ἀποκατάστασις πάντων (dt. “Wiederherstellung aller Dinge”) gesprochen. Doch im Zuge der teuren Gnade gegen die Bedrohung besonders durch die Deutschchristen ist das Gericht nach Werken insofern als Akzentverschiebung zu deuten, weil es nicht um Werkgerechtigkeit geht, sondern lediglich die relationale Partizipation an Christi Gerechtigkeit, durch die der Nachfolger in einfältigem Gehorsam befähigt werden soll, die Gebote zu erfüllen. Die Nachfolge markiert somit den Höhepunkt von Bonhoeffers Bestreben nach Heiligkeit, aber auch das “Ende dieses Weges”,593 wie er schließlich 1944 gegenüber Bethge reflektieren wird.594 Zunehmend vollzieht sich, wie schließlich innerhalb der Spätphase Bonhoeffers deutlich werden wird, ein Wandel hin zur “vollen Diesseitigkeit des Lebens”, in der man erst richtig “glauben lernt”.595
3.2.8 Gemeinschaft im Untergrund: Die Sammelvikariate (1937–1939) Bis 1937 kann Bonhoeffer im Finkenwalder Rahmen zahlreiche Studenten und Pfarrer mit seinem Leben und Denken beeinflussen. Doch “[a]ls die Gestapo das Finkenwalder Seminar im Herbst 1937 auflöste, war damit auch dem Bruderhaus nach nur zweijährigem Bestehen ein Ende gesetzt. Die neue getarnte Seminarform des ‘Sammelvikariates’ erlaubte keine Fortsetzung der vita communis des Bruderhauses.”596 Immerhin leben die Teilnehmer, getarnt als Lehrvikare in den umgebenden Gemeinden Hinterpommerns, zusammen in zwei Pfarrhäusern – in Köslin und Schlawe (bzw. später auf dem Sigurdshof) – und können persönlicher Ent-
591 Vgl. Bonhoeffer: Nachfolge, 297f. 592 Vgl. ebd., 293; s. auch ders.: DBW 14, 611. 593 ders.: DBW 8, 542 (Brief an Bethge vom 21.07.1944). 594 Auch Green: “Discipleship”, 83, weist darauf hin, dass die Nachfolge “marked the end of this stage of his life.” Vgl. auch Schmitz: Nachfolge, 396. 595 Bonhoeffer: DBW 8, 542. 596 Bethge: DB, 536; vgl. auch Bonhoeffer: DBW 14, 298f.; 302 + ders.: DBW 15, 15.
234 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase wicklung nachgehen.597 Diese losere Form ist schließlich nicht nur Endpunkt der Mittelphase in Bonhoeffers Leben und Denken, sondern auch bereits Übergang zu seiner Spätphase samt Eintritt in die Konspiration.598 Aufgrund der loseren Gemeinschaft und der zunehmenden Bedrohungen ermahnt Bonhoeffer zu noch stärkerem Fokus auf das gemeinsame Hören auf Gottes Wort und auf das Gebet.599 Deutlicher als zuvor wird aber sein Herrnhuter Einfluss ersichtlich, indem er auf die jeweilige Tageslosung hinweist.600 Denn für Bonhoeffer ist das Heil sehr konkret an die zentrale Stellung von Bibel und Gebet geknüpft, über die er den völligen Gehorsam unter Gottes Willen immer wieder aufs Neue ableitet. Besonders den zahlreichen Versuchungen will er damit entgegentreten, die er als existentielle Verlassenheit und Wehrlosigkeit gegenüber dem Bösen bzw. dem Versucher – ob Teufel, Begierde oder gar Gott selbst – versteht.601 Mithilfe des Wortes Gottes kann sich der Christ auch der Sünde des geistlichen Hochmuts wie der Traurigkeit widersetzen, auf die das Böse zielt, wodurch er zwar als Wehrloser dasteht, aber unter dem Schutz des “himmli597 Vgl. Bethge: DB, 665f. 598 Im Gebet der Gemeinde für alle Menschen, das Bonhoeffer in einer “Übung zu den Pastoralbriefen” thematisiert, bleibt der Fokus allerdings immer noch klar kirchenorientiert. Denn im Stile von “Communio Sanctorum” und besonders der Nachfolge verknüpft er das Nächstenund sogar Feindesliebegebot mit dem Ziel, dass nicht “die Welt in ihrem weltlichen Wesen bleibe”, denn “das Ziel Gottes in der Welt ist immer seine Gemeinde” (Bonhoeffer: DBW 15, 311; vgl. 314–16). 599 “Gott gab uns die Schrift, aus der wir seinen Willen erkennen sollen. Die Schrift will gelesen und bedacht sein, täglich neu. Gottes Wort ist nicht eine Summe einiger allgemeiner Sätze, die ich jederzeit gegenwärtig haben könnte, sondern sie ist das täglich neue Wort Gottes an mich in dem unendlichen Reichtum der Auslegung”, so ebd., 524; vgl. auch; 502; 513; 518; 530; 534 (Meditation über Ps 119). Auch innerhalb der Predigten Bonhoeffers liegt der Fokus immer wieder auf der Bibel und dem Gebet, was er für nötig hält, um mündig zu werden; vgl. ebd., 478 (Konfirmationspredigt zu Mk 9,24 vom 09.04.1938). S. auch ebd., 493f.; 497; 500; 502; 507; 508; 513f.; 518; 521f.; 524; 528, 530; 534; 550; 558; 564; 568; 571 (Predigten), wo Bonhoeffer die Facetten von Gnade, Glaube und Gehorsam gegenüber Gebot, Bibel und Gebet in den Mittelpunkt stellt. 600 Vgl. ebd., 15; 36; 58; 180; s. auch Bethge: DB, 695. 601 Vgl. Bonhoeffer: DBW 15, 372f.; 384; 390f.; 393 (Bibelarbeit über Versuchung, Juni 1938 in Zingst). Christus selbst spielt in diesem Zusammenhang ebenfalls eine wichtige Rolle, durch dessen Versuchung im Garten Gethsemane die Versuchung in Adam zu ihrem Ende gebracht sei; an der Versuchung Christi partizipiert der Christ zur Überwindung und Teilhabe am Segen Christi (vgl. 382f.). Weil Bonhoeffer streng genommen nur zwei Versuchungsgeschichten in der Bibel findet, die von Adam und die von Christus, kommt entweder der Mensch selbst oder Satan zu Fall (vgl. 376). Bonhoeffers Christozentrik bleibt aber auch in dieser Phase noch lebendig. Denn “Christus unsere Hoffnung” (ebd., 303, Übung zu den Pastoralbriefen) versteht er als die höchste Vereinfachung aller Eschatologie.
3.2 Durchs Gebet zur Bibel und in die Nachfolge: Bonhoeffers Mittelphase
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sche[n] Waffenkleid[es]”602 die noch zahlreich bevorstehenden Anfechtungen besiegen kann.603 Implizit thematisiert die Bibel aber auch die Anfechtungen aufseiten der Bekennenden Kirche durch die Legalisierungs-Offerten und pseudomessianischen Führer-Ideologien.604 Dem gegenüber ist für Bonhoeffer der einzige Ausweg der Weg der Nachfolge, in dessen Konsequenz auch die Durchsetzung von Dahlem liegt, auch gegen die Anfechtungen vonseiten der Konsistorien.605 An Christus allein bindet Bonhoeffer die Kirche als Sein Leib,606 weshalb sowohl der Angriff auf die Kirchenleitung als Angriff auf die Verkündigung Jesu Christi als auch die Anerkennung anderer Bindungen (wie dann auch Offenbarungslehren) entsprechend abgetan werden.607 Gleichzeitig steht die Frage im Raum, ob Barmen und Dahlem schriftgemäß seien, was für Bonhoeffer Hinweis genug für die Verwirrung und die Angst in jener gegenwärtigen Zeit ist.608 Weiterhin stellt er Lähmung und Mangel an Freude innerhalb der Bekennenden Kirche fest, die er mit Ungehorsam und Unklarheit gegenüber der eigenen Bekenntnisse bis hin zu Bekenntnisverlust in Verbindung bringt.609 Und auch gegenüber den Brüdern in Pommern äußert er die Befürchtung, dass die dortige Kirche unter schwerer Anfechtung stehe.610 Immer wieder kritisiert Bonhoeffer im Sinne seiner Theologie der Nachfolge nicht nur die Preisgabe der Gnade Gottes und den drohenden Verlust von einfältigem Gehorsam, Freudigkeit u. ä., sondern warnt auch an vielen Stellen der Bekennenden Kirche – und sogar innerhalb der Bruderschaft – vor dem Bekenntnisverlust.611 Aber auch erleidet Bonhoeffer selbst Anfechtung
602 Bonhoeffer: DBW 15, 405 (“Bibelarbeit über Versuchung”, Juni 1938 in Zingst). 603 Vgl. ebd., 405f. (“Bibelarbeit über Versuchung”, Juni 1938 in Zingst). 604 So zurecht die Herausgeber von DBW 15, vgl. ebd., 29; 371. 605 Vgl. ebd., 428f. (Vortrag über den Weg der jungen illegalen Theologen in Stettin am 26.10.1938). 606 Vgl. ebd., 414ff. (Vortrag über den Weg der jungen illegalen Theologen in Stettin am 26.10.1938). 607 Vgl. ebd., 422; 425 (Vortrag über den Weg der jungen illegalen Theologen in Stettin am 26.10.1938). 608 Vgl. ebd., 407f. (Vortrag über den Weg der jungen illegalen Theologen in Stettin am 26.10.1938). 609 Vgl. ebd., 26 (Brief an die jungen Brüder in Pommern im Januar 1938). 610 Vgl. ebd., 23f. (Brief an die jungen Brüder in Pommern von Januar 1938); 42; 47; 48; 50; 56; 64; 66; 116; 138 (sonstige Briefe). “[A]uch durch öde Strecken der Dürre und Wüste” (ebd., 30, Brief an die jungen Brüder in Pommern von Januar 1938) müsse der Weg der Bekennenden Kirche weitergegangen werden, verlangt Bonhoeffer, was jedoch nur nach Buße “mit heißem Gebet” (ebd., 31; vgl. 28) gelinge. 611 Vgl. ebd., 328; 417.
236 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase und wird offiziell aus Berlin und Brandenburg verwiesen, was in ihm den Wunsch nach Sesshaftigkeit verstärkt.612
3.3 Heschels Beginn in Amerika (1940–1950er) Mit seiner Amerika-Zeit beginnt Heschels literarisch fruchtbarste Phase: Zunächst auch noch in streng-wissenschaftliche Artikel vertieft (wiederum hauptsächlich zum mittelalterlich-jüdisch-philosophischen Denken der Sepharden), richtet er spätestens ab seiner New-York-Zeit (ab 1945) den Fokus auf die Bereiche Gebet und Spiritualität, in die er die in Deutschland erarbeiteten Grundlagen der Frühphase entsprechend entfaltet.613 Charakteristisch für diese Mittelphase ist deshalb, die “spiritual illiteracy”614 des Judentums wie auch der christlichen Mitbürger in Amerika zu thematisieren – was aber natürlich bereits in den 1930er Jahren in Berlin begonnen hat.615 3.3.1 Hebrew Union College und die Phänomenologie des Gebets (1940–1945) Kurze Zeit nach seinem Eintreffen in Amerika im März 1940 tritt Heschel am reformjüdischen Hebrew Union College in Cincinnati/OH seine Stelle als “Fellow” in jüdischer Philosophie an, wo er für 5 Jahre bleibt.616 Doch trotz der rettenden Hilfe des Direktors Morgenstein, für die er zeit seines Lebens dankbar ist, fühlt Heschel sich fehl am Platz, was rituelle und spirituelle Gründe hat.617 Dies durchzieht auch den Studentenkörper, der wenig Interesse für (oder überhaupt Kennt612 Vgl. Bonhoeffer: DBW 15, 34; 94 (Briefe). 613 Weil Heschel in dieser Mittelphase zunächst seine theologische und philosophische Grundlagenforschung in Anknüpfung an die Frühphase weiterentwickelt und dann ab den 1950er Jahren vermehrt in die Konfrontation zum gegenwärtig in Amerika praktizierten Judentum tritt, hat Kaplan: “Mission”, 359, diese Mittelphase nochmals in zwei Teile unterschieden; dies tut der Sache keinen Abbruch, zumal sich eine ähnliche Unterteilung der Mittelphase auch bei Bonhoeffer durchführen ließe. 614 Diesen Terminus verwendet Heschel im Zuge einer Rede über jüdische Erziehung; vgl. Heschel: Papers, 62/5, 2. 615 Wie gesehen, äußert Heschel sich bereits im Zuge des Koigen-Kreises zu Studienzeiten ganz entschieden dagegen, “to develop generalized cultural theories” (Britton: Heschel, 141). 616 Vgl. Kaplan: Radical, 5; 8. 617 Am Hebrew Union College werden weder Reinheitsgebote noch jüdische Feiertage o. ä. eingehalten. Etwas positiver deutet es Gottschalk: “Heschel”, 24; vgl. auch 25: “Heschel loved the Hebrew Union College and felt a great indebtedness to it, for it had saved his life.”
3.3 Heschels Beginn in Amerika (1940–1950er)
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nis über) das traditionelle Judentum hat, was Heschel in seinem Bestreben zur “Re-Spiritualisierung” enorm bestärkt.618 So ist die Bibliothek sein Refugium.619 Erstes Produkt der “Re-Spiritualisierungs”-Bestrebungen dieser Zeit sind drei Artikel: Heschels wichtiger und damit auch erster englischer Artikel “An Analysis of Piety”, der ebenso wie “The Holy Dimension” im Jahr 1942 veröffentlicht und durch “Faith”620 aus dem Jahr 1944 vervollständigt wird. Sie alle unterstreichen einmal mehr, dass Heschels spätere Tiefentheologie bereits Anfang der 1940er Jahre fast vollständig existiert. Methodisch auf seiner Dissertation aufbauend, geht er in den Artikeln mithilfe der Phänomenologie über den in Amerika vorherrschenden James’schen Pragmatismus hinaus, “to analyze the pious man”.621 Heschel dagegen betont, Religion müsse studiert werden “in its natural habitat of faith and piety, in a soul where the divine is within reach of all its thoughts.”622 Das bedeutet für ihn aber auch, dass die scheinbar irrelevanten Dinge des Lebens relevant werden, sodass Religion mehr als eine abstrakte Beziehung darstellt und vielmehr die “meaning and totality of existence”623 beinhaltet; nichts anderes als die später sog. “Tiefentheologie” mit ihrem existentiellen Kontext intendiert Heschel bereits an dieser Stelle. Als Hauptinteresse des frommen Menschen (engl. “pious man”) nennt Heschel darum in prophetisch-spiritueller Manier den “concern for the will of God, which thus becomes the driving force controlling the course of his actions and decisions”,624 sodass das prophetische Element explizit mit echter Frömmigkeit in Verbindung gebracht und so auf die Ebene des allgemein religiösen Lebens heruntergebrochen wird.625 In diesem Sinne spielen auch das Pathos Gottes und prophetische Sympathie eine besondere Rolle, mit denen Heschel auch ganz prak-
618 Vgl. Kaplan: Radical, 9–12: 45; 58. 619 Vgl. ebd., 13; dass der Fokus auf Spiritualität natürlich aber auch am Untergang des deutschen Judentums infolge der Shoah liegt, betont ders.: Holiness, 118f., gleichermaßen. 620 Für Vorversionen der gedruckten Version von “Faith” vgl. Heschel: Papers, 200/2. 621 Ders.: Grandeur, 306 (“An Analysis of Piety”, 1942); vgl. James: Varieties, 58, der lediglich soweit akzeptieren will, dass das Objekt der Erfahrung nicht bewiesen sei und die religiöse Erfahrung nicht notwendig auf bestehende religiöse Systeme adaptiert werden müsse, sodass man lediglich so leben und glauben könne, “as if there were a God”. 622 Heschel: Grandeur, 318 (“The Holy Dimension”, 1943). 623 Ebd., 324 (“The Holy Dimension”, 1943). 624 Vgl. ebd., 308 (“An Analysis of Piety”, 1942); s. auch Kaplan: Radical, 32f. 625 Mit Britton: Heschel, 279: “Structurally speaking, piety is the modest equivalent in ordinary religious life of the extraordinary experience of prophecy, without the extremity or intensity of prophetic revelation itself.” So auch Held: Heschel, 227. Dass Britton: Heschel, 153, allerdings bei Perlman: Idea beklagt, dass dort keine präzise Unterscheidung zwischen Prophetie und Offen-
238 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase tisch Verantwortung auf die Schultern eines jeden Gläubigen legt: “Man can rely on God, if God can rely on man.”626 Entgegen der liberalen Praxis des ethischen Monotheismus und/oder der Ausführung bestimmter Rituale betont Heschel die Affektion bzw. den “personal touch”,627 was nichts weiter als die chassidische “Kavanah” meint, also die richtige Herzenshaltung, die Heschel schon zuvor mit Schelers Phänomenologie des Fühlens in Verbindung gebracht hat. Sie ist Heschel zufolge jedoch nicht mit naturwissenschaftlich-reflektierenden Ambitionen zu erforschen, deren Zugang sie sich entziehe, zumal Glaube und Wissenschaft jeweils auf Axiomen (und damit letztlich Glaubensgrundlagen) basieren.628 Denn nur über den Zugang des Glaubens kann Heschel zufolge Wundersames wahrgenommen werden, zu allererst die Tatsache, dass “we are not dust in the wind, [but] our life is related to the ultimate, the meaning of all meanings.”629 Dementsprechend definiert Heschel den Glauben als “sensitiveness to what transcends nature, knowledge, and will,
barung unternommen werde, verwundert etwas, da Heschel selbst keine präzise Unterscheidung vornimmt, sondern vielmehr beides “in einen Topf wirft”, wie besonders an dieser Stelle gesehen. 626 Heschel: Grandeur, 331 (“Faith”, 1944). In diesem Sinne auch Merkle: Genesis, 222: “In a word, faith is enacted sympathy for the pathos of God; it means joining God’s struggle against evil and falsehood, laboring in the divine cause of redemption. Faith is responding in love to the love of God.” In dem deutschen Artikel über das Gebet an Rosh Hashana aus jener Zeit ist es der grundlegende spirituelle Austausch zwischen Gott und Mensch (Heschel: “Rosch”, 3): Beten ist Spiegelung goettlicher Absichten in der menschlichen Seele. Das Beten faengt an mit dem Bewusstsein, dass das Anliegen des Betenden SEIN Anliegen ist oder sein kann. Ihn meinen – das ist ein Leitmotiv alles Betens. […] So ist einer der Grundtoene des Betens: Sich SEINER anzunehmen, sich Seine Ziele zum eigenen Anliegen zu machen, SEINE Forderung zu vertreten. Damit bejaht Heschel aber die zeitgleich bei Maimonides thematisierte Frage, ob es – einfach formuliert – überhaupt noch prophetische Offenbarung gebe, und dürfte damit eben grundsätzlich den Gläubigen für fähig erachten, am Pathos Gottes zu partizipieren und somit die Sympathie zu ergreifen. 627 Ders.: Grandeur, 309 (“An Analysis of Piety”, 1942); vgl. auch ebd., 318 (“The Holy Dimension”, 1943). An anderer Stelle moniert Heschel das Fehlen von persönlichem “excitement” (ders.: Papers, 62/5, 2) und Profanisierung traditioneller jüdischer Komponenten, wenn er z. B. feststellt, dass “leisure time” gern auch als Sabbat missverstanden werde (vgl. 4). 628 Ders.: Grandeur, 318 (“The Holy Dimension”, 1943): “The growth in the inwardness of man that reaches and curves toward the light of God can hardly be transplanted into the shallowness of mere reflection.” Vgl. auch ebd., 336ff. (“Faith”, 1944). u. Kavka: “Meaning”, 117f., der die Unterscheidung von Glaube und Ratio an dieser Stelle wohl etwas überdramatisiert. 629 Heschel: Grandeur, 330 (“Faith”, 1944).
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awareness of the ultimate, alertness to the holy dimension of all reality. Faith is a force in man, lying deeper than the stratum of reason and its nature cannot be defined in abstract, static terms.”630 Und auch Überzeugungen entstehen aus Glauben heraus ebenso wie Beziehungen auf Vertrauen; so ist für ihn letztlich der Glaube nachvollziehbar hergeleitet und aufbauend auf der heiligen Dimension unserer Existenz.631 Deshalb ist sich laut Heschel der fromme Mensch immer der Gegenwart und Nähe Gottes bewusst,632 was anthropologisch dieselben Konsequenzen wie bei Bonhoeffer hat und auch schon in der Dissertation implizit in der deutenden Betrachtung der Welt angeklungen ist: Zwischen dem Menschen und der Welt steht immer Gott, und nur vor Ihm ist der Mensch wirklich frei, was den verantwortlichen Umgang mit der Welt und natürlich auch mit dem Menschen aufgrund seiner Heiligkeit nach sich zieht.633 Doch anders als nach Bonhoeffers Verständnis der incurvatio besitzt die menschliche Existenz bei Heschel immer zwei Seiten, die eine zu sich selbst, die andere zu Gott, sodass der Wert des Lebens durch zwei Besitzer – Gott und ich selbst – charakterisiert ist.634 Gegenüber Gott kann es darum keine Neutralität geben, zumal sich Religion damit auf sämtliche Lebensbereiche bezieht, weil die Beziehung zu Gott für Heschel nicht optional, sondern intrinsisch im Menschen verwurzelt ist; erst das unterscheidet den Menschen vom Tier.635 630 Heschel: Grandeur, 330 (“Faith”, 1944); Merkle: Genesis, 222, schlussfolgert zurecht: “By actively cultivating the antecedents of faith we prepare ourselves for the genesis of faith which, ultimately, is caused by the grace of God.” 631 Vgl. Heschel: Grandeur, 339 (“Faith”, 1944). 632 Vgl. Ebd., 310 (“An Analysis of Piety”, 1942). Dementsprechend Friedman: “Divine Need”, 70: “It is not a subjective feeling but a relation to the divine beyond oneself – a relation of openness, responsiveness, mindfulness, of reciprocal giving, sacrifice for God, and allegiance to God’s will”. Vgl. auch Kaplan: “Mysticism”, 34. Das Urteil von Even-Chen: “Omnipresence”, 49 (vgl. auch 50), dass “Heschel does not claim that God is indeed in the world, but rather that the pious individual feels him to be”, wirkt gerade mit Blick auf die unio in den Gedichten etwas weit hergeholt; dass der fromme Mensch laut Heschel: Grandeur, 311 (“An Analysis of Piety”, 1942), nicht zwingend “miraculous communication” benötigt, impliziert aber nicht notwendigerweise das Gegenteil. 633 So auch Friedman: “Divine Need”, 71. 634 Vgl. Heschel: Grandeur, 328f. (“Faith”, 1944) u. ebd., 326 (“The Holy Dimension”, 1943). Darum spricht Merkle: Genesis, 221, bei Heschels Glaubensverständnis vom “gift we must seek, a gift we must struggle to receive and attain. [I]n order to attain faith and grow in faith, we can not simply wait passively for such experiences; we must actively foster the antecedents of faith.” 635 Vgl. Heschel: Grandeur, 320ff. (“The Holy Dimension”, 1943). Vgl. zu dieser These schon Bonhoeffers Barcelona-Vortrag über Jesus Christus.
240 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase Die Ethik hängt ebenfalls an Religion, weil der Fromme durch die “reality of spirit” den “realm of values”636 betritt. Frömmigkeit ist damit nichts anderes als “response of man to the holy dimension”637 . Zu diesem Zweck unterscheidet Heschel klar zwischen “faith” und “piety”: “Faith is a way of thinking, and thus a matter of the mind; piety is a matter of life.”638 Und doch hängt beides aufs Engste zusammen: “Piety” als “faith translated into life, spirit embodied in a personality”;639 dies erinnert dabei an Bonhoeffers Appell an die teure Gnade, sodass erst “piety” (nicht schon “faith”) als “truly religious action”640 bzw. als “a means of concrete response to the Other”641 anzusehen ist. Frömmigkeit ist damit nichts anderes als praktizierte Relationalität zu Gott mit handfesten Konsequenzen.642 Heschel sucht darin aber eine “non-formalist”643 Position, die alles andere als Gesetzlichkeit verkörpert, aber auch nicht in völliger Beliebigkeit aufgeht, weil er davon ausgeht, dass die ganze Torah Ausdruck von Gottes Willen ist.644 Dies mündet in die imitatio dei: Der Mensch soll sich nach Heschels Ansicht seiner Rolle im großen Plan Gottes bewusst sein.645 Dieser Gedanke ist nicht bloß Theorie, sondern wird von Heschel selbst immer häufiger in dieser Mittelphase verkörpert.646 Auch dieser Aspekt – die Ausübung der Mitsvot – ist Teil der später sog. “Tiefentheologie”, zumal damit bereits die wesentlichen Grundlagen für Heschels prophetischen Aktivismus der Spätphase gelegt sind. Gleichzeitig geht Heschel davon aus, dass aus derselben Inspiration des Herzens unterschiedliche Bekenntnisse hervortreten, weshalb das richtige Verhältnis von “a minimum of creed and a maximum of faith”647 wichtig ist; er fokussiert
636 Beides Heschel: Grandeur, 325 (“The Holy Dimension”, 1943). 637 Ebd., 327 (“The Holy Dimension”, 1943). 638 Ebd., 310 (“An Analysis of Piety”, 1942); vgl. auch ders.: Papers, 62/5, 2f. (“Some basic thoughts about Jewish religious education”). 639 Ders.: Grandeur, 308 (“An Analysis of Piety”, 1942). 640 Kaplan: Holiness, 131. 641 Britton: Heschel, 13; vgl. 143. 642 So auch Merkle: Genesis, 27: “Heschel knows that the way to truth is not without trial.” 643 Even-Chen und Meir: Between, 182. 644 So auch ebd., 197. 645 Vgl. Heschel: Grandeur, 316f. (“An Analysis of Piety”, 1942). 646 So in dem (undatierten) Vortrag über “[s]ome basic thoughts about Jewish religious education”, wo er die Institutionalisierung des Judentums als “Götzen” bezeichnet; vgl. ders.: Papers, 62/5, 2. 647 Ders.: Grandeur, 336 (“Faith”, 1944).
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sich somit klar auf die fides qua creditur des Frommen.648 Darum ist der Glaube verwurzelt in der Tradition als Teilhabe am Kollektivgedächtnis.649 Anders als Bonhoeffer ist es bei Heschel allerdings zunächst die Facette des Gedenkens, aus der heraus aber dann auch wieder der lebendige Gott aktual reden kann – nichts anderes als der 1938 bereits thematisierte act of empathy, wobei Heschel deutlich macht, dass er das Gedenken gerade als Reifemarker versteht, während das reine Verweilen in der Gegenwart für ihn Schwäche ist.650 Der letzte Artikel dieser Reihe (“Prayer” von 1945) dreht sich um die Frage nach Zeit und Authentizität von Gebet;651 weil er fast identisch zum dem ersten Kapitel von Man’s Quest for God unter der Überschrift “The inner World”652 ist, wird er an dieser Stelle separat betrachtet. Als Ausgangsproblem des Menschen diagnostiziert Heschel ihm seine Selbstzentriertheit, in der er sich vom Gebet – und damit von Gott – fernhält.653 Weil ein Leben ohne Gebet für Heschel aber eine Verschwendung der Seele und wie aus seiner Bestimmung gerissen wäre, appelliert er – neben Trauer und Verzweiflung – als dritten Zugang zum Gebet an das Öffnen der Gedanken zu Gott, um sich für Ihn sichtbar zu machen und offen zu sein für die wundersamen Dinge.654 Wie gerade gesehen, teilt Heschel nicht Bonhoeffers gänzliche incurvatio in se des Menschen. Darum kann sich ihm zufolge der Mensch durch die Öffnung der Gedanken im Gebet selbst für Gott sichtbar machen, wodurch Gott ins Zentrum versetzt wird und man ein neues Bild auf die Welt erhält, auch hinsichtlich der Klarheit über Lebensziele wie auch über richtiges Handeln.655 Beten und Handeln als Ausübung der Mitsvot gehören – wie gesehen – damit unweigerlich zusammen.656 648 Heschel: Grandeur, 322 (“The Holy Dimension”, 1943): “The desire of a pious man is not to acquire knowledge of God but to abide by him, to dedicate to him the entire life.” Dementsprechend spricht Kaplan: Holiness, 54, von “the powerlessness of language”, weil Glaube und auch das Gebet, welches er im Folgenden thematisiert, fast ausschließlich Inhalt, aber kaum Form, seien; so auch Britton: Heschel, 148. 649 Vgl. Heschel: Grandeur, 333f. (“Faith”, 1944). 650 Vgl. ebd., 334 (“Faith”, 1944). 651 Vgl. ebd., 340–353 (“Prayer”, 1945). 652 Vgl. ders.: Man’s Quest, 1–19; die Unterschiede sind so marginal, dass sie stillschweigend im Text übergangen werden. 653 Vgl. ders.: Grandeur, 340 (“Prayer”, 1945). 654 Vgl. ebd., 341f. (“Prayer”, 1945). 655 Vgl. ebd., 345 (“Prayer”, 1945). 656 Vgl. ebd., 343f. (“Prayer”, 1945). Denn beides hilft dabei, erstens die Perspektive Gottes einzunehmen, zweitens von Gott erkannt zu werden, drittens an Gottes Pathos teilzuneh-
242 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase Sorgen und Wünsche werden vor Gott gelegt, obwohl Heschel gleichsam darauf hinweist, dass man das Gebet lediglich bezeugen – statt produzieren – könne und eigentlich der Ausdruck der Kommunikation zu Gott falsch sei;657 damit weist er einmal mehr auch Buber in seine Schranken, hält trotz aller Kritik aber an der Relationalität fest. Auch hier spielt die Kavanah eine bedeutsame Rolle.658 Und zum ersten Mal unterscheidet Heschel anhand der englischen Terminologie zwischen “act of expression” und “act of empathy”: Erstes als spontaner Ausdruck, Zweites als Einfühlen in bestehende Worte und Gebete,659 wie er dies 1938 in dem deutschen Artikel über “Das Gebet als Äußerung und Einfühlung” hergeleitet hat. Aber auch die streng-akademischen Arbeiten sind nach wie vor präsent, mit denen Heschel nicht nur nach einer Reputation sucht, sondern die auch Grundlage seiner eigenen Religionsphilosophie werden werden, weil sie gerade thematisierte Aspekte vertiefen und untermauern. So veröffentlicht er 1943 den umfangreichen Artikel “The Quest for Certainty in Saadia’s Philosophy”. Beide, Heschel wie Saadia (Gaon), scheint eine gemeinsame Leidenschaft zu einen, nämlich die religiösen Fundamente von Bibel und Talmud philosophisch zu bestätigen.660 Auch epistemologisch findet Heschel Bestätigung seines eigenen Denkens, wenn Saadia von der Sinneswahrnehmung für das Konkrete ausgeht – ohne in einen naiven Realismus abzudriften –, während der Intellekt (in aristotelischem Sinne) lediglich die grundsätzlichen Kategorien erkennen könne.661 Denn darin herrscht eine gewisse Nähe zu Heschels phänomenologischem Ansatz. Allerdings – und diese Position untermauert Heschel aus eigenem Interesse sogar mit Maimonides und Aristoteles – existieren auch “self-evident propositions”662 als “the know-
men und viertens die Trennung zwischen Gott und Mensch zu überwinden. “[I]n making selftranscendence possible, prayer becomes an act of imitatio dei, of ‘walking in God’s ways.’ To turn fully to God is thus also to become crucially like God” (Held: Heschel, 227). 657 Vgl. Heschel: Grandeur, 344f. (“Prayer”, 1945). 658 Vgl. ebd., 346ff. (“Prayer”, 1945). 659 Vgl. ebd., 350 (“Prayer”, 1945). 660 Vgl. ders.: “Quest”, 266. Deshalb kategorisiert Kaplan: Holiness, 138, das Werk als “refutation of contemporary skepticism on a technical analysis of this early metaphysician”. Tucker: “Heschel”, 127, kommt sogar zu dem Urteil, dass “Heschel left little doubt that he was hardly a detached analyst with respect to the subject, but rather was deeply involved in it personally.” Ähnlich auch Gordon: “Two”, 19. Chester: Divine pathos, 14, geht einen Schritt weiter und sieht diesen Artikel als direkte Antwort auf John Dewey (1859–1952), der in der Generation nach William James einer der großen Pragmatisten ist. 661 Vgl. Heschel: “Quest”, 274–279; vgl. Aristoteles und Oehler: Kategorien. 662 Heschel: “Quest”, 277.
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ledge of reason”663 wie allen voran Gott selbst, der im Innern der Seele bzw. des νοῦς (dt. “Verstand”) schlummert; denn auch Heschel versucht nie, Gott zu beweisen, sondern verortet diese Erkenntnis in der “ontological presupposition”, wie gerade schon gesehen. Für Saadia ist deshalb eine Glaubensaussage dann wahr, wenn sie kohärent und damit widerspruchsfrei ist, beispielsweise durch Beobachtung der Umwelt, jedoch immer in Kombination zu rationalen Prinzipien wie dem Vorzug des Guten u. ä. Wahrheit und Gott sind aufs Engste miteinander verbunden,664 was Heschel ebenfalls so aussagen wird. Als Quelle von Fehlern attestiert er vielmehr den Willen (bzw. auch die Affektionen) des Menschen.665 Aus dem logischen Wahrheitsverständnis ergibt sich die klare Unterscheidung zwischen Denken und Glauben, zwischen “creed” und “faith”, zwischen Glaubensinhalt (fides quae creditur) und Glaubensvollzug (fides qua creditur), wie sie methodisch mit Bonhoeffers Unterscheidung zwischen actus directus und actus reflexus korreliert. “Belief” ist deshalb eine nachträgliche glaubende Zustimmung an etwas, das nicht direkt bewiesen werden kann und deshalb inhaltlich auch nicht wahr sein muss (aber logisch natürlich).666 Deshalb entdeckt Heschel bei Saadia sowohl essentielle Glaubensgrundsätze als auch Innerlichkeit (Kavanah), die auf dem Vertrauen an die schriftliche und mündliche Torah fußen, denn “religion is knowledge”.667 Tradition wird damit von Saadia für den gegenwärtigen Juden äquivalent gesetzt zum Offenbarungsakt bei den Propheten, als vierte Erkenntnisquelle zu Offenbarung, Wissen und Glauben, wohl wissend, dass sie nicht sämtlich exakt die originalen Ideen repräsentiert668 Die Aussagen der Propheten sind aufgrund ihrer Vertrauenswürdigkeit eben zuverlässig, was auch Saadias Glauben an das allmächtige Eingreifen Gottes trotz einer Stabilität der Naturgesetze impliziert.669 3.3.2 Professur am Jewish Theological Seminary (JTS) in New York (1945–) Zwar gehört Heschel auch zu dieser Zeit schon zu den wenigen Juden in Amerika, die sich für Gerechtigkeit einsetzen, allen voran gegen die Nazigräuel jener 663 Heschel: “Quest”, 279. 664 Vgl. ebd., 287–289. 665 Vgl. ebd., 296f. 666 Ebd., 306 (vgl. 299–306): “Our acceptance of a prophetic message arises from our confidence in the veracity of the prophet.” 667 Ebd., 309. 668 Vgl. ebd., 309–311. 669 Vgl. ebd., 312f.
244 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase Zeit.670 Im Gegensatz zur Spätphase nutzt er dafür aber hauptsächlich das Gebet und Publikationen, ohne schon bewusst öffentlich aufzutreten.671 Eine bedeutende Frucht jener Zeit ist dem gemäß Heschels lang ersehnte Professur (für jüdische Mystik und Ethik) am Jewish Theological Seminary (JTS) in New York ab Mai 1945, veranlasst durch den Talmudisten Louis Ginzberg, wo Heschel die eigentlichen Hauptwerke (seiner Mittelphase) anfertigt.672 Sein profundes Wissen sowohl in kabbalistischer Literatur als auch in Philosophie ebnen den Weg.673 Von hier aus entfaltet er “his new mission, to educate American Jews on two levels: theological and cultural.”674 Heschels Mission zur Re-Spiritualisierung fußt darum zu einem wesentlichen Teil auf seinen “elegant reflections on spirituality”675 und berücksichtigt dabei zu Beginn der neuen Berufung klassisch-jüdisches Material mystischer Prägung. Denn anders als die modernere Form des Chassidismus greift Heschel (natürlich dem Titel gemäß) in vielerlei Weise zurück auf die kabbalistischen Wurzeln, die er teilweise in ein kritisches Verhältnis zum Chassidismus stellt.676 Zwar versucht Heschel, das Judentum sachlich zu begreifen, indem er es als Gesamtheit aller Juden überhaupt ebenso wie die gegenwärtige Generation von Juden betrachtet, die Israel repräsentieren.677 Doch unweigerlich tritt die spirituelle Dimension dahinter in den Blick. Denn statt einer echten Definition verweist Heschel ähnlich zu Bonhoeffer auf die notwendige Innenperspektive. Es geht ihm im Sinne der Kavanah darum “to feel the soul in everything, in others and in our 670 Wie Kaplan: Radical, 71, zurecht berichtet, wird außerdem “nuclear annihilation and the Holocaust […] indelibly associated in Heschel’s mind.” 671 So ebd., 44; vgl. 52ff. 672 Vgl. ebd., 63ff.; Julian Morgensteins Brief vom 19.05.1945 gibt Zeugnis darüber, dass Heschels Niederlegung seiner Lehrtätigkeiten am Hebrew Union College am Tag zuvor, dem 18.05., vom Kollegium mit Bedauern akzeptiert worden ist; vgl. Heschel: Papers, 21/6. 673 So Finkelstein: “Meetings”, 19. 674 Kaplan: Radical, 98. 675 Ders.: Holiness, 12. 676 Neben dem schon vorgezogenen integrierten Artikel “The Mystical Element in Judaism” ist es einerseits der Artikel “To Be a Jew: What Is It?”, der aus Heschels Vortrag am Hunter College im Jahre 1947 hervorgeht, in dem er vor knapp 3000 Menschen die Bedeutung jüdischer Existenz thematisieren darf; vgl. ders.: Radical, 85. Andererseits ist es der 1949 in Hebräisch veröffentlichte Artikel “Pikuach Neshama: To Save a Soul” (als englische Übersetzung veröffentlicht in Heschel: Grandeur, 55–67; vgl. auch Kaplan: Radical, 98f.), ebenfalls über die jüdische Existenz. Denn “Jewish educators had a divine calling to rescue the human soul by helping Jews to live as Jews”, wie ebd., 99, in Bezug auf Heschel ausführt. 677 Vgl. Heschel: Grandeur, 3 (“To Be a Jew: What Is it?”, 1951).
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own existence”,678 womit die relationale Basis gelegt wird. Statt der Reduktion auf Dogmen ist es die später sog. “Tiefentheologie” (= fides qua creditur), das Öffnen für Gott, um die eigene Heiligkeit und Korrespondenz zum Heiligen zu erkennen; hieraus ergibt sich für Heschel überhaupt erst das Ziel einer jüdischen Philosophie, anstatt nach einer “substantiellen” Essenz zu fragen, wie er es von Baeck gewohnt ist.679 Diese Heiligkeit des Volkes Israel ist ihm zufolge eine essentielle Grundlage und ein Nutzen für die Gesellschaft, das sich auch nicht individualistisch verstehen lässt;680 andernfalls führe dies zu “madness”.681 Schon die biblischen Propheten hätten, so betont Heschel, die Korruption aller Kreatur auf Erden verkündet und gleichermaßen den Funken in die jüdische Existenz gelegt, die Welt zu verbessern.682 Heschel appelliert daher darauf, es bestimmten jüdischen Helden gleichzutun, gleichzeitig in der Tradition zu stehen und aus ihr zu leben.683 Ziel des Ganzen ist “to dream the dream of God”684 – zwischen den historischen Polen vom Sinai einerseits und dem Reich Gottes andererseits. Dies bedeutet ihm zufolge auch einen Überlebenskampf als kiddush hashem (dt. “Heiligung des Namens”), was normalerweise für “Martyrium” steht. Denn das Judentum wird letztlich als “God’s quest for man” verstanden – fast die Bezeichnung seines späteren Hauptwerkes, zu dessen Zeugenschaft das Volk Israel auserwählt ist und womit die Beziehung zwischen Gott und dem Volk markiert wird.685 Statt Jenseits-Sehnsucht verbindet er Jüdischkeit vielmehr mit dem Erhalt des (irdischen) Volkes Israel und dessen Kollektivgedächtnis, wobei er gegen Mordechai Kaplans Reduzierung auf jüdische Zivilisation immer wieder die transzendente Dimension hervorhebt.686 678 Heschel: Grandeur, 55 (“Pikuach Neshama: To Save a Soul”, 1949). Vgl. auch ebd., 6 (“To Be a Jew: What Is it?”, 1951). 679 Vgl. ebd., 4f. (“To Be a Jew: What Is it?”, 1951). 680 Ebd., 7 (“To Be a Jew: What Is it?”, 1951): “For us Jews there can be no fellowship with God without the fellowship with Israel. Abandoning Israel, we desert God”, denn das Leben in einer sog. “holy dimension, in a spiritual sphere”, ist für ihn zentral. 681 Ebd., 8 (“To Be a Jew: What Is it?”, 1951). 682 Vgl. ebd., 57 (“Pikuach Neshama: To Save a Soul”, 1949). Der Kabbalist ist demnach an neuen Formen des Lebens interessiert; seine Taten verweisen dabei auf den heiligen König, wie Heschel Gott bezeichnet; vgl. ebd., 178 (“The Mystical Element in Judaism”, 1949). 683 Vgl. ebd., 8f. (“To Be a Jew: What Is it?”, 1951). 684 Ebd., 10 (“To Be a Jew: What Is it?”, 1951). 685 Vgl. ebd., 11 (“To Be a Jew: What Is it?”, 1951). 686 Vgl. ebd., 60ff. (“Pikuach Neshama: To Save a Soul”, 1949).
246 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase Aber nicht nur akademisch geht es für Heschel bergauf, sondern mindestens ebenso wichtig ist seine Hochzeit mit Sylvia Straus im Dezember 1946, aus der eine Tochter, Susannah, hervorgehen wird. Dolna spricht Sylvia als geistiger Partnerin eine bedeutsame Rolle in der Entwicklung der Hauptwerke Heschels zu, die allesamt nach ihrer Hochzeit entstehen. Dieser Gedanke ist nicht unberechtigt, da Straus – wie Heschel – nicht nur Philosophie (und Literatur) studiert hat, sondern zu jener Zeit auch die pianistische Meisterklasse in New York besucht, während Heschel in Berlin zuvor auch Kunstgeschichte studiert hat.687 Und gleichsam ist schon mehrfach deutlich geworden, wie viel Heschel bereits nach New York mitbringt bzw. bis hierhin entwickelt hat. 3.3.3 Der Reichtum des osteuropäischen Judentums: The Earth is the Lord’s (1949) Als Erweiterung eines jiddischen Vortrags aus dem Jahr 1945 veröffentlicht Heschel schließlich 1949/50 das Büchlein The Earth is the Lord’s, in dem er den spirituellen Reichtum des osteuropäischen Judentums (im Gegenzug zum Rationalismus der Sepharden) idealtypisch darstellt.688 Wie Kaplan zurecht anmerkt, fungiert dieses kleine Werk als ein erster Meilenstein in Heschels Entwicklung zum amerikanischen Autor, der gleichzeitig der westlichen Welt den Reichtum des osteuropäisch-jüdischen Geistes übermitteln will.689 Seine vormalige Kritik an seinen chassidischen Wurzeln revidiert er darum etwas, zu allererst dem Verlust durch den Völkermord an den Juden geschuldet.690 In Fortführung seiner ersten Ambitionen am Jewish Theological Seminary sucht er gleichzeitig nach einer für ihn angemessenen Form der chassidisch-kabbalistischen Tradition, was unter anderem die Vermeidung magischer Aspekte beinhaltet.691 687 Vgl. Dolna: Gegenwart, 46; vgl. auch Kaplan: Radical, 83ff. 688 “1949” heißt es in der Ausgabe von Jewish Lights Publishing, während Even-Chen und Meir: Between, 207, von 1950 sprechen. Einigkeit herrscht zumindest darüber, dass das Manuskript bereits 1948 fertig war; vgl. Kaplan: Radical, 103 Den Vortrag von 1945 hält Heschel in Jiddisch (am YIVO), jedoch erscheint er 1946 im YIVO Annual in englisch; vgl. Kaplan und Dresner: Witness, 93. 689 Vgl. Kaplan: Radical, 102f. u. ders.: Holiness, 122. Ähnlich auch Sherwin: “Reviews”, 184: “Heschel considered the preservation and the conveyance of the spiritual heritage of East European Jewry, especially Hasidism, as the key to the continuity of an authentic form of Judaism in post-Holocaust America.” Breslauer: “Politics”, 307, kategorisiert Heschels politische Theologie im Gegensatz zu Niebuhrs “Politics of Nostalgia”, nach der “a lost Eden becomes the criterion by which contemporary achievements are evaluated”, was jedoch viel zu einseitig ist. 690 Darum benutzt Heschel von nun seinen vollen Namen “Abraham Joshua Heschel”; vgl. Even-Chen: “Approach”, 157f. u. Green: “Heschel”, 64. 691 Vgl. Even-Chen: “Approach”, 158.
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Erstes Kennzeichen osteuropäischer Spiritualität ist Heschel zufolge die Wertschätzung der Zeit,692 womit er den zentralen Gedanken von “The Sabbath” bereits vorwegnimmt. Die Kavanah führt zur Lebendigkeit der Worte “to rear holiness made of simple deeds, of study and prayer, of care, of fear and love”,693 die für Heschel den entscheidenden spirituellen Reichtum bringen. Statt Spaß und Schönheit sind so Lehrhaftigkeit und ernste Begründung die Lebensmaximen, die zählen.694 Im Gegensatz zu den ibero-spanischen Sephardim (Maimonides, Saadia, ibn Gabirol), die unter dem Einfluss arabischer Poesie und griechischer Ethik für den Einzug von Wissenschaftlichkeit und Intellektualität ins Judentum verantwortlich sind, räumt Heschel zudem den osteuropäischen Ashkenazim ein, wesentlich enger mit den eigenen antiken Wurzeln verbunden gewesen zu sein, die zu einer einzigartigen kulturellen und religiösen Hinterlassenschaft geführt hätten.695 Trotz aller Unterschiede geschieht für ihn aber erst später, mit Spinoza, ein entscheidender Bruch, weil bei ihm Gott zur mathematischen Notwendigkeit mutiert.696 Sowohl für Heschels Stellenwert der Bibel und sein relationales Denken als auch für die Entwicklung des ashkenazischen Judentums spielt die Person Rashi eine immerzu bedeutsame Rolle, in diesem Zusammenhang wegen seiner Demokratisierung des talmudischen Lernens.697 Dieser habe “with exquisite simplicity almost every word of the immense text” erklärt und “the involved complexities of Talmudic dialectics” entfaltet als einen “faithful companion who attends the student to whatever part of the text he may turn. Humbly, unobtrusively, he communes with the student, conveying by a minimum of words a maximum of 692 Heschel: Earth, 14: “To be is more essential than to have.” 693 Ebd., 14. 694 Vgl. ebd., 15f. Deshalb prägen auch feste Ordnungen den Lebensalltag, aber nicht das Heroische, sondern unspektakuläre Hingabe färbt die Frömmigkeit; der Heiligkeit entspricht die alltägliche Nächstenliebe, denn (21) “Jewishness was not only truth; it was vitality, joy; to some, the only joy. The intellectual majesty of the Shema, Israel, when translated into the language of their hearts signified: ‘It is a joy to be a Jew.’ ” 695 Vgl. ebd., 25ff. Stilistisch unterscheidet sich deshalb das Hebräisch der Ashkenazim Heschel zufolge auch von dem der Sephardim, weil erstere im Talmud verwurzelt gewesen seien; mit Jiddisch habe man sogar eine eigene Sprache erschaffen (vgl. 28). Außerdem sei das ashkenazische Judentum noch vielmehr im hebräischen Denken gegründet gewesen als das Sephardische, was sich für ihn niederschlägt in Diskussionfreudigkeit, Kommentierung und Lebhaftigkeit statt sephardischer Logik und Definition (31; vgl. 33): “The strength of the Sephardic scholars lies in their mastery of expression, that of the Ashkenazim in the unexpressed overtones of their words.” 696 Vgl. ebd., 37; Spinoza ist es deshalb auch, der in zahlreichen nachfolgenden Werken als negatives Beispiel herhält. Zu Spinoza vgl. auch Marmur: Heschel, 134ff. 697 Vgl. Heschel: Earth, 39ff.
248 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase meaning.”698 Besonders Torah und Talmud sind für Heschel von unschätzbarem Wert, weshalb die Ehrfurcht vor dem Schriftgelehrten selbst – oder gerade – unter armen Leuten hochgehalten worden sei, so Heschel.699 Hermeneutisch bedeutsam ist die charakteristische Studienmethode der Chassidim, der sog. “Pilpul”.700 Auch in die Kabbalah habe diese Auslegungsmethode Einzug erhalten, denn “[t]he plain meaning of words, the straight line of a general rule seemed too shallow, too thin, too narrow to hold the expanding power of their minds.”701 Trotz zeitweiser Haarspalterei überwiegen Stärke und Leidenschaft, die als eine Art Kunst fungieren, denn “[t]his was not realistic thinking; but great art likewise is not a reproduction of nature, nor is mathematics an imitation of something that actually exists.”702 In deutlicher Nähe zur rabbinischhaggadischen Exegese, auf die auch Bonhoeffer verweist und die er schließlich in westlich-pragmatisch-allegorischer Vereinfachung bei seinen Bibelauslegungen anwendet, ordnet Heschel diesem Text-Zugang eine mysteriös-kryptische Mehrdeutigkeit zu, fernab jeder Wortwörtlichkeit.703 Daraus resultieren Konsequenzen wie der Tiqqun ‘Olam, aber auch klassisch-mystische Elemente wie die Idee einer im Himmel gespiegelten Welt, was letztlich sogar zu der provokanten (aber traditionell nicht unüblichen) These führt, dass “every pious Jew is, partly, the Messiah”,704 und so den Gläubigen mit in die Verantwortung nimmt. Trotz dieser Verantwortung spielt darum für den Begründer des Chassidismus, den Besht, die Freude eine besondere Rolle, auch im Bibelstudium.705 Damit hängt auch die Avodah be-Gashmiut zusammen, die Ehrerbietung Gott gegen698 Allesamt Heschel: Earth, 41. 699 Vgl. ebd., 48. 700 Ebd., 52: “Its goal [des Pilpul; Anm. von P. M.] was not to acquire information about the Law, but rather to examine its implications and presuppositions; not just to absorb and to remember but to discuss and to expand. All later doctrines were considered to be tributaries of the ancient neverfailing stream of tradition.” 701 Ebd., 53. 702 Ebd., 55. 703 Ebd., 57: “Only the mystery was plausible, while the onedimensional, the superficial was inconceivable. Everywhere they found cryptic meaning.” 704 Ebd., 72. Zwar wird Gott in The Earth is the Lord’s relativ selten erwähnt, zumal der vormalige Gedanke von Gottes Exil an dieser Stelle klar auf die Shekhinah gemünzt wird. Doch greift EvenChen: “Omnipresence”, 53, zu weit, dass “Heschel no longer demands that God intervene to save his sons, as he did in his youth”, wenn sogar (durch Sünde) dämonische Mächte die Möglichkeit “to harm and mislead all men” (Heschel: Earth, 73) besäßen, zumal Heschel wenige Jahre zuvor noch klar die göttliche Omnipotenz als Teil der jüdisch-mystischen Tradition erwähnt hat; vgl. ders.: Grandeur, 182f. (“The Mystical Element in Judaism”, 1949). 705 Vgl. ders.: Earth, 75; 81.
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über in sämtlichen irdisch-weltlichen Formen.706 Heschel ist sich gleichermaßen der Absonderung von der übrigen Welt bewusst, denn ein Leben ohne Torah und Frömmigkeit an sich, ohne diesen inneren Reichtum, sei nicht vorstellbar gewesen und ist es für Heschel ebenso wenig.707 Und gerade diesen Reichtum pflanzten sie in das tägliche Leben, auch jenseits des eigentlichen Sabbat. Heschel ignoriert dabei nicht die ärmlichen Verhältnisse und Bedrängnisse durch politische Demagogen, die für die Aufklärung auch hier Einfallstor gewesen sind.708 Preis der Emanzipation ist für Heschel jedoch “disloyalty to Israel’s traditions”,709 was eine der zahlreichen spitzen Formulierungen dieses Werkes ausmacht.710 Und das ist auch die Stimmung, mit der Heschel den Leser zurücklässt, nämlich mit dem Verlust einer traditionell-spirituellen Welt des Reichtums: “Mankind does not have the choice of religion and neutrality. Irreligion is not opiate but poison.”711 In seiner Antwort darauf deutet sich bereits Heschels inklusivistische Religionsperspektive darin an, dass “Judaism has allies, partners, but no substitute.”712
3.3.4 Prophetic Inspiration in the Middle Ages (1950) Passend zu seinem Lehrstuhl am JTS setzt Heschel sich erneut mit der Frage auseinander, ob es prophetische Inspiration im jüdischen Mittelalter gegeben habe.713 Obwohl Heschel zu Beginn seiner Untersuchung auf die talmudische Überzeugung eingeht, dass mit den biblischen Propheten das Ende der Prophetie besiegelt sei,714 entdeckt er zahlreiche Formen dessen, was man mit kontinuierlicher Offenbarung – größtenteils jenseits der reinen Textauslegung – in Verbin-
706 Vgl. Heschel: Earth, 79. Die Torah besitzt damit (auch für Heschel) trotz alledem Priorität, auch wenn bei der Auflistung zahlreicher Zaddikim (dt. “Fromme” = Bezeichnung für die spirituellen Führer des Chassidismus) ein fast ähnlicher Status deutlich wird, da sie wie heilige Bücher betrachtet worden seien, weshalb ein Chassid (= Nachfolger eines Zaddik) näher an Gott gewesen sein soll als die Juden zur Zeit des Talmud (vgl. 84; 88f.). 707 Vgl. ebd., 96. 708 Vgl. ebd., 103. 709 Ebd., 104. 710 Zu diesem Urteil kommt auch Kavka: “Meaning”, 119. 711 Heschel: Earth, 107. 712 Ebd., 108. 713 Ursprünglich in Hebräisch erschienen als Teil der Festschrift für Alexander Marx aus dem Jahre 1950, beziehen sich die Quellenangaben auf die englische Übersetzung. 714 Vgl. Heschel: Prophetic Inspiration, 2.
250 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase dung bringen kann (Bat Qol, Sheilat Halom, esoterisches Wissen).715 Gleichermaßen macht er etliche Figuren des jüdischen Mittelalters ausfindig (Nachmanides, Jünger des R. Simeon bar Yohai, R. Jakob Tam, R. Kalonymos von Lucca, R. Moses Al-Dari, Abu Issa von Isfahan, Rashi), bei denen er prophetische Charakteristika feststellt.716 Die göttliche Stimme scheint somit nach wie vor nicht gestillt zu sein,717 was als Voraussetzung für Heschels späteren prophetischen Aktivismus alles andere als bedeutungslos ist, da er sich so selbst von Gottes Pathos angesprochen fühlen darf. 3.3.5 Die Heiligung der Zeit: The Sabbath (1951) In dieselbe Kategorie wie The Earth is the Lord’s gehört The Sabbath von 1951, in dem Heschel der Einseitigkeit der technisierten Welt einen essentiellen Teil von Jüdischsein entgegenhält:718 Innerhalb des spirituellen Reichtums des osteuropäischen Judentums thematisiert er den Sabbat als Berührung von Zeit und Raum, 715 Vgl. Heschel: Prophetic Inspiration, 2–7. 716 Vgl. ebd., 8–65. 717 Vgl. ebd., 67. Zu demselben Ergebnis ist Heschel bereits 1945 im Zuge seines Antritts am JTS 1945 gekommen, als er unter dem gleichnamigen hebräischen Titel einen Artikel (als Teil der Festschrift zu Ehren von Ginzberg) über die Frage verfasst hat, ob Maimonides zu den Propheten zu rechnen sei (“? ;”ההאמין הרמב׳׳ם שזכה לנבואהder Einfachheit halber wurde an dieser Stelle auf die englische Übersetzung in ebd., 69–126 zurückgegriffen). Denn selbst bei Maimonides hat er trotz aller Kritik aufgrund von Hellenisierungstendenzen klare Hinweise darauf entdeckt, dass dieser nach dessen Selbstverständnis den Rang eines Propheten erlangt haben könnte, auch wenn die Größe von Mose unantastbar bleibt; vgl. ebd., 72; 78–86; 92 u. Held: Heschel, 142 für die Hellenisierungstendenzen: “For all his prodigious intellectual and spiritual achievements, the great sage was still guilty, in Heschel’s eyes, of having excessively Hellenized Jewish Theology, and thus having deviated from the heart of prophetic teaching.” Denn Maimonides kann auch, wie Marmur: Heschel, 69 es tut, als “father of Jewish dogma” bezeichnet werden. Als das intellektuell und imaginativ Überschreitende ist für Maimonides die Prophetie höchste Perfektion, was letztlich auch prozesshaftes Denken implizieren kann; vgl. Heschel: Prophetic Inspiration, 97f. u. Marmur: Heschel, 76. Die Prophetie wird im Zuge der messianischen Zeit erneut erwartet, die bei Maimonides bald habe kommen sollen; vgl. Heschel: Prophetic Inspiration, 100ff.; 113f. Dass Heschels Maimonides-Interpretation – zumal im Vergleich zu anderen Passagen – nicht immer in sich konsistent, sondern “multifaceted and at times contradictory” (Marmur: Heschel, 66) ist, soll dabei nicht verschwiegen werden. Ebd., 79, unterscheidet darum bei Heschel zwischen “two figures, Maimonides and the Rambam, symbol of dry rationalism and hero of prophetic passion, in order to fulfill a multitude of functions.” 718 Vgl. Heschel: The Sabbath, 3; 8; allgemein vgl. auch Kaplan: Radical, 125ff. S. auch Kimelman: “Sabbath”, 187: “The books complement each other: the earlier portrays the sanctity of
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Welt und Ewigkeit – ein Segen für Leib und Seele und mit Blick auf Gottesbegegnungen in Augenblicken, geradezu “Holiness in Time”.719 Statt Vergötzung des Materiellen pocht Heschel darauf “to face sacred moments”,720 ohne dabei die räumliche Dimension zu vergessen. Anhand der Hebräischen Bibel und philologischer Errungenschaften untermauert er, dass “Judaism is a religion of time aiming at the sanctification of time”,721 weshalb jüdische Rituale zur Architektur innerhalb der Zeit würden.722 Denn außer drei Dingen – Gottes Name, Sabbat und Israel –, müsse alles andere aus der Beziehung zu Gott geheiligt werden, so Heschel.723 Im Zusammenhang dieser Veröffentlichung ist es natürlich der Sabbat, der die gegenwärtige und die kommende Welt verknüpft und dadurch die Verbindung zwischen Individuum und Schöpfer schärft, Ihn zu preisen.724 Weil es Heschel keineswegs um Weltflucht geht, bringt er den Sabbat mit einem verantwortungsbewussten Umgang der Schöpfung in Verbindung, über die der Mensch laut Schöpfungsauftrag (vgl. Gen 1) herrschen soll.725 Darum charakterisiert Heschel die Arbeit prinzipiell als “destiny of man”, “endowed with divine dignity”.726 Erst die Möglichkeit der Abstinenz von der Arbeit verschaffe dem Menschen Unabhängigkeit, wodurch der Sabbat zu noch größerer Hoffnung für den menschlichen Fortschritt werde, so Heschel, weshalb er ihn auch in Nähe des Jom Kippur bringt.727 Wie Bonhoeffer pocht Heschel auf die Verwandlung der Zeit in Ewigkeit, was über nichts anderes geschieht als über das (Schrift-)Studium und über Gebet.728 Doch anders als Buber versucht Heschel einen gewissen Ausgleich zwischen IchDu und Ich-Es. Denn obwohl Heschel allen sieben Tagen der Woche “intimate relationship with the world of space”729 zubilligt und dies auch wertschätzt, weil die space, the later expounds the sanctity of time. Together they express the Heschelian space-time dialectic.” 719 Vgl. Heschel: The Sabbath, 77–83; s. auch 15; 17ff. 720 Ebd., 6; vgl. auch 10; 14; 79. 721 Ebd., 8. 722 Vgl. ebd., 8–10. 723 Vgl. ebd., 79; 81f. 724 Vgl. ebd., 19; 24. 725 Vgl. ebd., 27. Denn “[t]he world for Heschel is therefore not ‘a thing in itself but a thing for God.’ In other words: God cares for and gives meaning to the world, whose entire aim lies in bringing testimony to its Creator” (Even-Chen und Meir: Between, 77). 726 Heschel: The Sabbath, 27. 727 Vgl. ebd., 28; 31. 728 Vgl. ebd., 41. 729 ebd., 51.
252 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase Dinge als Werkzeuge fungieren, erhält der Sabbat einen Sonderstatus, an dem der Mensch als Braut für den Menschen benötigt werde zum Prozess in der Welt des Geistes.730 Diesen Tag gilt es, mit “the light of his soul”731 immer wieder zu heiligen.732 Staunen über jeden einzelnen Moment ist für Heschel deshalb die einzig richtige Reaktion, wie schon Leo Baeck es vor ihm betont hat.733 Zwar kann man laut Heschel an allen Orten gleichermaßen zu Gott beten. Doch statt der an den Raum gebundenen Temporalität betont er die Zeit als Unabhängigkeit von der Materie als Sicht des Geistes, weshalb sich die Gabe der Torah für ihn jeden Tag ereignet.734 Zeit wird zur “otherness”,735 zur Andersartigkeit, denn in ihr offenbart sich Gott dem Menschen, und der Mensch kann die Einheit aller Dinge in ihr erspüren.736 Zu jeder Zeit und an jedem Ort kann angebetet werden, aber Gott redet ihm zufolge nicht zu allen Zeiten gleichsam.737 Trotzdem soll in allem zu aller Zeit das Wunderbare in der Welt und damit die zeitgebundene Gegenwart Gottes erspürt werden, weshalb es darum geht, die Zeit zu heiligen.
3.3.6 Heschels theologische Revolution: Man is not alone (1951) Das Werk, mit dem Heschel aber seinen eigentlichen Durchbruch als Denker und Schriftsteller in der amerikanischen Geisteswelt erlangt, nimmt ab 1948 Form an.738 Denn mit Man is not alone von 1951 intendiert Heschel nichts weniger als eine theologische Revolution – “[t]he recentering of human thought from the self
730 Vgl. Heschel: The Sabbath, 52f. 731 Ebd., 54. 732 Viele Details prägen den Sabbat, weil ein Stückchen Auferstehung und Erlösung geschehe, als “token of eternity” (ebd., 74; vgl. 66f.). Und sogar erhält der Mensch an diesem Tag eine “neshamah yeterah” (dt. “zweite Seele”, 87ff.), die die innere Freiheit neben der von Gott geschenkten äußeren Freiheit ausdrückt (vgl. 79). Dass in all diesen Aspekten und dem Fokus auf den Sabbat die Spuren der Wissenschaft des Judentums nachklingen, hebt Kimelman: “Sabbath”, 188, hervor, der auch auf Cohen, Baeck und Rosenzweig hinweist, die schon zum Sabbat veröffentlicht und dabei sowohl die soziale Dimension, ihren befreienden Aspekt wie auch die Nähe zur Ewigkeit betont hätten. 733 Vgl. Heschel: The Sabbath, 76. 734 Vgl. ebd., 97f. 735 Ebd., 99. 736 Vgl. ebd., 100. 737 Vgl. ebd., 96. Trotzdem betont Heschel die creatio continua. 738 So Kaplan: Radical, 110; auf den nachfolgenden Seiten erläutert Kaplan die Entstehungsbedingungen und -schwierigkeiten.
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to God as subject”739 –, bei der es um die praktische Umsetzung der Relationalität zwischen Gott und Mensch geht, sodass “readers could encounter God’s presence directly.”740 Dabei handelt es sich aber um nichts weniger als die Grundlage für den (vor allem später praktizierten) prophetischen Aktivismus.741 Ausgehend von den klassischen Fragen westlicher Religionsphilosophie beansprucht Heschel eine grundlegende Philosophie – nicht Religionsphilosophie! –742 vorzulegen, da der Mensch ihm zufolge immer in Religion existiert, was ihm jedoch reichlich Kritik einbringt.743 Er setzt darum bei der Behauptung/Feststellung an, der Mensch sei immer auf der Suche nach dem Nicht-Bekannten, “as if there were an imperative, a compulsion to pay attention to that which lies beyond our grasp.”744 Darin verwurzelt er das menschliche Streben nach Kreativität, Nachsinnen und edlem Leben, um die Essenz der Welt zu begreifen, was jedoch immerzu zum Unaussprechlichen führt.745 Bei diesem Bewusstsein müsse, so Heschel, die Suche beginnen.
739 Kaplan: Radical, 120; vgl. auch ders.: “Man”, 191. 740 Ders.: Radical, 118; vgl. auch Heschel: Man, 95 u. Even-Chen und Meir: Between, 39. 741 Darum schulssfolgert Kaplan: Holiness, 65, dass das Kapitel “In the presence of god” “defines the goal of his entire work: the unity of inward piety and prophetic activism.” Denn “Heschel’s realism demands spiritual as well as moral courage” (66). 742 Vgl. Heschel: Man, 8. 743 Zur Existenz des Menschen in Religion vgl. “The Holy Dimension” von 1942. Dass Heschel dem westlich-systematisch-philosophischen Anspruch nur sehr mäßig bis gar nicht gerecht wird, betont besonders Fackenheim: “Man”, 85: Er wirft Heschel vor, “no method at all in his presentation” zu verwenden und dadurch “curiously vage, the explicitness of its individual statements notwithstanding” zu verbleiben, außerdem lediglich aphoristisch zu argumentieren (86). Etwas demütigend sieht er immerhin, dass “Dr. Heschel’s religiosity is neither distorted beyond recognition by the banalities of ‘scientific’ jargon, nor is it defiled by misplaced apologetics” (85). Green: “Heschel”, 68, stellt nüchtern fest, dass “logical argumentation was hardly his forte.” An anderer Stelle formuliert ders.: “Mystics”, 53, es ein wenig differenzierter: “Heschel’s strength is not that of the systematic theologian. To say that he is inconsistent on the questions of immanence, otherness of God, ‘personalist’ versus immanentist theology, and so forth, would be unfair and to miss the point.” Und selbst Kaplan: Holiness, 62, sieht die offensichtliche philosophische Schwäche Heschels, reagiert dann jedoch etwas zu simplifiziert, wenn er erwidert, dass “depth theology can only prepare reason to surrender so that God may become manifest to our minds.” Vgl. ferner auch Britton: Heschel, 154. Aber es gibt auch sehr positive Stimmen wie Herberg: “Theology”, 365, der Heschel “would regard as the most significant Jewish religious thinker of our day in America” und ihn klar als “a thinker, a religious philosopher, a theologian” (366) kategorisiert, anstatt ihn “lediglich” als Mystiker abzustempeln. 744 Heschel: Man, 4. 745 Vgl. ebd., 4f.
254 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase Um sich dem Unaussprechlichen anzunähern und übliche Konventionen zu überschreiten, ist für Heschel radikales Staunen unerlässlich, weshalb das Wunder höheren Erkenntniswert besitzt als (cartesianischer) Zweifel, der immer schon ein zuvor erarbeitetes Konzept von Erkenntnis im Blick hat.746 Dieses Staunen lokalisiert Heschel prinzipiell überall und pocht dennoch darauf, es immer wach zu halten.747 Im Sinne seiner Dissertation und Schelers Phänomenologie des Fühlens pocht Heschel auf echte Begegnung von Mensch und Mysterium im Unaussprechlichen durch gegenseitige Liebe, wodurch sich beide auf Augenhöhe begegnen.748 Hiermit fundiert Heschel somit erneut sein relationales Denken. Auch gegen traditionelle Logik spricht er sich aus, die wenig mit kreativem Denken zu tun habe, bei der aber letztlich das Genie zu finden sei.749 Ihre Unzulänglichkeit unterstreicht er mit Verweis auf den vorreflexiven Charakter des Unaussprechlichen, der dem menschlichen Verstand zwar die kognitive Einsicht der definitiven Existenz des Mysteriösen ermögliche (für das laut Heschel alle Menschen qua Erkenntnisfähigkeit grundsätzlich empfänglich seien), die jedoch die bestehenden, logischen Kategorien schlicht sprenge.750 Zudem unterliegen für Heschel sowieso alle sogenannten Fakten subjektiver Deutung, weshalb er statt chaotischer Zustände die Annahme unendlicher Bedeutsamkeit bevorzugt.751 So insistiert Heschel statt mangelhafter rationaler und kosmologischer Gottesbeweise vielmehr auf die Notwendigkeit der einzigartigen religiösen Situa746 Vgl. Heschel: Man, 12: “Doubt, then, is an interdepartmental activity of the mind. First we see, next we judge and form an opinion and thereafter we doubt.” S. auch Merkle: Genesis, 156; 160ff.; Kaplan: Holiness, 63 u. ders.: “Mysticism”, 36 + 47. Eisen: “Heschel”, 7, wirft mit Kant allerdings ein, dass “reason is arguing for its own insufficiency.” So schon Fackenheim: “Man”, 87, bzw. auch Erlewine: “Rediscovering”, 178. 747 Vgl. Heschel: Man, 14. 748 S. dazu auch ebd., 39: “To our knowledge the world and the ‘I’ are two, an object and a subject; but within our wonder the world and the ‘I’ are one on being, in eternity.” Vgl. auch Merkle: Approaching God, 37, Perlman: Idea, 72 (u. 47f. + 54f.), Palmisano: Beyond, 34 u. Britton: Heschel, 155f. Dass mit dieser methodischen Vorannahme nun aber der Argumentationsstrang von Fackenheim: “Man”, 86 – Heschel hätte besser “a purely descriptive account of the religious life, a phenomenology of religion inspired by personal experience and conviction” bieten sollen –, in sich zusammenfällt, dürfte selbstevident sein. 749 Vgl. Heschel: Man, 17. 750 Vgl. ebd., 19f.; 22. Natürlich ist für Heschel das Unaussprechliche dabei nicht auf ein reines Gefühl zu reduzieren (vgl. 23; 27). 751 Es ist für Heschel einfach nicht einsehbar, dass all die großen Denker und Künstler trotz zahlreicher Abwegigkeiten innerhalb der Geschichte völlig geirrt haben sollten; vgl. ebd., 33; 81–83. Aber allein das Fragen ist für ihn bereits Anfang der “Erkenntnis” des Unaussprechlichen (vgl. 43). Erst der moderne Mensch mit seinem Anspruch auf Agnostizismus erhebt den Anspruch, über Gott entscheiden zu können (vgl. 120).
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tion – und damit eindeutig Relationalität statt Ontologie –, wodurch erst die Beziehung zwischen Gott und Welt in den Blick gerät.752 (Religions-)Philosophie hat Heschel zufolge deshalb bei der Situation des konkreten, frommen Menschen zu beginnen, daher “philosophy of concrete events, acts, insights”.753 Denn der religiösen Situation – und damit dem Mysterium – kann man sich ihm zufolge lediglich unter persönlicher Erinnerung mit Ehrfurcht, und somit aus der Innenperspektive, in gewisser sprachlich-reflexiver Art annähern.754 Eigentlich aber vermag der Mensch auch das von sich selbst aus nicht, sondern wird von der Übermacht des Mysteriums übermannt; laut Heschel gelangt man folglich von der Intuition über die Ehrfurcht zum Glauben,755 was nichts anderes als Relationalität erfordert. Diese Unaussprechlichkeit ist für Heschel gleichbedeutend mit der Anfrage Gottes an das Individuum bzw. gleichzeitig Gottes Suche nach der menschlichen Seele, die den Menschen in eine (nicht so sehr nüchtern-rationale) Entscheidung führt.756 Die entscheidende Frage an den Menschen ist damit laut Heschel letztlich, wie wir unser Leben für Gott öffnen können.757 Zwar redet Heschel auch von Ratio und Beweisen; primär und zu allererst aber sei das Preisen als Reaktion des Menschen entscheidend auf das sog. Licht im Unaussprechlichen, das zu Angst, Verzweiflung und Sprachlosigkeit führe.758 Wie bei Bonhoeffer schlägt auch bei Heschel die Offenbarung Gottes ein wie ein Blitz, obgleich die Möglichkeit zum “Nein” für ihn real bestehen bleibt.759 Sie als Akt unterscheidet er vom Ausdruck des Glaubens als reflektiertem Bekenntnis (= Bonhoeffers actus reflexus).760 Und so konzentriert Heschel sich besonders auf den Glaubensvollzug als leidenschaftliche Hingabe des Glaubens, “planted in the depth of a lifetime”,761 “found in solicitude for faith, in a passionate care for the marvel that is everywhere.”762 752 Vgl. Heschel: Man, 51–54; ähnlich auch Kaplan: Holiness, 20. 753 Heschel: Man, 55. Vgl. Britton: Heschel, 94, bringt diesen lebensphilosophischen Ansatz Heschels mit Dilthey bzw. Rosenzweig und dessen “Gelegenheitsdenken” in Verbindung, was in God in Search of Man in “situatives Denken” münden wird. Vgl. auch Perlman: Idea, 70. 754 Vgl. Heschel: Man, 58ff. 755 Vgl. ebd., 67f. ähnlich auch Eisen: “Heschel”, 8. 756 Vgl. Heschel: Man, 68–73. 757 Vgl. ebd., 73. 758 Vgl. ebd., 75. 759 Vgl. ebd., 78f. Somit trifft der Vorwurf von Fackenheim: “Man”, 86, faktisch nicht zu, dass Heschel “lacks understanding for the tragedy of unbelief”. 760 Vgl. Heschel: Man, 87; 166. 761 Ebd., 88. 762 Ebd., 89; so dann auch ders.: Insecurity, 200 (“The Individual Jew and His Obligations”, 1957).
256 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase Als Ergebnis zielt Heschel somit auf nichts anderes als eine “intimate relationship with God”763 – die spirituelle Dimension –, bei der Gott immer das Subjekt und Gegenüber der Schöpfung bleibt.764 Kaplan nennt dies die “religious Copernican revolution […]: a spiritual ‘turning’ (in Hebrew, teshuvah) has transformed our awareness. Heschel has completed the task: the recentering of subjectivity from humanity to God.” 765 Denn “God is of no importance unless He is of supreme importance, which means a deep certainty that it is better to be defeated with Him than to be victorious without Him”.766 Und so können wir uns nur aus der Beziehung zu Gott in Ihm wiederfinden und unsere Gedanken im Gebet öffnen, woraus überhaupt erst ein Nachdenken möglich ist und wo Gott seinen Willen – natürlich vorwissenschaftlich und unaussprechlich – preisgibt.767 Dies ist für Heschel “prophetic revelation”,768 womit er erneut die prophetische Sympathie in der generellen menschlichen Ebene von Spiritualität platziert.769 Das möchte er auch beim Leser verankern.770 Darum lehnt Heschel die ontologische Analyse des Menschen ab, allen voran die (augustinische) Erbsündenlehre. Vielmehr hält er jeden Menschen grundsätzlich für fähig, Gott, seinen Nächsten und sich selbst gleichermaßen zu lieben, worin sich einer der wesentlichsten Unterschiede zu Bonhoeffer ergibt.771 Dies ist Voraussetzung dafür, dass sich der Mensch überhaupt für Gott öffnen kann. Heschel nennt dies Fähigkeit des Menschen zur “Ekstase”, aus sich selbst herausgehen zu können als innere Freiheit durch Hingabe des Herzens und durch die präsente Sorge Gottes.772
763 Heschel: Man, 95. 764 Vgl. ebd., 100; 106f.; 127ff.; 143. Vgl. auch Kaplan: Holiness, 69 Perlman: Idea, 22; 80; 158. 765 Kaplan: Holiness, 68; s. auch ebd., 33f. 766 Heschel: Man, 92; fast wörtlich dann auch ders.: Insecurity, 201 (“The Individual Jew and His Obligations”, 1957). 767 Vgl. ders.: Man, 99f. 768 Ebd., 129. 769 Perlman: Idea, 111, spricht darum von dem “postprophetic man”. Vgl. auch Held: Heschel, 216. 770 Kaplan: “Man”, 191: “Heschel trusted that all readers might eventually welcome this modern form of divine revelation and prophetic inspiration.”. 771 Vgl. Heschel: Man, 139–141. 772 Bereits seit (spätestens) Mitte der 1940er Jahre benutzt Heschel die “Ekstase” auch auf menschlicher Seite, Beten als “geistige Ekstase”, das als “Sein oder Geschehen ins Metaphysische” transzendiert; vgl. die Zettelnotiz in ders.: Papers, 199/6 (weiter mit Bleistift und “21” – links oben – bzw. “12” links unten nummeriert).
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Und auch auf göttlicher Seite schließt Heschel die Frage nach der Essenz Gottes (Ontologie) klar aus.773 Lediglich einen klaren Monotheismus setzt er voraus, weil politische und moralische Einheit für ihn ansonsten nicht denkbar ist, auch wenn die Welt gerade nicht eins mit Gott ist, obwohl doch eine Einheit zwischen Gott und Mensch sein Ziel ist – natürlich nicht ontologisch, sondern relational, weshalb in ähnlicher Weise wie in Bonhoeffers Christologie-Vorlesung die WerFrage entscheidend ist.774 Diese Einheit bzw. der Wunsch Gottes danach drückt sich in dessen Pathos aus, das als “concern with concrete situations”775 neben der creatio continua als Gottes haltende Hand gegenüber allen Dingen der Welt steht.776 Denn der Mensch befindet sich immer in der Spannung zwischen sich selbst und Gott.777 Und weil Gott im Gegensatz zum mittelalterlichen, meist mechanistischen Gottesbild nicht nur Subjekt, sondern selbst als Eingebundener mit im Spiel steht,778 kann Heschel für das in der Shoah erlittene Leid weder hier noch anderswo Gott verantwortlich machen.779 Denn “[l]ife is a partnership of God and man”.780 Dass Heschel aber nicht auf einen völlig entmachteten Gott hin abzielt, offenbart letztlich die produktive Spannung seines hebräischen Denkens, das der binären Logik westlicher Philosophie weitestgehend fremd ist: The will of God is to be here, manifest and near; but when the doors of this world are slammed on Him, His truth betrayed, His will defied, He withdraws, leaving man to Himself. God did not depart of His own volition; He was expelled. God is in exile.781 773 Heschel: Man, 135 (vgl. 135–138): “We know nothing about His attributes, all we can ascribe to Him is existence.”; vgl. auch Perlman: Idea, 91 (s. auch 41; 79): “Heschel clearly distinguishes the phenomenological object of his inquiry from the essence of God”. Er merkt jedoch an späterer Stelle (150) gleichsam an, dass “[b]eing in biblical ontology, in contrast to many Greek notions, is changeable.” 774 Vgl. Heschel: Man, 112; 118. So auch Perlman: Idea, 110: “Not God in His essence, but God in a relation of mutual significance to man, in a presentive intuition, creates the content of revelation.” 775 Heschel: Man, 143. 776 Vgl. ebd., 145. Deshalb schlussfolgert Britton: Heschel, 221: “The oneness of God may be an ontological fact, but the redemptive incorporation of humanity into that oneness is part of the historical relationship which is shaped and guided by the moral life.” 777 Vgl. Heschel: Man, 146. 778 Vgl. ebd., 237; Merkle: Approaching God, 32, spricht darum von “[d]ivine concern, not divine control” als Fundament von Heschels Religionsphilosophie. 779 So auch ebd., 72: “Heschel does not blame God for the world’s evil.” Ebenso Wiese: “God’s Passion”, 223. 780 Heschel: Man, 242. 781 Ebd., 153.
258 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase Zwar zieht sich Gott damit aktiv zurück, aber als Resultat des Willens des Menschen – den der Mensch nur durch Gottes Willen besitzt. Weder mittelalterlichmechanische Allmacht noch mechanische Entmachtung trifft darum auf Heschels Gottesbild zu, wie es beispielsweise in Jonas’ Der Gottesbegriff nach Auschwitz zu finden ist, als ob Gott handlungsunfähig sei.782 Darum besteht Heschels Ziel letztlich darin, dass “God is within all things, not only in the life of man”783 – natürlich relational. Denn “[r]elationship to the earth, to one another, and even to ourselves is derived from the common relationship that all things have to the oneness of God.”784 Die Trennung von Gott ist gerade, wie auch bei Bonhoeffer, Ursprung des Bösen wie auch von Krankheit. Dem gilt es entgegenzuwirken, was in den Verantwortungsbereich des Menschen fällt – natürlich aus der Beziehung zu Gott; nichts anderes stellt der traditionellen Tiqqun ‘Olam dar.785 Eschatologie fußt darum auf der Ethik, Ethik aber auf Spiritualität.786 Die Aktualität des Glaubens entsteht dabei im Geist, ausgelebt wird sie aber in Taten, denn “Judaism is lived in deeds not only in thoughts.”787 Denn “[t]o believe in God is to fight for Him, to fight whatever is against Him within ourselves, including our interests when they collide with His will.”788 Das Gebet wird darum zur Lebensgrundlage, ist es doch die essentielle Grundlage für die Relationalität zwischen Gott und Mensch, um offen zu sein für den göttlichen Funken.789 Dadurch wird der Fromme zum Gefäß für Ihn – will mehr sein, als er für sich ist, mehr als menschlich, jenseits seiner Nöte; nur so kann der Fromme die eigene Selbstgerechtigkeit überwinden und die prophetische Sympathie verwirklichen,
782 So auch Wiese: “God’s Passion”, 224f., 228 und bes. 226 unten, wo er hinweist auf Heschels “determination not to give up hope in God’s continuing involvement in the process of perfection and redemption.” Gegen Even-Chen: “Omnipresence”, 55, der Heschels Gott zu einseitig als “completely disarmed” ansieht und unfähig, zu “fight the battles of this world. […] God has only His mercy and love.” 783 Heschel: Man, 122. 784 Britton: Heschel, 221; so auch Even-Chen: “Omnipresence”, 60. 785 Vgl. Heschel: Man, 112f.; 120. 786 So ähnlich Wiese: “God’s Passion”, 226, mit Bezug auf The Prophets: “[T]he best way to combat the spiritual consequences of the evil of the Holocaust was to respond to the God of pathos and, instead of succumbing to despair and fatalism, to embrace an ethics derived from the awareness that God needs humankind to restore and redeem the world.” 787 Heschel: Man, 176; vgl. 164 u. 210. Als “theology of the common deed” (271) rückt Heschel dementsprechend die Bedeutung des Judentums in den ganz natürlichen Alltag. 788 Ebd., 234; vgl. auch Perlman: Idea, 155ff. 789 Vgl. Heschel: Man, 231ff.; 256.
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womit Heschel erneut seine prophetischen Erkenntnisse verallgemeinert.790 So setzt auch die gegenseitige Fürsorge von Mensch zu Mensch in jedem die Stärke des göttlichen Atems voraus, um das Böse darin zu überwinden.791 Ausgehend von Nöten und dem Drang nach Bedeutung versteht Heschel deshalb das ultimative Ziel des Menschen “his composing a song of deeds which only God fully understands.”792 All diese Erkenntnisse leitet Heschel von seiner jüdischen Tradition ab. Wichtige biblische Grundlage und fixer Ankerpunkt seiner gesamten Argumentation hier wie auch anderswo ist der Bundesschluss vom Sinai, von dem her das Leben des Menschen als Partner Gottes mitsamt seiner Verantwortung auch für den Nächsten resultiert.793 Dem Judentum kommt darum laut Heschel ebenfalls eine prophetische Rolle zu, und zwar die Saat der endlosen Suche nach spiritueller Not zu säen und Unzufriedenheit mit sich selbst zu verursachen.794 Auf Grundlage der jüdischen Traditionsquellen ruft Heschel deshalb zu einer lebendigen Auseinandersetzung mit dieser Tradition auf, und zwar in Form eines Erinnerungsprozesses, der sowohl in die Beziehung zu Gott münden soll als auch in die Ausübung der Gebote.795 Erst dadurch entsteht Einzigartigkeit und Authentizität des eigenen Glaubens als “Recollection”796 und mündet in eine “creative situation, an event”,797 das außerdem die Erfahrungen vergangener Momente der Gottesbegegnung integriert. Denn die Tradition ist für Heschel aufgrund der Generationen übergreifenden Dimension (einigermaßen) zuverlässig, während man für sich allein immer wieder irre. Der Glaube baut für ihn deshalb auf dieser Tradition auf, allen voran der biblischen, woraus der Gläubige seinen eigenen Glauben herleitet.798
790 Vgl. Heschel: Man, 211ff.; 254f. S. auch Kaplan: Radical, 120; Perlman: Idea, 69 u. 84 u. Held: Heschel, 211; 233. Merkle: Approaching God, 28, unterscheidet deshalb zwischen Heschels “reflexive concern” (Sorge für sich selbst) und “transitive concern” (Sorge für andere). 791 Vgl. Heschel: Man, 250f. 792 Ebd., 205. 793 Vgl. ebd., 241ff. Vgl. auch Breslauer: Spirituality, 69, der darum auf eine gewisse Unvorhersehbarkeit in der Welt hinweist, die sich natürlich mit Heschels Kritik an einer mechanistischen Weltsicht gut deckt. Das bedeutet “[r]eligion and the voice of God interact so that as people respond to divine demands, the social structures change” (101). S. auch Perlman: Idea, 159. 794 Vgl. Heschel: Man, 257. 795 Vgl. ebd., 161–176. 796 Ebd., 163. 797 Ebd., 165. 798 Ebd., 162: “Memory is a source of faith.” So wundert es nicht, wie Heschel von Kapitel zu Kapitel mehr und mehr mit der Bibel argumentiert, und zwar als Traditionsstück, um den Glauben
260 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase Dass Heschel mit diesem Werk einen entscheidenden Durchbruch erlangt, ist vor allem Niebuhr zuzuschreiben, einem der führenden Köpfe des amerikanischen Protestantismus, der auch Anfang der 1930er Jahre Bonhoeffer bereits entscheidend geprägt hat. Niebuhr lobt Heschel in höchsten Tönen als “commanding and authoritative voice not only in the Jewish community but in the religious life of America”.799 Aus dieser ersten positiven Stellungnahme entwickelt sich bald eine wichtige Dialogpartnerschaft, wie im Zuge von Heschels Spätphase noch deutlich werden wird.
3.3.7 Widerstand gegen das amerikanische Judentum: Man’s Quest for God (1953–1956) Ähnlich wie Bonhoeffer in den 1930er Jahren befindet sich Heschel (spätestens) seit Beginn der 1950er Jahre inmitten eines innerjüdischen Kampfes zwischen Liberalismus und Tradition. Einflussreichstes Werk dazu ist das 1954 veröffentlichte Man’s Quest for God, ein Sammelband aus teils älteren Publikationen bzw. Vorträgen über Gebet und Symbolik – seine Herzensthematik, besonders in dieser Lebensphase.800 Natürlich wiederholt Heschel dabei zentrale Aspekte aus Vorherigem.801
zu (be)fördern: Die Erinnerung wird zum Berührungspunkt aller Handlungen (vgl. 162). In der Hebräischen Bibel findet der Gläubige diese Erkenntnisse und die Relationalität zwischen Gott und Mensch vor, in der er über Gottes Vision über den Menschen erfährt, in dessen Offenbarung wir demütig werden und den Unterschied zu Gott erkennen (vgl. 129). Und auch definitorisch macht er dies klar, indem lediglich das Verstehen (“understanding”) – statt Wissen (“knowledge”) – die angemessene Form Gott gegenüber ist, wodurch der Mensch zu Gott in eine Beziehung tritt und Ihn nicht lediglich als Objekt mustern will (vgl. 130; 133). S. auch Perlman: Idea, 35ff. 799 Niebuhr: “Review”, 12. Zu weiteren Rezeptionen von Man is not alone vgl. Kaplan: Radical, 120ff. Infolge dieser Publikation wie auch nach “The Sabbath” macht ebd., 127, darauf aufmerksam, dass “Heschel had become so significant in Jewish circles that he dominated the third issue of Judaism (July 1952)”. 800 Horwitz: “Prayer”, 293: “The hours of prayer, for Heschel, were the happiest hours of the day.” Da die jeweiligen Artikel zunächst für einen spezifischen Kontext verfasst wurden, bezieht sich die nachfolgende Darstellung auf die jeweils ursprünglichen Dokumente, die aber größtenteils nur unwesentlich von den Versionen abweichen, wie man sie in Man’s Quest for God vorfindet. Weitere Artikel aus dieser Zeit und dieser Thematik wurden integriert. Das erste Kapitel aus Man’s Quest for God, “The Inner World”, beinhaltet den 1945 veröffentlichten Artikel “Prayer” und wird darum an dieser Stelle nicht erneut berücksichtigt. 801 Die Wiederholung wird besonders – aber mit neuem Kontext und Zielgruppe natürlich sinnvoll – im zweiten Kapitel ersichtlich – “The Person and the Word” –, das literarisch zwar neu ist,
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Die Kaplan zufolge “fullest critique of American Jewish practice”802 präsentiert Heschel mit seinem Vortrag803 “The Spirit of Jewish Prayer” aus dem Juni 1953 mit der steilen These, dass jegliches Leben in den (jüdischen ) Gottesdiensten fehle – eine These, die Heschel nicht nur gegen die orthodoxen Juden Amerikas vorbringt.804 Denn Versammlungen seien vielmehr Dienst an der Gemeinde statt an Gott, der Rabbi werde zum “master of ceremonies”805 (was nichts anderes als einen Moderator eines profanen Unterhaltungsprogramms meint), der stellvertretend für die Gemeinde bete. Des Weiteren fehlt es laut Heschel den Gottesdiensten an “grace” (hebr. )חסד, an der Gegenwart der Seele, was er “spiritual absenteeism” 806 nennt. Heschel statt dessen fokussiert beim Gebet das Ereignis im Innern des Menschen.807 Denn jede Mitsvah mitsamt Kavanah ist für ihn gleichermaßen “[a] prayer in form of a deed”808 ; die Relationalität wird damit zur endgültigen Begründungskonstante.809 Wichtig dabei ist ihm, wie er bereits im ersten Kapitel thematisiert, dass die ganze Person antwortet, wodurch der Kavanah grundlegende Bedeutung zukommt, deren Quelle die Seele selbst ist.810 Denn die Kavanah ist für aber auf dem deutschen Artikel “Das Gebet als Äußerung und Einfühlung” von 1938 fußt, was einmal mehr deutlich macht, dass zentrale Erkenntnisse Heschels bereits vor seiner Emigration in die Vereinigten Staaten vorhanden sind. 802 Kaplan: Radical, 146. 803 Dies verrät auch schon das Vorwort, aus dem die Dialogsituation hervorgeht, und in dem Heschel sich für seine anstehende Kritik zwar entschuldigt, sich auf dieselbe Ebene wie die Zuhörer stellt und sich eigentlich auch nicht für qualifiziert hält, über das Gebet zu reden, obwohl er dann doch sehr “harsh” vorgeht; vgl. ebd., 147 u. Heschel: Grandeur, 100 (“The Spirit of Jewish Prayer”, 1953). Dieser Vortrag erscheint schließlich als Kap. 3, “Spontaneity Is the Goal”, in ders.: Man’s Quest, 47–90; nicht nur wird der einleitende Paragraph ausgelassen, sondern auch zahlreiche kleinere Kürzungen zieren den Text. Die Einschätzung von Kavka: “Meaning”, 120, ist dabei besonders hervorzuheben, der darauf hingewiesen hat, dass Heschel einige Stellen nicht nur bewusst für christliche Leser stilisiert hat, sondern mit der neuen Unterüberschrift “The Separation of Church and God” und dem anschließenden “We” sogar einen “effect of inscribing Christians within the people of Israel” vollzieht. 804 Vgl. Heschel: Grandeur, 100 (“The Spirit of Jewish Prayer”, 1953). 805 Ebd., 102 (“The Spirit of Jewish Prayer”, 1953). 806 Ebd., 103 (“The Spirit of Jewish Prayer”, 1953). 807 Vgl. ebd., 121; 125f. (“The Spirit of Jewish Prayer”, 1953). 808 Beides ebd., 114 (“The Spirit of Jewish Prayer”, 1953). 809 Dass Heschel trotz des relationalen Fokus an den Mitsvot als “‘leap of deeds” festhält, begründen Even-Chen und Meir: Between, 145, mit Verweis auf die Bibel, womit er sich signifikant von Buber unterscheidet, der die Gebote als “fixed religious framework” ablehnt, weil sie der “living dialogical and prophetic religiosity” (160) entgegenstünden. 810 Vgl. Heschel: Man’s Quest, 32; 34.
262 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase ihn nichts anderes als “attentiveness to God, an act of appreciation of being able to stand in the presence of God.” 811 Es setzt voraus, dass der Mensch sich im Gebet selbst transzendieren kann,812 wie Heschel es ausführlicher in God in Search of Man thematisieren wird. Wie schon in der Frühphase anhand der Auseinandersetzung mit der biblischen Prophetie und seinen Gedichten gesehen, geht es Heschel dabei aber nicht um Selbstverleugnung oder -auflösung, sondern darum, Objekt Gottes zu werden. Folglich ist das Problem nicht, “how to attract bodies to enter the space of a temple but how to inspire souls to enter an hour of spiritual concentration in the presence of God.”813 Die spontane Form der Begegnung zwischen Gott und Mensch (in Form von Person und Wort) nennt Heschel nun “act of expression […] to set forth before God a personal concern”,814 wie er es bereits seit 1938 thematisiert. Indem der einzelne Gedanke selbst zum Kern wird und das gesprochene Wort nur vermittelnde Funktion hat, ist Heschels Schlussfolgerung logisch, die höchste Form des Gebets sei das schweigende Gebet.815 Aufgabe des Rabbis ist Heschel zufolge deshalb konsequent “to be a mentor of prayer”,816 andere im Gebet anzuleiten, um die Gemeinde und jeden einzelnen 811 Heschel: Grandeur, 120 (“The Spirit of Jewish Prayer”, 1953); vgl. auch Horwitz: “Prayer”, 293 u. Breslauer: Spirituality, 44. Dies nennt Heschel auch richtige “Intonation”; Vgl. Heschel: Grandeur, 102 (“The Spirit of Jewish Prayer”, 1953). Zum Stellenwert der Kavanah neben den Mitsvot vgl. auch ebd., 140f.; 143f. (“Toward an Understanding of Halacha”, 1953) u. Marmur: Heschel, 62. 812 Vgl. Heschel: Man’s Quest, 29. 813 Ders.: Grandeur, 103 (“The Spirit of Jewish Prayer”, 1953). Im Sinne seines Essays “The Sabbath” behauptet er gleichermaßen, dass “[t]he problem is time, not space.” Statt vier Fehlansichten geht es bei Gebet nämlich um nichts weniger als um Gott selbst, dem man sich dadurch nähere, öffne und kennenlerne – vorausgesetzt, man wisse, vor wem man eigentlich steht (107–109). Dem Agnostizismus wirft er vor, die Synagoge als Gemeinschaftszentrum zu missbrauchen; dem sog. religiösen Behaviorismus, dass er in Traditionen aufgehe. Dann kennt Heschel die Gebetsform als sozialem Akt, was Gott unpersönliche Inspiration o. ä. impliziert. Und schließlich der religiöse Solipsismus (103–106). vgl. auch Kaplan: Radical, 147f. 814 Heschel: Man’s Quest, 28. 815 Vgl. ebd., 40ff. Das liturgische Wort zum Teil des Schweigens dazuzählen vermag Heschel deshalb, weil er zwei Formen des Schweigens kennt: 1. die Abstinenz des gesprochenen Wortes und 2. die Abstinenz von Sorgen. Denn in der Liturgie werde die individuelle Komponente ausgeblendet – so auch die Sorgen –, und der Beter reihe sich im Schweigen seiner Sorgen in die ewige Gemeinschaft des jüdischen Volkes ein: Der Jude, so Heschel, stehe als Mitglied der jüdischen Gemeinschaft vor Gott, ohne die keine jüdische Identität möglich sei (so schon “To Be a Jew” von 1947); Anbetung sei dabei Teilnahme am ewigen Dienst der Seelen aller Tage, sodass Heschel in der relational-zwischenmenschlichen Dimension sogar eine Zweite kennt, die des Individuums zum Kollektiv und zeitlich übergreifend (vgl. 46). Interessanterweise verortet Heschel an anderer Stelle die Shekhinah in den Worten selbst; Vgl. ders.: Insecurity, 251 (“The Vocation of the Cantor”, 1957). 816 Ders.: Grandeur, 115 (“The Spirit of Jewish Prayer”, 1953).
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wieder neu zu beleben.817 Und auch die Predigt hat eine ausschließlich relationale Funktion, weil der Test für eine wahre Predigt der sei, ob man sie auch in ein Gebet umformulieren kann.818 Wesentlicher Hinderungsgrund für lebendiges Gebet sei schließlich aber auch eine falsche Theologie, zumal niemand ohne Theologie sei, während Gebet aber “out of the awareness of the mystery of God”819 komme. Deshalb zielt Heschel implizit auch auf die Notwendigkeit einer amerikanisch-jüdischen Theologie ab, wie Kaplan richtigerweise feststellt,820 die Heschel mit God in Search of Man wenige Jahre später publizieren wird. Doch schon zu diesem Zeitpunkt bezieht Heschel mit dem Artikel “Symbolism and Jewish Faith”821 von 1954 theologische Kritik, besonders an der Reduktion des Judentums auf reine Symbolik, den er im sog. “Rekonstruktivismus” seines JTSKollegen Mordechai Kaplan vorfindet.822 Denn If God is a symbol, He is a fiction. But if God is real, then He is able to express his will unambiguously. […] What we need is honesty, stillness, humility, obedience to the word of God. What we need is a new insight rather than new symbols. […] We do not suffer symbolically; we suffer literally, truly, deeply; symbolic remedies are quackery. The will of God is either real or a delusion.823
Gegen jede Form von Symbolismus führt Heschel deshalb den existentiellen Grund des Menschen ins Felde, Gott zu suchen, und zwar aufgrund seiner “awareness of the ineffable”.824 Denn Gebet ist für Heschel “ontological necessity”:
817 Mit “The Vocation of the Cantor” weitet Heschel: Insecurity, 245 (“The Vocation of the Cantor”, 1957) einige Jahre später die für den Rabbi thematisierte Mentoren-Rolle auch auf den Hazzan (dt. “Kantor”) aus, der ins Gebet anleiten soll, was zur Überwindung zahlreicher Mauern ebenfalls über die Liturgie funktionieren soll (im Sinne des act of empathy; vgl. s. u.), und zwar als “a way of bringing down the spirit from heaven to earth.” 818 Vgl. ders.: Grandeur, 117 (“The Spirit of Jewish Prayer”, 1953). Heschel verwirft damit nicht die Predigt, wie Horwitz: “Prayer”, 293, es behauptet, sondern setzt sie vielmehr neu in Kraft. 819 Heschel: Grandeur, 126 (“The Spirit of Jewish Prayer”, 1953). 820 Vgl. Kaplan: Radical, 148. 821 Dieser Artikel erscheint schließlich als fünftes Kapitel unter dem Titel “Symbolism” in Heschel: Man’s Quest, 115–144. 822 Kaplan: Radical, 139: “He [Heschel; Anm. von P. M.] shared the Reconstructionists’s goal of revitalizing observance, but he held that their focus on symbols denied its sacred essence”. 823 Heschel: Grandeur, 99 (“Symbolism and Jewish Faith”, 1954) u. ebd., 128 (“Toward an Understanding of Halacha”, 1953). 824 Ebd., 95 (“Symbolism and Jewish Faith”, 1954); vgl. auch Kaplan: Holiness, 81 u. Breslauer: Spirituality, 187.
264 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase “He who has never prayed is not fully human”825 , in demselben Sinne wie die Tatsache, dass jeder Mensch mit Religion zu tun habe.826 Erst der moderne Mensch hat Heschel zufolge Gott vergessen und sich selbst zum Maß aller Dinge erhoben, was Hauptgrund für das Aufblühen von Symbolismus ist.827 Statt Gott als Idee zu begreifen, pocht Heschel darum immer wieder auf dessen Offenbarungscharakter, die Torah als Gottes Vision über den Menschen, den Heschel in seiner Körper-Seele-Einheit als einziges Ebenbild Gottes anerkennt.828 Es sind die (zuvor bereits erwähnten) Ereignisse, in denen Gott und Mensch einander begegnen, womit der relationale Charakter in Heschels Denken erneut deutlich wird.829 Dies macht er auch im Gegensatz zur Sakralarchitektur des Christentums klar.830 Hierin läge der Grund für sämtliche kreativen Aktivitäten, aber auch für den immer fortwährenden Streit zwischen Verehrung von Idolen (= Symbolen) und Anbetung des Gottes Israels, durch den der Jude klar Seinen Willen erfahre.831 Von dieser klaren Perspektive berichtet einzig die Bibel, die Heschel zufolge ebenfalls nicht symbolisch gemeint sein kann, da man nicht symbolisch liebt und auch nicht symbolisch Gott dienen kann, der im Judentum nicht unbekannt ist.832 Zwischen realen, Gott darstellenden und konventionellen 825 Beides Heschel: Grandeur, 116 (“The Spirit of Jewish Prayer”, 1953). 826 Darum Barnard: “Attitude”, 34: “Heschel calls religion (as well as prayer) an ontological necessity because it is religion that expresses the essential fact about human existence: related to God. […] To be related to God is to face God’s question, ‘Where art thou?’ ” 827 Von Kant ausgehend über Salomo Maimon, hat Heschel zufolge das nur symbolische erkennen Können Einzug auch ins Judentum genommen, dessen Ursachen er im physischmathematischen Abstrahieren verortet; vgl. Heschel: Grandeur, 87 (“Symbolism and Jewish Faith”, 1954). “Thus, symbolism became the supreme category in understanding religious truth” (88), wodurch aber jegliche Relationalität zerstört ist; “symbolism degenerates into a vicarious religion” (89). In diesem Sinne charakterisiert er 1957 das ihm zufolge abgestumpfte amerikanische Judentum anhand der drei Attribute “Disaster, deliverance, dismay” und kommt zu dem Schluss, dass “[s]ince the day the Temple was destroyed there has been no age like ours” (beides ders.: Insecurity, 187 (“The Individual Jew and His Obligations”, 1957)). 828 Vgl. ders.: Grandeur, 84f. (“Symbolism and Jewish Faith”, 1954) u. ebd., 130 (“Toward an Understanding of Halacha”, 1953). 829 Vgl. ebd., 83 (“Symbolism and Jewish Faith”, 1954) u. ebd., 130 (“Toward an Understanding of Halacha”, 1953). So auch Even-Chen und Meir: Between, 170 u. Kaplan: Holiness, 48; 78. 830 Einen weiteren Grund für den Symbolismus entdeckt Heschel überhaupt erst in der Existenz von Kunst als Gehilfin der Religion; vgl. Heschel: Grandeur, 80f. (“Symbolism and Jewish Faith”, 1954). 831 Vgl. ebd., 96f. (“Symbolism and Jewish Faith”, 1954); in ähnlicher Weise später in ders.: Insecurity, 200f. (“The Individual Jew and His Obligations”, 1957). 832 Vgl. ders.: Grandeur, 89f.; 98 (“Symbolism and Jewish Faith”, 1954).
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Symbolen unterscheidend, widersetzt er sich darum jeglicher Vergöttlichung der Erde – und somit pantheistischen Ansätzen –, da es ihm zufolge im Judentum nirgends materiell-erschaffene Verkörperungen des einig-einzigen Gottes geben darf.833 Transzendenz und Immanenz bleiben klares Gegenüber. Lediglich dienenden Charakter erkennt Heschel an, indem er Symbole auf die Ebene von Minhagim (dt. “Bräuche”) stellt, während die Mitsvot tatsächliche Heiligungen sind – “to express the will of God”834 . Im Sinne des unveröffentlichten Artikels “No Time for Neutrality”, womöglich aus dieser Zeit,835 geht es Heschel darum, sich voll und ganz Gott hinzugeben – statt das Leben als “pursuit of happiness”836 zu verstehen –, weil in dieser Entscheidung keine Partikularität möglich ist. Dies schlägt sich in regelmäßigen Gebeten und Taten nieder “[t]o repair the world under God’s dominion.”837 Gebet ist für Heschel nämlich nie nur in individualistischer Frömmigkeit ausgeschöpft, was er in besonderer Weise gegenüber dem Reformjudentum deutlich macht.838 So hoch er auch die Kavanah einstuft und die Spontaneität will – als “act of expression” –, so wichtig ist für ihn die “duty to worship, a law to remind my destraught mind that it is time to think of God, time to disregard my ego for at least a moment!”839 Dementsprechend kennt Heschel als zweite Form des Gebets den “act 833 Vgl. Heschel: Grandeur, 81ff. (“Symbolism and Jewish Faith”, 1954). 834 Ebd., 92 (“Symbolism and Jewish Faith”, 1954). 835 Kaplan: Radical, erwähnt diesen Artikel Heschels nicht, und auch gibt Heschel: Grandeur keinen Hinweis auf das Entstehungsdatum; aufgrund der Kürze und fehlender Fußnoten/Quellenangaben wäre ein Vortrag als Zweck ebenso denkbar. 836 Ebd., 75 (“No Time for Neutrality”, 1950er?) 837 Ebd., 130 (“Toward an Understanding of Halacha”, 1953). So auch Merkle: Genesis, 138: “From the revelation of divine law we learn that God chooses not to be alone in redeeming the world. From divine love we know of God’s share in human life. And from divine law we know of our share in God’s design for a world redeemed.” Selbst hier findet man also chassidische Einflüsse. 838 Besonders das Kap. 4, “Continuity Is the Way” (Heschel: Man’s Quest, 91–116), zeigt dies, das auf dem Vortrag “Toward an Understanding of Halacha” von 1953 beruht, den Heschel bei der Versammlung der Zentralkonferenz amerikanischer Rabbiner hält. Die Zentralkonferenz steht in enger Verbindung zum Hebrew Union College, in dessen Zusammenhang Heschel für seine Zeit als dortiger Mitarbeiter unter dem besonderen Einsatz von Morgenstein dankt; vgl. ders.: Grandeur, 127 (“Toward an Understanding of Halacha”, 1953). Trotz seiner biographischen Züge wirken viele der Worte Heschels konfrontativ, so Kaplan: Radical, 154f. Dass Heschel selbst nicht nur orthodoxe, sondern natürlich auch liberale Tendenzen in sich trägt und so “unsatisfactory to purist in both camps” (ders.: Holiness, 16) steht, ist offensichtlich. Je nach Gegner und Anlass legt er allerdings ganz in prophetischer Manier den Finger in die Wunde und betont den Punkt, der ihm gerade wichtig erscheint. 839 Heschel: Grandeur, 131 (“Toward an Understanding of Halacha”, 1953).
266 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase of empathy”: “Here the word comes first, the feeling follows.”840 Man fühlt sich hierbei in ein vorformuliertes Gebet ein, um die Kontinuität im Glaubensvollzug sicherzustellen. In ganz ähnlicher Weise kann Heschel darum auch die Halakha wertschätzen und mit der Kavanah in Einklang bringen, die zwar die Essenz jedes Gebetes sein soll; die Halakha aber kann Zeiten überbrücken, wenn die Kavanah gerade nicht präsent ist.841 Nicht nur deshalb ist für Heschel die Mitsvah “[a] prayer in form of a deed.”842 Gleichsam kommuniziert man laut Heschel im Geist der Propheten und Heiligen Israels, wobei die liturgische Ordnung fester Gebete zu bestimmten Zeiten der Erinnerung dient, immer wieder in Kontakt zu Gott zu treten.843 Diese Ansichten leistet ihm zufolge lediglich die “Orthodoxy”, während er das Reformjudentum für eine “religion of choice”844 hält, weil dort der Mensch im Zentrum als Maß aller Dinge steht, was Heschel natürlich ablehnt.845 Zudem besitzt das Gebet laut Heschel auch soteriologisch-kosmische Bedeutung, denn “[t]o pray, then, means to bring God back into the world, to establish his kingship, to let his glory prevail”846 , da sich die Shekhinah im Exil befindet, 840 Heschel: Man’s Quest, 28. 841 Vgl. ders.: Grandeur, 113 (“The Spirit of Jewish Prayer”, 1953). 842 Ders.: Man’s Quest, 69. 843 Vgl. ebd., 33. Genau diesen Zweck erfüllt laut Heschel das Gebetsbuch, der Siddur, für dessen Verständnis jedoch eine “sympathetic prayerbook exegesis” nötig ist, also den Siddur entsprechend relational zu lesen; vgl. ders.: Grandeur, 119 (“The Spirit of Jewish Prayer”, 1953); s. auch ders.: Insecurity, 249 (“The Vocation of the Cantor”, 1957). Heschels Verständnis des Gebetbuchs im Vergleich zu Joseph B. Soloveitchik und Yeshayahu Leibowitz, die wesentlich stärker den Fokus auf den halakhischen Aspekt legen, erläutert Hartman: “Prayer”, 116. Als tatsächliches Problem bezeichnet Heschel allerdings die Festlegung auf eine Liturgie, wenn dadurch spontanes, durch die Kavanah initiiertes Gebet geradezu unmöglich wird; vgl. Heschel: Grandeur, 111 (“The Spirit of Jewish Prayer”, 1953). Damit hebt er sich deutlich von dem traditionell-orthodoxen Gebets-Verständnis eines Soloveitchik oder Leibowitz ab, die Gebet “as a kind of akedah experience” verstehen, “whereby the worshiper, like Abraham, sacrifices the human self on the altar of faith” (Hartman: “Prayer”, 119). 844 Beides Heschel: Grandeur, 144 (“Toward an Understanding of Halacha”, 1953). 845 An späterer Stelle, im Zuge des Artikels “The Individual Jew and His Obligations” von 1957, begegnet Heschel deshalb dem falsch verstandenen negativen Image der Halakha und der Herausforderung zwischen (dem falsch verstandenen) ganz oder gar nicht mit einer “pedagogy of return” plus “ladder of observance” (ders.: Insecurity, 206 (“The Individual Jew and His Obligations”, 1957)), um nach und nach eine geistliche Wiederbelebung zu erlangen, was schließlich in den Rat mündet, mehr zu tun, als möglich ist (vgl. 207). 846 Ders.: Grandeur, 110 (“The Spirit of Jewish Prayer”, 1953).
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womit die Präsenz des chassidischen Erbes in dieser Mittelphase erneut deutlich wird. In gleicher Weise spielen die Mitsvot auf dem Weg zur Heiligung und Erlösung eine entscheidende Rolle.847 Denn er weiß, dass “[m]ost vividly Jews feel that the world is not redeemed”;848 Erlösung versteht Heschel damit im Sinne seiner mystisch-kabbalistischen Tradition zu allererst als “universal salvation”849 , ohne darin jedoch irgendeine Form von Erbsündenlehre zu akzeptieren.850 Obwohl sich nicht alle Gebote rational begründen lassen (zumal ihr Umfang von Generation zu Generation von Mose ausgehend angewachsen ist), besitzen sie für Heschel eine spirituelle Dimension und sollten ernst genommen werden, sofern man nicht mit Gott spielen will.851 Und so lastet auf dem Juden – in ähnlicher Weise wie in Bonhoeffers Nachfolge auf dem Christen – die Verantwortung als Antwort auf den Ruf Gottes zum Handeln, das er als “in doing we perceive”852 kompakt auf den Punkt bringt, worin sich erneut die Gott-menschlich-menschliche Beziehung in Heschels Denken zeigt. Es geht Heschel natürlich nicht um Glaube an die Taten, sondern Glaube, der durch Taten als “leap of action” gewonnen werde, wie er gegen Kierkegaard formuliert und begründet: “In doing we perceive”.853 Das Judentum versteht Heschel dabei als Deutungshorizont, das sich mit seinen Mitsvot substantiell von der Griechischen Philosophie und ihren Werten unterscheide.854
847 Vgl. Heschel: Grandeur, 76f. (“No Time for Neutrality”, 1950er?) Und natürlich darf der chassidische Gedanke der Avodah be-Gashmiut nicht fehlen, dass alles heilig sein kann vor Gott und somit in jeder noch so profanen Form Gott geehrt werden kann (vgl. 75). 848 Ebd., 78 (“No Time for Neutrality”, 1950er?) 849 Ebd., 78 (“No Time for Neutrality”, 1950er?) 850 Vgl. auch ebd., 87 (“Symbolism and Jewish Faith”, 1954). Dass Heschels kabbalistischer Bezug aber nicht simplifizierend zu verstehen ist, betont Green: “Heschel”, 75: “[H]e does not want to say in any coarse or simplistic way that the mitzvot fulfill a divine need. But he does want to say that human actions done in holiness, deeds that seek to fulfill God’s will in this world, are an infinite source of blessing to God an to the world.” 851 Vgl. Heschel: Grandeur, 133f. (“Toward an Understanding of Halacha”, 1953). 852 Ebd., 79 (“No Time for Neutrality”, 1950er?) 853 Beides ebd., 137 (“Toward an Understanding of Halacha”, 1953). Vgl. auch Even-Chen und Meir: Between, 145; 159; 163ff. Darum Sommer: Revelation, 127: “Heschel rejects the reduction of Judaism to legalism, for he regards the law as a means rather than an end. But Heschel makes clear that consistent commitment to this particular means is indispensable for any authentic Jewish life.” 854 Vgl. Heschel: Grandeur, 17 (“The Moment at Sinai”, 1953). Jüdisches Leben ist darum auch nicht durch “common sense” oder “common experience” darzulegen, denn die göttliche Bedeutung ist geistlich und fußt deshalb auf geistlicher Vorbereitung in Akten, nicht Spekulationen; vgl. ebd., 136 (“Toward an Understanding of Halacha”, 1953).
268 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase Denn diese Tat-orientierte Religiosität ist für Heschel nichts weiter als “Imitatio dei [is] in deeds”855 , um realiter für den Nächsten Gottes Symbol zu sein und die Ebenbildlichkeit zu verbessern;856 die Ähnlichkeit zu Bonhoeffers Argumentation, Christus für den Nächsten zu werden, ist faszinierend. Darum gehören die beiden Liebesgebote im Doppelgebot (vgl. Lev 19,18; Dtn 6,5 u. Mk 12,28–31 par.) unumgänglich zusammen.857 Mit Man’s Quest for God macht Heschel letztlich also klar, “that the essential thing in life – worship of God with the whole of all human powers (as directed by the Commandment of Commandments) – has two inextricable aspects: prayer and deeds.”858 Wegen seiner weiten Verbreitung im akademisch-pädagogischen Kontext verwirft Heschel zwar nicht religiöse Institutionen oder Kultur an sich, doch verweist er deutlich auf die “illness of contemporary religious institutions”859 und “blame[s] secular civilization – ‘us’ not ‘them’, including Americans – for distorted values and a feeble, ineffective response to events”860 . Besonders hart trifft es Heschel am JTS selbst, wo er insbesondere durch Saul Lieberman und indirekt auch durch Louis Finkelstein angegangen und abqualifiziert wird, was sich nicht nur in Benachteiligungen im Lehrplan niederschlägt, sondern sogar in Diffamierungen vor Studenten.861 In prophetischer Klarheit schießt Heschel dennoch immer wieder zurück – besonders kühn, scharf und bewusst überzogen in seinen Vorträgen.862 Von jüdischer Seite aus wird Man’s Quest for God bzw. die zuvor in Vorträgen präsentierten Ansätze sehr ambivalent bis höchst kritisch rezipiert, was unter anderem mit Heschels pointierter Abgrenzung gegen den Rekonstruktionismus zusammenhängt.863 Aber nicht nur von jüdischer und auch christlicher Seite aus wird das Werk gelesen, sondern “for the first time comments on Heschel ap-
855 Heschel: Grandeur, 140 (“Toward an Understanding of Halacha”, 1953). 856 Vgl. ebd., 86 (“Symbolism and Jewish Faith”, 1954). So auch Breslauer: Spirituality, 189, Friedman: “Divine Need”, 295 u. Green: “Mystics”, 47. 857 Heschel: Grandeur, 85 (“Symbolism and Jewish Faith”, 1954): “Reverence for God is shown in our reverence for man.” Trotz Seiner Transzendenz ist Gott damit im Nächsten nahe (vgl. 86). Observanz kann Heschel deshalb auch nur als Antwort auf Gott verstehen, sofern dies in der richtigen Einstellung (Kavanah) getan wird (vgl. 91–95). 858 Reder: “Quest”, 193. 859 Kaplan: Holiness, 109 (vgl. 14): “Theocentric prayer also challenges the integrity of our institutions.” Vgl. auch ders.: “Radicalism”, 41. 860 Ders.: Holiness, 12. 861 So ders.: Radical, 129ff. 862 Vgl. ebd., 138. 863 So ebd., 165f.
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peared in a publication whose main purpose was interfaith understanding.”864 Insgesamt ist Man’s Quest for God Heschels bis dato umfassendster Anspruch an die (vorwiegend amerikanische) Leserschaft, auf Grundlage der Spiritualität zu dem Gott der Bibel die Gesellschaft zu verändern.865 Die Kernelemente aus hiesigen Publikationen münden auch in praktischpädagogische Gedanken – freilich andererorts –, weshalb sie an dieser Stelle kurz erläutert seien.866 Statt sog. “wissenschaftlicher” Ansätze (Soziologisierung u. Psychologisierung) hebt Heschel die spirituelle Dimension des Judentums hervor, denn “we have thus far not succeeded in meeting the longing of our people for spiritual nourishment.”867 Erst dadurch aber sei überhaupt, so Heschel, eine Einheit der jüdischen Entität gegeben.868 Statt psychologierender “self-expression” schlägt Heschel “self-attachment”869 vor, und zwar als Moment der Inspiration wie bei einem Künstler, weshalb sich ein Schüler zunächst einmal selbst mit bedeutenden Quellen zur Inspiration auseinandersetzen soll, wohinter sich natürlich nichts anderes verbirgt als das traditionelle Talmud Torah mit dem Primat des Studiums jüdisch-religiöser Texte als Antwort auf Gottes Forderung an den Menschen –870 , besonders aber auch die von der Wissenschaft des Judentums weitestgehend verschmähte Tradition des Chassidismus, die nicht 864 Kaplan: Radical, 165. 865 So ähnlich auch Kavka: “Meaning”, 121: “Man’s Quest becomes an attempt to persuade Christians and Jews to engage in more authentic forms of worship that engender a public sympathy with God’s will and, in this process, to deepen the antinaturalist alliance between American religious believers to which Heschel had committed himself in his 1940 response to Einstein. Heschel is clearer than in any of his previous writings about the need for a quasi-theocratic covenanted polity and the way in which a nation’s allowing the divine will to prevail in its citizens’ affairs can heal the West of the crisis of dehumanization that Heschel believes to have been brought on by naturalism.” Oder anders gesagt (Breslauer: Spirituality, 9): “Spirituality, as renewed responsibility, requires more of human beings than common ethics, it requires an extraordinary ethical concern. By remembering that concern, people may not change what they do, but will change their attitude to what they do.” “For to worship is to expand the presence of God in the world” (Kaplan: Holiness, 87). Ähnlich auch Merkle: Approaching God, 25. 866 Heschel tut dies einerseits mit seinem Vortrag “The Spirit of Jewish Education” im Februar 1953, durch den Heschel “then spoke as a prophet, anticipating by ten years his social activism and demanding the highest ethical standards” (Kaplan: Radical, 145); andererseits schlägt sich dies in dem thematisch und argumentativ sehr ähnlichen Artikel “Teaching Religion to American Jews” von 1956 nieder. 867 Heschel: Grandeur, 148 (“Teaching Religion to American Jews”, 1956); vgl. auch ders.: Insecurity, 223f. (“Jewish Education”, 1953); s. auch ders.: Papers, 77/6, 9. 868 Vgl. ders.: Insecurity, 226 (“Jewish Education”, 1953). 869 Beides ebd., 229 (“Jewish Education”, 1953). 870 Vgl. ders.: Grandeur, 151 (“Teaching Religion to American Jews”, 1956).
270 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase den sephardisch-mittelalterlichen Idealen entspreche.871 Statt einer Verwissenschaftlichung, wie im mehrfach verschmähten sog. religiösen Behaviorismus, verweist Heschel mit dem “Shema‘” (Dtn 6,4) vielmehr auf das Zuhören, auch im methodisch-hermeneutischen Sinne auf die Texte, wodurch erst persönliche Teilnahme und Ergriffenheit möglich sei.872 Denn Heschels Ziel ist, dass “every Jew become [sic!] a representative of the Jewish spirit, that every Jew become [sic!] aware that Judaism can be an answer to the ultimate problems of human existence and not merely a way of ‘handling observances‘.”873 Überhaupt trumpft Heschel auch mit dem jüdischen Volk als kollektivem Gedächtnis und dessen Erfahrungen in ultimativen Fragen auf gegen die Zivilisation – und somit gegen den Rekonstruktionismus – und will so mit Inhalten statt Techniken überzeugen, mit Wertschätzung nebst Informationen.874 Zeugenschaft, Relationalität und damit Begegnung erwartet Heschel deshalb auch von dem Lehrer als Vorbild, der als Mittler zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft steht, dessen großes Ziel der Tiqqun ‘Olam ist, die Wiederherstellung der Welt.875 Denn: “May I say perhaps that Judaism is teacher-centered. The teacher is the center. God himself is a Melamed”.876 3.3.8 Erster Höhepunkt hebräischen Denkens und Durchbruch zur Tiefentheologie: God in Search of Man (1955/1956) Das Hauptwerk Heschels, der Dreh- und Angelpunkt seines Denkens (nicht nur) dieser Mittelphase, wird aber God in Search of Man – “the turning point in He871 Vgl. Heschel: Insecurity, 229f.; 237–239 (“Jewish Education”, 1953) u. ders.: Grandeur, 150 (“Teaching Religion to American Jews”, 1956). Und auch die zuvor thematisierte “sympathetic prayerbook exegesis” (ebd., 152 (“Teaching Religion to American Jews”, 1956)) spielt eine bedeutende, praktische Rolle; vgl. Fußnote 843. 872 Vgl. ebd., 150f. (“Teaching Religion to American Jews”, 1956). 873 Ebd., 149 (“Teaching Religion to American Jews”, 1956). S. auch Merkle: Genesis, 204 u. Geffen: “Humanism”, 54. 874 Vgl. Heschel: Insecurity, 236 (“Jewish Education”, 1953) u. ders.: Grandeur, 149 (“Teaching Religion to American Jews”, 1956). 875 Vgl. ders.: Insecurity, 237 (“Jewish Education”, 1953). 876 Ders.: Papers, 77/6, 1; an ebendieser Stelle, ebd., 77/6, 1–22, findet man einen inhaltlich ähnlichen, teilweise identischen Vortrag zu jüdischer Erziehung, in dem Heschel – wie in einem der nachfolgenden Vorträge, “Symbolism and Jewish Faith” (1954) – die Minhagim aufgrund ihres Routine-Charakters als größten Feind des Geistes versteht; Vgl. ebd., 77/6, 17. Vgl. auch ders.: Grandeur, 153 (“Teaching Religion to American Jews”, 1956). Überhaupt, so erklärt Heschel, besitze das Wort “Erziehung” (engl. “education”) im Hebräischen die Konnotation von “konsekrieren” (engl. “consecrate”); vgl. ders.: Insecurity, 236 (“Jewish Education”, 1953).
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schel’s life and thought”,877 wie Kaplan bemerkt. Das Werk vereint in sich die zentralen Facetten seines Denkens und kann deshalb trotz einiger Neuerungen als eine Art Kompendium bzw. – in Anklang an Thomas von Aquins Werk – als eine jüdische “summa theologica” bezeichnet werden, wie nachfolgend deutlich werden wird; gleichzeitig vertieft er gewisse Aspekte gegenüber Man is not alone und entwickelt neue Gedanken.878 Es stellt damit Höhe- und Wendepunkt in Heschels Leben und Denken dar, wie sich im Weiteren zeigen wird.879 In drei Hauptteilen entfaltet Heschel seinen Gesamtentwurf jüdischer Religionsphilosophie, der sich in vielen Aspekten an die “Vorlage” von Man is not alone hält und stellenweise wie eine Überarbeitung bzw. Erweiterung (besonders) durch Quellenangaben wirkt, besonders in Teil I (“God”).880 Hermeneutisch-epistemologische Grundlagen werden geklärt, wobei das Titel gebende Unterkapitel God in Search of Man bereits von der Dissertation beeinflusst ist. Teil II (“Revelation”) knüpft an Die Prophetie und The Sabbath an und thematisiert vorwiegend biblischen Stoff, während sich Teil III (“Response”) in zahlreichen Aspekten mit Man’s Quest for God deckt.881 3.3.8.1 Methodologische Rahmenbedingungen Um einen Gesamtentwurf seiner jüdischen Religionsphilosophie vorlegen zu können, klärt Heschel zunächst die methodologischen Rahmenbedingungen, die besonders für den Frömmigkeits-Schwerpunkt seiner Mittelphase wichtig sind. Von der modernen ich-zentrierten Perspektive ausgehend, definiert er Religion als “answer to man’s ultimate questions”, während er die Philosophie als “art of asking the right questions”882 versteht; Philosophie hat zwar “lediglich” 877 Kaplan: Radical, 166. 878 “A Jewish Summa Theologica (1952–1956)” lautet der Titel des entsprechenden Kapitels in ebd., 157–174. 879 So urteilt auch ebd., 166. Noch drastischer Eisen: “Re-Reading”, 23: “In a sense, all of Heschel’s work was preparation for this, his break with the reality – if not the principle – of Orthodoxy.” 880 Green: “Mystics”, 33 macht außerdem darauf aufmerksam, dass ein unvollendetes Werk von Hillel Zeitlin Vorlage für “Heschel’s grand introduction to God in Search of Man,” gewesen sein könnte. Erlewine: “Rediscovering”, 181, hält allerdings an dem teils desaströsen Urteil fest: “Heschel is not interested in argument.” 881 Ziel der nachfolgenden Darstellung ist dabei nicht in erster Linie, Gemeinsamkeiten nachzuzeichnen. Diese werden zwar stillschweigend vorausgesetzt bzw. kurz genannt; für den Duktus dieser Untersuchung sind vielmehr die Gesamtkomposition sowie neue Ansätze relevant, sofern sie Heschels relationales Denken betreffen. 882 Heschel: God, 4; s. auch den späteren Artikel “The Individual Jew and His Obligations” zwei Jahre später; vgl. ders.: Insecurity, 197 (“The Individual Jew and His Obligations”, 1957) u. Merkle: Genesis, 37ff.
272 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase Hilfsfunktion, gleichzeitig aber die Verantwortung “to attain a synoptic view of things, to see the whole of the world and its parts together.”883 Denn wenn es um die existentiellen Fragen geht – welche Teil eines vitalen Glaubens sind –, spielt die eigene Existenz in ihrer konkreten Situation für den Erkenntnisprozess eine entscheidende Rolle, was Heschel als “situational thinking”884 bezeichnet. Heschel geht mit diesem situativen Denken somit einen entscheidenden Schritt weiter als der Existentialismus, der zwar menschliche Existentiale wie Glauben (Kierkegaard), Gott/Welt/Mensch (Rosenzweig) oder auch Zeit/Tod (Heidegger) in ihrer grundsätzlichen Dimension analysiert,885 ohne aber der jeweilig-konkreten Situation des Glaubensvollzugs eine eigene Stimme zu verleihen. Doch gerade für Heschels göttliches Pathos wie auch die prophetische Sympathie (bzw. die entsprechend verallgemeinerte Form als Frömmigkeit) ist diese Relationalität zur (konkreten) Welt unabdingbar.886 Denn wie schon in vorigen Schriften angeklungen, konzentriert sich Heschel auf die aus seiner Sicht vernachlässigte fides qua creditur; weil er mit seinem Verstehensansatz den Rahmen der Phänomenologie überschreitet, nennt er dies auch “radical self-understanding”: “[N]ot how he [man; Anm. von P. M.] experiences the supernatural, but why he experiences and accepts it”.887 Weil es Heschel dabei um die Tiefe des Glaubens geht, nennt er seine Methode “Tiefentheologie” (engl. “depth-theology”), die er aufgrund der Unaussprechlichkeit (engl. “ineffable”) des Göttlichen im vorkonzeptionellen Denken (engl. “preconceptual thinking”) verortet.888 Denn Gottesbegegnungen könnten nicht in bloßer Refle-
883 Heschel: God, 12; vgl. ders.: Grandeur, 321 (“The Holy Dimension”, 1943). 884 Ders.: God, 5. Erlewine: “Rediscovering”, 175: “The thinker herself, her very existence, is implicated in the process of thought.” Vgl. auch Merkle: Genesis, 29 u. 34f., der daraus schlussfolgert, dass jedes von Heschels Büchern Produkt situativen Denkens ist. 885 Vgl. Kierkegaard: Furcht, Rosenzweig: Stern u. Heidegger: Sein. 886 Mit der Situationsanpassung begründet Merkle: Genesis, 133 (vgl. auch 95ff.), das Leiden Gottes, das er damit in Seiner Existenz verortet: “God suffers change not because of any imperfection but because different situations demand different divine replies.” Gegen Even-Chen: “Omnipresence”, 63, der Heschels Gott aufgrund seines Pathos die Omnipotenz abspricht. 887 Heschel: God, 7; vgl. 6f. zum Fokus auf den Glaubensakt s. auch Merkle: Genesis, 45. 888 Vgl. Heschel: God, 7. Denn “no one hears the Word of God as it is”, so Merkle: Approaching God, 42 (vgl. auch 47). Zu Heschels “preconceptual thinking” vgl. auch Heschel: God, 115f. S. auch Even-Chen und Meir: Between, 266; Held: Heschel, 143; Kaplan: “Language”, 104; Merkle: Genesis, 46 u. Perlman: Idea, 31f. Grötzinger: “Tradition”, 29f., schließt mit dieser Stoßrichtung auf Heschels mögliche Absicht, hinter die denominationellen Trennungen des Judentums zu treten: “The most outstanding feature of Heschel’s book is his return to a conception of Judaism before this split into Orthodoxy and Reform Judaism. This is a return to the pre-medieval conception of a complementarity between aggadah and halakhah. […] Turning to the first part of the book,
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xion wiedergegeben werden oder seien gar in Konzepten zu beschreiben,889 wie Heschel es schon seit seiner Frühphase formuliert. Dementsprechend wiederholt er sein Statement aus “The Holy Dimension”, dass Religion “can only be studied in its natural habitat of faith and piety, in a soul where the divine is within reach of all thoughts.”890 Ontologische Vorannahme und somit indiskutabel ist für Heschel in alledem die Existenz Gottes, denn “there can be no thinking about God without the premise of the realness of God”.891 Weder ist Gott völliges Mysterium noch Symbol, sondern in Seiner “ultimacy” (einig, einzig, ewig) auf jeden Fall lebendig.892 Die Aufgabe von Religionsphilosophie ist deshalb, das religiöse Verständnis ins Verhältnis zur Gesamtheit menschlichen Verstehens zu setzen.893 Dahinter verbirgt sich sog. “elliptic thinking”,894 weil Heschel Religionsphilosophie als Produkt der Begegnung von jüdischer Religion und griechischer Philosophie versteht, deren Spannung zu halten essentiell ist, damit am Ende keine philosophische Religion entsteht.895 Schon zuvor hat er sich dieser Unterscheidung angenommen, systematisiert nun aber auf breiter Ebene. Um dies sicherzustellen, intensiviert Heschel die bereits zuvor thematisierte Unterscheidung zwischen griechischem und hebräischem Denken, die nicht nur kategorisch, sondern auch spirituell “worlds apart”896 seien: Während griechisches Denken den Blick auf
entitled ‘God’, it becomes obvious that Heschel’s supposed return to the pre-medieval combination, giving aggadah sufficient emphasis at the side of halakhah, is carried out by means of two quite modern and even contradictory Jewish traditions not known in rabbinical times. The one tradition is derived from post-enlightenment empiricism and the other from Hasidic mysticism.” Breslauer: Spirituality, 24f., hat dagegen schon die interreligiöse Dimension im Blick, weil “Depth-Theology, as he [Heschel; Anm. von P. M.] explained it, looks at the foundational spiritual condition from which all particular religious traditions spring. Depth-Theology consists of those general principles that underlie religious thinking.” 889 Vgl. Heschel: God, 8; s. auch ders.: Insecurity, 199 (“The Individual Jew and His Obligations”, 1957). Kaplan: “Heschel”, 1, beschreibt die Tiefentheologie Heschels dementsprechend zutreffend als “combination of pragmatic and theoretical intent as he [Heschel; Anm. von P. M.] helps readers to integrate ineffable insights into a lifelong process of validating the divine.” Vgl. auch Even-Chen und Meir: Between, 265. 890 Heschel: God, 8 = ders.: Grandeur, 318 (“The Holy Dimension”, 1943). S. auch zurecht Perlman: Idea, 7; 73. 891 Heschel: God, 121f. 892 Vgl. ebd., 126. 893 Vgl. ebd., 12. 894 Ebd., 12f. 895 Vgl. ebd., 13f. 896 Ebd., 15.
274 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase Ontologie bzw. Metaphysik richtet, nach einem Prozess oder auch dem Wie fragt, legt hebräisches Denken den Wert auf Ereignisse und “relationship of the Creator and the universe as a relationship between two essentially different and incomparable entities”, was Heschel auch “meta-history” nennt. Denn “[t]he Bible does not intend to teach us principles of creation or redemption. It came to teach us that God is alive, that He is the Creator and Redeemer, Teacher and Lawgiver.”897 Jüdische Religionsphilosophie kombiniert schließlich o. g. Ideen und Ereignisse, weshalb Heschel seine Aufgabe darin versteht, “[t]o understand the meaning of these events, teachings and commitments”,898 die das Judentum in seiner historischen Gestalt – wie sie die Bibel überliefert – geprägt haben. Aber nicht nur die biblischen Überlieferungen will Heschel zu Erkennntniszwecken nutzen, sondern auch die Erfahrung, sodass er einen Unterschied zwischen “memory (tradition) and personal insight” macht. “We must rely on our memory and we must strive for fresh insight. We hear from tradition, we also understand through our own seeking.”899 Beide Erkenntnisansätze führen Heschel zufolge gleichermaßen zu Gott selbst, über dessen Gegenwart sich in der Welt, in der Bibel wie auch in Mitsvot meditieren lasse.900 Denn “the God of nature is the God of history, and the way to know Him is to do His will.”901 In diesem Satz ist Heschels Gesamtwerk in nuce zusammengefasst.
897 Beides Heschel: God, 16; vgl. auch ders.: Grandeur, 355 (“The Biblical View of Reality”, 1956), und schon ebd., 12ff. (“The Moment at Sinai”, 1953). Aber auch der Gleichsetzung von Philosophie und Rationalismus widerspricht Heschel, denn auch “science” und “spirit” hält er klar auseinander (ders.: God, 19): “Science seeks the truth about the universe; the spirit seeks the truth that is greater than the universe.” In dem kurzen Artikel von 1952 über “Space, Time, and Reality: The Centrality of Time in the Biblical World-View” unterscheidet Heschel dementsprechend zwischen dem creatio continua-Konzept der Bibel (durch den Garant des Bundesschlusses) und dem totalen Konzept des Kosmos der griechischen Philosophie; vgl. ders.: “Space”, 265. Dementsprechend, so Heschel, finde sich auch im alten Israel kein adäquates Wort für “Welt”, vielmehr “Himmel und Erde”, während hebr. “ ”עולםin dieser frühen Zeit ausschließlich temporal gemeint sei im Sinne von “Ewigkeit” (vgl. 266). Und darum ist auch Gott Heschel zufolge als der Welt Transzendenter in der Zeit, in Ereignissen, gegenwärtig und erfahrbar; vgl. 269 u. ders.: Grandeur, 360ff. (“The Biblical View of Reality”, 1956); s. auch Held: Heschel, 143 u. Merkle: Approaching God, 33f. 898 Heschel: God, 22. 899 Ebd., 27. So auch Merkle: Genesis, 107f. u. 159. 900 Heschel: God, 31, untermauert diese Dreiheit von Gottes Gegenwart in der Welt, in der Bibel und in Mitsvot mit Jes, 40,26; Ex, 20,2 u. 24,7; gleichzeitig bringt er dies mit den drei Hauptaspekten religiöser Existenz in Verbindung, nämlich Anbetung, Lernen und Handlung. Zum Einfluss der kabbalistisch-jüdischen Tradition vgl. auch Marmur: Heschel, 81. 901 Heschel: God, 31.
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Statt logisch-rationaler Wissenschaft schlägt Heschel deshalb die Suche nach Gott im Bereich des Unaussprechlichen vor, “where the mystery is within reach of all thoughts, in which the ultimate problems of religion are born”.902 Kognitive Einsicht ist für Heschel nicht das non plus ultra, denn neben dem eigenständigen Denken ist es immer wieder die Begegnung, und zwar die Begegnung mit Realität, die ein Bewusstsein für das Mysterium einschließt.903 Konträr zu Bonhoeffers Erbsündenlehre geht Heschel nämlich davon aus, dass “man is able to surpass himself ”904 – auch wenn es nicht in seiner Macht liegt, Gott zu finden.905 Er könne sich aber immerhin – so hat Heschel bereits zuvor in Man’s Quest for God geschrieben –906 für Ihn sichtbar machen und die Welt im Spiegel Gottes betrachten, was sich in der praktischen Umsetzung des methodisch o. g. wichtigen “sense of awe, a need to adore, an urge to worship”907 äußert. “For Heschel, this means the profound de-centering of the human subject”,908 weil Gott Zentrum allen Seins ist. In Abgrenzung zur klassisch-philosophischen Gotteslehre versteht Heschel seinem Buchtitel entsprechend Gott als auf der leidenschaftlichen Suche nach dem Menschen, auch wenn “[t]he initiative must be ours, yet the achievement depends on Him, not only on us. Without his [sic!] love, without His aid, man is unable to come close to Him.”909 Gottes Personalität und Relationalität sind somit in Heschels Hauptwerk zutiefst verankert.910 So wird aus “man’s question about God […] God’s question of man”.911 Aus der Suche Gottes nach dem Menschen ist laut Heschel dadurch zweierlei über Gott zu schließen: Seine Einigkeit (engl. “oneness”) und seine Liebe.912 Mit Staunen, Ehrfurcht und Betroffenheit hat der Mensch darum Gott, Welt und Mensch relational und “auf Augenhöhe”
902 Heschel: God, 104. 903 Vgl. ebd., 114f. Genau dies hervorzuheben – “‘meaning beyond the mystery’ ” (Kaplan: Holiness, 150) –, ist Aufgabe der Tiefentheologie. 904 Heschel: God, 33; vgl. auch Dolna: Gegenwart, 147–156. 905 Vgl. Heschel: God, 147. 906 Vgl. ders.: Man’s Quest, 7. 907 Ders.: God, 88. 908 Erlewine: “Rediscovering”, 177. 909 Heschel: God, 129; vgl. 136f.; 147. S. auch Merkle: Genesis, 132. 910 Zur Personalität und Relationalität Gottes vgl. auch ebd., 100–103; Erlewine: “Reclaiming”, 197; Even-Chen: “Torah”, 64; 68; Held: Heschel, 142. 911 Heschel: God, 132; vgl. auch 153ff. Vgl. auch Merkle: Genesis, 89 u. Held: Heschel, 40f.; 231. 912 Vgl. Heschel: God, 162. So auch Merkle: Genesis, 63 u. 90.
276 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase zu begegnen.913 Religion wird Heschel zufolge deshalb auch nicht durch intellektuelle Neugier geboren, sondern durch “the experience of our being asked”.914 Dass es letztlich Gottes Gnade ist, macht Heschel deutlich, und zwar anhand einer “hierarchy of moments within time […]. Man may pray to God equally at all places, but God does not speak to man equally at all times.”915 Denn “[r]evelation happens when God makes the contact.”916 Die Antwort auf die Erfahrung des Transzendenten und des Mysteriums sei Glauben(svollzug) als eine Selbsttranszendierung zu Gott, so Heschel.917 weder “reason” noch “perception” könnten solches bewirken, weshalb Heschel an späterer Stelle zwischen “faith” als “relation to God” und “belief” als “relation to an idea or a dogma”918 unterscheidet. Eigentliche Aufgabe des Menschen ist es dabei “to bring God back into the world, into our lives”,919 womit auch die göttliche Seite von Gerechtigkeit hervortritt. Jedoch hat Heschel zufolge der Mensch verlernt, auf Gott zu hören.920 Vielmehr nehme er die Welt als “tool box”921 und lenke sein Interesse zur Problemlösung auf Technologie; dadurch lebe er in seiner eigens gewählten Selbstzentriertheit, statt “the sublime, wonder, mystery, awe, and glory”922 wahrzunehmen – die Grundlage und Initiative für Lobpreis Gottes, Gotteserkenntnis und
913 Vgl. Heschel: God, 5 u. ders.: Grandeur, 355 (“The Biblical View of Reality”, 1956). So auch Held: Heschel, 29 (vgl. auch 30 u. 34): “All religious awareness and insight are rooted in wonder.” Vgl. auch Britton: Heschel, 181f. 914 Heschel: God, 112. Merkle: Approaching God, 17: “Real knowledge, or what is better called wisdom, is not a triumph over mystery but a rapport with the mystery – and with the meaning for which it stands.” S. Even-Chen: “Torah”, 70, Marmur: Heschel, 101, Merkle: Genesis, 72 u. Held: Heschel, 143. In entsprechender Weise kontrastiert Friedman: “Divine Need”, 75: “Speculation is a question about God; religion, a question from God.” 915 Heschel: God, 129. An späterer Stelle nennt er dies “holy moments” (205; vgl. auch 200–207). Damit ist die Brücke hergestellt zu den zuvor bereits thematisierten Ereignissen (s. o.), die “faithfulness, loyalty to an event, loyalty to our response” (132) erfordern. So auch Merkle: Genesis, 123: “Faith in God is the response to the revelation of God.” 916 Ebd., 113. 917 Heschel: God, 117: “Faith is an act of man who transcending himself responds to Him who transcends the world.” So auch Held: Heschel, 39, und natürlich die grundsätzliche These seines Buches. 918 Heschel: Who Is Man?, 77; vgl. auch Merkle: Genesis, 48. 919 Heschel: God, 156. 920 Kaplan: “Heschel”, 1, macht darauf aufmerksam, daß Heschel davon ausgeht, daß jeder Mensch zumindest einmal in seinem Leben die reale Gegenwart Gottes erlebt habe. 921 Heschel: God, 36. 922 Ebd., 33.
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Beziehung zu Ihm. Denn “God is not always silent, and Israel is waiting for the word.”923 3.3.8.2 Torah und Offenbarung Unter den zahlreichen individuellen Ereignissen kennt Heschel aber auch die Offenbarung, die “indicated a new order in God’s relation to man, namely, that to reveal He must conceal, that to impart His wisdom He must hide His power.”924 Nichts anderes als die Sinai-Offenbarung ist damit gemeint, aus der heraus die dem Volk Israel gegebene Torah resultiert; sie unterstreicht die Partnerschaft Gottes mit dem Menschen durch beiderseitiges Eingehen des Bundes am Sinai.925 Die Torah steht somit bei Heschel – ähnlich wie bei Bonhoeffer – für eine Verknüpfung von Akt und Sein, da sie einerseits wegen des dortigen Bundesschlusses zwischen Gott und dem Volk als fester Anker (= Sein) in der Gründungsgeschichte Israels zu verstehen ist, gleichzeitig aber als kontinuierliches Rufen Gottes und Seine Suche nach dem gerechten Menschen (= Akt) als Seinem Partner.926 Erklären will Heschel die Autorität und Entstehung der Bibel als Offenbarung Gottes durch das sog. “prophetic understatement”927 : Als einen Anspruch von Menschen, den Willen Gottes erlebt zu haben, ergo auf Grundlage von Relationali-
923 Heschel: God, 69; vgl. 41ff.; 66; 73. Obwohl nach Heschel im Hebräischen für “awe” mit יראה eine Doppelbedeutung vorhanden ist, nämlich 1. Ehrfurcht, 2. Angst/Furcht, kann er beide Bedeutungen genau zueinander entgegensetzen. Denn “Ehrfurcht” sei “the sense of wonder and humility inspired by the sublime or felt in the presence of mystery”, während Furcht “the anticipation and expectation of evil and pain” (ebd., 77) darstelle. S. auch Merkle: Genesis, 73; 77; 79f. 924 Heschel: God, 191. 925 Ders.: Grandeur, 15 (“The Moment at Sinai”, 1953): “[A]n event in which both God and Israel were partners. God gave His word to the people, and the people gave its word of honor to God.” Schon in den Jahren zuvor hat Heschel also über die Sinai-Offenbarung geschrieben. Bedeutsam ist für ihn, dass Gott Seinen Namen geoffenbart habe, nach dem das Judentum benannt sei; vgl. ebd., 185 (“A Preface to an Understanding of Revelation”, 1954). 926 Vgl. ders.: God, 146; 167; 198f.; 214f.; 261; 274; 378 u. ders.: Grandeur, 16 (“The Moment at Sinai”, 1953). Zurecht urteilt Held: Heschel, 129, deshalb: “Heschel is torn between emphasizing the historicity of Sinai and dilating upon the eternality thereof.” Diese enge Verknüpfung der Sinai-Offenbarung mit der Identität und Verantwortlichkeit des jüdischen Volkes mag auch ein Grund sein, weshalb Heschel die “Columbus Platform of the North American Reform Rabbinate” von 1937 ablehnt, die beschlossen hat, “that revelation is a continuous process, confined to no one group and no one age” (Marmur: Heschel, 35). 927 Heschel: God, 176.
278 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase tät.928 Statt also darüber diskutieren zu können, lenkt Heschel die Grundfunktion von Offenbarung vielmehr auf die Frage: “[W]hat does God demand of us?”929 Prophetische Rede werde oft missverstanden durch Reduktion auf ihren wörtlichen Sinn, so Heschel, obwohl sie oft mehrere Bedeutungen habe und “grandeur and mystery”930 auszudrücken suche. Richtigerweise lässt sich Heschels relationaler Ansatz darum als “subjective-personal understanding of God’s word” verstehen, bei dem “God adapts Himself to each and every partner in the interchange”931 , um den so häufigen Missbrauch des biblischen Textes zu vermeiden. Dies bedeutet möglicherweise sogar, dass “fidelity to God may at times necessitate active resistance to his word – let alone, as it seems, to the biblical text, which, as we have seen, cannot be equivocally equated with God’s word.”932 Denn weil sich Offenbarung im vorkonzeptionellen Denken abspielt, können die Offenbarungsberichte laut Heschel nicht gänzlich wörtlich genommen werden, sondern markieren vielmehr das Dass der Offenbarung.933 Der Bibeltext (und ihr Inhalt) ist für ihn auch klar Produkt der “co-revelation of man”934 und besitzt somit immer auch eine menschliche Seite, was gegen jedes Vergeistlichen fundamentalistischer Art spricht.935 Die Bibel als Ergebnis dieses partizipatorisch-theologischen Ansatzes ist deshalb “the word of God and man; a record of both revelation and response; the drama of covenant between God and man”,936 was sich mit Bonhoeffers bei Barth rezipierter Untrennbarkeit von Menschenwort und Gotteswort deckt, ohne die historische Dimension außer Acht zu lassen.937 928 Deshalb spricht Heschel zufolge Gottes Stimme “to the spirit of prophetic men in singular moments of their lives” (Heschel: Grandeur, 189 (“A Preface to an Understanding of Revelation”, 1954)) und hat gleichermaßen eine Stimme in der Geschichte. 929 Ders.: God, 168; vgl. auch 189 u. ders.: Grandeur, 185f. (“A Preface to an Understanding of Revelation”, 1954) u. ebd., 16 (“The Moment at Sinai”, 1953); in dem kurzen Artikel “What is the Bible?” aus dem Jahre 1954 schlussfolgert Heschel noch pointierter (ders.: “Bible”, 4): “If God had nothing to do with the prophets, then He has nothing to do with mankind.” Zu diesem gesamten Fragenkomplex vgl. auch Merkle: Genesis, 177; 219f.; Britton: Heschel, 277; Held: Heschel, 37; 231. 930 Heschel: God, 180. 931 Beides Even-Chen und Meir: Between, 147f. 932 Held: Heschel, 121. 933 Vgl. Heschel: God, 184. So auch Perlman: Idea, 141 u. Even-Chen: “Torah”, 68. 934 Heschel: God, 260. 935 Vgl. ebd., 257ff. Vgl. dazu auch Merkle: Approaching God, 39. 936 Heschel: God, 260f. 937 Vgl. auch Even-Chen und Meir: Between, 129, Even-Chen: “Torah”, 75, Held: Heschel, 120 u. Merkle: Approaching God, 42. Dies bedeutet (in der Terminologie Sommers) auch, dass “the Hebrew Bible must be read both as artifact and as scripture” (Sommer: Revelation, 12), in seiner
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Offenbarung ist nach Heschel darum als “Indikativ” zu verstehen, die – im Gegensatz zum Deskriptiv – auf die Antwort des Hörenden zielt, also “responsively” ergriffen werden soll, und die jenseits der eigentlichen Definition ein Mysterium vermitteln möchte.938 Die Schlussfolgerung von Michael Marmur, die Bibel besitze lediglich “penultimate significance for Heschel”,939 trifft somit auf die Argumentation in God in Search of Man zu, mindert aber keineswegs Heschels Wertschätzung der Bibel gegenüber. Denn kein Buch sei “in größerem Geist” geschrieben, weshalb er die Bibel sogar als “[t]he eternal Book”940 bezeichnet, da es eine einzelne Generation nicht fassen könne und auch nicht von einer einzelnen Generation verfasst sei.941 In hebräisch denkender Manier insistiert Heschel folglich darauf, von dem Glauben an die Propheten zu einem Glauben mit den Propheten zu gelangen,942 um so aus der Beziehung heraus zur Erkenntnis zu gelangen “to remember, not merely to accept the truth of a set of dogmas”.943 Den göttlichen Charakter der Bibel legt Heschel somit nicht aufgrund dogmatischer Prämissen fest, sondern in pragmatisch-relationalem Stile “because it contained a light that set souls aflame”.944 Denn nur durch ein Eintauchen kann man Gottes Gegenwart in der Bibel wahrnehmen, um von ihrer Wirkung und Authentizität überzeugt zu werden,945 was natürlich der bonhoefferschen Innenperspektive entspricht. Dadurch
menschlichen Zerbrochenheit und göttlicher Intention. Darum schlussfolgert Held: Heschel, 134: “Like God Himself, God’s word is vulnerable in the world.” Oder wie Heschel: God, 263, selbst es formuliert: “Just as the Shechinah is in exile, so is the Torah in exile”. 938 Vgl. ebd., 182f.; 185 u. ders.: Grandeur, 186f. (“A Preface to an Understanding of Revelation”, 1954). 939 Marmur: Heschel, 44. 940 Heschel: God, 241. 941 Vgl. ebd., 242f. Entscheidend ist, dass erst durch die Bibel der Mensch von Gottes Sorge um ihn weiß; vgl. ders.: Insecurity, 254 (“Prayer as Discipline”, 1958). S. auch Held: Heschel, 103. “[T]he only concern that can be ascribed to the God of Israel is transitive concern” (ebd., 140), wodurch sich Heschels Gott der Bibel in seiner Relationalität eben diametral von dem Gott der Philosophen unterschiedet. 942 Vgl. Heschel: God, 245–250. 943 Ebd., 213. Vgl. auch Held: Heschel, 94 u. Merkle: Genesis, 125f. In ebendiesem Sinne argumentiert Heschel: Grandeur, 354f. (“The Biblical View of Reality”, 1956), im Jahr 1956. 944 Ders.: God, 240. 945 Vgl. ebd., 252ff. S. auch Held: Heschel, 97 u. Marmur: Heschel, 39. Grötzinger: “Tradition”, 32, will darüber hinaus sogar von Heschels explizitem Wissen um Gottes Präsenz in biblischen Worten wissen, was er als “kabbalistische Position” bezeichnet, die jedoch höchstens zweitrangig zutage tritt, wie hier gesehen.
280 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase wird die Relationalität zur Voraussetzung, aus der heraus überhaupt nur ein “Urteil” über die Bibel möglich ist.946 Trotzdem negiert Heschel nicht das Prozesshafte ebenso wenig wie das Überzeitliche, weshalb er das gesamte Volk Israel zur Gottesbeziehung “verpflichten” kann – und was eben auch Alleinstellungsmerkmal des Volkes Gottes ist –, weil jeder Jude am Sinai dabei gewesen sein soll.947 In sachlicher Übereinstimmung mit Bonhoeffers Warnung vor intellektueller Werkgerechtigkeit in Akt und Sein unterscheidet Heschel darum zwischen denjenigen, die eindeutig an Gottes Offenbarung (“faith”) interessiert sind und darum als “mystery-minded” bezeichnet werden, und denjenigen (den “literal-minded”), die den Bibeltext lediglich in seiner materiell-menschlichen Gestalt wahrnehmen und kritisieren (“belief”).948 Heschel meint diese Gegenüberstellung jedoch wohl nicht so sehr als entwederoder, wie manch einer es gelesen hat.949 Für ihn jedenfalls dominiert die relatio-
946 Merkles Urteil, “[r]esponsiveness to the Bible” sei “an antecedent of faith in God” (Merkle: Genesis, 123, vgl. auch 125), trifft nur bedingt zu; ähnlich auch Held: Heschel, 128 u. Marmur: Heschel, 45. Denn zum einen nennt Heschel in der Bibel ja auch die Gegenwart Gottes in der Welt und in den Mitsvot, zum anderen argumentiert er vielmehr von der anderen Stoßrichtung: Nicht der Glaube ist beschränkt auf die Erkenntnis der Bibel, sondern vielmehr ermöglicht sie (neben anderen Erkenntnisquellen) einen Zugang zu Gott. Dass die Einzigartigkeit und Heiligkeit der Bibel damit “self-evident” sind, wie Held: Heschel, 125, meint, liegt in der Sache der Natur relationaler Argumentation, sodass Heschels Forderung der Innenperspektive keineswegs “so forcefully and dogmatically” (127) ist, wie Held es darstellt. 947 Vgl. Heschel: God, 214ff. So auch Merkle: Genesis, 136: “The Torah represents a covenant in which a responsibility lies on God as well as on us.” Darum appelliert Heschel zur Erfüllung von Gottes Willen an die Mitsvot (s. u.).Vgl. Heschel: God, 217; s. auch Kaplan: Radical, 169. 948 So auch Marmur: Heschel, 35: “Modern biblical criticism had for Heschel forsaken that humility which should accompany any attempt to read and understand the sacred text.” Denn während die wissenschaftliche Disziplin der ersten Frage laut Heschel die Religionsphilosophie darstellt, ist letztere die Bibelkritik und Religionsgeschichte; vgl. Heschel: God, 258. 949 Dass Heschel mit dieser Gegenüberstellung nicht der historischen Wissenschaft gerecht wird, betont neben Held: Heschel, 119, v. a. Levenson: “Religious Affirmation”, 36ff. Besonders ist ihm Heschels “continuing dichotomization and polarization of critical thought and religious faith” (39) ein Dorn im Auge, weil er mit seiner “‘rhapsodic evocation’ of the ineffable fails to secure the connection to unique historical revelation upon which Judaism and its understanding of its Bible are based. [...] The limitation is that in the process Heschel often makes logical and historical claims that cannot withstand critical interrogation.” (36) Darum schlägt ebd., 37, vor, Heschel vielmehr in die Kategorie der Apologetik zu verfrachten, “but he does not concede any positive religious role to the new, post-Enlightenment modes of biblical study (40).” Dass Heschel jedoch die Ergebnisse historischer Kritik gar nicht kategorisch ablehnt, ist nicht nur in seiner Dissertation bereits deutlich geworden, sondern wird sich in The Prophets bestätigen. Auch Cherbonnier: “Heschel’s Time Bomb”, 14, erkennt an dieser Stelle Heschels Diplomatie und entlarvt dahin-
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nale Dimension, weshalb das Bibelstudium durch mystery-mindedness zur Anbetung Gottes wird, weil es die Beziehung zwischen Mensch und Gott fördert. “For the Torah is an invitation to perceptivity, a call for continuous understanding”,950 womit sich der Bogen zur funktionalen Einordnung der Bibel (s. o.) und zur Praxis der Frömmigkeit als kontinuierliche Begegnung mit Gott schließt.951 3.3.8.3 Mitsvot (dt. “Gebote”) Indem sich der Mensch zu Gott und damit auch zur Torah hinwendet, ergibt sich für Heschel daraus notwendig die Heiligung des täglichen Lebens bzw. des Verlangens danach.952 Auch auf der Ebene der Ethik dominiert somit – wie schon zu erwarten – nichts weniger als die Relationalität zu Gott. Denn hinter den traditionellerweise als “Mitsvot” bezeichneten heiligen Handlungen verbirgt sich dem ter “the ancient feud between apologist and fideist”. Heschels einheitsstiftenden Ansatz nennt er demgegenüber “biblical philosophy” (16), die “could break the deadlock between apologist and fideist, while still safeguarding the interest of both parties. Apologists could at last be rational without betraying the Bible, and fideists could be even more Biblical, without sacrificing the intellect. A Biblical philosophy, should there prove to be one, could make the two half-truths whole.” Auch hier will Heschel speziell den Punkt der Innenperspektive deutlich machen und damit dem analytisch-objektiven Zugang seine Grenzen aufweisen. Deshalb kommt Held: Heschel, 117, zu dem Ergebnis, dass “biblical criticism can force believers to revisit assumptions about the dating of the human text before them, but it cannot compel them to jettison their faith in God’s involvement in its origins.” 950 Heschel: God, 273. So ähnlich auch Merkle: Approaching God, 40ff. u. 64. Denn offiziell sei die Prophetie zwar zu einem Ende gekommen, und “the experiences of Israel’s prophets were extraordinary experiences of God’s revelation” (ebd., 36); aber Gott schweige nicht, wie auch Held: Heschel, 133 u. Marmur: Heschel, 89, hervorheben. Ebd., 44, nennt dies die “hermeneutic of surprise”, deren Funktion ist “to prod his readers to get beyond the verse, beyond the textual excerpt, and to relate to the divine call and the human response of awe and wonder that are the core of Torah.” Gleichzeitig weiß Sommer: Revelation, 128, dass “[f]or Heschel, there is such a thing as the original understanding; Judaism is not primarily a matter of our own interpretive creativity and innovative spirituality but, as he puts it, of austere discipline, attachment, and dedication.” 951 Darum formuliert Britton: Heschel, 161f., dass für Heschel “the Bible is not a static record of concluded historical events, but an ongoing event itself, disclosing God’s pathos into the present. […] Piety, then, is a life lived as if one were a recipient of a divine revelation of God’s concern for the world; yet having lived that presupposition, one in fact achieves certainty of it.” Vgl. auch Even-Chen und Meir: Between, 129 u. Merkle: Genesis, 82. 952 Vgl. Heschel: God, 237; s. auch ders.: “Bible”, 5: “The Bible showed man his independence of nature, his superiority to conditions, and called on him to realize the tremendous implications of simple acts. […] The degree of our appreciation of the Bible is, therefore, determined by the degree of our sensitiveness to the divine dignity of human deeds. […] The Bible shows the way of God with man and the way of man with God.”
282 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase Worte für Heschel nichts weiter als “[e]very act done in agreement with the will of God”,953 darum auch als “[a] prayer in the form of a deed”.954 Darum repräsentieren heilige Handlungen (als “science of deeds”) Gott selbst, haben ihren Zweck in der Heiligung des Menschen und tragen dabei Seinen Willen in die Welt.955 Die Heiligung geschieht in o. g. Ereignis-Momenten durch die Unterordnung des Lebens unter die Mitsvot, woraus ein Lied für und zu Gott entstehen soll, was in nichts weniger als wiederkehrender Neuschöpfung resultiert, die der Mensch auch zur Reue und Reinigung nutzt.956 Sie sind darum für Heschel tatsächliche Akte der Erlösung, sodass es Schicksal des Menschen ist, Partner Gottes zu sein.957 Denn es gibt ihm zufolge nichts in der Welt, dass sich nicht als Mischung aus Gut und Böse herausstellt, wodurch auch ihre relationale
953 Heschel: God, 361. 954 Ebd., 375; vgl. auch 237 u. 281. Anstatt die Mitsvot rational zu überprüfen, pocht er im Sinne der zuvor thematisierten mystery-mindedness auf ihre göttliche Dimension “to make living compatible with our sense of the ineffable” (350), sodass das Leben die Wertschätzung der Beziehung zu Gott widerspiegeln soll; ähnlich auch Held: Heschel, 95 u. Merkle: Approaching God, 70. Denn Gotteserkenntnis ist für Heschel nur möglich, indem man sich auf Ihn einlässt und antwortet, was bereits in der Gottebenbildlichkeit angelegt ist; vgl. Heschel: God, 282ff. So auch Grötzinger: “Tradition”, 34. 955 Heschel: God, 311: “The purpose of the Mitsvot is to sanctify man.” Vgl. auch ebd., 288-292; 358 u. Eisen: “Re-Reading”, 22 bzw. bereits “The Mystical Element in Judaism” von 1945. 956 Vgl. Heschel: God, 359; 383f.; 402f. 957 Vgl. ebd., 312f. Die Ausübung von Mitsvot geschieht bei Heschel somit weder zur Selbstnoch Werkgerechtigkeit, auch wenn jede befolgte Mitsvah den Menschen wie auch die Welt erst in den Zustand der Erlösungswürdigkeit vor Gott führt; aber Gottes Gnade ist Heschel zufolge immer größer ist als Seine Gerechtigkeit (vgl. 387 u. 407). Sowohl seinem Verständnis von lutherischer und kantischer Ethik (reiner Glaubensgerechtigkeit wie auch Gewissensethik) entsprechend widerspricht er dabei deutlich (vgl. 293–299) – freilich ohne zu wissen, dass Bonhoeffer sich selbst in lutherischer Tradition stehend sieht und so ein ganz anderes Bild lutherischer Ethik bietet; aber auch einer Dogmatisierung, indem er auf die Liebe zu Gott als oberstem Maßstab pocht, das sich in der entsprechenden Herzenshaltung niederschlägt (vgl. 300–303; 314f.). Wie schon sowohl in “The Spirit of Jewish Prayer” und “Toward an Understanding of Halacha” gesehen, konkretisiert sich das Judentum laut Heschel darum in einem “fixed pattern of deeds as well as that of spontaneity of devotion, quantity as well as quality of religious living, action as well as Kavanah” (307), anstatt in halakhische oder aggadische Einseitigkeiten (allen voran eines religiösen Behaviorismus) zu geraten (vgl. 320–330). Dazu und im Vergleich zu Buber auch Even-Chen und Meir: Between, 202f. Zur Rehabilitation der Aggadah vgl. Marmur: Heschel, 49f. S. auch Breslauer: Spirituality, 34, der über Heschel hinaus in der Aggadah “God’s aspect of creator” markiert, um eine Antwort auf die Anfragen an das moderne Judentum zu geben. Obwohl von den Wurzeln auf die biblischen Propheten kommend, ist es damit rabbinischer Einfluss, der Heschel das Vokabular zur Antwort und zum konkreten Handeln verleiht, so Marmur: Heschel, 47 u. 63, der allerdings den Ein-
3.3 Heschels Beginn in Amerika (1940–1950er)
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Dimension deutlich wird: Das Gute entspricht Leben und entspringt dem Befolgen von Gottes Mitsvot.958 Die Beziehung zu Gott ist deshalb auch die wichtigste Verbindung, zumal Gutes von Gott her kommt.959 Das ganze Leben soll folglich als Opfer verstanden werden, um möglichst nahe an Gott dran zu sein, wodurch auch, im Sinne prophetischer Sympathie und auf Grundlage schelerscher Phänomenologie des Fühlens, die Bedürfnisse und Probleme anderer Menschen gefühlt werden sollen.960 Auch dieser Aspekt spiegelt die Nähe zu Bonhoeffers Nachfolge und dessen Pochen auf den einfältigen Gehorsam wider. Dementsprechend definiert Heschel auch menschliche Freiheit, dass “man is capable of expressing himself in events beyond his being involved in the natural processes of living”.961 Ergo wird Freiheit ein Akt spiritueller Ekstase – “at rare moments”,962 da auch der Mensch nicht allein ein Produkt eines Prozesses ist, sondern zwischen Gut und Böse wählen kann.963 Den Juden, den Heschel mit seiner “Philosophy of Judaism” primär adressiert, soll Freiheit in die Beziehung zu Gott führen, aus dem heraus die Bestandteile des Judentums überhaupt erst Sinn machen.964 In dieser Welt soll jüdische Existenz deshalb – wie schon in The Sabbath – ein “sanctuary in time” abbilden, “in order to cherish the vision of God”,965 dessen Grund er an nichts Geringeres als die Erwählung durch Gott bindet.966 Die Reaktionen nach Heschels Veröffentlichung am 16. Januar 1956 sind fulminant und bringen ihn zu einem ganz neuen Grad an Bekanntheit.967 Wie er-
fluss der biblischen Propheten auf die Relationalität zur Welt und ihre Wahrnehmung übersieht. 958 Vgl. Heschel: God, 370–375. 959 Vgl. ebd., 376ff Denn kein Mensch ist perfekt – das macht Heschel immer wieder deutlich; egoistische Züge und Gedanken existieren selbst in äußerlich guten Taten, was Heschel von der Grundproblematik her als “disguised polytheism” (392) bezeichnet, die anfangs problematisierte Verehrung irdischer Gegenstände neben der Anbetung Gottes. Kontinuierliche Wachsamkeit stellt Heschel durch liturgische Gebete sicher, gepaart mit Offensive, beispielsweise durch Freude (vgl. 384ff.). Die Tat dient darum schließlich der Erziehung des Willens (vgl. 405). 960 Vgl. ebd., 399ff. 961 Ebd., 410. 962 Ebd., 411. Vgl. auch Britton: Heschel, 165. 963 Vgl. Heschel: God, 410–413. 964 Vgl. ebd., 414ff. Die Bestandteile des Judentums zielen auf ein Höheres als “link to eternity, kinship with ultimate reality” (422). 965 Beides ebd., 423. 966 Vgl. ebd., 425f. 967 So Kaplan: Radical, 170ff.
284 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase hofft, erreicht Heschel mit seinem Werk die breite Leserschaft von Juden wie NichtJuden. Dies stellt somit auch den Höhepunkt seiner Mittelphase dar.
3.4 Zusammenfassung Obwohl Bonhoeffer und Heschel mit einem breiten Fundament an akademischen Instrumentarien ausgerüstet sind, erweitert sich ihr relationales Denken in der Mittelphase dennoch deutlich. Denn während die Frühphase Bonhoeffers und Heschels geprägt ist durch das intensive Ringen mit der theologischphilosophischen Geistesgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts und beide bestrebt sind, sich innerhalb ihrer akademischen Disziplin zu positionieren und Fuß zu fassen, sprengt die Mittelphase zunehmend diesen akademischen Rahmen. Besonders Bonhoeffer erlebt in Amerika eine ganz neuartige Wendung hin zu einer persönlichen Beziehung zu Gott in Jesus Christus und weg von dem rein akademisch-dogmatischen Gehabe, die er selbst als eine Befreiung aus wahnsinniger Eitelkeit und als eine Freude beschreibt.968 Damit verbunden ist ein persönlicherer Zugang zur Bibel, der ihn trotz reflektiert-kritischer Distanz zum (Herrnhuter) Pietismus in eine ähnlich erweckte Frömmigkeit wie Heschel manövriert, aus der heraus er mit einer ganz neuen Leidenschaft Gottes Willen sucht und verkündet. Heschel ist bereits seit seiner Kindheit durch den Chassidismus fromm-erweckt, besinnt sich aber nach intensiver Auseinandersetzung mit der humanistischen Geistesgeschichte in Berlin und ganz besonders durch den Schock in Nazi-Deutschland immer stärker auf seine jüdisch-frommen Traditionen. Bei Bonhoeffer sind es im Wesentlichen vier Bausteine aus der Amerika-Zeit, die diese Wendung hervorrufen, beeinflussen und ineinandergreifen: Erstens der allgegenwärtige amerikanische Pragmatismus, zweitens Niebuhr und das Social Gospel (insbesondere Rauschenbuschs) mitsamt der prophetisch-sozialen Seite Jesu (Orthopraxie vor Orthodoxie), drittens die Bergpredigt samt pazifistischer Konnotationen (initiiert durch Lasserre und Gandhi) und viertens die afroamerikanisch-emotionale Frömmigkeit mitsamt ihrer theologischen Prägung (speziell in der Person Clayton Powell Sr.s) vom “simple faith in God”. Diese Bausteine wiederum besitzen deutliche Ähnlichkeiten zu Heschels Entwicklung, der zwar theoretisch schon zu Studienzeiten mit James vertraut ist, in Amerika jedoch das gesamte Ausmaß erlebt. Dadurch erhalten das Gebet und die Bibel einen ganz
968 Vgl. 3.2.1.
3.4 Zusammenfassung
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neuen Stellenwert, wodurch sich beide immer stärker dem innerreligiösen Widerstand widmen.969 Das führt theologisch-philosophisch zu etlichen Modifikationen, Vertiefungen und sogar Ergänzungen. Denn Relationalität bleibt der Denkansatz schlechthin, wird nun aber noch weiter ausgedehnt und personalisiert.
3.4.1 Jenseits reiner Phänomenologie: Gottes lebendige Offenbarung Wie schon in der Frühphase widersetzen sich Bonhoeffer und Heschel methodisch mithilfe der Phänomenologie der vorherrschenden Präsenz von Transzendentalismus und Historismus. Mit dem erhöhten Stellenwert der lebendigen Offenbarung eines lebendigen Gottes durch Bibel und Gebet kommt bei Bonhoeffer wie Heschel jedoch die implizite bzw. explizite Unterscheidung zwischen sog. hebräischen und griechischen Denken als eine epistemologisch-wesentliche Gemeinsamkeit immer mehr zum Tragen.970 Heschel hat die Unterscheidung bereits im Zuge seiner Dissertation thematisiert, obwohl er gleichermaßen versucht hat, aristotelische Sprache und Denkweise für seine prophetische Sympathie fruchtbar zu machen; besonders aber in der Mittelphase wird die Abrechnung mit statisch-griechischem Denken immer deutlicher.971 Bonhoeffer kennt die Unterscheidung zwischen hebräischem und griechischem Denken bereits von von Harnack und thematisiert sie in der Mittelphase in zunehmendem Maße vornehmlich in seinen Vorlesungen. Immer wieder sind es ähnliche Gegenüberstellungen, die diese geradezu methodische Unterscheidung verdeutlichen: Offenbarung und Teleologie statt reiner Vernunft bzw. ewiger Wahrheiten,972 hebräische Metahistorie bzw. konkrete Mittlerschaft Christi statt griechischer Metaphysik,973 relationale WER-Frage statt ontologischer WAS-Frage.974 Damit wird der entscheidende Unterschied deutlich: Der (nach wie vor agierende) Schöpfer-Gott der Bibel, der Erlösung Seiner gefallenen Schöpfung will (wahlweise ausgeführt durch den Messias selbst – in Jesus – oder durch den Tiqqun ‘Olam des jüdischen Volkes975 ), wird kontrastiert zum kritizistischen Denken, das seinen Ursprung im antiken Griechenland hat. Heschel versteht Gott als auf
969 Vgl. 3.2.2, 3.2.6, 3.3.7 u. 3.3.8. 970 Vgl. bes. 3.3.8. 971 Vgl. 3.3.3 u. 3.3.8. 972 Vgl. 3.2.2 u. 3.3.7. 973 Vgl. 3.2.1, 3.2.4 u. 3.3.8. 974 Vgl. 3.2.2 u. 3.3.6. 975 Vgl. insbesondere 3.3.3, 3.3.6 u. 3.3.7.
286 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase der leidenschaftlichen Suche nach dem Menschen, auch wenn es dessen Initiative bleibt, im Gebet vor Gott zu stehen.976 Heschel widersetzt sich mit seinem Bild des persönlichen und lebendigen Gottes jeglichem Symbolismus, Liberalismus und Partikularismus, versteht Religion somit als alle Lebensbereiche umfassend und ruft immer wieder zur Entscheidung für Ihn auf – und damit gegen den Egozentrismus –, auch mithilfe der mystischen Elemente des Judentums.977 Denn die Shekhinah Gottes ist im Exil, und sie – bzw. dadurch Gott selbst – gilt es, zurück in die Welt und unsere Leben zu bringen, auch.978 Die Relationalität macht für Heschel gleichzeitig eine äußere Definition des Judentums unmöglich, dessen universelle Relevanz er für wichtiger erachtet als dessen Essenz.979 Weil jede konkrete Situation mit jedem Glaubensvollzug individuell ist, pocht Heschel auf die Notwendigkeit der Innenperspektive, weshalb auch Gottesbeweise für ihn zwingend die Innenperspektive und damit die Relation zum Objekt voraussetzen, wie Bonhoeffer dies bereits im Zuge seiner Dissertation mit Rückgriff auf Ritschl deutlich gemacht hat und darum nun auch diese Innenperspektive zur Grundlage eines erfolgreichen Theologiestudiums erklärt.980 Auch Bonhoeffer wehrt sich gegen jeglichen Partikularismus (konkret auch gegen Schöpfungsordnungen),981 durch den seiner Ansicht nach nicht nur die deutschen Christen geprägt sind, sondern fast das gesamte deutsche Volk.982 Bonhoeffer geht sogar soweit zu behaupten, dass es den isolierten Gott an sich gar nicht gibt, vielmehr nur in der “ärgerlichen Gestalt ihrer Verkündigung”,983 als Pro-me-Sein. Deshalb trennt er konsequent auch nicht zwischen historischem Jesus und gegenwärtigem Christus, weil es Ihn nur aus der Relationalität zu Christus selbst gibt, sodass zwar historische Kritik an der Bibel möglich ist, jedoch niemals Verneinung oder Bejahung des historischen Faktum des Lebens Jesu Christi. So werden Gottes Personalität und der in der Mittelphase bereits dargelegte Absolutheitsanspruch bei beiden nochmals deutlich verschärft. Bei Bonhoeffer überwiegt in dieser Mittelphase deshalb immer noch das Bild von Gott als dem aktiv handelnden Lenker der Geschichte, auch wenn er das Leiden Gottes spätestens seit 1934 stärker priorisiert.984 976 Vgl. 3.3.7 u. 3.3.8. 977 Vgl. 3.3.1 u. 3.3.7. 978 Vgl. 3.3.6, 3.3.7 u. 3.3.8. 979 Vgl. 3.3.2. 980 Zu Bonhoeffer vgl. 2.3.4; zu Heschel vgl. 3.3.1, 3.3.2, 3.3.6 u. 3.3.8. 981 Vgl. 3.2.2. 982 Vgl. 2.3.3. 983 Bonhoeffer: DBW 12, 295 u. 3.2.2. 984 Vgl. 3.2.5 u. dann 3.2.6.
3.4 Zusammenfassung
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Methodologisch hat das für Heschel zur Folge, dass er ganz ähnlich zu Bonhoeffers Frühphase einen Schritt weiter als die vorherige Phänomenologie gehen muss, um seine eigene Religionsphilosophie zu konstruieren: Statt rekonstruierender Perspektive anhand der Propheten ist nun allgemein der fromme Mensch das Thema.985 Deshalb beginnt Heschels Religionsphilosophie bei der Situation des konkreten, frommen Menschen und seiner jeweils einzigartigen religiösen Situation.986 Das Studium der Religion kann nur in dessen natürlichem Umfeld des Glaubensvollzugs beginnen. Denn es genügt ihm nicht die allgemeine Situationsanalyse anhand der üblichen Existentiale, um den frommen Menschen an sich in den Blick zu nehmen; vielmehr ist es seine konkrete Situation, die entscheidend ist und aus der heraus auch die Relation zur Welt resultiert. Wie die biblischen Propheten immer in die konkrete historische Situation hineingesprochen haben, prägt auch Frömmigkeit grundsätzlich diese Dimension. Heschels Relationalität zur Welt/Religionsphilosophie konstituiert sich deshalb aus der Spannung zwischen innerem Glaubensvollzug als religiösem Phänomen und situativem Denken als philosophischem Konstrukt. Heschel dringt damit zu einem “radical self-understanding” durch, zu einem Nachdenken über das Nachdenken, das sich damit beschäftigt, warum der Mensch Übernatürliches akzeptiert; weil es um die Erkundung der Tiefe des Glaubens geht, nennt Heschel dies schließlich “Tiefentheologie”. Diese Begegnung zwischen Mensch und Mysterium/Gott geschieht ihm zufolge jedoch im Unaussprechlichen und Vorreflexiven, worin die traditionelle Logik und Rationalität gerade keine Einblicke bringt, was Heschel als vorkonzeptionelles Denken kennt. Statt der Trennung von Subjekt und Objekt im Zweifeln fordert er darum radikales Staunen des Menschen für die Begegnung beider, was zur Grundvoraussetzung und Grundhaltung seines relationalen Denkens ist.987 Aufgabe von Religionsphilosophie ist darum für Heschel, das religiöse Verständnis ins Verhältnis zur Gesamtheit menschlichen Verstehens zu setzen, was in Form eines “elliptic thinking” geschieht.988 Trotz der Unaussprechlichkeit der Begegnung zwischen Mensch und Mysterium/Gott kann er gleichsam von definitiven kognitiven Einsichten sprechen, die als eine Art innere Antwort in Form von Ehrfurcht und Verehrung funktionieren, was Heschel bei Saadia zunächst noch als als “self-evident propositions” bezeichnet und in God in Search of Man schließlich als vorwissenschaftliches Denken klassifiziert.989 985 Vgl. 3.3.1. 986 Vgl. 3.3.6 u. 3.3.8. 987 Vgl. 3.3.1, 3.3.6 u. 3.3.8. 988 Vgl. 3.3.8. 989 Vgl. 3.3.1 u. 3.3.8.
288 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase Ohne den Glaubensvollzug eigens zu untersuchen, spricht Bonhoeffer epistemologisch in dieser Mittelphase von einem einfältigen Gehorsam, der begrifflich an die Stelle des actus directus aus Akt und Sein tritt. Sachlich-inhaltlich meint er ebenfalls glaubendes Erkennen; dieses ist jedoch konkreter auf die Nachfolge Jesu gemünzt, weil es die Gebetshaltung und so auch die Relationalität zur Welt impliziert. Dahinter verbirgt sich auch Bonhoeffers neugefundene Wirklichkeitsnähe des Menschen – zu Christus, aber auch mehr und mehr zur Welt –,990 auch wenn er den Vorgang des eigentlichen Glaubensvollzugs weniger ausführlich thematisiert als Heschel. Insgesamt öffnet sich aber auch bei ihm die “Tür” der Relationalität zur Welt, was in der eigenen Lebensweise seinen Niederschlag findet.
3.4.2 Der Mensch als Beter Auf menschlicher Seite konkretisiert sich der Glaubensvollzug in einer Priorisierung des Gebets, und zwar als eine grundsätzliche Haltung, nicht nur Gott gegenüber, sondern auch über Gott zu den Menschen und zur Welt. Grundlage für jegliche Relationalität ist sowohl bei Heschel als auch bei Bonhoeffer die in der Frühphase bereits thematisierte Gottebenbildlichkeit des Menschen. Bonhoeffer spricht darum explizit von “analogia relationis”: Seiner Sicht nach drückt sich die Gottebenbildlichkeit des Menschen darin aus, die freigewählte Beziehung des Schöpfers zur Welt darin zu repräsentieren, sodass die menschliche Freiheit sowohl als Freiheit-für – auf den Nächsten hin – als auch als Freiheitvon – im Sinne einer Herrschaft über die Schöpfung – ausgelebt werden soll.991 Aus einfältigem Gehorsam, was nichts anderes meint als die wiederhergestellte Beziehung des Menschen zu Gott in Form des Gebets als grundsätzliche Haltung, kennt Adam den Baum des Lebens als Grenze, dessen Konkurrenz der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse darstellt.992 Das Essen der Frucht vom Baum der Erkenntnis (der sog. “Sündenfall”) symbolisiert damit für Bonhoeffer die Zerstörung der Relationalität zwischen Gott und Mensch und führt überhaupt erst in die Selbstzentriertheit und das Alleinsein, sodass Freiheit und Geschöpflichkeit auseinandertreten und damit nach Bonhoeffer die Gottebenbildlichkeit zerstört ist (weil sie an die Beziehung zum Schöpfer geknüpft ist). Neben dem Riss zur
990 Vgl. 3.2.2, 3.2.3, 3.2.4 u. 3.2.7. 991 Vgl. 3.2.2. 992 Vgl. 3.2.7.
3.4 Zusammenfassung
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Schöpfung und der Verdeutlichung dieser Entzweiung des Menschen in Sexualität und Scham ist für diesen Zusammenhang besonders interessant, dass nach Bonhoeffer damit der actus reflexus sekundär eingestuft wird, ganz ähnlich zur jüdischen Tradition der Yedidah, die Heschel auch kennen dürfte;993 theologisches Erkennen bzw. Theologie sind damit nie Maß aller Dinge, sondern der lebendigen Beziehung zu Gott nachgeordnet. Gebet ist für Bonhoeffer demnach die erwartende Haltung, dass Gott selbst Veränderung schenkt. Dies spitzt sich in persönlicher Betroffenheit vor Gott zu, dessen Konsequenz ein qualifiziertes Schweigen vor dem Logos sein müsse, weil Er im Gebet wie auch in der Schrift seinen Willen kundtun möchte.994 Auch für Heschel steht – nicht nur in Man is not Alone, sondern auch in dieser gesamten Mittelphase – die direkte Begegnung mit Gottes Gegenwart im Fokus Seiner Aufmerksamkeit, besonders auch auf der Reflexionsebene. Deshalb überträgt er das Prophetische auf den frommen Menschen allgemein und dehnt “Religion” auf sämtliche Lebensbereiche aus.995 Er untermauert dies auch anhand von Maimonides, der sich Heschel zufolge selbst als Prophet verstanden habe, auch wenn Mose als der Prophet natürlich unübertroffen bleibe;996 aber – und das ist der springende Punkt – Prophetie ist als Erkenntnisquelle darum nicht erloschen. Sie findet deshalb auch als kognitive Macht ihren Platz, weil Offenbarung für Heschel kontinuierlich anhält und er sich höchstwahrscheinlich selbst durch das Pathos Gottes angesprochen gefühlt hat.997 Denn die Beziehung zu Gott ist nach Heschel intrinsisch im Menschen verwurzelt, die nicht nur den Menschen vom Tier unterscheidet, sondern Schicksal des Menschen ist und das große Bild bringt, weil es das Interesse Gottes am Menschen ausdrückt, in das der Mensch sich einklinken kann/soll.998 Heschel bezeichnet das Gebet folglich sogar als eine “ontologische Notwendigkeit”,999 die er in ähnlicher Weise in der Gottebenbildlichkeit des Menschen verankert, wobei natürlich seine chassidische Verwurzelung immens mit hineinspielt. Grundvoraussetzung ist für Heschel, dass der Mensch sich für Gott öffnen kann, was er als “Ekstase” bezeichnet.1000 Auch wenn Heschel die Erbsündenleh993 Vgl. 2.1.2 u. 2.3.4. 994 Vgl. 3.2.2 u. 3.2.6. 995 Vgl. 3.3.1. 996 Vgl. 3.3.1 u. 3.3.4. 997 Vgl. 3.3.2. 998 Vgl. 3.3.1 u. 3.3.6. 999 Vgl. 3.3.7. 1000 Vgl. 3.3.6, 3.3.7 u. 3.3.8.
290 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase re und die menschliche incurvatio in se ipso nicht akzeptiert,1001 ist ihm zufolge der Mensch immer in die Spannung gezogen zwischen sich selbst und dem Jenseits; wesentlich indifferenter jedoch als Bonhoeffer formuliert er deshalb, dass es keine Neutralität Gott gegenüber gebe, während für Bonhoeffer echte Feindschaft zwischen Gott und Mensch herrscht. Dass Bonhoeffer und Heschel in ihrer Anthropologie praktisch nicht allzu weit voneinander entfernt sind, lässt sich daran erkennen, dass es nach Heschel eigentlich die Übermacht des Mysteriums ist, die den Menschen übermannt, was er gleichermaßen als “Intuition” bezeichnet, und die in nichts Geringeres mündet als in Glauben: Von der Unaussprechlichkeit zur Gewissheit Gottes gelangt der Fromme somit über die Ehrfurcht, und befreit wird der Mensch schließlich auch erst durch die Ausübung von Mitsvot, was er überhaupt erst als Beginn von Religiosität definiert und was als Anfrage Gottes an das Individuum quasi einer Bekehrung samt Gotteslob und schließlich aber auch Angst, Verzweiflung und Sprachlosigkeit nach sich zieht.1002 Glaube ist somit die Sensibilität für die transzendente Gegenwart Gottes.1003 Jedoch muss Heschel feststellen, dass dem Gros der amerikanischen Synagogen jegliches Leben fehlt, weil sie vielmehr ein Dienst an der Gemeinde sind.1004 Er fordert statt dessen als Geist hinter allem Tun die richtige Herzenshaltung, die sog. “Kavanah”1005 , die ein offenes Suchen von Gott durch Selbsttranszendierung und die Antwort des ganzen Menschen beinhaltet. Die Kavanah ist darum in allen Dingen unerlässlich, sei es im Ausdruck des spontanen freien Gebets oder im Einfühlen in liturgische Gebete, die Phasen überbrücken sollen, wenn man gerade nicht das Gefühl der Nähe Gottes empfindet. Weil die Beziehung zu Gott bzw. das Gebet für Heschel ontologisch notwendig ist, versteht er das Gebet auch als Königin aller Mitsvot; umgekehrt stellt jede Mitsvah ein Gebet in Form einer Tat als wiederkehrende Neuschöpfung dar.1006 Der Rabbi ist daher im Obligo, zum Mentor für das Gebet zu werden; der Test für eine gute Predigt ist dementsprechend, ob sie sie sich in ein Gebet umformen lässt. Praktisch bedeutet dies für Heschel, dass man sich nur in Gott wiederfinden kann und seine Gedanken im Gebet für Ihn öffnen soll, um zur Erkenntnis über 1001 Vgl. 3.3.1. 1002 Vgl. 3.3.6, 3.3.7 u. 3.3.8. 1003 Vgl. 3.3.1. 1004 Vgl. 3.3.7. 1005 Vgl. 2.1.2, 3.3.1 u. 3.3.3. 1006 Vgl. 3.3.7 u. 3.3.8.
3.4 Zusammenfassung
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Gottes Willen zu gelangen, was für ihn nichts anderes ist als “prophetic revelation”.1007 So hält der Mensch im Gebet an der Beziehung zu Gott fest, das damit gerade kein Selbstprodukt darstellt und eigentlich auch keine ebenbürtige Kommunikation zu Ihm.1008 Denn der Mensch bleibt letztlich Objekt in Beziehung zum Unaussprechlichen. Der Beter nimmt damit Teil an der ewigen Gemeinschaft des jüdischen Volkes und erhält dadurch relationalen Anteil an ihr.1009 Die Torah gilt als Vision des Menschen, nach Gottes Ebenbild zu leben, das Heschel somit auch nicht als statisch versteht, sondern in das der Gläubige letztlich “hineinwächst”; denn das einzige religiöse Symbol, das Heschel kennt, ist der Mensch selbst, der Gott für den Nächsten symbolisieren soll, was in der imago dei begründet ist – Nächstenliebe resultiert damit immerzu aus der Gottesliebe.1010
3.4.3 Durch das Gebet zur Bibel: Der relationale Ausdruck des Willens Gottes Die immer stärker praktisch werdende Relationalität zu Gott in Form des Gebets schlägt sich auch in der biblischen Hermeneutik Bonhoeffers und Heschels nieder. Gerade bei Bonhoeffer entwickelt sich ein ganz neuer Zugang zur Bibel, der nicht nur für das Gottesbild essentiell ist, sondern auch hermeneutische Implikationen mit sich bringt (Heschel selbst hat den wesentlichen Schritt bereits mit “Das prophetische Bewusstsein” getan). Bonhoeffer versteht die ganze Bibel als Ort, an dem sich Gott finden lassen will, und zwar durch betend-relationale Bibellektüre.1011 Zwar weiß er um ihre menschliche Gestalt, doch kratzt historische Kritik ihm zufolge nur an der Oberfläche, weshalb er auf eine klar relationale Hermeneutik fokussiert ist, die er als “Theologische Auslegung” bezeichnet; denn Bonhoeffers Brille ist der Christus praesens, der aus der Schrift spricht.1012 Für ihn erscheint ein sacrificium intellectus vonnöten, hält er doch an der Auferstehung Christi mitsamt einer ganz neuen Welt fest, weil er es für falsch erachtet, den Bibeltext immerzu vor der Gegenwart rechtfertigen zu müssen.1013 Zwar merkt Bonhoeffer an, der Fokus der Evangelien liege “nur” auf dem leeren Grab, aber mehr-
1007 Vgl. 3.3.6. 1008 Vgl. 3.3.1. 1009 Vgl. 3.3.7. 1010 Vgl. 3.3.7, u. 3.3.8. 1011 Vgl. 3.2.6. 1012 Vgl. 3.2.2. 1013 Vgl. 3.2.6.
292 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase fach betont er die leibliche Auferstehung der Christen;1014 Wunder und Zeichen sind nämlich für ihn Teil der Gemeinde.1015 Das concretissimum der christlichen Botschaft ist immer Gott selbst, weshalb es auch laut der Schrift keine Trennung zwischen Ewigem und Zeitlichem gibt und so auch abstrakte Seelenlehren versagen, womit Bonhoeffer also in Übereinstimmung zu Heschel jeglichen Dualismus untersagt.1016 Allegorische bzw. rabbinisch-haggadische Exegese, die er bereits während seines Studiums entdeckt hat, besitzt für ihn auch deshalb eine Berechtigung, da es ihm in der Predigt lediglich darum geht, Gottes Wort zu bezeugen, sodass also Gott selbst reden will.1017 Was mehrfach deutlich geworden ist, betrifft das von Heschel so bezeichnete “situative Denken”, das Bonhoeffer zumindest implizit ebenso gebraucht, wenn er den biblischen Text mit seiner konkreten Situation in Verbindung bringt. Besonders deutlich wird der allegorische Ansatz in Verbindung mit der Relationalität zur Welt – letztlich also Bonhoeffers persönliche Situation – auch in den Bibelarbeiten, namentlich zu Esra und Nehemia, wo der Wiederaufbau Jerusalems parallel zur kirchlichen Situation seiner Zeit gedeutet wird, die nur aus der Erweckung des Geistes Gottes geschehen könne, nie durch Restauration, nur durch seine Gerichte hindurch in die Gnade.1018 Die zentrale Funktion Esras deutet er als Aufruf zurück unter die Autorität der Schrift, zum einfältigen Gehorsam. Die Freude am Gesetz ist für Bonhoeffer ein neues Evangelium und somit Rechtfertigung vor Gott. Scheidung kann es dementsprechend nur aufgrund des Wortes Gottes als Ausdruck Seines Willens geben, nie aus Eigenmächtigkeit. Die Heilige Schrift allein nämlich gibt Zeugnis von der göttlichen Offenbarung, sodass er auch jegliche Uroffenbarungslehren für falsch erklärt und vielmehr von Erhaltungsordnungen spricht.1019 Deshalb ist auch jedes Bekenntnis allein aufgrund seiner Schriftgemäßheit zu überprüfen, während jegliches Werk als abgeleiteter Weg immer nur aus dem Glauben zu rechtfertigen ist: Nur aus der Wahrheit Jesu Christi heraus werde Wahrheit erkannt.1020 Und so weist er seine Studenten immer wieder an, auf das Wort Gottes zu hören – auch in Form der Herrnhuter Losungen – und im Gebet zu verweilen.
1014 Vgl. 2.3.2 u. 3.2.7. 1015 Vgl. 3.2.6. 1016 Vgl. 3.2.2. 1017 Vgl. 2.3.1 u. 3.2.6. 1018 Vgl. 3.2.6. 1019 Vgl. 3.2.2 u. 3.2.4. 1020 Vgl. 3.2.8.
3.4 Zusammenfassung
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Denn Bonhoeffer wird biblisch-hermeneutisch vor allem durch Clayton Powell Sr. in New York geprägt, von dem er nicht nur den persönlich-frommen Zugang zur Bibel erhält, sondern auch drei Praktiken (Bibel Memorieren, Beten und Weitergeben wichtiger Bibelverse), die er wenige Jahre später in Finkenwalde selber einführt. Weil er die Bibel als alleinige Antwort auf “unsere” Fragen erachtet (so an Schleicher zur selben Zeit) und von ihrer alleinigen Ehre und Wahrheit als Wort Gottes ausgeht, implementiert er in der Gemeinschaft einen intensiven Gebrauch der Bibel – natürlich relational gelesen, sprich in betender Haltung: Durch die regelmäßige eigene Bibellese als lectio continua findet nicht nur Begegnung mit Christus statt, sondern soll auch durch Gottes Wille fürs Hier und Jetzt Veränderung bewirken.1021 Und statt sich während der Schriftmeditation in Philologie zu flüchten, sollen möglichst viele Bibelstellen auswendig gelernt werden. Damit wird Bonhoeffers Bibelzentrismus als unverrückbares Wort von Gottes offenbartem Willen deutlich, wie er es immerzu auch in seinen Predigten darlegt. In ganz ähnlicher Weise besitzt die Hebräische Bibel für Heschel einen exorbitant hohen Stellenwert, freilich relational vermittelt und damit ebenfalls in betender Haltung. Denn die Sinai-Offenbarung ist die Offenbarung Gottes schlechthin, durch das Volk Israel in ganz ähnlicher Weise wie die Kirche nach Bonhoeffer zum transsubjektiven Bürgen mutiert:1022 Die Gabe der Torah (als wesentlicher Teil der Bibel) ist einerseits verknüpft mit dem einmaligen Ereignis des Bundesschlusses, andererseits mit dem kontinuierlichen Rufen Gottes zur Partnerschaft;1023 so oder so unterstreicht ihre Gabe aber diese Partnerschaft immerzu. Die Entstehung der Bibel insgesamt deutet Heschel dabei durch das sog. “prophetic understatement”, den Anspruch der Propheten, Gott erlebt zu haben, wodurch die Relationalität wiederum zum entscheidenden Element wird. Weil sich Offenbarung im Vorkonzeptionellen abspielt, sind die Propheten darum Mit-Offenbarer der Schrift (ganz im Sinne der prophetischen Sympathie), sodass die Bibel aufgrund dieses partizipatorischen Ansatzes gleichermaßen Gotteswort und Menschenwort darstellt.1024 Dabei geht es darum, vom Glauben an die Propheten zum Glauben mit den Propheten zu gelangen und so selbst in den Status der direkten Beziehung zu Gott gelangen, weil Heschel überzeugt davon ist, dass jeder Jude am Sinai beim Bundesschluss dabei gewesen und somit jeder verpflichtet ist, den in der Torah enthaltenen Willen Gottes durch Mitsvot zu erfüllen.1025 Dies fördert laut Heschel auch 1021 Vgl. 3.2.6. 1022 Vgl. 2.3.4, 3.3.6 u. 3.3.8. 1023 Vgl. 3.3.8. 1024 Vgl. 2.4.3 u. 3.3.8. 1025 Vgl. 3.3.8.
294 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase die Auseinandersetzung mit der Tradition des Kollektivgedächtnisses Israels,1026 zumal eine Generation allein nicht den Geist Israels fassen könne. Das Gedenken der Tradition wird so im Sinne von Bonhoeffers actus reflexus zum Berührungspunkt aller Handlungen.1027 Auch die Autorität der Bibel ist nach Heschel daher in ganz ähnlicher Argumentation wie bei Bonhoeffer natürlich nicht abstrakt oder kritisch zu erkennen, ähnlich wie Offenbarung weder verifizier- noch falsifizierbar ist, sondern nur durch die Innenperspektive: Heschel betont, dass ihr Inhalt Seelen entflamme und nichts in größerem Geist geschrieben sei, sodass man durch Eintauchen Gottes Gegenwart wahrnehmen könne, selbstverständlich ausschließlich relational. Diejenigen, die diesen hermeneutischen Schritt wagen, nennt er “mysteryminded” und grenzt sie von den “literal-minded” ab, die sich mit historischer Kritik begnügen.1028 Deshalb ist (relational vollzogenes) Schriftstudium letztlich auch Anbetung Gottes. Im Stile von Bonhoeffers haggadischer Exegese weiß Heschel, dass die Schrift als prophetische Rede durch “grandeur and mystery” mehrere Bedeutungen besitzen kann. Von seiner jüdischen Tradition her nennt Heschel dies “Pilpul”, die Diskussion und Expansion des Textes, wodurch verborgene Bedeutungen ans Licht treten sollen.1029 Über die mystischen Einflüsse erklärt er, dass der Torah ein explizit doppelter Schriftsinn inhärent sei, als Vorlage für die Schöpfung und als Quelle zur Weisheit.1030 Sie stehe zwischen Gott und Menschen und fordere Seinen Willen an uns – andernfalls, ohne Offenbarung (in Form der Torah), habe man kein Wissen, ob es überhaupt der richtige Gott sei, den der Mensch suche; deshalb erlangt die Bibel als Werkzeug eine entscheidende Rolle, die Heschel zum self-attachment als Inspiration wie bei einem Künstler erklärt; Talmud Torah ist als Antwort auf Gottes Forderung zu verstehen.1031 Ebenso kann aber auch das Gebetbuch gelesen werden, das durch Einfühlung (“sympathetic prayer exegesis”) richtig verstanden wird. So fällt nicht nur die Bibel, sondern faktisch auch das Lied bei Heschel – wie bei Bonhoeffer auch – in die Kategorie des Gebets, wobei
1026 Vgl. 3.3.7 u. 3.3.8. 1027 Vgl. 3.3.6 u. 3.3.8; darum verweist Heschel auch auf die Schwierigkeit fehlender Loyalität gegenüber den jüdischen Traditionen, die mit der Rezeption der Aufklärung einhergehen; s. dazu 3.3.3. 1028 Vgl. 3.3.8. 1029 Vgl. 3.3.3. 1030 Vgl. 3.3.2. 1031 Vgl. 3.3.7.
3.4 Zusammenfassung
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Voraussetzung immer die richtige Herzenshaltung/Kavanah ist, womit dem Chazzan (als Anleiter des Siddur) entscheidende Bedeutung zukommt.1032
3.4.4 Von der Orthodoxie zur Orthopraxie: Durch das Gebet von der Absolutheit Gottes zur Partnerschaft mit Ihm Im Anschluss an seine immerzu dargelegte Unterscheidung zwischen Denken und Glauben bzw. Glaubensinhalt und Glaubensvollzug1033 taucht bei Heschel in dieser Zeit immer wieder eine klare Kritik an System- und Doktringläubigkeit auf. Deshalb propagiert er den Glauben durch ein Maximum an Hingabe und ein Minimum an Bekenntnis aufgrund ihrer Anfälligkeit.1034 Statt Dogmatisierung pocht er vielmehr auf die Liebe durch Kavanah.1035 In ganz ähnlichem Geist fokussiert Bonhoeffer sich mehr und mehr auf ein simples Evangelium und erlebt durch die Auseinandersetzung mit dem “schwarzen Christus” eine neue Nuance seiner ursprünglich lutherischen theologia crucis, die sehr konkret-praktisch geradezu befreiungstheologisch geprägt ist und ihn emotional mitreißt;1036 das Stichwort hier lautet “Wirklichkeitsnähe”, das letzten Endes in seinen Ansatz von Christus als dem Wirklichen im Zuge der Ethik münden wird. Jenseits des christologisch geprägten Glaubensvollzugs entwickelt sich bei Bonhoeffer darum zunehmend eine praktisch-relationale Christologie der Stellvertretung: Jesus wird sowohl ethisches Vorbild als auch lebendiges Gegenüber, was in nichts geringerem resultiert als selbst zum Ausgegrenzten zu werden und zu den Ausgegrenzten zu gehen. Dies hat Bonhoeffer bei Clayton Powell Sr. als Vorbild erlebt, was in ihm eine klar Position gegen den amerikanischen Rassenhass hervorruft, ihn aber auch gegen den (zu jener Zeit bevorstehenden) Aufmarsch der Nationalsozialisten sensibilisiert.1037 Es ist die Bergpredigt, die ihn inhaltlich packt und die sich literarisch in der Nachfolge als dem theologischen Kulminationspunkt dieser Mittelphase niederschlägt, in die er außerdem seine Liebe für eine katholisch-fromme Ernsthaftigkeit implementieren kann.1038 Denn sie macht (besonders mit ihren sechs Antithesen, vgl. Mt 5) die Einheit von
1032 Vgl. 3.2.6 u. 3.3.7. 1033 Man denke an Saadia, 3.3.1, 3.3.6 u. 3.3.8. 1034 Vgl. 3.3.1. 1035 Vgl. 3.3.7 u. 3.3.8. 1036 Vgl. 2.3.1, 3.2.1 u. 3.2.3. 1037 Vgl. 3.2.1. 1038 Vgl. 3.2.1 u. 3.2.7.
296 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase Geboten und Gnade für Bonhoeffer mehr als deutlich. Darüber hinaus integriert sie auch noch Jesus von seinem historischen Kontext her geradezu vollständig in den jüdischen Kontext und ist so der Schlüssel zu Bonhoeffers unwissentlicher Entwicklung hin zu einem “hebräischen Denken”,1039 wie es nur Heschel explizit thematisiert. Denn zwar leitet Bonhoeffer von Christus etwas völlig Neues ab, doch ebenso wird durch die Vollmacht Christi und dessen vollständiger Gesetzeserfüllung der Alte Bund neu in Kraft gesetzt, was nicht zuletzt daran liegt, dass gerade die sechs Antithesen der Bergpredigt rabbinisch-halakhische Auslegung der Hebräischen Bibel par excellence darstellen und Jesus selbst in diesen Schriften tief verwurzelt ist. Mithilfe des einfältigen Gehorsams durch den Nachfolger ist nun eine bessere Gerechtigkeit möglich: Jesus Christus tritt durch seine vollkommene Gottesgemeinschaft als Mittler zwischen den Nachfolger und das Gesetz, sodass der Weg zum Gesetz über das Kreuz Christi führt und so Gesetzeserfüllung durch Nachfolge möglich wird, weil der Nachfolger in seinem einfältigen Gehorsam nicht auf die Erfüllung des Gesetzes schaut, sondern einzig und allein auf Christus. Wichtig für die Antwort auf den Ruf Christi in seine Nachfolge ist, dass diese sog. “Ver-Antwortung” des Angesprochenen als freie Entscheidung gerade nicht der incurvatio unterliegt,1040 sodass es bei Bonhoeffer wie Heschel in gleicher Weise auf die vehemente Gnade Gottes als auch den freien Willen des Menschen hinausläuft. Der Nachfolger partizipiert so nicht nur relational an der persönlichen Größe von Jesus Christus, sondern auch an seiner Gnade, sodass Glaube, Rechtfertigung, Heiligung und Erlösung immer zusammengehören; Gnade ist somit nicht habbar als metaphysische Größe, sondern lediglich an ihr durch die persönliche Beziehung zu Christus prozesshaft partizipierbar, wodurch die zerstörte Gottebenbildlichkeit nach und nach wiederhergestellt wird.1041 Deshalb spricht Bonhoeffer von “teurer Gnade”: Gnade deshalb, weil sie in die Nachfolge Jesu Christi ruft; teure Gnade, die vor der Welt behütet werden muss. Billige Gnade ist Bonhoeffer zufolge verantwortlich für den Zusammenbruch der organisierten Kirchen, weshalb er statt der Orthodoxie die Nachfolge zum bekennenden Kriterium macht und so die Bekennende Kirche von der gleichgeschalteten Reichskirche abgrenzt. Durch imitatio vollbringt der Nachfolger so das Außerordentliche, ohne es selbst zu wissen, weil er nur auf Christus schaut, was Bonhoeffer auch “Glaubensgehorsam” nennt. Denn das Ziel ist die relationale Gleichgestaltung mit
1039 Vgl. 3.2.1, 3.2.5, 3.2.7 u. 3.3.8. 1040 Vgl. 3.2.7. 1041 Vgl. 3.2.7.
3.4 Zusammenfassung
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dem Bilde Christi, was ein Gericht nach Werken ohne Ansehen der Person ermöglicht. So bleibt als einfachste Eschatologie “Christus unsere Hoffnung”.1042 Zwar prägen wegen der Prämisse der absoluten Herrschaft Christi in allen Lebensbereichen gewisse Facetten von Weltflucht den Gesamteindruck; trotzdem aber steht der Umgang mit sozialen Missständen im Fokus. Auffällig ist für diese Phase die Intensität der Christusnachfolge, die aber gleichzeitig eben auch in einer ungewollten Endzeitstimmung ausartet und den Graben zwischen Kirche/Gemeinschaft und Welt recht breit zieht.1043 Bonhoeffers Errungenschaft der Mittelphase ist also in erster Linie nicht rein dogmatischer Natur, sondern gerade die Zusammengehörigkeit von Orthodoxie und Orthopraxie – die natürlich auch theologisch seinen Niederschlag erfährt; Bonhoeffer pocht folgerichtig immer wieder auf die Zusammengehörigkeit von Glaube und Gehorsam, Gesetz und Evangelium, Bekenntnis und Taten, deren Wurzeln in Bonhoeffers explizit christlich-relationaler Anthropologie der Freiheit des Menschen liegen, jedoch ebenso durch die praktisch-relationale Christologie der Stellvertretung zur vollen Entfaltung kommen kann und so überhaupt erst der Weg zur Relationalität zur Welt eröffnet wird.1044 Sehr konkret zweifelt Bonhoeffer deshalb auch immer wieder am System der Universität und präferiert zur Ausbildung des theologischen Nachwuchses vielmehr kirchlich-klösterliche Schulen, wo im Sinne seines Verständnisses von Nachfolge und Gemeinschaft die reine Lehre, Bergpredigt und Kultus vermittelt werden.1045 Die relationale Christologie nimmt Bonhoeffer auch zur Grundlage für sein Modell christlicher Gemeinschaft, wie er es exemplarisch in Finkenwalde vorlebt – als geistlicher Zusammenhalt nach dem Vorbild und den Attributen Christi.1046 Und auch die relationale Soteriologie leitet er klar von der Mittlerschaft Christ ab, die sich innerhalb der Gemeinschaft in der Stellvertretung durch den Nachfolger niederschlägt und Anteilhabe an Christi Schande, Leid und Sünde bedeutet, auch wenn gleichzeitig christliche Gemeinschaft für Bonhoeffer gnädige Vorwegnahme der letzten Dinge ist und so entfernte Assoziationen zu Heschels Tiqqun ‘Olam-Vorstellung (s. u.) bietet. Weil Christus der Geber ist, ist auch Tischgemeinschaft gegeben um Christi willen als Zeichen Seiner Gegenwart; die Fürbitte bringt den Bruder unter das Kreuz durch “Christus als Bruder existierend”, was sich niederschlägt im Zuhören, in tätiger Hilfsbereitschaft und im Tragen
1042 Vgl. 3.2.8. 1043 Vgl. 3.2.7. 1044 Vgl. 3.2.2. 1045 Vgl. 3.2.5. 1046 Vgl. 3.2.6.
298 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase des Anderen. Dass der Zugang zum Nächsten dabei immer über das gemeinsame Gebet und Hören auf Gottes Wort geschieht, ist Bonhoeffers praktisch-relationale Modifikation der Dissertation im Sinne des einfältigen Gehorsams.1047 Bonhoeffer kennt vier Durchbrüche: Erstens zur Gemeinschaft, zweitens zum Kreuz, drittens zum neuen Leben und schließlich viertens zur Gewissheit göttlicher Vergebung; um nicht in billige Gnade zu verfallen, setzt das Abendmahl – als Gemeinschaftsmahl – immer echte Beichte voraus, denn in allem wird die Notwendigkeit von Nachfolge auf Basis von Relationalität deutlich.1048 Zwar hält Bonhoeffer im Zuge seiner Mittelphase damit die Notwendigkeit von gesunder Theologie hoch; gleichzeitig wird aber immer deutlicher, dass sie nicht von der Ausübung des Glaubens getrennt werden darf. Das Bekenntnis hat damit immer auch eine ethische Komponente (wie er es im Zusammenhang mit Reichsbischof Müller deutlich macht): Das erste Bekenntnis vor der Welt ist die Tat.1049 Überhaupt lässt sich ihm zufolge nicht mehr urchristlich bekennen. Den Nutzen von Philosophie fokussiert Bonhoeffer darauf, die menschliche Existenz zu begreifen.1050 Nicht nur für Bonhoeffer, sondern erst recht für Heschel besitzen Dogmen damit nur sekundären und daher begrenzten Nutzen.1051 Sie sollen ganz im Sinne von Heschels Forderung nach einer amerikanisch-jüdischen Theologie lebendiges Gebet fördern.1052 Gleichzeitig rezipiert Heschel über seine jüdisch-mystische Tradition vage Theorien einer himmlisch gespiegelten Welt.1053 Insgesamt entwickelt sich aber auch Heschels Grundanliegen weiter. Denn auch die prophetische Sympathie ist nun auf die breiten Schultern aller Gläubigen gestellt, was bedeutet, dass prinzipiell jeder Gläubige offen für Gottes Impulse ist, die Welt zu verbessern.1054 Denn auch wenn Heschel kein Freund der Erbsündenlehre ist, ist er sich dennoch der Korruption aller Kreatur bewusst.1055 Der Mensch wird somit – wie nach Bonhoeffer Christus für den Nächsten – Repräsentant und Partner Gottes, auch wenn Gott immer zwischen zwei Menschen bleibt.1056 He1047 Vgl. schon 2.3.2. 1048 Vgl. 3.2.6. 1049 Vgl. 3.2.2 u. 3.2.7. 1050 Vgl. 3.2.2. 1051 Vgl. 3.3.1 u. 3.3.2. 1052 Vgl. 3.3.7. 1053 Vgl. 3.3.2. 1054 Vgl. 3.3.1. 1055 Vgl. 3.3.2. 1056 Vgl. 3.3.1 u. 3.3.6.
3.4 Zusammenfassung
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schels Verständnis von “piety” als “faith translated into life” entspricht dabei in etwa Bonhoeffers “teurer Gnade”,1057 die Heschel expressis verbis von “faith” unterscheidet, ohne in Gesetzlichkeit zu verfallen; nichts anderes ist für ihn “Religion”, die sich in der imitatio dei durch Ausübung der Mitsvot äußert. Allerdings bringt erst die Ausübung von Mitsvot den Menschen in eine erlösungswürdige Position vor Gott.1058 Durch seinen Geist besitzt der Mensch nach Heschel aber Entfaltungspotenzial und kann mehr als nur menschlich sein; er nützt Gott nicht nur, sondern partizipiert relational an Seiner Güte und ist offen für den göttlichen Funken.1059 Das Leben wird zum “cluster of needs”,1060 dessen Ziel “composing a song of deeds”1061 ist. Nichts weiter als eine Verknüpfung von prophetischer Sympathie, Spiritualität und Verantwortung für Mensch und Welt durch Ausübung der Mitsvot verbirgt sich dahinter.1062 Aus der Beziehung zu Gott – und somit immer relational vermittelt – soll der Mensch durch Einfühlung (als Reue und Reinigung) Verantwortung für die Welt und den Nächsten übernehmen und sowohl universelle Erlösung (= Tiqqun ‘Olam) als auch die individuelle Wiederaneignung/-erinnerung bzw. Ausübung der Gottebenbildlichkeit (= imitatio dei) zur Wiederherstellung der Welt herbeiführen;1063 dadurch – in Gegensatz zu Bonhoeffer – wird jeder Jude sogar anteilig Messias und kann als Avodah be-Gashmiut in verschiedensten Formen tatsächliche Akte der Erlösung herbeiführen. Ein Stückchen Heiligung, Erlösung, Auferstehung und damit Verwandlung von Zeit in Ewigkeit durch Beziehung mit Gott vollzieht sich für Heschel durch das Studium der Torah – als Erinnungsprozess auf Grundlage der jüdischen Quellen, als Gebet, als Mitsvot,1064 und zwar in nächster Nähe zu Bonhoeffer. Dabei hebt Heschel, und zwar deutlich anders als der amerikanische Individualismus, immer wieder die Bedeutung des Kollektivs Israels bzw. des Judentums hervor, das als Religion der Gemeinschaft und gegenseitigen Fürsorge auch einer universellen Erlösung nachgeht, um sozusagen den Traum Gottes zu träumen.1065
1057 Vgl. 3.2.7. 1058 Vgl. 3.3.8. 1059 Vgl. 3.3.6. 1060 Heschel: Man, 182. 1061 Ebd., 205. 1062 Vgl. 2.4.3 u. 3.3.2. 1063 Vgl. 3.3.2, 3.3.3, 3.3.5, 3.3.6, 3.3.7 u. 3.3.8. 1064 Vgl. 3.3.3, 3.3.5 u. 3.3.6. 1065 Vgl. 3.3.2, 3.3.6 u. 3.3.7.
300 | 3 Praktische Relationalität durch Gebet und die Bibel: Die Mittelphase 3.4.5 Praktische Auswirkungen der Relationalität zur Welt Dass Bonhoeffer und Heschel sich ihren Fragen und Themen nicht nur theoretisch annähern, dürfte bis hierhin deutlich geworden sein und legt naheliegenderweise ihr relationales Denken nahe. So leben sie immer stärker auch ihr relationales Denken – zu Gott, zu sich selbst, zum Nächsten und letztlich auch zur Welt. Während Bonhoeffers Studentenpfarramt nur von wenigen positiven Beziehungen geprägt ist, kann er als Leiter einer Konfirmandengruppe buchstäblich Christus für seine Schützlinge werden und praktiziert so aus der Relationalität zur Welt heraus, was er in Harlem gelernt hat.1066 Mehr und mehr rückt die Bedeutung des Alten Testaments in den Fokus, und nicht selten macht Bonhoeffer Gebrauch von prophetischer Warnung, weil er die Bekennende Kirche als ungehorsam und unklar gegenüber den eigenen Bekenntnissen empfindet. Anhand des extra ecclesiam pocht er darauf, dass außerhalb der Bekennenden Kirche kein Heil sei – welches freilich relational vermittelt wird, weil lediglich in ihr realiter Christus verkündigt werde.1067 Entscheidend – und vom vorherigen relationalen Denken her gesehen einleuchtend – ist dabei der Gehorsam gegen das Wort und das Tun des Gotteswillens, das Kirche konstituiert, nicht als religiöse Formel oder Dogma, auch wenn andererseits Irrlehre noch schwerer ist als die Versündigung im Wandel. Denn schließlich verkörpert die Kirche durch die Gegenwart des Heiligen Geistes und jedes einzelnen Christen stellvertretend den Christus praesens, nimmt Raum in der Welt ein und formuliert ein immer neues Gebot, sodass jegliche Gesetzlichkeit ebenso wie rein irdischer Friede für Bonhoeffer abzulehnen sind, wenn sie nicht relational vermittelt werden. Mithilfe der Bergpredigt ist es darum immerzu ein relational vermittelter Pazifismus, der ihn in dieser Mittelphase entscheidend prägt, sogar bis hin zur Feindesliebe.1068 Konkret heißt das für Bonhoeffer, dass die Notkirche sich gegen zersetzende Kräfte wehrt, indem sie auf Gott schaut.1069 Er prangert gleichsam die Konsequenzen des Arierparagraphen an und fordert daher von der Kirche, den Staat auf seine Verantwortung aufmerksam zu machen, den Opfern zu dienen und notfalls selbst durch politisches Handeln dem Rad in die Speichen zu fallen.1070 Auch die Predigten aus jener Zeit spiegeln sein relationales Denken praktisch wider, wenn er darauf pocht, dass die Predigt notwendigerweise politisch sein müsse. Auch vom 1066 Vgl. 3.2.2 u. 3.2.4. 1067 Vgl. 3.2.6. 1068 Vgl. 3.2.1 u. 3.2.8. 1069 Vgl. 3.2.6. 1070 Vgl. 3.2.4.
3.4 Zusammenfassung
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Neuen Testament her macht Bonhoeffer schließlich deutlich, dass es keine Grenzen zwischen Kirche und Politik geben könne, sodass hier erneut der besondere Stellenwert der Bibel deutlich wird.1071 Deshalb verurteilt er auch die späteren Legalisierungs-Offerten an die Bekennende Kirche als Versuchung. Doch schon in seiner Reflexion über den Führerbegriff verurteilt er die Verführung durch den Nationalsozialismus.1072 Auch seine London-Zeit rechtfertigt Bonhoeffer zumindest zum Teil als Solidarität mit judenchristlichen Pfarrern und der Fürsorge jüdischer Migranten. In anschließenden Predigten tritt er für Juden ein, denn Jesus sei ebenfalls Jude gewesen.1073 Federführend formuliert er mit anderen Auslandspfarrern eine eindeutige Erklärung gegen deutsche Christen und die Reichskirche auf Grundlage reformatorischer Glaubensfundamente, wohinter reines relationales Denken steht.1074 Den Weltbund drängt er in Fanø schließlich zur Entscheidung, ob er Kirche oder nur Zweckverband sein will, womit er nichts anderes als sein relationales Denken umsetzt. Immer wieder ruft er zu Gebet und der damit verbundenen Unterwerfung unter Gottes Willen auf, um Christus neu zu begreifen, zu einem simplem Evangelium zu gelangen und die ersten Werke zu tun, sich mit der Bibel auseinanderzusetzen, Gottes Wort zu hören und auf Wunder zu hoffen.1075 Auch Heschel praktiziert in der Mittelphase sein relationales Denken, jedoch nicht in gleicher Intensität wie Bonhoeffer. Immerhin ist sie Höhepunkt der Auseinandersetzung mit seiner jüdisch-chassidischen Tradition,1076 weil er in Amerika nicht nur mit dem Pragmatismus konfrontiert wird, sondern vonseiten des dortigen Judentums mit Individualismus, Symbolismus und Liberalismus. Deshalb veröffentlicht Heschel seinen wichtigen Artikel über “Symbolism and Jewish Faith” gegen die verbreitete rekonstruktivistische Position; gegen das amerikanische Reformjudentum argumentiert er nicht nur mithilfe des “Spirit of Jewish Prayer”, in dem er die Kavanah gegen das Fehlen jeglichen Lebens in jüdischen Gottesdiensten hervorhebt, sondern ebenso führt er die Bedeutung der Halakhah ins Felde, als er zu einem Vortrag am liberalen Hebrew Union College eingeladen ist.1077
1071 Vgl. 3.2.6. 1072 Vgl. 3.2.3. 1073 Vgl. 3.2.6. 1074 Vgl. 3.2.5. 1075 Vgl. 3.2.6 u. 3.2.8. 1076 Vgl. 3.3.2, 3.3.3, 3.3.5 u. 3.3.7. 1077 Vgl. 2.1.2 u. 3.3.7.
4 Relationalität, Bibel und prophetischer Aktivismus: Die Spätphase In konkreter Verantwortung handeln heißt in Freiheit handeln, ohne Rückendeckung durch Menschen oder Prinzipien selbst entscheiden, handeln und für die Folgen des Handelns einstehen. Verantwortung setzt letzte Freiheit der Beurteilung einer gegebenen Situation, des Entschlusses und der Tat voraus. Verantwortliches Handeln liegt nicht von vornherein und ein für allemal fest, sondern es wird in der gegebenen Situation [Herv. von P. M.] geboren. […] Es muß beobachtet, abgewogen, gewertet werden, alles in der gefährlichen Freiheit des eigenen Selbst. – Dietrich Bonhoeffer, Ethik (1942?) There is immense silent agony in the world, and the task of man is to be a voice for the plundered poor, to prevent the desecration of the soul and the violation of our dream of honesty. The more deeply immersed I became in the thinking of the prophets, the more powerfully it became clear to me what the lives of the prophets sought to convey: that morally speaking there is no limit to the concern one must feel for the suffering of human beings. It also became clear to me that in regard to cruelties committed in the name of a free society, some are guilty, while all are responsible. – Abraham J. Heschel, “The Reaons for my Involvement in the Peace Movement” (1971)
4.1 Einführung Nachdem im zweiten Teil dieser Untersuchung gezeigt wurde, dass Bonhoeffers und Heschels entscheidende Weiterentwicklungen des Prophetischen sich insbesondere in der theoretischen und praktischen Verwurzelung in Gebet und Spiritualität vollziehen, wird sich in diesem dritten Teil herauskristallisieren, dass beide unabhängig voneinander auf Grundlage ihrer Theologie auf die Herausforderungen ihrer Zeit reagieren und praktisch in Aktion treten. Dass beide dabei immer aus ihrer Gottesbeziehung heraus agieren, verdeutlicht einmal mehr, dass Bonhoeffer und Heschel tatsächlich als “Propheten ihrer Zeit” bezeichnet werden können.
4.2 Bonhoeffers Konspiration und Neuformation von Kirche und Welt (1939–1945) 4.2.1 Ein kurzes Interim in Amerika (1939) Bereits in den letzten Jahren von Bonhoeffers Mittelphase hat sich der Druck gegen ihn nicht nur als Pastor, sondern auch gegen ihn persönlich stetig erhöht. Nun https://doi.org/10.1515/9783110771961-004
4.2 Bonhoeffers Konspiration und Neuformation von Kirche und Welt (1939–1945) |
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droht mit dem bevorstehenden Kriegsausbruch eine neue Gefahr, nämlich der Militärdienst.1 Innerhalb weniger Monate entstehen deshalb immer konkretere Pläne, für mindestens ein Jahr nach Amerika auszureisen, um entweder dort akademisch zu arbeiten oder deutsche Flüchtlinge zu betreuen.2 Allerdings erkennt er innerhalb kürzester Zeit nach Ankunft in den Staaten, welch ein Fehler dies gewesen ist, sodass er schließlich und endgültig am 20. Juni 1939 den Entschluss zur Rückkehr nach Deutschland fasst, um “jetzt Deutscher sein und bleiben zu müssen in voller Übernahme der Schuld und Verantwortung.”3 Gegenüber den Involvierten – darunter Altbekannte wie Lehmann und Niebuhr – argumentiert er, jeder solle den Platz einnehmen, an den er gehöre:4 I will have no right to participate in the reconstruction of Christian life in Germany after the war if I do not share the trials of this time with my people.5
Sein relationales Denken trifft Bonhoeffer damit selbst auf existentielle Art und Weise. Er wertschätzt darum das gemeinsame Gebet für die deutschen Brüder, ist ergriffen von der Predigt durch Dr. McComb in der Broadway Presbyterian Church über “our likeness with Christ”, die ihn in seiner Entscheidung bestärkt, und freut sich auf die baldige gemeinsame Meditation mit Bethge.6 Immer wieder spielen die Herrnhuter Losungen – als Wort Gottes – eine für ihn wegweisende Rolle, die er geradezu prophetisch als Reden Gottes in seine konkrete Situation deutet, wenn es da am 24.06. “Wer glaubt, der flieht nicht.” heißt und am 26.06. gar “Komme noch vor dem Winter!”7 (2 Tim 4,21). Dass Bonhoeffer besonders diesen letzten Vers aus seinem historischen Kontext reißt und auf seine eigene Situation bezieht, versteht er nicht als Missbrauch,8 sondern unterstreicht seine relationale Hermeneutik, nach der Gott selbst durch den Bibeltext in die konkrete Situation Bonhoeffers hineinspricht. Zwar übertreibt er natürlich, wenn er in sein Tagebuch 1 Und tatsächlich erwähnt Bonhoeffer in einem undatierten Brief (laut Hrsg. wahrscheinlich vom 13.05.1939) an die Eltern die bevorstehende Musterung am 22.05; vgl. Bonhoeffer: DBW 15, 169. Zum ersten Mal gegenüber Bischof Bell am 25.03.1939 geäußert, fürchtet er speziell den Militäreid, dem er sich entziehen will, um nicht in Versuchung geführt zu werden (vgl. 160). 2 Vgl. ebd., 168; 171; 173; 174; 191. 3 Bethge: DB, 736; vgl. auch Bonhoeffer: DBW 15, 188; 190; 191; 193; 194; 199; 203f.; 206; 210; 220; 222; 230; 235. 4 Vgl. ebd., 209 (Brief an Paul Lehmann vom 30.06.1939). 5 Ebd., 210. So lautet seine Begründung an Niebuhr (Ende Juni 1939), deren Richtigkeit Bonhoeffer mit einem Gebet begründet, dem die Einsicht gefolgt sei, dass die Reise nach Amerika ein Fehler gewesen sei. 6 Vgl. ebd., 222; 224; 226; 251. 7 Ebd., 233 u. 234; vgl. auch 240 u. 251. 8 Vgl. ebd., 234.
304 | 4 Relationalität, Bibel und prophetischer Aktivismus: Die Spätphase schreibt, dass er in diesem einen Monat dennoch mehr gelernt habe als neun Jahre früher bei seinem ersten Amerika-Aufenthalt; Auswirkungen dieser Reise erkennt er jedoch dieses zweite Mal besser als noch beim ersten Mal.9 Etwas selbstrechtfertigend klingt dann allerdings seine Frage, ob Amerikaner Deutsche letztlich nicht verstünden, weil sie in Glaubensfragen nicht standgehalten hätten, sondern geflohen seien, um ihren eigenen Glauben zu leben.10 Immerhin widmet Bonhoeffer genau dieser Frage mit ebenjenem Vorwurf noch einen langen Artikel mit dem Titel “Protestantismus ohne Reformation”,11 in dem er sich (neben zahlreichen Redundanzen) besonders gegen die dogmatische Trennung von Staat und Kirche bzw. den Denominationalismus ausspricht und klar der Spiritualität gegenüber der Theologie Vorzug gibt, weil “auch eine schlechte Theologie nicht allzu viel Schaden tun kann.”12
9 Vgl. Bonhoeffer: DBW 15, 240. 10 Vgl. ebd., 234 (Tagebucheintrag vom 27.06.1939). 11 Vgl. ebd., 431–460; 232. 12 Ebd., 455. Wichtig zu erwähnen ist deshalb, dass Bonhoeffer den Zufluchtsgedanken ebenjener vormaliger Flüchtlinge auf den Punkt zuspitzt, dass die Amerikaner so auch den konfessionellen Kampf verwirkt hätten, der zwar in Toleranz ausgeartet sei, damit aber auch jeden Anspruch auf Wahrheit und Orthodoxie verwehrt hätten, weil sie ihr Bekenntnis vernachlässigt hätten (vgl. 434 u. 441f.). Während die europäischen Kirchen also miteinander im Streit lägen über die Bekenntnisfrage und die Wahrheit des Wortes Gottes – darum geht es Bonhoeffer immerzu –, besäßen und beanspruchten die amerikanischen Denominationen als freie Zusammenschlüsse gar keinen Anspruch darauf, Kirche zu sein (vgl. 438f.). Damit wird deutlich, dass Bonhoeffer “Kirche” hier streng theologisch und nicht soziologisch deutet; die Einheit der Kirche ist seiner Ansicht nach auf das Leben und Werk Jesu Christi gegründet, kommt aus der Buße und aus dem Hören auf den Heiligen Geist und damit letztlich aus der Heiligen Schrift (vgl. 439–441). So verurteilt er auch eine falsche Bindung an die Welt, was unfrei machen kann. Vielmehr ist “Freiheit der Kirche [ist] nicht dort, wo sie Möglichkeiten hat, sondern allein dort, wo das Evangelium sich wirklich und in eigener Kraft Raum auf Erden schafft, auch und gerade wenn ihr keine solchen Möglichkeiten angeboten sind” (444). Das Wort Gottes möge sich also, so Bonhoeffer, als Freiheit Gehör verschaffen (vgl. 444). Deshalb verurteilt er auch die fast dogmatische Trennung von Staat und Kirche, die praktisch gar nicht vorhanden ist, weil sich vermehrt durch einen vorherrschenden Spiritualismus die Vorordnung der Kirche vor den Staat durchgesetzt habe mit dem Ziel, das Reich Gottes allein durch die Kirche aufzurichten bzw. den Staat in die Kirche zu subordinieren (vgl. 445–447). Aber weder die wirkliche Trennung zwischen Staat und Kirche noch eine christliche Staatsform können Bonhoeffer zufolge dabei grundsätzlich vor der Säkularisierung bewahren (vgl. 448f.). Die von ihm besonders wertgeschätzte “Negerkirche” mit ihren Spirituals bietet immerhin die lebendigste und verbreitetste Erweckungspredigt, in der “wirklich das Evangelium von Jesus Christus, dem Heiland der Sünder, gepredigt und mit großer Empfänglichkeit und spürbarer Bewegung aufgenommen wird” (454). Interessant ist schließlich, dass Bonhoeffer bei der Bewertung der Theologie zunächst noch zurückhaltend formuliert, “daß auch eine schlechte Theologie nicht allzu viel Schaden tun kann” (455), was durch Gottesdienstordnung
4.2 Bonhoeffers Konspiration und Neuformation von Kirche und Welt (1939–1945) |
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4.2.2 Der Eintritt in die Konspiration (1939/1940) Womöglich durch die Pogromnacht initiiert, ist Bonhoeffer bereits seit 1938 Mitwisser der Konspiration gegen Hitler.13 In den folgenden zwölf Monaten (1939/40) geschieht schließlich bei ihm etwas, dass Bethge als “Wendung des Christen zum Zeitgenossen”14 bezeichnet hat und das ebenso viel mit Bonhoeffers relationalem Denken zu tun hat: Während die Mittelphase durch die Intensität der JesusBeziehung, die Präsenz und Rolle der Kirche in der Welt (bzw. gegen die Welt) und einen dadurch vermittelten christlichen Pazifismus15 geprägt gewesen sind, ergreift Bonhoeffer nun endgültig die Relationalität zur Welt mit all ihren Konsequenzen; der ursprüngliche Widerstand der Mittelphase gegen die nicht mehr intakte Kirche richtet sich nun gegen die nicht mehr intakte Welt.16 “Anders als in Fanø, wo er allein vom bußfertigen Gehorsam der Kirche noch eine Rettung des Friedens erhoffte, ordnet Bonhoeffer jetzt Kirche und ‘Ordnungsmacht’ in der Verantwortung für die geschichtliche Zukunft einander zu. Bonhoeffer versteht den Versuch, sich mit militärischer Gewalt des Hitler-Regimes zu entledigen, nicht als Widerstand gegen, sondern als Wiederaufrichtung einer rechten ‘Obrigkeit’ angesichts hereinbrechenden Chaos”,17 wie Martin Heimbucher zurecht deutlich gemacht hat.18 und Tradition überdeckt wird, bevor er schlussendlich darauf aufmerksam macht, welch eine “Rückkehr vom Säkularismus in seinen verschiedenen Gestalten als Modernismus, Humanitarismus, Naturalismus zu den großen Tatsachen der Offenbarung” (456) in den vorherigen zehn Jahren geschehen sei; dass dies mit der englischen Übersetzung zahlreicher deutscher Theologien einhergeht, dürfte nicht verwunderlich sein (vgl. 456). Einzig die Christologie, Bonhoeffers theologisches Herzstück, versagt in jener amerikanischen Theologie, wobei Niebuhr hier mit Abstrichen wie wenige andere die explizite Ausnahme bleibt, sodass sich nach Bonhoeffers Urteil das dortige Christentum wesentlich aus Religion und Ethik konstituiert (vgl. 457–459). Sein Urteil von 1931, dass statt Evangelium “[e]in fortschrittsgläubiger ethischer und sozialer Idealismus” (Bonhoeffer: DBW 10, 272) gepredigt werde, revidiert Bonhoeffer dennoch aber gerade nicht, sondern muss feststellen, dass die Kirche noch säkularisierter ist als in Europa; vgl. ders.: DBW 15, 236. 13 Zur Mitwisserschaft vgl. Heimbucher: Christusfriede, 276. Haynes: “Bonhoeffer”, 48, spricht von der Pogromnacht als “personal epiphany for Bonhoeffer”, die wahrscheinlich “the turning point in his decision to join the active conspiracy against Hitler” ist. Vgl. auch Bethge: DB, 700 u. Marsh: Strange Glory, 267. 14 Bethge: DB, 760. 15 Vgl. 3.2.1 u. 3.2.5. 16 Vgl. Green: “Human Sociality”, 126. 17 Heimbucher: Christusfriede, 368. 18 Die Wende zum Zeitgenossen ist somit (Krötke: “Gottesverständnis”, 445) “keine Abwendung, sondern Intensivierung und Universalisierung des Glaubens an Jesus Christus in seiner Bedeutung für die ganze Welt.”
306 | 4 Relationalität, Bibel und prophetischer Aktivismus: Die Spätphase Die politischen Ereignisse mit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges und dem Erfolg der Nazis sind somit entscheidend für Bonhoeffers Wende.19 Spätestens Hitlers Ankündigung der Zerstörung des Judentums in Europa am 30. Januar 1939 und folgende Gerüchte von Judenverschleppungen 1940 dürften das Fass zum Überlaufen gebracht haben.20 Und so beginnt zu dieser Zeit Bonhoeffers Doppelleben zwischen Pfarramt im Untergrund, dem “Deckmantel der Abwehr”21 und der engagierten Teilnahme am aktiven Widerstand gegen Hitler, dessen Rolle aufgrund seiner zahlreichen Kontakte und Verbindungen der Informationsfluss über die Konspiration ins Ausland ist.22 Dass sich theologisch diese Wende aber nicht plötzlich ereignet, dürfte bis hierhin deutlich geworden sein. Denn durch seinen ersten Amerika-Aufenthalt ist der Spalt zu sozial-politischem Engagement bereits geöffnet: In jener Zeit ist ja bereits die lutherische theologia crucis durch Bonhoeffers Begegnung mit der afroamerikanischen Theologie und Frömmigkeit durch befreiungstheologische Elemente dahingehend modifiziert worden, dass sich das Element der Stellvertretung mit der Relationalität zur Welt zu einer praktischen Christologie verbindet, durch die der Nachfolger Christi Jesu zum “outcast among outcasts”23 werden soll. Von stellvertretender Schuldübernahme Christi ist ja bereits im Erstlingswerk der Dissertation die Rede gewesen,24 die in Finkenwalde dann auch konkreter als “Christus als Bruder existierend” auf die persönliche Ebene dahin übertragen wird, dass ein Bruder dem Nächsten zur Gnade wird und stellvertretend Sünden vergeben kann.25 Und relativ zeitgleich in der Nachfolge schreibt Bonhoeffer von den Stiftern göttlichen Friedens, dass sie “mitten in der Welt des Hasses und des Krieges” seien und – anhand von Mt 5,10 – “um einer gerechten Sache, um des gerechten
19 So erzählt Bethge: DB, 765, von Bonhoeffers öffentlichem Hitlergruß am 17.06.1940 in einem Café, als im Radio von der blitzartigen Kapitulation Frankreichs berichtet wird, in dessen Folge er Bethge anweist, sich “für ganze andere Dinge gefährden zu müssen, aber nicht für diesen Salut!” Vgl. auch Bonhoeffer: DBW 16, 64; 215. Auch Bonhoeffers Meditation über Ps 119 lässt diese Wendung erahnen, zumal sich Bonhoeffer bereits 1939 über ein mögliches Leben eines Pfarrers für die politische Freiheit ausgesprochen hat; Vgl. Bethge: DB, 760 u. Marsh: Strange Glory, 263. 20 Vgl. Bonhoeffer: DBW 16, 202, Bethge: DB, 773 u. Marsh: Strange Glory, 269; so auch DeJonge: Resistance, 128ff, der von einer dritten Phase des Widerstandes bei Bonhoeffer redet. Gleichzeitig scheint Bonhoeffer, noch Ende des Jahres 1940 in einem Brief (vom 28.12.) an seine Mutter Skepsis auszudrücken gegenüber der erhofften Beseitigung Hitlers; vgl. Bonhoeffer: DBW 16, 103. 21 Bethge: DB, 698. 22 Vgl. ebd., 702; 813ff. 23 Marsh: Strange Glory, 118. Vgl. 3.2.1. 24 Vgl. Bonhoeffer: Sanctorum Communio, 99. 25 Vgl. 3.2.6.
4.2 Bonhoeffers Konspiration und Neuformation von Kirche und Welt (1939–1945) |
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Urteils und Tuns”26 willen leiden. Mit Nachdruck betont Bonhoeffer anschließend nochmals, “daß Jesus seine Jünger auch dort selig preist, wo sie nicht unmittelbar um des Bekenntnisses zu seinem Namen willen, sondern um einer gerechten Sachen willen leiden.”27 Der Weg in die Welt und die der stellvertretenden Schuldübernahme des Nachfolgers in Person Bonhoeffers ist damit deutlich angelegt und wird auch durch die Auseinandersetzung mit Niebuhrs “Moral Man and Immoral Society”28 – womöglich aktiviert durch den erneuten Amerika-Aufenthalt 1939 – schließlich in dem Ethik-Manuskript “Die Geschichte und das Gute [2. Fassung]” theologisch dargelegt werden. Auch Kierkegaards Furcht und Zittern mit dessen möglicher “teleologischen Suspension des Ethischen”29 gewinnt größeren Raum, der anhand von Abraham aus der Beziehung zu Gott unter Umständen einen Mord zu einem “wohlgefälligen Opfer”30 erklären kann.
4.2.3 Zwischen Konspiration und Theologie (1939–1943) Neben dem bevorstehenden Einzug ins Militär31 droht Bonhoeffer die Ausweisung aus Berlin. Er bekommt dort zudem Redeverbot – ab dem 22. August 1940 sogar Reichsredeverbot wegen volkszersetzender Tätigkeiten – und schließlich Meldepflicht an seinem Wohnort.32 Deshalb wendet er sich schließlich der Abwehr zu – die durchsetzt ist von zahlreichen Konspiranten –, sodass eine Unabkömmlichkeitsprüfung möglich wird. Offiziell wird er so der Münchener Abwehr angegliedert und kann seine dortige Tante, Christine Gräfin Kalckreuth, als zweiten Hauptwohnsitz neben Köslin/Schlawe angeben.33 Eigentlicher Lebensmittel-
26 Beides Bonhoeffer: Nachfolge, 108. 27 Ebd., 108; mit Bethge: DB, 760f. 28 Vgl. schon 3.2.1. 29 Kierkegaard: Furcht, 49. Vgl. 2.3.3. 30 Ebd., 50f. 31 Bereits ab dem 12.10.1939 steht Bonhoeffer im Dienstverhältnis zu General Canaris, der Teil der Konspiration ist, und wird am 05.06.1940 auch als kriegsverwendungsfähig gemustert; vgl. Bonhoeffer: DBW 16, 36. Deshalb hat er sich nach dessen Rückkehr bereits zur Heeresseelsorge gemeldet, wird aber abgelehnt; vgl. ders.: DBW 15, 264. 32 Vgl. ders.: DBW 16, 50; 51; 58; 62; 63f. Bethge: DB, 781ff. Letztendlich ereilt Bonhoeffer zudem eine Ordnungsstrafe wegen unerlaubter Veröffentlichung und schließlich das Verbot schriftstellerischer Tätigkeiten, auch wenn er Einspruch erhebt; vgl. Bonhoeffer: DBW 16, 170; 173; 175; 177; 181. 33 Vgl. Bethge: DB, 769; 785f.; vgl. Bonhoeffer: DBW 16, 35; 46; 49.
308 | 4 Relationalität, Bibel und prophetischer Aktivismus: Die Spätphase punkt ist aber das Berliner Elternhaus, weshalb er zwischen Hinterpommern, Berlin und Bayern pendelt und für unterschiedliche Aufträge der Konspiration quer durch Europa reist und darin seine Verbindungen nutzt.34 Aber nicht nur informiert Bonhoeffer das In- und Ausland über Umsturzpläne – an dessen Echtheit auch immer wieder gezweifelt wird –,35 sondern er ist auch praktisch involviert in die Evakuierung von einzelnen Nicht-Ariern in die Schweiz im sog. “Unternehmen 7”.36 Nicht zuletzt treiben ihn auch immer wieder die Meldungen über gefallene Finkenwalder Brüder und sonstige Angehörige zum Handeln an.37 Gerade in dieser herausfordernden Zeit verliert Bonhoeffer dennoch nicht die Hoffnung, sondern vielmehr “lebt er hinein in die Welt”, macht mit seinem relationalen Denken auch dahingehend ernst, dass er sich noch kurz vor seiner Inhaftierung mit der deutlich jüngeren Maria von Wedemeyer verlobt.38 In der Erklärung an die Mutter von Wedemeyers, Ruth, legt Bonhoeffer den Segen dementsprechend nicht als etwas rein Geistliches dar, “sondern [als] etwas in das irdische Leben tief Hineinwirkendes.”39 Dieser kurze Ausspruch nimmt etwas von dem vorweg, was schließlich ein knappes Jahr später in den Briefen aus der Haft in Bonhoeffers Diesseitigkeit seinen Höhepunkt finden wird. Denn er besitzt in diesen drei Jahren zwischen 1940 und 1943 genügend Zeit, um erneut Theologie zu betreiben, an seiner Ethik zu schreiben und sich weiterzuentwickeln – allen voran in Klein-Krössin und im Kloster Ettal, für dessen routiniertes Leben er dankbar ist und was ihn an Finkenwalde erinnert, während ihm die Berlin-Aufenthalte “immer wieder sozusagen die geistliche Lebenskraft”40 rauben. Er stellt sich neuerdings auch der Frage, ob man sich zwingen muss, täglich die Bibel zu lesen,41 was zwei Jahre später dahingehend ausartet, dass er gegenüber Bethge seine Verwunderung darüber äußert, dass er bei seiner säkularen Tätigkeit tagelang ohne Bibel leben kann. Gehorsam empfindet er als Autosuggestion, sodann beim Aufschlagen der Bibel wieder beglückende Gefühle, die ihn zum Predigen inspirieren.42 Die sich anschließenden Sätze verraten nun bereits etwas Neues, wenn er schließlich von einem “Widerstand gegen alles ‘Religiöse’ ” spricht, sich selbst
34 Vgl. Bonhoeffer: DBW 16, 60; 72; 74; 76; 86; 109; 202; s. auch Bethge: DB, 769. 35 Vgl. Bonhoeffer: DBW 16, 223; 284; 291; 300; 302; 313; 331. 36 Vgl. ebd., 217; 218; vgl. auch Bethge: DB, 838ff.; 917f. 37 Vgl. Bonhoeffer: DBW 16, 191; 224; 227; 240; 321; 353; 354; 373. 38 Vgl. Bethge: DB, 770; 886–889; s. auch Bonhoeffer: DBW 16, 370; ders.: DBW 8, 236. 39 Ders.: DBW 16, 350. 40 Ebd., 60; zu den unterschiedlichen Aufenthaltsorten Bonhoeffers vgl. auch Bethge: DB, 770. 41 Vgl. Bonhoeffer: DBW 16, 122. 42 Vgl. ebd., 325.
4.2 Bonhoeffers Konspiration und Neuformation von Kirche und Welt (1939–1945) |
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als “keine religiöse Natur” versteht, ihm “die religiösen Einkleidungen so unbehaglich” erscheinen und er statt dessen immerzu an “Gott, an Christus, […] an Echtheit, an Leben, an Freiheit und Barmherzigkeit”43 denken muss. Die Relationalität zwischen Gott und Welt wird bei ihm immer stärker, und das von Heschel sog. “situative Denken” überträgt Bonhoeffer sogar auf die Sprache. Auch die Leidensbereitschaft entwickelt sich.44 Seine Briefe verraten dabei im Zusammenhang seines relationalen Denkens und der Bibel auch den stärkeren Blick in Richtung Altes Testament, doch werden diese Impulse immer noch weitestgehend von der Theologie der Mittelphase beeinflusst.45
43 Alle Zitate Bonhoeffer: DBW 16, 325. 44 So tröstet Bonhoeffer im Mai des Jahres 1942 die Familie seiner Schwester Sabine zwar mit dem Hinweis, dass Gott und Leiden nicht im Gegensatz stünden, sondern gerade notwendige Einheit, äußert im Rundbrief an die Brüder ein halbes Jahr später zum 1. Advent aber (ebd., 374; vgl. 275): “Wir sind nicht berufen, uns die Leiden der ganzen Welt aufzubürden, wir können im Grunde von uns aus garnicht mitleiden, weil wir nicht erlösen können.” 45 Nicht nur die gerade erwähnte Verwurzelung des Segens im irdischen Leben verrät Bonhoeffers zunehmendes Interesse an dem Alten Testament, sondern auch die wiederholte Bitte im Zuge der Mitarbeit an Predigtmeditationen, an die alttestamentlichen Texte gehen zu dürfen, denn er findet es (ebd., 34; vgl. auch 61; 146; 152) “unendlich viel nötiger, die A. T.-Lektionen zu behandeln als die Episteln.” Doch in zeitlichem Zusammenhang zur verstärkten Ernstnahme des Alten Testaments lassen sich noch valide Zweifel gegenüber seiner späteren, “nicht-religiösen Interpretation biblischer Begriffe” finden, wie er sie dann ausführlicher in der Tegeler Haft mit Bethge diskutieren wird. So erwidert er Ruth Roberta Stahlberg zum Thema der Reformationssehnsucht (wohl März 1940), in gänzlichem Einklang mit der Früh- und Mittelphase, solus Christus – und ist noch sehr skeptisch gegenüber der Modernisierung biblischer Begriffe, zumal nach evangelischem Verständnis die Sprache keine Äußerlichkeit darstelle; vielmehr soll nach Bonhoeffer zu diesem Zeitpunkt die schlichte Schrift der Bibel ruhig stehen bleiben, und mit Verweis auf die Bücher von Georges Bernanos rät er statt dessen zum täglichen Umgang mit dem gekreuzigten Christus und der damit verbundenen persönlichen Umkehr; vgl. ebd., 19–25. Auch seine Betrachtung von der Dankbarkeit der Christen macht Bonhoeffers Zurückhaltung gegenüber Erneuerung und Eigeninitiative deutlich, in der er zur Dankbarkeit aus dem Worte Gottes aufruft (vgl. 490, Teil eines Rundebriefs des Rates der Bekenntnissynoden vom 26.07.1940). Noch am 18.06.1942 weist Bonhoeffer Bethge auf den Evangelisten Johannes hin, als dessen Ergebnis sich zusammenfassen lasse, man solle sich an Jesu Liebe genügen lassen (vgl. 310). In einer Predigtmeditation zu Jes 5,5f. an Weihnachten 1940 legt er deshalb auch noch wie selbstverständlich das Alte Testament christologisch aus und argumentiert klassisch-lutherisch kirchenzentriert dahingehend, dass das geistliche Reich Christi dort sei, “wo er mit seinem Wort und Sakrament gegenwärtig ist” (638; vgl. 636). Ob Bonhoeffer diese Ansichten theologisch überhaupt jemals ablegen wird oder will, lässt sich anhand der vorhandenen Textzeugnisse auch letztendlich nicht beurteilen. Immerhin heißt es in dieser Passage nach der Identifikation Gottes mit dem Kind in der Krippe (als Verweis auf die Weihnachtsgeschichte aus Lk), dass dieses Kind – als “Ewig-Vater […] die Liebe
310 | 4 Relationalität, Bibel und prophetischer Aktivismus: Die Spätphase 4.2.4 Zunehmende Diesseitigkeit, Stellvertretende Schuldübernahme und Situationsbezug: Die Ethik (1940–1943) 4.2.4.1 Einführung: Bonhoeffers Motivation Als Antwort auf die Frage, wie “wie die in Jesus Christus offenbar gewordene Wirklichkeit Gottes im menschlichen Leben in der Welt Gestalt gewinnen kann”,46 verfasst Bonhoeffer die Ethik,47 seine selbst so bezeichnete “Lebensaufgabe”.48 Obwohl Bonhoeffer seit den beginnenden 1930er Jahren – in besonderer Weise durch seinen ersten Amerika-Aufenthalt – von den “radikaleren” Zügen des Christentums inspiriert ist, besonders durch die Bergpredigt, hat sich sein Wirkungskreis bis zum Ende der 1930er Jahre weitestgehend auf die Kirchenlandschaft beschränkt, auch wenn er sich verbal und publizistisch klar gegen die Naziideologie und -gräuel positioniert hat. Dahinter verbirgt sich eine Friedensethik, die
des Vaters auf die Erde bringen” (637) wird. Allerdings relativiert Bonhoeffer diesen und die anderen Titel anschließend in gewisser Hinsicht wieder, indem er sie als Ausdruck für “ein wortloses Schweigen der Anbetung vor dem Unaussprechlichen, der Gegenwart Gottes in der Gestalt des Menschenkindes” deutet. Und praktisch soll der Christ ja zum Repräsentanten Christi werden (vgl. spätestens die Ethik). Im Januar 1941, im Aufsatz “Der beste Arzt”, wird Christi Funktion als wahrer Arzt der tieferen Krankheit, nämlich unserer Sünde, dargestellt (vgl. 502ff.), womit Bonhoeffer ebenfalls noch klar lutherisch argumentiert. Und auch sein Bezug zur Liturgie und zum Bibelgebrauch macht die Nähe zu Finkenwalde und Gemeinsames Leben durch die katholische Liturgie Ettals deutlich, weshalb er Bethge dazu anweist, sich ebenfalls auf feste Gebetszeiten zu konzentrieren, und er freut sich über die Losung an Bethges Geburtstag (vgl. 76; 144; 199; s. auch 65). 46 So im Nachwort der Herausgeber, zu finden in Bonhoeffer: Ethik, 413. 47 Ethik lautet der letztendliche Titel von Bonhoeffers posthum veröffentlichter Sammlung an Manuskripten, deshalb die Anführungszeichen; tatsächlich ist dies für Bonhoeffer aber wohl nur ein Arbeitstitel gewesen, denn im Zuge seiner Auseinandersetzung mit den letzten und vorletzten Dingen äußert er gegenüber Bethge am 28.11.1940 als möglichen Buchtitel “Wegbereitung und Einzug”; vgl. ders.: DBW 16, 79. 48 Vgl. Bethge: DB, 804. Wohl zum ersten Mal erwähnt er diese “eigene Arbeit” (Bonhoeffer: DBW 16, 56) am 17.08.1940 in einem Brief an Hans-Werner Jensen, was laut rekonstruierter Entstehungsreihenfolge der Herausgeber der Anfangsphase der Arbeit entsprechen dürfte; vgl. ders.: Ethik, 16. Gegenüber Bethge äußert er später während der Haft in Tegel, er müsse eigentlich nur noch seine Ethik fertigstellen, während er darüber nachdenkt, er habe sein Leben mehr oder weniger hinter sich; vgl. ders.: DBW 8, 236 (Brief vom 15.12.1943). Dies ist inhaltlich insofern nachvollziehbar, als dass Bonhoeffer bereits während seiner Frühphase von einem stringenten System einer Theologie geträumt hat; auch darum die Auseinandersetzung mit der Kirche als “tragende Voraussetzung der Theologie” (Bethge: DB, 170). Durch die Mittelphase und die damit verbundene inhaltliche Weiterentwicklung zu Spiritualität und Orthopraxie gerät er freilich in eine neue Richtung, die ihren intellektuellen Höhepunkt in einem systematischen Entwurf zur Ethik erhalten soll.
4.2 Bonhoeffers Konspiration und Neuformation von Kirche und Welt (1939–1945)
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ihren Antrieb aus der Absolutheit der Herrschaft Gottes/Christi schöpft und im vollen Vertrauen auf Ihn in Gebet und Gehorsam ausharrt. (Spätestens) Mit dem Eintritt in die Konspiration verschiebt sich aber ganz praktisch etwas dahingehend, dass Bonhoeffer nun selbst aktiv wird und bis dato vertretene pazifistische Züge schließlich in den Hintergrund treten, um Adolf Hitler selbst entgegenzutreten, was Bethge – wie zuvor gesehen – “Wende des Christen zum Zeitgenossen” nennt. Dass diese Entscheidung aber nie losgelöst von seinem Denken geschieht, lässt sich zunehmend an Bonhoeffers Ethik-Manuskripten erkennen, die anfangs den Fokus noch stark auf die Ausschließlichkeit Christi legen und nach und nach dann zu einer Weite Seines Herrschaftsbereiches gelangen, in dessen Zuge Bonhoeffer nicht nur grundsätzlich die Relationalität zur Welt ausführlich reflektiert, sondern eben auch den konkreten Fall seiner Beteiligung an der Konspiration.49 Deshalb soll den Manuskripten der Ethik nachfolgend etwas mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden. Zwar folgt die Wiedergabe systematisch und nicht streng der Reihenfolge der höchstwahrscheinlichen Entstehung der Manuskripte, wie dies die Herausgeber rekonstruiert haben,50 aber die Entwicklung sollte dennoch zu erkennen sein. Angereichert wird die Analyse durch sonstige Entwürfe, Predigten etc. aus dieser Zeit, sofern sie für Bonhoeffers relationales Denken und seinen Stellenwert der Bibel von Bedeutung sind. Als spezifische Motivation seiner Ethik nennt Bonhoeffer die zu jener Zeit “nie dagewesene[n] [sic!] Bedrängnis durch die Fülle der Wirklichkeit konkreter ethischer Fragen”,51 denen er nicht ein überflüssiges akademisch-ethisches System entgegenhalten kann und will, sondern eine konkrete Ethik, die nichts anderes tut, als die Relationalität zur Welt konsequent zu integrieren, wie er es schon im Manuskript “Ethik als Gestaltung” (vom Herbst 1940) thematisiert.52 Denn er
49 So heißt es stellvertretend in dem wohl 1942 entstandenen Manuskript “Kirche und Welt I.” (Bonhoeffer: Ethik, 347): “Je ausschließlicher wir Christus als unseren Herrn anerkennen und bekennen, desto mehr enthüllt sich uns die Weite seines Herrschaftsbereiches.” Zur Datierung der Manuskripte vgl. auch ebd., 1–22. Noch im Oktober 1940 pocht er auf die letzte Möglichkeit der evangelischen Kirche zur Aufrichtung einer kirchlichen Autorität allein vom Wort und Bekenntnis her, in dessen Zusammenhang er kurz und implizit auf die Ethik eingeht; vgl. ders.: DBW 16, 66. 50 Dass dies nicht zwingend der thematischen Reihenfolge entspricht, wie es sich Bonhoeffer vorgestellt hat, muss im Zuge dieser Untersuchung ausgeblendet werden, zumal dies für unsere Fragestellung nur eine untergeordnete Rolle spielt. Offensichtlich aber hat er mehrfach den Aufbau seiner geplanten Ethik modifiziert; vgl. dazu ders.: Ethik, 447ff. 51 Ebd., 62. 52 Vgl. Barth: Wirklichkeit, 258f.
312 | 4 Relationalität, Bibel und prophetischer Aktivismus: Die Spätphase muss feststellen, dass die “Bösewichter und Heilige[n]”,53 wie er sie nennt, gerade für ethische Theoretiker nicht greifbar sind.54 So dringt an zahlreichen Stellen und in fast allen Manuskripten immer wieder dieselbe Kritik durch, nämlich gegen prinzipienethische Ansätze: Vom resignierenden Versagen der Vernünftigen, von dem das Ziel verfehlenden ethischen Fanatismus, von dem in sein Gewissen flüchtenden Mann (“salviertes Gewissen”), von dem prinzipientreuen Verpflichteten, von dem gut gemeinten Tragiker und von dem sich selbst betrügenden Privatmann.55 4.2.4.2 Der theologische Unterbau: Sündenfall, Scham und die Wirklichkeit Gottes in Jesus Christus Sowohl das frühe Manuskript “Christus, die Wirklichkeit und das Gute” (Sommer/Herbst 1940) als auch das relativ späte Manuskript “Die Liebe Gottes und der Zerfall der Welt” (bis Ende 1942) wiederholen die existentialistischen Grundlagen, die Bonhoeffer bereits in Sanctorum Communio und insbesondere in Schöpfung und Fall dargelegt hat: Er stellt jeglicher Tugendethik, die nach dem Gutsein bzw. richtigem Verhalten fragt, den biblischen Sündenfall (Gen 3) entgegen, der überhaupt erst die menschliche Unterscheidung von Gut und Böse verursacht haben soll, während “die Frage nach dem Guten nur in Christus ihre Antwort finden”56 kann. Während der Großteil wissenschaftlicher Ethik Bonhoeffer zufolge nämlich die Symptome zu bekämpfen versucht und darum nach der bestmöglichen Lebensfähigkeit in dieser Situation zu fragen scheint, sucht er nach der Wurzel des Übels und einer Möglichkeit, mit ihr umzugehen; diese findet er im Abfall des Menschen von Gott.57 Weder daß ich gut werde noch daß der Zustand der Welt durch mich gebessert werde ist dann von letzter Wichtigkeit, sondern daß die Wirklichkeit Gottes sich überall als die letzte Wirklichkeit erweise. Daß also Gott sich als das Gute erweist, auf die Gefahr hin, daß dabei ich und die Welt also nicht gut […] sind.58
53 Bonhoeffer: Ethik, 62. 54 Vgl. ebd., 63. 55 Vgl. ebd., 64–67. 56 ebd., 33. Vgl. Barth: Wirklichkeit, 10ff., und 59 u. 62, die den bonhoefferschen Sündenbegriff als “Entzweiung des Denkens in Gut und Böse, Selbst und Anderes, Endliches und Unendliches” (59) in gewisser Nähe zu Hegel sieht, auch wenn die lutherische Verwurzelung offenkundig bleibt. 57 Vgl. Bonhoeffer: Ethik, 301. 58 Ebd., 32.
4.2 Bonhoeffers Konspiration und Neuformation von Kirche und Welt (1939–1945)
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So lässt sich in der Person des Sicut-Deus-Menschen als geraubte Gottgleichheit und dem Terminus der Möglichkeit statt Wirklichkeit sehr deutlich Bonhoeffers Verständnis gestörter Relationalität erkennen.59 Noch deutlicher als zuvor tritt Kierkegaards Der Begriff Angst zum Vorschein, wenn Bonhoeffer über die Scham als Mittel der Verhüllung und damit als Kennzeichen der Entzweiung ausführlich schreibt.60 Auch das Gewissen wird im Gegensatz zu Schöpfung und Fall ausführlicher behandelt.61 Es zeigt Bonhoeffer zufolge die Entzweiung des Menschen mit sich selbst auf und ist damit der Scham zeitlich nachgeordnet, die wiederum Zeichen der Entzweiung mit Gott ist.62 Im Gegensatz zum entzweiten Wissen um Gut und Böse ist für Bonhoeffer das neue Wissen lebendig, fruchtbringend, erlösend, versöhnend und besteht im Tun, was damit zusammenhängt, dass der neue wirkliche Mensch in “Einfalt und Klugheit” als “Mann des ungeteilten Herzens”63 eigentlich nur noch Jesus Christus kennt und durch ihn das Bild Gottes tragt.64 So erfährt der neue Mensch überhaupt nicht mehr das Gute, das er tun soll – was Bonhoeffer hier wie in der Nachfolge als “einfältigen Gehorsam” bezeichnet.65 Grund dafür ist Bonhoeffers Christologie der Zwei-Naturen-Lehre, die Lehmkühler qua echter inhabitatio als
59 Vgl. Bonhoeffer: Ethik, 302f. 60 Vgl. ebd., 304–308. Interessant sind die zwei Möglichkeiten (keine Wirklichkeiten) der versuchten Vereinigung des Menschen, einerseits die Sexualität als Vereinigung des Menschen mit dem Nächsten, andererseits die Religion als Versuch des Menschen, mit Gott eins zu sein. “‘Religion’ ist vielmehr eine geschichtlich wandelbare menschliche Verhaltensweise, in der der Mensch sein Verhältnis zu einem Gott oder zu einem erfahrenen oder erlebtem ‘Göttlichen’ lebt”, so Krötke: “Bedeutung”, 338. Vom Phänomen her lässt sich in dieser Beurteilung einiges an Ähnlichkeit sowohl zu Heschel finden, der seinem Prophetie-Verständnis den Theotropismus wie auch die mystische Vereinigung mit der Gottheit antagonistisch-diametral entgegensetzt; vgl. Heschel: Die Prophetie, 115–119 besonders wenn man Sexualität und Religion nach der Definition Bonhoeffers zusammendenkt, ergibt dies die mystische Praktik, die Heschel verwirft. Beide scheinen sich damit gegen ähnliche Phänomene abzugrenzen. 61 Vgl. Bonhoeffer: Ethik, 308–310. 62 Vgl. ebd., 308; vgl. auch Tödt: “Gewissenspraxis”, 153 u. Barth: Wirklichkeit, 72. Das daraus resultierende Richter-Sein des abgefallenen Menschen ist ebenfalls nicht neu und wird als Prozess der Selbstreflexion zur Überwindung der Entzweiung des Menschen, was freilich nichts anderes darstellt als die incurvatio in se ipso, auf die Bonhoeffer ansonsten gern anspielt; vgl. Bonhoeffer: Ethik, 310 u. Tödt: “Gewissenspraxis”, 153. 63 Allesamt Bonhoeffer: Ethik, 67. 64 Vgl. ebd., 319. 65 Vgl. ebd., 320f.; s. zum Komplex des Gewissens auch Mokrosch: “Gewissensverständnis”, 86ff.
314 | 4 Relationalität, Bibel und prophetischer Aktivismus: Die Spätphase “reale Gemeinschaft mit Christus”66 versteht. Deswegen weiß Bonhoeffer um eine christliche Selbstprüfung – freilich aus dem Glauben heraus –, “die täglich die Erkenntnis erneuert, daß ‘Jesus Christus in uns’ ist.”67 Allerdings hilt es auch, danach zu handeln, während die Pharisäer laut Bonhoeffer richten, anstatt zu tun, und sich darin über Gott stellen; deshalb werden sie als Meister der Entzweiung angesehen.68 Der Christ dagegen wird zum Täter des Gesetzes, das immer gleichzeitig das Hören impliziert und nicht verselbständigt werden darf.69 Die Liebe als Gottes Tat der Versöhnung mit dem Menschen fundiert Bonhoeffer zufolge so alles Vorhergesagte. Der Mensch partizipiert an der Liebe und wird darin von Gott erkannt, lebt aber wiederum auch die Beziehung zum Nächsten aus.70 Nicht nur den gesinnungsethischen Ansätzen widerspricht Bonhoeffer, sondern auch jeglichem falschen Zwei-Räume-Denken, denn “[i]n Jesus Christus ist die Wirklichkeit Gottes in die Wirklichkeit dieser Welt eingegangen”,71 in dem beide – Gott und Welt – schon mit einander versöhnt sind.72 Ohne dies explizit so zu thematisieren, verbirgt sich hinter Bonhoeffers immer dynamischerem Gebrauch der Wirklichkeit Gottes eine “daraus resultierende Veränderlichkeit Gottes, die letztendlich aus seiner Unterwerfung unter die Zeitlichkeit rührt”.73 Dies ist nicht unerheblich für das hauptsächlich in den Tegeler Briefen thematisierte Mitleiden Gottes. Zentraler Grund ist der völlige Abfall des Menschen durch “einfache” Übertretungen, weshalb auf Grundlage einer Schulderkenntnis eine Umkehr zu Christus stattfinden muss, die sich aber wiederum nur anhand der Gestalt Christi ereignet, um die tatsächliche Diskrepanz offenkundig werden zu lassen.74 Weil nun aber
66 Lehmkühler: “Christologie”, 77. 67 Bonhoeffer: Ethik, 327. 68 Vgl. ebd., 312ff.; 326–330. S. auch Mokrosch: “Gewissensverständnis”, 83. Vgl. auch Tödt: “Gewissenspraxis”, 147, der auf Bonhoeffers Widerspruch gegenüber der lutherischen Tendenz, Glaube und Gewissen geradezu gleichzusetzen. 69 Vgl. Bonhoeffer: Ethik, 330f. (“Die Liebe Gottes und der Zerfall der Welt”) Damit greift Bonhoeffer auf nichts anderes zurück als den in der Nachfolge abgeleiteten Glaubensgehorsam Jesus Christus gegenüber, “die allein schlichte Wahrheit Gottes”; vgl. auch ebd., 333f. 70 Vgl. ebd., 336–341. 71 Ebd., 39; vgl. 41ff.; zeitgleich betont ders.: DBW 16, 488, in der Bibelarbeit zu 1 Kor 3, dass es keinen Gegensatz zwischen Welt und Kirche gebe, denn “Paulus sagt: beides gehört euch.” Vgl. auch ebd., 482. 72 Vgl. ders.: Ethik, 40; 51; 52. 73 Schulte: Ohne Gott, 328. 74 Vgl. Bonhoeffer: Ethik, 125.
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Abfall und Erkenntnis gleichzeitig nicht möglich seien, spricht Bonhoeffer von dem Wunder, dass Jesus Christus an der Gemeinschaft mit dem Abgefallen festhalte und durch diese Gnade erst Schulderkenntnis möglich sei.75 Und dann ist überhaupt so etwas wie Ethik möglich, wie es Prüller-Jagenteufel auf den Punkt bringt, denn: “Wenn Bonhoeffer die Sünde streng relational als Bruch der fundamentalen Beziehungen des Menschen in all seinen Dimensionen erweist, dann versteht sich Ethik als die wirklichkeitsgerechte Realisierung dieser Beziehungen“76 . “Wirklichkeitsgerecht” bedeutet demnach nichts anderes als aus und durch die Beziehung zu Christus und Seiner Gnade. 4.2.4.3 Letzte und vorletzte Dinge und die neue Diesseitigkeit Gott selbst ist also das Wirkliche – bzw. Christus der Wirkliche, wie es in “Die Geschichte und das Gute [2. Fassung]” (s. u.) heißt – im Gegensatz zu allen Möglichkeiten, an deren Wirklichkeit der Mensch nur relational partizipieren kann, wie Bonhoeffers das bereits in der Nachfolge im Zuge seiner relationalen Soteriologie entfaltet hat.77 Denn “mitten in der Geschichte” sind “Gott und die Weltwirklichkeit miteinander versöhnt”,78 und Christus als Mitte (und Mittler) steht zwischen beiden, als Mittelpunkt alles Geschehens gegen sämtliche Prinzipien, indem Gott sich selbst an der Welt für schuldig erklärt und damit ihre Schuld auslöscht;79 die Verwurzelung im lutherischen finitum capax infiniti zieht sich durch Bonhoeffers Werk immer konsequenter durch.80 Gegen jeglichen Erlösungspartikularismus, gegen Menschenverachtung wie auch Menschenvergötzung (sicherlich gegen den Nationalsozialismus gerichtet), gegen die Vergötzung des Erfolges wie auch der Vergötzung des Todes.81 Echte Diesseitigkeit, so schreibt Bonhoeffer schließlich Anfang 1943, gibt es “gerade und nur aufgrund der Verkündigung des Kreuzes Jesu Christi”.82 75 Vgl. Bonhoeffer: Ethik, 125f. 76 Prüller-Jagenteufel: Befreit, 147. 77 Bonhoeffer: Ethik, 31f.: “Die Frage nach dem Guten wird zur Frage nach dem Teilhaben an der in Christus offenbarten Gotteswirklichkeit.” Vgl. auch Schulte: Ohne Gott, 329–331. 78 Bonhoeffer: Ethik, 68. 79 Vgl. ebd., 67–70; 404f. 80 Vgl. auch Lehmkühler: “Christologie”, 67f. 81 Vgl. Bonhoeffer: Ethik, 70–77. 82 Ebd., 405. Vgl. auch Vgl. ders.: DBW 16, 556–558 (Studie zum “Personal- und Sachethos”), wo Bonhoeffer einer Verchristlichung oder Verkirchlichung die echte Diesseitigkeit entgegenhält und mit dem Gehorsam gegen Gottes Wort in Verbindung bringt.
316 | 4 Relationalität, Bibel und prophetischer Aktivismus: Die Spätphase Formelhaft bringt Bonhoeffer dies mit dem Verhältnis von letzten und vorletzten Dingen zum Ausdruck.83 Er meint damit zwei qualitativ und zeitlich unterschiedliche “Bereiche”, von denen der eine vor und der andere nach der Inkarnation, Kreuzigung und Auferstehung Jesu Christi liegt, weil das entscheidende Kriterium des letzten Wortes Gottes Gnade ist, die über allem Bisherigen steht.84 Trotz ihrer Unterschiedenheit bleiben sie aber kontinuierlich aufeinander bezogen: In Seiner Inkarnation spricht Jesus Christus dem Vorletzten einen neuen Wert zu, in der Kreuzigung und Auferstehung vom Letzten her gleichsam das Urteil über das Vorletzte, wodurch in Ihm beide “Bereiche” geradezu verschmolzen sind; weder ein Abdriften in die Kompromisslösung des Kulturprotestantismus noch in die Radikalität mancher besonders Frommer und Sektierer ist für Bonhoeffer zulässig.85 Vielmehr hebt auch die Auferstehung, solange die Erde steht, das Vorletzte nicht auf, aber das ewige Leben, das neue Leben, bricht immer mächtiger in das irdische Leben ein und schafft sich in ihm seinen Raum.86
Während das Vorletzte auf der einen Ebene durch Abgrund und Ausweglosigkeit, Sündhaftigkeit und Fokus auf das eigene Leben bestimmt ist, charakterisiert Bonhoeffer im Sinne von Schöpfung und Fall den Menschen des Letzten als “frei für Gott und den Bruder”,87 als Rückführung in den Zustand vor dem Fall des Menschen, wohinter implizit der einfältige Glaubensgehorsam aus der Mittelphase steht. Daraus wird ersichtlich, dass auch diese Spätphase Bonhoeffers keine grundsätzliche oder völlig neue Theologie enthält, sondern vielmehr eine kontinuierliche Weiterentwicklung darstellt.88
83 Diese Reihenfolge ist genau so gewählt worden, wie schon Feil: Theologie, 297, zurecht angemerkt hat. Diese Unterscheidung hat Bonhoeffer wohl erstmalig bereits 1926 verwendet, wie Bethge: DB, 125, mit Verweis auf einen nicht erhaltenen Brief andeutet; s. auch Feil: Theologie, 297. Der erste direkte Nachweis stammt von 1928 aus Barcelona, bevor er schließlich im Zuge seiner Ethik ein eigenes Manuskript dazu verfasst, vermutlich im November 1940. Zur Datierung vgl. auch Bonhoeffer: DBW 16, 75. 84 Vgl. ders.: Ethik, 140f. zum Verhältnis von Letztem und Vorletztem vgl. auch Bethge: DB, 807f. Dass es sich nun um zeitliche Kategorien handelt, betont auch Burtress: “Als ob”, 179 u. 187. 85 Vgl. Bonhoeffer: Ethik, 144–151; s. auch Feil: Theologie, 299. 86 Bonhoeffer: Ethik, 150. 87 Ebd., 137. 88 So auch Green: “Christus”, 30: “[T]he theology of sociality and the affirmation of worldliness are two ways of making the same point.” Denn “God’s freedom for the world in becoming human both reconciles God and humanity-in-the-world, and sets loose a transforming process of humanization in history” (32).
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In dem Manuskript “Die letzten und die vorletzten Dinge” von Ende 1940 entdeckt man noch immer den Hang zum Letzten – durch “geistliche[n] Wegbereitung”89 –, aber es wird deutlich, weshalb Bonhoeffer sich vermehrt mit den weltlich-irdischen Dingen beschäftigt und sie gerade rücken will. Und nach und nach gleicht sich innerhalb der Manuskripte diese noch etwas einseitige Tendenz aus, bis Bonhoeffer sie in den Gefängnisbriefen schließlich überwinden wird. In “Kirche und Welt I.” aus dem Jahr 1942 schließlich findet sich neben der betonten Ausschließlichkeit der Herrschaft Christi, die für den Fokus auf das Letzte verantwortlich ist, ebenso die Weite der Herrschaft Christi, in diesem Fall konkret abgeleitet durch zwei Bibelstellen.90 Diesen scheinbaren Widerspruch beider Aussagen zueinander “löst” er durch den Verweis auf unterschiedliche Situationen und die notwendige Zusammengehörigkeit auf, um nicht einerseits in Fanatismus oder Sektiererei und andererseits in Verweltlichung zu enden,91 womit er seinen situationsethischen Ansatz auch biblisch andeutet. Als konsequenter Lutheraner verwirft Bonhoeffer gleichsam jegliches Naturrecht, was irgendeine Form von Eigengesetzlichkeit oder Doppelmoral darstellen könnte.92 Das Gesetz als Urteil über das Vorletzte und die Gnade bzw. das Evangelium als Letztes müssen somit immer zusammengedacht werden, was Bonhoeffer sowohl im Dekalog als auch in der Bergpredigt entdeckt. Gewisse Einseitigkeiten zugunsten des Letzten lassen sich trotzdem noch erkennen. So wettert Bonhoeffer gegen eine christliche Kultur, setzt in gleichem Atemzug jedoch Christus mit Zuflucht und Schutz gleich, der aus der Welt verstoßen ist,93 was biblisch gesehen zutreffend ist, aber mit der Inkarnation die proaktive Sendung des Sohnes Gottes in diese Welt ignoriert. Dennoch widersteht Bonhoeffer einer Vergeistlichung der Kirche und des Christentums, indem er anhand der Bergpredigt gegen eine falsche Ängstlichkeit wettert, bei der man sich nur zu Wort melde, sofern das ausdrückliche Christusbekenntnis infrage gestellt werde. Die Kirche löst Bonhoeffer in der Welt nicht auf, sondern definiert ihre Rolle dar89 Bonhoeffer: Ethik, 157. 90 Einerseits ist es der weite Rahmen der Zugehörigkeit, sofern man nicht gegen Jesus sei (anhand des fremden Wundertäters; vgl. Mk 9,40 par.), andererseits die Forderung nach klarer Stellungnahme für Christus (Mt 12,30 par.), die Bonhoeffer fordert (ebd., 346): “Beide Worte gehören notwendig zusammen, das eine als der Ausschließlichkeitsanspruch, das andere als der Ganzheitsanspruch Jesu Christi.” 91 Vgl. ebd., 346f. In diesem Sinne unterschiedlicher Situationen begründet Prüller-Jagenteufel: Befreit, 83f., Bonhoeffers Weg zunächst zum Pazifismus und schließlich zum Widerstandskämpfer: “Er sucht das konkrete Gebot Gottes für eine bestimmte Zeit” (84). 92 Vgl. Bonhoeffer: Ethik, 359; 364. 93 Vgl. ebd., 348.
318 | 4 Relationalität, Bibel und prophetischer Aktivismus: Die Spätphase in (und zwar schon bzw. noch 1940 in “Christus, die Wirklichkeit und das Gute”), dass sie als sichtbarer “abgegrenzter” Raum auf Erden Raum in der Welt einnehme und um das Heil der Welt kämpfe, indem die Christen, zugerüstet mit dem Heiligen Geist und aus einem geheiligten Leben kommend, Zeugen Jesu Christi in der Welt sind.94 Noch in dem späten Manuskript “Das konkrete Gebot und die göttlichen Mandate” gebraucht Bonhoeffer neue Menschheit und Gemeinde Gottes synonym, womit sich wieder einmal die Kontinuität zu seiner Frühphase bemerkbar macht. Kirche ist damit zum “Ziel- und Mittelpunkt alles Handelns Gottes mit der Welt geworden”.95 Darin ist laut Bonhoeffer die Vorstellung des Raumes schon immer “durchbrochen, aufgehoben, überwunden”96 – selbst das “Teufelsreich”, das immer schon in Christus versöhnt ist;97 der frühere Graben aus der Nachfolge zwischen Kirche und Welt scheint bei Bonhoeffer überwunden, auch wenn beides natürlich zu dieser Zeit nicht identisch werden kann.98 Dem Zwei-Räume-Denken setzt er deshalb ein anderes Bild entgegen, und zwar das des Leibes Christi der Kirche, in dem bereits alle Menschen geliebt und erlöst sind; deshalb brauchen sie Christus, und das haben die Glaubenden als Glieder des Leibes Christi der Welt zuzurufen.99 4.2.4.4 Verantwortung und Stellvertretung in individualethischer Perspektive Im Sinne der Früh- und Mittelphase ist das Ziel des Menschen die Gleichgestaltung mit Jesus Christus,100 womit Bonhoeffer programm- und planungsorientierten praktischen wie dogmatischen Christentümern ihre Grenzen aufzeigt. Das bedeutet für ihn, wirklicher, gerichteter, neuer – bzw. überhaupt erst – Mensch zu sein, mit dem Zeugnis von Kreuz und Gericht samt empfangenem Heiligen Geist, weil Gott Mensch wurde, was für Bonhoeffer naheliegenderweise relational ge-
94 Vgl. schon Bonhoeffer: Ethik, 48ff. S. auch Reuter: “Pazifismus”, 29. Oder wie Gerte: Spiritualität, 142, es formuliert: “Diesseitigkeit ist der Raum, in dem Gottes Wort auf einen fruchtbaren Boden fallen und aufgehen will. Ein Wachstumsprozess braucht eine Verwurzelung in der Erde. Für die Thematik bedeutet dies, dass die spirituelle Gestaltung des Lebens nach Bonhoeffer ein geerdeter Akt ist.” Ähnlich auch Rasmussen: “Ethics”, 216. 95 Bonhoeffer: Ethik, 408; auf die Kontinuität weist auch Green: “Human Sociality”, 120, hin. 96 Bonhoeffer: Ethik, 50. 97 Vgl. ebd., 51. 98 Vgl. ebd., 54. 99 Vgl. ebd., 53f. S. auch Burtress: “Als ob”, 176, der auf Bonhoeffers bewusste Risiken zwischen Atheismus und Pantheismus hinweist, “um das capax voll zu bejahen, was für ihn die totale Verwerfung des ‘Zwei-Räume-Denkens’ bedeutet.” 100 Vgl. Bonhoeffer: Ethik, 80.
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schieht.101 Das bedeutet in individualethischer Perspektive für Bonhoeffer aber auch, dass es notwendig sein kann, “Leiden um einer gerechten, guten, wahren Sache willen”102 auf sich zu nehmen, weil Jesus sich auch dieser Sachen angenommen habe, weshalb er den Christen explizit zu Verantwortung aufruft – wohl “im Sinne der Korrektur, der Verbesserung, bzw. des Hinarbeitens auf eine neue weltliche Ordnung”, indem der Christ als Teil der Kirche womöglich “dem Rad selbst in die Speichen greifen”103 muss. Während es zu manchen Zeiten geboten gewesen sei, wie die Dirne und der Zöllner zu werden, als Gesetz und Ordnung sehr klar strukturiert waren, sei es in Zeiten von Gesetzlosigkeit gerade nötig gewesen, ein Gerechter zu werden, weshalb Bonhoeffer die alleinige Frage nach dem Verhältnis von Jesus Christus zum Bösen als zu einseitig empfindet.104 Vielmehr hält er eine in Abstufungen vollzogene Definition von “gut” für notwendig, um dies – im Sinne des Bürgerlichen –, zu erhalten.105 Mit seiner Beteiligung an der Konspiration wird Bonhoeffers Verantwortungsbewusstsein – aber auch seine theologische “Rechtfertigung” – deutlich und drückt sein Verständnis der “Weite seines [d. h. Christi; Anm. von P. M.] Herrschaftsbereiches”106 aus, womit nichts anderes als die Relationalität zur Welt ersichtlich wird: “Die ‘Welt’ ist so der uns in und durch Jesus Christus gegebene Bereich der konkreten Verantwortung, nicht aber irgendein allgemeiner Begriff, aus dem sich eine eigene Systematik herleiten ließe.”107 Mit “Verantwortung” – als Ver-Antwortung – meint Bonhoeffer zweierlei: Erstens die Antwort des eigenen Lebens auf das Leben Jesu Christi, das bedeutet auf den Ruf Christi in die Nachfolge und in ständiger Abhängigkeit von Ihm durch einfältigen Gehorsam – Relationalität zu Gott;108 zweitens die Antwort auf die Anfrage von Menschen, also infolge des menschlichen Freiheitsverständnisses, frei für den Nächsten und an ihn gebunden zu sein, wie Gott sich in Seiner Freiheit qua Schöpfung an den
101 Vgl. Bonhoeffer: Ethik, 81ff. 102 Ebd., 349. 103 Ders.: DBW 16, 551. 104 Vgl. ders.: Ethik, 350f. 105 Vgl. ebd., 352f. 106 Ebd., 347. 107 Ebd., 266. 108 Mit Rasmussen: “Ethics”, 218: “Understanding responsibility in Bonhoeffer’s ethics – the core theme – requires that we understand that for him the relationship with God is both ‘social’, or relational, and completely ‘this-worldly’.” S. auch ders.: DB, 31, Barth: Wirklichkeit, 234 u. Schließer: Everyone, 134.
320 | 4 Relationalität, Bibel und prophetischer Aktivismus: Die Spätphase Menschen gebunden hat – Relationalität zum Nächsten, wie in der Mittelphase gesehen.109 Ohne dies explizit “Verantwortung” zu nennen, kennt er mit der Situationsbedingtheit als Konkretion der Relationalität zur Welt eine Variable, die theoretisch schon seit der Frühphase bekannt ist – dass “aus der konkreten Situation die konkrete Person erwächst”;110 aber erst in dieser Spätphase wird der Bereich christlicher Verantwortung jenseits der kirchlichen Mauern katapultiert und umfasst nun eben die gesamte Welt, wie Bonhoeffer mehrfach deutlich macht und so die Trennung von Christlichem und Weltlichem überwindet.111 Zugunsten der Relationalität zur Welt kommt darum nun die entscheidende Facette hinzu, die Bonhoeffers Ethik explizit zur Situationsethik macht, wie schon auf den ersten Seiten der ersten Fassung des Manuskripts “Die Geschichte und das Gute” deutlich wird: In konkreter Verantwortung handeln heißt in Freiheit handeln, ohne Rückendeckung durch Menschen oder Prinzipien selbst entscheiden, handeln und für die Folgen des Handelns einstehen. Verantwortung setzt letzte Freiheit der Beurteilung einer gegeben Situation, des Entschlusses und der Tat voraus. Verantwortliches Handeln liegt nicht von vornherein und ein für allemal fest, sondern es wird in der gegebenen Situation geboren. […] Es muß beobachtet, abgewogen, gewertet werden, alles in der gefährlichen Freiheit des eigenen Selbst. […] Der verantwortlich Handelnde bezieht die gegebene Situation in sein Handeln ein, nicht allein als Stoff, dem er seine Ideen aufprägen will, sondern als die Tat mitgestaltend. Nicht irgendein fremdes Gesetz wird der Wirklichkeit aufgezwungen, vielmehr ist das Handeln des Verantwortlichen im tiefsten Sinne wirklichkeitsgemäß.112
So ist das Gute – um das theologische Fundament abzurunden – laut Bonhoeffer eben nicht ein abstrakter Maßstab, “sondern das Gute ist die Wirklichkeit und die in Gott gesehene, erkannte Wirklichkeit selbst”113 – Relationalität par excellence –, sodass der Wirkliche der menschgewordene Gott ist, der den Menschen und seine gesamte Wirklichkeit leibhaftig aufgenommen und so die Welt des Men109 S. auch Bonhoeffer: Ethik, 404, Rasmussen: “Ethics”, 220 u. Barth: Wirklichkeit, 236. 110 Bonhoeffer: Sanctorum Communio, 29. 111 So Heimbucher: Christusfriede, 369: “Kirchenkampf und politischer Widerstand rücken damit für Bonhoeffer in die eine Perspektive des Christus-Bekenntnisses ‘mit Wort und Leben’.” 112 Bonhoeffer: Ethik, 220f.; vgl. auch 219; 254f.; s. auch Reuter: “Pazifismus”, 36 u. Schulte: Ohne Gott, 322. Auf die Argumentation der Ethik um den Wirklichkeitsbegriff ist “[a]ls sachgerechte Auslegung von Barmen I und vor allem von Barmen II” zeigt Krötke: “Kein zurück”, 51, auf. Dass Bonhoeffers Ethik als “Situationsethik” bezeichnet werden kann, macht z. B. Honecker: Einführung, 11f., deutlich, der dabei allerdings übersieht, dass Bonhoeffer nicht nur von der “Situation als Handeln Gottes” ausgeht, sondern eben auch die “Situation als Analyse der tatsächlichen Ereignisse und Verhältnisse in der jeweiligen Welt” wie auch die “Situation als Erfahrung mitmenschlicher Verantwortung” explizit benennt, wie gesehen. S. auch De Gruchy: “Christus”, 131. 113 Bonhoeffer: Ethik, 37.
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schen mit Gott versöhnt hat.114 Christusgemäßes Handeln ist somit wirklichkeitsgemäßes Handeln.115 Denn “[d]as ‘Ethische‘ als Thema hat seine bestimmte Zeit und seinen bestimmten Ort und das, weil der Mensch ein lebendiges und sterbliches Geschöpf in einer endlichen und zerbrechlichen Welt, nicht aber wesentlich und ausschließlich ein Student der Ethik ist”,116 wie Bonhoeffer es im späten Manuskript “Das ‘Ethische’ und das ‘Christliche’ ” (aus dem ersten Quartal 1943) mit Anspielung auf Koh 3 klarstellt und nivelliert, “als habe der Mensch in jedem Augenblick seines Lebens eine letzte unendliche Wahl zu treffen”.117 Trotz aller Kritik an Prinzipienethiken (wie bei den deutsch-christlichen Zeitgenossen Althaus und Elert) kennt auch Bonhoeffer selbst grundlegende Prinzipien – wie den Dekalog –, weshalb er überhaupt von Schuld sprechen kann.118 Dementsprechend pocht Bonhoeffer auf ein Recht auf das leibliche Leben und verurteilt deshalb jeglichen aktiv durchgeführten Schwangerschaftsabbruch als “Mord”, weil “diesem werdenden Menschen vorsätzlich das Leben genommen worden ist.”119 Dabei geht es ihm aber in erster Linie um das Urteil gegen solch eine Tat, weil er nichtsdestotrotz die Schuld ebenso oder noch mehr der Gemeinschaft zusprechen kann.120 Hier wie an anderen Stellen wird somit auch der lebensphilosophische Einfluss deutlich.121
114 Vgl. Bonhoeffer: Ethik, 260ff., bes. 260–263. So auch Rasmussen: “Ethics”, 219: “Responsibility is concrete, part of an ethic that can be described as relational and contextual.” S. auch Moltmann: Herrschaft, 35f. 115 Vgl. Bonhoeffer: Ethik, 228; vgl. auch Barth: Wirklichkeit, 259f., Bethge: DB, 94 u. Heimbucher: Christusfriede, 369. Dass sich die Einheit von Gottes und Weltwirklichkeit kein ontologisches Prinzip ist, wie Schulte: Ohne Gott, 328, eigens betont, sollte mittlerweile selbstredend sein. 116 Bonhoeffer: Ethik, 367. 117 Ebd., 367. Vielmehr sind es ihm zufolge “Grenzereignisse” (vgl. 368), die die Ordnung bedrohen und ethisches Handeln fordern, als “Kontrastprogramm” zur platten Moralisierung (vgl. 368–372); wird auch deutlich, dass die Ethik bei Bonhoeffer auf das Letzte zielt, während die Moralisierung seiner Ansicht nach im Vorletzten verharrt; zur Unterscheidung von Letztem und Vorletztem s. o. Ethik ist damit seiner Ansicht nach keineswegs “Nachschlagewerk […] für garantiert einwandfrei moralisches Handeln” (372), sondern hat bei Störungen und Unterbrechungen des Lebens die Aufgabe, Raum zu schaffen und “mitleben zu lernen” (372). 118 Vgl. auch Mokrosch: “Gewissensverständnis”, 87f. 119 Bonhoeffer: Ethik, 203. 120 Vgl. ebd., 203f. 121 Zum Einfluss der Lebensphilosophie auf Bonhoeffer vgl. Barth: Wirklichkeit, 154f.: “Das Menschsein wird so nicht mehr wesentlich als Vernunfttätigkeit auf einer neutralen Basis, sondern ganzheitlich als Einheit aus Natur, unbewusstem und bewusstem Sein verstanden, das zudem in einer vorgegebenen sozialen und historischen Wirklichkeit existiert und mit dieser in wechselseitigem Austausch steht.” Tödt: “Ethik”, 139, vertritt gar die These, dass bzw. nachfol-
322 | 4 Relationalität, Bibel und prophetischer Aktivismus: Die Spätphase Als selbstgestaltetes Leben mit eigener Freiheit ist Bonhoeffer zufolge das Natürliche zu schützen – dessen Recht er letztlich im Willen Gottes begründet mit Blick auf das ewige Leben –,122 womit er jeglichem Euthanasieprogramm der Nationalsozialisten und auch sonstigem “Optimierungsdrang” mit der Bibel einen Riegel vorschiebt.123 Denn das natürliche Leben als gestaltetes Leben spielt sich immer in der Spannung zwischen Selbstzweck und Fremdzweck ab, in dessen Zusammenhang insbesondere die Freiheit auf den Nächsten hin eine wichtige Rolle einnimmt.124 Tatsächlich verschärft wird Bonhoeffers situationsethischer Ansatz aber nun durch die Hinzunahme stellvertretender Schuldübernahme – abgeleitet aus altbekannter “Verantwortung” und “Stellvertretung”, die er mit den gerade genannten beiden Verantwortungsbereichen wie auch der Relationalität zur Welt kombiniert.125 Während der Terminus “Verantwortung” als Antwort Geben auf das Angend von Bonhoeffer “ein ganz eigener, aus christlicher Tradition und deutschen Erfahrungen gespeister Entwurf einer Ethik der Menschenrechte vorgelegt [wird], der als bewußte Ergänzung und Alternative zum angelsächsisch-westeuropäischen Verständnis zu lesen ist.” 122 Vgl. Bonhoeffer: Ethik, 177. 123 Vgl. ebd., 169ff.; 174ff. So auch Schutte: Widerspruch, 217, die Bonhoeffers konsequenter Ablehnung von Schwangerschaftsabbruch zunächst widerspricht, durch die Verortung seiner Aussagen innerhalb der Eugenik dann jedoch relativiert: “Wenn Bonhoeffer argumentiert, dass jedes Kind gewollt ist, dann ist das eine Spitze gegen eugenisches Denken.” Nichtsdestotrotz sind Bonhoeffers Aussagen als theologisch absolut zu verstehen, wie Schutte selbst weiß – “daß Gott hier [bei einer Schwangerschaft; Anm. von P. M.] jedenfalls einen Menschen schaffen wollte” (Bonhoeffer: Ethik, 203). Offenbar ist Bonhoeffer bereits in den 1920er Jahren im Zuge der Fachkonferenz für Mediziner und Theologen in Berlin mit entsprechenden bioethischen Fragestellungen in Berührung gekommen; vgl. Gerrens: Medizinisches Ethos, 125ff. Übertretungen wie Vergewaltigung, Ausbeutung, Peinigung und willkürliche Beraubung der Freiheit empfindet Bonhoeffer natürlich ebenfalls als willkürlichen Eingriff gegen den Menschen; vgl. Bonhoeffer: Ethik, 212ff. Denn in alledem habe, so Bonhoeffer, der Mensch den Nächsten zum Ding gemacht habe, wohinter nichts anderes steckt als die (Zer-)Störung von Relationalität infolge des Sündenfalls (vgl. 214). De facto schiebt er fast jeder “Option” den Riegel vor, indem er auf Gott als Schöpfer, Erhalter und Erlöser verweist, in dessen Hände all diese Ausgänge stehen und der Mensch seine relative Freiheit missbraucht, sei es aus weltanschaulicher Motivation (Euthanasie, Sterilisation) oder auch aus Unglaube Gott gegenüber (Sterbehilfe, Selbstmord, Abtreibung); Vgl. ebd., 188; s. auch Gerrens: Medizinisches Ethos, 154; 162f. Verantwortung ist somit das entscheidende Theologumenon, auch im Zusammenhang von Eheschließung, freier Partnerwahl, Geburtenregelung (vgl. 199ff.). 124 Vgl. Bonhoeffer: Ethik, 171. S. auch Moltmann: Herrschaft, 52. Und vgl. schon Schöpfung und Fall. 125 Beide Termini, “Verantwortung” und “Stellvertretung”, sind bereits in Bonhoeffers Dissertation Sanctorum Communio aufgetaucht und ziehen sich durch bis in die letzten Briefe, was trotz aller Neuerungen den Strom der Kontinuität in seinem Denken unterstreicht; vgl. auch ebd., 21 u. Schließer: Everyone, 47.
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gesprochensein im Augenblick vor allem anthropologisch geprägt ist, weil Bonhoeffer ihn mit seinem relationalen Personverständnis der Frühphase qua Existenz der Erbsünde in Verbindung bringt, ist die “Stellvertretung” als Theologumenon klar christologisch als auch soteriologisch konnotiert: Weil erstens Christus stellvertretend vor Gott für die Menschheit eingetreten und dadurch “die Menschheit real in die Gottesgemeinschaft hineingezogen”126 hat, indem er als Unschuldiger “Schuld und Strafe der Anderen auf sich”127 nimmt, kann die christliche Gemeinschaft untereinander in Liebe leben.128 Zweitens ist diese Gemeinschaft stellvertretend “Christus als Gemeinde existierend”. In dieser Frühphase stehen somit beide Termini relativ lose nebeneinander, die “Stellvertretung” ist sogar mehrfach konnotiert. In der Mittelphase konkretisiert sich eine partielle Verknüpfung nur langsam und erst mit der Zeit auch jenseits der Kirche: In Gemeinsames Leben geht Bonhoeffer von der christologischen Stellvertretung des Glaubensbruders am Nächsten aus, beispielsweise im Prozess der Beichte. Innerhalb der Nachfolge im Zuge der Auslegung der Bergpredigt sprengt Bonhoeffer den kirchlichen Rahmen, sodass der Christ stellvertretend für den Feind vor Gott treten und Fürbitte leisten soll.129 Mit der Verknüpfung von Verantwortung und “soteriologischer” Stellvertretung130 vollzieht sich nun ein markanter Wechsel: Der zuvor beinahe noch prinzipielle Pazifismus Bonhoeffers, infolge (auch) dessen er letztlich noch alles von Gott erwartet, wird unter Hinzunahme der Verantwortung für die Welt modifiziert und berücksichtigt Gottes Ohnmacht, die Bonhoeffer schließlich in Tegel ausformuliert. Wo er Anfang der 1940er Jahre noch stärker zugunsten von Gottes aktiver Führung gesprochen hat,131 überwiegt an dieser Stelle die Verantwortung aufseiten des Menschen; beides gehört jedoch zusammen. Im Sinne Kierkegaards denkt er dabei wohl an die Suspension des Ethischen bei “Selbsttötung um ein bewußtes Opfern des eigenen Lebens für andere Menschen”.132 Offensichtlich kann da-
126 Bonhoeffer: Sanctorum Communio, 91. 127 Ebd., 99. 128 Vgl. ebd., 100; 121ff. 129 Vgl. ders.: Nachfolge, 143. 130 So Feil: Theologie, 184–186; 194–196; auch Barth: Wirklichkeit, 244f., unterscheidet ähnlich zwischen personal-christologischer und soteriologischer Stellvertretung und kritisiert dabei Bonhoeffers mangelnde terminologische Klarheit. 131 Man denke an den Finkenwalder Rundbrief vom 20.09.1939 (Bonhoeffer: DBW 15, 267–272) oder die Predigt über die Flucht nach Ägypten zu Mt 2,13–23 am Sonntag nach Neujahr 1940 (ebd., 492–498, bes. 493: “Gott gibt das Regiment nicht aus der Hand.”), wie Hermannsdörfer: Beten, 278ff., sie treffend analysiert. 132 Bonhoeffer: Ethik, 197; vgl. Kierkegaard: Furcht, 49ff.
324 | 4 Relationalität, Bibel und prophetischer Aktivismus: Die Spätphase mit bei Bonhoeffer je nach Einzelfall aber nicht nur das Gebot der Nächstenliebe höher stehen als das der Selbstliebe, weshalb Bonhoeffer dann auch nicht von “Selbstmord”, sondern von “Selbsttötung” spricht.133 Denn wie der sündlose Jesus Christus für den Menschen stellvertretend Schuld auf sich genommen hat und so die Schuld von der Menschheit abwendet, muss der Christ bereit sein, der auf den Ruf Christi in die Nachfolge antwortet, stellvertretend für andere Schuld auf sich nehmen, notfalls den Tyrannenmord.134 Die “Verantwortung” als Antworten mit “Wort und Leben”135 auf den Ruf Christi führt den Christen erst in das Leben und in die Wirklichkeit, denn “[n]ur der Selbstlose lebt verantwortlich und das heißt nur der Selbstlose lebt.”136 Überhaupt billigt Bonhoeffer – womöglich als Hintertür seiner eigenen konspirativen Tätigkeit – die Tötung fremden Lebens ausschließlich “aufgrund einer unbedingten Notwendigkeit”137 eines einzelnen Grundes, sofern sie nicht willkürlich vollzogen werde und es keinerlei Ausweg gebe.138 Überdies ist die stellvertretende Verantwortung ja gerade an den einfältigen Gehorsam der Nachfolge geknüpft, sodass der Nachfolger Christi nicht um Gut und Böse wissen und sich so auch nicht selbst rechtfertigen darf – ergo ebenso wenig Bonhoeffer im Zuge seiner konspirativen Tätigkeit.139 Deshalb ist für Bonhoeffer auch völlig klar, dass der Verantwortliche sein Handeln in die Hände Gottes legt und von Seiner Gnade und Seinem Gericht als dem Letzten (relational) im Vorletzten lebt.140 Denn das 133 Vgl. Bonhoeffer: Ethik, 197. Es scheint sogar so zu sein, dass Bonhoeffer sich damit auch im Falle bevorstehender Folter absichern und seine Verbündeten schützen will, indem er lieber den eigenen Tod als den Verrat rechtfertigt. Immerhin stehen sich beim Selbstmord Bonhoeffers Ansicht nach das Recht auf Leben und die Freiheit, das Leben als Opfer einzusetzen, gegenüber (vgl. 192). Zwar verurteilt er den Selbstmord als verwerflich, weil dahinter das Prinzip von Gott als Schöpfer außer Acht gelassen wird (vgl. 194); gleichermaßen sieht Bonhoeffer aber die Verzweiflung der meisten Selbstmörder und verweist noch expliziter auf die Beurteilung des Einzelfalles hin. Zur Diskussion s. auch Schutte: Widerspruch, 221ff. 134 Vgl. Bonhoeffer: Ethik, 253ff.; 259; s. auch ders.: DBW 16, 518. Vgl. dazu auch De Gruchy: “Christus”, 312; Tödt: “Gewissenspraxis”, 154–157; Rasmussen: DB, 49f.; Kelly und Nelson: Cost, 112 u. Schließer: Everyone, 137ff. 135 Bonhoeffer: Ethik, 256. 136 Ebd., 258. 137 Ebd., 185. 138 Vgl. ebd., 183ff. S. auch Tödt: “Ethik”, 140ff. 139 Dennoch wird das Gewissen gerade nicht ausgesetzt, und Schuld bleibt Schuld; vgl. Bonhoeffer: Ethik, 275ff; Schmitz: Nachfolge, 400f.; Tödt: “Gewissenspraxis”, 156f. 140 Vgl. Bonhoeffer: Ethik, 268; so auch Barth: Wirklichkeit, 243 u. 292. Dass sich dahinter die alte Lehre der “gubernatio” (dt. “Vorhersehung”) verbirgt, die Bonhoeffer christologisch interpretiert, hebt Krötke: “Gottes Hand”, 386, hervor.
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unterscheidet den Verantwortlichen ja gerade von dem ideologisch Handelnden bzw. der Prinzipienethik, die ihre Rechtfertigung in der Erfüllung eines Prinzips sucht. “Nicht was ein für allemal gut sei, kann und soll gesagt [werden], sondern wie Christus unter uns heute und hier Gestalt gewinne”141 – darauf beharrt Bonhoeffer schon 1940 im Manuskript “Ethik als Gestaltung”. Denn wie in der Nachfolge gesehen, versteht er “Gnade” nicht als habbar – was wiederum Selbstrechtfertigung wäre –, sondern relational und teuer, denn “[v]or den anderen Menschen rechtfertigt den Mann der freien Verantwortung die Not, vor sich selbst spricht ihn sein Gewissen frei, aber vor Gott hofft er allein auf Gnade.”142 Neu ist damit neben der konsequenten Verknüpfung von Verantwortung und Stellvertretung unter der Relationalität zur Welt (und Ohnmacht Gottes) die (natürlich nur scheinbar) soteriologische Konnotation als stellvertretende Schuldübernahme des Christus-Nachfolgers.143 Damit befindet sich Bonhoeffer erneut in der Spur Luthers.144 Denn nun “übernimmt der Mensch Verantwortung für Christus bzw. für das Christusereignis der Versöhnung von Gott und Mensch, und zwar vor den Menschen; er übernimmt aber auch Verantwortung für den Menschen vor
141 Bonhoeffer: Ethik, 87. 142 Ebd., 283; deshalb unterscheidet Barth: Wirklichkeit, 305, zwischen “Sünde”, die dem Nachfolger abgenommen ist, und “Schuld”, die “gerade aus diesem von der Sünde befreiten Handeln des freien Gehorsams heraus” entsteht. S. auch Reuter: “Pazifismus”, 39. “‘Schuld’ ist im Munde Bonhoeffers niemals ein im Spekulieren auf ‘billige Gnade’ leichtfertiges Wort. Wenn er von ‘Schuld’ spricht, dann meint er die erdrückende Last, die Menschen sich mit ihrem Handeln und Verhalten selbst auferlegen”, wie Krötke: “Wagnis”, 430, es sagt. 143 Zu diesem Komplex vgl. auch Sölle: Stellvertretung, 124ff. u. Mokrosch: “Gewissensverständnis”, 85ff. Mit “soteriologischer Stellvertretung” ist aber natürlich keine stellvertretende Gesetzeserfüllung vor Gott gemeint, die orthodoxerweise allein Christus zukommt, sondern vielmehr im Sinne einer imitatio Christi die Erfüllung des Gottes- und Nächstenliebegebots, die womöglich auch gerade in Gesetzesübertretung münden kann. Zurecht formuliert Barth: Wirklichkeit, 303f. (s. auch 254), deshalb: “Das tertium comparationis besteht darin, dass die Übernahme von fremder Schuld ‘aus Nächstenliebe‘, aus ‘selbstlose[r] Liebe‘ geschieht und damit Erfüllung des Gesetzes der Gottes- und Nächstenliebe in Gestalt des Gehorsams gegen das konkrete Gebot ist. […] Die Schuld nämlich, die er auf sich nimmt resp. übernimmt, entsteht daraus, dass er, dem Ruf Christi antwortend, aus Liebe für den Nächsten handelt, dass er also dem Gebot gehorsam ist, zugleich aber notwendigerweise im Gehorsam gegen das konkrete Gebot dem Inhalt des Gottesgesetzes in bestimmter Weise zuwiderhandelt.” Bonhoeffer: Ethik, 273, spricht deshalb von “Grenzfälle[n]”. Zur “kategorialen Unschärfe des Begriffs der Schuldübernahme” s. auch Reuter: “Pazifismus”, 40f. 144 Zu den Gemeinsamkeiten im Verständnis von stellvertretender Schuldübernahme bei Luther und Bonhoeffer vgl. Held: “Schuldübernahme”, 140–168 u. Mokrosch: “Gewissensverständnis”, 88. Dass Luther auch hier, in der Ethik, der maßgeblich theologische Bezugspunkt ist, macht Barth: Wirklichkeit, 5 bereits in der Einleitung ihrer Untersuchung deutlich.
326 | 4 Relationalität, Bibel und prophetischer Aktivismus: Die Spätphase Gott, insofern der Mensch, der Andere, mit dem Zeugnis ja in die Christusbegegnung hinein gerufen werden soll.”145 Bonhoeffer selbst dringt, wie gesehen, immer mehr zur Welt durch, was auch mit dem Versagen der (Bekennenden) Kirche zu tun hat. Darum agiert er stellvertretend für sie und beteiligt sich ohne kirchlichen Rückhalt am politischen Widerstand, um so “dem Rad in die Speichen zu fallen.”146 Damit bricht er wohl dennoch nicht mit seiner früheren pazifistischen Haltung, sondern entwickelt sich anhand der Relationalität zur Welt weiter, beschäftigt sich aber nach wie vor mit der Frage, wer Christus für uns heute ist.147 In diesem Sinne stellt Bonhoeffer sog. “verantwortliches sachgemäßes Handeln” dem Prinzipiell-Gesetzlichen entgegen – “[d]ort wo die sachliche Befolgung des formalen Gesetzes eines Staates, eines geschäftlichen Unternehmens, einer Familie, aber auch einer wissenschaftlichen Entdeckung durch den Verlauf des geschichtlichen Lebens zusammenprallt mit den nackten Lebensnotwendigkeiten von Menschen”.148 Und deshalb ist im Zusammenhang der “Geschichte und das Gute” auch klar, dass sich die Grenzen verantwortlichen Handelns genau an diesen beiden Polen abzeichnen, an Gott selbst und an jenem Nächsten.149 Darüber hinaus entscheidet die konkrete Situation – und damit die Relationalität zur Welt –, wie das konkrete Handeln auszusehen hat. DeJonges Einschätzung ist demzufolge zuzustimmen, dass Bonhoeffers “participation in a conspiracy that intended violence was the endgame of a long resistance process, the final stop through an elaborate flowchart of resistance activity”150 , dessen Grundlagen bereits fas vollumfänglich 1933 vorliegen.151 4.2.4.5 Verantwortungsethik und das Kollektiv: Die Mandatenlehre Nicht nur das Individuum kann und darf Gegenstand ethischer Überlegungen sein, denn spätestens anhand der Existenz der Bekennenden Kirche muss Bonhoeffer feststellen, dass trotz zahlreicher Widerstände Einzelner das Gros des deutschen Volkes keinen Widerstand gegen das offenkundige Unrecht leistet, das an den Juden und vielen anderen Minderheiten stattfindet. Statt lutherischer Ständelehre (“oeconomicus, politicus, hierarchicus”) thematisiert er seinen Ansatz von den vier göttlichen Mandaten (Ehe/Familie, Arbeit, Obrigkeit, Kirche) 145 Barth: Wirklichkeit, 241; vgl. v. a. auch 299. 146 So auch Maechler: “Vom Pazifisten”, 94 u. Heimbucher: Christusfriede, 366. 147 So Reuter: “Pazifismus”, 41. 148 Bonhoeffer: Ethik, 272; mehr dazu vgl. auch Barth: Wirklichkeit, 267. 149 Vgl. Bonhoeffer: Ethik, 269. 150 DeJonge: Resistance, 5; s. auch 160. 151 Vgl. ebd., 11.
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als “positiv göttliches Mandat zur Erhaltung der Welt um Christi willen und auf Christus hin”, womit er ihrer geschichtlichen Existenz – “wie Volk, Rasse, Klasse, Masse, Gesellschaft, Nation, Vaterland, Reich etc,”152 – gerade keine Rechtfertigung zubilligt. Denn weil alles durch Jesus Christus geschaffen, beständig und versöhnt ist, argumentiert er sowohl gegen die liberale Theologie wie auch religiös-sozialistische Strömungen, dass es tatsächlich eine christliche Verantwortung für weltliche Ordnungen gibt, dessen Ausprägung situationsethisch je nach Lage zu konkretisieren ist.153 Als Grund nennt Bonhoeffer nichts anderes als die Menschwerdung Christi zur Ernstnahme der “weltlichen Ordnungen der strengen Gerechtigkeit, der Strafe und des Zornes Gottes als Erfüllung dieser menschgewordenen Liebe”.154 Darum rekurriert Bonhoeffer auf das Gebot Gottes als “die totale und konkrete Beanspruchung des Menschen durch den barmherzigen und heiligen Gott in Jesus Christus.”155 Das äußert sich einerseits in der Dimension der Konkretion des göttlichen Gebotes, gegenüber dem lediglich Gehorsam oder Ungehorsam übrig bleibt, und so wiederum die situationsethische Dimension bzw. die Relationalität zur Welt als Verantwortung zutage tritt.156 Es ist immer “konkretes Reden zu jemandem, niemals ein abstraktes über etwas oder jemanden. Es ist immer Anrede, Beanspruchung”,157 womit auch die inhärente Relationalität des göttlichen Gebotes deutlich wird. Und so wird laut Bonhoeffer Gottes Gebot “zur täglichen göttlichen Führung unseres Lebens”,158 womit der darin vorausgesetzte actus directus/einfältige Gehorsam implizit wird. Anstatt unter Gesetzlichkeit an den Grenzen des Lebens zu agieren, soll der Mensch vielmehr durch das Gebot “in der Mitte und Fülle des Lebens [den] begegnenden Gegebenheiten, Eltern, Ehe, Leben, Eigentum als Gottes heilige Setzung selbst bejahe[n]”;159 dass die Relationalität
152 Allesamt Bonhoeffer: DBW 16, 561 (Studie zum Thema “Personal- und Sachethos”). 153 Vgl. ebd., 554 Dementsprechend sieht Hermannsdörfer: Beten, 231, in Bonhoeffers Entwicklung der Mandatenlehre ein Aufbrechen vom “Starre[n] Gegenüber von Staat und Kirche” und deutet an, dass dadurch nicht nur größeres Gleichgewicht zwischen den Mandaten hergestellt sei, sondern auch die Verantwortung des Einzelnen eine größere Rolle spiele. 154 Bonhoeffer: DBW 16, 558. 155 Ders.: Ethik, 381; zur Mandatenlehre Bonhoeffers vgl. auch Moltmann: Herrschaft, 45ff. 156 Vgl. Bonhoeffer: Ethik, 382. 157 Ebd., 384. 158 Ebd., 384. 159 Ebd., 385. Darum ergibt sich für Bonhoeffer (390), “dass Gebot und Gesetz unauflöslich zueinander gehören, aber doch wohl zu unterscheiden sind, und daß das Gesetz im Gebot miteingeschlossen ist, aus ihm heraus entsteht und zu verstehen ist.” Dahinter verbirgt sich freilich Luthers triplex usus legis, dessen Funktion er an dieser Stelle deutlich auseinanderzuhalten sucht.
328 | 4 Relationalität, Bibel und prophetischer Aktivismus: Die Spätphase zwischen angesprochenem Menschen und Gott faktisch das Gesetz erst als Gebot qualifiziert, ist fast selbstverständlich. Aus dem Grundsatz, dass das Gebot göttlichen Ursprungs ist – von oben –, unterbindet Bonhoeffer auch jegliche Absolutierung von irdischen Autoritäten, die lediglich von Gott ermächtigt sind, “in der Kirche, in der Familie, in der Arbeit und in der Obrigkeit”.160 Diese vier letztgenannten Bereiche göttlicher Ermächtigung nennt Bonhoeffer “Mandate” anstatt der im Laufe der Geschichte missverständlich gewordenen Begriffe von “Ordnung”, “Stand” oder “Amt”: Unter “Mandat” verstehen wir den konkreten in der Christusoffenbarung begründeten und durch die Schrift bezeugten göttlichen Auftrag, die Ermächtigung und Legitimierung zur Ausrichtung eines bestimmten göttlichen Gebotes, die Verleihung göttlicher Autorität an eine irdische Instanz. Unter Mandat ist zugleich die Inanspruchnahme, die Beschlagnahmung und Gestaltung eines bestimmten irdischen Bereiches durch das göttliche Gebot zu verstehen. Der Träger des Mandates handelt in Stellvertretung als Platzhalter des Auftraggebers.161
Bereits in dem frühen Manuskript “Christus, die Wirklichkeit und das Gute” (Sommer/Herbst 1940) hat er seine Lehre von den göttlichen Mandaten eingeführt, womit er die Beziehung der Welt auf Christus erläutert, die sich in “Zusammengehörigkeit von Gott und Welt” wie auch “Unterschiedenheit von Gemeinde und Welt”162 ausdrückt. Die Mandatenlehre deutet damit nicht nur Bonhoeffers neue Diesseitigkeit an, sondern greift auch vorweg auf die erst zwei Jahre später ausführlich thematisierte Verantwortung, um deren echte Wiederherstellung es Bonhoeffer an dieser Stelle geht, und zwar durch “Rückkehr zu der echten Unterordnung unter das göttliche Mandat”.163 Das nennt Bonhoeffer Einüben des christliches Lebens, “mitten in der Welt”.164 Dass es letztlich in seiner MandatenlehHilfreich zum Verständnis ist das relativ zeitgleich entstandene Gutachten Bonhoeffers zum primus usus legis, vgl. Bonhoeffer: DBW 16, 601ff. s. auch Barth: Wirklichkeit, 354ff, die diese Thematik ausführliche behandelt. S. auch ebd., 330ff., bes. 332, die Bonhoeffers Verständnis vom primus usus legis als “Aufruf an den Christen zur Arbeit an der iustitia civilis” versteht. “Es geht also um die ‘durch den primus usus auferlegte weltliche Verantwortung’ des Christen.” S. auch ebd., 342. 160 Bonhoeffer: Ethik, 383; dass die Auswahl jener vier Mandate willkürlich wirkt – “es sei denn man berufe sich auf platonisierende Entsprechung, ein Analogieprinzip von Christuswirklichkeit und Mandaten”, betont Honecker: “Christologie”, 156. 161 Bonhoeffer: Ethik, 392f. Zur Mandatenlehre Bonhoeffers vgl. auch Moltmann: Herrschaft, 55 u. 64; Rasmussen: “Ethics”, 223 u. Barth: Wirklichkeit, 350–358. 162 Beides Bonhoeffer: Ethik, 54. Zum “unbewussten Christentum” vgl. auch Barth: Wirklichkeit, 361–367 u. Tietz: “Rechtfertigung”, 103. 163 Bonhoeffer: Ethik, 56. 164 Ebd., 55.
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re um die existentielle Relation zwischen Gott, Welt und Mensch geht, wird in Bonhoeffers Beschreibung der vier Mandate deutlich, denn “es kann nach der Erscheinung Christi in der Ethik nur noch um eines gehen, nämlich an der Wirklichkeit des erfüllten Willens Gottes teilzubekommen.”165 Träger der Mandate sind deshalb nach Bonhoeffer Stellvertreter, die als “Platzhalter Gottes”166 agieren, was für ihn unmittelbar Machtverhältnisse kraft göttlicher Ermächtigung impliziert. Interessant ist die weitere Entwicklung innerhalb der unterschiedlichen Manuskripte. Denn ursprünglich thematisiert Bonhoeffer als erstes das Mandat der Arbeit als mitschöpferisches Tun des Menschen, auf Christus ausgerichtet.167 Unter das Mandat der Ehe subsummiert er gleichermaßen die Miterschaffung durch Fruchtbarkeit und neues Leben wie auch die Kindererziehung zum Gehorsam gegenüber Christus.168 Statt aber kontinuierlich auf das göttliche Verbot des Ehebruchs zu schauen – als Grenze der Ehe –, richtet Bonhoeffer mit dem Gebot der Ehe, das Freiheit schenkt, den Fokus vielmehr auf die Mitte, auf das, was die Ehe auszeichnen soll.169 Der Punkt, den er damit macht, ist, dass Freiheit überhaupt nur in der Bindung an Gottes Gebot entstehen kann, wie er bereits zu seiner Auslegung der Schöpfungsberichte zehn Jahre zuvor dargelegt hat.170 Neben diesen beiden Mandaten – Arbeit und Ehe (bzw. Familie) –, die laut Bonhoeffer gleichermaßen bereits vor dem Sündenfall existieren, kennt er als drittes Mandat die Obrigkeit, die die beiden ersten voraussetzt, denn ihre Aufgabe ist keine Erschaffung, sondern vielmehr Schutz der bestehenden Ordnung und der
165 Bonhoeffer: Ethik, 61. 166 Ebd., 394. 167 Vgl. ebd., 57f.; dass Bonhoeffer die Arbeit als Beruf auch mit der persönlichen Verantwortung des Einzelnen in Verbindung bringt, macht sein theologisches Gutachten zum Verhältnis von Kirche und Staat deutlich; vgl. ders.: DBW 16, 532. Zu Bonhoeffers Berufsverständnis vgl. auch Barth: Wirklichkeit, 317ff. 168 Vgl. Bonhoeffer: Ethik, 58; s. auch ders.: DBW 16, 526. so ist es auch nicht verwunderlich, dass Bonhoeffer später von Familie statt Ehe spricht (vgl. 392). 169 Vgl. ders.: Ethik, 385f. Zur Unterscheidung zwischen Gebot und Gesetz bei Bonhoeffer vgl. auch Barth: Wirklichkeit, 326ff. 170 Das Gebot der Freiheit hat Bonhoeffer bereits in Schöpfung und Fall als Frei-Sein-für definiert, sodass die Beziehung zwischen beiden Ehepartnern inkludiert ist. Dem Gebot Gottes entspringt somit die Erlaubnis an den Menschen, vor Gott zu leben, was für Bonhoeffer explizit “essen, trinken, schlafen, arbeiten, feiern, spielen” (Bonhoeffer: Ethik, 388) beinhaltet, ohne sich selbst oder anderen darin Richter und Beurteilender zu sein. Das Gebot Gottes ist damit Bonhoeffer zufolge weder Kasuistik noch formale Freiheitslehre; vielmehr inkludiert es auch die Randbemerkungen, also das Ethische bzw. das Gesetz, fokussiert aber die Mitte als den positiven Inhalt (vgl. 389f.).
330 | 4 Relationalität, Bibel und prophetischer Aktivismus: Die Spätphase Mandate, die auch nach dem Sündenfall noch Bestand haben.171 Die Obrigkeit als Mandat ist zudem begründet im Sündenfall, und allein der gekreuzigte Christus bleibt deshalb Herr der Obrigkeit, wie er auch Haupt der Gemeinde ist, was Bonhoeffer relational begründet.172 Zwar ist die Obrigkeit laut Bonhoeffer an kein Bekenntnis gebunden; dennoch verweist er – an anderer Stelle – auf ihren Auftrag, die Christen zu schützen, für Gerechtigkeit zu sorgen und die Ordnungen auf Christus hin zu erhalten.173 Mit der Einsetzung göttlicher Mandate selbst sind damit, wie gesehen, bereits obrigkeitliche Verhältnisse geschaffen und letztendlich durch Gott autorisiert, die es nur in diesem Miteinander, Füreinander und Gegeneinander gibt.174 Und deshalb ist das Gebot “die einzige Ermächtigung zur ethischen Rede.”175 Als viertes Mandat thematisiert Bonhoeffer schließlich die Kirche, deren Auftrag es ist, durch Verkündigung, kirchliche Ordnung und christliches Leben die Wirklichkeit Jesu Christi zu verkörpern und so als ewiges Heil der ganzen Welt in Erscheinung zu treten.176 Diese kollektive Ebene versteht er als Gestaltwerdung Christi, und zwar als Sein Leib, die Kirche,177 wie Bonhoeffer es noch in dem frühen Manuskript “Ethik als Gestaltung” (Sommer/Herbst 1940) formuliert. Wie schon in Sanctorum Communio angedeutet, geht es Bonhoeffer daher gerade nicht um “eine Religionsgemeinschaft von Christusverehrern, sondern de[n] unter Menschen gestaltgewordene[n] Christus”.178 Durch sein relationales Denken finden wir somit erneut zwei parallele Stoßrichtungen, die sich eigentlich logisch ausschließen müssten: Einerseits spricht Bonhoeffer davon, dass in dem Leib Christi tatsächlich alle Menschen angenommen seien, stellvertretend durch einige. Andererseits findet hier kein theologischer Rundumschlag statt, sondern Bonhoeffer richtet eine Art Auftrag an den Leib Christi, in der Welt Gestalt gewinnen zu sollen. Dabei muss er sich (an spä171 Vgl. Bonhoeffer: Ethik, 58f. vgl. auch ders.: DBW 16, 524. So auch Moltmann: Herrschaft, 43: “Gottes Gebot zerstört nicht die geschaffene Wirklichkeit, sondern muß als Erlaubnis und Beauftragung verstanden werden, in der weltlichen Wirklichkeit vor Gott leben zu dürfen und zu sollen.” 172 Vgl. Bonhoeffer: DBW 16, 506–516, bes. 514ff. (“theologisches Gutachten über das Verhältnis von Staat und Kirche”, Frühjahr 1941 oder später). 173 Vgl. ebd., 530. 174 Vgl. ders.: Ethik, 394–398. 175 Ebd., 381. 176 Vgl. ebd., 59; 403f. vgl. auch das theologische Gutachten zum Verhältnis von Staat und Kirche aus der Zeit, ders.: DBW 16, 528f. 177 Vgl. ders.: Ethik, 84ff. 178 Ebd., 84.
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terer Stelle) eingestehen, dass sich Jesus kaum mit weltlichen Problemen befasst habe, weshalb er die christliche Erlösung eben von innen nach außen versteht, sodass der Mensch nicht aus der Entzweiung heraus Probleme lösen muss, sondern aus der Relationalität zu Jesus Christus (= Erlösung) “wirklich die Lösung aller menschlichen Probleme”179 erlebt. Im Sinne seiner neuen Diesseitigkeit und der gerade thematisierten Obrigkeit betont Bonhoeffer darum, dass sich das Mandat der Kirche nicht nur über alle Menschen, sondern auch alle anderen Mandate erstrecke,180 denn so schließt sich der Bogen: “Gottes in Jesus Christus geoffenbartes Gebot ergeht an uns in der Kirche, in der Familie, in der Arbeit und in der Obrigkeit.”181 Dennoch macht er im Zuge des Manuskripts “Erbe und Verfall” auf Luthers Zwei-Reiche-Lehre aufmerksam, wenn er die christliche Verfallsgeschichte reflektiert: Es gibt zwei Reiche, die solange die Erde steht, niemals miteinander vermischt, aber auch niemals auseinandergerissen werden dürfen, das Reich des gepredigten Wortes Gottes und das Reich des Schwertes, das Reich der Kirche und das Reich der Welt, das Reich des geistlichen Amtes und das Reich der weltlichen Obrigkeit. […] Aber der Herr beider Reiche ist der in Jesus Christus offenbare Gott.182
Mit dieser lutherischen Zwei-Reiche-Lehre erkennt Bonhoeffer in Übereinstimmung mit von Harnack einen Lichtblick am Himmel der kirchengeschichtlichen Streitigkeiten zwischen Papst und Kaiser, weil die Einheit des Abendlandes wie auch der Kirche in Wort und Sakrament Christi sichergestellt scheint und der Graben zwischen profanem und sakralem Raum überwunden.183 Darin entzieht Bonhoeffer nicht nur dem späteren Kulturprotestantismus und sonstigen Säkularisierungsströmungen die Berechtigung wie auch den völkisch orientierten Deutschen ihre vermeintliche Christlichkeit und ihre Bindung an Adolf Hitler, weil nur Christus der Herr beider Reiche ist, sondern auch der Gleichschaltung von Kirche und Staat.184 Dass Bonhoeffer dabei auch nicht die weltliche Ordnung negiert, sofern sie Ordnung ist und sich dem Dekalog als Gottes Gebot unterordnet, macht er gut ein Jahr später in seinen Gedanken zu William Patons Schrift “The Church and the New Ordner in Europe” deutlich, während der Nazi-Staat im Gewand relativer historischer und sozialer Gerechtigkeit höchst ungerecht auftrete.185 179 Bonhoeffer: Ethik, 356. 180 Vgl. ebd., 59. 181 Ebd., 383. 182 Ebd., 102. 183 Vgl. ebd., 102–104. 184 Vgl. ebd., 103ff. 185 Vgl. ders.: DBW 16, 538ff.
332 | 4 Relationalität, Bibel und prophetischer Aktivismus: Die Spätphase Doch theoretisch hat Bonhoeffer bereits 1933 mit seiner frühen NS-Kritik die Grenzen dieser klassischen Mächteteilung damit überschritten, unter Umständen dem Rad in die Speichen fallen zu müssen; und auch in einem theologischen Gutachten zum Verhältnis von Staat und Kirche aus der Zeit der Ethik-Manuskripte sieht Bonhoeffer die Gehorsamspflicht gegen den Staat erst dann aufgehoben, wenn die Obrigkeit den göttlichen Auftrag verleugnet und sich selbst zur Obrigkeit macht, explizit gegen das göttliche Gebot verstößt oder ihre Kompetenz darin überschreitet, in die Gemeinde einzugreifen – zum Beispiel durch Anspruch auf ein kirchliches Amt; dieser Ungehorsam kann laut Bonhoeffer immer nur im Einzelfall entschieden werden und ist ein “Wagnis der Verantwortlichkeit”,186 was erneut die Verwurzelung in Bonhoeffers situationsethischem Ansatz verdeutlicht.187 . Diese Neuerungen im Nachgang seines zweiten Amerikaaufenthaltes 1939 verwundern nicht, wo Bonhoeffer ganz neu mit dem Denken seines ehemaligen Lehrers und Mentors Niebuhr konfrontiert wird. Besonders dessen Werk Moral Man und Immoral Society hat seine Spuren hinterlassen, das Bonhoeffer zwar explizit in seine Grenzen weist, das er in manchen Punkten aber doch rezipiert; denn es untermauert seine Beteiligung an der Konspiration, was er selbst wohl als politischen Eingriff der Kirche in die Machenschaften des nicht mehr funktionierenden Staates ansieht.188 Niebuhrs Hauptthese spitzt sich gemäß des Titels von “Moral Man und Immoral Society” dahingehend zu, dass im Umgang mit sozialen Gruppen bei zunehmender Größe die Möglichkeit fehle, sich in das Gegenüber hineinzuversetzen; denn die Liebe ist für Niebuhr zwar wichtigstes Element des Christentums,189 doch versagt sie zusehends und schlägt in Unpersönlichkeit um; das stellt er
186 Bonhoeffer: DBW 16, 523. 187 So auch Prüller-Jagenteufel: Befreit, 385. 188 Leider hat Barth: Wirklichkeit, bei ihrer Untersuchung der Ethik – ähnlich wie Schmitz: Nachfolge, in Bezug auf die Nachfolge – unterlassen, den englischsprachigen Einfluss auf Bonhoeffer, geschweige denn Niebuhr, zu rezipieren, obwohl sie sich bewusst auf den philosophischen Hintergrund als Einfluss konzentriert; vgl. Barth: Wirklichkeit, V. “Ziel dieser Arbeit ist es vielmehr”, so schreibt sie wenig später (5f.), “durch die Erarbeitung des philosophischen Hintergrunds zu einem tieferen Verständnis des ethischen Ansatzes Bonhoeffers vorzudringen.” Wäre nicht ein Bezug zu Niebuhr zwingend gewesen, zumal das Manuskript “Die Geschichte und das Gute [2. Fassung]” im Zentrum der Untersuchung Barths steht? 189 Niebuhr: Moral Man, 82: “The cross is the symbol of love triumphant in its own integrity, but not triumphant in the world and society. Society, in fact, conspired the cross. […] The man on the cross turned defeat into victory and prophesied the day when love would be triumphant in the world.” Ders.: Interpretation, 63: “Against orthodox Christianity, the prophetic tradition in Christianity must insist on the relevance of the ideal of love to the moral experience of mankind of every conceivable level.”
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selbst bei den Kirchen fest, die sich im Wesentlichen auf ihre eigene Gemeinschaft konzentrieren und in der Sklavenfrage keine Vorreiter sozialer Verbesserung gewesen seien.190 Bonhoeffer selbst findet innerhalb der Kirche Autoritätsverhältnisse, da Gottes Gebot dort auf zweierlei Weise vorzufinden sei, erstens in der Predigt und zweitens in der Beichte.191 Niebuhr empfiehlt statt ethischer Betrachtung deshalb eine politische Betrachtung von sozialen Gruppen.192 Macht spielt Niebuhr zufolge in Gerechtigkeitsfragen zwischen unterschiedlichen Gruppen sozialer Stellung die entscheidende Rolle.193 Denn der Wille zum (Über-)Leben werde unweigerlich zum Wille zum Herrschen, weshalb für ihn klar ist, dass nur durch ein gewisses Maß an Zwang (engl. “coercion”) Gerechtigkeit zu erzielen ist,194 womit Niebuhr sowohl (basis-)demokratische als auch pazifistische Ansichten ernüchtert, weil nicht Frieden um jeden Preis und auf Kosten von Gleichheit in Kauf zu nehmen ist.195 Mit seiner stellvertretenden Schuldübernahme adaptiert Bonhoeffer diese Stoßrichtung gegen prinzipiellen Pazifismus freilich verstärkt. Umgekehrt kritisiert Niebuhr aber auch Gandhi und dessen prominente Unterscheidung von gewaltsamem und gewaltlosem Widerstand, denn auch Gewaltlosigkeit ist für ihn ein Druckmittel, das er so nicht bei Jesus findet.196 Bonhoeffer nimmt diesen Gedankenstrang auf, wenn er am Ende der ersten Fassung von “Die Geschichte und das Gute” schlussfolgert: “Politisches Handeln bedeutet Verantwortung wahrnehmen. Es kann nicht geschehen ohne Macht. Die Macht tritt in den Dienst der Verantwortung.”197 Hinter alledem verbirgt sich auch eine Modifikation des traditionell christlichen Sündenverständnisses. Denn statt metaphysischer Spekulation, aber deutlich gegen das liberale Christentum, das “having borrowed heavily from the optimistic credo of modern thought, sought to read this optimism back into the gos-
190 Vgl. Niebuhr: Moral Man, 73ff. 191 Vgl. Bonhoeffer: Ethik, 398. Der Prediger bzw. Pastor/Hirte ist laut Bonhoeffer von Jesus Christus dazu beauftragt, das Wort Gottes auf Grundlage der Heiligen Schrift der Gemeinde zu predigen und so Zeugnis von Jesus Christus zu geben: “Oben ist das Amt der Verkündigung, unten die hörende Gemeinde” (400; vgl. 402). Zwar habe, so Bonhoeffer, die Gemeinde die Möglichkeit, anhand der Schrift die Predigten zu prüfen; vordergründig aber sei die Heilige Schrift “ihrem Wesen nach nicht ein Erbauungsbuch der Gemeinde” (401). 192 Vgl. Niebuhr: Moral Man, xi; xxii. 193 Vgl. ebd., xv; 127. 194 Vgl. ebd., 31. 195 Vgl. ebd., 234f. 196 Vgl. ebd., 241. Vielmehr insistiert er auf Nicht-Widerstand, da alles andere bereits das Gebot der Nächstenliebe verletzt habe; vgl. ders.: Interpretation, 114. 197 Bonhoeffer: Ethik, 244.
334 | 4 Relationalität, Bibel und prophetischer Aktivismus: Die Spätphase pels”,198 entlehnt Niebuhr der Orthodoxie das Wissen um die Tiefe der Sünde als Rebellion gegen Gott, was in Egozentrismus ausartet.199 Mit der Kategorie der sog. “sozialen Sünde” sprengt er aber nicht nur das traditionelle Vokabular, sondern im Sinne des Social Gospel und auf Grundlage des biblischen Prophetismus auch die theologische Engführung auf das Individuum mit dem Ziel “to find political methods which will offer the most promise of achieving an ethical social goal for society”.200 Denn Egoismus zerstört laut Niebuhr jegliche Form von Einheit, weshalb er auch die imperiale Vorherrschaft der Weißen mit einem “higher degree of self-conscioussness of the ‘Faustian’ soul”201 in Verbindung bringt. Bonhoeffers Schlussfolgerung aus Sanctorum Communio, dass nicht nur die unmittelbare Gottesgemeinschaft mit der Sünde verloren gegangen sei, sondern ebenso die soziale Gemeinschaft,202 hat diesen Gedanken theologisch bereits vorweggenommen. Niebuhr ist sich darum bewusst: “[W]e cannot draw any absolute line of demarcation between violent and nonviolent coercion”203 , was besonders für Bonhoeffers Entwicklung hin zur aktiven Teilnahme an der Konspiration argumentativ wichtig ist, wie gesehen. Denn seit 1930, also zur Zeit Bonhoeffers in New York, leitet Niebuhr Gerechtigkeit nicht mehr von Religion bzw. den biblischen Propheten ab, sondern versteht sie als “Ergebnis der kalkulierten Denkweise”,204 wie Andjelic mit Verweis auf den Vortrag “The Limitations of a Religious Inspired Philanthropy” deutlich macht. Für Niebuhr gibt es somit ebenfalls keine Prinzipien, die er von der Bibel in die Realität übertragen könnte; das Ganze ähnelt vielmehr einem Wettstreit um das Richtige anhand sozialer Konsequenzen zwischen Freiheit und Solidarität auf Grundlage o. g. biblischer Erkenntnisse.205 Gewalt ist Niebuhr zufolge in dieser Zeit der 1930er Jahre damit nicht per se unmoralisch, womit er die revolutionären Tendenzen der Zwischenkriegszeit aufgreift; Niebuhr nämlich plädiert dafür, die sozialen Konsequenzen als Indikator für Moralität zu betrachten, statt zu meinen, Gewalt sei kategorisch “intrinsically evil 198 Niebuhr: Interpretation, 72; vgl. schon ders.: Moral Man, xii ff. 199 Besonders deutlich ist ders.: Interpretation, 52, aber schon ders.: Moral Man, 54, macht die Problematik deutlich; s. auch Andjelic: Glaube, 159ff., und Young: “Bonhoeffer And Niebuhr”, 288f. 200 Niebuhr: Moral Man, xxiv. Deshalb macht Crouter: Niebuhr, 43, darauf aufmerksam, dass “there’s no getting around the fact that permutations of the traditional Christian doctrine of sin loom large for Niebuhr.” 201 Niebuhr: Moral Man, 43. 202 Vgl. Bonhoeffer: Sanctorum Communio, 38. 203 Niebuhr: Moral Man, 172. 204 Andjelic: Glaube, 141. 205 Vgl. Niebuhr: Moral Man, 174f.
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and non-violence intrinsically good”.206 Als Lösungshilfe verweist er darum auf das Studium der Geschichte, was er sogar mit dem “field of prophecy”207 in Verbindung bringt, sodass moralisch relevante Motive und Methoden im Lichte der Fakten und Möglichkeiten hinsichtlich des gesamten menschlichen Verhaltens betrachtet werden müssten. Mit “Erbe und Verfall”208 setzt Bonhoeffer genau diesen Impuls Niebuhrs um und löst sich in ganz eigenständiger Art und Weise von einer prinzipienorientierten Ethik hin zu einem situationsethischen Ansatz, selbst wenn die Bibel das Prinzip wäre. Er zeichnet einen echten “Abstieg” der Kirche nach, wie von Harnack es nicht hätte besser machen können.209 Sowie auch die Obrigkeiten von Bonhoeffer immer wieder gerügt werden, bekennt er sich zum Versagen der Kirche in “sozialen, ökonomischen, politischen, sexuellen, pädagogischen Problem[en]”,210 da es der dogmatischen und theoretisch-ethischen Ausrichtung an Konkretion fehle.211 Denn die biblische Sichtweise sei die von Gott zur Welt wie der Weg Jesu Christi in der Inkarnation, weshalb Bonhoeffer sowohl den Ruf zur Umkehr als Auftrag der Kirche betont wie auch ein verantwortliches Verhältnis zu ihr auf Grundlage der Liebe Gottes. Denn “allein vom Evangelium von Jesus Christus aus ergibt sich das richtige Verhältnis der Kirche zur Welt.”212 Deshalb insistiert Bonhoeffer auf einem verantwortlichen Verhältnis zur Welt in Wort und im Handeln.213 Statt “unfruchtbare[r] Moral der Selbstgerechtigkeit” infolge von Rechnen und Abwiegen plädiert er für ein echtes Schuldbekenntnis der Kirche, damit sie mitten in der Welt die Gestalt Jesu Christi verwirklichen kann, wo Wiedergeburt und Erneuerung stattfinden. Darüber hinaus überträgt er auf sie als Kollektiv auch die individualethischen Phänomene von Verantwortung und Stellvertretung: Die Kirche trägt auch stellvertretend die Schuld der Welt, wo sie Christus noch nicht verkörpert habe.214
206 Niebuhr: Moral Man, 172. 207 Ebd., 179. 208 Bonhoeffer: Ethik, 93–124. 209 Vgl. v. a. ebd., 275. 210 Ebd., 354. 211 Vgl. ebd., 355. 212 Ebd., 358. 213 Vgl. ebd., 359. 214 Vgl. ebd., 127; s. auch 408. Konkret fehlt es Bonhoeffer an offener und deutlicher Verkündigung aufgrund von Furcht und Abweichung, sodass er das Verstummen und den Abfall von echtem Widerstand gegen die Blutschuld oder auch den Missbrauch des Namens Christi durch Unrecht und offene Verhöhnung beklagt; er bemängelt aber auch liturgische und praktisch-
336 | 4 Relationalität, Bibel und prophetischer Aktivismus: Die Spätphase Auch wenn solch ein Schuldbekenntnis für Bonhoeffer der “Durchbruch der Gestalt Jesu Christi in der Kirche”215 ist, ersetzt dies natürlich nicht das persönlich-individuelle Schuldbekenntnis.216 Zudem ruht seine Hoffnung auf zweierlei, um “[v]or dem letzten Sturz in den Abgrund”217 zu bewahren: Einerseits “das Wunder einer neuen Glaubenserweckung”,218 andererseits eine aufhaltende Kraft zur staatlichen Ordnung.219 Während Bonhoeffer ersteres mit der Kirche verknüpft, empfindet er die staatliche Ordnungsmacht – der klassischen Zwei-Reiche-Lehre Luthers entgegen – zwar mit Gott verbunden, aber “[d]er ‘Aufhaltende‘ selbst ist nicht Gott, ist nicht ohne Schuld, aber Gott bedient sich seiner um die Welt vor dem Zerfall zu bewahren”.220 Naheliegend ist, dass Bonhoeffer damit an die Verschwörergruppe gegen Hitler denkt, da er sich – so wird er in einem der weiteren Manuskripte schlussfolgern – der Schuld über den versuchten Umsturz bewusst ist. In jedem Fall wird deutlich, dass er nicht das aktive direkte Eingreifen Gottes erwartet, wie dies die Mittelphase geziert hat. Aber auch das Abendland kann “als geschichtliche politische Gestalt nur indirekt durch den Glauben der Kirche ‘gerechtfertigt und erneuert‘ werden”,221 womit Bonhoeffers obige Stellvertretung deutlich wird. Denn für die Völker gibt es nur ein “Vernarben der Schuld in der Rückkehr zur Ordnung”,222 sodass sie ihre Schuld an sich selbst tragen müssten. Darum kann Bonhoeffer nur von einem allmählichen Heilungsprozess sprechen, der beinhaltet, dass Obrigkeiten zu ihren Fehlern stehen, aber dennoch ihre Position als Obrigkeit verantwortlich ausführen, um durch Unordnung nicht noch mehr Schuld auf sich zu laden.223 Denn Veralltägliche Vergehen, insbesondere gegen die Sonntagsruhe (vgl. 129). Weiterhin habe die Kirche die “Vergötterung der Jugend” gebilligt und Mitschuld an der Vergewaltigung von Schwachen wie auch Verletzung jeglicher Keuschheit (vgl. 130). Außerdem kritisiert er ganz im Sinne des Propheten Amos die Ausbeutung und Ausraubung der Schwachen, das Wegschauen wie auch Bequemlichkeit, grundsätzlich überhaupt den Abfall von sämtlichen zehn Geboten, weiterhin das Zulassen des Abfalls der Obrigkeit von Jesus Christus (vgl. 130), wohinter natürlich nichts anderes steckt als die Gewalt gegen Juden und Randgruppen, die sowohl von der Kirche und dem gewöhnlichen Bürger nicht ernsthaft angeprangert werden. 215 Bonhoeffer: Ethik, 132. 216 Einen Entwurf einer Kanzelankündigung als Schuldbekenntnis hat Bonhoeffer zu jener Zeit ebenfalls formuliert; vgl. ders.: DBW 16, 587–589. 217 Ders.: Ethik, 122. 218 Ebd., 122. 219 Vgl. ebd., 123. 220 Ebd., 123. 221 Vgl. ebd., 133f. 222 Ebd., 134. 223 Vgl. ebd., 135.
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geltung steht laut Bonhoeffer allein Gott zu – die sich offensichtlich von der verantwortlichen Schuldübernahme des Christen deutlich unterscheidet, auch wenn in beiden Fällen proaktiv in den geschichtlichen Verlauf eingegriffen wird. So ist Bonhoeffer zufolge nur eine gemeinsame abendländische Schuld des Abfalls von Christus auszumachen und eine gemeinsame Rechtfertigung und Erneuerung möglich.
4.2.5 Religionslosigkeit, nicht-religiöse Interpretation und endgültige Diesseitigkeit: Die Tegeler Briefe und Bonhoeffers Ende (1943–1945) Inmitten seiner Arbeit an der Ethik wird Bonhoeffer am 05. April 1943 verhaftet, zunächst wegen relativer Belanglosigkeiten, unter anderem wegen des Verdachts, “meine Freistellung (von der Wehrpflicht; Anm. von P. M.) sei erfolgt, um mich der Geheimen Staatspolizei zu entziehen”.224 Dennoch verbringt Bonhoeffer nach anfänglicher Isolationshaft gut eineinhalb Jahre (bis zum 08. Oktober 1944) in der Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel, wo er immerhin intensiv Theologie betreiben kann;225 seine Ethik jedoch kann er nicht mehr fertigstellen, was ihn ärgert.226 Zu jener Zeit entstehen aber die Briefe, die später unter dem Titel Widerstand und Ergebung von Eberhard Bethge herausgegeben werden werden. Nach wie vor lebt Bonhoeffer in starker Bindung an die Bibel und das Gebet, was einerseits die klare Kontinuität in Bonhoeffers Leben deutlich macht.227 224 Bonhoeffer: DBW 16, 409; vgl. auch 432. Anfang August hängt zwar der Vorwurf der Wehrkraftzersetzung in der Luft, jedoch lässt sich lange Zeit nichts beweisen (vgl. 420; 428; 442). So ist bereits für den 17.12.1943 Bonhoeffers Verhandlung angesetzt, die jedoch mehrfach aus Mangel an Konkretion und Beweisen verschoben wird; vgl. ders.: DBW 8, 200 u. Marsh: Strange Glory, 358f. 225 Vgl. Bethge: DB, 912; vgl. Bonhoeffer: DBW 8, 57; 198. 226 Vgl. ebd., 188; 236. 227 Darum zieht auch Altenähr: Bonhoeffer, 75, enge Verbindungen zwischen den Tegeler Briefen und Akt und Sein. Bonhoeffer selbst berichtet in dem Brief vom 05.05.1943 seinen Eltern, wie er (nach wie vor) die Bibel liest, und zwar ganz simpel von Anfang bis Ende; besonders den Psalter liest er “wie seit Jahren täglich, es gibt kein Buch, das ich so kenne und liebe wie dieses” (Bonhoeffer: DBW 8, 72). Am 18.11.1943 erwähnt er gegenüber Bethge, er habe “2 1/2 mal das Alte Testament gelesen und viel gelernt” (188) – offenkundig innerhalb des davor liegenden halben Jahres –, was den nach wie vor großen Stellenwert der Bibel für Bonhoeffer zum Ausdruck bringt. Denn, so schreibt er eine Woche später (wieder an Bethge), führten ihn schwere Luftangriffe “ganz elementar zum Gebet und zur Bibel zurück”, weshalb er die Gefängniszeit wie “eine sehr heilsame Pferdekur” (beides 215) empfindet; dass dies aber wohl nicht nur auf Bonhoeffer selbst zutrifft, macht das Gebet für Gefangene deutlich (vgl. 208). Auch die Losungen spielen nach wie vor eine
338 | 4 Relationalität, Bibel und prophetischer Aktivismus: Die Spätphase Andererseits ist eine besonders bedeutsame hermeneutische Neuerung zu nennen: In der Früh- und Mittelphase pflegt Bonhoeffer das Alte Testament christologisch zu lesen (vom Neuen Testament her), wie am deutlichsten in Schöpfung und Fall zu sehen ist. In dieser Spätphase, unter anderem initiiert durch den Einfluss der Bergpredigt und den prophetischen Elementen,228 die er über das Social Gospel rezipiert hat, liest er umgekehrt das Neue Testament vermehrt vom Alten her, auch wenn für ihn die gesamte Bibel nach wie vor Wort Gottes ist und er sich schon früh gegen jedes Ablösen vom Alten Testament her ausgesprochen hat.229 In typisch provokanter Art und Weise schlussfolgert er darum, dass derjenige kein Christ sei, “[d]er zu schnell und zu direkt neutestamentlich sein und empfinden will”.230 Entgegen des Trends “brauner” Theologen, Jesus zu arisieren, legt Bonhoeffer damit einen Grundstein für die Rückkehr zum jüdischen Jesus, den Dialog mit dem Judentum und eine grundsätzliche Neuerung innerhalb der Kirche(n).231 Auslöser von Bonhoeffers Warnung, zu früh neutestamentlich denken zu wollen, ist eine konsequente Weiterentwicklung der in der Ethik thematisierten Tendenz zunehmender Diesseitigkeit, wenn er begründet: “Man kann und darf das letzte Wort nicht vor dem vorletzten sprechen”.232 Konkret versteht er die Diesseitigkeit als “in der Fülle der Aufgaben, Fragen, Erfolge, Mißerfolge, Erfahrungen und Ratlosigkeiten leben,” wie Bonhoeffer einen Tag nach dem StauffenbergAttentat auf Hitler (21.07.1944) an Bethge äußert. Mit der Erkenntnis – vonseiten
wiederkehrende Rolle (vgl. 320; 472; 569; 572). Gleichzeitig gibt es aber auch Phasen, in denen er “wenig” die Bibel liest und auch den Gottesdienst wenig vermisst (vgl. 238 u. 360). 228 Selbst Bethge beschreibt in seinem Brief vom 03.06.1944 an Bonhoeffer das “Alttestamentlich-Prophetisch[e]” als ein “Eintreten[s] für die Unterdrückten”; Bonhoeffer: DBW 8, 463. 229 Vgl. ebd., 226; 408; 480. Kuske: Testament, 105, bemerkt, “daß Bonhoeffer 1937 erkennt, Christus gehöre das ganze Alte Testament, 1943 aber, daß Christus dem ganzen Alten Testament gehört.” Die höchste Dichte alttestamentlicher Zitate findet man in Bonhoeffers Brief anlässlich der Taufe seines Neffen, so Harvey: “The Narrow Path”, 117. 230 Bonhoeffer: DBW 8, 226 (Brief vom 21.07.1944). Noch 1944 verfasst Bonhoeffer dementsprechend eine Bibelarbeit, natürlich über das Alte Testament, und zwar über die erste Tafel der zehn Gebote, in denen er v. a. die Heiligkeit Gottes hervorhebt, wie er sie parallel auch in den Briefen der Tegeler Haft betont, wenn es um zu frühes neutestamentliches Denken geht; vgl. ders.: DBW 16, 658ff.; bes. 667f.; 670. 231 Vgl. dazu Pangritz: “Geheimnis”, 240: “Leo Baeck hat er [Bonhoeffer; Anm. von P. M.] nicht gelesen, aber das Alte Testament, die hebräische Bibel. Und da wird ihm bewußt, wie sehr sich das Christentum von seinen Wurzeln entfernt hat, indem es sich von der Bibel der Juden entfernt hat.” S. auch Haynes: “Bonhoeffer”, 37: “1979 Pinchas Lapide was arguing that ‘from a Jewish perspective, Bonhoeffer is a pioneer and forerunner of the slow, step-by-step re-Hebraisation of the churches in our days.’ ” 232 Bonhoeffer: DBW 8, 226 (Brief an Bethge vom 21.07.1944).
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des Alten Testamentes – um den “ανθρωπος θελειος” (bzw. hebräisch “ )”לבweiß er nämlich um die Ganzheit des Menschen, den es in und mit seiner Weltlichkeit anzuerkennen gilt.233 Doch ist Gott zur Arbeitshypothese verkommen, weil Er laut Bonhoeffer besonders durch die liberale Theologie nur noch auf die “sogenannten letzten Fragen der Menschen”234 zurückgedrängt worden ist – sozusagen als deus ex machina, “der an den Grenzen menschlichen Erkennens und menschlicher Kraft seinen Ort hat.”235 Vielmehr müsse Gott aber “mitten im Leben […] erkannt werden; im Leben und nicht erst im Sterben, in Gesundheit und Kraft und nicht erst im Leiden, im Handeln und nicht erst in der Sünde will Gott erkannt werden.”236 Jesus ist für ihn also die “Mitte des Lebens”237 und versteht ihn (explizit spricht er von “Gott”) als “cantus firmus” – damit Kontrapunkt – zur “Polyphonie des Lebens”,238 weil es für ihn eben keine spezifisch christlichen Probleme gibt.239 “[W]ir beherbergen gewissermaßen Gott und die ganze Welt in uns.”240 So geht es Bonhoeffer darum, dass “man Gott nicht noch an irgendeiner allerletzten heimlichen Stelle hineinschmuggelt, sondern daß man die Mündigkeit der Welt und des Menschen einfach anerkennt, daß man den Menschen in seiner Weltlichkeit nicht ‘madig macht’, sondern ihn an seiner stärksten Stelle mit Gott konfrontiert.”241 Weltlichkeit als Resultat von Mündigkeit ist für Bonhoeffer somit nicht etwa negativ, sondern Konsequenz des immer stärker ernstgenommen Vorletzten.242 “Mündigkeit” als Resultat der zunehmenden Säkularisierung der Welt ist somit in erster Instanz ein sozialgeschichtlicher Begriff; in zweiter Instanz erhält er von Bonhoeffer allerdings auch kritisch-korrigierenden Status, weil “die
233 Vgl. Bonhoeffer: DBW 8, 511 (Brief vom 08.07.1944); vgl. schon 303 (Brief vom 29. u. 30.01.1944). 234 Ebd., 478 (Brief vom 08.06.1944); s. auch schon 407 (Brief vom 30.04.1944). 235 Tietz: “Gott”, 112. 236 Bonhoeffer: DBW 8, 455 (Brief vom 29.05.1944). 237 Ebd., 455. 238 Vgl. ebd., 441 (Brief vom 20.05.1944); zum cantus firmus vgl. auch Altenähr: Bonhoeffer, 71, und besonders Harvey: “The Narrow Path”, 120, der die “[o]rientation in time” als Charakteristikum der “distinctive polyphony of life” betrachtet. 239 Vgl. Bonhoeffer: DBW 8, 456. 240 Ebd., 453. 241 Ebd., 511 (Brief vom 08.07.1944, Hervorhebung von P. M.); vgl. auch schon 454 (Brief vom 29.05.1944). 242 So auch Harvey: “The Narrow Path”, 110: “We should therefore interpret the phrase ‘a world come of age’ as Bonhoeffer’s way of specifying more precisely the nature of the penultimate realm at this particular point in history and not as an abandonment of the eschatological distinction between last things and things before the last.”
340 | 4 Relationalität, Bibel und prophetischer Aktivismus: Die Spätphase beschriebene Entwicklung zur Mündigkeit der Welt, durch die mit einer falschen Gottesvorstellung aufgeräumt wird, den Blick frei macht für den Gott der Bibel”.243 “Mündigkeit” bei Bonhoeffer ist somit zurecht als “the yeast which ferments in his prison theology”244 bezeichnet worden. Hauptcharakteristikum dieser Mündigkeit ist, wie Bethge und Green thematisieren, der autonome Mensch.245 Hintergrund ist Bonhoeffers Auseinandersetzung mit Wilhelm Dilthey (1833–1911), die ihn am 08. Juni 1944 Bethge gegenüber programmatisch “Christus und die mündig gewordene Welt”246 aufgreifen lässt. Die bereits in der Nachfolge angesprochene teure Gnade spielt in der Ernstnahme von Gottes Unaussprechlichkeit und Seinem Gesetz eine erneute Rolle und verbindet sich mit weltlichen – teils unmoralischen – Dingen, die zur Ehre Gottes getan werden.247 Die Kontinuität in Bonhoeffers Denken ist somit trotz seiner Akzentverschiebung von “Christus und die Gemeinde” hin zu “Christus und (Verantwortung für) die Zukunft, Christus und (Verantwortung für) die kommende Generation” an diesem Punkt deutlich erkennbar.248 Dies macht auch Bonhoeffers Persistieren auf das “Arcanum” deutlich, neben dem “Tun des Gerechten unter den Menschen”249 gleichsam immerzu zu beten. Doch trotz aller Diesseitigkeit 243 Bonhoeffer: DBW 8, 534f. (Brief vom 16.07.1944 an Bethge). 244 Green: Bonhoeffer, 248. 245 Vgl. Bethge: “Christologie”, 86, Feil: “Ende”, 39, Green: Bonhoeffer, 248 u. Schulte: Ohne Gott, 144. 246 Bonhoeffer: DBW 8, 479. Dass Bonhoeffer im Sommer 1942 Bultmanns Entmythologisierungsschrift begrüßt hat, aber inhaltlich ablehnt, dürfte dementsprechend im Sinne seines Lehrers von Harnack gegen “theologischen Pharisäismus und Werkgerechtigkeit” die Meinungsfreiheit und damit verbundene Mündigkeit des Einzelnen hervorheben, weshalb Bonhoeffer wenig später im Zuge des drohenden Ausschlusses Bultmanns aus der Bekennenden Kirche andeutet, in dessen Fall trotz Nicht-Zustimmung sich selbst ausschließen zu lassen; vgl. ders.: DBW 16, 344 u. 358; s. auch Kaltenborn: Harnack, 69f. 247 Vgl. Bonhoeffer: DBW 8, 226f. 248 So auch Schmitz: Nachfolge, 399: “Gemeinsam ist Bonhoeffers Schrift der Zeit des Kirchenkampfes und derjenigen der Konspiration und Haft die unbedingte Forderung des Dienstes der Jünger an der Welt und die unumstößliche Überzeugung, dass dieser Dienst letztlich allein in Christus begründet liegt. […] Der Unterschied zwischen der mittleren und späteren Periode besteht aber darin, dass Bonhoeffer die ‘Verantwortungsinstanz Christus’ hier als Christus und die Gemeinde versteht, dort hingegen als Christus und (Verantwortung für) die Zukunft, Christus und (Verantwortung für) die kommende Generation.” Vgl. auch ebd., 357 u. 398. Auch erkennt man erneut Nietzsche, den Bonhoeffer bereits seit Schülerzeiten rezipiert und der ihn in seiner Metaphysik- und Religionskritik beeinflusst, “for a life unflinchingly rooted in the reality of this earth” (Frick: “Aphorisms”, 198f.). Zur Auseinandersetzung mit Nietzsche vgl. auch Barth: Wirklichkeit, 35 u. Lange: “Aristocratic Christendom”, 75ff. 249 Bonhoeffer: DBW 8, 435 (Gedanken zum Tauftag von Dietrich Wilhelm Rüdiger Bethge, Mai 1944).
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und Weltlichkeit pocht Bonhoeffer schon seit den 1930er Jahren – vor allem in Finkenwalde – auf das sog. “Arcanum” bzw. die “Arkandisziplin”,250 womit er das Vorletzte, das Tun des Gerechten, durch das Gebet als Letztes nicht einfach komplettiert; vielmehr soll das Gebet und damit auch der einfältige Gehorsam als praktischere Formen der Relationalität zu Gott laut Bonhoeffer absolute Grundlage für jedes Handeln sein, es durchs Gebet “heiligen”.251 Hermannsdörfer kommt deshalb sinnvollerweise zu dem Schluss, dass “Beten und Tun des Gerechten” für Bonhoeffer den Versuch darstellt, “das altbekannte Topos von Rechtfertigung und Heiligung neu zu formulieren”, um “Christus für die [religionslosen; Anm. von P. M.] Menschen heute erfahrbar zu machen”.252 Und so entwickelt Bonhoeffer als Antwort auf die Mündigkeit der (westlichen) Welt ein religionsloses Christentum und stellt dafür die programmatische Frage, wie Christus auch Herr der Religionslosen sein könne.253 Denn was ihn unablässig bewegt, “ist die Frage, was das Christentum oder auch wer Christus heute für uns eigentlich ist.”254 Nachdem Bonhoeffer zunächst durch Barths Religionsbegriff geprägt gewesen ist und infolge seiner Amerika-Erfahrungen erste Ansätze hin zur Relationalität zur Welt qua diesseitiger Orientierung entwickelt hat, wird auch hieran der Einfluss Diltheys deutlich:255 Nicht mehr oder nur als Kontrast zur Offenbarung oder zum Reich Gottes versteht er Religion, sondern als “Erlebniswelt als Spezifikum der Neuzeit und somit als Phänomen geschichtlicher Epoche, die nunmehr vorübergegangen zu sein scheint. […] Stattdessen erwartet[e] Bonhoeffer eine neue Gestalt des Christentums”, für die die westliche Gestalt “lediglich eine Vorstufe”256 gewesen ist. Die Verschränkung von inhaltlicher und zeitlicher Ebene liegt damit auf der Hand: Religion als Weltflucht und dergleichen ist für ihn keine Option. 250 Bonhoeffer: DBW 8, 405f. (Brief an Bethge vom 30.04.1944). Vgl. Pangritz: “Aspekte”, 760ff. 251 So auch ebd., 764f.: “Beten – das ist die Dimension des Glaubens, die dem ‘Letzten’ entspricht, die Dimension der ‘Arkandisziplin’, die Dimension der ‘Parole zum Erkennen zwischen Freund und Feind’. Tun des Gerechten – das ist die Dimension des Glaubens, die dem ‘Vorletzten’ entspricht, die Dimension der ‘sich selbst interpretierenden Tat’, die Dimension des politischen Engagements in der ‘mündigen Welt’.” 252 Hermannsdörfer: Beten, 253 (vgl. auch 302). 253 Vgl. Bonhoeffer: DBW 8, 404 (Brief vom 30.04.1944). 254 Ebd., 402. 255 Zum Einfluss Diltheys vgl. Wüstenberg: Glauben als Leben, 134; 136. Den vormaligen Einfluss Barths betonen Mayer: Christuswirklichkeit, 128 und Wüstenberg: Glauben als Leben, 113, bzw. ders.: “Influences”, 147. Die neue Studie von Huang: Gemeinschaft, 154f., ergänzt den Bedeutungswandel des bonhoefferschen Religionsbegriffes zurecht um den erwähnten Zwischenschritt zwischen Barths und Diltheys Einfluss. 256 Beides Feil: “Ende”, 40.
342 | 4 Relationalität, Bibel und prophetischer Aktivismus: Die Spätphase Deshalb fragt Bonhoeffer in Anklang an von Harnacks Unterscheidung von Schale und Kern des Christentums nach dem wirklichen Kern, der auch in Religionslosigkeit für sich stehen kann, damit Christus endlich “wirklich Herr der Welt”257 werde. Es geht ihm um die radikale Annahme des Diesseits, die in eine klar öffentliche Theologie mündet, mit der Bonhoeffer dem religiösen Rückzug ins Private einen Riegel vorschieben will.258 Auch darin macht sich der vermehrte Einfluss der Lebensphilosophie Diltheys bemerkbar,259 der ihn das Im Nachklang von Barmen ist darum die Existenzform der Kirche “nun ganz bestimmt durch den Auftrag der Verkündigung an die ganze Welt.”260 Das heißt: “Die Nähe und Gegenwart Gottes offenbart sich mitten im konkreten Leben.”261 Als erste Antwort auf die Mündigkeit der Welt macht Bonhoeffer mithilfe seiner theologia crucis den Gedanken von Gottes Leiden und Schwäche stark, der “as the one for others’ shapes and forms the strong and autonomous ego of modern people into Christian life as ‘existing for others.’ ”262 Auch wenn die Thematik zu jenem Zeitpunkt nicht völlig neu ist, sind die Tegeler Briefe – namentlich der Brief vom 21.07.1944 – dennoch Auslöser dafür, dass das Theologumenon vom Leiden Gottes in der Welt in der deutschsprachigen Theologie nicht nur Fuß fasst, sondern äußerst breit rezipiert wird.263 Hat Bonhoeffer in der Ethik vor allem die menschliche Seite und damit verantwortliches Handeln bis hin zur stellvertretenden Schuldübernahme thematisiert, wendet er sich schließlich den Konsequenzen (oder Bedingungen) aufseiten Gottes zu. Möglicherweise bereits durch seinen ersten Amerika-Aufenthalt inspiriert,264 taucht der Gedanke des leidenden Gottes zum ersten Mal in einer Predigt während der Londoner Zeit auf, gepaart mit 257 Bonhoeffer: DBW 8, 405. 258 Ganz im Sinne seiner Pietismus-Kritik. Auf den Aspekt der öffentlichen Theologie macht besonders Green: “These”, 77ff., aufmerksam, der Bonhoeffers Ringen mit seinen humanistisch gesinnten Genossen als notwendig erachtet, um eine neue Christlichkeit zu formulieren, eben religionslos. Vgl. auch Harvey: “The Narrow Path”, 112 u. Ebeling: “Interpretation”, 60. Zum Wirklichkeitsbezug aus konkreter Begegnung mit Jesus Christus s. auch Krötke: “Bedeutung”, 342. 259 So Wüstenberg: Glauben als Leben, 224; 235 u. ders.: “Influences”, 148f.; 152. 260 Krötke: “Kein zurück”, 56. 261 Gerte: Spiritualität, 149. 262 Green: Bonhoeffer, 184. S. auch ders.: “Human Sociality”, 129. 263 Vgl. Bonhoeffer: DBW 8, 542. Laut Tietz: “Gott”, 107, war Bonhoeffer “nicht nur der Erste im deutschsprachigen Kontext, der vom leidenden Gott sprach. Er löst auch eine regelrechte ‘Theologie des Leidens Gottes’ aus.” Vgl. dazu auch Moltmann: “Theologie”, 29. Die hier (und auch anderswo) dargelegte Kontinuität in Bonhoeffers Denken, in dem spätestens seit der Mittelphase die Christologie ins Zentrum rückt und so der Pathos-Gedanke alles andere als gänzlich neu ist, scheint Teuchert: “Gott”, 168, in ihrem ansonsten exzellent recherchierten Artikel zu übersehen. 264 So Tietz: “Gott”, 116: “Es ist nicht abwegig anzunehmen, dass Bonhoeffer 1930/31 in New York und 1935–37 in London die angelsächsische Rede vom leidenden Gott kennen gelernt hat.”
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menschlichem Mitleiden. Und auch in der Nachfolge rekapituliert Bonhoeffer diesen Gedanken.265 Dort wie auch hier, zur Zeit der Tegeler Haft, ist die theologia crucis die Grundlage, von der Bonhoeffer das Leiden als Wesenszug Gottes ableitet.266 Letztlich zugunsten seines strikt relationalen Ansatzes ist “das den so lange prägende Apathieaxiom aufgehoben zugunsten eines von der Geschichte betreffbaren Gott”,267 wie Schulte zu Recht urteilt. In Umkehrung von Feuerbachs religionskritischer These, “dass alles, was Gott zugeschrieben wird, in Wahrheit menschlich ist”, kontert Bonhoeffer, “dass alles, was von Gott erwartet wird, in eine Erwartung an den Menschen umschlägt. Es geht also hier und dort um die Befreiung des Menschen zu wahrer Menschlichkeit.”268 Bonhoeffer akzeptiert, dass Gott sich aus der Welt zurückdrängen lässt, ohne sie jedoch aufzugeben: Das Kreuz zeigt die “Entschiedenheit Gottes, die Welt eben nicht im Stich zu lassen”.269 Deshalb versteht Bonhoeffer Christsein – qua Stellvertretung, wie zuvor in der Ethik entfaltet – als Menschsein ohne Religiosität, indem der Mensch an Christi Leiden teilnimmt und dadurch auch am Leiden in der Welt.270 Neu ist somit die Akzentverschiebung Bonhoeffers darauf, die “Allmacht der freien und vollkommenen Liebe Gottes”271 als “Ohnmacht” zu versteSie verweist dabei auf Clarence E. Rolts “The World’s Redemption” von 1913 und auch William Temple, “The Place of Jesus Christ in Modern Christianity” (unser Mitleiden mit Gottes Leid; 116–118). Mindestens ebenso bedeutsam könnte aber auch Whiteheads prozesstheologischer Ansatz in Process and Reality sein, mit dem er sich ebenfalls am Union beschäftigt hat; vgl. Bonhoeffer: DBW 10, 268f. 265 Ders.: Nachfolge, 78: “Wie Christus nur Christus ist als der leidende und verworfene, so ist der Jünger nur Jünger als der leidende und verworfene, als der mitgekreuzigte.” 266 So auch Green: Bonhoeffer, 184; ders.: “Discipleship”, 80 u. Tietz: “Gott”, 111f.. In seinem Gedicht “Christen und Heiden” (Sommer 1944) thematisiert er darum explizit die Not Gottes. In der zweiten Strophe heißt es: “Menschen gehen zu Gott in Seiner Not. […] Christen stehen bei Gott in Seinem Leiden” (Bonhoeffer: DBW 8, 515). Und umgekehrt heißt es in der dritten Strophe: “Gott geht zu allen Menschen in ihrer Not, […] stirbt für Christen und Heiden den Kreuzestod” (516). Vgl. auch Klappert: “Weg”, 90. 267 Schulte: Ohne Gott, 369f.; so auch Kelly und Nelson: Cost, 175. 268 Beides Krötke: “Teilnehmen”, 368f.; vgl. dazu auch Bonhoeffer: DBW 8, 532f. (Brief an Bethge vom 16.07.1944). 269 Schulte: Ohne Gott, 346. Ebenso auch Dietz: Offenbarung, 377. 270 Vgl. Bonhoeffer: DBW 8, 533f. (Brief vom 16.07.1944). S. auch Krötke: “Teilnehmen”, 362f. Nicht nur in der Ethik zeigt sich eine andere Facette zum Mitleiden, sondern auch in der Losungsmeditation zum 07. u. 08.06.1944 heißt es schließlich (Bonhoeffer: DBW 16, 637): “Der Gerechte leidet unter der Welt, der Ungerechte nicht.” Darin sei immer Gottes Hilfe, “weil er [der Gerechte; Anm. von P. M.] ja mit Gott leidet.” Die Nähe zu Heschels prophetischer Sympathie wird damit evident(er). 271 Schulte: Ohne Gott, 360; vgl. auch Tietz: “Gott”, 119 u. Rasmussen: “Ethics”, 213.
344 | 4 Relationalität, Bibel und prophetischer Aktivismus: Die Spätphase hen, wie Bonhoeffer explizit am 18. Juli 1944 Bethge schreibt.272 Auch wenn die Gotteslehre sicherlich nicht Bonhoeffers Lebensthema ist, wie Krötke meint,273 sind seine Schlussfolgerungen letztlich doch konsequent und jenem Denken der (Hebräischen) Bibel verpflichtet, auch wenn dadurch eben nicht ohne weiteres logisch.274 Denn “Bonhoeffer schließt an keiner Stelle explizit aus, dass Gott doch punktuell in der Geschichte handeln könnte. Für ihn ist nach wie vor klar, dass Gott im Regiment sitzt.275 Gleichzeitig betont er jedoch die – auch in seinem eigenen Leben ganz konkret erfahrene – Selbstbestimmung Gottes, eben nicht aktiv handelnd in die Welt einzugreifen”,276 die sich aber relational als Führung zu sich selbst darstellt.277 Dietz spricht deshalb von “postkursiver Führung”278 Gottes – ebenso Teuchert, die die Spannung von Allmacht und Ohnmacht im Denken Bonhoeffers mit dem sog. “Open Theism” ins Gespräch bringt, der Gott im Gegensatz zur traditionellen Vorsehungslehre als “omnicompetent responder” versteht.279 Die Relationalität Gottes drückt sich darum auch in der göttlichen Allgegenwart aus, die Schulte definiert als “die Bezogenheit Gottes auf die Geschichte und dessen Fähigkeit, in der Geschichte handeln zu können.”280 Die Herrschaft Christi bleibt lebendig und in der Geschichte gegenwärtig, doch anders als klassischerweise gedacht.281 272 Vgl. Bonhoeffer: DBW 8, 537. 273 Vgl. Krötke: “Gottes Hand”, 401. 274 Vgl. Hermannsdörfer: Beten, 283, die dementsprechend von einer “nicht auflösbare[n] Antinomie” spricht, der nur mit dem Hinweis auf den Gott der Rechtfertigung begegnet werden könne. 275 Vgl. Bonhoeffer: DBW 8, 563 (Brief vom 10.08.1944 an Bethge). 276 Schulte: Ohne Gott, 372. 277 So Krötke: “Gottes Hand”, 391. 278 Vgl. Dietz: Offenbarung, 350ff. 279 Teuchert: “Gott”, 174: “Das Credo des Open Theism lautet demnach nicht: Es gibt nichts, was Gott nicht könnte, sondern: Es gibt nichts, worauf Gott keine Antwort hätte, womit er nicht erfolgreich umgehen könnte.” 280 Schulte: Ohne Gott, 348; vgl. auch 345. 281 Diese schwierige Spannung drückt sich auch in der Forschungsliteratur aus. Denn Krötke: “Gottes Hand”, 385–391, leitet Bonhoeffers Führungstheologie nicht nur vom Liberalismus ab, sondern entdeckt dessen Wurzeln neben alttestamentlichem Denken (“Hand Gottes”) und der Christologie auch in der alten Lehre der “gubernatio” (dt. “Lenkung”). Schulte: Ohne Gott, 362, dagegen betont die andere Seite, dass “die Handlungen Gottes in Abhängigkeit von den freien Entscheidungen des Menschen” gefällt werden und die daraus resultierenden Ereignisse für Gott gerade nicht von Ewigkeit her bekannt sind (vgl. auch 351). Bonhoeffer selbst kann noch 1943 gegenüber seiner Verlobten Maria von Wedemeyer von der besonderen Führung Gottes sprechen; vgl. Bonhoeffer und Wedemeyer: Brautbriefe, 38 (u. 53). Mit Mt 10,29 geht er (in dem Brief vom 18.12.1943 an Bethge) davon aus, dass zwar nicht alles einfach nach Gottes Willen geschieht, aber gleichzeitig doch auch nichts ohne Seinen Willen; vgl. Bonhoeffer: DBW 8, 242, und auch Krötke:
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De facto kann und soll der Mensch darum aus der Freiheit-für seine Verantwortung nicht mehr einfach auf Gott abwälzen, sondern wird selbst zu verantwortlichem, stellvertretendem Handeln herausgefordert.282 Anstatt “Ausdruck eines fatalistischen Quietismus”283 zu sein, ist die eine Entscheidung zu Glauben nötig: “Dann wirft man sich Gott ganz in die Arme, dann nimmt man nicht mehr die eigenen Leiden, sondern das Leiden Gottes in der Welt ernst, dann wacht man mit Christus in Gethsemane.”284 Am deutlichsten wird diese Spannung von Gottes Handeln und menschlicher Verantwortung letztlich in Bonhoeffers berühmten Gegenpaar von “Widerstand und Ergebung”: Gott begegnet uns nicht nur als Du, sondern auch “vermummt” im “Es”, und in meiner Frage geht es also im Grunde darum, wie wir in diesem “Es” (“Schicksal”) das “Du” finden […] – wie aus dem “Schicksal” wirklich “Führung” [Gottes; Anm. von P. M.] wird. Die Grenzen zwischen Widerstand und Ergebung sind also prinzipiell nicht zu bestimmen; aber es muß beides da sein und beides mit Entschlossenheit ergriffen werden. Der Glaube fordert dieses bewegliche, lebendige Handeln.285
“Gottesverständnis”, 451. Letztlich formuliert Bonhoeffer selbst eine “Lösung” dieser Spannung, die sich mit der eigenen Verantwortung auftut und die dem vollständigen Vertrauen auf Gottes Eingreifen – wie er es noch in seiner Mittelphase erwartet hat – geradezu entgegenläuft und das sein Lebensende entscheidend prägt. Und zwar fügt sich dies als in dem prominenten Begriffspaar von Widerstand und Ergebung; so schreibt Bonhoeffer: DBW 8, 333 (21.02.1944), an Bethge, er habe sich “oft Gedanken darüber gemacht, wo die Grenzen zwischen dem notwendigen Widerstand gegen das ‘Schicksal’ und der ebenso notwendigen Ergebung liegen”. Weil er davon ausgeht, dass Gott nicht nur als “Du”, sondern auch als “Es” begegnet, hält er es erst für Führung – im Sinne der Selbstführung –, zu gegebener Zeit “ebenso entschlossen entgegen[zu]treten wie uns ihm zu gegebener Zeit [zu] unterwerfen”, weshalb er im Sinne seines Ansatzes der Verantwortung gerade keinen prinzipiellen Ausgang bestimmen kann. “Dass der Tod uns zur Begegnung mit ‘Gottes Angesicht’ führt und darum als ‘höchstes Fest auf dem Wege der ewigen Freiheit’ verstanden werden muss, wie es am Ende des Gedichtes ‘Stationen auf dem Wege der Freiheit’ heißt, lässt die Hoffnung auf das ewige Leben zu einer Säule der Gewissheit der guten Führung des Lebens durch Gott werden”, wie Krötke: “Gottes Hand”, 391f., es ausdrückt. Und deshalb kann Bonhoeffer: DBW 8, 30, umgekehrt ebenso glauben, “daß Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will.” Teuchert: “Gott”, 180, betont in alledem die Empathie Gottes, die “gar nicht triumphalistisch gelesen werden” könne. 282 Green: “Human Sociality”, 129: “This is the governing paradigm: freedom is freedom for.” So ähnlich auch Tietz: “Gott”, 114. 283 Krötke: “Gottes Hand”, 394. 284 Bonhoeffer: DBW 8, 542 (Brief vom 21.07.1944 an Bethge). Vgl. auch den Brief vom 18.07., in dem Bonhoeffer den Menschen dazu aufruft, “das Leiden Gottes an der gottlosen Welt mitzuleiden” (535). Vgl. auch Schulte: Ohne Gott, 382 u. Krötke: “Gottes Hand”, 383; 400. 285 Bonhoeffer: DBW 8, 333f. (Brief vom 21.02.1944 an Bethge).
346 | 4 Relationalität, Bibel und prophetischer Aktivismus: Die Spätphase Nur der Glaubende kann also qua Beziehung die Führung Gottes erleben.286 Im Kern ist echter Glaube darum für Bonhoeffer nichts anderes als “Teilnehmen an diesem Sein Jesu”287 , was sich als Gottesliebe stellvertretend in der Nächstenliebe ausdrückt bzw. gerade umkehrt, wie Krötke es formuliert: “Für-andere-da-sein heißt jetzt in entscheidender Endgültigkeit: für Gott da sein.”288 Glaube ist also “Lebensakt”,289 “das Aushalten der Wirklichkeit vor Gott”.290 Nachdem Bonhoeffer in seiner Mittelphase mit der Nachfolge nach einem Weg zur Heiligkeit des Lebens gesucht hat, muss er sich in seiner Spätphase folglich eingestehen, dass man erst in der vollen Diesseitigkeit glauben lernen kann – trotz bzw. gerade wegen der Ohnmacht Gottes: “[D]as ist μετάνοια; und so wird man ein Mensch, ein Christ (Vgl. Jerem 45!) Wie sollte man bei Erfolgen übermütig oder an Mißerfolgen irre werden, wenn man im diesseitigen Leben Gottes Leiden mitleidet?”291 Bei nichts weniger als Menschlichkeit landet Bonhoeffer somit.292
286 So Krötke: “Gottes Hand”, 399. Darum lehnt er mit Luther den deus absconditus ab, “der in seiner Allmacht alles in allem wirkt […] ‘Führen’ kann uns nur der Gott, der uns schon geführt hat, nämlich aus der Situation der Sünde in die Situation des Glaubens, in der wir die Gewissheit gewinnen, von der Sünde frei zu sein. […] Es ist eine heilsame Dunkelheit und Verborgenheit des christlichen Lebens, mit der Gott uns an seinem Kreuzeswege mit der Welt Anteil gibt” (394f.). Anders urteilt Hermannsdörfer: Beten, 278, zumindest für die Zeit 1939; vgl. auch schon Fußnote 336. Vielleicht verbirgt sich dahinter auch ein neues Israelverständnis Bonhoeffers, wodurch “die Christen und die Kirchen nunmehr zur Umkehr, zur METANOIA, an den Ort gerufen [werden], wo Christus, der Messias Israels, heute im messianischen Leiden bei seinen geringsten Brüdern ‘im weltlichen Leben’ steht”, wie Klappert: “Weg”, 120, vermutet; ähnlich auch Harvey: “The Narrow Path”, 118. 287 Bonhoeffer: DBW 8, 558 (Entwurf für eine Arbeit). 288 Krötke: “Teilnehmen”, 379. 289 Pangritz: “Geheimnis”, 240. 290 Ebeling: “Interpretation”, 72. 291 Bonhoeffer: DBW 8, 542 (21.07.1944, Tegel); μετάνοια = dt. “Umkehr”. So auch Krötke: “Teilnehmen”, 372f.: “Für Bonhoeffer dagegen ist das ‘Teilnehmen an Gottes Leiden’ das in die Welt einkehrende Verhalten das Glaubenden schlechthin. Das ‘Mitleiden mit Gott’ ist darum nicht identisch mit seelischen und körperlichen negativen Empfindungen des glaubenden Subjekts. Es ist Teilnehmen an der Kraft des Unterscheidens zwischen der Gottlosigkeit der Welt und ihrer bejahenden Weltlichkeit. […] Der Mensch, der diese Möglichkeit wahrnimmt, ist darum ‘der aus dem Transzendenten lebende Mensch’ ”. 292 So auch De Gruchy: “Dietrich Bonhoeffer”, 23f.: “It is a humanism deeply rooted in the life, death, and resurrection of Jesus Christ, a humanism that is shaped not just by education but also by a genuine encounter with ‘the other’, a humanism that is fashioned in the struggle for truth and justice against dehumanizing power, a humanism that is deepened through suffering, yet one that is always affirming human goodness against perversity, hope against despair, and life against death. All this is the meaning of Jesus Christ, for us, today, for God himself, Bonhoeffer
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Die theologia crucis, die der Ohnmachtsvorstellung zugrunde liegt (s. o.), hindert aber auch den mündigen Menschen daran, “seine Säkularität wiederum zu deifizieren oder zu dämonisieren, allerdings auch davor, sie dem hoffnungslosen Skeptizismus zu überlassen.”293 Anstatt eines sacrificium intellectus kann Bonhoeffer darum so etwas formulieren wie “Vor und mit Gott leben wir ohne Gott”294 und in Kategorien denken “etsi deus non daretur”295 (dt. “als ob es Gott nicht gäbe”). “Gottlos” ist für ihn darum nicht per se negativ, sondern womöglich Gottnäher,296 weil “das Mündigwerden zu einer wahrhaftigeren Erkenntnis unserer Lage vor Gott”297 führt. Deshalb fordert er die Kirche zur geistigen Auseinandersetzung mit der Welt auf.298 Als zweite Antwort auf die Mündigkeit der Welt und eng mit seinen Gedanken zum religionslosen Christentum verbunden, thematisiert Bonhoeffer auch eine nicht-religiöse Interpretation biblischer Begriffe, die er aus dem Alten Testament ableitet, und die implizit auch wieder einen relationalen Aspekt beleuchtet:299 Nicht um das Jenseits, sondern um diese Welt, wie sie geschaffen, erhalten, in Gesetze gefaßt, versöhnt und erneuert wird, geht es doch. Was über diese Welt hinaus ist, will im Evangelium für diese Welt da sein; ich meine das nicht in dem anthropozentrischen Sinne der liberalen, mystischen, pietistischen, ethischen Theologie, sondern in dem biblischen Sinne der Schöpfung und Incarnation, Kreuzigung und Auferstehung Jesu Christi.300
Gegen Rudolf Bultmanns Entmythologisierungsprogramm wirft Bonhoeffer ein, nicht weit genug gegangen zu sein, denn “[m]an kann nicht Gott und Wunder wrote in ‘After Ten Years’, ‘did not despise humanity, but became human for the sake of men and women.’ ” 293 Bethge: “Christologie”, 87. 294 Bonhoeffer: DBW 8, 534 (Brief vom 16.07.1944). 295 Ebd., 530 (Brief vom 16.07.1944 an Bethge). Dass Bonhoeffer das etsi wohl über Dilthey von Grotius hat, betont auch Wüstenberg: “Influences”, 150. Mehr dazu auch bei Burtress: “Als ob”, 167–183 u. Krötke: “Herausforderung”, 503. 296 Vgl. Bonhoeffer: DBW 8, 537. 297 Ebd., 533. 298 Vgl. ebd., 555. Zurecht merkt Green: “Discipleship”, 90, an, dass Bonhoeffers frühe Theologie der Sozialität bereits Weltlichkeit impliziert: “Sociality is about worldliness: God encountered in human relationships and communities – not anywhere else […]. Another way to say it: the theology of sociality requires the polemic against otherworldliness; the polemic against otherworldliness protects the theology of sociality.” 299 Bonhoeffer: DBW 8, 415. 300 Gerte: Spiritualität, 151, kann man darum zustimmen, dass “Jesus Christus als Herrn der Welt zu präsentieren [ist] für Bonhoeffer bereits nicht-religiöse Interpretation” ist; ähnlich auch schon Ebeling: “Interpretation”, 20.
348 | 4 Relationalität, Bibel und prophetischer Aktivismus: Die Spätphase voneinander trennen (wie Bultmann meint), aber man muß beide ‘nicht-religiös’ interpretieren und verkündigen können.”301 “Religiös” meint demnach – mit den Worten Bethges – “überkommene metaphysische Einkleidung des biblischen Glaubens” und damit “dogmatisierte Begrifflichkeit der Botschaft aus der Ehe des biblischen Glaubens mit griechischer Philosophie und die Verteidigung der christlichen Religion mit den Werkzeugen der idealistischen Philosophie des 19. Jahrhunderts”.302 Und so ist letztlich auch jene “Pervertierung des Messias Israels, Christus, in einen griechischen Gott und schließlich gar in einen teutonischen Polizeigott zur Überwachung rassischer Einheit”303 Religiosität. Für Bonhoeffer bedeutet das, statt individualistischem Seelenheil und Erlösung jenseitiger Ausrichtung oder eben Gott als Lückenbüßer einzelner Lebensbereiche, wie er dies bei auch anderen orientalischen Religionen studiert hat, den Fokus auf “Gerechtigkeit und das Reich Gottes auf Erden”304 zu legen, wie er dies im Alten Testament vorfindet.305 Und so betont er das “Evangelium für diese Welt”,306 weshalb er mithilfe der Inkarnation Christi erneut die Zusammengehörigkeit von Gott und Welt hervorhebt.307 Nicht-religiöse Interpretation meint darum konkrete bzw. natürlich auch christologische Interpretation, die auch das Verhältnis von Gesetz und Evangelium tangiert.308 Es könne ja gerade nicht um die Opferung der intellektuellen Redlichkeit gehen, sondern Bonhoeffer fordert vielmehr bereits thematisierte Umkehr zum Mitleiden.309 Er ist sich trotz alledem der herme301 Bonhoeffer: DBW 8, 414; vgl. auch 482. 302 Bethge: “Christologie”, 83; vgl. auch 87f. 303 Ders.: “Juden”, 204. 304 Bonhoeffer: DBW 8, 415. 305 Vgl. ebd., 499f.; s. auch Harbsmeier: “Interpretation”, 78ff.. Im Sinne oben thematisierter öffentlicher Theologie macht Green: “These”, 83, darauf aufmerksam, “daß das Alte Testament die öffentliche Geschichte des Volkes Gottes ist.” Neu ist der Gedanke Bonhoeffers aber wohl nicht, dass es Bonhoeffer nicht (zuerst) um das individualistische Seelenheil geht. Denn Tietz: “Rechtfertigung”, 86, macht darauf aufmerksam, dass Bonhoeffer schon zur Finkenwalder Zeit die Selbstrechtfertigung Gottes höher betone und verweist dabei auf Bonhoeffer: DBW 14, 327 (Homiletische Übungen, 1935). 306 Ders.: DBW 8, 415. 307 Vgl. ebd., 416; Zu Barth vgl. auch 480. 308 Ebeling: “Interpretation”, 57: “Die christliche Verkündigung predigt nicht ein anderes Gesetz, sondern sie predigt das Gesetz anders.” Vgl. auch ebd., 33; 40 u. 54f.; Bethge: “Christologie”, 76; Müller-Schwefe: “Christliche Verkündigung in einer religionslosen Welt (1956)”, 106 u. Wüstenberg: “Influences”, 152. 309 Vgl. Bonhoeffer: DBW 8, 533ff. zur intellektuellen Redlichkeit vgl. auch Ebeling: “Interpretation”, 23; 26. Aus der Kombination von Diesseitigkeit und nicht-religiöser Interpretation ist darum auch Bonhoeffers regelrechter Sprung mehr als einleuchtend, die irdische Auslegung des Hohe-
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neutischen Schwierigkeit bewusst, über die traditionellen theologischen Begriffe zu sprechen (Versöhnung, Erlösung, Wiedergeburt, Heiliger Geist, Feindesliebe, Kreuz, Auferstehung, Leben in Christus, Nachfolge).310 Im Sinne seiner Situationsethik ist “dieses bewegliche, lebendige Handeln” des Gläubigen laut Bonhoeffer anzupassen an die “jeweilige gegenwärtige Situation”.311 Damit lässt sich eine deutliche Übereinstimmung zu Heschels prophetischer Sympathie feststellen, die er in The Prophets vertieft.312 Gotteswirklichkeit und Weltwirklichkeit gehen tatsächlich miteinander einher.313 Im Gegensatz zu Heschel kann Bonhoeffer als ultima ratio und damit irrational begründet den Tyrannenmord in Betracht ziehen.314 liedes als “beste ‘christologische’ Auslegung” (460; Brief vom 02.06.1944) zu verstehen. An anderer Stelle ist es der “Segen”: Nicht-religiös interpretiert kulminiert in ihm das irdische Glück; das entnimmt Bonhoeffer insbesondere dem Alten Testament, das im Neuen Testament schließlich durch das Kreuz ergänzt und übertrumpft wird (vgl. 548; Brief vom 28.07.1944). 310 Vgl. Bonhoeffer: DBW 8, 435 (Gedanken zum Tauftag von Dietrich Wilhelm Rüdiger Bethge, Mai 1944). 311 Ebd., 334. Dass Bonhoeffer einen immer stärkeren Fokus auf den Einfluss des Kontextes für theologisch-ethische Entscheidungen legt, wird auch wenig später deutlich, wenn er von der notwendigen Kenntnis anderer Länder für den Bildungsprozess spricht (vgl. 354f., Brief an Bethge vom 09.03.1944). Und sogar die Wahrheit bedeutet laut Bonhoeffer an unterschiedlichen Orten etwas Unterschiedliches, wie er in dem Aufsatz “Was heißt die Wahrheit sagen?” im Herbst 1943 schreibt: Statt prinzipieller Wahrheit verlangt er “die wahrheitsgemäße Rede, die ich Gott schulde, in meinem konkreten Leben” (621). 312 Andersherum ist dies nicht verwunderlich, weil sich ja auch Bonhoeffers Glaubensverständnis “zu einem nicht unerheblichen Teil aus dem Alten Testament” speist, wie Gerte: Spiritualität, 146, es deutlich macht. 313 So Green: “These”, 94f. Vgl. auch Gerte: Spiritualität, 177, Huber: “Christentum”, 94 u. Krötke: “Teilnehmen”, 377. 314 So schon Bonhoeffer: Ethik, 273; vgl. auch Krötke: “Gottes Hand”, 397f. u. Reuter: “Pazifismus”, 37. Auch mit der Schrift “Nach zehn Jahren” führt Bonhoeffer diese Gedanken zur Verantwortung: Gegen das gute Gewissen und den Mann der Pflicht verweist er auf die notwendige Tat als ein Handeln aus eigenster Freiheit, die unter Umständen ein Einwilligen in Schlimmes zur Verhinderung des Schlimmeren bedeutet, womit die implizite Anspielung auf seine Teilnahme an der Konspiration naheliegt; denn stand hält allein der Verantwortliche, und zwar im Glauben und alleiniger Bindung an Gott zu gehorsamer und verantwortlicher Tat (Vgl. Bonhoeffer: DBW 8, 22). Auch gegen Beruf und den Auftrag gilt dies, was Bonhoeffer als “Zivilcourage” bezeichnet (24). Diese innere Befreiung versteht er darum als wirkliche Überwindung der Dummheit (vgl. 28). Deshalb fordert er als christliche Haltung die Weite des Herzens in verantwortlicher Tat, in Freiheit und Mitleiden, den schmalen Weg zu gehen (vgl. 34). Wenn Bonhoeffer von der Erfüllung des messianischen Ereignisses nach Jes 53 spricht (vgl. 535f.), entsteht außerdem beinahe der Eindruck, als ob er seinen konspirativen Einsatz zugunsten der leidenden Juden damit rechtfertigt; ähnlich Klappert: “Weg”, 121.
350 | 4 Relationalität, Bibel und prophetischer Aktivismus: Die Spätphase In diesem Sinne ist auch Bonhoeffers neuer christologischer Titel, “der Mensch für andere”,315 zu verstehen, der inhaltlich alles andere als neu ist. Denn im Kern drückt er Relationalität in Reinform aus, die nun aber konsequent diesseitig formuliert wird und den klassisch-kirchlichen Rahmen der Mittelphase sprengt.316 Dementsprechend kann auch die Kirche nur Kirche sein, wenn sie für andere da ist.317 Denn im Sinne seines Stellvertreter-Ansatzes ist “der jeweils gegebene erreichbare Nächste [ist] das Transzendente. Gott in Menschengestalt!”318 Aus ebendiesen Gründen der Religionskritik fühlt Bonhoeffer sich letztlich auch genötigt, gegen Barths sog. “Offenbarungspositivismus”319 zu opponieren – ein Terminus wohl aus dem Sprachgebrauch der Berliner Fakultät, mit dem Bonhoeffer auch das dortige Luthertum und seine Theologie in der Bekennenden Kirche kritisiert.320 Trotz aller Ungereimtheiten, die diesen Vorwurf betreffen, schimmert zumindest eine Facette klar durch, und zwar die der Religionskritik. Bonhoeffer weiß um Barths frühere Verdienste an der Kritik der Religion, kritisiert nun aber mit dessen Neuentwurf der Kirchlichen Dogmatik (soweit Bonhoeffer sie kennt) den Rückschritt von der Religionskritik hin zur offenbarungspositiven Religionsbetrachtung.321 Konkret bedeutet dies: “Barth und BK. führen dazu”, so formuliert Bonhoeffer im “Entwurf zu einer Arbeit”, “daß man sich immer wieder hinter den ‘Glauben der Kirche’ verschanzt und nicht ganz ehrlich fragt und kon-
315 Wie in Bonhoeffer: DBW 8, 559 (im “Entwurf für eine Arbeit”). 316 In seinem “Entwurf für eine Arbeit” aus dem Sommer 1944 So auch Krötke: “Teilnehmen”, 371: “Die ‘Hilfe Gottes’, von der Bonhoeffer redet, ist nämlich so zu verstehen, dass Gott in der Gottlosigkeit der Welt die rechte Beziehung von Gott und Mensch (Welt) durchhält und sie in diesem Durchhalten wirklich sein lässt. ‘Für andere’ sagt eine Relation aus. Gott ist ‘für andere’, indem er mitten in der Gottlosigkeit dieser Anderen das rechte Verhältnis dieser Anderen zu sich zur Geltung bringt.” Dementsprechend formuliert Bonhoeffer im Sommer 1944 (Bonhoeffer: DBW 8, 547): “Christentum entspringt aus der Begegnung mit einem konkreten Menschen: Jesus.” Zum christologisch neuen Titel mit alten Wurzeln s. Bethge: “Christologie”, 96. Vgl. schon Moltmann: Herrschaft, 13: “Nur von dem Personalismus des frühen Bonhoeffer und dem hier entwickelten Begriff der sozialen Transzendenz in der Ich-Du-Beziehung her werden m. E. seine letzten Visionen von der ‘tiefen Diesseitigkeit des Christentums’ und der ‘mündig gewordenen Welt’ verständlich. Es ist das Du Gottes, das hier im konkreten Du des sozialen Lebens begegnet.” S. auch Bethge: “Christologie”, 93 u. Schulte: Ohne Gott, 334; Kelly und Nelson: Cost, 233f., der mit Bezug zu Bonhoeffers Gefängnisbriefen von einer “childlike relationship to God” spricht, was aber wohl jedoch gerade nicht den Kern von Bonhoeffers gereiften theologischen Überlegungen trifft. 317 Vgl. Bonhoeffer: DBW 8, 560. S. auch De Gruchy: “Christus”, 136. 318 Bonhoeffer: DBW 8, 558. 319 Ebd., 404. 320 So Pangritz: Barth, 78; 87. 321 So Wüstenberg: Glauben als Leben, 122.
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statiert, was man selbst eigentlich glaubt.”322 Das bedeutet also, dass Bonhoeffers Kritik des Offenbarungspositivismus Barths entschiedenes Fragen nach der Ratio im Credo der Kirche in den Blick nimmt, wie Bonhoeffer selbst noch während seiner Frühphase an die Innenperspektive appelliert hat.323 Zudem ist für Barth Religion anthropologische Größe und fester Ort in der Rechtfertigungslehre, weil Teil der sündigen Seins.324 Bonhoeffer fokussiert aber gerade nicht mehr so stark den sündigen Menschen, sondern vielmehr den mündigen Menschen.325 Zum jetzigen Zeitpunkt will Bonhoeffer ja herausarbeiten, wie Christus auch Herr der Religionslosen “ohne die zeitbedingten Voraussetzungen der Metaphysik” wird, während er Barth trotz guter Anfänge mit besagtem Offenbarungspositivismus “letzten Endes doch im Wesentlichen Restauration” vorwirft;326 “[f]ür den religionslosen Arbeiter oder Menschen überhaupt ist hier nichts Entscheidendes gewonnen. Die zu beantwortenden Fragen wären doch: was bedeutet eine Kirche, eine Gemeinde, eine Predigt, eine Liturgie, ein christliches Leben in einer religionslosen Welt?”327 Zu jener Zeit sind es eben auch die Juden, die nicht nur durch den Nationalsozialismus physisch verworfen werden, sondern auch theologisch von Barth in seiner ”Kirchlichen Dogmatik“ (KD II/2),328 wogegen sich Bonhoeffer mit Händen und Füßen wehrt, was eher einer praedestinatio dialectica gleicht.329 Die tiefe Diesseitigkeit als Beziehung zur Welt hat Bonhoeffer, wie er selbst schreibt, bereits Jahre zuvor kennengelernt und berichtet gegenüber Bethge von seiner ersten Begegnung mit Jean Lasserre; dieser habe ein Heiliger werden wollen, während Bonhoeffer erst einmal habe anfangen wollen, glauben zu lernen.330 Aber die Diesseitigkeit schlägt sich auch ganz praktisch während der Haft nieder,
322 Bonhoeffer: DBW 8, 559f. 323 Vgl. Pangritz: Barth, 89f. 324 Vgl. Wüstenberg: Glauben als Leben, 122. 325 So auch ebd., 123. 326 Zurecht urteilt ebd., 122: “Er [Bonhoeffer; Anm. von P. M.] möchte den religionskritischen Ansatz von Barth kritisch weiterdenken, ihn nicht institutionalisieren und einen theologischen Religionsbegriff ausbilden: Wird Religion kritisiert, so ist die Konsequenz, ohne Religion von Gott zu reden. Kritisiert Offenbarungspositivismus die Theoriebildung von Religion, so meint Religionslosigkeit bei Bonhoeffer die Theorielosigkeit von Religion.” Pangritz: Barth, 92ff., zeigt, wie Bonhoeffer gerade – wohl unbewusst – Parallelen zu Barths erstem Römerbrief und dessen Phänomen der dort explizit erwähnten “Weltlichkeit” aufweist. Und auch der Taufbrief Bonhoeffers knüpft an Barths Kirchenkritik in der Situation nach dem Ersten Weltkrieg an (98f.). 327 Allesamt Bonhoeffer: DBW 8, 404f. 328 So Pangritz: Barth, 115ff. 329 Vgl. ebd., 120. 330 Vgl. Bonhoeffer: DBW 8, 541f. (Brief vom 21.07.1944).
352 | 4 Relationalität, Bibel und prophetischer Aktivismus: Die Spätphase wo er sich intensiv auch mit profaner Literatur befasst und sogar selbst Gedichte schreibt.331 Und auch die jüngst vollzogene Verlobung mit Maria von Wedemeyer drückt Diesseitigkeit aus.332 Trotz aller Tortur hofft er noch auf eine bessere Zukunft, auch wenn der Tod ihn nicht überraschen kann; und so appelliert er daran, das von Gott gegebene Leben in voller Gänze auszuschöpfen.333 Die Gefängnisjahre bewertet Bonhoeffer deshalb auch nicht als verschwendete Zeit, formuliert mehrfach keine Reue gegenüber seiner Entscheidung vom Sommer 1939, denn “[d]ie Stunde des Todes ist dem Menschen bestimmt und sie wird ihn überall finden, wo sich der Mensch auch hinwendet. Und wir müssen dafür bereit sein.”334 Dass Bonhoeffer in aller Betonung der Diesseitigkeit die Perspektive über den Tod hinaus nicht verliert, macht sein Hinweis zur Wiederbringung (vgl. Eph 1,10) als “ein großartiger und überaus tröstlicher Gedanke”335 deutlich, mit dem er der von ihm so bezeichneten mönchisch-mystischen Perspektive der Verbindung zwischen ”Ich und Christus“ zustimmt, freilich nur als neue Schöpfung durch den Heiligen Geist. Denn infolge der Zossener Aktenfunde und den Tagebüchern von Admiral Canaris liegen genügend Beweise vor, Bonhoeffer mit den anderen Konspiranten zu verurteilen und hinrichten zu lassen.336 Vier Tage später, am 09. April 1945, wird er in Flossenbürg hingerichtet.337
4.3 Heschel zwischen Aktivismus und schriftstellerischer Kreativität (1960er Jahre bis 1972) Heschels Spätphase ist – ähnlich zu der Bonhoeffers – verstärkt geprägt von prophetischem Aktivismus, worunter im Zusammenhang dieser Untersuchung politischer Aktivismus wie interreligiöser Dialog subsumiert werden sollen. Denn
331 Vgl. Bonhoeffer: DBW 8, 51; 92; 127; 165. 332 Allerdings kann man den zahlreich überlieferten Briefen zwischen Bonhoeffer und von Wedemeyer nicht immer abspüren, ob es sich tatsächlich um eine Liebesbeziehung handelt. Faktisch hält Bonhoeffer allerdings auch weder die Liebe noch Freundschaft für einen Stand (bzw. Amt oder ”Mandat“), was nicht nur biblisch begründet ist, sondern sicher auch persönliche Ursachen mit sich bringt, da er selbst eine noch gewisse Farblosigkeit in der Beziehung zu Maria bemerkt, die er auf fehlendes intensives Zusammensein zurückführt, auch wenn er sich andererseits Kinder wünscht; vgl. ebd., 75; 236; 267; 302. 333 Vgl. ebd., 36; 289. 334 Ebd., 446; vgl. 253 u. 391. 335 Ebd., 246. 336 Vgl. Marsh: Strange Glory, 380f. u. 388f. 337 Vgl. Bethge: DB, 1038.
4.3 Heschel zwischen Aktivismus und schriftstellerischer Kreativität | 353
alles, was er tut, geschieht aus seiner Spiritualität und Theologie heraus,338 angetrieben von der leidenschaftlichen Suche Gottes nach dem Menschen; in Heschels Fall geht es bei dem interreligiösen Dialog nicht mehr in erster Linie um die Reform der eigenen Religion – diese thematisiert er an anderer Stelle –, sondern wesentlich um die Akzeptanz jüdischen Denkens und der jüdischen Religion vor dem Gegenüber.
4.3.1 Heschels Entwicklung zum Propheten: The Prophets (1962/1963) und Maimonides Heschels prophetisches Engagement beginnt zwar nicht erst in dieser Spätphase. Denn nachdem er bereits 1938 im Kontext Nazideutschlands seine prophetische Mission das erste Mal vor den Frankfurter Quäkern präsentiert hat, wird er bei seiner Ankunft in New York 1940 aufs Neue aufgerüttelt, wo er die Ungerechtigkeiten der Rassenhierarchie jener Zeit hautnah miterlebt.339 Spätestens 1943 wird er zum ersten Mal ganz praktisch-prophetisch aktiv, als er zusammen mit anderen am 05. Oktober, drei Tage vor Yom Kippur, an einem Marsch nach Washington teilnimmt, um gegen die Vernichtung europäischer Juden zu protestieren.340 Der aber wohl entscheidende Schlüssel für Heschels vertieftes prophetischpraktischen Aktivismus seit den 1960er Jahren ist schließlich seine erneute Auseinandersetzung mit den biblischen Propheten.341 Spätestens im Zuge einer Konferenz über Interreligiosität im Jahre 1952 sieht er sich dazu veranlasst, über eine englische Ausgabe seiner Dissertation nachzudenken, zumal er bereits zuvor hat feststellen müssen, dass der protestantische Theologe Harold Knight sein deut-
338 So auch Kaplan: “Radicalism”, 40: ”For Heschel’s fulfillment of God’s active and constant concern for humanity was the root of religious morality.“ Ebenso Susannah Heschel in Healey u. a.: “Prophet”, 177: ”I believe it is true that my father felt very strongly that what he was doing in his social activism was religious, but it was presented to many people as secular.“ S. auch ebd., 160: ”Dr. Heschel believed that people in our time, Jew or non-Jew, might equally have so intense a relationship with God that they could hear the Divine behest to do something similar [und zwar zu wissen, was Gott von ihnen will, dass sie tun; Anm. von P. M.] today.” 339 Vgl. Kaplan: Radical, 5. 340 Vgl. ebd., 52. 341 Even-Chen: “Approach”, 160: “The choice of the prophets was of considerable importance and, as Heschel himself noted, his translation of The Prophets into English was a source of inspiration. In the United States, Heschel sought to realize the prophetic desire to repair the world, of which he had written in his youth.” Kaplan: “Mission”, 359: “[F]rom 1962 to his death in 1972 he became a prophetic activist.” Ähnlich auch Healey u. a.: “Prophet”, 158f.
354 | 4 Relationalität, Bibel und prophetischer Aktivismus: Die Spätphase sches Werk ins Englische paraphrasierend plagiiert hat.342 Nach intensiven Gesprächen und ersten Vorverträgen Anfang 1953 ist das Buchprojekt nach erster Euphorie schließlich doch zunächst wieder in der Schublade verschwunden.343 Aber Heschel lässt nicht locker und kann Anfang 1957 bei der Jewish Publication Society ein überarbeitetes Manuskript vorlegen; tatsächlich erscheint das letztendlich etwa 500 Seiten schwere Werk erst im Februar 1963 (datiert auf den August 1962) in Kooperation mit Harper & Row.344 Offiziell liegen damit 27 Jahre zwischen der deutschen und der englischen Version. Dadurch hat Heschel in den Jahren dazwischen eben nicht nur seine Methodik, Expertise und Auseinandersetzung mit den biblischen Propheten verfeinern können, die ihren Niederschlag in dieser englischen Neuauflage findet, sondern er wird auch zu prophetischem Aktivismus ermutigt, wie er später selbst bezeugen wird: For many years I lived by the conviction that my destiny is to serve in the realm of privacy, to be concerned with the ultimate issues and involved in attempting to clarify them in thought and in word. […] Three events changed my attitude. One was the countless onslaughts upon my inner life, depriving me of the ability to sustain inner stillness. The second event was the discovery that indifference to evil is worse than evil itself. […] The third event that changed my attitude was my study of the prophets of ancient Israel, a study on which I worked for several years until its publication in 1962. […] There is immense silent agony in the world, and the task of man is to be a voice for the plundered poor, to prevent the desecration of the soul and the violation of our dream of honesty. The more deeply immersed I became in the thinking of the prophets, the more powerfully it became clear to me what the lives of the prophets sought to convey: that morally speaking there is no limit to the concern one must feel for the suffering of human beings. It also became clear to me that in regard to cruelties committed in the name of a free society, some are guilty, while all are responsible.345
Beim ersten Blick in das Inhaltsverzeichnis von The Prophets fällt auf, dass Heschel seine alte Struktur leicht modifiziert hat: Statt drei Hauptteilen unterscheidet er nun lediglich zwischen zwei Halbbänden (publikationsbedingt); ansonsten folgt er im Wesentlichen der alten Linie. Im Gegensatz zum Ziel der 1935 eingereichten wissenschaftlichen Qualifikationsschrift zeichnet Heschel im Vorwort von The Prophets deutlicher sein Bild des Propheten anhand biblischer Vorlage,
342 Vgl. Kaplan: Radical, 139–141. 343 Vgl. ebd., 142. 344 Vgl. ebd., 210. 345 Heschel: Grandeur, 224 (“The Reasons for my Involvement in the Peace Movement”, 1971); vgl. dazu auch Kaplan: Radical, 299; ders.: Holiness, 100; Marmur: Heschel, 162 u. 166; Dolna: “Keeping”, 129ff. Dementsprechend Kaplan: Holiness, 120: “Settled in the United States, as before in Europe, Heschel judged all humanity to be responsible.”
4.3 Heschel zwischen Aktivismus und schriftstellerischer Kreativität | 355
der “poet, preacher, patriot, statesman, social critic, moralist”346 sei.347 Nicht nur lässt sich darin Heschels bewusste Anpassung an die amerikanische Kultur und Sprache erkennen, um von möglichst vielen Leuten verstanden zu werden, sondern auch sein eigenes prophetisches Herz ist deutlich, das auf soziale Missstände hinweist.348 Als Zugang zu den Propheten modifiziert er deshalb die phänomenologische Methode, denn im Gegensatz zur Dissertation ist er sich der Massivität des prophetischen Anspruchs bewusst, der nicht nur distanziert Informationen zurücklässt, sondern ihm selbst, als Beteiligtem, Einsicht vermittelt – “a way of seeing the phenomenon from within”.349 So nehme man an der Existenz der Propheten teil, womit Heschel faktisch seinen methodischen Ansatz durch sein situatives Denken aus God in Search of Man ergänzt, sodass “method and content are inseparable.”350 Die Analyse ist im Gegensatz zur distanzierten Phänomenologie aus “Das prophetische Bewusstsein” somit nunmehr von Betroffenheit geprägt, was am Inhalt und der Entstehung prophetischer Worte hängt, die immer in konkrete Situationen hineingesprochen worden sind, und zwar aus der Perspektive Gottes mit dem Ziel der Versöhnung zwischen Gott und Mensch.351 Die Bedeutung von “events” wird Heschel nicht nur in weiteren Schriften wie Who is Man thematisieren, sondern – wie gesehen – prägen sie ihn selbst ganz entscheidend. Der erste Teil legt den Fokus auf die biblischen Propheten: Neben Amos, Hosea, Jesaja und Jeremia behandelt Heschel nun auch Micha, Habakuk und Deuterojesaja.352 Weil er an eine breitere Öffentlichkeit schreibt, leitet er jeden Ab-
346 Heschel: Prophets, xxii. 347 In diesem Sinne kann Heschel auf einer New Yorker Konferenz (am 28.10.1964) rhetorisch fragen, ob die Sowjetunion Gefahr liefe, wenn das dortige Judentum sich mit den hebräischen Propheten auseinandersetzte; vgl. ders.: Papers, 62/4. Besondere Aufmerksamkeit auf Heschels poetischen Aspekt der Prophetie legt auch Kaplan: Holiness, 57. 348 Vgl. Marmur: Heschel, 164; 179; Healey u. a.: “Prophet”, 173; Breslauer: Spirituality, 148. 349 Heschel: Prophets, xxv. 350 Perlman: Idea, 16; s. auch 4 u. 18. ähnlich Merkle: Genesis, 33. Palmisano: Beyond, 72, verweist in diesem Zusammenhang wiederum auf die in der Frühphase bereits thematisierte Empathie als Grenzen überwindend. 351 Vgl. Heschel: Prophets, xxii–xxix; s. auch Kaplan: Radical, 210f. u. ders.: Holiness, 101. 352 Auch wenn es sicherlich nie Heschels Ziel ist, die “large differences in the theologies of the several prophets” (Levenson: “Religious Affirmation”, 43), zu verdeutlichen, sondern vielmehr ihre subjektive Wahrnehmung prophetischer Eingebung hervorzuheben, muss ebd., 41, eingestehen, dass “though its author disparages and minimizes historical-critical scholarship, The Prophets shows an enormous indebtedness to it and could not possibly have been written without it.” Die Ernstnahme von Deuterojesaja impliziert dies exemplarisch.
356 | 4 Relationalität, Bibel und prophetischer Aktivismus: Die Spätphase schnitt zum jeweiligen Propheten mit Informationen zum historisch-politischen Kontext ein, was den größeren Umfang im Gegensatz zu 1936 erklärt. Natürlich bleiben für Heschel das göttliche Pathos und die prophetische Sympathie die zentralen Aspekte. Auch wenn der Prophet “responsible for the phrasing used to convey the message and its noetic content”353 ist, initiiert die prophetische Erkenntnis Gott selbst aus Seinem Pathos als Sorge für den Menschen, auf die der Prophet mit Sympathie reagieren soll.354 Die Kombination mit dem situativen Denken resultiert bei dem Propheten wie auch bei Heschel selbst in sozialprophetischem Aktivismus (und dadurch letztlich auch Tiqqun ‘Olam), was – als Produkt von Relationalität – den Propheten zum Partner Gottes und Offenbarer Seines Willens macht und gleichzeitig die Umwelt mit einbindet.355 Doch mit dieser englischen, rezeptionsgeschichtlich bedeutsameren Veröffentlichung kommt ein regelrechter Kampf über Gottes Veränderlichkeit und “Anfälligkeit” bzw. “Fähigkeit” zu leiden in Gang. Besonders Elieser Berkovits wirft Heschel in seinem Artikel aus dem Jahre 1964 vor, dass mit der Rede vom Pathos Gottes “we form Him into the image of man”.356 Pathos dürfe geradezu nicht “divine nature”, sondern vielmehr “an ‘attitude’, an act, a relationship, a divine situation“ sein, “which is changeable as the divine essence could not be.”357 Aber “[i]t is not possible to separate the essence of God from His pathos”,358 weshalb Berkovits von Gott als Person spricht.359 Darum ist Berkovits (und mit ihm Friedman in seiner Rezension von 1964) nicht überzeugt von Heschels Argumentation, dass Gott nicht anthropomorph sei, sondern der Mensch theomorph.360 Von Ber353 Perlman: Idea, 106. 354 Vgl. Heschel: Prophets, 288; vgl. auch Perlman: Idea, 14; 84; Friedman: “Prophets”, 120; Merkle: Approaching God, 46 u. 50; Held: Heschel, 159; die Initiative betont besonders Britton: Heschel, 277; die gegenseitige Korrektur von Gott und Prophet macht Palmisano: Beyond, 18, deutlich. Berkovits: “Pathos”, 97, hält allerdings die Rede vom gemeinsamen Leiden mit Gott als Teilnahme an Gottes innerer Erfahrung für “contrary to Jewish sensitivities”. 355 Beides Heschel: Prophets, xxvi; vgl. Berkovits: “Pathos”, 68; Friedman: “Prophets”, 117; Held: Heschel, 149; Friedman: “Prophets”, 117; Breslauer: Spirituality, 36; Perlman: Idea, 68; Dolna: “Keeping”, 129; Even-Chen und Meir: Between, 122; 124; Kaplan: “Radicalism”, 44; Palmisano: Beyond, 18; 44; 50. Kavka: “Meaning”, 131, erkennt in dieser Entwicklung sogar einen Wechsel von der Phänomenologie hin zum Pragmatismus. 356 Berkovits: “Pathos”, 70. 357 Ebd., 80. 358 Ebd., 81. 359 Vgl. ebd., 91; ebenso Palmisano: Beyond, 53f. 360 Vgl. Berkovits: “Pathos”, 94 u. Friedman: “Prophets”, 118f. Dagegen Held: Heschel, 154: “[T]he language of pathos serves not to ‘project human traits into the divinity’ but rather to offer ‘genuine insight into God’s relatedness to man.’ ”
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kovits (wie später auch von Britton) wird zudem diese anthropomorphe Sichtweise auf Gott schlussendlich als Vorläufer der christlichen Inkarnationslehre angesehen.361 Doch schon Maurice Friedman pflichtet Heschel bei, dass “[w]e cannot help but remove pathos into the inner life of God, as Heschel himself does at times. The dialogue between God and man is not within God, of course and the communication of God’s mercy and anger is an essential part of that dialogue. Yet when one talks of God’s pathos and the prophet’s sympathy with it, it is difficult not to attribute feelings to God in a way very like those of man, even if indefinitely greater than his.”362 Held schlussfolgert aus Heschels relationalem Denken darum, dass “[t]he cost of real relationship, it seems, is emotional vulnerability, even for an all-powerful God.”363 Dies tangiert in letzter Konsequenz, auch in Übereinstimmung mit Bonhoeffer, nur bedingt die Allmacht Gottes. Denn schon Held, Merkle und Breslauer betonen an “Heschels” Gott als Gott der Geschichte dessen selbst gewählte Involviertheit und Relationalität in die menschliche Geschichte:364 “[F]or Heschel, any limits on God’s power are self-imposed. […] God’s sufferings in history should thus be understood as the travails of an omnipotent God.”365 Damit befindet sich Heschels Ansatz des göttlichen Pathos in nächster Nähe zu Bonhoeffers Ohnmacht Gottes aus den Tegeler Briefen. Überschneidungen zu Whiteheads Gott als dem “fellow-sufferer who understands”366 könnte weiteres Bindeglied zu Bonhoeffer sein, den Bonhoeffer bereits während seines ersten Amerika-Aufenthaltes kennengelernt hat. Darum wundert es aber auch nicht, dass sich Heschel aus seinem relationalem Denken heraus explizit gegen Barths “God the Wholly Other” positioniert und damit in dieselbe Kerbe wie Bonhoeffer schlägt.367
361 Vgl. Berkovits: “Pathos”, 98f. u. Britton: Heschel, 52. Berkovits: “Pathos”, 82, verortet die Wahrnehmung des Menschen statt des Pathos vielmehr im Mysteriösen. 362 Friedman: “Heschel”, 296. Auch Merkle: Approaching God, 44, und Held: Heschel, 148, kommen zu dem Ergebnis, dass Gott in Seinem Inneren mitleidet, während Palmisano: Beyond, 45, das göttliche Pathos als “situational and not attributive to God ‘as something objective’ ” ansieht. Spätestens mit Heavenly Torah ist auch für Held: Heschel, 169, die Grenze hin zur Emotionalität Gottes als Essenz überschritten. 363 Ebd., 145. Auch schon Friedman: “Prophets”, 119: “Heschel has shown the impossibility of separating God’s being from his doing and has pointed to ‘anthropopaphy’ as ‘a genuine insight into God’s relatedness to man, rather than a projection of human traits into divinity.’ ” 364 Vgl. Held: Heschel, 169; Merkle: Approaching God, 43ff. u. 72; Breslauer: Spirituality, 78. 365 Held: Heschel, 146. 366 Whitehead: Process, 532; vgl. auch Merkle: Approaching God, 44. 367 Vgl. Heschel: Prophets, 292f.; s. auch Sanders: “Apostle”, 62, Even-Chen und Meir: Between, 74, Held: Heschel, 151 u. Britton: Heschel, 276.
358 | 4 Relationalität, Bibel und prophetischer Aktivismus: Die Spätphase Zu Beginn des zweiten Teils systematisiert Heschel zunächst seine prophetische Theologie des Pathos und versucht anschließend, vornehmlich religionsphänomenologisch wesentliche etwaige Analogien zu entkräften, wie er dies bereits 1933/1936 getan hat. Sein Ziel bleibt nach wie vor das prophetische Bewusstsein, das er als Ergebnis von Ereignis und Erfahrung versteht – seine Perspektive der Sicht Gottes auf die Dinge bzw. die Welt und Menschen, auf die er durch Worte und sein Leben reagiert.368 Einiges hat sich damit zur Dissertation geändert: Der stärkere zeitgeschichtliche Bezug und sein situatives Denken als Relationalität zur Welt werden deutlich, wenn Heschel unter anderem gegen den Rekonstruktionismus Kaplans auf die Außergewöhnlichkeit der prophetischen Ereignisse hinweist.369 Überhaupt steht die Geschichtlichkeit der Propheten deutlicher im Fokus. So ist auch die Gerechtigkeit (engl. “justice”) als Zusammengehöriges von tatsächlicher Handlung und positiver Herzenshaltung von Heschel bewusst in den Dienst der Liebe an Gott und an den Nächsten gestellt, die nicht durch Opfer oder Gebet wettgemacht werden kann.370 Vielleicht gerade deshalb, wegen des zeitgeschichtlichen Bezugs bzw. dem damit verbundenen konkreten situativen Denken, mutiert The Prophets zum meist rezensierten und kritisierten Werk Heschels, sowohl von jüdischer als auch christlicher Seite.371 Aber natürlich ist auch Heschels Gottesbild mit Seiner Leidensfähigkeit und Ohnmacht als selbstgewählte, eingeschränkte Allmacht alles andere als unerheblich. In diesem Sinne lässt Heschel schließlich auch Maimonides und seine dramatische Lebenswende erneut Revue passieren. Besonders beobachtet er dessen Entscheidung gegen reine Wissenschaft und zugunsten der Heilung der Kranken.372 Denn genau darum geht es Heschel hier, dass in seinem Leben eine Metamorphose hin zur Praxis gewählt habe, dessen Vorbild für ihn Gott selbst sei: “Contemplation of God and service to man are combined and become one.”373 Im Gegensatz zum früheren Verständnis “he now defines man’s ultimate end as the imitation of God’s ways and actions, namely kindness, justice, righteousness.”374
368 Vgl. Heschel: Prophets, xxi f. 369 Vgl. ebd., 214f. 370 Vgl. ebd., 249f.; 256ff. 371 Vgl. Kaplan: Radical, 212; Friedman: “Prophets”, 117, urteilt: “This original core is expanded in The Prophets into a ‘theology of pathos’ which is one of the most significant original contributions to biblical thought in our times.” 372 Vgl. Heschel: Insecurity, 286 (“The Last Days of Maimonides”, 1967). 373 Ebd., 290 (“The Last Days of Maimonides”, 1967). 374 Ebd., 291 (“The Last Days of Maimonides”, 1967).
4.3 Heschel zwischen Aktivismus und schriftstellerischer Kreativität | 359
4.3.2 Hebräisches Denken und Tiefentheologie in Aktion: Interreligiöses Engagement Aber natürlich sprengen Heschels Publikationen, wie gerade stellvertretend an The Prophets gesehen, nicht (nur) zufällig die religiösen Grenzen des amerikanischen Judentums. Dahinter verbirgt sich Heschels Ambition, seine Spiritualität und den damit verbundenen prophetischen Aktivismus als Ausdrücke seines relationalen Denkens auch interreligiös zu streuen. Denn schon 1938 in Frankfurt hat er ja die Erfahrung machen müssen (und dürfen), dass seine Botschaft bei den dortigen Quäkern auf größere Offenheit gestoßen ist als anderswo. Darum sucht Heschel gezielt nach Allianzen mit Verbündeten unterschiedlicher religiöser Prägungen, basierend auf echten Freundschaften und persönlichen Begegnungen. Allerdings muss er auch (ganz im Sinne von Bonhoeffers Religionslosigkeit) eine gegenläufige ökumenische Bewegung anerkennen, die er “internihilism”375 nennt und der man lediglich mit einem “Interfaith” begegnen könne, denn “[n]o religion is an island”.376 Heschel beobachtet – neben allen soziopolitischen Themen – “the liquidation of the inner man”377 infolge einer Eliminierung Gottes: “For many people God is a forgotten myth”378 , dem Heschel natürlich nur entgegnen kann, dass “God is either of no importance or of supreme importance. God is He whose regard for me is more precious than life. Otherwise, He is not God. God is the meaning beyond the mystery.”379 Darum verstärkt er ab Mitte der 1950er Jahre auch sein interreligiöses Engagement, zunächst nur sehr unterschwellig und intellektuell, dringt in den 1960er Jahren aber schließlich durch zu internationaler Hörerschaft. Eine der wichtigsten Beziehungen zugunsten des interreligiösen Dialogs ist Heschels gewachsene Freundschaft zu Niebuhr. Bereits formal 1951 durch dessen
375 An anderer Stelle spricht Heschel auch von einer “religion of the body”; Heschel: Papers, 62/5, 5. 376 Ders.: Grandeur, 237 (“No Religion is an Island”, 1965); vgl. auch ders.: “Mission”, 2f. In einer Ansprache bei einem Dinner zu Ehren Kardinal Beas (s. u.) am 01.04.1963 betont Heschel in entsprechender Weise den gemeinsamen Auftrag von Judentum und Christentum respektive Katholischer Kirche gegenüber der Dunkelheit in der Welt, welche nur durch Ehrerbietung Gott gegenüber zu bewältigen sei; vgl. ders.: Papers, 52/9, 3. Vgl. auch Even-Chen und Meir: Between, 276, die Heschels Rede “No Religion is an Island”, besonders auch anhand seines Ansatzes zum “interfaith”, in den größeren Dialog setzen, v. a. zu Soloveitchik und und Paul Tillich. S. auch Chester: “Legacy”, 39. 377 Heschel: Insecurity, 175 (“Protestant Renewal: A Jewish View”,1963). 378 Ebd., 176 (“Protestant Renewal: A Jewish View”,1963). 379 Ders.: Grandeur, 270 (“The God of Israel and Christian Renewal”, 1968).
360 | 4 Relationalität, Bibel und prophetischer Aktivismus: Die Spätphase fabelhafte Rezension von Man is not alone initiiert, revanchiert Heschel sich mit der (zunächst hebräischen) Evaluation von Niebuhrs Denken, die schließlich unter dem Titel “Confusion of Good and Evil” 1956 erscheint. Spätestens ab 1959 existiert eine derart geistesverwandte Freundschaft, dass Heschel 1971 die Grabrede für Niebuhr halten wird.380 Nicht unwesentlich ist diese Freundschaft außerdem deshalb, weil Niebuhr bereits wichtiger Mentor Bonhoeffers gewesen ist, was Niebuhr zu einem wichtigen Bindeglied zwischen Bonhoeffer und Heschel macht. Frühe interreligiöse Ambitionen Heschels schlagen sich auch in dem Artikel “Sacred Image of Man” nieder, den er ursprünglich als Rede auf der Jahrestagung der Religious Education Association 1957 hält, wo Protestanten, Katholiken und Juden in jenem Jahr über den Zusammenhang von Erziehung und das menschliche Gottebenbild diskutieren381 Nicht nur im Christian Century erscheint der Artikel, sondern schließlich auch als Teil einer Sammlung namens “The Concept of Man”, wo Heschel über seine Anthropologie (s. u.) sogar islamische und asiatischreligiöse Leser erreicht. Besonderes Aufsehen und entscheidenden Durchbruch im interreligiösen Dialog erlangt Heschel aber erst Anfang der 1960er Jahre durch seine intensive Beteiligung am Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965), zu dessen Vertretung jüdischer Interessen er 1961 vom American Jewish Committee gebeten wird.382 Trotz widriger Umstände wirkt er schließlich ganz entscheidend an dem Dokument Nostra Aetate mit, in dessen Folge die Katholische Kirche nicht nur untersagt, Juden als Christusmörder zu bezeichnen, sondern sogar grundsätzlich Antisemitismus bekämpfen will.383 Dogmatisches Ergebnis ist außerdem, dass das Judentum als von Gott gestiftete Religion anerkannt wird.
380 vgl. Kaplan: Radical, 181. Interessant – vielleicht aber auch für diese Zeit typisch – ist dennoch die förmliche Anrede Heschel mit “Dear Professor Niebuhr” noch im Jahre 1965 im Zuge eines kurzen brieflichen Berichts über seine Arbeit am Union Theological Seminary vom 1. Oktober, während es in jeweils einem Brief Niebuhrs und Heschels lediglich der “Dr.” als Anrede ist; vgl. Heschel Papers, Box 5, Ordner 4. In der Grabrede für Niebuhr heißt es dann aber sehr persönlich “REVERED [sic!], beloved Reinhold”; vgl. Heschel: Grandeur, 302. 381 Vgl. Kaplan: Radical, 181; s. auch Heschel: Papers, 78/1, 1–8. 382 Vgl. Dolna: Gegenwart, 53; s. auch Kaplan: Radical, 236–276 u. Even-Chen und Meir: Between, 277f. Dass Heschel selbst aber nur zögerlich teilnimmt, bringt Finkelstein: “Meetings”, 20, zum Ausdruck. Im Vergleich zu Soloveitchik und dessen direkter Absage an jüdische Beteiligung am Vaticanum II vgl. Kimelman: “Relations”, 253. 383 Zum Text von Nostra Aetate s. http://www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_ council/documents/vat-ii_decl_19651028_nostra-aetate_ge.html (abgerufen am 18.01. 2022); vgl. auch Colbi und Salomon: Relations, 275. Aus den bereits erwähnten “Proposals” zwischen 1962–1964, die in Heschel: Papers, 51/1, zu finden sind, gehen die Ambitionen Heschels selbstverständlich ebenfalls hervor, ohne dass sie an dieser Stelle eigens erwähnt werden müssten.
4.3 Heschel zwischen Aktivismus und schriftstellerischer Kreativität | 361
In Reaktion auf Heschels Einladung zum Zweiten Vatikanischen Konzil (s. o.) vollzieht die protestantische Kirche Amerikas ebenfalls eine Art SelbstEvaluation:384 Unter anderem widmet die prominente Zeitschrift Christian Century im Jahre 1963 der christlich-kirchlichen Erneuerung eine eigene Ausgabe, für die Heschel gebeten wird, eine jüdische Perspektive beizusteuern, die unter dem Titel “Protestant Renewal: A Jewish View” veröffentlicht wird.385 Ähnliche Inhalte präsentiert er außerdem wenige Jahre später vor Katholiken in der Rede “The God of Israel and Christian Renewal”386 (1968). Höhepunkt von protestantischer Seite her ist für Heschel aber schließlich die “Harry Emerson Fosdick Gastprofessur” am Union Theological Seminary im Jahre 1965, die ihm nicht zuletzt durch dessen Präsidenten John Coleman Bennett vermittelt wird.387 Heschels Vortrag “No Religion is an Island”, gehalten am 10. November 1965 (in der Zeit zwischen beiden zuvor thematisierten Veröffentlichungen), ist bis heute legendär und nicht nur führendes Dokument im interreligiösen Dialog, sondern auch für diese Untersuchung bedeutsam.388 Darum gilt Heschel manchem als “first Jewish thinker to have consciously grappled with the question of the meaning of interfaith (or interreligious) dialogue and to have suggested some of the psychological, intellectual, and spiritual moves it requires. In other words, he was Judaism’s first theoretician of interreligious relations”.389 Um seine spirituell-relationalen Errungenschaften auch für den o. g. “interfaith” fruchtbar zu machen, ist für Heschel klar, dass “[t]he time has come to break through the bottom of theology into depth theology.”390 “Tiefentheologie” – erstmalig in God in Search of Man – ist somit die Methode, die er im Zuge seiner interreligiösen Ambitionen weiter ausbaut und anhand von vier Ebenen charakterisiert: Anstelle von Dogmen und Bekenntnissen, die oftmals “beyond the frame of modern discourse” liegen, und den oftmals damit verbundenen Plattitüden reli-
384 Vgl. Kaplan: Radical, 277–293. 385 Vgl. ebd., 278. 386 Vgl. auch Heschel: Papers, 86/4. 387 Vgl. Kaplan: Radical, 278f.; verwunderlich ist, dass Handy: History, 264f., Heschels Gastprofessur trotz seines großen Einflusses nur en pessant erwähnt. 388 Es soll nicht verschwiegen werden, dass Heschels Euphorie wohl seiner primär christlichen Zuhörer-/Leserschaft gilt, was man an fehlender Empathie gegenüber der Rabbinerversammlung ein Jahr später mit seinem Vortrag/Essay “From Mission to Dialogue?” (Heschel: “Mission”, 1–11) ablesen kann, der zwar wesentliche Elemente aufnimmt, aber doch “the great highlights of the essay” (Goshen-Gottstein: “No Religion”, 73) von “No Religion” weglässt. 389 Ebd., 73. Vgl. auch Even-Chen und Meir: Between, 273. 390 Heschel: Insecurity, 177 (“Protestant Renewal: A Jewish View”,1963); vgl. ders.: Grandeur, 254 (“Choose Life!”, 1966) u. Kaplan: Radical, 282.
362 | 4 Relationalität, Bibel und prophetischer Aktivismus: Die Spätphase giöser Sprache fokussiert Heschel darum auf erster Ebene “the total situation of man and his attitudes toward life and the world”.391 Nicht der bereits reflektierte Zustand ist der Startpunkt, sondern das noch Vortheologische, Vorreflektierte, um auch der “incongruity of dogma and mystery”392 vorzugreifen. Diese Ebene nennt Heschel in Anklang an Kierkegaard auch “the level of fear and trembling”393 und meint damit nichts anderes als die Beziehung zu Gott. Grundlage ist die hinlänglich thematisierte Kavanah, die innere Herzenshaltung, zumal laut Heschel jeder vor Gott rechenschaftspflichtig ist.394 Im Sinne seiner Mittelphase meint er also nichts anderes als “renewal of the sense of wonder and mystery of being alive, taking notice of the moment as a surprise”395 . Konsequent weitergedacht bedeutet dieser Gedanke jedoch auch für Heschel, dass Religion als Ebene der Reflexion nicht das Ziel ist, sondern nur ein Weg zur Beziehung mit Gott, wie er dies schon ausführlich in Man is not Alone und God in Search of Man dargelegt hat.396 Dadurch kann er Differenzen in der Lehre zwischen Juden und Christen weitestgehend neutralisieren, da er die Erfahrungen, aus denen Theologie entsteht, im Bereich des Unsagbaren verortet.397 Aber nicht nur das Christentum hebt Heschel auf die Ebene des Werkzeugs Gottes, um die Menschen der Welt zu erlösen, sondern sogar den Islam.398 Denn nach rabbinischer Lehre hätten Fromme aus allen Völkern Anteil am Leben in der kommenden Welt (tSanh 13,2), und eine Konversion zum Judentum ist nach Heschel nicht notwendig, um heilig zu werden.399 Umgekehrt verbittet er sich des391 Beides Heschel: Insecurity, 176 (“Protestant Renewal: A Jewish View”,1963); vgl. ders.: Grandeur, 295ff. (“What We Might Do Together”, 1967); ebd., 390 (“Interview at Notre Dame”, 1967). S. auch Even-Chen und Meir: Between, 280. 392 Heschel: Insecurity, 119 (“Depth Theology”, 1960). 393 Ders.: Grandeur, 239 (“No Religion is an Island”, 1965). So auch ders.: “Mission”, 5. 394 Vgl. ders.: Grandeur, 240 (“No Religion is an Island”, 1965); so auch Kaplan: Radical, 292. Zum Verlust der Kavanah und Heschels Lob von Luthers Errungenschaft der persönlichen Gotteserkenntnis im Zuge der Reformation vgl. Heschel: Insecurity, 175 (“Protestant Renewal: A Jewish View”,1963) u. ders.: Grandeur, 293ff. (“What We Might Do Together”, 1967). 395 Ebd., 275 (“The God of Israel and Christian Renewal”, 1968). 396 Vgl. auch Even-Chen und Meir: Between, 268. 397 Vgl. auch Heschel: “Mission”, 6. In diesem Sinne Goshen-Gottstein: “No Religion”, 96: “All religious truth is translation, accomodation. Because we cannot reach ultimate truth, every religion’s approach is partial and hence never possesses the fullness of truth.” Vgl. auch Even-Chen und Meir: Between, 268. Merkle: Approaching God, 75, rückt Heschel in dieser Hinsicht darum näher in Richtung Barth. S. auch Meir: Dialogical Thought, 95f. u. ders.: Interreligious Theology, 41. 398 Vgl. Heschel: Grandeur, 242f.; 249 (“No Religion is an Island”, 1965). 399 Vgl. ebd., 247 (“No Religion is an Island”, 1965). S. auch Trepp: Die Juden, 274.
4.3 Heschel zwischen Aktivismus und schriftstellerischer Kreativität | 363
halb – auch aufgrund von Nächstenliebe und Akzeptanz des anderen – jede Form von Judenmission, die Identitätsverlust und geistlichem Tod gleich kämen,400 zumal er dem Judentum eine Form von Zeugenschaft zuspricht.401 So erstaunt Heschels Sichtweise nicht, Christen würden ebenfalls an den Gott Abrahams glauben, ohne dass er Probleme hinsichtlich der christlichen Trinitätslehre äußert – anders als Moses Mendelssohn vor ihm.402 Juden und Christen versteht Heschel darum als Brüder.403 Auf der ersten Ebene seiner Tiefentheologie ist Heschels Erneuerung damit letztlich ein religiöser Pluralismus (sog. “interfaith”) als Wille Gottes dieses Zeitalters. Dieser ist geprägt von gegenseitiger Erbauung und Unterstützung der verschiedenen Religionen, auch auf akademischer Ebene.404 Gleichzeitig postuliert Heschel, anknüpfend an die Mittelphase, sog. “hebräisches Denken” bzw. die jüdische Verwurzelung, von der sich das Christentum im Laufe seiner Entwicklungsgeschichte schnell abgewandt habe.405 Superpositions- und Substitutionsansätze der christlichen Theologie wurzeln Heschel zufolge in der Abwendung von diesem hebräischen Denken.406 Als Resultat dar-
400 Vgl. Heschel: Grandeur, 243 (“No Religion is an Island”, 1965) u. ders.: “Mission”, 9. Vgl. auch ders.: Papers, 51/1, 5, eine Mitschrift Kardinal Beas über den Dialog mit jüdischen Vertretern (“Conversations with Jewish Scholars and Theologians” vom 31.03.1963), wobei handschriftlich der Punkt der Nächstenliebe klar auf Heschel zurückzuführen ist. 401 Vgl. auch Even-Chen und Meir: Between, 271. 402 Vgl. Mendelssohn: “Brief”, 52. 403 Vgl. Heschel: Grandeur, 240f. (“No Religion is an Island”, 1965). 404 Ebd., 272 (“The God of Israel and Christian Renewal”, 1968): “I believe that one of the achievements of this age will be the realization that in our age religious pluralism is the will of God”; vgl. auch ebd., 254 (“Choose Life!”, 1966); ebd., 287 (“What Ecumenism is”, 1967); ebd., 249f. (“No Religion is an Island”, 1965); s. auch ebd., 300 (“What We Might Do Together”, 1967) u. ebd., 405 (“Carl Stern’s Interview with Dr. Heschel”, 1972). Heschels pluralistischen Ansatz sehen auch: Kaplan: “Seeking”, 193; Kimelman: “Relations”, 259ff.; Even-Chen und Meir: Between, 267; Chester: “Legacy”, 40 u. Goshen-Gottstein: “No Religion”, 86. Als Grund für Heschels (fehlerhaften) Pluralismus nennt Eisen: “Heschel”, 8, “Heschel’s limited view of providence”. Goshen-Gottstein: “No Religion”, 101, macht schließlich auch aufmerksam darauf, dass “Heschel’s discussion completely ignores the issue of Avoda Zara. In other words, he sidesteps the hottest and most problematic issue from the perspective of a Jewish consideration of other religions.” Da diese innerjüdische Debatte jedoch für diese Untersuchung von untergeordneter Bedeutung ist, musste sie außen vor gelassen werden. 405 So zeigt Heschel: Insecurity, 168f. (“Protestant Renewal: A Jewish View”,1963)., zunächst explizit auf, wie sich das junge (Heiden-) Christentum dem Geist der hellenistisch-römischen Welt angepasst habe, was nicht nur die eigene Lehre maßgeblich beeinflusst habe, sondern auch das Verhältnis zum Judentum. Ähnlich auch ders.: Keine Religion, 331. 406 Demgegenüber lobt Heschel in seiner Rede zu Niebuhrs Beerdigung dessen kontinuierliches Bestreben, “the Hebraic prophetic content of the Christian tradition” (ders.: Grandeur, 301
364 | 4 Relationalität, Bibel und prophetischer Aktivismus: Die Spätphase aus sei das Christentum selbst zur Religion der Gnade idealisiert worden, das Judentum jedoch als Religion des Gesetzes stigmatisiert (besonders bei Marcion); und auch die Hebräische Bibel werde lediglich als Vorbereitung verstanden auf die Erfüllung im Evangelium.407 Weil Heschel dieses hebräische Denken zu allererst in der Hebräischen Bibel vorfindet, ruft er als zweite Erneuerung Juden und Christen zur gemeinsamen Offenheit gegenüber Gottes Gegenwart in der Hebräischen Bibel auf, die er als “holiness in words”408 bezeichnet. In ihr werde ein Pathos sichtbar, “a divine reality concerned with the destiny of man”.409 Besonders in dem in der Aufklärung aufgekommenen Kritizismus der westlich geprägten Moderne entdeckt Heschel eine Entheiligung der Hebräischen Bibel, durch historische und religionsgeschichtliche Erkenntnisse zum Objekt gemacht, in die man seine Theorien hineinträgt, anstatt sie als liebendes Gegenüber wahrzunehmen,410 wie er dies mit seinem phänomenologisch-situativen Ansatz der Tiefentheologie entfaltet. Doch als “brand plucked from the fire in which my people was burned to death”411 ist für Heschel das Schicksal seines jüdischen Volkes an das Schicksal der Hebräischen Bibel geknüpft, die aufgrund des Kritizismus nach und nach aus dem Bewusstsein der westlichen Welt verdrängt wird.412 Aber auch die Existenz des Christentums verbindet Heschel mit der Bibel. So logisch diese zweite Ebene auch auf den ersten Blick klingt, so inkonsequent kann sie interpretiert werden und macht nur aus Sicht des relationalen Denkens Sinn. Heschel kombiniert nämlich an dieser Stelle die erste Ebene seiner Tiefentheologie, die Kavanah, mit der zweiten Ebene von Dogmen und Bekenntnissen. Zwar fungieren Dogmen als “telescopic relation to the theme to which they refer”413 und sind somit Heschels relationalem Ansatz unterstellt, alles aus der Be(“Reinhold Niebuhr”, 1971)) wiederentdeckt zu haben, und darin dessen grundsätzliche Inspiration durch den Geist der Hebräischen Bibel. 407 Vgl. Heschel: Insecurity, 169 (“Protestant Renewal: A Jewish View”,1963); vgl. dazu auch Even-Chen und Meir: Between, 279. 408 Heschel: Insecurity, 171f. (“Protestant Renewal: A Jewish View”,1963) u. ders.: Grandeur, 269; 271f.; 275 (“The God of Israel and Christian Renewal”, 1968). 409 Ebd., 236 (“No Religion is an Island”, 1965). 410 Vgl. ders.: Insecurity, 171 (“Protestant Renewal: A Jewish View”,1963). In diesem Zusammenhang findet sich auch Heschels wohl einzige explizite Nennung Bonhoeffers und dessen prominenter Begrifflichkeit der “mündig gewordenen Welt” aus Tegel, auch wenn Heschel diesen gesamten Komplex offensichtlich nicht kennt, was aus seinem Missverständnis der kurzen Phrase hervorgeht; vgl. ders.: Grandeur, 276 (“The God of Israel and Christian Renewal”, 1968). 411 Ebd., 235 (“No Religion is an Island”, 1965). 412 Vgl. ebd., 236 (“No Religion is an Island”, 1965). 413 Ders.: Insecurity, 177 (“Protestant Renewal: A Jewish View”,1963).
4.3 Heschel zwischen Aktivismus und schriftstellerischer Kreativität | 365
ziehung zu Gott zu erkennen. So bindet er Theologie letztlich an das Gebet,414 um im Sinne des “act of empathy” die “rare, fugitive moments”415 des Göttlichen zu überbrücken und als Form die Kommunikation untereinander zu ermöglichen.416 Doch letztlich besitzt die Hebräische Bibel trotz aller Offenheit Heschels eine besondere Bedeutung und fungiert mit ihrem “Moment at Sinai”, wie schon in der Mittelphase gesehen, als Dass bzw. Sein der Offenbarung (entsprechend des bonhoefferschen actus reflexus der Frühphase).417 Und auch theologisch beansprucht Heschel aus seiner monotheistischen Prägung die Gewissheit des einen “God of all men”,418 mit dem Israel ebenjenen Bund geschlossen hat.419 Von dieser Perspektive her ist Harold Kasimows Urteil zuzustimmen, dass Heschel vielmehr als “Inklusivist” angesehen werden müsse.420 Dazu passt auch Heschels Forderung gegenüber dem Christentum, im Sinne Rosenzweigs das Neue Testament als fortgeführte Offenbarung des Judentums zu verstehen.421 Jesus selbst habe, so Heschel, auf der Torah und den Propheten gefußt; Gott habe in ihr ausgedrückt, was Er von mir verlange.422 Auch die dritte Ebene der Tiefentheologie untermauert Heschels inklusivistische Haltung und expliziert sein hebräisches Denken und den Stellenwert der Hebräischen Bibel. In gewisser Spannung wiederum zur ersten Ebene kritisiert Heschel die Spiritualisierung des Glaubens und betont statt dessen den Vorrang
414 Heschel: Grandeur, 258 (“On Prayer”, 1970): “Metaphorically, I suggest that authentic theology is a palimpsest: scholarly disciplined thinking grafted upon prayer.” 415 Ders.: Insecurity, 176 (“Protestant Renewal: A Jewish View”,1963). 416 Ebd., 176f. (“Protestant Renewal: A Jewish View”,1963); ebd., 120ff. (“Depth Theology”, 1960). Aus diesem Grunde notwendiger Kommunikation und Separation verwirft Eisen: “Heschel”, 9f., Heschels Ansatz. 417 So auch Even-Chen und Meir: Between, 270. 418 Heschel: Grandeur, 271 (“The God of Israel and Christian Renewal”, 1968); vgl. dazu auch Meir: Dialogical Thought, 85. 419 Vgl. auch Heschel: Grandeur, 241 (“No Religion is an Island”, 1965); die Problematik all dessen betont Goshen-Gottstein: “No Religion”, 102ff. 420 Vgl. Kasimow: “Diversity”, 23: “Heschel’s elevation of the Hebrew Bible seems to suggest that he has an inclusivist rather than pluralist perspective.” Vgl. auch Even-Chen und Meir: Between, 280 u. Meir: Interreligious Theology, 43. S. auch Heschels Appell Israel gegenüber, “mindful of the mystery of its uniqueness” (Heschel: “Mission”, 3) zu sein. 421 Zur Verortung Heschels in der Nähe Rosenzweigs vgl. Even-Chen und Meir: Between, 269. 422 Vgl. Heschel: Grandeur, 273f. (“The God of Israel and Christian Renewal”, 1968). Auch im protestantischen “sola scriptura” findet Heschel diesen Ansatz, der ihm zufolge jedoch praktisch oftmals nicht umgesetzt worden ist; vgl. ders.: Insecurity, 170f. (“Protestant Renewal: A Jewish View”,1963); ders.: Grandeur, 298 (“What We Might Do Together”, 1967); ebd., 255 (“Choose Life!”, 1966).
366 | 4 Relationalität, Bibel und prophetischer Aktivismus: Die Spätphase des Gebotes und der Torah,423 indem er die von Christen oft zitierte alttestamentliche Bibelstelle Jer 31,31–33 als missverstanden erklärt, wenn man meine, der dort angesprochene Neue Bund verdränge den Alten; vielmehr deutet Heschel diesen Vers als innere Identifikation mit der Torah.424 Deshalb wird auch Niebuhrs Leben – mit Anspielung auf Man is not alone – von Heschel sehr ehrenhaft als “a song in the form of deeds”425 bezeichnet. Genau darin mündet die “major divergence from the Hebrew way of thinking”426 , dass scharf zwischen Torah – als Geboten für die Lebenspraxis – und Gnade getrennt werde.427 Denn die eigene Frömmigkeit und das eigene Heil würden auf Kosten von Vernachlässigung politischsozialer Dimensionen in den Vordergrund gerückt, was Heschel dem Gros der religiösen Verantwortungsträger ankreidet. Als Fokus der Hebräischen Bibel markiert Heschel die diesseitige Einheit von Profanem und Religiösem,428 was aber gerade die Entdeckung Bonhoeffers während der Tegeler Haft darstellt. Dahinter verbirgt sich Heschels Kritik an der metaphysischen Orientierung des Christentums, weshalb er zugunsten einer ausgewogenen Einheit von Immanenz bzw. Geschichte und Transzendenz bzw. Mysterium argumentiert.429 Um dasselbe geht es ihm zufolge in der Hebräischen Bibel, wobei er sich gleichzeitig darüber wundern muss, dass die christliche ParusieErwartung der gegenwärtigen Zeit quasi nonexistent sei,430 was aber – ohne, dass er dies erwähnt – mit der von ihm festgestellten fehlenden Innerlichkeit des modernen Menschen zu tun haben dürfte. Darum warnt Heschel auch vor völligem Vertrauen in diese Welt und erinnert vielmehr an die “‘world of shells’ ”.431 Deshalb kann sich seiner Ansicht nach der Jude in dieser Welt gar nicht wohl fühlen, 423 Anders Goshen-Gottstein: “No Religion”, 102: “Heschel almost consciously rejects the relevance of Halakha to his enterprise”. Im Übrigens ist sich Heschel der Möglichkeit bewusst, stolz über bestimmte Taten zu werden, und warnt darum ganz im Sinne von Bonhoeffers einfältigem Gehorsam vor einer Bewertung der eigenen Tat (Heschel: Insecurity, 139 (“Confusion of Good and Evil”, 1956)): “We shall not know with what we are to worship the Lord until we arrive there (Exodus 10:26).” Trotzdem misst er der Ausführung höheren Wert bei (vgl. 141). 424 Vgl. ebd., 173f. (“Protestant Renewal: A Jewish View”,1963); s. auch ders.: Grandeur, 386 (“Interview at Notre Dame”, 1967). 425 Ebd., 302 (“Reinhold Niebuhr”, 1971). 426 Ders.: Insecurity, 174 (“Protestant Renewal: A Jewish View”,1963). 427 Vor Heschel machen z. B. Moses Mendelssohn (1770) oder auch Leo Baeck (1925) auf den Punkt aufmerksam; vgl. Mendelssohn: “Brief”, 53 u. Baeck: “Judentum”, 113ff. 428 Vgl. Heschel: Grandeur, 277 (“The God of Israel and Christian Renewal”, 1968); ebd., 400 (“Carl Stern’s Interview with Dr. Heschel”, 1972). 429 Vgl. ders.: Insecurity, 173 (“Protestant Renewal: A Jewish View”,1963). 430 Vgl. ders.: Grandeur, 279 (“The God of Israel and Christian Renewal”, 1968). 431 Ders.: Insecurity, 133 (“Confusion of Good and Evil”, 1956).
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wobei das Leben in dieser Welt für ihn – nämlich zur Erlösung des Bösen – große Bedeutung hat und dem “eve of the Sabbath”432 gleicht, zur Vorbereitung auf die kommende Welt. Auch setzt Heschel mit seinem Fokus auf die Mitsvot die allen monotheistischen Religionen zugrunde liegende Gottebenbildlichkeit des Menschen voraus. Paradoxerweise ist der Mensch laut Heschel zwar einziges Symbol Gottes in der Welt und erhält von Ihm seinen Wert, im Gegensatz zu vornehmlich polytheistischen Religionen aber dennoch nicht substantiell mit Gott identifiziert, wie schon in der Mittelphase gesehen.433 Er löst diese Spannung schließlich durch die menschliche Partnerschaft zu Gott durch “analogy of doing”,434 weil Gott und Mensch sich gegenseitig brauchen und um einander sorgen, sodass der Mensch in der Bibel nie isoliert, sondern immer in Relation zu seinem Schöpfer gesehen wird.435 In Anknüpfung an das Priestertum aller Gläubigen fordert Heschel darum als dritte Neuerung (von den Protestanten) eine “prophethood of all believers”436 bzw. erwartet (von den Katholiken) “agents through whom His will is made known and His work done throughout history”437 , wohinter seine pathetische Theologie aus The Prophets steht. Wohl unwissend, argumentiert Heschel deshalb nicht nur sachlich, sondern auch in nahezu identischem Vokabular zu Bonhoeffer: “Do not sell salvation too cheaply”.438 Besondere Betonung legt er deshalb später auf die Forderung an den Menschen, mächtige Taten zu vollbringen – also Mitsvot –, um die Welt zu erlösen bzw. für Erlösung vorzubereiten, was er in Kontrast zu Emil Brunners Ansichten über die neutestamentliche Ethik zum Besten gibt.439 Obwohl Heschel um die Anfälligkeit des Menschen für Sünde weiß, widerspricht er (erneut) entschieden der christlichen Erbsündelehre. Statt einer
432 Heschel: Insecurity, 134 (“Confusion of Good and Evil”, 1956). 433 Vgl. ebd., 150ff. (“Sacred Image of Man”, 1957) u. Britton: Heschel, 165. 434 Heschel: Insecurity, 161 (“Sacred Image of Man”, 1957). 435 Vgl. ebd., 159ff. (“Sacred Image of Man”, 1957); s. auch Kaplan: Holiness, 117. 436 Heschel: Insecurity, 174 (“Protestant Renewal: A Jewish View”,1963); vgl. dazu auch ders.: Papers, 51/1. 437 Ebd., 51/1, “On Improving Catholic-Jewish Relations”, vom 22.05.1962, 1. 438 Ders.: Insecurity, 175 (“Protestant Renewal: A Jewish View”,1963); Susannah, Heschels Tochter, versicherte mir in ihrer E-Mail (vom 27.03.2015), Heschel habe keinen wirklichen Kontakt zu Bonhoeffers Literatur, konkret der Nachfolge, gehabt, die es ab 1948 als The Cost of Discipleship als verkürzte Version gibt; vgl. Bonhoeffer: Nachfolge, 13. 439 Vgl. Heschel: Grandeur, 278f. (“The God of Israel and Christian Renewal”, 1968); allgegenwärtiger Kritikpunkt ist außerdem der Individualismus, dem entgegen Heschel “not personal salvation but the prevention of mankind’s surrender to the demonic” (278) vorhält.
368 | 4 Relationalität, Bibel und prophetischer Aktivismus: Die Spätphase biologischen Erbsünde als “an inevitable fact of human existence”,440 wie Niebuhr es argumentiert, deutet Heschel die Sündhaftigkeit des Menschen vielmehr historisch-existentiell, was das Prophetische besonders wichtig erscheinen lässt und zur Umkehr ermutigen soll.441 Aufgrund der “confusion of good and evil”442 argumentiert Heschel zugunsten des Tiqqun ‘Olam mit seinen bereits vielfach thematisierten Implikationen.443 Darum kennt er auch gute Momente in der Geschichte trotz der Korruption des Menschen, was er mit dem Faktum vom Sinai belegt, wo das jüdische Volk mit guten Taten beauftragt wird, sodass diese trotz der sündhaften Anfälligkeit des Menschen möglich sein müssen. Sogar ewigen Wert im Blick auf die kommende Welt haben Heschel zufolge diese Taten, die dem Menschen zugemutet werden, sofern er sie nicht allein aus eigener Kraft beansprucht.444 4.3.3 Prophetisch-sozialer Aktivismus (1963–1972) Heschels relationales Denken und die damit verbundenen spirituellen Errungenschaften schlagen sich in seiner Spätphase allerdings nicht nur im interreligiösen Dialog nieder, sondern auch im prophetisch-sozialen Aktivismus. Zwar ist Heschel schon zu Beginn seiner Amerikazeit mit der Rassenproblematik konfrontiert, freundet sich 1940 in Cincinnati mit dem Afroamerikaner Larry D. Harris an, der als “headwaiter of the dining hall”445 am Hebrew Union College arbeitet. Doch “it was only in the last decade of his life that Heschel emerged as a recognized ethical leader of national and international prominence.”446 Hintergrund ist die (erneute) Beschäftigung mit den Propheten mittels seines situativen Denkens, das er erstmalig in God in Search of Man formuliert hat. Darum kann er nicht an seinem Schreibtisch verweilen, sondern muss auch auf Grundlage seiner theologischen Prägung prophetisch-sozial aktiv werden.447 Zeitgleich, seit dem Jahr 1963, begründet Heschel in zahlreichen Schriften ebendieses 440 Heschel: Insecurity, 142 (“Confusion of Good and Evil”, 1956). 441 Vgl. ebd., 128–131 (“Confusion of Good and Evil”, 1956); s. auch ebd., 165f. (“Sacred Image of Man”, 1957); Britton: Heschel, 214f. u. Kaplan: Radical, 180. 442 Heschel: Insecurity, 134 (“Confusion of Good and Evil”, 1956). 443 S. auch Marmur: Heschel, 51. 444 Vgl. Heschel: Insecurity, 143ff. (“Confusion of Good and Evil”, 1956). 445 Kaplan: “America”, 135. 446 Merkle: “Witness”, 11. 447 So reflektiert Heschel kurz vor seinem Tod in einem Interview mit Carl Stern (Heschel: Grandeur, 399 (“Carl Stern’s Interview with Dr. Heschel”, 1972)): “Because early in my life, my great
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praktische Engagement mit dem Schlachtruf: “[S]ome are guilty, but all are responsible”.448 Die argumentativen Überschneidungen zu seinen interreligiösen Bestreben liegen dabei auf der Hand, sind aber mittels seiner Relationalität zur Welt als situativem Denken stets an die konkreten Probleme seines Kontextes gebunden. Programmatisch und für seinen Eintritt in die Bürgerrechtsbewegung bezeichnend ist Heschels Vortrag “The Religious Basis of Equality and Opportunity”, in dem er als Hauptredner der “National Conference on Religion and Race” in geradezu befreiungstheologischer Manier die Begebenheit zwischen Mose und dem Pharao auslegt, die in Moses (Gott stellvertretend) Aufforderung zu “let my people go” mündet.449 Der Exodus ist für ihn noch nicht vollendet, denn Religion versteht als Einheit der gesamten Menschheit vor Gott statt “an afterlifeinsurance policy”450 – was sich gegen die anwesenden (konservativen) Christen richten dürfte. Rassismus setzt er mit Satanismus gleich und argumentiert, dass doch sämtliche Menschen von einem einzigen Menschen abstammen würden, weshalb Gebet und Vorurteil gleichzeitig nicht zu realisieren seien, weil sie einer Entehrung Gottes gleich kämen.451 Aber schon öffentliche Demütigung empfindet Heschel als Form der Unterdrückung, die ihm zufolge im Hebräischen einem Mord gleichkommt, sodass man vor der Bitte um Vergebung vor Gott zunächst einmal das irdische Gegenüber um Verzeihung bitten soll.452 Praktizierte Nächstenliebe und Tun des Gerechten, natürlich auch den Schwarzen gegenüber, sind deshalb Heschels probate Mittel.453 Und natürlich ist es letztendlich auch die menschliche Gottebenbildlichkeit als Symbol Gottes, die Heschel zufolge Diskrimierung verbietet. So propagiert er Gleichheit, die er relational versteht und als religiöses Gebot ihm zufolge in “personal involvement”454 münden muss, gepaart mit Buße
love was for learning, studying. And the place where I preferred to live was my study and books and writing and thinking. I’ve learned from the prophets that I have to be involved in the affairs of man, in the affairs of suffering man.” 448 Vgl. Heschel: Insecurity, 93 (“Religion and Race”, 1963); s. auch Marmur: Heschel, 164 u. besonders Merkle: “Witness”, 11, der auch Heschels Eintritt in den prophetisch-sozialen Aktivismus auf das Jahr 1963 datiert. 449 Vgl. Heschel: Insecurity, 85 (“Religion and Race”, 1963); s. zum Gesamtkontext auch Kaplan: Radical, 215ff. S. auch Heschel: Papers, 47/1. 450 Ders.: Insecurity, 86 (“Religion and Race”, 1963). 451 Vgl. ebd., 87 (“Religion and Race”, 1963). 452 Vgl. ebd., 89 (“Religion and Race”, 1963). 453 Vgl. ebd., 90ff. (“Religion and Race”, 1963). 454 Ebd., 94 (“Religion and Race”, 1963).
370 | 4 Relationalität, Bibel und prophetischer Aktivismus: Die Spätphase aufseiten der Weißen.455 Weil Heschel die Welt wie auch die Gesellschaft für erlösungsfähig ansieht, kann er schließlich “the Negro problem” als “God’s gift to America, the test of our integrity, a magnificent spiritual opportunity”456 bezeichnen, wodurch der Mensch zum Partner Gottes werden und ein Stück Wirklichkeit realisieren soll. Auch der prominente Baptistenprediger Martin Luther King Jr. (1929–1968) ist an diesem Abend anwesend und hört Heschels Vortrag, wodurch sich sowohl ein Kampf für eine gemeinsame Sache als auch letztlich eine Freundschaft ergibt. Denn beide verbindet der “prophetic war against indifference and for liberation”,457 ein Drang nach Gerechtigkeit (befreiungstheologischer Färbung), der klar spirituell motiviert und damit in bestem Sinne von Heschels tiefentheologischen Gedanken durchdrungen ist.458 Und auch King greift zu den biblischen Propheten, um gegen die Rassenpolitik vorzugehen.459 Weiteres Resultat dieser Konferenz ist, dass Heschel zusammen mit 400 weiteren Geistlichen christlicher und jüdischer Konfession zum amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy eingeladen wird, den Heschel zu einem Marshall-Plan zur Hilfe der afroamerikanischen Bevölkerung aufruft;460 aus ihr resultieren zahlreiche weitere solcher Konferenzen im ganzen Lande, die Heschel (diesmal in New York) dazu nutzt, um anhand verschärfter Rhetorik “nothing less than a ‘spiritual revolution’ ”461 zu initiieren. Unter dem Titel “The White Man on Trial”462 spitzt er diesmal anhand des biblischen Murrens durch das Volk Israel die Situation der Afroamerikaner zu, die im Gegensatz zu wirtschaftlich-kulturellem Wohlstand zunächst einmal nach den existentiellen Grundlagen zum Leben fragen, namentlich Essen und Trinken.463
455 Vgl. Heschel: Insecurity, 95 (“Religion and Race”, 1963). 456 Ebd., 97 (“Religion and Race”, 1963). 457 Even-Chen und Meir: Between, 256; so auch Heschel: “Theological Affinities”, 138. 458 Ebd., 126–131 zeigt, wie ähnlich sich Heschel und King in den wesentlichen Aspekten sind: Erstens ein Fokus auf die Hebräische Bibel (besonders die Exodus-Erzählung und die biblischen Propheten), zweitens die göttliche Sorge für den Menschen und die Welt, drittens die Gesellschaft als Fürsprecher Gottes (King) bzw. die prophetische Sympathie (Heschel) und ferner auch eine Betonung des Jüdischseins Jesu. Vgl. auch Kaplan: “Radicalism”, 47, der auf das geteilte Leid zwischen Gott und Mensch hinweist; auch ders.: Holiness, 110; 113 u. ders.: Radical, 217f. 459 So Heschel: Ecstasy, 205. 460 Vgl. Kaplan: Radical, 218f. 461 Ebd., 219. 462 Vgl. Heschel: Insecurity, 101–111 (“The White Man on Trial”, 1964). 463 Vgl. ebd., 101f. (“The White Man on Trial”, 1964).
4.3 Heschel zwischen Aktivismus und schriftstellerischer Kreativität | 371
Deshalb pocht Heschel auf die “theology of the common deed” 464 als Herzstück des Judentums, da Gott mit dem trivialen Alltag des Menschen beschäftigt ist. Unter den zahlreichen Ähnlichkeiten zur vorherigen Rede ist auch Heschels Lob gegenüber der afroamerikanischen Spiritualität.465 Als Resultat träumt er von einem “social movement”,466 das aus Sorgfalt für die menschliche Situation agiert und die Schwarzenproblematik ernst nimmt, weil sie ein Spiegelbild der amerikanischen Gesellschaft ist.467 Aber nicht nur auf Konferenzen und in Artikeln ist Heschel präsent, sondern auch durch seine Teilnahme an zahlreichen Märschen der Bürgerrechtsbewegung, von denen der nach Selma/AL an der Seite von Martin Luther King Jr. wohl der Prominenteste ist.468 King wird es schließlich auch sein, der Heschel die wohl größte Ehrung im Zusammenhang seines prophetischen Aktivismus verleiht, wenn er ihn 1968 zugunsten von Heschels sechzigstem Geburtstag auf der jährlichen “Rabbinical Assembly” als “a truly great prophet”469 bezeichnen wird.470 In dieser Zeit spitzt sich auch Heschels Engagement für die in der Sowjetunion unterdrückte jüdische Bevölkerung zu,471 was in diversen Artikeln und Reden literarischen Niederschlag findet. In “The Plight of the Russian Jews” entgegnet er, dass “whoever forgets one segment of the Torah commits a great sin. How much more is a person guilty if he remains careless to the agony of one human being!”472 Das Judentum mit seiner betonten Heiligkeit des Lebens wird Heschel zufolge deshalb gerade in jenem dunkelsten aller Jahrhunderte besonders gebraucht.473 Deshalb fordert er an anderer Stelle die Rabbiner auf, die großen Zusammenhänge zu erkennen, dass ganz Israel mitleidet.474 Heschel prognostiziert in geradezu prophetischer Art, dass innerhalb weniger Jahre keine Juden mehr in Russland exis-
464 Heschel: Insecurity, 102 (“The White Man on Trial”, 1964). 465 Vgl. ebd., 105 (“The White Man on Trial”, 1964). 466 Ebd., 109 (“The White Man on Trial”, 1964). 467 Vgl. ebd., 109ff. (“The White Man on Trial”, 1964). 468 Vgl. Kaplan: Radical, 220ff. u. Merkle: “Witness”, 11. 469 Kaplan: Radical, 326. 470 Vgl. auch Heschel: “Theological Affinities”, 126; 140. 471 Vgl. Heschel: Insecurity, 262; 265 (“Jews in the Soviet Union”, 1963); ders.: Grandeur, 213 (“The Plight of the Russian Jews”, 1964); Kaplan: Radical, 225ff u. Merkle: “Witness”, 11. 472 Heschel: Grandeur, 213 (“The Plight of the Russian Jews”, 1964); s. auch ders.: Insecurity, 267 (“Jews in the Soviet Union”, 1963). 473 Vgl. ders.: Grandeur, 214 (“The Plight of the Russian Jews”, 1964). 474 Vgl. ders.: Insecurity, 263 (“Jews in the Soviet Union”, 1963).
372 | 4 Relationalität, Bibel und prophetischer Aktivismus: Die Spätphase tieren, was zu vergessen die größte Sünde ist, woran er seine Definition von Glaube als das Unmögliche Tun knüpft und mehrfach versichert, dass die Kirchen als Unterstützer in dieser Situation den Juden beistünden.475 In alledem fordert Heschel schließlich eine Beendigung der “massive and systematic liquidation of a religious and cultural heritage of an entire community and equality with all other cultural und religious minorities.”476 Darum formuliert er schließlich eine “Declaration of Conscience”, die mit dem Wechsel von Chruschtschow zu Breschnew 1964 neue Hoffnung zum Ausdruck bringt.477 Der Zerstörung des dortigen Judentums durch den anhaltenden Stalinismus setzt Heschel einen Frieden entgegen, der im eigenen Hause beginnen und in Respekt für andere Völker münden sollte.478 Denn Russland ist für Heschel ein “vast spiritual cemetery where souls of our people are buried alive.”479 Deshalb formuliert Heschel à la King einen Traum von geistlich-jüdischer Freiheit.480 Trotz Raumfahrt fehlten reale Menschenrechte, dessen Fehlen er ebenso anprangert wie das Fehlen an Freundschaft zu Russland und die gelebte Zeugenschaft Israels durch Verantwortung.481 Das nimmt Heschel als besonders tragisch wahr, da er die russische Judenschaft als die Zweitälteste identifiziert, was schließlich in der Forderung mündet, die russischen Juden leben oder gehen zu lassen.482 Überhaupt hält Heschel die Verhältnisse des sog. “space age” für unangemessen und stellt deshalb mit derselben Argumentation – in seiner prophetischen Manier und darum mit explizitem Bezug zu Mose – die amerikanische Gesellschaft vor die Wahl zwischen Leben und Tod.483 Denn Raumfahrt ist laut Heschel politisch-militärisch und damit letztlich Macht-motiviert, jedoch “at the expense of life and humanity here on earth”484 , was er mit den unverhältnismäßg ho-
475 Vgl. Heschel: Insecurity, 269 (“Jews in the Soviet Union”, 1963); ders.: Grandeur, 214f. (“The Plight of the Russian Jews”, 1964). 476 Ders.: Insecurity, 273 (“Jews in the Soviet Union”, 1963). 477 Diese Hoffnung drückt Heschel auch bei einer New Yorker Konferenz (vom 28.10.1964) zugunsten des sowjetischen Judentums aus; vgl. ders.: Papers, 62/4. Dem Text ist zu entnehmen, dass er als Vortrag während einer Demonstration gehalten worden ist, auch wenn Heschel dies gerade nicht so genannt haben möchte; vielmehr spricht er von “assembly of compassion”; ders.: Insecurity, 274 (“A Declaration of Conscience”, 1964). 478 Vgl. ebd., 275 (“A Declaration of Conscience”, 1964). 479 Ebd., 275 (“A Declaration of Conscience”, 1964). 480 Vgl. ebd., 276 (“A Declaration of Conscience”, 1964). 481 Vgl. ebd., 279ff. (“A Declaration of Conscience”, 1964). 482 Vgl. ebd., 282f. (“A Declaration of Conscience”, 1964). 483 Vgl. ders.: Grandeur, 216 (The “Moral Dilemma of the Space Age”, 1964). 484 Ebd., 217 (The “Moral Dilemma of the Space Age”, 1964).
4.3 Heschel zwischen Aktivismus und schriftstellerischer Kreativität | 373
hen Ausgaben begründet, auch wenn er die Suche nach außerirdischem Leben nicht für grundsätzlich verwerflich hält. Aber “[o]n a moral or ethical basis, when we can overlook the suffering of humanity in our childish delight in our ability to place monkeys and men in orbit around the earth, we are ill prepared spiritually and morally for the vast accumulation of power which we are achieving through science.”485 Im Zuge seiner Rede mit dem zugespitzt programmatischen Titel “Choose Life!” aus dem Jahr 1966 verurteilt Heschel deshalb auch fehlende Anteilnahme, unter anderem gegenüber Atombomben u. ä.486 Besonders aber Heschels Beteiligung an der Anti-Vietnamkrieg-Bewegung (ab Jahre 1965) stößt bei manch Frommem auf Unverständnis.487 Unter besagtem Motto “some are guilty, all are responsible”488 gründet er unter anderem mit den christlichen Verbündeten Daniel Berrigan und John Bennett “The National Emergency Committee of Clergy Concerned About Vietman” (CCAV), später umbenannt in “Clergy and Laymen Concerned About Vietnam” (CALCAV).489 Landesweite Verbreitung findet die CALCAV schnell, besonders durch William Sloane Coffin Jr.490 Heschels probate Mittel zum Protest und Widerstand sind sowohl politischer als auch spiritueller Art (namentlich Fasten und Beten), während andere radikaler opponieren.491 Aber auch durch Reden und einen Besuch beim Verteidigungsminister Robert McNamara vermag Heschel, Einfluss zu nehmen.492 Bei Heschel schlägt sich dies in der Auseinandersetzung mit Captain Calleys Verurteilung infolge des Massakers von My Lai nieder: Die religiöse Führungsebene des Landes habe es vernachlässigt, die Moral in allen Amerikanern verankert zu haben, da Mord aufgrund der Heiligkeit des Lebens grundsätzlich nicht toleriert werden dürfte.493 Darum appelliert er zur Buße.494 Doch ebenso schockiert es Heschel, dass keiner der dort anwesenden Militärgeistlichen we-
485 Heschel: Grandeur, 218 (The “Moral Dilemma of the Space Age”, 1964). 486 Vgl. ebd., 253 (“Choose Life!”, 1966). 487 Vgl. dazu Kaplan: Holiness, 110. 488 Nach ders.: Radical, 299; s. auch Heschel: Grandeur, 220 (“Required: A Moral Ombudsman”, 1971) u. ebd., 230 (“A Prayer for Peace”, 1971). 489 Statements sind zu finden unter ders.: Papers, 68/9. 490 Vgl. Kaplan: Radical, 300f. 491 Vgl. ebd., 304f. 492 Vgl. ebd., 309ff., u. Heschel: Papers, 68/11, 69/2+7+8. 493 Vgl. ders.: Grandeur, 219f. (“Required: A Moral Ombudsman”, 1971). 494 Vgl. ebd., 221f. (“Required: A Moral Ombudsman”, 1971). Er fordert sogar ein Büro innerhalb des Verteidigungsministeriums, damit vonseiten des Militärs internationales Kriegsrecht eingehalten wird, was jedoch unbeantwortet bleibt.
374 | 4 Relationalität, Bibel und prophetischer Aktivismus: Die Spätphase gen der Greueltaten geschrieen hätten.495 Im Zuge des spirituellen Widerstandes formuliert er deshalb ein Friedensgebet, in dem die Zusammengehörigkeit von Spiritualität und prophetischem Aktivismus nochmals deutlich wird: “To speak about God and remain silent on Vietnam ist blasphemous.”496 Gebet bezeichnet er darum als größtes Privileg, weil es seiner Ansicht nach radikale Hingabe und gefährliche Mitwirkung in Gottes Leben im Gegensatz zu sämtlichen irdischen Machtansprüchen zum Ausdruck bringt.497 In seiner posthum erschienenen Erklärung, warum er in die Friedensbewegung involviert sei, geht Heschel sogar so weit, das präsidiale Handeln infrage zu stellen, indem er diese Situation mit der Debatte zwischen Abraham und Gott (vgl. Gen 18) parallel setzt, bevor Sodom und Gomorrah zerstört werden.498 Und natürlich führt Heschel den bereits in Frankfurt angestoßenen ersten prophetischen Eindruck zur Shoah fort, der sich durch zahlreiche Schriften hindurchzieht, ohne dass Heschels Auseinandersetzung mit der Shoah bisher in der Forschung intensiver diskutiert worden wäre, wie Faierstein und Eisen anmerken.499 Wie schon in Frankfurt und auch in der gesamten Sammlung von Man’s Quest for God klingt durch, wie Heschel das zum Säkularismus hin verirrte Judentum wachrütteln will; in diesem Sinne spricht Heschel 1948 wohl zum ersten Mal (in Jiddisch) über den Holocaust, den er als eine Beerdigung empfindet bzw. inhaltlich mit Tisha B’Av in Verbindung bringt, während er bei seiner (amerikanischen) Judenheit geradezu ausgelassene Freude wie an Purim wahrnimmt.500 Er ist somit einer der ersten, der überhaupt den Holocaust theologisch thematisiert.501
495 Vgl. Heschel: Grandeur, 222 (“Required: A Moral Ombudsman”, 1971). 496 Ebd., 231 (“A Prayer for Peace”, 1971). 497 Vgl. ebd., 231f. (“A Prayer for Peace”, 1971). 498 Vgl. ebd., 226 (“A Prayer for Peace”, 1971). 499 Vgl. Faierstein: “Holocaust”, 255 u. Eisen: “Response”, 211. 500 Vgl. Heschel nach Faierstein: “Holocaust”, 264; zur Post-Holocaust-Perspektive in The Prophets vgl. auch Palmisano: Beyond, 18: “While Heschel’s theodicy is arguably implicit, it would be perfunctory to read The Prophets without recourse to a post-Shoah hermeneutic.” 501 Dass das aber für das Gros an Zeitzeugenberichten zutrifft – was schlicht sowohl an den Verfassern als auch den Primäradressaten liegt, betont Faierstein: “Holocaust”, 258. In diesem Zusammenhang sind auch seine Bücher zum osteuropäischen Judentum zu verstehen, zwischen The Earth is the Lord’s und letztlich A Passion for Truth, wie ebd., 269, verdeutlicht. Andererseits sind es aber natürlich auch Vorträge im öffentlichen, interreligiösen Raum, in denen Heschel das Post-Holocaust-Thema aufgreift; vgl. Who is Man? u. “No Religion is an Island”.
4.3 Heschel zwischen Aktivismus und schriftstellerischer Kreativität | 375
4.3.4 Öffentliche Religion und Who is Man? (1960–1963) Das Erziehungswesen ist es, das Heschel 1960 im Zuge seiner Teilnahme an der “White House Conference on Childen and Youth” im Blick hat, womit er den bisherigen, religiös geprägten Wirkungskreis sprengt und sein Denken und Handeln auf gesamtnationaler (religiös neutraler) Ebene zugänglich machen kann.502 Den bereits in der Mittelphase monierten Mangel an Innerlichkeit bringt Heschel mit der fehlenden Ehrerbietung den Eltern gegenüber in Zusammenhang.503 Statt dessen muss er hier wie auch anderswo feststellen, dass Unterhaltung – Entertainment – den Zeitgeist prägt, wodurch Welt, der Mensch und überhaupt Werte instrumentalisiert würden, was er “degradation through power”504 nennt. Statt der drei natürlichen Aspekte von Macht, Schönheit und Größe dominiert lediglich das Wissen als Macht, was er mit der amerikanischen Pragmatik begründet, die letztlich in Bedürfnisbefriedigung münde und durch die der Mensch nur noch zu einer Sache mutiert.505 Aus der Ernsthaftigkeit des Lebens ist Heschel zufolge deshalb eine Glorifizierung von Spaß hervorgegangen, dessen Folgen der in hohen Scheidungsraten, Nervenzusammenbrüchen und Selbstmitleid entdeckt.506 Auch das Interesse am eigenen Profit nimmt Heschel im Gegensatz zur Verantwortlichkeit Gott und der Gesellschaft gegenüber wahr, was in die von ihm häufig genannte Gefühlskälte gegenüber dem Leiden anderer mündet.507 502 Vgl. Kaplan: Radical, 198 u. ders.: Holiness, 99. 503 Vgl. Heschel: Insecurity, 39f. u. 47 (“Children and Youth”, 1960); s. auch ein Jahr später in ebd., 70 (“To Grow in Wisdom”, 1961). Vgl. ebd., 21 (“Religion in a Free Society”, 1958), wo Heschel an das öffentliche Erziehungswesen appelliert, es müsse Ehrerbietung vermitteln; s. auch ders.: Grandeur, 252 (“Choose Life!”, 1966), wo Heschel den fehlenden Unterricht über das jüdische Gesetz (engl. “law”) beklagt. Darum kommt Merkle: Genesis, 17, zu dem Ergebnis: “More than any other of his books, this work [Heschels The Insecurity of Freedom; Anm. von P. M.] shows the practical ramifications of Heschel’s religious philosophy.” 504 Heschel: Insecurity, 40 (“Children and Youth”, 1960); die Verurteilung von Erfolg und Macht ist eines der häufigsten Motive bei Heschel, wie Friedman: “Heschel”, 301, zurecht anmerkt. 505 Vgl. Heschel: Insecurity, 41 (“Children and Youth”, 1960). 506 Vgl. ebd., 43f. (“Children and Youth”, 1960). An anderer Stelle thematisiert er dementsprechend die “idols in our homes, in our minds, in our temples”; ebd., 54 (“Idols in the Temples”, 1962). In ders.: Grandeur, 22 (“Existence and Celebration”, 1965), spricht Heschel außerdem von dem Zeitgeist des “easygoing”. Als eine Ursache dafür benennt ders.: Insecurity, 16 (“Religion in a Free Society”, 1958), “the fact that we are being treated as if there were little difference between man and monkey. Much that is being done, e. g., in the name of entertainment, is an insult to the soul,”, was für ihn in “insecurity of freedom” (18) resultiert – der gleichnamige Titel des Buches, in dem sich zahlreiche Essays zur öffentlichen Theologie wiederfinden lassen. 507 Vgl. ebd., 45; 51 (“Children and Youth”, 1960); nichts anderes als fehlende Relationalität ist es somit, die Heschel hier anprangert, was er jedoch zu allererst den Eltern gegenüber äußert, die ihre eigene Verantwortung nicht wahrgenommen hätten (vgl. 49).
376 | 4 Relationalität, Bibel und prophetischer Aktivismus: Die Spätphase Angefangen bei der Selbsttranszendenz, soll der Mensch deshalb zum Partner und Zeugen von Heiligkeit werden, indem er sich zu allererst selbst übertrifft, und – im Sinne seines eigenen prophetischen Aktivismus – Verantwortung für die Menschheit bzw. Gesellschaft übernimmt.508 Dem Bildungs- und Erziehungswesen legt Heschel deshalb die drei elementaren Formen der Gottesverehrung nahe, wie sie im Judentum verbreitet sind: Lernen, Anbetung und Wohltätigkeit. Die Wahrnehmung von Schönheit und Größe hält er zudem für wichtig.509 Ganz praktisch ermutigt er zur Fähigkeit, die richtigen Fragen zu stellen und Probleme zu lösen, weshalb er fordert, dass “the valid test of a student is his ability to ask the right questions. I would suggest that we evolve a new type of examination paper, one in which the answers are given – the questions to be supplied by the student.”510 Und auch die Seniorengeneration nimmt Heschel schließlich für seine Spiritualität ins Visier, die sein Zielpublikum auf der “White House Conference on Aging” im Januar 1961 darstellt.511 Einerseits warnt er die Älteren vor Ziel- und Traumlosigkeit, zumal das Individuum überhaupt auf das Altwerden geradezu unvorbereitet scheint;512 Statt nutzlosem Zeitvertreib, Langeweile oder gar Hobbies, aber auch als Alternative zur Leistungsorientierung der älteren Generation, hebt Heschel das Alter vielmehr als entscheidende Zeit des spirituellen Wachstums hervor: Durch das Studium im Alter und spirituelle Kultivierung auf das Älterwerden hin könnten Weisheit, Erwachsensein und Ruhe erlangt werden, denn “[s]ignificant being is not measured by the amount of needs that agitate a person but by the intensity and depth of the response to a wisdom in relation to which my mind is an afterthought, by the discovery that the moment to come is an anticipation, an expectation, waiting to receive my existence.”513 Andererseits fordert Heschel darum, die Älteren als “true gold mines of a culture”514 anzusehen, und widersetzt sich der propagierten Divinität der Jugend, zumal man ein (spiritueller) Meister nur durch Lehrlingsjahre werde, wofür die vorhergehende
508 Vgl. Heschel: Insecurity, 48ff. (“Children and Youth”, 1960).; so auch ders.: Grandeur, 28ff. (“Existence and Celebration”, 1965). 509 Vgl. ders.: Insecurity, 42; 47 (“Children and Youth”, 1960). 510 Ebd., 46f. (“Children and Youth”, 1960). 511 Aus Heschels Vortrag geht schließlich der Artikel “To Grow in Wisdom” (ebd., 70–84) hervor. Vgl. Kaplan: Radical, 202 u. Dolna: Gegenwart, 51. 512 Vgl. Heschel: Insecurity, 73 (“To Grow in Wisdom”, 1961). Zeitverschwendung deklariert er sogar als Mord (80ff.). 513 Ebd., 77 (“To Grow in Wisdom”, 1961). 514 Ebd., 72 (“To Grow in Wisdom”, 1961).
4.3 Heschel zwischen Aktivismus und schriftstellerischer Kreativität | 377
Generation gebraucht werde.515 Dies impliziert die allgemein-öffentliche Verantwortung Älterer.516 Heschel darf auch – und das entschieden – für die eigene Religion im öffentlich-gesellschaftlichen Raum werben: Über bekannte Theologumena wie die Gottebenbildlichkeit des Menschen, die Perspektive von Gott aus, den prophetischen Ruf zum Aktivismus und natürlich das “attachment to the spirit” ist erst echte Freiheit und ein Leben als “drama”517 möglich, damit der freie Mensch im Zuge seiner Verantwortlichkeit am Tiqqun ‘Olam teilnehmen kann.518 Der Religion jüdisch-christlicher Prägung attestiert er jedoch gerade fehlenden Mut zur Herausforderung gesellschaftlicher Fragen. Sie neigt Heschel zufolge statt dessen zur “institution, dogma, ritual”519 . Auf diese Art und Weise opponiert Heschel nicht nur konfrontativ-prophetisch gegen Fehlentwicklungen der amerikanischen Gesellschaft, sondern tritt mit unterschiedlichen Fragestellungen immer wieder in einen produktiven Dialog mit ihr und versucht dadurch, Religion in und für die Öffentlichkeit relevant zu machen und aus dem Raum des Privaten hervorzuholen – in ganz ähnlicher Weise und Absicht wie Bonhoeffer.520 4.3.4.1 Who is Man? Und schließlich hat Heschel auch an der Stanford University im Zuge der “Raymond Fred West Memorial”-Vorlesungen im Jahre 1963 die Möglichkeit, wesentli515 Vgl. Heschel: Insecurity, 71; 84 (“To Grow in Wisdom”, 1961); vgl. schon ebd., 48. 516 Vgl. ebd., 72 (“To Grow in Wisdom”, 1961). 517 Allesamt ebd., 18 (“Religion in a Free Society”, 1958). 518 Vgl. ebd., 3ff.; 21 (“Religion in a Free Society”, 1958) u. ders.: Grandeur, 252 (“Choose Life!”, 1966). Kaplan: Holiness, 105, benennt dies als “almost theurgic partnership”. Auch Breslauer: Spirituality, 26, spricht darum von gegenseitiger Verantwortung zwischen Gott und Mensch und daraus resultierender Freiheit, womit nichts anderes gemeint sein kann als die schon bei Bonhoeffer thematisierte “Freiheit-für”. Denn “[h]uman beings discover their freedom only through recognition of their weaknesses, only through seeing that they are as dependent on God as God depends on them.” 519 Heschel: Insecurity, 3 (“Religion in a Free Society”, 1958). 520 Den expliziten Vergleich zwischen Bonhoeffer und Heschel anhand ihrer Bestrebungen zur öffentlichen Religion zieht auch Meir: Dialogical Thought, 93f.: “In His prophetic religiosity, Heschel thought that religion had to deal with the secular world and with the concrete problems of human existence. Parallel with Dietrich Bonhoeffer, who lived in an entire different spiritual climate, he was convinced that religion had to be world-oriented. Heschel wanted to contribute to mending the world. The Bible as ‘Holiness in words’ had to be interpreted in a deep, humanistic way, and man had to be sensitive to evil as the prophets had been, who were ‘the most disturbing people who have ever lived.’ (Heschel, DP, xiii) The Bible was a book about man, not about God; it depicted God’s anthropology, not man’s theology.”
378 | 4 Relationalität, Bibel und prophetischer Aktivismus: Die Spätphase che Teilaspekte seines jüdisch-hebräischen Denkens relationaler Art einem säkularen Publikum zu präsentieren, was ihm gleichzeitig signifikante akademische Anerkennung einbringt.521 Passend zur Angliederung der Vorlesungen an den Fachbereich der Humanwissenschaften thematisiert er darin die grundlegende kantische Frage, wer der Mensch sei, die er aber ganz un-kantisch, geradezu diametral zum a priori, beantwortet. Die Vorlesungen, von Heschel selbst 1965 in Buchform als Who is Man? veröffentlicht, verfeinern das Bild seines situativen Denkens, das als einer der Bausteine seiner Tiefentheologie entscheidend für die Relationalität zur Welt ist.522 Methodisch favorisiert er darum die Herangehensweise der Problemlösung, die im Gegensatz zum distanziert-intellektuellen Fragen immer die ganze Person an eine komplexe Situation knüpft.523 Trotz der Notwendigkeit zur Verbalisierung eines Problems – “[t]o clarify, to study, and to communicate”524 – warnt Heschel vor dieser von ihm sog. “conceptualization”,525 die seiner Ansicht nach droht, in Abstraktion und Spekulation zu verfallen, was dem situativen Denken ja diametral entgegenstünde. So ist ihm völlig klar: “Philosophy cannot be the same after Auschwitz and Hiroshima.”526 Das macht die Frage nach der “humanity of man”527 so schwierig, weshalb ihm auch die Atomisierung anthropologischer Wissenschaften in Spezialwissenschaften ein Dorn im Auge ist, weil seiner Ansicht nach der Blick aufs Ganze wie auch die Besonderheit des Menschen verlorengehen.528 Gleichermaßen insistiert Heschel darauf, zunächst einmal sich selbst infrage zu stellen. Denn neben die Situationsbezogenheit des Untersuchungsgegenstands – “Was ist der Mensch?” – tritt die Herausforderung, dass jeder Untersu-
521 Vgl. Kaplan: Radical, 229f. 522 Zwar greift Heschel damit die Phänomenologie auf, die er bereits in “Das prophetische Bewusstsein” verwendet hat (so Perlman: Idea, 20), jedoch in der modifizierten Version, wie er es in The Prophets ausführlicher weiterentwickelt hat. 523 Vgl. Heschel: Who Is Man?, 1; 13; 28f. 524 Ebd., 1. 525 Ebd., 2. 526 Ebd., 13. 527 Ebd., 3; zur Schwierigkeit der Humanität bei Heschel und dem Zusammenhang zur Mystik vgl. auch Merkle: Approaching God, 18 u. Marmur: Heschel, 94. 528 Heschel: Who Is Man?, 19; vgl. 4: “Psychology, biology, sociology have sought to explore the nature of man. And yet man remains an enigma.” Darum macht Heschel auch wenig Gebrauch psychologischer Methodik, die er laut Barnard: “Attitude”, 31, als “guilty of intellectual narcissism” ansieht. S. dazu auch Goldman: “Metapsychology”, 106 u. Marmur: Heschel, 155.
4.3 Heschel zwischen Aktivismus und schriftstellerischer Kreativität | 379
chende durch seine eigene situative Brille blickt.529 Denn obwohl der Mensch gar nicht anders kann, als Wissen über sich selbst anzusammeln, stellt Heschel paradoxerweise fest, wie undurchsichtig (engl. “obscure”) der Mensch für sich selbst ist. Deshalb rät Heschel dazu, dass sich der Mensch nicht allein aufgrund seines inneren Lebens bewerten solle, sondern im größeren Kontext, in der Bewertung seiner Verhaltensweisen, denn: “[H]uman nature in its pristine, uncorrupted state is not given to us. Man as we encounter him is already stamped by an image, an artifact.”530 Dies hat seine Ursache im Selbstbewusstsein – und damit der Relationalität zu sich selbst –, sodass der Mensch entscheidend dadurch geprägt ist, was er über sich selbst denkt, ohne sich freilich zu idolisieren.531 Über die Relationalität definiert Heschel deshalb auch das Menschsein des Menschen, das bestimmt ist durch seine eigene Konstitution und die Möglichkeiten seines realen Lebens, auf die er Antworten zu geben hat.532 Die erste Antwort, die der Mensch geben muss – und die somit den Menschen konstituiert –, ist die Einstellung zu sich selbst, ob er sich annehmen oder ablehnen will; für Heschel ist die Wertschätzung der eigenen Existenz die wichtigste Zutat zur Selbstreflexion.533 Das führt ihn aber unweigerlich zu “certain standards or preferences of value”,534 sodass Sein und Sollen unweigerlich damit einhergehen.535 Und natürlich ist da auch die Antwort auf den Ruf des Nächsten im Sinne des bonhoefferschen Antwort Gebens, die Heschel als zweite (relationale) Dimension des Menschseins definiert, zumal Menschsein immer ein “product of human solidarity”536 und Reziprozität darstellt, was ebenfalls unweigerlich mit Wert zu tun hat.537 Das begründet er mit der Heiligkeit des menschlichen Lebens, dessen Einzigartigkeit er mit dem ganz individuellen Angesicht wie auch den menschlichen Entwicklungsmöglichkeiten des inneren und äußeren Lebens begründet – einzigartige Ereignisse statt Prozess und Substanz.538 Die entscheidende Bedeutung des menschlichen Lebens spitzt sich Heschel zufolge schließlich in der Frage zu, wofür der Mensch existiert, was unweigerlich 529 Vgl. Heschel: Who Is Man?, 4f.; 34. 530 Vgl. ebd., 7; 67. 531 Vgl. ebd., 7f.; 28; 30; 34ff. 532 Vgl. ebd., 9f.; 17; 21ff. 533 Vgl. ebd., 11; 35. 534 Ebd., 11; vgl. 28. 535 Vgl. ebd., 11f.; 33f.; 35f. 536 Ebd., 45. 537 Vgl. ebd., 16; 46f.; so auch Friedman: “Heschel”, 300; ähnlich Breslauer: Spirituality, 50. 538 Heschel: Who Is Man?, 44; vgl. 33; 37ff.; 41ff.; 48: “Life lived as an event is a drama. Life reduced to a process becomes vegetation.”
380 | 4 Relationalität, Bibel und prophetischer Aktivismus: Die Spätphase in Spiritualität und Transzendenz mündet, weil weder der Mensch selbst noch die Gesellschaft ihm eine Bedeutung geben kann und die reine Befriedigung von Bedürfnissen ihn nicht von den Tieren unterscheidet.539 Aus den Erfahrungen radikalen Staunens und Wertschätzung wie auch dem Gefühl des Gebraucht Werdens und der Sorge um Bedeutung leitet Heschel als Geheimnis des Menschen die Offenheit gegenüber der Transzendenz ab, dessen Konsequenz in die Gegenüberstellung von klassisch-griechischem und genuin biblisch-hebräischem Denken mündet: A major difference between ontological and biblical thinking is that the first seeks to relate the human being to a transcendence called being as such, whereas the second, realizing that human being is more than being, that human being is a living being, seeks to relate man to divine living, to a transcendence called the living God.540
Diese Unterscheidung ist für Heschel fundamental, weil er es als Kardinalfehler ansieht, das Sein für selbstverständlich und als ultimativ zu betrachten; vielmehr postuliert er auch gegenüber seinem säkularen Publikum den Stellenwert von Wundern und das Mysterium des Seins als höchste Angelegenheit. Das Geheimnis hinter dem Sein wird als höchstwertig definiert, obwohl der postmoderne Mensch seiner Ansicht nach die Transzendenz bzw. Gott in der Welt kaum oder gar nicht wahrnimmt.541 Relationalität kommt auch hier entscheidende Bedeutung zu, wenn Heschel bisherige Erkenntnisse in der zentralen Aufgabe von biblischhebräischem Denken definiert, und zwar nicht man’s knowledge of God but rather man’s being known by God, man’s being an object of divine knowledge and concern. […] Our task is to concur with His interest, to carry out His vision of our task. […] Life is a partnership of God and man […]. This is why human life is holy.542
Somit steht auch der unendlichen Bedeutung einiges im Weg, da sie sperrig ist, lediglich relational begriffen werden kann und überhaupt erst durch die Prämissen von Wunder und Ehrfurcht zugänglich sind; die Erfahrung ultimativer Bedeutung will natürlich auch involviert sein und führt somit auf direktem Wege in Beziehungen.543 Auch das Denken geschieht für Heschel nicht abstrakt, sondern notwendig 539 Vgl. Heschel: Who Is Man?, 27; 53f.; 56; 59; 62f. u. ders.: Insecurity, 26 (“The Patient as a Person”, 1964). 540 Ders.: Who Is Man?, 69; vgl. 56f.; 71f. vgl. auch Goldman: “Metapsychology”, 107; Merkle: Approaching God, 21 u. 23; Britton: Heschel, 212f.; 242. 541 Vgl. Heschel: Who Is Man?, 70; 77; 85f. 542 Ebd., 74f. vgl. auch Friedman: “Heschel”, 300; Erlewine: “Reclaiming”, 195f.; Britton: Heschel, 212 u. 242; Merkle: Genesis, 75f. u. ders.: Approaching God, 21. 543 Vgl. Heschel: Who Is Man?, 78ff.
4.3 Heschel zwischen Aktivismus und schriftstellerischer Kreativität | 381
in Beziehung zur Welt und ist für ihn zwingend zur Wahrnehmung des Transzendenten, und zwar nur aus der Haltung der Wertschätzung, während “[a] life of manipulation is the death of transcendence.”544 Deshalb hat der Mensch nach Heschels biblisch-hebräischem Verständnis die Möglichkeit zum Tiqqun ‘Olam, um aus Freiheit über der Schöpfung zu stehen.545 Der Mensch soll in seiner wahren Menschlichkeit auf den transzendenten Gott ausgerichtet sein und dort Erfüllung suchen, indem er über Ehrfurcht zum Glauben gelangt, den Heschel relational als Anhaften an der Transzendenz (hebr. Devekut) versteht.546 Hinter allem steht letztlich natürlich nichts anderes als das Pathos Gottes als Teleologie jenseits reiner Naturgesetze, was in Heschels Gedanken der Partnerschaft zwischen Gott und Mensch mündet, dass “[i]t is upon us to strive for a share in the world to come, as well as to let God have a share in this world.”547 Ethik und Moral sind daher als “continually evolving relational response[s] to God’s improvisation in history.”548 Für Heschel ist die entscheidende Form von Menschsein folglich das “human living”,549 anstatt im Denken zu verharren. Denn das Leben ist sein Verantwortungsbereich, Tätigkeit damit im menschlichen Sein angelegt, in und gegen heideggersche Terminologie als “living-in-the-world”550 geradezu als Tat definiert, wie Heschel es bereits bei dem anfänglichen Gebot an Adam vorfindet.551 Anthropologie, Pathos, Ethos, Ethik und Spiritualität gehen somit letztlich geradezu in eins über, weil wir verantwortlich sind gegenüber dem “living being who is engaged in relationship of concern with us.”552 So widersetzt sich Heschel (in Nähe zu Bonhoeffers Ethik) einer Ethik als “formal intellectual discipline, fearing that it tends to separate into the isolated categories of the ‘just’ or the ‘good’ questions of how one ought to live, whereas these questions are more appropriately considered within the total context of human life.”553 544 Heschel: Who Is Man?, 82. 545 Vgl. ebd., 82f. zum Freiheitsverständnis gegenüber der Schöpfung vgl. ebendiese Position bei Bonhoeffer in Schöpfung und Fall. So auch Britton: Heschel, 209f. 546 Vgl. Heschel: Who Is Man?, 87ff. 547 Ebd., 93. 548 Britton: Heschel, 206. 549 Heschel: Who Is Man?, 95. 550 Ebd., 95. 551 Vgl. ebd., 94–97; vgl. auch Britton: Heschel, 204ff. u. Friedman: “Heschel”, 300, zu Heschels “fear of meaningless being” im Kontrast zu Tillich und Heidegger. 552 Britton: Heschel, 207. 553 Ebd., 202. Dementsprechend thematisiert Heschel in einem Artikel den Arzt nicht anhand abstrakter ethischer Maßstäbe, sondern vielmehr durch seine prophetische Rolle als Mitfühlendem; vgl. Heschel: Insecurity, 28f. (“The Patient as a Person”, 1964). Weil Heschel den Arzt als
382 | 4 Relationalität, Bibel und prophetischer Aktivismus: Die Spätphase Darunter fällt für Heschel auch die Persönlichkeitsentwicklung, durch die der Mensch erst konkrete Person werde.554 Authentische Personen stellen Heschel zufolge auch die Verbindung zwischen Jahrhunderten dar.555 Weil im Menschen immer – biblisch gesprochen – die Wahl zwischen Gott und der Schlange schlummere, so Heschel, müsse der Mensch immer mehr sein als menschlich, um wirklich menschlich zu sein. Diese Möglichkeiten resultieren Heschel zufolge daraus, dass der Mensch den Knoten zwischen Himmel und Erde darstellt und auf die Welt als “being-challenged-in-the-world, not simply being-in-the-world”556 bezogen ist. Zurecht betont Goldman darum “the enormous power of the ego – an element of man’s personality that should, according to Heschel function in the service of God – not in the place of God”557 –, weshalb Goldman im Gegensatz zum griechischen Denken Heschels Verständnis der Seele als “pure potentiality unfettered by limitations of intellective function”558 versteht. In Ergänzung zur Partnerschaft mit Gott führt Heschel die menschliche Verschuldung an, die ihm aufgrund seines Erschaffenseins anlaste.559 Die menschliche Antwort auf diese göttliche Forderung bezeichnet Heschel als “Religion”; die konkreten Anfragen bringt er auch mit dem Terminus prophetischer Momente in Verbindung und so wiederum mit Beziehung.560 Weil Heschel um die Anfälligkeit beim tatsächlichen Hören auf Gott weiß, soll sich der religiöse Mensch seiner Unfähigkeit bewusst sein, denn “it is only before God that we all are naked.”561 Als Herausforderung an den Menschen appelliert er deshalb zur Versöhnung unserer
Partner Gottes wie auch des Patienten im Kampf gegen die Krankheit versteht, kann er dessen Rolle als heilige Kunst und imitatio Dei betrachten (vgl. 33). “Consequently, suffering is a part of being human and possesses potential spiritual richness that is only discovered by means of a profound inner life” (Valera: “Meaning”, 172), was nichts weiteres implizieren dürfte als die Anwendung des Tiqqun ‘Olam auf den konkreten Fall und erneut Heschels relationales Verständnis zum Ausdruck bringt. Deshalb muss Heschel auch das ökonomisch-kapitalistische Problem verurteilen, dass nur derjenige behandelt werden kann, der solvent ist, bzw. dass mancher im Nachhinein finanziell ruiniert ist; vgl. Heschel: Insecurity, 35f. (“The Patient as a Person”, 1964). 554 Vgl. ders.: Who Is Man?, 99. Vgl. auch ders.: Insecurity, 25 (“The Patient as a Person”, 1964), wo Heschel über die menschliche Fähigkeit zur Entwicklung eines “inner universe” spricht. 555 Vgl. ders.: Who Is Man?, 99f. 556 Ebd., 105. 557 Goldman: “Metapsychology”, 110. 558 Ebd., 111. 559 Vgl. Heschel: Who Is Man?, 106ff. 560 Vgl. ebd., 109ff. 561 Ebd., 113.
4.3 Heschel zwischen Aktivismus und schriftstellerischer Kreativität | 383
Erfahrung mit Gottes Sicht, angefangen beim Lobpreisen als Wertschätzung.562 Dies verbindet er mit dem Feiern als Ausdruck von Respekt und Ehrerbietung bzw. Gebet als Dank wie auch Anteilnahme am “eternal drama”.563 Die Bibel, das Buch über den Menschen, ist letztendlich für Heschel die Quelle, um eine neue Vision des Menschen zu erhalten, und zwar als “a being in travail with God’s dreams and designs, with God’s dreams of a world redeemed, of reconciliation of heaven and earth, of a mankind which is truly His image, reflecting His wisdom, justice, and compassion. God’s dream is not to be alone, to have mankind as a partner in the drama of continuous creation.”564 4.3.5 Back to the rabbinical roots: Heavenly Torah (1962ff.) 4.3.5.1 Einführung Insbesondere die intensivierte Auseinandersetzung mit der rabbinischen Theologie verdeutlicht Heschels Bestreben, seine theologisch-spirituellen Errungenschaften auch dem innerjüdischen, hebräisch-sprechenden Publikum zugänglich zu machen und mit den rabbinischen Positionen in Einklang zu bringen – vor allem die tiefentheologische Unterscheidung zwischen Offenbarung und Endgestalt der Torah.565 Unter dem Titel “”תורה מן השמים באספקלריה של הדורות566 (und damit in hebräischer Sprache) legt Heschel 1962 den ersten Band seiner rabbinischen Theologie vor. Auch wenn Heschel von klein auf mit rabbinischer Literatur vertraut ist,567 in seiner Frankfurter Zeit erste wichtige Gedanken für diesen Zusammenhang äußert und in seiner Mittelphase diese noch relativ unfertige 562 Vgl. Heschel: Who Is Man?, 115f. 563 Ebd., 117. 564 Ebd., 119. 565 So Perlman: Idea, 123: “Torah Min Hashamayim, which basically catalogues two attitudes toward revelation, is a response to the problem of authenticity. It is not merely a restatement of rabbinic ideas but of integrity of the midrashic process itself. The radical character of depththeology, which refuses to identify the content of revelation with the text of the Bible, has its precedent in rabbinic theology according to Heschel.” 566 Zur Bedeutungsvielfalt des Terminus “אספקלריה/Aspaklaria” vgl. Marmur: Heschel, 143ff., der schlussfolgert, dass “Heschel’s aspaklaria will be considered as a mirror, a lens, a perspective, and a screen or barrier” (149). Dementsprechend könnte der Titel übersetzt werden als “Lehre vom Himmel im Spiegel der Generationen”. Als Heavenly Torah: As Refracted through the Generations hat Gordon Tucker 2007 eine edierte, kommentierte und ins Englische übersetzte Version vorgelegt, die Grundlage der nachfolgenden Darstellung ist. 567 Als “qualified Talmud scholar” (Kaplan und Dresner: Witness, 48) publiziert Heschel schon mit fünfzehn Jahren erste Kommentare zum Talmud und späteren rabbinischen Werken.
384 | 4 Relationalität, Bibel und prophetischer Aktivismus: Die Spätphase Position stillschweigend voraussetzt und deshalb immer wieder rabbinisches Gedankengut in seine Publikationen einfließen lässt, erscheint sein opus magnum rabbinischer Gelehrsamkeit erst in dieser Spätphase. Zentrale Motivation Heschels ist “to show the congruence of rabbinic theology and prophetic inspiration”,568 was neben der sachlichen auch die zeitliche Nähe zu The Prophets erklärt.569 Trotz der Fülle des Materials, sodass es schließlich (posthum) drei Bände werden, schafft Heschel die Arbeit wegen seiner gründlichen Kenntnisse der traditionellen Texte in etwa zweieinhalb Jahren (laut seiner Einschätzung).570 Zunächst ist die Rehabilitation der vernachlässigten Aggadah nötig, die für ihn nichts anderes als “jüdische Theologie” beinhaltet.571 Anschließend sucht Heschel mithilfe der Tiefentheologie auch systematisch nach einer Versöhnung zwischen Aggadah und Halakha innerhalb der rabbinischen Literatur, wie er es bereits in seiner Mittelphase immer wieder angerissen hat.572 Mit dieser Zweiheit ist Heschels kontinuierlicher Appell verbunden, dass für authentische (relationa-
568 Kaplan: Radical, 207. Auch Even-Chen und Meir: Between, 149, kommen zu dem Schluss, dass “Heschel understands the Sages to be in continuity of the prophets, because both interpret the Divine Torah.” 569 Vgl. dazu auch Susannah Heschel in Heschel: Heavenly Torah, xvii u. xix, die nicht nur die Nähe von Heavenly Torah zu The Prophets betont, sondern auch zu Heschels interreligiösen Bestrebungen, v. a. gegenüber der Katholischen Kirche im Zuge von Nostra Aetate. 570 Vgl. Kaplan: Radical, 207f. u. Heschel: Heavenly Torah, xvii. Dementsprechend Levin: “Heschel’s Homage”, 63: “In his work on Torah min ha-shamayim, Heschel paid homage to the sources that had nourished him all along.” 571 Vgl. Heschel: Heavenly Torah, 26. Dafür geht Heschel an die Wurzel des Problems und beklagt den scheinbaren Rückgang aggadischer Präsenz im rabbinischen Judentum aufgrund ihres schwierigeren Zugangs; vgl. ebd., 9ff.; 770ff. Der Midrash – als Sammlung der aggadischen Texte – wird laut Heschel als “irreducibly subjective” (ebd., 23) abgestempelt und im Disput mit den Christen in mittelalterlicher Zeit als poetische Metaphern abgetan (vgl. 24). Besonders infolge der beiden Schulen Babylonien und Palästina und deren konträrer Annäherung an die Mitsvot bzw. der Dominanz des Talmud Bavli habe die Aggadah ihren Stellenwert verloren. Lediglich eine Minderheit habe sie als “very heartbeat of Torah” (17) gepriesen, zu denen aber selbst gehört habe, dem Heschel vehement zustimmt, da er unter den tannaitischen und amoraischen Diskussionen (innerhalb des Talmud) etliches dazu entdeckt (vgl. 19 u. 26; s. auch Even-Chen und Meir: Between, 180). Neben der Bedeutung der Aggadah geht es Heschel wohl auch darum, “to define the contours of the aggadic canon”, wie Levin: “Heschel’s Homage”, 58, betont; auch erläutert Heschel ihm zufolge, dass die erste Schicht die tannaitischen Midrashim seien, dann zweitens die Traditionen hinter den beiden Talmudim und den rabbinischen Midrashim, drittens das mittelalterliche jüdische Denken zwischen Rationalismus und Mystizismus. 572 In diesem Sinne lautet Heschels erster Satz (Heschel: Heavenly Torah, 1) programmatisch: “The Torah stands on a dual foundation: on Halakhah and Aggadah.” Vom Aufbau her ist dieses
4.3 Heschel zwischen Aktivismus und schriftstellerischer Kreativität | 385
le geprägte) Spiritualität beides nötig ist, das Ausüben der Mitsvot und die richtige Herzenshaltung (Kavanah) im Zuge rechter (Tiefen-)Theologie, wodurch Heschels relationales Denken wiederum zum Vorschein kommt.573 Dies schlägt sich in der Anwendung seines situativen Denkens nieder, welches die bereits bekannte Innenperspektive deutlich macht: “You cannot grasp the matter of the ‘Torah from Heaven’ unless you feel the heaven in the Torah.”574 Diese Kombination ist es, auf der auch sein prophetisch-sozialer Aktivismus fußt. Damit widerspricht Heschel allerdings pars pro toto seinem Kollegen Saul Lieberman und dessen analytischer Genauigkeit bei kritischer Distanz.575 Zum Ausgleich ebendieser Spannung identifiziert Heschel immer wieder zugespitzt auf Rabbi Ishmael und Rabbi Akiva (mitsamt ihrer jeweiligen Schule) zwei grundsätzliche Schultraditionen, zwischen denen er einen Mittelweg zu finden sucht.576 Ersterer – als einer der zehn Märtyrer – steht laut Heschel für die einfache, wörtliche Bedeutung der Torah, während Letzterer als Visionär vielmehr nach esoterischem Wissen gestrebt und den Pardes betreten hat.577 Deshalb entfaltet Heschel in Heavenly Torah sein Verständnis rabbinischer Theologie anhand
Werk dennoch nicht linear, auch wenn dies ganz im Einklang mit der talmudischen Denkweise sein mag, wie es Gordon: “Two”, 22, festgestellt hat. 573 Vgl. Heschel: Heavenly Torah, 702f. 574 Ebd., 668. 575 So Gordon: “Two”, 21; vgl. auch Brill: “Aggadic”, 4, 6 und bes. 7: “Heschel restores the experiential, theosophic, and irrational.” 576 Dass Heschel letztlich selbst um die zwei Schulen hinter R. Akiva und R. Ishmael weiß, macht sein Reden (Heschel: Heavenly Torah, 9) von den “thought systems of Rabbis Ishmael and Akiva” deutlich, sodass “[whatever] a veteran scholar would ever teach, would surely be a restatement of the teachings of one of these two Rabbis, in the language and form appropriate to the age an its external influences.” So auch Levin: “Heschel’s Homage”, 57 u. Marmur: Heschel, 59. Schon in seiner Frankfurter Zeit publiziert Heschel über die unterschiedlichen Positionen wie von Rabbi Schimon ben Gamliel, der “sich in einem tiefgehenden geistigen Gegensatz zu Rabbi Akiba [befand]. Rabbi Akiva lehrte: Das Lernen stehe höher als das Tun, Rabbi Schimon ben Gamliel dagegen: ‘Nicht die Lehre ist die Hauptsache, sondern das Tun’. Rabbi Akiba sah in jeder Redewendung der Torah ein Objekt der Deutung, Rabbi Schimon ben Gamliel dagegen (ähnlich wie Rabbi Ismael) meinte, die Torah bediene sich einer hyperbolischen Redeweise, die man nicht wörtlich nehmen müsse” (Heschel: “Rabbi Schimon ben Gamliel II”, 5). Darum kommt Marmur: Heschel, 55, zu dem Schluss, dass “a reading of Heschel’s earliest published writing suggests that the basis of this Akiva-Ishmael distinction occurred to him at a very early stage of his development.” 577 Vgl. Heschel: Heavenly Torah, 32. Die Pardes-Erzählung taucht mit abweichenden Details an zahlreichen Stellen sowohl der talmudischen Literatur als auch der Merkavah-Mystik auf (T Hag 2,3–4; yT 2,1 77b; bT 14bff.; CantR 1,4; HekhZ § 338f. u. 344f.; MerR § 671f.). Vgl. auch Herrmann: “Re-Written”, 100ff.
386 | 4 Relationalität, Bibel und prophetischer Aktivismus: Die Spätphase dieser beiden scheinbar konträren Grundpositionen, zwischen denen er immerzu im Sinne eines “Sowohl … als auch” eine ausgleichende aber spannungsreiche Mittelposition abzuleiten versucht, weil er davon überzeugt ist, dass die Welt nur aufgrund ihrer Gegensätzlichkeiten existiert.578 Immer wieder sind es auch hier relationale Aspekte, die explizit oder implizit durchschimmern und so Heschels relationales Denken untermauern. 4.3.5.2 Hermeneutische Grundlagen Die grundlegende, hermeneutisch entscheidende Differenz zwischen beiden Positionen wurzelt darin, dass R. Akiva als Mystiker und Visionär fokussiert ist auf Gottes völlige Gegenwart im Jenseits, weshalb er das Martyrium freudig aufnimmt, während R. Ishmael von Heschel als Rationalist kategorisiert wird und den Eigenwert des Diesseits und die Heiligkeit darin betont, weshalb er es bedauert, unter Mördern und Sabbat-Übertretern zu sterben; notfalls solle man sogar, so sein Appell laut Heschel, im Privaten Gott verleugnen, um das eigene Leben zu retten.579 Heschel sucht eine Mittelposition darin, Gott sowohl als Wächter wie auch als Erschaffer dieser Welt darzustellen und gleichzeitig anzumerken, dass selbst für R. Ishmael die Freuden dieser Welt zeitlich begrenzt gewesen seien.580 Die erste praktische Konsequenz dieser hermeneutischen Prämissen betrifft das grundsätzliche Verständnis der (schriftlichen) Torah: R. Ishmael spricht sich für den wörtlichen Sinn der Schrift aufgrund ihrer Klarheit aus, weshalb er sogar Anthropomorphismen im Bibeltext ausmerzt.581 Heschel hält ihn deshalb für den Kritischeren und Reflektierteren, der Logik und Torah möglichst nahe zusammenbringen will und sogar sagen könne, dass Mose nicht 100%ig die Worte Gottes empfangen haben könne und bestimmte Dinge aus eigener Autorität gesprochen hätte, selbst wenn er es mit ”( “כה אמר יהוהdt. “so spricht der HERR”) gekennzeichnet habe, was Heschel “Minimalposition” nennt.582 Auf einer gewissen Ebene wird Mose damit in dieselbe Kategorie wie die übrigen Propheten degradiert und der Heilige Geist als Initiator der Eigenständigkeit Moses hervorgehoben, auch wenn die Qualität Moses an anderen Stellen dann doch als außergewöhnliche Macht jenseits der restlichen Propheten dargestellt wird.583 Moses Ei578 Vgl. auch Heschel: Heavenly Torah, 712f.; 764f. 579 Vgl. ebd., 38; 49f.; 146f.; 224–230. 580 Vgl. ebd., 166f. 581 Vgl. ebd., 38; 49f.; 224–230. 582 Vgl. ebd., 59; 415ff.; 426f.; 581. Zur Unterscheidung von Minimal- und Maximalposition s. auch Sommer: Revelation, 75. 583 Vgl. Heschel: Heavenly Torah, 431; 436ff.; 474f.; 504; 655.
4.3 Heschel zwischen Aktivismus und schriftstellerischer Kreativität | 387
genständigkeit wird darin deutlich, dass er Urheber des Dtn sein soll; womöglich stammen, so thematisiert Heschel schließlich ebenfalls anhand der rabbinischen Tradition, die letzten 12 Verse von Dtn sogar nicht einmal von Mose selbst, zumal er bei Josua einige weitere herausfordernde Aussagen antrifft.584 Heschel will damit den Text nicht als minderwertig darstellen, sondern er zeigt nur noch einmal, dass Mose der Torah vom Sinai noch Aussagen hinzugefügt hat – der Text der Torah somit in Etappen entstanden ist –, auch wenn lediglich aufgrund von bereits angelegten Dingen, die implizit im Vorherigen stecken.585 Trotzdem entspricht damit laut R. Ishmael jeder Gelehrte einem Brunnen, der selbständig anhand der 13 Middot (dt. “Auslegungsregeln logisch-kreativ vorgehen und eigene Traditionen bilden kann,586 sodass aber nach diesem Ansatz eine gewisse Freiheit zur (prophetischen) Weiterentwicklung besteht; die Halakha ist darum durch mündliche Tradition zu Israel gekommen, “without textual proof”.587 Aufgrund einer gewissen “Unordnung” innerhalb der Torah könne R. Ishmael darum sogar ihre Chronologie grundsätzlich infrage stellen, während R. Akiva mit seiner himmlischen Perspektive (s. u.) diese Position natürlich für nicht nachvollziehbar halte, so Heschel.588 Denn wie R. Akiva auf das göttliche Jenseits fixiert ist, so überträgt er diese Position auch auf sein Verständnis der Torah, die er als Abbild trotz schriftlicher Form der übernatürlichen Welt zuschreibt.589 Denn R. Akiva zufolge sei der biblische Text gegeben, um mithilfe mystisch-esoterischer Exegese zu erweitern und um nach verborgenen Wahrheiten zu suchen, weil alles im Text vorhanden sein solle.590 Eingetaucht unter die Oberfläche des Textes und dadurch verbunden mit der Torah im Himmel, setzt sich laut Heschel in manchen Kreisen die Position 584 Vgl. Heschel: Heavenly Torah, 618ff.; 633f. 585 Vgl. ebd., 463; 466; 480. 586 Vgl. ebd., 39; 60ff. 587 Ebd., 54. 588 Vgl. ebd., 240f. 589 Vgl. ebd., 55. Vgl. auch Sommer: Revelation, 114. 590 Vgl. Heschel: Heavenly Torah, 39; 55; 231; 265ff; ungeachtet der berechtigten Feinheit, dass Heschel zwischen halakhischer und aggadischer Exegese unterscheidet. Schon in seiner Frankfurter Zeit entdeckt Heschel diese Errungenschaft R. Akivas (ders.: “Rabbi Akiba”, 21): “Die Annahme der Inhärenz, des Enthaltenseins der mündlichen Lehre in der Torah, war der bahnbrechende Gedanke Rabbi Akibas. Seiner Auslegungskunst gelang es, die eine in der anderen zu entdecken. Er veränderte gewissermaßen den Aggregatzustand der Bibel: die starren Worte tauten auf, kamen in Fluß und sprudelten ungeahnte Inhalte hervor […]. Er hatte ein neues Verhältnis zur Bibel. […] Das Prinzip der Auslegungskunst Rabbi Akibas war: der Wortlaut der Torah trage einen ganz anderen Charakter als der Stil menschlicher Schriftwerke. […] Rabbi Akiba war nicht nur der Entdecker der Kongruenz der durchgehenden absoluten Übereinstimmung von Bibel und
388 | 4 Relationalität, Bibel und prophetischer Aktivismus: Die Spätphase durch, dass “[t]hings not revealed to Moses were revealed to Rabbi Akiva.”591 Seinen Ansatz göttlichen Ursprungs untermauere R. Akiva durch die Theorie, Mose sei zum Empfang der sog. “himmlischen Torah” ( )תורה מן השמיםin den Himmel hinaufgestiegen, was Heschel aufgrund seiner breiten Rezeption unter den Rabbinen recht ausführlich thematisiert, auch wenn er selbst diese Position ablehnt und für nicht biblisch erachtet.592 Die Diskussion macht aber deutlich, dass das Gros der Rabbinen vom Ende des Prophetentums ausgegangen ist und mit den Himmelsbetretungen Moses mitsamt irdischen Stellvertretern wie Henoch oder Elia diesen Verbindungsverlust zu stopfen versucht. Heschel selbst macht deutlich, dass er an dem Gedanken der himmlischen Torah festhält, aber nicht – wie R. Akiva – als Eigenwert, sondern als relationales Medium zwischen Gott und den Menschen, weshalb er von einem “everlasting bond and mutual relationship […] between the two” spricht. Denn “[t]orah, including the teachings of the Sages, contains the words of the living God. That is to say, it is not something uttered once by the Holy and Blessed One, which then becomes an entity by itself, cut off and uprooted from its source.”593 Deshalb kann Heschel ganz im Sinne seiner Tiefentheologie zeigen, dass die Torah als übernatürliche Entität keine Form besitzt, sondern nur Inhalt: “[A]ll is content, all is instruction”. Die Torah ist somit nicht fixiert, denn “textual teaching exists for expansion”.594 Dies argumentiert er wiederum mit R. Akiva, den er dadurch effektiv ebenfalls zu einem Propheten stilisiert, der von Gott – in diesem Fall über das Medium des Textes – neue Offenbarungen erhält. Faktisch schafft Heschel es somit, auch bei den Rabbinen eine Art anhaltende Offenbarung darzulegen, die für seine eigene Position wichtig ist, dass Gott auch nach wie vor noch Sein Pathos mitteilt;595 Denn er möchte die Spannung zwischen Propheten und späteren Rabbinen aufrecht erhalten, indem er von zwei Quellen der Torah spricht, der Prophetie und der menschlichen Weisheit, dem Empfang und der Vollendung der Torah.596 Ohne die Gelehrten/Rabbinen gibt es ja – schon Tradition, sondern auch der erste Systematiker der mündlichen Lehre.” In der rabbinischen Tradition wird außerdem die Methodik der sog. “semikhut” eingeführt, die hinter dieser “Unordnung” gerade die göttliche Autorität verortet, weil die Texte thematisch geordnet seien; überhaupt besäßen Sterbliche, so die Weisen, ein nur sehr unvollständiges Verständnis der Torah; vgl. Heschel: Heavenly Torah, 241–246. 591 Ebd., 53; vgl. 51. 592 Vgl. ebd., 342ff. 593 Beides ebd., 276. 594 Beides ebd., 56. 595 Vgl. ebd., 60ff. s. auch Even-Chen und Meir: Between, 91. 596 Vgl. grundsätzlicher Heschel: Heavenly Torah, 765ff.
4.3 Heschel zwischen Aktivismus und schriftstellerischer Kreativität | 389
historisch betrachtet – keine Torah,597 auch wenn er gleichzeitig erkennt, wie unvollständig und unvollkommen eine Niederschrift der göttlichen Worte und Gebote sein kann. Trotz des Kanonabschlusses weiß Heschel im Einklang mit vorherigen Untersuchungen besonders bei davon, dass Gott aber immer noch Weisung und damit geradezu Offenbarung gibt.598 Nur geschieht Offenbarung nach dem Sinai darum durchs Studium und Hingabe.599 Auch wenn Heschel schließlich klassisch-prophetische Eindrücke für erloschen hält und so zwischen den klassischen Propheten und den Rabbinen unterscheidet, ordnet er so logisch-rationale Schlussfolgerungen der Prophetie zu, weil sie den Willen Gottes interpretiert und präsentiert und darum sogar auf derselben Ebene wie der Torah stehen kann;600 der Prophet ist “vessel ( )כליand partner (”)שותף.601 Dadurch wird immer wieder die Paradoxie zwischen göttlicher und menschlicher Seite der Torah aufrechterhalten, weil die Propheten als Partner Gottes eigenständig bleiben.602 Heschel lehnt deshalb konsequent auch eine einheitliche
597 Vgl. Heschel: Heavenly Torah, 661ff., bes. 663 (mit Verweis auf LevRabb 11,7). 598 Vgl. ebd., 671. 599 Vgl. Sommer: Revelation, 203. Ähnlich Even-Chen und Meir: Between, 149: “The Torah needs to be discovered again and again by every generation, by responding to it. If one neglects to do so, the Torah is not Torah.” Als ein großes Geheimnis der Torah entfaltet Heschel natürlich auch den Aspekt, niemals zu vergessen, dass man (als Jude) jederzeit vor dem Sinai stehe, womit für ihn trotz der Mittlerschaft Moses die Unmittelbarkeit zur göttlichen Offenbarung für jeden einzelnen gegeben ist und Zweifel daran ausgeräumt werden können – auch wenn die Art und Weise der Offenbarung zwischen Mose und Volk in der Tradition sehr unterschiedlich gedeutet worden ist; vgl. Heschel: Heavenly Torah, 669 u. Sommer: Revelation, 201ff. 600 Vgl. Heschel: Heavenly Torah, 512ff. 601 Sommer: Revelation, 103. 602 Am Sinai habe das Volk die Torah nicht nur empfangen, sondern auch verstanden und ihren Geboten gegenüber zu- oder abgesagt habe, so Heschel: Heavenly Torah, 479ff.; 486; 508f. in ähnlicher Weise auch Sommer: Revelation, 57. Anhand von Elia betont er sogar das bewusste eigenverantwortliche Handeln des Propheten; vgl. Heschel: Heavenly Torah, 511f. Prophetie wird somit von Rabbi Juda ha-Nasi, dem Redaktor der Mishnah, als Dialog verstanden – auf ihn stützt sich hier ebd., 487f. Mit Abravanel und deutet Heschel die prophetischen Bücher unter der Einwirkung des Heiligen Geistes als prophetische Poesie, als Schöpfung des Propheten, “composed by his will and by his volition” (488); dass nicht nur , sondern “[a]lready in the rabbinic period and the Middle Ages, Jewish thinkers articulated the belief that the words of biblical prophets other than Moses were the product of the prophets themselves”, betont auch Sommer: Revelation, 102 (vgl. auch 80f.). Sogar mithilfe der Kabbalisten definiert Heschel: Heavenly Torah, 489, “Prophetie” tiefentheologisch als “flow[s] from the essence of the soul and has the unique stamp of the prophet himself.” Weil Prophetie Heschels partizipatorischem Ansatz zufolge als Dialog funktioniert und somit der Persönlichkeit des Propheten eine wichtige Rolle beimisst, kann es
390 | 4 Relationalität, Bibel und prophetischer Aktivismus: Die Spätphase Verbalinspiration ab.603 In dieser Hinsicht entspricht Heschels Position der R. Ishmaels, während R.Akiva auf wundersame Deutungen aus ist und jeder menschlichen Eigenmächtigkeit entgegen trotzt.604 Im Sinne R. Ishmaels geht Heschel deshalb von der wörtlichen Bedeutung des Textes aus, es sei denn, es handelt sich um eine Metapher.605 Das bedeutet für ihn Freiheit zur intellektuellen Aktivität, sofern man der Tiefe der Schrift kundig ist, sodass er zunächst einmal vom einfachen Sinn der Bibel ausgeht, auch wenn er gleichzeitig mit den Rabbinen darauf hinweist, dass es nicht bloß eine Bedeutung geben muss.606 Und auch wendet Heschel letztlich ein, dass selbst grammatikalisch überflüssige Konsonanten ihre (tieferliegende) Begründung besitzen können.607 “Torah is therefore humancritical and historical, as well as eternal”,608 wie Even-Chen und Meir schlussfolgern. Dennoch drängt Heschel immerzu auf eine hermeneutische Mittelposition, das Studium der Torah nicht (allein) intellektuell zu betreiben, sondern ein Bewusstsein für ihre Heiligkeit anzustreben.609 In Abgrenzung zum christlichen Anspruch auf Überhöhung erklärt Heschel in alledem die Torah für genügend und sogar perfekt.610 Dennoch scheint er mit Beginn der messianischen Zeit oder zumindest der kommenden Welt ein Ende der Mitsvot zu erwarten, womit erneut seine relationale Perspektive deutlich wird, durch die die Gebote lediglich dienende Funktion haben und keinen Absolutheitswert.611 4.3.5.3 Die Rolle der Shekhinah für das Wesen Gottes Die unterschiedlichen hermeneutischen Herangehensweisen schlagen sich auch im Gottesbild nieder. Im Gegensatz zur rationalistischen Perspektive R. Ishmaels, Gottes Gerechtigkeit und Souveränität samt Omnipräsenz der Shekhinah (imma-
seiner und der Ansicht vieler Rabbinen nach nie zwei identische Prophetien geben (vgl. 496); s. auch Sommer: Revelation, 106. Mose als “unique great translator” (ebd., 109) hätte damit explizit einen Anteil und einen Einfluss beim Verfassen der Torah; vgl. Heschel: Heavenly Torah, 499. 603 Vgl. ebd., 470ff.; 538–551. 604 Vgl. ebd., 484f. 605 Vgl. ebd., 41; 240f.; 247f. 606 Vgl. ebd., 248; 252ff. 607 Vgl. ebd., 258. 608 Even-Chen und Meir: Between, 127. 609 Vgl. Heschel: Heavenly Torah, 243ff. Heschels Leitmotiv ist damit zurecht als “connectivity between heaven and earth” (Sommer: Revelation, 110) bezeichnet worden. 610 Vgl. Heschel: Heavenly Torah, 681. 611 Vgl. ebd., 685ff.; 726.
4.3 Heschel zwischen Aktivismus und schriftstellerischer Kreativität | 391
nente Gottesgegenwart) in klarer Andersartigkeit zur Welt zu fokussieren,612 sympathisiert Heschel stärker mit R. Akivas Position, Gottes Gegenwart in Form der Shekhinah einen konkreten Ort, besonders im Westen, zuzuweisen.613 Dahinter verbirgt sich die Güte Gottes, aus der R. Akiva das Pathos und Mitleiden Gottes ableitet, bis hin zur “total Identification”614 zwischen Gott und Israel im Hinblick auf Leiden und Erlösung.615 Heschel selbst argumentiert in seiner Mittelposition durch kabbalistischmystische Gedankenweise dahingehend, dass “just as the Creator, whose glory fills the universe, contracted His Shekhinah between the two staves of the Ark in order to reveal His words to Moses, so did God compress His Shekhinah into the history of Israel so that He might be revealed to His chosen nation as they went into exile together.”616 So fundiert Heschel pars pro toto anhand von R. Akiva und seiner Schule die Theorie vom pathetischen Gott, den er deshalb auch als “most moved mover”617 bezeichnet. Und darum zieht R. Akiva Gottes Gnade seiner Allmacht vor, weil Gnade der Macht überlegen sei,618 als “expression of divine love”.619 Für Heschel bleibt damit die Spannung zwischen Omnipräsenz und konkretisierter Shekhinah erhalten, die sich aber im Exil befindet, wie zuvor vielfach thematisiert. Even-Chen: “Omnipresence”, 68, kommt besonders anhand dieser Stelle zu dem Schluss, dass “Heschel abandons the classical concept of divine omnipotence.” Ähnlich auch Ronen: “Goodness”, 142f. u. Ronen und Obirek: “I am”, 138ff., bes. 142), die anhand des kabbalistischen Zimzum die Reduktion von Gottes Omnipotenz damit begründen, dass Er mit seinem Volk ins Exil ziehe. Perlman: Idea, 125, wirft jedoch zurecht ein, dass Offenbarung laut R. Ishmael “never based on God’s self-existence” sei, zumal Heschel in beiden Positionen 612 Vgl. Heschel: Heavenly Torah, 38; 94–97; 118f.; 121; 210f. 613 Vgl. ebd., 94–97. 614 Ebd., 106. 615 “[S]alvation is the concern and need of the Holy and Blessed One, in all the divine glory, and thus would have to come even in the absence of merit” (ebd., 107); vgl. auch Perlman: Idea, 125. So wird aus den zuvor zwei getrennten Dimensionen von Gott und Welt geradewegs eine, woraus sich das Konzept der exilierten Shekhinah entwickelt und sogar die Gottheit Gottes an die Zeugenschaft Israels geknüpft wird; vgl. Heschel: Heavenly Torah, 108–110; 359–364. Nicht nur das Individuum, sondern die gesamte Schöpfung ist dabei durch das Leid am Menschen betroffen (vgl. 261). 616 Ebd., 121. 617 Ebd., 128; vgl. 112 u. 116. 618 Vgl. ebd., 118f. 619 Eisen: “Response”, 217. An anderer Stelle begründet Heschel: Grandeur, 159 (“Jewish Theology”, 1969), das Konzept von Omnipotenz im Judentum mit dem Einfluss des Islam.
392 | 4 Relationalität, Bibel und prophetischer Aktivismus: Die Spätphase keinen Gegensatz sehe. Denn R. Ishmael “only sees meaning through the moral relationship of God and Israel itself” (ebd.), womit Heschel den Ursprung von Gottes Offenbarung in Seinem Willen aufgrund des Bundes verortet statt in seinem Wesen. Tiqqun ‘Olam ist für Heschel die eigentliche Antwort auf das Leid, sodass auch wiederum hier die Partnerschaft zwischen Gott und Mensch ersichtlich wird und Heschels relationalen Ansatz unterstreicht.620 Dementsprechend spielen für Heschel auch Wohltätigkeit, soziale Verantwortung und Frieden entscheidende praktische Rollen, was alles drei laut breiter Überlieferung Ziele der Torah sind, die aber nur mithilfe der Kavanah erreicht werden könnten, um nicht in Gesetzlichkeit oder “Schurkentum” zu verfallen.621 In alledem sind für Heschel jedoch Umkehr und Sühne wichtige Aspekte.622 Beide gehören unweigerlich zusammen wie “a tree whose roots are intertwined and whose branches proliferate”,623 was er als Prinzip schon der Propheten gegen die Apokalyptik ins Felde führt, die gegen eine grundsätzliche Möglichkeit zur Verbesserung der Welt seien.624
620 Zu diesem Ergebnis kommt auch Levin: “Heschel’s Homage”, 62, der von Heschels “favor of a relational theology” spricht, “in which God may be the senior and dominant partner in the relationship, but an active human role is required as well.” Vgl. auch Even-Chen: “Omnipresence”, 67. Heschel verweist darum auch auf verschiedene Quellen, aus denen hervorgeht, dass von der Shekhinah berichtet wird, die immer wieder im Kontakt mit der Erde steht bzw. die sich nach und nach zurückgezogen habe; vgl. Heschel: Heavenly Torah, 365. Eisen: “Response”, 218; vgl. 220, schließt daraus: “There is good reason to believe that Heschel saw in R. Akiva a precedent for his own thinking on the Holocaust.” “One might also speculate further by saying that Akiva provides Heschel not just with a theological model for dealing with the Holocaust but also with a model as to how one should act in the face of such evil” (219). 621 Vgl. Heschel: Heavenly Torah, 777ff., bes. 782ff. 622 Diese thematisiert Heschel besonders in seinem Vortrag über den Yom Kippur von 1965, der in dieser Untersuchung jedoch keinerlei weitere Beachtung finden konnte. 623 Heschel: Heavenly Torah, 182. 624 Vgl. ebd., 287. Damit begegnet Heschel erneut den sich gegenüberstehenden Positionen. Denn während bei R. Akiva aufgrund der völligen Gnade alles in Gottes Hand liegt, existiert lediglich bei R. Ishmael und dessen Fokus auf die Gerechtigkeit Gottes die Möglichkeit zu menschlichem Hinzutun (vgl. 73f. u. 183f.). Für R. Akiva gilt deshalb als höchstes Gebot die Nächstenliebe, während es für R. Ishmael das Verbot des Götzendienstes ist; und so ist es auch zurecht geschlussfolgert, wenn R. Akiva unabhängig davon das Studium für eigenwertig erachtet, während es laut R. Ishmael deshalb einen Wert besitzt, weil es zum Handeln aufruft und befähigt (vgl. 203ff.). Einen ähnlichen Gegensatz erkennt Heschel im Verständnis der sog. “Devekut”, die R. Akiva wörtlich als “attaching oneself to the Shekhinah” (190; vgl. auch 191ff.), als innere spirituelle Erfahrung, versteht; R. Ishmael transportiert die Devekut vielmehr auf die zwischenmenschliche Ebene. Von daher wird Ex 24,9f. – wonach Moses, Aaron, Nadab und Abihu wie auch die 70 Ältesten den Sinai besteigen und Gott schauen – vonseiten R. Ishmaels gänzlich umgedeutet, während
4.3 Heschel zwischen Aktivismus und schriftstellerischer Kreativität | 393
4.3.6 Sonstige innerjüdische Impulse und Veröffentlichungen Neben dem zunehmend praktisch Prophetischen beharrt Heschel weiterhin auf eine Erneuerung innerhalb des amerikanischen Judentums. Und auch hier, als Teil ebendieser Spätphase, ereignet sich endlich ein echter geistlicher Durchbruch bzw. Wendepunkt, in besonderer Weise durch die (später veröffentlichte) Rede “Existence and Celebration” von 1965, infolge dessen auch anderswo deutliche Zweifel gegenüber den Assimilationsbestrebungen auftreten.625 Dies schlägt sich darum auch nieder in Impulsen in Richtung der Wohlfahrtsverbände und sogar des Bildungswesens. Mithilfe von neuem Denken und richtigen Fragen fordert er die hochrangigen Vertreter der jüdischen Wohlfahrtsgesellschaften auf, neben ihrem gesellschaftlichen Engagement den Fokus auch auf die Anbetung und das Studium als Ausdrücke jüdischer Spiritualität zu legen.626 Es folgen weitestgehend bekannte Aspekte von Heschels Denken: Spiritualität besitzt mit seiner Komponente des Gebets einerseits eine private Seite.627 In dieser Hinsicht zieht er einen tiefen Graben zwischen Innerlichkeit und Welt,628 um mithilfe der Kavanah “a sanctuary of time in the realm of the R. Akiva es darin auflöst, Gottes Angesicht und Herrlichkeit im Fasten zu “sehen” (vgl. 312ff. Für Heschel ist es lediglich Gott, der Mose von Angesicht und Angesicht sah, Mose umgekehrt jedoch nicht; vgl. 320). Dementsprechend versteht R. Ishmael das Studium der Torah als Schauen der Shekhinah in der Welt, während R. Akiva es dem Gerechten durchaus zubilligt, die Shekhinah direkt zu erblicken, sodass für ihn die Sünde der ausschlaggebende Faktor ist (vgl. 301ff.). 625 So Shrage: “Heschel”, 59: “Before the speech, assimilation was the unquestioned norm among most American Jews who assumed that the path of assimilation was the path of America, the path of progress and the inevitable path of the Jewish people. After Heschel’s speech, doubts began to arise, doubts that Heschel himself captured and transmitted to a generation of students like Hillel Levine, Arnold Eisen, and Arthur Green, who became the teachers of a new generation of Jewish leaders through new institutions and programs, and who are now teaching another generation that will continue the great struggle that Heschel anticipated in the early sixties.” Die Rede selbst ist zu finden bei Heschel: Grandeur, 18–32 (“Existence and Celebration”, 1965). 626 Vgl. ebd., 18–21 (“Existence and Celebration”, 1965); vgl. auch ebd., 47ff. (“A Time for Renewal”, 1972). 627 Vgl. ebd., 257–267, bes. 266 (“On Prayer”, 1970). Diese Rede hält Heschel Ende August 1969 während einer Großveranstaltung der National Liturgical Conference in Milwaukee/WI, gedruckt 1970, infolge derer er – während des Rückfluges – seinen ersten Herzinfarkt erleidet; Kaplan: Radical, 339; 458. 628 Heschel: Grandeur, 259 (“On Prayer”, 1970): “It [Gebet; Anm. von P. M.] consists of two inner acts: an act of turning and an act of direction. I Leave the world behind as well as all interests of the self.”
394 | 4 Relationalität, Bibel und prophetischer Aktivismus: Die Spätphase soul”629 aufzurichten. Andererseits erkennt Heschel aber auch eine öffentlichprophetische Seite des Gebets, weil sich das Gebet vom restlichen Leben absetzen müsse.630 Dies hat seinen Grund darin, dass “[p]rayer is a confrontation with Him who demands justice and compassion, with Him who despises flattery and abhors iniquity.”631 Über den Eigenwert hinaus resultiert aus dem Gebet nicht nur die Rückführung Gottes aus dem Exil, sondern ganz im Sinne von Bonhoeffers Verantwortungsethik auch der Anspruch (engl. “claim”) Gottes an den Menschen, dessen “[r]eligious responsibility is responsiveness to the claim.”632 Kombiniert mit dem Wort Gottes führt dies zur heiligen Tat, “where heaven and earth meet”633 . Durch Übung wird der Beter schließlich auch sensibel für das Böse in der Welt, wodurch ein Reinigungsprozess von Sprache, aber auch irdischen Götzen und Verlockungen in Gang gesetzt wird.634 Gegenüber dem vorherrschenden Institutionalismus des Bildungs- und Erziehungswesens postuliert Heschel deshalb neben der väterlichen Erziehung auch das persönlich-lebendige Vorbild des Lehrers, der im Geiste der biblischen Propheten den Umgang mit Spannungen im Glauben, verwurzelt in innerlicher Kultivierung der Seele, Freiheit und Verantwortung fördert, da er davon aus geht, dass “[w]hat man thinks of himself, of society, of humanity, determines his way of making a decision.”635
4.3.7 Israel: An Echo of Eternity (1967) Im Jahre 1967, im Nachgang des Sechstagekrieges und infolge eines Israel-Besuches,636 reflektiert Heschel schließlich in Israel: An Echo of Eternity seine Position zu Israel. Hier kulminieren inner- u. interreligiöse sowie öffentliche Theologie. In
629 Heschel: Grandeur, 257 (“On Prayer”, 1970). Die Anklänge an The Sabbath sind nicht zu überhören; etliche Motive wie die des Gebets als ontologische Notwendigkeit aus Man’s Quest for God finden sich hier außerdem wieder. 630 Vgl. ders.: Insecurity, 68 (“Idols in the Temples”, 1962). 631 Ders.: Grandeur, 261 (“On Prayer”, 1970). 632 Ebd., 261; vgl. 260–262; 266 (“On Prayer”, 1970). 633 Ebd., 261 (“On Prayer”, 1970). 634 Vgl. ebd., 263–265 (“On Prayer”, 1970). 635 Ders.: Insecurity, 60; vgl. 55ff. (“Idols in the Temples”, 1962). S. auch ebd., 193ff. (“The Individual Jew and His Obligations”, 1957) u. ders.: Grandeur, 27f. (“Existence and Celebration”, 1965). 636 Details zu Heschels Israel-Besuch 1967 und der Entstehung des Buches (als Erweiterung einer hebräischen Rede) bieten Even-Chen und Meir: Between, 247.
4.3 Heschel zwischen Aktivismus und schriftstellerischer Kreativität | 395
sechs Kapiteln nähert er sich der Auseinandersetzung mit Jerusalem, der Stadt seiner Väter. Als Zeugin der Geschichte ist sie einerseits mit der Vergangenheit Israels verbunden, andererseits aber auch in Erwartungshaltung auf Erlösung für den Neubeginn.637 Aus ihr seien Seiten heiliger Bücher hervorgegangen,638 natürlich besonders des einen, der Bibel. Als “Echo of Eternity”639 ist Jerusalem die Stadt, in der die Propheten immer noch lebendig sind.640 Hermeneutische Grundlage ist im Einklang mit der zuvor erarbeiteten rabbinischen Theologie Heschels Ablehnung der allegorischen Exegese, wie Philo sie in der Antike neuplatonisch rezipiert hat, weil Heschel darauf die von Christen vernachlässigte Empathie für das (irdische heilige) Land zurückführt.641 Besonders die moderne kritische Wissenschaft lobt er deshalb, die den Weg zurück zum wörtlichen Sinn des Textes geebnet habe.642 In deutlicher Ähnlichkeit zu Bonhoeffer argumentiert Heschel gleichsam gegen das Auseinanderreißen von Säkularem und Religiösem bzw. von Materiellem und Spirituellen oder gar von Leib und Seele.643 Er begründet dies mit der Hebräischen Bibel selbst, die sich seiner Ansicht nach nicht um den Himmel, sondern um die Erde dreht, weshalb er in prophetisch-aktivistischer Manier schlussfolgert: “Our immediate concern must be with justice and compassion in life here and now, with human dignity, welfare, and security.”644 Darum sind für ihn das irdische Jerusalem wie auch seine Einwohner “immediate spiritual challenge”.645 Nachdem er die aktuelle jüdische Existenz anhand der drei Attribute “Disaster, deliverance, dismay”646 und ein nicht bewusst-jüdisches Leben als “spiritual suicide”647 charakterisiert hat, muss er sich eingestehen, dass besagte Staatengründung Israels auch nicht die innere Leere lösen kann.648 Israel als Staat besitzt 637 Vgl. Heschel: Israel, 8. 638 Vgl. ebd., 8. 639 Ebd., 7. 640 So auch Even-Chen und Meir: Between, 249: “Heschel looked upon Jerusalem through the eyes of the prophets and with their visions and sub specie aeternitatis. He himself dreamed of the city that had been mentioned in the Jewish prayer through the centuries as a place where all could adore God. His was a prophetic vision.” 641 Vgl. Heschel: Israel, 139f. 642 Vgl. ebd., 142. 643 Vgl. ebd., 145. 644 Ebd., 147; vgl. auch 149. 645 Ebd., 148. 646 Ders.: Insecurity, 187 (“The Individual Jew and His Obligations”, 1957). 647 Ebd., 190 (“The Individual Jew and His Obligations”, 1957). 648 Vgl. ebd., 190f. (“The Individual Jew and His Obligations”, 1957).
396 | 4 Relationalität, Bibel und prophetischer Aktivismus: Die Spätphase an dieser Stelle somit für Heschel keinen Eigenwert, solange die Liebe Gottes zu Israel vergessen wird.649 Gegenwärtige (säkulare) Bildung macht Heschel dafür verantwortlich, dass die Freude des traditionellen Judentums verborgen bleibt. Gleichzeitig betont er aber aufgrund des Bundes mit Gott die enge Verbindung des Juden zum Volk Israel, denn “a Jew who abandons the people of Israel detaches himself from the God of Israel.”650 Weil dem Juden auch die Trägerschaft der Vision für alle Menschen zukommt, muss er sich aber Heschel zufolge mit der eigenen Tradition auseinandersetzen.651 Denn erst als lebendige Größe wird das Judentum eins, weshalb Heschel auf eine erneuerte Verbundenheit von Jude und Judentum hinweist, von Volk und Torah, wobei er – wie sonst auch – wiederholt feststellen muss: “The trouble is that the soul is in exile, that even the Torah is in exile.”652 Dementsprechend propagiert Heschel – an anderer Stelle – nicht einfach zur Einwanderung nach Israel, sondern vielmehr zur spirituell-kulturellen Aliyah, die er als besonders vernachlässigt empfindet.653 Als wichtigste Aufgabe benennt er “to save the inner man from oblivion, to remind ourselves that we are a duality of mysterious grandeur and pompous dust”654 . Neben der innerlichen Öffnung für die spirituelle Dimension des Judentums plädiert er aber auch gegen das falsch verstandene Bild von dem Judentum als Zivilisation, weshalb für ihn persönliche und soziale Heilung als Voraussetzung für ultimative Erlösung entscheidend ist und dabei der Halakha tragende Bedeutung zukommt.655 So argumentiert Heschel auch umgekehrt, dass die Ablehnung des Landes unweigerlich auch mit der Ablehnung der Bibel einhergehe, weil er das Judentum als Gemeinschaft versteht, in der die Bibel weiterleben soll.656 Bibel und Israel gehören für Heschel unweigerlich zusammen. Denn die Bibel als Zeugnis der Geschichte des Bundes zwischen Gott und Israel aktualisiert sich Heschel zufolge permanent – wohl ganz im Sinne von R. Akivas Position in Heavenly Torah –, sodass sie nie ein Ende in sich selbst darstellt und man jederzeit etwas Neues in ihr finden kann, was umso tragischer ist, als er feststellen muss, dass die Bibel im 20. Jahrhundert kaum noch gelesen wird.657 Weil Bibel und Land miteinander 649 Vgl. Heschel: Insecurity, 195 (“The Individual Jew and His Obligations”, 1957). 650 Ebd., 202 (“The Individual Jew and His Obligations”, 1957). 651 Vgl. ebd., 203 (“The Individual Jew and His Obligations”, 1957). 652 Ebd., 204 (“The Individual Jew and His Obligations”, 1957). 653 Vgl. ebd., 213 (“Israel and Diaspora”, 1958). 654 Ebd., 214 (“Israel and Diaspora”, 1958). 655 Vgl. ebd., 216–221 (“Israel and Diaspora”, 1958). 656 Vgl. ders.: Israel, 45. 657 Vgl. ebd., 45.
4.3 Heschel zwischen Aktivismus und schriftstellerischer Kreativität | 397
verwoben sind, knüpft er jüdische Erneuerung nicht allein an die Rückkehr zur Bibel, sondern auch an das heilige Land, das seiner Ansicht nach trotz einer möglichen Zwei-Staaten-Lösung rechtmäßig zum Volk Israel gehört, wie er in einem ausführlichen geschichtlichen Einschub deutlich macht.658 Als Buch der Vorwegnahmen wie auch der Erinnerungen, der Hoffnung, Versprechungen und Verantwortlichkeiten übermittelt die Bibel laut Heschel die existentielle Bedeutung der Geschichte, weshalb er sie als “greater masterpiece”659 bezeichnet. Gleichzeitig ist sie laut Heschel ein unvollendetes Drama, auf dessen Weg der Staat Israel einen Wegweiser darstellt, weil die menschliche Verantwortung im Sinne von Bonhoeffers Antwort Geben auf die Herausforderungen des historischen Kontextes gefragt ist,660 was nichts anderes meint als Relationalität zur Welt. Der Gott Israels als Gott der Geschichte ist laut Heschel nicht dominant, sondern – im Sinne seiner Mittelposition zwischen R. Akiva und R. Ishmael – gnädig, während die menschliche Schuld ebenso ernst zu nehmen ist, weshalb er die mit Gottes gnädiger Wiedererrichtung des israelischen Staates in einem Atemzug mit dem “martyrdom of Auschwitz”661 erwähnen kann. Gottes Eingreifen in die Geschichte hält Heschel somit durchaus (wieder) für möglich,662 auch wenn er gleichzeitig betont, dass “God’s will does not dominate the affairs of men”.663 Dieses Intermezzo spitzt die Spannung zur Frage von Gottes Allmacht zu: Er kann direkt eingreifen, beabsichtigt dies aber eigentlich nicht, sondern möchte primär relational durch den Menschen handeln. Heschel zufolge ist somit auch jenseits solch deutlicher Ereignisse die jüdische Existenz (weiterhin) verantwortlich dafür, Gottes Zeuge zu sein – besonders von der Erlösung, in deren Zusammenhang die Rückkehr zum Zion bedeutsam 658 Vgl. Heschel: Israel, 48ff.; 54–84. In “Israel and Diaspora” (1958) geht Heschel von der Feststellung aus, dass das israelische Land integraler Teil jüdischer Identität sei, dessen Ursachen er spirituell verortet, auch wenn er erneut die Bedeutung des jüdischen Volkes betont; vgl. ders.: Insecurity, 212 (“Israel and Diaspora”, 1958). Dass Heschel jedoch nichts von den politischen und militärischen Machenschaften gewusst hat, die zur Gründung des Staates Israel führen, betont Moore: “Heschel on Israel”, 119. Erst kurz vor seinem Tode wird er offenbar mit diesen Dingen konfrontiert, denen er dann aber entschieden widerspricht (vgl. 121). Even-Chen und Meir: Between, 251, kommen dementsprechend zu dem Ergebnis, dass Heschel “did not have a territorialist view of Eretz Yisrael, but a biblical and prophetic one: a person had to deserve to live in it.” 659 Heschel: Israel, 129; vgl. 99ff., bes. 103; s. auch ders.: Papers, 90/7 + 8. 660 Vgl. ders.: Israel, 222f.; 225. 661 Ebd., 138; vgl. 130; 133; 220. 662 Dementsprechend Even-Chen: “Omnipresence”, 69: “The victory in the war led Heschel to renewed belief in a God of history.” 663 Heschel: Israel, 130 (Hervorhebung von P. M.)
398 | 4 Relationalität, Bibel und prophetischer Aktivismus: Die Spätphase wird. Aus der Beziehung zu Gott heraus und in der relationalen Funktion zu anderen Völkern wird somit die Bedeutung des “auserwählten Volkes” nachvollziehbar.664 Andernfalls schicke Gott – bzw. explizit die Geschichte, so Heschel – Erinnerungen als “divine imperative”.665 Denn der neue jüdische Staat “represents God’s response to suffering, showing how individual lives shaped by compassion create a better world”666 mit der Hoffnung auf Wiederherstellung.667 “Erlösung” versteht Heschel deshalb entsprechend seiner rabbinisch-chassidischen Tradition als Tiqqun ‘Olam, sowohl gleichermaßen politisch innerweltlich und prozesshaft als auch als plötzliche, radikale Transformation der Welt vom Himmel her, natürlich ganz im Sinne der hier anfangs geäußerten Kritik an neuplatonischer Weltentfremdung.668 Dies hebt wieder Heschels Fokus auf das hervor, was Bonhoeffer mit “Diesseitigkeit” bezeichnet hat. Universelle Erlösung ist bei Heschel dem persönlichen Heil vorgeordnet, das aber schließlich allen zugänglich ist; von dort ausgehend, bewertet er auch die jüdischen, christlichen und arabisch-islamischen Perspektiven auf die Staatengründung Israels, teils recht einseitig.669 Mit Verweis auf Ps 83,2–9 vergleicht Heschel dabei den Sechs-Tage-Krieg vom Geist her mit den Tagen der Furcht und lobt im Sinne seines prophetisch-spirituellen Widerstandes die Juden, die zum Gebet statt zu den Waffen gegriffen hätten, weshalb er von “a moment of purification and spiritual self-identification”670 reden kann. Neben jüdischer Selbstkritik entdeckt Heschel einen “spiritual underground”671 in den Herzen amerikanischer Juden. Auf seine Einzigartigkeit führt er deshalb auch die internationale Verbundenheit mit amerikanischen Juden – wie Heschel selbst – zurück.672 Als “way of worshipping God” versteht er es “[t]o care for our brother”,673 weshalb er auf die kontinuierliche Verachtung von Gewalt auf jüdischer Seite aufmerksam macht – so wie er auch die Trauer über die Verluste von Juden, Christen und Moslems sowie Friedens- und 664 Vgl. Heschel: Israel, 134f. So auch Merkle: Genesis, 146. 665 Heschel: Israel, 136. 666 Breslauer: Spirituality, 79. 667 Vgl. ebd., 80; 90. 668 Heschel: Israel, 160: “The task is not to abandon the natural order of creation but to purify it; to humanize the sacred, to sanctify the secular. The hope is for universal redemption, for ontological transformation. Yet it seems that fulfillment will come about by degrees.” 669 Vgl. ebd., 160ff.; 220f. 670 Ebd., 200; vgl. 196f.; 204f. 671 Ebd., 207. 672 Vgl. ebd., 211. 673 Ebd., 212.
4.3 Heschel zwischen Aktivismus und schriftstellerischer Kreativität | 399
Versöhnungsbemühungen hoch hält.674 Heschel träumt schließlich davon, dass Israel ein Segen für die ganze arabische Welt wird “running from Haifa to Beirut and Damascus in the north, to Amman in the east, and to Cairo in the south”.675 “Young Israelis and Arabs could join in mutual discourse of learning”.676 4.3.8 Die letzten Lebensjahre: Chassidismus, Kierkegaard und A Passion for Truth (1969–1972) Wie zuvor dargestellt, geht Heschel in den 1960er Jahren einer Vielzahl an Engagements nach, die ihn mal mehr, mal weniger aufreiben. Dies geht nicht spurlos an ihm vorbei: Auf dem Rückflug von Milwaukee nach New York erleidet Heschel einen schweren Herzinfarkt, der ihn für einige Tage in einen derart kritischen Zustand versetzt, dass die Ärzte zwischenzeitlich jegliche Hoffnung verlieren.677 Doch angetrieben durch die Inspiration zum Schreiben, erholt sich Heschel, sodass er Anfang Oktober zumindest das Krankenhaus verlassen kann. Der Tod ist es deshalb auch, über den Heschel aufgrund eigener existentieller Nähe zunächst reflektiert, nachdem er ihn in Man is not alone nur theoretisch als ein Privileg dargestellt hat.678 In Nähe zu Bonhoeffers lange Zeit als authentisch geltenden letzten Worten “Das ist das Ende – für mich der Beginn des Lebens”679 bezeichnet Heschel den Tod als “not simply man’s coming to an end. It is also entering a beginning.”680 Denn Heschel misst dem Tod als Gegenüber zum Leben nicht nur eine hermeneutische Funktion bei; vielmehr hängt für ihn das Leben vor dem Tod aufs Äußerste zusammen mit dem Leben nach dem Tod.681 Zwar muss Heschel einlenken, dass mit der Schöpfung noch keinerlei Information über ein Leben nach dem Tod gegeben sei, aber er weiß nicht nur um den Ewigkeitswert des Menschen als Ebenbild Gottes, sondern sogar von Gottes Kenntnis des Menschen vor seiner Geburt.682 Besonders deutlich wird an dieser Stelle das hebräi674 Vgl. Heschel: Israel, 214ff. 675 Even-Chen und Meir: Between, 251. 676 Ebd., 252. 677 Vgl. Kaplan: Radical, 340. 678 Vgl. Heschel: Man, 296. 679 So überliefern es noch immer Bethge: DB, 1037, und auch Metaxas: Bonhoeffer, 528, während der Ausspruch weder bei Schlingensiepen: Bonhoeffer, 390, noch Marsh: Strange Glory, 390 erwähnt wird. 680 Heschel: Grandeur, 367 (“Death as Homecoming”, 1969). 681 Vgl. ebd., 367 (“Death as Homecoming”, 1969). 682 Vgl. ebd., 367ff. (“Death as Homecoming”, 1969).
400 | 4 Relationalität, Bibel und prophetischer Aktivismus: Die Spätphase sche Denken Heschels, das den Fokus auf das Diesseits legt,683 womit er letztlich einer ontologischen Anthropologie entkommen will – auch wenn er gewisse Bezüge zur Dichotomie des Menschen sogar in der Hebräischen Bibel vorfindet – und erneut den Fokus auf die Relationalität zwischen Gott und dem Menschen als Partner Gottes legt. Indem der Mensch den Willen Gottes tut, ergreift er bereits das Ewige, und weil ihm zufolge der Tod eine Rückkehr zur Quelle darstellt, ist auch der Tod letztlich Tun des Willens Gottes und damit “a summation, an arrival, a conclusion.”684 Heschel macht ergo keinen Hehl aus seinem Ziel: Statt des heideggerschen “In-der-Welt-Seins” als Status geht es darum, (relational) von Gott erkannt zu sein und so Anteil an der Ewigkeit zu erlangen.685 Somit hilft sein Ansatz, nicht in gewisse Einseitigkeiten oder gar eine Jenseits-Fokussierung zu verfallen, womit er ganz in der Spur von Bonhoeffers Gedanken zum Letzten und Vorletzten liegt. Die Angst vor dem Tod begründet Heschel darum vielmehr im Nichtwissen um das Leben nach dem Tod oder aufgrund ungenutzter Möglichkeiten in diesem Leben.686 Den Tod selbst versteht er außerdem als einen Schutz vor Vergottung des Menschen und ruft zu einem gnädigen Altwerden auf, dem ein gnädiges Sterben als Ankunft folge, aber auch das Ende der Partnerschaft des Menschen beim Helfen des Tiqqun ‘Olam.687 “When life is an answer, death is a homecoming.”688 Allen voran ist es aber die Rückbesinnung auf seine chassidischen Wurzeln, die Heschel ganz neue Kraft und auch Inspiration zum Schreiben verschaffen. Der kindliche Glaube – so spannungsreich er auch ist und bleibt – wird damit trotz aller intellektueller Anstrengung während der dazwischen liegenden Jahrzehnte letztlich eindeutig bestärkt. Noch im Krankenhaus macht er seinem Cousin gegenüber deutlich, dass er neben seinem Onkel, dem Novominsker Rebbe, beerdigt werden möchte.689 Immer wieder mal hat Heschel sich auch akademisch mit dem Chassidismus auseinandergesetzt, und beide großen Rebbes, der Ba’al Shem Tov (oder kurz “Besht”) und auch der Kotzker, nehmen regelmäßig Platz in seinem (teils ganz alltäglichen) Leben ein;690 das offizielle Verbot, am JTS Kurse
683 Heschel: Grandeur, 369 (“Death as Homecoming”, 1969): “The Hebrew Bible calls for concern for the problem of living rather than the problem of dying.” 684 Ebd., 371 (“Death as Homecoming”, 1969). 685 Vgl. ebd., 372f. (“Death as Homecoming”, 1969). 686 Vgl. ebd., 376 (“Death as Homecoming”, 1969). 687 Vgl. ebd., 377 (“Death as Homecoming”, 1969). 688 Ebd., 378 (“Death as Homecoming”, 1969). 689 Vgl. Kaplan: Radical, 341. 690 Vgl. ebd., 60; 87; 100; 104; 131; 160f.
4.3 Heschel zwischen Aktivismus und schriftstellerischer Kreativität | 401
zum Chassidismus halten zu dürfen, wird ihm aber erst in dieser letzten Zeit erlassen.691 Zwar ist das ursprüngliche Buchprojekt über den Besht durch ein Feuer in der Bibliothek des JTS bereits 1966 zu einem jähen Ende gebracht worden, aber immerhin kann er doch noch einen kurzen Aufsatz über “Hasidism as a New Approach to Torah” veröffentlichen, in dem der Besht eine zentrale Rolle spielt. Um überhaupt die Entstehung des Chassidismus zu erklären, führt er anhand der Geschichte Polens seine Besonderheit auf: “Many Jews talked about God, but it was the Besht who brought God to the people.”692 Durch ihn entsteht, so Heschel, ein neues Volk, das jenseits der Halakha auch Wert auf Anbetung legt, denn der Chassid ist ausgerichtet darauf “to be in love, to be in love with God and with what God has created.”693 Deshalb kann man Heschel zufolge den Chassidismus auch nicht analysieren, sondern situativ denkend lediglich bezeugen, ganz im Sinne der notwendigen Innenperspektive Bonhoeffers auf die Kirche, womit das relationale Element wieder einmal zum Tragen kommt. Diese Perspektive findet er natürlich in der chassidischen Bibelauslegung (dem Pilpul) durch den Besht wieder, der persönliche Frömmigkeitsfragen an die Bibel herangetragen und dem Gebet einen enormen Stellenwert beigemessen habe.694 In Nähe zum lutherisch geprägten Bonhoeffer versteht Heschel die Bibel als gesprochenes Wort Gottes zum Leser, dessen Antwort das Gebet sei.695 Überhaupt richtet laut Heschel das chassidische Studium der Torah den Blick auf das die Schrift Transzendierende, bei dem der Mensch als Heiligtum verstanden wird.696 Aspekte wie Mitgefühl, Schönheit und Mysterium sind in alledem wichtig und sollen Hoffnung und Anbetung erzeugen.697 4.3.8.1 A Passion for Truth Aber es ist in besonderer Weise der Kotzker Rebbe, der Heschel, 9-jährig bei dem Tod seines Vaters, die andere Seite des Lebens aufzeigt und in dessen innere Spannung er seitdem zeitlebens mit hineingenommen ist, wie er es schließlich in seinem letzten großen Werk, A Passion for Truth,698 beschreibt: 691 Vgl. Kaplan: Radical, 344ff. 692 Heschel: Grandeur, 34 (“Hasidism as a New Approach to Torah”, 1972). 693 Ebd., 34 (“Hasidism as a New Approach to Torah”, 1972). 694 Vgl. ebd., 35ff. (“Hasidism as a New Approach to Torah”, 1972). 695 Vgl. ebd., 37 (“Hasidism as a New Approach to Torah”, 1972). 696 Vgl. ebd., 38 (“Hasidism as a New Approach to Torah”, 1972). 697 Vgl. ebd., 38f. (“Hasidism as a New Approach to Torah”, 1972). 698 Die zeitgleich entstandene, jiddische Version “In Gerangl for Emesdikeit” erscheint erst posthum. “It was twice the size of A Passion for Truth and written in a rich, rabbinically inflec-
402 | 4 Relationalität, Bibel und prophetischer Aktivismus: Die Spätphase
Years later I realized that, in being guided by both the Baal Shem Tov and the Kotzker, I had allowed two forces to carry on a struggle within me. […] In a very strange way, I found my soul at home with the Baal Shem but driven by the Kotzker. […] The one reminded me that there could be a Heaven on earth, the other shocked me into discovering Hell in the alleged Heavenly places in our world.699
Und so stellt sich Heschel persönlicher als je zuvor dem inneren “constant battle between the kindness of the Baal Shem Tov and the harshness of the Kotzker rebbe”700 , dem noch im letzten Augenblick, und zwar bis auf den letzten Tag vor Heschels Tod – der sich in der (Sabbat-)Nacht vom 23. auf den 24. Dezember 1971 ereignet –, eine jiddische und eine englische Reflexion entspringt;701 das “great suffering” jener furchtbaren Jahre, wie Daniel Barrington es beobachtet hat, setzt ihm immer mehr zu.702 Diese Auseinandersetzung hat auch methodische Gründe, denn Heschel realisiert nichts weniger als – wie er zu Beginn des zweiten Teils darlegt – a study in depth-theology. It discusses moments, battles, situations rather than doctrines or beliefs; confrontations of conscience with God rather than summaries of theology; involvements and appropriations rather than rituals or recollections. In short, this study will deal with self-reflection rather than speculation.703
Von Beginn an spiegelt Heschels Analyse darum auch seine eigene Anteilnahme an dem Untersuchungsgegenstand wider. Im Stile von Heavenly Torah stellt er sich erneut zwei geradezu komplementären Persönlichkeiten, die den ersten Teil (“The Two Teachers”) dominieren: Der Besht als Begründer des Chassidismus wird von Heschel als Innovator eingeführt, der das Judentum wieder zum
ted style that could be appreciated by a small handful of readers”, so Faierstein: “Kotsk”, 212. Zu den Abweichungen zwischen der jiddischen und der englischen Version vgl. Aronowicz: “Kotsk”, 112–121. Die unterschiedlich intendierten Leserschaften beider Ausgaben erläutert Shandler: “Heschel”, 293f., der Heschels jiddischen Stil in den Blick nimmt, gerade auch im Gegenüber zu Max Weinreich. Weil A Passion for Truth von Heschel stärker in den interreligiösen und philosophischen Gesamtkontext verortet wird und so “an appeal to a cosmopolitan, ecumenical readership” (ebd., 294) darstellt, ist – neben den pragmatischen Gründen der sprachlichen Zugänglichkeit – an dieser Stelle auf die englische Version zurückgegriffen worden. 699 Heschel: Passion, xiv. 700 Kaplan: Radical, 342; vgl. 131. 701 Ebd., 343: “The books contained Heschel’s most explicit self-analysis, illuminating tendencies he had expressed more discreetly over the years.” So auch Berthold-Bond: “Heschel”, 268; zu Heschels Tod s. Kaplan: Radical, 373. 702 Vgl. Kasimow und Sherwin, Hg.: No Religion, 70f. 703 Heschel: Passion, 86.
4.3 Heschel zwischen Aktivismus und schriftstellerischer Kreativität | 403
Abenteuer gemacht hat, wodurch dem gemeinen Volk wieder Gott selbst bzw. die Möglichkeit nach Gotteserfahrungen gebracht worden ist anstatt lediglich Lehren.704 In dieser Lebendigkeit der Gottesbeziehung spielt die Spontaneität eine sehr große Rolle, gepaart mit Freude, Liebe und Hingabe zu Gott und auch an die Welt, während der Kotzker “demanded constant tension and unmitigated militancy in combating this-worldliness.”705 Deshalb erklärt Heschel den Kotzker sowohl als Höhepunkt wie auch als Antithese zum Besht innerhalb des Chassidimus.706 Statt Askese pointiert Heschel den Anspruch auf Wahrheit als höchstes Gut des Kotzkers, die im prophetischen Stil in Gesellschaftskritik mündet.707 Ferner auch Freude vs. Reue, Gottesnähe vs. Distanz, Gemeinschaft vs. Alleinsein, Schöpfer vs. Korruption der Schöpfung, und letztlich auch Anhängen an Gott (Devekut) vs. reflektiertes Sein.708 Dass nach dem frühen und ungerechtfertigten Tod des Vaters der junge Abraham nicht mehr allein den Lehren des Besht folgen kann, ist nachvollziehbar. Ganz im Stile der Spannung zwischen R. Akiva und R. Ishmael tritt neben die Lehre des Besht über die immanente, exilierte Shekhinah auch die Transzendenz Gottes samt geradezu ablehnender Haltung kabbalistischer Einflüsse.709 Die vom Besht angestrebte Ekstase des Juden hält der Kotzker sogar für Selbstbetrug ebenso wie den Versuch individueller Erlösung durch die Bindung an den Rebbe,710 was Heschel so aber nicht eins zu eins teilen dürfte. Von Teil 2 an (bis einschließlich Teil 8) ist in Heschels tiefentheologischem Vergleich nicht mehr der Besht das Gegenüber zum Kotzker, sondern niemand Geringeres als Kierkegaard.711 Auch wenn Heschel sie dogmatisch und in gelebter
704 Vgl. Heschel: Passion, 4–7. 705 Ebd., 10. 706 Ebd., 7f. “Certainly, several principles stressed by the Baal Shem have remained part of the Kotzker’s teaching. […] The Kotzker did not, however, feel bound by the norms and forms of the movement. Kotzk brought a revolution into the history of Hasidism, and was in many ways diametrically opposed to Mezbizh.” 707 Vgl. ebd., 10ff.; 22. 708 Vgl. ebd., 15ff.; 29; 45. 709 Vgl. ebd., 30f.; 39; 77; 80; zur menschlichen Verantwortung gegenüber Gott in A Passion for Truth vgl. auch Wiese: “God’s Passion”, 225f. 710 Vgl. Heschel: Passion, 49; 63; 74. 711 Vgl. Kaplan: Radical, 373. Auch wenn Heschel sich spätestens während der Studienzeit mit existentialistischem Denken auseinandergesetzt hat, folgt die direkte Berührung mit Kierkegaard wohl erst später. So findet sich im ersten Teil (bis 1940) der großen Biographie von Dresner und Kaplan (Kaplan und Dresner: Witness) kein einziger Verweis auf den dänischen Philosophen; erst in Heschels Auseinandersetzung mit dem amerikanischen Reformjudentum 1953, das sich
404 | 4 Relationalität, Bibel und prophetischer Aktivismus: Die Spätphase Frömmigkeit (engl. “ritual”) für “worlds apart”712 hält, kann er sie auf der zentralen Ebene seiner Tiefentheologie, nämlich dem Glaubensvollzug bzw. der Kavanah, gut ins Gespräch miteinander bringen. Schon im ersten Teil ist zweimal Kierkegaards Name gefallen, der – wie der Kotzker – die Transzendenz Gottes hervorhebt, Seine Exilierung aber nicht erwähnt.713 Anhand beider markiert Heschel als Ziel die täglich neue Hingabe an Gott, basierend auf einem komplex-dynamischen Verständnis des Menschen. So ist Heschel zufolge für beide das innere menschliche Leben von höchstem Interesse und Sorge: Besonders der Kotzker ist gegen jede Selbstgefälligkeit, und beide legen Wert auf neue Attitüden und Sensibilitäten grenzenloser Herausforderung statt fixer Doktrin – also im Sinne von Heschels Tiefentheologie –, was bei beiden aufgrund des Ziels einer extravaganten Spiritualität allerdings in eine Entfremdung von der Welt mündet.714 In diesen wenigen ersten Worten wird damit das deutlich, was Kaplan als Heschels “rage[d] against mediocrity as never before”715 bezeichnet hat. Höchste Priorität erhält Gott damit bei beiden, anderenfalls sei Er von keiner Priorität, weshalb Integrität besonders wichtig erscheine.716 Immer wieder wird dabei deutlich, wie stark das Ich als Problem angesehen wird.717 Denn das Selbst stehe zwischen Gott und Mensch, und sogar das Selbstbewusstsein wird dem religiösen Handeln gegenüber gestellt, so Heschel.718 Das bedeutet ihm zufolge aber einen Ausschluss von Selbstliebe und Gottesliebe.719 Grundvoraussetzung ist Gotteserkenntnis jenseits reiner Rationaliebenfalls massiv auf diese Quellen bezieht – und eben auch Kierkegaard –, taucht dieser namentlich auf; so heißt es bei Kaplan: Radical, 152: “Each [der anderen Referenten während der Jahreskonferenz der Central Conference of American Rabbis; Anm. von P. M.] sought to identify the best model for contemporary American Judaism, and the references were basically the same: Kant, Kierkegaard, Hermann Cohen, Karl Barth, Rosenzweig, Buber, Will Herberg, Reinhold Niebuhr, and Mordechai Kaplan.” Heschel selbst regt in seinem Vortrag “Toward an Understanding of Halacha” gegen das Reformjudentum zum “leap of action” an (s. auch ebd., 155), womit er Kierkegaards Sprung in den Glauben aus Furcht und Zittern aufnimmt, aber auf seine Tatorientierte Theologie ummünzt. Spätestens in dieser Zeit seines ersten Herzinfarktes, als er an Rosh Ha-Shana, dem jüdischen Neujahrsfest, Besuch durch den ihm bis dato unbekannten R. Joshua Schmidman erhält und mit ihm über Kierkegaards Deutung der Aqedah (vgl. Gen 22) in Furcht und Zittern spricht, sollte die Idee für diesen Vergleich präsent gewesen sein. 712 Heschel: Passion, 86. 713 Vgl. ebd., 30f. 714 Vgl. ebd., 87. 715 Kaplan: Radical, 343. 716 Vgl. Heschel: Passion, 95. 717 Vgl. ebd., 97. 718 Vgl. ebd., 98; 101. 719 Vgl. ebd., 102.
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tät, die zu Verantwortung und Gegenposition führt, auch wenn Heschel gleichsam des Kotzkers reflektierende Rationalität als Prozess der Selbstprüfung vor Gott gutheißen kann.720 Bei Kierkegaard spricht Heschel sogar von “militant individualism” und “radical theology”,721 und der Kotzker wird für seine Konfrontation gegen eine Trivialisierung des Judentums beschrieben. Dass Heschel als Gegenüber gerade Kierkegaard ausgewählt hat, dürfte auch mit dessen Wahrheitsverständnis zusammenhängen, das Kierkegaard laut Heschel an die konkrete Situation hängt, wodurch Wahrheit als Subjektivität verstanden wird, als “being the truth”,722 was letztlich natürlich relational bzw. tiefentheologisch gedacht ist. Dahinter verbirgt sich laut Heschel eine “double reflection” als “actualization of inwardness”,723 was den Grundgedanken seines Existentialismus meint und auf die ganze, konkrete Person zielt.724 Auch beim Kotzker findet Heschel den Gedanken der Transformation des Individuums, vor allem durchs Studium, auch wenn von beiden gleichermaßen die Wissenschaft gern kritisiert wird, die sich selbst nicht verstehe.725 Mit dem dritten Teil lenkt Heschel den Fokus auf den Willen, den er bei Kierkegaard wie auch beim Kotzker Rebbe als Priorität in Glaubenssachen gegenüber der rationalen Vernunft ansiedelt.726 Damit kommt der Willensfreiheit entscheidende Bedeutung zu.727 Für den Vergleich zu Bonhoeffer ist wichtig zu nennen, dass Heschel immer wieder Kierkegaards und des Kotzkers Intention gegen faule Kompromisse, Selbsterhebung des Menschen, aber auch – um Bonhoeffers Worte zu benutzen – gegen billige Gnade aufnimmt.728 Subjektivismus bzw. Nonkonformismus ist damit offenbar die einzig mögliche Schlussfolgerung, damit sich das religiöse Individuum nicht hinter einer Gruppe verstecken kann, weshalb der Kotzker nur ausgewählte Nachfolger gehabt habe, so Heschel, Kierkegaard gar keine.729 Und auch im anschließenden vierten Teil (“Radicalism”) betont Heschel die gemeinsame Position beider gegen das laxe Verständnis von Zeugenschaft, dass
720 Vgl. Heschel: Passion, 90f.; 94. 721 Beides ebd., 92. 722 Vgl. ebd., 105 mit Verweis auf Kierkegaard: Einübung. 723 Heschel: Passion, 105. 724 Vgl. ebd., 106. 725 Vgl. ebd., 107; s. auch Dolna: Gegenwart, 106ff. 726 Vgl. Heschel: Passion, 118ff. 727 So auch Dolna: Gegenwart, 108ff. 728 Vgl. Heschel: Passion, 125f.; 131ff. 729 Vgl. ebd., 138f.; 141; 143.
406 | 4 Relationalität, Bibel und prophetischer Aktivismus: Die Spätphase nämlich “the major roots of evil in our insane world […] mendacity, falsehood, wantonness of words, perversion of the heart”730 seien. Stattdessen appelliert er mit Kierkegaard an das Schweigen vor dem Wort Gottes.731 Neben der Wahrheit ist es in diesem Teil auch immer wieder die Ehrlichkeit, an die beide appellieren.732 Wahrheit wird erneut – diesmal anhand des Kotzkers – relational bzw. personal verstanden, an der sich partizipieren lässt: “Truth was […] the coincidence of the individual’s life with the will of God. […] God is Truth. […] Truth is not within man’s reach. It is only in God.”733 Deshalb ist Wahrheit laut Heschel auch nicht habbar, wie er mit Kierkegaard schlussfolgert, sondern man kann lediglich von ihr gefangen werden.734 Als einen nächsten gemeinsamen Aspekt zwischen Kierkegaard und dem Kotzker nennt Heschel Kampf- oder Einsatzbereitschaft als Essenz von Religion (“The Battle for Faith”), den er im fünften Teil entfaltet.735 Der “Faith as a Leap”,736 besonders bei Kierkegaard, spielt dabei eine zentrale Rolle und markiert erneut den betonten Willen, auch wenn der allein nicht reicht, sondern der Gnadenakt dazutreten müsse. Als menschliches Dilemma bezeichnet der Kotzker den Glauben im Sinne einer Antwort, die aber nur durch extreme spirituelle Qual zu erreichen sei.737 Einig sind sich darin beide, dass Glaube nicht zu ererben sei; vielmehr sei die Welt voll von Möglichkeiten, sich Gott zu nähern als Ende aller Egozentrik.738 So übertrifft der Glaube auch jede Ratio und umschließt – im Sinne von Heschels Appell an den “leap of action” – das Befolgen von Geboten, selbst wenn sie rational nicht einsichtig seien.739 Die starke Gesellschaftskritik (oder -ignoranz) beider, die geradezu in eine Entfremdung von der Welt mündet, deduziert Heschel aber auch aus ihrer Persönlichkeit, wie er es im sechsten und siebenten Teil thematisiert.740 Auch kör730 Heschel: Passion, 158; zur Kritik an Mittelmäßigkeit vgl. 149f.; 152. Vgl. auch Even-Chen und Meir: Between, 209. 731 Vgl. Heschel: Passion, 150. 732 Vgl. ebd., 161; 163f. 733 Ebd., 164f. 734 Vgl. ebd., 165; s. auch Held: Heschel, 198. 735 Vgl. Heschel: Passion, 183ff. 736 Ebd., 184. 737 Vgl. ebd., 187. 738 Vgl. ebd., 188f. 739 Vgl. ebd., 192; 194. 740 Vgl. ebd., 201f.; 212f. Laut Heschel hält Kierkegaard es sogar für möglich, einer von wenigen pro Generation zu sein, die geopfert werden müssten, was das melancholische Gemüt beider verdeutlicht; vgl. ebd., 206.
4.3 Heschel zwischen Aktivismus und schriftstellerischer Kreativität | 407
perliche Enthaltsamkeit ist für beide ein wichtiges Thema und lässt eine geradezu dualistische Leibfeindlichkeit beider erahnen.741 Aber natürlich existieren auch Differenzen zwischen dem Kotzker und Kierkegaard, die Heschel im achten Teil beleuchtet; sie berühren naheliegenderweise die theologische (also nicht tiefentheologische) Ebene und repräsentieren geradezu die grundsätzlichen Unterschiede zwischen Judentum und Christentum. Denn neben der geistesgeschichtlichen Prägung – Kierkegaards Bezug zu Hegel und Romantik, der Kotzker durch die talmudische Dialektik –,742 der sich unterscheidenden literarischen Hinterlassenschaft und Differenzen im Lebensstil743 ist es Kierkegaards Christozentrik, die sich laut Heschel deutlich von der Theozentrik des Kotzkers und dem Verhältnis zwischen Gott und Mensch niederschlägt.744 Als Wurzel benennt Heschel hier wie auch schon in vorherigen Werken die christliche Erbsündenlehre, die nicht nur den Fall des Menschen und dessen völlige Trennung von Gott markiere, aus der sich der Mensch selbst nicht befreien könne, sodass nur Gott selbst agieren könne. Dennoch verweist Heschel darauf, dass Kierkegaard die Selbstreflexion zur Erkenntnis der eigenen Schuld für möglich hält.745 Und anhand des lukanischen Evangeliums findet Kierkegaard Gründe nicht nur für die Selbstverleugnung, sondern auch eine Art Weltfeindlichkeit und Leiden als notwendige Konsequenz des Glaubens.746 Den Kotzker verortet Heschel theologisch in der “Mitte” des Judentums: Der Jude solle in diese Welt involviert sein, kenne lediglich Aktsünden, könne vor Gott einen Verdienst erlangen und betont die Angewiesenheit Gottes auf die Erfüllung der Gebote durch den Juden.747 Heschels Einstellung gegen jeglichen Leib-Seele-Dualismus wird in diesem Zusammenhang erneut deutlich, den er sogar gegen das mittelalterliche Judentum richtet.748 Im Gegensatz zu Kierkegaards drastischer Ablehnung der Welt stellt Heschel beim Kotzker eine differenziertere Perspektive fest, die zwar die Gesellschaft mit all den Schlechtigkeiten der Menschen als sehr negativ ablehnt, der Natur aber als Gottes Schöpfung Immenses abgewinnt.749 741 Vgl. Heschel: Passion, 216f.; 221; 225f. 742 Vgl. ebd., 239f. 743 Vgl. ebd., 240f. 744 Vgl. ebd., 242. 745 Vgl. ebd., 252–255. 746 Vgl. ebd., 244f.; 247; 249; 259. 747 Vgl. ebd., 249; 254; 255; 259. 748 Vgl. ebd., 243f. 749 Vgl. ebd., 225ff.; auf Kierkegaards weltfremde Spiritualität hat Buber bereits 1936 aufmerksam gemacht, mit dessen Position Heschel sicherlich vertraut war; vgl. Even-Chen und Meir: Between, 49; 51; 54f.
408 | 4 Relationalität, Bibel und prophetischer Aktivismus: Die Spätphase Als eigentliches Problem bzw. als die zentrale Frage des Kotzkers sieht Heschel die nach dem Leid und bringt ihn deshalb im vorletzten (neunten) Teil nochmals in einen Dialog mit Hiob.750 Neben anderen Aspekten spielt Heschel auf die Herausforderung des Propheten gegenüber Gott an, anstatt gefühlskalt blinden Gehorsam walten zu lassen.751 Denn es geht um einen Kampf mit und für Gott, weil das Unheil schon vor der Schöpfung des Menschen existiert habe; Überleben sei deshalb nur durch Herausforderung Gottes, Kampfgebet, Anbetung und Warten möglich.752 Ehrlichkeit ist es erneut, die Heschel beim Kotzker vorfindet und die dennoch scheinbare Ungereimtheiten bei Gott zulässt. Mit Schweigen oder gar Singen sei dann, so Heschel, auf das Leid zu antworten –753 erneut um den Fokus “from humanity’s suffering to God’s”754 zu legen. Das Mysterium Gottes bleibt also erhalten, anders als bei Platon, weil Glaube nicht durch Spekulation, sondern durch Gottes Gegenwart entsteht,755 womit Heschel auf den Grundpfeiler seiner Tiefentheologie rekurriert. Durch die Mitsvot erhält der Mensch die Möglichkeit, unendliche Bedeutung zu erlangen.756 Denn die Wahrheit ist laut Heschel zwar verborgen, aber der Mensch kann suchen und kommt so nicht als Apologet Gottes zum Tragen, sondern vielmehr als Sein Partner. Das Theodizee-Problem wird damit zur Sache Gottes, auch wenn Heschel es nicht lassen kann, auch auf die prophetische Sympathie einzugehen.757 Und so verwundert es natürlich nicht, dass Heschel im zehnten und letzten Teil zur Gegenwartsbedeutung den Kotzker in die Spur der alttestamentlichen Propheten einreiht, der – mit Kierkegaard – das Entweder-Oder betont, gegen die Verlogenheit der Menschen protestiert und für eine ständige Innovation des Lebens aus der Gegenwart des Glaubens eintritt.758 Besonders in diesem letzten Teil entzündet Heschel aber auch Kritik gegen den Kotzker Rebbe, und zwar auf Grundlage der Bibel, aus der Heschel ableitet, dass “one arrives the conviction that God meant man to delight in living.”759 Dass Heschel in diesem letzten Teil Kierke750 Vgl. Heschel: Passion, 263. 751 Vgl. ebd., 265; 269f. 752 Vgl. ebd., 266f. 753 Vgl. ebd., 279; 281; 284; 288. 754 Held: Heschel, 178. 755 Vgl. Heschel: Passion, 291f. 756 Vgl. ebd., 296. 757 Vgl. ebd., 297; 299ff. 758 Vgl. ebd., 307ff.; 311; 319; 322; s. auch Even-Chen und Meir: Between, 209 u. Marmur: Heschel, 120. 759 Heschel: Passion, 309; auf diesen Punkt weist zurecht auch Berthold-Bond: “Heschel”, 275 hin.
4.4 Zusammenfassung
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gaard nur noch streift, wird aus der Architektur und Motivation der Arbeit ersichtlich, denn auch der Besht und Hiob tauchen als Vergleichspersonen auf, dienen aber allesamt nur als Hilfen zur Sichtschärfung. Der rote Faden bleibt letztlich der Kotzker, dessen sperrige Position Heschel in diesen letzten Lebensjahren erneut wachhält, und der so sein geistiges Erbe nachdrücklich prägt.760 Von der Auseinandersetzung mit den biblischen Propheten bis hin zu den chassidischen Persönlichkeiten wird Heschels Überzeugung somit deutlich, dass “the world is in need of great charismatic religious figures”,761 wie Green zusammenfasst. “The Hasidic yearning for true charisma is alive and well in Heschel.”762
4.4 Zusammenfassung Auch dieser dritte Teil, die sog. “Spätphase”, hat gezeigt, dass es im Leben und Denken von Bonhoeffer und Heschel klare Kontinuitäten, aber auch gewisse Neuerungen gibt, die sich sowohl in ihrem Gottesbild als auch in der Praxis zeigen.763 Bei Bonhoeffer fällt dies deutlicher ins Gewicht, weil sein Leben mit insgesamt nur 39 Jahren von kürzerer Dauer ist als das Heschels, der wesentliche theologische Aspekte bereits in seiner etwa 15 Jahre dauernden Mittelphase hat entwickeln können, die darum fließend in die Spätphase überleiten (die schwerpunktmäßig durch die praktische Umsetzung des prophetischen Aktivismus geprägt ist). So führt Heschel seine Theologie des göttlichen Pathos fort und überarbeitet sogar seine gut 25 Jahre alte Dissertation zu The Prophets; Bonhoeffer greift in der Ethik ebenfalls auf altbekannte relational gefärbte Theologumena und Begrifflichkeiten zurück, die schon spätestens seit Schöpfung und Fall in Gebrauch sind, wie: Scham und Gewissen als Zeichen der Entzweiung des Menschen von Gott, Partizipation an Christi Gnade durch das Schauen auf ihn als einfältigem Gehorsam. Und auch die Tegeler Briefe spiegeln dies wider, aufseiten Heschels gleichermaßen geradezu jede Publikation. Das Ergebnis, so wird sich zeigen, ist ein relationales Denken (inkl. Handeln), das die drei Relationen – zu Gott, zum Nächsten, zur Welt – gleichermaßen und ausgewogen ins Verhältnis bringt. Nachdem Bonhoeffer und Heschel sich in ihren ersten beiden Phasen intensiv um die Relationen zu Gott und zum Nächsten 760 So ähnlich auch Berthold-Bond: “Heschel”, 277. 761 Green: “Heschel”, 70. 762 Ebd., 71. 763 “One of the most striking characteristics of Heschel’s theology is its remarkable stability over time”, wie Held: Heschel, 25, auch mit Verweis auch Even-Chen und Marmur feststellt.
410 | 4 Relationalität, Bibel und prophetischer Aktivismus: Die Spätphase bemüht haben, zieht in dieser Spätphase die dritte relationale Dimension nach, und zwar das, was in dieser Untersuchung als “Relationalität zur Welt” bezeichnet wird.
4.4.1 (Neue) Diesseitigkeit und Mündigkeit der Welt Die entscheidende zweite Wende im Leben Bonhoeffers, die vom “Christen zum Zeitgenossen” führt, ist in ihrem Kern eine Wende hin zur Relationalität zur echten Welt und daraus resultierenden Verantwortung für sie, die Bonhoeffer theologisch auch als so bezeichnete “neue Diesseitigkeit” begründet.764 Dies handelt er ab unter der programmatischen Überschrift über die sog. “letzten und vorletzten Dinge”: Das gnädige Wort Gottes im auferstandenen Christus als Letztes spricht das Urteil über das Vorletzte, die gefallene und sündige Schöpfung, allen voran über den Menschen. Bisher, besonders in der Nachfolge, hat dies theologisch allerdings zu einer Art Absonderung von der Welt geführt; nun aber, als entscheidendes Merkmal der Spätphase Bonhoeffers, gilt es, von Jesus Christus her die Inkarnation als gleichwertig neben die erlösende Kreuzigung und Auferstehung zu stellen, weil sich ihm zufolge beides nicht voneinander trennen lässt.765 Und so verschmelzen in Jesus Christus das Letzte und das Vorletzte derart, dass das Vorletzte in seiner Geschaffenheit zwar außer Kraft gesetzt wird, aber bestehen bleibt. Durch die Beziehung zum Letzten, zum Guten – also Jesus Christus selbst –, bricht aber das neue Leben “immer mächtiger in das irdische Leben ein”.766 Ein Auseinanderreißen von Letztem und Vorletztem nennt Bonhoeffer wiederum “billige Gnade”, die andernfalls entweder zu Sektiererei/Weltflucht oder Verweltlichung führen werde, weshalb für ihn Gesetz und Gnade eindeutig zusammengehören, wie er es bereits ausführlich in der Nachfolge dargelegt hat. Der Nachfolger kann sich so frei entscheiden und ist durch einfältigen Gehorsam frei für Gott und den Bruder.767 In der Ethik tendiert Bonhoeffer immer noch zum Letzten, was sich daran erkennen lässt, dass er zwar den Ausgleich zwischen dem weiten Raum der Zugehörigkeit zu Christus und der klaren Stellungnahme für Ihn betont, aber nach wie vor Christus als Zuflucht und Schutz vor der Welt statt Zurüstung für aktives Handeln in der Welt propagiert. Nach wie vor ist die Kirche als “abgegrenzter” Raum
764 Vgl. 4.2.2 u. 4.2.4. 765 Vgl. 4.2.4. 766 Bonhoeffer: Ethik, 150. 767 Vgl. 3.2.6 u. 3.2.7.
4.4 Zusammenfassung
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auf Erden “Ziel- und Mittelpunkt alles Handelns Gottes mit der Welt”,768 immerhin kämpfend für das Heil der Welt. Dennoch sind in der Kirche die zwei Räume durchbrochen, weil die Welt bereits in Christus geliebt und erlöst ist. Die Inkarnation zwingt Bonhoeffer deshalb auch zur Ernstnahme weltlicher Ordnungen. Allerdings setzt sich die endgültige Ernstnahme des Vorletzten erst zum Ende der Ethik hin und mit den Tegeler Briefen durch, was sich unter anderem in der Lektüre profaner Literatur niederschlägt wie auch in der vollzogenen Verlobung mit Maria von Wedemeyer, weshalb er die Gefängnisjahre auch nicht als verschwendete Zeit betrachtet. Und trotzdem findet man nach wie vor Hinweise auf das Letzte, beispielsweise auf die Wiederbringung aller Dinge und auch die Verbindung zwischen Ich und Christus als neue Schöpfung. Auferstehung und neues Leben stellt Bonhoeffer sich somit explizit leiblich vor, allerdings transformiert, jedoch keinesfalls platonisch-spirituell. Dementsprechend proklamiert Bonhoeffer Jesus als Mitte des Lebens, um mit Gott die mündig gewordene Welt an ihrer stärksten Stelle zu konfrontieren.769 Den autonom gewordenen Menschen möchte Bonhoeffer darum mit einem religionslosen Christentum konfrontieren, das als klar öffentliche Theologie den Wirklichkeitsbezug wie auch die konkrete Begegnung mit Jesus Christus (durch das Gebet) in den Fokus nimmt. Und auch bei Heschel findet sich eine Diesseitigkeit wieder, die bei ihm jedoch schon lange tief verwurzelt ist, die aber in seiner Spätphase, besonders mit der Überarbeitung von The Prophets, nochmals intensiver und praktisch zutage tritt. Auch die zeitgleiche Untersuchung der letzten Jahre des lässt dies erkennen, wenn Heschel besonders ’ Entscheidung gegen die reine Wissenschaft und zugunsten der Heilung der Kranken betont. Im Zuge von Heavenly Torah ist es die Shekhinah am konkreten Ort, die von Gottes Güte zeugt, sich aktuell aber im Exil befindet; Ziel ist die Rückführung der Shekhinah aus dem Exil durch den Prozess des Tiqqun ‘Olam – die Wiederherstellung der Welt –, den Heschel zwar in der Spannung zwischen prozesshaft und plötzlich transformierend ansiedelt, immer aber innerweltlich versteht, nie platonisch-immateriell.770 Deshalb benennt er die Staatengründung Israels als Wegweiser, obwohl Gott in der Geschichte seiner Ansicht nach nicht dominant wirkt (Geschichtlichkeit an sich besitzt für ihn aber einen äußert hohen Stellenwert und lässt auf die Wertschätzung des Diesseits schließen). Dass er sich dann aber bzgl. des Lebens nach dem Tod doch nicht so si-
768 Bonhoeffer: Ethik, 408. 769 Vgl. 4.2.5. 770 Vgl. 4.3.7.
412 | 4 Relationalität, Bibel und prophetischer Aktivismus: Die Spätphase cher ist, macht er in seinem Essay “Death as Homecoming”771 deutlich, in dem er – wie an anderer Stelle auch – vielmehr den Fokus auf das hiesige Leben legt, das es zu nutzen gilt, um alles darauf Folgende Gott zu überlassen. In jedem Fall aber gehören das Leben vor und das Leben nach dem Tod aufs Engste zusammen, zumal Gottes Kenntnis über den Menschen schon vor der Geburt beginnt und aufgrund seiner Gottebenbildlichkeit Ewigkeitswert besitzt; der irdische Tod ist für Heschel damit lediglich Rückkehr zur Quelle und schützt vor Vergottung des Menschen. Über allem steht Relationalität (statt Ontologie), weshalb Heschel den Status des Menschen als “Von-Gott-erkannt” statt des heideggerschen “In-der-Welt-Seins” bezeichnet und sich dabei klar gegen jegliche Leib-Seele-Dualitäten wehrt, wie er sie sogar im mittelalterlichen Judentum vorfindet. Vielmehr spricht er sich mit dem Kotzker für die Schönheit der Natur aus; erst dadurch erhalte der Mensch überhaupt – relational gesprochen und gedacht – Anteil an der Ewigkeit. Darum verbindet Heschel auch den Anspruch auf Wahrheit und Intellektualismus (Kotzker) mit dem Tun des Guten gegen die Exilierung der Shekhinah (Besht). Schließlich bietet auch Heschel mit seinem Appell an einen “interfaith” eine zum religionslosen Christentum entsprechende Position gegen die säkularisierte Welt an, die den sog. “internihilism” konfrontieren soll.772 Im Gegensatz zu Bonhoeffers Ansatz funktioniert dies Heschel zufolge allerdings nur im “Teamwork” der monotheistischen Religionen, weshalb der Inklusivist Heschel – anders als noch Bonhoeffer ein Viertel Jahrhundert zuvor – immer wieder bewusst den Dialog insbesondere zum Christentum sucht.
4.4.2 Situatives Denken Die gerade thematisierte Diesseitigkeit bedarf einer weiteren methodischen Komponente, die in alle drei relationalen Bereiche hineinspielt. Und zwar ist dies das situative Denken, das die jeweilige konkrete Situation des Individuums in all seinen Beziehungen ernst nimmt. Bereits in ihrer Frühphase haben Bonhoeffer und Heschel von der Tatsächlichkeit der Offenbarung in Raum und Zeit gesprochen, dass also Begegnungen – auch zwischenmenschlich – gebunden sind an Momente.773 Bonhoeffer hat bei seinem Personverständnis bereits explizit von konkreter Situation zur Qualifizierung der Person gesprochen, bei der Analyse der Kirche
771 Vgl. 4.3.8. 772 Vgl. 4.3.2. 773 Vgl. 2.5.4.
4.4 Zusammenfassung
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darum immerhin die Notwendigkeit der Innenperspektive zur akkuraten phänomenologischen Analyse betont.774 Während dieser Ansatz in der Mittelphase nebensächlich bleibt, reflektiert er ihn intensiv in seiner Spätphase mit der Ethik: Er spricht sich für ein Handeln in der je gegebenen Situation aus. Und auch Heschel lernt bereits zu Studienzeiten die Bedeutung der Situation kennen, was sein Verständnis einer “Religion der Sympathie” beeinflusst und auch in die frühen Biographien hineingreift. Kontinuierlich konkretisiert er diesen Gedanken, zunächst während der Mittelphase in God in Search of Man; und schließlich greift er diese Thematik in der Spätphase vielfältig auf und bietet ein deutlich verfeinertes Bild des situativen Denkens an,775 was einmal mehr die entscheidende Relationalität zur Welt deutlich macht. So betont er in Who is Man?, wie wichtig in komplexen Situationen für die Problemlösung die Berücksichtigung der ganzen Person sei anstatt distanziert-intellektuelle Fragen zu stellen; Verbalisierung und dadurch nötige Abstraktion sind für ihn darum grundsätzlich eine Schwierigkeit. Deshalb spricht Heschel qua hebräischem Denken mehrfach von Ereignissen statt Prozess und Substanz.776 Außerdem ist der untersuchende Mensch selbst eingebunden in die Frage, wer der Mensch eigentlich sei; Verstehen selbst und Kultur etc. müssten berücksichtigt werden. Denn was der Mensch über sich selbst denkt, beruht laut Heschel bereits auf Vorprägungen.777 Das Entwicklungspotenzial im Menschen, den inneren Reichtum, macht er außerdem in gewisser Hinsicht abhängig von anderen Menschen. Und deshalb äußert er auch immer wieder Bedenken gegenüber abstrakten Abhandlungen darüber, wer oder was der Mensch an sich sei. Und selbst in seinem Verständnis von Philosophie schlägt sich dies nieder, wenn er zu dem Schluss kommt, dass Philosophie nach Auschwitz nicht mehr dieselbe sein könne.
4.4.3 Hebräische Bibel und hebräisches Denken Dass Bonhoeffer in der Spätphase seines Lebens zu einer neuen Diesseitigkeit durchdringt, hat im Wesentlichen mit dem zunehmenden Stellenwert des Alten Testaments in seinem Denken und Handeln zu tun. Dies verraten bereits die Briefe zwischen 1940 und 1943, in denen besonders der Psalter eine wichtige Rolle spielt. Zwar beobachtet er bei sich Phasen, in denen er die Bibel an sich und
774 Vgl. 2.3.2, 2.5.2 u. 2.5.3. 775 Vgl. 3.4.3, 4.3.1 u. 4.3.4. 776 Vgl. 3.3.8 u. 4.3.2. 777 Vgl. 4.3.4.
414 | 4 Relationalität, Bibel und prophetischer Aktivismus: Die Spätphase den Gottesdienst weniger vermisst; spätestens aber, wenn die Luftangriffe kommen, führt es ihn und offenbar auch Mitgefangene elementar zur Bibel und zum Gebet zurück.778 Und so liest er mehrfach und schwerpunktmäßig das Alte Testament während seiner Gefängniszeit ab 1943, wodurch er schließlich zu der Erkenntnis kommt, man müsse das Neue Testament vielmehr (noch) vom Alten her lesen. Denn im Alten Testament entdeckt er schließlich die Dominanz eines ausführlicher in der Ethik thematisierten Vorletzten, dass es nämlich im Evangelium um diese Welt geht; Gerechtigkeit und Reich Gottes auf Erden statt individualistischem Seelenheil findet er vor. “[D]as Alte Testament wird Sachverwalter der ‘tiefen Diesseitigkeit’, in der allein man glauben lernt”.779 Und aus dem Alten Testament leitet Bonhoeffer deshalb – initiiert durch den Einfluss der Bergpredigt – auch ein prophetisches Element ab, das sich im Eintreten für die Unterdrückten niederschlägt.780 Damit verbunden ist eine Rückkehr zum jüdischen Jesus, die überhaupt erst die Türen zu einem späteren Dialog der Kirchen mit dem Judentum (nach dem Zweiten Weltkrieg) anstoßen wird. Dass Bonhoeffer auch in dieser Spätphase nach wie vor von einer relationalen Hermeneutik geprägt ist und damit Gottes konkret-individuelles Reden für sich selbst erwartet, macht sein Gebrauch der Losungen und seine Rezeption von Dr. McCombs Predigt während seines zweiten Amerika-Aufenthaltes im Sommer 1939 deutlich, wodurch sich Bonhoeffer selbst existentiell angesprochen fühlt. Letztlich auch hermeneutisch zieht Bonhoeffer Konsequenzen und überträgt sein situatives Denken sogar auf die Sprache, die in nichts geringerem mündet als in die nicht-religiöse Interpretation biblischer Begriffe und in Fragen rund um das sog. “religionslose Christentum”.781 Denn Bonhoeffer versucht, geradezu im Sinne der Unterscheidung zwischen Kern und Schale des Christentums, das hebräisch geprägte Weltbild trotz des Festhaltens an der theologisch-historischen Substanz in den kulturellen Kontext des 20. Jahrhunderts zu transportieren. Deshalb wettert er gegen Bultmann, der gerade nicht weit genug gegangen sei, und plädiert gegen Barths Offenbarungspositivismus zu einem Christsein, dass sich im Beten und Tun des Gerechten ausweist. Sein Ziel ist, gegen die liberale Theologie ernst zu machen. Denn er versteht den Anspruch Gottes bzw. Christi jenseits dessen, nur Lückenbüßer oder Arbeitshypothese zu sein, sondern vielmehr darin, auch mitten im Leben und Leiden präsent zu sein; das führt ihn zu der widersinnig klingen
778 Vgl. 4.2.3 u. 4.2.5. 779 Feil: Theologie, 211 u. vgl. 4.2.5. 780 Vgl. 3.2.1 u. 4.2.5. 781 Vgl. 4.2.5.
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Aussage, man sei gottlos näher dran an Gott, den Bonhoeffer als “cantus firmus” zur “Polyphonie des Lebens” versteht. Ganz im Sinne Bonhoeffers propagiert auch Heschel eine Rückkehr zur Hebräischen Bibel samt relationaler Lesart – sowohl im Dialog mit den Kirchen als auch gegenüber jüdischem Publikum.782 Schon bei Jesus findet er die Torah und die Propheten als Grundlage vor, wie auch bei Bonhoeffer deutlich geworden ist.783 Denn in der Hebräischen Bibel natürlich entdeckt Heschel sein “hebräisches Denken” (im Kontrast zu den römisch-hellenistischen Dualismen), wie er es schon in der Mittelphase thematisiert hat und es auch schon bei Bonhoeffer angedeutet gewesen ist.784 Vor allem aber in seiner Spätphase propagiert Heschel das hebräische Denken an zahlreichen Stellen, das sich um das Diesseits und damit das Vorletzte dreht, ohne das Letzte zu negieren, auch wenn Heschel es als Jude nicht christologisch, sondern theologisch begründet; und daher gehören Kavanah und prophetischer Aktivismus ebenso wie Gnade und Gesetz zusammen.785 Aber auch Heschels große Studie zur rabbinischen Theologie bestätigt nicht nur diese Spannung des “Sowohl…als auch”, sondern er findet auch Bestätigung seiner Theologie des göttlichen Pathos, indem der Gelehrte der Torah entweder mithilfe der 13 Middot logisch-kreativ vorgehen oder qua haggadischer Exegese den Text der Torah erweitern kann, auch wenn Heschel trotz dieser gewissen Freiheit zur (prophetischen) Weiterentwicklung an dem Ende des klassischen Prophetentums ebenso festhält wie an dem traditionellen Konzept der himmlischen Torah.786 Im Mittelpunkt all dessen steht Relationalität, weshalb es Heschel um den Inhalt der himmlischen Torah und nicht um ihre diskutable Form geht: Zentral ist der Bund Gottes und der Prophet als dessen Partner samt “supreme importance” des Gotteswillens; Prophetie dient dem Dialog, wobei die Persönlichkeit des Propheten wichtig ist. So bezeichnet Heschel die Bibel als Wort Gottes zum Menschen/Propheten, dessen Antwort das Gebet darstellt.787 Weil die Torah Medium der Kommunikation ist, betont Heschel immerzu die relationale Hermeneutik, die Torah nicht bloß intellektuell zu lesen, sondern um ihre Heiligkeit zu wissen, wobei er – ähnlich wie Bonhoeffer – die intellektuelle Aktivität zulässt, wie er dies 782 Vgl. 4.3.1, 4.3.2 u. 4.3.7. 783 Vgl. 3.2.7. 784 Vgl. 3.4.1. 785 Vgl. 4.3.1, 4.3.2, 4.3.4, 4.3.5 u. 4.3.7; genau davon spricht Bonhoeffer ebenso, ohne es expressis verbis “hebräisches Denken” zu nennen. 786 Vgl. 4.3.5 mit 2.4.3 u. 4.3.1. 787 Vgl. 4.3.8.
416 | 4 Relationalität, Bibel und prophetischer Aktivismus: Die Spätphase auch in der Auseinandersetzung mit dem Kotzker Rebbe hervorhebt, sodass letztlich immer Spannungen bleiben, sei es im Umgang mit dem Bibeltext oder auch in der Frage nach dem Leid.
4.4.4 Neue Verantwortlichkeit und stellvertretende Schuldübernahme Bonhoeffers relationales Denken mit den drei genannten Dimensionen kulminiert in seinem Verständnis von Verantwortung als praktische Auswirkung der Relationen. Denn “Verantwortung” meint ihm zufolge ganz grundlegend Antwort Geben, erstens anthropologisch als Antwort auf den Nächsten als Freisein für den Nächsten, wie er bereits in den ersten beiden Lebensphasen intensiv verdeutlicht hat,788 und zweitens christologisch als Antwort auf den Ruf Christi in die Nachfolge und in den einfältigen Gehorsam.789 Der dritte Verantwortungsbereich, und zwar der der konkreten Situation, ist ebenfalls kategoriell nicht neu – besteht nämlich bereits seit Sanctorum Communio -, erhält aber durch die Welt als Verantwortungsbereich der Spätphase und die neue Diesseitigkeit eine ganz neue Bedeutung und Kraft, wie Bonhoeffer es schließlich in der Ethik thematisiert. Ausdruck seines erstarkten Verantwortungsbegriffs für die Welt durch die neue Diesseitigkeit ist deshalb Bonhoeffers Mandatenlehre,790 womit er den Anspruch Gottes durch seine Gebote in den Bereichen der irdischen Wirklichkeit meint, die da sind: Kirche, Familie, Arbeit und Obrigkeit. Gott hat damit Macht an irdische Instanzen und Personen abgegeben, die durch verantwortliches und stellvertretendes Handeln Gottes Gebote umsetzen sollen. Bonhoeffers Anspruch ist darin, dass durch Relationalität der Wille Gottes in die Welt getragen und dort umgesetzt wird, der von den Machtverhältnissen untereinander getragen werden soll. So ist Gehorsam gegenüber der Obrigkeit gefragt, die die Mandate von Kirche, Familie und Arbeit erhalten soll; und umgekehrt soll die Kirche die Obrigkeit immerzu an ihren göttlichen Auftrag erinnern. Erst wenn dieser geleugnet wird oder die Obrigkeit ihre Kompetenz überschreitet, ist für Bonhoeffer die Gehorsamspflicht unterbunden. Dieser Gedanke der zerbrechlichen Gehorsamspflicht spitzt sich in der Verknüpfung von Verantwortung mit stellvertretender Schuldübernahme zu.791
788 Zum bonhoefferschen Freiheitsverständnis als Freisein-für vgl. schon 2.3.1, dann auch 2.3.4, 3.2.2 u. 3.4.2. 789 Vgl. 3.2.7. 790 Vgl. 4.2.4. 791 Vgl. 4.2.4.
4.4 Zusammenfassung
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Nachdem der sündlose Christus stellvertretend die Sünde der Menschheit getragen hat, muss auch der Nachfolger in seiner Verantwortung gegenüber Gott, Welt und Menschen bereit sein, stellvertretend Schuld auf sich laden – notfalls im Ungehorsam gegenüber der Obrigkeit, sozusagen als Suspension des Ethischen, weil nur der Selbstlose in Erfüllung des Gottes- und Nächstenliebegebotes lebt. Dies impliziert auch den Aufruf zum Leiden für das Gerechte und Gute, selbst wenn dies gewisse Grenzfälle des Gesetzes – wie den Dekalog – übergeht; besonders in dem Begriffspaar “Widerstand und Ergebung” drückt sich Bonhoeffers Spannung zwischen Glaubensgehorsam und Eigenverantwortlichkeit aus, in der es der Situation entsprechend zu handeln gilt.792 Denn weil das Vorletzte noch nicht in seiner Gesamtheit vom Letzten durchdrungen ist, existieren nach wie vor diese Spannungen. Und da es für Bonhoeffer keine Prinzipienreiterei gibt, die irgendeine Tat rechtfertigen kann, darf die konkrete Verantwortung auch nicht von selbst gerechtfertigt werden, weil sie sonst ebenfalls zu einem Prinzip mutieren und die Gnade billig würde.793 Am konkreten Fall der Bioethik wird dies deutlicher, indem er klar gegen die Antastung (Euthanasie, Sterbehilfe, Selbstmord, Abtreibung) des zu schützenden Lebens plädiert. Lediglich an einer Stelle duldet Bonhoeffer die Tötung ausschließlich aufgrund eines einzelnen Grundes, sofern keinerlei Ausweg besteht, womit er wohl (auch) seine eigene Teilnahme an der Konspiration gegen Hitler verantwortet – jedoch nicht rechtfertigt.794 Dass in allem die Relationalität die entscheidende Rolle spielt, wird am Beispiel der Abtreibung deutlich, die Bonhoeffer nicht gutheißt, sondern vielmehr der jeweils konkreten Gemeinschaft – also der Situation – Mitverantwortung zuschreibt und sie womöglich als “soziale Sünde” denkt.795 Heschel thematisiert die Frage der Verantwortung in besondere Maße in Who is Man?, hat aber die entsprechenden Bausteine bereits in der Frühphase als “Religion der Sympathie”796 angelegt. Bei ihm ist die erste Dimension von Verantwortung qua Selbstreflexion die Zustimmung (oder ggf. Ablehnung) zu mir selbst, die Grundlage für alles weitere darstellt. Dies führt Heschel notwendigerweise zur Zusammengehörigkeit von Sein und Sollen, weshalb für ihn auch die Verantwortung gegenüber dem Nächsten als zweite relationale Dimension zum Menschsein unweigerlich dazugehört, die er mit der Heiligkeit des menschlichen Lebens und
792 Vgl. 4.2.5. 793 Vgl. schon 3.2.7. 794 Vgl. 4.2.3. 795 Vgl. 4.2.4. 796 Vgl. 2.4.3 u. 2.5.6.
418 | 4 Relationalität, Bibel und prophetischer Aktivismus: Die Spätphase seiner Einzigartigkeit begründet, an anderen Stellen natürlich auch mit der Gottebenbildlichkeit des Menschen.797 Grundlage dafür ist die Verantwortung (bzw. Relationalität) zu Gott, die Heschel der Hebräischen Bibel entnimmt.798 Expressis verbis appelliert er in seinem geradezu prophetischen Auftreten immer wieder an die menschliche Verantwortung, zugespitzt in seinem Motto “some are guilty, but all are responsible”, wodurch er auch den modifizierten Ausdruck der “prophethood of all believers” einführt.799 Zwar thematisiert Heschel nicht die Art stellvertretende Schuldübernahme, wie Bonhoeffer sie im christologisch-soteriologischen Sinne deduziert und mit der Teilnahme an der Konspiration praktiziert hat, weil Heschel als Jude (trotz Jes 53) diese Art stellvertretender Schuldübernahme offenbar nicht so präsent ist wie Bonhoeffer. Vielmehr ist es bei Heschel das Gebet, Fasten und der Protestmarsch; dabei ist ihm ebenso klar, dass Teilnahmslosigkeit schuldig macht.800
4.4.5 Das Reden des ohnmächtigen Gottes Sowohl als Antwort auf die Schreckensgeschehnisse ihrer Zeit als auch infolge der mündig gewordenen Welt und der damit immer stärker betonten Verantwortlichkeit des Menschen dringen Bonhoeffer und Heschel gleichermaßen immer konsequenter durch zu einem gewissermaßen ohnmächtigen Gott. Bonhoeffer hat bereits zuvor Gottes Leiden und Schwäche von seiner theologia crucis abgeleitet und lehnt schließlich infolge seines relationalen Ansatzes konsequent das zuvor omnipräsente Apathieaxiom Gottes ab.801 Gott lässt es laut Bonhoeffer somit zu, sich trotz seiner Allgegenwart aus der Welt zurückdrängen zu lassen, wird ohnmächtig, auch wenn Er nach wie vor allgegenwärtig ist und in die Geschichte eingreifen könnte. Dies bedeutet für die Willensfreiheit des Menschen nun aber auch, nicht nur Verantwortung für den Nächsten und die Welt zu übernehmen, sondern sogar für Gott selbst da zu sein. Auch Heschel betont stärker als zuvor Gottes selbst gewählte Begrenzung, auch wenn er nicht explizit die Begrifflichkeit der “Ohnmacht Gottes” verwendet.
797 Z. B. in 4.3.4. 798 Vgl. 4.3.4 u. 4.3.2. 799 Vgl. 4.3.1, 4.3.2 u. 4.3.3. 800 Vgl. 4.3.1 u. 4.3.3. 801 Vgl. 3.2.1, 3.2.7 u. 4.2.5.
4.4 Zusammenfassung
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Schon in seiner Frühphase ist der Prophet zum Partner Gottes auserkoren worden;802 doch besonders in dieser Spätphase beginnt für Heschel mit The Prophets ein regelrechter Kampf zugunsten der Veränderlichkeit und Leidensfähigkeit Gottes als “most moved mover”: Trotz seiner Involviertheit und Relationalität zur menschlichen Geschichte begrenzt sich Gott laut Heschel selbst.803 Dies betrifft schließlich sogar Gottes Omnipräsenz: Zwar lehnt Heschel Gottes Souveränität und Gerechtigkeit keineswegs ab, doch von seinem relationalen Ansatz her betont er auch mit R. Akiva nicht nur das Pathos Gottes, sondern auch dessen Gegenwart in Form der Shekhinah am konkreten Ort aufgrund von Seiner Güte, in dessen Spannung Gott ihm zufolge immerzu steht.804 So identifiziert Gott sich in Seinem Mitleiden mit Israel, was zum Konzept der exilierten Shekhinah führt: Die Gottheit Gottes in der Welt ist demgemäß an die Zeugenschaft Israels gekoppelt. Als eigentliche Antwort auf das Leiden in der Welt pocht Heschel darum auf den Tiqqun ‘Olam infolge der Willensfreiheit des Menschen. Devekut samt Umkehr und Sühne sind möglich und nötig, wodurch die Relationalität zu Gott erneut in den Mittelpunkt gestellt wird.805 Dahinter verbirgt sich für Heschel jedoch primär eine universelle Erlösung als radikale Transformation der Welt vom Himmel her, die Vorrang hat vor dem persönlichen Heil.806 Den Tiqqun versteht er damit auch als Kontrapunkt und Polyphonie zum Mysterium Gottes, womit sich ganz praktisch der Kreis zu Bonhoeffers Spannung zwischen Widerstand und Ergebung schließt;807 denn es bleiben bei beiden Protagonisten natürlich Fragen offen, die letztlich nicht lückenlos beantwortet werden können. Voraussetzung verantwortlichen Handelns ist und bleibt bei allem, dass Gott nach wie vor redet. Bonhoeffer setzt dies mit seinem einfältigen Gehorsam weiterhin voraus.808 Heschel vertieft diesen Punkt zunehmend mit seinem Widerstand gegen Liberalisierung des Judentums bzw. gegen das Missverständnis (seiner Einschätzung nach), es auf den Aspekt Zivilisation zu reduzieren.809 Deshalb insistiert er immerzu, dass trotz Abschlusses des biblischen Prophetentums die Prophetie grundsätzlich nicht erloschen ist, wie er sowohl anhand der Rabbinen als
802 Vgl. 2.4.3. 803 Vgl. 4.3.1, 4.3.5 u. 4.3.7. 804 Vgl. 4.3.5 u. 4.3.8. 805 Vgl. 2.1.2 u. 4.3.8. 806 Vgl. 4.3.7. 807 Vgl. 4.3.8 u. 4.2.5. 808 Vgl. 3.2.7 u. 4.2.4. 809 Vgl. schon 3.3.7.
420 | 4 Relationalität, Bibel und prophetischer Aktivismus: Die Spätphase auch des Kotzker Rebbes zeigt.810 Und auch die Zusammengehörigkeit von Torah und Geschichte, die weiterlebt, macht dies deutlich.811 4.4.6 Tiefentheologie und Theologie Besonders bei Heschel wird aufgrund seines situativen Denkens und der damit verbundenen Warnung vor Abstraktion eine Kritik gegenüber der dogmatischen Theologie deutlich. Deshalb hat er bereits in seiner Mittelphase eine sog. “Tiefentheologie” entwickelt, die den Glaubensvollzug, und damit die Relationalität, ins Zentrum der Relevanz stellt;812 sie kommuniziert er in der Spätphase in verfeinerter und breitenwirksamer Weise, besonders im Kontext des interreligiösen Dialogs, weil mit ihr die klassisch-theologischen Differenzen weniger ins Gewicht fallen bzw. an trennender Bedeutung verlieren. Denn ihm geht es um die allumfassende Situation des Menschen (“total situation of man”) und seine vortheologisch-reflektierte Situation, weil jedes Dogma erst sekundär und damit begrenzt ist. Grundlage ist deshalb erstens der Glaubensvollzug, die persönliche Glaubensbeziehung, und zwar auf Grundlage der Kavanah, die zur Erneuerung der Ehrerbietung führen soll.813 Erst im zweiten Schritt lässt sich von (dogmatischer) Theologie reden, um die vollzogene Erfahrung zu kommunizieren und die raren Momente des erlebten Glaubens zu überbrücken. Weil der Glaubensinhalt zur Abstraktion neigt, ergänzt Heschel als drittes Element den Glaubenskontext, der auf das situative Denken zurückgreift.814 Zudem darf neben dem richtigen Erleben und Verstehen viertens die konkrete Ausführung der Gebote als Ausdruck des Glaubens nicht fehlen. Denn Heschel wehrt sich gegen die Trennung zwischen Geboten und Gnade und gegen die Vernachlässigung der politisch-sozialen Dimension des Glaubens. Dass die Tiefentheologie tatsächlich theologische Gräben überwinden kann und letztlich Grundlage und Ursache für seinen interfaith ist, macht Heschel mit dem tiefentheologischen Vergleich zwischen dem Kotzker und Kierkegaard deutlich, bei dem Heschel auf der Ebene der Ernsthaftigkeit des Glaubens, des unerschrockenen Wahrheitsanspruchs, der Forderung nach Transformation des Individuums u. e. m. kaum Unterschiede feststellen kann.815 Dass es doch teils 810 Vgl. 4.3.5 u. 4.3.8. 811 Vgl. 4.3.7. 812 Vgl. 3.3.8. 813 Vgl. 4.3.2. 814 Vgl. 3.3.8 u. 4.3.2. 815 Vgl. 4.2.5 u. 4.3.8.
4.4 Zusammenfassung
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deutliche Unterschiede gibt, lässt sich darum nicht (allein) der religiösen Differenz zwischen Judentum und Christentum anheimstellen, sondern dürfte mindestens zum Teil dem unterschiedlich starken Einfluss des hebräischen Denkens geschuldet sein.816 Neben kontextueller Differenz (Kierkegaards Bezug zu Hegel und Romantik, des Kotzkers zur talmudischen Dialektik) ist es im Gegensatz zur Theozentrik des Kotzkers natürlich Kierkegaards in der augustinischen Erbsündenlehre verwurzelte Christozentrik, die ihren Ursprung im römisch-hellenistischen Denken hat; Heschel erklärt die Sündhaftigkeit des Menschen vielmehr als historisch-existentiell, weil Gutes und Böses miteinander vermischt seien.817 Bei Kierkegaard allerdings setzt sich dagegen eine Leibfeindlichkeit durch, während der Kotzker zwar von der Welt isoliert lebt, grundsätzlich aber die Schöpfung wert erachtet.818 Wie entscheidend tatsächlich das hebräische Denken dabei ist, macht der Blick auf Bonhoeffer deutlich. Denn Bonhoeffer selbst steht nach wie vor auf der Grundlage einer Erbsündenlehre, die er jedoch relational deutet; nicht nur – aber auch –, um die damit verbundene incurvatio des Menschen durch Gnade zu durchbrechen, ist seine Christologie nach wie vor dominant.819 Allerdings entsteht durch sein hebräisches Denken nicht allein eine neue Diesseitigkeit;820 vielmehr hat im Sinne Heschels die Bedeutung der Theologie bereits seit der Mittelphase abgenommen; insbesondere als “Kampfmittel” gegen nationalsozialistische Ideologie erfüllt sie ihren Zweck. Und so ist es fast nicht mehr verwunderlich, dass Bonhoeffer im Zusammenhang seines zweiten Amerika-Aufenthaltes die Spiritualität der Theologie gegenüber vorzieht, weil schlechte Theologie (zumindest in diesem Kontext) nicht allzu viel Schaden anrichte, wie er sagt. Schließlich ist es auch nicht die Dogmatik, die zu seinem Lebenswerk werden soll, sondern eben die Ethik. Zwar moniert er auch das Versagen der Christologie in Amerika, erkennt aber aufgrund seines situativen Denkens821 die besondere Wichtigkeit von Spiritualität und Orthopraxie, was im Zusammenhang seiner billigen Gnade ebenfalls seit der Mittelphase deutlich geworden ist.822 Die Nähe zu Heschel im Sinne der Tiefentheologie wird damit evident.
816 Vgl. 4.4.3. 817 Vgl. 4.3.2. 818 Vgl. 4.3.8. 819 Vgl. 4.2.4. 820 Vgl. 4.2.4 u. 4.2.5. 821 Vgl. “Bösewichter und Heilige”, 4.2.4. 822 Vgl. 3.2.7.
422 | 4 Relationalität, Bibel und prophetischer Aktivismus: Die Spätphase Trotz grundsätzlich zahlreicher Berührungspunkte zum Judentum diskutiert Bonhoeffer aber zu keinem Zeitpunkt interreligiös-dogmatische Fragen. Dies tut erst Heschel gut zwanzig Jahre nach ihm und implementiert in diesen Dialog alle Facetten seiner Tiefentheologie, die er als hermeneutische Grundlage ansieht.823 Religion als Konstrukt, was nichts als Dogmatik sein dürfte, ist für ihn dabei kein Ziel, sondern lediglich Mittel zum Zweck, womit er letztlich auch eine pluralistische Sicht vertritt. Denn Juden und Christen glauben seiner Ansicht nach an denselben Gott Abrahams, ohne dass Heschel über die Trinität und die Messiasfrage redet; womöglich verknüpft er diese christlichen Auswüchse mit griechischem Denken, gegen das er immerzu die Hebräische Bibel bzw. hebräisches Denken ins Feld führt. Heschels pluraler Ansatz geht schließlich aber so weit, dass er bei gleichzeitiger Ablehnung von Judenmission die Christen als Werkzeug betrachten kann, um die Welt zu erlösen. Und sogar den Islam reiht er ein, der Heschel zufolge den Glauben an den einen Gott in die Welt bringt und von der Gottebenbildlichkeit spricht, eben weil (ansonsten) qua Tiefentheologie der Glaubensvollzug in all seinen Dimensionen im Zentrum steht. De facto entpuppt sich Heschel damit als Inklusivist.824 Dass es in alledem um die Rettung des inneren Menschen geht, macht Heschel immer wieder deutlich.825
4.4.7 Bonhoeffer und Heschel: Verantwortungsträger ihrer Zeit Natürlich sind Bonhoeffer und Heschel auch immer selbst Teil dessen, was sie bis hierhin theoretisch zugrunde gelegt haben. Leben und Werk gehören somit bei beiden aufs Engste zusammen, weil sie selbst in Relationalitäten zu Gott, zur Welt und zu den Menschen um sich herum leben und (re)agieren. Bonhoeffers Ausgangspunkt ist die konkrete Bedrohung seiner eigenen Person durch den Nationalsozialismus in Form des bevorstehenden Militärdienstes; konkret fürchtet er den Militäreid, den er aus vollem Herzen nicht leisten kann, weshalb er zunächst die Flucht nach Amerika ergreift. Schnell erkennt er dies jedoch als Fehler, einerseits durch seinen praktizierten einfältigen Gehorsam. Denn Bonhoeffer liest immerzu die Bibel und die Losungen und sucht in den Texten förmlich nach dem Willen Gottes. Ausgelöst spätestens durch eine Predigt in New York, reist er nach kurzer Zeit wieder zurück in die Heimat, um “jetzt
823 Vgl. 4.3.2. 824 Vgl. 4.3.2. 825 Beispielsweise in 4.3.7.
4.4 Zusammenfassung
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Deutscher sein und bleiben zu müssen in voller Übernahme der Schuld und Verantwortung”,826 wie Bethge es formuliert. Dies deutet den theologischen Wandel innerhalb seiner Verantwortungsethik zur Bereitschaft eigener Schuldübernahme an, weshalb er unter dem Deckmantel der Abwehr seine internationalen Kontakte nutzt, nicht nur um dem Militärdienst zu entkommen und Unschuldige im sog. “Unternehmen 7” zu retten, sondern auch die Konspiration gegen Hitler zu unterstützen.827 Denn immer mehr dringt Bonhoeffer auch ganz persönlich dazu durch, dass es nicht um ein frommes, sondern ein verantwortungsvolles Leben inmitten der Welt geht, so wie Christus für die Armen und Schwachen in die Welt gekommen ist.828 Eine gewisse persönliche Rechtfertigung und damit biographische Theologie seines eigenen Handelns vollzieht Bonhoeffer dabei durch seinen persönlichen Vergleich mit den ursprünglich aus religiösen Gründen geflüchteten Amerikanern, die seine Entscheidung zur Rückkehr nicht verstehen könnten; lediglich unter den “Negerkirchen” findet er diese Freiheit vor, die er auch mit dem Worte Gottes gegen den Säkularismus in Verbindung bringt.829 Selbst in der Kirche existieren die Spannungen zwischen Letztem und Vorletztem, zwischen Sünde und Gnade, weshalb Bonhoeffer ihr nicht nur Schuld nachsagt, sondern sie zum Schuldbekenntnis (nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges) aufruft, weil für Bonhoeffer Kirche nur dann Kirche ist, wenn sie für andere da ist, es seines Eindruckes nach aber nicht ist.830 Auch Heschel passt sich an die situativen Umstände an, nicht nur theologisch, wie in The Prophets im Vergleich zu Die Prophetie gesehen – auch in seiner ganz persönlichen Hingabe an die gesellschaftlichen Herausforderungen seiner Zeit. So prangert er in Amerika allen voran das “negro problem” an und lobt, ähnlich wie Bonhoeffer, die afroamerikanische Spiritualität; aber auch in die Sowjetunion richtet er seinen Blick, die die dortigen Juden unterdrückt, und nach Vietnam, wo tausende Unschuldiger sterben.831 Weil Heschel sich selbst als Prophet seiner Zeit versteht und auch so stilisiert, konfrontiert er mit Gebet, Fasten, Protestmärschen und eben auch mit Reden. Denn bis zuletzt zieht sich auch bei Heschel durch, dass Verantwortung bzw. prophetischer Widerstand im Kern spiritueller Verwurzelung bedarf – Relationali-
826 Bethge: DB, 736. 827 Vgl. 4.2.2 u. 4.2.4. 828 Vgl. schon 2.3.2 u. 3.2.1. 829 Vgl. 4.2.1 u. Rasmussen: DB, 15. 830 Vgl. 4.2.5. 831 Vgl. 4.3.3.
424 | 4 Relationalität, Bibel und prophetischer Aktivismus: Die Spätphase tät zu Gott. Trotz seiner Parteinahme zugunsten der Staatengründung Israels und deren spiritueller Dimension ist er sich dessen bewusst, dass dies nicht die innere Leere des Juden lösen kann. Denn erst die Torah fungiert als Richtschnur zur inneren Reinigung und ist gleichzeitig wichtiges Zeugnis der Geschichte und so symbiotisch mit Israel und der Welt verbunden, weshalb aber auch das Land Israel selbst einen solch hohen Stellenwert für Heschel bedeutet.832 Die Bibel dreht sich um die Erde und besitzt für ihn als Buch der Vorwegnahmen, Erinnerungen, der Hoffnung, Versprechen und Verantwortlichkeiten existentielle Bedeutung für das Leben. Deshalb ist für ihn im Kern Judentum bzw. auch Christentum immer prophetischer Widerstand, was er namentlich an Niebuhr lobt.833 Es ist die besondere Art der Propheten zu denken, der Umgang mit Spannungen im Glauben und die Kultivierung der Seele durch Zentralität des Wortes und der Tat, weshalb Religion für Heschel gerade nicht Privatsache ist. Darum verknüpft Heschel das Schicksal von Judentum und Christentum mit der Ernstnahme der Hebräischen Bibel, weshalb ein nicht bewusst-jüdisches (bzw. auch christliches) Leben für ihn sogar einem spirituellen Selbstmord gleicht, mit ganz praktischen Folgen. Jenseits konfessioneller Grenzen ruft er zu einem “interfaith” gegen den “internihilism” auf.834 Im Dialog mit dem Christentum appelliert er deshalb immerzu an ein Prophetentum aller Gläubigen und – ganz im Sinne und Vokabular Bonhoeffers – gegen billige Gnade;835 durch Mitsvot soll die Welt erlöst werden, zumal ihm der extreme Individualismus ein Dorn im Auge ist, den die amerikanische Konsumgesellschaft hervorbringt. Statt menschenzentrierter Perspektive soll Gott mit seinen Propheten im Zentrum stehen, den Heschel nicht nur vor den Religionen verteidigt, sondern auch gegenüber der Öffentlichkeit. Denn erst aus der Gotteserkenntnis, durch Sinn für Wunder und Mysteriöses, wird laut Heschel das selbstzentrierte Ego befreit – womit er praktisch nicht fern von der christlichen Erbsündenlehre verbleibt – und kann so Verantwortung für andere und die Welt übernehmen und sich am Tiqqun ‘Olam beteiligen.836 Dies kann sich ganz konkret in der Ehrerbietung den Eltern und Älteren gegenüber niederschlagen, anstatt in Vergötterung der Jugend oder in Gier nach eigenem Profit zu verfallen.837 Umgekehrt weist er die Älteren aber auch an, durch das Studium und durch spirituelle
832 Vgl. 4.3.7. 833 Vgl. 4.3.2. 834 Vgl. 4.3.6, 4.3.2 u. 4.3.7. 835 Vgl. 3.2.7 u. 4.3.2. 836 Vgl. 4.3.3, 4.3.4 u. 4.4.6. 837 Vgl. 4.3.4 u. 4.3.6.
4.4 Zusammenfassung
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Kultivierung – statt Langeweile oder Hobbies – weise zu werden. Aber auch gegen technokratische und kapitalistische Tendenzen spricht er sich aus und hebt vielmehr die Notwendigkeit von Empathie und Fürsorge ohne monetäres Interesse hervor, wie er dies am Beispiel des Arztes deutlich macht, den er als Partner Gottes versteht.Prophetisches Denken und Handeln müssen deshalb seiner Ansicht nach zum Vorbild werden, die den status quo hinterfragen, und sich beispielsweise durch das Bildungswesen ziehen, was ihm zufolge Freiheit und Verantwortung fördert.
5 Rückblick und Fazit: Bonhoeffer und Heschel – zwei relationale “Denker” 5.1 Rückblick Wenn zum Abschluss dieser Untersuchung ein Rückblick vollzogen wird, muss in gleichem Atemzug auf dessen notwendig fragmentarischen Charakter hingewiesen werden. Doch ist er nötig, um das große Bild zu liefern, was das relationale Denken und die (Hebräische) Bibel bei Bonhoeffer und Heschel betrifft. Zudem beantwortet es die erste der beiden Ausgangsfragen dieser Untersuchung.1 Haben die bisherigen Zusammenfassungen die Entwicklungen beider aufgezeigt, sei es als Kontinuität oder als Neuerung, um so die Dreigliederung im Leben und Denken Bonhoeffers und Heschels deutlich zu machen, zielt der nachfolgende Rückblick auf eine Systematisierung der zuvor dargelegten Ergebnisse. Konkret: Welche Gestalt haben jeweils Denken und Handeln Bonhoeffers und Heschels, und inwieweit überschneiden sich beide Akteure? Bis zuletzt, so lässt sich abschließend festhalten, spielen im Leben und Denken Bonhoeffers wie auch Heschels die Symbiose von Relationalität und Bibel die entscheidende Rolle. Dies ist hinlänglich in sämtlichen Teilen dieser Untersuchung deutlich geworden. 5.1.1 Biographische Voraussetzungen und Gemeinsamkeiten Dass Bonhoeffer und Heschel überhaupt mit ihrer Bibel und so früh in Kontakt kommen, legt in ihrem intuitiv-frommen Umgang auch die ersten Grundlagen für ihre Relationalität, wodurch die ersten Gemeinsamkeiten deutlich geworden sind. Ausgangspunkt ist bei beiden die Spannung zwischen fromm-religiöser Erziehung und einem rationalen Gegenpol – bei Bonhoeffer zwischen dem Herrnhuter Pietismus vonseiten der Mutter und dem väterlichen Humanismus, bei Heschel zwischen dem Chassidismus des Besht und dem des Kotzker Rebbe. Aus dieser tiefentheologisch sehr ähnlichen Spannung heraus entwickeln beide ihr relationales Denken mitsamt der Fokussierung auf die (Hebräische) Bibel.2 Mit der Berufswahl des Pfarrers bzw. des Religionsphilosophen widersetzen sich beide ganz ähnlich den an sie gerichteten Erwartungen – Bonhoeffer denen des Humanismus, Heschel denen des Chassidismus, nächster Rebbe zu werden.3 Vielmehr etablieren beide auf Grundlage dieser Spannung und mithilfe 1 Vgl. 1.1. 2 Vgl. 2.5 u. 2.5.1. 3 Vgl. 2.1.1 u. 2.1.2. https://doi.org/10.1515/9783110771961-005
5.1 Rückblick | 427
einer gleichermaßen künstlerischen Vorbildung einen dritten, relationalen Weg jenseits reiner Herzensfrömmigkeit oder abstrakter Philosophie liberal-religiöser Färbung, den beide akademisch an der Berliner Wilhelms-Universität beginnen.4 Gemeinsam ist beiden zudem, dass sie nach ihrer ersten, akademisch geprägten Frühphase den Weg nach Amerika auf sich nehmen – Bonhoeffer freiwillig als Stipendiat, Heschel unfreiwillig als Flüchtling vor der Bedrohung durch die Nazis. Dort, speziell in New York, erhalten beide entscheidende neue Impulse, treffen unabhängig voneinander in Niebuhr ein wichtiges Gegenüber und kämpfen in dieser Mittelphase vor allem als innerreligiöse Reformer – Bonhoeffer zugunsten der Bekennenden Kirche und gegen die Deutschen Christen, aber auch innerhalb der Ökumenischen Bewegung, während sich Heschel gegen jüdischen Pan-Halakhismus einerseits und Reformjudentum liberalster Art andererseits richtet. In ihrer Spätphase ist es gerade der Weg jenseits der eigenen Religion, der beide gleichermaßen auszeichnet und bekannt macht.
5.1.2 Gotteserkenntnis, Bibel und hebräisches Denken: Eine relationale Hermeneutik Ausgangspunkt von Bonhoeffers und Heschels relationalem Denken ist die (Hebräische) Bibel, die beide von klein auf mehr oder minder intensiv rezipieren. Dass die (Hebräische) Bibel im Zuge ihrer wissenschaftlichen und praktischen Ambitionen der Frühphase das Grunddokument aller Relationalität beider bleiben kann und wiederum relational gelesen wird, hängt mit ihrer äußerst ähnlichen geistesgeschichtlichen Argumentation zusammen. So schlägt sich die gerade angedeutete Spannung zwischen Herzensfrömmigkeit und rationalem Gegenpol5 während der Frühphase Bonhoeffers und Heschels in methodischepistemologischen Überschneidungen nieder, die sie im Studium und innerhalb ihrer Dissertationen auf den jeweiligen Offenbarungsraum ihrer Religion – Kirche bzw. alttestamentlicher Prophet – anwenden. Um sich gegen den vorherrschenden Neukantianismus und dessen Niederschlag innerhalb der liberalen Theologie abzugrenzen, damit die Tatsächlichkeit der Offenbarung Gottes bestehen bleibt, greifen beide zur Phänomenologie (namentlich zu Schelers Phänomenologie des Fühlens) – und Bonhoeffer zudem zur (bzw. in manchen Teilen auch gegen) die dialektische Theologie, die die Grundvoraussetzung für die Relationalität ist.6
4 Vgl. 2.3.1, 2.4.1 u. 2.5.7. 5 Vgl. 2.5.1 u. 2.5.7. 6 Vgl. 2.3.1, 2.3.2, 2.4.3 u. 2.5.3.
428 | 5 Rückblick und Fazit: Bonhoeffer und Heschel – zwei relationale “Denker” Denn durch die phänomenologische Betrachtung ist überhaupt erst ein Dialog zum Untersuchungsgegenstand auf Augenhöhe möglich, der im Gegensatz zum Neukantianismus die analysierten Phänomene beschreibt, ohne mit allzu vorgefertigten Ansichten zu bewerten oder gar umzudeuten. Mithilfe der dialektischen Theologie und des Existentialismus pochen beide auf die Konkretion von Offenbarung in Raum und Zeit.7 Dies führt letztlich zu der Konsequenz, dass auch die Bibel selbst als Zeugin der Offenbarung Gottes wiederum in eine jeweils konkrete Situation, in eine konkrete Zeit und zu konkreten Personen aktualisiert werden soll, sodass sie als relationales Bindeglied zwischen der ursprünglichen Situation und der Textgestalt fungiert, die vom Leser ebenfalls relational wahrgenommen wird. Dann dient die Bibel aber auch der Relationalität zwischen Gott und dem Menschen/Leser und schließlich auch der Relationalität zur (konkreten) Welt, in der sich der jeweilige Leser befindet, und in die hinein die ursprüngliche Offenbarung aktualisiert werden soll. Während Bonhoeffer in seiner Frühphase relativ sparsam mit der Bibel argumentiert – wenn, fast ausschließlich mit dem Neuen Testament – und sich erst im Zuge der Mittelphase vollends von der ganzen Bibel abhängig macht, besitzt die Hebräische Bibel für Heschel von Anfang an zentrale Bedeutung.8 Schon zu Studienzeiten ist sich Bonhoeffer sicher, dass die biblischen Texte nicht (nur) zu analysierende und sezierende Quellen sind, sondern Offenbarungsträger und Richtschnur des Glaubens. Deshalb ist es der Moment der Offenbarung – als Akt (= actus directus) –, den Bonhoeffer fokussiert, und der die direkte Begegnung in ihrer Gleichzeitigkeit zwischen Gott und Mensch bezeichnet und von ihrem Charakter her auf derselben Ebene agiert wie das Gebet – wenn man damit meint, dass Gebet die Worte des Menschen an Gott sind, während die Offenbarung als Worte Gottes an den Menschen ergehen; weil aber dieser Glaube(nsakt) für Bonhoeffer fast exklusiv aus der Verkündigung der Bibel kommt, ist die Aktualisierung des biblischen Textes durch die Predigt nötig, die eine theologische Reflexion (= actus reflexus) voraussetzt.9 Damit sich die theologische Reflexion nicht verselbständigt, wie dies an der historisch-kritischen Exegese moniert wird, bindet er die Auslegung der Bibel an den Raum der Offenbarung, an die Kirche, weil Altes und Neues Testament als Offenbarungsquelle ebenso wie die Kirche selbst als Offenbarungsraum nur relational erkannt werden könnten, dass sie “von Christus getrieben” seien.10
7 Vgl. 2.3.2, 2.4.1 u. 2.5.3. 8 Vgl. 2.3.2 u. 2.3.4 vs. 2.4.3. 9 Vgl. 2.3.4. 10 Vgl. 2.3.2 u. 2.3.4; s. auch 2.5.3.
5.1 Rückblick | 429
Ohne es anfänglich so zu deklarieren, modifiziert Bonhoeffer damit schon früh die ursprüngliche Phänomenologie zu einer relationalen Hermeneutik, die den Leser selbst mit in den Bibeltext hineinzieht. Inspiriert von haggadischer Exegese, weiß er schon früh von einem kreativ-inspirierten Umgang mit der Bibel, weil Gott durch sie reden will, und findet schon im Alten Testament Christus.11 Diese kreative Inspiration hängt also einerseits von der betenden Haltung des Predigers als Relationalität zu Gott (und der Relationalität zur Bibel) ab, andererseits aber auch von der Relationalität zur Welt, sodass Bezüge zwischen dem gepredigten Bibeltext und der konkreten Situation gesucht und hervorgehoben werden, was besonders in einigen Predigten und Bibelarbeiten der Mittelphase12 deutlich wird. Besonders in der Mittelphase ist darum das biblische Wort das scheidende und entscheidende Wort, dem sich auch jedes Bekenntnis unterzuordnen hat.13 Geradezu biblizistisch klingend, rechtfertigt Bonhoeffer die Bibel deshalb als alleinige Antwort auf unsere Fragen und geht von ihrer alleinigen Ehre und Wahrheit als Wort Gottes aus, implementiert darum auch in der Finkenwalder Gemeinschaft einen intensiven Gebrauch der Bibel: Durch die regelmäßige eigene Bibellese als lectio continua findet nicht nur Begegnung mit Christus statt, sondern es soll auch Veränderung geschehen anhand der hermeneutisch-epistemologischen Relationalität – zu fragen, was Gott hier und jetzt sagen will.14 Von Clayton Powell Sr. inspiriert, praktiziert er schon vorher ganz planvoll einen persönlich-frommen Zugang zur Bibel durchs Gebet in Form von Bibel Memorieren, die Bibel Beten und wichtige Bibelverse Weitergeben, was er dann in Finkenwalde wiederum einführt.15 Ebenso fungieren in dieser Hinsicht die Losungen als Offenbarungsträger, die aus Bonhoeffers Herrnhuter Tradition stammen und die mit ihrem gelosten Bibelvers aus Altem und Neuem Testament geradezu prophetisch in die jeweilige Lebenssituation sprechen können.16 Und selbst akademisch, im Zuge von Schöpfung und Fall und natürlich auch der Nachfolge, wendet Bonhoeffer seine relationale Hermeneutik unter dem Namen “Theologische Auslegung” an, um dem Christus praesens der Schrift Seine Stimme zu verleihen, der laut Bonhoeffer ganz besonders gut im Psalter zum Vorschein tritt.17
11 Vgl. 2.3.1 u. 3.2.6. 12 Vgl. bes. 3.2.6. 13 Vgl. 3.2.8. 14 Vgl. 3.2.6. 15 Vgl. 3.2.1 u. 3.2.6. 16 Vgl. 2.1.1, 3.2.8 u. 4.2.1. 17 Vgl. 3.2.2, 3.2.6 u. 3.2.7.
430 | 5 Rückblick und Fazit: Bonhoeffer und Heschel – zwei relationale “Denker” Bei Heschel besitzt die (in seinem Fall) Hebräische Bibel einen äußerst hohen Stellenwert,18 auch wenn sie gleichzeitig aufgrund konsequenter Relationalität relativer wirkt als bei Bonhoeffer; auch deshalb greift er wohl auf die traditionellmystische Idee der Himmlischen Torah zurück, um ihre Autorität zu sichern.19 Denn auch für ihn ist die Hebräische Bibel immer wieder Ausgangspunkt seiner Theologie/Religionsphilosophie. Erkenntnistheoretisch argumentiert Heschel jedoch großzügiger, weil er die Erbsündenlehre nicht teilt: Der Mensch kann darum von sich aus offen sein – sich sichtbar machen durch die richtige Herzenshaltung20 – für eine Gottesoffenbarung, weil Heschel zufolge Gottes Gegenwart eben nicht nur an die Bibel geknüpft, sondern auch in der Welt und in heiligen Handlungen lokalisiert ist – nicht als natürliche Theologie, sondern vielmehr aufgrund seiner panentheistisch-mystischen Shekhinah-Vorstellung.21 Diese Gotteserfahrung ist laut Heschel vortheologisch und vorreflexiv im Sinne von Bonhoeffers actus directus, auch wenn Heschel trotzdem von kognitiven Erlebnissen sprechen kann. Tatsächlich ist für ihn Theologie als actus reflexus ebenfalls erst sekundär, weil sie auf die Erfahrung zurückgreift. Die Hebräische Bibel geht für Heschel dementsprechend auf eine Reihe von Propheten zurück, die im ersten Schritt Gottes Willen für ihre konkrete Situation empfangen und sekundär als Poeten das Unaussprechliche versprachlicht haben; diesen Anspruch der Propheten, Gott erlebt zu haben, nennt Heschel darum “prophetic understatement”.22 Das zu erkennen, ist ebenfalls – wie bei Bonhoeffer – nur durch die Innenperspektive möglich (s. o.) und somit ausschließlich relational verifizierbar. Denn zwar spricht Heschel von dem großen Geist der Bibel, womit er gewisser Hinsicht, ohne dies explizit so zu nennen, ein Majoritätsargument für ihre Authentizität vorlegt, weil sich so viele Menschen/Propheten ja nicht irren können; um ihren großen Geist aber zu erkennen und von ihrem Inhalt entflammt zu werden, muss man in sie laut Heschel eintauchen, was er “mystery minded” nennt und von den “literal minded” abgrenzt.23 Heschels Ziel dabei ist letztlich, von einem Glauben an die Propheten zu einem Glauben mit den Propheten und damit zur direkten Gottesbegegnung zu gelangen. Absolute Wahrheit ist für Heschel darum nur bedingt Thema. Dennoch hebt er die Bedeutung des Volkes Israel hervor, das als Kollektiv ähnlich wie die
18 Vgl. schon 2.4.3. 19 Vgl. 4.3.5. 20 = Kavanah, vgl. 5.1.5. 21 Vgl. 3.3.8 u. 5.1.3. 22 Vgl. 3.3.8 u. 5.1.4. 23 Vgl. 3.3.8.
5.1 Rückblick | 431
Kirche zum transsubjektiven Bürgen mutiert, weil es beim einmaligen Ereignis des Bundesschlusses am Sinai anwesend gewesen ist und deshalb das kontinuierliche Rufen Gottes zur Partnerschaft bezeugen soll.24 Heschels relationale Hermeneutik schlägt sich dabei im sog. “Pilpul” nieder, einer Mehrdeutigkeit der Hebräischen Bibel, um entweder das Verborgene ans Licht zu bringen, durch die entsprechende Einfühlung den Text zu beten oder durch nachkanonische Rede fortzuschreiben.25 Denn einerseits weiß Heschel um den klaren Abschluss des biblischen Kanons, andererseits um die prophetische Inspiration auch nach dessen Abschluss, sodass beispielsweise mithilfe der 13 Middot R. Ishmaels oder sonstiger haggadischer Exegese die Texte erweitert werden können.26 Dass Bonhoeffer und Heschel (früher oder später) zu einer konsequenten relationalen Hermeneutik durchdringen, die sowohl die Beziehungen zu Gott, zum Nächsten und zur Welt gleichermaßen berücksichtigt, geht letztlich mit hebräischem Denken einher, wie Heschel es nennt und von einem griechischen Denken unterscheidet, das die westliche Welt geprägt habe.27 Dahinter verbirgt sich die Betonung von Offenbarung und Teleologie im Gegensatz zu ewigen Wahrheiten und reiner Vernunft, die Betonung von Metahistorie statt Metaphysik und damit letztlich der WER-Frage als Relation anstatt der WAS-Frage nach Ontologie. Das macht Heschel besonders anhand des Schöpfungsberichtes deutlich, der seiner Interpretation nach nicht die Genese der Welt erläutern, sondern vielmehr den Willen Gottes zur Schöpfung und Beziehung hervorheben soll.28 Dies ist die hermeneutische Sichtweise, die er in der Bibel selbst findet und die gleichzeitig Grundlage seiner eigenen Religionsphilosophie wird, weshalb er im Dialog mit den christlichen Kirchen an eine Rückkehr zur Hebräischen Bibel (und damit zum hebräischem Denken29 ) appelliert, da Jesus selbst auf der Hebräischen Bibel gefußt habe. Aber auch gegenüber dem eigenen Judentum insistiert er immer wieder auf die hebräische Perspektive.30 Bonhoeffer weiß bereits seit Studienzeiten bei von Harnack von der Verfallsgeschichte der Kirche, und zwar infolge der Implementierung von griechischhellenistischem Gedankengut. Nach und nach entdeckt er hebräisches Denken in wesentlichen Teilaspekten wieder und propagiert in seiner Gefängniszeit die
24 Vgl. 2.3.4 u. 3.4.4. 25 Vgl. 3.3.3, 3.3.2, 3.3.7 u. 3.4.3. 26 Vgl. 2.4.3, 4.3.5 u. 4.3.8. 27 Vgl. 2.5.5, 3.3.8 u. 4.4.3. 28 Vgl. 3.3.8 u. 3.4.1. 29 Vgl. 4.3.2. 30 Z. B. in 4.3.7.
432 | 5 Rückblick und Fazit: Bonhoeffer und Heschel – zwei relationale “Denker” Rückkehr zum Alten Testament, um von dort erst das Neue Testament lesen und richtig verstehen zu können, weil man anderenfalls kein Christ sei.31 Und auch die zeitgleich entdeckte nicht-religiöse Interpretation biblischer Begriffe entstammt dem relationalen Denken, weil Bonhoeffer die Diskrepanz zwischen biblischer Welt und gegenwärtiger Situation anhand der Relationaliäten zur Bibel und zur Welt entdeckt.32
5.1.3 Gott: Initiator aller Relationalität Relationalität und hebräisches Denken können aber letztlich nur Niederschläge des einen Ursprungs sein, der niemand Geringeres als Gott selbst ist. Für Bonhoeffer und Heschel ist Relationalität darum in dem innersten Wesen Gottes verwurzelt. Auf den ersten Blick vertreten beide unterschiedliche Gottesbilder – Bonhoeffer als Christ den trinitarischen Gott, Heschel den einig-einzigen Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs; de facto ist nach dem Selbstverständnis beider aber der jüdische wie auch der christliche Gott derselbe, ohne dass über die Differenzen diskutiert würde.33 Zwar ist es richtig, dass die christliche Tradition den dreieinigen Gott bereits als in sich vollkommene, inter- und intrapersonale Gemeinschaft kennt, sodass Gott selbst in sich schon Relationalität par excellence verkörpert;34 allerdings ist ein immanent-abstraktes Gottesbild weder für Bonhoeffer noch für Heschel besonders interessant,35 sondern es ist immer wieder der relationale Gesichtspunkt – Gott in Seiner Offenbarung gegenüber dem Menschen –, der durchscheint. 31 Vgl. 4.2.5, 5.1.3, 5.1.4, 5.1.5 u. 5.1.6. 32 Vgl. 4.2.3 u. 4.2.5. 33 Bonhoeffer setzt die Identität des christlich-dreieinigen und des jüdischen Gottes voraus und legt darum von früh an das Alte Testament christologisch aus; vgl. 2.3.1 und besonders dann Schöpfung und Fall. Heschel erwähnt die Einheit beider Gottesbilder in seinen interreligiösen Vorträgen sogar explizit; vgl. 5.1.2 u. 4.3.2. 34 Vgl. Haudel: Gotteslehre, 174; s. auch ders.: Selbsterschließung, 13f.: “Die biblisch bezeugte heilsökonomische Selbsterschließung des dreieinigen Gottes, in der sich Gott als personales Geheimnis offenbart, läßt ihn als paradoxales Geheimnis der Gleichzeitigkeit von intra- und interpersonaler Dimension erkennen. Denn in Gott existiert sowohl die intrapersonale Dimension einer einzigen Personalität als auch die interpersonale Dimension der Gemeinschaft dreier Personen.” 35 Mit Luther betont Bonhoeffer sogar die Undurchdringlichkeit und Verborgenheit der immanenten Trinität; vgl. die Seminararbeit über den Heiligen Geist bei Luther, und auch Bonhoeffer: DBW 12, 342. In einem Essay über “The Christian idea of God” erwähnt er am Rande “the Holy Trinity” (ders.: DBW 10, 433). Zu diesem Urteil kommt auch Krötke: “Gottesverständnis”, 443.
5.1 Rückblick | 433
Darum ist das Verhältnis Gottes zur geschaffenen Welt von besonderem Interesse für Bonhoeffer und Heschel, in der Gott sowohl Gegenüber bleibt als auch nahe ist.36 Denn ihrer jeweiligen heilsgeschichtlichen Tradition gemäß gehen beide von Gott als Schöpfer aus und deuten diesen Akt der Schöpfung relational, mit dem Ziel der Beziehung zwischen Gott und dem Menschen,37 welcher als Gottes Ebenbild erschaffen wird. Damit ist für beide klar, dass Gott tatsächlich Beziehung zu und Gemeinschaft mit dem Menschen und dem Kollektiv Kirche bzw. Volk Israel haben will und kann. Gegen den Neukantianismus und mithilfe der Dialogik und des Existentialismus38 unterstreichen beide diesen Offenbarungswillen des personalen Gottes zum Menschen als Gegenüber und versöhnen damit die philosophischen Ansprüche mit ihrer religiösen Tradition. Darüber hinaus machen beide jedoch auch immer wieder deutlich, dass trotz der gefühlt ebenbürtigen Beziehung zueinander Gottes Wille von absoluter und höchster Priorität ist und bleiben muss. Bei Bonhoeffer ist es Christus, der menschgewordene und sich selbsterniedrigende Gott(essohn) als relationales Bindeglied zwischen Gott und Mensch, bei dem Bonhoeffer gegen christologische Einseitigkeiten und durch Ernstnahme des Sozialen eine reale Schranke der ethisch-sozialen Sphäre entwickelt: Gott als “undurchdringliches Du”, der Absolute im absoluten Verhältnis zum Einzelnen mitsamt der Priorität des absoluten Gotteswillens.39 Darauf aufbauend, beharrt er auf der WER-Frage gegenüber Christus (“Wer bist Du?”), die in die Beziehung führt, anstatt abstrakt zu sezieren.40 Wie bei Heschels Pathos-Gedanken auch, spricht Bonhoeffer an anderer Stelle von der Betroffenheit des Propheten durch das Pathos Gottes und schließt das relationale Verständnis des Heiligen Geistes und des Glaubens mit ein;41 implizit schon seit Studienzeiten lehnt er damit den griechischen Einfluss auf das Christentum ab, der zur Erstarrung geführt habe.42 Bonhoeffer geht schließlich sogar soweit zu behaupten, dass es Gott an sich überhaupt
36 Haudel: Gotteslehre, 26: “Nach dem biblischen Zeugnis hat sich Gott selbst als personales Gegenüber des Menschen erschlossen, das den Menschen als Ebenbild Gottes (lat. imago Dei) transparent werden lässt und ihm ganz nahe ist. Dieses durch das dreieinige Wesen Gottes ermöglichte Verhältnis von ‘Gegenüber und Nähe’ eröffnet im Unterschied zu dualistischen und identifizierenden Gottesvorstellungen eine freie personale Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch.” 37 Vgl. schon 5.1.2. 38 Vgl. 2.3.2, 2.3.1, 2.4.2, 2.4.3. 39 Vgl. 2.3.1, 2.3.2 u. 2.3.3. 40 Vgl. “Christologie-Vorlesung”, 3.2.2. 41 Vgl. 2.3.3 u. 2.4.3. 42 Vgl. 2.3.1.
434 | 5 Rückblick und Fazit: Bonhoeffer und Heschel – zwei relationale “Denker” nicht gebe, sondern nur in der Verkündigung, womit er letztlich auf das christologische pro me hinaus will.43 Bei Heschel wird das Gegenüber und die Nähe Gottes durch die jüdisch-mystische Grundlage der Shekhinah (“Einwohnung Gottes”) sichergestellt, die als Letztes von zehn göttlichen Emanationsstufen – die göttlichen Gefäße – in der Schöpfung präsent ist, sich aber aufgrund eines Unfalls im Exil befindet.44 Bereits in seiner Dissertation thematisiert Heschel diese “Ekstase Gottes”.45 Auch wenn Heschel nicht-trinitarisch denkt, betont er den Beziehungswillen und das Handeln Gottes zum Menschen und widerspricht apersonalen Tendenzen.46 In bereits erwähntem Pathos Gottes und dem damit verbundenen Prophetismus zeigt sich die Teleologie Gottes –47 als Anthropotropismus (Prophetie) und damit Bewegung Gottes zum Menschen im Gegensatz zum Theotropismus (Gebet/Priester) –, die ebenfalls gegen eine griechisch-starre Denkweise die Unbeständigkeit und Wandelbarkeit der Welt hervorhebt. Denn Gott ist und bleibt immerzu auf der Suche nach dem Menschen, wie Heschel es betont.48 Gemeinsam ist Bonhoeffer und Heschel darum gleichermaßen die Ablehnung eines apathischen Gottes. Anstatt sich auf das mittelalterliche Allmachtsaxiom zu versteifen, plädieren beide für einen gewissermaßen biblisch-begründeten ohnmächtigen Gott, der sich in Seiner Freiheit an den Menschen gebunden und schließlich aus der Welt hat verdrängen lassen. Heschel, von den Propheten herkommend, nennt Gott dementsprechend den “most moved mover”, der unter dem geschichtlichen Verlauf und menschlichem Handeln leidet;49 einher geht mit dem Pathos auch Heschels Fokus auf die Güte Gottes, die sich besonders in der Shekhinah am konkreten Ort ausdrückt, die in gewisser Spannung zur Omnipräsenz Gottes bestehen bleibt. Für Bonhoeffer ist der theologische Drehund Angelpunkt die theologia crucis, in der Gott selbst den Tod auf sich nimmt. Dass Gott trotz aller Ohnmacht aber nach wie vor redet, ist für beide unbestritten. 43 Vgl. 3.2.2 u. 3.4.4. 44 Vgl. besonders “The Mystical Element in Judaism” (3.3.2), wo Heschel diese Gedanken erläutert. Doch schon früher und an vielen weiteren Stellen thematisiert Heschel den Exils-Gedanken Gottes/der Shekhinah; vgl. 2.4.7, 3.3.6, 3.3.7, 3.4.4, 4.3.6, 4.3.5, 4.3.7, 4.3.8 u. 4.4.1. 45 Vgl. 2.4.3 u. 2.5.5. 46 Vgl. 2.4.1. 47 Vgl. 2.4.1 u. 2.4.3. 48 Vgl. 3.3.8 u. 3.4.1. 49 Vgl. 4.4.5.
5.1 Rückblick | 435
Tiefentheologisch50 gibt es somit deutliche Überschneidungen zwischen Bonhoeffer und Heschel an dem Punkt des Gottesbildes trotz unterschiedlicher religiöser Tradition. Beide weichen darin (bewusst oder unbewusst) von dem starren, apathischen Gottesbild ab, wie es besonders im Mittelalter infolge der Aristoteles-Rezeption verbreitet worden ist.
5.1.4 Der Mensch: Relationalität in personam Weil der Schöpfer selbst Relationalität in höchster Vollendung “verkörpert”, muss der Mensch als Sein erschaffenes Ebenbild ebenfalls die Relationalität in sich tragen. So sind sich Bonhoeffer und Heschel und an dieser Stelle in weiten Teilen einig – nicht allein darin, dass der Mensch Ebenbild Gottes ist, sondern auch darin, dass sich die Ebenbildlichkeit allen voran in der Relationalität niederschlägt.51 Bonhoeffer geht sogar soweit zu behaupten, dass der Mensch erst durch das konkrete Du zum Ich wird, was innerhalb der konkreten Zeit zur Entscheidung und den Menschen in den Stand der Verantwortung führt.52 Durch die Erbsünde als völlige Trennung von Gott und die incurvatio in se ist aber diese Gottebenbildlichkeit zerstört, die als dritte Macht zwischen Gott und Mensch tritt und so die Relationalität unmöglich macht, lediglich Teilhabe am Kollektiv der sündigen Menschheit erlaubt.53 Der Heilige Geist ist darum notwendig, um zum konkreten Du hinzuzutreten und die incurvatio zu durchbrechen, was in Bonhoeffers Frühphase noch sehr eng an den Raum der Kirche gebunden ist. Durch die Teilnahme an der Kirche werden relational Gnade und Stellvertretung vermittelt – einer wird dem anderen stellvertretend zum Christus –, woraus Christus als Gemeinde existierend hervortritt, wie Bonhoeffer es in seiner akademischen Frühphase beschreibt. Erst dadurch kann aus Selbstsucht schenkende Beziehung werden und nach und nach in relationaler Abhängigkeit von Christus (durch Teilhabe an der Kirche) die Wiederherstellung der Gottebenbildlichkeit erfolgen, sodass der Mensch simul iustus et peccator bleibt.54 Aufgrund von Bonhoeffers Verwurzelung in der Erbsündenlehre ist für ihn zur Überwindung nämlich nicht allein die Aktoffenbarung (= actus directus) ausreichend, sondern Kontinuität in der Offenbartheit durch das Sein-in-Christus als Teilhabe an der Kirche, die in dieser Hinsicht 50 Vgl. 4.3.8, 4.4.6. 51 Vgl. 2.5.6. 52 Vgl. 2.3.2 u. 5.1.6. 53 Vgl. 2.3.1 u. 2.3.2. 54 Vgl. 2.3.4.
436 | 5 Rückblick und Fazit: Bonhoeffer und Heschel – zwei relationale “Denker” zum transsubjektiven Bürgen wird und die Akt-Seins-Offenbarung sicherstellt, indem sie sowohl Verwalter des predigenden als auch des theologischen Erkennens (= actus reflexus) ist, als Verkündiger wie auch Verwalter des Wortes Gottes vom Tod und der Auferstehung Christi55 Die Kirche ist damit nicht nur Geist- und Liebesgemeinschaft bzw. geistbewegte Familie durch die relationale Bindung an den Heiligen Geist, sondern auch Offenbarungs- und Heilsraum.56 Dass Heschel sich in weiten Teilen dazu bedeckt hält, wie er dogmatisch die Gottebenbildlichkeit versteht, hängt mit seiner als Jude noch stärkeren Verwurzelung im hebräischen Denken zusammen. Deshalb lehnt er auch kategorisch eine Erbsündenlehre ab, spricht aber dennoch von einer (Tyrannei der) selbstgewählten Selbstzentriertheit oder immerhin von einer menschlichen Verschuldung, worüber der Mensch Ehrfurcht und Wunder vor der Größe Gottes vergesse.57 Auch sonstige Pauschalisierungen über den Menschen hält Heschel für schwierig, kritisiert eine Aufspaltung in die unterschiedlichen anthropologischen Wissenschaften und ist sich ebenso der eigenen Undurchsichtigkeit des Menschen bewusst, weshalb er vielmehr die Betrachtung im größeren Kontext favorisiert. Wichtig ist für ihn erstens die Beziehung zu sich selbst, weil Heschel davon ausgeht, dass der Mensch wesentlich durch das geprägt wird, was er über sich selbst denkt. Diese Dimension ist gleichsam abhängig von der Beziehung zum Nächsten, weil Eigen- und Fremdwahrnehmung bzw. die eigene Biographie maßgeblich sind fürs Selbstbewusstsein. Daraus leitet Heschel die konstitutiv entscheidende Teleologie fürs Menschsein auf Grundlage des hebräischen Denkens ab, nämlich die Offenheit gegenüber der Transzendenz, was aber natürlich nur relational aus der Innenperspektive zu begreifen ist.58 Konsequenz dieser Teleologie ist unweigerlich eine entsprechende Spiritualität wie auch Verantwortung gegenüber dem Nächsten, zumal Persönlichkeitsentwicklung Voraussetzung ist, um konkrete Person zu werden.59 Um davon zu erfahren, ist die Bibel unentbehrlich, die zur Partnerschaft mit Gott anleiten soll. Obwohl also Uneinigkeit über die Erbsündenlehre besteht, ist für Bonhoeffer wie Heschel eine von Gott selbst initiierte Spiritualität unabdingbar, um nicht nur die Beziehung zu Gott zu leben, sondern auch zum Nächsten (und zu sich selbst).
55 Vgl. 2.3.4, 2.5.6 u. 5.1.2. 56 Vgl. 2.5.6. 57 Vgl. 3.3.8 u. 4.3.4. 58 Vgl. 5.1.2. 59 Vgl. 4.3.4, 5.1.5 u. 5.1.6.
5.1 Rückblick | 437
5.1.5 Bibel und Gebet: Relationale Spiritualität Wenn die Bibel für Bonhoeffer und Heschel das zentrale Dokument von Relationalität darstellt, Gott als Ursprung von Relationalität offenbart und das Geschöpf als Gottes Ebenbild auf Relationalität zu Gott angelegt ist,60 verwundert es natürlich nicht, dass für beide Spiritualität – als Ausdruck und Suche der Relation zwischen Gott und Mensch durch die Bibel und das Gebet – ein zentrales Element des Menschseins darstellt. Durch seinen ersten Amerika-Aufenthalt und infolge von vier Bausteinen dringt Bonhoeffer zu einer persönlichen Frömmigkeit mit einem simplen Evangelium durch, was letztlich alle relationalen Bereich zwischen Gott, Welt und Mensch umfasst.61 Dementsprechend benennt er manche seiner früheren Erkenntnisse um und spricht nun von dem praktischen “einfältigen Gehorsam” statt des abstrakten actus directus.62 Grundlage dafür ist Christus, der den Menschen (und so auch Bonhoeffer selbst) konkret anspricht und in dessen Nachfolge ruft, um glaubend zu gehorchen und gehorsam zu glauben, indem der Nachfolger einfältig auf Christus schaut.63 Das Resultat nennt Bonhoeffer “teure Gnade”, weil der Nachfolger in diesem Prozess relational an Christi Gnade und Vergebung partizipiert und so nach und nach wieder in das Ebenbild Gottes verwandelt wird, wie gerade gesehen.64 Bonhoeffer wehrt sich also gegen eine sog. “billige Gnade”, die Glaube und Gehorsam, Gesetz und Evangelium, Bekenntnis und Tat auseinanderreißt.65 Es geht ihm zunehmend um Orthopraxie statt reiner Orthodoxie. Ganz praktisch zweifelt Bonhoeffer deshalb an der universitären Ausbildung und findet in Finkenwalde ein alternatives Gemeinschaftsmodell mit dem Bruderhaus, das seine relationale Spiritualität verwirklicht, um die zuvor monierte Zusammengehörigkeit von actus directus und actus reflexus sicherzustellen.66 Denn in der Gemeinschaft verwirklicht sich die pneumatisch-relationale Gegenwart mit Christus als Geber,67 wodurch sämtliche Relationalitäten (zu mir selbst, zum Nächsten und natürlich zu Gott) abgedeckt werden; durch Gebet, Fürbitte,
60 Vgl. 5.1.2, 5.1.3 u. 5.1.4. 61 Die vier Bausteine lauten: 1. Pragmatismus; 2. Niebuhr und Social Gospel; 3. Bergpredigt; 4. afroamerikanische, emotionale Frömmigkeit; s. auch 3.4. 62 Vgl. 2.3.4 vs. 3.2.7. 63 Vgl. 3.2.7. 64 Vgl. 5.1.4. 65 Vgl. 3.2.7 u. 3.4.4. 66 Vgl. 3.2.5, 3.2.6 u. 5.1.2. 67 Vgl. 2.3.4 u. 3.2.6.
438 | 5 Rückblick und Fazit: Bonhoeffer und Heschel – zwei relationale “Denker” Zuhören, Sündenvergebung und tätiger Hilfsbereitschaft ist einer dem anderen stellvertretend Christus (“Christus als Bruder existierend”); sowohl im Kollektiv als auch individuell wird gebetet und auf Gottes Wort gehört, und auch die Losungen erweisen ganz praktisch ihren Nutzen der Führung durch Gottes Wort in Form der Bibel.68 Den Glaubensvollzug, den Heschel zunächst bei den biblischen Propheten analysiert hat, weitet er aus, sodass bald der grundsätzlich fromme Mensch und seine direkte Begegnung mit Gott im Fokus steht.69 Denn für Heschel ist das Gebet ontologische Notwendigkeit des Menschseins und seiner chassidischen Tradition gemäß alle Lebensbereiche umfassend.70 Das Gebet ist dabei sowohl Grundlage für Reue und Reinigung als auch für die am Sinai initiierte Partnerschaft mit Gott, was er zwar nicht – wie Bonhoeffer aufgrund der Erbsündenlehre – als Wiederherstellung der Gottebenbildlichkeit, aber als Wiederaneignung und Ausübung bezeichnet – was praktisch auf dasselbe hinausläuft. Zentrale Rolle – deshalb praktisch in jedem Werk zu finden – spielt für Heschel die Kavanah, die richtige Herzenshaltung, durch die im Prinzip fast alles zum Gebet werden kann, weil Gott Schöpfer aller Dinge ist; als Beginn des Gebets versteht Heschel darum schon das Öffnen der Gedanken für Gott. Weil Heschel aber weiß, dass sich der Beter nicht immer in der richtigen Verfassung befindet, kennt er zwei Gebetsformen: Einerseits den “act of expression”, das spontane Gebet, das aus der Fülle der Kavanah hervortritt; andererseits weiß er um den “act of empathy”, bei dem man sich in ein vorgefertigtes Gebet einfühlt, um die Momente der aktualen Gottesbegegnung zu überbrücken.71 Und auch die Bibel als Wort Gottes spricht laut Heschel zum Menschen, dessen Antwort das Gebet darstellt.72 Schließlich muss sich auch die Predigt ihm zufolge in Gebet umformulieren lassen. Durch das Gebet wird der Beter Teil des überzeitlichen Kollektivs Israel, womit Heschel im Gegensatz zu Bonhoeffers Sein-in-der Kirche den umgekehrten Weg wählt, nämlich über das Gebet zum Kollektiv, während es sich bei Bonhoeffer aufgrund der Erbsündenlehre in den ersten Phasen über die Kirche zum Gebet vollzieht.73 Ganz im Sinne von Bonhoeffers teurer Gnade treten bei Heschel neben das Studium der Torah und die klassischen Gebete als Form der Spiritualität noch die Mitsvot/Gebote, die durch die Kavanah zum Gebet in Form
68 Vgl. 3.2.6 u. 5.1.2. 69 Vgl. 3.3.6. 70 Vgl. 2.1.2 u. 3.3.1. 71 Vgl. 2.4.7 u. 3.3.7. 72 Vgl. 4.3.8. 73 Vgl. 3.3.7 mit 5.1.4.
5.1 Rückblick | 439
einer Tat werden. Weil dieser Prozess des Tiqqun ‘Olam, die Wiederherstellung der Welt, aber auch Gottes (bzw. das Seiner Shekhinah) Exil beendet, beeinflusst die Spiritualität letztlich Gott selbst.
5.1.6 Verantwortung durch situatives Denken: Relationalität zum Nächsten Wenn Bonhoeffer und Heschel von Beziehungen und Spiritualität reden, darf eine Dimension ganz und gar nicht vergessen werden: Die Beziehung zum Nächsten. Grundlage für beide ist, wie bereits thematisiert, die Gottebenbildlichkeit, die als Güte über jedem menschlichen Leben steht; jeder Mensch – und damit gerade auch das konkrete Gegenüber – ist schützenswert.74 Bonhoeffer versteht die Gottebenbildlichkeit des Menschen nicht nur passiv, sondern leitet von ihr auf unterschiedlichen relationalen Ebenen ein aktives, praktisches Handeln des Menschen ab, was er mit dem Begriff “Verantwortung” in Verbindung bringt: Wie Gott sich in Seiner Freiheit zur Erschaffung des Menschen und der Welt entschlossen hat, so ist auch der Mensch als Sein Ebenbild frei für die Antwort auf den Ruf des Nächsten (= anthropologische Verantwortung), Ihm zu dienen, und frei von der Schöpfung, über sie zu herrschen, was Bonhoeffer treffend als “analogia relationis” bezeichnet.75 Verschärft wird dies durch die christologische Verantwortung, die sich letztlich in Bonhoeffers Verständnis von “Stellvertretung” niederschlägt: Der Mensch ist auch von Christus zur Antwort (= Ver-Antwortung) auf den Ruf in die Nachfolge aufgefordert und soll – nach Christi Vorbild der befreiungstheologisch angehauchten theologia crucis – auch zu den Ausgegrenzten gehen, selbst ein Ausgegrenzter werden und das Unrecht (in prophetischer Manier) anprangern.76 Im Laufe der Zeit sprengt Bonhoeffers Theologie aber die Grenzen der Kirche, was im Kern am hebräischen Denken liegt, damit verbunden das situative Denken implementiert und in eine neue Diesseitigkeit mündet (statt vorheriger Weltflucht-Tendenzen77 ): Die konkrete Welt und die konkrete Situation sind nun die Bereiche, denen gegenüber man Verantwortung zu tragen hat. Das bedeutet für Bonhoeffer nicht nur, dass es auch um konkrete Menschen geht, sondern letztlich auch darum, stellvertretend und selbstlos – als Nachfolger Christi – Schuld auf sich zu laden, weil Christus nicht allein zu den Ausgegrenzten gegangen ist, sondern auch als Unschuldiger
74 Vgl. 5.1.4. 75 Vgl. schon 2.3.4, dann auch 3.2.2 u. 3.4.2. 76 Vgl. 3.2.1 u. 3.4.4. 77 Vgl. 4.2.4.
440 | 5 Rückblick und Fazit: Bonhoeffer und Heschel – zwei relationale “Denker” am Kreuz die Sünde der Welt getragen hat.78 Dass damit die Tat – womöglich sogar ein Mord – selbst nicht gerechtfertigt werden kann, ergibt sich schon aus dem einfältigen Gehorsam des Nachfolgers Christi, auch wenn Bonhoeffer um die kierkegaardsche Suspension des Ethischen weiß; denn die Unterscheidung von Gut und Böse ist laut Bonhoeffer (mit Gen 3) eine Folge des Sündenfalls und steht nur Gott selbst zu, damit die Gnade niemals billig werde.79 Darin schlägt sich auch Bonhoeffers Appell zur Zusammengehörigkeit von Glaube und Gehorsam nieder; bei ihm ebenso wie bei Heschel wird damit deutlich, wie eng Spiritualität und Verantwortung zusammengehören. Auch Heschel kennt letztlich diese drei Verantwortungsbereiche: Zum ersten den bei ihm treffender bezeichneten theologischen Verantwortungsbereich mit Gott als Gegenüber, was für ihn bedeutet, dass Gott entweder von keiner oder höchster Bedeutung ist; zweitens thematisiert Heschel den individuell-anthropologischen Verantwortungsbereich qua Gottebenbildlichkeit jedes Menschen.80 Besonders aber in seiner letzten Lebensphase benutzt er immer wieder die Formel “Some are guilty, all are responsible”, sodass das Kollektiv als verantwortliche Größe immer präsenter wird. Was Heschel aus seinem jüdischen Verständnis heraus fremd bleiben muss, ist dabei der christologischsoteriologisch konnotierte Stellvertretungs-Gedanke.81 Heschels Grundlage ist die prophetische Sympathie, die er spätestens ab der Mittelphase jedem Frommen zubilligt und sich so praktisch jeder vor Gott und den Menschen verantworten muss.82 Der Verantwortungsbereich der Welt erlangt bei Heschel sogar theologische Bedeutung, weil der Mensch durch den Heiligen Geist nicht nur offen für den göttlichen Funken ist, um ein Leben guter Taten zu komponieren, sondern durch die tatsächlichen Akte der Erlösung anteilig den Messias darstellt.83 Als Unterschied bleibt damit bestehen, dass bei Bonhoeffer die Eigenverantwortung des Menschen gegenüber einem anderen Menschen damit ein Verbot suspendieren kann, während Heschel sich im Sinne Gandhis (Kings) auf gewaltlosen Widerstand konzentriert, gleichzeitig aber in der Verantwortung gegenüber Gott und Seiner Erlösung mehr zu leisten hat.84
78 Vgl. 2.3.4 u. 4.4.4. 79 Vgl. 3.2.7 u. 4.4.4. 80 Vgl. 4.3.2 und s. o. 5.1.4. 81 Vgl. 4.3.4 u. 4.4.4. 82 Vgl. 3.3.1. 83 Vgl. 3.4.4. 84 Vgl. noch 4.3.7.
5.1 Rückblick | 441
5.1.7 Ernstnahme des Irdischen, Ganzheitlichkeit und Vorletztes: Relationalität zur Welt Dass Bonhoeffer und Heschel überhaupt solch einen Aufwand betreiben und sich für die irdischen Belange von Menschen einsetzen, hängt letztlich mit einer wesentlichen Facette hebräischen Denkens zusammen, nämlich sog. “Ganzheitlichkeit”. Dahinter verbirgt sich nichts weniger als die Wertschätzung auch der materiellen Welt als Schöpfung Gottes, der Körperlichkeit etc., die ja nach streng platonisch-griechischer Lehre und besonders nach neuplatonischer Emanationslehre als Gewordenes geradezu minderwertig ist. Bei Bonhoeffer entwickelt sich die Perspektive im Laufe seiner drei Lebensphasen stetig hin zur Ganzheitlichkeit und hängt mit dem Alten Testament zusammen, dessen Bedeutung er in besonderer Weise in der Spätphase zu schätzen weiß. Dies mündet bei ihm terminologisch in der Unterscheidung zwischen Letztem und Vorletztem.85 Aber schon früh untersagt Bonhoeffer den Gedanken an eine abstrakte Seelenlehre und an jeglichen Formen von Dualismen.86 Im Zusammenhang mit der Auferstehung Jesu wissen seiner Ansicht nach die Evangelien zwar “nur” von dem leeren Grab, jedoch ist die leibliche Auferstehung der Christen immer wieder Thema bei ihm, was er letztlich relational begründet, weil Kommunikation und Gemeinschaft nur in einer Form von Leiblichkeit möglich sind.87 Doch auch das hiesige, irdische Leben bekommt zunehmend höheren Stellenwert, weil Bonhoeffer schließlich im Alten Testament den Eigenwert des sog. “Vorletzten” entdeckt:88 Weil in Christus – qua Inkarnation, Kreuzigung und Auferstehung – Gott und Welt wirklich miteinander vereint und versöhnt sind und Gott darin letzte Gnade über alles hat walten lassen, muss es eine echte Diesseitigkeit geben. Denn mit Kreuzigung und Auferstehung als Letztem spricht Christus Sein Urteil über das Vorletzte, setzt es aber auch neu in Kraft, sodass beides zusammengehalten werden muss, solange diese Welt besteht. In gleichem Maße weiß Bonhoeffer auch von einer Art irdisch-transformativer Erlösung des Vorletzten in das Letzte, wenn Menschen durch einfältigen Gehorsam zunehmend relational an Christus partizipieren.89 Es geht im Evangelium somit um diese Welt, und so entdeckt Bonhoeffer nicht zuletzt durch den Einfluss des Alten Testaments wie auch durch die Auslegung der
85 Vgl. 4.2.4. 86 Vgl. 3.2.2 u. 3.2.3. 87 Vgl. 2.3.2 u. 3.2.7. 88 Vgl. 4.2.4. 89 Vgl. 5.1.4 u. 4.2.5.
442 | 5 Rückblick und Fazit: Bonhoeffer und Heschel – zwei relationale “Denker” Bergpredigt das Bestreben nach Gerechtigkeit und Reich Gottes auf Erden anstelle individualistischen Seelenheils.90 Deshalb wendet sich Bonhoeffer auch dem Kollektiv zu, und zwar nicht nur der Kirche als Repräsentant Christi, sondern er entwickelt mit seiner Mandatenlehre einen sozialethischen Ansatz für die gesamte Gesellschaft,91 durch die er Verzahnung aller irdischer Instanzen mit göttlicher Autorität erzielen möchte – christliches Leben inmitten der Welt: Während die Mandate von Arbeit und Ehe/Familie bereits mit der Schöpfung gegeben sind, bringt Bonhoeffer die Obrigkeit mit dem Sündenfall in Verbindung, jedoch zum Schutz bestehender Ordnungen und Mandate, auch der Kirche und der Gerechtigkeit. Das vierte Mandat, die Kirche, tritt in Spannung dazu auf und verkörpert, wie erwähnt, Christus und dessen ewiges Heil gegenüber der ganzen Welt und soll dem Menschen von innen her – durch Relationalität zwischen Gott durch Christus und Mensch – als wirkliche Lösung aller menschlichen Probleme begegnen. Heschel ist von seinem jüdischen Hintergrund – der frühen, intensiven Auseinandersetzung mit den biblischen Propheten und seiner chassidischen Tradition der Avoda be-Gashmiut – noch tiefer in der Diesseitigkeit verwurzelt als Bonhoeffer.92 Und so ist sein Ansatz des Tiqqun ‘Olam innerweltlich-transformierend gedacht: Es geht um Recht und Gerechtigkeit; Israel als Staat hat nach wie vor Bedeutung. Überhaupt beschäftigt sich Heschel relativ wenig mit der Frage des Lebens nach dem Tod, das mit diesem Leben verbunden sein soll, wobei Heschel den Tod ganz im Sinne Bonhoeffers als die Tür zu einem neuen Anfang betrachtet.93
5.1.8 Tiefentheologie und relationale Wahrheit: Theologische Konsequenzen Was bei Bonhoeffer im Zuge seiner Werke und sonstigen Dokumente nur implizit zur Sprache kommt und in seinem Fall auch nur bedingt zutrifft, buchstabiert Heschel expliziter durch: Die Frage nach der Wahrheit – religiös-konfessioneller Natur, aber auch grundsätzlicher Art, dessen Ergebnis seine sog. “Tiefentheologie” darstellt. Sowohl in seinen interreligiösen Vorträgen und Veröffentlichungen als auch gegen das mittelalterliche Judentum äußert er ausgesprochene Kritik an dogmatischer Theologie (der fides quae creditur), die er vor allem aus der intensiven Beschäftigung mit dem Glaubensvollzug (fides qua creditur) zieht. Und da-
90 Vgl. 3.2.7, 4.2.4 u. 4.2.5. 91 Vgl. 4.2.4. 92 Vgl. 2.1.2, 2.4.3, 4.3.1, 4.3.5. 93 Vgl. 4.3.7, 4.4.1 u. 4.3.8.
5.1 Rückblick | 443
mit zusammenhängend ist auch die Hebräische Bibel bei Heschel zwar von größter Bedeutung, gleichzeitig aber nicht in ihrer Absolutierung wahr, sondern vielmehr durch ihre Verbindung zur himmlischen Torah bzw. dem in ihr vorhandenen großen Geist der Propheten.94 Die (dogmatische) Theologie ist damit erst sekundär oder sogar tertiär – Theologie als Reflexion der Bibel, die wiederum auf den Propheten fußt. So prägt er den Terminus “Tiefentheologie”, welche als erster Baustein den Glaubensvollzug auf Grundlage der Kavanah darstellt, und erst sekundär die Theologie beinhaltet.95 Um darum nicht in Abstraktionen zu landen, sondern konsequent relational zu bleiben, ist der dritte Baustein der Kontext, die konkrete Situation und die Innenperspektive, der vierte Baustein die Mitsvot, die sowohl Output als auch wiederum Input für eine neue Glaubenserfahrung sein können.96 Die Wahrheit theologischer Aussagen ist bei Heschel somit abhängig von (a) der eigenen Glaubenserfahrung, (b) dem eigenen Reflexionsvermögen und Selbstbewusstsein, (c) dem Kontext und (d) der konsequenten Synchronisation von Glauben und Handeln.97 Mit seinem tiefentheologischen Vergleich zwischen dem Kotzker Rebbe und Kierkegaard zeigt Heschel exemplarisch, wie ähnlich sich ein Rebbe und ein christlicher Existentialist sein können.98 Und so schaut Heschel im interreligiösen Dialog in besonderem Maße auf die Gemeinsamkeiten (biblische Propheten und grundsätzlich die Hebräische Bibel, Gottebenbildlichkeit, Partnerschaft mit Gott zur Heiligung des Lebens), ruft zum “interfaith” auf (auch mit dem Islam), verbittet sich gleichzeitig Missions- oder Substitutions-/SuperPositionsversuche durch die Kirche und geht sogar soweit, dass er religiösen Pluralismus im Zeitalter der Gegenwart für den Willen Gottes hält. Womöglich beeinflusst hier auch Heschels größere Heimatverbundenheit zum amerikanischliberalen Immigrationsland sowie die Nachkriegszeit selbst die theologische Überzeugung, was ja ganz im Sinne der Tiefentheologie wäre. Die Kirche versteht Heschel als Werkzeug zur Verbreitung des Monotheismus zur Erlösung der Welt. Die Hebräische Bibel propagiert er darum als das einende Band.99 Hier wie dort ist es deshalb immer wieder eine System- und Doktringläubigkeit, die er auch unter dem Einfluss des amerikanischen Pragmatismus zugunsten einer
94 Vgl. 5.1.2. 95 Denn “[t]heology deals with permanent facts; depth theology deals with moments”, so Heschel: Insecurity, 118 (“Depth Theology”, 1960). 96 Vgl. 4.4.6 u. 5.1.2. 97 Vgl. 2.4.1, 4.3.4, 4.4.2, 5.1.2 u. 5.1.4. 98 Vgl. 4.3.8. 99 Vgl. 4.3.2.
444 | 5 Rückblick und Fazit: Bonhoeffer und Heschel – zwei relationale “Denker” stärker orthopraktischen Ausrichtung aufgeben möchte, die sich aber auch in qualifiziertem Schweigen äußern kann.100 Bonhoeffer, der nicht nur als Christ, sondern auch im Kontext des drohenden Nazi-Regimes gute 20 Jahre früher agiert, setzt sich zwar praktisch für Juden ein, geht aber keinen interreligiösen Dialog zum zeitgenössischen Judentum (oder irgendeiner anderen Religion) ein.101 Vielmehr ist zunächst die Kirche sein Wirkungsraum, schließlich dann die Gesamtgesellschaft.102 Und auch theologisch ist er an diesem Punkt weniger progressiv als Heschel nach ihm. Denn zwar weiß er um die Schwierigkeit zwischen Glaubensvollzug und Glaubensinhalt, und auch ist er sehr wohl bereit, kirchliche Bekenntnisse auf die Waagschale zu legen, zumal das erste Bekenntnis vor der Welt die Tat ist,103 sodass auch hier die Relationalität die zentrale Rolle spielt. Weil aber Christus das Wort Gottes ist (= Logos), und weil die Bibel des Alten und Neuen Testaments von der Kirche zuverlässig überliefert worden ist als dessen Heilige Schrift,104 zweifelt Bonhoeffer weder die Bibel noch Christus in ihren Autoritäten an; mit Luther macht er sie sogar zum höchsten Maßstab für die christliche Wahrheit, wobei die Erkenntnis darüber immer die Innenperspektive voraussetzt.105 Nichtsdestotrotz kann es ihm nicht allein um eine Verbalisierung theologischer Richtigkeiten gehen, sondern wahres Bekennen ist für ihn immer ein Einstehen für das Richtige im Sinne seiner teuren Gnade.106 Er kann sogar soweit gehen zu behaupten, dass schlechte Theologie nicht allzu viel Schaden anrichte, weshalb er die Spiritualität der Theologie vorzieht.107 Das relationale Denken und mit diesem verbunden auch die Frage nach Wahrheit schlägt sich aber doch an manchen Punkten durch. So versteht Bonhoeffer Rechtfertigung und Gnade Christi relational insofern, als dass der Nachfolger lediglich an ihr partizipieren kann. Die Frage, ob man als Christ grundsätzlich be-
100 Vgl. schon 3.4.4, und dann 4.4.6. 101 Vgl. auch Krötke: “Bedeutung”, 351f. 102 Genau das macht Barnett: “Relevance”, 236 – trotz aller Eingeständnisse hinsichtlich v. a. früher antijudaistischer Formulierungen (2.3.1) – zur Grundlage von Bonhoeffers Relevanz für eine Post-Holocaust-Theologie: “[N]ot because of the development of his thinking on Judaism and the Jews, but because of the conclusions he drew about the changed identity of the Church, the necessity for the dismantling of cultural and political Christendom, and not least because of his own guilt and shame about the failures of his church and his country to withstand Nazi evil.” 103 Vgl. 3.2.2 u. 3.4.4. 104 Vgl. 2.3.4. 105 Vgl. 2.3.1. 106 Vgl. 3.2.7 u. 5.1.5. 107 Vgl. 4.2.1.
5.1 Rückblick | 445
gnadigt ist, dürfte Bonhoeffer zwar mit Luthers sola gratia positiv beantwortet wissen; doch im Grunde genommen ist der Nachfolger dazu angehalten, gerade nicht zwischen wahr und falsch, Gut und Böse, zu unterscheiden, sondern im einfältigen Gehorsam Christus nachzufolgen.108 Und deshalb ist für Bonhoeffer die Wahrheit personifiziert, nämlich Christus selbst ist die Wahrheit (vgl. Joh 14,6). Und auch hermeneutisch ist ihm bewusst, dass es grundsätzlich Gott nur “in Form der Verkündigung” gibt, sodass er nicht zwischen historischem Jesus und gegenwärtigem Christus unterscheiden kann.109 Darum ist Bonhoeffer praktisch nicht sehr weit von Heschels Tiefentheologie entfernt, indem er die Spiritualität der Theologie vorzieht (und auch das qualifizierte Schweigen vor Gott kennt), zumindest in ethischen Fragestellungen beharrlich auf die konkrete Situation pocht und das Befolgen der Gebote in Form der teuren Gnade beim Nachfolger Christi bedingungslos voraussetzt.110 Denn er weiß auch um die Polyphonie des eigenen Glaubens.111 Wie im tiefentheologischen Vergleich zwischen dem Kotzker und Kierkegaard,112 so bleibt auch zwischen Bonhoeffer und Heschel natürlich ein Unterschied bestehen, der nicht unerheblich bleibt und zuvor Gesagtes, besonders auch die Entschiedenheit im interreligiösen Dialog, beeinflusst. Dies ist nichts Geringeres als die Erbsündenlehre, die Bonhoeffer von der augustinischen – und damit römisch-hellenistischen – Tradition trotz aller relationaler Zuspitzung übernimmt, während Heschel sie von “seinem” hebräischen Denken her nicht akzeptiert. Sie ist und bleibt für manche Facetten wegweisend, weshalb Bonhoeffer so intensiv an Jesus Christus festhält, während Heschel seiner jüdischen Tradition gemäß soweit gehen kann, die Messiasfunktion auf jeden Juden anteilig zu “verteilen”.113 Außer der Erbsündenlehre thematisiert Heschel die explizit theologischen Unterschiede zwischen Judentum und Christentum (Trinität, Christologie) jedoch nicht. Gleichzeitig kann man fragen, inwiefern das Theorem der himmlischen Torah nicht durchaus auch Züge griechisch-denkenden Einflusses aufweist. 108 Vgl. 3.2.7. 109 Vgl. 3.2.2. 110 Vgl. 3.2.7 u. 4.4.2. 111 Vgl. 4.2.5. 112 Vgl. 4.3.8. 113 Vgl. 3.4.4 u. 5.1.6. Auch Buber spricht in seinem Werk über den prophetischen Glauben (1942 in hebräisch erschienen, 1950 in Deutsch als “Der Glaube der Propheten”) vom Messias “not as an individual but as a name for the collective Jewish people, for the collective Suffering Servant”, wie Even-Chen und Meir: Between, 118, betonen.
446 | 5 Rückblick und Fazit: Bonhoeffer und Heschel – zwei relationale “Denker” 5.1.9 Praxis der Relationalität: Bonhoeffer und Heschel, Propheten ihrer Zeit Dass Bonhoeffer und Heschel zu guter Letzt immer wieder auch selbst hineingezogen werden in das, was Heschel als “prophetische Sympathie” bezeichnet hat und man somit beide durchaus als “Propheten ihrer Zeit” verstehen kann, ist im Zuge dieser gesamten Untersuchung immer wieder deutlich geworden. Denn auch sie selbst begeben sich willentlich in die sog. “Innenperspektive” und versuchen nicht nur, bzw. gerade nicht allein, die Zusammenhänge theologisch-abstrakt zu verstehen, sondern suchen aktiv die Beziehung zu Gott (schwerpunktmäßig durch die Bibel und das Gebet114 ) und ergreifen Mal um Mal die Verantwortung für ihre Mitmenschen auf Grundlage der konkreten gegebenen Situation. Zwar hat sich Bonhoeffer auch schon während der Studienzeit im Kindergottesdienst u. ä. ehrenamtlich engagiert. Er gelangt aber erst während seiner Mittelphase durch den Einfluss des Amerika-Aufenthalts 1930/31 und einer dort gewachsenen ganz neuen Qualität an Gottesbeziehung endgültig zu einem prophetischen Aktivismus.115 Dieser Aktivismus schlägt sich sowohl im Einsatz für die Ökumene als auch in der Auseinandersetzung mit der von der nationalsozialistischen Gleichschaltung bedrohten Evangelischen Kirche und dem Nazi-Regime selbst nieder – aus der Motivation heraus, Gottes Willen gegenüber gehorsam zu sein, zu proklamieren und dafür im Gebet einzustehen.116 Und so äußert Bonhoeffer schon 1933 den Gedanken, notfalls dem Rad in die Speichen fallen zu müssen, womit er ein Eingreifen der Kirche ins politische Geschehen für denkbar hält,117 ohne dies freilich zu jenem Zeitpunkt schon konkretisiert zu haben. Immerhin kann er eindeutig die Verführung durch den Nationalsozialismus anhand des Führerbegriffs wie auch den Arierparagraphen kritisieren. Und als Leiter einer Konfirmandengruppe kann er ganz praktisch das umsetzen, was er in Amerika von dem “schwarzen Christus” gelernt hat.118 Wenig später in London (1935/1936) solidarisiert er sich mit judenchristlichen Pfarrern, versorgt jüdische Flüchtlinge, initiiert zusammen mit anderen Auslandspfarrern eine eindeutige Erklärung gegen die Deutschen Christen und die Reichskirche; gleichsam drückt er seine Enttäuschung gegenüber der universitären Ausbildung des theologischen Nachwuchses aus und führt anhand diverser Bibelarbeiten sehr konkret den prophetisch motivierten Zusammenhang zwischen Bibel und gegenwärtigen Problemen
114 Vgl. 3.4.5 u. 4.4.7. 115 Vgl. 3.2.1 u. 5.1.5. 116 Vgl. 3.2.3 u. 3.2.6. 117 Vgl. 3.2.3. 118 Vgl. 3.2.1 u. 3.2.4.
5.1 Rückblick | 447
auf, um Gottes Willen zur geistlichen Erneuerung stark zu machen.119 Deshalb lehnt er auch jegliches (relational vermittelte) Heil außerhalb der Bekennenden Kirche ab und ruft in Fanø die Ökumenische Bewegung zur Entscheidung auf, ob sie selbst Kirche sein wolle; äußeres Kennzeichen ist für ihn darum das konkret praktizierte Bekenntnis.120 Ist Bonhoeffers Haltung in der Mittelphase klar pazifistisch, im Gebet und der Bibel verankert und in erster Linie auf die Kirche ausgerichtet gewesen, ergreift er in seiner Spätphase aktiver als zuvor seine eigene Verantwortung vor der Welt, um für seine Mitmenschen und Gottes Willen einzustehen und bereit zu sein, sich “unschuldig schuldig zu machen”.121 Deshalb reist er 1939 nach nur sechswöchigem Aufenthalt aus Amerika zurück, obwohl er dort in Sicherheit ist. Konkrete Schuld übernimmt er, indem er unter dem Deckmantel der Abwehr Teil der Konspiration gegen Hitler wird. Im Gegensatz zur Mittelphase fällt auf, dass Bonhoeffer es in Kauf nimmt zu lügen, wie er dies im Alten Testament vorfindet, durch dessen wachsenden Stellenwert er selbst beeinflusst wird.122 In Konsequenz seines Handelns wird Bonhoeffer am 09. April 1945 hingerichtet. Bei Heschel beginnt die prophetische Mission bereits zum Ende seiner Frühphase. Wie bei Bonhoeffer auch, ist es zu allererst die spirituelle Grundlage als Beziehung zu Gott, die für Heschel existieren muss und von der alles andere abgeleitet wird,123 weshalb er sich zunächst im Freien Jüdischen Lehrhaus in Frankfurt (und anderswo) engagiert und bereits zuvor die Scheinheiligkeit äußerlichen Jüdischseins kritisiert hat.124 Spirituell fündig wird er jedoch erstmalig unter den Frankfurter Quäkern, wo er in methodischer Nähe zu Bonhoeffers Bibelarbeiten125 die nationalsozialistische Bedrohung anhand eines Bibeltextes kritisiert und gleichzeitig das eigene Vergessen Gottes anmahnt. Mit seiner Flucht nach Amerika ergeben sich für ihn neue und doch ähnliche Herausforderungen, sodass er in seiner Mittelphase in deutlicher Nähe zu Bonhoeffer Spiritualität/Gebet sowie den Willen Gottes fokussiert.126 Das bedeu-
119 Vgl. 3.2.5 u. 3.3.7. 120 Vgl. 3.2.1, 3.2.8 u. 3.4.4. 121 Vgl. 4.4.4, 5.1.2, 5.1.6 u. 5.1.7. 122 Vgl. 4.2.5 u. 5.1.2. 123 So auch Held: Heschel, 3: “What I am suggesting, in other words, is that in Heschel, theology and spirituality are always interwoven; to attempt to separate them is, inevitably, to flatten and falsify his thought.” 124 Vgl. 2.4.4 u. 2.4.5. 125 Vgl. 3.2.6. 126 Vgl. 3.3.2, 3.3.7 u. 3.4.4.
448 | 5 Rückblick und Fazit: Bonhoeffer und Heschel – zwei relationale “Denker” tet praktisch, dass auch er in deutlichen Widerstand gegen die bestehenden innerjüdischen Strömungen geht, sowohl gegen liberale als auch pan-halakhische Tendenzen;127 dafür greift er immer wieder zurück auf sein chassidisches Erbe und will sein Verständnis von Spiritualität implementieren.128 Und auch Heschel sprengt mit seiner Spätphase, initiiert durch die erneute Auseinandersetzung mit den biblischen Propheten, den innerjüdischen Rahmen, wird zu einem echten Propheten “unter den Völkern” und ruft gleichzeitig zu einem Prophetentum aller Gläubigen auf.129 Denn auch er setzt sich stärker für Recht und Gerechtigkeit ein, und zwar nicht nur für das jüdische Volk, dessen spirituelle Erneuerung nach innen und politische bzw. religiöse Akzeptanz nach außen (vonseiten der Sowjets bzw. der Katholischen Kirche und den Nazis) oder den grundsätzlichen friedlichinterreligiösen Dialog;130 vielmehr geht es ihm um gesamtgesellschaftliche Gerechtigkeit und Frieden, weshalb er ganz praktisch, selbstlos und verantwortend beispielsweise an der Seite von King in der Bürgerrechtsbewegung und in der Anti-Vietnam-Bewegung seinen Einfluss geltend macht.131 Aber auch in Vorträgen über eine öffentliche Religion/Ethische Themen (wie Das Altern, Kinder und Jugend, Wer bzw. was ist der Mensch? oder auch Der Umgang mit Kranken) und letztlich seiner späten Beschäftigung mit dem rabbinischen Judentum und dem Chassidismus wird sein Verantwortungsbewusstsein für die (amerikanische) Gesellschaft deutlich.132 Im Gegensatz zu Bonhoeffer hält er in seiner prophetischen Kritik immerzu an einer streng pazifistischen Haltung fest, die er lediglich durchs Gebet, Fasten, Reden oder auch durch Märsche herbeiführen will.
5.2 Hebräisches Denken statt “kultureller Osmose”: Fazit Offen geblieben ist bis zu diesem Punkt dieser Untersuchung, warum das Denken eines Christen dem eines Juden so derart ähnlich kann und ob Bonhoeffers und Heschels Ähnlichkeiten im Denken und Handeln Produkte “kultureller Osmose” sind, wie Pangritz es mit Blick auf Bonhoeffer und Baeck angerissen hat.133 Dass diese Ähnlichkeiten zwischen Bonhoeffer und Heschel bestehen, sollte bis hier127 Vgl. bes. 3.3.7. 128 Vgl. 3.3.2, 3.3.3, 3.3.5, 3.3.7 u. 5.1.5. 129 Vgl. 4.3.1, 4.3.3 u. 4.3.2. 130 Vgl. 4.3.2. 131 Vgl. 4.3.3. 132 Vgl. 4.3.4, 4.3.6, 4.3.5 u. 4.3.8. 133 Vgl. 1.1.
5.2 Hebräisches Denken statt “kultureller Osmose”: Fazit | 449
hin deutlich geworden sein. Zumindest bruchstückhaft lässt sich auch erahnen, warum diese Ähnlichkeiten bestehen: Wie gesehen, entdecken Bonhoeffer und Heschel gleichermaßen einen dritten Weg jenseits ihrer ursprünglich jeweils erlebten Spannung zwischen frommreligiöser Erziehung und rationalem Gegenpol.134 Obwohl beide in unterschiedlichen Kontexten aufwachsen, durchleben sie dabei ähnliche religiöse Mechanismen und reagieren nahezu deckungsgleich darauf.135 In diesem Zusammenhang setzen sich beide mit den vorherrschenden geistesgeschichtlichen Strömungen der Weimarer Zeit auseinander, namentlich mit dem Neukantianismus und der damit verbundenen liberalen Theologie. Beide folgen dieser Richtung aber gerade nicht, sondern erläutern unter Hinzunahme der Phänomenologie, der Dialektischen Theologie bzw. des Existentialismus und der Dialogik das Dass der Offenbarung Gottes samt fides qua creditur und entwickeln im Laufe der Mittelphase eine relationale Hermeneutik der Bibel. Auf diesen ersten Blick hin könnte man deshalb insofern von “kultureller Osmose” sprechen, als dass die notwendige Innenperspektive durch betende Teilnahme (= Relationalität zu mir selbst) und die konkrete Situation (= Relationalität zur Welt) bei der Lektüre der Bibel als Offenbarungsträger (= Relationalität zu Gott) in Ansätzen bei anderen Denkern jener Zeit vorkommen, wenn auch nicht in dieser Konsequenz.136 Spätestens durch den Einfluss des amerikanischen Pragmatismus jedoch wird der Rahmen der Weimarer Geistesgeschichte endgültig durchbrochen, infolgedessen Bonhoeffer und Heschel immer konsequenter dem Glaubensvollzug und der Orthopraxie gegenüber der Orthodoxie den Vorzug geben und so eine (nach der Bezeichnung Heschels) “Tiefentheologie” entwickeln, die die Grenzen klassischer Theologie sprengen.137 Es lässt sich also nicht verheimlichen, dass Bonhoeffer und Heschel ein gemeinsames geistesgeschichtliches Umfeld teilen, woraus Überschneidungen im Argumentationsmuster resultieren. Doch ist dies gerade nicht allein die Weimarer Geistesgeschichte, sondern ein Konglomerat aus ihrer jeweiligen fromm-religiösen Tradition, liberalen Einflüssen, innovativen Neuansätzen infolge eines “relational turn” (samt philosophischer und soziologischer Errungenschaften ihrer Zeit), die internationale Prägung (v. a. vonseiten des Pragmatismus) und schließlich die eigenständigen Weiterentwicklungen hin zur hebräischen Perspektive samt ohnmächtigem Gott. Zu vielschichtig ist die Summe
134 Vgl. 5.1.1. 135 Vgl. 2.1.3. 136 Vgl. dazu 3.4.3, 5.1.2. 137 Vgl. 5.1.1, 5.1.5 u. 5.1.8.
450 | 5 Rückblick und Fazit: Bonhoeffer und Heschel – zwei relationale “Denker” an geistesgeschichtlichen Einflüssen, als dass die nachgewiesenen Ähnlichkeiten ausschließlich auf das gemeinsame Umfeld zurückgeführt werden könnten. Warum beide derart ähnlich argumentieren, erklärt das Umfeld also noch nicht, auch wenn es einen gemeinsamen Rahmen setzt. Materialiter lässt sich aber feststellen, dass beiden von früh auf eine persönliche Verbundenheit zu den Heiligen Schriften weitergegeben wird, deren Kanon zunächst breiter als die letztendliche Schnittmenge ist, sich auf die gemeinsame Schnittmenge, die (Hebräische) Bibel, hin aber nach und nach zuspitzt: Bonhoeffer gelangt bereits vor der Konfirmandenzeit zur Bibel (des Alten und Neuen Testaments), liest sie jedoch bis in die Mittelphase hinein traditionell christologisch; v. a. über die Bergpredigt erfolgt dann ein zunehmender Perspektivwechsel, der dem Alten Testament, der darin enthaltenen hebräischen Perspektive und dem damit verbundenen Vorletzten seinen gebührenden Platz einräumt.138 Heschel kommt durch sein polnisch-chassidisches Erbe insbesondere vom Talmud her und wird schon als Teenager qualifizierter Talmudist; doch spätestens mit dem Studium an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums und seiner philosophischen Dissertation über die Prophetie rückt die Hebräische Bibel ins Zentrum seines Interesses.139 Allein vom Textbestand her besteht mit der (Hebräischen) Bibel somit eine große Schnittmenge. Doch nicht nur die (Hebräische) Bibel und die hebräische Perspektive sind beiden gemeinsam, sondern auch der persönliche Zugang zu den biblischen Texten. Besonders in der Auseinandersetzung mit Bonhoeffer ist das deutlich geworden, beispielsweise anhand der sog. “Losungen”.140 Und noch eine sich darunter befindliche Ebene verbindet Bonhoeffer und Heschel: Die eigene existentielle Verbundenheit zu Gott selbst. Diese relationale Dimension leben und erleben beide. Das ist die Innenperspektive, von der beide in ihrem Denken sprechen und die die Grundlage für alle weiteren relationalen Ebenen ist. Ein weiteres Schlüsselelement zwischen beiden ist also ihre Verbundenheit zum Gott der Bibel, dem Bonhoeffer über Jesus Christus begegnet, Heschel über die Propheten – und das anhand der biblischen Texte, die beide (zunehmend) aus hebräischer Perspektive lesen. Diese existentielle Betroffenheit prägt aller Wahrscheinlichkeit nach wiederum ihr Gottesbild, das (bereits von Beginn an) nicht abstrakt ist, sondern von einem Schöpfer und Erlöser spricht, der es auf Beziehung mit dem Menschen anlegt – darum auch kein apathischer Gott, sondern pathetisch und ohnmächtig.141
138 Vgl. dazu 2.1.1, 3.2.7, 4.4.3 u. 4.4.1. 139 Vgl. 2.1.2, 2.4.1 u. 2.4.3. 140 Vgl. 5.1.2. 141 Vgl. 5.1.3.
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Diese Gemeinsamkeit ist ebenfalls ein wichtiger Schlüssel zu den Ähnlichkeiten beider. Von früh an deuten Bonhoeffer und Heschel außerdem die menschliche Ebenbildlichkeit relational und verstehen den Menschen immer konsequenter als Partner und Mitarbeiter Gottes, der durch Verantwortung und situatives Denken bewusst Gott, andere Menschen und die Welt als Verantwortungsbereich ergreifen soll.142 Denn nicht nur ihre Spiritualität hinterlässt existentielle Spuren, sondern beide erleben auf Grundlage ihrer Spiritualität persönliche Durchbrüche hin zur Verantwortung gegenüber Benachteiligten aller Art.143 Dadurch gehen Bonhoeffer und Heschel im eigenen Leben wie in ihrem Denken neue Wege, was zu einer immer konsequenteren Relationalität auf sämtlichen Ebenen führt und sich in prophetisch-praktischem Aktivismus zuspitzt.144 Denn die irdisch-materielle Welt mit dem menschlich-alltäglichen Leben darin wird durch den Einfluss der hebräischen Perspektive von beiden gleichermaßen ernst genommen.145 Auch darin liegt ein entscheidender Schlüssel für die Ähnlichkeiten zwischen Bonhoeffer und Heschel, und zwar das Verantwortungsbewusstsein gegenüber dem konkreten Nächsten. Selbstverständlich bleiben Unterschiede bestehen: Das allgegenwärtige Bekenntnis zu Jesus Christus samt finitum capax infiniti und das Festhalten an der Erbsündenlehre seitens Bonhoeffers kann Heschel als Jude freilich nicht teilen.146 Folglich wirkt der Akzent auf die Transzendenz Gottes noch etwas stärker als bei Bonhoeffer, der in gleichem Atemzug die freie Bindung Gottes an Seine Schöpfung (in Jesus Christus) immer fester verankert wissen möchte. Und darum sucht Heschel im interreligiösen Dialog stärker die Gemeinsamkeiten, die durch seine tiefentheologische Betrachtung zum Vorschein treten, samt einer Hermeneutik der Demut.147 Auch hinkt der Vergleich in dieser Untersuchung an dem Punkt, dass die drei herausgearbeiteten Phasen zeitverschoben verlaufen, da Heschel 27 Jahre als als Bonhoeffer wird.148 Doch darin liegt auch ein Gewinn: Besonders die Spätphase mit ihrer ausgedehnten Relationalität zur Welt geht zeitlich auseinander. Doch zeigt auch das auf, dass die Entwicklung von relationalem Denken nicht an die
142 Vgl. 5.1.4 u. 5.1.6. 143 Vgl. 3.2.1, 4.2.1 u. 4.3.1. 144 Vgl. 1.2.2 u. 5.1.2. 145 Vgl. 5.1.7. 146 Vgl. 5.1.3 u. 5.1.4. 147 Vgl. 4.3.2. 148 Vgl. 1.1.
452 | 5 Rückblick und Fazit: Bonhoeffer und Heschel – zwei relationale “Denker” Weimarer Zeit oder den Kampf gegen den Nationalsozialismus gekoppelt ist, wie das der Fall bei Bonhoeffer war; Heschel ergreift die volle Relationalität mitsamt praktischen Konsequenzen erst in den 1960er Jahren in Amerika.149 Zusammenfassend lässt sich festhalten: Trotz gewisser Überschneidung zu anderen Denkern der Weimarer Zeit heben sich Bonhoeffer und Heschel in ihrem Denken und Handeln dezidiert ab – gleichermaßen, und zwar aufgrund ihrer konsequenten Relationalität (zu Gott, zum Selbst, zur Bibel, zum Nächsten und zur Welt), die ihren Ursprung im hebräischen Denken anhand der (Hebräischen) Bibel hat. Fundament dieser Relationalitäts-Ebenen sind gerade thematisierte persönliche Betroffenheit, Spiritualität und Durchbrüche. Damit dürfte deutlich sein, dass das Ergebnis dieser Untersuchung nicht nur einen geistesgeschichtlichen Wert darstellt, sondern auch eine Grundlage für gegenwartsrelevante Studien bietet wie: Hebräisches Denken und (Hebräische) Bibel in der aktuellen theologischen Diskussion; relationales Denken und (Hebräische) Bibel mit Blick auf den christlich-jüdischen Dialog; die Bedeutung von relationaler Spiritualität für die Theologie bzw. die Ausbildung von Theologen; prophetischer Aktivismus und soziale Gerechtigkeit. Weiterführende Erörterungen dazu konnten im Zuge dieser Untersuchung leider nicht geleistet werden.
149 Vgl. 4.3.1 u. 4.3.3.
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150 Einzusehen unter https://www.ub.uni-frankfurt.de/judaica/umschrift-hebraeisch_06.html (abgerufen am 15.03.2021).
Personen Aufgeführt sind sämtliche Personen und Autoren, die im Text namentlich erwähnt werden (zugehörige Adjektive wie “lutherisch” der Vollständigkeit halber inklusive). Ausgenommen davon sind diejenigen Stellen, bei denen eine Person in einem Titel (bzw. Kurztitel) genannt ist. In diesem Fall lässt sich diese Person selbstverständlich über den jeweiligen Eintrag des/der jeweiligen Verfassers/Verfasserin lokalisieren. Andernfalls wäre das Namensregister noch unübersichtlicher geworden, als es aufgrund der Fülle an Akteuren und verarbeiteter Sekundärliteratur bereits ist. Aaron (erster Hohepriester Israels) 199, 392 Abel (biblische Figur) 181 Abihu (Sohn Aarons) 392 Abraham (“Stammvater des Glaubens”) 34, 69, 89, 141, 266, 307, 363, 374, 422, 432 Abravanel, Don Jizchak 125–127, 138, 146, 389 Abromeit, Hans-Jürgen 46, 54, 60, 62, 78, 150, 151, 180, 182–187 Abu Issa von Isfahan 250 Adam (biblische Figur) 20, 30, 55–57, 60, 65, 76, 79, 143, 175, 176, 178–181, 234, 288, 381 Ahlstrom, Sydney E. 152 Akiva (Rabbi) 41, 385–388, 390–393, 396, 397, 403, 419 Albeck, Hanoch 87 Albers, Detlev 73 Albertini, Francesca 92 Alkier, Stefan 10 Altenähr, Albert 78, 150, 337, 339 Althaus, Paul 55, 72, 181, 321 Amos (biblischer Prophet) 68, 115, 117, 336, 355 Andjelic, Milenko 156–160, 334 Anzenbacher, Arno 8, 34–36, 51, 55, 57 Aristoteles 54, 118, 120, 122, 125, 126, 139, 242, 285, 435 Aronowicz, Annette 402 Athanasius 7 Augustinus von Hippo 7, 55, 56, 140, 256, 421, 445 Außermair, Josef 215 Baeck, Leo 4, 15, 37, 87, 90, 102, 103, 113, 114, 119, 138, 245, 252, 338, 366, 448 https://doi.org/10.1515/9783110771961-007
Bammel, Christina-Maria 210 Barnett, Victoria J. 444 Barth, Friederike 41, 56, 58, 60, 224, 311–313, 319–321, 323–326, 328, 329, 332, 340 Barth, Karl 3, 7, 13, 15, 23, 26, 39, 41, 44–47, 49, 50, 55, 58, 60, 61, 66, 67, 70, 76–79, 81, 84, 95, 106, 112, 115, 121, 137, 138, 141, 142, 153, 160, 163, 172, 175, 181, 183, 200, 203, 204, 214, 226, 278, 332, 341, 348, 350, 351, 357, 362, 404, 414 Bayer, Oswald 54 Ba’al Shem Tov (kurz “Besht”, eigentlich Israel ben Eliezer) 27, 129, 135, 248, 400–403, 409, 412, 426 Bea, Augustin 99, 359, 363 Beintker, Michael 224 Beljin, Jelena 6, 13 Bell, George K. A. 303 Bennett, John 373 Bennett, John C.(oleman) 361, 373 Berkovits, Eliezer 356, 357 Bernanos, Georges 309 Berrigan, Daniel 4, 168, 373 Berrigan, Philip 168 Berthold-Bond, Daniel 402, 408, 409 Bertholet, Alfred 86, 109, 111, 113 Besig, Hans 203 Bethge, Eberhard 1–4, 15, 17, 20, 21, 23–26, 38, 39, 41, 43, 45, 46, 48–50, 53, 55, 57, 66, 67, 71–74, 135, 149, 150, 152, 162–164, 170–172, 183, 185, 187, 188, 193–198, 200, 201, 205, 211, 215, 220–222, 229, 230, 233, 234, 303, 305–311, 316, 321, 337, 338, 340, 341, 343–345, 347–352, 399, 423
480 | Personen
Bethge, Wilhelm R. 340, 349 Betz, Otto 11 Bodelschwingh, Friedrich von 197 Bonhoeffer, Christine 25 Bonhoeffer, Julie 152, 219 Bonhoeffer, Karl 20, 25 Bonhoeffer, Karl-Friedrich 25, 205 Bonhoeffer, Klaus 25, 38 Bonhoeffer, Paula 20, 21, 66 Bonhoeffer, Walter 24 Borodowski, Alfredo F. 27 Bourdieu, Pierre 7 Boutin, Maurice 7 Braun, Judith 193 Brenner, Michael 124 Breschnew, Leonid I. 372 Breslauer, Daniel S. 115, 246, 259, 262, 263, 268, 269, 273, 282, 355–357, 377, 379, 398 Brill, Alan 102, 103, 111, 385 Britton, Joseph H. 6, 8, 14, 27, 88, 90, 91, 96, 97, 117, 119–121, 123, 146, 236, 237, 240, 241, 253–255, 257, 258, 276, 278, 281, 283, 356, 357, 367, 368, 380, 381 Brunner, Emil 183, 367 Buber, Martin 15, 57, 82, 90, 99, 104–107, 124, 125, 127, 142, 207, 242, 251, 261, 282, 404, 407, 445 Bultmann, Rudolf 7, 56, 176, 177, 179, 211, 340, 347, 348, 414 Burrows, Millar 120 Burtress, James H. 60, 175, 316, 318, 347 Calley, William L. Jr. 373 Canaris, Wilhelm 307, 352 Casper, Bernhard 57, 94, 105 Cassirer, Ernst 92 Catull 25, 26, 137 Cherbonnier, Edmond La. B. 280 Chester, Michael A. 111, 242, 359, 363 Chruschtschow, Nikita S. 372 Clayton Powell Sr., Adam 12, 32, 33, 163–172, 174, 198, 210, 223, 284, 293, 295, 429, 480 Clayton Powell Sr., Adam 164 Clements, Keith 202 Clingan, Ralph G. 165, 166, 168–170
Coffin, William S. Jr. 373 Cohen, Hermann 34, 36, 87, 90–94, 99, 106, 112, 113, 142, 252, 404 Colbi, Saul P. 360 Cone, James H. 163, 167, 168 Corbin, Henry 131 Crouter, Richard 160, 334 Czeppan, Richard 24 Dahill, Lisa E. 179, 207 Dahrendorf, Ralf 194, 196 Dan, Joseph 28, 29 David ben Maimon 123 David (König Israels) 209, 212, 219 De Gruchy, John W. 320, 324, 346, 350 Dehn, Günther K. 188 Deichmann, Wendy J. 156 Deißmann, Adolf 47, 174 DeJonge, Michael P. 13, 15, 43, 45, 54, 75, 76, 78, 79, 81, 84, 180, 183, 185, 205, 306, 326 Delitzsch, Franz 80 Descartes, René 54, 136, 254 Dessoir, Max 87, 98, 109 Deuser, Hermann 35, 36 Dewey, John 130, 153–155, 242 Diestel, Max 66, 85, 152, 188 Dietz, Dennis 13, 57, 66, 77, 222, 343, 344 Dilthey, Wilhelm 87, 255, 340–342, 347 Dolna, Bernhard 14, 30, 31, 86, 87, 123, 246, 275, 354, 356, 360, 376, 405 Dov Baer (= “Maggid von Mezherich”) 27 Dresner, Samuel H. 15, 27, 30, 31, 86–88, 90–93, 99, 103, 104, 109, 111, 122–125, 127–131, 133, 134, 246, 383, 403 Dreß, Susanne (Bonhoeffer) 20, 21 Dreß, Walter 66 Duchrow, Ulrich 191 Dynner, Glenn 29, 30 Dépelteau, François 7 Ebeling, Eberhard 342, 346–348 Ebeling, Rainer 64, 203 Einstein, Albert 25, 269 Eisen, Arnold 254, 255, 271, 282, 363, 365, 393 Eisen, Robert 374, 391, 392
Personen
Elbogen, Ismar 87 Elert, Werner 181, 321 Elia (biblischer Prophet) 34, 388, 389 Erlewine, Robert A. 92, 93, 111–113, 117, 121, 254, 271, 272, 275, 380 Esra (biblische Figur) 148, 216, 219, 292 Eva (biblische Figur) 178, 180, 181 Even-Chen, Alexander 15, 86, 89, 90, 93, 99, 103–108, 120, 123, 130, 131, 239, 240, 246, 248, 251, 253, 258, 261, 264, 267, 272, 273, 275, 276, 278, 281, 282, 353, 356, 357, 359–365, 370, 384, 388–392, 394, 395, 397, 399, 406–409, 445 Fackenheim, Emil 253–255 Falcke, Heino 196, 202 Feil, Ernst 18, 62, 77, 78, 83, 155, 172–174, 182, 187, 219, 224, 230, 231, 316, 323, 340, 341, 414 Finkelstein, Louis 268 Fisher, Albert Franklin (“Frank” genannt) 163, 164, 168, 170 Francke, August H. 214 Frank, Franz H. R. 42, 43 Freud, Siegmund 4 Frick, Peter 15, 169, 210, 211, 224, 232, 340 Friedman, Maurice 113, 239, 268, 276, 356–358, 375, 379–381 Gandhi, Mohandas K. (Mahatma) 162, 168, 188, 189, 200, 201, 284, 333, 440 Geffen, Peter A. 270 Gellert, Christian F. 22 Gerrens, Uwe 322 Gerte, Daniel 318, 342, 347, 349 Ginzberg, Louis 244, 250 Godsey, John D. 2, 3, 169 Gogarten, Friedrich 57, 84 Goldman, Norman S. 378, 380, 382 Goliath 212 Gollwitzer, Helmut 219 Gordon, Jeremy 242, 385 Goshen-Gottstein, Alon 361–363, 365, 366 Gottschalk, Alfred 236 Green, Arthur 89, 90, 97, 106, 108, 246, 253, 267, 268, 271, 393, 409
| 481
Green, Clifford J. 9, 12–14, 24, 50, 55, 57, 60, 66, 73, 76, 78, 79, 81, 82, 84, 148, 150–153, 169, 171, 173, 178, 181, 182, 184, 186, 187, 189, 197, 199, 203, 220, 221, 229, 230, 232, 233, 305, 316, 318, 340, 342, 343, 345, 347–349 Gregor, Brian 146, 222 Gregor von Nyssa 7 Greßmann, Hugo 86 Grisebach, Eberhard 57, 58, 84, 104, 141, 143 Grotius, Hugo 347 Grötzinger, Karl 272, 279, 282 Gründer, Karlfried 9 Guttmann, Julius 87, 91 Habakuk (biblischer Prophet) 355 Hamilton, Nadine 13, 45, 47, 56, 61, 62, 65, 86, 174–177, 179, 180, 185, 210, 211, 214 Handy, Robert T. 153, 161, 361 Harbsmeier, Götz 348 Harnack, Adolf von 15, 37–41, 43–45, 47, 55, 61, 69, 90, 110, 137, 140, 155, 164, 165, 174, 186, 211, 224, 226, 227, 285, 331, 335, 340, 342, 431 Harris, Larry D. 368 Hartman, David 266 Harvey, Barry 181, 338, 339, 342, 346 Hase, Hans Chr. von 149–151, 153 Hase, Hans von 21 Hase, Karl A. von 20 Hase, Karl Aug. von 20 Haudel, Matthias 7, 432, 433 Hauerwas, Stanley 219 Hauschild, Wolf-Dieter 21–23, 42, 44, 46, 156, 172, 195, 227 Haynes, Stephen R. 3, 4, 9, 151, 163, 197, 305, 338 Healey, John 353, 355 Heckel, Theodor 215 Hedström, Peter 7 Hegel, Georg W. F. 36, 54, 61, 64, 100, 106, 158, 312, 407, 421 Heidegger, Martin 51, 55, 56, 75, 76, 78, 94, 118, 119, 142, 272, 381, 400, 412 Heiler, Friedrich 102 Heimbucher, Martin 72, 162, 187, 188, 190, 191, 201, 202, 305, 320, 321, 326
482 | Personen
Heinrichs, Johannes 57 Held, Heinz J. 325 Held, Shai 14, 107, 108, 117, 120, 237, 242, 250, 256, 259, 272, 274–282, 356, 357, 406, 408, 409, 447 Henoch (biblische Figur) 388 Herberg, Will 253, 404 Herder, Johann G. von 36 Herms, Eilert 36 Herrmann, Klaus 385 Heschel, Abraham J. von Apt/Opatów 29, 89 Heschel, Susannah 2, 125, 168, 169, 246, 353, 367, 370, 384 Hildebrandt, Franz 54, 194, 203 Hillel (Rabbi) 41, 71 Hiob (biblische Figur) 47, 155, 408, 409 Hirsch, Emmanuel 181 Hitler, Adolf 180, 181, 194, 305, 306, 311, 331, 336, 338, 417, 423, 447 Hockenos, Matthew D. 200 Holl, Karl 41–45, 84, 137, 180 Holland, Scott 167 Honecker, Martin 320, 328 Horaz 25 Horn, Maria 21 Horovitz, Ruth 134 Horowitz, Pinchas 28 Horstmann, Rolf-Peter 8 Horwitz, Rivka 260, 262, 263 Hosea (Prophet) 115, 117, 355 Huang, Ying 58, 70, 73, 190, 341 Huber, Wolfgang 16, 349 Husserl, Edmund 51, 75, 87, 91, 110, 111, 113 Härle, Wilfried 45 Hölscher, Gustav 113 Ibn Gabirol, Salomo 125, 247 Inge, Dean W. R. 102 Isaak (Sohn Abrahams) 69, 141, 432 Ishmael (Rabbi) 385–387, 390–393, 397, 403, 431 Jacobi, Gerhard 188 Jacobs, Manfred 36, 37 Jakob (Stammvater Israels) 141, 432 Jakob Tam 250 Jakobus (Apostel) 228
James, William 32, 87, 98–102, 110, 112, 113, 137, 153–155, 165, 237, 242, 284 Jastrow, Marcus 28 Jensen, Hans-Werner 310 Jeremia (biblischer Prophet) 45, 68, 116, 118, 355 Jesaja (biblischer Prophet) 111, 116, 117, 355 Jesus (= “Christus” bzw. “Jesus Christus”) 10, 20–22, 32, 34, 37, 39–43, 45–48, 52, 54, 57, 60–63, 65, 66, 69–71, 76, 77, 79–84, 121, 122, 137, 139, 141–144, 150, 152, 153, 155, 157–162, 165–168, 170, 172–192, 196–199, 201–204, 206, 207, 209–212, 215, 218–235, 239, 268, 284–286, 288, 291–293, 295–298, 300, 301, 303–307, 309–319, 323–331, 333, 335–351, 365, 370, 409–411, 414–417, 423, 428, 429, 431, 433, 435–442, 444, 445, 450, 451 Johannes (Evangelist) 37, 47, 309 Johansson, Torbjörn 67, 68 Jonas, Hans 15, 107, 258 Kain (biblische Figur) 128, 181 Kalckreuth, Christine Gräfin 307 Kalonymos von Lucca 250 Kaltenborn, Carl-Jürgen 15, 39, 40, 164, 211, 340 Kant, Immanuel 34–37, 54, 57, 74, 91–93, 104–106, 112, 113, 136, 254, 264, 282, 378, 404 Kaplan, Edward K. 15, 27, 28, 30, 31, 86–88, 90–93, 99, 103, 104, 106, 107, 109, 111, 121–125, 127–131, 133, 134, 236, 237, 239–242, 244, 246, 250, 252–256, 259–265, 268, 269, 271–273, 275, 276, 280, 283, 353–356, 358, 360–363, 367–371, 373, 375–378, 383, 384, 393, 399–404 Kaplan, Mordechai 245, 263, 358, 404 Karttunen, Tomi 41, 42, 44, 57 Kasimow, Harold 365, 402 Kavka, Martin 107, 116, 122, 129, 130, 238, 249, 261, 269, 356 Kelly, Geffrey B. 170, 207, 210, 215, 324, 343, 350 Kennedy, John F. 370
Personen
Kierkegaard, Søren 31, 32, 40, 52, 54–56, 58, 69, 70, 72, 77, 93–95, 104, 140–142, 144, 182–184, 192, 202, 213, 222–225, 227, 228, 267, 272, 307, 313, 323, 362, 403–409, 420, 421, 440, 443, 445 Kimelman, Reuven 250, 252, 360, 363 King, Martin Luther Jr. 11, 370–372, 440, 448 Klappert, Berthold 343, 346, 349 Klemme, Heiner 34, 35 Knight, Harold 353 Knitter, Paul 72 Koigen, David 34, 87, 88, 91, 99, 236 Koslowski, Jutta 21 Kotzker Rebbe (= Menaḥem Mendel von Kotzk) 30–32, 135, 400–409, 412, 416, 420, 421, 426, 443, 445 Krötke, Wolf 1, 41, 78, 178, 183–187, 196, 201, 202, 215, 217, 218, 229, 305, 313, 320, 324, 325, 342–347, 349, 350, 432, 444 Kuske, Martin 37, 41, 226, 231, 338 Köhler, Wolfgang 87, 91 Künkler, Tobias 8 Lachmund, Margarethe 127 Lange, Frits de 340 Lapide, Pinchas 338 Lasserre, Jean 162, 170, 201, 284, 351 Latour, Bruno 7 Leeuw, Geradus van de 111 Lehmann, Paul 303 Lehmkühler, Karsten 6, 43, 47, 176, 179, 183, 185, 186, 313–315 Leibholz, Sabine 20 Leibniz, Goffried W. 57, 158 Leibowitz, Yeshayahu 266 Leonhardt, Rochus 61 Lessing, Eckhard 100 Levenson, John D. 280, 355 Levin, Leonard 384, 385, 392 Levine, Hillel 393 Levy, Bezalel 31 Lieberman, Saul 268, 385 Lister, Don 3 Liu, Ruomin 53, 59, 62, 64, 223 Locigno, Joseph P. 154 Lubahn, Erich 11, 84 Luhmann, Niklas 7
| 483
Luria, Isaac 28 Luther, Martin 15, 21, 26, 32, 41–44, 46, 47, 49, 54, 56, 57, 59, 60, 64, 65, 67, 70, 75, 76, 78, 137, 138, 140, 142–144, 150, 154, 167, 168, 172, 173, 175, 181–183, 185, 188, 195, 197, 198, 210, 214, 216–218, 222, 225, 226, 230, 282, 295, 306, 309, 310, 312, 314, 315, 317, 325–327, 331, 336, 346, 350, 362, 401, 432, 444, 445 Lycka, Milan 111 Lyman, Eugene W. 153, 155 Maechler, Winfried 326 Maier, Heinrich 48, 87 Maimon, Salomo 264 Maimonides (Moshe ben Maimon) 122, 123, 125, 126, 137, 146, 238, 242, 247, 250, 289, 353, 358, 384, 389, 411 Malter, Rudolf 34, 35 Mannheim, Karl 9 Marcel, Gabriel 171 Marcion 227, 364 Marmur, Michael 27, 94, 111, 247, 250, 262, 274, 276, 277, 279–282, 354, 355, 368, 369, 378, 383, 385, 408, 409 Marsh, Charles 15, 21, 24–26, 38, 48, 57, 62, 152, 155, 156, 159, 161–163, 165, 167, 170, 206, 305, 306, 337, 352, 399 Marx, Karl 156 Matthäus (Evangelist) 10 Mayer, Rainer 177, 178, 209–211, 341 McComb, John H. 303, 414 McNamara, Robert 373 McNutt, James E. 40 Meir, Ephraim 15, 93, 99, 104–108, 123, 124, 130, 240, 246, 251, 253, 261, 264, 267, 272, 273, 278, 281, 282, 356, 357, 359–365, 370, 377, 384, 388–390, 394, 395, 397, 399, 406–408, 445 Melanchthon, Philipp 44 Mendelssohn, Moses 363, 366 Merkle, John C. 115, 238–240, 254, 257, 259, 265, 269–272, 274–282, 355–357, 362, 368, 369, 371, 375, 378, 380, 398 Mertens, Philipp 12 Metaxas, Eric 25, 151, 165, 205, 222, 399 Meyer, Dietrich 53
484 | Personen
Meyer zu Hörste-Bührer, Raphaela J. 7–9 Micha (biblischer Prophet) 355 Michael, Helen 115 Mittwoch, Eugen 87 Mokrosch, Reinhold 313, 314, 321, 325 Moltmann, Jürgen 11, 12, 58, 61, 62, 80, 178, 321, 322, 327, 328, 330, 342, 350 Moody, Dwight L. 157 Moore, Donald J. 397 Morgenstein, Julian 134, 236, 244, 265 Mose (biblischer Prophet) 34, 89, 92, 93, 199, 250, 267, 289, 369, 372, 386–393 Moses Al-Dari 250 Mottu, Henry 57 Müller, Hanfried 16, 17 Müller, Hans-Peter 230 Müller, Ludwig 203, 215, 221, 298 Müller-Commichau, Wolfgang 124 Müller-Schwefe, Hans-Rudolf 348
Pangritz, Andreas 4, 5, 13, 15, 16, 40, 45, 46, 90, 102, 172, 173, 196, 197, 230, 338, 341, 346, 350, 351, 448 Pascher, Manfred 36 Patel, Eboo 11 Paton, William 178, 331 Paulus (von Tarsus) 40, 45, 47, 60, 61, 66, 77, 223, 229, 314 Perlman, Lawrence 8, 51, 91, 111–113, 119, 121, 237, 254–260, 272, 273, 278, 355, 356, 378, 383, 391 Phillips, Paul T. 156 Philo von Alexandria 113, 395 Planck, Max 25 Platon 408 Porter II, Louis 163–165, 170, 171 Prüller-Jagenteufel, Gunter M. 43, 58–60, 64, 178, 179, 224, 232, 315, 317, 332 Purkarthofer, Richard 32
Obirek, Stanislaw 391 Oehler, Klaus 242 Ohly, Lukas 59 Olbricht, Fritz 66 Otto, Rudolf 88
Rashi (= Shlomo ben Jizchak) 247, 250 Rasmussen, Larry L. 155, 185, 201, 318–321, 324, 328, 343, 423 Rauschenbusch, Walter 157–159, 162, 284 Reder, Violetta 268 Reiss, Erich 122 Reuter, Hans-Richard 201, 202, 318, 320, 325, 326, 349 Ricoeur, Paul 171 Rieger, Hans-Martin 53, 83 Rieger, Julius 162, 205 Ritschl, Albrecht 53, 61, 82, 99, 138, 286 Ritter, Joachim 9 Roberts, J. Deotis 163 Robinson, David S. 54, 61, 64 Rodenberg, Otto 11 Rolt, Clarence E. 343 Ronen, Shoshana 391 Rosenzweig, Franz 68, 93–96, 104–106, 112, 113, 118, 124, 140, 252, 255, 272, 365, 404 Rubenstein, Avraham 28, 29 Rumscheidt, Martin 38, 39, 44, 50
Palmisano, Joseph R. 15, 128, 254, 355–357, 374 Palmisano, Trey 11
Saadia Gaon 242, 243, 247, 287, 295 Samuel (biblischer Prophet) 89, 98 Sander, Angelika 51, 52, 117
Nachmanides 250 Nadab (Sohn Aarons) 392 Nehemia (biblische Figur) 148, 216, 219, 292 Nelson, F. Burton 170, 207, 210, 215, 324, 343, 350 Neuer, Werner 38 Niebuhr, Reinhold 2, 3, 40, 153–163, 174, 215, 246, 260, 284, 303, 305, 307, 332–335, 359, 360, 363, 366, 368, 404, 424, 427, 437 Nietzsche, Friedrich 105, 340 Norris, Kristopher 225 Novak, David 112 Novominsker Rebbe (= Alter I. S. Perlow) 31, 400 Nowak, Kurt 25
Personen
Sanders, James A. 357 Sasse, Martin 197 Sauter, Gerhard 57 Schaeder, Grete 104 Scheler, Max 25, 51, 52, 75, 84, 86, 88, 91, 95, 105, 110, 113, 114, 117, 121, 132, 137, 145, 238, 254, 283, 427 Schiller, Friedrich 196 Schlatter, Adolf 37–41, 50, 71, 211, 226 Schleicher, Rüdiger 210–212, 293 Schleiermacher, Friedrich D. E. 24–26, 88, 93, 97, 100, 114, 121, 160 Schliesser, Christine 62, 76, 319, 322, 324 Schlingensiepen, Ferdinand 15, 38, 45, 66, 72, 150, 164, 171, 172, 180, 399 Schlosser, Rudolf 127 Schmelke, Samuel 28 Schmidt, Hans 174 Schmidt-Wellenburg, Christian 7 Schmitz, Andreas 7 Schmitz, Florian 169, 192, 196, 206, 221, 222, 224, 229, 230, 233, 324, 332, 340 Schneerson, Fishl 31 Schopenhauer, Arthur 100 Schröder, Bruno Baron 203 Schulte, Tobias 13, 71, 78, 176, 178, 183, 185, 187, 224, 314, 315, 320, 321, 340, 343–345, 350 Schutte, Beate M. 204, 322, 324 Seeberg, Reinhold 38, 42, 44, 49, 50, 58, 73, 74, 87, 141, 155, 174 Sellin, Ernst 47, 86, 111–113, 174 Serubbabel (biblische Figur) 219 Shandler, Jeffrey 402 Sherwin, Byron L. 246, 402 Shrage, Barry 393 Simeon bar Yohai 250 Simmel, Georg 7 Slenczka, Notger 16, 61 Slot, Edward van’t 214 Solomon, Normon 360 Soloveitchik, Joseph B. 266, 359, 360 Sommer, Benjamin D. 10, 27, 118, 122, 124, 267, 278, 279, 281, 386, 387, 389, 390 Soosten, Joachim von 41, 42, 53, 55, 60, 61, 65 Spaugh, Herbert 3, 169
|
485
Spener, Philipp J. 23, 214 Stahlberg, Ruth R. 309 Stein, Edith 15 Stemberger, Günther 41 Stern, Carl 368 Stock, Konrad 36 Stoecker, Adolf 164 Stolzenberg, Arnold 42 Straus (Heschel), Sylvia 246 Strom, Christoph 181 Sutz, Erwin 172, 197, 200, 205, 215, 220, 221 Sölle, Dorothee 325 Temple, William 343 Thomas von Aquin 271 Thomson, David 156 Tietz (-Steiding), Christiane 1, 13, 25, 50, 51, 55, 59, 61, 70, 73, 75, 77, 79–81, 83, 84, 154, 178, 179, 182, 185, 222, 225, 228, 229, 328, 339, 342, 343, 345, 348 Tillich, Paul 84, 359, 381 Tjaden, Christiane 202 Tolstoi, Leo 162 Trendelenburg, Friedrich A. 36 Trepp, Juden 362 Troeltsch, Ernst 50, 53 Tucker, Gordon 242, 383 Tödt, Heinz E. 220, 313, 314, 321, 324 Tönnies, Ferdinand 7 Underhill, Evelyn 102 Urban, Martina 88 Valera, Victor M. Perez S. J. 382 Vischer, Wilhelm 226 Volkmann, Michael 104 Vorländer, Karl 34, 35 Ward, Harry 161, 193 Webber, Charles 161, 193 Weber, Max 7, 194, 196 Weber, Otto 180 Wedemeyer, Maria von 308, 344, 352, 411 Wedemeyer, Ruth von 308 Wehr, Gerhard 105 Weinreich, Max 402 Weinrich, Michael 50, 52, 59, 60, 64, 65
486 | Personen
Weltsch, Felix 88 Wendel, Ernst G. 74, 80, 171, 174, 175, 223 White, Harrison C. 7 Whitehead, Alfred N. 153, 343, 357 Wiebering, Joachim 230 Wiese, Christian V, 15, 90, 124, 257, 258, 403 Williams, Edward 168 Williams, Reggie L. 163–165, 167–171, 193, 198, 222 Wind, Renate 163, 170 Witte, Daniel 7 Wobbermin, Georg 99 Wodziński, Marcin 29 Woppowa, Jan 105 Woyke, Johannes 174 Wright, Nicolas T. 226
Wulfleff, Patrick 22, 23, 29, 32, 33 Wüstenberg, Ralf K. 154, 341, 342, 347, 348, 350, 351 Ya‘akov Yosef von Polonnoye 27 Young, Josiah U. 160, 163, 165, 170, 334 Zeitlin, Hillel 271 Zerner, Ruth 195 Zernik, Irene 133, 134 Zimmerling, Peter 21–23 Zimmermann, Jens 75, 78, 146 Zimmermann, Wolf-Dieter 162 Zinn, Elisabeth 150, 188 Zinzendorf, Nikolaus L. Graf von 21, 22, 32, 33, 37, 214
Sachen Aufgrund des Aufbaus dieser Untersuchung lassen sich grundlegende, allgemein-formulierte Themen (wie zum Beispiel “Bibel”, “Gott” oder “Offenbarung”) leicht über das Inhaltsverzeichnis bzw. die Zusammenfassungen am Ende jedes Kapitels auffinden. Das nachfolgende Sachregister führt deshalb vor allem spezifischere Begrifflichkeiten seitengenau auf, die im Zuge dieser Untersuchung relevant erschienen. Deshalb treten auch notwendigerweise Dopplungen auf, wenn “Erkenntnistheorie” aufgeführt wird, es an anderer Stelle um Relationalitäten geht und man dort auch spezifisch “relationale Erkenntnistheorie” vorfindet; dies ließ sich bei diesem Ansatz leider nicht vermeiden. Zwischen Haupttext und Fußnoten wurde in der Auflistung der Einträge fernerhin nicht unterschieden. Absolutheit(sanspruch) 40, 59, 64, 68–70, 102, 141, 144, 153, 160, 184, 190, 197, 222, 229, 286, 295, 297, 311, 328, 341, 390, 430, 433, 443
Antisemitismus/Antijudaismus 40, 124, 126, 164, 197, 306, 326, 336, 349, 351, 360, 372, 398, 444
Act of empathy 132, 133, 145, 241, 242, 263, 265, 266, 365, 438
Arcanum 173, 215, 340, 341
Abyssinian Baptist Church 151, 163–165, 168
Act of expression 133, 145, 213, 242, 262, 265, 438
Actus directus 54, 79–83, 138, 139, 155, 180, 192, 198, 223, 243, 288, 327, 428, 430, 435, 437
Actus reflexus 80, 82, 138, 139, 155, 243, 255, 289, 294, 365, 428, 430, 436, 437 Afroamerikanische Frömmigkeit 149, 151, 152, 220, 284, 306, 437
Aggadah 41, 50, 137, 211, 248, 272, 273, 282, 292, 294, 384, 387, 415, 429, 431 Akt-Seins-Einheit 75, 81, 82, 143, 153, 176, 177, 185, 227, 255, 277, 428, 436
Allmacht/Omnipotenz 107, 108, 120, 123, 131, 142, 185, 243, 248, 258, 272, 343, 344, 346, 357, 358, 391, 397, 434
Altes Testament 4, 10, 16, 39, 43, 46, 50, 74, 137, 160, 174, 197, 214, 226, 300, 309, 337–339, 344, 347–349, 366, 413, 414, 427–429, 432, 441, 444, 447, 450 Analogia relationis 1, 178–180, 288, 439
Anthropologie 35, 37, 76, 121, 155, 204, 239, 290, 297, 323, 360, 377–383, 400, 416, 436, 439, 440 Anthropotropismus 96, 98, 119, 122, 128, 139, 145, 199, 434 https://doi.org/10.1515/9783110771961-008
Apathie(axiom) 71, 120, 122, 204, 343, 418, 434, 435, 450 Arierparagraph 194, 198, 200, 300, 446
Autorität der Bibel 22, 43, 64, 277, 292, 294, 311, 430, 444 Autorität der Kirche 64, 202, 333
Avodah be-Gashmiut 29, 30, 248, 267, 299, 442 Barmer Theologische Erklärung 187, 203, 216–218, 235, 320, 342
Begegnung 34, 57–59, 70, 80, 106, 107, 110, 130, 143, 210, 213, 251, 254, 259, 262, 272, 275, 281, 287, 289, 293, 326, 342, 411, 412, 428–430, 438 Behaviorismus 151, 262, 270, 282
Beichte 24, 207, 208, 298, 323, 333
Bekennende Kirche 23, 173, 187, 194, 195, 197, 200, 201, 203, 205, 216–220, 235, 296, 300, 301, 326, 340, 350, 427, 447
Bekenntnis 173, 181, 185, 189, 197, 199, 203, 216, 217, 219, 235, 240, 255, 292, 295–298, 300, 304, 307, 311, 317, 320, 330, 361, 364, 429, 437, 444, 447, 451 Bergpredigt 10, 149–151, 157, 162, 168, 169, 188, 191, 192, 199–203, 205, 206, 215, 220, 221, 224, 226, 231, 284, 295–297, 300, 310, 317, 323, 338, 414, 437, 442, 450
488 | Sachen
Betroffenheit 45, 50, 78, 80, 81, 84, 115, 128, 138, 141, 143, 144, 214, 275, 289, 355, 433, 450, 452 Beziehung 6, 8, 14, 54, 56, 71, 105–107, 113, 116, 120, 132, 137, 143, 144, 151, 178, 182, 208, 215, 237, 239, 251, 256, 258, 274, 291, 315, 346, 347, 356, 357, 380, 381, 388, 392, 412, 431, 435, 439 – B. Gottes 1, 6, 42, 175, 177, 255, 288, 392, 431 – B. zu Christus 84, 203, 228, 231, 296, 305, 315, 410, 433 – B. zu Gott 13, 29, 59, 63, 71, 84, 88, 98, 103, 104, 119, 132, 135, 141, 208, 239, 251, 256, 258–260, 267, 277, 279, 280, 282–284, 288–291, 293, 299, 302, 307, 319, 350, 353, 362, 365, 382, 398, 403, 420, 436, 446, 447 – B. zu sich selbst 81, 436 – B. zum Nächsten 1, 6, 9, 13, 52, 57–60, 63, 87, 103–105, 108, 114, 116, 119, 159, 171, 178, 186, 193, 208, 267, 300, 314, 329, 350, 352, 359, 436, 439 – B. zur Welt 132, 173, 191, 255, 328, 351, 381 – B. zwischen Gott und Mensch 6, 24, 42, 45, 47, 61, 70, 88, 93, 103, 112, 117, 139–141, 144, 178, 245, 281, 350, 433, 450 Bibel – Bibelarbeit 148, 209, 212, 215, 219, 234, 292, 314, 338, 429, 446, 447 – Bibellese (betend) 173, 198, 209, 212, 214, 247, 281, 291, 293, 310, 429, 449 – Biblischer Kanon 43, 122, 431 – Biblisches Denken 8, 61, 380 – (Hebräische) Bibel 4, 5, 9, 10, 11, 12, 16, 86, 105, 109, 110, 126, 127, 251, 260, 279, 293, 296, 338, 344, 364–366, 370, 395, 400, 413, 415, 418, 422, 424, 426, 427, 428, 430, 431, 443, 450, 452 – Zentralität der B. 49, 171, 172, 209, 210, 212, 219, 224, 234, 261, 284, 293, 301, 311, 337, 396, 428, 429, 436 Buße 21, 129, 200, 218, 235, 304, 369, 373 Chassidismus 11, 17, 24, 27–33, 86, 87, 89, 103, 106–108, 133, 135, 140, 244, 246, 248, 249, 265, 267, 269, 273, 284, 289,
301, 398–403, 409, 426, 438, 442, 448, 450, 477 Christen, deutsche 64, 181, 195, 205, 233, 286, 301, 331, 427, 446 Christologie 42, 61, 62, 167, 170, 172, 174, 175, 182–184, 186, 187, 204, 206, 222, 295, 297, 305, 306, 309, 313, 323, 338, 342, 344, 348, 350, 416, 421, 433, 434, 439, 440, 445, 450 Dahlemer Bekenntnissynode 216–218, 235 Dem Rad in die Speichen fallen 195, 196, 202, 300, 319, 326, 332, 446 Devekut (dt. “völliges Anhaften”) 29, 381, 392, 403, 419 Dialektik 69, 77, 80, 103, 115, 407, 421 Dialog 57, 94, 103, 121, 132, 158, 218, 260, 261, 359, 377, 389, 408, 412, 415, 422, 428 – Christlich-jüdischer D. 4, 10, 11, 15, 16, 127, 338, 346, 361, 363–367, 414, 415, 424, 431, 444, 452 – Interreligiöser D. 11, 352, 353, 359–361, 368, 420, 443, 445, 448, 451 Dialogik 15, 45, 57, 58, 60, 65, 94, 95, 97, 98, 103–107, 116, 124, 140, 206, 261, 433, 449 Diesseitigkeit 29, 59, 66, 126, 159, 160, 189, 230, 233, 308, 315, 318, 319, 328, 331, 338, 340–342, 346, 348, 350–352, 366, 386, 398, 400, 403, 410–416, 421, 439, 441, 442 Dogmenkritik 32, 37, 49, 66, 83, 97, 100, 111, 112, 154, 155, 165, 245, 276, 279, 280, 282, 284, 295, 297, 298, 300, 318, 335, 348, 361, 362, 364, 377, 404, 420–422, 442, 443 Ehrfurcht 23, 38, 50, 95, 126, 194, 248, 255, 275–277, 281, 287, 290, 380, 381, 436 Eingebung(sakt/vorgang) 89, 96, 99, 103, 112, 114, 117, 139, 355 Ekklesiologie 44, 49, 50, 52, 53, 61, 73, 171, 173, 197, 201, 202, 217, 230, 310, 412, 447 Ekstase 30, 114, 118, 142, 256, 283, 289, 403, 434
Sachen
Emanation 28, 126, 131, 434, 441 Empathie 38, 117, 133, 145, 170, 213, 241, 242, 263, 266, 290, 345, 355, 361, 365, 395, 425, 438 Entmythologisierung 340, 347 Entscheidung (, Moment der) 44, 58, 70, 71, 73, 77, 83, 143, 150, 180, 203, 206, 212, 225, 255, 286, 296, 344, 345, 435 Erfahrung(stheologie) 32, 35, 36, 47, 90, 100–102, 110, 112, 113, 117, 132, 135, 154, 182, 187, 237, 239, 254, 267, 270, 272, 274, 276, 281, 356, 358, 362, 380, 383, 392, 403, 420, 430 Erkenntnis – E. Gottes 68, 70, 73, 75, 79, 119, 120, 122, 128, 130, 134, 137, 138, 141, 146, 153, 192, 207, 223, 234, 243, 245, 254, 259, 260, 276, 279, 282, 290, 314, 347, 356, 362, 404, 424, 427, 444 – E.theorie 30, 34, 35, 37, 48, 51–53, 73, 74, 80, 82, 91, 92, 101, 128, 136, 154, 170, 176, 190, 211, 223, 242, 243, 254, 271, 272, 274, 280, 285, 288, 289, 294, 365, 427, 429, 430 – Glaubendes Erkennen 83, 288 – Predigendes Erkennen 82, 83, 139, 436 – Theologisches Erkennen 83, 139, 289, 436 Erlösung 29, 45, 71, 83, 94, 159, 186, 191, 212, 231, 232, 238, 252, 258, 265, 267, 274, 282, 285, 296, 299, 315, 318, 331, 343, 348, 349, 367, 370, 383, 391, 395–398, 403, 411, 419, 424, 440, 441, 443 Erneuerung 71, 94, 95, 98, 165, 231, 269, 314, 335–337, 347, 362–364, 397, 420, 447 Erweckung 21, 31, 148, 152, 156, 157, 165, 216, 221, 284, 292, 304, 336 Eschatologie 28, 46, 64, 65, 144, 157, 187, 190, 215, 234, 258, 297, 339 Ethik – E. Monotheismus 90, 92, 119, 238 – Situationse. 317, 320, 322, 327, 332, 335, 349 – Suspension des E. 307, 323, 417, 440 Evangelium 37, 39, 40, 47, 52, 79, 153, 162, 163, 177, 188, 191, 197, 198, 203, 208, 217, 218, 222, 229, 292, 297, 304, 305,
| 489
317, 334, 335, 347, 348, 364, 414, 437, 441 – Simples E. 198, 295, 301, 437 Exegese 86, 126 – Allegorische E. 211, 395 – Chassidische E. 248, 401 – Haggadische E. 41, 50, 137, 211, 248, 292, 294, 387, 415, 429, 431 – Historisch-kritische E. 36, 45, 85, 86, 111, 174, 184, 210, 286, 294, 428 – Mystische E. 387 – Pneumatische E. 45, 46, 119, 174, 175 – Rabbinische E. 296, 387 – Theologische Auslegung 162, 174, 175, 220, 291, 429 Exil 28, 110, 129, 248, 257, 266, 279, 286, 391, 394, 396, 403, 404, 411, 412, 419, 434, 439 Existentialismus 54, 55, 58, 63, 75, 76, 78, 82, 93, 94, 104, 119, 120, 139, 140, 272, 312, 403, 405, 428, 433, 443, 449 Fasten 201, 373, 393, 418, 423, 448 Finitum (in)capax infiniti 46, 60, 79, 138, 176, 185, 315, 451 Freiheit 177, 178, 180, 206, 221, 239, 252, 256, 283, 288, 290, 296, 297, 302, 304, 309, 319, 320, 322, 324, 325, 329, 334, 340, 343–346, 349, 354, 372, 375, 377, 394, 407, 410, 423–425, 434, 439 – F.-für 13, 76–79, 141, 172, 176, 178, 179, 214, 224, 231, 316, 319, 322, 329, 345, 377, 410, 416, 439, 451 – F.-von 13, 77, 78, 175, 179, 381, 439 Frieden 162, 187, 189–191, 201, 202, 204, 223, 300, 302, 305, 306, 333, 372, 374, 392, 398, 448 – F.ethik 162, 187, 188, 200, 201, 220, 231, 310 – F.gebot 162, 188, 189 Führung Gottes 128, 323, 327, 344–346, 438 Gebet/Beten 1, 17, 46, 97, 98, 101, 122, 129–133, 145, 148, 149, 166, 173, 190, 201, 202, 204, 207, 209, 210, 212–214, 216, 234–236, 238, 241, 242, 244, 247, 251, 252, 256, 258, 260–266, 268, 270,
490 | Sachen
276, 282–286, 288–295, 298, 299, 301–303, 310, 311, 337, 340, 341, 358, 365, 369, 373, 374, 383, 393–395, 398, 401, 411, 414, 415, 418, 423, 428, 429, 431, 434, 437, 438, 446–449 – Beter 96, 262, 288, 291, 394, 438 – Prayer in form of a deed 261, 266, 282 Gebot/Mitsvah 28, 29, 55, 102, 180, 188, 191, 198, 200, 202, 215, 217, 220, 222, 225–227, 233, 234, 236, 240, 241, 259, 261, 262, 265–267, 274, 280–283, 290, 293, 296, 299, 300, 317, 318, 324, 325, 327–333, 336, 338, 366, 367, 369, 381, 384, 385, 389, 390, 392, 406–408, 416, 420, 424, 438, 443, 445 Gefühl 25, 26, 35, 51, 93, 97, 100, 101, 114, 116, 117, 121, 133, 145, 163, 239, 244, 250, 254, 266, 267, 277, 283, 289, 290, 357, 366, 375, 380, 385, 403, 408, 433 – Einsfühlung 117, 132 – G. schlechthinniger Abhängigkeit 25, 160 – Nachfühlen 117 – Sympathie 117, 145, 302, 354, 381, 401 Gegenwart Gottes (s. auch “Shekhinah”) 1, 39, 83, 120, 186, 207, 239, 252, 253, 262, 269, 274, 276, 279, 280, 289, 290, 294, 297, 300, 310, 342, 364, 386, 391, 408, 419, 430 – Allg./Omnipräsenz 344, 390, 391, 418, 419, 434 Gehorsam (s. auch “Glauben”) 40, 48, 64, 82, 157, 166, 169, 180, 192, 201, 202, 208, 209, 216, 221–223, 225, 228, 234, 235, 263, 297, 300, 305, 308, 311, 315, 325, 327, 332, 349, 408, 416, 417, 437, 440 – Einfältiger G. 54, 71, 166, 180, 192, 216, 223, 225, 227, 228, 231, 233, 235, 283, 288, 292, 296, 298, 313, 319, 324, 327, 341, 366, 409, 410, 416, 419, 422, 437, 440, 441, 445 – G. gegenüber Gott 40, 48, 79, 180, 216, 218, 222, 234, 329, 446 Geist – G. der Bibel 127, 279, 294, 430 – G. der Propheten 266, 278, 394, 443 – G. des Gebets 266
– G. Gottes 128, 148, 179, 216, 292 – G.bewegte Familie 63, 143, 436 – G.einheit 63 – G.geschichte 4, 5, 12, 15, 16, 18, 38, 50, 85, 89, 135, 158, 284, 407, 427, 449, 450, 452 – G.vielheit 62, 63 – G.wissenschaft 11, 52, 53, 136, 183 – Heiliger G. 22, 34, 42–44, 46, 47, 54, 59, 60, 62–64, 67, 71, 83, 119, 128, 140, 142–145, 173, 175, 179, 181, 207, 210, 212, 214, 218, 229, 300, 304, 318, 349, 352, 386, 389, 432, 433, 435, 436, 440 – Menschlicher G. 52, 53, 55, 56, 58, 128, 179, 299 – Objektiver G. 64 – Zeitg. 33, 34, 93, 136, 375 Gemeinde 53, 60–62, 65, 77, 80–83, 85, 129, 134, 143, 148, 173, 176, 186, 187, 196, 200, 203, 206, 208, 209, 216–218, 225, 229–234, 261, 262, 290, 292, 318, 328, 330, 332, 333, 340, 351 – Christus als G. existierend 57, 61, 63, 80, 82, 144, 175, 202, 218, 230, 323, 435 Gerechtigkeit – Bessere G. 40, 227, 228, 296 – Gerechter unter den Völkern 16 – Selbstg. 335 – Tun des G. 13, 306, 340, 341, 369, 414 – Werkg. 82, 233, 280, 282, 340 Geschöpf(lichkeit) 1, 61, 62, 78, 95, 178–180, 288, 321, 437 Gesetz 29, 40, 43, 47, 71, 79, 89, 92, 97, 181, 186, 191, 192, 196, 197, 208, 217, 221, 225–228, 232, 240, 265, 267, 292, 296, 297, 299, 300, 314, 317, 319, 320, 325–329, 340, 347, 348, 364, 375, 392, 410, 415, 417, 437 – G. zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums 194 Gewissen 16, 18, 35, 42, 84, 121, 148, 150, 180, 221, 282, 312–314, 324, 325, 349, 402, 409 Glauben – Gl. als Tat 16, 33, 155, 169, 173, 218, 258, 265, 267, 268, 282, 290, 297, 298, 302,
Sachen
320, 321, 341, 349, 366–368, 371, 381, 394, 404, 424, 437, 439, 440, 444 – A song in form of deeds 259, 299, 366 – Gl.akt 74, 79, 83, 225, 272, 428 – Gl.gehorsam 40, 155, 192, 208, 221–223, 296, 314, 316, 417, 437 – Gl.inhalt 243, 295, 420, 444 – Gl.vollzug 32, 40, 243, 255, 266, 272, 276, 286–288, 295, 404, 420, 422, 442–444, 449 – Simple faith 32, 165, 166, 170, 223, 284 – Wissenschaftsgläubigkeit 36 Gnade 43, 82, 84, 88, 126, 140, 143, 144, 154, 177, 203, 207, 216, 223–226, 235, 239, 261, 276, 282, 292, 296, 306, 315–317, 324, 325, 364, 366, 391, 392, 397, 400, 406, 409, 410, 415, 420, 421, 423, 435, 437, 441, 444 – Billige G. 3, 166, 168, 169, 192, 208, 222, 223, 231, 296, 298, 325, 405, 410, 417, 421, 424, 437, 440 – Teure G. 155, 169, 208, 223–225, 229–231, 233, 240, 296, 299, 325, 340, 367, 437, 438, 444, 445 Gnostizismus 40, 106 Gottebenbildlichkeit 43, 54, 62, 77, 78, 81, 83, 104, 128, 142, 143, 177, 178, 180, 190, 204, 233, 264, 268, 282, 288, 289, 291, 296, 299, 360, 367, 369, 377, 399, 412, 418, 422, 433, 435–440, 443, 451 Gottesbegriff 54, 78, 107, 258, 358, 415 Gottesbild 409, 432 Griechisches Denken 7, 10, 11, 40, 47, 78, 92, 108, 112, 125, 140, 142, 144, 163, 226, 247, 257, 267, 273, 274, 285, 348, 380, 382, 422, 431, 433, 434, 441, 445 Halakha 226, 263–268, 272, 273, 282, 296, 301, 366, 384, 387, 396, 401, 404 – Pan-Halakha 448 – Pan-Halakhismus 427 Hebrew Union College 125, 134, 236, 244, 265, 301, 368 Hebräisches Denken 10, 11, 66, 71, 84, 88, 104, 124, 144, 160, 174, 226, 247, 257, 273, 274, 279, 285, 296, 344, 363–366,
| 491
378, 380, 400, 413–415, 421, 422, 427, 431, 432, 436, 439, 441, 445, 448–452 Heiligkeit 104, 230, 233, 237, 239, 240, 245, 247, 251, 253, 266, 267, 276, 280, 327, 338, 351, 364, 376, 380, 382, 386, 388, 390, 391, 395, 415 – H. des Lebens 346, 371, 373, 379, 417 Heiligung 63, 65, 72, 84, 176, 224, 228–232, 245, 251, 252, 265, 267, 281, 282, 296, 299, 318, 341, 362, 394, 398, 430, 443 Hermeneutik 4, 8, 10, 11, 13, 25, 43, 44, 46, 54, 67, 69, 70, 87, 98, 104, 105, 126, 135–137, 160, 165, 166, 171, 174, 175, 177, 192, 198, 209, 210, 212, 213, 220, 248, 270, 271, 281, 284, 291, 293, 294, 303, 338, 349, 374, 386, 390, 395, 399, 414, 415, 422, 427, 429, 431, 445, 449, 451 Hildesheimer Rabbinerseminar 85, 111 Historismus 50, 112, 121, 138, 139, 285 Hitlaḥavut (dt. “Entflammtsein”) 29 Holocaust/Shoah 5, 115, 130, 134, 237, 244, 246, 257, 258, 353, 374, 392, 444 Humanismus 20, 66, 71, 73, 104, 124, 126, 135, 153, 284, 342, 346, 377, 426 Idealismus 25, 34, 36, 50, 51, 54, 56–59, 64, 70, 74, 75, 79, 94, 139, 141, 153, 194, 222, 305, 348, 364 Imitatio 22, 39, 167, 223, 228, 240, 242, 248, 280, 296, 299, 325, 358, 382 Immanenz 6, 42, 51, 91, 92, 95, 102, 105–107, 112, 119, 138–140, 154, 183, 253, 265, 366, 391, 403, 432 Incurvatio in se 56, 60, 76, 77, 142, 180, 198, 225, 239, 241, 290, 296, 313, 421, 435 Individualismus 23, 24, 29, 32, 33, 60, 135, 158, 161, 163, 178, 189, 194, 245, 265, 286, 299, 301, 348, 367, 379, 403, 405, 414, 424, 440, 442 Inklusivismus 249, 365, 412, 422 Innenperspektive 26, 52, 53, 81, 112, 137–139, 223, 224, 244, 255, 279–281, 286, 294, 351, 385, 401, 413, 430, 436, 442–444, 446, 449, 450 Institut für judaistische Wissenschaft 133 Institute for Jewish Learning 134
492 | Sachen
Interfaith 32, 269, 359, 361, 363, 412, 420, 424, 443 Internihilism 359, 412, 424
Israel 10, 33, 46, 56, 77, 86, 90, 93, 102, 115, 117, 126, 129, 131, 144, 182, 197, 219, 220, 244, 245, 249, 251, 261, 266, 274, 277, 279–281, 293, 294, 299, 346, 348, 354, 365, 370–372, 387, 391, 392, 394–399, 411, 419, 424, 430, 433, 438, 442 Jewish Theological Seminary (JTS) 2, 125, 243, 244, 246, 249, 250, 263, 268, 400, 401 Judentum
– Amerikanisches J. 33, 236, 243, 244, 260, 261, 264, 301, 359, 360, 374, 393, 398, 404 – Ashkenazisches J. 247 – Deutsches J. 123, 237
– Erneuerung des J. 88, 104, 107, 123, 124, 127, 131, 240, 244, 246, 258–270, 282, 283, 286, 301, 374, 377, 393, 395–398, 402, 405, 407, 419, 424, 431, 448 – Freies Jüdisches Lehrhaus 124, 127, 134, 210, 447
– J. Denken 57, 86, 87, 91–94, 104, 113, 122, 125, 126, 131, 146, 236, 245, 250, 253, 263, 271, 274, 298, 353, 361, 362, 378, 384, 389, 391, 407, 415, 418, 436, 440, 448 – J. Lernen/Erziehung 124, 125, 236, 240, 244, 269, 270, 375
– J. Mystik 29, 30, 86–90, 103, 105, 244, 245, 248, 253, 267, 273, 282, 286, 294, 298, 378, 384–387, 391, 430, 434 – J. Tradition 122, 126, 127, 236, 251, 259, 269, 274, 284, 289, 294, 299, 301, 396, 442, 445
– Mittelalterliches J. 107, 122, 249, 250, 407, 412, 442 – Rabbinisches J. 30, 37, 90, 249, 384, 448
– Wesen des J. 90, 91, 102, 115, 122, 245, 247, 250, 251, 262, 274, 281–283, 286, 360, 371, 391, 396, 397, 407, 424
– Wissenschaft des J. 87, 127, 133, 146, 252, 269 – Hochschule für die W. des J. 85, 87, 90, 91, 109, 111, 122, 136, 450 Kabbalah 27–29, 103, 104, 108, 244–246, 248, 267, 274, 279, 389, 391, 403, 477 Kavanah (dt. “Herzenshaltung”) 29, 129, 132, 145, 213, 238, 242–244, 247, 261, 262, 265, 266, 268, 282, 290, 295, 301, 362, 364, 385, 392, 393, 404, 415, 420, 430, 438, 443, 477 Kirche – Afroamerikanische K. 151, 163, 164, 168, 170, 304, 423 – Erneuerung der K. 1, 23, 148, 154, 168–170, 173, 191, 192, 194, 196–200, 203, 205, 215–220, 224, 231, 232, 261, 296, 305, 310, 317, 333, 335, 336, 338, 350, 351, 359, 361–367, 423, 431, 444 – Evangelische K. 201, 206, 216, 222, 311, 360, 361, 446 – Freik. 64, 200, 203 – K. als Christus praesens 190, 191, 300 – K. als transsubjektiver Bürge 81, 82, 143, 293, 431, 435 – K. und Gemeinschaft 12, 37, 53, 63, 143, 161, 171, 184, 201, 218, 436 – K. und Offenbarung 20, 24, 34, 50, 52, 60, 61, 74, 80–83, 139, 143, 144, 173, 174, 182, 184, 427, 428, 435, 436 – K. und Staat 182, 186, 190, 195, 196, 200, 219, 300, 301, 304, 305, 319, 327, 329–332, 446 – K. und Welt 70, 151, 178, 196, 201, 202, 230, 232, 297, 302, 305, 311, 314, 317, 318, 323, 331, 335, 342, 347, 351, 410, 439, 442, 444 – K. und Wort Gottes 46, 49, 83, 166, 176, 202, 217, 311, 331 – K.leitung 215, 218, 219, 235 – Katholische K. 26, 33, 38, 40, 48, 49, 64, 66, 150, 222, 359, 360, 367, 384, 448 – Reichsk. 23, 187, 200, 203, 215, 216, 218, 220–222, 229, 231, 296, 301, 446 – Sichtbare/unsichtbare K. 64, 65, 144
Sachen
– Sozialität der K. 24, 38, 44, 49, 50, 55, 57, 59, 60, 62, 64, 74, 80, 83, 137, 143, 144, 146, 184 Kirchenkampf 194, 195, 200, 215, 221, 230, 320, 340 Konspiration 64, 234, 302, 305–308, 311, 319, 324, 326, 332, 334, 340, 349, 417, 418, 423, 447 Konzilsgedanke 196, 202, 343 Kreuz(igung) 60, 69, 153–155, 157, 179, 181–183, 187, 189, 204, 208, 209, 212, 215, 219, 221, 227, 296–298, 309, 315, 316, 318, 330, 332, 343, 346, 347, 349, 410, 440, 441 Kulturprotestantismus 39, 69, 187, 316, 331 Leap of action 267, 404, 406 Leib Christi 61, 62, 81, 176, 179, 229, 231, 232, 235, 318, 330 Leiblichkeit 28, 47, 55, 65, 71, 101, 140, 144, 179, 207, 211, 251, 292, 321, 359, 395, 407, 411, 412, 421, 441 Leid 17, 20, 26, 47, 108, 170, 174, 197, 204, 215, 257, 263, 309, 339, 343, 345, 346, 349, 354, 370, 373, 382, 391, 392, 407, 408, 414, 416, 419, 445 – Fremdleiden 117 – Gottes L. 115, 129, 140, 179, 198, 204, 228, 272, 286, 342, 343, 345, 346, 356–358, 408, 418, 419, 434 – L.bereitschaft 189, 307, 309, 319 – Mitleiden 108, 204, 297, 302, 309, 314, 343, 345, 346, 348, 349, 356, 357, 369, 371, 375, 391, 398, 417, 419 Leidenschaft 114, 124, 180, 188, 196, 242, 248, 255, 275, 284, 286, 353 Letzte und vorletzte Dinge 23, 73, 310, 315–317, 321, 324, 338, 339, 341, 400, 410, 411, 414, 415, 417, 423, 441, 450 Liebe 52, 62, 63, 65, 69, 72, 83, 86, 95, 96, 108, 117, 148, 172, 206, 223, 238, 247, 254, 258, 268, 295, 323–325, 327, 332, 337, 360, 364, 401, 403, 404 – Feindesl. 72, 234, 300, 349 – L. Gottes 20, 60, 63, 65, 70, 71, 92, 95, 106, 114, 115, 159, 187, 190, 209, 238, 265,
| 493
275, 291, 309, 310, 312, 314, 325, 332, 343, 346, 391, 396 – L.gebot 40, 71, 170, 256, 268, 282, 333, 358 – L.gemeinschaft 63, 143, 436 – Nächstenl. 21, 63, 72, 108, 157, 247, 268, 291, 324, 325, 335, 346, 363, 369, 392, 417 Losungen 22, 234, 292, 303, 310, 343, 414, 422, 429, 438, 450 Lückenbüßer-Funktion Gottes 3, 92, 348, 414 Mandat 181, 318, 326–331, 352, 416, 442 Marburger Schule 36 Martyrium/Märtyrer 1, 2, 245, 385, 386, 397 Metahistorie 285, 431 Metaphysik 6, 10, 35, 47, 49, 52, 78, 88, 97, 99, 104, 107, 112, 125, 142, 178, 224, 242, 256, 274, 285, 296, 333, 340, 348, 351, 366, 431 Mission 30, 104, 127, 134, 161, 187, 197, 200, 208, 214, 220, 244, 353, 361, 363, 422, 443, 447 Mittlerschaft – Christus als Mittler 42, 141, 142, 158, 174, 175, 186, 187, 203, 206, 226, 227, 285, 296, 297, 315 Mysterium 28, 40, 101, 183, 197, 248, 254, 255, 263, 273, 275–282, 287, 290, 294, 357, 359, 362, 365, 366, 380, 396, 401, 408, 419, 424, 430 Mystik (s. auch “Spiritualität”) 28, 47, 61, 71, 101, 102, 106, 113, 126, 144, 313, 347, 352 Mündigkeit/Mündig gewordene Welt 3, 11, 166, 168, 169, 212, 234, 339–342, 347, 350, 351, 364, 410, 411, 418 Nachfolge 2, 3, 21, 22, 39, 48, 54, 77, 148, 155, 159, 162, 165, 167, 169, 171, 192, 205–208, 214, 215, 220–235, 283, 295–298, 306, 313–315, 318, 319, 323–325, 332, 340, 343, 346, 349, 367, 410, 416, 417, 429, 437, 439, 440, 444, 445 Nationalsozialismus 1, 2, 90, 125, 128, 129, 134, 148, 164, 167, 173, 181, 191, 194–196, 198, 204, 215, 219, 221, 222, 232, 243, 284, 295, 301, 306, 310, 315,
494 | Sachen
322, 331, 351, 353, 421, 422, 427, 444, 446–448, 452
Neues Testament 6, 10, 16, 23, 38, 40, 47, 50, 70, 77, 86, 139, 157, 158, 160, 171, 177, 197, 203, 212, 214, 219, 221, 226, 301, 338, 365, 367, 414, 428, 429, 432, 444, 450 – Zu früh neutestamentlich denken 338
Neukantianismus 33, 34, 36, 45, 50, 75, 85, 87, 91–94, 97, 99, 102, 112, 113, 115, 121, 126, 131, 136, 138, 154, 427, 428, 433, 449 Obrigkeit 305, 326, 328–332, 335, 336, 416, 417, 442 Offenbarung
– O.positivismus 15, 45, 106, 350, 351, 414 – O.raum 427, 428
– O.träger 45, 102, 137, 428, 429, 449
Pathos Gottes (s. auch “Leid/Mitleiden”) 14, 20, 68, 69, 88, 96, 103, 106, 108, 112, 114–118, 120, 121, 141, 144, 204, 228, 237, 238, 241, 250, 257, 258, 272, 281, 289, 342, 356–358, 364, 367, 381, 388, 391, 409, 415, 419, 433, 434, 450 Pazifismus 72, 151, 159, 161, 162, 170, 188, 195, 198, 201, 212, 215, 284, 300, 305, 311, 317, 323, 326, 333, 447, 448
Personalismus 13, 42, 51, 59, 60, 76, 78, 114, 117, 140, 153, 182, 186, 224, 228, 232, 253, 275, 286, 315, 323, 350, 406, 432–434 Personbegriff 13, 53, 54, 59, 60, 64, 76, 105, 107, 185, 189, 206, 207, 323 Pfarrernotbund 194
Philosophie 8, 9, 172, 253, 271, 273, 274, 298, 378, 427, 433 – Ichph. 8, 34, 54, 104
– Tatsächlichkeit von O. 34, 95, 110, 112, 114, 138–140, 143, 412, 427
– Kritische Ph. 58, 181
Ohnmacht 13, 123, 131, 179, 241, 277, 323, 325, 343, 344, 346, 347, 357, 358, 418, 434, 449, 450
– Religionsph. 8, 11, 15, 36, 54, 57, 86, 87, 90, 92, 99, 122, 133, 153, 242, 253, 255, 257, 271, 273, 274, 280, 287, 375, 426, 430, 431
– Uroffenbarungslehre 72, 168, 181, 226, 292
Ontologie 7, 8, 14, 42, 51, 73–76, 80, 81, 94, 116, 119, 125, 140, 144, 149, 178, 179, 183, 186, 206, 243, 255–257, 263, 264, 273, 274, 285, 289, 290, 321, 380, 394, 398, 400, 412, 431, 438 Open Theism 344
Ordination 31, 109, 122, 136, 173, 193
Ordnung (weltlich/staatlich) 72, 160, 182, 195, 196, 305, 319, 321, 327–331, 336, 411, 442
Orthodoxie 23, 29, 30, 85, 214, 215, 221, 261, 265, 266, 271, 272, 284, 295–297, 304, 325, 332, 334, 437, 449 – Neo-O. 3
Orthopraxie 215, 284, 295, 297, 298, 310, 421, 437, 449
Ökumene 1, 22, 23, 33, 38, 48, 148, 152, 156, 162, 171, 172, 187, 189, 191, 192, 195, 200–202, 215, 217, 218, 220, 359, 402, 427, 446, 447
– Lebensph. 154, 255, 321, 342 – Ph. Arbeitsgemeinschaft 87
– Seinsph. 8
– Sozialph. 52, 53, 55, 87 – Sprachph. 140
Phänomenologie 25, 51, 53, 54, 67, 75, 87, 91, 93, 99, 107, 110–112, 119, 122, 129, 131, 132, 134, 136, 137, 139, 145, 149, 237, 242, 257, 272, 285, 287, 355, 356, 358, 364, 378, 413, 427–429, 449 – Ph. des Fühlens 25, 51, 86, 113, 114, 145, 238, 254, 283, 427
Pietismus 17, 21–24, 31–33, 37, 135, 140, 214, 284, 342, 347, 426
– Herrnhuter P. 17, 21, 22, 24, 32, 33, 135, 140, 171, 234, 284, 292, 303, 426, 429
Platonismus 71, 88, 113, 144, 160, 230, 328, 395, 398, 411, 441 Plural(ismus) 106, 155, 363, 365, 422, 443
Polyphonie (des Lebens) 167, 339, 415, 419, 445
Sachen
Pragmatismus 100, 102, 112, 113, 130, 151–156, 184, 237, 242, 248, 273, 284, 301, 356, 375, 437, 443, 449 Preconceptual thinking 130, 133, 272, 278, 287, 293 Pro-me-Sein Christi 185, 186, 434 Prophetie/Prophetisch – 377, 389 – Pr. Aktivismus 2, 4, 10–12, 17, 19, 123, 192, 204, 215, 240, 250, 253, 269, 284, 302, 352–354, 356, 359, 368, 369, 371, 374, 376, 377, 385, 395, 409, 415, 446, 451, 452 – Pr. Inspiration/Sukzession 43, 122, 146, 249, 256, 269, 289, 294, 364, 384, 389, 431 – Pr. Sympathie 67, 68, 95, 96, 101, 103, 108, 114, 116, 117, 144, 145, 237, 256, 258, 272, 283, 285, 293, 298, 299, 343, 349, 356, 357, 370, 408, 440, 446 – Prophetentum aller Gläubigen 32, 367, 418, 424, 448 – Prophetic understatement 277, 293, 430 Radical self-understanding 272, 287 Radikales Staunen 252, 254, 275–277, 281, 287, 362, 380 Rassenhass 164, 295, 336, 369 Rationalismus 21, 30, 34, 36, 92, 100, 136, 138, 141, 159, 246, 250, 274, 384, 386, 390 Rechtfertigung 26, 42–44, 47, 53, 63, 65, 70, 75, 83, 99, 110, 154, 186, 192, 199, 203, 207, 212, 217, 224, 228, 229, 291, 292, 296, 304, 319, 324, 325, 327, 336, 337, 341, 344, 348, 351, 403, 417, 423, 440, 444 Reich Gottes 23, 40, 46, 157, 158, 189, 190, 194, 245, 341, 348, 414, 442 Rekonstruktionismus 263, 268, 270, 358 Relational – R. Anthropologie 13, 60, 64, 78, 107, 142, 178, 179, 189, 206, 207, 297, 323, 379–381, 451 – R. Christologie 141, 206, 207, 295, 297, 433 – R. Ekklesiologie 62, 143, 144, 206, 219, 300, 436, 437, 447
| 495
– R. Erkenntnis 286 – R. Eschatologie 144, 390, 441 – R. Ethik 261, 282, 319, 321, 324, 381, 417, 439, 443 – R. Freiheitsverständnis 48, 79, 224 – R. Friedensverständnis 190, 201, 300 – R. Gotteslehre 7, 185, 257, 418, 419, 432 – R. Harmatiologie 77, 142, 143, 315, 421, 445 – R. Hermeneutik 10, 41, 70, 137, 145, 147, 165, 174, 176, 192, 198, 209, 220, 266, 275, 278, 280, 281, 291, 293, 294, 303, 347, 414, 415, 427–431, 449 – R. Offenbarungsverständnis 80, 81, 84, 98, 112, 139, 145, 183, 264, 285, 364, 436 – R. Pneumatologie 42, 140, 433 – R. Soteriologie 54, 83, 144, 206, 222, 224, 227, 233, 258, 296, 297, 299, 315, 318, 325, 392, 398, 435, 437, 441, 444 – R. Spiritualität 125, 132, 133, 148, 245, 263, 291, 298, 361, 385, 437, 450, 452 – R. Theologie 6, 8 – R. turn 7, 8, 449 – R. Wahrheitsverständnis 77, 184, 212, 405, 406, 442 Relation(alität) – R. Gottes 78, 142, 158, 178, 257, 275, 279, 309, 344, 356, 357, 419, 432, 435, 437 – R. zu Christus 83, 221, 286, 331 – R. zu Gott 1, 14, 32, 59, 67, 101, 109, 121, 142, 144, 147, 148, 238–240, 264, 276, 281, 291, 319, 341, 367, 380, 418, 419, 422, 424, 429, 437, 449, 452 – R. zu sich selbst 379, 437, 449, 452 – R. zum Nächsten 14, 33, 142, 147, 148, 150, 167, 178, 180, 186, 270, 320, 422, 437, 439, 452 – R. zur Bibel 13, 17, 429, 432, 452 – R. zur Welt 33, 55, 60, 66, 67, 98, 119, 128, 130, 138, 147, 148, 151, 153–155, 158, 161, 167, 171, 179, 187, 188, 190, 191, 194, 198, 199, 201, 203, 212, 221, 272, 283, 287, 288, 292, 297, 300, 305, 306, 309, 311, 319, 320, 322, 325–327, 329, 341, 358, 369, 378, 397, 410, 413, 422, 428, 429, 432, 441, 446, 449, 451, 452 – R. zwischen Gott und Mensch 114, 253, 258, 260, 277, 288, 327, 329, 400, 437, 442
496 | Sachen
– Relation 5–7, 47, 136, 409, 416, 431 Religion 26, 32, 35, 36, 58, 63, 73, 86, 91, 93, 99–102, 110, 111, 113–115, 119, 121, 124, 135, 154, 155, 159, 160, 183, 190, 222, 237, 239, 240, 243, 249, 251, 253–255, 264, 268, 271, 273, 275, 276, 286, 287, 289, 290, 299, 305, 308, 309, 313, 341–343, 348, 350, 351, 359–364, 369, 377, 382, 406, 422, 424 – Interrel. 122, 273, 285, 353, 359–361, 369, 374, 384, 402, 432, 442 – Nicht-rel. Interpretation 175, 309, 347–349, 414, 432 – Rel. der Sympathie 120, 121, 145, 413, 417 – Rel.geschichte 7, 47, 86, 89, 90, 97, 103, 111–113, 137, 280, 364 – Rel.kritik 4, 73, 340, 343, 350, 351 – Rel.losigkeit 68, 167, 190, 211, 341, 342, 347, 351, 359, 411, 412, 414 – Rel.phänomenologie 254, 358 – Rel.psychologie 25, 97, 99 – Rel.soziologie 52 – Rel.wissenschaft 100 Sabbat 207, 238, 247, 249–252, 260, 262, 271, 367, 386, 394, 402 Sacrificium intellectus 44, 210, 291, 347 Schuld 21, 42, 55, 56, 62, 65, 76, 127, 129, 177, 180, 190, 197, 200, 202, 246, 250, 261, 302, 314, 315, 321, 323–325, 335–337, 349, 354, 369, 371, 373, 378, 382, 397, 407, 417, 418, 423, 436, 439, 440, 444, 447 – S.bekenntnis 335, 336, 423 – S.übernahme 60, 196, 303, 306, 307, 322, 325, 333, 337, 342, 416, 418, 423 Schwarzer Christus (s. auch “Jesus” unter “Personen”) 163, 164, 169, 193, 220, 295, 446 Schweigen 94, 102, 175, 182, 183, 191, 213, 241, 262, 271, 289, 310, 384, 406, 408, 444, 445 Schöpfer 41, 75, 92, 95, 116, 160, 177–179, 181, 186, 207, 251, 274, 282, 285, 288, 322, 324, 329, 367, 391, 403, 433, 435, 438, 450
Schöpfung 6, 13, 28, 30, 43, 48, 59, 62, 81, 88, 92, 95, 126, 171, 173–176, 179–181, 184, 190–192, 206, 211, 214, 230, 231, 251, 252, 256, 257, 274, 285, 288, 289, 294, 312, 313, 316, 319, 322, 329, 338, 347, 352, 381, 383, 389, 391, 398, 399, 403, 407–411, 421, 429, 431–434, 439, 441, 442 – Neus. 229, 282, 290 – S.bericht 174, 176–178, 329, 431 – S.ordnung 181, 189, 286 Seele 28, 35, 40, 55, 56, 63, 71, 94–96, 101, 104, 130, 171, 208, 211, 237, 238, 241, 243, 244, 251, 252, 255, 261, 262, 264, 273, 279, 292, 294, 302, 334, 348, 354, 372, 375, 382, 389, 394–396, 402, 407, 412, 414, 424, 441, 442 Sein-in-Adam 76, 79, 143, 180 Sein-in-Christus 81–83, 143, 180, 231, 435 Shekhinah 28, 248, 262, 266, 279, 286, 390–393, 403, 411, 412, 419, 430, 434, 439 Sinai 92, 122, 245, 259, 277, 280, 293, 365, 368, 387, 389, 392, 431, 438 Sittlichkeit 37, 41, 52, 69–71, 92, 111, 113, 119, 181 Situation – S.bezug 8, 32, 59, 72, 114, 121, 123, 160, 167, 172, 191, 221, 229, 255, 257, 272, 286, 287, 292, 302, 303, 312, 317, 320, 326, 349, 355, 370, 374, 378, 402, 405, 412, 413, 416, 417, 420, 423, 428–430, 432, 439, 443, 445, 446, 449 – Situatives Denken 8, 87, 123, 125, 126, 138, 255, 272, 287, 292, 309, 355–358, 364, 368, 369, 378, 379, 385, 401, 412–414, 420, 421, 439, 451 – Totale S. 362, 420 Sohar 28 Soteriologie 21, 60, 154, 160, 206, 221–223, 266, 297, 315, 323, 325, 418, 440 Sozial/Soziologie (s. auch “Kirche”) 6, 7, 9, 50, 52–60, 63–65, 73, 77, 80–82, 87–89, 97, 110, 137, 141, 143, 145, 148, 150, 151, 155–161, 163, 165, 167, 171, 186, 193, 201, 206, 252, 259, 262, 297, 304, 319, 321, 331–335, 350, 355, 356, 359,
Sachen
366, 368, 369, 371, 385, 392, 396, 420, 433, 442, 452 – Social Gospel 22, 23, 149, 151, 156–159, 161–163, 168, 170, 189, 284, 334, 338, 437 Spiritualität 1, 4, 10, 11, 13, 16, 17, 28, 30, 64, 98, 103, 104, 106, 115, 123, 127, 130, 131, 133, 134, 148, 150, 168, 192, 202, 214, 222, 230, 236–238, 244–247, 249, 250, 253, 256, 258, 259, 261, 262, 267, 269, 273, 281, 283, 299, 302, 304, 310, 318, 353, 359, 361, 365, 368, 370–374, 376, 377, 380–383, 385, 392, 393, 395–398, 404, 406, 407, 411, 421, 423, 424, 436–440, 444, 445, 447, 448, 451, 452 – Osteuropäisch-jüdische Sp. 2, 123, 246, 247, 250 Stellvertretung 22, 53, 60, 62, 63, 82, 120, 143, 144, 170, 179, 186, 196, 203, 206, 207, 219, 261, 264, 295, 297, 300, 306, 307, 311, 318, 322–326, 328–330, 333, 335, 336, 342, 343, 345, 346, 350, 359, 369, 388, 416–418, 435, 438–440 Symbolik 98, 260, 263–265, 267, 268, 270, 273, 286, 288, 291, 301, 332, 367, 369 Sympathie (s. auch “Prophetische Sympathie” u. “Religion der Sympathie”) 51, 91, 108, 117, 118, 121, 122, 238, 266, 269, 270, 294, 356, 391 Säkularisierung 70, 130, 152, 158, 268, 304, 331, 339, 377 Sünde 53, 55–58, 60, 62, 65, 76, 77, 79, 81, 82, 84, 93, 94, 142–144, 152, 154, 159, 160, 167, 171, 173, 179, 180, 189–191, 194, 200, 208, 217, 222, 224, 228, 229, 231, 232, 234, 248, 297, 300, 306, 310, 312, 315, 324, 325, 333, 334, 339, 346, 351, 367, 371, 372, 393, 407, 410, 417, 423, 435, 438, 440 – Erbsünde 54–57, 59, 76, 77, 94, 96, 105, 140, 142, 144, 157, 175, 214, 230, 256, 267, 275, 290, 298, 323, 367, 368, 407, 421, 424, 430, 435, 436, 438, 445, 451 – Soziale S. 334, 417 – Sündenfall 54–56, 131, 174, 180, 181, 183, 288, 312, 322, 329, 330, 440, 442 – Sünder 81, 83, 180, 224, 229, 304
| 497
Talmud 29–31, 86, 89, 127, 242, 244, 247–249, 269, 294, 383–385, 407, 421, 450 Teleologie 37, 285, 307, 381, 431, 434, 436 Theodizee 119, 374, 408 Theologia crucis 70, 72, 138, 141, 167, 182, 187, 189, 204, 222, 228, 229, 231, 295, 306, 342, 343, 347, 418, 434, 439 Theologie 8, 9, 24–26, 36–38, 44–46, 53, 63, 64, 66, 73, 75, 76, 79, 80, 82, 84, 104, 135, 137, 152–155, 158–160, 164, 165, 167, 169, 174, 182, 184, 193, 195, 204, 206, 215, 220, 284, 285, 289, 298, 302, 304, 305, 307–310, 316, 319, 320, 322, 350, 353, 362, 365, 384, 392, 404, 405, 407, 409, 410, 414, 415, 420, 421, 423, 428, 430, 434, 439, 440, 442–447, 449, 452 – Befreiungsth. 148, 163, 167, 168, 295, 306, 369, 370, 439 – Dialektische Th. 43–45, 67, 76, 78, 81, 181, 183, 427, 428, 449 – Liberale Th. 1, 3, 23, 33, 34, 36–39, 45, 53, 62, 69, 82, 85, 87, 89, 90, 111, 112, 136, 138, 141, 151, 152, 166, 174, 186, 238, 260, 265, 286, 301, 327, 333, 339, 344, 347, 414, 419, 427, 443, 448, 449 – Natürliche Th. 109, 128 – Öffentliche Th./Religion 13, 37, 63, 199, 232, 244, 269, 342, 348, 374, 375, 377, 394, 411, 424, 448 – Partizipatorische Th. 118, 122, 278, 293, 389 – Pathetische Th. 116, 121, 367 – Person Th. 13, 78 – Prophetische Th. 157, 358, 368 – Prozessth. 343 – Rabbinische Th. 383–385, 391, 395, 415 – Th. der Sozialität 12, 50, 182, 232, 316, 347 – Tiefenth. 31–33, 101, 102, 108, 125, 130, 135, 140, 213, 237, 240, 245, 253, 272, 273, 275, 287, 361–365, 370, 376, 378, 383–385, 388, 389, 402–405, 407, 408, 420–422, 426, 430, 435, 442, 443, 445, 449, 451 – Wende vom Theologen zum Christen 150
498 | Sachen
Theotropismus 96, 98, 119, 128, 145, 199, 313, 434 Tiqqun ‘Olam 28, 33, 116, 248, 258, 265, 270, 285, 297, 299, 356, 368, 377, 381, 382, 392, 398, 400, 411, 419, 424, 439, 442 Torah (s. auch “Bibel”) 28, 89, 97, 118, 122, 130, 226, 240, 243, 248, 249, 252, 264, 269, 277, 280, 281, 291, 293, 294, 299, 357, 365, 366, 371, 383–390, 392, 393, 396, 401, 402, 411, 415, 420, 424, 430, 438, 443, 445 Transzendental(ismus) 6, 34, 35, 49, 50, 57, 58, 74, 75, 79, 81, 82, 104, 112, 131, 136, 149, 285 Transzendenz 13, 14, 35, 59, 75, 80, 81, 91–94, 97, 99, 100, 102, 103, 106, 107, 110, 112, 113, 115, 120, 138, 139, 141, 153, 154, 160, 176, 183, 186, 242, 245, 265, 268, 274, 276, 290, 346, 350, 366, 376, 380, 381, 403, 404, 436, 451 Trinität/Dreieinigkeit (Gottes) 6, 7, 22, 42, 59, 61, 62, 140, 141, 155, 176, 178, 187, 363, 422, 432–434, 445 Unaussprechlichkeit 101, 103, 108, 145, 155, 253–256, 263, 272, 273, 275, 280, 282, 287, 290, 291, 310, 340, 430 Unio sympathetica 121, 144 Union Theological Seminary 2, 151–154, 161, 163, 164, 168, 343, 360, 361 Unternehmen 7 308, 423 Vaticanum II (Zweites Vatikanisches Konzil) 360 Verantwortung 53, 57–60, 63, 76, 124, 130, 143, 156, 189, 192, 194–196, 216, 238, 239, 248, 257, 259, 267, 296, 299, 300, 302, 303, 305, 317–329, 332, 333, 335–337, 340, 342, 345, 349, 354, 356, 369, 372, 375–377, 381, 389, 392, 394, 397, 404, 410, 416–419, 423–425, 435, 436, 439, 440, 446–448, 451 – Some are guilty, all are responsible 127, 302, 354, 373, 418, 440 – V.bereich 258, 322, 381, 416, 440, 451 – V.bewusstsein 196, 251, 319, 448, 451 – V.träger 366, 422
Vergebung 62, 82, 84, 104, 143, 144, 154, 191, 208, 209, 229, 298, 306, 369, 437, 438 Vernunft 8, 13, 34–37, 44, 52, 75, 90–93, 113, 115, 136, 137, 139, 146, 151, 181, 183, 198, 200, 239, 243, 253, 254, 276, 285, 312, 321, 405, 431 Versöhnung 17, 42, 51, 53, 62, 83, 146, 230, 314–316, 318, 321, 325, 327, 347, 349, 355, 382–384, 392, 399, 419, 441 Vision 4, 88–91, 93, 94, 96–98, 103, 112, 121, 130, 137, 139, 165, 260, 264, 283, 291, 350, 380, 383, 395, 396 – Visio obliqua 98 – Visionität 93 – Visionär 67, 91, 93, 94, 96–98, 103, 139, 385, 386 Weltflucht 23, 33, 72, 135, 225, 231, 232, 251, 297, 341, 398, 404, 406, 407, 410, 439 Weltlichkeit 55, 232, 316, 328, 339, 341, 346, 347, 351 Widerstand 25, 64, 124, 156, 167, 168, 195, 196, 202, 205, 215, 260, 278, 285, 305, 306, 308, 317, 320, 326, 333, 335, 374, 398, 419, 423, 424, 448 – Gewaltloser W. 162, 189, 333, 373, 440 – W. und Ergebung 337, 345, 417, 419 Wille 39, 63, 64, 71, 105, 108, 115, 119, 124, 219, 229, 231, 283, 293, 333, 405, 406, 446 – Freier W. 43, 65, 95, 113, 180, 225, 243, 258, 296, 405, 418, 419 – W. Gottes 40, 63, 65, 67–69, 71, 78, 103, 108, 116, 120, 137, 141–144, 203, 207, 216, 228, 234, 240, 256, 258, 264, 277, 280, 282, 284, 289, 291–294, 300, 301, 329, 344, 356, 363, 389, 392, 400, 415, 416, 422, 430, 431, 433, 434, 443, 446, 447 Wirklichkeit(snähe) 34, 52, 53, 55, 57–59, 61, 63, 70, 75, 78, 80, 84, 87, 91, 94, 97, 100, 106, 113, 117, 150, 151, 172, 174–179, 185, 186, 188, 189, 191, 194, 198, 206, 211, 214, 224, 226, 230, 239, 288, 295, 304, 310–315, 318, 320, 321, 324,
Sachen
328–331, 335, 342, 345, 346, 349, 350, 370, 382, 411, 416, 437, 441, 442 Wort (Gottes) 23, 33, 41, 43, 45, 46, 49, 60–62, 64, 79, 81, 114, 118, 128, 129, 144, 153, 166, 172, 173, 175, 176, 181–183, 185, 186, 199, 201, 202, 206–208, 210–214, 216, 217, 219, 224, 225, 234, 260, 262, 263, 272, 277–279,
| 499
292, 293, 298, 300, 301, 303, 304, 309, 315, 316, 318, 331, 333, 338, 386–389, 391, 394, 401, 406, 410, 415, 423, 428, 429, 436, 438, 444 Zeitlichkeit 54, 56–58, 75, 94, 104, 140, 314 Zwei-Reiche-Lehre 182, 195, 331, 336 Zwei-Räume-Denken 70, 230, 314, 318, 411