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German Pages [179] Year 2022
Philosophi e
rzählt
Eduard Zwierlein
Die Umwälzung der Welt
Pest – Corona – Klimawandel Lebenskunst in großen Krisen
B
https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
Philosophi e
rzählt 6 Eduard Zwierlein Die Umwälzung der Welt Pest – Corona – Klimawandel Lebenskunst in großen Krisen
Philosophie_erzählt VERLAG KARL ALBER
A
https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
Eduard Zwierlein hat Philosophie, Psychologie und Theologie an der Universität Hamburg studiert. Von 1990–1995 war er Gast- und Forschungsprofessor an der Universität Kaiserslautern in Verbindung mit dem Deutschen Forschungsinstitut für Künstliche Intelligenz. Er ist außerplanmäßiger Professor für Philosophie an der Universität Koblenz-Landau und Unternehmensberater. Seit ca. 30 Jahren berät er Dienstleistungsunternehmen mit dem Schwerpunkt Führen und Leiten in Einrichtungen im Gesundheitswesen. Publikationen: Existenz und Vernunft. Studien zu Pascal, Descartes und Nietzsche. Würzburg 2001. Magna Quaestio. Der Mensch als große Frage. Berlin 2013. Auf dem Rücken des Tigers. Nietzsches dionysische Lebenskunst. Berlin 2020.
https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
Eduard Zwierlein
Die Umwälzung der Welt Pest – Corona – Klimawandel Lebenskunst in großen Krisen
Verlag Karl Alber Baden-Baden
https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2022 Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Satz: SatzWeise, Bad Wünnenberg Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper www.verlag-alber.de ISBN: 978-3-495-49256-7 (Print) ISBN: 978-3-495-99964-6 (ePDF)
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Inhalt
Vorwort
11
TEIL I Der schwarze Tod 1347–1353 Hinführung
15
Aus den Pest-Briefen
I
Januar 1374
AUS CHINA KAM DAS BÖSE ERWACHEN
17
Erläuterungen und Kommentar
18
Aus den Pest-Briefen
II
Januar 1374
AUF DEN SCHIFFEN SASS DIE STRAFE
20
Erläuterungen und Kommentar
21
Aus den Pest-Briefen
III
Februar 1374
DENN WER SCHIESST DIE PFEILE ZULETZT
23
Erläuterungen und Kommentar
24
Aus den Pest-Briefen
IV
Februar 1374
WAS VOM EINEN KOMMT UND ZUM ANDEREN GEHT
26
Erläuterungen und Kommentar
27
5 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
Aus den Pest-Briefen
V
März 1374
RATLOS SUCHEN WIR
29
Erläuterungen und Kommentar
30
Aus den Pest-Briefen
VI
März 1374
DEN WEG DER VERWÜSTUNG
32
Erläuterungen und Kommentar
33
Aus den Pest-Briefen
VII
April 1374
DAS ARME GEWAND DER MENSCHENKINDER
34
Erläuterungen und Kommentar
35
Aus den Pest-Briefen
VIII
April 1374
DENN DES SCHRECKENS GESTALT
37
Erläuterungen und Kommentar
38
Aus den Pest-Briefen
IX
Mai 1374
DER KLUGEN RATSCHLÄGE GIBT ES VIELE
40
Erläuterungen und Kommentar
41
Aus den Pest-Briefen
X
Mai 1374
DIE KUNST DER WEISEN UND DER ÄRZTE
43
Erläuterungen und Kommentar
44
Aus den Pest-Briefen
XI
Juni 1374
AUCH DIE PROZESSIONEN KÖNNEN NICHT BESÄNFTIGEN
46
Erläuterungen und Kommentar
47
6 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
Aus den Pest-Briefen
XII
Juni 1374
DER LEICHENZUG FAND KEIN ENDE MEHR
49
Erläuterungen und Kommentar
50
Aus den Pest-Briefen
XIII
Juli 1374
DAS GUTE GAB ES AUCH
51
Erläuterungen und Kommentar
52
Aus den Pest-Briefen
XIV
Juli 1374
SCHMERZLICH MÜSSEN WIR UNS TRENNEN
54
Erläuterungen und Kommentar
55
Aus den Pest-Briefen
XV
August1374
ES LÄUTETEN KEINE GLOCKEN MEHR
57
Erläuterungen und Kommentar
58
Aus den Pest-Briefen
XVI
August 1374
WER TRAUTE SICH NOCH AUF DIE STRASSEN
59
Erläuterungen und Kommentar
60
Aus den Pest-Briefen
XVII
September 1374
DAS GRÖSSTE ÜBEL ABER WAR
61
Erläuterungen und Kommentar
62
Aus den Pest-Briefen
XVIII
September 1374
WAS IST UNS NOCH HEILIG?
64
Erläuterungen und Kommentar
65
7 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
Aus den Pest-Briefen
XIX
Oktober 1374
DIE GEISSLER, ICH WILL ES SAGEN
67
Erläuterungen und Kommentar
68
Aus den Pest-Briefen
XX
Oktober 1374
EINE SCHANDE IST’S
71
Erläuterungen und Kommentar
72
Aus den Pest-Briefen
XXI
November 1374
SIE PLANTEN EINEN LISTIGEN PLAN
75
Erläuterungen und Kommentar
76
Aus den Pest-Briefen
XXII
November 1374
WAS WIR WOHL AUS DIESEM ALLEN LERNEN …
79
Erläuterungen und Kommentar
80
Aus den Pest-Briefen
XXIII
Dezember 1374
ABER WERDEN WIR AUCH LERNEN
83
Erläuterungen und Kommentar
85
Aus den Pest-Briefen
XXIV
Dezember 1374
DIE WELT, SIE IST NICHT MEHR DIESELBE
86
Erläuterungen und Kommentar
88
Nachbemerkung
93
8 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
TEIL II Die Coronapandemie und andere große Krisen II.1. Hinführung
97
II.2. Muster im Umgang mit großen Krisen
100
Das Übel ist anderswo
100
Schock der anwesenden Abwesenheit – Die Pest in Bergamo
101
Was hat uns da ereilt? Womit haben wir es zu tun?
105
Reaktionsmuster
107
Helden und Schurken
111
Woher kommt das Unheil? Warum ist es da?
113
Schuldige
114
Zeitenwende
116
II.3. Gedanken zur Lebenskunst
119
Erwachen
119
Staunen
120
Politik und Wissenschaft – Keine Virologie der Lebenskunst
123
Demokratiekrise
126
Anbruch einer neuen Zeit – Welchen Namen wird die Zukunft tragen?
131
Die Supertrias der Fortschrittsmaschine und ihre verborgene Philosophie
134
Globalisierung und Risikoplanet
140
Die dystopische Chance autoritärer Systeme
144
Lernen aus der Krise?
156
9 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
Die Umwälzung der Welt und die Revolution der Denkungsart
162
Biophilie zwischen Kontingenz und Verwundbarkeit – Eine andere Zukunft wählen
164
Nachwort
172
Literatur
175
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Vorwort
Die optimistische Vorstellung, dass eine wissenschaftlich-technische Hochleistungsgesellschaft alle Infektionskrankheiten ausrotten und Pandemien verhindern werde, löst sich immer wieder in Schall und Rauch auf. So bewundernswert die Anstrengungen der Menschen auf diesem Gebiet auch sind, so klar bleibt doch, dass Seuchen und andere pandemische Ereignisse auch weiterhin zu den geheimen und fortgesetzten Plagen der Menschen gehören werden. Ja, womöglich ist es eine der wichtigsten Einsichten, dass es nicht nur eine gefährliche und aggressive Natur gibt, die uns bedroht und gegen deren Bedrohungen wir uns wehren müssen, sondern dass wir selbst es sind, die diese Kräfte der Bedrohung entfesseln. Der Raubbau an der Natur, das Eindringen in ihre unberührten Gebiete und der Klimawandel rufen Geister auf den Plan, die keiner beherrschen kann. Jede Plage, jede Pandemie, jede Katastrophe gewährt ihre furchtbaren und fruchtbaren Lektionen. Jede Art und Weise der menschlichen Gattung, auf sie zu reagieren, schenkt Einblicke in diese selbst. Sie decken das menschliche Wesen in seiner Größe und Niedrigkeit auf und geben Hinweise auf Tendenzen möglicher Entwicklungen und Aufgaben politischer Verantwortung. Eine der größten Katastrophen der Menschheitsgeschichte war das apokalyptische Wüten der großen Pest in der Mitte des 14. Jahrhunderts. Sie dient hier, in einen Briefwechsel des 14. Jahrhunderts eingekleidet, als Lehrstück und gleichzeitig als Folie für das, was die Coronakrise und andere globalen Krisen an Fragen in unserem Jahrhundert aufwerfen. Zwar gibt es niemals komplette historische Parallelen und sind historische Vergleiche immer mit einiger Vorsicht zu betrachten. Doch so verschieden die Ereignisse auch sind, so sehr sind sie in der Lage, unsere Muster in der Erfahrung von und im Umgang mit Pandemien zu beleuchten und dabei Fragen von großer Dringlichkeit zu be11 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
rühren. Die kommentierten Briefe über den schwarzen Tod im ersten Teil des Buches werden entsprechend in einem zweiten Teil verknüpft mit Meditationen zu solchen dringlichen Problemen und Fragestellungen, mit dem Aufzeigen von Mustern in den Erlebnis- und Bewältigungsformen und mit Gedanken zur Lebenskunst. Frühere Generationen sprachen gerne von einem Menetekel, wenn sie glaubten, ein Vorzeichen für ein kommendes katastrophales Ereignis entdeckt zu haben. Ein Menetekel, so die Überzeugung, mahnt und warnt vor Unheil. Pest, Coronapandemie oder Klimakrise sind nun selbst Unheil und katastrophale Ereignisse. Doch vielleicht ist es auch möglich, etwa die Coronakrise zugleich als ein Menetekel zu verstehen. Aus dem Dunkel der Geschichte und den Tiefen der Natur tritt sie plötzlich auf die Bühne der Welt, die sie in Atem hält und herausfordert. Könnte sie ihrerseits Anzeichen und Vorzeichen eines anderen oder größeren Unheils sein, vor dem sie gleichsam warnt? Das heißt, könnte sie eine implizite Nachricht mit sich führen, die den ökologischen Platz der menschlichen Gattung und ihrer Art betrifft, sich im universalen Gewebe des Lebens auf unduldsame Weise immer mehr Platz zu verschaffen? Ein ökologisches Gewebe ist voll von Interdependenz und Resonanz. Corona als Ausdruck oder Symptom eines resonanten Gewebes und als Signatur entgrenzter menschlicher Eingriffe in einen Kontext, der darauf mit einem Echo antwortet, ist das möglich? Wir müssen darüber nachdenken.
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TEIL I Der schwarze Tod 1347–1353
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Hinführung
Wir unternehmen eine Zeitreise, die uns in das Jahr 1374 führt, welches wiederum vom Jahr 1348 erzählt. In Siena befindet sich 1374 ein Kölner Kaufmann, ein Seidenhändler namens Petrus Cindator, also bürgerlich etwa: Peter Seidensticker oder Peter Seidenmacher. Es ist nicht klar, was der Grund seines dortigen Aufenthalts ist. Es scheint sich, so viel kann man den Briefen entnehmen, um eine Reise mit beruflichen sowie privaten und persönlichen Zielen zu handeln. Denn er spricht von Geschäften, die zu erledigen sind, aber auch von Begegnungen mit Freunden und von Abhilfe für gesundheitliche Beschwerden. Der Anlass der vierundzwanzig Briefe, die wir »Pest-Briefe« getauft haben, ist schnell deutlich. In Köln, seiner Heimatstadt, lebt seine letzte und einzig verbliebene Tochter, offensichtlich nach den Jahren der großen Pest von 1347/48–1353/54 geboren, die ihren Vater nach den damaligen Geschehnissen genau befragt, die dieser selbst in Siena 1348 miterlebt hatte. Aus dieser Korrespondenz, zu der uns allerdings die Briefe der Tochter fehlen, erwächst uns ein lebendiges Bild der vielen Facetten, die mit den Ereignissen der Pestkatastrophe zusammenhängen. Die Briefe dürften der Anzahl nach vollständig sein: es handelt sich um jeweils in jedem Monat des Jahres 1374 zwei abgefasste Briefe, die aufeinander aufbauen und aufeinander Bezug nehmen. Die einzelnen Briefe selbst sind nicht ganz vollständig. In der Regel fehlen nämlich Eingangs- und Abschlusspassagen. Trotzdem sind alle Brieffragmente dem Augenschein nach in ihrem maßgeblichen Inhalt bzw. in ihrer hauptsächlichen Thematik komplett erhalten. Die Briefe wurden behutsam in heutiges Deutsch übertragen, ohne den Rhythmus und Denkhaushalt jenes Geistes zu löschen, der sich auf der Epochenschwelle zwischen Mittelalter und früher Neuzeit befindet. Jedem einzelnen Briefkörper ist ein Anhang zugeordnet, der durch Erläuterung und Kom15 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
mentierung Dinge erschließt, die dem Leser vielleicht unverständlich oder fremd sein könnten, aber auch einige erhellende Schlaglichter auf Hintergründe und Zusammenhänge der damaligen Zeitumstände wirft.
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Aus den Pest-Briefen
I
Januar 1374
AUS CHINA KAM DAS BÖSE ERWACHEN […] ruft Dein Brief, liebes Kind, meine Erinnerungen an all die Ereignisse wieder wach, die ich hier in Siena vor nun über 25 Jahren erlebt habe. Du fragst, wie alles begonnen hat? Aber zuerst muss ich dir sagen, dass es wahr ist, was ihr aus Reggio gehört habt. 1 Aber es ist nur eine Maßnahme der Klugheit und kein Anlass zur Sorge. Woher der große Tod gekommen ist? Es sagen alle, die verständig sind, auch Gabriele, der dabei war, dass er aus dem Inneren des fernen Orients kam: aus China, aus der Mongolei brach das Unheil hervor, das uns alle treffen sollte. 2 Denn himmlische Zeichen kündigten das Verhängnis an. 3 Die wilden Reiter, die tief in unsere Gefilde vorgedrungen sind, haben das Verderben mitgebracht. Denn vor Caffa rannten sie gegen die Stadt der Genuesen an, konnten aber die beiden großen Schutzmauern nicht bezwingen. Als jedoch die Pest im Lager der wilden Horden ausbrach, 4 gab ihnen der Böse den Einfall, ihre Pestleichen auf das Katapult zu legen und in die Stadt zu werfen. 5 Über die Mauern schleuderten die Gottlosen ihre Toten, um durch den Gestank des Todes den Mut der Verteidiger zu brechen und das Wasser durch Fäulnis giftig zu machen. Da aber die Tartaren, von der Pest zu sehr geschwächt, abziehen mussten, bemerkten die Männer Genuas bald zu ihrem Schrecken, dass sie die Pest in Caffa hatten, wiewohl sie den Namen der Seuche noch nicht wussten. So brachen sie alsbald auf und stiegen hastig auf die zwölf Schiffe in der Hoffnung, dem Übel zu entrinnen. Aber der Tod war mit ihnen an Bord gegangen und Genosse ihrer Flucht. So brachten sie das Unglück zuerst nach Konstantinopel und hinterließen es dann an jedem Punkt, wo sie landeten. Wer nur mit ihnen sprach, wurde von tödlichem Leiden gepackt und war dem Tode unrettbar ausgeliefert. Als sie aber, man schrieb nun Anfang Oktober im Jahre des Herrn 1347, in Messina an Land gingen, begann auch dort in Windeseile das große Sterben. Rasch vertrieben die Sizilier die Matrosen zurück auf die Schiffe und warfen ihre Toten ins Meer. So reisten die Schiffe weiter zu ihrem Heimathafen Genua. Allein, dort hatte man die böse 17 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
Kunde aus Messina schon vernommen und war vor dem Fluch gewarnt. So versperrte man ihnen aus Angst vor dem großen Tod auf den Schiffen denWeg, jagte sie weg mit allerlei Brandpfeilen und ließ sie nicht in den heimatlichen Hafen fahren. Verzweifelt sahen die Männer auf ihre Stadt, das Zuhause mit Weib und Kind so nah vor Augen. Doch keiner öffnete ihnen das Tor. Da lag also der Tod vor Genua und lauerte. Der Hahn tut seinen ersten Schrei. Noch ist es dunkel draußen, mein Kind. Doch ich will ein paar Schritte gehen und schreibe bald wieder. Ich wünsche euch, dass die Fluten des Rheins euch nicht noch mehr Übel in die Stadt bringen 6 und […]
Erläuterungen und Kommentar Der Hinweis auf Reggio nell’Emilia bezieht sich auf die seuchenbehördliche Maßnahme der Stadt im Jahr 1374, bei Verdachtsfällen auf Krankheit eine »Quarantäne« anzuordnen, die aber nur auf zehn Tage angelegt war. 2 Aus dem mongolischen Weltreich, zu dem China, das von einer langen Pestepidemie von 1325–1351 geplagt wurde, im 14. Jahrhundert gehörte, gelangte die Pest über die Seidenstraße auf die Halbinsel Krim. Dort belagerten »Ta(r)taren« (das mongolische Heer) schon mehrere Jahre die Hafenstadt Caffa (heute Feodossija), eine gut befestigte genuesische Handelskolonie und ein wichtiger Umschlagplatz für den Schwarzmeerhandel. 3 Die himmlischen Zeichen beziehen sich auf Erzählungen, dass es in China und Persien Wasser mit Würmern geregnet habe und menschenkopfgroße Feuerbälle vom Himmel gefallen seien. Der Briefschreiber folgt im Übrigen der typischen Verwechslung von Mongolen und Ta(r) taren, die allerdings füreinander Todfeinde waren. 4 Der Briefschreiber scheint sich auf einen Augenzeugen der Ereignisse zu berufen: Gabriele de Mussis (1280–1356), ein Notar aus Piacenza, mit seiner Ystoria de morbo sive mortalitate quae fuit anno Domini 1348. Dieser schrieb, dass ab dem Sommer 1346 eine Seuche die Tartaren befiel und ihr ganzes Heer in Panik brachte, weil täglich Tausende starben. Den Eingeschlossenen erschien es, als ob Rachepfeile vom Himmel flögen, um den Übermut der Feinde zu zügeln. Diese zeigten 1
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nach kurzer Zeit charakteristische Symptome an ihren Körpern, nämlich verklumpte Körpersäfte an den Gelenken und Leisten. Folgte dann das Fäulnisfieber, starben sie, denn kein Arzt konnte ihnen mehr helfen. – Ob de Mussis wirklich Augenzeuge war, ist umstritten. 5 Die Freude der Genuesen über ihre geglückte Verteidigung währte nur kurz. Bevor die »Tartaren« abzogen, ersonnen diese eine makabre Kriegslist und griffen sozusagen zu einer biologischen Kriegsführung. Mit ihren Wurfmaschinen katapultierten sie ihre Toten über die Stadtmauern. Die Zahl der Leichen war so enorm, dass sich Berge im Stadtinnern türmten und ihre eilige Entsorgung in die Meeresfluten nicht rasch genug gelang: das Trinkwasser wurde ungenießbar und eine mysteriöse Krankheit breitete sich rasend schnell aus. Man begab sich auf die Flucht. An Bord der Genueser Galeeren erreichte dann die »Mortalega grande«, das große Sterben, ein Ausdruck für die große, pandemische Pest, schließlich Messina und breitete sich zunächst über Prozessionen und bald über Flucht weiter aus bis nach Neapel, wo wenig später über 60000 Tote zu beklagen waren. 6 Der Rhein war in den Jahren 1373/74, vor allem aber im Winter 1374/75 von besonders schweren Hochwassern bedroht.
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Aus den Pest-Briefen
II
Januar 1374
AUF DEN SCHIFFEN SASS DIE STRAFE […] was ein Vater ungern gegenüber seiner geliebten Tochter in den Mund zu nehmen pflegt; denn ich sage dir, es war schon recht sonderbar, dass das Unheil so kurz nach dem schändlichen Dekret von Neapel über uns hereinbrach. 1 Auf den Galeeren vor Genua saßen die armen Schiffer. Die Zahl der Köpfe an Bord war aber schon stark geschrumpft, weil viele bereits von den Pestpfeilen 2 tödlich getroffen waren. Da man sie aber nicht einließ, sondern mit brennenden Pfeilen verscheuchte, wurde ihre Lage immer verzweifelter. So machten sich die meisten Handelsschiffe weiter auf den Weg über Venedig und Genua und die einen segelten nach Pisa, die anderen aber nach Marseille. 3 Dort waren alle in Unkenntnis, so dass die Verzweifelten an Land kamen und mit ihnen der Tod, der neue Nahrung fand. Auf den Schiffen saß die Strafe und saß der Tod, der mit seinen großen Sense alle Landstriche leergeschnittert hat. Da aber der große Tod schon aus Messina weitergereist war und Palermo und Neapel und andere Städte aufgesucht hatte, war das ganze Land in Schrecken und Aufruhr. Wohin man auch hörte, wohin man auch sah, die Heimsuchung war schon da oder auf dem Weg. So bangten auch wir in Siena und erwarteten stündlich und mit Argwohn, ob nicht hier oder da schon ein Zeichen der furchtbaren Pest in der Stadt wäre. Und siehe da, alle Geschäfte wurden unwichtig, aber die Sorgen und Ängste groß. Meine Ballen Seidentuch, Kölns schönstes Gewebe, auch das feinste mit Purpur gefärbt, keinen hat es mehr gelockt, kölnische Seide zu kaufen, 4 so dass ich später lange noch in Straßburg und Frankfurt bleiben musste. 5 Wir venditores pannorum 6 standen da wie Tand. 7 Was waren Garn und Seide und Goldgespinste noch, wenn die eiserne Hand des Todes nach uns griff. Feine Borte, feine Wappen, feine Zierkunst, der Streit um Ellen – eitel 7 Zeug. Bald war auch unsere Stadt erfüllt von Weinen und Geschrei. Nur wenige Monate brauchte es, und die Hälfte der Bürger Sienas 20 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
war nicht mehr unter uns, darunter auch Pietro und Ambrogio. 8 Und von überall her drang Geschrei und Klage. Giovanni verlor seine königliche Fiammetta in Neapel und Francesco, der gute Freund, beweinte seine kaiserliche Madonna Laura. 9 Gottes Prüfungen waren groß und […] Kind, der Tag bricht an und ich will fort zur Matutin. 10 Leb wohl.
Erläuterungen und Kommentar Da einige Fragmente des Briefes verlorengegangen sind, ist über das »schändliche Ereignis« in Neapel, auf das hier angespielt wird, nur zu spekulieren. Es ist sehr gut möglich, dafür spricht auch die väterliche Zurückhaltung im Blick auf das Thema gegenüber der eigenen Tochter, dass sich der Briefschreiber auf eine historisch umstrittene Verordnung, das Bordellreglement der Königin Johanna I. von Neapel, bezieht. Diese verlangte u. a. die ärztliche Kontrolle der Prostituierten, die in speziellen Hurenhäusern, wie zuerst in Avignon, kaserniert wurden. Gleichzeitig wurde ihre Verfolgung aufrechterhalten und mit drakonischen Strafen verbunden, wenn sie ihrem Gewerbe außerhalb dieser Zuweisung nachgingen. Im Blick auf die Lehre des hl. Augustinus, der sich der hl. Thomas anschloss und die die Prostitution als ein »kleineres Übel« ansah, gab es einen legalen Raum, indem die Prostitution sich zwar ehrlos, aber doch nicht recht- und gesetzlos auf geordnete Weise (mit Frauenhäusern, beaufsichtigenden Frauen- oder Bordellwirten, gekennzeichneter Kleidung und Gesundheitskontrollen) vollziehen konnte. – Erst nachdem die wahrscheinlich aus Südamerika eingeschleppte Syphilis 1494/95 zum ersten Mal in Neapel aufgetreten und dann wie ein Lauffeuer Europa erobert hatte und weil die Prostitution auch stark durch die Reformation bekämpft wurde, wurden die legalen Frauenhäuser als Brutstätten der Syphilis und Unzucht zunehmend geschlossen und die »freien Töchter« in die freie Prostitution getrieben. 2 Dass die Pest mit Pfeil und Bogen auf die Sterblichen geschossen würde, ist ein aus dem Alten Testament und der Antike bekanntes Motiv. 3 So nahm die Pest den Weg in den Norden Europas über die Städte Italiens und von Frankreich aus: von Marseille durch das Rhonetal und von Venedig über die Alpen. 1
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Hier wird ersichtlich, dass der Briefschreiber Kaufmann und Handelsreisender des Kölner Seidengewerbes war. »Ballen« dürfen wir nicht als mitgebrachten Seidenrohstoff verstehen. Schließlich waren die ersten Seidenmanufakturen gerade in der Toskana zu finden. Köln besaß selbst keine Seidenzucht und erhielt seine Rohseide vor allem aus Venedig. Der Fernhandel brachte aber vor allem die Seidenstickerei und auch Seidenfärbung nach Italien, Güter, für die Köln besonders berühmt war. 5 Straßburg und die Messestadt Frankfurt waren die größten Marktplätze für Kölner Seidenwaren. Der Briefschreiber musste dort seine Verluste in der Toskana kompensieren. 6 Venditores pannorum: Tuchverkäufer/Tuchhändler. 7 Die Begriffe weisen auf das vanitas-Motiv, dass alles letztlich eitel und vergeblich sei, was die Menschen auf Erden verfolgen (Prediger Salomo (Kohelet) 1,2). – Der Streit um Ellen weist darauf hin, dass Stoffe mit dem Maß des Unterarms, der Ellenlänge, gemessen wurden, dass aber die meisten Städte ihr eigenes Ellenmaß hatten, so dass es bei unterschiedlich großen Maßen für Tuch und Saum zu mancherlei Händel kommen konnte. 8 Gemeint sind wohl die bedeutenden Malerbrüder und ausgezeichneten Vertreter der Schule von Siena Ambrogio (1290–1348) und Pietro (1280–1348) Lorenzetti. 9 Fiammetta ist das Pseudonym der idealen Frau und Geliebten (real wohl die neopolitanische Adlige Maria d’Aquino, eine uneheliche Tochter des Königs von Neapel) bei Giovanni Boccaccio (1313–1375), der seine Erfahrung der Pest in seinem Werk Decamerone verarbeitet. Madonna Laura (real wohl Laura de Noves/de Sade, von Kaiser Karl IV. auf einem Festball 1346 mit einem Kuss geehrt: daher »kaiserlich«), bildet die Idealgestalt Francesco Petrarcas (1304–1374), die er in seinem Canzoniere verewigt hat. 10 Das liturgische Nachtgebet in Kirche oder Kloster, in der Nacht oder sehr früh am Morgen. 4
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Aus den Pest-Briefen
III
Februar 1374
DENN WER SCHIESST DIE PFEILE ZULETZT […] früh zum Tressa 1 gegangen und sah durch leichte Nebelschleier hindurch das erste Morgenlicht an diesem kalten, frostigen Wintertag. Du weißt ja, liebe Julia, dass ich dir immer wieder davon sprach, dass es die Augen des Fleisches und die Augen des Geistes gibt. 2 Mit den einen sehen wir das Sichtbare, mit den anderen das Unsichtbare. Sichtbar haben wir gesehen, was ich dir in den vergangenen Briefen schrieb. Doch hinter all dem, was geschieht, geschieht es auf Gottes Ratschluss hin. Ich weiß nicht, ob es Strafe oder Prüfung oder beides ist. Ich habe nicht den Hochmut, in das Herz des Allerhöchsten zu blicken und seinen Ratschluss zu enträtseln. Ich sage nicht, dass er uns mit der Seuche geschlagen hat. Aber nichts, was geschieht, geschieht, ohne dass sein starker Arm die Plagen will oder zulässt. 3 Der Tod hat vier Gesichter, mit denen er in alle Richtungen des Himmels schaut, wenn er seinen Bogen spannt. So fliegen auch die Pfeile der Pest nicht, ohne dass Gott es will oder lässt. Denn wer schießt die Pfeile zuletzt, wenn nicht Gott selbst oder die, denen er den Bogen gibt. Ich habe lange darüber nachgesonnen. Francesco 4 und ich sprachen viel davon. Gott, der uns alle retten will, führt uns durch Wüsten und Feuerglut zu sich. Denn wir irren von ihm weg. 5 Was ist das für eine Schande in Avignon? 6 Und welchen Gott beteten sie an am Arno? 7 In dieser furchtbaren Stadt konntest Du alles Morsche und Faule sehen, wovon unsere Zeit so übervoll ist. Kein sicherer Hafen war diese Stadt, kein Ort der Hoffnung. Ein Leichentuch lag über den Herzen, in denen nur Gier und Angst wohnten. Und als das große Sterben kam, da gab es viele, die sagten: Ist es nicht gerecht, dass Gott uns straft? Leichtsinnig sind wir und aufgeblasen, wenn wir alles haben, jämmerlich und voll lauter Klage, wenn wir alles verlieren, stolz aber und vergesslich, lässt uns das Schicksal einen zweiten Schnauf. 8
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Ach Kind, was dein alter Vater sagen will, ist nicht leicht und ist nicht schwer. Die Pfeile werden immer fliegen. Denn wir haben sie uns gut verdient. Aber wir können doch beten, dass sie uns nicht treffen mögen, weil wir unserenWeg nicht mehr großmäulig auf Schande und Götzendienerei bauen. Aber wenn uns einer trifft, auch da, wo wir gute Wege gehen, dann soll er uns treffen, wenn wir Gutes und weil wir Gutes tun. Oh, heiliger Sebastian, 9 was für ein armerTropf ist der verstockte Mensch, der sich an sein Elend hängt. Wäre dein Vater nur halb so klug, wie er glaubt, daherreden zu können, so […]
Erläuterungen und Kommentar Ein Fluss, der westlich an Sienas Stadtzentrum vorbeifließt. Die Rede von den occuli carnis (die Augen des Fleisches) und den occuli mentis (die Augen des Geistes) ist ein Rückgriff auf einen im Mittelalter geläufigen und weit verbreiteten biblischen Topos. 3 Ohne die Einordnung der Ereignisse in einen umfassenderen, hier theologischen Sinn, in ein größeres Koordinatennetz, werden sie aus Sicht des Briefschreibers nicht verständlich. 4 Mit Francesco Petrarca (1304–1374), dem italienischen Dichterfürsten und einem der intellektuellen Väter des Humanismus der Renaissance, war der Briefschreiber befreundet. 5 Der Gedanke ist offensichtlich der, dass sich die Menschen durch ihr eigenes Verhalten in »Wüsten und Feuersglut« manövrieren. Indem Gott sich ihnen zuwendet, führt er sie aus ihrer selbst verursachten Misere heraus. 6 Das Exil-Papsttum in Avignon (1309–1376/77), das unter den Vorgaben und Einflüssen des französischen Königtums steht, ist nicht nur ein Ort, der den Frühhumanismus fördert, sondern auch eine Zeit der Vetternwirtschaft und Geldgier, der Laster und des allgemeinen Sittenverfalls inmitten des Papstpalasts. 7 Florenz am Arno betet das goldene Kalb des Geldes an. Die Kritik ist verständlich, aber nicht ganz gerecht. Siena und Florenz wetteifern miteinander als Konkurrenten, wer wem an politischer Macht, ökonomischem Reichtum und kultureller Pracht überlegen sei. 8 Einen zweiten Atemzug, eine zweite Chance, eine neue Gelegenheit. 1 2
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Der Heilige Sebastian ist, neben dem Heiligen Rochus, einer der beiden Pestheiligen oder Pestpatrone. Er kommt auf Befehl des Kaisers Diokletian durch die Pfeile numidischer Bogenschützen zu Tode, weil er Christen vor der Verfolgung geschützt hatte. So steht er vor uns als entblößter Jüngling, von Pfeilen durchbohrt. Da er aber, bereits für tot gehalten, durch ein Wunder gerettet wird, bietet er sich als göttlicher Schutz gegen alle Krankheitspfeile an. Die Pfeile sind also in ihm gewandelt in einen Abwehrschutz, so dass viele Menschen den Heiligen in ihrer Not anrufen und auch geweihte kleine Sebastianspfeile als Amulette gegen Seuche und Krankheit bei sich tragen.
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Aus den Pest-Briefen
IV
Februar 1374
WAS VOM EINEN KOMMT UND ZUM ANDEREN GEHT […] Du fragst, klug wie Du bist, nicht nur, nach demWoher, auf das ich sagte: aus China, von Schiffen, aus Spanien oder Italien, sondern was genau bringt es mit sich, dass diese todbringende Pest uns mit eiserner Hand umklammern konnte. 1 Ich muss es dir gestehen, dass wir alle im Dunkeln tappen. Was vom einen kommt und zum anderen geht, das ist ganz unfasslich. Doch es war so: Als der Tod vor Messina ankerte, war bereits der größte Teil der Mannschaft an der Pest gestorben. Als aber die Unglücklichen, die noch lebten, an Land kamen, kam das Volk aus der Stadt, um die Ankunft der Schiffe zu begrüßen. Die aber zuerst, ohne dass sie dies wussten, mit den Todgeweihten sprachen, starben bald darauf. Und die, die mit denen sprachen, die zuerst mit den Matrosen gesprochen hatten, folgten ihnen als nächste in den Tod. So ging es zu mit ganzen Familien, Freunden und Nachbarn, ja selbst die Haustiere waren nicht verschont. Einem großen schwarzen Raubvogel gleich stürzte sich die Pest auf jedes Opfer, das sie fand. Da erkannten die Bürger Messinas, dass sich unsichtbar ein rätselhaftes Netz des Todes über sie ausgebreitet hatte, 2 das von den Schiffen her kam, so dass sie sich entschlossen, alle aus ihrem Hafen zu vertreiben. Doch zu spät! Welches Höllentor hat der gute und barmherzige Gott aufgerissen, dass es uns so quälen konnte? Doch will ich dir nicht verheimlichen, dass es viele Verständige gibt, die in ihrer genauen Beobachtung übereinstimmen und auch den großen Avicenna 3 zitieren. Bevor nämlich das Schreckliche von Mensch zu Mensch gehen konnte, sah man viele kranke Tiere, solche, die von Schiffen kamen, und solche, die durch das Land streiften. Die Ratten, von denen ich zu dir spreche, benahmen sich aber ganz außergewöhnlich. Sie verloren ihre Scheu, wie manch krankes Reh oder tollwütiger Fuchs, sie flohen gar nicht mehr in ihre Schlupflöcher. Aber nicht nur, dass sie zutraulich waren, als wären sie Hausgenossen der Menschen, sie führten auch ein ganz absonderliches Schauspiel 26 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
auf, sie taumelten nämlich wie trunken umher und verloren ihren geraden Schritt. 4 Also werden die Klugen dies untersuchen müssen, ob die Ratten die Pfeile sind, die uns das Böse brachten, oder ob sie die Pfeile mit sich brachten, da ja allerhand Ekliges an ihren Leibern klebt. So suchen wir noch ratlos zwischen allen Dingen und wissen nicht, wo wir uns sorgfältig gründen und unser Haus bauen können. 5 Nun lösche ich das Kerzenlicht und will in der Laudes an den wahren Sonnenaufgang denken 6 […]
Erläuterungen und Kommentar Er bezieht sich auf die hartnäckige Nachfrage der Tochter, woher die Pest eigentlich stammen könne. Dabei fragt sie den Vater nicht nach einem Ort oder einem Übertragungsweg durch Menschen, worüber er ihr in den ersten Briefen geschrieben hatte. Sie will ganz offensichtlich wissen, was die Ursache der Krankheit ist. 2 Die Antwort des Vaters zielt zunächst noch auf zeitgenössische Ideen zur Übertragung der Pest. Hier ist deutlich die Einsicht zu erkennen, dass die Krankheit, auf welchem Weg auch immer, hochinfektiös ist. Die Menschen sind für einander eine Gefahr, weil sie kontagiös sind: sie können einander anstecken, d. h. »infizieren«. Das Feld der Vermutungen des Briefschreibers bezieht sich vor allem auf die mit Lungenentzündungen (Pneumonien) verbundene Lungenpest. Hier findet die Übertragung tatsächlich durch Tröpfcheninfektion (Husten, Sprechen) statt. 3 Avicenna (Ibn Sina, 980–1037), einer der berühmtesten persischen Ärzte und Wissenschaftler seiner Zeit, der auch die westliche Medizin maßgeblich beeinflusst hat, äußert in seinem Canon, dass in den Zeiten vor dem Befall der Menschen durch die Pest Ratten und anderes Getier der Unterwelt an die Oberfläche kommen und sich wie betrunken gebärden. 4 Dem Erfahrungswissen bekannt, ist das Rattensterben vor Pestepidemien. Das massenhafte Nagersterben, das in der Regel dem Pestausbruch unter den Menschen vorausgeht, heißt Epizootie (»Tierseuche«). Die phänomenologische Beobachtung zu den Ratten ist also sehr zutreffend. Eine nähere Unterscheidung zwischen Haus- und Wanderraten wird hier allerdings nicht beachtet. 1
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Scharfsinnig ebenfalls die Unterscheidung, ob die Ratten selbst die Pfeile sind, sie also unmittelbar für die Krankheit verantwortlich sein könnten, oder ob sie Pfeile mit sich führen, etwas, das an ihnen haftet. Denn in der Tat sind es ja die Flöhe, die die Ratten infizieren. Von den Rattenflöhen springt die Krankheit sodann über auf den Menschen. (Oder von den Nerzfellen, die die Galeeren neben unzähligen Ratten an Bord aller Schiffe aus Caffa mitbrachten?!) Das Haus des Wissens wird erst allmählich gebaut, und manchmal muss man wieder zurückbauen, bevor man weiterbauen kann. 6 Das Stundengebet der Laudes bei Tagesanbruch betrachtet die aufgehende Sonne als Symbol des auferstandenen Christus. 5
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Aus den Pest-Briefen
V
März 1374
RATLOS SUCHEN WIR […] ja, das weiß ich. Doch woher kommt dies, dass die Kranken die Gesunden krank machen, wie Feuer auf Reisig übergreift und alles ansteckt, dass allein die Nähe zu den Kranken gefährlich ist, ihre Ausdünstung und ihr Atem, auch ihr Hab und Gut, wenn man es nur berührt? So gut die Menschen konnten, schützte sich Mensch vor Mensch, denn irgendetwas konnte ganz leicht von dem einen zum anderen hinübergehen, irgendetwas lag in der Luft. Denn, wie es heißt, muss man, wenn so viele verschiedene Menschen an so vielen verschiedenen Orten zu derselben Zeit krank werden, das suchen, was sie alle miteinander verbindet. Allen gemeinsam aber ist, dass sie die Luft atmen. 1 Es lag aber ein schlechter Geruch, ein abscheulicher Gestank in der Luft. 2 So wie die klugen Leute zu Paris es sagten: 3 wenn Himmel und Erde in Aufruhr geraten, 4 kommt irgendein unreiner Anhauch, irgendein befleckter Dampf, ein Tröpfchen schlechter Luft, irgendein Miasma hervor. Das hat Unheil über alle gebracht. Da steigt aus dem Fauligen vielleicht winziges Gewürm in die Luft, fliegt umher, wird durch den Atem eingesogen und zerfrisst die Leiber. Dann soll man aber auch in ihrem Blut nach denWürmern suchen, ob man sie darin findet. Das mag also wohl so sein. Denn etwas Besseres weiß keiner von uns. Ratlos suchen wir, was die Fäulnis macht in den Tiefen des Wassers. So also, mein Kind, müssen wir es uns denken, dass aus den fauligen Gewässern des Meeres und den kranken Brunnen ein böses Gift aufsteigt, das sich an die Luft wendet und mit ihr reist, wohin der Wind es will. Dann sausen die Pfeile nieder auf alles, was lebt und jagt das Gift in ihre Knochen. Die aber, die es in sich tragen, tragen es weiter wie ein zweiter Wind zu denen, die es noch nicht haben. Die Leute aber warfen Kalkmilch in die Gräber, um die Pestluft zu besänftigen, und räucherten ihre Häuser, indem sie Rosmarin, Ambra, Mastix und Schwefel ins Feuer warfen. Die Doctores Medici 29 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
aber suchten Schutz vor dem Pesthauch, vermummt am ganzen Leib, durch eine Maske mit Schnabel wie ein Storch, darin wohlriechende Spezerei, und einer langen Rute in der Hand 5 – der Tod hat sie verlacht. […] Morgendämmerung des neuen Tages […]
Erläuterungen und Kommentar Dies ist ein Gedanke des berühmtesten Arztes der Antike Hippokrates von Kos (460–370 V. C.) in seiner Schrift Über die Natur des Menschen. 2 Da die komplizierten Infektketten unbekannt waren, kam es auch zum Rückgriff auf eine miasmatische Deutung der Krankheit. Das Modell der üblen Gerüche oder schlechten, giftigen Dünste (Miasma) soll die Seuchenentstehung plausibel machen. Auch bei der Pest wurde ein solcher Stoff in der Luft vermutet, der Pesthauch, der durch die Luft überall hin verbreitet werden und so die hohe Anzahl der Infektionen erklären konnte. Daher kennen wir die Redensarten von der »verpesteten Luft« oder der »Luftverpestung«. 3 Die Pariser Medizinische Fakultät, die berühmteste im 14. Jahrhundert, veröffentlichte im Oktober 1348 auf Geheiß König Philipps VI. ein Pestgutachten, das hinsichtlich der Krankheitsursache ebenfalls von einem Miasma spricht, Meeresdämpfen aus dem indischen Ozean, die aus Wasser als fauliger Dunst aufsteigen und sich über die Luft verbreiten. Es handelt sich sozusagen um eine Ursprungshypothese zu einem hypothetischen infektiösen Stoff, der wie ein Aerosol weitertransportiert wird. Papst Clemens VI. (1290–1352), der ungerührt vom Grauen der Pest und dem elenden Massensterben der Bevölkerung sein ausschweifendes verschwenderisches Leben am Hof von Avignon genoss, soll eine Sektion angeordnet haben, um Beweise für das Pestmiasma zu finden. Ohne Erfolg. 4 Neben den himmlischen Zeichen, von denen im ersten Brief die Rede war, ist auch das starke Erdbeben zu nennen, das große Teile Europas am 25. Januar 1348 erschütterte. Besondere astrologische Konstellationen und außergewöhnliche terrestrische Begebenheiten gelten als Warnzeichen für drohendes Unglück und Krankheit, nicht aber als ihre Ursachen. 1
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Die Schutzkleidung der Ärzte soll Übertragung und Ansteckung verhindern: gewachste Kleidung, Hut, Handschuhe, Brille und den langen Schnabel vor Mund und Nase (in Italien wurde der Pestarzt deswegen auch Cigogna: Storch genannt). Der Schnabel war mit einem »Pestwasser« gefüllt, ursprünglich wohl ein Schwamm mit Essig oder anderen Essenzen, die das Pestmiasma abhalten oder herausfiltern sollte. Mit der langen Rute konnten die Ärzte, ohne direkten körperlichen Kontakt zu den Kranken, ihre Anweisungen geben, was man zu tun oder zu lassen hatte. – Die Erwähnung des Pestdoktors in dieser Form ist außergewöhnlich, da man in der Forschung davon ausgeht, dass die Pestmaske der Ärzte nicht vor dem 17. Jahrhundert nachzuweisen ist.
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Aus den Pest-Briefen
VI
März 1374
DEN WEG DER VERWÜSTUNG […] dass auch die Totenschiffe zur Pest gehören. Doch will ich dir, soweit als ich es weiß, den Weg der Verwüstung zeichnen. Wie ich dir schrieb, nahmen die jammervollen Geschehnisse dieser Jahre in unseren Gefilden in Messina und Genua ihren Lauf. Das sagte ich dir schon, dass das Verhängnis seinen Fortgang fand, als die armen Schiffer von Genua weiterreisten, die einen nach Pisa, die anderen nach Marseille. So kam das Verderben nicht nur über die Luft, sondern fand seine Wege auch durch die Menschen über See und Land. Denn von Venedig und Pisa aus suchte sich der schwarze Tod, denn er schlug doch alle Todgeweihten mit blauen und schwarzen Flecken, 1 den Weg über die Alpen. Von Marseille aus aber lief er das Rhonetal hinauf. So marschierte der Schrecken von Hafenstadt zu Hafenstadt und landwärts mit all seinem Elend hinauf nach Norden, um zu sehen, wie große Beute er auch dort machen konnte. Keine Insel war so abgeschieden, keine Höhle versteckt genug, kein Berggipfel unzugänglich, dass der große Schnitter nicht überall reiche Ernte fand. Wie ein großes Feuer, das überall trockenen Zunder aufspürt, fraß sich die schreckliche Trübsal durch alle Welt. Und da war keiner, der ihr Einhalt gebieten konnte. Auf allen Meeren trieben auch die Schiffe derer, die ohne Ausnahme an Bord gestorben waren. Die Besatzung war dahingerafft, und so trieben die Geisterschiffe auf dem Meer, 2 bis sie an irgendwelchen Küsten strandeten. Die Armen aber, die den vermeintlich Schiffbrüchigen Hilfe bringen wollten, fanden nicht nur den Tod der anderen, sondern auch ihren eigenen. Denn ohne dass sie es wussten, sprang der Mörder auf sie über als seine neuen Opfer und ritt mit ihnen in ihre Städte und Familien. Als die Menschen bald verstanden, was da mit ihnen geschah, haben sie aus Angst vor Ansteckung kein Seuchenschiff mehr aufgesucht oder in ihre Häfen mitgebracht. Und auch die, die auf ein solches Gespensterschiff auf hoher See stießen, schüttelten sich voll Grauen und segelten rasch vorbei.
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Gleichwie, mein Kind, die Pest war ein Raubzug mit großer Beute. Fast die Hälfte aller Menschen, so heißt es, hat sie mit sich fortgerissen, oder doch den dritten Teil, 3 und in Siena allein starben 70 000 Einwohner. 4 Schrecklich waren die Tage jener Zeit. Schön aber ist ein neuer Tag, wie dieser heute hier, ein einzelner Wintermärztag, der den Frühling nur kurz unterbricht, aber friedlich und still und ohne Not […]
Erläuterungen und Kommentar Die große Pest des 14. Jahrhunderts, die auch als das große Sterben, der große Tod, das gemeine Leutesterben oder der schwarze Tod bezeichnet wurde, wird im letzten Fall von der Phänomenologie der Erkrankten aus abgeleitet. Treten die Pestbakterien in die Blutbahn ein, kommt es zur Pestsepsis mit den präfinal charakteristischen ausgedehnten Haut- und Organblutungen. Die dunklen, bläulich und schwarz gefärbten Einblutungen in den Körpern der Pestkranken, die den Kranken durch Gangränbildung ein »schwärzliches« Aussehen verleihen, legen als eindrucksvolles sinnliches Zeichen die Rede vom »schwarzen Tod« nahe. Dieser Umstand dürfte sich wohl auch im lateinischen »atra mors« dokumentieren, dem »schwarzen Tod« (ater: schwarz = unheilvoll, düster, traurig, übel, grauenhaft, böse). Der Begriff »schwarzer Tod« ist ansonsten erst im 17. Jahrhundert belegt. 2 Diese Geister- und Totenschiffe könnten auch den historischen Kern für die Legende vom »Fliegenden Holländer« darstellen. 3 Die Zahl derjenigen, die an der großen Pest verstarben, ist nicht völlig sicher zu ermitteln. Einerseits werden Zahlen rhetorisch und spekulativ eingesetzt, andererseits dürften viele Tote, insbesondere Arme und Verfemte, gar nicht erfasst worden sein. Nach all dem, was einigermaßen greifbar und zugänglich ist, dürfte der Verlust der europäischen Bevölkerung um ein Drittel den meisten Realitätsgehalt besitzen. Das bedeutet, dass damals ca. 25–30 Millionen Menschen dem schwarzen Tod erlagen. 4 Nach den Chroniken des Sienesen Agnolo di Tura, Zeitzeuge der damaligen Geschehnisse, verstarben 80 000 Menschen in Siena. 1
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Aus den Pest-Briefen
VII
April 1374
DAS ARME GEWAND DER MENSCHENKINDER […] im April jenes Jahres 1348 war es in der Republik Siena noch so still und friedlich wie der heutige Morgen hier in Siena. Ein solcher Tag macht es leicht, das Psalmwort zu sprechen: Ich denke an Gott und freue mich. 1 Nur von woanders her kamen Gerüchte und böse Nachrichten, aus Messina und Catania 2 und Genua. In Siena aber herrschten noch Wohlstand und Frieden. Stolz erstrahlte die Stadt in allem Glanz prachtvoller Kirchen, Paläste und Häuser. Doch ab Ende Mai begann die Heimsuchung auch dieser stolzen Stadt, die ich wie meine zweite Heimat liebe. Im Juni, Juli und August starb fast alles Leben in ihr weg, und die Stadt war nicht mehr dieselbe. Was ich gesehen an den Kranken, fragst du mich. Was ihnen geschah durch das große Unheil? Was ich selbst mit meinen Augen gesehen habe, ist so über alles Sprechen und über alle Sitte hinaus, dass ich dir nur das Nötigste sagen will. Die unsichtbaren Engel schossen also ihre grausamen Pfeile auf die armen Menschenkinder oder stachen sie mit der bitteren Lanze 3 und blitzschnell kam der erste Schmerz über sie. Bald danach ereilt 4 die meisten von ihnen ein böses Fieber, der Kopf sticht mit Schmerz, jedes Glied am Leib jammert, der ganze Leib wird arg schwach und fröstelt übel. Das arme Gewand der Menschenkinder ward welk wie Obst. Wenn der Puls ganz rasend wird, halten sich die Kranken nicht mehr auf ihren Beinen. Sie beginnen zu taumeln, werden wirr und ihnen versagt auch das klare Sprechen. In ihren Fieberschauern weinen und rufen die Armen um kalten Trunk. Aber kein Getränk löscht ihren brennenden Durst. An den welken Leibern aber bricht alsbald das Böse hervor, Beulen wachsen zuerst unter den Armen und in den Weichen, dann aber übersäen die Bubonen 5 manchmal den ganzen Körper. Manche sind groß wie ein Apfel oder ein Gänseei. Sticht man sie auf, kommt das böse Blut heraus und alles will vor dem Pestgestank entfliehen. Wenn der Leib aber dunkle Flecken zeigt, manche schwarz, manche bläulich schimmernd, dann hat der Würgeengel sein Werk bald vollendet. Kein ärztlicher Rat, keine Arzenei kann 34 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
jetzt noch retten. Blut müssen die Gemarterten speien. Ein letzter müder Blick, dann bricht das Auge. Vom ersten schmerzenden Stich bis zum letzten Atemzug währt das kurze Leben nur sechs, sieben armselige Tage, dann ist es ausgehaucht. Weh mir, was muss ich erdulden, 6 klagte jede Seele damals. In jenen Tagen war es wie in einem Tollhaus. Nah und fern scheint mir diese Zeit. Heute leuchtet Siena ein glücklicher Tag. Buße und Fasten haben nun bald ein Ende, 7 ich aber feiere hier in der Fremde Lanze und Nägel, die heilen 8 […]
Erläuterungen und Kommentar Ps. 77,4. Die Bürger Messinas waren aus ihrer Stadt geflohen und hofften auf Aufnahme in der nachbarlichen sizilianischen Hafenstadt Catania. Der Zugang zur Stadt wurde ihnen verweigert und sie erhielten auch nicht die erbetene Statue der Schutzheiligen Catanias, der Heiligen Agatha. Mit dem Schleier ihrer Märtyrerin, so die Legende, waren die Catanesen einst den Lavaströmen des Ätna entgegengezogen und konnten diese auf wunderbare Weise aufhalten. Die Einwohner aus Messina hofften wohl auf eine gleiche Wirkung gegen die Pestströme. Die Vorsicht Catanias aber war umsonst. Die Pest fand einen Weg in die Stadt und wütete unter ihren Bewohnern so, dass sie nahezu komplett entvölkert wurde. 3 Der arabische Ausdruck »ṭāʿ ūn« (oder: »aṭ-ṭāʿ ūn«) bedeutet etwa so viel wie »Stich von der Lanze« und steht metaphorisch für »von der Pest befallen werden«. 4 Die Ereignisse stehen dem Briefschreiber offensichtlich wieder so lebendig vor Augen, dass er dramatisch ins historische oder narrative Präsens wechselt. 5 Die »Beulenpest« ist eine Erscheinungsform der Pest, wobei die charakteristischen »Beulen«, d. h. die geschwollen Lymphknoten und Lymphgefäße in den Achselhöhlen und der Leistengegend, auf Griechisch Bubonen (boubō´n: Leiste, Leistenschwellung, Leistengeschwulst) heißen. 6 Ein Zitat aus Petrarcas poetischem Brief Ad se ipsum. 7 Buß- und Fastenzeit haben bald ein Ende, weil Ostern kurz bevor steht. 1 2
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Wahrscheinlich handelt es sich um das Fest der Lanze und der Nägel Christi. Kaiser Karl IV. hatte die entsprechenden Reliquien erworben. Das Hochfest war 1354 durch Papst Innozenz IV. nur für Böhmen und Deutschland bestätigt worden. Daher heißt es im Brief, dass der Briefschreiber das Fest »in der Fremde« feiere. Zugleich ist die heilende Lanze Christi im Brieftext gegen die »bittere Lanze« gerichtet, die die Pest bringt. Da das Fest, das erst nach 1424 auf den jeweils zweiten Freitag nach Ostern fiel, am 16. April gefeiert wurde, erfahren wir damit auch das Abfassungsdatum des Briefes.
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Aus den Pest-Briefen
VIII
April 1374
DENN DES SCHRECKENS GESTALT […] Meine teure Tochter, über deinen vielen Fragen schwirrt mir der Kopf, und ich weiß gar nicht, wo ich recht beginnen soll. Aber sie wecken doch meine alte Leidenschaft. Denn du weißt ja, dass ich ein historicus 1 bin und dass ich dich immer mahne: historia magistra vitae. 2 Ich sitze hier am Kamin, dessen letzte Glut aus der Nacht mir noch einen warmen Schauer an diesem frühen und noch recht kühlen Vormittag spendet. Aber die Sonne am Firmament verheißt einen frohen Tag. Wie es der Rat der Pariser Doctores ist, trinke ich ein wenig von ihrem Wein, der heilen und schützen soll, 3 und genieße ein paar südliche Früchte. Dass aber viele sagen, wie du schreibst, dass die Pest eine Hydra ist, 4 ist wahr. Denn schlag ihr nur die Köpfe ab. Sie zieht sich in ihr Versteck zurück und dort wachsen ihre viele neue. Sie verbirgt sich kurz, dann springt sie wieder hervor und beißt, wen sie kann. So war die Pest im Jahr 1353 plötzlich wie vom Erdboden verschwunden. Aber wenn es ihr gefiel, brach sie immer wieder hervor. Doch nie mehr so gewaltig und furchtbar wie in jenen Jahren. Sie ist aber auch ein Januskopf. 5 Denn des Schreckens Gestalt wandelt sich eigentümlich. Im Winter hat er ein besonderes Gesicht und im Sommer ein anderes. Was ich dir schrieb über die Kranken, dass ihr Blut verstopft und sie Pusteln und Beulen bekommen unter den Armen und in den Weichen, am Hals und hinter den Ohren, bis sie dann langsam schwarz werden und am Ende das böse Blut erbrechen, das ist, was wir sahen im Frühling und Sommer. Was andere sahen, ich selbst sah es nur wenige Male, 6 war anders, und das war eher dann, wenn es kalt und feucht war. Da kämpfen die Armen mit furchtbarem Husten und haben Krämpfe in ihren Lungen und anhaltendes Fieber quält sie. Auch diese spucken viel Blut und waren schon nach drei Tagen tot. 7 So war die Seuche in der kalten Winterzeit. Gleichviel, keiner, der Blut spuckte, hat überlebt.
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Ich hoffe, diesen Brief heute noch dem Freunde Wilhelm 8 auf seine Reise zurück nach Köln mitzugeben, dass er dich besser erreicht als […]
Erläuterungen und Kommentar Der Briefschreiber bezeichnet sich als historicus, um entweder auszudrücken, dass er in besonderer Weise an Geschichte interessiert ist, oder sich in ihr als besonders bewandert und gelehrt ansieht oder aber daran interessiert ist, als Geschichtsforscher und Geschichtsschreiber Geschichte festzuhalten und ggf. aus ihr zu lernen. 2 historia magistra vitae: Geschichte ist die Lehrmeisterin/Lehrerin des Lebens, eine Maxime Ciceros (aus De oratore, II 36), die ähnlich auch in W. Diltheys Gedanken ihren Widerhall findet: Was der Mensch sei, sagt ihm nur die Geschichte. 3 Der Briefschreiber greift hier wieder auf das Pestgutachten der Pariser Medizinischen Fakultät zurück (vgl. Pestbrief 5), in dem empfohlen wird, einen klaren, leichten Wein, mit einem Fünftel oder Sechstel Wasser vermischt, zu sich zu nehmen. Getrocknete oder frische Früchte sollten nur mit Wein genossen werden, da sie ohne ihn tödlich seien. 4 Die Hydra ist ein vielköpfiges Ungeheuer aus der griechischen Mythologie. Abgeschlagene Köpfe wachsen ihr wieder nach und ihr Hauch soll, wie der Pesthauch auch, tödlich sein. Der Zusammenhang macht klar, dass der großen Pandemie von 1347/48–1353/54 noch viele weitere kleinere Epidemien bis zum Jahr der Briefabfassung 1374 gefolgt sind. Auch danach flammt die Pest immer wieder in kleinen und großen Zyklen weiterer Peststürme auf. 5 Janus, ein Gott der römischen Mythologie, wird als Kopf mit zwei Gesichtern dargestellt. Der Briefschreiber hebt mit diesem Bezug nicht so sehr auf Anfang und Ende, Dualität oder Zwiespältigkeit ab, die sonst mit dem Januskopf assoziiert werden, sondern auf die Wandelbarkeit der Pest in verschiedenen Erscheinungsformen, als hätte sie gleichsam ein Winter- und ein Sommergesicht. Das sommerliche Gesicht entspricht der Prominenz der Beulenpest, das winterliche der der Lungenpest, beides Manifestationen der einen Pest. Die Beulenpest wird in der Regel über Flohstiche ins Lymphsystem übertragen und breitet sich, entsprechend der vorübergehenden Kältestarre des Flohes bei Temperaturen unter 10°C, bei kälteren Temperaturen langsamer aus. Die Lungenpest wird 1
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durch Tröpfcheninfektion von Mensch zu Mensch übertragen und ist hochinfektiös. Die Pestsepsis (Septikämie) tritt in der Regel als Komplikation der Beulen- oder Lungenpest auf, wenn die Infektion in den Blutkreislauf übergeht, existiert aber auch als eigene, primäre Form, wenn ein Flohbiss oder eine Kontamination das Pestbakterium unmittelbar in die Blutbahn einschleust. 6 Das ist korrekt beobachtet, weil die Beulenpest immer auch von einzelnen Fällen der Lungenpest begleitet wird und beide Erscheinungsformen der Pest nebeneinander auftreten. 7 Wer durch Tröpfcheninfektion durch andere Pesterkrankte angesteckt wurde, hatte in der Tat nur noch eine Lebenserwartung von zwei bis drei Tagen. 8 Vielleicht ist der bekannte Kölner Gewandschneider Wilhelm Wavern gemeint.
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Aus den Pest-Briefen
IX
Mai 1374
DER KLUGEN RATSCHLÄGE GIBT ES VIELE […] nach der dritten Stunde in der Chiesa dell’Alberino 1 habe ich mich dort an das heilige Bäumchen gesetzt, 2 wo ich oft mit Francesco 3 ins Gespräch vertieft war. Ach, ich werde bald nach Arquà 4 reisen, wenn mich die Doctores hier fortlassen. 5 Ich vermisse das Gespräch mit dem Freund doch sehr. Das aber ist wahr: was ich dir über Reggio schrieb, das war schon früh in den Tagen der großen Pest in einigen Städten da, vor allem aber in Venedig. Und wenn es etwas gibt, das die Klugheit der Menschen im Kampf gegen die Pest gefunden hat, dann sind es nicht die consilia. Vielmehr wird man später einmal sagen: es war dieses. 6 Waren Kranke in der Stadt, wollte man sie gut absondern, dass die Krankheit bei ihnen bleiben konnte. Da aber doch die Nächstenliebe nötig war, sich um sie zu kümmern, konnte keine Absonderung wirklich gelingen. So versuchten manche, sie bald aus der Stadt auszusperren und auf ein Landgut, ein fern gelegenes Pesthaus oder auf eine Insel zu bringen. Dorthin begleiteten sie die Tapfersten und die, die der größten Liebe fähig waren. So brachte man die Kranken aus der Stadt, dass sie dort, wo sie waren, genesen oder sterben. Wer den Pestkranken beistand, musste zehn Tage abgesondert bleiben. Ob jemand gesund sei, musste genau untersucht werden. Wer aber gegen die Gesetze verstieß, ob Kranke, ob Gesunde, sollte Strafe leiden unter Verlust seines Vermögens und bei Strafe des Scheiterhaufens. 7 Auch ließ man andernorts niemand in die Stadt herein, wenn er irgendein übles Zeichen zeigte. Nur die, die Pestbriefe bei sich trugen, durften passieren. 8 So verfuhr man in den Hafenstädten auch mit den Waren und Mannschaften der Handelsschiffe und ließ sie viele Tage warten, wenn sich der Verdacht auf die Pest regte und sie diese Briefe nicht bei sich trugen. 9 Wer dies streng tat, mit harter Hand, wie das glückliche Mailand, konnte sogar das Wunder erleben, ganz bewahrt zu bleiben. 10 Das große Sterben hat heitere und fröhliche Städte in düstere und menschenleere Orte verwandelt. Doch so, mein Kind, konnte 40 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
eine Stadt wenigstens versuchen, sich rein zu halten oder zu reinigen. Die aber, die abgesondert wurden, konnten ebenso rein werden, wenn sie nicht starben. Wer aber beglaubigt war, dass er aus einem reinen Ort herstamme, fand Einlass. Dies also folgte aus der menschlichen Klugheit im Kampf mit dem großen Unglück und findet allseits Beifall, auch den meinen. Deshalb […] 11
Erläuterungen und Kommentar Die »Kirche am Bäumchen« ist die Kirche San Francesco all’Alberino. Der Legende nach hat der hl. Franz von Assisi im Jahr 1216 ein Bäumchen bei der Kirche San Francesco all’Alberino gepflanzt. 3 Francesco Petrarca; vgl. die Briefe 2 und 3. 4 In Arquà (Petrarca), ca. 30 km südwestlich von Padua, verbachte Petrarca seinen Lebensabend (1370–1374) auf seinem Alterssitz, der Casa (del) Petrarca. 5 Diese Bemerkung deutet an, dass sich der Briefschreiber nicht nur aus geschäftlichen, sondern auch aus persönlichen, gesundheitlichen Gründen in Siena aufhielt, vielleicht zu einer Behandlung oder Heilkur. 6 Die Pestkonsilien und Pesttraktate werden vom Briefschreiber so verstanden, dass sie neben Fragen nach Ursache und Verlauf der Pest vor allem (wenig erfolgreiche) präventive, diätetische und therapeutische Ratschläge und Empfehlungen zum Umgang mit den Kranken geben. Die Pestregime hingegen setzen auf (wirkungsvollere) rechtlich verordnete seuchenprophylaktische und stadthygienische Maßnahmen. (Zu Reggio s. Brief 1) – Die Formulierung »man wird später einmal sagen« nimmt die Sicht des historicus auf, die in Brief 8 angeklungen war. 7 Dieser Abschnitt widmet sich den Isolationsmaßnahmen im Umgang mit den Pestkranken. Wenn die Kranken nicht in der Obhut der Familien blieben, kamen sie zur Absonderung in Spitäler oder Leprahäuser (Leprosorien), die man aufgrund der Seuchenerfahrungen bald als Pesthäuser weit entfernt außerhalb der Stadtmauern etablierte. Diese waren nicht nur entlegen, sondern oft quasi insulär durch tiefe Wassergräben und hohe Mauern gegen Fluchtversuche geschützt, oder es handelte sich tatsächlich um Inseln: das italienische isola für Insel ist der Wortursprung für »Isolation«. Wer dort eingeliefert wurde, war dem Tode geweiht. War er noch nicht krank, dort wurde er es. – Mauern, ob als Stadt-, Schutzoder Fluchtmauern, sind gleichsam Symbole der Immunisierung. 1 2
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Die Schutzmaßnahme der »Pestbriefe« wirkte als Gesundheitspass. War der Brief »rein«, d. h. war der Herkunftsort des Reisenden nicht pestverseucht, war ein Zutritt in eine Stadt möglich. Unsere Reisepässe und Passkontrollen verdanken sich diesem Ursprung. 9 Dieser Abschnitt bezieht sich auf die Quarantäne im Umgang mit unklaren Fällen. Anfänglich dauerte die »Quarantäne« zumeist zehn Tage, später wurde sie ausgedehnt. Systematisch hat z. B. Venedig die Trentana, eine dreißigtägige Quarantäne auf pestverdächtige Reisende und Waren, im Jahr 1374 eingeführt. Wenige Jahre später wurde die Zahl der Tage, u. a. in Marseille, auf die Zahl vierzig erhöht (quaranta giorni, quarantaine de jours), so dass mit dieser vierzigtägigen Isolationsperiode das Wort »Quarantäne« aus der Taufe gehoben war. In der Zahl von vierzig Tagen klingen womöglich auch biblische Vorbilder an: vierzig Tage bleibt Mose auf dem Sinai, vierzig Tage wandert Elija durch die Wüste zum Horeb, vierzig Tage und Nächte fastet Jesus, bevor er die Heilsbotschaft verkündigt. Entsprechend dauert die Fastenzeit vor Ostern vierzig Tage und Nächte und wird mit der Fastnacht, Fasnet, Fasching oder Karneval eingeleitet. 10 Mailand blieb in der Tat im Jahr 1348 von der Pest verschont. Die Signori, die Herrscher der Stadt seit 1339, Luchino Visconti und Giovanni Visconti, hielten Mailand militärisch und unter Androhung drakonischer Strafen abgeriegelt. Erkrankte jemand in der Stadt, konnten sofort die Eingangstüren und Erdgeschossfenster seines Hauses zugemauert werden, so dass die Infektion sich in der Regel auf Familienmitglieder beschränkte. Der eiserne Gürtel, innen und außen, hielt, so dass nur 10– 15 % der Mailänder verstarben. Erst in der Pestepidemie 1361 wurde die Stadt wieder von der Seuche heimgesucht. 11 Was also die mittelalterliche »menschliche Klugheit« in Summe aufbieten konnte, war ein bewundernswerter, wenn auch vielfach ohnmächtiger (unspezifischer) Eindämmungsversuch. Zwangsisolation der Infizierten, Quarantäne für die unklaren Fälle, Meldepflicht und Pestbriefe als Passierscheine zur Reisebeschränkung, Hygiene- und Entseuchungsmaßnahmen (Lebensmittelkontrolle, Trinkwasserüberwachung, Beerdigung der Toten unter Aufbringen von Kalk in die Gräber und Gruben, Straßenreinigung, Kontrolle der Tierhaltung, Überwachung der Latrinen usw.), sozusagen ein hart regulierter und strafbewehrter Lockdown, sowie diätetische, therapeutische und andere supportive Maßnahmen bilden das Klugheitsregime des Mittelalters gegen die Pest. 8
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Aus den Pest-Briefen
X
Mai 1374
DIE KUNST DER WEISEN UND DER ÄRZTE […] haben viele gute Ratschläge zur Hand. So haben die Gelehrten aus Paris 1 und andere Weisen gesagt, dass die Menschen auf die Warnzeichen am Himmel achten sollen. Sie sollen aber auch die Säfte ihres Körpers im Gleichgewicht halten. 2 Das Haus muss man räuchern mit gutriechenden Feuer von Eichen, Eschen- oder Olivenholz, worauf man Balsam, Weihrauch oder Sandelholz wirft. Im Sommer gebraucht man Rosen, Veilchen und alles, was gut riecht. Die Wände des Hauses reinigt man durch Kalk. Sich selbst enthält man der fleischlichen Lust. Der Umgang mit Weibern ist tödlich: man darf sie weder begatten, noch in einem Bette mit ihnen schlafen. Alles Überhitzen ist nämlich von Schaden. Darum soll man auch die Sonne meiden und die heißen Bäder fliehen. Meide ebenso den Südwind, aber auch die nebelige und trübe Luft. Den Kranken muss man alleine legen, gut zur Ader lassen 3 und recht mit Speis und Trank versorgen. Vier Mal am Tag gebe man ihm Metridat 4 mit Essig. Sollte Metridat fehlen, nehme man Theriak 4 mit Essig und Safran vermischt. Sein Gesicht wäscht die Barmherzigkeit mit Rosenwasser und Essig. Im Zimmer der Kranken bleibt das Fenster für frische Luft geöffnet, da sie der Pest schade. Hier wundert sich aber der nachdenkliche Geist. Ist denn in der frischen Luft nicht auch das furchtbare Miasma? Doch die Luft im Krankenzimmer ist vielleicht noch stickiger als die draußen. Der Priester nimmt die Beichte im Zimmer alleine ab, damit der Kranke nicht flüstern muss und der Beichtvater Abstand von ihm halten kann. Der Arzt fühlt den Puls mit abgewandtem Gesicht und beurteilt den Harn im Glas nur von weitem. Wer das Krankenzimmer verlässt, wäscht sich Mund und Hände mit Essig und Wein. Alle Speisen muss man mit stark duftenden Substanzen durchsetzen. Das Brot und alles andere auch taucht, wer klug ist, inWein mit Gewürznelken. Das Saure schützt am besten gegen Fäulnis. Vor allem aber ist es recht, den Theriak, die Himmelsarzenei, in kleinen Men-
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gen zu essen, täglich mindestens eine Menge so groß wie eine Haselnuss. 5 Was aber soll ich dir sagen? Es starben alle. Auch die Ärzte raffte es dahin wie die Fliegen, und keine Kunst konnte sie retten. Die Weisen waren Toren vor dem großen Tod. Wer heute eine klugen Rat gab, war morgen selbst schon tot. 6 Die Kunst der Weisen und der Ärzte: Lächerlich war alles, was die Menschen taten. Nur die Gerber starben seltener, 7 und der Papst zwischen den Feuern starb auch nicht. 8 Wer konnte, tat dies: Fliehe schnell weit weg und kehre erst spät wieder zurück. 9 Dass dein Vater alle Heimsuchungen überlebt hat, verdankt er nicht sich selbst oder einem Zeichen auf dem Haus, 10 sondern nur dem gütigen Schicksal und der Gnade des Höchsten. Spät ist der Vormittag geworden, den Theriak habe auch ich heute genossen, nun muss ich aber eilen, dass die heutigen Geschäfte noch […]
Erläuterungen und Kommentar Wieder bezieht sich der Briefschreiber auf das Pestgutachten der Pariser Medizinischen Fakultät; vgl. die Briefe 5 und 8. 2 Die mittelalterliche Medizin stand in der Nachfolge der antiken Autoritäten des Aristoteles, Hippokrates und Galens. Hier hatte sich eine Viersäftelehre (Humorallehre) entwickelt, die die vier Elemente des Empedokles Wasser, Erde, Feuer und Luft und ihren Qualitäten kalt, warm, trocken und feucht mit den vier Kardinalsäften Schleim (Phlegma des Gehirns), schwarze Galle (Melaina Chole der Milz), gelbe Galle (Chole der Leber) und Blut (Haima, sanguis des Herzens) in Verbindung brachte. Aus ihrer jeweiligen Mischung sollten sich Gesundheit, Krankheit und Temperament erklären lassen. Auch eine Seuche, wie etwa die Pest, wurde in diesem Schema als eine Störung der Ausgewogenheit der vier Säfte (Humores) gedeutet. 3 Aderlässe dienten, wie auch z. B. Erbrechen und Schwitzen oder das Aufschneiden und Schröpfen (Purgieren) der Lyhmphknotenabszesse, der Reinigung von einer Säfteverderbnis (vgl. Anm. 2) und sollten die Menge des schädlichen (infektiösen) Blutes reduzieren, um die humoralpathologische Balance der vier Grundsäfte wieder herzustellen. 1
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Metridat bzw. Mithridat und Theriak sind sehr kostspielige antike und mittelalterliche Universal- oder Allheilmittel (Panazeen), die als Gegengifte (Antidot) gegen Vergiftungen, Krankheiten und Seuchen dienten. Sie folgten zum Teil einer sehr aufwendigen Rezeptur mit 60–70 und mehr Bestandteilen in einer phantasievollen Mischung aus Kräutermixturen, bestimmten Pflanzen, magischen Bestandteilen, wie Kröten-, Enten- und Schlangenfleisch, Giften und gelegentlich etwas Opium. Einfache Rezepturen begnügten sich mit vier oder fünf Grundbestandteilen. Diesen Universalmitteln wird eine protektiv-purgatorische Wirkung nachgesagt, d. h. sie schützen vor Erkrankung oder heilen durch ihre reinigende und regulierende Kraft von Erkrankung, indem sie schädliche Körpersäfte abführen. 5 Die Wundermittel wurden meist in der Arzneiform der Latwerge auf Honigbasis gereicht, d. h. breiig in dickflüssig-zäher oder sirupartiger Konsistenz, mit konservierendem Honig versetzt. 6 Diese Bemerkung greift die Skepsis gegenüber den Pestkonsilien von Brief 9 auf. 7 In der Tat gab es berufsgruppenbezogene Beobachtungen, dass etwa Bäcker, Müller oder Schlachter, die mit vielen Lebensmitteln und Kunden zu tun hatten, häufiger von der Pestseuche betroffen waren als etwa Gerber, was womöglich u. a. mit dem desinfizierenden Kontext der Arbeit zusammenhängt. 8 Papst Clemens VI. hatte von seinem Leibarzt Guy de Chauliac in Avignon eine entsprechende Empfehlung erhalten. Er saß also isoliert in seinen von Besuch abgeriegelten Gemächern zwischen ständig brennenden bronzenen Feuerschalen, die durch ihr Räucherwerk die Luft vom Pestmiasma reinigen sollten. Tatsächlich aber hielten sie wohl Ratten und Flöhe fern. 9 Cito, longe fugeas et tarde redeas: ein Gedanke Galens, der auch in dem Pestgutachten der Pariser Medizinischen Fakultät aufgegriffen wird. Wer reich genug war und ein Landgut besaß, konnte, wie es auch Boccaccios Dekameron zeigt, dieses Privileg nutzen, um aus der Stadt, dem hot spot der Geschehnisse, zu fliehen. 10 Durch das Aufmalen beispielsweise eines Kreuzes oder eines Zeichens, das einer spiegelverkehrten Vier ähnelt, glaubte man sich im Besitz magischer Abwehr- und Schutzsymbole gegen die Pestseuche. 4
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Aus den Pest-Briefen
XI
Juni 1374
AUCH DIE PROZESSIONEN KÖNNEN NICHT BESÄNFTIGEN […] nein, mein Kind, das ist nicht recht gedacht. 1 Denn ich habe doch auch gutes Vertrauen in die Vernunft und ebenso in Gott. Klage daher nicht über das, wofür es keinen Grund gibt zwischen uns. Denn was hilft es der Vernunft, wenn ich dir schreibe, was nicht wahr ist. Was ich dir aber schrieb, ist wahr: kein Rat der Weisen und Ärzte half gegen die Pest. Und was dient es Gott, wenn ich dich belüge und wie die Heuchler die Augen schließe und mit den Lippen flöte. Wir müssen die Dinge ansehen, wie sie waren. Was haben die Frommen alles unternommen, um mit Gott zu verhandeln und ihn zu besänftigen. Wie schlechte Kaufleute boten sie ihm ihr Almosen, Messen und Fasten, als wollten sie ihn, den Unbestechlichen, bestechen. Die Altargänge und auch die Prozessionen konnten nicht besänftigen den Zorn des Allmächtigen. Was hielten sie sich bei jedem Gähnen die Hände vor den Mund und bekreuzten ihn – und starben sie nicht doch? Du sollst wissen, liebe Tochter, wie ich denke. Es nützt kein Handel mit Gott. Mögen sich die in Babylon ihre Paläste davon bauen. 2 Wo Zorn oder Strafe oder Leiden des gerechten Gottes kommt, müssen wir darum bitten, dies tapfer zu ertragen. Darum sollen sie alle tun, was sie tun – aber nur, um ihre Seele zu ordnen, nicht um ihren Leib zu retten. So bitte ruhig den Heiligen Sebastian und gehe in die Kupfergasse. 3 Wirf dich nieder auf den Boden. Aber warum? Vielleicht können sie sagen: das ist ein Pestkreuz. Aber du weißt ja, das heilige Kreuz wie ein Ast ist viel älter als die große Pest. 4 Handle nicht mit dem, der da hängt in seinem Schmerz. Der von der Deichsel auf dich herabschaut, braucht nur dein Herz, das seinem Willen folgt. Der Glaube ist kein magischer Zauber. Wir enträtseln nicht den Ratschluss Gottes und wir kaufen uns nicht frei von gerechter Strafe und verdientem Zorn. Klagen, Fragen und Zweifeln – ist das kein wahrer Dienst für Gott? Tut dies denn nicht auch der Psalmist? 46 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
Darum war es klug, was Venedig tat. 5 Denn sie schlossen nicht nur die Märkte, sondern verboten auch alle Feste und Predigten und Prozessionen. Wo aber dennoch die Feste und Feiern stattfanden, freute sich der Tod, weil er übergroße Nahrung fand. Das Unheil wütete dort am meisten, wo die Menschen einander das tödliche Geschenk brachten. So legten sie immer neue Scheite in die Feuersbrunst der Pest und fachten das Unglück weiter an. 6 Der Vormittag schlägt auf elf. Ich koste meinen Hypocras 7 aus und gebe mein Schreiben an dich dem edlen Hartmann 8 mit auf die Reise nach Köln […]
Erläuterungen und Kommentar Offensichtlich hatte die Tochter des Briefschreibers einige Einwände gegen den letzten Brief des Vaters, Brief 10 erhoben, insbesondere dessen letzten Abschnitt. 2 Babylon steht hier als Denkfigur Petrarcas für das Papsttum in Avignon, wo der Bau des Papstpalasts und sein Unterhalt wesentlich durch den Ablasshandel finanziert wurde. 3 Gemeint ist die Kupfergasse in der Kölner Altstadt, wo sich die nach dem Dom wichtigste Kirche St. Maria im Kapitol befindet, ein mächtiger frühromanischer Kirchenbau aus dem 11. Jahrhundert. – Zu St. Sebastian als Pestheiligem vgl. Brief 3. 4 Das ungeschönte Leidenskruzifix in Y-Form (wie eine Gabel oder Deichsel, crucifixus dolorosus), das die Passion Christi auf grausam-realistische Weise in ihrer hässlicher Brutalität und die Todesqualen mit allem Schmerz wiedergibt, ist deutlich älter als die große Pest von 1347/48–1353/54, so dass die Bezeichnung »Pestkreuz« für dieses Gabelkreuz bestenfalls sekundär sein kann. Statt ökonomischer Verhandlungen im Blick auf die Leiden, die Gott zulässt, tendiert der Briefschreiber zu einer mystischen Frömmigkeit, die sich mit dem leidenden Gott identifiziert. 5 Während beispielsweise Florenz die Spelunken und Bordelle und Badehäuser schloss, zugleich aber Prozessionen und Heiligenfeste erlaubte, verfolgte Venedig rigoros eine rationale Strategie der Beschränkung von Menschenmassen sowohl im weltlichen wie im geistlichen Raum. 1
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Jede Form von Ansammlung begünstigt und potenziert das Infektionsgeschehen. 7 Der Hypocras (abgeleitet von Hippokrates) ist ein recht süßer roter Gewürzwein, der auch als Heiltrank galt. Da im Mittelalter Gewürze, wie Zimt, Gewürznelken, Orangenblüten, Ingwer, Kardamon, Majoran, Muskatnuss und Pfeffer, kostbar und oft sehr teuer waren, ist ein solches Getränk nur an Königshöfen oder bei wohlhabendem Adel zu finden, was eine vage Idee mit sich bringt, wo der Briefschreiber wohl logiert haben mag. 8 Eine nicht näher zu identifizierende Person, die den Brief zur Tochter nach Köln mitnehmen soll. 6
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Aus den Pest-Briefen
XII
Juni 1374
DER LEICHENZUG FAND KEIN ENDE MEHR […] oh, es war wirklich grausam. In den ersten Tagen und den ersten beiden Wochen war der Tod noch gezähmt durch die Ordnung. Der Toten wurde gedacht und sie erhielten ihre Ehre. Der Gang zum Kirchhof brachte sie zur Auferstehung des Fleisches in die geweihte Erde. Doch bald wendete sich das Blatt. Zuerst starben wenige, dann immer mehr, dann tausend an einem Tag. Der Gottesacker wurde umgedreht und umgedreht. Die Halbverwesten wurden weggeschafft und böser Gestank zog durch ganz Siena. Man warf Sand auf alle Gräber, aber es nützte wenig. Draußen vor der Stadt grub man tiefe Gruben und legte Pestfriedhöfe an. Es half aber nichts. Der Leichenzug fand kein Ende mehr. Und rasch, siehe, eben war es noch ein fröhlicher und freundlicher Ort, waren die Straßen verödet und vom Gestank umherliegender Toten verpestet. Zuerst war Angst in allen Gesichtern. Jeder fürchtete sich vor Ansteckung durch irgendeine Ausdünstung. Niemand kaufte und verkaufte auf den Märkten. Keine Blumen, kein Obst, kein Tand. Kein Handwerk wurde versehen. Ganz Siena war ein Totenhof und Leichenfeld. Vor Verzweiflung legten die Menschen einfach ihre Toten vor die Türen ihrer Häuser, auf die Bahre, auf ein Brett oder zuletzt in den Dreck. Tote und Sterbende lagen wüst übereinander. Wer tat noch Fürsorge für sie? Zuerst verlor die Stadt ihren Mut, dann ihre Scham. Gleichgültig war jede Miene zuletzt, stumpf und ohne Freud. Nicht einmal mehr Trotz im Angesicht. So nahm der Tod alle an die Hand und machte keine Unterschiede. Weder Macht noch Besitz, weder Stand noch Rang, weder Ehre noch Ruf – alle sind gleich, wenn der Tod die Lebenden ruft. Der gerechte Schnitter mäht jedes Blümelein. 1 Nichts hilft. Kein Kraut ist ihm gewachsen. Jedes Beinhaus bezeugt diese armselige Einsicht. Alles hat seine Zeit, 2 bis es keine mehr hat. Aber wenn du es fühlst und siehst, wenn der Herr Tod dir den Freund entreißt, ach, was kann man da sagen: ich sah ihn an, aus seinen beiden Augen schaute mir der Tod heraus, und er verließ mich, und ich ließ ihn gehen. Siena, ich 49 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
musste weinen über dich. Der Tod nahm dich und jeden in den Arm und tanzte seinen bösen Tanz, 3 bis die ganze Stadt ein Pesthaus war. Dies habe ich gelernt an Leib und Seele, was uns allen blüht und keiner will: Der Schwache wird dahingerafft, und auch der Starke wird schwach. Wer am Morgen einen Leichnam begrub, war am Abend selber einer. Wer am Abend noch festlich speiste, war tags darauf im Kreis seiner Vorfahren versammelt. 4 So müssen wir wahrhaftig klug werden, 5 mein Kind. Der Mittag ist sehr heiß geworden und fordert eine kleine Ruhe von deinem müden Vater und seinen müden Gedanken. Deshalb […]
Erläuterungen und Kommentar Ein bekannter Topos: der Tod ist gerecht, er trifft alle ohne Unterschied und Ansehen ihrer Person, meist jäh und unerwartet. Wie ein gleichgültiger Schnitter mäht er jede Blume und alles Gras. 2 Ein Gedanke aus dem Prediger Salomo (Kohelet) 3,1–11; vgl. Brief 2. 3 Hier wird das Motiv des Totentanzes angesprochen, der mit »jedem« seinen tödlichen Tanz tanzt, dem keiner entgehen kann; vgl. Anm. 1. Da weder Reichtum noch Amt noch Macht noch Herkunft irgendetwas gegen den Totentanz aufzubringen vermochten, kann man ihm ein gesellschaftskritisches oder sozialrevolutionäres Potential zusprechen. Der Tod, um ein Wort von Karl Marx zu entlehnen, bringt die versteinerten gesellschaftlichen Verhältnisse zum Tanzen. 4 Der Briefschreiber greift mit diesem Gedanken auf Giovanni Boccaccios (1313–1375) Novellenzyklus Decamerone aus dem Jahre 1350 zurück; vgl. a. die Briefe 2 und 9. 5 Diese Schlussfolgerung reflektiert einen Vers aus Psalm 90, 12: Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden. 1
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Aus den Pest-Briefen
XIII
Juli 1374
DAS GUTE GAB ES AUCH […] nein, du hast ganz Recht – das Gute gab es auch. Zwar gab es mehr Schatten als Licht. Aber umso größer strahlte es im Dunkel. Es gereicht den Menschen und Gott zur Ehre, wenn wir uns daran erinnern. Die mit der größten Liebe in ihren Herzen blieben bei den Angehörigen, um sie bis in den Tod zu pflegen, während sie schon spürten, dass auch der ihre nahte. Auch manche barmherzige Schwester, auch wenige fromme Geistliche hielten es aus bei den Pestkranken und teilten tapfer ihre Not. Wer sich bei einer so entsetzlichen Krankheit den Armen zuwendet, hat den sicheren Tod vor Augen und lässt doch das schönste Antlitz menschlicher Tugend aufleuchten. Tausend edle Taten wurden in einer Zeit der größten Gefahr in aller Stille geübt, ohne dass sie der Nachwelt zur Erinnerung aufgezeichnet werden können. Alles, was hier bekannt ist, versinkt alsbald in Vergessenheit. Doch wir wollen immer die Barmherzigkeit Bernardo Tolomeis von Siena preisen: er sah auf die arme Seele und nicht auf den Gewinn – wir wollen seiner immer gedenken und es nie vergessen. Solche Taten finden stets eine schöne Seele, die sie nachahmt, wie jene Katharina hier in Siena, die sich voller Hingabe um alle Pestkranken kümmerte und nicht fortlief, als das Böse in diesem Jahr wieder aufflammte. 1 In einer Zeit, wo sich kaum mehr Ärzte fanden, da sie wie alle dahinstarben, und die, die man fand, forderten eine unverschämte Summe Geldes, da muss man edel denken von einem Mann wie Guy de Chauliac. 2 Er weigerte sich, dem Rat Galens zu folgen, 3 und blieb, wo die Kranken waren, um der Schmach der Flucht zu entgehen. Tapfer trotzte er allen Gefahren und stand den Pestkranken wacker zur Seite. So ist Guy de Chauliac uns ein leuchtendes Vorbild für Ehre und Treue. Er schreibt, 4 dass der Wunsch zu fliehen, stark in uns ist und die Vernunft bald auf seiner Seite hat. Doch die heilige Pflicht des Arztes, ist es, dem Kranken beizustehen, wie sie es seit Hippokrates’ Zeiten treulich geloben. 5 So soll es auch für uns sein: vor der Nächstenliebe fliehen, ist uns eine Schande. Oder, um gerecht zu spre51 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
chen, dem Rat zur Flucht sollen wir nur folgen, wenn wir die schuldige Nächstenliebe nicht grämen und bekümmern. Mein Kind, heute findet der Palio 6 zur Ehre der Madonna di Provenzano 7 statt, und ich werde den Streit der Pferde zum ersten Mal mit eigenen Augen sehen. Seit drei Tagen schon ist die Stadt in hellem Aufruhr, jeder plärrt für seine Contrada 8 und alles wird auf den Beinen sein, um die schlanken Pferde auf der Piazza del Campo 9 rennen zu sehen. Auch wenn der Wettstreit wenige Augenblicke dauert und sich alles nur im Kreise dreht, so sind doch die Festessen und Feiern, die Wetten und das Gerede ein großes Vergnügen für alle wie die Eseleien, Narreteien und Mummerei 10 bei uns in Köln. Der Tag ist heiß und ein Nachmittag auf dem Marktplatz ohne Schatten wird […]
Erläuterungen und Kommentar Der Briefschreiber sieht sich ja selbst als historicus, eine Sicht, die sich auch an dieser Stelle wieder zu artikulieren scheint; vgl. auch die Briefe 8 und 9. – Der heilige Bernardo Tolomei (1272–1348), der sich aufopferungsvoll bis zu seinem Tod um die Pestkranken gekümmert hatte, starb im August in Siena an der Pest. Ähnlich wird von der heiligen Katharina von Siena (1347–1380) berichtet, dass sie, als eine zweite Pestwelle im Jahr 1374 Siena erfasste, die Pestkranken und Sterbenden ohne Angst und Sorge vor eigener Ansteckung gepflegt und mit eigenen Händen begraben habe. Im gleichen Jahr steckte sie sich, wohl in Pisa, an der Pest an, die sie aber überlebte. Als Mitglied des Dritten Ordens der Dominikaner lebte sie nicht kontemplativ hinter Klostermauern, sondern aktiv mitten in der Welt mit Werken der Barmherzigkeit für Arme, Kranke und Notleidende. 2 Zum Leibarzt Papst Clemens VI. und berühmten mittelalterlichen Chirurgen Guy de Chauliac (1298–1368) vgl. auch Brief 10. 3 Der Rat zur Flucht: vgl. Brief 10. 4 Der Briefschreiber denkt dabei wohl an Guy de Chauliacs Werk Chirurgia magna (1363). 5 Gemeint ist der Hippokratische Eid, der im Mittelalter in christianisierter Fassung der Eid der Ärzte schlechthin war und der das Wohlergehen und den Nutzen des Kranken in den Mittelpunkt stellt. 1
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Das berühmte waghalsige Pferderennen in Siena, das zweimal im Jahr stattfindet: am 2. Juli und am 16. August. 7 Der Palio di Provenzano ist das Pferderennen, das am 2. Juli stattfindet, wodurch das Briefdatum in diesem Fall präzise bestimmt ist. 8 In dem Palio treten verschiedene Contraden, d. h. Stadtteile, Stadtviertel oder Stadtbezirke, gegeneinander an, wovon es heute noch insgesamt 17 in Siena gibt. 9 Der imposante zentrale Marktplatz Sienas, der zur Zeit des Briefschreibers schon komplett gepflastert war. 10 Hinweise auf Narren- und Eselsfeste sowie die Spiele, Tänze und Verkleidungen vor Beginn der Fastenzeit. 6
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Aus den Pest-Briefen
XIV
Juli 1374
SCHMERZLICH MÜSSEN WIR UNS TRENNEN […] ach, mein Kind, dunkel waren die letzten Tage. Ein Bote kam von Arquà, 1 dass ich hinkäme, um Francesco zu sehen, da er ernstlich krank liege. Zum 11. des Monats traf ich ein. Mein guter Freund lag blass und bleich zu Bett. Sein Atem ging schwer und die Ärzte schüttelten den Kopf. Auch Giovanni 2 sah ich, wie er weinte um den Freund. Er hatte nicht mit dem Abschiedsbrief leben wollen. 3 Doch blieb er selbst nur zwei Tage, da sein eigenes Leiden ihn zwang zu gehen. 4 Sie versprachen sich beim Abschied gegenseitig Hoffnung und ein Wiedersehen. Am 18. des Monats verließ ich den Freund am Nachmittag, weil sein Schmerz zu groß geworden war und er das Bewusstsein verlor. Am 19. Juli haben wir ihn selbst verloren. Sanft lag sein Haupt hingesunken über einem Buch. Groß war mein Schmerz und ich fühlte mich, als wäre ich nur noch halb am Leben, während mir mit ihm die andere Hälfte entrissen war. 5 Schmerzlich müssen wir uns trennen. Der Riese war gefällt. 6 In unseren Gesprächen hatten Francesco und ich jenes Juni und seiner festlichen Tage in Köln gedacht, wo wir uns zum ersten Mal gesehen hatten. 7 Dann sprach ich mit ihm darüber, dass du mich zu den Dingen der großen Pest befragst. Francesco fand es gut und richtig, dass ein junger Mensch, er nannte dich dabei meine Tullia, 8 alle diese Dinge versteht. Aber er hat mir das Versprechen abgenommen, dass wir auch vom Wichtigsten sprechen sollen: was wir daraus lernen. Er meinte nämlich, die Seuche sei ganz umsonst gewesen, wenn wir keine anderen Menschen werden. Und er gab mir zum Auftrag, dir einige Worte von ihm zu schicken. Dazu bring ich dir noch mit, wenn wir uns wiedersehen, einen Brief, den er an sich selbst schrieb, und ein Gedicht über den Triumph des Todes. 9 Er sagte aber: 10 Was soll ich nur sagen? Womit soll ich beginnen? Wohin mich wenden? Von überall Leid! Von überall Schrecken! O wäre ich doch nie geboren! Dieses Jahr 1348, das ich betrauere, hat uns nicht nur unserer Freunde, sondern die ganze Welt ihrer Völker beraubt. Hat man je so etwas gesehen oder nur sagen 54 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
hören? Wo hat man je gelesen, dass die Häuser verlassen, die Städte aufgegeben, die Felder unbebaut, die Fluren mit Leichen bedeckt gewesen seien? Wende Dich an die Historiker: sie schweigen. Frage die Ärzte: sie sind erstarrt. Suche bei den Philosophen Rat: sie zucken die Achseln, runzeln die Stirn und gebieten Schweigen, indem sie die Finger auf die Lippen legen. Wirst Du das glauben, Nachwelt? Am 24. Juli haben wir sein Begräbnis in der Kirche Santa Maria Assunta gefeiert. Danach bin ich zurückgereist. Jetzt, es ist die Non, 11 weint dein einsamer Vater Tränen der Trauer in Siena, während der heitere Himmel ihn golden bescheint […]
Erläuterungen und Kommentar Vgl. dazu auch Brief 9. Giovanni Boccaccio; vgl. auch die Briefe 2, 10 und 12. 3 Am 4. Juni 1374 verschickt Petrarca einen Brief, in dem er von seinen Freunden wie auch vom Briefeschreiben Abschied nimmt. 4 Boccaccio litt wohl an Hydropsie oder Aszites, an einem »Wasserbauch«, wurde zunehmend bewegungsunfähig und verstarb am 21. Dezember 1375 im toskanischen Certaldo, wahrscheinlich an Herzversagen. 5 Dieses »halbiert« und »hälftig« werden, erinnert recht genau an das, was Augustinus im vierten Buch seiner Confessiones angesichts des Todes seines Freundes berichtet. 6 Dieser Satz spielt offensichtlich auf die für die damaligen Verhältnisse eher ungewöhnliche Körpergröße Petrarcas von über 1,80 Meter an. 7 Auf seiner Rheinreise im Jahr 1333, einer Bildungsreise zusammen mit Enea Silvio Piccolomini (dem späteren Papst Pius II.), machte Petrarca, von Aachen kommend, auch Station in Köln. Am Johannisabend, dem 23. auf den 24. Juni, traf er dort ein und erlebte dann das Johannisfeuer sowie anderntags die Festlichkeiten am Johannistag zur Ehre der Geburt Johannes des Täufers. Offensichtlich kam es in diesem Rahmen zur Begegnung mit dem Briefschreiber. 8 »Tullia« nannte Petrarca auch seine Tochter Francesca (1343–1382/ 84); er erweist damit seine Reverenz gegenüber dem von ihm verehrten Cicero, dessen Tochter ebenfalls Tullia hieß. 9 Gemeint ist zum einen der »poetische Brief« Petrarcas an sich selbst »O bittrer Schmerz!«, in dem es um die Pest geht, sowie zum anderen das 1 2
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3. Kapitel (Der Triumph des Todes) aus den I Trionfi, die 1351 begonnen und im Februar 1374 abgeschlossen wurden. 10 Eine Gedankenkompilation aus einem familiären Brief an Petrarcas Bruder Gherardo. 11 Die Non (liturgisch, nona hora) ist die 9. Stunde des Tages, also 15:00 Uhr, die Todesstunde Christi, an der man auch aller Sterbenden gedenkt.
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Aus den Pest-Briefen
XV
August1374
ES LÄUTETEN KEINE GLOCKEN MEHR […] in Siena ging das große Sterben von April bis Oktober. 1 Es war das gewaltigste, schrecklichste und furchtbarste Unglück, was ich je gesehen. Keiner glaubte am Ende mehr, dass er mit dem Leben davon käme. Kein Arzt und keine Arznei halfen. Wer einen klugen Rat gab, war selbst am anderen Tage tot. 2 Die Universität brach zusammen, ebenso der Magistrat. Wer Füße hatte, suchte das Weite. Die Bestatter waren fortgelaufen oder tot. Ich sah, wie Väter ihre Kinder mit den Händen begruben und Frauen ihre Männer, Kinder die Eltern und Eltern die Kinder. Verbrecher wurden teuer entlohnt, die Leichen zu begraben. Die rohen Gesellen zogen sie die Treppen hinunter aus Häusern, während die Köpfe der Toten von Stufe zu Stufe laut aufschlugen, und warfen sie auf Mistwagen. Dann zogen sie dieToten auf die Friedhöfe oder zu großen Gruben und warfen sie hinein. Damit man die Mitglieder dieser Compagnia della Misericordia 3 nicht erkennen konnte, trugen sie rote Masken oder Kapuzen. Nachts war es gespenstisch, weil sie die Pestleichen mit langen Haken wegzogen, um sich nicht anzustecken, aber auch, wie man munkelt, die Sterbenden ebenso, damit sie nicht unnötig an dieselbe Stelle zurück mussten.Wer aber nur schlecht begraben war, den fanden die Hunde, zerrten ihn durch die Stadt und fraßen ihn auf – ich mag es dir nicht näher beschreiben. Auf den Dächern saßen Krähen und Raben wie schwarze Wolken; denn die ganze unglückliche Stadt war eine Aasgrube geworden. Es läuteten keine Glocken mehr und niemand weinte. 4 Wer hat Worte, das Schreckliche auszudrücken? Wer hat die Feder, über das Elend zu schreiben? Petrarca ehedem oder Boccaccio vielleicht? Ich verbeuge mich vor ihnen, meinen Freunden, aber auch ihnen zerfällt das rechte Wort mitten in ihrem Mund. Aus Avignon hörte ich, dass der Papst in einem streng bewachten Zimmer zwischen zwei lodernden Kaminfeuern haust 5 und auf die schützende Wunderwirkung eines Smaragdrings hofft. Sein Leibarzt hat ihm einen Gürtel aus Löwenhaut verordnet. Die Toten aber: Priester segneten immer ein Dutzend Tote zugleich aus. Totengräber 57 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
stapelten tausende Leichen schichtweise in großen Gruben. Der rasche heitre Fluss 6 indes war voll von Leichen, man stürzte sie von der Brücke in den Fluss, so dass der babylonische Papst flugs das Wasser weihte, damit das nasse Grab mit flüchtigem Segen versehen war. So machte er aus dem Fluss einen Friedhof. 7 Am Ende, liebes Kind, erhielt keiner mehr eine Beichte, keine letzte Ölung und fanden keine kirchlichen Begräbnisse mehr statt. 8 Kein Priester, kein Bettelbruder ging mehr mit, und ohne ehrenvollen Gesang warf man die Toten einfach weg und hinaus. Nur manche machten sich noch schnell einen letzten vollen Beutel mit der Not der Armen. Kind, tief senkt sich die Sonne in den Nachmittag, noch ruft mich ein Geschäft, so muss ich für heute schließen. Ich wünsche dir […]
Erläuterungen und Kommentar Im Jahr 1348. Ähnliche Gedanken und Formulierungen bereits in Brief 10. 3 »Gesellschaft der Barmherzigkeit«, hier untechnisch für all diejenigen, die aus wirklichem Erbarmen oder aber aus Geldgier den Wegtransport der Pesttoten und ihr Begräbnis organisierten. 4 Nach Agnolo di Tura; vgl. Brief 6. 5 Dieses Höllenbild, der Papst thronend umlodert von Feuerflammen, beschäftigte den Briefschreiber bereits in Brief 10. 6 Die Rhone. 7 Tatsächlich hatte Papst Clemens VI, als er sah, dass die Friedhöfe Avignons nicht mehr ausreichten, Land außerhalb der Stadt gekauft. Zudem bezahlte er die, die bereit waren, als Totengräber zu arbeiten, aus der päpstlichen Schatulle. Zwei Silbergroschen erhielt ein Pestknecht für jeden Leichnam, den sie wegbrachten und bestatteten. Trotzdem wurden die Toten vielfach in die Rhone geworfen und auf einfachstem Weg entsorgt. Darum weihte er das Wasser als würdiges Grab der Toten. 8 Daher entschloss sich Papst Clemens VI. schließlich dazu, da alle geistlichen Segnungen fehlten, eine Generalabsolution zu verkünden, d. h. er gestattete angesichts der Katastrophe und der Todesgefahr, auf Einzelbeichten zu verzichten. 1 2
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Aus den Pest-Briefen
XVI
August 1374
WER TRAUTE SICH NOCH AUF DIE STRASSEN […] fand ich keine Freude, zum zweiten Palio 1 zu gehen. Diesen, den sie hier den Palio dell’Assunta nennen, 2 ließ ich gestern verstreichen, weil mein Herz doch immer noch zu schwer und gram ist und ich traurig an den verstorbenen Freund denke. So trank ich heute ein wenig Wein und aß Äpfel und legte Gewürze auf meine Speise, die ich mir aus seinem Garten zum Trost und zur Erinnerung mitgebracht hatte. 3 Zur Vesper 4 war ich in der Kirche an dem Tressa 5 und saß danach noch eine Weile am Fluss. Denn dies war ein anderer Platz, 6 an dem Francesco und ich gerne miteinander sprachen. Du fragst, ob denn die Leute die Ordnung hielten. Es scheint, liebes Kind, als gebe es die einfache Regel, dass die Menschen die Ordnung halten, so lange es einfach ist, wird es aber schwer, halten sie sie auch nur schwer. 7 So sagte es der Freund: 8 Die Häuser liegen nieder, die Mauern fallen, die Tempel stürzen, die Heiligtümer gehen unter, die Gesetze werden mit Füßen getreten. Je länger das große Unglück sich hinzog und je mehr es die Menschen schlug, desto mehr brach alle Ordnung zusammen. Weder Furcht vor den Göttern noch menschliches Gesetz wehrte demVerbrechen. 9 Dies war ein böser Vorgeschmack des Untergangs und viele dachten, es wäre das Ende der Welt gekommen. Jeder Fremde schien ein Feind, jeder Vagabund war ein Teufelshund. Wütet der Tod, ist sich bald jeder der Nächste. Die einen raubten sich Gut und Geld zusammen. Die anderen suchten Leib und Leben zu retten. Die Städte waren von Räubern umlauert wie der Kot von Fliegen. Recht und Gesetz waren nur ein hohler Spaß. Die Not war groß. Wer aber die Not zu nutzen wusste durch Wucher und Bestechung, dünkte sich groß und ließ sich ohne Scham fürstlich entlohnen für alles, was er tat: Die Priester wurden Lotterpfaffen und taten so und auch die Bettelbrüder, die Totengräber und die Notare, die Ärzte und die Apotheker, aber auch Brot und Zucker, Eier und Fleisch von Hühnern, alles wurde maßlos teuer und jeder, den man traf, forderte eine unverschämte Summe Geldes auf die Hand. 59 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
Die Menschen waren wie von Sinnen. Vor Angst. Vor Gier. Vor übler Frechheit und Verbrecherlust. Ihre Herzen wurden hart und roh. Je befleckter ihr Leben, umso glänzender erschien es ihnen. Die aber, die das Gesetz hüten sollten, waren auf der Flucht und verbargen sich in ihren Landhäusern. Sie sagten, dass nunmehr die Angelegenheiten des Staates nicht mehr erledigt würden, bis man durch Gottes Gnade irgendein Heilmittel gegen die Pest gefunden habe. So waren wir verlassen und allein. Erst als sie sich zurückbesannen und ihre eiserne Faust erhoben, milderte sich der Schrecken der Unordnung. Das Recht braucht einen starken Arm. Je strenger aber die Obrigkeit bald wieder die Regimina 10 verordnete, umso schneller verschwand aller Spuk des Durcheinanders […]
Erläuterungen und Kommentar Vgl. dazu auch Brief 13. Dieser Palio zu Ehren von Maria Himmelfahrt findet am 16. August statt; der Brief wird also am 17. August 1374 verfasst worden sein. 3 Petrarca hatte angrenzend an sein Haus in Arquà einen kleinen Garten, in dem er u. a. Wein, Äpfel und Gewürze anbaute. 4 Liturgisches Stundengebet zum Abend um 18:00 Uhr. 5 Santa Maria a Tressa. 6 Der andere Ort lag bei der Kirche San Francesco all’Alberino; vgl. Brief 9. 7 Anomie, Gesetzlosigkeit, der Zerbruch von Recht und Ordnung gehören zu massiver Seuchenerfahrung. Der angedeutete »Vorgeschmack des Untergangs« lässt sich auch auf das sich abzeichnende Ende der mittelalterlichen Ordnung, des ordo medievalis, beziehen, dessen Ordnungsgefüge bis in die Grundfesten erschüttert wurde. 8 Petrarca mit Blick auf Rom. 9 Ein Gedanke, der sich bereits bei Thukydides in seiner Geschichte des Peloponnesischen Krieges findet. 10 D. h. insbesondere der Kanon an seuchenprophylaktischen und städtehygienischen Maßnahmen und Verordnungen; vgl. auch Brief 9. 1 2
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Aus den Pest-Briefen
XVII
September 1374
DAS GRÖSSTE ÜBEL ABER WAR […] Eben noch stand der rote Feuerball am Abendhimmel, nun hat er den ganzen Horizont in ein einziges Gemälde aus tausend rötlichen und gelben Farben getaucht. Was mich hier in Siena glücklich macht und gesunden lässt, ist der Frieden der Natur und der Umgang mit den Freunden und ihren Familien. Das aber, was wir so selbstverständlich entgegennehmen, ist es nicht. Es ist sehr kostbar und äußerst zerbrechlich. Denn so war es in den Monaten der Pest. Kann man glauben, dass ich in derselben Stadt stehe? Denn schlimm waren alle Gesetzlosigkeit und all das zerbrochene Recht, das mit Füßen getreten wurde. Das größte Übel aber war der Schaden an den Seelen der Menschen. 1 Der große Tod hatte eine so große Macht, dass alle Bande der Liebe in den Familien und zwischen den Freunden reißen konnten. Denn als man sah, dass sich auch einem selbst die Pest nahte, wenn man sich einem Pestkranken näherte, um ihm zu dienen und ihn zu pflegen, wie es die Nächstenliebe gebietet, da griff die Pest ins Herz der Menschen. Wie soll man atmen, wenn der Atem der Todgeweihten den Tod ausbläst? 2 Was vormals aller Tage Leben war, war es nun nicht mehr. Nun war es aller Tage Leben: zu sterben und Sterben zu sehen ohne Ende und ohne Zahl. Das Leid wurde so groß, dass fast jede Seele abstumpfte. 3 Aus den Häusern flohen deshalb die Nächsten und ließen die Kranken allein in ihrem Elend ohne allen Beistand und schlossen ihre Türen. 4 Nur wenige harrten aus. Nur wenige hatten Mitleid und blieben und schonten sich nicht. Dies war aber das grausamste Mittel aller Furcht, dass die Gesunden die Kranken mieden, als seien sie die Pest selbst. Jeder ging dem anderen aus dem Wege. Keiner besuchte mehr den anderen. Denn wer sich besuchte, holte sich den Tod. Komm, reich mir einen TropfenWasser, ich habe große Durst, flehten die Armen. Doch keiner wollte sie hören. Der Bruder floh den Bruder und die Schwester die Schwester, der Vater verließ den Sohn, die Frau die Tochter, der Mann die Frau. Die Kinder riefen flehend nach den Eltern. Doch Vater und Mutter weigerten sich, ihre Kinder zu be61 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
suchen und zu pflegen, als wären es nicht die ihrigen. 5 Ich gehe den Arzt holen, beteuerten die Menschen, schlichen sich aus dem Haus und kamen nie wieder. Es war ein einziger Jammer. Die Herzen der Menschen erstarrten und jeder sann darauf, sich selbst zu retten. Die Wohltätigkeit war gestorben unter den Menschen. Selbst als die Pest abgezogen war, war das Leben lange Zeit nicht mehr dasselbe wie zuvor. Viele blieben auch weiterhin einander fern. Der Abstand zueinander war groß, wie man sich auch in der Pest nur von Weitem gesehen hatte. In vielem waltete nun große Vorsicht. Selbst auf den Gemälden, so sagen einige Verständige, könne man dies sehen. 6 So brauchte es eine lange Zeit, bis ein frohes Leben zurückkam. Aber es ist wie in einem Leib, der schwere Wunden davongetragen hat, so auch in der Seele: Narben bleiben, und schlägt das Wetter in der Seele um, so schmerzen sie wieder. Wundere dich nicht, wenn […]
Erläuterungen und Kommentar Brief 16 hatte sich vor allem mit den Fragen der Gesetz- und Rechtlosigkeit befasst. Hier nun stellt der Briefschreiber die seelischen Verletzungen heraus, die insbesondere mit dem Zusammenbruch der Alltagsund Familienstrukturen für alle, insbesondere aber für die Pestkranken verbunden waren. 2 Zu Pesthauch und Pestmiasma vgl. auch die Briefe 5, 8 und 10. 3 Es geht um den Verlust des Selbstverständlichen, der Normalität, bzw. dem Entstehen einer unerträglichen, entsetzlichen neuen »Normalität«, die aber doch niemals wirklich eine werden kann. 4 Gemeint sind nicht nur die »Türen des Herzens«, sondern ganz real die verriegelten Haustüren, so dass die Kranken verhungern mussten, wie es z. B. Giovanni Boccaccio in seinem Decamerone mitteilt. Vgl. a. Brief 9, Anm. 10. 5 Dies entspricht einer Klage, die Giovanni Boccaccio in seinem Decamerone formuliert. 6 Die unmittelbare Darstellung der mit der Pest verbundenen Begebenheiten findet nur einen sehr bescheidenen Niederschlag in der Kunst des 14. Jahrhunderts. Allerdings gibt es tatsächlich Hinweise da1
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rauf, dass die bildende Kunst nach den Ereignissen der großen Pest in vermehrtem Maße durch Momente der besonderen Ernsthaftigkeit, Strenge, Weltferne, aber auch der körperlichen Distanz sowie des vanitas-Motivs (vgl. hierzu auch Brief 2) geprägt ist.
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Aus den Pest-Briefen
XVIII
September 1374
WAS IST UNS NOCH HEILIG? […] dass, wie ich dir schon einmal schrieb, 1 ich nun von etwas sprechen muss, das ein Vater lieber nicht mit seiner Tochter besprechen möchte; denn es ist doch schändlich und liederlich. Da ich aber Francesco versprach, 2 dein Fragen und Suchen recht zu beantworten, will ich nicht daran vorbeigehen. Denn in einem Brief sprach ich darüber, was der große Tod am Leib vermag, 3 in einem anderen über den Verlust von Recht und Ordnung. 4 Zuletzt aber berichtete ich dir davon, wie die Pest auch die Seelen der Menschen krank macht. 5 Nun aber ist es meine traurige Pflicht, dir zu sagen, dass auch die Tugend und Frömmigkeit der Menschen der Krankheit oft, viel zu oft, erlegen ist. Hinfällig und schwach sind die Menschenkinder. Ich weiß es, denn ich kenne mein eigenes Herz. Sind die Übel schlimm und groß, fallen wir schnell und tief. Wenn derWeg der Tugend zugewachsen ist, gehen die Menschen auf tausend Abwege und kennen keine Scham. 6 So hat die Pest die Welt zum Tollhaus gemacht. Oben war unten und unten war oben und links war rechts und rechts war links. Alles verkehrt und verdreht und auf den Kopf gestellt. Weil der Tod in schnellem Ritt seinen Schnitt führte, spürten die Menschen, dass ihre Zeit ganz aufgebraucht war. So sagten sie sich, wie geschrieben steht: Lasst uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot. 7 Droht das letzte Körnchen in das Stundenglas zu fallen, 8 suchen sie hastigen Genuss. Was sonst niemand tat, nun tat es fast jeder. Da war keinerlei Mäßigung. So wollten sie alles ihrer Genusssucht geben und taumelten durch den Tag mit allerlei Ausschweifung, Prasserei und Trinksucht, allen Begierden des Leibes. Pflückt den Tag, 9 war ihre Losung. Da sie kein Morgen mehr kannten, pressten sie den heutigen Tag aus bis auf den letzten Tropfen, auch wenn er bitter war. Denn zuletzt spürst du, dass es bitterfalsch ist, so die Welt zu hinterlassen. Was ist uns noch heilig? Zügellos gaben sie sich dem Genuss der irdischen Freuden hin, so dass man beinahe glauben musste, die Krankheit hätte nur die verworfensten aller Menschen verschont. Die Huren wurden fromm und die 64 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
Frommen fanden keine Huren mehr. Die Verbrecher fand man auf den Knien, die Frommen in der Sünde. Alles war verdreht und wie toll. Und auch später dann, als die Pest sich versteckte, wurden die Menschenkinder bald wieder frech und gotteslästerlich, als hätten sie nichts gelernt. Ich kenne doch mein Lumpenpack. Wir alle sind Kinder des Mondes und der Venus und viele verraten es schon durch ihre Namen. 10 Alle Welt also begann wieder zu leben und lustig zu sein. Ja, bei Gott, sie fraßen und prassten und prahlten und lobten ihre Unzucht. Da ist kein Verstand und jeder Schlag nutzlos. Ich wende mein Gesicht weg vom Tollhaus der Todgeweihten im Jammertal 11 und schaue auf das Zwielicht 12 der Abenddämmerung. Doch das ist es ja, mein Kind, die Menschen sind Zwielichtige. Ganz im Zwielicht stehen sie und streben […]
Erläuterungen und Kommentar Brief 2. Brief 14. 3 Brief 7; vgl. auch Brief 8. 4 Brief 16. 5 Brief 17. 6 Ein Sittengemälde begleitet in der Regel alle bedeutenden Berichte und Erzählungen über große Seuchen, insbesondere ihre demoralisierende Wirkungen bis hin zum Zusammenbruch der moralischen Konventionen und sittlichen Ordnungsstrukturen; hier genügt es, nur auf Giovanni Boccaccios Decamerone zu verweisen. 7 Jesaja 22,13; 1. Korinther 15,32. 8 Stundengläser oder gläserne Sanduhren dürften ab der Mitte des 13. Jahrhunderts entstanden sein. Die älteste bekannte bildliche Darstellung eines Stundenglases findet sich auf einem Freskogemälde im Rathaus von Siena Die Allegorie der guten und schlechten Regierung des sienesischen Malers Ambrogio Lorenzetti (vgl. auch Brief 2). Dass dieses dem Briefschreiber bei seiner Formulierung wahrscheinlich vor Augen stand, folgt daraus, dass er sogleich auf die platonische Kardinaltugend der Mäßigung, des Maßhaltens, der temperantia, zu sprechen kommt: und genau unter der temperantia ist das Stundenglas bei Lorenzetti platziert. 1 2
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Carpe diem: pflücke den Tag, genieße den Tag – ein geflügeltes Wort des Dichters Horaz (65–8 v. Chr.). 10 Kinder des Mondes und der Venus, also eigentlich astrologisch aus der Zuordnung von Geburtsstunde und Planeteneigenschaften betrachtet und nun als Grundcharakteristik des Menschengeschlechts verstanden: unstete, unruhige, ungehorsame und unkeusche Wesen. Die (Familien-) Namen, durch die sie sich explizit verraten, könnten z. B. sein: Irrgang, Freudenreich, Schickedans oder Hasensprung. 11 Das Jammertal ist das Tal der Tränen (vallis lacrimarum) und verweist neben Psalm 84 auch auf Baruch 2,25, wo es heißt, dass die Könige und Vorfahren der Israeliten »jämmerlich, jammervoll« durch Hunger, Schwert und Pest umgekommen sind. 12 Der Briefschreiber verwendet hier das spätmittelhochdeutsche zwischenlieht, um den Übergang zwischen Helligkeit und Dunkelheit zu benennen. 9
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Aus den Pest-Briefen
XIX
Oktober 1374
DIE GEISSLER, ICH WILL ES SAGEN […] so weißt du, dass ich dem Glauben der Kirche treu bin, aber auch ein Mann, der gerade und recht heraus spricht, wo immer er ein Übel sieht. Darum schert es mich nicht zu sagen, wenn einer in Avignon die Narrenkappe trägt. 1 Darum schert es mich nicht, dir auch dies zu sagen, dass die höchste Demut ein feines Versteck der schlimmsten Hochmut ist. Die Pest brachte auch noch fromme Seuchen mit sich. Die Geißler, ich will es sagen, waren eine, auch wenn sie glauben, sie hätten den heiligen Antonius zu ihrem Vater. 2 Die Geißler hatten fromme Miene und zogen barfuß mit rotem Kreuz auf düsteren Gewändern umher für 33 und einen halben Tag, 3 so viel Jahre das Leben unseres Herrn Jesus Christus auf Erden währte. Ihre hohlwangigen Gesichter und die Glut ihrer Augen verbargen sie wie eine schauerliche Compagnia della Misericordia 4 tief unter ihren Kapuzen. Sie wollten, dass man andächtig alle Sünden bekenne und bereue. Denn die Buße schenke Vergebung und die Vergebung Hoffnung. Hoffnung aber war das, was alle ersehnten wie frisches Wasser in dieser hoffnungslosen Zeit. In Scharen liefen ihnen die Hoffnungslosen nach. Jeden Tag boten sie das fromme Schauspiel und schlugen sich den Leib und zerschunden ihn, als wären sie das Leiden unseres Herren selbst. Denn in der linken Hand trugen sie eine brennende Kerze am helllichten Tage, um Licht in die Dunkelheit zu bringen, in der rechten aber ihre Geißeln voll von Stacheln. Mit diesen peitschten sie sich den nackten Rücken, bis der Leib blau anschwoll und das Blut aus tausend Wunden floss. Eintönig und dunkel waren ihre Laisen 5 und immer wieder tönten sie: Für Gott vergießen wir unser Blut und Kyrie eleison. 6 Das Volk, das dies sah und hörte und mitlief, stachelten sie ebenso an, bis es ganz außer sich war. 7 Sie weinten und klagten und stöhnten und schrien ihre Sünden laut heraus. Die Ehebrecher wälzten sich auf der linken Seite, die Mörder auf dem Rücken, die Meineidigen hoben drei Finger in die Luft und jeder wurde streng geschlagen. Alle waren 67 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
ganz von Sinnen. So war auch das, was sie taten. Es gefiel ihnen nämlich sehr, den Schmerz ihrer Geißeln an die armen Judenleut weiter zu geben, und sie brachten ihnen Pech und Schwefel und Galle und alle Geschenke des Teufels. Denn alsbald zogen sie mit allem Pöbel und unter Glockengeläut zum Judenviertel, um dort große Rache zu nehmen, 8 denn sie sagten: Flüsse, Quellen und Brunnen, die klar waren und sauber, die haben sie überall vergiftet. 9 Das war aber ein gerechter Gedanke, den Gott dem großen Rhetor in Babylon eingab, so dass ihm daher mehr Ehre gebührt als dem Kaiser. 10 Denn er hat dieses Schauspiel, das sich wie eine zweite Pest über den halben Erdteil ausgebreitet hatte, verboten, während dieser mit Blutgeld seine Kasse füllte. So siehst du, mein liebes Kind, dass die fromme Miene noch gar nicht viel sagt. Mag der Geist auch Gutes wollen, geht er doch leicht böse Wege. Es sind die Früchte, an denen wir den guten Baum erkennen. 11 Sie aber brachten nur Rache und Tod unter dem Büßerhemd und wanderten wie Aussatz zu Aussätzigen von Stadt zu Stadt. 12 Damit ich mich jedoch nicht allzu sehr erhebe, zwingt mich die hereinbrechende Nacht zum Schlaf nieder, und ich will mein eigenes Herz noch mehr erforschen als das der Geißler […]
Erläuterungen und Kommentar Seitenhieb auf Papst Clemens VI.; vgl. nur die Briefe 5, 10, 13 und 15. Flagellantenzüge (lat. flagellum: Geißel) erreichten während der großen Pest ihren Höhepunkt. Als Teil einer chiliastischen Bewegung, die das tausendjährige Reich nach der Wiederkunft Christi erwartete, deuteten sie Seuchen als Vorboten der Apokalypse, die Pest aber als vierten apokalyptischen Reiter (Offenbarung des Johannes 6,8), und des Jüngsten Gerichts. In ihren Predigten forderten sie die Menschen zu Sündenbekenntnis und Buße, um sich zu reinigen und Gottes Gnade zu finden. – Die Bewegung der Geißler führt sich auf den heiligen Antonius von Padua (um 1195–1231) zurück, der in seinen letzten Lebensjahren auch als Bußprediger durch Oberitalien zog.
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Dreiunddreißig bzw. vierunddreißig Tage musste man sich auf den Bußweg verpflichten und umherziehen, wenn man in die Bruderschaft der Geißlerbewegung aufgenommen werden wollte. Zugleich musste man schuldenfrei sein und die Zustimmung des Ehepartners einholen. Dreiunddreißig oder vierunddreißig Jahre müssten die Geißlerfahrten andauern, verkündeten die »Kreuzbrüder«, wie sich die Geißler auch nannten, dem staunenden Volk. 4 Die Totengräber und Bestatter der Pestleichen; vgl. Brief 15. 5 Laisen oder Leisen sind die monotonen Bußgesänge der Flagellanten, die das »eleison« (»erbarme dich«) aufnehmen. 6 D. h. »Herr, erbarme dich!«. 7 Der Briefschreiber verweist hier auf Momente, wie sie sich in einer Massenpsychose oder Massenhysterie finden lassen. Die Bedrohlichkeit und Ausweglosigkeit der Pest-Situation und das eigentümliche Charisma der Geißler versetzen viele Menschen in eine Art lebensrettenden kollektiven Buß- und Reinigungsrausch, in dem sie sich ihrer individuellen vernünftigen Verantwortung entledigen und in einem homogenen Strom enthemmter und emotionalisierter Gleichgesinnter mitschwimmen. 8 Die aufgeladene Stimmung und ekstatische Erregungsenergie der fanatisierten Massen sucht kathartisch nach irgendeiner Abfuhr und Entladung. Es zeigt sich hier die Ambivalenz der Geißlerfahrten: Einerseits zielten ihre Bußpredigten und Ermahnungen darauf ab, von den Sünden abzulassen, die sie für die Ursachen der Pest hielten. Andererseits brauchte man zugleich aber auch noch einen Sündenbock, an dem ein Exempel statuiert werden konnte. So mündeten viele Geißlerzüge in ein Judenpogrom, auch wenn sie nicht systematisch mit ihnen verbunden gewesen sein sollten. 9 Dieser Satz spielt offensichtlich auf die antijüdische Verserzählung Le Jugement dou Roy de Navarre aus dem Jahr 1349 des französischen Hofdichters Guillaume de Marchaut (um 1300–1377) an. Die Juden galten als Brunnenvergifter und Mitverursacher der Pestkatastrophe (vgl. auch die beiden folgenden Briefe 20 und 21), »um die gesamte Christenheit zu vernichten«, wie die boshafte Anklage allseits lautete. 10 Der Rhetor in Avignon ist Papst Clemens VI. (vgl. auch Anm. 1), ein brillanter Redner, kluger, hochgebildeter Kopf und politisch erfahrener Diplomat. Gegen die immer eigenmächtiger agierenden Geißler, die Kirchenrecht und die Autorität des Papstes missachteten, erließ er am 20. Oktober 1349 eine Bulle, die ihre Fahrten bei Strafe der Exkommunikation verbieten und damit ihre Bewegung stoppen und kanalisieren sollte. Diese Urkunde war zunächst ähnlich wirkungslos wie die Bullen zum Schutz der Juden (vgl. die Briefe 20 und 21), wurde dann aber im Verbund 3
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mit kaiserlichen Verordnungen ein wirkmächtiges Instrument zur Unterdrückung, Bestrafung und Eindämmung der Geißlerzüge: das Charisma der Geißler war entzaubert. Die Kritik an Karl IV. bezieht sich darauf, dass der Kaiser mit verschiedenen Städten gegen gute Bezahlung Verträge geschlossen hatte, in denen er ihnen Straflosigkeit zusicherte, falls sie Juden ermordeten. Was die Städte aber dem Kaiser gaben, konnten sie den Juden sogleich um ein Vielfaches nehmen. 11 Matthäus 7, 11–20. 12 Und zwar letztlich nicht nur dadurch, dass sie Aufruhr und Judenpogrome mit sich brachten, sondern auch dadurch, dass ausgerechnet sie selbst es waren, die der Pest, die sie doch bannen wollten, voranzogen und sie mitverbreiteten.
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Aus den Pest-Briefen
XX
Oktober 1374
EINE SCHANDE IST’S […] Doch muss ich dir noch ein trauriges Kapitel schildern, dass es mich an diesem späten Abend erschüttert. Denn wenn Gott, der gerechte Richter, uns mit der Pest schlägt und seine Pfeile uns tödlich treffen, da ist auch listige Bosheit der Menschen nicht fern. Sie suchen stets, warum sie es nicht verdienen und glotzen mit ungerechtem Auge umher, auf wen sie statt ihrer selbst zeigen könnten. Immer finden sie ihre Sündenböcke, aber einen besonders. Eine Schande ist’s, die wir nur schweren Herzens bekennen, wenn sie alle Schuld auf die Juden schieben. 1 Und sie sind ja an allem schuld: ist die Ernte schlecht, sie sind es, ist das Wasser faul, es waren die Judenleut, bebt die Erde, ist das Leben teuer, ist der Wucher groß, das Übel kommt von dort. Sie eigentlich haben das Elend herbeigerufen, sie sind auch die, die die Pestpfeile schießen, aber doch lieber mit ihnen erschossen werden sollten.Was soll ich dir sagen, liebes Kind, zu allem Übel kommt noch das Übel, das die Menschen obendrauf setzen. Verseucht imVerstand sagen sie: das Schlimmste bei dem ganzen Übel ist das Judenpack, die alten Brunnenvergifter. 2 Sie säßen da, umgeben von geflügelten Dämonen und bösen Geistern, mischten Gift, das sie in Brunnen schütten, um Luft und Trank zu verpesten, und schmierten pestige Salben an die Mauern der Stadt. Wer weiß nicht, sagen sie, dass allein ihr böser Blick genügt, dass dir die Pest an den Hals springt. So geht das Urteil der Menge, ist aber doch nur böses Gerücht und üble Nachrede. 3 So frisst die Pest zuletzt den Verstand und jedes gerechte Mitgefühl der Boshaften hinweg. Brauchst du einen Schuldigen, greif dir nur die Judensau. Hab ich dir nicht gesagt, dass dieses Unheil sogar in unserer schönen hohen Domkirche seinen Platz gefunden hat? 4 Viele Gräuel sind geschehen. Sie haben sie peinlich verhört, bis sie alles gestanden haben. Dann taten sie ihnen zum Lobe Gottes alles Schändliche an und verbrannten, ertränkten und erhängten sie. Wie die Schweine auf schrecklichste Weise haben sie die Juden abgeschlachtet. 5 Sind sie auch bisweilen unehrliche Leute, 6 so ist es doch 71 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
nicht billig, ihnen alles Böse in die Schuhe zu schieben, wie die schlechte Rotte tut. Wenigstens hat der ungetreue Papst dieses eine Mal das rechte Wort auf seinen Lippen gehabt. 7 Ist Dein alterVater nicht selbst Kaufmann genug, um in das Herz der gierigen Menschen zu sehen: Ist das nicht gar fein, seinen Reichtum zu mehren, wenn man die Judenleute um den ihren bringt? Und ist es nicht ein gar feiner Rat, wenn sich der Schuldner von seinen Schulden befreit, indem er den Gläubiger erschlägt? Den Geldleiher brennt das böse Gesindel gerne auf dem Scheiterhaufen, da verrauchen auch seine Schuld und sein Zorn. Ich bekenne es dir freimütig, es ist eine Schande für Glauben und Vernunft, die Gott uns gegeben. Die Pestangst raubt den Verstand, die Gelüste nach Rache und fremden Besitz töten das Herz. 8 Es ist der schwarze Tod, der das Pestopfer erwürgt, nicht das Judenkind. Gott gebe uns die Gnade, uns von derlei […]
Erläuterungen und Kommentar Judenpogrome fanden immer wieder in der mittelalterlichen Geschichte, noch mehr aber in der Neuzeit und Moderne statt. In Deutschland dürften die ersten Pogrome gegen Juden mit dem ersten Kreuzzug im 11. Jahrhundert verbunden gewesen sein. Taufe oder Tod war die Wahl, die vielen den grausamen Tod brachte, weil sie die christliche Zwangstaufe ablehnten. In den Pestpogromen während der großen Pest im 14. Jahrhundert verstärkten sich die Judenverfolgungen immens, so dass etwa 300 jüdische Gemeinden im Deutschen Reich ausgelöscht wurden. Das theologische Grundmotiv war dabei, dass sie verantwortlich für den Tod Jesu seien. Unter diesem Generalverdacht konnten alle andere Motive Unterschlupf suchen: Missgunst und Habgier, Neid auf Reichtum, die Möglichkeit, seine Schulden zu tilgen, indem man den Gläubiger tilgt, Hass auf eine unverständliche Kultur mit fremden Bräuchen, Argwohn durch Gettoisierung und Ausgrenzung usw. Neben den Schuldvorwurf, den Tod Jesu gewollt und ermöglicht zu haben, gesellten sich noch andere wichtige Anklagen, vor allem die des Hostienfrevels, dass also geweihte Hostien für irgendwelche Hexenkünste missbraucht und geschändet würden, der Ritualmorde, also die Unterstellung, dass sie Christen,
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insbesondere ihre Kinder, ermorden würden, um ihr Blut für magische und medizinische Zwecke einzusetzen, und die Brunnenvergiftung. 2 Man unterstellte, dass es eine Verschwörung unter den Juden gäbe, giftige Pulver aus entweihten Hostien, Urin, Menschenblut und zaubermächtigen Kräuter zu mischen, um Quellhäuser und Brunnen zu verseuchen. Der Vorwurf der »Brunnenvergiftung«, der die Verbreitung der Pest in die Luft aus verseuchtem Wasser annahm, war todbringend: Giftmörder mussten hingerichtet werden, das »Judenbrennen« der Pestpogrome nahm seinen Lauf. 3 Dieser Satz bezieht sich wohl auf eine Stelle aus Kapitel 100 (des sechsten Weltalters) der Weltchronik (Chronicon 1355) Heinrichs von Herford (um 1300–1370), eines Mindener Dominikanermönchs, der die Judenpogrome verurteilte, und spielt mit dem Ausdruck fama communis, der sowohl als öffentliche Meinung oder Urteil der Menge wie auch als Gerücht und Nachrede verstanden werden kann. 4 Offensichtlich bezieht sich der Briefschreiber kritisch auf eine obszöne antijüdische Holzschnitzerei im Chorgestühl des Kölner Doms, auf der Juden ein Schwein füttern, in die Luft halten und aus seinen Zitzen trinken. Diese stigmatisierende Abbildung findet sich gleich neben einer anderen, in der der Ritualmord an einem christlichen Kind angedeutet ist. Das Judensaumotiv greift sowohl auf das Alte Testament zurück, wonach Schweine als unrein zu meiden sind, als auch auf christliche Deutungen des Schweins, wonach es das Lasterhafte und Teuflische symbolisiert. 5 Wörtlich aus der Weltchronik (Chronicon 1355) Heinrichs von Herford (s. Anm. 3). 6 »Unehrliche Leute« weist auf alle jene Personen, deren Ehre problematisch oder verloren ist. Diese gehören zu den stigmatisierten Randgruppen und untersten sozialen Rängen, insbesondere weil sie einem verfemten Beruf nachgehen, der oft mit Schmutz, Auswurf, Strafe oder Tod verbunden ist, wie etwa bei Gauklern, Bettlern, Prostituierten, Bordellwirten, Lumpensammlern, Abdeckern, Gerbern, Scharfrichtern, Henkern oder Totengräbern, oder zu solchen, die nicht dem christlichen Glauben angehören. Sie alle waren von öffentlichen Ämtern ausgeschlossen, konnten in kein Ehrenamt gewählt und von keiner Zunft aufgenommen werden. Der Umgang mit diesen »unehrlichen Leuten« war zu vermeiden, da sich der Aberglaube hartnäckig hielt, dass Unehrlichkeit ansteckend sei. Obwohl unentbehrlich für das Leben in der mittelalterlichen Gesellschaft wurden sie daher streng gemieden. 7 Der »ungetreue Papst« ist Papst Clemens VI. (1342–1352; vgl. auch die Briefe 5, 7, 11, 13, 14, 15, 19), der sein weltliches Leben zwischen Hofschranzen und Mätressen wenigsten einmal, wie der Briefschreiber sagt
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(vgl. aber auch Brief 19), in eine vernünftige Richtung wendet, als er in zwei Bullen vom 4. Juli und vom 26. September 1348 Partei für die Juden ergreift und sie gegen den Vorwurf der Brunnenvergiftung verteidigt. Sein Hauptargument: Die Juden können nicht die Ursache der Pest sein, da sie doch selbst von der Pest nicht verschont werden. Außerdem trete die Pest auch dort auf, wo es überhaupt keine Juden gebe. Um spontane Gewalttaten zu vermeiden, werden Gerichtsverfahren verlangt. Auch wenn es sie gab, waren Geständnisse durch Folter allerdings leicht zu erpressen. Die Bullen blieben, trotz angedrohter Exkommunikation, ohne wirklichen Erfolg: überall loderten die Scheiterhaufen weiter. 8 Die Reaktion des Briefschreibers scheint vor dem geschilderten Hintergrund immerhin ungewöhnlich fortschrittlich und nähert sich der humanistischen Gesinnung Petrarcas an.
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Aus den Pest-Briefen
XXI
November 1374
SIE PLANTEN EINEN LISTIGEN PLAN […] ich wünschte, liebes Kind, ich könnte dir sagen: Nein, das gab es nicht bei uns, nicht bei uns in Köln. Doch bekenne ich es mit schwerem Herzen: Große Schuld hat auch unsere Stadt auf sich geladen, weil sie ihre Mitbürger nicht geschützt hat. 1 Haben die Christen und Juden nicht lange friedlich bei uns zusammen gelebt? 2 Ja, vielleicht haben sie ihre Zauberkräfte. 3 Aber sie haben vielen von uns geholfen. Ich selbst war in der Judengaß und habe eine sonderliche Paste für meine kranken Augen erhalten. Sie hat mein Sehlicht gereinigt und den Augen Frieden geschenkt. Rabbi Ascher Jacob, der mich zur kräuterkundigen Judenfrau Rachel gebracht hat, war mir wie ein Freund. Doch, so sagten es fast alle, sollten sich die Christenleute nicht mit dem Judenpack gemein machen. Man hatte den Juden aufgetragen, dass sie spitze Hüte tragen mussten, damit man sich nicht aus Versehen mit ihnen einlassen würde. So waren sie immer kenntlich. 4 Wie wir waren sie gute Kaufleute und gerechter Handel war zwischen uns im Herzen der Stadt. Sie dienten unserer Stadt, bald an die 1000 Leut, als Bäcker und Metzger, als Totengräber und Verwalter, als Magd und Knecht, als Pfandleiher und Geldhändler. Sie waren unter sich, weil sie es wollten und wir auch. 5 Als aber die Pest nahte, denn sie war noch gar nicht in der Stadt, und alles Unglück dunkle Wolken schickte, da verdunkelten sich auch der Verstand und die Nächstenliebe vieler Christenmenschen. Sie planten einen listigen Plan und noch in der Nacht zu Bartholomäi drangen sie ein durch die fünf Tore und stürmten die Judengaß. 6 Einer, den ich kenne, stand an der Spitze des Haufens und rief: Was steht ihr hier? Lauft und schneidet ihnen den Weg, sie wollen flüchten. Schlagt nur fest auf sie ein und endet, was ihr zu enden habt. Niemand wird euch hindern. 7 Mit Armbrust und Spieß streckten sie alles nieder. Die sich aber retten konnten, liefen in ihre Häuser und verriegelten sie fest. Da zündeten sie die Häuser an und machten Scheiterhaufen und Brandopfer aus ihnen. Wer in ihre Hand fiel, dem taten sie Gewalt an. 75 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
Kind, sie taten alles, was ich dir zuletzt schrieb. 8 Sie brandschatzten und raubten, sie schlugen und sie mordeten, sie schändeten den Judenbüchel 9 und griffen jeden Schatz, und gar mancher ist heute ein reicher Mann, weil er einen armen Jud erschlagen. 10 Doch wer gab ihnen das Privileg? 11 In unserer Stadt floss viel Blut und es schrie zum Himmel. Das Geißlervolk aber hob seine Augen zum selben Himmel. 12 Der Rat griff nicht ein und noch heute erzählen sie die Mär von den Fremden, die die Juden geschlagen: 13 yt in ys neyt anders. 14 Kind, es ist dunkel geworden, die zweite Kerze ist niedergebrannt. Meine Augen schmerzen, aber auch mein Herz, wenn ich […]
Erläuterungen und Kommentar Mit dem Vordringen der Pest im Norden Europas kam es auch in vielen deutschen Städten zu Judenverfolgungen und zur Vernichtung der Judengemeinden. Deswegen forderte der besorgte Kölner Rat bereits im Januar 1349, dass Leben und Gut der Juden durch Schutz- oder Trostbriefe abgesichert werden müssten. Außerdem sei der Vorwurf, die Juden hätten die Brunnen vergiftet und so die Pest verursacht, gänzlich unbewiesen. Die Kölner Ratsherren machten klar, dass sie die Kölner Juden entschieden schützen würden. Als aber das Pogrom 1349 in Köln einsetzte, blieb der Rat untätig und hielt sich zurück. 2 Köln, eine der größten Städte des Reichsgebietes und bedeutende Handelsmetropole, ist die deutsche Stadt, die am längsten mit jüdischer Geschichte verbunden ist. Bereits seit dem Jahr 321 ist eine jüdische Gemeinde in Köln dokumentiert, die damit das älteste jüdische Wohnviertel nördlich der Alpen bildet. Bis zum Pogrom 1349 waren die Juden seit mehr als einem Jahrtausend ein fest verwurzelter Bestandteil des Kölner Stadtlebens. 3 Zu den besonders ausgebildeten Fertigkeiten und Fähigkeiten der Juden gehörten neben solchen im Pfand- und Geldverleih, im Kaufmännischen, im Viehhandel oder in der Silber- und Goldschmiedekunst auch die einer langen ärztlichen Tradition und medizinischen Kompetenz. 4 Stigmatisierung und Diskriminierung begleiten das jüdische Volk. Im Jahr 1404 z. B. verfügte der Kölner Rat, dass Juden einen halblangen Mantel mit Fransen tragen sollten. Eine diskriminierende Kleiderord1
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nung war bereits mit einer entsprechenden Vorgabe des 4. Laterankonzils im Jahr 1215 durch Papst Innozenz III. angeordnet worden. Nun werden u. a. die seit dem 11. Jahrhundert bekannten gelben Spitzhüte, die »Judenhüte«, kanonisch fest- und vorgeschrieben und bald auch ein »Judenring« oder »Judenkreis« gefordert, ein gelbes Stoffstück, das auf der Brust getragen und im Nationalsozialismus als »Judenstern« wieder aufgegriffen wird. Die Farbe »gelb« stand dabei in negativer Farbsymbolik zusätzlich für Neid, Geiz Hass, Eifersucht, Hochmut und Ketzerei. Auf diese Weise wird die Ghettoisierung der Juden zunächst symbolisch in der Bekleidung, einer aussondernden »Judentracht«, vorbereitet und angebahnt. 5 Das jüdische Viertel war durch eine Mauer abgegrenzt. Der Briefschreiber deutet an, was Urkunden nahelegen: sie wurde wohl von den Juden selbst errichtet, aber vom Rat gefordert. 6 Im August 1349 spitzt sich die Lage in Köln zu. Zwar ist Köln selbst noch nicht vom Schwarzen Tod erreicht, aber die Gerüchte aus dem Umland verdichten sich und heizen die Stimmung auf. Zudem war der Kölner Erzbischof Walram erst kurz zuvor in Paris verstorben, und auch Kaiser Karl IV. war nicht präsent, um Schutzmaßnahmen für die Juden durchzusetzen. Nun wird ihnen Köln zur Todesfalle. Am 23/24. August kommt es zur »Kölner Bartholomäusnacht«, dem Pestpogrom in Köln, bei dem das gesamte Judenviertel zerstört und seine Bewohner ermordet oder vertrieben werden. In der gleichen Nacht wurden auch die jüdischen Gemeinden in Worms, Mainz und Koblenz ausgelöscht. 7 Aus den Verhörprotokollen in den Akten des Urkundenbuchs der Stadt Erfurt. 8 Gemeint ist Brief 20. 9 Der jüdische Friedhof außerhalb der Stadtmauer Kölns. 10 Geld und Gold, wertvolles Hab und Gut der jüdischen Bevölkerung wurden zwar auch während des Pogroms geplündert. Aber der maßgebliche Gewinn wurde in den kommenden Jahren durch den Verkauf von Häusern oder Grundstücken des Judenviertels erzielt. Erst im Jahr 1372 durften sich Juden wieder im Viertel an der Judengasse ansiedeln. Wenige Jahrzehnte später, 1424, werden die Juden dann »up ewige tzyden« (für ewige Zeit) der Stadt verwiesen. Nicht bis in alle Ewigkeit, aber immerhin bis ins 19. Jahrhundert, blieben die Juden aus Köln ausgeschlossen. 11 Eine mehrdeutige Stelle. Einerseits könnte sich der Satz auf die Täter und den im vorangegangen Satz berichteten Totschlag richten. Die Frage wäre dann, wer erlaubte ihnen den »Judenbrand« oder das »Judenschlachten«, und die Antwort wäre: offiziell niemand. Zum anderen könnte »ihnen« die Juden meinen. Dann wäre an das »Kölner Judenprivileg« durch
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Erzbischof Engelbert II. aus dem Jahr 1266 zu denken, eine in Stein gemeißelte Urkunde, die ihnen die Bestattung ihrer Toten auf dem Judenbüchel erlaubte. Dieses Privileg beinhaltete auch das exklusive Recht, Geld für Zins zu verleihen (Geldleihmonopol). 12 Die Rolle der Geißler, die Flagellanten aus Brief 19, ist oft undurchsichtig und nicht eindeutig zu bestimmen. Gleichwohl verband sich ihr Auftreten häufig mit einer Verfolgung der Juden. 13 Auch der Kölner Rat exkulpierte sich durch die Behauptung, von den Exzessen der Bartholomäusnacht überrascht worden zu sein, gab die Ereignisse als spontanes Zusammenrotten aus, das im Wesentlichen durch Fremde herbeigeführt und vielleicht von manch einem Kölner Habenichts unterstützt worden sei. 14 Der Spruch wurde auf einer Tafel aus dem 14. Jahrhundert im Kölner Judenviertel gefunden und bedeutet ungefähr so viel wie jener bekannte aus dem »Kölsche Grundgesetz«: »et is wie et is« (Es ist wie es ist), also der Realitätssinn, Tatsachen so zu akzeptieren, wie sie eben sind.
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Aus den Pest-Briefen
XXII
November 1374
WAS WIR WOHL AUS DIESEM ALLEN LERNEN … […] nun schreibe ich dir von mir aus, ohne dass du mich danach fragst; denn ich sagte es dir schon, dass ich Francesco versprach, zu dir vom Wichtigsten zu sprechen: nämlich, was wir wohl aus diesem allen lernen werden. 1 Und sieh nur zu, vielleicht ist es ja mein Vermächtnis an dich. Denke ich an die unendlich große Zahl der Toten, die der schwarze Tod uns gebracht, die Länder, die er leergefegt hat, an die, die er mit sich riss, und an die, die er verschont, so erschüttert das große Sterben mein Gemüt gleich einem mächtigen Beben. Auf der südlichen Wand des Friedhofs in Pisa hat einer gemalt, 2 worüber Francesco geschrieben hat, 3 vom Sieg des Todes. Da sind drei Tote in ihren Särgen zu sehen, die uns Lebende ernstlich warnen: Ihr seid, was wir gewesen, ihr werdet sein, was wir sind. 4 So lehren die Toten die Lebenden. Das ist es, liebes Kind, was wir lernen sollen: mit richtigem Maß unser kleines Leben messen. Nicht von der Hölle und ihren Strafen spreche ich. Denn das überlasse ich Gott und denen, die es zu wissen meinen. Was uns zu lernen aufgegeben ist, bitterlich und schwer, ist dies, dass das Leben kostbar und kurz und leicht zu brechen ist. Wer weise sein will, um alles gut zu schätzen, der habe eine Lampe bei Tag und Nacht. Sie heißt: Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden. 5 Für die Pilgerreise unseres Lebens ist dies die rechte Landkarte und ihr leuchtendes Osten, wo das Paradies lag und aus dem uns alles Heil kommt. 6 Auch des Nachts können die Vögel in die richtige Richtung fliegen. Ihr Weg steht in den Sternen. Giovanni und Francesco 7 haben mich belehrt, mein teures Kind, dass dies auch die Weisheit der alten Philosophen ist. Wenn diese aber sagen: bedenke, dass du stirbst, oder besinne dich auf den Tod, oder achte auf das Ende, 8 dann nicht um sauertöpfisch zu werden oder ein Griesgram. Denn wer dies nicht nur sagt und denkt, sondern in seinem Herzen auffasst und danach wandelt, der lebt wie ein leichter Frühlingstag, wie ein Kind, wie ein Sonnenleuchten; denn er hält 79 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
sich frei von allem Tand und Plunder, mit dem wir uns gewöhnlich täuschen. 9 Fast sechzig Jahre musste Petrus Cindator werden, 10 bis er das alles ein wenig begriff. Denn zuvor war ich von zu viel Geschäft abgelenkt. Dir aber, liebes Kind, wünscht der Vater von Herzen gern, dass du es früher und besser ergreifst, als er es tat. Dieser compasso da navigare 11 gebe dir hohen Mut 12 und Zierde für dein Leben. Die Nacht ist schon weit vorgerückt, öde und unheimlich dünkt sie der Seele, keines Menschen Freund, wie man sagt. Aber ich werde sie mir heimisch machen in gutem Gewissen und gutem Schlaf: in manuas tuas, Domine […] 13
Erläuterungen und Kommentar Vgl. Brief 14. Es handelt sich um das monumentale Fresko Trionfo della morte (um 1350) des Malers Francesco Traini (1321–1365) auf der Südwand des Camposanto Monumentale in Pisa. Das realistische und dramatische Bild zeigt eine prunkvolle höfische Jagdgesellschaft vor geöffneten Särgen mit Toten in verschiedenen Stadien der Verwesung, die die spiegeln und in denen die sich wiedererkennen, die dies sehen. 3 Siehe dazu Brief 14. 4 Auch bekannt als die seit dem 11. Jahrhundert in verschiedenen Varianten tradierte Legende von den drei Lebenden und den drei Toten, deren Mittelpunkt die Mahnung ist: quod fuimus, estis, quod sumus, eritis – was wir waren, seid ihr, was wir sind, werdet ihr sein. In persönlicher Ansprache: So, wie du bist, so war ich einst, so, wie ich bin, wirst du einst sein. 5 Psalm 90,12; vgl. auch Brief 12. 6 Die mittelalterlichen Landkarten sind in der Regel nicht genordet, sondern geostet, d. h. Osten ist »oben«. Die Ausrichtung gen Osten ist biblisch begründet: im Osten wird das Paradies vermutet und aus dem Osten kommen Licht (Sonnenaufgang) und Heil (Christus als Licht der Welt und wahre Sonne – ex oriente lux). 7 Die Freunde des Briefschreibers, Giovanni Boccaccio und Francesco Petrarca (vgl. auch die vorangegangenen Briefe). 1 2
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Philosophische und biblisch-christliche Weisheitsformeln der Lebenskunst: memento mori (gedenke, dass du sterben musst), meditare mortem (besinne dich auf den Tod), respice finem (siehe auf das Ende) wie auch andere, etwa: media vita in morte sumus (mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen) oder mors certa, hora incerta (der Tod ist gewiss, ungewiss nur die Stunde). Bei den angesprochenen Philosophen dürfte vor allem an Platon und Aristoteles wie auch an Cicero und Seneca zu denken sein. 9 Die Mahnungen und Warnungen der Endlichkeit wirken aus der Sicht des Briefschreibers keineswegs schwermütig, sondern befreiend, wenn sie kein dekoratives Wissen bleiben, sondern zu existentiellem Wissen werden. Die Eitelkeit, die vanitas, wird gerade im Licht dieses Kompasses klar erkennbar: die Logik und Verlockungen der weltlichen Anerkennung und Geschäfte sind die wirklichen Täuschungen des Lebens. Sich davon zu befreien, macht leicht und offen für das, was wirklich zählt. 10 Hier erfahren wir zum ersten Mal den Namen des Briefschreibers. Es handelt sich um eine latinisierte Form, wobei cindator wohl auf cindatum und cendatum, die im damaligen Mittelalter am weitesten verbreitete Seide verweist. Damit ist der Beruf (Seidenmacher, Seidensticker, Seitenhändler) namensgebend und der Briefschreiber heißt wohl bürgerlich Peter Seidenmacher oder Seidenweber; vgl. auch Brief 2. 11 Der Weisheitsschatz, den der Vater andeutet, verbindet er mit dem Buchtitel Kompass zum Navigieren eines Portulan (ital. portolano: Segeloder Schifferhandbuch, von lat. portus: Hafen), d. h. eines Buches oder Atlanten, die ab dem 13. Jahrhundert entstanden, um Schiffsreisen durch Hinweise auf Leuchttürme, Strömungen oder Landmarken u. ä. abzusichern. Der Briefschreiber überträgt diesen Zusammenhang als eine Art Navigationsanleitung auf die Seefahrt des Lebens. 12 Der Briefschreiber spielt damit offensichtlich auf eine ritterliche (Männer-) Tugend an, die er überraschenderweise auch seiner Tochter wünscht, wodurch eindeutig zugewiesene Tugendkataloge von ihm relativiert werden. Der hohe muot ist eine vornehme oder edle Gesinnung, Edelmut jenseits von Hochmut, Übermut wie auch von falscher Demut und Mutlosigkeit (vgl. auch Brief 19). Gegen die im Brief kritisierte vanitas spricht sich in der vom Briefschreiber anvisierten Weisheit, die nun als hoher Mut tituliert wird, eine welt- und lebensbejahende Haltung und freudige Gestimmtheit aus, die sich auch durch Unglück, Krankheit und Tod nicht brechen lassen will. Das ist ihm auch als Christ gut möglich, da ja Leben und Welt gute Schöpfungen des guten Gottes sind. 8
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Die Nacht ist vielen nox intempesta, d. h. die weniger gute Zeit, weil sie dunkel, lichtlos, finster und düster scheint. Der Briefschreiber zähmt diesen unheimlichen Aspekt der Nacht, weil er in der Komplet (dem liturgischen Nachtgebet) das Gewissen erforscht und reinigt und nun, nach dem Abendsegen, versöhnt in einen erholsamen Schlaf gleiten kann. – In manuas tuas, Domine, (commendo spiritum meum): In deine Hände, Herr, lege ich meinen Geist (Psalm 31,6).
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Aus den Pest-Briefen
XXIII
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ABER WERDEN WIR AUCH LERNEN […] so schrieb ich dir, was wir wohl lernen müssen. 1 Aber werden wir auch lernen? Ich hörte damals in Siena Tag um Tag und überall, was der Freund mit diesen Worten schrieb: Weh mir, was muss ich erdulden? Welche heftige Qual steht durch das Schicksal mir bevor? Ich seh’ eine Zeit, in der sich die Welt rasend ihrem Ende nähert; wo Jung und Alt um mich herum in Scharen dahinsterben. Kein sicherer Ort bleibt mehr, kein Hafen tut sich mir auf. Es gibt, so scheint es, keine Hoffnung auf die ersehnte Rettung. Unzählige Leichenzüge seh’ ich nur, wohin ich die Augen wende und sie verwirren meinen Blick. Die Kirchen hallen von Klagen wieder und sind mit Totenbahren gefüllt. Ohne Rücksicht auf ihren Stand liegen die Vornehmen tot neben dem gemeinen Volk. Die Seele denkt an ihre letzte Stunde und auch ich muss mit meinem Ende rechnen. 2 Unberechenbar, wie eine Schlange, wie der Springer im Schachspiel, wie ein wildes Feuer, so fuhr die Pest hin und her 3 – wer wollte sie meistern, wer ihr widerstehen? Wir alle sterben, und wie Wasser versickern wir im Boden. 4 Kein Versteck war sicher genug vor der gierigen Hand des Todes. Wer sich nicht wie der verworfenste Sünder aufführte, knirschte mit den Zähnen, war reuig und zu aller Buße bereit. Doch noch unberechenbarer als die Pest ist das menschliche Herz. Denn sieh, was war da für ein Handel mit Gott und dem Schicksal und nahezu jeder Satz der ängstlichen Menschen hob an mit: Wenn ich nur noch dies und das tun dürfte … oder Wenn du mir, ewiges Heil, nur noch ein paar Jahre meines Lebens geben möchtest … Denen aber die Gnade wirklich widerfuhr, das große Sterben zu überleben, überkam alsbald das große Vergessen. Eben noch war ihr Gesicht, fahl und bleich vor Schreck, in den Staub gebeugt und das Herz bitter und gram von Schmerz, jetzt aber reckte es sich schon wieder keck und kühn hoch in die Welt. Wer Reue geschworen, war reuig, bis sich die nächste Gelegenheit zur Sünde ergab. Wer eben noch jammerte, erhob nun wieder sein trotziges Gesicht. Verzieht 83 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
sich das Gewitter, heben sie die Köpfe wie zuvor. Der Spuk war vorüber. Jeder lachte sich ins Fäustchen und tat erneut, was ihm allein gefiel. Was sollen wir nur halten von einem solchen Geschlecht? Der Mensch gleicht einer Luftblase. 5 An einem Morgen war man gesund, am folgenden schon tot. 6 Wer einen tröstete, wenn dieser starb, starb selbst bald darauf ungetröstet und allein. 7 Wenn das ernste Bedenken, dass wir sterben müssen, nicht unser Herz ergreift, wie die alten Philosophen erhofften, wenn auch nicht die Erinnerung an das schreckliche Erleben die Seele umwandelt, was dann? Die Gnade? Lernen wollen sie nicht. Es müsste ein noch größerer Schmerz sie erreichen. Aber kann und soll es denn schwerer werden als in jenen Jahren des großen Sterbens? Oder ist es vielleicht doch viel mehr das Schöne, das das Herz der Menschen verwandelt? Wenn es nach den Tagen des Unglücks wieder schmeckt, wie gut die Freundschaft ist, die Treue zueinander, wie unbezahlbar die Wohltat des Friedens, wie angenehm ein freundlicher Tag, wie kostbar der Himmel und die Erde, ein fröhlicher Leib, Wasser, Wein und Brot. Aber nehmen wir diese Dinge nicht allzu leichtsinnig hin? Brauchen wir nicht manchen Schmerz, um uns wieder daran zu erinnern? Ach, Kind, wer das Herz der Menschen besucht, der dreht sich mühselig im Kreis! Francesco meinte, 8 wir müssen uns den Vorsatz machen, täglich an die eigene Vergänglichkeit zu denken, so dass wir schön und gut leben können. 9 Wir müssen aber wohl auch dankbar alles Kostbare des Schönen bewundern. Vielleicht ist es eine glückliche Waage aus beidem? Ich finde keinen Schlüssel. Vielleicht wirst du ihn einmal finden. Es reicht schon zu, das eigene stockige und wirre Herz zu führen, und ein Leben reicht dazu gar nicht aus. Die Zeit ist bald zur Mitternacht vorgerückt. Leib und Seele sind mir müde. Nun werde ich sehen, welche Weisheiten der Nacht mich narren oder weise machen […] 10
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Erläuterungen und Kommentar Vgl. Brief 22. Ein Zitatausschnitt des Freundes, Francesco Petrarca, aus dem nach dem Pesttod der geliebten Laura (vgl. Brief 2) 1348 verfassten Briefgedicht an sich selbst Ad se ipsum; vgl. auch Brief 7. 3 Bezugnahme auf die Weltchronik (Chronicon 1355) Heinrichs von Herford; vgl. auch Brief 20. 4 2. Samuel 14,2. 5 Oder: Seifenblase. Das Homo bulla-Motiv: der Mensch gleicht einer Luft- oder Seifenblase, eine Metapher für seine Fragilität und Vergänglichkeit, hat ihren locus classicus in der Einleitung von Varros Schrift Über den Landbau. 6 Aus einer Chronik Orvietos aus dem Jahr 1363 über die Zeit der Pest. 7 Ähnlich einem Gedanken aus den Aufzeichnungen Gabriele de Mussis’; vgl. auch Brief 1. 8 Vgl. nur Francesco Petrarca Ad se ipsum (vgl. Anm. 2) sowie die einführenden Gedanken seines Testaments. 9 Hier ist wieder der Gedanke aufgenommen, dass die Kunst zu sterben und den Tod zu bedenken (ars moriendi), nicht der Trübsal und Depressionen, sondern der Kunst des Lebens (ars vivendi) dienen soll; vgl. entsprechend Brief 22. 10 Einer großen innerbiblischen Tradition zufolge können Träume als Offenbarungen und Weisheitsgeschenke Gottes an die Seele angesehen werden. 1 2
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Aus den Pest-Briefen
XXIV
Dezember 1374
DIE WELT, SIE IST NICHT MEHR DIESELBE […] bin ich gestern Nacht aus einem Traum aufgewacht, in dem ich viel gelitten habe, wie jenes seltsame Weib des Statthalters, 1 und in dem ich mit zwei Gesichtern da saß, wie ein Januskopf. Das eine Gesicht von mir schaute zurück in das vergangene Jahr, das andere nach vorne in das neue. Ich erkannte es nicht oder ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie die Gesichter im Traum genau aussahen, ob fröhlich oder traurig, ob besorgt oder gelassen, nur ungefähr weiß ich es noch. Heute stehe ich an der Schwelle des neuen Jahres, das alte geht dahin. Ich sehe zurück mit einem Gesicht und ich halte Ausschau nach vorne mit einem anderen. Auch mein Gesicht zurück ist ein Janusgesicht. Ich denke an das Glück vergangener Tage, an heitere Stunden der Freundschaft, an alte Zeit. Ich denke aber auch zurück an Schmerz, Verlust und Tränen, gab es doch viel Leid und wurde doch der wertvolle Freund mir genommen 2 und viele Freunde mehr. Ich schaue nach vorne in die Zukunft. Mein Gesicht, das dem neuen Jahr entgegenschaut, ist voller Ungewissheit. Denn ich spüre, eine neue Zeit bricht an. Ich verstehe, was Francesco sagte, dass die Fürstenhäuser und die alte Zeit im Greisenalter stehen und die Grenze ihres Blühens erreicht haben. 3 Er, der Freund, sagte es mehr mit Freude als mit Trauer. Denn er schaute von windigen Höhen auf eine neue, glücklichere Zeit. 4 Ich war nicht mit ihm dort oben. Mir lächelt das eine Auge, während das andere weint. Die alte Ordnung löst sich auf in Luft. Nein, sie ist eine Art von Humus für etwas Neues. Schon spüre ich die Morgenluft der neuen Zeit. Aber was wird die neue Zeit uns bringen? Frieden oder Kriege? Seuchen oder Schutz? Heil oder Unheil? Sie wird wohl so sein, wie ich in meinem Traum: ein Januskopf, und sie wird beides bringen. 5 Die Toten werden betrauert und nach einiger Zeit vergessen. Das Leiden ist ausgestanden. Die Welt aber und die neue Zeit gehört den Lebenden. Der schwarze Tod war ein schnelles Pferd für all diese 86 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
Dinge. 6 Es sterben Jahrhunderte und machen Platz für einen neuen Raum, in dem der Mensch neu und stark stehen wird. Die Welt, sie ist nicht mehr dieselbe. Die Sonne geht unter, es ist Nacht, dann bringt sie einen neuen Tag. Der Mensch will siegreich in der Mitte stehen. Mit seinemVerstand wird er das All durchmessen und auch alles, was auf Erden ist. Er wird die Meere durchpflügen und Welten erobern. Die Welt und ihre Schönheit wird er besingen und hoffen, dass sie ihm ein zweites Paradies schenkt. Groß fliegen seine Pläne dahin. 7 Viel mag ihm gelingen; denn groß sind seine Gaben. Doch wenn der Mensch den Himmel vergisst, was dann? Wer aber den Himmel auf Erden will, macht, dass sie zur Hölle wird – das merk dir gut, mein Kind. Alles tun die Menschen, viel vermögen sie – doch haben sie Glück? Ich will dir noch ein letztes Wort über die Pest sagen, über die nachzudenken und dir zu berichten, ich durch deine Fragen so angeregt bin. Sie ist, hier denke ich wie die Freunde, 8 keine besondere Strafe Gottes für unser Zeitalter. Denn die vorangegangenen waren nicht weniger ehrlos als das unsere. Doch wie man das Geld anhäuft, so häufen sich auch die Verfehlungen des Menschengeschlechts durch die lange Geschichte hindurch an und kommen zu uns, die wir ihnen folgen. So fügen sich unsere eigenen Fehler zu denen unserer Ahnen, die wir nicht in Ordnung brachten. Wenn aber hundert Geschlechter Gift in den Brunnen schütten und wir ebenso, dann trinken wir nicht allein unseres, sondern das angehäufte von hundertundeinem Geschlecht. Wer kann dann noch retten? Geliebte Tochter, die einzige, die mir zur Freude geblieben ist, gleich schlägt es Mitternacht und das neue Jahr bricht hier an, 9 auch wenn die Priester wollten, dass es schon am Weihnachtstag beginne. Dieselben, die auf den Kirchenbänken saßen, laufen nun wie toll draußen auf der Piazza del Campo herum, als seien sie selbst die Pferde einer dritten Palio. 10 Das neue Jahr bricht an, mein Kind: Wünschen wir ihm Glück. Es grüßt das neue Jahr, es grüßt eine neue Zeit! Dies ist nun mein letzter Brief, den ich an dich schreibe. Aber es braucht ja nun auch keinen neuen mehr. Denn alsbald reise ich ab nach Köln, und mein Herz ist schon voller Freude, dich wiederzusehen und in die Arme zu schließen. Achte auf das Wasser, es war schon in 87 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
vergangenem Jahr unruhig und ungnädig. DieserWinter verheißt uns ebenfalls nichts Gutes. Achte gut darauf, wenn der Schnee schmilzt, der Regen fällt oder gar das Eis bricht. 11 Oh, jetzt läuten die Glocken zur Mitternacht, die Menschen jubeln und johlen in den Straßen. Das sah ich noch nie: sie haben mit Pulver Feuerlicht in die Luft versprüht und es sieht aus wie Regen aus Licht. Ich höre in der Ferne auch Pauken und Trompeten. Hier am Markt lärmen sie mit Töpfen und Rasseln und Peitschen und machen viel Krach, um böse Geister zu vertreiben. Bald werden sie essen und trinken und sich Glück wünschen. Morgen, wenn der Rausch vorbei ist, tun sie ein wenig Buße, vielleicht, und dann eilen sie wieder […]
Erläuterungen und Kommentar Vgl. zum Stichwort »Träume« auch Brief 23. Die Stelle, auf die sich der Briefschreiber konkret bezieht, stammt aus dem Matthäusevangelium 27,19, wo die Frau des Pontius Pilatus dem über Jesus zu Gericht sitzenden Präfekten eine Warnung zukommen lässt: Habe du nichts zu tun mit diesem Gerechten; denn ich habe heute im Traum seinetwegen viel gelitten. 2 Gemeint ist der Tod des Freundes Francesco Petrarca; vgl. Brief 14. 3 Vgl. nur F. Petrarca Vom einsamen Leben (De vita solitaria), Buch I, Kap. 9. – Petrarca ist enttäuscht von den »Greisen« seiner Zeit, d. h. zeitkritisch gesprochen: vom zu Ende gehenden Mittelalter. Von den Greisen hätte er die besonnene Vernunft erwartet, die Jungen durch alte Weisheit auf ihren neuen Wegen zu unterstützen. Dass aber die Greise die Irrtümer der Jugend, d. h. Lebensgier, Sinnenlust, scholastisch-textorientierte Denkmethoden, selbst praktizieren, macht die Notwendigkeit ihres Vergehens nur umso deutlicher. Zwischen der glorreichen Antike und einer heranbrechenden Zeit situiert Petrarca entsprechend ein »Greisenzeitalter« (mundus senecens: das Mittelalter als eine dunkle »Zwischenzeit«, eine »schändliche, schmutzige Zeit der Mitte« (in medium sordes, in nostrum turpia tempus), wodurch zum ersten Mal der Epochenbegriff des »Mittelalters« = medium tempus bezeugt ist: Petrarca, Poetische Briefe/Epistolae metricae (3,33). 4 Der Satz bezieht sich wohl auf die Besteigung des 1912 m hohen Mont Ventoux, des »windigen Berges« in den Drôme-Alpen der Proven1
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ce. Ihn hatte Petrarca am 26. April 1336, zusammen mit seinem Bruder Gherado und zwei Begleitern, aus dem einzigen Grund bestiegen, wie er schreibt, weil er dies so wollte: »allein vom Drang beseelt, diesen außergewöhnlich hohen Ort zu sehen«. Der begeisterte, renaissancehafte Bezug auf inspirierende antike Autoren kollidiert dabei auf dem Gipfel noch einmal mit der mittelalterlichen Mahnung des Augustinus gegen die menschliche Hybris. Petrarca trägt in sich den Kampf zweier Denkweisen aus. Dennoch handelt es sich hier um die erste bekannte (zweck-) freie Bergbesteigung aus dem bloßen Interesse heraus, zu sehen, wie sich die Dinge »dort oben« verhalten. Der Berg fordert ihn heraus, er nimmt diese Herausforderung an und erweitert seinen Horizont. Dieser Aufstieg ist nicht nur ein materieller Prozess in Fels und Stein, sondern ein Aufstieg der Seele und das Bewusstsein für eine andere Art, in der Welt zu sein. Die windigen Höhen des Berges sind auch neue Höhen des Geistes. Entsprechend kann dieser Aufstieg auch als Symbol des Renaissancehumanismus, des »neuen Denkens« gelesen werden, das das Wegwesen Menschen, seine weltlichen Freuden und Interessen sowie seine Fähigkeiten und Kräfte in den Mittelpunkt rückt. 5 Die Menschheit transformiert nach und nach ihr orientierendes Koordinatensystem. Die Autorität der Vertikalen in ihrer spirituell-religiösen Bindung schwächt sich merklich ab und legt sich um in eine kraftvolle Aufwertung der Horizontalen in ihrer welthaft-immanenten Ausrichtung. Insgesamt zeichnet sich dabei neben einer stärkeren Weltzugewandtheit eine neue Hochschätzung des einzelnen Menschen ab, die Bedeutsamkeit des Individuellen, gerade auch in Kunst und Literatur. Die Anknüpfung an die antike Philosophie, als deren Renaissance sich der neue Humanismus und seine Betonung von Individualität und Subjektivität versteht, löst den göttlichen Ordo des mittelalterlichen Weltbildes zunehmend auf. – In der Freundschaft mit Petrarca und Boccacio, die dieses neue Zeitalter nicht nur begrüßen, sondern fördern und mitgestalten, findet der Briefschreiber einen sehr unmittelbaren Bezug und Zugang zur neuen Zeit. Gleichwohl weist sein Stichwort vom »Januskopf« auf die von ihm erlebte Ambivalenz. Er kann sich nicht einfach optimistisch in die Aufbruchsstimmung einreihen. Denn er verspürt zugleich einen Verlust, vielleicht sogar einen Anflug von Niedergang und Resignation. Letztlich hält er an dem fest, was ihm das Janusköpfige zutiefst verständlich macht: was war, ist ambivalent und zwiespältig, was kommen wird, ist es auch. Darum wird die neue Zeit die Menschen herausfordern, sie als Aufgabe zu begreifen und verantwortlich zu gestalten. 6 Dies erinnert an den vierten apokalyptischen Reiter. Die Pest, in manchem sicher auch Auslöser und Verursacher von gewaltigen Ver-
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änderungen, ist in der Hauptsache, so sieht es jedenfalls der Briefschreiber, ein apokalyptischer Katalysator von Prozessen, die sich bereits abzeichneten. – Den Menschen des 14. Jahrhunderts ist die große Pest jedenfalls ein weltstürzendes Ereignis, eine Wasserscheide zwischen dem Untergang des Mittelalters und der Heraufkunft einer neuen Zeit. Wer damals lebte, fand sich vor in einer allseits hereinstürzenden Katastrophe apokalyptischen Ausmaßes, und im Erleben der gewaltigen Pandemie, ohne Abstand betroffen, stellte sich fraglos für die meisten das Gefühl eines Weltuntergangs ein. 7 Etwa ein Drittel der europäischen Bevölkerung war gestorben. Der Tiefstand der Bevölkerung führte dazu, dass weniger Menschen mehr Land und Ressourcen auf sich vereinigen konnten. Zugleich aber waren die Felder oft ungenutzt und die Versorgungslage angespannt, weil es eine starke Abwanderungsbewegung aus den Beschwerlichkeiten des Landlebens in die größere Vielfalt und Freiheiten der Städte gab, aber auch weil Restriktionen bei der Einfuhr von Waren und Gütern in pestabgeriegelte Städte ein Einkommen mit ländlichen Produkten leicht unmöglich machten. Der Sog der Städte hielt auch dann noch an, als ihr freigewordenes Arbeitsangebot objektiv gesättigt war, so dass nach und nach ein städtisches Proletariat entstand. – Die Pest relativiert die alten Mächte und Kräfte: Kirche, Klöster und Orden sowie Kaiser, Adel und ritterlich-höfische Kultur. Sie alle hatten versagt und waren weder in der Lage, der Pest eine sinnhafte, tragfähige Deutung oder einen heilenden Ausweg zu geben, noch eine neue Stabilität in den zusammenbrechenden Ordnungsgefügen aufzubauen. In dieses Vakuum einer Geistes- und Orientierungskrise stoßen einerseits neue deutungs- und handlungsfähigere Kräfte. Die Bedeutung von Wissenschaft und Technik nimmt zu, so dass sie sich allmählich zu den großen Motoren der frühmodernen Welt herausbilden. Schritt für Schritt vollzieht sich dabei ein Elitenwechsel, der neben den neuen geistigen Autoritäten praktisch den Handwerkern und Kaufleuten einen größeren Spielraum gewährt. Die Macht der Ökonomie, versinnbildlicht am Aufstieg der Medici, ist der dritte große Motor der neuen Zeit. Die Pest rüttelt an den tragenden Säulen der alten Zeit und kündigt eine Epochenwende an, so dass man, etwas dramatisch formuliert, von der Geburt der Renaissance oder der Geburt des modernen Menschen aus der Pest sprechen kann. 8 Vgl. nur Francesco Petrarca Ad se ipsum (vgl. auch Anm. 2). 9 Wann ein Jahr zu Ende geht oder neu beginnt, ist im 14. Jahrhundert noch nicht eindeutig festgelegt, sondern wird geprägt durch das konkurrierende Nebeneinander verschiedener Traditionen. Insbesondere ringen verschiedene kirchliche Vorschläge im Kampf mit heidnisch-säkular-bür-
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gerlichen Festsetzungen um die Vorherrschaft der Festlegung und damit um die Deutungshoheit über die Zeit. 10 Zum Palio vgl. auch die Briefe 13 und 16. 11 Wie der erste Brief kommt auch der letzte Brief auf die Hochwassersituation in Köln zu sprechen. Am 9. Oktober, dem Gedenktag des Heiligen Dionysius, im Jahr 1374 war es bereits zu einer schweren Sturmflut an der Nordsee, der 1. Dionysiusflut gekommen, der tausende von Menschen zum Opfer gefallen waren. Nun, im Dezember 1374, stieg auch der Rhein wieder auf Rekordwerte an und brachte schwere und zerstörerische Überschwemmungen mit sich. Nach einer starken Schneeschmelze und tagelangen Regenfällen war es im Februar 1374 zu einer Katastrophe gekommen, die nicht nur Häuser, Felder und Schiffe zerstörte, sondern auch das Leben von vielen Menschen und Nutzvieh kostete. Am 11. Februar, mit einer Marke von 11,35 m, konnte man sogar mit Booten über die rheinseitige Stadtmauer von Köln fahren. Eine ähnliche Gefahr erwartet der Briefschreiber für den Winter 1374/75.
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Nachbemerkung
Das Vorwort hat mit dem Hinweis »in einen Briefwechsel aus dem 14. Jahrhundert eingekleidet« bereits angedeutet, dass er erfunden ist. Wie der »dokumentarisch-fiktionale« Briefwechsel selbst ist auch die Rahmenhandlung der agierenden Personen fiktiv. Nicht erfunden sind alle inhaltlichen Bezüge auf das Erleben und den Umgang mit der großen Pest. Sie verdanken sich einer ausführlichen und genauen Untersuchung von Quellen, Dokumenten und Fachliteratur. Einige wenige zeitliche Überblendungen sind in der Regel im Kommentar erkennbar, etwa Anmerkung 5 zu Brief V oder Anmerkung 1 zu Brief VI. Die 24 Briefe laufen wie 24 Streifzüge durch ein Jahr, das den Weltenlauf symbolisiert, und bringen ihre Gedankenernte ein. Dass es 24 Briefe sind, könnte auf zweimal 12 Monate zurückzuführen sein und damit die doppelte, dichte Zeit eines äußerst intensiven Jahres bedeuten. Es wäre aber auch denkbar, dass die 24 Briefe wie ein Anti-Adventskalender oder ein falscher Advent funktionieren. Zugleich läuft das Einholen der Gedankenernte nicht nur durch den Jahreskreis, sondern mit jedem Brief und der Zeit seiner Abfassung voranschreitend auch durch einen Tag vom Hahnenschrei bis nach Mitternacht. So bilden nicht nur die Monate des Jahres den Weltenlauf nach, sondern versinnbildlicht auch das Durchschreiten des Tages die Spanne des Menschen. Dass das Jahr der Briefabfassung, also 1374, mit den Ziffern für die Jahrzehnte den Beginn der großen Pest in Europa, also 1347, invertiert spiegelt, ist nur ein weiterer Hinweis darauf, dass die Komposition der Briefe sowohl den Sinn der mittelalterlichen Welt für Symbolik und Allegorie aufgreift, als auch eine Erfahrung von grundsätzlicher Bedeutung durch diese Gestaltung ausdrücken möchte.
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TEIL II Die Coronapandemie und andere große Krisen
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II.1. Hinführung
Logbücher gibt es in verschiedenen Bereichen. Der bekannteste Fall ist sicher ihre Nutzung in der Seefahrt. Aber auch beim Tauchen oder in der medizinischen Weiterbildung finden sie ihre Verwendung. Im Bereich der EDV verwendet man Logdateien. Auf der Seereise wird täglich im Logbuch chronologisch aufgezeichnet, wie hoch die Reisegeschwindigkeit und die zurückgelegten Meilen waren, aber auch welche besonderen Ereignisse sich auf der Reise zugetragen haben. Seit Ende 2019 muss die Menschheit eine Art geistiges Logbuch für ein neues Virus namens SARS–CoV-2 (Severe Acute Respiratory Syndrome Coronavirus 2) und die dazugehörige Krankheit COVID 19 (Corona-Virus-Disease, entdeckt im Jahr 2019) führen. Niemand besitzt ein komplettes Bordbuch dieser neuen Kolumbus- oder Odysseus-(Irr-) Fahrt der Menschheit. Aber es zeichnet sich ab, dass es sich wohl um das verheerendste Virus der letzten hundert Jahre handelt, welches mit anhaltender Macht und immer neuen Anläufen um den Globus rast und dabei eine Spur der Verwüstung nach sich zieht. Millionen Menschen sind an Covid verstorben, viele leiden an langwierigen Folgeproblemen. Die globale Krise einer Pandemie ist ein unvollendetes, komplexes und in ihren Wechselwirkungen kaum völlig aufhellbares Geschehen und gleicht in vielem einem unbekannten Territorium. Ein solches Territorium wird durch Exkursionen illustrierend erschlossen. Der Exkurs ist eine selbständige und in sich abgeschlossen kleine Reise, die von dem durchreisten Gebiet erzählt. Reise-Notizen werden erstellt. Jede Notiz aber ist genau dies – eine wirkliche Kenntnisnahme. Ein Stenogramm der Exkursion erscheint. Alles Wichtige zum Kurs und über besondere Ereignisse und Vorkommnisse werden in einem Reise-Tagebuch aufgezeichnet. Dieses ist ähnlich einem Bord- oder Logbuch, das die Reise protokolliert. Der dabei gewonnene Bericht erzählt von einem eigentümlichen Wesen, das seine Selbsterhaltung, 97 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
Selbststeigerung und Selbstbefreundung zwischen dystopischen Abgründen und utopischen Träumen organisiert, ohne seinen Rätseln und Geheimnissen je zu entkommen. Es ist die Gattung Mensch, die hier in den Prüfungen der Gegenwart auf dem Prüfstand steht. Die Gedanken, die sich in diesem Bericht angesammelt haben, konzentrieren sich auf zwei größere Gesichtspunkte. Wir wollen zum einen verstehen, wie Menschen typischerweise auf große umfassende Krisen reagieren. Dazu werden die Erfahrungen aus der großen Pest des 14. Jahrhunderts und der Coronapandemie, aber auch aus dem Umgang mit der sich verstärkenden ökologischen Krise herangezogen. Hierbei lassen sich Reaktionsmuster protokollieren, in denen zugleich das Erleben, Deuten und die großen Anstrengungen der menschlichen Gattung sichtbar werden, Herr ihres eigenen Schicksals zu bleiben. Insofern laufen, wie in einem großen Brennglas, alle Fäden der Welt- und Selbstdeutungen in pandemischen und globalen Krisen zusammen. Die aufgezeigten Reaktionsmuster bilden zwar eine plausible Chronologie, müssen aber keine streng abgegrenzten Phasen in einem zwangsläufig linearen Prozess darstellen. Wie immer in lebendigen Prozessen mit vielen Variablen können »Phasen« ausfallen, sich überlagern, übersprungen oder erneut durchlebt werden. Zum anderen soll nicht nur nachvollzogen und verstanden werden, wie Menschen faktisch Krisen erleben und mit ihnen umgehen. Philosophie als Lebenskunst und Weisheitslehre versucht immer auch, Wegweisung zu geben, was aus dem Erlebten und Erlittenen zu lernen und wie mit Krisen kompetent und gut umgegangen werden soll. Dabei deckt sie schonungslos auch Versäumnisse und falsche Prioritätensetzungen unserer Art des Lebens und Wirtschaftens auf. Die Darstellung der typischen Reaktionsmuster und die Gedanken zur Lebenskunst in großen Krisen sind ihrer Form nach kleine Meditationen. Eine Meditation nennen wir hier das besinnliche Nachdenken, das sich die Zeit nimmt, Ereignisse, Themen oder Gegenstände näher, eingehender zu betrachten. Dabei löst sich die Besinnung vom Mainstream der Alltagsmeinungen 98 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
und von der Autorität der Experten. Sie sucht eine eigene und nicht geborgte Klärung und Klarheit. Man legt sich selbst Rechenschaft ab und übernimmt keine vorgegebene Meinung. Der Wahlspruch der Aufklärung sapere aude leuchtet auf. Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen, fordert Kant von denen, die mündig sein oder werden wollen. Um mit anderen in das Gespräch über wichtige Dinge einzutreten, braucht es zuvor erst einmal Klarheit im Eigenen. Die Meditation beleuchtet und klärt durch eigenes und eigenständiges konzentriertes Überlegen eine Sache so deutlich wie möglich. Auf diese Weise findet sie ihr gut begründetes eigenes Urteil oder eine tragfähige eigene Sicht. Das Corona-Logbuch der Menschheit ist noch nicht zu Ende geschrieben wie ein historisches Logbuch, etwa das berühmte Bordbuch des Christoph Kolumbus auf seiner ersten indischen Amerikafahrt 1492. Was die Coronakrise noch an Routen abverlangen wird und welche Ereignisse noch mit ihr verbunden sein werden, können wir nur ahnen und bestenfalls durch kluges Überlegen ein wenig antizipieren und vorausschauend gestalten. Die Fahrt ist nicht zu Ende. Insofern sie sich in einer Zeit vollzieht, in der alle anderen großen Krisen und Herausforderungen der Menschheit sich simultan fortschreiben, wächst der Druck der Verantwortung. Verantwortung heißt: ernsthaftes Antworten auf die herausfordernden Anfragen, die das Leben und die Zeit stellen. Ernsthafte Antworten sind aufgeklärte Antworten gemeinsam verantworteten Sinns. Je schneller aber das Krisenkarussell sich drehen wird und je massiver seine Bedrohungspotentiale anwachsen, umso rascher schließt sich das Zeitfenster für vernünftiges Nachdenken, für sorgfältige Besinnung, um sinnvolle Antworten zu geben. Die Coronakrise läutet die Schiffsglocken der globalen Titanic, und es ist doch wohl allerhöchste Zeit für einen ernsthaften Kurswechsel. Rückblickend soll im Logbuch stehen, dass dieser Kurswechsel, den die raue See erzwungen hat, rechtzeitig vollzogen und dass das Schiff der Menschengattung wieder auf eine glückliche Reise geführt wurde.
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II.2. Muster im Umgang mit großen Krisen
Das Übel ist anderswo Die Ankunft einer großen Krise, die sich in der Regel nur langsam anbahnt und durch verschiedene Alarmsignale als ihre Vorboten anzukündigen scheint, hat immer etwas Unwahrscheinliches und Unwirkliches. Die Menschen beharren so sehr auf ihrem Wunsch, dass ihr normales Leben weitergeht und nicht verlorengehen kann, dass sie die Krise oft selbst dann nicht sehen wollen, wenn sie unmittelbar vor ihrer Haustür steht. Dies erinnert an den Gedanken Sigmund Freuds, dass sich die Menschen für unsterblich erachten. Jeder weiß zwar rational, dass er sterben muss. Wir machen auch die Erfahrung, dass es andere trifft. Aber dass dieses Schicksal auch uns selbst wirklich treffen könnte und wir eines Tages nicht mehr da sind, das kann doch eigentlich gar nicht sein und muss für unmöglich gelten. Es gibt einen so tiefen emotionalen Widerstand gegen das Faktum des eigenen Todes, dass er uns wie ein unmögliches Märchen erscheint. Selbstschutz hält sich das Schreckliche vom Leib. Auch eine herannahende Krise kann durch diese Art von präventivem Leugnen abgewehrt und utopisch verzaubert werden. Die Gerüchte, die der Ankunft der Pest vorausgingen, waren ebensolche Nachrichten wie die der Coronakrise, die irgendwo anders stattfindet, oder der Klimakrise, die uns doch, wie wir irrig meinen, nicht treffen wird, da sie ebenfalls anderswo stattfindet. Die Katastrophe ist zunächst fern und irreal, sie ist utopisch. Doch auch eine Fama ist voll eigentümlicher Kraft. Das Gerücht kündet von drohendem Unheil. Drohendes Unheil, Ankündigung, Ahnungen, Verdacht, das alles beschäftigt die Phantasie der Menschen und nährt die untersten Schichten der Angst. Es ist da etwas im Anmarsch, mit dem wir uns alle anstecken können. Doch dieser Ansteckung geht jene voraus, mit der sich alle gegenseitig anstecken, mit einer Angst, die sich zur 100 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
kollektiven Angst ausbreitet. Die utopische Abwesenheit formt sich in der Angst allmählich zur ubiquitären Anwesenheit des Virus. Es mag überall sich verbreiten, an jedem Ort lauern und schließlich eine göttliche Eigenschaft auf sich ziehen: es ist allgegenwärtig. Aus woanders und irgendwo wird überall. Die aber, die unmittelbar Zeugen der anhebenden Katastrophe werden, überfällt Furcht, und sie beeilen sich, ihr so schnell als möglich zu entkommen. Ihre Flucht wird aber zu einem neuen Teil der Katastrophe. Denn sie bringen nicht nur Angst und Furcht mit sich, sondern auch beunruhigende Nachrichten. Unbemerkt werden die Flüchtenden dabei nicht nur InformationsTransporteure der Krise, indem sie von ihr erzählen und über sie aus erster Hand berichten. Paradoxerweise verbreiten sie nämlich, insbesondere bei Krankheiten, unabsichtlich das, wovor sie sich fürchten. Auf den Schiffen der Genueser, die aus Caffa flüchteten, saß bereits die große Pest, die sie nach Europa einschleppten. Viele derjenigen, die vor dem Coronavirus flohen, taten das Gleiche. Was fern schien, kam auf diese Weise bedrohlich nahe. Das magische Spiel des Utopisierens geht zu Ende. Die Utopie hat ihre Wege, real zu werden. Sie drängt sich auf und fällt ein.
Schock der anwesenden Abwesenheit – Die Pest in Bergamo Ereilen uns die Schockwellen eines fernen Ereignisses, so dass dieses in eine bedrohliche Nähe gerät, enden die Möglichkeiten, sich das persönliche Betroffensein durch die Katastrophe auszureden. Es nützt nichts mehr, die Bedrohung emotional zu leugnen oder zu verdrängen. Sie ist nicht mehr anderswo, sondern da. Sie ist eine »internationale Notlage« geworden und bald darauf eine »sehr hohe internationale Gefährdungslage« und schließlich eine »Pandemie«. Sie ist nicht mehr utopisch, an irgendeinem anderen, abgelegenen und fernen Ort, mit dem ich nicht zusammenhänge, sondern sie ist da als anwesende Abwesenheit. Noch ist das Verhängnis zwar nicht sichtbar über 101 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
mich selbst hereingebrochen, aber es lauert um die Ecke. Die Krise hat sich in die Nachbarschaft eingenistet. Jens Peter Jacobsen erzählt in seiner Novelle Die Pest in Bergamo davon, dass die große Pest zuerst anderswo ausbrach, nämlich in der neuen Stadt, der Unterstadt oder Città Bassa von Bergamo, und dort ihr verheerendes Unwesen so lange trieb, bis die Unterstadt ausgestorben war. Obwohl die Einwohner von Alt-Bergamo, der Città Alta oder Oberstadt, die verlassenen Häuser der neuen Stadt bald darauf niederbrannten, um sich der Pestgefahr zu entledigen, half dies alles doch nichts. Denn die alte und die neue Stadt sind vielfältig verwoben und bilden ein System. Die Pest fand also tausend Wege hinter die Schutzmauern der Oberstadt und verrichtete auch dort oben ihr furchtbares Werk. Wenn wir aus der Mitte des 14. Jahrhunderts in den März des Jahres 2020 wechseln, wurden wir erneut mit apokalyptischen Bildern aus Bergamo konfrontiert, die die Assoziation an den schwarzen Tod fast unwillkürlich wieder aufrufen konnten. Es ist der 18. auf den 19. März 2020. Es ist Nacht. Der Tag soll diese Bilder nicht sehen. Sie zeigen nämlich den Kollaps des kommunalen Krisenmanagements, weil die Zahl der Toten nicht mehr vor Ort bewältigt werden kann. Italien war zum Zentrum der Corona-Krise in Europa geworden und überflügelte China sowohl hinsichtlich der Zahl der Infizierten als auch der Toten. Das ganze Land befand sich in einem Ausnahmezustand und war gleichsam unter Hausarrest gestellt worden. Ein Lockdown wurde verordnet. Polizei überwachte die Ausgangssperre. Auch Militär mit Maschinengewehren in der Hand. Bilder, die man gar nicht glauben mochte. Die Bilder gehen um die Welt und brennen sich in das kollektive Gedächtnis ein. Manche bezeichnen Bergamo als das Wuhan Europas. Norditalien, die Lombardei und insbesondere Bergamo wurden von der Gewalt der Covid-Pandemie überrollt. Man dachte, das Virus tobe in anderen Teilen der Welt. Doch dann war es da und explodierte mit einer so großen Wucht, dass alle die Druckwelle zu spüren bekamen: Rasch stehen die Krankenhäuser vor dem Zusammenbruch der Patientenversorgung. Die örtlichen 102 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
Friedhöfe sehen sich außerstande, weitere Tote aufzunehmen. Die Krematorien können die Berge von Leichen nicht mehr fassen. Schon Mitte März waren sie an ihre Kapazitätsgrenzen gestoßen. Die Leichenhallen und Kühlhäuser quellen über. In den Kirchen liegen die Toten auf dem Boden. Dann stapeln sich dort monatelang die Särge. Am Ende müssen die Böden mit Desinfektionsmitteln gereinigt werden. Schließlich kommen Militärlaster des italienischen Heers zum Einsatz, um die Särge mit den vielen Toten abzutransportieren und zu weniger ausgelasteten Krematorien zu fahren. In jener Nacht vom 18. auf den 19. März 2020 werden die Menschen in Bergamo von starkem Motorenlärm wach. Dreizehn Militärfahrzeuge passieren die Via Borgo Palazzo im Zentrum Bergamos. Sie transportieren Särge. Jemand macht Aufnahmen. Irgendwer filmt diese gespenstische Szene mit dem Smartphone. Am nächsten Tag gehen die Bilder um die Welt. Das Foto der Lastwagenkolonnen des Militärs mit ihrer Totenfracht mitten in der Schönheit Italiens im einundzwanzigsten Jahrhunderts ist derart absurd, dass man den Kopf schütteln möchte, wie um aus einem Albtraum aufzuwachen. Oder um »Fake News« zu rufen. Alle paar Tage bringen Lastwagen nun neue leere Särge, um sie wieder mit Toten zu füllen. Mit Gabelstaplern werden die Särge sodann in die Lastwagen hochgehievt. Viele Verstorbene können aber erst sehr viel später bestattet werden. Denn dafür mussten erst einmal die Quarantänebestimmungen des Lockdowns wieder gelockert werden. Das war erst Anfang Juli 2020 wieder der Fall. Bis dahin müssen sich tausende Angehörige in ihrer Trauer, aber auch in ihrer Wut auf die Umstände und das von ihnen vermutete Versagen der Behörden gedulden. Was hier in Bergamo geschieht, ist keine Falschmeldung. Der Tod ist genauso real wie das Entsetzen der Menschen. Die Militärkonvois von Bergamo ebenso. Diese Bilder haben sich in das kollektive Bewusstsein der Menschheit eingebrannt. Sie symbolisieren die überwältigende Kraft von Pandemien, denen man nicht den Schneid abkauft. Hier, im malerischen Bergamo, konnte man einen Blick in die pandemische Zukunft gewinnen, falls es nicht durch kluge und solidarische Maßnahmen gelingen 103 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
würde, wieder Herr über ein außer Kontrolle geratenes Feuer zu werden. Der Leichenkonvoi wirkt wie ein Fanal und entzündet eine Feuerflamme, ein flammendes Zeichen für die Kraft und Gewalt pandemischer Bedrohung. Er zeigt die Schrecken einer neuartigen Pest, die inmitten einer hochmodernen Welt archaisch wütet. Eine Seuche, die tiefe Wunden und schmerzende Narben in der Geschichte der Menschen hinterlässt. Menschen bringen ihre Angehörigen in die Klinikambulanz. Irgendwann erhalten sie eine Urne zurück. Ihr Wissen beschränkt sich auf ein Todesdatum. Was passiert ist, wissen sie nicht. Aus vielen Fenstern haben die Einwohner Bergamos Fahnen gehängt. Auf ihnen steht: Bergamo – mola mia! Bergamo – gib nicht auf! Wenige Tage zuvor hatte der Fußballklub Atalanto Bergamo einen fulminanten 4–3-Sieg gegen den FC Valencia im Achtelfinale der Champions League errungen, den größten in seiner Vereinsgeschichte. Diesmal hatte das Spiel vor leeren Rängen stattgefunden, nachdem sich wohl sehr viele der 40.000 Zuschauer in einem anderen Spiel zuvor Ende Februar auf den Rängen gegenseitig angesteckt hatten. Ein SuperspreadingEvent. Nun hielt die Mannschaft jubelnd ein T-Shirt in die Luft. Auf ihm stand: Bergamo, è per te. Mola mia. Bergamo, das ist für dich. Halte durch! Gib nicht auf! Das Zeichen der Solidarität auf den Fahnen und dem Shirt will Mut machen und Hoffnung geben. Zugleich erzählt es davon, dass Bergamo Beispielloses erlebt hat, ein kollektives Trauma, das es wohl nie mehr vergessen wird. Ein schwerer, wilder Sturm ist über Stadt und Land gerast und hat viel Verwüstung und eine bittere Lektion mit sich gebracht. Die Menschen sind mit der Krise in Berührung gekommen. Der Trauerschmerz bricht auf und mit ihm ein Spektrum heftiger Gefühle wie Zorn, Wut und Hass, jedes ein leidenschaftlicher Kommentar zum Erlebten. Jeder konnte überall den Tod fühlen, direkt oder indirekt. Jeder in Bergamo musste der Endlichkeit des Lebens ins Gesicht schauen. Wer vergessen hatte, dass er nicht unsterblich ist, wusste es nun wieder.
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Was hat uns da ereilt? Womit haben wir es zu tun? Trifft eine große Krise eine Vielzahl von Menschen, ruft sie ein umfangreiches Krisenmanagement auf den Plan. Zunächst hat man mit der Ungewissheit und Unsicherheit zu kämpfen, womit man es denn nun eigentlich genau zu tun hat. Eine klare Diagnose und eine vernünftige Einschätzung des Risikopotentials sind erforderlich. Viele Menschen befinden sich ängstlich in diffusen Sorgen. Andere halten das, was behauptet wird, für übertrieben oder frei erfunden. Experten versuchen, klare und tragfähige Antworten zu finden. Hier ergeben sich einige überraschende Parallelen zwischen der großen Pest des 14. Jahrhunderts und dem unsrigen. Zunächst einmal ist der Laie, der auf die Expertise der Experten vertrauen möchte, damit konfrontiert, dass die Wissenschaft, aber auch die Politik Zeit brauchen, um eine vertrauenswürdige Antwort zu finden und diese dann in schnelles und wirksames Handeln umzusetzen. Auf dieser Linie liegt z. B. der vierte Pestbrief. Wissenschaft ist die kritische Suche nach den Hypothesen, die sich als die beständigsten bewähren werden. Ernsthafte Wissenschaft besitzt keine Maschinerie, die einfache, transparente und allgemeingültige Einsichten zur Verfügung stellt. Dies mag ihr Ideal sein. Im Realfall und angesichts neuer, unbekannter Problemlagen ist redliche Wissenschaft ein langwieriger Such- und Forschungsprozess. Was ist das für eine Erkrankung? Wie geht der Weg der Übertragung? Wie kann man sich schützen? Gibt es die Möglichkeit einer Heilung? Der vierte Pestbrief zeigt, dass viele Beobachtungen gemacht und zusammengetragen werden mussten, um ein erstes Netz möglicher Bezüge und Zusammenhänge zu erkennen. Um eine Pandemie zu begreifen, so schlägt es der fünfte Pestbrief vor, muss etwas gefunden werden, dass eine allgemeine Verbreitung bei einer so großen Zahl von Menschen plausibel machen kann. Die Verseuchung der Luft mit giftigen Stoffen, die »verpestete Luft«, war unter diesen Bedingungen keine unvernünftige Hypothese. Der Papst in Avignon, Clemens VI., wollte aber nicht nur Hypothesen über den Ursprung eines infektiösen Stoffes hören, son105 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
dern auch Beweise in den Körpern der Toten finden. Doch die angeordneten Obduktionen brachten kein tragfähiges Ergebnis zustande. Die Suche nach der besten wissenschaftlichen Version der Lage kostet aber nicht nur Zeit, sondern irritiert den Laien mit einer zweiten Erfahrung. Wissenschaftler sind nicht immer einer Meinung, sondern sie streiten darüber, was denn nun überzeugend ist. Dies ist für die Wissenschaft normal. Wir erleben das interessante Lehrstück, dass Wissenschaft selbst nicht eindeutig und klar ist. Man arbeitet ja mit verschiedenen Annahmen, Variablen und Unbekannten, so dass das Ganze eher hypothetisch richtig als eindeutig wahr ist. Auch wissenschaftliche Antworten sind vorläufig. Das gehört ganz selbstverständlich zum modernen Wissenschaftsbegriff und seiner Forschungslogik. Forschung ist immer in Bewegung. Würden sich hier die Meinungen nicht ändern, wäre der Erkenntnisfortschritt nicht möglich. Die Heterogenität der wissenschaftlichen Perspektiven und ihr wahrnehmbarer Dissens, so verständlich und notwendig er auch sein mag, irritiert die Öffentlichkeit, wo ihre Freiheitsrechte massiv eingeschränkt sind und eine erfolgreiche Bekämpfung der pandemischen Gefahrenlage erwartet wird. Dort, wo Zeit eine kritische Rolle spielt und Eile und Handeln geboten sind, erwarten die Politiker und der Laie vom Fachmann eine schnelle und sachlich zutreffende Einordnung der Ereignisse. Die vorgetragenen Positionen müssen natürlich von stichhaltigen Daten, guten Gründen, ordentlichen Argumenten und von Logik getragen sein. Aber Wissenschaften werden eben von Wissenschaftlern, d. h. einfach von Menschen betrieben. Diese neigen dazu, einerseits ihre Positionen zu dogmatisieren und zu immunisieren, andererseits im Diskurs andere, abweichende wissenschaftliche Positionen zu diskreditieren. Man musste im Corona-Diskurs vielfach staunen, wie Wissenschaftler derselben Zunft einander als unfähig, unbelesen oder einseitig bezeichneten, manchmal mit alttestamentarischer Wut sogar als Scharlatane und Schlimmeres titulierten. Unter dem Kleide der Rationalität stritten sich Alphatiere doch wieder ganz unkollegial mit 106 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
viel Testosteron um Vormacht und Deutungshoheit, Geltung und Geld. Der Erwartungsdruck einer schnellen, hilfreichen und soliden Expertenantwort wird durch die Massenmedien noch einmal gesteigert, die zugleich die Katastrophenbefürchtungen potenzieren. Eine Wirkung der massenmedialen Multiplikation ist die Tendenz, vorhandene wissenschaftliche Lagerbildungen zu dramatisieren und so zu steigern. Es entstehen begünstigte Mainstream-Überzeugungen und stigmatisierte Außenseiterpositionen. Wird diese Disparatheit nicht immer wieder in einem vernünftigen Diskurs zusammengebracht und miteinander vermittelt, verstärkt dies eine wachsende Polarisierung, reißt unnötige Gräben auf und unterstützt Verschwörungstheorien in den Blasen der sozialen Netzwerke. Es erweist sich als eine enorme Aufgabe sowohl der Politik als auch der Medien, die Wissenschaft nicht nur in ihren Dienst zu stellen, sondern auch die dabei entstehenden Fliehkräfte in geeigneten Formen immer wieder in ein redliches Gespräch miteinander zu bringen.
Reaktionsmuster Während noch darum gerungen wird, wie eine klare und angemessene Diagnose der Lage eigentlich lauten sollte, muss doch bereits gehandelt werden. Wer weiß genau, wie gehandelt werden sollte? Was ist zu tun? Wer zu lange wartet, wird bestraft, wer zu wenig tut ebenso wie der, der zu viel wagt. Aber wer kennt das richtige Maß? Das archaische Antwortspektrum im Blick auf Stress besteht ja aus den drei Grundreaktionen: fight, flight und freeze. Sie dienen dazu, Überleben zu ermöglichen und Sicherheit des Weiterlebens zu gewähren. Verwenden wir diese Begriffe symbolisch für unsere Zwecke, können wir sagen, dass wir mit der Krise kämpfen und uns mit ihr auseinandersetzen können. Das politische Krisenmanagement setzt auf Schutz und Schadensbegrenzung. In der Coronakrise waren und sind das verschiedene Varianten und Ausprägungsgrade eines Lockdowns. Freiheit tritt zurück, Sicherheit zugunsten der Gesund107 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
heit gewinnt den Vorrang. Die Gesellschaft wird in eine Art von Dornröschenschlaf der Demobilisierung versetzt, um die Mobilität der Ansteckung zu senken. Gleichzeitig wird nach Impfstoffen und Heilmitteln gesucht, um Immunität und Gesundheit zu ermöglichen. Der Lockdown selbst ist eine Kombination aus fight und freeze. Sein Angriff auf die Krise besteht in einer Art verordneter Schockstarre. Das Ausmaß des Infernos wird minimiert, indem die Gesellschaft sozusagen in tonische Immobilität, in eine Form von kollektivem Totstellreflex manövriert wird. Eine Gesellschaft in längerer Schockstarre erzeugt aber bald eine Reihe von destabilisierenden Nebenwirkungen politischer, sozialer, ökonomischer und kultureller Art, die eine kontinuierliche und schwierige Abwägung gegen die auferlegten Beschränkungen notwendig machen. Die Erfahrung der großen Pest zeigt die Suche nach seuchenbehördlichen Maßnahmen (vgl. die Pestbriefe 1, 9), wo es neben Empfehlungen zum Umgang mit Kranken vor allem um Seuchenprophylaxe und Stadthygiene geht. Als geeignete Eindämmungsmaßnahmen, sozusagen ein Äquivalent zum Lockdown in der Coronakrise und den AHA+L+A-Regeln (Abstand, Hygiene, Alltagsmaske, Lüften, App-Nutzung) sowie dem Dreiklang aus Testen, Nachverfolgen und Isolieren, ersann sich auch das 14. Jahrhundert eine Reihe von Wegen, um der Seuche etwas entgegenzustellen. Menschen wurden abgesondert, in Pesthäuser gebracht, die möglichst weit entfernt waren, in Isolation gehalten, mussten Pestbriefe, also Reisepässe für eine Passkontrolle, mit sich führen, um sicher zu stellen, dass sie nicht aus verseuchten Gebieten anreisten. Menschen unterlagen der Meldepflicht und wurden auf Pestanzeichen hin untersucht. Die Lebensmittel wurden kontrolliert, das Trinkwasser überwacht, die Gräber der Toten gekalkt, die Straßen gereinigt, die Latrinen überwacht, die Tiere begutachtet – ein umfangreiches System strafbewehrter Kontrolle und Überwachung etabliert. Auch drakonische Maßnahmen kamen zum Einsatz, beispielsweise neben der Zwangsisolation von Infizierten etwa das Einmauern von Betroffenen in ihren Wohnungen.
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Ein Blick in das Corona-Logbuch aus den Jahren 2020 und 2021 bringt einige Maßnahmen zur Bekämpfung von Corona wieder vor Augen, die das Leben regulieren. Bundeskanzlerin Angela Merkel bezeichnete sie als Maßnahmen, die es in diesem Land so noch nicht gegeben habe, die aber notwendig seien und die die größte Solidaritätsanstrengung seit dem Zweiten Weltkrieg darstellten. Geöffnet bleibt nur, was der Grundversorgung dient. Das öffentliche Leben kommt weithin zum Erliegen. Schulen und Kitas, Cafés und Gastronomie, Kneipen und Kinos werden geschlossen. Kunst und Kultur sinken vorübergehend in einen Winterschlaf. Wir verzichten auf traditionelles Händeschütteln, niesen nun in die Armbeuge und waschen uns sehr oft und gründlich die Hände, ohne dass dies als Waschzwang gilt. Der Alltag muss sich an die Pandemie anpassen. Wir sollen zu Hause bleiben und möglichst alle Kontakte meiden, auf jeden Fall größere Menschenansammlungen. Man verbreitet den guten Rat, dass jeder einzelne es dem Virus schwer machen kann, so dass wir uns nicht gegenseitig anstecken. Wir lernen neue Formen der Begrüßung, z. B. den sogenannten »Ebola bump«, also eine Art Shakehands mit den Ellenbogen, allerdings nicht, wenn man zuvor hineingenießt hat. Es kommt ein neues Mantra auf: Wir müssen Zeit gewinnen, die Dynamik des Infektionsgeschehens verlangsamen, damit das Gesundheitssystem nicht überlastet wird und die Forschung Impfstoff entwickeln bzw. weiterentwickeln kann. Je langsamer sich das Coronavirus ausbreitet, desto besser. Damit sich die Verbreitung des Virus verlangsamt, ist die Einschränkung von Freiheit notwendig. Kliniken sollen ihre Notfallpläne aktivieren, Krisenstäbe bilden, Personal auf das Krisenmanagement fokussieren, planbare Operationen und Eingriffe verschieben und sich auf die Intensivund Beatmungskapazitäten aufgrund von Covid-19 konzentrieren sowie Covid-Stationen einrichten. Eine besondere Variante des Totstellreflexes ist eine Art intellektuelles freeze, das die Bedrohung für sich selbst nicht als präsent akzeptiert oder aber als Harmlosigkeit relativiert. Dies gelingt insbesondere dann sehr gut, wenn die anwesende Abwesenheit des Unheils die persönliche Unbetroffenheit ermöglicht. 109 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
Sehen wir von denen ab, die sich als physisch unbesiegbar erachten und Sätzen folgen wie diesen: »Mir macht so etwas nichts aus!« oder »Da habe ich schon ganz anderes erlebt und überstanden!« Wenn das Schicksal gnädig mit ihnen ist, dürfen sie noch eine Weile mit diesen Illusionen weiterleben. Die anderen betonen vor allem, dass sie von der angeblich anwesenden, gegenwärtigen, präsenten Gefährdung noch nichts registrieren konnten: »Ich kenne persönlich niemanden, der an Corona erkrankt ist!« oder »Ich kenne keinen, der ernsthaft an Corona erkrankt ist!« Dass gerade zu Beginn einer Pandemie noch viele Schleusenfunktionen greifen und die Krise sich fokussiert in Alten- und Pflegeheimen oder auf Intensiv- und Covidstationen sammelt, wird dabei nicht beachtet. Es bleibt ja auch dann für die meisten etwas Fernes. So kann sich Nahrung für Verschwörungstheorien sammeln, die die Krise als erfunden oder übertrieben ansehen und den Lockdown als raffinierte Hühnerhypnose der Gesellschaft durch einen bösen oder unfähigen Staat betrachten. Die langwierige Suche der Wissenschaftler nach tragfähigen Antworten kostet viel Zeit, in der sich die Laien zunächst einmal nicht nur ihren eigenen Reim auf die Dinge machen, sondern auch vorbeugend für sich selbst handeln. Sie decken sich mit Lebensmitteln und Toilettenpapier ein. Wer es sich leisten kann, kombiniert dabei fight mit flight. Hat man sich versorgt, macht man sich aus dem Staub. Der 16. und der 17. Pestbrief berichten davon, dass die, die es sich leisten können, sich in Gegenden absetzen, in denen sie mit einer kleineren Gefährdung von Leib und Leben rechnen. Das Krisenmanagement läuft entlang bestehender Ungleichheiten und Machtverhältnisse, die tendenziell weiter zementiert werden. »Rettungspakete« und weitere Maßnahmen der Krisenbewältigung stärken auf Dauer die Mächtigen, die weder soziale noch ökologische Verantwortung wahrnehmen. Sozial schwächere Bevölkerungsgruppen, prekär Beschäftigte, kleine Firmen, Selbständige und fragile Sektoren, wie Hotel- und Gaststättengewerbe oder der Kulturbetrieb, werden benachteiligt und in eine ökonomische Krise gezwungen. Große Unternehmen finanzieren mit Staatsgeldern ihre Kurz110 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
arbeit und schütten satte Dividenden an ihre Aktionäre aus. Ein Schelm, wer hier Böses denkt und dem der Satz in den Sinn kommt, dass Gewinne privatisiert und Verluste sozialisiert werden. Außerdem müssen die Unterstützungsleistungen in Zukunft refinanziert werden. Wir werden auch hier über Steuern und Ausgleichsmechanismen Belastungen der eher ärmeren Bevölkerung sehen sowie mögliche Desolidarisierungen im Haus der Europäischen Union. Schlechtes oder unsicheres Krisenmanagement lässt sich, um von sich selbst abzulenken, gerne vom Getöse der Kriegsrhetorik begleiten. Wie redet man also öffentlich über eine Pandemie und das Virus? Sicher ist es gut möglich zu sagen, dass wir das Virus »bekämpfen« müssen. Ein Symptom der Hilflosigkeit aber ist die Verwandlung der Krisenrhetorik in Kriegsrhetorik. Im März 2020 hatte etwa der französische Präsident Emmanuel Macron davon gesprochen, dass wir im Krieg sind: Nous sommes en guerre. Der deutsche Finanzminister Olaf Scholz wollte zur Behebung von Pandemieschäden gleich eine »Bazooka rausholen«. Der amerikanische Präsident Donald Trump befand, dass das »China-Virus« ein Feind ist, der angegriffen und vernichtet werden muss. Kriegsrhetorik soll Stärke symbolisieren, wo sie im Grunde fehlt, und den Alarmzustand der Bevölkerung mobilisieren, damit sie dem Kriegsherrn oder Befehlshaber willig Gefolgschaft leisten. Erzwungene AngstLoyalität.
Helden und Schurken Pandemien, Katastrophen, große Krisen sind Zeiten der Ambivalenz. Es ist nicht klar, wer wie stark oder überhaupt getroffen wird. Es kursieren viele Halbwahrheiten und Falschinformationen. Menschen gewöhnen sich paradoxerweise an Leid. Mitleid und Anteilnahme lassen nach. Zu viel Leid betäubt. Achtsamkeit und Zuwendung, moralische Energie überhaupt, sind eine knappe und kostbare Ressource. Großes Unglück lockt fast immer sowohl das Beste wie auch das Schlechteste im Menschen her111 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
vor. Der Mensch selbst ist ja ein ambivalentes, janusköpfiges Wesen. Gerade in einer starken Krise zeigt er seine beiden Gesichter. Er stiehlt oder schenkt. Er hilft hingegeben oder verdient sich mit den Geschäften in der Not eine goldene Nase. Er ist mutig oder feige. Er denkt an sich oder an andere. Licht und Schatten sind gleichermaßen möglich. Im Pestbrief 18 zeigt sich, dass der schwarze Tod seine Huren und Heilige hervorgebracht hat, dass er seine Narren und seine Genies hatte. Menschen rauben Sterbende aus und plündern die Häuser der Toten. Menschen pflegen und helfen den Pestkranken, auch wenn es ihr eigenes Leben kosten mag. Auch in der Coronakrise finden wir beides wieder. Zum Besten gehören die Menschen, die zu Symbolen des Engagements und der Solidarität wurden, vor allem Ärzte und Pflegende in den Krankenhäusern, insbesondere auf den Intensiv- und Covidstationen, in den Altenheimen oder den Einrichtungen für Behinderte, und viele andere, die teilweise bis zur Erschöpfung gearbeitet haben. Echte Helden bleiben bescheiden. Sie sagen, sie haben nur das getan, was getan werden musste. Die Gesellschaft ist bewegt. Noch selten gab es so viel Applaus und Dank, Wertschätzung und lobende Anerkennung. Den Applaudierten hingegen stellte sich bald die Frage, ob den warmen Worten und guten Gesten auch entsprechenden Taten nachfolgen. Denn schließlich offenbart die Coronakrise wie in einem Brennglas strukturelle Probleme, die nicht durch Applaus gelöst werden. Ressourcenknappheit in den Krankenhäusern, Personalmangel, vor allem in der Pflege, die darüber hinaus auch noch schlecht bezahlt ist. Eine positive Nebenwirkung der Pandemie ist es jedenfalls, dass ignorierte Probleme des pathologischen Strukturwandels im Gesundheitswesen ungeschminkt in das Bewusstsein der Öffentlichkeit zurückkehren. Alltagshelden sind aber auch einfach nur die, die für andere einspringen, für sie einkaufen gehen oder sie versorgen, wenn diese selbst es nicht können. In Krisen lernen wir auch viel Gutes über die Solidarität der Menschen kennen, über Nachbarschaftshilfe und Unterstützungsnetze, ihre, wie es wissenschaftlich gerne heißt, »prosoziale und kooperative« Seite. 112 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
Schlechte Zeiten bringen allerdings nicht nur Helden hervor, sondern auch Schurken. In den Pestbriefen war die Rede davon, dass Menschen aus Angst um ihr Leben aus ihrer Verantwortung flohen, um sich auf Landgütern in Sicherheit zu bringen. Die Ängstlichen und Feigen, das Menschlich-Allzumenschliche, rechnen wir aber nicht zu den Schurken. Schon eher müssen wir die so nennen, die sich an der Krise unter Missbrauch ihrer Ämter und Beziehungen skrupellos bereichert haben. Mit der Angst der Menschen ließ sich schon immer ein gutes Geschäft machen. Bei manchen herrscht regelrecht Goldgräberstimmung. Wie die Kriegsgewinnler so bringen auch die Krisengewinnler ihre Schäfchen ins Trockene. Die große Krise ist ihr Eldorado, in dem sie aus der Angst und Not der Menschen ihr Gold schürfen. Dies gilt umso mehr, wenn es sich um politische Amtsträger handelt, denen die Ängstlichen und von Not Betroffenen doch von Amts wegen vertrauen wollen.
Woher kommt das Unheil? Warum ist es da? Neben die Fragen: Was ist das eigentlich, womit wir da zu tun haben? Wie gefährlich ist dies? und Was können wir tun? treten alsbald die anderen: Woher kommt die Krise? Warum ist sie da? Woher kam der schwarze Tod in der Mitte des 14. Jahrhunderts? Aus China, von den Schiffen aus Caffa, von Ratten und Flöhen? Woher kommt Corona? Von Tierinfektionen? Aus chinesischen Labors? Absichtlich oder unabsichtlich freigesetzt? Von einem Markt aus der Metropole Wuhan in der Provinz Hubei? Von einer Zoonose, einer überspringenden Tier-zu-Mensch-Seuche? Woher kommt die Klimakrise? Aus natürlichen Ursachen? Aus menschengemachten Faktoren? Die Frage Woher will im guten Fall Orientierung über den Ursprung und Ursprungsweg geben und die Frage nach dem Warum der Erklärung unterstützen. Im schlechten Fall suchen sie nur Schuldige. Das entscheidende Warum aber hat ein doppeltes Gesicht. Rein wissenschaftlich können wir nach Ursachen und Ketten von Verursachungen fragen. Das ist sehr wichtig, wenn wir eine 113 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
geeignete Antwort für Lösungen suchen. Warum fragen wir allerdings auch, wenn wir eine Sinnantwort für möglich halten. Menschen sind nicht nur Opfer natürlicher Kräfte, die auf sie einwirken. Sie sind auch machtvoll Handelnde, die sich in die natürlichen Kräfteverhältnisse kraftvoll einmischen. Die ambivalente Rätselhaftigkeit des Ursprungs lässt auch danach fragen, ob die Katastrophe ohne unser Zutun oder auch durch uns entstanden ist. Dadurch wird die erwartete Antwort auf die Warumfrage nicht nur eine wissenschaftlich-technische, sondern auch eine moralische. Die Opfer der Pest fragten nicht nur, ob es natürliche Kräfte sind, die die Pest hervorgebracht haben. Sie überlegten in ihrem Weltbild, ob sie womöglich eine gerechte Strafe Gottes für ihr eigenes ungerechtes Verhalten sein könne oder ob sie nur ein irrationaler Schicksalsschlag ohne wirklichen Sinn sei. Ist die Genese von Covid 19 vielleicht das Resultat einer menschlichen Handlung? Was ist in der Krise gutes und was problematisches Handeln? Welche verantwortungsvollen Schlüsse werden wir ziehen müssen, falls die Coronakrise wieder abebbt, oder wie werden wir mit ihr dauerhaft leben können? Ist die Klimakrise oder der Verlust von Biodiversität auch eine Quittung für die Art unseres Lebensstils und unseres Wirtschaftens? Die Warumfrage ist auch eine moralische, indem jede große Krise uns aufruft zu überlegen, was Maß und Mitte eines guten menschlichen Lebens ist.
Schuldige Doch während eine Krise akut ist, wird die Sinndimension der Warumfrage zumeist in den Hintergrund treten und eine billige, unehrliche Form der Antwort finden. Große Katastrophen lösen nicht nur Angst und Schrecken aus, sondern auch Mechanismen der Abwehr und die Suche nach Schuldigen. Seuchen, Pandemien, gewaltige Bedrängnisse haben gleichsam ein Durchgriffsrecht in archaische Schichten unserer Existenz. Sie lösen atavistische Maschinen aus und erzeugen einen spontanen 114 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
Rückschlag in primitive Mechanismen des Denkens und Handelns. Heftige Gefühle und Aggressionen möchten sich entladen und irrlichtern umher, ob es nicht einen Blitzableiter oder Sündenbock für sie gebe. Warum haben wir diese Probleme? Weil es böse Menschen gibt, die an ihnen schuld sind. Die Juden sind schuld an der Pest (vgl. nur den 20. und 21. Pestbrief). Wie heißen die neuen Wiedergänger des Brunnenvergifter-Motivs? Bill Gates, eine Impfmafia, Geheimdienste oder Migranten sind schuld an der Coronapandemie und an der Klimakrise vielleicht die Älteren, die gegen die Jungen ausgespielt werden, oder grüne Ökoapokalyptiker oder profitgierige Banker und Konzerne oder der UNKlimarat oder Greta Thunberg und Fridays for Future oder doch vielleicht die Sonne. Pandemien, Katastrophen, Seuchen, Megakrisen infizieren die Menschen mit Angst und Desorientierung. Die Angst sucht nach einem geeigneten Ausweg der Abfuhr und findet einen Schuldigen, der ich nicht bin. Die Desorientierung entdeckt einfache, unkomplizierte Lösungen, um sich wieder zu orientieren. Schuld sind die anderen. Nicht, dass es nicht auch persönliche Verantwortlichkeiten gibt. Aber in der Regel hilft gegen die Hexenjagd auf die anderen bereits der neutestamentliche Rat, nicht den Splitter in des Bruders Auge zu suchen, wo man nur den Balken im eigenen nicht wahrhaben will, oder den ersten Stein auf die angeblich Schuldigen zu werfen, wenn man selbst unschuldig wäre. Der unehrliche Diskurs will sich selbst die Hände in Unschuld waschen, während er andere verteufelt. Wie schwer und mühsam ist es, das Stigmatisierungsbedürfnis zurückzuhalten und aus winzigen Fragmenten keine kompletten Universalgeschichten zu machen, wie anspruchsvoll ist es, komplexe und komplizierte Zusammenhänge gerecht zu erzählen, wie fordernd ist es, den Finger auch auf sich selbst zu richten und sich nicht nur als Richter der anderen aufzuspielen. Der eventuelle rationale Anteil an solchen Thesen wird durch zwei Erhitzungen verdampft. Die Verschwörungstheoretiker sind sich dogmatisch, zweifelsfrei sicher, immunisieren ihre Position und diskreditieren ihre Gegner. Sie folgen nicht der Maxime: mache die Argumente 115 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
deines Gegners so stark wie möglich, um keinen Pyrrhussieg zu erlangen. Ihre Gegner fahren Geschütze der political correctness und des Mainstreams auf und unterbinden so eine vernünftige, sachorientierte Diskussion, indem sie bereits im Vorfeld festlegen, was diskussionswürdig sein soll und was nicht. So ist ein offenes und freies Gespräch schon gar nicht mehr möglich und sie erzeugen durch ihr Vorgehen die Gespenster, die sie fürchten.
Zeitenwende Der sechste Pestbrief weist auf die riesige Opferzahl der Pestpandemie hin. Ungefähr ein Drittel der Bevölkerung, also wohl 25–30 Millionen Menschen, ist allein in Europa umgekommen. Nimmt man noch die enormen Verluste an Menschenleben in den afrikanischen und asiatischen Regionen hinzu, so lässt bereits die schiere Zahl an Toten vermuten, dass hier eine Zeitenwende eingeläutet wurde. Der Tod so vieler Menschen hatte über Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg Folgen für die Zahl an Arbeitskräften, für das Erbrecht, für das Verhältnis von Stadt- und Landbevölkerung oder für die Versorgungsstrukturen. Insbesondere wurde spürbar, dass die alte Welt mit der Vorherrschaft von Königen, Adel und Rittertum mit Leibeigenschaft sowie Kirchen und Klöstern als die maßgeblichen moralischen und religiösen Orientierungsgrößen ausgedient hatten und einer neuen Welt weichen mussten. Die alte Welt hatte keine angemessene Deutung und keine Antwort auf die Katastrophe der großen Pest geben können. Der Schock, dass die alten Autoritäten zu Hilfe und Schutz nicht in der Lage waren, entsprach dem Schock, den das unvorstellbare Wüten der Pest erzeugt hatte. Das alte Weltbild, die mittelalterliche Ordnung der Dinge zerbrach. Natürlich war vieles schon im Übergang begriffen. Aber der schwarze Tod war ein Katalysator, ein kraftvolles Katapult, und hat dem Mittelalter den Todesstoß versetzt. Humanismus und Renaissance brachten ein neues Denken auf, das Freiheit, Ver116 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
nunft und Individualität begünstigte. Die Wissenschaften nahmen einen ernstzunehmenden Aufschwung und gewannen bald die ersten Konturen ihrer modernen Gestalt. In der Ökonomie setzten sich freie Märkte, freier Handel, Zunftwesen, Bankwesen und eine klare Orientierung an Geldwirtschaft durch. Der soziale Raum erhielt eine vorher nie gekannte Durchlässigkeit, aber auch Freiheit, so etwa durch die Abschaffung der Leibeigenschaft, und Sicherheit, z. B. durch die Regime für eine klare Seuchenprophylaxe und Stadthygiene, also durch eine eindeutige rationale Struktur des staatlichen Verwaltungshandelns. Das politische System selbst verschob seine Koordinaten weg von einer feudal-aristokratischen und klerikalen Herrschaft hin zu einer humanistisch inspirierten Gesellschafts- und Wirtschaftsform. Diese stellte neben die Heraufkunft des Absolutismus zunehmend Individualität, Selbstbestimmung, soziale Durchlässigkeit, Diesseits- sowie Vernunft- und Wissenschaftsorientierung ins Zentrum. Die durch die Pestepidemie in den Jahren 1347–1353 ausgelöste strukturelle Wirtschaftskrise wurde schließlich auch eine anhaltende Transformationstendenz der Wirtschaftsordnung provoziert, die u. a. zu einer Blüte der Handelsgesellschaften, dem Ausbau der Geldwirtschaft und merkantilistischen und frühkapitalistischen Strukturen führte. Auch die Coronapandemie könnte eine Vorbotin oder vielmehr der Auftakt einer Zeitenwende sein. Vielen scheint es bereits so, als zöge hier eine neue Pest, ein ähnlich weltstürzendes Ereignis herauf, wie es jene große Pest des 14. Jahrhunderts gewesen ist. Einerseits hat die Coronakrise in starkem Maße und trotz aller Probleme eine enorme Kooperationskraft der Wissenschaften unter Beweis gestellt. An einer weiteren Verwissenschaftlichung der Lebenswelt wird wohl kein Weg vorbeiführen. Sie hat zum anderen das Abhängigkeitsverhältnis der Politik von der Autorität der Wissenschaften vor Augen geführt. Politik, die rational sein will, soll sich an den Einsichten der Wissenschaft orientieren. Wenn die Demokratie überleben sollte, wird die Wissenschaft wohl künftig als fünfte Macht in ihrem System etabliert werden. Zugleich läuft eine umfassende technische Bewegung quer durch alle Systeme, das ökonomische, soziale, kul117 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
turelle und politische, die als Digitalisierung und Anwendung von künstlicher Intelligenz eine universalprägende transformative Kraft entfaltet. Die Pandemie seit 2019 hat diese Tendenzen nicht erzeugt, aber potenziert und mit dem Eindruck versehen, dass die damit eingeschlagene Richtung unabweislich und die für die Gattung der Menschheit beste sei. Die Pandemie hat alle aktuellen Kräfte erprobt und durch ihr Sieb gerüttelt. Siegreich ist ein Weg in die Zukunft danach nur, wenn wir die radikale Umwälzung der Welt in die angezeigte Richtung vorantreiben. Dieser revolutionäre Wandel wird noch einige Zeit vom elegischen Katzenjammer der untergehenden alten Zeit begleitet werden, welche sich aber nach und nach in Luft auflösen wird. Diejenigen, die so denken, werden auch die nur zeitweilig verdrängte, tatsächlich aber fundamentalste Krise, auf die die Menschheit zusteuert, auf entsprechende Weise anpacken und beherrschen wollen. Die ökologische Krise, in der die Klimakrise und der Verlust der Biodiversität die größten Herausforderungen darstellen, soll in diesem Denken technisch durch eine intelligente digitale Welt der künstlichen Intelligenz und theoretisch durch die beste Expertise der wissenschaftlichen Weltdeutung bewältigt werden. Droht die Natur mit einer Umwälzung der Welt, die das Anthropozän bedroht, erfindet der Mensch sich Wege der Berechnung und Möglichkeiten der Beherrschung sowie der Selbstverteidigung, die das Drohpotential der Natur zu kompensieren versprechen. In einem Systemwettlauf mit den Demokratien erheben sich autoritäre Regime, die behaupten über ein weit überlegeneres, erfolgreicheres Krisenmanagement zu verfügen. Wer Sicherheit und Schutz will, soll sich ihren Häfen zuwenden. Untergang, Übergang und Aufgang, Umbruch und Zeitenwende sind spürbar. Eine große Zäsur der Zeiten liegt in der Luft.
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II.3. Gedanken zur Lebenskunst
Erwachen Im zweiten Pestbrief berichtet der Briefschreiber darüber, dass alle kostbaren Seidenwaren, die er in die Toskana mitgebracht hatte, in dem Moment, wo Panik, Angst, Geschrei und Wehklage vor der eingetroffenen Krise und die Nähe der eisernen Hand des Todes spürbar wurden, nur noch eitler Tand waren. Die Relativierung der Bedeutsamkeiten, die schockartige Verschiebung der Wertekoordinaten und die Wiederentdeckung dessen, was eigentlich im Leben zählt, ist ein zentraler Topos der Krisenerfahrung. In seinem Mythos von Sisyphos erzählt Albert Camus davon, dass die Erfahrung des Absurden wenigstens für eine kurze Zeit aus den Bahnen der Gewohnheit reißt und in eine barocke Vegetation des Absurden verstrickt. Der Schock der krisenhaften Erfahrung und der erste Schmerz, den sie verursacht, zerbrechen das Gehäuse des Man, die Sicherheiten des Alltags, die Routinen des Lebens und machen spürbar, dass die entscheidenden Dinge in Vergessenheit geraten waren. Eigentlich ist das gewöhnliche Leben das uneigentliche Leben, nämlich eine Art von Schlaf. Der Schmerz der Krise führt zu einem Erwachen aus dem Dornröschenschlaf existentieller Selbstvergessenheit. Die dramatische Relativierung derjenigen Dinge, auf die man gewöhnlich sein Leben setzt, und die gleichzeitige Entdeckung der Kostbarkeit der Dinge, die man gewöhnlich als selbstverständlich erachtet, kommt einem Zusammenbruch der Wertkoordinaten des alltäglichen Lebens gleich. Die Banalisierung des nur scheinbar Wertvollen und die Resakralisierung des vermeintlich Alltäglichen und bloß Selbstverständlichen versetzt für mindestens einige Augenblicke mitten in das Auge des Hurrikans. Camus meint, es ist schwer, sich in der Welt des Absurden aufzuhalten und die redlichen Konsequenzen aus der 119 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
absurden Erfahrung zu ziehen. Das Wesen des Menschen ist es offensichtlich, dem Unwesentlichen Raum zu geben. In der Tat beginnt alsbald ein sonderbarer Zuspruch und Trost, der diejenigen, die durch eine Krisenerfahrung wach geworden sind, bald wieder aus dieser Erfahrung herauslösen soll. Die Geburtswehen eines neuen, veränderten Lebens werden alsbald abgebrochen. Die transformative Kraft der Krise wird trivialisiert. Viele Kräfte wirken daran mit, dass der Mensch die Erfahrungen der Krise zähmt, sich beruhigt und, wieder alltagstauglich gemacht, ins gewohnte alte Leben zurückkehren soll. Mit der Bedeutungsschwere der Krisenerfahrung soll man es nur nicht übertreiben: die Zeit heilt doch alle Wunden. Dieser sonderbare Zauber der Rückkehr in die Maschine des Alltags, vielleicht mit der Erlaubnis für ein paar störungsarme Rituale des Andenkens an die Krisenerfahrung, steht wohl hinter dem bekannten Gedanken, dass die Menschen aus den großen Krisen nichts nachhaltig lernen. Im dritten Pestbrief heißt es, dass die Menschen in der Krise laut klagen und jammern, aber kaum, dass sie vorüber ist und sie eine zweite Chance erhalten, wieder stolz, übermütig und vor allem vergesslich werden. Es gibt nur eine kurze Zeit, wo sich die Dinge ins Neue zu wenden scheinen. Dann verschleiert sich der Blick, die Maschinerie der Renormalisierung bringt zur alten Vernunft zurück, der Schock der Verwandlungsimpulse wird an irgendeinen geheimen Ort der Seele verbannt, wo er möglichst wenig Unheil für die alten Gewohnheiten anrichten kann. Dass der Menschen aufs Neue wesentlich werden sollte, steht weiterhin aus.
Staunen Ein altes Wort sagt, dass die Philosophie, wo sie nicht durch Zweifel oder existentielle Erschütterung hervorgebracht wird, vor allem mit dem Staunen beginne. Im Staunen erwachen wir allmählich zu uns selbst und zu den Dingen der Welt. Vom Staunen und Sich-Wundern angetrieben, gelangen wir, so die schöne Ordnung der philosophischen Erwartungen, zum Wunsch nach 120 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
Wissen und Verstehen. Staunen bereitet Nachdenken vor. Die Pandemie versetzt uns allerdings insoweit in Staunen, als sie, die doch gewiss zu den existentiellen Erschütterungen zu zählen ist, bislang vieles ausgelöst hat, aber kaum philosophische Nachdenklichkeit. Das ist erstaunlich. Das philosophische Potential der Pandemie wird bis zur Stunde nur von wenigen entdeckt und abgerufen. Dafür sind wir mit anderem beschäftigt. Überhaupt ist es sehr fraglich, ob die Pandemie in großem Stil eher das Nachdenken oder eher das Aussetzen von Nachdenken befördert hat. Doch vielleicht ist der durch die Pandemie ausgelöste Schock noch zu groß und ihre Nähe noch zu gefährlich, um wieder den nötigen Abstand für Nachdenken und Besinnung zu gestatten. Wer ganz davon gebannt ist, die Schlange zu fixieren, vor deren Biss er sich schützen will, ist in aller Regel kaum in der Lage und weit entfernt von der Möglichkeit besonnenen Nachdenkens. Die Philosophen der Antike haben das Staunen als den Anfang der Philosophie angesehen, d. h. eines freien, nicht von Interessen und Zwecken instrumentalisierten Nachdenkens darüber, was gutes Leben ist. In der philosophischen Besinnung gelangen wir zur Lebenskunde und von der Lebenskunde zur Lebenskunst. Vielleicht gibt es ja zu diesem anfänglichen Staunen, mit dem das philosophische Denken anhebt, noch ein anderes, ein letztes, postphilosophisches Staunen, das möglicherweise unseres ist: wie rasch, wie heftig, wie durchgreifend sind auch demokratische Regierungen willens und in der Lage, tief in die Lebenswelt und Rechte von Menschen sowie das wirtschaftliche Handeln einzugreifen. Wie rasch zeigt auch ein demokratisch legitimierter Staat das Gesicht eines freiheitsgefährdenden Leviathans. Kontaktverbote, Versammlungsverbote, Besuchsverbote, Reiseverbote – wie rasch und tiefgehend lassen sich Handlungs- und Bewegungsfreiheit einschränken. Wie schnell ist die Normalität und Selbstverständlichkeit, in die man eingeübt und eingewöhnt ist, aus den Angeln gehoben. Wie schnell setzt ein Lock- oder Shutdown öffentliches Leben außer Kraft. Wie schnell kommt es zum Erliegen: sozial, wirtschaftlich, kulturell,
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religiös. Wie sehr bestimmen Angst und Sorge um Leben, Gesundheit und Sicherheit die Geschicke. Wir sollten staunen. Die Ordnungen, in denen wir leben, sind offenkundig sehr viel fragiler, als wir dachten. Vielleicht machen wir uns das mit einem einfachen Gedankenexperiment klar. Das Gedankenexperiment, das uns dies noch einmal zu Bewusstsein bringen kann, lautet schlicht: Wer sich in der Jahresmitte 2019 auf irgendeinen Marktplatz gestellt und dort lauthals verkündet hätte, wir stünden in der Gefahr, alsbald mit Ausgangssperren, Maskenschutz, Isolation, Quarantäne, Besuchsregulation usw. konfrontiert zu werden, hätte gute Chancen gehabt, als Verrückter verlacht und ggf. zur vorübergehenden Beruhigung mit einem Kurzaufenthalt in der Psychiatrie bedacht zu werden. Ich ziehe, um einen weiteren Aspekt des Staunens zu illustrieren, einen persönlichen Blick auf mein Erleben des 15. März 2020 mit ein. Ich war beruflich in Bremen unterwegs und befand mich nun von dort aus auf der Fahrt nach Vechta, um einen nächsten Termin wahrzunehmen. Während dieser Fahrt rief meine Frau an und sagte mir zu meinem Erstaunen, ich könne gleich zu ihr weiter nach Hause fahren, man habe den Termin wegen der Covid-Situation abgesagt. Die dann noch weitere dreistündige Autofahrt wurde noch erstaunlicher. Ich erhielt mehrere Anrufe zu verschiedenen anderen beruflichen Terminen, die alle abgesagt wurden. Noch größer war mein Erstaunen drei, vier Tage später: keiner meiner Termine für die nächsten zwei Monate schien noch tragfähig. Kurze Zeit darauf riss, als ob ein Dominostein den nächsten umwerfen würde, Corona eine riesige Schneise in die Terminplanung des ganzen Jahres: Planungen und Verabredungen erhielten zunächst Fragezeichen, wurden alsbald hinfällig und kollabierten schließlich. Zugleich war die unglaublich schnelle Veränderung der Lebenswelt um uns alle herum ebenso höchst erstaunlich. Zunächst gab es nur Krisensignale aus der Ferne. Als die Probleme näher rückten, wurde die Sprache erfüllt von Worten und Sätzen der Art, dass die Situation noch sehr unklar sei, man sich aber vorbereiten müsse, dass es durchaus sein könne, dass die 122 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
Übertragungsketten wieder abbrechen, man es aber eben nicht sicher wisse, dass wir vieles nicht sicher wissen, aber doch lieber sicher gehen sollten … Als die Probleme jedem von uns noch näher auf den Leib rückten, auch wenn zunächst für die meisten immer noch recht abstrakt, als sei irgendwo in Deutschland, an einigen Stellen jedenfalls, ein UFO gelandet, folgte auf die Phase des Nebels, der Unklarheit und Unsicherheit mehr und mehr eine Phase der Alarmierung, die sich in Aktionen des Selbstschutzes, der Selbstversorgung, der Absicherung ausagierte und nicht selten panische Züge annahm. Höchste Wichtigkeit besaß nun, unbedingt schnell viele Lebensmittel einzukaufen, vor allem Nudeln und Toilettenpapier, zu überlegen, was man tun sollte, wenn man krank würde oder wie man denjenigen helfen könnte, die krank würden, jedenfalls sich aktiv auf den Ernstfall einzustellen und vorzubereiten. Nudeln und Toilettenpapier. Wir sind eine staunenswerte Spezies.
Politik und Wissenschaft – Keine Virologie der Lebenskunst Der Schwerpunkt der Lebenskunst ist traditionell auf das Individuum gerichtet, das zu sich selbst erwacht und sich als einmaliges, endliches und sterbliches Wesen entdeckt und kultiviert. Die Navigation der Lebenskunst folgt dabei im individuell-persönlichen Bereich gerne bestimmten Fixsternen. Es handelt sich um Leitsätze wie diese: Erkenne dich selbst (dass Du nur ein sterblicher Mensch bist und kein Gott). Werde du selbst – werde wesentlich. Respice finem – schau auf das Ende. Meditare mortem – besinne dich auf den Tod. Carpe diem – pflücke (diesen heutigen) Tag und genieße ihn. Solche und ähnliche Leitsätze sollen vor den großen Krisen immer wieder erinnert, bedacht und in den Alltag eingeübt werden, um als Lebensmittel dem guten Leben dauerhaft und bei allen Gelegenheiten zu dienen. Die Hoffnung ist, dass sie sich, gut verinnerlicht, auch in der Krise bewähren und als Heil- und Trostmittel helfen werden, sie durchzustehen. Wenn eine Krise 123 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
sodann durch- und überstanden ist, zeigt sich, wie der Kompass der Lebenskunst funktioniert hat, was trägt und was fehlt. Eine solche eher individuell-persönliche Perspektive der Lebenskunst greift in gewisser Weise natürlich zu kurz. Denn wir sind ja stets auch soziale und politische Wesen, die nur in der Begegnung mit anderen zu sich selbst kommen und dabei füreinander Verantwortung übernehmen. Dies führt uns zur strukturellen und institutionellen Dimension der Lebenskunst, ohne deren Berücksichtigung die Rahmenbedingungen eines gelingenden Lebens ausgeblendet würden. Immer müssen auch die Lehren für die soziale und ökonomische Gerechtigkeit mitbedacht werden. Es muss zum Beispiel eine Gestaltungsaufgabe der Politik sein, armen und sozial schwachen oder bildungsferneren Menschen in Pandemien oder großen Krisen besonders zu helfen. Sie sind ihnen in stärkerem Masse ausgeliefert und werden von der Erkrankung selbst oder von ihren Folgen häufiger und schwerer betroffen. Krisen führen, dies ist auch eine Lehre der großen Pest, häufig zu sozialen Verwerfungen oder zur Verstärkung sozialer Spannungen. Um die Rahmenbedingungen eines guten Lebens zu gestalten, verdient das Zusammenspiel von Politik und Wissenschaft besondere Beachtung. Einerseits soll es keine Politisierung der Wissenschaft geben. Sie muss immer frei und unabhängig von ideologischen Erwartungen oder Bevormundungen forschen und publizieren können. Andererseits darf es auch keine Verwissenschaftlichung der Politik geben. In großen Krisen entsteht allerdings nicht selten der Eindruck, dass bestimmte wissenschaftliche Positionen bevorzugt in den Dienst der jeweiligen Politik gestellt werden und sich die Politik zum Anhängsel der Wissenschaften macht. Dies aber ist ein fataler Vorgang. Denn die Wissenschaften sind per se faktenorientierte Bedingungswissenschaften. Sie operieren in der Art, dass sie das, was sie als Tatsachen erkennen, so objektiv wie möglich hypothetisch berechnen und erklären: wenn dies und jenes vorliegt, wird mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit dieses oder jenes geschehen. Mit anderen Worten gibt die Wissenschaft keine Antwort darauf, was man tun soll, sondern nur, was der Fall ist. 124 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
Sie ist ihrem Eigenverständnis nach ja wertfrei. Was zu tun ist, kann die Politik also nie von der Wissenschaft erfahren. Sie muss es selbst wissen. Sodann kann sie sich im Blick auf gewissen Bedingungen der Umsetzung das wissenschaftliche Wissen zunutze machen. Wissenschaft als Bedingungsforschung verbleibt jedenfalls in der Sphäre der Faktizität, die sie beschreibt und berechnet, analysiert und erklärt. Ohne diese Leistung wäre die Politik für die Umsetzung ihrer Ziele oft blind und orientierungslos. Sie wüsste nicht genau, wie die Dinge auf den Weg zu bringen sind. Aber was zu tun ist und wohin die Reise gehen soll, das ist ihr ureigenes Metier. Schließlich geht es um Entscheidungen, die Rechte, auch Grundrechte suspendieren und massive Eingriffe in die Lebenswelt der Menschen bedeuten. Solche Eingriffe sind mit den wissenschaftlichen Vorschlägen zwar häufig verbunden. Aber ob und in welchem Maße sie tatsächlich berücksichtigt werden sollen, ist Resultat einer politischen Überlegung und Entscheidung, die sich nicht hinter den Wissenschaften verstecken können. Natürlich braucht die Politik eine sehr gute wissenschaftliche Beratung. So ist zum Beispiel in der Covidkrise ein kleiner Zweig der Wissenschaft, der üblicherweise in einer eher verborgenen Nische seiner spezifischen Arbeit nachgeht, über Nacht zum medialen Ereignis geworden und viele seiner Vertreter sind zu Medienstars avanciert: Virologen und Epidemiologen. Ihre wichtige wissenschaftliche Beratung birgt in dem Moment ein großes Problem, wo die Politik sich ohne eigene Planung und Gestaltung zum Anhängsel und Vollstrecker einer bevorzugten wissenschaftlichen Position macht. Das bringt letztlich sowohl die Politik als auch die Wissenschaft in Verlegenheit. Die virologisch-epidemiologische Optik ist wie jeder wissenschaftliche Blick eine hochspezialisierte und daher auch eine sehr beschränkte Betrachtungsweise, in der tausend andere wichtige Aspekte naturgemäß keine Rolle spielen. Wie hoch ist der Preis der wissenschaftlichen Empfehlungen für die Entwicklung der Kinder, wie stark sind die psychischen Schäden zu berücksichtigen, wie hoch ist der ökonomische Preis?
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Die politische Beurteilung einer Lage wird immer sehr viele verschiedene Gesichtspunkte betrachten und gegeneinander abwägen müssen, die im wissenschaftlichen Spezialblick gar nicht auftauchen, etwa soziale, wirtschaftliche, ökologische, kulturelle oder seelische Folgen von Maßnahmen. Was alles eine Rolle spielt und in welchem Maß und wohin sie überhaupt steuern muss, das kann der Politik keine Wissenschaft sagen. In welchem Maße ist Bildung zu berücksichtigen und was darf diesem Bereich zugemutet werden? Wie ist mit den vielen Feldern der Kultur umzugehen und welche Zumutungen kann die Wirtschaft verkraften? Solche und ähnliche Fragen sind im Blick auf zu berücksichtigende Bedingungen zwar nicht ohne die Wissenschaft zu beantworten, aber im Blick auf Maß und Ziel doch immer jenseits von ihr und ohne sie.
Demokratiekrise Geht die Ära der Demokratie zu Ende? Erleben wir die letzten Tage der Freiheit? Die Demokratie ist die freiheitsförmigste aller Regierungsformen. Die Anarchie kann nicht zählen, da sie keine Regierungsform ist. Wenn nun aber die Menschen, wie wir zu unseren Gunsten annehmen wollen, alle frei geboren sind, und wenn schon, wegen der Regulation der Gewalt, Menschen über Menschen herrschen müssen, dann sollte es sich um Volkssouveränität handeln, die Freiheit in ihr Zentrum stellt. Die souveräne Gemeinschaft der Freien legitimiert Freie auf Zeit und entlang konsentierter Regeln. Neben der Gewaltenteilung und einer Verfassung mit Grundrechten, also Menschen- und Bürgerrechten, artikuliert sich der politische Wille in einem demokratischen System wohl am besten in der Gestalt eines Parlaments, in dem verfassungsgemäße Gesetze diskutiert und verabschiedet werden können. Insofern kann man die Demokratie auch als die »Herrschaft der Gesetze« ansehen. Um sich gegen das subversive Gift autoritärer Unterwanderung zu schützen, beugen demokratische Systeme einer prinzipiellen Selbstaufhebung vor und schützen mindestens den Kernbestand 126 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
ihrer Verfassungen vor Relativierung. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland hat sich beispielsweise hierfür eine Art »Ewigkeitsklausel« eingeräumt (Art. 79 Abs. 3 GG). Feinde der Demokratie gibt es allerdings viele. Religiöser und politischer Fundamentalismus in verschiedenen Spielarten gehört sicher dazu. Eine Entdemokratisierung durch die Hintertür bedeutet die zuvor besprochene Abhängigkeit der Politik von der Autorität des Wissenschaftlichen. Demokratien, deren politisches Personal sich stark von wissenschaftlicher Expertise leiten statt nur beraten lässt, tendiert dazu, demokratische Meinungsbildung zu verwissenschaftlichen und durch Expertound Technokratie zu ersetzen. Es braucht aber politische Führung, Parlamentarismus und Bürgerdialog, um zu bestimmen, was wir wollen, was gutes Leben für uns ist und welchen Preis wir hierfür zahlen wollen oder auch nicht. Es kann nicht sein, dass ein Gruppe von Wissenschaftlern, die Großes auf ihrem Gebiet leisten, plötzlich und vielleicht sogar ex cathedra auf anderen Gebieten, auf denen sie doch bestenfalls, ebenso wie alle anderen, auch nur Laien und Amateure sind, (wissenschaftliche) Ratschläge und Weisungen erteilen. Das mag jeder Wissenschaftler ja gerne tun: als Bürger unter Bürgern. Die Expertise auf einem Gebiet der Wissenschaft darf nicht die Illusion wecken, diese Autorität setze sich in anderen Bereichen vor. Das ist nur ein Spiel mit dem Nimbus. Der Glanz soll von der einen auf die andere Seite hinüberstrahlen. Die Vermischung der Sphären und die Herrschaft der Experten aber ist ein einziges Unglück. Wissenschaftskommunikation muss kontrovers bleiben und auch sogenannte Außenseiterpositionen einbeziehen. Wenn sie nicht tragfähig sind, sollte man dies zeigen. Aber nicht, indem man über sie wettert, sondern mit ihnen diskutiert. Demokratien, die nicht mehr den Streit in Konsensbildung überführen, delegitimieren sich selbst, weil sie abweichende Meinungen nicht in den Dialog einbinden, sondern ausgrenzen und damit subversive Blasen und autoritäre Gegenreaktionen stärken. Ein solches Vorgehen entmündigt und begünstigt neben den im vorigen Kapiteln angesprochenen basalen evolutionären Re127 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
aktionsmustern fight, flight und freeze vor allem eine hochproblematische vierte Verhaltensform: fawning. Das Verhalten des Rehkitzes, die fawn-response, ist hier nichts anderes als eine Unterwerfungsreaktion, ein vorauseilender Gehorsam, sich unterwürfig und bereitwillig in das Sicherheitsversprechen der Mainstreamvorgaben liebedienerisch einzuschmeicheln und mit den Wölfen zu heulen. Demokratie aber ist kultivierte Kontroverse. Sie vermag, kultiviert mit Dissens umzugehen. Fawning-Erwartungen hingegen bringen sie zum Schweigen. Dem Fawning korrespondiert als Gewinn die siegreiche und einheitsstiftende Kraft des Sündenbockmechanismus (scapegoating) im Hinblick auf die ausgegrenzten Aussätzigen und Verstoßenen. Man reibt sich die Hände und wärmt sich am gemeinsamen Feuer, Recht zu haben. Die Wütenden und Frustrierten werden durch political correctness, die sie ohnehin als eine Variante des Paternalismus und geistige Bevormundung erleben, noch mehr aus dem kontroversen Dialog in die Arme des Populismus und autoritärer Gegennarrative getrieben. Hinzu tritt die Erfahrung, dass im Notfall eine große Zahl von Grundrechten in Demokratien, wenn auch nur auf Zeit, sehr schnell, bereitwillig und machtvoll außer Kraft gesetzt werden können. Wenn die Politik nicht schnell erfolgreich agiert, zieht sie Misstrauen auf sich, weil sie die Eindämmung der Krise mit massiven Eingriffen in die Lebenselixiere der Freiheit betreibt. Mit dem Infektionsschutzgesetz beispielsweise kann man dramatisch in die Grundrechte eingreifen und die Unverletzlichkeit der Wohnung oder Versammlungsfreiheit, Bewegungsfreiheit und freie Berufsausübung einschränken, notfalls zwangsweise Unterbringung anordnen, das Postgeheimnis verletzen und das Recht auf körperliche Unversehrtheit aushebeln. Demokratien aber sind politische Formen, die sich um den Zentralbegriff der Freiheit herum ausdifferenzieren. Von ihm aus wird bestimmt, was die Würde des einzelnen Menschen als Autonomie und Selbstbestimmung ist, von ihm aus wird die Liberalität und Sozialität von Recht und Gesetz, Ökonomie und Gesellschaft geprägt, unter seiner Perspektive wird auch der Be128 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
griff der Sicherheit gedeutet. Große Krisen, Katastrophen, Pandemien bringen es mit sich, Sicherheit und Schutz ins Zentrum zu stellen und Freiheit zu ihren Gunsten zu beschneiden. Notfallsituationen provozieren autoritäre Reaktionen. Die autoritäre Selbstverwandlungsfähigkeit von Demokratien hat für eben die Zeit einer großen Krise oder Katastrophe ihren nachvollziehbaren Sinn, und sie besitzt ja das Versprechen, dass im Hintergrund demokratische Überprüfungen der Ausgewogenheit stattfinden und das ganze Projekt ohnehin nur befristet bleibt, wiewohl ein echter Bürgerdialog zu diesen Fragen meist nicht stattfindet und auch in der Coronakrise nicht stattgefunden hat. Demokratien, die die fein austarierte Balance der Gewaltenteilung gefährden und Machtverhältnisse zugunsten der Exekutive und zuungunsten der Legislative und der Diskursmöglichkeiten verschieben, gefährden das parlamentarische und dialogische Moment der Demokratie. Krisen seien immer die »Stunde der Exekutive«, heißt es. Das stimmt. Denn Krisen setzen unter Zeit- und Entscheidungsdruck. Und es geht ja auch um viel, um Krankheit und Gesundheit, oft genug um Leben und Tod. Man konnte sich in der Coronapandemie aber bald nicht mehr des Eindrucks erwehren, dass aus der »Stunde der Exekutive« bald mehr als eine Stunde und die parlamentarische Legitimation in die Warteschleife verlegt wurde. Wie rasch und umfassend eine Demokratie sich eine autoritäre Rüstung überzuziehen und dann wie ein gepanzerter Leviathan seine Bevölkerung zu regulieren vermag, muss nachdenklich machen. Ohne eine böse Absicht zu unterstellen, findet praktisch eine Einübung in restriktive Gesetzgebung und implizit dadurch auch ein Großexperiment statt, wie eine solche Transformation ablaufen könnte. Dazu gesellt sich ein fataler Systemwettbewerb zwischen demokratischen und autoritären Staaten. Sie befinden sich in einem Wettlauf, wer die Deutungshoheit über die Coronapandemie besitzt und wer das kompetentere Krisenmanagement beherrscht. Demokratien, die im Wettbewerb mit autoritären Systemen stehen, die womöglich Krisen schneller und erfolgreicher bewältigen als sie, registrieren dies als ein zusätzliches Moment ihrer Destabilisierung. Vielleicht 129 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
erleben wir keinen so heftigen und schnellen Zerfall politischer Strukturen wie zur Zeit der großen Pest. Aber es gibt Anzeichen einer möglichen Erosion des demokratischen Systems und viele stimmen die ersten Abgesänge auf sie an. Die backsliding democracy, die im allmählichen Niedergang und Verfall begriffene liberal- oder solidarisch-repräsentative Demokratieform und ihre Ersetzung durch autokratische Formen, ist eine zentrale politische Erfahrung und Herausforderung unserer Zeit. Diejenigen autoritären und diktatorischen Regime, denen der freiheitliche moderne Geist der Demokratien fern und fremd ist, sind sicher hocherfreut über den stolpernden demokratischen Freiheitsmotor und unterstützen alles, was ihn noch mehr aus dem Takt bringen kann. Der Systemwettbewerb zwischen autoritären und demokratischen Regierungen wirft auch noch einmal ein eigenes Licht auf das Verhältnis von Wissenschaft und Politik. Um es, auch wenn es unangenehm sein mag, in aller Nüchternheit geradeheraus und klar auszusprechen: Wissenschaft ist gar nicht an ein spezifisches politisches System gebunden. Man kann Gründe dafür nennen, inwiefern ein demokratischer Kontext für die Förderung von Wissenschaft hilfreich sein kann. Man kann dies aber auch für autoritäre Kontexte tun. Es gibt aber keine wissenschaftsimmanenten und schon gar keine wissenschaftlichen Gründe, die hier eine zwingende Verbindung zu einer politischen Präferenz herstellen könnten. Letztlich ist die Wissenschaft gleichgültig gegen ihre politischen Bedingungen, solange ihr nur genügend Raum und Ressourcen zum Forschen und Denken gewährt werden. Allein der Umstand, dass Wissenschaft in allen politischen Systemen erfolgreich stattfinden kann und immer schon stattgefunden hat, sollte uns eine entsprechende Zurückhaltung vermitteln. Wissenschaftliches Denken ist nicht an demokratieorientiertes Denken gebunden.
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Anbruch einer neuen Zeit – Welchen Namen wird die Zukunft tragen? Die Pest der Jahre 1347/48–1353/54 war eine globale Katastrophe, die in Europa eine Zeitenwende mit sich brachte. Ein weltstürzendes Ereignis. Das mittelalterliche Weltbild wurde bis in seine Grundfesten erschüttert und zerbrach. Wir Heutigen stehen ebenso an einer solchen Schwelle, wo bereits existierende Strömungen und Tendenzen aufgegriffen, verstärkt und in eine besondere Komposition gefügt werden. Ähnlich waren damals zum Beispiel humanistische Tendenzen, Frühkapitalismus oder die Ablösung der Adelsgeschlechter schon vor dem Wüten des schwarzen Todes spürbar und angebahnt. Durch den weltgeschichtlichen Schock der großen Pest wurde der Abriss des Alten allerdings radikal beschleunigt und der Aufbau des Neuen mannigfaltig begünstigt. Die große Epochenschwelle, die uns heute ergriffen hat, ist die vollkommene Verwissenschaftlichung der Lebenswelt, technologisch das Zeitalter der Digitalisierung und der Vormacht der Künstlichen Intelligenz. Die Verwissenschaftlichung der Lebenswelt ergreift unser ganzes Denken und die Digitalisierung und der Einsatz von Künstlicher Intelligenz erfasst alle Bereiche des praktischen Privat- und Arbeitslebens. Wir könnten nun sagen, es handle sich hier ja nur um Wissen über Bedingungen der menschlichen und außermenschlichen Natur und nur um Mittel, Werkzeuge oder Instrumente, die eingesetzt werden. Aber eine solche Sicht ist sicher naiv. Zwar ist es richtig, dass wissenschaftliche Einsichten prinzipiell gleichgültig gegenüber dem politischen, ethischen und kulturellen Ort ihrer Einordnung und ihres Gebrauchs sind. Ebenso sind Digitalisierung und Künstliche Intelligenz in gewisser Weise nur »Werkzeuge«. Dennoch ist die Sache komplizierter. Ein Grund, warum die Sache komplizierter ist, liegt daran, dass es »reine Wissenschaft« kaum mehr gibt. Wissenschaft braucht Technik und Technologie, sei es ein kleines Labor mit Ausstattung oder den größten Teilchenbeschleuniger der Welt im CERN. Ausstattung, Gerätschaft, Instrumente, Equipment, 131 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
Personal – das alles braucht aufwendige finanzielle Ressourcen. Nicht zuletzt dängen darum wissenschaftliche Erkenntnisse zur praktischen Anwendung, die im günstigen Fall auch finanziell lohnt. Wir haben es also in der Regel mit einem sehr hybriden Phänomen zu tun, wenn wir von Wissenschaft sprechen. Wie wir in den Pestbriefen gesehen haben, hat die große Pest nicht unbedingt das Neue selbst hervorgebracht, aber doch enorm beschleunigt. Im Fall der Digitalen Revolution, die unsere Zukunft bestimmen möchte, stehen wir vor einer ähnlichen Situation. Sie ist schon länger in Gang. Aber die Coronapandemie ist für sie ein Katalysator, der sie mit einem mächtigen Schub ausstattet. Ob als Homeoffice oder Videokonferenz im Beruf, als Online-Tool in Schule und Universitäten, als Booster der Gesundheitswirtschaft, als Triebfeder von Gaming, Streaming, sozialen Netzwerken oder dem Internet der Dinge, die aktuelle Pandemie befeuert alle diese Prozesse. Insofern ist die Digitale Revolution die Gewinnerin der Coronakrise und profitiert von ihr in jeder Hinsicht. Arbeit, Bildung und privates Leben werden durchströmt von Angeboten und Möglichkeiten digitaler Transformation. Während das Feld des Analogen schrumpft, wachsen die digitalen und virtuellen Räume. Träume oder Alpträume einer informationstechnologischen Biopolitik sollen wahr werden. Sie betreffen nicht nur das äußere human enhancement, wonach wir durch Geräte, Assistenzsysteme, Robotik, wearables oder augmented reality unsere Möglichkeiten erweitern und unsere Leistungen steigern. Die Eingriffe gehen tiefer, die Visionen gehen sehr viel weiter. Das brainhacking könnte eine neuronale Revolution einleiten, indem Gehirntransplantate und andere Formen der Gehirn-Computer-Kopplung die geistigen Welten vergrößern. Genetic engineering und bodyhacking optimieren unsere Gesundheit und bauen unsere virtuelle Konnektivität weiter aus. Außerdem ermöglichen sich hierdurch neue Wege, alte physische und moralische Grenzen hinter sich zu lassen, indem man künstliche Lebensformen sowie Mischwesen aus Mensch und Tier oder aus Mensch und Maschine, Zentauren und Cyborgs, schafft. Die genetischen und technologischen Interventionen werden 132 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
durch pharmakologische Optionen ergänzt. Es sind Träume und bereits reale Vorgänge, die über den Menschen hinausgehen, und zum Reich des Trans- oder Posthumanismus gehören. Big Data, das Internet der Dinge und die Optionen der Künstlichen Intelligenz sind das Gold unserer Zeit. Es gibt diesen alten Traum, den Leib als Problem zu beseitigen. Wir träumen, wir könnten fliegen. Wir sehnen uns danach, frei von Mühe und Last zu sein. Wir wollen Schmerz und Krankheit entfliehen. Wir wollen ewig leben und lieben. Gerade der Materialismus sehnt sich besonders nach dieser Art von Spiritualismus, nach Entkörperlichung oder Desomatisierung. Doch wie weit können wir uns vom Körper emanzipieren? Gibt der Körper durch seine teleologischen Sinnstrukturen nicht schon die sinnhaften Strukturen des Wahrnehmens und Erkennens vor: Essen, Trinken, Schlafen, Wärme, Schmerz, Symmetriepräferenz. Das virtuelle Experiment ist es, nicht völlig darauf zu verzichten, sondern es zu simulieren und durch die perfekte Simulation zu übertreffen. Medien sind ja zunächst vor allem Organpotenzierungen. Man sieht mehr, kann sich schneller fortbewegen, weiß mehr. Jetzt aber steht eine Transformation vor der Tür, die simuliertes, künstliches Leben so potenzieren will, dass ihre Eindrucksqualität und Zerstreuungsvielfalt uns die Sprache verschlägt und wir sie mehr mögen als die reale Welt. Die Entfremdung von der analogen Welt und der Ausbau der digitalen, der Verlust der realen Welt und das Surrogat der virtuellen, die Emanzipation von unserem armselig beschränkten, endlichen, kränkelnden, sterblichen Leib, von einer inkarnierten Welt in exkarnierte, bringt uns in Platons Höhle, so wie sie die Matrix-Filmtrilogie ausgedeutet hat. Die Menschen »existieren« nur noch im perfekten Schein. Sein gibt es nicht mehr. Nur seine Simulation. Die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit verschwimmt immer mehr. Die Entkörperlichung aller Kommunikation hebt tendenziell alle alten Dualismen auf. Körper und Maschine feiern Hochzeit. Die digitale Interpretation des Bewusstseins verändert den Wirklichkeitsbegriff radikal. Das Gegebene, der Widerstand, das Verspüren der Realität 133 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
am eigenen Leib wird ebenso aufgehoben wie der Leib als authentische und primäre Sinnressource. Die Digitale Revolution verwandelt die Welt in einen unendlich gestalt- und genießbaren Traum. Sie löst Realität als Widerstand auf und übersetzt Materie in Information. Sie ist der jüngste Spross der neuzeitlichen Trias von Wissenschaft, Denken und Ökonomie und der aktuell letzte Schub der Technisierung seit der Neuzeit.
Die Supertrias der Fortschrittsmaschine und ihre verborgene Philosophie Um unsere gegenwärtigen Tendenzen zu begreifen, müssen wir ihre Geschichte verstehen. Nur durch dieses Verständnis, können wir auch die in ihnen versteckte Philosophie sehen und kritisieren. Die Wissenschaft selbst hat ja eine lange Geschichte. Mit der Neuzeit hat sie ihr Gesicht noch einmal radikal verändert. Ein bestimmter Typus von Wissenschaft bildet sich heraus, der als der eigentlich »wissenschaftliche« verstanden werden will. Dieser neue Typus von Wissenschaft ist seinem Wesen nach naturalistisch. Wenn er aggressiv wird und sich total setzt, wird er zum Szientismus. Der Szientismus will alle anderen Vorgänge, Welt zu verstehen, also beispielsweise Kunst, Philosophie, Religion oder das subjektive Erleben des alltäglichen Menschen, zu etwas Vor- oder Außerwissenschaftlichen herabsetzen: unterhaltsam vielleicht, aber nicht ernst zu nehmen. Was ist geschehen? Um eine lange Geschichte kurz zu erzählen, müssen ein paar grobe Striche genügen. Sie haben wenigstens den Vorteil, dass man das, was geschehen ist, jenseits tausend feiner Verästelungen, klarer sehen kann. Der ungeheure Aufschwung, den die neuzeitliche Wissenschaft genommen hat, ist mit tiefen ideologischen Imprägnierungen versehen. Durch sie wurden grundlegende Weichenstellung gelegt. Eine stammt von Francis Bacon und gipfelt in dem bekannten Wort, dass Wissen Macht ist. Das ist in dieser Programmatik neu. Es bedeutet, dass das Wissen mit den Sachen, die es wissen will, etwas machen kann. Erstens heißt dies, dass wir häufig 134 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
etwas machen müssen, um überhaupt etwas wissen zu können, d. h. wir müssen vor allem Experimente durchführen. Das ist in der Regel unproblematisch. Außer die Experimente sind gefährlich und haben bedenkliche Fern- oder Nebenwirkungen. Oder es sind Experimente an Lebewesen, die diesen Lebewesen schaden oder sie töten. Oft gibt die Natur nämlich ihre Geheimnisse nicht einfach preis. Um an dieses Wissen heranzukommen, wird sie, wie man so unschön sagt, »auf die Folter gespannt«. Zweitens bedeutet der Satz, Wissen sei Macht, dass wir es gewinnen wollen, um etwas mit ihm machen zu können. Wenn ich weiß, was den Bär anlockt, kann ich ihm eine Falle stellen. Wenn ich weiß, wie der Blutdruck funktioniert, kann ich ihn manipulieren. Es geht letztlich um Machbarkeit. Wissen zielt auf Macht. Wissen wird machtförmig. Wissen als Macht hat die Tendenz, das, von dem man etwas weiß, gefügig zu machen und zu unterwerfen. Es soll einem gehorchen. Man will es berechnen, um es beherrschen zu können. Despotie nistet sich im Wissen ein. Die Wissenschaft befindet sich auf dem Weg zu Herrschaftswissen, Zweckrationalität oder instrumenteller Vernunft. Eine zweite ideologische Formation verdankt sich dem dualistischen Weltbild René Descartes’. Er unterschied zwei Welten, die prinzipiell verschieden sind. Die eine ist die wissenschaftlich berechenbare äußere, ausgedehnte Welt, die er res extensa nennt. Sie ist eine Welt der bloßen Materie, die als organisierte Maschine aufgefasst werden soll. Die andere nennt er die Welt der res cogitans. Es ist die Welt der Rationalität, des Bewusstseins, des Denkens, der Moral. Interessant ist, wer welche Welt bewohnt. Der Mensch bewohnt beide Welten. Insofern er wirklich Mensch ist, bewohnt er die res cogitans; insofern er Körper ist, bewohnt er als Maschine die res extensa. Alles andere, was existiert, auch alle anderen nichtmenschlichen Lebewesen (oder solche »Menschen«, die ihren personalen Status noch nicht erreicht oder wieder verloren haben), sind Bewohner der res extensa. Der Clou ist nun folgender. Nur in der Welt der res cogitans gibt es Vernunft und Freiheit und Sinn und das berechtigte Interessen, Grenzen zu respektieren. Weil es in ihr Sinn, Ziele und 135 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
wirkliche Zwecke gibt, können wir sie eine teleologische Welt nennen. Die Welt der res extensa hingegen ist ateleologisch. Nichts in ihr hat einen eigenen inneren Sinn oder Zweck. Auch Tiere streben nicht wirklich zu etwas, da sie ja nur Maschinen sind. Der einzige Sinn, den die nichtmenschliche res extensa hat, ist der, dass die große und im Grunde tote Naturmaschine für den Menschen als Objekt des Denkens und als Ressource seiner Bedürfnisbefriedigung da ist. In diese ateleologische Welt kann beliebig, grenzenlos und machtförmig eingegriffen werden. Wir können es in einem Bild sagen: Der Mensch ist Herr und Besitzer der Natur, eine Art Sonnenkönig, der über die Natur als seelen- und vernunftloses Herrschaftsgebiet verfügt. Er sitzt in einem teleologischen Sinnreservat wie die Spinne im Netz, sozusagen das einzig legitime Subjekt. Alles andere ist Beute, für ihn da als berechenbares, beherrschbares und beliebig manipulierbares Objekt. So versteht der Mensch die Natur nicht mehr als etwas, was ihm ähnlich und mit ihm verwandt ist. Sie ist für ihn keine Heimat mehr. Vielmehr macht der Blick der neuen Wissenschaft sie zu etwas, was unvertraut und fremd ist. Doch mit dieser ersten Entfremdung des Menschen von der Natur ist die Geschichte noch nicht am Ende. Ihr zweiter Clou ist einer, mit dem weder Bacon noch Descartes gerechnet haben. Die Wissenschaft, die ganz mit ihren ateleologischen Objekten, mit ihrer sinnfreien res extensa befasst ist, definiert Wissenschaftlichkeit genauso, wie sie ihre Objekte betrachtet: mechanisch und ateleologisch. Alles ist für sie ganz nüchtern, naturalistisch, ohne Rücksicht auf Fragen nach Sinn, Zweck und Ziel zu untersuchen und zu erklären. Sie selbst ist wertfrei und objektiv. Subjektivität ist auszublenden. Entsubjektivierung, d. h. Neutralität, ist geboten. Als Wissenschaftler mische ich weder meine Subjektivität in die Wissenschaft hinein, noch gehe ich beim untersuchten Objekt von irgendeiner Subjektivität aus, die mir Grenzen setzt. Was ich vor mir habe, ist nichts als eine Sache. Wissenschaftlich sein, heißt sachlich bleiben. Es sollen keine Anthropomorphismen, keine Wertungen, keine Gefühle ins Rechnen und Analysieren und Experimentieren einfließen. In dem Maße allerdings als die Wissen136 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
schaft ihr Selbstverständnis in dieser Weise weiterentwickelt und später dann, beispielsweise im Rahmen einer auch den Menschen ganz umfassenden Evolutionstheorie, zum Menschen zurückkehrt, kann sie ihn nicht mehr in einem privilegierten Sinnreservat lassen. Dass Entteleologisierungsprogramm erfasst jetzt auch den Menschen. Die erste Entfremdung kehrt zum Menschen zurück und bringt ihm eine zweite Entfremdung, eine von sich selbst, nämlich eine davon, wie er sich alltäglich, vorwissenschaftlich in seiner Lebenswelt versteht. Das Sinnreservat schmilzt dahin. Das naturalistische Paradigma der res extensa dehnt sich aus auf die res cogitans und greift auf sie über. Nun heißt es, auch der Mensch ist letztlich eine in sich sinn- und ziellose, wenn auch sehr komplexe biologische Maschine. Vernunft ist nichts anderes als ein raffiniertes biologisches Werkzeug, Wahrheit Überlebensnützlichkeit, Moral eine soziobiologische Strategie, Freiheit eine Illusion, Ich oder Subjektivität ein evolutionärer Zaubertrick. Was wir als Freiheit, Vernunft oder Wahrheitsfähigkeit erleben, kann kein wissenschaftlicher objektivierbarer Gegenstand werden. In der objektiven Einstellung kommt Subjektivität als originäre und authentische Erfahrung gar nicht vor. Man könnte auch sagen, dass die Wissenschaft Subjektivität nicht denken kann und entsprechend subjektblind ist. Das sich selbst erlebende bewusste Selbst ist eine Tür, die wissenschaftlich nicht erreichbar und rekonstruierbar ist. Sich an diese Stelle zu versetzen hieße, in diesem Moment den wissenschaftlichen Zugriff zu verlassen. Jedenfalls kann sich der Mensch im neuen Denken nicht mehr so sehen, wie er sich alltäglich sieht und außerwissenschaftlich erfährt. Wer sich wissenschaftlich verstehen will, kann sich nicht mehr verstehen. Er kann im Grunde genommen nur noch seine eigene Abschaffung zur Kenntnis nehmen. Aber selbst das kann man nicht innerhalb des wissenschaftlichen Rahmens sagen, ohne ihn zu sprengen. Nachdem der Mensch die Natur nicht mehr anthropomorph, d. h. ihm irgendwie ähnlich nach Art seines Selbsterlebens, verstehen kann, wird er nun selbst zum Anthropomorphismus (R. Spaemann). Die Antiquie137 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
rung des Menschen (G. Anders) durch Produkte, die die Tendenz haben, den Menschen abzuschaffen und überflüssig zu machen, ist zuletzt eine Selbstantiquierung. Der Mensch, wie er geht und steht, wie er sich ganz selbstverständlich von sich selbst her versteht, wird nihiliert. Der Mensch ist zwar nicht eins mit der Natur, aber doch mit ihr verwandt und verbunden. Darum muss sein primäres Verhältnis zu ihr nicht Beherrschung und Ausbeutung sein, sondern Verstehen, Befreundung und Beheimatung. Der Weg der Unterjochung ist Feindschaft. Wer die Feindschaft der Natur weckt, steht auf verlorenem Posten und ist ein Narr. Der dritte Clou dieser Entfremdungs- und Verfremdungsgeschichte ist noch nicht ganz zu den Wissenschaften durchgedrungen. Da sie meint, Wahrheit, Sinn, Vernunft usw. abgeschafft und als Evolutionsfunktionen und neuronale Täuschung, sozusagen als Hirngespinste, entlarvt zu haben – von wo aus will sie das denn sagen? Was bedeutet die scheinbare Wahrheit der Wissenschaft, wenn es keine Wahrheit mehr gibt? Wer spricht hier noch, wenn es keine vernünftigen Subjekte mehr gibt? Novalis sagt einmal, dass wir von der Frucht besserer Zeiten leben. Wir können sagen, die Wissenschaften zehren von Voraussetzungen, unter denen sie allein funktionieren, die sie aber tendenziell leugnen und abbauen. Sie sind ein selbstwidersprüchliches Projekt geworden und arbeiten, wenn man auf die in ihnen mittransportierte Ideologie schaut, an ihrer Selbstabschaffung. Der Nihilismus vollendet sich und fällt sich selbst zum Opfer. Praktisch hat der neuzeitliche Wissenschaftstypus zunächst einmal einen ungeheuren Siegeszug angetreten. Unendlich viel beeindruckendes Wissen wurde und wird Tag um Tag eingesammelt. Und da die Lokomotive des Fortschritts genau genommen eine Trias aus Wissenschaft, Technik und Ökonomie darstellt, hat sie nicht nur Wissen produziert, sondern Anwendungen geschaffen, die die Lebenswelt jedes einzelnen, der ganzen Gesellschaft, ja des gesamten Globus massiv beeinflussen. Dieser Einfluss ist aber eine Geschichte voller Ambivalenz. Der Segen dieser Abenteuergeschichte liegt offen zu Tage und bereichert 138 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
unser Leben auf nahezu jedem denkbaren Feld. Immer klarer wird aber, dass der Fluch dieser Geschichte den Segen zu übertreffen droht. Auch Krankheiten machen Fortschritte. Dies gilt nicht nur für die Krisen, die sich durch atomare, biochemische und informationelle Waffen im Bereich von Krieg und Frieden ereignet haben oder abzeichnen. Auch nicht nur für die Probleme, die mit den biotechnologischen Manipulationen von Mensch und Tier verbunden sind. Es gilt insbesondere für die größte und fundamentalste aller Krisen, die Klimakrise bzw. die ökologische Krise. Die Wurzel dieser Krise findet sich in der Ideologie des neuzeitlichen Wissenschaftstypus: in der Entteleologisierung der Natur und des machtförmig-ausbeuterischen Umgangs mit einer derart missverstanden Natur. Die geheimen Grundworte der Moderne lauten: dualistische Spaltung, Unterdrückung und Nihilismus. Die neuzeitliche Wissenschaft ist nicht nur zur größten Einschüchterungsvokabel geworden (R. Spaemann), weil niemand als unwissenschaftlich gelten will und sie alles umgreifen möchte. Die Lebenswelt des Menschen muss aber vom wissenschaftlichen Imperialismus, von der entmündigenden Deutungshoheit der Wissenschaften unabhängig bleiben. Die Wissenschaft sollte keine Weltanschauung werden, indem sie sich totalisiert. Diesen Zustand allgemeiner Unmündigkeit und des Wissenschaftsaberglaubens muss man durchschauen und durchbrechen. Das Territorium lebendiger Selbsterfahrung und existentieller Selbstverständigung ist gegen die objektivierende und reduktive Deutung zu verteidigen, die sie prinzipiell gar nicht angemessen erreichen kann. Objektivität kann als wissenschaftlicher Kolonialismus menschliche Subjektivität und Selbstsein nur enteignen, deformieren und verfremden. Die Wissenschaft hält uns einen Spiegel vor, in dem wir uns nicht wiedererkennen können. Sie wird absurd, wenn sie personale Grunderfahrungen destruiert, die nicht naturalistisch rekonstruiert, sondern teleologisch verstanden werden müssen. Im Verein mit Technologie und Ökonomie ist die Wissenschaft auch das weltprägendste und mächtigste Mittel oder Werkzeug unserer Zeit geworden. Es ist aber kein »reines Mit139 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
tel«, sondern eines, in dem ein ideologischer Triebsatz und ein gewisser Eigensinn stecken. Außerdem ist es ein Mittel in den Händen von denen, die es als Mittel gebrauchen. Beide Aspekte haben dazu geführt, dass die Lokomotive des Fortschritts aus der Erde einen gefährdeten und gefährlichen Ort gemacht hat, einen Risikoplaneten (in Erweiterung von U. Becks Risikogesellschaft). Die abendländische Rationalitätsmaschine in ihrer neuzeitlichen Gestalt hat uns auch in die Fallen der Moderne geführt.
Globalisierung und Risikoplanet Die menschliche Gattung ist eine prometheische Gattung. Sie muss sich in der Welt behaupten und will sich von allen Bedrängnissen, die sie mit sich bringt, befreien und all ihren Risiken trotzen. Dabei geht es nicht um den Umstand, dass Risiken immer zum Leben gehören und es vernünftig ist, hier Vorsorge zu treffen. Jede Gesellschaft versucht, Risiken abzubauen und zu beherrschen. Wer etwas wagt, muss immer etwas »riskieren«, d. h. einige Klippen umschiffen. Vielmehr geht es um das Problem, dass der Kampf mit den natürlichen Risiken des Lebens auf der Erde mit solchen Mitteln geführt wird, die selbst wiederum neue, menschengemachte Risiken freisetzen, welche die natürlichen Risiken, die bekämpft werden sollen, deutlich übertreffen. Die Neuzeit hat zum Beherrschen der Risiken, dem Domestikationsparadigma, noch das Versicherungsparadigma beigesteuert. Jeder von uns kennt diese Option, sich gegen verschiedenste Schäden, Gefahren oder Unfälle versichern zu können. In dem Moment aber, wo die Fortschrittslokomotive menschengemachte, d. h. anthropogene, kollektive, sehr große Risiken durch die Art und Weise unseres Arbeitens, Wirtschaftens und Konsumierens erzeugt, etwa durch atomare, chemische oder bio- und informationstechnologische Großprojekte, kommen Beherrschung und Versicherung der dann entstehenden Folgen rasch an ein Ende. Die Risikoproduktion übersteigt zunehmend 140 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
das Risikomanagement und setzt es allmählich Schachmatt. Nimmt man noch die globale Schädigung der Natur als unserer Lebensgrundlage hinzu, so potenzieren sich die Probleme weiter. Hinter dieser ökologischen Krise scheinen vor allem zwei Faktoren zu stehen. Die konsumistische Gier nach immer mehr verdankt sich erstens dem Glauben an ein unbegrenztes Wachstum in einer begrenzten Welt. Dieser reichlich verrückte oder pathologische Begriff von Wachstum entspricht wohl in etwa dem, was wir im Körper als Krebs bezeichnen würden. Ein logistisches Wachstum hingegen, das in etwa wie eine S-Kurve verläuft und sich nach einer anfänglichen, kurzen exponentiellen Phase auf einem Gleichgewichts-Level einpendelt, ist dieser Gier oder Daseinsgefräßigkeit fremd. Wir verbrauchen so viel Erde, dass diese sich wehren muss. Der zweite Faktor scheint eine Art von Hybris zu sein, die glaubt, alle Probleme, die durch die Art unseres Lebens und Wirtschaftens entstehen, woandershin abwälzen zu können. Die Lokomotive des Fortschritts, die uns in die Moderne und Postmoderne fährt, transportiert also einen äußerst problematischen Reisegast, hat eine gefährliche Logik an Bord, die wir als Externalisierungstendenz bezeichnen können. Die Externalisierung wälzt die Kosten unseres Lebensstils auf andere ab, die den Preis dafür bezahlen sollen, den wir dafür bezahlen sollten. So werden diese Kosten verschoben auf Vater Staat, Mutter Natur, zukünftige Generationen oder arme Länder des Südens. Die menschliche Spezies hat ein großes Netz um den Globus gelegt. Dieses globale Netz verbindet und verknüpft, was weit entfernt voneinander ist. Es ermöglicht ein hohes Tempo, z. B. im Austausch von Informationen, von Reisen, von Handel jeglicher Art. Ein solch globalisiertes Netz ermöglicht auch unerwünschten Passagieren, etwa einem Virus, eine schnelle Reise, jederzeit, überallhin. So entsteht eine neue, sozusagen mikrobische oder pandemische Globalität. Sie ergänzt die bereits bestehenden globalen Probleme und Krisen, insbesondere die des Klimawandels.
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Was uns bisher dagegen nicht gelungen ist, ist die Globalisierung als erfolgreiche Gelegenheit echter Zusammenarbeit zu nutzen. Vielleicht vom Netzwerk der Forscher und Wissenschaftler abgesehen, müssen wir eine mangelnde Stärke und Kooperation internationaler Institutionen beklagen. Sie finden keine gemeinsame Vision, hinter der sie sich scharen könnten, keinen Plan für eine gerechte und solidarische Welt und keine koordinierte Vorgehensweise. Die Coronakrise hat diese unglückliche Lage intensiviert, während sie doch eine Gelegenheit gewesen wäre, sie entschlossen zu verbessern. Wo eine gemeinsame Führung vonnöten ist, findet sich ein visionäres Vakuum und eine politische Leerstelle. Stattdessen tobt der Kampf der multilateralen Egoismen. Das Spiel um einen übermäßigen Verbrauch der Erd- oder Biokapazität aber können wir alle nur verlieren. Wir leben in einer komplexen, unsicheren, fragilen Welt mit globalen Krisen, besitzen aber keine globale politisch-ökonomische Resilienz. Und die einzig funktionierende globale Resilienz, die ökologische Resilienz, attackieren wir derart, dass das dadurch ausgelöste Schwanken und Beben der fein abgestimmten Vernetzung unserer Erde die menschliche Gattung aus dem ökologischen Boot zu werfen droht. Wir existieren in größeren Zusammenhängen und planetaren Grenzen, denen wir Opfer entrichten müssen. Während die Alten von einer Strafe und Prüfung Gottes sprachen, nennen es die Heutigen systemische Resonanz oder einfach die Rache der Natur. Der eine kleine Teil des großen ökologischen Hauses, der sich aufgemacht hat, das Haus zu beherrschen, weckt Kräfte und Riesen, mit denen sich zu messen seine Kräfte völlig ungeeignet sind. Sein Geist durchdringt weder die Komplexität der Mächte, die er in Aufruhr gebracht hat, noch ist sein Handeln in der Lage, sie zu unterwerfen. Der Mensch erhält Rechnungen zugestellt, die er nicht mehr begleichen kann. Das Klima ist ein solcher Gigant, der aufsteht. Der Verlust der Arten, die gegen Pharmaka resistenten Mikroben. Und die Pandemien. Kleine und große Feuer wirft die Natur dem Menschen entgegen: Ebola, AIDS, BSE, Sars, die sogenannte »Vogelgrippe« und die »Schweinepest«, nun Corona. Es mag einem wie die Rückkehr 142 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
der Pest erscheinen. Jedenfalls scheint die Natur einen großen Pool an möglichen Infektionskrankheiten zu besitzen, den wir durch unsere Art des Umgangs mit ihr und durch die maßlosen Eingriffe in entlegene ökologische Urwelten besser nicht aufstören sollten. Die Risiken der Risikogesellschaften sind wie pandemische Krankheiten. Es sind Risiken, die sich theoretisch kaum oder gar nicht berechnen und praktisch kaum oder gar nicht beherrschen lassen. Sie kombinieren, durchdringen und intensivieren sich, bis sie die Notlage und Albträume eines menschengemachten Risikoplaneten hervorrufen. Die Welt wird ständig gefährlicher, weil wir sie immer mehr gefährden. Der Risikoplanet entsteht, weil wir unverantwortlich auf Risiko spielen. Hier bahnt sich eine Tragödie von biblischen Ausmaßen an, deren apokalyptische Vorzeichen schon sichtbar sind. Man muss sich fragen: Wie viele alarmierende Weckrufe braucht die Menschheit noch? Infektionskrankheiten und Klimawandel werden wohl der Krisengenerator der Zukunft sein: sie werden weitere Pandemien, Extremwetterereignisse, Entwaldung, Waldbrände, Flutkatastrophen, Wasserknappheit, Artensterben usw. erzeugen. Diese anthropogen provozierten oder befeuerten »Naturkrisen« werden soziale und politische Krisen mit sich bringen, etwa Hungersnöte, Kriege um Wasservorräte, Bewältigung von Migrationsströmen, die die ganze Fragilität des Friedens aufscheinen lassen. Hans Jonas, der angesichts dieser Herausforderungen einen sehr umfassenden Verantwortungsbegriff mit einem besonderen Augenmerk auch auf die ökologische Seite entwickelt hat, rät dazu, einem solchen Verantwortungsbegriff eine Heuristik der Furcht zur Seite zu stellen. Als eine Heuristik können wir die Kunst bezeichnen, wie wir ein Problem angehen sollen, wenn wir einerseits wenig oder nur begrenzt oder unvollständig über es Bescheid wissen und andererseits die Zeit zum Handeln drängt. Hans Jonas kleidet seine Heuristik der Furcht dabei in eine Art von ökologischem Imperativ. Er besagt: Wenn viel, vielleicht alles auf dem Spiel steht, du wenig (über das Problem und die Neben- und Fernwirkungen deines technologischen Handelns) weißt und du doch handeln 143 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
musst, dann bevorzuge eher die pessimistischere als die optimistischere Prognose. Sei vorsichtig und handle so, dass die Wirkungen des Handelns »verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden« (H. Jonas).
Die dystopische Chance autoritärer Systeme Die Krisentransformation, die die große Pest im 14. Jahrhundert mit sich brachte, war, wie wir gesehen haben, zugleich eine Erschütterung der alten politischen, ökonomischen und sozialen Strukturen. Der schwarze Tod war in dieser Hinsicht ein großer Katalysator. Wenn wir auf das damalige Krisenmanagement schauen, so entdecken wir eine merkwürdige Besonderheit im italienischen Reich, auf die uns der neunte Pestbrief aufmerksam macht. Nachdem die Pest nach Mittelitalien und Norditalien gelangt war, blieb dort im Jahr 1348 nur eine einzige Metropole mit ca. 150000 Einwohnern von der Pest verschont: Mailand. Das »Wunder von Mailand« war nur durch eine frühzeitige Vorsorge mit Vorräten und eine unduldsame Komplettisolierung möglich. Warum aber blieb ausgerechnet Mailand pestfrei? Die Antwort liegt wohl darin, dass alle anderen großen Städte von reichen Kaufmannsoligarchien dominiert wurden, die den Handel um keinen Preis unterbrechen wollten. Mailand hingegen wurde von den Signori, den Stadtherren der Familie Visconti autoritär, brutal und rücksichtslos in militärischer Manier abgeschottet. Die staatliche Pestabwehr lag in der Hand eines Fürstenhofes, der in juristischen und soldatischen Kategorien den Kampf gegen die Pest organisierte. Ein eiserner Gürtel ließ niemand hinein und heraus. Erkrankte jemand in der Stadt, konnte sein Haus zugemauert werden, so dass die Infektion auf ihn und seine Familie eingegrenzt wurde. Verstieß jemand gegen die Regeln, erwarteten ihn drakonische Strafen. Die Signorie in Mailand, die Regentschaft im Pestjahr 1348, war tyrannisch und ihre Seuchenpolitik rigoros autoritär. Darum war Mailand im Jahr 1348 so erfolgreich, auch wenn das immunschwache Volk bei einer nächsten Pestwelle 1361 umso mehr 144 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
Blutzoll entrichten musste und eine deutliche höhere Sterblichkeitsrate als andere Städte aufwies. Das kommunistische China hat in den letzten Jahrzehnten nicht nur im Bereich der Wohlstands-, Wissenschafts-, Bildungs-, Technologie- oder Infrastrukturentwicklung zu den liberalen Demokratien aufgeschlossen, sondern sie zum Teil sogar überholt. Auch in der Bekämpfung der Coronapandemie muss China keinen Systemvergleich scheuen, sondern darf sich derzeit sogar die größere Effizienz und Effektivität zusprechen. Das autoritäre Regime kann, so scheint es wenigstens, ein im Vergleich erfolgreicheres Krisenmanagement verzeichnen. Die Coronakrise und die anstehenden weiteren großen globalen Erschütterungen könnten hier ebenfalls eine Katalysatorwirkung entfalten und den autoritären Regimen in die Hände spielen. Was bedeutet es, wenn nichtdemokratische politische Ordnungen ihre Bürger kompetenter und überlegener schützen können als demokratische Staaten? Das Ende der Freiheit naht im Namen des großen Krisenmanagements. Die große Pest unserer Zeit ist ein Aufruhr der Erde und ein sich andeutender mächtiger Kollaps, der den Untergang des Anthropozäns verkündet. Wer ist in der Lage, dem etwas entgegenzusetzen? Das Versprechen der autoritären Systeme ist, beweisbar das beste und einzig rettende Krisenmanagement organisieren zu können. Aus einer solchen Krisentendenz wird vor allem China gestärkt hervorgehen. Sein globaler Einfluss wird wachsen. Eine eiserne autoritäre politische Hand reguliert die Freiheiten unter dem Regime einer vorgegebenen und elitär interpretierten und verwalteten Ideologie. Das heißt praktisch: Freiheit, sich selbst und seine Umgebung politisch zu bestimmen, frei zu wählen, frei zu diskutieren, sich in freier Presse öffentlich zu artikulieren, Macht zu kritisieren und zu verändern, Selbstdenken und Selbstbestimmung sind prinzipiell in einem solchen System nicht vorgesehen. Wer Chinas Staatsmacht offen kritisiert oder, so die beliebte Formel, die »Gefühle des chinesischen Volkes« bzw. die »soziale Stabilität« verletzt, steht auf verlorenem Posten und muss den Kniefall praktizieren. Rücksichtslos, gnadenlos, knallhart. Das Regime duldet keinen Widerspruch und keine 145 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
Belehrungen und lässt sofort die Muskeln spielen. Die Staatsmacht gehört dem Machtstaat. Persönliche Freiheit muss hier systematisch hinter dem von den Parteistrategen interpretierten »Gemeinwohl« zurücktreten. An die Wissenschaft zu glauben, ist Bürgerpflicht. Natürlich glaubt die Wissenschaft ihrerseits an die noch höhere Weisheit des Politbüros der Kommunistischen Partei Chinas. Eine neue Achse des Autoritären könnte sich in verschiedenen Bündnissen und Kooperationen mit Russland herausbilden. Auch wenn Bär und Drache wenig einigen sollte, sind sie sich doch einig in ihrem Feind: der Schwächung der USA und westlicher Demokratien. Selbst autoritäre Strömungen des Islam, insoweit sie nicht durch die Aufklärung hindurchgegangen sind, können sich mühelos diesem gemeinsamen Feindbild anschließen. Hier sind merkwürdigste Allianzen möglich. Denken wir uns vor diesem Hintergrund nun ein Szenario, vor dem sich ein Mensch, dem Freiheit etwas bedeutet, als schlimmsten Fall fürchten muss, ein Szenario, das sich das Beispiel Chinas potenziert denkt. Wir denken uns also eine gemeinwohlorientierte Autokratie, die nicht den Weg des Dialogs, sondern der Macht geht. Wohlstand und Konsum werden durch ein hybrides Wirtschaftssystem hergestellt, einer Art autoritären und zentral gelenkten »Staatskapitalismus«, in den zugleich markt- und staatswirtschaftliche Momente einfließen, wo aber der Primat der Politik unantastbar ist. Neue Technologien werden intensiv und schnell gefördert. Die wirtschaftliche Machtund politische Einflusssphäre wird generalstabsmäßig ausgebaut und zu einem System klug kalkulierter Vernetzungen vorangebracht. Strategische internationale Weichenstellungen sichern Einflussnahme auf andere Player und stellen deren zunehmende Abhängigkeit sicher. Wer sich sodann »illoyal« verhält, wird die wirtschaftlichen Abhängigkeiten sofort zu spüren bekommen. Geldhähne werden geschlossen und Marktzugänge unterbunden werden. Dieses Vorgehen zeitigt auf den ersten Blick mehr Erfolge als die Wege des Dialogs, der Freiheit und Demokratie. Was Demokratien noch in die Karten spielt und ihnen etwas Zeit verschafft, ist der Umstand, dass China weltweit noch relativ isoliert dasteht. 146 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
Zugleich gibt es ein rigides politisches Programm, das im Inneren für Konformität oder Gleichschaltung in den politischen Überzeugungen sorgt. Die Digitale Revolution ist ein Werkzeug der Parteipolitik und ihr zum Gehorsam verpflichtet. Unternehmen erhalten für ihr Wirken parteipolitische Leitplanken und müssen ideologiekonform agieren. Sie stehen als privatwirtschaftlich Akteure eines Staatskapitalismus immer unter der Aufsicht der Sicherheitsbehörden. Ihre quasikapitalistische Freiheit endet dort, wo sie die Kunden und Nutzer mit Produkten oder Dienstleistungen versorgt, die irgendeine Loyalitätsproblematik gegenüber den parteipolitischen Vorgaben erzeugen, vom politischen Menschenbild abweichen oder den Sicherheitsinteressen Chinas schaden könnten. Das Regime scheut sich daher keineswegs, auch die eigenen Unternehmen sofort zu disziplinieren. Zwar soll es eine gewisse Dosis an Amüsement für die eigenen Bürger geben dürfen. Wird aber ein »geistiges Opium« vermutet, beispielsweise bei den eigenen Digital- und Videospielkonzernen, dass durch ihre Produkte Loyalität oder Interesse an politischer Konformität oder aber die Lern- oder Arbeitskraft der Individuen geschwächt werden, wird sofort hart durchgegriffen. Die Konsumzeit wird begrenzt, Inhalte qualifiziert. Die Konzerne lenken sofort ein, auch wenn es zu kräftigen Einbußen auf den Aktienmärkten kommt. Denn sie haben verstanden, dass es nicht mehr als ein Warnsignal des Regimes geben wird. Es ist ihnen klar: Du darfst die Hand nicht beißen, die dich füttert. Die Regulationen in der Digitalwirtschaft, dem Sektor der Künstlichen Intelligenz, bei Big Data oder CloudAngeboten usw. dienen dazu, die eigene Datenhoheit zu erhalten, politische Kontrolle zu sichern, privatwirtschaftliche Gewinnerzielung zu vermeiden und gemeinwohlorientierte Gerechtigkeit durchzusetzen. Jedenfalls bilden tatsächliche oder angebliche Verstöße gegen den Jugend- oder den Datenschutz oder das Wettbewerbsrecht oder im Notfall gegen die nationale Sicherheit immer eine Möglichkeit für politische Interventionen. In Summe beweist ein solches autoritäres Gebilde den allmählich untergehenden demokratischen Konkurrenten, dass es aus seiner Sicht innere und äußere Sicherheit, Gesundheits147 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
schutz, Wohlstand, Konsum oder Bildung auf mit mindestens gleichem, vielleicht sogar besserem Niveau unter autoritärer Führung konsequent herstellen und die Systemkonkurrenz zu seinen Gunsten gestalten kann. Das chinesische Imperium tritt jedenfalls mit globalem Dominanzanspruch auf und will seine Idee einer digitalen Weltherrschaft in immer mehr Teilen der Welt implementieren. Das Herzstück eines solchen anti- oder postdemokratischen totalitären Systems ist eine dystopische Maschine, der digitale Leviathan, der in Form einer Orwell-Huxley-Maschine angelegt ist. Aldous Huxleys Schöne neue Welt und George Orwells 1984 entwerfen negative Utopien, die uns vor Augen stellen, was passiert, wenn die Bedrohungspotentiale zunehmen, sich verstärken und durchsetzen. Der Orwell-Aspekt ist die unnachgiebige Unterdrückung politischer Abweichung. Wer aus dem Konformismus ausscheren möchte, ist nicht mehr linientreu. Er wird bestraft und wieder auf Kurs gebracht. Hier herrscht die Peitsche. Die Doktrin wird indoktriniert. Am besten so perfekt, dass die verinnerlichte Fremdherrschaft nicht mehr als solche entdeckt und erlebt wird. Der Kopf gehört dem autoritären Regime. Es gewährt ein Leben, das nicht frei, aber sicher ist. Der HuxleyAnteil ist ein gewisses Maß an Amüsement. Nicht der Schmerz, sondern die Lust ist nun der Weg. Nicht Peitsche, sondern Zuckerbrot. Brot und Spiele. Nun arbeitet die Unterdrückung sanft, mit der Zufügung von Lust, Vergnügen, Zerstreuung. Etwas Infotainment, ein wenig Cyberspaß, ein bisschen multimedial-virtueller Eskapismus. Wie kann dies so gelingen, dass die autoritäre Kontrolle dabei an möglichst keinem Punkt verloren geht? Die neuen Technologien des digitalen Leviathans sind der Königsweg. Autokratie ist wesentlich Technokratie. In romantischer Lesart sind das Worldwide Web und alle mit ihm verknüpfbaren Technologien der Datenbearbeitung vertrauensgetragene Möglichkeiten des freien Austauschs, der Horizonterweiterung, der Entwicklung und Vernetzung. Was das Netz schön macht, macht es auch gefährlich. Es ist ein Mittel, das sich drehen lässt. Mit dem Brotmesser lässt sich die Butter streichen oder ein Leben beenden. In seiner Janusköpfigkeit bil148 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
det die Netzarchitektur seine eigene Achillesferse und gestattet dichte Überwachung, engmaschige Kontrolle und umfassende Manipulation. Die technologische Kolonialisierung macht vieles möglich, was autoritäre Staaten bedenkenlos nutzen können. Was Überwachung und Kontrolle betrifft, vervollkommnet der digitale Leviathan das von Jeremy Bentham ersonnene Panopticon-Prinzip. Bentham machte sich Gedanken, wie die Überwachung von Gefängnisinsassen perfektioniert werden könnte. Er entwickelte dazu die Idee eines besonderen architektonischen Entwurfs. In der Mitte einer Gefängnisanlage steht demnach ein großer Turm, von dem aus in Strahlenbauweise jeder Winkel des Gefangenenlagers überschaut und jede Zelle eingesehen werden können. Diese komplexe Architektur der umfassenden Transparenz, sozusagen ein allwissendes göttliches Auge, folgt der Idee einer kompletten, lückenlosen Beobachtung, die alle zu einer homogenen Regelbefolgung zwingen soll. Die totale Überwachung durch ein universales Auge, das alles sieht und registriert, sozusagen ein total gewordenes Panopticon, liefert die Folie für dystopische Reflexionen. George Orwell nimmt dieses Motiv des Panopticons in 1984 wieder auf. Der »große Bruder« ist das unsichtbare Regime, von dem behauptet wird: big brother is watching you. Die göttliche Eigenschaft der Allwissenheit in den Händen von Menschen bedeutet bei ihm, dass eine unübersehbare Zahl von Überwachungskameras in allen Wohnungen, Aufenthaltsorten und Arbeitsräumen der Menschen installiert ist. Die Idee vom gläsernen Menschen lässt sich technologisch durch eine digitalmultimediale Überwachungsmaschinerie weiter ausbauen und das Gottesäquivalent des Allwissens auf eine qualitativ neue Stufe heben. Sie perfektioniert Lenins alten Rat, dass Vertrauen gut, Kontrolle aber doch besser sei. So zeigt China alle Anzeichen eines digital-autoritären Überwachungsstaates. Alle erdenklichen Datenspuren, die wir hinterlassen, können eingesammelt und zu Diagrammen der Existenz verrechnet werden. Dazu gibt es einerseits äußere Überwachungskomplexe, z. B. Videokameras mit dem Ziel einer vollkommenen Kamera149 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
abdeckung in Echtzeit. Die Gesichtserkennung ist verordnet: jeder, der eine neue Mobiltelefonnummer will, muss sich scannen lassen. Die Nutzungsdauer der Nummer ist limitiert. Viele weitere biometrische Daten werden erhoben, also neben dem Gesichtsscan beispielsweise Retina- und Iris-Scans, Gangerkennung, Stimmerkennung oder Fingerabdruck-Mapping. Keine Chance mehr unterzutauchen. Versuchen sie einmal, ihre Iris zu wechseln. Andererseits stellen die Bürger aber die meisten Überwachungsmöglichkeiten gewissermaßen selbst zur Verfügung. Da, wo Freizeit und Beruf fließend ineinander übergehen, im work-life-blending, etwa durch home office, oder dort, wo man sich bereitwillig in den zensierten Neuen Medien bewegt und das Internet der Dinge die Lebenswelt nutzt, entsteht allmählich ein digital komplett vernetztes Leben. Zentral ist die Nutzung von Apps, wie in Super-China beispielsweise ein Super-WeChat, die für die meisten Menschen in Dystopia das eigentliche Internet darstellen und mit dem sie, datenschutzfrei, ihren Alltag gestalten: Überweisungen vornehmen, Taxis bestellen, Bahntickets und Flüge buchen, Lieferdienste nutzen, Bestellungen vornehmen, Steuern bezahlen, Termine vereinbaren, Nachrichten übermitteln oder telefonieren. Dazu kommen viele andere digitale Vampire. Digitale Sprachassistenten und andere digitale Geräte, Assistenzsysteme, Robotik, wearables, also Miniaturcomputer am eigenen Leib, oder Werkzeuge der augmented reality machen die Datenschöpfung und -bearbeitung vielfältig möglich. Sie etablieren ein stählernes Gehäuse der lückenlosen Kontrolle und Überwachung, in dem informationelle Selbstbestimmung und Datensouveränität verdampfen. Autonomie, Intimität und Privatsphäre werden illusionär. Es kommt zu einer vollständigen Objektivierung durch permanente Sichtbarkeit. Das digitale Panopticon gewährt keine Chance, unter dem Radar zu fliegen. Orte des Schattens, Orte der Unbeobachtbarkeit, der Verborgenheit, der Intransparenz, der Intimität wird es immer weniger geben dürfen. Entzug ist nicht erlaubt, unbeobachtetes authentisches Leben ausgeschlossen. Die Zeit der Geheimnisse geht zu Ende. Jeder Ort, an dem sich Menschen 150 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
bewegen, ob sie spazieren gehen oder einkaufen oder reisen oder zum Arzt gehen oder das Internet oder Social Media oder irgendein elektronisches Gerät nutzen, ist ein Ort der Datengewinnung und Datenauslesung. Dieses Infotopia, ein wesentlicher Teil von Computopia, zeichnet sich durch den Charakter einer subtilen Selbstüberwachung und Selbstdisziplinierung aus. Die Menschen nehmen den Überwachern die Arbeit ab, indem sie sich am Ende selbst überwachen. Wir selbst sammeln, übertragen und speichern die benötigten Daten für die Datenüberwachung durch Big Brother. Das Internet und alle Bausteine von Infotopia bilden das neue digitale Panopticon. Es handelt sich um ein riesiges Überwachungslager, in das sich die User selbst als Insassen ein- und einer universalen Kontrolle ausliefern. Der homo digitalis ist dann Mitglied der neuen »Religion des Dataismus« (Y. N. Harari), in denen Daten die Währung, das wahre Gold und die echten Opfer bilden. Big Data, so das Credo, steigert Gesundheitssicherung, soziale Stabilität, innere Sicherheit um den Preis der »Infokratie« (B.-C. Han). Diese heiligen Daten, das wahre Blut und Gold der neuen Religion, verlangen eine extreme Überwachung. Extreme Überwachung ihrerseits erfordert einen digitalen Überwachungsstaat. Demokratie, Datenschutz und freiheitliche Selbstbestimmung werden in diesem digitalen Leviathan zu leerlaufenden, sinnlosen Begriffen. Das digitale Panopticon ist natürlich nicht nur ein Mittel der Überwachung und Kontrolle, sondern auch eines der Manipulation. Genauer müssten wir sagen, dass natürlich die umfassende Überwachung und Kontrolle eine erste Manipulation sind. Sie erzeugen ja das Bewusstsein, ständig gesehen, beobachtet und kontrolliert zu werden, auf das mit einem angepassten Verhalten und fawning geantwortet wird. Neben dieser impliziten Manipulation gibt es verschiedene Wege der offensiven Manipulation durch das digitale Panopticon. Der einfachste Weg ist es, normierende Informationen zukommen zulassen. Über die Verbindung von digitaler und physischer Welt und das Internet der Dinge sind vielfältige Formen der Belohnung und Bestrafung, der Begünstigung und Stigmatisierung möglich. Man kann an 151 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
einen digitalen Pranger gestellt werden. Social scoring oder Super-Coring, ein ausgeklügeltes digitaltechnologisches Sozialkreditsystem mit entsprechenden Algorithmen, bewertet, beeinflusst und diszipliniert das Verhalten von Menschen, verteilt Plus- oder Minuspunkte für unangemessenes oder angemessenes Verhalten und reguliert Wohlverhalten, gesellschaftliche Anerkennung und Aufstiegschancen durch ein digitales Punktekonto mit Ranking. Ein hoher Scorewert ermöglicht Vorteile und Privilegien. Wer zu viel falsch macht, z. B. Gesetze missachtet, faul ist, bei Rot über die Ampel geht oder sich kritisch über das Regime äußert, dem wird vielleicht der Konzertbesuch verboten, eine Bewegungseinschränkung oder ein Reiseverbot auferlegt, Strafdienst abverlangt, der Netzzugang gelöscht oder ein Urlaub verwehrt. Big Data wird hier zur Sozialtechnologie, mit der Verhalten diskriminiert und selektiv gesteuert werden kann. Um Fehlverhalten, abweichendes oder unerwünschtes Verhalten nicht nur frühzeitig zu entdecken und zu beseitigen, sondern möglichst gar nicht erst entstehen zu lassen, sind noch weitere Formen der Manipulation und Unterwerfung im Einsatz, von denen drei Aspekte beispielhaft kurz beleuchtet werden sollen. In Theodor W. Adornos Minima Moralia heißt es, dass es zum »Mechanismus der Herrschaft« gehöre, »die Erkenntnis des Leidens, das sie produziert, zu verbieten«. Eine Form, blind und taub gegenüber solchem Leiden sein zu können, besteht darin, dass die letzten Helden, die sich gegen die autoritär verordnete Unmündigkeit wehren, wie Adorno an der gleichen Stelle schreibt, »weit hinten in Polen« entsorgt werden, also dort, wo man ihre Schreie nicht mehr hört. Die Orwell-Unterdrückung soll ohne Zeugen, unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden. Umgekehrt heißt es darum in Adornos Negativer Dialektik: »Das Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, ist Bedingung aller Wahrheit.« Erfreulicher für das autoritäre Zwangssystem ist es daher, wenn der Zwang nicht als unangenehm empfunden oder leicht vergessen werden kann. Zur Dialektik der Aufklärung gehört es, dass auch Kultur und Konsum funktionalisiert werden. Sie sind Waren und Belohnungssysteme, die die autoritäre Herrschaft 152 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
gewährt, um sich selbst zu sichern und ein freundlich-fürsorgliches Antlitz zu produzieren. Der Entzug der Freiheit wird versüßt durch das Schlaraffenland der Zerstreuung und des Amüsements. Dass das digitale, virtuelle, mediale Schlaraffenland an jeder Stelle des Vergnügens mit Werkzeugen der Überwachung, Kontrolle und Manipulation gespickt bleibt, muss ja nicht auffallen. Demokratie, Volks-Herrschaft also, ist hier kaum noch möglich, weil der Demos, das Staatsvolk, zur Masse verwandelt wird, die in ihrer Freizeit Konsum, Urlaub und kleine Zerstreuungen genießt und ansonsten Ruhe gibt. Noch erfreulicher wird es allerdings, wenn der äußere Zwang nicht äußerlich bleibt, sondern innerlich wird. Hier verschwinden Freiheitsgedanken, kritische Reflexion und eigenständiges Engagement nicht nur, weil das Volk massenmedial und konsumistisch sediert wird, sondern politisch dressiert ist. Hier ist die Manipulation von Erziehung und Bildung besonders vielversprechend, aber auch notwendig. Denn jedes Kind ist ja zunächst ein neuer Ursprung, eine subversive, anarchistische Bedrohung für die bestehenden politischen Verhältnisse. In einer unfreien Welt müssen daher Familienpolitik und Biopolitik so mit der Erziehung verspannt werden, dass ein Entrinnen in freies Selbstdenken unmöglich wird. Die Hoffnung, einigermaßen saturierte Menschen in autoritären Systemen würden politische Freiheiten einfordern und sich nach westlichen Werten sehnen, rückt damit in noch weitere Ferne. Das Erziehungssystem wird das Super-Scoring von Anfang an in die Erziehung integrieren, so dass es internalisiert werden kann. Das, was aus westlicher Sicht eine verinnerlichte Fremdherrschaft genannt werden kann, ist hier die alternativlose Dressur zur Konformität. Wenn der Zwangsstaat verinnerlicht ist, treten eigene innere Selbstkontrolle und Selbstzensur weithin an die Stelle der äußeren Überwachung und Disziplinierung. Die äußere flächendeckende Videoüberwachung und die Selbstüberwachung durch den Gebrauch der technologischen Werkzeug in allen Bereichen des Lebens kontrolliert und reguliert das Verhalten über das am Körper und durch den Körper sichtbar gemachte Verhalten. Die Sedierung durch Massen153 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
medien und Konsum betäubt den Geist, indem sie die Seele durch Zerstreuung und Emotionalisierung ablenkt. Die politische Dressur in der Erziehung formiert Geist und Seele so, dass sie Eigenstand und Widerstand radikal überschreibt. Besonders hilfreich könnte es nun noch werden, wenn sich Eingriffe ins Genom und Medikalisierung, wir denken an Huxleys Droge Soma, also bodyhacking im weitesten Sinne, mit neuronalen Interventionen, mit brainhacking, verbindet. Eine autoritäre Biopolitik wird ihr Verständnis von Gesundheit und Sicherheit durch optimierende Eingriffe in das genetische Material realisieren. Die Natur des Menschen ist keine Eingriffsgrenze mehr, sondern Manipulations- und Verfügungsmasse. Die prometheische Expansion des Machbarkeits- und Herrschaftsverhaltens, die menschliches Leben radikal objektiviert und politisch verzweckt, vollendet sich, wenn die Intervention den Geist in seiner neuronalen Grundlage angreift. Werden Gehirne mit Computern so vernetzt, dass Daten aus- und eingelesen werden können, werden Gedanken sichtbar und gestaltbar, und es wird auch möglich, Gedächtnis und Erinnerung und damit die Persönlichkeit umzuschreiben und neu zu designen. Ähnliches kann man versuchen, wenn man geeignete Neurochips implantiert. Auch durch sie kann man Daten erheben, Gedanken fischen, aber auch Input setzen und steuern. Nun wird der Mensch nicht nur äußerlich beobachtbar und unter Kontrolle gestellt, sondern sein Innerliches wird äußerlich. Die biotechnologischen Interventionen der Neurodesigner und Gehirnoptimierer implantieren den digitalen Leviathan mitten in Kopf und Herz des Menschen, der dadurch bis in die intimsten zerebralen Strukturen funktionalisiert und instrumentalisiert wird. Man wird solche Neurochips mit funkelnden Namen belegen. Wahrscheinlich wird man sie Gesundheitschips nennen. Sie werden Glückschip oder Weg der Gerechtigkeit oder die ewige Weisheit oder der wahre Volksfreund oder der vollkommene Friede heißen. Sie werden neben der körperlichen die geistige und seelische Gesundheit miteinschließen. Diese liegt dann vor, wenn sie nicht von der Parteilinie abweicht, in der sich ja die Weisheit des Volkes stets konkretisiert. Ihre einzige Funk154 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
tion besteht ja darin, Eigensinn zu vermeiden und Konformität zu sichern. Nur wenn alle diese Optionen nicht greifen oder an irgendeiner Stelle sabotiert werden sollten, schlägt die Orwell-Komponente zu. Dann sind harte Disziplinierung, Bestrafung, Umerziehung, Gewalt, Zufügung von Leid die finalen Mittel, um Menschen gefügig zu machen. Mit diesem Gesamtspektrum an Möglichkeiten ist die informationelle Objektivierung des Menschen prinzipiell komplett. Autonomie, Intimität und Privatsphäre müssen zu Irrtümern und Illusionen zerfallen. Denn sie sind dem Autoritären gefährlich, weil sie Aufklärung und Kritik ermöglichen und damit zu Orten einer möglichen Konterrevolution mutieren können. Durch sie gedeihen »Abspaltung«, »Subversion«, »Terrorismus« oder die »Zusammenarbeit mit ausländischen Mächten«, um es mit dem für Honkong verabschiedeten »Gesetz zum Schutz der Nationalen Sicherheit« zu sagen, welches ja nichts als ein Ermächtigungsgesetz ist, das alles möglich macht, was die, die an der Macht sind, durchsetzen wollen. Der digitale Leviathan wirkt einschüchternd und furchteinflößend. Es scheint, dass niemand diesem mächtigen datengetriebenen Kontroll-, Überwachungs- und Disziplinierungsregime entkommen kann. Wie soll man ihm noch entrinnen? Die Idee einer vollkommenen Versklavung der Menschen in der Orwell-Huxley-Maschine von Computopia erinnert in manchem an die platonische Höhle, insbesondere in der Variante, in der sie in den Filmen der Matrix-Trilogie gedeutet wurde. Auch in der platonischen Höhle, die der digitale Leviathan baut, sind die Menschen gefesselt und müssten sich befreien, umkehren und ins Licht der Aufklärung gehen. Das hypertechnologische Höhlenkino ist aber so perfekt äußerlich und innerlich installiert, dass ein Entkommen kaum denkbar scheint. Der Funken Hoffnung, der uns auch bei der furchtbarsten Dystopie bleibt, ist der, dass es nie etwas geben wird, was perfekt ist, das durch Menschenhand erzeugt wird. Irgendwo gibt es ein Loch, das der Durchbruch zur Freiheit werden kann. Menschen, d. h. Unperfekte, vermögen Perfektes nicht zu realisieren. Und natür155 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
lich kann man eine ins Grenzenlose ausgedehnte Überwachung der eigenen Bevölkerung auch in die andere Richtung lesen: als maximale Angst vor der eigenen Bevölkerung und dem tiefen Trieb der Freiheit, der in jedem Menschen melancholisch träumt. Der utopische Terror des digitalen Leviathans will diesen Traum bis in seine tiefsten Wurzeln ausrotten. Der Leviathan der Zukunft wird einer der kompletten Überwachung und Manipulation sein und im Namen von Gesundheit, Sicherheit, Wohlfahrt und Entertainment auftreten. Freiheit wird auf dieser Liste fehlen. Was noch an Demokratie im Menschen schlummert, die letzte Luft politischer Freiheit, wird die autoritäre Anakonda aus ihnen herauspressen. Der digitale Leviathan duldet keine offene Gesellschaft, in der das schwierige Zusammenspiel von Kollektiv und Individuum, Freiheit und Sicherheit, Subsidiarität und Solidarität austariert wird, sondern fordert den großen Gleichklang des digital-autoritären Konformismus. Wovor wir uns fürchten müssen, sind Menschen, die sich davor nicht mehr fürchten, weil sie hinreichend indoktriniert und manipuliert sind. Aber auch hier bleibt ein Funke Hoffnung, dass der Zwangsstaat die Motive der Autonomie, Selbstbestimmung und Freiheit nicht eigentlich beseitigen kann, sondern nur ins Unbewusste abdrängt. Dorthin sind sie dann versunken, geben aber keine Ruhe. Unbewusst erfinden sich diese Lebenselixiere utopische Bilder, die in ihrer Sehnsucht keine Beruhigung in den aktuellen politischen Verhältnissen finden und Ausschau halten nach Veränderung.
Lernen aus der Krise? Wir müssen unser Leben ändern. Rainer M. Rilke hatte, als er dies beschwor, Friedrich Nietzsche vor Augen. Nietzsches Experimentalphilosophie ermutigt uns, dass wir uns wagen, verändern, versuchen, ausprobieren. Wir können ganz anders sein und eine Gegenkontingenz zur tyrannischen Maschine entwerfen, mit der wir die Welt vergewaltigen und uns selbst be156 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
seitigen. Wenn aber selbst erlebte Vulnerabilität uns nicht zurechtbringt, verpassen wir womöglich letzte Chancen. Fragen wir uns noch einmal, ob wir nicht aus der Geschichte lernen wollen. Aus der Geschichte des schwarzen Todes und den weiteren großen Pandemien die ihm folgten. Aus der Coronapandemie, in der wir noch leben. Aus der Klimakrise, die sich uns immer stärker aufdrängt. Ingeborg Bachmann hat in ihrem Roman Malina einen Aphorismus Antonio Gramscis aufgenommen, der uns sagt: »die Geschichte lehrt, aber sie hat keine Schüler«. Wir glauben mit den Gefahren des Lebens zurecht zu kommen, indem wir sie ignorieren, totschweigen und vergessen. Oder indem wir so lange über sie lamentieren und sie mit Lippenbekenntnissen anpacken, bis sie uns am Kragen packen. Wer auf glasklare Lehren aus der Geschichte wartet, wartet so lange, bis es zu spät ist. Ist die Diagnose eindeutig, allseits und für jeden einsichtig, glasklar vor Augen, sind wir einen Augenblick später tot. Kann man aus den großen Krisen und Katastrophen etwas lernen? Ist dies möglich? Und wenn ja: was gäbe es da zu lernen und wie könnte dieses Lernen eigentlich aussehen? Der 22. und der 23. Pestbrief widmen sich diesen Fragen und suchen nach dem, was Menschen tatsächlich verändern oder verwandeln könnte, ohne eine definitive Klärung zu erreichen. Wir könnten vielleicht das Bild des Wachsens aus Rilkes Briefen an einen jungen Dichter und das vom Sehenlernen in seinem Malte Laurids Brigge aufgreifen und für unsere Zwecke variieren. Wer in eine große Krise gerät, kommt dem eigenen Weltuntergang fühlbar nahe. Taucht er aus dem Pandämonium wieder auf, ist er verwandelt. Stirb und werde. Eisregen fällt. Jemand fährt mit seinem Auto auf dem Blitzeis mit hoher Geschwindigkeit gegen zwei Bäume. Der Motor hat sich in den Innenraum geschoben. Das Bewusstsein verliert seine Fassung. Der Arzt spricht später davon, dass er eigentlich einen Genickbruch hätte feststellen sollen, jetzt aber zum zweiten Geburtstag gratulieren möchte. Kann dieser Mensch, gerade dem Tod entronnen, darf dieser Mensch so weiterleben wie zuvor? Er kann, aber alles in ihm mahnt: er darf es nicht. Gerade hat er begonnen, neu, frisch, 157 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
wie zum ersten Mal zu sehen, gewinnt eine erste Ahnung, in welche Richtung er aufgefordert ist, und ist erfüllt von einer großen Zahl an wesentlichen Fragen, die auf ihn einstürmen. Dieser heilige Moment der zweiten Geburt, der Gunst einer Rückkehr ins Leben, das spürt er, darf nicht vertändelt werden. Es soll keine Rückkehr ins alte Leben geben, sondern in ein neues, lebendigeres Leben oder zumindest in ein neues Erleben des alten Lebens, das die Möglichkeit zum existentiellen Aufbruch eröffnet. Wir dürfen uns nichts vormachen. Unendlich viele Kräfte arbeiten daran, in uns und außer uns, dass wir in die alten Bahnungen zurückkehren. Wir sollen wieder funktionieren, fühlen aber in uns den Protest, dass die alte Ordnung doch zusammengebrochen und umgewälzt wurde. Die Sirenen wollen uns bezirzen, dass wir nur keine Revolution anstrengen und hängen ihre Schwergewichte an unser Leben. So stehen wir alsbald am Scheideweg. Wollen wir uns in die Fragen, die sich uns durch Krise und Katastrophe aufgedrängt haben, vertiefen, mehr und mehr in sie hineinwachsen, sie verstehen und genauer kennenlernen? Wollen wir in dieser Erkundung des Lebens dem Leben eine gerechtere, angemessenere Lebenskunst erobern und sie im Leben fortlaufend bewähren? Prüfen, ob wir wachsen, aufblühen und lebendiger werden können? Dies ist jedenfalls der Lebensruf, der an jeden einzelnen und pandemisch an alle ergangen ist. Wir können diesem Ruf ausweichen. Dann werden wir, so ist zu vermuten, einen zweiten erleben müssen, der uns mit noch größerem Schrecken an die verpasste Chance der ersten Prüfung zurückdenken lässt. Was wir säen, werden wir ernten. Die Saat der Menschengattung ist nicht primär eine Summe böser persönlich-individueller Saaten der Einzelnen, welche dann die Maschinerie kollektiver Probleme antreibt, sondern die in der Regel unabsichtliche Erzeugung von langfristig systemischen Pathologien. Hinter ihnen mag ja die Daseinsgefräßigkeit und Gier und noch weit häufiger die Angst der Menschen stehen. Aber es ist fast stets so, dass es ihnen genau umgekehrt ergeht wie dem Teufel in Goethes Faust. Der will ja bekanntlich sein Werk 158 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
tun, erzeugt aber langfristig Gutes und muss gestehen, dass er ein Teil jener Kraft ist, die stets das Böse will und stets das Gute schafft. Den Menschen ergeht es in vielem exakt umgekehrt. Sie wollen etwas Gutes, aber es läuft ihnen doch aus dem Ruder. So gleichen sie eher dem Zauberlehrling aus Goethes gleichnamiger Ballade. Der Zauberlehrling erweckt einen Besen zu seinem Wasserträger. Eigentlich eine nette Idee und kurzfristig eine erfreuliche Sache. Er ist doch nur ein pfiffiges Mittel. Aber der Sklave entwickelt Eigensinn und widersetzt sich seinem Herrn. Wie in Rabbi Löws Golem oder Mary Shellys Frankenstein schwingt sich das Mittel alsbald selbst zum Herrn auf, das Instrument wird Gebieter der Lage. Der Zauberbesen emanzipiert aus der Hand des Zauberlehrlings. Dem Dompteur entgleitet die Gewalt über die wilden Tiere. Das Objekt wird Subjekt und das Subjekt Objekt. Die Verhältnisse kehren sich um. Die Dinge geraten außer Kontrolle. Es bahnt sich eine Katstrophe an. »Die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht los« ruft der entsetzte Lehrling daher seinem herbeigeflehten Meister zu, der die Situation dann auch im letzten Moment zu meistern vermag. Haben wir noch einen solchen letzten Moment? Was werden wir rufen und wen? Wer soll der Meister unserer universalen Katastrophen sein? Ist es die Wissenschaft? Die Vernunft? Kann nur ein Gott uns noch retten, wie Heidegger meinte? In Umgang mit der Pest wurde immer wieder die Frage nach göttlicher Strafe oder Vergeltung für den sündigen Lebenswandel der Menschen aufgeworfen. Das soll offensichtlich bedeuten: was sie erleben, ist nicht nur das Ergebnis äußerer und zufälliger Parameter, eine Katastrophe, die aus dem Nichts auftaucht. Vielmehr spiegelt sich in der Entstehung und im Umgang mit den Krisen das problematische Wesen des Menschen. Er erhält ein Echo oder eine Resonanz für seine Habsucht, seinen Neid, seine Gier, die mit einer tiefen Angst und Sorge um sich selbst verknüpft sind. Die Art und Weise unseres gegenwärtigen Lebens und Wirtschaftens verdankt sich ebenso zuletzt der Grammatik der ambivalenten menschlichen Existenz, deren eine Seite sie bedient und betont. Selbsterhaltung und Selbststeigerung unserer Gattung bauen sich nach wie vor auf der Basis von Gier, 159 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
Angst und Sorge auf, nicht auf der Basis von Mitsein, Freundschaft und Respekt gegenüber der außermenschlichen Welt. Die seit der Neuzeit in Bewegung gekommene Lokomotive des Fortschritts, die Trias aus Wissenschaft, Technik und Ökonomie, ist, wie wir gesehen haben, ein tyrannisches Projekt der Ausbeutung und Unterwerfung. Eine Gesellschaft, die nur auf diese Trias setzte, wäre purer Nihilismus. Die Natur hat keine beliebig großen Resilienzfähigkeiten, dieses despotische Unterfangen weiter zu kompensieren. Der Satz der Resonanz »Was du säst, wirst du ernten« weist die Richtung. Das, was ich als Saatgut aussäe, wird auch dem entsprechen, was ich als Frucht erhalten werde. Entsprechend heißt es etwa: Wer Wind sät, wird Sturm ernten. Der Sturm ist der entfaltete, ausgewachsene, ins Große gedachte Wind. Wer Wind sät, wird Sturm ernten – und nicht etwa Schokolade oder Sonnenschein. So gesehen, schädigen wir uns selbst, indem wir die Natur schädigen. Die Natur antwortet. Diese Antworten zeigen, dass wir nicht biophil leben, arbeiten und wirtschaften, sondern nekrophil. Sie schickt als Echo und traurige Resonanz immer teurere Rechnungen, weil sie uns immer mehr Verrücktheit in Rechnung stellen muss, und beginnt, den Tyrannen, der sie reitet, abzuwerfen. Bald kann niemand mehr die Zeche zahlen. Was ist es, das die Rache der Natur heraufbeschwört? Was weckt die Riesen, die gegen die menschliche Rasse aufstehen? Jedes Lebewesen steht unter dem Gesetz der Selbsterhaltung und Selbstentfaltung. Alles, was ist, will sich in seinem Sein erhalten, leben, essen, trinken, unverletzt sein, gesund sein, nicht sterben. Alles, was lebt und sich erhält, sucht in seinem Maß nach dem Besten, in dem es aufblüht und zufrieden ist. Wer das Maß missachtet, der verfällt dem Untergang. Ein materielles Globalparadies für die Menschen gibt die Erde nicht her. Wer aus der Erde einen Himmel machen will, wird eine Hölle schaffen. Die menschliche Gattung hat sich, wie wir gesehen haben, seit der Neuzeit einen besonderen Zug des Fortschritts gebaut, dessen Zugmaschine das sonderbare Amalgam aus neuzeitlicher Wissenschaft, Technik und Ökonomie darstellt. Wir sitzen in den Personenwagen und reisen fröhlich mit. Dieser Zug hat sei160 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
ne segensreichen Zeiten schon weitgehend hinter sich und hält nun in seiner Unheilsfahrt streng Kurs auf Katastrophe und Abgrund. Die Menschheit ist die Gattung der Maßlosigkeit. Der Mensch will seine Hybris nicht zügeln. Eisern hält er fest daran, die Natur zu berechnen und zu beherrschen und auszubeuten. Eisern hält er daran fest, dass Güter und Geld, Dienstleistungen und Dollar ewig wachsen. Wir sagten bereits: Was exponentiell wächst und keine Grenzen respektiert, nennen wir Krebs. Das Krebsgeschwür der Gier hat die Menschheit bis ins Mark zerfressen. Den Krieg mit der Natur wird der Mensch verlieren, auf welche Odysseuslist er auch immer sinnt. Sie ist tausendmal schneller und klüger als alles, was sich die Kinder der Natur gegen ihre Mutter ausdenken. Wir sind technische Riesen, aber nur ethische Zwerge. Wir besitzen viel Verfügungswissen, leiden aber unter fehlendem Orientierungswissen. Wir haben eine Welt produziert, wie sie nicht sein sollte. In ihr geht eine Schere immer weiter auseinander: immer schneller und immer stärker anwachsende systemische Probleme treffen auf unfassbar langsame Reaktionen menschlichen Handelns. Die Demokratien sind durch politische und ökonomische Machtballungen so gehemmt, dass sie viel zu schwerfällig und ohne Radikalität auf eine radikale Problematik reagieren. Dadurch verhalten sie sich geradewegs suizidal im Blick auf ihr eigenes Fortbestehen. Wenn sich ein tödliches Gift im Körper ausbreitet, dann muss man möglichst bald und möglichst kausal intervenieren. Verbringt man aber viel Zeit damit, die todbringende Gefahr zu entdramatisieren, und über symptomatische Interventionen nachzudenken, die wie ein täuschender Zuckerguss über eine tiefe und unheilvolle Wunde gelegt werden, um sie zu verbergen, der wird schuldig an dem, was kommt, auch an der Diskreditierung demokratischer Prozesse selbst, die so lange zerdehnt und zerredet werden, bis die schiere Aussichtslosigkeit alle Karten in die Hand des Autoritären gespielt haben wird. Traurig genug, aber wohl wahr: am Niedergang der Demokratie sind vor allem mutlose und behäbige Demokrätchen, ängstliche und flügellahme Demokratiefunktionäre schuld. 161 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
Ja, es ist sogar noch schlimmer, wenn wir daran denken, dass wir einen bestimmten Demokratietypus präferieren, der seinen Wohlstand nur durch die Produktion der ökologischen Krise zu erzeugen vermag und daher durch diese ökologische Krise selbst in Frage gestellt ist. Eine unsolidarische Demokratie, in der Freiheit nicht durch allseitige Gerechtigkeit und Verantwortung balanciert wird, ist auf die Dauer zum Scheitern verurteilt. Wie können wir aber Vernunft annehmen, wenn es keinen alten Meister mehr gibt, dessen Zaubersprüche uns aus unserer Not heraushelfen? In der höchsten Not oder dann, wenn sich die Not verdichtet und verstärkt und um sich greift, müssen wir, solange sich noch nicht alle Fenster der Wahl schicksalhaft verschlossen haben, wählen, wer wir sein wollen und welches Leben wir leben möchten.
Die Umwälzung der Welt und die Revolution der Denkungsart Was müssen wir lernen? Wie müssen wir die Welt anschauen? Wenn wir eine angemessene Antwort auf große, umfassende und tiefgehende Krisen finden und auch die Demokratie bewahren wollen, müssen wir wohl von einer liberal-kapitalistischen Demokratieform, die ihre ökologischen Hausaufgaben nicht macht, sondern ihre Kosten externalisiert, Abschied nehmen. Demokratievarianten, die die Art unsers Arbeitens, Wirtschaftens und Lebens nicht zugleich und radikal auf Verträglichkeit und Nachhaltigkeit im Blick auf die menschliche Innenwelt, die soziale Mitwelt und die natürliche Umwelt auf den Prüfstand bringen können, werden untergehen. Dies auch zu Recht, weil sie keine ernsthaften Antworten auf reale Problemlagen geben. Insbesondere die ökologische Externalisierung wird sich auf Dauer rächen. Wir verbrauchen mehr, als sich regeneriert, wir fordern mehr, als die Erde gewähren kann. Für einen so kleinen Planeten leben wir, wie man sagt, auf viel zu großem Fuß. Wer die Kosten unserer Art des Lebens, Arbeitens und Wirtschaftens auf Vater Staat, Mutter Natur und kommende Generationen 162 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
verlagert, bezahlt die Gegenwart mit der Zukunft, beteiligt sich an der Intensivierung der ökologische Katastrophe und verdient kein Vertrauen. Eine unsolidarische, koloniale Form der Demokratie, die sich ihren Lebensstil nur durch Unterwerfung und Ausbeutung der Natur und Abwälzung ihrer Probleme auf andere ermöglicht, ist ein parasitäres Phänomen, das daran arbeitet, seinen Wirt zu töten. Sie reproduziert sich, indem sie die Bedingungen ihrer eigenen Existenz zerstört und damit ihre eigene Lebensgrundlage tendenziell abbaut. Eine ökologisch gerechte und solidarische Demokratie muss neue Wege erfinden, ihren »Externalisierungshabitus« (S. Lessenich) durch wahre Kosteninternalisierung zu überwinden, oder sie wird scheitern und durch konkurrenzfähigere autoritäre Regime abgelöst werden. Wer in oder nach einer großen Krise nicht lernt, neu zu sehen, neu zu fragen und anders zu leben, hat seine Chance verpasst und baut der nächsten Krise ihre Gelegenheit. Die Umwälzung der Welt, soll sie einen Kurs nehmen, der die menschliche Gattung mitnimmt, verlangt eine Umwälzung des menschlichen Denkens und Handelns. Wir bedürfen dessen, was Kant als Revolution unserer Denkungsart bezeichnet hat. Was den Fortschritt bedroht, ist der Fortschritt im alten Verständnis. Es braucht einen Paradigmenwechsel. Nach Albert Einstein kann man die Probleme niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind. Wollen wir weiter im ökologischen Boot mitreisen und unser Logbuch führen, braucht es eine Revolution der Reisegesellschaft. Denn mit den alten Karten des Denkens kann man keine neue Welt erkunden. Die neue Welt ist älter als wir. Sie verlangt unsere Oikeiosis. Oikeiosis ist ein altes Wort der stoischen Philosophie für eine vernünftige Bejahung oder Anerkennung der menschlichen und außermenschlichen Natur. Nur wenn wir in ihren Vorgaben und Grenzen unseren Spielraum finden, können wir ihr »entsprechen«. Der lebt vernünftig, der die Vernunft des Lebens vernimmt und ihr zustimmt. In das Haus der Natur müssen wir uns einhausen und in ihr Heimat finden. Große Krisen sind Resonanzwarnungen für ein ungerechtes Leben von Externalisie163 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
rungsgesellschaften, in denen die Gier ihre Königin ist. Sie machen uns deutlich, dass wir ein entgrenztes, maßloses Leben leben, das nicht aus Anerkennung und Gelassenheit der Natur erwächst. Einem solchen Leben gilt Adalbert Stifters Wort: »Untergehenden Völkern schwindet zuerst das Maß«. Eine solidarische Demokratie muss die Freiheit mit der Sicherheit in drei Sphären durch Gerechtigkeit und Verantwortung, Solidarität und Fürsorge befreunden: im Selbstsein, d. h. in der Bildung und Selbstkultivierung des einzelnen Menschen, im Mitsein mit der sozialen Mitwelt und im Frieden mit der natürlichen Umwelt. Die ökologische Krise, allem voran die Klimakrise, fordert unsere Entscheidung. Die Büchse der Pandora ist geöffnet, der Geist ist aus der Flasche, die Diskussionen sind schon lange nicht mehr rein akademisch, sondern konkret, real und berühren unser aller Leben. Unser Ratgeber darf weder Wissenschaftseuphorie noch Wissenschaftsangst sein, sondern vernünftige Reflexion. Philosophie ist die radikale Reflexion der Vernunft auf die Bedingungen gelungenen Lebens freier, natürlicher und endlicher Menschen. Philosophie will immer wieder neu Zugänge zur Wirklichkeit öffnen und ökosoziales und humanes Orientierungswissen anbieten. Philosophie ist der radikale Versuch, Mensch zu sein. Sie ist lebendige Vernunfterkenntnis der Wirklichkeit im Dienst eines gelungenen Lebens.
Biophilie zwischen Kontingenz und Verwundbarkeit – Eine andere Zukunft wählen Wir nannten anfänglich das Staunen als Moment der Lebenskunst. Nehmen wir diesen Faden hier noch einmal auf. Was ist das Spezifische am Staunen? Wir meinen: der Anfängergeist. Der Geist, der noch nicht Bescheid weiß und durch sein dogmatisches Bescheidwissen alles von vornherein fesselt und bändigt. Wer schon alles weiß, ist nicht mehr zu überraschen. Wer alles durchschaut, lebt in der Langeweile. Aber wer Bescheid zu wissen glaubt, ist natürlich einem Irrtum aufgesessen und kennt 164 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
sich nicht aus, sondern ist bereits ignorant. Wer staunt, hat den ersten, frischen und unverbrauchten, offenen Blick. Staunen ist die Güte des lebendigen Blicks. Dankbares Denken. Man mag an Albert Einsteins Einsicht denken: »Es gibt zwei Arten, sein Leben zu leben: entweder so, als wäre nichts ein Wunder, oder so, als wäre alles ein Wunder.« Wer sich wundert, entdeckt überall Wunder und das Wunderbare. Das Wunder schläft nebenan: im Kleinen das Große, im Gewöhnlichen das Außergewöhnliche, im Alltag das Wunderbare (das Selbstverständliche ist nicht selbstverständlich). Das ist eine Lehre der Pandemie, dass wir erkennen, was wirklich zählt: Begegnung, Beziehung, Bildung, Kultur, Kontakt, Freiheit, Natur und ein kleiner, ausreichender Sockel an materieller Sicherung. Nur ein gieriger Blick, der alt und müde geworden ist, sieht davon nichts mehr. Deswegen rät Platon auch: Wer sich übt im Staunen-Können, im Sich-freuenKönnen, wird auch im hohen Alter noch frisch sein. Wer nicht mehr weiß, worauf es ankommt, versinkt in fanatischem Konsumismus oder zynischer Askese. Menschen sind im Blick auf das, was zählt, vergessliche und lernresistente Lebewesen. Sie wissen es und vergessen es. Ein Schock erinnert sie. Wenn unsere Grundbedürfnisse erst einmal gesichert sind, Luft, Trinken, Essen, Schlaf, Sicherheit, alles, was der Selbsterhaltung dient, dann entdecken wir, was der Selbststeigerung, Selbstwerdung und Selbstbefreundung dient: Liebe, Freundschaft, Beziehung, Freiheit, Erlebnisse, Kommunikation, Austausch. Dies ist das Lebenselixier des gelungen Lebens. Die Politik des Corona-Virus hat vieles davon verändert und reduziert. Das, was uns die Pandemie, wie jene der großen Pest zu ihrer Zeit, als gefühlte Einsicht in Erinnerung ruft und zu bedenken aufgibt, ist die kollektive Erfahrung einer globalen Vernetztund Verbundenheit und einer allseitigen Verwundbarkeit oder Vulnerabilität und Kontingenz. Das Virus kennt keine Grenze und erzwingt diese beiden Erfahrungsmomente. Unfassbar viel Leid und Not schickt eine Pandemie rund um die Welt. Die Klimakrise erzeugt ähnliche Szenarien, und sie häufen und verstärken sich. Wenn eine große Krise zuschlägt ist sie wie ein universaler Totentanz, der allen vorführt, dass sie gleich verletzlich 165 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
sind. Mensch sein heißt verletzlich sein, um die Vulnerabilität der conditio humana zu wissen und verantwortliche Schlüsse daraus zu ziehen. Wir sind alle, in unterschiedlichsten Formen und unterschiedlich intensiver Weise, eine Weltfamilie, in der diese Not-Gemeinschaft anwesend ist. Durch die Art unseres Lebens bilden wir zugleich auch eine Schuld- und Verantwortungsgemeinschaft. Denn die Art unseres Lebens kann Krisen heraufbeschwören, intensivieren, verbreiten; in der Art des Krisenmanagements können wir Leid mindern oder neues Leid hinzufügen. Die eine Einsicht in das Wesentliche ist diese umfassende Vernetzt- und Verbundenheit, die uns alle zusammen als Schicksalsgemeinschaft vereint. Die andere Einsicht in das Wesentliche, die umfassende, mächtige Krisen uns abverlangen, ist die gefühlte, erlebte Einsicht in Kontingenz und Verwundbarkeit. Was kontingent ist, ist nicht notwendig und könnte auch ganz anders sein. Die Demokratie, die Sicherheit, das Leben, das wir führen, und das Leben, das wir haben – nichts ist notwendig und gesichert. Wir selbst sind nicht notwendig und können ganz anders sein: tot und verschwunden, krank und zerstört und entwurzelt. Weltverständnis und Weltbegegnung müssen die durch die Krisen heftig wieder ans Licht gehobene Erfahrung von Kontingenz tief einatmen. Nichts, was wir sind oder haben, ist notwendig oder sicher und kann jederzeit ganz anders sein. Dieses Andersseinkönnen muss uns ändern und zu Anderen machen. Wenn wir uns auf die Lektion der Krisen besinnen und verständig werden, müssen wir andere Wege gehen als bisher. Die Welt ist nicht nur voller Wunden, die wir ihr und einander geschlagen haben. Pandemien und große Krisen beglaubigen durch die mit ihnen gesetzten Kontingenzerfahrungen auch die Vulnerabilität des Planeten, des gesamten Ökosystems und allen Lebens. Machtvoll drängt sich den Menschen auf, dass sie verwundbar und verletzlich sind und diese Signatur mit allem anderen teilen, das ist. Auch die ökologische Krise zeigt die empfindliche Verletzlichkeit der Ökosysteme und der Artenvielfalt. Wir müssen umdenken und neu denken. Alles, was es dazu braucht, ist bereits da. In der Weisheit der Philosophie und der 166 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
spirituellen Lehren genauso wie in der Chaostheorie und den Systemwissenschaften. Große Krisen bieten die Chance, aus diesem Wissen existentielles Wissen, transformatives Wissen, welt- und lebensveränderndes Wissen zu machen. Deswegen haben wir das alte Wort der Stoiker genutzt und von Oikeiosis gesprochen. Wir müssen zu einer Beheimatung finden, die aus der erlittenen Erfahrung von Kontingenz, Vulnerabilität und fragiler Verbunden- und Vernetztheit alle ernsten und glücklichen Schlüsse zieht. Ich sage bewusst: glückliche Schlüsse. Denn wir können in einer Welt der Freude leben, wenn wir die Welt der Gier verlassen. Wir leben über unsere Verhältnisse und missachten Grenzen. Wir müssen dies sein lassen. Seinlassen ist die primäre Naivität humanen Lebens inmitten einer Welt, die Entgrenzung eine Zeit lang erträgt und dann bitter bestraft. Seinlassen ist die überlebensnotwendige Gelassenheit als eine humane Mitte, zu der es am Ende nur die Extreme des Zynismus oder Fanatismus gibt. So wie wir heute leben, ist unsere Lebensform fanatisch in ihrer Gier und zynisch im Blick auf die Wirkungen und Folgen. Gier, Neid und Habsucht, die aus Angst, Sorge und Sinnmangel entspringen, sind machtvolle Motoren des menschlichen Getriebes. Sie setzen vieles in Gang. Zuletzt jenes irrsinnige Projekt der Unterwerfung und Ausbeutung der Natur. Wenn wir es richtig verstehen, ist dieses Projekt ein projet confus (B. Pascal), sozusagen ein fehlgeschlagener Selbstheilungsversuch. Der Mensch ist voll von Sehnsüchten und Sinnhunger, es beschäftigt ihn eine Art von metaphysischem Hunger, der in seiner Vernunft und Phantasie aufscheint. Wir können es mit einem Gedanken aus Kants Kritik der reinen Vernunft formulieren: »Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: dass sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann; denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft.« Wenn aber Vernunft und Phantasie ihre ins Endlose zielenden Fragen und Bedürfnisse umwenden und an Materie, Leib und Leben auslassen, als könnten sie die 167 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
Orte werden, die Fragen und Bedürfnisse zu beruhigen, so ist dies ein genauso verständliches wie sinnlos-unerfüllbares Projekt. Es gleicht in etwa dem, was die Juristen einen untauglichen Versuch am untauglichen Objekt nennen, als ob man etwa einen bereits Toten durch Totbeten töten möchte. Mit untauglichen Mitteln am untauglichen Objekt sich versuchen, das ist es, wenn die ins Unendliche sich ausstreckende Gier und das Sinnbedürfnis der menschlichen Natur sich an der außermenschlichen Natur befriedigen möchten. Will der Geist die Materie auspressen und sich Unendlichkeit am Endlichen sättigen, entsteht eine Maschinerie der Befriedigung ohne Aussicht. Sie gleicht demjenigen, der voller Durst in einem Boot auf einem Meer treibt: umgeben von Wasser, das den Durst nie stillen kann. Der Versuch, immateriellen Hunger durch materielle Speise zu stillen, unendlichen Hunger durch endliche Güter zu heilen, ist eine solche Salzwasserlogik. Sie erinnert an die Erfahrung des tragischen Faust, der aller Menschen Schicksal teilt, Vollkommenes zu ersehnen, ohne es je erreichen und halten zu können: »So tauml’ ich von Begierde zu Genuss, und im Genuss verschmach’ ich nach Begierde.« Der Mensch spürt eine leere Spur, eine intime Wunde. Jeder Durst erzeugt einen neuen Durst, jeder Hunger weckt den Hunger erneut. Den Grund des Bechers seiner Unruhe kann er nicht erschwimmen. Befriedigung löscht hier die brennende Begierde nicht, sondern heizt sie im Gegenteil noch an. Darum fleht Faust, dass der Augenblick verweilen möge, weil er doch so schön ist. Darum bekennt Nietzsche, dass alle Lust Ewigkeit will, tiefe, tiefe Ewigkeit. Fausts Antwort auf die Sinnfrage des Lebens ist sehr aufschlussreich für unsere Überlegungen. Vieles, was der Teufel ihm angeboten hat, erweist sich als Irrlicht und Täuschung. Die menschliche Unruhe blieb. Er kommt der Sache aber in dem Moment auf menschenmögliche Weise nahe, als er mit freien Menschen auf freiem Grund die Natur urbar und zum neuen Lebensraum für den Menschen macht. Das fruchtbar-paradiesische Land, das dem gefahrvollen Meer abgerungen wird, oder der Sumpf, der trocken gelegt wird, sind Sinnbilder des menschlichen Projekts, Glück zu finden. In ihm scheint die Vision von 168 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
einem guten Zusammenleben der Menschen auf. Zugleich verbindet es sich mit »der Weisheit letzter Schluss: Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muss«. Diese Weisheit ist aber nur dann weise, wenn sie mit der Natur geht und nicht gegen sie. Sie darf für die Menschen nur so viel von ihr nehmen, dass alles Maß gewahrt bleibt. Ohne Oikeiosis, ohne entsprechend einverständiges Zusammenleben mit der Natur, ist die menschliche Schaffenskraft nicht weise, sondern dumm und bringt alles Unglück über sich. Entsteht ein Projekt der Gier, der Ausbeutung und Tyrannei, eine exstase noir, kommt Sturm auf. Ein wirres, fatales und kontraproduktives Vorhaben reift heran, das sich wie die Titanic auf Katastrophenkurs befindet. Kein Schönreden hilft. Man mag den Kurs der Titanic umlabeln und neu anstreichen, es ändert nichts am Katastrophenkurs. Herder hat den Menschen als den ersten Freigelassenen der Natur bezeichnet. Die Natur ist dieses Wagnis eingegangen. Wenn er aber ihr Geschenk gegen sie verwendet, wird er die Freiheit verspielen. Die Frage der Weisheit lautet immer: wie weit lasse ich was wachsen? Ungebremste Technik, entgrenzte Wissenschaft und eine Ökonomie der Externalisierung werden uns nicht retten; sie sind intelligenter Ausdruck primitiver Gier. Die Fenster der Gelegenheit zu handeln schließen sich. In gewisser Hinsicht ist die Geschichte der Menschheit die Geschichte verpasster Chancen. Sie lächeln auch dann noch, wenn sie schon spüren, dass ihre Dummheit sie zu Boden stürzen wird. Aber noch ist Zeit, höchste Zeit vielleicht. Der Kassandra-Ruf, dass die apokalyptischen Katastrophen kommen und mit ihnen das Zeitalter des Autoritären und des digitalen Leviathan, ist unüberhörbar. Noch ist die Zukunft, nach allem, was wir wissen können, nicht endgültig entschieden. Wie sollte der Name der Zukunft lauten? Victor Hugos Vorstellung von Umwälzung ist die einer révolution humaine. Die immer unvollkommene menschliche Seele und menschliche Gesellschaft ist in das utopische Abenteuer verwickelt, eine freie und gerechte Welt anzustreben. Dabei, so sagt er, habe die Zukunft viele, jedenfalls mehrere Namen: »Für die Schwachen ist 169 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
sie das Unerreichbare. Für die Furchtsamen ist sie das Unbekannte. Für die Tapferen ist sie die Chance.« Der Name, den die Chance der Tapferen verdient, ist der der Freiheit und Biophilie. Sie ist das wichtigste Modell der Zukunft. Die Vision vernünftiger Freiheit, die ihr Maß findet und keine Sklavin der Gier ist, ist Biophilie. Biophilie bedeutet Lebensfreundlichkeit, Lebenserhaltung und Lebensförderlichkeit. Eine biophile Informationswirtschaft wird ihre Entscheidungen und Handlungen immer an drei Grundsätzen ausrichtet: Ist das, was wir tun, humanverträglich, sozialverträglich und naturverträglich? Dies muss der unumstößliche Kompass nachhaltigen Handelns sein. Der Natur böse Wunden zu schlagen, kehrt sofort die Verwundbarkeit des Menschen hervor. Wenn wir auch nicht eins mit der Natur sind, dürfen wir doch nicht uneins mit ihr werden; dafür sind wir ihr viel zu zugehörig. Ihre Verletzlichkeit anzutasten, lässt unsere eigene schnell hervortreten. Denn wir sind nur Gäste in ihrem Haus. Wer das Haus ruiniert, in dem er Gast ist, weil er glaubt, ein zweites zu haben, versteht nicht viel. Jede Hochtechnologie, gleich welch künstliches »Menschenhaus« es auch sei, ist auf den Grund der Natur gesetzt, lebt von ihren Voraussetzungen und bleibt von ihr abhängig. Ein winziges Muskelspiel der herausgeforderten Natur, und aus ist es mit der Herrlichkeit. Jede Kontingenzreduktion erweist sich dann als Tand. Die Unterwerfung der Natur wendet sich zurück gegen den Unterdrücker. Hier gibt es nichts mehr zu prahlen. Für alle Zukünfte, die sich andeuten, gibt es Indikatoren, Spuren und Signale. Welche Zukunft kommen wird, ist offen. Die Zukunft ist unsere Aufgabe. Durch die Art, wie wir heute denken und leben, stellen wir die Weichen. Die Geschichte, die wir heute machen, wird die Quelle der Zukunft morgen sein. Niemand kann so tun kann, als hätte er alle Rätsellösungen parat. Gegen alle die, die mit dem Stein der Weisen in ihrer Hosentasche klimpern und klappern, gegen die Hybris aller Dogmatiker und Ideologen, gegen die Autoritären und Totalitären halte ich es lieber mit Kant. Er zeigt, dass unser Ringen um Lösungen ein immer unvollendetes Abenteuer theoretischer und praktischer Vernunft ist, das auf den Ideenreichtum aller angewiesen 170 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
ist. Einmal formuliert Kant es so: »Es ist niemals zu spät, vernünftig und weise zu werden; es ist aber jederzeit schwerer, wenn die Einsicht spät kommt, sie in Gang zu bringen.« Und an anderer Stelle hält er fest, dass der Mensch als Mensch »der Schule der Weisheit nie entwächst«. Das scheint mir ein vernünftiger und guter, ein humaner Ausgangspunkt zu sein.
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Nachwort
Eine Philosophie, von der jemand erzählt, kann »echte Philosophie« sein. Eine Philosophie aber, die erzählt und selbst im narrativen Gewand auftritt, ist das noch Philosophie oder bereits ein närrisches Unternehmen? Richtig ist, dass ein Inhalt oder Sachverhalt oder Thema eine ihnen angemessene Form verlangt, in der sie am besten zur Darstellung kommen können. Ein liebevoll gehegtes Vorurteil vieler Philosophen ist es, dass Philosophie in reflexiver Form zu Bewusstsein kommt und dieses argumentierend und im Begriff zur Darstellung bringt. Natürlich weiß jeder, der in der Philosophie ein wenig bewandert ist, dass es eine Vielzahl von Formexperimenten in der Philosophie gibt. Meditationen, Traktate, nüchterne Abhandlungen stehen neben Bildern, Metaphern, Gleichnissen, Dialogen, Essays, Romanen, Briefen, Biografien, Weisheitsgeschichten, Aphorismen usw. oder kombinieren sich mit ihnen. Aus der Sicht der »richtigen Philosophie«, die ja schon genug Ärger damit hat, den richtigen Zugang, die angemessene Methode und die erlaubten Inhalte der Philosophie zu verhandeln, kann der Ärger im Blick auf die Form minimiert werden. Wenn es schon etwas anderes als das Begreifen durch den Begriff und die Arbeit der Argumente geben soll, dann handelt es sich dabei nur um Vorbereitung, Hinführung oder Illustration. Eine solche Einschätzung des Nichtbegrifflichen scheint mir allerdings doch eher einseitig und verkürzend zu sein. Da hier nicht der Ort ist, um das Pro und Contra meiner Sicht ausführlich zu erörtern, 1 will ich sie doch wenigstens kurz verdeutlichen. Zum einen scheint es mir wichtig, alle Erkenntniskräfte Ich verweise für Näheres nur auf die beiden angegebenen Publikationen des Autors im Literaturverzeichnis sowie die verzeichnete Arbeit von S. Zwierlein-Rockenfeller.
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des Menschen mit denen ihnen eigentümlichen Erkenntniswegen in den Vorgang des Erkennens einzubringen. Man mag das ganzheitlich oder holistisch nennen. Der Leib mit seinem Spüren, die Seele mit ihrem Fühlen, der Geist mit Phantasie, Imagination, Intuition und das Denken mit Begriff, Logik und Argument sind ein Orchester, die ein gemeinsames Konzert geben sollten. Hier ist ein ganzes Universum aus Sinneseindrücken, Gefühlen und Emotionen, Bildern und Vorstellungen, Begriffen und Gedanken in eine Komposition zu bringen. Dies scheint mir wenigstens dort die Aufgabe einer komplexen Erkenntnistheorie zu sein, wo es um Erfahrungen der Subjektivität, um das Verstehen des Existenziellen oder das Bedenken von Werten und Normen geht, um nur einige herausragende Beispiele zu nennen. Zu den tragenden Elementen des interpretativen Gerüsts meiner Überlegungen gehört die Unterscheidung von Leben-Erleben-Reflexion. Mir widerfährt etwas. Ich verliebe mich. Ich erlebe die Schönheit eines Sonnenaufgangs. Mich berührt das Schicksal eines Freundes. Das erlebte Leben gibt in der Regel eine gefühlte Bedeutung, in der etwas von der Art eines spürend-fühlenden, intuitiven Wissens von einer Sache um eine Sache liegt: ich weiß von der Liebe um die Liebe, von der Trauer um die Trauer, von der Freude um die Freude, ein implizites Wissen, das auf seine Entfaltung wartet. Dieses implizite Wissen in gefühlter Bedeutung wird durch die Reflexion aufgeschlossen und begrifflich zur klaren Entfaltung gebracht. Das Wissen über eine Sache, das sich in der Reflexion einstellt, behält durch den Lebensbezug des erlebten Lebens Echtheit, Fülle, Ernst und Tiefe. Das, was ich erkannt zu haben meine, wird sodann Grundlage für neues oder erweitertes Verstehen, indem es meine künftige Praxis des Lebens und Denkens als Entwurf begleitet, orientiert und sich dort bewährt. Ich habe versucht, dieses Schema im literarischen Design dieses Buches zu berücksichtigen. Deswegen erzählen im ersten Teil Briefe von Geschehnissen um die große Pest. Diese Briefe sind selbst eine erste, intime Art von Reflexion auf erlebtes Leben, in denen dieses erlebte Leben wiederholt und wesentlich in 173 https://doi.org/10.5771/9783495999646 .
Form der Augenzeugenschaft vergegenwärtigt und dem Leser fühlbar nahegebracht wird. 2 Bilder, Erlebnisse, Gefühle, Wertempfindungen usw., die diese Briefe vermitteln, können bei denen, die sie lesen, ein entsprechendes Mitgehen, Nachfühlen und Nachvollziehen der Ereignisse hervorrufen. Diese Möglichkeit einer evozierenden Kraft, die in der Form der Darstellung liegt, wirkt sich einerseits auf den Reichtum bzw. die inhaltliche Fülle des Erlebten und des lebendigen Kontaktes zu ihm aus. Was ich da lese, lässt mich nicht kalt, ist mir nicht gleichgültig, fern und abstrakt, sondern kommt mir nahe, spricht mich an und bewegt mich. Andererseits werden auf diese Weise auch die verschiedenen Erkenntniskräfte eines Menschen angesprochen, der die Briefe, Kommentare und Meditationen liest. Spüren, Fühlen, Bilder haben, Vorstellungen entwickeln, Gedanken bilden, Begriffe finden, all dies geben Stoff und Darstellungsform her. Der jedem Brief angehängte Kommentar hat die nüchterne Aufgabe der Rationalität, mit Zahlen, Daten und Fakten das jeweils Erlebte zu rahmen. Der zweite Teil übernimmt in einer ersten Meditation sozusagen die begrifflich klärende Entfaltung. Welche Einsichten sind aus den brieflich präsentierten Ereignissen und Erlebnissen um die große Pest zu gewinnen? Eine Möglichkeit, die hier vorgestellt wird, ist es, aus ihnen typische Erlebnis- und Reaktionsmuster in großen Krisen herauszuarbeiten. Die zweite Meditation versucht aus dem, was bedacht und verstanden wurde, einen kritischen Blick für die Lebenskunst zu gewinnen. Sie gibt Hinweise, was zu tun ist, und wendet sich damit aus der erinnerten und verstandenen Vergangenheit der Zukunft zu, für die sie Ideen entwirft, die sich, so die begründete Hoffnung, als Kompass für ein besseres Leben bewähren könnten.
Tatsächlich ist die Sache noch ein wenig vertrackter, weil die Briefe ja erfunden und entsprechend gestaltet wurden. Das heißt, sie sind bewusst als Form gewählt worden, um die angesprochene ganzheitliche Erkenntnisbewegung zu begünstigen.
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