Die Unübersichtlichkeit der Demokratie: Ein Dilemma spätmoderner Politik 9783839440087

The tangle of political issues, structures, processes overcharges late-modern democracy, which depends on complexity and

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German Pages 358 Year 2017

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Inhalt
1 Einleitung
2 Die Beobachtung der Politik
2.1 Der theoretische Zugang
2.1.1 Information
2.1.2 Kommunikation
2.2 Das politische System
2.3 Die politische Öffentlichkeit
2.3.1 Der Begriff der politischen Öffentlichkeit
2.3.2 Politische Öffentlichkeit als System
2.3.3 Die politische Öffentlichkeit als Beobachter
2.3.4 Die Reflexion struktureller Grenzen
2.4 Massenmedien
2.4.1 Funktionen
2.4.2 Themen
2.4.3 Das Internet
2.5 Soziale Interaktionssysteme
2.6 Öffentliche Meinung
3 Unübersichtlichkeit
3.1 Der Begriff der Unübersichtlichkeit
3.2 Komplexität
3.2.1 Die Position des Beobachters
3.2.2 Externe Umwelt und Umgebung
3.2.3 Interne Umwelt und funktionale Differenzierung
3.2.3.1 Differenzierung und erforderliche Vielfalt
3.2.3.2 Die erforderliche Vielfalt des politischen Systems
3.2.4 Komplexität und Information
3.2.5 Thematische Komplexität
3.2.6 Konventionelle und nicht-konventionelle Themen
3.2.7 Qualitative Komplexität und Wicked Problems
3.2.8 Zeitliche Komplexität
3.2.9 Komplexität als Komplikation
3.3 Kontingenz
3.3.1 Der Begriff der Kontingenz
3.3.2 Kontingenz als Komplikation
4 Quellen der Unübersichtlichkeit
4.1 Multiple Systeme
4.2 Multiple Gegenwarten
4.2.1 Desynchronisierung des Politischen
4.2.2 Resynchronisierung durch das Politische
4.3 Multipler Wandel
4.3.1 Sozialer und kultureller Wandel
4.3.2 Globalisierung
4.3.3 Innovation und Gefährdung
4.3.4 Systemexpansion und strukturelle Opazität
4.4 Multiple Kommunikationen
4.4.1 Politische Öffentlichkeit
4.4.2 Operatives politisches System
4.4.3 Medien
4.4.4 Gatekeeping der Systeme
5 Unübersichtlichkeit und politische Öffentlichkeit
5.1 Demokratie und Beobachtung
5.1.1 Irritations- und Resonanzfähigkeit
5.1.2 Themenkreation
5.1.3 Reflexion struktureller Grenzen
5.1.4 Autonomie
5.1.5 Kontrolle
5.2 Die Unübersichtlichkeit der Demokratie
5.2.1 Erforderliche Vielfalt
5.2.2 Strukturelle Unübersichtlichkeit
5.2.2.1 Visibilisierung und Reflexion
5.2.2.2 Reflexion und Konkurrenz
5.2.2.3 Legitimation durch Verfahren
5.3 Die Kompetenz der politischen Öffentlichkeit
5.3.1 Daten, Information, Wissen
5.3.2 Verstehen und Kompetenz
5.3.3 Erwartungen und Zumutungen
5.3.3.1 Erwartungen
5.3.3.2 Zumutungen
5.3.4 Delegierung und Expertise
5.3.4.1 Delegierung und Repräsentation
5.3.4.2 Expertise
5.3.5 Asymmetrien
5.4 Der Kompetenz-Diskurs
5.4.1 Demokratieskepsis
5.4.2 Sozialwissenschaftliche Reflexion
5.5 Das demokratische Dilemma
6 Unübersichtlichkeit und politisches Individuum
6.1 Politisches Individuum und Subjekt
6.2 Der kompetente Bürger
6.2.1 Der Bürger als Beobachter
6.2.2 Beobachtung und Kompetenz
6.2.3 Kompetenz als Zumutung
6.3 Bedingungen der Beobachtung
6.3.1 Zeit
6.3.2 Aufmerksamkeit
6.3.3 Information
6.3.4 Themen
6.3.5 Wissen
6.3.6 Asymmetrien
6.3.7 Epigramme
6.4 Pragmatische Reaktionen
6.4.1 Heuristiken
6.4.2 Die Konsultation sozialer Systeme
6.4.3 Informationsökonomie
6.5 Pragmatik und Unübersichtlichkeit
6.5.1 Die Qualität pragmatischer Entscheidungen
6.5.2 Die Risiken pragmatischer Entscheidungen
6.5.3 Die Bedeutung des Wissens
6.5.4 Der Bedeutungsverlust des Wissens
6.6 Regressive Reaktionen
6.6.1 Rückzug
6.6.2 Radikale Reduktion
6.6.3 Personenorientierung und Moralisierung
6.6.4 Interpassivität
7 Perspektiven und Optionen
7.1 Die Entwicklung der Unübersichtlichkeit
7.2 Perspektiven
7.3 Optionen
7.3.1 Depolitisierung
7.3.2 Deeskalation
7.3.3 Individuelle Kompetenzsteigerung
7.3.4 Kooperative Kompetenzaneignung
7.3.4.1 Die Ambivalenz der Unübersichtlichkeit
7.3.4.2 Sozialität und Kompetenz
7.3.4.3 Die Bedeutung der Anwesenheit
7.3.4.4 Dissens und Vielfalt
7.3.5 Schluss
8 Literatur
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Die Unübersichtlichkeit der Demokratie: Ein Dilemma spätmoderner Politik
 9783839440087

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Rames Abdelhamid Die Unübersichtlichkeit der Demokratie

Edition Politik | Band 49

Rames Abdelhamid (Dr. phil.), Politikwissenschaftler, lebt und arbeitet bei Freiburg. Sein Themenschwerpunkt sind politische Theorien.

Rames Abdelhamid

Die Unübersichtlichkeit der Demokratie Ein Dilemma spätmoderner Politik

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld

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Inhalt 1 Einleitung | 9 2 Die Beobachtung der Politik | 13 2.1 Der theoretische Zugang | 13 2.1.1 Information | 14 2.1.2 Kommunikation | 20 2.2 Das politische System | 23 2.3 Die politische Öffentlichkeit | 25

2.3.1 Der Begriff der politischen Öffentlichkeit | 25 2.3.2 Politische Öffentlichkeit als System | 27 2.3.3 Die politische Öffentlichkeit als Beobachter | 31 2.3.4 Die Reflexion struktureller Grenzen | 33 2.4 Massenmedien | 36 2.4.1 Funktionen | 36 2.4.2 Themen | 39 2.4.3 Das Internet | 40 2.5 Soziale Interaktionssysteme | 41 2.6 Öffentliche Meinung | 43 3 Unübersichtlichkeit | 47

3.1 Der Begriff der Unübersichtlichkeit | 47 3.2 Komplexität | 49 3.2.1 Die Position des Beobachters | 51 3.2.2 Externe Umwelt und Umgebung | 52 3.2.3 Interne Umwelt und funktionale Differenzierung | 55 3.2.4 Komplexität und Information | 58 3.2.5 Thematische Komplexität | 60 3.2.6 Konventionelle und nicht-konventionelle Themen | 61 3.2.7 Qualitative Komplexität und Wicked Problems | 63 3.2.8 Zeitliche Komplexität | 66 3.2.9 Komplexität als Komplikation | 67 3.3 Kontingenz | 69

3.3.1 Der Begriff der Kontingenz | 69 3.3.2 Kontingenz als Komplikation | 72 4 Quellen der Unübersichtlichkeit | 77 4.1 Multiple Systeme | 77 4.2 Multiple Gegenwarten | 82

4.2.1 Desynchronisierung des Politischen | 83 4.2.2 Resynchronisierung durch das Politische | 85 4.3 Multipler Wandel | 87 4.3.1 Sozialer und kultureller Wandel | 87 4.3.2 Globalisierung | 89 4.3.3 Innovation und Gefährdung | 91 4.3.4 Systemexpansion und strukturelle Opazität | 98 4.4 Multiple Kommunikationen | 101 4.4.1 Politische Öffentlichkeit | 102 4.4.2 Operatives politisches System | 107 4.4.3 Medien | 109 4.4.4 Gatekeeping der Systeme | 112 5 Unübersichtlichkeit und politische Öffentlichkeit | 117 5.1 Demokratie und Beobachtung | 118 5.1.1 Irritations- und Resonanzfähigkeit | 121 5.1.2 Themenkreation | 124 5.1.3 Reflexion struktureller Grenzen | 125 5.1.4 Autonomie | 126 5.1.5 Kontrolle | 127 5.2 Die Unübersichtlichkeit der Demokratie | 130 5.2.1 Erforderliche Vielfalt | 130 5.2.2 Strukturelle Unübersichtlichkeit | 132 5.3 Die Kompetenz der politischen Öffentlichkeit | 138 5.3.1 Daten, Information, Wissen | 139 5.3.2 Verstehen und Kompetenz | 142 5.3.3 Erwartungen und Zumutungen | 145 5.3.4 Delegierung und Expertise | 157 5.3.5 Asymmetrien | 169 5.4 Der Kompetenz-Diskurs | 174 5.4.1 Demokratieskepsis | 174 5.4.2 Sozialwissenschaftliche Reflexion | 180 5.5 Das demokratische Dilemma | 188 6 Unübersichtlichkeit und politisches Individuum | 193 6.1 Politisches Individuum und Subjekt | 193

6.2 Der kompetente Bürger | 200 6.2.1 Der Bürger als Beobachter | 201 6.2.2 Beobachtung und Kompetenz | 203 6.2.3 Kompetenz als Zumutung | 206 6.3 Bedingungen der Beobachtung | 207 6.3.1 Zeit | 208 6.3.2 Aufmerksamkeit | 209 6.3.3 Information | 213 6.3.4 Themen | 216 6.3.5 Wissen | 218 6.3.6 Asymmetrien | 220 6.3.7 Epigramme | 223 6.4 Pragmatische Reaktionen | 225 6.4.1 Heuristiken | 226 6.4.2 Die Konsultation sozialer Systeme | 234 6.4.3 Informationsökonomie | 239 6.5 Pragmatik und Unübersichtlichkeit | 241 6.5.1 Die Qualität pragmatischer Entscheidungen | 242 6.5.2 Die Risiken pragmatischer Entscheidungen | 244 6.5.3 Die Bedeutung des Wissens | 250 6.5.4 Der Bedeutungsverlust des Wissens | 257 6.6 Regressive Reaktionen | 261 6.6.1 Rückzug | 262 6.6.2 Radikale Reduktion | 263 6.6.3 Personenorientierung und Moralisierung | 265 6.6.4 Interpassivität | 269 7 Perspektiven und Optionen | 271

7.1 Die Entwicklung der Unübersichtlichkeit | 271 7.2 Perspektiven | 280 7.3 Optionen | 286 7.3.1 Depolitisierung | 286 7.3.2 Deeskalation | 289 7.3.3 Individuelle Kompetenzsteigerung | 292 7.3.4 Kooperative Kompetenzaneignung | 293 7.3.5 Schluss | 303 8 Literatur | 307

1

Einleitung

Das Projekt der modernen Demokratie wird immer wieder auf eine grundsätzliche Problematik hin befragt, die von Lupia und McCubbins so beschrieben wurde: „It is widely believed that there is a mismatch between the requirements of democracy and most people‘s ability to meet these requirements. If this mismatch is too prevalent, then effective self-governance is impossible. The democratic dilemma is that the people who are called upon to make reasoned choices may not be capable of doing so“ (Lupia, McCubbins 1998:1).

Dieses demokratische Dilemma wird in der Literatur auf fehlendes politisches Wissen, ungenügende Informationsverarbeitungskapazitäten, kognitive Überforderung oder auf schlichtes Desinteresse der Bürger zurückgeführt. Es kann aber noch ein weiterer Grund angegeben werden: Die politische Öffentlichkeit wird heute mit komplizierten technisch-wissenschaftlich grundierten Themen konfrontiert, mit neuen Macht- und Kontrolltechnologien, mit komplexen politischen Strukturen und Prozessen in globalen Kontexten, multiplen ökologischen und ökonomischen Gefährdungen, beschleunigtem gesellschaftlichem Wandel und Innovationsprozessen mit massiven gesellschaftlichen und kulturellen Auswirkungen. Politik stellt sich dabei in einer Atmosphäre dichter und schneller medialer Kommunikation vielfältiger, disparater Interessenlagen, Perspektiven und Deutungen dar. In diesem dynamischen und unruhigen politischen Diskursgeschehen wird ein Phänomen erkennbar, das mit der zunehmenden Komplexität politischer Themen und der gleichzeitig hohen Kontingenz ihrer Bearbeitung entsteht und das demokratische Dilemma verstärkt: Unübersichtlichkeit. Nicht-konventionelle Themen. Unübersichtlichkeit verkompliziert die Beobachtung politischer und gesellschaftlicher Prozesse durch die politische Öffentlichkeit. Deutlich wird das insbesondere bei Themen, die inhaltlich und sprachlich jenseits des Schemas klassischer Politik angesiedelt sind und hier als nicht-konventionelle politische Themen bezeichnet werden. Sie führen hohe Informationslasten mit sich, sind auf vielfältige Weise mit anderen Themen verwoben und erfordern komplizierte politische Entscheidungen, deren Folgen, Spätfolgen und Seiteneffekte oft kaum absehbar sind. Bioforschung, Energieversorgung, Informa-

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DER

D EMOKRATIE

tionstechnologien, die Kontrolle einer transnationalen Finanzökonomie: Der politische Kommunikationsraum expandiert in thematische Zonen, die ursprünglich „nicht auf der Dimension des politischen Raums liegen“ (Gabriel). Seine Ausdehnung führt zu einer Selbstbelastung des politischen Systems, dessen politische Öffentlichkeit mit detailgesättigter Komplexität, multiplen und kontingent verlaufenden Diskursen, mit zunehmender Unübersichtlichkeit, konfrontiert wird. Unübersichtlichkeit und Demokratie. Demokratie ist an sich strukturell unübersichtlich: Die Offenheit ihrer Diskurse, ihre Fähigkeit, jedes gesellschaftliche Geschehen zum Gegenstand politischer Reflexion und Kommunikation werden zu lassen, das Konkurrenzprinzip, das die Dinge immer auch als anders darstellbar oder verstehbar zeigt, aber auch ihre Strukturen und operativen Prozesse erzeugen Kontingenz und Komplexität, die Elemente der Unübersichtlichkeit. Demokratie ist kognitiv voraussetzungsreich und mit hohen Kompetenz- und Wissenserwartungen an die politische Öffentlichkeit verbunden. Mit der thematischen Ausdehnung des Politischen werden aus diesen Erwartungen jedoch Zumutungen: Quantitative Zumutungen entstehen mit der Expansion der thematischen Bezüge, durch die „Demokratiepflichtigkeit“ (Grunwald) immer zahlreicherer Innovationen und die schnell getaktete politische Informationsproduktion. Qualitative Zumutungen entstehen aus der Provenienz und Wissenshaltigkeit neuer thematischer Räume, ihren spezifischen Sprachen und Rationalitäten. Die Delegierung der Detailfragen an das politische System verlagert das Problem, löst es aber nicht. Auch die Expertenberatung sollte die politische Öffentlichkeit von solchen Zumutungen entlasten, erzeugt aber oft widersprüchliche Deutungen, kontingente Interventionsvorschläge und damit ihrerseits neue Unübersichtlichkeit. Mit der Überforderung des Demos kann auch keine politisch dominantere Rolle gesellschaftlicher Eliten begründet werden. Es mag zwar möglich sein, durch elaboriertes Wissen und umfassende Informationsakquise einzelne Areale nicht-konventioneller Themen zu übersehen, kognitiv weitgehend zu erfassen und intellektuell zu durchdringen – das belegen etwa die zahlreichen Bürgerinitiativen. Es wird aber immer aussichtsloser, das gesamte Panorama relevanter Themen in einer Auflösung im Blick zu halten, die es ermöglicht, zu sicheren und rationalen politischen Urteilen zu gelangen. Insofern demokratisiert die Unübersichtlichkeit: Auch die Eliten sind ihr ausgesetzt. Pragmatik und Regression. Mit Heuristiken und anderen pragmatischen Techniken können die Beobachter der Politik trotz begrenzten Wissens und großer Unübersichtlichkeit des Ganzen zu politischen Urteilen gelangen und Entscheidungen treffen. Sie kompensieren so hohe Informationslast, knappe verfügbare Zeit, begrenzte Aufmerksamkeit, die Zumutungen alltagsferner Problemstellungen, die simultane Vielfalt der rasch wechselnden Themen usw. Allerdings sind diese Taktiken wenig nachhaltig und den komplizierten nicht-konventionellen Themen und den möglicherweise folgenreichen politischen Entscheidungen kaum angemessen.

1 E INLEITUNG

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Die Überforderung durch die Unübersichtlichkeit des Politischen könnte (aus normativer Sicht) regressive Tendenzen erklären: etwa die Bevorzugung unterkomplexer Lösungsangebote, die Neigung zu einem autoritären Dezisionismus oder dem interpassiven Konsum medial inszenierter Politik. Die Haltung des „Dahingestelltseinlassens“ (Luhmann) kann als Ermüdung von Teilen einer perplexen politischen Öffentlichkeit gedeutet werden, die sich aus substanziellen politischen Diskursen zurückzieht bzw. aus diesen exkludiert wird, weil sie an der Komplexität der Inhalte scheitert und das Tempo ihrer Verläufe nicht mithalten kann. Risiken. Spätmoderne Demokratien können, wegen der Unübersichtlichkeit des Politischen, möglicherweise keine aufgeklärte, politisch kompetente Öffentlichkeit mehr voraussetzen und erfüllen damit eine ihrer essenziellen Voraussetzung nicht mehr. Eine politische Öffentlichkeit, für die die Politik kaum mehr lesbar, schwer zu überblicken und zu beurteilen ist, kann ihre demokratische Kontrollfunktion nicht mehr ausüben. Sie kann instrumentalisiert werden oder selbst problematische Signale und Handlungsaufforderungen an die Politik richten. Unübersichtlichkeit erzeugt somit Gefahren für, aber auch durch die Demokratie. Dabei ist nicht zu erwarten, dass die Unübersichtlichkeit des Politischen abnimmt. Technisch-wissenschaftliche Innovationen, das tiefe Eindringen der Kommunikations- und Informationstechnologien in das Soziale und Kulturelle, der Eigensinn sich globalisierender Funktionssysteme wie der Wirtschaft, das Auseinanderdriften systemischer Zeithorizonte, die Transformationen der Arbeitswelten und neue globale Krisen werden die Zahl komplexer Sachlagen, so wie die ihrer kontingenten politischen Interpretationen, eher zunehmen lassen. Welche Optionen hat ein demokratisches System bei diesen Perspektiven? Optionen. Strategien zur Reduzierung politischer Komplexität, der Entschleunigung oder der gezielten Entpolitisierung komplexer Themen sind entweder kaum praktikabel oder mit demokratischen Prinzipien nicht zu vereinbaren. Sie werden das Dilemma auch deshalb nicht auflösen, weil Komplexität und Kontingenz ambivalente Kategorien sind. Sie sind nicht nur als Komplikation zu sehen, sondern auch als Bestandsvoraussetzung demokratischer Wissensgesellschaften in der globalisierten Spätmoderne. Eine Möglichkeit, dieses Dilemma aufzulösen, könnte – und das belegt die Tragkraft ihres Konzepts – in einer sehr ursprünglichen demokratischen Praxis liegen. Ein kompetentes und aufgeschlossenes Umgehen mit der zunehmenden Unübersichtlichkeit ist weniger durch Kompetenzsteigerung des Individuums als durch eine Intensivierung sozialer Aspekte politischen Kommunizierens vorstellbar, durch die Revitalisierung politischer Interaktionssysteme und eine kooperative Kompetenzaneignung der Bürger. Dieses Buch will das Phänomen der Unübersichtlichkeit mit den Mitteln der politischen Theorie kenntlich und plausibel machen und eine breit angelegte (und

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DER

D EMOKRATIE

damit eher niedrig aufgelöste) Beschreibung ihrer Ursachen und der durch sie erzeugten Probleme liefern. Den verwendeten Begriffen und Kategorien soll zudem ein konsistenter theoretischer Unterbau gegeben werden. Unübersichtlichkeit wird als ein Aspekt des demokratischen Dilemmas unter anderen gesehen, der sich nicht auf defiziente Informationsverarbeitung oder fehlendes Wissen und Verstehen zurückführen oder mit Desinteresse erklären lässt. Es sind die enorme Komplexität der thematischen Räume und die Kontingenz der simultanen Bearbeitungsprozesse, die Beobachtung und Verstehen der Politik sowie das Treffen politischer Entscheidungen schwieriger werden lassen und so zum demokratischen Dilemma beitragen. Es handelt sich hier deshalb auch nicht um eine Kritik der Forschung über das demokratische Dilemma, sondern um den Versuch, einen weiteren seiner Gesichtspunkte kenntlich zu machen. Aufbau. Nachdem im nächsten Kapitel ein kompakt gehaltener theoretischer Rahmen für die grundlegenden Kategorien und Begriffe aufgebaut wird, klärt Kapitel 3 den – von Habermas übernommenen – zentralen Begriff dieses Buchs, indem es ihn auf Komplexität und Kontingenz zurückführt. Kapitel 4 versucht anschließend verschiedene Quellen der Unübersichtlichkeit zu lokalisieren. Kapitel 5 geht der Frage nach, welche Bedeutung Unübersichtlichkeit für die politische Öffentlichkeit der Demokratie hat. Davon ausgehend, dass die Demokratie selbst eine grundsätzlich unübersichtliche politische Form ist, wird gezeigt, welche Auswirkungen Komplexität und Kontingenz gerade im Kontext nicht-konventioneller Themen haben. In Kapitel 6 wird die Wirkung der Unübersichtlichkeit auf das politische Subjekt untersucht. Es wird die Diskrepanz zwischen normativ unterlegten Erwartungen an den kompetenten Bürger und den Bedingungen, unter denen er das politische Geschehen beobachten muss, beschrieben. Es wird gezeigt, dass er diese Bedingungen mit pragmatischen Taktiken nur bis zu einem gewissen Grad und nicht nachhaltig kompensieren kann und deswegen auch regressive Reaktionen erklärbar werden. Kapitel 7 fragt, welche Optionen demokratische Systeme bei der zunehmenden Unübersichtlichkeit des Politischen haben. Es werden Deeskalations- und Entpolitisierungsstrategien diskutiert und ein Vorschlag skizziert, der die Demokratie in Zeiten zunehmender Unübersichtlichkeit möglicherweise sogar noch stärken könnte. Dieser Text basiert auf meiner 2016 an der Universität Stuttgart angenommenen Dissertation. Mein besonderer Dank für enorme Geduld und freundliche Unterstützung gilt meinem Doktorvater Professor Oscar W. Gabriel und dem Zweitgutachter Professor Hans-Peter Burth.

2

Die Beobachtung der Politik

Unübersichtlichkeit entsteht in der Beobachtung des politischen Systems durch die politische Öffentlichkeit, der Verarbeitung einer überwiegend durch die Medien vermittelten Vielfalt komplizierter Themen. Sie ist damit ein Phänomen der politischen Informationsverarbeitung und Kommunikation. In diesem Kapitel wird ein theoretischer Rahmen vorgestellt, in dem sich diese zentralen Kategorien und Begriffe darstellen lassen.

2.1 D ER

THEORETISCHE

Z UGANG

Die Rekonstruktion des politischen Systems als informationsverarbeitendes System hat eine längere Tradition. So kann David Eastons in den 1960er-Jahren entwickeltes Politikmodell als Darstellung von Informationsflüssen interpretiert werden. Sein zentrales Konzept der Feedbacks (1965a:24 f.) verweist auf die Aufnahme, Verarbeitung und Rückübermittlung von Informationen aus der bzw. in die Umwelt des politischen Systems. Was er als „Exchanges or flow of effects“ (1965a:75) bezeichnete, sind die Zirkulationen von Informationen in Kommunikationsprozessen: „[W]e may visualize a political system as a gigantic communications network“ (Easton 1965b:72; vgl. Gabriel 1978:255). Ähnliche Konzepte finden sich in den Arbeiten von Almond et al.1, Deutsch und Parsons. 1

„Political communication refers to the flow of information through the society and through the various structures that make up the political system“ (Almond et al. 2004:39; vgl. Almond, Powell 1966:25, 29, 165 f.). Deutsch entwickelte, ebenfalls in den 1960erJahren, ein Politikmodell, in dem Kommunikation und Information die wesentlichen Kategorien bilden (Deutsch 1966:255 ff., 340 f., vgl. Gessenharter 1971:259 ff.; Narr 1969:108). Parsons’ Theorie sozialer Systeme thematisierte (obgleich als Handlungstheorie verfasst) ebenfalls Kommunikationsprozesse: so im Begriff der Steuerungshierarchie (1966:20) und der Kontrollbeziehungen (1961:171). Sie werden in seinen Konzepten der Austauschbeziehungen gesellschaftlicher Teilsysteme (1958:97) und der Interaktionsmedien (vgl. Münch 1982:102) sichtbar, die auch für die Rekonstruktion politischer Systeme nutzbar sind.

14 | D IE U NÜBERSICHTLICHKEIT

DER

D EMOKRATIE

In Niklas Luhmanns Systemtheorie bestehen soziale Systeme ausschließlich aus Kommunikationen (vgl. 1987:101, 38; 1984:192 f.; 1986:24, 269; 1990:173; Baraldi et al. 1997:91; Fuhse 2005:69; Nassehi 2008:10 f.; Schmid 1987:28). Und politische Systeme sind, wie andere gesellschaftliche Teilsysteme auch, „funktional spezifizierte Kommunikationssysteme“, die im Prozess der Kommunikation allein Informationen verarbeiten (Luhmann 1991:18; 1970:140; 1987:105). 2.1.1

Information

Easton folgte in den 1960er-Jahren einem damals etablierten Kommunikationsmodell, das von einer Übertragung von Informationen durch einen aktiven Sender an einen passiven Empfänger ausging (vgl. S.J. Schmidt 1994:51; Watzlawick et al. 1967:29 ff.; Klaus, Liebscher 1967:278 ff., 312). Luhmanns Übernahme des konstruktivistischen Paradigmas in die Theorie sozialer Systeme veränderte dieses Verständnis von Information und Kommunikation zu Beginn der 1980er-Jahre fundamental (S.J. Schmidt 1987:73; Luhmann 1990:173, 1997:104 f.; Willke 1987:253).2 Eigenleistung. Eine Nachrichtenübertragung, wie sie in Input-/Output- Modellen konzeptualisiert wird, ist in dieser theoretischen Umgebung nicht mehr vorstellbar. In ihr ist Information eine aktive, konstruktive Leistung eines Systems (Luhmann 1984:195 ff., 203f.; 1990:173, 104; 1997:67; vgl. Maturana 1991:185; Baecker 2005:63,75 f.; S.J. Schmidt 1987:31; 1992:155; Jensen 1999:325; Breidbach 2008:76 ff., 119). Es gibt demnach „keine Ebene, die als organisationsfreie Wahrnehmung bezeichnet werden könnte, keine Trennung von Wahr2

Der Konstruktivismus basiert auf der neurobiologischen Erkenntnis, dass Wahrnehmung nicht eine vorgängige Realität abbildet, sondern aktive Leistung kognitiver Systeme ist, die selbst keinen direkten Umweltzugang haben (vgl. Maturana 1991:18 ff.; Foerster 1984:138 1992:57 f.; Glasersfeld 1991:28; Roth 1984:232; S.J. Schmidt 1987:14 f.). Sie wurden von Maturana als informationell geschlossene Systeme beschrieben, die Umweltsignale über unspezifische Sinnesreize aufnehmen und erst intern zu differenzierten Wirklichkeitskonstruktionen synthetisieren (Maturana 1978:105; Roth 2003:81 ff.; Hoffmann 1998:199; vgl. O’Shea 2005:16, 83; Paslack 1991:154 ff.; Singer 2002:62, 111). Sie sind „keine informationsverarbeitenden Maschinen, sondern Vehikel der Welterzeugung‘“ (Engel, König 1998:186 f.). Kognitive Systeme wurden von Maturana zudem als autopoietisch bezeichnet. Der Begriff bezeichnet die Eigenschaft geschlossener Systeme, neue Elemente aus bereits vorhandenen zu generieren, er beschreibt die „Produktion des Systems durch sich selber“ (Luhmann 2000:97; Maturana 1978:95; Burth 1999:146 ff., 161 ff.; Jensen 1999:408 f.). Luhmann hat dieses Konzept von allgemein kognitiven auf soziale Systeme übertragen (vgl. 1984:15 ff., 60 ff.; 1990:38 ff.). Soziale Systeme, also Kommunikationssysteme, realisieren ihre Autopoiesis durch „die laufende Reproduktion von Kommunikation durch Kommunikation“ (Luhmann 1990:173).

2 D IE B EOBACHTUNG

DER

P OLITIK

| 15

nehmung und Interpretation. Der Akt des Wahrnehmens ist der Akt der Interpretation“ (Richards, Glasersfeld 1984:214; vgl. auch Schopenhauer 1820:126; Nietzsche 1885:315, 7 [60]; vgl. 1882:422, 474; 1881:110 ff.; Rorty 1989:21; Gadamer 1960:392; kritisch Ferraris 2012; M. Gabriel 2014; Searle 1995:196, 164 ff.). Aus dieser Perspektive enthält die Umwelt keine Informationen, sondern Daten (Luhmann 1991:16; 1986:45). Erst mit der Verarbeitung dieser, zunächst bedeutungsfreien, Daten nach internen Maßstäben, Zwecken und Kompetenzen entstehen intern bedeutungstragende Informationen. Information ist die „Eigenleistung eines Systems“ (Luhmann 1991:16; vgl. Richards, Glasersfeld 1984:222; Baraldi et al. 1997:76, 100; Bateson 1979:42, 236; Willke 2002:16 f.; vgl. auch Uexküll 1933:31). Die Systeme der Umwelt speisen auch keine Information in das fokale System ein, sie bewirken allenfalls die Wahrnehmung von Störungen oder Irritationen, die dann selbstreferenziell zu Informationen aufbereitet werden.3 Diese Informationen repräsentieren für das System Umwelt. Wenn Information im System erzeugt wird, ist das politische System demzufolge auch kein informationsverarbeitendes System, sondern ein Daten verarbeitendes und Informationen produzierendes System. Unterscheidungen. Daten sind idiosynkratische Unterscheidungen. Das Schema, nach dem sie wahrgenommen und zu Informationen verarbeitet werden, spezifiziert das System und seinen funktionalen Fokus (Willke 1987:268; Nassehi 2003a:64). Auf der Ebene der Gesellschaft korrespondieren diese Differenzschemata mit funktionaler Differenzierung (Luhmann 1997:745). Jedes Funktionssystem, Politik, Wirtschaft usw., interpretiert Irritationen aus seiner Umwelt selektiv nach eigenen Maßstäben (vgl. Luhmann 1986:86 f.; vgl. Fuchs 1992:75). „Was politisch ist, kann nur das politische System selbst bestimmen“ (Luhmann 2000:119; 1987:136; Nassehi 2011:173).4 3

Auch Irritationen sind Eigenleistungen und nicht ein Ergebnis eines Transfers aus der Umwelt, „es handelt sich immer um ein systemeigenes Konstrukt, immer um Selbstirritation – freilich aus Anlass von Umwelteinwirkungen“ (Luhmann 1997:118, 790). Die Begriffe Irritation und Störung sind nicht negativ konnotiert. Sie verweisen auf die potenzielle Bedeutung von Daten für ein System.

4

Deswegen bleibt beispielsweise die Wirkung der Politik auf die Wirtschaft begrenzt. Sie kann „gezielte Resonanzen“ (Bendel 1993:269), etwa durch die Steuergesetzgebung, auslösen, die dann gemäß dem Differenzschema der Ökonomie prozessiert werden (vgl. Luhmann 1986:104, 120, 178, 221). Ansprüche, Zwecke, die nicht in deren Code abgebildet werden können (etwa ökologische Gefährdungen), müssen durch geeignete Irritationen in den spezifischen Code übersetzbar sein, um intern bearbeitet werden zu können (Luhmann 1986:175; vgl. detaillierter Bendel 1993:267 f.; vgl. auch Fuchs 1993:199). Gesetzliche Auflagen können in diesem Sinn unterschiedliche Codes in-

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Beobachtung. Die Operation des Erzeugens von Informationen im Kontext eines Differenzschemas wird als Beobachtung bezeichnet (Luhmann 1986:49; 1995b:58; S.J. Schmidt 1987:18; Willke 1987:249; vgl. Heidenescher 1999:67, 82). Beobachten läuft auf Bezeichnung und Benennung hinaus und enthält damit das soziale Moment sprachlicher Kommunikation.5 Eine Beobachtung kann sich selbst, bzw. die Einheit von Beobachter und Beobachtetem, nur begrenzt erkennen, thematisieren oder reflektieren.6 Erst eine Beobachtung zweiter Ordnung – die Beobachtung eines anderen Beobachters – eröffnet eine Perspektive, die diesen „blinden Fleck“ der Beobachtung erster Ordnung einschließen kann. 7 Ein Beispiel hierfür ist einander übersetzen. Wirtschaftspolitik zeigt sich demnach in Form kommunizierter Irritationen und reaktiver Resonanzen und nicht als Einwirkung oder Heteronomie (vgl. Luhmann 1987:39; kritisch Greven 2001b:203). Der Begriff des Differenzschemas wird hier ohne normative Konnotation verwendet, wie das etwa in Konzepten der Selbststeuerung des Marktes oder politischen Deregulierungsprojekten möglich ist. 5

Ashby hat den Unterschied als wichtigsten Begriff der Kybernetik bezeichnet (1956:25; vgl. auch Bateson 1979:87, 123). Die Unterscheidung ist ein aktiver Vorgang, bei dem ein „System für sich selbst Unterscheidungen trifft und damit Differenzen benennt“ (Willke 1987:249). Luhmann definierte Beobachten als „Bezeichnung im Kontext einer Unterscheidung“ (Luhmann 1997:122; 1997:757, 898; 1995b:21; vgl. Fuchs 1992:55, 244). Der Aspekt der Benennung oder Bezeichnung ist von Bedeutung: Er verweist auf sprachliche Repräsentation und damit auf einen sozialen, kommunikativen Hintergrund. Obwohl sie ein ursprünglich biologisches Konzept in Anspruch nimmt, ist diese Theorie variante also trotzdem Sozialtheorie. Sie sieht den Beobachter nicht als Monade, sondern als sozial geprägte Instanz: „Die Gesellschaft macht den Beobachter“ (Jensen 1999:70,154).

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Vgl. Maturana 1978:95; 1991:169, 188; Schönwälder et al. 2004:105; Krieg 1991:132; Luhmann 1986:52 ff.; Jensen 1999:259; Nassehi 2003a:36; Bateson 1979:43, 49; Esposito 2005:296; vgl. auch Gehlen 1940:309; Nietzsche 1882:626; 1881:110 f.; Laing 1976:24 ff.

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„Beobachter zweiter Ordnung sind diejenigen, welche die Operationen der Beobachter erster Ordnung rekonstruieren und dabei sehen, was jene nicht sehen konnten, nämlich die Perspektive, unter der erscheint, was beobachtet wurde“ (Jensen 1999:284 f., 259 f.; vgl. Paslack 1991:75; Maturana 1978:95,114; Foerster 1979:6 f.; Luhmann 1992a:80; 1986:52 f., 230 f.; 1995a:169; 1992b:100 f.; Reese-Schäfer 1992:72 f.; Richards, Glasersfeld 1984:208; S.J Schmidt 2008:23, 31; Hoffmann 1998:208, 214; Fuchs 1992:241 ff.). Beobachtungen sind auf immer höheren Ebenen denkbar (dritter, vierter Ordnung usw.), führen aber zu keiner finalen Stufe. Einen „letzten“ Beobachter, der vorgelagerte Aussagen abschließend beglaubigen könnte, gibt es nicht. Stattdessen validieren und reflektieren Beobachter wechselseitig in Operationen der Beobachtung zweiter Ordnung ihre Erkenntnis (vgl. Jensen 1999:164: zur philosophischen Dimension siehe Rorty 1989:95 f.). Arendt verwendet den Begriff des Zuschauers: „Der Vorteil, den

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die Interpretation öffentlicher Meinung durch das politische System. Es beobachtet darin die Kritik einer politischen Öffentlichkeit, die ihrerseits das politische System beobachtet (vgl. Luhmann 2000:287). Feedbacks. Dass Kommunikation funktioniert und nicht durch die Verkapselung der in ihren Differenzschemata befangenen Systeme blockiert wird, gewährleisten letztlich Mechanismen der Rückkopplung.8 Dabei handelt es sich um die Fähigkeit eines Systems, die Wirkung seiner Operationen, seines kommunikativen Outputs, als neuen, orientierenden Input zu verarbeiten, um weitere Operationen anpassen, intensivieren oder optimieren zu können. Der zirkuläre Informationsfluss bildet in Eastons Modell den Operationsmodus des politischen Systems: „The whole network, from initial output back to the authorities again, may be called a feedback loop“ (1965a:129; 1965b:367). Rückkopplungen geben Auskunft über Forderungen und informieren über Kritik oder Unterstützung für die eigenen Aktionen (vgl. Easton 1965b:371 f.; Deutsch 1966:256 ff.; Czerwick 2011:157). Sie sind Voraussetzung für die Lern- und Innovationsfähigkeit eines Systems (Deutsch 1966:145 ff.). In der konstruktivistisch orientierten Systemtheorie erscheint die Rückkopplungssemantik nicht mehr. Das Strukturprinzip findet sich aber auch dort, im der Zuschauer hat, ist, dass er das Spiel als ein Ganzes sieht, während jeder Akteur nur seine Rolle kennt oder, wenn er aus der Perspektive des Handelns urteilen soll, nur den Teil des Ganzen, der ihn betrifft“ (Arendt 1982:92, vgl. 75). Der Figur des Beobachters wird keine derart privilegierte Position zugestanden: Er bleibt in seinem System kontext befangen, er sieht möglicherweise anderes, aber nie alles. 8

Rückkopplung oder Feedback ist ein aus der Kybernetik stammender Begriff, der sich ursprünglich auf Konzepte der Regelung und Stabilität bezieht (vgl. Klaus, Liebscher 1967:651 ff.; Ashby 1956:114). Er wird in der allgemeinen Systemtheorie (Bertalanffy 1950:159 f.; Hall, Fagen 1956:23) und in der frühen Theorie sozialer Systeme benutzt (vgl. z.B. Deutsch 1966:142; Luhmann 1968a:158 ff.). Easton hat „information feedback“ als „[t]he dominant and most fertile intellectual innovation of our [...] age “ bezeichnet (Easton 1965b:367; ähnlich Deutsch 1966 und Almond, Powell 1966). Bereits Durkheim hat, freilich mit anderer Terminologie, Feedback-Prozesse zwischen Staat und Gesellschaft beschrieben, die Eastons Modell recht nahekamen (1896:115, 119, 124, 137). Kybernetische Konzepte waren vor Deutsch und Easton bereits von Autoren aus dem mathematischen, technischen und naturwissenschaftlichen Bereich auf soziale Strukturen übertragen worden (vgl. Laszlo 1979; Schmidt 1941). Norbert Wiener etwa hat soziale Systeme als „System[e] der Nachrichtenübertragung“ verstanden (Wiener 1948:46; vgl. 1952:14). Auch Bertalanffy hatte eine sozialwissenschaftliche Anwendung der Systemtheorie vor Augen (Bertalanffy 1950:164). Ungeachtet der Stärke ihres interdisziplinären Ansatzes wirken diese Beiträge heute wenig ausgearbeitet und ohne Bezug zur sozial wissenschaftlichen Theorieentwicklung (vgl. Beyme 2007:205; Jensen 1999:451 f.).

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Wechselspiel von Irritation und Resonanz, wieder. „Das System kann diese Anregung registrieren und, wenn es über entsprechende Informationsverarbeitungsfähigkeiten verfügt, daraus auf eine Umwelt zurückschließen. Entsprechend registriert das System auch Auswirkungen seines eigenen Verhaltens auf seine Umwelt, wenn immer daraus im Rahmen seiner möglichen Wahrnehmungen wieder eine Anregung in Gang gesetzt wird“ (Luhmann 1986:51; 1987:114; 1995b:71; vgl. auch Hoffmann 1998:208; Maturana 1978:109).9 Ihre Feedback-Fähigkeit verhindert solipsistische Tendenzen sozialer Systeme. Die Egozentrik gesellschaftlicher Funktionssysteme würde ohne sie zum Problem – für sie selbst und für ihre gesellschaftlichen Umwelten (vgl. Hondrich 1987:302; Münch 1995:31; Willke 1987:264 ff.; Jensen 1999:260; Esposito 2005:296). Feedbacks tragen zur Reduktion der Folgekosten funktionaler Differenzierung bei. Durch sie lernen soziale Systeme, „geeignete Umwelt[en]“ für andere Systeme zu sein (Willke 1987:267, 262; vgl. 1999:101; Bendel 1993:268 f.; Luhmann 1975b:82; Nassehi 1999a:110 f.; 2009:321; Fuchs 1992:112). Feedbacks basieren

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Feedbacks sind keine Gesamtreaktionen eines monolithischen Systems (vgl. auch Luhmann 1986:47) oder seriell geordnetes Abarbeiten von Demands (vgl. auch Weick 1979:209). Es sind vielmehr, asynchron und massiv parallel, zwischen einer Vielzahl komplex verwobener, sich gegenseitig beobachtender Systeme, Teilsysteme und Strukturen verlaufende Kommunikationen: „in large scale systems, we can expect to find unlimited numbers and varieties of feedback loops“ (Easton 1965b:373). Diese Kommunikationen durchlaufen Strukturen innerhalb und außerhalb des politischen Systems (Ausschüsse, Verbände, soziale Bewegungen usw.), verzweigen sich, gewinnen an Komplexität, entwickeln abweichende Routen, verschränken sich mit anderen Kommunikationen oder gehen darin auf. Sie können sich verändern, durch neue Inhalte angereichert werden oder auch versiegen. Auch die in Eastons Modell postulierte zeitliche Strukturierung ist nicht eindeutig. So sind auch Feedforwards (vgl. z.B. Lee 1997:23) auszumachen, etwa in den Operationen von „Spindoctors“ (vgl. Mertes 2003:67; Chadwick 2006:202), die Konsenschancen vor Entscheidungen mit erwartbarem Feedback austesten (Luhmann 2000:254; 1987:148; vgl. Mertes 2003:64). Feedbacks sind Operationen, die das Beobachtetwerden zudem prospektiv in die Informationsverarbeitung einschließen. Soziale Systeme orientieren sich an der Antizipation möglicher Beurteilungen und künftiger Rückkopplungen (vgl. Baecker 1996:94; Luhmann 1997:141; 2000:290; Fuchs 1992:106; vgl. S. 123). Feedbacks informieren zudem nicht allein über die Reaktion anderer Systeme in der Umwelt etwa des politischen Systems. Irritationen werden auch permanent intern erzeugt und verarbeitet. Easton bezeichnete sie im politischen System als „withinputs“ (Easton 1965b:55; 1965a:114; vgl. Czerwick 2011:90).

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auf Beobachtungen (auch zweiter Ordnung) und bezeichnen das konstruktive Weiterverarbeiten dieser Beobachtungen im Sinne der eigenen Funktionslogik. 10 Kopplungen. Autopoietische Systeme sind informationell geschlossene, strukturdeterminierte Systeme. Gleichwohl agieren sie nicht isoliert. Systeme beobachten einander, nehmen einander wahr und wirken aufeinander ein – sie kommunizieren. In „konsensuellen Zonen“ etablieren sie gemeinsame Wirklichkeitskonstruktionen, die in einem permanenten Prozess überprüft, erweitert, angepasst oder revidiert werden (Maturana 1978:109, 117; Burth 1999:156; Roth 1984:253). Auch politische Systeme verarbeiten Informationen ausschließlich nach Maßgabe ihres Differenzschemas und sind darin relativ autonom, aber eben nicht isoliert: Sie existieren in einer kommunikativen Umwelt. Sie bestehen aus Kommunikationen und bestehen in Kommunikationen.11

10 Dennoch können Systeme nicht „aus sich selbst heraustreten“ (Nassehi 2003a:66 f.; abweichend von Luhmann 2000:328). Nassehi thematisiert damit die Unmöglichkeit, das Differenzschema in der Reflexion zu verlassen: Wenn die Politik über Politik räsoniert, ist das – wie auch immer die Folgen sein mögen – immer Politik (vgl. Nassehi 2003a:169). Reflexion ist nur mithilfe anderer Systeme, also durch die Nutzung von Beobachtungen zweiter Ordnung, möglich: „Denn schließlich sind wir auf Beobachtungen von Beobachtungen angewiesen, wenn wir über die Welt überhaupt etwas herausfinden wollen. Wenn wir einfach nur irgendwohin schauen, sehen wir gar nichts, wie man in jedem Museum, in jedem Theater, an der Börse, in einer Kirche, bei einer Psychotherapie oder auch in einem Klassenzimmer ausprobieren kann. Man muss sich in die Beobachtungen der Kunstbetrachter, Zuschauer, Spekulanten, Gläubigen, Therapeuten oder Lehrer einklinken, um überhaupt etwas zu sehen, und hat dann immer noch die Wahl, sich lieber an die Künstler, die Schauspieler, die Teepflücker, die Priester, die Kranken oder an die Schüler zu halten, um herauszufinden, was in den jeweiligen Situationen passiert“ (Baecker 2008:136; vgl. Blumenberg 2006:879 ff.). 11 Sie interagieren über strukturelle Kopplungen, die gesellschaftliche Teilsysteme wie das politische System in die Lage versetzen, andere Systeme zu irritieren bzw. auf andere Systeme resonant zu reagieren (vgl. Luhmann 1990:103). Der von Luhmann adaptierte Begriff geht auf Maturana zurück (Maturana 1978:102; vgl. Paslack 1991:157 f., 161; Luhmann 1995b:17; zur kritischen Auseinandersetzung mit Luhmanns „Modelltransfer“ aus der Biologie vgl. Görlitz, Adam 2003:281 ff.; Burth 1999:133, 166 ff.). Diese institutionalisierten Kopplungen irritieren, aber sie determinieren nicht; das Differenzschema „operativ geschlossener“ Systeme bleibt dominant (vgl. Luhmann 1987:105 f.; 1995b:33, 71; 2000:311, 372 ff.; Fuchs 1992:184; Baraldi et al. 1997:186 ff.; Brodocz 2006:512, 2003:83 ff.; Fuhse 2005:90 ff.; Simsa 2002:154 ff.). Sie ersetzen bei der Betrachtung von Rückkopplungen das klassische Verknüpfungsschema von Input und Output durch lose, nichtdeterministische, nicht synchrone intersystemische Verbindungen.

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2.1.2

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Kommunikation

Langfristige Stabilisierungen themenzentrierter Kommunikationen erzeugen „Strukturbildungen eigener Art“ (Feilke 1994:19; Luhmann 1990:174, 1997:105) in Form von autopoietischen Systemen. Kommunikation produziert, wo sie anschlussfähig ist, neue Kommunikationen, bezieht sich auf andere Kommunikationen und „reproduziert sich als System, das weder auf Leben noch auf Bewusstsein, sondern ausschließlich auf sich selbst verweist“ (Baecker 2005:70; vgl. Luhmann 1995b:28, 42; 1997:95; Fuchs 1992:28, 203 f.; vgl. auch Gadamer 1960:387). 12 Komponenten. Kommunikation entsteht aus den Komponenten Information, Mitteilung und Verstehen (Luhmann 1984:203, vgl. S.J. Schmidt 1994:66; Fuchs 12 Kommunikation kommt damit auf der Systemebene (nicht im Bereich intimer oder personenzentrierter Kommunikationen) ohne „den Menschen“ aus. Gesellschaftliche Diskurse und politische Kommunikationen verlaufen – aus systemtheoretischer, nicht aus alltagstheoretischer Sicht – unabhängig von individuellen Teilnehmern. „Wir müssen entdecken, dass nicht wir es sind, die kommunizieren, sondern die Kommunikation“ (Baecker 2005:96; Luhmann 1995b:38; 1997:93, 105; 2000:105). Auch „Soziale Systeme bestehen […] nicht aus Menschen. Menschen sind für sie stets Umwelt“ (Luhmann 1970:45). Menschen, Individuen, Personen werden auf einer anderen Beschreibungsebene thematisiert (vgl. Luhmann 1984:92; Jensen 2003:22 ff.; Nassehi 2011:86, 171). Dies außer Acht zu lassen, führt zu „falschen Konkretisierungen“ (Ackerman, Parsons 1966:71; vgl. Bateson 1972:102; Dahl 1963:23; Jensen 2003:27; Jensen 1980:118). Men schen, als biologische oder psychische Kategorie, sind für Kommunikationssysteme analytisch gesehen Umwelt. „In genau diesem Sinne ist das chemische System der Zelle für das Gehirn Umwelt des Gehirns und das Bewusstsein der Person für das soziale System Umwelt des sozialen Systems. Keine Dekomposition von neurophysiologischen Prozessen würde je auf die Einzelzelle als Letztelement stoßen und keine Dekomposition sozialer Prozesse je auf das Bewusstsein“ (Luhmann 1984:246; vgl. 1995b:169 f.; 1975b:209; anders z.B. Hejl, der soziale Systeme als Gruppen lebender Systeme beschreibt (1985:319); vgl. auch Essers Luhmann-Kritik in 2000:254 ff.). Es ist eine umstrittene und häufig auch missverstandene Position der Systemtheorie, die keineswegs den Menschen aus sozialen Zusammenhängen eliminieren oder darin ignorieren möchte, sondern mit einem analytischen Konstrukt arbeitet, das die Aufmerksamkeit auf einen spezifischen Ausschnitt sozialer Phänomene fokussiert. Es handelt sich nicht um einen „methodologischen Antihumansimus“ (Reese-Schäfer 1992:102). Die Systemtheorie ist auch keineswegs blind für menschliches Leid, die Deformation des Menschen durch soziale Systeme etc. (das hat Luhmann durchaus thematisiert – z.B. in 1995c:126 ff. oder 1997:119, 805 ff.). Sie erkennt aber, dass physische menschliche Anwesenheit nicht Voraussetzung für deren Selbstfortsetzung ist: Eine politische Kommunikation der politischen Öffentlichkeit wird z.B. mit dem Ausscheiden einzelner Teilnehmer nicht terminiert. Hierauf wird noch eingegangen.

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2003:19 f.; vgl. auch Bateson 1979:61 f., 146). Jede stellt eine aktive, interessengeleitete Selektion dar (Luhmann 1995b:111, 113 f.). Es werden nicht alle Informationen ausgewählt, sie werden nur in bestimmter Form mitgeteilt und in einer spezifischen selektiven Weise verstanden oder nicht verstanden. 13 Ihre komplexen Muster und Wechselwirkungen zeigen, dass Kommunikation nicht nur auf ihre „Nutzlast“ zu beziehen ist.14 Es handelt sich vielmehr um ein die drei Komponenten „synthetisierendes, emergentes, d.h. qualitativ eigenständiges, auf keine der drei Selektionen allein zurückzuführendes Geschehen“ (Brodocz 2006:504). Dieser Text konzentriert sich auf den Zusammenhang von Information und Verstehen(-können), während der Aspekt der Mitteilung geringere Beachtung findet. Auf diese Komponente würde beispielsweise bei der Betrachtung politischer Rhetorik, der Inszenierung politischer Kommunikation und der symbolischen Politik eingegangen (Saxer 1998:35; Kepplinger 1998:158 f.; Sarcinelli 1987a).15 Verstehen. Kommunikation führt nicht zwingend zu Verstehen im üblichen Sinn (vgl. Luhmann 1995a:172). Sie kann verweigert, nicht wahrgenommen oder konterkariert werden. Die Adressaten können durch Überforderung oder Überlastung außerstande sein, ihr zu folgen, oder Kommunikationsofferten ignorieren.16 13 Diese Komponenten setzen bedeutungstragende Kontexte, Einbettungen in Sinnhorizonte und Wissensbestände voraus (vgl. Bateson 1979:63, 144, 25 f.; Luhmann 1984:195; 1997:70, 72), den Hintergrund eines geteilten pragmatischen Wissens darüber, „wie die Welt funktioniert“ (Searle 1995:141, 146). Kontexte definieren den inhaltlichen, formalen und prozeduralen Rahmen für einen erfolgreichen Verlauf. Solche Bedingungen bilden „den Möglichkeitshorizont und den Selektionsraum für die Inhalte der Kommunikation und die Formen ihres Ausdrucks“ (Feilke 1994:68). Erst das Passen einer Kommunikation in solche selektiven Schemata erlaubt es, sie beispielsweise als politisch zu identifizieren und fortzuführen. 14 So spielt bisweilen die Art, wann und wie etwas mitgeteilt wird, eine größere Rolle als die Information selbst. Auch wer etwas mitteilt, kann eine höhere Bedeutung haben als das Was. Selbst Absicht, Versehen oder inszeniertes Versehen spielen in der politischen Kommunikation eine Rolle. Zudem kann die Mitteilung selbst eine Information enthalten, die nicht in der eigentlichen Information enthalten ist (wenn Informationen beispielsweise über die Form des Auftretens bzw. Sprechens transportiert werden; vgl. auch Bourdieu 1982:28, 60). 15 „Politische Kommunikation“ wird in diesem Zusammenhang als instrumentelle Technik organisierter professioneller Strukturen (der Medien, der PR etc.) verstanden. Diese strategische politische Kommunikation ist nur eine Form der Kommunikation, Informationserzeugung und -verarbeitung im politischen System (vgl. Kamps 2003:201; Saxer 1998:25 ff., 32ff.). Sie steht hier nicht im Fokus. 16 Wobei man der Kommunikation nicht entrinnen kann. Selbst Kommunikationsverweigerung ist immer ebenfalls Kommunikation (Watzlawick et al. 1967:51).

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Rückfragen, Widerspruch, Missverständnisse können aber selbst Gegenstand von Kommunikation (auch über Kommunikation) werden. Sie schaffen Anschlüsse und tragen zur Autopoiesis der Kommunikation bei (Luhmann 1984:205 f., 233 ff.; 1997:176; Brodocz 2006:505). Selbst wenn die Reaktionen ihrer Intention zuwiderlaufen, ist das kein Scheitern der Kommunikation. Erfolg bedeutet Anschlussfähigkeit, nicht Zustimmung, und Verstehen ist in der Selbstfortsetzung, nicht dem Akzeptieren von Selektionen zu sehen (Nassehi 2011:61, 2003a:70; Luhmann 1984:238, 1995b:41; Gerhards, Neidhardt 1991:76 f.). Relevanz. Rationale Kommunikation, zumal politische Kommunikation, ist, folgt man Brandom, eine soziale Praxis des „Gebens und Verlangens von Gründen“ (Brandom 2000:212).17 Erfolgreiche Kommunikation erfordert demnach eine „Bedeutungsvermittlung“ (Saxer 1998:25). Bateson definierte Information als „Jede[n] Unterschied, der einen Unterschied macht“ (1979:87,123): Sie verändert einen Systemzustand (vgl. Luhmann 1991:22; 1984:205; S.J. Schmidt 1994:58). 18 Selbst bei Nichtverstehen hat sie dann eine Wirkung, ist relevant. Alles andere ist Rauschen. Auch Redundanz ist keine Information mehr: Sie erzeugt keinen weiteren Unterschied. Daher ist für jedes System – auch für das Politische – Information neue Information (vgl. Mertes 2003:58). Durch ihre Neuigkeit ist sie anschlussfähig und initiiert die Selbstfortsetzung der Kommunikation.19

17 Die Formel Brandoms wird hier wiederholt als abkürzende Bezeichnung des Kerns demokratischer politischer Kommunikation verwendet. 18 Easton weist in seiner Konzeption der System-Inputs ebenfalls auf diesen Aspekt hin. Er interpretiert Inputs als „any event external to the system […] that alters, modifies, or affects the system in any way“ (1965a:113 und 1965b:27). 19 Kommunikation setzt, so gesehen, nicht nur Wissen, sondern auch Nichtwissen voraus (vgl. Luhmann 1997:70, 39).

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2.2 D AS

POLITISCHE

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S YSTEM

Seine gesellschaftliche Funktion der Produktion kollektiv bindender Entscheidungen identifiziert das politische System. 20 Sie bildet den Bezugspunkt von Kommunikationen, die sich an politischen Themen ausrichten und als politisch begriffen werden. Politisch ist ein Thema, sofern die Auffassung herrscht, dass über alle oder einzelne seiner Gesichtspunkte kollektiv verbindlich zu entscheiden ist (vgl. Luhmann 1970:161; Saxer 1998:25; Kieserling 2003:430). 21 Themen. Politische Kommunikationen unterscheiden sich durch ihre Themen von anderen (etwa wirtschaftlichen, wissenschaftlichen) Kommunikationen (vgl. Luhmann 2000:312). Sie erzeugen, reproduzieren und markieren das politische System (vgl. Feilke 1994:80). Dessen Kommunikationen vollziehen sich in unterschiedlichen thematischen Räumen – „strukturierte und relativ kohärente Zusammenhänge spezifizierbarer [...] Themenbestände“ (S.J. Schmidt 1994:104; vgl. auch Grevens Begriff des politischen Raums, 1999:72, 76). Themen, die jenseits dieser „thematischen Wahrscheinlichkeitsstrukturen“ (Feilke 1994:85) liegen, „werden vom System nicht als politisch erkannt“ (Fuhse 2005:37; vgl. S.J. Schmidt 1994:118; Zolo 1992:64).22

20 Vgl. Parsons 1976:196 ff.; Münch 1982:102 ff., 113 ff. Easton definierte die Funktion des politischen Systems als „authoritative allocation of values for a society“ (Easton 1965a:50; vgl. Easton 1965b:21; vgl. Easton 1953:129 ff.). An anderer Stelle sprach er von „[the] capacity to make decisions for the society and the probability of their frequent acceptance by most members as authoritative“ (Easton 1965a:96). Luhmann bezeichnete die Funktion des Systems nahezu identisch als „das Bereithalten der Kapazität zu kollektiv bindendem Entscheiden“ (Luhmann 2000:84; vgl. Waschkuhn 2005:88; Easton 1965a:126 und 131; Parsons 1966:26; 1976:190; Münch 1982:22; Fuhse 2005:28; D. Fuchs 2006:345; Heidenescher 1999:150 f.; Nassehi 2009:327; 2003a:175 f.; 2002:42 ff.; Weber 1922:542, 544; Almond et al 2004:2, 11; Almond, Powell 1966:29; Greven 1999:66; Czerwick 2011:91 f.; Habermas 1992b:364; Dahl 1989:83, 106 f.). 21 Almond und Powell rechneten einen entsprechend weiten Bereich dem Politischen zu: „The political system includes not only governmental institutions such as legislatives, courts, and administrative agencies, but all structures in their political aspects“, u. a. auch die Massenmedien (1966:18). Diese Sicht ist möglich, wenn die Gemeinsamkeit dieser Systeme in der Themenzentrierung ihrer Kommunikationen gesehen wird. 22 Damit etablieren sich zugleich Wirklichkeitsmodelle (Feilke 1994:90), die in die Selbstbeschreibungen sozialer Systeme eingehen, Sinn- und Möglichkeitshorizonte, die selektiv im Kontingenzspektrum des Kommunizierens wirken. Sie etablieren „Plausibilitätsstrukturen“ (Berger, Luckmann 1969:165) des politischen Denkens, Meinens, Urteilens und Entscheidens und Kontexte für die (politische) Sozialisation (S.J. Schmidt 1992:152 f.;

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Beiträge. Politische Kommunikationen werden durch Beiträge zu Themen aufgebaut, strukturiert, reproduziert und angereichert. Themen überdauern und selektieren Beiträge“. Beiträge können jedoch auch Themen selektieren (Luhmann 1984:213; Feilke 1994:84 f., 90).23 Themen und ganze thematische Räume können durch politische Beiträge ausgedehnt werden, wenn neue Inhalte, Probleme, Ansprüche oder Perspektiven kommuniziert werden. 24 Bei der Untersuchung des Phänomens der Unübersichtlichkeit spielt diese Ausdehnung thematischer Räume eine zentrale Rolle. Durch sie erweiterte sich der kommunikative Einzugsbereich des Politischen in den letzten Dekaden um zahlreiche neue, oft hochkomplexe Themen. Auf die Gründe dieser Ausdehnung und die Besonderheit dieser Themen wird in den nachfolgenden Kapiteln eingegangen. Es wird angenommen, dass Themen mit Bezügen etwa zur Ökologie, den Biowissenschaften, den Praktiken der Finanzindustrie oder zu den neuen Informations- und Überwachungstechnologien erheblich zur Unübersichtlichkeit des Politischen beitragen. Sie haben oft technische oder wissenschaftliche Bezüge, sie setzen für ihr Verständnis elaboriertes Wissen voraus, haben zum Teil schwierige ethische Implikationen und sind auf komplizierte Weise mit verschiedenen Politikfeldern verknüpft. Heidenescher 1999:134). Wirklichkeitsmodelle sind sozial produzierte und kommunikativ stabilisierte Konstrukte (vgl. Berger, Luckmann 1969:3; vgl. auch Arendt 1971:62 f.), die sich in der Lebenswelt für eine mehr oder minder große Gruppe, für ein System oder die gesamte Gesellschaft als brauchbar, als „viabel“, erwiesen haben (vgl. Glasersfeld 1992:18,22 und 33 ff.; 1991:24; vgl. Maturana 1991:170). Es handelt sich nicht um objektive Wahrheiten, sondern um pragmatische, brauchbare und bewährte, durch Konsens etablierte, aber kontingente, revisionsoffene Konstrukte mit potenziell limitierter Gültigkeit (Fuchs 1992:65; Maturana 1988:831; Glasersfeld 1995:55, 253). 23 Themen durchlaufen, bis sie auf gesellschaftlicher oder politischer Ebene wirksam werden, eine Karriere (Luhmann 1990:177; vgl. Gerhards, Neidhardt 1991:78; H.P. Peters 1994:176 f.). Phänomene wie der Klimawandel werden beispielsweise zunächst in einem spezialisierten gesellschaftlichen Teilsystem bearbeitet – in diesem Fall dem Wissenschaftssystem –, bevor sie, über Massenmedien vermittelt, eine Aufmerksamkeitsschwelle überwinden, in die kollektive Wahrnehmung eingehen und zum Gegenstand politischer und anderer, parallel laufender Diskurse werden (vgl. Marcinkowski 2002:87; Easton 1965a:122; Schenk 1995:50 f.). Habermas hat vom langen Weg gesprochen, bis der „Status anerkannter politischer Themen“ gewonnen ist (Habermas 1992b:382). Dieser Status ist fragil – sie können praktisch jederzeit durch andere, zeitweise oder vollständig, aus dem öffentlichen Fokus verdrängt werden. 24 Sie können thematische Räume aber auch zusammenziehen, etwa durch Verweise auf kulturelle Tabus (vgl. auch Tetlock 2000:249 ff.). Kulturell etablierte selektive Mechanismen schließen die politische Bearbeitung bestimmter Themen oder Beiträge aus (vgl. Easton 1965a:123).

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Diese Unübersichtlichkeit des Politischen kann mit Blick auf unterschiedliche politische Strukturen und Ebenen untersucht werden. So könnte die Entwicklung und Wirkung bestimmter Policies betrachtet werden, die professionelle politische Kommunikation, die Politikberatung, die Parteienkommunikation, das Informationsmanagement von Regierungen usw. Hier wird jedoch der Frage nachgegangen, welche Wirkung komplexe Daten- und Informationslagen jenseits solcher Strukturen in demokratisch konstituierten politischen Systemen entfalten. Betrachtet wird jene Komponente politischer Systeme, die nicht primär organisiert bzw. professionell strukturiert und nicht Staat im weitesten Sinne ist, in der das Geben und Verlangen von Gründen seinen demokratischen Ort hat: die politische Öffentlichkeit. 2.3.1

Der Begriff der politischen Öffentlichkeit

Es ist nicht ganz einfach, diese Komponente theoretisch zu fassen. Betrachtet man Luhmanns Texte, fallen diesbezüglich zwei Unterscheidungen auf. Die erste ist jene von Zentrum und Peripherie. Das Zentrum bilden funktional differenzierte, staatliche oder staatsnahe Systeme. In der segmentär differenzierten Peripherie sind Parteien, Interessenverbände, aber auch Protest- und Bürgerbewegungen zu lokalisieren, die „politische Zulieferdienste“ leisten (Luhmann 2000:245, 251; vgl. Fuhse 2005:88). Die Beziehung zwischen Zentrum und Peripherie ist nicht hierarchisch, sondern beruht auf Differenzierung: Die peripheren Strukturen repräsentieren die Sensitivität des politischen Systems gegenüber seinen Umwelten. Die zweite Unterscheidung betrifft die Ebene der „Interaktion“, auf der Luhmann Politik von Verwaltung und Publikum unterscheidet (Luhmann 2000:253 ff.; 1987:148). 25 Mit beiden Ansätzen lassen sich bestimmte Spannungsfelder (etwa zwischen Bürger und Verwaltung oder zwischen sozialen Bewegungen und Regierung) thematisieren, sie führen aber bei der Betrachtung politischer Informationsverarbeitung in Demokratien nicht weiter. Beispielsweise ist die Separierung von Publikum und Bürgerbewegungen in diesem Zusammenhang nicht sinnvoll. Luhmanns Begriff des Publikums soll hier, vor allem wegen seiner passiven Konnotation, nicht verwendet werden. Ein Publikum lässt sich unterhalten, akklamiert, wendet sich ab, aber es nimmt selten konstruktiven oder instruktiven Einfluss auf das Geschehen. Das ist keine adäquate Rollenbeschreibung für moderne, mediengetriebene Demokratien.26

25 Das operative politische System ist in diesem Konzept zuständig „für die Vorbereitung von Themen und die Auswahl von Personen, für das Testen von Konsenschancen und für den Aufbau von Macht. Dieses Teilsystem dankt seine Existenz vor allem der Organisation politischer Parteien“ (Luhmann 1987:148). Verwaltung implementiert nach dieser Lesart politische Entscheidungen (Luhmann 2000:255).

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Stattdessen soll hier der Begriff der politischen Öffentlichkeit verwendet werden. Er findet sich etwa bei Münch, der sie als Teilsystem des politischen Austauschs bezeichnet27, das er wiederum als Subsystem des politischen Systems einordnet, in dem „Interessen artikuliert, aggregiert und in kollektiv verbindliche Entscheidungen umgesetzt“ werden (Münch 1982:214, 216).28 Sarcinelli sieht die Öffentlichkeit als „intermediäres System, das die notwendigen Austauschbeziehungen zwischen den politischen Führungs- und Entscheidungsebenen und den Bürgern besorgt“ (Sarcinelli 1998:256; vgl. Gerhards 1998:269; Habermas 1992b:451). Ähnlich gelagert ist Grevens Begriff der Öffentlichkeit, die sich zum einen von der privaten Sphäre der Gesellschaft und zum anderen vom Staat abgrenzt, hier aber eine Art kommunikative Verbindung herstellt (Greven 1999:80, 84). Auch Gerhards und Neidhardt sehen Öffentlichkeit als intermediäres, „ausdifferenziertes Kommunikationssystem“ (Gerhards, Neidhardt 1991:34 f., 39), das in einem Prozess der Informationsverarbeitung öffentliche Meinung produziert und diese an Bürger und das politische System vermittelt. Gerhards beschreibt politische Öffentlichkeit als ausdifferenzierten Teil einer allgemeineren Öffentlichkeit, der mit dem funktional ausdifferenzierten politischen Entscheidungssystem kommuniziert und von diesem auch wahrgenommen wird (vgl. Gerhards 1994:97; 2000:226 f.). Die politische Öffentlichkeit unterscheidet er von anderen ausdifferenzierten Teilöffentlichkeiten, die etwa mit dem Wirtschafts- oder Kunstsystem kommunizieren. Nicht alle Autoren grenzen Öffentlichkeit eindeutig von politischer Öffentlichkeit ab. Auch Luhmann hat diese Unterscheidung nicht getroffen. Nassehi trifft sie implizit, indem er auf eine beinahe zwangsläufige Anschlusslogik des Politischen hinweist: „Denn ob man will oder nicht, wer im Hinblick auf die Umsetzung von Sachverhalten oder Möglichkeiten in und durch kollektiv bindende Entscheidungen 26 Man findet sie auch bei Gerhards und Neidhardt: „Öffentlichkeit als soziale Größe [ist] vor allem Publikum“ (Gerhards, Neidhardt 1991:64 f.). Beyme kritisiert diese Begriffswahl: Bürgern, Wählern, „von Luhmann wegwerfend ‚Publikum‘ genannt“, würde damit eine „Zaungastrolle“ zugewiesen (Beyme 2007:240, 244). Anders gelagert ist der Publikumsbegriff bei Habermas, dem er im politischen Prozess „Autorität“ beimisst, die aus der Angewiesenheit politischer Akteure auf eine zu überzeugende Öffentlichkeit herrührt (vgl. Habermas 1992b:440 f., 462). 27 Ähnlich Easton, der die Leistung der Öffentlichkeit in der Formulierung von Forderungen und Unterstützungen sah. Auch er scheint die Bürger in der Peripherie seines Modells verortet zu haben (Easton 1965b:86; vgl. 83, 177 f., 184). 28 Allerdings benutzt er den Begriff des Austauschs ähnlich wie Parsons im Rahmen einer Marktanalogie und nicht als Kommunikationskategorie (Münch 1982:216, 231 f.; Parsons 1976:204, 236 ff.).

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kommuniziert, kann der politischen Anschlussfähigkeit kaum entgehen, weil solche Kommunikation jene Publika mit erzeugen, an die sie sich wenden: politische Öffentlichkeit“ (Nassehi 2009:330). Der Begriff wird auch von Habermas verwendet, der vom „Kommunikationsnetz der politischen Öffentlichkeit“ spricht (Habermas 1992a:23, 1992b:533). 2.3.2

Politische Öffentlichkeit als System

Hier wird vorgeschlagen, politische Öffentlichkeit als Teil des politischen Funktionssystems zu verstehen und in Hinblick auf Zusammenhänge der Datenverarbeitung, der Informationsproduktion und Kommunikation eine Systemdarstellung zu benutzen.29 Zur besseren Abgrenzung wird der Begriff des operativen politischen Funktionssystems verwendet, der dem politischen System in den Konzepten Eastons und Luhmanns entspricht (und das sich seinerseits in weitere Systeme unterteilen lässt – etwa Regierung, Verwaltung usw.; vgl. beispielsweise Münch 1982:214). Seine Kommunikationen beziehen sich auf die Organisationssysteme des Politischen, die Regierungen, Parteien etc. und sind nicht der Öffentlichkeit, sondern professionellen Systemen zuzurechnen. Das System der politischen Öffentlichkeit und das politische Operativsystem werden als zwei Teile eines politischen (Gesamt-)Systems verstanden. Wie ist das zu begründen? Ohne politische Öffentlichkeit ist in Demokratien ein politisches System weder denkbar noch darstellbar. Öffentliche Kommunikation über politische Themen ist Teil politischer Kommunikationen und wird auch als solche wahrgenommen. Es erscheint deswegen nicht sinnvoll, sie außerhalb des Systems zu verorten. Dennoch ist die politische Öffentlichkeit kein Teil des operativen Systems. Politische Öffentlichkeit ist nicht identisch oder deckungsgleich mit Parteien und anderen Elementen der Peripherie. Und sie ist nicht identisch mit operativen Strukturen der politischen Entscheidungsproduktion oder administrativen Implementierung. Politische Öffentlichkeit ist also im politischen System zu lokalisieren und zugleich von dessen operativem Funktionssystem zu unterscheiden.30 29 Baecker lehnt dies explizit ab (Baecker 1996:98). In der an Parsons orientierten Systemtheorie könnte sie als themenzentriertes Quasisystem (Willke 1982:42 ff.) beschrieben werden. Habermas hat auf die Nichtorganisiertheit politischer Öffentlichkeit hingewiesen und deshalb eine explizite Klassifikation als System ausgeschlossen. Er beschreibt sie stattdessen als „Netzwerk für die Kommunikation von Inhalten und Stellungnahmen“ (Habermas 1992b:436; Heming 1997:189). 30 Entsprechende Hinweise finden sich in Luhmanns struktureller Gliederung des politischen Systems in Politik, Publikum und öffentliche Verwaltung. Öffentlichkeit fungiert darin „für das Subsystem Politik innerhalb des politischen Systems als systeminterne Umwelt, durch die es sich irritieren lassen und Demokratie nach eigenen Prämissen

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Themenzentrierung. Politische Öffentlichkeit ist ein Zusammenhang von Kommunikationen, die sich auf politische Themen beziehen.31 Politisch sind Themen und thematische Räume, für die mit mehr oder weniger breitem Konsens, mit mehr oder minder hoher Intensität, kollektiv bindende Entscheidungen erwartet, abgelehnt oder gefordert werden (vgl. auch Habermas 1992b:362; B. Peters 1994:45; Honneth 1999:56). Das inhaltliche Spektrum ist nicht begrenzt; jedes Thema, politisch, ökologisch, technisch etc., kann zum Gegenstand öffentlicher politischer Diskurse werden (Benhabib 1992:79 f.). Politische Öffentlichkeit bildet ein System, das seine Grenzen über thematische Räume (vgl. dazu Gerhards, Neidhardt 1991:44 f.) und nicht über Einzelthemen und Beiträge entwickelt. Während diese fluktuieren, bleibt der Gesamtzusammenhang gewahrt. Dieses System reproduziert sich, indem seine Kommunikationen an sich selbst anschließen, und kann deshalb als autopoietisch betrachtet werden (vgl. hierzu auch Habermas 1992b:626). Staatsbezug. Hier wird von einer Systembildung durch thematische Zentrierung von Kommunikationen ausgegangen – der Bezug auf den Staat tritt damit in den Hintergrund. Eastons Modell orientierte sich dagegen primär an organisierten, letztlich staatlichen oder staatsorientierten Strukturen: „Diese Bestimmung des Politischen ist eng angelehnt an Max Webers Begriff des Staates“ (Narr 1969:125; Mols sieht das ebenfalls bei Almond et al., Mols 1971:71). Auch Luhmanns Begriff des politischen Systems weist eine Staatszentrierung auf (vgl. z.B. Luhmann 2000:252, 142; 1987:78 ff.; Brodocz 2006:516 f.; Beyme 2007:243; Greven 2001b:205). Er erklärte das mit der Selbstbeschreibung des politischen Systems, die auf die Semantik des Staatsbegriffs angewiesen sei. Das Politische war für ihn nur bezogen auf den Staat zu denken, ohne mit diesem identisch zu sein (Luhmann 1987:78 f., 87, 107; vgl. Nassehi 2002:42; 2003b:162).32 Es können jedoch auch Kommunikationen in das Politische einbezogen werden, die sich nicht zwingend und nicht immer auf bindende staatliche Entscheidungen praktizieren kann“ (Czerwick 2008:87). Habermas stellt das Kommunikationsnetz politischer Öffentlichkeit etwa parlamentarischen Körperschaften gegenüber (Habermas 1992a:23; 1992b:362 ff.; ähnlich Gerhards 2000:226 f.). 31 Öffentliche Kommunikationen, die sich etwa auf Sport oder kulturelle Themen beziehen, gehören nicht zum Terrain der politischen Öffentlichkeit. Was aber nicht bedeutet, dass ein solches Thema sich nicht in den politischen Bereich ausdehnen könne (beispielsweise Doping im Sport, wenn hierfür bindende Entscheidungen erwartet werden). 32 Der Staatsbezug ist möglicherweise auch auf die von ihm konsequent auf Macht (als „Quintessenz von Politik“, Luhmann 2000:75) hin ausgerichtete Perspektive zurückzuführen. Heidenescher konstatiert: „Sobald eine Kommunikation sich nicht des Mediums Macht bedient, ist es keine politische Kommunikation“ (1999:156). Dieser Standpunkt wird hier nicht geteilt.

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beziehen (vgl. Nassehi 2002:51; Greven 1999:90 f.; Kieserling 2003:437). Crouch konstatiert beispielsweise, dass die Occupy-Wall-Street-Bewegung mit ihren politischen Forderungen nicht den (aus ihrer Sicht) geschwächten Staat adressierte, sondern direkt die gesellschaftlich dominante Wirtschaft (Crouch 2011:62; vgl. Michelsen, Walter 2013:13, 49; erkennbar etwa in Berardi 2012:156). Gleichwohl waren ihre Themen politisch; deshalb ist diese Bewegung Teil der politischen Öffentlichkeit, so wie dieses System hier verstanden wird.33 Offene Zone. Politische Öffentlichkeit ist eine relativ offene Kommunikationszone. Es handelt sich um „soziale Räume, die sich selbst als Öffentlichkeit beschreiben, die kommunikativ erreichbar“ (Nassehi 2002:46; vgl. 2009:323, 331 f.) 33 Auch wenn die Definition der politischen Öffentlichkeit keinen Staatsbezug voraussetzt, existieren, nach Ansicht verschiedener Autoren, doch räumliche Referenzen und Grenzen, da sich Themen oft auf lokale, regionale oder nationale Hintergründe beziehen (Peters, Weßler 2006:125). Vernetzungen zwischen solchen Ebenen kommen in thematischen Bereichen wie etwa der Umweltthematik vor (zum Zusammenhang von Politik und Raum siehe auch Knoepfel, Kissling-Näf 1993). Auf der Ebene der EU entwickelte sich, auch aufgrund ihres strukturellen Demokratiedefizits (Habermas 2013:84 ff.), eine transnationale politische Öffentlichkeit bisher eher langsam, was auch als Beleg dafür gesehen werden kann, dass Öffentlichkeiten „auf komplexen Konstitutionsbedingungen beruhen, welche kulturelle Faktoren (geteilte kollektive Identitäten und kulturelle Deutungsressourcen), soziale Praktiken und institutionelle Strukturen“ (Peters, Weßler 2006:142; vgl. Münkler, Ladwig 1997:21) sowie unterschiedliche Sprachräume einschließen (Kantner 2006:147). Solche Unterbrecher von Anschlussmöglichkeiten können umgangen werden (vgl. Hahn 1997:126), und so besteht durchaus eine „historische Chance zu einer wirkungsvollen europäischen Öffentlichkeit“ (Kaelble 2001:179; vgl. 131, 173 ff.; vgl. Fishkin 2009:177). Erkennbar wird sie an „Verschränkungen nationaler Öffentlichkeiten“ (Kaelble 2001:169; vgl. Tobler 2006:176) bzw. der „Konvergenz von öffentlichen Diskursen“ (Peters, Weßler 2006:129, 133). Während Tobler gleichwohl davon ausgeht, dass „Europäische Öffentlichkeit im Sinne einer politischen Öffentlichkeit [...] stets als defizitär zu beschreiben sein [wird]“ (2006:177), hebt Kantner auf die Simultanität politischer Diskurse, als Kriterium für deren Existenz und Wirkungsfähigkeit, ab: „Kommunikation ist nicht an kulturell oder sprachlich zu bestimmende‚ logische Räume des Begründens gebunden. Es gibt nur einen einzigen‚ logischen Raum des Begründens, und der umfasst alle kompetenten Sprecher irgendeiner beliebigen Sprache“ (2006:148). Die empirischen Untersuchungen der Autorin „belegen eine beachtliche thematische Verschränkung der mitgliedsstaatlichen Öffentlichkeiten in Bezug auf gemeinsame europäische Themen. Unser politischer Horizont verschiebt sich also bereits Richtung Europa“ (Kantner 2006:157; Kleinen-von Königslöw 2010a:26; 2010b:59).

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und im Prinzip frei zugänglich sind (Marcinkowski 2002:97; vgl. Gerhards 1994:84; Imhof 2005:66). Habermas spricht von einem „offenen und inklusiven Netzwerk“ (Habermas 1992b:373, 436 f.), mit einer lebensweltlichen Verwurzelung (Habermas 1992b:435). Durch ihre „Unabgeschlossenheit“ ist ihre Kommunikation „Laienkommunikation“ (Gerhards, Neidhardt 1991:46; vgl. Peters 1994:44, 46). Teilnahme erfordert (je nach Forum) im Allgemeinen keine Legitimation durch Expertise. Die Grenze ihrer freien Zugänglichkeit definiert primär die Demarkationslinie des Informiertseins (Blöbaum 1994:310; vgl. auch Luhmann 2000:304, 289, 296), die, wie noch gezeigt wird, erheblichen Teilen der Öffentlichkeit den Zugang erschwert oder sogar versperrt. Struktur. Der Begriff ist, so wie er hier verwendet wird, nicht an Vorstellungen einer spezifischen Form, Organisation oder sozialstrukturellen Verankerung gebunden, sondern ausschließlich an den thematischen Bezugspunkt. Er schließt die Vielfalt sog. Gegenöffentlichkeiten (Wimmer 2008:214) ein. Auch die Bürger- oder Zivilgesellschaft wird aus dieser Sicht nur als Teilmenge politischer Öffentlichkeit angesehen – sofern von ihr Organisiertheit (Geißel 2011:61) und Wirkmächtigkeit (Puhle 1999:326 f.) erwartet werden. Der Autor nennt als weiteres Merkmal ihr ständiges „Spannungsverhältnis zum Staat“ (ebenda). Auch das ist nach dem hier vertretenen Standpunkt möglich, aber nicht notwendig: Zur politischen Öffentlichkeit werden ebenso nicht-organisierte, frei flottierende Kommunikationszusammenhänge gezählt, selbst wenn sie eher mit kritiklosem Konsum oder Affirmation in Verbindung gebracht werden – solange die Diskurse einen Bezug zur Bildung kollektiv bindender Entscheidungen haben. Mit Bezug ist hier zudem nicht unbedingt eine positive oder konstruktive Rolle der Kommunikation gemeint, wie er im Begriff der Zivilgesellschaft, als „öffentliche[m] Träger des demokratischen Rechtsstaats“ (Brunkhorst 2000:172), mitschwingt: Selbst abseitige und demokratiefeindliche Beiträge sind doch Teil dieser Diskurssphäre. Fragmentierung. Politische Öffentlichkeit ist, auch wegen ihrer Offenheit, kein homogenes, sondern ein fragmentiertes System, das sozialstrukturelle Merkmale, Entwicklungen und Vielfalten der Gesellschaft spiegelt. Sie ist nicht als kompaktes System vorzustellen, sondern als insgesamt systembildende, segmentierte und stratifizierte Vielfalt von Teil- und Spezialöffentlichkeiten. Diese oft nur vorübergehend aktiven, kleinteiligen, sich aggregierenden oder wieder zerfallenden parallel existierenden Teilöffentlichkeiten konstituieren für das System der Öffentlichkeit selbst wieder eine Form der verarbeitungsbedürftigen Unübersichtlichkeit. „Soziale Binnengrenzen zerstückeln den einen, radial in alle Richtungen ausgreifenden und kontinuierlich fortgeschriebenen Text ‚der‘ Öffentlichkeit in beliebig kleine Texte, Eine noch weitere Ausdehnung ist mit Blick auf die „Weltgesellschaft“ zu erkennen (S. 55), in der sich, ebenfalls in Bezug auf bestimmte thematische Räume, etwa Menschenrechte oder Umweltpolitik, übernationale politische Öffentlichkeiten etablieren.

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für die dann alles übrige Kontext ist; aber immer lassen sich von einem Text zum nächsten hermeneutische Brücken bauen“ (Habermas 1992b:452, 649; vgl. auch B. Peters 1994:56; Fraser 1992:127). Der Begriff der politischen Öffentlichkeit steht demnach für eine Vielzahl politischer Teilöffentlichkeiten (Sarcinelli 1987b:21) unterschiedlichster Provenienz und Orientierung. Durch ihre Vielfalt ist sie eine Quelle gesellschaftlicher Komplexität.34 2.3.3

Die politische Öffentlichkeit als Beobachter

Die Verortung der politischen Öffentlichkeit innerhalb des politischen Systems erlaubt die Kommunikationsprozesse zum operativen System hin zu verdeutlichen, aber auch die Thematisierung ihrer gemeinsamen Umwelten. Als Teil des politischen Systems ist die politische Öffentlichkeit über eine Vielzahl von Kommunikationsbeziehungen einerseits an das operative politische System und andererseits an weitere gesellschaftliche Teilsysteme gekoppelt. Sie bildet die wichtigste Schnittstelle zwischen politischem System und dessen gesellschaftlichen Umwelten (vgl. Luhmann 2000:247 ff., 251) und stellt diese 34 „Es gibt zu viel Öffentlichkeit; die Öffentlichkeit ist zu ausgebreitet und zerstreut und in ihrer Zusammensetzung zu kompliziert. Und es gibt zu viele Öffentlichkeiten, denn die vereinigten Handlungen mit indirekten, bedeutenden und andauernden Folgen sind so unvergleichlich zahlreich, jede einzelne durchkreuzt die anderen und bringt ihre eigene Gruppe besonders betroffener Menschen hervor, und es ist zu wenig da, um diese verschiedenen Öffentlichkeiten in einem integrierten Ganzen zusammenzuhalten“ (Dewey 1927:120). Schumpeter sprach von einem „Wirrwarr von individuellen und GruppenSituationen, -Willen, -Einflüssen, -Handlungen und -Gegenhandlungen des demokratischen Prozesses“ (Schumpeter 1942:402). Gerhards und Neidhardt konstatieren, dass Öffentlichkeit, durch die Überfülle der Meinungen, Themen, Diskussionsfäden, „von ihren Grundzügen her die Tendenz [hat], überkomplex zu sein“ (Gerhards, Neidhardt 1991:60). Kleinen-von Königslöw zeigt, dass sich die disparaten Teile der fragmentierten Öffentlichkeit in einer durch die Medien unterstützten „Vernetzung der Diskurse“ (auch identitätsbildend) integrieren können. Wodurch unter Umständen Quellen neuer Komplexitäten entstehen (2010b:58 ff., 64). Komplexität bedeutet nicht Beliebigkeit, da Öffentlichkeit, trotz ihrer Vielfalt und Fragmentierung, zugleich eine soziale Kontrolle kontingenter Meinungen und Kommunikationen ausübt (Beetz 2003:118, 114; vgl. auch Gerhards, Neidhardt 1991:42; Luhmann 2000:300). Berger und Luckmann haben das von Mead übernommene Konzept der „signifikanten Anderen“ auf den Bereich der Wirklichkeitskonstruktion und -stabilisierung übertragen (Berger, Luckmann 1969:51). Die Autoren zeigen, wie soziale Umgebungen kontingenzkontrollierend wirken (Berger, Luckmann 1969:162 ff.). Diese Aussagen dürften sich auf die politische Öffentlichkeit bzw. ihre Teilöffentlichkeiten übertragen lassen.

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Funktion auch vermittelnd für andere gesellschaftliche Teilsysteme bereit, deren Ansprüche oftmals erst durch die Aufbereitung im System der Öffentlichkeit politikfähig werden (vgl. Gerhards, Neidhardt 1991:41). Feedback. Die politische Öffentlichkeit irritiert durch ihre Kommunikationen, Wahlen, Proteste usw. oder (vermittelt) über Demoskopie und Massenmedien das operative politische System und fungiert als dessen primärer Feedback-Produzent (vgl. auch Gabriel 2004a:85, 87). Dieses Konzept findet sich in prägnanter Form bei Habermas (Habermas 1992b:362, 364, passim), der innerhalb der politischen Sphäre zwei Bereiche unterscheidet, politisches System und die politische Öffentlichkeit. Hier wirkt das operative System als Einheit, die auf das Feedback der politischen Öffentlichkeit angewiesen ist. Habermas spricht von der „Rückbindung des politischen Systems an die peripheren Netzwerke der politischen Öffentlichkeit“ (Habermas 1992b:362), eine Rückkopplungsbeziehung, die „die Ausübung politischer Macht nicht nur nachträglich kontrolliert, sondern mehr oder weniger auch programmiert“ (Habermas 1992b:364). Die Kommunikationsstrukturen der Öffentlichkeit dienen aus dieser Sicht als „weit gespanntes Netz von Sensoren, die auf den Druck gesamtgesellschaftlicher Problemlagen reagieren und einflussreiche Meinungen stimulieren“ (Habermas 1992b:364; vgl. 435). Er thematisiert hier die wechselseitige Beobachtung von operativem System und politischer Öffentlichkeit. Beobachtung zweiter Ordnung. Über das Medium der öffentlichen Meinung beobachten sich politisches Operativsystem und politische Öffentlichkeit wechselseitig (Gerhards 1998:269; 1994:87 f.; vgl. Luhmann 1990:181; 2000:287; 1995a:153 ff.; vgl. auch Kleinen-von Königslöw 2010b:42). Systemtheoretisch betrachtet handelt es sich um Beobachtungen zweiter Ordnung, um das Beobachten von Beobachtern. Das System der politischen Öffentlichkeit stellt diese Beobachtung dem operativen politischen System, aber auch dem politischen Gesamtsystem, als Konditionierungsleistung bereit (Baecker 1996:94). Sie ist das primäre Feedback-System des politischen Funktionssystems (umgekehrt gilt möglicherweise das gleiche). Ihre Beobachtung zweiter Ordnung ist geeignet, blinde Flecken des beobachteten Systems, wenn nicht zu kompensieren, so zumindest kommunikativ kenntlich und Anschlusskommunikationen zugänglich zu machen (vgl. auch Pokol 1990:333 f.). Durch Kommunikation der Resultate ihrer Beobachtung können beide Systeme partielle Blindheiten in Bezug auf die Gesellschaft ausgleichen. So kann das operative politische System in seiner Fixierung auf machtzentrierte Kommunikation und konkurrenzorientierte Durchsetzung von Positionen beispielsweise keine Solidarität entwickeln (vgl. Brunkhorst 2001:609). Politische Öffentlichkeit könnte das durch eine problembezogenere, lebensweltliche Sicht auf die Innenseite anderer Systeme der Gesellschaft im Politischen thematisieren und entsprechende Forderungen dort sichtbar machen. Der fragmentierten Öffentlichkeit kann wiederum eine selektive, alltagsweltliche Sicht auf Kleinkontexte und Partialinteressen

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unterstellt werden, die das operative politische System, mit seiner Sicht auf die Integrationsbedürftigkeit dieser Vielfalten, verhandeln und ausgleichen kann. Visibilisierung. In seiner Analyse kollektiv bindenden Entscheidens lenkt Nassehi die Aufmerksamkeit auf den Aspekt der Kollektivität und weitet die Spezifikation des Systems aus auf die „Herstellung und Bereitstellung von Sichtbarkeit und Zurechenbarkeit […] im Hinblick auf Kollektive und ihre Selbstbindung per Entscheidung“ (Nassehi 2003a:175; 2003b:149; 2011:186 f.; 2009:330 f.). 35 Das politische System macht Gesellschaft, ihre Themen und Diskurse demnach als solche sichtbar (Nassehi 2003a:176). Die mediale Kenntlichmachung politischer und anderer gesellschaftlicher Prozesse, Forderungen, Absichten durch das operative System ermöglicht ihre Beobachtung und diskursive Bearbeitung. Sie produziert dabei korrespondierende politische Öffentlichkeiten (Nassehi 2003b:150, 2009:331). Deren von Habermas als „Entdeckungszusammenhang“ (Habermas 1992b:373) bezeichnete analoge Leistung liegt darin, ebenfalls noch nicht weiträumig wahrgenommene Themen, Beiträge etc. in das Politische einzubringen, gesellschaftlich sichtbar und damit politikfähig zu machen. Diese Funktion des politischen Gesamtsystems soll im Weiteren als Visibilisierungsfunktion bezeichnet werden. 2.3.4

Die Reflexion struktureller Grenzen

Die politische Öffentlichkeit hat in Demokratien unter anderen die Funktion, durch Beobachtung strukturelle Grenzen kommunikativ kenntlich und reflexionsfähig zu machen. Opake Areale sozialer Systeme entstehen durch Grenzziehungen, die interne Kommunikationen und Informationsverarbeitungsprozesse nach außen (und nach innen) verkapseln. Baecker hat gezeigt, dass Öffentlichkeit die Grenzen politischer Kommunikationen sichtbar macht und dafür anknüpfungsfähige Kommunikationen erzeugt. Öffentlichkeit macht innere Zonen anderer Systeme kenntlich und umgekehrt zeigt sie diesen Systemen, wie diese Zonen von außen beobachtet und bewertet werden (vgl. Baecker 1996:94 f.; vgl. auch Ranciére 2000:32, 35). Diese 35 Das kommt auch in Waschkuhns Politikdefinition zum Ausdruck. Er schreibt, „Politik ist der Prozess der Herstellung allgemein verbindlicher und gemeinschaftsrepräsentativer Entscheidungen zur Lösung öffentlicher Probleme bei nicht vorauszusetzendem Konsens“ (2005:88; Hervorhebung r.a.). Dahinter steht keine Annahme eines politischen Primats innerhalb der gesellschaftlichen Funktionssysteme. Das Politische repräsentiert das Ganze, ohne es zu sein (Nassehi 2009:336; vgl. 2003b:136 ff.). Der Autor weist auf die Tatsache hin, dass „das Bezugsproblem des Politischen […] nicht die Herstellung gesellschaftlich bindender Entscheidungen [ist], sondern eben nur kollektiv bindender Entscheidungen. Ersteres würde dem politischen System doch so etwas wie eine Zen tralfunktion einräumen“ (Nassehi 2009:333; vgl. Beyme 2007:140, 91; Kieserling 2003:422; Luhmann 1987:34; Habermas 1992b:366; Willke 1997:322 f.; Teubner 1999:348 f.).

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Thematisierung stellt den Status quo nicht zwingend infrage, markiert ihn aber als kontingent, sie zeigt „die Grenze als eine, die so oder anders gezogen werden kann“ (Baecker 1996:95).36 Heute werden hochkomplexe Themen sukzessive in den Bereich öffentlicher politischer Kommunikation gezogen, die bis dahin zum Beispiel wirtschaftlichen, wissenschaftlichen oder administrativen Kommunikationen vorbehalten waren. Für diese Ausdehnung, auf die später genauer eingegangen wird, ist auch eine politische Öffentlichkeit die Voraussetzung, die diese Grenzziehungen zur Disposition stellt (vgl. auch Eisenstadt 2000a:19, 35, 26). „Ihre Beobachtung liefert ein Verständnis dafür, dass das, was auf ihrer Innenseite geschieht, für ihre Außenseite von Interesse ist, weil auf der Außenseite sichtbar ist, dass die Ausdifferenzierung, die die Grenze leistet, Sachverhalte voneinander trennt, die man auch als zusammengehörig betrachten kann“ (Baecker 1996:95). Die Öffnung thematischer Räume, die Initiierung von Diskursen erfolgt primär als Vergegenwärtigung der Kontingenz kommunikativer Grenzen und weiter dann auch von Machtbeziehungen, Herrschaftsstrukturen, Deutungshegemonien, spezifischen Formen des Wissens, des Konsenses etc. (vgl. auch Mouffe 2000:105 f., 131; Lagasnerie 2015:31 ff.). Politische Öffentlichkeit leistet diese für Demokratien essenzielle Reflexion struktureller Grenzen.37 Mit dieser Reflexion erfolgte in den letzten Jahrzehnten die Ausweitung thematischer Räume auf zum Teil hochkomplexe Gebiete. Dissens. Diese Ausdehnung setzt voraus, dass die politische Öffentlichkeit in der Lage ist, Dissens kenntlich zu machen und zu ertragen. Dissens muss auch „nicht unbedingt als entscheidbar betrachtet werden“ (Brosziewski 2003:55). Vielmehr hat er eine generell produktive, für Demokratien systemrelevante Bedeutung (Mouffe 2000:31, 47, 112 f.), da er den Ausgangspunkt für Kontingenzmarkierungen und Forderungen nach kollektiv bindenden Entscheidungen bildet und damit die Notwendigkeit von Politik begründet (vgl. auch Ranciére 2000:33). Produktiver Dissens erweitert das Kontingenzspektrum (vgl. Luhmann 2000:293) eines Systems 36 Die Infragestellung oder Überschreitung solcher Grenzen muss grundsätzlich möglich und überhaupt denkbar sein (was beispielsweise in repressiven oder sehr traditionsgebundenen Systemen nicht der Fall ist). Zugleich konstituiert erst die Eventualität ihrer Überschreitung die kommunikative Konstruktion der Grenze. Auf diesen Zusammenhang von Kontingenz und Grenze findet sich ein Hinweis bei Foucault: „Die Grenze und die Überschreitung verdanken einander die Dichte ihres Seins: Eine Grenze, die nicht überschritten werden könnte, wäre nicht existent; eine Überschreitung, die keine wirkliche Grenze überträte, wäre nur Einbildung“ (Foucault 1971:37). 37 Das daraus resultierende Moment der Unsicherheit hält das politische System nicht nur dynamisch und entwicklungsfähig, es schützt auch seine gesellschaftliche Autonomie und erhält seine Autopoiesis dadurch, dass es „sich selbst mit Ungewissheit, also mit Entscheidungsbedarf, versorgt“ (Luhmann 2000:106).

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in positiver Hinsicht (vgl. auch MacKuen 1990:60, 86). Er zeigt, dass andere Perspektiven, alternative Sichten oder unkonventionelle Lösungsvorschläge möglich sind.38 Er wirkt den Verkapselungstendenzen spezialisierter gesellschaftlicher Teilsysteme durch die Thematisierung ihrer Differenzschemata und Grenzen entgegen. „Den von Öffentlichkeit fremdbeobachteten Funktionssystemen werden auf diese Weise neue, überraschende, außerplanmäßige und gerade deshalb oft kreative Möglichkeiten der systeminternen Anschlusskommunikation eröffnet und zugemutet“ (Görke 2003:128; vgl. B. Peters 1994:68). Saxer weist auf die Ausweitung und Besetzung thematischer Räume bzw. „Sachverhalte als Gegenstände öffentlicher Urteils- und Entscheidungsprozesse“ im Zuge der sog. 68er-Bewegung hin (1998:40). Der auch durch sie größer gewordene Radius öffentlich beobachteter, kritisierter, verhandelter Politik erhöht ihre „Legitimitätsempfindlichkeit“ (Sarcinelli 1998:263), die wiederum mit einem Zwang zur kommunikativen Aufbereitung selbst hochkomplexer Themen einhergeht. Dies wird hier, wie später gezeigt wird, als ein Grund für die zunehmende Unübersichtlichkeit des Politischen angesehen. Die aktive Ausweitung kommunikativer Grenzen steigert die Umweltkomplexität des beobachtenden Systems Öffentlichkeit. Es produziert aus seinen Beobachtungen intern neue Informationen, neue Diskurse, die dann seine eigene Komplexität erhöhen. Und mit der kommunikativen Adressierung des politischen Funktionssystems steigert es wiederum dessen Komplexität.39 Die daraus resultierenden Belastungen kommen nicht „von außen“, sie sind, da Information Eigenleistung beobachtender Systeme ist, Selbstbelastung infolge eigener Operationen. Hier wird die These vertreten, dass Unübersichtlichkeit auch mit

38 Dissens gehört zur Selbstbeschreibung demokratischer Systeme: „Die liberale Demokratie gründet die Einheit der Bürgerschaft und ihren Frieden nicht auf den Konsensus in Gewissheiten, die uns lebenspraktisch die wichtigsten und eben deswegen unaufgebbaren sind. Der Verzicht auf solchen Konsens ist es, der die soziale, nämlich kulturelle und politische, Koexistenz unvereinbarer Überzeugungen möglich macht. Die Deklaration der Freiheitsrechte macht diesen Konsensverzicht dann verbindlich. Die gemeine Anerkennung dieser Verbindlichkeiten stiftet ihrerseits einen inhaltlich reduzierten Konsens, nämlich den Minimalkonsens über formale Bedingungen maximalisierter Freiheit zum jeweiligen Anderssein“ (Lübbe 2004:144). 39 Gesellschaftliche und ökonomische Entwicklungen aktivieren solche zirkulären Prozesse. Politische Forderungen in modernen Informations- und Dienstleistungsgesellschaften unterscheiden sich von jenen, die in der Industriegesellschaft formuliert wurden (vgl. Almond et al. 2004:34 f.). Technische und ökonomische Innovationen, aber auch besser ausgebildete Bürger mit größeren ökonomischen Spielräumen, bewirken komplexere Anforderungen an das politische System und eine informiertere und kritischere Be obachtung seiner Prozesse und Entscheidungen.

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der Selbstüberlastung von politischem Operativsystem und politischer Öffentlichkeit entsteht.

2.4 M ASSENMEDIEN Trotz seines autopoietischen Charakters ist das System der politischen Öffentlichkeit nicht autonom. Es ist auf andere Systeme und Strukturen angewiesen, die ihm Präsenz verleihen, die seine Reproduktion unterstützen und seine Irritationsversorgung sowie -produktion sicherstellen. Solche Systeme ermöglichen der politischen Öffentlichkeit zunächst einmal, andere Systeme zu beobachten. Diese Funktion erfüllen primär die Massenmedien. Sie produzieren die Themen, die in öffentlichen Diskursen, den „Praktiken des Gebens und Verlangens von Gründen“ (Wils 2005:300 in Anlehnung an Brandom 2000:71) – insbesondere auch im Rahmen sozialer Interaktionssysteme –, weiterverarbeitet werden. Massenmedien sind Printmedien sowie analoge und digitale elektronische Medien. Sie sind als Distributionsmedien an Technik gebunden, ohne es selbst zu sein (vgl. Luhmann 1995a:13, 127; Görke 2003:127). Hier werden sie als soziale (nicht technische) Kommunikationssysteme mit spezifischen Funktionen für das politische System betrachtet. 2.4.1

Funktionen

Massenmedien haben zwei Funktionen. Sie stellen zum einen eine Infrastruktur dar, in der sich politische Öffentlichkeit bildet, manifestiert und reproduziert. Über die Medien wird politische Öffentlichkeit zu einem in der Gesellschaft wahrnehmbaren und adressierbaren sozialen System (vgl. Gerhards 1994:84). Massenmedien können deshalb als „institutionelle Träger der politischen Öffentlichkeit“ bezeichnet werden (Kamps 2003:205; vgl. Gerhards 1994:87). Durch die Medien ist die politische Öffentlichkeit für andere gesellschaftliche Systeme beobachtbar und wird dadurch rückkopplungsfähig. Außerdem kann die politische Öffentlichkeit sich durch sie selbst beobachten, kann sich selbst thematisieren und auf sich selbst einwirken. Die Medien stellen den gesellschaftlichen Funktionssystemen Beobachtungen zweiter Ordnung zur Verfügung. Das führt zu ihrer zweiten Funktion. Die politische Öffentlichkeit ist ein beobachtendes, und das bedeutet ein Daten verarbeitendes und Informationen produzierendes, System. Informationen – über das politische Funktionssystem, über andere soziale Systeme, aber auch über die Gesellschaft als Ganzes – erzeugt sie aus Daten, die beinahe ausschließlich die Massenmedien offerieren.40 40 Gerhards hat auf die inkludierende Wirkung dieser Leistung hingewiesen: „Indem die Massenmedien die Gesellschaft beobachten und diese Beobachtung medial kommunizieren, leisten sie eine gesellschaftliche Inklusion der Bürger in die Gesellschaft insge-

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Massenmedien können als ausdifferenzierte Teilsysteme der Gesellschaft (vgl. Luhmann 1995a:49; 2000:304) aufgefasst werden. 41 Ihre Funktion ist die „aktuelle Selektion und Vermittlung von Informationen zur öffentlichen Kommunikation“ (Blöbaum 1994:261).42 Sie entlasten andere Systeme von direkten Beobachtungsleistungen, der Aufbereitung von Daten und deren Kommunikation. In quantitativer Hinsicht wird das durch die Auswahl aus kapazitätskritischen Datenmengen geleistet, die ein kognitiv überhaupt beherrschbares Kontinuum konsistenter Information bietet (vgl. W. Schulz 1987:130). Qualitativ gesehen erfüllen Einordnung und Gewichtung von Informationen den „Bedarf für ein Gesamturteil“ über vielfältige Daten und Informationsdetails (Luhmann 1995a:45; 1992a:86). Durch ihre qualitative Entlastungsfunktion ist die Leistung der Medien auch nicht in der Übermittlung, der reinen Auslieferung, von Nachrichten zu sehen, sondern in der Vermittlung von Informationen (vgl. Blöbaum 1994:267). Umgekehrt delegieren die gesellschaftlichen Teilsysteme, und so auch das operative politische System, die eigene Produktion und Präsentation von Informationen weitgehend an das Mediensystem.43 samt, die über die teilsystemspezifische Inklusion der anderen Teilsysteme – als Wähler, als Konsument, als Schüler etc. – hinausreicht. Sie sichern die Teilhabe der Bürger an der Gesellschaft insgesamt durch Beobachtung der medial dargestellten Gesellschaft“ (Gerhards 1994:88). 41 Sie werden demnach nicht als Teil des politischen Systems angesehen, obwohl sie teilweise in dessen thematischen Räumen operieren. Almond und Powell haben aus diesem Grund auch die Medien diesem Bereich zugeordnet (vgl. Almond, Powell 1966:18). Hier wird davon ausgegangen, dass Medien trotz ihrer Bedeutung für das politische System als eigenständig anzusehen sind, da sie ein eigenes Differenzschema und eigene Rationalitäten aufweisen. Andererseits, darauf weist Gerhards hin, widerspricht ihrem Charakter als eingeständige Systeme der „hohe[ ] Grad der Determiniertheit medialen Geschehens durch das politische System“ (1999:165, 167). Er sieht die Medien daher „weniger als ein autonomes denn als ein parasitäres System der Politik“ (169; zum Begriff des Parasitären vgl. Serres 1980). 42 Blöbaum unterscheidet die redaktionelle Herstellung von Inhalten im Journalismus vom Gesamtkomplex der Massenmedien (Blöbaum 1994:13). Die Begriffe werden hier synonym benutzt. 43 „Aus der Perspektive der Politik ist Journalismus das leistungsfähigste Instrument, mit dem Öffentlichkeit (Aufmerksamkeit, Zustimmung, Legitimation) erreichbar ist. Das entlastet Politik von der Aufgabe, diese Leistung selbst zu erbringen“ (Blöbaum 1994:298). Diese Kopplung wird vom politischen Operativsystem aktiv und professionell durch die vielfältigen Strukturen der strategischen und taktischen politischen Kommunikation unterstützt und genutzt. Auch dadurch entsteht das komplizierte symbiotische Verhältnis zwischen Medien und operativem politischem System. Erstere sind auf eine enge

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Die Gesellschaft als Ganzes, ebenso wie verschiedene ihrer Teilsysteme, erzeugen und gewinnen über die Massenmedien ihre Umwelten. „Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien“ (Luhmann 1995a:9; vgl. Baecker 1996:102; Wils 2005:300; Almond, Powell 1966:69; Schelsky 1965:316, 1961:441; Weber 1919:31; Zolo 1992:192; Kepplinger 1998:173, 211; Kepplinger, Maurer 2005:183 ff.). Für ihre Nutzer bedeutet das: Die Medien repräsentieren die Welt (Luhmann 2000:304), ihre Offenheit und Vielfalt, aber auch ihre Widersprüchlichkeit und Kontingenz. Sie bilden die Realität des politischen Systems (vgl. Luhmann 1995a:183, 82; Greven 1999:210 ff., 216; Krieg 1991:131; Sartori 1987:102; Heidenescher 1999:35) und sie produzieren zum Teil, worüber sie berichten. Durch die Produktion und Popularisierung von Themen öffnen sie thematische Räume, bereiten z.B. sozialen Bewegungen öffentliche Aufmerksamkeitsareale und ermöglichen so die aktuelle Wahrnehmung von Umweltkomplexität. Zugleich reduzieren sie diese Komplexität (vgl. Wils 2005:301), um sie für andere Systeme intern bearbeitbar zu halten – insbesondere dadurch, dass sie selbst immer nur begrenzte Themen- und Informationsmengen im Fokus behalten. Luhmann hat die Massenmedien als autopoietische Systeme rekonstruiert, weil sie Kommunikationen aus Resultaten von Kommunikationen erzeugen (Luhmann 1995a:150, 176 f.; vgl. Krieg 1991:131; Görke 2003:129).44 Ihre Reproduktion durch Neuigkeit, Affinität für Kontingenz, Dissens und Überraschung erzeugt eine Dauerirritation des politischen Systems und ist zugleich Quelle für dessen Selbstirritation. Sie hält es offen für gesellschaftliche Feedbacks, Ansprüche, Innovationen, aber auch intern generierte Rückkopplungen und Forderungen. Über die Massenmedien beobachtet die politische Öffentlichkeit das politische Operativsystem, umgekehrt aber auch das operative System die politische Öffentlichkeit. Zugleich nutzen beide Systeme, wenn auch nicht exklusiv, die Massenmedien, um die Umwelt des politischen Gesamtsystems zu beobachten. Als Systeme der Beobachtung zweiter Ordnung können Medien durch Thematisierung kommunikative Grenzziehungen in der Umwelt als kontingent markieren. Das betrifft alle Teilsysteme der Gesellschaft. „Jede Grenze, die sich für notwendig hält (die fast zwangsläufige Binnenperspektive), erfährt sich als artifiziell und kontingent (die ebenso natürliche Außenperspektive). Und erst im Umgang mit Anbindung an das operative System angewiesen. Das politische System stützt sich seinerseits auf ihre Informationsversorgung und produziert selbst Themen und Beiträge, etwa um Feedbacks initiieren und Durchsetzungschancen testen zu können. 44 Trotz ihrer speziellen Funktion der Informationserzeugung und Aufbereitung bleiben Massenmedien operativ geschlossene autopoietische Systeme. Sie haben keinen aus ihrer Funktion ableitbaren privilegierten Zugang zu einer vorgängigen, interpretationsfreien Realität (vgl. Luhmann 1995a:56; vgl. Maturana 1991:169).

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dieser Selbsterfahrung im Spiegel der Öffentlichkeit gewinnt ein soziales System die interne Fähigkeit zur Variation und Selektion, zur differenziellen Reproduktion“ (Baecker 1996:96 f.). 2.4.2

Themen

Massenmedien sind durch Themen, die sie überwiegend selbst produzieren, strukturell an andere gesellschaftliche Subsysteme gekoppelt, unter anderen an die politische Öffentlichkeit und das operative politische System (Luhmann 2000:304 f., 1995a:28; vgl. Willke 1987:262).45 Diese Kopplung ermöglicht den Systemen „an hochkomplexen Umwelten [anzuschließen], ohne deren Komplexität erarbeiten oder rekonstruieren zu müssen“ (Simsa 2002:153). 46 Medien können hochkomplexe Informationen so zu bearbeitungsfähigen Irritationen aufbereiten, dass die politische Öffentlichkeit (und zum Teil auch das politische Operativsystem) sie überhaupt in politischen Themenräumen abbilden, in Haltungen, Beiträge und Diskurse überführen, in ihre Agenda aufnehmen kann, um schließlich politische Entscheidungsprozesse einzuleiten (vgl. auch Iyengar 1990:168 f.; Brettschneider 1997:586 f., 589; Easton 1965b:42). Das Agenda-Setting der Medien bringt die meisten Themen erst in den Sichtbereich der politischen Öffentlichkeit (vgl. auch Iyengar 1990:168 f.; Brettschneider 1997:586 f., 589).47 Von diesem Punkt an – durch Daten verarbeitende und Informationen produzierende Aktivitäten des politischen Systems – werden 45 Wobei auch diese, mehr oder weniger selbstständig, Themen und Beiträge generieren können und müssen. Sie sind aber auf die mediale Infrastruktur angewiesen. 46 Strukturelle Kopplungen sind auch hochselektive Datenfilter, die Systeme davor bewahren, sich durch „alles“ irritieren lassen zu müssen (vgl. Brodocz 2003:83), weil sie sich auf die aufbereiteten Daten spezialisierter Kontaktstrukturen verlassen können. 47 Eine umgekehrte Öffnung thematischer Räume durch die politische Öffentlichkeit scheint nach Iyengar für die USA nicht nachweisbar. „[D]ie Medienberichterstattung wirkt sich auf das öffentliche Interesse an einem Thema aus, das öffentliche Interesse an einem Thema hat jedoch keinerlei Einfluss auf die in den Fernsehnachrichten gesetzten Schwerpunkte“ (Iyengar 1992:125). Abgesehen von der Frage der Übertragbarkeit auf die heutige Gesellschaft und die Bedeutung des Internets: Der hier benutzte Begriff der politischen Öffentlichkeit umfasst auch (wenn auch nicht exklusiv) soziale Bewegungen, Initiativen, Bewegungen im Netz usw., die dieses Potenzial aufweisen. Auch Gerhards und Neidhardt sehen die Öffentlichkeit zumindest an der Themenproduktion beteiligt. Für sie ist Öffentlichkeit „der Artikulationsort von Meinungen und Themen der Bürgerschaft und diverser Interessenorganisationen. Öffentlichkeit ist ein System, in dem die Agenda des politischen Systems mitdefiniert wird. Hier werden Themen gesetzt und Meinungen zu den Themen gebildet, die Rückschlüsse darauf zulassen, in welche Richtung die politische Bearbeitung dieser Themen zu gehen habe“ (Gerhards, Neidhardt 1991:40).

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diese Themen politische Themen. Sie entkoppeln sich dann oftmals schnell von ihrer nichtpolitischen, spezifischen Faktenbasis und werden innerhalb des politischen Systems als Parteipositionen etc., mithin als konventionelle politische Informationsmuster, sichtbar. Massenmedien erzeugen durch Themen und ihre Vermittlung nicht nur Irritationen, sondern ein beständig fortgeschriebenes, stets aktuelles „Hintergrundwissen“ (Luhmann 1995a:121 f.; vgl. Blöbaum 1994:272), das in jeder politischen Kommunikation und Informationsverarbeitung präsent ist, diese entlastet und beschleunigt. Sie tragen damit zur iterativen Selbstbeschreibung der Gesellschaft bei (kritisch Esposito 1999:55, 57). Dieses Gedächtnis wird durch kontinuierliches Präsenthalten, Aktualisieren und Explizieren von Themen aufgebaut und fortentwickelt, zugleich aber durch eine Art gezieltes Vergessen (Luhmann 1995a:180) auf einem operablen Niveau gehalten (durch das Austrudeln von Themen oder die mehr oder minder schleichende Überlagerung durch neue Themen). 2.4.3

Das Internet

Zu den Medien wird hier auch das Ensemble von Publikationstechniken und -praktiken gezählt, die grob unter dem Begriff Internet subsumiert werden können: Webseiten, Blogs, Foren etc. Diese Angebote, Plattformen und Dienste hier einzubeziehen, ist legitim, da Nachrichten im Allgemeinen und politische Inhalte im Besonderen zu den am häufigsten abgerufenen Netzangeboten gehören (vgl. Koch, Frees 2016:427). Das Internet ist, nach Fernsehen und Zeitungen, zu einer der wichtigsten politischen Informationsquellen geworden (Dageförde 2012:277). Prägnantes Merkmal digitaler Öffentlichkeitstechnologien ist ihr stärker symmetrischer Charakter – im Gegensatz zur asymmetrischen Kommunikationsstruktur traditioneller Medien, in der der Konsument nicht oder nicht wesentlich als Produzent erscheint: Im Internet wird „die Grenze zwischen Produzenten und Konsumenten von öffentlicher Meinung“ durchlässiger (Nolte 2012:410). Dieser Prozess ist auch in der Domäne klassischer Medienanbieter erkennbar: Sie bauen im Internet hybride Teil- oder Parallelstrukturen auf, indem sie User-Content, -Bewertungen, -Kommentare und -Diskussionen in die eigene Informationsproduktion einbinden.48 Leichte Zugänglichkeit und niederschwellige Publikationsoptionen gestatten es heute entsprechend befähigten Usern mit relativ geringem technischen und ökonomischen Aufwand, Beiträge in vielfältigen Umgebungen für ein im Prinzip globales Publikum zu veröffentlichen.49 Dadurch entfalten sich multizentrische, stark fragmentierte Kommunikationen vor einem potenziell globalen Horizont, die eine 48 „Leser bzw. Nutzer werden dabei in die Prozesse des Sammelns, Filterns, Editierens, Produzierens und Weiterverbreitens von Informationen einbezogen“ (Neuberger, Welker 2008:30).

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inzwischen erhebliche Bedeutung für die politische Öffentlichkeit und zunehmendem Einfluss auf das operative politische System haben. 50 Auf die Folgen dieser Entwicklung wird in kommenden Kapiteln noch eingegangen. Dieses Teilkapitel widmet sich der Reproduktion politischer Öffentlichkeit. Das Publikationsspektrum des Internets kann dabei auch als eine Zone verstanden werden, die sich zwischen klassischen Massenmedien und einem weiteren Reproduktionsumfeld politischer Öffentlichkeit gebildet hat: den sozialen Interaktionssystemen.

2.5 S OZIALE I NTERAKTIONSSYSTEME Trotz ihrer signifikanten Bedeutung für politische Öffentlichkeit und politisches Operativsystem existieren neben den Massenmedien weitere, nicht minder wichtige Bereiche politischer Themenproduktion, Realitätskonstruktion und Informationsprozessierung. Diese im Rahmen von sozialen Interaktionen (im weitesten Sinn) stattfindenden Kommunikationen sind vorwiegend symmetrisch, da sie direkte Verbindungen potenziell gleichberechtigter Teilnehmer zulassen bzw. erwarten.51 Interaktionssysteme. Die gesamte politische Sphäre ist auf diese „alltagsweltlichen Kommunikationsstrukturen“ (Fuhse 2003:136) angewiesen (Habermas 1992b:427, 442; vgl. Luhmann 1997:814), 52 Czerwick bezeichnet sie als „konkreteste, unmittelbarste und authentischste Ebene des politischen Systems“ (Czerwick 49 Nicht nur in Form des geschriebenen Worts, sondern auch über Videoportale, InternetRadio und -TV. 50 Und zudem das Verständnis von Öffentlichkeit unterlaufen: „Whereas existing societies are national, digital communication produces, it seems, a world society. Yet this is wrong. It produces indefinite numbers of ‚world societies‘. This means it produces a reality of social relations which do not work according the classical logics of Öffentlichkeit and society. The digital metamorphosis disturbs or destroys the existing notions of society and publicness. At the same time it produces new notions of society and publicness: the global others are here in our midst and we are simultaneously elsewhere. The point is that this is not the product of force but the precondition of the digital age“ (Beck 2016:137). 51 Wenn Massenmedien Gesellschaft adressieren, beziehen sich diese Kommunikationen auf Gemeinschaften, um Tönniesʼ Unterscheidung mit aller Vorsicht zu benutzen (1887:4; zur Problematik dieses Begriffes Fuchs 1992:181, 186; Nolte 2000:167 ff.). 52 Lazarsfeld et al. haben in frühen Untersuchungen die Bedeutung des sozialen Nah bereichs und der interpersonalen Kommunikation für die politische Meinungsbildung her ausgestellt (1944:178 ff., 188, 193). Die Wirkung persönlicher Kontakte haben sie als wichtiger eingestuft als die der Zeitungen und des Rundfunks (1944:195). Campbell et al. wiesen auf die Bedeutung von Primärgruppen auf das Wahlverhalten hin (1954:199 f.; vgl. 1964:161; Berelson et al. 1968:97; kritisch Kepplinger, Maurer 2000:454 f.).

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2011:69). Wie die Medien verleihen sie der politischen Öffentlichkeit Präsenz, stellen Resonanzräume bereit und unterstützen ihre Reproduktion. Durch die Nahfeldkommunikation wird die „imperative[] Gegenwärtigkeit“ (Berger, Luckmann 1969:24) der Alltagswelt politikfähig. Zwar werden Informationen primär aus den Medien bezogen, ihre Beurteilung und Gewichtung erfolgt jedoch in hohem Maß in „Anschlusskommunikationen“ innerhalb von „Milieus, Gruppen, Netzwerken oder Interaktionszusammenhängen“ (Schenk, Rössler 1994:278; vgl. auch W. Schulz 2006:48), also in sozialen Nahbereichen und den „Spezialöffentlichkeiten“ des Internets. Dort entstehen politische Urteile mit hoher Verbindlichkeit (Fuhse 2003:136 ff., 147; vgl. Schenk, Rössler 1994:279, 282; vgl. auch Dahl 1982:147 f.; Wirth 1997:310). Gerade bei sehr komplexen Themen könnte dieser Form der Kommunikation besondere Bedeutung zukommen. Denn die Weiterbearbeitung in den Nahbereichen wird offenbar sehr wirksam, wenn die Themen unklar, unerwartet oder kompliziert sind. Interpersonale Kommunikation entfaltet „ihre Kraft […] bei der Bewertung und Interpretation aufgenommener Informationen und Inhalte“ (Schenk 1995:9, 40). 53 Diese SichtAlmond et al. zählen Agenten der politischen Sozialisation auf (2004:53 ff.), auch hier sind die Massenmedien nur ein Agent unter vielen. Es dürfte zulässig sein, diese Liste als Vorlage für die Identifikation solcher sozialer Nahbereiche zu benutzen. Zunächst sind Familien, Ausbildungssystem und Arbeitswelt zu nennen. Dann religiös und ethnisch definierte Gemeinschaften. Dann Peergroups, soziale Klassen und Gender als relevante Interaktions- und Kommunikationsumgebungen. Hinzuzufügen sind neue soziale Netzwerke, auf die noch eingegangen wird. Easton hat ferner den direkten Kontakt zwischen Politikern und Bürgern hervorgehoben (Easton 1965a:121). Lazarsfeld et al. sprechen von „örtlichen ‚Molekularkräften‘“ (1944:199) und haben damit vermutlich Kommunikationssysteme unmittelbarer Soziotope gemeint, zu denen auch die von Oldenburg beschriebenen „Great Good Places“ täglicher Begegnung außerhalb kommerzieller Strukturen zählen (1989:11, 77). Gerhards und Neidhardt nennen die episodenhafte, zu fällige Kommunikation im öffentlichen Raum sowie organisierte öffentliche Veranstaltungen, die primär der „Selbstreflektion der Teilnehmer“ dienen (1991:50 f., 52 f.) 53 Bei der Betrachtung der Kommunikationskomponenten Information, Mitteilung und Verstehen scheinen asymmetrisch operierende Massenmedien den Schwerpunkt auf Information und Mitteilung zu legen, während politische Interaktionskommunikation stärker das Verstehen fokussiert. „Massenmedien dienen der themenspezifischen Erstinformation und leiten interpersonale Kommunikation ein, die zur Themengewichtung (Agenda-Setting) beiträgt. Interpersonale Kommunikation über die ‚wichtigen‘ Themen führt dann zu weiterer Aufnahme von Information aus den Medien. Interpersonale Kommunikation stellt somit ein entscheidendes Scharnier im Medienwirkungsprozess dar, indem sie die Themenwichtigkeit und fortgesetzte Medienwahrnehmung stützt“ (Schenk 1995:198). Schenk beschreibt den Bezug zwischen beiden Systemen als zyklischen Kom -

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weise ist nicht unumstritten: „You do not necessarily learn more from people who are like you, nor do you necessarily learn more from people you like“ (Lupia, McCubbins 1998:63; vgl. auch Schütte 2002:183; MacKuen 1990:60, 82 f.; Putnam 2000:179; Strecker, Schaal 2006:133 f).54 Neue soziale Netzwerke. Neben den interaktionsbasierten Systemen ist ein weiterer Typ symmetrischer, gemeinschaftsorientierter Kommunikation zu nennen, die sich allein im Internet vollzieht: Hier „verschwimmt die Grenze zwischen Medium und direkter Kommunikation unter Anwesenden“ (Nolte 2012:165). Neben politischen Diskussionsforen sind insbesondere Social Media zu erwähnen, die für die Distribution politischer Informationen eine zunehmend wichtige Rolle spielen (Smith 2013), die jener der interpersonalen Kommunikation ähnelt – und die gleichen Fragen in Bezug auf Selbstreferenz aufwirft. Diese Kommunikation ist gruppenorientiert und unterstützt die Interpretation und Gewichtung von Informationen in einem sozialen Kontext: „News consumption is a socially-engaging and socially-driven activity, especially online“ (PEJ 2010). Auf diese kommerziellen Systeme kann deshalb die Aussage übertragen werden: „Die […] interpersonale Kommunikation dient weniger der Information über Politik als vielmehr der Verteilung und Strukturierung zuvor aufgenommener Medieninhalte“ (Gabriel, Brettschneider 1998:288). Sie erzeugt allerdings auch „einen absoluten Nahraum, in dem das Außen eliminiert ist“ (Han 2012:58; vgl. Sunstein 2006:62; Gutmann, Thompson 1996:137). Als äußerst problematisch sind die damit korrespondierenden, benutzerzentrierten Algorithmen der Suchmaschinen anzusehen, die soziale und inhaltliche Präferenzen der Anwender als Selektions- und Filterkriterien nutzen und damit selbstreferenzielle, hermetische Informationsräume konstituieren (vgl. Sunstein 2006:123).

2.6 Ö FFENTLICHE M EINUNG Die Prozesse politischer Kommunikation und Informationsproduktion in der Öffentlichkeit und ihre Darstellung in den Medien unterliegen einer Deutung als öffentliche Meinung – einem Konstrukt, durch das die politische Öffentlichkeit für andere gesellschaftliche Teilsysteme, aber auch für sich selbst, beobachtbar wird. munikationsprozess (vgl. 1995:41; Schenk, Rössler 1994:283). 54 Interpersonale Kommunikation ist der Vermutung einer intensiven Form sozialer Kontrolle kontingenter Meinungen ausgesetzt. Gerhards und Neidhardt gehen davon aus, dass diese Art der Kommunikation homogene Meinungsbereiche stützt und fördert (Gerhards, Neidhardt 1991:50 f., 52 f.; Lazarsfeld et al. 1944:178 ff., 189; vgl. auch Campbell et al. 1954:204; MacKuen 1990:82 f.; Putnam 2000:341; Sunstein 2006:88). Schenk sieht das durch seine Untersuchungsergebnisse allerdings widerlegt (Schenk 1995:229).

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Diese Konstruktion einer öffentlichen „Beurteilung“ (Luhmann 2000:286) des operativen Systems ist für dieses System „einer der wichtigsten Sensoren, dessen Beobachtung die direkte Beobachtung der Umwelt ersetzt“ (Luhmann 1995a:180, 185; vgl. Marcinkowski 2002:91; Habermas 1992b:435). 55 Die öffentliche Meinung spiegelt die Kontingenz und Komplexität dieser Umwelt. Wie die politische Öffentlichkeit selbst ist sie inhomogen und fragmentiert (vgl. Baecker 1996:107). Irritationsbeziehungen zwischen operativem politischem System und seiner gesellschaftlichen Umwelt basieren wesentlich auf der Wahrnehmung und Interpretation öffentlicher Meinung (vgl. Luhmann 1990:181). Als Beobachtung von Beobachtern ist sie ein „Medium für ein Beobachten zweiter Ordnung“ (Luhmann 2000:287; vgl. Marcinkowski 2002:92), für Feedbacks in demokratisch organisierten Systemen.56 Das operative System leitet aus ihrer Beobachtung, unabhängig von demokratischen Prozeduren wie Wahlen, Legitimation ab, klärt Zustimmungschancen, Handlungsoptionen und -restriktionen. Öffentliche Meinung wird damit auch zum Medium der Selbstbeobachtung des politischen Systems (Luhmann 2000:297; vgl. Gabriel 2004a:85; Czerwick 2008:100). Öffentliche Meinung ist nicht identisch mit politischer Öffentlichkeit.57 Sie ist ein virtuelles Produkt ihrer Beobachtung, das mit seiner Erzeugung zugleich aufhört zu existieren (vgl. Luhmann 1990:177). Sie ist eine Art Momentaufnahme der Kristallisierung von Themen, Beiträgen, Meinungen, Präferenzen, „a set of attitudes on matters of public importance or concern“ 55 Öffentliche Meinung wird hier mit ihrem spezifischen Gesichtspunkt des Politischen assoziiert. Das heißt, wie oben angemerkt, sie gehört zu Kommunikationszusammenhängen, die sich auf kollektiv bindende Entscheidungen oder etwas allgemeiner auf die „öffentlichen Angelegenheiten“ beziehen (Sartori 1987:95 f.; vgl. Barber 1984:107). Es geht nicht um Meinungen zu den übrigen Dingen des Alltags. 56 Öffentliche Meinung genießt dennoch keine uneingeschränkte Dignität. Ihre Verbindlichkeit wird vielmehr durch einen strukturellen Makel relativiert. „Die Öffentlichkeit zahlt für ihre Leistung, die sie in der Gesellschaft erfüllt, den hohen Preis, dass sie an sich selbst vorführen muss, was sie über alle anderen Systeme behauptet: Artifizialität und Kontingenz. Sie kann nichts als Meinungen reproduzieren und dafür nichts anderes verwenden als Meinungen“ (Baecker 1996:97). Baecker spricht deswegen von einer „eigentümlichen Oszillation zwischen Beobachtung und Diskreditierung, die alles einfärbt, was die Öffentlichkeit zu ihrem Gegenstand macht“ (1996:99). 57 Baecker bezeichnet sie als „Zweitversion von Öffentlichkeit“ (1996:101) und somit als Beobachtung und Deutung der Medien und der Demoskopie. Auch Gerhards und Neidhardt sehen öffentliche Meinung als soziale, Konstruktion, als „kollektive Größe, die gegenüber dem gesellschaftlichen Rohstoff individueller Bevölkerungsmeinungen mehr oder weniger verzerrt erscheint“ (1991:62; vgl. Neidhardt 1994:26; Habermas 1992b:438).

2 D IE B EOBACHTUNG

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P OLITIK

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(Easton 1965b:42), die zu einem bestimmten Zeitpunkt etwa demoskopisch als Status abgegriffen werden, der in kürzester Zeit wieder überholt sein kann. Insofern ist öffentliche Meinung strukturell instabil, bedingt zuverlässig und ihre Interpretation mit Unsicherheit belastet. Trotz (oder gerade wegen) dieser permanenten Vorläufigkeit treibt sie die Selbstfortsetzung politischer Kommunikation voran. Aus diesem Blickwinkel ist öffentliche Meinung „ein Resultat von (öffentlicher) Kommunikation, das zugleich als Prämisse weiterer (öffentlicher) Kommunikation dient“ (Luhmann 1992a:78). Das operative politische System ist nach Luhmann strukturell über die öffentliche Meinung an die Massenmedien gekoppelt (Luhmann 2000:304; vgl. Brodocz 2003:85). Anstelle der Beobachtung der amorphen, schwer zu fassenden öffentlichen Meinung durch die Medien, nutzen Politik und Medien häufig deren demoskopische Reproduktion durch Umfragen etc. (Fuhse 2003:138). 58 Meinungsforschung ist eine Irritationsquelle des gesamten politischen Systems (vgl. auch Czerwick 2011:192; vgl. auch Grossman 1998:85), das auf komplex verwobenen Beobachtungen zweiter Ordnung basiert, in denen die beteiligten Systeme – operatives System, politische Öffentlichkeit, Medien und Demoskopie – einander beobachten und nicht nur die Beobachtung der Beobachter, sondern auch die Wahrnehmung oder Antizipierung des Beobachtetwerdens, Beobachter wie Beobachtete beeinflusst (vgl. Schulz et al. 2000:437).

58 Gemeint ist hier die medial kommunizierte kommerzielle Demoskopie, die von der wissenschaftlichen empirischen Sozialforschung zu unterscheiden ist (eine kritische Auseinandersetzung mit ihrer Funktion und politischen Bedeutung findet sich in Lindblom, Cohen 1979:40 ff., 64). Sie erweckt den Eindruck, jenseits von Medien und Politik in einer neutralen Zone zu operieren und einen authentischen Blick auf die Realität zu gewähren. Mit diesem Anspruch „delegitimiert“ sie die traditionellen Medien (Saxer 1998:59). Luhmann hat ein konkurrierendes Verhältnis von Demoskopie und Massenmedien gesehen: „Ihre besondere Funktion mag darin liegen, eine Konstruktionsweise durch eine andere in Schach zu halten“ (Luhmann 1992a:86). Unklar bleibt, ob es sich hierbei um ein evolvierendes Teilsystem traditioneller Massenmedien handelt oder mittlerweile ein ausdifferenziertes eigenes Medium darstellt. Meinungsforschung verschafft kommerziellen Interessen einen „privilegierten Zugang zur Politik“, wie Crouch anmerkt (Crouch 2003:99), sie kann sich als „inconsistent with certain aspects of political democracy” erweisen (Lindblom, Cohen 1979:69). Bourdieu sah sie die gesellschaftlich mit der legitimen Formulierung von Meinungen beauftragten Instanzen, wie etwa Gewerkschaften oder Mandatsträger, verdrängen (Bourdieu 1996:118 f.). Sie kann konditionierend auf die politische Öffentlichkeit wirken (vgl. Popkin 1991:233; Zolo 1992:202; Hopmann 2010:52; kritisch Engel 1987:261, 273; Brettschneider 2000:493, 498).

3

Unübersichtlichkeit

Für das System der politischen Öffentlichkeit kompliziert sich die Beobachtung des Politischen, das durch neue und komplexe Themen zunehmend unübersichtlich wird. Hier soll nun der Begriff der Unübersichtlichkeit genauer betrachtet werden.

3.1 D ER B EGRIFF

DER

U NÜBERSICHTLICHKEIT

Die aus systemtheoretischer Perspektive naheliegende Annahme ist, dass hohe interne und externe Komplexität, das heißt, die Komplexität der Systemumwelt und die eigener Strukturen, hier eine zentrale Rolle spielt. Allerdings scheint Komplexität dieses Phänomen alleine nicht zu erklären. Ein weiterer Faktor, der das System der politischen Öffentlichkeit irritiert, ist Kontingenz. Wenn im Prozess der Beobachtung Komplexität und Kontingenz wahrgenommen werden, entsteht, das ist eine These dieses Buchs, Unübersichtlichkeit, die dann zum demokratischen Dilemma beitragen kann. Der Begriff der Unübersichtlichkeit findet sich bei Habermas, der ihn in Ver bindung mit Orientierungsproblemen in der Moderne verwendet (vgl. Habermas 1985:141). Er bezieht ihn aber auch auf die Komplexität der politisch zu organisierenden Lebenswelt.1 Fuchs bezieht Habermas‘ Topos auf die „Hypertrophie zu1

„Die Zukunft ist negativ besetzt; an der Schwelle zum 21. Jahrhundert zeichnet sich das Schreckenspanorama der weltweiten Gefährdung allgemeiner Lebensinteressen ab: Die Spirale des Wettrüstens, die unkontrollierte Verbreitung von Kernwaffen, die strukturelle Verarmung der Entwicklungsländer, Arbeitslosigkeit und wachsende soziale Ungleichgewichte in den entwickelten Ländern, Probleme der Umweltbelastung, katastrophennah operierende Großtechnologien geben die Stichworte, die über Massenmedien ins öffentliche Bewusstsein eingedrungen sind. Die Antworten der Intellektuellen spiegeln nicht weniger als die der Politiker Ratlosigkeit. Es ist keineswegs nur Realismus, wenn eine forsch akzeptierte Ratlosigkeit mehr und mehr an die Stelle von zukunftsgerichteten Orientierungsversuchen tritt. Die Lage mag objektiv unübersichtlich sein. Unübersichtlichkeit ist indessen auch eine Funktion der Handlungsbereitschaft, die sich eine Gesellschaft zutraut. Es geht um das Vertrauen der westlichen Kultur in sich selbst“ (1985:143).

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D EMOKRATIE

gelassener Beobachtungsmöglichkeiten“ (Fuchs 1992:16) und verweist damit auf Kontingenzprobleme komplexer moderner Gesellschaften. Für den Autor signalisiert der Begriff der Komplexität in der kommunikativen Verwendung allein schon die „Unübersichtlichkeit von Zusammenhängen“ (Fuchs 1992:35). Auch Holzinger bezieht den Begriff der Unübersichtlichkeit auf zunehmende Komplexität, vor allem auf die Gleichzeitigkeit komplexer Prozesse und die damit einhergehende Intransparenz der Gesamtzusammenhänge (vgl. Holzinger 2007:15). Nassehi erwähnt den Begriff im Zusammenhang mit der funktional differenzierten und daher multiperspektivischen Gesellschaft, denn „[a]lles, was geschieht, wird doppeldeutig, mehrfach codiert, an alles kann auch anders angeschlossen werden“ (Nassehi 2011:30 f.; 2015:12). Auch bei ihm wird somit der Zusammenhang von Komplexität und Kontingenz thematisiert. Bei Luhmann steht der Begriff nicht an zentraler Stelle, er taucht aber im Zusammenhang mit der „komplexer und unübersichtlicher gewordenen gesellschaftlichen Umwelt“ auf (Luhmann 1975b:62, 1969:169; ebenso Baecker 2008:9 und Richter 2008:21). Unübersichtlichkeit wird hier als prägnantes Merkmal spätmoderner Gesellschaften verstanden.2 Mit Komplexität und Kontingenz werden hier zwei Begriffe verwendet, die sich interessanterweise einer eindeutigen Definition entziehen und damit in gewisser Weise auch auf sich selbst verweisen. Jochum beschreibt Komplexität als Begriff, der sich einer „scharfen Definition“ entzieht (1998:28; vgl. auch Fuchs 1992:36) 3, und tatsächlich existiert hierfür keine umfassende und eindeutige Definition (vgl. auch Riedl 2000:4; Gould 1996:248). Für den Terminus Kontingenz gilt das ähnlich (Holzinger 2007:25). In diesem Kapitel wird zuerst auf das Phänomen der Komplexität, dann auf das der Kontingenz eingegangen.

2

Der Begriff der Spätmoderne wird in Anlehnung an Rosa als Bezeichnung für eine historische Phase benutzt, für die auch die Termini Postmoderne (Lyotard), Zweite oder Reflexive (Beck, Giddens, Lash) bzw. Flüssige Moderne (Bauman) zur Anwendung kommen. Mit Spätmoderne bezeichnet Rosa das Resultat einer strukturellen gesellschaftlichen Veränderung und versteht Postmoderne im Gegensatz dazu als Chiffre für eine kulturelle Epochenwende, die in einem primär kulturwissenschaftlich orientierten Diskurs verwendet wird (vgl. Rosa 2005:47 ff., insbesondere Fn. 76; vgl. Giddens 1990:11, 63).

3

Jochum bezeichnet den Begriff als „unmöglich“, aber „brauchbar“ (Jochum 1998:27, 29) und erklärt seinen Nutzen gerade mit seiner Ungenauigkeit: „Komplexität beschreibt, einerlei, in welchem Kontext sie auftritt, stets etwas, das gerade nicht einfach präzisiert werden kann, dessen Präzisierung aber (als) wünschenswert, vorteilhaft oder notwendig ist (vorgestellt wird). Deshalb behaupten wir, dass gerade die Unschärfe der Komplexität einen präzisen, wenn auch paradoxen Sinn verleiht“ (Jochum 1998:38).

3 U NÜBERSICHTLICHKEIT

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3.2 K OMPLEXITÄT Komplexen systemischen Zusammenhängen können zunächst die im Folgenden skizzierten Merkmale zugeschrieben werden. Quantität und Verflechtung. Als komplex wird die Wahrnehmung eines Systems erfahren, wenn die Anzahl seiner Elemente, deren Vielfalt, Verflechtungen und Abhängigkeiten in einem bestimmten Zeitrahmen nicht mehr vollständig beschreibbar sind (Ashby 1956:88, 21, 97 f.; La Porte 1975:6 f.; Klaus, Liebscher 1967:314; Luhmann 1984:46; 1990:62; 1997:136 ff.; 1975b:206; Hayek 1961:25; Ebeling et al. 1998:18; Dörner et al. 1983:26, 44).4 Emergenz. Simon hat seiner Komplexitätsdefinition das Merkmal der Emergenz zugefügt: „[A] large number of parts that interact in a non simple way. In such systems the whole is more than the sum of the parts“ (Simon 1969:195; vgl. Luhmann 1968a:171; Rescher 1998:2; Mitchell 2008:36 f., 46 f.; Hayek 1961:14; Ebeling et al. 1998:19; Kim 1992:121 f.). Emergenz bedeutet, dass das Verhalten und die Kapazitäten eines Systems nicht mehr vollständig aus dem Verhalten und den Kapazitäten seiner Elemente und Teilsysteme zu erklären oder abzuleiten sind (vgl. Mainzer 2008:44; Luhmann 1984:43 ff.).5 Emergenz ist, unter bestimmten Bedingungen (Kim 1992:123), Resultat vielfältiger Rückkopplungsprozesse auf unterschiedlichen Organisationsebenen hochdynamischer Systeme.6 4

„No matter how large the number of components, if there is no potential for components to interact, align, and organize into specific configurations of relationships, there is no complexity. Even if components are organized, but within such completely confining arrangements that no further possibilities for variety in interaction are left open, there is no complexity. Complexity, therefore, has to do with the interrelatedness and interdependence of components as well as their freedom to interact, align, and organize into related configurations. The more components and the more ways in which components can pos sibly interact, align, and organize, the higher the complexity“ (Lee 1997:20).

5

Als Beispiele können die Beziehungen von Molekül und Leben, von Neuronen und Bewusstsein, von sozialen Systemen und Gesellschaft oder von ökonomischer Handlung und Märkten genannt werden. Fuchs betont, dass Emergenz, aus systemtheoretischer Sicht, keine ontologische Bedeutung oder Implikation zukommt (Fuchs 1993:38). Eine kritische Betrachtung des Emergenzkonzeptes findet sich bei Markowitz (Markowitz 1986:290).

6

Emergierende Strukturen können auf relativ einfach organisierte Elemente, Ausgangssituationen oder Produktionsregeln zurückgeführt werden (vgl. Gell-Mann 1995:6; vgl. Bechtel, Richardson 1992:278, 285, 265; Bechtel, Richardson 1993:228; vgl. auch Reynolds 1987:6). „Die emergenten Systemeigenschaften höherer Ebene ergeben sich aus den Wechselbeziehungen zwischen Komponenten auf niedrigeren Ebenen sowie aus dem Wechselspiel dieser Komponenten mit ihrem inneren und äußeren Umfeld“ (Mitchell 2008:139; vgl. Mihata 1997:31, 37).

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Dynamik. Komplexe Systeme sind in einer sich verändernden Umwelt sich wandelnde Zusammenhänge. Ihre Dynamik wird von synchronen und asynchronen, einzeln oder parallel auftretenden, sich selbst verstärkenden (positiven) oder bremsenden (negativen) Rückkopplungen mit internen und externen Bezügen angetrieben (vgl. Mitchell 2008:47).7 Intransparenz. Interdependenzen, Vielfalt, Dynamik sind Vokabeln, die auf Intransparenz verweisen. Tatsächlich wird Komplexität diagnostiziert, wenn nur Teile eines Beobachtungsbereichs verstehbar sind, andere nicht zugänglich oder unbekannt bleiben, wenn Wirkungsräume und -spektren von Systemen und die Folgen von Eingriffen in solche Systeme fraglich sind. Fehlende Informationen oder Unklarheit über die Richtigkeit der Bewertung vorhandener Informationen und ihrer Kausalstrukturen erschweren den Zugang zu solchen Systemen (vgl. Dörner et al. 1983:19, 28 f.; Wallach 1998:130). Ihre Komplexität kann systemisch, zeitlich und räumlich verteilte (auch künftige), sich unter Umständen exponentiell entwickelnde und aufschaukelnde Fernwirkungen in nichtfokalen Bereichen auslösen.8 Emergenz kann nach Kim den umgekehrten Effekt der „downward causation“ bewirken: Emergente Strukturen höherer hierarchischer Ebenen wirken dabei auf ihre basalen Komponenten zurück (Kim 1992:120). In sozialen Systemen kann man Downward Causation bei emergenten Eigenschaften komplexer sozialer Systeme ausmachen, die auf Strukturen, Abläufe, Themen und Elemente ihrer Kommunikationen zurückwirken. 7

Solche Rückkopplungen produzieren vielfältige, möglicherweise chaotische Wechselwirkungen zwischen Elementen auf unterschiedlichen Organisationsebenen, in verschiedenen Systembereichen und bewirken oft nichtlineare Dynamiken (vgl. Mitchell 2008:50; Mainzer 2008:101). Umgekehrt erzeugt diese Dynamik ihrerseits neue Komplexität (vgl. Rescher 1998:3,7). Nichtlinearität ist Merkmal von Systemen, die emergente Strukturen aufweisen (vgl. Mainzer 2008:112).

8

In der naturwissenschaftlichen Komplexitäts- und Chaostheorie finden sich weitere Merkmale komplexer Systeme (z. B. Nicolis, Prigogine 1987; Ebeling et al. 1998; Mainzer 2008). Sie werden hier nicht aufgeführt, weil sie zum einen für das Thema nicht relevant erscheinen. Zum anderen wird die Übernahme solcher Merkmale in die Sozialwissenschaften kritisch gesehen. Importiert man die Begriffe in die Sozialwissenschaften, besteht die Gefahr von Kategorienfehlern, Organizismen und falschen Vergegenständlichungen. Dieses Risiko besteht gerade für die Systemtheorie mit ihrem interdisziplinären Ansatz und ihrer Affinität für naturwissenschaftliche Konzepte (vgl. Beyme 2007:215 ff., 349). Als Beispiel sei die Annahme der Möglichkeit spontan entstehender oder auf ein niedrigeres Komplexitätsniveau zurückfallender Strukturen genannt (vgl. z.B. Gell-Mann 1995:9). Zwar macht die durchaus beobachtbare nichtlineare Dynamik sozialer Systeme Voraussagen zumal politischer Entwicklungen außerordentlich schwer oder sogar unmöglich. Aber katastrophenartiges Abrutschen in strukturfreie Formen, Bifurkationen, Phasenübergänge und spontane Bildung neuer Ordnungsformen dürften für diese Art von

3 U NÜBERSICHTLICHKEIT

3.2.1

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Die Position des Beobachters

Der Begriff der Intransparenz zeigt bereits, dass Komplexität auf den Beobachter verweist. Tatsächlich ist Komplexität keine Qualität, sondern die Beschreibung eines Verhältnisses, einer Relation zwischen Beobachter und Beobachtetem (vgl. Ashby 1956:98; Luhmann 1975b:205; 1995b:131; 1997:144; Zolo 1992:21; Winner, Langdon 1975:42).9 Diese Beziehung ist allein durch die Perspektive des Beobachters definiert, seine Unterscheidungen, Kompetenzen und Beschreibungen (Ashby 1956:184; Simon 1969:228; vgl. Luhmann 1997:144). Es gibt keine Komplexität an sich. Komplexität ist stets Komplexität für ein beobachtendes System. Kontexte und Kapazitäten. Es gibt keine kontextfreie Komplexität, nur Zusammenhänge, die für einen Beobachter in unterschiedlichen Kontexten unterschiedliche Bedeutungen und unterschiedliche Grade der Komplexität erkennen lassen (vgl. auch Rescher 1998:31; Searle 1995:52 ff.). Sie kennzeichnet eine Beziehung zu einer spezifischen Umwelt, die nur vom beobachtenden System und dessen Differenzschema abhängig und damit keine objektive Gegebenheit, sondern eine Konstruktion ist. Komplexität ist eine Beschreibung der (ebenso kontextabhängigen) Kapazitäten und Interessen des Beobachters. Sie ist abhängig von der gewählten Ebene der DeSystemen, trotz ihrer hohen Komplexität, schwer zu belegen sein. Selbst in chaotischen Situationen erhalten sich in Gesellschaften Zonen relativer Stabilität und Kontinuität. Eve nennt als Beispiel den Zerfall der früheren UdSSR, bei dem trotz aller Verwerfungen nicht die Möglichkeit einer spontanen Regression der Gesellschaft auf das Niveau von „Jägern und Sammlern“ bestand (vgl. Eve 1997:271 f.). „Auch anscheinend chaotische Abläufe enthalten Reste von alten Ordnungen und Ansätze neuer Ordnung“ (Beyme 2007:218). Das gilt auch für das politische System. Bei einer rein funktionalistischen Betrachtung werden in einer Gesellschaft immer kollektiv bindende Entscheidungen produziert werden (vgl. Czerwick 2011:34 f.). Selbst bei der Zersetzung politischer Strukturen, etwa im Zug der „neuen Kriege“ in den Failed States (vgl. z.B. Münkler 2004:134 ff.; vgl. Czerwick 2011:134), kann das angenommen werden. Ihre Ordnungsform wurde zerstört, eine zumindest rudimentäre Form der Politik existiert aber fort (sei sie auch noch so entsetzlich). Nichtlineare Dynamik ist beispielsweise auf den internationalen Finanzmärkten beobachtbar (vgl. Vogl 2010:145 ff.). Jedoch betreffen auch dort Krisen nur Teile des Systems, ohne den sozialen und strukturellen Zusammenhang des Wirtschaftssystems als Ganzem zu zerstören oder schlagartig zu verändern. 9

„Komplexität ist ein relationaler Begriff. Es liegt in ihrer Natur, dass sie selbst nicht existiert, aber von einem Beobachter mithilfe bestimmter Unterscheidungen jederzeit beobachtet werden kann. Um Komplexität zu definieren, ist es notwendig, sie auf ein System oder einen Zustand zu beziehen. Dann drückt Komplexität etwas über das Verhältnis, die Beziehung zwischen x und y aus“ (Jochum 1998:298; vgl. Luhmann 1975b:207).

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komposition, dem Auflösungsgrad der Wahrnehmung (Gell-Mann 1995:16; Dörner et al. 1983:30, 41), der Perspektive der Beobachtung, dem verfügbaren Wissen (Wallach 1998:130)10 und den Informationsverarbeitungskapazitäten. Mit der Komplexität eines Systems nimmt der Aufwand an Zeit, Ressourcen und Intellekt zu, den ein Beobachter für seine Beschreibung benötigt (vgl. Rescher 1998:16; GellMann 1995:1; Ebeling et al. 1998:25; Jochum 1998:82). Komplexität wird konzediert, wenn die Beobachtung einen defizitären Charakter aufweist. Denn „Organisation auf vielen Ebenen, kausale Wechselbeziehungen zahlreicher Komponenten, Wandelbarkeit im Verhältnis zu einem sich wandelnden Kontext“ (Mitchell 2008:31) erschweren Beobachtung, Verständnis und Beschreibung solcher Systeme und machen ihr Verhalten nicht oder nur schwer vorhersehbar (vgl. Mitchell 2008:137; Hayek 1961:19; Rescher 1998:182, 184). Aus der Sicht des Beobachters bezeichnet Komplexität „den Grad der Vielschichtigkeit, Vernetzung und Folgelastigkeit eines Entscheidungsfeldes“ (Willke 1982:15; vgl. auch Dörner et. al. 1983:16 f.) oder, anders ausgedrückt, die Erkenntnis, die vorhandene Information über ein Feld nicht mehr vollständig verarbeiten und verstehen zu können und aus diesen vorhandenen Informationen keine sicheren Annahmen über künftige Entwicklungen ableiten zu können (vgl. Ashby 1956:98; Mitchell 2008:133; Hayek 1961:16, 37; Luhmann 1997:144; Rescher 1998:16, 27; Mihata 1997:33). Kausalzusammenhänge können wegen dieser Probleme nur für begrenzte Strukturen rekonstruiert werden. Aus der isolierenden Beobachtung von Teilstrukturen oder Teilprozessen kann nicht sicher auf die Entwicklung weiträumigerer Strukturen oder Prozesse komplexer Systeme geschlossen werden (vgl. auch Bechtel, Richardson 1993:228 f.). 3.2.2

Externe Umwelt und Umgebung

Für soziale Systeme bezieht sich Komplexität auf die Relation zu ihrer Umwelt (vgl. Luhmann 1970:115) oder, genauer, zu ihren Umwelten. Umwelt ist aus der Sicht des Beobachters zunächst der „Gesamthorizont seiner fremdreferenziellen Informationsverarbeitung“ (Luhmann 1986:51, vgl. 1990:67; Fuchs 1992:253). Die durch eine Vielzahl anderer Systeme gebildete externe Umwelt ist konstitutiv für soziale Systeme und sie ist systemrelativ, weil sie in Eigenleistung im Rahmen eines Differenzschemas generiert wird (Luhmann 1984:236, 242; 1975b:211). Anders formuliert: ohne Umwelt kein System, ohne System keine Umwelt (Spencer Brown 1969:4; Schönwälder et al. 2004:72; Fuchs 2001:15; vgl. auch Weick 1979:129). Umgebung. Externe Umwelten bestehen aus unterscheidbaren, adressierbaren Systemen sowie einem Restbereich nicht aufgeklärter, strukturloser Umwelt (vgl. 10 Der gleiche Gegenstand kann für einen Beobachter hochkomplex und für einen anderen dagegen einfach sein: „The master chess player does not see the same board as the novice“ (Kahneman 2003:1453).

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Luhmann 1984:256, 249) – der nicht spezifizierten Zone kommunikativen Rauschens.11 Der Terminus externer Umwelt scheint daher zu umfassend sein, und es erscheint nützlich, Uexkülls Unterscheidung von Umwelt und Umgebung zu verwenden.12 Umwelt ist dann das entsprechend dem Differenzschema als fremdreferenziell Wahrgenommene, aber auch Konstruierte. Umgebung ist das nicht Thematisierte und nicht Thematisierbare jenseits der Systemgrenzen und jenseits der Umwelt (das aber möglicherweise einer Beobachtung zweiter Ordnung zugänglich ist). Der Begriff der Umgebung beschreibt einen „Unmarked State“ (Spencer Brown 1969:5) jenseits der Systemgrenze, differenziert ihn jedoch und erlaubt die Vorstellung von Verschiebungen von einem nicht-referenzierbaren in einen referenzierbaren Bereich der Umwelt. Politik beispielsweise kann nur auf politische Kommunikationen reagieren: Die Resonanz des Systems ist immer spezifisch auf eine Umwelt bezogen (vgl. Heiden 11 Ashby weist darauf hin, dass „Rauschen an sich nicht von irgendeiner Form von Vielfalt unterscheidbar ist“. Erst der Beobachter trifft Unterscheidungen, die diese Festlegung erlauben. „Der Begriff ‚Rauschen‘ ist daher völlig von einem ge gebenen Empfänger abhängig, der bestimmen muss, welche Informationen er vernachlässigt“ (Ashby 1956:272). Rauschen und Nachricht sind Kategorien des Beobachters und Produkte seiner Perspektive. Verschiebt er sie, kann zum Rauschen werden, was zuvor Daten waren. Die Systemumwelt ist nur als zumindest rudimentär organisiert wahrnehmbar. Komplexität bedeutet nicht Opazität oder Chaos – Unordnung an sich ist nicht komplex (Gell-Mann 1995:3; vgl. Riedl 2000:4), sondern höchsten kontingent (vgl. Luhmann 1980:251). Der Analyse sind nur Formen organisierter Komplexität zugänglich. In der Beobachtung muss ein Mindestmaß an Ordnung (re-)konstruierbar sein (La Porte 1975:5 f.; Simon 1969:209 ff., 229; Rescher 1998:12; Lee 1997:23; Riedl 2000:101 ff., 136; Bechtel, Richardson 1992:285, 264 f., 229; vgl. auch Luhmann 1975b:205). Auch strukturelle Kopplungen verweisen nicht auf Unstrukturiertes, Volatiles, sondern bilden kommunikative Routen zu organisierten Entitäten. 12 Uexküll beschreibt als Beispiel das Szenario eines Biotops. „[Wir] bauen nun um jedes der Tiere, die die Wiese bevölkern, eine Seifenblase, die ihre Umwelt darstellt und die erfüllt ist von all jenen Merkmalen, die dem Subjekt zugänglich sind. Sobald wir selbst in eine solche Seifenblase eintreten, gestaltet sich die bisher um das Subjekt ausgebreitete Umgebung völlig um. Viele Eigenschaften der bunten Wiese verschwinden völlig, andere verlieren ihre Zusammengehörigkeit, neue Bindungen werden geschaffen. Eine neue Welt entsteht in jeder Seifenblase“ (Uexküll 1933:22). Etwas später präzisiert er die Begriffe in Bezug auf das, was in der Systemtheorie als Universum aus „Systemen in Systemen“ angesehen wird (Jensen 1999:363): „Die Umwelt der Tiere […] ist nur ein Ausschnitt aus der Umgebung, die wir um das Tier ausgebreitet sehen – und diese Umgebung ist nichts anderes als unsere eigene menschliche Umwelt“ (Uexküll 1933:30 f.; Beispiele aus der Biologie z.B. auf 51 ff. und 94 ff.).

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escher 1999:57), für Ereignisse in seiner Umgebung bleibt es blind. Eine Naturkatastrophe als solche, als unmittelbare Realität der rohen Tatsachen13, wird beispielsweise vom politischen System nicht „gesehen“, liegt also in seiner Umgebung. Erst in dem Moment, in dem dieses Ereignis Gegenstand gesellschaftlicher Kommunikationen wird, entsteht eine potenzielle Sichtbarkeit, verschiebt es sich in seine Umwelt. An dem Punkt, an dem die Ereignisse kommunikativ mit Erwartungen kollektiv bindender Entscheidungen assoziiert werden, entwickelt sich eine politische Kommunikation, die für das politische System Relevanz gewinnt. Spricht ein Regierungsvertreter spontan den Hinterbliebenen der Opfer sein Mitgefühl aus, ist das noch kein politisches Kommunizieren. Das tritt ein, wenn etwa finanzielle Unterstützungen und andere Hilfsmaßnahmen beschlossen werden, wenn sich öffentliche Meinung hierzu bildet, Diskurse über künftige oder versäumte Maßnahmen entstehen usf. Politisch sind diese Kommunikationen, sobald sie sich, in welcher Form auch immer, auf kollektiv bindendes Entscheiden beziehen. Dafür musste sich ein spezifisches Thema, die Kommunikationen zu einem Sachverhalt, zuerst aus der Umgebung in die Umwelt des Systems verlagern. 14 Systemgrenze. Die zwischen ihm und seiner Umwelt liegende Grenze wird durch das System spezifiziert, durch die thematischen Räume seiner Kommunikationen, das Spektrum selbstreferenzieller Kommunikationen und der Wahrnehmbarkeit der Fremdreferenzialität von Kommunikationen. Das heißt, die Zurechnungen, die Bezüge der Kommunikationen markieren Außen und Innen (vgl. Luhmann 1997:77, 87; 1995b:17, 50 f.; 1984:53; Baecker 1996:95; Fuchs 1992:175, 194, 246 f.), sie trennen und verbinden gleichzeitig (vgl. Schönwälder et al. 2004:261 f.). Systemgrenzen sind Eigenleistungen, kontingent und wandelbar. Sie können ausgeweitet, wieder zurückgenommen oder umdefiniert werden. 15 Grenzenregionen von Kommunikationssystemen sind – je nach Auflösungsgrad der Beobachtung – oft eher unscharfe Markierungen von Sinnregionen.16 13 So bezeichnet Searle einen Wirklichkeitsbereich, der nicht schon systemisch oder institutionell überformt ist (Searle 1995:37). 14 Das ist ein Beispiel für eine analytische Zurechnung. Es heißt nicht, dass etwa zu spätes Reagieren oder mangelnde Empathie politischer Schlüsselfiguren in solchen Situationen nicht auch zu politischem Schaden führen könnte. Das haben (bei der Überschwemmung von New Orleans und der Ölkatastrophe im Golf von Mexiko) zwei amerikanische Präsidenten lernen müssen (vgl. Richter 2011:34). 15 Weick hat (aus organisationssoziologischer Sicht) darauf hingewiesen, dass Grenzen im Entwicklungsprozess relativ spät etabliert und womöglich erst retrospektiv beschrieben werden können (vgl. Weick 1979:192, 195). 16 Die gemeinsame Außengrenze aller funktional ausdifferenzierten sozialen Systeme bildet die Grenze der Gesellschaft (vgl. Luhmann 1997:150). Auf dieser Ebene wird der für die Systemtheorie konstitutive Grenzbegriff schwerer bestimmbar. Vor dem Horizont der

3 U NÜBERSICHTLICHKEIT

3.2.3

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Interne Umwelt und funktionale Differenzierung

Seine Umwelt ist immer komplexer als das System selbst, es kann keine komplette interne Repräsentation ihrer Elemente oder Relationen geben (Luhmann 1984:47; 1968a:175 f.; 1970:144; Borges 1974:131). Diese Asymmetrie erfordert Selektionen und damit auf längere Sicht den Aufbau spezialisierter innerer Strukturen, die nur noch spezifische Umweltausschnitte und nicht das überkomplexe Ganze adressieren (Luhmann 1984:250; 1997:137; Fuchs 1992:37). Eine Strategie hierfür ist die funktionale Differenzierung des Systems. Auf der Ebene der Gesellschaften differenzieren sich Systeme aus, „die bestimmte gesellschaftliche Funktionen bedienen und sich wechselseitig Leistungen abnehmen, die im Dienst der je eigenen Reproduktion stehen. Beispiele dafür sind Politik, Wirtschaft, Familie, Kunst, Religion, Wissenschaft“ (Fuchs 1992:11). Funktionssysteme entwickeln sich entlang operativer Routinen und Erfordernisse (Luhmann 1987:58; Nassehi 1999a:110; 2003a:162; Bendel 1993:262; Fuchs 1992:73, 74 Fn. 21). Sie bilden sich aus Stabilisierungen funktional bewährter kommunikativer Zusammenhänge (vgl. Nassehi 2009:404)17, und sie weisen jeweils spezi„Weltgesellschaft“ (Luhmann 1997:156; 2000:220) oder eines „Weltsystems“ (Wallerstein 1986:43), der virtuellen Matrix aller kommunikativ erreichbaren Systeme, löst er sich ganz auf (Luhmann 1975b:212; Stichweh 2000:32 ff., 54, 246; Willke 2014:22 f.). Die weltweit vernetzten Kommunikationssysteme und Massenmedien „bagatellisieren“ den Ort als Bezug der Grenzbildung (Luhmann 1997:152; vgl. Fuchs 1992:192; Rosa 2005:352; Beck 1997:28; Schroer 2003:333 ff.; Lübbe 1983:63). Mobilität, Warenströme, die Kommunikationen multinationaler Unternehmen und Organisationen sowie der Wissenschaft trivialisieren den Raum. Zurechnungseinheiten sind dann auch nicht nationale Gesellschaften, sondern die „weltweit operierenden Funktionssysteme“ (Nassehi 2003a:208; 1999a:123; vgl. Stichweh 2000:91, 93, 251; Voelzkow 2000:277 f.; Holzinger 2007:145; Rosa 2005:177). Auch ökonomischer Entwicklungsstand oder kulturelle Prägungen bilden (in Bezug auf jeweils bestimmte Gesellschaftsgruppen) eher schwache Unterscheidungskriterien angesichts der weltweiten Gleichzeitigkeit von Modernität und Tradition, Reichtum und Armut. Selbst die grenzbildenden Strukturen politischer Systeme und des Rechts (Luhmann 1997:166) internationalisieren sich, gleichen sich an oder gehen in übergreifenden Konstrukten auf (vgl. auch Schimank, Lange 2003:173). Bei spiele sind supranationale Systembildungen oder, für das Recht, die Behandlung von Menschenrechten oder Kriegsverbrechen. 17 Diese Annahme unterscheidet sich fundamental von Parsons Sichtweise, der von der Existenz vorgegebener Systemerfordernisse ausging, die die Bildung funktional korrespondierender Teilsysteme erfordert (vgl. Jensen 1980:130 ff.). Gesellschaft wird in der moderneren Systemtheorie allein als „multipler Horizont unterschiedlicher Perspektiven“ (Nassehi 2009:400; vgl. 406) teilautonomer sich bildender und reproduzierender, funktional spezifischer, sich selbststabilisierender Zusammenhänge gesehen. Nassehi hat darauf

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fische Differenzschemata auf (vgl. Nassehi 2003a:159). Für sie entsteht Komplexität einerseits in der Beobachtung externer, durch Differenzierung entstandener Umweltkomplexität und andererseits durch Selbstbeobachtung der eigenen Komplexität (Luhmann 1984: 491, 63). Letztere ist nicht als nachrangig zu sehen: Differenzierung erzwingt Selbstbeobachtung, Selbstthematisierung, Bearbeitung und Reduktion von Binnenkomplexität. Ein System, das sich an eigener Komplexität orientiert, wird als hyperkomplex bezeichnet (Luhmann 1984:637; vgl. 1986:159; 1997:876; vgl. auch Willke 1987:258). 3.2.3.1

Differenzierung und erforderliche Vielfalt

Zwischen interner und externer Komplexität besteht ein Zusammenhang.: „Die Eigenkomplexität des Systems muss in einem angemessenen Verhältnis zur Komplexität der Umwelt stehen“ (Luhmann 1970:76; vgl. 1987:53; Mitchell 2008:20; vgl. auch Weick 1979:269 ff.; Roth 1984:247). Diese Aussage stützt sich auf Ashbys für die Kybernetik formuliertes „Gesetz der erforderlichen Vielfalt“ (Ashby 1956:298 ff.), nach dem nur Komplexität Komplexität reduzieren kann. 18 Je höher seine Eigenkomplexität, desto mehr Umweltdaten kann ein Beobachter verarbeiten, desto mehr Umweltkomplexität kann er reduzieren, desto größer werden seine Spielräume und Entscheidungsspektren. Eigene Komplexität ermöglicht Kompatibilität mit vielfältigeren Zuständen, Störungen (Ashby 1956:122) und Irritationen (vgl. Luhmann 1975b:59). Sie steigert die Überraschungsfestigkeit, sie bedeutet auch Flexibilität im Gegensatz zu unerwünschter Stabilität (vgl. Ashby 1956:125). Ein komplexes System „sieht“ mehr, das Spektrum verarbeitungsfähiger Daten ist größer, der Radius der Wahrnehmung weiter. Je höher es umgekehrt die Auflösung seiner Beobachtungen wählt, bzw. je entwickelter seine Möglichkeit in hoher Auflösung zu beobachten, desto komplexer erscheint auch das Bild seiner Umwelt (vgl. Rescher 1998:26).19 hingewiesen, dass es sich nicht um eine Differenzierung der Gesellschaft, sondern um eine Differenzierung in der Gesellschaft handelt (Nassehi 2011:140). 18 Im Text heißt es: „Nur Vielfalt kann Vielfalt zerstören“ (Ashby 1956:299), bei Luhmann: „Reduktion von Komplexität ist immer Reduktion einer Komplexität durch eine andere“ (1984:50). Er hat darauf hingewiesen, dass diese Vielfalt nicht beliebig sein kann und dem Differenzschema des fokalen Systems zu entsprechen hat (vgl. 1997:123, 135, 196). Erforderliche Vielfalt kann demnach auch als Kompetenz verstanden werden. 19 Komplexitätssteigerung ist keine Praxis, die ein System zwingend als Ganzes betrifft, sie kann aufgrund spezifischer Anforderungen auf bestimmte Zonen begrenzt bleiben und sich ebenso wieder zurückbilden oder verlagern. Komplexe Systeme sind nicht in ihrer Gesamtheit komplex, sie gewinnen die Fähigkeit, „sowohl einfache als auch komplexe Umweltbeziehungen zu haben. Ihre Umwelt wird nicht in jeder Hinsicht zunehmend komplexer […], sondern die strukturelle Abstraktion eröffnet ein Nebeneinander von

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3.2.3.2

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Die erforderliche Vielfalt des politischen Systems

Eigenkomplexität wird wesentlich durch funktionale Differenzierung gesteigert. Für das politische System ist das bereits von Easton festgestellt worden: „Historically, one major mode of response to a heavy input of demands is to be found in the spe cialization of political labour. The greater the structural differentiation within a political system becomes, the greater the variety and frequency of demands that can be processed“ (Easton 1965b:123). Differenzierung steigert dessen Möglichkeiten der Reduktion von Umweltkomplexität und zugleich die interne Komplexität (vgl. Luhmann 1984:261 f., 1986:99; Willke 1982:14), ohne die grundsätzliche Asymmetrie gegenüber seiner Umwelt aufheben zu können.20 Diese Entwicklung von Eigenkomplexität ist selbstverstärkend (Rescher 1998:177; Gell-Mann 1995). Die Beobachtung und das Verstehen von Komplexität führen zu höherer Eigenkomplexität, die die Umwelt wiederum komplexer, unübersichtlicher erscheinen lässt (Rescher 1998:7 ff.), was dann die erneute Steigerung der Eigenkomplexität provoziert.21 Forderungen nach kollektiv bindendem Entscheiden, etwa zu neuen komplexen Themen, zwingen das System, die „eigene Komplexität [zu] steigern und sie zur gesellschaftlichen Komplexität in ein Verhältnis der Entsprechung [zu] bringen“ (Luhmann 1970:169; 1987:60). 22 komplexen und einfachen, differenzierten und undifferenzierten Umweltbeziehungen“ (Luhmann 1975b:108). 20 Insofern wird Komplexität nicht reduziert, in dem Sinn, dass etwas verschwinden oder einfacher würde. Es handelt sich vielmehr um einen Prozess, in dem das „Relationen gefüge eines komplexen Zusammenhangs mit weniger Relationen rekonstruiert wird“ (Luhmann 1984:49). 21 Dennoch kann Komplexitätssteigerung nicht als Telos sozialer Systeme angesehen werden – ihre Ausbildung ist kontingent, reversibel, nicht zwingend und auch kein Produkt evolutionärer Entwicklung (vgl. Luhmann 1980:22; vgl. auch die biologische Sicht Goulds 1996:203 ff., 242, 272 ff.). 22 Ein Beispiel ist die Internet-Kriminalität, die das politische System zwingt, eigenes Wissen aufzubauen, Kommunikationen mit einer Vielfalt gesellschaftlicher Gruppen in die Wege zu leiten, Expertenmeinungen einzuholen und sich strukturell und organisatorisch anzupassen, indem etwa Institutionen wie das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik aufgebaut werden. Ein anderes Beispiel ist der Transformationsprozess, den die Parteien in den 1970er-Jahren durchliefen. In ihm passten sie sich thematisch und strukturell neuen sozialen, technischen und politischen Gegebenheiten auch durch die Steigerung ihrer Eigenkomplexität an (vgl. Dalton 1984:108 ff., 130). Solche Entwicklungen betreffen operatives System und politische Öffentlichkeit gleichermaßen. Die Gesamtheit politischer Kommunikationen muss an Komplexität gewinnen, um mit der gestiegenen Komplexität der Themen und der anderen Funktionssysteme korrespondieren zu können.

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Geringe Eigenkomplexität führt umgekehrt zu einer Simplifizierung der Welt. So ist es beispielsweise fraglich, ob „die spezifische politische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen, [...] die Unterscheidung von Freund und Feind“ (Schmitt 1932:26; vgl.67), tatsächlich die Komplexität der Umwelt eines politischen Systems adäquat repräsentieren kann (vgl. Luhmann 1970:161; Greven 1999:63; vgl. auch Beyme 2007:97, 238 f.). Bauman hat angemerkt, dass diese Scheidung die „Welt lesbar und deshalb instruktiv macht“ (Bauman 1991:93), die Reduktionsleistung dennoch prinzipiell unterkomplex bleibt (vgl. Bauman 1991:104; vgl. auch Dörner et al. 1983:25). Unterkomplexität ist gerade für die Politik der spätmodernen Gesellschaft hochriskant, wenn sie deren „brodelnde Chaotik unterschätzt und ihrer mit der Vermessenheit einfacher Mittel Herr werden will“ (Willke 2002:222; vgl. auch Zolo 1992:48). Das betrifft nicht allein externe Komplexitäten. Kein System kann vollständige „Selbsttransparenz“ erlangen, weil das bedeuten würde, dass die Operationen der Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung sich selbst enthalten müssten. Sie sind deswegen immer auf „Selbstsimplifikationen“ angewiesen (Luhmann 1995b:35; 1987:75). Es ist für politische Systeme dennoch fatal, grundsätzlich oder dauerhaft mit einem zu stark vereinfachten Bild nicht nur ihrer Umwelten, sondern auch ihrer selbst zu operieren. Für politische Systeme ist es, gerade im Hinblick auf ihre Visibilisierungsfunktion, schwierig, die Erwartung angemessener Komplexitätsreduktion und die Anforderung, erforderliche Vielfalt aufzubauen, miteinander zu vereinbaren. Willke geht davon aus, dass die Funktionssysteme und ihre Operationen heute selbst für Experten nicht mehr wirklich verstehbar sind und daher die Notwendigkeit entsteht, dieses Nichtverstehen zu maskieren. Er benutzt hierfür den Begriff der Invisibilisierung. „Invisibilisierung ist eine unabdingbare Voraussetzung der Wirksamkeit komplexer Institutionen, aber auch komplexer symbolischer Systeme wie etwa Semantiken. Durch Invisibilisierung entziehen sie sich der Dekonstruktion durch verwirrte Beobachter“ (Willke 2002:48). Sie erzeugt die Illusion, „der Mensch verstehe im Grunde das Funktionieren der Institutionen und Organisationen und irgendwie auch der Gesellschaft insgesamt“ (Willke 2002:50). 3.2.4

Komplexität und Information

Komplexität ist keine inhärente Eigenschaft von Systemen oder Objekten, sondern Produkt einer Beobachtung, von Unterscheidung und damit ein Informationszusammenhang, der selbstreferenziell als Komplexität gedeutet wird (vgl. Luhmann 1986:44, 158). Vielfalt und Information sind untrennbare Begriffe (Ashby 1956:207). Komplexität wird durch Information repräsentiert bzw. manifestiert sich in Form von Information. Komplexität hat kein anderes Substrat. Sie tritt auf, wenn die

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Deutung von Umweltdaten einen Aspekt der Insuffizienz aufweist. Komplexität wird als Informationsasymmetrie erfahren. Dieses Defizit weist zwei Bezüge auf. Zum einen ein Zuwenig an Information, um externe und interne Vielfalt verarbeiten und erfassen zu können. Komplexität kann dann verstanden werden als „die Information, die dem System fehlt, um seine Umwelt (Umweltkomplexität) bzw. sich selbst (Systemkomplexität) vollständig erfassen und beschreiben zu können“ (Luhmann 1984:50 f.; 1986:158). Zum anderen ein Zuviel an selbst erzeugter fremd- und selbstreferenzieller Information (wo sich das System als eigene Umwelt erlebt). Das heißt ein Zuviel an Daten, Irritationen, Verknüpfungen oder unklar verwobenen Kausalketten, um daraus in verfügbarer Zeit viable Repräsentationen und Beschreibungen erstellen zu können. Gerade funktionale Differenzierung führt zu einer hohen internen Informationslast durch die Vielfalt intern kommunizierter Informationen, Bezüge, Möglichkeiten und Konflikte (vgl. Fuchs 1992:107). Dabei handelt es sich nicht um das Resultat eines passiven Ausgesetztseins im Sinne von Gehlens Reizüberflutung (Gehlen 1940:35 ff.). Vielmehr ist das Zuviel Folge der Eigenleistung der Informationserzeugung. Aus konstruktivistischer Perspektive ist eine Informationsüberlastung nicht möglich (vgl. Luhmann 1986:40; Hoffmann 1998:202; Pörksen 2006:313).23 Anstelle des Begriffs der Informationsüberlastung sollte deswegen der Topos des „Informationsüberschusses“ verwendet werden (Rosa 2005:203). Überschuss lässt den Umgang mit Komplexität auch als Frage der Informationsverarbeitungskapazitäten erscheinen. Während der Mangel die Akquirierung von Informationen, von Wissen initiiert, zwingt der selbst generierte Informationsüberschuss zur Selektion, zur zeitlichen Akkordierung, zur Reduktion von Komplexität, zur Ordnung, Priorisierung und Abblendung von Informationen. In Gesellschaften bilden sich spezialisierte Teilsysteme wie Medien aus, deren Aufgabe es ist, informationelle Überkomplexität so zu reduzieren, dass sie z.B. von der politischen Öffentlichkeit abgenommen und verarbeitet werden kann (vgl. auch Saxer 1998:46, 57). Diese Reduktion ist verlustbehaftet. Gleichwohl hält sie Demokratien operabel und die Eigenkomplexität der Teilsysteme handhabbar, andernfalls würden „dysfunktionale Strukturen von Überkomplexität“ entstehen (Saxer 1998:58). Die Visibilisierungsfunktion des politischen Systems ist beispielsweise ohne diese Leistung kaum denkbar. 23 Gleiches gilt für die Kategorien von Systemstress und Anforderungsüberlastung, die sich bei Easton (1965b:59 ff., 1965a:103 ff.) und Deutsch finden (1966:231). Wenn Information eine Leistung des Systems ist, kann es keine dahin gehende Überlastung durch seine Umwelt geben. Das hier behandelte Phänomen der Unübersichtlichkeit ist nicht primär auf die komplexe Überfülle von Informationen in der Umwelt zurückzuführen, sondern auf die Komplexität selbst erzeugter Information, selbst erzeugten Wissens, selbst erzeugter Themen (vgl. auch Jensen 1999:354 f.; Fuchs 2001:232 f.).

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3.2.5

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Thematische Komplexität

Die politische Öffentlichkeit wird mit komplexen Systemen in ihrer Umwelt konfrontiert. Diese Komplexität manifestiert sich in Form von Themen und thematischen Räumen. Es stellt sich die Frage, ob, wenn Systeme komplex sind, auch Themen und thematische Räume, unabhängig von Systemen, Komplexität aufweisen können. Kommunikativ erreichbar sind nur Systeme. Das bedeutet, dass auch nur Systeme in der Umwelt und deren Beziehungen komplex sein können. So Willke in seiner Kritik an Luhmanns Komplexitäts- und Umweltbegriff (1987:261 f.).24 Dieser ist weiter gefasst: „Es muss sich nicht um Systeme handeln. Auch die Welt ist komplex“ (Luhmann 1997:138). Diese Sicht wird hier auf Informationen über Sachverhalte, auf Themen bezogen: Auch Themen und thematische Räume können komplex sein. Sie können zahlreiche Elemente, Einzelthemen aufweisen, die in komplizierten Beziehungen stehen und vielfältige Verweise auf andere Themen bzw. thematische Räume in sich tragen. Sie können intransparent sein, sich dynamisch und schwer vorhersehbar entwickeln und Fernwirkungen in der Verarbeitung durch spezifische Systeme und Strukturen auslösen. Insbesondere komplexe politische Themen mit technischem oder wissenschaftlichem Hintergrund lassen sich häufig nicht eindeutig einzelnen Bezugssystemen zuordnen, vielmehr sind sie in unterschiedlichen gesellschaftlichen Funktionssystemen präsent und werden dort erzeugt, bearbeitet und aktualisiert. Betrachtet man zum Beispiel die Herstellung und Ausbringung gentechnisch modifizierter Organismen, trägt dieses Thema Verweise auf unterschiedliche Referenzsysteme in sich: auf das Wirtschafts- und das Wissenschaftssystem, das Kultursystem (ethische Aspekte), das Rechtssystem (Kontaminationsproblematik) oder die Medizin (Folgeschäden). Wobei die auftretenden oder absehbaren Probleme oft auch nicht mehr durch Aktivitäten einzelner dieser Systeme lösbar sind. 25 Deshalb erscheint es zulässig, davon auszugehen, dass die politische Öffentlichkeit häufig mit an sich 24 Seine Annahme, dass nicht eine Umwelt als solche komplex sein kann, lässt sich im Grunde auf das konstruktivistische Konzept der Systemtheorie zurückführen. Sobald ein System seine Umwelt durch Unterscheidungen strukturiert, entstehen dort Systeme. Die Selektivität als Eigenleistung des Beobachters (nicht als determinierte Außenwirkung) erzeugt Systeme in einer kontingenten, chaotischen Umwelt. Deshalb kann es auch keine organisationsfreie Umwelt geben. 25 Es ergibt sich ein typisches Bild komplexitätsgeprägter Entscheidungs- oder Bewertungssituationen. 1) Es sind mehrere Variablen, Hinsichten, Dynamiken und Systemreferenzen zugleich zu berücksichtigen. 2) Die Themenelemente und Variablen weisen starke Interdependenzen auf. 3) Die Thematik ist aufgrund von Informationsdefiziten oder -überschüssen intransparent. 4) Es bestehen Wertungs- und Zielkonflikte und die beobachtete Situation ist 5) von hoher Dynamik geprägt (Wallach 1998:130).

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komplexen Themen umgehen muss. Das gilt besonders für eine Klasse, die hier als nicht-konventionelle Themen bezeichnet werden soll. 3.2.6

Konventionelle und nicht-konventionelle Themen

Bei der Untersuchung des Phänomens der Unübersichtlichkeit spielt die Ausdehnung thematischer Räume eine zentrale Rolle. Hier wird angenommen, dass politische Systeme eine Art thematischer Grundlast erzeugen. Gemeint ist damit das kontinuierliche Prozessieren von Themen mit genuin politischem Gehalt, die sich auf Macht, Einfluss, Interessen etc. beziehen: Parteienpolitik, Bündnispolitik, Entscheidungen über Personen und anderes mehr. Diese Themen werden zeitübergreifend als politisch wahrgenommen und können in allen historischen Phasen identifiziert werden. Alle Aspekte dieser konventionellen Themen entstammen dem politischen Feld, werden mit bekannten politischen Mustern kommuniziert, rezipiert und abgearbeitet. Die Diskurse und ihre Sprache werden als politisch apperzipiert, die vertrauten Schemata politischen Urteilens und Entscheidens stehen auch bei komplizierten Sachlagen zur Verfügung. Schwieriger ist das bei jenen Themen, die hier als nicht-konventionelle Themen bezeichnet werden.26 Zu dieser Klasse gehören beispielsweise ökologische Themen, die ab den 1970er-Jahren (S. 277; vgl. Radkau 2011:134 ff.) immer häufiger in die Sphäre des Politischen diffundierten. Die Zahl solcher Themen scheint seither zuzunehmen. Neben der Umweltproblematik im weitesten Sinne sind in den letzten Bei der Thematik der Ausbringung genmodifizierter Nutzpflanzen finden sich diese Kategorien wieder (vgl. für das Folgende Mitchell 2008:124 ff.): Zahlreiche Variablen etwa im Hinblick auf Nutzen (reduzierter Pestizidbedarf) und Risiken (etwa Resistenzbildungen) für das Ökosystem sind zu identifizieren und zu berücksichtigen. Diese Variablen müssen trotz ihrer mehrdimensionalen Abhängigkeiten (z.B. zwischen Pflanzentypen, Chemikalienverbrauch, wirtschaftlichem Nutzen) in verstehbare und bewertbare Beziehung gesetzt werden. Intransparent sind (je nach Qualifikation des Beobachters) die Folgen für das Ökosystem und nicht absehbare aktuelle und künftige Wechselwirkungen mit anderen Organismen, Ressourcen, Zwecken. Zielkonflikte können z.B. zwischen ökonomischen und ethischen Positionen auftreten (wenn etwa beim Export subventionierter oder durch innovative Zuchtverfahren günstiger produzierter Erzeugnisse lokale Märkte importierender Staaten zerstört werden). Eine hohe Dynamik zeigt sich in der wissenschaftlichen Forschung, den Produktinnovationen und in sich ändernden politischen Rahmenbedingungen, Marktstrukturen oder gesellschaftlichen Bewertungen des Themas. 26 Die hier gewählte Begrifflichkeit von konventionellen und nicht-konventionellen Problemen findet sich ähnlich zum Beispiel bei Peters, der „klassische politische Themen“ von „wissenschaftlich-technischen Kontroversen“ unterscheidet (H.P. Peters 1994:163; vgl. auch Fischer 1993:452 f.).

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Dekaden weitere strukturell ähnliche Themen dauerhaft in den Kanon des Politischen aufgenommen worden. Nicht nur, weil sie im Zug technisch-wissenschaftlicher Innovationen auf die politische Agenda gelangen, sondern auch, weil die Bürger der westlichen Demokratien eine Mitsprache in Bereichen reklamieren, die zuvor, oft unterhalb der Aufmerksamkeitsschwelle der Öffentlichkeit, Wirtschaft, Wissenschaft, Administration oder Militär vorbehalten waren. Dahinter steht das Bedürfnis, verbindliche Entscheidungen auch über Detailfragen solcher Themen aus der exklusiven Kontrolle anderer, demokratisch nur bedingt kontrollierter oder legitimierter Funktionssysteme in den öffentlichen Entscheidungsraum zu ziehen. Einige wenige aktuelle Beispiele sind heute: • • • • • • •

die Energiegewinnung und -nutzung angesichts des Klimawandels die Erzeugung und Nutzung gentechnisch modifizierter Organismen die Anwendung der Biomedizin und Genomchirurgie die Lebensmittelproduktion und -sicherheit die Neudefinition von Privatheit, Nutzung von und Verfügung über persönliche Daten durch private Diensteanbieter die Entwicklung und Nutzung staatlicher und privater Kontroll- und Überwachungstechnologien die Praktiken der Finanzökonomie

Diese Themen haben überwiegend technisch-wissenschaftliche Bezüge oder Ursachen. Lindblom hat bereits in den 1970er-Jahren darauf hingewiesen, dass „soziale Probleme in zunehmendem Maße das Ergebnis wissenschaftlicher und technischer Entwicklung werden. Atomkatastrophe, Luftverschmutzung und Energieknappheit sind alle das Resultat von Wissenschaft und Technologie“ (1977:540 f.; vgl. Barber 1984:117; Evers, Nowotny 1987:204 ff.). Ihr politischer Charakter ergibt sich zwangsläufig „[i]n einer Welt, in der technologische Artefakte und Infrastrukturen als Teil der sozialen Ordnung gelten“ (Nowotny 2005:121). Nicht-konventionelle Themen weisen eine bedeutsame Eigenkomplexität auf und erfordern elaboriertes Wissen für ein detailsicheres Verständnis. Sie haben teilweise komplizierte ethische und rechtliche Implikationen 27 und verweisen auf Fernwirkungen, nicht intendierte Folgen und unklare Seiteneffekte. 28 Entscheidungen 27 Beispiele sind die Reproduktionsmedizin, Präimplantationsdiagnostik oder Behandlungsverzicht und Sterbehilfe (Kuhlmann 2011:85 ff., 107 ff.; vgl. auch Kriesi 1994:241). 28 Aktuelle Entscheidungen über solche Themen können irreversible Auswirkungen auf künftig verfügbare Optionen haben. Scheuerman und Preuß zeigen, dass Entscheidungen heutiger demokratischer Mehrheiten Entscheidungen zukünftiger Mehrheiten determinieren oder sogar ausschließen können. Als Beispiele werden die Themen Atomkraft oder Genomforschung bzw. -manipulation genannt (vgl. Scheuerman 2001:54, 61; Preuß 1984:228 f.; Beck 1986:265).

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können in diesem Bereich zu einer „extremen Langfristigkeit möglicher Gefährdungen“ führen (Heidenescher 1999:36) und irreversible, sich aufschaukelnde Prozesse auslösen, die jenseits aktueller Wissens- und Entscheidungshorizonte liegen. Sie entfalten zudem Wirkungen und Aktivitäten nicht nur in einem gesellschaftlichen Funktionssystem und komplizieren dadurch ihre Beobachtung und Bearbeitung.29 Einige dieser Themen, etwa die Entsorgung radioaktiver Abfälle, sind bereits Themen zweiter Generation und bilden nicht intendierte Folgen früherer technologiebezogener politischer Entscheidungsprozesse ab (vgl. Beck 1986:254). Bei nicht-konventionellen Themen handelt es sich nicht nur um spektakuläre Großthemen, die das System etwa auf der Polity-Ebene bearbeiten muss: Auch in der Policy-Dimension unterschiedlicher Ebenen sind sie erkennbar – etwa wenn kommunale oder regionale Technologieprojekte politisch zu begründen und durchzusetzen sind. Technische Unwägbarkeiten, ökonomische Risiken, potenzielle Seiteneffekte auf andere Politikfelder und -ebenen oder andere gesellschaftliche Funktionssysteme lassen auch hier sehr schnell problematische Komplexität entstehen. Nicht-konventionelle Themen unterliegen der konventionellen politischen Bearbeitung innerhalb des politischen Differenzschemas. Trotzdem enthalten sie weiter Verweise auf ihren nicht-konventionellen Ursprung. Gerade diese Verknüpfung von Systemreferenzen bei technisch-wissenschaftlich induzierten Problemen scheint es zu sein, was diese Themen derart verkompliziert.30 3.2.7

Qualitative Komplexität und Wicked Problems

Bei der Betrachtung dieser Themen erscheint es sinnvoll, zwei Arten der Komplexität zu unterscheiden, auf die Systeme auch in unterschiedlicher Weise reagieren müssen. Quantitative Komplexität: Hierunter ist die Anzahl relevanter Elemente oder Objekte zu verstehen – „the sheer volume of information“ (Almond, Powell 1966:179) – die Ereignisse, Detailinformationen und Themen, mit denen das politische System und die politische Öffentlichkeit sich befassen müssen. 29 Ein Beispiel ist die Genomforschung: „Das Genom [ist] zum begehrten Angriffspunkt biomedizinischer, biopolitischer und bioökonomischer Aktivitäten geworden“ (Hagner 2012:49; vgl. Haraway 1995:160, 174 f.). 30 Das gilt allerdings auch für einige komplexe, eher konventionelle Thematiken wie die Finanzpolitik. Auf den Finanzmärkten können Komplexitäten und Dynamiken auftreten, die mit klassischen politischen Erklärungsmustern nicht mehr darstellbar sind, für die die vertrauten politischen Konzepte, Haltungen und Wertungen nicht mehr gelten (vgl. Vogl 2010:145 ff.). Wobei die Konfusion nicht nur im politischen System und in der politischen Öffentlichkeit spürbar wird, sondern auch im Wirtschaftssystem selbst. Vogl spricht im Zusammenhang mit den Krisen ab 2008 von einer „Perplexität innerhalb des ökonomischen Wissens“ (Vogl 2010:21).

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Qualitative Komplexität bezeichnet den sachlichen Aspekt komplexer Systeme, Strukturen und Themen, ihre inhaltliche Kompliziertheit, die Vielfalt und Unübersichtlichkeit der Relationen zwischen ihren Elementen, die Tiefe der thematischen Räume. Qualitative Komplexität beschreibt, versteht man den Begriff relational (S. 51), das Maß „der Unwissenheit eines Systems“ (Luhmann 1986:158) und eine spezifische, defizitäre Beziehung zwischen den Komponenten Information und Verstehen in den Kommunikationen. Auch Easton unterschied Volume und Content von Issues (Easton 1965b:59, 66 f.), ähnlich Almond und Powell (1966:182, 180): Politische Systeme im Allgemeinen und die politische Öffentlichkeit im Besonderen werden nicht nur von der reinen Zahl der Themen, Informationen etc. unter Druck gesetzt, sondern auch (und davon unterscheidbar) durch ihre inhaltliche Bedeutung und sachliche Kompliziertheit (vgl. Almond, Powell 1966:187 f.). Quantitative Komplexität erzwingt primär Selektivität, qualitative Komplexität erfordert primär Wissen. Wicked Problems. Es sind insbesondere nicht-konventionelle Themen, die politische Haltungen, Urteile und Entscheidungen durch hohe qualitative und quantitative Komplexität belasten. Mit ihnen ist eine Problemklasse verbunden, die Rittel und Webber als „wicked“ bezeichneten. Im Gegensatz zu „Tame Problems“ weisen sie die folgenden Merkmale auf: •







Sie entziehen sich bereits einer klaren Definition – „The formulation of a wicked problem is the problem!“ (Rittel, Webber 1973:161).31 Sie lassen häufig keine eindeutige systemische, räumliche und zeitliche Verortung und Wirkungserwartung zu. Sie machen komplizierte Interferenzen zwischen unterschiedlichen Systemen, thematischen Räumen und Wissensarealen sichtbar. Sie sind daher nicht vollständig beschreibbar (Hayek 1961:25). Sie verweisen auf komplexe Ursachenbündel und lassen sich oft nicht eindeutig von anderen Problem- und Themenfeldern separieren (Rittel, Webber 1973:162,160; vgl. Fischer 1993:457). Sie weisen unklare, mehrdimensionale und kompliziert vernetzte Kausalbeziehungen zwischen Elementen und Ereignisfolgen auf. Auch Teilprobleme lassen sich nicht einfach isolieren bzw. isoliert betrachten oder nach Prioritäten ordnen (vgl. z.B. Dörner et al. 1983:22, 26; Dörner 1989:58 ff.; Messner 2003:169). Ein identifiziertes Problem dieser Kategorie kann selbst Teil einer komplexen Problemkette bzw. eines vernetzten Problembereichs sein: „Every wicked problem can be considered to be a symptom of another problem“ (vgl. Rittel, Webber 1973:165, 161). Vertraute politische Schemata der Einordnung sind, ebenso wie eindeutige konventionelle Bewertungen (richtig/falsch, gut/schlecht, Zustimmung/Ablehnung),

31 Darin ähneln Wicked Problems den von Simon und Newell beschriebenen „Ill-structured Problems“ (Simon, Newell 1958: 383 f.; vgl. Simon et al. 1992:28; Schimank 2005:73).

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nicht mehr ohne Weiteres nutzbar. Bewährte Lösungsstrategien sind dieser Problemklasse häufig nicht angemessen (Rittel, Webber 1973:162, vgl. Heidenescher 1999:214). Bestimmte Probleme lassen keine „richtige“ politische Entscheidung oder Beurteilung mehr zu, sondern nur noch pragmatische, situative Teillösungen, Eingriffe oder Schadensbegrenzungen („Auf Sicht fahren“). Aus bestehenden Informationen, Erfahrungs- und Wissensbeständen kann nicht oder nur bedingt auf künftige Entwicklungen und Folgen geschlossen werden. Jede Lösung kann schwer einschätzbare Seiteneffekte und Fernwirkungen nach sich ziehen (Rittel, Webber 1973:159 f., 163, 165; vgl. auch Morozov 2011:310).32 Wicked Problems sind weder durch Rückgriff auf Technik lösbar oder simplifizierbar (Morozov 2011:308 ff.), noch durch Anwendung bewährter politischer Strategien. Beispielsweise sind ökologische Probleme nicht durch Umverteilung behebbar oder können dahin gehend umgedeutet werden (vgl. auch Zolo 1992:57). Sie setzen für ihr Verständnis ein relativ hohes Maß elaborierten Fachwissens, intellektueller sowie sprachlicher Kompetenz voraus. Ihre Beschreibung, Erklärung und die Deutung von Ereignissen setzen oft die Vermittlung durch Experten voraus, die ihrerseits nicht selten durch die Konfusion von Expertise und Gegenexpertise Unsicherheit und Unübersichtlichkeit weiter erhöhen (vgl. z.B. Feick 2000:230 ff.). Lösungen von Problemen, die dem nicht-konventionellen Themenraum zuzuordnen sind, entziehen sich einer klaren Bewertung oder Beurteilung durch die politische Öffentlichkeit: „The issues involved in many public activities may well be so complex and specialized that the public is in no position to judge whether what was done was better or worse than any alternatives“ (Almond, Powell 1966:187).

Es ist eine These dieses Buchs, dass eine steigende Zahl nicht-konventioneller Themen und die mit ihnen verbundenen Wicked Problems die Unübersichtlichkeit des Politischen zunehmen lassen.

32 Rittel und Webber haben insbesondere die schwer kalkulierbare Folgelastigkeit politischer Eingriffe und daraus resultierende operative Risiken hervorgehoben: Der Versuch einer Lösung von Wicked Problems muss im Allgemeinen ohne Versuchsphase erfolgen und erlaubt keinen zweiten Durchgang, weil die Interventionen selbst unmittelbare Resonanzen im Operationsfeld zeitigen und dadurch Folgeprobleme mit eigenen, kaum überschaubaren Wirkungsketten auslösen können.

66 | D IE U NÜBERSICHTLICHKEIT

3.2.8

DER

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Zeitliche Komplexität

Das Komplexitätsgefälle zwischen System und Umwelt kann auch als zeitliches Problem wahrgenommen werden. Komplexität erfordert Selektion und diese wiederum Zeit33 – umgekehrt erfordert Zeit bzw. deren Knappheit in einem komplexen Umfeld permanente Selektion (vgl. Luhmann 1984:70; 1990:64; Rosa 2005:296 f., 300; Dörner et al. 1983:44).34 Soziale Systeme optimieren deshalb interne sowie umweltbezogene Prozesse in Hinsicht auf Zeit (vgl. Luhmann 1970:105; vgl. 1984:256). 35 Sie etablieren außerdem eigene Zeitökonomien, um in komplexen Umwelten eine relative zeitliche Autonomie, eine Emanzipation vom Druck externer Zeitregime, zu erlangen, die ihre Autopoiesis trägt und schützt (vgl. Luhmann 1968a:306; Bergmann 1981:110 ff.).36 Der funktionalen Differenzierung entsprechen daher multiple Eigenzeiten (Rosa 2005:403 f.; Nowotny 1989:8, 43; vgl. S.J. Schmidt1994:25; Paslak 1991:180), eine „Gesellschaft der Gegenwarten“ (Nassehi 2003a:81; 2011:134 f., 160). Wobei es keine Zentralinstanz gibt, die diese Horizonte, disjunkten Zeitregime und -kalküle, 33 Das gilt für jede Informationsverarbeitung. Für Bateson war Information ein Unterschied, der einen Unterschied macht (Bateson 1979:87, 123; vgl. auch Zimmerli 2000:118 f.), das heißt eine signifikante Transformation auslöst, die Diskontinuität und damit Zeitbedarf bedeutet (vgl. 1979:90, 120 f., 134, 136). 34 Wiederholte Selektionen erzeugen für ein System dessen spezifische Zeit (Luhmann 1980:295). Dies zum einen als „Selektionsgeschichte“ (Luhmann 1990:66; 1975b:118; vgl. Nassehi 2003a:66), als Historizität (Riedl 2000:4), die sich in Strukturen und Selbstbeschreibungen als Identität sedimentiert. Zum anderen in Form systemspezifischer Zeit horizonte. Daraus lässt sich ableiten, dass auch Zeit Eigenleistung eines Systems ist: Eigenzeit ist soziale Zeit, eine soziale und – worauf hier nicht eingegangen wird – kulturelle Konstruktion (vgl. Levine 1997: z.B.122 ff. und 177 ff.) und nicht etwa eine physikalisch messbare, sozusagen objektive Chronologie. Das gilt auch für den Akt des Beobachtens, der in sozialer Hinsicht keineswegs in eine objektive Zeit eingebettet ist: „Zeit ist [...] das Konstrukt eines Beobachters“ (Luhmann 1990:114). Auf einen für das Politische ganz wesentlichen Punkt wird hier nicht eingegangen: Zeit ist „eine zentrale Dimension von Macht“ (Nowotny 1989:108, 146, 151). Die Fähigkeit, Zeitordnungen, Rhythmen, Prioritäten und Geschwindigkeiten festlegen zu können, erzeugt politische und ökonomische Macht. 35 Hierauf weist beispielsweise die Ausbildung symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien hin (vgl. Luhmann 1980:298; zum Konzept dieser Medien Nassehi 2003a:168 f.; Baecker 2013:235). 36 Systeme können Zeitprobleme auch dadurch lösen, dass sie ihr operatives Spektrum begrenzter definieren. So kann Deregulierung auch als Versuch der Selbstentlastung des politischen Funktionssystems von Zeitdruck und Komplexität interpretiert werden (vgl. Rosa 2005:415, 325).

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präemptiv koordinieren und im Hinblick auf eine Art Normalzeit synchronisieren würde oder könnte. Vielmehr müssen soziale Systeme die zeitlichen Beziehungen zu einer Vielfalt anderer Systeme durch Synchronisierungsleistungen und eine „zeitliche Abstimmung sachlich differenzierter Systemprozesse“ regeln (Nassehi 1999a:59; Luhmann 1984:72; 1968a:305; 1990:118 ff.). Sie operieren in externen und internen Umwelten mit massiv paralleler Prozesshaftigkeit und müssen ständig, synchron und asynchron, Daten aus einer Vielzahl von Quellen aufbereiten. Und sie müssen selbst massiv parallel operieren, um in adäquater Form Anschlüsse herzustellen und erhalten zu können. Soziale Systeme sind Multitasking-Systeme. Auch das politische System kann nicht sukzessive ein Thema nach dem anderen prozessieren. Parallelität und Asynchronität verlangen Selektion, eine Organisation des Abarbeitens, der Priorisierung durch zeitweiliges Zurückstellen (Luhmann 1980:196, 239; 1986:43), die „Temporalisierung von Komplexität“ (Luhmann 1984:77; Rosa 2005:297).37 Sie verringert den Aktualitätsdruck, erhöht jedoch die Komplexität für die Beobachter in seiner Umwelt (vgl. auch Rosa 2005:298 Fn. 97, 300).38 3.2.9

Komplexität als Komplikation

Komplexität ist hier bisher vorwiegend als Problem beobachtender Systeme thematisiert worden. Als ausschließliche Einschätzung hieße das allerdings, sie als Komplikation misszuverstehen (Luhmann 1997:144). Zum einen ist die stabili37 Das erklärt das Phänomen der Fokussierung auf Themenkomplexe (Münch 1995:125). Luhmann hat von der „temporalen Struktur der öffentlichen Meinung“ gesprochen, die sich im Phänomen der Themenkarrieren und der Reaktualisierung von Themen wiederfindet (Luhmann 1990:177, 180). 38 Temporalisierung von Komplexität, konzentriertes und fokussiertes Operieren auf überschaubaren Themenkonstellationen, erfordert Mechanismen der Zwischenspeicherung und Reaktualisierung – eine Art Gedächtnis, das Diskontinuitäten kompensiert (vgl. Luhmann 1990:180; 1984:75; 1995b:22; Weick 1979:66; Czerwick 2011:116 f.). Auf gesellschaftlicher Ebene sieht Elena Esposito die Massenmedien diese Funktion ausüben: „Die Massenmedien sind […] das Gedächtnis der modernen Gesellschaft, ein auf Ver bindungen eher als auf Inhalte, auf Variabilität eher als auf Stabilität begründetes Gedächtnis“ (Esposito 1999:56). Ähnliches gilt für Feedbacks. Eastons Modell ist, darauf hat Luhmann hingewiesen (Luhmann 1970:157), auch ein Modell zeitlicher Strukturen: Rückkopplung benötigt Zeit. Sie stellen eine zeitlich verzögerte Reaktion dar. In dieser Spanne arbeitet das Sys tem im Multitasking-Betrieb weiter, muss aber seine bisherigen Produktionen, Zwischenstände, Inputs im Hintergrund präsent halten. Konstanz in dieser Hinsicht muss durch Persistenzmechanismen und längerfristig durch dauerverfügbare Selbstbeschreibungen sichergestellt werden (hierzu Weick 1979:184, 192).

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sierende innere Ordnung, die ein System seiner Umwelt entgegensetzt, auf Eigenkomplexität angewiesen. Sie garantiert Autonomie und Reproduktionsfähigkeit des Systems. Zum anderen ist Komplexität auch als Potenzial zu sehen. Ohne hier auf die Bedeutung aus evolutionstheoretischer Sicht eingehen zu können, soll auf Komplexität als Reservoir der Varietät und positiven Irritation hingewiesen werden. Diese Annahme stützt sich auf Bateson, der die Angewiesenheit der Systeme auf Nichtgeordnetes, Unkontrolliertes betont und darauf hinweist, dass „für die Herstellung neuer Ordnung das Wirken des Zufälligen, die Fülle ungebundener Alternativen (Entropie) erforderlich ist“ (Bateson 1979:60, 65; vgl. auch Simon 1983:81).39 Soziale Systeme, das politische eingeschlossen, reduzieren Komplexität nicht sinnvoll, indem sie sie ausschließen oder bekämpfen. Für sie ist es vielmehr notwendig, Komplexität auszuhalten, zuzulassen und ggf. sogar zu fördern: Komplexität kann durchaus programmatisch verstanden werden (Jochum 1998:218).40 Politische und kulturelle Entwicklungen können auf alternative Sichtweisen, Deutungen oder Konzepte zurückgeführt werden, die der Gesellschaft zunächst als Steigerung oder Variation ihrer Komplexität erscheinen mussten, letztendlich aber dazu führten, dass insgesamt mehr Komplexität verarbeitet und auf zusätzliche Themen reagiert werden konnte. Als Beispiel hierfür könnte die ökologische Aufklärung genannt werden, die die Kapazität des politischen Systems für den Umgang mit ökologischen Gefährdungen – und zwar gerade auch in Hinsicht auf deren Komplexität – gesteigert hat.41 39 Solche Transformationspotenziale sind allerdings rigiden Selektionsprozessen sozialer Systeme ausgesetzt. Es sind, legt man Bateson entsprechend aus, stochastische Systeme (Bateson 1979:229) – zufallsgetrieben, aber selektionsgesteuert. Nur wenn Neuerungen als systemisch kohärent (vgl. Bateson 1979:230) erkannt werden, können sie sich etab lieren und möglicherweise eine Transformation initiieren: Autopoietische Systeme sind strukturell konservativ (vgl. Bateson 1979:224 ff.; Weick 1979:179; Riedl 2000:290 ff.). Bateson bezeichnete Evolution als „wertfrei“ (1979:216) und schloss nicht aus, dass Selektion z.B. auch Repression bedeuten kann. Entwicklung ist hier nicht normativ gemeint. Sie kann (aus einer bestimmten Sicht) Rückentwicklung, ja Destruktion bedeuten. Eine Möglichkeit, der jedes (auch politische) System ausgesetzt ist. 40 Insofern kann auch Ordnung bestandskritisch sein: „Wenigstens auf der Wahrnehmungsebene ist das Problem von Organisationen nicht das der Entropie oder des Ordnungsverlustes, sondern das genaue Gegenteil“ (Weick 1979:265). 41 Eyerman und Jamison schreiben solche Innovationsleistungen sozialen Bewegungen zu: „The forms of consciousness that are articulated in social movements provide something crucial in the constitution of modern societies: public spaces for thinking new thoughts, activating new actors, generating new ideas, in short, constructing new intellectual ‚pro jects‘. The cognitive praxis of social movements is an important, and all too neglected, source of social innovation“ (Eyerman, Jamison 1991:161).

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3.3 K ONTINGENZ Unübersichtlichkeit wird hier nicht als Synonym für Komplexität verstanden.42 Vielmehr wird davon ausgegangen, dass für ein System in der Auseinandersetzung mit sich selbst, seinen Komponenten und seiner Umwelt mindestens ein weiterer Aspekt hinzukommen muss, der Komplexität zu Unübersichtlichkeit werden lässt: Kontingenz. Unübersichtlichkeit ist eine Eigenschaft eines zweidimensionalen Problemfelds von Komplexität und Kontingenz. 3.3.1

Der Begriff der Kontingenz

Beide Phänomene sind voneinander abhängig. Kontingenz ist das Problem, das entsteht, sobald das Problem der Komplexität gelöst wird: „Komplexität […] heißt Selektionszwang. Selektion heißt Kontingenz“ (Luhmann 1984:47, 157; 1997:137; Fuchs 1992:38). Wenn soziale Systeme aus Daten Informationen generieren, ist das ein Prozess der Unterscheidung, der Auswahl, der Priorisierung und Bewertung, der stets auch anders verlaufen, andere Ergebnisse zeitigen, andere Bedeutungen, Wirkungen, Aktivitäten und Erkenntnisse entfalten kann. Jede Selektion verweist auf andere, auf ausgeschlossene Möglichkeiten. Das mehr oder minder starke Wahrnehmen, Mitdenken oder auch Bewussthalten des auch anders Möglichen oder Denkbaren, des Unverfügbaren (Marquard 1981:18), aber auch des Zufälligen und Nichtintendierten ist – neben der Komplexität – das zweite prinzipielle Problem sozialer Systeme. Kontingenz ist ein Problem, da sie jede Kommunikation mit Momenten der Unsicherheit, der Instabilität belastet, weil jede Beobachtung, jede Unterscheidung, jede Information, so wie jedes Verstehen, potenziell revisionsfähig und dadurch vorläufig und oft ambivalent erscheint. Während Komplexität letztlich als technisches Problem, als Frage der Informationsverarbeitungskapazitäten, der zeitlichen Ressourcen und Reduktionsstrategien aufgefasst werden kann, bleibt Kontingenz als grundsätzliche, nicht auflösbare Infragestellung jeder Komplexitätsbeherrschung virulent. Durch diese zweite Dimension der Kontingenz wird Komplexität zur Unübersichtlichkeit.43 Münch weist auf mögliche umgekehrte Effekte hin. Er unterscheidet zwischen modernen und antimodernen Bewegungen. Erstere öffnen thematische Räume, Letztere schließen sie oder bekämpfen die potenziellen Folgen von Öffnungen (vgl. Münch 1995:39 f.; vgl. auch Eisenstadt 2000a:182). 42 Anders bei Jochum (1998:33). 43 Kontingenz ist nicht ausschließlich eine Qualität einer Umwelt oder ihrer Elemente (etwa in der Art, dass das Wirtschaftssystem eine kontingente Realität sui generis für das Politische darstellte). Stattdessen sind soziale Systeme auch sich selbst kontingent. Kommunikationssysteme sind keine (selbst-)determinierten oder determinierbaren Systeme, das heißt, der interne Aufbereitungsprozess von Daten zu Informationen ist immer auch anders vorstellbar. Ihre Autopoiesis verläuft hochgradig parallel und verteilt,

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Information und Unsicherheit. Komplexität steigert Kontingenz (Luhmann 1984:422; 1990:65), die vonseiten des Systems primär als Unsicherheit erfahren wird.44 Die Komplexität, die soziale Systeme durch Differenzierung gewinnen, hat den Verlust der Eindeutigkeit ihrer Reduktion zur Folge. „Was an einer Stelle und von einer Stelle aus beobachtet wird, lässt sich an anderen Stellen und von anderen Stellen aus anders beobachten“ (Fuchs 1992:7, 228; vgl. Holzinger 2007:26, 38, 40; vgl. auch Makropoulos 1998:59 ff.). Somit wird jede, gerade auch politische, Deutung, Zurechnung mehrdeutig, ambivalent, muss andere, nicht weniger plausible Deutungen als möglich einbeziehen (vgl. Weick 1979:247 f.). Kontingenz zersetzt die „natürliche Fraglosigkeit und Sicherheit“ der Erfahrungswelt (Schelsky 1965:403), stattdessen sind, bei zunehmender Vielfalt der Hinsichten, der Informationen und Gründe, „der Wahrheitsebenen […] viele, die wir heute anzuerkennen vermögen“ (Schelsky 1965:426).45 Zeithorizont. Kontingenz bezieht sich offensichtlich auf Künftiges. Allerdings sind auch Vergangenheiten eines Systems potenziell kontingent. 46 Neue Erkenntndiskontinuierlich und nicht notwendig konsensuell. Zwar herrscht in sozialen Systemen keine Beliebigkeit – weil sonst keine sinngestützte Anschlussfähigkeit gegeben wäre – aber die Selbstfortsetzung der Kommunikation, der Zusammenhang von Mitteilung, Information und Verstehen, bleibt kontingent – innerhalb eines Rahmens innerer Kohärenzanforderungen. Ebenso wie Komplexität und Umwelt Produkte autopoietischer Systeme sind, ist Kontingenz als Phänomen an das fokale System gebunden. Kontingenz ist zwar auch ein Verweis auf jenseits der Grenzen Liegendes, aber im System produzierte Wahrnehmungen oder Unterscheidungen sind per se kontingent. 44 Komplexität erzeugt „immer Selektionsdruck und Kontingenzerfahrung [...] Das Komplexitätsgefälle wird im System deshalb vorwiegend als Kontingenz der Umweltbeziehungen erfasst und thematisiert. Diese Thematisierung kann zwei verschiedene Formen annehmen, je nachdem, wie die Umwelt gesehen wird: Wird die Umwelt als Ressource aufgefasst, erfasst das System Kontingenz als Abhängigkeit. Wird sie als Information aufgefasst, erfährt das System Kontingenz als Unsicherheit“ (Luhmann 1984:252; vgl. Jochum 1998:304). 45 Nietzsche thematisierte die Öffnungen der Möglichkeitsräume durch diese vermutlich mit der Aufklärung möglich gewordene Anerkennungsleistung (S. 273): „Die Welt ist uns vielmehr noch einmal ‚unendlich‘ geworden: insofern wir die Möglichkeit nicht abweisen können, dass sie unendliche Interpretationen in sich schließt“ (Nietzsche 1882:627). 46 „Die Vergangenheit ist zwar geschehen, aber ihre gegenwärtige Beobachtung enthält genug Kontingenzspielraum, um sie neu zu deuten“ (Nassehi 2009:371). Sie ist demnach ebenfalls Eigenleistung des Systems und nicht objektivierbar (vgl. hierzu auch Foucault 1971:99, 107). Hierauf gibt es einen Hinweis aus der Neurobiologie: Das Abrufen gespeicherter Inhalte ist untrennbar mit einem simultanen Speichern dieser Inhalte ver-

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isse, neue Informationen, Enthüllungen können jederzeit sicher geglaubtes Wissen, Eindeutigkeit und etablierte Selbstbeschreibungen auflösen. Jede Gewissheit kann sich, und das mag ein Kennzeichen der Spätmoderne sein, jederzeit möglicherweise in nichts oder ihr Gegenteil auflösen. Labilität. Kontingenz lässt sich auf Information beziehen, verweist aber auch auf die Labilität der Selbstreproduktion sozialer Systeme. Kommunikationen können, prägnant im Politischen, in ihren Selbstfortsetzungen kaum steuerbare, rhizomatische Verläufe annehmen und sich, wie alle komplexen Systeme, bei aller Kohärenz, auch in unkontrollierbare und unerwartete Zustände entwickeln, sich thematisch verändern, in fremde Kommunikationszusammenhänge fluktuieren oder versiegen.47 Das Kommunikationsgeschehen ist kontingent in Bezug auf seine Verlässlichkeit: „[M]an vergisst vor lauter Interesse an Systemkonstruktion oder Systemprozessen leicht, dass auch Unterbrechungen und Störungen eine erhebliche, wenn nicht sogar die allergrößte Rolle spielen“ (so Jochum 1998:203 in Anlehnung an Serres, der Turbulenzen, Abweichungen und irreguläre Prozesse als Merkmale, als zweite Seite jedes Systems untersucht; vgl. Serres 1980:25 ff.). Kontingent ist politische Kommunikation, mit historisch und gesellschaftlich unterschiedlichen Wahrscheinlichkeiten, auch durch die Möglichkeit ihres Wechselns in einen funktional äquivalenten regressiven Modus, zur Gewalt oder der machtgestützten Durchsetzung von Interessen.48 Schließlich wirkt das politische Geschehen auch bunden (vgl. Singer 2002:84), wobei dieses Überschreiben dann durch den aktuellen Kontext akzentuiert wird. Die Rekonstruktion der Vergangenheit ist ebenso kontingent wie die Schlüsse, die aus ihrer Rekonstruktion gezogen werden. Ihre Entwicklung selbst war kontingent. Das „Zurückspulen des Bandes“ und anschließende Wiederholung der Entwicklung würden nicht das gleiche Resultat erbringen müssen (Gould 1996:263, 214; vgl. Mitchell 2002:193 f.; beide Autoren untersuchen dieses Thema aus evolutionsbiologischer Sicht). 47 Als Metapher für den Beobachter kognitiv überfordernde Ensembles komplizierter Themen, für das Ineinander von Komplexität und Kontingenz, eignet sich der von Deleuze und Guattari verwendete Begriff des Rhizoms. Der Topos wird hier für Phänomene, Zusammenhänge und „Mannigfaltigkeiten“ (1976:14) verwendet, die sich einer Anwendung systematischer Beobachtungslogiken verschließen, deren Struktur nicht den Erwartungen an Hierarchien und ähnliche Ordnungssysteme entsprechen, die azentrisch, verteilt, polymorph und hochdynamisch sind (vgl. 1976:34 f.). 48 Macht und Kontingenz weisen eine weitere Beziehung auf: Kontingenzproduktion ist eine der wirkungsvollsten Machttechniken. Herrschaft stützt sich wesentlich auf Unsicherheit und Ungewissheit (vgl. Bauman 2000:142 f.; Luhmann 1975a:8). Die ihr inhärente Tendenz zur Kontingenzunterdrückung produziert also ihrerseits Kontingenz (vgl. Palonen 2001:14).

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durch die Opazität oligarchischer, oft klandestiner, Strukturen des politischen Systems kontingent. Hondrich hat „Offizial- und Untergrunddifferenzierung“ unterschieden (Hondrich 1987:298). Erstere bezieht sich auf die in der Selbstbeschreibung des Systems fixierten Transparenz und Rekonstruierbarkeit seiner Operationen, die zweite betrifft beispielsweise „Untergrundstrukturen“ (Hondrich 1987:299; vgl. auch Michelsen, Walter 2013:172), die unterhalb der für die politische Öffentlichkeit beobachtbaren Oberfläche des Funktionssystems liegen. Das (meist ungenaue) Wissen um inoffizielle Netzwerke, Arkanpolitik, Lobbyismus, Insiderzirkel oder einen „tiefen Staat“ kann kollektiv bindendes Entscheiden kontingenter erscheinen lassen, als es ohnehin ist. 3.3.2

Kontingenz als Komplikation

Kontingenz, der „zentrale Begriff des Zeitalters der Moderne“ (Holzinger 2007:44; ähnlich Bauman 1991:34; vgl. auch Marquard 1981:18 f.), wird für soziale Systeme ab einem bestimmten Punkt zu einem potenziellen Risiko, weswegen sie Kontingenzkontrolle anstreben, um Eindeutigkeit zu erreichen oder zu simulieren.49 Die Funktionssysteme unterscheiden sich in ihrer Kontingenztoleranz. Während für die Wissenschaft das geregelte und institutionell gestaltete Zulassen und Produzieren von Kontingenz konstitutiv ist, werden politische Systeme dazu tendieren, das Spektrum des Andersmöglichen eher eng zu halten. Diese Systeme werden auf der Prozessebene, aber auch in ihren Selbstbeschreibungen (vgl. Weick 1979:192), Kontingenz möglichst auszuschließen trachten. 50 Kollektiv bindendes Entscheiden ist nicht kompatibel mit Vieldeutigkeit, Zweifel, Vorläufigkeit und Revisionsbereitschaft.51 Zumal eine ideologisch stark aufgeladene Politik wird da49 Willke weist darauf hin, dass Selbstreflexion, als Beobachtung, „die sich damit aus einandersetzt, dass unterschiedliche Beobachtungsformen möglich sind“, eine „prekäre und destabilisierende Strategie der Beziehung zur Welt“ darstellen kann (1999:103, 104; vgl. Luhmann 1975b:74, 86). Camus sagte über die fatale Eigenlogik der Reflexion: „Wenn man zu denken anfängt, beginnt man untergraben zu werden“ (Camus 1942:10). Schon deshalb reduzieren Kommunikationssysteme per se Kontingenz. Als „kommunikative Exklusionsmaschinen“ (Nassehi 2011:173) verknappen sie „Verweismöglichkeiten, deren Beliebigkeit Strukturbildung unmöglich machen würde“ (2003a:57). 50 Dafür sind insbesondere autoritäre Regime oder fundamentalistische bzw. antimoderne Bewegungen prädestiniert (vgl. hierzu auch Eisenstadt 2000a:198, der ihre „geringe Ambiguitätstoleranz“ hervorhebt). Carl Schmitt allerdings hat sie, aus seiner radikalen Perspektive, dem Wesen der Demokratie unterstellt: „Zur Demokratie gehört […] notwendig erstens Homogenität und zweitens – nötigenfalls – die Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen“ (Schmitt 1923:14; vgl. auch Mouffe 2000:51). 51 „Politische Entscheidungen, wie Entscheidungen überhaupt, reduzieren […] zumindest für einen begrenzten Zeitraum Kontingenz und sind mit fortbestehenden pluralistischen

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nach trachten, Kontingenz repressiv auszuschließen – mit allen damit verbundenen Risiken.52 Zygmunt Bauman vertrat die These, dass die Genozide des 20. Jahrhunderts auch auf den für die Moderne signifikanten Versuch zurückzuführen sind, Ambivalenz und Kontingenz zu eliminieren.53 Er sah die großen Verbrechen demnach nicht als temporären Rückfall in eine vormoderne Barbarei, sondern explizit als Aspekt der Moderne (vgl. Bauman 1991:55; Joas, Knöbl 2004:656; vgl. auch Baberowski 2012:24 ff.). Er zog eine Verbindungslinie von der seit der Philosophie der Aufklärung entfalteten Vision ausschließender Vernunft und apodiktischer Eindeutigkeit – der „unerbittlichen Lust nach Ordnung, Transparenz und Unzweideutigkeit“ (1991:88; vgl. auch Marquard 2013:57) – bis zur Shoa: „Der moderne Genozid ist […] eine Übung in Sozialtechnologie und in der […] Schaffung […] ambivalenzfreie[r] Homogenität“ (Bauman 1991:69). Agambens dystopische Vision des Lagers als „verborgene Matrix der Politik“ (1995:185; vgl. 131) verweist ebenfalls auf die extremste Implementierung kontinAnsprüchen nicht vereinbar“ (Greven 1999:22, vgl. 28; vgl. auch Luhmann 1975a:79; Palonen 2001:10). Der Autor nimmt den Begriff daher in seine Fassung einer Politikdefinition im Sinn kollektiv verbindlichen Entscheidens auf: „Politische Entscheidungen […] sind […] Teil jener Prozesse, vermittels derer zumindest mehrere Menschen oder aber politische Gemeinschaften gleich welcher Art gerade angesichts von normalerweise nicht übereinstimmenden Präferenzen und Willensbekundungen der einzelnen zu zumindest vorübergehend verbindlichen Festlegungen gelangen und damit die Kontingenz einer Situation für die einzelnen wie für alle gemeinsam zumindest temporär überwinden“ (Greven 1999:66). 52 „Es ist das Fehlen der Bereitschaft, Mehrdeutigkeit in mehrdeutiger Weise anzupacken, was Scheitern, Nichtanpassung, Autismus, Isolierung von der Realität, psychologische Kosten usw. verursacht. Es ist ironischerweise das Fehlen der Bereitschaft, Ordnung zu zerbrechen, was der Organisation die Schaffung von Ordnung unmöglich macht. Ordnung besteht aus Daten, deren Mehrdeutigkeit unterdrückt worden ist […] Wenn die Leute das Eindeutige schätzen, aber nicht bereit sind, sich auf das Mehrdeutige einzulassen, dann wird ihr Überleben problematisch“ (Weick 1979:270). 53 „Die typisch moderne Praxis, die Substanz moderner Politik, des modernen Intellekts, des modernen Lebens, ist die Anstrengung, Ambivalenz auszulöschen: eine Anstrengung, genau zu definieren – und alles zu unterdrücken oder zu eliminieren, was nicht genau definiert werden konnte oder wollte“ (Bauman 1991:22). Bauman hat das gesamte abendländische Konzept der Rationalität letztlich auch als (in sich selbst kontingenten) Versuch gesehen, Kontingenz, Unsicherheit, Zufall zu reduzieren (vgl. 355). Burckhardt sprach in seinen Betrachtungen bereits vom „Hass des Verschiedenen, Vielartigen“, der „Identifikation des Sittlichen mit dem Präzisen“ und der „Unfähigkeit des Verständnisses für das Bunte, Zufällige“ (Burckhardt 1905:66).

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genzfreier Räume.54 Genozide hatten und haben auch die Ausrottung intellektueller Potenziale und die Zerstörung von Wissenssystemen zum Ziel, die sich für die jeweiligen Regime als bestandskritisches Reservoir von Kontingenz und Komplexität darstellen. Hannah Arendt hat hervorgehoben, dass eine so motivierte Repression mit der Eliminierung politischer Öffentlichkeit einhergehen muss, dem primären Merkmal der Tyrannis: Der „Versuch, der Pluralität Herr zu werden, [ist] immer gleichbedeutend mit dem Versuch, die Öffentlichkeit überhaupt abzuschaffen“ (Arendt 1971:279). Die Sprache totalitärer Regime, Topoi wie „entartete Kunst“, Freund/FeindKennungen, biopolitische Paradigmen (vgl. Agamben 1995:145 ff., 188), aber auch die Begleitrhetorik angeblich „alternativloser“ Entscheidungsproduktion, verweisen auf Repression gegen Kontingenz.55 „Macht ist ein Kampf gegen Ambivalenz“ (Bauman 1991:277; vgl. auch Adorno 1958:105) – freilich ohne reale Aussicht auf Erfolg. Alle modernen autoritären Systeme, ob gestützt auf Glaubenssysteme, Ideologien oder schiere Gewalt, scheitern schließlich auch an der Unmöglichkeit, kontingenzfreie Zonen zu schaffen (vgl. auch Bauman 1991:363). Kontingenzvermeidung wird aus dieser Sicht ab einem bestimmten Punkt dysfunktional (vgl. auch Weick 1979:307). Was oben über Komplexität gesagt wurde, gilt auch hier: Kontingenz kann nicht allein als Komplikation verstanden werden. Der zumindest immanente Verweis einer Kommunikation auf nicht Thematisiertes oder anders Denkbares, auf alternative Sichten, Wahrheiten und Unwahrheiten ist ebenso essenziell für den Bestand sozialer Systeme, weil sie sich erst durch das Zu lassen dieser Ambivalenz offen für die eigene Entwicklung halten (vgl. S.J. Schmidt 2008:47, 89).56 54 „Auschwitz ist die […] radikalste Negation der Kontingenz“ (Agamben 1998:129). 55 Orwell hat ein System der „Wirklichkeitskontrolle“ beschrieben, dessen primäres Ziel es ist, gerade auch durch restringierte Sprachcodes, Kontingenz zu eliminieren (Orwell 1949:34, 49 f.; 276). Der Versuch, die „Geschichte zum Stillstand zu bringen“ (187), bedeutet ebenfalls nichts anderes, als Macht gefährdende dynamische Komplexität und offene Kontingenz zu einem Ende zu bringen. Borges sah die Verbrennung aller Bücher, „die vor ihm da waren“, durch den chinesischen Kaiser Shih Huang Ti als „Beseitigung der Geschichte“. Es handelt sich um eben jenen Kaiser, der die große Mauer errichten ließ und somit sein Reich in zwei Dimensionen zu schützen trachtete (Borges 1950:7). Der Topos der Bücherverbrennung wird auch von Bradbury als Symbol totalitärer Kontingenzreduktion verwendet (Bradbury 1953). Sie wurde nicht nur im Nationalsozialismus praktiziert, sondern beispielsweise auch während der Stalin-Ära (Baberowski 2012:142), der chinesischen Kulturrevolution (Seitz 2000:203) und der Herrschaft der Roten Khmer (Fröhder 1995:159). 56 Hannah Arendt hat darauf hingewiesen, dass die Vielfalt kontingenter Sichtweisen und die „Anwesenheit zahlloser Aspekte und Perspektiven“ eine positive Vielfalt erzeugen

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(1971:71 f.) gerade auch im sozialen Sinn: „Eine gemeinsame Welt verschwindet, wenn sie nur noch unter einem Aspekt gesehen wird; sie existiert überhaupt nur in der Vielfalt ihrer Perspektiven“ (1971:73; vgl. Mill 1859:61). Ähnlich Rorty, der die Nutzung solcher Vielfalt von dem Streben abhängig sah, „ein immer größeres Repertoire alternativer Beschreibungen anzusammeln, nicht aber die-eine-einzig-richtige Beschreibung zu finden“ (1989:78).

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Quellen der Unübersichtlichkeit

Komplexität und Kontingenz erzeugen Unübersichtlichkeit. Im vorangegangenen Kapitel wurde auf die verschiedenen Aspekte dieses Phänomens eingegangen. Nun soll versucht werden, einige Ursachen der Unübersichtlichkeit des Politischen zu lokalisieren. Drei große Quellen werden unterschieden: zum einen die Formen und Folgen funktionaler Differenzierung. Auf sie wird zuerst eingegangen. Zum anderen die Folgen multiplen Wandels und multipler Kommunikationen, um die es im zweiten Teil des Kapitels geht.

4.1 M ULTIPLE S YSTEME Funktionale Differenzierung als Merkmal moderner Gesellschaften ist „keineswegs nur Problemlösung, sondern auch Problemgenerator“ (Nassehi 1999a:23; vgl. auch Schimank 2005:148). Sie hat Folgekosten, vor allem in Form selbst wieder reduzierungsbedürftiger hoher Eigenkomplexität und hoher Kontingenz (vgl. Nassehi 1999a:52, 126). Die Einheit der Gesellschaft. Ursache dieser Problematik ist die Verselbstständigung der Funktionssysteme. Sie tendieren zu dem, was Nassehi als „Optionssteigerung“ bezeichnet hat (Nassehi 2003a:172; Nassehi 1999a:45 f.), der Optimierung ihrer Operationen im Kontext egozentrischer Differenzschemata.1 Sie produzieren durch diesen „Eigensinn“ (Beyme 2007:355; Habermas 2013:67), durch „zentrifugale Abdrift“ (Zolo 1992:220), Folgen, Nebenfolgen und Fernwirkungen, die die Komplexität der Gesellschaft und die Umweltkomplexität anderer Teilsysteme steigern (vgl. Luhmann 1987:37, 56; vgl. auch Fuchs 1992:105; 1

„Mit durchgesetzter funktionaler Differenzierung der Gesellschaft werden die einzelnen funktionalen Teilsysteme der Gesellschaft zu den ausschließlichen Referenzpunkten ihrer selbst“ (Nassehi 1999a:108; 2003:165; vgl. Fuchs 1992:97; Rosewitz, Schimank 1988:296, 300) und sind in ihrem selbstreferenziellen Operieren deshalb auch kaum in der Lage, Systemübergreifendes wie zum Beispiel Solidarität herzustellen (vgl. Brunkhorst 2001:609).

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vgl. Willke 1997:98, 239). Prägnante Beispiele solcher Systeme sind Finanzökonomie und Wissenschaft. Sie entziehen sich zunehmend der gesellschaftlichen oder politischen Kontrolle bzw. Steuerung (Luhmann 1987:55; vgl. Bendel 1993:261; Willke 1997:163, 237 ff.).2 Diese Steuerung wird von Nassehi ganz ausgeschlossen bzw. als Fehlinterpretation eingeschätzt. Der Autor geht weiter als Luhmann, wenn er empfiehlt, auf den Begriff des Teilsystems zu verzichten, da das damit insinuierte Ganze sich als Fiktion herausstellt (Nassehi 1999a:20). Gesellschaft ist, so der Autor, „keine ontische Einheit mehr, eben keine Ganzheit, sondern bloß noch eine operative Einheit, als theoretischer Begriff für alles, was per Kommunikation operiert“ (Nassehi 1999a:16; vgl. Luhmann 1987:35). 3 Gesellschaft ist aus diesem Blickwinkel nicht als integrierende Gesamtstruktur zu sehen4, sondern als „Horizont aller möglichen Kommunikationen“ (Nassehi 2009:406; 2011:132). Sie ist kein System, ist weder adressierbar noch erreichbar (Fuchs 1992:25), eine „imaginäre Einheit“, „semantische Imagination“ (Fuchs 1992:13; vgl. auch Nassehi 2003a:162; Luhmann 1995b:131) oder „virtueller Kontext“ der Beobachtungen (Willke 1999:105; 1997:116, 123). „Trotzdem ist Gesellschaft da – evident in ihrer Faktizität und in ihrer Selektivität“, so Luhmann in einem seiner früheren Texte (Luhmann 1975b:87). 5 In ihr entwickeln die funktional

2

„Systemische Selbstbedrohungen“ sieht Willke, „wenn die symbolische Codierung der Operationsweise eines Funktionssystems der Gesellschaft selbstreferenziell heiß läuft, weil sie nicht mehr hinreichend an die Kandare gesamtgesellschaftlicher Reflexion genommen ist […] Exemplarisch dafür ist eine Ökonomie, die für Umweltgüter wie sauberes Wasser oder frische Luft keine Preise in der symbolischen Sprache des Geldes kennt, sie deshalb in ihrer Operationsweise nicht berücksichtigen kann und dadurch ein systembedrohendes Umweltproblem schafft. Oder ein Finanzsystem, das mit einer unrestringierten Steigerung des Geldcodes eine Verschachtelung und Verknüpfung von Teilrisiken konditionalisierter Zahlungen und Zahlungsversprechen erzeugt, die sich zu nicht mehr beherrschbaren Gesamtrisiken aufschaukeln“ (Willke 2002:248; vgl. hierzu auch Dahl 1982:31 f. und 100 ff.; vgl. auch Burth 1999:217).

3

Diesen gedanklichen Ansatz kann man bereits bei Simmel erkennen: „[E]s ist nicht eine Gesellschaftseinheit da, aus deren einheitlichem Charakter sich nun Beschaffenheiten, Beziehungen, Wandlungen der Teile ergäben, sondern es finden sich Beziehungen und Thätigkeiten von Elementen, auf Grund deren dann erst die Einheit ausgesprochen werden darf“ (Simmel 1890:130). Er hat Gesellschaft als „Name dieser Wechselwirkungen“ bezeichnet (Simmel 1890:131).

4

Ebenso wie es aus dieser Sicht kein auf die Integration oder Reintegration spezialisiertes Teilsystem gibt, wie es Parsons angenommen hat (vgl. Parsons 1966:43; siehe auch Münch 1982:117, 128 ff.).

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ausdifferenzierten Systeme auch eine nur relative Autonomie.6 Sie etablieren und schützen zwar ihre Differenzschemata und internen Logiken, sie orientieren und koordinieren sich aber auch wechselseitig, weil sie, gerade aufgrund ihrer Autopoiesis, aufeinander angewiesen sind (Bendel 1993:268). So benötigt etwa eine funktionierende Wirtschaft politisch definierte und durchgesetzte Rahmenbedingungen. 7 Unübersichtliche Gesamtheit. Mit funktionaler Differenzierung entsteht eine Vielfalt relativ autonomer Systeme, die durch Koordination und Orientierung eine lose gekoppelte, sich permanent reproduzierende und dennoch zugleich instabile, azentrische Netzstruktur bilden.8 Diese Form der Vielfalt erzeugt Unübersichtlichkeit, denn die Ausbildung lose gekoppelter Funktionssysteme erhöht die Komplexität ihrer Umwelten (vgl. Fuchs 1992:249 f.) und die Kontingenz der Sachverhalte und Entscheidungen (vgl. Luhmann 1986:211). Peter Fuchs hat spätmoderne Gesellschaften als „hyperkomplex, polykontextural und heterarchisch“ bezeichnet (Fuchs 1992:33). Diese Kategorien können helfen, das Phänomen der Unübersichtlichkeit durch Differenzierung zusammenfassend zu beschreiben. Hyperkomplexität. Gesellschaften sind wie ihre Funktionssysteme hyperkomplex, sobald sie sich nicht nur mit Umweltkomplexität konfrontiert sehen, sondern auch mit ihrer Binnenkomplexität (vgl. Fuchs 1992:41). Das heißt, ihre innere Struktur, ihre interne Differenzierung, die rekursive Wiederholung der eigenen Systemhaftigkeit und die damit einhergehende Vielfalt von Beschreibungen erzeugen selbst eine neue, problematische Komplexität, die die Systeme zu reduzieren gezwungen sind: „Ein System, das sich an seiner eigenen Komplexität

5

Bendel sieht „intersystemische Diskurse“ (Bendel 1993:273) allerdings als „autonome[s] Operationspotenzial der Gesellschaft“ (274), das den „Koordinationsbedarf“ komplexer Gesellschaften in einer emergenten Kommunikationsform abdeckt und sie dadurch als solche wahrnehmbar macht (273 ff.).

6

Der Begriff der relativen Autonomie findet sich bei Durkheim, der damit die Beziehung zwischen Individuum und sozialer Umwelt beschreibt (Durkheim 1896:100). Luhmann hat dies explizit abgelehnt (Luhmann 1995b:18).

7

Dieser Punkt verweist auf eine durch Differenzierung erzeugte komplexe Vernetzung von Abhängigkeiten, Informationsflüssen und Koordinierungen, die zur Folge hat, dass Ereignisse selten allein lokale Effekte erzeugen, sondern oft verteilte Reaktionen auslösen: „Jedes Funktionssystem spezifiziert die Welt auf seine Weise, und für die Welt heißt das, dass jedes Ereignis […] ein Mehrerleiereignis mit Mehrerleifolgen ist“ (Fuchs 1992:228).

8

Zum Begriff der losen Kopplung: „Lose Kopplung liegt vor, wenn zwei getrennte Sys teme entweder nur wenige Variablen miteinander gemein haben oder ihre gemeinsamen Variablen im Vergleich mit den anderen das System beeinflussenden Variablen schwach sind. Zwei Systeme, die durch wenige oder schwache gemeinsame Variablen verbunden sind, werden als lose gekoppelt bezeichnet“ (Weick 1979:163).

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orientiert und sie als Komplexität zu erfassen sucht, bezeichnen wir als hyperkomplex“ (Luhmann 1984:637; vgl. 1986:159; Willke 1987:258). Diese Komplexität betrifft auch das Binnenverhältnis von politischem Funktionssystem und politischer Öffentlichkeit. Das Funktionssystem reflektiert die zunehmende Komplexität der gesellschaftlichen Umwelt durch interne Differenzierung und durch den Aufbau hoher Eigenkomplexität. Für die politische Öffentlichkeit bedeutet das, mit der gestiegenen Komplexität des gesellschaftlichen Umfelds und des operativen Systems umgehen, also mehr und Komplexeres beobachten zu müssen (vgl. Willke 1987:261). Sie beobachtet 1) die Komplexität des umfassenden Zusammenhangs des Politischen. Sie beobachtet 2) die Komplexität der Gesamtumwelt des politischen Systems, der Gesellschaft und ihrer Funktionssysteme. Und schließlich betrachtet sie 3) die Komplexität des politischen Funktionssystems bzw. dessen Teilsysteme, wie z.B. Verwaltung, Militär usw. Hinzu kommt, weil sie selbst Diskurse und Strukturen ausbildet, 4) die Beobachtung der Komplexität ihrer selbst bzw. ihrer Teilsysteme, Teilöffentlichkeiten und -kommunikationen. Hyperkomplexität bedeutet quantitative und qualitative Ausweitung von Komplexität, ist zugleich aber auch Quelle von Widersprüchen, Inkonsistenzen und konkurrierenden Beschreibungen und damit von Kontingenz. Daher steigert Hyperkomplexität die Unübersichtlichkeit. Polykontexturalität. Fuchs konstatiert, dass „die hochinformierte Gesellschaft der Moderne in der Vielzahl der aufblendbaren Kontexte oder Horizonte ein nicht unwesentliches Merkmal hat und dass das Spezifische daran gerade diese Aufblendbarkeit ist, die Mitkommunizierbarkeit dieses Umstandes“ (Fuchs 1992:43). Diese Pluralität, die Vielfalt der Beobachtungen kommt in der azentrischen Gesellschaft ohne privilegierte Interpretationsinstitution aus. „In der Gesellschaft (das heißt kommunikativ) werden unablässig myriadenhaft Beobachtungen getätigt, die von irgendwo anders her anders beobachtet werden können, aber nicht von einer Stelle aus, von der sie sich als ineinander überführbar, hierarchisierbar, in eine Ordnung sicheren Wissens platzierbar erweisen“ (Fuchs 1992:57; vgl. Nassehi 2003a:35 f.; Luhmann 2000:369; 1995b:181; Schimank 2005:85). Polykontexturalität entsteht allerdings nicht allein im Zug funktionaler Differenzierung. Parallel existieren zwei weitere, in dieser Hinsicht relevante Differenzierungsformen.9 Segmentär differenzieren sich Kommunikationen innerhalb 9

Luhmann hat drei sich historisch ablösende Differenzierungsformen identifiziert: segmentäre (in einfachen Gesellschaften und Sozialverbänden), stratifikatorische (in ständisch oder klassenförmig hierarchisierten Gesellschaften) und schließlich funktionale Differenzierung (vgl. Luhmann 2000:77 ff.; 1997:613). Letztere ist für die Gesellschaften der Moderne zur dominanten Form geworden. Das heißt jedoch nicht, dass in funktional differenzierten Gesellschaften keine Grenzlinien der Stratifikation (zum Beispiel Schichtunterschiede) mehr sichtbar würden oder Konflikte segmentärer Differenzie-

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funktional spezifizierter Zusammenhänge in Form kontradiktorischer Interessenlagen aus. Als Beispiel mag der Konflikt zwischen Generationen oder zwischen konkurrierenden politischen Strömungen genannt werden. Vorhandene stratifikatorische Differenzierungen werden beispielsweise in der Kommunikation über Verteilungsfragen sichtbar.10 Differenzierung bedeutet nicht nur Komplexität, sondern vor allem die Kontingenz von Deutungen, Beschreibungen, Entscheidungen und Wertstrukturen (vgl. Weick 1979:247; Holzinger 2007:287 f.; Nassehi 1999a:109; Greven 1999:68). Polykontexturalität kann daher als wichtige Quelle der Unübersichtlichkeit angesehen werden. Heterarchie. Der Verzicht auf die Vorstellung der Gesellschaft als eigenständiges, steuerungsfähiges Metasystem und die Aufgabe der Idee eines Zentrums implizieren die Abkehr von der Annahme einer hierarchischen Gesamtstruktur. „Man kommt dann zu einem nicht-hierarchisierbaren Arrangement von Systemen in einem System, zu einer disjunkten Kooperation, bei der die beteiligten Systeme die Fundierung ihrer Koexistenz und Kooperation nicht an ein Supersystem delegieren. Es gibt keine Hyperstruktur“ (Fuchs 1992:61; vgl. Teubner 1999:346, 348; Luhmann 1997:803). Heterarchien produzieren Komplexitäten, weil es keine global wirksame und verbindliche, keine überwölbende Beschreibung oder Orientierung solcher Systeme geben kann, sondern nur kontingente Vielheiten, verteilte Entscheidungsstrukturen und temporäre Deutungszentren. Auch Heterarchie vervielfältigt deshalb Unübersichtlichkeit.

rungen (zum Beispiel ethnische Bruchlinien) nicht mehr vorkämen (Hondrich 1987:288 f.). Luhmann hat denn auch von einem Primat der funktionalen Differenzierung gesprochen (Luhmann 2000:77; vgl. Tyrell 2001:515 f.). 10 Greven umriss, in etwas anderem Zusammenhang, diese Formen der Vielfalt „politischer Bewegungen und claims wie der Umweltbewegung, der Frauenbewegung und des Feminismus, einer zumeist, aber nicht immer und notwendigerweise, mit Migra tionsprozessen zusammenhängenden Ethnisierungstendenz, eines religiösen Fundamentalismus christlicher oder anderer Provenienz, sowie der Politisierung von Gruppen- und Minderheitsidentitäten […] Die kulturell immer pluralistischere oder heterogenere politische Gesellschaft, deren Regierungs- und allgemeiner Entscheidungsprozess immer polyzentrischer, fragmentierter und […] horizontal wie vertikal segmentierter wird, wird also zusätzlich auf allen Ebenen und in immer mehr Zusammenhängen mit den selbstbestimmungsorientierten Partizipationsansprüchen von Gruppen und Individuen konfrontiert“ (Greven 1999:175; vgl. auch Dahl 1982:63 ff.; Rittel, Webber 1973:167).

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4.2 M ULTIPLE G EGENWARTEN Die relative Autonomie der Funktionssysteme manifestiert sich in einer Gesellschaft der Gegenwarten, „die ihre Einheit nur multipel prozessieren kann“ (Nassehi 2011:160). Der von Nassehi eingeführte Topos (Nassehi 2003a, 2011) verweist auf den zeitlichen Aspekt ihrer Unübersichtlichkeit. Multiple Gegenwarten entstehen aufgrund disparater Zeithorizonte und divergierender Tempi der Funktionssysteme (Luhmann 1984:253; 2000:144; vgl. Mainzer 1995:120) – der komplexen „Ko-Präsenz von Eigenzeiten“ (Nowotny 1989:43).11 Denn die relative sachliche Autonomie der Systeme erfordert auch ihre relative zeitliche Autonomie (Luhmann 1984:76). Erst durch sie kann externe Komplexität und die Komplexität innerer Umwelten bearbeitet werden. Diese Form der Autonomie verstärkt und stabilisiert wiederum die Ausdifferenzierung (Luhmann 1984:80), erzeugt die Vielfalt der Gegenwarten und trägt so zur Unübersichtlichkeit gesellschaftlicher und damit auch politischer Zusammenhänge bei. Relativ autonome Systeme müssen sich gleichwohl wechselseitig orientieren und dafür eine Synchronisierung ihrer Prozesse erreichen (vgl. auch Berger, Luckmann 1969:30). Sie ist aufwendig und nicht zwingend erfolgreich. Beobachtung, Selektion und Informationserzeugung benötigen Zeit, während die Prozesse in der Umwelt weiterlaufen. Ein Effekt, der sich mit dem Grad eigener Ausdifferenzierung und innerer Differenziertheit verstärkt. So entstehen Zeitdruck und Zeitdifferenzen – die Systeme desynchronisieren sich.

11 Luhmann hat darauf hingewiesen, dass auch innerhalb der Funktionssysteme keine eindeutigen Zeiten herrschen und „die Einzelthemen der Politik sehr unterschied liche Zeithorizonte“ haben (Luhmann 1986:181). Solche Fragmentierungen lassen sich auch zwischen unterschiedlichen Strukturen der Organisationsebene – etwa der schnellen Exekutive und der durch ihre deliberativen Prozesse langsameren Legislative – feststellen (Scheuerman 2001:50; Rosa 2005:394; Schmitt 1950:18 ff., 30). Münkler hat, noch unter dem Eindruck der Bankenkrise, festgestellt, „dass es derzeit nicht mehr gelingt, die Temporalität wirtschaftlicher Prozesse und die Eigenrhythmik des politischen Systems zu synchronisieren: Börsen und Banken bestimmen das Tempo der Entscheidungen, und die Parlamente humpeln hinterher. Dabei sind es keineswegs nur die Folgen der Globalisierung, sondern auch die Beschleunigungseffekte der modernen Kommunikations- und Informationstechnologie, in deren Folge die Politik derart unter Zeitdruck geraten ist, dass die Regierung das Parlament permanent vor vollendete Tatsachen stellt. Das Parlament nickt nur noch ab, was von der Exekutive unter dem Druck der Börsen und Rating-Agenturen verkündet worden ist“ (Münkler 2012:101). Beyme hat auf die unterschiedlichen Zeithorizonte von Medien- und Politiksystem hingewiesen (Beyme 1994:326 f.).

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4.2.1

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Desynchronisierung des Politischen

Das politische System scheint aufgrund seiner spezifischen Funktion in besonderem Maß von solchen Effekten betroffen zu sein. Die „Desynchronisation zwischen der ‚Eigenzeit‘ der Politik und den Zeitstrukturen anderer sozialer Sphären“ (Rosa 2005:403) wird insbesondere im Verhältnis zur Wirtschaft sowie zu wissenschaftlichen und technischen Innovationen sichtbar (vgl. Rosa 2005:303, 403 ff., 485; Scheuerman 2001:46; Lenk 2002:121 f.; Lash 2002:18 f.; Judt 2008:407).12 Das global vernetzte Wirtschaftssystem ist ein autopoietisches System mit prägnanter Eigenzeitlichkeit (Vogl 2010:80, 82, 173 ff.; Luhmann 1986:112), das sich in besonderer Weise weiter zu beschleunigen scheint (Vogl 2010:161). Es weist engere Zeithorizonte auf, vergleicht man Legislaturperioden oder die Dauer demokratischer Entscheidungsfindung etwa mit Berichtszyklen. 13 Gerade in seiner Beziehung zur Ökonomie scheint das politische System ständig Gefahr zu laufen, den 12 Das gilt zudem für akzelerierten sozialen und kulturellen Wandel (vgl. Giddens 1990:14 f.). Hierauf wird noch einmal eingegangen. Außerdem sind hier die Massenmedien zu nennen, die – insbesondere durch den Online-Journalismus – beschleunigend auf die politischen Prozesse wirken (vgl. Imhof 2003:408). 13 Es können jedoch – beim Vergleich von Legislaturperioden mit den Planungshorizonten des Wirtschaftssystems – auch weitere Horizonte angenommen werden, wenn „die Einflussinstanzen der Großindustrie die Legislatur- und Regierungsperioden überdauern und so eine Kontinuität erreichen, die im politischen Sektor fehlt“ (Jaeggi 1979:78). Inwie weit diese Einschätzung aus den 1970er-Jahren angesichts der modernen Beschleunigung der Ökonomie noch zutrifft, bleibt zu überprüfen. Die Annahme scheint eher für den überkommenen „schweren Kapitalismus“ mit seinen weiteren Zeithorizonten (Bauman 2000:172) zuzutreffen. Altvater hat als Folge der beschleunigend wirkenden Durchsetzung des Shareholder-Value-Ansatzes im global aufgehängten, sozial entbetteten Wirtschaftssystem moderner kapitalistischer Provenienz eine zunehmende systemische Kurzsichtigkeit ausgemacht (Altvater 2002:44), die die Zeithorizonte immer weiter zusammenzieht. Es hat sich in der Krise von 2008 aber auch gezeigt, dass in diesem System Risiken durchaus in eine regelrecht entgrenzte Zukunft verlagert werden können (vgl. auch Vogl 2010:167 f.). Das hängt mit einer systemischen Blindheit für langfristige Wir kungen und Seiteneffekte zusammen, die nicht thematisiert bzw. nicht im ökonomischen Code abgebildet werden können. Nebenfolgen werden dann Thema des langsameren, aber auch langfristiger orientierten politischen Systems. Andererseits, diese Ansicht vertreten Leggewie und Welzer, weist die politische Kommunikation kürzere Zeithorizonte auf, wenn es um die politische Bearbeitung von Themen geht, die sehr langfristige Maßnahmen erfordern. Der „kurze Zeittakt demokratischer Politik [läuft] einer langfristigen und nachhaltigen Problemlösung chronisch zuwider, und das führt zu der fatalen Zurückstellung von Umweltpolitiken in Zeiten ökonomischer Krisen“ (Leggewie, Welzer 2009:157; vgl. M. G. Schmidt 2004:379; Czerwick 2011:122; Nolte 2012:470).

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Operationen in seiner Umwelt nachzuhängen (vgl. Nassehi 2003a:182; 2000:142; Zolo 1992:99, 166; Engler 1996:22; Michelsen, Walter 2013:19 f.; Streeck 2015:76). Die Autopoiesis des politischen Systems und damit auch der politischen Öffentlichkeit, die Reproduktion der Kommunikation aus Kommunikationen, kann als permanente, potenziell defizitäre Anpassung an veränderte Informationslagen aufgefasst werden, die sich im Moment ihrer Aufarbeitung erneut verändert haben und zugleich durch ihre Wirkung auf das System immer wieder neue, kommunikationsbedürftige interne Zustände produzieren (Luhmann 1997:140). 14 Dies ist vor dem Hintergrund der allgemeinen Beschleunigung der Moderne zu sehen15, in der es insbesondere die Ökonomie zu sein scheint, der sich die Zeitregime anderer sozialer Systeme anpassen, sodass sich die Taktzahl aller gesellschaftlichen Reproduktions- und Entwicklungsprozesse sukzessive erhöht (vgl. Rosa 2005:257 ff., Scheuerman 2001:47 f., 42 f., 64; Bauman 2000:133 ff., 143, passim; 2008:102 ff.; Sennett 1998:12, 26, passim; Nowotny 1989:24 f., 82; vgl. auch Levine 1997:38 f.; Zolo 1992:101; Lash 2002:18). Das politische System versucht hier mitzuhalten, ohne seine eigenen Prozesse jedoch beliebig beschleunigen zu können (Vogl 2010:135 ff.; vgl. Rosa 2005:302 f.).

14 Das ist auch auf das beschleunigte Tempo der Massenmedien mit ihrer auch ökonomisch begründeten Suche nach Aktualität zurückzuführen (vgl. z.B. Blöbaum 1994:266). „Der Fokus der Aufmerksamkeit wird dauernd geändert, die Halbwertzeit der Themen ist gering“ (Gerhards, Neidhardt 1991:77; vgl. Lash 2002:18). Luhmann sah die Medien neben der Wirtschaft als Taktgeber, dem sich die Gesellschaft anpasst (Luhmann 1995a:44, 47 f.). 15 Rosa beschreibt einen Zirkel, in dem Zeitknappheit Bedarf an technischer oder struk tureller Beschleunigung auslöst, die wiederum sozialen Wandel bewirkt, der seinerseits zu neuer Zeitknappheit führt (Rosa 2005:245–250). Funktionale Differenzierung selbst wirkt ebenfalls beschleunigend. Entscheidungsprozesse monolithischer Systeme werden ab einer bestimmten Komplexitätsstufe träge (Deutsch 1966:305). Differenzierung führt zu kürzeren Kommunikationsketten und beschleunigt die Operationen. Im Sinn der erforderlichen Vielfalt führt das zu reaktiven Differenzierungen in der Umwelt des Systems – mit entsprechenden neuen Beschleunigungseffekten (Rosa 2005:432, 441, 306). Chesneaux hat allerdings darauf hingewiesen, dass Beschleunigung kein kontinuierlicher Prozess ist, sondern dass sich historisch im Allgemeinen stoßartiger, schneller Wandel und Phasen ruhigerer Entwicklung oder Stagnation abwechseln (Chesneaux 2000:418 f.).

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4.2.2

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Resynchronisierung durch das Politische

Insbesondere demokratisch verfasste Systeme erscheinen gegenüber jenen Eigenzeiten zu langsam (vgl. Rosa 2005:395, 157), als unfähig, das „Transaktionstempo der globalisierten Moderne“ (Rosa 2005:48) mitzuhalten (vgl. Zolo 1992:166; Korte 2012:26).16 Diese relative Langsamkeit sollte nicht nur als Komplikation angesehen werden, sie ist auch der Visibilisierungsfunktion geschuldet: „Politik scheint sich ja auch dafür ausdifferenziert zu haben, so etwas wie Trägheit und Langsamkeit in kollektiv bindende Entscheidungsprozesse einzubauen und sich in der eigenen Prozeduralität sichtbar zu halten“ und damit auch „kollektive Geltung“ einfordern zu können (Nassehi 2003a:182). Ein Gedanke, der sich ähnlich auch bei Dahl findet (Dahl 1989:185). So gesehen ermöglicht die spezifische Langsamkeit des politischen Systems der politischen Öffentlichkeit und anderen gesellschaftlichen Systemen, sich mit den extrem schnellen Entwicklungen in Wirtschaft, Wissenschaft etc. zu resynchronisieren. Andernfalls würden diese Systeme „abgehängt“. 17 Prozesse der Datenverarbeitung und Informationsproduktion, Visibilisierungsleistungen, Deliberation und politischer Wettbewerb sind grundsätzlich langsam (vgl. auch Rosa 2005:192 f.; Scheuerman 2001:57) und müssen in demokratischen Systemen langsam sein: „Time and respect for time scaling, time maturation, are essential ingredients of democratic life. Democracy, by its very nature, requires time“ (Chesneaux 2000:409, vgl. 411). Auch technische Beschleunigungslösungen (insbesondere die Internet-Technologien) können nichts an dieser grundsätzlich notwendigen Langsamkeit ändern (Chesneaux 2000:412). Barber weist sogar auf die Gefahr hin, die gerade von technologisch beschleunigter Bürgerbeteiligung auf demokratische Strukturen ausgeht (Barber 1998a:585 f.). Langsamkeit zeigt sich insbesondere bei den nicht-konventionellen Politikthemen. Wegen ihrer tendenziell hohen Folgelastigkeit benötigen sie für ihre Abarbeitung Zeit und weite Zeithorizonte (vgl. Rosa 2005:411 f.). Rosa geht zudem davon aus, dass „Willensbildung und Entscheidungsfindung aufgrund der kulturellen und sozialstrukturellen Entwicklung der spätmodernen Gesellschaft immer 16 Was hier wegen der thematischen Fokussierung nicht behandelt wird, ist die umgekehrte Entwicklung: wenn ein politisches System Umwälzungen initiiert oder dominiert, die die übrigen Systeme unter Zeitdruck setzen. Die Funktion des politischen Systems wurde be schreiben als Produktion kollektiv bindender Entscheidungen. Zur Entscheidungskomponente gehört auch die Fähigkeit des operativen Systems, wenn gefordert, schnell und autonom zu entscheiden (Chesneaux 2000:413 f.). Schmitt bezeichnete das als die „dezi sionistische Kraft des Staates“ (Schmitt 1963:86). 17 Nach Virilio ist Politik „nur ein Getriebe, eine Übersetzung von Geschwindigkeiten“ (Virilio 1977:27). Er untersuchte den Zusammenhang von Macht und Geschwindigkeit und beschrieb Beschleunigung auch als Machttechnik.

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schwieriger und daher immer zeitaufwendiger“ werden (Rosa 2005:412). Außerdem weisen diese Themen eine hohe Informationskomplexität auf, deren Bearbeitung und Kommunikation ebenfalls Zeit erfordert.18 Aus dieser Perspektive erhalten dann auch (zumindest für demokratisch konzipierte Systeme) im Grunde dysfunktionale Entwicklungen, wie symbolische oder stark situationsorientierte Politik, ihren Sinn: Sie beschleunigen die politische Kommunikation und helfen das Zeitdefizit des Politischen ansatzweise auszugleichen (vgl. Rosa 2005:414, 418; Klein 2003:273 f.).19 Die dahinterstehende „forcierte Reduktion komplexer Zeitverhältnisse auf eine distanzlose Gegenwart“ (Willke 2002:235) scheint auf der Zeitebene das fatale Pendant zu unterkomplexen Umweltwahrnehmungen und Lösungsangeboten im politischen System zu sein. Die Gesellschaft wird „auch in zeitlicher Hinsicht immer komplexer“ (Werle, Schimank 2000:9; Schimank 2005:168) – eine Tendenz, die sich unmittelbar auf das relativ langsame politische System bzw. die politische Öffentlichkeit auswirkt. 18 Wirtschaft und Wissenschaft scheinen in ihrer Datenverarbeitung und Informationsproduktion in höherem Maße selbstreferenzielle Systeme zu sein als das politische System. Dieses muss in „breitbandigerer“ Offenheit mehr unspezifische Umweltirritationen unterschiedlicher Herkunft verarbeiten. Die Bearbeitung dieser Komplexität ist zeitintensiv. Das System nutzt dafür strukturelle Verzögerungseffekte: Gewaltenteilung, Mehrkammersysteme etc. können, so Scheuerman, als Werkzeuge zur gezielten Verlangsamung von Entscheidungsprozessen gesehen werden, die insbesondere die erforderliche Zeit zur intellektuellen Bewältigung komplexer Themen verschaffen (2001:54). 19 Für das politische Funktionssystem bedeutet Zeitversatz zu anderen Systemen bei gleichzeitigem Entscheidungsdruck häufig auch den Zwang, auf der Basis ungenügender Informationen Entscheidungen oder zumindest Statements produzieren zu müssen. Gerade durch die Echtzeitkommunikation der Medien sind sowohl Funktionssystem als auch politische Öffentlichkeit oft gezwungen, zu früh Position zu beziehen: „Man muss handeln, bevor man wissen kann“ (Luhmann 1987:60). Andererseits zeigte etwa das vorsichtige Handeln der Regierungen auf dem Höhepunkt der sog. Schuldenkrise, dass das Funktionssystem auch antizipieren muss, welche Reaktionskaskaden ein zu frühes Statement, ebenso wie ein verzögertes Handeln, auf den schnell agierenden „Märkten“ auslösen kann. Vom sachlichen Aspekt ganz abgesehen, verweist gezieltes publik Machen politischer Entscheidungen nach Börsenschluss auf Versuche, Asynchronität zu nutzen, um Irritationen gezielt in ein schneller operierendes strukturell gekoppeltes System ein bringen zu können. Hier kommt die Temporalisierung von Komplexität ins Spiel, die Verschiebung von Operationen, Reaktionen etc. in die Zukunft. Eine für das politische System signifikante Folge dieser Taktik ist das Entstehen einer Art Bugwelle aufgeschobener Problemlösungen, künftiger Optionen und latent gehaltener Problemfelder. Rosa vertritt die These, dass dadurch Komplexität und Kontingenz erhöht werden (vgl. Rosa 2005:473, 302, 298) und so dann auch die Unübersichtlichkeit zunimmt.

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Die massive Beschleunigung und Parallelität hochkomplexer Prozesse in den Systemumwelten, die keine Zeit für ordnende Priorisierungen, elaborierte Informationsverarbeitung und klare Visibilisierung lassen, werden zur Quelle ihrer Unübersichtlichkeit.

4.3 M ULTIPLER WANDEL Die politische Öffentlichkeit wird nicht nur mit der strukturellen Unübersichtlichkeit der spätmodernen Gesellschaft konfrontiert, sondern auch mit Formen der Unübersichtlichkeit, die aus der Dynamik zahlreicher Wandlungsprozesse resultieren.20 4.3.1

Sozialer und kultureller Wandel

Der kulturelle und soziale Wandel der spätmodernen, „hyperakzelerierten“ Gesellschaft (Rosa 2005:420, 133, 176ff.; vgl. Nassehi 2003a:134; Lash 2002:18 f.) trägt zur Unübersichtlichkeit des Politischen bei. Die soziale Welt wirkt durch die Vielfalt ihrer Bewegungen, Veränderungen und kulturellen Neuerungen (Nowotny 2005:22) komplex. Mit ihren sich in schneller Folge ablösenden Perspektiven und kulturellen Gewissheiten wirkt sie zudem hochgradig kontingent: „Unsere globale Gesellschaft scheint komplexer, zersplitterter, multifokaler, heterogener, orientierungsloser, feinkörniger, komplizierter und vernetzter geworden zu sein im Vergleich zu früheren Phasen der Moderne“ (Holzinger 2007:17). Die Polykontexturalität der Gesellschaft erzwingt, gerade in ihren politischen Diskursen, die Auseinandersetzung mit der legitimen Möglichkeit und Vielfalt anderer Standpunkte, neuer Lebensentwürfe, ästhetischer Spezifikationen, abweichender Wertungen und partikularer Interessen. In den sich „verflüssigenden“ sozialen Strukturen und Ordnungssystemen (Bauman 2000; vgl. Simmel 1900:64; Giddens 1990:13; auch Reckwitz 2006:632; Lübbe 1983:56; Beck 1986:251 f.) verlieren Positionen und Haltung durch diese Vielfalt an Verbindlichkeit und werden Produkte kontingenter Selektionen. Die Reproduktion dieser unübersichtlichen Vielfalt durch die Massenmedien führt dazu, dass „Kontingenzgewissheit zu einem Teil des kollektiven Wissens“ wurde (S.J. Schmidt 1994:310). 21

20 Beck sprach mit Blick auf unsere Zeit nicht mehr von Wandel, sondern von „Metamorphose“. Er betonte damit die noch nicht absehbare Tragweite der aktuellen Transforma tionsprozesse im Kontext sich entwickelnder planetarischer Risiken (wie des Klimawandels) und der sich intensivierenden bzw. verselbständigenden Globalisierung (vgl. Beck 2016:29 f., 37 f.). „In sum, metamorphosis is not social change, not transformation, not evolution, not revolution and not crisis. It is a mode of changing the nature of human existence. […] It challenges our way of being in the world, thinking about the world, and imagining and doing politics“ (20).

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Zudem gibt es in einer heterarchischen Gesellschaft keine Instanz, oder – wichtiger noch – es würde keine gesellschaftliche Instanz mehr akzeptiert, die die disparaten Sichtweisen auf eine „Zentralperspektive“ (Nassehi 2003a:135) hin ordnen könnte, um diese Kontingenz zu reduzieren. Es ist auch keine, nicht zwingend unterkomplex operierende, Instanz mehr denkbar, die diese Leistung erbringen könnte.22 Hyperkomplexität wird sichtbar, wenn die Diskurse nicht mehr allein die komplizierte Vielfalt sachlicher Aspekte einzelner Wandlungsprozesse thematisieren, sondern zudem auch die Vielfalt der Positionen und berechtigten Interessen repressionsfrei mitführen und in die Bearbeitung thematischer Komplexität integrieren müssen. Die Komplexität des Komplexen wird dadurch selbst zum Thema. Prozesse des Wandels manifestieren sich für die politische Öffentlichkeit in einer Fülle zum Teil sehr komplexer Themen mit ethischen (Beispiel pränatale Diagnostik), wissenschaftlichen (Beispiel Klimawandel) oder ökonomischen Bezügen (etwa Armut) oder im Entstehen völlig neuer Themen (etwa der sozial wirksamen Etablierung virtueller Räume23). Diese Themen und ihre Dissens und Konflikte generierende Vielfalt (Dahl 1989:218, 318) sind mit Forderungen nach oder Hoffnungen auf kollektiv bindende Entscheidungen verknüpft und daher Gegenstand politischer Kommunikationen. Das politische System visibilisiert diese Themen und macht sie, mithilfe der Massenmedien, gesellschaftlich kenntlich und diskursfähig (vgl. S. 33). Die politische Öffentlichkeit wird so mit den inhaltlichen Komplexitäten, den kontingenten Bearbeitungs- und Interventionskonzepten, mit der Unübersichtlichkeit dieser Themen konfrontiert. 21 Unaufhörlicher Wandel ist systemimmanent und keine gesellschaftliche Entwicklung neueren Datums. Schumpeter hat den Kapitalismus als Form der Veränderung, als auf Permanenz gestellte Revolution gesehen (Schumpeter 1942:136 ff.) und vom „ewigen Sturm schöpferischer Zerstörung“ (143, vgl. 138) gesprochen. Es scheint gerade der Typ des Wirtschaftssystems Treiber permanenten Wandels zu sein: „Marktsysteme reizen zu Tausenden und Millionen von Initiativen an. Es sind turbulente, offene Systeme, in denen Wachstum und Wandel an unzählig vielen Stellen möglich ist“ (Lindblom 1977:135). Kapitalismus „ist von Natur aus immer Neokapitalismus“ (Deleuze, Guattari 1976:32). 22 Eben diese Unterkomplexität und Kontingenzintoleranz sind Merkmal und Reiz fundamentalistischer Bewegungen. „Ihre Vertreter lehnen […] die soziale und institutionelle Differenzierung der modernen Gesellschaft ab und entwerfen eine entdifferenzierte, monolithische Welt“ (Eisenstadt 2000a:207). 23 Auf die Entstehung relativ autonomer, gesellschaftlich wirksamer virtueller Räume im Netz weist Schroer hin (2003:344). In seinem Text relativiert er die weiter oben als Trivialisierung des Raums bezeichnete Tendenz (S.55), indem er zeigt, dass durch Prozesse des Wandels nicht nur vorhandene Räume an Bedeutung verlieren können, sondern auch neue entstehen, virtuelle oder sehr reale etwa in Form von Gated Communities.

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Globalisierung

Die Globalisierung steigert die Unübersichtlichkeit des Politischen, da mit ihr zusätzliche Formen der Vielfalt und neue Beobachtungsverhältnisse entstehen. Vielfalt Eisenstadt hat gezeigt, dass Modernisierung nicht als homogener und hegemonialer Prozess zu sehen ist, der einer klar definierten westlichen Logik unterliegt, die in allen Regionen der Welt in identischer Form rezipiert würde (2000a:11 f., 227 ff., 243, 245; 2000b:2 f.). Stattdessen erzeugt er eine Vielfalt simultaner „Modernen“. Diese Vielfalt erhöht die Komplexität der Umwelt politischer Systeme. Ökonomische, politische, kulturelle Verflechtungen verweisen auf Zonen außerhalb der eigenen Gesellschaft, die sich aus der kommunikativen Umgebung des politischen Funktionssystems in dessen unmittelbare und relevante Umwelt verlagern. Lokale Aktivität hat erkennbar Folgen und Fernwirkungen in räumlich entfernten Arealen, so wie umgekehrt auch in der eigenen Gesellschaft Folgen externer politischer oder ökonomischer Entscheidungen kenntlich und wirksam werden (vgl. Giddens 1990:85, 137; vgl. auch Richter 2008:310). Die politische Öffentlichkeit muss sich deshalb mit neuen, inhaltlich zum Teil hochkomplexen Themen befassen, die vor dieser Entwicklung jenseits der Grenzen von Gesellschaft, Staat, Nation oder unmittelbarer Lebenswelt lagen.24 24 Wie oben schon angemerkt, werden traditionelle Grenzbegriffe im Kontext der Welt gesellschaft unscharf, die Trennung von System und Umwelt schwieriger (S. 55). „Sobald die kommunikative Erreichbarkeit sozialer und geografischer Räume auf unserem Planeten keinen prinzipiellen Schranken mehr unterliegt, vollzieht sich Weltgesellschaft in jedem sozialen Ereignis“ (Nassehi 1999b:25). Damit verlaufen Grenzen nicht mehr zwischen Gesellschaften, sondern eher zwischen weltweit operierenden Funktionssystemen (vgl. Nassehi 1999b:27, 30; 2003a:208; 1999a:123; Stichweh 2000:91, 93, 251; Voelzkow 2000:277 f.; Holzinger 2007:145). Stichweh führt den Gedanken weiter und schließt, dass „alle Gesellschaften Weltgesellschaften sind, dass sie sich alle durch die projektive Konstitution eines Welthorizonts auszeichnen“ (Stichweh 2000:237). Die geschilderten problematischen Folgen funktionaler Differenzierung scheinen sich auf globaler Ebene in ähnlicher Form zu wiederholen, indem nicht nur Gesellschaften azentrisch werden, sondern eben auch ihr globales Umfeld (vgl. Nassehi 2003a:208, 225; vgl. Bauman 1996:316): „Für das Verständnis der Gegenwartsgesellschaften entscheidend ist die Tatsache, dass Territorien, Ethnien, Finanz- und Ideenströme, aber auch Formen kultureller, religiöser und politischer Praxis der Tendenz nach voneinander unabhängig werden, sodass jene Ströme in verschiedene Richtungen fließen können, d. h. als nahezu beliebig (re-)kombinierbar, intentionaler Steuerung aber weitgehend entzogen scheinen“ (Rosa 2005:177). Diese Tendenzen lassen die Umwelt nationalstaatlich ausgerichteter Politik komplexer werden (Kneer 2003:258; vgl. auch Beck 2016:183).

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Kontingenter erscheint die Welt zudem, weil eben diese Interdependenzen auf Strukturen, Machtkonstellationen, ökonomische Konzepte verweisen, die jenseits fokaler politischer Entscheidungsradien liegen und sich demokratischer Kontrolle weitgehend entziehen. Das wiederum hängt auch mit der partiellen Schwächung des Nationalstaats (vgl. Eisenstadt 2000b:16) zusammen, dessen Entscheidungsmöglichkeiten von einer global vernetzten, letztlich exterritorial etablierten Ökonomie zunehmend eingeschränkt werden, die die Möglichkeitshorizonte und zeitlichen Konditionen seiner Politik immer häufiger bestimmt (vgl. Bauman 2003:36, 38; 1996:318; Schimank, Lange 2003:176 ff.; Schroer 2003:333 f., 349; Stichweh 2000:95; Luhmann 2000:387; Rosa 2005:48, 461). Globalisierung lässt eine neue Dimension der Unübersichtlichkeit entstehen, die auf praktisch allen Ebenen des Politischen sichtbar wird. Gerade bei den nicht-konventionellen Themen, die an sich schon einen enormen Komplexitätsgrad aufweisen, muss diese weitere, globale Dimension berücksichtigt werden. So muss etwa die Beurteilung umweltpolitischer Projekte mit ihrer ohnehin komplizierten Materie auch transnationale Hinsichten oder entgrenzte wirtschaftliche Interessen berücksichtigen. Beck sprach deshalb von einem Zeitalter der Seiteneffekte (2016:20). Beobachtung Globalisierung, so Nassehi, verweist auf „neue, verunsichernde Beobachtungsverhältnisse“ (1999b:31, 2003a:226). Durch die globale Reichweite der Mediensysteme (vgl. Münch 1995:123; Giddens 1990:101) wird die Vielfalt religiöser, politischer, ethischer Haltungen, Konzepte, Visionen (vgl. auch Eisenstadt 2000a:229), Lebenslagen und Symbolwelten sichtbar (Schroer 2003:336 f.; Beck 1997:117), die Gleichzeitigkeit ungleichzeitiger Lebensverhältnisse oder die plötzliche Präsenz entfernter Gefährdungen.25 Migration, um nur ein Beispiel zu nennen, zwingt die sozialen Systeme im Allgemeinen und die politische Öffentlichkeit im Besonderen, Fremdes zu identifizieren, kommunikativ zu prozessieren und damit Komplexität – also Formen der Vielfalt – und Kontingenz zu akzeptieren bzw. zuzulassen (vgl. auch S.J. Schmidt 1994:309 f.; Nassehi 2011:306). Die Beobachtung fremder kultureller und religiöser Praktiken, Weltsichten und -verständnisse, ideologischer und ökonomischer Konzepte lässt die eigenen Standpunkte kontingent erscheinen (vgl. Münkler, Ladwig 1997:26; vgl. auch Bergmann 2001:42). Das Beobachtete verweist immer zurück auf den Beobachter: Die politische Öffentlichkeit thematisiert 25 Beck formuliert die Annahme einer Weltrisikogesellschaft. „Sie besagt: Es ist nicht länger möglich, die Nebenfolgen und Gefahren hochentwickelter Industriegesellschaften zu externalisieren. Sie stellen als Risikokonflikte das institutionelle Gefüge infrage. Hier wird die Sicht entfaltet, dass transnationale soziale Räume auch durch ungewollte, geleugnete, verdrängte Gefahren konfliktvoll und rätselhaft gleichsam ‚hinter dem Rücken der Menschen‘ gestiftet werden“ (Beck 1997:75; vgl. 79; vgl. Giddens 1990:156).

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mit jeder Thematisierung des Fremden zugleich sich selbst und zwingt zu neu akzentuierten Beobachtungen ihrer selbst (vgl. hierzu auch Hahn 1999:79 ff.; 1997:145; Guttandin 1993:463, 470 f.; Habermas 1999:396 ff.). Produktionsbedingungen in Asien zu thematisieren, bedeutet auch Produktionsbedingungen im eigenen Land beurteilen zu müssen. Die billig erstandenen Waren verweisen auf Produktionsprozesse, die möglicherweise mit eigenen ethischen Selbstbeschreibungen nicht kompatibel sind (vgl. Beck 1986:219). Die Beobachtung von Flutkatastrophen in fernen Ländern führt zum Nachdenken über die eigene Ressourcennutzung bzw. die Zusammenhänge zwischen beidem (vgl. auch Beck 2016:127). Hierdurch entstehen neue Hinsichten, neue Quantitäten an Informationen, neue Diskurse – mit anderen Worten neue Komplexitäten. Die globale wechselseitige Beobachtung führt auch zu einer permanenten Reinterpretation kultureller, sozialer, ökonomischer Konzepte, Praktiken und Gewissheiten – also zu einem Kontingentwerden der Positionen –, sodass die Modernität selbst einen transitorischen Zug erhält (vgl. Eisenstadt 2000b:24; Bauman 1996:316; Giddens 1990:54), der in allen Gesellschaften in Form zunehmender Unübersichtlichkeit wirksam wird. 4.3.3

Innovation und Gefährdung

Die Funktionslogiken von Wirtschaft, Wissenschaft und Technik schaffen in spätmodernen Gesellschaften eigene, sehr prägnante Formen der Unübersichtlichkeit26, die insbesondere auf die Eigendynamik ihrer Innovationen zurückzuführen sind.27 26 Luhmann hat bereits in den 1970er-Jahren auf die exponierte Bedeutung dieser Trias hingewiesen: „Heute definieren Wirtschaft, Wissenschaft und Technik die in der Gesell schaft zu lösenden Probleme mitsamt den Bedingungen und Grenzen ihrer Leistungs möglichkeit“ (Luhmann 1975b:58). 27 Der Begriff wird hier sehr weit im Sinn von innovativ wirkender „Forschung und Ent wicklung“ verwendet. Zu Innovationen werden substanzielle Fortschritte in der wissenschaftlichen Forschung gezählt, die Entwicklung neuer Technologien zur Einsatzreife und Durchsetzung am Markt, neue Produktionskonzepte oder -paradigmen (etwa Industrie 4.0), aber zum Beispiel auch Entwicklungen im militärischen Bereich. Wesentlich erscheinen dabei soziale Wahrnehmung, Prozessierung und Wirkung. Unter Innovationen werden hier demnach gesellschaftlich wirksame, sich gegenseitig fördernde Entwicklungen in Wissenschaft und Technik verstanden, die in einem überwiegend globalen ökonomischen Kontext realisiert werden. Auf den ökonomischen Kontext wird hingewiesen, da Strukturen und Prozesse der drei Bereiche einander stützen, fördern und voneinander getrennt, denkt man insbesondere an die naturwissenschaftliche Grundlagenforschung, kaum mehr vorstellbar sind. Forschung ermöglicht oft die technische Implementierung von Artefakten, die wiederum der Forschung zugutekommen. Beide sind überwiegend in global orientierte öko nomische (also:

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Innovationen setzen die Gesellschaft, und so auch das politische System und die politische Öffentlichkeit, „Kontingenzstößen“ aus (Luhmann 1986:165), die dort verarbeitet und transformiert werden müssen und nicht selten in Zustände der Perplexität sozialer Systeme führen.28 Die Beziehung zwischen diesen beiden Sphären ist kompliziert und widersprüchlich. Die sozialen Systeme spätmoderner Gesellschaften sind eng mit technischen Strukturen und Infrastrukturen verwoben, ihre Semantiken, Denkmuster, Moden und kulturellen Standards sind stark von Technologie und Wissenschaft geprägt.29 Die Selbstbeschreibung der Gesellschaften wandelte sich in den letzten Jahrzehnten von der Industrie- zur innovationsbereiten, -freudigen und -fähigen Wissens- und Informationsgesellschaft (vgl. auch Nowotny 2005:21, 141 ff.). Zugleich führen aktuelle oder angenommene künftige, soziale oder ökologische Seiteneffekte von Innovationen dazu, dass sich die politische Öffentlichkeit zunehmend kritisch mit Innovationen, ihrer Planung und Implementierung auseinandersetzt. Sie befasst sich dabei zwangsläufig mit immer komplizierteren Themen, die sich aus dem Umgebungsbereich in die Umwelt des politischen Systems verlagern (vgl. Münch 1995:122).30 primär private) Zusammenhänge eingebunden. Gesellschaftliche Wirksamkeit bedeutet, dass Forschung, Technologie und Markt in Entwicklung, Produktion und Vermarktung von Artefakten konvergieren, die direkt oder zeitlich und räumlich entfernt, punktuell oder weiträumig, Rückwirkungen in sozialen Systemen erzeugen. 28 Der Begriff der Perplexität wird von Vogl verwendet (Vogl 2010:21; vgl. auch Mayntz 1999:33). In solchen Situationen bringen die Systeme nicht mehr die den Themen adäquate erforderliche Vielfalt auf (vgl. Fuchs 1992:250). 29 Freyer sah darin, Ende der 1950er-Jahre, ein „Dominantwerden technischer Kategorien“ in der gesellschaftlichen Lebenswelt: „Dieser Technizismus senkt sich nun in die Fundamente einer Gesellschaft ein, deren Zivilisation vom Funktionieren des technischen Apparats schlechthin abhängig geworden ist“ (Freyer 1959:548, 549). Nicht nur die Kategorien, auch der Gesichtspunkt fortdauernden innovativen Wandels geht in die gesellschaftliche Selbstbeschreibung ein: „Je mehr Einfluss auf gesellschaftliche Verhältnisse technologischen Neuerungen zugestanden wird und je stärker der Prozess technologischen Wandels im Sinne ständiger Revolutionen modelliert wird, umso deutlicher wird Technologie zur historischen Hauptfigur“ (Gugerli et al. 2005:87; vgl. auch Baecker 2011:182, 191). 30 Es geht dabei nicht nur um technische oder ökologische Risiken. Einzelne Innovationen weisen eine soziale Eindringtiefe auf, die basale soziale und kulturelle Muster berührt oder sogar grundsätzlich disponibel erscheinen lässt. So etwa die „molekulare Medizin, […] die erhebliche Auswirkungen auf das haben wird, was das Normale vom Pathologischen unterscheidet“ (Nowotny 1999:15, 63; vgl. Haraway 1995:160 ff.). Ähnlich die Entwicklung der pränatalen Diagnostik, die neue ethische Fragen aufwirft (Kuhlmann

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Neue Komplexitäten und Kontingenzen Wissenschaftliche und technische Innovationen erzeugen allein durch die Existenz der Artefakte, durch ihre Themen und Perspektiven neue Komplexität.31 Komplexität ist dabei nicht nur Merkmal der Beschreibung des Aktuellen und Künftigen, sondern oft auch des Vergangenen. Heutige Forschung eröffnet Aussichten auf Wirkungen früherer innovativer Zukunftsplanungen, Altlasten werden Gegenstand von Innovation. Gerade im Fall der ökologischen Schäden eröffnen sich komplexe Thematiken, die mit Fehlplanungen, unterkomplexen Denkmustern, unreflektiertem Enthusiasmus und politischem Versagen in der Vergangenheit assoziiert werden. Kontingent sind die Wirkungen von Innovationen: Ihre soziale Rezeption, ökonomische, politische, gesellschaftliche Bedeutungen und ihre nicht intendierten Seiteneffekte sind häufig unklar oder entziehen sich seriösen Prognosen. Wissenschaft und Forschung produzieren außerdem dadurch Kontingenz, dass sie ostentativ mit revisionsbereiten Formen des Wissens operieren müssen. 32 Diese Auffassung von Vorläufigkeit, dem Provisorischen von Wahrheit oder sogar Wirklichkeit strahlt in die Gesellschaft und in die politische Öffentlichkeit aus. Wissenschaftliche Erkenntnisse lassen zudem elementare soziale und kulturelle Muster kontingent werden, wenn etwa das Konzept der Willensfreiheit im Rahmen der Interpretation neurobiologischer Befunde zur Disposition gestellt wird (Roth 2003:170 ff.; Kuhlmann 2011:145 ff.). Die Kontingenzerfahrung rührt auch von der Offenheit solcher Entwicklungen, der Vorläufigkeit jeder Innovation (vgl. Karafyllis 2011:236) und ihrer kaum einschätzbaren Eigendynamik. Nancy weist darauf hin, dass Technik ihre „eigene Entwicklung“ hat: „Sie antwortet nicht mehr allein auf natürliche Unzulänglichkeiten, sie produziert ihre eigenen Erwartungen und sucht

2011:87, 107 ff.) oder die Nutzung von Informationstechnologien, die tief in die ge sellschaftliche Definition von Privatheit eingreifen (vgl. Kurz, Rieger 2011:88 ff., 94 ff.; Wiegerling et al. 2008:78). 31 Artefakte und Infrastrukturen schaffen Komplexität, selbst wenn sie erfolgreich ver suchen, ihre tatsächliche Komplexität zu verbergen (vgl. auch Karafyllis 2011:240). Das gilt für Geräte, die sich nicht mehr öffnen lassen, für Großtechnologien, die sich hinter ostentativ einfachen Fassaden verbergen, und für Softwaresysteme, deren Oberflächen enorme Komplexität einfach handhabbar machen. Blumenberg sprach von der technischen Welt als einer „Sphäre von Gehäusen, von Verkleidungen, unspezifischen Fassaden und Blenden“ (Blumenberg 1981:36). 32 „Seiner epistemologischen Verfasstheit gemäß ist es ein Wissen auf Abruf, es trägt die Bereitschaft in sich, den errungenen Platz jederzeit zugunsten späteren, aber besseren Wissens aufzugeben“ (Nowotny 1989:89; vgl. 2005:26; Stichweh 2000:180; Luhmann 1986:155 f.; Münch 1995:35; Mayntz 1999:35; Mitchell 2008:73; vgl. auch Arendt 1971:269).

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auf Forderungen zu antworten, die aus ihr selbst kommen“ (Nancy 2011:55, vgl. 71; vgl. Evers, Nowotny 1987:234).33 Das Politische Innovationen sind häufig mit Forderungen nach kollektiv bindenden Entscheidungen verknüpft. Sie werden, auf unterschiedlichen organisatorischen Ebenen, in Bezug auf Unterstützung dieser Prozesse formuliert. Wissenschaftliche und technische Innovationen gelten als wesentlicher Wettbewerbsfaktor auf globalen Märkten. Entsprechend massiv werden entsprechende Projekte, mit Verweis auf Konkurrenzfähigkeit, wirtschaftliches Wachstum, den Erhalt oder die Schaffung von Arbeitsplätzen gefördert (vgl. z.B. Nowotny 2005:88). 34 Allerdings sieht sich das operative System von einer politischen Öffentlichkeit beobachtet, die das Innovationsgeschehen kritisch verfolgt und Eingriffe, Regulierungen oder alternative Ausrichtungen fordert. Dafür gibt es zunächst ein profanes Motiv: Grundlagenforschung, technische Großprojekte usw. sind von der Aufwendung erheblicher Steuermittel abhängig und sind deswegen begründungsbedürftig.35 Das zweite Motiv sind reale oder auch nur als real kommunizierte Gefährdungen, die mit aktuellen, künftigen oder vergangenen Innovationen verbunden sind. Denn Diskurse über Innovation sind primär Risikodiskurse (hierzu beispielsweise Evers, Nowotny 1987:32 ff.; Beck 1986:27 ff.). Unsicherheit und Unübersichtlichkeit entstehen, weil Risiken oft weder vollständig zu verstehen sind (vgl. Renn, Kastenholz 2008:104) noch klar ist, wie zu handeln ist, um sie zu begrenzen, und welche ihrerseits riskanten Folgen eine solche Risikovermeidung möglicherweise nach sich zieht. Ein Beispiel für eine schwierige Abwägung von Nutzen- und Schadenspotenzial sind Innovationen wie der Genomeditor CRISPR/Cas9, der bisher, auch von Experten, nicht vollständig verstandene Eingriffsmöglichkeiten bietet, vollkommen neue biotechnische und medizinische Horizonte eröffnet, aber zugleich Anlass berechtigter Ängste und dystopischer Zukunftsvisionen ist.

33 Diese Entkopplung von der Logik der Defizitkompensation hat Freyer als „Autonom werden der technischen Vollzüge“ bezeichnet (Freyer 1959:548): „Es wird nicht mehr vom Zweck auf die notwendigen Mittel, sondern von den Mitteln, d.h. von den verfügbar gewordenen Potenzen, auf die möglichen Zwecke hin gedacht“ (Freyer 1959:546). 34 Der positiv konnotierte Schlüsselbegriff der Innovation findet sich etwa in den Publika tionen des Forschungsministeriums (BMBF 2012:23 ff.) und in programmatischen Texten praktisch aller Parteien. 35 Als Beispiel mag die Diskussion über ein steuerfinanziertes Großforschungsprojekt wie CERN genannt werden, dessen außerwissenschaftlicher Nutzen politischer Begründung bedarf (vgl. Stichweh 2000:178).

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Im Zug der Beobachtung von Forschung, technischen Innovationen und ökonomischen Praktiken beschreibt sich die spätmoderne Gesellschaft nicht nur als Wissensgesellschaft, sondern auch als eine „Sich-selbst-gefährdende-Gesellschaft“ (Fuchs 1992:136; Beck 1986:8 ff.; vgl. Nassehi 1999a:41; Willke 1997:337). Sie macht ihre Innovationen politikfähig, indem sie sie auf benennbare Entscheidungen zurückführt (vgl. Baecker 2011:192), die diskursiv bearbeitet werden können. Carl Schmitt fragte sich noch, ob das positive Verhältnis zum Fortschritt von Technik und Wissenschaft auch das „Streben nach einer neutralen Sphäre“ (Schmitt 1932:88 f., 94) jenseits gesellschaftlicher und politischer Konfliktzonen verkörpere (vgl. hierzu auch Hilgers 2010:147). Der historische Wandel demokratischer Systeme und gesellschaftlicher Wahrnehmungen zeigt sich jedoch auch darin, dass diese thematische Sphäre heute im öffentlichen politischen Kommunikationsraum reflektiert wird und damit eine strukturelle Grenze kontingent gesetzt wurde. Die politischen Diskurse über Innovationsthemen sind durch eine hohe Unübersichtlichkeit geprägt, für die es mehrere Gründe gibt: Globale Bezüge. Potenziell riskante Innovationsprojekte sind heute oft in global vernetzte Strukturen eingebettet, die sich nationalstaatlich orientierter Politik teilweise entziehen und deswegen eigene Formen der Komplexität und Kontingenz aufweisen.36 Desynchronisierung. Wissenschaft und technische Innovation in ihren globalisierten ökonomischen Kontexten entwickeln Eigenzeiten und Beschleunigungen, die auf die Gesellschaft und so auch auf das Politische desynchronisierend wirken (vgl. Nowotny 1989:81 f., 97). Ihrem Tempo hängen soziale Systeme häufig nach (vgl. Münch 1995:122 f.), die neue Wissensformen, Möglichkeiten und Perspektiven zunächst in eigene Wissensstrukturen integrieren und sprachlich repräsentieren müssen, um sie kommunikativ bearbeiten zu können (vgl. Nowotny 2005:104 f., 111 f., 157 f.).37 36 Die Politik sieht ihre Spielräume durch global agierende Systeme der Forschung, Entwicklung und Fertigung begrenzt. Verbote, etwa in Bezug auf die Nutzung von Stammzellen oder genetisch modifizierter Organismen, ebenso wie riskante Produktionstechnologien, können durch Verlagerung der Aktivitäten, in von der nationalen Gesetzgebung nicht erreichbare Regionen, umgangen werden. Andererseits ist zu erkennen, dass regulative Umweltpolitik zunehmend auch auf transnationaler Ebene – nicht zuletzt aufgrund der Aktivität von NGOs – thematisiert und durchgesetzt wird (vgl. Kneer 2003:256 f.; Leggewie, Welzer 2009:160 ff.). 37 Ein Beispiel sind die Informationstechnologien, mit deren Entwicklung das politische System – etwa in Fragen des Datenschutzes – kaum mitzuhalten vermag. Rosa spricht von der Gefahr „anachronistische Entscheidungen zu treffen, die zum Zeitpunkt ihrer Implementierung von der sozialen Wirklichkeit […] bereits überholt sind“ (Rosa 2005:409; vgl. auch Virilio 1977:62). Das ist auch darauf zurückzuführen, dass einmal

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Folgelastigkeit. Die unklaren Folgen und potenzielle Irreversibilität politischer Entscheidungen in Hinblick auf Innovationen (Scheuerman 2001:61; Saretzki 2003:48) kann grundlegende Konzepte der Demokratie aushebeln und verkompliziert die Diskurse durch ihre Unwägbarkeiten. So ist beispielsweise eine Entscheidung für die Freisetzung gentechnisch modifizierter Organismen wahrscheinlich nicht revidierbar und muss von nachfolgenden Generationen ohne deren Einwilligung mitgetragen werden (vgl. Preuß 1984:225). Preuß hat darauf hingewiesen, dass folgelastige Entscheidungen das Mehrheitsprinzip außer Kraft setzen können, nicht nur, weil eine künftige potenzielle Mehrheit nicht gehört werden kann, sondern weil sie auch nicht die Möglichkeit erhalten wird, eine alternative Entscheidung verbindlich werden zu lassen (Preuß 1984:236 ff.; vgl. hierzu auch Scharpf 1970b:275, der in diesem Zusammenhang von einem „prinzipielle[n] demokratische[n] Dilemma“ spricht). Unsicheres Wissen. Politisches Entscheiden wirkt in diesen thematischen Räumen kontingent, weil „klare Erkenntnis Mangelware“ ist (Münch 1995:98; vgl. Dahl 1989:337; Mayntz 1999:40; Almond, Powell 1966:180, 189). Webers Figur des Dilettanten tritt hier in Form der politischen Öffentlichkeit wieder auf, die immer häufiger auf jene Experten angewiesen ist, die zum jeweiligen Problem womöglich selbst beigetragen haben (vgl. Mayntz 1999:40; Almond, Powell ebenda).38 Der Prozess politischen Entscheidens bewirkt mit hoher Wahrscheinlichkeit Seiteneffekte und Komplexitäten, die aktuell weder zu erkennen noch zu verstehen sind, mit der Folge, dass „jedes Wissen und jede wahrgenommene Option zugleich die Aussicht auf Nichtwissen und auf weitere kontingente Optionen steigert“ (Willke 2002:81). Der Autor stellt fest, dass es sich dabei auch nicht um ein nur punktuell relevantes Problem handelt, „weil das mit jedem neuen Wissen korrespondierende neue Nichtwissen sich nicht mehr auf abgegrenzte Parzellen überschaubarer Ignoranz beschränkt, sondern sich zu einem systemischen Nichtwissen ausweitet, welches entsprechende Systemrisiken in sich birgt“ (Willke 2002:35). Diese lassen sich nicht unbedingt auf unzureichendes Wissen zurückführen, denn angesichts nicht-konventioneller Themen besteht die verstörende Möglichkeit, dass „mehr Kenntnisse die Unsicherheit überhaupt nicht vermindern“ (Mitchell 2008:113; vgl. Willke 2002:56; Rescher 1998:32, 39). Polykontexturalität. In den Diskursen über nicht-konventionelle Themen wird das Ausmaß der Polykontexturalität, Heterarchie und Hyperkomplexität hochinformierter Gesellschaften sichtbar. Komplexitäten verweisen auf immer weitere erworbenes Wissen sehr schnell wertlos wird (vgl. Willke 2002:37, 57). 38 Serres sieht darin einen Trend zum kulturellen Dominantwerden epistemischen Wissens, das politisches oder juristisches Entscheiden diskreditiert: „Die Wissenschaft übernimmt den Platz des Rechts und setzt ihre Tribunale ein, deren Verfügungen fortan die der an deren Institutionen willkürlich erscheinen lassen“ (Serres 1990:143)

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schwer reduzierbare Komplexitäten, auf Vielfalten legitimer Komplexitätsbeschreibungen, auf disparate Beobachtungen erster und zweiter Ordnung, auf widersprüchliche Rationalitäten disjunkt operierender Funktionssysteme (Fuchs 1992:39, 66; vgl. auch Münch 1995:81). Diese Vielfalt wird oft auf einfache Dichotomien, wie etwa Umweltschutz versus Arbeitsplätze, heruntergebrochen, um die komplex vernetzten Kausalbeziehungen und Wirkungsmuster zu verdecken, ohne jedoch die verunsichernde Unübersichtlichkeit dieser thematischen Räume tatsächlich beseitigen zu können. Polykontexturalität verweist auf Vielfalten legitimer Interessen und der damit verbundenen Komplexitätssteigerung durch „konkurrierende Darstellungs- und Begründungsansprüche“ (Saxer 1998:34). „Die größere Heterogenität des Wissens und die Erweiterung der stakeholders, der verschiedenen sozialen Gruppierungen, deren Meinung und Verhalten, Interessen und Wertvorstellungen Rechnung zu tragen ist, erhöht den Grad der Komplexität“ (Nowotny 2005:135; 1999:59; Mayntz 1999:38).39 Konfliktlinien verlaufen dabei nicht nur zwischen Betroffenen und Profiteuren, sondern auch zwischen einer für die soziale Dimension ihres Handelns unter Umständen unempfindlichen Wissenschaft oder einer an Folgen von Implementierungen desinteressierten Wirtschaft einerseits und einem politischen System, das Innovationswirkungen visibilisieren und auffangen bzw. regulieren soll. Andererseits haben gerade zeitlich und räumlich verteilte Seiteneffekte in der politischen Öffentlichkeit ein Gespür für Unübersichtlichkeit und Invisibilisierungen entstehen lassen. Die Kritikbereitschaft und -fähigkeit, auch angesichts komplizierter Themen, hat mit der „Demokratisierung wissenschaftlicher Expertise“ zugenommen (Nowotny 2005:33; vgl. 1999:20, 23). Diskurse um ökologische oder technische Gefährdungen zwingen auch das Wissenschaftssystem vermehrt zu zeitintensiven Visibilisierungsleistungen, um kollektive Akzeptanz etwa für Großforschungsprojekte oder Tierversuche zu gewinnen, zumal das vorbehaltlose Vertrauen in die Wissenschaft abgenommen hat (Nowotny 1999:37). Auch das Wirtschaftssystem sieht sich einer kontinuierlichen Beobachtung durch die Öffentlichkeit ausgesetzt. Was dem politischen System der kritische Wähler ist, ist dem Wirtschaftssystem der kritische und zunehmend auch global vernetzte Verbraucher (Beck 1997:124), der etwa durch Boykottdrohungen auf innovatorische Operationen einwirken kann.

39 Mayntz weist auf die Tatsache hin, dass es oft erst die Wissenschaft ist, die durch ihre Erkenntnisse die Interessen von Gruppen definiert (Mayntz 1999:33).

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4.3.4

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Systemexpansion und strukturelle Opazität

Spätmoderne Gesellschaften sind in hohem Maß „politische Gesellschaften“ (Greven 1999:16), deren politische Öffentlichkeit mit großer und vermutlich weiter zunehmender Unübersichtlichkeit konfrontiert wird. Das hängt auch mit zwei Entwicklungstendenzen des politischen Systems zusammen: Zum einen erweitert sich der Radius des Politischen: Immer mehr Themen geraten aus der Umgebung in die Umwelt dieses Systems. Zum andern erscheint das Funktionssystem im Hinblick auf seine organisatorische Ebene zunehmend opak und unverständlich. Systemexpansion Der thematische Radius des Politischen scheint sich zu vergrößern, da Grenzbereiche des Politischen als kontingent markiert werden und das Funktionssystem selbst in mehreren Hinsichten zu expandieren scheint (hierauf wird auch im folgenden Kapitel eingegangen). Kontingenzmarkierung. Die oben beschriebene Kontingentsetzung thematischer Grenzregionen des Politischen durch die politische Öffentlichkeit (S. 33 ff.; Baecker 1996:94 f.; Eisenstadt 2000a:19, 35, 26; 2000b:6) und namentlich durch die neuen sozialen Bewegungen erweitert die Beobachtungsradien. Die Reflexion struktureller Grenzen stellt Themen und ganze thematische Räume, die früher kommunikativ in gekapselten Zonen der Wirtschaft, der Administration, der Wissenschaft bearbeitet wurden, heute als politische Themen dar und setzt die jeweiligen Funktionssysteme der Beobachtung durch die politische Öffentlichkeit aus. Diese aktive Ausweitung kommunikativer Grenzen hat die quantitative und qualitative Umweltkomplexität der politischen Öffentlichkeit erhöht (vgl. Saxer 1998:57; vgl. Münch 1995:40; vgl. auch Beck 1997:168) und die Kontingenz überkommener Strukturen und Prozesse kenntlich gemacht. Neue Themen. In zahlreichen thematischen Räumen haben Entwicklungen stattgefunden, die neue politische Visibilisierungen und bindende Entscheidungen erfordern. Beispiele sind die Regulierung informationstechnischer Innovationen oder die Bearbeitung von Innovationsfolgelasten. Es handelt sich hierbei oft um neue Themen (in den 1960er-Jahren war Datenschutz kein wichtiges Thema in der politischen Kommunikation) bzw. um Entwicklungen, die in früher der politischen Öffentlichkeit entzogenen thematischen Räumen angesiedelt waren (etwa die Reproduktionsmedizin) und heute in ihren Diskursen präsent sind (vgl. Nowotny 2005:31). Expansion des Funktionssystems. Greven hat eine „immer weiter ausgreifende Problembearbeitungsreichweite des politischen Prozesses“ diagnostiziert (1999:172). Sartori hat darin eine Tendenz zur „Hypertrophie der Politik“ erkannt (1987:247) – ein Begriff, der sich bereits bei Kelsen findet (1920:114). Nassehi nimmt eine Radiuserweiterung im Sinne erfolgreicher Optionssteigerungen des

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Funktionssystems an (2003a:177; vgl. S. 77), die dahin gehend interpretiert werden kann, dass das System proaktiv weitere gesellschaftliche Funktionsbereiche beobachtet und dadurch immer mehr Themen als regulierungsfähig oder regulierungsbedürftig reklamiert (Rittel, Webber 1973:159).40 Die Expansion des politischen Funktionssystems – auf eigene Initiative, aufgrund gesellschaftlicher Erwartungen, oder als Reaktion auf Entwicklungen in seiner Umwelt – führt zu einer Erweiterung des Themenspektrums für die politische Öffentlichkeit (vgl. Luhmann 2000:139, Easton 1965b:61, 59; Dahl 1989:336; Heidenescher 1999:169; Beyme 2007:340; Kneer 2003:243; Sartori 1987:247, 132; Kepplinger 1998:52, 84; Sarcinelli 1987b:27; Gerhards 1994:102; Nolte 2012:12).41 Sie muss dadurch zusätzliche Daten aus der so erweiterten Umwelt in interne Informationen transformieren. „The great increase of issues“ (Easton 1965b:61), die Vielfalt und Kompliziertheit der Themen (Dahl 1996:12) und ihre durch Polykontexturalität geprägte gesellschaftliche Bearbeitung haben zu einer Zunahme der Komplexität und Kontingenz, also der Unübersichtlichkeit, beigetragen. Strukturelle Opazität Mit der vergrößerten Reichweite des politischen Funktionssystems hat sich die Beobachtung seiner Strukturen und Prozesse kompliziert. Greven konstatierte, „dass in modernen politischen Gesellschaften mehrere Regierungen, mehrere Ebenen des Regierens und eine sich daraus ergebende komplizierte Matrix der legalen Kompe40 Dies hat Durkheim bereits im Hinblick auf die „ständige Funktionserweiterung des Staats“ thematisiert (Durkheim 1896:96). Er geht dabei auch auf die Erweiterung des inhaltlichen Spektrums ein, die auf die Zunahme des Wissens und der Fähigkeit zur Thematisierung zurückzuführen ist, auf die Vergrößerung des Bereichs „des klaren Bewusstseins“ (Durkheim 1896:121, vgl. 125). Durch die Kontingenzmarkierungen in spätmodernen demokratischen Systemen wird der Grenzverlauf politischer Kommunikation unschärfer. „Prinzipiell kann in der politischen Gesellschaft alles zum Gegenstand politischer Kommunikation, also politisiert, werden. Damit tritt eine Situation ein, deren Kontingenz nur noch durch politische Entscheidungen abgeholfen werden kann“ (Greven 1999:78, vgl. 55). Der Autor verwendete hierfür auch den Begriff der „Fundamentalpolitisierung“ (Greven 1999:54). 41 „Immer neuer Regelungsbedarf entsteht, immer mehr Akteure mischen mit, immer komplexer und von der Wirkungsabschätzung her diffuser werden die Zusammenhänge“ (Greven 1999:173). Nach Rosa steigen „aufgrund der wachsenden Instabilität von Erwartungshorizonten und Handlungsbedingungen im postkonventionellen Zeitalter nicht nur die Innovationsraten, sondern auch Zahl und Umfang politisch regelungsbedürftiger Sozialbereiche“ (Rosa 2005:409). Er weist darauf hin, dass die größere Zahl zu treffender Entscheidungen auch zu Desynchronisierung durch Zeitknappheit (Rosa 2005:410) führt, also ebenfalls zu Formen der Unübersichtlichkeit.

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tenzverteilung und funktionalen Verflechtung existiert“ (1999:152 f.; vgl. auch Czerwick 2011:194 f.). Sie umfasst auch den Hintergrundbereich demokratisch schwach legitimierter Strukturen und Akteure, das Verbändewesen, private Initiativen, Gesprächskreise etc. (vgl. Greven 1999:154). So entsteht insgesamt die Unübersichtlichkeit eines „immer tiefer gestaffelten und komplexer strukturierten institutionellen und territorialen Mehrebenensystems politischer Willensbildung und des jeweils nur partikularen Regierens“ (Greven 1999:178). Die operativen Systeme moderner Demokratien geben zudem (durch Selbstthematisierungen, aufgrund gesellschaftlicher Transparenzforderung oder durch journalistische Aufklärung) den Blick auf ihre internen Kommunikationsprozesse frei. Vielfalten von Interessenlagen, Friktionen der Interessendurchsetzung, institutionelle Machtverteilungen und strukturelle Beziehungen unterschiedlicher politischer Ebenen und Teilsysteme öffnen sich damit der Beobachtung durch die Öffentlichkeit und erweitern das thematisierbare Spektrum des Politischen. Eine weitere Komplizierung entsteht mit der Einbettung des politischen Funktionssystems in supranationale Systeme und Strukturen (vgl. Dahl 1994:26 f.; 1989:319 f.; Imhof 2003:413) wie die EU, in militärische Bündnisse wie die NATO oder ökonomische Organisationen wie die WTO. 42 Die Aktivitäten international operierender NGOs unterschiedlicher Provenienz, nicht offizieller oder unklar legitimierter Zusammenschlüsse wie der G-20 (vgl. Dahl 1994:27, 32; Greven 1999:155, 75; Willke 201415 f.) und Institutionen wie internationale Schiedsgerichte tragen ebenfalls zur Unübersichtlichkeit bei. Durch die Globalisierung und das Auftreten von Problemen globaler Größenordnung sind die Nationalstaaten darauf angewiesen, an einer Vielzahl solcher transnationalen Gebilde zu partizipieren (Schroer 2003:326; vgl. auch Habermas 2013:97 f.). Die Verkomplizierungen des Politischen nehmen mit den Systemen und Akteuren, ihren divergierenden Interessen und Ambitionen, den sich erweiternden thematischen Räumen und der scheinbaren oder tatsächlichen Kontingenz schwer interpretierbarer Entscheidungsprozesse weiter zu (vgl. Münch 2003:121 ff.; Keane 2009:779 f.).43 42 Dahl hat drei historische Stadien der Staatlichkeit ausgemacht: vom Stadtstaat über den Nationalstaat zum Staat innerhalb transnationaler Systeme (z.B. Dahl 1994:25 f.). Mit jeder Stufe ist das Politische für die politische Öffentlichkeit komplexer und kontingenter geworden (27 ff.). Zu letzten Stufe trans- oder supranationaler Systembildungen schrieb er: „[T]he burdens of information, knowledge, and understanding they would place on their citizens would, I believe, far exceed those of national democratic systems – which, heaven knows, impose burdens that may already be excessive“ (31). 43 Münch zeigt die besonderen Probleme politischer Legitimation im Rahmen der EU auf und schlägt vor, anstelle ihrer Begründung mit demokratischen Konzepten, auf eine Legitimation durch transparente Verfahren zu setzen (Münch 2003:126 ff.). Doch würde so die thematische Komplexität möglicherweise noch zunehmen.

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4.4 M ULTIPLE K OMMUNIKATIONEN Als weitere Quelle der Unübersichtlichkeit wird hier die Kommunikationsaktivität der Informationsgesellschaft angesehen, die technologiegetriebene Expansion und Beschleunigung der Autopoiesis ihrer Kommunikationsprozesse. Insbesondere das Internet und die damit assoziierten Technologien und Praktiken haben zu neuen Informationslagen geführt, die für das politische System und für die Beobachtung des Politischen von Bedeutung sind. Hörl spricht von „informations- und kommunikationstechnologischen Ökologisierungen des Seins“ (Hörl 2011:17), die, so ist anzunehmen, auch für das politische System – operatives System wie politische Öffentlichkeit – eine „technologische Bedingung“ (Hörl 2011:15) schaffen, unter der sich ihre Kommunikationen vollziehen. Die absehbaren Innovationspfade von Computer- und Netztechnologie laufen auf einen noch umfassender ökologischen Charakter der Kommunikation hinaus: Die komplizierten Aspekte ihrer Technologie werden weiter verkapselt werden, sodass der Eindruck von Komplexität verblassen und eine weniger wahrnehmbare, ubiquitäre und selbstverständliche Informations-Infrastruktur entstehen wird, in der technologische und soziale Systeme ineinandergreifen (vgl. Hörl 2011:34; vgl. auch Wiegerling et al. 2008:71,80).44 Diese „Technosphäre“ ist mit Kategorien des defizitkompensierenden Werkzeughaften in Gehlens Sinn kaum vollständig zu fassen (Nancy 2011:71). Ihre „technologische[n] Objektkulturen“ etablieren eigene „Sinn44 Trotz ihrer zunehmenden Alltäglichkeit überfordert die Kommunikationstechnologie dennoch ihre Beobachter: Da sind die kurzen Innovationszyklen, die „kumulative[] Rückkopplungsspirale zwischen der Innovation und ihrem Einsatz“ (Castells 2000:34, vgl. 64 ff.), ihre kaschierte, aber bei Nicht-Funktionieren evidente Komplexität und Opazität. Vor allem sind es aber die frappierend vielfältigen Auswirkungen auf unterschiedliche soziale Systeme und Strukturen, auf die Arbeitswelt, auf die Arten etwa der visuellen Wahrnehmungen, des ästhetischen Empfindens, des Konsums, der Sprache, der Definition und Wahrnehmung von Privatheit oder Intimität. Hierzu tragen auch kulturelle Transfers aus den sozialen Systemen technisch-öko nomischer Eliten bei, deren Bild politischer oder privater Kommunikation nicht mit dem der politischen Öffentlichkeit übereinstimmen muss. Technische Innovationen können in diesem Umfeld gedacht, geschaffen und popularisiert werden, ohne dass politische, soziale oder kulturelle Auswirkungen berücksichtigt oder realisiert werden (vgl. Castells 2001:47; Morozov 2011:303, 314; Donner 2010:108; Wiegerling et al. 2008:73). Auch das belegt den erwähnten Eigensinn der Funktionssysteme. Als Beispiel für die „kulturelle Blindheit“ der Technik (C. Schmitt 1932:91) kann die tendenzielle Aufhebung des Privaten genannt werden. Sie verweist auf sozial relevante Dimensionen kommunikationstechnologischer Innovation jenseits von Machbarkeit und ökonomischer Attraktivität. Denn „jedes Algorithmendesign [konstituiert] einen anderen Benutzer und präferiert damit ein anderes Menschenbild“ (Donner 2010:108).

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regime“ (vgl. Hörl 2011:12, 10), die auf Modi und Inhalte der Kommunikationen, auf Welt- und Eigenwahrnehmungen, auf Praktiken und Selbstbeschreibungen sozialer Systeme zurückwirken. Sie führen zu neuen Formen der Informationsprozessierung und des Wissenserwerbs und dadurch auch zu neuen Formen politischer Beobachtung und Beteiligung.45 Sie führen aber auch zu weiterer Unübersichtlichkeit, wie im Folgenden gezeigt wird. 4.4.1

Politische Öffentlichkeit

Dass technische Medien soziale Kommunikationen und politische Diskurse prägen oder beeinflussen, ist kein neues Phänomen. Die Kommunikationsrevolution des Buchdrucks mit beweglichen Lettern (Eisenstein 1979:44) hat die politische Öffentlichkeit der Moderne und damit die Entwicklung demokratischer Bestrebungen erst ermöglicht (vgl. Brunkhorst 2000:160 ff., 172 f.). So gesehen lässt sich die Geschichte der Demokratie auch als Geschichte technischer Medien lesen. Die Druckerpresse, die Massenmedien haben dem emanzipationsgewillten Bürgertum seit dem 18. Jahrhundert umfassende Wissensaneignung, das Vergleichen von Texten, und damit autonome politische (aber auch religiöse) Kritik ermöglicht (vgl. Brunkhorst 2000:172, 77; Baecker 2007:36, 76 f., 164 f.; Eisenstein 1979:169, 419; Nolte 2012:164; Keane 2009:236 f.; kritisch: Kittler 1993:178 f.) und so schließlich auch dessen „Fundamentalpolitisierung“ bewirkt (Nolte 2012:185, 407). Die Expansion der „Gutenberg-Galaxis“ (McLuhan) hat neue Kontingenz (vgl. Eisenstein 1979:311, 419), einen „Sinnüberschuss“ (Baecker 2007:164) produziert, für den Strategien rationaler Bearbeitung gefunden werden mussten. Eine Leistung, die, so Baecker, auch von spätmodernen, nicht minder überforderten Gesellschaften erwartet wird (vgl. Baecker 2007:169). Denn mit der Popularisierung der Internet-Nutzung, der Allgemeinverfügbarkeit, Vielfalt und Konvergenz angelagerter Technologien bzw. der durch sie ermöglichten und etablierten Praktiken sind Kommunikationsformen aufgekommen, die neue Auswirkungen auf die politische Öffentlichkeit und ihre Kommunikationen haben (vgl. Castells 2001:177; Lash 2002:66; vgl. auch Chadwick 2006:18 ff.), vor allem aber die Unübersichtlichkeit ihrer Umwelten steigern. Symmetrische Kommunikation. Dieser Effekt ist primär auf Formen symmetrischer öffentlicher Kommunikation zurückzuführen, die ganz unterschiedlichen Akteuren nicht nur den Konsum, sondern auch die Produktion von Content ermöglichen. Sie werden in die Lage versetzt, schnell und unkompliziert Beiträge liefern zu können – die nicht grundsätzlich Reputation oder öffentlich bzw. formal bestätigte Expertise voraussetzen (vgl. z.B. Chadwick 2006:30). 45 Damit etablieren sich zugleich auch neue Wissenserwartungen und kognitive Ansprüche und, in der Folge, eigene Formen der Ungleichheit und Exklusion. Hierauf wird noch eingegangen.

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Produktion von Content bedeutet (auch im Gegensatz zum Druck), Beiträge nicht nur zu liefern, sondern automatisch (durch die Suchmaschinen oder explizierte Verlinkung) mit anderen in Beziehung zu setzen, sie in einem potenziell globalen öffentlichen Kontext zu platzieren und der, wiederum öffentlichen, Vergleichbarkeit und Kritisierbarkeit auszusetzen bzw. für kaum kontrollierbare diskursive Anschlüsse bereitzustellen. Politische Kommunikation verläuft weiterhin in hohem Maß über die klassischen Massenmedien (vgl. z.B. Decker et al. 2013:116 f.). Aber: „Neue Medien machen alte nicht obsolet, sie weisen ihnen andere Systemplätze zu“ (Kittler 1993:178) – oder bewirken ihren Wandel. Erkennbar ist, dass klassische Massenmedien hybride Teil- oder Parallelstrukturen ausbilden, indem sie Usercontent, -bewertungen und -kommentare in die eigene Informationsproduktion einbinden. Auch dadurch expandieren die multizentrischen, leicht zugänglichen öffentlichen Kommunikationen und ihr Einfluss auf politische Diskurse. Öffentliche Äußerung kann nicht automatisch mit gesellschaftlicher Relevanz oder politischer Wirkung gleichgesetzt werden (Neuberger, Welker 2008:32). Der Begriff der Symmetrie ist deswegen mit einer gewissen Vorsicht zu verwenden. Präziser wäre es, von einer verminderten Asymmetrie zu sprechen. So gelingt es beispielsweise nur einer überschaubaren Anzahl von Blogs nennenswerte Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen; und diese werden überwiegend von professionellen Journalisten oder Prominenten betrieben (Neuberger, Welker 2008:32). Für die Mehrheit derjenigen, die Inhalte im Netz publizieren, besteht das Problem der großen Zahl bzw. der begrenzten Aufnahmekapazität ihrer Adressaten. Allein die Möglichkeit, zu publizieren, ist, kein demokratischer „Gewinn“ (Barber 1998b:128; Weizenbaum 2001:29 f.).46 Mit Witte kann man beiden Autoren allerdings entgegensetzen, dass alle Publikationen im Netz eine Wirkung haben: Sie liefern „immer auch einen Beitrag zum ‚Gesamtpuzzle‘ Öffentlichkeit. Das bedeutet: Auch wenn ein einzelner Beitrag nicht den Anspruch hat, Öffentlichkeit herzustellen und faktisch auch nur von drei Usern gelesen bzw. genutzt wird, trägt er dennoch zur Prägung der Öffentlichkeit bei und verändert das komplexe Gefüge von Journalismus, Partizipation und Öffentlichkeit“ (Witte 2008:99). Zudem kann alleine die wahrgenommene hohe Zahl solcher Publikationen zu einer Relevanz führen, die einzelne Beiträge für sich genommen nicht aufweisen. Das ganze Spektrum öffentlicher Äußerungsmöglichkeiten, von Entrüstungsstürmen in sozialen Netzwerken, viral sich verbreitenden Informationen bis hin zu substanzieller, breit ge46 „Doch glaubt jemand wirklich, die allgemeine Möglichkeit, sich eine Homepage einzurichten, sei dasselbe wie die allgemeine Macht, den Lauf der Welt zu beeinflussen? Hängt Macht davon ab, wer spricht oder wer zuhört (und wer wen zum Zuhören bringen kann)? In einer Welt der Kommunikationsleviathane gehört zur Demokratie mehr“ (Barber 1998b:128)

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tragener Kritik spezieller Communities, etwa von Betroffenen oder Experten, bildet eine relevante und wirkmächtige Teilumwelt des politischen Operativsystems. 47 Schenk et al. sehen in diesen Beteiligungspraktiken eine „Dynamisierung“ politischer Kommunikationen48, die zur Vernetzung von Akteuren beitragen, Kommunikationszusammenhänge konstituieren, politische Diskurse ausrichten, konzentrieren und zu öffentlicher Präsenz und politischem Gewicht führen kann. Gerade neue soziale Bewegungen profitieren hiervon (Castells 2001:152, 155; Chadwick 2006:130 ff.; vgl. Richter 2011:265 f.).49 Durch die niedrigschwelligen Kommunikationsoptionen und -angebote kann sich die Öffentlichkeit mit Komplexität, aber auch Kontingenz im positiven Sinn (der erforderlichen Vielfalt), versorgen, das Spektrum ihrer Diskurse weit halten und sensibel auf gesellschaftliche Veränderungen reagieren. Es ist auch diese ungefilterte Vielfalt der Beiträge, die die politische Öffentlichkeit als „weit gespanntes Netz von Sensoren“ für das politische System fungieren lässt (vgl. Habermas 1992b:364; vgl. auch Imhof 2005:70) und gleichzeitig dessen Visibilisierungsleistungen unterstützt (vgl. S. 33). Zugleich erscheint sie in diesen Kommunikationen für sich selbst deutlicher sichtbar. Usercontent relativiert schließlich die 47 Diese Wirkmächtigkeit wird in der sog. Medialisierungsthese formuliert, die besagt, dass „mit zunehmendem Medialisierungsdruck die Bereitschaft des politischen Systems zunimmt, auf den Druck öffentlicher Problematisierung und moralischer Empörung zu reagieren“ (Schranz, Vonwil 2006:26). 48 „In einem sich bedingenden Verhältnis stehen auch Partizipation und Dynamisierung zueinander. Für den Nutzer heißt Partizipation im Web 2.0 in erster Linie tätige Teilhabe am Produktionsprozess von Informationen […], was im Ideal und letztlich zur Teilhabe an gesellschaftlicher Öffentlichkeit führen soll. Erkennt der Nutzer seine produktiven Potenzen, wird er nicht selten weiter motiviert, was aufseiten der Web 2.0-Anwendungen zu einer Dynamisierung von Themen und Inhalten führt, die wiederum für Anschlusskommunikation zur Verfügung stehen (im Vergleich zu Internetanwendungen der ersten Generation). Dynamisierung heißt in diesem Zusammenhang, dass Inhalte […] in einem bestimmten Zeitraum in höherer Zahl eingestellt werden. Es kommt zu einer Beschleunigung öffentlicher Kommunikation. Die Dynamisierung zeigt sich u. a. an der großen Geschwindigkeit, mit denen sich einzelne politische und kulturelle Debatten mit Hilfe von Weblogs fortpflanzen können“ (Schenk et al. 2008:248). 49 In nichtdemokratischen Systemen kann diese Art des Medienangebots, wie der sog. „Arabische Frühling“ gezeigt hat, revolutionäre Entwicklungen unterstützen und der politischen Öffentlichkeit eine Möglichkeit geben, staatliche und private Informationsmonopole zu umgehen. Allerdings hat Morozov gezeigt, dass die Rolle der Technologie, beispielsweise in Irans sogenannter „Twitter-Revolution“, überschätzt (Morozov 2011:17, 293, 295) bzw. aus einer westlichen Sicht (und Technikbegeisterung) falsch interpretiert wurde (Morozov 2011:51).

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Deutungs- und Meinungsmonopole klassischer Medienanbieter. All das sind Leistungen, die für moderne Demokratien von eminenter Bedeutung sind. Zugleich schafft die „technologische Bedingung“ für die politische Öffentlichkeit neue Unübersichtlichkeit: zunehmende qualitative und quantitative Komplexität, neue Varianten der Kontingenz und eine kritische Beschleunigung ihrer Kommunikationen (vgl. auch Wils 2005:301). Quantitative Komplexität und Beschleunigung. Zu politischen Themen werden Meinungen, Standpunkte, Positionen, aber auch neutral erscheinendes Faktenwissen, in die Kommunikationen eingeleitet, die so die Hyperkomplexität, Polykontexturalität und Heterarchie der Gesellschaft in vielfältigen, schnell kommunizierten Beobachterperspektiven spiegeln (vgl. auch Baecker 2007:165 ff.; Keane 2009:743). Diese multiplen Beobachtungen produzieren Anschlüsse: Sie werden von der und für die politische Öffentlichkeit aufgenommen, kommentiert, reflektiert und beschrieben, es werden Daten in Informationen und resonante Kommunikationen transformiert, die ihrerseits publiziert, weiterverarbeitet und interpretiert werden. Dies hat, durch die Mühelosigkeit, die Spontanität und den Wegfall traditioneller Filtermechanismen, zu einer beschleunigten Proliferation von Daten und Informationen geführt. Relevantes Wissen droht dabei im Rauschen, in Informations-Spam50, aber auch forcierter Unterhaltung unterzugehen. Laughlin vertritt die These, dass der Informationsüberschuss deswegen nicht zu einer Zunahme, sondern letztlich zu einer Abnahme verfügbaren substanziellen Wissens führt. (Laughlin 2008:41). Auch Kamps sieht darin eine paradoxe Wendung: Das Überangebot erfordert ein Management von Aufmerksamkeit durch Selektionsverfahren, die jedoch „die Funktion nichtmediatisierter Darstellung und Auseinandersetzung tendenziell aufheben“ (Kamps 2000:235). Der symmetrische Charakter der Internetkommunikation würde sich demnach durch eine Selbstüberlastung gerade der politischen Öffentlichkeit wieder abschwächen. Qualitative Komplexität. Zur Vielfalt des verfügbaren Contents, der Datensammlungen, Informations- und Wissensbestände tragen neben der Öffentlichkeit zum Beispiel auch Produzenten im Wissenschafts- oder Wirtschaftssystem bei. Gerade im Fall nicht-konventioneller Themen werden Daten und Wissensarten unterschiedlichster externer Systemprovenienz für politische Diskurse durch das Netz erreichbar, die zumindest potenziell politische Relevanz erhalten können. Dadurch haben sich kommunikative Einzugsgebiete vergrößert, die Grenzen zwischen Umwelt und Umgebung des Politischen sind durchlässiger geworden. Politische 50 Bolz spricht bereits 1993 vom „Dauerproblem [der] [...] ‚junk information‘. Alle Dokumente würden ja von unzähligen Kommentaren, Verknüpfungen und Variationen wie ein Palimpsest überschrieben. Wer entscheidet nun über wichtige und junk-Information? Wer filtert die Daten zur Brauchbarkeit?“ (Bolz 1993:25).

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Feedbacks können dadurch zwar informierter, spezifischer und sachgerechter werden. Die Themen werden jedoch inhaltlich komplexer, ihre Bearbeitung voraussetzungsreicher, die Vielfalt der Gesichtspunkte und Hinsichten verwirrender. Kommuniziertes Wissen ist zudem prekär, wenn es sich der Möglichkeit einer Verifikation entzieht. Das Überprüfen und Außerfragestellen von Informationen ist nur durch die Verarbeitung von noch mehr Informationen oder gesteigerter diskursiver Bearbeitung möglich. Besonders bei nicht-konventionellen Themen generieren Wissen und die Aufnahme neuen Wissens immer neue Ungewissheiten (vgl. auch Luhmann 1995a:149 f.). Nowotny merkt an, dass das keineswegs mit Nichtwissen zu verwechseln ist: „Ungewissheit entsteht durch das Überangebot von Wissen, aus dem sich zu viele Alternativen ergeben, zu viele mögliche Verzweigungen und Folgewirkungen sichtbar werden, die sich nur schwer abschätzen lassen“ (Nowotny 2005:138). Kontingenz. Beiträge aus sozialen, politischen, weltanschaulichen und religiösen Zusammenhängen können jedes Thema, jeden thematischen Raum mit alternativen Sichten, Deutungen und Wahrheiten anreichern oder belasten. Kein Standpunkt, kaum ein Wissen und kaum eine Datenlage, die dadurch nicht als kontingent markierbar erscheint.51 Zudem schafft der globale Austausch im Netz neue Beobachtungslagen, neue Fremd- und damit auch neue Selbstbeobachtungen, die die eigenen Haltungen und Gewissheiten unter Kontingenzvorbehalt stellen (vgl. auch Baecker 2007:47 f.).52 51 Und das nicht nur im positiven Sinn. Castells spricht von einer „globalen elektronischen Agora […], auf der die Vielfalt menschlicher Unzufriedenheit in einer Kakofonie von Akzenten explosiv zum Ausdruck kommt“ (Castells 2001:150), in der nicht nur demo kratischer Impetus, sondern gerade auch die lauten reaktionären bzw. antidemokratischen Stimmen hörbar sind (vgl. Morozov 2011:46 f., 250; Chadwick 2006:138; Fiorina 1999:411 f.). Im Netz sieht sich die politische Öffentlichkeit mit ihren eher unschönen Seiten konfrontiert. Das Phänomen ist freilich nicht neu. Auch mit der Einführung des Buchdrucks haben sich die Horizonte nicht nur in Richtung Aufklärung erweitert. Nationalistische, konservative oder orthodoxe religiöse Kräfte nutzten rasch das neue und effiziente Kommunikationsmittel (vgl. Eisenstein 1979:366 f.; vgl. auch Keane 2009:241). 52 Andererseits bringen diese Technologien möglicherweise auch bestimmte Formen und Praktiken der Kontingenzmarkierung oder Kritik zum Verschwinden. Debray vertritt die Ansicht, der Sozialismus habe als politisches Projekt das Ende seines „Lebenszyklus“ erreicht, weil seine primäre Kulturtechnik oder kulturelle Logik eine Form des Lesens war, die in der modernen Medienwelt im Verschwinden begriffen ist (Debray 2007:27). Mit der Evolution von der Grapho- zur Videosphäre wird ihm eine spezifische kom munikative Grundlage entzogen (Debray 2007:5 ff.). Die Ersetzung der Rotationsmaschine durch das Serverrack hat eine Verschiebung von der diskursiven sozialen oder

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Die offenen Informationshorizonte und die rhizomatischen Verzweigungen der Diskurslinien, die Vielfalt kommunizierter Gesichtspunkte, Wissenspartikel, Erkenntnisse, Informationen haben für die politische Öffentlichkeit insgesamt neue Komplexitäten etabliert und mit deren Bearbeitung und Beurteilung auch neue Kontingenz: Für die politische Öffentlichkeit werden die thematischen Räume dadurch insgesamt unübersichtlicher. 4.4.2

Operatives politisches System

Auch das politische Funktionssystem operiert in einer dichten, hochdynamischen Informationsatmosphäre, in der die Kommunikationstechnologie das Politische und dessen Beobachtung direkt affiziert. Das in Demokratien strukturell langsame System muss nicht allein auf die klassischen Medien reagieren, sondern, beinahe in Echtzeit, auf die schnell getakteten, oft massiven Rückkopplungen aus Kurznachrichtendiensten, auf Meinungswellen aus sozialen Netzwerken, den Beobachter-Öffentlichkeiten der Blogs und Foren: „out-of-control-information“ (Lash 2002:144), die den potenziell „viralen“ Charakter moderner demokratischer Kommunikationen (Keane 2009:744) offenbart und das System unter Druck setzt. Dieser geht auch von dem schnellen kommerziellen Online-Journalismus etablierter Medienunternehmen und deren hybriden Ablegern bzw. Angeboten aus (vgl. hierzu z .B. Morozov 2011:179, 267). 53 Erhöhter Selektions- und Entscheidungsdruck, in immer engeren Zeitfenstern geforderte schnellere Datenverarbeitung, Informationsproduktion und öffentliche beobachtbare Aktivität treiben, beinahe zwingend, die Techniknutzung voran. Nicht allein zur Optimierung interner Prozesse, sondern auch nach außen, auf die politische Öffentlichkeit gerichtet, wie die zunehmende Nutzung des Internets für die professionelle politische Kommunikation belegt.54 der aktiven, reflektierenden individuellen Auseinandersetzung mit Texten (vgl. Lash 2002:71) hin zum Konsum von Bildern, Soundbites und prägnanten Schlagzeilen beschleunigt, die möglicherweise bestimmte Inhalte, bestimmte Formen kritischen Denkens und der Reflexion, vielleicht sogar bestimmte Formen von Bildung (d.h. individueller und sozialer erforderlicher Vielfalt) entwertet. 53 Kepplinger weist darauf hin, dass dabei auch die Akzeptanz des operativen politischen Systems leidet, „weil es an seinen eigenen Erfolgskriterien gemessen wird, jedoch den ganz andersartigen Erfolgsbedingungen der Medien genügen muss. Das politische System ist damit divergierenden Kriterien ausgesetzt, denen es um so weniger gerecht werden kann, je bedeutsamer die Medien werden“ (Kepplinger 1998:157, 163; vgl. auch Keane 2009:762 f.). 54 Chadwick sieht darin eine Strategie: „[I]n particular, how the increased potential for governments to control what they communicate to the public about their actions gives com munication professionals, or spin doctors, much wider opportunities to frame political

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Zur Steigerung der Informationsdichte trägt das operative System selbst bei, wenn Verwaltungen, öffentliche Einrichtungen usw. der politischen Öffentlichkeit Teile ihrer Datenbestände über das Internet bereitstellen – und damit auch Forderungen und Erwartungen der politischen Öffentlichkeit nachkommen. Bürgerplattformen ermöglichen zum einen das Abrufen von Daten aus einem weiten Spektrum administrativer und politischer Aktivitäten, von Geo- über Gesundheits- und Haushaltsdaten bis zu Rechts- Fiskal- und Wirtschaftsinformationen. Zum anderen, und das ist im Hinblick auf die Qualifizierung demokratischer Feedbacks bemerkenswert, stellen einige offene Programmierschnittstellen für Abruf und Aufbereitung solcher Daten durch ihre Adressaten bereit. Damit öffnen sie auf technischer Ebene Schnittstellen für politische Anschlusskommunikationen auf hohem Informations- und Komplexitätsniveau.55 Dass solche Initiativen nicht allein von staatlicher Seite oder der Privatwirtschaft ausgehen, zeigt zum Beispiel die Open Knowledge Foundation, eine aus der politischen Öffentlichkeit hervorgegangene Initiative, die ihr Ziel in der „Förderung der offenen Zugänglichkeit aller Formen von Wissen“ sieht. 56 Dahinter steht die messages. E-government offers political elites a new, previously unavailable electronic face. This is controlled by government itself and is subject to the central demands of contemporary politics, namely presentational professionalism, disingenuous statistical detail […] and softer forms of strategic communication such as imagery, symbolism, and strategic language use“ (Chadwick 2006:202). Das fördert u. a. Tendenzen zu personalisierter bzw. symbolischer Politik (vgl. auch Witte 2008:105). Chadwick weist noch auf einen anderen Aspekt hin: Diese Formen der direkten und professionellen Adressierung der politischen Öffentlichkeit durch Regierungsstellen, Administration etc. drohen die Legislative zu marginalisieren (Chadwick 2006:203; vgl. auch Imhof 2005:73; Imhof, Kamber 2000:437). Ein Gedankengang, den man vielleicht auch mit Carl Schmitts pessimistischer Sicht auf den Parlamentarismus in Verbindung bringen kann. „Die Lage des Parlamentarismus ist heute so kritisch, weil die Entwicklung der modernen Massen demokratie die argumentierende öffentliche Diskussion zu einer leeren Formalität gemacht hat“ (Schmitt 1923:10). 55 Ein Beispiel für den kommunalen Bereich ist API.Leipzig (http://www.apileipzig.de/). Hier finden sich Links zu vergleichbaren Projekten im Ausland. Auf nationaler Ebene kann das unter der Ägide des BMI erstellte Datenportal GOVDATA genannt werden (https://www.govdata.de/),

das

Portal

für

offene

Behördendaten

der

Schweiz

(https://opendata.swiss/de/) oder „Opening up Government“ der britischen Regierung (http://data.gov.uk/). Ein internationaler Katalog solcher Systeme findet sich unter http://dataportals.org// (Abrufe 01.03.2017). 56 Vgl. http://okfn.de/about/mission/. Ein solches Open Data-Projekt war „Offener Haushalt“ ein (derzeit inaktives) Portal, das Haushaltsdaten des Bundes aufbereitet (https: //offenerhaushalt.de/). Die aktuelle Inaktivität zeigt, wie schwierig es ist, solche zivilge-

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Annahme, dass transparente Verwaltungsstrukturen, offene Datenbestände und freie Informationsflüsse zu einem qualitativ besseren und stärker legitimierten Regierungshandeln beitragen können (vgl. hierzu z.B. Islam 2003:36). Das gilt insbesondere für den kommunalen Bereich (vgl. z.B. Floeting, Grabow 1998:269), in dem eine optimal informierte politische Öffentlichkeit bereits in frühe Stadien politischer Entscheidungsfindung einbezogen werden kann (Chadwick 2006:197 f., 199 f.).57 Für die politische Öffentlichkeit erhöht das allerdings den Kommunikationsdruck und insgesamt die Komplexität des Politischen. 4.4.3

Medien

Das hochfrequente, quantitativ und qualitativ komplexe, zugleich kontingente Publikations-, Deutungs- und Kommentierungsgeschehen wird von einer politischen Öffentlichkeit beobachtet, die einen permanenten Datenstrom verarbeiten, Informationen einordnen und reflektieren muss. Hier sollte die Entlastungsfunktion unterschiedlicher Mediensysteme ansetzen, die Informationen selektieren, einordnen und zugänglich halten, in diesem Szenario aber aus mehreren Gründen selbst überfordert wirken. Sie können Unübersichtlichkeit aber auch deshalb nicht reduzieren, weil ihre Glaubwürdigkeit unter Vorbehalt steht. Selektivität. Die Rolle der Medien in den politischen Kommunikationsprozessen ist ambivalent. Als Kommunikationssysteme operieren Massenmedien in thematischen Räumen im Zusammenhang von Information (Beschaffung, Validierung, Aufbereitung), Mitteilung (Darstellung) und Verstehen, den Kommunikationskomponenten, die immer Selektionsaktivitäten darstellen (S. 21; vgl. Görke 2003:130; Zolo 1992:194 f.; Brettschneider 1997:575 ff.). Selektivität der Massensellschaftlichen Projekte mit ehrenamtlichen Mitarbeitern zu erhalten. (Abrufe 01.03.2017). 57 Dies könnte einer der Ausgangspunkte für eine Transformation demokratischer Systeme im Sinn effektiverer Beteiligung sein, wie sie beispielsweise in den Konzepten von Barbers „starker Demokratie“ (Barber 1984) oder Ungers „Hochtemperatur-Demokratie“ (Unger 2005) entwickelt werden. Verwaltung und Politik werden so neuen Formen der Beobachtung und des Öffentlichkeitsdrucks ausgesetzt. Das kann im Sinn einer Vitalisierung und Intensivierung demokratischer Prozesse positiv eingeschätzt werden – so etwa Grossman (vgl. Grossman 1998:86 f.). Andere Autoren vertreten die Ansicht, dass sie die Demokratie möglicherweise eher untergraben denn stärken könnten (Morozov 2011:239; Chadwick 2006:196 f.; Castells 2001:170) – gerade auch „weil die politische Führung ständig im Rampenlicht der öffentlichen Beobachtung steht und zur Verantwortung gezogen wird“ (Grossman 1998:94). Umgekehrt wird die politische Öffentlichkeit in diesem Kontext auch Objekt strategischer Kommunikationen professioneller und technischer Experten, die diese Daten aufbereiten und präsentieren (Chadwick 2006:202).

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medien ist eine von zahlreichen Systemen abgerufene Entlastungsfunktion, die sich paradoxerweise durch sich selbst entwertet: In der Auswahl von Informationen werden Motive, bei der selektiven Mitteilungskomponente Interessen angenommen, was dann, unter dem Aspekt des Verstehens, zum kaum auflösbaren Verdacht der Manipulation führt (Luhmann 1995a:77, 81, 141). Interessen. Die überwiegend privatwirtschaftlich organisierten Anbieter folgen eigenen politischen und ökonomischen Interessen (Imhof 2005:73 f.), die zum Teil wieder auf politische oder ökonomische Verflechtungen zurückzuführen sind (vgl. auch Sarcinelli 1987b;31; Saxer 1998:57; Entman 1989:18 ff.). Abhängigkeiten. Medien und politisches Operativsystem haben komplizierte Koabhängigkeiten entwickelt. Die Antizipation des Beobachtetwerdens orientiert das Verhalten des operativen politischen Systems (vgl. Marcinkowski 2002:94; Imhof 2003:406, 411; vgl. Kepplinger 1998:157). Es reagiert mit einer kompatiblen Inszenierungspolitik (vgl. Greven 1999:231; vgl. Kepplinger 1998:157 ff.) und dem Versuch, seinerseits die Medien zu instrumentalisieren und strukturell zu vereinnahmen. Dabei entsteht ein „politisch-publizistische[r] Komplex“ (Mertes 2003:55, 59; vgl. Alemann 1997:482; Saxer 2007:204; Meyer 2009:187 ff.), in dem die Außerkraftsetzung der „journalistischen Distanznorm“ (Saxer 1998:44) Glaubwürdigkeitsvermutungen oder -erwartungen untergräbt.58 Kommerzialisierung. Die unter den „Bedingungen eines konkurrenzintensiven Aufmerksamkeitsmarktes, genannt Öffentlichkeit“ (Kamps 2003:208; vgl. auch Caplan 2007:20) operierenden Massenmedien präsentieren zunehmend spektakuläre und personenbezogene Informationsangebote anstelle substanzieller Inhalte (Crouch 2003:36 ff., 64 ff.; Zolo 1992:200; Richter 2011:192 ff.; Habermas 1992b:456; Brosius 1997:101). Ihr Infotainment spiegelt unterkomplexe Welten, um eine als Konsumenten interpretierte Öffentlichkeit erreichen zu können, der diese Nachfrage unterstellt wird (vgl. auch Sarcinelli 1997:355; Blöbaum 2000:139 f.; Richter 2011:196; Bourdieu 1996:63, 132). Ökonomisierung. Ökonomische Zwänge, und der damit einhergehende Rationalisierungsdruck auf die Redaktionen, machen sich durch reduzierte Personalkapazitäten, Arbeitsverdichtung und neue, nicht selten prekäre Arbeitsformen bemerkbar (vgl. auch Neuberger, Welker 2008:21; Schimmeck 2010:56 ff.; Blöbaum 2000:140, 143). Sie schwächen die Kapazitäten der Medien für substanzielle und kritische Beiträge und eine sachgerechte Reduktion von Komplexität. Die Grenzen zwischen Journalismus und PR werden unter ökonomischem Druck durchlässiger 58 Iyengar zeigt beispielsweise den Einfluss unterschiedlicher Framings auf die Meinungsbildung der Rezipienten. Rahmung ist nicht nur Selektion der Information, sondern insbesondere auch Selektion der Mitteilung. Vergleiche ergaben, dass eingängige episodische Frames andere Zurechnungen politischer Verantwortlichkeit bewirken als anspruchsvollere thematische Rahmungen (Iyengar 1992:135 ff.).

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(Leif 2011:119 ff., 127 ff.). Auch diese Tendenz trägt zum Vertrauensverlust der Konsumenten bei (Machill et al. 2005:114; Witte 2008:106; Blöbaum 2000:136). Auch die hybriden Ableger klassischer Medienanbieter im Internet sind ökonomischen Zwängen ausgesetzt. Bei werbefinanzierten, für den Nutzer kostenfreien, kommerziellen Angeboten kann nicht von einer Unabhängigkeit der Content-Produktion ausgegangen werden. Der „allmächtige kommerzielle Imperativ“ (Iyengar 1992:140) gilt hier so wie für die traditionellen Medien, aber mit anderen Eigenarten.59 Hier kommt zudem die Bedeutung der Suchmaschinen und Aggregatoren ins Spiel, die die knappe Ressource Aufmerksamkeit kanalisieren und an deren Konditionen, Technologien und Präsentationsformen sich der Journalismus anzupassen hat.60 Deprofessionalisierung und Rollenverlust. Wenn das „Publikum mehr und mehr zum Produzenten wird“ (Witte 2008:108), könnten die Medien ihr Monopol als Gatekeeper verlieren (Neuberger, Welker 2008:33; Chadwick 2006:148). „Das Nadelöhr des klassischen Gatekeepings durch Journalisten und Medienschaffende fällt im Internet weg“ (Machill et al. 2005:112; Neuberger, Welker 2008:19, 24; Pörksen, Detel 2012:42, 45). Witte weist auf die durch den Rollenverlust klassischer Medien veränderte Situation der strategischen politischen Kommunikation hin: „Im Kontext von Partizipation, von direkter Kommunikation zwischen Bürgern und Politikern sind politische Journalisten störende Elemente. Sie hemmen gewissermaßen den Informationsfluss. Einerseits nämlich wirken direkte Angebote vonseiten der Politik an Bürger authentischer, andererseits scheinen die Politiker auf dem neuesten Stand der Dinge zu sein, wenn sie die Möglichkeiten nutzen – und schließlich sind die Politiker über diesen Weg in der Lage, ihre Botschaft direkt zu ‚verkaufen‘“ (Witte 2008:108; vgl. Chadwick 2006:149). Beschleunigung. Die Massenmedien mit ihren Eigenzeiten müssen in der Zeitlosigkeit des Internets operieren, das die Taktung des Interpretierens, Zuordnens und Präsentierens vorgibt und zugleich neue Szenarien der Konkurrenz um Aufmerksamkeit entstehen lässt. Die Beschleunigung erschwert die für die politische Öffentlichkeit relevante Reflexionsleistung (Lash 2002:18) und damit auch die Resynchronisierung politischer Diskurse (S. 85).61

59 Themenangebot und Strukturierung der Inhalte werden beispielsweise gezielt auf Seitenzugriffe ausgelegt. Beiträge verteilen sich dann auf verlinkte Seiten (und damit Werbeflächen), was eine gewisse Informationstiefe suggeriert, tatsächlich aber kommerziellen Zwecken geschuldet ist. 60 Websites müssen auch sprachlich und strukturell für die Zugriffe der Suchmaschinen optimiert werden, was ebenfalls zu einer tendenziell eher unterkomplexen Informationsaufbereitung führt.

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Durch die Schwächung des traditionellen Journalismus und die Komplexität der Datenbestände verlagert sich die Gatekeeping-Funktion von den Medien, zumindest teilweise, auf Suchmaschinen (Machill et al. 2005:112) und ähnliche technische Systeme. 4.4.4

Gatekeeping der Systeme

Gatekeeping bedeutet, für die Öffentlichkeit Rauschen von Relevanz zu unterscheiden. In gewissem Umfang ist die politische Öffentlichkeit durch entsprechende Technologien hierzu selbst in der Lage. Kollaborative Einordnung, Vorselektion und Erschließung von Inhalten weisen auf die von Castells thematisierte wechselseitige Beeinflussung von Gesellschaft und Internet, von sozialen und technischen Systemen hin (2001:13, 155, 177; 2000:34, 376; Schneider 2008:120). 62 Allerdings ist auch dies mit intensiverer Kommunikation, der Anreicherung ihrer Inhalte und Erweiterungen der Informationsspektren verbunden: Der Versuch der Einhegung der Komplexität erzeugt neue Komplexität und neue Kontingenz. Die Notwendigkeit, Rauschen und Relevanz effizient unterscheiden zu können, führt folgerichtig zur Entwicklung und Nutzung von Kompensationstechnologien, semantischen Suchverfahren, Aggregatoren oder Social Search Algorithmen, die übersichtliche oder sogar geschützte Informationsräume erzeugen sollen. Die zumindest teilweise Verlagerung der Reduktion von Komplexität aus sozialen, diskursiven Zusammenhängen in privat kontrollierte technische Systeme und Infrastrukturen trägt jedoch zu einer Diskreditierung der Information bei: Die Bereitstellung durch kommerzielle Anbieter, opake Algorithmen, interessengeleitetes Ranking, Eingriffe privater und staatlicher Filter- und Kontrollsysteme unterminieren das – für jede Kommunikation notwendige – Vertrauen in die Medien- und Distributionssysteme (vgl. auch Machill, Beiler 2008:160, 167). Das ist umso problematischer, als die technischen Systeme, insbesondere die Suchmaschinen, heute definieren, was als wissenswert gilt (Donner 2010:77, 112; vgl. auch Lovink 2012:185 f.), was wahrgenommen und in der Öffentlichkeit wie gewichtet wird.

61 Durch die Offenheit des Internets mit seiner Vielzahl von Informationsquellen und Publikationsaktivitäten werden permanent große, komplexe und teilweise hochspezifische Datenmengen verfügbar. Hierauf hat sich der sog. Daten-Journalismus spezialisiert, dessen Funktion die Bewältigung, Aufbereitung und verständliche Präsentation solcher Konvolute ist. Er stützt sich dabei häufig auf die Mitarbeit der Nutzer bzw. Leser (vgl. beispielsweise Rogers 2011). Diese Entwicklung kann als Reaktion des Mediensystems auf neue Komplexitätsformen gesehen werden. 62 Die Edit-Wars der Wikipedia zeigen aber auch, wie schwer es ist, Eindeutigkeit und Ein stimmigkeit in der Repräsentation angenommener Wirklichkeiten zu finden (vgl. Gleick 2011:382).

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Diese Entwertung der Information trägt aus mehreren Gründen zu eigenen Formen der Unübersichtlichkeit bei. Ökonomischer Kontext. Elektronisches Gatekeeping ist eine kostenintensive kommerzielle Dienstleistung, deren Anbieter auf einem „oligopolartig aufgeteilten“ Werbemarkt agieren (Machill et al. 2005:157; Machill, Beiler 2008:164 ff.; vgl. Chadwick 2006:292 ff.).63 Das Medium selbst verteilt den Rohstoff (Castells 2000:76), an dem die zentralen Wertschöpfungsketten und Machtstrukturen des spätmodernen Kapitalismus hängen (vgl. etwa Lash 2002: 24 f., 75; Castells 2000:76; Steinbicker 2001:81). Es basiert auf einer überwiegend privatwirtschaftlich betriebenen technischen Infrastruktur, also Eigentum an und Kontrolle über Netzwerke, Rechenzentren und Kommunikationsknotenpunkte. Außerdem beeinflussen oder steuern private Akteure (auch wenn Open Source hier eine wichtige Rolle spielt) die Formulierung von Protokollen, die Definition technischer Standards, proprietärer Schnittstellen und Formate, die Entwicklung von Betriebssystemen sowie strategische Ausrichtungen, wie die sich abzeichnende Serverzentrierung individueller elektronischer Datenverarbeitung (vgl. auch Lash 2002:82, 197 f.; Castells 2001:177).64 Das Wissen um diese ökonomischen Kontexte, unbekannten politischen Zielsetzungen und Interessenlagen erzeugt Ungewissheit über die Zielsetzungen hinter der Datenpräsentation. Kontrolle. Die Verfügung über die Systeme befähigt zur Durchsetzung ökonomischer, publizistischer, politischer oder weltanschaulicher Interessen durch die Kontrolle transportierter Inhalte: Wissen im Internet ist, so Laughlin, eine kontrollierte Ressource (Laughlin 2008:45 f., 57, 20 ff., 125, 130), deren Distribution (vgl. Chadwick 2006:108) und Persistenz (vgl. Osten 2004:85) Machtkonditionen bzw. ökonomischen Motiven unterliegen. Das Wissen um diese Kontrolle erzeugt Ungewissheit über das nicht präsentierte Wissen. Selbstreferenz. Wenn die Informations- oder Wissenspräsentation bzw. -aufbereitung Benutzerprofile und in sozialen Netzwerken detektierte Präferenzen berücksichtigt, wird eine Art Tunnelblick auf das Informationsangebot erzeugt (Donner 2010:97, 109). Der könnte nicht nur zu einer noch weitergehenden Fixierung auf Schlagzeilen und Kurzinformationen führen, sondern auch zu einer zunehmend selbstreferenziellen, hermetischen Datenversorgung der Nutzer (Neuberger, Welker 2008:34). Eine zweite Form der Selbstreferenz ist die der technischen 63 Die Werbefinanzierung der großen Plattformen hat indirekte politische Wirkungen: Aufgrund ihrer markanten Position auf dem Markt der Aufmerksamkeit werden Werbebudgets von den Printmedien abgezogen, die dadurch gezwungen sind, Kosten zulasten eines anspruchsvollen und kritischen Journalismus einzusparen. 64 Nach Kittler „sollte versucht werden, Macht nicht mehr wie üblich als eine Funktion der sogenannten Gesellschaft zu denken, sondern eher umgekehrt die Soziologie von den Chiparchitekturen her aufzubauen“ (Kittler 2013:278).

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Strukturen und der in ihnen implementierten Wissensprozessierung. Donner weist darauf hin, dass „[d]as Netz beginnt, selbstständig Vorhersagen bezüglich der Relevanz seiner Inhalte anzustellen“. Die Betreiber von Suchmaschinen „mach[en] das Netz […] zu jener selbstreferenziellen Struktur, die sich mithilfe von ‚Bots‘ und ‚Crawlern‘ selbst beobachtet, diese Selbstbeobachtung in den Trefferlisten der Suchmaschinen anschlussfähig darstellt und mit der Analyse des Userverhaltens Rückkopplungsmechanismen zur eigenen Optimierung bereithält“ (2010:78 f.). 65 Beide Formen der Selbstbezüglichkeit führen ebenfalls zu Ungewissheiten über exkludierte Inhalte. Validierung. Weil sie ohne die Gewissheiten gebenden Kontexte sozialer Zusammenhänge präsentiert werden, fällt die Validierung der Inhalte häufig schwer. Es kann auch keine etwa durch Expertise oder Prestige nobilitierte Instanz geben, die Beglaubigungen oder Bewertungen anbieten, die Auskunft über die „Autorität der Quelle“ (Baecker 2007:141; Kamps 2000:235) geben könnte. Es kursieren Informationen unklarer Provenienz, Laien- ist oft nicht von Expertenwissen zu unterscheiden (vgl. hierzu auch Lanier 2006). Manipulationen und Fälschungen, gerade auch von glaubwürdig wirkendem Bildmaterial, sind jedermann möglich. 66 Auch Beiträge in sozialen Netzwerken und Kurznachrichtendiensten sind nicht unbedingt authentische politische Äußerungen, sondern eventuell von Computerprogrammen („Bots“) generierte, zielgruppengerecht platzierte manipulative „Fake News“. Daten und Informationen aus diesem Medium produzieren auch dadurch Ungewissheit. Verselbstständigung. Die Sekundärverwertung und Integration von Nutzerdaten zu emergenten Wissenstableaus lassen Misstrauen in die Infrastruktur und Ungewissheiten über die Eigendynamik kommunikativer Praktiken und Innovationen aufkommen. In den Kommunikationsräumen des Internets beginnen die Informationen, ein schwer verständliches, kaum kontrollierbares Eigenleben zu entwickeln. Big Data Technologien produzieren emergente Informationen in oft ganz unerwarteter Weise aus existierenden, vermeintlich neutralen oder nutzlosen Daten (Gleick 2011:421; Morozov 2011:158 f.; Christl 2014:67 ff.), die dann im sozialen Raum wirkungsfähig werden.67 Mit primär kommerziellen Zielsetzungen eingesetzt, um Nutzereinstellungen, Kaufverhalten etc. für Werbezwecke ana65 Es sind nicht erst die Suchmaschinen, die, im Hinblick auf Benutzeraktivitäten und ein gesetzte Algorithmen, selbstbezügliche Ergebnisse produzieren: Bereits die Vorschläge, die während der Eingabe von Suchbegriffen angeboten werden, vermögen Anfragen in diesem selbstbezüglichen Sinn vorzustrukturieren bzw. zu lenken. 66 Wobei der Manipulation von Bildmaterial eine besondere Rolle zukommt. Baecker hat darauf hingewiesen, wie schwierig es ist, „sich zu Bildern in ein Negationsverhältnis zu begeben“ (Baecker 2008:83) – „Fotos scheinen absolut wahr zu sein“ (Lippmann 1922:70; vgl. G. Klein 2003:609).

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lysieren, prognostizieren und personalisieren zu können, eignen sie sich ebenso für hocheffektive staatliche Überwachungs- und Kontrollstrategien (vgl. z.B. Morozov 2011:166; Chadwick 2006:260 f., 272 ff.). So entsteht eine bisweilen konspirativ wirkende, politisch kaum kontrollierte panoptische (vgl. Chadwick 2006:267) Parallelstruktur der Datenwelt, in der sich soziale Systeme und Individuen als Objekte opaker Profilings oder Ranking-Algorithmen erkennen. Dieses klandestine Moment des Netzes trägt ebenfalls zur Unübersichtlichkeit bei. Die Entfaltung der Informations- und Kommunikationstechnologien zeigt ein dialektisches Moment. So unterstützt sie etwa partizipative Prozesse (vgl. z.B. Almond et al. 2004:29) und die permanente öffentliche Beobachtung bzw. Kontrolle des Politischen (Keane 2009:737 ff.). Sie unterstützt emanzipatorische Momente und das Kontingentsetzen kommunikativer Grenzen. „Public exposure“ (Keane 2009:740) macht die Exklusion von Minderheiten oder die Marginalisierung von Interessen und Positionen diskursfähig. Durch die allgemeine Verfügbarkeit sind heute vermutlich weniger thematische Räume ausschließlich den Bildungs- und Funktionseliten zugänglich (vgl. auch Münch 1995:104, 120). 68 So scheint die Nutzung des Internets zur Verringerung von Wissensklüften beitragen zu können (Bonfadelli 2005:190), wie die Einführung des Buchdrucks erweiterte es den „Commonwealth of Learning“ (Eisenstein 1979:112). Auch der Einfluss neuer sozialer Bewegungen scheint von diesen Technologien und ihrer Popularisierung gestärkt zu werden. Insofern profitiert das Projekt der Demokratie von diesem Medium. Und doch trägt es zur „ständig reproduzierte[n] Aporie des hilflos zweifelnden Informiertseins“ (Luhmann 1995a:80) bei. Es ist das Paradox der „disinformed in67 Dabei unterscheidet sich sowohl die Big-Data-Wissensproduktion als auch ihr Erkenntniskonzept grundlegend von klassischen Vorstellungen, da sie keine Theorien oder forschungsleitenden Hypothesen oder Denkmodelle mehr voraussetzt; „faced with massive data, this approach to science – hypothesize, model, test – is becoming obsolete. […] Petabytes allow us to say: ‚Correlation is enough.‘ We can stop looking for models. We can analyze the data without hypotheses about what it might show. We can throw the numbers into the biggest computing clusters the world has ever seen and let statistical algorithms find patterns where science cannot“ (Anderson 2008:1; vgl. hierzu auch Lovink 2012:119). Auf die Sozialwissenschaften könnte diese Umorientierung, sofern sie sich durchsetzt, kaum einschätzbare Auswirkungen haben. 68 Wenn hier der Begriff der Elite benutzt wird, dann ohne normative Konnotation. Gemeint sind gesellschaftliche Gruppen aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur, die über herausgehobene ökonomische und nichtökonomische Ressourcen (wie etwa Bildung) und dadurch über signifikante gesellschaftliche und politische Einflussmöglichkeiten verfügen (vgl. auch Lasswell et al. 1965:14 f.).

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formation society“, von der Lash spricht (Lash 2002:2, 76), dass ihre Kerntechnologie, dass die technologiegetriebene Autopoiesis ihrer Kommunikationen, ihre Unübersichtlichkeit noch zu verstärken scheint. In den letzten beiden Kapiteln wurde Unübersichtlichkeit als das Zusammentreffen von Komplexität und Kontingenz in politischen Kommunikationszusammenhängen beschrieben. Nach der Klärung der Begriffe wurden wesentliche Quellen der Unübersichtlichkeit lokalisiert. Es wurde gezeigt, dass einerseits strukturelle Ursachen, funktionale Differenzierung und Desynchronisierungsprobleme sowie Prozesse des Wandels andererseits die Umwelt der politischen Öffentlichkeit komplexer, kontingenter und damit unübersichtlicher haben werden lassen. Im folgenden Kapitel soll gezeigt werden, welche Bedeutung diese Formen der Unübersichtlichkeit für die politische Öffentlichkeit und das Projekt der Demokratie haben.

5

Unübersichtlichkeit und politische Öffentlichkeit

Die politischen Systeme spätmoderner Gesellschaften definieren sich in ihren Selbstbeschreibungen als demokratisch (vgl. Luhmann 2000:356). Damit ist eine ganze Reihe normativer, prozeduraler und institutioneller Konzepte verbunden, vor allem aber die Vorstellung einer aufgeklärten, politisch interessierten und aufgeschlossenen Öffentlichkeit, die ein solches System nicht nur hinnimmt, sondern selbstbewusst trägt, die effektive Kontrolle ausübt, substanzielle Kritik formuliert und rational begründete Forderungen geltend macht. Einer Öffentlichkeit, die ein klares Verständnis von politischen Prozessen, Positionen und Verhältnissen hat (vgl. z.B. Dahl 1994:30 f.). Politik findet heute allerdings in einer hochkomplexen Gesellschaft statt, die durch fortschreitende Differenzierungstendenzen, zunehmende Beschleunigung, rapiden sozialen, kulturellen und technischen Wandel im Umfeld globalisierter Bezüge und Risiken immer unübersichtlicher wird. In diesem Kontext muss sich die politische Öffentlichkeit mit immer vielfältigeren und komplizierteren Themen auseinandersetzen, die sie zu überfordern drohen. Folgt man dieser Annahme, wird eine Diskrepanz zwischen normativer Forderung und politischer Realität erkennbar: Spätmoderne Demokratien können, wegen der zunehmenden Unübersichtlichkeit des Politischen, möglicherweise keine aufgeklärte, politisch kompetente Öffentlichkeit mehr voraussetzen und erfüllen damit eine ihrer essenziellen normativen Voraussetzung nicht mehr. Das kann auf zwei Ursachen zurückgeführt werden: Erstens produziert die Form der Demokratie selbst eine strukturell bedingte Unübersichtlichkeit. Zweitens kann die Unübersichtlichkeit zumindest auf der Ebene der Systeme nicht mehr ohne Weiteres aufgelöst oder verringert werden, weil die Themen, die Inhalte des Politischen zu kompliziert werden.1

1

Der Hinweis auf die Systemebene erfolgt hier, weil im nachfolgenden Kapitel eine weitere Perspektive vorgestellt wird.

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Diese These erklärt aber nicht, wo Unübersichtlichkeit als Phänomen überhaupt wirksam wird. Hier wird davon ausgegangen, dass es sich bei der politischen Öffentlichkeit und dem operativen politischen System um zwei sich beobachtende Kommunikationssysteme handelt und dass Unübersichtlichkeit als Komplikation in diesem Beobachtungsverhältnis anzusehen ist.

5.1 D EMOKRATIE

UND

B EOBACHTUNG

Politisches Operativsystem und politische Öffentlichkeit beobachten sich wechselseitig – primär im Medium der öffentlichen Meinung. 2 Systemtheoretisch betrachtet handelt es sich um Beobachtungen zweiter Ordnung, um das Beobachten von Beobachtern (S. 16). Die mit einer Demokratie assoziierten Prozesse der responsiven Rückkopplung, der gesellschaftlichen Erschließung thematischer Räume, aber auch Herrschaftskritik, Formulierung alternativer Lösungsansätze und Widerstand gegen Entscheidungen setzen Beobachtungen voraus, an die dann weitere kommunikative Prozesse des Gebens und Verlangens von Gründen anschließen können. Demokratie kann als „Form“ oder „Methode“ (vgl. Kelsen 1920:98; siehe auch Czerwick 2011:189) rekonstruiert werden, die unter anderem dieses Beobachtungsverhältnis institutionell und prozedural regelt und normativ abstützt. Normatives Merkmal von Demokratien ist die „Rückbindung des politischen Systems an die peripheren Netzwerke der politischen Öffentlichkeit“ (Habermas 1992b:362; vgl. Czerwick 2011:206), die, so Habermas weiter, auch als „weit gespanntes Netz von Sensoren“ fungiert (Habermas 1992b:364; vgl. auch Imhof 2005:70). Er hat ihr damit eine in zwei Richtungen gehende Beobachtungsfunktion zugeschrieben: Sie beobachtet, kontrolliert und kritisiert die Aktivitäten des operativen Systems. Andererseits bildet sie (im Hinblick auf die Lebenswelt) den „Resonanzboden für Probleme, die vom politischen System bearbeitet werden müssen“. Sie muss „Probleme nicht nur wahrnehmen und identifizieren, sondern auch überzeugend und einflussreich thematisieren, mit Beiträgen ausstatten und so dramatisieren, dass sie vom parlamentarischen Komplex übernommen und bearbeitet werden. Zur Signalfunktion muss eine wirksame Problematisierung hinzukommen“ (Habermas 1992b:435; vgl. B. Peters 1994:61). Ähnlich wurde das in Eastons Modell dargestellt, in dem die politische Öffentlichkeit dem Funktionssystem sowohl orientierende Feedbacks bereitstellt als auch innovativ Themen und Beiträge, Kritik, Forderungen, aber auch Unterstützungen kommunizieren kann und soll, das heißt, als „Quelle politischer Initiative“ 2

Beobachtung findet wesentlich über Medien statt. Daneben existiert eine Vielfalt von Strukturen und Institutionen der Beobachtung: von Bürgerinitiativen, Aktivitäten von NGOs über Parteikampagnen, Bürgeranhörungen, Verbandspolitik etc.

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(Dahrendorf 1967:79) fungiert. Ausgangspunkt solcher Operationen sind Beobachtungen. Das Beobachtungskonzept ist nicht nur bei einer systemtheoretisch motivierten Annäherung an demokratische Strukturen zu finden. Bereits Durkheim hat (mit einer anderen Diktion) Demokratie als Beobachtung zweiter Ordnung beschrieben: „Was im sogenannten politischen Milieu geschieht, wird von aller Welt beobachtet und kontrolliert, und das Ergebnis dieser Beobachtung und Kontrolle, die Reflexionen, die sich daraus ergeben, wirken zurück auf das staatliche Milieu. Das ist eines der Merkmale, welche die Demokratie gemeinhin bezeichnen“ (Durkheim 1896:119, vgl. 133). Intensität der Beobachtung und inhaltliche Tiefe politischer Kommunikation waren für ihn Maß demokratischer Entwicklung. 3 Die Marktanalogien Schumpeters und Downs‘ können vielleicht ebenfalls in diesem Zusammenhang genannt werden (vgl. M.G. Schmidt 2000:212). Aus ihrer Sicht werden Rückkopplungsprozesse im Medium von Angebot und Nachfrage realisiert und stellen damit ebenfalls eine Beobachtung zweiter Ordnung dar (vgl. auch Luhmann 2000:292; Zolo 1992:167). Kelsen hat die Funktion der Beobachtung betont, durch die demokratische Herrschaft unter dauerhaften Bewährungsvorbehalt gestellt wird und so offen für Selbstkorrekturen bleibt (Kelsen 1920:90). Carl Schmitt hat die Funktion der öffentlichen Diskussion im parlamentarischen System betont (Schmitt 1923:7, 43), die eben die Beobachtbarkeit als Sinn gebendes und legitimierendes Moment erkennen lässt.4 Auch in Keanes Konzept der „Monitory Democracy“ findet sich der Begriff der Beobachtung wieder – nicht im Rahmen eines erkenntnistheoretischen Konzepts, sondern in einer Beschreibung einer Selbst-Transformation der repräsentativen Demokratie: „Monitory democracy is a new historical form of democracy, a variety of ‚post-parliamentary‘ politics defined by the rapid growth of many different kinds of extra-parliamentary, power-scrutinising mechanisms“ (Keane 2009:688). Nach Ansicht des Historikers hat sich in der Medien- und gerade in der vernetzten Multimediendemokratie (vgl. 737 ff.) eine Beobachtungspraxis entwickelt, in der 3

Er bezog das auf die Feedback-artige Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft: „Je enger die Kommunikation zwischen dem staatlichen Bewusstsein und dem Rest der Gesellschaft, je umfangreicher dieses Bewusstsein und je zahlreicher die Gegenstände, die es umfasst, desto stärker der demokratische Charakter der Gesellschaft. Der Begriff der Demokratie findet seine Definition also in der maximalen Ausweitung dieses Bewusstseins und bestimmt damit zugleich über diese Kommunikation“ (Durkheim 1896:122).

4

Er nahm das im Übrigen ebenso für die Beobachtbarkeit der politischen Öffentlichkeit an: „[E]s kommt weniger auf die öffentliche Meinung als auf die Öffentlichkeit der Meinung an“ (Schmitt 1923:47).

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D EMOKRATIE

die Machtausübung und das Entscheiden politischer Akteure „are now routinely subject to public monitoring and public contestation by an assortment of extra-parliamentary bodies“ (690).5 Damit ist keine Invertierung der Panoptikon-Metapher (vgl. Pörksen, Detel 2012:152 f.; Foucault 1975:256 ff.) gemeint, sondern die sukzessive Etablierung einer breiten Palette politischer Praktiken, die von der Kommentierung, Dokumentation, Bewertung der Operationen des operativen Systems bis zur Rekonstruktion öffentlicher Meinung in Umfragen, Bürgerbeteiligungen usw. reicht (vgl. Keane 2009:690 f.). Obwohl der Autor auf die Rolle institutioneller Strukturen abhebt, bezieht sich das Monitoring doch auf den diskursiven Resonanzraum der politischen Öffentlichkeit. Aus seiner Sicht haben die Vielfalt und Wirkung der NGOs, Bürgerrechts- und Verbraucherschutzorganisationen, Wissenschafts-Communities etc. die Architektur der repräsentativen Demokratie nachhaltig verändert (692, 689), sie geöffnet, erweitert und intensiviert, die politische Öffentlichkeit selbstbewusster und selbstsicherer gemacht (744, 695). Er belegt das unter anderm damit, dass die meisten Großthemen nach 1945 nicht von Parteien, Parlamenten, Regierungen politisiert und popularisiert wurden, sondern „by power-monitoring networks that run parallel to – and are often positioned against – the orthodox mechanisms of party-based representation“ (Keane 2009:721). Diese Leistung schreibt Habermas der politischen Öffentlichkeit zu (Habermas 1992b:461). Durch sie werden heute alle thematischen Räume des sozialen und politischen Lebens beobachtet, nicht allein die konventionellen (Keane 2009:695), sondern insbesondere auch die hier als nicht-konventionell bezeichneten Zonen des Politischen (710), die mittlerweile über den Territorialstaat hinausreichen (697, 717). Dadurch werden diskursive und thematische Grenzen als kontingent markiert und erweitert, sodass das System politischer Kommunikationen insgesamt expandiert. Auch Keane scheint daraus auf die zunehmende Eigenkomplexität dieses Systems zu schließen, wenn er feststellt, dass diese historische Transformation zum „deepest and widest system of democracy ever known“ und ihrer bisher komplexesten Form führte (Keane 2009:688 f.).

5

Keane stützt sich in seiner Begriffsbildung auf Schudsons Topos des „Monitorial Citi zen“, auf den später eingegangen wird (Schudson 1998b:310 ff.).

5 U NÜBERSICHTLICHKEIT

5.1.1

UND POLITISCHE

Ö FFENTLICHKEIT

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Irritations- und Resonanzfähigkeit

Beobachtung ist für sich genommen kein Kriterium für eine Demokratie. 6 Auch in nicht-demokratischen Systemen existieren politische Öffentlichkeiten, die beobachten, und politische Operativsysteme, die – vielleicht sogar sehr viel genauer – „ihre“ politischen Öffentlichkeiten beobachten. Spezifisch für demokratische Systeme ist, dass Beobachtungen den Ausgangspunkt unterschiedlicher Varianten politischer Beteiligung bilden. Partizipation – verstanden als „allgemeine und chancengleiche Teilnahme an diskursiven Willensbildungsprozessen“ (Habermas 1973:183) – realisiert sich in einem weiten Spektrum rückgekoppelter Beobachtungen und Kommunikationen, die spezifische Selektionen von Optionen zur Folge haben, die sich dann in Wahlergebnissen, in Aktivitäten sozialer Bewegungen, in Verbandspolitiken etc. widerspiegeln.7 Offenheit. Voraussetzung dafür ist eine grundsätzliche Irritations- und Resonanzfähigkeit des politischen Funktionssystems. Sartori hat diese Irritationsfähigkeit als „Aufgeschlossenheit“ bezeichnet (Sartori 1987:165; vgl. auch Habermas 1992b:624), Willke spricht von Formen „resonanten Verhaltens“ (Willke 1997:131). Aufgeschlossenheit, Irritationsfähigkeit kann, sofern sie Resonanzen auslöst und zulässt, auch als Responsivität aufgefasst werden, die Czerwick definiert als „Bereitschaft des politischen Systems, die gesellschaftlichen Anforderungen wahr6

Ohne das weiter auszuarbeiten, werden hier demokratische politische Systeme im Anschluss an Merkel von autoritären und totalitären Systemen unterschieden. „Demokratien sind im Herrschaftszugang offen, in der Herrschaftsstruktur pluralistisch, im Herrschaftsanspruch begrenzt, in der Herrschaftsausübung rechtstaatlich und sie gründen ihren Herrschaftsanspruch auf das Prinzip der Volkssouveränität. In autoritären Systemen unterliegt der Herrschaftszugang erheblichen Einschränkungen, die Herrschaftsstruktur ist in ihrem Pluralismus deutlich eingeschränkt, der Herrschaftsanspruch geht weit in die Individualsphäre hinein, die Herrschaftsweise ist nicht rechtstaatlich normiert und die Legitimation der Herrschaft wird über die Inanspruchnahme bestimmter Mentalitäten herzustellen versucht. In totalitären Systemen ist der Herrschaftszugang geschlossen, die Herrschaftsstruktur monistisch, d. h. auf ein einziges Herrschaftszentrum ausgerichtet, der Herrschaftsanspruch total, die Herrschaftsweise repressiv, terroristisch und von einer umfassenden Weltanschauung mit absolutem Wahrheitsanspruch überwölbt“ (Merkel 1999:26-27). Arendt hat herausgearbeitet, dass autoritäre bzw. tyrannische Systeme ihre Ziele insbesondere durch die Schwächung der politischen Öffentlichkeit, bzw. ihrer Kommunikationen zu erreichen suchen (Arendt 1971:256, 280) und damit insbesondere versuchen, politische Kontingenz zu reduzieren (S. 72). Letztlich entpolitisieren sie die dadurch die Gesellschaften (vgl. Arendt 1971:256).

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Der Begriff der Selektion dient hier als Platzhalter für eine bewusste Entscheidung über zur Verfügung stehende politische Optionen in beiden Systembereichen.

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zunehmen und als legitim zu akzeptieren. Sie drückt sich somit als politische Empfänglichkeit gegenüber der öffentlichen Meinung und in der Bereitschaft aus, sich bei der Vorbereitung und Durchsetzung politischer Entscheidungen an den gesellschaftlichen Anforderungen zu orientieren, die möglichen Reaktionen der Gesellschaft zu antizipieren und den von ihr artikulierten Bedürfnissen im politischen Entscheidungsprozess Rechnung zu tragen“ (Czerwick 2011:192; vgl. Geißel 2011:65; Pitkin 1967:233). Machtgestützte Systeme sind zu einer solchen „Ermöglichungskultur“ (Richter 2008:215; 2011:241) nicht fähig (vgl. Saxer 1998:28). Almond und Powell attestierten Demokratien nicht zuletzt deswegen „higher responsive capabilities“ (Almond, Powell 1966:28 f.; vgl. Easton 1965b:433 f.). Diese beziehen sich in demokratischen Systemen nicht allein auf die Verarbeitung regulär artikulierter und kommunizierter Forderungen und Unterstützungen. Sarcinelli spricht von der „Pflicht zur ständigen Rückkopplung [...] Sie beinhaltet auch die Verpflichtung, nicht-artikulierte Interessen zu erkennen“ (Sarcinelli 1998:258). Irritationsfähigkeit wird nicht nur vom operativen System erwartet, sondern auch von einer „entgegenkommenden […] Lebenswelt“ (Habermas 1992b:366): „Die Kommunikationsstrukturen der Öffentlichkeit müssen […] von einer vitalen Bürgerschaft intakt gehalten werden“ (Habermas 1992b:447; Habermas 2013:67, 91; vgl. auch Dahrendorf 1967:79).8 Feedback eines demokratischen Systems ist auf Zirkularität angewiesen. Nicht nur das politische Funktionssystem muss irritationssensitiv, auch die Adressaten seiner Operationen müssen (vermittelt) responsiv reagieren und das System dadurch orientieren (vgl. Herzog 1998:302; vgl. auch Gerhards, Neidhardt 1991:66; Beck 1998:356; Habermas 1992b:366). Das wiederum setzt die Fähigkeit einer internen „Selbstverständigung“, also zu Selbstbeobachtung und -irritation, voraus, um Ziele, Werte etc. ermitteln, diskursiv formulieren und sichtbar machen zu können (Gerhards 2000:227). Der Rückkopplungsprozess, und damit ein wesentliches Element der Demokratie, gerät nicht nur dann ins Stocken, wenn die „Authorities“ ihn aufheben, sondern auch, wenn die politische Öffentlichkeit nicht mehr in der Lage ist, ihn aufrechtzuerhalten. Das politische Funktionssystem operiert im Hinblick auf die politische Öffentlichkeit nicht nur reaktiv, sondern auch auf der Basis der „antizipierenden Beobachtung“ (Luhmann 2000:290, 303; vgl. auch 1997:141; Baecker 1996:94; 8

Habermas führt das in Bezug auf seinen Ansatz noch etwas weiter aus: „Gerade die deliberativ gefilterten politischen Kommunikationen sind auf Ressourcen der Lebenswelt – auf eine freiheitliche politische Kultur und eine aufgeklärte politische Sozialisation, vor allem auf die Initiativen meinungsbildender Assoziationen – angewiesen, die sich weitgehend spontan bilden und regenerieren, jedenfalls direkten Zugriffen des politischen Apparats nur schwer zugänglich sind“ (Habermas 1992b:366; zum Begriff der Lebenswelt Habermas 1981a:107 f.; 1981b:230 f.).

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Fuchs 1992:106), der Vorwegnahme von Feedbacks. Die politischen Akteure „kommunizieren im Hinblick auf die Tatsache, dass es ein Beobachtungssystem gibt, und versuchen selbst mit ihren Handlungen, das Bild von sich und den anderen Akteuren des politischen Systems in der politischen Öffentlichkeit zu gestalten“ (Gerhards 1994:99; vgl. Keane 2009:718, 720). Sartori hat darauf hingewiesen, dass Antizipation die Permanenz der Wirkung der Kommunikation der politischen Öffentlichkeit zeigt.9 Antizipation verläuft auf mehreren Ebenen: Das operative System „antizipiert, was es der Umwelt zumuten darf, und umgekehrt, dass die Umwelt gedanklich vorwegnimmt, welche und wie viele Anforderungen sie an das politische System richten kann“ (Czerwick 2011:169). Antizipation kann zwar durchaus innovativ wirken, wahrscheinlicher ist aber, dass sie Möglichkeitsräume eher zusammenzieht, weil sie mit negativen Folgen, etwas Stimmverlusten, kalkuliert und so zu einer übervorsichtigen oder hermetischen Politik führt (vgl. Turner 2000:271). Geschlossenheit. Nach Habermas kontrolliert und programmiert die politische Öffentlichkeit das politische Operativsystem, ohne selbst operativ handeln zu können (vgl. Habermas 1992b:364, 435). Aus der Irritations- und Resonanzfähigkeit demokratisch verfasster Systeme ist jedoch kein heteronomes Verhältnis zwischen politischem System und politischer Öffentlichkeit abzuleiten. Die Autopoiesis des politischen (operativen) Systems bleibt in der Demokratie erhalten (vgl. Luhmann 2000:311 f.). Kommunikative Beziehungen werden über strukturelle Kopplungen realisiert, sie bewirken nicht Steuerung (vgl. auch Willke 2003:542), sondern Irritationen und sehr weitgehende Orientierungen des politischen Systems durch die öffentliche Meinung (vgl. Luhmann 2000:297). Das bedeutet allerdings: Das Operativsystem kennt seine Umwelt nicht, auch nicht die politische Öffentlichkeit.10 Sein Bild der politischen Öffentlichkeit ist eine Konstruktion (Luhmann 1987:136),

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„Und die Wählermacht ist keineswegs nur eine sporadische Macht; das geht deutlich aus dem Prinzip der ‚vorweggenommenen Reaktionen‘ hervor und wird reichlich dadurch bestätigt, dass Medien und Meinungsumfragen das Verhalten der Machtträger beeinflussen“ (Sartori 1987:133). Der Autor bezieht sich auf das von Friedrich formulierte Prinzip der vorweggenommenen Reaktion (Sartori 1987:161), in dem sich dessen Urheber allerdings auf die Wirkung von Einfluss als politischer Kraft bezieht: „Because the person or group which is being influenced anticipates the reactions of him or those who exercise the influence“ (Friedrich 1937:589). Er sah darin ein wesentliches Element demokratischer Systeme: „We have shown in many different contexts, such as representation, responsibility, and legislative procedure, how much modern constitutionalism depends upon influence, that is to say: anticipated reactions“ (Friedrich 1937:590; vgl. Dahl 1989:272 f.; vgl. auch den Hinweis zur Medialisierungsthese auf S. 104).

10 Jedenfalls nicht im Sinn einer objektiven oder objektivierbaren Perzeption.

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das operative System reagiert nur auf „sich selbst und auf das, was es als Irritationen politisch lesen und verarbeiten kann“ (Luhmann 2000:117).11 Politische Systeme verstehen demnach auch „etwas völlig anderes unter der Lösung eines Problems als ihre jeweiligen gesellschaftlichen Umwelten“ (Czerwick 2011:103, vgl. 150). Demokratien sind Formen der Kommunikation, in denen die konsensuellen Zonen, die strukturellen Kopplungen – im Vergleich etwa zu autoritären Systemen – ausgeprägter, funktionsfähiger und stärker institutionalisiert sind, sodass die Hermetik nichtdemokratischer Systeme verhindert wird. Dennoch bleiben die Systeme von Politik und politischer Öffentlichkeit getrennte autopoietische Systeme. Selbst wenn das operative System Ansprüche, Bedürfnisse, Widerstände identifiziert und daraus politische Probleme formuliert, operiert es immer und ausschließlich auf internen Konstruktionen.12 Die Herausforderung besteht in der Demokratie darin, das politische System, trotz operativer Schließung, in der Lage zu halten, responsiv reagieren zu können (vgl. Luhmann 2000:355). 5.1.2

Themenkreation

Die politische Öffentlichkeit operiert in demokratischen Systemen nicht nur reaktiv, etwa mit Akklamation oder Kritik. Vielmehr kann und soll sie, beobachtet vom operativen System, initiativ Beiträge generieren, die dann – primär über die Massenmedien – Themen und thematische Räume für das Politische erschließen, darstellen oder erweitern. Spätmoderne Demokratien „erleichtern“ diese „Themenkreation“ (Luhmann 2000:302, 305, 294, 405; Sartori 1987:87; vgl. Habermas 1992b:435) durch eine heute zu beobachtende „intensive und schnell reagierende Empfindlichkeit der gesellschaftlichen Kommunikation für neue Probleme“ (Luhmann 1997:1096) und so auch für nicht-konventionelle Themen. Themenkreation ist keine exklusive Leistung der Öffentlichkeit. Auch das operative System generiert initiativ Themen, öffnet und politisiert thematische Räume, kann „von sich aus Umweltanforderungen auslösen, um darauf in einer ganz bestimmten Weise reagieren zu können“ 11 Das gilt, wie oben beschrieben (S. 14, 15), für alle gesellschaftlichen Funktionssysteme und für die Wahrnehmung der Gesellschaft als Ganzem (sofern dieses Ganze überhaupt anzunehmen und nicht nur eine Imagination ist): „[D]ie Politik kann nicht wissen, mit welcher Gesellschaft sie es zu tun hat. Aber sie kann wissen, mit welcher Politik sie es zu tun hat. Für die Politik ist die Gesellschaft eine Konstruktion der Politik“ (Luhmann 1987:136; vgl. auch Willke 1997:107). 12 „Politische Probleme müssen […] als die Konstruktion demokratischer politischer Systeme verstanden werden. Diese bestimmen aber nicht nur die Auswahl und die Defi nition von Problemen, sondern sie legen auch fest, wie die Probleme gelöst und welche Ver fahren und Instrumente dabei verwendet werden sollen, ohne jedoch garantieren zu können, dass die Probleme auch tatsächlich gelöst werden“ (Czerwick 2008:147 f.)

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(Czerwick 2011:85). Habermas geht davon aus, dass die politische Öffentlichkeit gegenüber dem Operativsystem jedoch eine „größere Sensibilität für die Wahrnehmung und Identifizierung neuer Problemlagen besitzt“ (Habermas 1992b:460). Altner spricht in diesem Zusammenhang von einem „genuinen Vorsprung der Laien“ in Bezug auf das Wissen über Lebenswirklichkeit (Altner 2003:74). Aus dieser Zone heraus können sich wiederum spezialisierte Kommunikationssysteme, zum Beispiel Patientenorganisationen, entwickeln. Sie entstehen in der Lebenswelt und etablieren, sobald Erwartungen oder Forderungen in Hinsicht auf kollektiv bindenden Entscheidungen formuliert werden, einen thematischen Raum der politischen Öffentlichkeit, an den das Operativsystem, nach Überwindung seiner Aufmerksamkeitsschwelle durch das Mediensystem, anschließen kann. Das sind originäre Kreationsleistungen der politischen Öffentlichkeit. Habermas nennt als Beispiele markante Diskurse der letzten Jahrzehnte, darunter Aufrüstung, Umweltrisiken, Energieversorgung, die Rolle der Frau: „Fast keines dieser Themen ist zuerst von Exponenten des Staatsapparates, der großen Organisationen oder gesellschaftlichen Funktionssysteme aufgebracht worden“ (Habermas 1992b:461, ebenso Keane 2009:721), sondern eben von der politischen Öffentlichkeit bzw. sozialen Bewegungen (vgl. Rucht 1997:396) oder „power-scrutinising institutions“ (Keane 2009:689). 5.1.3

Reflexion struktureller Grenzen

Produktion von Themen und Beiträgen ist oft gleichbedeutend mit der Infragestellung von Demarkationslinien, die Wissensareale, Zuständigkeitszonen separieren, die internen Kommunikationen und Informationsverarbeitungsprozesse nach außen verkapseln und damit nicht zuletzt Herrschaftsräume schützen. Die politische Öffentlichkeit kann Grenzen opaker Strukturen kommunikativ kenntlich, reflexionsfähig und anknüpfungsfähig für politische Kommunikationen machen (S. 33). Gerade nicht-konventionelle Themen, die bis dahin abgegrenzten administrativen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen oder militärischen Kommunikationen vorbehalten waren, sind so sukzessive in den Bereich öffentlicher politischer Kommunikation integriert worden (vgl. auch Eisenstadt 2000a:19, 35, 26; Hennis 1970:59, 61). Als Beispiel kann die Technologiepolitik genannt werden. Sie „wurde im Wesentlichen im Dreieck von Staat, Wissenschaft und Technik gemacht“ (Saretzki 2003:46; vgl. Evers, Nowotny 1987:230), einer korporatistisch organisierten, abgegrenzten Zone, die in den letzten Dekaden sukzessive für demokratische Diskurse geöffnet wurde. Diese Kommunikationen entfalteten sich mit der Vergegenwärtigung der Kontingenz dieser Grenzen und dann auch der durch sie geschützten Machtbeziehungen, Herrschaftsstrukturen, Deutungshoheiten und Wissensformationen. Demokratien stellen eine für sie konstitutive „Kontingenzcodierung der Macht“ her (Luhmann 2000:131; kritisch Czerwick 2008:110).

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5.1.4

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Autonomie

Der „Kampf um die Grenze“ (Hennis 1970:59) kann von mehreren Positionen aus betrachtet werden. Einerseits kann man ihn als emanzipatorische Aktivität und Entfaltung politischer Öffentlichkeit sehen (wenn man Baecker so interpretiert), andererseits als Expansionsversuch politischer Systeme, in dem politische Kategorien in ursprünglich nichtpolitische Bereiche getragen werden. Hennis‘ Text wurde in den 1970er-Jahren verfasst. Die dort vertretenen Ansichten sind in dieser Form vielleicht nicht mehr haltbar, er weist aber auf einen bis heute relevanten Punkt hin: Auch wenn kommunikative Grenzen in einer Demokratie als kontingent markiert sind, benötigt sie dennoch Grenzziehungen und unterscheidet sich darin von totalitären Systemen. Sie setzt eine relative Autonomie des ausdifferenzierten politischen Systems voraus (vgl. S. 79).13 Das bedeutet nicht nur, nicht von anderen Funktionssystemen gesteuert zu werden, sondern auch selbst keine „Oberhoheit“ (Luhmann 2000:312; Willke 2003:542; Czerwick 2008:67; vgl. Hennis 1970:51) in der Gesellschaft zu erlangen, die nichtpolitischen gesellschaftlichen Kommunikationszusammenhänge weder zu usurpieren noch zu dominieren.14 Die politische Öffentlichkeit muss solche Infiltrierungen beobachten und thematisieren. Luhmann hat darauf hingewiesen, dass funktional ausdifferenzierte Systeme nicht in der Lage 13 Luhmann hat die Demokratie als „Vollendung der Ausdifferenzierung eines politischen Systems“ bezeichnet (Luhmann 2000:105). Ausdifferenzierung bedeutet, dass sich gesellschaftliche Bereiche in einer historischen Entwicklung aus der zentralen politischen Steuerung herauslösten. Markante Beispiele sind die Positivierung des Rechts oder die Selbststeuerung der Wirtschaft durch den Markt (Luhmann 2000:353 f.; vgl. Willke 2003:537 f.) infolge der Säkularisierung des Politischen und der Macht (Willke 2003:543; vgl. auch Luhmann 1970:127), des Übergangs von der „dynastischen zur demokratischen Legitimität“ (Schmitt 1923:39) und der Transformation konfessioneller in primär nationale Selbstbeschreibungen (vgl. Hahn 1997:128). Damit haben sich diese Systeme auf spezifische Funktionen teilautonom und unabhängig von hierarchischer Steuerung fokussieren können. 14 Es gibt zahllose Beispiele dafür, wie gerade totalitäre politische Systeme in Kultur, in Wissenschaft (z. B. Gordin 2012:77) oder auch in familiäre Kommunikationssysteme diffundieren. Sie revidieren damit auch die funktionale Differenzierung (Merkel 1999:65 f.). Zolo sieht denn auch das politische System in der Pflicht, die genuin gesellschaftliche (im Gegensatz zur politischen) Komplexität zu schützen: „In diesem Sinn ist die Erhaltung der gesellschaftlichen Komplexität gegenüber der funktionellen Hegemonie eines bestimmten Subsystems – des produzierenden, des wissenschaftlich-technologischen, des religiösen, des gewerkschaftlichen und vor allem des politischen Subsystems – das Versprechen, das die Demokratie erfüllen muss, wenn sie sich nicht nur in rein formellen Begriffen von den despotischen oder totalitären Systemen unterscheiden will“ (Zolo 1992:219).

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sind, ihre Entwicklung, ihr Wachstum selbst zu kontrollieren (Luhmann 1987:57), und daher auf solche Formen der Kontrolle oder auf orientierende Einflüsse strukturell gekoppelter anderer, beobachtender Systeme angewiesen sind. Die Form der Demokratie unterstützt die gegenseitige Abgrenzung ausdifferenzierter gesellschaftlicher Funktionssysteme (vgl. Willke 2003:540). 15 Sie schützt die Autonomie der übrigen Funktionssysteme dadurch, dass sie den Radius kollektiv bindenden Entscheidens begrenzt. Zugleich sucht sie das politische System vor Hegemoniebestrebungen anderer Funktionssysteme abzuschirmen. Für Durkheim bedeutete Demokratie nicht, „dass die Bürger sich den Staat unterwerfen und ihn auf ein bloßes Echo ihres eigenen Willens reduzieren dürften“ (Durkheim 1896:133) – das politische System benötige „Spielraum für Eigeninitiative“ (Durkheim 1896:137, 143). Auch Schumpeter hat die Separierung der Sphären immer wieder betont und gefordert, der Wähler etwa müsse die Form funktionaler Differenzierung akzeptieren (vgl. Schumpeter 1942:468 f.).16 Heute besteht der Verdacht, dass diese Autonomie des Politischen weniger von der politischen Öffentlichkeit aufgeweicht wird, obgleich sie immer bestimmter und deutlicher Einsprüche und Beteiligungsforderungen formuliert. Vielmehr ist es die fortschreitende Ökonomisierung der Gesellschaft, die zu einer Schwächung politischer Autonomie führt (Crouch 2003:60 ff., 103 f.). „Es „kommt der Verdacht auf, dass die Systemrationalität des politischen Systems offensichtlich von der Systemrationalität des wirtschaftlichen Systems überlagert bzw. verdrängt wird. Man spricht dann zwar immer noch von ‚Demokratie‘, meint aber eine Demokratie, die nur noch unter den Voraussetzungen und Bedingungen ökonomischer Rationalität praktiziert wird“ (Czerwick 2008:172; vgl. Habermas 2013:129, 133; Brown 2015:95, 210 f.). 5.1.5

Kontrolle

Kontingenzcodierung bedeutet auch, dass in diesem Systemtyp Herrschaft, Machtausübung, jede Form kollektiv bindenden Entscheidens, unter einem grundsätzlichen Vorbehalt stehen und damit potenziell, etwa durch Wahlen, revidierbar oder mo 15 Habermas hat diese Notwendigkeit thematisiert und zum Beispiel explizit darauf hingewiesen, dass sein deliberativer Ansatz „die Grenze zwischen Staat und Gesellschaft respektiert; […] hier unterscheidet sich die Zivilgesellschaft, als die Grundlage autonomer Öffentlichkeit, ebenso sehr vom ökonomischen Handlungssystem wie von der öffentlichen Administration“ (Habermas 1992a:23; 1992b:363; vgl. auch Luhmann 1969:160). Bereits Durkheim hat vor der „Verwirrung“ gewarnt, die bei „mangelhafte[r] Differenzierung des Staates von der Gesellschaft droht“ (Durkheim 1896:128): „Denn die Demokratie setzt einen Staat, ein Regierungsorgan, voraus, das von der übrigen Gesellschaft unterschieden ist“ (Durkheim 1896:132). 16 Auf die hinter dieser Auffassung stehenden Ansichten wird noch eingegangen.

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difizierbar sind. Jede gewährte Unterstützung kann entzogen werden, jede Entscheidung muss gerechtfertigt werden, für jede politische Operation muss in der Öffentlichkeit Legitimation eingeworben werden. Demokratien stellen dadurch primär Formen der Machtkontrolle, nicht der Machterzeugung, dar.17 Machtkontrolle setzt Beobachtung voraus, deren Produktivwerden zur Formulierung von Ansprüchen führt, zu Widerstand, Kritik und Opposition – und dadurch spezifischen Konditionen von Herrschaft unterliegt. Politische Öffentlichkeit stellt einen Kommunikationszusammenhang dar, dessen Hintergrund reale Machtstrukturen bilden. „Öffentlichkeit ist […] keine Spielwiese des folgenlosen Austauschs politischer Meinungen und Argumente. Sie stellt die politische Herrschaft auf den Prüfstand; sie kritisiert die Mächtigen oder überhaupt die Machtverhältnisse“ (Nolte 2012:163). Auch in den politischen Funktionssystemen moderner Demokratien sind hocheffiziente, sich weiterentwickelnde Kontrollstrukturen und Herrschaftstechniken wirksam, die sich insbesondere auf Information als „zentrale Machtressource“ (Korte 2003:18; Felder, Grunow 2003:32) und strategische Kommunikation stützen, denn: „Machterhalt und/oder Machtgewinnung ist an eine kommunikative Leistung gebunden“ (Kamps 2003:208).18 Kritischen Diskursen – die, wie allgemein kritisches Denken, die Macht gefährdende, sie kontingent setzende, „antiautoritäre“ Züge tragen (Arendt 1982:54) – werden die offiziellen oder informellen Machtzentren mit Gegenkommunikationen, mit Medienmacht, mit Desinformation und Manipulation begegnen.19 Es wird versucht werden, solche Kommunikationen durch gezieltes Agenda-Setting (vgl. Heming 1997:94) bzw. durch Agenda-Cutting (Leif 2011:127 f.) zu umgehen oder nicht erst entstehen zu lassen (vgl. Bachrach, Baratz 1970:78 f.), bzw. durch gezieltes Kommunizieren oder Unterdrücken von Informationen zu kanalisieren (vgl. 17 „Polyarchien sind Regelsysteme, durch die Macht und Autorität eingeschränkt und nicht mobilisiert werden sollen. Sie ergeben sich aus einem Konflikt, in dem es mehr darum geht, Autorität zu kontrollieren, statt sie zu schaffen oder wirksamer zu machen“ (Lindblom 1977:263). Auch Sartori geht davon aus, dass „die indirekte Demokratie im wesentlichen in einem System der Beschränkung und Kontrolle der Macht besteht“ (Sartori 1987:276). 18 Wobei Macht und Kommunikation ohnehin einen Zusammenhang bilden: Mit Parsons kann Macht als Kommunikationsmedium, als „spezialisierte Sprache“, verstanden werden (Parsons 1966:37 f.; vgl. 1976:236, 291). Luhmann bezeichnete Macht explizit als Kommunikation (Luhmann 1975a:15). 19 Habermas merkt an, dass die allgemeine Öffentlichkeit „den Repressions- und Aus schließungseffekten von ungleich verteilter sozialer Macht, struktureller Gewalt und systematisch verzerrter Kommunikation schutzloser ausgesetzt ist als die organisierten Öffentlichkeiten des parlamentarischen Komplexes“ (Habermas 1992b:374).

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Foucault 1970:10 f., 25; Mertes 2003:53 f.). „Nichtselektion“ und Schweigen (vgl. Luhmann 2000:309; Lindblom 1977:324), „Nicht-Entscheidungen“ (Bachrach, Baratz 1970:55 f.), Invisibilisierungen (S. 58), aber auch die „stillschweigende[] Reduktion der Komplexität der politischen Kommunikationsthemen“, sind weitere Mittel für das, was Zolo als „Homologisierung der Öffentlichkeit“ bezeichnet (Zolo 1992:207; vgl. auch Eisenstadt 2001:360).20 Repression geht allerdings nicht nur von den Machtzentren des operativen Systems aus, sie entsteht auch in der politischen Öffentlichkeit. Themenkreationen und Argumente werden auch hier mit Machtstrukturen und Deutungsmonopolen konfrontiert. Die politische Öffentlichkeit kann beispielsweise restriktiv auf die Geltungsansprüche marginalisierter Gruppen reagieren (vgl. Dahl 1982:100 ff.). Das Kontingentsetzen von Grenzen, der Zugriff der politischen Öffentlichkeit auf bestimmte thematische Räume, das sollte mit diesem kurzen Exkurs angedeutet werden, wird nicht allein durch Unübersichtlichkeit kompliziert: Macht als basales Moment oder Motiv des Politischen ist auch in solchen Kommunikationen nach wie vor präsent und zu berücksichtigen (vgl. Luhmann 2000:55; Nassehi 2009:327). Nach dem hier skizzierten Ansatz beobachten sich operatives politisches System und politische Öffentlichkeit und entfalten auf Basis ihrer Verarbeitung von Daten und der Produktion von Informationen Kommunikationsprozesse, die dann in konkrete politische Selektionen münden. Die Beobachtung durch die politische Öffentlichkeit findet in einer signifikanten historischen Situation statt, die von komplizierten technisch-wissenschaftlichen Themenräumen, von komplexen Prozessen der Machtausübung, globalisierten Strukturen, enger werdenden zeitlichen Rhythmen des Wandels und allgemeiner Beschleunigung geprägt ist. Die darauf zurückzuführende Unübersichtlichkeit macht die Beobachtung durch die politische Öffentlichkeit zunehmend schwieriger, oder anders ausgedrückt, die Unübersichtlichkeit wird in der Beobachtung zu einem Problem spätmoderner Demokratien, die eben diese Beobachtung in ihren normativen Grundlagen voraussetzen. Beobachtung stellt ein Problem dar, weil erstens die Inhalte, die Themen immer komplizier werden, und zweitens, weil Demokratien der politischen Öffentlichkeit ohnehin ein strukturell bedingtes hohes Maß an Unübersichtlichkeit zumuten.

20 Schweigen kann aber natürlich auch die politische Öffentlichkeit: durch Stimment haltungen, Nichtwählen oder, allgemeiner, durch das abreißen Lassen oder Ausdünnen politischer Kommunikationsbeziehungen, die das operative System dann durch Demoskopie zu kompensieren versucht. Möglicherweise ist es dieses Schweigen, das die Demoskopie tatsächlich zu ergründen versucht. Andererseits lässt sich Politik gerade auch mit Verweis auf die schweigende Mehrheit legitimieren (Ross 2009:S.101 f.).

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5.2 D IE U NÜBERSICHTLICHKEIT

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Schwierig ist die Beobachtung, weil Demokratie per se unübersichtlich ist – sie ist „komplizierter als jede andere politische Form“ (Sartori 1987:23) und konfrontiert die beobachtende politische Öffentlichkeit mit hoher quantitativer und qualitativer Komplexität (vgl. auch Czerwick 2008:161). Diese Komplexität ist auf den Aufbau erforderlicher Vielfalt zurückzuführen sowie auf die strukturelle Unübersichtlichkeit demokratisch konzipierter politischer Systeme. 5.2.1

Erforderliche Vielfalt

Oben wurde gezeigt, dass soziale und so auch politische Systeme eine erforderliche Vielfalt gegenüber ihrer komplexen gesellschaftlichen Umwelt aufbringen und stabilisieren müssen (S. 57). Die Demokratie scheint die Systemform zu sein, die am besten geeignet ist, die erforderliche Eigenkomplexität zu entwickeln, die in der immer unübersichtlicher werdenden, spätmodernen Gesellschaft Voraussetzung adäquater politischer Gestaltung ist. Durkheim hat bereits Ende des 19. Jahrhunderts – freilich mit Blick auf den Staat – die Notwendigkeit erforderlicher Eigenkomplexität beschrieben (vgl. z.B. Durkheim 1896:97). Er hat angenommen, dass Demokratien in dieser Hinsicht das größte Potenzial aufweisen und dadurch an „Beweglichkeit“ und „Flexibilität“ gewinnen, für „Innovation“ offenbleiben (Durkheim 1896:129, 122, 129). Sein Begriff der „Plastizität“ (Durkheim 1896:128) kann dem der „Starre“ nichtdemokratischer Systeme gegenübergestellt werden, der von Sartori verwendet wird, der ebenfalls die Fähigkeit von Demokratien hervorhebt, Kontingenzen und Komplexitäten sowohl zuzulassen als auch selbst zu generieren. Er und andere Autoren sprechen nichtdemokratischen Systemen genau diese Fähigkeit ab. 21 In einem demokratischen Umfeld werden permanent neue Optionen und Alternativen diskursiv generiert, getestet, verworfen oder modifiziert, neue Interessen artikuliert, neue Themen auf die Agenda genommen. Das sichert das „Offenhalten der Zukunft für Entscheidungslagen mit neuen Gelegenheiten und neuen Beschränkungen“ (Luhmann 2000:301). Diese Systeme produzieren so erforderliche Vielfalt und gewährleisten Plastizität und Innovationsfähigkeit in veränderlichen 21 „Nichtdemokratische Systeme sind starre Systeme, das heißt, sie verfügen über keine eingebauten Mechanismen zum eigenen Wandel oder zur Reaktion auf Forderungen nach Wandel. […] Die Demokratie dagegen ist charakteristischerweise ein flexibles System. Sie ist in allererster Linie ein System zur Verarbeitung jeder beliebigen Forderung in einer Gesellschaft, der in Form von Stimmen ‚Stimme‘ verliehen wird“ (Sartori 1987:87; vgl. Almond, Powell 1966:28 f.; Easton 1965b:433 f.). Im Gegensatz dazu, so Merkel, sind autokratische Systeme „partizipationsfeindlich, geschlossen, unflexibel, adaptionsund innovationsträge. Dies mindert die Leistungsfähigkeit des politischen Systems“ (Merkel 1999:63; vgl. Scharpf 1970b:273).

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Umwelten. In der Tendenz führt das allerdings zur Entwicklung komplexerer und unübersichtlicherer Systemstrukturen.22 Darin hat Offe wiederum ein eigenes Problem erkannt: Optionssteigerungen (S. 77), etwa durch funktionale Differenzierung, haben zur Autonomisierung „eigensinniger“ Funktionssysteme (Beyme 2007:355) geführt und damit zu „Koordinations- und Kompatibilitätsprobleme[n]“ (Offe 1986:101) zwischen komplex vernetzten Subsystemen und Institutionen auf unterschiedlichen Ebenen. Deren Kooperation kann nur durch, wiederum hochkomplexe, Mechanismen der Abstimmung und Orientierung sichergestellt werden. Der „Ballast der Rücksichten“ (Simmel 1890:272) führt aber zu „Starrheit und Immobilität“ (Offe 1986:100, 110), durch die gerade das politische System innovationsabweisend werden kann, etwa „weil nicht-intendierte Folgen jeglichem Veränderungswillen im Wege stehen“ (Offe 1986:104). Für das operative System gibt es dennoch kaum akzeptable Alternativen zum Versuch, interne und größere äußere Komplexität durch strukturelle Entwicklung in ein möglichst angemessenes Verhältnis zu bringen. 23 Es ist dabei sogar auf ein bestimmtes Maß an Komplexität der sie umgebenden gesellschaftlichen Umwelt angewiesen. Demokratie verlangt die relative Autonomie des politischen Systems im und vom gesellschaftlichen Kontext. Diese Autonomie ist Resultat funktionaler Ausdifferenzierung und Spezialisierung und damit Leistung komplexer Gesellschaften (Czerwick 2008:43, 125; vgl. Luhmann 1969:162). Das System profitiert von der Komplexität seiner Umwelt.24 Es kann sie für sich intern verfügbar machen, indem es Kopplungen an andere Systeme aufbaut und deren Potenziale intern nutzt (S. 19). Beispiele hierfür sind das Akquirieren wissenschaftlicher Beratung, Nut22 Dahl hat das zum Beispiel in den Prozessen der Transnationalisierung und der Expansion des Politischen gesehen (die auf S. 98 ff. als Quellen der Unübersichtlichkeit genannt wurden). „Not only did policies within a particular issue-area grow more complex, but the increase in the sheer number of policies, as governments expanded the scope of their concerns, was itself a source of complexity. The management of this growing complexity in policies led in turn to greater complexity in the policymakingprocess. Just as the extension of the democratic idea to the scale of the nation-state re quired a radical adaptation and innovation in political institutions – the creation of polyarchy – so new institutions were now required in polyarchies to meet the demands of complexity in policy and poli cymaking“ (Dahl 1989:336). 23 Hierauf wird im letzten Kapitel noch einmal eingegangen. 24 Auch in kybernetischen Ansätzen spielte dieser Aspekt eine Rolle. Demnach können Systeme entropische Tendenzen durch den Import von Ordnung, von „Negentropie“ kompensieren (vgl. Wiener 1948:31; 1952:106). „Continually sucking orderliness from its environment” (Schrödinger 1945:146) ist, nach diesem Ansatz, auch für soziale Systeme lebenswichtig.

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zung ökonomischer Expertise oder auch das Einbeziehen lebensweltlicher Wissensformen (vgl. auch Evers, Nowotny 1987:86). Eine grundsätzliche Problematik bleibt jedoch bestehen. Hohe interne und externe Komplexität, als relationale Kategorie gesehen, beschreiben Außen- und Selbstverhältnisse moderner politischer Systeme – Verhältnisse, die immer defizitär bleiben. Die basale Funktion sozialer Systeme ist die Reduktion sowohl von Umweltkomplexität als auch von eigener Komplexität. Beide Typen der Komplexität stellen Beschreibungen für Gefälle dar, die grundsätzlich nicht auszugleichen sind. Eine Situation, in der die verfügbaren Informationen, die Wissensbestände und Kapazitäten zur Verarbeitung eigener und gesellschaftlicher Komplexität in eine Art ausbalancierten Ruhe- oder Gleichgewichtszustand eintreten könnten, ist für politische Systeme nicht erreichbar. Der Vielfalt und Dynamik ihrer Umwelten adäquat sind Kommunikationsprozesse des operativen Systems und der politischen Öffentlichkeit – in Bezug auf sich selbst, auf ihren Gegenpart sowie in Bezug auf die Kommunikation mit anderen gesellschaftlichen Funktionssystemen – immer nur in vorläufiger und bedingter Weise. Eine Folge dieser Komplexitätslast bei systembedingter und systemisch gesicherter Kontingenz ist die, vermutlich weiter zunehmende, Unübersichtlichkeit demokratischer Systeme.25 5.2.2

Strukturelle Unübersichtlichkeit

Unübersichtlichkeit wird nicht allein durch die Komplexität und Kontingenz systemischer Innen- und Umwelten erzeugt, sondern in hohem Maß auch durch strukturelle Anlagen der Systemform selbst. Hierfür gibt es (mindestens) drei Gründe: die in demokratischen Systemen angelegte Dauerreflexion, die damit zusammenhängende Kontingenzcodierung nicht nur der Macht, sondern jeder Entscheidung, durch das Prinzip der politischen Konkurrenz und die Legitimation durch Verfahren. 5.2.2.1

Visibilisierung und Reflexion

In Demokratien leisten politische Systeme, verglichen mit anderen politischen Formen, hohe, von frei agierenden Medien und offenen Diskursen getriebene Visibilisierungsleistungen. Visibilisierung bedeutet, dass Themen und thematische Räume über das Politische für die Gesellschaft sichtbar werden und die Gesellschaft dadurch auch für sich selbst erkennbar wird (Nassehi 2009:330 ff.): „Aus dieser Perspektive erscheint uns die Demokratie als jene politische Verfassung, in der die Gesellschaft das reinste Bewusstsein ihrer selbst erlangt“ (Durkheim 1896:128, vgl. 130). Operatives System und politische Öffentlichkeit beobachten sich auch im 25 Während, gemäß Baumans oben vorgestellter These, das signifikante Streben totalitärer Regime zu sein scheint, eben solche instabilen Dynamiken zum Stillstand zu bringen (vgl. auch Przeworski 1991:49 f.).

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Medium der öffentlichen Meinung und werden darin für sich selbst kenntlich (Luhmann 2000:310, 286). Selbstwahrnehmung und -thematisierung im Politischen führen ab einem bestimmten Punkt, so nahm Durkheim an, zu einem „Bedürfnis nach Reflexion“ (Durkheim 1896:129). Für ihn stellte sich Demokratie daher als „Herrschaftsform der Reflexion“ dar (1896:131).26 Gemeint sind damit (möglichst repressionsfreie) politische Diskurse über politische Alternativen, Optionen, Deutungen und Perspektiven. Durch sie unterliegen alle Aussagen, Positionen, Gewissheiten, Ziele, Entscheidungen und Selbstbeschreibungen einer grundsätzlichen Vorläufigkeit und potenziellen Revisionsfähigkeit aber auch einem Zustimmungs- und Legitimationsvorbehalt (vgl. Habermas 1992b:613; Barber 1984:163; Gabriel 2004a:79 f.; Luhmann 1997:889; auch Burkhard 1905:197). Sie sind als kontingent markiert. „Demokratie handelt von der Kontingenz der Dinge, von dem Auch-anderssein-können, eher von der Suche als von der definitiven Lösung“ (Nolte 2012:73; vgl. S.J. Schmidt 2008:85). Das lässt Demokratien „offen, historisch kontingent, extrem flüssig“ werden (Nolte 2012:23): „We could say that democracy dwells in a house of contingency“ (Keane 2009:161; vgl. Dubiel 1994:9; Michelsen, Walter 2013:98). Kontingenzbewusstsein erkennt das an: Politische Verhältnisse werden als Produkt historischer Prozesse verstanden, nicht als schicksalhaft erfahren, sondern als menschengemacht und daher gestaltbar und kontingent (vgl. Greven 1997:236; Lindblom 1977:22).27 Die durch Reflexion kenntlich gemachte 26 Burckhardt sah das als kritische Entwicklung der entstehenden Industriestaaten und allgemein der modernen Demokratie (Burckhard 1905:133, 197). 27 Das schließt eine Immunisierung von Entscheidungen gegen Reflexion und Kritik aus – etwa durch Verweis auf außerpolitische Sachverhalte, höhere Mächte oder „Alternativlosigkeit“. Dieser Gedanke lässt sich in Brandoms Konzept des Gebens und Verlangens von Gründen erkennen, das gerade auch als Beschreibung des basalen Modus demokratischer Kommunikation herangezogen werden kann. Demnach sollten „potenziell strittige material-inferentielle Festlegungen als Behauptungen explizit gemacht werden [...], um sie auf diese Weise einerseits für begründete Anfechtungen verletzlich zu machen und andererseits deutlich zu machen, dass vernünftige Strategien zu ihrer Verteidigung gefragt sind. Es darf nicht zugelassen werden, dass sie sich im Inneren von aufgeladenen Phrasen wie ‚Feind der Menschheit‘ oder ‚Recht und Ordnung‘ auf Dauer einrichten“ (Brandom 2000:97). In der politischen Kommunikation impliziert das die Anerkennung, „dass das Verlangen von Gründen, die Bitte um Rechtfertigung des Anspruchs, den man bekräftigt hat, bzw. der Festlegung, die man eingegangen ist, wenigstens unter gewissen Umständen angemessen ist. Neben der festlegenden Dimension der Behauptungspraxis gibt es auch noch die kritische Dimension, nämlich den Aspekt der Praxis, bei dem es um die Beurteilung der Richtigkeit jener Festlegungen geht. Abseits dieser kritischen Dimension findet das Konzept der Gründe keinen Halt“ (2000:250).

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Kontingenz und die damit einhergehende Komplexitätszunahme verstärken jedoch die Unübersichtlichkeit des Politischen.28 5.2.2.2

Reflexion und Konkurrenz

Aufrecht erhalten werden Reflexion und Selbstreflexion durch das Prinzip der politischen Konkurrenz. Konkurrenz manifestiert sich primär in unterschiedlichen Formen der Opposition, die das Spektrum an Themen, Alternativen usw. offen hält. Was Tocqueville als „dauernde Unruhe“ demokratischer Gesellschaften (1835:288) erkannte, hat Luhmann als „eingebaute[n] Dauerreiz für Themensuche und Innovation“ bezeichnet (Luhmann 1987:129): Offenheit, Partizipation, Responsivität produzieren und reproduzieren Komplexitäten und Kontingenz29, und damit „Ungewissheit, Unsicherheit, Unübersichtlichkeit und Unbestimmtheit sowie […] politische[] Diskontinuität“ (Czerwick 2011:197). Ähnlich wie Kelsen und Schumpeter hat Luhmann die Konkurrenzlogik als prägnantes Kennzeichen demokratischer Form gewertet (Schumpeter 1942:428, 386; Kelsen 1920:90). Also nicht etwa Mechanismen der Partizipation, sondern „die Spaltung der Spitze des ausdifferenzierten politischen Systems durch die Unterscheidung von Regierung und Opposition“ (Luhmann 1987:127) und damit die immer sichtbare, sozusagen als Subtext jeder politischen Äußerung erkennbare, binäre Codierung politischer Diskurse, die letztlich die Beobachtung und Beschreibung von Politik orientiert und erleichtert (vgl. Luhmann 1987:159; vgl. auch Mouffe 2005:157). Dadurch ergibt sich eine immanente Kontingenzcodierung nicht nur der Macht, sondern jeder Entscheidung und jedes politisch-administrativen Programms.30 Wahlen als Kulminationspunkt der Konkurrenzlogik stellen nicht nur 28 Musil sprach schon in einem 1923 erschienenen Essay von der „immer größere[n] Unübersichtlichkeit, zu der sich die politische und geistige Demokratie entwickelt“ (1923:1386). 29 Schmitt merkte an, dass das Konkurrenzmoment des liberalen Denkens „ein spezifisches Verhältnis zur Wahrheit“ erkennen lässt, „die zu einer bloßen Funktion eines ewigen Wettbewerbs der Meinungen wird. Der Wahrheit gegenüber bedeutet es den Verzicht auf ein definitives Resultat“ (Schmitt 1923:46). 30 Demokratische Konkurrenz ist ein möglicher Reflexionsverstärker, aber keineswegs ein automatisch wirksamer Schutz vor Erstarrung. Dahinter steht die Frage nach thematischer Offenheit und Kontingenzkapazitäten in eingespielten, etablierten Konkurrenzsystemen. „Das Problem der Demokratie ist: wie breit das Themenspektrum sein kann, das im Schema von Regierung und Opposition und in der Struktur der Parteiendifferenzierung tatsächlich erfasst werden kann“ (Luhmann 2000:102). Denn das institutionell vorgesehene Spannungsfeld kann sich zu einer Zone politischer Saturierung entwickeln, von der aus keine Optionen und Alternativen mehr ausgehen. Stattdessen entstehen womöglich „auf eben dieser Grundlage Strukturen, die

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definierte Zäsuren im zeitlichen Sinn dar. Sie sind, so Nolte, „zentraler Baustein der ‚Kontingenz‘ von Demokratie“ (Nolte 2012:130) – sie steigern die Irritationslast des politischen Operativsystems und der politischen Öffentlichkeit (vgl. auch Luhmann 1969:161; Dubiel 1994:9) und sind damit eine strukturelle Quelle der Unübersichtlichkeit.31 Diese konkurrenzbasierte, Komplexität und Kontingenz steigernde Fremd- und Eigenirritation ist die unverzichtbare Voraussetzung für die Fähigkeit zu gewaltfreier Selbstkorrektur (vgl. z.B. Kelsen 1920:90; Barber 1984:126; Czerwick 2011:210 f.; 1989:180; vgl. auch Tocqueville 1835:131). Institutionalisierte Rückkopplungssysteme wie Wahlen, die gesamte Vielfalt der Beteiligungs- und Kritikformen und die gegen Eingriffe der Macht geschützten Beobachtungsverhältnisse sind Voraussetzung für systemisches Lernen (vgl. Merkel 1999:61), mit dem sich das politische System offen für evolutionäre Entwicklung hält.32 Konkurrenz und konstruktiver Dissens, als Voraussetzung intakter Demokratie betrachtet (vgl. Dahl 1982:187 f.), erweitern nicht nur das Kontingenzspektrum (vgl. Luhmann 2000:293) politischer Systeme, sie steigern ebenso ihre Komplexität im Sinn der erforderlichen Vielfalt, die sie mit einer größeren Varietät von Umweltzuständen kompatibel hält (vgl. Willke 2014:34). Eine komplizierte Beziehung wird hier sichtbar, denn „mehr Demokratie [bedeutet] mehr Komplexität und mehr Komplexität mehr Demokratie“ (Czerwick 2008:118, Luhmann interpretierend). Demokratische Systeme sind einerseits auf diese Steigerung von Kontingenz und Komplexität angewiesen, tragen damit aber zugleich zu ihrer eigenen Unübers-

die weiteren Möglichkeiten einschränken. Es festigen sich Erwartungen und Gewohnheiten“ (Luhmann 1987:129). 31 Und nicht selten der Perplexität ihrer Beobachter. Der Begriff wurde von Vogl über nommen (Vogl 2010:21), findet sich aber auch bei Keane, der ihn interessanterweise in seiner Beschreibung der athenischen Demokratie verwendet: „Democracy stimulated public awareness of the difficulties of making decisions, and of the ubiquity of perplexity – what the locals called aporia“ (Keane 2009:53). Er unterstreicht damit, dass diese Systemform selbst Perplexität, Überforderung und Unsicherheit generiert. 32 Autokratische Systeme weisen dagegen eine „strukturelle Lernschwäche‘ auf. Da sie über keinen effektiven Rückkopplungsmechanismus mit der Gesellschaft verfügen, verlieren sie die Fähigkeit, die Selbstgefährdung des politischen Systems überhaupt zu erkennen. Geheimdienste, wie monströs sie auch ausgebaut sein mögen, können das ‚Meldesystem freie Wahlen‘ nicht ersetzen“ (Merkel 1999:65). Die Frage des Lernens oder Lernenmüssens kann auch allgemeiner auf jede Form nicht kontrollierter Macht bezogen werden: „Macht hat in gewissem Sinne derjenige, der es sich leisten kann, nichts lernen zu müssen“ (Deutsch 1966:171).

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ichtlichkeit und, durch ihre gesteigerter Kapazität für Umweltkomplexität, zur Unübersichtlichkeit ihrer wahrgenommenen Umwelten bei. 5.2.2.3

Legitimation durch Verfahren

Mit ihren institutionalisierten Revisionsoptionen, die sich wesentlich auf das Vorhandensein einer als legitim angesehenen Opposition stützen (vgl. Kelsen 1920:101 f.) – ob parlamentarisch, außerparlamentarisch oder innerhalb der Diskurs-, Definitions- und Deutungsvielfalt –, verzichten diese politischen Systeme auf privilegierte Wahrheitsansprüche oder „absolute Gültigkeit“ von Programmen (Kelsen 1920:102). Sie legitimieren sich statt dessen primär über die Aufrechterhaltung und Akzeptanz von Prozeduren und Mechanismen der Beobachtung, reziproker Kontrolle und geregelter Partizipation (vgl. Kelsen 1920: 102 f.; vgl. Czerwick 2011:201), das heißt, der Compliance mit einem als verbindlich akzeptierten Regelsystem.33 33 Compliance bezieht sich letztlich auf das Vertrauen in ein „institutional framework“ (Przeworski 1991:26), das beispielsweise sicherstellt, dass die Opposition oder Minorität, „weil nicht absolut im Unrecht, nicht absolut rechtlos, jederzeit selbst zur Mehrheit werden kann“ (Kelsen 1920:102 f.; vgl. Przeworski 1991:19; Dahl 1989:144 f., 161; Luhmann 1987:159; Keane 2009:861). Sie trägt so zur enttäuschungsfesten Stabilisierung von Erwartungen bei (Luhmann 1970:121; vgl. auch Hahn 1997:141). Compliance ist, so kann Dahl interpretiert werden, kein abstraktes theoretisches Konzept, sondern gehört zum Hintergrundwissen der Lebenswelt (vgl. Dahl 1982:162 f.). „Democracy is consolidated when under given political and economic conditions a particular system of institutions becomes the only game in town, when no one can imagine acting outside the democratic institutions, when all the losers want to do is to try again within the same institutions under which they have lost. Democracy is consolidated when it becomes self enforcing, that is, when all the relevant political forces find it best to continue to submit their interests and values to the uncertain interplay of the institutions. Comply ing with the current outcome, even if it is defeat, and directing all actions within the insti tutional framework is better for the relevant political forces than trying to subvert demo cracy“ (Przeworski 1991:26 ; vgl. auch Dahl 1982:162; Jensen 2003:32; Nolte 2012:122 f.). Compliance wirkt in Bezug auf Vielfalt öffnend, weil sie die Minorität bzw. Opposition auch nach Niederlagen weiter von realistischen Chancen ausgehen lässt. Sie wirkt – parallel zu Strukturen wie dem Recht – zugleich schließend, indem sie operative und thematische Grenzen in Konflikt- und Themenräumen markiert (vgl. auch Dahl 1982:188; Butler 1997:189 f.; Habermas 1992b:394; Bourdieu 2000:45 f.). Compliance verhindert in Demokratien erratische Beliebigkeit (vgl. Przeworski 1991:12), weil sie bestimmte Optionen von vornherein ausschließt (vgl. auch Campbell et al. 1964:284; kritisch Bourdieu 2000:54) und somit Unübersichtlichkeit doch in Grenzen hält. Sie zielt

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Autoritäre Systeme sind in der Lage, Konflikte und Diskurse effektiv durch Repression zu terminieren. In Demokratien gibt es hingegen kaum Punkte definitiven Stillstands in der Produktion von Möglichkeiten und Alternativen. Während autoritäre Systeme Eindeutigkeit zu erreichen suchen, bedürfen Demokratien der Uneindeutigkeit. „Hence, democracy is a system of ruled open-endedness, or organized uncertainty“ (Przeworski 1991:13; Keane 2009:160; vgl. auch Lindblom 1965:217).34 Demokratische Prozesse sind, unabhängig von ihrer konkreten Ausgestaltung, prinzipiell offen und unbestimmt (Merkel 1999:32; vgl. Kriesi 1994:234). Sie verlaufen diskontinuierlich, durch Wahlen oder Reaktionen auf soziale Bewegungen ab- oder umgelenkt. Sie sind grundsätzlich kontingent und tragen immer Momente der Vorläufigkeit und Instabilität oder sogar des Risikos und des Unkalkulierbaren in sich. Bensaïd spricht von der dem „Gleichheitsprinzip der Demokratie eingeschriebenen Ungewissheit“ (Bensaïd 2009:42): „Eine wirklich politische Gesellschaft, in der Diskussion und Beratung zu den wesentlichen Techniken des Gemeinschaftslebens gehören, ist eine Gesellschaft voller Risiken“, so Finley (Finley 1973:105) – und der Unübersichtlichkeit. Ähnlich Zolo, der anmerkt, „Die Demokratie bedeutet […] die Beibehaltung der größtmöglichen gesellschaftlichen Komplexität und zugleich die kollektive Akzeptanz einer höheren Menge von gesellschaftlichen Risiken und Unsicherheit“ (Zolo 1992:85). Dubiel erkennt in der Demokratie deshalb die „institutionalisierte Form des öffentlichen Umgangs mit Ungewissheit“ (Dubiel 1994:9). Zu ihrer Unübersichtlichkeit trägt die Prozessorientierung demokratischer Systeme bei, da sie weitgehend auf normative oder ontologische Absicherung verzichten muss (vgl. Przeworski 1991:25; Greven 1997:236). Sie löst Legitimation sogar bis zu einem gewissen Grad von Inhalten oder Werten ab und erzeugt sie stattdessen über die Akzeptanz ihrer Strukturen, Prozesse und Regeln. Die historische Errungenschaft der „Legitimation durch Verfahren“ hat den Nebeneffekt der Dauerkomplizierung des Politischen (vgl. Luhmann 1969:151). Die Beobachtung verlangt einer partizipationsbereiten politischen Öffentlichkeit mehr Aktivität, mehr Kompetenz und mehr Wissen im Umgang mit politischer Information ab, als das in anderen Systemformen der Fall ist. Zumal sie in diesen säkularen und rationalen gleichwohl nicht auf die Abschaffung von – für Demokratien essenziellem – Dissens oder Konflikt (vgl. Dahl 1982:188) im Sinn einer repressiven Kontingenzreduktion, sondern auf Regeln des Umgangs mit ihm (vgl. Mouffe 2000:75 ff., 103 f.; 2005:29 f., 158; Zolo 1992:64; Gutmann, Thompson 1996:14, 55). 34 Der Begriff wird hier als kognitive Unsicherheit mit Verweis auf die Kontingenz der Entwicklungen interpretiert – wie er von Downs verwendet wird (vgl. zum Beispiel Downs 1957:44) – nicht im Sinn existenzieller oder physischer Unsicherheit (vgl. zum Unsicherheitsbegriff auch Zolo 1992:63 ff.).

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Systemen kaum auf ontologische oder ideologische Kompensationsmechanismen für überbordende Unübersichtlichkeit zurückgreifen kann.35 Komplexe und differenzierte Verfahren, die „Institutionalisierung zahlreicher Vetopunkte im politischen Entscheidungssystem“ (Gabriel 2004a:89), stellen, trotz ihrer auch legitimierenden Wirkung, eine Herausforderung für die beobachtende Öffentlichkeit dar. Zum einen werden beobachtete Strukturen, funktionale Differenzierungen, Vernetzungen und Prozeduren komplizierter, insbesondere seit dem Hinzukommen einer supranationalen Ebene (S. 98). Zum anderen hängt die Legitimität politischer Entscheidungen und Maßnahmen stark von deren erkennbarem Erfolg ab (vgl. Luhmann 1969:151). Der demokratische Rückkopplungsprozess ist in dieser Hinsicht jedoch häufig schwer nachvollziehbar. Sehr prägnante Ansprüche der politischen Öffentlichkeit mit einer klaren Themenfixierung bleiben zwar in politischen Reaktionen wiedererkennbar. Der Zusammenhang zwischen der Artikulation von Demands und Support einerseits und konkretem Systemoutput andererseits bleibt für die politische Öffentlichkeit aber oft abstrakt, schwer zu verstehen und zu beurteilen (vgl. Kuklinski, Quirk 2000:169; Luhmann 1969:167; Möllers 2008:56; Dryzek 1990:63). Es gibt auch kaum klare, eindeutige Indikatoren, die eine Politik definitiv bestätigen könnten. Jeder Indikator kann sich als neues, ganz anders gelagertes, durch den politischen Eingriff selbst ausgelöstes Problem entpuppen (vgl. Dryzek ebenda). Auch dadurch wird die Beobachtung aufwendiger und komplizierter, der Anspruch an inhaltsbezogenes Wissen und Verstehen in der politischen Öffentlichkeit nimmt zu.

5.3 D IE K OMPETENZ

DER POLITISCHEN

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Die Beobachtung des Politischen bedeutet in einer spätmodernen Demokratie, komplexe thematische Räume im Rahmen einer Systemform zu beobachten, die selbst unübersichtlich ist. Unübersichtlichkeit ist ein relationales Phänomen. Der Begriff beschreibt ein defizitäres Verhältnis zwischen Beobachter und Beobachtetem, das letztlich auf Probleme des Verstehens zurückzuführen ist. Durch Verstehen kann Unübersichtlichkeit – bis zu einem bestimmten Grad – aufgelöst werden. Politische Beteiligung in einer Demokratie setzt Beobachtung voraus, Beobachtung setzt Verstehen voraus. Verstehen politischer Zusammenhänge setzt wiederum Informationen, Wissen und Kompetenzen voraus.

35 Der Verlust der Zentralperspektiven wurde oben als eine der Quellen der Unübersichtlichkeit identifiziert. Auch Wissenschaft scheint in dieser Beziehung als Ersatz auszuscheiden, „die Ambiguität wissenschaftlicher Evidenz“ (H.P. Peters 1994:164) liefert ebenfalls keine Entlastung. Hierauf wird noch einmal eingegangen.

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5.3.1

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Daten, Information, Wissen

Diese Begriffe werden hier mit Blick auf die politische Öffentlichkeit verwendet, ein soziales System, das als Kommunikationszusammenhang betrachtet wird. Systemische Kategorien. Entsprechende Befähigungen, etwa zum Verstehen, müssen demnach der Öffentlichkeit verfügbar sein. Es wäre eine unzulässige Anthropomorphisierung, sozialen Systemen kognitive Fähigkeiten zuzuschreiben. Gleichwohl wird Wissen systemisch entwickelt, angereichert, gespeichert und weitergetragen (vgl. auch Schütz 1946:121, 131 ff.).36 Wissen ist an Kommunikationszusammenhänge gebunden, nicht an Personen, sondern an die „Operationsformen eines sozialen Systems. Organisationales oder institutionelles Wissen steckt in den personenunabhängigen, anonymisierten Regelsystemen, Kommunikationsmustern und Wissensbeständen, welche die Operationsweisen eines Sozialsystems definieren“ (Willke 1997:23; vgl. Luhmann 1968b:69; S.J. Schmidt 1994:76; Foray 2005:217). Auch die Beobachtung des Politischen ist ein Prozess, der in sozialen Systemen abläuft. Beobachtung ist auch Bezeichnung und hat damit einen Bezug zur Kommunikation (Luhmann 1997:122; 1995b:21, 61; Fuchs 1992:55, 244; Fuchs 2003:95; Jensen 1999:333; vgl. auch S. 16). Sie ist demnach kein solipsistischer, sondern ein sozialer Akt (Baecker 2008:136). Kommunikation bildet sich aus den Komponenten Information, Mitteilung und Verstehen. Geht man davon aus, dass Informationen (vielleicht im Übermaß) vorhanden sind, Produktion, Mitteilung und Distribution politischer Information in Demokratien weitgehend gewährleistet sind, bleibt Verstehen als problematische Komponente der Kommunikation und damit der Beobachtung des politischen Funktionssystems. Verstehen setzt die Verarbeitung von Daten, die Produktion von Informationen und damit auch Wissen voraus. Diese Kategorien stellen unterschiedliche Emergenzniveaus dar. Informationen sind nicht allein aggregierte Daten. Und Wissen ist mehr als eine Kompilation von Informationen. „Wissen meint hier die Einbettung von Informationen in ein Muster von Erfahrungen und Erwartungen (Präferenzregeln), sodass die Informationen in einer von diesen Präferenzregeln geprägten Weise produktiv genutzt werden können“ (Willke 1997:20).37 36 Im nächsten Kapitel wird gezeigt, dass das System der politischen Öffentlich keit auch deshalb über solche Qualifikationen verfügen kann, weil Bewusstseinssysteme politischer Individuen diese bereitstellen. 37 Auch Downs unterschied die „Kenntnisse der Zusammenhänge“, die hier als Wissen be zeichnet werden, von reinen Informationen. „Kenntnis der Zusammenhänge definieren wir als die Kenntnis der Grundfaktoren, die für einen bestimmten Aktionsbereich entscheidend sind“ (Downs 1957:76 f.). „Information stellt sich dar als Daten über die laufenden Entwicklungen und die Beschaffenheit jener Variablen, die Gegenstand der Kenntnis der Zusammenhänge sind“ (Downs 1957:77). Sartori unterscheidet Information

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Beobachtung ist eine aktive, sinngestützte Konstruktion viabler interner Repräsentationen und keine reine Akkumulation von Daten oder Informationen. Für die Beobachtung spielen mithin nicht nur Informationen im technischen oder quantitativen Sinn eine Rolle, sondern eben auch qualitative Kategorien und Operationen, wie Wissen, Einordnung, Bewertung und Gewichtung, die ihrerseits Verstehen ebenso voraussetzen wie ermöglichen. Soziales Artefakt. Systeme greifen Daten über strukturelle Kopplungen an Umweltsysteme ab und transformieren sie in systemspezifisch bedeutungstragende Informationen und Wissensbestände. Das sind kontingente Eigenleistungen im Rahmen des jeweiligen Differenzschemas.38 Unterschiedliche gesellschaftliche Funktionssysteme schaffen unterschiedliche Wissensarten. Die Episteme der Wissenschaft unterscheiden sich beispielsweise von religiösem oder politischem Wissen. Politisches Wissen ist meinungsmäßiges und kein apodiktisches Wissen (vgl. und Erkenntnis: „Information […] ist nicht Erkenntnis. Natürlich setzt Erkenntnis Information voraus; aber Information bedeutet nicht einfach per definitionem Erkenntnis […] Zum Mindesten gehört zum Wissen oder zur Erkenntnis ein Erfassen und eine geistige Beherrschung der Information, die durch diese selbst in keiner Weise geliefert wird“ (1987:129). Informationen werden deshalb von einigen Autoren, eher metaphorisch, als „Rohstoff“ rationalen Entscheidens bezeichnet (Mayntz 1963:96; Easton 1965a:131; Spinner 2002:30; 1998:30). Auch Lupia und McCubbins gehen von einer zusätzlichen Qualität des Wissens aus: „[I]nformation is the data from which knowledge may be derived. Therefore, knowledge requires information, but large amounts of information do not ensure knowledge “ (Lupia, McCubbins 1998:20; vgl. Foray 2005:216; Breidbach 2008:12). Willke hebt den praktischen Bezug von Wissen hervor: „Von Wissen lässt sich sprechen, wenn Informationen in einen instruktiven Konnex zu den Erfahrungen eines strategie fähigen Akteurs gebracht sind“ (Willke 1997:151). Kornwachs betont, dass die Entstehung von Wissen aus Information Kommunikation voraussetzt: „Information ist das, was kommuniziert wird, Wissen das, was durch die kommunizierte Information entsteht. Wir verwandeln in der Kommunikation Wissen in weitergebbare Information, die beim Empfänger wieder zu einem Wissen wird, das mit dem ursprünglichen Wissen wegen der Individualität der Vorbedingungen und Situiertheit des Empfängers nie identisch, aber – so die Hoffnung der Bemühung – ähnlich sein wird“ (Kornwachs 2000:256). Hier dient Wissen als Platzhalter für eine ganze Gruppe von Begriffen wie eben Kenntnis, Erkenntnis, Qualifikation usw. Eine hochauflösende Wissensordnung, die diese Begriffe exakter und in einer Taxonomie darstellt, wurde beispielsweise von Spinner entwickelt (Spinner 2002; 1998:16 f.). 38 Strukturelle Kopplungen können dabei selbst auch als Strukturen für spezielle Wissensformen aufgefasst werden (vgl. Willke 1997:131).

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Ballweg 1984:16 f.). Zu ihm gehören nicht allein verifizierbare Fakten enzyklopädischen Wissens, sondern auch (unter Umständen disparate) Deutungen, Situationswahrnehmungen und Überzeugungen unterschiedlicher sozialer Gruppen, eine Vielfalt von Narrativen, Traditionen, Ethiken und Weltsichten. Politisches Wissen kann grundsätzlich nie präzise sein, es ist vielmehr amorph, inkohärent, ungleich verteilt und zeitgebunden. Wissen, politisches Wissen im Besonderen, kann begrifflich nicht von Kommunikation abgelöst werden: Nur im Rahmen von Kommunikationsprozessen kann Wissen entstehen, weitergegeben und aufgenommen werden (vgl. auch Wirth 1997:118 f.; Breidbach 2008:16). Wissen ist ein sozial erzeugtes Artefakt39, das die Wirklichkeit sozialer Systeme konstituiert, konstruiert, garantiert und reguliert (Berger, Luckmann 1969:21 ff., 45, 163). Es definiert Sinn- und Selektionshorizonte (vgl. Berger, Luckmann 1969:70 f.; Spinner 2002:44), es bildet den Hintergrund jeder Kommunikation (vgl. Searle 1995:52 ff., 143). Zugleich hält Wissen diese Horizonte beweglich, die Strukturen flexibel: Durch Wissen werden Daten mit persistenten Informationsbeständen abgeglichen, verknüpft und zu neuen Informationen, zu Informationsagglomeraten und ggf. neuen Wissenselementen synthetisiert, die diese Horizonte erweitern (oder zusammenziehen) können. Kontingenz. Damit wird der kontingente Charakter von Informationen, Wissen und Verstehen, aber auch von Wirklichkeitskonstruktionen und Wahrheitsannahmen angesprochen (Berger, Luckmann 1969:128; vgl. Simmel 1900:64; Spinner 2002:17; Breidbach 2008:85). Wissen ist „von der prinzipiellen Kontingenz möglicher Optionen und alternativer Welten affiziert“ (Willke 1997:151). Es reflektiert einen spezifischen historischen und gesellschaftlichen Hintergrund, kulturelle, ethische40 und soziale Kontexte sowie Machtkonfigurationen bzw. -optionen (vgl. Berger, Luckmann 1969:3, 90, 117, 130).41 39 Spinner bezeichnet es als „kognitives, kulturelles und zunehmend auch technisches Montageprodukt“ (Spinner 2002:29). Der technische Aspekt des Wissens ist durch die Bedeutung des Internets gewachsen, etwa durch die Wirkungsmacht der Selektions- und Bewertungsalgorithmen von Suchmaschinen, die mittlerweile auch festlegen, was als wissenswert gilt (Donner 2010:77, 112). 40 Ethische Bezugssysteme schaffen, beispielsweise in Form von Tabus, kontingente Rahmen gerade auch des politisch Denkbaren, Sagbaren und Entscheidbaren (vgl. Tetlock 2000:249 ff.). Dieser Rahmen kann situativ modifiziert oder im Verlauf historischer Prozesse evolutionär verändert werden. 41 Das betrifft auch den verwandten und ebenso kontingenten Wahrheitsbegriff in säkularen Gesellschaften: „Die Wahrheit ist von dieser Welt; in dieser wird sie aufgrund vielfältiger Zwänge produziert, verfügt sie über geregelte Machtwirkungen. Jede Gesellschaft hat ihre eigene Ordnung der Wahrheit: Das heißt, sie akzeptiert bestimmte Diskurse, die sie als wahre Diskurse funktionieren lässt; es gibt Mechanismen und Instanzen, die eine

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Kontingenz ist nicht nur Merkmal von, sondern geradezu eine Anforderung an das Wissen. Von der politischen Öffentlichkeit wird erwartet, Wissen jederzeit infrage stellen, revidieren (Willke 1997:174 ff.) und reflexiv einsetzen zu können. Das betrifft sowohl neu erzeugtes als auch durch Innovation oder Aufklärung relativiertes vorhandenes und kulturell verankertes Wissen. Hinweise hierauf finden sich beispielsweise in biomedizinischen Diskursen, in denen die Definitionen von Krankheit, Alter oder Sterben hinterfragt oder neu interpretiert werden (Bender, Hauskeller 2003:188 ff.; Haraway 1995:160 ff.). In den Diskursen bildet sich auch die Fragmentierung der politischen Öffentlichkeit in fluktuierende, sich überlappende kommunikative Systeme, in unterschiedliche Stakes, ab, die sich auf Berufsgruppen, Verbände, Regionen usw. zurückführen lassen (vgl. auch Fishkin 2009:18; Dryzek 1990:65). Die „Vorstellung des einen (einheitlichen) Demos“ ist in komplexen Gesellschaften nicht haltbar (Abromeit 1999:36; vgl. Keane 2009:699). Politische Wissensbestände sind daher auch nicht monolithisch, sondern fragmentiert und uneinheitlich verteilt (vgl. auch Hayek 1945:57). Keane weist darauf hin, dass diese ubiquitäre Fragmentierungen Merkmal und Funktionsgarantie moderner Demokratien ist. Er nennt die Trennungen von Volk und Regierung, Parteien und Wählern, Arbeitgebern und Arbeitnehmern, Konsumenten und Produzenten etc. Operativsystem und Öffentlichkeit sind ihrerseits in unzählige Kommunikationszusammenhänge und Teilsysteme differenziert. Diese Demarkationen schützen vor totalitärer Machtkonzentration (vgl. Keane 2009:860), sind aber zugleich Ursache struktureller Unübersichtlichkeit.42 5.3.2

Verstehen und Kompetenz

Wissen fördert die Fähigkeit zu weiterer und schnellerer Informationsproduktion, zum Aufnehmen neuer Daten, ihrer Gewichtung, Einordnung und Bewertung, um neue Informationen und neues Wissen zu generieren. Wissen ermöglicht Verstehen und damit Beobachtung politischer Prozesse. Dennoch reicht die bloße Verfügung über Wissen nicht aus, um in einer von Komplexität und Kontingenz geprägten, unübersichtlichen Umwelt politische EntUnterscheidung von wahren und falschen Aussagen ermöglichen und den Modus fest legen, in dem die einen oder anderen sanktioniert werden. Es gibt bevorzugte Techniken und Verfahren der Wahrheitsfindung; es gibt einen Status für jene, die darüber zu befinden haben, was wahr ist und was nicht“ (Foucault 1978:51; vgl. 1971:87). 42 Selbst die Relation von Majorität und Minorität ist kompliziert, sofern man nicht nur auf die Situation nach der Stimmabgabe blickt: Solche Trennungen bilden sich entlang viel fältiger, parallel existierender Beobachtungsperspektiven, Interessenlagen und Diskursen auf den unterschiedlichen politischen Ebenen, sodass von einer simultanen Vielfalt von Mehr- und Minderheitsbeziehungen auszugehen ist und nicht von klar identifizierbaren Lagern oder Gruppen (vgl. Keane 2009:861).

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scheidungen treffen bzw. an politischen Kommunikationen partizipieren zu können: Dies setzt Kompetenz voraus. Kompetenz ist weder Produkt noch reine Aggregierung von Wissen, sondern eine operative Fähigkeit, die natürlich ein bestimmtes Maß von Wissen voraussetzt, die aber vor allem „Expertise im Umgang mit Nichtwissen“ ist (Willke 2002:11; vgl. Krohn 2003:164). Effiziente und pragmatische Kompensation von Wissensdefiziten, bedarfsangepasstes Akquirieren von Wissensquellen, zielgerichtetes und schnelles Lernen sind Merkmale von Kompetenz. Sie orientiert die opportunistische Produktion, Nutzung, Speicherung von Wissen an systemischen und situativen Relevanzen (vgl. Merten 1990:28, 33) und ermöglicht Wissen gezielt aufzubauen und, wegen seiner Kurzlebigkeit, auch ebenso gezielt wieder zu vergessen (Lenk 2002:118).43 Kompetenz bedeutet Pragmatismus im Erinnern und Erkennen, die Fähigkeit fragmentarisches, verteiltes, fremdes Wissen unterschiedlichster Formen und Provenienzen zu integrieren und nutzbar zu machen. Sie hat auch und zunehmend mit der Fähigkeit zum parallelen Prozessieren großer Informationsmengen, mit schneller, zielorientierter Priorisierung zu tun: der Identifikation des Relevanten und dem gezielten Ignorieren des als irrelevant Angenommenen unter Bedingungen der Zeitknappheit. Kompetenz wird als Fähigkeit verstanden, die vor allem der Verstehenskomponente der Kommunikation zugutekommt, die Verstehen ermöglicht, vorantreibt, qualifiziert, schnell den Umständen und Möglichkeiten anpasst. Sie unterstützt die Artikulation von Anschlüssen und dadurch die Fortsetzung der Kommunikation. Nassehi sieht Verstehen deswegen als den Motor des Kommunikationsprozesses: „Verstehen meint einfach das Weiter-Operieren. Verstehen ist Autopoiesis“ (Nassehi 2003a:70). Voraussetzung für Demokratie. Verstehen politischer Zusammenhänge ist, folgt man Dahl, Voraussetzung einer intakten Demokratie. Er sprach von enlightened understanding (Dahl 1989:111) als einem Kriterium des demokratischen Prozesses und entwickelt daraus den Vorschlag einer normativen Forderung – die zugleich ein Licht auf die dahinter erkennbaren Probleme wirft: „Each citizen ought to have adequate and equal opportunities for discovering and validating (within the time

43 Entlastendes Vergessen scheint angesichts wachsender Wissensbestände unerlässlich zu sein (vgl. auch Osten 2004:49). Esposito nimmt an, dass Erinnerung ohne zumindest die Option des Vergessens nicht möglich ist (Esposito 1999:49; vgl. Luhmann 1995a:180). Persistenzmechanismen müssten deswegen auch irgendeine Art von Löschoption vorsehen (vgl. auch S. J. Schmidt 1994:317 ff.). Messerli bezweifelt jedoch die Möglichkeit gezielten Vergessens: „Literale Gesellschaften verfügen […] über kein System der Be seitigung von Wissen, über keine ‚strukturelle Amnesie‘. Wissen, auch ‚falsches‘, kann nicht mehr einfach vergessen werden“ (Messerli 1993:128 f.).

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permitted by the need for a decision) the choice on the matter to be decided that would best serve the citizen’s interests“ (Dahl 1989:112, vgl. 1982:6). Damit ging er über rein kognitive Gesichtspunkte hinaus und hat Verstehen mit Aspekten assoziiert, die die Bedeutung des rein technischen Verfügens über Informationen relativieren. Er wies zwar auf die Notwendigkeit für den Zugang zu angemessenen, auch alternativen Informationsquellen unter Bedingungen der Gleichheit hin. Aber auch darauf, dass Kompetenz, als Befähigung zum Treffen politischer Entscheidungen, in einem zeitlichen Kontext steht. Da Beschleunigung als eine der Quellen der Unübersichtlichkeit (S. 84) ausgemacht wurde, kommt dem eine besondere Bedeutung zu: Zeitknappheit kann Verstehen gefährden. Weiter betonte er die notwendige Identifikation eigener Interessen im Entscheidungsprozess. Bei der Beurteilung nicht-konventioneller Themen sind diese Interessen aber gerade nicht immer eindeutig zu erkennen oder zu bestimmen. Dahl hob in diesem Zitat die Notwendigkeit der Abschätzung der Folgen einer Entscheidung hervor. An anderer Stelle spricht er von einem zu erwartenden „fullest attainable understanding of the experience resulting from that choice and its most relevant alternatives“ (Dahl 1989:180; vgl. 1994:31; ebenso Downs 1957:202). Ein Gesichtspunkt, den Lupia und McCubbins als Definition von Wissen heranziehen: „Knowledge is the ability to predict accurately the consequences of choices“ (Lupia, McCubbins 1998:20; 2000:52). Im Fall der nicht-konventionellen Themen und Wicked Problems kann Verstehen aber gerade nicht auf das Einschätzen der Entscheidungsfolgen bezogen werden, weil Fernwirkungen und Seiteneffekte selten absehbar sind (vgl. S. 64; vgl. Dahl 1989:337; Rittel, Webber 1973:159 ff.). Politisches Wissen und Verstehen sind – auch deshalb – in der spätmodernen Gesellschaft situationsgebunden, fragil, vorläufig und revisionsaffin. Was heute als Wahrheit verstanden wird, kann sich morgen als Irrtum entpuppen, was gestern sichere Erkenntnis war, kann heute überholt, veraltet, falsch sein. Dieser (notwendig) ambivalente Charakter politischen Wissens trägt zur Unübersichtlichkeit bei.44 Trotzdem sind Vorläufigkeit und Kontingenz nicht nur Komplikationen, denn nur revidierbares Wissen ist innovationsfähig. Für seine Wandlungsfähigkeit spielen „power-scrutinising institutions“ (Keane 2009:689) und soziale Bewegungen, die 44 Auch dadurch, dass politisches Wissen nicht verifizierbar ist oder von einer Institution beglaubigt werden kann. Spinner geht von der Möglichkeit von „Korrektureinrichtungen zur beständigen Überprüfung des Wissens und schnellen Fehlerelimination auf der Grundlage einer flächendeckenden Infrastruktur der Kritik [aus]. Was damit erstrebt wird, ist die Qualitätssicherung der Wissensbestände und -funktionen, ein gewisser Ausgleich der Desinformation sowie die Milderung des Bestätigungsfehlers“ (Spinner 1998:236). Das wird für jeweils begrenzte Wissensbereiche möglich sein und ist in der Wissenschaftsgemeinde Praxis. Für politisches Wissen sind letztinstanzliche, qualitative Beurteilungen aber kaum vorstellbar.

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Rucht als „demokratische Produktivkraft“ bezeichnete (1997:383 f.; 2001:329), eine zentrale Rolle, da sie neues Wissen, neues Verstehen verfügbar machen (Eyerman, Jamison 1991:58 f.; vgl. Keane 2009:693; Evers, Nowotny 1987:327). Ergebnis von Demokratie. Daher gibt es nicht nur eine Abhängigkeit der Demokratie von Wissen, Wissen ist auch abhängig von Demokratie. Sie ist eine politische Form, die, durch ihre Offenheit für Informationsproduktionen, für Kritik, Komplexität und Kontingenz durch inklusive Kommunikation selbst Wissen generiert (vgl. Saretzki 2003:49). Durch Diskurserfahrungen, durch die gesamte politische Informationsverarbeitung entsteht gesellschaftliches, öffentliches politisches Wissen. Es steht nicht vor der politischen Kommunikation, sondern es entsteht genau dort. Wirth bringt das auf die Formel: „Wissen [ist] gleichzeitig Ziel und Mittel im Willensbildungsprozess! Wissen ist Voraussetzung für Kommunikation und gleichzeitig ihr Resultat“ (Wirth 1997:118; vgl. auch Nullmeier 1993:187). Es wird in den demokratischen Prozessen vermittelt und ist damit eine soziale Kategorie.45 Dennoch, angesichts nicht-konventioneller Themen, scheinen Wissen und Verstehen empfindliche Punkte spätmoderner Demokratien zu sein. Wenn eine politische Öffentlichkeit nicht oder nur zu einem Teil an den „anspruchsvollen Kommunikationsformen einer demokratischen Meinungs- und Willensbildung“ (Habermas 1992b:361) partizipieren kann, weil relevante Themen und Beiträge nicht verstanden werden, und politische Entscheidungen deshalb ohne ausreichendes Wissen und Verstehen getroffen werden müssen, stehen grundlegende normative Elemente der Demokratie infrage. 5.3.3

Erwartungen und Zumutungen

Demokratische Konzepte gehen von einer „Kompetenzunterstellung“ (B. Peters 1994:61) aus. In ihnen sind Erwartungen an eine „misstrauische, mobile, wache und informierte Öffentlichkeit“ (Habermas 1992b:532) formuliert, die über das notwendige Wissen und die Kompetenz zur Beobachtung des Politischen verfügt. Die Unübersichtlichkeit der Spätmoderne erzeugt aber auch Zumutungen in dieser Hinsicht: Sie mutet der politischen Öffentlichkeit das Verstehen hoch komplizierter Themen zu.

45 Intensivere Partizipation, darauf wird im letzten Kapitel eingegangen, behebt Wissensdefizite und verringert Unübersichtlichkeit (vgl. etwa Fischer 1993:463; Popkin 1991:40).

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Erwartungen

Alle, selbst normativ sehr reduzierte, Demokratiekonzepte (wie etwa jenes von Schumpeter) erwarten von der politischen Öffentlichkeit die Fähigkeit zu adäquater wissensbasierter Informationsprozessierung. Demokratische Entscheidungen vollziehen sich oder entstehen unter den „Bedingungen eines problembezogenen Informationsflusses und sachgerechter Informationsverarbeitung“ – eine Formulierung, von Habermas, die Information, Mitteilung und Verstehen zusammenführt und eben eine Erwartung an die politische Öffentlichkeit impliziert (1992b:360). So wie das gerade diskutierte Zitat Dahls, in dem er wesentliche Demokratieelemente an die Erwartung eines aufgeklärten Verstehens des Politischen durch die politische Öffentlichkeit band. 5.3.3.2

Zumutungen

Das Demokratieprojekt46 bezog sich ursprünglich auf das, was Sartori als „kleine Politik“ bezeichnete, „der es in erster Linie um den Schutz der Menschen vor despotischer Herrschaft geht“ (Sartori 1987:422), um die Kontrolle und Eindämmung der Macht.47 Die Themen und auch die Sprache, die Semantik der Diskurse waren, obgleich durchaus auch von großer Vielfalt und Kompliziertheit, genuin politisch. Dem ist nicht mehr so: „Die Spezifität vieler politischer Entscheidungen, mit denen die Bürger heute konfrontiert sind, scheint sie aus dem Zuständigkeitsbereich des bloßen politischen Urteilens herauszuheben“ (Barber 1984:254). 46 Der Projektbegriff stammt von Habermas, der vom „Projekt der Selbstermächtigung einer Gemeinschaft von Freien und Gleichen“ spricht (Habermas 1992b:467). Auch Keane weist auf den Projektcharakter der Demokratie hin, die weder eine endgültige Konsolidierung noch einen historisch stabilen Zustand erreichen kann (vgl. Keane 2009:816, 866 ff.; vgl. auch Heil, Hetzel 2006:9) 47 „Aber wie harmlos und idyllisch sind die Objekte jener Kabinettspolitik des 17. und 18. Jahrhunderts neben den Schicksalen, um die es sich heute handelt und die heute der Gegenstand aller Arten von Geheimnissen sind. Vor dieser Tatsache musste der Glaube an die diskutierende Öffentlichkeit eine furchtbare Desillusion erfahren“, konstatierte Carl Schmitt (Schmitt 1923:63). Dennoch war „früher“ kaum „alles einfacher“. In allen historischen Phasen war Politik auf ihre Art kompliziert. Finley schreibt, dass in Athen zur Lösung technischer Probleme oder Fragen des Geldwesens bereits Experten konsultiert wurden. Zwar waren die technischen Probleme, aus heutiger Sicht, vermutlich einfacherer Natur, aber das heißt „noch nicht notwendigerweise, dass die jeweilige politische Situation von einem vergleichbar großen Unterschied geprägt sei“ (Finley 1973:19; Hervorhebung r. a.). Darauf weist auch Tuchmans Beschreibung der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg hin (Tuchman 1962). Sie zeigt ein ausgesprochen komplexes Kaleidoskop nationaler und internationaler politischer Themen, in denen auch Einwirkungen des technisch und wissenschaftlich induzierten Wandels erkennbar wurden.

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Gabriel hat auf die Schwierigkeit der Präferenzbildung bei Themen hingewiesen, die „nicht auf der Dimension des politischen Raums liegen“ (Gabriel 1997a:232) – hier scheitert die herkömmliche politische Hermeneutik an der Komplexität der Themen. Und selbst die „traditionelle“ Domäne demokratischer Beobachtung, die Kontrolle der Macht, ist komplizierter geworden. Macht, ihre Strukturen, Formen der Präsenz und Entfaltung, ihre Technologien und Praktiken, sind selbst unübersichtlich geworden. Die Kritik der Macht wird damit aufwendiger, muss sich ihrer enormen Komplexität anpassen, indem sie selbst erforderliche Vielfalt erzeugt, die dann auch die Kritik unübersichtlicher werden lässt. Was die klassischen Demokratiekonzepte als Erwartung formuliert haben, scheint in dieser Hinsicht in der Spätmoderne Formen der Zumutung anzunehmen. Der Begriff findet sich bei Buchstein, der von „Kompetenzzumutungen“ spricht, die heute an den Bürger herangetragen werden und bei Schimank (Buchstein 1996:304; Schimank 2005:115 f.). Quantität und Qualität politischer Themen als Gegenstand der Beobachtung und Kommunikation scheinen sich verändert zu haben und muten der politischen Öffentlichkeit ein immer höheres Maß an kognitivem Engagement zu.48 Quantitative Zumutung Quantitativ mehren sich die Zumutungen, weil immer mehr Themen in die kommunikative Reichweite des politischen Systems gelangen. Die Beobachtungen der politischen Öffentlichkeit weiten sich in Bezug auf die Gesellschaft und ihre Politik aus (Gerhards 1994:102; vgl. Rittel, Webber 1973:167). Das ist nicht als Annektierung fremder gesellschaftlicher Areale durch das Politische, als interpenetrierende Expansion fremder Differenzschemata in das Politische oder als normativ begründete Forderung an das Politische zu interpretieren. Vielmehr nehmen die Irritationen aus anderen Kommunikationszusammenhängen seit Jahrzehnten kontinuierlich zu. Die enger werdenden strukturellen und operativen Kopplungen mit anderen Funktionssystemen, wie etwa Wirtschaft oder Wissenschaft, lassen im Sichtfeld des gesamten politischen Systems immer weitere Themen kenntlich werden (vgl. Luhmann 1997:618, 795), die dann auch kommunikativ bearbeitet werden. Politisierung. Hinzu kommt, dass die beobachtende politische Öffentlichkeit heute alert, selbstbewusst, recht gut informiert und interventionsbereit ist. Sie will zu gesellschaftlich relevanten, auch nicht-konventionellen Themen gehört werden (vgl. Nowotny 2005:186 f.). Kaase führt das auf die „partizipatorische Revolution“ 48 Mit dem Topos der Zumutung wird hier nicht unterstellt, dass in der Öffentlichkeit kein Wunsch nach demokratischer Beteiligung bestünde oder diese nur als lästige Pflicht wahrgenommen würde. Er bezieht sich auf die zunehmend voraussetzungsreichen Vorbedingungen der Beteiligung.

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der 1970er-Jahre, mit ihrer „Forderung der Bürger nach Ausweitung ihrer sozialen und politischen Beteiligungsrechte“, zurück (Kaase 1982:177). Nolte stellt fest, dass „die Erwartungen an demokratische Regierungssysteme gestiegen [sind] ebenso wie an das Engagement von Bürgern, deren demokratische Rolle sich nicht mehr in der des Wählers erschöpft“ (Nolte 2012:12; vgl. auch Klages 1996:246; Michelsen, Walter 2013:35 f.). Greven machte eine generelle Politisierungstendenz aus, die immer weitere Bereiche des gesellschaftlichen Geschehens erfasst (Greven 2001a:331).49 Gabriel führt sie auch auf die Entfaltung des Wohlfahrtsstaates zurück, in dem sich multiple Gruppen und Foren der Interessenartikulation ausbilden und organisieren, um ihre oft divergierenden Ansprüche durchzusetzen (Gabriel 2004a:82 f.). Diese „extension of democratic input“ (Delli Carpini, Keeter 1996:41), lässt die Zahl kommunizierter Partialinteressen, Lösungskonzepte und Problemsichten zunehmen (vgl. auch Rittel, Webber 1973:167 ff.; Keane 2009:743; Werle, Schimank 2000:9; Schimank 2005:152 f.; Richter 2011:72; Engler 1996:22; Fuchs 1993:223; Fischer 1993:458 f.).50 Popkin hat „proliferation of new concerns“ als Treiber der Systemexpansion ausgemacht und als Beispiele Gesundheit und Lebensmittelqualität genannt (Popkin 1991:36; vgl. auch Nolte 2012:394). Beck hat ganz allgemein die Umweltrisiken als Auslöser demokratischer Politisierung gesehen (Beck 1986:77, 300 ff.). Rechtfertigung. Politische Programme und Lösungskonzepte setzen sich in Demokratien der Beobachtung und damit der Kritik aus. Zu den Kommunikationen zwischen politischem Operativsystem und politischer Öffentlichkeit gehören deswegen, neben Forderungen und Unterstützung, neben Visibilisierungen und kollektiv bindenden Entscheidungen – und das ist ein weiteres konstitutives Merkmal demokratischer Formen –, auch Rechtfertigungen von Entscheidungen im Modus 49 Peters kommt zu ähnlichen Schlüssen: „Die möglichen Anlässe öffentlichen Engagements haben sich [...] außerordentlich vermehrt, der Gegenstandsbereich öffentlicher Kommunikation ist enorm gewachsen: Mehr und mehr Deutungen, Wissensbestände und normative Standards sind einer kritischen Überprüfung zugänglich geworden. Mehr und mehr soziale Sachverhalte sind problematisierbar geworden in dem Sinn, dass ihre kollektive Veränderung normativ als wünschbar oder gefordert und kognitiv als möglich erscheint. Der Umkreis von Sachverhalten, die dem Bereich kollektiver Verantwortlichkeit zugerechnet werden, hat sich vergrößert gegenüber solchen, die als schicksalhaft oder unveränderlich betrachtet werden, die privater Verantwortung überlassen bleiben, die dem Verantwortungsbereich anderer politischer Kollektive zugeschrieben werden oder die schließlich dem Publikum ganz einfach unbekannt bleiben“ (B. Peters 1994:61; vgl. auch Popkin 1991:36). 50 Eine Beobachtung, die nicht ganz neu ist. Montaigne notierte im 16. Jahrhundert: „Alles öffentliche Handeln ist ungewissen und verschiedenen Auslegungen ausgesetzt; denn zu viele Köpfe urteilen darüber“ (Montaigne 1588:802 3, X).

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des Gebens und Verlangens von Gründen. Mit der Erweiterung des inhaltlichen und funktionalen Spektrums nimmt die (erwartete) Legitimierungskommunikation vonseiten des operativen Systems zu (Sarcinelli 1987b:27; Czerwick 2011:80, 92, 203; vgl. Richter 2011:72, 268). Auch die legitimitätssichernde Einbeziehung der Öffentlichkeit in politische Entscheidungsprozesse (vgl. auch Rose 2012:230 f.) und die zunehmende Transparenz gesellschaftlicher und politischer Prozesse (Han 2012:66 ff.) steigern die Vielfalt der Kommunikationen durch Medien, soziale Bewegungen, Verbände usw. (Dryzek 1990:65) und damit die generelle Kommunikationskomplexität – eine Quelle der Unübersichtlichkeit (S. 101).51 Demokratiepflichtigkeit. Technologische Entwicklungen haben oft eine markante gesellschaftliche Eindringtiefe, sie gestalten viele Bereiche der Lebenswelten, wirken auf Rechte der Bürger, erzeugen absehbare und nicht absehbare Risiken, Belastungen künftiger Generationen usw. Damit müssen sie nach dem Selbstverständnis demokratischer Gesellschaften Gegenstand von Politik und damit demokratischer Einflussnahme werden. Grunwald hat von der „Demokratiepflichtigkeit“ von Technik (2003:200; ähnlich Evers, Nowotny 1987:188) gesprochen, die auch für die Wissenschaft angenommen werden kann (vgl. Nowotny 1999:20, 23). Die beobachtende politische Öffentlichkeit akzeptiert seltener, dass über Innovationen mit signifikanten gesellschaftlichen Implikationen jenseits demokratischer Strukturen entschieden wird. Die Grenzen der Kommunikation wurden in dieser Hinsicht ausgedehnt bzw. als kontingent markiert. Technologie und wissenschaftliche Forschung werden kaum mehr als exklusive, nicht zu kontrollierende Domänen von Privatwirtschaft, kognitiven Eliten, spezialisierten Expertenzirkeln und Politik gesehen. Sie stehen im politischen Kontext unter der Beobachtung einer Öffentlichkeit, die sich auch deren Legitimierung vorbehält (vgl. Grunwald 2003:202). In zahlreiche technische Projekte wird die Öffentlichkeit denn auch aktiv einbezogen. Gerade wo es etwa um die Frage geht, „welche Korridore unsere wissenschaftlich-technische Zivilisation beschreiten sollte“, wird von der politischen Öffentlichkeit heute „eine diskursive und partizipative Technikgestaltung [eingefordert] – um nicht den Marktkräften, dem technischen Inventions- und Innovationsdrang sowie der naturwissenschaftlichen Neugier alleine die Entwicklung zu überlassen“ (J.C. Schmidt 2003:151). Die Entwicklung steigert die Kommunikationslast der beteiligten Systeme und so auch der politischen Öffentlichkeit. Information. Das Konzept der Demokratie ist eng mit dem Begriff der Information verbunden: „Democracy is a form of government that depends on information and communication“ (Barber 1998a:582). In Downs Modell wird die rationale 51 Gerade die enge Kopplung an bzw. die Angewiesenheit auf das Mediensystem provo ziert aus Kepplingers Sicht einen erhöhten Output vonseiten des politischen Operativsystems in dieser Hinsicht (Kepplinger 1998:154, 167).

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Selektion politischer Optionen mit zwei Problemen konfrontiert: Ungewissheit und dem Mangel an Information, die „selbst den intelligentesten und bestinformierten Wähler“ daran hindern, rationale Entscheidungen zu treffen (Downs 1957:44). Er ging demnach davon aus, dass Ungewissheit durch mehr Information und Wissen zu verringern ist (vgl. Downs 1957:75, 259; vgl. auch Lupia, McCubbins 1998:6). Informationsmangel hat unterschiedliche Ursachen. So etwa überbordende Kosten.52 Und doch scheint bei den hier betrachteten Themen weniger ein Informationsdefizit eine Rolle zu spielen als die wissensbasierte Aufbereitung verfügbarer Informationen und damit wieder ein eher qualitativer Gesichtspunkt (vgl. auch Lupia, McCubbins 1998:6; W. Schulz 1987:135). Außerdem ist hier Zeit von Bedeutung – „the time permitted by the need for a decision“ (Dahl 1989:112). Gerade Zeitknappheit hängt jedoch nicht unbedingt mit einem Mangel an Informationen oder Zugriffsproblemen zusammen. Vielmehr scheinen die Grenzen der Beobachtung und des Verstehens durch das Übermaß der Informationen gezogen. „In quantitativer Hinsicht sind wohl eher zu viel als zu wenig Informationen das Problem: Der gewöhnliche Bürger wird heute von einem Übermaß an Nachrichten überschwemmt, die er unmöglich verdauen kann und die ihn gar nicht zu sich kommen lassen“ (Sartori 1987:115; vgl. Lenk 2002:120 f.; Zolo 1992:193; Rescher 1998:20). Zolo spricht von einer „desorientierenden Informationsüberfrachtung“ (1992:203). Ein Befund, der auch experimentell verifiziert wurde (Wirth 1997:276). Ähnlich Barber, der auf die neuen Informationssysteme hinweist, durch die zwar mehr politisch relevante Informationen verfügbar sind, wodurch aber die „Menge und Spezifität der Daten in einem Maße zugenommen haben, dass ihre Verarbeitung nahezu unmöglich wird“ (Barber 1984:254; vgl. auch Kamps 2000:235). Für die politische Öffentlichkeit bedeutet das, sich mit einer immer schnelleren und quantitativ massiveren Zirkulation von Daten und Informationen auseinandersetzen zu müssen. Informationsüberfluss ist in zwei Hinsichten ein paradoxes Phänomen. Paradox ist erstens, dass Überfluss nicht zwingend bedeutet, dass kein Mangel herrscht. Obgleich im Prinzip verfügbar, sind im modernen kommunikativen Überangebot und den Zugriffsmöglichkeiten auf das Datenuniversum des Internets verlässliche, adäquate Informationen bisweilen schwer zu akquirieren. Hier ist auch der Zeitfaktor wieder von Bedeutung: Für die Suche und Informationsverarbeitung steht 52 Downs ging von Informationsdefiziten aus, die nur mit Aufwand, also Kosten im weitesten Sinn (an Zeit, intellektuellem Einsatz und auch tatsächlichem finanziellem Aufwand), auszugleichen sind. „Die Handelnden in unserem Modell verfügen selten über ausreichende Daten, um alle Ungewissheit zu eliminieren, selbst wenn diese theoretisch überwindbar wäre. Deshalb nehmen wir lediglich an, dass die Intensität der Ungewissheit durch Informationen reduziert werden kann; diese sind jedoch nur erhältlich, wenn man knappe Mittel für sie ausgibt“ (Downs 1957:75).

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kein beliebiges Zeitkontingent zur Verfügung. Informationen können also, obgleich im Überfluss vorhanden, in Bezug auf verfügbare Zeit knapp sein. Knappheit kann sich weiter auf Qualität beziehen. Öffentlich in großen Quantitäten vorgehaltene Informationen stellen bewusste Selektionen dar und repräsentieren politische, ökonomische und kulturelle Interessen und Verhältnisse: „[I]t is important to know that the information people receive is typically sketchy, misleading or manipulative“ (Kuklinski, Quirk 2000:168). Das Misstrauen, das den Informationen und insbesondere ihren Distributoren entgegengebracht wird, kann auch als Mangel an verlässlichen Informationen aufgefasst werden (hierzu auch Sterbling 2002:212). Das quantitative Übermaß kann einen zweiten paradoxen Effekt erzeugen: Bei der Beobachtung hochkomplexer Strukturen lassen sich durch ein reines Mehr an Informationen und Kenntnissen nicht immer mehr Verständnis oder weniger Unsicherheit erreichen (vgl. Mitchell 2008:113 f., 124; Rescher 1998:67). „Exponentielles, geradezu explosives Wachstum des Wissens“ (Lenk 2002:122) fördert dann nicht die Übersicht, sondern lässt die Unübersichtlichkeit zunehmen – „Mehr Information, mehr Kommunikation beseitigt nicht die grundsätzliche Unschärfe des Ganzen. Sie verschärft sie vielmehr“ (Han 2012:17; vgl. auch Keane 2009:746). 53 Selbstüberlastung. Diese quantitativen Gesichtspunkte sind als Informationsüberlastung bezeichnet worden. Lindblom benutzte den Begriff für politische Entscheidungsträger (Lindblom 1977:120), die von der Überfülle potenziell relevanter Informationen überfordert werden. Deutsch verwendete den ähnlichen Begriff der „Nachrichtenüberlastung“ (Deutsch 1966:231) und Easton sprach von Systemstress und Anforderungsüberlastung (Easton 1965b 59 ff., 1965a 103 ff.). Überlastungstheorien wurden zuvor u. a. von Lippmann54 und Gehlen formuliert (vgl. z.B. Gehlen 1940:33 f., 131 ff. und 174; vgl. auch Gleick 2011:400 ff.), der auch den Begriff der (biologisch bedingten) „Reizüberflutung“ verwendete (Gehlen 1940:36). Ange53 Schulz stellt fest, dass die Informationsproduktion der Mediengesellschaft nicht automatisch eine „informierte Gesellschaft zur Folge hat oder noch haben wird, sondern eher das Gegenteil: Desinformation, Orientierungsprobleme, Wirklichkeitsverlust“. Sein Resümee: „Die Erwartungen der politischen Aufklärung an eine Ausweitung der öffentlichen Kommunikation haben sich nicht erfüllt. Der Zuwachs an Informationsquantität ist mit einem Verlust an Informationsqualität einhergegangen. Damit konnte auch die Rationalität des demokratischen Prozesses – um es vorsichtig auszudrücken – nicht erhöht werden“ (W. Schulz 1987:130, 144; vgl. Spinner 1998:210). 54 „Denn die reale Umgebung ist insgesamt zu groß, zu komplex und auch zu fließend, um direkt erfasst zu werden. Wir sind nicht so ausgerüstet, dass wir es mit so viel Sub tilität, mit so großer Vielfalt, mit so vielen Verwandlungen und Kombinationen aufnehmen könnten. Obgleich wir in dieser Umwelt handeln müssen, müssen wir sie erst in einfacherem Modell rekonstruieren, ehe wir damit umgehen können“ (Lippmann 1922:18).

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sichts der enormen Informationsmengen unterschiedlichster Provenienz und ihrer schnellen Proliferationsrhythmen liegt eine solche Terminologie nahe. Der Begriff der Informationsüberlastung ist in dieser Form allerdings nicht kompatibel mit der hier vertretenen konstruktivistischen Sichtweise, nach der Information eine Eigenleistung zugleich geschlossener und offener Systeme darstellt (S. 14). Informationen werden aufgrund von Daten intern in Eigenleistung erzeugt. Deshalb ist das politische System ein Daten verarbeitendes und Informationen produzierendes System. Es gibt daher auch kein Informationsgefälle, keine Reizüberflutung und eben auch keine Überlastung im strengen Sinn. Was als politisch wahrgenommen wird, entscheidet sich im politischen System, im operativen System und in den Diskursen der politischen Öffentlichkeit. Damit ist, was – intuitiv durchaus plausibel – als Überlastung wahrgenommen wird, tatsächlich eine Selbstüberlastung dieses Systems. Selbstüberlastung ist die Folge der Ausweitung politischer Kommunikationen in zahlreichere, weitere und komplexere thematische Räume. Auch von den beschriebenen Quellen der Unübersichtlichkeit geht ein steter Strom neuer Themen aus, von Deutungen, Gewichtungen, Positionen, die aufgenommen, modifiziert, variiert, kritisiert und diskutiert werden, zu denen Vorschläge, Einwände, Ansprüche formuliert und Alternativentwürfe lanciert werden (vgl. auch Lindblom 1977:118). Dadurch nimmt wieder die Zahl der Diskurse, Meinungen, Standpunkte oder, allgemeiner, der Daten und Informationen, zu. Von einigen Autoren wird zwar angenommen, dass im Zug dieser Entwicklung auch die Kapazität für die Informationsaufnahme zunimmt (etwa Spinner 1998:25), ihr „sintflutartiges Angebot“ (Zolo 1992:193) scheint die Unübersichtlichkeit aber dennoch zu vergrößern (vgl. Kepplinger 1998:203 f.; Keane 2009:748 f.). Qualitative Zumutungen Auch in qualitativer Hinsicht mehren sich die Zumutungen. „Die wachsende Kompliziertheit der Welt der Politik ist kaum zu bezweifeln; sie ergibt sich nicht nur aus wachsenden und globalen gegenseitigen Abhängigkeiten, sondern schon aus der Ausdehnung der politischen Sphäre selbst“ (Sartori 1987:132). Rittel und Webber identifizierten bereits Anfang der 1970er-Jahre diese Systemexpansion als ein Problem des politischen Systems. „[S]ystem boundaries get stretched“ (Rittel, Webber 1973:159; ähnlich Sartori 1987:132 und Popkin 1991:36): Die thematischen Räume werden weiter und komplexer, insbesondere wenn sie sich auf Wissenschaft und Technologie beziehen und sich dann Sachverhalte aus der Systemumgebung in die Systemumwelt verlagern. Deren politische Bearbeitung setzt Formen der Informationsproduktion voraus, bei denen spezifischem Wissen ein außerordentlich hoher Stellenwert zukommt. Spinner hat von einer Verwissentlichung durch die „Involvierung der Information in nahezu alle sachlichen Tatbestände und menschlichen Tätigkeiten“ gesprochen (Spinner 1998:29). Der Topos der Wissens-

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gesellschaft ist Teil der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung geworden.55 Er weist auf eine ubiquitäre Wissenshaltigkeit aller Produkte und Prozesse hin (Spinner 1998:73), die auch für politische Themen, Zusammenhänge und Entscheidungen anzunehmen ist (vgl. auch Willke 1997:33; Lash 2002:141). Repräsentation. Hier wird ein generelles Problem des politischen Systems sichtbar. Die Daten, die über strukturelle Kopplungen aufgenommen werden, müssen in die Sprache und Semantik des Systems übersetzt, in seinen spezifischen Sinn- und Bedeutungswelten verortet und innerhalb seines Differenzschemas sichtbar werden, damit politische Informationen konstruktiv erzeugt werden können. Auf Basis dieser politischen Informationen und persistenter Wissensbestände können dann genuin politische Entscheidungen getroffen werden und wiederum über strukturelle Kopplungen an andere Systeme kommuniziert werden (etwa steuerliche Anreize, Fördermaßnahmen, administrative Regelungen oder rechtliche Restriktionen). Ein kritischer Punkt ist hier die konstruktive Repräsentation fremdreferenzieller Sachverhalte innerhalb des politischen Kommunikationszusammenhangs. Es ist nicht Politik, wenn in diesem System über technische Details von Windkraftanlagen gesprochen wird, sondern erst in dem Moment, in dem die Systemreferenz erkennbar wird, also über kollektiv bindende Entscheidungen, etwa über die Förderung solcher Anlagen, diskutiert wird.56 Die Schwierigkeit liegt in dieser konstruktiven politischen Visibilisierungs- und Übersetzungsleistung, die auch von der politischen Öffentlichkeit als politisch nachvollzogen und verstanden werden muss. Das politische System kann nicht über Materien anderer Systeme kommunizieren, sondern nur selbstreferenziell über seine eigenen. Es kann von ihnen irritiert werden und darauf mit funktional spezifischen Resonanzen reagieren. Selbstreferenzialität ist nicht gleichbedeutend mit Solipsismus. Das System verarbeitet Operationen seiner Umwelten – aber nur konstruktiv und innerhalb seines funktionalen Koordinatensystems aus Wissen, Sprache, Werten usw. Der Politik kommt die immer schwierigere Aufgabe zu, zunächst die unterschiedlichen Spezialsemantiken 55 „Von einer Wissensgesellschaft oder einer wissensbasierten Gesellschaft lässt sich sprechen, wenn die Strukturen und Prozesse der materiellen und symbolischen Reproduktion einer Gesellschaft so von wissensabhängigen Operationen durchdrungen sind, dass Informationsverarbeitung, symbolische Analyse und Expertensysteme gegenüber anderen Faktoren der Reproduktion vorrangig werden“ (Willke 1997:12 f.). 56 „Entscheidend ist [...], dass die Qualität (im Sinne des Informationsgehaltes) von Kommunikationen durch die jeweilige Art der Bezugnahme, also durch die Art der Beziehung zwischen Referent und Referiertem, definiert wird“ (Willke 1996:138; vgl. auch seine Hinweise in Willke 1997:56 f.). Luhmann sprach von der Voraussetzung, „dass Kommunikationen überhaupt verdeutlichen und aneinander erkennen können, dass sie zum politischen System gehören und nicht zu dessen Umwelt“ (Luhmann 2000:81).

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der kommunizierter Inhalte, die Expertendialoge und -auseinandersetzungen, die Wissensformen und Informationen in eigensprachliche Diskurse zu transformieren, also beispielsweise wissenschaftliche Daten in politische Informationen zu überführen, um solche Themen überhaupt für politische Prozesse, für politische Sprache und Kategorien erreichbar zu machen.57 Die Übersetzung kann jedoch nicht vollkommen intransparent verlaufen, sie kann die „Fremdsprache“ nicht komplett verdecken und die systemischen Fremdreferenzen nicht absolut opak halten. Wenn biomedizinische Möglichkeiten das Thema sind, finden zwangsläufig sichtbare Durchgriffe auf biomedizinische Wissensbestände statt. Sie stehen dann zwar im Kontext politischer Erwägungen, aber sie erscheinen als Repräsentation in dieser Kommunikation. Es ist unter Umständen tatsächlich eine politische Frage, ob eine bestimmte Technologie mit bestimmten absehbaren Folgewirkungen als förderungswürdig erachtet wird. Dieses Durchscheinen von Sprachen, Wissensformen, Relevanzmaßstäben und Rationalitäten trägt zur großen Unübersichtlichkeit des Politischen bei, sobald über nichtkonventionelle Themen zu entscheiden ist. Trotz aller Übersetzungsleistungen und Komplexitätsreduktionen wird die beobachtende politische Öffentlichkeit der Kompliziertheit dieser Themen ausgesetzt, wird ihr durch Medien, durch „power-scrutinising institutions“ (Keane 2009:689) und die Kommunikationen des operativen Systems hohe Kompetenz abverlangt, „the burdens of information, knowledge, and understanding“ (Dahl 1994:31). Diese Zumutung der permanenten Kompetenzaneignung nimmt heute einen geradezu normativen Rang ein (vgl. auch Rose 2012:230 f.). Dabei ist die politische Öffentlichkeit keine Fachöffentlichkeit, kein Demos der Gebildeten, und soll es auch nicht sein: Demokratiekonzepte beziehen sich nicht auf Eliten (Ross 2009:105). „Je öffentlicher öffentliche Kommunikation, d.h. je größer das Publikum, um so stärker ist das Übergewicht von Laien, also von Nicht-Experten im Hinblick auf die Themen, um die es jeweils geht. Expertentum gehört nicht 57 Nach Eyerman und Jamison werden solche Transfer- und Übersetzungsleistungen, etwa für ökologische Themen, wesentlich von sozialen Bewegungen erbracht: „Environmentalism thus had many ‚sources‘. There was the scientific input, the concept of sys tems ecology that had been developing among scientists for half a century. The environmental movement took that language and its assumptions about natural processes and translated them into social terms, into political action. Ecology was transformed by the environmental movement in a social ecology, an ecological social philosophy, and as such it has become an important ingredient in new political programs as well as theories in several social sciences“ (Eyerman, Jamison 1991:77). Übersetzungsversuche müssen scheitern, wenn sich die Kommunikationen einzelner Systeme, etwa der Finanzökonomie, im Zug ihrer Optionssteigerungen in hermetischen Sprachwelten verkapseln (Moretti, Pestre 2015).

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zu den Teilnahmebedingungen des Publikums. Die Folge ist, dass sich alle Öffentlichkeitsakteure auf eine begrenzte Verständnisfähigkeit des Publikums einstellen müssen, um erfolgreich sein zu können“ (Neidhardt 1994:13; vgl. B. Peters 1994:55). Diese begrenzte Verständnisfähigkeit ist auf unterschiedliche Ursachen zurückzuführen: Die Erwartung von Spezialwissen. Die politische Kommunikation nimmt bei nicht-konventionellen Themen die Form „wissenschaftlich-technischer Kontroversen“ an, die, im Unterschied zu klassisch politischen Themen, in hohem Maß alltagsfernes Spezialwissen, zum Teil sogar Methodenkenntnisse, voraussetzen (H.P. Peters 1994:162). Das gesamte politische System ist also gezwungen, die übersetzten Fremdsprachen teilweise noch mitzuführen, sich mit dem „hermetischen Geheimwissen“ spezifischer „Subsinnwelten“ (Berger, Luckmann 1969:93) auseinanderzusetzen und den immer schnelleren Wissens- und Tatsachenproduktionen in diesen Bereichen zu folgen. Das politische System operiert dabei gezwungenermaßen mit Wissensrekonstruktionen, die kaum noch lebensweltliche Bezüge aufweisen. Diese „Wissensentfremdung“ (Abbott 2012:155) lässt die Erwartung politischer Urteile den Charakter einer Zumutung annehmen. Das gilt auch für die Erwartung speziellen ethischen Wissens, wenn politische Urteile und Entscheidungen unter Berücksichtigung moralischer und instrumenteller Gesichtspunkte zu treffen sind (Dahl 1989:57 ff., 68; vgl. Münkler 1997:157; Mayntz 1999:31 f.). Das Thema Sterbehilfe zum Beispiel konfrontiert mit zu vernachlässigenden technischen Fragen und rationalen Erwägungen in Bezug auf Mittel, aber mit ethischen Abwägungen in Bezug auf die Ziele. Ähnlich die Diskurse über grüne Gentechnik (Altner 2003:70 f.), die Stammzellenthematik (Bender, Hauskeller 2003) oder moderne Reproduktionsmedizin (Beck 2016:25 ff.). Zwar drehen sie sich um technische oder wissenschaftliche Fragen in Hinsicht auf die Wahl der Mittel, aber die Diskussionen über ihre Ziele sind selten nur technisch oder wissenschaftlich geprägt, sondern meist zumindest ethisch grundiert (vgl. beispielsweise Singer 1993:335 ff.). Von der politischen Öffentlichkeit wird erwartet, auch in dieser Hinsicht relativ komplizierten, voraussetzungsvollen Argumentationen folgen zu können. Die Überlastung der Wissenspraxis. Durch neue Problemformen werden Grenzen des Wissenseinsatzes sichtbar (vgl. Leggewie, Welzer 2009:198 f.). Das politische System, die politische Öffentlichkeit sind, im Fall nicht-konventioneller Themen, gezwungen, sich mit Fragestellungen auseinanderzusetzen, die sie, wie übrigens auch ihre Experten, an Grenzen ihrer Erfahrung und Beobachtungspraxis komplexer Systeme führen (vgl. auch Mitchell 2008:133). Deren Vernetzungen, Querverbindungen, Wechselwirkungen und Seiteneffekte überlasten hergebrachte kognitive Methoden und Heuristiken, Problemlösungsstrategien und Konzepte rationalen Schließens (Dörner 1989:58 ff.; Kuklinski, Quirk 2000:162 ff.).

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Die Entpolitisierung der Regeln und Semantiken. Demokratien postulieren niederschwellige Zugänge zur politischen Öffentlichkeit und ihren Diskursen. Ross sieht das sogar als „Synonym für die Spezifität der Politik selbst“ (Ross 2009:115). Nicht-konventionelle Themen konterkarieren sowohl diese Niederschwelligkeit als auch das spezifisch Politische der Diskurse. Ihre kommunikative Behandlung folgt oft Eigenlogiken, die nicht dem politischen System entstammen, sondern den Kommunikationszusammenhängen der Experten mit ihren nicht-politischen Zugangsvoraussetzungen, Reputations- und Autoritätsregeln, ihren „spezialisierte[n] Diskursweisen und kognitiven Stile[n]“ (B. Peters 1994:55; vgl. Abbott 2012:142). Nach Schlosser zerfällt die „politische Realität in mindestens zwei durch den Normalverbraucher kaum noch zu vermittelnde Vorstellungsbereiche“ (Schlosser 1987:113), die jeweils auch ihre eigenen Sprachen, Semantiken und eben auch sozialen Grammatiken haben. Auf der einen Seite die politische Sprache und auf der anderen Seite die „Fachsprache“ der Experten, Administrationsspezialisten, Wissenseliten.58 Es geht, wie Peters anmerkt, also nicht nur um Spezialwissen, sondern auch um die Art, wie Wissen gehandhabt, wie über Wissen kommuniziert wird. „Es handelt sich um den Erwerb von Spezialsprachen im weitesten Sinn, um die Sozialisation in Sprachspiele, welche die Kenntnisse von Begriffssystemen ebenso voraussetzen wie Wissensbestände, in welche diese Begriffe eingebettet sind“ (B. Peters 1994:55).59 Überspitzt ausgedrückt, entpolitisieren diese Bezüge zu einem gewissen Grad die politische Kommunikation. Semantiken verweisen auf Wissensformen, -gegenstände und Differenzschemata gesellschaftlicher Funktionssysteme (vgl. Luhmann 1987:18, 20; 1980:32; Habermas 1992b:416). Sie von anderen Systemen, wenn auch nur in bestimmten Situationen oder Themenbereichen, zu übernehmen, bedeutet für das politische Operativsystem wie für die politische Öffentlichkeit, sich in fremdreferenziellen Kommunikationen sprachlich, kognitiv und intellektuell mit Gegenständen auseinandersetzen zu müssen, die außerhalb der ursprünglichen funktionalen Horizonte liegen. Die Diskurse drehen sich dann nicht mehr nur um genuin politische Gesichtspunkte etwa wissenschaftlicher Themen (zum Beispiel die Zuweisung von Forschungsgeldern). Stattdessen rückt die Materie selbst in den Fokus und kompli58 „Das Expertenwissen […] ist an Fachsprachen gebunden, die bereits im vorpolitischen Raum dem Laien erhebliche Schwierigkeiten bereiten, angemessene Einsichten und damit auch verantwortungsbewusstes Mithandeln (Partizipation) behindern. Die Spaltung der politischen Realität in unterschiedliche Vorstellungsbereiche – eigentlich richtiger: in Bezirke unterschiedlicher Vorstellbarkeit – ist damit letztlich nur Teil einer allgemeinen Aufsplitterung moderner Lebensgestaltung und Weltdeutung in Sektoren unterschiedlicher Erfahrungsnähe“ (Schlosser 1987:113 f.). 59 Vgl. hierzu auch die Ausführungen von Berger, Luckmann über semantische Felder und Sinnzonen (Berger, Luckmann 1969:42 f.).

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ziert die ursprünglich politischen Probleme (etwa Beteiligungs-, Verteilungs- oder Sicherheitsfragen). Verspätung. Auch das zeitliche Nachhängen des politischen Systems gegenüber seinen Umwelten (S. 83) macht sich in diesem Zusammenhang bemerkbar. Die politische Öffentlichkeit ist naturgemäß erst relativ spät im Lebenszyklus technischer oder wissenschaftlicher Innovationen involviert und muss sich adäquates Wissen zu einem Zeitpunkt erarbeiten, zu dem möglicherweise bereits irreversible Entwicklungen eingeleitet wurden und die Zeit für den Wissenserwerb bereits knapp wird (vgl. Saretzki 2003:45; Hohmann-Dennhardt 2003:106; J.C. Schmidt 2003:147; Grunwald 2003:208 f.). Thematische Mehrdimensionalität. Diskurse über nicht-konventionelle Themen, beispielsweise jene über die Stammzellenforschung oder Gentechnologie, verlaufen mehrdimensional. Komplizierte technisch-wissenschaftliche Folgeabschätzungen müssen darin mit nicht weniger anspruchsvollen ethischen Erwartungen, mit politischen Forderungen und Möglichkeiten, mit ökonomischen Interessen und Sachzwängen in einem globalen Kontext in Einklang gebracht werden. Ihre kommunikative Behandlung verläuft auf unterschiedlichen, einander berührenden lokalen, regionalen, nationalen und internationalen Ebenen in unterschiedlichen Strukturen von Bürgerinitiativen, NGOs, Verbänden, Parlamenten, Einrichtungen des Wissenschaftssystems, Ethikkommissionen etc. Sie betreffen unterschiedliche Politikfelder, etwa Forschungs-, Wirtschafts-, Bildungspolitik usw. Sie adressieren Bevölkerungsgruppen mit unterschiedlichen ökonomischen Zielen, Schutzinteressen, Forderungen, aber auch Ängsten, die entsprechend disparate Argumentationsmuster hervorbringen. Sie führen zu Konfliktlinien etwa zwischen medizinischer Möglichkeit und wirtschaftlicher Machbarkeit bzw. Verteilungsgerechtigkeit. All dies fördert die Unübersichtlichkeit. 5.3.4

Delegierung und Expertise

Der hier angenommenen, sukzessiven Entwicklung der Erwartungen an die politische Öffentlichkeit hin zu Zumutungen können zwei Argumente entgegengehalten werden: Demokratische Systeme kompensieren die hier umrissenen Probleme bis zu einem gewissen Grad durch die Konsultation von Experten sowie durch Delegierung und Repräsentation. 5.3.4.1

Delegierung und Repräsentation

Durch Repräsentation skaliert die demokratische Form mit beliebigen territorialen Größen und Bevölkerungszahlen (Dahl 1989:217). 60 Durch Delegierung verschiebt 60 Blumenberg stellte Delegierung als Teil einer anthropologischen Entlastungslogik dar, die eigene, auch politisch relevante Konfliktpotenziale enthält: „Der Mensch ist das Tier, das alles selbst machen will, aber um dies zu können, soviel wie möglich delegieren muss – um alsbald wieder zu bedauern, dies dann nicht mehr selbst tun zu können. Der Inbegriff

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sie die Wissens- und Kompetenzanforderungen von der politischen Öffentlichkeit in ein ausdifferenziertes, hoch qualifiziertes und spezialisiertes Teilsystem und schützt damit die Demokratie vor ihrer Selbstüberlastung. Demokratie ist auf Delegierung angewiesen (Lupia, McCubbins 1998:11; vgl. auch Downs 1957:227). Komplexitätsreduktion. Das Konzept der Repräsentation wurde bereits von Mill als Voraussetzung einer im praktischen Sinn funktionierenden Demokratie eingeschätzt: Erst durch Repräsentation wird gesellschaftliche Komplexität bearbeitbar (vgl. Keane 2009:165; vgl. auch Mill 1861:111). Bensaïd sieht sie als „Konsequenz nicht nur der irreduziblen Heterogenität der Gesellschaft, sondern auch der nicht miteinander harmonierenden Vielzahl der sozialen Räume und Zeiten, welche die Vielfalt und notwendige Autonomie sozialer Bewegungen gegenüber den Parteien wie auch gegenüber dem Staat begründen“ (Bensaïd 2009:44 f.). Sie reduziert thematische Komplexitäten, entlastet von Detailfragen und teilweise von fremdreferenziellen Kommunikationen (vgl. Nolte 2012:111; Pitkin 1967:135 f., 211; Schumpeter 1942:398, 449; Converse 1990:376). Die Öffentlichkeit beobachtet demnach auch nicht primär Auseinandersetzungen um Inhalte, sondern um deren politische Bearbeitung. Damit erhält Repräsentation den politischen Charakter der öffentlichen Diskurse. Kategorienfehler. Den hier vertretenen Positionen könnte daher ein Kategorienfehler unterstellt werden. Demnach wäre das essenziell Politische weniger in den themenzentrierten Diskursen der politischen Öffentlichkeit, sondern auf einer anderen Ebene angesiedelt, auf der es eher um Metaentscheidungen und die Beobachtung von Entscheidern geht. Das würde weiter bedeuten, dass die detailgesättigte Komplexität nicht-konventioneller Themen in den Kommunikationen der politischen Öffentlichkeit keine prägnante Bedeutung hätte und ihre Diskurse ausschließlich um traditionell politische Themen kreisen, sich auf Personen, Parteien und sehr allgemeine Gesichtspunkte wie Wirtschaftswachstum und Umweltschutz beziehen, ohne je die Ebene konkreterer Sachfragen erreichen zu müssen. Nichtkonventionelle Themen würden eben diese Qualität allein dadurch verlieren, dass sie politisiert werden.61 Repräsentation, aber auch Personalisierung und symboli-

dieser Delegation ist der Staat, das Bedauern des Bürgers darüber ist das Potenzial der Utopien“ (Blumenberg 2006:508) 61 Ein Hinweis zu diesem Gedankengang findet sich bei Finley. Er kritisiert die Ver wechslung von technischem Wissen und politischer Einsicht (Finley 1973:25). Der Autor weist in seiner Betrachtung der athenischen Demokratie auf die konsequente Aufrechterhaltung einer genuin politischen Sphäre hin – auch wenn Expertenberatung in Anspruch genommen wurde. Die Entscheidungen in Athen lagen immer bei der politischen Versammlung, die sich mit politischen Entscheidungen auseinandersetzte – nicht bei den Beratern und Experten (vgl. Finley 1973:28 f.).

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sches Agieren, würden nach dieser Lesart die genuin politischen Eigenschaften der Diskurse erhalten. Hier wird jedoch die Ansicht vertreten, dass, sollen die normativen Prämissen der Demokratie ihre Gültigkeit behalten, die politische Öffentlichkeit in der Lage sein muss, das Operativsystem kompetent zu beobachten, zu kritisieren, Themen zu kreieren und Beiträge zu liefern. Das aber setzt Wissen und zum Teil sehr spezielle Kompetenzen voraus (vgl. auch Campbell et al. 1964:281). Repräsentation entlastet die Öffentlichkeit, bringt ihre ursprüngliche Funktion damit aber keineswegs zum Verschwinden. Die Spezifität und Wissenshaltigkeit der, in Bezug auf das Politische, fremdreferenziellen Themen, um die sich öffentliche Diskurse gruppieren – die Betonung liegt dabei auf dem Charakter ihrer Öffentlichkeit –, wird durch diese Form der Politisierung nicht neutralisiert, sie bleibt sichtbar und politisch relevant.62 Delegierung und Repräsentation entlasten die politische Öffentlichkeit davon, sich tatsächlich mit jedem Thema und jedem Detail befassen und Expertise in jeder technischen oder wissenschaftlichen Frage entwickeln zu müssen (vgl. Sartori 1987:136). Sie entlastet, soll den normativen Prämissen entsprochen werden, aber nicht von der Aufgabe der Kontrolle und damit der Beobachtung. Die moderne politische Öffentlichkeit scheint auch weit davon entfernt, sich durch Repräsentation an die Peripherie des politischen Systems drängen zu lassen. Sie versorgt das operative System vielmehr durch eigene Themenkreationen kontinuierlich, gerade auch über soziale Bewegungen, mit neuen und wirkungsmächtigen Komplexitäten. Sie entwickelt eigene themenspezifische Expertise und befasst sich mit anspruchsvollen technischen oder wissenschaftlichen Details politischer Entscheidungen. Aufklärung. Lupia und McCubbins gehen davon aus, dass Delegierung auch den Effekt haben kann, die politische Öffentlichkeit durch informierte Funktionsträger, Experten, Politiker, vielleicht Intellektuelle, so mit Wissen zu versorgen, dass sie in der Lage ist, die Konsequenzen ihrer Entscheidungen besser abzuschätzen (Lupia, McCubbins 1998:12) und damit auch Selektionen im tatsächlich demokratischen Sinn vorzunehmen.63 Damit wird auch die Visibilisierungsfunktion angesprochen, mit der das politische System Themen, Probleme etc. darstellt, erklärt und sie kommunizierbar und diskursfähig macht. Selbst wenn die Komplexität der Themen durch solche Systeme, Einrichtung und auch Personen auf ein kognitiv handhabbares Maß 62 Das gilt auch für die finale Reduktion der Selektion auf den Wahlakt, die die Komplexität der Demokratie nicht aufhebt. „In der Tat nimmt der Wähler bei jeder Wahl Stellung zu all den vitalen Fragen, die sich den Parlamenten stellen mögen“ (Durkheim 1896:148). 63 Rucht hat dieses Potenzial sozialen Bewegungen zugeschrieben, die er als „Feld poli tischer Sozialisation“ beschreibt, die den Erwerb von Kompetenz und die Erweiterung des Wissens leisten können (Rucht 1997:392; vgl. auch Keane 2009:693).

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reduziert werden kann, sodass die politische Öffentlichkeit signifikant entlastet wird, muss sie sich jedoch immer noch mit deren Kompliziertheit und der allgemeinen Unübersichtlichkeit auseinandersetzen.64 Das gilt auch, wenn man, wie Dahrendorf, von einer Art Stand-by-Öffentlichkeit ausgeht, die nur dann aktiv wird, wenn die „Herrschenden die Schwellen ihrer Legitimität“ überschreiten (Dahrendorf 1967:80). Auch dann geht es um Themen und Inhalte. Repräsentation und Delegierung in spätmodernen Gesellschaften lösen das Problem der Unübersichtlichkeit nur bedingt. Denn alle Demokratiekonzepte, selbst jene, die die Funktion der politischen Öffentlichkeit auf die Zuweisung von Führungspositionen reduzieren (vgl. etwa Schumpeter 1942:452), setzen die Fähigkeit voraus, ein „Urteil über die Übertragung der politischen Führungsrolle“ fällen zu können (Zolo 1992:121). Und das hat stets auch thematische Implikationen, oder, wie Fishkin es in einem etwas anderen Zusammenhang formulierte, „[it] is not merely about the choice of policy elites but also about the choice of policies“ (Fishkin 2009:76). 5.3.4.2

Expertise

Trotz der teilweisen Auslagerung kognitiver Zumutungen durch Repräsentation und Delegierung bleibt das Problem der qualifizierten Beobachtung bestehen. Es wird erwartet, dass die politische Öffentlichkeit die Entscheidungen des operativen politischen Systems bewertet, beurteilt, Legitimation gewährt oder entzieht und selbst mit Kritik und Beiträgen darauf einwirkt. Bei komplizierten Sachfragen fehlen jedoch das dafür notwendige Wissen und die erforderliche Übersicht. 65 64 Hinzu kommt der Glaubwürdigkeitsverlust von Institutionen und Medien, sodass die Abnahme dieser Komplexitätsreduktionen nur unter Vorbehalt erfolgt. 65 Downs hat auf diesen Punkt hingewiesen: „In jeder hoch spezialisierten Gesellschaft stellen viele Entscheidungsbereiche diejenigen, die in ihnen nicht Fachleute sind, vor buchstäblich unüberwindbare Probleme. Um in wichtigen politischen Fragen ihre Wahl treffen zu können, müssen aber auch Nichtfachleute oft über die Richtigkeit der in diesen Bereichen verfolgten politischen Richtlinien eine Meinung haben“ (Downs 1957:225; ebenso Sartori 1987:422 f.). Er stellte aber auch fest, dass „die Fragen, um die es dabei geht, [...] so verwickelt [sind], dass fast jeder, der sich nicht auf sie spezialisiert, in seiner Meinungsbildung von jenen abhängig ist, die es tun“ (Downs 1957:225). Hierauf geht auch Sartori ein: „Mit dem Fortschritt unseres gesamten Wissens nimmt die Kluft zwischen Nichtfachleuten und Fachleuten zu. […] Soll die Demokratie nicht zu einer unerträglich ineffizienten politischen Form werden, so muss dieses Ungleichgewicht verringert werden; das heißt, wir müssen uns der Notwendigkeit einer Demokratie beugen, die zwar nicht von Experten regiert wird, aber sich wesentlich auf sie stützt. Faktisch […] steuern wir auf weniger Volksmacht zu“ (Sartori 1987:423 f.; vgl. auch Zolo 1992:131).

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Dieses Defizit könnte sie durch den Rückgriff auf Experten, mithilfe der Transformationsleistungen der Medien und nicht zuletzt durch den Aufbau eigenen Wissens kompensieren. Experten. Experten sind primär ausgewiesene Mitglieder einer Wissenschaftsoder Technologiecommunity. In der öffentlichen Wahrnehmung sind es überwiegend Vertreter der MINT-Disziplinen. Ihre „Bedeutung [nimmt] doch exponential zu, weil soziale Probleme in zunehmendem Maße das Ergebnis wissenschaftlicher und technischer Entwicklung werden. Atomkatstrophe, Luftverschmutzung und Energieknappheit sind alle das Resultat von Wissenschaft und Technologie“ (Lindblom 1977:540 f.). Hinzuzuzählen sind aber auch Sozial- und Geisteswissenschaftler, die zur gesellschaftlichen Selbstaufklärung beitragen, sowie Philosophen, die beispielsweise in Ethikräten Auskunft über entsprechende Implikationen des Wissenschaftseinsatzes geben können. Zu nennen sind außerdem ausgewiesene Spezialisten des Medienbereichs, Intellektuelle und in einigen Situationen auch Künstler.66 Funktion. Experten werden sowohl vom Operativsystem, der Administration 67, als auch von der politischen Öffentlichkeit konsultiert, die ihre Beobachtungsfunktion sonst kaum ausüben könnte, auch wenn sie nicht direkt in Detailentscheidungen involviert ist. Ihre Funktion liegt zum einen darin, diese Systeme zu irritieren. Eine Irritation wird entweder durch eine Innovation ausgelöst oder durch Erkenntnis, etwa über Risiken. In solchen Fällen bewirken Resonanzen dann die Etablierung von Themen und die Öffnung thematischer Räume. Zum anderen liegt sie darin, die Produktion von Informationen aus Daten zu unterstützen. Experten können Wissensformen bereitstellen, die es erst ermöglichen, Daten aus Wissenschaft oder Technik im Bezugssystem der Politik zu Informationen zu transformieren. Es braucht die Beobachtung von Expertenbeob66 Berger und Luckmann bezeichneten den Intellektuellen als Experten, „dessen Expertise von der Gesellschaft nicht erwünscht wird“ (Berger, Luckmann 1969:134), und weisen ihm eine per se kritikbereite Position zu, die auch die Kritik der Experten einbezieht. „Er wirkt als der Gegenexperte beim Handel mit der Bestimmung von Wirklichkeit“ (135). Der Gesichtspunkt des Unerwünschten hat eine systemische Bedeutung: „Das Vertrauen in Systeme als Ganzes kann […] entscheidend davon abhängen, dass an kritischen Stellen das Vertrauen unterbrochen und Misstrauen eingeschaltet wird“ (Luhmann 1968b:124). Die kritischen Kommunikationen der Intellektuellen und Gegenexperten sind Elemente der Institutionalisierung dieses Misstrauens. 67 Dahl hat die steigende Bedeutung der Experten mit der gestiegenen Komplexität des Politischen in spätmodernen Gesellschaften erklärt und dies als eigenen Transformationsprozess beschrieben: „The mobilization of specialized intelligence in the service of modern democratic government […] was a heroic and generally speaking successful attempt to adapt democracy to the daunting complexity of public policies“ (Dahl 1989:336).

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achtung, um einen Sachverhalt wie die Veränderung des Klimas so verstehen zu können, dass daraus eine politische Information mit Bezug auf die Notwendigkeit kollektiv bindender Entscheidungen erzeugt werden kann, die dann wiederum im politischen Kontext kommunizierbar ist. Die Tatsache, dass sich die Meere erwärmen, ist an sich keine politische Information. Sie ist es, sobald etwa über kollektive Risiken und politische Gegenmaßnahmen kommuniziert wird (Mayntz 1999:36 f.). An dieser Schnittstelle der Kommunikationen, der Sinn- und Bezugssysteme sind Expertenkommunikationen anzusiedeln. Luhmann hat wissenschaftliche Beratung als Form der strukturellen Kopplung zwischen politischem System und Wissenschaftssystem angesehen (Luhmann 2000:393). Expertenberatung steht aber nicht nur dem Operativsystem, sondern, überwiegend vermittelt von intermediären Strukturen wie den Massenmedien, auch der politischen Öffentlichkeit zur Verfügung. Intermediäre Strukturen. Nach Downs setzt die „Entscheidungsfindung in einer Großdemokratie“ (1957:220) Systeme und Strukturen der Wissensvermittlung voraus, die Expertenleistungen kommunizieren, die die enormen Kosten individueller Informationsbeschaffung und, wie man annehmen kann, auch der kommunikationsbasierten sozialen Systeme wie der politischen Öffentlichkeit in Grenzen halten. Er ging von intermediären Systemen wie den Medien (vgl. 1957:220) aus, bezog aber auch Interessengruppen, Parteien und die professionelle politische Kommunikation ein (vgl. 1957:221). Solche Systeme versorgen die politische Öffentlichkeit mit vorselektierten, aggregierten und aufbereiteten Daten. Der Autor sah darin ein durch die gesellschaftliche Arbeitsteilung erforderlich gewordenes, funktional ausdifferenziertes „System des Informationserwerbs“ (1957:207; Kriesi 1994:240). Gerade die Medien gewährleisten darin anschlussfähige Expertenkommunikation im politischen Raum. Sie können als „Übersetzer spezialisierten Wissens“ (B. Peters 1994:59) beschrieben werden, die wissenschaftliche Aussagen in der politischen Alltagssprache verfügbar machen (vgl. H.P. Peters 1994:169; Kepplinger 1998:211).68 Community. Moderne Demokratien operieren auch unter der Prämisse eines als politisch neutral markierten wissenschaftlichen Beratungssystems, das in der Lage ist, dem politischen System validiertes Wissen zur Verfügung zu stellen. Das kann naturwissenschaftliches oder technisches, aber auch ökonomisches, geistes- und sozialwissenschaftliches, Wissen sein. Mit validiertem Wissen ist – soweit das möglich ist – durch eine etablierte Community als viabel signiertes Wissen gemeint, auf dessen Basis Wissen und Nichtwissen unterscheidbar sind (vgl. auch Jensen, 68 Lippmann entwickelte die Vorstellung eines neutralen „Informationsdienstes“ – eines Mediums also in einem sehr technischen Sinne – freilich für die Institutionen, nicht für die Bürger. Der interessierte Privatmann würde Vereinigungen angehören, deren Experten diese Informationen studieren und an ihn weitergeben (Lippmann 1922:269 f.).

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Naumann 1972:60 f.). Diese Beglaubigungsleistungen ermöglichen es auch, trotz allen Wissens über dessen Kontingenz, aktuell gültiges Wissen von „Humbug“ zu unterscheiden (Gordin 2012:86). Das Kontingenzproblem ist so zwar nicht vollständig zu lösen, aber es ist in den meisten Fällen zumindest ein Konsens über die Wertschätzung bestimmter Wissensformen möglich. Nur aufgrund solcher Beglaubigung kann Expertenwissen als legitime und zu akzeptierende Informationsquelle im Diskurs eingesetzt werden (H.P. Peters 1994:181). Expertenkonsultation ist bei nicht-konventionellen Problemen Zugangsvoraussetzung zur Teilnahme an öffentlichen Großdiskursen.69 Expertendilemmata Peters hat darauf hingewiesen, dass „Kommunikationen mit asymmetrischen Wissensvoraussetzungen“ Vertrauen voraussetzen (B. Peters 1994:60, Kriesi 1994:240). Erst dieses Vertrauen macht Expertenkommunikation im politischen Kontext anschlussfähig. Allerdings wird die mit starken Erwartungshaltungen belegte Expertise immer wieder in Zweifel gezogen. Dafür sind mehrere Gründe auszumachen. Widersprüchlichkeit. Es fällt schwer, wissenschaftliche Expertise zu beurteilen, wenn zu jedem Gutachten ein Gegengutachten erscheint (Grunwald 2003:206). „Experts don‘t agree, and we don‘t know how to evaluate the qualification of the experts“ (Dahl 1989:62). Ursache für diese Verwirrung ist zum einen die Verwechslung der Systemrationalitäten. Während im politischen Raum das Bedürfnis nach Eindeutigkeit und Wissenssicherheit besteht, ist Wissenschaft an eine Kontingenzforderung gebunden (vgl. Baecker 2007:127 f.; Stichweh 2000:180). Das Wissenschaftsideal Poppers ist mit der Annahme sicheren und kohärenten Wissens nur schwer vereinbar (vgl. Saretzki 1997:283; Michelsen, Walter 2013:366; Rescher 1984:134 ff., 145). Jeder Experte kann außerdem – was durchaus im Sinn wissenschaftlicher Rationalität ist – Gegenpositionen beziehen, aber er kann, und das ist bisweilen ein Problem, sie heute auch an eine Öffentlichkeit kommunizieren, die diese Positionen und Einsprüche nicht zu bewerten vermag (Kitcher 2012:212).70 Außerdem bestehen selbst in Technik und Naturwissenschaft (den Geistes- und Sozialwissenschaften wird das eher zugestanden) Interpretationsspielräume, unterschiedliche Schulen, individuelle oder institutionelle Präferenzen (vgl. H.P. Peters 1994:165; Mayntz 1999:34 f., 42 f.). Hinzu kommt, dass sich bei komplizierten und 69 Als funktionales Äquivalent ist „Betroffenheit“ einsatzfähig (H.P. Peters 1994:181), also ein Begründungszusammenhang, der auf die Lebenswelt und nicht etwa auf das Wissen schaftssystem rekurriert. 70 Das kompliziert auch die Vermittlungs- bzw. Bewertungsfunktion der Medien, denn „wenn sie sich an die Wissenschaft wenden, werden sie typisch mehr Wissen und mehr Nichtwissen zugleich geliefert bekommen“ (Luhmann 1995a:196).

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damit mehrdimensionalen Problemlagen die Ausdifferenzierung der Disziplinen durch kontradiktorische Aussagen bemerkbar machen kann.71 Und schließlich kommt in einer Demokratie auch die Freiheit der Nichtwissenschaftler zum Tragen, durch die im Wissenschaftssystem etablierte Positionen, etwa aus religiösen Kommunikationszusammenhängen heraus, konterkariert werden können. Als Beispiel sei die Diskussion um Kreationismus und „Intelligent Design“ genannt. Nicht-Neutralität. Das Vertrauen in die Neutralität und Interessenfreiheit der Experten ist gering (Grunwald 2003:207; Saretzki 1997:286), da auch „Interessen von Auftraggebern und Klienten Einfluss auf die subjektiven Entscheidungen im Forschungsprozess“ haben (H.P. Peters 1994:165). Gerade der starke Einfluss der Wirtschaft mit ihrem häufig geringen Interesse an politischen Thematisierungen (Lindblom 1977:299, 306, 324 f.) kann korrumpierend wirken. Zudem wird „Expertise als persuasive Ressource“ bei der Interessendurchsetzung instrumentalisiert (H.P. Peters 1994:162; Gehring 2012:137).72 In einer Gesellschaft, die immer mehr Informationen und Wissen erzeugt, wird die politische Öffentlichkeit abhängig von Experten, die diese Ressourcen zugriffsfähig halten. Damit entstehen neue Machtzentren und asymmetrische Wissensballungen – etwa bei der Entwicklung sozial wirkmächtiger Technologien oder Verfahren, die neue Einflussgrößen im politischen oder wirtschaftlichen Bereich etablieren.73 Zudem agieren Wissenschaft und Technik selbstreferenziell: Ihre Rationalitäten und Zeithorizonte sind nicht unbedingt die des Gesellschaftssystems oder der Politik, die dann vielleicht Seiteneffekte, nicht intendierte (Spät-)Folgen bearbeiten muss. Deswegen sieht sich das politische System, und so zunehmend 71 „Soziale Sachverhalte (eine Virusepidemie, Drogensucht, Armut) können entsprechend unter ganz verschiedene Beschreibungen gebracht werden: medizinische, psychotherapeutische, juristische, soziologische, die verbunden sind mit unterschiedlichen Kausalanalysen und Verantwortungszuschreibungen und oft zu unterschiedlichen Handlungsempfehlungen führen“ (B. Peters 1994:68; vgl. auch Renn, Kastenholz 2008:104). 72 Hierauf weist Gehring im Fall der bioethischen Beratung hin: „Dem komplexen Ineinander von Wissensproduktion und Machtgewinn (Macht des Wissens, Macht der Wissenschaftler, Macht der Berufung auf Wissenschaft) wird durch angewandte Ethik etwas hinzugefügt, das die Akzeptanz von Bioforschung steigert. Der Glaube an das wissenschaftlich-technisch ‚Mögliche‘ wird durch Ethik nicht gebrochen, sondern reflexiv verstärkt“ (Gehring 2012:134). 73 Arendt hat den (Natur-)Wissenschaften der Moderne eine Handlungs- und Wirkungsmächtigkeit zugeschrieben, die anderen Funktionssystemen im Zug technischer und wissenschaftlicher Innovationen verloren ging, und dabei auch auf ihr Potenzial hingewiesen, politische Macht zu generieren: „[S]ie haben sich als eine der mächtigsten, Macht-erzeugenden Gruppierungen erwiesen, die wir je in der Geschichte gesehen haben“ (Arendt 1971:413).

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auch die politische Öffentlichkeit, in der Situation, ihre Berater kritisch beobachten und kontrollieren zu müssen (vgl. Lenk 2002:121). Im Extremfall werden dann Experten konsultiert, um Experten beobachten zu können. Perplexität. In den Reaktionen der Wirtschaftswissenschaften auf die ab dem Jahr 2007 sich abzeichnende Finanzkrise erkannte Vogl eine „Perplexität“ der Experten, die weder konsistente Interpretationen der Geschehnisse noch Konzepte für funktionierende Frühwarnsysteme anzubieten vermochten (vgl. Vogl 2010:21 ff.; Streeck 2015:30; Willke 2014:76 f.). Enorme Komplexität und hoch kontingente Verläufe, so lässt sich diese Diagnose verallgemeinern, konfrontieren auch Wissenschaftler, Spezialisten und eben vermittelnde Experten mit unkontrollierbarer Unübersichtlichkeit, deren Deutungen und Prognosen dadurch an Relevanz verlieren. Isolierte Sichten. Wissenschaft und Technologie bilden opake Kommunikationszusammenhänge. Sie wirken tief in soziale Strukturen hinein, bilden selbst aber eher geringe Fremdreferenzen in Bezug auf die Lebenswelt aus. 74 Zudem ist ihr Wissen überwiegend auf einzelne Disziplinen beschränkt und kann kaum Geltung in anderen Bereichen beanspruchen.75 Die oben skizzierte Tendenz zur Ausweitung kommunikativer Grenzverläufe durch die politische Öffentlichkeit zielt deswegen auch auf die kommunikativ abgeschotteten Domänen von Wissenschaftlern und Ingenieuren. Aufklärungsansprüche oder Interventionen einer Laienöffentlichkeit werden dabei schnell als Wissenschafts- und Technikfeindlichkeit denunziert (vgl. Saretzki 2003: 50 f.). Dadurch entsteht der Eindruck einer gesellschaftlichen Enklave, aus der die Unübersichtlichkeit der Entwicklung eher vorangetrieben als aufgelöst wird (Gehring 2012:129; vgl. auch Habermas 1992b:426). Diskreditierung. Die Imagination von Wissenschaft und Technik als neutraler Instanz gesellschaftlicher Fortentwicklung (Schmitt) ist nicht aufrechtzuerhalten, da ihre Eingriffe und Innovationen Folgen produzieren, die immer wieder politische Interventionen erzwingen. Umweltskandale, das Versagen großer Techniksysteme, der Eindruck gesellschaftlich unkontrollierbarer, unerwünschter Innovationen diskreditieren die Systeme der Experten.76 74 „Eine Klasse von Experten ist den gemeinsamen Interessen unvermeidlich so entrückt, dass sie zu einer Klasse mit Privatinteressen und Privatwissen wird, welches in sozialen Angelegenheiten überhaupt kein Wissen ist“ (Dewey 1927:172). 75 Saretzki spricht von den „immanenten Grenzen des Expertenwissens“. Er weist auch darauf hin, dass, wo es um originär politische Bewertungen gesellschaftlicher Implikationen geht, Experten „an eine normative Grenze ihres Sachwissens“ gelangen können (Saretzki 1997:281; Morozov 2011:311; vgl. Beck 1986:78). 76 Hinzu kommt die damit in einen Zusammenhang gebrachte Rolle der Intellektuellen und Wissenschaftler in den totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts (vgl. Möllers 2008:46; vgl. Keane 2009:570).

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Sie diskreditieren sich zudem, wenn sie sich der Rationalität der Medien unterwerfen. Im Diskurs um die Erderwärmung ist beispielsweise konstatiert worden, einige Experten seien mit „Methoden des Marketing und der Inszenierung“ (Hagner 2012:17) an die Öffentlichkeit getreten. Sie werden dann nicht als neutrale Wissenschaftler, sondern als „Interessenvertreter“ wahrgenommen und ihre Äußerungen entweder als „Meinungen“ (H.P. Peters 1994:171) identifiziert oder als gezieltes, letztlich manipulatives Einwirken empfunden (vgl. auch Feick 2000:235). „Angewandte Ethik ‚kommuniziert‘ nicht nur Wissenschaft, sie betreibt Engineering von Zweifel, Vertrauen, Zustimmung – von Meinungen und von Denkformaten, mittels deren man zu Meinungen kommt“ (so Gehring 2012:138 zur bioethischen Beratung). Eigenexpertise In der politischen Öffentlichkeit wird, wegen dieses Vertrauensverlustes und vielleicht auch aufgrund einer Aversion gegen paternalistische Strukturen, punktuell elaborierte Eigenexpertise entwickelt (vgl. H.P. Peters 1994:164). Das kann von Wissenschaftlern oder Technikern ausgehen, die als Gegenexperten auftreten (Feick 2000:235 f.), es können sich aber auch kleine, meist innerhalb sozialer Bewegungen angesiedelte Kommunikationszusammenhänge bilden, in denen Wissensbestände aufgebaut werden. Beides konnte in den Umweltschutzbewegungen beobachtet werden, hier ergänzten sich Laien- und Gegenexpertenwissen.77 Fishkin weist darauf hin, dass gerade widersprüchliche Expertenurteile zum Erwerb eigener Expertise ermutigen und motivieren (vgl. Fishkin 2009:120). 78 Durch „Bürger-Experten“ (vgl. Fischer 1993:464 f.; H.P. Peters 1994:163) und die Rekrutierung von Gegenexperten ist im Idealfall ein „System der ‚Checks and Bal77 Die Notwendigkeit der Rekrutierung von Gegenexperten rührt daher, dass Betroffenheit in Bezug auf nicht-konventionelle Themenkomplexe auf Dauer keine wirksame Argumentationslinie bildet: Es „werden daher Quellen gebraucht, die Betroffenen-Standpunkte in gesellschaftlich rationaler Weise vertreten. Diese Funktion haben für wissenschaftlichtechnische Kontroversen Gegenexperten und Umweltverbände übernommen. Diese transformieren Betroffenen-Standpunkte in Argumente, die den Konventionen öffentlicher Kommunikation genügen, d.h. beispielsweise auf das Allgemeinwohl statt auf Betroffenen-Partialinteressen bezogen sind und auf rationalen Argumenten statt auf Gefühlen beruhen“ (H.P. Peters 1994:181). Aber der Aspekt der Rationalität wird in diesem Zusammenhang auch als Gegenargument angeführt, wenn die Einflussmöglichkeiten der politischen Öffentlichkeit „als eine Gefahr für rationale wissenschaftliche Bestandsaufnahmen und regulative Entscheidungen“ angesehen werden (Feick 2000:233). 78 Wehner weist darauf hin, dass die „semiprofessionelle politische Laienkompetenz“ auch ein „überzeugendes politisches Selbstbewusstsein“ fördert (Wehner 1997:256).

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ances‘ zwischen Experten“ beider Kommunikationszonen möglich (B. Peters 1994:56). Dies kann aber auch als Form einer „Selbstautorisierung“ einer politischen Öffentlichkeit79 im Sinn einer „Wiederaneignung“ (Giddens 1990:174, 179) gedeutet werden, die „den Versicherungen von Experten nicht mehr trau[t] und die Überprüfung umstrittener Sachverhalte [selbst] in die Hand“ nimmt (Nolte 2012:410; vgl. auch Evers, Nowotny 1987:253; Saretzki 1997:292 ff.). Schlüsse Die Rolle der Experten, deren Notwendigkeit in vielen politischen Diskursen evident ist, ist in Hinsicht auf Unübersichtlichkeit nicht einfach zu bewerten. Sartori vertritt die Ansicht, dass in der Diskrepanz zwischen Expertenwissen und dem Wissen in der Öffentlichkeit kein Problem zu sehen ist, solange die demokratische Beobachtungs- und Kontrollfunktion der Öffentlichkeit nicht beeinträchtigt wird (Sartori 1987:423 f.). Barber und Fishkin lassen sich dahin gehend interpretieren, dass Expertenunterstützung die politische Öffentlichkeit von den Zumutungen der Details entlastet und so den genuin politischen Charakter der Diskurse schützt und trägt (vgl. Fishkin 2009:119 f.). Was von ihr erwartet wird „ist die Fähigkeit, die Auswirkungen des von anderen zur Verfügung gestellten Wissens auf die gemeinsamen Angelegenheiten zu beurteilen“ (Dewey 1927:173 f.).80 Downs hat es in diesem Sinn als rationale Handlung eingeschätzt, Selektionen an politisch neutrale Experten zu delegieren (vgl. Downs 1957:227 f.). Er hat aber auch angemerkt: „Die Formulierung einer Politik erfordert [...] mehr Wissen als die Auswahl unter Alternativen, die andere formuliert haben“ (Downs 1957:248). Politische Entscheidungen können, diese Ansicht wird hier vertreten, zumal bei nicht-konventionellen Themen, nur kontrolliert und diskursiv bearbeitet werden, wenn ein gewisses Maß an (Spezial-)Wissen verfügbar ist. Interessengeleitet oder 79 Ein in anderem Zusammenhang von Habermas verwendeter Begriff (2013:71). 80 Es geht demnach darum „die öffentliche Wirkung dessen zu beurteilen, was als Wissen schaft oder Wahrheit gilt. Bürger unterscheiden sich an diesem Punkt nicht von gewählten Gesetzgebern: Es ist ihre Aufgabe, zu urteilen, zu bewerten und abzuschätzen – eher die Urteilskraft als die Sachkenntnis einzusetzen. Der durchschnittliche Wähler kann die Geheimnisse der Geldwirtschaft ebenso wenig durchdringen, wie der durchschnittliche Kongressabgeordnete die Wirtschaftlichkeit des M-1-Panzers abschätzen kann. Aber beide sind in der Lage zu beurteilen, ob hohe Arbeitslosigkeit ein annehmbarer Preis für eine niedrigere Inflationsrate ist, und jeder hat eigene Vorstellungen darüber, in welchem Verhältnis öffentliche Mittel für Gewehre bzw. Butter ausgegeben werden sollen. Politisch Urteilen heißt vor allem auch, Wahlmöglichkeiten im Hinblick auf Wertpriori täten zu beurteilen, und dazu ist jeder Mann und jede Frau in der Lage, der/die willens ist, persönliche Meinungen und private Interessen der öffentlichen Diskussion und der politischen Beratung auszusetzen“ (Barber 1984:267 f.).

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selbstbezüglich eingesetzte Expertenberatung ist dabei von begrenztem Nutzen. Gehring kommt im Fall der Bioethik zu dem Schluss, dass sie „Teil biopolitischer governance, nicht etwa aber ihr Gegenüber“, ist (Gehring 2012:135; vgl. Meyer 2009:181). Sie sieht hier zudem eine Verlagerung politischer Diskurse in nichtpolitische Kommunikationszonen und damit eine Schwächung der politischen Öffentlichkeit: „Die Tatsache, dass Regierungen zunehmend Ethikräte einrichten, die aktiv Themen auf die öffentliche Agenda setzen, zeigt, dass Ethik neben ihrer Übersetzerfunktion für die Bürger auch demokratisch legitimierte Politikerpolitik ersetzt“ (Gehring 2012:136 f.; vgl. auch Feick 2000:230 f.). In Bezug auf Unübersichtlichkeit wirkt Expertenberatung ebenfalls nicht in der zu erwartenden Weise. Widersprüchlichkeit und Inkohärenz der Expertise, der Mangel an Neutralität der Akteure, ihre Perplexität und (Selbst-)Diskreditierung haben die Aufklärungs- und Entlastungskraft wissenschaftlichen und technischen Consultings für die politische Öffentlichkeit vermindert. Wissenschaftliche Expertise produziert nicht unbedingt mehr Wissen, mehr Übersicht oder Klarheit. Eher im Gegenteil trägt die „cacophony of experts“ (Rescher 1998:185) zur „Vermehrung von Nichtwissen“ bei (Luhmann 2000:162). Gerade das Wissenschaftssystem steigert die Unübersichtlichkeit der Umwelt des politischen Systems, indem es neue Komplexitäten, Unwägbarkeiten und Kontingenzen erzeugt (vgl. Luhmann 2000:162; Evers, Nowotny 1987:29 f.). Dabei macht sich eine Art „Demokratisierungseffekt“ bemerkbar. Blickt man auf Innovationsfolgen, verfügen selbst die Wissenseliten nicht mehr über privilegierte Perspektiven und Einsichten (vgl. auch Beck 1986:274 ff.). Nichtwissen, Nichtverstehen und Unübersichtlichkeit wirken nivellierend. Zu bestimmten Problemlagen, deren Strukturen, Langzeitwirkungen und Seiteneffekte keine fachspezifische Sicherheit oder Eindeutigkeit mehr zulassen, können sich auch Fachleute nicht mehr eindeutig und kompetent äußern. Die Grenzen zwischen Laien und Experten verwischen sich in diesen Bereichen, „weil jeder je nach Situation und Kontext zugleich Laie und Experte sein kann, zugleich mit einer Überlastung durch verfügbares Wissen und mit einer Überlastung durch implizierte Ignoranz sich auseinandersetzen muss“ (Willke 1997:158). Insgesamt sieht sich die politische Öffentlichkeit durch die Leistungen der Experten kaum mit weniger Unübersichtlichkeit konfrontiert, vielmehr muss in ihr weiter Eigenexpertise gebildet werden, um zu komplexen Themen politische Urteile entwickeln zu können. Es bleibt bei der kognitiven Zumutung.81 81 Ein über achtzig Jahre alter Befund Deweys scheint weiter aktuell: „Die Verwirrung, die aus dem Umfang und den Verzweigungen der sozialen Tätigkeiten resultierte, hat die Menschen hinsichtlich der Wirksamkeit politischen Handelns skeptisch gemacht. Wer kennt sich in solchen Dingen noch aus? Die Menschen spüren, dass sie einem Ansturm von Kräften ausgesetzt sind, die zu groß sind, um sie zu begreifen oder zu beherrschen.

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5.3.5

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Asymmetrien

Repräsentation, Delegierung und Expertenberatung verweisen auf Asymmetrien des Wissens: Politisches Wissen ist, wie der gesamte gesellschaftliche Wissensvorrat, ungleich verteilt (Habermas 1992b:395 f.; Berger, Luckmann 1969:47 f.).82 Die Erwartungen an moderne Informationstechnologien waren auch mit einer „Entmischung von Wissen und Macht“ (Spinner 1998:208), der Begriff Informationsgesellschaft mit einer Annahme einer „allgemeine[n] Hebung des Wissensniveaus“ verknüpft (Spinner 1998:236, 238) – ob die „asymmetrische Verteilung von Wissen“ (B. Peters 1994:59) aber abgenommen hat, muss offenbleiben.83 Politische Systeme, selbst demokratisch organisierte, können nach wie vor auch als Wissensformationen begriffen werden, in denen disparate Wissensbestände, Verstehens- und Kommunikationschancen Grenzverläufe markieren. Diese manifestieren sich innerhalb der politischen Öffentlichkeit, zwischen politischer Öffentlichkeit und operativem politischem System sowie zwischen politischer Öffentlichkeit und anderen Funktionssystemen. Innerhalb der politischen Öffentlichkeit. Dahl sah Ungleichheit in Bezug auf „knowledge, information, and cognitive skills“ als Ursachen für politische Ungleichheit, die das demokratische Projekt konterkariert (1989:323 f., 253) oder umgekehrt den Stand einer Demokratie spezifiziert (1982:107). 84 Ebenso Downs, der das unterschiedliche Ausmaß politischer Informiertheit als Ursache der Machtungleichheit in demokratischen Gesellschaften und damit als Verletzung demokratischer Prämissen sah (1957:232), „it threatens the basic democratic principle of political equality among citizens” (Delli Carpini, Keeter 1996:265). Wenn die Annahme zutrifft, dass asymmetrische Wissensverteilung mit gesellschaftlicher Ungleichheit korrespondiert, kann auch Unübersichtlichkeit, allerdings nur teilweise, auf soziale Ungleichheit zurückgeführt werden. Es „besteht die Das Denken ist zum Stillstand gekommen und das Handeln ist gelähmt. Sogar der Spezialist findet es schwierig, die Kette von ‚Ursache und Wirkung‘ zurückzuverfolgen; und selbst er handelt nach Ereignissen; er schaut zurück, während in der Zwischenzeit die sozialen Tätigkeiten vorwärtstreiben, um schon wieder einen neuen Zustand hervorzubringen“ (Dewey 1927:119). 82 Der Begriff der Asymmetrie wird etwa von B. Peters (1994:72) und Ferejohn (1990:9) verwendet. 83 Das gesellschaftliche Unbehagen an dieser Situation bezeichnete Luhmann als „eine Art Phantomschmerz, der mit dem Verlust der Hoffnungen verbunden ist, die man auf Aufklärung und Bildung gesetzt hatte“ (Luhmann 2000:298). 84 Er sah ein vordringliches Ziel darin „to reduce great inequalities in the capacities and opportunities for citizens to participate effectively in political life that were caused to an important degree by the distribution of […] knowledge, information, and cognitive skills“ (Dahl 1989:324).

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Gefahr, dass das Interesse der Politikvermittlungs-Angebote bestenfalls im Dienste ohnehin privilegierter Minderheiten steht, die im eigenen Sozialisationsprozess hinreichende Fähigkeiten der Informationsbeschaffung und -verwertung sowie des synthetisierenden Denkens erworben haben und ihrer eigenen Interessen gewiss geworden sind. Für alle anderen erfüllt das zusammenhanglos in Erscheinung tretende Gemenge aus verschiedenartigen Politikvermittlungs-Angeboten selbst bei gegenteiligen (manifesten) Absichten noch (latent) die Funktion von Undurchschaubarkeit, Einschüchterung, Desorientierung und Irrelevanz“ (Claußen 1987:93).85 Die hieraus resultierenden Ungleichheiten sind Gegenstand der Wissenskluft-Forschung, die primär auf Informationsquantität abhebt, aber teilweise auch Fragen der Informationskomplexität untersucht (Wirth 1997:47 f.). Gebildete und bereits gut informierte Personen, so ihre These, haben Vorteile bei der (politischen) Informationsverarbeitung (vgl. Wirth 1997:54 f.; W. Schulz 1987:135; Petersen et al. 2013:63). Sie gehen effizienter mit hohen Informationsmengen um und scheinen auch komplexere Information besser verarbeiten zu können (vgl. Wirth 1997:197, 240 ff., 297 ff.; Popkin 1991:37).86 „Die Folge ist, dass die Unterschiede zwischen den gut informierten und den schlecht informierten Bevölkerungsschichten weiter anwachsen, dass zum Beispiel auch die in Bezug auf politisches Wissen Unterprivilegierten kognitiv weiter verelenden, jedenfalls relativ gesehen“ (W. Schulz 1987:135). Asymmetrische Wissensverteilung macht sich nicht nur im Verstehen politischer Strukturen, Prozesse und Fakten bemerkbar, sondern auch in unterschiedlichen öffentlichen Artikulationsmöglichkeiten (vgl. B. Peters 1994:56). Sprachcodes, Diskursstile und -praktiken legen auch die Optionen für die Formulierung von Ansprüchen und Forderungen fest. Ungleichheit bedeutet hier, dass kognitiv privilegierte Gruppen leichter in der Lage sind, für sie relevante Themen zu identifizieren, mit ihren Interessen in Verbindung zu bringen, auf dieser Basis Themen zu popularisieren, zu politisieren und mit Beiträgen auszustatten (Nullmeier 1993:184; vgl. auch Popkin 1991:36; Petersen et al. 2013:63; Tobler 2006:164). Wissensanforderungen in einer Demokratie beziehen sich heute auch auf technisch-operatives Wissen, das etwa im Umgang mit Suchmaschinen (vgl. Beiler 2005:171,181; Machill, Beiler 2008:161) oder Informationsangeboten wie Bürger85 Das schlägt sich in den Befunden der Partizipationsforschung nieder: „[D]ie Partizipationsbereitschaft steigt mit dem Bildungsniveau, dem Einkommen und dem beruf lichen Status“, wobei gerade die Bedeutung der Bildung hervorgehoben wird (Gabriel, Brettschneider 1998:287; vgl. Gabriel 2004b:323, 329; Petersen et al. 2013:12 f.). Hierauf wird auf S. 254 noch einmal eingegangen. 86 Wirth weist darauf hin, dass seine Untersuchungen die Wissenskluftthese bestätigten, ohne jedoch „drastische“ Wissensklüfte belegen zu können (1997:297). Auch in Bezug auf das Internet sind die Forschungsergebnisse nicht eindeutig (Bonfadelli 2005:190).

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plattformen und -portalen gefordert ist. Allein der niederschwellige Zugang zum Medium Internet kompensiert solche Asymmetrien nicht oder zumindest nicht vollständig (Bonfadelli 2005:188, 190) – ein Digital Divide ist feststellbar (Schenk, Wolf 2006:258), der bereits vorhandene Klüfte insofern reproduziert, als kognitive Eliten von den Möglichkeiten des Internets eher profitieren (Schenk, Wolf 2006:258 f.; vgl. Marr 2006:280; Smith 2013). 87 Denn das Internet bringt eigene Formen der Ungleichheit bzw. Exklusion und eigene Knowledge Gaps mit sich (vgl. Chadwick 2006:73 f.; Decker et al. 2013:116). Beteiligung an seinen Öffentlichkeiten setzt ebenfalls Bildung (Petersen et al. 2013:63) und Sprachkompetenz voraus, außerdem Verständnis der Strukturen und Technik des Mediums und schließlich auch Kenntnisse darüber, wie Beiträge im Informationsrauschen des Netzes zu platzieren sind, damit sie wahrgenommen werden.88 Zwischen politischer Öffentlichkeit und politischem Operativsystem. Asymmetrische Verteilung von Wissen reflektiert auch in Demokratien Herrschaftsverhältnisse und prägt die kommunikative Beziehung zwischen politischem Operativsystem und politischer Öffentlichkeit. Dahl sprach von einem „gap between the knowledge of the policy elites and the knowledge of ordinary citizens“ (Dahl 1989:338). Delegierung und Repräsentation schaffen nicht-öffentliches Wissen (vgl. Lupia, McCubbins 1998:79) und damit Formen wissensbasierter Macht. Damit ist die Verfügung über Wissen – Faktenwissen, Geheimwissen, bürokratisch-administratives Prozesswissen – sowie die Kontrolle über Distributionskanäle und Mitteilungssysteme gemeint.89 Kepplinger sieht das gerade auch in der Vereinnahmung 87 Bonfadelli kommt aber zu dem Schluss, dass weniger Gebildete von der Nutzung des Internets stärker profitieren als Gebildeten, was eine „Abschwächung der Wissensklüfte zur Folge hatte“ (Bonfadelli 2005:190). 88 Castells hat eine „zunehmende Stratifikation zwischen den Nutzern“ ausgemacht und schließt daraus: „Daher wird die Welt von Multimedia von zwei grundlegend unterschiedlichen Bevölkerungen bewohnt werden: den Interagierenden und den Interagierten, also die, die in der Lage sind, für sich unter den in viele Richtungen weisenden Kom munikationskreisläufen aktiv auszuwählen, und denjenigen, die sich mit einem eingeschränkten Anteil vorgefertigter Auswahlmöglichkeiten versorgen lassen“ (Castells 2000:424). Schenk und Wolf sehen in dieser Asymmetrie auch unterschiedliche Parti zipationschancen im demokratischen Prozess begründet (Schenk, Wolf 2006:258 f.). Lash sieht in der Informationsgesellschaft Klassengrenzen durch den Zugang zu Technologien und Wissensformen definiert (Lash 2002:25, vgl. 75). Separationslinien bilden möglicherweise auch Alter, Gender usw. (Schenk, Wolf 2006:243 ff.; Marr 2006:272). 89 Dies erklärt die Bestrebungen nichtdemokratischer Regime, das Internet zu kontrollieren. Allerdings hat sich immer wieder gezeigt, dass die Schutzsysteme porös sind und es schwer ist, Informationen und Wissen vor ihrer Publikation zu schützen. Leaking etwa unterläuft solche Formen der Asymmetrie (vgl. auch Lagasnerie 2015:28 ff.). Das

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der Mitteilungs- und Distributionsprozesse durch Politik- und Mediensystem und konstatiert eine „Oligarchisierung des politischen Diskurses , seine Aneignung und Beherrschung durch die Angehörigen von zwei hochgradig spezialisierten Berufsgruppen, den Politikern und den Journalisten“ (Kepplinger 1998:205). Systemische Segregationen der Wissenslagen gehören zu den Machtdispositiven im Sinne Foucaults, Kräfteverhältnissen, in denen sich Wissen und Macht wechselseitig ergänzen und stabilisieren (vgl. Foucault 1978:119 ff.; Agamben 2006:8, 26; Gugerli et al. 2005:81; Kittler 2013:278 f.; Lash 2002:25). Sie zeigen „dass Macht und Wissen einander unmittelbar einschließen; dass es keine Machtbeziehung gibt, ohne dass sich ein entsprechendes Wissensfeld konstituiert, und kein Wissen, das nicht gleichzeitig Machtbeziehungen voraussetzt und konstituiert“ (Foucault 1975:39). Zwischen politischer Öffentlichkeit und anderen Funktionssystemen. Zwischen der politischen Öffentlichkeit und anderen Funktionssystemen besteht ein strukturelles Ungleichgewicht des Wissens und damit ungleiche Einwirkungsmöglichkeiten etwa in der öffentlichen diskursiven Beurteilung technisch-wissenschaftlicher Projekte (Grunwald 2003:202 ff.), in denen anderen Funktionssystemen oft umfangreichere Wissensressourcen zur Verfügung stehen und ein privilegierter Zugang zu den Medien besteht.90 Wissensdifferenzen werden weiter auch durch die technische und ökonomische Kontrolle über Medien und Infrastrukturen reproduziert (S. 112). Das betrifft auch das Internet, dessen Popularisierung auch mit der Erwartung eines egalisierenden, interaktiven Informationsmediums verbunden war. Dahinter stand eine Vorstellung einer aufgeklärten elektronischen Agora, die die Demokratie wiederbeleben oder intensivieren würde (Grossman 1998:90, 85; Kamps 2000:227, 230, 234; vgl. Werle 2000:466). Diese Hoffnung wurde durch Privatisierung und Kommerzialisierung (K. Weber 2002:103; Castells 2001:167; Decker et al. 2013:130), aber auch durch wiederum hat, auch in demokratischen Staaten, zu einer auch öffentlich propagierten Intensivierung der Überwachung und Kontrolle des Netzes geführt (vgl. z.B. Morozov 2011:222; Chadwick 2006:258 ff., 272 f.). 90 „Im Fall einfacher Informationsmonopole verfügen bestimmte Teilnehmer oder Kategorien von Teilnehmern über dauerhafte Informationsvorsprünge, die für bestimmte Themengebiete wichtig sind und die sie deswegen zur strategischen Meinungsbeeinflussung einsetzen können. Es handelt sich dabei um Informationen, die für die übrigen Teilnehmer nicht unmittelbar nachprüfbar, aber ohne Weiteres verständlich sind. Diese Voraussetzung ist in der zweiten Form struktureller Asymmetrie, im Falle des Monopols an spezialisiertem Wissen, nicht mehr gegeben. Hier handelt es sich um Wissen, dessen Verständnis besondere Kompetenzen voraussetzt, das also dem Laien nicht mehr ohne Weiteres zugänglich ist, auch wenn es veröffentlicht ist“ (B. Peters 1994:53 f.; vgl. auch Lash 2002:25).

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private und staatliche Überwachungs-, Kontroll- und Analysepraktiken enttäuscht. Die private Verfügung bezieht sich nicht nur auf Technologien, sondern zunehmend auch auf den Content und dessen Zirkulation: Information und Wissen werden technisch und juristisch geschütztes Privateigentum von Rechteinhabern und -verwertern (Grassmuck 2002:149; Schütte 2002:183 f.)91, der Wissenstransfer oft durch Lizenz- und Patentrechte sowie durch militärische oder sicherheitspolitische Regelungen begrenzt (Laughlin 2008:45 f., 57, 20 ff., 125, 130, passim; vgl. Shea 2006:3).92 Die Beobachtung des operativen politischen Systems scheint immer voraussetzungsvoller zu werden. „Die Wissensvision der Informationsgesellschaft als informierte Gesellschaft, deren Wissenslage quantitativ und qualitativ immer besser wird“ (Spinner 1998:85), ist Teil einer Selbstbeschreibung, die auch die politische Kommunikation einschließen muss, da „alle Funktionssysteme in ihrer elementaren Operationsweise an eine Wissensbasierung gebunden sind“ (Willke 1997:33). Von der aufgeklärten politischen Öffentlichkeit wird in diesem Kontext nicht nur mehr Wissen erwartet, es wird ihr auch die Auseinandersetzung mit immer mehr und immer komplizierteren Themen zugemutet. Kompetenzen, über die sie möglicherweise nicht in ausreichendem Maß verfügt oder verfügen kann. Damit wäre eine Prämisse demokratischer Beteiligung infrage gestellt. Und tatsächlich setzt hier ein wissenschaftlicher Diskurs an, der dieses mögliche Defizit als generelles Manko des demokratischen Projekts identifiziert.

91 Spinner spricht von „Datenherren“ (1998:17). Der Begriff drängt sich auf, wenn die Ergebnisaufbereitungen der Suchmaschinen Formen der Zensur erkennen lassen – entweder im Sinn staatlicher Autoritäten oder zur Durchsetzung politischer und ökonomischer Partikularinteressen. 92 Lash sieht hierin Anzeichen einer historischen Verschiebung der Grundkoordinaten von Macht und gesellschaftlicher Ungleichheit: „In technological capitalism, power works perhaps less through exploitation than exclusion. Real property in the means of production carries with it the right to exploit. Intellectual property carries with it the right to exclude. [...] Social class becomes a question of access to the platforms, access to the liftedoutness of technological forms of life. It becomes a question of access, to not just the means of production, but the means of invention“ (2002:24 f.). Für ihn ist geistiges Eigentum (Patente, Trademarks und Copyrights) der Kern des modernen Kapitalismus, der modernen Mechanismen der Macht, Kontrolle und Exklusion (2002:75, 83, 149, 195 f.).

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5.4 D ER K OMPETENZ -D ISKURS Innerhalb des wissenschaftlichen Demokratiediskurses wurde und wird auch die Diskrepanz zwischen Wissen und Kompetenz der politischen Öffentlichkeit und der Komplexität politischer Inhalte aufgegriffen. Autoren ganz unterschiedlicher demokratietheoretischer Provenienz schätzen sie als empfindlichen Punkt demokratischer Konzepte ein. Dabei lassen sich grob zwei markante Argumentationslinien unterscheiden: zum einen die einer oft anthropologisch orientierten, eher grundsätzlichen Demokratieskepsis und zum anderen die der sozialwissenschaftlich differenzierteren Reflexion der Erwartungen und Zumutungen an die politische Öffentlichkeit. 93 5.4.1

Demokratieskepsis

Die erste Linie folgt einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber der effektiven Beteiligung einer inklusiven politischen Öffentlichkeit an politischen Prozessen. Sie rührt bestenfalls von „anthropologischer Resignation“94, ist oft aber eher Teil der Selbstbeschreibung bzw. des Macht- und Deutungsanspruchs gesellschaftlicher Eliten. Sie scheint zudem Ausdruck eines sozialen Ressentiments zu sein. Die Wurzeln dieses Denkens lassen sich bis in die frühe Literatur zurückverfolgen. Platon etwa, der die Tyrannis als „herrlichste Staatsform“ ansah (Platon 562a), hatte keine hohe Meinung von der Qualifikation und Aufklärungsfähigkeit des Demos, der „Masse“.95 Anfang des 20. Jahrhunderts gab Le Bon dem antidemokratischen Affekt eine Stimme, den ein durch den „Eintritt der Volksklassen in das politische Leben“ (Le Bon 1895:22) verunsichertes Bürgertum (Bauer 2004:58; Kaelble 2001:167) ausbildete.96 Der seinerzeit recht erfolgreiche Text ist erwähnenswert, weil seine Wirkung relativ weit in das politische Denken auch 93 Beide Linien lassen sich, selbst in einzelnen Texten, nicht immer klar unterscheiden – bisweilen ist es in manchen Passagen allein der Sprachduktus, der hier die Grenzen mar kiert. 94 So hat Mayer-Tasch in etwas anderem Zusammenhang die Position hinter Hobbes‘ Staatsbild bezeichnet (1976:119). 95 Vgl. etwa 494a, 449d f., 505b, aber auch das Schiffer-Gleichnis 499b ff. Weil es nur in Grenzen zulässig ist, Texte losgelöst von ihrem historischen Kontext einzuordnen, darf er hier nur mit Vorbehalten angeführt werden (vgl. hierzu Finley 1973:62; vgl. Arendts Hinweise zum Begriff der Tyrannis in Arendt 1971:280 Fn. 58). Kritik am politischen Wissen des Demos scheint zu seiner Zeit ein Thema gewesen zu sein, das auch Restau rationsambitionen damaliger gesellschaftlicher Eliten reflektierte (vgl. Finley 1973:25, 28; Keane 2009:60 ff.). 96 Er verknüpfte seine ressentimentgeladene Demokratiekritik (Le Bon 1895:58, 89, 104) mit heute krude erscheinenden rassentheoretischen Elementen (vgl. 64, 80, 148), die nicht zuletzt auch von der organizistischen bzw. biologistischen Gesellschaftssicht (82, 190; vgl. Bauer 2004:59) des Arztes gespeist wurden, der er ursprünglich war.

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späterer Jahrzehnte reichte. Le Bon operierte mit dem damals ebenso gängigen wie negativ besetzten Topos der Masse (vgl. Nolte 2000:118 ff.; vgl. auch Tuchman 1962:451 f.), der er kognitive Kompetenz, Urteilskraft und jene Fähigkeit zum vernunftmäßigen Denken absprach, die eine Demokratie voraussetzt (Le Bon 1895:40, 67 f., 63).97 Lippmann sprach in den 1920er-Jahren der politischen Öffentlichkeit als Träger eines demokratischen Systems Kompetenz und intellektuelle Eignung ab. Wie Schumpeter hielt er Diskurse und Meinungen der politischen Öffentlichkeit nicht für genuine interne Konstruktion, sondern für Produkte mediengestützter und interessengeleiteter politischer Prozesse und Aktionen (vgl. Lippmann 1922:170 ff.; Schumpeter 1942:418 ff.; M.G. Schmidt 2000:203). Dass sich politische Wahrnehmung und politisches Denken der leicht manipulierbaren Masse in dumpfen Stereotypen und Irrationalitäten erschöpfen (Lippmann 1922:170 ff., passim), führte er insbesondere auf ihre defizitäre Informationsverarbeitung und mangelndes Wissen bzw. Verstehen zurück.98 Eine Position, die sich in jüngerer Zeit Caplan zu eigen macht (Caplan 2007:2 f., 27, passim). Ähnlich räsonierte Ortega y Gasset in seiner Schrift „Der Aufstand der Massen“. Sie ist vollkommen auf den Topos der unwissenden Masse fixiert, die in der „Hyperdemokratie“ ihre „brutale Herrschaft“ ausübt. Ihm galt sie als „Gesamtheit der nicht besonders Qualifizierten“, deren Un-

97 In der Literatur des 20. Jahrhunderts tauchen seine Ansichten bei mehreren Autoren auf. Schumpeter zum Beispiel schätzte Le Bons Äußerungen in dessen Buch „Psychologie der Massen“ zwar als „übertreibend“ ein (Schumpeter 1942:408). Dennoch: Sein „fabrizierter Wille“ (Schumpeter 1942:429) konveniert mit Le Bons Diktum, die Massen seien „unfähig [...], Meinungen zu haben, außer jenen, die ihnen eingeflößt wurden“ (Le Bon 1895:27, vgl. 56). Schumpeters Zweifel an der administrativen und exekutiven Leistungsfähigkeit der Demokratie (1942:454) finden sich in ähnlicher Form bei Le Bon (1895:58). Auch in der Annahme des Verlustes individueller intellektueller Fähigkeiten im Kontakt mit der Masse oder dem Politischen ähneln sich beide Autoren (Le Bon 1895:38 f.; Schumpeter 1942:416 f.). Die Schnittmenge beider Texte bildet der generell unterstellte Mangel an Rationalität und Urteilsvermögen der Masse (vgl. Schumpeter 1942:407 ff., 417). Ähnliches lässt sich zum Beispiel bei Max Weber (vgl. 1922:862 ff.) und Sigmund Freud finden. Letzterer befasste sich in einer Abhandlung über Le Bons „glänzend vorgetragenen Schilderung der Massenseele“ insbesondere mit der „kollektiven Intelligenzhemmung in der Masse“ (1923:21, 28, 77). Später finden sich ähnliche Haltungen dann bei Gehlen, der darin eine gewisse Nähe zu Ortega y Gasset erkennen lässt (vgl. Gehlen 1957:81). 98 „Das ist der Hauptmangel einer Volksregierung, eine Schwäche, die ihren Traditionen anhaftet und auf welche meines Erachtens alle ihre anderen Schwächen zurückgeführt werden können“ (Lippmann 1922:247 f.).

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wissenheit und „Unbotmäßigkeit“ er für krisenhafte Entwicklungen seiner Zeit verantwortlich machte (Ortega y Gasset 1930:12, 14, 68,194).99 Elitenführung. Die „Angst der Gebildeten vor einer Herrschaft der ungebildeten Masse“, die Carl Schmitt konstatierte (Schmitt 1923:29), war immer eng mit einer Sehnsucht nach Eliten verbunden, nach Führung, die die Dinge mit Umsicht und Wissen regelt, die einerseits die Öffentlichkeit entlastet und andererseits auch von der Öffentlichkeit entlastet ist. „Der Gegensatz zwischen den ungebildeten, politisch nicht koordiniert handlungsfähigen Volksmassen und der Klugheit und Führungskunst von Eliten reicht wiederum bis in die antike politische Theorie zurück“ (Nolte 2012:230). Ein Beispiel ist Platons Idee der Philosophenherrschaft (473d; vgl. Schmitz 2000:87 ff., 306). Konzepte einer Elitenführung können, wie bei Ortega y Gasset, mit ihrer Natürlichkeit und Notwendigkeit begründet,100 aber auch auf den Mangel an Kompetenz und Wissen in der politischen Öffentlichkeit zurückgeführt werden. Lippmann entwickelte von dieser Annahme aus die Vorstellung einer „spezialisierten Schicht“, die, durch Bildung und Moral befähigt, die Führung der unqualifizierten, uninformierten Masse übernimmt (1922:212).101 Während bei Le Bon der Wunsch nach autoritärer Elitenführung offensichtlich ist (vgl. z.B. 1895:112), können elitistische Herrschaftskonzepte, wie Schumpeter vorführte, auch im Rahmen einer normativ reduzierten demokratischen Herrschaftsidee gedacht werden.102 Dann unterliegen die Eliten politischer Konkurrenz und Wahlen stellen eine Abstimmung über ihre Qualifikation und Leistung dar. Der 99 Mit Blick auf ihre Erscheinungsjahre muss man diese Texte auch im Kontext einer verbreiteten, bürgerlichen Demokratieskepsis oder -aversion verorten – mit den bekannten historischen Folgen. 100 Er ging von einem „natürlichen“ Dualismus von Führenden und Geführten aus, von Qualifizierten und Nicht-Qualifizierten. „Ich […] halte mit immer stärkerer Überzeugung daran fest, dass die menschliche Gesellschaft, ob sie will oder nicht, durch ihr Wesen selbst aristokratisch ist“. Auch bei ihm wird ein für diese Denkweise signifikantes Menschenbild erkennbar: Der Mensch ist demnach, „durch seine Anlage gezwungen […], eine Autorität über sich zu suchen. Wenn es ihm selbst gelingt, sie zu finden, ist er ein Auserwählter; wenn nicht, gehört er zum Durchschnitt und muss sie von jenem empfangen“ (Ortega y Gasset 1930:8, vgl. 66, 15, 122). 101 Dieses Denkmuster ist für totalitäre Entwürfe anschlussfähig. Dahl wies in diesem Zu sammenhang auf Lenin hin (vgl. Dahl 1989:53). Dessen ebenfalls elitistisches Avantgardekonzept beruft sich insbesondere auf zu überwindende Diskrepanzen des Wissens (vgl. Lenin 1901:116 f., 124). Ein Ansatz, der auch in aktuellen Publikationen noch erkennbar ist (vgl. z.B. Ringger 2008:242). 102 Wobei Dahl feststellte, dass Schumpeters Konzept die Grenzen zwischen demokratischen und nichtdemokratischen Systemen unkenntlich machte (Dahl 1989:128, 130).

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Demos hat die Funktion zyklischer Akklamation oder Abwahl, ist aber innerhalb der Herrschaftsperioden nicht mehr weiter in das Politische involviert.103 Legitimiert wird diese Minoritätenherrschaft wieder mit der mangelnden politischen Kompetenz des Demos und der daher rührenden Notwendigkeit kompetenter, professioneller Eliten, die mit Expertenunterstützung die Geschicke der Gesellschaft lenken (vgl. Dahl 1989:57 f., 62; vgl. auch Bourdieu 2000:100 ff.). 104 Epistokratie. Radikaler ist der sogenannte epistokratische Standpunkt. Brennan vertritt beispielsweise die Ansicht, dass ein allgemeines Wahlrecht nicht zu rechtfertigen (unjust) sei, weil die Gesellschaft unter Umständen als Ganzes die Folgen eventuell fehlerhafter politischer Entscheidungen eines teilweise inkompetenten Demos zu tragen habe (Brennan 2011:1). 105 Daher fordert er eine Reduktion des Wahlrechts auf ein „elite electoral system“ (Brennan 2011:2). Er geht weiter als Mill, der über 100 Jahre vor ihm vorschlug, qualifizierteren Wählern größeres

103 Wobei Buchstein zu Recht fragt, „wie politisch inkompetente Wähler die Kompetenz zur Auswahl richtiger Eliten entwickeln können sollen“ (Buchstein 1996:313). 104 Dieser Führung steht eine auf einen kompetenten und informierten Kern zusammengeschmolzene politische Öffentlichkeit gegenüber, die sich von der allgemeinen Öffentlichkeit absetzt. „Innerhalb der Masse jener, die, ihre politischen Rechte tatsächlich ausübend, an der staatlichen Willensbildung teilnehmen, müsste man zwischen jenen unterscheiden, die als urteilslose Menge ohne eigene Meinung dem Einfluss anderer folgen, und jenen wenigen, die wirklich durch selbstständige Willensentscheidung – der Idee der Demokratie entsprechend – Richtung gebend in das Verfahren der Gemeinschaftswillensbildung eingreifen“ (Kelsen 1920:18 f.). Eine Unterscheidung, die sich auch bei Weber (Weber 1922:866) und in ähnlicher Form bei Dahrendorf findet, der zwischen der latenten, passiven Öffentlichkeit einerseits und der aktiven Öffentlichkeit andererseits unterschied. Letztere bildet die Gruppe „der regelmäßig und mit eigenen Vo rstellungen am politischen Prozess Teilnehmenden, die Organisationen angehören, Ämter übernehmen und in ihren Reden die Nichtteilnahme am anderen bedauern“ (Dahrendorf 1967:77; vgl. Scharpf 1970b:276 ff.). Der Autor sah damit das grundsätzliche Konzept der Demokratie nicht infrage gestellt: „Die demokratische Utopie der total aktivierten Öffentlichkeit ist als Entwurf zur Realisierung so totalitär wie alle Utopien; glücklicherweise ist sie auch ebenso unmöglich“ (Dahrendorf 1967:77). Und weiter: „Der politische Prozess verlangt eine aktive Öffentlichkeit, die kleiner, sehr viel kleiner ist als die Gesamtheit der Bürger“ (1967:79; vgl. auch Berelson et al. 1968:101; Richter 2008:250). Zolo diagnostiziert: „Das Prinzip der Führerschaft verlangt […], dass die Demokratie als etwas verstanden wird, das wesentlich mehr die Beziehung unter den Eliten betrifft als die Beziehung der Eliten zur Mehrheit der Bürger“ (1992:187). 105 „When an ignorant, misinformed, morally unreasonable, or irrational citizen votes, he exercises political power over others“ (Brennan 2011:4)

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Stimmgewicht zu verleihen (Mill 1861:152 f.)106, und plädiert für zugangskontrollierte Wahlen: „The purpose of the exam would be to exclude badly incompetent citizens from voting, by screening out citizens who are badly misinformed or ignorant about the election, or who lack the social scientific expertise to evaluate candidate’s proposed policies“ (Brennan 2011:19 f.).107 Die Demokratie verletzt aus seiner Sicht das Kompetenzprinzip108, daher ist eine tendenziell geringere Partizipation Unqualifizierter wünschenswert (2009:14). Er schließt seine Argumentation mit der Behauptung, ein auf kognitive Eliten begrenztes Wahlrecht führe zu besserer Politik und größerer Wohlfahrt (2011:23). Willke schlägt, ebenfalls mit Berufung auf „ubiquitäre[] Ignoranz“ im Demos (Willke 2014:67), vor, der Öffentlichkeit Entscheidungen über sehr komplexe, etwa nicht-konventionelle Fragen zu entziehen und an spezialisierte Institutionen zu delegieren (Willke 2014:64 f.). Auch er bindet das Entscheidendürfen an eine Kompetenzzuschreibung durch Dritte. Dezisionismus. Solche elitistischen Konzepte versprechen neben höherer Rationalität (Dahl 1989:75) vor allem schnellere und effektivere Entscheidungen und üben damit, so scheint es, gerade im Zug der fortschreitenden Ökonomisierung der Gesellschaft wieder eine hohe Anziehungskraft aus. Elitenherrschaft als politische Perspektive wird heute auch in Zusammenhang mit ökonomischer Kompetenz thematisiert, als Lob der unbehinderten Dezision. Das propagierte Idealbild ist weniger der politische Führer im klassischen Sinn als die Figur des Managers. Verbunden ist es mit einer Diskreditierung der Langsamkeit der Demokratie, die in der Ökonomie einer beschleunigten Gesellschaft nicht mehr akzeptabel erscheint (vgl. Zolo 1992:99, 166; Crouch 2003:42; Rosa 2005:325; Lippmann 1922:187; Richter 2011:51; vgl. S. 83). Bereits bei Schumpeter und Lippmann spielt in dieser Hinsicht die Entlastung des Funktionssystems von der politischen Öffentlichkeit eine wesentliche Rolle, geht es um die Herrschaft einer qualifizierten und vom Demos nicht oder nur rudi-

106 Eine solche Regelung existierte tatsächlich im 1948 aufgegebenen „Pluralrecht für Ei gentümer und Inhaber von akademischen Graden“ innerhalb des britischen Wahlrechts (Kluxen 1985:830). Heute wird das in ähnlicher Form von Caplan vorgeschlagen: „A more palatable way to raise the economic literacy of the median voter is by giving extra votes to individuals or groups with greater economic literacy” (2007:197) 107 An anderer Stelle plädiert er dafür, dass Bürger sich freiwillig ihres Wahlrechts begeben, wenn sie, aufgrund mangelnden Wissens, nicht in der Lage sind, die Folgen ihrer Entscheidung abzuschätzen (Brennan 2009:4,10,12,14 ff.). 108 „Democracy violates the Competence Principle“ (Brennan 2011:3). Dieses Prinzip fordert, so Brennan, dass Entscheidungen mit Auswirkungen über Leben, Eigentum etc. Einzelner allein von hierfür erwiesen kompetenten Personen und Einrichtungen zu treffen sind.

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mentär kontrollierten Minorität (Dahl 1989:52). 109 Beobachtungsferne Elitenherrschaft ist (nicht nur im Hinblick auf das Gleichheitsprinzip) mit demokratischen Prämissen nicht zu vereinbaren (Barber 1984:202). Stellt man sie, im Hinblick auf Kompetenz und Wissen, als Entlastungskonzept dar, das die politische Öffentlichkeit von den Zumutungen kognitiver Mühen freistellt, ist sie eine paternalistische Herrschaftsform, die die politische Autorität tatsächlich als „väterliche Autorität imaginier[en]“ lässt (Kelsen 1920:85). Deutlich wird das beispielsweise, wenn Schumpeter feststellt, es sei nicht nötig, „dass sich der politische Apparat nur mit solchen Angelegenheiten befasst, die das große Publikum völlig verstehen und worüber es eine ernsthafte Ansicht haben kann“ (Schumpeter 1942:463 f.). Fehlannahmen. Sieht man von normativ begründeten Einwänden einmal ab, können elitistischen Ideen zwei Fehlannahmen unterstellt werden. Zum einen würde ein Zusammenziehen des Demos weder die Leistungsfähigkeit des politischen Systems als Ganzes noch die seiner operativen Komponenten stärken: Im Gegenteil verringert Elitenführung die Kapazität politischer Systeme für die Aufnahme externer Komplexität und Kontingenz, reduziert also dessen erforderliche Vielfalt (vgl. S. 130). Solche durch konzentrierte Kompetenz gerechtfertigten Systeme würden letztlich an ihrer zunehmenden Inkompetenz für gesellschaftliche Fragen, Ansprüche, Innovationen scheitern. Insbesondere ihr hermetisches Verständnis von Komplexität und Kontingenz als Komplikation würde sie von den verteilten Thematisierungspotenzialen, dem „Netz von Sensoren“ (Habermas 1992b:364), ihrer Gesellschaft separieren. Die zweite Fehlannahme ist in der Legitimierung dieser Herrschaftsform durch Kompetenz zu sehen (vgl. Richter 2011:221). Angesichts der zunehmenden Unübersichtlichkeit des Politischen wird diese Legitimation schwächer oder sogar unhaltbar. Kriterien wie elaborierte Bildung und Führungsstärke sind nicht mehr ausschließlich relevant, wo es um nicht-konventionelle Felder geht. 110 Die Fähigkeit zu schnellem Entscheiden wird fragwürdig, wo es um unübersichtliche Problema109 Schumpeter konstatierte: „[D]ie Leistungsfähigkeit einer demokratischen Regierung [wird] infolge des ungeheuren Energieverlustes, den die führenden Männer durch den fortwährenden Kampf innerhalb und außerhalb des Parlaments erleiden, unermesslich verringert“ (1942:454). Ganz ähnlich Lippmann: „Jeder Demokrat spürt in seinen Knochen, dass sich gefährliche Krisen nicht mit der Demokratie vereinbaren lassen. Er weiß, dass die Trägheit der Massen so groß ist, dass im Interesse einer schnel len Aktion sehr wenige Menschen Entscheidungen treffen und anderen ihnen blind folgen müssen“ (1922:187). Wie er ging auch Schumpeter davon aus, dass die Demokratie in Not situationen schwach und der Diktatur unterlegen sei (Schumpeter 1942:470). Zolo warnt vor der aktuellen Gefahr, dass „die Entlastung des politischen Systems von einem Übermaß an Demokratie […] als die strukturelle Bedingung für das Überleben der Demokratie selbst dargestellt werden [kann]“ (1992:167).

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tiken geht, die vielleicht gerade spezifische Formen der Langsamkeit verlangen (vgl. Rosa 2005:326, 411). Insofern demokratisiert die Unübersichtlichkeit – Eliten sind ihr ebenso ausgesetzt wie die gesamte politische Öffentlichkeit (vgl. auch Buchstein 1996:313). Angesichts hochkomplexer Problemräume, kompliziert vernetzter Thematiken, unklarer Fernwirkungen und kontingenten Wissens erscheint die Proklamation erlösender Eliten wie ein Anachronismus.111 5.4.2

Sozialwissenschaftliche Reflexion

Differenziertere Ansätze reflektieren den Widerspruch zwischen normativen Prämissen demokratischer Konzepte und den zunehmenden Schwierigkeiten der Beobachtung des komplexer werdenden Politischen durch die politische Öffentlichkeit. Qualifikation. In den Federalist Papers wurde nüchtern davon ausgegangen, dass weder ein Volk von Philosophen noch Philosophenkönige zu erwarten sind (Hamilton et. al. 1787:313, Nr. 49; bezieht sich auf Platon:473d, vielleicht auch auf 110 Scharpf hat früh auf die Tatsache hingewiesen, dass „jedenfalls bei den Angehörigen der Oberschicht […] Partizipationsschwellen nicht durch Klassenschranken erklärt werden können“, sondern auch mit ihrer Überforderung (Scharpf 1970a:118 f.). So stellt Kriesi fest, „dass selbst die bestinformierten und gebildetsten Bürger angesichts der Komplexität der zu entscheidenden Probleme prinzipiell überfordert sind“ (1994:240; vgl. auch Popkin 1991:36). Im nächsten Kapitel werden Forschungsergebnisse besprochen, die zeigen, dass gerade in unsicheren, komplexen Fragestellungen kognitive Eliten nicht zwingend besser entscheiden als der durchschnittliche Bürger (S. 257). 111 Bemerkenswert ist, dass sich die Skepsis überwiegend konservativer Autoren nicht nur auf die politische Öffentlichkeit, vulgo die Masse, bezieht, sondern auch auf deren Repräsentanten. Prominent ist Webers Begriff des Dilettanten (Weber 1922:165, 572), der auch bei anderen Klassikern in Variationen zu finden ist – explizit zum Beispiel bei Schumpeter (1942:458 f.). Nach Durkheim ist die „Inkompetenz des Abgeordneten […] nur ein Reflex der Inkompetenz des Wählers“ (Durkheim 1896:148) – ein Gesichtspunkt, der freilich auch in der modernen Literatur untersucht wird (vgl. zum Beispiel Kuklinski, Quirk 2000:178, 181; J. C. Schmidt 2003:151). Lippmann stellte fest: „Der geschickteste und fleißigste Volksvertreter kann nicht hoffen, auch nur einen Bruchteil der Gesetze zu verstehen, über die er abstimmt“ (1922:200). Hier allerdings näherte er sich einem Aspekt, den auch Kelsen aufgriff, als er feststellte, dem Parlament fehlten die „Fachkenntnisse […], die notwendig sind, um gute Gesetze auf den verschiedenen Gebieten des öffentlichen Lebens zu machen“ (1920:44 f.). Rittel und Webber haben diese Problematik Anfang der 1970er-Jahre in ihrer Untersuchung von Wicked Problems auf der Policy-Ebene mit der zunehmenden Unübersichtlichkeit in Verbindung gebracht (1973:159). In diesem Text wird hierauf nicht eingegangen – dieser Komplex bildet ein eigenes Thema.

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499b f.). Ihre Autoren haben deswegen sehr zurückgenommene Erwartungen an den Demos formuliert (1787:233, Nr. 37) und Komplexitätskompetenz bewusst in den Bereich des operativen Systems als Domäne öffentlich beobachteter und kontrollierter Eliten verlagert.112 Die in diesen Texten durchaus erkennbare, auch anthropologisch begründete Skepsis wurde Motiv für ein entsprechend durchdacht zu entwerfendes System wechselseitiger Kontrollen und Entlastungen. So wurde ein System konzipiert, das bei einem hohen Maß von Partizipation und Beobachtung dennoch keine Experten oder Hochgebildete voraussetzte (vgl. Ross 2009:105), ein in Bezug auf Wissen und Kompetenz wesentlicher Punkt moderner Demokratiekonzepte: „Ein demokratisches System setzt keine Sachkenntnis voraus und verlangt keine“ (Sartori 1987:422). Schattschneider drückte das pointiert aus: „Wer kann sagen, was der Mann auf der Straße über öffentliche Angelegenheiten wissen muss? Die ganze Erkenntnistheorie, die diesen Vorstellungen zugrunde liegt, ist pedantisch. Demokratie wurde für das Volk gemacht, nicht das Volk für die Demokratie. Demokratie ist etwas für einfache Leute, ein politisches System mit dem Zweck, den Bedürfnissen der einfachen Leute zu genügen, ob es den Pedanten gefällt oder nicht“ (Schattschneider 1960:85). Richter hebt hervor, dass die partizipative Demokratie „im Grundsatz nicht zwischen Laien und Profis [trennt]“ (Richter 2011:212). Keane schließlich konzentriert diese Sichtweise in einem Satz über die Grundmotive demokratischen Denkens: „Democracy recognised people were not angels or gods or goddesses, they were at least good enough to prevent some humans from thinking they were. Democracy was to be government of the humble, by the humble, for the humble“ (Keane 2009:xii, 855). Gleichwohl galten und gelten vielen Autoren, z.B. auch Tocqueville, begrenzte Bildung und Wissenshorizonte des Volkes als eminent kritische Punkte des gesamten Demokratieprojekts (Tocqueville 1835:112 f.). 113 Auch Mill, in dessen Demokratiekonzept politische Kompetenz eine zentrale Rolle spielte, hat dem demokratischen Souverän dezidiert einen Mangel an geistiger Qualifikation attestiert114 und daraus auf die Notwendigkeit eines Wahlrechts geschlossen, das 112 Vgl. zum Beispiel auch Hamilton et al. 1787:315, Nr. 49, 320, Nr. 51. Sie stellen Kon zepte einer im Grunde auf technische Arbeitsteilung ausgelegter, öffentlich kontrollierter Elitenführung dar, die die begrenzten Fähigkeiten in der politischen Öffentlichkeit kompensieren sollte. Im operativen politischen System werden dann „Materialien zusammengetragen, über die die Menge nicht verfügt, und sie erfahren eine Verarbeitung, zu der die Menge nicht fähig ist“ (Durkheim 1896:133). 113 Er sah deswegen auch im Mehrheitsprinzip eine Gefahr für die Demokratie, in der die Mehrheit „einen drohenden Kreis um das Denken“ zieht (Tocqueville 1835:151). Auch er sprach von der „unwissende[n] und bornierte[n] Masse“ (ebenda:221). 114 Als Beispiele: In der Demokratie wird die Macht in Hände von Menschen gelegt, die „die selbstverständlichsten und entscheidensten Vorbedingungen nicht erfüllen“ (Mill

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kompetentere Bürger privilegiert (Mill 1861:152 f.). Er hat allerdings auch die Notwendigkeit der Entwicklung der Demokratie durch die Förderung politischer Kompetenz gesehen und damit eine Art pädagogischen Auftrag des Systems und seiner Institutionen formuliert (vgl. Mill 1861:50 f., 144; Dahl 1989:92 f.; Pateman 1970:29).115 Anders Schattschneider, der die Kompetenzproblematik nicht als Beleg eines kognitiven Defizits des Demos, sondern als Hinweis auf eine unerfüllte Bringschuld des operativen Systems deutete. Seine Demokratiedefinition lautete: „Demokratie ist ein auf Wettbewerb beruhendes politisches System, in dem konkurrierende Führer und Organisationen die Alternativen der nationalen Politik in einer Weise formulieren, dass die Öffentlichkeit an dem Entscheidungsprozess partizipieren kann“ (Schattschneider 1960:88; Hervorhebung r.a.; vgl. Lindblom 1977:221). Folgt man diesem Gedankengang, kann der Kompetenzdiskurs entweder als Symptomatik und Dokumentation des Versagens politischer Akteure und gesellschaftlicher Eliten interpretiert werden. Oder als strategische Manipulation der kollektiven Wahrnehmung, die die Machtinteressen und -ansprüche dieser Gruppen kaschiert bzw. begründet (hierzu auch Page, Shapiro 1993:61). Information. Vorbehalte gegenüber der Kompetenz der politischen Öffentlichkeit stützen sich primär auf die Annahme einer defizienten Informationsverarbeitung, das Unvermögen „die Tatsachen, die jedermann direkt zugänglich sind, richtig zu beobachten und zu interpretieren“ (Schumpeter 1942:403). Analysen der Informationssuche, -aufnahme und -verarbeitung im Vorfeld von Wahlen belegten die Überforderung des Demos (vgl. z.B. Downs 1957:225; vgl. z.B. auch Berelson et al. 1968:96 f.). Sie zeigten eine Diskrepanz zwischen dem Konzept demokratischer Partizipation und der begrenzten Fähigkeit zur Beteiligung: „Kein Einzelner ist unter modernen Bedingungen in der Lage, sich auch nur einigermaßen zu informieren über die Fragen, die in einem Partizipationsmodell gleichberechtigt auf seiner politischen Tagesordnung stehen müssten: von der städtischen Verkehrsplanung [...] bis zur Reform des internationalen Währungssystems“ (Scharpf 1970a:119; ähnlich Lindblom 1965:168). Eine aktualisierte Fortsetzung dieser Aufzählung würde die zunehmende Unübersichtlichkeit des Politischen illustrieren. Mit der kognitiven Barriere, die solche Themen für Partizipationsambitionen darstellt, erklärte Scharpf seinerzeit die rückläufige politische Beteiligung. Die „Diskrepanz zwischen der Zahl und Komplexität politischer Entscheidungen und der Informationsaufnahme- und -verarbeitungskapazität des einzelnen Bürgers“ (Scharpf 1861:147), oder „Es kann nicht nützen, sondern nur schaden, wenn die Verfassung eines Landes der Unwissenheit ebenso viel politische Macht einräumt wie dem Wissen“ (Mill 1861:156; vgl. 106, 143; vgl. auch M. G. Schmidt 2000:149 f.). 115 Ein Gedanke, der heute im Rahmen deliberativer Demokratiekonzepte wieder verfolgt wird (vgl. z.B. Fishkin 2009:78). Hierauf wird noch einmal eingegangen.

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1970a:118 f.) hat auch Sartori aufgegriffen. Er stellte fest, dass „die kognitive Fähigkeit und Beherrschung – immer mehr das Problem wird, wenn die Politik immer komplizierter wird“ (Sartori 1987:132; vgl. hierzu auch Schumpeter 1942:403). Er zeichnet ein ernüchterndes Bild von Informiertheit und Kompetenz einer überforderten politischen Öffentlichkeit (vgl. Sartori 1987:114; ähnlich Fishkin 2009:7).116 Komplexität. Doch greifen solche Annahmen einer defizienten Informationsverarbeitung möglicherweise etwas zu kurz: Die Überforderung der Öffentlichkeit wurde schon recht früh auf ihre eigentliche Ursache, die steigende Komplexität thematischer Räume, zurückgeführt. In den Federalist Papers spricht Madison von der „Unklarheit, die aus der Komplexität der Gegenstände und der Unvollkommenheit der menschlichen Vermögen erwächst“ (Hamilton et al. 1787:233 Nr. 37). Auch Mill hat die Herausforderung des politischen Systems durch gesellschaftliche Komplexität angesprochen.117 Komplexitätsdruck wurde im 19. Jahrhundert von Émile Durkheim beschrieben (vgl. 1896:97) und später von Lippmann als zentrales Problem politischer Informationsverarbeitung durch die Öffentlichkeit demokratischer Systeme identifiziert (Lippmann 1922:246; vgl. Keane 2009:357; Willke 2014:60, passim).118 Dewey hat seine ähnlich lautende Diagnose nicht auf anthropologisch bedingte Mängel zurückgeführt, sondern bereits auf die zunehmend technisch geprägte Umwelt bzw. Umgebung der politischen Öffentlichkeit (vgl. Dewey 1927:112). Er hat die durch funktionale Differenzierung, Innovation und Beschleunigung zunehmende gesellschaftliche Komplexität (Dewey 1927:112, 115, 118, 122 f., 124) und deren kognitive Bewältigung als wesentliche „intellektuelle Herausforderung“ (Wegmarshaus 2001:162) der Demokratie erkannt. 119 Er zeigte, dass es in der 116 Er sieht die Inkompetenz in der Öffentlichkeit moderner Demokratien durch eine Art Verlagerung kompensiert, da etwa in Wahlen primär über Entscheider, nicht aber über die Inhalte ihrer Entscheidung geurteilt wird (vgl. Sartori 1987:119, 146; Zolo 1992:183). Er kommt damit wieder in die Nähe Schumpeters (vgl. beispielsweise Schumpeter 19942: 449, 452) und damit elitenorientierter Konzepte – explizit in einem seiner älteren Texte (Sartori 1962:69 f.). 117 Würde man „überlegenen Verstandeskräften auch einen stärkeren Einfluss ein[]räumen, so würde ein politisches System jenen Grad relativer Vollkommenheit erreichen, der allein mit der Komplexität der menschlichen Belange vereinbar ist“ (Mill 1861:157). 118 An verschiedenen Stellen bezog er sich in diesem Sinn auf die „Vielschichtigkeit und Komplexität“ der Gesellschaft oder die „Komplexität des politischen Lebens“ (Lippmann 1922:21, 22). 119 „Das Problem einer demokratisch organisierten Öffentlichkeit ist hauptsächlich und wesentlich ein intellektuelles Problem, in einem Maße, das gegenüber den politischen Geschäften vorangegangener Zeitalter ohne Vergleiche ist“ (Dewey 1927:112).

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modernen Demokratietheorie nicht mehr nur um Erwartungen an die politische Öffentlichkeit gehen konnte. Gesellschaftliche, politische, technische Entwicklungen haben vielmehr schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu Kompetenzzumutungen für eine politische Öffentlichkeit geführt, die sich mit wachsender Unübersichtlichkeit konfrontiert sah. Mill hatte noch Lesen, Schreiben und Grundrechnen als Zugangsvoraussetzungen für politische Partizipation gesehen (Mill 1861:146).120 Etwas mehr als hundert Jahre später wurde der Bericht des Club of Rome vorgelegt, traten erste Umweltthemen in das öffentliche Bewusstsein, waren internationale und nationale Politik ebenso komplexer geworden wie die Lebenswelt der politischen Öffentlichkeit (vgl. auch Finley 1973:38). Das erforderte neue Formen und Inhalte des Wissens, die nicht unbedingt vorauszusetzen sind und deren Voraussetzung im Grund auch nie Teil der demokratischen Idee waren. Die nicht-konventionellen Hinsichten moderner Systemwelten, so nahm Schelsky an, sind demokratisch deshalb kaum zu bewältigen: „Der ‚technische Staat‘ entzieht, ohne antidemokratisch zu sein, der Demokratie ihre Substanz. Technisch-wissenschaftliche Entscheidungen können keiner demokratischen Willensbildung unterliegen, sie werden auf diese Weise nur uneffektiv“ (Schelsky 1961:459). Robert A. Dahl hat die offensichtlicher werdende Diskrepanz zwischen politischem Verständnis und hoher thematischer Komplexität als Grundproblem der Demokratie gesehen, die als Projekt ja selbst nur unter der Annahme zu rechtfertigen ist, „that ordinary people are, in general, qualified to govern themselves“ (Dahl 1989:97). Da ein „acceptable standard of competence“ (Dahl 1989:98, 124 ff.) angesichts der ausufernden Komplexität des Politischen (Dahl 1989:336) immer schwieriger zu halten ist, entsteht in seinen Augen eine Quasiherrschaft kognitiver Eliten, die das demokratische Projekt als Ganzes gefährdet. „The problem arises because of the gap between the knowledge of the policy elites and the knowledge of the ordinary citizens“ (Dahl 1989:338).121 Die Folge ist eine nicht mehr beobachtbare Politik und der sukzessive Verlust demokratischer Kontrollmöglichkeiten: „For complexity threatens to cut the policy elites loose from the ef-

120 In den Vereinigten Staaten waren bis in die 1960er-Jahre hinein „literacy tests“ Voraussetzung für die Teilnahme an Wahlen – besonders zulasten schwarzer Wähler (Schudson 1998:182 ff.) 121 Dabei müssen, darauf hat er ebenfalls hingewiesen, hinter dieser Entwicklung nicht einmal zwingend Machtaspirationen der Eliten stehen. Es genügen die Sachzwänge, um neue Tendenzen nichtdemokratischer Herrschaft zu begründen (vgl. Dahl 1989:335, 338). Eine neue Herrschaftsform, die sich nicht mehr über Macht oder Repressionsoptionen definiert, sondern allein durch „specialized knowledge“ (Dahl 1989:337), das eben der politischen Öffentlichkeit nicht zur Verfügung steht.

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fective control by the demos“ (Dahl 1989:335; vgl. Grande 2000:308).122 Die daraus resultierenden „asymmetrischen, informellen und intransparenten Tendenzen bei politischen Entscheidungen“ verweisen, so Schneider, auf „unrealistische Annahmen in der normativen Demokratietheorie“ (Schneider 2000:261). Habermas hat ebenfalls kognitive Probleme in demokratischen Verfahren identifiziert und im Rahmen seines deliberativen Ansatz verarbeitet: „Vielfältige Symptome für eine solche kognitive Überforderung der deliberativen Politik stützen die inzwischen verbreitete Annahme, dass eine nach demokratischen Verfahren ablaufende diskursive Meinungs- und Willensbildung zu wenig komplex ist, um das operativ notwendige Wissen aufnehmen und verarbeiten zu können“ (Habermas 1992b:389; vgl. 395). Dem System der politischen Öffentlichkeit fehlt demnach die erforderliche Vielfalt, um die Komplexität ihrer Umweltsysteme adäquat bearbeiten zu können – einschließlich der des gesamten politischen Systems, das unter zunehmenden „Komplexitätsdruck der Gesellschaft gerät“ (Habermas 1992b:390; vgl. 403; vgl. auch Dryzek 1990:60). Desinformation. Die Komplexitätszunahme der Gesellschaft, die die Etablierung der Demokratie erst ermöglichte (S. 131), scheint sie nun zu gefährden. Zolo sieht darin das „evolutive Risiko“ dieses Systemtyps (1992:86, 87). Es zeigt sich in der Verschiebung des Beobachtungsfokus von den Inhalten zu den Entscheidern 123, von den Themen zu den Symbolen und Inszenierungen. 124 Saxer spricht von einem der Logik der Unterhaltungsindustrie entsprechenden „Politainment“ (Saxer 2007:73, 222, 254).125 Crouch und Keane prägten die Begriffe der „Postdemokratie“ 122 Dahl hat dabei gerade auf die Folgen des Transformationsprozesses von der national staatlichen zur supranationalen Politik hingewiesen: „Even if attempts were made to create transnational ‚democratic‘ systems, the burdens of information, knowledge, and understanding they would place on their citizens would, I believe, far exceed those of national democratic systems – which, heaven knows, impose burdens that may already be excessive“ (Dahl 1994:31). 123 Vgl. Sartori 1987:119, 146; Zolo 1992:183; vgl. auch Dryzek 1990:155; Crouch 2003:41; Imhof 2005:72; Imhof, Kamber 2000:439; Huber 2012:49; Ohr 2000:290, 298; Kepplinger, Maurer 2005:64, 142, passim. Andere Autoren weisen darauf hin, dass eine generelle Tendenz zu einer Personalisierung nicht auszumachen ist (W. Schulz 2006:52; Huber 2012:104 ff., 151; Brettschneider 2002:187, 204 ff.; vgl. auch S. 265). 124 Vgl. Kepplinger 1998:158 f.; Imhof, Kamber 2000:440; Richter 2011:192, 198; Klein 2003:265 ff. Dazu gehört die aus vordemokratischen Wurzeln hervorgegangene, oft anachronistisch anmutende aufwendige Symbolik der Inszenierung politischer Macht bzw. Kompetenz und ihrer körperlichen und ästhetischen Repräsentation (vgl. Manow 2008:134 ff.; Richter 2011:106 f.; G. Klein 2003:610, 614). 125 Er hält es für möglich, dass diese Inszenierungspraktiken allerdings auch eine insbesondere im Hinblick auf die Unübersichtlichkeit des Politischen positive Funktion

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bzw. der populistischen, mediendominierten „Überdemocracy“, in der substanzielle politische Diskurse im unablässigen Rauschen aufgeregten Entertainments untergehen (Crouch 2003:30 ff.; Keane 2009:763).126 Diese letztlich entpolitisierte Politik „postdemokratischer Spektakel-Gesellschaften“ (Agamben 1995:20; vgl. Debord 1967:14 ff.) kann als Folge zunehmender Überforderung gesehen werden. Die Wahrnehmung der politischen Themenräume als hoch komplex und schwer gestaltbar führt dazu, dass Kompetenzpräsentationen und -ansprüche in der politischen Öffentlichkeit unglaubwürdig werden und der Eindruck eines „organisierten Dilettantismus“ im System entsteht, dessen Operationen oft nur noch über ihren Unterhaltungswert plausibel gemacht werden können (Wehner 1997:259, 262 f.; vgl. Richter 2011:198; Saxer 2007:100). Zum Teil erklärt das die durch die Kommunikations- und Publikationsmöglichkeiten des Internets zunehmende Bedeutung des Skandals in der Politik (Castells 2001:170; Pörksen, Detel 2012:27, passim; Keane 2009:741). Die Komplexität der Themen und die Unmöglichkeit ihrer öffentlichen Bearbeitung führen nach Ansicht mehrerer Autoren zu hermetischen politischen Prozessen unter der Kontrolle von Eliten, die ihre Ziele mit Technologien des Marketings, der Manipulation und der systematischen Desinformation durchsetzen (vgl. Zolo 1992:200, 208; Crouch 2003:32, 93 ff.; Schumpeter 1942:409, 418; J. Klein 1998:191 ff.; Chadwick 2006:202). Das ist möglich, weil eine schlecht informierte Öffentlichkeit leicht manipulierbar ist: „Raw public opinion is vulnerable to manipulation because it is volatile, based on low information levels, susceptible to misinformation, strategically incomplete information, and priming“ (Fishkin 2009:125; vgl. 7). Manipulation und Desinformation gehen nach Zolo von einer Art Kartell des Wissens aus, das Operativsystem und private Kommunikationsmedien bilden (vgl. Zolo 1992:203), die „heute nicht nur Agenturen der politischen Sozialisierung, sondern, allgemeiner, der Hervorbringung und gesellschaftlichen Verteilung des haben können: „Mit Euphorisierung und Personalisierung als erfolgserprobten unterhaltungskulturellen Ansprechtechniken vermag im Gelingensfall professionalisiertes Politainment emotional attraktive und kognitiv nachvollziehbare Zugänge zur Demokratie zu eröffnen“ (Saxer 2007:280). 126 Mit dem ironisch gemeinten Begriff der „Überdemocracy“ bezeichnet Keane Formen des modernen, personenzentrierten, von ökonomischer und medialer Macht getragenen Populismus, dessen einfache Botschaften, Themen und Inszenierungen auch als eine Art pathologischer Reflex auf die Zumutungen der Monitory Democracy gedeutet werden können (Keane 2009:762 ff.). Diese „fake forms of democracy“ (Keane 2009:765) tendieren insbesondere durch ihre Fixierung auf charismatische Führungspersönlichkeiten, die sich über die Medien oder das Internet direkt an das Volk wenden bzw. sich als dessen Sprecher darstellen, zu Formen „illiberaler Demokratie“ (Zakaria 1997:5).

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Wissens sind“ (Zolo 1992:191; ähnlich Sartori 1987:102). Diese interessengeleitete Allianz reduziert für eine überforderte Öffentlichkeit die überbordende Komplexität des Politischen und drängt sie dabei zugleich an den Rand des politischen Geschehens, das sie nur noch in Gestalt unterhaltungsorientierter Konsumenten beobachtet – eben als Publikum, um noch einmal auf Luhmanns Begriff zurückzukommen.127 Solche Analysen konstatieren Gefahren für die Demokratie. Von einer anderen Warte werden, damit korrespondierend und ebenfalls mit Verweis auf Wissen und Kompetenz, außerdem Gefahren durch die Demokratie gesehen. Kitcher etwa blickt auf die im Wissenschaftssystem etablierte Annahme anthropogener Ursachen der Erderwärmung (2012:193 ff.). Diese wird (zumindest in den USA), nicht zuletzt aufgrund massiver, ökonomisch motivierter Einflussnahmen, von der Öffentlichkeit überwiegend skeptisch bewertet. Er stellt die Frage, inwiefern demokratische Normen angesichts einer massiven globalen Bedrohung haltbar sind, wenn diese Bedrohung vom Demos negiert wird und daher keine angemessene politische Aktivität ausgelöst werden kann (Kitcher 2012:200 ff.; vgl. 2001:117 ff.; Gabriel 2004a:87). Mangelndes Wissen und Desorientierung des Demos könnten missverständliche Irritationen des operativen Systems auslösen, deren Interpretation dann zu riskanten Resonanzen führt (vgl. Kuklinski, Quirk 2000:178, 181 f.; Fishkin 2009:74; Lutz 2006:226; Galston 2001:220; Delli Carpini, Keeter 1996:57; Caplan 2007:2 f., 62).128 Dem nicht unähnlich sind die Befürchtungen Wendy Browns in Bezug auf die Verschmelzung von Politik und Ökonomie, die Prozesse von Deregulierung, Privatisierung und das Agieren der Finanzökonomie. „Die breite Masse, der Demos, kann die meisten dieser Entwicklungen nicht verstehen oder nachvollziehen geschweige denn bekämpfen oder ihnen andere Ziele gegenüberstellen“ (Brown 127 Morozov bewertet die Rolle des Internets in dieser Hinsicht kritisch und fragt: „What if the liberating potential of the Internet also contains the seeds of depoliticization and thus dedemocratization?“ (2011:59). Ein Entpolitisierungspotenzial sieht er darin, dass Internet und audiovisuelle Medien nicht primär Bedürfnisse nach politischen Inhalten, sondern nach Unterhaltung, Konsum, Ablenkung aktivieren oder befriedigen – selbst in autoritären Systemen (vgl. auch Morozov 2011:58, 65, 81; Grossman 1998:88). 128 Durch Feedback-Prozesse wirken diese Defizite in die sozialen Systeme, in die Diskurse zurück, „parties (and other elites) that serve as cue givers for the public also take their cues from the public […] The less informed citizens are, the more likely that campaigns will devolve into sensationalism and demagoguery, as the media and political leaders play to the public’s baser instincts or seek to capital ize on their inability to distinguish between fact and fiction” (Delli Carpini, Keeter 1996:57; vgl. auch Schütz 1946:134; Zaller 2004:205). Caplan bezeichnet dies polemisch als „Garbage in, garbage out“ (Caplan 2007:2).

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2009:58). Insofern sieht auch sie eine Gefahr für die Demokratie. Gefährlicher erscheint ihr aber, „in einer zunehmend unübersichtlichen und überwältigenden globalen Landschaft ohne orientierenden Horizont“ (Brown 2009:69), die Gefahr reaktiver antidemokratischer Entscheidungen durch den Demos (vgl. auch Offe 1999:266).

5.5 D AS

DEMOKRATISCHE

D ILEMMA

Die Schlüsse, die Lupia und McCubbins aus dem hier nur grob skizzierten Diskurs zogen, haben sie unter dem Begriff des demokratischen Dilemmas subsumiert: „It is widely believed that there is a mismatch between the requirements of democracy and most people‘s ability to meet these requirements. If this mismatch is too prevalent, then effective self-governance is impossible. The democratic dilemma is that the people who are called upon to make reasoned choices may not be capable of doing so“ (Lupia, McCubbins 1998:1; vgl. 12).

Dieses Dilemma wurde auch von einigen anderen Autoren konstatiert. Ursache, darin scheinen sie sich einig, ist eine überforderte, schlecht informierte und zum Teil desinteressierte politische Öffentlichkeit – „Hopes for an electorate that measures up to civic ideals have not been met” (Popkin 1991:34).129 129 Buchstein spricht zum Beispiel vom „meistzitierte[n] Diktum der Demokratietheorie. Es lautet, dass die liberale Demokratie von Voraussetzungen lebt, die sie selbst nicht garantieren kann; oder, um es anders zu formulieren, dass das demokratische System die Sorte von Akteuren, die es zur Realisierung seiner Regeln benötigt, nicht selbst produzieren kann“ (1996:295). Sartori betont den dilemmatischen Aspekt: „Die Demokratie ist zwar komplizierter als jede andere politische Form, doch paradoxerweise kann sie nicht fortbestehen, wenn ihre Grundsätze und Mechanismen den geistigen Horizont des Durchschnittsbürgers übersteigen“ (1987:23). Der Begriff findet sich auch bei Delli Carpini und Keeter; für sie liegt die Paradoxie allerdings im Funktionieren der amerikanischen Demokratie trotz ihrer schlecht informierten politischen Öffentlichkeit (vgl. 1996:22 f.). Auch Schattschneider verwendete, wenn auch aus einem anderen Blickwinkel, den Begriff des Dilemmas. „Wenn wir voraussetzen, dass das Volk ‚herrscht‘, folgt daraus, dass die herrschende Mehrheit mehr wissen müsste, als irgendeine Mehrheit jemals zuvor gewusst hat oder jemals wissen könnte. Das wäre die reductio ad absurdum der Demokratie-Theorie. Wir können dem Dilemma nicht entrinnen, indem wir 1. durch eine ungeheure Anstrengung jedermann so vollkommen erziehen, dass er genug weiß, um solche Entscheidungen treffen zu können, oder indem wir 2. die Teilnahme des Volkes auf jene beschränken, die in diesen Dingen aufs Beste be schlagen sind. Ersteres ist unmöglich. Der zweite Punkt ist absurd, weil niemand die zum Herrschen erforderlichen Qualitäten auf sich vereinigt“ (1960:85).

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Dieses Buch möchte das Augenmerk auf das Problem der Unübersichtlichkeit lenken. Es ist insofern als Ergänzung und nicht als Kritik dieser Beiträge gedacht. Es geht davon aus, dass Unübersichtlichkeit als ein Aspekt des Dilemmas – unter anderen – zu sehen ist, der sich nicht allein auf defiziente Informationsverarbeitung zurückführen lässt, sondern auf die enorme Komplexität der Themenräume und die Kontingenz der Bearbeitungs- und Deutungsprozesse, die die Beobachtung der Politik immer schwieriger werden lassen. Ein Hinweis in diese Richtung findet sich beispielsweise bei Habermas, der feststellt: „Je mehr die Komplexität der Gesellschaft und der politisch zu regelnden Probleme zunimmt, umso weniger scheint es möglich zu sein, an der anspruchsvollen Idee von Demokratie, wonach die Adressaten des Rechts zugleich deren Autoren sein sollen, festzuhalten“ (Habermas 2013:67). Unübersichtlichkeit ist ein Problem in einem spezifischen historischen Kontext, das durch Kapazitätserweiterung – etwa optimierte Informationsverarbeitung oder Technologie – kaum zu lösen ist. Insofern unterscheidet sich Unübersichtlichkeit auch von dem von Downs benutzten Begriff der Ungewissheit (Downs 1957:13, passim). Ungewissheit ist im Prinzip durch Information und Wissen auflösbar: Je mehr Informationen verfügbar sind, um so sicherer und rationaler werden politische Selektionen verlaufen (vgl. Downs 1957:44, 75 ff.). Es mag, auch bei nicht-konventionellen Themen, möglich sein, durch elaboriertes Wissen und umfassende Information, einzelne Areale zu übersehen, kognitiv weitgehend erfassen und intellektuell durchdringen zu können, aber es wird immer schwerer, das Panorama der politisch relevanten bzw. als relevant erscheinenden thematischen Räume in ausreichend hoher Auflösung im Blick zu behalten und zu all diesen Themen zu sicheren politischen Urteilen zu gelangen. Unübersichtlichkeit lässt sich auch nur um den Preis geringerer Komplexitätsfähigkeit durch Rückgriff auf klassische Kategorienwelten oder ideologische Schemata reduzieren.130 Sie kann zudem kaum über individuelle oder kollektive Nutzenerwägungen bzw. Kostenkalküle aufgelöst werden. Gerade nicht-konventionelle Themen erlauben es selten, den Nutzen für Individuen, Gruppen, Systeme eindeutig zu spezifizieren und ihm abschätzbare, aktuelle und künftige Kosten mit einer gewissen Sicherheit gegenüberzustellen. Selbst kollektive Güter (Downs 1957:167, 179) sind in solchen Kontexten nicht mehr mit Sicherheit klar zu identifizieren.

130 Zumal diese Unterscheidungsschemata ihre Leistungskraft verloren haben: „Whether it is the opposition between left and right in politics, distinctions such as those between nationals and foreigners, nature and society, First and Third World, centre and periphery – everywhere we find deflated linguistic formulas, broken coordinates and hollowed-out institutions. Familiar concepts are becoming memory traces of a bygone era“ (Beck 2016:57).

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Paradoxien. Unübersichtlichkeit tritt in unterschiedlichen Bereichen mit unterschiedlichen Bezügen, Mustern und Wirkungen auf. Deshalb erscheint es auch sinnvoll, von einer Mehrzahl, von Dilemmata oder Paradoxien, spätmoderner Demokratien zu sprechen.131 Vielfalt und Kontingenz sind primär positive, innovationsund leistungsfördernde Attribute sozialer und so auch politischer Systeme. Demokratien sind besonders geeignet, erforderliche Vielfalt zuzulassen oder zu erzeugen. Allerdings produzieren sie Unübersichtlichkeit und belasten die politischen Systeme mit Paradoxien, durch die gerade die Stärken des Systemtyps in spezifische Schwächen umzuschlagen scheinen. •





Demokratische politische Systeme sind auf die Steigerung interner Kontingenz und Komplexität, im Sinn der erforderlichen Vielfalt, angewiesen, um an eine möglichst große Zahl von Umweltzuständen anschließen und ein Maximum an demokratischer Inklusion erreichen zu können (S. 130). Sie steigern dadurch die Unübersichtlichkeit, komplizieren ihre Beobachtung und geraten mit eigenen Prämissen in Konflikt. Reduzieren sie innere oder äußere Komplexität jedoch zu sehr, vermögen sie nur noch unterkomplex zu agieren und geraten ebenfalls mit ihren Prämissen in Konflikt. Demokratie bedeutet wesentlich Kontingenzcodierung kommunikativer Grenzen (S. 33). Aber: „je mehr Kontingenzbewusstsein, desto größer der politische Gestaltungsraum, je mehr gesellschaftliche Kontingenz, desto größer der Bedarf an politischer Entscheidung“ (Greven 1997:235). Die Expansion der Kommunikationen in neue thematische Räume steigert jedoch die Unübersichtlichkeit der politischen Sphäre einer Gesellschaft, die ohnehin immer komplexer wird und Entscheidungen dadurch immer mehr kompliziert. Beteiligungsoffenheit setzt intensive politische Kommunikation voraus, die in eine Selbstbelastung sowohl der politischen Öffentlichkeit als auch des politischen Entscheidungssystems führt. Das äußert sich insbesondere in der Datenverarbeitung und Informationsproduktion (S. 101). Die „vollkommen informierte Demokratie“, von der Downs sprach (Downs 1957:199), ist, etwas überspitzt formuliert, keine Zielvorstellung mehr, sondern eine reale Bedrohung. „Je mehr Information freigesetzt wird, desto unübersichtlicher wird die Welt“ (Han 2012:68). Die Produktion von Informationen ist eine Voraussetzung demokratischer Prozesse, blockiert sie aber zugleich, weil sie deren Unübersichtlichkeit steigert (vgl. Kepplinger 1998:203 f.).

131 Der zweite Begriff wird hier vorgezogen, da das Dilemma hier als Eigenschaft der Selektionssituation verstanden wird, während das Paradox die kontradiktorischen Voraussetzungen der Situation beschreibt. Das ist eine Interpretation der von Watzlawick et al. beschriebenen „pragmatischen Paradoxien“ (Watzlawick et al. 1967:178 ff.). Der Begriff wird beispielsweise auch von Delli Carpini und Keeter benutzt (vgl. 1996:60).

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Die gesellschaftliche Bedeutung von Wissenschaft und Technik lässt Sachverhalte demokratiepflichtig (S. 149) werden, deren Beobachtung immer voraussetzungsvoller wird. Das System muss, auch deshalb, Experten involvieren, um entscheidungsfähig und problembewusst zu bleiben. Die Experten erhöhen die Unübersichtlichkeit aber oft noch weiter (S. 163 ff.). Demokratien entfalten im Kontext sozialen und kulturellen Wandels, technischer und wissenschaftlicher Innovationen zum Teil sehr spezifische Kompetenzzumutungen, die ihren Träger – die politische Öffentlichkeit – politisch zu marginalisieren drohen (S. 145 ff.). Eine Verweigerung von Anpassungsleistungen, etwa im Sinn von Null-Optionen (S. 289), ist jedoch kaum denkbar und vermutlich nur unter Verletzung demokratischer Prämissen möglich. In nicht-konventionellen Räumen stehen häufig Entscheidungen mit langfristigen Wirkungsketten und potenziell irreversiblen Konsequenzen zur Diskussion (S. 96). Diese Themen lassen eine sichere Folgenabschätzung meist nicht zu. Ihre diskursive Bearbeitung blockiert die geforderten Entscheidungen, ihre politische Nichtbearbeitung, oder die Verlagerung in nicht-politische Systeme, verletzen demokratische Prinzipien. Die Ausweitung politischer Radien verlangt eine adäquate diskursive Struktur. Aber es fällt „zunehmend schwer, die Interdependenzen in der Umwelt systemintern abzubilden und in kommunikative Behandlung zu übersetzen“ (Luhmann 1987:58). Nicht-konventionelle Themen sollen von der politischen Öffentlichkeit in Bezug auf politische Gesichtspunkte, also im Rahmen ihres Differenzschemas, bearbeitet werden. Spezifische Inhalte und „Fremdsprachen“ lassen sich durch das Politische aber nicht vollständig verdecken, die Räume nicht so politisieren, dass die Fremdreferenzen nicht mehr durchscheinen und damit die Kommunikation entlasten (S. 154). Eine stärkere Re-Politisierung könnte umgekehrt zu unterkomplexer Politik führen, die langfristig demokratischen Prämissen zuwiderliefe. Kommunikationsintensive demokratische Prozesse sind per se langsam, bei den folgelastigen Entscheidungsanforderungen nicht-konventioneller Themen nimmt der Zeitbedarf noch zu. Die Beschleunigungslogik der Spätmoderne akzeptiert solche Langsamkeit jedoch nicht mehr. Beschleunigte das System sein Tempo, verstieße es gegen demokratische Prämissen. Die Rationalisierung politischer Prozesse, ihre primäre Legitimation durch Verfahren (S. 136), schaffen Beobachtungsprobleme und Intransparenzen, die durch fehlende ontologische Abstützung noch verschärft werden. Würde diese verstärkt, wären Rationalität und Modernität der Demokratie gefährdet. Demokratien nutzen Repräsentation und Delegierung, auch um Komplexitäten aus den öffentlichen Diskursen auszulagern (S. 157). Sie produzieren dadurch neue strukturelle Kontingenz und Komplexitäten, die die Beobachtung komplizieren. Sie erzeugen außerdem Asymmetrien, denn Unübersichtlichkeit reprodu-

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ziert politische Ungleichheit, die wiederum demokratische Selbstbeschreibungen entwertet. Demokratiekonzepte, die Wissens-Asymmetrien durch intensivierte Partizipation kompensieren wollen, etwa Barbers „Starke Demokratie“ (1984) oder Ungers „Hochtemperatur-Demokratie“ (2005), steigern die Wissenszumutungen noch und konterkarieren sich damit möglicherweise selbst.

Solche Erwägungen scheinen, wie auch einige Beiträge zum Wissensdiskurs, auf die Frage hinauszulaufen, ob und wie eine mit der „Herausforderung manifester Hyperkomplexität konfrontiert[e]“ Demokratie überhaupt noch funktionieren kann (Willke 1997:77; 2014:63). Angesichts der „Formen und Ausprägungen kollektive[n] oder systemische[n] Nicht-Wissen[s]“ (Willke 1997:157) erscheinen Konzepte einer engen Kopplung von politischem Operativsystem und politischer Öffentlichkeit obsolet oder naiv. Dieses Räsonieren über die „Frage der Vereinbarkeit von Demokratie und Modernität“ (Willke 1997:76; vgl. 2002:206; 2014:25) passt gut in die neoliberale Erzählung mit ihrer Tendenz zu eliteorientierten Lösungen. 132 Aber sie lenkt die Aufmerksamkeit doch auf ein grundsätzlich gewordenes Problem: Spätmoderne Demokratien können, wegen der zunehmenden Unübersichtlichkeit des Politischen, möglicherweise keine aufgeklärte, politisch kompetente Öffentlichkeit mehr voraussetzen und erfüllen damit eine ihrer essenziellen normativen Voraussetzung nicht mehr.

132 Erkennbar bei Willke, der aus der Entwicklung z.B. auch Schlüsse auf den modernen Staat zieht. „Ohne eine substanzielle Rückführung der Aufgaben des Staates auf Kern kompetenzen und essenzielle Kollektivgüter besteht nicht die geringste Chance für die Politik, die überbordende Komplexität gesellschaftlicher Prozesse, Probleme und Projekte zu überschauen, geschweige denn zu steuern“ (Willke 1997:307; 2014:145 f.; vgl. auch Michelsen, Walter 2013:109 f.).

6

Unübersichtlichkeit und politisches Individuum

Bisher wurden die Auswirkungen der Unübersichtlichkeit auf die politische Öffentlichkeit beschrieben. Nun soll der Blickwinkel gewechselt und untersucht werden, ob das Individuum die Instanz sein könnte, von der eine Beherrschung oder Redu zierung der Unübersichtlichkeit, eine Auflösung des demokratischen Dilemmas ausgehen könnte.

6.1 P OLITISCHES I NDIVIDUUM

UND

S UBJEKT

Ein solcher Ansatz widerspricht auf den ersten Blick einem im ersten Kapitel angesprochenen systemtheoretischen Diktum: Soziale Systeme, und so auch die politische Öffentlichkeit, bestehen nicht aus Menschen; die hier betrachteten Kommunikationssysteme sind keine Organisationen von Individuen. In diesem Theorierahmen scheinen Beitrag und Bedeutung von Individuen für soziale Systeme nicht darzustellen zu sein. „Menschen“ gelten der Systemtheorie als Teil der Umwelten sozialer Systeme (S.20; Luhmann 1984:346; Fuchs 1992:26, 31; vgl. Joas, Knöbl 2004:384 f.). Was in der Wahrnehmungslogik der Lebenswelt widersinnig erscheint, ist bei einer analytischen Betrachtung sinnvoll. In ihr kann der Mensch, als konkrete und umfassende Einheit aus Geist und Körper (vgl. Luhmann 1984:186), kaum als Teil solcher Systeme thematisiert werden. Bereits Simmel ging von einer Unabhängigkeit des Sozialen vom Individuellen aus (vgl. Simmel 1890:133). Soziale Systeme beschrieb er nicht als Kompositionen aus Individuen, sondern als Strukturen mit eigener Persistenz, auch eigenen Wissensbeständen, die nicht auf Personen angewiesen sind und „wo eine Summe von Erkenntnissen und sittlichen Lebensinhalten vorhanden ist, die durch die Teilnahme der Einzelnen weder vermehrt noch vermindert werden“ (Simmel 1890:133). Ähnlich argumentierte Parsons. Er hat seine Handlungstheorie dezidiert abgesetzt von „unserer alltäglichen Vorstellung, dass die Gesellschaft sich aus konkreten menschlichen Individuen zusammensetzt“ (1966:19; vgl. Luhmann 1969:249 ff.). Sein Rollenkonzept schloss die „Totalinklusion“ (Nassehi 2009:281; Fuchs 2003:24) des

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Menschen in soziale Bezüge aus. Inklusion in soziale Zusammenhänge bezieht sich auf Rollen oder funktionale Korrelate zu funktionssystemischen Anforderungen (vgl. Nassehi 1999a:115). Sie ist hoch selektiv und nicht umfassend. Die kompakte Vielfalt, die in der lebensweltlichen Wahrnehmung einen „Menschen“ ausmacht, die Koinzidenz biologischer, neuraler, sozialer und anderer Gesichtspunkte wird dabei aus einem analytischen Interesse heraus abgeblendet. Die sozialen Aspekte des Menschseins lassen sich aufgrund der Vielfalt simultan existierender, unterschiedlicher Rollen, Referenzen, Präferenzen und Selbstbeschreibungen – Vater, Arbeitnehmer, Wähler, Motorradfahrer, Katholik, Jazzmusiker, Deutscher – kaum in einem System verorten oder integrieren (Hahn 1997:118, 131; vgl. Luhmann 1969:168 f.; Reckwitz 2006:24; vgl. auch Laing 1967:89; Adorno 1958:70). Funktional spezialisierte soziale Systeme sehen jeweils nur einzelne Aspekte dessen, was in der Alltagswahrnehmung einen Menschen ausmacht (vgl. auch Münkler, Ladwig 1997:21). Die Annahme einer Totalinklusion ist daher weder möglich noch sinnvoll (vgl. Fuchs 1992:203), stattdessen wird von einer „Multiinklusion“ des Individuums in unterschiedliche Funktionssysteme und Kommunikationszusammenhänge ausgegangen (Nassehi 2009:281).1 Die Trennung von System und Individuum. Zur Umwelt der zu sozialen Systemen stabilisierten und ausdifferenzierten Kommunikationen zählen, unter anderen, Bewusstseinssysteme (Luhmann 1995b:30 f.).2 Die Autopoiesis der Ersten basiert auf Kommunikation, die der Zweiten auf Wahrnehmungen, Gedanken und Kognitionen (vgl. Luhmann 1995b:30 f.; Fuchs 2003:49). 3 Kommunikationen können, aus dieser analytischen Perspektive, nicht aus Gedanken reproduziert und Denken kann nicht aus Kommunikation fortgesetzt werden. Denken und Kommunizieren sind die genuinen Grundoperationen dieser Systeme, die nicht ineinander überführbar oder aufeinander zurückführbar sind (vgl. Luhmann 1995b:30; 1984:355; Fuchs 1992:33; 2001:210 f.; Baecker 2005:87, 95; Nassehi 2003a:97). Es handelt sich um originäre Eigenleistungen der jeweiligen Systeme, die nicht auf tiefer gelagerten oder von ihnen aus externen Strukturen basieren. Sowenig Kommunikation auf Denken zurückgeführt werden kann, sowenig Denken auf neurale Operationen oder diese etwa auf biochemische Prozesse (vgl. Luhmann 1995b:45 f.; 1

Womit den Individuen eine integrative Funktion in Bezug auf disparate Systemzusam-

2

Hier wird der Begriff der Bewusstseinssysteme verwendet. In der Literatur erscheint auch

menhänge zukommt (vgl. Görlitz, Adam 2003:280). der Begriff der psychischen Systeme (etwa Luhmann 1995b:45, passim. Zur Begriffsdiskussion, auf die hier nicht eingegangen werden soll, siehe Fuchs 2003:34 f., aber auch Wilkes 1996:119 ff., die, aus philosophischer Sicht, den Terminus des Bewusstseins im epistemischen Kontext für nicht brauchbar hält). 3

Bewusstseinssysteme wurden von Luhmann explizit als autopoietische Systeme bezeichnet (Luhmann 1995b:156).

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2000:374 ff.; Fuchs 2001:84; Bieri 1996:66 ff.; vgl. auch Singer 2002:41, 62, 178). 4 Auch umgekehrt kann beispielsweise die Autopoiesis auf der Ebene der Gedanken nicht als soziale Operation aufgefasst oder als solche rekonstruiert werden. 5 Die Zusammenführung. Den Menschen der Umwelt sozialer Systeme zuzurechnen, bedeutet weder den Einfluss des Sozialen auf sein Denken und Handeln noch seine Bedeutung für die unterschiedlichen sozialen Systeme gering zu schätzen oder zu negieren. Schon in Simmels Differenzierung ist die eigentümliche Zusammengehörigkeit des Differenten präsent: „[D]as Allgemeine, das die Individuen zu einer Gesellschaft zusammenbindet, [steht] jedem von diesen gegenüber – von ihm getragen und doch von ihm unabhängig“ (Simmel 1890:135). Auch in der Theorie sozialer Systeme steht außer Frage, dass Bewusstseins- und soziale Systeme weder unabhängig voneinander existieren noch gedacht werden können (Luhmann 1995b:31, 40). Sie müssen vielmehr als Intersystembeziehung rekonstruiert (Luhmann 1984:190, 311) und damit in den Rahmen der Logik der Informationsprozessierung gestellt werden, in der sich beide Systemtypen wechselseitig beobachten und irritieren.6 4

Allerdings können diese Systeme durch jeweils nichtsystemische Bedingungen, etwa den Tod, zerstört werden (Luhmann 1995b:41). Daraus kann, im sozialwissenschaftlichen Kontext, keine Rückführbarkeit des autopoietischen Bewusstseinssystems auf nichtpsychische, auf biologische Kategorien abgeleitet werden. Die Vorstellung einer Art Hierarchie, die von der Biologie über das Denken zum sozialen System reicht, kann auch aus dem Tod nicht hergeleitet werden. Simmel betonte, dass das Soziale unabhängig vom Tod des Individuums zu denken ist (vgl. Simmel 1890:133). Mit diesem Ansatz werden soziale, kommunikative Einwirkungen auf den Körper (mit der Folge etwa psychosomatischer Reaktionen auf gesellschaftliche oder familiäre Umstände) bis hin zur Anwendung von Gewalt, etwa Folter, nicht negiert oder ignoriert. Der Körper kann auch aus dieser theoretischen Perspektive als „soziale Tatsache“ gesehen werden, ebenso wie der unmittelbare Zugriff auf das soziale Individuum über seinen Kör per thematisiert werden kann (vgl. Hahn 1988:666 ff., 677). Luhmann verwendete den Begriff der symbiotischen Symbole: Sie „ordnen die Art und Weise, in der Kommunikation sich durch Körperlichkeit irritieren lässt“ (1997:378). „Symbiotische Mechanismen“ wiederum thematisieren die Durchgriffe der Systeme auf die Physis (1975a:61 f.).

5

Damit werden Abhängigkeiten, Wechselwirkungen usw., wie gleich gezeigt wird, nicht negiert. Sie stellen aber, wie Luhmann es ausdrückte, eher „ökologische Beziehungen“ dar. Denn der „Fortgang von Gedanke zu Gedanke und der Fortgang von Kommunikation zu Kommunikation laufen nicht im selben System ab. Die Anschlussfähigkeit ist ganz unterschiedlich geregelt. Das, was man Subjekt nennt, kann nie Teil eines sozialen Sys tems sein“ (Luhmann 1995b:170).

6

Beobachter können Individuen, aber auch soziale Systeme sein. „Beobachter sind entweder psychische, auf der Basis bewusster Aufmerksamkeit, oder soziale, auf der Basis

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Die Beziehung beider Systemwelten realisiert sich in der strukturellen Kopplung durch Sprache (vgl. Luhmann 1995b:32, 42; 1997:103, 113). 7 Strukturelle Kopplung autopoietischer, informationell geschlossener Systeme ermöglicht, wie im ersten Kapitel beschrieben, Irritation und Resonanz, sogar wechselseitige Voraussetzung, aber keine Determinierung (Luhmann 1995b:158). 8 Das Konzept der Autopoiesis schließt die Übertragung von Information (entsprechend dem klassischen, auch von Easton benutzten Kommunikationsmodell) aus (S. 14 ff.). Psychische Systeme können Bewusstsein so wenig als Input an soziale Systeme weitergeben, wie diesen psychische Prozesse unmittelbar zugänglich sind (Luhmann 1995b:70, 101, 111). Individuen können jedoch Wahrnehmungen und Deutungen von Wahrnehmungen „in die Kommunikation einbringen“ (Luhmann 1995b:112), die, in Form von „Beiträgen“ (Luhmann 1995b:45), dort als Irritationen, als Daten präsent werden, intern und konstruktiv zu Informationen aufbereitet von Kommunikation operierende Systeme“ (Luhmann 1992a:79). Luhmann sprach von der „Fremdbeobachtung sozialer Systeme durch psychische Systeme“ (1987:77). 7

Das weist nicht nur auf die Bedeutung der Sprachkompetenz hin, sondern auch auf die weitreichende Rückbezüglichkeit der Kopplung. Fuchs hat Bewusstsein als sprachlichen Weltkontakt des psychischen Systems bezeichnet (Fuchs 2003:70). Auch „in seelischen Vorgängen findet stets Rede statt“ (Gehlen 1940:166; Arendt 1971:370). Somit können sich „bewusste Systeme offenbar einzig mit sozial angeliefertem Zeichenmaterial beobachten“ (Fuchs 2003:10, 15, vgl. 95 f.; Hervorhebung r.a.; Nietzsche band Bewusstsein generell an Mitteilungsfähigkeit (Nietzsche 1882:590 ff.). Roth widerspricht dem – aus neurobiologischer Sicht ist Bewusstsein nicht auf Sprache angewiesen (Roth 2003:61).

8

Beide Systemtypen bleiben füreinander und untereinander intransparent (vgl. Luhmann 1995b:189; vgl. Fuchs 1992:189). Beide sind, auf der Basis struktureller Kopplungen, in der Lage, auf ihre Wirkungen in der Umwelt zu schließen und sich an dieser zu orientieren. Bewusstseinssysteme können soziale Systeme beobachten, das Umgekehrte scheint jedoch nicht möglich (vgl. Luhmann 1995b:47). Für soziale Systeme bleibt das Individuum opak. Im Politischen gilt das beispielsweise auch für die öffentliche Meinung, bei der es sich nicht um „die kommunikativ zu erschließenden Zustände individueller psychischer Systeme“ handelt (Luhmann 2000:284). Auch zwischen Bewusstseinssystemen besteht kein direkter Kontakt, sondern nur die Möglichkeit der Beobachtung von Kommunikationen (Luhmann 1995b:58). Jeder Kontakt ist Selbstkontakt: „Wir bleiben einander unverfügbar“ (Hahn 1997:135, vgl. 136). Die Intransparenzannahme gilt für alle Systemtypen. „Ob es sich bei den einander beobachtenden Systemen nun um Personen oder soziale Systeme handelt, immer stehen sie einander wie Black Boxes gegenüber, das heißt: Sie sind füreinander nicht voll durchsichtig. Das, was die eine von der anderen sieht, ist niemals deren Gesamtkomplexität, sondern eine Reduktion. Und das wird auch wechselseitig unterstellt“ (Hahn 1998b:503; Laing 1967:12).

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werden und zu resonanten Anschlüssen führen können (vgl. Baecker 2005:75; Fuchs 2003:30).9 Beiträge werden in sozialen Systemen hochselektiv, insbesondere durch Schriftlichkeit, zu langzeitverfügbarem Wissen verdichtet und können dort systemisch verfügbare Kompetenzen anreichern (vgl. S. 139; vgl. Luhmann 1995b:113), die wiederum wechselseitige Wirkungen mit Orientierungspotenzial entfalten – so auch die Möglichkeit, „sich vom Wissen anderer her zu verhalten“ (Gehlen 1940:293). Diese Schließung des Beziehungskreises zwischen sozialen und psychischen Systemen, und somit auch zwischen politischer Öffentlichkeit und politischem Individuum, wird durch Interpenetration ermöglicht. Interpenetration, die Kopplung sozialer Systeme an Bewusstseinssysteme, bedeutet, dass im fokalen System „die Einheit und Komplexität (im Unterschied zu: spezifischen Zuständen und Operationen) des jeweils anderen eine Funktion erhält“ (Luhmann 1995b:51, 146; vgl. Fuchs 1992:181 ff.; 2003:34 f.), weil es dessen Potenziale dauerhaft steigert. So kann „ein autopoietisches System die komplexen Leistungen der Autopoiesis eines anderen Systems voraussetzen und wie ein Teil des eigenen Systems behandeln“ (Luhmann 1995b:146; 1984:294 ff.). Soziale und Bewusstseinssysteme beziehen so Wissen und Kompetenzen voneinander. Bewusstsein operiert nicht voraussetzungslos und nutzt Kapazitäten, Komplexitäten sozialer Systeme, wie diese umgekehrt die Fähigkeiten und das Wissen individueller Bewusstseinssysteme in Form einer Rezeption und Prozessierung ihrer Beiträge nutzen. Das bedeutet aber auch, dass Irritationen beider Systemwelten jeweils als Umweltkomplexität und Kontingenz ihrer Bearbeitung wahrgenommen werden (vgl. Luhmann 1984:291; vgl. auch Fuchs 2003:22): Interpenetration erzeugt oder präsentiert mithin auch Unübersichtlichkeit. Das politische Individuum. Soziale Systeme müssen ihrer Umwelt angepasst und anschlussfähig sein, um ihre Autopoiesis realisieren zu können. Das verlangt eine „ständige Bewusstseinsangepasstheit der Kommunikation“ (Luhmann 1995b:42). Sie sind auf Interpenetrationsbeziehungen mit Bewusstseinssystemen angewiesen. Bewusstseinssysteme, die orientierende Irritationen in soziale Systeme einleiten, werden hier allgemein als Individuen bezeichnet. Fuchs unterscheidet Individuum von Bewusstsein und Person (als sozialer Adresse) durch dessen Kontingenzpotenzial (auch Fuchs 2003:91), das die Fähigkeit beschreibt, Momente der Unbestimmtheit, des Unabsehbaren und Überraschenden in Kommunikationen einleiten zu können, die von sozialen Systemen beobachtet und zur Quelle von

9

Die in der Folge durchaus auch eindeutig zugeordnet werden können. Diese Zurechenbarkeit bzw. Adressierbarkeit von Folgekommunikationen wird über das Konzept der sozialen Adresse bzw. der Person realisiert, auf das hier nicht eingegangen wird (vgl. Fuchs 1992:205, 225; 2003:23; Nassehi 2009:277; Luhmann 2000:375).

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Informationen werden können – und damit ebenfalls zur Quelle von Unübersichtlichkeit. Die Kopplung an soziale Systeme ist partial und selektiv. Sie bezieht sich auf und wird geregelt von Funktionssystemen (vgl. Luhmann 1995b:232; 1997:630, 765, 1075; Fuchs 1992:195; 2003:32) bzw. ihren angelagerten Organisationen 10 und sie korrespondiert mit Differenzschemata (vgl. auch Nassehi 1999a:115, 121; Münkler, Ladwig 1997:21), die „Betreffbarkeit“, situative oder thematische Zuständigkeit präsentieren oder erwartbar machen (Markowitz 1986:53, vgl. 136). Interpenetrationsverhältnisse regeln kommunikative Anschlussmöglichkeiten und limitieren damit Kontingenz (Luhmann 1984:342 f.). Sie definieren Verhaltenserwartungen an Individuen (vgl. Luhmann 1984:362, 365; Fuchs 1992:205, 225) und bewirken deren Inklusion und Exklusion (Nassehi 1999a:116 f.). Inklusion in einen Bereich öffentlicher politischer Kommunikation (vgl. Gerhards 2000:232), die Beobachtung von und Partizipation an Kommunikationen des politischen Systems und insbesondere der politischen Öffentlichkeit stellen partielle, thematisch gebundene Operationen oder Beiträge von Individuen dar, die hier entsprechend als politische Individuen bezeichnet werden. Politisch ist die spezifische inhaltliche Ausrichtung der Kommunikationen und Beiträge auf kollektiv bindende Entscheidungen (S. 28).11 Sie definiert die thematischen Räume und Beobachtungsbezüge, die Foren und Diskurse, die zu verwendenden Sprachcodes, das Spektrum relevanten Wissens. Das politische Subjekt. Interpenetrationen, Prozesse der Sozialisation, der Exklusion wie der Inklusion lassen das Individuum als Subjekt erkennbar werden. Das Subjekt wird in den Prozessen der Partizipation, in der Anbindung an soziale Systeme – in kommunikativen Kontexten – konstituiert (vgl. Zima 2000:11, 15; vgl.

10 Nassehi spricht denn auch von „Multiinklusionen in unterschiedliche Funktionssysteme“ (Nassehi 2009:281), die das „multiple Selbst“ konstituiert (Nassehi 1999a:115). 11 Der Aspekt der Kollektivität hat eine über reine verfahrensorientierte Compliance hinausgehende, subjektive Bedeutung, nicht im Sinn von Identität, aber von Identifikation (Luhmann schloss aus, dass „die Grundlagen individueller (‚subjektiver‘) Identität in einer kollektiven Identität zu suchen“ seien; 1995b:172). Nassehi weist auf die Selbstwahrnehmung der Gesellschaft in der Politik hin (S. 33), die auch das Individuum betrifft: „Das politische System hat zwar die Funktion, kollektiv bindende Entscheidungen bereitzustellen, produziert aber damit eine Kollektivität individueller Adressaten. Sowohl das Programm der Nation als auch das Programm der Demokratie bindet individuelle Interessenlagen und Aspirationen an eine Loyalitätsverpflichtung, die von Individuen Loyalität und Partizipation einfordert – nicht real, aber als folgenreiche Selbst beschreibung. Das Politische ist damit jene Subjektivierungstechnik, die Unterwerfung und Selbstbestimmung in der Idee der Demokratie verschmelzen lässt“ (Nassehi 2009:282).

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auch Gerhards 2000:232) – durch die „Anrufung“ sozialer Systeme. 12 Es ist nicht das Individuum, sondern dessen „sozial-kulturell modellierte Instanz“ (Reckwitz 2006:10, 48; vgl. Zima 2000:8 f.) im Rahmen politischer Normen, Erwartungen und Spezifikationen.13 Luhmann hat den Subjektbegriff, was durchaus kritisiert wurde (vgl. Zima 2000:342), aufgegeben und deckt seinen Gehalt über die Sinndimension von Kommunikationssystemen ab (Luhmann 1984:111; 1997:1016 ff.; Fuchs 1999:84, 99; vgl. Nassehi 2009:282 f.). Er wird hier dennoch benutzt, weil er die für die politische Öffentlichkeit beschriebene Verschiebung von Erwartungen zu Zumutungen für das Individuum etwas klarer hervortreten lässt. In und mit seinen politischen kommunikativen Vollzügen entstehen kognitive Fertigkeiten, Routinen, spezifische Wissensformen, Selbstbeschreibungen, Schemata der Interpretation von Daten und ihrer Transformation in Informationen, aber vor allem normative Kategorien und Vorstellungen etwa staatsbürgerlichen Verhaltens. 14 So konstituiert sich 12 Für diese Konstituierung in kommunikativen Kontexten hat Althusser den Begriff der Anrufung geprägt. Es sprach, zunächst von der Ideologie, dann von der Religion ausgehend, von einer „Anrufung“ des es damit zugleich konstituierenden Subjekts, die sich etwa auch in Machtkommunikationen wiederfindet (Althusser 1970:19 f.). Dem Topos der „Anrufung der Individuen als Subjekte“ (Althusser 1970:22) folgt Butler, wenn sie die Anrufungen, die „mit der Zeit ritualisiert und sedimentiert worden sind“, als wesentlich für die Subjektbildung ansieht. „Von einer gesellschaftlichen Anrufung angerufen oder angesprochen zu werden, heißt, zugleich diskursiv und gesellschaftlich konstituiert zu werden. Diese Anrufung muss keine explizite oder offizielle Form annehmen, um gesellschaftlich effizient und für die Subjektbildung konstitutiv zu sein“ (Butler 1997:217). Nassehi hat das Subjekt als „Effekt von Kommunikation“ durch „Adressierung“ in Kommunikation bezeichnet (Nassehi 2009:277). Gerhards hat das im Grunde ähnlich für die Subjektform des Staatsbürgers festgestellt: „Staatsbürger ist man nicht, sondern wird es durch den öffentlichen Kommunikationsprozess“ (Gerhards 2000:232). 13 Das Subjekt ist „als eine sozial-kulturelle Form zu verstehen, als kontingentes Produkt symbolischer Ordnungen, welche auf sehr spezifische Weise modellieren, was ein Subjekt ist, als was es sich versteht, wie es zu handeln, zu reden, sich zu bewegen hat, was es wollen kann. Der Einzelne […] wird zum Subjekt und existiert in der zeitlichen Sequenz seiner Existenz allein im Rahmen kollektiver symbolischer Ordnungen, die in spe zifischer Weise Subjektpositionen definieren und Subjektkulturen bilden“ (Reckwitz 2006:34). 14 Was oben als Compliance (S. 136) bezeichnet wurde, findet sich demnach in diesem Bezugssystem wieder. Es bezieht sich einerseits auf das Lesen der Umwelt, auf die Ein schätzung sozialer Prozesse, und andererseits auf das Selbst als politisches Subjekt, auf die „Hermeneutik des Selbst“ (Reckwitz 2006:41), und die korrespondierenden, an sich selbst zu stellenden Erwartungen etwa im Hinblick auf Bildung, Wissensaneignung und

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das politische Subjekt, das wiederum, im Kontext politischer Öffentlichkeit, jenen im vorigen Kapitel beschriebenen Erwartungen und Zumutungen ausgesetzt ist, die letztlich auf das Phänomen der Unübersichtlichkeit verweisen.15 Wenn eine alerte und kompetente politische Öffentlichkeit, im normativen Sinn, als Voraussetzung der Demokratie verstanden wird und weiter angenommen wird, dass politische Individuen Wirkungen auf das Kommunikationssystem der politischen Öffentlichkeit ausüben, dann kann von einem normativen Pendant der kompetenten politischen Öffentlichkeit ausgegangen werden. Diese Subjektfassung des politischen Individuums ist der kompetente Bürger.

6.2 D ER

KOMPETENTE

B ÜRGER

Der kompetente Bürger, der „informierte, aktive und rationale Teilnehmer an politischen Prozessen“ (Lindblom 1977:214), ist das normative Ideal des politischen Individuums in der Demokratie, das Subjekt des Politischen in der Moderne (Gabriel 2012:13; Barber 1984:124; Downs 1957:77; Dahl 1994:31; Lutz 2006:65; Galston 2001:218; Campbell et al. 1964:281; Delli Carpini, Keeter 1996:59).16 Partizipationswille oder -bereitschaft. Darum wird der Subjektbegriff trotz seiner Ablehnung in der Systemtheorie verwendet. Es wird von einem politischen Individuum ausgegangen, das in allen politischen Formen durch Bezug auf inhaltlich definierte Kommunikationsbereiche konstituiert wird. Allerdings werden Beobachtungen und Beiträge in unterschiedlichen Formen auch mit unterschiedlichen Erwartungen und Restriktionen assoziiert sein. Das Subjekt ist beispielsweise in der Diktatur ein anderes als in der Demokratie (vgl. auch Foucault 1983:246; Agamben 2006:26). Auch seine Identität wird eine andere sein (zum Begriff der Identität vgl. Heater 1990:182 ff.). 15 Interpenetration in politischen Kontexten beschränkt einerseits Kontingenz (regelt beispielsweise, was wem in welcher Form gesagt werden kann) und sichert diese Re duktionsleistungen durch Inklusions- und Exklusionslogiken (vgl. auch Nassehi 2011:172 f.) – generiert so gesehen also Übersichtlichkeit. Andererseits visibilisiert sie die Kontingenz der Bearbeitungsmöglichkeiten, Heterarchie, Polykontexturalität und Hyperkomplexität (vgl. S. 79) der spätmodernen Gesellschaft und ihrer politischen Kommunikationen und präsentiert damit Unübersichtlichkeit. Diese Präsentation erfolgt in zwei Richtungen. So erfährt das Individuum politische Prozesse, Entscheidungen, Meinungsvielfalten etc. als kontingent. Umgekehrt verarbeiten politische Systeme individuelle Beiträge, zumal in der Spätmoderne, als hochgradig kontingent. Individualität „steht nicht mehr im Dienst der sozialen Berechenbarkeit der Teilnehmer an sozialen Prozessen. Sie läuft auf unabschließbare Kommunikation hinaus“ (Fuchs 2003:109). 16 Die hier verwendete männliche Form der Begriffe ist allein der Bequemlichkeit ge schuldet und neutral gemeint.

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Sieht man von juridischen Kriterien ab, ergibt sich der Status des Bürgers aus seiner politischen Kompetenz. Wissen und politischer Sachverstand, aber auch Interesse und Bereitschaft zum Engagement machen ihn zum „kompetente[n] Beurteiler“, der in der Lage ist, „geeignete Nachprüfung[en] anzustellen“ (Habermas 1971:125), Entscheidungen des politischen Systems zu hinterfragen, zu analysieren, zu kritisieren und, wo es nötig erscheint, zu intervenieren.17 Kompetenz ist nicht nur wesentliches Element demokratischer Normen, sondern auch der Selbstbeschreibung des Bürgers, die, variierend mit kognitiver Befähigung, Milieu, Bildung etc., das kompetente Beobachten des Geschehens, die Fähigkeit vernünftige Urteile zu bilden und politische Beiträge zu leisten, in den Rang relevanter Selbsttechniken setzt.18 6.2.1

Der Bürger als Beobachter

Der ideale Bürger ist ein partial in die Kommunikationen des politischen Systems inkludierter, qualifizierter Beobachter (vgl. auch Richter 2008:248, 250; 2011:14) des politischen Geschehens, der aufgrund seiner Beobachtungen zu Urteilen gelangen und Beiträge artikulieren kann. Diese Begriffe sollen hier kurz erläutert werden, weil sie später immer wieder aufgegriffen werden. Beobachtung. Das Konzept des Beobachters entspricht dem Verständnis der spätmodernen Demokratie als „Monitory Democracy“ (S. 119). Keane bezieht sich in seiner Begriffsbildung auf Schudson, der von „Monitorial Citizens“ spricht, von nur partial in das Politische inkludierten, aufmerksamen, beobachtenden Bürgern, die erst im Fall politischer oder administrativer Fehlentscheidungen oder -entwicklungen aktiv werden und bereit sind zu intervenieren (Schudson 1998b:309 ff.; 1998a).19 17 Die Figur des kompetenten Beurteilers hat Habermas im Rahmen der idealen (herrschaftsfreien) Sprechsituationen beschrieben, die angelegten Maßstäbe können jedoch auch als Kriterien politischer Kompetenz angesehen werden. 18 Schimank verortet den Ursprung dieser Selbstbeschreibung in einem allgemeineren gesellschaftlichen Paradigma: „Nicht nur entscheiden zu müssen, sondern auch entscheiden zu wollen – was voraussetzt: entscheiden zu können – macht somit die Entscheidungsgesellschaft aus“ (Schimank 2005:117). 19 Schudson hat ein pragmatisches Konzept vorgestellt. Er weist darauf hin, dass es sich bei Monitorial Citizens vor allem um ein plausibles Modell moderner demokratischer Bürgerschaft in einem von zunehmender Komplexität, hohem Informationsaufkommen und starker funktionaler Differenzierung geprägten gesellschaftlichen Umfeld handelt (vgl. 1998a:1), in dem das Individuum nur partial in politische Kommunikationszusammenhänge inkludiert ist bzw. sein kann. „I would propose that the obligation of citizens to know enough to participate intelligently in governmental affairs be understood as a monitorial obligation. Citizens can be monitorial rather than informed. Monitorial

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Urteile und Entscheidungen. Beobachtende Subjekte verarbeiten Irritationen aus ihrer politischen Umwelt selektiv und transformieren sie konstruktiv in Informationen. Diese Selektionen basieren auf individuellen Haltungen und können in politische Urteile überführt werden, die wiederum einzelne Entscheidungen stützen (vgl. Detjen 2005:287; Luhmann 2000:286). Urteile beziehen sich auf konkrete Themen, während Haltungen als relativ invariante individuelle Einstellungen zu bestimmten thematischen Räumen verstanden werden. Entscheidungen, für die normative Erwartungen in Bezug auf Rationalität, Angemessenheit und Begründbarkeit bestehen, können schließlich in politische Beiträge umgesetzt und in politische Kommunikationszusammenhänge eingeleitet werden. Beiträge. Unter Beiträgen wird die gesamte Palette elektoraler und nichtelektoraler partizipatorischer Aktivitäten verstanden: von der Teilnahme an Wahlen über das öffentlich sichtbare, explizite Engagement in unterschiedlichen Strukturen oder Institutionen, im sozialen Nahbereich, in politischen Organisationen, sozialen Bewegungen und lokalen Initiativen bis zu Wortmeldungen in den unterschiedlichen citizens scan (rather than read) the informational environment in a way so that they may be alerted on a very wide variety of issues for a very wide variety of ends and may be mobilized around those issues in a large variety of ways“ (Schudson 1998b:310; vgl. Heater 1990:218). Das Konzept ähnelt in diesem Punkt Dahrendorfs Vorstellung einer überwiegend passiven Öffentlichkeit, die nur punktuell oder phasenweise am politischen Geschehen teilnimmt und insbesondere dann aktiv wird, sobald „die Herrschenden die Schwellen ihrer Legitimität“ überschreiten (Dahrendorf 1967:79 f.). Aus dieser Sicht stellt für Richter „die Wahrung einer grundständigen politischen Aufmerksamkeit das Ideal von Demokratie dar“ (Richter 2011:232). Beobachtung und Interventionsbereitschaft fasst Geißel in ein normatives Konzept der Kritikbereitschaft, in dem auch der oben entwickelte Subjektbegriff erkennbar wird. „Ich definiere Kritikbereitschaft als die Befürwortung der Bürgerpflicht, politische Sachverhalte zu beobachten (Beobachtungspflicht) und möglicherweise zu intervenieren (Intervenierungspflicht). Die Beobachtungspflicht ist zu verstehen als die grundlegende normative Überzeugung, dass ein guter Bürger das politische Geschehen aufmerksam beobachten sollte, ohne sich dabei beispielsweise auf einen Politiker oder einen Politikbereich zu konzentrieren. Die Befürwortung von kritischer Beobachtung als Bürgerpflicht heißt nicht, dass sich Bürger immer und überall en détail mit Politik befassen. Ein in diesem Sinne kritikbereiter Bürger postuliert vielmehr politische Aufmerksamkeit als Bürger-Pflicht. Darüber hinaus geht die Interventionspflicht. Diese meint die Überzeugung, dass ein Bürger intervenieren sollte, sofern die Politik eine nicht mehr als akzeptabel wahrgenommene Richtung einschlägt bzw. als falsch wahrgenommene Entscheidungen gefällt werden. Die Befürwortung der Beobachtungs- oder möglicherweise sogar einer Interventionspflicht bezeichne ich als normative Kritikbereitschaft“ (Geißel 2011:20 f.).

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Foren und Medien (hierzu Steinbrecher 2009:39 ff.; Gabriel 1997b:452 ff., jeweils mit weiterer Literatur). Dieser Text konzentriert sich auf die Beobachtung, auf die Bedeutung der Unübersichtlichkeit für die politische Beteiligung wird nur am Rande eingegangen. 6.2.2

Beobachtung und Kompetenz

Qualifizierte Beobachtung, Urteilsbildung und die Formulierung politischer Beiträge setzen eine Reihe individueller politischer Kompetenzen voraus. Basale Kompetenz. Zunächst wird ein Minimum an formaler Bildung und Sprachkompetenz erwartet, das für die Beobachtung der Diskurse und für das Einbringen von Beiträgen vorauszusetzen ist. Zudem ein gewisses Mindestmaß an persönlicher Erfahrung und politischer Urteilskraft (vgl. Richter 2008:224; 2011:63, 236; vgl. auch Heater 1990:338). Kognitive Kompetenz.20 Dieser Begriff fasst die erwartete „konstitutive“ Informiertheit (vgl. Brosius 1997:93), Lernfähigkeit, Lernbereitschaft und ein „gewisses Niveau an Wissen“ zusammen (Münkler 1997:156; vgl. auch Downs 1957:77; Scherb 2008:48 ff.).21 Der Bürger muss, so Delli Carpini und Keeter, keineswegs Experte auf allen Politikfeldern sein, jedoch mit bestimmten Grundlagen des Politischen vertraut sein. Sie nennen: „(1) the rules of the game (the institutions and processes of elections and governance); (2) the substance of politics (the major domestic and international issues of the day, current social and economic conditions, key policy initiatives, and so forth); and (3) people and parties (the promises, performances and attributes of candidates, public officials, and the political parties)“ (Delli Carpini, Keeter 1996:14, 65; vgl. Münkler 1997:156). Hinzuzufügen sind ein Grundwissen über historische Zusammenhänge, über transnationale Strukturen (wie die EU), globale Entwicklungstendenzen und relevante kulturelle Strömungen. Mit der Erweiterung der Radien des politischen Systems kommen neue thematische Räume hinzu, sodass politische Kompetenz auch bedeutet, „sich über technische und naturwissenschaftliche Probleme Kenntnisse zu verschaffen, um Entscheidungen über den Einsatz oder den Verzicht auf neue Technologien und Her20 Die im Folgenden verwendeten Begriffe der kognitiven, prozeduralen und habituellen Kompetenz stammen von Münkler (Münkler 1997:156 ff.). 21 Wobei Wissen und Kompetenz im Grunde nicht zu trennen sind. Wissen ist nicht „als im Gedächtnis sedimentierter Bestand kognitiver Inhalte zu konzipieren, sondern als Fähigkeit, in einer entsprechenden Situation adäquate kognitive Operationen durchführen zu können, die in der Situation ein Problem lösen“ (S. J. Schmidt 1994:76; vgl. Stehr 2000:95). Wie soziale Systeme müssen Bewusstseinssysteme eine individuelle erforderliche Vielfalt im Verhältnis zu ihrer Umwelt entwickeln, sie müssen sprachlich, kognitiv, intellektuell in der Lage sein, deren Komplexität ein gewisses Maß eigener Komplexität entgegenzusetzen (S. 57; vgl. auch Rorty 1989:78).

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stellungsverfahren treffen zu können, sofern solche Entscheidungen auf politischer Ebene zu treffen sind“ (Münkler 1997:156; vgl. Evers, Nowotny 1987:328). 22 Prozedurale Kompetenz bezeichnet die Fähigkeit, „im Rahmen der institutionellen Ordnung vorhandene Einflussmöglichkeiten und Partizipationschancen“ wahrzunehmen (Münkler 1997:156 f.; vgl. Richter 2011:222). Sie setzt ein Grundverständnis politischer Strukturen, Institutionen und Verfahren (Delli Carpini, Keeter 1996:64), „Kenntnisse[ ] über politische Zuständigkeiten und rechtliche Verfahren“ (Münkler 1997:157) voraus.23 Informationsverarbeitungskompetenz. Politische Beobachtung und Beteiligung setzen eine allgemeine Medienkompetenz (Saxer 1998:50) und die Fähigkeit zur Recherche von Informationen voraus (vgl. Kamps 2000:237). Die von Hörl beschriebenen „informations- und kommunikationstechnologischen Ökologisierungen des Seins“ haben auch für das politische System eine „technologische Bedingung“ (Hörl 2011:17, 15; S. 101) geschaffen, der das politische Individuum kompetent begegnen muss. Abgesehen von einem technischen Grundverständnis wird von einem kompetenten Bürger erwartet, dass er die Recherchetechniken, Verteilungs- und Partizipationstechnologien sowie Artikulationspraktiken im Internet versteht und beherrscht. Politische Informationen zirkulieren in wenig geordneter Form. Zwar hält das Internet auch veraltete Informationen präsent, aber ständige Aktualität bedeutet auch ständige Unterbrechung der Informationsverläufe, Überlagerung oder Rückstellung des temporär nicht Aktuellen, die die Konzentration auf einzelne Themen, das Erkennen von Relevanz erschweren. Das politische Subjekt muss fähig sein, diese verzweigten Informationsströme im Blick zu halten. Und es muss eine Art politisches Gedächtnis aufbauen können, um die Ordnung und Kohärenz seiner fragmentierten Umweltkonstruktionen gewährleisten zu können (vgl. auch Lau, Redlawsk 2001:145). Habituelle Kompetenz bezeichnet die Fähigkeit und Bereitschaft, konkrete Beiträge zu leisten, Ziele in den Diskursen, in der Logik des Gebens und Forderns von Gründen kenntlich zu machen, Deutungen sowohl durchsetzen als auch akzeptieren zu können. Hinzu kommt die Bereitschaft sich zu informieren und er-

22 Anzumerken ist, dass diese Kompetenzen einen idealen Bürger beschreiben und „der Idealtypus des umfassend informierten ‚mündigen Bürgers‘ nicht als reales und empirisch messbares Phänomen und nicht naiv als ein allwissender und jeden Medien beitrag auswendig lernender Rezeptionsroboter verstanden werden darf“ (Wirth 1997:117). 23 Hierzu zählt beispielsweise auch das Verstehen des Wahlsystems. Neben seiner allgemeinen Funktion sind die Möglichkeiten strategischen Wählens (vgl. Huber 2012:65, 270 ff.) oder auch feiner aufgelöster Wahlverfahren (etwa des Panaschierens und Kumulierens) zu verstehen.

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forderliches Wissen anzueignen, Zeit und Aufmerksamkeit für die Routine von Beobachtung und Beteiligung aufzuwenden. Münkler meint mit habitueller Kompetenz zudem die Fähigkeit zu einem praktischen Handeln, das sich mit Blick auf soziale, gesellschaftliche oder kollektive Horizonte ausrichten kann. Sie wird bedeutsam, „je weniger die angestrebten Ziele im kalkülrationalen Eigeninteresse der Akteure liegen, sondern unter Umständen sogar mit Einschränkungen und Verzichten auf politische Vorteile verbunden sind“ (Münkler 1997:157; vgl. auch Waschkuhn 2005:93). Hierzu gehört auch, die diskursive Aushandlung politischer Konflikte anzustreben, Kompromisse anzunehmen und eine gewisse Enttäuschungstoleranz für Unterlegenheitssituationen auszubilden.24 Reflexive Kompetenz ist als Grundlage habitueller Kompetenz anzusehen. Sie versetzt in die Lage, die eigene Existenz, das eigene Denken sowie die eigene Position in gesellschaftlichen Kontexten zu reflektieren und mit politischen Zusammenhängen und Urteilen in Beziehung setzen (vgl. hierzu Richter 2008:211), eigenes Entscheiden zu hinterfragen und sowohl Kritik als auch Affirmation in den Diskursen eigener individueller Kritik unterziehen zu können. Sie bedeutet einerseits das Akzeptieren und Internalisieren der symbolischen Ordnung und andererseits die Fähigkeit und Bereitschaft, eben diese Ordnung zu hinterfragen und zu kritisieren (Stiegler 2008:49).25 Zu dieser Art von Kompetenz gehört es, einen Willen zur Vernunft in der Beobachtung, beim Entwickeln eigener Haltungen und Urteile auszubilden und damit in den Kommunikationen „auf überzeugende Rechtfertigungen und nicht auf wahre Behauptungen“ (Habermas 1971:130) zu setzen. Zum kompetenten Umgang mit Kontingenz gehören deswegen eine gewisse Enttäuschungsfestigkeit und individuelle Qualifikationen, die mit den drei folgenden Begriffen umrissen werden können. Möglichkeitssinn: Der von Musil geprägte Begriff (Musil 1930:16 ff.) bezeichnet (auch) die Fähigkeit, alternative Problemdeutungen und Lösungswege als Beitrag zur erforderlichen Vielfalt des demokratischen politischen Systems sowohl sich 24 Habituelle Kompetenz verfestigt sich mit der Internalisierung der Elemente politischer Compliance (vgl. S. 136) und dem bewussten Akzeptieren etablierter Umweltkonstruktionen, Sprachcodes, Denkstile (vgl. auch Fuchs 1993:122) und des sowohl im demokratischen wie im kapitalistischen Denken tief verankerten Rationalitätsgebots (vgl. McClosky, Zaller 1984:164; Luhmann 2000:323). 25 Und es gehört hierzu, so sehr demokratische Systeme auf das Vertrauen der Bürger in das politische System angewiesen sind, ein waches Misstrauen gegenüber seinen Operationen, Umweltkonstruktionen usw. (Schudson 1998b:301). „[C]riticism of government and scepticism about politics is a natural part of democratic politics – too little criticism and scepticism is not necessarily a healthy sign of democracy” (Dalton 2004:201).

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vorzustellen als auch bewusst formulieren zu können bzw. deren Formulierung zuzulassen und zu fördern, weder Komplexität noch Kontingenz grundsätzlich als Komplikation oder Bedrohung zu verstehen (vgl. S. 67, 72).26 Skepsis: Damit ist ein grundsätzliches Misstrauen gegen dominante Wirklichkeitskonstruktion gemeint, die Fähigkeit sie als Variante innerhalb einer Vielzahl konkurrierender und potenziell gleichberechtigter Interpretationsangebote zu sehen (vgl. auch Marquard 1981:17, passim). Ironie bezeichnet schließlich die Fähigkeit, auch die eigenen Deutungen als idiosynkratische Konstruktionen wahrzunehmen und so auf Gewissheitsansprüche zu verzichten.27 6.2.3

Kompetenz als Zumutung

Die aufgeführten Kompetenzen stellen einen sehr anspruchsvollen Katalog von Erwartungen an das politische Subjekt in Bezug auf „Partizipationsfähigkeit und Partizipationsbereitschaft“ dar (Münkler 1997:155; Gabriel 1997b:385, 405). Erwartungen an den Bürger, die, insbesondere durch die Unübersichtlichkeit des Politischen – und bestimmte Bedingungen der Beobachtung, auf die gleich eingegangen wird –, kaum zu erfüllen sind und deshalb als „Kompetenzzumutungen“ (Buchstein, Schimank) aufgefasst werden können (vgl. S. 145). Tatsächlich dokumentiert eine umfangreiche politikwissenschaftliche Literatur die wenig befriedigende Ausprägung dieser Kompetenzen unter den Bürgern. 28 Hier 26 Das schließt eine Orientierung am Ideal eines freien, unbefangenen und möglichst vorurteilsfreien Denkens ein, „that favors the person who seeks novel information and experience, is open to full and honest communication, who can tolerate various kinds of uncertainty and even ignorance in the short run in order to gain knowledge, and who is not defensive about prior beliefs“ (Smithson 1988:152). 27 Der Begriff wird im Sinne Rortys verwendet. Er hat die Figur der „Ironikerin“ entwickelt, die sich die Fähigkeit erarbeitet hat, ihre grundsätzlichen Haltungen, Überzeugungen, Meinungen, ihr „abschließendes Vokabular“, als kontingent und revisionsfähig einzuschätzen (Rorty 1989:127 f.). 28 Die allerdings überwiegend auf das mangelhafte Wissen der Bürger, also auf Defizite kognitiver, prozeduraler und habitueller Kompetenzen, verweist: „The widespread lack of knowledge about the basic operations of government has led scholars and others to produce a voluminous literature about the ‚incompetent citizen‘“ (Popkin 1991:42; vgl. hierzu Campbell et al. 1964:98, 282 ff.; Caplan 2007:8, 95, passim; Berelson et al. 1968:96 f.; Fishkin 2009:7; Sartori 1987:114; Ferejohn 1990:3; Zaller 1992:17 ff.; Sniderman et al. 2001:255 f.; Popkin 1991:34 f., 42 f.; Delli Carpini, Keeter 1996:22 f., 41, 62; Kuklinski, Quirk 2000:179; vgl. hierzu aus dem deutschen Sprachraum beispielsweise Detjen 2005:293, 291 f.; Willke 2014:67, passim; Patzelt 2005:30; Lutz 2006:66, 219; Wirth, Matthes 2006:349; Decker et al. 2013:30; Claußen 1987:89).

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setzt eine Kritik des politischen Individuums, und damit letztlich des gesamten demokratischen Projekts, an, die sich im oben skizzierten Kompetenzdiskurs widerspiegelt (S. 174 ff.). Verkürzt dargestellt, moniert sie kognitive Inkompetenz (mangelnde Fähigkeit zur Beteiligung) und politische Indifferenz (mangelnde Bereitschaft zur Beteiligung) der Bürger und schließt daraus, dass die normative Konzeption der Demokratie auf nicht oder nicht verlässlich vorhandenen Voraussetzungen beruht. Aus dieser Perspektive sind individuelle Defizite der Bürger ursächlich für das „demokratische Dilemma“ (S. 188). So kommt etwa Detjen zu der Erkenntnis, „dass nicht Institutionen und Politiker, sondern die Bürger die eigentliche Schwachstelle und Achillesferse des demokratischen Gemeinwesens sind“ (Detjen 2005:293, 291 f.). Willke spricht gar von dem „vom Mythos des rationalen und kompetenten Wählers deformierten demokratischen Modell“ (2014:97). Diesem Ansatz wird hier, wie im vorigen Kapitel schon erkennbar war, nicht gefolgt. Es wird stattdessen versucht, auf die Möglichkeit einer weiteren Sichtweise aufmerksam zu machen. Die Diskrepanz zwischen dem normativen Konzept des Bürgers in der Demokratie und dessen Möglichkeiten, die darin formulierten Erwartungen zu erfüllen, unzureichendes Wissen und geringes politisches Interesse werden hier nicht als Defizite von Individuen, sondern als Symptome zunehmender Unübersichtlichkeit des Politischen gedeutet.

6.3 B EDINGUNGEN

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B EOBACHTUNG

Für diese Diskrepanz wurden in den vorangegangenen Kapiteln Gründe und Ursachen genannt, die sich auf die politische Öffentlichkeit beziehen, aber ebenso auch für das politische Individuum gelten. Sie werden hier nicht wiederholt. Stattdessen werden einige der Bedingungen betrachtet, die die individuelle Beobachtung politischer Kommunikationen – des operativen politischen Systems, der politischen Öffentlichkeit, der Medien – heute so fatal komplizieren. Knappheit von Zeit und Aufmerksamkeit, hohe Informationslast, Alltagsferne der Themen, prekäres Wissen, Exklusion durch Sprach- oder Wissensdefizite sowie schwer erkennbare Systemstrukturen bilden Bedingungen der Beobachtung, die zur individuellen Erfahrung der Unübersichtlichkeit beitragen.

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6.3.1

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Zeit

Für die Auseinandersetzung mit politischen Themen, das Verfolgen der politischen Kommunikationen und die Beteiligung an politischen Prozessen muss Zeit aufgewendet werden – ein knappes Gut moderner Bürger. Zeitmangel ist zunächst eine anthropologische Konstante: „Der Mensch ist das Zeitmangel-Wesen, seine temporale Primärerfahrung ist eine Knappheitserfahrung“ (Marquard 2013:51). Sie wird durch zwei prägnante gesellschaftliche Entwicklungen verstärkt: die Multiinklusion des Individuums in konkurrierende soziale Bezüge und die allgemeine Beschleunigung sozialer Prozesse. Konkurrenz. Prekäre individuelle Zeitbudgets sind Epiphänomene der Multiinklusion des Individuums in konkurrierende Funktionssysteme (Nassehi 2009:281; Rosa 2005:296). Sie zwingt zu der kritischen Abstimmung individueller Zeiten mit den differierenden Eigenzeiten der Funktionssysteme (vgl. Rosa 2005:407). Entsprechend gehört es zu den Selbsttechniken des modernen Subjekts, knappe Zeit in kompliziert austarierten Budgets zu verwalten, die den konkurrierenden zeitlichen Ansprüchen seiner sozialen Zusammenhänge gerecht werden müssen (Reckwitz 2006:53). Das betrifft auch die Beobachtung des Politischen. Das „begrenzte Zeitbudget“ zwingt den Bürger „zu einer rigorosen Selektivität in der Aufnahme politischer Informationen, und die Auswahl muss notwendigerweise noch sehr viel restriktiver werden, wenn es um die aktive Einflussnahme auf irgendeine der anstehenden Entscheidungen geht. Jeder von uns […] hat darum gar keine andere Möglichkeit, als sich gegenüber der Mehrzahl politischer Entscheidungen apathisch zu verhalten und die Verantwortung dafür anderen zu überlassen“ (Scharpf 1970a:119). Die Zeitforderungen anderer Systeme, Familie, Beruf etc., mit ihrer unmittelbaren Verbindlichkeit, verknappen die Zeit, die für die Politik aufgewendet werden kann. Konnte Lippmann noch annehmen, die Bürger würden sich keine Zeit für ihre politische Urteilsbildung nehmen (vgl. Lippmann 1922:172), bestimmt heute auch chronischer Zeitmangel über das Engagement der Bürger. 29 Akzeleration. Auch die allgemeine Beschleunigung sozialer Prozesse verknappt Zeit (S. 84; vgl. auch Hayles 2011:211 ff.). Der Kapitalismus der Spätmoderne hat Produktion, Dienstleistungen und Konsumtion einem Zeitregime unterworfen, das in sämtliche gesellschaftlichen Bezüge hinein wirkt (Scheuerman 2001:46 f., 64; Rosa 2005:46 ff.; 118 f.). Sein Imperativ der Geschwindigkeit (Scheuerman 2001:57) treibt die wissenschaftliche und technische Entwicklung an, prägt Kultur, Konsum und Unterhaltung, er dominiert die private Lebenswelt und bestimmt dadurch die Gestaltung individueller Zeitbudgets und Zeithorizonte. Eine Folge ist die „methodische Neutralisierung der menschlichen Langsamkeit“ (Marquard 2013:46), die eine konzentrierte Erarbeitung komplizierter Themen und 29 Dies belegen auch Hinweise in den Ergebnissen empirischer Untersuchungen (vgl. beispielsweise Petersen et al. 2013:34; Kriesi 1994:239 f.).

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die reflektierende Beobachtung des politischen Kommunikationsgeschehens jedoch fordern.30 Alle oben aufgeführten Kompetenzen des idealen Bürgers (S. 203 ff.) haben eines gemeinsam: Sie setzen verfügbare Zeit und eine gewisse relative Langsamkeit voraus.31 Was oben als „Nachhängen“ des politischen Systems, hinter den Tempi, Innovationssprüngen und Beschleunigungstendenzen der Funktionssysteme, bezeichnet wurde (S. 83), gilt ebenso für das politische Subjekt und seine Beziehung zur Politik und den übrigen Funktionssystemen (vgl. auch Dewey 1927:123 f.). Die ihm zugemuteten Erwartungen hinsichtlich seiner Sachkenntnis, Informiertheit, Kompetenz kann es aus Gründen permanenter Zeitknappheit und der Beschleunigung der Informationsproduktion nicht erfüllen. Das Subjekt ist zu langsam für die Politik – und kann sie auch deshalb nur noch als unübersichtlich wahrnehmen (vgl. auch Engler 1996:22). 6.3.2

Aufmerksamkeit

Das „Partialmoment“ (Nassehi 2009:281) konstituiert ein „multiple[s] Selbst“ (Nassehi 1999a:115), ein „hybrides Subjekt“ (Reckwitz 2006), das auf problematische Weise „quer“ zu der Logik sozialer Differenzierung steht 32 und versuchen muss, nicht nur seine knappe Zeit, sondern auch seine begrenzte Aufmerksamkeit auf die Beobachtung vollkommen unterschiedlicher Kommunikationszusammenhänge zu verteilen.33 Die Beobachtung des politischen Systems, die Konzentration 30 Bereits Kant sprach von der „langsame[n], schwerfällige[n] Vernunft“ (Kant 1786:281). 31 Das erzeugt wiederum besondere Verteilungen von Partizipationschancen, die sich, beispielsweise bei plebiszitären Beteiligungsformen, durch ein Übergewicht jener Bevölkerungsteile bemerkbar machen kann, die nicht mehr im Berufsleben stehen. 32 „Wenn die Funktionssysteme jeweils nur auf Partialmomente der Person zugreifen und wenn in der modernen Gesellschaft auf Totalinklusion der gesamten Person verzichtet und stattdessen auf Multiinklusionen in unterschiedlichen Funktionssystemen umgestellt wird, dann trifft das Individuum in der Tat quer zu dieser Differenzierungsform auf“ (Nassehi 2009:281: vgl. auch Beck 1986:218). 33 Wobei das politische System nicht als kompakte, undifferenzierte Entität angesehen werden kann und deshalb analog zur Partialinklusion auch von einer „Multiple Citizenship“ zu sprechen ist. Mit diesem Begriff bezeichnet Heater die Vielfalt der politi schen Bezüge des Bürgers (1990:314 ff.). Er ordnet sie in einem dreidimensionalen Modell an („cube of citizenship“, 319). Auf der ersten Achse, dem „Geographical Level“, verortet er die Referenzen „World, Continental/Regional, Nation-State, Provincial/Local“, auf der zweiten Achse „Elements“ lokalisiert er „Identity, Virtue, Legal/Civil, Political, Social“ und auf der dritten Achse „Education“ ordnet er „Knowledge, Attitude, Skills“ an. Aufmerksamkeit für das Politische muss auch in Hinblick auf solche Unterscheidungen dosiert und zugewiesen werden.

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D EMOKRATIE

auf Ereignisse, Themen und Sachfragen ist nur in Konkurrenz mit den Aufmerksamkeitsforderungen anderer Systeme möglich. Aufmerksamkeit für das Politische ist deswegen eine „ungewöhnlich knappe Ressource“ (Habermas 1992b:455; vgl. Zolo 1992:172; Frank 1998:50; Saxer 2007:116; 2008:248, 253).34 Erzeugung und Ablenkung. Aufmerksamkeit für die Kommunikationen des politischen Systems und der politischen Öffentlichkeit wird überwiegend durch die Massenmedien und Internetökonomie erzeugt.35 Als „Modulatoren der öffentlichen Aufmerksamkeit“ (Zolo 1992:197) konkurrieren sie mit hochfrequentem IrritationsOutput, marketingähnlichen Strategien und den Techniken der Unterhaltungsindustrie um diese Ressource (vgl. auch Saxer 1998:34, 52; Saxer 2007:193 f., 216). Das aggressive Werben um Aufmerksamkeit, die hohe Umschlagsgeschwindigkeit und das Volumen der Informationsproduktion, die Durchmischung politischer mit unterhaltungs-, konsum- und freizeitbezogener Kommunikation, belanglosen oder ephemeren Informationen haben jedoch den paradoxen Effekt der Ablenkung, Diffusion oder sogar Vernichtung von Aufmerksamkeit (vgl. Reckwitz 2006:53; Castells 2000:518; Hörl 2011:29; Saxer 1998:49; Zolo 1992:172; Keane 2009:746). Wie in anderen Lebensbereichen, kommt es bei der Verarbeitung politischer Information zur Erfahrung ständiger Ablenkung und Unterbrechung, der Unmöglichkeit, einer Sache volle und andauernde Konzentration widmen, Dinge zu Ende verfolgen zu können – einer Erfahrung der „Rezeption in der Zerstreuung“ (Benjamin 1936:72). Veränderung. Die Konkurrenz der von den Funktionssystemen an das Subjekt herangetragen Aufmerksamkeitsforderungen hat sich verschärft. Sie hat nach Stiegler ein „Syndrom der Hyperbeanspruchung der Aufmerksamkeit“ (2008:144) ausgelöst.36 Er vertritt die These, dass Aufmerksamkeit durch die Technologien der Aufmerksamkeitserzeugung zerstört wird und insbesondere zu einem für die (politische) Wissensrezeption kritischen Verlust an Konzentrationsvermögen führt (vgl. Stiegler 2008:29, passim). Ebenso Crary, der darin einen paradoxen Effekt der „Konstruktion eines aufmerksamen Beobachters“ sieht (Crary 1999:23, 47), die er 34 Zumal auch die kognitive Fähigkeit zur Prozessierung simultaner Irritationen limitiert ist (Simon 1983:92; vgl. Sniderman et al. 1991:90). 35 „Aufmerksamkeit/Nicht-Aufmerksamkeit scheint mir der zentrale Code des Mediensystems zu sein. Der Positivwert des Codes besteht in der Aufmerksamkeitsproduktion und Aufmerksamkeitszentrierung, es geht um die Vermeidung von Nicht-Aufmerksamkeit. Alle Informationen aus der Umwelt des Mediensystems – aus Politik, Wirtschaft, Kunst, Sport etc. – werden nach diesem Kriterium selektiert, Informationen, die die Vermutung für sich haben, dass sie die Aufmerksamkeit des Publikums gewinnen können, werden öffentlich kommuniziert, andere werden nicht selektiert“ (Gerhards 1994:89). 36 Eine „Aufmerksamkeitsüberlastung“ hat Deutsch bereits in den 1960er-Jahren diagnostiziert (vgl. 1966:231).

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mit den modernen Produktions- und Konsumtionsbedingungen im Kapitalismus und dessen (technischem, kulturellem) Innovationsdruck in Verbindung bringt (Crary 1999:36, vgl. 64).37 Die Formen ihrer modernen Erzeugung verändert die Aufmerksamkeit, die mediensozialisierte junge Menschen und zunehmend auch Erwachsene (zu denen auch Jugendliche eines Tages werden) entwickeln können (Hayles 2007:187, 191). Hayles unterscheidet zum einen das Vermögen, eine anhaltende und intensive Konzentration auf ein Thema aufzubringen („Deep Attention“), und zum anderen die unruhigere, weniger intensive „Hyper Attention“, „characterized by switching focus rapidly among different tasks, preferring multiple information streams, seeking a high level of stimulation, and having a low tolerance for boredom“ (Hayles 2007:187). Letztere ist eine fluktuierende und geschwindigkeitsorientierte, an WebTechnologien, hoch entwickelten Visualisierungsformen und verdichteten Nachrichtenformaten geschulte Aufmerksamkeit, die sowohl den Ansprüchen der modernen Dienstleistungsökonomie als auch ihrer Konsumwelten genügt (vgl. Hayles 2011:214; Stiegler 2008:41, 88; Crary 1999:33; Han 2010:24 ff.). 38 Ökonomie. Individuelle Aufmerksamkeit für das Politische wird durch veränderte ökonomische Kontexte knapper, durch längere Arbeitszeiten, ständige Erreichbarkeit und eine unklarer werdende Trennung von Arbeits- und Reproduktionszeit. Eine immer stärker fordernde Arbeitswelt die durch chronische Krisen des Wirtschaftssystems ausgelösten materiellen, sozialen und psychologischen Verunsicherungen binden ebenfalls Aufmerksamkeit. Dem Individuum wird zunehmend mehr Verantwortung für seine Lebensgestaltung zugeschrieben (Bauman 2000, 2008; Beck 1986:116 ff.) und damit eine strategische Dosierung von Aufmerksamkeitszuweisungen abverlangt, die sich insbesondere auch an den Arbeitsregimen orientieren muss. Aus einem Arbeitnehmer, der in einer gewissen Routine und Sicherheit seinen Beruf ausübt, ist, spätestens im Zug der Globalisierung, ein Unternehmer seiner selbst geworden (Reckwitz 2006:518), der sich in einer Arbeitskultur behaupten muss, in der es darum geht, „marketability und employability zu demonstrieren, zu sichern und zu erweitern“ 37 „Man kann durchaus in einer ständigen Krise der Aufmerksamkeit einen entscheidenden Aspekt der Moderne sehen, insofern die wechselnden Konfigurationen des Kapitalismus, mit ihrer endlosen Abfolge von neuen Produkten, Reizquellen und Informationsströmen, Aufmerksamkeit und Zerstreuung ständig über neue Grenzen und Schwellen zwingen und dann mit neuen Methoden des Managements und der Regulierung von Aufmerk samkeit reagieren“ (Crary 1999:23). 38 Lovink betrachtet diese Aufmerksamkeitsform als Resultat eines Entwicklungsschritts (Lovink 2012:172 ff.): „Heute ist Multitasking die Essenz, nicht etwa eine unerwünschte Nebenwirkung der Medienerfahrung“ (Lovink 2012:176). Es erscheint aus dieser Sicht als pragmatische, informationsökonomische Technik (S. 239 ff.).

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(Reckwitz 2006:519). In seinen gerade auch durch Innovationsprozesse der Arbeitswelt stets gefährdeten Beschäftigungsverhältnissen äußert sich das durch einen wachsenden, Aufmerksamkeit absorbierenden Kompetenzdruck und die Erwartungen fortlaufender beruflicher Weiterqualifizierung (vgl. Gelhard 2011:110 f.; Pörksen 2006:73; Lübbe 1983:51).39 Politik. Hyper Attention ist, außerhalb der Kulturkritik, nicht unbedingt negativ konnotiert, da sie einen kognitiven Modus unterstützt, der einem Schlüsselphänomen der akzelerierten Spätmoderne entspricht: der Vordringlichkeit des Befristeten, die die Prozesse in Politik, Ökonomie und der Medien kennzeichnet und das Durchwursteln unter Zeitdruck (vgl. Rosa 2005:410) als eine der historischen Situation angemessene Technik erscheinen lässt. Somit könnte Hyper Attention durchaus als kognitive Voraussetzung einer zeitgemäßen Form der Beobachtung des Politischen angesehen werden. Die Bearbeitung komplexer Themen erfordert allerdings nach wie vor Deep Attention, Konzentration und Zeit für die Verarbeitung ihrer Inhalte. Doch wird diese von einem kompetenten Bürger erwartete Qualität der Aufmerksamkeit durch veränderte Arbeitsbedingungen, der allgemeinen und permanenten Präsenz von Kommunikation, dem modernen Konsumverhalten, multiplen, konkurrierenden Informationsquellen, aber auch der intensivierten politischen Kommunikation, knapper. Diese Knappheit verringert die Chancen, komplexe politische Themen verarbeiten und die Vielfalt kontingenter Lösungsansätze für politische Probleme angemessen einordnen und bewerten zu können. 40 Auch dadurch vergrößert sie die individuelle Erfahrung der Unübersichtlichkeit.

39 Was unter anderem auch damit zusammenhängen mag, dass Arbeit heute „im wesentlichen eine ständige Auseinandersetzung mit der Kritik der Arbeit“ ist (Baecker 2007:68). 40 Die Aufmerksamkeit irritierende Inklusion in unterschiedliche Funktionssysteme hat einen weiteren politischen Seiteneffekt. Sie fordert multiple „Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibungen von Individuen“ (Nassehi 1999a:113). Im Gegensatz zu stratifizierten oder segmentierten Gesellschaftsstrukturen mutet die funktional differenzierte Gesellschaft den politischen Individuen eine Art erforderliche Vielfalt ihrer Selbstverhältnisse zu, die jeweils mit den Eigenzeitlichkeiten und disparaten Rationalitäten, Logiken, Sprachen der Systeme konsistent zu halten sind. Das „multiple Selbst“ (Nassehi 1999a:115) in der individualisierten Gesellschaft hat unter diesen Bedingungen die schwere Aufgabe Identität, im Sinn von „Einheitlichkeit und Kontinuität“ (Erikson 1959:18,107), zu erlangen und in der Vielfalt der systemischen Einflüsse zu erhalten. „Identität wird […] transitorisch“ (Rosa 2005:364, vgl. 478; vgl. auch Hahn 1997:118), oft provisorisch und immer revisionsaffin – was sich beispielsweise auch in politischen Präferenzen, Parteienorientierungen, Wertestrukturen etc. widerspiegelt.

6 U NÜBERSICHTLICHKEIT

6.3.3

UND POLITISCHES I NDIVIDUUM

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Information

Das kompetente Subjekt demokratischer Politik ist der informierte Bürger, der erst durch die Eigenschaft des Informiertseins Zugang zu den Kommunikationen des politischen Systems erhält (vgl. auch Blöbaum 1994:310). „Political information is to democratic politics what money is to economics: it is the currency of citizenship“ (Delli Carpini, Keeter 1996:8). Doch scheint diese Währung einer Art Inflation ausgesetzt zu sein (vgl. Münch 1995:36, 93 ff.), die sich durch Entwertung und Ausdehnung zirkulierender Quantitäten bemerkbar macht und so eine weitere Unübersichtlichkeit verstärkende Bedingung schafft, die die Beobachtung des Politischen kompliziert (siehe auch S. 149). Die „Überflutung mit Information“ (Luhmann 1997:1090) wird seit geraumer Zeit als Problem demokratischer Politik, als „kardinales Gesellschaftsproblem“ wahrgenommen (Saxer 1998:47; vgl. auch Lippmann 1922:108; Gehlen 1957:39; Schelsky 1965:320; Scharpf 1970a:118 f.; Sartori 1987:115; Zolo 1992:205; Münch 1995:120 f.). Der Demokratie, die auf frei zirkulierende Information angewiesen ist, scheint eben dadurch eine paradoxe Gefahr zu drohen (vgl. Keane 2009:746; Lenk 2002:121 ff.). Rauschen. Diese Gefahr ist ein Seiteneffekt des Übergangs von der Moderne zur Spätmoderne, der sich unter anderem in einer veränderten gesellschaftlichen Bedeutung der Information manifestierte, dem „replacement of social structures by information and communication structures“ (Lash 2002:28, 75; vgl. Chadwick 2006:50; Lübbe 1983:133). Die Gesellschaft beschreibt sich nach dieser Transformation selbst als Informationsgesellschaft. In ihr hängen Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur in hohem Maß von der permanenten Zirkulation und Rezeption von Daten bzw. Informationen ab. Auch ihre Politik ist informationsintensiver geworden, die Anzahl der Content-Produzenten, die Kommunikationskanäle und -foren haben zugenommen und mit ihnen das „Rauschen“, das die reflektierte Informationsverarbeitung der Individuen stört (vgl. Zolo1992:209)41 und ihre „kritikfähige Form der Aufmerksamkeit“ (Stiegler 2008:44) schwächt.42 41 Information ist immer Störung. Bateson hat sie definiert als Unterschied, der einen Unterschied macht, der sich auch als Störung oder Destabilisierung begreifen lässt: „Informationen sind Deformationen des Vorgegebenen“ (Breidbach 2008:63). 42 Rauschen entsteht auch durch die unablässig, im beruflichen wie privaten Kontext, das Individuum adressierende Kommunikation. Und es wird durch die Ubiquität nicht gerichteter, qualitativ minderwertiger und ephemerer Informationen dramatisch verstärkt (vgl. Lash 2002:18, 51, Spinner 1998:26, 210; Weizenbaum 2001:30 ff.). „Sie trifft uns wahllos, richtet sich an niemand Bestimmten und hat sich von jeglicher Nützlichkeit gelöst; wir werden von Informationen überschwemmt, sind nicht mehr imstande, sie zu beherrschen, wissen nicht, was wir mit ihr tun sollen“ (Postman 1992:62; vgl. Schelsky bereits 1965:319). Lash spricht gar von einem „Angriff“ der Information (Lash 2002:73;

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Informationsflut ist eine Metapher für eine Bedingung der Beobachtung, in der quantitativer Überschuss unter den eben genannten Bedingungen von Zeit und Aufmerksamkeit zur Wirkung kommt. Sie ist kein kognitives Überlastungsphänomen (das aus konstruktivistischer Perspektive auszuschließen ist), sondern Effekt einer Konvergenz avancierter Technologie und moderner Ökonomie im Medium des Netzes, in der mobilen Kommunikation, dem Multitasking im (Arbeits-)Alltag, der Ubiquität von Werbung (als zentraler Wertschöpfungsressource), informationszentrierten Arbeitsregimen, -prozessen und -technologien, dem ökonomischen und kulturellen Paradigma der Schnelligkeit, der Echtzeitkommunikation und den Techniken öffentlicher Darstellung und Präsenz in den sozialen Netzwerken. Entwertung. Trotz ihrer signifikanten ökonomischen und kulturellen Bedeutung, trotz einer „Wissensvision der Informationsgesellschaft als informierte Gesellschaft, deren Wissenslage quantitativ und qualitativ immer besser wird“ (Spinner 1998:85), entwerten die schiere Menge, ihre Bereitstellungs- und Zirkulationsformen die Information. Ihre Produktion ist, wie Han es ausdrückt, ein additiver und kein narrativer Prozess mehr (Han 2012:50; vgl. 2013:32, 50, 56), sie instruiert nicht und verliert damit ihre Orientierungsfunktion (Han 2013:79). 43 „Die Informationen haben für den normalen Menschen keine Handlungs- oder Problemlösungsrelevanz mehr. Der ursprüngliche Sinn von Informiertheit, sich Handlungsvgl. Wils 2005:301 f.; Münch 1995:110). Kittler hat Medien als „historische Eskalation von Gewalt“ bezeichnet (Kittler 2013:102; vgl. Han 2010:11 ff.). Die Wahrnehmung als Aggression scheint unabhängig von der politischen Orientierung. So spricht etwa Strauss von der „Rattenplage der Kommunikation“ (Strauss 2013:70). Im „Kommenden Aufstand“ wird die Metropole als Struktur beschrieben, „[w]o man von Informationen angegriffen wird wie von unzähligen feindlichen Kräften“ (Unsichtbares Komitee 2007:41), Berardi spricht von einer „Semio-Inflation“ bzw. „semiotischer Überfrachtung“ (Berardi 2012:111, 129). Postman konstatierte: „Unsere Abwehrmechanismen gegen die Informationsschwemme sind zusammengebrochen; unser Immunsystem gegen Informationen funktioniert nicht mehr“ (1992:62; ähnlich Baudrillard 1990:86). Gerade diese emotional aufgeladenen Metaphern zeigen, dass der Informationsüberschuss und die „ultraschnelle[ ] Oberflächenzirkulation der Zeichen“ (Baudrillard 1990:81) kein abstraktes Problem, sondern eine sehr präsente Alltagswahrnehmung sind. 43 Lash unterscheidet die Repräsentation klassischer von der Präsentation moderner audiovisueller Medien. Repräsentation verlangt eine aktive, kompetente Aneignung und zeitintensive Reflexion des Adressaten, während Präsentation einen industriellen Charakter hat, der durch hohes Tempo und geringe Qualität der Informationsproduktion, schnelle Distribution sowie rasches, unreflektiertes, überwiegend beiläufiges Konsumieren gekennzeichnet ist (vgl. Lash 2002:71 ff.), das keine Zeit für die Auf arbeitung komplexer Zusammenhänge lässt (vgl. Han 2012:54 f.; Sterbling 2002:212; vgl. auch Wils 2005:295, 298).

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alternativen und letztlich Vorteile zu verschaffen, geht im Zeitalter der Informationsüberflutung verloren. Bürger können nicht mehr zwischen wichtigen und unwichtigen Informationen unterscheiden“ (Brosius 1997:97 f.; vgl. Simon 1978:456; Nowotny 1999:111 f.). Das belegt beispielsweise die Nachfrage nach Ordnungskriterien und Relevanzhinweisen, wie Rankings, Userklicks, aber auch die Forderung des Kommentierens und Bewertens in Foren, auf Portalen und Handelsplattformen (vgl. auch Lovink 2012:39, 70). Selektion. Der „Informationsüberschuss“ (Rosa 2005:203; Keane 2009:746) ist eine Bedingung der Beobachtung des Politischen, die weniger das kognitive System des Individuums belastet (das konstruktiv und nach eigenen Kriterien arbeitet) als das Subjekt, an das die Erwartung der Informiertheit gerichtet ist und das sich mit der Quantität potenziell relevanter und bearbeitungsbedürftiger Umweltirritationen auseinandersetzen muss (vgl. auch Keane 2009:746 f.) – sein Problem ist die „Interpretation des Rauschens“ (Baecker 2005:76) aus unterschiedlichen und konkurrierenden Quellen.44 Das Ignorieren oder Abblenden von Irritationen ist riskant, weil sie im Kontext eines der vielen Funktionssysteme, die das Individuum als Subjekt inkludieren, doch in irgendeiner Form relevant sein könnten (vgl. auch Münch 1995:83).45 Begrenzte kognitive und zeitliche Ressourcen zwingen deshalb zu konfliktträchtigen Priorisierungen in der Informationsverarbeitung, die politisches Interesse, konkurrierende private, berufliche Ansprüche und Zwänge, aber auch kulturelle Bedürfnisse, berücksichtigen müssen. Fragmentierung. Durch den schnellen Wechsel der Sachlagen und Themenräume und den raschen Relevanzverlust der Informationen fragmentieren die individuellen Informationsbestände46 und erschweren die reflektierte Einordnung neuer Informationen in ein umfassendes und kohärentes Bild des Politischen (vgl. Lau, Redlawsk 2001:155; vgl. auch Wirth 1997:276). Neben der umsichtigen Zuweisung seiner Kapazitäten muss das Individuum eine aufwendige (Re-)Integration der

44 Wurman bezeichnet die daraus resultierende Verfassung als „Information anxiety“, ein Begriff, der die Diskrepanz zwischen Verstehen und Verstehensollen, zwischen Daten und Wissen beschreibt (Wurman 2001:14), „a pervasive fear that we are about to be overwhelmed by the very material we need to master in order to function in this world” (Wurman 2001:15, 250). 45 Die unbesehene oder unkritische Abnahme von Informationen ist ebenso riskant. Besonders die in den digitalen Medien zirkulierenden Informationen sind nicht immer verlässlich und im Grunde stets validierungsbedürftig (S. 113 ff.). 46 „[...] als ob die Zustände und Ereignisse aus völlig heterogenen Bestandteilen gemischt seien – sie erhalten damit etwas Zweideutiges und objektiv Verwischtes“ (Gehlen 1957:89).

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durch wechselnde Aufmerksamkeitsforderungen und Aktualitäten unterbrochenen, abgelenkten Beobachtungen rhizomatischer Datenströme leisten.47 Demokratie. Für das Subjekt in der Informationsgesellschaft wird Information zur Komplikation. In Bezug auf die politische Kommunikation entsteht der Eindruck, dass zwei ihrer Komponenten, Information und Übermittlung, die dritte, das Verstehen, schwächen oder sogar sabotieren. Mit der Folge, dass der an seine „Rezeptionsgrenzen“ (Bolz 1993:24) gebrachte Bürger von Castells in einem „Zustand informierter Verwirrung“ gesehen wird (Castells 2001:12; vgl. Lenk 2002:124; Lash 2002:76; Schulz 1987:130) – „profusion breeds confusion“ (Keane 2009:746). Eine Verfassung, die Schelsky bereits sehr früh als ernst zu nehmendes Risiko angesehen hat: „Die Gefahr einer Entpolitisierung und d.h. zugleich Entdemokratisierung der Staatsbürger durch Überinformation ist längst aktuell“ (Schelsky 1961:459; vgl. Keane 2009:746). Und so fragt sich Morozov, ob das Konzept der Demokratie, angesichts des politischen Daten- und Informationsdrucks, möglicherweise nur für vergangene historische Phasen spezifisch und praktikabel war, in denen Information knapp war (Morozov 2011:75). Ursachen der Belastung des Bürgers sind freilich die Komplexität der Systemumwelten und die Vielzahl und Diversität kontingenter Kommunikationsanschlüsse. Sie sind paradoxerweise zugleich Symptome einer funktionierenden Demokratie und eine Bedingung der Beobachtung, die den Eindruck ihrer Unübersichtlichkeit verstärken. 6.3.4

Themen

Auch die Gegenstände und Sachlagen selbst tragen zu den Bedingungen individueller Beobachtung bei. Besonders nicht-konventionelle Themen werden wegen ihrer Alltagsferne oft als komplex und ihre kontingente Bearbeitung als unverständlich wahrgenommen.

47 Eine kulturelle, und durchaus auch politische, „Enttäuschung“ liegt darin, dass die Informationstechnik, die für sich reklamierte, die Informationsvielfalt zu erschließen und (auch in einem demokratischen Sinn) allgemein verfügbar und vergleichbar zu machen, eine nur in Grenzen wirksame Entlastung bietet. Die Rationalitätsgewinne moderner Informationssysteme gehen durch die von ihnen produzierten Probleme und Belastungen teilweise wieder verloren (vgl. Sterbling 2002:210). Auch technische Ansätze wie perso nalisierte oder an Gruppeninteressen in sozialen Netzwerken orientierte Informationspräsentationen scheinen, zumindest in politischer Hinsicht, keine risikolosen technischen Lösungen darzustellen (vgl. S. 43, 112). Andererseits schaffen innovative Informationsaufbereitungs- und -präsentationsformen, wie sie beispielsweise im sog. Datenjournalismus zur Anwendung kommen, neue Zugänge zu komplexen Datenlagen (vgl. Rogers, Simon 2011; Rendgen, Wiedemann 2012).

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Erfahrungswelt. Politische Diskurse fokussieren zunehmend Themen, die in der Erfahrungswelt vieler Bürger keine fassbaren Korrelate haben. Für ein tieferes Verständnis fehlt das erforderliche hochspezifische Wissen, der Zugang zu den Fachsprachen, den Semantiken und disziplinären Logiken (vgl. S. 156). Vor allem aber fehlen subjektive, für die Erschließung ihrer Inhalte nutzbare individuelle Erfahrungen (Lübbe 1983:55; vgl. Dahl 1982:144; W. Schulz 1987:136; Zolo 1992:205; H.P. Peters 1994:162; B. Peters 1994:72; Beck 1986:70, 97; 2016:100; Streeck 2015:119; vgl. auch Habermas 1981b:258).48 Schelsky hat ein eigenes Dilemma darin gesehen, „dass die Sachverhalte, die es zu entscheiden gilt, ja gar nicht mehr von einer vernünftigen Urteilsbildung des normalen Menschenverstandes oder einer normalen Lebenserfahrung her angemessen intellektuell zu bewältigen sind, sodass immer mehr ‚Informationen‘ erforderlich sind, jede sachlich tiefer gehende Information aber die politische Urteilsbildung eher suspendiert als erleichtert“ (Schelsky 1961:459; vgl. auch Münch 1995:123). Mit den medialen Informationsangeboten nimmt weniger die Verständlichkeit solcher Themen als der „Grad unserer lebensweltlich indifferenten Informiertheit“ zu (Lübbe 1983:64) und damit eine „Wissensentfremdung“ (Abbott 2012:155) auch informierter und im ursprünglichen Sinn politisch kompetenter Bürger. Interpenetration. Vor beinahe hundert Jahren hat Lippmann konstatiert: „Die Welt, mit der wir es in politischer Hinsicht zu tun haben, liegt außer Reichweite, außer Sicht, außerhalb unseres Geistes“ (Lippmann 1922:27; ähnlich Schumpeter 1942:413). Er hat die Politik als komplex, widersprüchlich oder opak beschrieben (Lippmann 1922:108). Relativ neu ist die zu seiner Zeit zwar ebenfalls stattfindende, aber weniger massive Interpenetration anderer Funktionssysteme mit dem politischen System. Dessen Differenzschema bleibt dabei zwar intakt, über strukturelle Kopplungen gelangen jedoch fremdreferenzielle Irritationen, „extrasystemische und systemisch schwer bearbeitbare Sinnmomente“, in die Kommunikationen des politischen Systems (Fuchs 1993:200; vgl. Münkler, Ladwig 1997:21). Dies geschieht überwiegend durch gesellschaftliche Effekte, Neben- und Fernwirkungen der Innovationsaktivität dieser Systeme, die auch durch eine im Zug der historischen Entwicklung weiter gefasste „Demokratiepflichtigkeit“ der Sachverhalte (Grunwald) politisch „sichtbar“ und kommunikationsbedürftig werden (S. 149).

48 Das gilt insbesondere für technisch-wissenschaftliche Themen: „Je weiter die Forschung sich in die Bereiche des sehr Kleinen, des sehr Komplizierten und des sehr Großen hin einarbeitet, um so weniger lassen sich die kognitiven Resultate dieser Forschung mit unseren lebensweltlichen Orientierungen verknüpfen“ (Lübbe 2004:146). Und ebenso für ethische Folgeprobleme, die in diesen Bereichen, beispielsweise von der Reproduktionsmedizin, aufgeworfen werden und, zumal für Laien, oft schwierig und kaum sicher zu beurteilen sind (vgl. auch Bender, Hauskeller 2003:195).

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Mit Expertenunterstützung kann im politischen System zwar durchaus selbstreferenziell über Fremdreferenzielles (also Nichtpolitisches) kommuniziert werden.49 Sobald aber auf spezifische Inhalte rekurriert wird, werden die Diskurse durch die schwachen Bezüge zur individuellen Lebenswelt oft als alltagsfern wahrgenommen und es misslingen individuelle Anschlüsse an diese Kommunikationen. Der Verlust des Vertrauten in der Politik, das auch in der Vergangenheit häufig eine Fiktion war, aber die alltägliche Beschäftigung mit ihr für jedermann zu ermöglichen schien, führt zu einer zunehmenden „Entfremdung der Beobachter der Politik von den Gegenständen des politischen Handelns“ (Kepplinger 1998:204; vgl. Münch 1995:100, 153). Die kaum nachvollziehbaren Prozesse in den Funktionssystemen von Wissenschaft, Wirtschaft, Medizin, die oft unverständlichen und widersprüchlichen Interpretationsangebote, Prognosen und Handlungsanweisungen der Experten, das Agieren und Reagieren des politischen Systems werden auch durch diese Entfremdung als komplex und kontingent, das heißt als unübersichtlich, wahrgenommen. 6.3.5

Wissen

Unübersichtlichkeit entsteht auch dadurch, dass insbesondere die nicht-konventionellen Themen nicht nur jenseits subjektiver Erfahrungsradien liegen, sondern durch individuelles Wissen kaum mehr erschlossen werden können. Selbst Bildung, eigentlich Voraussetzung politischer Kompetenz, ist kein Garant für politische Kompetenz in Bezug auf solche Themen mehr (vgl. auch Popkin 1991:36, 43). Komplexität und vor allem Simultanität der zu bearbeitenden modernen politischen Themen lassen die Bedeutung formaler Bildung in den Hintergrund treten bzw. konfrontieren auch Bildungseliten mit Verständnisproblemen (Scharpf 1970a:118 f.; vgl. Kriesi 1994:240). Insofern hat Unübersichtlichkeit eine „demokratisierende“ Wirkung. Zwar verarbeiten Gebildete, wie die Wissenskluftforschung zeigt, Informationen effizienter, profitieren eher von Medienangeboten und können komplizierte Sachlagen im Allgemeinen kompetenter beurteilen. Der Nexus von Bildung und politischer Kompetenz erscheint trotzdem nicht mehr selbstverständlich, sobald es um hohe Komplexität und Kontingenz der Themen bzw. ihrer Bearbeitung geht. „The problem is, however, that the difficulty of understanding public affairs has also increased and may have outstripped the gains from higher levels of education. The major cause of increased cognitive difficulty is that public matters have become more complex. Although the idea of increasing (or decreasing) complexity is difficult to make precise, it could be shown […] that over the course of the last half century or so in every democratic country the number of different matters relevant 49 Wie oben beschrieben, kann die Konsultation von Experten eigene Folgeprobleme durch zunehmende inhaltliche Komplexität und anwachsende Kontingenz der Bearbeitungsoptionen auslösen (S. 163).

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to politics, government and the state has increased, to the point, indeed, where literally no single person can be expert in them all – in no more than a few, in fact “ (Dahl 1996:15; vgl. 1989:75).50 Mit der Investition von Zeit und Aufmerksamkeit auf den Erwerb politischen Wissens kann eine thematisch und situativ begrenzte Kompetenz auch für komplizierteste Themen entwickelt werden. Doch die Vielzahl dieser Themen und der rasche Wechsel der Aktualitäten konterkarieren solche Anstrengungen ebenso wie die vielfältigen zulässigen und gewünschten Beobachterperspektiven (vgl. Keane 2009:741,743; Luhmann 2000:369), die Erarbeitetes, Erlerntes, Verstandenes als immer revisionsbedroht, das Wissen als transitorisch und kaum verlässlich erscheinen lassen (vgl. Giddens 1980:54 ff.). 51 Die „immer prekärer werdende Wissensbasis für politische Entscheidungen“ (Grande 2000:308) verstärkt das Moment der „Unsicherheit“ in der individuellen politischen Entscheidungsbildung (Dahl 1963:191). Jedes Verstehen führt zu neuem Nichtverstehen, jedes neue Wissen zu neuen Fragen und Unklarheiten (Krohn 2003:165 f.), Wissen kann allenfalls noch als graduelle und temporäre Differenz zu Nichtwissen wahrgenommen werden (vgl. Baecker 2007:89, 97). Eine Gewissheit, eine zuverlässige Sicherheit des Denkens, Wissens, Entscheidens erscheint unerreichbar (vgl. Giddens 1990:55 f.; vgl. 64). Hinzu kommt, dass sich das Individuum durch seine partiale Inklusion permanent mit differenten Wissensformen und Wahrheitsansprüchen der in dieser Hinsicht inkompatiblen Funktionssysteme auseinandersetzen muss. 52 Auch diese Vielfalt der Hinsichten erzeugt Unübersichtlichkeit. 50 Almond und Powell haben das, mit Blick auf die Technik, recht früh thematisiert. Deren Entwicklung führt dazu, dass die Bürger ihren demokratischen Pflichten – Beobachtung, Kritik, Intervention – aufgrund ihrer inadäquaten Kompetenzen nicht mehr nachkommen können: „Technological complexity and the obscuring of cause-and-effect relationships in the interdependent and intricate process of modern society make it much more difficult for even the informed modern citizen to evaluate elite performance“ (1966:189; vgl. auch 180). So wirkt jede Intervention in diesen Domänen riskant, jede Kritik unsicher. Das betrifft beispielsweise auch die Kontrolle oder Steuerung der wissenschaftlichen Produktion von Erkenntnis (Nowotny 1999:111 f.). 51 Deshalb greift auch Detjens Statement, „dass die Menschen sich geistig, also kognitiv, anstrengen müssen, um der Demokratie gerecht werden zu können“, zu kurz (2005:290). 52 Holzinger führt das auf die Vielfalt der Differenzschemata zurück: „Man kann jetzt nicht mehr von dem Sachverhalt sprechen, da Sachverhalte jeweils teilsystemisch wahrgenommen werden. Die Teilsysteme reservieren eine Universalzuständigkeit für je ihren spezifischen Weltausschnitt. Jedes System wählt aus dem ‚Rauschen‘ seiner Umwelt eigene Informationen aus. Damit entfällt die eine oder ‚richtige‘ Sicht der Sachverhalte“ (2007:287 f.; vgl. Fuchs 1992:230). Es gibt daher auch keinen „gesellschaftlichen Ort, der bindend darüber informieren könnte, ‚was der Fall ist‘“ (Heidenescher 1999:17).

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6.3.6

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Asymmetrien

Zwar wurde gerade, in etwas überspitzter Form, gesagt, Unübersichtlichkeit habe eine „demokratisierende“ Wirkung, weil sie Wissen und Bildung entwerte und daher jedermann betreffe. Das heißt jedoch nicht, dass durch sie, und ganz besonders durch nicht-konventionelle Themen, keine neuen politischen Asymmetrien (vgl. S. 169) konstituiert, Partizipationschancen beeinflusst und damit Ungleichheiten erzeugt würden. Zugleich können solche Asymmetrien wiederum die Wahrnehmung von Unübersichtlichkeit verstärken. Wissen ist nicht nur prekär, sein Fehlen macht eine qualifizierte Beobachtung des Politischen für Teile des Demos unmöglich – zumindest dort, wo es um voraussetzungsvolle Themen geht. Dabei entstehen wechselnde „Mehrheiten“ des Nichtverstehens. Auch Bürger, die konventionellen Themen im Allgemeinen gut folgen können, interessiert und umfassend informiert sind, können in einzelnen, inhaltlich sehr spezifischen Themenräumen ihre Orientierung verlieren. Sie finden sich dann in der gleichen Situation wie weniger gut informierte Bürger. Wissen. Die prinzipielle Offenheit demokratischer Kommunikationsprozesse kann durch themenspezifische Wissensformen, Semantiken, Denkstile begrenzt werden (vgl. auch Fuchs 1993:122 ff.). Nichtverstehen, Nichtwissen und mangelhafte Informiertheit führen zur Exklusion aus diesen Prozessen (vgl. auch Lutz 2006:167; Luhmann 2000:297). Lutz spricht deshalb von einer „Inequality due to information“ (2006:51; ähnlich Delli Carpini, Keeter 1996:265). „Für den Demos beinhaltet der Demokratiebegriff ein doppeltes Versprechen, und zwar das der Gleichheit wie der Partizipation“ (Jörke 2006:254) – es wird gebrochen, sobald es um exklusives Wissen geht (vgl. auch Delli Carpini, Keeter 1996:60; Giddens 1990:73; Stehr 2000:97). Das politische System entwickelt in dieser Hinsicht eine ähnlich hohe Selektivität wie etwa die Wirtschaft (vgl. auch Brunkhorst 2001:602).53 Es sind primär sozioökonomische Faktoren, die Bildungsniveau, Sozialisationspraktiken, Beteiligungserfahrung mehr oder minder stark determinieren und Partizipationschancen und -ambitionen, aber auch das generelle politische Interesse, beeinflussen (vgl. Decker et al. 2013:101 f.; Lutz 2006:57 f., 115 f., 121; Gabriel, Brettschneider 1998:287; Gabriel 2004b:323; Geißel 2012:37; van Deth 2004a:283). Sie bestimmen über die gesellschaftliche Verteilung oder Zuschreibung von Wissen, die Praktiken der Informationsaufnahme und -verarbeitung sowie die 53 Das betrifft im Übrigen auch das Wissen um Funktion und Gebrauch von Informationstechnologien, die oben zu den erwarteten Kompetenzen gezählt wurden. Das Fehlen dieser Kompetenz exkludiert aus einem wesentlichen Teil politischer Kommunikation und erschwert den Erwerb von Wissen, denn, darauf weist Zimmerli hin, die „Wissensgesellschaft [ist] heute gar nicht eine Wissensgesellschaft, sondern eine Wissenstechnologiegesellschaft“ (Zimmerli 2000:115; vgl. Castells 2000:424).

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Entwicklung und Förderung kognitiver und intellektueller Fähigkeiten zumindest mit (vgl. auch Converse 1990:374; Delli Carpini, Keeter 1996:157, 177, 200 ff., 240; Popkin 1991:37; B. Peters 1994:72).54 Somit kann die individuelle politische Kompetenz als „Funktion des jeweiligen sozialen Umfelds des Einzelnen“ angesehen werden (Kriesi 1994:240). Beteiligung. Mit dem Bildungsgrad steigt die Partizipationsbereitschaft (Gabriel, Brettschneider 1998:287; Gabriel 1997b:479; Decker et al. 2013:106 f.; vgl. Petersen et al. 2013:13, 63). Bürger mit geringem Wissensstand und geringer Kompetenz beteiligen sich seltener an politischen Kommunikationsprozessen. 55 Ihre Wünsche und Interessen finden deshalb nicht nur keine oder nur geringe Berücksichtigung in Diskursen, Policies usw. (vgl. Decker et al. 2013:101 f.; Delli Carpini, Keeter 1996:258; Geißel 2012:34). Fehlende Partizipationspraxis und politische Responsivitätserfahrungen erschweren auch den Aufbau jenes politischen Wissens, das zu einer kompetente Beobachtung und Beteiligung befähigt (vgl. Lutz 2006:57, 72).56 Die ungleiche Verteilung, die Formen von Erwerb, Austausch und Wertschätzung von Wissen, sind zugleich Produkt und Produzent sozialer und politischer Ungleichheit (vgl. auch Lash 2002:24 f., 75). Sprache. Der Erwerb von Wissen und damit politische Kompetenz und Inklusionschancen hängen insbesondere von der Sprachkompetenz ab. Da die Einbeziehung des Subjekts in das politische System in und durch Kommunikationen erfolgt (vgl. Gerhards 2000:232), vollzieht sich Politik im Medium der Sprache (vgl. auch Arendt 1971:11; Weber 1919:31). Beobachtung und Beteiligung sind deshalb wesentlich auf ein adäquates individuelles Sprachvermögen angewiesen. Je entwickelter die Sprachkompetenz, desto größer wird die Fähigkeit sein, Gründe zu fordern, verstehen, aber auch artikulieren und geben zu können. 57

54 Das dokumentieren beispielsweise auch die Auswertungen der PISA-Studien (Prenzel et al. 2007:26). 55 Auch weil Wissen und Bildung motivationale Wirkungen haben (vgl. Wirth 1997:260, 298). Gabriel stellt fest, „dass eine qualifizierte Schulbildung generell die Neigung begünstigt, die soziale Umwelt als kontrollierbar und durchschaubar anzusehen. Solche Vorstellungsmuster kommen dann auch der aktiven Auseinandersetzung mit politischen Vorgängen zugute“ (Gabriel 1987:67). 56 Politische Erfahrungen, politisches Interesse und der entsprechende Medienkonsum tragen zur Eigenkomplexität subjektiver Realitätsmodelle bei (Früh 1980:86, 121). Früh hat diese Modelle als „kognitive Spur vergangener Auseinandersetzungen des Individuums mit seiner Umwelt“ bezeichnet (Früh 1980:119). Ihre Komplexität und Effizienz erleichtert auch das Verstehen von (Text-)Inhalten (Früh 1980:86). Der Mangel an solchen Erfahrungen wird sich wiederum negativ auf das Verstehenkönnen politischer Botschaften, Ereignisse usw. auswirken, worunter wiederum das Interesse an Politik selbst leiden wird.

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Fachsprachen technisch-wissenschaftlicher Provenienz oder das Idiom der Finanzökonomie, die über nicht-konventionelle Themen den Kommunikationsraum des Politischen infiltrieren (S. 154), heben sich von einer „auf die Allgemeinverständlichkeit der kommunikativen Alltagspraxis“ eingestellten Sprache ab, die Habermas als Reproduktionsbedingung politischer Öffentlichkeit ansieht (Habermas 1992b:436). Sprachspiele der Experten und die Semantiken der Disziplinen setzen für die Beobachtung der Systeme und die Formulierung von Beiträgen eine ausgeprägte Sprachkompetenz voraus, die letztlich über die Zugänglichkeit der politischen Diskurse bestimmt (vgl. auch Foucault 1970:26; Bourdieu 1982:30; Schlosser 1987:113 f.). Für denjenigen, der nicht über sie verfügt, wird Politik unlesbar und unverständlich.58 Geht man davon aus, dass die Umwelt sozialer Systeme sprachlich konstruiert wird, führen unterschiedliche Sprachen innerhalb des Demos zur Konstruktion dis57 Auch die das Subjekt konstituierende „Anrufung“ (Althusser, Butler), wie immer sie gestaltet sein mag, ist auf sprachliches Verstehen der Medien, Akteure, Institutionen etc. angewiesen. Wobei im Politischen natürlich nicht nur das passive Sprachvermögen eine Rolle spielt. Bourdieu spricht von der „Sprachkompetenz, die ausreicht, um Sätze zu bilden, auf die gehört wird, Sätze, die in allen Situationen, in denen gesprochen wird, als rezipierbar anerkannt werden können. Auch hier ist die soziale Akzeptabilität nicht auf die Grammatikalität beschränkt. Sprecher ohne legitime Sprachkompetenz sind in Wirklichkeit von sozialen Welten, in denen diese Kompetenz vorausgesetzt wird, ausgeschlossen oder zum Schweigen verurteilt“ (Bourdieu 1982:32, vgl. 71). Sie werden keine Anerkennung als Diskursteilnehmer finden (vgl. auch Evers, Nowotny 1987:319; Kertscher 2006:57). 58 Im Sinn des Wortes: Früh hat gezeigt, welche Rolle die „Vertrautheit des Vokabulars“ für das Verständnis von Texten hat, deren Lesbarkeit und Verständlichkeit gerade von den verwendeten Fachtermini, Fremdwörtern usf. bestimmt wird (vgl. Früh 1980:12). Unlesbarkeit kann allerdings auch eine politische Asymmetrien stabilisierende Machttechnik sein (Eisenstadt 2001:360). Butler schreibt: „Die Bedingungen für die Verständlichkeit sind selbst mit Macht und durch sie formuliert, und diese normative Machtausübung wird selten überhaupt als Form der Macht erkannt. Tatsächlich könnten wir sie zu den implizitesten Formen der Macht rechnen, einer Macht, die gerade durch ihre Unles barkeit wirkt: Sie entzieht sich den Begriffen der Lesbarkeit, die sie selbst hervorbringt. Dass Macht auf unlesbare Weisen fortwirkt, ist einer der Gründe für ihre relative Un verwundbarkeit“ (Butler 1997:190 f.; vgl. auch Lash 2002:25; Zaller 1992:48). Butler hat auch von einer „normativen Machtausübung“ (Butler 1997:190) gesprochen, die den Möglichkeitsraum dessen definiert, was gesagt werden kann. Wenn es um Fachsprachen und Expertensemantiken geht, wird der Zugang zu thematischen Räumen jedoch auch dadurch spezifiziert, das von jenen, die den Jargon beherrschen, definiert wird, was wie gesagt werden muss.

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parater Umwelten.59 Die Konstruktionen der Bürger unterscheiden sich dann von jenen der kognitiven Eliten, Experten und Fachpolitiker und sie können diese fremden Konstruktionen auch durch Beobachtung nicht mehr erschließen, weil ihre Texte nicht mehr zu decodieren sind. Diese sprachliche Opazität trägt ebenfalls zur Unübersichtlichkeit des Politischen bei. 6.3.7

Epigramme

Auch die Erkennbarkeit ihrer Strukturen, Funktionen und Zugangspunkte ist eine Bedingung der individuellen Beobachtung von Politik. Das „Verhalten im Systemkontext […] ist auf komprimierte, übersichtliche, aktuelle Präsentation solcher Sinnzusammenhänge angewiesen“ (Markowitz 1986:18). Markowitz verwendet hierfür – in einem etwas anderen Zusammenhang 60 – den Begriff des Epigramms: „Da soziale Systeme sinnhaft identifizierte Systeme sind, muss ihre erfahrbar aktuelle Manifestation den Sinn des jeweiligen Systems phänomenal konkretisieren, Kontexte, mit deren Hilfe dies geschieht, sollen als Epigramme bezeichnet werden“ (Markowitz 1986:135).61 Epigramme sind Einrichtungen, Praktiken und Routinen, die zuverlässig, schnell und ohne exzeptionellen Aufwand (vgl. Markowitz 1986:18, 28) kognitive 59 Diese Annahme stützt sich auf Whorfs Diktum, nach dem „Sprachliche Strukturgesetze […] das Denken [beherrschen]“ (Whorf 1963:51, passim). Sein „linguistisches Prinzip“ besagt: „Menschen, die Sprachen mit sehr verschiedenen Grammatiken benützen, werden durch diese Grammatiken zu typisch verschiedenen Beobachtungen und verschiedenen Bewertungen äußerlich ähnlicher Beobachtungen geführt. Sie sind daher als Beobachter einander nicht äquivalent, sondern gelangen zu irgendwie verschiedenen Ansichten der Welt“ (Whorf 1963:20; vgl. auch Berger, Luckmann 1969:164 f.; S. J. Schmidt 1994:32; Nietzsche 1882:592; 1881:208; Gadamer 1960:446 f.). 60 Der Autor hat den Begriff am Beispiel des Schulunterrichts entwickelt. Er erscheint, wegen seiner generellen Aussagen über die Beziehungen zwischen Individuen und sozialen Systemen, auch auf ihr Verhältnis zum politischen System anwendbar. 61 „Systeme müssen – wenn überhaupt pragmatische Orientierung an sozialer Kontextualität möglich sein soll – den Teilnehmern die Voraussetzung bieten, pragmatisch handhab bare Abbilder von ihnen zu gewinnen, eben Epigramme. Epigramme sind Vereinfachungsformen und eben deshalb nicht das System selbst. […] Unter dem Systembegriff wird versucht, soziale Kontextualität überhaupt zu fassen. Unter dem Epigramm-Begriff läuft der Versuch zu erfassen, wie pragmatisches Erfassen versucht wird. Unter dem Titel System wird der Kontext als solcher gemeint; unter dem Signum des Epigramms zielt das Bestreben auf einen Bestandteil dieses Kontextes: Das Trachten nach Orientierung am Kontext beeinflusst Reproduktion und Modifikation des Kontextes selbst. Eben deshalb sind Epigramme – die Darstellungsformen sozialer Systeme – Bestandteile dieser Systeme selbst“ (Markowitz 1986:26 f.).

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und kommunikative Systemzugänge ermöglichen und die Beobachtung orientieren. Das operative politische System leistet das mit einer professionellen, allgemein verständlichen Präsentation von Macht und Entscheidungskompetenz durch die kommunikative Verwendung spezifischer Codes und Referenzen (etwa auf Staatlichkeit, Rechtsbindung, Bürgernähe), einer verlässlich erkennbaren Darstellung ihrer strukturellen Ordnung (Institutionen, Parteien und andere Organisationen), ihrer Verfahrensregeln und verbindlich geregelten Zuständigkeiten. Die Komplexitätszunahme politischer Themen und Bezüge, die komplizierten Verflechtungen des politischen Systems mit anderen Funktionssystemen, die strukturelle Unübersichtlichkeit seiner multiplen Teilsysteme und Ebenen (S. 77) und die Einbindung in transnationale Systeme und globale bzw. globalisierte Strukturen lassen die Epigramme dieses Systems jedoch undeutlicher werden (vgl. auch M.G. Schmidt 2000:521; Kuklinski, Quirk 2000:168 f.). So sind die Ansatzpunkte der für jede Interpenetration vorauszusetzenden Kopplungsmöglichkeiten im Fall nicht-konventioneller Themen bisweilen unklar. Ein bereits erwähntes Symptom hierfür könnten politische Proteste sein, die nicht die Politik, sondern Wirtschaft (Occupy Wall Street) oder Wissenschaft (etwa bei Protesten gegen Tierversuche) adressieren (S. 29). Selbst wenn Forderungen oder Kritik erfolgreich adressiert werden können und tatsächlich Wirkungen zeitigen, können die komplexen Verfahren auf nationaler und supranationaler Ebene die Zurechenbarkeit responsiver Politik erschweren (S. 138). Ist die klare Erkennbarkeit und Wiedererkennbarkeit politischer Strukturen, Zuständigkeiten und Leistungen nicht gegeben, trägt das zur subjektiven Erfahrung von Unübersichtlichkeit bei.62 62 Erkennbarkeit, sowohl adressierbarer Funktionsbereiche des politischen Systems als auch seiner Entscheidungsproduktion, beeinflusst auch das Gefühl politischer Effektivität und damit die Partizipationsmotivation des politischen Individuums. Campbell et al. definieren Political Efficacy als „the feeling that individual political action does have, or can have, an impact upon the political process, i. e., that it is worth while to perform one’s civic duties. It is the feeling that political and social change is possible, and that the individual citizen can play apart in bringing about this change. To the extent that this feel ing of political efficacy is measurable, we would predict that it would be positively re lated to political participation“ (Campbell et al. 1954:187). Political Efficacy hängt von der politischen Kompetenz, die sich das Individuum selbst zuschreibt, sowie von dem Gefühl ab, an einem prinzipiell responsiven System zu partizipieren (Vetter 1997:11 f.; Decker et al. 2013:27 f.; Geißel 2011:65), das Beteiligung zulässt, fördert und als sinnvoll erscheinen lässt (vgl. S. 121). Letzteres setzt, neben grundlegenden demokratischen Rechten, einerseits erkennbare systemische Interpenetrationsofferten voraus und andererseits wiedererkennbare, zuschreibbare Responsivität. Undeutlichkeit, sowohl der Epigramme als auch der Ent-

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Optionen In welcher Situation befindet sich der Bürger nun? Von ihm wird erwartet, politische Diskurse zu beobachten und seinen individuellen Präferenzen und allgemeinen gesellschaftlichen Erfordernissen adäquate rationale politische Entscheidungen zu treffen. Und das unter dramatisch erschwerten Bedingungen: Bei chronischer Zeitknappheit, notwendig begrenzter Aufmerksamkeit für die multiplen, schnell getakteten Kommunikationen, versuchend eine Flut von Daten und Informationen zu verarbeiten, zu verstehen und einzuordnen, mit prekären Wissensbeständen über Themen ausgestattet, für die keine direkten Erfahrungskorrelate existieren und deren Sprachwelten ihm verschlossen bleiben, soll er kompetent beobachten und entscheiden. Und dieses Beobachten und Entscheiden findet in der Unübersichtlichkeit der Spätmoderne statt, in der „haltlosen Komplexität“ (Luhmann) und unruhigen Kontingenz einer polykontexturalen Gesellschaft, deren Politik sich zunehmend mit Themen wissenschaftlicher oder technischer Provenienz befassen muss, die ökologische Gefährdungen, biotechnologische Risiken, Fragen der Informationstechnologie, der Finanzökonomie und Energiegewinnung auf die Agenda nehmen muss. Auf der einen Seite also die anspruchsvollen Erwartungen des demokratischen politischen Systems und seine, kaum weniger anspruchsvolle, Selbstbeschreibung als kompetenter Bürger. Auf der anderen Seite die begrenzten individuellen Ressourcen und die Unverständlichkeit alltagsferner politischer Themen. Wie kann der Bürger in dieser Situation reagieren? Er hat, zumindest auf den ersten Blick, zwei vorstellbare Optionen: Entweder er zieht sich, verunsichert und frustriert, aus der Beobachtung des Politischen und einer rationalen demokratischen Partizipation zurück, reagiert also im normativen Sinn regressiv, oder er entwickelt eine den Bedingungen angemessene Form der Kompensation der Unübersichtlichkeit – reagiert also pragmatisch auf die „Zumutung rationalen Entscheidens unter Bedingungen hoher Komplexität“ (Schimank 2005:11). Zunächst soll diese zweite Option betrachtet werden.

6.4 P RAGMATISCHE R EAKTIONEN Pragmatismus ist „Inkompetenzkompensationskompetenz“ (Marquard 1981:29; vgl. auch 2000:12 ff., 58), die es in komplexen Datenlagen, unter Zeitdruck, bei unvollständigem Wissen, bei komplizierten Themen, beim Versagen individueller Kompetenzen ermöglicht, mit einem vertretbaren Minimum an intellektuellem und zeitlichem Aufwand politische Haltungen und Urteile zu entwickeln und auf dieser

scheidungsleistungen, werden deshalb vermutlich einen negativen Einfluss auf das politische Effektivitätsempfinden haben.

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Basis konkrete Entscheidungen zu treffen. Auf drei Kompensationstechniken 63 soll hier eingegangen werden: • • •

die Nutzung von Heuristiken, die Konsultation sozialer Systeme und informationsökonomisches Beobachten.

Informationsökonomie hilft quantitative Komplexität zu reduzieren, Heuristiken qualitative Komplexität und die Konsultation sozialer Systeme Kontingenz. 6.4.1

Heuristiken

Politische Entscheidungsbildung sollte im Grunde ein Akt rationaler Informationsverarbeitung sein. Rational ist der Versuch, zunächst möglichst alle relevanten Aspekte eines Themas, eines Problems zu identifizieren, ihre Inhalte und Bedeutungen zu verstehen, die Details der Gesichtspunkte zu erarbeiten. Dann: infrage kommende oder angebotene Lösungswege zu ermitteln, ihre Eignung abzuschätzen, die Wirkung auf andere Bereiche politischen Handelns zu erkennen, Implikationen für andere Akteure zu berücksichtigen, die für ihre Umsetzung erforderlichen Mittel in Betracht zu ziehen und schließlich deren jeweilige Neben- und Folgewirkungen zu eruieren. Schließlich sollte eine präferenzielle Ordnung sämtlicher relevanter Alternativen erstellt und der Prozess mit der Selektion der am geeignetsten erscheinenden Option abgeschlossen werden (vgl. Lindblom 1965:137 f.; Downs 1957:6; Schimank 2005:181). Rationales Vorgehen dieser Art ist im Alltag zu zeitaufwendig, es erfordert ein beträchtliches Maß an kognitivem Elan und ein tiefes Eindringen in eine möglicherweise extrem komplizierte Materie. Pragmatisch ist es, einen derart schwierigen Weg zu einer Entscheidung möglichst zu umgehen. Elaborierte, wissensbasierte Rationalität und pragmatische Taktik sind alternative kognitive Routen zu einer Problemlösung oder Entscheidungsfindung. Petty und Cacioppo sprechen von der „zentralen Route“ individueller Informationsproduktion, die, bei hoher Motivation, individueller Involviertheit und entsprechenden kognitiven und äußeren Voraussetzungen, zu einer sorgfältigen und sachgerechten Transformation von Daten zu Informationen führt und dem klassischen Konzept rationalen Entscheidens entspricht. „Periphere Routen“ bilden taktische Alternativen hierzu. Bei komplexen Datenlagen, geringer Verarbeitungsmotivation und beschränkten Ressourcen an Zeit und Wissen führen sie schneller und mit geringerem kognitiven Aufwand zu ebenfalls akzeptablen Ergebnissen (vgl. Petty, Cacioppo 1986:3,11, 141; Chaiken 1980:753; weitere Beispiele für dichotomisch organisierte Theorieansätze in FadenKuhne 2012 und Sears 2001:26 f.) 63 Der Begriff der Kompensation wird beispielsweise von Sniderman, Brody und Tetlock verwendet (vgl. Sniderman et al. 1991:5, passim).

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Pragmatik beginnt mit der Effizienz des Beobachtens, der Informationssuche und -bewertung. „We know today that human reasoning, the product of bounded rationality, can be characterized as selective search through large spaces of possibilities. The selectivity of the search, hence its feasibility, is obtained by applying rules of thumb, or heuristics, to determine what paths should be traced and what one can be ignored. The search halts when a satisfactory solution has been found, almost always long before all alternatives have been examined“ (Simon et al. 1992:4; vgl. Simon 1979:491). Der Autor skizziert hier ein allgemeines pragmatisches Muster individueller Informationsproduktion angesichts hoher Komplexität und Kontingenz (vgl. Simon 1972:410 f., 417; Gigerenzer, Goldstein 1996:651). 64 Weil sie durch eben diese Kriterien definiert ist, kann angenommen werden, dass dieses Muster auch als pragmatische Form des Umgangs mit Unübersichtlichkeit einzuschätzen ist. Entscheidung. Mit dem Ausweichen auf periphere Routen ordnet das politische Subjekt normative Rationalitätsvorstellungen situativ definierten Effizienzanforderungen unter (vgl. Shafir, LeBoeuf 2002:493; Gigerenzer, Goldstein 1996:650) und nutzt eine Form der Entscheidungsrationalität, die vor allen in seinem beschleunigten Alltag funktionieren muss. Sie basiert wesentlich auf Heuristiken – schnellen und effizienten Alternativen zum Prozessieren komplexer Datenbestände, deren Bearbeitung sonst mit hohem Aufwand an Zeit und intellektueller Energie verbunden wäre (Taylor 1982:192, Simon et al.1992:108; Tversky, Kahneman 1974:4; Gigerenzer, Goldstein 1996:651). Heuristiken reduzieren qualitative Komplexität durch einen Rückgriff auf vertraute, strukturell einfache Muster des Interpretierens und Beurteilens. Sie werden beinahe automatisch aktiviert, weil sie rasch und mühelos verfügbar sind (Kahneman 2003:1452, 1459; Kahneman, Frederick 2002:54). Sie unterstützen das schnelle Einordnen und Gewichten neuer Daten wie etwa Nachrichten unter Zeitdruck (Kahneman 2003:1463; Brosius 1995:107, 131; Gigerenzer 2007:122 ff.; Kahneman, Frederick 2002:58), kompensieren aber auch knappe Aufmerksamkeit (vgl. Sniderman et al. 1991:90) und andere der oben aufgeführten Bedingungen der Beobachtung des Politischen (S. 207 ff.). Heuristiken sind ein generelles, entwicklungsgeschichtlich bedeutsames, kognitives Schema65 für schwierige Beobachtungs- und Entscheidungssituationen (vgl. 64 „Our cognitive and practical efforts may be a triumph of rationality, but they are a triumph of bounded rationality“ (Rescher 1998:197). Rescher sieht in der begrenzten Rationalität auch keinen Rationalitätsverzicht: „If rationality were only possible in the light of complete information, it would before become totally irrelevant for us“ (Rescher 1998:170). 65 Das auch von den Systemen der künstlichen Intelligenz genutzt wird. „Wie intelligent ein System ist, zeigt sich einzig an seiner heuristischen Versiertheit“ (Gold 1998:78).

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auch Gigerenzer 2000:192, 225), eine Alltagstechnik, die beim Umgang mit Artefakten, sozialen Problemen, ethischen Fragestellungen etc. ebenso zum Zuge kommt wie bei der Beurteilung politischer Themen (vgl. Kahneman, Frederick 2002:81; Arthur 1992:9; Chaiken 1980:753; Gigerenzer 2000:231).66 Ihre besondere Bedeutung für das menschliche Entscheidungsverhalten liegt darin, trotz reduzierter Rationalität zu ebenso oder ähnlich brauchbaren Entscheidungen zu verhelfen wie eine zeitintensive, elaborierte Informationsverarbeitung. Sie ermöglichen es, auch dort noch scheinbar kompetent zu handeln, wo kein ausreichendes Wissen verfügbar ist oder geeignete Informationen fehlen: „[U]nder a surprisingly broad set of conditions, people can use limited amounts of information to solve complex problems“ (Lupia, McCubbins 1998:19). Lupia hat das als „Emulation“ bezeichnet: Heuristisch angeleitetes Entscheiden emuliert faktenbasiertes Entscheiden (Lupia 1994:72).67 Substitution. Wenn die Kompliziertheit alltagsferner politischer Themen und die Vielfalt der kommunizierten Beiträge die „problem complexity boundary“ (Arthur 1992:5; vgl. auch Wirth 1997:276; Sniderman et al. 1991:71) des Beobachters überschreiten, entlasten Heuristiken durch simplifizierende Substitutionen (vgl. Kahneman 2003:1460; Popkin 1991:44). Sie nutzen geeignete Anknüpfungspunkte in einem unvertrauten, überfordernden Irritationskontext, um vertraute, Sicherheit gebende Verfahren der Entscheidungsfindung aktivieren zu können (vgl. Popkin, Dimock 2000:229). Ein plakatives Beispiel ist der Wähler, der seine Entscheidung nicht auf die inhaltliche Analyse eines komplizierten Policy-Angebots, sondern auf Persönlichkeit und Erscheinungsbild eines Kandidaten stützt (vgl. Simon et al. 1992:129 f.). An66 Heuristiken sind keine überall einsetzbaren Universalwerkzeuge, sondern hierarchisch und thematisch geordnet: Allgemeine „Metaheuristiken“ leiten die Auswahl spezialisierter domänenspezifischer Taktiken ein, die nur innerhalb eines Sachgebiets, etwa der Be obachtung des Politischen, zur Anwendung kommen (vgl. Einhorn 1982:271; vgl. Gigerenzer 2000:233; vgl. Simon et al. 1992:108). Nur wenn in unübersichtlichen Situationen keine adäquaten domänenspezifischen Heuristiken abrufbar sind, tendieren Entscheider zum Rückgriff auf unspezifischere, „schwache“ Methoden (Simon et al. 1992:108), etwa Stereotypen, Vorurteile etc., und verzichten damit zugleich auf den tak tischen Nutzen geeigneter Heuristiken. Hierauf wird noch eingegangen. 67 „Citizens frequently can compensate for their limited information about politics by taking advantage of judgmental heuristics. Heuristics are judgmental shortcuts, efficient ways to organize and simplify political choices, efficient in the double sense of requiring relative little information to execute, yet yielding dependable answers even to complex problems of choice. […] Insofar as they can be brought into play, people can be knowledgeable in their reasoning about political choices without necessarily possessing a large body of knowledge about politics“ (Sniderman et al. 1991:19).

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stelle einer zentralen Route zum substanziellen Kern der Sachfrage benutzt er eine leichtere und schnellere Route, auf der er ein in der Lebenswelt bewährtes Einordnungs- und Beurteilungsschema auf ein politisches Problem anwendet (vgl. Kepplinger, Maurer 2005:112, 116 f., 184). Er führt, durch einen Shortcut, das „Unvertraute wieder ins Vertraute“ ein.68 Cues – die in sozialen Kommunikationszusammenhängen, in Diskursen erzeugten oder von Medien kommunizierten Irritationen, Signale, „Alarme“ (Popkin 1991:214), Hinweise, Anregungen, Stichworte – haben die gleiche Funktion: „voters can use a wide range of simple cues as substitutes for complex information“ (Lupia, McCubbins 1998:5; Hervorhebung r.a.). Cues, Shortcuts, Heuristiken69 strukturieren, organisieren und beschleunigen die individuelle politische Informationsverarbeitung, ohne unbedingt sehr eng mit der aktuellen Sachlage zusammenhängen zu müssen (vgl. Gigerenzer, Goldstein 1996:652 ff.). Solche „substitutes for harder-to-obtain kinds of data“ (Popkin 1991:44) sind etwa: • • • • •



• •

„Demographic facts“, wie Ethnizität, Gender, Religion oder auch lokale Bindungen und Bezüge (Popkin 1991:63 f.; Petty, Cacioppo 1986:165). Persönliche, nichtpolitische Attribute von Politikern (vgl. Campbell et al. 1954:136; vgl. auch Richter 2011:106). Wissenschaftliche oder fachliche Expertise (vgl. Popkin 1991:48; Petty, Cacioppo 1986:142, 206 f.; vgl. auch H.P. Peters 1994:162, 186). Individuelle Gruppen- oder Eliteorientierung (vgl. Sniderman et al. 1991:8; Zaller 1992:6, 286 f.; Lau, Redlawsk 2001; Popkin 1991:44). Langfristige individuelle Parteienorientierung oder ideologische Selbstpositionierung (vgl. auch Downs 1957:97; Campbell et al. 1954:90, 96; 1964:76; Popkin 1991:14, 39, 214; Arzheimer 2012:243). Ideologische Hinweise oder Kategorisierungen wie links/rechts (Downs 1957:95, vgl. Petty, Cacioppo 1986:168 f.; Huber 2012:158, 167, 187; Pappi 2002:410). Umfrageergebnisse (Lutz 2006:46, 85; Hopmann 2010:52).70 Medienpräsenz politischer Akteure und Themen (vgl. Iyengar 1990:169).

68 Luhmann hat diese Wendung in einem anderen Zusammenhang für die Komplexität reduzierende Verwendung von Symbolen benutzt (Luhmann 1988:145, vgl. 154). Das genannte Beispiel wurde als plakativ bezeichnet, weil Wähler ihre Entscheidungen im Allgemeinen insgesamt von der Kandidatenorientierung, genuin politischen, thematischen Informationen und ihrer Parteienbindung abhängig machen (vgl. Campbell et al. 1954:86; Gabriel 1997a:235 f.; Huber 2012:107, 116 ff., 133, 166) und selten ausschließlich aufgrund nichtpolitischer Eigenschaften der Kandidaten urteilen (vgl. auch Brettschneider 2002:88 f., 187). 69 Der Begriff „Shortcut“ wird hier synonym für die Termini Heuristik, Faustregel, Daumenregel („rules of thumb“) verwendet.

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Diese Shortcuts ermöglichen und beschleunigen politische Entscheidungen. 71 Ihre Funktion liegt aber vor allem darin, die Beobachtung in deren Vorfeld zu orientieren. Beobachten ist die Verbindung von Unterscheiden und Benennen (S. 16). Die genannten Substitutionen liefern Unterscheidungskriterien und Ansatzpunkte für die Benennung, die eine sprachliche Repräsentation und damit Bearbeitungsmöglichkeit hochkomplexer Sachverhalte ermöglichen (vgl. Bourdieu 1982:71). Limitierung. Der Einsatz von Heuristiken ist erfolgreich, sobald eine ausreichend plausible Bewertungs- bzw. Entscheidungsgrundlage die Terminierung der Datenaufbereitung zulässt (vgl. Gigerenzer 2007:95, 158; vgl. auch Downs 1957:76, 210). Sie verhindern die „Paralyse“ des Entscheidungssystems (Gigerenzer 2000:228), indem sie die zeitaufwendige, zahlreiche Gesichtspunkte und Optionen berücksichtigende Datenverarbeitung durch die Suche nach einer situativ befriedigenden, aber nicht grundsätzlich perfekten Lösung begrenzen. Simon führte hierfür den Begriff des „Satisficing“ ein (Simon 1972:415 ff.; 1979:483).72 Die Grenzen menschlicher Datenverarbeitungskapazitäten erklären den „ökonomischen Grundcharakter des Sich-Informierens“ (Downs 1957:206), der jede 70 Die Annahme einer solchen Verarbeitung von Umfrageergebnissen (vgl. auch S. 43) ist nicht unumstritten, eher scheinen sie als zusätzliche Information komplexere taktische Wahlentscheidungen anleiten zu können (Brettschneider 2000:496, 500 f.) – eine heuristische Funktion hätten sie damit, streng genommen, nicht. 71 Obgleich sie universelle Problemlösungsverfahren darstellen, differieren Substitutionsleistungen mit Sozialisationsumgebungen, kulturellem Hintergrund, Themensetting etc. Auch die Heuristiktypen, die in politischen Entscheidungssituationen bevorzugt zur Anwendung kommen, variieren beispielsweise mit dem Staat, dem Regierungs- und Wahlsystem (vgl. Huber 2012:122 ff., 150). 72 Er hat dieser Logik eine allgemeine gesellschaftliche Bedeutung zugeschrieben. Nach Simon ermöglicht die Konzentration auf befriedigende anstelle optimaler Entscheidungen der Gesellschaft überhaupt erst tragfähige politische Kompromisse und weithin akzeptierbare Lösungen zu finden und so negative Folgen ihrer Eigenkomplexität zu kompensieren: „Schon angesichts geringer Ungewissheit scheint es fast hoffnungslos, eine ‚optimale‘ Handlungsweise anzustreben. Wenn die Werte, wie meistens, umstritten sind, kann diese ‚optimale‘ Handlungsweise nicht einmal klar definiert werden. Aber damit ist nicht alles verloren. Es wird schon einfacher, verschiedene Sichtweisen und unterschiedliche Gewichtungen miteinander in Einklang zu bringen, wenn wir uns mit befriedigenden Maßstäben begnügen, wenn wir nach Lösungen suchen, die gut genug sind, anstatt auf den besten Lösungen zu beharren. Es könnte möglich sein – und es ist auch möglich –, eine Handlungsweise zu finden, die für fast alle Gesellschaftsmitglieder annehmbar ist und die von vielen sogar vorgezogen wird, vorausgesetzt, wir sind keine nach dem Optimum verlangenden Perfektionisten“ (Simon 1983:95).

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Umweltkonstruktion mit dem Erkennen ihrer Viabilität zunächst abbricht. Diese Selbstlimitierung hat zudem einen eminenten psychologischen Nutzen: Urteilsbildungen sind mit Kohärenzerwartungen belegt (vgl. Sniderman et al. 1991:90 ff.) – sie müssen schlüssig, mit individuellen Haltungen kompatibel sein (vgl. Lodge, Taber 2000:190, 209) und ohne „lose Enden“ abgeschlossen werden. Nicht-konventionelle Themen und Wicked Problems stellen nicht nur ein kognitives, sondern auch ein psychologisches Problem dar. Urteile, Haltungen und Selektionen nur in vorläufiger, in immer revisionsbereiter Form entwickeln zu können, konterkariert individuelle Konsistenzerwartungen, eine psychologische Belastung, die durch die limitierende Funktion von Heuristiken auf einem akzeptablen Niveau gehalten wird, weil ihr Einsatz die Endlosschleifen komplexer Beobachtungs- und Entscheidungssequenzen finalisiert.73 Anschlussfähigkeit. Heuristiken reduzieren die qualitative Komplexität von Sachfragen. Sie unterdrücken Ambiguitäten, kontingente Deutungs- und Bearbeitungsoptionen (vgl. Kahneman 2003:1454), zugunsten einer effizienten, zeitlich begrenzten Entscheidungsfindung – ohne die latente Bereitschaft zum elaborierten Engagement vollkommen zum Verschwinden zu bringen. Sie terminieren den Verarbeitungsprozess nicht definitiv. Heuristiken bleiben anschlussfähig für elaborierte kognitive Operationen (vgl. auch Simon et al. 1992:109). Die Aktivierung einer Parteienheuristik schließt nicht aus, dass Wähler, bei einem für sie relevanten Thema, weitere Sachinformationen abrufen (vgl. Popkin 1991:51, 212 f.) und sich zentralen Routen zuwenden. Die Bürger schalten in einen kognitiv aufwendigen Modus um, sobald ein Diskurs, eine politische Entscheidung, ihre unmittelbaren Interessen berührt oder politischen oder ethischen Haltungen zuwiderläuft. Mit ihrer Involviertheit steigt die 73 Ein Hinweis in diese Richtung findet sich auch bei Campbell et al., die bei der Unter suchung von Parteien-, Themen- und Kandidatenorientierung feststellten, dass Inkonsistenzen in diesen Motivationsmustern sich negativ auf das Wahlverhalten auswirkten: „[P]eople were less clear in their choice of candidate, they were not so likely to vote, and those who did vote showed the conflict in their motivations by a greater incidence of vacillation, postponement, and divided votes“ (Campbell et al. 1954:183). Pragmatische Strategien tragen dazu bei, in solchen Situationen ein Maß an situativer Klarheit zu erlangen, das eindeutige Entscheidungen ermöglicht. Grevens Bonmot, „dass der Informationsaufwand, den viele Bürger beim Kauf eines Autos oder einer Stereoanlage für selbstverständlich halten, den bei ihrer Wahlent scheidung bei Weitem übertrifft“ (Greven 1999:227; ähnlich Caplan 2007:133), kann auch anders interpretiert werden: Die Kompliziertheit der Materie lässt in politischen Fragen eher Heuristiken mit ihren impliziten Stoppregeln zum Einsatz kommen, die dann diesen Eindruck geringen oder nur kurzfristigen Engagements erwecken – tatsächlich aber Beleg für die Unübersichtlichkeit der Materie sind.

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Motivation und Bereitschaft, Aufmerksamkeit und Zeit aufzuwenden, sich Wissen auch über komplizierte Materien zu erarbeiten, eine elaborierte Form der Informationsproduktion zu wählen (Popkin 1991:40; vgl. auch Petty, Cacioppo 1986:87; Chaiken 1980:754, 762; Brosius 1995:121, 305; Iyengar, Valentino 2000:109; Decker et. al. 2013:42; Schimank 2005:76; Lutz 2006:129; Kahneman 2003:1453, 1468; Taber et al. 2001:219; Wehner 1997:256).74 Freilich gilt auch das Umgekehrte: Geringe Involviertheit lässt eher zu peripheren Routen tendieren (vgl. Petty, Cacioppo 1986:21, 76, 82). Die habitualisierte Befreiung des „Einzelnen von der ‚Bürde der Entscheidung‘“ ist, wie Berger und Luckmann zeigten, eine Entlastung, die für fokussiertes Engagement freistellt (Berger, Luckmann 1969:57). Aus dieser Sicht kann pragmatisches Agieren nicht nur als Kompensation, sondern auch als Entlastung in der Routine des Alltags gesehen werden, die eine situative Konzentration auf (subjektiv) Relevantes erst ermöglicht.75 Intuition und Emotionen. Veränderte Bedeutungszumessungen können nicht nur durch rationale Überlegungen, sondern auch durch Emotionen und Intuitionen ausgelöst werden. Wie jede andere individuelle Umweltkonstruktion sind politische Informationsverarbeitung und Urteilsbildung keine nur kognitive Leistungen in einem eher technischen Sinne, denn „all social information is affectively charged“ 74 Das erklärt andererseits auch den „Trend zum Partikulären“, eine Vielfalt von an spezifische Beobachtungen und Interessenlagen gebundenen, politischen Forderungen, die wiederum eine Zunahme der Unübersichtlichkeit nach sich ziehen (Rosenmayr, Kolland 1998:274) Involviertheit kann sich aufgrund ökonomischer, ökologischer oder politischer Gründe, Motive und Haltungen entwickeln. Emotionen, Affekte oder Ängste können ebenso wirken. Radkau vertritt die These, „dass die Krebsangst – die neue epochale Angst nach dem Schwinden der alten Angst vor den Infektionskrankheiten – eine untergründige Triebkraft des neuen Umweltbewusstseins“ in den 1970er-Jahren war, dem Jahrzehnt, in dem sich ein weltweites ökologisches Interesse etablierte (Radkau 2011:151). 75 Markowitz hat auf die unterschätzte, stabilisierende Funktion zeitweiliger Indifferenz hingewiesen: „Scheinbare Unaufmerksamkeit ist erforderlich, damit außerordentlich viele verschiedene Ereignisse als Anzeichen der Fortdauer eines Strukturmusters erlebt werden können [...] Die Indifferenz, die vieles zur Fortdauer desselben eint und vielfach nur als Routine geschmäht wird, ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass Ereignisse greifbar kontextuiert werden können, dass sich hinreichend wenig zu ereignen scheint. Fasziniert hat in der bisherigen Diskussion fast ausschließlich hohes Differenzierungsvermögen […] Wenig ist dabei beachtet worden, wie anspruchsvoll und risikoreich, wie funktional be deutsam für die Konstitution von Strukturen in der Orientierung das Ausdifferenzieren bewährter Strukturen der Indifferenz ist“ (1986:173). Nach Bateson ist „Gewohnheit […] eine wichtige Ökonomie des Denkens“ (Bateson 1972:199; vgl. Blumenberg 2006:656).

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(Lodge, Taber 2000:183). Emotionen und Intuitionen sind elementare Bestandteile alltäglichen und so auch politischen Beurteilens und Entscheidens (vgl. Kahneman 2003:1450; Rahn 2000:130 f.; Lodge, Taber 2000:196; vgl. auch Lindblom 1977:219; Mouffe 2000:127 ff.).76 Popkin benutzt bei der Betrachtung peripherer Entscheidungslogiken neben dem Begriff der „low-information rationality“ auch den Terminus „gut rationality” (Popkin 1991:44) und verweist damit auf eine weitere Dimension pragmatischer Selektion. Gigerenzer verwendet die „Begriffe Bauchgefühl, Intuition oder Ahnung austauschbar, um ein Urteil zu bezeichnen, 1. das rasch im Bewusstsein auftaucht, 2. dessen tiefere Gründe uns nicht ganz bewusst sind und 3. das stark genug ist, um danach zu handeln“ (Gigerenzer 2007:25). Kahneman hat – entsprechend der dualistischen Struktur zentraler und peripherer Routen – heuristisches und intuitives Urteilen (System 1) dem kognitiv und zeitlich aufwendigen, detailorientierten Denken (System 2) gegenübergestellt. Er kommt zu dem Schluss, dass ihre konzeptionelle oder normative Trennung wenig sinnvoll ist (Kahneman 2003:1451; vgl. Kahneman, Frederick 2002:51; Sniderman et al. 1991:262). Seiner Einschätzung nach entscheiden Menschen im Alltag überwiegend intuitiv und nur in bestimmten, eher seltenen Situationen aufgrund bestimmter Relevanzzumessungen rein rational (vgl. Kahneman 2003:1469 f.; ähnlich Sears 2001:32). Westen geht, gestützt unter anderem auf neurobiologische Befunde, von einer emotionalen Übersteuerung rationalen Entscheidens aus (Westen 2007:14,16, 108 ff.), besonders dann, wenn das jeweilige Thema mit Personen assoziierbar ist (vgl. Westen 2007:66 f.; vgl. auch Kepplinger, Maurer 2005:142). 77 76 Eine der weiteren Kategorie sind Stimmungen. So zeigt etwa Rahn, dass die affektive Lage von Individuen auch von Stimmungslagen der politischen Öffentlichkeit abhängt (vgl. Rahn 2000:141). Kriesi beschreibt den Einfluss nationaler bzw. kultureller Mythen auf die politische Entscheidungsbildung, die ebenfalls eine emotionale Bedeutung haben dürften (Kriesi 1994:239). 77 Die zugrunde liegenden Mechanismen sind keine wertlosen Atavismen, sie haben sich vielmehr im Zug der evolutionären Entwicklung wie in der Akkumulation individueller Erfahrung behaupten können, weil sie sich bei der Einschätzung von Menschen als erfolgreich erwiesen haben. Eine emotional bestimmte Wahrnehmung, etwa eines Kandidaten, kann durchaus aufschlussreiche Einblicke gewähren, die sinnvollerweise auch in eine politische Entscheidung einfließen (vgl. Westen 2007:46, 88; vgl. auch Luhmann 1968b:59; Cutler 2002:484; S. J. Schmidt 1994:171; Blumenberg 2006:686, 865). Nussbaum betont, dass Emotionen nicht nur Affekte sind, sondern „Einschätzungen“ und „kognitive Bewertungen“ enthalten (Nussbaum 2013:18, 23). Emotionen können rationale Entscheidungen deswegen auch unterstützen (Marcus, MacKuen 2001:41, 44, 62). Insbesondere bei niedrigem Wissensstand können sie zu einer vernünftigen individuellen Urteilsbildung beitragen: „in translating a general outlook into issue preferences conso-

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Mit Emotionen sind hier basale Affekte wie Liebe, Angst, Scham, Neid etc. sowie komplexere emotionale Strukturen wie Patriotismus gemeint (vgl. Nussbaum 2013:472, 306). In unübersichtlichen Szenarien sind sie als Shortcuts unmittelbar instruktiv: „affective information can substitute for more cognitively expensive forms of information“ (Rahn 2000:130; vgl. Faden-Kuhne 2012:88; Petty, Cacioppo 1986:34, 169; Sniderman et al. 1991:83. 262). Ihre inhärenten Ordnungsschemata reduzieren Komplexität und Kontingenz (vgl. hierzu Luhmann 1968b:106 f.; Faden-Kuhne 2012:100; Sniderman et al. 1991:115). Umgekehrt können Shortcuts selbst bestehende Emotionen oder Stimmungslagen bedienen bzw. für heuristische Anschlüsse aktivieren (Petty, Cacioppo 1986:34 f.; vgl. auch Sears 2001:30). Emotionen können wie Stoppregeln wirken, die eine intensivere Auseinandersetzung mit bestimmten Themen blockieren. Sie können die politische Wahrnehmung jedoch auch schärfen, denn Emotionen fokussieren die Aufmerksamkeit (vgl. Simon 1983:40). Unklare oder als kritisch interpretierte Situationen, unerwartete Diskontinuitäten, die Gefühle von Angst oder Unsicherheit auslösen, motivieren unter Umständen dazu, aufwendigere Strategien der Informations- und Entscheidungsproduktion zu wählen und Relevanzzumessungen zu revidieren (vgl. Faden-Kuhne 2012:102 ff.; Westen 2007:103; Marcus, MacKuen 2001:51 ff.). In der Folge steigt die Bereitschaft zur Verarbeitung weiterer Informationen und entsteht eine Nachfrage nach spezifischem Wissen, das auch durch eine Konsultation sozialer Systeme akquiriert werden kann. 6.4.2

Die Konsultation sozialer Systeme

Kompetenzdefizite können durch Beobachtung und aktive Konsultation der sozialen Systeme kompensiert werden, die insgesamt die Kommunikationszusammenhänge des Politischen bilden (vgl. S. 27 ff.). Reduzieren Heuristiken Komplexität, reduziert diese Form der Pragmatik vor allem Kontingenz, sie begrenzt Möglichkeitsspektren, Deutungsvielfalten und Unsicherheiten. Quellen. Der „wohlinformierte Bürger“, als Subjekt der modernen Demokratie, wurde von Schütz als „Informationen suchender“ Bürger beschrieben (vgl. Schütz 1946:133)78, dessen Kompetenz insbesondere darin besteht, in den Systemen nant with it, getting straight whom you like matters as much, and perhaps more, than going to college” (Sniderman et al. 1991:161; vgl. auch Sears 2001:22). 78 Schütz ging von drei idealtypischen Trägern individuellen Wissens aus: Dem Experten, dessen Wissen sich auf ein begrenztes Feld bezieht, dort aber umfassend und detailsicher ist. Dann dem Mann auf der Straße, der über ein pragmatisches, aber wenig detailsicheres Alltagswissen verfügt. Zwischen beiden steht der wohlinformierte Bürger. Weder ist er Experte, noch will er seine Entscheidungen allein auf Heuristiken stützen (ein Begriff, der von Schütz nicht benutzt wurde). Es entspricht seiner Selbstbeschreibung ebenso wie den an ihn gerichteten gesellschaftlichen Erwartungen (vgl. Schütz 1946:133 f.), dass er

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zirkulierendes Wissen aufgreifen und nutzen zu können. 79 Dieses Wissen war für Schütz von Augenzeugen, Insidern, Analysten, Kommentatoren abrufbar (Schütz 1946:121, 132 f.; vgl. Downs 1957:220 f.). Der wohlinformierte Bürger kompensiert Wissensdefizite und Probleme der Relevanzeinschätzung sowohl durch das Beobachten solcher Beobachter als auch durch die Fähigkeit, kompetente Beobachter zu identifizieren und zu konsultieren (vgl. auch Schütz 1946:123): „Denn schließlich sind wir auf Beobachtungen von Beobachtungen angewiesen, wenn wir über die Welt überhaupt etwas herausfinden wollen“ (Baecker 2008:136; vgl. Luhmann 1992b:101). Beobachtung zweiter Ordnung findet zunächst im sozialen Nahbereich, etwa in Diskussionen in der Familie, am Arbeitsplatz oder im Netz, statt. 80 Die individuelle versucht, auch dann zu vernünftigen, begründeten und nachvollziehbaren Entscheidungen und Einstellungen zu gelangen, wenn ihn Sachfragen überfordern oder Themen außerhalb seines Wissenshorizonts liegen (Schütz 1946:122, 130). Aufgrund der Partialinklusion in die Funktionssysteme tendiert jedes Individuum in unterschiedlichen Situationen zu einem dieser Idealtypen. Ob Experte, Alltagspragmatiker oder informierter Bürger, entscheidet sich erst im jeweiligen thematischen Raum. Eine allumfassende Kompetenz oder Expertise kann es, nach Schütz, aufgrund der Komplexität der Welt nicht geben. Es ist das Merkmal des wohlinformierten Bürgers, dies zu erkennen und durch gezielte Informationssuche im sozialen Raum zu kompensieren (Schütz 1946:130 f.). 79 Tocqueville hat dies auf die menschliche Konstitution zurückgeführt. Da der Mensch, „wegen seiner kurzen Lebenszeit und der Begrenztheit seines Geistes weder die Zeit noch die Fähigkeit hat”, sich alles Wissen selbst anzueignen, ist er auf die Konsultation der Systeme angewiesen. „Auf dieser […] Grundlage errichtet er selbst das Gebäude seiner eignen Anschauungen. Diese Art des Vorgehens liegt nicht in seinem Willen; das unbeugsame Gesetz seiner eigenen Daseinsbedingung zwingt ihn dazu“ (Tocqueville 1835:220; vgl. auch Luhmann 1968b:60, 69). Sollte der soziale Kontext seine Funktion als Wissensreservoir nicht mehr erfüllen können und dadurch eine kritische Stufe der Unübersichtlichkeit erreicht werden, tendieren Individuen, so Arthur, dazu, auf periphere Routen auszuweichen. Er spricht von einer „problem complexity boundary beyond which arriving at the deductive solution and calculating it are unlikely or impossible for human agents; and beyond which other agents cannot be relied upon to carry out their part of the deducing process“ (Arthur 1992:5). 80 Als Wissensquelle ist der soziale Nahbereich der informellen Interaktionssysteme (vgl. S. 41) von erheblicher Bedeutung (vgl. beispielsweise Berelson et al. 1968:97; Campbell et al. 1954:199 ff.; Schenk 1995:50; Kriesi 1994:240; vgl. auch Dahl 1982:146 f.; Putnam 2000:343; kritisch Kepplinger, Maurer 2000:454 f.; Oldenburg 1989:70). Diese Systeme fungieren als Anbieter von Deutungen oder Interpretationsleistungen. Hierfür spricht der

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Konstruktion politischer Umwelten stützt sich jedoch überwiegend auf die Irritationsofferten klassischer bzw. digitaler Massenmedien (vgl. Kepplinger 1998:217 f.; vgl. S. 36 ff.), ihre Themenbearbeitung und die über sie vermittelte Beobachtung gesellschaftlicher und politischer Eliten (vgl. McClosky, Zaller 1984:246). Auch wenn dadurch ein unvermittelter Austausch mit dem politischen System seltener wird, fungieren dessen Strukturen aber weiterhin als relevante Informations- und Wissensquellen (vgl. Lupia, McCubbins 2000:59; vgl. auch Lindblom 1977:221, 223; Keane 2009:693). Vorstrukturierung. Eine besondere Rolle kommt hierbei den Parteien zu. Von ihnen generierte Cues geben „vielen Wählern die Möglichkeit, eine Auswahl aus den komplexen politischen Angeboten zu treffen“ (Gabriel 2012:31; vgl. Huber 2012:256). Es handelt sich dabei um eher einfach gehaltene Botschaften oder Stichworte, wie sie auch von politischen Organisationen, wie Gewerkschaften oder NGOs, kommuniziert oder von Medien produziert werden. Sie können elaborierte Formen der Informationsverarbeitung initiieren oder unterstützen, sind aber primär Ausgangspunkte pragmatischen Agierens (vgl. Popkin 1991:49, 213 f.). Ihre simplifizierenden Botschaften oder „Schlagzeilen“ (Schudson 1998b:310) machen komplexe Themen oft erst heuristikfähig. Sie konturieren die unübersichtlichen politischen Kommunikationen, sodass Gruppen, Parteien, Strömungen und ihre Standpunkte erkennbar, unterscheidbar und wiedererkennbar, heuristische Anschlüsse möglich werden (Sniderman et al. 1991:113 ff.). 81 Die individuelle politische Datenverarbeitung schließt nach Sniderman an solche vorgängigen Reduktionsleistungen an: „Issue alternatives are organized in advance, typically binary, mutual exclusive, and characteristically exhaustive“ (Sniderman 2000:80 f.). Er bezeichnet solche Vorstrukturierungen der Datenräume als „Choice Sets“ – vorgeordnete Faktenlagen, Deutungsangebote und überschaubare Tableaus von Entscheidungsalternativen, die von der individuellen Informapositive Zusammenhang von Mediennutzung und interpersonaler Kommunikation (vgl. Neller 2004:352 f., 365). Solche Funktionen erfüllen auch soziale Gruppen, die sich etwa über Religion, Ethnizität, aber beispielsweise auch über Klasse definieren (vgl. auch Campbell et al. 1954:88, 161; 1964:29, 182, 186; Schulz 2006:47 f.), sowie Organisationen und Bewegungen, die sich auf der Basis politischer, ökonomischer, kultureller Interessenlagen oder spezifischer Expertise bilden (vgl. auch Campbell et al. 1964:171; Zaller 1992:286 f.). Nicht minder wichtig ist die politische Interpretation unmittelbarer subjektiver Eindrücke und Erfahrungen in den kleineren Radien des Alltagslebens (vgl. Popkin 1991:23; Sniderman et al. 1990:123; Zaller 1992:23): Der Blick auf die Stromrechnung oder das Straßenbild, Erfahrungen im Umgang mit Behörden und öffentlichen Einrichtungen etc. 81 Wiedererkennbarkeit ist für heuristische Operationen ein wesentlicher, weil schneller, Auslöser (vgl. Gigerenzer, Goldstein 1996:663).

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tionssuche in offenen thematischen Räumen entlasten (vgl. Huber 2012:52. 54 f.; vgl. auch Sniderman et al. 1991:28 f.). Sie definieren außerdem Relevanzen, die eine Unterscheidung von Wichtigem und Unwichtigem erlauben – was angesichts der Komplexität politischer Themen und massiver Datenbelastungen immer schwerer fallen muss (vgl. Schütz 1946:129). Vertrauen. Durch die Akquise sozial gespeicherten Wissens können Bürger, folgt man Lupia und McCubbins, auch bei komplizierten Themen zumindest jenes Maß von Informationen aufnehmen, das genügt, um mit weiteren heuristischen Schritten zu einem begründbaren Urteil zu gelangen (Lupia, McCubbins 2000:52; vgl. Sniderman 2000:68). Die Rezeption solchen Wissens, von Choice Sets oder Cues, hängt von dem Vertrauen ab, das die Übernahme bereits aufbereiteter Informationen tragen muss (Rahn 2000:140 f.; Luhmann 1968b:62 ff., 68; Lupia, McCubbins 2000:48; Lupia, McCubbins 1998:64; Schütte 2002:179 f.; vgl. auch Lagerspetz 1998:94). Das Subjekt muss „sich auf fremde Informationsverarbeitung stützen und verlassen können“, um seine Kapazitäten für die Komplexität der Umwelt erhöhen zu können (Luhmann 1968b:66, 18; vgl. auch Giddens 1990:48). 82 Vertrauen ist zunächst eine Kategorie, die sich auf Personen im Radius der Interaktionssysteme bezieht und hier nicht nur Lerneffekte stützt, sondern auch der Selbstvergewisserung dient: „[People] triangulate and validate their opinions in conversations with people they trust” (Popkin 1991:7).83 In funktional differenzierten Gesellschaften, mit nur partial in Kommunikationszusammenhänge inkludierten Individuen, verlagert sich dieses Vertrauen zunehmend von Personen auf eine Vielzahl funktional spezialisierter sozialer Systeme bzw. Institutionen und deren Angebote der Komplexitäts- und Kontingenzreduktionen (vgl. Luhmann 1968b:64, 73; Giddens1990:39 ff., 107 ff.).84 An deren „Socially approved know82 Giddens betont den Zusammenhang von Vertrauen und Kontingenz: „Vertrauen hat stets auch die Bedeutung von Zuverlässigkeit angesichts kontingenter Ereignisse“ (Giddens 1990:48). Das mag die oben formulierte These indirekt stützen, nach der die Konsultation der Systeme in erster Linie Kontingenz reduziert, wo beispielsweise Heuristiken eher auf die Reduktion qualitativer Komplexität abheben. 83 Vertrauen ist deswegen auch ein Aspekt der Durchsetzung von Compliance, die das Spektrum kontingenten individuellen Urteilens und Handelns begrenzt (vgl. S. 136). 84 Wobei soziale Systeme, etwa Organisationen oder Institutionen, in sie gestelltes Vertrauen nutzen können, um wiederum Personen, etwa Kandidaten, als vertrauenswürdig erscheinen zu lassen. Sie generieren damit eine Art Vertrauen zweiter Ordnung, um Ansatzpunkte für heuristische Anschlussoptionen, etwa im Wahlkampf, zu bieten. Vertrauen in Personen kann umgekehrt auch Produkt von Heuristiken sein. Das ist der Fall, wenn von nichtpolitischen, „vertrauenerweckenden“ persönlichen Merkmalen eines Kandidaten auf dessen politische Glaubwürdigkeit und Kompetenz geschlossen wird (vgl. auch Offe 1999:251; Faden-Kuhne 2012:95 f.; Lupia, McCubbins 1998:64, passim).

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ledge“ (Schütz 1946:133; vgl. Lupia, McCubbins 1998:42, 51) kann das Individuum schnell und ohne Vergewisserungsaufwand anschließen.85 Die Verlagerung von Vertrauen aus den kommunikativen Nahbereichen erstreckt sich zunehmend auf technische Infrastrukturen und insbesondere auf das ebenfalls anschlussfähige Gatekeeping der Systeme (S. 112 ff.). So stützt sich beispielsweise die Rezeption von Rechercheergebnissen der Suchmaschinen auf Systemvertrauen. Verteilung. Durch die soziale Praxis der vertrauensgestützten Wissensaufnahme besteht nach Hayek in komplexen Systemen keine Notwendigkeit mehr, dass alle beteiligten Akteure umfassend über die Sachverhalte informiert sind. Die sich selbst fortsetzenden Kommunikationsprozesse des sozialen Systems kompensieren partielles individuelles Nichtwissen, „weil der begrenzte Gesichtskreis des Einzelnen den der anderen genügend überschneidet, sodass durch viele Zwischenglieder die relevante Information allen übermittelt wird“ (Hayek 1945:65). Diese Rezeption erfolgt in hohem Maß auch beiläufig. Das Hintergrundrauschen der Mediensysteme und die fortlaufenden alltäglichen Kommunikationen aktualisieren ständig auch einen Grundpegel des Informiertseins über das politische Geschehen (vgl. auch Brosius 1997:101). Dieses routinierte, auf System- und Personenvertrauen gestützte „Zusammenwirken von Menschen […], von denen jeder nur Teilkenntnisse besitzt“ (Hayek 1945:69), trägt wesentlich zum individuellen politischen Wissen bei. Für Page und Shapiro sind solche Kopplungen Voraussetzungen der Demokratie: Sie stellen sicher, dass, obwohl jedes einzelne Individuum nicht über einen optimalen Informationsstand verfügt, insgesamt eine Diffusion des Wissens stattfindet, die dann auf einer emergenten Ebene eine kompetent kommunizierende und entscheidende politische Öffentlichkeit entstehen lässt (Page, Shapiro 1993:42; vgl. auch Hayek 1945:67). Solche Kopplungen von „Kognition und Kommunikation“ (S.J. Schmidt 1994:80) erzeugen individuelle politische Entscheidungskompetenzen. Durch sie kann das politische Individuum in unübersichtlichen Datenlagen, bei komplizierten Themen und unklaren Handlungsoptionen an etablierte, sozial validierte Reduktionsleistungen anschließen, zu einer eigenen, heuristischen oder elaborierten, Urteilsbildung gelangen und zur Selbstfortsetzung politischer Kommunikation beitragen.

85 Nach Endreß stellen „institutionelle Vertrauensgeneratoren“ (Endreß 2001:200 f.; vgl. auch Giddens 1990:111) sicher, dass Beobachtungen zweiter Ordnung abnahmefähig werden. Ein Beispiel dürfte die Pressefreiheit sein, ohne die an mediale Reduktionsleistungen kaum vorbehaltlos angeschlossen würde.

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6.4.3

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Informationsökonomie

Problemadäquate Datenakquise ist eine pragmatische Kompetenz, die eine effizienzorientierte Informationsökonomie voraussetzt, eine sparsame, hochselektive und bedarfsorientierte Datenverarbeitung, also eine Reduktion quantitativer Komplexität. Selektivität. Durch die Partialinklusion stehen dem Individuum in der arbeitsteilig organisierten Gesellschaft für politische Selektionen nur begrenzte Zeit, Aufmerksamkeit und Sachkenntnis zur Verfügung. Das Politische ist im Alltag ein Feld unter anderen, dessen Beobachtung sich deshalb an einer „Ökonomik des SichInformierens orientieren muss, der rationalen Ausnützung knapper Mittel zur Beschaffung jener Daten, auf die sich eine Entscheidungsfindung stützt“ (Downs 1957:202), des selektiven Einsatzes von Zeit, kognitivem Engagement, aber im Übrigen auch der wirtschaftlichen Mittel (vgl. Downs 1957:205 ff.). 86 So gesehen erscheint eine oberflächliche und eher beiläufige Informationsverarbeitung, die Bevorzugung leicht zugänglicher und verstehbarer Informationen (Brosius 1995:128; 1997:98 f.), ein „kognitiver Geiz“ (Wirth, Matthes 2006:344), durchaus rational.87 Ging Downs in den 1950er-Jahren von einer Mangelsituation aus, in der vollständigere Information automatisch mehr Übersicht bedeutete (vgl. Downs 1957:44, 75, 208), hat die Unübersichtlichkeit 60 Jahre später gerade mit der Informationstechnologie, den veränderten Publikations- und Rezeptionspraktiken zugenommen und zu einer paradoxen Gleichzeitigkeit von Informationsüberschuss und Informationsmangel geführt (S. 149). Ökonomisches Verhalten bedeutet in dieser historischen Situation, bewusst mit einer Ressource umzugehen, die selbst alles andere als knapp ist, wohl aber die Zeit, die Aufmerksamkeit und das kognitive Potenzial für ihre Bearbeitung (vgl. Lupia, McCubbins 1998:6; Lutz 2006:69 f.): „We cannot afford to attend to information simply because it is there“ (Simon 1978:456). Ein pragmatisches „Aufmerksamkeitsmanagement“ (Crary 1999:36; Kamps 2000:235; vgl. Stiegler 2008:111, 147) des Subjekts zeichnet sich durch die Beherrschung der „schwierigen Kunst der Informationsabweisung“ (Osten 2004:49) aus, einer angemessenen „selektiven Ignoranz“ (Lupia, McCubbins 1998:27; vgl. Iyengar 1990:161) und der Fähigkeit gezielten Vergessens (vgl. Brosius 1995:237). Solche Praktiken setzen voraus, dass Informationen in Bezug auf ihre Relevanz ein86 Downs hat das freilich als Kosten-Nutzen-Abwägung mit einer anderen Blickrichtung formuliert: „In der Regel ist es irrational, politisch gut informiert zu sein , denn die niedrigen Erträge der Daten rechtfertigen einfach nicht, was sie an Zeit und anderen knappen Mitteln kosten“ (Downs 1957:254; vgl. auch Lupia, McCubbins 2000:54). 87 In seinem Konzept des Monitorial Citizen spricht Schudson diese Ökonomie indirekt an, wenn er feststellt, „[t]he monitorial citizen engages in environmental surveillance more than information-gathering“ (Schudson 1998b:311) – einem Vorgehen, das der Beobachtung im Hyper Attention-Modus entsprechen mag (S. 211).

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geschätzt werden können, weil ihre Abweisung sonst riskant wäre (vgl. S. 213). Dies unterstützen in den Medien, in den sozialen Systemen und Kontexten zirkulierende Metainformationen, wertende, strukturierende und kategorisierende Informationen über Informationen.88 Deren habitualisierte Auswertung ist ein Baustein einer individuellen Informationsökonomie und ebenfalls eine unverzichtbare pragmatische Kompetenz. Technologie. Politische Urteilsbildung ist kaum mehr getrennt von den Technologien und Praktiken des Internets denkbar. Digitale Medien fordern von politischen Individuen, neben einem gewissen Minimum an technischer Kompetenz, adäquate pragmatische Fähigkeiten. Der Zugriff auf einen unübersehbaren, potenziell relevanten Datenraum kann nicht nur von Heuristiken oder Intuition instruiert oder informationsökonomisch optimiert werden. Nutzer der Internetbestände müssen deren Unübersichtlichkeit durch einen explorativen Verarbeitungsstil kompensieren können, der sich vom Umgang mit klassischen Medien unterscheidet.89 Es bedarf eigenständiger pragmatischer Kompetenzen, sich in diesen Datenräumen zu bewegen, bedarfs- und sachgerecht zu recherchieren, das Gatekeeping der Systeme zu verstehen und einzukalkulieren (S. 112), Informationen gezielt zu ignorieren und infrage stellen zu können.90 88 „Wenn Informationen Unterschiede sind, die einen Unterschied machen, dann führt die totale Informiertheit letztlich zu totaler Desinformation, weil nicht mehr ausgemacht werden kann, warum diese eine Information überhaupt einen Unterschied macht. Mehr Transparenz über Information macht zugleich mehr Aufmerksamkeitsmanagement, mehr Glaubwürdigkeitszuschreibungen, mehr Auswahlverfahren nötig, mit anderen Worten: Informationen über Informationen“ (Kamps 2000:235). 89 „Der Hypertext bietet keine logische oder narrative Ordnung, sondern ist als eine ‚Datenbank‘ gleichberechtigter, gleichermaßen unverbundener items strukturiert, nicht als eine zeitliche oder logische Sequenz, sondern als eine unbegrenzte räumliche Fläche von nebeneinander oder übereinander existierenden Zeichen, denen es an fester kausaler oder temporärer Kopplung mangelt“ (Reckwitz 2006:580; vgl. Castells 2000:518). 90 Die Nutzung von Suchmaschinen und Nachrichtenportalen gehört bereits zum Repertoire heuristischer Praktiken. „Es ist davon auszugehen, dass Nutzer in intransparenten Situationen heuristischer vorgehen, da wenige Informationen genügen müssen, um eine Auswahlentscheidung zu treffen. Schätzen die Nutzer die Glaubwürdigkeit der Suchmaschine als sehr hoch ein bzw. vertrauen sie ihr, dann erlaubt die Selek tionssituation sehr wahrscheinlich eine geringere Verarbeitungstiefe, mit der der Entscheidungsprozess verkürzt werden kann“ (Beiler 2005:173). Die intelligente Nutzung von Informationstechnologien hilft im Übrigen, die Begrenztheit menschlicher Gedächtniskapazitäten zu kompensieren: Als Archiv betrachtet, ermöglicht das Internet, zum je aktuellen Nachrichtenstrom asynchrone, retrospektive Sichtungen der Datenbestände vorzunehmen, die die Qualität politischer Entscheidungen verbessern kann (vgl. auch Lau, Redlawsk 2001:155).

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6.5 P RAGMATIK

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Wirth und Matthes sprechen von zwei „empirischen Ernüchterungen“ der normativen Demokratietheorie. Die erste rührt von der Erkenntnis, dass die Bürger nicht immer rational agieren und ihre Entscheidungen eher auf der Grundlage von Heuristiken, geprägt von Emotionen, bei hochgradig selektiver Informationsverarbeitung treffen (vgl. Wirth, Matthes 2006:342). Die zweite ernüchternde Erkenntnis ist, dass diese nicht unbedingt von schlechterer Qualität sein müssen als sorgfältig durchdachte, mit kognitivem Aufwand und umfangreichen Recherchen zustande gekommene Entscheidungen (Wirth, Matthes 2006:349). Kann daraus nun geschlossen werden, dass pragmatische Techniken eine zeitgemäße Antwort auf zunehmende Komplexität und Kontingenz, eine Lösung für die Probleme der Unübersichtlichkeit des Politischen sind? Wenn dem so wäre, würde die Annahme eines demokratischen Dilemmas viel von ihrer Plausibilität verlieren – und ebenso der hier entwickelte Begriff der Unübersichtlichkeit. Leistungsfähigkeit. Pragmatischen Techniken ein solches Potenzial zuzuschreiben bedeutet, unter politischer Kompetenz nicht in erster Linie Informiertsein zu verstehen, sondern Kompensation des Nicht-Informiertseins. So kommen Lupia und McCubbins zu dem Schluss „[C]ompetence requires very little information“ (Lupia und McCubbins 2000:47, 50). Und Lupia schreibt im Resümee einer empirischen Studie: „If we believe that well-informed voters make the best possible decisions, then the fact that relatively uninformed voters can emulate them suggests that the availability of certain types of information cues allows voters to use their limited resources efficiently while influencing electoral outcomes in ways that they would have if they had taken the time and effort necessary to acquire encyclopedic information“ (Lupia 1994:72; vgl. Lupia, McCubbins 2000:66; vgl. auch Popkin 1991:41). Dieses Faktenwissen scheint – interessanterweise in einer Zeit, in der sich die Gesellschaft selbst als Informations- und Wissensgesellschaft beschreibt – nahezu obsolet, wenn festgestellt werden kann, dass trotz seines Fehlens brauchbare Entscheidungen getroffen werden und darüber hinaus besser informierte Entscheider nicht zwingend bessere Entscheidungen treffen (Kahneman 2003:1469).91 91 Wilson und Schooler nehmen das für das Denken selbst an: Je reflektierter und detailgenauer das Denken wird, desto größer, insbesondere bei geringem Vorwissen, die Gefahr, sich in immer neuen Ambiguitäten, neu auftauchenden Argumenten und Gegenargumenten, Standpunkten und ihren Widerlegungen zu verlieren. In bestimmten Situationen kann es daher, insbesondere bei knappem Zeitbudget, dem Ergebnis dienlich sein, eher weniger intensiv nachzudenken (Wilson, Schooler 1991:182, 191; vgl. auch Blumenberg 2006:883). Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen Kuklinski et al. in einer empirischen Untersuchung, in der sie schnelle, emotional geprägte mit kognitiv aufwendigeren Entscheidungen vergleichen. Sie zeigen, dass die politische Toleranz ihrer Probanden nach

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Im Gegenteil weisen einige Autoren darauf hin, dass sie unter bestimmten Konditionen sogar von geringerem Wissen profitieren und daher bessere Entscheidungen treffen könnten (Gigerenzer, Goldstein 1996:652 ff.; vgl. auch Wirth, Matthes 2006:349 ff.). So weit gehen Lupia und McCubbins nicht, aber sie schätzen das demokratische Dilemma als weniger gravierend ein, weil politische Individuen durch heuristische Operationen, die Beobachtung und Konsultation der Funktionssysteme ihre Wissensdefizite effektiv kompensieren können (vgl. Lupia, McCubbins 2000:50). Tragfähigkeit. Hier wird der Standpunkt vertreten, dass pragmatische Kompetenzen, trotz ihres unbestrittenen taktischen Nutzens, keine angemessene und nachhaltige Strategie für den Umgang mit Unübersichtlichkeit darstellen – insbesondere dann, wenn es um nicht-konventionelle Themen geht. Solche Fähigkeiten und ein „nützliches Maß an Unwissenheit“ (Gigerenzer 2007:47) können durchaus als situative Rückfalloptionen angesehen werden (vgl. Sniderman 2000:72), kaum aber als generell tragfähiges Entscheidungsmuster, das den normativen Anforderungen an das politische Subjekt der modernen Demokratie entspricht. Hierfür werden diese Gründe genannt: • • •

Aussagen über die Qualität heuristisch entstandener Entscheidungen sind nicht ohne Weiteres auf politische Selektionen übertragbar. Die Nutzung pragmatischer Techniken ist riskant, weil sie verzerrte und unterkomplexe politische Entscheidungen produzieren kann. Die Bearbeitung nicht-konventioneller Themen setzt belastbares Wissen voraus, dessen Fehlen nicht durch Pragmatik kompensiert werden kann.

6.5.1

Die Qualität pragmatischer Entscheidungen

Ergebnisse experimenteller Forschung unterstreichen die Leistungsfähigkeit heuristischer und intuitiver Inferenzverfahren. Nicht nur was ihre Schnelligkeit und geringe Ressourcenbelastung anbetrifft, sondern auch in Bezug auf die Qualität der Entscheidungen. In der Literatur werden Beispiele genannt, die von Schätzungen von Städtegrößen bis zur Erstellung erfolgreicher Wertpapierportfolios reichen, und belegen, dass gute Entscheidungen auch mit minimalem Faktenwissen getroffen werden können (vgl. etwa Gigerenzer 2007:38 ff.; Gigerenzer, Goldstein 1996), „dass weniger Zeit und weniger Information zu besseren Entscheidungen führen können“ (Gigerenzer 2007:46). Mit Blick auf individuelle politische Entscheidungen folgen hierzu drei kritische Anmerkungen. Übertragbarkeit. Die zugrunde liegenden Versuchsanordnungen sind durch klare Datenlagen, eindeutige Fragestellungen und Entscheidungsoptionen gekennzsorgfältigem Überdenken und Abwägen von Entscheidungsfolgen eher ab- denn zunimmt (1993:235, 239). Allerdings geben Fragestellung und Interpretation der Ergebnisse dieses Experiments Anlass zur Kritik (Hanson 1993).

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eichnet, die transitiv (entlang von Nutzen- oder Werteskalen) geordnet und eindeutig bewertet werden können. Sie sind, im Sinne Simons, wohlstrukturiert und nicht als wicked, ill-structured oder unübersichtlich zu bezeichnen (S. 64; Shafir, LeBoeuf 2002:495, 508). Die Interpretation dieser Forschungsergebnisse kann deshalb auch nur bedingt auf unübersichtliche politische Szenarien übertragen werden, deren Kennzeichen schwer einschätzbare Interessenkonstellationen, widersprüchliche Informationen, rhizomatische Kommunikationsverläufe, unscharfe Konfliktlinien, vor allem aber die Kompliziertheit ihrer Themen sind (vgl. auch Taylor 1982:191).92 Pragmatische Kompetenzen können auch hier in vertretbarer Zeit bei geringem kognitivem Aufwand zu befriedigenden Urteilen und Entscheidungen führen. Daraus kann allerdings nicht automatisch auf deren Güte geschlossen werden. „[L]ow-information decision making is no guarantee of good decisions for either the citizen or the polity” (Delli Carpini, Keeter 1996:52).93 Begründungsfähigkeit. Eine gute Entscheidung kann begründet werden. Eine pragmatische Entscheidungsfindung hat Auswirkungen auf einen wesentlichen Gesichtspunkt der Logik des Gebens und Forderns von Gründen in einem demokratischen Kontext. Brandom schreibt: „Tatsächlich gehe ich davon aus, dass das Unterworfensein unter Rechtfertigungsforderungen, d.h. die Verpflichtung, gegebenenfalls den Berechtigungsnachweis zu erbringen, eine weitere sehr bedeutsame Dimension der Verantwortung darstellt, die man mit einer Behauptung eingeht, also der Festlegung, die man auf diese Weise trifft. Wenn man eine Behauptung aufstellt, anerkennt man implizit, dass das Verlangen von Gründen, die Bitte um Rechtfertigung des Anspruchs, den man bekräftigt hat, bzw. der Festlegung, die man eingegangen ist, wenigstens unter gewissen Umständen angemessen ist“ (Brandom 2000:250; vgl. auch Habermas 1971:130; 1981a:27). Dahinter steht die Annahme einer rationalen und begründungsfähigen individuellen Entscheidungsfindung, die zugleich die Qualität, die Güte der Entscheidung ausmacht. Heuristiken und andere pragmatische Taktiken können diese reproduktionsfähige, diskursfähige inhaltliche Kohärenz kaum gewährleisten (vgl. auch Wirth, Matthes 2006:347). Qualitätsbegriff. Es ist für Problemlagen, die auf die Quellen der Unübersichtlichkeit zurückzuführen sind (S. 77 ff.), charakteristisch, dass selten „gute“ Entscheidungen überhaupt möglich sind. Häufig sind es vorläufige, durch Kompromisse zustande gekommene, revisionsaffine Lösungen, deren Angemessenheit unklar und deren Neben- und Spätwirkungen unbekannt sind oder sogar aus92 Es muss betont werden, dass keiner der genannten Autoren das in dieser expliziten Form postuliert hätte. Auch Gigerenzer räumt ein: „Unwissenheit kann wirksam sein, ist aber kein Wert an sich. Sie kann helfen, soziale Veränderungen […] voranzutreiben, […] ist aber alles andere als ein Universalrezept“ (Gigerenzer 2007:236). 93 Kuklinski und Quirk haben auf die hier nicht untersuchte, normative Dimension des Begriffs der „guten Entscheidung“ hingewiesen (vgl. Kuklinski, Quirk 2000:157).

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geklammert werden müssen (vgl. hierzu auch Lindblom, Cohen 1979:26). Auch aus diesem Grund muss der Begriff der „guten politischen Entscheidung“ eher auf ihr Zustandekommen bezogen werden. Ob eine Entscheidung als gut einzuschätzen ist, kann, folgt man Jungermann et al., nicht an ihrem Ergebnis festgemacht werden, sondern nur am „Prozess der Entscheidungsfindung“. Eine Entscheidung wird von den Autoren als gut eingestuft, „wenn möglichst viel Information gesucht und berücksichtigt worden ist und wenn diese Information auf eine Weise integriert worden ist, wie es in den allgemein akzeptierten Theorien optimaler Entscheidung beschrieben wird“ (Jungermann et al. 1998:286). 6.5.2

Die Risiken pragmatischer Entscheidungen

Die Güte einer Entscheidung ist demnach nicht nur von ihrem Ergebnis, sondern auch vom Prozess ihres Zustandekommens her zu beurteilen. Forschungsergebnisse belegen, dass ein rein pragmatischer Entscheidungsprozess verzerrte oder inadäquate Entscheidungen begünstigen kann, und zwar aufgrund • • • • •

seiner Fehleranfälligkeit, der impliziten Bevorzugung bestehenden Wissens, der Einflüsse psychologischer Faktoren, seiner Anfälligkeit für Manipulation und seiner potenziellen Unterkomplexität.

Systematische Fehlertendenzen. Mehrere Autoren haben gezeigt, dass Heuristiken aufgrund ihrer Substitutionslogik zu falschen Wahrnehmungen und verzerrten Entscheidungen führen können: „people rely on a limited number of heuristic principles which reduce the complex tasks of assessing probabilities and predicting values to simpler judgment operations. In general, these heuristics are quite useful, but sometimes they lead to severe and systematic errors“ (Tversky, Kahneman 1974:4; vgl. Slovic et al. 1982:464 f.; Tversky, Kahneman 1981; Kahneman 2003:1458, passim; Kahneman, Frederick 2002:53, 73 ff.; Taylor 1982:192; Shafir, LeBoeuf 2002:498 ff.; Kuklinski, Quirk 2000:166 f.; Jungermann et al: 1998:159, 165 ff., 275).94 94 Wissen und Bildung können Heuristik-Fehler durch System 2-Interventionen in Grenzen zu halten (vgl. Kahneman, Frederick 2002:68). Der für die beschleunigte Gesellschaft signifikante Zeitdruck scheint sie eher zu fördern (Kahneman, Frederick 2002:58). Einflüsse der Medien und der sozialen Systeme können solche Effekte abschwächen. Allerdings neigen Menschen auch dazu, an ihren Urteilen festzuhalten, selbst wenn sie durch neue Informationen infrage gestellt werden (Ross, Anderson 1977:149 ff.; vgl. Smithson 1988:169; Zaller 1992:95; Caplan 2007:102). Informationsökonomisches Verhalten und die Überschätzung eigener Kompetenz und Urteilskraft werden diese Neigung verstärken (vgl. auch Kuklinski, Quirk 2000:160, 172; Delli Carpini, Keeter1996:43).

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Bevorzugung bestehenden Wissens. Bei der heuristischen Interpretation von Umweltdaten werden bestehende, leicht verfügbare und schnell abrufbare Wissensbestände bevorzugt (Petty, Cacioppo 1986:112). Aber „we should expect systematic bias in heuristic judgments“ (Kuklinski, Quirk 2000:166), denn sie erzeugen tendenziell konservative Umweltdeutungen: „The system tends to see what it expects to see“ (Kahneman 2003:1454; vgl. Luhmann 1968b:23; Taber et al. 2001:212). 95 Pragmatik begünstigt daher die Etablierung, Nutzung und Verfestigung von Stereotypen, also eher affektgetriebenen Selektions-, Bewertungs- und Beurteilungslogiken, die nur geringe kognitive Anstrengung erfordern (Jungermann et al. 1998:31). Stereotypen haben selbst eine heuristische Funktion, sie strukturieren die Wahrnehmung (Taylor 1982:192; Lippmann 1922:61 ff., 170 f.) und beschleunigen die Datenverarbeitung in unübersichtlichen Situationen, besonders unter Bedingungen der Zeitknappheit.96 Als pragmatische Alternative für reflexive Kompetenzen (S. 205) verzerren sie politische Entscheidungen, beispielsweise durch Ressentiments oder Vorurteile gegen politische, religiöse, ethnische Gruppen.97 95 Dieses konservative Bias wurde bereits von Lippmann beschrieben: „Was fremd ist, wird abgewiesen, was anders ist, wird blinden Augen begegnen. Wir sehen einfach nicht, was unsere Augen nicht zu berücksichtigen gewohnt sind“ (Lippmann 1922:88). Heuristiken funktionieren induktiv, während rationale Informationsverarbeitung offen und deduktiv ausgerichtet sein sollte (Einhorn 1982:272; vgl. auch Brosius 1995:109; Arthur 1992:5, 11; Kuklinski, Quirk 2000:164). Das gilt für die epistemische Entscheidungsfindung ebenso wie für den Alltag. „Our distinction between relatively objective and biased processing has certain parallels with the cognitive distinction between ‚bottom-up‘ and ‚topdown‘ processing. Specially, objective processing has much in common with bottom-up processing because the elaboration is postulated to be relatively impartial and guided by the data (message arguments). Biased processing has more in common with top-down processing because the elaboration may be governed, for example, by a relevant attitude schema that guides processing in a manner favoring the maintenance or strengthening of the original schema“ (Petty, Cacioppo 1986:19; vgl. Ross, Anderson 1977:149). 96 Lübbe hat diesen fatalen Aspekt der Unübersichtlichkeit der Themen betont: „Insbesondere gilt, dass die Reichweite unserer Urteilskraft immer weiter hinter dem expandierenden Umkreis der Realität zurückbleibt, über die wir benachrichtigt werden. Die so entstehende urteilskrafttranszendente Informiertheit ist natürlich das Material, in das sich besonders leicht Vorurteile einbilden lassen. Man muss dabei nicht gleich an politische Propaganda denken“ (Lübbe 1983:66 f.). 97 Stereotypen, die „Verteidigungswaffen unserer gesellschaftlichen Stellung“ (Lippmann 1922:71), werden in sozialen Systemen produziert, deshalb kann deren Beobachtung und Konsultation auch nicht nur Lerneffekte (S. 234 ff.), sondern auch restringierte Umweltkonstruktionen erzeugen bzw. reproduzieren oder „kontrafaktisches Wissen“ stabilisieren (Schütte 2002:183). Dazu können konsensorientierte soziale Interaktionssysteme, ge -

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Psychologische Faktoren. Die Aversion gegen Risiken (Tversky, Kahneman 1981:453; Shafir, LeBoeuf 2002:495 ff.), die unterschiedliche Erinnerung und Gewichtung positiver und negativer Nachrichten (Kepplinger 1998:199 f.) oder die stärkere Gewichtung negativer affektiver Einflüsse (Schemer et al. 2010:284) sind einige der psychologischen Faktoren, die pragmatisches Entscheiden beeinflussen und zu verzerrten politischen Urteilen führen können (vgl. Kuklinski, Quirk 2000:164). Auch beinahe subliminale emotionale oder rudimentäre psychologische Cues können auf Selektionen einwirken: So kann der Ort, an dem gewählt wird, offenbar eine Wahlentscheidung beeinflussen98 oder das Aussehen eines Kandidaten die Einschätzung seiner Kompetenz lenken. 99 Affekte und Ressentiments, meist mit einfachen binären Schemata moralischer Bewertung assoziiert (vgl. Kahneman, Frederick 2002:57), kanalisieren die individuelle Datenverarbeitung und Informationsproduktion. Emotionen, Panik, Hass oder Angst, aber auch unreflektierte Begeisterung, das Misstrauen gegen Politiker und Regierungen, die Verachtung von Andersdenkenden, von Minderheiten oder bestimmten Policies, die Furcht vor der Vielfalt und Ambiguität wirken in Entscheidungsprozessen wie Stoppregeln, die den Informationshorizont eng und das Spektrum der Optionen begrenzt halten (vgl. auch Faden-Kuhne 2012:100; Nussbaum 2013:483) und zu unterkomplexen Wahrnehmungen oder regressiven Selektionen beitragen.100 Komplexitätsdefizite. Der Nutzen pragmatischer Techniken, insbesondere von Heuristiken, liegt in der schnellen und mühelosen Reduktion hoher Umweltkomplexität – unter anderem durch implizite Stoppregeln, die den potenziell relevanten Datenraum begrenzt halten (Simon 1979:483; Brosius 1995:127). Ihre „Kontinschlossene Gruppen und Milieus beitragen, die abweichende Haltungen nicht aufkommen lassen oder sanktionieren (vgl. MacKuen 1990:82 f., 86; Sunstein 2006:61 f., 116). 98 Rutchik zeigte, dass bei der Stimmabgabe in amerikanischen Kirchengebäuden konservative Kandidaten tendenziell besser abschnitten (Rutchik 2010:212 f.) oder Entscheidungen, die in Verbindung mit christlichen Werten stehen, in einer Kirche anders ausfallen können als in einem Zweckbau (218). „Importantly, though, it should be noted that churches are probably not unique; other locations used as polling places could also prime attitudes and values. Policestations, for instance, might activate respect for authority, fire departments might activate helping norms, and schools might activate intellectual curiosity (or, perhaps, obedience and adherence to norms)“ (222 f.). 99 Antonakis und Dalgas ermittelten experimentell, dass Kinder und Erwachsene die Kompetenz eines Kandidaten nach dem gleichen, offenbar rudimentären Schema beurteilen (Antonakis, Dalgas 2009:1183). 100 Schumpeter hat seine elitistische Haltung unter anderem mit der Annahme solcher psy chologischer Dispositionen des modernen Bürgers begründet, der „in politischen Fragen leicht den außerrationalen oder irrationalen Vorurteilen oder Trieben“ folge (Schumpeter 1942:417; vgl. auch Campbell et al. 1964:283; Pitkin 1967:219).

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genzinvisibilisierung“ (Reckwitz 2006:80) kommt zudem einem Bedürfnis nach Kontingenzminimierung (Blumenberg 1981:23; vgl. Lübbe 1998:35 f.) entgegen. Heuristiken sind auch operative Reaktionen auf die Wahrnehmung von Kontingenz und Komplexität als Komplikation (S. 67, 72), die zu einem Verzicht auf potenzielle Komplexitäts- und Kontingenzgewinne führen können. Nach Sartori ist der Wähler „ein großer Vereinfacher und muss das auch sein“ (Sartori 1987:120), um der Überforderung durch Komplexität und Kontingenz des Politischen zu entgehen. Es ist bezeichnend, dass die Popularisierung der „rechts/ links“-Heuristik, die sukzessive Habitualisierung dieses allgemein erkenn- und kommunizierbaren Schemas, historisch mit der sich beschleunigenden Komplexitätsentwicklung der Gesellschaft und der „ideologischen Ausdifferenzierung“ gegen Ende des 18. Jahrhunderts zusammenfällt (Raschke 1998:198).101 Pragmatische Simplifizierungen dieser Art sind für die Beobachtung politischer Kommunikationen in konventionellen thematischen Räumen nützlich und notwendig. Für die nachhaltige Bearbeitung nicht-konventioneller Themen und Wicked Problems sind Entscheidungsmuster, die Umweltkomplexität zu früh und zu stark reduzieren, jedoch wenig geeignet (vgl. auch Schimank 2005:258 f., 261; Shafir, LeBoeuf 2002:500, Mitchell 2008:124). Das Satisficing-Paradigma kann bei der Auseinandersetzung mit Unübersichtlichkeit zu Urteilen führen, die auf unterkomplexen Umweltkonstruktionen basieren. Pragmatische Taktiken tragen nicht zu einer Steigerung der erforderlichen Eigenkomplexität im Umweltverhältnis des kognitiven Systems bei (S. 57). Manipulation. Im Zug der gesellschaftlichen Komplexitätszunahme und der funktionalen Differenzierung hat sich die Beobachtung des Politischen in den meisten Bereichen von erster zu einer Komplexität reduzierenden Beobachtung zweiter Ordnung – der Beobachtung professioneller Beobachter – hin entwickeln müssen (vgl. auch Luhmann1992b:100 f.; 1997:1098 f.; vgl. S. 234).102 Beobachtung bedeutet dann, an die Reduktion von Komplexität und Kontingenz anderer Systeme, Systemstrukturen oder Personen anzuschließen – beispielsweise der Medien, politischen Akteure, Kommunikationsspezialisten oder Experten. Ein Aspekt dieser historischen Verlagerung der Beobachtung ist Framing.

101 Eine Ordnungslogik, die mit der Etablierung postmaterieller Werthaltungen an Kraft verlor (Inglehart 1984:37). Ihr Obsoletwerden erzeugte eigene Formen der Unübersichtlichkeit. 102 „Zwischen den Einzelnen, dessen echter Erfahrungsumkreis […] stets sehr eng ist, und die unübersehbaren, schicksalhaften Vorgänge, die sich aus den sozialen, wirtschaftlichen und politischen Superstrukturen heraus entwickeln, tritt notwendig eine Zwischeninstanz: die ‚Erfahrung aus zweiter Hand‘“ (Gehlen 1957:49). Als Vermittler dieser Beobachtungen sah Gehlen die „Informationsindustrie“ (ebenda).

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Framing. Framing orientiert die Aufmerksamkeit, zentriert sie auf thematische Aspekte (vgl. Zaller 1992:81 ff.) und unterstützt bei Wissensdefiziten und Zeitknappheit (vgl. auch Huber 2012:61). Es kann ein Vokabular für die politischen Diskurse hervorbringen (Kinder, Herzog 1993:362), aktiviert Heuristiken (Tversky, Kahneman 1981:458) und es instruiert Prozesse der Umweltkonstruktion (vgl. Sniderman, Theriault 2004:144 ff.; Jungermann et al. 1998:228 f.). Aus dieser Perspektive ist Framing, aufgrund der unübersichtlichen politischen Umwelt komplexer Gesellschaften, praktisch unausweichlich: „Framing and symbol manipulation by elites are sometimes discussed in conspiratorial tones, as if, in a healthy democratic polity, they would not occur. But from my perspective they are, whether healthy or not, unavoidable” (Zaller 1992:95; vgl. Wehling 2016:42, 47). In der professionellen politischen Kommunikation interessengeleitet eingesetzt, ist Framing allerdings eine effiziente Machttechnik (vgl. Dageförde 2012:290; Gigerenzer 2007:125; Iyengar, Valentino 2000:129; auch Tversky, Kahneman 1981:457 f.; auch Downs 1957:206; Kinder, Herzog 1993:363; Faden-Kuhne 2012:96; vgl. auch Luhmann 1997:313).103 Eine primär pragmatisch gelenkte Datenrezeption ist eher anfällig dafür, durch „Nachrichtenkonfiguration“, also Aufbau, Strukturierung, Auswahl und Aufbereitung von Informationen durch die Medien (Brosius 1995:137), durch deren sprachliche und audiovisuelle Präsentation, durch symbolische Aufladung, prägnante Akzentuierungen und durch Priming initiiert und/oder manipulativ beeinflusst zu werden.104 Insbesondere wenn dabei gezielt Emotionen, Moral, Verlust- oder Risikoaversionen angesprochen werden (vgl. auch Petty, Cacioppo 1986:34 f.; Tversky, Kahneman 1981:433) oder durch das Einbringen von „Easy Arguments“ (Kuklinski, Quirk 2000:173; vgl. Baake 1973:110) komplizierte Sachverhalte, informationsökonomischen Bedürfnissen entgegenkommend, übersimplifiziert werden (vgl. auch Fuchs 1993:225).105 103 Huber zeigt, dass Bürger von zweiseitigem Framing profitieren können, wenn sie also konkurrierenden Rahmungen ausgesetzt werden und deren Herkunft transparent ist (Huber 2012:189 ff.; vgl. auch Sniderman, Theriault 2004:147 ff.). Einseitiges Framing ist dagegen manipulativ, weil es alternative Rahmungen unkenntlich macht (vgl. Tversky, Kahneman 1981:457). In diesem Fall kommt der Mitteilungskomponente der Kommunikation ein eigener Informationswert zu, der die Verstehenskomponente affiziert und dadurch Anschlussmöglichkeiten vorselektiert (vgl. Fuchs 1993:142, 158). 104 Brosius 1995:113, 138, 297; vgl. Dardis et al. 2008:133; Dageförde 2012:285, 290; Westen 2007:138; Wirth, Matthes 2006:348; Sears 2001:15, 28; Jansen et al. 2010:35, 38 f.; Iyengar 1992:135 ff.; Brettschneider 1997:586 f., 589 f.; Lakoff, Kepplinger, Maurer 2005:152, 185; Wehling 2016:67; 2009:80, 86; Bourdieu 1996:28. 105 Dabei spielt die früh erkannte (und genutzte) „Macht der Bilder“ eine entscheidende Rolle (Le Bon 1895:69; Lippmann 1922:70) – gerade in der modernen, visuell gepräg-

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Frames, Choice Sets und Cues sind interessengeleitete Selektionen (vgl. Zaller 1992:7; Kuklinski, Quirk 2000:156 f., 160, 168). 106 Sie bieten anschlussfähige Rahmungen – Reduktionen von Komplexität und Kontingenz – und damit zugleich Ansatzpunkte für die Manipulation ihrer Adressaten (vgl. Kahneman 2003:1458 f.; Dageförde 2012:285).107 Ebenso das Gatekeeping technischer Systeme (S. 112). Suchmaschinen produzieren beispielsweise ebenfalls Rahmungen – ihre Algorithmen sind nicht informationsneutral, sondern Abbild kommerzieller, politischer und kultureller Interessen bzw. Einstellungen.108 Eigene Formen des Framings sind auch beim stark visuell ausgerichteten Online-Datenjournalismus anzunehmen. Bei schwierigen, „abstrakte[n] und vergleichsweise unbekannte[n] Themen“, also gerade in unübersichtlichen Szenarien, wird Framing eher erfolgreich sein (vgl. ten Kommunikationskultur (vgl. auch Geise, Brettschneider 2010:80, 82; Großklaus 2002:85 f.; Han 2012:18 ff.; Kepplinger, Maurer 2005:79). 106 Ihr Funktionieren basiert auf Systemvertrauen. Die kritische „Kontrolle des Systemvertrauens“ erfordert „Fachwissen“, das jedoch knapp und prekär ist. Daher ist das Individuum, wie die politische Öffentlichkeit, gezwungen, auch diese Kontrolle an profes sionelle Beobachter zu delegieren (Luhmann 1968b:77). Deren Eigeninteressen erzeugen allerdings neue Kontingenzlasten aufgrund der sich einstellenden „Spannung von Vertrauen-Können und Vertrauen-Müssen“ (Endreß 2001:200). Die Verlagerung der Beobachtung vom Gegenstand zum Beobachter (vgl. Luhmann 1992b:101) entlastet zwar, produziert aber zugleich Unsicherheit, denn „alles wird kontingent, wenn das, was beobachtet wird, davon abhängt, wer beobachtet wird“ (Luhmann 1992b:100). 107 Entlastende Cues und Frames können nicht nur fragwürdige Inhalte oder unterkomplexe Deutungen enthalten, sie können auch ausbleiben (Kuklinski, Quirk 2000:157; Spinner 1998:103). Nichtinformation, Agenda-Setting oder -Cutting, Invisibilisierungen, die unverständliche Präsentation von Wissen (Eisenstadt 2001:360) stellen ebenfalls Varianten der Manipulation dar (S. 222), die auf einen politischen Aspekt des Nichtwissens verweisen. Wenn Wissen eine soziale und politische Kategorie ist, muss das auch für sein Gegenteil zutreffen – das Nichtwissen. „If knowledge and ignorance are social products, then their production is driven by human motivations, values, goals, and interests. Ignorance does not simply exist because of the limitations on hu man knowledge and imagination; it is also created and maintained by people and the social structures within which they live (often deliberately so)“ (Smithson 1988:218; Hervorhebung r.a.). Die heuristische Auflösung situativer Wissensdefizite kompensiert nicht deren soziale und machtpolitische Bedingtheit (vgl. auch Heinrich et al. 2001:352 ff.). 108 Auch die Rezeption von Suchergebnissen stützt sich auf Systemvertrauen. Der Verlust dieses Vertrauens scheint zu einer reflektierteren Nutzung führen (vgl. Beiler 2005:184). Oder umgekehrt gesehen: „Das generelle Vertrauen in Suchmaschinen geht [...] einher mit Kritiklosigkeit und mangelnder Kompetenz der Nutzer“ (Machill, Beiler 2008:161).

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Faas, Schoen 2010:139; Faden-Kuhne 2012:97) und die Möglichkeit durch Manipulation verzerrter politischer Urteile größer sein. Wissen und Bildung können Framing-Effekte jedoch reduzieren (Huber 2012:233, 237; vgl. Faas, Schoen 2010:134). 6.5.3

Die Bedeutung des Wissens

Wissen und Bildung, das ist im vorigen Abschnitt mehrfach erwähnt worden, reduzieren die Fehleranfälligkeit pragmatischen, insbesondere heuristischen Entscheidens. Und doch erscheinen die normativ geprägten Kompetenzerwartungen, mit ihrer Betonung des Wissens, der Bildung und des faktensicheren Verstehens, nicht mehr zeitgemäß, den Bedingungen spätmoderner Gesellschaften nicht mehr adäquat. Dahinter steht auch die Vermutung, dass sich der Charakter des Wissens in dieser historischen Phase verändert: „In Kontexten von Bildungs- und Wissenseinrichtungen wird in Zukunft Erziehung und Bildung in verstärktem Maße sich nicht an der Maximierung des Wissens, sondern an der Frage orientieren müssen, in welcher Weise es gelingt, mit dem als unhintergehbar durchschauten Nichtwissen, also mit dieser Form von Information, umzugehen. Das bedeutet, dass die Informationsgesellschaft zur Nichtwissensgesellschaft geworden ist“ (Zimmerli 2000:127). Pragmatische Taktiken scheinen die angemessene Form des Umgangs mit Nichtwissen zu sein. Individuelle politische Kompetenz scheint weniger eine Frage des Wissens als des Know-hows, einer pragmatischen Versiertheit, der situativen Nutzung von Heuristiken, intuitiven Einschätzungen, gezielten taktischen Zugriffen auf sozial gespeichertes oder medial abrufbares Wissen im Rahmen einer den Möglichkeiten und Umständen angepassten Informationsökonomie.109 Der spürbar rasche Verfall formalen Wissens, die Erfahrung der Vorläufigkeit der Erkenntnis und der Unmöglichkeit objektiv richtigen politischen Handelns, die geschilderten Bedingungen der Beobachtung und des politischen Entscheidens – insbesondere die Knappheit von Zeit – bestätigen Sinn und Angemessenheit dieser taktischen Beobachtungs- und Selektionsmodi (vgl. auch Rescher 1998:172; Wirth 1997:110 f.; Evers, Nowotny 1987:47; Reckwitz 2006:41).110 109 Lenk spricht in diesem Zusammenhang von der Ergänzung von Know-how durch „Know Where“, einer Kenntnis der Quellen und der Fähigkeit ihrer Nutzung (Lenk 2002:126 f.). 110 Bestätigt wird das nicht zuletzt von den Erfahrungen mit Alltagstechnologien, zu denen kein auf sicherem Wissen beruhender Zugang mehr möglich ist. Design und Benutzeroberflächen schirmen zwar von ihrer tatsächlichen Komplexität ab (vgl. Karafyllis 2011:240), können das allgemeine Empfinden unzureichenden Wissens und Verstehens aber nicht eliminieren, das mit jeder Funktionsstörung oder -verweigerung noch verstärkt wird und den Eindruck einer grundsätzlichen Überforderung durch Technik hinterlässt (vgl. Baecker 2007:169).

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Die Ubiquität von Intransparenz, Komplexität und kontingentem Prozessgeschehen trägt zu einer allgemeinen Unzulänglichkeitserfahrung des Subjekts bei, die sich unter anderem in der bewussten Vorläufigkeit seiner Entscheidungen und eben auch der politischen Urteile äußert, die unter dem Vorbehalt der Korrektur getroffen werden, sozusagen als lebensweltliche Analogie zur „Rückgängig“-Option moderner Software. „Die Mentalität des Ausprobierens als eine Haltung des Experiments enthält die Voraussetzung ständiger Revidierbarkeit von Wahlentscheidungen“ (Reckwitz 2006:578) und erklärt möglicherweise auch Phänomene wie die schwächer werdende Parteienbindung.111 Das Offenhalten von Korrekturoptionen, eine gewandelte Einstellung zum klassischen Wissensideal, der pragmatische, bisweilen experimentelle Umgang mit Komplexität und Kontingenz scheint eine der Spätmoderne angemessene Form politischer Kompetenz zu sein, bei der Wissen nur mehr eine untergeordnete Rolle spielt. Kategorienfehler Wenn die Leistungsfähigkeit pragmatischer Taktiken angezweifelt wird, muss, wie zuvor schon bei der politischen Öffentlichkeit, auch bei der Betrachtung des politischen Individuums hinterfragt werden, ob hier ein Kategorienfehler bei der Einschätzung der Bedeutung von Wissen und Sachkompetenz vorliegt (vgl. S. 158). Im politischen Alltag, so könnte argumentiert werden, wird vom demokratischen Subjekt keine Kompetenz in Sachfragen erwartet, weil sich seine Rolle darauf beschränkt oder sogar beschränken muss, am Wahltag Urteile über das Handeln der Funktionsträger und Eliten zu treffen (Schumpeter 1942:452; Zolo 1992:183). Auch seine Kritik bezieht sich weniger auf kleinteilige Detailfragen als um die Antworten, die von professioneller Seite auf sie gegeben werden. Komplizierte Inhalte werden unter Zuhilfenahme von Cues und Heuristiken so transformiert, dass sie auch ohne belastbares Sachwissen erfolgreich bearbeitet werden können. Gegen diese Sicht können mehrere Argumente angeführt werden. Systemvoraussetzung. Demokratie setzt verteiltes Wissen voraus, „eine gewisse Gleichverteilung der Urteilskraft [...], über die man als beteiligter oder betroffener Bürger verfügen muss, wenn man in Beratung oder Entscheidung, in Wahl oder Abstimmung an der öffentlichen Regelung gemeinsamer Angelegenheiten rational soll teilnehmen können“ (Lübbe 1983:87; vgl. auch Detjen 2005:290). Es gilt, was oben bereits für die politische Öffentlichkeit (S. 146) festgestellt wurde: Auch normativ reduzierte Demokratiekonzepte müssen den Subjekten ein gewisses Maß an Kompetenz, an Verständnis und Wissen zubilligen, damit sie zu begründeten Urteilen und Entscheidungen gelangen können (vgl. Lindblom 111 Arzheimer 2012:226 f.; vgl. Steinbrecher 2009:52, 119; Brettschneider 2002:81, 88; Dalton 2004:32; Gabriel 1997a:240 ff.; 1997b:429; Gluchowski et al. 1997:184, 203; kritisch Kepplinger, Maurer 2005:105.

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1977:214; Geißel 2011:109). Selbst wenn Bürger eher als passive Konsumenten politischer Angebote angesehen werden sollten (vgl. Greven1999:150; Lindblom 1977:138), sind sie doch gezwungen, sich ihren Inhalten zu stellen und hierfür substanzielles Wissen aufzubringen, das durch Pragmatik kaum substituiert werden kann. Dieses Wissen muss eine gewisse Sicherheit und Tiefe aufweisen, die Begrifflichkeiten oder Shortcuts nicht ersetzen können: „It is not enough that they know inflation and crime are high; rational citizens must know who and what is responsible, and what can be done“ (Entman 1989:9). Außerdem hat das politische Wissen der Bürger, folgt man etwa Galston oder Delli Carpini und Keeter, nicht nur am Wahltag eine Bedeutung, sondern kann als essenziell für das Funktionieren demokratischer Systeme angesehen werden. 112 •



• •



Wissen trägt eine konsistente und, unabhängig von Zeit und thematischem Raum, stabile Selbstbeschreibung des politischen Subjekts, das seine eigene Bedeutung und Funktion innerhalb verstehbarer politischer Prozesse erkennen kann. Wissen macht die Funktion demokratischer Strukturen, Institutionen, Symbole, Prozeduren verstehbar – und bisweilen auch aushaltbar. Es lässt Partizipation plausibel, möglich und effektiv erscheinen. Wissen schützt das politische Individuum vor Entfremdung – von der Gesellschaft wie von deren Funktionssystemen. Wissen stützt rationale und konsistente Vorstellungen und Haltungen zu einer breiten Palette politischer, gesellschaftlicher, kultureller und ökonomischer Themen, die sich mit den individuellen Interessen, jenen der Gesellschaft als Ganzem und deren Funktionssystemen in Beziehung setzen lassen. Wissen fördert jene individuelle Offenheit, die demokratische Systeme vor Radikalisierung und Intoleranz schützt.

Umgekehrt stellt geringes Wissen, geringe politische Kompetenz der Bürger das Demokratieprojekt grundsätzlich infrage: „Democracy, and mass participation as a decisive element of democracy, only work if we assume that citizens are competent. [...] If one does not assume that citizens are capable of making democratic choices, it is hard to argue that democracy is a suitable form of polity at all, whether or not decision making is limited to electing representatives“ (Lutz 2006:47). Selbstbeschreibung. Seit den 1970er-Jahren hat sich die Reflexion struktureller Grenzen des Politischen intensiviert (S. 33, 147). Markante Auseinandersetzungen, etwa um den gesamten Komplex der Nutzung der Kernenergie, haben eine veränderte Selbstbeschreibung des demokratischen Subjekts bewirkt, das sich heute als alert, kritik- und interventionsbereit versteht (Gabriel 2012:39; Klages 1996:243). 112 Die folgende Liste fasst Aussagen der drei Autoren zusammen (Galston 2001:223 f., Delli Carpini, Keeter 1996:219).

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Bürger formulieren seither zunehmend selbstbewusst Einsprüche, stellen substanzielle Forderungen und sie entwickeln Politikalternativen auch zu wissenshaltigen Themen (etwa im ökologischen Bereich, bei der Umsetzung von Großtechnologien usw.). All das setzt prozedurale Kompetenz und sachbezogenes Wissen voraus.113 Historische Entwicklung. Dieser Entwicklung folgten Veränderungen der Partizipationsoptionen und -modalitäten. Gabriel hat beschrieben, wie sich (zumindest in Deutschland) das gesamte politische System den Beiträgen der Bürger geöffnet hat. Es „haben sich in den vergangenen Jahrzehnten die Partizipationsangebote vervielfältigt und ausdifferenziert. Jedes Mitglied der politischen Gemeinschaft, das dies wünscht, kann über klassische (Parteien, Verbände, Vereine) und neue intermediäre Organisationen (Einzweckaktionsgruppen, soziale Bewegungen, Internet Communities) Einfluss auf politische Entscheidungsträger ausüben, Bürgerbegehren und -entscheide auf der lokalen und regionalen Ebene initiieren und bei diesen abstimmen, Petitionen einreichen, sich an legalen und nichtlegalen Protestaktionen beteiligen, Abgeordnete in ihren Sprechstunden aufsuchen oder bei öffentlichen Auftritten mit ihnen Kontakt aufnehmen, das Internet zu politischen Zwecken nutzen usw. Nicht zuletzt hat die Zahl der durch Wahlen zu besetzenden politischen Ämter zugenommen und die mit der Abgabe des Stimmzettels verbundenen Möglichkeiten zur Einflussnahme sind gestiegen, z.B. durch die Einführung des Kumulierens und Panaschierens“ (Gabriel 2012:38). Das operative politische System selbst versteht die Beteiligung der Bürger mittlerweile als Chance für einen qualifizierten Systemoutput. Sie „wird nicht als Zweck, sondern als eines mehrerer möglicher Mittel für die Erhöhung des Rationalitätsgrades kollektiv verbindlicher Entscheidungen betrachtet. Primäres Ziel ist eine Veredelung der Politikergebnisse“ (Jörke 2006:257). Die gewünschte und geförderte (manchmal auch gefürchtete) aktive Beteiligung in all ihren Varianten setzt politische Kompetenzen und nicht selten profundes Faktenwissen voraus. Neue Themen. Eklatant wird diese Anforderung in den Diskursen um nichtkonventionelle Themen oder Wicked Problems, die im politischen Alltag immer häufiger präsent und, durch die von den Bürgern vorangetriebene Kontingenzmarkierung kommunikativer Grenzen, auch politisiert werden (S. 33). In diesen Zonen des Politischen ist es kaum mehr möglich, nur Personen und deren Entscheidungen, losgelöst von den Sachfragen, heuristisch zu beurteilen. Das politische Individuum, als Wähler, als Beobachter des Geschehens, in Diskussionen im sozialen Umfeld, beim Medienkonsum, muss sich mit Themen und Inhalten auseinandersetzen.

113 Das gilt für das gesamte Spektrum politischer Kritik oder auch politischen Widerstands: „Politische Subversion setzt kognitive Subversion voraus“ (Bourdieu 1982:104), Kritik, welcher Form und mit welchen Zeilen auch immer, setzt ausgeprägte kognitive Fähigkeiten und themenadäquates Wissen voraus.

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Aufgrund der genannten Gründe wird davon ausgegangen, dass hier kein Kategorienfehler vorliegt, dass das politische Subjekt der Demokratie tatsächlich der kompetente Bürger ist, dass sachgerechte Kompetenz Voraussetzung sowohl für das Fordern als auch für das Geben von Gründen bleibt. 114 Pragmatische Kompetenzen, dieser Standpunkt wird hier vertreten, sind, trotz ihres unbestrittenen taktischen Nutzens, keine angemessene und nachhaltige Strategie für den Umgang mit Unübersichtlichkeit. Wissen und Bildung Heuristiken gleichen situativ defizitäres Wissen aus – aber keine Unwissenheit (Delli Carpini, Keeter 1996:52; vgl. Sniderman 2000:72). Cues können zwar Wissen transportieren bzw. zur Akquise von Wissen motivieren (vgl. auch Popkin 1991:51 ff.). Themenkarrieren (vgl. S. 24) beginnen oft mit wirkmächtigen Cues, ohne die demokratische Politik in der arbeitsteiligen und komplexen Gesellschaft kaum möglich wäre. Die Rezeption solcher Kommunikationen ist jedoch nicht voraussetzungslos: Die kompetente Beobachtung gerade komplexer thematischer Räume wird durch vorgängige Erfahrungen und Wissenserwerbe ermöglicht und instruiert (vgl. Lutz 2006:80; Sniderman 2000:72; Sniderman et al. 1991:24, 263; Delli Carpini, Keeter 1996:154; Mayntz 1999:30; Detjen 2005:287).115 Bildung. Bildung und Vorwissen erleichtern und fördern die Aufnahme, Einordnung und spätere Wiederverwendung politischer Informationen (Sniderman et al. 1990:123, 131 ff.; Iyengar 1990:174; vgl. auch Simon et al. 1992:23, 117). 116 114 Allerdings teilen nicht alle Autoren diese Sichtweise: „Overall, while it is true that individuals with the greatest cognitive skills are likely to learn most about politics, the type of political information needed to function effectively as a citizen is not especially complex and is well within the reach of individuals with modest cognitive ability – given the motivation and opportunity to do so“ (Delli Carpini, Keeter 1996:272). 115 Auch Systemvertrauen kann Wissensdefizite nicht vollständig kompensieren: „Vertrauen […] beruht […] darauf, dass der Vertrauende sich in gewissen Grundzügen schon auskennt, schon informiert ist, wenn auch nicht dicht genug, nicht vollständig, nicht zuverlässig“ (Luhmann 1968b:40). Vertrauen ermöglicht die Akquise von, ist aber kein funktionales Äquivalent für Wissen. 116 Hier werden Begriffe gemeinsam verwendet, die nicht identisch sind: Wissen und Bildung sind unterschiedliche Kategorien. Ihr enger Zusammenhang soll diese Verwendung aber rechtfertigen. Es wird davon ausgegangen, dass Bildung Wissen erzeugt und Voraussetzung für eine (leichtere) Aufnahme und Verwendung weiteren Wissens ist (vgl. Sniderman et al. 1991:170). Die Komplexität subjektiver Realitätsmodelle und Umweltkonstruktionen hängt vom Bildungsgrad ab. Sie bestimmt wiederum über die Effizienz der Informationsverarbeitung (vgl. Früh 1980:93, 120, 146), ermöglicht oder erleichtert die konstruktive Bearbeitung komplexer Datenbestände.

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Bildung eröffnet Zugänge zu wissenshaltigen politischen Themen, aber auch das generelle Interesse an diesen Themen (van Deth 2004a:285). Sie fördert, anders als pragmatische Techniken, eine differenziertere Sicht der Dinge (vgl. Campbell et al. 1964:251 f.), angemessenere Einschätzung und Gewichtung von Informationen (W. Schulz 1987:135; Sniderman et al. 1991:21) sowie die Ausbildung stabilerer Haltungen, die vermutlich eher gegen Manipulation oder Indoktrination gefeit sind (vgl. Petty, Cacioppo 1986:21, 112, 114; Zaller 1992:44 f., 266; 2004:194 f., 205; Iyengar 1992:127; Kriesi 1999:227). Sie verhindert, dass Affekte unkontrolliert in die politische Urteilsbildung einfließen (vgl. Sniderman et al. 1991:23, 89). Der Beobachtungsfokus gebildeter Rezipienten politischer Information ist weiter (Sniderman et al. 1991:173, 176 ff.; vgl. Zaller 1992:247, 266), sie können mehr Daten, detailreichere Beziehungen zwischen ihnen, eine größere Anzahl von Möglichkeiten und Folgewirkungen im Blick halten und sie können disparate und kontradiktorische Informationen besser in eine konsistente politische Umweltkonstruktion integrieren. Informierte Bürger mit größerem Vorwissen treffen tendenziell kompetentere und qualifiziertere Entscheidungen (Lutz 2003:20, 220; vgl. auch Huber 2012:128 f.).117 Umgekehrt hat „political ignorance [...] systematic and significant political consequences“ (Bartels 1996:220). Galston betont: „Competent democratic citizens need not be policy experts, but there is a level of basic knowledge below which the ability to make a full range of reasoned civic judgments is impaired“ (Galston Die routinierte Auseinandersetzung mit solchen Komplexitäten wirkt selbstverstärkend, weil sie erneut Bildung und Wissen zugutekommt (vgl. auch S. J. Schmidt 1994:241; Wirth 1997:165) und ein ausgeprägteres subjektives Kompetenzgefühl zur Folge hat, das wiederum einen aufgeschlossenen Umgang mit komplizierten Themen und eine umfassendere Informationsaufnahme fördert (vgl. Vetter 1997:27; Gabriel 1987:67; vgl. auch Neller 2004:360) und beispielweise zu parteibezogener Partizipation motivieren kann (Gabriel 2004b:331). Politisches Interesse und eine damit zusammenhängende, intensive Mediennutzung erhöhen das Responsivitätsempfinden (Neller 2004:362 f.). Ein Effekt, der wiederum politisch motivierend wirkt. 117 Der Stellenwert des Faktenwissens ist dennoch nicht unumstritten (vgl. hierzu Geißel 2011:116). In einer Beurteilung amerikanischer empirischer Daten der 1950er- bis 1970er-Jahre hat beispielsweise Smith den Zusammenhang von (formaler) Bildung und politischem Wissen als gering eingeschätzt: „Formal education has an effect on political knowledge and sophistication, but a small one. The growth of education in the United States over the past three decades may have done many things, but it did not contribute much to the public´s understanding of politics. In sum, education is not the key to the public’s understanding of politics“ (Smith 1989:219; vgl. auch Delli Carpini, Keeter 1996:105 f.; Popkin 1991:36, 219). Campbell et al. haben hingegen früh auf ihre Bedeutung für die politische Partizipation hingewiesen (vgl. 1954:134, 152 f., 191).

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2001:218; vgl. Kuklinski, Quirk 2000:156 ff.; vgl. auch Weßels 2002:165). Unzureichendes Wissen hat unmittelbare Auswirkungen auf die Beobachtung: Es führt zur Konstruktion anderer, weniger komplexer individueller sozialer und politischer Umwelten (Popkin, Dimock 2000:228; vgl. auch Sniderman et al. 1990:126), es lässt sowohl Komplexität als auch Kontingenz schneller als Komplikation erscheinen (vgl. S. 72 ff.; vgl. auch Hahn 1998a:53 f.). Nutzen. Personen mit niedrigem Bildungsniveau sollten den größten Nutzen aus pragmatischen Techniken ziehen können. Doch scheinen sie gerade deren Defizite nur bedingt ausgleichen zu können. Heuristiken, die Beobachtung der Systeme und eine leistungsfähige Informationsökonomie scheinen von besser informierten Bürgern mit größerem politischen (Vor-)Wissen effektiver genutzt zu werden (Lau, Redlawsk 2001; Lutz 2006:81, 95, 97; Cutler 2002:483; Sniderman et al. 1991:20, 272; Zaller 1992:45; Lodge, Taber 2000:211; Weßels 2002:151, 155). Bei zu geringem Wissensstand ist, wie Entman anmerkt, die Nutzung von Shortcuts risikobehaftet: Ihre Auswahl und das Zustandekommen einer Entscheidung bedeuten für sich genommen noch nicht, dass eine im Sinn der tatsächlichen Interessen der Entscheider „richtige“ Heuristik ausgewählt wurde (vgl. Entman 1989:28). Denn auch Heuristiken setzen Vorwissen voraus, können nur zum Einsatz kommen, wenn bereits eine viable Konstruktion der politischen Umwelt und mindestens thematische Grundkenntnisse existieren (vgl. Faden-Kuhne 2012:93; vgl. auch Feilke 1994:34).118 Auch die Wissensakquise im unmittelbaren sozialen Umfeld weniger gebildeterer Bürger wird ihnen eine schwächere Unterstützung bieten (vgl. Popkin 1991:37). Sie profitieren zudem in geringerem Maß von den Informationsangeboten klassischer und digitaler Medien (Schulz 1987:135 f.; Bonfadelli 2005:182; vgl. auch Kleinen-von Königslöw 2014:105). Eine schwächer ausgeprägte prozedurale Kompetenz kann ihre politische Beteiligung erschweren, weil sie beispielsweise von komplexen Wahlverfahren oder Parteienkonstellationen überfordert werden (vgl. Huber 2012:69, 154 ff., 187). 119 Eine situativ möglicherweise erfolgreiche 118 Ein Beispiel sind Parteiheuristiken: „In Deutschland, wie in den meisten anderen der hier untersuchten Staaten, ist die Parteiidentifikation, sofern sie vorhanden ist, der wichtigste Prädikator des Wahlverhaltens. Dies gilt interessanterweise auch und gerade für jene hochgebildeten und gut informierten Bürger, die ‚eigentlich‘ keine Parteiidentifikation benötigen, um eine Wahlentscheidung zu treffen“ (Arzheimer 2012:243; vgl. Huber 2012:168; vgl. auch Zaller 2004:194 f.). 119 Bürger mit geringerer Bildung zeigen zudem ein schwächer ausgeprägtes subjektives Effizienzgefühl (Campbell et al. 1954:191). „Bildung steigert die Fähigkeit einer Person, komplizierte Sachverhalte verstehen und verarbeiten zu können. Folglich kann sich diese Person eher in einer relativ komplexen Umwelt zurechtfinden. Ihr subjektives politisches Kompetenzbewusstsein – Internal

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„Emulation“ von Wissen (Lupia 1994:67, 72) kann das kaum nachhaltig ausgleichen (vgl. auch Cutler 2002:484), sie wird vor allem auch die oben beschriebenen Asymmetrien (vgl. S. 220) nicht kompensieren können. Ein „Weniger ist mehr“-Effekt (Gigerenzer 2007:131) der „Low-information rationality“ (Popkin 1991:7) ist für die Beobachtung des Politischen kaum anzunehmen: „[M]ore information is better than less information even in heuristic decision making“ (Delli Carpini, Keeter 1996:52; vgl. auch Kuklinski, Quirk 2000:173). 6.5.4

Der Bedeutungsverlust des Wissens

Durch die Nutzung pragmatischer Techniken können Bürger auch komplexe politische Kommunikationen beobachten und komplizierte Irritationen aus dem politischen System in nutzbare Informationen und resonante Entscheidungen überführen. Und doch könnten pragmatische Reaktionen auf die Unübersichtlichkeit eine weitere „Ernüchterung“ bereithalten, um den Begriff von Wirth und Matthes noch einmal aufzugreifen (S. 241). Denn sie garantieren keineswegs bessere Selektionen als elaboriertere Vorgehensweisen. Sie haben unbestritten einen eminenten taktischen, aber einen nur geringen strategischen Nutzen – eine nachhaltige und risikofreie Lösung der durch Unübersichtlichkeit ausgelösten Probleme, die das demokratische Paradox aufheben könnte, sind sie nicht. Politische „Inkompetenzkompensationskompetenz“ (Marquard) kann insbesondere das für den Zugang zu nicht-konventionellen Themen erforderliche Faktenwissen kaum ersetzen. Kann daraus nun der Schluss gezogen werden, dass Unübersichtlichkeit durch Wissen und Bildung effektiv reduziert werden kann? Der Demokratisierungseffekt der Unübersichtlichkeit. Im Sinn elitistischer Demokratiekonzepte könnte diese Frage mit einem schnellen „Ja“ beantwortet werden und der Vorschlag nachgereicht werden, Partizipation, zumindest da, wo es um wissenshaltige Themen geht, doch besser auf kognitive Eliten zu beschränken (wie etwa von Brennan 2011:2). Einmal abgesehen davon, dass dies der Aufgabe demokratischer Ideale gleichkäme, steckt in dieser radikalen Antwort auch eine Fehlannahme. Denn Wissen kann Unübersichtlichkeit zwar reduzieren. Aber – und das weist auf die Tragweite des Problems hin – auch Gebildete können die in sie gesetzten Erwartungen (oder Hoffnungen) kaum erfüllen. Wenn die Komplexität der Inhalte und die Kontingenz der simultanen Deutungs- und Problemlösungsangebote zunehmen, wenn der Zugang zu den Themenräumen fehlt, die Sprachen und Logiken fremd sind, es an spezifischem Wissen mangelt, müssen auch sie auf periphere Routen ausweichen. Efficacy – ist entsprechend stärker ausgebildet als bei Personen mit formal geringerer Bildung“ (Vetter 1997:27).

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Gebildete haben eher und leichter die Möglichkeit, sich, gerade bei hoher Involviertheit (S. 231), in ein spezielles Sachgebiet einzuarbeiten – aber im Allgemeinen eben auch nur in ein einzelnes Gebiet, in eine Materie. Wie alle Bürger sind sie „Generalisten“ (Delli Carpini, Keeter 1996:151). Das Politische übersehen auch sie mit einer Art niedrig aufgelöstem Panoramablick. Sobald es um spezifische Details eines alltagsfernen Themas geht, sobald sich die geschilderten Bedingungen der Beobachtung des Politischen bemerkbar machen – Zeitdruck, überlastete Aufmerksamkeit, hohe Informationslast, prekäres Wissen, fachsprachliche Defizite, schwer erkennbare Epigramme –, sobald die Politik unlesbar wird, sind auch sie gezwungen, auf pragmatische Taktiken zurückzugreifen, um den in sie gestellten Erwartungen und ihrer eigenen Selbstbeschreibung als kompetente Bürger zu genügen. Auch wenn sie, wegen ihres Vorwissens, ihres Sprachvermögens, ihres gewohnten Umgangs mit Komplexitäten, dramatische Vorteile bei der Bearbeitung unübersichtlicher Sachlagen haben, kann an der etwas überspitzten Annahme festgehalten werden, dass Unübersichtlichkeit eine demokratisierende Wirkung hat: Jeder ist gleichermaßen von ihr betroffen. Wissen und Bildung sind keine Garanten elaborierter Informationsverarbeitung und rationaler Entscheidungsproduktion. Ein hoher Wissensstand, habitualisiert differenziertes politisches Urteilen, eine entwickelte Informationsökonomie können eigene Risiken produzieren, die denen kompensatorischer Taktiken weniger Gebildeter unter Umständen kaum nachstehen.120

120 Zaller stellt fest: „The minority of citizens who are highly attentive to public affairs are scarcely more critical: They respond to new issues mainly on the basis of the partisanship and ideology of the elite sources of the message” (Zaller 1992:311; vgl. auch Westen 2007:104). Ergebnisse einer späteren Arbeit des Autors lassen sich so interpretieren, dass „high information voters“ sich stärker an Parteilinien und ideologischen Positionen binden und umgekehrt „low information voters“ flexibel und durchaus kritisch und sachorientiert abstimmen können, da ihnen solche Bindungen fehlen (vgl. Zaller 2004:193 ff, 199, 204). Ähnliches merken Petty und Cacioppo an: „Finally, it is interesting to note that intelligent or well-educated people may be more susceptible to particular peripheral cues than people of less intelligence or education in certain situations” (Petty, Cacioppo 1986:78). Wehling bestätigt das im Bezug auf Framing: „Tatsächlich sind Menschen mit umfassenden politischen Kenntnissen anfälliger als diejenigen unter uns, die wenig über Politik nachdenken und wenig über die Details politischer Angelegenheiten informiert sind. […] Ist das Gehirn gewohnt, regelmäßig politische Fakten und Sachverhalte interpretierend einzuordnen und dabei je nach Informationsquelle und Zusammenhang unterschiedliche Frames zu nutzen, geht es ihm entsprechend einfacher von der Hand, wahlweise im einen oder anderen Frame zu denken“ (2016:51).

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Die Vielfalt der verfügbaren Informationen, Interpretationsofferten und Lösungsangebote kann das rationale politische Denken, Urteilen und Entscheiden regelrecht sabotieren. Je höher der Wissensstand, desto höher sind auch Vorläufigkeit, Revisionstendenz und Ambivalenz der Entscheidungen (vgl. Sniderman et al. 1991:67 ff.). Die Eigenkomplexität und Kontingenztoleranz des Bewusstseinssystems werden zur Komplikation.121 Das Wissen selbst wird zur Quelle von Unsicherheit und Unübersichtlichkeit (vgl. Evers, Nowotny 1987:47; Luhmann 1992b:191). Zudem erlebt das Individuum im Alltag, je nach Inklusionskontext, simultan disparate Formen des Wissens und kontradiktorische Wahrheitsansprüche der Funktionssysteme (ein Beispiel ist die unterkomplexe binäre Logik der Kontroverse um „Umweltschutz oder Arbeitsplätze“). Übergreifende Sichten auf Sachverhalte, verlässliche Interpretationsangebote, belastbares Wissen sind von den Systemen kaum mehr abrufbar. So entstehen immer neue Komplexitäts- und Kontingenzlasten, auf die wiederum nur pragmatisch reagiert werden kann. “We must therefore stop considering shortcuts pejoratively, as the last refuge of citizens who are uneducated, lacking in the political experience and expertise of their ‘betters’, or cynically content to be freeloaders in our democracy” (Popkin 1991:218; vgl. Kriesi 1994:240; vgl. auch Zolo 1992:209 f.). Verstehen ist, was die wissenshaltigen Themen der Spätmoderne anbetrifft, keineswegs mehr das Distinktionsmedium, das es zu sein scheint. Verstehen und Nichtverstehen, Wissen und Nichtwissen sind kaum mehr verlässlich auf Bildungsgrad, soziale Gruppe oder ähnliche Kategorien zurückzuführen, denn „[a]n Themen kristallisiert Nichtwissen“ (Luhmann 1992b:191) und mit dem Wissen nimmt, beinahe automatisch, das Nichtwissen zu (Luhmann 1997:1106). Auf der einen Seite stehen jene, die – wenn sie sich nicht ganz aus dem demokratischen Geschehen zurückziehen – mithilfe von Heuristiken zu politischen Besser Gebildete sind auch nicht unbedingt offener für komplexe Informationen und bevorzugen ebenfalls bestehendes Wissen. So stellte Wirth bei der Auswertung von Reaktionen Hochgebildeter auf komplexe Beiträge fest: „Während für niedrig Gebildete offenbar eine kognitive Komplexitätsschwelle überschritten war, hinderte höher Gebildete eine motivationale Komplexitätsschwelle daran, ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten voll einzusetzen. Pointierter könnte man von einer kognitiven Reaktanz Hochgebildeter sprechen“ (Wirth 1997:279 f., vgl. 302; vgl. auch Zaller 1992:286 f.). 121 Sniderman, Brody und Tetlock haben Beispiele für inkohärent wirkendes politisches Entscheiden präsentiert, das als paradoxe Folge eines hohen politischen Wissensstands verstanden werden kann: „Minimizing complexity, by narrowing the focus to immediate relevant consideration, tends to maximize consistency between principle and policy; maximizing complexity, by enlarging the range of consideration, to minimize consistency between principle and policy” (Sniderman et al. 1991:26 f.).

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Urteilen gelangen. Auf der anderen Seite die informierten und interessierten Bürger, die sich Wissen und Haltungen auch zu komplizierte Themen erarbeiten, um qualifizierte Beiträge liefern zu können: Diese Sortierung politischer Subjekte verliert an Überzeugungskraft. Das Individuum der Spätmoderne muss, wo es um unübersichtliche Politik, um nicht-konventionelle Themen geht, die Erfahrung machen, praktisch immer Laie zu sein (vgl. auch Schattschneider 1960:86). Die Verantwortung des Individuums. An Plausibilität verliert damit auch die Annahme, fehlende Kompetenz sei ein individuelles Defizit. Luhmann hat über ökologische Gefährdungen – eins der großen nicht-konventionellen Themen – gesagt: „Sie sprengen die an Dingen und an Kausalitäten orientierten Realitätsvorstellungen des Einzelmenschen und der kommunikativen (sprachlichen) Praxis der Gesellschaft. Sie können nicht mehr in handhabbares, nicht mehr in anschlussfähiges Wissen übersetzt werden, auch wenn es Berechnungen, Halbwertzeiten etc. gibt“ (Luhmann 1992b:167). Aus diesem Grund ist jedermann auf Heuristiken, Shortcuts und Cues (vgl. Kuklinski, Quirk 2000:155), auf informationsökonomisches Verhalten und das Wissen der Systeme angewiesen. Das spätmoderne Paradigma individueller Verantwortung, auch für die eigene Kompetenz und Informiertheit, kann auf die Auseinandersetzung mit Unübersichtlichkeit keine sinnvolle Anwendung finden. Der kompetente Bürger. Auch bei der Betrachtung individueller kompensatorischer Techniken gelangt man, wie zuvor bei der politischen Öffentlichkeit, zu der Annahme des demokratischen Dilemmas: „Who, after all, has a sufficiency of knowledge to make the calculations necessary to establish which positions on issues of the day he or she should adopt? The problem, if we might say so, is not that mass publics know too little, but that no one knows enough“ (Sniderman et al. 1991:71). Münkler kommt zu dem pessimistischen Schluss: „Der Vorgänge, die beobachtet und beschrieben werden, können die Menschen nicht mehr Herr werden. Das aber gerade ist das definitive Charakteristikum des Bürgers, zumal des kompetenten Bürgers: dass er der Herr seiner Geschichte ist. Hier wird neben vielem anderem auch die Vorstellung vom Bürger in ihrer Gänze verabschiedet“ (Münkler 1997:167). Und so könnten sich, in Folge der Unübersichtlichkeit, die Subjektvorstellungen normativer Demokratiekonzepte tatsächlich als „Utopie“ erweisen (vgl. Wirth, Matthes 2006:349), die der Spätmoderne nicht mehr angemessen ist. Der wohlinformierte Bürger (Schütz), der qualifizierte Beobachter, der kompetente Beurteiler (Habermas), sie könnten, zulasten demokratischer Errungenschaften, das war eine Befürchtung Luhmanns, verdrängt werden von einem „Menschentyp mit hohem Potenzial für das ‚Dahingestelltseinlassen‘“ (Luhmann 1968b:78; ähnlich Keane 2009:747; vgl. auch Stiegler 2008:69 f.), der der aufgeklärten Demokratie und ihrer unübersichtlichen Politik den Rücken kehrt.

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6.6 R EGRESSIVE R EAKTIONEN Dieser Rückzug wäre ein Beispiel für eine weitere Form des Umgangs mit der Unübersichtlichkeit des Politischen. Auf sie können Bürger pragmatisch reagieren, indem sie Heuristiken nutzen, soziale Systeme konsultieren und eine alltagstaugliche Informationsökonomie entwickeln. Sie können jedoch auch regressiv auf Unübersichtlichkeit reagieren. Eine Reaktion wird hier als Regression interpretiert, wenn sie, aus der Sicht der normativen Demokratietheorie, einen Rückschritt vermuten lässt, der sich zumindest in einem der beiden folgenden Phänomene manifestiert. •



Politische Subjekte reagieren pragmatisch, auch um normative Erwartungen des demokratischen Systems erfüllen und zugleich ihrer Selbstbeschreibung als Bürger in einer Demokratie gerecht werden zu können. Regressiv ist eine Reaktion, bei der das Individuum den eigenen Status als Subjekt der Demokratie schwächt oder aufgibt. Pragmatik ist eine Reaktionsform, die die Komplexität und Kontingenz des Politischen latent zugriffsfähig hält. Im Alltagsmodus entlastet die „psychological economy of the individual“ (Campbell et al. 1964:182) Beobachtung und Informationsverarbeitung vor allem von der kognitiven Auseinandersetzung mit thematischer Unübersichtlichkeit. Sobald es als notwendig erachtet wird, kann aber in einen aktiven und alerten Beobachtungsmodus umgeschaltet werden (S. 231). Regressiv sind Reaktionen der Simplifizierung, Negierung oder radikalen Reduktion der Unübersichtlichkeit, die diesen „Rückweg“ zu den zentralen Routen einer elaborierten Auseinandersetzung mit dem Politischen versperren.

Unterschiedliche Typen der Regression haben je eigene historische, soziale, kulturelle Ursachen, und sie gehen mit unterschiedlichen Beobachtungs- und Entscheidungsmodi einher. Sie können in kombinierter Form, nur bei bestimmten Themen, im Verbund mit pragmatischen Taktiken auftreten und wahrscheinlich auch in elaborierte Arten der Informationsverarbeitung eingelagert sein (etwa bei emotional oder ethisch sensiblen Inhalten). Das soll im Einzelnen hier nicht ausgearbeitet werden, es wird auch nicht angenommen, dass die hier angesprochenen Haltungen, Denk- oder Handlungsweisen ausschließlich auf Unübersichtlichkeit zurückzuführen sind.122 Es soll vielmehr versucht werden, einige dieser möglichen 122 Für die hier beschriebenen Reaktionen lassen sich andere plausible Erklärungen finden, die hier nicht diskutiert werden. So werden der skizzierte Rückzug aus dem Politischen, radikale Reduktionen und politisch extreme Aktionen beispielsweise von Mouffe und Finley auch als Reaktionen auf fehlende „politische Kanäle“ zwischen Bürgern und politischen sowie ökonomischen Eliten gesehen (Mouffe 2005:106, 108; 2000:99; vgl. Finley 1973:72). Mouffe sieht solche Entwicklung außerdem durch einen Mangel an substanziellen demokratischen Konflikten gefördert (Mouffe 2000:112 ff.).

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Beobachtungs- und Entscheidungsmuster auch als Reaktion auf Unübersichtlichkeit zu lesen, als „Drift in die Vereinfachung“ (Riedl 2000:340). In knapper Form werden hier folgende Typen betrachtet: • • • •

Rückzug, radikale Reduktion, Personenorientierung und Moralisierung, Interpassivität

6.6.1

Rückzug

Eine Form der Regression ist das vollständige Ausblenden des Politischen – aus Alltag, Medienkonsum und Selbstbeschreibung – durch Bürger, die jede Art der Beteiligung aufgeben, weil Politik für sie nicht mehr nachvollziehbar ist. 123 Der Rückzug aus der Beobachtung des Politischen und die Verweigerung von Partizipation können auch auf eine Überforderung durch die Unübersichtlichkeit der thematischen Räume zurückzuführen sein.124 Das „Dahingestelltseinlassen“ (Luhmann), die politische Indifferenz (Keane 2009:747), Desinteresse, „Informationsvermeidung“ (Wirth 1997:277) und die Flucht in „apolitische Refugien“ (Michelsen, Walter 2013:154) sind gleichbedeutend mit einem Verzicht auf den Status des politischen Subjekts einer Demokratie und deswegen als regressiv zu werten.125

123 Eine der Schlussfolgerungen einer empirischen Untersuchung von Petersen et al. lautet, dass „die Politik für die Bürger in den letzten Jahren schwerer durchschaubar geworden ist“. Sie stellen fest, „[a]n erster Stelle der am häufigsten genannten Gründe für das Desinteresse an Politik steht, genannt von 61 Prozent der Befragten, die Aussage „ich finde es oft schwer nachvollziehbar, was in der Politik geschieht“ (Petersen et al. 2013:34). 124 Rückzugsverhalten kann nicht ausschließlich auf strukturelle Asymmetrien und Wissensdefizite zurückgeführt werden: „Die gegenwärtige Politikverdrossenheit findet sich […] auch in den oberen Schichten, bei den Gebildeten, den politisch Interessierten und den Informierten. Hier handelt es sich häufig gerade nicht um eine Mangelerscheinung, sondern um ein Überfluss- oder Überdruss-Phänomen“ (Kepplinger 1998:29). Der Begriff der Politikverdrossenheit ist nach Arzheimer in der politikwissenschaftlichen Forschung allerdings umstritten. Unübersichtlichkeit kann vermutlich auch nicht als Mitverursacher dieses Phänomens gesehen werden. In seiner Monografie führt Arzheimer die Komplexität des Politischen jedenfalls nicht als potenziellen Grund für Politikverdrossenheit an (vgl. Arzheimer 2002:88 ff., 149, 293 ff.). 125 Der Anteil von Bürgern, die „völlig abstinent gegenüber allen politischen Medieninhalten sind“, ist, wie Neller in einem innereuropäischen Vergleich feststellt, mit einem Anteil von nur 4 % an der Gesamtbevölkerung, sehr gering (2004:355). Einen ähnlichen Wert von 4,6 % gibt Kleinen-von Königslöw an (2014:100).

6 U NÜBERSICHTLICHKEIT

6.6.2

UND POLITISCHES I NDIVIDUUM

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Radikale Reduktion

Wie oben beschrieben (S. 231), erhalten pragmatische Techniken das Bewusstsein für die tatsächliche Komplexität der Sachfragen und die Kontingenz ihrer Bearbeitungsoptionen. Radikale Reduktionen blenden diesen Hintergrund ab, sie leugnen, verdrängen, ignorieren Unübersichtlichkeit durch eine „drastische Reduktion der gesellschaftlichen Komplexität“ (Zolo 1992:89) und die Invisibilisierung der Kontingenz (vgl. Reckwitz 2006:80). Sie fungieren als klar definierte, beobachtungsleitende Metaheuristik für die gesamte politische Informationsverarbeitung des Individuums. Politik- oder Ideologieangebote, die regressive Bedürfnisse nach Komplexitätsund Kontingenzminimierung (Blumenberg) bedienen, sind primär Vereinfachungsofferten, die der Unübersichtlichkeit der Demokratie und ihren Kompetenzzumutungen mit „regressiven Utopien“ (Dubiel 1986:36, vgl. 49), bis hin zu einer tiefen Demokratieskepsis oder expliziten Systemfeindlichkeit, begegnen. Ein Beispiel ist der Populismus, der, von oppositionellen Gruppen und Parteien wie von etablierten politischen Akteuren (vgl. Jun 2006:238 ff.) genutzt, auch Antworten auf die grundsätzliche Komplexität und anstrengende Kontingenz spätmoderner Demokratien gibt (vgl. Richter 2011:62 ff., 108), auf die Kompliziertheit der Themen und die Unverständlichkeit ihrer systemischen Bearbeitung. Er bietet stattdessen übersichtliche Umweltkonstrukte, eine klar anmutende politische Agenda (vgl. Meyer 2006:82; Willke 2014:134), „die Entwicklung von Freund-FeindSchemata, die Bevorzugung einfacher und dabei radikaler politischer Konzepte“ (Arzheimer, Falter 2002:89; vgl. auch Lipset, Raab 1970:7). 126 Bauman merkt zur Freund-Feind-Opposition an, sie „macht die Welt lesbar und deshalb instruktiv“ (Bauman 1991:93; vgl. auch Brown 2009:69). Populismus setzt dem unverständlichen Idiom der politischen Akteure und Experten eine alltagssprachliche Präsentation komplizierter Themen entgegen und öffnet sie so (wieder) für den Common Sense (vgl. auch Feilke 1994:88). Der aufwendigen Logik des Aushandelns von Kompromissen, den langwierigen Verfahren der repräsentativen Demokratie begegnet er mit dem Lob der schnellen Dezision und plebiszitären oder basisdemokratischen Entscheidungsmechanismen (vgl. Decker 2006:26; Rensmann 2006:72 ff.; Dubiel 1986:37; vgl. auch Michelsen, 126 Bei allen Unterschieden in historischer Entwicklung, politischen, sozialen, kulturellen Ursachen, Begründungen, Zielen und Strategien ähnelt der Populismus in diesen Punkten sowohl dem politischen Extremismus als auch dem religiös ausgerichteten Fundamentalismus (vgl. auch Backes 2006:237 ff., 223 f.; Eisenstadt 2000a:207). Die dort bestehende Affinität zur Gewalt gegen Personen, als Mittel des politischen Kampfs in einer Demokratie, kann ebenfalls als Verweigerung systemischer Komplexität und Kontingenz und gerade in ihrer Rückkehr zum Körper auch als radikalste und atavistischste Form der Regression gesehen werden.

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Walter 2013:142 ff.; Zakaria 1997:5). Er verspricht damit implizit die Wiederherstellung eines vorgestellten „Status quo ante“ spätmoderner Gesellschaften, die Rückkehr zu einem Zustand der Überschaubarkeit, der verständlichen Ordnung, der klaren Strukturen und einer eindeutigen Stellung des Individuums. Besonders der rechte Populismus tritt der funktional differenzierten Gesellschaft mit ihren schwachen Identifikationsangeboten mit einem einheitsstiftenden Gegenentwurf als „Gemeinschaft“ entgegen (Tönnies 1887:4; vgl. auch Nassehi 1999a:126; Münkler, Ladwig 1997:21). Der wird mit Differenzbegriffen von Kollektiv, Nation, Rasse, Ethnie formuliert (Dubiel 1986:37; vgl. Offe 1999:272 f.; Lipset, Raab 1970:13). Er kann der Xenophobie und der „schwer überwindbare[n] Angst vor der Alterität“ (Hahn 1997:147; vgl. auch Nussbaum 2013:322) – in die vermutlich auch eine Furcht vor der Unübersichtlichkeit hineinwirkt – eine politische Ausdrucksform geben, die oft mit Verschwörungstheorien unterfüttert wird. Diese Spielart des Populismus propagiert autoritäre Führungsformen, die der komplizierten Abstraktheit des „Systems“ und seines Prozessgeschehens das Charisma der Person entgegensetzen.127 „In diesem Muster einer Simplifizierung der Politik zeichnet sich teilweise die Bewahrung von vordemokratischen Leitbildern politischer Führung ab, die an die Kompetenzideale der absoluten Fürstenherrschaft erinnern“ (Richter 2011:49, 63). Auch aus diesem Grund kann von einer regressiven Reaktion auf Unübersichtlichkeit ausgegangen werden (vgl. auch Nassehi 2015:36, 62, 135).128 Populistische Strömungen nehmen gesellschaftliche Vielfalt und Kontingenz generell als Komplikation wahr. Konservative Varianten reagieren mit aggressiven Exklusionsforderungen auf die Pluralität von Lebensentwürfen, Selbstverhältnissen, Identitätskonstruktionen und mit einer „Abwehr neuer Erfahrungen und Informationen über die soziale und politische Realität“ (Arzheimer, Falter 2002:89). 127 „Das ‚Charisma‘ des Politikers soll das leisten, was die Rationalität von Verfahren, die Bindewirkung religiöser und politischer Weltbilder und die Überzeugungskraft wissenschaftlicher Expertise nicht mehr leisten können: in einem zunehmend unübersichtlich und unverbindlich gewordenen politischen Betrieb Übersichtlichkeit und Verbindlichkeit herzustellen“ (Grande 2000:311; Hervorhebung r.a.; vgl. Michelsen, Walter 2013:165). 128 Diese kann auch auf Wissensdefizite zurückgeführt werden. Ein Hinweis in diese Richtung findet sich bei McClosky und Zaller. Sie haben solche Haltungen in Bezug auf das demokratische System als „antiregime belief pattern“ bezeichnet (1984:247) und eine Unterstützung dieses Musters unter anderem auf geringes politisches Wissen oder Verstehen zurückgeführt (250, 254 f.). Sie schreiben: „The present findings raise an interesting question about this conclusion: To what extent can one say that these res pondents are actually rejecting democratic and capitalist values rather than simply fail ing to understand them?“ (261).

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Backes interpretiert das „Uniformitätsprogramm“ und das Freund-Feind-Denken des politischen Extremismus als eine „Folge von Ambiguitätsintoleranz […], der Weigerung die Heterogenität und Vieldeutigkeit der Welt, die Kompliziertheit der Lebensverhältnisse und die Konflikthaftigkeit der Gesellschaft als Tatsachen anzuerkennen und konstruktiv umzusetzen“ (Backes 2006:240; S. 72 ff.).129 Diese Verweigerung erforderlicher Vielfalt ist, im Sinn demokratischer Normen, regressiv, weil sie die Komplexität der Umweltkonstruktionen so weit reduziert, bis nur noch repressive oder autoritäre Formen gesellschaftlicher Gestaltung vorstellbar erscheinen. 6.6.3

Personenorientierung und Moralisierung

Auch Personenorientierung und Moralisierung reduzieren die Unübersichtlichkeit des Politischen. Während Verweigerung und radikale Reduktion noch als Minderheiten-Phänomene gesehen werden, scheint es eine allgemeine Tendenz zu dieser Reaktionsform (und die im darauf folgenden Abschnitt beschriebene Interpassivität) zu geben. Personenorientierung ist eine bevorzugte Fokussierung der alltäglichen Beobachtung auf die Akteure des politischen Betriebs, die eine Auseinandersetzung mit den Sachthemen in den Hintergrund treten lässt. 130 Die Berichterstattung der 129 Psychologische Dispositionen für den regressiven Umgang mit politischer und gesellschaftlicher Unübersichtlichkeit beschreiben Adornos Kriterien des „autoritären Charakters“. Er nennt: „a) Konventionalismus. Starre Bindung an die konventionellen Werte des Mittelstandes. b) Autoritäre Unterwürfigkeit. Unkritische Unterwerfung unter idealisierte Autoritäten der Eigengruppe. c) Autoritäre Aggression. Tendenz nach Menschen Ausschau zu halten, die konventionelle Werte missachten, um sie verurteilen, ablehnen und bestrafen zu können. d) Anti-Intrazeption. Abwehr des Subjektiven, des Fantasievollen, Sensiblen. e) Aberglaube und Stereotype. Glaube an die mystische Bestimmung des eigenen Schicksals; die Disposition in rigiden Kategorien zu denken. f) Machtdenken und ‚Kraftmeierei‘. Denken in Dimensionen wie Herrschaft – Unterwerfung, stark – schwach, Führer – Gefolgschaft; Identifizierung mit Machtgestalten; Überbetonung der konventionalisierten Attribute des Ich; übertriebene Zurschaustellung von Stärke und Robustheit. g) Destruktivität und Zynismus. Allgemeine Feindseligkeit, Diffamierung des Menschlichen. h) Projektivität. Disposition, an wüste und gefährliche Vorgänge in der Welt zu glauben; die Projektion unbewusster Triebimpulse auf die Außenwelt. i) Sexualität. Übertriebene Beschäftigung mit sexuellen ‚Vorgängen‘“ (Adorno 1950:45). Adorno hat seine „Unkenntnis von der heutigen komplexen Gesellschaft“ als „Nährboden für reaktionäre Massenbewegungen modernen Typs“ gesehen (1950:181), in denen der „autoritäre Charakter“ seine politische Heimat findet. 130 Hier wird ein Unterschied zur Personalisierung gemacht, also der Ausrichtung der Bürger auf einzelne Kandidaten und deren mehr oder minder unpolitischen Eigen-

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Medien fördert diese Fixierung mit einer generellen Tendenz zur „Entsachlichung“ der Politikdarstellung, in der die Konflikte und der beinahe sportive Wettbewerb einer überschaubaren Zahl von Akteuren im Mittelpunkt stehen (W. Schulz 2006:46; vgl. Claußen 1987:95; Richter 2011:192; Brettschneider 2000:20, 209; Ohr 2000:275; Saxer 2007:237; Kepplinger, Maurer 2005:162; Offe 1996:148 f.; Imhof, Kamber 2000:439).131 Zu diesem Kreis gehören primär Vertreter der Exekutive und Exponenten der Opposition, aber auch Experten, Journalisten und andere prominente Beobachter zweiter Ordnung.132

schaften im Vorfeld politischer Entscheidungen (vgl. Gabriel 1997a:234 f.; Brettschneider 2002:23, 187, 204 ff.). Personalisierung ist eine plausible Reaktion auf Unübersichtlichkeit, aber ein in der Wählerforschung umstrittenes Phänomen. Popkin geht von einer insbesondere durch die Dominanz des Fernsehens ausgelösten Verlagerung von der Issue- zur Kandidatenorientierung aus (1991:89 f.; vgl. Ohr 2000:275, 290; Kepplinger, Maurer 2005:61, 64; Manin 1997:299). Ohr spricht von einem „Trend in Richtung einer stärkeren Personalisierung des Wahlverhaltens. Kandidatenorientierungen sind in den letzten Jahrzehnten wichtiger für die Erklärung der Parteien wahl geworden“ (2000:298). Fraenkel hat diese Entwicklung bereits in 1960er-Jahren als möglichen Strukturdefekt einer Demokratie gesehen (1964:109). Brettschneider bezeichnet die Personalisierung des Wahlverhaltens hingegen als „Phantom“ (2002:206). Eine Entpolitisierung der Wahrnehmung (im Sinn einer Fokussierung auf unpolitische Kandidatenmerkmale) ist für ihn nicht erkennbar (vgl. 2002:177, 187, 204; Gabriel 1997a:235). Er konstatiert: „Die Wahrnehmung der Problemlösungskompetenz, der Integrität und der Leadership-Qualitäten eines Kandidaten prägen seine Gesamtbewertung stärker als die Wahrnehmung der unpolitischen Merkmale“ (204), und spricht deshalb von „themenbezogenen Kandidatenorientierungen“ (208). Dennoch handelt es sich auch hier um erkennbare oder inszenierte Eigenschaften von Personen (zum Begriff der Person S. 197). 131 Die Darstellung richtet sich an der Hyper Attention der Adressaten aus. In der schnell getakteten, unterhaltsamen Präsentation und Rezeption von Aktualitäten sieht Han selbst bereits eine Form der Regression, weil sie ein Aspekt des modernen Multitaskings der Individuen ist, das eigentlich eine überlebensnotwendige Fähigkeit im Tierreich ist (zugleich Fressen und die Umwelt kontrollieren, um nicht selbst gefressen zu werden). Dieses Multitasking unterbindet die bewusste, kritische und damit zeitintensive Verarbeitung von Inhalten (Han 2010:24 f., 40 f.; siehe auch S. 211). 132 Imhof und Kamber weisen auf die „Verschiebung von Darstellung der komplexen parlamentarischen Prozesse oder sachbezogener Diskursivität zu möglichst leicht zu verarbeitender Information“ hin und sehen die „prägnante Zunahme des Exekutivbezugs und die korrelative Schrumpfung der Medienaufmerksamkeit auf das Parlament“ als Symptom einer solchen Entwicklung (2000:439 ff.; vgl. Richter 2011:74).

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Personenzentrierung in Berichterstattung, politischer Inszenierung und individueller Wahrnehmung kann mit der den Bürger überfordernden Komplexität des Politischen erklärt und als Versuch angesehen werden, Übersichtlichkeit im Politischen herzustellen (Grande 2000:306 ff.; vgl. auch Adorno 1958:177 f.) und Politik über ihren Unterhaltungswert zu plausibilisieren (Wehner 1997:263 f.). Wenn Sachfragen zu komplex werden, bietet Personenorientierung eine entlastende „Reduzierung von Komplexität [...], weil sich der Laie eher ein Urteil über die beteiligten Personen bilden kann. Aus seiner Sicht ist ein Urteil über die Personen eine vernünftige Alternative zu einem Urteil über die Sachverhalte, die er noch weniger beurteilen kann. Daran ändern auch Appelle, man soll sich über politische Sachverhalte informieren, nichts. Wer daran zweifelt, sollte sich fragen, was er wirklich über die Details der Rentenversicherung und des Embryonenschutzes weiß“ (Kepplinger 1998:180; vgl. Münch 1995:118; Saxer 2007:73).133 Und schließlich trägt Personenorientierung zu einer Restaurierung einer vordemokratischen „symbolische[n] Dimension“ der Demokratie bei (Manow 2008:56, 140), in der der verdrängte Königskörper „in den Praktiken der Demokratie“ wiederkehrt (Manow 2008:115, vgl. 139 ff.). Der Politiker steht in der postdemokratischen medialen Inszenierung (Crouch 2003:30 ff.), „ganz wie der absolute Fürst, nicht mehr ausschließlich als reale Person im Mittelpunkt, sondern als symbolische Visualisierung und Verkörperung von Macht und Kompetenz“ (Richter 2011:198). Sie führt allerdings kaum zu bedingungsloser Gefolgschaft. Die Fixierung auf Personen fördert vielmehr eine riskante Emotionalisierung zulasten einer themenbezogenen Urteils- und Entscheidungsbildung (vgl. Westen 2007:14, 16, 66 f.; vgl. auch Markowitz 1986:242), ein Ressentiment gegen Politiker, eine Überschätzung personaler Machtfülle (Lübbe 1983:66) und einen gewissen Zynismus gegenüber der Inszenierung von Politik. Personenheuristiken, die persönliche Merkmale, „Kandidaten-Images“ wie Themenkompetenz, Integrität und Führungsqualitäten oder nichtpolitische Eigenschaften wie Ausstrahlung und Herkunft (Brettschneider 2002:143) zur Orientierung nutzen, sind auch sinnvolle und instruktive Ansatzpunkte der Beobachtung (vgl. auch S. 233). Einen regressiven Charakter nimmt die Personenorientierung an, sobald sie zu einer Politik beiträgt, in der Affirmation und Kritik der Person die diskursive Auseinandersetzung um Sachfragen so weitgehend verdrängen, dass der Bürger als „kompetenter Beurteiler“ (Habermas) nicht mehr in Erscheinung tritt bzw. treten muss, die anlassbezogene „Rückkehr“ zu elaborierten Beurteilungsver-

133 Dabei liegt in dieser Form der Komplexitätsreduktion, und gerade auch bei solchen Themen, eine Paradoxie: „weil unsere Möglichkeiten, Subjekten die Totalität der Wirkungen ihrer Handlungen zuzurechnen, um so geringer werden, je rascher die Komplexität unserer Handlungssysteme anwächst“ (Lübbe 1983:124).

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fahren (S. 231) keine individuelle Option mehr ist und die gesamte Wahrnehmung des Politischen damit vor allem unterkomplex bleibt (vgl. auch Richter 2011:49).134 Moralisierung. Die Formulierung von Themen und „politischer Antagonismen […] in der Begrifflichkeit moralischer Kategorien“ (Mouffe 2005:99), nach dem binären Schema von Gut und Böse, ist eine Variante der regressiven Reduktion ihrer Unübersichtlichkeit, insbesondere in stark personenorientierten Kommunikationen (vgl. auch Luhmann 2000:308). Moral, als soziale Regel für die Achtung oder Missachtung von Personen (Luhmann 1995b:255; 1984:319), reduziert kommunikative Spielräume, Ambivalenzen und damit Kontingenz (vgl. auch Fuchs 1993:123). Sie begrenzt das Spektrum kommunizierbarer Themenaspekte, alternativer Sichtweisen oder Lösungsoptionen und reduziert so Komplexität. Sie entlastet, wo die Sachfragen zu kompliziert werden: „In dem Moment, in dem bestimmte technische, ökonomische oder politische Sachfragen zu Fragen der Moral erhoben werden, spielt Detailwissen keine Rolle mehr (stört sogar meistens). In einem moralisierten Streit werden Punkte in der öffentlichen Debatte durch Appelle, Schuldzuweisungen, echte oder gespielte Betroffenheit und moralische Entrüstung gesammelt“ (Renn, Kastenholz 2008:112 f.; vgl. Fuchs 1992:142; Willke 2014:156). Die Beobachtung konzentriert sich dann nicht auf komplexe Inhalte, sondern auf ein vertrautes Substitut, beispielsweise auf den Charakter eines Politikers: „Der Charakter ist, wenn Ideologien und politische Programme als gedankliche Geländer zur Verhaltensprognose wegbrechen und Sachfragen zu komplex und irgendwie auch zu anstrengend erscheinen […] eine Art Ersatz- und Universalschlüssel zur Ordnung der Welt und zur Einschätzung der in ihr handelnden Personen“ (Pörksen 2014:52). Die „moralische Aufladung von Sachfragen“ (Münch 1995:229) kann als Aspekt der Personenorientierung verstanden werden (vgl. auch Saxer 2007:101; G. Klein 2003:608), der ihr regressives Moment noch verstärkt, wenn durch sie, wie Imhof annimmt, „zugunsten von Personen viel weniger Verhältnisse […] in den Horizont der Herrschaftskritik und der Herrschaftskontrolle [rücken]. Man kann deshalb sagen, die Herrschaftskritik und die Herrschaftskontrolle hätten sich mit der Umstellung von Skandalisierungen auf ‚bloße‘ Personalmoral entpolitisiert“ (Imhof 2005:72). Wenn die Personenorientierung der Beobachtung dazu führt, dass das Politische verstärkt „im moralischen Register ausgetragen wird“ (Mouffe 2005:11), hat das außerdem dort ein die Demokratie gefährdendes Moment, wo sie ein „Schema Inklusion/Exklusion“ etabliert (Luhmann 1992b:196), in dem Widerspruch, abweichende Meinungen, Minderheitspositionen diskreditiert und verdrängt werden (vgl. 134 Schumpeter hätte darin vermutlich keine Regression erkennen können. Für ihn bedeutet „Demokratie […] nur, dass das Volk die Möglichkeit hat, die Männer, die es be herrschen sollen, zu akzeptieren oder abzulehnen“ (1942:452).

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auch MacKuen 1990:86). Moralkontrollierte Diskurse immunisieren sich durch die „kommunikative Benachteiligung des Widerspruches“ (vgl. Luhmann 1995b:117) und fördern ein für Demokratien riskantes, repressiv wirkendes Konsensklima. 135 6.6.4

Interpassivität

Eine weitere im Sinn der normativen Demokratietheorie regressive Reaktion auf Unübersichtlichkeit ist ein Partizipationsmodus, auf den sich der kulturtheoretische Topos der Interpassivität anwenden lässt. Der von Pfaller eingeführte und als Gegenbegriff zur Interaktivität konzipierte Terminus beschreibt ein an technische bzw. soziale Systeme oder Personen delegiertes Handeln, das individuelles Handeln ersetzt oder prothetisch ergänzt (Pfaller 2000, 2008:126, 149). Er lässt sich so interpretieren, dass die Delegierung ein individuelles Unvermögen, Nichtwollen oder einen Mangel kompensiert, der auch ein Zeit- oder Kompetenzmangel sein oder aus einer Erschöpfung resultieren kann (Pfaller 2000:68; vgl. auch 2008:32). Interpassivität ist nicht Verweigerung oder Unterlassung. Die delegierte Tätigkeit wird vom Individuum unbedingt als gewünscht oder notwendig angesehen und lediglich ihre Abwicklung an andere übertragen (vgl. Pfaller 2000:75 f.). Hier gibt es eine Verbindung zur politischen Beobachtung und Entscheidung unter Bedingungen der Unübersichtlichkeit: Die durch die genannten Bedingungen, wie Zeitmangel oder die Alltagsferne der Themen, verkomplizierte eigenständige Beobachtung und Interpretation des Politischen – die, der Selbstbeschreibung als partizipationsbereiter Bürger folgend, als notwendig und erwünscht verstanden werden – werden über geeignete Angebote der Massenmedien an andere delegiert, wobei sich das Gefühl einstellt, den systemischen und subjektiven Erwartungen dennoch Genüge getan zu haben. So wie, um ein populäres Beispiel zu nennen, Koch-Shows eigenes Kochen ersetzen, bieten Talkshows und ähnliche Formate die delegierte Rezeption und diskursive Bearbeitung politischer Kommunikation an. Überspitzt formuliert: Anstatt zu diskutieren, lässt man diskutieren, anstatt Haltungen und Urteile zu entwickeln, überträgt man diese Aufgabe in die Interaktionen von Experten, Journalisten, prominenten Vertretern der politischen Öffentlichkeit und Politkern.136 Die Delegierung ist eine Freistellung von den schwieriger werdenden Aufgaben des Bürgers und sie ist eine Entlastung von den an ihn gerichteten Kompetenz-

135 Daher Luhmanns Empfehlung, „dass politisches Handeln mit Rücksicht auf Demokratie auf einer Ebene höherer Amoralität ablaufen muss“ (1987:131; 1997:751 f.; vgl. auch Weber 1919:71 ff.). 136 Downs hat das pragmatisch damit begründet, dass es „unter Umständen rational [ist], wenn man seine politischen Entscheidungen teilweise oder gänzlich anderen überträgt“ (1957:227).

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zumutungen.137 Interpassivität kann als regressive Reaktion des politischen Subjekts angesehen werden, weil mit der Delegierung politischen Beobachtens und Kommunizierens eine unterkomplexe Wahrnehmung des Politischen entsteht, die auf einer eher beiläufig konsumierten Vermittlung zweiter Ordnung beruht, die selbst keine besondere Kompetenz erwartet. Mit der Interpassivität wird der Status des kompetenten Beurteilers, des alerten, interventionsbereiten Bürgers aufgegeben bzw. durch die Beobachtung einer selbstreferenziellen politischen Kommunikation substituiert, die ihre Rezeption bereits in sich trägt (vgl. Pfaller 2000:50) und sich ohne sein Zutun autopoietisch fortsetzt. Das ernüchternde Resümee am Ende dieses Kapitels lautet deshalb: Das Problem der politischen Öffentlichkeit in der spätmodernen Demokratie, die Unübersichtlichkeit, kann durch das politische Individuum nicht wirksam reduziert werden. Die beschriebenen regressiven Reaktionsformen stellen eher eine Bedrohung der Demokratie als eine Lösung ihres Dilemmas dar. Die pragmatischen Alternativen ermöglichen den politischen Individuen zwar unter den verschärften Bedingungen der Beobachtung scheinbar kompetent zu agieren, wo die Informationslagen das erschweren oder eigentlich sogar ausschließen. Das gelingt allerdings nur situativ und zum Preis möglicherweise verzerrter Urteile oder unterkomplexer Entscheidungen. Das ist nicht individuellen Defiziten geschuldet, die etwa durch Bildung kompensiert werden könnten. Denn Wissen wird in der Beobachtung des Politischen zunehmend prekär und garantiert weder Übersicht noch angemessene Entscheidungen. An diesem Punkt stellen sich zwei Fragen: Welche Perspektiven hat das demokratische System? Und: Existieren realistische Optionen zur Lösung des demokratischen Dilemmas? Das nächste Kapitel versucht, diese Fragen zu beantworten.

137 Pfaller hat diesen Punkt bei einer Betrachtung von Althussers Anrufung betont (S. 199): „Interpassivität ist eine Abwehr gegen die Anrufung“ (Pfaller 2008:181); und weiter: „Mithilfe ihrer interpassiven Medien handeln die Individuen so, als ob sie der Anrufung folgen; aber gerade das tun sie selbst nicht, weil sie es die Medien an ihrer Stelle tun lassen“ (ebenda; vgl. hierzu auch Baudrillard 1990:191 f.).

7

Perspektiven und Optionen

Unübersichtlichkeit ist kein vorübergehendes Phänomen oder Symptom einer momentanen Krise. Sie hat sich in einem historischen Prozess entwickelt und kontinuierlich ausgeweitet, und es ist anzunehmen, dass sie in Zukunft eher noch zunehmen wird. Wenn das die Perspektive ist, dieser Frage geht dieses Kapitel nach, kann die spätmoderne Demokratie dann überhaupt den geschilderten Folgen der Unübersichtlichkeit entgehen?

7.1 D IE E NTWICKLUNG

DER

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Unübersichtlichkeit ist zwar ein signifikantes Merkmal der Spätmoderne, hat in ihr aber nicht ihren Ursprung: Sie hat sich in einem längeren geschichtlichen Prozess sukzessive aufgebaut. Schisma und Reformation. Als erste markante Punkte dieses Prozesses können Kirchenschisma und Reformation identifiziert werden, die eine bis dahin relativ klar strukturierte Welt als kontingent, als Ergebnis menschlicher Beobachtung, Beschreibung und Entscheidung, wahrnehmbar werden ließ. 1 Das Schisma löste die strukturelle Einheit eines monolithischen, Erklärungseindeutigkeit garantierenden Sinn- und Machtsystems auf und leitete damit ein starkes Moment der Kontingenz in das christliche Weltbild ein. „Unerkannt zu jener Zeit, war dies der Beginn der modernen Welt“ (Tuchman 1978:303, vgl. 300). Die Reformation stellte die ontologische Einheit und Geschlossenheit vollends infrage. „Sie zerstörte auf sehr fundamentale Weise die Vorstellung von einer einzigen Wahrheit und einzigen Identität in Europa“ (Nolte 2012:115).

1

Diese Einschätzung bezieht sich auf einen soziokulturellen Wahrnehmungsraum. Sie ist keine Verklärung eines als wohlgeordnet und menschenfreundlich imaginierten Zeitalters. Der Mensch des Mittelalters erlebte eigene Formen der Kontingenz: durch eine wenig kontrollierte Natur, die Permanenz der Kriege, die Willkür der Mächtigen oder Stärkeren und die phasenweise völlig unkalkulierbaren Lebensverhältnisse (vgl. beispielsweise Tuchman 1978, Fumagalli 1987:25 ff.; 65 ff.; vgl. auch Ferraris 2012:76 f.).

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Buchdruck. Die Öffnung christlicher Welt- und Wissenshorizonte beschleunigte sich mit der Entfaltung der kommerziellen Buchproduktion (Eisenstein 1979:219, 303 ff., 406), die eine „schon akkumulierte Heterogenität des Gedankenguts“ (Luhmann 1997:895) allgemein zugänglich machte. Der Buchdruck erzeugte einen bis dahin kaum vorstellbaren „Sinnüberschuss“, eine Diffusion des praktischen, technischen, epistemischen, theologischen Wissens (Baecker 2007:164 f.; Eisenstein 1979:112, 169). Er ermöglichte das massenhafte vergleichende Lesen, das kritische Infragestellen des Gelesenen, die Gegenpublikation und die öffentliche Diskussion (wenn auch nur für Minderheiten). Er offenbarte zudem eine Differenz zwischen individuellem Leser und „alle[n] anderen als (noch unbestimmte) ‚Gesellschaft‘“ (Baecker 2005:43; Makropoulos 1998:65) und konstituierte damit einen neuen Typ des Beobachters, der Gesellschaft und andere Umweltbereiche als quantitativ und qualitativ komplex und kontingent erleben und beschreiben konnte (vgl. auch Brunkhorst 2000:39 f., 173).2 Die Rezeption von Werken wie Montaignes Essais, die neue Selbstbeschreibungen eines Individuums, eine Sprache für den Wandel (Montaigne 1588:3,II) und die Kontingenz, etablierter Weltbilder (1, XXXI) hervorbrachten, leitete einen Prozess ein, den Eisenstein als „to become intoxicated by reading“ (Eisenstein 1979:72) bezeichnete. Heute würde man vielleicht den ebenfalls einen Kontrollverlust assoziierenden Begriff viraler Diffusion verwenden. Ähnlich werden beispielsweise die Schriften Pascals gewirkt haben, der wie Montaigne den „Selbstverständlichkeitscharakter des Selbstverständlichen“ (Hahn 1997:147) hinterfragte, Verhältnisse, Regeln, Gesetze als kontingent markierte 3 bzw., wie vor ihm Descartes, zum Objekt eines kontingenzoffenen, vernunftgetriebenen Zweifelns machte (Descartes 1637:4).4

2

Und er machte zugleich die Ambivalenz des Wissens spürbar. So hat Descartes zu seinem Studium bemerkt, aus dem „Bemühen, mich zu unterrichten“ habe er zunächst „keinen anderen Nutzen gezogen, als mehr und mehr meine Unwissenheit zu entdecken“ (Descartes 1637:4).

3

„Was auf dieser Seite der Pyrenäen Wahrheit ist, ist auf der anderen Irrtum“ (Pascal 1669:Strowski Nr. 319, Brunschvicg Nr. 294).

4

Montaigne benutzte, ähnlich wie Descartes, die Figur des Fremden (des „Kannibalen“, 1,XXX1; vgl. Friedrich 1949:195; Descartes 1637:5, 13). Die (virtuelle oder tatsächliche) Beobachtung von Alterität, die im Zug des intensivierten Fernhandels und der Kolonialisierung möglich wurde (vgl. Stollberg-Rilinger 2000:55, 260), schließt die Beobachtung eigener Wahrheiten durch den Fremden ein, relativiert die Verbindlichkeit eigener Kultur (vgl. auch S. J. Schmidt 309 f.) und erzeugt neue Perspektiven für die Binnenbeobachtung (vgl. auch Nassehi 2003a:226; Münkler, Ladwig 1997:26). Ein Erkenntnisschema, das mit der Globalisierung zu neuer Aktualität gelangte.

7 P ERSPEKTIVEN

UND

O PTIONEN

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Aufklärung. Solche Kontingenzmarkierungen waren Vorboten des kommenden, bis heute wirkmächtigen und unabgeschlossenen intellektuellen Programms der Aufklärung.5 Es löste die großen sozialen, kulturellen, ökonomischen, wissenschaftlichen und politischen Innovationen und Umwälzungsprozesse aus, die auch als bis dahin unbekannte qualitative und quantitative Komplexität sich transformierender Umwelten wahrgenommen wurden und Kontingenz „zu einem konstitutiven Moment des neuzeitlichen Selbst- und Weltverständnisses“ werden ließen (Makropoulos 1998:69).6 Die Aufklärung setzte, auf unterschiedlichen Ebenen und in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen, Mechanismen der Reflexion in Bewegung: „Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muss. Religion, durch ihre Heiligkeit, und Gesetzgebung, durch ihre Majestät, wollen sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdann erregen sie gerechten Verdacht wider sich und können auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur demjenigen bewilligt, was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aus halten können“ (Kant 1787:7 Fn.; vgl. Arendt 1982:47; Bauer 2004:52: Foucault 1984:41 ff.). Dass somit beinahe alles „diskutabel“ zu werden schien (Burkhardt 1905:134), förderte neue Sichtweisen, alternative Lesarten, Deutungen, Problemwahrnehmungen, aber auch Geltungsansprüche, aus denen sich, sehr viel später, das Projekt der Demokratie, mit dem ihr inhärenten, starken Kontingenzmoment, entwickeln konnte (Burkhardt 1905:197; Schneiders 1997:11; Dahl 1994:30). Mit der Vielfalt sozialer, technischer, wissenschaftlicher Wandlungsprozesse zeichnet sich aber erstmals auch das Problem des politischen Beobachters ab: Die operative Politik wurde komplexer, inhaltlich weiträumiger und für die politische Protoöffent-

5

Friedrich hat Montaigne, dessen Werk im 16. Jahrhundert erschien, als „Vorbote der

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Wiederum war es der Buchmarkt, der mit bis heute wirkmächtigen Publikationen

Aufklärung“ bezeichnet (Friedrich 1949:130). (Newton, Locke, Leibniz, Montesquieu, Vico, Swift, Voltaire, Hume, Diderot, Rousseau, Adam Smith, Lessing, Goethe, Kant, um nur einige zu nennen) das sich im 18. Jahr hundert etablierende Bürgertum erreichte (vgl. Brunkhorst 2000:16 ff., 160 ff.). Zumal die Texte nun nicht mehr in Latein, sondern zunehmend in der Landessprache verfasst wurden (Stollberg-Rilinger 2000:19). Sie trugen zur Entstehung einer (zwar immer noch wenig emanzipierten) über Politik, Wissenschaft, Ökonomie usw. zunehmend informierten, sich selbst aufklärenden, kontingenzbewussten und -affinen bürgerlichen Öffentlichkeit bei, die freilich zugleich auch die Grenzen ihrer Selbstaufklärung erkennen musste: Spätestens mit dem Abschluss des auch von Diderot betreuten, über 70.000 Artikel umfassenden und das damalige Wissensspektrum weitgehend abbildenden Enzyklopädie-Projekts, dürfte die Vorstellung umfassenden individuellen Wissens ihr Ende gefunden haben.

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lichkeit schwerer zu lesen und zu analysieren (vgl. Stollberg-Rilinger 2000:210 ff.). Die Aufklärung begann, Unübersichtlichkeit zu erzeugen. Dialektik. Der sich selbst verstärkende Prozess der Kontingenzmarkierung thematischer, kommunikativer und auch sozialer Grenzen, die Innovationen und neuen epistemischen Paradigmen offenbarten früh eine eigene Dialektik. „Die Auswirkungen dieses intellektuellen Interesses sind verheerend. Es deklariert sich als ‚Aufklärung‘, aber es vergiftet alles, worauf sein Blick fällt, mit einem Kontingenzbewusstsein, von dem wir bis heute noch nicht recht wissen, ob wir es wirklich als Errungenschaft der Moderne feiern sollen“ (Baecker 2008:76). Bis in die Spätmoderne sind die „Folgen und Folgekosten der Aufklärung“ spürbar (Schneiders 1997:131). Sie „wurde keineswegs nur als wünschenswerte Erweiterung des technischen und sozialen Handlungsbereichs, und damit nur als Gewinn neuer Möglichkeiten menschlicher Freiheit, als Ermöglichungsnexus emphatischer Selbstverwirklichung erfahren, sondern von Anfang an auch als akute Orientierungslosigkeit und bodenlose Unsicherheit, weil der Bereich des Auch-anders-sein-Könnens, der Bereich der Kontingenz – so oder so –, prinzipiell keine definitive Grenze mehr hatte, sofern er mit jeder Wirklichkeit auch jede Ordnung, und damit jede Form sozialer Ordnung erfasste“ (Makropoulos 1998:69 f.). 7 7

Schneiders stellt fest, dass Aufklärung „sowohl als Erkenntnisgewinnung (Selbstauf klärung) wie als Erkenntnisvermittlung (Aufklärung der anderen) – prinzipiell problematisch ist“ (Schneiders 1997:130). Die „tiefgreifende Irritation vertrauter Selbstverständlichkeiten“ (Stollberg-Rilinger 2000:167, 254) führte dazu, dass sich das Individuum „seit Montaigne und Descartes nur noch seines Nichtwissens sicher sein darf“ (Baecker 2008:78). Der Wille zum Wissen wurde von Foucault als Quellen neuer gesellschaftlicher und kultureller Risiken, als Reproduktionssysteme von Macht, Ungerechtigkeit, Ungleichheit und der elementaren Verunsicherung durch massive Kontingenz identifiziert: „Befragt […] [das historische Bewusstsein] aber sich selbst und überhaupt jedes wissenschaftliche Bewusstsein in seiner Geschichte, so entdeckt es die Formen und Umformungen des Willens zum Wissen, als da sind Instinkt, Leidenschaft, inquisitorische Wut, grausames Raffinement, Bosheit; es entdeckt die Gewalttätigkeit der Parteinahmen gegen das un wissende Glück, gegen die kräftigen Illusionen, durch welche sich die Menschheit schützt, und der Parteinahmen für alles Gefährliche im Suchen und alles Beunruhigende im Entdecken. Die historische Analyse dieses großen Wissenwollens der Menschheit macht sichtbar, dass es keine Erkenntnis gibt, die nicht auf Ungerechtigkeit beruht (und dass es daher in der Erkenntnis kein Recht auf Wahrheit und keine Begründung des Wahren gibt) und dass der Erkenntnisinstinkt böse ist (dass es in ihm etwas Mörderisches gibt und dass er für das Glück der Menschen nichts tun kann und will). Wenn das Wissenwollen heute seine größten Ausmaße annimmt, so nähert es sich nicht einer universellen Wahrheit; es verleiht dem Menschen keine sichere und ruhigere Herrschaft über

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Moderne. Im 19. Jahrhundert zeigte sich die Moderne vor allem als sich entfaltender Kapitalismus, in dem „alles Ständische und Stehende verdampft“ (Marx, Engels 1848:46) dessen schöpferische Zerstörungskraft (Schumpeter 1942:136 ff.) neue, zunehmend unsichere Arbeitsregime, systemische Krisenphänomene (Kromphardt 1980:93) und sich „verflüssigende“ soziale Strukturen bedeutete (Simmel 1900:64). Industrielle und wissenschaftliche Revolution, funktionale Differenzierungen, durch Mobilität und allgemeine Beschleunigung gewandelte Verhältnisse zu Raum und Zeit, die fortschreitende Säkularisierung trugen zu „radikal veränderte[n] Daseinsweisen“ und Orientierungsverlusten durch neue Unübersichtlichkeit bei (Bauer 2004:28, 31 f., 49, 62 f.). Und sie offenbarten die Dialektik von Aufklärung und Entwicklung: „Die Menschen bezahlen die Vermehrung ihrer Macht mit der Entfremdung von dem, worüber sie die Macht ausüben“ (Horkheimer, Adorno 1944:15, vgl. 48). Ein nochmals beschleunigter gesellschaftlicher Wandel führte um die vorletzte Jahrhundertwende in die „unübersichtlich und unpersönlich gewordenen sozialen Beziehungen einer technisierten Massengesellschaft“, deren Kommunikationen und kulturelle Potenziale als zunehmend unüberschaubar wahrgenommen wurden (Nolte 2000:188; 2012:226 ff.; vgl. Durkheim 1896:126). In ihr wurde Modernität als „unwiderruflicher Zusammenbruch einer ganzen Welt erlebt, als vollendeter Ordnungs- und Wirklichkeitsschwund erfahren und als geradezu ontologischer Ausnahmezustand der nunmehr bodenlosen Kontingenz gedeutet“ (Makropoulos 1998:76).8 Neutrale Zonen. Konnte die Moderne solchen Entwicklungen zunächst mit der Affirmation technischer und wissenschaftlicher Innovationen begegnen, verlor diese Sinngebung Mitte des letzten Jahrhunderts wieder an Strahlkraft. Nach zwei Weltkriegen, von denen besonders der Erste als technologischer Krieg empfunden die Natur; im Gegenteil, es vervielfältigt die Gefahren, es zerstört die schützenden Illusi onen; es vernichtet die Einheit des Subjekts; es befreit in ihm alles, was auf seine Auflösung hinarbeitet“ (Foucault 1971:107 f.; ebenso Musil 1930:304). 8

Deren Komplexität wurde bereits in dieser Zeit als Überforderung beschrieben. So notierte Musil: „Was man Zivilisation im üblen Sinn nennt, ist ja hauptsächlich nichts als die Belastung des Einzelnen mit Fragen, von denen er kaum die Worte kennt (man denke an die politische Demokratie oder an die Zeitung), weshalb es ganz natürlich ist, dass er in einer vollkommen pathologischen Weise darauf reagiert; wir muten heute einem beliebigen Kaufmann geistige Entscheidungen zu, deren gewissenhafte Wahl einem Leibniz nicht möglich wäre!“ (Musil 1922:1091). Ähnlich Deweys Anmerkung wenige Jahre später: „Die Entwicklungen von Industrie und Handel haben die Dinge so kompliziert gemacht, dass ein klarer, allgemein anwendbarer Beurteilungsmaßstab praktisch unmöglich wird. Der Wald kann vor lauter Bäumen nicht gesehen werden, noch die Bäume vor lauter Wald“ (Dewey 1927:118).

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wurde, von den großen totalitären Regimen diskreditiert (vgl. auch Beaumont 2000:51 ff.) und durch erste Umweltdesaster wie jenes in Minamata in den 1950er Jahren infrage gestellt, wurde die „neutrale Sphäre“ der Gesellschaft (Schmitt) nun zunehmend kritisch beobachtet, wurden ihre Zerstörungspotenziale und Risiken zum Objekt politischer Diskurse.9 Damit verschob sich ein weiter thematischer Raum aus der Umgebung in die Umwelt eines politischen Systems, das gleichzeitig weiteren Irritationen ausgesetzt war: Die intellektuelle und politische Bearbeitung dieser Themen fand ab den 1960er-Jahren in einem hochdynamischen Umfeld sozialer, kultureller und politischer Umdeutungsprozesse statt, die sich beispielsweise in der Verfestigung postmaterieller Werte ausdrückte (Inglehart 1984:26 ff.; Gabriel 1986:21, 84 ff.). Strukturen, Hierarchien, Organisationsformen wurden hinterfragt und umgestaltet, es entwickelten sich alternative Lebensstile, neue kulturelle, ethische, ästhetische Paradigmen, Emanzipationsambitionen, Theoriewelten und Utopien. Seither „waren die Probleme wesentlich komplexer, es wurde immer schwieriger, informierte Positionen einzunehmen“ (Crouch 2003:16). Das war insbesondere auf eine neue Klasse von Themen zurückzuführen, die hier als nicht-konventionell bezeichnet werden. Nicht-konventionelle Themen. Deren Zurechenbarkeit, entweder zum politischen Raum oder zur „neutralen“ Sphäre von Technik und Wissenschaft, Medizin usw., war nicht mehr möglich. Diese Themen verlangten Urteile und Entscheidungen, die nicht mehr durch originär politisches Denken und Verstehen zu finden waren. Ihnen war auch keine andere singuläre, etwa rein ökonomische, rein technische, rein ethische Betrachtungsweise mehr angemessen, weil immer wieder Wechselwirkungen, Interdependenzen, Seiteneffekte und unerwartete Fernwirkungen erkennbar wurden, die solche Sichten relativierten oder nur unter Berücksichtigung anderer Wissenskontexte plausibel machten. Diese Themen und Wicked Problems komplizieren bis heute jede politische Beobachtung und Entscheidungsbildung.10 9

Nach Barbara Tuchman hat der Mensch im 20. Jahrhundert „den Glauben an sich selbst und die Leitlinien, derer er sich einst sicher war, verloren […] Um genauer zu sein: Wir haben zwei fundamentale Glaubenssätze verloren. Wir glauben nicht mehr an Gott und nicht mehr an den Fortschritt. Wir haben zwei große Desillusionierungen hinter uns: den Sozialismus und den Nationalismus; eine schmerzliche Offenbarung: die Freudsche Aufdeckung des Unbewussten; und eine unglückliche Entdeckung: die Märchengottheit Wissenschaft hat uns, wie sich herausstellt, ebenso viel Schaden wie Nutzen gebracht“ (Tuchman 1981:308).

10 Es ist bezeichnend, dass sich in dieser Phase die aus der Regelungstechnik hervorgegangene (vgl. Schmidt 1941) und dann etwa von Wiener und Bertalanffy entwickelte Kybernetik (Wiener 1948; 1952; Bertalanffy 1950) als technische, wissenschaftliche und ökonomische Zentraltheorie etablierten konnte. Nach den Erfahrungen mit der Komplexi-

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Als ein solcher thematischer Raum wurde ab den 1960er-Jahren die Ökologie wahrgenommen. Im folgenden Jahrzehnt, das Radkau als „globale geistige Wasserscheide“ bezeichnet (Radkau 2011:28, vgl. 134 ff., 168), gelangte der Umwelt- und Ressourcenschutz allgemein sichtbar auf die Agenda von Politik, Verbänden und neuen sozialen Bewegungen. Die Bürger wurden mit neuen Themen von hoher qualitativer Komplexität konfrontiert – und zugleich nahm die Zahl dieser Themen zu (vgl. Nie et al. 1976:97, 106, 158 f.).11 Die politische Bearbeitung ökologischer Fragen war wesentlich auf die Rezeption von Texten über die absehbaren Grenzen ökonomischen Wachstums zurückzuführen.12 Sie setzte politische Diskurse in Gang, denen mit dem intellektät diverser Großprojekte der Nachkriegszeit (vgl. auch Watzlawick et al. 1967) konnte sie eine Semantik und einen epistemischen Rahmen für die Beschreibung der zunehmend komplexen Systeme und zugleich eine Technik der nur noch selektiven Analyse und Deutung anbieten. „Die Black-Box-Theorie offenbart […] einen […] Wendepunkt technischer Entwicklungen […]: Die technische Entfaltung von Maschinen führt hier nicht auf einen immer ausdifferenzierteren Maschinenbegriff, der immer mehr Bereiche, einschließlich der menschlichen Denkungsart, zu erfassen verspricht, sondern schlicht zu immer komplexeren Maschinen, die nicht mehr notwendigerweise begriffen werden müssen oder gar begriffen werden können“ (Hilgers 2010:139; vgl. auch Hörl 2010:52, 54). Dieser Analyse- und Erkenntnisansatz fand in der Politikwissenschaft beispielsweise in den Werken Deutschs (Deutsch 1966) und Eastons (Easton 1965a) seinen Niederschlag und er ist nach wie vor Element moderner Systemtheorien. Deren historische Vorläufer wurden auch für totalitäre sozialtechnologische Vorstellungen beansprucht. Anfang der 1940er-Jahre proklamierte der deutsche Regelungstechniker Schmidt: „Im Hinblick auf die Wirtschaft und auf die Sozialpolitik ist es die verpflichtende Parole des Technikers: Alles regeln, was regelbar ist, und das noch nicht Regelbare regelbar machen“ (Schmidt 1941:12). Ideologische Vereinnahmungen sozialistischer Provenienz finden sich z.B. bei der Einschätzung der Kybernetik als eine der „eindrucksvollsten Bestätigungen der dialektisch-materialistischen Philosophie im 20. Jahrhundert“ (Klaus, Buhr 1972:702). 11 In den Vereinigten Staaten tritt in den 1960er-Jahren erstmals „Ecology“ als ein als relevant eingeschätztes Thema der Politik auf und „Pollution“ erscheint zu Beginn der 1970er-Jahre in der Liste persönlicher Ängste der Bürger. Vorher waren unter den Themen, die von Bürgern als relevant eingeschätzt wurden, keine nicht-konventionellen Themen erkennbar (vgl. Nie et al. 1976:43, 107 ff., 98; vgl. auch Campbell et. al. 1964:101; Dalton 1984:108 ff.). 12 Hier ist, neben dem Bericht des Club of Rome (Meadows 1972), beispielsweise die von Präsident Carter 1977 in Auftrag gegebene und 1980 fertiggestellte Studie „Global 2000“ zu nennen. Sie dokumentierte „Dringlichkeit, Reichweite und Komplexität der vor uns liegenden Herausforderungen“ (Barney 1980:21) anhand eines umfassenden Datenmaterials, das der Öffentlichkeit einen thematischen Raum von enormer qualitativer und

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tuellen oder kognitiven Rüstzeug des Bürgers oft kaum mehr zu folgen war. 13 Neu waren die Wissensarten und Fachsprachen, die Akteure aus unterschiedlichen Disziplinen, die jetzt in der Domäne der Politik als Experten auftraten, Wissenschaftler, die gegen Paradigmen ihrer Disziplinen argumentierten, die sozialen Bewegungen, die sich dieser Themen annahmen und Mitsprache auf einem komplizierten, von Politik, Wissenschaft, Technik, Industrie exklusiv beanspruchten Terrain forderten. Spätmoderne. Mit der neuen Rolle der Finanzindustrie, dem Rückbau des Sozialstaats, vor allem aber mit der Globalisierung wird in den 1980er-Jahren schließlich eine historische Phase eingeleitet, die von einer sich drastisch und schnell ausweitenden Unübersichtlichkeit charakterisiert ist, für die oben verschiedene Quellen genannt wurden: •







Ein bis heute nicht abgeschlossener Prozess des Wandels, der sich auch als eine im globalen Kontext auf Dauer gestellte Binnenreflexion von Werten, Strukturen und Praktiken äußert, als permanente Reinterpretation kultureller, sozialer, ökonomischer Kategorien und Gewissheiten (vgl. Eisenstadt 2000b:24; vgl. auch Giddens 1990:54; Beck 1986:26; vgl. S. 87 ff.). Technisch-wissenschaftliche Innovationen, etwa auf dem Feld der Genomforschung, die einerseits vielversprechende Optionen aufzeigen, andererseits neue, bisher unbekannte, Gefährdungslagen und ethische Implikationen sichtbar machen (S. 91 ff.). Die Expansion und strukturelle Opazität nationaler und transnationaler politischer und administrativer Systeme, deren Beobachtung oder Adressierung zunehmend schwieriger oder aussichtsloser erscheint (S. 98 ff., S. 223 f.). Eine global ausgerichtete Ökonomie, Technologieentwicklung und Wissensproduktion, die auf die Verselbstständigungstendenzen transnational operierender Funktionssysteme verweisen (S. 77 ff.; vgl. auch Brunkhorst 2001:609; Willke 2014:133). Deren „Orientierungsdissens“ (Schimank 2005:87) wird den quantitativer Komplexität präsentierte. Der Text thematisierte auch die problematische Komplexität der beobachteten Systeme, die theoretischen und praktischen Schwierigkeiten bei der Verarbeitung des Informationsmaterials und die Kompliziertheit der Prognosen (z.B. 1368). Die Studie, die heute in weiten Teilen als überholt gilt (was ihren historischen Wert nicht mindert), kann als aktive und fokussierte Aneignung eines nichtkonventionellen thematischen Raums durch das politische System gelesen werden, das sich damit bewusst einer neuen Komplexität aussetzte.

13 Diese Diskurse sind im historischen Rahmen der als Krise interpretierten Verteuerung des Rohöls durch die OPEC-Staaten anzusiedeln, die eine tiefe und folgenreiche Zäsur in der Selbstwahrnehmung der Industriestaaten darstellte. Sie wurde von der beunruhigenden Erfahrung beeinflusst, dass die gleichzeitig thematisierten ökologischen Schäden und das globale Wohlstandsgefälle, oft auf sehr komplizierte Weise, mit den eigenen Lebensstilen und Prosperitätserwartungen in Zusammenhang stehen (vgl. Beck 1986:68).

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Bürgern in sich aneinanderreihenden Krisen mit kaum zu verstehenden Dynamiken und unklaren Kausalitätsmustern bewusst, für die Politik und Funktionssysteme wiederum Lösungsstrategien anbieten, die dem Laien oft unverständlich bleiben („Bad Banks“). Zudem gibt das politische System selbst, durch Deregulierung und Privatisierung, Entscheidungsbereiche an diese Systeme ab, reduziert seine Visibilisierungsleistungen (S. 33) und Deutungsangebote und mutet der Öffentlichkeit dadurch weitere Unübersichtlichkeit zu. Ein Eigensinn dieser Systeme, der wiederum mit der Etablierung multipler Gegenwarten, neuen Zeitordnungen und einer permanent fordernden Echtzeitkommunikation einhergeht (S. 82 ff.). Neue, hochkomplexe Infrastrukturen der Telekommunikations- und Informationstechnologie, auf die sich Produktion, Handel, Distribution und Werbung ausrichten; mit allen Folgen für Arbeitswelt und Alltagskultur, für Konsum und Freizeit, aber auch für die persönliche Freiheit, die nicht zuletzt durch die Macht der Konzerne kulturell umgedeutet wird (S. 101 ff.).

Globalisierung. Mit dem Ende der Ost-West-Dichotomie, das sich zunächst als Optionsgewinn darstellen lässt (Dettling 1996:106 ff.), öffnet sich für die Bürger das unüberschaubare Szenario einer radikalen „Merkantilisierung“ der (Welt-)Gesellschaft (Baudrillard 1990:23). Neu organisierte und strukturierte Beschäftigungsverhältnisse lösen eine „Drift“ in Unsicherheit und Unbeständigkeit, in ein für die Individuen zunehmend kontingent und gefährdet wirkendes Alltags- und Berufsleben aus (Sennett 1998:109 ff.; Bauman 2000:160 ff.; Schimank 2011:18 ff.). Durch die Globalisierung ist die Kontingenz endgültig zur Signatur der Spätmoderne geworden (vgl. Holzinger 2007:13, 44; vgl. auch Bauman 1991:36). Und die von ihr ausgelöste „complexity escalation“, von der Rescher spricht, betrifft gerade auch das Politische (Rescher 1998:188, vgl. 184 ff.). Für dessen Beobachter fügen sich die skizzierten Phänomene zu einem unübersichtlichen Panorama simultaner, zugleich disparat wirkender und doch „irgendwie“ miteinander in Verbindung stehender, oft widersprüchlicher Entwicklungen: Die Globalisierung zeigt neue Horizonte und Prosperitätsversprechen, offenbart aber zugleich Symptome einer globalen „Verwahrlosung“ (Rosa 2005:452) und neue Risiken. Der Bürger sieht gleichzeitig faszinierende Innovationen oder große zukunftsorientierte politische Projekte wie die EU und überwunden geglaubte Formen der Ausbeutung, Deprivation und Kriegsführung, atavistisch anmutenden religiösen Furor und internationalen Terrorismus. Geopolitische Verschiebungen und Neuordnungen werden erkennbar, veränderte Eigentums- und Umverteilungsverhältnisse – Quellen neuer Ängste und Unsicherheiten mit einer eigentümlich drängenden politischen Präsenz.

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7.2 P ERSPEKTIVEN Unübersichtlichkeit ist kein Übergangsphänomen, das bei gravierenden politischen Umwälzungen wie etwa der deutschen Wiedervereinigung oder bei der Durchsetzung neuer Schlüsseltechnologien auftritt. Sie ist ein Merkmal spätmoderner Gesellschaften, das sich vermutlich weiter ausprägen wird. Komplexität. Durkheim vermutete bereits, die Gesellschaften würden „immer größer und komplexer“ (Durkheim 1896:97, 104), und Rescher stellt fest, „all of our creative efforts – in material, social, and intellectual contexts alike – manifest a historical tendency of moving from the simpler to the more complex“ (Rescher 1998:174). Die Idee einer solchen universellen historischen Tendenz findet sich in einigen klassischen Texten (etwa in Tocqueville 1835:16; Durkheim 1893:297; Mill 1861:103) und wird heute von zahlreichen, nicht nur systemtheoretisch orientierten Autoren angenommen.14 Mit ihr werden sich auch die Radien politischen Beobachtens und Entscheidens, das Spektrum politischer Themen und Inhalte weiter ausdehnen. Der „hydra-effect“ der Komplexität (Rescher 1998:176) wird politische Öffentlichkeit und politische Individuen weiter und möglicherweise zunehmend überfordern. Engler erwartet, „dass sich das Tempo, in dem die ‚große‘ Gesellschaft öffentlich bedeutsame Handlungsfolgen produziert, ständig erhöht. Mehr als das. Denn in eins damit wächst der Umfang der relevanten Gegenstände. Beinahe alles, was die Werkhallen, Laboratorien, Behörden und Gerichte verlässt, ist von öffentlichem Interesse, sei es aktuell, sei es potenziell. Diesen Beschleunigungs- und Expansionsschüben sind Reflexionsöffentlichkeiten, diese geborenen Nachzügler, nicht gewachsen“ (Engler 1996:22). Hierfür sprechen einige sich abzeichnende Innovationsschübe, aber auch neue konventionell gelagerte politische Probleme. Beispiele für nicht-konventionelle Themen sind: •

Ein Paradigmenwechsel in industrieller Produktion und Warendistribution (Stichwort Industrie 4.0), der weitreichende Umwälzungen in der Arbeitswelt nach sich ziehen und eine konfliktreiche Neubewertung der Rolle der Arbeit in der Gesellschaft erzwingen wird.

14 Zur allgemeinen Tendenz der gesellschaftlichen Entwicklung vgl. beispielsweise Baecker 2008:9; Dörner et al. 1983:16; Dryzek 1990:60; Evers, Nowotny 1987:86; Fuchs 1992:196; Gehlen 1957:24; Holzinger 2007:17, 13, 41; La Porte 1975:3 f.; Lindblom, Cohen 1979:40; Lübbe 1983:52; Luhmann 1990:61; 2000:314; Münch 1995:77; Parsons 1966:10, 43; Rescher 1998:56, 58, 188; Riedl 2000:1; Rosa 2005:14; Schimank 1999:9; Werle, Schimank 2000:9; Willke 1992:315; Zolo 1992:31, 44, 48 f. Zur Bedeutung für das politische System vgl. beispielsweise Almond, Powell 1966:187 f.; Beyme 2007:23; Dahl 1996:12; 1989:75; Deutsch 1966:231; Easton 1965b:59 ff., 270; Gerhards, Neidhard 1991:63; Grande 2000:308; Luhmann 1970:195; 1986:11, 169, 208, 218; 2000:137, 248, 365 ff.; Saxer 1998:22, 40, 57 ff.; Scharpf 1970a:119; Willke 2002:263.

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Biowissenschaftliche Innovationen, etwa Eingriffe in die Keimbahn, die neue ethische, soziale und kulturelle, aber auch ökologische Fragen aufwerfen werden. Eine transparentere und weit „intelligentere“ Informations- und Kommunikationstechnologie, die Entwicklungen mit hoher sozialer und kultureller Eindringtiefe erwarten lässt, neue private und staatliche Kontrollregime und damit auch neue politische Entscheidungsfelder (vgl. z.B. FLI 2015:2). Der Komplex des vermutlich anthropogenen Klimawandels erfordert neue Formen politischer Intervention in Ökonomie und Lebenswelt. Ökologische Schäden können Auslöser für Migrationsbewegungen, politische Instabilität und militärische Konflikte werden. Die Praktiken der Finanzökonomie, Wissenschaft, Technik und Produktion verweisen auf eine fortschreitende Verselbstständigungstendenz selbstreferenziell agierender, transnational orientierter Funktionssysteme (S. 77 ff.; vgl. Brunkhorst 2001:609), die gesellschaftliche Folgeprobleme, Standortkonkurrenzen und möglicherweise markante Schwächungen politischer Systeme und Öffentlichkeiten nach sich ziehen.

Auch konventionelle Themen werden Komplexitätslast und Kontingenzdruck für Politik und Gesellschaft zunehmen lassen. Beispiele sind asymmetrisch geführte militärische Konflikte mit teils privaten Akteuren im Kontext religiös und kulturell codierter Spannungen, geopolitische Neurordnungsaspirationen, die der Globalisierung entgegenlaufenden Nationalismen oder die Zukunft des Sozialstaats unter veränderten ökonomischen und demografischen Parametern. Auch für sie sind leicht nachvollziehbare und zugleich den spätmodernen Werten und demokratischen Normen gerecht werdende Lösungskonzepte kaum vorstellbar. Die genannten Themen verweisen zudem auf die Komplexität des größeren Zusammenhangs zwischen Lebensstilen, kulturellen und ökonomischen Praktiken des Westens und den globalen Krisen, Bedrohungen und Miseren, der bereits Gegenstand eines weltweiten, schwierigen Diskurses ist, der die künftige Politik beinflussen wird. Kontingenz. Das Kontingenzpotenzial der Gesellschaft nimmt tendenziell ebenfalls zu und damit seine Bedeutung für ihre Politik. Greven ging davon aus, dass, „wie groß auch immer der Anteil der Kontingenz in der früheren Geschichte gewesen sein mag […] sie im Zuge der Verwirklichung der politischen Gesellschaft seit der frühen Neuzeit dramatisch zugenommen hat und offenkundig noch weiter zunimmt“ (Greven 1999:19; vgl. auch Blumenberg 1981:47; Lübbe 1983:102 f.; Makropoulos 1998:65, 69; Reckwitz 2006:77). Die Erwartung einer weiter zunehmenden Unübersichtlichkeit kann zu einer für das demokratische System riskanten Erschöpfung der politischen Öffentlichkeit führen.

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Ihre Ermüdung, um einen Begriff Hans zu verwenden, ist auf den Eindruck von Kontrollverlust und Überforderung zurückzuführen. Kontrollverlust. Die kulturell, politisch, ökonomisch, technisch und wissenschaftlich intendierte Kontrolle der Umwelt und Defatalisierung der Wirklichkeit (Marquard 1981:70) haben paradoxerweise ihr Gegenteil bewirkt, „das absolute Verfügen etabliert das Unverfügbare; die Resultate kompromittieren die Intention. [...] Das sind – seit der Französischen Revolution und bis heute – die großen Enttäuschungserfahrungen des Selbermachens der Menschen […] sie beruhen auf der Unverfügbarkeit der Folgen“ (Marquard 1981:81; vgl. Habermas 1981b:580 f.; Nowotny 2005:137). •









So stellt Münkler fest, dass die sozio-ökonomischen Entwicklungen „weder zu einer Steigerung noch zu einer Ausweitung menschlicher Selbstverfügung und Handlungsmächtigkeit [führten], sondern […] den Menschen zunehmend zum Objekt für ihn undurchschaubarer und unkontrollierbarer Prozesse werden [lassen]“ (Münkler 1997:166). Die Globalisierung vermittelt den Eindruck „des unbestimmten, widerspenstigen, selbstgesteuerten Charakters der Weltangelegenheiten“ (Bauman 1996:316; Hervorhebung r.a.). Die „autonome[] Dynamik“ technischer und wissenschaftlicher Innovation (Castells 2000:64) droht „die Souveränität und Verfügungsmacht des bedeutungsgebenden transzendentalen Subjekts“ zu unterlaufen (Hörl 2011:12; vgl. auch Lash 2002:18 f.; Baecker 2007:169; Wiegerling et al. 2008:76; Donner 2010:110; Kittler 2013:187; Beck 1986:329; Freyer 1959:548; Dewey 1927:148 f.).15 Die Informations- und Kommunikationstechnologie wird in ihrer Alltagspräsenz zunehmend unsichtbar. Sie bildet eine Infrastruktur unterhalb der Wahrnehmungsschwelle, die sich in eine nicht mehr verstehbare und nicht mehr beobachtbare Komplexität hinein verselbstständigt. Technologische Entwicklung und strukturelle Verselbstständigungstendenzen konvergieren in omnipräsenten, sich scheinbar autonom entfaltenden „Expertensystemen“, „Systeme[n] technischer Leistungsfähigkeit oder professioneller Sachkenntnis, die weite Bereiche der materiellen und gesellschaftlichen Umfelder, in denen wir heute leben, prägen“ (Giddens 1990:40 f.). Die Empfindung, im Umgang mit ihnen ständig kontrolliert, gefordert und überfordert zu

15 Wenn etwa intransparente Algorithmen Entscheidungen über den Bürger zu treffen scheinen (etwa im Geoscoring oder bei der Analyse seiner Beziehungen in sozialen Netzwerken). Wobei es, zumindest heute, keine technische Autopoiesis, sondern nur Autonomisierungen sozialer Systeme gibt: Diese Algorithmen werden aufgrund definierter ökonomischer Interessen implementiert, die auch die gesellschaftliche Entkopplung wissenschaftlicher Teilsysteme nutzen.

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werden, wird als zunehmender Autonomie- und Kompetenzverlust des Individuums und der Öffentlichkeit gegenüber diesen Systemen erlebt. Überforderung. Eine Gesellschaft, die für sich Wissen, Technikbeherrschung und rationale Problemlösungskompetenz reklamiert, muss die Erfahrung machen, all dies nicht sicher zu beherrschen. Immer häufiger sieht sie sich mit technischen, wissenschaftlichen, politischen oder ökonomischen Fehlern, Fehleinschätzungen, Fehlentscheidungen und deren Folgen konfrontiert (vgl. auch Evers, Nowotny 1987:63; Dörner 1989). Oder damit, dass die Versuche, Folgen etwa politischer Entscheidung oder Planung kontrollierbar zu halten, immer aufwendiger werden und ihrerseits nicht intendierte Seiteneffekte auslösen (Lübbe 1983:102 f.). Die Komplexität der Themenstellungen überfordert die politische Problemlösungskompetenz (Rittel, Webber 1973:160). Es sind nicht nur die multiplen Einsprüche aus der Gesellschaft, die Vielfalt kommunizierter Alternativen und zu berücksichtigender Hinsichten, die qualitative und quantitative Komplexität der Themen, die operatives politisches System und politische Öffentlichkeit überlasten. Zunehmend werden Probleme identifiziert, deren Ursachen, wie Luhmann feststellte, nicht mehr zu beseitigen sind, für die adäquate und definitive politische Lösung nicht vorstellbar oder nicht durchsetzbar sind und es daher nur noch darum gehen kann, sie so abzuschwächen, dass sie gesellschaftlich „aushaltbar“ werden (Luhmann 1987:61). „In this view public policy problems are too complex to be well understood, too complex to be mastered. One develops a strategy to cope with problems, not to solve them“ (Lindblom 1965:148; vgl. Nowotny 2005:129). Konsequent sprechen Lindblom und Cohen auch nicht vom Problemlösen, sondern nur mehr von „problem-attacking“ (Lindblom, Cohen 1979:4, 26). 16 Eine Pragmatik, die das seit der Aufklärung immer weiter ausgebaute Dispositiv vernunftgesteuerten Denkens, Handelns und Entscheidens infrage stellt (vgl. Schimank 2011:21 f.). Münch sieht die moderne Kommunikationsgesellschaft deshalb an der „Grenze der Illegitimität. Sie legitimiert sich mit den großen Ideen der Aufklärung, muss aber immer deutlicher offenbaren, dass sie diese gar nicht so verwirklichen kann, dass es zu einer Übereinstimmung von Idee und Wirklichkeit kommt“ (Münch 1995:82). Kränkung. Dieses Versagen, der Souveränitätsverlust und die Überforderung durch das selbst Geschaffene stellen im Grunde eine Kränkung dar. Von Freud stammt die These, dass „die Eigenliebe der Menschheit drei schwere Kränkungen vonseiten der wissenschaftlichen Forschung erfahren hat“. Er nennt die koperni16 Das daraus resultierende Kleinformatige und Fragmentierte der Entscheidungen praktischer Politik, die, meist unter Zeitdruck, punktuell zufriedenstellende Lösungen produzieren muss, die auf keinen umfassenderen programmatischen Zusammenhang verweisen und kein konsistentes Gesamtbild politischer Gestaltung ergeben, erschwert ihre Beob achtung und trägt zur allgemeinen Unübersichtlichkeit bei (vgl. auch Zolo 1992:166).

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kanische Kränkung, nach der die Erde nicht mehr das Zentrum des Alls bildete, Darwins Kränkung, nach der der Mensch nicht von göttlicher Abkunft war und schließlich die psychologische Kränkung, die die Souveränität des Menschen über sein Bewusstsein infrage stellte und zeigte, „dass das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus“ (Freud 1917:6 ff.).17 Auch die spätmoderne Gesellschaft ist gewissermaßen nicht mehr „Herr im eigenen Haus“. Ihre Kränkung liegt darin, dass ihre Innovationen, ihre Optionssteigerungen, die „Überproduktion von Sinn, von Möglichkeiten“ (vgl. Baecker 2007:81) und der Eigensinn ihrer Funktionssysteme eine Unübersichtlichkeit geschaffen haben, die sie selbst nicht mehr aufzulösen vermag. Komplexitätserfahrungen sind Defiziterfahrungen eines Beobachters (vgl. Zolo 1992:21; vgl. S. 51). Die Beschreibung seiner Umwelt als komplex ist „die Information darüber, dass ihm die Information fehlt, die nötig wäre, um das Ganze zu begreifen“ (Luhmann 1995b:131). Aufgrund der „alles durchdringende[n] Erfahrung der Intransparenz“ (Luhmann 1997:314) müssen Beobachter, Individuen und soziale Systeme, erkennen, dass sie ihre Lebensbedingungen und -verhältnisse kaum mehr überblicken, externes wie internes Prozessgeschehen nicht mehr kontrollieren und nur unzureichend beschreiben können (vgl. auch Lübbe 1983:54; Nassehi 1999a:12). 18 Erschöpfung. Trotz der Unlesbarkeit des Politischen, des Scheiterns an der Komplexität der Themenräume und Entscheidungskontexte wird von der politischen Öffentlichkeit und den politischen Subjekten erwartet, adäquate Kompetenz und rationales Engagement an den Tag zu legen (S. 145 ff., 203 ff.).19 Diese Dis17 Schrader hat diesen Katalog mit Blick auf jüngere technische und epistemische Innovationen erweitert (Schrader 2006). 18 Und sie vermögen dem auch keinen politischen Ausdruck mehr zu geben. Das ist auf eine Entwicklung zurückzuführen, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann: Die politische Artikulation wird verkompliziert, weil viele der im politischen Raum zirkulierenden Begriffe sich in der Unübersichtlichkeit politischer Diskurse, den divergierenden gesellschaftlichen Einsprüchen und wissenschaftlichen Erkenntnissen auflösen. Für das politische Selbstverständnis einer Gesellschaft zentrale Valenz-Issues wie Wohlfahrt oder Umweltschutz, werden im Kontext von Globalisierung, gesellschaftlichen Umwälzungen, Ökonomisierung usw. zunehmend konturlos, ihre Bedeutung oder Plausibilität unklar. 19 Schimank sieht diese Zumutungen in einem umfassenden gesellschaftlichen Bezugsrahmen. Er spricht von einem Auftrag, „den die Moderne ihren Akteuren gibt: ent scheidungsförmig und dabei möglichst rational zu handeln. Alle Ebenen und Bereiche der gesellschaftlichen Wirklichkeit sind sukzessiv in den Sog der Entscheidungszumutungen geraten, die sich als Unaufhörlichkeit des Entscheidungsgeschehens darstellen: von der Makroebene der gesellschaftlichen Teilsysteme und ihrer Verflechtungen über die Mesoebene der Organisationen, Interorganisationsbeziehungen und sozialen Bewegungen bis

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krepanz von Möglichkeiten und Anforderungen, die das demokratische Dilemma im Kern ausmacht, führt, so lässt sich Han interpretieren, in einen Zustand der Ermüdung, den er mit der permanenten Überforderung durch Kompetenzerwartungen und dem ständigen – systemimmanenten – Zuviel an Information, Kommunikation, einem Übermaß an „Positivität“, also letztlich mit Unübersichtlichkeit, erklärt (Han 2010:15 f.).20 Die Ermüdung der Gesellschaft ist auch ein Effekt der Erschöpfung des Individuums.21 Ehrenberg führt sie (auch) auf die offenen Optionshorizonte der demokratischen Moderne, das Fehlen orientierender Instanzen oder verbindlicher gesellschaftlicher Erzählungen sowie den beschleunigten Wandel sozialer, ökonomischer und kultureller Strukturen zurück (vgl. Ehrenberg 1998: 18, 289, 148).22 zur Mikroebene von Kleingruppen, interaktiven Verhandlungs- und Beeinflussungskonstellationen und schließlich individuellen Biografien; und die Wirtschaft ist genauso von Entscheidungszumutungen durchzogen wie das Familienleben, die Politik wie die Kunst, die Wissenschaft wie die Religion“ (Schimank 2005:115 f.). 20 Han bezieht sich auf Baudrillard, der mit dem Begriff des Positivitätsüberschusses eine Verschiebung der gesellschaftlichen Wahrnehmung ansprach, in der eine außengerichtete (immunologische) Semantik der Feindschaft, der Abwehr, die etwa die Rhetorik des Kalten Krieges kennzeichnete, von Metaphern der inneren, pathologischen, unkontrollierbaren Wucherung und Verselbstständigung verdrängt wird (vgl. Baudrillard 1990:38 ff., 86, 122; Han 2010:12). Diese Diagnose deckt sich mit der konstruktivistischen Vorstellung, nach der auch Unübersichtlichkeit die Konstruktion eines Beobachters ist. 21 Die „Erschöpfung“, die Berardi als „neues Paradigma für das gesellschaftliche Leben“ bezeichnet (Berardi 2012:83), ist kein neuer Topos. Durkheim hat angemerkt, von der Geschwindigkeit der Veränderungen seiner Zeit bliebe nichts anderes übrig „als Ermüdung und Erschöpfung“ (Durkheim 1896:142). 22 Er bezeichnet Kontingenz als die „Last des Möglichen“ (Ehrenberg 1998:302). Ähnlich hat Luhmann von „Traum und Trauma der Freiheit“ gesprochen. Er stellte fest, dass dem Einzelnen in der Spätmoderne „eine hohe, unstrukturierte Reflexionslast“ zugemutet wird (1995b:126), deren Empfinden sich tief in der Conditio humana verankert hat (vgl. auch Gumbrecht 1988:918). Nach Luhmann hat die Gesellschaft dem Individuum zwar zunehmend mehr Freiheiten gelassen, die in Topoi wie Emanzipation, Selbstverwirklichung usw. abgebildet werden, „aber offen lassen, wie das Individuum, das den Leerraum nutzt, den die Gesellschaft ihm lässt, ein sinnvolles, den öffentlich proklamierten Ansprüchen genügendes Verhältnis zu sich selbst finden kann“ (Luhmann 1997:805). Die Erschöpfung kann auch auf die Situation der Individuen im entfalteten Kapitalismus zurückgeführt werden. Das ständige Gefühl persönlichen Ungenügens, die Versagensängste in der Leistungsgesellschaft (Han 2010:18 f.), die keine Stabilität oder Gewissheit vermitteln kann, erschöpfen ebenfalls. „Das Existieren im Spätkapitalismus ist ein dauernder Initiationsritus“ (Horkheimer, Adorno 1944:162), der eigene Kontingenz-

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Auch die Erfahrung des politischen Individuums, seiner Selbstbeschreibung als emanzipiertem und kompetentem Subjekt demokratischer Politik nicht mehr gerecht werden zu können (S. 252), ermüdet. Partizipation erschöpft sich dann nicht selten in diffusem Unbehagen, allgemeiner Wut oder atavistischem Hass. „Die politische Ermüdung, die sich in der zeitgenössischen Demokratie feststellen lässt“ (Wehner 1997:254), ist auch auf ihre Paradoxien (S. 190) und die Unübersichtlichkeit ihrer Politik zurückzuführen (vgl. Wehner 1997:255).

7.3 O PTIONEN Wenn Komplexität und Kontingenz weiter zunehmen, welche Optionen hat dann eine erschöpfte politische Öffentlichkeit, um ihre demokratische politische Organisation in Zeiten der Unübersichtlichkeit funktionsfähig zu halten? 7.3.1

Depolitisierung

Zunächst sind Verweigerungs- und Delegierungsstrategien vorstellbar, eine Art systemisches Pendant der individuellen Regressionsoptionen (S. 261). Sie zielen auf ein Ausgrenzen inhaltlicher Bezüge und Kontingenzpotenziale demokratisch organisierter Politik, um Unübersichtlichkeit zu reduzieren oder Übersicht zu simulieren. Radienbegrenzung Für eine Beschränkung der inhaltlichen Einzugsgebiete demokratischer Kommunikation können eliteorientierte, autoritäre oder epistokratische Begründungen angeführt werden. Das wurde oben bei der Betrachtung des Kompetenzdiskurses festgestellt (S. 174), in dem es zum Teil auch darum geht, demokratische politische Entscheidung auf Personenfragen zu reduzieren und Sachfragen kognitiven, politischen und ökonomischen Eliten zu überlassen. In diese Richtung geht etwa Willkes Vorschlag, die Behandlung komplexer Themen den Entscheidungskapazitäten und -logiken in einen demokratisch nicht oder nur schwach legitimierten Bereich privater oder teilprivater Institutionen auszulagern oder an diese zu delegieren (Willke 2014:97 f.).23 erfahrungen, Identitätsbrüche und Beschädigungen der Selbstsicherheit mit sich bringt. Hinzu kommt der medial vermittelte „Eindruck einer um sich greifenden ‚Fatalität‘“ (Wils 2005:305), das „hilflos zweifelnde[ ] Informiertsein[ ]“ (Luhmann 1995a:80; vgl. Baudrillard 1990:86) bei überbeanspruchter Aufmerksamkeit, die das Individuum zusätzlich, bis hin zur somatischen Reaktion, belasten (vgl. Ehrenberg 1998:20, 217 ff., 289; vgl. auch Hayles 2007:189 f.; Crary 1999:37). 23 Er begründet ihn mit den Kompetenzdefiziten einer überforderten Öffentlichkeit, deren Kapazitäten er im Bereich solcher Themen erreicht sieht, die hier als nicht-kon ventionelle bezeichnet werden: „Denkbar ist eine Art verteilter Demokratie, die analog zu den Prin-

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Schumpeters Mahnung, den Bereich öffentlicher politischer Entscheidung nicht zu weit auszudehnen (1942:463 ff.), findet sich in neoliberal beeinflussten Politikkonzepten der umfassenden Deregulierung berücksichtigt, die ebenfalls einen „sparsame[n] Staat“ (Schumpeter 1942:474) proklamieren, in dem für die demokratischen Prozesse nur ein reduziertes substanzielles Spektrum politischer Beteiligung und Aushandlung vorgesehen ist. Abgesehen davon, dass solche Konzepte demokratischen Prinzipien widersprächen24, weil sie neue kommunikative und strukturelle Grenzziehungen (S. 33) darstellen: Fortschreitende Deregulierung und Entstaatlichung, die zugleich eine Entpolitisierung bedeuten würden, dürften unkontrollierte funktionssystemische Optionssteigerungen und noch engere zeitliche Horizonte (die eine solche Politik bestimmen würden) zur Folge haben. Von gesellschaftlichen Auswirkungen würde abgesehen, Seiteneffekte in anderen Funktions- und Umweltsystemen würden ignoriert und so langfristig neue Unübersichtlichkeit entstehen. Reontologisierung Übersichtlichkeit könnte simuliert werden, indem ihre Ursachen und Quellen möglichst weitgehend der Deutungshoheit und Interpretationslogik tagespolitisch neutraler „dritter“ Instanzen (vgl. auch Zolo 1992:169) unterstellt würden, die die Dinge auf ein Ziel, ein Prinzip, eine Idee hin ordnen und in einen stringenten Sinnzusammenhang bringen könnten. Solche Ordnungssysteme werden hier vereinfachend als Ontologien bezeichnet: „Abschließende Vokabulare“ (Rorty) oder „Kontingenzbewältigungskapazitäten“ (Lübbe 1998:36), die von Religionen und Ideologien, aber auch von Wissenschaft, Technik oder Ökonomie, bereitgehalten werden können und insbesondere die kritische Auseinandersetzung mit Komplexität und Kontingenz überflüssig machen würden. Ideologie und Religion. Demokratien, säkularen und rationalen Systemen, stehen religiöse oder ideologische Begründungslogiken nur sehr bedingt zur Ver-

zipien von Föderalismus und Subsidiarität eine subsidiäre und föderale Architektur der Partizipation entwickelt, welche Beteiligungsrechte nach Problemebenen und Kompetenzen verteilt. So könnten besonders schwierige und komplexe Problemfelder in autonome Fachinstitutionen delegiert werden, während allgemeine, grundsätzliche politische Fragen nach wie vor in den üblichen Bahnen der parlamentarischen Demokratie abgearbeitet werden können“ (Willke 2014:64 f.). 24 Das betrifft, etwa in Willkes Konzept, nicht nur den Aspekt der egalitären Partizipation, sondern auch der Kontrolle von Akteuren und Entscheidungen: Wer benennt die Institutionen und deren Wirkungsbereich, bewertet ihre Entscheidungen und beschränkt ihren „Eigensinn“? Wer würde die bindenden Entscheidungen durchsetzen? Ganz ungeklärt ist auch die Frage, mit welchen Verfahren der Demos aus bestimmten thematischen Räumen ausgeschlossen würde – und wie er sich zu dieser Entmachtung verhalten würde.

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fügung (Grande 2000:309 f.; vgl. Luhmann 1997:1114). 25 Soziale Systeme wie Individuen müssen sich seit der Moderne der Unübersichtlichkeit ohne Orientierung an gesellschaftlich akzeptierten privilegierten Standpunkten stellen (Lyotard 1979:175). Auf die Idee der Richtigkeit einer Weltdefinition, auf die Absicherung durch überzeitliche Gewissheiten und auf vertraute, Übersichtlichkeit simulierende Semantiken müssen und wollen sie heute verzichten (Fuchs 1992:244; vgl. 1993:85; Nassehi 2003a:135, 146; Holzinger 2007:84; Reckwitz 2006:632).26 Eine spätmoderne Demokratie, die von religiösen oder ideologischen Zentren her operiert, ist schwer vorstellbar. Polykontexturalität, Heterarchie und Hyperkomplexität (S. 79) zu reduzieren, würde zwangsläufig autoritäre Herrschaft und Repression bedeuten. Trotz der aktuellen Erfolge populistischer Parteien und Bewegungen sind solche Reduktionsansätze in der aufgeklärten Öffentlichkeit zurzeit kaum mehrheitsfähig. Wissenschaft. Eine Kompensation der Unübersichtlichkeit durch eine Delegierung von Welterklärung und Sinngebung an die Wissenschaft ist ebenfalls unwahrscheinlich (S. 163). Eine aktualisierte Variante des Philosophen-Staates, der heute ein Staat der Experten wäre, eine Reaktivierung der „platonischen Identifizierung von Wissen mit Befehlen und Herrschen“ (Arendt 1971:285), etwa in technokratischen Regimen, ist bei der eingriffsbereiten und selbstbewussten politischen Öffentlichkeit der Spätmoderne kaum vorstellbar. Auch das ist im Übrigen ein Argument gegen Willkes Vorschlag. Zudem gewährt epistemisches Wissen „keine Sicherheit im Absoluten mehr“ (Breidbach 2008:50; vgl. auch Beck 1986:271, 274, 328). Foucault sprach vom „Gewimmel der Kommentare“ (Foucault 1970:19), mit dem Wissenschaft heute eher Zweifel denn Welterklärung produziert (Arendt 1971:369). Durch sie folgt aus Wissen immer mehr Nichtwissen (S. 218).27 Außerdem tendiert epistemisches Den25 Ebenso wenig der Rückgriff auf Traditionen (Habermas 1992b:606). Als Tendenz hat das bereits Durkheim Ende des 19. Jahrhunderts gesehen (vgl. Durkheim 1896:151). „Das gilt jedenfalls für moderne Gesellschaften, die sich mit positivem Recht, säkularisierter Politik und Vernunftmoral auf ein postkonventionelles Begründungsniveau umgestellt haben und ihren Mitgliedern eine reflexive Einstellung zu den jeweils eigenen kulturellen Überlieferungen zumuten“ (Habermas 1992b:379; kritisch Marquard 2007:91 f.; vgl. Dubiel 1994:222). 26 Zahlreiche nicht-konventionelle Themen lassen sich beispielsweise nicht mehr oder nicht mehr vollständig auf Rechts/Links-Kategorien abbilden oder mithilfe von Klassensemantiken bearbeiten (vgl. hierzu auch Eisenstadt 2000a:231), deren Erklärungskraft seit der Entfaltung postmaterieller Werthaltungen in den 1970er-Jahren ohnehin deutlich geschwächt war (vgl. Inglehart 1984:28 f., 37). 27 Münch spricht von einer „Paradoxie des Rationalismus: Wir treiben unsere Erkenntnis der Welt immer weiter voran und ersetzen alte Erkenntnisse stets schneller durch neue. Jedes neue Wissen erschließt uns in diesem Prozess jedoch ein um so größeres Feld des

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ken nach Bauman zu einer Ambivalenzfeindlichkeit (S. 72), die mit demokratischen Normen in Konflikt geraten kann und wird. Wissenschaft scheidet als Ontologieanbieter daher aus. Ökonomie und Technik. Obgleich kapitalistische Ökonomie und moderne Technik mit ihren Prosperitätsidealen und -versprechen nach Dubiel ihren eigenen „Fundamentalismus“ ausgeprägt haben28, sind sie in der Rolle als Sinn gebende Anbieter von Übersichtlichkeit, als neutrale Zone in Schmitts Sinn, kaum glaubwürdig. So sehr sie die sozialen, kulturellen, politischen Verhältnisse spätmoderner Gesellschaften prägen, scheinen sie aufgrund der von oder mit ihnen ausgelösten Krisen, sozialen Verwerfungen und ökologischen Folgen als ontologische Instanzen diskreditiert – die große, gesamtgesellschaftlich akzeptierte Erzählung können sie nicht mehr bieten. Es bleibt festzustellen, dass es nach Säkularisierung, Rationalisierung und Entideologisierung und nach den Enttäuschungen durch Technik, Wissenschaft und Ökonomie heute kein ontologisches Prinzip mehr gibt, das die Verarbeitung der Unübersichtlichkeit anleiten oder sie, durch mehr oder minder weitreichende Reduktion von Komplexität und Kontingenz, effektiv und im Rahmen des demokratischen Projekts verringern könnte. 7.3.2

Deeskalation

Alternativen bieten möglicherweise Deeskalationsoptionen, das Ergreifen strategischer Maßnahmen zur Einhegung und Reduzierung von Komplexität und Kontingenz. Die Null-Option Offe hat in den 1980er-Jahren ein Nachdenken über eine sorgfältige Moderierung des Eigensinns gesellschaftlicher Funktionssysteme angeregt, die Effizienz und Nutzen funktionaler Differenzierung steigern und zugleich die für Politik und Gesellschaft problematische Komplexität reduzieren könnte (vgl. Offe 1986:102 f.). 29 Nichtwissens. Unser Handeln wird durch immer mehr Informationen gespeist, wird dadurch aber gerade zum Willkürakt, weil wir wissen, dass es keine eindeutig rationale Entscheidung mit nur positiven Folgen gibt“ (Münch 1995:81). 28 „Mit ‚Fundamentalismus der Moderne‘ meine ich jene Tendenz, eine mit dem Industrialismus unmittelbar gleichgesetzte Moderne auch wider dessen ökologische, soziale und kulturelle Krisen mechanisch fortzuschreiben“ (Dubiel 1994:224). 29 Sein Ansatz der „Null-Option“ zielte nicht auf gesellschaftlichen Rückschritt. Auf diese Regressionsoption wird hier auch nicht eingegangen, weil sie kaum mehrheitsfähig und wahrscheinlich im Rahmen demokratischer Normen nicht umsetzbar ist. „Wir haben nicht die Option des Verzichts auf Technik, oder zumindest haben wir diese Option nicht für die Gesamtheit der modernen Gesellschaft mit ihrer industriellen, medizinischen und kommunikativen Komplexität“ (Baecker 2008:212).

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Eine „rationale[] Selbstbeschränkung“ sollte, so Offe damals (113), eine Verringerung systemischer Interdependenzen anstreben, sowie inhaltliche und entscheidungstechnische Zielsetzungen, die „weniger weit in die Zukunft reichen“ (115). „Kleinformatigkeit, Naturnähe, Einfachheit, Bescheidenheit, Autarkie, Gemächlichkeit, solidarische Selbststeuerung usw. sind keineswegs selbst-evidente moralische oder ästhetische Tugenden, sondern sie können ein lohnender und rational zu rechtfertigender Preis sein, sofern man mit dessen Zahlung riskante weitere Komplexitätssteigerungen und entsprechend schwerer zu handhabende Probleme und Steuerung dieser Komplexität einsparen kann“ (116). Eine Kritik an diesem Gedankengang könnte aus heutiger Sicht an mehreren Punkten ansetzen, die Offe zum Teil auch selbst anspricht. •





Der Text wurde vor der großen Globalisierungswelle geschrieben und konnte deswegen die Bedeutung transnationaler Prozesse, Einflüsse und Zwänge nicht berücksichtigen, die eine solche Moderierung der funktionalen Differenzierung erschweren, wenn nicht ausschließen würden (vgl. 113 f.). Gegen die Null-Option als politisches Programm spricht, dass das politische System, wie Demirovic hervorhebt, in diesem Rahmen nicht nur aufgebläht, sondern ihm ein durchaus riskantes gesellschaftliches Primat eingeräumt würde (Demirovic 2001b:234; Offe 1986:112). Für moderne demokratische Formen politischer Systeme durfte das ausgeschlossen sein.30 Ein gezieltes „Downsizing“ wäre keine Lösung für die Folgelasten und Sekundärprobleme früherer Entscheidungen und Innovationen, die heute einen erheblichen Teil der nicht-konventionellen Themen ausmachen.

30 Luhmann ist ebenfalls der Frage nachgegangen, „ob es prinzipiell möglich ist und ob es mit demokratischen Formen von Politik vereinbar ist, wenn man dem politischen System der Gesellschaft die Verantwortung für das Nichteinsetzen von Technologien aufbürdet. Oder noch grundsätzlicher: wenn im politischen System darüber entschieden werden müsste, in welchem Umfange das, was wissenschaftlich möglich ist, was wirtschaftlich möglich ist, was pädagogisch möglich ist, auch faktisch realisiert werden darf. Man kann sich kaum vorstellen, dass eine solche kontraprojektive, gegen das Mögliche gerichtete Politik in demokratischen Formen möglich ist – es sei denn in stark irrationalisierter Form, nämlich dort, wo Ängste oder Ressentiments gegen das Mögliche mobilisiert wer den können“ (Luhmann 1987:61 f.). Diese Moderierung funktionaler Differenzierung hätte im Übrigen machtpolitische Implikationen, denn wer würde sie im Namen welcher Interessen formulieren und durchsetzen? Demirovic hat darauf hingewiesen, dass die Null-Option, konsequent weiter gedacht, eine Ausweitung demokratischer Einflusszonen auf weitere gesellschaftliche Bereiche einschließen müsste (vgl. Demirovic 2001b:235).

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Insgesamt scheint die, wie man betonen muss, in den 1980er-Jahren angedachte Null-Option als politisches Programm weder eine durchsetzbare noch eine Erfolg versprechende oder realisierbare Strategie zur Reduzierung der Unübersichtlichkeit zu sein. Entschleunigung Oben wurden Beschleunigung und Desynchronisierungsphänomene als Quellen der Unübersichtlichkeit genannt (S. 84 ff.). Es ist anzunehmen, dass daraus resultierende Probleme für politische Öffentlichkeit und politische Individuen durch Entschleunigung oder relative Verlangsamung politischer Beobachtungs- und Entscheidungsprozesse reduziert werden könnten (Offe 1986:115; ähnlich auch Schimank 2005:370; vgl. Fuchs 1992:109). Marquard ging auf die Notwendigkeit solcher strategischer temporaler Entkopplungen in seiner Kompensationstheorie ein: „Zur innovationsbeschleunigenden Fortschrittsidee gehört die Suche nach kompensatorischen Langsamkeiten“ (Marquard 2013:63; 2000:40, 51 ff.). Verlangsamung wäre ein Versuch der politischen Öffentlichkeit und der demokratischen Subjekte, ihre zeitliche Souveränität über Beobachtung und Entscheidungsbildung zurückzugewinnen. „Denn gerade der langsame Mensch ist der schnellen Welt gewachsen“ (Marquard 2000:74; vgl. auch Blumenberg 2006:539, 559). Bewusste Langsamkeit ist eine Voraussetzung für adäquate Reflexion politischer Themen (vgl. Bauman 2000:245). Im Gegensatz zu totalitären Systemen, die Geschwindigkeit und technische Beschleunigung proklamieren oder verherrlichen (vgl. Beaumont 2000:57), aber auch im Gegensatz zur Technologie und Ökonomie des Netzes, benötigen Demokratien Zeit. Deswegen sind auch Vorschläge zur Intensivierung der Partizipation über das Internet, also mit schneller Technik, kaum hilfreich: „Seine direktdemokratische Qualität besteht vor allem darin, dass es die Entscheidungsprozesse beschleunigt, während die Forderung der Bürger nach mehr direktdemokratischen Mitspracherechten eher vom Bedürfnis nach ‚Entschleunigung‘ diktiert sein dürfte“ (Decker et al. 2013:130 f.).31 31 Der sogenannte Akzelerationismus lehnt Entschleunigungskonzepte ab und plädiert für eine aktive Kompensierung der Verspätung des politischen Systems. Er sieht, neben technischer und wissenschaftlicher Expertise, Beschleunigung als Voraussetzung einer politischen Kritik des kapitalistischen Systems, die dessen Komplexität angemessen ist. Der Akzelerationismus sieht kapitalistische Strukturen und Logiken als „Sprungbrett zum Postkapitalismus“, bietet aber keine Konzeption für den Aufbau entsprechender Kompetenzen in der politischen Öffentlichkeit. Stattdessen gibt er „die uneingeschränkte Präferenz für Demokratie-als-Prozess [auf r.a.] […] Zum wirksamen politischen Handeln gehören ebenfalls (wenn auch selbstverständlich nicht nur) Geheimhaltung, Vertikalität und Exklusion“ (Srnicek, Williams 2013:30, 33).

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Den „Imperatives of speed“ (Scheuerman 2001:57) eine spezifische Langsamkeit entgegenzusetzen (Marquard 2000:74), ist mit den ungebrochenen Beschleunigungstendenzen, die von einer globalisierten Ökonomie und dem ebenfalls globalen Innovationsgeschehen in Technik und Wissenschaft ausgehen, allerdings nicht vereinbar. Auch als gesellschaftliche Obsession (Scheuerman 2001:64) ist sie nicht zu unterschätzen: Geschwindigkeit ist ein kulturell tief verankertes Paradigma. Zwar notierte Marquard, es käme „gerade darauf an, in der modernen Welt die Spannung zwischen Langsamkeit und Schnelligkeit auszuhalten“ (Marquard 2000:71). Doch haben weder die Subjekte noch die Öffentlichkeit eine reale Chance, sich den temporalen Logiken und Taktvorgaben der Medien, Kommunikationstechnologien und modernen Arbeitsregime zu entziehen. 32 Entschleunigung als isoliert gewählte Option wird deshalb, so wünschenswert sie sein mag, für wenig praktikabel gehalten. 7.3.3

Individuelle Kompetenzsteigerung

Kompetenzsteigerung, insbesondere durch politische Bildung (vgl. Heater 1990:336 ff.), ist eine evidente Möglichkeit, die hier beschriebenen Probleme der Unübersichtlichkeit anzugehen. Sie muss dafür „Respekt vor Komplexität“ (Baecker 2007:78) vermitteln, es dem Individuum ermöglichen, „eine differenzierte Sicht der Welt zu erlangen, sorglich in deren Komplexität einzudringen, seine eigenen Grenzen wahrzunehmen“ (Riedl 2000:345). Bildung wird daher auch (wie sich das bereits abzeichnet) weniger Akkumulation von Wissen bedeuten als ein bewusster, flexibler und pragmatischer Umgang mit Nichtwissen (Krohn 2003:164 ff.).33 Doch Bildung, neue Lernmethoden und -ziele können Unübersichtlichkeit, wie oben gezeigt, noch verstärken (S. 254 ff.): Lernen steigert die Umweltkomplexität des Beobachters (Luhmann 1984:448). In der Gesellschaft, die sich selbst als Wissensgesellschaft beschreibt, hat ihre hoch entwickelte Informationsproduktion 32 Ein solches Verhalten würde zu unerwünschten Effekten führen: Rosa, der, wie Offe, über die Möglichkeit „staatlich geschützte[r] ‚Entschleunigungsoasen‘“ und Entscheidungsmoratorien (Rosa 2005:227; Offe 1986:115) nachdenkt, weist darauf hin, dass eine Entkopplung von der Beschleunigungsdynamik anderer Funktionssysteme verschärfte Desynchronisierung und schließlich die Exklusion des Systems aus den Kommunikationszusammenhängen zur Folge haben würde (Rosa 2005:252 ff.). 33 „Die Kompetenzen, zu denen die Universitäten jetzt zu befähigen beginnen, ebenso wie die Talente, nach denen Industrie, politische Organisationen, Militär, Kirchen und Kultur suchen, sind Kompetenzen und Talente, die ihre Expertise daraus beziehen, dass sie es methodisch, theoretisch und praktisch gelernt haben, mit Nichtwissen umzugehen. Wer das nicht kann, kann gar nichts. Aber wer das kann, kann darauf aufbauend jedes nur denkbare Wissen erwerben, ohne dieses je mit Gewissheit zu verwechseln und so seine Kompetenz und sein Talent wieder aufs Spiel zu setzen“ (Baecker 2007:106 f.).

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und -distribution paradoxerweise zu dem beigetragen, was Smithson als „post-modern ignorance explosion“ bezeichnet (Smithson 1988:307). Ihr Wissen über sich und die Wirkungen ihrer Praktiken erscheint heute prekärer, vorläufiger und provisorischer denn je (vgl. auch Rescher 1998:172). Sie produziert mehr Wissen und mehr Information, als sie selbst zu verarbeiten in der Lage ist (S. 218). Schelsky hat bereits angemerkt, der Mensch sei „heute nicht durch sein Nichtwissen, sondern gegenüber der Vielfalt der gewussten Wahrheiten desorientiert“ (Schelsky 1965:433; vgl. Luhmann 1984:104), und Giddens stellt fest, dass „das Wissen von dieser Welt zu deren Instabilität oder Unbeständigkeit“ beiträgt (Giddens 1990:62; vgl. auch Nowotny 2005:137 f.; vgl. Evers, Nowotny 1987:47). Auch eine Kompetenzsteigerung durch Bildung, als isolierte Maßnahme, wird Unübersichtlichkeit deshalb auch nur bedingt reduzieren können. 7.3.4

Kooperative Kompetenzaneignung

All diese Strategien zielen überwiegend auf eine Reduktion von Unübersichtlichkeit. Sie lassen ihre Ambivalenz außer Acht und erscheinen deswegen als nur begrenzt sinnvoll. 7.3.4.1

Die Ambivalenz der Unübersichtlichkeit

Unübersichtlichkeit kann nicht ausschließlich als soziales oder individuelles Problem verstanden, ihre Ursachen können nicht nur als Komplikationen oder Risiko angesehen werden. Komplexität und Kontingenz sind auch systemische Existenzvoraussetzungen: Demokratie benötigt und erzeugt Komplexität, sie benötigt und erzeugt Kontingenz. Ihre Offenheit für Kontroversen und Veränderungen ist nicht nur ein elementarer normativer und praktischer Aspekt ihrer politischen Form (S. 132), sondern auch eines allgemeineren kulturellen Paradigmas: „Das Postulat der Gestaltbarkeit und Gestaltungsbedürftigkeit von Subjektivität und Praxis setzt voraus, dass das Gegebene nicht als alternativlos hinzunehmen ist, vielmehr dem Wünschenswerten angeglichen werden kann und angeglichen werden sollte“ (Reckwitz 2006:77; vgl. auch Nowotny 2005:21). Marquard sprach vom „Zeitalter der Machbarkeit“ (Marquard 1981:67), dessen Ausgangspunkt Blumenberg im Kontingenzbewusstsein sah. Die Erfahrung der Kontingenz der Welt (wie das Bedürfnis nach Eindeutigkeit und Ambivalenzbeherrschung, also ihrer Wahrnehmung als Komplikation) ermächtigt oder provoziert zugleich zum Erzeugen immer neuer Kontingenz (vgl. Blumenberg 1981:47), durch technische, wissenschaftliche Innovation oder die Revision politischer Konfigurationen, Programme und Grenzmarkierungen. Gerade in der Politik der Demokratie wird die „Ambivalenz des Kontingenten“ erkennbar, die Gleichzeitigkeit von Möglichkeit und Komplikation. Sie folgt der „strategische[n] Disposition einer Kontingenzkultur – also einer Kultur, die ihr Selbstverständnis aus dem Kontingenzbewusstsein bezieht: Kontingenz als Prob-

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lem, dessen adäquate Lösungen diese Versuche jeweils zu sein beanspruchen, Kontingenz aber auch als Möglichkeitsbedingung dieser Lösungen, nämlich als ontologische Voraussetzung, Ordnung und Wirklichkeit überhaupt selbstmächtig herstellen zu können“ (Makropoulos 1998:73). Normative Ziele und Operationsmodi demokratischer Politik setzen ein politisches Subjekt mit positivem Kontingenzbewusstsein und hoher Komplexitätstoleranz voraus. Soziale Systeme müssen Eigenkomplexität, eine erforderliche Vielfalt im Verhältnis zu sozialen, technischen, wissenschaftlichen und anderen Umwelten, aufbauen und stabilisieren (S. 57). Sie erst garantiert systemischen Bestand und Entwicklung. Reduktionsoptionen sind deshalb riskante Optionen, weil sie Komplexität reduzieren können, wo sie gefordert ist, Kontingenz minimieren, wo sie essenziell ist. Berücksichtigt man diese Ambivalenz der Unübersichtlichkeit und die Mängel der hier skizzierten Optionen, müsste es weniger darum gehen, sie reduzieren oder regulieren zu wollen, als zu einem konstruktiven Umgang mit ihr zu finden. Einen solchen kann eine Haltung erleichtern, die einerseits offen ist für Komplexität und Kontingenz und andererseits die Grenzen der eigenen Fähigkeiten und Kapazitäten reflektiert, ohne für radikale Reduktionen anfällig zu sein oder auf Heuristiken auszuweichen. Sie findet sich etwa in Michele de Montaignes „Essais“ beschrieben (beispielsweise 1588:2 I, 2 XII, 3 X). In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts erschienen, waren sie, darauf weist Eisenstein hin, auch eine Antwort auf die Unsicherheiten einer historischen Situation zunehmender Komplexität und Kontingenz nach der Innovation des Buchdrucks (Eisenstein 1979:230) und zugleich Ausdruck der Skepsis gegenüber der „Leistungsfähigkeit der Vernunft“ (Friedrich 1949:26). Musils „Mann ohne Eigenschaften“, ebenfalls Beobachter einer historischen Phase eskalierender Unübersichtlichkeit, propagiert ein „essayistisches Denken“, das „ein Ding von vielen Seiten nimmt, ohne es ganz zu erfas sen“, das situativ, vorläufig, eher tentativ, revisionsbereit, affin für Ambivalenzen und Widersprüche, immer lernbereit bleibt und dabei auf ein „abschließendes Vokabular“ (Rorty) oder Systemdenken verzichtet (Musil 1930:250 ff.; vgl. auch Friedrich 1949:245, 26 ff.). Essayistisches Denken stellt eher ein produktives Annehmen der Unübersichtlichkeit als den riskanten Versuch ihrer Reduktion dar. Trotzdem wird es nicht das Individuum sein, das das Problem der Unübersichtlichkeit löst (vgl. S. 257 ff.). Politik ist ein soziales Phänomen und ihre Unübersichtlichkeit wird hier primär als soziales Problem verstanden, das deshalb auch nur im sozialen Raum gelöst werden kann – durch eine kooperative Bearbeitung der Unübersichtlichkeit.

7 P ERSPEKTIVEN

7.3.4.2

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Sozialität und Kompetenz

Unübersichtlichkeit entsteht in der Transformation komplexer Daten in handhabbare Informationen unter kontingenten Bedingungen – eine Leistung, die das Individuum der Spätmoderne überfordern muss, das als Beobachter unter Bedingungen knapper Aufmerksamkeit, hohen Informationsdrucks, asymmetrischer Wissensverteilung und prekären Wissens operiert. Als eine ihm zur Verfügung stehende taktische Kompensationsoption wurde bereits die Konsultation der sozialen Systeme angesprochen (S. 234). In ihr kann eine wesentliche politische Ressource für die Bearbeitung von Unübersichtlichkeit in der Demokratie gesehen werden – wenn ihre Nutzung ausgeweitet und intensiviert wird. Denn Beobachten, Verstehen, Kommunizieren sind vor allem soziale Operationen (S. 16, 139, 197, 199). Sozialität. Kompetenz ist keine ausschließlich individuelle Eigenschaft oder Befähigung. Ebenso wie Wissen entsteht sie mit der strukturellen Kopplung von „Kognition und Kommunikation“ (S.J. Schmidt 1994:80, vgl. 31 f.), durch Interaktivität (vgl. Baltes, Staudinger 1996:7 f.) und Alterität – ihre zentrale Kategorie ist der andere.34 Sozialität kompensiert individuelle Defizite und fehlende Erfahrungen und sie initiiert Lernprozesse (vgl. Lupia, McCubbins 1998:48, 64; Markowitz 1986:276), sie wirkt „erkenntnisfördernd“ (Richter 2008:19; 2011:238 ff.; Fishkin 2009:121 f.; Barber 1984:158; Koopmann 2005:157; B. Peters 2001:676). Und sie kann Grenzen individueller Kompetenzaneignung ausdehnen, die durch begrenzte Lebenszeit, Erfahrung, Aufmerksamkeit, Informationsverarbeitungskapazität und die gesellschaftliche Arbeitsteilung gesetzt sind.35 Auch der politische Diskurs ist keine Veranstaltung von Monaden: „Das Spiel des Gebens und Verlangens von Gründen ist eine wesentlich soziale Praxis“ (Brandom 2000:212, vgl. 107). Produktives Denken selbst erfordert diese soziale Praxis, es setzt sich einer Öffentlichkeit und ihrer Kritik aus, befragt diese Öffentlichkeit und profitiert dadurch von ihr – so wie sie von ihm (Kant 1783:9, 11; Arendt 1982:55; vgl. auch Popper 1945:269).36 34 Baudrillard hat erkannt, dass es hierzu auch keine technische Alternative geben kann, weil Alterität Voraussetzung nicht nur für Identität, sondern auch für Intelligenz, Wissen und Kompetenz ist. „Der Computer hat keine anderen. Deshalb ist er nicht intelligent. Denn intelligent werden wir immer durch den anderen“ (Baudrillard 1990:145). 35 Anthropologische Erkenntnisse zeigen, dass der Austausch von Daten, Informationen und Wissensbeständen Element einer evolutionär erworbenen Kooperationsbereitschaft und -fähigkeit ist (Tomasello 2009:12), die letztlich Zeitknappheit kompensiert: „Gerade weil wir trotz der Einzigkeit unserer Lebenszeit mehrere – viele – Lebenszeiten brauchen, brauchen wir unsere Mitmenschen“ (Marquard 2013:52). 36 „Allein, wie viel und mit welcher Richtigkeit würden wir wohl denken, wenn wir nicht gleichsam in Gemeinschaft mit anderen, denen wir unsere und die uns ihre Gedanken

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Dewey sah „Öffentlichkeit als diskursives Medium einer kooperativen Problemlösung unter demokratischen Bedingungen“ (Honneth 1999:55). Honneth spricht mit Hinblick auf Dewey von „Demokratie als reflexive[r] Kooperation“ (Honneth 1999:41 ff.). In ihr und, so Habermas, nicht in individuellem Agieren besteht die Möglichkeit sukzessiv eine Form der Erkenntnis zu erreichen, für die aufgrund ihrer gemeinschaftlichen Produktion eine Rationalitätsvermutung besteht, von der auch andere Autoren ausgehen (vgl. 1971:124 ff., 139; 1992a:19; Barber 1984:114 f., 122, 126 f.; Baake 1973:309; Page, Shapiro 1993:42; Honneth 1999:57 f.; kritisch B. Peters 2001:668; Mouffe 2000:46, 100 f.). Bei Jaspers heißt es: „Vernunft ist eins mit dem uneingeschränkten Kommunikationswillen“ (1950:36). John Dewey selbst bezeichnete Wissen als „eine Funktion von Assoziation und Kommunikation“ (Dewey 1927:136, vgl. 95 f.), Erkenntnisproduktion und Kompetenzerwerb vollziehen sich demnach vor allem in sozialen Kontexten. Diese Aussage harmoniert mit der konstruktivistischen Sicht sozialer Systeme, die ihre Umwelten, bzw. viable Aussagen über sie, „intersubjektiv“, intern durch Kommunikation erzeugen (vgl. Glasersfeld 1995:195). Unübersichtlichkeit ist ein internes Problem, das nur innerhalb des fokalen Systems mit seinen elementaren Operationen lösbar ist, also durch Kommunikation. Eine erfolgreiche Auseinandersetzung mit der Unübersichtlichkeit des Politischen erscheint deshalb auch nur im Rahmen einer sozialen Praxis, in einem öffentlichen Raum, vorstellbar, und zwar eher in überschaubaren Formaten etwa kommunaler Kontexte denn in größeren Einheiten.37 Kooperation. Um dies zu plausibilisieren, kann auf Konzepte und Erfahrungen der partizipatorischen oder deliberativen Demokratie zurückgegriffen werden. Laimitteilen, dächten! Also kann man wohl sagen, dass diejenige äußere Gewalt, welche die Freiheit, seine Gedanken öffentlich mitzuteilen, den Menschen entreißt, ihnen auch die Freiheit zu denken nehme“ (Kant 1786:280; vgl. Gelhard 2011:19 ff.; Arendt 1982:21). 37 Lovink weist darauf hin, dass das Verschwinden geeigneter Orte im kommunalen Bereich die Verlagerung von Kommunikationen in das Netz förderte (Lovink 2012:190 ff., 200 ff.; vgl. auch Oldenburg 1989:xxix, 205 ff.). „Die sozialen Medien versprechen, unvermittelte, direkte Verbindungen zwischen den Leuten zu schaffen, und genau diese utopische Energie zieht uns immer tiefer in die Medienarrangements der Großunternehmen hinein“ (Lovink 2012:206). Kommerzielle (ebenso wie etwa parteipolitische) Bezüge oder Rationalitäten würden das hier skizzierte Konzept kooperativer Kompetenzaneignung konterkarieren. Sie setzt deshalb auch relativ kleine Foren voraus (vgl. Fearon 1998:64; Elster 1998:109). Jede Organisation der Kommunikation, wie bei Großveranstaltungen notwendig, wird einen zumindest potenziellen Einfluss auf Beiträge nehmen (vgl. auch Przeworski 1998:148). Außerdem stellt nur eine überschaubare Teilnehmerzahl sicher, dass jeder Einzelne jederzeit zu Wort kommen und Fragen stellen kann, auch wenn er wenig sprachgewandt ist oder sich außerstande sieht, vor einem großen Forum zu sprechen.

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enparlamente, Town Hall Meetings, Deliberative Polling, Planungszellen und ähnliche Modelle werden hier, trotz aller Unterschiede im Detail, vereinfachend als Deliberation bezeichnet. Der solchen Projekten gemeinsame Gesichtspunkt ist die Konstituierung einer sich selbst aufklärenden Öffentlichkeit, die in weitgehend egalitär und inklusiv strukturierten Foren Möglichkeiten findet, eigene Interessen in Bezug auf komplexe Sachlagen kooperativ und diskursiv zu identifizieren, zu formulieren und zur Geltung zu bringen (vgl. auch Fishkin 1998:344 f.; Dryzek 1990:55; Barber 1984:101, 210; Dahl 1989:340; Kriesi 1994:235; Brunkhorst 2000:250).38 Das Lernen in solchen Kommunikationen kann individuelles Wissen und politische Kompetenz auf unterschiedlichen Ebenen substanziell stärken. Andere Bürger, hinzugezogene Experten und Politiker können individuelle Defizite des Wissens, des Verstehens und der Erfahrung ausgleichen und individuelle Beiträge das im System zirkulierende Wissen anreichern (vgl. auch Waldenfels 2015:95; kritisch hierzu: Sunstein 2006:62, 112 ff., 116 ff.; Strecker, Schaal 2006:133 f.; Gutmann, Thompson 1996:137; Fiorina 1999:396, 403; Hanson, Marcus 1993:23). 39 Eine kooperative Praxis würde im Idealfall zur Selbstvergewisserung und „Selbstautorisierung“ (Habermas 2013:71) der politischen Öffentlichkeit beitragen, indem sie Themen, Begriffe, politische und ökonomische Strategien kollektiv klärt, verständlich macht und im Idealfall eine adäquate Sprache und weitgehend akzeptierte Deutungen für sie findet (vgl. Dewey 1927:124; Wegmarshaus 2001:164). Die politische Kraft einer kompetenten, qualifiziert und selbstsicher argumentierenden Öffentlichkeit könnte zunehmen, die Geltungschancen der von ihr gegebenen Gründe steigen, ihre präziseren Forderungen nach Gründen zwingender werden – sie könnte das kompetente Zentrum der „Monitory Democracy“ bilden. Reembedding. Kooperative politische Kommunikation kann auch als Wiederaneignung verlorener oder entfremdeter politischer Praktiken und Wissensformen verstanden werden, für die Giddens den Begriff der „Rückbettung“ verwendet (1990:112, 176, 180 f.). Wiederaneignung, wie sie hier verstanden wird, wäre eine Rückverlagerung sozial, kulturell, ethisch oder ökologisch relevanter Wissensproduktion in das explizit Politische mit der Folge einer Stärkung der Souveränität der politischen Öffentlichkeit (vgl. auch Arendt 1971:258; 1982:21; Gess 2001:203; Beck 1986:72; Offe 1996:144). Der für die Spätmoderne signifikante Eigensinn der Funktionssysteme hat Hegemonien über Deutungen, Themenbearbeitung und ganze 38 Die folgenden Betrachtungen beziehen sich nicht auf den Aspekt der Entscheidungsproduktion, sondern auf die kooperative Erarbeitung entscheidungsleitenden Wissens. 39 Die Beteiligung von Experten und Politikern wird, gerade bei wissenshaltigen Themen, für notwendig gehalten, weil sie einen Zugang zu spezifischem Fachwissen, Systemrationalitäten und Sprachcodes ermöglicht, der für eine sachbezogene Kompetenzaneignung unverzichtbar ist (vgl. auch Lindblom 1977:221, 223; kritisch Barber 1984:149).

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Themenräume entstehen lassen, die für die politische Öffentlichkeit aufgrund ihrer Komplexität nur schwer zurückzuweisen sind. Eine kooperative Wiederaneignung würde solche kommunikativen Grenzen als kontingent markieren (S. 33). „Damit wird das zentrale Argument gegen die These von der unabänderlichen Aushöhlung der Demokratie in funktional ausdifferenzierten Gesellschaften gewonnen. Die Komplexität der Lebensbewältigung in den modernen Gesellschaften muss wegen ihrer Unübersichtlichkeit eben nicht in einem Substanzverlust demokratischer Mitwirkungschancen und öffentlicher Kontrollmöglichkeiten enden, sondern erhöht umgekehrt die Chancen, kooperative Lernerfahrungen zu machen, die produktiv auf die Akteure und auf die Formen des kollektiven Lebens zurück wirken. Keine noch so komplizierte und unübersichtliche Verschränkung von öffentlichen Handlungssphären kann sich der grundlegenden Verankerung in den einfachen Schemata der sozialen Interaktion des Menschen entziehen. Die Bürger müssen – und können – in Gestalt erweiterter politischer Rollen mit dem komplexer werdenden öffentlichen Leben gewissermaßen ‚mithalten‘“ (Richter 2008:21). Kooperation und Kompetenz. Diese optimistische Einschätzung wird von Ergebnissen der Partizipationsforschung getragen, die einen generell positiven Effekt politischer Beteiligung zeigen – nicht nur im Hinblick auf die Umsetzung normativer Konzepte, sondern auch auf Kompetenzgewinne und Motivation der Bürger. Von dieser selbstverstärkenden Funktion der Demokratie ist bereits Mill ausgegangen (Mill 1861:144; vgl. Kinder, Herzog 1993:350; Richter 2008:311; 2011:234 f., 259; Dahl 1989:92 f.; Barber 1984:148; vgl. auch Fearon 1998:59; Mouffe 2000:98).40 Partizipation im weitesten Sinn, nicht nur an Prozessen der Deliberation, auch an Wahlveranstaltungen, Bürgerinitiativen und kommunalen Aktivitäten, verbessert die Informiertheit, das Interesse, das Verstehen und das politische Selbstverständnis der Individuen.41 Sie fördert ihr Vertrauen in das politische System, dessen Reprä40 Pateman führt sie auf erzieherische Wirkungen zurück: „The major function of participation in the theory of participatory democracy is therefore an educative one, educative in the very widest sense, including both the psychological aspect and the gaining of practice in democratic skills and procedures. Thus there is no special problem about the stability of a participatory system; it is self-sustaining through the educative impact of the participatory process. Participation develops and fosters the very qualities necessary for it; the more individuals participate the better able they become to do so. Subsidiary hypotheses about participation are that it has an integrative effect and that it aids the acceptance of collective decisions“ (Pateman 1970:42 f.). 41 Sozialer Austausch allein wird diese Effekte nicht haben. Einer Studie von Gabriel et al. zufolge muss seine Funktion und Wirkung differenziert beurteilt werden. Ein allgemeiner und eindeutig positiver Zusammenhang zwischen Sozialkapital und politischer Beteiligung, den Putnam annimmt, konnte von den Autoren nicht nachgewiesen werden

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sentanten und Institutionen, in die eigene Kompetenzwahrnehmung und das subjektive Effizienzgefühl, die Aufgeschlossenheit für Kontingenz, Toleranz und Empathie.42 Positive Partizipationserfahrungen relativieren Partialinteressen, verringern die Wahrscheinlichkeit radikaler Reaktionen, von Personenorientierung, negativen Framingeffekten und extremer Emotionalisierung oder Interpassivität (vgl. Dahl 1994:31; Dalton 2004:77 f.; Dryzek 1990:71; Fischer 1993:463; Fishkin 2009:125 f.; Gabriel 2004b:327 f., 333; Gabriel et al. 2002:145 ff., 171, 210; Galston 2001:230; Geißel 2011:134; Koopmann 2005:153; Lutz 2006:57, 126; Popkin 1991:226 f.; Putnam 2000:288 f., 355; Steinbrecher 2009:202; van Deth 2004b:311; Vetter 1997:29). Es gibt nicht nur eine Abhängigkeit der Demokratie von der politischen Kompetenz, sondern auch eine Abhängigkeit politischer Kompetenz von der Demokratie. Trotz ihrer inhärenten Unübersichtlichkeit (S. 132) könnte Unübersichtlichkeit demnach gerade durch intensivere diskursive Demokratie verringert werden (Page, Shapiro 1993:62; vgl. Dryzek 1990:220; Barber 1984:239). Fischer vertritt die These, dass Wicked Problems „nur mit mehr Partizipation zu bewältigen sind“ (Fischer 1993:457, 461). Sie ist ein wirksames Verfahren für den Umgang mit hoher Komplexität (Dryzek 1990:53, 71) und der Verkomplizierung des Politischen, insbesondere in transnationalen Strukturen (Dahl 1994:31, 33). Kompetenz entsteht und entwickelt sich in sozialen Zusammenhängen und mit der politischen Praxis (Richter 2011:234 f., 253 ff.; Wirth 1997:118). Die politische Öffentlichkeit ist deshalb auch nicht für die Demokratie in Zeiten der Unübersichtlichkeit fit zu machen, sondern durch die Demokratie (vgl. Keane 2009:586). „In diesem Sinne ist die Kur für die Leiden der Demokratie mehr Demokratie“ (Dewey 1927:127). 7.3.4.3

Die Bedeutung der Anwesenheit

Kooperation wird hier als Austausch unter Anwesenden verstanden, als direkte, unvermittelte, explizit politische Kommunikation, als konkrete soziale Handlung in einem definierten prozeduralen Rahmen. Präsenz. Die Beteiligung an Foren des Austauschs von Wissen sollte nicht in Form schneller und beiläufiger Rezeptions-, Zustimmungs- oder Ablehnungsrouti(2002:170 f., 201, 245). Das betrifft insbesondere das Engagement in Freiwilligen organisationen. In empirischen Untersuchungen zeigt sich, dass politisches Interesse durch Aktivitäten in politischen Interessengruppen, sozialen und kulturellen Organisationen gefördert wird, nicht aber im Freizeitbereich (161, 165; van Deth 2001:214 ff.). 42 Kooperation hat einen weiteren Gesichtspunkt, auf den Rorty hinwies. Seine oben an gesprochene theoretische Figur der Ironikerin, deren Grundhaltung als reflexive Kompetenz beschrieben wurde (S. 206), ist gerade aufgrund ihrer Fähigkeit, Kontingenz zuzulassen und in das eigene Weltbild zu integrieren, auf die Kommunikation mit anderen angewiesen – das Gespräch kompensiert den Zweifel (Rorty 1989:301).

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nen stattfinden, sondern aus dem Alltagszusammenhang herausgehoben sein und eine Zäsur darstellen, die eine konzentrierte Bearbeitung von Themen gemeinsam mit anderen ermöglicht (vgl. Fishkin 1998:352). 43 Generell sollte jede Partizipation einen auch affektiv erkennbaren Rahmen aufweisen, ein Ereignis sozusagen aus eigenem Recht mit eigenem Epigramm darstellen (S. 223). Deshalb erscheint eine Integration politischer Akte in die Routine wenig sinnvoll (etwa Wählen im Supermarkt oder der Mausklick als Zustimmung im Internet). Die Ablösung vom Alltag sollte vielmehr eine „Anrufung“ des Bürgers als Staatsbürger darstellen (S. 199; vgl. Gerhards 2000:232), ihm ein Gefühl dafür vermitteln, dass er an einem relevanten sozialen Akt teilnimmt und dies wertgeschätzt wird.44 Ein „starkes politisches Sinnerlebnis“ (Wehner 1997:256) könnte dazu beitragen, identitätsstiftende politische Gemeinschaft in einer Form erfahren und erleben zu können, die in der Demokratie der Spätmoderne kaum mehr für praktikabel gehalten wird (Münkler 1997:165), deren Voraussetzung freilich die physische Anwesenheit der Person ist (vgl. Putnam 2000:288 f., 336, 341; Berger, Luckmann 1969:165 f.; Dewey 1927:181; Fuchs 1993:112; Fishkin 1998:343; 2009:78; zum Begriff der Person S. 197).45 Kooperative Wissensaneignung könnte in einer definierten Prozedur, einer Situation thematischer Konzentration und gesammelter Aufmerksamkeit, in der Informationen ohne Hintergrundrauschen verarbeitet werden können, weitere der oben beschriebenen Bedingungen der Beobachtung des Politischen relativieren (vgl. Ginsborg 2006:56): Sie würde die Wirkungen von zeitlichem Druck (S. 208), Aufmerksamkeitsüberlastung (S. 209) und Informationsüberschuss (S. 213) dämpfen.46 Sie würde einen Zugang zu komplexen Themen (S. 216) eröffnen, Defizite 43 Sie wirkt auch der Immobilisierung des Bürgers durch die Nutzung elektronischer Massenmedien entgegen, die Debray als Ursache seiner die Demokratie gefährdenden politischen Demobilisierung sieht (Debray 2007:18, 27). 44 Es ist hier keine Dauerinvolvierung des Bürgers gemeint, die Dahrendorf als totalitäre Utopie bezeichnet hat (Dahrendorf 1967:77; vgl. auch Demirovic 2001a:13 f.; Ginsborg 2006:46). 45 Face-To-Face-Kommunikation vermittelt auch nicht-sprachliche Informationen (Mimik, Gestik etc.), die die Beobachtung anderer erleichtern. Außerdem können sich in ihr Personen äußern, die das in schriftlicher Form (an der Tastatur) weniger gut können. In der direkten Begegnung fällt Nachfragen, Nachhaken bei begrenztem Wissen und schwacher Artikulationsfähigkeit, sofern sie keine Diskreditierung des Sprechers auslösen, vielleicht etwas leichter. 46 Anwesenheit, darauf hat Marquard mehrfach hingewiesen, vermag den individuell nicht mehr zu bewältigenden Überschuss von Informationen auszugleichen (Marquard 2000:76 f.). „Informationskomplexität wird reduziert durch Rekurs auf Mündlichkeit. Das ist – auch und gerade angesichts der elektronischen Informationsbeschleunigung –

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des Wissens (S. 218) zu kompensieren helfen. Und sie könnte, sofern niederschwellig strukturiert, die Wirkung von Asymmetrien abschwächen (S. 220; kritisch Geißel 2012:36 f.). Das Internet. Die Virtualisierung persönlicher Präsenz im Medium des Internets wird die von Anwesenheit und Mündlichkeit erwarteten Effekte vermutlich nicht erzielen. Ohne die Möglichkeiten moderner Kommunikationssysteme zu negieren, betonen verschiedene Autoren die Bedeutung physischer Anwesenheit für demokratische Prozesse und Erfahrungsbildung (Chadwick 2006:103; Nolte 2012:413; Han 2013:20 f.; vgl. auch Popkin 1991:227 f.; Barber 1998a:578, 585; 1984:269; Guggenberger 2012:10, 13).47 Das Internet ist in diesem Zusammenhang ein Medium der Mitteilungsebene, das den Nexus zwischen Information und Verstehen nur begrenzt herstellen kann. Es kann das reale Sprechen und das Rückfragen, die Beobachtung der Sprecher, ihrer Verärgerung oder Konfusion, nicht ersetzen. Und sie kann das Gefühl eines gemeinsamen intellektuellen Gewinns nicht transportieren. Das Netz ist zudem da zu schnell, wo Verzögerung und Entschleunigung und dadurch Konzentration und das Wiedergewinnen der Souveränität über die Information gewünscht sind (S. 291; Lovink 2012:42 f.; vgl. 45, 51; Han 2013:35). Oralität verzögert und bremst Entscheidungsprozesse. Diese Verzögerung und das Geben und Fordern von Gründen in einem Forum physisch Anwesender wird überlegte und sachliche Beiträge zulasten übereilter, emotionaler Äußerungen fördern (vgl. auch Barber 1998a:583). Sie schließt Obstruktion und „Hate Speech“ möglicherweise eher aus, die im Internet, in den sozialen Netzen schneller und häufiger auftreten.

kein neuer Analphabetismus, sondern die alte Kunst des langsamen Menschen, mit Informationsüberflutung fertig zu werden“ (Marquard 1991:11). 47 Damit werden die Möglichkeiten einer technischen Förderung kooperativen Vorgehens nicht bestritten, etwa der erleichterte Zugang zu Informationen, die Koordination von Aktivitäten und die Bildung von Plattformen für unterrepräsentierte Gruppen, Verknüpfungen mit Strukturen des operativen politischen Systems etc. (vgl. auch Keane 2009:737 ff.; Korte 2012:24). Aber „[d]ie das ‚zoon politikon‘ bestimmenden Prozesse des Aushandelns, des wechselseitigen Befragens und Anerkennens können eine Schwächung erfahren, wenn Technologie die Rolle des Sozialpartners übernimmt“ (Wiegerling et al. 2008:72). Und Han merkt an: „Auf der digitalen Agora, wo Wahllokal und Markt, Polis und Ökonomie in eins fallen, verhalten sich Wähler wie Konsumenten“ (Han 2013:90). Zu berücksichtigen ist, dass Kommunikationen in den kommerziellen sozialen Netzwerken in einem ökonomischen Verwertungszusammenhang stattfinden. Sie stehen unter privater und möglicher staatlicher Kontrolle, die sich auf Form und Inhalte der Diskurse auswirken wird (vgl. auch Guggenberger 2012:17).

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7.3.4.4

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Dissens und Vielfalt

Es geht dem hier skizzierten Vorschlag nicht um die Herstellung von Konsens, die Vermeidung von Konflikten oder die Reduktion argumentativer Vielfalt. Konsens und Dissens. Auch wenn er, in der Kommunikation unter Anwesenden, bisweilen schwer zu ertragen ist und, in destruktiver Form, substanzielle Kommunikation konterkarieren kann, wird Dissens als positiver Aspekt erforderlicher politischer Vielfalt verstanden (S. 34), er ist das „Wesentliche“ aller Politik (Ranciére 2000:33; Han 2013:70). Konsens sollte nur über Sinn und Ziel der Beratung, das Prozedere, die Berechtigung von Geltungsansprüchen und den „gemeinsame[n] symbolische[n] Raum, in dem der Konflikt stattfindet“, bestehen (Mouffe 2005:30, 158).48 In Debatten sollte „ausschließlich der eigentümlich zwanglose Zwang des besseren Argumentes [herrschen]“ (Habermas 1971:137; vgl. Rorty 1989:144; Popper 1945:276). Vielfalt. Kooperative Kompetenzaneignung soll weder Komplexität noch Kontingenz reduzieren. In der „lebendige[n]‚ agonistische[n] Sphäre des öffentlichen Wettstreits“ (Mouffe 2005:10) werden beide im Gegenteil zunehmen – nicht im Sinn einer Komplikation, sondern der erforderlichen Vielfalt (S. 67, 72; vgl. Mouffe 2000:80; Willke 2003:545; 2014:68; vgl. auch B. Peters 2001:667; Elster 1998:101; Arendt 1971:73). Ein heterogenes politisches Diskursgeschehen beeinflusst die Informations- und Erkenntnisproduktion politischer Individuen positiv (vgl. auch Lindblom 1965:162, 156; Gutmann, Thompson 1996:42 f.). 49 48 Siehe hierzu auch den Exkurs zur Compliance auf S. 136. Waldenfels fasst das Gesagte in der normativen Formel zusammen: „Wir antworten verschieden, aber vereint auf das, wovon jeder Einzelne zusammen mit anderen betroffen ist“ (2015:290) 49 Das gilt im Übrigen auch für die meinungsbildende Parteien- und Eliten-Kommunikation. Ein von Verfahrenskonsens und Sachdissens bestimmter kontroverser Austausch aktiviert die öffentliche, problemorientierte Diskussion (vgl. auch Popkin 1991:40; Zaller 1992:210; Huber 2012: 54 ff.), die andernfalls in Personalisierung und Moralisierung abgleiten kann (vgl. MacKuen 1990:86). Deshalb fördert ein differenziertes, wettbewerbsorientiertes und inhaltlich pointiertes Angebot von Parteien, Interessengruppen und sozialen Bewegungen die Entscheidungsfähigkeit und -freudigkeit der Bürger (vgl. Huber 2012:369; Weßels 2002:161; Lutz 2006:113; Sniderman et al. 1991:114 f.; vgl. auch Kriesi 1999:221). Nicht aber das Ausblenden von Dissens, das letztlich auf „politisches Schweigen“ hinausläuft und damit auch eine Machttechnik darstellt (Lindblom 1977:324; Finley 1973:45; Bourdieu 2000:15). Produktiver Dissens kann zudem Framing-Wirkungen abschwächen (Faden-Kuhne 2012:97 mit weiteren Literaturhinweisen; Huber 2012:62, 202; vgl. Petty, Cacioppo 1986:96; vgl. S. 248). Daher zum Beispiel auch die Notwendigkeit eines sichtbaren Wettbewerbs im Parlament, dessen Funktion „öffentliches Verhandeln von Argument und Gegenargument, öffentliche Debatte und öffentliche Diskussion“ ist (Schmitt 1923:43). Dieser tritt heute, durch die

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Voraussetzung ist, dass die kooperative Kompetenzaneignung in Foren stattfindet, die politische, ethnische, religiöse Diversität, soziale und demografische Strukturen, Schichtungen und Erfahrungswelten abbilden (vgl. auch Fishkin 2009:34). Deswegen erscheinen auf einzelne thematische Räume fixierte soziale Bewegungen oder Interessengruppen hierfür weniger geeignet.50 Der Zugang zu diesen Foren muss einem „egalitären Inklusivitätsprinzip“ (Marchart 2006:166) unterliegen und es muss ein demokratisches Sprechen gewährleistet sein, „in dem keine Stimme privilegiert, keine Position von besonderem Vorteil, keine Autorität außer der des Gesprächsprozesses selbst gilt. Jede Äußerung ist sowohl berechtigt als auch vorläufig, die unmittelbare und einstweilige Position eines sich entwickelnden Bewusstseins“ (Barber 1984:183; vgl. Fearon 1998:56; Cohen 1998:194). Akzeptierte Vielfalt in Diskursen macht blinde Flecken kenntlich (S. 16). Sie ermöglicht, „nicht gedachte Weltzusammenhänge zu finden“ (Baake 1973:309; vgl. Fearon 1998:50, 52) und allein dadurch auf die riskanten Automatismen heuristischer Urteilsbildung zu verzichten (S. 244; vgl. Kahneman, Frederick 2002:69). Das Erleben von Vielfalt und die Auseinandersetzung mit anderen Standpunkten, Haltungen und Ansprüchen reduzieren Egozentrik und (gruppen-)egoistische Fixierungen (vgl. MacKuen 1990:60; Fearon 1998:54 f.) und sie bewirken ein bewussteres Verarbeiten und Abwägen von Argumenten (vgl. auch Lodge, Taber 2000:211; Sniderman, Theriault 2004:151 ff.; Elster 1998:104; Cohen 1998:200; vgl. Lindblom 1965:332). Durch die physische Präsenz stützen sich die Einschätzungen von Beiträgen anderer nicht auf für Missverstehen anfällige individuelle Schlussfolgerungen, sondern auf Zuhören und Nachfragen (vgl. auch Gutmann, Thompson 1996:16). Kooperation ist im Grunde ein anderer Begriff für die „Intelligenz der Demokratie“ (Lindblom 1965). 7.3.5

Schluss

Dass der hier nur knapp skizzierte Vorschlag nicht realitätsfremd ist, belegt die Arbeit zahlreicher Bürgerinitiativen, NGOs und Aktivistennetzwerke. Ihr Engagement zeigt, dass sich Bürger gemeinschaftlich Kompetenzen, auch zu komplizierten nicht-konventionellen Themen, aneignen können. Sie tragen damit zur Kompetenz der politischen Öffentlichkeit bei, die auch in schwierigen Fragen ernst zu nehmenden und legitimen Einfluss auf Verfahren und Entscheidungen des operativen politischen Systems nehmen kann. Auf eine vergleichbare, von einer persönlichen und sachlichen Involviertheit unabhängigere Erschließung jener Themenräume, die dem

Fixierung der Berichterstattung auf Personen, in den Hintergrund (vgl. Imhof, Kamber 2000:440 f.). 50 Zumal sie Beteiligung möglicherweise an spezifische Expertise binden und damit der Vorstellung von Inklusivität widersprechen (vgl. Willke 2014:63; Przeworski 1998:145).

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Einzelnen nicht zuzumuten ist, zielt der Vorschlag kooperativer Kompetenzaneignung in möglichst inklusiven Kommunikationen unter Anwesenden. Unübersichtlichkeit muss deshalb auch nicht das Ende der Demokratie bedeuten und sie rechtfertigt erst recht nicht die Aufgabe ihrer Prinzipien – solange sie sich auf eine kompetente, selbstbewusste und eingriffsbereite politische Öffentlichkeit stützen kann. Deren Selbstaufklärung ist nicht nur im Hinblick auf das normative Konzept der Demokratie wünschenswert, in dem die Bürger „kollektiv auf ihre gesellschaftlichen Existenzbedingungen Einfluss nehmen“ (Habermas 2013:71) können, sondern auch angesichts der Risiken, die von der Unübersichtlichkeit ausgehen, wenn diese Fähigkeit verloren geht. Eine politische Öffentlichkeit, für die Politik kaum mehr lesbar, schwer zu überblicken und zu beurteilen ist, kann ihre demokratische Kontrollfunktion nicht mehr ausüben, sie kann instrumentalisiert werden oder selbst problematische Signale und Handlungsaufforderungen an die Politik richten. Unübersichtlichkeit erzeugt Gefahren für, aber auch durch die Demokratie (S. 185 ff.). Unübersichtlichkeit kann die Kommunikationen der politischen Öffentlichkeit schwächen, deren Reproduktion Verstehen voraussetzt: „Verstehen ist Autopoiesis“ (Nassehi 2003a:70; vgl. 2009:239; Luhmann 1984:604; Feilke 1994:80). In einem Alltag, der weder die Zeit noch die Aufmerksamkeit für die Vielfalt schwer verständlicher Themen lässt, ist diese „operative Anschlussroutine“ (Nassehi 2009:404) jedoch schwer aufrechtzuerhalten und eine Haltung des „Dahingestelltseinlassens“ (Luhmann) kann sich durchsetzen (S. 262). Oder die politischen Kommunikationen verlagern sich in vertrauter wirkende, strukturell einfachere Diskurse. Die Diskussion um Personen und die Empörung über ihre Skandale ersetzen dann das Geben und Verlangen von Gründen (S. 265). Oder es tritt eine Interpassivität an ihre Stelle, in der die aktive Beteiligung der entlastenden Beobachtung inszenierter Beteiligung weicht (S. 269). Oder der Populismus erstarkt noch weiter. Er gewinnt an Einfluss, wo Komplexität und Kontingenz als Komplikation empfunden werden (S. 67, 72, 263). Die davon ausgehende Verunsicherung könnte den um sich greifenden, entlastenden Hass auf Minoritäten, die Presse, „das System“ und „die Politiker“ erklären, der aus den sozialen Netzwerken in die Alltagskommunikation eindringt und nicht zuletzt über die „rohe Bürgerlichkeit“ an öffentlichem Einfluss gewinnt (Heitmeyer 2012:2). Oder die elitistische Demokratiekritik, deren Zynismus einige Autoren bereits an die 1920er-Jahre erinnert (Keane 2009:813, 821; Nolte 2012:283), diffundiert in den Common Sense. Die problematischen Wirkungen der Unübersichtlichkeit scheinen schließlich jenen Recht zu geben, die in der Demokratie eine historisch überholte politische Form erkennen wollen. Nach Willke ist die „dramatischste Schwäche der Demokratie [...] die Gefahr ihrer Irrelevanz“ (2014:132) in der

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globalisierten Welt des Neoliberalismus. „Demokratische Politik verliert noch mehr an Einfluss, Gestaltungsmöglichkeiten und Steuerungskompetenz, weil sie gerade bei komplexen Fragen gar nicht mehr über die Voraussetzungen verfügt, um selbstbestimmt entscheiden zu können“ (Willke 2014:25). Er führt das unter anderem auf die „ubiquitäre Ignoranz“ (2014:67) auch in der politischen Öffentlichkeit zurück. Oder, wie Caplan es ausdrückt: „[D]emocracy fails because it does what voters want“ (Caplan 2007:3). Diese Sicht auf das demokratische Dilemma dürfte manchen in seiner Faszination für autoritäre kapitalistische Systeme bestärken, deren reibungsloses ökonomisches Funktionieren und effizienter Pragmatismus nicht durch langatmige partizipatorische Verfahren, Nachhaltigkeitsforderungen oder Freiheitsrechte gebremst werden (Zolo 1992:222 f.). In ihr wird eine perspektivische Verschiebung politischen Denkens zu einem Denken in ökonomischen Kategorien erkennbar (Judt 2008:19, 30), die tatsächlich auch eine Kapitulation vor der Unübersichtlichkeit der Spätmoderne darstellt. Sie ist darin das dezisionistische Pendant zur emotional grundierten Demokratiekritik des Populismus. Beide verstehen Komplexität und Kontingenz als Komplikation, der sie mit einer forschen Restauration des Eindeutigen und Verstehbaren im Politischen beizukommen hoffen. Dabei ist nicht anzunehmen, dass so der Unübersichtlichkeit besser, kompetenter oder langfristig Nutzen bringender begegnet würde – wohlgemerkt ohne politische Repression, Ungleichheit und Ausbeutung in frühkapitalistischen Ausmaßen, Rechtlosigkeit und Deprivation, ohne massive Korruption, zerstörte Ökosysteme und kulturelle Auszehrung. Es gibt keinen gangbaren Weg zurück in die Übersichtlichkeit. Und nur die Politik einer aufgeklärten partizipatorischen Demokratie wird die erforderliche Vielfalt gegenüber der Komplexität ihrer Umwelten aufbauen, produktiv nutzen und deren Kontingenz in positive Momente gesellschaftlicher Entwicklung übersetzen können. Gerade durch ihre Kontingenz und Komplexität bleibt sie offen für Vielfalt und Veränderung, für neue Themen und unerwartete Lagen, bereit für Probleme, für die sie nie vorgesehen war – auch in Zeiten der Unübersichtlichkeit.

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Literatur

Literaturstellen sind mit dem Jahr der Ersterscheinung angegeben, es sei denn, eine zitierte, spätere Ausgabe unterscheidet sich maßgeblich von einer früheren Auflage. Wenn aus mehreren Beiträgen eines Sammelbandes eines Autors zitiert wurde, ist das Erscheinungsjahr des Sammelbandes angegeben. Sofern der Sinn dadurch nicht verfälscht wurde, wurden Zitate an die aktuelle Rechtschreibung angepasst, nicht aber die in der folgenden Liste angegebenen Titel. Verweise innerhalb des Textes erfolgen mit einer vorangestellten „S.“ (z.B. S. 42). Abbott, Andrew 2012 – Wissen zwischen Elitismus und Demokratie. In: Hagner, Michael (Hg.) – Wissenschaft und Demokratie; S.140-162. Berlin 2012 Abromeit, Heidrun 1999 – Volkssouveränität in komplexen Gesellschaften. In: Brunkhorst, Hauke; Niesen, Peter (Hg.) – Das Recht der Republik; S.17-36. Frankfurt/M. 1999 Ackerman, Charles; Parsons, Talcott (1966) – Der Begriff „Sozialsystem“ als theoretisches Instrument. In: Jensen, Stefan (Hg.) – Talcott Parsons. Zur Theorie sozialer Systeme; S. 69-120. Opladen 1976 Adorno, Theodor W. 1950 – Studien zum autoritären Charakter. Frankfurt/M. 1973 Adorno, Theodor W. 1958 – Einführung in die Dialektik. Berlin 20152 Agamben, Giorgio 1995 – Homo Sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben. Frankfurt/M. 2002 Agamben, Giorgio 1998 – Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge. Frankfurt/M. 2003 Agamben, Giorgio 2006 – Was ist ein Dispositiv? Zürich, Berlin 2006 Aleman, Ulrich v. 1997 – Parteien und Medien. In: Gabriel, Oscar W.; Niedermayer, Oskar; Stöss, Richard (Hg.) – Parteiendemokratie in Deutschland; S.467-483. Wiesbaden 20022 Almond, Gabriel A.; Powell, G. Bingham 1966 – Comparative Politics: A Developmental Approach. Boston 1966 Almond, Gabriel A.; Powell, G. Bingham Jr.; Strøm, Kaare; Dalton, Russell J. 2004 – Comparative Politics Today. A World View. New York 20048

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Luhmann, Niklas 1984 – Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie. Frankfurt/M. 19852 Luhmann, Niklas 1986 – Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen? Wiesbaden 20044 Luhmann, Niklas 1987 – Soziologische Aufklärung 4 – Beiträge zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft. Opladen 19873 Luhmann, Niklas 1988 – Vertrautheit, Zuversicht, Vertrauen: Probleme und Alternativen. In: Hartmann, Martin; Offe, Claus (Hg.) – Vertrauen. Die Grundlage des sozialen Zusammenhalts; S.143-160. Frankfurt/M. 2001 Luhmann, Niklas 1990 – Soziologische Aufklärung 5 – Konstruktivistische Perspektiven. Opladen 1990 Luhmann, Niklas 1991 – Selbstorganisation und Information im politischen System. In: Selbstorganisation 2 (1991); S.11-26. Berlin 1991 Luhmann, Niklas 1992a – Die Beobachtung der Beobachter im politischen System: Zur Theorie der Öffentlichen Meinung. In: Willke, Jürgen (Hg.) – Öffentliche Meinung – Theorie, Methoden, Befunde; S.77-86. Freiburg (Bg.), München 1992 Luhmann, Niklas 1992b – Beobachtungen der Moderne. Opladen 2006 2 Luhmann, Niklas 1995a – Die Realität der Massenmedien. Wiesbaden 20043 Luhmann, Niklas 1995b – Soziologische Aufklärung 6 – Die Soziologie und der Mensch. Wiesbaden 20083 Luhmann, Niklas 1997 – Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt/M. 1997 Luhmann, Niklas 2000 – Die Politik der Gesellschaft. Frankfurt/M. 2000 Lupia, Arthur 1994 – Shortcuts versus Encyclopedias: Information and Voting Behavior in California Insurance Reform Elections. In: American Political Science Review 88, No. 1 March 1994; S.63-76. San Diego 1994 Lupia, Arthur; McCubbins, Mathew D. 1998 – The Democratic Dilemma: Can Citizens Learn What They Need to Know? Cambridge (UK) 1999 Lupia, Arthur; McCubbins, Mathew D. 2000 – The Institutional Foundations of Political Competence: How Citizens Learn What They Need to Know. In: Lupia, Arthur; McCubbins, Mathew D.; Popkin, Samuel L. (Hg.) – Elements of Reason. Cognition, Choice, and the Bounds of Rationality; S.47-66. Cambridge (UK) 2000 Lutz, Georg 2003 – The Unresolved Democratic Dilemma: Information Cues – and Ignorance. Bern 2003. http://citeseerx.ist.psu.edu/viewdoc/download?doi= 10.1. 1.463.5992&rep=rep1&type=pdf [01.03.2017]. Lutz, Georg 2006 – Participation, Information and Democracy The Consequences of Low Levels of Participation and Information for the Functioning of Democracy. Berlin, Hamburg, Münster 2006 Lyotard, Jean-Francois 1979 – Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Wien 1986 Machiavelli, Niccolo 1513 – Der Fürst. Stuttgart 1980

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Offe, Claus 1999 – Wie können wir unseren Mitbürgern vertrauen? In: Hartmann, Martin; Offe, Claus (Hg.) – Vertrauen. Die Grundlage des sozialen Zusammenhalts; S.241-294. Frankfurt/M. 1999 Ohr, Dieter 2000 – Wird das Wahlverhalten zunehmend personalisierter, oder: Ist jede Wahl anders? Kandidatenorientierung und Wahlentscheidung in Deutschland von 1961 bis 1998. In: Klein, Markus; Jagodzinski, Wolfgang; Mochmann, Ekkehard; Ohr, Dieter (Hg.) – 50 Jahre Empirische Wahlforschung in Deutschland. Entwicklung, Befunde, Perspektiven, Daten; S.272-308. Wiesbaden 2000 Oldenburg, Ray 1989 – The Great Good Place. Cambridge (MA) 19992 Ortega y Gasset, José 1930 – Der Aufstand der Massen. Stuttgart 1989 Orwell, George 1949 – 1984. Berlin 200438 Osten, Manfred 2004 – Das geraubte Gedächtnis. Digitale Systeme und die Zerstörung der Erinnerungskultur. Frankfurt/M., Leipzig 2004 Page, Benjamin I.; Shapiro, Robert Y. 1993 – The Rational Public and Democracy. In: Marcus, George E.; Hanson, Russel. L. (Hg.) – Reconsidering the Democratic Public; S. 35-64. University Park (PA) 1993 Palonen, Kari 2001 – Politik statt Ordnung: Figuren der Kontingenz bei Max Weber. In: Lietzmann, Hans J. (Hg.) – Moderne Politik. Politikverständnisse im 20. Jahrhundert; S.9-21. Opladen 2001 Pappi, Franz Urban 2002 – Die Wahrnehmung der politischen Standpunkte der Parteien durch die Wähler. In: Fuchs, Dieter; Weßels, Bernhard (Hg.) – Bürger und Demokratie in Ost und West. Studien zur politischen Kultur und zum politischen Prozess; S.393-414. Wiesbaden 2002 Parsons, Talcott 1958 – Zur Allgemeinen Theorie in der Soziologie. In: Jensen, Stefan (Hg.) –Talcott Parsons. Zur Theorie sozialer Systeme; S.85-120. Opladen 1976 Parsons, Talcott 1961 – Grundzüge des Sozialsystems. In: Jensen, Stefan (Hg.) – Talcott Parsons. Zur Theorie sozialer Systeme; S.161-274. Opladen 1976 Parsons, Talcott 1966 – Gesellschaften. Evolutionäre und komparative Perspektiven. Frankfurt/M. 19862 Parsons, Talcott 1976 – Zur Theorie sozialer Systeme. Opladen 1976 Pascal, Blaise 1669 – Gedanken. Köln 2011 Paslack, Rainer 1991 – Urgeschichte der Selbstorganisation: Zur Archäologie eines wissenschaftlichen Paradigmas. Braunschweig, Wiesbaden 1991 Pateman, Carole 1970 – Participation and Democratic Theory. Oxford 1970 Patzelt, Werner J. 2005 – Demokratie in Deutschland – Folgerungen für die politische Bildung. In: Himmelmann, Gerhard; Lange, Dirk (Hg.) – Demokratiekompetenz. Beiträge aus Politikwissenschaft, Pädagogik und politischer Bildung; S.27-38. Wiesbaden 2005

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Politikwissenschaft Torben Lütjen

Partei der Extreme: Die Republikaner Über die Implosion des amerikanischen Konservativismus 2016, 148 S., kart. 14,99 E (DE), 978-3-8376-3609-3 E-Book PDF: 12,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3609-7 EPUB: 12,99E (DE), ISBN 978-3-7328-3609-3

Lars Geiges, Stine Marg, Franz Walter

Pegida Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft? 2015, 208 S., kart., farb. Abb. 19,99 E (DE), 978-3-8376-3192-0 E-Book PDF: 14,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3192-4 EPUB: 14,99E (DE), ISBN 978-3-7328-3192-0

Alexander Schellinger, Philipp Steinberg (Hg.)

Die Zukunft der Eurozone Wie wir den Euro retten und Europa zusammenhalten 2016, 222 S., kart. 19,99 E (DE), 978-3-8376-3636-9 E-Book PDF: 17,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3636-3 EPUB: 17,99E (DE), ISBN 978-3-7328-3636-9

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Politikwissenschaft Karl-Siegbert Rehberg, Franziska Kunz, Tino Schlinzig (Hg.)

PEGIDA — Rechtspopulismus zwischen Fremdenangst und »Wende«-Enttäuschung? Analysen im Überblick 2016, 384 S., kart. 29,99 E (DE), 978-3-8376-3658-1 E-Book PDF: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3658-5 EPUB: 26,99E (DE), ISBN 978-3-7328-3658-1

Stine Marg, Katharina Trittel, Christopher Schmitz, Julia Kopp, Franz Walter

NoPegida Die helle Seite der Zivilgesellschaft? 2016, 168 S., kart. 19,99 E (DE), 978-3-8376-3506-5 E-Book PDF: 17,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3506-9 EPUB: 17,99E (DE), ISBN 978-3-7328-3506-5

Sebastian Kohlmann

Frank-Walter Steinmeier Eine politische Biographie März 2017, 648 S., Hardcover 39,99 E (DE), 978-3-8376-3951-3 E-Book PDF: 39,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3951-7 EPUB: 39,99E (DE), ISBN 978-3-7328-3951-3

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