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German Pages 103 [106] Year 2015
Jörg Wagenblast
Die Tübinger Militärpsychiatrie im Zweiten Weltkrieg Geschichte Franz Steiner Verlag
84 contubernium Tübinger Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte
Jörg Wagenblast Die Tübinger Militärpsychiatrie im Zweiten Weltkrieg
c o ntu be r n i u m Tübinger Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte
Herausgegeben von Jörg Baten, Ewald Frie, Sigrid Hirbodian, Andreas Holzem, Ulrich Köpf, Anton Schindling, Jan Thiessen und Urban Wiesing Band 84
Jörg Wagenblast
Die Tübinger Militärpsychiatrie im Zweiten Weltkrieg
Franz Steiner Verlag
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Bezirksärztekammer Nordwürttemberg
Umschlagabbildung: Stadtarchiv Tübingen, D 150/321-000N, Fotographie der Nervenklinik (1938) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2016 Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-11217-8 (Print) ISBN 978-3-515-11219-2 (E-Book)
F¨ur meine Eltern.
VORWORT 70 Jahre sind seit dem Ende des Nationalsozialismus vergangen. Bereits fr¨uh war nach dem Krieg die tiefe Verstrickung der Medizin als Bestandteil des sogenann¨ ¨ ten Dritten Reiches bekannt geworden. Arztinnen und Arzte waren in den verschiedensten Positionen wesentlicher Teil des NS-Systems und hatten sich grausamer Verbrechen schuldig gemacht, die mit den Dokumentationen des N¨urnberger ¨ Arzteprozesses durch A. Mitscherlich und F. Mielke bekannt geworden waren. Es dauerte dennoch viele Jahrzehnte, bis die historische Aufarbeitung der Medizin im Nationalsozialismus durch den Berliner Gesundheitstag 1980 angestoßen wurde. In den letzten 30 Jahren hat die medizinhistorische Forschung große Fortschritte gemacht und es existiert eine Vielzahl hervorragender Untersuchungen und Publikationen zu den verschiedensten Themen und Gesichtspunkten der Medizin im Nationalsozialismus. Die vorliegende Dissertation des T¨ubinger Arztes J¨org Wagenblast untersucht die Rolle der Milit¨arpsychiatrie in der nationalsozialistischen Kriegsmaschinerie. Psychiater behandelten und begutachteten Soldaten, die entgegen der herrschenden Lehrmeinung durch die Kriegserlebnisse psychiatrisch erkrankt waren. Sowohl die diagnostischen Kriterien wie auch die therapeutischen Methoden a¨ nderten sich im Verlaufe des Krieges, um Psychopathen“ wieder an der Front einsetzen zu k¨onnen. ” Anhand der vollst¨andigen Auswertung der Krankenakten des T¨ubinger Reservemilit¨arlazaretts stellt J¨org Wagenblast Diagnostik, Therapie und Begutachtungspraxis einer Universit¨atsklinik anschaulich dar und bringt sie u¨ ber die Einzelschicksale hinaus in einen systematischen medizinhistorischen Zusammenhang. Mit der Darstellung des konkreten Behandlungsalltages in der Milit¨arpsychiatrie vermag er einen wichtigen Beitrag zu der Frage zu leisten, inwieweit Psychiater im Dritten Reich ihre a¨ rztliche T¨atigkeit in den Dienst eines totalit¨aren Regimes stellten und an staatlichen sowie milit¨arischen Vorgaben ausrichteten. ¨ ¨ Heute ist Arztinnen und Arzten in Deutschland die sich aus der Geschichte ergebende Verpflichtung bewusst. Unsere Verantwortung besteht nicht nur in der Bewahrung des Wissens um die Verfehlungen, Umst¨ande und Verbrechen der Medizin im Nationalsozialismus. Vielmehr muss gerade angesichts der Vielzahl medizinischer Entwicklungen und der sich ergebenden medizinischen M¨oglichkeiten mit großer Aufmerksamkeit dar¨uber gewacht werden, gef¨ahrliche Entwicklungen und Tendenzen der heutigen Medizin zu erkennen. Schließlich wissen wir auch um die Aufgabe der Weitergabe dieses Wissens an die j¨ungeren Kolleginnen und Kollegen, die in der heutigen Zeit ihrer a¨ rztlichen T¨atigkeit nachgehen. Aus dem Bewusstsein um diese Verantwortung hat die Vertreterversammlung der Bezirks¨arztekammer ¨ Nordw¨urttemberg 2005 eine Arbeitsgruppe zum Umgang der Arztekammer mit dem Nationalsozialismus ins Leben gerufen und dar¨uber hinaus beschlossen, wissenschaftliche Arbeiten zu f¨ordern, welche sich im regionalen Rahmen mit der Medizin im Dritten Reich befassen.
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Vorwort
Die Bezirks¨arztekammer Nordw¨urttemberg unterst¨utzt und f¨ordert die vorlie¨ gende wichtige Arbeit von J¨org Wagenblast. Uber die wissenschaftliche medizinhistorische Erkenntnis hinaus tr¨agt die Dissertation dazu bei, aus dem Wissen u¨ ber die Historie wichtige Lehren f¨ur die heutige a¨ rztliche T¨atigkeit zu ziehen. In diesem Sinne sei dem Buch eine Verbreitung u¨ ber die historischen Fachkreise hinaus im Kreis der Kolleginnen und Kollegen wie auch des medizinischen Nachwuchses gew¨unscht, um einen Beitrag zum Erhalt eines Verst¨andnisses a¨ rztlicher T¨atigkeit zu leisten, die zu allererst dem Patientenwohl verpflichtet ist. Stuttgart, 23. Oktober 2015, Dr. med. Robin T. Maitra M.P.H. Arbeitsgruppe der Bezirks¨arztekammer Nordw¨urttemberg Umgang der ” ¨ Arztekammer mit dem Nationalsozialismus“
INHALT Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1. Die Lazarettabteilung der T¨ubinger Nervenklinik Hermann Hoffmann . . . . . . . . . . . . . . . Wilhelm Ederle . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang R¨udiger Krais . . . . . . . . . . . .
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¨ 2. Kriegstrauma: Atiologie und Diagnose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 3. Psychopathen“ vor dem Milit¨argericht ” Begutachtung bei Disziplinverst¨oßen . Simulation . . . . . . . . . . . . . . . Selbstverst¨ummelung . . . . . . . . . Kriegsdienstverweigerung . . . . . .
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4. Therapie und Disziplinierung: Die Behandlung im Lazarett Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schocktherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Suggestionstherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zusammenfassung und Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99
EINLEITUNG Als der Wehrmachtsoldat Georg B. am 10. September 1943 von seiner Truppe in das Reservelazarett II, Teillazarett Nervenklink“ in T¨ubingen eingewiesen wurde, ” konnte er dort gegen¨uber den Medizinern den eigentlichen Grund f¨ur seine Verlegung zun¨achst nicht artikulieren.1 Zwar versuchte er, sich durch Geb¨arde aus” ¨ zudr¨ucken“, und konnte so auch zu erkennen geben, dass er die Arzte verstand. Allerdings war es ihm unm¨oglich, auch nur ein Wort zu a¨ ußern. Abgesehen davon schien sich der Soldat in einem guten k¨orperlichen Zustand zu befinden. Der ¨ Untersuchungsbefund ergab keinerlei Auff¨alligkeiten, so dass die Arzte von der Verdachtsdiagnose psychogene Stummheit“ ausgingen und versuchten, ihn durch ” wiederholtes kr¨aftiges Elektrisieren“ zum Sprechen zu bringen. Vier Tage sp¨ater, ” nachdem sie zus¨atzlich durch hochdosierte Gabe des Kreislaufmedikaments Cardiazol einen Krampfanfall ausgel¨ost hatten, passierte, was die Mediziner bezweckt hatten: Der Soldat brach sein Schweigen. Nun konnte er in ganzen S¨atzen von den Ereignissen berichten, die zu seiner Lazarettaufnahme gef¨uhrt hatten. Georg B. schilderte, dass er vor der Einziehung zur Wehrmacht als Maschinist gearbeitet habe. Am 7. September 1943 sei er wie u¨ blich“ mit seiner Einheit mor” gens von seinem Standort im Wehrkreis V ausmarschiert. Nach etwa zweihundert Metern h¨atten sie den Befehl erhalten, anzuhalten. Ihr Truppenf¨uhrer habe B. und seinen Kameraden erkl¨art, dass sie an der Erschießung von drei M¨annern teilzu” nehmen h¨atten“: Angeblich handelte es sich dabei um Fahnenfl¨uchtige. W¨ahrend dieser Hinrichtung sei Georg B. zusammengebrochen. Seither habe er sich gravierend ver¨andert. Der Arzt fasste zusammen: B. ist seit dieser Zeit v¨ollig stumm, ” a¨ ngstlich und zeigt ein verst¨ortes Benehmen“. ¨ Trotz dieser Schilderung waren sich die Arzte in T¨ubingen unsicher, wie sie den Fall beurteilen sollten. Sie f¨uhrten weitere Elektroschocks durch und befragten den Patienten, der auch immer einen etwas a¨ ngstlich ratlosen Eindruck“ mach” te, noch eingehender zu seiner Vergangenheit. Dabei ergab sich, dass Georg B. bereits fr¨uher mit der Psychiatrie in Kontakt gekommen war. Damals sei er wegen Falschm¨unzerei zu zwei Jahren Gef¨angnis verurteilt worden. Bei der Urteilsverk¨undung habe er einen Schrecken bekommen, so dass pl¨otzlich die Sprache aus” setzte“. Die anschließende Strafhaft habe ihm dermaßen zugesetzt, dass er w¨ahrend dieser Zeit einen Selbstmordversuch ver¨ubte, infolge dessen er in die Heil- und Pfle¨ geanstalt Gießen u¨ berf¨uhrt wurde. Einen Antrag der dortigen Arzte auf Unfrucht” barmachung [...] wegen Schizophrenie oder psychogenen Reaktionen bei schwerer Psychopathie“ wies das zust¨andige Erbgesundheitsgericht im Juli 1935 ab — laut
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Zum Folgenden siehe die Unterlagen zu Georg B., Universit¨atsarchiv T¨ubingen (UAT) 669/41884. Die Namen s¨amtlicher in dieser Studie erw¨ahnten Patienten wurden anonymisiert.
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Einleitung
Gutachter lag bei B. keine Krankheit im Sinne des Gesetzes zur Verh¨utung erb” kranken Nachwuchses“ vor.2 Wie lange seine Stummheit damals angehalten hatte, geht aus der Akte nicht eindeutig hervor. Jedenfalls hatte B. zum Zeitpunkt dieser Begutachtung bereits die Sprache wiedergefunden, damals jedoch nicht durch Elektroschocks und medikament¨os ausgel¨oste Krampfanf¨alle, sondern als er sich er” schrocken“ habe. Er habe damals vom Hofe aus“ beobachtet, wie das zweij¨ahrige ” Kind seiner Schwester ins offene Fenster“ gestiegen sei, und ihm zugerufen, es ” solle sich wieder davon entfernen. ¨ Diese Vorgeschichte gab f¨ur die T¨ubinger Arzte bei der Beurteilung des Falles den Ausschlag: Es handele sich bei B. um eine hochgradige Psychopathie“, wes” halb er im Rahmen der Wehrmacht nicht zu gebrauchen“ sei. Es sei zu bef¨urchten, ” ” dass er bei der geringsten psychischen Alteration wieder a¨ hnliche Reaktionen zei¨ gen wird“. Damit war f¨ur die Arzte klar: Die Ursache f¨ur die Stummheit und den jetzigen Zustand des Soldaten lag nicht in dem Kriegsereignis, von dem B. berichtet hatte, sondern in der Konstitution“ des Soldaten. Konsequenterweise stellten ” sie keine Wehrdienstbesch¨adigung“ fest, und auch ein Antrag auf eine Kriegsrente ” wurde abgelehnt. Viele der in T¨ubingen behandelten Soldaten und Angeh¨orige der Wehrmacht wiesen a¨ hnliche Krankengeschichten wie Georg B. auf, bei denen Kriegserlebnisse eine wesentliche Rolle spielten. Was uns heute wie der klassische Fall einer psychi¨ schen Traumatisierung erscheint, war f¨ur die damaligen Arzte eindeutig Ausdruck einer mangelhaften Konstitution“ des Patienten. W¨ahrend die Frage nach der Ver” ursachung dieses Krankheitsbildes im Ersten Weltkrieg zur gr¨oßten Kontroverse innerhalb der deutschen Nervenheilkunde gef¨uhrt hatte,3 wurde sie im Zweiten Weltkrieg erst gar nicht gestellt: Laut historischer Forschung war es f¨ur die Psychiater im Zweiten Weltkrieg unvorstellbar, dass Kriegserlebnisse anhaltende St¨orungen und Krankheiten verursachen konnten.4 Dabei ist die historische Erforschung der a¨ tiologischen Konzepte der Milit¨arpsychiater im Zweiten Weltkrieg ein vergleichsweise junger Ansatz, der sich erst im letzten Jahrzehnt etabliert hat.5 Die Erforschung der milit¨arpsychiatrischen Behandlungs- und Begutachtungspraxis hingegen setzte bereits Anfang der 60er Jahre ein. Sie kann inzwischen selbst auf eine kleine Geschichte zur¨uckblicken, in der sich die Perspektive und das leitende Interesse an dem Thema mehrfach ge¨andert haben.
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Das Gesetz zur Verh¨utung erbkranken Nachwuchses“ trat am 1. Januar 1934 in Kraft und ” sah die Zwangssterilisierung von Patienten mit einer Reihe von Erkrankungen vor, f¨ur die eine erbliche“ Genese angenommen wurde. Siehe Reichsgesetzblatt I 1933, S. 529 ff. ” Lerner 1996, S. 95. Goltermann (2009), S. 189 f. Siehe etwa Kloocke, Ruth, Heinz-Peter Schmiedebach und Stefan Priebe (2005); Goltermann (2009), S. 165–190.
Forschungsstand
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FORSCHUNGSSTAND Lange Zeit ging die Besch¨aftigung mit der Milit¨arpsychiatrie im Zweiten Weltkrieg allein von den Protagonisten selbst aus. Eines der ersten Werke, das sich nach 1945 ausf¨uhrlicher damit auseinandersetzte, ist der 1961 erschienene Sammelband Psychiatrie der Gegenwart“ 6 . Darin berichteten einige Milit¨arpsychiater von ihren ” Erfahrungen, unter ihnen Joachim-Ernst Meyer. Meyer verglich die psychiatrische Symptomatik unter den deutschen Soldaten in den beiden Weltkriegen: Nachdem im Ersten Weltkrieg motorische Symptome wie etwa L¨ahmungen, absurde Haltungsst¨orungen und Bewegungsanomalien, außerdem Sprachst¨orungen, Blindheit und Taubheit u¨ berwogen h¨atten, habe sich ein Gestaltenwandel der Kriegsneurosen“ ” vollzogen.7 Denn im Zweiten Weltkrieg seien diese motorischen St¨orungen nur vereinzelt aufgetreten, hingegen h¨atten sich die funktionelle Organneurosen“ geh¨auft, ” also Symptome, die etwa das Herz oder den Verdauungstrakt betrafen.8 Kurt Kolle, Feldarzt der elften Armee und nach dem Krieg als Ordinarius in M¨unchen t¨atig, hatte ebenfalls psychiatrische Kriegserfahrungen gesammelt.9 Er kommentierte diesen vielfach beschriebenen Wechsel der Symptome zwischen den Kriegen folgendermaßen: W¨ahrend im Ersten Weltkrieg das Trommeln der eigenen Glieder“ gegen ” das Trommeln der Kanonen“ wirksam gewesen sei, seien hingegen im Zweiten ” Weltkrieg die in Obrigkeits-Gehorsam diszipliniert erzogenen Deutschen [...] auf ” Grund ihrer politischen Vergangenheit außerstande“ gewesen, sich zur rechten Zeit ” der Diktatur zu entledigen“. Das deutsche Volk, so der Verfasser, war ein willenlo” ses Werkzeug in der Hand der Machthaber. [...] Die st¨andige Bedrohung des nackten Lebens mit eingezogenem Kopf erwartend, fraßen die Deutschen ihren Schmerz, ihren Kummer in sich hinein — zeigen durften sie ihre Verzweiflung, ihren Ekel, ihr Grauen nicht“. Daraus erkl¨are sich auch die Unterschiedlichkeit, mit der sich die Kriegsneurose“ in den Armeen verschiedener Nationen manifestierte. Denn ” w¨ahrend in Deutschland, Russland und Japan ein autorit¨ares Staatssystem die Mentalit¨at geformt habe, h¨atten sich die Engl¨ander und Amerikaner in einem liberaleren Staatssystem erlauben d¨urfen, gegen Krieg und ehrenvollen Tod f¨urs Vaterland ” auch a¨ ußerlich zu revoltieren“. F¨ur die Therapie der Kriegsneurose“ sei unter an” derem die von den Engl¨andern bereits im Ersten Weltkrieg praktizierte frontnahe ” Behandlung“ kennzeichnend gewesen. Ferner seien bei der deutschen Wehrmacht meist Suggestivmethoden angewandt worden, jedoch habe man im Vergleich mit der Praxis des Ersten Weltkriegs ein psychologisch mehr differenziertes Vorge” hen“ bevorzugt, um eine Verletzung des Ehrgef¨uhls des neurotischen Soldaten zu ” vermeiden”.
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Gruhle, Hans Walter; Rudolf Jung; Willi Mayer–Gross (1961). Meyer (1961), S. 579 f sowie S. 610. Ebenda, S. 610. Zum Folgenden siehe Kolle (1961), S. 619–623.
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In einem weiteren Kapitel dieses Sammelbandes erl¨auterte G¨unter Els¨asser, ei¨ ner der prominentesten Arzte der deutschen Milit¨arpsychiatrie, diese Suggestivthe10 rapie ausf¨uhrlicher. Er hatte w¨ahrend des Zweiten Weltkrieges als Assistent in einem Reservelazarett in Ensen bei K¨oln gedient und dort Friedrich Panse bei der Entwicklung eines sp¨ater als Pansen“ bekannt gewordenen Verfahrens assistiert. ” ¨ Damit war die Ubertragung starker galvanischer Str¨ome, zwischen 40 und 100 mA, auf die Haut des Patienten gemeint, bei gleichzeitiger psychotherapeutischer Be” einflussung“ im Sinne der Suggestion einer Heilung. 1961 erl¨auterte Els¨asser die Behandlungspraxis in dem Ensener Lazarett. Dabei bem¨uhte er sich, diese Therapie trotz ihrer Nachteile in ein positives Licht zu r¨ucken. Zwar hatte er sich im Selbstversuch davon u¨ berzeugt, dass bei dieser Therapie, die zumeist gegen die W¨unsche ” des Patienten” angewandt wurde, der schmerzhafte Hautreiz wohl doch an erster ” Stelle steht”: ein den ganzen K¨orper aufw¨uhlendes Erlebnis”. Die Schmerzen hielt ” Els¨asser jedoch aufgrund der Effektivit¨at des Verfahrens f¨ur gerechtfertigt. Außerdem f¨uhrte der Autor einige Fallbeispiele an, die zeigen sollten, wie hilflos der ” Mensch oft genug dem Sog des Krankseins ausgeliefert war, wenn in der Kriegssituation der sekund¨are Krankheitsgewinn‘ einer Neurose lockte”11 . ’ Diese Position ehemaliger Milit¨arpsychiater, die ihre Maßnahmen retrospektiv als erfolgreich und moralisch unbedenklich darstellten, dominierte bis Anfang der achtziger Jahre das historische Bild. Ein Wandel setzte ein, als sich eine neue Generation von Medizinhistorikern diesem Thema n¨aherte. Hans-Ludwig Siemen war einer der ersten Historiker mit kritischem Blick auf die Verstrickung von Psychiatrie und Milit¨ar im Nationalsozialismus. Auf dem ersten Friedenskongress psy” chosozialer Berufe“ 1983 in Dortmund forderte er, durch eine kritische Betrachtung der Geschichte gef¨ahrliche Tendenzen innerhalb der Psychiatrie besser zu er” kennen, um ihnen wirksam widerstehen zu k¨onnen”12 . Die Mehrheit der deutschen Psychiater habe im Zweiten Weltkrieg stets ihr Bestes im Dienste des Vaterlandes” ” gegeben, und zum Schaden der Menschen, die sie h¨atten vor Schaden bewahren ” m¨ussen”, gehandelt.13 Siemen prangerte beispielhaft f¨ur die Brutalit¨at, mit der die Psychiater gegen jedwede menschliche Reaktion auf den Krieg”14 vorgegangen ” seien, die Verlegung von Kriegsneurotikern“ in Feldsonderabteilungen und Kon” zentrationslager an. Ein weiterer Historiker, der sich um eine kritische Aufarbeitung der Ereignisse bem¨uhte, war Karl-Heinz Roth. Ihm wurde als einem der ersten Forscher Zugang zu Dokumenten des Heeressanit¨atswesens der Wehrmacht gew¨ahrt, die seit
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Zum Folgenden: Els¨asser (1961), S. 625 f. Els¨asser (1961), S. 630. Siemen (1987), S. 267–272. Ebenda, S. 267. Ebenda, S. 280.
Forschungsstand
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Kriegsende das Bundesmilit¨ararchiv in Freiburg aufbewahrt.15 Erste Ergebnisse die¨ ser Einsichtsnahme ver¨offentlichte er auf dem Kongreß Arzte warnen vor dem ” 16 Atomkrieg“ im April 1984 in T¨ubingen. Auch Roth hob die Brutalit¨at der Milit¨arpsychiater des Zweiten Weltkrieges hervor: An Maßnahmen gegen Soldaten, die ihren Protest gegen die Schl¨achtereien durch Affektreaktionen wie Zittern, ” Sch¨utteln usw. zum Ausdruck brachten“, nannte er die Androhung von Hinrichtung, ¨ die Uberf¨ uhrung in Konzentrationslager sowie verschiedene Schockverfahren. Außerdem kritisierte er die personelle und konzeptionelle Kontinuit¨at der deutschen Psychiatrie des Zweiten Weltkrieges bis hinein in die Milit¨arpsychiatrie der Bundeswehr. Noch von einer anderen Seite ging in den achtziger Jahren eine kritische Erforschung der milt¨arpsychiatrischen Praxis aus: Die Rechtshistoriker Manfred Messerschmidt und Fritz W¨ullner legten 1987 eine umfassende und kritische Untersuchung der Wehrmachtsgerichtsbarkeit vor.17 Bis zu diesem Zeitpunkt stammten s¨amtliche Arbeiten u¨ ber den Justizapparat der Wehrmacht von Juristen der NS-Zeit selbst, die Messerschmidt und W¨ullner dem Typus der Rechtfertigungsschriften“ zuordne” ten.18 Sie widmeten einen großen Teil dieser Arbeit der Frage, wie die Wehrmachtsjustiz politische Tatbest¨ande wie Wehrkraftzersetzung und Fahnenflucht handhabte und mit sogenannten Minderwertigen, Psychopathen und Aufm¨upfigen verfuhr. Sie kamen dabei zu dem Ergebnis, dass sich Milit¨arjustiz und Milit¨arpsychiatrie in ge” meinsamer Bem¨uhung [...] zur Abwehr der von ihnen selbst erfundenen biologischpolitischen Gefahren f¨ur die Volksgemeinschaft“ getroffen hatten. Milit¨arjuristen wie Milit¨arpsychiater h¨atten sich mit ihrer Begutachtungs- und Gerichtspraxis, die u¨ ber 20 000 vollstreckte Todesurteile zur Folge hatte, reibungslos und tatkr¨aftig in die biologisch gew¨unschte Ausmerze-Strategie“ des Regimes eingereiht.19 ” Die ausf¨uhrlichste Auseinandersetzung mit der Kriegspsychiatrie nach 1933 stammt von dem Psychiater und Psychoanalytiker Peter Riedesser, der zu Beginn der siebziger Jahre den Kriegsdienst als Arzt verweigert hatte.20 In der Anerkennungsverhandlung kam er in Erkl¨arungsnot, da ihm entgegengehalten wurde, dass er als Arzt ja auch bei der Armee segensreich im Sinne des hippokratischen Ei” des wirken“ k¨onne. In der Folge besch¨aftigte er sich, gemeinsam mit dem Psychologen Axel Verderber, mit der Geschichte der Milit¨armedizin, insbesondere der Milit¨arpsychiatrie. Zun¨achst versuchten sie, herausfinden, welche Argumente die ” ¨ Arzte in der Geschichte vorgebracht hatten, um im Krieg nicht dazu missbraucht
15 Gemeint ist der Bestand BA-MA H 20. Auszugsweise sind die im Laufe des Krieges mehrmals abge¨anderten Richtlinien f¨ur die Beurteilung und Behandlung der Neurotiker und Psychopa” then“ aus diesem Bestand auch zu finden in Rolf Valentins Dokumentensammlung u¨ ber die Krankenbataillone der Wehrmacht: Valentin (1981), S. 125–145. 16 Roth (1984). 17 Messerschmidt und Fritz W¨ullner (1987). 18 Ebenda, S. 9. 19 Ebenda, S. 15 sowie S. 236. 20 Hierzu und zum Folgenden siehe Riedesser und Axel Verderber (1991), S. 70.
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werden zu k¨onnen, kranke oder verwundete Soldaten wieder bis zur erneuten Kriegsverwendungsf¨ahigkeit zu therapieren“ – eine Fragestellung, von der sie im Laufe ihrer Recherchen bald wieder abr¨uckten, da sie kaum auf derartige selbstkritische ¨ Stimmen innerhalb der Arzteschaft stießen.21 In einer Reihe von Arbeiten untersuchten die Autoren zun¨achst die Publikationen der Wehrmachtpsychiater, erhielten dann jedoch auch Zugang zu den Akten der Wehrmachtsanit¨atsinspektion. Ihre Forschung fassten sie in der 1996 erschienenen Arbeit Maschinengewehre hinter ” der Front“ zusammen, in der sie zu dem Ergebnis kamen, dass die moralischen Maßst¨abe im Dritten Reich weit u¨ ber das in anderen Armeen u¨ bliche Maß zuun” gunsten des Individuums Soldat verschoben“ wurden.22 Grund daf¨ur sei nicht nur die Inhumanit¨at dieses politischen Systems gewesen, sondern zu einem erheblichen ¨ Teil die v¨ollige [...] Identifikation eines großen Teils der Arzteschaft mit den Zie” len [...] der Nazidiktatur“. Das Urteil der Autoren fiel entsprechend vernichtend aus: Die Milit¨arpsychiater ließen sich nicht nur als willige Werkzeuge der milit¨arischen ” und politischen F¨uhrung des Kaiserreiches und der Nazidiktatur missbrauchen, sondern entwickelten aus eigenem Antrieb Methoden f¨ur die Zurichtung von Soldaten, welche aus dem Grauen des Krieges in psychische Krankheiten, Simulation und Aggravation fl¨uchteten, die man teilweise nur mit dem Wort Folter bezeichnen kann.“ 23 Außerdem kamen Riedesser und Verderber zu der Einsch¨atzung, dass von den Beteiligten des deutschen Sanit¨atswesens in den ersten Nachkriegsjahrzehnten und sp¨ater von bundeswehreigenen Publikationsorganen gezielt Darstellungen mit einer positiven Bewertung der Rolle der Milit¨armedizin allgemein und des Sa” nit¨atswesens der Naziwehrmacht im besonderen“ verbreitet wurden. Diese Darstel¨ lungen h¨atten jenen Konflikt ignoriert, der f¨ur Arzte entsteht, die in die milit¨arische Hierarchie einer kriegf¨uhrenden Regierung eingebundenen sind: Der Konflikt zwischen dem Wohl des individuellen Patienten und milit¨arischer Ratio. Seit den Achtzigern erschienen weitere Arbeiten, die die Dokumente der Wehrmachtsanit¨atsinspektion im Bundesmilit¨ararchiv in Freiburg erg¨anzend im Hinblick auf bestimmte Teilaspekte der Milit¨arpsychiatrie auswerteten,24 sowie eine F¨ulle an Studien, die auf dieser Forschung aufbauten, ohne den Aktenbestand direkt heranzuziehen.25 Hierunter fallen auch diejenigen Arbeiten, welche die Erforschung der a¨ tiologischen Konzepte der Milit¨arpsychiater zum Ziel hatten. Dabei wurde herausgearbeitet, wie die im Ersten Weltkrieg und danach entstandene Lehre, dass psychische Symptome von Soldaten keinesfalls durch Kriegserlebnisse hervorgerufen
21 Riedesser (1985), S. 7: Wir fanden lediglich als repr¨asentatives kritisches Zitat die ” Einsch¨atzung von Sigmund Freud (aus dem Jahre 1920)“. 22 Riedesser und Axel Verderber (1996), S. 8. Riedesser und Verderber hatten nicht nur die deutsche Milit¨arpsychiatrie in verschiedenen Kriegen untersucht, sondern auch Vergleiche zur Milit¨arpsychiatrie der USA gezogen. Siehe etwa Riedesser/Verderber (1985), S. 51–57. 23 Ebenda, S. 7 f. 24 Etwa Roth (1987); Hilpert (1995); Berger (1998). 25 Etwa Blaßneck (2000); Zimmermann, Peter, Karl-Heinz Biesold und Hans-Heiner Hahne (2005).
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werden k¨onnen, im Zweiten Weltkrieg dogmatisch umgesetzt wurde. Die herr” schende Lehre“ der Psychiater des Zweiten Weltkriegs deutete diese Symptome durchgehend als anlagebedingt“26 . ” Abgesehen von der deutschen Forschung h¨alt sich bis heute ein reges Inter¨ esse von amerikanischer Seite an diesem Thema. Die meisten Ubersichtsarbeiten amerikanischer Autoren zur Geschichte des Kriegstraumas beinhalten ein Kapitel zur deutschen Milit¨arpsychiatrie des Zweiten Weltkrieges.27 Dabei bestimmt der Vergleich der milit¨arpsychiatrischen Praxis der Streitkr¨afte der Alliierten und der Wehrmacht das Interesse. Analog zum deutschen Diskurs vollzog sich auch hier ein Wandel der Perspektive, wenn auch um einige Jahre verz¨ogert: Von einer Glorifizierung der Maßnahmen der deutschen Wehrmachtspsychiater als besonders erfolgreich hin zur Verurteilung der Brutalit¨at dieser Maßnahmen gegen¨uber dem einzelnen Soldaten.28 Bis zum Jahr 2001 st¨utzten sich s¨amtliche historische Darstellungen auf Richtlinien, wissenschaftliche Publikationen, Korrespondenz und Verlautbarungen der Wehrmachtspsychiater. Das Verdienst, als erster den Blick auf die konkrete a¨ rztliche Behandlung geworfen zu haben, kommt dem Politikwissenschaftler Roland M¨uller zu. In seiner Arbeit Wege zum Ruhm“ von 2001 analysierte er 700 Krankenakten ” von Soldaten, die w¨ahrend des Zweiten Weltkrieges in der Universit¨atsklinik Marburg und der o¨ rtlichen Landesheilanstalt behandelt wurden.29 Er stellte fest, dass die Wahl der Therapieform, mit der die Kriegsneurotiker“ behandelt wurden, von ” der Auspr¨agung der Renitenz abhing, mit der sie an ihren scheinbar psychogenen Symptomen festhielten. In aufsteigender Form kamen dabei Zureden, Verbalsuggestion, Androhung der Versetzung in eine Sonderabteilung, Wachsuggestion begleitet von elektrischen Stromschl¨agen und Isolationshaft im Dunkelzimmer zum Einsatz. Generell h¨atten die Psychiater die Soldaten unter Aggravationsverdacht“ ” ¨ gestellt. Außerdem deckte der Autor auf, dass die Marburger Arzte eine Zwei” Klassen-Medizin“ praktizierten: Je h¨oher der Rang der Soldaten, desto seltener kamen aversive therapeutische Maßnahmen zum Einsatz und desto seltener wurde ihnen Simulation unterstellt. ¨ Einen Uberblick u¨ ber die aktuelle Forschung zum Thema Krieg und Psychiatrie im Zeitraum 1914–1950 bietet ein 2010 erschienener Sammelband von Babette Quinkert, Philipp Rauh und Ulrike Winkler.30 Darin stellte Henning T¨ummers in einer Vorstudie zur vorliegenden Arbeit erste Hypothesen zur Milit¨arpsychiatrie in 26 Siehe Kloocke, Ruth, Heinz-Peter Schmiedebach und Stefan Priebe (2005); Goltermann (2009), S. 165–190. 27 Etwa Gabriel (1986); Shephard (2001). 28 Noch sehr unkritisch Gabriel (1986) auf S. 141 f: The widespread perception that the Wehr” macht did not suffer serious problems of soldier breakdown owing to battle stress can be successfully challenged. [. . . ] However, there can be little doubt that they did what we would now recognize as optimal.“ Zu einer kritischeren Sicht gelangte Shepard, der etwa die Elektrosuggestion Panses als unmenschliches Verfahren kritisierte, vgl. Shepard (2001), S. 309. 29 M¨uller (2001). 30 Quinkert/Rauh/Winkler (2010).
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Einleitung
T¨ubingen auf.31 T¨ummers wertete ein Sample von 40 zuf¨allig ausgew¨ahlten Krankenbl¨attern von Wehrmachtssoldaten aus, bei denen in der T¨ubinger Nervenklinik Psychopathie“ diagnostiziert wurde. Dabei kam er zu dem Ergebnis, dass die La” zarett¨arzte aufgrund des Desinteresses des Direktors der Klinik an den Zielen der Heeresleitung ausgedehnte Ermessensspielr¨aume“ besaßen, die sie sowohl bei der ” Begutachtung als auch bei der Behandlung der Wehrmachtssoldaten ausnutzten. Zum Teil h¨atten sie bemerkenswerte Toleranz gegen¨uber Gemeinschaftsfremden“ ” gezeigt und ein diszipliniertes Verhalten in der Lazarettabteilung als Maß f¨ur die Beurteilung der Soldaten herangezogen. Jedoch stieß der Verfasser auch auf F¨alle, ¨ in denen Arzte Soldaten mit der Behandlung mit Wechselstrom drohten sowie ihre Versetzung in Feldsonderabteilungen empfahlen, und stellte fest: Brutalit¨at war in ” T¨ubingen ein existentieller Bestandteil jener bitteren Medizin, mit der man meinte, die Psychopathen‘ im Zweiten Weltkrieg heilen zu k¨onnen.“ 32 ’ FRAGESTELLUNG, ERKENNTNISINTERESSE UND QUELLEN Rund 6 000 Soldaten und Angeh¨orige der Wehrmacht wurden in Lazarettabteilung der T¨ubinger Nervenklinik behandelt. Wie im Fall Georg B. wurden die T¨ubinger Psychiater regelm¨aßig mit F¨allen psychisch erkrankter Soldaten konfrontiert, in deren Krankengeschichten Kriegserlebnisse eine wesentliche Rolle spielten. Die vorliegende Arbeit will in Kapitel 2 untersuchen, wie die Mediziner auf diese Konfrontation reagierten, und ob sie im Laufe des Krieges von der Lehrmeinung der grenzenlosen Belastbarkeit der menschlichen Seele abr¨uckten. Die zweite Fragestellung betrifft die psychiatrisch-forensische Begutachtungspraxis im T¨ubinger Lazarett. Die milit¨argerichtliche Bewertung psychisch erkrankter Soldaten und die Abgrenzung dieser Krankheitsbilder von Simulation gewannen seit der Entstehung der Massenheere zunehmend an Bedeutung, und war sp¨atestens ab dem Ersten Weltkrieg ein zentraler Aspekt milit¨arpsychiatrischer T¨atigkeit.33 Die T¨ubinger Lazarett¨arzte unterzogen von 1939 bis 1943 insgesamt 81 Psychopathen“ ” einer forensisch-psychiatrischen Begutachtung, um zu kl¨aren, ob ihre Diagnose vermeintliche Simulation, Selbstverst¨ummelung und Disziplinverst¨oße exkulpierte. In Kapitel 3 soll durch Analyse dieser F¨alle gekl¨art werden, wie weit sie dabei den Vorgaben der Heeressanit¨atsinspektion folgten, die sich den politischen und milit¨arischen Zielen der NS-F¨uhrung untergeordnet hatte.34 Drittens soll in Kapitel 4 die konkrete Behandlungspraxis in einem Heimatlazarett der Wehrmacht skizziert werden. Dabei wird gefragt, inwiefern die Psychiater von der NS-Ideologie beeinflusst waren, die das individuelle Schicksal radikal den Zielen der Volksgemeinschaft“ unterordnete, wenn sie wie im Fall Georg B. ” 31 32 33 34
T¨ummers (2010). T¨ummers (2010), S. 128. Lengwiler (2000), S. 313. Zur Indoktrinierung des Heeressanit¨atswesens im Zweiten Weltkrieg siehe Neumann (2003), S. 380 f.
Fragestellung, Erkenntnisinteresse und Quellen
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Schockverfahren einsetzten, um Soldaten wieder einsatzf¨ahig f¨ur die Front zu machen. Es soll u¨ berpr¨uft werden, was von der f¨ur andere Standorte postulierten Grausamkeit der Milit¨arpsychiatrie des Zweiten Weltkrieges in den Akten des T¨ubinger Reservelazaretts nachweisbar ist. Diese Arbeit will damit einen Beitrag zur Erforschung der Medizin im Natio¨ nalsozialismus leisten, indem sie der entscheidenden Frage“ nachgeht, wie Arzte ” im Spannungsfeld zwischen a¨ rztlicher und milit¨arischer R¨ason unter den Bedin” gungen einer menschenfeindlichen Diktatur und des von ihr entfesselten Vernichtungskrieges“ agierten.35 W¨ahrend die bisherige Forschung versuchte, diese Frage anhand von Publikationen, Verlautbarungen und der Korrespondenz der f¨uhrenden Milit¨arpsychiater zu beantworten, soll hier der konkrete Behandlungsalltag in einem Reservelazarett einer Universit¨atsklinik nachgezeichnet werden.36 Deshalb wurden zur Beantwortung dieser Fragen als Quellenmaterial die Krankenakten aus dem Reservelazarett II, Teillazarett Nervenklinik“ herangezogen, die ” im Archiv der Universit¨at T¨ubingen (UAT) aufbewahrt werden. Es handelt sich dabei um eine Sammlung von Dokumenten, deren Umfang von halbseitigen Befundscheinen bis zu mehreren Dutzend Seiten starken Aktenb¨uscheln reicht, die Kran¨ kengeschichte, Untersuchungsbefunde, Verlaufb¨ogen, Korrespondenz der Arzte (und Patienten) mit Angeh¨origen, Truppen¨arzten und Gerichten sowie Durchschl¨age von milit¨argerichtlichen Gutachten beinhalten. Diese Krankenbl¨atter sind alphabetisch geordnet lose in 34 Schatullen verstaut. Der Gesamtumfang des Materials betr¨agt etwa drei laufende Meter. Eine Sichtung des Aktenbestandes (UAT 699/41386–42508 f¨ur die Soldaten mit Nachname A–E, UAT 333 f¨ur die Soldaten mit Nachname F–Z) ergab, dass rund 6 000 Soldaten dort behandelt wurden. Aus dem kompletten Spektrum von Krankheitsbildern der damaligen Neurologie und Psychiatrie werden diejenigen Diagnosen untersucht, die zur Beantwortung der oben genannten Fragen relevant sind. Die zeitgen¨ossische Literatur sowie eine Durchsicht des kompletten Aktenbestandes zeigt, dass dies f¨ur Diagnosen Psycho” pathie“, psychogene Reaktion“ und Neurasthenie“ zutrifft, die in T¨ubingen bei ” ” insgesamt 316 Soldaten und Angeh¨origen der Wehrmacht gestellt wurden.37 Bei den Falldarstellungen wurden die Krankenakten diplomatisch getreu zitiert. Offensichtliche Rechtschreib- und Interpunktionsfehler wurden stillschweigend verbessert beziehungsweise behutsam der heutigen Schreibweise angeglichen.
35 J¨utte/Eckart/Schmuhl/S¨uß (2011), Kapitel Medizin im Krieg“, S. 195. ” 36 Ausnahmen bilden M¨uller (2001) und T¨ummers (2010), deren Arbeiten sich ebenfalls auf die Auswertung von Krankenakten st¨utzen. 37 Zur Begr¨undung dieser Auswahl siehe Kapitel 2.
¨ 1. DIE LAZARETTABTEILUNG DER TUBINGER NERVENKLINIK Vom 7. September 1939 bis zum 11. Mai 1945 wurden im Reserve Lazarett II, Teil” lazarett Nervenklinik“ in T¨ubingen etwa 6 000 Soldaten und Angeh¨orige der Wehrmacht behandelt. In den Reservelazaretten des Heimatsgebiets wurden einerseits die Soldaten der Reserve behandelt, andererseits Soldaten des Feldheeres, bei denen die Behandlung in Feldlazaretten im Operationsgebiet oder in Kriegslazaretten im außerdeutschen Gebiet nicht ausreichte.1 Genaue Daten u¨ ber die Errichtung der Lazarettabteilung liegen weder im Archiv der Universit¨at T¨ubingen noch im Stadtarchiv vor. Es kann angenommen werden, dass die Abteilung in einem gesonderten Bereich im Geb¨aude der T¨ubinger Nervenklinik untergebracht war. So konstatierte 1954 Konrad Ernst, ein T¨ubinger Psychiater, in einer Rede u¨ ber die Geschichte der T¨ubinger Nervenklinik: Schon wurde von einer Serie von Klinikneubauten auf dem Schnarrenberg gesprochen, von denen als dritte die Nervenklinik rangieren sollte. Dann kam der Zweite Krieg und mit ihm ein wesentliches Zusammenschmelzen des Personals und die Hereinnahme einer Lazarettabteilung, die von Ederle geleitet wurde. Sp¨ater wurden draußen in der Stadt Speziallazarette errichtet: f¨ur Kopfschussverletzte unter Thiel, f¨ur Nervenschussverletzte unter Hirschmann. [...] Ederle f¨uhrte die Klinik weiter. Die Endzeit des Krieges brachte auch f¨ur sie, ihre Kranken und besonders ihr Personal schwere Belastungen. Wer den Ausbau des Stollens 22 m[eter] unter der Klinik, die t¨aglichen und n¨achtlichen Alarme, die m¨uhsamen Transporte der Kranken hinunter und wieder hinauf, die u¨ berf¨ullten Vorlesungen mit ihren Unterbrechungen, die Examina in der Tiefe eine Zeitlang mitgemacht hat, wird das nicht vergessen. Ende Februar 1945 u¨ bernahm Villinger, aus Breslau vertrieben, aus meiner Hand die Klinik.2
Auch in einem Zeugnis des Klinikleiters Werner Villinger vom 8. M¨arz 1946 u¨ ber einen Assistenten der Klinik, Wolfgang Krais, findet sich ein Hinweis darauf, dass das Lazarett in den R¨aumlichkeiten der Klinik untergebracht war: Die enge o¨ rtliche ” Verflechtung zwischen Lazarettabteilung und Klinik brachte es mit sich, dass er auch in dieser Zeit engen Kontakt mit der Klinik behielt, Gutachten erstellte und zu besonderen therapeutischen Aufgaben auf der Zivilabteilung herangezogen wurde.“ 3 1 2
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Blaßneck (2000), S. 56 f. Siehe UAT 444/80, Briefwechsel Ederle-Ernst, sowie UAT 444/12, Rede Konrad Ernsts u¨ ber die T¨ubinger Nervenklinik, hier S. 30. Konrad Ernst (1903–1997) war von 1936 bis 1947 an der T¨ubinger Nervenklinik t¨atig. W¨ahrend des Zweiten Weltkrieges wurde er als Leiter einer Lazarettabteilung in Prag und zuletzt als Oberstabsarzt im Felde eingesetzt. Er stand mit Wilhelm Ederle, dem Leiter der T¨ubinger Lazarettabteilung, in intensivem Kontakt. Siehe UAT 444, Irmela Bauer–Kl¨oden: Lebenslauf Konrad Ernst. T¨ubingen, 2003. UAT 308/3368, Personalakte Wolfgang R¨udiger Krais, Zeugnis Villingers u¨ ber Krais vom 8. M¨arz 1946.
Hermann Hoffmann
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Das Personal der Lazarettabteilung setzte sich aus einem Oberarzt der Klinik als ¨ Abteilungsleiter und einem Assistenten zusammen. Uber die l¨angste Zeit des Krieges waren dies der Oberarzt Wilhelm Ederle und sein Assistent Wolfgang R¨udiger Krais. Hin und wieder hielt das Lazarettpersonal R¨ucksprache mit dem jeweiligen Direktor der Klinik. Diese Position bekleidete Hermann Hoffmann bis zu seinem Tod im Juni 1944, beziehungsweise, als er bis Oktober 1941 beim Feldheer eingesetzt wurde, sein Vertreter Engelhardt. Bis Mai 1941 wurden die Namen und Unterschriften von Chefarzt“, Oberarzt und Abteilungsleiter“ sowie Assistenz” ” ” arzt“ konsequent in den Behandlungsb¨ogen dokumentiert, danach sind die Angaben sp¨arlicher vorhanden. Dennoch l¨asst sich das Mosaik durch biographische Daten der ¨ Arzte vervollst¨andigen.
HERMANN HOFFMANN ALS BERATENDER PSYCHIATER“ ” Der Direktor der T¨ubinger Nervenklinik, Hermann Hoffmann, war im August 1939 zur Wehrmacht eingezogen worden und kam zun¨achst beim Feldheer in Frankreich sowie in Russland zum Einsatz, bis er im Oktober 1941 krankheitsbedingt in die Heimat zur¨uckkehrte.4 Fortan war er in T¨ubingen t¨atig, allerdings war er auch in dieser Zeit kaum in den Betrieb der Lazarettabteilung involviert. Ab Oktober 1941 bis zu seinem Tod im Juni 1944 findet sich nur selten seine Unterschrift unter den Akten, und in vereinzelten F¨allen kam es vor, dass Hoffmann milit¨argerichtliche Gutachten anfertigte oder dass der Abteilungsleiter, Wilhelm Ederle, R¨ucksprache mit ihm hielt. Dies ist allerdings aus zwei Gr¨unden nicht u¨ berraschend. Erstens hatte Hoffmann bereits zuvor die klinische T¨atigkeit aus Zeitgr¨unden weitgehend delegiert. So schrieb er am 30. November 1937 an das Kultusministerium in Stuttgart: Die rein klinische Arbeit muss ich [...] weitgehend meinem Oberarzt und ” meinem Assistenten u¨ berlassen“ 5 . Zweitens hatte Hoffmann trotz seiner Position im milit¨arischen Bereich grunds¨atzlich keine großen Ambitionen, wie seine Korrespondenz zeigt. Hoffmann war, wie viele Ordinarien der Universit¨atsnervenkliniken der 17 Wehrkreise, mit der Einziehung zur Wehrmacht von Otto Wuth, dem Leiter der Abteilung f¨ur Wehrpsychiatrie und Wehrpsychologie bei der Milit¨ar¨arztlichen ” Akademie“ in Berlin, zum Beratenden Psychiater“ rekrutiert worden. Damit war er ” Teil einer Institution, die 1937 im Rahmen der Wiederaufr¨ustung und in Vorbereitung auf einen sich abzeichnenden Krieg von der Heeressanit¨atsf¨uhrung ins Leben gerufen worden war.6 Die Entstehung der Institution der Beratenden Psychiater“ l¨asst sich nur vor ” dem Hintergrund des damaligen Expertendiskurses um das Thema Psychiatrie und ” 4
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UAT 308/92, Hermann Hoffmann: Vierteljahresberichte vom 5. November 1941 bis zum 29. September 1943, hier Bericht vom 26. Oktober 1941. Grundlegend zu Hoffmann siehe Leonhardt (1996), hier S. 123. UAT 155/3630, Assistentenakte Krais, Hoffmanns Schreiben an das Kultusministerium Stuttgart, 30. November 1937, T¨ubingen. Riedesser (1996), S. 102.
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Die Lazarettabteilung
Krieg“ verstehen. F¨ur die Elite der deutschen Milit¨arpsychiater, die gr¨oßtenteils bereits im Ersten Weltkrieg t¨atig gewesen und konservativ deutsch-national eingestellt waren,7 stand fest, dass die deutsche Niederlage im Weltkriege“ vor allem auf eine ” Ursache zur¨uckzuf¨uhren war: Die be¨angstigende F¨ulle“ psychisch auff¨allig gewor” 8 dener Soldaten. Im Vorfeld eines sich abzeichnenden Zukunftskrieges“ konzen” trierten sie sich nun darauf, L¨osungen f¨ur dieses Psychopathenproblem“ zu finden. ” Dies war auch das zentrale Thema der Tagung der Milit¨ar¨arztlichen Gesell” schaft M¨unchen“, die am 2. November 1937 stattfand.9 Eine L¨osung f¨ur das Psy” chopathenproblem“, so betonten die Diskussionsteilnehmer, war nicht nur f¨ur die ” Truppe selbst“, sondern auch f¨ur unseren Staat und f¨ur den Schutz und die Er” haltung unseres Volkes [Hervorh. i. Original]“ von gr¨oßter Wichtigkeit. Denn viel gravierender als der Ausfall der Soldaten an der Front sei die zersetzende Wir” kung“, die der linke Fl¨ugel der Psychopathen“ in der Heimat entfalten k¨onne. Dort ” h¨atten sich diese gef¨ahrlichen Elemente“ im vergangenen Krieg teils heimlich, ” ” teils offen als Hetzer und Aufr¨uhrer“ bet¨atigt und durch die Verbreitung feindlicher ” Propaganda“ den Sieg der deutschen Streitkr¨afte unterminiert sowie die Revoluti” on von 1918“ herbeigef¨uhrt. Dieser bequeme Erkl¨arungsansatz, den Hans Ludwig Siemen 1987 treffend als psychiatrische Variante der Dolchstoßlegende“ bezeich” nete,10 war in der fachinternen Diskussion allgemein etabliert und von f¨uhrenden deutschen Psychiatern bereits 1919 aufgestellt worden.11 Aus der Pr¨amisse der Psychopathen als revolution¨are F¨uhrer“ ergaben sich nun ” ¨ auch die L¨osungen, die die Arzte f¨ur das Psychopathenproblem“ bereithielten: Sie ” propagierten die frontnahe Behandlung der Psychopathen“, um diese gef¨ahrlichen ” ” St¨orungselemente“ auf jeden Fall von der Heimat fernzuhalten. Was die Therapie anging, waren sich die Experten einig, das Psychopathenproblem“ nicht ohne die ” entsprechende H¨arte“ l¨osen zu k¨onnen. Mitleid mit den Psychopathen“ sei un” ” angebracht, vielmehr m¨usse man zerbrechen lassen, was zerbrechen muss“ 12 . Zur ” ¨ Umsetzung dieser Pl¨ane schien die Fr¨uherkennung“, Uberwachung“ und Siche” ” ” rung“ der Psychopathen“ essentiell. Die organisatorische Struktur, die daf¨ur not” wendig war, wurde noch vor Kriegsbeginn mit der Rekrutierung der Beratenden ” Psychiater“ geschaffen. Die herangezogenen Ordinarien aus den 17 Wehrkreisen sollten mit ihrer Fachkompetenz den Armee¨arzten des Feldheeres sowie den Wehrkreis¨arzten in der Heimat zur Seite stehen, wenn bei der Erkennung und Therapie psychiatrisch erkrankter Soldaten schwierige Entscheidungen zu treffen waren.13 Weiterhin waren sie ¨ als Gutachter bei den Kriegsgerichten t¨atig, insbesondere bei der Uberpr¨ ufung der 7 8 9 10 11 12 13
Berger (1998), S. 57. Weber (1939), S. 1305. Zum Folgenden siehe: Bericht u¨ ber die Tagung der Milit¨ar¨arztlichen Gesellschaft M¨unchen (1938). Siemen (1987), S. 38. Siehe etwa Kahn (1919). Bericht u¨ ber die Tagung der Milit¨ar¨arztlichen Gesellschaft M¨unchen (1938), S. 35. Zu den Aufgaben der Beratenden Psychiater“ siehe Berger (1998), S. 41–43. ”
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Zurechnungsf¨ahigkeit der Delinquenten. Der Hauptzweck dieser Institution war, ein national koordiniertes Vorgehen und auf den Verlauf des Krieges abgestimmtes Vorgehen der Milit¨arpsychiater zu garantieren. Daf¨ur sollten die Beratenden“ ” einerseits in ihrem Wehrkreis beziehungsweise bei der Armee f¨ur eine einheitliche Praxis sorgen, andererseits hatten sie regelm¨aßig Berichte u¨ ber den seelischen ” Zustand der Truppe“ zu verfassen, die an die Heeressanit¨atsinspektion zusammenflossen. Die Institution der Beratenden Psychiater“ war somit ein wichtiger Schritt ” f¨ur die deutsche Psychiatrie bei der Umsetzung der Lehren, die sie aus dem Ersten Weltkrieg gezogen hatte. Hermann Hoffmann hatte also nach seiner R¨uckkehr aus Smolensk im Oktober 1941 regelm¨aßig Erfahrungsberichte u¨ ber den Zustand der Psychiatrischen Versorgung im Wehrkreis V“ zu verfassen, der die damaligen L¨ander W¨urttemberg und ” ¨ Baden sowie die Provinz Hohenzollern umfasste.14 Uber den Aufenthalt an der Ostfront a¨ ußerte er sich im Bericht an Otto Wuth und den Heeressanit¨atsinspekteur derart entt¨auscht, dass er in der Literatur als ein untypischer Beratender Psychiater“ ” gilt, dem das Milit¨arische g¨anzlich zuwider war:15 Es hat sich nicht gelohnt, f¨ur die Bew¨altigung der mir zugefallenen Aufgaben einen Ordinarius f¨ur Psychiatrie aus seinem Arbeitskreis der Lehre und Forschung herauszureißen. [...] In den Feldlazaretten fand sich f¨ur den beratenden Psychiater keine nennenswerte Arbeit vor, da die einschl¨agigen F¨alle jeweils umgehend den Kriegslazaretten u¨ berwiesen wurden. [...] Der Einsatz eines Universit¨atsprofessors und Klinikdirektors, der in der Heimat bitter fehlt, war unn¨otig.16
In der Folge bestimmte eine latente Spannung den weiteren Briefwechsel mit Otto Wuth, der als Kontaktperson beim Heeressanit¨atsinspekteur den Beratenden ” Psychiatern“ zwar nicht vorgesetzt war, aber u¨ ber eine eindeutige Machtposition verf¨ugte. Diese Spannung entlud sich etwa in einem Zwist dar¨uber, ob die Bezeichnung Beratender Psychiater“ oder Beratender Neurologe“ in Hoffmanns Brief” ” kopf angemessen sei.17 Auch die Tagungen der Beratenden Psychiater“, an de” nen Hoffmann teilnehmen musste, waren seiner Einsch¨atzung nach fruchtlos“. ” Auf diesen w¨urde Sinnvolles und noch mehr Unsinn geredet“, und er beklagte: ” Ein Diskussionsergebnis kommt so gut wie niemals zustande.“ 18 Fortan fertigte ” Hoffmann pflichtgem¨aß die Viertelj¨ahrlichen Erfahrungsberichte“ u¨ ber die milit¨ar” psychiatrische Lage in seinem Wehrkreis an. Abgesehen von einer H¨aufung von ” Schreckreaktionen“ im Herbst 1942 berichtete er von einer konstant geringen Anzahl von Kriegsneurosen“, was er als politisches Wahrzeichen des unbeirrbaren ” ” k¨ampferischen v¨olkischen Geistes, von dem jeder vern¨unftige Deutsche durchdrungen ist“ deutete.19 14 15 16 17
Berger (1998), S. 31. Leonhardt (1996), S. 124; Berger (1998), S. 271. UAT 308/92, Hoffmann an Wuth, 26. Oktober 1941. Zur Bedeutung der Position des Beratenden Psychiaters beim Heeressanit¨atsinspekteur“ siehe ” Berger (1998), S. 50–53. Zur Auseinandersetzung bez¨uglich Hoffmanns Briefkopfes siehe UAT 308/92, Wuth an Hoffmann am 16. April 1942, sowie Hoffmanns Antwort vom 21. April 1942. 18 UAT 308/93, Hoffmanns Nachtrag zum Erfahrungsbericht vom 5. November 1941, o.D. 19 UAT 308/93, Hoffmanns Erfahrungsberichte erstes und drittes Quartal 1942, o.D.
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Die Lazarettabteilung
¨ Uber die politische Gesinnung Hoffmanns, der am 1. Mai 1933 der NSDAP beigetreten war und der sich, wahrscheinlich Ende 1939, als Rektor in SA-Uniform“ ” portr¨atieren ließ, res¨umierte Hoffmanns Biograph Martin Leonhardt 1996: So be” deutend aber u[nseres] E[rachtens] die Tragweite der psychologischen und materiellen Motive f¨ur Hoffmanns NSDAP–Beitritt auch eingesch¨atzt werden muß, so ist damit doch sein weiteres Engagement, ja, seine zeitweise Identifikation mit der Sache des Nationalsozialismus nicht hinreichend gekl¨art.“ 20 In der Tat gab es ¨ inhaltliche Ubereinstimmungen zwischen Hoffmanns wissenschaftlichem Denken und der nationalsozialistischen Ideologie, sozialdarwinistische Vorstellungen finden sich in vielen seiner Arbeiten. Die f¨ur den milit¨arpsychiatrischen Bereich so relevanten Psychopathen“ teilte er in zwei Gruppen ein, von denen die einen zwar ” mit sich selbst zu k¨ampfen und schwer zu ringen haben“, aber dennoch in ihrer ” ” Leistungsf¨ahigkeit auf die Dauer nicht beeintr¨achtigt“ seien und vielleicht gerade aufgrund der Feinheit und Differenziertheit ihres Empfindungslebens wertvolle ” sch¨opferische Qualit¨aten“ bes¨aßen.21 Deren Erbgut“ zu verschleudern k¨onne sich ” kein Kulturvolk leisten“. Anders urteilte er u¨ ber die sozial anr¨uchigen Psychopa” ” then“, deren einzige Leistung darin best¨unde, der Gemeinschaft“ zur Last zu fallen ”¨ – diese sollten ausgemerzt“ werden. Aufgabe der Arzte sei es, alles daranzusetzen, ” um zu verhindern, daß sie geboren werden“, womit Hoffmann die Zwangssterili” sierung bef¨urwortete. WILHELM EDERLE Hoffmann war also aus verschiedenen Gr¨unden zumindest in die klinische Arbeit in der Lazarettabteilung kaum involviert. Viel pr¨asenter war hier der Abteilungsleiter Wilhelm Ederle, ein Oberarzt der T¨ubinger Nervenklinik, dessen Unterschrift sich im Zeitraum von September 1939 bis Oktober 1944 regelm¨aßig unter den Krankenakten findet. Ederle war seit 1936 an der Universit¨atsnervenklinik T¨ubingen t¨atig.22 Am 8. November 1901 als Sohn eines Landwirtes in Bissingen an der Teck geboren, hatte er in Esslingen die Reifepr¨ufung abgelegt. Im Anschluss studierte Ederle zun¨achst Physik und Mathematik in T¨ubingen und Kiel. Nach sechs Semestern wechselte er zum Medizinstudium, das er mit 27 Jahren abschloss. Nach seiner Zeit als Medizinalassistent war er an der Universit¨ats-Nervenklinik Gießen zu wissenschaftlichem Ansehen gelangt f¨ur die Einf¨uhrung der Insulinschocktherapie der Schizophrenie in Deutschland.23 1936 holte Hoffmann Ederle wieder zur¨uck nach T¨ubingen. Hier war er zun¨achst als Assistent und dann als Oberarzt an der Nervenklinik t¨atig. Nach Kriegsbeginn leitete Ederle hier die Lazarettabteilung, nach dem Tod Hoffmanns im Juni 1944 u¨ bernahm er zus¨atzlich stellvertretend die Leitung der Klinik. Im Januar 1945 wurde er schließlich als Beratender Psychiater“ zum ” 20 Leonhardt und Foerster (1996), S. 950. 21 Hoffmann (1934), S. 205 f. 22 Zum Folgenden siehe UAT 126a/90, Personalakte Wilhelm Ederle, hier Ederles selbstverfasster Lebenslauf, 5. M¨arz 1951, Weissenau. 23 Braun (2010), S. 70 f.
Wilhelm Ederle
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Feldheer versetzt. In der bisherigen Forschung ist zu Ederles T¨atigkeit im kriegspsychiatrischen Bereich nichts bekannt. Im November 1939 hatte er eine Lehrprobe zum Thema Wehrmedizinische Aufgaben der Psychiatrie“ abgehalten, das Manu” skript ist allerdings nicht u¨ berliefert.24 Seine wissenschaftlichen Arbeiten, in denen er sich mit somatischen Aspekten der Psychiatrie auseinandersetzte, waren ohne Bedeutung f¨ur die Behandlung oder Begutachtung der Psychopathen“. ” Ederle war 1933 der SA beigetreten, 1937 folgte dann der Eintritt in den Reichsdozentenbund, und im Mai 1938 schließlich der Beitritt zur NSDAP.25 Als Hoffmann am 22. Juni 1939 vom Dekan der medizinischen Fakult¨at forderte, Ederles Arbeit u¨ ber Somatische St¨orungen bei schizophrenen Erkrankungen“ als Habili” tationsschrift anzunehmen, betonte er, Ederle habe nicht nur hervorragende Qualit¨aten auf dem neurologisch-psychiatrischem Gebiet bewiesen, sondern sei auch in charakterlicher und politischer Beziehung als durchaus positiv zu bewerten“. ” Insbesondere geh¨ore Ederle zu denen, die das Wesen der nationalsozialistischen ” Weltanschauung gr¨undlich erfasst haben“ 26 . Es u¨ berrascht nicht, dass Ederle wenige Jahre sp¨ater nach der deutschen Kapitulation im Rahmen des Entnazifizierungsverfahrens Angaben machte, die seinen Beitritt zu den Organen des Nationalsozialismus relativieren sollten. So sei er aufgrund bekannter nazifeindlicher Haltung 1933 besonders gef¨ahrdet“ gewesen, und ” dem Assistentensturm der SA an der Universit¨at T¨ubingen“ nur beigetreten, um ” politischen Schwierigkeiten“ zu entgehen. Letztendlich habe er wertvolle Jah” ” re“ in seiner wissenschaftlichen Laufbahn durch den Nationalsozialismus verlo” ren“ 27 . Der ehemalige T4“-Gutachter Werner Villinger28 versicherte 1951, als er ” sich f¨ur die Ernennung Ederles zum außerplanm¨aßigen Professor einsetzte: Dem jungen Ederle habe seine ausgesprochen [...] sozialistische[...] Gesinnung“ im We” ge gestanden, der er w¨ahrend der ganzen Zeit des Dritten Reiches innerlich treu ” geblieben“ sei.29 Es ist tats¨achlich fraglich, ob Ederle der u¨ berzeugte Nationalsozialist“ war, ” als den Hoffmann ihn ausgegeben hatte. Eine sozialistische Gesinnung des Arztes b¨auerlicher Herkunft ist zwar wenig wahrscheinlich, aber nicht auszuschließen, und der Inhalt von Ederles Publikationen best¨atigt, was er selbst auf dem Fragebogen der franz¨osischen Milit¨arregierung u¨ ber seine Aktivit¨aten w¨ahrend der NS-Zeit unter dem Punkt Schriftwerke und Reden“ angab: Keine Reden oder ” ” 24 UAT 126a/90. Dekan der medizinischen medizinische Fakult¨at an den Rektor der Universit¨at T¨ubingen, 25. November 1939. 25 UAT 126a/90, Stammliste des Karl Wilhelm Ederle, T¨ubingen, 23. April 1936; Schreiben Ederles an die Pressestelle der Universit¨at T¨ubingen, 11. Februar 1940. 26 UAT 125/159, Nr. 22, Hoffmann an den Dekan der Medizinischen Fakult¨at, T¨ubingen, 22. Juni 1939. 27 UAT 155/752, Wilhelm Ederle, Beilage zum Fragebogen der Milit¨arregierung (Gouvernement Militaire en Allemagne) u¨ ber Mitgliedschaft in der NSDAP und nationalsozialistischen Organen, T¨ubingen, 8. Juni 1946. 28 Klee (2003), S. 641. Villinger leitete nach dem Krieg die T¨ubinger Nervenklinik. 29 UAT 126a/90, Villinger an den Dekan der Medizinischen Fakult¨at T¨ubingen (Prof. Rebel), Marburg, 17. M¨arz 1951.
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Die Lazarettabteilung
Ver¨offentlichungen. Nur wissenschaftliche Arbeiten unpolitischen Inhalts“30 . Die wissenschaftlichen Arbeiten, die Ederle im Zeitraum von 1935 bis 1943 verfasst hatte, setzten sich tats¨achlich mit bemerkenswert unpolitischen Themen auseinander. Meist untersuchte er f¨ur die Psychiatrie relevante internistische Fragestellungen, ideologische Erg¨usse, wie sie f¨ur medizinische Publikationen dieser Zeit kennzeichnend waren, finden sich hier nicht.31 Gleichwohl w¨are eine Aufnahme in die NSDAP mit bekannter nazifeindlicher Haltung“ nicht m¨oglich gewesen. Soll” te Ederle tats¨achlich eine grunds¨atzlich mit dem Nationalsozialismus unvereinbare Haltung gehabt haben, so hatte er sie mit seinem Eintritt in die SA und sp¨ater in die NSDAP zu sehr kompromittiert, als dass er nach Kriegsende seine akademische Karriere h¨atte ungebrochen fortsetzen k¨onnen.32
¨ WOLFGANG RUDIGER KRAIS Ederles Assistent Wolfgang R¨udiger Krais scheint vornehmlich f¨ur den Einsatz in der Lazarettabteilung angestellt worden zu sein. Krais hatte erst zwei Jahre zuvor in T¨ubingen die Medizinalpraktikantenzeit abgeschlossen und nahm mit 27 Jahren die Arbeit im Lazarett als Unterarzt und Sanit¨atsoffizier auf.33 1938 hatte er u¨ ber Das Verhalten des Blut- und Liquorzuckers im Adrenalinversuch bei Nerven- und ” Geisteskrankheiten“ promoviert, ansonsten sind keine wissenschaftlichen Arbeiten vorhanden.34 Allerdings l¨asst sich auch ohne Einblick in sein wissenschaftliches Weltbild vermuten, dass er dem Nationalsozialismus mindestens so nahe stand wie Wilhelm Ederle: Wie Ederle war Krais im Mai 1933 der SA beigetreten, zudem engagierte er sich im Nationalsozialistischen Kraftfahrerkorps (NSKK). Dass sich dies f¨ur seine Karriere an der Klinik keineswegs nachteilig auswirkte, l¨asst eine Nachricht vom NSKK an die T¨ubinger Dozentenschaft vermuten: [Krais] setzt sich voll ” und ganz f¨ur das NSKK ein, seine F¨uhrung und sein dienstlicher Einsatz ist ausge35 zeichnet“ . Schließlich fiel sein politisches Wohlverhalten auch ins Gewicht, als er f¨ur die Besetzung einer Hilfsarztstelle 1937 ausgew¨ahlt wurde.36 Im Mai 1937 beantragte er dann die NSDAP-Mitgliedschaft.37 Relevant ist f¨ur diese Untersuchung zudem Krais’ famili¨arer Hintergrund, der eine lange milit¨arische Tradition aufwies: 30 UAT 155/752, Fragebogen, T¨ubingen, 7. Juni 1946. 31 Siehe etwa Ederle (1935), Ederle (1941), Ederle (1943). 32 UAT 125/159, Nr. 22, Schreiben von Villinger an den Dekan der medizinischen Fakult¨at (Stock), T¨ubingen, 19. M¨arz 1946. 33 UAT 155/3630, Ederle u¨ ber Krais in einem Schreiben an Villinger, 8. M¨arz 1946. 34 UAT 308/3368, Vermerk, o.O., o.D. 35 UAT 155/3630, NSKK Motorsturm 47/M55 (unleserlich) an die Dozentenschaft der Universit¨at T¨ubingen, T¨ubingen, o.D. 36 UAT 155/3630, Der Leiter der Dozentenschaft (Schwenk) an den Rektor der Universit¨at T¨ubingen, 3. M¨arz 1937. 37 UAT 155/3630, Formular Anzeige u¨ ber meine Zugeh¨origkeit u. T¨atigkeit in der NSDAP, ihren ” Gliederungen usw.“, T¨ubingen, 10. Mai 1938.
Wolfgang R¨udiger Krais
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Sein Vater war Major gewesen, und sein Großvater hatte es bis zum Generalleutnant gebracht.38 ¨ Abgesehen von Hoffmann, Ederle und Krais waren noch weitere Arzte in der Lazarettabteilung t¨atig. Bis Ende 1940 finden sich, wenn auch nur vereinzelt, die Unterschriften von Hilfsarzt San. Uffz. Schneider“, Hilfsarzt Fehringer“, Abtei” ” ” lungsarzt Oberstabsarzt Bauer“, Abteilungsarzt John“, Abteilungsarzt Stabsarzt ” ” G¨otz“ und Chefarzt Engelhardt“ in den Akten. Ab November 1944, wenige Mo” nate nach dem Tod Hoffmanns, unterschrieb Dr. Gundert“ die Akten, der schließ” lich nach Ederles Versetzung zum Feldheer die Leitung u¨ ber die Abteilung bis zum Kriegsende u¨ bernahm.39 Da zu diesen Personen im Archiv der Universit¨at T¨ubingen keine Personalakten vorliegen, ist davon auszugehen, dass es sich um von der Wehr¨ macht eingezogene Arzte handelte, die auf der Abteilung eingesetzt wurden, aber nicht an der Universit¨atsklinik angestellt waren.
38 UAT 155/3630, Nachweis arischer Abstammung Krais’, o.D. 39 Wahrscheinlich handelte es sich um den Psychoanalytiker Hermann Gundert, der sp¨ater in Stuttgart die Akademie f¨ur Tiefenpsychologie und Psychoanalyse“ mitbegr¨unden sollte. Siehe auch ” Seite 74.
¨ 2. KRIEGSTRAUMA: ATIOLOGIE UND DIAGNOSE Der 21-j¨ahrige Kanonier Heinrich H. berichtete bei seiner Lazarettaufnahme am 19. Februar 1942, dass er bis zu seinem Einsatz im Osten nie krank gewesen sei.1 Im Feld sei er schließlich am 1. Juli 1941 durch einen Streifschuss im Stirnbereich verletzt worden, und daraufhin bewusstlos geworden. Nach anschließender Behandlung in einem r¨uckw¨artigen Lazarett habe er zun¨achst wieder gesund und ” beschwerdefrei“ seinen Dienst geleistet, schließlich jedoch im September 1941 unter dem Einfluss eines starken Fliegerangriffs einen Nervenzusammenbruch“ erlit” ¨ ten. An Einzelheiten, so erkl¨arte H. den Arzten in T¨ubingen, k¨onne er sich nicht mehr erinnern. Im Anschluss daran habe er zwar Genesungsurlaub bekommen, aus dem er aber bald zur¨uckgerufen wurde. Zur¨uck an der Front sei es anf¨anglich ganz ” gut gegangen“. Als er dann allerdings im Januar 1942 einem erneuten Luftangriff ausgesetzt war, nahmen erneut seine Angstgef¨uhle und allgemeine Nervosit¨at“ so” wie die stete Bereitschaft zu Schreckreaktionen“ derart u¨ berhand, dass er seinem ” Dienst nicht weiter nachkommen konnte. Nachdem die k¨orperlich-neurologische Untersuchung keinen auff¨alligen Befund ergeben hatte, befragten die Lazarett¨arzte H. nach der vermeintlichen Ursache seines Leidens. Er gab an, er habe einen Nervenzusammenbruch infolge eines ¨ ” im entsprechenden Feld der KranBombeneinschlags“ erlitten, was von den Arzten kenakte notiert wurde. Die Schilderung des Soldaten sowie der unauff¨allige Untersuchungsbefund ließ die Lazarett¨arzte jedoch offenbar zu einem anderen Schluss kommen, denn in das Feld f¨ur die a¨ rztliche Feststellung u¨ ber die Krankheitsursa” che“ trugen sie lediglich Konstitutionelle Reaktionsbereitschaft“ ein, als vorl¨aufige ” Krankheitsbezeichnung wurde Neigung zu psychogenen Reaktionen“ vermerkt, ” bevor H. in ein anderes Lazarett weiterverlegt wurde. Was sich heute wie ein typischer Fall psychischer Traumatisierung liest, wom¨oglich gar an die Anfang der 1980er Jahre eingef¨uhrte Diagnose posttraumatische Belastungsst¨orung denken l¨asst,2 ging f¨ur die Psychiater im Zweiten Weltkrieg eindeutig auf die Neigung“ des Soldaten zur¨uck. Tats¨achlich unterlag das Konzept der ” psychischen Traumatisierung im Laufe der Geschichte einem regen Wandel. Der Begriff des Traumas fand erstmals im Zusammenhang mit den Opfern von Eisenbahnunf¨allen im Vokabular von Neurologen und Psychiater Verwendung.3 Denn mit der Expansion eines Eisenbahnverkehrsnetzes im 19. Jahrhundert, zun¨achst in Großbritannien und Nordamerika, bald darauf auch in Frankreich und Deutschland, nahm auch die Zahl der Opfer von Zugungl¨ucken zu. Dabei fanden sich unter ihnen jedoch nicht nur gew¨ohnliche Verletzungen, sondern auch ein betr¨achtlicher Teil von Opfern, die eine Vielzahl von Symptomen aufwiesen, ohne dass eine offensichtliche k¨orperliche Verletzung vorlag. 1 2 3
UAT 333/H–Hen, Heinrich H. Zur Entstehungsgeschichte der Diagnose PTSD“ siehe etwa Lerner/Micale (2001), S. 1–27. ” Hierzu siehe Lerner (2003), S. 23–27.
¨ Kriegstrauma: Atiologie und Diagnose
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Zun¨achst hatten die Mediziner noch k¨orperliche Ursachen f¨ur dieses neuartige Krankheitsbild angenommen. So vermutete der englische Chirurg John Eric Erichsen in seinem Werk On railway and other injuries of the nervous system 1866 hinter Symptomen wie Bl¨asse, Ged¨achtnisst¨orungen, geistige Verwirrung, Schlafst¨orungen, Kopfschmerzen, Seh- und H¨orst¨orungen, die im Anschluss oder auch in einigem zeitlichen Abstand zum Unfallgeschehen aufgetreten waren, durch Ersch¨utterung hervorgerufene entz¨undliche Reaktionen des R¨uckenmarks.4 Eine greifbare pathologisch-anatomische Grundlage des Krankheitsbildes konnte allerdings nicht gefunden werden, und ab den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts etablierte sich der Ansatz, das Krankheitsbild als rein funktionelle“ Erkrankung ” aufzufassen.5 Die Frage, inwiefern dabei, wenn auch keine makro- und mikroskopisch nachweisbaren k¨orperliche Ver¨anderungen, eventuell molekulare Umlage” rungen“ eine Rolle spielten, wurde zwar nicht als gekl¨art angesehen, trat jedoch ¨ gegen¨uber anderen Uberlegungen bald in den Hintergrund.6 Viel wichtiger schien nun die Frage, ob die prim¨are Ursache f¨ur diese Symptome im traumatischen“ ” ¨ Ereignis oder im Patienten zu suchen war. F¨ur diesen Interessenwandel der Arzte gaben weniger medizinische als außerwissenschaftliche Faktoren den Anstoß. In Deutschland sicherte das Haftpflichtgesetz von 1871, und insbesondere das im Zuge von Bismarks Sozialgesetzgebung 1884 verabschiedete Unfallversicherungsgesetz dem Patienten eine Entsch¨adigung durch diejenige Partei, die f¨ur den Unfall haftete – etwa Bahngesellschaften und Arbeitgeber – wenn ein kausaler Zusammenhang zwischen seinem Zustand und dem Trauma“ gegeben schien.7 Vor al” lem der Neurologe Hermann Oppenheim betonte die Bedeutung des traumatischen Ereignisses als kausalen Faktor f¨ur die traumatische Neurose“. Demgegen¨uber sa” hen viele Nerven¨arzte die Gefahr, dass dieses nur schwer fassbare Krankheitsbild Simulanten allzu leicht zu Entsch¨adigungszahlungen oder einer Rente verhelfen k¨onnte. Immer mehr setzte sich außerdem die Auffassung durch, dass auch unbewusste W¨unsche nach Entsch¨adigungen den Heilungsprozess nicht nur verlangsamen, sondern den Zustand des Patienten u¨ berhaupt erst verursachen konnten. Aus dieser Sicht ließ sich die traumatische Neurose“ als ein Artefakt der Entsch¨adig” ungspflicht des Unfallverursachers auffassen.8 Der Wandel des medizinischen Konzepts schlug sich auch im Vokabular nieder; die traumatische Neurose“ war zur ” Rentenhysterie“ geworden.9 ” Diese Debatte spitzte sich zu, als das Ph¨anomen mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs eine ganz neue Dimension angenommen hatte. Denn als sich das bis zu diesem Zeitpunkt ungekannte Zerst¨orungspotential moderner Zivilisation in den 4 5 6 7 8 9
Erichsen (1866), S. 47 f. sowie S. 98–102. Grundlegend zur Geschichte der traumatischen Neu” rose“ siehe Fischer-Homberger (1975), hier S. 16–22. Fischer-Homberger (1975), S. 23–26 sowie 29–34. Ebenda, S. 33 f. Zur Geschichte des psychischen Traumas im versicherungsrechtlichen Kontext siehe Hirschm¨uller (2002), hier S. 74 f. Fischer-Homberger (1975), S. 57 f. Hirschm¨uller (2002), S. 83.
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¨ Kriegstrauma: Atiologie und Diagnose
Materialschlachten und Stellungskriegen an der Westfront entfaltete, brach dort ein neuartiges Krankheitsbild epidemieartig aus: Eine Vielzahl von Soldaten reagierten auf Versch¨uttungen im Sch¨utzengraben, Trommelfeuer und Granatexplosionen mit Zittern, bizarren Bewegungsst¨orungen, L¨ahmungen, Blind- und Taubheit und brachen psychisch zusammen, ohne dass sich organische Befunde feststellen ließen.10 Auf dem Milit¨arpsychiatrischen Kongress in M¨unchen im September 1916 wurde die Frage nach der Ursache dieser Kriegshysterie“ zugunsten einer rein funk” tionellen, also rein psychisch vermittelten Verursachung entschieden.11 Hermann Oppenheims Theorie der traumatischen Neurose“, die dem traumatischen Erleb” nis f¨ur die Entwicklung der St¨orung wesentliche Wirkung zuschrieb, wurde fast einstimmig abgelehnt, was zugleich den Blick auf die Konstitution“ des Patienten ” lenkte. Es setzte sich die Meinung durch, dass bei den Betroffenen die Bedingun” gen ihres Erkrankens in erster Linie in ihnen selber lagen“ 12 , das heißt, dass ein durch konstitutionelle Minderwertigkeit“ bedingter schwacher Wille die Voraus” setzung f¨ur die Entwicklung der Kriegshysterie“ sei. Der unterstellte mangelnde ” Wille zum Kriegseinsatz f¨ur das Kaiserreich leistete einer zunehmenden politischen Aufladung der Diagnose Vorschub. Der Kriegshysteriker“ wurde als unpatriotisch, ” staatsfeindlich und parasit¨ar stigmatisiert.13 Nach dem Krieg sollte sich die Auffassung der Kriegsneurose“ als reine Mani” festation konstitutioneller Minderwertigkeit“ weiter festigen. Dies hatte einerseits ” bereits im vorigen Kapitel erw¨ahnte politische Gr¨unde: Die mehrheitlich deutschnational gesinnten Nerven¨arzte, die der Demokratie der Weimarer Republik gegen¨uber kritisch eingestellt waren, sahen eine große Schnittmenge zwischen den sozialistischen Akteuren der Novemberrevolution und Kriegsneurotikern“, denen sie un” terstellten, den Sieg der deutschen Streitkr¨afte unterminiert zu haben.14 Viele der neuropsychiatrischen Ver¨offentlichungen aus der Zwischenkriegszeit erwecken vor allem den Anschein einer Psychopathologisierung des politischen Gegners.15 Andererseits wurde die These von der prim¨ar konstitutionellen Verursachung der Kriegshysterie“ gefestigt durch die Bef¨urchtung, bald einer Flutwelle von Ren” tenforderungen gegen¨uberzustehen. Dabei stimmten die Interessen von Versicherungstr¨agern und entsch¨adigungspflichtigen Institutionen mit der herrschenden Leh” re“ der Neuropsychiater u¨ berein. Karl Bonhoeffer res¨umierte u¨ ber die Beurteilung, Begutachtung und Rechtsprechung bei den sogenannten Unfallneurosen am 7. Dezember 1925: Ich w¨urde deshalb keine sachlichen, klinischen oder sozialen Beden” ken sehen, einer gesetzlichen Bestimmung des Inhalts zuzustimmen, daß in F¨allen, 10 11 12 13 14 15
Lerner (2003), S. 54. Lerner (1997), S. 21. Robert Gaupp auf derselben Tagung, Gaupp (1916), S. 369 (Herv. i. Original). Lerner (1996), S. 104-107. Zu dieser psychiatrischen Variante der Dolchstoßlegende“ siehe auch Seite 22. ” Siehe etwa Kraepelin (1919), S. 176: Die Berechtigung, die blinden Aufwallungen der Volk” seele bei politischen Umw¨alzungen mit ihrem r¨ucksichtslosen W¨uten gegen alles Bestehende und gegen das eigene Wohl mit hysterischen Entladungen zu vergleichen, wird kaum bezweifelt werden k¨onnen.“
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in denen das dem Arzte sich darbietende Bild sich lediglich in hysterischen Symptomen darstellt, Rentenanspr¨uche abzulehnen sind.“ Bonhoeffer hoffte, mit diesen Bestimmungen die sogenannte traumatische Neurose endg¨ultig zu begraben“ 16 . ” Die Auffassung, dass Kriegserfahrungen unm¨oglich lange andauernde psychische Sch¨aden bei den Soldaten hervorrufen k¨onnen, festigte sich nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten noch weiter und war zu Beginn des Zweiten Weltkrieges zum Paradigma geworden. Eine Stellungnahme des G¨ottinger Ordinarius f¨ur Psychiatrie Gustav St¨orring u¨ ber die psychopathologischen Erfahrungen im ” Weltkriege und im jetzigen Krieg und ihre Ursachen“ brachte die vorherrschende ¨ Denkweise auf den Punkt: Der unter Laien, aber damals auch noch unter Arzten ” weit verbreitete a¨ tiologische Aberglaube, daß infolge derartiger schwerer Erlebnisse geistige St¨orungen von Krankheitswert hervorgerufen werden k¨onnten, war [...] ein f¨ur allemal widerlegt.“ 17 Tats¨achlich tauchen Diagnosen, die einen kausalen Zusammenhang zwischen Kriegsgeschehen und Zustand des Soldaten implizierten, wie die im Ersten Weltkrieg entstandenen Begriffe Kriegsneurose“, Kriegstrauma“ und Kriegszitterer“, ” ” ” in den Akten des T¨ubinger Reservelazaretts nicht auf. Der Grund hierf¨ur sind nicht zuletzt die Erlasse des Oberkommandos der Wehrmacht, die den Milit¨arpsychiatern vorschrieben, diese Begriffe als Diagnosen und im Schriftwechsel zu vermeiden.18 Es sollte damit im verwendeten Vokabular deutlich gemacht werden, dass die Ursache f¨ur die Zust¨ande nicht im Krieg, sondern in der Konstitution der Soldaten zu suchen sei. Wie aus der bereits erw¨ahnten Diskussion auf der Milit¨ar¨arztlichen Tagung in M¨unchen 1938 hervorgeht, war Psychopathie“ die g¨angige Diagnose f¨ur die psy” chisch auff¨allig gewordenen Soldaten. Dabei orientierte man sich an den Konzepten Kurt Schneiders, der die Psychopathen“ bereits 1923 definiert hatte als solche ab” ” normen Pers¨onlichkeiten, die an ihrer Abnormit¨at leiden, oder unter deren Abnormit¨at die Gesellschaft leidet“.19 Auch Hermann Hoffmann orientierte sich mit seiner Definition der sozial anr¨uchigen Psychopathen“, deren einzige Leistung“ darin ” ” bestehe, der Gemeinschaft zur Last zu fallen, an Schneiders Psychopathologie.20 Die Diagnose Psychopathie“ wurde in T¨ubingen in 233 F¨allen gestellt. Mit der ” Psychopathie“ eng verkn¨upft ist der Begriff psychogene Reaktion“, der einerseits ” ” als Diagnose synonym mit Psychopathie“ gebraucht wurde, andererseits als Be” zeichnung f¨ur die Symptome der Psychopathen“ verwendet wurde.21 In T¨ubingen ” wurde dieser Begriff in 47 F¨allen im Diagnosefeld verwendet. Außerdem wurde in
16 17 18 19
Bonhoeffer (1926), S. 12 St¨orring (1942), S. 25. Roth (1987), S. 68. Bericht u¨ ber die Tagung der Milit¨ar¨arztlichen Gesellschaft in M¨unchen (1937), S. 33; Schneider (1923), S. 16. 20 Hoffmann (1934), S. 205 f. 21 Bericht der Milit¨ar¨arztlichen Tagung in M¨unchen (1938), S. 33.
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¨ Kriegstrauma: Atiologie und Diagnose
drei F¨allen die Diagnose Psychasthenie“ gestellt, die w¨ahrend des Zweiten Welt” kriegs synonym mit asthenische Psychopathie“ gebraucht wurde.22 Diese drei Sol” daten werden im Folgenden zu den Psychopathen“ gez¨ahlt. ” Eine weitere f¨ur das Thema Krieg und Psychiatrie relevante Diagnose war Neur” asthenie“, die in ihren Implikationen weniger stigmatisierend zu sein schien als die politisch negativ besetzte Diagnose Psychopathie“. Der ehemalige Direktor der ” T¨ubinger Nervenklinik Robert Gaupp schrieb ein Jahr nach Kriegsbeginn: Un” ter Neurasthenie verstehe ich die durch chronische Erm¨udung und Ersch¨opfung bedingten leiblichen und seelischen Symptome bei einem fr¨uher ganz gesunden Nervensystem. Wir trennen heute diese Neurasthenie grunds¨atzlich von den angeborenen konstitutionellen Abweichung auf dem Grenzgebiet zwischen Gesundheit und Krankheit [...] als Folge k¨orperlicher und seelischer Ersch¨opfung des fr¨uher nervengesunden und r¨ustigen Mannes.“ 23 Die Diagnose Neurasthenie“ wurde in ” T¨ubingen bei 33 Angeh¨origen der Wehrmacht gestellt. ¨ Zur Beantwortung der Frage, wie sich die Arzte des T¨ubinger Reservelazaretts zur Doktrin der unbegrenzten Belastbarkeit der menschlichen Seele verhielten, sind drei Parameter der Krankenakten von Relevanz. Erstens weist ein Großteil der Akten im Anamnesebogen das Feld angebliche Ursache“ auf, in dem die Angaben des ” Patienten u¨ ber die Ursache f¨ur die Einweisung beziehungsweise f¨ur deren Zustand ¨ vermerkt wurden. Daneben findet sich ein Feld f¨ur die Arztliche Feststellung u¨ ber ” die Ursache“. Der dritte Parameter ist die Angabe zur Wehrdienstbesch¨adigung“: ” Die Psychiater hatten zu u¨ berpr¨ufen, ob eine kausale Verbindung zwischen dem Milit¨ardienst und der Erkrankung des Patienten bestand. Da sich die Akten stark in Form, Umfang und Vollst¨andigkeit unterscheiden, weist nur ein Teil davon explizite Angaben des Patienten zur Ursache auf. Insgesamt liegen in 155 F¨allen Angaben vor, also etwa bei der H¨alfte der untersuchten Krankenakten. Tabelle 2.1 gibt eine Einteilung der Ursachen an, die die Soldaten f¨ur ihr Leiden angaben. In 28 F¨allen, in denen das Feld zur angeblichen Ursache“ vorhanden war, f¨uhrten ” die Soldaten den Grund f¨ur ihre Einweisung direkt auf den Einsatz im Krieg zur¨uck. Wie bereits erw¨ahnt, ist dieses Feld nicht in jeder Akte ausgef¨ullt oder vorhanden. Der Fokus l¨asst sich erweitern, indem man auch Angaben der Eigenanamnese miteinbezieht, also der Schilderung des Krankheitsverlaufs aus Sicht des Patienten. Auch hier finden sich plastische Schilderungen von Kriegserlebnissen, die aus Sicht 22 H. Kind: Eintrag Psychasthenie“ in: M¨uller (1973), S. 394. ” 23 Gaupp (1940), S. 363 f. Auch wenn in den Lexika der ersten H¨alfte des 20. Jahrhunderts h¨aufig unterschieden wurde zwischen konstitutioneller und erworbener Neurasthenie (etwa bei Jaspers 1923, S. 391 f.), so ist die Verwendung des Begriffs als Erkrankung mit exogenen Ursachen und in Abgrenzung gegen¨uber konstitutionellen Erkrankungen im milit¨arpsychiatrischen Kontext doch konsistent. Siehe etwa auch Oswald Bumkes Lehrbuch der Geisteskrankheiten von 1942, S. 296: Der Weltkrieg hat uns gelehrt, daß die meisten Gesunden sehr starke k¨orperliche und ” seelische Anstrengungen ertragen, ohne neurasthenisch zu werden. Auf der anderen Seite sind in der gleichen Zeit viele Leute unter neurasthenischen Symptomen erkrankt, die die Front u¨ berhaupt nicht zu Gesicht bekommen haben. Man k¨onnte also folgern, daß f¨ur diese Symptome u¨ berhaupt nur konstitutionelle und niemals erworbene Ursachen in Betracht k¨amen, und daß neben der angeborenen Nervosit¨at f¨ur die Neurasthenie kein Raum mehr bliebe“.
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Krankheitsursache laut Patient Anzahl der F¨alle Unbekannt“ 30 ” Kriegserlebnis 28 Konstitution 20 ¨ Uberarbeitung 17 Unfall 13 Konflikt mit Kameraden / Vorgesetzten 10 Identifizierte organische Ursache 9 Sonstige 28 Tabelle 2.1: Angaben der Patienten zur Krankheitsursache. Unter Unfall“ wurden diejeni” gen Unf¨alle zusammengefasst, die nicht mit einem Kriegserlebnis assoziiert waren (haupts¨achlich aus der Zeit vor Kriegsbeginn). Unter Konstitution“ fallen Angaben, ” die eine Vererbung implizieren (etwa habe sein Leiden von der Mutter geerbt“, Willi B., ” UAT 669/41773) oder die Konstitution des Patienten betreffen (etwa Angeborene Ner” ¨ ¨ venschw¨ache“, Julius H., UAT 333/Hep–Hy). Mit Uberarbeitung“ sind Uberarbeitung ” ¨ und Uberanstrengung bei T¨atigkeiten gemeint, die nicht direkt mit dem Kriegsgeschehen an der Front assoziiert waren (etwa Johannes B., als K¨uchenoffizier eingeteilt, siehe UAT 333, Ki–Koo; Otto M., als Hilfsarzt in einem Lazarett t¨atig, siehe UAT 333, Mes– Mutz.
¨ des Patienten die Beschwerden verursacht hatten, ohne dass dies von den Arzten explizit im entsprechenden Feld notiert wurde. Ein Beispiel f¨ur einen solchen Fall ist Karl J., der am 4. April 1941 zum Ma” schinengewehr Ersatz-Bataillon 4“ nach Horb eingezogen wurde.24 Infolge seines Herzfehlers habe er zun¨achst nur teilweise am Außendienst teilnehmen k¨onnen, sei sp¨ater dann jedoch dennoch ins Feld abgestellt worden“ und bei der Feldgendar” merie an der Ostfront zum Einsatz gekommen. Was er dort erlebt hatte, hatte ihn ¨ tief ersch¨uttert, wie aus dem Bericht der Arzte hervorgeht: In Russland nahm er teil an Partisanenk¨ampfen und musste an vielen Massenerschießungen teilnehmen. Dabei erlitt er einen Nervenzusammenbruch. Er lag eine viertel Stunde bewusstlos und konnte seit dieser Zeit keine Waffe mehr sehen, geschweige denn handhaben. Auch bekam er seit dieser Zeit o¨ fters heftige Weinkr¨ampfe, und er gibt an, seitdem immer das Gef¨uhl zu haben, als ob er sterben m¨usse. Am 28. Februar 1942 kam er wieder zur¨uck nach Horb und wurde vom Truppenarzt hierher zur Beobachtung geschickt.
24 Zum Folgenden siehe UAT 333, I–Ke, Karl J.
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Der Patient wurde u¨ ber lange Zeit, insgesamt 50 Tage, im Lazarett beobachtet. Am 3. Mai 1942, nachdem bereits ein Monat seit der Einweisung vergangen war, thematisierte der Arzt in einer Nachexploration erneut die Erlebnisse an der Front. Dabei wird deutlich, wie evident f¨ur den Patienten der kausale Zusammenhang zwischen den Erlebnissen und seinem Zittern, seinen pl¨otzlichen Weinkr¨ampfen und seiner immer wiederkehrenden Sterbensangst“ war: ” Er schildert, wie er unter dem Einruck von Erschießungen von Partisanen, an denen er teilnehmen musste, einen Nervenschock‘ bekommen habe. Es sei ihm nachher gesagt ’ worden, er habe gebr¨ullt wie ein Tier. Er selbst habe nur eine ganz undeutliche Erinnerung an diesen Zustand. Jetzt noch bekomme er t¨aglich, namentlich auch nachts Angstzust¨ande, wenn er an diese Erlebnisse denke. Immer noch sehe er deutlich den Blick eines Flintenweibs auf ihn gerichtet usw.
In vielen F¨allen schilderten Soldaten wie Karl J. das Kriegsgeschehen als wesent¨ lichen Teil der Krankheitsentstehung, ohne dass von den Arzten eine kausale Verbindung attestiert wurde. Teilweise verwies die Anamnese auch nur vage auf das Kriegsgeschehen, mit Bemerkungen wie anstrengender Einsatz im Osten“,25 die ” offen lassen, ob der Patient ein konkretes Kriegserlebnis oder andere Umst¨ande als Ursache f¨ur sein Leiden betrachtete. Neben dem Feld f¨ur die Angaben des Patienten findet sich ein weiteres Feld f¨ur ¨ die Arztliche Feststellung u¨ ber die Ursache“. Allerdings wurden hier selten An” gaben gemacht, und in nur drei F¨allen findet sich eine Best¨atigung von a¨ rztlicher Seite, dass die Krankheitsursache tats¨achlich das Kriegsgeschehen war. Meistens ¨ jedoch verwiesen die Arzte auf den abschließenden Bericht. Hier findet sich dann ¨ tats¨achlich mit großer Verl¨asslichkeit eine aussagekr¨aftige Einsch¨atzung der Arzte u¨ ber die Krankheitsursache, n¨amlich die Best¨atigung oder die Verneinung des Sachverhaltes der Wehrdienstbesch¨adigung (WDB). Dieser Parameter hatte f¨ur den betroffenen Soldaten hohe Bedeutung, da er ein relevanter Faktor f¨ur die Entscheidung war, ob Anspruch auf eine Kriegsrente bestand. Interessanterweise best¨atigten sie in nur drei der 28 F¨alle, bei denen das Kriegsgeschehen als angebliche Ur” sache“ vermerkt war, das Vorliegen einer Wehrdienstbesch¨adigung. Im gesamten ausgew¨ahlten Kollektiv kam es bei 22 Soldaten zu WDB–Best¨atigungen. Gesamtzahl Psychopathie psychogene Reaktion Neurasthenie Insgesamt
236 47 33 316
F¨alle mit Best¨atigung 4 (2%) 5 (11%) 13 (40%) 22 (7%)
WDB–
Tabelle 2.2: H¨aufigkeit von Wehrdienstbesch¨adigung bei verschiedenen Diagnosen
¨ Tabelle 2.2 zeigt, dass die T¨ubinger Arzte das Vorliegen von Wehrdienstbesch¨adigung f¨ur die verschiedenen Diagnosegruppen unterschiedlich oft best¨atigten. Dabei 25 Siehe UAT 333, Scherr–Schn, Walter S.
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war der Anteil von Best¨atigungen von WDB unter den Neurasthenie“-F¨allen am ” h¨ochsten (40%), bei der psychogenen Reaktion“ sehr viel geringer, und bei den ” Psychopathen“ verschwindend gering (2%). Dies l¨asst sich mit dem Gebrauch die” ser Diagnosen in der zeitgen¨ossischen Literatur in Einklang bringen. Denn per Definition machte sich bei den Psychopathen“ nicht die sch¨adigende Wirkung der ” Kriegserlebnisse bemerkbar, sondern die psychopathische Konstitution“, die in ” ” ihrem Tr¨ager latent schlummer[t]e“ 26 . Ebenso l¨asst sich der betr¨achtlich h¨ohere Anteil der WDB-Best¨atigungen in der Diagnosegruppe Neurasthenie“ (40%) aus ” der damals vorherrschenden Lehre zum Thema Krieg und Psychiatrie“ heraus er” kl¨aren. Wie bereits erl¨autert, verstanden die Psychiater unter Neurasthenie“ durch ” a¨ ußere Ursachen hervorgerufene nerv¨ose Beschwerden in einem konstitutionell gesunden Menschen.27 Die Diagnose psychogene Reaktion“ wurde anscheinend auch ” in T¨ubingen im Sinne von psychogene Reaktion auf Grundlage einer abnormen ” Konstitution“, also synonym mit der Diagnose Psychopathie“ gebraucht. Dies wird ” einerseits an dem geringen Anteil von WDB–Best¨atigungen unter den Soldaten mit dieser Diagnose deutlich, andererseits auch im Sprachgebrauch bei Angaben u¨ ber die a¨ rztliche Feststellung u¨ ber die Ursache“, etwa psychogene Reaktion bei kon” ” stitutioneller Hyperagilit¨at“, abnorme Reaktion auf ein unmittelbares Kampferleb” 28 nis“, konstitutionelle Reaktionsbereitschaft“. ” ¨ Bei der Beantwortung der Frage, ob die Arzte des T¨ubinger Lazaretts durch die wiederholte Konfrontation mit Soldaten, die nach heftigen Kriegserlebnissen psychisch erkrankt waren, im Laufe des Krieges von der vorherrschenden Lehre abwichen, muss der Kriegsverlauf mitber¨ucksichtigt werden. Denn folgt man den Tagungsberichten der Beratenden Psychiater“, so war die Welle der psychogenen ” ” Reaktionen“ im Laufe der Blitzkriege“ in Polen, Skandinavien und Westeuropa, ” die relativ wenige Opfer gefordert hatten, zun¨achst ausgeblieben.29 Eine Konfron¨ tation der Arzte, auch in T¨ubingen, mit einer Vielzahl von F¨allen dieser Art ist vor allem ab Ende 1941 zu erwarten. Denn mit dem Vormarsch gegen Russland im Herbst 1941 verschlechterten sich die Umst¨ande an der Front rapide, als der Ausfall technischer Hilfsmittel und Panzer sowie die zunehmende Ressourcenknappheit im Deutschen Reich zu logistischen Schwierigkeiten und somit zu einer prek¨aren Lage f¨ur die Infanterie f¨uhrte.30 Unter schlechter Versorgung mit Nahrungsmitteln, mangelndem Schutz vor der K¨alte des russischen Winters und miserablen hygienischen Verh¨altnissen gerieten die Panzer- und Infanteriedivisionen im Winter 1941/1942 zunehmend in defensive Stellungskriege, in denen die Soldaten gezwungen waren, unter permanenter Todesangst bei Artilleriebeschuss auszuharren.
26 27 28 29 30
Milit¨ar¨arztlichen Gesellschaft M¨unchen (1938), S. 33 f. Gaupp (1940), S. 363 f. UAT 333, Ti–Wein, Erich V.; UAT 333, Ti–Wein, Wilhelm W.; UAT 333, H–Hen, Heinrich H. Roth (1987), S. 33; Riedesser und Verderber (1996), S. 116. Hierzu und zum Folgenden siehe Bartov (1999), S. 27–50.
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Daraufhin h¨auften sich auch bald die Berichte u¨ ber ein Ansteigen der psy” chogenen Reaktionen“ in der Wehrmacht.31 In T¨ubingen indes spiegeln die bloßen Aufnahmezahlen der Lazarettabteilung den Anstieg von Reaktionen“ auf den ” Krieg ab dem Beginn des Ostfeldzuges der Wehrmacht nicht wider (Siehe Tabelle 2.3). Eher hat es den Anschein, als seien die Einweisungen nach einem Hoch im Jahr 1940 r¨uckl¨aufig gewesen. Auch f¨ur den gesamten Wehrkreis V berichtete Hoffmann zumeist von einem geringen Anteil an Kriegsneurosen“, abgesehen von ” einer H¨aufung von Schreckreaktionen im Herbst 1942“.32 ”
1939 1940 1941 1942 1943 1944 1945
Neurasthenie
Psychopathie
1 2 5 14 5 5 2
35 69 54 35 20 17 4
Psychogene Reaktion 3 12 8 4 1 19 1
Gesamt 39 83 67 53 26 41 7
Tabelle 2.3: Anzahl der Aufnahmen in den Kriegsjahren
Allerdings zeigt eine genauere Betrachtung der F¨alle, dass tats¨achlich ein Großteil der plastischen Schilderungen grausamer Kriegserlebnissen in den Zeitraum ab 1942 f¨allt und an der Ostfront spielte. Auch die miserablen hygienischen Bedingungen an der Front werden in den Berichten der Lazarettpatienten deutlich, etwa bei Heinrich M., der nach Teilnahme am Ostfeldzug berichtete: Besonders schlimm ” sei der Zustand w¨ahrend des Vormarsches in Russland gewesen. Er habe infolge der schlechten Kost Durchf¨alle bekommen und habe nicht nur Urin, sondern auch Stuhl unter sich gelassen. Er habe sich nicht mehr rein halten k¨onnen, da er keine W¨asche mehr zum Wechseln gehabt habe.“ 33 Dass unter diesen Umst¨anden auch die psychische Widerstandskraft gegen Trommelfeuer im Stellungskrieg litt, l¨asst sich vielfach in den Angaben der Patienten erkennen, etwa bei Karl S., der als Ursache f¨ur seine st¨andigen Angstgef¨uhle, Atembeschwerden und permanenten Brechreiz angab: Ruhr, Schw¨ache, dann habe ihm der letzte Granateinschlag bevor er weg” gekommen sei vollends den Rest gegeben.“ 34 Um festzustellen, ob derartige Berichte die Psychiater in T¨ubingen bewogen, das Paradigma von der unbegrenzten Belastbarkeit der menschlichen Seele zu u¨ berdenken, muss die H¨aufigkeit der verschiedenen Diagnosegruppen im Laufe des Krieges betrachtet werden. Denn im Falle eines derartigen Umdenkens w¨are zu 31 32 33 34
Riedesser und Verderber (1996), S. 126. UAT 308/93, Erfahrungsbericht erstes und drittes Quartal 1942. UAT 333, Mes–Mutz, Heinrich M. UAT 333, Sta–Th, Karl S.
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erwarten, dass die Diagnose Neurasthenie“ mit zunehmender Dauer des Krieges ” h¨aufiger gestellt wurde, meinte sie doch eine durch a¨ ußere Ursachen hervorgerufene Erkrankung bei einem konstitutionell gesunden Menschen. Tabelle 2.3 zeigt, dass der Anteil von Neurasthenikern“ im Laufe des Krie” ges tats¨achlich tendenziell anstieg, mit einem absoluten Hoch im Jahr 1942. Vor allem die Betrachtung des relativen Anteils von Neurasthenikern“ an der Gesamt” zahl der F¨alle macht dies deutlich (siehe Tabelle 2.4). Allerdings kann bei dieser leichten Zunahme h¨ochstens von einer Aufweichung“ des Paradigmas gesprochen ” werden, insbesondere wenn man sich vor Augen f¨uhrt, dass die Diagnose Neur” asthenie“ allein noch keineswegs ein Garant war f¨ur eine Best¨atigung der Wehr¨ dienstbesch¨adigung von Seiten der Arzte.
1939 1940 1941 1942 1943 1944 1945
Neurasthenie
Gesamt
1 2 5 14 5 5 2
39 83 67 53 26 41 7
Anteil asthenie 2% 2% 7% 26 % 19 % 12 % 28 %
Neur-
Tabelle 2.4: Relativer Anteil der Neurasthenie“-F¨alle zur Gesamtzahl der Aufnahmen von Neur” asthenie, Psychopathie und psychogener Reaktion
¨ Es zeigt sich also, dass sich an der Einstellung der Arzte im Laufe des Krieges wenig a¨ nderte. Die Mediziner hielten in T¨ubingen eine Verursachung psychiatrischer Erkrankungen durch Kriegserlebnisse in der weitaus u¨ berwiegenden Zahl der F¨alle f¨ur ausgeschlossen. Einen solchen Erkl¨arungsansatz lehnten sie zumeist auch dann ab, wenn er von den Patienten an sie herangetragen wurde. Am Paradigma der unbegrenzten Belastbarkeit der menschlichen Psyche, das auch nach 1945 lange Zeit unangetastet blieb,35 hielt man auch in T¨ubingen grunds¨atzlich fest. ¨ Dennoch gab es F¨alle, in denen die Arzte mit der Diagnostizierung von Neur” asthenie“ von dieser Lehre abwichen. Zieht man in Betracht, wie stark sich die Implikationen der Diagnosen Psychopathie“ und Neurasthenie“ f¨ur die Betrof” ” fenen unterschieden, so stellt sich die Frage: Was waren die Kriterien f¨ur diese oder jene Diagnose? Beide Diagnosen waren grunds¨atzlich unscharf konturiert, und auch im T¨ubinger Lazarett scheint f¨ur die Diagnosestellung die Krankengeschichte und das Krankheitsbild nicht ausschlaggebend gewesen zu sein. Dies wird deutlich beim Vergleich zweier F¨alle, die beide Berichte von drastischen Kriegserlebnissen in Russland enthalten. 35 Goltermann (2009), S. 273–319.
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¨ Kriegstrauma: Atiologie und Diagnose
Beim ersten handelt es sich um Karl H., einem Leutnant der Wehrmacht, der am 10. M¨arz 1942 in das T¨ubinger Lazarett eingewiesen wurde.36 H. klagte bei der Eingangsuntersuchung vor allem u¨ ber Nervosit¨at, Schlaflosigkeit und Schweißausbr¨uche. Manchmal gehe es ihm gut, dann wieder habe er starke Schmerzen in Schultern und Beinen. Dabei sei er fr¨uher nie ernstlich krank gewesen. Als Berufssoldat habe er eigentlich immer gute sportliche Leistungen“ erbracht, und auch fr¨uhere ” Eins¨atze habe er psychisch gut durchgestanden“. Dann sei sein Regiment w¨ahrend ” des Osteinsatzes allerdings in eine schwierige Situation geraten, insbesondere das Bataillon, dem er angeh¨orte. In der Akte heißt es hierzu: Zuletzt seien sie vollst¨andig von den Russen umz¨ungelt [!] gewesen und h¨atten sich vollst¨andig verschossen gehabt. Sie waren gen¨otigt, sich zu ergeben. Die Russen h¨atten aber, nachdem ihnen bereits die Waffen abgenommen waren, auf sie eingeschossen. Er selbst erlitt dabei einen Bauchschuss, der aber, wie sich nachher herausstellte, zu keiner Darmverletzung f¨uhrte. Er habe sich totgestellt, aber mitansehen m¨ussen, wie seine Kameraden auf die scheußlichste Weise gequ¨alt und niedergemacht worden seien (Augenausstechen usw). In der Nacht sei es ihm dann gelungen, sich durch L¨ucken in der bolschewistischen Front und durch Kornfelder beg¨unstigt zur¨uckzuschleichen. Kam dann in Laz. Behandlung. Die Schussverletzung selbst heilte gut aus, dagegen sei er seit dieser Zeit in seinen Nerven v¨ollig herunter.
Besonders, seit er einen Film gesehen habe, in dem a¨ hnliche Greuel dargestellt sei” en“, habe sich sein Zustand wieder verschlimmert. Seither machen ihm eine allge” meine innere Unruhe, Spannung, Neigung zu Schweißausbr¨uchen, M¨udigkeit und a¨ hnl[iche] Nerv¨ose Beschwerden“ sowie zeitweise auftretende Schmerzen in Armen und Beinen zu schaffen. Befragt nach der Ursache des Leidens, antwortete der Leutnant: Ich f¨uhre meine Beschwerden auf die Strapazen und seelischen Erleb” nisse des Ostfeldzuges zur¨uck.“ ¨ Noch bevor die Arzte eine ausf¨uhrliche k¨orperlich-neurologische Untersuchung des Patienten vornahmen und seinen Liquor untersuchten, kommentierten sie diese Einsch¨atzung als wahrscheinlich zutreffend“. Anschließend f¨uhrten sie die Unter” suchungen durch, und nachdem sich diese als unauff¨allig erwiesen, fassten sie zusammen: Ein derzeitiger organneurologischer Prozess kann somit ausgeschlossen ” werden“. Sie teilten dem Patienten die Diagnose Neurasthenie“ zu, und entließen ” ihn mit der Empfehlung f¨ur eine anschließende dreiw¨ochige Kur im Reservelaza” ¨ rett Bad Wildbad“. Zur Frage der Wehrdienstbesch¨adigung vermerkten die Arzte: WDB nach Z 15,1 ist anzunehmen“, wobei mit dem Fehler Z 15,1“ vor¨ubergeh” ” ” ende, vorwiegend aus a¨ ußeren Ursachen erworbene nerv¨ose Beschwerden“ gemeint ¨ waren.37 Die Kriegsverwendungsf¨ahigkeit des Leutnants beurteilen die Arzte am Ende des Aufenthaltes als garnisonverwendungsf¨ahig Heimat“, das bedeutete: f¨ur ” den Einsatz in der Heimat und in den besetzten Gebieten, nicht im Operationsge” 38 biet, verwendbar“. 36 Zum Folgenden siehe UAT 333/H–Hen, Karl H. 37 Zu den a¨ rztlichen Anweisungen zur Beurteilung der Kriegsbrauchbarkeit bei Kriegsmusterungen siehe Valentin (1981), S. 25–36, hier S. 29. 38 Ebenda, S. 26: Garnisonverwendungsf¨ahig Heimat: Der Wehrpflichtige ist in der Heimat und ” in den besetzten Gebieten (nicht im Operationsgebiet) verwendbar“.
¨ Kriegstrauma: Atiologie und Diagnose
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Eine a¨ hnliche Schilderung von Kriegserlebnissen findet sich bei dem Obergefreiten, Paul O., der nach l¨angeren Kriegseins¨atzen in Russland im September 1944 in das T¨ubinger Lazarett eingewiesen wurde.39 Hierbei sei er am 29. Dezember 1942 bei Stalingrad bei einem Stoßtruppunternehmen in russ[ische] Gefangen” schaft geraten“. Durch gl¨uckliche Umst¨ande habe er sich nach vier Tagen befreien und fliehen k¨onnen, sei dabei aber durch einen Granatsplitter verwundet worden. Nach der gegl¨uckten Flucht waren seine Strapazen allerdings noch nicht vor¨uber. Er sei anschließend in der N¨ahe von Milorow“ durch eine Granatexplosion versch¨uttet ” worden. Als er wieder zu Bewusstsein kam, habe er nicht mehr gut sehen und h¨oren k¨onnen, und w¨ahrend der anschließenden Lazarettbehandlung sei ihm aufgefallen, dass er mit dem linken Bein immer zittere. Zun¨achst habe er gemeint, er friere“. ” Doch als dieses Zittern nicht mehr aufh¨orte, wurde der Soldat am 2. August 1944 in das T¨ubinger Reservelazarett eingewiesen. ¨ Dort nahmen die Arzte zun¨achst eine ausf¨uhrliche neurologische Untersuchung vor, und wie bereits im Fall des Leutnant Karl H. waren sie u¨ berzeugt, eine organneurologische Ursache des Leidens ausschließen zu k¨onnen. Auch Paul O. f¨uhrte sich gut auf der Station und arbeitete trotz seines bestehenden Tremors bereitwillig bei der Einbringung der Ernte“ mit, wie im Behandlungsverlauf dokumentiert ” ¨ wurde. Anders jedoch als bei Karl H. kamen die Arzte bei Paul O. zum Ergebnis, dass sein Leiden auf keinen Fall von a¨ ußeren Einfl¨ussen hervorgerufen sein konnte. Vielmehr seien die Beschwerden Ausdruck einer psychogenen St¨orung, weshalb sie eine psychogene Reaktion“ diagnostizierten. Außerdem sei f¨ur etwa weiterhin be” stehende Beschwerden das Vorliegen einer Wehrdienstbesch¨adigung nicht anzunehmen, da es sich dabei um den Ausdruck einer abnormen Reaktionsweise“ handele. ” Der Soldat wurde am 6. September 1944 mit dem Musterungsgrad k.v.“ (kriegs” verwendungsf¨ahig) entlassen, das heißt f¨ur den Einsatz an der Front geeignet. Der Vergleich dieser beiden F¨alle zeigt, wie unscharf die Trennung zwischen den Diagnosen Psychopathie“ und Neurasthenie“ in der Praxis war. Eine Zuord” ” nung bestimmter Symptome auf eine Diagnose wurde in der Literatur vermieden, ob nun von der Vielgestaltigkeit der psychogenen Reaktionen“ 40 im Falle der Psy” ” chopathie“ die Rede war oder von den leiblichen und seelischen Symptomen“ 41 der ” Neurasthenie“, und auch in T¨ubingen scheint weder der Krankheitsverlauf noch ” das Krankheitsbild ausschlaggebend f¨ur die Wahl der Diagnose gewesen zu sein. Ein anderer Faktor, der die Wahl der Diagnose hingegen deutlich beeinflusste, war der milit¨arische Rang des Patienten. Tabelle 2.5 zeigt: Je h¨oher der Rang, desto gr¨oßer war der Anteil von Neurasthenikern“ und desto geringer der Anteil der ” Psychopathen“ 42 . ” Bei den Mannschaften betr¨agt der Anteil von Neurasthenie“-F¨allen nur 7%, ” w¨ahrend 46% der Offiziere diese Diagnose zugeteilt wurde. (siehe Tabelle 2.5). 39 40 41 42
Zum Folgenden siehe UAT 333, N–Pet, Paul O. Milit¨ar¨arztliche Gesellschaft M¨unchen (1938), S. 33. Gaupp 1940, S. 363 f. Zum NS-Ranggef¨uge siehe: Weiß (2002), S. 502 ff. (Anhang).
¨ Kriegstrauma: Atiologie und Diagnose
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Gesamtzahl Mannschaften Unteroffiziere Offiziere
Psychopathie/ psych. Reaktion 253 (93%) 20 (74%) 7 (54%)
272 27 13
Neurasthenie 19 (7%) 7 (26%) 6 (46%)
Tabelle 2.5: H¨aufigkeit der Diagnosen in verschiedenen Dienstgraden
Entsprechend wurde bei den Mannschaften in nur 4% der F¨alle das Vorliegen einer Wehrdienstbesch¨adigung best¨atigt (siehe Tabelle 2.6). Nicht selten bestand bei diesen Soldaten eine Diskrepanz zwischen der Ansicht der betroffenen Patienten u¨ ber ¨ die Krankheitsentstehung und der Einsch¨atzung der Arzte. Bei den Offizieren hin¨ gegen zeigten sich die Arzte eher kompromissbereit“. Hier gestanden sie mit dem ” Gebrauch der Diagnose Neurasthenie“ h¨aufiger ein, dass die ersch¨utternden Er” lebnissen an der Front den desolaten psychischen Zustand der Patienten verursacht hatten. Dies dr¨uckte sich auch in der h¨oheren Anzahl der WDB–Best¨atigungen aus: 23% der Offiziere wurde die Wehrdienstbesch¨adigung bescheinigt. (Siehe Tabelle 2.6). Es l¨asst sich also folgern: Je h¨oher der Rang, desto eher wurde eine kausale Verbindung zwischen dem Kriegsgeschehen und der psychiatrischen Erkrankung des Patienten akzeptiert. Laufbahn
Gesamtzahl
Mannschaften 272 Unteroffiziere 27 Offiziere 13
WDB best¨atigt 12 4 3
WDB abgelehnt / keine Angabe 260 23 10
Anteil WDB best¨atigt 4% 15% 23%
Tabelle 2.6: Anteil der WDB–Best¨atigungen in den einzelnen Laufbahnen
Ein Grund, weshalb die Psychiater bei den h¨oheren R¨angen eher bereit waren, von den vorherrschenden a¨ tiologischen Konzepten abzuweichen, war m¨oglicherweise die soziale N¨ahe zu diesen Patienten. Die 13 Offiziere, die in das Lazarett eingewiesen wurden, waren haupts¨achlich Berufssoldaten oder vor dem Eintritt in die Wehrmacht in akademischen Berufen t¨atig gewesen. Unter ihnen befanden sich vier Mediziner. Es ist wahrscheinlich, dass es den Lazarett¨arzten bei dieser Gruppe schwerer fiel als bei den haupts¨achlich aus nicht-akademischen Berufen rekrutierten Mannschaften, sie mit der Diagnose Psychopathie“ sozial abzuwerten. Außerdem ” war es f¨ur sie bestimmt ebenso schwer vorstellbar, dass konstitutionell weniger leistungsf¨ahige Psychopathen“ h¨ohere Positionen in der Wehrmacht erreichten. Vor ” diesem Hintergrund wiederum erscheint bemerkenswert, dass auch bei den Hochrangigen der Anteil der Psychopathen“ u¨ berwiegt: Bei sieben von insgesamt 13 ”
¨ Kriegstrauma: Atiologie und Diagnose
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Offizieren wurde die Diagnose Psychopathie“ gestellt (siehe Tabelle 2.5). Eine ge” nauere Betrachtung dieser F¨alle ergibt allerdings, dass auch bei diesen F¨allen eine Aufwertung“ der Diagnosen stattgefunden hatte. ” Einer dieser als Psychopathen“ diagnostizierten Offiziere war Kurt L.43 Der ” Leutnant wurde am 3. September 1941 mittelst Lazarettzug“ aus einem Kriegsla” zarett in Griechenland in das T¨ubinger Heimatlazarett verlegt und fiel bereits bei der Aufnahme durch seine saloppe, etwas verd¨oste Haltung“ auf, w¨ahrend er in ” ” aufdringlicher Weise den Helferinnen vom Roten Kreuz auf die Schulter t¨atschelte“. Laut Information der Truppe hatte er sich zuletzt auff¨allig verhalten: Er f¨uhlte sich verfolgt und habe behauptet, Komplotte seien im Gange“ gegen ihn. Außerdem ” habe er unangemessene Forderungen gestellt, etwa einen Dienstwagen zu Spazier” fahrten mit Griechinnen“. Als Kurt L. am Tag nach der Ankunft in T¨ubingen dazu befragt wurde, gab er an: Es sei ein Komplott gegen ihn im Gang gewesen, das er ” aufgedeckt habe. An der Verhaftung des Verschw¨orers‘ sei er dadurch verhindert ’ worden, dass der Generalstabsarzt seiner Armee ihn in Schutzhaft‘ habe nehmen ’ lassen.“ Der explorierende Arzt merkte hierzu an: Er meint damit offenbar, dass ” er in ein Lazarett eingewiesen wurde“. Er kommentierte im psychopathologischen Befund: inhaltlich sind seine paranoide Gedankeng¨ange, die sich auf sein Erlebnis ” in Griechenland beschr¨anken, zu erw¨ahnen.“ In den n¨achsten Tagen verstieß der Leutnant mehrfach gegen die Disziplin im Lazarett. Es wurde dokumentiert, dass er auffallend zudringlich“ wurde, sich mit ” ” den Soldaten anbiederte“ und sich trotz ausdr¨ucklichen Verbotes“ einige Flaschen ” Bier verschafft habe. Schließlich wurde er am 10. September gegen¨uber Assistenzarzt Krais derart ausf¨allig, dass man es f¨ur notwendig erachtete, ihn auf die geschlossene Station zu verlegen. Als am 21. September gemeldet wurde, dass Leutnant L. vor glaubw¨urdigen Zeugen“ erkl¨art habe, er wisse aus sicherer Quelle, dass ” Japan Deutschland den Krieg erkl¨aren“ werde, stand f¨ur sie die Psychiater fest: ” Die jetzt ausreichende Beobachtung zeigt, dass er f¨ur die Wehrmacht untragbar ” ist.“ Im Abschlussbericht befanden sie, dass Leutnant F. das typische Bild einer ” Manischen St¨orung“ mit gesteigertem T¨atigkeitsdrang, gehobener Stimmungsla” ge, Selbst¨ubersch¨atzung, paranoiden Gedankeng¨angen“ zeigte. Interessanterweise erteilten sie dennoch die Diagnose Psychopathie“. ” Eine Erkl¨arung hierf¨ur ist, dass die Manie“ als Krankheit, die unter das Gesetz ” ” zur Verh¨utung erbkranken Nachwuchses“ fiel, noch weitaus stigmatisierender war 44 ¨ als die Psychopathie“. So scheint es, als h¨atten sich die T¨ubinger Arzte im Falle ” dieses Leutnants f¨ur die mildere“ Diagnose entschieden. M¨oglicherweise geschah ” 43 Zum Folgenden siehe UAT 333/Lang–Mac, Kurt L. 44 Reichsgesetzblatt (1933) I, S. 529. Das Gesetz zur Verh¨utung erbkranken Nachwuchses“, das ” am 1. Januar 1934 in Kraft trat, sah die Zwangssterilisierung von Patienten mit bestimmten Krankheiten vor, f¨ur die eine erbliche Genese angenommen wurde: angeborener Schwach” sinn“, Schizophrenie, Manisch-depressives Irresein“, Epilepsie, Chorea Huntington, erbliche ” ” Blindheit“ sowie erbliche Taubheit“, schwere k¨orperliche Missbildungen und schwerer Alko” holismus.
42
¨ Kriegstrauma: Atiologie und Diagnose
auch dies aus dem Impuls, Patienten in gleichrangiger sozialer Stellung nicht zu stark abzuwerten. Auch bei Major Kurt R., der am 2. Juni 1943 in T¨ubingen aufgenommen wurde und es mit der Diagnose Psychopath“ wieder verließ, standen zeitweise andere ” Diagnosen im Raum.45 Bereits 1938 sei er nach mehreren Alkoholexzessen aus der Wehrmacht entlassen worden. Dennoch habe er sich nach Kriegsausbruch freiwillig gemeldet und sei schließlich als Offizier zur Verf¨ugung“ wieder einberufen ” worden. Seither habe er bei der Pionierschule in Berlin bei der Aufstellung und ” Ausbildung von Ersatztruppenteilen“ mitgewirkt, habe sich dabei jedoch oftmals benachteiligt und irgendwie [...] disqualifiziert“ gef¨uhlt. So sei die F¨uhrung der ” Truppen, die er erfolgreich ausgebildet habe, nicht ihm u¨ berlassen worden, sondern anderen Offizieren. Als seine Erwartung, endlich bef¨ordert zu werden und ” auch sonst etwa in Form eines Ordens eine Anerkennung f¨ur seine Dienstleistung zu erhalten“ erneut entt¨auscht wurde, geriet er in einen Zustand ver¨argerter Ver” stimmung“ und ließ sich zu einem Alkoholexzess hinreißen“, wodurch er auch ” f¨ur einige Tage dienstunf¨ahig geworden sei. Ein Kamerad habe Meldung erstattet, worauf er von seinem Posten abgel¨ost wurde. Als er schließlich in einem Zustand ” der Ersch¨opfung“ seinen Truppenarzt um l¨angeren Urlaub bat, wies ihn dieser zur Beurteilung in T¨ubingen ein. Kurt R. wurde, wie viele der Offiziere, unter anderem von Hermann Hoffmann pers¨onlich exploriert. In der Patientenakte vermerkte Hoffmann, dass nicht zu verkennen sei, dass der Offizier sowohl die fr¨uheren wie auch die im Oktober des ” Jahres vorgefallenen Dinge [...] zu bagatellisieren“ versuchte, womit Hoffmann die vom Truppenarzt geschilderten Alkoholexzesse meinte. Er schien sich bei der Beurteilung unsicher zu sein und gestand ein, dass die Darstellung des Majors, in den letzten Jahren nicht r¨uckf¨allig geworden zu sein, in gewissem Widerspruch zu der ” Beurteilung des Inspekteurs der Landesbefestigung West“ stehe. In seinem Schreiben an das stellvertretende Generalkommando Stuttgart“ bez¨uglich der Untersu” chung von Major R. gab er sich hingegen u¨ berzeugt: Zeichen eines [...] Alkohol” missbrauches sind nicht nachweisbar. Auch Symptome einer Geisteskrankheit, vor allem einer Schizophrenie, fehlen. [...] Es bestehen keine Bedenken, Major R. weiterhin in der Wehrmacht zu verwenden.“ Mit der Diagnose Psychopathie“ hielt er ” ihn f¨ur in der Heimat und den besetzten Gebieten weiterhin verwendungsf¨ahig. Die Diagnose Alkoholismus“, die durchaus im Lazarett gebr¨auchlich war, wurde hier ” nicht benutzt. Anscheinend waren die Psychiater bei den hochrangigen Patienten gewillt, die stigmatisierende Wirkung durch die Diagnosestellung abzud¨ampfen. Dieser Verdacht erh¨artet sich, denn wie bei Leutnant L. und Major R. standen bei insgesamt f¨unf der sieben Offiziere mit der Diagnose Psychopathie“ noch weitere Diagno” sen im Raum, die unter das Gesetz zur Verh¨utung erbkranken Nachwuchses“ fie” len. So wurden auch Leutnant Franz M. und Stabsarzt Alfred R. mit der Diagnose 45 UAT 333/Pf–Reik, Kurt R.
¨ Kriegstrauma: Atiologie und Diagnose
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Psychopathie“ aus dem Lazarett entlassen, obwohl der Truppenarzt sie unter an” deren Diagnosen eingewiesen hatte. Leutnant M. war urspr¨unglich mit der Diagnose manisch-depressives Irresein“ ins Lazarett eingewiesen worden, und Sa” nit¨atsoffizier R. hatte sich zum Zeitpunkt der Einweisung im Oktober 1939 im Alkoholentzugsdelirium befunden. F¨ur ihn seien unter der ungewohnten Belastung als Truppenarzt Morphin und Alkohol eben wahre Sorgenbrecher“ gewesen, wie er im ” Laufe seiner Behandlung im T¨ubinger Lazarett angab. Auch er wurde nicht mit der Diagnose Alkoholismus“, sondern als “ Psychopath“ aus der Klinik entlassen.46 ” ” Eine genauere Betrachtung der a¨ tiologischen Einsch¨atzung und der Diagnose¨ vergabe zeigt also, dass die T¨ubinger Arzte in wenigen F¨allen die Ablehnung der kausalen Verbindung zwischen Kriegserlebnissen und psychischen Erkrankungen aufgaben. Dies insbesondere F¨alle von Wehrmachtangeh¨origen mit h¨oherem Rang. Ein Grund daf¨ur scheint die Unvereinbarkeit der Diagnose Psychopathie“ mit dem ” Offiziersrang zu sein. Denn wie ein hoher Rang in der Wehrmacht f¨ur eine gesteigerte Leistungsf¨ahigkeit und -bereitschaft f¨ur die Volksgemeinschaft“ sprach, ” so implizierte die Diagnose Psychopathie“ das genaue Gegenteil. Weiterhin ist in ” ¨ der soziale N¨ahe der Arzte zu den Offizieren ein weiterer Faktor zu sehen, der sie eventuell davor zur¨uckschrecken ließ, diese Personen allzu stark abzuwerten. Eine a¨ hnliche Abschw¨achung der Stigmatisierung durch die Diagnosevergabe findet sich bei denjenigen Offizieren, die dennoch als Psychopathen“ klassifiziert wur” den. Hier h¨aufen sich F¨alle im Grenzgebiet zwischen Psychopathie“ und Erkran” ¨ kungen, die unter das GezVeN“ fielen, und auch hier entschieden sich die Arzte ” f¨ur die Diagnose mit der weniger stigmatisierenden Wirkung.
46 UAT 333/Mad–Maur, Franz M., UAT 333/Reil–Rohm, Alfred R.
¨ 3. PSYCHOPATHEN“ VOR DEM MILITARGERICHT ” Nicht zuletzt weil Hitler behauptet hatte, die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg sei m¨oglich gewesen, weil die Todesstrafe ausgeschaltet“ worden sei, erfuhr ” die Wehrmachtjustiz im Dritten Reich“ eine erhebliche Radikalisierung. Die Mi” lit¨arjuristen hatten die Bestimmungen des Strafrechts f¨ur den vorgesehenen Kriegsfall durch die Einf¨uhrung der Kriegssonderstrafrechtsverordnung (KSSVO) erheblich versch¨arft. Besonders der ber¨uchtigte § 5 zur Zersetzung der Wehrkraft“ der im ” August 1938 verabschiedeten KSSVO bot die M¨oglichkeit h¨artester Sanktionen einschließlich der Todesstrafe f¨ur Delikte, die auch in milit¨arpsychiatrischer Hinsicht von Bedeutung waren.1 Denn dieser Paragraph sah die Todesstrafe vor f¨ur Soldaten, die sich oder einen anderen durch Selbstverst¨ummelung, durch ein auf T¨auschung ” berechnetes Mittel oder auf andere Weise der Erf¨ullung des Wehrdienstes ganz, teilweise oder zeitweise zu entziehen“ versuchten, also auch f¨ur die Simulation von Erkrankungen.2 Dieses Instrumentarium wurde von der radikal durchgreifenden Justiz intensiv genutzt. Der Rechtshistoriker Manfred Messerschmidt kam bei seiner Sch¨atzung auf eine Zahl von 50 000 Todesurteilen gegen Soldaten und Wehrmachtsgefolge, von denen etwa 22 000 vollstreckt wurden, eine Zahl, die selbst f¨ur das nationalsozialistische Terrorsystem unfassbar hoch“ erscheine.3 ” Dass sich dieses scharfe Schwert“ 4 insbesondere gegen Psychopathen“ in der ” ” Wehrmacht richtete, war sowohl den Juristen als auch den Milit¨arpsychiatern klar. Bereits vor dem Krieg waren die Psychopathen“ zunehmend ins Visier dieser bei” den Berufsgruppen geraten. Auf der bereits erw¨ahnten Tagung der Milit¨ar¨arztlichen ¨ Gesellschaft 1937 in M¨unchen, der nicht nur Arzte, sondern auch Parteifunktion¨are, Milit¨arjuristen und Gener¨ale beiwohnten, teilten die Psychiater die Psycho” pathen“ in die Gruppe der Versager“ und die Gruppe der St¨orer“ ein.5 W¨ahrend ” ” explosible, geltungsbed¨urftige und haltlose St¨orer“ durch Disziplinverst¨oße und ” Kriminalit¨at die Truppe gef¨ahrdeten, galten Versager“ als nicht minder gef¨ahrlich. ” Denn man nahm an, dass die psychasthenischen Weichlinge und Depressiven mit ” st¨andiger Neigung zum Suicid“, also die Versager“, sich teils heimlich, teils of” ” fen als Hetzer und Aufr¨uhrer bet¨atigen“ w¨urden, sollten sie dienstunf¨ahig“ von der ” ¨ Front in die Heimat zur¨uckgeschickt werden. Hinzu kam, dass der Ubergang von dieser mehr oder weniger zweckbewußte[n] Flucht in die Krankheit“ zur Simula” tion und damit zur Zersetzung der Wehrkraft“ ohnehin als fließend galt.6 ” 1 2
3 4 5 6
Messerschmidt und W¨ullner (1987), S. 25 sowie S. 31. Reichsgesetzblatt I 1939, S. 1455: (1) Wegen Zersetzung der Wehrkraft wird mit dem Tode ” bestraft: [...] Wer es unternimmt, sich oder einen anderen durch Selbstverst¨ummelung, durch ein auf T¨auschung berechnetes Mittel oder auf andere Weise der Erf¨ullung des Wehrdienstes ganz, teilweise oder zeitweise zu entziehen“. Messerschmidt und W¨ullner (1987), S. 15. Ebenda, S. 31. Zum Folgenden siehe Milit¨ar¨arztliche Gesellschaft M¨unchen (1938). Weber (1939), S. 1305.
Psychopathen“ vor dem Milit¨argericht ”
45
Bei den Milit¨arjuristen hatte man gr¨oßtenteils bereitwillig die sozialdarwinistische Stoßrichtung der NS–Ideologie u¨ bernommen. Erich Schwinge, Autor maßgebender Gesetzeskommentare des NS–Milit¨arstrafrechts, schrieb 1939 u¨ ber die minderwertigen Psychopathen“: Es darf nicht noch einmal vorkommen, daß der ” ” Krieg zu einseitiger Gegenauslese gegen die guten und wertvollen Elemente unseres Volkes wird, darwinsche Zuchtwahl im entgegengesetzten Sinne treibt. Es geht nicht an, daß an der Front die besten ihr Leben dahingeben m¨ussen, w¨ahrend die k¨orperlich und geistig minderwertigen die Heimat unterw¨uhlen.“ 7 Sein Doktorand Helmut Ziemann sprach 1941 unverbl¨umt aus, was in der psychiatrischforensischen Debatte um das Psychopathenproblem“ im Krieg stiller Konsens ge” wesen zu sein schien: Es wird hier in einzelnen F¨allen bei diesen Dr¨uckebergern ” nichts anderes u¨ brig bleiben, als solche Neurotiker zu erschießen.“ 8 Vor diesem Hintergrund trafen Psychiater und Wehrmachtssoldaten zur Kl¨arung forensischer Fragen aufeinander. Walter R. war einer der Soldaten, die nach T¨ubingen zur forensisch-psychiatrischen Begutachtung u¨ bersandt worden waren.9 Er war verhaftet worden, nachdem er sich im Juli 1943 unerlaubt von seiner Truppe entfernt hatte. W¨ahrend der anschließenden Haft im Wehrmachtsgef¨angnis Ulm hatte er einen Selbstmordversuch unternommen. Die Psychiater in T¨ubingen hatten nun einzusch¨atzen, ob bei Soldaten wie Walter R. eine psychiatrische Diagnose die Aufhebung oder Minderung der Strafe im Sinne von § 51 StGB rechtfertigte. Dieser Paragraph legte fest:10 (Absatz 1) Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn der T¨ater zur Zeit der Tat wegen Bewußtseinsst¨orung, wegen krankhafter St¨orung der Geistest¨atigkeit oder wegen Geistesschw¨ache unf¨ahig ist, das Unerlaubte der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln. (Absatz 2) War die F¨ahigkeit, das Unerlaubte der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, zur Zeit der Tat aus einem dieser Gr¨unde erheblich vermindert, so kann die Strafe [...] gemildert werden.
Die Psychopathie“ stand dabei in einer Grauzone zwischen charakterlicher Ab” ” normit¨at“ und Geisteskrankheit“, und es oblag dem Sachverst¨andigen zu entschei” den, ob diese Diagnose das Verbrechen, sei es ein Disziplinverstoß, Selbstverst¨ummelung oder vermeintliche Simulation, exkulpierte. Dabei hatten sich die Gutachter an den Anweisungen der Heeressanit¨atsinspektion zu orientieren, die darauf hinwiesen, dass Psychopathen“ im allgemeinen keinen Anspruch auf den Schutz ” durch diese Paragraphen haben und bei der Erw¨agung des § 51,1 oder 2 sch¨arfste
7 8 9 10
Schwinge (1939/1940), S. 122. Ziemann (1941), S. 74. UAT 333/Reil–Rohm, Walter R. § 51 StGB zit. n. Riedesser und Verderber (1996), S. 179.
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Psychopathen“ vor dem Milit¨argericht ”
Maßst¨abe anzulegen seien.11 Darauf machten Otto Wuth beziehungsweise sein Stellvertreter Alfred Christukat, die f¨ur eine einheitliche Begutachtungspraxis im deutschen Milit¨ar sorgen wollten, auch Hermann Hoffmann in T¨ubingen wiederholt aufmerksam. In einem Sammelbericht, der an den Beratenden Psychiater“ im Wehr” kreis V ging, sch¨arfte Wuth Hoffmann ein: Aus den hier durchgehenden gerichts” psychiatrischen Gutachten gewinnt man den Eindruck, daß trotz wiederholter Hinweise bei der Zubilligung des § 51 [...] noch immer zu großz¨ugig verfahren wird. Es sei hier nochmals betont, daß die Gesetze nicht dazu da sind, um die Psycho’ pathen‘ zu sch¨utzen, sondern um der Gemeinschaft vor den Psychopathen‘ Schutz ’ zu gew¨ahren.“ 12 Bei Walter R. befolgten die T¨ubinger Psychiater diese Anweisung: Sie kamen zu dem Schluss, dass der Soldat die Voraussetzungen des § 51 nicht erf¨ulle. Abgesehen davon machte der behandelnde Arzt den Vorschlag, den infantilen, halt” losen, eigenwilligen Psychopathen“ aus seiner Truppe zu entfernen und zu einer Sonderabteilung zu versetzen. In diesen Sonderabteilungen der Wehrmacht wurden diejenigen Mannschaften zusammengefasst, die infolge ihrer charakterlichen ” Veranlagung und ihres Verhaltens eine Gefahr f¨ur die Disziplin [...] waren.“ 13 Der Dienst war dort aus erzieherischen Gr¨unden“ besonders hart, und es drohte je” derzeit die Versetzung in die ber¨uchtigten Feldsonderbataillone, in denen die Soldaten besonders lebensbedrohliche und k¨orperlich anstrengende Arbeiten wie Minenr¨aumen, Blindg¨angerbeseitigung und Leichenumbettungen verrichten mussten, m¨oglichst unmittelbar an der Front oder an sonst stark gef¨ahrdeten Stellen. Außerdem konnten Soldaten der Sonderabteilungen in Konzentrationslager u¨ berf¨uhrt werden. Insgesamt 81 Angeh¨orige der Wehrmacht wurden in T¨ubingen hinsichtlich ihrer Zurechnungsf¨ahigkeit begutachtet. Tabelle 3.7 gibt die Art der Delikte wieder, die Anlass zur Begutachtung waren. Bei 62% dieser Soldaten wurde das Vorliegen einer verminderten oder aufgehobenen Zurechnungsf¨ahigkeit nach §51 StGB ¨ verneint (siehe Tabelle 3.8). Damit lagen die T¨ubinger Arzte deutlich unter dem Durchschnitt im deutschen Reich: Laut einer Studie von Wuth und den Beraten” den Psychiatern“ wurden 1940 bei insgesamt 413 Begutachteten Hysterikern und ” Psychopathen“ in allen Wehrkreisen und an der Front in 77% der F¨alle § 51 StGB ¨ abgelehnt.14 Umgekehrt bedeutet dies, dass die T¨ubinger Arzte den Psychopathen“ ” deutlich h¨aufiger eine Strafminderung zugestanden, als es die g¨angige Praxis war: Bei insgesamt 38% aller in T¨ubingen begutachteten Psychopathen“ kam entweder ” 11 Messerschmidt und W¨ullner (1987), S. 232. 12 UAT 308/91, Otto Wuth: Sammelbericht September 1943, o.D., S. 2 f. 13 Zu den Sonderabteilungen und Feldsonderbataillonen der Wehrmacht siehe Absolon (1995), S. 565–570, hier S. 565. 14 BA–MA H 20/483a, zit. n. Riedesser und Verderber (1996), S. 184. Diese Studie bezieht sich auf das Kriegsjahr 1940. Aufgrund der Politik der Heeressanit¨atsinspektion, die die Gutachter regelm¨aßig zu einer restriktiveren Handhabung des § 51 StGB aufforderte, kann davon ausgegangen werden, dass sich dieser Anteil im Laufe des Krieges noch steigerte.
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Disziplinverst¨oße
Schuldf¨ahigkeit aufgehoben (§ 51,1) Schuldf¨ahigkeit eingeschr¨ankt (§ 51,2) Voll zurechnungsf¨ahig (§ 51 abgelehnt)
Anzahl der F¨alle 14 17 50
Anteil in % 17% 21% 62%
Tabelle 3.8: Aussagen u¨ ber die Zurechnungsf¨ahigkeit der begutachteten Soldaten
der § 51,1 oder 2 StGB zur Anwendung, w¨ahrend dies andernorts durchschnittlich bei nur 23% der Fall war. ¨ Es scheint, als h¨atten sich die T¨ubinger Arzte bei der Beurteilung von Psy” chopathen“ ein St¨uck weit den Anspr¨uchen der Heeressanit¨atsinspektion widersetzt und Wuths wiederholte Kritik, die Psychiater w¨urden mit der Genehmigung von Strafminderungen f¨ur Psychopathen“ zu großz¨ugig verfahren, ignoriert. Diese Dis” krepanz wirft die Frage auf: Was waren die Kriterien, nach denen in T¨ubingen entschieden wurde, ob bei Psychopathen“ § 51,1 oder 2 angewandt wurde oder nicht? ” Delikt Unerlaubte Entfernung von der Truppe Suizidversuch Konflikt mit Kameraden/Vorgesetzten Anmaßung eines h¨oheren Dienstgrades Verweigerung des Fahneneides Milit¨arischer Diebstahl Simulation Selbstverst¨ummelung Alkoholexzess Befehlsverweigerung Verstoß gegen das Heimt¨uckegesetz“ ” Fahnenflucht Sonstige
Anzahl der F¨alle 22 10 8 5 5 4 4 4 3 3 3 2 8
Tabelle 3.7: H¨aufigkeit der Delikte von Patienten, bei denen im T¨ubinger Lazarett u¨ ber § 51,1/2 StGB entschieden wurde. Die unter Sonstige“ zusammengefassten Delikte sind: Flucht aus ” Arrest nach Diebstahl, t¨atlicher Angriff auf eine Kellnerin nach Alkoholkonsum, homosexuelle Handlungen, versuchte Vergiftung der Ehefrau im Heimaturlaub, Erregungszustand mit Sachbesch¨adigung, H¨aufung von Bagetellvergehen, ungeh¨orige Redensarten, Misshandlung von Untergebenen. In einem Fall waren laut Patientenakte sowohl dem zu ¨ begutachtenden Soldaten wie den Arzten die Gr¨unde f¨ur die Verhaftung unbekannt. Bei F¨allen mit mehreren Delikten wurde jeweils das Erstgenannte in die Liste u¨ bernommen.
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Psychopathen“ vor dem Milit¨argericht ”
¨ BEGUTACHTUNG BEI DISZIPLINVERSTOßEN Henning T¨ummers stellte 2010 die These auf, dass ein zentrales Kriterium f¨ur ¨ die Arzte in T¨ubingen das Wohlverhalten“ der Patienten im Lazarett gewesen ” sei. Wenn sich die Soldaten auf der Abteilung korrekt und diszipliniert verhielten, so T¨ummers, f¨uhrte dies zu Milde und Entgegenkommen“ von Seiten der ” ¨ Arzte, und die Chancen stiegen, die Unzurechnungsf¨ahigkeit f¨ur ihr Verbrechen attestiert zu bekommen.15 Ob dies zutrifft, und ob die Wohlverhaltensbegutach” tung“ tats¨achlich der Hauptgrund f¨ur die Abweichung der T¨ubinger Gutachter von der g¨angigen Begutachtungspraxis war, soll im Folgenden u¨ berpr¨uft werden. Der Fall von Karl D. scheint diese These zu best¨atigen.16 Der ehemalige Holzhauer und Landschaftsg¨artner war am 2. Mai 1941 zur Begutachtung eingewiesen worden, nachdem er sich unerlaubt von der Truppe entfernt hatte. Im Lazarett gab er als Grund f¨ur diese Entfernung an: Er habe starkes Heimweh gehabt. Habe Nacht ” f¨ur Nacht vor lauter Heimweh nicht schlafen k¨onnen. Bekam Angst, dass ihm irgend etwas zustoßen k¨onnte und wurde zunehmend von dem Gedanken beseelt, seine Frau nochmals sehen zu m¨ussen, da sich irgendein Unheil ereignen w¨urde.“ W¨ahrend D. zu Beginn des Aufenthalts noch einen verst¨orten Eindruck auf die Psychiater machte, besserte sich sein Zustand nach wenigen Tagen. Drei Tage nach seiner Aufnahme wurde in der Akte vermerkt: W¨ahrend D. in den ersten Tagen ” das Bild einer agitierten Depression bot, hat er sich jetzt weitgehend beruhigt und ist auch aussprachef¨ahig. Er macht an sich einen sehr gewissenhaften und pflichtbewussten Eindruck.“ Diesen guten Eindruck, den Ederle durch die Beobachtung des Soldaten auf der Station gewonnen hatte, hob er schließlich auch im Gutachten hervor: Nach ” Vorgeschichte und Befund handelt es sich bei D. um einen weichen, zu depressiven Verstimmungen neigenden Psychopathen mit sonst jedoch recht wertvollen Charaktereigenschaften. Er f¨uhrte sich auch hier im Lazarett sehr gut, er ist sehr fleißig, gewissenhaft und sorgf¨altig, auch kameradschaftlich und hilfsbereit.“ Abschließend kam er zu einem f¨ur D. g¨unstigen Urteil: Bez¨uglich der unerlaubten Entfernung ist ” zu sagen, dass D. sich damals wohl zweifellos in einem psychischen Ausnahmezustand befand, der in strafrechtlicher Beziehung die Zubilligung des § 51, Abs. 1 erforderlich macht.“ Damit d¨urfte Ederle ihn vor einer strengen Bestrafung durch das Milit¨argericht bewahrt haben. Tats¨achlich dr¨angt sich hier zun¨achst der Eindruck auf, die gute F¨uhrung des Soldaten habe den Ausschlag f¨ur Ederles Entscheidung gegeben, dem Patienten den Paragraphen 51,1 zuzubilligen. Der Fall des Sch¨utzen Alfred G., der am 30. April 1940 aus dem Freiburger Wehrmachtsgef¨angnis zur forensisch-psychiatrischen Begutachtung nach T¨ubingen u¨ berwiesen wurde, wirft allerdings ein anderes Licht auf Ederles Vorgehensweise.17 Auch bei Alfred G. sollten die Lazarett¨arzte u¨ berpr¨ufen, ob eine Geistesst¨orung 15 T¨ummers (2010), S. 117–121, S. 127. 16 UAT 669/42313, Karl D. 17 UAT 333/Go–Gut, Alfred G.
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vorlag, die seine Zurechnungsf¨ahigkeit beeintr¨achtigte. Der Fall bietet sich f¨ur eine Untersuchung von Ederles Entscheidungsfindung besonders an, da der Arzt den Fall ausf¨uhrlich er¨orterte und sein gutachterliches Urteil detailliert begr¨undete. Nachdem Ederle den Soldaten zun¨achst k¨orperlich-neurologische untersucht hatte, nahm er eine ausf¨uhrliche Anamnese vor. Der Patient berichtete, er habe keine gute Erziehung gehabt“. Seine Mutter sei auf Vergn¨ugen viel von zu Hau” ” se weg“ gewesen, seinen Vater, der im Streit erstochen worden sei, beschrieb er als reizbar und j¨ahzornig“. Bereits als Kind sei er immer wieder von zu Hause ” weggelaufen, und auch von den Erziehungsanstalten, in denen er sp¨ater unterkam, habe er sich zeitweilig unerlaubt entfernt. Ederle kommentierte: Die Eltern des G. ” m¨ussen nach seinen Schilderungen als psychopathische Pers¨onlichkeiten betrachtet werden.“ Sp¨ater habe er zun¨achst als Hafenarbeiter sein Brot verdient“ und dann ” in verschiedenen Stellungen gearbeitet, sei allerdings nirgends l¨anger geblieben“. ” Bez¨uglich der unerlaubten Entfernung“ berichtete er, w¨ahrend seiner bisheri” gen Dienstzeit bereits h¨aufiger wegen Urlaubs¨uberschreitungen bestraft worden zu sein, da das Geld gefehlt habe, selbstst¨andig zu seinem Standort zur¨uckzukehren. Daraufhin sei ihm schließlich der Urlaub komplett gestrichen worden. Als er sich dann um seine Braut, die in anderen Umst¨anden gewesen sei“, Sorgen gemacht ha” be, da er schon einige Zeit nichts mehr von ihr geh¨ort habe“, sei er schließlich auf ” eigene Faust losgefahren. Nach diesem Besuch habe ihm allerdings erneut das Geld f¨ur die R¨uckfahrt nicht gereicht, weshalb er l¨anger als geplant vom Standort ferngeblieben sei. Da habe er allm¨ahlich Angst bekommen“, vor allen Dingen habe er ” bef¨urchtet, zu einer Strafkompanie versetzt zu werden. In den folgenden Tagen habe er versucht, der Verhaftung zu entgehen, sei allerdings bei L¨uneburg festgenommen worden. Nachdem Ederle sowohl bei der k¨orperlich-neurologischen Untersuchung als auch bei der Untersuchung des Liquors nichts Auff¨alliges feststellen konnte, beobachtete er den Soldaten f¨ur zwei Wochen auf der Station. Zufrieden mit seiner F¨uhrung stellte er fest: Die bisherige Beobachtung zeigt, dass G. zweifel” los erzieherischen Einfl¨ussen zug¨anglich ist. Er schildert zum Beispiel sehr beeindruckt, dass ihn die seitherigen Erfahrungen seiner Strafverb¨ußung doch recht nachdenklich gemacht h¨atten, insbesondere die Erschießungen, denen er befehlsgem¨aß beigewohnt habe. Auf der Abteilung zeigt G. immer ein sehr korrektes, beinahe u¨ berm¨aßig strammes Verhalten.“ Erneut befragte er den Patienten nach seinen Motiven f¨ur die Entfernung von der Truppe und notierte: Die schon erw¨ahnte Begr¨undung, er habe durch eine ” kriegsgerichtliche Bestrafung zun¨achst die Versetzung zu einer Sonderabteilung vermeiden wollen, bringt er mit allem Ernst vor. Von seiner Denkweise aus ist dieses Motiv auch glaubhaft und verst¨andlich.“ Abschließend gelangte Ederle zu folgender Einsch¨atzung: Bei G. handelt es sich um eine in die Gruppe der Psychopathen geh¨orende abartige Pers¨onlichkeit. [...] Er war an sich auch durchaus in der Lage, das Strafbare seines Handelns
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Psychopathen“ vor dem Milit¨argericht ” einzusehen. Zweifellos hat er infolge seiner anlagem¨aßigen Konstitution mehr Schwierigkeiten als ein Mensch von durchschnittlicher Veranlagung zu u¨ berwinden, um gegen W¨unsche und Strebungen, die mit seiner dienstlichen Verpflichtung in Widerspruch stehen, durch willensm¨aßige Selbstbeherrschung die n¨otigen Hemmungsmechanismen zu bilden. [...] Mitbestimmend f¨ur sein disziplinloses Verhalten ist nicht nur seine dazu neigende konstitutionelle Verfassung, sondern die von jeher ungen¨ugende Erziehung, die er genossen hat. Dass eine solche erzieherische Beeinflussung m¨oglich ist, geht daraus hervor, dass er die Erfahrungen seiner seitherigen Strafverb¨ußung in durchaus g¨unstigem Sinne zu verwerten vermag.
An diesem Fall l¨asst sich zeigen, worauf Ederle achtete, wenn er die die Zurechnungsf¨ahigkeit von Psychopathen“ beurteilte. Tats¨achlich hielt Ederle regelm¨aßig ” in den Akten fest, ob sich ein Soldat wie Alfred G. korrekt und diszipliniert auf der Abteilung verhielt. Auch war es f¨ur ihn von Bedeutung, ob ihm die Gr¨unde, die der Patient f¨ur das Delikt angab, nachvollziehbar erschienen. Ederle stellte fest: von ” seiner Denkweise aus ist dieses Motiv auch glaubhaft und verst¨andlich“. Ein wichtiger Punkt schien auch gewesen zu sein, ob der Patient Einsicht in das Fehlerhafte seines Verhaltens zeigte und den Vorsatz zur Besserung zeigte: Dass eine solche er” zieherische Beeinflussung m¨oglich ist, geht daraus hervor, dass er die Erfahrungen seiner seitherigen Strafverb¨ußung in durchaus g¨unstigem Sinne zu verwerten vermag.“ Ob die genannten Punkte allerdings, wie von T¨ummers postuliert, ausschlaggebend f¨ur Ederles Urteil waren und ihn veranlassen konnten, Soldaten durch die Anwendung des § 51 StGB eine Verminderung oder Aufhebung der Straff¨ahigkeit zu bewilligen, ist fraglich. Denn trotz all dieser Faktoren lehnte Ederle die Anwendung des § 51 bei Alfred G. ab. Im Abschlussbericht res¨umierte er: Die Voraus” setzungen des § 51,1 oder 2 erscheinen nach dem Ergebnis der Beobachtung nicht vorzuliegen.“ 18 Die bemerkenswerte Tatsache, dass Ederle auch biographische und erzieherische Einfl¨usse f¨ur mitbestimmend“ hielt, und die Psychopathie“ f¨ur ihn nicht, wie ” ” f¨ur seine Fachkollegen, ein rein biologisches Problem darstellte, f¨uhrte im Fall Alfred G. gerade nicht zu dessen Exkulpierung. Im Gegenteil: Dass Ederle den Patienten als erzieherischen Maßnahmen zug¨anglich“ einsch¨atzte, war f¨ur ihn ein Grund, ” zus¨atzliche Strafmaßnahmen zu empfehlen: Es d¨urfte auch zweckm¨aßig sein, ihn ” [Alfred G.] nach Verb¨ußung der Strafe zu einer Sonderabteilung zu versetzen und erst, wenn es sich zeigt, dass er willens ist, die guten Vors¨atze, die er sich jetzt vorgenommen hat, auch in die Tat umzusetzen, bei einer regul¨aren Truppe Dienst tun zu lassen.“
18 Dieses Zitat ist dem Abschlussbericht der Krankenakte von Alfred G. entnommen, siehe Abschnitt D“, Eintrag vom 17. Mai 1940. Im Durchschlag des Gutachtens steht hingegen: Ich ” ” komme daher zu der Ansicht, dass dem G. f¨ur seine strafbare Handlung § 51,1 oder 2 des RStGB zuzubilligen ist. [Hervorh. JW]“ Diese uneindeutige Formulierung legt nahe, dass es sich im Gutachten um einen Schreibfehler handelte, der eventuell im Original (nicht im Durchschlag) noch nachtr¨aglich korrigiert wurde zu Ich komme daher zu der Ansicht, dass dem G. ” f¨ur seine strafbare Handlung § 51,1 oder 2 des RStGB nicht zuzubilligen ist“.
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Paradigmatisch zeigen sich Ederles Kriterien zur Begutachtung auch im Falle des Sch¨utzen Leopold K., der sich wegen Diebstahls einer Uhr unmittelbar vor der ” Einziehung“ im August 1940 kriegsgerichtlich verantworten musste.19 Der ehemalige Forstwart gab an, er habe die Uhr als Abzahlung von seinem r¨uckst¨andigen ” Lohn“ betrachtet. Sp¨ater habe er sie dann verkauft. Bei Leopold K. wurde deutlich, welche Bedeutung Ederle verschiedenen Faktoren bei der Begutachtung zumaß und wie er sie gegeneinander abw¨agte. Zun¨achst hob Ederle das vorbildliche Verhalten von Leopold K. auf der Station hervor: Er habe sich auf der Abteilung ruhig und ” geordnet“ verhalten, alle ihm u¨ bertragenen Arbeiten zufriedenstellend“ ausgef¨uhrt ” und sich in kameradschaftlicher Weise um seine Mitkranken“ gek¨ummert. Dem ” folgte eine positive Einsch¨atzung u¨ ber Leopold K. in charakterlich-moralischer Hinsicht: So stecke in K. doch auch ein recht guter Kern“, denn er habe stets ein ” ” normales Empfinden f¨ur die Forderungen der Gemeinschaft und des Vaterlandes“ gezeigt. Zuletzt beurteilte er K. in seiner milit¨arischen Rolle als Soldat. Auch hier zeigte sich Ederle zufrieden, denn K. habe stets Sinn f¨ur soldatisches Wesen und ” f¨ur soldatische Disziplin“ gezeigt. Auch in diesem Fall kam Ederle zum Ergebnis, dass der § 51 StGB trotz des Wohlverhaltens“ des Soldaten nicht zum Tragen kom” men k¨onne. Denn entscheidend war f¨ur Ederle, dass der Soldat bei seiner Tat in vollem Bewusstsein, etwas Unerlaubtes zu tun, gehandelt habe. So sei dem Sch¨utzen zweifellos bewusst gewesen, dass er keine rechtlichen Besitzanspr¨uche an die Uhr, ” die er eigenm¨achtig an sich nahm,“ hatte. Deshalb, so Ederle, k¨onne eine Zubilligung des § 51 nicht bef¨urwortet werden. Es ist also nicht wahrscheinlich, dass die F¨uhrung im Lazarett das maßgebende Kriterium f¨ur die gutachterliche Entscheidung Ederles war. Im oben dargestellten Fall des Karl D., der sich aufgrund von Heimweh“ unerlaubt von seiner Truppe ” entfernt hatte, war es wohl eher die von Ederle vermutete endogene“ Bedingtheit ” seines Verstimmungszustandes, die ihn dazu bewegte, den § 51,1 zuzubilligen. Diese Begr¨undung findet sich h¨aufiger: Wann immer Ederle hinter der Handlungsweise seiner Probanden eine angeborene“, konstitutionelle“ oder endogene“ Neigung ” ” ” vermutete, sprach er sich f¨ur die Anwendung des § 51,1 oder 2 aus20 – und d¨urfte sich damit durchaus auf einer Linie mit der Heeressanit¨atsinspektion befunden haben. Denn diese kommunizierte durch Otto Wuth, dass zwar schwer Zwangskran” ke, schwer konstitutionell Depressive, Phobische usw., nicht aber Charakteropathen, Homosexuelle, Kriminelle usw.“ Gr¨unde f¨ur eine Einschr¨ankung oder Aufhebung der Zurechnungsf¨ahigkeit bieten w¨urden.21 Dasselbe galt auch, wenn Ederle organische Sch¨aden vermutete, etwa infolge einer fr¨uher durchgemachten neurologischen Erkrankung wie Meningitis, oder wenn Alkoholeinwirkung vorlag.22
19 UAT/I–Ke, Leopold K. 20 Siehe etwa die F¨alle UAT 333/Fri–Gn, Johann G.; /Siem–Scher, Clemens S.; /Scho–Schw, Harald S. 21 UAT 308/92, Wuth an Hoffmann, 21. Juli 1942, Berlin. 22 UAT 333/Kop–Lang, Karl K.; /Ki–Koo, Otto K.; /Hep–Hy, Emil H.
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Psychopathen“ vor dem Milit¨argericht ”
Auch die These, dass das Bedauern der Straftat und der Wille zur Besserung von ¨ ¨ den Arzten mit Milde und Entgegenkommen belohnt wurde, h¨alt der Uberpr¨ ufung 23 am gesamten Kollektiv von begutachteten Soldaten nicht stand. Bei Alfred G. f¨uhrte dies im Gegenteil dazu, dass Ederle aus erzieherischen“ Gr¨unden noch eine ” Strafversch¨arfung in Form einer Versetzung zu einer Sonderabteilung forderte. Wenngleich sich zeigt, dass die vorbildliche F¨uhrung im Lazarett kein Garant f¨ur den § 51 StGB war, so galt das Umgekehrte dennoch mit Regelm¨aßigkeit: Ederle forderte durchgehend bei Soldaten, die unter seiner Aufsicht die Lazarettordnung missachteten, eine Versch¨arfung der Strafe oder sprach Empfehlungen f¨ur Sanktionen aus. Dies war der Fall bei Willy H., der das T¨ubinger Lazarett mit der Diagnose asozialer hochstaplerischer Psychopath“ wieder verließ.24 Aus dessen Gutachten ” l¨asst sich außerdem ablesen, was Wilhelm Ederle unter einem normalem Empfin” den f¨ur die Forderungen der Gemeinschaft und des Vaterlandes“ verstand. H. gab bei der Einweisung am 14. Oktober 1940 zun¨achst an, es sei ihm nicht bekannt, dass er sich irgendwelche Verfehlungen h¨atte zu schulden kommen lassen“. Er ha” be lediglich einige Briefe als postlagernd an sich schicken lassen, da seine Post regelm¨aßig von der Schwadron“ kontrolliert worden sei. Deshalb sei er nun wegen ” Umgehung eines Divisionsbefehls“ angeklagt, ansonsten sei ihm nicht bekannt, ” ¨ dass er sich irgendwelche Verfehlungen zuschulden kommen lassen h¨atte. Die Arzte kommentierten sein Verhalten w¨ahrend des Aufnahmegespr¨achs: Mit einem u¨ berlegenen L¨acheln erz¨ahlt er von seinen Vorstrafen und den Vorf¨allen, die jetzt zu seiner Einweisung gef¨uhrt haben. Mit einem gewissen Stolz zeigt er Briefe und Photographien von etwa sechs M¨adchen vor. Macht sich keinerlei Gedanken u¨ ber das Unw¨urdige seines Verhaltens, besonders im Hinblick auf die Tatsache, dass er Vater von drei Kindern ist.
Dieses Verhalten bewog die Lazarett¨arzte dazu, seinen Angaben zu misstrauen und beim Amtsgericht Ulm Strafakten anzufordern. Diesen entnahmen sie, dass H., der in Friedenszeit weder bei seiner Frau lebe noch seine Kinder versorge, einem pol” nischen Landarbeiter seine Wehrmachtsuniform, M¨utze, Koppel mit Seitengewehr“ angezogen habe. Danach habe er diesen Polen in der deutschen Wehrmachtsuni” form“ photographiert, obwohl ihn seine Frau auf die Ungeh¨origkeit einer solchen ” Handlungsweise“ hingewiesen habe. Als H. dann im Lazarett versuchte, die a¨ rztliche Kontrolle seiner Briefe zu um¨ gehen, indem er sie durch andere Patienten aufgeben ließ, verlegten die Arzte ihn mit sofortiger Wirkung auf die geschlossene Abteilung. Ederle schrieb aufgebracht an das Gericht: Da eine Geistesst¨orung, wie gesagt, nicht vorliegt, besteht auch ” kein Anlass, in forensischer Beziehung eine verminderte Zurechnungsf¨ahigkeit anzunehmen. Bei der ausgesprochenen Asozialit¨at des H. erscheint im Gegenteil eine recht empfindliche Strafe angezeigt.“ Ederle bediente sich hierbei einer Sammelbezeichnung f¨ur aus der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft“ ausgegrenzte ” 23 T¨ummers (2010), S. 121. 24 UAT 333/Hep–Hy, Willy H.
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Personen. Als asozial“ wurden im Dritten Reich soziale Minderheiten und An” geh¨orige der Unterschicht bezeichnet, die von einem volkshygienischen“ Stand” punkt aus unerw¨unscht waren, wie etwa Obdachlose, Wanderarbeiter, Bettler, sogenannte Arbeitsscheue“ und sexuell Freiz¨ugige“ 25 . Ausschlaggebend aber f¨ur die ” ” Empfehlung zur Strafversch¨arfung war aber wahrscheinlich der Disziplinverstoß des Soldaten auf Ederles Abteilung. Dies traf auch zu in F¨allen, in denen sich Soldaten unerlaubt aus der Klinik entfernten. Einer davon war Artur E., der nach der Teilnahme an schweren K¨ampfen am Westwall in Kogenheim in einer Wirtschaft zu tief ins Glas geschaut“ habe.26 ” Er sei daraufhin von einem Oberleutnant angesprochen worden, der ihm nahelegte, sich nach dem Dienst krank zu melden. Daraufhin sei er in das T¨ubinger Lazarett eingewiesen worden. Hier wurde der Gefreite zun¨achst von den Lazarett¨arzten gelobt: Auf der Ab” teilung zeigt E. ein geordnetes zuvorkommendes und unauff¨alliges Verhalten. Er bem¨uht sich, ein strammes milit¨arisches Benehmen zu zeigen. Er wird, da seine bisherige F¨uhrung in jeder Weise zufriedenstellend war, von der geschlossenen auf die offene Abteilung verlegt.“ Wenige Tage sp¨ater folgte allerdings ein Fehltritt: Am gestrigen Sonntag erhielt E. im Hinblick auf die heute vorgesehene Entlassung ” von 13 bis 18 Uhr Stadturlaub. Von diesem kehrte E. nicht zur¨uck. Nachforschungen ergaben, dass er am heutigen Morgen um 0:45 Uhr von einer Milit¨arstreife in betrunkenem Zustand festgenommen worden war“. Auch f¨ur E. empfahlen die Lazarett¨arzte die Versetzung in eine Sonderabteilung. Hinsichtlich der Sicherungsverwahrung von Psychopathen“ in Pflege- oder ” ¨ Heilanstalten gem¨aß §42 b StGB27 richteten sich die T¨ubinger Arzte ganz nach den Vorgaben der Heeressanit¨atsinspektion. F¨ur Alfons M. zog Ederle eine solche Einweisung in Betracht, lehnte sie aber im Hinblick auf die Kriegsumst¨ande ab.28 Das Gutachten u¨ ber diesen Soldaten war angefordert worden, da er sich am 12. November 1939 eigenm¨achtig von seiner Truppe“ entfernt hatte. Sein Verhalten auf der ” Station erregte von Beginn an Ederles Missfallen: Auf der Abteilung f¨allt M. durch ” sein schwachsinniges Verhalten auf, er grinst bei den Visiten l¨appisch vor sich hin“. Als am 20. Dezember 1939 eine Suboccipitalpunktion bei dem Patienten durchgef¨uhrt werden sollte, kam es zum Konflikt auf der Station: M. begann, m¨achtig ” zu schimpfen“, und drohte, er werde jeden kalt machen, der ihn anfasse“. Ederle ” folgerte, dass bei M. erhebliche charakterliche Defekte im Sinne des Vagabunden” tums, Reizbarkeit, Streits¨uchtigkeit und Unbest¨andigkeit“ best¨unden. Die Gesamt” pers¨onlichkeit“ sei somit als hochgradig minderwertig und asozial“ zu bewerten. ” Im Hinblick auf diese hochgradige Psychopathie“ m¨usse er M. eine Verminderung ” 25 Ayaß (1995), S. 105–108. 26 UAT 669/42395, Artur E. 27 § 42 b StGB zit. n. Riedesser und Verderber (1996), S. 179: Hat jemand eine mit Strafe be” drohte Handlung im Zustand der Zurechnungsunf¨ahigkeit [. . . ] oder der verminderten Zurechnungsf¨ahigkeit [. . . ] begangen, so ordnet das Gericht seine Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt an, wenn die o¨ ffentliche Sicherheit dies erfordert“. 28 UAT 333/Mad–Maur, Alfons M.
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der Zurechnungsf¨ahigkeit gem¨aß § 51,2 zugestehen. Zugleich hielt Ederle Sicherungsmaßnahmen f¨ur unbedingt erforderlich“. Zwar k¨ame nach dem b¨urgerlichen ” Strafgesetzbuch eine Unterbringung in einer Heil- und Pflegeanstalt“ gem¨aß § 42 b ” infrage, allerdings sprach er sich im Hinblick auf die gegenw¨artigen Verh¨altnisse“ ” dagegen aus. Hierbei handelte Ederle im Sinne der Heeresleitung, denn um den von Wuth eingeforderten Schutz der Gemeinschaft vor den Psychopathen“ um” zusetzen, sollten die Milit¨arpsychiater die Soldaten keinesfalls gem¨aß § 42 b StGB zur Sicherungsverwahrung in Heil- oder Pflegeanstalten einweisen.29 Davor warnten auch die Milit¨arjuristen, war doch der Aufenthalt von Psychopathen“ in der ” Heimat, fernab vom Kriegsgeschehen an der Front, gerade das, was sie vermeiden wollten. W¨urde man die Psychopathen“ zum Abb¨ußen ihrer Strafe in Gef¨angnissen ” oder zur Sicherungsverwahrung in Heil- und Pflegeanstalten in der Heimat aus der k¨ampfenden Truppe entfernen, so w¨urde dies dem Dr¨uckebergertum Vorschub leis” ten“.30 Ein solches Vorgehen k¨onnte andere Minderwertige nur zur Nachahmung ” reizen“ und m¨usste zwangsweise bei der Truppe einen demoralisierenden Eindruck ” hinterlassen.“ Stattdessen sollten Psychopathen“ in milit¨arischen Sondereinheiten ” Verwendung finden. Auf diese Weise k¨onnte die Truppe r¨ucksichtslos“ von Min” derwertigen ges¨aubert und zugleich die W¨uhl- und Zersetzungsarbeit“ sowie die ” Darwinsche Zuchtwahl im entgegengesetzten Sinne“ verhindert werden.31 ” ¨ Wenngleich Ederle sich in diesem Fall nicht f¨ur die Uberweisung des Soldaten in ein Sonderbataillon der Wehrmacht aussprach, hielt er es angesichts der erhebli” chen charakterlichen Defekte und asozialen Z¨uge des M.“ f¨ur angezeigt, statt einer Unterbringung gem¨aß § 42 StGB eine nutzbringendere Arbeitsleistung“ des Solda” ten zu erzwingen. Deshalb empfahl er seine Unterbringung in einer geschlossenen ” Abteilung eines Arbeitshauses oder in einem Konzentrationslager“. ¨ Dass sich die T¨ubinger Arzte f¨ur die Unterbringung gem¨aß § 42 StGB aussprachen, war lediglich bei Josef H. der Fall. Der Kanonier, der im zivilen Leben als Rechtsanwalt t¨atig gewesen war, hatte am Tag seiner Einberufung mit einem Feldwebel direkt nach Ankunft f¨unf bis sechs Halbe getrunken“.32 Als seine Kamera” den unterdessen bereits ausger¨uckt waren, h¨atten ihm herumstehende Kameraden“ ” empfohlen, sich am n¨achsten Tag wieder zu melden, da er an diesem Tag doch ” nichts mehr erreichen“ k¨onne. Daraufhin sei er in die n¨achste Wirtschaft gegangen und habe sich Bier bestellt. An die folgenden Ereignisse habe er nur ganz schlag” lichtartig[e] Erinnerungen“. Als er am n¨achsten Morgen aufgewacht sei, habe er erstaunt festgestellt, dass er sich in einer muffigen Zelle befinde“. ” Josef H. wurde von Ederle folgendermaßen beurteilt: Er ist als haltloser und ” ziemlich gem¨utsflacher Psychopath zu betrachten, der bez¨uglich des Alkohols ausgesprochen s¨uchtig ist. [...] Es ist ihm daher f¨ur die im Stadium der Volltrunkenheit 29 Bericht u¨ ber die Erste Kriegstagung der Beratenden Fach¨arzte im Januar 1940, Valentin (1981), S. 126–129, hier S. 128. 30 Schwinge (1939/40), S. 121. 31 Ebenda, S. 119 ff. 32 UAT 333/Hep–Hy, Josef H.
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¨ gemachten staatsfeindlichen Außerungen der § 51,1 zuzubilligen.“ Auch in diesem Fall wird, wie bereits bei Alfred G., eine erzieherische Absicht Ederles gegen¨uber Psychopathen“ deutlich: Da Josef H. sich jedoch der Fahrl¨assigkeit seines Ver” haltens durchaus hatte bewusst sein m¨ussen, als er sich betrank, sei dennoch eine Bestrafung angezeigt. Nicht zuletzt sei es auch vom rein a¨ rztlich psychologischen ” Standpunkt aus [...] durchaus w¨unschenswert, dass er auf diese Weise einen nun f¨uhlbaren Denkzettel bekommt, um vielleicht noch auf diese Weise einen erzieherischen Einfluss auf seine Haltlosigkeit auszu¨uben“. Die einzige, allerdings nicht ” allzu große Aussicht, ihn von seinem Laster zu befreien,“ sah Ederle darin, H. f¨ur ein bis zwei Jahre gem¨aß § 42 c in eine geschlossene Trinkerheilanstalt“ ein” zuweisen. Erneut zeigte sich hier die p¨adagogische Funktion, die Ederles a¨ rztliches Selbstverst¨andnis beinhaltete. Als Arzt verstand er sich zugleich als Erzieher“ der ” Psychopathen“. ” Auch vom Assistenten der Lazarettabteilung, Wolfgang R¨udiger Krais, liegen insgesamt neun Gutachten u¨ ber Wehrmachtssoldaten vor. Im Gegensatz zu Wilhelm Ederle legte Krais, der in einer Soldatenfamilie sozialisiert worden war, vor allem Wert auf die soldatische Disziplin der Psychopathen“. Zum Sch¨utzen Ernst ” K., der am 9. Dezember 1941 in das Lazarett u¨ berwiesen wurde, nachdem er zuvor den Gehorsam vor mehreren Vorgesetzten vor versammelter Mannschaft verwei” gert“ hatte und sich eines versuchten t¨atlichen Angriff gegen einen Offizier der ” Kompanie“ schuldig gemacht hatte, bemerkte er: Er ist v¨ollig unmilit¨arisch, ver” beugte sich anfangs bei der Begr¨ußung durch Vorgesetzte, zeigte keinerlei Sinn und Verst¨andnis f¨ur die milit¨arischen Einrichtungen.“ 33 Bei dem Abiturient Karl N., der am 20. September 1944 in das Lazarett eingewiesen wurde, da er es von vornherein am guten Willen fehlen zu lassen“ schien, ” vermisste Krais ebenso die f¨ur das deutsche Heer notwendige Manneszucht“ 34 . Als ” er den Soldaten nach dem Grund fragte, weshalb er in der Truppe so schlapp und ” haltlos“ auftrete, gab dieser an, dass er aus Heimweh, Einsamkeit und Angst vor ” den vielen Kameraden“ so gehandelt habe. Krais res¨umierte missbilligend: Macht ” im ganzen einen infantilen Eindruck. Typ des Mutters¨ohnchens“. Als N. dann schließlich zu leichteren Erdarbeiten im Luftschutz“ herangezogen wurde und dabei so ” nachl¨assig arbeitete, dass er bereits nach kurzer Zeit wegen des schlechten Bei” spiels, das er den Kameraden biete“ wieder weggeschickt wurde, war Krais’ Geduld zu Ende. Entr¨ustet schrieb er dem Gericht: Da die dauernden Schwierigkeiten ” zum Teil aus mangelhaftem Eingliederungswillen entstehen, wird empfohlen, dem N. Versetzung zu einer Sonderabteilung in aller Form anzudrohen und dies gegebenenfalls auch durchzuf¨uhren.“ Auch Homosexualit¨at f¨uhrte als Verstoß gegen die Manneszucht“ der Wehr” macht zu Begutachtungen im Lazarett. Der Sch¨utze Erich S. sollte in T¨ubingen im Juli 1941 auf seinen Geisteszustand untersucht werden, nachdem er beschuldigt worden war, in einem Gefangenenlager mit einem anderen Manne Unzucht ” 33 UAT 333/Kop–Lang, Ernst K. 34 UAT 333/N–Pet, Karl N.
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getrieben zu haben“.35 Der Patient, der angab, er leide unter seiner abnormen Ver” ¨ anlagung“, erregte das Missfallen der Arzte auf der Station: S. zeigt auf der Ab” teilung ein sehr undiszipliniertes Verhalten. Versucht auch hier immer wieder, sich an Mitkranke heranzumachen“. Der begutachtende Arzt er¨orterte in der Akte die M¨oglichkeit einer Kastration des Patienten, kam allerdings zu dem Ergebnis, dass sie vorl¨aufig“ nicht zu empfehlen sei, da die Erfahrung u¨ ber dieses Verfahren bei ” ” Homosexuellen nicht eindeutig“ sei. Außerdem m¨usse man in Anbetracht des ju” gendlichen Alters [...] mit unter Umst¨anden recht erheblichen Ausfallserscheinungen“ rechnen.36 Erneut best¨atigt sich hier die Regel, dass Disziplinverst¨oße auf der Station dazu ¨ f¨uhrten, dass die Arzte eine Versch¨arfung der Strafe forderten, denn der Arzt schloss den Fall mit dem Ergebnis: Es handelt sich bei S. um einen willensschwachen, ” undifferenzierten und unwahrhaften Psychopathen. F¨ur die von ihm begangenen homosexuellen Handlungen ist er verantwortlich. Besondere Gesichtspunkte, die bei homosexuellen Handlungen in seltenen F¨allen die Anwendung des § 51, Absatz 1 oder 2 rechtfertigen, ergaben sich bei ihm nicht.“ Er empfahl: Der Akzent ist ” auch nach Verb¨ußung der Strafe auf eine nachhaltige erzieherische Einwirkung zu legen. Das entscheidende charakterliche Moment bei S. ist seine Willensschw¨ache. ¨ Dies d¨urfte nur bei Uberweisung zu einer Feldsonderabteilung m¨oglich sein. Diese wird daher vorgeschlagen.“ Allerdings hatte die Forderung der T¨ubinger Lazarett¨arzte nach Manneszucht“ ” und soldatischer Straffheit auch ihre Grenzen, etwa bei dem 17-j¨ahrigen Kanonier Josef G., der noch Sch¨uler gewesen war, bevor er im Januar 1940 zur Wehrmacht kam.37 Zun¨achst kam er bei der Flak in Steyr, sp¨ater bei einer Baukompanie in L¨orrach zum Einsatz. Hier wie dort habe er keinen Anschluss an die Kameraden gefunden, und sei im Dienst st¨andig durch seine Unbeholfenheit und Unsicherheit“ ” aufgefallen. Schließlich habe ihn die Verzweiflung u¨ ber sein Versagen bei der Wehrmacht in den Suizid getrieben: Da er geglaubt [habe], dass er ein lebensuntaugli” cher T¨olpel sei, der es im Leben nie zu etwas bringe“, ver¨ubte er am 3. Februar 1940 einen Selbstmordversuch mit Carbromal, einem bromidhaltigen Sedativum. Nachdem er kurz darauf auf dem Hauptsverbandsplatz L¨orrach wieder erwachte, wurde er schließlich nach T¨ubingen zur psychiatrischen Begutachtung verlegt. Zun¨achst machte G. auf der Station einen zur¨uckhaltenden Eindruck, aber bereits einige Tage nach der Aufnahme hatte sich sein Zustand deutlich gebessert: Auf entsprechenden ” Zuspruch ist G. nun etwas freier geworden, er bereut angeblich auch seinen Selbstmordversuch und schaut wieder etwas vertrauensvoller in die Zukunft. Er ist jetzt 35 UAT 333/Sta–Th, Erich S 36 Trotz un¨ubersehbaren gesundheitlichen Beeintr¨achtigungen ordneten Richter im Nationalso¨ zialismus bei mehreren tausenden Homosexuellen Zwangskastrationen an, die von Arzten ausgef¨uhrt wurden. Auch von Seiten der Mediziner wurden Forderungen nach einer biologistisch” medizinischen Radikall¨osung des Homosexuellenproblems“, das heißt der M¨oglichkeit zur Zwangskastration aller Homosexuellen, laut. Siehe Jellonnek (1990), S. 140–175, hier S. 150 sowie S. 159. 37 UAT 333/Go–Gut, Josef G.
Disziplinverst¨oße
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sehr aussprachebed¨urftig und f¨ur psychotherapeutische F¨uhrung sehr dankbar.“ Der behandelnde Arzt zeigte Verst¨andnis f¨ur ihn: G. wirkt im ganzen recht infantil. ” Seine geistige Entwicklung scheint sich noch nicht entsprechend dem Lebensalter vollzogen zu haben. [...] Da G. erst 17 Jahre alt ist und bei ihm der seelische Reifungsprozess noch nicht abgeschlossen ist, w¨urden wir die Zur¨uckstellung von G. f¨ur ein Jahr empfehlen.“ Assistenzarzt Krais schrieb am 16. April 1940 an das Feldgericht des Kommandierenden Generals und Befehlshabers im Luftgau VII“: ” Nach dem Ergebnis der Beobachtung liegt bei G. eine echte Geistesst¨orung nicht vor. Es ist aber anzunehmen, dass es bei ihm durch die innerseelischen Spannungen zu einer erheblichen Affektstauung kam, die als Reaktion zu dem Selbstmordversuch gef¨uhrt hat. Bei der Tat befand sich G. in einem seelischen Ausnahmezustand, der einer Psychose gleichzusetzen ist. G. ist demnach f¨ur seine Handlungsweise nicht zurechnungsf¨ahig gewesen. Die Voraussetzungen des § 51,1 sind daher gegeben. Selbstverst¨ummelungsabsicht lag sicher nicht vor. Im Hinblick darauf, dass bei G. der seelische Reifungsprozess noch nicht abgeschlossen ist, und [auf] sein Alter von erst 17 Jahren, wurde von uns das D[ienst]u[nf¨ahigkeits]Verfahren eingeleitet und Nachuntersuchung in einem Jahr empfohlen. G. wurde von hier zur Durchf¨uhrung des Entlassungsverfahrens zum Wehrkreisersatzdepot V Stuttgart in Marsch gesetzt.
H¨ochstwahrscheinlich bewahrte Krais hier den Jugendlichen vor einer scharfen Bestrafung durch das Feldgericht. Nur zwei der Patienten, die hinsichtlich ihrer Zurechnungsf¨ahigkeit begutachtet wurden, waren Offiziere. Deren Gutachten verfasste Hermann Hoffmann pers¨onlich, was bemerkenswert ist, da ansonsten keine weiteren Gutachten von ihm vorliegen – die Begutachtung der Hochrangigen schien dem Direktor der Klinik vorbehalten gewesen zu sein. Einer dieser Offiziere war Oberstabsarzt Werner G., der sich wegen Missbrauch der disziplin¨aren Gewalt in Tateinheit mit Misshandlung von ” Untergebenen“ vor Gericht verantworten musste.38 Da der Richter eine krankhafte ” Pers¨onlichkeitsumwandlung“ vermutet hatte, die zu einem Knick in der Lebens” linie“ des Oberstabsarztes gef¨uhrt hatte und eine Erkl¨arung f¨ur seine Delikte abgeben k¨onnte, sollte im September 1942 seine Zurechnungsf¨ahigkeit in T¨ubingen u¨ berpr¨uft werden. Dort wies der Oberstabsarzt die Vorw¨urfe von sich, und zwar entschieden und glaubhaft“, wie Hoffmann kommentierte. Zwar sei das in Frage ” stehende Exerzieren“ aus disziplin¨aren Gr¨unden erfolgt, jedoch nie als Strafex” ” erzieren ausdr¨ucklich gemeint und bezeichnet worden.“ Allerdings r¨aumte Werner G. ein, u¨ ber die Stimmung in seiner Kompanie ungen¨ugend orientiert“ gewesen zu ” sein. Hoffmann kam nach dem Gespr¨ach zum Ergebnis, dass Oberstabsarzt G. zwar ausgesprochen stur“ sei und sich selbst und anderen das Leben“ von Zeit zu Zeit ” ” schwer mache. Da er sich aber in der T¨ubinger Klinik in jeder Weise pers¨onlich ” g¨unstig“ gef¨uhrt habe und stets ein korrektes, a¨ ußerlich straffes und gefasstes Ver” halten“ zeigte, hielt Hoffmann die Anschuldigungen f¨ur ungerechtfertigt. Er betonte: Mit den u¨ brigen Offizieren der Laz[arett]abteilung kam er schon nach kurzer ” 38 UAT 333/Go–Gut, Werner G.
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Zeit in guten pers¨onlichen Kontakt und erfreute sich besonderer Beliebtheit und Wertsch¨atzung“. Deshalb, sowie aufgrund der tadellose[n] Bew¨ahrung im Feld” zug gegen Frankreich“, kam Hoffmann zu der abschließenden Bewertung, dass im Urteil des Feldgerichts die hervorragende Pers¨onlichkeit des Oberstabsarztes nur ungen¨ugend ber¨ucksichtigt worden war. Hoffmann sah darin einen rechtsg¨ultigen ” Grund daf¨ur, daß in einem erneuten kriegsgerichtlichen Verfahren die Angelegenheit noch einmal zur Verhandlung kommt“. Wie sich bereits f¨ur die Diagnosevergabe im Lazarett gezeigt hatte, schreckten ¨ die Arzte vor einer allzu br¨usken Stigmatisierung der F¨uhrungselite der Wehrmacht zur¨uck. Gleichermaßen schien auch in der Begutachtungspraxis ein Zusammenhalt zwischen Hoffmann und Patienten, die sich hinsichtlich ihrer sozialer Stellung auf seiner Augenh¨ohe befanden, die Bewertung zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Im Fall von Werner G. ging Hoffmann sogar noch einen Schritt weiter: Er gab keine Einsch¨atzung u¨ ber die Schuldf¨ahigkeit des Offiziers ab, was als Gutachter eigentlich seine Aufgabe gewesen w¨are, sondern u¨ bte offen Kritik am Urteil des Feldgerichts. Die Betrachtung der F¨alle, bei denen Gutachten u¨ ber Soldaten angefertigt wurden, die sich aufgrund von Disziplinverst¨oßen bei der Truppe milit¨argerichtlich verantworten mussten, zeigt, dass Hoffmann und Krais durchaus eigene Kriterien bei der Entscheidungsfindung u¨ ber die Zurechnungsf¨ahigkeit ansetzten, w¨ahrend Wilhelm Ederle sich weitgehend im Rahmen der Vorschriften der Heeressanit¨atsinspektion bewegte. Da ein Großteil der Gutachten von Wilhelm Ederle stammt, stellt sich die Frage, warum der § 51 StGB in T¨ubingen dennoch h¨aufiger zum Tragen kam als in anderen Wehrkreisen des Deutschen Reichs. Eine Betrachtung derjenigen F¨alle, bei denen das Delikt im Gegensatz zu Disziplinverst¨oßen wie dem Diebstahl einer Uhr oder Alkoholexzessen als Versuch gewertet werden konnte, sich dem Wehrdienst zu entziehen – und damit die Todesstrafe als m¨ogliche und sogar wahrscheinliche Konsequenz erwarten ließ – gibt hier¨uber Aufschluss.
SIMULATION Neben eindr¨ucklichen Berichten von Kriegserlebnissen, die sich in vielen der Akten finden, kam es auch immer wieder vor, dass derartige Schilderungen auff¨allig kurz gehalten wurden, oder dass die Soldaten eine Verbindung zwischen dem Erlebten und ihrem schlechten Befinden von vornherein abstritten. H¨ochstwahrscheinlich wollten diese Soldaten es vermeiden, sich der Simulation und somit des Tatbestands der Wehrkraftzersetzung“ verd¨achtig zu machen und mit Schilderungen grausamer ” Umst¨ande im Krieg ein Motiv hierf¨ur preiszugeben – durch die im Nationalsozialismus radikalisierte Wehrmachtjustiz hatten sie dazu guten Grund. Zum Teil wurden die Patienten peinlich genau nach ihren Handlungsmotiven befragt, um herauszufinden, inwieweit Feigheit“ ihr Beweggrund gewesen war. Gespr¨achsprotokolle in ” den Krankenakten machen dies deutlich, wie etwa bei Theodor S., der wegen un” erlaubter Entfernung von der Truppe“ angezeigt worden war. Der Gefreite hatte
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seinen Vorgesetzten angegeben, dass er im Kampfgeschehen von der Truppe abgetrennt wurde und dann eine Gehirnersch¨utterung erlitten habe.39 Er habe sehr stark unter der K¨alte gelitten, die sei oft schlimmer gewesen als das feindliche Feuer. Er habe nie daran gedacht, wegzulaufen. Auf die Frage, ob er Angst gehabt habe, meint er, vor einem Angriff habe man immer ein unangenehmes Gef¨uhl. Da ging es ” mir nicht anders als den anderen auch, aber besondere Angst hatte ich nicht.“ Unter Wiederholung dann: Manchmal habe ich die Granaten weniger gef¨urchtet als die K¨alte“. Als ” Grund f¨ur seine Entfernung gibt er an, dass er w¨ahrend eines Angriffs von seiner Truppe abgekommen sei, und auf der Suche nach seinem Truppenteil sich sein Mitfunker verloren habe. [...]
Ebenso kam es h¨aufig vor, dass Soldaten zun¨achst Kriegserlebnisse als Ursache f¨ur ihre Symptome nannten, diese Angabe sp¨ater jedoch wieder zur¨uckzogen, wie etwa bei einem Obersch¨utzen, der nach der Teilnahme am Feldzug gegen Polen mehrere Anf¨alle“ erlitten hatte.40 Bei seiner Aufnahme in die Klinik im Februar 1940 be” richtete der 22-j¨ahrige von seinen Erlebnissen an der Front: Nachdem er in Polen ” eine Handgranate abgeworfen hatte, wurde er besinnungslos. W¨ahrend des Abwurfs derselben haben in seiner n¨achsten N¨ahe polnische Artilleriegeschosse eingeschlagen. [...] Als er wieder zu sich kam, waren seine F¨uße zugesch¨uttet.“ Er habe sich schließlich befreien k¨onnen und den Weg zur¨uck zu seiner Truppe gefunden. Im anschließenden Heimaturlaub, am 1. Januar 1940, habe er dann den ersten Anfall“ ” erlitten, dem weitere folgten. Bei diesen Anf¨allen habe er nicht nur das Bewusstsein kurzfristig verloren, sondern auch wirres Zeug vom Polenfeldzug“ geredet. ” W¨ahrend er zum Zeitpunkt der Aufnahme noch stark ersch¨uttert angab, dass die Anf¨alle auf ein Trauma im Polenfeldzug zur¨uckzuf¨uhren sein k¨onnten“, a¨ nderte ” er, nachdem er eine Zeit lang in der Klinik beobachtet worden war, seine Meinung relativ j¨ah. Am 6. M¨arz 1940 hieß es: Bez¨uglich der fraglichen Anf¨alle gibt T. ” heute an, dass jedes Mal Aufregungen vorausgegangen seien. An Neujahr dieses Jahres habe er erhebliche Differenzen mit seiner Freundin gehabt, er habe erfahren, dass sie von einem anderen geschw¨angert worden sei und sich dar¨uber erheblich ge¨argert“ – von den Kriegserlebnissen war nun keine Rede mehr. Vier Soldaten waren in das Lazarett eingewiesen worden, da ein Sanit¨atsoffizier beziehungsweise ihr Vorgesetzter ihnen Simulation unterstellt und ein Gerichtsverfahren wegen Zersetzung der Wehrkraft“ in die Wege geleitet hatte. Einer davon ” war Walter K., der am 28. Dezember 1939 aus dem Amtsgef¨angnis Freudenstadt ¨ nach T¨ubingen gebracht wurde.41 Laut dem Schreiben der Arzte aus dem Reservelazarett Freudenstadt habe der Oberpionier Walter K. Ischiasbeschwerden simuliert, und f¨ur das Gericht der 78. Infanteriedivision“ sollte Wilhelm Ederle zum Vorwurf ” der Simulation Stellung nehmen. In T¨ubingen berichtete der Patient, er habe bei seinem Dienst im Pionier-Bataillon 178 zun¨achst keine besonderen Schwierigkeiten gehabt“. Schließlich habe er ” sich aufgrund vieler Beschwerden, vor allem wegen ziehenden Schmerzen [...] in ” 39 UAT 333/Siem–Scher. 40 UAT 333/Sta-Th, Johann T. 41 UAT 333/I–Ke, Walter K.
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verschiedensten Gelenken“ krank gemeldet, und sei daraufhin in das Reservelazarett Freudenstadt eingewiesen worden. Dort habe ihm ein Lazarettarzt eines Abends er¨offnet, er werde ihn verhaften lassen, da er ihn f¨ur einen Simulanten halte. Walter K. wusste, dass dies f¨ur ihn fatale Konsequenzen haben konnte. Von einem pl¨otzlich[en] Angstgef¨uhl und eine[r] Unruhe“ erfasst, unternahm er einen Flucht” versuch aus dem Krankenhaus. Bereits kurz darauf wurde er allerdings wieder gefasst. In T¨ubingen bemerkte Ederle nun weder bei der k¨orperlichen noch psychia” trischen Untersuchung ein demonstratives oder aggravierendes Verhalten“. Auch in charakterlicher Hinsicht“ konnte er, abgesehen von einer nicht unerheblichen ” ” Eigensinnigkeit“ keine besonderen Auff¨alligkeiten beobachten. Nachdem er den Soldaten drei Wochen lang in der Klinik beobachtet hatte, fertigte er sein Gutachten f¨ur das Gericht der 78. Infanteriedivision an. Darin legte er zun¨achst in einer aufschlussreichen Stellungsnahme seine Sicht auf die Vort¨auschung von Symptomen und deren Beurteilung dar: Unter Simulation verstehen wir bewusste Vort¨auschung ” von angeblich krankhaften Symptomen. An dieser engeren Fassung des Begriffs Simulation muss wegen der erheblichen Konsequenzen, die diese Diagnose hat, festgehalten werden.“ Nat¨urlich gebe es recht zahlreiche krankhafte St¨orungen, die ” mit subjektiven Beschwerden einhergehen, bei denen man aber objektiv nichts findet.“ Bei diesen Krankheitsbildern, die man zumeist als psychogen oder funktio” nell“ bezeichnen w¨urde, sei es außerordentlich wichtig, vorauszusetzen, dass der ” Betroffene subjektiv die von ihm geklagten Beschwerden auch empfindet.“ Keineswegs d¨urfe man wegen des Fehlens objektiver Krankheitssymptome ohne weiteres auf die Diagnose Simulation“ schließen. ” Mit dieser differenzierten Sicht sprach sich Ederle dagegen aus, alle Psychopa” then“ pauschal einem Simulationsverdacht auszusetzen. Er grenzte sich damit deutlich von dem seinerzeit vorherrschenden Konsens der milit¨arpsychiatrischen Debatte ab – und auch von seinen Kollegen in Freudenstadt, denen er zu verstehen gab: Diese allgemeinen Ausf¨uhrungen wurden vorangeschickt, weil die zusammenfas” sende Beurteilung im Krankenblatt des Reservelazaretts Freudenstadt den Verdacht erweckt, dass hier wegen des Fehlens objektiver Ver¨anderungen ohne weiteres die Diagnose gestellt wurde.“ Im Fall Walter K. bedeutete dies f¨ur Ederle: Der Beweis, ” dass K seine Krankheitssymptome bewusst vorget¨auscht hat, [ist] nicht mit Sicherheit zu f¨uhren.“ Zwar l¨agen Zeichen einer organischen Erkrankung des Gehirns ” und es Zentralnervensystems [...] nicht vor.“ Dies berechtige allerdings nicht dazu, dem Patienten Simulation“ zu unterstellen. Walter K. wurde daraufhin am 20. ” Januar wieder in das Untersuchungsgef¨angnis in Freudenstadt u¨ berf¨uhrt, um den Ausgang des Gerichtsverfahrens abzuwarten. Auch gegen den Soldaten Walter B. lief ein Strafverfahren wegen Zersetzung ” der Wehrkraft“. Sein Vorgesetzter hatte befunden, er lasse es an gutem Willen ”
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fehlen“, und seine Kameraden hatten einen Anfall, den B. erlitten hatte, f¨ur vor” get¨auscht“ gehalten.42 Daraufhin wurde B. im Juli 1943 in T¨ubingen einer Begutachtung unterzogen. Er berichtete, dass ihn die schwere Arbeit im Dienst besonders angestrengt habe. Bei dem Anfall habe es sich um einen Ersch¨opfungszustand“ ” gehandelt, w¨ahrenddessen er alles um sich herum nur wie aus der Ferne geh¨ort“ ” habe. Ederle beobachtete den Patienten im Juli 1943 auf der Station, wo sich B. stets besonnen und orientiert“ verhielt. Allerdings war der Soldat u¨ berzeugt, dass ” er dem Dienst bei der Wehrmacht, wie er ihn seither habe mitmachen m¨ussen, ” nicht gewachsen sei“, und bef¨urchtete, daran zugrunde zu gehen, wenn man das in ” Zukunft weiter von ihm verlange“. Auch diesem Gutachten schickte Ederle seine allgemeine Sicht auf den Tatbestand der Simulation“ voraus. Er f¨uhrte aus: In derartigen F¨allen spreche man ” a¨ rztlich von einer Flucht in die Krankheit oder von sogenannten psychogenen Re” aktionen.“ Diese Reaktionen, so Ederle, seien in ihrer Entstehung auf unbewusste seelische Abl¨aufe zur¨uckzuf¨uhren, deren Zweck die Erleichterung in einer Konfliktsituation sei. Der entscheidende Punkt dabei: Es entsteht bei dem betreffenden ” ¨ Menschen subjektiv ein durchaus f¨ur ihn echtes und mit Uberzeugung vertretenes Krankheitsgef¨uhl“. Damit sei ein derartiges Zustandsbild und ein sich daraus ent” wickelndes Verhalten begrifflich und auch rechtlich streng zu trennen von der eigentlichen bewussten Vort¨auschung (Simulation) von Krankheitssymptomen.“ Nach dieser allgemeinen, theoretisch durchaus berechtigten begrifflichen Tren” nung zwischen krankhafter psychogener Reaktion und bewusster Vort¨auschung“ ¨ gab Ederle zu bedenken, dass es in der Praxis fließende Uberg¨ ange“ gebe, bei ” denen sich nachtr¨aglich nicht sagen ließe, wann im Einzelfall die Grenze zwischen ” unbewusster u. bewusster Reaktion u¨ berschritten“ werde. Allerdings bedeutete dies f¨ur Ederle nicht wie f¨ur die meisten seiner Fachkollegen, die psychogenen Reak” tionen“ im Zweifel als eine als Dr¨uckebergerei getarnte Krankheit“ 43 einzustufen. ” Es sei notwendig, auch das charakterlichen Verhalten des Betreffenden“ in die Ur” teilsbildung miteinzubeziehen. Daher sei der a¨ rztliche Gutachter gen¨otigt, aus dem ” Gesamtverhalten, wie es sich eben aus den Zeugenaussagen und der Beobachtung der Pers¨onlichkeit ergibt, sich ein Bild von dem Betreffenden zu machen“. Dennoch bleibe es unm¨oglich, die einzelnen Handlungen [...] durch Analyse der be” obachteten Symptome“ der bewussten Vort¨auschung zuzuordnen oder nicht – das Krankheitsbewusstsein k¨onne zumindest nicht widerlegt werden. Im Falle von Walter B. folgerte Ederle daraus: Man wird der Sachlage meines Erachtens am besten ” gerecht, wenn man ihm § 51,2 bewilligt.“ Bei den Soldaten, die ausdr¨ucklich mit dem Verdacht der Simulation in das Lazarett eingewiesen wurden, f¨allt auf, mit welcher Sorgfalt die Krankengeschichten aufgearbeitet wurden. In einem anderen Fall beschrieb Ederle u¨ ber 14 Seiten hinweg die Krankengeschichte eines Oberkanoniers, der ebenfalls der Zersetzung der ” 42 UAT 669/41491, Walter B. 43 Weber (1939), S. 1305.
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Wehrmacht“ durch Simulation angeklagt war, was deutlich u¨ ber dem g¨angigen Umfang der im Lazarett angefertigten Gutachten lag.44 Ederle sprach sich bei all diesen F¨allen gegen den Simulationsverdacht aus und grenzte sich in seinen Stellungnahmen von der rigorosen Haltung der Heeressanit¨atsinspektion und seiner Fachgenossen ab.45 Dies bedeutete jedoch nicht, dass die Soldaten im Lazarett grunds¨atzlich gegen den Vorwurf der Simulation gefeit waren. Anders als bei denjenigen, bei denen der Vorwurf der Simulation bereits außerhalb des Lazaretts erhoben worden war, und die speziell deshalb zur Begutachtung eingewiesen worden waren, kam es bei den Patienten, die zur Behandlung eingewiesen waren, immer wieder vor, dass die Psychiater Verdacht sch¨opften, die Symptome und Beschwerden seien vorget¨auscht. So etwa bei Hermann S., der im August und September 1942 aufgrund Kopfschmerzen, allgemeiner Nervosit¨at und Ged¨achtnisschw¨ache behandelt wurde.46 Diese h¨atten sich eingestellt, seit er mit Erfrierungen an den F¨ußen und Ohren von der Ostfront zur¨uckgekehrt sei. Bereits bei der Eingangsuntersuchung in T¨ubingen konnte sich der Lazarettarzt nicht des Eindrucks erwehren, dass Hermann S. seine Symptome u¨ bertreibe und bei der Intelligenzpr¨ufung absichtlich manch” mal Fehler macht[e]“. Zwar verhielt sich Hermann S. auf der Abteilung v¨ollig ” geordnet“, und auch den anderen Soldaten auf der Station fiel an seinem Verhalten nichts besonderes auf. Als ihm dann jedoch er¨offnet wurde, dass er mit seiner ” baldigen Entlassung zu rechnen habe“, habe er pl¨otzlich angefangen, u¨ ber zahlrei” che Beschwerden zu jammern“ und behauptet, er k¨onne nicht mehr auf den F¨ußen stehen und halte es nicht aus vor Kopfschmerzen“. Daraufhin drohten die Laza” rett¨arzte S. mit einer Anzeige: Erst auf Drohung mit Meldung ans Kriegsgericht ” waren von S. wieder vern¨unftige Antworten zu erhalten.“ Im abschließenden Bericht an den Vorgesetzten von S. empfahl der behandelnde Arzt: Im Ganzen ist ” S. zweifellos ein arbeits- und dienstunwilliger Mensch, der, falls er sein bisheriges Verhalten nicht a¨ ndern sollte, mit strengen Strafen angefasst werden muss.“ Auch bei Wilhelm P. zeigte diese Drohung Wirkung.47 Der Obergefreite, der im Januar 1943 in T¨ubingen mit Verdacht auf Epilepsie“ eingewiesen worden war, ” hatte gleich nach der Aufnahme einen typisch hysterischen Anfall mit prompter ” Pupillenreaktion, demonstrativem Herumw¨alzen, fehlenden pathologischen Reflexen und fehlender Bewusstseinstr¨ubung“ gezeigt. Nachdem noch weitere Anf¨alle aufgetreten waren, die von den Lazarett¨arzten als eindeutig hysterisch“ eingestuft ” worden waren, und P. ihrer Meinung nach versucht hatte, bei den Visiten mehrmals ” 44 UAT 669/42484, Kamil E. 45 Ob die Gerichte den Gutachten gefolgt sind, konnte allerdings nicht u¨ berpr¨uft werden. Eine Recherche in den Wehrmachtgerichtlichen Verfahrensakten des Bundesarchiv-Milit¨ararchivs in Freiburg nach dem Ausgang der Verfahren in insgesamt zw¨olf F¨allen blieb ergebnislos. Laut Mitteilung des Archivs ist es aufgrund der großen Schriftgutverluste durch Kriegseinwirkungen nicht ungew¨ohnlich, dass sich zu den Verfahren einzelner Soldaten keine oder nur wenige Hinweise ermitteln lassen. 46 UAT 333/Siem–Scher, Hermann S. 47 UAT 333/Pf–Reik, Wilhelm P.
Selbstverst¨ummelung
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einen positiven Romberg vorzut¨auschen“, stellten sie auch ihm eine kriegsgerichtliche Anzeige in Aussicht. Wenige Tage sp¨ater vermerkten sie in der Krankenakte: Seit der am 7. Januar 1943 ausgesprochenen Drohung mit dem Kriegsgericht sind ” keinerlei Anf¨alle mehr aufgetreten und auch sonst keine psychogenen Mechanismen mehr zu beobachten gewesen. [...] Unter diesen Umst¨anden kann P. als kriegsverwendungsf¨ahig aus dem Lazarett entlassen werden.“ ¨ Es zeigt sich also: Waren die Arzte des Lazaretts einmal davon u¨ berzeugt, dass ein Patient bewusst versuchte, Symptome vorzut¨auschen, machten sie sich ohne zu z¨ogern die Angst vor dem § 5 KSSVO zunutze. Eine kriegsgerichtliche Anzeige wurde in den Akten allerdings nicht dokumentiert.
¨ SELBSTVERSTUMMELUNG Der Sch¨utze Alfred H. wurde am 9. Januar 1942 mit einer Schussverletzung in der Herzgegend vom Gericht der Division Nr. 155 Stuttgart“ zur Beurteilung eingewie” sen.48 Sein Kompaniechef hatte vermutet, dass er sich die Wunde selbst beigebracht hatte, und Anzeige wegen Selbstverst¨ummelung erstattet. H. selbst hatte bei der Meldung der frischen Verletzung angegeben, dass er im Kampf durch ein feindliches Geschoss verwundet worden war, und zeigte sich u¨ ber die Verhaftung entr¨ustet. Auch die Tatsache, dass ihn sein Kompaniechef in einem Schreiben an das Gericht als einen zur Feigheit neigenden Soldaten“ bezeichnet hatte, konnte er nicht be” greifen. Nicht nur habe er an allen Kampfhandlungen der Truppe teilgenommen und trotz eines Streifschusses am rechten Oberschenkel im Juli 1941 bereits nach kurzer Zeit wieder weitergek¨ampft, er erinnerte sich auch, beim Durchk¨ammen eines ” Waldst¨uckes in unmittelbarer N¨ahe mit dem Kompaniechef vorgegangen zu sein.“ Als die Lazarett¨arzte dann jedoch in der Einsprengung von Pulverschmauch in ” die Wundr¨ander“ einen Anhaltspunkt daf¨ur sahen, dass sich der Soldat die Schusswunde selbst beigebracht hatte, ließ er diese Behauptung bald fallen und gab an, der Schuss habe sich versehentlich gel¨ost. Aber auch diese Erkl¨arung erschien den ¨ Arzten nicht glaubhaft. Daraufhin gab er schließlich zu, dass er sich absichtlich selbst verletzt hatte: Mit der einleitenden Erkl¨arung, er wolle nun ein Gest¨andnis ” ablegen, schilderte er ziemlich bewegt und unter Tr¨anen, er habe sich an dem betreffenden Tag das Leben nehmen wollen wegen einer ungl¨ucklichen Liebesaff¨are, und zwar habe er sich in die Herzgegend schießen wollen, der Schuss sei aber fehlgegangen.“ H¨ochstwahrscheinlich war das einzige, was Alfred H. in dieser Situation vor der kriegsgerichtlichen Hinrichtung retten konnte, Ederles Urteil, denn der §5 KSSVO sah f¨ur den Versuch, sich durch Suizid dem Wehrdienst zu entziehen, die Todesstrafe vor. Er war mit dem Betragen des Soldaten auf der Station zufrieden: Sein ” allgemeines Verhalten auf der Abteilung und beim Arbeitsdienst, zu dem er herangezogen wurde, war unauff¨allig, seine F¨uhrung gut.“ Das vorbildliche Benehmen 48 UAT 333/Hep–Hy, Alfred H.
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von H. veranlasste Ederle, das Urteil des Kompaniechefs, der in H. einen zur Feig” heit neigenden Soldaten“ sah, kritisch zu hinterfragen. Er schickte seiner Stellungsnahme u¨ ber den § 51 StGB voran: In diesem Zusammenhang ist zu bemerken, dass ” die Beurteilung seiner Pers¨onlichkeit durch seinen Kompaniechef eigentlich einer n¨aheren Begr¨undung bedarf, namentlich soweit diese Beurteilung sich auf seine allgemeine charakterliche Haltung bezieht.“ Letztlich schenkte er den Angaben des Sch¨utzen Glauben: Vom psychiatrischen Standpunkt aus w¨urde es sich in diesem ” Falle um eine im depressiven Affekt begangene Tat handeln, f¨ur die man ihm wohl den § 51,1 zubilligen m¨usste.“ ¨ Auch Anton D. glaubten die Arzte, als er mit einem vertikalen Durchschuss durch seinen in toto geschwollenen rechten Fuß“ im Juli 1940 eingewiesen wur” de.49 Er gab an, der Schuss habe sich nachts beim Verlassen des Abortes versehentlich gel¨ost. Auch f¨ur diesen Patienten setzte Ederle sich ein. Die n¨aheren Umst¨ande des Unfallherganges und der Bericht des Soldaten spr¨achen gegen eine vors¨atzliche Selbstverst¨ummelung: Ein Soldat, der eine Selbstverst¨ummelung begeht, ist ja be” strebt, sich seine Verletzung unter solchen Umst¨anden beizubringen, dass sie auf den ersten Blick als unverschuldet erscheint, als zum Beispiel beim Gewehrreinigen oder bei Schieߨubungen.“ Da im Fall Anton D. die a¨ ußeren Umst¨ande sofort ” an eine absichtliche Selbstverletzung denken lassen“, er aber nicht so unintelligent erscheine, dass er sich dies nicht h¨atte auch selbst sagen m¨ussen“, hielt Ederle ab” sichtliche Selbstverletzung f¨ur unwahrscheinlich. Abgesehen davon wies er darauf hin, dass Anton D. im allgemeinen glaubw¨urdig erschien“ – und bef¨urwortete die ” Anwendung des § 51 StGB. Tats¨achlich kam es auch vor, dass Soldaten offen zugaben, dass sie sich durch Selbstverst¨ummelung dem Wehrdienst entziehen wollten. Der slowenische Landarbeiter Franz T., der aus einem Dorf bei Celje stammte, kam am 11. Dezember 1942 mit einer verbundenen Hand aus einem Reservelazarett in Epinal zur Begutachtung nach T¨ubingen.50 Bei der Aufnahme machte er einen recht verst¨orten Eindruck“ ” ¨ auf die Arzte: Er f¨angt sofort an zu weinen [...] Eine sprachliche Verst¨andigung ” mit T. ist nicht m¨oglich, da er der deutschen Sprache nicht m¨achtig ist.“ Nachdem ein Dolmetscher hinzugezogen war, konnte die Vorgeschichte des Soldaten aufgenommen werden. Er berichtete, es sei ihm schwer gefallen, der Einberufung zur Wehrmacht Folge zu leisten. Er sei davor noch nie von zu Hause weg gewesen“, ” und er habe vom ersten Tag an Heimweh gehabt.“ In der Kompanie habe er nur ” ¨ schwer an andere Anschluss gefunden. Uberhaupt sei er im Dienst nicht richtig mitgekommen. Schließlich habe er nach einem Ausweg aus dem Dienst gesucht: Er habe schließlich nicht mehr ein- und aus gewusst, habe viel geweint. Schon bald nach der Einberufung habe er sich u¨ berlegt, wie er wieder nach Hause kommen k¨onne. Er habe einmal in seinem Dorf geh¨ort, dass im Weltkrieg sich ein Soldat selbst in die Hand geschlagen habe und so nach Hause gekommen sei. So habe er sich mit dem Gedanken ¨ befasst, etwas Ahnliches zu tun. Am 12. November 1942 sei der Dienst vormittags recht streng gewesen, er habe deshalb beim Mittagessen den Entschluss gefasst, sich mit seinem 49 UAT 669/42178, Anton D. 50 UAT 333/Ti–Wein, Franz T.
Kriegsdienstverweigerung
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Spaten zu verletzen. Diese Absicht habe er dann auch kurz danach ausgef¨uhrt. Habe sich mit seinem Feldspaten mehrmals in die R¨uckseite der linken Hand geschlagen.
Daraufhin habe er sein Bewusstsein verloren und sei schließlich in einem Lazarett in Epinal wieder zu sich gekommen. Dass diese Handlung strafbar war, habe er nicht gewusst. Auch in diesem Fall hielt der begutachtende Arzt dem Patienten zugute, dass die Tat grunds¨atzlich nachvollziehbar erschien: Psychologisch ist die ” [...] Selbstverst¨ummelung nicht unverst¨andlich. Es handelt sich um eine sogenannte Kurzschlussreaktion, wie sie bei derartigen unterbegabten und infantilen Psycho¨ pathen in a¨ hnlichen Situationen nicht selten beobachtet wird. Die Uberlegung war bei Begehung der Tat durch die affektive Erregung wohl weitgehend ausgeschaltet.“ Bei Franz T. sei bei eingehender W¨urdigung der Pers¨onlichkeit und der Reaktions” weise [...] eine Beeintr¨achtigung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit im Sinne des § 51,2 anzunehmen.“ Dieses Urteil rettete Franz T. wahrscheinlich vor dem Erschießungskommando: Am 9. Januar 1943 traf die Mitteilung vom Gericht ein, T. sei unter Anwendung des § 51, Absatz 2 zu einer Gef¨angnisstrafe von vier Monaten ” unter Anrechnung von zwei Monaten Untersuchungshaft“ verurteilt worden. Auch der Gefreite Clemens S. gab an, er habe sich seine Verletzungen am linken Handgelenk selbst mit einem Hackbeil beigebracht, als er im Mai 1942 in das Lazarett eingewiesen wurde.51 Er gab offen zu, dies sei ihm als der sicherste Weg erschienen, von seiner Batterie zu einer anderen versetzt zu werden. Auch bei die¨ sem Soldaten bef¨urworteten die T¨ubinger Arzte die Strafminderung nach §51 StGB: Es muss angenommen werden, dass er zur Zeit der Begehung der Tat und infolge ” seiner allgemeinen angeborenen seelischen Minderwertigkeit sowohl auf dem Gebiet des Intellekts als auch des Gem¨uts in der F¨ahigkeit, seiner Einsicht gem¨aß zu handeln, erheblich beeintr¨achtigt war.“ ¨ ¨ KRIEGSDIENSTVERWEIGERUNG AUS RELIGIOSEN GRUNDEN In den ersten beiden Kriegsjahren wurden f¨unf Soldaten in das T¨ubinger Lazarett eingewiesen, die aus religi¨osen Gr¨unden den Dienst in der Wehrmacht verweigerten. Die Psychiater sollten u¨ berpr¨ufen, ob sie die Konsequenzen f¨ur diese Haltung zu verantworten hatten, oder ob dieser eine geistige St¨orung zugrunde lag, die eine Aufhebung der Strafe rechtfertigte. Einer darunter war der Unteroffizier Wilhelm K., der am 1. Oktober 1939 in das Lazarett eingewiesen wurde, nachdem er den Fahneneid, das Singen der Nationalhymne sowie den Deutschen Gruß“ verweigert hatte.52 K. berichtete, er sei durch ” ” die Erlebnisse des Weltkriegs“ ernster geworden und habe begonnen, sich mit religi¨osen Themen zu besch¨aftigen. Bald darauf habe er auch begonnen, regelm¨aßig die Bibelstunde“ zu besuchen. Befragt, ob er auch sich bereit gef¨uhlt h¨atte, im Ein” satz auf den Gegner zu schießen, antwortete er: Soviel ist mir klar geworden, dass, ” wenn ich an den Feind komme, der Herr mich davor bewahrt h¨atte, zu schießen.“ 51 UAT 333/Siem–Scher, Clemens S. 52 UAT 333/Ki–Koo, Wilhelm K.
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Psychopathen“ vor dem Milit¨argericht ”
Um die Gr¨unde auszuloten, aus denen der Unteroffizier den Dienst an der Waffe verweigerte, befragte Ederle ihn zu seinen politischen Ansichten: Um einen weiteren Einblick in seine weltanschauliche Haltung zu bekommen, wird auch die Sprache auf einzelne nationalsozialistische Maßnahmen, zum Beispiel die Rassengesetzgebung, gebracht, die er aber von seinem Standpunkt aus nicht ablehnt. Es erf¨ulle sich ¨ am Judenvolk das von Gott gewollte Geschick. Uber das Sterilisationsgesetz habe er sich weiter keine Gedanken gemacht. Er sehe aber in der derzeitigen politischen Richtung Anzeichen daf¨ur, dass eine zu große Menschenverehrung und eine Vernachl¨assigung Gottes getrieben werde.
Ederle schien sichergehen zu wollen, dass er das Verhalten des Soldaten richtig deutete: Zun¨achst hielt er R¨ucksprache mit der Ehefrau. Diese best¨atigte, dass K. bereits seit geraumer Zeit seine religi¨ose Einstellung vertrete. Auch sie teile diese Haltung, und fand das Verhalten ihres Mannes durchaus verst¨andlich und voll ” erkl¨arlich“. Dann befragte er den Standortpfarrer nach seiner Meinung. Als dieser versicherte, dass die Einstellung von K. vom religi¨osen Standpunkt aus an sich ” einf¨uhlbar“ sei, kam Ederle zu dem Ergebnis, dass bei Unteroffizier K. eine Geis” teskrankheit oder ein organisches Nervenleiden“ nicht vorliege. K., der sich ganz ” in die Haltung des m¨artyrerhaft ergebenen Dulders hineingelebt“ habe, sei somit f¨ur seine Handlungsweise voll verantwortlich. Ein weiterer Soldat, der den Fahneneid aus religi¨osen Gr¨unden abgelehnt hatte, wurde am 9. Februar 1940 vom Gericht des Oberstabs 5“ eingewiesen.53 Der ” im zivilen Leben als Bauschlosser t¨atige Ewald B. war Mitglied der Ernsten Bi” belforscher“ und hatte sich als solcher die pazifistische Ideen angeeignet, die ihm den Dienst an der Waffe unm¨oglich machten. Nachdem Ederle sich versichert hatte, dass er kein f¨ur ein auf Psychose verd¨achtiges Verhalten“ zeigte, lassen die Ein” tr¨age in den Akten Ederles Unverst¨andnis durchscheinen: Er ist v¨ollig unbelehr” bar, sich aber u¨ ber die Konsequenzen seiner Haltung bewusst [...] Es handelt sich um einen verbohrten eigenbr¨odlerischen Menschen, der unbelehrbar an den Ideen der ernsten Bibelforscher festh¨alt.“ B. sei ein Soldat, der bewusst nicht nach den ” Gesetzen“ handeln wolle, da er die Gesetze des Staates aus seiner Anschauung ” heraus negiert“. Diese Anschauung sei nicht krankhaft bedingt, sondern genauso Angelegenheit seiner freien Willens¨außerung“ wie es auch die Weltanschauung je” des anderen Menschen sei. B. habe die Konsequenzen zu tragen, wie jeder andere ” ¨ auch, der aus Uberzeugungstreue‘ sich bestehenden Gesetzen widersetzen w¨urde, ’ zum Beispiel ein Kommunist“. Er kam daher zu dem Ergebnis, dass der § 51 StGB nicht bef¨urwortet werden k¨onne. ¨ Henning T¨ummers konstatierte in seiner Studie, die Arzte des T¨ubinger Lazaretts seien davor zur¨uckgeschreckt, Soldaten durch ihr Urteil einem Erschießungskommando zu u¨ berlassen – bei Soldaten, die der Selbstverst¨ummelung beziehungsweise der Simulation beschuldigt waren, traf dies zu.54 Auch die Tatsache, dass in allen zehn F¨allen, bei denen Soldaten nach Suizidversuchen begutachtet wurden, eine Einschr¨ankung oder Aufhebung der Schuldf¨ahigkeit zugesichert wurde, spricht 53 UAT 666/41962, Ewald B. 54 T¨ummers (2010), S. 119.
Kriegsdienstverweigerung
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¨ daf¨ur, dass hier eine moralische Hemmschwelle f¨ur die Arzte bestand. Dies f¨uhrte bisweilen sogar dazu, dass selbst Soldaten, die offen die Absicht zugaben, sich durch Selbstverst¨ummelung dem Kriegseinsatz zu entziehen, die Schuldunf¨ahigkeit bescheinigt wurde. Ederles moralische Bedenken h¨orten allerdings bei denjenigen ¨ Soldaten auf, die sich aufgrund ihrer religi¨osen Uberzeugung dem Dienst an der Waffe verweigerten. Sie wurden alle als voll schuldf¨ahig eingestuft. Wahrscheinlich bedeutete dies ihre Hinrichtung. Die Untersuchung der 81 Wehrmachtsangeh¨origen, die von 1939–43 hinsichtlich ihrer Zurechnungsf¨ahigkeit begutachtet wurden, ergibt ein heterogenes Bild. ¨ Zum Teil folgten die Arzte den Vorgaben der Heeressanit¨atsinspektion, kommuniziert durch Otto Wuth und das Netz der Beratenden Psychiater“, zum Teil wichen ” sie deutlich davon ab, was zur Folge hatte, dass die Milit¨arpsychiater in T¨ubingen Psychopathen“ deutlich h¨aufiger Strafminderung zubilligten, als es ansonsten in ” der Wehrmacht die g¨angige Praxis war. Die Verortung der Psychopathie“ zwischen echter Geistesst¨orung“ und cha” ” ” rakterlicher Abnormit¨at“ bot einen Spielraum f¨ur die Gutachter, den Otto Wuth durch seine wiederholte Kritik einzuschr¨anken versuchte. In T¨ubingen zeigten diese Versuche nur bedingt Wirkung. Dies war einerseits bedingt durch Hoffmanns ablehnende Haltung gegen¨uber dem milit¨arischen und somit auch dem Netz der Bera” tenden Psychiater“, in das er eingebunden war, andererseits durch Wilhelm Ederles Gutachtenpraxis, die sich zum Teil von den Vorgaben der Heeressanit¨atsinspektion l¨oste. Dabei nahm Ederle, der den Großteil der Gutachten verfasst hatte, bei der Beurteilung der Zurechnungsf¨ahigkeit von Soldaten, die sich aufgrund von Disziplinverst¨oßen bei der Truppe milit¨argerichtlich verantworten mussten, durchaus die Vorgaben der Heeressanit¨atsinspektion als Maßstab. Weniger die F¨uhrung auf der Station, als vielmehr die Frage, ob dem Disziplinverstoß eine konstitutionelle“ Ei” genschaft des Soldaten zugrunde gelegen hatte, war f¨ur Ederle entscheidend. Bei der Begutachtung von Soldaten, denen der Tatbestand der Simulation angelastet wurde, setzte Ederle hingegen eigene Kriterien zur Entscheidung u¨ ber den § 51 an, die teilweise deutlich abwichen vom zeitgen¨ossischen Konsens der Expertendebatte um das Psychopathenproblem“. Ederle weigerte sich, Psychopathen“ ” ” pauschal dem Simulationsverdacht auszusetzen, und widersprach der rigorosen Haltung seiner Fachkollegen und der Heeressanit¨atsinspektion. Eine Anzeige aufgrund von Simulation wurde nicht in den Akten dokumentiert. Außerdem scheint es, dass Ederle davor zur¨uckschreckte, Soldaten durch sein gutachterliches Urteil der Gefahr der Hinrichtung durch ein Erschießungskommando auszusetzen. Dies hatte etwa zur Folge, dass Soldaten, die offen die Intention zugaben, sich durch Selbstverst¨ummelung dem Wehrdienst zu entziehen, der Schutz des Paragraphen 51 gew¨ahrt wurde. Auch die Tatsache, dass in allen zehn F¨allen, bei denen Soldaten nach Suizidversuchen begutachtet wurden – ein Tatbestand, der ebenfalls als Zersetzung der Wehrkraft“ gedeutet werden konnte – der § 51,1 oder 2 ”
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Psychopathen“ vor dem Milit¨argericht ”
zugebilligt wurde, spricht daf¨ur, dass hier eine moralische Hemmschwelle f¨ur Ederle bestand. Allerdings h¨orte diese Zur¨uckhaltung bei denjenigen Soldaten auf, die ¨ aufgrund ihrer religi¨osen Uberzeugung den Dienst an der Waffe verweigerten. Sie wurden alle f¨ur voll zurechnungsf¨ahig befunden, was wahrscheinlich ihre Hinrichtung bedeutete. M¨oglicherweise war die abweichende Begutachtungspraxis in T¨ubingen ein Grund daf¨ur, dass hier nach 1943 keine weiteren Gutachten mehr erstellt wurden. Es ist denkbar, dass die Heeressanit¨atsinspektion die Gerichte dazu anhielt, keine weiteren Soldaten zur Begutachtung mehr nach T¨ubingen zu u¨ bersenden, nachdem ihre wiederholten Mahnungen an Hoffmann keinerlei Wirkung zeitigten. Auch Wolfgang R¨udiger Krais und Hermann Hoffmann setzten bei der Begutachtung ihre eigene Kriterien f¨ur die Entscheidung u¨ ber die Zurechnungsf¨ahigkeit an: W¨ahrend Krais vor allem die soldatische Disziplin der Psychopathen“ am Her” zen lag, f¨allt bei Hoffmanns Gutachten ein Zusammenhalt mit Delinquenten auf, die sich hinsichtlich ihres Ranges oder ihrer sozialen Stellung auf seiner Augenh¨ohe befanden. Wenngleich das Wohlverhalten“ der Soldaten im Lazarett keinen Einfluss auf ” die Entscheidung u¨ ber die Schuldf¨ahigkeit hatte, war es von entscheidender Be¨ deutung f¨ur die Empfehlungen f¨ur Sanktionen: Regelm¨aßig gaben die Arzte Empfehlungen zur Strafversch¨arfung, wenn Soldaten die Lazarettordnung missachteten. Dem Konsens der Expertendebatte um das Psychopathenproblem“ entsprechend ” rieten sie meist zur Versetzung in eine der Sonderabteilungen der Wehrmacht, zum Teil auch zur Einweisung in ein Konzentrationslager. Bemerkenswerterweise war f¨ur Ederle jedoch auch die Erziehungsf¨ahigkeit“ der Psychopathen“, die sich f¨ur ” ” ihn etwa in Schuldbewusstsein oder Vors¨atzen zur Besserung zeigte, Anlass, aus erzieherischen Gr¨unden dieselben Empfehlungen auszusprechen – Ederles a¨ rztliches Selbstverst¨andnis beinhaltete also auch eine p¨adagogische Komponente.
4. THERAPIE UND DISZIPLINIERUNG: DIE BEHANDLUNG IM LAZARETT Bei den Therapieformen, die in T¨ubingen bei Psychopathen“, psychogenen Reak” ” tionen“ und Neurasthenikern“ eingesetzt wurden, lassen sich unspezifische Maß” nahmen unterscheiden von solchen, die auf das Kollektiv der Reaktionen“ auf ” den Krieg zugeschnitten waren. Die unspezifische Maßnahmen spiegeln die zeitgen¨ossische psychopharmakologischen Therapie wider: Regelm¨aßig verabreichten ¨ die Arzte den Psychopathen“ bei gesteigerter nerv¨oser Erregbarkeit“, depressiver ” ” ” ¨ Verstimmung“ und Schlafst¨orungen Barbiturate. Bei Ubererregbarkeit und gastrointestinalen Symptomen setzten sie außerdem das Alkaloid Atropin in verschiedenen Formen ein ( Bellergal“, Belladenal“, Belladonna-Kur“), zur Sedierung ver” ” ” ordneten sie, wenn auch selten, Bromide. Bei Schw¨achezust¨anden und nerv¨oser ” Ersch¨opfung“ f¨uhrten sie regelm¨aßig Testosteronkuren durch. Außerdem verordneten sie den Soldaten h¨aufig t¨agliche Fichtennadelb¨ader“. ” ¨ Die Therapiemethoden, mit denen die Arzte gezielt gegen das Ph¨anomen der Reaktionen“ auf den Krieg vorgingen, unterlagen in T¨ubingen im Laufe des Krie” ges einem Wandel (Siehe Tabelle 3.9). Psychotherapie
1939 1940 1941 1942 1943 1944 1945
6 7 7 2 0 1 2
Elektroschock/ Cardiazolkrampf 0 2 1 3 2 1 0
Faradisieren
0 0 2 1 2 3 0
Suggestionstherapie nach Panse 0 0 0 0 0 25 0
Tabelle 3.9: Anwendungen verschiedener Therapieformen in den Kriegsjahren
Dass allerdings der Lazarettalltag nicht immer von therapeutischem Aktionismus gepr¨agt war, veranschaulicht der Fall des Obergefreiten Herbert H.1 Der ehemalige Schlossermeister berichtete bei seiner Aufnahme am 11. September 1943, dass er bei einem Bombenangriff im August 1943 im s¨uditalienischen Foggia in Weinkr¨ampfe ausgebrochen sei und einen Nervenschock erlitten“ habe. Seither leide er ” st¨andig an heftigem Druck im Kopf und Kopfschmerzen“, außerdem packe ihn ” bei den kleinsten Ger¨auschen die Angst. Auch ein Nachlassen der Konzentrationsf¨ahigkeit und Schlafst¨orung machten ihm zu schaffen. Nach einer unauff¨allig 1
UAT 333/H–Hen, Herbert H.
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Therapie und Disziplinierung
gebliebenen k¨orperlichen Untersuchung wurde der Patient als Psychopath“ diagno” stiziert und auf der Station beobachtet. Etwa einen Monat nach seiner Aufnahme, am 19. Oktober 1943, wurde in den Verlauf eingetragen, dass der gelernte Handwerker bei Schlosserarbeiten im Haus“ mithelfe. Am 3. Dezember wurde festgehalten, ” dass er noch immer u¨ ber Kopfschmerzen, innere Unruhe und Schlaflosigkeit“ klag” te. Bei einer neurologische Nachuntersuchung am 18. Dezember zeigte der Patient noch immer Symptome erh¨ohter Anspannung: Fingertremor, lebhaftes Lidflattern, ” u¨ berm¨aßiges Schwitzen“. Bis zum n¨achsten Eintrag folgte eine lange Pause, erst am 3. M¨arz des n¨achsten Jahres wurde vermerkt: Seit den h¨aufigen Fliegeralarmen der ” letzten Zeit klagt H. wieder zunehmend u¨ ber Kopfschmerzen und Schreckhaftigkeit. Er sei manchmal so aufgeregt, dass er keinen Brief zusammenbringe.“ Schließlich wurde Herbert H. am 3. April 1944 mit folgender Abschlussbemerkung entlassen: Die St¨orungen erwiesen sich als hartn¨ackig, doch hat sich im Laufe der letzten ” Wochen der Zustand soweit gebessert, dass weitere Lazarettbehandlung nicht mehr erforderlich ist.“ Wegen seiner neuropathischen Veranlagung“ wurde er als nur ” ” bedingt kriegsverwendungsf¨ahig“ eingestuft. In der Dokumentation des knapp acht Monate langen Lazarettaufenthalts des Patienten wurde keine einzige Therapiemaßnahme erw¨ahnt. Lediglich den Arbeiten, die H. als Schlossermeister in der Klinik ausf¨uhrte, k¨onnte ein Therapieversuch zugrunde gelegen haben. Dass die Lazarettpatienten f¨ur Arbeiten in der Klinik herangezogen wurden, kam h¨aufiger vor, etwa f¨ur den Ausbau eines Luftschutzbunkers unter der Klinik, ob dies jedoch aus therapeutischer Intention geschah, bleibt fraglich. Der Begriff Arbeitstherapie“ findet sich in den Akten nicht. ”
PSYCHOTHERAPIE Anscheinend muss f¨ur das Heimatlazarett im peripheren Wehrkreis V“ ein Ergeb” nis der historischen Forschung revidiert werden: Von 1939–1941 war interessanterweise Psychotherapie die h¨aufigste Behandlungsform der Psychopathen“, eine ” weiche“ Behandlungsmethode, die laut Forschungsliteratur den Angeh¨origen der ” Luftwaffe und beim Heer den Offizieren vorbehalten war.2 Dies war in T¨ubingen keineswegs der Fall: Lediglich ein Offizier und zwei Unteroffiziere waren unter den insgesamt 25 Wehrmachtsangeh¨origen, die mit Psychotherapie“ behandelten wur” den. Was sich allerdings in T¨ubingen hinter dem Begriff Psychotherapie“ verbarg, ” wurde in den Akten selten im Detail beschrieben. Bei Walter G., der im Juni 1940 zur Behandlung in T¨ubingen war, beschr¨ankten sich die psychotherapeutischen ” Maßnahmen“ auf energisches Zureden“.3 Der Kanonier berichtete, er sei beim ” ” Angriff auf Reims [...] eines Abends pl¨otzlich von Erbrechen und Schwindel befallen worden“, und war vom Truppenarzt in T¨ubingen zur Beobachtung eingewiesen 2 3
Riedesser/Verderber (1996), S. 135. UAT 333/Go–Gut, Walter G.
Psychotherapie
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worden. Bei der Aufnahme in T¨ubingen fiel dem Arzt sofort ein erheblicher Tre” mor des Kopfes und der Extremit¨aten“ auf. Zudem erkl¨arte G., außerstande zu ” sein, zu gehen und zu stehen“. F¨ur den Aufnehmenden Arzt, laut Krankenblatt Wilhelm Ederle, war die Diagnose schnell gestellt: In psychischer Beziehung machte ” G. einen a¨ ngstlich, neurotischen Eindruck. G. gab auch zu, sich bei den K¨ampfen der letzten Tage sehr aufgeregt und ge¨angstigt zu haben. Nach Befund und Vorgeschichte bestand demnach kein Zweifel, dass es sich um eine psychogene Reaktion handelte.“ Als geeignete Behandlungsmaßnahme k¨undigte er Psychotherapie“ an. ” Ein Eintrag im Verlaufsbogen zeigt, wie Ederle vorging: In einer Aussprache wird ” G. klar gemacht, dass sein Zittern rein seelisch bedingt ist und auf die ausgestandene Angst zur¨uckzuf¨uhren ist. Er wird energisch aufgefordert ohne fremde Hilfe und auch unter Weglassung seines Stockes zu gehen, was auch sofort gelingt. G ist keineswegs schlechten Willens, er gibt sich im Gegenteil M¨uhe, die a¨ rztlichen Ausf¨uhrungen zu verstehen und zu befolgen. Auf die Er¨offnung, dass er keineswegs krank sei, antwortet er heute nur noch, dass er dann nicht verstehe, warum man ihn hierher u¨ berwiesen habe.“ Ederles energische Aufforderung“ war laut ” Krankenblatt durchaus effektiv: Durch psychotherapeutische Maßnahmen gelang ” es innerhalb weniger Stunden die psychogenen Mechanismen zum Verschwinden zu bringen.“ Auch der Soldat Julius H., der am 18. April 1940 in das Lazarett u¨ berwiesen wurde, wurde der Psychotherapie“ unterzogen.4 Er berichtete, der milit¨arische ” ” Betrieb habe ihn von Anfang an erheblich aufgeregt, weil alles h¨atte immer so schnell gehen m¨ussen“. Dadurch sei er schließlich ganz zappelig“ geworden. Ab” gesehen davon beeintr¨achtigten ihn seit einiger Zeit auch erhebliche H¨amorrhoidal” beschwerden“ in seiner Dienstf¨ahigkeit. Ederle, der die Akte unterzeichnete, setzte sich am 16. Mai 1940 in einer eingehenden Exploration“ mit dem Patienten u¨ ber ” ” die Eigenheit seiner Pers¨onlichkeit“ auseinander. Er wies den Soldat namentlich ” darauf hin [...], dass er die u¨ bertriebene Empfindsamkeit ablegen m¨usse“, und dass er sich auch mit gewissen nerv¨osen Beschwerden, die er verm¨oge seiner Konsti” tution glaubhaft habe, abfinden m¨usse“, um im Rahmen seiner Leistungsf¨ahigkeit ” dann auch zuversichtlich seinen Dienst zu tun“. Nach dieser Aufforderung an den Patienten verharmloste Ederle die Symptome des Patienten: Absichtlich werden ” die funktionellen St¨orungen vegetativer Art, unter denen er wohl glaubhaft leidet (Hyperhidrosis, spastische Obstipation) bagatellisiert, und ihm andererseits in Aussicht gestellt, dass von a¨ rztlicher Seite aus f¨ur eine andere Verwendung eingetreten werde.“ Die Psychotherapie“ wirkt hier wie eine Aushandlung zwischen dem The” rapeuten und dem Patienten: Daf¨ur, dass der Patient ihm die Bagatellisierung“ sei” ner Symptome abkaufte, bot Ederle ihm an, ihn vor dem Dienst in der Wehrmacht zumindest teilweise zu sch¨utzen. Ederle hielt sich an seinen Teil der Abmachung: Wegen endogener Nervenschw¨ache, die mit St¨orungen der vegetativen Steuerung ” einhergeht“ musterte er den Soldaten als garnisonsverwendungsf¨ahig“, das heißt ” 4
UAT 333/Hep–Hy, Julius H.
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Therapie und Disziplinierung
nicht f¨ur den Dienst an der Front geeignet. Er empfahl die Versetzung des Soldaten zu einem Festungsstab. Bei Matthias R., der vom 12. Juni 1942 mit einem Sch¨utteltremor der rech” ten Hand“ im Lazarett aufgenommen worden war, beinhaltete die Psychotherapie“ ” 5 wiederum eine andere Technik. Bei dem Kanonier, der auf der Station durch seine Geschw¨atzigkeit“ auffiel und auf das Personal immer sehr empfindlich und ” ” latent gereizt“ wirkte, wurde am 5. Juli erstmals eine Behandlung dokumentiert: Beginn mit psychotherapeutischer Behandlung (Hypnose).“ Wenige Tage sp¨ater ” konnte der behandelnde Arzt bereits eine Besserung feststellen: Nach 3 psychothe” rapeutischen Sitzungen ist schon eine deutliche Besserung eingetreten. R. ist sehr leicht hypnotisierbar“, und kurz darauf: Der Sch¨utteltremor der rechten Hand hat ” nun schlagartig aufgeh¨ort, es ist daf¨ur eine Parese des rechten Armes eingetreten, die aber in einer Sitzung wieder beseitigt wird.“ Die Linderung von Symptomen durch Hypnoseverfahren war bereits bei den Kriegsneurotikern“ des Ersten Weltkrieges angewandt worden.6 In T¨ubingen kam ” sie in den ersten Jahren des Zweiten Weltkriegs mehrfach zum Einsatz, etwa bei ¨ Justus B. Der Sch¨utze war einer der wenigen F¨alle, bei dem die Arzte eingestanden, eine organische Erkrankung als psychogene Reaktion“ fehlgedeutet zu haben. ” B. war am 4. Juni 1941 aufgrund Tremor des Kopfes u. der H¨ande“ nach ” ¨ T¨ubingen u¨ berwiesen worden, nachdem die Arzte des Reservelazaretts Freudenstadt bei ihm keine Fortschritte mehr erzielen konnten.7 In T¨ubingen berichtete er, wie er bei der Truppe aufgrund schlechten Singens“ zur Strafe eine Anh¨ohe hin” auf laufen musste, dabei pl¨otzlich einen Stich in der Herzgegend versp¨urt“ und ” kurz darauf ein Zittern in beiden H¨anden bemerkt“ habe. Zus¨atzlich dazu habe ” sich in den n¨achsten Monaten noch ein Zittern des Kopfes eingestellt. In T¨ubingen ¨ bemerkten die Arzte schnell, dass sich der Tremor des Sch¨utzen in bestimmten Situationen verst¨arkte, zum Beispiel bei den a¨ rztlichen Visiten. Daraufhin unternahmen sie den Versuch, B. mit suggestiv-hypnotischen Maßnahmen“ zu kurieren. Zu” gleich verabreichten sie ihm jedoch Belladonna als Teekur“, da m¨oglicherweise ” ” noch eine organische Komponente beteiligt“ sein k¨onne. Als allerdings nach knapp zweiw¨ochiger Behandlung keine Besserung des Tremors eingetreten war, untersuchten sie ihn erneut k¨orperlich. Diesmal bemerkten sie jedoch außer dem Zittern ein rechtsseitiges Zahnradph¨anomen“, ein organneurologisches Symptom, das sie ” zum Umdenken bewog. Hatten sie zun¨achst angenommen, es handele sich bei B. um einen typischen Fall einer psychogenen Reaktion“, gestanden sie nun ein: Die ” ” Tatsache, dass der Tremor von psychischen Einwirkungen abh¨angig ist, kann nicht gegen eine organische Genese verwertet werden.“ Als sie D. schließlich am 8. Juli 1941 entließen, gestanden sie ihre Ratlosigkeit ein: B. leidet seit mehreren Mona” ten an einem Tremor des Kopfes und der H¨ande, der nach dem neurologischen Befund als organisch anzusehen ist. Da B. angeblich fr¨uher nie ernstlich krank war und 5 6 7
UAT 333/Rohr–Siel, Matthias R. Nonne (1917). UAT 669/41913, Justus B.
Psychotherapie
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auch noch keinen Unfall erlitten hat, ist die Aetiologie unklar. Da durch Behandlung eine wesentliche Besserung nicht erreicht werden konnte und mit der Wiederherstellung der Dienstf¨ahigkeit in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist, wird B. heute als d[ienst]u[nf¨ahig] zur Heeresentlassungsstelle 1/Vii M¨unchen in Marsch gesetzt.“ Von einem harten Durchgreifen gegen die Psychopathen“ ist im Sommer 1941 ” noch nicht viel zu erkennen. Bei Oskar S., dessen Herzbeklemmung, Ueberemp” ¨ findlichkeit, innere Unsicherheit“ die Arzte sofort als neurotische Beschwerden“ ” erkannten, wurde ebenfalls Psychotherapie“ durchgef¨uhrt. Was genau damit in die” sem Fall gemeint war, geht aus der Akte nicht hervor, allerdings f¨uhrte die Behandlung in den n¨achsten Tagen zu keiner Besserung der Symptome. Daraufhin ließen ¨ die Arzte ihn schließlich im Reservelazarett der medizinischen Klinik internistisch untersuchen. Dort konnte, wie sie erwartet hatten, ebenfalls kein auff¨alliger organischer Befund festgestellt werden. Da S. auch mit seinen Kameraden auf der Station keinerlei Kontakt gekn¨upft hatte, nahm der behandelnde Arzt schließlich am 11. Mai eine eingehende Exploration vor und hielt das Ergebnis in der Akte fest: Wie ” die Exploration ergab, leidet S. seit seinem 4.–5. Lebensjahr schon unter seiner Umwelt. F¨uhlt sich von niemand richtig verstanden. Der Vater ist fr¨uhzeitig gefallen, die alleinstehende Mutter hatte viel Not und Sorge und offenbar nicht gen¨ugend Zeit, sich der Erziehung ihrer Kinder anzunehmen.“ Von da an wurde S. t¨aglich ” psychotherapeutisiert“, und der Arzt schien mit den Fortschritten des Funkers zufrieden zu sein: Allm¨ahlich ist eine gewisse Lockerung und Entspannung zu be” merken.“ Die Eintr¨age zeigen, dass die psychotherapeutischen Sitzungen“ Fragen ” u¨ ber die Sexualit¨at des Patienten beinhalteten: 3. Juni. Als S. heute bei einer Explo” ration n¨aher u¨ ber sein Sexualleben befragt wurde, zeigten sich bei ihm wieder ganz deutlich die anf¨anglich zu beobachtenden Mechanismen (Verlegenheitsgesten etc)“. ¨ Bei der Therapie von Oskar S. wird deutlich, dass die Arzte bis Mitte 1941 eindeutig weiche“ Methoden zur Behandlung der Psychopathen“ bevorzugten. Am 7. Juni ” ” vermerkten sie in der Akte: Die psychotherapeutischen Maßnahmen werden durch ” Entspannungsbehandlung unterst¨utzt. S. hat einen falschen Atemtypus“. Schlieߨ lich entließen die Arzte Oskar S. nur als g[arnisons]v[erwendungsf¨ahig] H[eer]“ ” aus ihrer Behandlung. Abgesehen von den h¨aufigen Anwendungen der Psychotherapie“ in den ersten ” Kriegsjahren schien man auch in den letzten Monaten des Krieges wieder verst¨arkt auf diese weiche“ Therapiemethode zu setzen, etwa bei Gerhard E., der kurz vor ” Kriegsende mit der Bemerkung z.B. Geisteszustand“ von seinem Truppenarzt in ” T¨ubingen eingewiesen wurde.8 Der Grenadier sei im Kampf gegen die alliierten Streitkr¨afte [am] 12. August 1944 durch Bomben- und Granateinschlag in der Nor” mandie versch¨uttet“ worden. Wenige Monate sp¨ater, am 29. November, habe er nach einem Bombenangriff auf Offenburg erneut unter Tr¨ummern gelegen. Obwohl er dabei einen Stahlhelm getragen habe, sei er infolge der Versch¨uttung drei bis vier Stunden bewusstlos gewesen. Schließlich sei er in ein Reservelazarett der Wehrmacht in Prag verlegt worden. Als der Kriegsverlauf wiederum seine Verlegung aus 8
UAT 669/42419, Gerhard E.
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Therapie und Disziplinierung
dem Prager Lazarett in den Wehrkreis V“ notwendig gemacht hatte, holten ihn er” neut die Ereignisse des Krieges ein: W¨ahrend der Fahrt aus dem Lazarett aus Prag ” wurde der Zug, in dem E. fuhr, von Tieffliegern angegriffen. Auf diesen Schreck hin verlor er wiederum v¨ollig seine Sprache (26. M¨arz).“ Sein Truppenarzt habe ihn dann in das T¨ubinger Lazarett eingewiesen. Von all dem konnte Gerhard E. bei der Aufnahme in T¨ubingen zun¨achst nichts berichten, da er, wie viele der Soldaten, kein Wort u¨ ber die Lippen brachte: S. ” kann nicht sprechen, keinen Laut von sich geben. Er macht einen sch¨uchternen, a¨ ngstlichen Eindruck, der wohl den guten Willen zum Sprechen h¨atte, aber es geht einfach nicht.“ Bemerkenswerter Weise schien man im Lazarett gegen Kriegsende wieder verst¨arkt auf die weicheren“ Methoden zu setzen: Im Gegensatz zu den ” anderen Soldaten, die mit Elektroschocks“ aus ihrem Mutismus gerissen wurden, ” ordnete Dr. Gundert, der ab Ende 1944 das Lazarett leitete, bei E. lediglich Psycho” therapie, Sprech¨ubungen, Ruhe“ an.9 Er hatte damit Erfolg, denn zwei Tage sp¨ater wurde dokumentiert: 8. April 1945: E. kann heute pl¨otzlich wieder sprechen, die ” Sprache erscheint noch etwas verwaschen und undeutlich. E. gibt an, immer so zu sprechen.“ Der weitere Kampfeinsatz in den letzten Tagen des Krieges blieb dem Grenadier schließlich erspart, da er als arbeitsverwendungsf¨ahig“, das heißt f¨ur den ” Einsatz an der Front nicht geeignet, aus dem Lazarett entlassen wurde. W¨ahrend bis 1941 Psychotherapie“ die h¨aufigste Therapiemethode bei der Be” handlung von Psychopathen“ im Lazarett gewesen war, zeigt der Fall Otto S., dass ” dort sp¨atestens ab 1943 andere Methoden favorisiert wurden. Der Sch¨utze war Hermann Hoffmann im August 1943 zur Begutachtung u¨ berstellt worden, da der Sanit¨atsoffizier, der ihn zuletzt behandelt hatte, in der WDB–Frage bez¨uglich der psy” chogenen Gangst¨orung die Entscheidung offen gelassen“ hatte.10 Hoffmann ordnete daraufhin eine nochmalige neurologische Untersuchung durch seine Mitarbeiter an, um zu entscheiden, ob nicht doch die Gangst¨orung in erster Linie auf organische ” Restzust¨ande zur¨uckzuf¨uhren sein“ k¨onnte. Die Dokumentation zeugt von der deutlich angespannten Atmosph¨are, unter der Otto S. untersucht wurde: Bei der Aufforderung, auf ein Bein allein zu stehen, ” bringt er das andere Bein in leichte Beugestellung, sodass es eben noch mit den Zehenspitzen den Boden ber¨uhrt, eine tats¨achliche St¨utze f¨ur ihn aber nicht mehr bedeutet. Er ist aber nicht zu bewegen, den Fuß von der Unterlage frei abzuheben, obwohl das keine weitere Belastung mehr f¨ur ihn objektiv bedeuten w¨urde. Bei energischem Zureden wird er schließlich erregbar und ausf¨allig: Man solle ihm doch gleich eine Pistole geben, wenn er nichts mehr wert sei usw... beruhigt sich dann 9
Wahrscheinlich handelt es sich um den sp¨ateren Mitbegr¨under der Stuttgarter Akademie f¨ur Tiefenpsychologie und Psychoanalyse Hermann Gundert, der zuvor im psychiatrischen Reservelazarett in Freiburg t¨atig gewesen war (Siehe UAT 308/92: Liste der Psychiater und Neurologen im Wehrkreis V, Hoffmann an Wuth, T¨ubingen, 21. August 1942). Gunderts analytische Ausrichtung erkl¨art die Abkehr im T¨ubinger Lazarett von der Elektrosuggestion und die erneute Zuwendung zu psychotherapeutischen Verfahren ab Ende 1944. 10 UAT 333/Sta–Th, Otto S.
Schocktherapie
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aber auf Zureden relativ rasch wieder.“ Auf diese Untersuchung hin kamen Hoffmann und Ederle zu einem dem Patienten gegen¨uber u¨ berraschend wohlwollenden Urteil: Da eine bewusste Vort¨auschung auszuschließen ist und es sich um eine ” in engstem zeitlichen Zusammenhang und beg¨unstigt durch die schwere organische Erkrankung entstandene psychogene St¨orung handelt, ist meines Erachtens auch f¨ur diese psychogene St¨orung WDB anzunehmen.“ Ederle empfahl vor diesem Hintergrund, den Sch¨utzen zur Durchf¨uhrung einer psychotherapeutischen Behandlung ” [...] in das Res[erve]Laz[arett] Winnenden einzuweisen“, da seines Wissens ein Sa” nit¨atsoffizier dieses Lazaretts zur Ausbildung in der Behandlung solcher psychogenen St¨orungen zu einem Sonderkurs abkommandiert“ worden war. M¨oglicherweise ¨ war f¨ur die Arzte absehbar, dass die Therapie des Patienten l¨anger dauern w¨urde, und hatten an der Universit¨atsklinik nicht die M¨oglichkeit daf¨ur, oder sie f¨uhlten sich gar in ihrer Kompetenz der Weiterbehandlung von Otto S. nicht gewachsen. Jedenfalls ist es nicht verwunderlich, dass Otto S. nicht in T¨ubingen der Psycho” therapie“ unterzogen werden sollte – denn diese hatte man in dort ab 1943 allgemein zugunsten anderer Therapieformen aufgegeben.
SCHOCKTHERAPIE Der Zweite Weltkrieg fiel in eine Zeit, in der die Schockbehandlungen in keiner psychiatrischen Klinik fehlten.11 Ab Mitte der dreißiger Jahre wurde in Europa und bald weltweit ausgiebig versucht, Schizophrenie durch die Ausl¨osung von epileptischen Anf¨allen zu heilen. Manfred Sakel, der die Therapie 1933 in Wien eingef¨uhrt hatte, setzte Insulin ein, um die Anf¨alle zu induzieren. Ab 1937 wurde hierf¨ur auch das Kampferderivat Cardiazol eingesetzt, und ab 1938 setzte sich zunehmend die Ausl¨osung von Krampfanf¨allen mit elektrischem Strom durch. Im Laufe der folgenden Jahre wurde die Indikation f¨ur diese Therapieformen auch auf andere Diagno¨ sen erweitert.12 In der T¨ubinger Lazarettabteilung behandelten die Arzte insgesamt neun Psychopathen“ im Zeitraum von 1940 bis 1944 mit Elektro- und Cardiazol” schocks. Sie setzten diese Formen der Krampftherapie ein bei Soldaten, die stumm in die Klinik eingewiesen wurden und nicht anders zug¨anglich schienen, oder bei Psychopathen“, die depressive Verstimmungszust¨ande aufwiesen. ” Dies war der Fall bei Eugen D., der am 30. Oktober 1944 mit einer Verstimmung in das Lazarett eingewiesen worden war. Er berichtete: Wenn er sich u¨ ber ” ganz gleichg¨ultige Dinge unterhalten habe, sei er einfach ins Weinen gekommen, habe nicht mehr schlafen k¨onnen. Er habe eigentl[ich] keinen Grund f¨ur seinen Schwermutszustand. Es komme halt von innen heraus.“ 13 In der Annahme, dass es sich bei D. um einen leichten depr[essiven] Verstimmungszustand“ bei einem ” dysthymen Psychopathen“ handelte, begannen die Mediziner im November 1944 ” mit der Elektroschocktherapie. Als schließlich eine Nachexploration wenige Tage 11 Hierzu und zum Folgenden siehe Hirschm¨uller (2001), S. 221 f. 12 Siehe etwa Krauss (1947). 13 UAT 669/42232.
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sp¨ater ergab, dass D. in der Vergangenheit immer wieder an a¨ hnlichen Zust¨anden, meist von k¨urzerer Dauer, gelitten hatte, gaben sie die Therapie auf: Da es sich ” um eine schwer abartige Pers¨onlichkeit mit Krankheitswert handelt, ist die Elektroschockbehandlung abgebrochen worden. Er soll in den n¨achsten Tagen wegen v[erwendungs]U[nf¨ahigkeit] [...] entlassen werden.“ Bei diesem Fall wird deutlich, dass die Psychopathen“ anscheinend nicht die prim¨are Zielgruppe f¨ur die Schock” therapie waren. Eher hat es hier den Anschein, dass die vermeintliche konstitutionelle schwere Abartigkeit“ ein Ausschlusskriterium f¨ur die Schocktherapie war. ” Auch der Obergefreite Joachim G. wurde in T¨ubingen mit der Elektroschocktherapie behandelt.14 Er hatte sich seit Juli 1943 immer wieder bei der Truppe krank gemeldet, da er sich v¨ollig ersch¨opft“ gef¨uhlt hatte. Dabei hatte sich der Soldat ” von den vielen Lazarettaufenthalten seit seiner Einziehung im Februar 1941 eigentlich immer wieder gut erholt: In Russland war er im Sommer 1941 durch einen Granatsplitter an der linken Schulter verletzt worden und hatte w¨ahrend des Lazarettaufenthalts zus¨atzlich eine Malaria tertiana durchgemacht. Im n¨achsten Jahr sei schließlich sein rechter Oberschenkel im Gefecht durchschossen worden, ein Jahr sp¨ater sein linker Unterarm. Als sich in T¨ubingen dann der Zustand des Soldaten, ¨ der auf die Arzte ratlos und a¨ ngstlich“ wirkte, im Laufe der n¨achsten drei Wochen ” nicht a¨ nderte, und er am liebsten im Bett“ liegen blieb, begannen die Mediziner mit ” der Elektroschockbehandlung. Hierbei wurde in der Akte festgehalten, dass G. nach der Behandlung vermehrt u¨ ber Angstzust¨ande klagte, und die bei Elektroschock” behandlung gelegentlich auftretenden amnestischen St¨orungen“ als besonders l¨astig empfand. Als die Behandlung nach zwei Wochen keine Wirkung gezeigt hatte, bra¨ chen die Arzte diese schließlich ab und entließen den gr¨ublerischen, zu depres” siven Verstimmungen neigenden, hypochondrischen Psychopathen“ als a[rbeits]” v[erwendungsf¨ahig]“ aus dem Lazarett. Dass bei der Elektroschock-Therapie Nebenwirkungen und Komplikationen in der Akte eingetragen wurden, kam h¨aufig vor, in einigen F¨allen f¨uhrten diese sogar zum Behandlungsabbruch wie bei Joachim G. Auch wurden bei dieser Therapieform regelm¨aßig Angaben u¨ ber die Einwilligung der Soldaten zur Behandlung gemacht, und im Fall von Jakob B. wurde notiert, dass der Patient die Fortf¨uhrung der Behandlung verweigerte.15 In der Akte des Milit¨aranw¨arters, der wegen Angst” gef¨uhlen“ in das Lazarett eingewiesen worden war, wurde vermerkt: Mit Einwilli” gung der Ehefrau wird heute der erste Cardiazolanfall mit 6 ccm Cardiazol i[ntra]v[en¨os] ausgel¨ost“. Als schließlich bei weiteren Durchf¨uhrungen der Therapie ein Cardiazolschock missgl¨uckte“ und die Dosis nur einen recht qu¨alenden Angstzu” ” stand ohne Bewusstseinsverlust“ bewirkt hatte, wurde die Weigerung B.’s, weitere ¨ Schocks u¨ ber sich ergehen zu lassen, von den Arzten akzeptiert.
14 UAT 333/Go–Gut, Joachim G. 15 UAT 669/41500, Jakob B.
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Die Angaben u¨ ber u¨ ber Komplikationen und Nebenwirkungen, die in den Akten ¨ der Soldaten vermerkt wurden, sprechen daf¨ur, dass die Arzte sich von der Schock” therapie“ einen reellen medizinischen Nutzen versprachen und sie nicht als Maßnahme zur Disziplinierung einsetzten. Derartige Angaben sucht man bei den den Suggestivverfahren, die ab 1941 zunehmend im Lazarett eingesetzt wurden, vergeblich. PANSEN“: DIE SUGGESTIONSTHERAPIE MIT STARKEN ” ¨ GALVANISCHEN STROMEN Karl K. war einer der ersten Patienten, die in T¨ubingen mit der Suggestionsthera” pie mit starken galvanischen Str¨omen“ behandelt wurden, die auch unter den Mi16 lit¨arpsychiatern nicht unumstritten war. Knapp ein Jahr zuvor, im Mai 1943, hatte Friedrich Panse, Oberfeldarzt im Reservelazarett Ensen bei K¨oln, auf der Dritten ” Arbeitstagung Ost der Beratenden Fach¨arzte“ in der Milit¨ar¨arztlichen Akademie in Berlin den durchschlagenden Erfolg dieser Methode verk¨undet.17 Bei 500 psycho” genen Reaktionen“, mit denen so mancher Arzt nicht fertig werde“, sei es Panse im ” Ensener Lazraett gelungen, gut zwei Drittel wieder f¨ur die Front verwendungsf¨ahig zu machen. Mithilfe dieser Methode sei die erfolgreiche Behandlung fast immer ” m¨oglich“. Werner Villinger, seinerzeit Beratender Psychiater in Breslau, beschrieb das Bild der psychogenen Reaktionen“, f¨ur die diese Therapie vorgesehen war, auf ” derselben Tagung n¨aher: Die psychogenen Erscheinungen“ zeigten sich jetzt im ” Gegensatz zum vergangenen Weltkrieg viel weniger auff¨allig“, und die nachweis” bare reine Simulation sei selten anzutreffen. Vielmehr u¨ berlagerten die Fixierun” gen, Pseudol¨ahmungen, Pseudokontrakturen, Schonhaltungen, diffuse Schmerzen, Schwindel und Angst“ nun beinahe ausschließlich vorbestehende organische Erkrankungen und Verwundungen – und stellten somit die Nerven¨arzte der Wehrmacht vor eine neue Herausforderung. Villinger riet seinen Kollegen an der Front und in den Wehrkreisen, u¨ berall dort, wo die Heilung die u¨ bliche Durchschnitt” szeit u¨ berschreitet“, den Verdacht auf eine psychogene Komponente zu stellen und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen.18 Die Fallgeschichte von Karl K. liest sich geradezu beispielhaft f¨ur die Zielgruppe des Pansens“. Auch bei Karl K. hatte eine Verwundung vorgelegen. Als er am ” 17. Februar 1944 aus einem Kriegslazarett der Ostfront nach T¨ubingen eingewiesen wurde, beschrieb er, wie er beim Einsatz in Russland eine Verletzung in der Ge” gend der Sternoclavikulargelenke“ erlitten habe. Nachdem er damals wieder aus der Bewusstlosigkeit erwacht sei, habe er sofort gesp¨urt, dass er beide Arme nicht be” wegen und nichts anfassen“ konnte. Dadurch sei es ihm unm¨oglich gewesen, seine Maschinenpistole wieder zu ergreifen und zu gebrauchen. 16 UAT 333/I–Ke, Karl K. 17 Zum Folgenden siehe Valentin (1981), S. 137 f. 18 Valentin (1981), S. 138 f.
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Seit diesem Vorfall am 13. September 1943 waren nun allerdings bereits mehrere Monate verstrichen, ohne dass eine Besserung eingetreten war – ein ungew¨ohnlich ¨ langer Verlauf, wie die Arzte befanden. In der nachfolgenden Untersuchung erh¨artete ¨ sich ihr Verdacht auf eine psychogene Uberlagerung: Bei den Spontanbewegungen ” wird der re[chte] Arm auffallend geschont. Bewegungen im Schultergelenk werden spontan so gut wie nicht ausgef¨uhrt. Beim An- und Auskleiden benutzt er zum Zumachen der Kn¨opfe allerdings die re[chte] Hand.“ Als sich zudem zeigte, dass er unter dauerndem suggestivem Einfluss“ den Arm etwas kr¨aftiger bewegte, schien ” ihnen am 24. M¨arz 1944 die Behandlung mit starken galvanischen Str¨omen“ einen ” Versuch wert zu sein. Zwei Tage sp¨ater konstatierten sie unmittelbaren Erfolg: K. bewege nun den rechten Arm viel freier, und gebe auch selbst eine deutliche Bes” serung“ zu. Lange, bevor Friedrich Panse diese Therapiemethode auf der Dritten Arbeits” tagung Ost“ zum Hauptthema machte, hatte er sie bereits im Reservelazarett Ensen etabliert. Bereits zu Beginn des Krieges hatten er und sein Assistent G¨unter Els¨asser Versuche zur Heilung von therapierefrakt¨aren Kriegsneurotikern“ durchgef¨uhrt mit ” Einsatz von hochdosierten galvanischen Str¨omen. Im Juli 1941 pr¨asentierten sie diese Methode der Heeressanit¨atsinspektion als eine Weiterentwicklung der im Ersten Weltkrieg praktizierten Therapieformen mit Wechselstr¨omen.19 Dennoch fand sie ihren Weg von Ensen in die Wehrkreise des Deutschen Reiches nicht vor Januar 1943, in T¨ubingen kam sie erstmals im M¨arz 1944 zum Einsatz. Denn obwohl die Institution der Beratenden Psychiater“ bereits vor Kriegsbe” ginn eigens geschaffen worden war, um dem Ph¨anomen der massenhaft auftretenden Psychopathen“ gewappnet gegen¨uberzustehen, war keinesfalls eindeutig ge” kl¨art, wie drastisch die Maßnahmen sein durften, um gegen sie vorzugehen. Der Verbreitung dieser Therapie aus Ensen in die Lazarette des Reichsgebiets ging ein langwieriger Aushandlungsprozess zwischen den Beratenden Psychiatern“ in den ” Wehrkreisen und der Heeressanit¨atsinspektion und dem Oberkommando der Wehrmacht in Berlin voraus. Zwischen den Fronten vermittelte Otto Wuth. Der erste Vorschlag f¨ur diese Therapiemethode von Panse und Els¨asser im Juni 1941 wurde sowohl von Otto Wuth als auch der Heeressanit¨atsinspektion abgelehnt. Panse hatte bei der Pr¨asentation seiner Methode bereits angemerkt, dass ein fes” tes Zupacken und Fixieren“ bei der schmerzhaften Behandlung wohl unumg¨anglich seien, und sah voraus, dass dies wohl mit der Verf¨ugung des Oberkommandos der Wehrmacht vom 6. Dezember 1940 in Konflikt geraten w¨urde. Diese Verf¨ugung sah vor, dass f¨ur die Durchf¨uhrung von erheblichen medizinischen Eingriffen“ zu” erst das Einverst¨andnis des Patienten eingeholt werden m¨usse. Panse merkte bereits 1941 an, dass eine Aufhebung dieser Verf¨ugung mit l¨angerer Dauer des Krieges ” m¨oglicherweise dringlicher werde, als dies z[ur] Z[eit] der Fall“ sei.20 Die Begr¨undung, mit der Wuth den Gebrauch dieser Methode zun¨achst ablehnte, ist auf den ersten Blick u¨ berraschend: Er wandte ein, die von Panse vorgestellte 19 Riedesser/Verderber (1996), S. 127. 20 Ebenda, S. 127 f.
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Therapie falle als eine außerordentlich brutale Methode“ nicht unter die a¨ rztlichen ” Maßnahmen. Zwar war auch Wuth der Ansicht, dass sie bei refrakt¨aren“ F¨allen ” wohl die wirksamste Methode sei, aber schließlich sprach er sich mit Verweis auf die vom OKW festgelegte Einwilligungspflicht dagegen aus. Paradox erscheint diese Einsicht im Hinblick auf Wuths wiederholte und explizite Forderungen nach H¨arte bei der Begutachtung der Psychopathen“.21 ” Sehr wahrscheinlich waren es jedoch mehrere Gr¨unde, die zusammenspielten und Wuth und die Heeressanit¨atsinspektion veranlassten, sich gegen Panses Therapiemethode auszusprechen und sich mit der Anwendung von Zwang und schmerzhafter Maßnahmen zur¨uckzuhalten. So war Wuth in Berlin sicherlich eher gewahr als seine Kollegen in den peripheren Wehrkreisen, dass die Nerven¨arzte“, aus de” nen sich die Beratenden Psychiater“ rekrutierten, zu Kriegsbeginn in Konkurrenz ” mit dem Deutschen Institut f¨ur psychologische Forschung und Psychotherapie“ in ” Berlin standen.22 Hier gelang es den Psychotherapeuten in ihrer Dom¨ane, der Luftwaffe, die psychogenen Reaktionen“ mit weichen“ Methoden wie Psychotherapie ” ” und autogenem Training zu heilen. Auch wollte man es in der Kanzlei des F¨uhrers mit R¨ucksicht auf die Ereignisse von 1918 vermeiden, durch den Einsatz allzu drastischer Maßnahmen revolution¨ares Potential unter den Soldaten zu sch¨uren, solange nicht die Notwendigkeit dazu bestand. Diese war, dem Eindruck der Psychiater zufolge, zu Beginn des Krieges gar nicht gegeben, als die Welle der hysterischen Reaktionen“ w¨ahrend der ” Blitzkriege“ wider Erwarten ausgeblieben war.23 ” Als der im Sommer 1941 beginnende Ostfeldzug jedoch einen unerwartet kritischen Verlauf nahm, h¨auften sich bald die Berichte u¨ ber ein Ansteigen der psy” chogenen Reaktionen“ in der Wehrmacht.24 Dies war auch f¨ur die Beratenden ” Psychiater“ ein Alarmzeichen. Otto Wuth teilte am 25. M¨arz 1942 seinen Kollegen die Bef¨urchtung mit, bald erneut einer Flut hysterischer Reaktionen“ ge” gen¨uberzustehen, wie man sie aus den Stellungskriegen des Ersten Weltkriegs erinnerte.25 Mittlerweile, so Wuth, seien nicht nur in den Feld- und Kriegslazaretten vermehrt echte Sch¨uttel-Neurotiker oder Kriegszitterer“ anzutreffen, es h¨atten be” reits auch einige ihren Weg in das Heimatgebiet gefunden. Angesichts dieser Gefahr bat er seine Kollegen in den Wehrkreisen, darunter Hoffmann in T¨ubingen, um Vorschl¨age, wie man mit den Psychopathen“ verfahren sollte. Auch zu diesem ” Zeitpunkt sprach sich Wuth gegen die Anwendung der Kaufmann-Methode“ oder ” einer abgewandelten Form aus, da sie das Einverst¨andnis des Kranken voraussetze und bei der Schmerzhaftigkeit der Methode mit schriftlichen Beschwerden zu ” rechnen“ sei – insbesondere m¨ogliche Querelen“ bei der Kanzlei des F¨uhrers“ ” ” wollte Wuth jedoch vermeiden. 21 22 23 24 25
Vgl. Seite 45. Roth (1987), S. 35. Roth (1987), S. 33; Riedesser/Verderber (1996), S. 116. Riedesser/Verderber (1996), S.126. Hierzu und zum Folgenden UAT 308/92, Wuth an Hoffmann, Berlin, 25. M¨arz 1942.
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Da sich allerdings die Situation im Laufe des Jahres 1942 f¨ur die Wehrmacht weiter versch¨arfte und sich Berichte u¨ ber ein Ansteigen der psychogenen Reak” tionen“ h¨auften,26 propagierte Panse auf der Zweiten Arbeitstagung Ost der Bera” tenden Fach¨arzte“ im Herbst 1942 erneut die Wirksamkeit seiner Therapie.27 Daraufhin zeigte sich, dass es nicht ethische Bedenken und die Sorge um den einzelnen Soldaten gewesen waren, die Wuth im Juni 1941 zu einer ablehnenden Stellungnahme gegen¨uber der Therapie bewogen hatten. Denn unter der erh¨ohten milit¨arischen Notwendigkeit gab er im Dezember 1942 schließlich doch sein Plazet f¨ur die Therapie.28 Unter diesen Umst¨anden ordnete die Heeressanit¨atsinspektion am 5. Januar 1943 die Behandlung von Kriegsneurotikern“ mit starken galvanischen Str¨omen ” nach Panse in allen Wehrkreisen an.29 Kurz darauf ging eine weitere Verf¨ugung vom Chef des Wehrmachtsanit¨atswesens, Siegfried Handloser, an die Wehrkreispsychiater, in der er sie von der Pflicht zur Einholung des Einverst¨andnisses des Patienten bei dieser Therapie befreite.30 Nach weiteren Erfolgsberichten aus Ensen ordnete die Heeressanit¨atsinspektion am 8. Juli 1943 an, Sanit¨atsoffiziere zu Hospitationszwecken nach Ensen zu kom” mandieren“.31 Dort sollten sie die korrekte Anwendung des Verfahrens erlernen, eine Maßnahme, die angesichts der zunehmenden Anzahl der psychogenen und ” hysterischen St¨orungen“ angemessen erschien. Es ist wahrscheinlich, dass w¨ahrend der darauffolgenden Monate einer der T¨ubinger Sanit¨atsoffiziere dort das Verfah” ren nach Panse“ erlernte, denn ab M¨arz 1944 kam es auch in T¨ubingen zum Einsatz. Das Verfahren, das sich die Sanit¨atsoffiziere dort aneigneten, unterschied sich von dem im Ersten Weltkrieg praktizierten Kaufmann-Verfahren“ dadurch, dass ” hochdosierte galvanische Str¨ome“, also Gleichstrom, zum Einsatz kam.32 Dass ” man diesen im Gegensatz zum beim Kaufmann-Verfahren“ eingesetzten Wech” selstrom nicht als lebensbedrohlich einsch¨atzte, wurde mehrfach als Rechtfertigung f¨ur den extensiven Einsatz von Panses Verfahrens angef¨uhrt.33 Der Strom wurde mithilfe von galvanischen Rollen mit einer St¨arke von 80–100 mA f¨ur zwei bis drei Minuten auf die Haut des Patienten u¨ bertragen, was einen starken Schmerzreiz erzeugte. Zugleich suggerierte der Arzt eine Besserung und Heilung der Symptome, indem er zum Beispiel sagte: Sie merken, wie der gef¨uhllose Arm rot und heiß ”
26 27 28 29 30 31 32 33
Riedesser (1996), S. 126. Valentin (1981), S. 135 f. Hilpert (1995), S. 44. BA–MA H 20/464, Verf¨ugung Nr. 127/43 geh. Wi G (Ib) der Heeressanit¨atsinspektion vom 5. Januar 1943, zit. n. Hilpert (1995), S. 44. Siegfried Handloser an die Heeres- und Wehrkreis¨arzte, 14. Januar 1943, zit. n. Hilpert (1995), Anhang. Siehe Panses Bericht auf der Dritten Arbeitstagung Ost der Beratenden Fach¨arzte“ im Mai ” 1943, Valentin (1981), S. 137 f. Riedesser/Verderber (1996), S. 127. BA–MA H 20/464: Wuth am 12. Dezember 1942 an die Heeressanit¨atsinspektion: Todesf¨alle ” sind nicht zu bef¨urchten.“ Zit. n. Riedesser/Verderber (1996), S. 146.
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wird. Das ist der erste Schritt zur Heilung“.34 In Pausen zwischen den Stromapplikationen wurden Bewegungs¨ubungen ausgef¨uhrt. Wenn nach der ersten Sitzung kein Heilungserfolg eintrat, sollten im Abstand von sieben bis acht Tagen weitere Sitzungen durchgef¨uhrt werden. Auch wenn sich der angewandte Strom beim Verfahren nach Panse von der Kaufmann-Methode unterschied, war das angenommene Wirkprinzip weitgehend dasselbe geblieben. Entsprechend der Vorstellung, dass die Psychopathen“ auf” grund ihrer konstitutionell bedingten Willensschw¨ache“ vom entsagungsvollen ” Kriegseinsatz in die Krankheit fl¨uchteten“, wollte man sie durch den Einsatz dras” tischer Maßnahmen zur Flucht in die Gesundheit“ bewegen. Mehr oder weniger ” ¨ deutlich sprachen sich die Arzte daf¨ur aus, dem Kranken sein Symptom dadurch ” so unerfreulich“ wie m¨oglich zu machen.35 ¨ W¨ahrend die Arzte nach außen hin und vor allem den Patienten gegen¨uber versuchten, den Anschein zu wecken, es handele sich bei der als Pansen“ bekannt ” gewordenen Methode um ein rein medizinisches Verfahren, mit der man eine organische Erkrankung heilen wollte, machten sie im internen Austausch zumeist deutlicher, dass es sich um eine Maßnahme zur Disziplinierung handelte. Panse stellte auf der Zweiten Arbeitstagung Ost“ am 15. Dezember 1942 klar: Der Patient soll” ” te das Gef¨uhl haben, mit besonders wirksamen Methoden behandelt und nicht zum Zwecke des Aufgebens der psychogenen Mechanismen bedroht zu werden.“ 36 Doch ¨ nur wenige Arzte sprachen offen aus, dass es sich bei den Suggestionen vor allem um ein Uml¨ugen und Besch¨onigen“ handelte, und der Hysteriker“ seine St¨orung ” ” vor allem aufgab, weil der Stom weh tut“.37 ” Tats¨achlich war die Anwendung elektrischer Verfahren in T¨ubingen bereits 1941 mit dem Gebrauch faradischer Str¨ome eingel¨autet worden. Das Elektrisieren“ mit ” faradischem, also Wechselstrom, wurde von 1941 bis 1944 insgesamt in neun F¨allen ¨ erw¨ahnt, und schien besonders dann zum Einsatz zu kommen, wenn die Arzte mit der Psychotherapie“ an Grenzen stießen. Dies l¨asst sich am Fall von Josef P. nach” vollziehen. Bei seiner Aufnahme gab der Gefreite an, dass er von Beginn an am Vormarsch der Wehrmacht beteiligt gewesen sei.38 W¨ahrend er den Frankreichfeldzug ” ohne Verwundung mitgemacht“ hatte, war der Angriff auf Russland keineswegs spurlos an ihm vorbeigegangen: Am 31. August 1941 sei er durch eine in der N¨ahe ” einschlagende russische Pressluftbombe versch¨uttet worden. Sei angeblich 3 Stunden bewusstlos gewesen. Nach dem Erwachen habe er nicht mehr sprechen k¨onnen, habe sofort heftige Kreuzschmerzen versp¨urt.“ Wahrscheinlich teilte er diese Er¨ eignisse den Arzten schriftlich mit, denn unter dem Feld aktuelle Beschwerden“ ” seines Krankenblattes wurde lediglich vermerkt: K¨onne nicht mehr sprechen“. Die ” 34 35 36 37
Riedesser/Verderber (1996), S. 127. Ebenda, S. 43. Hilpert (1995), S. 37. Erfahrungsbericht von Oswald Bumke vom 4. April 1944, BA–MA H 20/464, zit. n. Riedesser /Verderber (1996), S. 164. 38 UAT 333, Pf–Reik, Josef P.
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¨ Arzte, die von einer psychogenen Sprachst¨orung“ ausgingen, versuchten nun, die” se mit Hilfe von hypnotischer Beeinflussung“ zu beheben, was ihnen prompt bei ” der ersten Sitzung gelang. Die Heilung erwies allerdings nicht als stabil, da B. einige Tage sp¨ater u¨ ber neue Symptome klagte. Daraufhin griffen sie zu einer anderen Methoden: P. [klagte] heute u¨ ber Schmerzen beim Sprechen, die aber auf Elek” trisieren sofort verschwanden.“ P. wurde schließlich als kriegsverwendungsf¨ahig“ ” aus dem Lazarett entlassen. Zwar wurden Wechselstr¨ome in der zeitgen¨ossischen Neurologie weitverbreitet eingesetzt, weil man sich von der Reizung motorischer Nerven“ bei der Behand” lung von L¨ahmungen und in Kombination mit Bewegungstherapie einen reellen medizinischen Nutzen versprach, allerdings konnten damit auch starke Schmerzreize gesetzt werden. Schließlich hatten die Milit¨arpsychiater des Ersten Weltkrieges damit im Rahmen des Kaufmann-Verfahrens“ den Kriegsneurotikern“ die St¨orungen ” ” in großem Stile verleidet“.39 ” Heinz S. war ein weiterer Patient, der zun¨achst mit Psychotherapie“, sp¨ater mit ” Wechselstrom behandelt wurde. Der Staffelmann, einer der wenigen Angeh¨origen der Waffen-SS, die im Lazarett behandelt wurden, konnte bei seiner Aufnahme am 13. September 1941 nicht sprechen und verst¨andigte sich stattdessen durch schriftliche Mitteilungen:40 S. schreibt ausf¨uhrliche Berichte, in denen er das Schreckliche, ” das er erlebt hat, schildert.“ Dieser Bericht wurde im Krankenblatt festgehalten: S. ” war im Einsatz an der russischen Front, die Russen griffen mit u¨ berlegenen Kr¨aften an, es wurde Trommelfeuer gemacht, es kamen auch mehrere Volltreffer in die eigene Stellung, hierbei sei S. durch den Druck u¨ ber die ganze Straße geflogen. Es seien Pressluftgranaten angewendet worden. Seitdem k¨onne er nicht mehr sprechen und h¨oren.“ Bereits am Tag nach der Aufnahme wurde vermerkt, dass der Soldat unter psychotherapeutischer Beeinflussung“ wieder einzelne Laute im Fl¨usterton her” ” vorbrachte“, allerdings trat in den n¨achsten Tagen keine weitere Besserung ein. ¨ Schließlich griffen die Arzte zus¨atzlich zu leichten faradischen Str¨omen“, womit ” auch in diesem Fall die Beseitigung der Symptome prompt gelang: Bei psychischer ” Beeinflussung und leichtem Faradisieren erfolgte dann pl¨otzlich Heilung des psychogenen Zustandes. S. war sehr erfreut, als er pl¨otzl[ich] wieder sprechen konnte.“ Mit welcher Intensit¨at und Intention die Faradischen Str¨ome hier gehandhabt wurden, l¨asst sich schwer sagen. Grunds¨atzlich schienen im Zeitraum von 1941 bis 1943 die elektrischen Stromschl¨age erst dann zum Einsatz zu kommen, nachdem die weichen“ Therapiemethoden versagt hatten. Nach dieser Phase erreichte die ” Verwendung von Str¨omen und die allgemeine therapeutische Aktivit¨at 1944, als das Pansen“ nach T¨ubingen kam, ihren H¨ohepunkt. Von insgesamt 41 Psychopa” ” then“, psychogenen Reaktionen“ und Neurasthenikern“, die 1944 in das Lazarett ” ” eingewiesen wurden, wurden 25 mit dieser Methode behandelt. Darunter waren 23 Mannschaftsgrade, ein Unteroffizier und ein Offizier. Von den Behandelten wurden 39 Siehe Riedesser/Verderber, S. 148. 40 UAT 333, Scherr–Schn, Heinz S.
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sieben als arbeitsverwendungsf¨ahig“, neun als bedingt kriegsverwendungsf¨ahig“ ” ” und sechs als voll kriegsverwendungsf¨ahig“ entlassen. Drei weitere Soldaten wur” den ohne Angaben zur Tauglichkeit zur Weiterbehandlung in andere Einrichtungen u¨ berwiesen.
Abbildung 3.1: Batteriepantostat. Mit diesen Ger¨aten wurde in T¨ubingen gepanst“. UAT 308/97, ” Herbert Graf: Elektrodiagnostik und Elektrotherapie mit Reizstr¨omen, o.D., S. 21.
Die meisten Soldaten und Angeh¨origen der Wehrmacht, die in T¨ubingen mit galvanischen Str¨omen behandelt wurden, wiesen motorische St¨orungen auf. Diese hatten bereits f¨ur die Kaufmann-Methode des Ersten Weltkriegs den typischen Ansatzpunkt gebildet. Bei Gerhard S., der am 4. September 1944 mit dem Lazarettzug aus einem Kriegslazarett der Ostfront nach T¨ubingen kam, wirkte die Therapie tats¨achlich wie das Wundermittel, als das es von Els¨asser und Panse angepriesen ¨ worden war.41 Wie er den Arzten berichtete, war er zwei Wochen zuvor beim ” Sprengen seines Panzers gegen einen Baum geschleudert“ worden. Nach kurzer 41 UAT 333, Sta–Th, Gerhard S.
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Bewusstlosigkeit w¨ahnte er sich zun¨achst unversehrt und begab sich zum Truppenarzt. Tags darauf jedoch sei eine L¨ahmung des rechten Beines aufgetreten. Bei der Untersuchung in T¨ubingen konnte er lediglich die Zehen minimal und mit großer ” Anstrengung“ bewegen. Außerdem gab er an, seit dem Vorfall an starken Kopfschmerzen zu leiden und nicht mehr lesen zu k¨onnen ohne Schmerzen in den Au” ¨ genh¨ohlen“. Wenige Tage sp¨ater, am 15. September, f¨uhrten die Arzte die Sugge” stionsbehandlung mit starken galvanischen Str¨omen“ aus. Sie verbuchten eine so” fortige erhebliche Besserung der Gangst¨orung“, so dass S. nach der Durchf¨uhrung der Therapie ohne fremde Hilfe seinen Saal aufsuchen konnte. Kurz darauf wurde er objektiv jetzt v¨ollig beschwerdefrei“ als kriegsverwendungsf¨ahig“ entlassen. ” ” Beim Einsatz des Pansens“ schien es den Psychiatern in T¨ubingen relativ egal ” gewesen zu sein, an welcher Stelle oder in welcher Form sich die psychogenen ” Reaktionen“ manifestierten. Bei dem Gefreiten Josef K., der vom 9. September 1944 bis zum 12. April 1945, also u¨ ber ein halbes Jahr, im Lazarett verweilte, schienen die Mediziner dem Symptom regelrecht hinterherzujagen.42 Zun¨achst war der Gefreite wegen eines starken Tremors in den Beinen eingewiesen worden, den ¨ die Arzte relativ schnell beseitigten. Kurze Zeit sp¨ater aber klagte der Patient u¨ ber Schmerzen in der Magengegend zur Wirbels¨aule hin ausstrahlend“, weshalb sie K. ” erneut pansten“. Wie der Aktenverlauf zeigt, verlagerte sich daraufhin das Sym” ptom erneut: 11. Oktober: Wiederholung der Suggestionsbehandlung mit starken ” galvanischen Str¨omen. Daraufhin zun¨achst reaktiv verst¨arkter Tremor beider H¨ande und Klagen u¨ ber heftige R¨uckenschmerzen.“ Nach einer Woche erfolgte die erneute Behandlung: 18. Oktober: Da K. noch immer u¨ ber R¨uckenschmerzen klagt, ” nochmals elektrische Behandlung, besonders der R¨uckenpartien.“ Danach wurde K. schließlich wegen schwerer seelischer Abartigkeit“ mit R¨uckfallneigung“ als ” ” unf¨ahig zum Wehrdienst beurteilt und entlassen. Das Anwendungsgebiet der Suggestivbehandlung mit starken galvanischen ” Str¨omen“ wurde in T¨ubingen auch u¨ ber die motorischen St¨orungen hinaus erweitert. Der Gefreite Edmund A. litt, seit er auf dem Polenfeldzug erheblichen Miss” handlungen seitens der Polen ausgesetzt gewesen sei, und sich im Kopf so angestrengt habe“, an Ged¨achtnisschw¨ache und Orientierungslosigkeit.43 Bei ihm wurde der Strom kurzerhand auf die Kopfhaut u¨ bertragen: 8. April 1944 – Elektrogalva” nisation des Sch¨adels mit starken galvanischen Str¨omen.“ Tats¨achlich klagte A. in den folgenden Tagen u¨ ber keine Kopfschmerzen mehr. Nachdem die Behandlung nochmals wiederholt worden war, gab er an, dass sein Kopf nun wesentlich freier“ ” sei. Bei dem Pionier Alois K., der am 7. Juni 1944 eingewiesen worden war, wurde mit der Suggestionstherapie erfolgreich ein internistisches Symptom beseitigt. K. musste laut Mitteilung des Standortlazaretts seit vielen Monaten t¨aglich nach jeder
42 UAT 333, Ki–Koo, Josef K. 43 UAT 669/41461, Edmund A.
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Mahlzeit erbrechen, trotz entsprechender Di¨at, Choloform und Permesin“ 44 . Nach” dem er auch in T¨ubingen nach dem Essen heftig erbrach, wurde er der Behandlung mit starkem Gleichstrom unterzogen. Damit wurde das Leiden des Patienten anscheinend schlagartig behoben, denn in der Akte wurde notiert: Erbrechen hat jetzt ” v¨ollig aufgeh¨ort“. Bereits wenige Tage sp¨ater wurde die gute Gewichtszunahme“ ” gelobt. Kurz darauf, am 19. Juli 1944, war Karl K. mit denselben Symptomen eingewiesen worden – bei ihm war die Behandlung aus Sicht der Mediziner allerdings weniger erfolgreich.45 Der Gefreite befand sich, nachdem er zwei Jahre lang in der Wehrmacht seinen Dienst getan hatte, seit M¨arz 1944 wegen unstillbaren Erbrechens in Lazarettbehandlung, und durch internistische Untersuchungen konnte kein krankhafter Befund festgestellt werden. Am 20. Juli vermerkten die T¨ubinger Psychiater: erh¨alt Vollkost, jedes Mal nach dem Essen sofortiges stoßweises Er” brechen. Ausgesprochene Facies psychopathica“, und leiteten, wie bereits bei Alois K., die Suggestivbehandlung mit starken galvanischen Str¨omen ein. Bei Karl K. blieb der erhoffte Erfolg allerdings aus, und auch eine Umstellung der Nahrung auf Breikost“ brachte nur eine vor¨ubergehende Besserung. Als das Gewicht des ” Gefreiten schließlich nach dreiw¨ochigem Lazarettaufenthalt von 62 auf 58 kg ge¨ sunken war, wandten sich die Arzte in ihrer Ratlosigkeit an diejenige Einrichtung, von der sie die Suggestivbehandlung u¨ bernommen hatten: Am 15. August fragten sie im Reservelazarett Ensen an, ob der Patient zur Behandlung dorthin verlegt werden k¨onnte. Allerdings zeigte man sich auch dort weniger optimistisch, als dies den Berichten Panses und Els¨asser zufolge eigentlich zu erwarten gewesen w¨are: Das Res[erve]laz[arett] Ensen schl¨agt nach Darlegung des Sachverhaltes vor, K. ” wegen Psychopathie nach U 15,3 zu entlassen. Die Behandlungsaussichten seien gering.“ Nachdem schließlich das Erbrechen unter Breikost erneut sistierte, setzten ¨ die Arzte K. zur Heeresentlassungsstelle in Marsch, da sie davon ausgingen, seine Dienstf¨ahigkeit in absehbarer Zeit nicht wiederherstellen zu k¨onnen. Im u¨ berwiegenden Teil der F¨alle, die in T¨ubingen mit der Suggestivtherapie ¨ behandelt wurden, erweckt die Dokumentation den Eindruck, dass die Arzte damit rein medizinische Zwecke verfolgten. Von der Brutalit¨at des Pansens“, die aus den ” von Historikern der 1980er und 1990er Jahre zusammengetragenen Quellen und aus der Entstehungsgeschichte des Verfahrens hervorgeht, davon, dass die Soldaten ihre St¨orung vor allem deshalb aufgaben, weil der Strom weh tut“, ist bei diesen ” F¨allen wenig ersichtlich. Es gab in T¨ubingen sogar F¨alle, in denen Dankbarkeit der Patienten f¨ur die Behandlung mit dem schmerzhaften Gleichstrom dokumentiert wurde, etwa bei Emil Z., der am 11. Mai 1944 in Lazarettbehandlung kam.46 Der 37-j¨ahrige Soldat hatte beim Dienst vor Aufregung derart mit den H¨anden und dem Kopf gezittert, dass der Truppenarzt die Erbkrankheit Chorea Huntington dahinter ¨ vermutet hatte. Im Lazarett befanden die Arzte nach abgeschlossener Befragung 44 UAT 333, Kop–Lang, Alois K. 45 UAT 333, Ki–Koo, Karl K. 46 UAT 333, Wo–Z, Emil Z.
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und neurologisch-organischen Untersuchung, dass es sich um psychogene Hyper” kinesen bei einem schon immer in seiner seelischen Widerstandsf¨ahigkeit konstitutionell beeintr¨achtigten Menschen“ handelte. Daraufhin leiteten sie am 12. Mai die Suggestivbehandlung mit galvanischen Str¨omen ein. Z., den die Lazarett¨arzte trotz seiner konstitutionellen Bereitschaft zu psychogenen Reaktionen“ im u¨ brigen f¨ur ” einen willigen und charakterlich anst¨andigen Mensch[en]“ hielten, zeigte sich u¨ ber ” die Behandlung dankbar: Der Zustand hat sich nach der Behandlung wesentlich ” gebessert. Die Besserung wird auch vom Pat. dankbar empfunden.“ Der 21-j¨ahrige Georg E., der von Februar bis Mai 1944 in T¨ubingen war, hatte ¨ die Arzte laut Krankenakte sogar ausdr¨ucklich um eine Behandlung mit dem galvanischen Strom gebeten. Eigentlich war er aufgrund einer R¨uckenschussverletzung mit anschließender L¨ahmung der Beine eingewiesen worden. Die Verletzungsfolgen, die als Restzustand nach H¨amatomyelie“ identifiziert wurden, besserten sich ” schon bald durch t¨agliche Massagebehandlung. Allerdings bat der Patient zus¨atzlich ausdr¨ucklich um die Behandlung eines Sprachfehlers: 24. M¨arz. E. wird heute auf ” seinen eigenen Wunsch wegen seines schon seit Jugend bestehenden Sprachfehlers mit galvanischem Strom (Suggestivtherapie mit starker Dosis) behandelt.“ Auf den 21-j¨ahrigen Ingenieurstudenten Matthias K., der im August und September 1944 in T¨ubingen in Behandlung war, hatte gar die Androhung der Verlegung auf die geschlossene Station einen gr¨oßeren Effekt als die Behandlung mit den schmerzhaften Str¨omen.47 Seine psychogene Gangst¨orung“, die im Anschluss an ” eine leichte Granatsplittersteckverwundung“ eingetreten war, konnte mit starken ” galvanischen Str¨omen nicht behoben werden, er fiel danach immer wieder in seine ” alte funktionelle Gehweise zur¨uck.“ Assistenzarzt Krais fand daraufhin ein anderes Mittel, ihn zum Aufgeben“ der psychogenen Symptome zu bewegen: Nach An” ” drohung der Verbringung auf die geschl[ossene] Abteilung zur besseren Kontrolle seiner Geh¨ubungen hat K. jetzt deutliche Fortschritte gemacht.“ In jedem Fall muss ber¨ucksichtigt werden, dass die Eintr¨age in den Kranken¨ akten ausschließlich Aussagen der Arzte sind, die Interesse daran hatten, ihre Methoden als human und erfolgreich darzustellen. Daher u¨ berrascht es nicht, dass sich Aussagen u¨ ber die Schmerzhaftigkeit des Verfahrens oder etwa negative Reaktionen der Patienten auf die Strombehandlung kaum finden. Allerdings sind vor allem die¨ jenigen F¨alle aufschlussreich, in denen die Arzte mit der Therapie an ihre Grenzen gelangten. Oft werden hier Spannungen deutlich, wenn die Mediziner den Grund f¨ur das Therapieversagen beim mangelnden Genesungswillen“ des Soldaten ver” muteten. Alois H. war so ein Fall.48 Was bei dem 38-j¨ahrigen Soldaten im Juli 1944 zu seiner Aufnahme in die Lazarettabteilung zur Beurteilung seiner Dienstf¨ahigkeit“ ” gef¨uhrt hatte, geht aus der Akte nicht hervor, allerdings war er in seinem Zustand nicht zum Kriegseinsatz f¨ahig: Die rechte Hand steht in starker ulnarer Abduk” tion, die Finger sind extrem gebeugt [...] am linken Bein reizlose Narbe u¨ ber der 47 UAT 333, Ki–Koo, Matthias K. 48 UAT 333, Hep–Hy, Alois H.
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Kniescheibe. Das Bein wird steif gehalten, der Fuß u¨ berstreckt, die Zehen gespreizt.“ ¨ Mechanisch konnten die Arzte seine Hand nicht o¨ ffnen: Beim Versuch, die Finger ” zu o¨ ffnen, werden starke Schmerzen angegeben, er weint und wirft sich von einer Seite auf die andere.“ Auch mit der Suggestivbehandlung mit starken elektr[ischen] Str¨omen“ kamen ” sie bei H. nicht weiter. Den Grund daf¨ur sahen sie in der ausgesprochene Gegen” einstellung“, die der Soldat an den Tag lege. Auch in einer zweiten Sitzung konnten sie diese Gegeneinstellung nicht durchbrechen“. Angesichts dieses Misserfolges ” ¨ brachten die Arzte ihr Missfallen u¨ ber die Haltung des Soldaten zum Ausdruck: Ausgesprochen wehleidig, v¨ollig unmilit¨arisch, jammert und st¨ohnt in einem fort, ” ist nicht soweit zu bringen, dass er auf den li[nken] Fuß steht. Entsprechende Befehle beantwortet er mit lautem Weinen und Klagen.“ ¨ Allerdings schienen die Arzte in diesem Fall nach einigen vergeblichen Versuchen ihren Misserfolg zu akzeptieren, denn schließlich gaben sie die Bem¨uhungen auf, Alois H. wieder f¨ur die Front verwendungsf¨ahig zu therapieren: Da von einer ” weiteren Lazarettbehandlung kein Erfolg zu erwarten ist, wird Befundschein und Zeugnis ausgestellt [...] Da H. zu einer ersprießlichen Verwendung infolge seiner seelischen Abartigkeit im Rahmen der Wehrmacht nicht zu gebrauchen ist, wird er [...] als a[rbeits]v[erwendungsf¨ahig] beurteilt.“ F¨ur H. hatte seine Gegeneinstel” lung“ im Endeffekt keine gravierenden Konsequenzen. Der Ausgang war allerdings nicht immer so glimpflich f¨ur Soldaten, bei denen die Therapie missgl¨uckte. F¨ur Arnulf D. etwa hatte die Behandlung im T¨ubinger Lazarett einen bitteren Nachgeschmack.49 Bei dem Soldaten, der am 5. Oktober 1944 in das Laza¨ rett u¨ berf¨uhrt wurde, konnten die Arzte zun¨achst wegen des psychischen Verhal” ¨ tens“ keine Vorgeschichte erheben. Gem¨aß den Notizen der Arzte war seine Sprache erheblich gest¨ort: D. wiederholt jede Silbe mehrere Male, (bis 10 und 20x) ” und beginnt erst dann mit der n¨achsten.“ Außerdem gestaltete sich seine Untersuchung a¨ ußerst schwierig: Aus D. ist kein normales Wort herauszubringen. Er ist ” w¨ahrend der Untersuchung in einer dauernden motorischen Unruhe, grimassiert, zeigt ausfahrende Bewegungen. Auf energische Aufforderung gibt er in der oben geschilderten Weise Antwort. Dabei zeigt er primitive Schreck- und Abwehrmechanismen, steigert sich in unecht wirkende Affekte hinein, gibt sich ratlos, verh¨alt sich dazwischen [...] stupor¨os.“ Da sich D. nach mehrw¨ochigem Pansen“, trotz ei” ner anf¨anglichen Besserung der Symptome, immer noch recht auff¨allig“ benahm, ” grimassierte“ und manchmal schreckhaft zusammenzuckte“, sanktionierte der be” ” handelnde Arzt den Patienten, indem er im Zeugnis an den Truppenarzt mitteilte: D.’s Verhaltensweise steht an der Grenze zwischen psychogener und bewusst de” monstrierter Reaktionsweise. [...] Ich empfehle, ihm Versetzung zu einer Sonderabteilung in aller Form anzudrohen.“
49 UAT 669/42200, Arnulf D.
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Bei dem 40-j¨ahrigen Obergefreiten Heinrich J. war die Vermutung, der Patient u¨ bertreibe seine Symptome, bereits vom Truppenarzt erhoben worden.50 In der Mitteilung an seine Kollegen in T¨ubingen schrieb er: J. klagt u¨ ber alle m¨oglichen Be” schwerden und hat einen mangelhaften Diensteifer. Ich bitte um fach¨arztliche Kontrolluntersuchung und Beurteilung, [...] ob b¨oswilliges Aggravieren vorliegt und mit Strafen zu versuchen ist, J. auf den richtigen Weg zu bringen.“ In T¨ubingen angekommen, berichtete der Obergefreite, er sei von November 1943 bis Januar 1944 wegen R¨uckenschmerzen und Schmerzen in allen Gliedern, [...] Kopfschmerzen, ” manchmal auch Schmerzen in den Hoden“ behandelt worden. Assistenzarzt Wolfgang Krais, der die Anamnese erhob, kommentierte sein Verhalten w¨ahrend des Gespr¨achs: Bringt seine Klagen sehr lebhaft und redselig vor, dabei durchaus hei” terer Gesichtsausdruck, man hat den Eindruck, dass er mit großem Gefallen von seinen verschiedenartigen Beschwerden spricht.“ Nachdem sowohl die k¨orperliche Untersuchung als auch der Liquorbefund nichts auff¨alliges ergaben, entschied sich Krais dazu, eine einmalige Behandlung mit galvanischem Strom“ vorzunehmen. ” Der Patient war danach in seinen Klagen insgesamt viel zur¨uckhaltender“. Damit ” stand f¨ur Krais fest: Das Gesamtverhalten des J. spricht [...] f¨ur eine erhebliche ” ¨ psychogene Uberlagerung.“ Da J. vom Truppenarzt urspr¨unglich nur zur diagnostischen Abkl¨arung u¨ berwiesen worden war, stellt sich hier die Frage, ob Krais es sich auch gleich zur Aufgabe gemacht hatte, den Obergefreiten mit Strafen [...] auf ” den richtigen Weg zu bringen“. Entweder dies – oder er setzte die Suggestionstherapie in diagnostischer Absicht ein, was den Sanit¨atsoffizieren eigentlich von der Heeressanit¨atsinspektion ausdr¨ucklich untersagt worden war.51 Dass Krais die elektrischen Str¨ome auch einsetzte, um Soldaten zu einem milit¨arischen Auftreten zu motivieren, l¨asst sich erkennen am Fall von Gottlob W. Dem Grenadier, der am 14. September 1944 eingewiesen worden war zur Beobachtung und Beurteilung seiner Dienstf¨ahigkeit, fehlte anscheinend die von Krais geforderte milit¨arische Haltung, denn bereits bei der Eingangsuntersuchung hielt er fest: Stumpf, antriebsarm, aggraviert stark w¨ahrend der Untersuchung [...] macht ” dauernd ein hilfloses Gesicht“.52 Auch mit Gottlob W.s F¨uhrung auf der Station war Krais unzufrieden: Er war in seiner Haltung v¨ollig unmilit¨arisch und undiszipli” niert, legte sich trotz gegenteiliger a¨ rztlicher Weisung immer wieder ins Bett und klagte in einem fort u¨ ber Magenbeschwerden.“ Dieses unmilit¨arische“ Verhalten ” des Grenadiers scheint ein Mitgrund gewesen zu sein, weshalb er am 19. September 1944 schließlich mit hohen galvanischen Str¨omen behandelt wurde. Denn es wurde
50 UAT 333, I–Ke, Heinrich J. 51 Siegfried Handloser an die Wehrkreis¨arzte, 27. Oktober 1943, Berlin: Wenn eine St¨orung auf ” die Einwirkung eines solchen Stromes hin verschwindet, so ist damit keineswegs bewiesen, daß sie vorget¨auscht war, da auch psychogene und hysterische St¨orungen auf diese Weise beseitigt werden. Es hat [...] die Anwendung st¨arkerer elektrischer Str¨ome zu differentialdiagnostischen Zwecken zu unterbleiben“ (Herv. i. Original), zit. n. Hilpert (1995), Anhang. 52 UAT 333, Wo–Z, Gottlob W.
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als Ergebnis nicht nur festgehalten, dass der Patient jetzt einfache Rechenaufgaben l¨osen k¨onne, sondern auch als Misserfolg, dass er sich weiterhin v¨ollig unmi” lit¨arisch“ benehme und sich in jeder Beziehung gehen lasse“. W. wurde schließ” lich, nachdem w¨ahrend des zweiw¨ochigen Lazarettaufenthalts die Therapie zu einem gewissen Abbau der funktionellen Symptome“ gef¨uhrt hatte, aufgrund seiner ” Magenbeschwerden zu einem Magenbataillon“ entlassen. Diese Magenbataillo” ” ne“ geh¨orten zu jenen Krankenbataillone, die ab 1943 von der Wehrmacht im Zuge der Mobilisierung der letzten Reserven“ aufgestellt wurden, um chronisch kranke ” Soldaten f¨ur Besatzungs- und Sicherungsaufgaben zu verwenden und somit gesunde Soldaten f¨ur den Kampfeinsatz freizumachen.53 Abgesehen davon hatten sie auch disziplinierende Funktion. Krais empfahl dem zuk¨unftigem Vorgesetzten des Grenadiers: W. muss mit einer gewissen Strenge angefasst werden, da er die Tendenz ” zum Ausweichen sonst noch mehr verst¨arkt.“ Beim Fall des Stabsgefreiten Georg B., der am 24. Oktober 1944 aus dem Reservelazarett Bad Boll nach T¨ubingen u¨ berwiesen worden war, wird deutlich, dass die Angst vor der schmerzhaften Therapie durchaus auch bei den Patienten des T¨ubinger Reservelazaretts pr¨asent war.54 B., der eingewiesen worden war, um abzukl¨aren, ob seine Anf¨alle“ psychogener Natur waren, hatte die volle H¨arte der ” russischen Front zu sp¨uren bekommen. Seinem Bericht zufolge war er seit dem R¨uckmarsch von Stalingrad aus v¨ollig herunter“. Im April 1944 sei er wegen ” Blasen- und Nierenentz¨undung und einer Bronchopneumonie in einem Feldlazarett behandelt worden. Schließlich sei er aufgrund seiner k¨orperlichen Schw¨ache in das Heimatlazarett in Bad Boll transportiert worden. Hier habe sich sein Kr¨aftezustand zun¨achst gut gebessert, allerdings seien im September pl¨otzlich mehrere Anf¨alle ” mit Gliederzittern und Atemnot“ aufgetreten. In T¨ubingen veranlassten die Psychiater erneut eine internistische Abkl¨arung, die wiederum keinen krankhaften Befund ergab. In der Folge versch¨arfte sich das Verh¨altnis zwischen B. und den Lazarett¨arzten zusehends. Das etwas m¨urrische, lahme und im allg[emeinen] ablehnende Verhal” ¨ ten“, das B. an den Tag legte, stieß bei den Arzten unangenehm auf. Am 2. November 1944 wurde in den Akten vermerkt: B. bringt heute mannigfache Klagen vor, ” ¨ z.B. u¨ ber Stiche in der lin[ken] Brustseite.“ Als die Arzte erneut keinen objekti” ven Anhalt“ f¨ur eine organische Erkrankung finden konnten, waren sie u¨ berzeugt: Es handelt sich bei B. sicher um einen Kriegsneurotiker. Die Anf¨alle sind sicher ” hysterischer Natur. Sein ganzes Auftreten ist sehr demonstrativ.“ Wenige Tage sp¨ater schickten sie B. zum Arbeitseinsatz. Da er sich mit al” len Mitteln“ dagegen str¨aubte, k¨undigten sie ihm an, ihn mit starken galvanischen Str¨omen zu behandeln. Das machte Eindruck auf den Patienten, denn Tags darauf wurde in der Krankenakte dokumentiert: 12. November. Charakteristischerweise ”
53 Riedesser/Verderber (1996), S. 171 f. 54 UAT 669/41794, Georg B.
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h¨alt B., nachdem er geh¨ort hat, dass er mit starken galv[anischen] Str¨omen behandelt werden soll, nun mit seinen Klagen sehr zur¨uck und zeigt Tendenzen, entlassen zu werden.“ Hier wird der disziplinarische Charakter des Pansens“ deutlicher, denn es zeigt ” ¨ sich, dass den Arzten durchaus bewusst war, dass die Therapie mit den schmerzhaften Str¨omen unter den Soldaten gef¨urchtet war – aus diesem Grund hielten sie es f¨ur charakteristisch“, dass der Patient ausgerechnet vor der Durchf¨uhrung der Thera” pie seine Symptome aufgab“, oder sie zumindest ihnen gegen¨uber verschwieg. Der ” Fall zeigt, dass die Psychiater sich diese Angst zunutze machten, um den Patienten zur Kooperation zu bewegen und seine vermeintlich hysterischen“ Symptome zu ” unterbinden. ¨ Ahnlich rapide Genesungen vor der Durchf¨uhrung der Suggestivbehandlung nach Panse finden sich nicht selten in den Akten, so auch bei Erwin H., der mit einer L¨ahmung des linken Beines nach einer Splitterverletzung im R¨ucken“ einge” wiesen worden war.55 Bereits bei der Aufnahme im T¨ubinger Reservelazarett war ¨ f¨ur die Arzte klar, was Diagnose und Therapie des Patienten sein sollten: Da es ” sich zweifellos um eine psychogene Schw¨ache des li[nken] Beines handelt, soll H. mit kr¨aftigen galvanischen Str¨omen behandelt werden.“ Schließlich wurde zwei Wochen sp¨ater die erste Durchflutung mit galvanischen Str¨omen“ vorgenommen. ” Zwar besserte sich daraufhin das Gehverm¨ogen des Obergefreiten schnell, jedoch ¨ beobachteten die Arzte schon bald wieder ein Nachlassen der funktionellen Leis” ¨ tung“. Da sich die T¨ubinger Arzte stets nach dem von Panse und Els¨asser vorgegebenen Therapieschema richteten, wurde die Behandlung nach acht Tagen wiederholt, auch diesmal ohne das gew¨unschte Ergebnis. Ein drittes Mal ließ der Patient die schmerzhafte Behandlung allerdings nicht u¨ ber sich ergehen; am 6. Mai wurde vermerkt: Kam gestern vor der Vornahme der Galvanisation zum Abteilungsarzt ” und meldete, dass er u¨ ber Mittag noch ein Bad genommen habe und dass seither die Funktion wieder vollst¨andig hergestellt sei. Kann nun einwandfrei auch auf dem linken Bein allein l¨angere Zeit h¨upfen.“ Schließlich wurde H. am 24. Mai 1944 mit der Einsch¨atzung entlassen, dass er bald wieder voll kriegsverwendungsf¨ahig“ sei. ” Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht auch der Fall des 29-j¨ahrigen Obersoldaten Sebastian F.56 Der ehemalige Landwirt war am 23. Dezember 1942 von seinem Truppenarzt nach T¨ubingen eingewiesen worden, also kurz, bevor die Heeressanit¨atsinspektion die Wehrkreispsychiater von der Pflicht zur Einholung des Einverst¨andnisses vor schwerwiegenden Eingriffen“ befreite. Anscheinend war der ” Truppenarzt beim Kontakt mit dem Soldaten an die Grenzen seines diagnostischen ¨ Verm¨ogens gelangt, denn er ließ den Arzten in T¨ubingen als einzige Information ein kurzes Schreiben zukommen, auf dem akute Psychose“ vermerkt war. Bei der Auf” nahme war der Patient v¨ollig unansprechbar: Er murmelt auf eindringliche Fragen ” nur einige unverst¨andliche Worte vor sich hin“. Die k¨orperlich-neurologische Untersuchung ergab außer etwas weiten Pupillen nichts Auff¨alliges, sodass der Patient 55 UAT 333, Hep–Hy, Erwin H. 56 UAT 333, F–Fri, Sebastian F.
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vorl¨aufig lediglich beobachtet wurde. In den n¨achsten Tagen stellte sich jedoch keine Besserung ein, wie der Verlaufsbogen zeigt: F. ist noch immer v¨ollig stupur¨os, ” sitzt lahm und antriebsarm herum, nimmt kaum Nahrung zu sich“. Einmal mehr griffen die Psychiater nun zu dem Verfahren, das die ultima Ratio“ f¨ur Soldaten ” gewesen zu sein schien, die ihnen aufgrund ihrer Stummheit mit anderen Mitteln nicht mehr zug¨anglich schienen: Am 29. Dezember wurde auf Veranlassung des ” Beratenden Psychiaters Prof. Dr. Hoffmann ein Elektroschock ausgel¨ost“. Dadurch ¨ wurde allerdings noch kein Fortschritt erzielt. Erst nachdem die Arzte Sebastian F. zus¨atzlich einige Tage lang energisch faradisiert“ hatten, erhielten sie Reaktionen ” von dem Patienten: Seither gibt er wenigstens seinen Namen an und antwortet auf ” einfache Fragen mit ja und nein, allerdings erst nach l¨angerem Dr¨angen“. Am 11. Januar wurde erstmals ein ausf¨uhrlicheres Gespr¨ach mit dem Patienten dokumentiert. F. betritt mit schl¨urfenden, m¨uhseligen Schritten das Zimmer, setzt sich auf Aufforderung langsam und umst¨andlich hin, stiert mit weit ge¨offneten Augen durchs Fenster und vermeidet es auffallend, den Arzt anzusehen. Verlegen beginnt er an den Fingern herumzuzupfen. Auf Fragen, wie Wieviel Tage sind Sie denn hier“, Wo sind Sie hier“ gibt der Patient kei” ” nerlei Antworten. Er stiert ins Leere. Unter Anwendung von Drohungen, dass er, wenn er nicht antworte, sonst wieder elektrisiert werden m¨usse, beginnt er schließlich zur Antwort: In der Klinik.
Nachdem in dem Bericht bis zu diesem Punkt vor allem ein sich zunehmend versch¨arfendes Verh¨altnis zwischen Arzt und Patient aufgefallen war, zeigt sich hier, ¨ dass die Arzte elektrische Verfahren nicht nur unterschwellig, sondern auch ganz offen als Druckmittel gegen unkooperative Patienten einsetzten. Den Patienten Sebastian F. konnte Krais mit dieser Drohung dazu bewegen, eine Reihe von Fragen zu beantworten: Er gibt weiter schließlich an, dass er sich wohl f¨uhle. Im Laufe des Gespr¨aches antwortet er, dass er sich gar nicht wohl f¨uhle“, er h¨atte so sehr starke ziehende Schmerzen, die vom ” ” linken Fuß zur Herzgegend ausstrahlten“. Nach der vermeintlichen Ursache gefragt, erkl¨art er, dass er im vorigen Jahr in Russland eine Erfrierung des linken Vorderfußes erlitten habe, die große Zehe sei ganz schwarz gewesen“. Seitdem habe er die starken Schmerzen. ” Auch habe er im vorigen Winter (1941/42) in Russland einen Schuss ins rechte Schulter¨ gelenk bekommen. Er sei nach dieser Verwundung von den Arzten sehr gut behandelt ” worden“. Auf mehrfache Fragen, ob er w¨ahrend der Behandlungszeit nach der Erfrierung nicht so gut sich behandelt gef¨uhlt habe, gibt er keinerlei Antwort. Nach der Schussverletzung sei er eine kurze Zeit bewusstlos gewesen, u¨ berhaupt“ habe sein Ged¨achtnis so ” ” sehr gelitten“. Er streitet aber jeden Zusammenhang oder erkl¨arende Ursache dieser angeblichen Ged¨achtnisschw¨ache zu den in Russland erlebten Eindr¨ucken ab. Unerwartet sagt F. pl¨otzlich ach ja, in Russland war es sehr sch¨on“. Bei diesen Worten stiert er aber ” weiter mit tieftrauriger Miene ins Leere. Er wolle auch wieder gerne an die Front. Beim ” Milit¨ar ist es auch sch¨oner als zu Hause“. Auf die Frage, ob er nicht gerne an die Heimat zur¨uckdenke oder gern nach Hause fahre, oder oft Streit zu Hause habe, antwortet er, Nein ” – kein Streit gehabt – ich bin sehr gern zu Hause, ich bin Landwirt“. N¨ahere und eindringlichere Fragen beantwortet er nicht. Auf die Frage, wie er nachts schlafe, antwortet er: Ja, ” schlecht“. Weitere Angaben lehnt er ab.
Die Schilderungen von Sebastian F. zeigen zun¨achst einmal mehr die gnadenlosen Umst¨ande, denen die Soldaten an der Ostfront ausgeliefert waren: Zus¨atzlich zu der
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Erfrierung, die ihm u¨ ber ein Jahr sp¨ater noch starke Schmerzen“ bereitete, war er ” auch im Kampfeinsatz verwundet worden. Er schien an diese Ereignisse nur vage Erinnerungen zu haben. Die Frage nach einem direkten Zusammenhang zwischen ¨ den Kriegsereignissen und seinem Zustand schien in ihm Angste auszul¨osen. Seine darauffolgenden Beteuerung, er wolle auch wieder an die Front“, wirkte auch auf ” ¨ die Arzte unglaubw¨urdig. Wahrscheinlich wollte er sich dadurch, wie viele Soldaten des Lazaretts, des Verdachts erwehren, aus Angst vor dem Kampfeinsatz eine Erkrankung zu simulieren.57 Ob er so letztendlich aus Angst vor dem § 5 KSSVO handelte, oder aus Angst, erneut mit schmerzhaften Stromreizen behandelt zu werden, bleibt offen. Jedenfalls wurde F. in den n¨achsten Tagen weiterhin faradisiert“. ” ¨ Bezeichnend ist, dass sich die Arzte in T¨ubingen bis zuletzt im Unklaren dar¨uber waren, wie sie den Fall in a¨ tiologischer Hinsicht einzuordnen sollten. Einmal mehr stiftete hier die M¨oglichkeit einer lange andauernden, psychischen Traumatisierung durch Kriegsereignisse Verwirrung. Als F. schließlich am 21. Januar wegen Platz” mangels“ in das Reservelazarett Winnenden verlegt wurde, erteilten sie ihm zwar die Diagnose Psychopathie“, betonten aber, dass in differentialdiagnostischer Hin” sicht noch weitere Beobachtung erforderlich sei. Die Betrachtung der Behandlungspraxis im Reservelazarett V, Teillazarett Ner” ¨ venklinik“ zeigt, dass die Arzte in T¨ubingen im Laufe des Krieges zu einem breiten Spektrum von Methoden griffen, um Psychopathen“, psychogene Reaktionen“ ” ” und Neurastheniker“ wieder verwendungsf¨ahig f¨ur die Front zu therapieren. Be” merkenswerterweise bedienten sie sich zu Beginn des Krieges bis 1941 vor allem psychotherapeutischer Methoden, die von energischem Zureden“ bis zur Hypnose” behandlung reichten. Dabei waren diese weichen“ Methoden keineswegs den Of” fizieren vorbehalten: Unter den 25 Wehrmachtsangeh¨origen, bei denen diese Therapieform angewandt wurde, waren lediglich zwei Unteroffiziere und ein Offizier. Betrachtet man den Wandel der Methoden, so kann auch f¨ur T¨ubingen eine Brutalisierung der Behandlung im Laufe des Krieges festgestellt werden: Von den wei” chen“ Methoden hin zu elektrischen Verfahren mit schmerzhaften physischen Reizen. Denn ab 1941 wurden zunehmend Stromschl¨age eingesetzt, zun¨achst faradi” sche Str¨ome“, und schließlich erreichte die therapeutische Aktivit¨at 1944 mit dem ausgiebigen Einsatz der Suggestionstherapie mit starken galvanischen Str¨omen“ ” nach Panse ihren H¨ohepunkt. Als Ende 1944 der psychoanalytisch ausgerichtete Nervenarzt Hermann Gundert die Leitung u¨ bernahm, verschwanden die Suggestionstherapien wieder aus dem therapeutischen Arsenal des Lazaretts. Auch wenn es in T¨ubingen F¨alle gab, bei denen sich die Patienten laut Akte f¨ur die Suggestionstherapie dankbar“ gaben oder um eine solche Behandlung ” ¨ baten, zeigt eine kritische Lekt¨ure der Krankenakten doch, dass die Arzte bei der Anwendung der Suggestionstherapie schwankten, ob sie sich in erster Linie dem individuellen Patienten oder den scheinbaren milit¨arischen Notwendigkeiten verpflichtet f¨uhlten. Der aus soldatischem Milieu stammende Wolfgang Krais setzte auch hier die Priorit¨aten eindeutig beim Milit¨ar. Auch die Tatsache, dass sich bei 57 Siehe hierzu Kapitel 4, S. 58–63.
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den Elektro-Suggestiv-Verfahren keinerlei Angaben u¨ ber Nebenwirkungen, Komplikationen, Beschwerden oder Einwilligung finden, spricht daf¨ur, dass diese im Gegensatz zu den Schockverfahren Mittel zur Disziplinierung waren, mit denen die Symptome der Patienten bestraft werden sollten. Therapie und Disziplinierung verschr¨ankten sich auch in T¨ubingen, und auch hier war das Pansen“ unter den ” Soldaten gef¨urchtet.
ZUSAMMENFASSUNG UND SCHLUSS Von 1939 bis 1945 wurden im Reservelazarett II, Teillazarett Nervenklinik“ in ” T¨ubingen rund 6 000 Soldaten und Angeh¨orige der Wehrmacht behandelt. Die vorliegende Arbeit untersucht die milit¨arpsychiatrische Praxis dieser Lazarettabteilung und geht der Frage nach, wie die Psychiater im Konflikt zwischen a¨ rztlicher Verantwortung und milit¨arischer R¨ason unter den Bedingungen der nationalsozialistischen Diktatur und des von ihr entfachten Vernichtungskrieges agierten. Daf¨ur wurden die Krankenakten des Lazaretts, die im Archiv der Universit¨at T¨ubingen (UAT) aufbewahrt werden, als Quellenmaterial herangezogen. Diese Dokumente, deren Umfang von halbseitigen Befundscheinen bis zu mehreren Dutzend Seiten starken Aktenb¨uscheln reicht, sind alphabetisch geordnet in 34 Schatullen verstaut. Der Gesamtumfang des Bestandes betr¨agt ungef¨ahr drei Regalmeter. Aus dem kompletten Spektrum von Krankheitsbildern der damaligen Neurologie und Psychiatrie wurden diejenigen F¨alle ausgew¨ahlt, bei deren Behandlung ¨ die Arzte besonders im Spannungsfeld zwischen der Verpflichtung gegen¨uber dem Wohl des individuellen Patienten und den Vorgaben der Heeressanit¨atsinspektion handelten. Dies war bei den politisch aufgeladenen Diagnosen Psychopathie“, psy” ” chogene Reaktion“ und Neurasthenie“ der Fall, die in T¨ubingen an insgesamt 316 ” Soldaten und Angeh¨orige der Wehrmacht vergeben wurden. Viele dieser Patienten wiesen Krankengeschichten auf, bei denen Kriegserlebnisse eine wesentliche Rolle spielten. Dies war eine Herausforderung f¨ur die Milit¨arpsychiater des Zweiten Weltkrieges, f¨ur die unvorstellbar war, dass Kriegserlebnisse lang anhaltende St¨orungen und Krankheiten verursachen konnten. Eine Betrachtung der a¨ tiologischen Einsch¨atzung und der Diagnosevergabe zeigt, dass sich ¨ an der Einstellung der T¨ubinger Arzte im Laufe des Krieges trotz der wiederholten Konfrontation mit derartigen F¨allen wenig a¨ nderte: Im weit u¨ berwiegenden Teil der F¨alle r¨uckten sie im Laufe des Krieges von der Doktrin der grenzenlosen Belastbarkeit der menschlichen Seele nicht ab. Eine Verursachung psychiatrischer Erkrankungen durch Kriegserlebnisse hielten sie zumeist auch dann f¨ur ausgeschlossen, wenn ein solcher Erkl¨arungsansatz von Patienten an sie herangetragen wurde. Eine Ausnahme f¨ur diese Denkweise bildet allerdings die Diagnosevergabe bei h¨oheren R¨angen. Hier gaben die Sanit¨atsoffiziere des Reservelazaretts die Ablehnung einer kausalen Verbindung zwischen Kriegserlebnissen und psychischen Erkrankungen teilweise auf, wobei vor allem zwei Gr¨unde ausschlaggebend waren: Zum einen war f¨ur die Mediziner die Diagnose Psychopathie“ mit einem Offi” ziersgrad schwer zu vereinbaren, denn wie ein hoher Rang in der Wehrmacht f¨ur eine gesteigerte Leistungsf¨ahigkeit und -bereitschaft f¨ur die Volksgemeinschaft“ ” sprach, so implizierte die Diagnose Psychopathie“ das genaue Gegenteil. Außer” ¨ dem ist in der sozialen N¨ahe der Arzte zu den Offizieren ein weiterer Faktor zu sehen, der sie davor zur¨uckschrecken ließ, diese Personen allzu stark abzuwerten.
Schluss
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Eine a¨ hnliche Abschw¨achung der Stigmatisierung durch die Diagnosevergabe findet sich auch bei denjenigen Offizieren, die dennoch als Psychopathen“ klassifi” ziert wurden. Hier h¨aufen sich F¨alle im Grenzgebiet zwischen Psychopathie“ und ” Erkrankungen, die unter das GezVeN“ fielen, und auch hier entschieden sich die ” ¨ Arzte f¨ur die Diagnose mit der weniger stigmatisierenden Wirkung. Bei 81 Psychopathen“, die nach T¨ubingen u¨ berwiesen wurden, sollten die Me” diziner im Rahmen einer forensisch-psychiatrischen Begutachtung feststellen, ob diese Diagnose Disziplinverst¨oße bei der Truppe, Selbstverst¨ummelung oder vermeintliche Simulation exkulpierte beziehungsweise die Schuldf¨ahigkeit einschr¨ankte. Durch die Verortung der Psychopathie“ in einer Grauzone zwischen charakterli” ” cher Abnormit¨at“ und echter Geisteskrankheit“ war den Sachverst¨andigen dabei ” ein Spielraum gegeben, den die Heeressanit¨atsinspektion wiederholt einzuschr¨anken versuchte. In T¨ubingen erzielte Otto Wuth mit seinen Mahnungen zu einer restriktiveren Handhabung des § 51 StGB allerdings wenig Wirkung: Der Anteil von Soldaten, bei denen in T¨ubingen § 51,1 oder 2 zugebilligt wurde, lag mit 38 % deutlich u¨ ber dem Durchschnitt in der Wehrmacht (23 %). Die Untersuchung der Krankenakten zeigt, dass sich Wilhelm Ederle, der den Großteil der Gutachten verfasste, bei der Begutachtung von Soldaten, die sich aufgrund von Disziplinverst¨oßen bei der Truppe milit¨argerichtlich verantworten mussten, durchaus an den Vorgaben der Heeressanit¨atsinspektion orientierte. Denn in diesen F¨allen schien er sein gutachterliches Urteil vor allem davon abh¨angig zu machen, ob dem Delikt des Probanden ein vermeintlicher organischer oder konstitutioneller Defekt zugrunde lag. Wann immer er eine konstitutionelle“, an” ” geborene“ oder organische Ursache f¨ur die Handlungen des Soldaten vermutete, sprach er sich f¨ur die Anwendung des § 51 StGB aus. Wie die Gutachten zeigen, setzten der Klinikleiter Hoffmann und der Lazarettassistent Krais hingegen ihre eigenen Priorit¨aten bei der Begutachtung dieser Soldaten an: W¨ahrend Krais, der in einer Soldatenfamilie sozialisiert wurde, Wert auf soldatische Disziplin legte, ist bei Hoffmann ein Zusammenhalt mit Probanden zu erkennen, die sich in ihrer sozialen Stellung auf Augenh¨ohe mit ihm befanden. Bei der Empfehlung zu Straf¨ versch¨arfungen war f¨ur alle Arzte des Lazaretts das Verhalten des Patienten auf der Abteilung maßgebend: Durchweg rieten sie dazu, Soldaten in Sonderabteilungen der Wehrmacht zu versetzen, wenn sie unter ihrer Aufsicht die Lazarettordnung missachtet hatten. Bemerkenswerterweise sprach Ederle dieselbe Empfehlung aus bei erziehungsf¨ahigen“ Soldaten, die etwa Schuldbewusstsein oder den Vorsatz zur ” Besserung zeigten. In diesen F¨allen wurde deutlich, dass Ederles a¨ rztliches Selbstverst¨andnis eine erzieherische Komponente beinhaltete. Eine Abweichung Ederles von HSI-Vorgaben zeigte sich eher bei denjenigen Soldaten, die begutachtet wurden, nachdem sie von Truppen¨arzten oder Vorgesetzten wegen Simulation angezeigt worden waren. In diesen Gutachten sprach sich Ederle dagegen aus, Psychopathen“ pauschal dem Simulationsverdacht auszuset” zen, und hob sich mit seiner differenzierteren Sicht auf das Ph¨anomen deutlich von der zeitgen¨ossischen milit¨arpsychiatrischen Lehre ab. In all diesen F¨allen bejahte
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Schluss
Ederle die Voraussetzungen f¨ur den § 51 StGB. Wie die Akten allerdings zeigen, waren die Soldaten des Lazaretts nicht grunds¨atzlich gegen jeden Simulationsverdacht gefreit. Anders als bei denjenigen Soldaten, bei denen dieser Verdacht außerhalb des Lazaretts erhoben worden war und die zur Begutachtung im Lazarett waren, kam es bei denjenigen, die zur Behandlung eingewiesen worden waren, immer wieder vor, dass peinlich genau gepr¨uft wurde, ob ihr Verhalten durch Feigheit ” ¨ vor der Front“ motiviert war. Hier zeigte sich: Waren die T¨ubinger Arzte erst einmal u¨ berzeugt, dass ein Patient Symptome vort¨auschte oder u¨ bertrieb, drohten sie ohne zu z¨ogern mit dem § 5 KSSVO. Allerdings blieb es bei Drohungen, eine kriegsgerichtliche Anzeige ist in den Akten nicht dokumentiert. Auch bei weiteren F¨allen, bei denen das Delikt als Versuch gewertet werden konnte, sich dem Wehrdienst zu entziehen – und somit als Zersetzung der Wehr” kraft“ weit gravierendere Konsequenzen f¨ur den Soldaten erwarten ließ – l¨oste sich Ederle von den HSI-Vorgaben. Im Gegensatz zum Diebstahl einer Uhr oder einem Alkoholexzess war bei Selbstverst¨ummelung, Suizidversuchen und Simulation die Todesstrafe eine m¨ogliche und sogar wahrscheinliche Konsequenz. Die Betrachtung dieser F¨alle legt nahe, dass hier f¨ur den Abteilungsleiter eine moralische Hemmschwelle bestand und er den § 51 tats¨achlich dazu gebrauchte, die Psycho” pathen zu sch¨utzen“. Dies konnte etwa dazu f¨uhren, dass Soldaten exkulpiert wurden, die offen zugaben, durch Selbstverst¨ummelung dem Kriegseinsatz entkommen zu wollen. Auch die Tatsache, dass in allen Gutachten, die im Anschluss an Suizidversuche erstellt wurden, die Voraussetzungen f¨ur die Anwendung des § 51,1 ¨ oder 2 best¨atigt wurden, spricht daf¨ur, dass die Arzte davor zur¨uckschreckten, ihre Probanden durch ihr gutachterliches Urteil einem Erschießungskommando zu u¨ berlassen. M¨oglicherweise war dies der Grund daf¨ur, dass in T¨ubingen nach 1943 keine weiteren Gutachten mehr erstellt wurden. Es ist denkbar, dass die Heeressanit¨atsinspektion die Gerichte dazu anhielt, keine weiteren Soldaten zur Begutachtung nach T¨ubingen einzuweisen, nachdem Wuths wiederholte Mahnungen an Hoffmann keine Wirkung erzielt hatten. Die Zur¨uckhaltung Ederles h¨orte indes bei ¨ denjenigen Soldaten auf, die aufgrund ihrer religi¨osen Uberzeugung den Dienst an der Waffe verweigerten. Sie alle befand er als voll zurechnungsf¨ahig, was wahrscheinlich ihre Hinrichtung zur Folge hatte. W¨ahrend der Kriegsverlauf auf die a¨ tiologischen Konzepte der Mediziner wenig Einfluss hatte, bestimmte er deutlich die Methoden, zu denen sie griffen, um Psychopathen“, psychogene Reaktionen“ und Neurastheniker“ wieder verwen” ” ” dungsf¨ahig f¨ur die Front zu therapieren. So zeigt die Untersuchung der Behandlungspraxis, dass die Psychiater zu Beginn des Krieges bis 1941 vor allem weiche“ ” Methoden wie Psychotherapie anwendeten. Entgegen den Ergebnissen der historischen Forschung waren diese in den ersten Kriegsjahren eingesetzten psychotherapeutischen Methoden, die von energischem Zureden“ bis zur Hypnosebehandlung ” reichten, keineswegs den Offizieren vorbehalten.
Schluss
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Unter dem erh¨ohten milit¨arischen Zwang setzten die Mediziner im Laufe des Krieges zunehmend schmerzhafte Stromschl¨age ein. Schließlich erreichte die therapeutische Aktivit¨at mit dem ausgiebigen Einsatz der Suggestionstherapie mit star” ken galvanischen Str¨omen“ nach Friedrich Panse 1944 ihren H¨ohepunkt. Im Hinblick auf diesen Wandel der Methoden kann also auch f¨ur T¨ubingen eine Radikalisierung der milit¨arpsychiatrischen Praxis im Laufe des Krieges festgestellt werden. Auch wenn es in T¨ubingen F¨alle gab, bei denen sich die Patienten laut Akte f¨ur die Suggestionstherapie dankbar“ gaben oder um eine solche Behandlung ba” ¨ ten, zeigt eine kritische Untersuchung der Krankenakten doch, dass die Arzte darin schwankten, ob sie sich in erster Linie dem einzelnen Patienten oder den scheinbaren milit¨arischen Notwendigkeiten verpflichtet f¨uhlten. Der aus soldatischem Milieu stammende Assistent Wolfgang Krais setzte auch hier die Priorit¨aten eindeutig beim Milit¨ar. Auch die Tatsache, dass sich bei den Elektro-Suggestivverfahren keinerlei Angaben u¨ ber Nebenwirkungen, Komplikationen oder Einwilligung finden, spricht daf¨ur, dass diese im Gegensatz zur Psychotherapie und den Schockverfahren Mittel zur Disziplinierung waren. Therapie und Disziplinierung verschr¨ankten sich auch in T¨ubingen, und auch hier war das Pansen“ unter den Soldaten gef¨urchtet. ” Wenngleich die Brutalit¨at der Milit¨arpsychiatrie des Zweiten Weltkrieges Teil des Alltags im Lazarett der T¨ubinger Nervenklinik war, ergibt die Betrachtung der Krankenakten dennoch ein weit differenzierteres Bild, als es die Forschung der 1980er und 1990er Jahre zeichnete, die sich auf die Untersuchung der h¨oheren me¨ dizinischen Ebene beschr¨ankte. Die T¨ubinger Arzte haben bei Begutachtungen ihre Freir¨aume genutzt und sich von den Vorgaben der Heeressanit¨atsinspektion h¨aufig unabh¨angig gemacht. Auch haben sie weiter in nennenswertem Umfang psychotherapeutische Methoden eingesetzt. Ob T¨ubingen damit unter den deutschen Lazaretten eine Sonderstellung einnahm, werden weitere lokale Studien zeigen m¨ussen. Aufschlussreich w¨are sicherlich auch ein Vergleich mit der zivilen Psychiatrie von 1939 bis 1945, etwa um festzustellen, ob die genuin milit¨arpsychiatrischen Suggestivverfahren auch auf den zivilen Bereich u¨ bertragen wurden.
QUELLENVERZEICHNIS Universit¨atsarchiv T¨ubingen UAT 125/159, Nr. 22 UAT 126a/90 UAT 155/752 UAT 155/3630 UAT 308/91 UAT 308/92 UAT 308/93 UAT 308/97 UAT 308/3368 UAT 333 UAT 444/12 UAT 444/80 UAT 669/41386–42508
Personalakte Wilhelm Ederle. Personalakte Wilhelm Ederle. Assistentenakte Wilhelm Ederle. Assistentenakte Wolfgang R¨udiger Krais. Sammelberichte von Otto Wuth. Vierteljahresberichte von Herrmann Hoffmann, 3. Vierteljahr 1941 – 4. Vierteljahr 1943. Vierteljahresberichte von Herrmann Hoffmann, 1. Vierteljahr 1942 – 1. Vierteljahr 1944. Korrespondenz der T¨ubinger Nervenklinik mit Siemens-Reiniger. Personalakte Krais. Krankenakten des Reservelazarett 4, Teillazarett Nervenklinik“, Pati” enten mit Nachnamen F–Z. Rede von Konrad Ernst u¨ ber die T¨ubinger Nervenklinik, gehalten 1954. Briefwechsel Ederle-Ernst. Krankenakten des Reservelazarett 4, Teillazarett Nervenklinik“, Pati” enten mit Nachnamen A–E.
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DANK ¨ An erster Stelle danke ich Dr. Henning T¨ummers f¨ur die vertrauensvolle Uberlassung des Themas und f¨ur die hervorragende und immerzu motivierte Betreuung der Arbeit. Eine bessere Anleitung kann man sich wirklich nicht w¨unschen. Ebenso wertvoll war mir die Unterst¨utzung meines Doktorvaters Prof. Albrecht Hirschm¨uller, der mit scharfsichtigen Hinweisen wesentlich zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen hat. Auch allen Teilnehmenden des Forschungskolloquiums am medizinhistorischen Institut in T¨ubingen danke ich f¨ur zahlreiche Ratschl¨age und Anregungen. Die intellektuelle Neugier und Offenheit, auf die ich in diesem Institut traf, werde ich stets in guter Erinnerung behalten. Auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Archivs der Universit¨at T¨ubingen m¨ochte ich danken, die mit unersch¨opflicher Geduld meinen unz¨ahligen Bestellungen nachkamen und Quellenarbeit unter besten Bedingungen erm¨oglichten. An dieser Stelle m¨ochte ich auch Frau Irmela Bauer-Kl¨oden danken, die mir stets mit ihrer freundlichen Art bei den Recherchen weiterhalf. Besonders danke ich meinen Eltern, denen diese Arbeit gewidmet ist. Sie begleiteten meine Forschung von Beginn an interessiert und hilfsbereit. Ohne ihre Unterst¨utzung in jeglicher Hinsicht w¨are diese Arbeit nicht m¨oglich gewesen.
contubernium Tübinger Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte
Herausgegeben von Jörg Baten, Ewald Frie, Sigrid Hirbodian, Andreas Holzem, Ulrich Köpf, Anton Schindling, Jan Thiessen und Urban Wiesing.
Franz Steiner Verlag
ISSN 0340–6857
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Von September 1939 bis Mai 1945 wurden im Reservelazarett der Tübinger Universitätsnervenklinik ungefähr 6000 Soldaten und Angehörige der Wehrmacht behandelt. Ausgehend von den Krankenakten dieser Patienten zeichnet Jörg Wagenblast in seiner medizinhistorischen Lokalstudie den Behandlungsalltag in dieser Einrichtung nach. Der Autor rückt vor allem Soldaten, die auf die Schrecken des Krieges mit psychischer Krankheit reagierten, in den Blick: Wie ordneten die Ärzte derartige Fälle in ihr ätiologisches Gefüge ein, das von einer unbegrenzten Belastbarkeit der menschlichen Seele ausging? Wie entschieden sie, wenn es darum ging, derartige Störungen vor dem Hintergrund einer
radikal durchgreifenden Wehrmachtjustiz von Simulation abzugrenzen? Zu welchen Mitteln griffen sie, um diese Soldaten wieder bereit zu machen für den Einsatz an der Front? Anschaulich und differenziert zeigt der Autor auf, wie sich die Lazarettärzte durch die Einbindung in militärische Strukturen immer stärker mit den Zielen des kriegsführenden NSRegimes identifizierten und unter den Bedingungen des Krieges die Grenzen zwischen Therapie und Disziplinierung zerfließen. Dabei werden aber auch die Besonderheiten deutlich, welche die Praxis in Tübingen von der in Berlin koordinierten Militärpsychiatrie abhoben.
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ISBN 978-3-515-11217-8
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7835 1 5 1 1 2 1 78