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German Pages [356] Year 2014
Johnson-Studien
Band 12
Herausgegeben von Ulrich Fries, Sven Hanuschek, Holger Helbig und Lothar van Laak
Hannah Dingeldein
Die Ästhetik des Schönen und Erhabenen Friedrich Schiller und Uwe Johnson
V& R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0253-3 ISBN 978-3-8470-0253-6 (E-Book) Ó 2014, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Uwe Johnson, Kohlezeichnung, 1961, aus: Günter Grass: Fünf Jahrzehnte, S. 224, Ó Steidl Verlag, Göttingen 2004, Ó Günter Grass, 1961 Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Zwei Genien sind es, die uns die Natur zu Begleitern durchs Leben gab. Der Eine, gesellig und hold, verkürzt uns durch sein munteres Spiel die mühvolle Reise, macht uns die Fesseln der Notwendigkeit leicht, und führt uns unter Freude und Scherz bis an die gefährlichen Stellen, wo wir als reine Geister handeln und alles körperliche ablegen müssen, bis zur Erkenntnis der Wahrheit und zur Ausübung der Pflicht. Hier verläßt er uns, denn nur die Sinnenwelt ist sein Gebiet, über diese hinaus kann ihn sein irdischer Flügel nicht tragen. Aber jetzt tritt der andere hinzu, ernst und schweigend, und mit starkem Arm trägt er uns über die schwindlichte Tiefe. In dem ersten dieser Genien erkennet man das Gefühl des Schönen, in dem zweiten das Gefühl des Erhabenen. Schiller, Über das Erhabene
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Teil I: Einleitung 1. Zu dieser Arbeit: Ziele, Methode, Textkorpus . . . . . . . . . . . . .
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2. Stand und Probleme der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Ästhetik: die Lehre vom Schönen? . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Das Schöne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Das Erhabene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Beispiele für die problematische Verwendung der Begriffe Ästhetik, Schönheit und Erhabenheit in der Forschung . . . . . 2.5 Folgeprobleme eines verkürzten Ästhetikverständnisses für die Schiller-Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6 Johnson, Schiller und die Ästhetik: ein Forschungsdesiderat . .
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Teil II: Theoretische Grundlagen 3. Voraussetzung zur »doppelten Ästhetik« Schillers . . . . . . . . 3.1 Das Schöne – ein ästhetikgeschichtlicher Überblick . . . . . 3.2 Das Erhabene – ein ästhetikgeschichtlicher Überblick . . . 3.3 Die Tradition der »doppelten Ästhetik« . . . . . . . . . . . 3.4 Schillers »doppelte Ästhetik« – Rahmenbedingungen ihrer Entstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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4. Schillers Ästhetik des Schönen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Schönheit als Ideal eines menschenwürdigen Daseins . . . . . 4.2 Anmut als Ausdruck einer schönen Seele . . . . . . . . . . . 4.3 Spiel der Schönheit und Schönheit des Spiels . . . . . . . . . 4.4 Naive Schönheit – »der süßeste Genuss unserer Menschheit«
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8 5. Schillers Ästhetik des Erhabenen . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Erhabenheit als Überlebensstrategie für den zerrissenen Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Würde als Ausdruck einer erhabenen »Seelenstärke« . . . . 5.3 »Schöne Welt, wo bist du?« – Das Sentimentalische und die Trauer um das Naive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Inhalt
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6. »Nimmer widme dich einem allein« – Zum Verhältnis von Schönem und Erhabenem in der Ästhetik Schillers . . . . . . . . . . . . . . .
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Teil III: Textanalyse 7. »Mehr kann ich darüber nicht sagen«: Johnsons Schiller-Rezeption .
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8. Ingrid Babendererde: Die schöne Seele erhebt sich… . . . . . . . . . 8.1 Ingrid, Göttin der Schönheit und Anmut . . . . . . . . . . . . . 8.1.1 »Liebliche Landschaft« und »Schönwetter«: Die Naturschönheit und scheinbare Naivität Mecklenburgs . . 8.1.2 »Herzstockende Ingridschönheit«: Die Übereinkunft von Sinnlichkeit und Sittlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1.3 »Was für eine anmutig freche Göre«: Ingrid als liebliche Gürtelträgerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1.4 »Ingrids schöne Gutherzigkeit«: Ingrid als schöne Seele . . 8.1.5 Ingrids Schönheit ist Freiheit in der Erscheinung . . . . . . 8.1.6 »Wie mit gedankenlosem Wohlwollen«: Die schöne Ingrid und die schöne Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 »Dies waren doch Notzeiten«: Ernst ist das Leben und die Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.1 »Geht uns das was an?« Motive durchscheinender Geschichtlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.2 »Der Mensch soll nur mit der Schönheit spielen«: Spiel nicht mit der Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.3 »Gewisser Massen machte es ihm nicht viel Freude«: Klaus’ affektierte Anmut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.4 Ästhetische Erziehung von Tyrannen? – Zwei kontroverse Lesarten von Schillers Bürgschaft . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.4.1 »O edle Zeit«: Klaus’ Abrechnung mit Schiller . . . . 8.2.4.2 »Das habe den Tyrannen bewogen sein Wesen zu ändern«: Verteidigt Ingrid Schiller? . . . . . . . . . 8.2.5 Wahre und falsche Würdenträger . . . . . . . . . . . . . . 8.2.5.1 Die wahre Würde des Sir Ernest: Sedenbohm . . . .
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Inhalt
8.2.5.2 Ein »durchaus würdiger Herr«: Kollmorgen . . . . . 8.2.5.3 Ein Mann von »erhabener Würde«: Die falsche Würde Siebmanns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Reifeprüfung: Ingrids Entwicklung zu Würde und Erhabenheit . 8.3.1 Vom Schönwetter zum Unwetter oder : Wie kam Ingrid in diese Geschichte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.2 »Und schon wird dir erhaben zu Mute«: Der heitere Geselle verlässt Ingrid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.3 Warum war lächeln so schwer geworden? Das beschädigte Schöne und das Scheitern der Steuerkunst . . . . . . . . . 8.3.4 »Wann hat Mecklenburg eigentlich aufgehört?« Vom Verlust der Natur und Beginn der sentimentalischen Erinnerungstrauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Überleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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9. … und geht ins Erhabene über : Jahrestage . . . . . . . . . . . . . . 9.1 Gesine, ein Charakter von sublimer »Geisterwürde« . . . . . . . 9.1.1 »Den nächsten, den sie totschießen«: Geschichte und Schicksal als furchtbare und unfassbare Naturmacht im Sinne des Theoretisch- und Praktisch-Erhabenen . . . . . . 9.1.2 »Der Satz von heute heißt … daß ich ihn nicht sagen werde«: Undarstellbarkeit, Nicht-Aussprechbarkeit und Nicht-Erklärbarkeit geschichtlichen Grauens . . . . . . . . 9.1.3 »Da ist ein Schock nachzuweisen«: Der aufbegehrende Naturtrieb in Gesine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1.4 Erhebung über das Leid: Heroische Haltung der Seelenund Vernunftstärke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1.5 »Wie ein Mann, Mrs. Cresspahl«: Gesines maskulines Erscheinungsbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1.6 Gesines »moralische Entleibung«: Verlust und Verneinung von Natur und Schönheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2 Wer ist Marie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2.1 »Frei, unabhängig, nicht weisungsgebunden«: Marie, die Schöne? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2.1.1 Ein erster Blick auf Marie . . . . . . . . . . . . . . . 9.2.1.2 Maries Autonomie und Dialektik . . . . . . . . . . . 9.2.1.3 »Du warst doch dabei, wenn in einem Moment Geschichte gemacht wurde. Ob ich es jemals erleben werde?« – Maries scheinbare Geschichtslosigkeit . .
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Inhalt
9.2.2 »Hinweg mit der falsch verstandenen Schonung«: Marie kommt zur Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2.2.1 »Gelernt ist gelernt«: Gesines Erzählung als ästhetische Erziehung zum Erhabenen . . . . . . . . 9.2.2.2 »Wohl ihr, wenn sie gelernt hat zu ertragen, was sie nicht ändern kann«: Erste Begegnungen mit dem Seelenschmerz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2.2.3 »Gesine, ist es mecklenburgisch, dass ich eine Versöhnung mit dem Willen allein nicht hinkriege?« Oder : »Eine Gesellschaft für Kinder, zum Abschied« 9.2.3 »Ich Gesine, ich Marie, wir das Kind«: Marie als Gesines Wunschprojektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3 »Wo ich her bin, das gibt es nicht mehr«: Sentimentalische Trauer um Mecklenburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3.1 »Ein köstlicher Schmerz«: Elegische Erinnerungen an glückliche Kindheitstage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3.2 »Eine Veranstaltung von Gartenkunst«: Gesines Wohngegend am Riverside Drive und die Sehnsucht des sentimentalischen Menschen nach der naiven Natur . . . . 9.3.3 »Themen der Freude, der Schönheit«: Gesine als Kunstrezipientin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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10. »Det mista dialektisch sehn«: Johnsons »doppelte Ästhetik«? – Zusammenfassung und Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Bibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Primärliteratur Schiller . . . . . . . . . . . . . Philosophisch-ästhetische Schriften . . . . Dichtung und Briefwechsel . . . . . . . . . Primärliteratur Johnson . . . . . . . . . . . . . Romane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interviews, Briefwechsel, kleinere Schriften Weitere Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort
Die vorliegende Arbeit wurde am Seminar für Deutsche Philologie der Universität Mannheim verfasst und im Juli 2013 von der Philosophischen Fakultät als Dissertation angenommen. Für die Veröffentlichung ist sie formal durchgesehen und redaktionell leicht überarbeitet worden. Herzlich danken möchte ich meinem Betreuer Prof. Dr. Jochen Hörisch für sein Vertrauen, seine Förderung und vielfältige Unterstützung. Prof. Dr. Justus Fetscher danke ich für die Erstellung eines Zweitgutachtens. Den Herausgebern der »Johnson-Studien« Dr. Ulrich Fries, Prof. Dr. Sven Hanuschek, Prof. Dr. Holger Helbig und PD Dr. Lothar van Laak danke ich für die Aufnahme in die Reihe; dem Verlag V& R unipress und insbesondere Ruth Vachek danke ich für die gute und angenehme Kommunikation. Bei Freunden und Kollegen, die hier nicht alle namentlich genannt werden können, bedanke ich mich für motivierende Worte und moralische Unterstützung. Mein besonderer Dank gilt an dieser Stelle Sebastian Zilles. Besonders drei Personen bin ich zu Dank verpflichtet: Rainer Dingeldein für seine Hilfe beim Korrekturlesen, Jörg Trojan für technische Assistenz und Beratung, Christa Dingeldein für alles Weitere. Ihnen sei diese Arbeit gewidmet.
Teil I: Einleitung
1.
Zu dieser Arbeit: Ziele, Methode, Textkorpus
Die vorliegende Arbeit stellt den ersten umfassenden Versuch dar, vor dem theoretischen Hintergrund von Schillers Ästhetik des Schönen und Erhabenen eine neue Lesart zweier Romane Uwe Johnsons zu eröffnen: des Erstlings Ingrid Babendererde (1956/57, veröffentlicht 1985) sowie des »unauslesbare[n] Zweitausend-Seiten-Werk[s]«1 Jahrestage (1970 – 1983). Damit schließt diese Untersuchung eine Forschungslücke, denn bis auf wenige kleinere Ansätze (siehe Abschnitt 2.6) liegt zum Thema Johnson – Schiller bislang noch keine ausführlichere Abhandlung vor. Untersuchungsgegenstand, Thesen und Aufbau dieser Arbeit lassen sich folgendermaßen umreißen: In Abgrenzung von der in der Forschung üblichen Ästhetikdefinition (siehe dazu Abschnitt 2.1) wird Schillers Ästhetik hier in Anlehnung an, aber auch kritischer Auseinandersetzung mit Carsten Zelle als »doppelte Ästhetik«2 verstanden, welche das Schöne einerseits und das sich zu diesem komplementär verhaltende Erhabene andererseits umfasst.3 Der Begriff des Schönen zielt dabei nicht in erster Linie auf den Gegenstand der Kunst, wie häufig missverständlich angenommen wird (vgl. Abschnitt 2.2), sondern meint den beglückenden Zustand der Harmonie des mit sich und der Welt versöhnten Menschen. Im Gegensatz dazu ist das Erhabene bei Schiller die Vernunftstärke, die der Mensch auszubilden angehalten ist, um die über ihn hereinbrechende feindliche Macht von Historie und Schicksal ertragen zu können (vgl. die Überblicksdarstellungen zum Schönen und Erhabenen unter Abschnitt 3.1 und 3.2). In der Geschichte der Ästhetik besteht eine von der Forschung lange Zeit nicht zur Kenntnis genommene, maßgeblich von Carsten Zelle freigelegte Tra1 Norbert Mecklenburg: »So reden also verstoßene Kinder«. Uwe Johnsons Frühwerk im Kontext der DDR und als DDR-Literatur. In: Der Deutschunterricht. Beiträge zu seiner Praxis und wissenschaftlichen Grundlegung 5 (1996), S. 29 – 39, hier S. 30. 2 Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne: Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart, Weimar : Metzler, 1995. 3 Zu den Unterschieden zwischen Zelles Konzept und dem in der vorliegenden Analyse vertretenen Ansatz siehe ausführlich S. 28 f. dieser Arbeit.
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Ziele, Methode, Textkorpus
dition, in welcher Schönes und Erhabenes als wechselseitig aufeinander verweisendes »Kategorienpaar«4 auftreten (vgl. Abschnitt 3.3).5 Im Anschluss an diese Tradition »doppelter Ästhetik« entsteht in den 1790er Jahren Schillers eigenes ästhetisches System (Abschnitt 3.4). Die Ästhetik des Schönen – mitsamt ihren Modifikationen der Anmut, des Spiels, der Naivität und der schönen Kunst (Kapitel 4) – und die entgegengesetzte Ästhetik des Erhabenen – einschließlich der Varianten der Würde, der Sentimentalität und der tragischsentimentalischen Kunst (Kapitel 5) – verkörpern also zwei dialektische Weltund Menschenbilder :6 Im ersten befindet sich der Mensch in jener ersehnten Gemütsverfassung der Vollkommenheit und Freiheit, im zweiten hingegen erscheint er als ein durch Zeit und Geschichte determiniertes Wesen. Beide Ästhetiken schließen sich jedoch gegenseitig nicht aus, sondern stehen vielmehr in einer äußerst spannungsvollen Wechselbeziehung zueinander (Kapitel 6). Johnson, der – wie sich erschließen lässt – Schillers Ästhetik gekannt haben muss (Kapitel 7), verarbeitet zentrale Aspekte daraus in seinem Erstling Ingrid Babendererde (Kapitel 8) und dem Hauptwerk Jahrestage (Kapitel 9). Es ist danach zu fragen, wie Schillers philosophisches Konzept der »doppelten Ästhetik« im Werk Johnsons literarisch transformiert und in welcher Weise es diskutiert und gegebenenfalls kritisiert wird. Darüber hinaus soll untersucht werden, ob und wie sich bestimmte Muster und Begrifflichkeiten über Johnsons Texte hinweg entwickeln und verschieben. Von Ingrid Babendererde bis hin zu den Jahrestagen, so die hier vertretene These, findet eine Entwicklung statt, genauer : eine Verschiebung weg von der Ästhetik des Schönen hin zur Ästhetik des Erhabenen. Die Auffassung von Schillers Philosophie im Sinne einer »doppelten Ästhetik«, welche die so gegensätzlichen Theorien des Schönen und Erhabenen zu einem dialektischen spannungsgeladenen System vereinigt und sich damit zugleich einem auf einen kohärenten Textsinn zielenden hermeneutischen Verständnis entzieht, kann – um eine paradigmatische Einordnung dieser Arbeit 4 Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne: Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart, Weimar : Metzler, 1995, S. 9. 5 In dieser Arbeit wird in Anlehnung an Zelle der Begriff der Kategorie verwendet, welcher jedoch nicht mit Kants Kategorien zu verwechseln ist. Martin Gessmann zufolge »[hat] [i]m Sprachgebrauch der zeitgenössischen Philos.[ophie] […] der Ausdruck ›K.[ategorie]‹ (engl. category) keinen allgemein verbindlichen terminologischen Sinn. Er kann überall dort anstelle von Ausdrücken wie ›Typ‹ oder […] ›Klasse‹ verwendet werden, wo es um Einteilungen und […] Klassifikationen geht, die nach formalen, logischen oder Sinn und Bedeutung der klassifizierenden Wörter betreffenden Kriterien vorgenommen werden […]« (Martin Gessmann: Philosophisches Wörterbuch. Stuttgart: Kröner 2009, S. 381). 6 Meine eigene Beobachtung, dass die Ästhetik des Schönen und die des Erhabenen jeweils gewisse Modifikationen ausbilden, finde ich durch Zelles Forschung bestätigt. Jedoch gibt es zwischen seinen Ausführungen und meinen nicht unwesentliche Unterschiede. Vgl. hierzu die Diskussion auf S. 28 f. dieser Arbeit.
Ziele, Methode, Textkorpus
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vorzunehmen – als dekonstruktiv7 im weitesten Sinne (d. h. ohne dogmatisch einer bestimmten Schule verpflichtet zu sein) aufgefasst werden. Weiterhin lässt sich diese Arbeit über das Schöne und das Erhabene aber auch als Streit zwischen Hermeneutik und Dekonstruktion behandeln: Das Schöne, das Ideal des ganzen, mit seinen Trieben versöhnten Menschen sowie einer harmonischen Gesellschaft transportierend und sich in unmittelbarer Nachbarschaft zum Wahren wähnend, sympathisiert dabei mit zentralen Ideen der Hermeneutik wie der »Sinneinheit von Einzelnem und Ganzem«,8 dem nach Verständigung strebenden »Verhältnis des Ganzen und seiner Teile«9 ebenso wie der »Gemeinschaft der Horizonte«.10 Dieses Streben nach Einheit, Ganzheit sowie Seins- und Sinntotalität wird jedoch in der Realität dekonstruktiv auseinandergebrochen und der tatsächlich vorhandene Riss, der Bruch, die Differenz im Menschen und ebenso zwischen Mensch und Welt freigelegt. Zur Methode und Vorgehensweise sei Folgendes angemerkt: In einem ersten Schritt wird zunächst aus den einzelnen ästhetisch-philosophischen Schriften Schillers die Theorie des Schönen einerseits und die des Erhabenen andererseits herausgearbeitet. Der Textkorpus umfasst dabei die wichtigsten ästhetischen Schriften aus Schillers kantischer Periode der 1790er Jahre, in welche die Entstehung seiner Ästhetik fällt, wobei gegebenenfalls auch Seitenblicke auf kleinere Abhandlungen des genannten Zeitraums oder Texte der vorkantischen Phase erlaubt seien. Um die übergeordneten, schriftenübergreifenden Zusammenhänge des Konzepts einer »doppelten Ästhetik« zu verdeutlichen, werden Schillers philosophische Studien nicht unter dem Blickwinkel der Vollständigkeit und Chronologie behandelt, sondern es finden nur jene Gesichtspunkte Berücksichtigung, die etwas zur Erklärung der Schönheits- und Erhabenheitstheorie beitragen. Sowohl für die Ästhetik des Schönen als auch für jene des Erhabenen lassen sich dabei über die Schriften hinweg wechselseitig aufeinander verweisende Unterkategorien feststellen, nämlich – wie oben bereits erwähnt – der Anmut, der Naivität, des Spiels und der schönen Kunst für die Theorie des 7 Auch Zelle spricht von der »Spannung des Textes [Schillers, Anm. d. V.], der seine eigene Dekonstruktion gleich mitliefert«: Carsten Zelle: Über naive und sentimentalische Dichtung (1795/96). In: Matthias Luserke-Jaqui (Hrsg.): Schiller-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2005, S. 451 – 479, hier S. 455. Vgl. weiter: Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne: Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart, Weimar : Metzler, 1995, S. 5. 8 Heinz Antor : Hermeneutischer Zirkel. In: Ansgar Nünning (Hrsg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie: Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2008, S. 284 – 285, hier S. 285. 9 Ebd., S. 284. 10 Christa Karpenstein-Eßbach: Medien, Wörterwelten, Lebenszusammenhang: Prosa in der Bundesrepublik Deutschland 1975 – 1990 in literatursoziologischer, diskursanalytischer und hermeneutischer Sicht. München: Fink, 1995, S. 320.
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Schönen und der Würde, Sentimentalität und der tragisch-sentimentalischen Kunst für die Theorie des Erhabenen. Wie sind diese Kategorien nun gewonnen worden? Die angeführten Kategorien bilden in einzelnen Schriften verschiedene Schwer- und Gesichtspunkte ihrer jeweils entsprechenden übergeordneten Bezugsgrößen des Schönen und Erhabenen. Wenn etwa, um nur die folgenden zwei Beispiele zu nennen, die Kategorie des Spiels ihre schwerpunktmäßige Thematisierung in Über die ästhetische Erziehung des Menschen findet und die der Anmut und Würde in jener Abhandlung, welche beide Konzepte bereits in ihrem Titel führt, so greift Schiller die diversen Spielarten der Schönheits- und Erhabenheitsästhetik doch grundsätzlich in fast allen Schriften immer wieder auf und verknüpft sie untereinander, was den Systemcharakter seines ästhetischen Programms unterstreicht. Die auf diese Weise gewonnene »doppelte Ästhetik« Schillers mitsamt ihren Unterkategorien dient als theoretisches Fundament, auf dem im weiteren Verlauf der Arbeit die genannten Romane Johnsons analysiert werden. Wie erfolgt nun genau die Anwendung? Zum einen gilt es, die Romane systematisch durch gründliche und mehrfache Lektüre auf die zentralen Leitworte aus der Schönheits- und Erhabenheitsästhetik hin zu durchsuchen und ihre Verwendung im Kontext zu ergründen. Zum anderen, und dies macht den aufwändigeren und ergiebigeren Teil der Textanalyse aus, wird geprüft, ob und in welcher Weise sich bestimmte, mit zentralen Begriffen der Schönheits- und Erhabenheitslehre einhergehende Vorstellungskomplexe und Versinnbildlichungen in Johnsons Texten aufzeigen lassen. So korreliert etwa die Kategorie des Spiels mit dem Merkmal des Einklangs von zwei entgegengesetzten Polen, der Leichtigkeit und Heiterkeit; die Kategorie des Erhabenen wiederum, um ein zweites Beispiel zu nennen, ist eng mit dem Vorstellungsbereich des Unsagbaren und Nicht-Darstellbaren sowie eines würdevollen männlichen Erscheinungsbilds verknüpft. Auch hier gilt, dass die Romane nicht vollständig und in ihrer Gesamtheit besprochen werden, sondern nur in Hinblick auf Konzepte der Schiller’schen Ästhetik. Um Redundanzen zu vermeiden, werden jene Teilaspekte der Schönheits- und Erhabenheitstheorie, die in Johnsons Texten mehrmalig vorzufinden sind, wie dies etwa bei der schönen Seele oder der falschen Würde der Fall ist, immer nur für einen Roman vorgestellt, in der Regel für denjenigen, der das einprägsamste Anschauungsmaterial liefert. Der Schlussteil dieser Arbeit verweist darauf, welche weiteren Romanfiguren sich fortführend im Kontext der exemplarisch erörterten ästhetischen Kategorien interpretieren lassen. Der Versuch, eine über Johnsons Werk hinweg verlaufende Entwicklungslinie kenntlich zu machen, rechtfertigt das chronologische Vorgehen nach Romanen und Entstehungszeit. Zugleich ist die Aufdeckung einer romanübergreifenden Entwicklungslinie nur deshalb möglich, weil sich Johnsons epische Dichtung wie eine Art Mega-Roman lesen lässt: Viele der Texte Johnsons weisen von ihrer
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personellen Besetzung und thematischen Verwandtschaft einen inneren Zusammenhang auf, der es erlaubt, eine solche Entwicklung aufzuzeigen. Der Schwerpunkt liegt jedoch, wie bereits erwähnt, auf dem Erstling Ingrid Babendererde und dem Hauptwerk Jahrestage und hier insbesondere auf dem Vorhaben, Gesine als eine Fortführung und Weiterentwicklung des von Ingrid verkörperten ästhetischen Konzepts zu betrachten. Aus dieser Perspektive finden die Mutmassungen über Jakob als Schaltstelle, Übergangs- und Verbindungsglied zwischen dem Ingrid- und dem Gesine-Roman nur kurz Erwähnung. Auch Johnsons zweiter Roman Mutmassungen über Jakob ist reich an Schiller’schem Gedankengut und verdient besonders in Hinblick auf die Figuren Jakob Abs, Jonas Blach, Heinrich Cresspahl sowie des Staatsmannes Rohlffs eine gesonderte, ausführliche Untersuchung, die an die bereits geleisteten Vorarbeiten von Holger Helbig11 und Michael Hofmann12 anknüpfen kann. An dieser Stelle eine detaillierte Analyse der Mutmassungen unter Berücksichtigung des genannten Romanpersonals vorzunehmen, würde jedoch von dem spezifischen Erkenntnisinteresse dieser Arbeit wegführen, nämlich den Bogen zu schlagen von Ingrid als schöner Seele zu deren Alter Ego Gesine als einer erhaben-sentimentalen Seele. Für die Analyse der Romane Johnsons vor dem Hintergrund der Schiller’schen Ästhetik ist die Textintention, nicht die Autorintention maßgebend. Johnsons Werke selbst, die textnah im Close-Reading-Verfahren durch »genaue[s], ja, peinlich genaue[s] Lesen«13 analysiert werden, bilden die Bezugsgröße für diese Arbeit, und weniger die Selbstaussagen des Schriftstellers Johnson. Paradoxerweise, aber im Sinne der dekonstruktiven Rahmung der vorliegenden Untersuchung sei das gestattet, lässt sich diese textzentrierte Vorgehensweise gerade mit einer Aussage des Autors Uwe Johnson selbst legitimieren, die folgendermaßen lautet: »[D]ie Identität von Uwe Johnson […] ist ohne Belang für das Verstehen der Bücher oder für die Benutzung der Bücher.«14
11 Holger Helbig: Über die ästhetische Erziehung der Staatssicherheit in einer Reihe von Thesen. Johnson liest Schiller. In: Johnson-Jahrbuch 6 (1999), S. 57 – 84. 12 Michael Hofmann: Uwe Johnson. Stuttgart: Reclam, 2001, S. 84, S. 94 ff., S. 99 – 104. 13 Uwe Neumann: »Er stellte seine Fallen öffentlich aus«: Zu Uwe Johnsons poetologischen Äußerungen. In: Carsten Gansel und Nicolai Riedel (Hrsg.): Uwe Johnson zwischen Vormoderne und Postmoderne. Internationales Uwe Johnson Symposium 22.–24. 9. 1994. Berlin, New York: de Gruyter, 1995, S. 55 – 80, hier S. 60. 14 Uwe Johnson: »Ein verkannter Humorist«: Gespräch mit A. Leslie Willson (Am 20. April 1982 in Sheerness-on-Sea). In: Eberhard Fahlke (Hrsg.): »Ich überlege mir die Geschichte…« Uwe Johnson im Gespräch. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1988, S. 281 – 299, hier S. 293.
2.
Stand und Probleme der Forschung
Im Folgenden wird die Verwendungsweise der Begriffe ›Ästhetik‹, ›Schönes‹ und ›Erhabenes‹1 in dieser Arbeit erläutert und zugleich ihr Gebrauch in der Forschung problematisiert. Allzu häufig geschieht es, dass die genannten Begriffe unzureichend oder verkürzt definiert werden, was wiederum weitreichende Folgen für die Interpretation philosophischer oder literarischer Texte nach sich zieht. Je nachdem, auf welcher begrifflichen Basis man eine Textanalyse unternimmt, können völlig verschiedene Urteile und nicht zuletzt auch Verzerrungen, ja gar Irrtümer zustande kommen, wie weiter unten am Beispiel von Schillers ästhetischen Schriften veranschaulicht wird.
2.1
Ästhetik: die Lehre vom Schönen?
Die Diskussion um den Begriff und Gegenstand der Ästhetik hat seit ihrer Gründung als wissenschaftliche Teildisziplin der Philosophie im 18. Jahrhundert durch Alexander G. Baumgarten eine Komplexität und Vielschichtigkeit angenommen, die kaum mehr zu überblicken ist. Trotz aller Vieldeutigkeit lassen sich »drei Wurzeln«2 benennen, um welche die Ästhetikdiskussion seit ihren Anfängen bis heute beständig kreist: Meist wird zwischen einer Ästhetik in weiterer Bedeutung als Lehre von der sinnlichen Wahrnehmung und einer Ästhetik in engerer Bedeutung als Lehre von dem Schönen und der Kunst unterschieden, wobei sich das Verständnis von Ästhetik im Sinne einer Lehre vom Schönen und der Kunst als der eigentlich »harte Kern« im Ästhetikdiskurs 1 Zur Unterscheidung des Begriffs der ›Schönheit‹ von jenem des ›Schönen‹ vgl. Norbert Rath: Schöne (das). In: Joachim Ritter und Karlfried Gründer (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 8: R – Sc. Basel: Schwabe, 1992, S. 1343 – 1385, hier S. 1373 f. Die Termini ›Schönes‹ / ›Schönheit‹ und ›Erhabenes‹ / ›Erhabenheit‹ werden in dieser Arbeit jeweils synonym zueinander verwendet. 2 Franz von Kutschera: Ästhetik. Berlin, New York: de Gruyter, 1998, S. 1.
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durchgesetzt hat.3 Zwar betonen neuere Forschungen zunehmend auch den Aisthesis-Aspekt der umfassenden sinnlichen Empfindung,4 doch herrscht insgesamt noch eine konventionelle Ästhetikdefinition vor, die aus Gründen, die im Folgenden diskutiert werden, in dieser Arbeit als problematisch und unzureichend zurückgewiesen wird. Ein Ästhetikverständnis im engeren Sinn als Lehre von dem Schönen und der schönen Kunst geht von der Annahme aus, Ästhetik setze sich vorzugsweise mit schönen Dingen auseinander. Doch wird hier außer Acht gelassen, dass Ästhetik, die es ihrer Etymologie zufolge allgemein mit dem sinnlich Wahrnehmbaren zu tun hat,5 sich nicht allein mit dem Schönen beschäftigt. Die übliche Auslegung von Ästhetik befasst sich mit nur einem Teil der sinnlichen Empfindung, nämlich mit jenem, der empfänglich ist für das Schöne. Dabei werden zwangsläufig andersartige, häufig gegenläufige Sinneseindrücke wie etwa das Erhabene, Unförmige, Hässliche, Furchtbare, Zerstörerische oder Groteske einfach ausgeblendet.6 Carsten Zelle spricht in Anbetracht einer auf das Schöne und die schöne Kunst reduzierten kallistischen Ästhetik7 zutreffend von der »Halbierung der Ästhetik«8, von der einen »Hälfte«9 und Seite der Medaille, deren anderer nichtschöner, disharmonischer oder verstörender Teil schlicht nicht zur Kenntnis genommen wird. Diesen Umstand, dass Ästhetik »mehr und anderes«10 als nur das Schöne umfasst, hat die Forschung lange Zeit nicht ausreichend wahrgenommen, mehr noch: sie hat nicht registriert, dass es regelrecht eine Tradition gibt, in welcher Schönheit und Erhabenheit als ästhetische Kategorien in einem spannungsreichen dialektischen System im Verbund miteinander wirken. 3 Vgl. Wolfhart Henckmann: Ästhetik. In: Wolfhart Henckmann und Konrad Lotter (Hrsg.): Lexikon der Ästhetik. München: Beck, 1992, S. 20 – 24, hier S. 20. 4 Karlheinz Barck: Ästhetik/ästhetisch. In: Karlheinz Barck u. a. (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 1: Absenz – Darstellung. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2000, S. 308 – 400; Michael Hauskeller (Hrsg.): Die Kunst der Wahrnehmung: Beiträge zu einer Philosophie der sinnlichen Erkenntnis. Zug: Die Graue Edition, 2003; Wolfgang Welsch: Die Aktualität des Ästhetischen. München: Fink, 1993; Terry Eagleton: Ästhetik: die Geschichte ihrer Ideologie. Stuttgart, Weimar : Metzler, 1994; Norbert Schneider : Geschichte der Ästhetik von der Aufklärung bis zur Postmoderne: eine paradigmatische Einführung. Stuttgart: Reclam, 2002, S. 7. 5 Aisthesis ist die »Wissenschaft von der sinnlichen Erkenntnis« (Wolfhart Henckmann: Ästhetik. In: Wolfhart Henckmann und Konrad Lotter (Hrsg.): Lexikon der Ästhetik. München: Beck, 1992, S. 20 – 24, hier S. 21). 6 Ebd., S. 20. 7 Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne: Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart, Weimar : Metzler, 1995, S. 11. 8 Ebd., S. 155. 9 Ebd., S. 112. 10 Brigitte Scheer : Einführung in die philosophische Ästhetik. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1997, S. 2.
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In seiner Studie über die »doppelte Ästhetik«11 hat Carsten Zelle nachgewiesen, dass in der Geschichte der Ästhetik, die sich begrifflich zwar erst mit Baumgarten im 18. Jahrhundert entwickelt, dem Gegenstand nach aber schon viel früher verhandelt wurde,12 neben dem Schönen und in dialektischer Wechselwirkung mit diesem stehend stets eine weitere zentrale Kategorie auftaucht, nämlich die des Erhabenen, welches von der Forschung jedoch bis in die letzten Jahre sehr nachlässig behandelt wurde. Es ist maßgeblich Zelles Verdienst, dass sich die Sichtweise einer doppelten, das Schöne und Erhabene gleichermaßen umfassenden Ästhetik in jüngerer Zeit allmählich durchzusetzen beginnt. Dabei ist die Grundannahme im eigentlichen Sinn gar nicht neu, wurde doch schon viel früher vereinzelt auf die Existenz einer gemeinsamen Tradition des Schönen und Erhabenen hingewiesen.13 So hat bereits Hermann August Korff, einer der Dozenten Uwe Johnsons in Leipzig, im 1930 erschienenen zweiten Band seines Werkes Geist der Goethezeit die Koexistenz von Schönem und Erhabenem betont.14 Ebenso kann mit Hermann Schmitz […] festgehalten werden, daß es zwei Proto-Ästhetiken gibt, deren Wurzeln bis in die Antike zurückreichen: Zum einen eine kallistische Ästhetik, die sich seit Platon am Kernbegriff des Schönen orientierte […]. Zum anderen eine auf Aristoteles zurückgehende rhetorisch argumentierende Ästhetik. […] [E]s geht, wie in der Rhetorik, um die Verwaltung der Affekte, z. B. um die Katharsis und das Erhabene. […] Die beiden Tendenzen prägen die europäische Vorgeschichte der Gründung der Ästhetik nachhaltig.15
Diese lange Zeit verschüttete Sichtweise eines zweifachen, auf das Schöne einerseits und das Erhabene andererseits zielenden Traditionsstrangs der Ästhetik beginnt sich erst in jüngster Zeit wieder vermehrt in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit zu behaupten. So treten neben die Abhandlung der Dop11 Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne: Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart, Weimar : Metzler, 1995. 12 Carsten Zelle: Schönheit und Erhabenheit. Der Anfang doppelter Ästhetik bei Boileau, Dennis, Bodmer und Breitinger. In: Christine Pries (Hrsg.): Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn. Weinheim: VCH, Acta Humaniora, 1989, S. 55 – 73, hier S. 56. 13 Zu bisherigen Forschungen über die »doppelte Ästhetik« siehe Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne: Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart, Weimar : Metzler, 1995, S. 21 – 23. 14 Hermann August Korff: Geist der Goethezeit: Versuch einer ideellen Entwicklung der klassisch-romantischen Literaturgeschichte. Bd. II. Teil: Klassik. Leipzig: Verlagsbuchhandlung von J.J. Weber, 1930, S. 491. 15 Karlheinz Barck: Ästhetik/ästhetisch. In: Karlheinz Barck u. a. (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 1: Absenz – Darstellung. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2000, S. 308 – 400, hier S. 317. Vgl. hierzu auch Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne: Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart, Weimar : Metzler, 1995, S. 13.
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pelten Ästhetik von Zelle Titel wie Das Schöne und das Erhabene von heute16 oder Zwischen schön und erhaben.17 Noch sind die Untersuchungen, die den Blick auf beide ästhetische Kategorien richten, jedoch sehr überschaubar. An dieser Stelle könnte man mit Zelle gegen den hier vertretenen doppelten Ansatz einwenden, dass eine »Dualisierung der Ästhetik«18 in die Kategorien des Schönen und Erhabenen ihrerseits reduzierend wirkt, gibt es doch schließlich ein breites Spektrum von Sinneseindrücken wie etwa das Komische, Hässliche, Groteske und andere, die hier nicht erfasst zu sein scheinen.19 Dem soll auch gar nicht widersprochen werden; für die Beschäftigung mit Schillers Ästhetik und Johnsons Romanen allerdings ist eben genau jene, aus Schönheit und Erhabenheit bestehende Tradition wichtig, in welcher sich sowohl Schiller als auch Johnson verorten lassen, wie in dieser Arbeit gezeigt werden wird. Konzepte wie das Hässliche oder Groteske, obwohl sie ebenfalls Bestandteile von Ästhetiken sein können,20 spielen hier keine zentrale Rolle und können daher ausgeklammert werden. Zudem ist anzumerken, dass sich das Erhabene einer pauschalisierend-vereinheitlichenden Begriffsbestimmung entzieht: In der Geschichte der Ästhetik hat das Erhabene schon Verschiedenes bedeutet21 und unterschiedliche, zum Teil auch gegensätzliche Vorstellungen wie das Große, Bewundernswerte, Furchterregende, Unförmig-Massige, Zerstörerische, Hässliche in seine Begriffsbestimmung aufgenommen. Bis zu Kant scheinen solche Aspekte unter dem »Mantel des Erhabenen«22 zu laufen. Und auch für Schiller kann ein erhabener Gegenstand, wenn auch nicht vorrangig, mitunter »häßlich[e]« (ZB: S. 463, auch S. 464, S. 466 f.) oder »widerwärtige[]« (ZB: S. 465) Züge annehmen. Erst im ausgehenden 18. und vor allem im 19. Jahrhundert gewinnen ästhetische und philosophische Kategorien wie das Hässliche oder Groteske, obwohl es schon in der Antike Überlegungen dazu gab, an Konjunktur und bilden sich zu eigenständigen ästhetischen Konzepten aus.23 16 Jeremy Gilbert-Rolfe: Das Schöne und das Erhabene von heute. Berlin: Merve, 1996. 17 Nils Ehlers: Zwischen schön und erhaben – Friedrich Schiller als Denker des Politischen: im Spiegel seiner theoretischen Schriften. Göttingen: Cuvillier, 2011. 18 Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne: Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart, Weimar : Metzler, 1995, S. 14. 19 Ebd., S. 15. 20 Zu verweisen sei etwa auf Karl Rosenkranz’ Ästhetik des Hässlichen, die im 19. Jahrhundert ausgebildet wurde. 21 Manfred Weinberg: Erhabenes/Erhaben. In: Achim Trebeß (Hrsg.): Metzler Lexikon Ästhetik: Kunst, Medien, Design und Alltag. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2006, S. 97. 22 Carsten Zelle: Schönheit und Erhabenheit. Der Anfang doppelter Ästhetik bei Boileau, Dennis, Bodmer und Breitinger. In: Christine Pries (Hrsg.): Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn. Weinheim: VCH, Acta Humaniora, 1989, S. 55 – 73, hier S. 60. 23 Marie Luise Raters: Hässliches/Hässlich. In: Achim Trebeß (Hrsg.): Metzler Lexikon Ästhetik: Kunst, Medien, Design und Alltag. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2006, S. 151 – 154.
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Ein zweiter möglicher, hier zu entkräftender Einwand gegen den Ansatz einer »doppelten Ästhetik« wäre, dass Schillers Ästhetik des Schönen und Erhabenen mit den dazugehörigen Kategorien gewissermaßen auch als jeweils einzelne und für sich genommen selbständige Ästhetiken interpretiert werden könnte, also als eine Ästhetik des Schönen, eine Ästhetik der Anmut, eine Ästhetik der Naivität oder umgekehrt als eine Ästhetik des Erhabenen, eine Ästhetik des Sentimentalischen usw., die jedoch auch eine Synthese miteinander einzugehen im Stande sind.24 Hier erscheint mir besonders die Frage, wie eine solche – in durchaus unterschiedlichen Konstellationen denkbare – Synthese zu denken ist, Probleme hervorzurufen. In seinem Aufsatz Das Naive ist das Sentimentalische hat Peter Szondi das Verhältnis des Naiven zum Sentimentalischen aus einer solchen Syntheseperspektive heraus diskutiert. Das Sentimentalische ist bei Szondi gerade nicht als das antithetische Gegenstück zum Naiven charakterisiert,25 sondern verschmilzt in einem triadischen Synthese-Prozess mit dem Naiven, um letztendlich als Wiedererlangung des Naiven selbst in Erscheinung zu treten. »Schiller«, schreibt Szondi, »[hat] die sentimentalische Empfindungsweise nicht als die zweite, antithetische Kategorie bezeichnet […], sondern als die dritte, in der die erste Kategorie mit der zweiten (die naive Empfindungsweise mit dem reflektierenden Verstand) verbunden wird.«26 Infolge dieses synthetischen Verschmelzungsprozesses »[erlangen] [d]as Sentimentalische und das Ideal […] eine Gleichzeitigkeit«27, wird das Sentimentalische zur »Wiederherstellung«28 des Naiven.29 Indem Szondi das Naive und Sentimentalische miteinander synthetisiert, vermengt er jedoch zwei Standpunkte, die nicht identisch sind und es auch nicht werden können. Denn das Naive ist ein – obgleich nie zu erreichender – Ideal24 Für diesen Hinweis danke ich Holger Helbig. 25 Peter Szondi: Das Naive ist das Sentimentalische. Zur Begriffsdialektik in Schillers Abhandlung. In: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte 66 (1972), S. 174 – 206, hier S. 199. 26 Ebd., S. 202. 27 Ebd., S. 200, Herv. i. O. 28 Ebd., S. 199. 29 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Manfred Franks Ausführungen zu Synthetisierungsmodellen bei den Frühromantikern, als deren Wegbereiter er u. a. Schiller betrachtet: Manfred Frank: Einführung in die frühromantische Ästhetik. Vorlesungen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1989, S. 131, S. 208. Zur »Suche nach einem (synthetischen) Einheitsgrund von Welt und Selbst« siehe auch: Manfred Frank: Aufklärung als analytische und synthetische Vernunft. Vom französischen Materialismus über Kant zur Frühromantik. In: Jochen Schmidt (Hrsg.): Aufklärung und Gegenaufklärung in der Europäischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart. Darmstadt 1989, S. 377 – 403, hier S. 403. Und ferner : Manfred Frank: Lust am Schönen: Schillers Ästhetik zwischen Kant und Schelling. In: Jan Bürger (Hrsg.): Friedrich Schiller. Dichter, Denker, Vor- und Gegenbild. Göttingen: Wallstein, 2007, S. 136 – 157.
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zustand menschlicher Vollkommenheit und Harmonie; das Sentimentalische aber ist die Sehnsucht nach dem verlorenen, nie besessenen Ideal, aber nicht das Ideal selbst.30 Selbst wenn sich der sentimentalische Mensch mittels der Kunst für einen Moment dem Schein eines naiven Gefühls hingibt, so muss dieser Schein doch immer »aufrichtig[]« (ÄE: S. 665) sein, er darf sich niemals für das Ideal selbst ausgeben.31 Im Sentimentalischen schwingt immer das Gefühl der Trauer und Melancholie mit, gerade weil ihm der Verlust, die Unerreichbarkeit und die Nicht-Existenz des Naiven so schmerzlich bewusst ist.32 Zwar hat Schiller an einigen wenigen Stellen seiner ästhetischen Schriften den Gedanken einer Verschmelzung von Schönheit und Erhabenheit, Anmut und Würde, Naivität und Sentimentalität im »Idealschönen« (ÜE: S. 828) oder in einer »erhabenste[n] Schönheit« (AW: S. 346) erwogen (und gleichzeitig als utopisch verabschiedet), aus der in der Realität die zwei Wirkweisen, nämlich das Schöne und Erhabene, hervorgehen. Jedoch ist dieses Modell etwas anderes als Szondis Gleichsetzung des Naiven mit dem Sentimentalischen; Erhabenheit und Schönheit gehen hier trotz angedachter Verschmelzung keine Identität miteinander ein (vgl. hierzu Kap. 6). Etwas weniger schwerwiegend als die Synthese-Problematik im Aufsatz von Szondi ist der Gedanke, grundsätzlich von einzelnen Ästhetiken zu sprechen, doch birgt dieser Ansatz wiederum die Schwierigkeit, den roten Faden in Schillers Ästhetik aus den Augen zu verlieren. So bleibt die Kategorie z. B. des Spiels als innere Stimmung im Moment der erfahrenen Schönheit für sich genommen, und ohne den übergeordneten Bezugspunkt des Schönen zu beachten, unvollständig, äußert sich im Spiel doch – ebenso wie in der Anmut, der Naivität oder der schönen Kunst – eine spezifische Ausprägung des Schönen. Dieser große Zusammenhang über die einzelnen Schriften und ästhetischen Konzepte hinweg lässt sich schon auf terminologischer Ebene durch die gegenseitige Abhängigkeit und dichte gegenseitige Vernetzung der Begriffe Schönheit, Spiel, Anmut und Naivität erkennen: Um beispielsweise das Phänomen der Anmut zu beschreiben, kommt Schiller ohne den Rückgriff auf Terminus und Konzept des Schönen, des Spiels oder der Naivität nicht aus, wie im Theorieteil weiter ausgeführt wird – Entsprechendes gilt umgekehrt auch für das Erhabene und dessen 30 »Das Sentimentalische ist Streben und Anspannung nach dem Ideal, noch nicht dieses selbst.« (Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne: Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart, Weimar : Metzler, 1995, S. 202) 31 Vgl. Friedrich Schiller : Wallenstein. Ein dramatisches Gedicht. In: Frithjof Stock (Hrsg.): Friedrich Schiller : Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 4. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag, 2000, S. 17. 32 Zur Kritik an Szondi vgl. auch Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne: Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart, Weimar : Metzler, 1995, S. 190, Anm. 11, S. 191 f., S. 201, Anm. 54, S. 202.
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Ausprägungen. Das Spiel ist folglich Produkt des Schönen und zugleich die innere gelöste Stimmungslage im Augenblick der Schönheit, die Anmut der spielerische Ausdruck einer schönen Seele; umgekehrt äußert sich in der Würde eine erhabene Gesinnung, im Sentimentalischen die Trauer des Erhabenen um das verlorene Schöne und Naive. Es bliebe die Möglichkeit – um eine letzte Alternative zu erproben – die einzelnen Ästhetiken, der Logik ihrer Beziehungen zueinander folgend, zu verbinden. Doch führt diese Art der Synthese letztendlich wieder zum Ausgangspunkt, zum Konzept einer »doppelten Ästhetik«, mit dem Unterschied, dass beim Ansatz der »doppelten Ästhetik« die Kategorien in gewisser Weise aus einem Oberprinzip, nämlich dem Schönen auf der einen und dem Erhabenen auf der anderen Seite emanieren, beim Ansatz der Einzel-Ästhetiken sich die Kategorien hingegen synthetisierend unter diesen Oberbegriffen zusammenfinden. Für die Sichtweise einer »doppelten Ästhetik« spricht aber letztendlich auch, dass die Denkfigur des Doppelten oder Zweifachen ein Lieblingsgedanke Schillers ist, auf den man kontinuierlich in Schillers Argumentation trifft. Seinem anthropologischen Doppelwesen-Entwurf folgend, leitet Schiller – um aus einer langen Reihe nur die folgenden Beispiele zu nennen – ein »doppelte[s] Bedürfnis des Menschen« (ÄE: S. 618, auch AB: S. 519), ja gar einen »Doppelsinn des Lebens«33 ab. Diesem gerecht werden kann nur eine »doppelte Wirkung« (AB: S. 519) der Kultur »wozu sie auch im Schönen und Erhabnen [sic!] die nötigen Werkzeuge findet« (AB: S. 520). Ganz in diesem Sinn schreibt Schiller, das Grundprogramm seiner Ästhetik formulierend, an seinen Gönner, den Prinzen von Augustenburg: Ich habe also die doppelte Behauptung zu rechtfertigen: erstlich: daß es das Schöne sei, was den rohen Sohn der Natur verfeinert, und den bloß sensualen Menschen zu einem rationalen erziehen hilft: zweitens: daß es das Erhabene sei, was die Nachteile der schönen Erziehung verbessert […] (AB: S. 521, Herv. i. O.).
Das Leitprinzip der Entzweiung und des Bruchs zeigt sich auf vielerlei Weise ebenfalls in Johnsons Texten, in den Jahrestagen etwa durch die zeitlich und räumlich auseinanderklaffenden Pole der Vergangenheits- und der Gegenwartsebene, durch die Kontrastierung von Metropole und Provinz, Heimat und Verlust der Heimat. Eine Vermittlung oder gar Versöhnung dieser Gegensätze, zwischen denen sich Gesine Cresspahl hin- und hertaumelnd bewegt, ist gerade nicht möglich. Das – nichtexistente – Naive ist bei Johnson keineswegs mit dem Sentimentalischen und dessen Sehnsucht nach dem Naiven gleichzusetzen. 33 Friedrich Schiller : Wallenstein. Ein dramatisches Gedicht. In: Frithjof Stock (Hrsg.): Friedrich Schiller : Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 4. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag, 2000, S. 439.
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Johnson »zielt nicht auf Synthese, nicht auf Vereinheitlichung«.34 Den Riss und den damit einhergehenden Schmerz auszuhalten, und dies in dialektischer Wechselwirkung mit dem Wunschtraum von einem unerreichbaren Schönen, ist die lebenskünstlerische Leistung, um die Gesine tagtäglich ringt. Synthese im Sinne einer Vereinigung und Harmonisierung von widerstrebenden Prinzipien auf einer höheren Ebene kann es weder bei Schiller noch bei Johnson geben. Ihren angemessenen Ausdruck findet diese unaufhebbare Dialektik zwischen der Sehnsucht nach menschlicher Versöhnung und dem gleichzeitigen Bewusstsein eines unheilbaren Risses in der »doppelten Ästhetik« von Schönem und Erhabenem. Wenn auch diese Arbeit in Anlehnung an Zelles Begriff einer »doppelten Ästhetik« argumentiert, wonach das Schöne und das Erhabene in der Geschichte der Ästhetik als »gegenläufig aufeinander bezogen[e]«35 Kategorien auftreten und in dieser Konstellation Schillers eigenes ästhetisches System maßgeblich beeinflussen, so gibt es im Detail doch bedeutsame Unterschiede zwischen meiner Analyse der Schiller’schen Ästhetik und jener Zelles. Meine eigene Grundannahme, dass Schiller eine Ästhetik des Schönen und eine des Erhabenen mit den ihnen jeweils zugehörigen Spielarten der Anmut, Würde usw. (Zelle spricht von »Kategorien«,36 »Verpuppungs- und Derivatformen«37 oder »Begriffsreihe[n]«38) ausbildet, finde ich zwar bei Zelle bestätigt, doch differieren diese Kategorien z. T. voneinander wie auch der Umgang mit ihnen. Zelle zählt zu den Kategorien einmal die Schönheit, Anmut, schmelzende Schönheit und Naivität,39 zum anderen die Erhabenheit, Würde, energische Schönheit und Sentimentalität.40 Die Kategorien in der vorliegenden Arbeit sind auf der einen Seite – abgeleitet vom Oberbegriff des Schönen – die Anmut, das Spiel, die Naivität und die schöne Kunst und auf der anderen Seite – hier wiederum aus dem Oberbegriff des Erhabenen entwickelt – die Würde (mit dem dazugehörigen Ernst des Lebens), die Sentimentalität und die tragisch-sentimentalische Kunst. Die Definition des Schiller’schen Schönheits- und Erhabenheitsbegriffs selbst bleibt bei Zelle überwiegend skizzenhaft (verständlicherweise, schließlich ist Schillers Schönheits- und Erhabenheitskonzept in Zelles breiter Abhandlung 34 Stefanie Golisch: Uwe Johnson zur Einführung. Hamburg: Junius, 1994, S. 60. Vgl. auch: »Daß es hierbei [bei der »Wahrheitsfindung«, Anm. d. V.] zu einer Synthese, einem neuen, verbindlichen ›Bild der Geschichte‹ nicht kommen kann, versteht sich von selbst.« (Ebd., S. 73) 35 Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne: Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart, Weimar : Metzler, 1995, S. 3. 36 Ebd., S. 12. 37 Ebd., S. 9. 38 Ebd., S. 162. 39 Ebd., S. 161 f. 40 Ebd., S. 162.
Das Schöne
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nur eine Analyse neben vielen weiteren) und wird reduziert auf die Feststellung: »Während Schiller im Umfeld des Schönen (menschliche, geschlechtliche oder politische) Mitte und Einheit formuliert, reflektiert seine Ästhetik des Erhabenen einen Riß.«41 Demgegenüber nimmt in dieser Arbeit die textnahe Wesensbestimmung des Schönen und des Erhabenen bei Schiller, von der ausgehend die weiteren Kategorien entfaltet werden, einen zentralen Stellenwert ein, ebenso wie die Frage nach Beziehung und Interaktion der Kategorien untereinander – wie also verhalten sich Schönheit, Anmut, Spiel, Naivität und schöne Kunst zueinander und wie Erhabenheit, Würde, Sentimentalität und tragisch-sentimentalische Kunst? Nicht zuletzt soll hier, über die Annahme einer sich wechselseitig bedingenden »doppelten Ästhetik« hinaus, das dynamische und sich wandelnde Verhältnis von Schönheit und Erhabenheit bei Schiller vertiefend diskutiert werden. Wesentlich für die Argumentation in dieser Arbeit ist außerdem die Unterscheidung zwischen den Begriffen und Konzepten der Schönheit und jener der Kunst, die Zelle nicht klar voneinander abgrenzt.42
2.2
Das Schöne
Der Begriff des Schönen wird in der Forschung ebenfalls in einer problematischen Weise verwendet, weil er häufig, wie dies bei einem Ästhetikverständnis im engeren Sinn oftmals der Fall ist, mit Kunst, genauer : mit schöner Kunst, gleichgesetzt wird (für Belege vgl. Abschnitt 2.4). Eine solche unkritische Vermengung der Termini Schönes und Kunst ist als falsch anzusehen und wird in dieser Arbeit zurückgewiesen. Eine unzureichende Differenzierung zwischen den Begriffen Schönheit und Kunst suggeriert, dass sich beide mehr oder weniger synonym zueinander verhielten, dass sich also Schönheit vor allem in Kunst zeige und demzufolge Kunst mit schöner Kunst gleichzusetzen sei.43 »Doch hat […] Kunst notwendigerweise mit dem Schönen […] zu tun, wie Hegel und mit ihm alle Ästhetik voraussetzt? Hat Kunst überhaupt und unvermeidlicherweise Schönheit zum Zweck […]?«,44 ist mit Stefan Majetschak zu fragen. Weder war es die ursprüngliche Intention von Kunst noch ist es das hauptsächliche Anliegen der modernen Künste, Schönheit herzustellen. Zwar vermag sich Schönheit auch in Kunst zu zeigen, sie ist aber erst einmal etwas von der 41 Ebd., S. 155, vgl. auch S. 151. 42 Vgl. ebd., z. B. S. 212 ff. 43 Vgl. hierzu auch Karin Hirdina: Ästhetik/Ästhetisch. In: Achim Trebeß (Hrsg.): Metzler Lexikon Ästhetik: Kunst, Medien, Design und Alltag. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2006, S. 29 – 34, hier S. 30. 44 Stefan Majetschak: Klassiker der Kunstphilosophie: von Platon bis Lyotard. München: Beck, 2005, S. 8.
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Stand und Probleme der Forschung
Kunst, die auch tragisch, erhaben oder sentimental sein kann, prinzipiell zu Unterscheidendes (vgl. die Abschnitte 3.1 und 4.1; dort erfolgt auch die Beschäftigung mit der einschlägigen Forschungsliteratur).45 Auch wenn wir heute Kunstwerke aus vergangenen Zeiten bestaunen und zuweilen als schön bezeichnen, so war der Sinn und Zweck von Kunst ursprünglich doch nicht in erster Linie der, Schönes hervorzubringen. Künste wie Tanz, Musik, Bildhauerei, Theater, Literatur und ähnliches entwickelten sich aus rituellen und kultischen Feiern und waren in religiöse und politisch-gesellschaftliche Zusammenhänge eingebunden oder erfüllten für Herrschende repräsentative Funktionen.46 Kunst (griech. techne, lat. ars)47 stellte ein nach Regeln – und zwar ganz im sprichwörtlichen Sinn nach ›allen Regeln der Kunst‹ – erlernbares Handwerk dar, eine Fertigkeit oder eine Wissenschaft und reichte »von der Schuhmacherkunst, über die Baukunst, das K.[unst]turnen und die K.[unst]malerei bis hin zu solchen ›freien Künsten‹ (artes liberales) wie Dialektik, Rhetorik und Mathematik.«48 Jahrhundertelang wurden die Diskurse um Schönheit und Kunst weitgehend getrennt voneinander geführt und erst seit der Renaissance, besonders aber seit dem 18. Jahrhundert im Zusammenhang mit der Herausbildung eines neuen Verständnisses der Künste als »schöne Künste« (»beaux arts« / »fine arts«) miteinander verknüpft.49 Die Periode in der Ästhetikgeschichte, in der sich Schönheit tatsächlich vorrangig in der Kunst zeigte (und dennoch nicht mit dieser zwangsweise gleichbedeutend war), nämlich das 18. und der Beginn des 19. Jahrhunderts, dominiert im öffentlichen und wissenschaftlichen Bewusstsein so sehr, dass Schönheit und Kunst bis zur heutigen Zeit, bis zum Zeitalter der Nicht-mehr-schönen-Künste, noch immer fast automatisch als zusammengehörig gedacht und empfunden werden. In dieser Arbeit geht es um Schönheit und nicht in erster Linie um Kunst.50 45 Zur Unterscheidung zwischen Schönheit und Kunst siehe auch Michael Hauskeller : Was ist Kunst? Positionen der Ästhetik von Platon bis Danto. München: Beck, 1998, S. 12 f. 46 Stefan Greif: Kunst/Künste/System der Künste/Ensemble der Künste. In: Achim Trebeß (Hrsg.): Metzler Lexikon Ästhetik: Kunst, Medien, Design und Alltag. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2006, S. 217 – 222, hier S. 217 f. 47 Ebd., S. 217. 48 Martin Gessmann: Philosophisches Wörterbuch. Stuttgart: Kröner, 2009, S. 416. 49 Vgl. weiter : Ebd., S. 649; Renate Reschke: Schönheit/Schön. In: Achim Trebeß (Hrsg.): Metzler Lexikon Ästhetik: Kunst, Medien, Design und Alltag. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2006, S. 335 – 340, hier S. 336 f.; Renate Reschke: Schön/Schönheit. In: Karlheinz Barck u. a. (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 5: Postmoderne – Synästhesie. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2003, S. 390 – 436, hier S. 396. 50 Zum Aspekt der Kunst vgl.: Michael Hauskeller : Was ist Kunst? Positionen der Ästhetik von Platon bis Danto. München: Beck, 1998; Reinold Schmücker : Was ist Kunst? Eine Grundlegung. München: Fink, 1998; Wolfgang Ullrich: Kunst/Künste/System der Künste. In: Karlheinz Barck u. a. (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 3: Harmonie – Material. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2001, S. 556 – 616;
Das Erhabene
2.3
31
Das Erhabene
Ein Verständnis von Ästhetik im engeren Sinn spart, wie bereits verdeutlicht, häufig das Erhabene aus (für weiterführende Belege vgl. Abschnitt 2.4). Bis in die 1970er Jahre hinein fand das Erhabene, obgleich es sich bis zur Antike zurückverfolgen lässt, als ästhetische Kategorie kaum Beachtung. Zwar fordert[e] Wilhelm Weischedel […] bereits 1960 in einem wenig bekannten Aufsatz zu einer ›Rehabilitation des Erhabenen‹ auf – mit Argumenten, die sich an Kant und Schiller orientieren und sich als eine Vorwegnahme des postmodernen Interesses am Erhabenen lesen lassen.51
Doch noch 1970 konstatierte Klaus L. Berghahn, »daß das Pathetische und Erhabene als ästhetische Begriffe seit dem Ende der Goethezeit untergegangen sind oder als gewollte oder ungewollte parodistische Sprachform ein kümmerliches Dasein fristen«.52 Und in einer Untersuchung von Renate Homann aus dem Jahr 1977 heißt es: Die vorliegende Erörterung beschäftigt sich mit dem Begriff des Erhabenen, einem Begriff, der in der gegenwärtigen philosophischen und literaturwissenschaftlichen Forschung keine Rolle spielt. Er steht in dem Verdacht, ein Anachronismus zu sein. Diesen Verdacht vermochte auch ein neuerer Versuch einer ›Rehabilitierung‹ […] des Erhabenen nicht zu entkräften, zumal er – wenn auch in bewußt kritischer Absetzung – derjenigen Geschichte des Begriffs verpflichtet ist, die seine Entaktualisierung eingeleitet und generalisiert hat.53 Wolfgang Ullrich: Was war Kunst? Biographien eines Begriffs. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 2005; Konrad Paul Liessmann: Philosophie der modernen Kunst: eine Einführung. Wien: WUV, Universitäts-Verlag, 1994; Gerhard Plumpe: Kunst, Kunstwerk. In: Joachim Ritter und Karlfried Gründer (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 4: I – K. Basel, Stuttgart: Schwabe, 1976, S. 1357 – 1434; Georg W. Bertram: Kunst: eine philosophische Einführung. Stuttgart: Reclam, 2007; Władysław Tatarkiewicz: Geschichte der sechs Begriffe: Kunst, Schönheit, Form, Kreativität, Mimesis, ästhetisches Erlebnis. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2003; Kurt Schilling: Die Kunst: Bedeutung, Entwicklung, Wesen, Gattungen. Meisenheim, Glan: Hain, 1961; Hartmut von Hentig: »…rastlos von Veränderung zu Veränderung« Oder : Was ist Kunst? Marbach: Deutsche Schillergesellschaft, 2000; Erwin Pracht: Voraussetzungen der Entstehung des ästhetischen Kunst-Begriffs. In: Erhard Lange (Hrsg.): Philosophie und Kunst: Kultur und Ästhetik im Denken der deutschen Klassik. Weimar : Böhlau, 1987, S. 34 – 58. 51 Dietmar Till: Das doppelte Erhabene: Eine Argumentationsfigur von der Antike bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Tübingen: Niemeyer, 2006, S. 12, Anm. 38. 52 Klaus L. Berghahn: Nachwort. In: Klaus L. Berghahn (Hrsg.): Friedrich Schiller. Vom Pathetischen und Erhabenen. Schriften zur Dramentheorie. Stuttgart: Reclam, 1970, S. 133 – 157, hier S. 134. 53 Renate Homann: Erhabenes und Satirisches. Zur Grundlegung einer Theorie ästhetischer Literatur bei Kant und Schiller. München: Fink, 1977, S. 7. Vgl. auch: »Das Erhabene? Das Wort klingt seltsam historisch abgelegt.« (Karl Heinz Bohrer : Zu diesem Heft. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken (Sonderheft) 43 (1989), S. 735) Und: »Man wird hierzulande also kaum unbefangen über die seltsame Renaissance dieses Begriffs
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Stand und Probleme der Forschung
Erst mit Adorno und Lyotard rückte das Erhabene schließlich im Laufe der 1980er Jahre wieder allmählich ins Bewusstsein,54 doch drohte der gerade erst in Gang gekommene Aufschwung zeitweise erneut zum Stillstand zu kommen.55 Bis in die 1990er Jahre hinein galten Karl ViÚtors Abhandlung Die Idee des Erhabenen in der deutschen Literatur56 und Zelles Studie über die »doppelte Ästhetik« von 199557 als die wesentlichen Untersuchungen zum Erhabenen in deutscher Sprache.58 Dietmar Tills pessimistische Äußerung aus dem Jahr 2000 – »Nach dem Ende der Debatten um die Postmoderne ist auch die Diskussion um das Erhabene versiegt. Nandy hatte im Rückblick unfreiwillig recht, als er schon 1984 die Konjunktur des Erhabenen als eine Modeerscheinung bezeichnet hatte«59 – sollte sich jedoch als nicht zutreffend erweisen. Die lange Zeit unbefriedigende Forschungslage hinsichtlich des Erhabenen hat sich in den letzten Jahren rasant verändert; die vernachlässigte ästhetische Kategorie kämpft sich ins Bewusstsein von Wissenschaft und Öffentlichkeit zurück. Inzwischen liegt eine ganze Reihe von Einzeluntersuchungen über das Erhabene vor, von denen an dieser Stelle stellvertretend nur der von Christine Pries herausgegebene Sammelband Das Erhabe. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn (1989),60 Philip Shaws The Sublime (2006)61 und Stefanie Voigts Erhabenheit. Über ein großes Gefühl und seine Opfer (2011)62 genannt seien (für weitere Forschungsliteratur siehe Abschnitt 3.2). Ein Grund für das Wiedererstarken des Erhabenen ist sicherlich, dass sich das allgemeine Ästhetikverständnis in einem Umbruch
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sprechen können, wie das die französischen Theoretiker tun. […] Man wird das Erhabene selbst in seiner problematischsten Form, im Faschismus, im Nationalsozialismus, ernst nehmen müssen […]« (ebd., S. 735). Dietmar Till: Das doppelte Erhabene: Eine Argumentationsfigur von der Antike bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Tübingen: Niemeyer, 2006, S. 1 f. Vgl. auch: »[E]ine größere, zusammenhängende Darstellung der Theorie des Erhabenen und seiner Gestaltungsweise [wurde] noch nicht unternommen […]. Das Problem des Erhabenen stand immer im Schatten der Frage nach dem Wesen des Schönen und der Kunst, oder es wurde als ein Teil der Theorie der Tragödie behandelt. Die wenigen älteren Spezialuntersuchungen sind viel zu knapp gehalten und stellenweise überholt.« (Wolfgang Düsing: Schillers Idee des Erhabenen. Köln: Gouder und Hansen, 1967, S. 1) Karl ViÚtor : Die Idee des Erhabenen in der deutschen Literatur. In: Karl ViÚtor : Geist und Form: Aufsätze zur deutschen Literaturgeschichte. Bern: Francke, 1952, S. 234 – 266. Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne: Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart, Weimar : Metzler, 1995. Paul Barone: Schiller und die Tradition des Erhabenen. Berlin: Erich Schmidt Verlag, 2004, S. 17. Dietmar Till: Das doppelte Erhabene: Eine Argumentationsfigur von der Antike bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Tübingen: Niemeyer, 2006, S. 4. Christine Pries (Hrsg.): Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn. Weinheim: VCH, Acta Humaniora, 1989. Philip Shaw : The Sublime. London: Routledge, 2006. Stefanie Voigt: Erhabenheit: Über ein großes Gefühl und seine Opfer. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2011.
Problematische Verwendung der Begriffe
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befindet, im Zuge dessen die verkrustete Definition von Ästhetik im Sinne einer Lehre vom Schönen aufbricht und zunehmend durch eine erweiterte Sichtweise auf die Ästhetik als Aisthesis, als Lehre von der sinnlichen Wahrnehmung also, abgelöst wird. Das Erhabene als ästhetische Kategorie mag sich zwar zurückgemeldet haben, die Perspektive einer »doppelten Ästhetik«, die Schönes und Erhabenes als dialektische Bestandteile eines gemeinsamen Systems betrachtet, steht jedoch noch am Beginn.
2.4
Beispiele für die problematische Verwendung der Begriffe Ästhetik, Schönheit und Erhabenheit in der Forschung
Das in den vorangegangenen Abschnitten 2.1, 2.2 und 2.3 ausgeführte Problem einer verkürzten und einseitigen Definition von Ästhetik sowie einer hieraus resultierenden fragwürdigen Umgangsweise mit den Begriffen des Schönen und Erhabenen soll nun im Folgenden exemplarisch veranschaulicht und belegt werden. Die Verwendung der Begriffe Ästhetik, Schönes und Erhabenes in einer hier kritisierten Weise ist weitverbreitet und betrifft Lexika, Ästhetik-Einführungsbücher und große ästhetikgeschichtliche Abhandlungen gleichermaßen.63 So definiert das Metzler Literaturlexikon etwa Ästhetik als »Lehre von den sinnl.[ichen] Wahrnehmungen, im engeren Sinne [als] die philosoph.[ische] Disziplin, die sich mit prinzipiellen Problemen der Kunst und des Schönen befaßt«.64 Verweise auf das Erhabene fehlen gänzlich und es wird nicht zwischen Kunst und Schönem differenziert. Ebenfalls einseitig erläutert Martin Gessmann in seinem Philosophischen Wörterbuch den Ästhetikbegriff. Zwar heißt es im Artikel zum Erhabenen: »Innerhalb der Ästhetik ist das Schöne vom Erhabenen und vom Hässlichen, vom Interessanten wie vom Angenehmen unterschieden.«65 Unter dem Stich-
63 »Seit der Reduktion der Ästhetik auf eine ›Philosophie der schönen Kunst‹ […] sitzt auf der Disziplin ein Alp, der sie noch heute drückt und in ihren einschlägigen Handbüchern und Einführungen herumspukt.« (Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne: Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart, Weimar : Metzler, 1995, S. 11, siehe dort auch Anm. 33 und weiter S. 14 – 17) Selbstverständlich lassen sich auch positive Beispiele nennen, etwa Wolfhart Henckmann: Ästhetik. In: Wolfhart Henckmann und Konrad Lotter (Hrsg.): Lexikon der Ästhetik. München: Beck, 1992, S. 20 – 24; Jörg Zimmermann: Ästhetik. In: Ulfert Ricklefs (Hrsg.): Fischer Lexikon Literatur. Bd. 1: A – F. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 1996, S. 107 – 143. 64 Franz Schmidt: Aesthetik. In: Günther Schweikle und Irmgard Schweikle (Hrsg.): Metzler Literaturlexikon: Begriffe und Definitionen. Stuttgart: Metzler, 1990, S. 4. 65 Martin Gessmann: Philosophisches Wörterbuch. Stuttgart: Kröner, 2009, S. 648.
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Stand und Probleme der Forschung
wort ›Ästhetik‹ hingegen vermisst man jeden Hinweis auf das Erhabene, der Ästhetikbegriff bezieht sich hier im konventionellen Sinn nur auf das Schöne.66 Selbst im großen, renommierten Historischen Wörterbuch der Philosophie findet sich in den Artikeln zur Ästhetik und zum Schönen jeweils eine Definition, die beide Begriffe weitgehend miteinander gleichsetzt. »Das Wort […] [Ästhetik, Anm. d. V.] hat sich als Titel des Zweiges der Philosophie eingebürgert, in dem sie sich den Künsten und dem Schönen […] zuwendet«,67 heißt es zum Ästhetikbegriff und zum Schönen ist zu vernehmen, dass »[s]eit A. G. Baumgarten […] die Philosophie des Sch.[önen] als ›Ästhetik‹ bezeichnet [wird]«.68 Das Erhabene, das nicht Bestandteil der eigentlichen Definition ist, wird zwar behandelt,69 insgesamt mangelt es jedoch an einer näheren Bestimmung des Verhältnisses von Ästhetik, Schönem und Erhabenem zueinander. Auch in der Einführung in die Ästhetik von Annemarie Gethmann-Siefert70 bleibt der Ästhetikbegriff, obwohl ihm einführend ein ganzes Kapitel gewidmet ist, paradoxerweise merkwürdig vage. Der Gegenstand der Ästhetik in dieser Abhandlung ist die Kunst; dies scheint für die Autorin so selbstverständlich zu sein, dass eine präzise Begriffserklärung gleich zum Auftakt der Arbeit, bevor man über die Verwendungsweise des Ästhetikbegriffs zu rätseln beginnt, gar nicht notwendig erscheint.71 »[P]hilosophische Ästhetik«, so erschließt sich verhältnismäßig spät, meint eine »Philosophie der Kunst«,72 Ästhetik wird demzufolge in erster Linie im Sinne von ›schöner Kunst‹ verwendet: »Sie [die philosophische Ästhetik, Anm. d. V.] fragt danach, was ein schönes Ding, das man üblicherweise ein Kunstwerk (gegenüber Natur- und Gebrauchsdingen) nennt, […] auszeichnet.«73 Auch hier gönnt man bedauerlicherweise Kunst und Schönheit unabhängig voneinander kein Eigenleben, sondern beide existieren nur in wechselseitiger Abhängigkeit voneinander. Fast durchgehend im Doppelpack erscheinen die Begriffe ›Kunst‹ und ›Schönes‹ auch in Philosophische Arbeitsbücher. 5. Diskurs: Kunst und Schönes
66 Ebd., S. 59 f. 67 Joachim Ritter : Ästhetik, ästhetisch. In: Joachim Ritter (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 1: A – C. Basel, Stuttgart: Schwabe, 1971, S. 555 – 581, hier S. 555. 68 Norbert Rath: Schöne (das). In: Joachim Ritter und Karlfried Gründer (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 8: R – Sc. Basel: Schwabe, 1992, S. 1343 – 1385, hier S. 1343. 69 Und zwar weniger im Artikel zur Ästhetik, sondern vielmehr im Artikel zur Schönheit. Vgl. Norbert Rath: Schöne (das). In: Joachim Ritter und Karlfried Gründer (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 8: R – Sc. Basel: Schwabe, 1992, S. 1343 – 1385, hier S. 1371 f. 70 Annemarie Gethmann-Siefert: Einführung in die Ästhetik. München: Fink, 1995. 71 Ebd., S. 18. 72 Ebd., S. 24. 73 Ebd., S. 18.
Problematische Verwendung der Begriffe
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von Willi Oelmüller.74 Auch hier tauchen innerhalb der Abhandlung unverhofft Abschnitte zum Phänomen des Erhabenen auf, das wohl irgendwie doch dazuzugehören scheint, aber offensichtlich nicht in den gesamtästhetischen Kontext verortet zu werden vermochte. Selbst bei einigen Verfassern von großen ästhetik- und kunstgeschichtlichen Abhandlungen ist eine Unsicherheit im Umgang mit dem schwer fassbaren Begriff der Ästhetik sowie den ästhetischen Kernbegriffen des Schönen, der Kunst und des Erhabenen zu bemerken. In seiner umfangreichen Geschichte der Ästhetik und Kunsttheorie betont Götz Pochat75 die Wichtigkeit, Begriffe zu definieren,76 was er auch – jedoch etwas unbestimmt – unternimmt. In einer ersten Annäherung an den Begriff des Ästhetischen formuliert Pochat vage, als wolle er sich nicht festlegen: »Wenn wir Ästhetik und Kunsttheorie im Sinne von schriftlichen Äußerungen zu Dichtung und bildenden Künsten oder als Definitionen von Schönheit oder künstlerischer Tätigkeit verstehen […]«.77 In einem zweiten Anlauf heißt es dagegen: »Die Ästhetik stellt als Wissenschaft die Frage nach dem Wesen der Kunst und ihren Prinzipien. Sie untersucht die Erlebnisse, die mit den Sinneswahrnehmungen, mit dem ›Gefühl für das Schöne und Erhabene‹ (Kant) zusammenhängen«.78 Das Erhabene wird später zum Teil umfangreich und in lesenswerter Weise behandelt, es mangelt jedoch auch hier an der Einordnung in einen Gesamtkontext und an der grundsätzlichen Klärung der Begriffe wie auch ihres Verhältnisses zueinander.79 Beispiele dieser Art, welche die Unbestimmtheit und Uneinheitlichkeit im Umgang mit den Begriffen Ästhetik, Schönheit, Kunst und Erhabenheit sichtbar machen, ließen sich fortsetzen, mögen aber an dieser Stelle genügen, um die genannten Probleme hinreichend zu umreißen.
74 Willi Oelmüller : Philosophische Arbeitsbücher. 5. Diskurs: Kunst und Schönes. Paderborn: Schöningh, 1982, vgl. dort besonders die Einleitung. 75 Götz Pochat: Geschichte der Ästhetik und Kunsttheorie: Von der Antike bis zum 19. Jahrhundert. Köln: DuMont, 1986. 76 »Eine Begriffsklärung dessen, was Kunstwissenschaft, Kunsttheorie, Kunstphilosophie und Ästhetik bedeuten und zu leisten vermögen, erscheint deshalb sinnvoll, bevor auf die historische Darstellung der Kunsttheorie und Ästhetik näher eingegangen wird.« (Götz Pochat: Geschichte der Ästhetik und Kunsttheorie: Von der Antike bis zum 19. Jahrhundert. Köln: DuMont, 1986, S. 13) 77 Ebd., S. 11. 78 Ebd., S. 14, Herv. i. O. 79 Zelle bemerkt zu Pochat: »In seiner großen Geschichte der Ästhetik und Kunsttheorie geht Götz Pochat zwar z. B. in Hinsicht auf Burke ausführlich auf das Erhabene ein, reißt es aber […] aus dem Spannungsverhältnis zum Schönen heraus.« (Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne: Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart, Weimar : Metzler, 1995, S. 14, Herv. i. O.)
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2.5
Stand und Probleme der Forschung
Folgeprobleme eines verkürzten Ästhetikverständnisses für die Schiller-Interpretation
Eine undifferenzierte und unvollständige Bestimmung der Begriffe Ästhetik, Schönheit und Erhabenheit kann leicht zu verzerrten oder gar falschen Schlussfolgerungen von Anschlussinterpretationen führen. Legt man Schillers ästhetischen Schriften eine verkürzte Definition von Ästhetik zugrunde, die über das Erhabene hinwegsieht und überdies nicht zwischen den Begriffen der Kunst und dem Schönen unterscheidet, führt das zu einem einseitigen und ungenauen Schiller-Bild, das den Eindruck entstehen lässt, man habe es bei Schiller mit einem idealistischen und weltfremden Schwärmer und Philosophen der schönen Kunst zu tun. Das folgende von Richard Schimanski stammende Zitat kann repräsentativ für den Blickwinkel eines Großteils der Schiller-Forschung stehen und verdeutlicht die bei der Verwendung der Termini Ästhetik, Schönes und Kunst häufig auftretende, genannte Problematik in besonders eindringlicher Weise: »Die Begriffe Ästhetik, Kunst und Schönheit werden von Schiller weitgehend synonym gebraucht.«80 Dem ist grundlegend zu widersprechen. Ebenfalls unzutreffend ist die Behauptung Schimanskis, »Schiller [gebe] keine Definitionen für diese Begriffe«.81 Keine Frage: Schiller bringt seine Begriffsbestimmungen zum Schönen und der Kunst nicht besonders sichtbar vor, er hätte es seinen Lesern in der Tat einfacher machen können. Dennoch, so ist hier einzuwenden, macht er keinesfalls wahllos von diesen Termini Gebrauch (für Belege und eine ausführliche Auseinandersetzung vgl. Abschnitt 4.1 dieser Arbeit). Verfolgt man beispielsweise genauer, auf welche Weise Schiller das Wort Ästhetik in seinen philosophischen Schriften der Kant’schen Periode verwendet, so stellt man fest, dass es sich keineswegs ausschließlich auf die Kunst bezieht, sondern ebenso auf das Schöne und das Erhabene (vgl. Abschnitt 3.4). Im Folgenden soll ein Blick auf die Begriffe des Schönen und der Kunst sowie ihrer Verwendungsweise in der Schiller-Forschung geworfen werden. Gerade weil das allgemeine Verständnis von Ästhetik unter Ausklammerung des Erhabenen vorschnell auf das Schöne und die Kunst zielt und dabei Schönes und Kunst weitgehend als Synonyme auffasst, verwundert es nicht, dass Schillers Ästhetik oftmals – besonders im Hinblick auf die ästhetischen Briefe – als eine Lehre über die schöne Kunst interpretiert wurde. Das neue Kunstverständnis, welches im 18. Jahrhundert die Diskurse Schönheit und Kunst zusammenbringt, trägt seinen Teil dazu bei, anzunehmen, Schönheit und Kunst meinten bei 80 Richard Schimanski: Kunst als Bedingung Mensch zu sein. Kurze Einführung in Schillers Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen. London: Turnshare, 2006, S. 1, Anm. 1. 81 Ebd., S. 1.
Folgeprobleme eines verkürzten Ästhetikverständnisses
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Schiller dasselbe. So differenziert Rainer Schäfer, um im Folgenden einige Beispiele aus der Forschung zu nennen, nicht zwischen Schönheit und schöner Kunst.82 Ähnliches gilt auch für Hermann Röhrs’ Aufsatz Schillers Philosophie des Schönen. Schönheit, so scheint es, bezieht sich hier vor allem auf die schöne Kunst.83 Bei Irmgard Kowatzki wiederum ist zu lesen: »Schiller selbst rechtfertigt seine philosophischen Bemühungen als eine Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Kunst.«84 »Nur das Kunstschöne«, so heißt es weiter bei Fritz Usinger, »meint er [Schiller, Anm. d. V.], wenn er von der Schönheit spricht«.85 Peter Frey schließlich spricht in Bezug auf Schillers Ästhetik von einer »Philosophie der Kunst«.86 Natürlich, so ist hier einzuwenden, beschäftigt sich Schiller auch mit dem Phänomen der Kunst; viele seiner ästhetischen Schriften sind zu einem Teil kunsttheoretisch, produktions- und wirkungsästhetisch ausgerichtet. Schillers Ästhetik allein als Kunstphilosophie aufzufassen, greift aber entschieden zu kurz. In Abschnitt 4 dieser Arbeit wird ausführlich belegt, dass Schönheit und Kunst für Schiller zwei zwar durchaus miteinander verbundene, aber dennoch unterschiedliche Dinge sind. Auf der Grundlage eines verkürzten, Schönheit und Kunst absolut setzenden und das Erhabene weitgehend vernachlässigenden Ästhetikbegriffs scheinen die Gedanken Schillers zum Erhabenen nicht recht zu passen; ein maßgeblicher Grund, weswegen Schillers Anschauungen zum Erhabenen, besonders im Zusammenhang mit seinem Konzept des Schönen, unzulänglich untersucht worden sind. In diesem Sinne schreibt Paul Barone: Das Nachwirken der Aufklärungsästhetik in Schillers Theorie des Erhabenen ist bisher unzureichend erforscht – schon allein deshalb, weil erst seit Mitte der achtziger Jahre detaillierte Untersuchungen zum Erhabenen in der deutschen Aufklärung vorliegen.87
Bis in die jüngste Zeit wurde Schillers Konzept des Erhabenen zu einem guten Teil schlicht nicht wahrgenommen. So blendet das Historische Wörterbuch der Philosophie bei der Darstellung von Schillers Ästhetik die Komponente des Er82 Rainer Schäfer : Schönheit als Methode und Gehalt in Schillers Ästhetik. In: Jens Halfwassen und Markus Gabriel (Hrsg.): Kunst, Metaphysik und Mythologie. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2008, S. 351 – 369, hier S. 351. 83 Hermann Röhrs: Schillers Philosophie des Schönen. In: Hermann Röhrs (Hrsg.): Bildungsgeschichte und Bildungsphilosophie. Weinheim: Deutscher Studien Verlag, 1999, S. 482 – 498, hier S. 482 f. 84 Irmgard Kowatzki: Der Begriff des Spiels als ästhetisches Phänomen: Von Schiller bis Benn. Bern: Lang, 1973, S. 39. 85 Fritz Usinger : Friedrich Schiller und die Idee des Schönen. Wiesbaden: Steiner, 1955, S. 8. 86 Peter Frey : Die Philosophie der Kunst denkt sich zu Ende. Dissertation, Johann Wolfgang Goethe Universität Frankfurt, 1977, S. 34. 87 Paul Barone: Schiller und die Tradition des Erhabenen. Berlin: Erich Schmidt Verlag, 2004, S. 17.
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habenen komplett aus;88 ebenso sieht, wie Noetzel herausstellt, Thomas Schütze davon ab, »Schillers Theorie des Erhabenen in seine ambitionierte Rekonstruktion einzubeziehen«.89 Wo das Erhabene zur Kenntnis genommen wurde, vermutete man schnell Ungereimtheiten und Inkonsequenzen im philosophischen System90 – »Doch bleibt das Nebeneinander seiner Theorie des Schönen und des Erhabenen am Ende ungeklärt«91 –, bewertete es im Kontext der Schiller’schen Dramentheorie92 oder aber verspottete es als etwas Nicht-Zeitgemäßes.93 94 Seit der Aisthesis-Aspekt in der Forschung vermehrt Berücksichtigung findet und Ästhetik demzufolge im umfassenderen Sinn verstanden wird, seit das Erhabene wieder allgemein salonfähiger geworden ist, erwacht auch zunehmend das wissenschaftliche Interesse an Schillers Schriften zum Erhabenen. Stellvertretend für die Studien, die bisher zu Schiller und dem Erhabenen erschienen sind, sollen an dieser Stelle nur die Folgenden hervorgehoben werden (für eine ausführlichere Auseinandersetzung mit der Forschung vgl. Abschnitt 5.1 dieser
88 Joachim Ritter : Ästhetik, ästhetisch. In: Joachim Ritter (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 1: A – C. Basel, Stuttgart: Schwabe, 1971, S. 555 – 581, hier S. 567 f. 89 Wilfried Noetzel: Schillers Sozialästhetik. London: Turnshare, 2008, S. 9. 90 Um es gleich vorweg zu sagen: Schillers Ästhetik weist in der Tat Schwachstellen auf, die sich vor allem durch fehlende Definitionen, begriffliche Unschärfen und Vieldeutigkeiten ergeben. Dies ist in der Forschung häufig beklagt worden. Siehe z. B. Dieter Henrich: Der Begriff der Schönheit in Schillers Ästhetik. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 11 (1957), S. 527 – 547, hier S. 527, S. 529; Elizabeth M. Wilkinson und Leonard A. Willoughby : Schillers ästhetische Erziehung des Menschen. München: Beck, 1977, S. 44 – 47; Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne: Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart, Weimar : Metzler, 1995, S. 155. Im Falle des Schönen und Erhabenen aber, so Zelle, »wo die konsultierte Sekundärliteratur stets Widerspruch, Uneinheitlichkeit, Unausgeglichenheit und dergleichen zu sehen bereit war« (ebd., S. 4), liegt die Paradoxie hingegen in der »Bipolarität […] der Sache« (ebd., S. 4) selbst begründet. 91 Rolf-Peter Janz: Kommentar. Schillers theoretische Schriften. In: Rolf-Peter Janz (Hrsg.): Friedrich Schiller. Theoretische Schriften. Bd. 8. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag, 1992, S. 1127 – 1132, hier S. 1131. 92 Wilfried Baur : Rückzug und Reflexion in kritischer und aufklärender Absicht: Schillers Ethik und Ästhetik und ihre künstlerische Gestalt im Drama. Frankfurt a. M.: Lang, 1987; Klaus L. Berghahn: Schiller : Ansichten eines Idealisten. Frankfurt a. M.: Athenäum, 1986. 93 Dieter Hildebrandt (Hrsg.): Loch in Erde, Bronze rin…: Schiller-Parodien oder der Spottpreis der Erhabenheit. München, Wien: Hanser, 2004. 94 Vgl. auch: Schillers »Konzept des Erhabenen […] wurde banalisiert, auf den Autor übertragen, mit seinen tragischen Helden kurzgeschlossen. Dem entsprach eine Bevorzugung der späten Dramen gegenüber den ästhetischen Schriften, also des Dichters gegenüber dem Philosophen Schiller.« (Janine Ludwig: »Wenn das Erhabene mit dem Schönen sich gattet«: Plädoyer gegen eine einseitige Schiller-Rezeption. In: Jonas Maatsch und Christoph Schmälzle (Hrsg.): Schillers Schädel. Physiognomie einer fixen Idee. Weimar, Göttingen: Klassik Stiftung Weimar und Wallstein Verlag, 2009, S. 172 – 175, hier S. 172)
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Arbeit): Paul Barone: Schiller und die Tradition des Erhabenen;95 Trinidad Pineiro Costas: Schillers Begriff des Erhabenen in der Tradition der Stoa und Rhetorik;96 Wolfgang Düsing: Schillers Idee des Erhabenen97 oder auch die Aufsätze von Jan Assmann.98 Die Wiederbelebung des Erhabenen ist in dieser Hinsicht unbestritten ein wichtiger Schritt, aber »[e]ine einseitige Rezeption des Erhabenen geht an Schillers eigener Lebenseinsicht vorbei«,99 gilt es doch, das Erhabene nicht isoliert zu betrachten, sondern gerade die wechselseitige Beziehung zum Schönen zu erkennen, welches innerhalb eines spannungsgeladenen dialektischen Systems den komplementären Gegenpart zum Erhabenen bildet. Vor dem Hintergrund der oben erarbeiteten Definition von Ästhetik lässt sich für Schillers ästhetisch-philosophische Schriften nachweisen, dass sie in eben jener Tradition doppelter, das Schöne und das Erhabene umfassenden Ästhetik stehen.100 Abschnitt 3.4 belegt, dass Schiller selbst seinen Ästhetikbegriff in zweifacher, wenn man den Aspekt der Kunst differenziert vom Schönen betrachtet, sogar in dreifacher Weise einsetzt. Dort, wo die Frage nach dem Verhältnis des Schönen zum Erhabenen in den Blick der Forschung geriet, war die Sichtweise lange Zeit vorwiegend von Unverständnis geprägt. So beklagt Birgit Sandkaulen den »unaufgelöste[n] Konflikt zwischen dem Schönen und dem Erhabenen«101 und Jost Schillemeit glaubt hinsichtlich des Erhabenen »eine[] merkwürdige[] Parallelität, bisweilen auch […] eine[] eigentümliche[] Konkurrenz und Rivalität zum Thema des ›Schönen‹«102 festzustellen. Bei Wolfgang Riedel wiederum heißt es, »die Theorie des 95 Paul Barone: Schiller und die Tradition des Erhabenen. Berlin: Erich Schmidt Verlag, 2004, vgl. dort auch den ausführlichen Literaturbericht, S. 17 – 28. 96 Trinidad Pineiro Costas: Schillers Begriff des Erhabenen in der Tradition der Stoa und Rhetorik. Frankfurt a. M.: Lang, 2006. 97 Wolfgang Düsing: Schillers Idee des Erhabenen. Köln: Gouder und Hansen, 1967, vgl. dort den Literaturbericht, S. 4 – 18. 98 Jan Assmann: Immanuel Kant und Friedrich Schiller über Isis und das Erhabene. In: Talismane 1998, S. 102 – 113; Jan Assmann: Über das Erhabene: Schiller im Licht von Kant und Mozart. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 2007, S. 166 – 182. 99 Janine Ludwig: »Wenn das Erhabene mit dem Schönen sich gattet«: Plädoyer gegen eine einseitige Schiller-Rezeption. In: Jonas Maatsch und Christoph Schmälzle (Hrsg.): Schillers Schädel. Physiognomie einer fixen Idee. Weimar, Göttingen: Klassik Stiftung Weimar und Wallstein Verlag, 2009, S. 172 – 175, hier S. 175. 100 Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne: Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart, Weimar : Metzler, 1995, S. 147 – 219. 101 Birgit Sandkaulen: Die »Schöne Seele« und der »Gute Ton«. Zum Theorieprofil von Schillers ästhetischem Staat. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 76 (2002), S. 74 – 86, hier S. 74. 102 Jost Schillemeit: Kunsttheorie und Geschichtsauffassung. Schillers Beiträge zur Theorie des Erhabenen. Heines Kunst- und Geschichtsanschauung und die Geschichtsphilosophie. Göttingen: Wallstein-Verlag, 2009, S. 6.
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Stand und Probleme der Forschung
Erhabenen [stehe] doch in reichlich gespanntem Verhältnis«103 zu den zentralen philosophischen Abhandlungen der 1790er Jahre. Selbst dort, wo der »Zusammenhang von Erhabenem und Schönem«104 tatsächlich näher erforscht wird, erscheint er als »fraglich[]«105 oder auch als »nicht leicht zu bestimmen[]«.106 Diese Art der Auslegung, welche die Schiller’sche Ästhetik als eine – um mit Joachim Bernauer zu formulieren – »doppelte Macht des Schönen und des Erhabenen«107 begreift, ist im wissenschaftlichen Diskurs noch nicht weit verbreitet; sie macht sich gleichwohl in der fachlichen Auseinandersetzung mit Schillers Philosophie immer deutlicher bemerkbar. Unter den Studien, die der Sichtweise einer »doppelten Ästhetik« bei Schiller den Weg bereitet haben, steht die bereits erwähnte Abhandlung von Zelle; ihr folgen weitere ertragreiche Untersuchungen zu diesem Thema, von denen die Folgenden, in der Reihe ihres Erscheinungsjahrs, explizit hervorzuheben sind: Matthias Ruppert: Unvollendete Totalität. Untersuchungen zu Friedrich Schillers Konzept einer vollständigen ästhetischen Erziehung (1996);108 Wilfried Noetzel: Schillers Sozialästhetik (2008);109 Janine Ludwig: »Wenn das Erhabene mit dem Schönen sich gattet«: Plädoyer gegen eine einseitige Schiller-Rezeption (2009)110 und Nils Ehlers: Zwischen schön und erhaben. Friedrich Schiller als Denker des Politischen (2011).111 Obgleich unterschiedlichen theoretischen Rahmenbedingungen verpflichtet – etwa gesellschaftlich ausgerichtet (Noetzel), erziehungswissenschaftlich (Ruppert) oder politikwissenschaftlich (Ehlers) – und zum Teil voneinander abweichende Schlussfolgerungen propagierend (vgl. vor allem Ruppert und Noetzel), so ist die Erörterung des Verhältnisses von Schönem und Erhabenem doch ein wesentlicher Bestandteil der genannten Arbeiten. In seiner Studie zu Schiller und dem Erhabenen analysiert Barone zwar nicht das Phä103 Wolfgang Riedel: »Weltgeschichte ein erhabenes Object«: zur Modernität von Schillers Geschichtsdenken. In: Peter-Andr¦ Alt u. a. (Hrsg.): Prägnanter Moment: Studien zur deutschen Literatur der Aufklärung und Klassik. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2002, S. 193 – 214, hier S. 193. 104 Andrea Vierle: Die Wahrheit des Poetisch-Erhabenen: Studien zum dichterischen Denken. Von der Antike bis zur Postmoderne. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2004, S. 276. 105 Ebd, S. 276. 106 Wolfgang Düsing: Schillers Idee des Erhabenen. Köln: Gouder und Hansen, 1967, S. 1. 107 Joachim Bernauer : »Schöne Welt, wo bist du?«: Über das Verhältnis von Lyrik und Poetik bei Schiller. Berlin: Erich Schmidt Verlag, 1995, S. 235. 108 Matthias Ruppert: Unvollendete Totalität. Untersuchungen zu Friedrich Schillers Konzept einer vollständigen ästhetischen Erziehung. Mainz: Gardez!-Verlag, 1996. 109 Wilfried Noetzel: Schillers Sozialästhetik. London: Turnshare, 2008. 110 Janine Ludwig: »Wenn das Erhabene mit dem Schönen sich gattet«: Plädoyer gegen eine einseitige Schiller-Rezeption. In: Jonas Maatsch und Christoph Schmälzle (Hrsg.): Schillers Schädel. Physiognomie einer fixen Idee. Weimar, Göttingen: Klassik Stiftung Weimar und Wallstein Verlag, 2009, S. 172 – 175. 111 Nils Ehlers: Zwischen schön und erhaben – Friedrich Schiller als Denker des Politischen: im Spiegel seiner theoretischen Schriften. Göttingen: Cuvillier, 2011.
Johnson, Schiller und die Ästhetik
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nomen der »doppelten Ästhetik« selbst, nimmt es aber immerhin als gegeben an, wenn er schreibt: »Die ästhetische Erziehung durch das Erhabene stellt für Schiller eine notwendige Ergänzung zur Erziehung durch das Schöne dar […]. Der doppelten Ästhetik des Schönen und Erhabenen entspricht also eine doppelte ästhetische Erziehung.«112
2.6
Johnson, Schiller und die Ästhetik: ein Forschungsdesiderat
Zur Frage nach dem Einfluss der Ästhetik Schillers auf das Werk Uwe Johnsons liegen bislang nur wenige Forschungserkenntnisse vor. Wenngleich, wie Norbert Mecklenburg herausgestellt hat, die Johnson-Forschung in den letzten Jahren erheblich vorangetrieben wurde,113 so sind dennoch die Themenkomplexe Johnson – Schiller wie auch Johnson – philosophische Ästhetik kaum berührt; die Problemstellung einer »doppelten Ästhetik« speziell in Hinblick auf Johnson liegt noch gänzlich brach. »Wie es scheint […]«, so lautet treffend eine Feststellung von Uwe Neumann, »ist noch gar nicht abzusehen, welche Schätze gerade in den ›Jahrestagen‹ verborgen liegen.«114 Zwar kommt der Terminus Ästhetik auch in der Johnson-Forschung zur Anwendung, jedoch meist in einem vollkommen anderen Sinn als in dieser Arbeit. Die zu Beginn dieses Kapitels geschilderte Problematik einer Verwendung der Begriffe Ästhetik bzw. ästhetisch, ohne diese jedoch hinreichend zu präzisieren, lässt sich auch hier beobachten. Dort, wo das Wort Ästhetik in der Johnson-Forschung herangezogen wird, ist es in der Regel eingebunden in kunsttheoretische Erörterungen und zielt auf eine Auseinandersetzung mit Johnsons Schreibweise und Poetik ab.115 Von den insgesamt zahlenmäßig sehr überschaubaren Forschungsansätzen, die sich mit der Wirkung von Schillers ästhetischen Schriften auf das Werk Uwe Johnsons beschäftigt haben, sind zum einen die Darstellungen von Michael 112 Paul Barone: Schiller und die Tradition des Erhabenen. Berlin: Erich Schmidt Verlag, 2004, S. 114. 113 Norbert Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons. Jahrestage und andere Prosa. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1997, S. 7. 114 Uwe Neumann: »Er stellte seine Fallen öffentlich aus«: Zu Uwe Johnsons poetologischen Äußerungen. In: Carsten Gansel und Nicolai Riedel (Hrsg.): Uwe Johnson zwischen Vormoderne und Postmoderne. Internationales Uwe Johnson Symposium 22.–24. 9. 1994. Berlin, New York: de Gruyter, 1995, S. 55 – 80, hier S. 59. 115 Vgl. auch die Verwendung des Begriffs Ästhetik bei: Wolfgang Strehlow : Ästhetik des Widerspruchs: Versuche über Uwe Johnsons dialektische Schreibweise. Berlin: Akademie Verlag, 1993; Stefanie Golisch: Geschichte, Utopie, Ästhetik: Untersuchungen zu Uwe Johnsons »Jahrestagen«. Dissertation, Universität Hannover, 1991; Sigrun Storz-Sahl: Erinnerung und Erfahrung: Geschichtsphilosophie und ästhetische Erfahrung in Uwe Johnsons Jahrestagen. Frankfurt a. M.: Lang, 1988.
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Stand und Probleme der Forschung
Hofmann im Rahmen der Reclam-Monografie Uwe Johnson (2001) zu nennen,116 zum anderen sein Artikel Zur Aktualität einer Poetik des Erhabenen. Schiller, Hugo, Johnson, Tabori (2003).117 Sowohl in Hinblick auf das Schöne als auch das Erhabene liefern beide Beiträge wertvolle Anregungen für diese Arbeit, wenn ich auch, was das Verhältnis von Schönem und Erhabenem anbelangt, zu einer anderen Schlussfolgerung im Sinne einer »doppelten Ästhetik« komme. Weiterhin von Bedeutung für die Erforschung des Zusammenhangs Johnson – Schiller ist Holger Helbigs Aufsatz Über die ästhetische Erziehung der Staatssicherheit in einer Reihe von Thesen. Johnson liest Schiller (1999),118 in welchem der Verfasser vor dem Hintergrund der Schiller’schen Theorie des Erhabenen eine Lesart von Johnsons zweitem Roman Mutmassungen über Jakob entwickelt. Die Dissertation von Leyla Sedghi Das Dilemma der Grenze: Zu Uwe Johnsons Frühwerk (2004),119 welche sich nur marginal mit Schiller beschäftigt, verwendet, vorwiegend im Anschluss an Michael Hofmann, die Konzepte der Anmut und schönen Seele, allerdings ohne die Theorie des Schönen, in deren Rahmen beide zu verorten sind, in umfassender Hinsicht zu berücksichtigen. Der Frage nach Bedeutung und Funktion der intertextuellen Einbindung von Schillers idealistischer Ballade Die Bürgschaft in Johnsons Debütroman geht Nicola Westphal in ihrem Aufsatz Die Freundschaft in den Zeiten der Tyrannei. Überlegungen zu einer Schulstunde in Ingrid Babendererde (2003)120 nach, jedoch erfolgt diese Erörterung nicht im Kontext von Schillers Ästhetik. Neben den angeführten Arbeiten, welche die einzigen mir bekannten Auseinandersetzungen mit dem Komplex Schiller – Johnson darstellen, lassen sich bestenfalls sporadische Bemerkungen auffinden, die einen zum Teil nicht näher bestimmten, zum Teil mehr oder weniger lose angedeuteten Zusammenhang zwischen dem Werk Uwe Johnsons und jenem Schillers, oder einzelnen Aspekten daraus, vermuten. So liest Karl Birkenseer Ingrid als »weiblichen Wilhelm Tell, eine[] Jeanne d’ Arc unserer Tage«.121 Bernd Neumann erblickt bei 116 Michael Hofmann: Uwe Johnson. Stuttgart: Reclam, 2001, vgl. S. 7, S. 15, S. 35, S. 55 f., Kap. 2. 117 Michael Hofmann: Zur Aktualität einer Poetik des Erhabenen. Schiller, Hugo, Johnson, Tabori. In: Weimarer Beiträge. Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturtheorie 2 (2003), S. 202 – 219. 118 Holger Helbig: Über die ästhetische Erziehung der Staatssicherheit in einer Reihe von Thesen. Johnson liest Schiller. In: Johnson-Jahrbuch 6 (1999), S. 57 – 84. 119 Leyla Sedghi: Das Dilemma der Grenze: Zu Uwe Johnsons Frühwerk. Dissertation, LMU München, 2004. 120 Nicola Westphal: Die Freundschaft in den Zeiten der Tyrannei. Überlegungen zu einer Schulstunde in Ingrid Babendererde. In: Johnson-Jahrbuch 10 (2003), S. 95 – 108. 121 Karl Birkenseer : Mardshanahs List oder : Ingrid, die überlegsame Heldin. Uwe Johnsons in den fünfziger Jahren nicht gedruckter Erstling »Ingrid Babendererde« erschien nun bei Suhrkamp als Buch. In: Nicolai Riedel (Hrsg.): Uwe Johnsons Frühwerk im Spiegel der deutschsprachigen Literaturkritik. Dokumente zur publizistischen Rezeption der Romane
Johnson, Schiller und die Ästhetik
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Johnson, genauer : in den Mutmassungen über Jakob, »möglicherweise auch die Anspielung auf Schillers ›Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts‹«122 und knapp zehn Jahre nach dieser Feststellung heißt es bei Neumann weiter : Jürgen und Klaus, ebenso wie dann Blach und Jakob, gehörten eigentlich zusammen; in ihrem Getrenntsein offenbart sich das Elend der in Hand- und Kopfarbeit zerrissenen, überhaupt der spezialisierten Menschheit. Dies sind, u. a., Schillersche Gedanken.123
Zahlreiche in den Jahrestagen verborgene intertextuelle Bezüge zum dramatischen und lyrischen Werk Schillers – Maria Stuart, Die Glocke, Elegie, Don Carlos, Die Bürgschaft, Ode an die Freude, Wilhelm Tell und Wallenstein – deckt schließlich der Kommentar zu Johnsons Hauptwerk auf.124 Einzelne Erkenntnisse wiederum, wie etwa jene von Beate Wunsch, dass sich der Begriff ›erhaben‹ bei Johnson häufe,125 werden nicht in einen ästhetikgeschichtlichen Kontext eingeordnet oder mit Schiller in Verbindung gebracht. Warum, so ist zu fragen, ist bislang außer den genannten Abhandlungen noch nichts zum Thema Schiller – Johnson erschienen? Eine mögliche Ursache könnte in der erst posthum erfolgten Veröffentlichung des Erstlings Ingrid Babendererde im Jahr 1985 zu sehen sein. Im Gegensatz zu den späteren Romanen Johnsons sind zentrale Konzepte aus Schillers Theorie des Schönen und Erhabenen in der Ingrid-Geschichte deutlich, an manchen Stellen fast schon plakativ zu erkennen. Mit der Erscheinung der Mutmassungen über Jakob, Johnsons erster Publikation überhaupt, und insbesondere der zwischen 1970 und 1983 in vier Bänden erschienenen Jahrestage fixierte sich die Forschung auf bestimmte, ins Auge stechende Themen wie etwa den Erzählstil oder Erinnerungsaspekt, welche den wissenschaftlichen Diskurs über Johnsons Werk prägen sollten. »Es gab also«, so lässt sich mit Joachim Kaiser sagen, »gute Gründe anzunehmen, dass durch die Veröffentlichung des ›Ingrid-Romans‹ die Johnson-Rezeption […] in Westdeutschland, ja in der ganzen literarischen Welt, anders verlaufen‹ wäre«.126 Der interdisziplinäre, die Grenzen der Literaturwissenschaft über-
122 123 124 125 126
»Mutmaßungen über Jakob«, »Das dritte Buch über Achim« und »Ingrid Babendererde«. Bonn: Bouvier Verlag, 1987, S. 216 – 219, hier S. 218. Bernd Neumann: Utopie und Mimesis. Kronberg i. Ts.: Athenäum Verlag, 1978, S. 48. Bernd Neumann: Ingrid Babendererde als Ingeborg Holm. Über Uwe Johnsons ersten Roman. In: Colloquia Germanica. Internationale Zeitschrift für germanische Sprach- und Literaturwissenschaft 20 (1987), S. 203 – 212, hier S. 210. Holger Helbig u. a. (Hrsg.): Johnsons »Jahrestage« – der Kommentar : https://www.phf.unirostock.de/institut/igerman/johnson/johnkomm/default.html (07. 07. 2013). Beate Wunsch: Studien zu Uwe Johnsons früher Erzählung Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953. Frankfurt a. M.: Lang, 1991, S. 100, Anm. 381. Joachim Kaiser : …so eine jungenhafte, genaue Art. Uwe Johnsons Erstling, der die literarische Welt verändert hätte. In: Nicolai Riedel (Hrsg.): Uwe Johnsons Frühwerk im Spiegel der deutschsprachigen Literaturkritik. Dokumente zur publizistischen Rezeption
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Stand und Probleme der Forschung
schreitende Ansatz sowie die lange Zeit übliche Verwendung des Ästhetikbegriffs im engeren Sinn können als weitere Indizien für die fast gänzlich vernachlässigte Erforschung der Zusammenhänge zwischen Johnson, Schiller und der philosophischen Ästhetik, genauer : einer »doppelten Ästhetik«, vermutet werden. Wer unter den Germanisten darüber hinaus seine Forschung auf einer autorzentrierten Basis betreibt und die Argumentation an Biografie und persönlichen Äußerungen des Autors Johnson ausrichtet – wie in der JohnsonForschung nicht ganz unüblich –, mag vielleicht keine besondere Motivation verspüren, solchen Fragestellungen nachzugehen, erscheint Schiller doch in den derzeit zugänglichen Selbstaussagen Johnsons tatsächlich nur am Rande. Dass dies dennoch keinen Grund zur Annahme darstellt, Schiller habe für das Werk Johnsons keine Rolle gespielt, zeigt Kapitel 7 dieser Arbeit.
der Romane »Mutmaßungen über Jakob«, »Das dritte Buch über Achim« und »Ingrid Babendererde«. Bonn: Bouvier, 1987, S. 201 – 205, hier S. 203.
Teil II: Theoretische Grundlagen
3.
Voraussetzung zur »doppelten Ästhetik« Schillers
Im Folgenden soll ein knapper geschichtlicher Überblick über das Schöne, das Erhabene und die beide Kategorien umfassende »doppelte Ästhetik«1 gegeben sowie eine erste Standortbestimmung Schillers und Johnsons innerhalb dieser Zusammenhänge vorgenommen werden.2
3.1
Das Schöne – ein ästhetikgeschichtlicher Überblick
Von der Antike über das Mittelalter und die Renaissance bis hin zum 17. und 18. Jahrhundert herrscht eine Schönheitsvorstellung vor, die der polnische Ästhetiker Władysław Tatarkiewicz als »Große Theorie«3 beschreibt.4 Die Ur1 Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne: Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart, Weimar : Metzler, 1995. 2 Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf: Konrad Paul Liessmann: Schönheit. Wien: Facultas WUV, 2009; Norbert Rath: Schöne (das). In: Joachim Ritter und Karlfried Gründer (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 8: R – Sc. Basel: Schwabe, 1992, S. 1343 – 1385; Martin Gessmann: Philosophisches Wörterbuch. Stuttgart: Kröner, 2009, S. 648; Ursula Franke: Schönheit. In: Wolfhart Henckmann und Konrad Lotter (Hrsg.): Lexikon der Ästhetik. München: Beck, 1992, S. 214 – 218; Renate Reschke: Schön/Schönheit. In: Karlheinz Barck u. a. (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 5: Postmoderne – Synästhesie. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2003, S. 390 – 436; Renate Reschke: Schönheit/Schön. In: Achim Trebeß (Hrsg.): Metzler Lexikon Ästhetik: Kunst, Medien, Design und Alltag. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2006, S. 335 – 340. Vgl. auch die Überblicksdarstellung bei Bernd Guggenberger : Einfach schön: Schönheit als soziale Macht. Hamburg: Rotbuch Verlag, 1995; Reinhard Löw : Über das Schöne: Warum das Schöne schön ist. Stuttgart, Wien: Weitbrecht, 1994; Eduard von Hartmann: Philosophie des Schönen: zweiter systematischer Teil der Ästhetik. Eschborn: Klotz, 1992; Edith Landmann: Die Lehre vom Schönen. Wien: Amandus, 1952; Władysław Tatarkiewicz: Geschichte der sechs Begriffe: Kunst, Schönheit, Form, Kreativität, Mimesis, ästhetisches Erlebnis. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2003; Gerhard Schweppenhäuser : Ästhetik: philosophische Grundlagen und Schlüsselbegriffe. Frankfurt a. M.: Campus, 2007; die bebilderte Abhandlung bei Umberto Eco: Die Geschichte der Schönheit. München: dtv, 2006. 3 Zitiert nach Konrad Paul Liessmann: Schönheit. Wien: Facultas WUV, 2009, S. 13.
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Voraussetzung zur »doppelten Ästhetik« Schillers
sprünge dieser Theorie hat Platon (428 – 348 v. Chr.) formuliert, der als erster in systematischer Weise über das Schöne nachgedacht hat.5 Platon bestimmt das Schöne ontologisch im Rahmen seiner Ideenlehre und platziert es in der Kosmologie und der mit ihr verbundenen Sphärenharmonie.6 Das Schöne ist für ihn eine übersinnliche, intelligible Idee, die in Verbindung zur Wahrheit und zur Tugend steht und gemeinsam mit ihnen die Trias des ›Schönen, Wahren und Guten‹ bildet.7 Als einzige der Ideen kann sich das übersinnliche Schöne, wenn auch nur als schwacher Abglanz, in der Welt der Erscheinungen offenbaren, in der Natur ebenso wie in Menschen, in tugendhaften und sittlichen Handlungen, und findet im Ideal der »Kalokagathie (griech. kalûs = schön; agathûs = gut)«8 seinen höchsten Ausdruck.9 Für den Betrachter erscheint das Schöne in der Sinnenwelt nicht etwa als subjektiv erfahrbar, sondern im Gegenteil als objektiv gegeben und zwar durch die Kriterien des Ebenmaßes, der richtigen Proportion und des harmonischen und symmetrischen Verhältnisses der Teile, die sich hinsichtlich ihrer Größe, Farben und Formen zu einem harmonischen Ganzen zusammenfügen.10 Das im 19. Jahrhundert als ›goldener Schnitt‹ bezeichnete ideale und harmonische Verhältnis zwischen den Teilen und dem Ganzen wird seit Pythagoras (570 – 510 v. Chr.) berechnet und in Zahlen- und Maßverhältnissen objektiv zu erfassen versucht.11 Diese auf Harmonie beruhende Schönheit steht symbolisch für die Vollkommenheit des Kosmos und den Zusammenklang seiner Einzelteile so-
4 »Die ›Große Theorie‹ des Schönen«, schreibt Liessmann, »[…] erlebte dann im 17. Jahrhundert einen letzten, großen Nachklang in der Philosophie von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 – 1716).« (Konrad Paul Liessmann: Schönheit. Wien: Facultas WUV, 2009, S. 26) »Im 18. Jahrhundert verlor die ›Große Theorie‹ ihre Gültigkeit.« (Ebd., S. 29) 5 Ebd., S. 13. Siehe auch Norbert Rath: Schöne (das). In: Joachim Ritter und Karlfried Gründer (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 8: R – Sc. Basel: Schwabe, 1992, S. 1343 – 1385, hier S. 1344 f. 6 Martin Gessmann: Philosophisches Wörterbuch. Stuttgart: Kröner, 2009, S. 648; Norbert Rath: Schöne (das). In: Joachim Ritter und Karlfried Gründer (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 8: R – Sc. Basel: Schwabe, 1992, S. 1343 – 1385, hier S. 1345. 7 Konrad Paul Liessmann: Schönheit. Wien: Facultas WUV, 2009, S. 15; Norbert Rath: Schöne (das). In: Joachim Ritter und Karlfried Gründer (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 8: R – Sc. Basel: Schwabe, 1992, S. 1343 – 1385, hier S. 1345; Ursula Franke: Schönheit. In: Wolfhart Henckmann und Konrad Lotter (Hrsg.): Lexikon der Ästhetik. München: Beck, 1992, S. 214 – 218, hier S. 214. 8 Konrad Lotter: Moralisch-Schöne, das. In: Wolfhart Henckmann und Konrad Lotter (Hrsg.): Lexikon der Ästhetik. München: Beck, 1992, S. 168 – 169, hier S. 168. 9 Ursula Franke: Schönheit. In: Wolfhart Henckmann und Konrad Lotter (Hrsg.): Lexikon der Ästhetik. München: Beck, 1992, S. 214 – 218, hier S. 214; Norbert Rath: Schöne (das). In: Joachim Ritter und Karlfried Gründer (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 8: R – Sc. Basel: Schwabe, 1992, S. 1343 – 1385, hier S. 1345. 10 Konrad Paul Liessmann: Schönheit. Wien: Facultas WUV, 2009, S. 13, S. 18. 11 Ebd., S. 19.
Das Schöne – ein ästhetikgeschichtlicher Überblick
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wohl im großen Ganzen als auch im Kleinen und Einzelnen.12 Entsprechend wird der Mensch als eine harmonische Ordnung von differierenden Teilen – Seele, Vernunft, Körper – gedacht, die sich im Einklang miteinander in den übergeordneten kosmischen Zusammenhang einfügen, sofern sie Anteil an dieser Idee des Schönen haben.13 In der sinnlichen Welt wirkt die Schönheit entsprechend ihrer Etymologie – ›schön‹ leitet sich von »›scheinen‹, ›glänzen‹ […] und ›schauen‹«14 her – auf den sie fasziniert betrachtenden Menschen angenehm und anziehend.15 Sie soll aber nicht um ihretwillen als etwas Materielles und Irdisches gefallen, sondern vielmehr zwischen dem Menschen und dem Göttlichen vermitteln und stufenweise zur Erkenntnis der Idee der Schönheit zurückführen, die in kontemplativer Schau erfahren werden kann.16 17 Dieses Konzept, wie es gerade in Grundzügen umrissen wurde, beeinflusst die Vorstellungen vom Schönen bis ins 18. Jahrhundert hinein und wirkt dort zunächst in der »rational objektiv[en]« (K: S. 277) Sichtweise nach der LeibnizWolff ’schen Metaphysik fort, in deren Tradition etwa »Baumgarten, Mendelssohn und die ganze Schar der Vollkommenheitsmänner« (K: S. 277) – so Schiller – stehen. Das Schöne wird aus der Vernunft abgeleitet und gemäß der Tradition objektiv durch Form, Harmonie, Maß und Ordnung bestimmt, durch Eigenschaften, die der Struktur des Gegenstands selbst zugeschrieben werden und welche die Vollkommenheit der göttlichen Ordnung abbilden sollen. Im Zuge der europäischen Aufklärung und des englischen Sensualismus kommt eine neue Zugangsweise zum Schönen auf, die der »Großen Theorie« Konkurrenz 12 Vgl. ebd, S. 19. 13 Zur Teilhabe an der Idee des Schönen siehe: Ursula Franke: Schönheit. In: Wolfhart Henckmann und Konrad Lotter (Hrsg.): Lexikon der Ästhetik. München: Beck, 1992, S. 214 – 218, hier S. 214. 14 Gerhard Schweppenhäuser : Ästhetik: philosophische Grundlagen und Schlüsselbegriffe. Frankfurt a. M.: Campus, 2007, S. 66. 15 Ursula Franke: Schönheit. In: Wolfhart Henckmann und Konrad Lotter (Hrsg.): Lexikon der Ästhetik. München: Beck, 1992, S. 214 – 218, hier S. 214 f.; Renate Reschke: Schön/Schönheit. In: Karlheinz Barck u. a. (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 5: Postmoderne – Synästhesie. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2003, S. 390 – 436, hier S. 404. 16 Ursula Franke: Schönheit. In: Wolfhart Henckmann und Konrad Lotter (Hrsg.): Lexikon der Ästhetik. München: Beck, 1992, S. 214 – 218, hier S. 214 f.; Renate Reschke: Schön/Schönheit. In: Karlheinz Barck u. a. (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 5: Postmoderne – Synästhesie. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2003, S. 390 – 436, hier S. 404. 17 Vgl. weiter: Ernesto Grassi: Die Theorie des Schönen in der Antike. Köln: DuMont, 1980; Władysław Tatarkiewicz: Die Ästhetik der Antike. Basel: Schwabe, 1979. Im Mittelalter wird diese Schönheitskonzeption in christlich-theologischer Gestalt fortgeführt. Zu den Schönheitsvorstellungen des Mittelalters siehe Rosario Assunto: Die Theorie des Schönen im Mittelalter. Köln: DuMont, 1996; Władysław Tatarkiewicz: Die Ästhetik des Mittelalters. Basel: Schwabe, 1980.
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Voraussetzung zur »doppelten Ästhetik« Schillers
macht und sie allmählich abzulösen beginnt.18 Die neue »sinnlich subjektiv[e]« (K: S. 277) Konzeption, der Burke, Hume, Shaftesbury oder auch Hutcheson verpflichtet sind, fasst Schönheit nicht mehr als Idee oder vernunftgegeben auf, sondern als allein durch das Individuum sinnlich erfahrbares Phänomen. Diese beiden konkurrierenden und unversöhnt nebeneinander stehenden Schönheitsvorstellungen des 18. Jahrhunderts führt Kant schließlich in seiner Kritik der Urteilskraft im Paradoxon der »subjektiven Allgemeingültigkeit«19 – Schiller nennt diesen Ansatz »subjektiv rational« (K: S. 277) – zusammen.20 Schiller selbst grenzt sich in den Kallias-Briefen, seiner ersten größeren Abhandlung über das Schöne, das für ihn die Idee der Harmonie, Einheit und Totalität des Menschen symbolisiert, sowohl von der rationalistischen als auch der sensualistischen Sichtweise, letztendlich aber auch von jener seines Lehrers Kant ab, indem er seinen eigenen Schönheitsbegriff »sinnlich objektiv« (K: S. 277) zu definieren versucht. »Es ist interessant zu bemerken […]«, schreibt er an seinen Freund Christian Gottfried Körner, »daß meine Theorie eine vierte mögliche Form ist, das Schöne zu erklären.« (K: S. 277) Dieser sinnlich-objektiven Zugangsweise zufolge kann der Mensch das Schöne einerseits nur sinnlich in der Welt der Erscheinungen erfahren. Andererseits strebt Schiller danach, dieses sinnliche Schöne aus einer höheren Vernunftidee des Schönen objektiv herzuleiten, was ihm jedoch, wie er selbst eingesteht, nicht gelingt.21 Der Widerspruch zwischen einem sinnlich-erfahrbaren Schönen und einem objektiven Schönen, an dem Schiller weiterhin festhält, lässt ihn in Über die ästhetische Erziehung des Menschen zwischen zwei Begriffen des Schönen un18 Konrad Paul Liessmann: Schönheit. Wien: Facultas WUV, 2009, S. 29; Renate Reschke: Schön/Schönheit. In: Karlheinz Barck u. a. (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 5: Postmoderne – Synästhesie. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2003, S. 390 – 436, hier S. 396 ff. 19 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. In: Wilhelm Weischedel (Hrsg.): Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Bd. 9. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1977, S. 73 – 457, hier S. 129, Herv. i. O. 20 Zu Kants Auseinandersetzung mit »diese[n] zwei konträren Positionen« siehe: Michael Hauskeller : Was ist Kunst? Positionen der Ästhetik von Platon bis Danto. München: Beck, 1998, S. 34. 21 An Körner schreibt Schiller : »Die Schwierigkeit einen Begriff der Schönheit objektiv aufzustellen und ihn aus der Natur der Vernunft völlig a priori zu legitimieren, so daß die Erfahrung ihn zwar durchaus bestätigt, aber daß er diesen Ausspruch der Erfahrung zu seiner Gültigkeit gar nicht nötig hat, diese Schwierigkeit ist fast unübersehbar. Ich habe wirklich eine Deduktion meines Begriffs vom Schönen versucht, aber es ist ohne das Zeugnis der Erfahrung nicht auszukommen.« (K: S. 276 f.) Zur Objekt-Subjekt-Problematik bei Schiller vgl. Andreas Wirth: Das schwierige Schöne: zu Schillers Ästhetik. Auch eine Interpretation der Abhandlung »Über Matthissons Gedichte« (1794). Bonn: Grundmann, 1975, S. 65 – 71; Georg Römpp: Schönheit als Erfahrung von Freiheit. Zur Transzendentallogischen Bedeutung des Schönen in Schillers Ästhetik. In: Kant-Studien. Philosophische Zeitschrift der Kant-Gesellschaft 1998, S. 428 – 445.
Das Erhabene – ein ästhetikgeschichtlicher Überblick
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terscheiden, nämlich zwischen einer »Schönheit in der Idee« (ÄE: S. 615) und einer »Schönheit in der Erfahrung« (ÄE: S. 616). Die Idee der Schönheit, nämlich die Harmonie des Menschen mit sich und der Welt, ist in der Wirklichkeit nicht wiederzufinden und Schiller beginnt daran zu zweifeln, »ob das, was in der Erfahrung schön heißt, mit Recht diesen Namen führe« (ÄE: S. 591). Schillers menschenfreundliche, aber letztlich utopische Schönheitsvorstellung, die er im Rahmen der Klassik und des deutschen Idealismus mit anderen Denkern teilt, ist mit Hoffnungen und Ansprüchen aufgeladen, die das Schöne angesichts geschichtlicher Erfahrungen, welche alles andere als harmonisch sind, nicht erfüllen kann und an denen es schlussendlich scheitern muss:22 Mit den Ereignissen der Französischen Revolution gerät der Begriff des Schönen in Philosophie und Ästhetik gegen Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts in eine Krise, welche sich in den größtenteils von Skepsis und Verzicht geprägten philosophischen und literarischen Diskursen im 20. Jahrhundert fortsetzt, die diese Thematik als »Trauerarbeit«23 oder als Verlusterfahrung fokussieren.24 Eine Welt, in der Auschwitz und der Zweite Weltkrieg stattgefunden haben, ist mit der Idee der Schönheit nicht zu vereinigen,25 die Sehnsucht nach ihr bleibt aber bestehen. Ganz in diesem Sinne ordnet die vorliegende Arbeit Uwe Johnsons Romane ein: Sie gestalten die Spannung zwischen der Sehnsucht nach dem Schönen einerseits und der Erkenntnis ihres unwiederbringlichen Verlusts andererseits.
3.2
Das Erhabene – ein ästhetikgeschichtlicher Überblick
Das Erhabene (gr. hypsos, lat. sublimis)26 steht im Laufe seiner Begriffsgeschichte in sehr verschiedenen kontextuellen Bedeutungszusammenhängen, so dass es sich einer vereinheitlichenden Beschreibung entzieht.27 Vorsichtig formuliert kann man das Erhabene als »Figur der Überschreitung«28 bezeichnen.29 22 Renate Reschke: Schön/Schönheit. In: Karlheinz Barck u. a. (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 5: Postmoderne – Synästhesie. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2003, S. 390 – 436, hier S. 414 f. 23 Ebd., S. 414. 24 Ebd., S. 415 ff., S. 434 ff. 25 Michael Hofmann: Zur Aktualität einer Poetik des Erhabenen. Schiller, Hugo, Johnson, Tabori. In: Weimarer Beiträge. Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturtheorie 2 (2003), S. 202 – 219, hier S. 203, S. 213. 26 Manfred Weinberg: Erhabenes/Erhaben. In: Achim Trebeß (Hrsg.): Metzler Lexikon Ästhetik: Kunst, Medien, Design und Alltag. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2006, S. 97. 27 Ebd., S. 97. 28 Ebd., S. 97. 29 Grundlegend für die folgenden Ausführungen sind auch: Renate Homann: Erhaben, das
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Voraussetzung zur »doppelten Ästhetik« Schillers
Seinen Ursprung hat das Erhabene in der antiken Rhetorik. Der wichtigste antike Text, der vom Erhabenen handelt, ist Peri hypsous (Vom Erhabenen) des Pseudo-Longinos aus dem ersten Jahrhundert nach Christus.30 Dort erscheint es als ein rhetorisches Stilmittel, das auf den Rezipienten »mitreißend […] wie Feuer und Sturm«31 wirken und seine »Seele erheben[]«32 soll.33 Nachdem Pseudo-Longinos’ Schrift Vom Erhabenen über Jahrhunderte kaum zur Kenntnis genommen wurde,34 entdeckt Boileau sie im 17. Jahrhundert im Rahmen der Vorphase des als ›Querelle des anciens et des modernes‹ bezeichneten Literaturstreits wieder, überträgt sie unter dem Titel Trait¦ du sublime (1674) und verhilft ihr damit zu neuer Bekanntheit und »Popularität«.35 Er entwickelt in Anlehnung an den antiken Text eine wirkungsästhetische erhabene Darstellungsform des »beau d¦sordre«,36 der »schönen Unordnung«,37 die auf ambi-
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Erhabene. In: Joachim Ritter und Karlfried Gründer (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 2: D – F. Basel: Schwabe, 1972, S. 624 – 636; Jörg Heininger : Erhaben. In: Karlheinz Barck u. a. (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 2: Dekadent – Grotesk. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2001, S. 275 – 310; Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne: Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart, Weimar : Metzler, 1995; Karl Albert: Philosophie der Kunst. Bd. 2. Sankt Augustin: Academia Verlag, 1989, S. 13 – 240; Gerhard Schweppenhäuser : Ästhetik: philosophische Grundlagen und Schlüsselbegriffe. Frankfurt a. M.: Campus, 2007, S. 82 – 98. Einen guten Überblick über die geschichtliche Entwicklung des Erhabenen bieten auch die folgenden Abhandlungen: Philip Shaw : The Sublime. London: Routledge, 2006; John Gerard Moore: Wonder and Sublimity. Dissertation, Emory University, 1998; G¦rard Raulet (Hrsg.): Von der Rhetorik zur Ästhetik: Studien zur Entstehung der modernen Ästhetik im 18. Jahrhundert. Rennes: Philia, 1992; Ronald Düker : Kleine Geschichte des ozeanischen Gefühls. In: Gerburg Treusch-Dieter, Thomas Knöfel und Hans Dieter Bahr (Hrsg.): Faszination – Schönheit – Religion. Tübingen: Konkursbuch-Verlag, 1998, S. 49 – 93; Pierre Hartmann: Du sublime (de Boileau Schiller). Strasbourg: Presses Univ. de Strasbourg, 1998; Stefanie Voigt: Erhabenheit: Über ein großes Gefühl und seine Opfer. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2011. Vgl. Christine Pries: Einleitung. In: Christine Pries (Hrsg.): Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn. Weinheim: VCH, Acta Humaniora, 1989, S. 1 – 30, hier S. 6. Jörg Heininger: Erhaben. In: Karlheinz Barck u. a. (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 2: Dekadent – Grotesk. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2001, S. 275 – 310, hier S. 281. Ebd., S. 281. Manfred Weinberg: Erhabenes/Erhaben. In: Achim Trebeß (Hrsg.): Metzler Lexikon Ästhetik: Kunst, Medien, Design und Alltag. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2006, S. 97. »Obgleich Peri hypsous bereits in der Renaissance wiederentdeckt […] wurde, belegt seine Erwähnung in zeitgenössischen Quellen, daß er kaum mehr war als ein Text neben anderen.« (Jörg Heininger : Erhaben. In: Karlheinz Barck u. a. (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 2: Dekadent – Grotesk. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2001, S. 275 – 310, hier S. 281) Jörg Heininger: Erhaben. In: Karlheinz Barck u. a. (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 2: Dekadent – Grotesk. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2001, S. 275 – 310, hier S. 280 f. Ebd., S. 281.
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valente Weise als eine ergreifende und zugleich erschütternde Kraft erlebt wird, als ein »je ne sais quoi«38 (»ich weiß nicht, was«),39 das durch Verstandeskräfte nicht fassbar und darstellbar ist. Beeinflusst durch die Longinos-Übertragung Boileaus, aber auch unabhängig von ihr,40 erfährt das Erhabene im England des 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts eine Bedeutungserweiterung. Bis dahin eine rhetorische und wirkungsästhetische Kategorie, wird es jetzt, etwa bei Dennis, Shaftesbury, Addison und Burke, als sinnlich und subjektiv erfahrbares Naturphänomen wahrgenommen und zugleich mit dem Eindruck des Disharmonischen, Schrecklichen, Düsteren und Unendlichen verbunden.41 Die Weite und übermenschliche Größe bestimmter Naturlandschaften wie des Meeres, der Wüsten, des Himmels oder der Gebirge versinnbildlicht die Allmacht und Unermesslichkeit Gottes.42 Der Betrachter empfindet, da er diese Größe und Macht sinnlich und verstandesgemäß nicht begreifen und erfassen kann, ein gemischtes Gefühl der ehrfürchtigen Bewunderung und des angenehmen Schreckens.43 Im deutschsprachigen Raum erarbeiten erstmals Johann Jacob Bodmer und Johann Jakob Breitinger in den 1730er und -40er Jahren den Begriff des Erhabenen systematisch.44 Bei ihnen zeichnet sich eine zunehmende »Binnendifferenzierung des Erhabenen«45 ab, die schon Addison mit seiner Unterscheidung des beruhigten, windstillen sowie des stürmischen Ozeans ausgebildet hat.46 Bodmer und Breitinger unterteilen das Erhabene nun in das »›Große‹« und in 37 Ebd., S. 281. 38 Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne: Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart, Weimar : Metzler, 1995, S. 30, S. 57 – 59, S. 69, S. 107, Herv. i. O. 39 Ebd., S. 30, S. 69, Herv. i. O. 40 Jörg Heininger: Erhaben. In: Karlheinz Barck u. a. (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 2: Dekadent – Grotesk. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2001, S. 275 – 310, hier S. 284. 41 Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne: Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart, Weimar : Metzler, 1995, S. 124; Jörg Heininger : Erhaben. In: Karlheinz Barck u. a. (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 2: Dekadent – Grotesk. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2001, S. 275 – 310, hier S. 284. 42 Jörg Heininger: Erhaben. In: Karlheinz Barck u. a. (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 2: Dekadent – Grotesk. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2001, S. 275 – 310, hier S. 284. 43 Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne: Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart, Weimar : Metzler, 1995, S. 113. 44 Jörg Heininger: Erhaben. In: Karlheinz Barck u. a. (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 2: Dekadent – Grotesk. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2001, S. 275 – 310, hier S. 286. 45 Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne: Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart, Weimar : Metzler, 1995, S. 135. 46 Ebd., S. 124 f.
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das »Ungestüme«:47 Während das »Große«, beispielsweise der »Sternenhimmel, Wüsten, Ozeane, Gebirge, Klippen, Felswände u. ä.«,48 eine angenehme Erschütterung erregt, soll das »Ungestüme«, das sich in »Naturkatastrophen, Erdbeben, Sintfluten, Vulkanausbrüchen«49 oder auch in Schiffbrüchen und Kriegseinwirkungen äußern kann,50 dem Rezipienten seine sinnliche Unterlegenheit vor Augen führen und ihn durch eine gewaltige und kraftvolle Sprache mitreißen.51 An solche Differenzierungen anknüpfend, behandelt Kant in seiner Kritik der Urteilskraft die Thematik des Erhabenen insgesamt mit am nachhaltigsten in Deutschland.52 Er unterscheidet zwischen dem Mathematisch-Erhabenen, das sich auf eine mit dem Verstand nicht zu fassende unermessliche Größe bezieht, und dem durch den Eindruck des Gewaltigen hervorgerufenen DynamischErhabenen.53 Der Anblick der Größe oder Gewalt vermittelt ein gemischtes Gefühl der »negative[n] Lust«.54 Einerseits wird die eigene Nichtigkeit und Verletzlichkeit des Menschen betont, andererseits aber mittels der Vernunft eine innerliche und geistige Erhebung über diesen verletzlichen Zustand angestrebt. In Anlehnung an Kant verfasst Schiller seine Ästhetik des Erhabenen und führt zugleich entscheidende Bedeutungserweiterungen ein.55 Während Kant zur Illustrierung vornehmlich Phänomene der Natur nennt, stellt Schiller den Begriff des Erhabenen in den Zusammenhang mit der Geschichte. Für Schiller präsentieren sich, wie in Kapitel 5.1 expliziert, die geschichtlichen Ereignisse selbst als eine unbegreifliche, zerstörerische und Leid auslösende Macht, der mittels der Vernunft standgehalten werden soll. Nachdem das Erhabene im 19. Jahrhundert nochmals einen Aufschwung erlebt und, zwischen dem Komischen, Grotesken und Hässlichen oszillierend, unterschiedliche Bedeutungen annimmt,56 kann man im 20. Jahrhundert zu-
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Ebd., S. 135. Ebd., S. 135. Ebd., S. 135. Ebd., S. 135. Ebd., S. 135. Vgl. auch Sylvie Hurstel: Zur Entstehung des Problems des Erhabenen in der Ästhetik des 18. Jahrhunderts. J.J. Winckelmann und G.E. Lessing. In: G¦rard Raulet (Hrsg.): Von der Rhetorik zur Ästhetik: Studien zur Entstehung der modernen Ästhetik im 18. Jahrhundert. Rennes: Philia, 1992, S. 108 – 144. Vgl. Jörg Heininger : Erhaben. In: Karlheinz Barck u. a. (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 2: Dekadent – Grotesk. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2001, S. 275 – 310, hier S. 288. Vgl. ebd., S. 294. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. In: Wilhelm Weischedel (Hrsg.): Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Bd. 9. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1977, S. 73 – 457, hier S. 166. Siehe hierzu S. 102, Anm. 5 dieser Arbeit. Jörg Heininger: Erhaben. In: Karlheinz Barck u. a. (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe
Das Erhabene – ein ästhetikgeschichtlicher Überblick
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nächst ein Desinteresse an der Thematik des Erhabenen beobachten, was mit der Kritik an Religion und Metaphysik seit Marx, Kierkegaard, Nietzsche und Feuerbach und der zunehmenden Bedeutung von Naturwissenschaft und Technik zu erklären ist,57 mittels derer Natur als berechenbar und beherrschbar erscheint. Erst in den 1970er Jahren erlangt das Erhabene durch die Denker der sogenannten Postmoderne eine neue Aktualität, besonders durch FranÅois Lyotards Kant-Interpretation und seine Auseinandersetzung mit der avantgardistischen Malerei Barnett Newmans.58 Auch Adorno beschäftigt sich in seiner Ästhetischen Theorie von 1970 mit Kants Analytik des Erhabenen.59 Lyotard und Adorno deuten das Erhabene, bei aller Unterschiedlichkeit ihres Denkens,60 vor dem Hintergrund der geschichtlichen Ereignisse des 20. Jahrhunderts, des Zweiten Weltkriegs und ganz besonders des Traumas Auschwitz61 als das Nicht-Darstellbare, mit Verstandeskräften nicht zu Fassende.62 Seit seiner Aktualisierung in den 1970er Jahren – in letzter Zeit lebt auch das Interesse am Naturerhabenen neu auf63 – wird das Erhabene als ästhetische
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(ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 2: Dekadent – Grotesk. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2001, S. 275 – 310, hier S. 297. Renate Homann: Erhaben, das Erhabene. In: Joachim Ritter und Karlfried Gründer (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 2: D – F. Basel: Schwabe, 1972, S. 624 – 636, hier S. 635. Jörg Heininger: Erhaben. In: Karlheinz Barck u. a. (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 2: Dekadent – Grotesk. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2001, S. 275 – 310, hier S. 275, 277, 279 f. Vgl. auch Jochen Hörisch: Der ästhetische Ausnahmezustand: Die Debatte über das Erhabene in Frankreich. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken (Sonderheft) 43 (1989), S. 923 – 929. Jörg Heininger: Erhaben. In: Karlheinz Barck u. a. (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 2: Dekadent – Grotesk. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2001, S. 275 – 310, hier S. 309. Wolfgang Welsch: Adornos Ästhetik: eine implizite Ästhetik des Erhabenen. In: Christine Pries (Hrsg.): Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn. Weinheim: VCH, Acta Humaniora, 1989, S. 185 – 213, hier S. 207. Ebd., S. 205, Anm. 33; Jörg Heininger : Erhaben. In: Karlheinz Barck u. a. (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 2: Dekadent – Grotesk. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2001, S. 275 – 310, hier S. 309. Vgl. Jan Assmann: Über das Erhabene: Schiller im Licht von Kant und Mozart. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 2007, S. 166 – 182, hier S. 177. Zum Erhabenen bei Adorno und Lyotard vgl. allgemein Maria Isabel Pena Aguado: Das Erhabene als Rettungsbegriff der philosophischen Ästhetik. Eine Untersuchung zum Begriff des Erhabenen im 18. und 20. Jahrhundert bei Burke, Kant, Adorno und Lyotard. Dissertation, Würzburg 1992, S. 77 – 134. Mit den infolge der Naturzerstörung einsetzenden Naturkatastrophen, dem Klimawandel und Tsunamis wird dem Menschen trotz allen Fortschritts in Wissenschaft und Technik erneut seine Unterlegenheit und Machtlosigkeit angesichts von Naturgewalten vor Augen geführt. Letztendlich wird auch der technologische Fortschritt selbst zu einer unkontrollierbar erscheinenden Macht, wie die Atomunglücke in Tschernobyl, Six-Mile-Island und kürzlich auch in Fukushima zeigen.
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Voraussetzung zur »doppelten Ästhetik« Schillers
Kategorie immer wichtiger und ist inzwischen fester Bestandteil verschiedener Diskurse wie des ästhetisch-philosophischen, aber auch des kunsttheoretischen oder des literarischen.64 Die vorliegende Arbeit untersucht die Bedeutung der hier geschilderten Thematik für das Schaffen Uwe Johnsons und demonstriert, dass der Schriftsteller in seinen Romanen das Erhabene vor dem Hintergrund von Schillers Verständnis des Geschichts-Erhabenen interpretiert, wobei der Auschwitz-Topos eine zentrale Position einnimmt. In diesem Zusammenhang erstaunt, dass Johnson das Erhabene zu einer Zeit zu behandeln begann, als es in der philosophischen Debatte noch keinen großen Stellenwert besaß, bedenkt man, dass Ingrid Babendererde bereits 1956/57 verfasst wurde. Der literarische Diskurs kommt dem philosophischen bei der Wiederbelebung des Erhabenen zuvor. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Debatte um das Erhabene am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts von einer umfassenden Erfahrung des Verlusts handelt: der Auflösung von Werten, Sinn und Orientierung sowie von Harmonie und Einheit mit sich und der Welt. Das Erhabene ist Ausdruck unvereinbarer Differenzen des Lebens. Ob Fortschritt und Beschleunigung der modernen Welt, Kapitalismuskrise oder der Terroranschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001 – das Gefühl des Erhabenen wird zum Ausdruck der Krise und der »Grenzerfahrung«,65 der Fremdheit, Besinnungslosigkeit und Ohnmacht gegenüber den unkontrollierbaren Mächten unserer Welt, die nicht der Mensch lenkt, sondern im Gegenteil, die ihn determinieren und beherrschen.66
3.3
Die Tradition der »doppelten Ästhetik«
Die in den vorhergehenden Abschnitten separat umrissenen Kategorien des Schönen und Erhabenen treten in der Geschichte der Ästhetik in erster Linie nicht getrennt voneinander auf, sondern zusammen als wechselseitig aufeinander bezogene Komponenten innerhalb eines spannungsreichen Systems. Dies 64 Christine Pries: Einleitung. In: Christine Pries (Hrsg.): Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn. Weinheim: VCH, Acta Humaniora, 1989, S. 1 – 30, hier S. 2. 65 Christine Pries (Hrsg.): Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn. Weinheim: VCH, Acta Humaniora, 1989. Siehe auch Jörg Heininger : Erhaben. In: Karlheinz Barck u. a. (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 2: Dekadent – Grotesk. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2001, S. 275 – 310, hier S. 276. 66 Vgl. auch Jochen Hörisch: Die Kunst des Lebens und das Leben der Kunst. Überlegungen zu Schillers Konzeption einer ästhetischen Erziehung des Menschen. In: Text & Kontext. Zeitschrift für germanistische Literaturforschung in Skandinavien 28.1 (2006), S. 36 – 54, hier S. 46.
Die Tradition der »doppelten Ästhetik«
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hat Carsten Zelle in seiner Studie Die doppelte Ästhetik der Moderne,67 auf der die Ausführungen dieses Abschnitts beruhen, dargelegt. »Die Geschichte einer doppelten Ästhetik der Moderne«68 69 setzt zunächst in Frankreich im Rahmen der ›Querelle des anciens et des modernes‹ bzw. deren Vorgeschichte ein, verlagert sich dann nach England und ab 1750 zunehmend auch nach Deutschland.70 Bevor die Kategorie des Erhabenen zu jener des Schönen hinzutritt und sich ein dialektisches System auszubilden beginnt, herrscht im französischen Klassizismus der Kanon des Schönen, die sogenannte ›doctrine classique‹ vor, welche am zu dieser Zeit modernen Weltbild des cartesianischen Rationalismus sowie an der christlichen Wahrheit ausgerichtet ist.71 Vorgeschrieben wird eine an der Vernunft und objektiven Kriterien orientierte regelhafte Proportionenlehre des mit dem Wahren gleichgesetzten Schönen. Die Argumentationsführung soll klar sein, der Wahrheit entsprechen und sich nur auf den Verstand beziehen, ohne darüber hinaus die Sinne oder Leidenschaften anzufachen. Rhetorische Stilmittel, die durch Ausschmückungen und bildhafte Sprache dem mündlichen Vortrag oder niedergeschriebenen Text Nachdruck und Pathos verleihen und dadurch beim Rezipienten Ergriffenheit und Enthusiasmus bewusst hervorrufen, werden als eine Bedrohung für die Ordnung und Klarheit der Repräsentation angesehen und abgelehnt. Das führt zu einer »reduktionistischen Schönheitslehre«72 und zur normativen Regelpoetik eines einfachen, klaren, ebenmäßigen, aber auch nüchternen Stils.73 Gegen diesen modernen rationalistisch-cartesianischen Begriff der Schönheit formiert sich am Ende des 17. Jahrhunderts unter Berufung auf die antike Rhetorik und insbesondere auf den durch Boileau wiederentdeckten Text Vom Erhabenen des Pseudo-Longinos eine Gegenbewegung, welche die klassizis67 Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne: Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart, Weimar : Metzler, 1995. 68 Ebd., S. 361. 69 »Die Formel einer doppelten Ästhetik war […] nicht nur in einschlägigen Forschungen zu Burke, Kant oder Hugo – am nachdrücklichsten von Odo Marquard – benutzt worden, sondern sie ließ sich bis in die ästhetikgeschichtlichen Quellen hinein zurückverfolgen, namentlich zu Schiller, der in den ästhetischen Briefen das Programm einer ›doppelten Schönheit‹ des Schönen und Erhabenen entwickelt […]« (Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne: Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart, Weimar : Metzler, 1995, S. 4). 70 Ebd., S. 123; vgl. auch Karlheinz Barck: Ästhetik/ästhetisch. In: Karlheinz Barck u. a. (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 1: Absenz – Darstellung. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2000, S. 308 – 400, hier S. 317. 71 Vgl. Karlheinz Barck: Ästhetik/ästhetisch. In: Karlheinz Barck u. a. (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 1: Absenz – Darstellung. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2000, S. 308 – 400, hier S. 317. 72 Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne: Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart, Weimar : Metzler, 1995, S. 40. 73 Ebd., S. 36 – 43.
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Voraussetzung zur »doppelten Ästhetik« Schillers
tisch-rationale Regelpoetik der Modernen als einseitig zurückweist und um eine emotional-expressive Komponente zu erweitern sucht: die des Erhabenen.74 Auf einen Vers des Horaz zurückgreifend, drückt die Opposition ihre Kritik an der rationalistischen Schönheitslehre bündig aus und formuliert zugleich eine Forderung nach ihrer Ergänzung um einen gefühlsbetonten Bestandteil:75 »Dichtung«, so heißt es bei Horaz, »besteht nicht allein in der Schönheit der Form; sie soll zärtlich,/Unwiderstehlich zu Herzen gehen und die Hörer bezaubern.«76 Die vernunftgeleitete Systematik des Schönen allein stellt also nicht zufrieden; zu ihr muss eine andere Sinneswahrnehmung treten, die mit Verstandeskräften nicht zu fassen und darzustellen ist, sondern als gewaltige Kraft auf den Menschen einwirkt und seine Gefühle erschüttert: das Erhabene.77 Diese Forderung nach Ergänzung des Schönen zeigt sich beispielhaft an Boileau, der zu Unrecht für einen Poetiker allein der »raison«78 gehalten wurde.79 Mit der zeitgleich erfolgenden Publikation zweier Schriften Boileaus im Jahre 1674, einmal der an der Regelpoetik klassizistischer Schönheit ausgerichteten Art po¦tique und zum anderen des Trait¦ du Sublime,80 wird das Programm einer »doppelten Ästhetik« eingeleitet.81 Die Schriften konfrontieren auf paradoxe Weise die klassizistische Schönheitsvorstellung mit dem sie unterwandernden Erhabenen,82 denn Boileau unterläuft den Schönheitsbegriff und mit ihm seine Kriterien der Ordnung, Klarheit, Regelmäßigkeit und Formstrenge durch das überschwängliche Durcheinander des »beau desorde«, der schönen Unordnung, bei der »man mehr vom Dämon der Dichtung hingerissen als von der Vernunft geleitet [ist]«.83 Das »je ne sais quoi«84 der Erhabenheit, also jene mitreißende und durch Vernunft nicht zu begreifende Kraft, wie in Abschnitt 3.2 beschrieben, kontrastiert mit dem »je sais«85 vernunftgeleiteter, geordneter und schöner Erkenntnis. 74 Ebd., S. 30. 75 Ebd., S. 42 f., S. 117. 76 Horaz: Ars Poetica. Lateinisch und deutsch. Einführung, Übersetzung und Erläuterung von Horst Rüdiger. Zürich: Artemis, 1961, Vs. 99 f., S. 19. 77 Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne: Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart, Weimar : Metzler, 1995, S. 30. 78 Ebd., S. 57, S. 29, Herv. i. O. 79 Ebd., S. 57, 29. 80 Ebd., S. 29, S. 45. 81 Karlheinz Barck: Ästhetik/ästhetisch. In: Karlheinz Barck u. a. (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 1: Absenz – Darstellung. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2000, S. 308 – 400, hier S. 318. 82 Ebd., S. 318. 83 Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne: Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart, Weimar : Metzler, 1995, S. 49. 84 Ebd., S. 30, Herv. i. O. 85 Ebd., S. 30, Herv. i. O.
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Die Komponente des Erhabenen wird zu diesem frühen Zeitpunkt noch nicht explizit als eine eigene, vom Schönen ausdrücklich unterscheidbare Kategorie verstanden, sondern zunächst als eine andere, von der konventionellen Schönheitsauffassung abweichende und sie erweiternde Form der Schönheit,86 was sich durch die im Anschluss an Horaz’ Vers herausgebildete Differenzierung zwischen einem erhabenen Schönheitsbegriff (»pulchrum«) und einem konventionellen Schönheitsbegriff (»dulce«) andeutet,87 ebenso durch Boileaus Konzept der »schönen Unordnung« und durch Perraults Unterscheidung zwischen »beau absolu« (Schönes) und »beau relatif« (Erhabenes).88 Die Abgrenzung zwischen dem Schönen und dem Erhabenen gestaltet sich allmählich mit der weiteren Entwicklung des Erhabenheitsbegriffs in England aus. Auch hier veranlasst die durch Boileau bekannt gewordene Schrift des Pseudo-Longinos die Dualisierung der Ästhetik und Poetik,89 und zwar geschieht dies, wie in den Abschnitten 3.1 und 3.2 erläutert, vor dem Hintergrund der sensualistisch-empiristischen Erkenntnistheorie und der mit ihr einhergehenden veränderten Auffassung vom Schönen und Erhabenen als sinnlichsubjektiv erfahrbare Phänomene. Die Trennung des Erhabenen vom Schönen und damit einen wichtigen Schritt auf dem Weg zur »doppelten Ästhetik« bereitet John Dennis (1657 – 1734) mit der Kontrastierung zweier gegensätzlicher Bebilderungen und ihnen entsprechender Empfindungen vor, die er vermutlich in ähnlicher Weise bei PseudoLonginos entdeckt hat.90 Das Schöne sowie die mit ihm einhergehende harmonische Atmosphäre angenehmen Wohlgefallens illustriert Dennis mit der Impression, die eine arkadisch-liebliche Landschaftsidylle – Dennis spricht vom »Garten Italiens«91 – bei dem Betrachter hinterlässt.92 Diesem schönen Stim86 Ebd., S. 87, S. 91, S. 95. 87 Ebd., S. 117. Vgl. auch Norbert Rath: Schöne (das). In: Joachim Ritter und Karlfried Gründer (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 8: R – Sc. Basel: Schwabe, 1992, S. 1343 – 1385, hier S. 1371. 88 Auch Bouhours, Pascal, Dubos, Crousaz und F¦nelon bilden eine »doppelte Ästhetik« aus: Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne: Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart, Weimar : Metzler, 1995, S. 30, S. 59 – 74, S. 120. Siehe auch Renate Homann: Erhaben, das Erhabene. In: Joachim Ritter und Karlfried Gründer (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 2: D – F. Basel: Schwabe, 1972, S. 624 – 636, hier S. 626. 89 Carsten Zelle: Schönheit und Erhabenheit. Der Anfang doppelter Ästhetik bei Boileau, Dennis, Bodmer und Breitinger. In: Christine Pries (Hrsg.): Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn. Weinheim: VCH, Acta Humaniora, 1989, S. 55 – 73, hier S. 63. 90 Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne: Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart, Weimar : Metzler, 1995, S. 114 f. 91 Ebd., S. 115. 92 Carsten Zelle: Schönheit und Erhabenheit. Der Anfang doppelter Ästhetik bei Boileau, Dennis, Bodmer und Breitinger. In: Christine Pries (Hrsg.): Das Erhabene. Zwischen
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mungsbild stellt er ausdrücklich die wuchtigen Gebirgszüge der Alpen und die durch ihren Anblick ausgelösten Gefühle der Bestürzung und des angenehmen Grauens gegenüber, welche ihn während einer 1688 unternommenen Reise durch die alpine Berglandschaft ergriffen haben.93 Unter dem Eindruck von Dennis’ Beschreibungen dieser gegensätzlichen Erfahrungen vollzieht Joseph Addison (1672 – 1719) einige Jahre später mit der Unterscheidung von »beauty« und »greatness«94 die terminologische Ablösung des Erhabenen vom Schönen.95 In Edmund Burkes (1729 – 1797) maßgeblich die weitere Entwicklungen in Frankreich und Deutschland beeinflussender Ästhetik96 sind die Begriffe Schönheit und Erhabenheit schließlich mit »beauty« und »sublimity«97 bezeichnet, womit schließlich »der Ästhetik des 18. Jahrhunderts ihr wesentliches Kategorienpaar vorgegeben«98 ist. Seit Beginn des 18. Jahrhunderts, vermehrt seit 1750, verlagert sich die Diskussion um eine »doppelte Ästhetik« auf den deutschsprachigen Raum.99 Konzepte einer doppelt angelegten Ästhetik rezipieren und entwerfen etwa Bodmer und Breitinger, Mendelssohn, Herder oder auch Hamann – und als Höhepunkt und eine Art Synthese der bisherigen rationalistischen und sensualistischen Diskussionen um den Ästhetikbegriff Kant in seiner 1790 publizierten Kritik der Urteilskraft, in der die Analytiken des Schönen und Erhabenen einander gegenüberstehen.100 An diese Tradition knüpft Schiller an, indem er in den 1790er Jahren und in Anlehnung an Kant ein eigenes System »doppelter Ästhetik« ausarbeitet.101 Auch die Entstehung der Ästhetik als wissenschaftliche Disziplin in Deutschland reiht sich in diese Tradition ein und ist maßgeblich im Zusam-
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Grenzerfahrung und Größenwahn. Weinheim: VCH, Acta Humaniora, 1989, S. 55 – 73, hier S. 64. Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne: Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart, Weimar : Metzler, 1995, S. 113 f. Ebd., S. 124.; Norbert Rath: Schöne (das). In: Joachim Ritter und Karlfried Gründer (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 8: R – Sc. Basel: Schwabe, 1992, S. 1343 – 1385, hier S. 1371. Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne: Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart, Weimar : Metzler, 1995, S. 116 f., S. 124 f. Ebd., S. 126. Ebd., S. 125. Carsten Zelle: Schönheit und Erhabenheit. Der Anfang doppelter Ästhetik bei Boileau, Dennis, Bodmer und Breitinger. In: Christine Pries (Hrsg.): Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn. Weinheim: VCH, Acta Humaniora, 1989, S. 55 – 73, hier S. 66, Herv. i. O. Zur Diskussion einer »doppelten Ästhetik« im deutschsprachigen Raum siehe ebd., S. 67 – 73; Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne: Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart, Weimar : Metzler, 1995, S. 10, S. 131 – 146. Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne: Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart, Weimar : Metzler, 1995, S. 126. Vgl. ebd., S. 147 – 219.
Die Tradition der »doppelten Ästhetik«
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menhang mit der oben beschriebenen Ästhetikgeschichte zu sehen.102 Vor dem Hintergrund des Leibniz-Wolff ’schen Rationalismus, der die sinnliche Erkenntnis entschieden abwertet und allein Vernunft und Logik als absolutes Erkenntnisvermögen des Menschen ansieht,103 entsteht unter dem Einfluss des englischen Sensualismus ein Bedürfnis nach einer neuen Wissenschaft, die jenen bisher vernachlässigten Bereich des menschlichen Seins erforscht. Mit der Absicht, diesen Aspekt der sinnlichen Wahrnehmung und Erkenntnis zu erkunden, begründet Alexander G. Baumgarten (1714 – 1762) ab 1750 die Ästhetik (von griechisch ›aisthesis‹ = ›sinnlich wahrnehmen‹) als neue wissenschaftliche Disziplin innerhalb der Philosophie, die nun – wenngleich auch nur als »niedere Erkenntnis« und unter Oberherrschaft der Ratio – ergänzend neben die Logik tritt.104 Die Ästhetik umfasst also nicht, wie oft angenommen, ausschließlich das Schöne, sondern nimmt sich des »gesamten Bereich[s] menschlicher Wahrnehmung und Empfindung im Gegensatz zum vergeistigten Bereich begrifflichen Denkens«105 an. Baumgarten selbst spricht in seiner Metaphysica aus dem Jahre 1739 von einer »Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis und Darstellung«106 und »Herder [beschreibt] die Rolle des Ästhetikers Baumgarten als die des Spezialisten für die menschlichen Gefühle, Affekte und Empfindungen«.107 Entsprechend dieser Neuorientierung im 18. Jahrhundert wird auch das Schöne nicht mehr in erster Linie rational-objektiv, sondern vorwiegend sensualistischsubjektiv aufgefasst. Jedoch muss als Konsequenz dieses Perspektivwechsels der bisherige Kernbereich, der im Menschen ein Gefühl der Harmonie, des Ein102 Ebd., S. 67 – 74; Karlheinz Barck: Ästhetik/ästhetisch. In: Karlheinz Barck u. a. (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 1: Absenz – Darstellung. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2000, S. 308 – 400, hier S. 321. 103 Karin Hirdina: Ästhetik/Ästhetisch. In: Achim Trebeß (Hrsg.): Metzler Lexikon Ästhetik: Kunst, Medien, Design und Alltag. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2006, S. 29 – 34, hier S. 31. 104 Ebd., S. 31; Norbert Rath: Schöne (das). In: Joachim Ritter und Karlfried Gründer (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 8: R – Sc. Basel: Schwabe, 1992, S. 1343 – 1385, hier S. 1373; Elizabeth M. Wilkinson und Leonard A. Willoughby : Schillers ästhetische Erziehung des Menschen. München: Beck, 1977, S. 24 f.; Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne: Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart, Weimar : Metzler, 1995, S. 67 – 74. 105 Terry Eagleton: Ästhetik: die Geschichte ihrer Ideologie. Stuttgart, Weimar : Metzler, 1994, S. 13. 106 Zitiert nach Karlheinz Barck: Ästhetik/ästhetisch. In: Karlheinz Barck u. a. (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 1: Absenz – Darstellung. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2000, S. 308 – 400, hier S. 324. 107 Zitiert nach ebd., S. 321. Wie es zu dem Missverständnis gekommen ist, Baumgartens Ästhetik ausschließlich als eine Lehre vom Schönen anzusehen, dazu siehe ebd., S. 322 ff. Zur Bedeutung von Baumgartens Schrift Meditationes für die Ästhetik vgl. Erwin Bartsch: Alexander Gottlieb Baumgartens Begründung einer philosophischen Ästhetik. Die Bedeutung der Magisterarbeit von Baumgarten aus dem Jahre 1735 für die Ästhetik. In: Erhard Lange (Hrsg.): Philosophie und Kunst: Kultur und Ästhetik im Denken der deutschen Klassik. Weimar : Böhlau, 1987, S. 59 – 65.
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Voraussetzung zur »doppelten Ästhetik« Schillers
klangs und freudigen Vergnügens erweckt, um ein konträres Feld der Sinne und Gefühle erweitert werden: nämlich um all jene Empfindungen, die anders als das Schöne in ungeordneten, chaotischen oder disharmonischen Bahnen verlaufen und mit Unruhe und Aufwallung, Ergriffenheit und Bestürzung einhergehen. Dieser bisher vernachlässigte Untersuchungsgegenstand der Ästhetik leitet sich aus eben jenen Kategorien her, die sich seit der ›Querelle‹ herausgebildet haben, und umfasst die Erschütterung angesichts des Naturerhabenen ebenso wie die Reflexion der Wendung des »je ne sais quoi«.108 Im 19. Jahrhundert wird die Vorstellung der »doppelten Ästhetik«, zum Teil in gewandelter Form und mit anderen Begrifflichkeiten, weiterhin in zahlreichen Abhandlungen erörtert: Sie tritt, um mit Zelle einige Beispiele zu nennen, bei Friedrich Schlegel als Gegensatz des Schönen und Interessanten/Charakteristischen in Erscheinung,109 Victor Hugo wiederum konfrontiert das Schöne mit dem Grotesk-Erhabenen110 und Friedrich Nietzsche beschreibt sie als Polarität zwischen dem Apollinischen und Dionysischen.111 Für die Thematik dieser Arbeit ist bedeutsam, dass die »doppelte Ästhetik« nicht nur innerhalb der Philosophie erörtert wird, sondern darüber hinaus seit Beginn des 19. Jahrhunderts auch in den Literatur- und Kunstwissenschaften.112 Dieses in Grundzügen beschriebene Phänomen lässt sich, so die These dieser Arbeit, in den Romanen Uwe Johnsons entdecken, der sich an Schillers »doppelter Ästhetik« orientiert, diese in literarische Argumentationsmuster umsetzt und für die Gegenwart diskutiert.
108 Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne: Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart, Weimar : Metzler, 1995, S. 70 f., S. 73.; Karlheinz Barck: Ästhetik/ ästhetisch. In: Karlheinz Barck u. a. (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 1: Absenz – Darstellung. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2000, S. 308 – 400, hier S. 322 – 325. 109 Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne: Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart, Weimar : Metzler, 1995, S. 219 – 222. Vgl. zum Gegensatz von ›schön‹ und ›charakteristisch‹ bzw. ›interessant‹ Ursula Franke: Kunst. In: Wolfhart Henckmann und Konrad Lotter (Hrsg.): Lexikon der Ästhetik. München: Beck, 1992, S. 134 – 137, hier S. 135. 110 Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne: Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart, Weimar : Metzler, 1995, S. 291 – 304. 111 Ebd., S. 319, S. 322, S. 338, S. 346, S. 349, S. 356. 112 Ebd., S. 3 f., vgl. ausführlich S. 361 ff.
Schillers »doppelte Ästhetik«
3.4
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Schillers »doppelte Ästhetik« – Rahmenbedingungen ihrer Entstehung
Schillers philosophische Ästhetik113 mit den Komponenten des Schönen und Erhabenen reiht sich in die seit dem 17. Jahrhundert ausgebildete, in Abschnitt 3.3 explizierte Tradition einer »doppelten Ästhetik«114 ein.115 In Anlehnung an diese Überlieferung zweier Schönheitsbegriffe, aus der sich die Antagonisten des Schönen und Erhabenen entwickeln,116 spricht Schiller in Über die ästhetische Erziehung des Menschen von einer im überirdischen »Ideal-Schönen« (ÄE: S. 616) zunächst noch ungeteilten, in der Realität jedoch in zwei Teile zerfallenden »doppelte[n] Schönheit« (ÄE: S. 618) oder auch von einer »zweifache[n] Schönheit« (ÄE: S. 618). Diese bestimmt er näher als »schmelzende Schönheit« (ÄE: S. 618, vgl. auch S. 717) und »energische Schönheit« (ÄE: S. 617), wobei erstere der eigentlichen Schönheit, letztere dagegen dem Erhabenen entspricht,117 wie etwa aus den Augustenburger Briefen hervorgeht (AB: S. 520). Beide zusammen wirken entsprechend dem »doppelte[n] Bedürfnis der Menschheit« (ÄE: S. 618), gewissermaßen als »Doppelsinn des Lebens«,118 innerhalb seiner Ästhetik als wechselseitig aufeinander bezogene Bestandteile. Dieser Logik folgend, verwundert es nicht, dass man den Terminus ›Ästhetik‹ – für Schiller ein »durch Unwissenheit so sehr gemißbrauchte[s] Wort[]« (ÄE: S. 633, Anm. 13) – nicht allein im begrifflichen Umfeld des Schönen antrifft, sei es als »ästhetische[r] Schein« (ÄE: S. 667), »ästhetische[r] Spieltrieb« (ÄE: S. 671) oder »ästhetische[r] Zustand[]« (ÄE: S. 636, S. 633). ›Ästhetik‹ meint für Schiller darüber hinaus auch »ästhetisch erhaben« (ÜdP: S. 450). So thematisiert der Autor im Kontext seiner Ausführungen zum Pathetischen »[d]ie ästhetische Kraft, womit uns das Erhabene […] ergreift« (ÜdP: S. 449, vgl. auch S. 445) und beteuert, Leiden sei »nur ästhetisch, in so fern es erhaben ist« (ÜdP: S. 428). Folglich wird die den Schmerz auslösende »furchtbare Macht der Natur 113 Zu Schiller als Philosoph vgl. Frederick C. Beiser : Schiller as Philosopher : a Re-Examination. Oxford u. a.: Clarendon Press, 2005, S. 7 ff.; Rüdiger Safranski: Schiller als Philosoph. Berlin: WJS Verlag, 2005. 114 Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne: Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart, Weimar : Metzler, 1995. 115 Vgl. ebd., S. 147 – 219. 116 Vgl. ebd., S. 87, S. 91, S. 94 – 96, S. 120. 117 Carsten Zelle: Über das Erhabene (1801). In: Matthias Luserke-Jaqui (Hrsg.): SchillerHandbuch: Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2005, S. 479 – 490, hier S. 487; Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne: Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart, Weimar : Metzler, 1995, S. 119, S. 144, S. 170, S. 174 f.; Wilfried Noetzel: Schillers Sozialästhetik. London: Turnshare, 2008, S. 59. 118 Friedrich Schiller : Wallenstein. Ein dramatisches Gedicht. In: Frithjof Stock (Hrsg.): Friedrich Schiller : Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 4. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag, 2000, S. 439.
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[…] ästhetisch von uns als Erhaben [sic!] beurteilt« (VE: S. 400, vgl. auch S. 419). In dieser Situation regiert die dem Bereich des Erhabenen angehörende »ästhetische Würde« (NSD: S. 766, Anm. 21) den Menschen. Über diese Feststellungen hinaus belegt aber auch sein Hinweis in den ästhetischen Briefen auf Burkes »Untersuchungen über den Ursprung unsrer Begriffe vom Erhabenen und Schönen« (ÄE: S. 611, Anm. 7), dass Schiller mit dem Konzept einer »doppelten Ästhetik« vertraut gewesen ist. Insbesondere Kants 1790 erschienene Kritik der Urteilskraft, die eine Analytik des Schönen und des Erhabenen enthält, hat ihn maßgeblich beeinflusst, wie er selbst in einem Brief an seinen Gönner, den Prinzen von Augustenburg, betont: »Zwar will ich Ihnen nicht verbergen, daß es größtenteils Kantische Grundsätze sind, auf denen die nachfolgenden Behauptungen ruhen werden« (ÄE: S. 557). Daran anknüpfend verfasst er in den 1790er Jahren seine eigene Ästhetik.119 Schiller tritt mit einer anthropologischen Fragestellung an Kants Philosophie heran,120 um die sein Denken seit der Karlsschulzeit der 1770er Jahre, also lange vor der Begegnung mit der Kritik der Urteilskraft, kreist: das ungelöste Problem der menschlichen Doppelnatur und die Frage nach den Möglichkeiten der Glückseligkeit und Freiheit. Im Folgenden wird skizziert, worum es bei dieser Problematik geht und in welcher Weise sie mit der Ästhetik des Schönen auf der einen und der Ästhetik des Erhabenen auf der anderen Seite verbunden ist. Schiller begreift den Menschen, die Konzeption der philosophierenden Ärzte des 18. Jahrhunderts aufgreifend, als ein in sich gespaltenes und zerrissenes Wesen mit zwei gegensätzlichen Seiten oder Trieben, Vernunft und Natur, die aber grundsätzlich als Einheit zu denken sind.121 Diese Vorstellung vom Men119 Wenn Kant für Schiller sicherlich eine wichtige Quelle darstellt, so ist sie doch nicht seine einzige. So spielen etwa platonisches und neuplatonisches Ideengut eine Rolle ebenso wie die Philosophie Adam Fergusons oder Shaftesburys. Siehe hierzu Hermann Röhrs: Schillers Philosophie des Schönen. In: Hermann Röhrs (Hrsg.): Bildungsgeschichte und Bildungsphilosophie. Weinheim: Deutscher Studien Verlag, 1999, S. 482 – 498, hier S. 485, S. 487. Den Einfluss Fichtes betont hingegen Hans-Georg Pott: Die schöne Freiheit. Eine Interpretation zu Schillers Schrift ›Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen‹. München: Fink, 1980. Zu Schillers Quellen vgl. auch Richard Schimanski: Kunst als Bedingung Mensch zu sein. Kurze Einführung in Schillers Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen. London: Turnshare, 2006, S. 9 ff. 120 Vgl. Dieter Henrich: Der Begriff der Schönheit in Schillers Ästhetik. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 11 (1957), S. 527 – 547, hier S. 533; Christine Lubkoll: Moralität und Modernität. Schillers Konzept der ›schönen Seele‹ im Lichte der literaturhistorischen Diskussion. In: Walter Hinderer (Hrsg.): Friedrich Schiller und der Weg in die Moderne. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2006, S. 83 – 99, hier S. 88. 121 Zur Anthropologie bei Schiller vgl. Ludwig Stockinger : »Es ist der Geist, der sich den Körper baut« – Schillers philosophische und medizinische Anfänge im anthropologiegeschichtlichen Kontext. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft (Sonderheft) 2005, S. 75 – 87; Kwang-Myung Kim: »Die vollständige anthropologische Schätzung« bei Schiller in ihrer Bedeutung für seine Ästhetik: eine Interpretation zu
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schen als ein sinnlich-vernünftiges Doppelwesen durchzieht Schillers Denken wie ein roter Faden und lässt sich bis zu den frühen vorkantischen Dissertationsschriften aus der Karlsschulzeit zurückverfolgen. So heißt es in Philosophie der Physiologie: »Meine Seele ist nicht allein ein denkendes; Sie [sic!] ist auch ein empfindendes Wesen.« (PdP: S. 58) In Über die Krankheit des Eleven Grammont wiederum spricht Schiller vom »Band zwischen Körper und Seele« (KEG: S. 59) und in Versuch über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen zeigt er, wie sich die sinnliche und geistige Seite des Menschen gegenseitig in ihren Wirkungen beeinflussen (VZ: z. B. S. 124). Dieser Doppelwesen-Entwurf bildet die Basis von Schillers ästhetischen Schriften und begegnet ab 1790, teils unter verschiedenen Begrifflichkeiten – etwa Vernunft und Natur, Formtrieb und Stofftrieb –, in nahezu jeder seiner Abhandlungen. Besonders in den ästhetischen Briefen analysiert Schiller diese Thematik ausführlich und sucht sie mit antithetischen Begriffsreihen zu fassen (ÄE: S. 592 – 599). Dem antagonistischen Schema zufolge zielt der Terminus der Vernunft bei Schiller auf den übersinnlich-geistigen Teil im Menschen und umfasst die Bereiche Unendlichkeit, Idee, Freiheit, Geist, Form, Gestalt, Person, Pflicht, Sittengesetz und Moral. Der entgegengesetzte Begriff der Natur impliziert seine sinnliche Seite mit den Aspekten Endlichkeit, Realität, Empirie, geschichtliche Wirklichkeit, Zeit und Raum, Schranken, Zwang, Neigung, Gefühl, Materie, Stoff, Zustand und Leben.122 Im Rückgriff auf das im 18. Jahrhundert weitverbreitete geschichtsphilosophische Modell sind für Schiller diese zwei Seiten in einem längst vergangenen goldenen Zeitalter, das er wie seine Zeitgenossen im Topos eines idealisierten Griechenlands verkörpert sieht, in schöner Harmonie vereint. In diesem paradiesischen beglückenden Kindeszeitalter der Menschheit ist das Individuum noch mit sich und der Welt versöhnt. Im Laufe des Zivilisationsprozesses und der mit ihm einhergehenden Spezialisierung und Arbeitsteilung driften Vernunft und Natur jedoch auseinander. Im sechsten der ästhetischen Briefe beschreibt Schiller diesen Entwicklungs- und Entfremdungsprozess in aller Ausführlichkeit (ÄE: S. 570 ff.).123 Schillers philosophisch-ästhetischen Schriften. Dissertation, Julius-Maximilians-Universität Würzburg, 1985, besonders S. 23 – 33; Wolfgang Riedel: Die Anthropologie des jungen Schiller : Zur Ideengeschichte der medizinischen Schriften und der »Philosophischen Briefe«. Würzburg: Königshausen & Neumann, 1985. 122 Zu den antithetischen Begriffsreihen vgl. die Übersicht bei Elizabeth M. Wilkinson und Leonard A. Willoughby : Schillers ästhetische Erziehung des Menschen. München: Beck, 1977, S. 76; Rose Riecke-Niklewski: Die Metaphorik des Schönen: eine kritische Lektüre der Versöhnung in Schillers »Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen«. Tübingen: Niemeyer, 1986, S. 24, S. 40, S. 112. 123 Zur Aktualität von Schillers Zeitdiagnose vgl. Wilfried Noetzel: Schillers Sozialästhetik. London: Turnshare, 2008, S. 72. Noetzel spricht von einer »faszinierende[n] Entdeckung eines überraschend modernen Neuhumanisten« (ebd., S. 73).
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Der Mensch, ursprünglich eine harmonische Einheit, ist jetzt ein zerrissenes sinnlich-vernünftiges, zwischen den zwei Antagonisten Vernunft und Natur hinund hergerissenes und nach unterschiedlichen Richtungen determiniertes Wesen. Anders als in der Antrittsvorlesung Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? mit ihrer optimistisch aufklärerischen Haltung erblickt Schiller sein eigenes Zeitalter nicht mehr als Ziel- und Höhepunkt der Geschichte, sondern sieht insbesondere seit der Französischen Revolution, deren Inhalte er befürwortet, deren gewaltsame Mittel er jedoch verabscheut, die Menschheit zum tiefsten moralischen Punkt herabgestürzt.124 Doch nach Schillers Überzeugung ist der Mensch nicht dazu bestimmt, ein in zwei Pole gespaltenes Geschöpf zu sein, sondern einem ganzheitlichen Konzept aus Geist und Körper zu folgen, das es in einem zukünftigen noch zu schaffenden elysischen Freiheitsstaat wieder herzustellen gilt (vgl. ÄE: S. 578). Diese Wunschvorstellung vom Menschen als einer Einheit hat Schiller schon früh formuliert: »Dies ist die wunderbare und merkwürdige Sympathie, die die heterogenen Prinzipien des Menschen gleichsam zu Einem Wesen macht, der Mensch ist nicht Seele und Körper, der Mensch ist die innigste Vermischung dieser beiden Substanzen.« (VZ: S. 149, Herv. i. O.) Auf die zentrale Frage, wie man die gestörte Harmonie und das feindselige Verhältnis der beiden Antagonisten Natur und Vernunft aufheben und zwischen ihnen vermitteln kann, schwebt Schiller schon in den medizinischen Dissertationen als Antwort eine »Mittelkraft« (PdP: S. 41) oder eine »Mittellinie« (VZ: S. 123) vor, eine Verbindung also, »die zwischen den Geist und die Materie tritt und beide verbindet« (PdP: S. 40). Noch weiß er zu diesem Zeitpunkt nicht, wie eine solche Konnexion zu denken ist und was sie ausmacht. So heißt es in Versuch über den Zusammenhang: »Aber die Tätigkeit der menschlichen Seele ist – aus einer Notwendigkeit, die ich noch nicht erkenne, und auf eine Art, die ich noch nicht begreife – an die Tätigkeit der Materie gebunden« (VZ: S. 124). Einen Ansatz zur Lösung seines Problems erblickt Schiller erst, als er 1791, angeregt durch den Kantianer Reinhold,125 Kants kurz zuvor erschienene Schrift Kritik der Urteilskraft liest, wodurch für ihn eine »Phase der ästhetischen Neuorientierung«126 beginnt: »Du erräthst wohl nicht«, so schreibt er am 3. März 1791 an seinen Freund Körner, »was ich jetzt lese und studiere? Nichts Schlechteres als Kant. Seine Kritik der Urtheilskraft, die ich mir selbst angeschafft habe, reißt mich hin durch ihren
124 Helmut Koopmann: Einführung. In: Helmut Koopmann (Hrsg.): Friedrich Schiller : Sämtliche Werke in fünf Bänden. Band I: Dramen I. Düsseldorf, Zürich: Artemis & Winkler, 1997, S. 5 – 69, hier S. 41 f. 125 Hans Feger: Durch die Schönheit zur Freiheit der Existenz – Wie Schiller Kant liest. In: Monatshefte für deutschsprachige Literatur und Kultur 97.3 (2005), S. 439 – 450, hier S. 439. 126 Ebd., S. 439.
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lichtvollen geistreichen Inhalt und hat mir das größte Verlangen beigebracht, mich nach und nach in seine Philosophie hineinzuarbeiten.«127 Was Schiller an Kants Schrift fesselt – er hat es in seinem Handexemplar angestrichen128 –, ist Kants Absicht, jene »unübersehbare Kluft«129 zwischen dem Sinnlichen und Übersinnlichen zu überbrücken und einen »Übergang«130 vom Gebiet des Naturbegriffs zum Freiheitsbegriff zu ermöglichen.131 Es ist der Begriff der Schönheit und, damit zusammenhängend, des Spiels, in denen Schiller jene geheime und bis dahin unerklärbare Mittelkraft entdeckt, nach der er seit der Karlsschulzeit vergeblich forscht und die einen Ausgleich zwischen den Trieben zu schaffen verspricht. In den ästhetischen Briefen wird diese Vorstellung einer geheimen Mittelkraft, jetzt als »mittlere[r] Zustand« (ÄE: S. 643, S. 622) oder als »mittlere Stimmung« (ÄE: S. 633) bezeichnet, wieder aufgegriffen und als Schönheit und als Spiel identifiziert. Im Anschluss hieran entsteht Schillers Schönheitslehre, die auf ein versöhnliches klassisch-idealistisches Menschen- und Geschichtsbild zielt. Das Schöne visiert also die Wiederherstellung der Harmonie des Menschen mit sich und der Welt an und ist zugleich mit dem aufklärerischen Gedankengut der Selbstbestimmung und Freiheit eng verbunden.132 Dies ist aber nur die eine Seite der Medaille, auf die Schiller in der Forschung allzu häufig reduziert wird. Spätestens seit der Abhandlung Über Anmut und Würde lässt sich in seinen ästhetischen Schriften zugleich eine im Widerstreit zum Schönen stehende theoretische Konzeption feststellen, die Ästhetik des Erhabenen, zu der er ebenfalls in Kants Kritik der Urteilskraft einen Ansatzpunkt 127 Friedrich Schiller : Briefe I: 1772 – 1795. In: Georg Kurscheidt (Hrsg.): Friedrich Schiller : Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 11. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag, 2002, S. 561. 128 Jens Kulenkampff: Materialien zu Kants ›Kritik der Urteilskraft‹. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1974, S. 126 – 144. Zu Schillers Handexemplar der Kritik der Urteilskraft siehe auch Dieter Henrich: Der Begriff der Schönheit in Schillers Ästhetik. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 11 (1957), S. 527 – 547, hier S. 534; Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne: Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart, Weimar : Metzler, 1995, S. 160. 129 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. In: Wilhelm Weischedel (Hrsg.): Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Bd. 9. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1977, S. 73 – 457, hier S. 83. 130 Ebd., S. 84. 131 Damit setzt sich Kant zum Ziel, zwischen seinen ersten beiden Kritiken, der Kritik der reinen Vernunft und der Kritik der praktischen Vernunft, zu vermitteln. Vgl. hierzu Christine Pries: Einleitung. In: Christine Pries (Hrsg.): Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn. Weinheim: VCH, Acta Humaniora, 1989, S. 1 – 30, hier S. 8; Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne: Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart, Weimar : Metzler, 1995, S. 160. 132 Zu Schillers Auseinandersetzung mit Kants Schönheitsbegriff und der Entwicklung seines eigenen vgl. Gerhard Blum: Zum Begriff des Schönen in Kants und Schillers ästhetischen Schriften. Fulda: Verlag Freier Autoren (VfA), 1988.
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findet. Zwar mag das Schöne Schillers eigentliche Sehnsucht nach Versöhnung des Menschen mit sich selbst und der Welt widerspiegeln, doch ist ihm stets bewusst, dass er einen Idealzustand glücklichen Menschseins einfordert, der an den Bedingungen der Wirklichkeit zu zerbrechen droht. Die Geschichte liefert genügend Beispiele dafür, dass in der Sinnenwelt Vernunft und Gefühl auseinanderklaffen. Die Enttäuschung über den Verlauf der Französischen Revolution, die anfänglich ein »enthusiastisches Freiheitsversprechen«133 signalisiert, sich dann zur »Herrschaft des Schreckens«134 wandelt, von der sich Schiller desillusioniert abwendet, trägt zur Einsicht bei, dass die ersehnte Einheit zu häufig an den Bedingungen der Wirklichkeit scheitern muss.135 Ebenso restriktiv wirken die Erfahrungen der Entfremdung in der modernen, immer komplexer werdenden Gesellschaft (vgl. ÄE: 6. Brief, z. B. S. 572), in welcher der Mensch nicht mehr als Mensch um seinetwillen existiert, sondern nur noch als kleines Rädchen in einem großen Getriebe funktioniert und fremdbestimmt durch Zwecke, Zwänge und vorgeschriebene Notwendigkeiten handelt.136 Nicht zuletzt auch persönliche Erfahrungen Schillers führen ihm die menschliche Zerrissenheit und die dynamische Macht der Natur vor Augen. Pflicht und Neigung klaffen bei ihm weit auseinander. Durch seine strenge Erziehung, seine Krankheitsanfälle, seine finanzielle Situation erlebt er den Zwang und die Determinationen von außen und die Enge des empirischen Lebens, die seiner persönlichen Verwirklichung entgegenstehen. Besonders aus der Perspektive seines instabilen, krisenanfälligen Gesundheitszustandes scheint es nicht verwunderlich, »dass ein Dichter, der eben dem Tod von der Schippe gesprungen ist, sowohl das Leben feiert, die Liebe und die Schönheit, als auch eine Theorie des Erhabenen entfaltet«.137 133 Kurt Wölfel: Friedrich Schiller. München: dtv, 2004, S. 102. 134 Ebd., S. 102. 135 Schillers Verhältnis zur Französischen Revolution behandelt Norbert Oellers: Idylle und Politik: Französische Revolution, ästhetische Erziehung und die Freiheit der Urkantone. In: Wolfgang Wittkowski (Hrsg.): Friedrich Schiller : Kunst, Humanität und Politik in der späten Aufklärung. Tübingen: Niemeyer, 1982, S. 114 – 131, hier S. 114 – 118. Die gesellschaftliche Situation zur Zeit Schillers analysiert Richard Schimanski: Kunst als Bedingung Mensch zu sein. Kurze Einführung in Schillers Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen. London: Turnshare, 2006, S. 5 ff. 136 Um Missverständnisse zu vermeiden: Schiller sehnt sich nicht zurück nach einem Zustand vergangener glücklicher, aber auch einfältiger Menschheit. »Ich möchte nicht gern in einem andern Jahrhundert leben, und für ein andres gearbeitet haben. Man ist eben so gut Zeitbürger, als man Staatsbürger ist« (ÄE: S. 558), heißt es unmissverständlich in Über die ästhetische Erziehung. So kritisch Schiller den Fortschrittsprozess der Menschheitsgeschichte auch betrachtet, er hält ihn aus Sicht des aufgeklärten und fortschrittsgläubigen Menschen für notwendig. 137 Janine Ludwig: »Wenn das Erhabene mit dem Schönen sich gattet«: Plädoyer gegen eine einseitige Schiller-Rezeption. In: Jonas Maatsch und Christoph Schmälzle (Hrsg.): Schillers
Schillers »doppelte Ästhetik«
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Indem Schiller gleichzeitig zur Ästhetik des Schönen eine Ästhetik des Erhabenen entwickelt, bricht er das versöhnliche Welt- und Menschenbild des Schönen dekonstruktiv auseinander und setzt dem harmonischen Schöpfungskonzept ein desillusionierendes und pessimistisches Gesellschafts- und Geschichtsgemälde entgegen.138 Das Schöne trägt also von Beginn an einen Widerspruch und sein eigenes Scheitern bereits in sich. Dieser Gedanke tritt im Verlauf der 1790er Jahre immer deutlicher in Schillers Schriften zutage und leitet eine Umwertung des Schönen und Erhabenen ein: Das mit einem düsteren Menschen-, Geschichts- und Naturbild verknüpfte Erhabene wird für Schiller immer wichtiger und überlagert schließlich das Schöne. Das Erhabene übernimmt nun die Aufgabe, den Menschen zu lehren, mit tragischen Geschichtsverläufen und Schicksalsschlägen umzugehen und die unauflösbaren Widersprüche und Differenzen des Lebens zu ertragen. Dennoch löst der Entwurf des Erhabenen die Theorie des Schönen nicht vollends ab. Sie bleibt als eine unerreichbare menschliche Sehnsucht stets im Bewusstsein. Beide Konzepte stehen sich dialektisch gegenüber. Diese antithetische Sichtweise auf den Menschen und seine Stellung in der Geschichte kann zumindest teilweise Schillers von der Forschung häufig konstatierte uneinheitliche Verwendung und Bewertung seines Vernunft- und Naturbegriffs erklären. Je nachdem, ob Schiller aus der Perspektive seiner Ästhetik des Schönen oder der des Erhabenen argumentiert, erhalten Natur und Vernunft unterschiedliche Auslegungen. So kann Natur positiv besetzt sein, wenn sie friedfertig und im Einklang mit der Vernunft erscheint, wie in der Ästhetik des Schönen, im Bild der Griechen, der Anmut oder der naiven reinen Natur. Auf der anderen Seite ist Natur als dynamische, blinde und rohe Macht oder im Bild des »Wilden« (ÄE: S. 567) negativ konnotiert und gehört zum entgegengesetzten Menschen- und Geschichtsbild des Erhabenen. Zum Beispiel erblickt Schiller in der Gewaltherrschaft der Französischen Revolution die Verrohung des Naturtriebs, der gegen das Sittengesetz handelt und die edlen Vernunftgesetze ›Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit‹ in ihr Gegenteil verkehrt. Und Schiller selbst hat schließlich die aufbegehrende Natur in seinen Krankheitsanfällen erlebt. Entsprechend kann auch der Vernunftbegriff negativ bewertet sein, wenn die reine, naive Natur belächelt und ohne Grund unterdrückt wird, wie dies in der Beschreibung der »Barbaren« (ÄE: S. 567) zum Ausdruck kommt. So betont beispielsweise der aufgeklärte Rationalismus besonders die Seite der Vernunft, die sich gegen die innere und äußere Natur des Menschen, also die Bedürfnisse Schädel. Physiognomie einer fixen Idee. Weimar, Göttingen: Klassik Stiftung Weimar und Wallstein Verlag, 2009, S. 172 – 175, hier S. 174. 138 Vgl. Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne: Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart, Weimar : Metzler, 1995, S. 5, S. 162.
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Voraussetzung zur »doppelten Ästhetik« Schillers
seiner Gefühle und seines Körpers, wendet und allzu häufig den Menschen von seiner Naturseite entfremdet. Hingegen tritt Vernunft als etwas Positives in Erscheinung, wenn sie die Freiheit des Menschen gegenüber einer zerstörerischen und aufbegehrenden Natur zu bewahren sucht.139 In Auseinandersetzung mit der Kant’schen Philosophie entsteht in den Jahren 1791 bis 1796 mit Kallias, oder über die Schönheit (1793, erschienen erst 1847), Über Anmut und Würde (1793), Vom Erhabenen (1793), Über das Pathetische (1793), Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795), Über naive und sentimentalische Dichtung (1795/96) und Über das Erhabene (1796) – um nur die wichtigsten Schriften zu nennen – Schillers »doppelte Ästhetik« des Schönen und Erhabenen. Danach gedenkt er, »für eine Weile die philosophische Bude [zu] schließe[n]«,140 was er eigentlich nicht realisiert, denn er verarbeitet sein ästhetisches System literarisch und anthropologisch in seinen Dramen Wallenstein, Maria Stuart und die Jungfrau von Orleans. Im Folgenden wird das Konzept der dialektischen, Schönheit und Erhabenheit umfassenden Ästhetik dargestellt und erläutert: Zunächst die Versöhnungsästhetik des Schönen mit den zusammenhängenden Begriffen der Anmut, der Naivität, des Spiels und der schönen Kunst, dann die Verlustästhetik des Erhabenen mit den oppositionellen Termini der Würde, der Sentimentalität und sentimentalischen Kunst. Abschließend wird nach dem Verhältnis beider Konzepte zueinander gefragt.
139 Im Gegensatz zur Vernunft gehört der Verstand zum sinnlichen Bereich. Zur Abgrenzung dieser Begriffe bei Schiller vgl. Rolf Grimminger: Ideologiekritische Aspekte zum Autonomiebegriff am Beispiel Schiller. In: Jürgen Bolten (Hrsg.): Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1984, S. 161 – 184, hier S. 163 ff.; Manuel Bremer: Vernunft; Verstand. In: Joachim Ritter (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 11: U – V. Basel: Schwabe, 2007, S. 748 – 863. 140 Friedrich Schiller : An Goethe (Jena, den 17. Dezember 1795). In: Emil Staiger (Hrsg.): Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe. Bd. 1. Frankfurt a. M.: Insel Verlag, 1977, S. 171 – 172, hier S. 171.
4.
Schillers Ästhetik des Schönen
4.1
Schönheit als Ideal eines menschenwürdigen Daseins
Schillers Schönheitsbegriff dreht sich, wie im vorangegangenen Abschnitt deutlich geworden ist, nicht in erster Linie um die Kunst, vielmehr »[gründet] die Schönheit des Menschen in dem Begriff seiner Menschheit« (AW: S. 339, Herv. i. O.) selbst: »Sobald sie [die Vernunft, Anm. d. V.] demnach den Ausspruch tut: es soll eine Menschheit existieren, so hat sie eben dadurch das Gesetz aufgestellt: es soll eine Schönheit sein.« (ÄE: S. 610) In kritischer Auseinandersetzung mit Kants Begriff des Schönen1 erblickt Schiller in der Schönheit jene geheime 1 Einen Überblick zu Kants Analytik des Schönen geben: Friedrich Voßkühler : Kunst als Mythos der Moderne. Königshausen & Neumann, 2004, S. 25 – 35; Götz Pochat: Geschichte der Ästhetik und Kunsttheorie: Von der Antike bis zum 19. Jahrhundert. Köln: DuMont, 1986, S. 447 – 458; Hans Feger : Die Macht der Einbildungskraft in der Ästhetik Kants und Schillers. Heidelberg: Winter, 1995, S. 127 ff. Zu Schillers Auseinandersetzung mit Kants Schönheitsbegriff und der Entwicklung seines eigenen siehe auch Gerhard Blum: Zum Begriff des Schönen in Kants und Schillers ästhetischen Schriften. Fulda: Verlag Freier Autoren (VfA), 1988. Schiller knüpft zwar an Kant an, will aber »das Wesen der Schönheit und der Kunst noch tiefer fassen, als es der Gedankengang der Kritik der Urteilskraft ausdrücklich getan hatte […]« (Dieter Henrich: Der Begriff der Schönheit in Schillers Ästhetik. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 11 (1957), S. 527 – 547, hier S. 532). Über Kants Analytik der Schönheit sagt Schiller : »[E]igentlich scheint sie mir doch den Begriff der Schönheit völlig zu verfehlen.« (K: S. 278) Schillers Kritikpunkte an Kants Schönheitslehre betreffen folgende Aspekte: Zum einen »[gibt] Schiller […] dem Programm Kants eine anthropologische Wendung […]« (Martin Gessmann: Philosophisches Wörterbuch. Stuttgart: Kröner, 2009, S. 59; vgl. K: S. 278). »Vor allem war Schiller von der subjektivistischen Tendenz der Kantschen Ästhetik unbefriedigt […]« (Elizabeth M. Wilkinson und Leonard A. Willoughby : Schillers ästhetische Erziehung des Menschen. München: Beck, 1977, S. 30). Im Gegensatz zu seinem Lehrer Kant, der an der Unüberbrückbarkeit dieser menschlichen Doppelnatur festhält, will Schiller schließlich Kants Gegensatz von Pflicht und Neigung überwinden (Fred Lönker : Ästhetik und Moral. Über Anmut und Würde. In: Günter Saße (Hrsg.): Schiller : Werk-Interpretationen. Heidelberg: Winter, 2005, S. 199 – 219, hier S. 202 f.). Feger spricht von einer »revolutionären Umgestaltung der Kantischen Philosophie« (Hans Feger: Durch die Schönheit zur Freiheit der Existenz – Wie Schiller Kant liest. In: Monatshefte für deutschsprachige Literatur und Kultur 97.3 (2005), S. 439 – 450, hier S. 442) und Frank von »einige[n]
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Schillers Ästhetik des Schönen
Mittelkraft, die den Riss zwischen Natur und Vernunft zu schließen und die verlorene Harmonie und Einheit des Menschen wieder herzustellen verspricht: »Die Schönheit«, so heißt es in der späten Schrift Über naive und sentimentalische Dichtung, »ist das Produkt der Zusammenstimmung zwischen dem Geist und den Sinnen« (NSD: S. 792).2 Schiller will also »die allgemeine Idee der Schönheit aus dem Begriff der menschlichen Natur überhaupt ab[]leiten« (ÄE: S. 619) und bemüht sich, eine Antwort zu finden auf die Frage: »Wie aber eine Schönheit sein kann, und wie eine Menschheit möglich ist« (ÄE: S. 611). Schillers Idee »menschliche[r] Schönheit« (K: S. 304) zufolge soll das Individuum keinen äußeren Zwecken und Zwängen, Regeln und Fremdbestimmungen ausgesetzt sein, sondern frei und selbstbestimmt um seinetwillen als Mensch aus sich heraus existieren. »Kann aber wohl der Mensch dazu bestimmt sein, über irgend einem Zwecke sich selbst zu versäumen?« (ÄE: S. 577), heißt es in den ästhetischen Briefen.3 Er soll nicht als kleines Rädchen determiniert sein, er soll nichts ausüben müssen, was die Pflicht als Gesetz vorschreibt, die Neigung aber als schmerzlich empfindet, und umgekehrt nichts ausführen müssen, was die Prinzipien der Vernunft verletzt. In idealer Vollkommenheit übt er mit Lust aus, was die Pflicht gebietet. Auf die Frage »wann kann man zu sich ›Ich‹ sagen«4 würde das Schöne antworten: »[W]enn wir identisch sind mit den Einwirkungen, welche die Welt auf uns ausübt«.5 Damit meint Schönheit für Schiller nichts anderes als das Ideal einer menschenwürdigen, freiheitlichen Daseinsweise, die ursprüngliche und wahre Bestimmung des Menschen, die ihm allein aufgrund seines Menschseins zukommt. Kurz: »Schönheit […] [ist] eine notwendige Bedingung der Menschheit« (ÄE: S. 592). Schiller weiß sehr wohl, dass dieser glückliche Traum von der »höchste[n] Schönheit des Menschen« (K: S. 278) in seiner reinsten Form nur im Reich der
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nicht unbedeutende[n] Modifikationen« (Manfred Frank: Lust am Schönen: Schillers Ästhetik zwischen Kant und Schelling. In: Jan Bürger (Hrsg.): Friedrich Schiller. Dichter, Denker, Vor- und Gegenbild. Göttingen: Wallstein, 2007, S. 172 – 185, hier S. 144). Schiller sieht im »glücklichen Gleichmaß« (ÄE: S. 660) von Natur und Vernunft »die Seele der Schönheit, und die Bedingung der Menschheit« (ÄE: S. 660). Vgl. weiter: »Die Schönheit ist daher als die Bürgerin zwoer Welten anzusehen, deren einer sie durch Geburt, der andern durch Adoption angehört; sie empfängt ihre Existenz in der sinnlichen Natur, und erlangt in der Vernunftwelt das Bürgerrecht.« (AW: S. 340, Herv. i. O.) In Über die ästhetische Erziehung des Menschen lautet es: Die beiden Triebe »in ihrer Vereinigung [bringen] die Schönheit hervor[]« (ÄE: S. 610). Und ferner : »Schönheit ist das gemeinschaftliche Objekt beider Triebe« (ÄE: S. 611). Schiller bezeichnet »[d]ie Schönheit als Konsummation seiner [des Menschen, Anm. d. V.] Menschheit« (ÄE: S. 611). Vgl. Wilfried Noetzel: Schillers Sozialästhetik. London: Turnshare, 2008, S. 72. Elizabeth M. Wilkinson und Leonard A. Willoughby : Schillers ästhetische Erziehung des Menschen. München: Beck, 1977, S. 15. Ebd., S. 15.
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Vernunft und der Ideen,6 nicht aber in der wirklichen Welt existiert. In diesem Sinn spricht er auch vom »reine[n] Vernunftbegriff der Schönheit« (ÄE: S. 592, Herv. i. O.) und an Körner schreibt er : »Das Schöne ist kein Erfahrungsbegriff, sondern vielmehr ein Imperativ«.7 Ähnlich der platonischen Tradition, welche das sinnlich-wahrnehmbare Schöne vermittelnd zwischen den Menschen und das intelligible, göttliche und wahre Schöne stellt, unterscheidet Schiller eine »Schönheit in der Idee« (ÄE: S. 615) von einer »Schönheit in der Erfahrung« (ÄE: S. 616).8 Wenn das reine vernunftgegebene »Ideal der Schönheit« (ÄE: S. 619), welches für Schiller zugleich das »Ideal[] der Menschheit« (ÄE: S. 619) darstellt, in der Sinnenwelt nicht aufzufinden ist, so gibt es dort doch etwas, das auf die Idee von Autonomie und Freiheit symbolisch verweist: nämlich das in der Welt der Erscheinungen sinnlich erfahrbare Schöne: »Die große Idee der Selbstbestimmung strahlt uns aus gewissen Eigenschaften der Natur zurück, und diese nennen wir Schönheit.« (K: S. 288, Herv. i. O.) Indem die Vernunft in das Schöne der Erscheinung eine Idee »hineinleg[t]« (AW: S. 339) oder »hineinträgt« (AW: S. 341), dient der schöne Gegenstand dieser »Idee zum Symbol« (AW: S. 341).9 Verweisungsfunktion können dabei sowohl Gegenstände aus Kunst, Natur und selbst aus dem Alltag annehmen, ebenso Handlungen und Gesinnungen des Menschen.10 6 So spricht Schiller von der »Idee seiner Menschheit« (ÄE: S. 606) und vom »Ideal von Gesellschaft« (ÄE: S. 562). 7 Friedrich Schiller : Briefe I: 1772 – 1795. In: Georg Kurscheidt (Hrsg.): Friedrich Schiller : Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 11. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag, 2002, S. 747. Vgl. dazu auch Hans Schmeer : Der Begriff der ›schönen Seele‹: besonders bei Wieland und in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts. Nendeln: Kraus Reprint, 1967, S. 61. 8 Vgl. Renate Reschke: Schön/Schönheit. In: Karlheinz Barck u. a. (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 5: Postmoderne – Synästhesie. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2003, S. 390 – 436, hier S. 407 f. Beide Schönheitsbegriffe, das Schöne der Idee und das Schöne der Erfahrung, sind keinesfalls miteinander zu verwechseln. Schiller entwirft nicht, wie Schäfer meint, »das sinnliche Erscheinen einer Idee als deren Verwirklichung« (Rainer Schäfer : Schönheit als Methode und Gehalt in Schillers Ästhetik. In: Jens Halfwassen und Markus Gabriel (Hrsg.): Kunst, Metaphysik und Mythologie. Heidelberg: Winter, 2008, S. 351 – 369, hier S. 358). Zu beiden Arten der Schönheit siehe auch Fritz Usinger: Friedrich Schiller und die Idee des Schönen. Wiesbaden: Steiner, 1955, S. 8; Rose Riecke-Niklewski: Die Metaphorik des Schönen: eine kritische Lektüre der Versöhnung in Schillers »Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen«. Tübingen: Niemeyer, 1986, S. 27 f. Zum reinen Vernunftbegriff des Schönen siehe Friedrich Voßkühler : Kunst als Mythos der Moderne. Königshausen & Neumann, 2004, S. 43 ff. 9 Zum Schönen als Symbol siehe Reinhard Löw : Über das Schöne: Warum das Schöne schön ist. Stuttgart, Wien: Weitbrecht, 1994, S. 28. 10 Anfangs hat Schiller der Kunst bei dieser Verweisungsfunktion einen wichtigeren Stellenwert als der Natur eingeräumt. Durch die Bekanntschaft mit Goethe nähert er sich jedoch der Natur an, wie in Über naive und sentimentalische Dichtung ersichtlich wird.
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Hier schließen sich die Fragen an, was einen Gegenstand oder Menschen, den wir als ›schön‹ empfinden, auszeichnet und worin sein Bezug zur Idee der Schönheit besteht. Wie alles in der Sinnenwelt besitzt das schöne, nach einer Regel gebildete und dadurch determinierte Objekt keine eigentliche Freiheit: »Jeder ist durch einen andern da, jeder um eines andern willen da, keiner hat Autonomie« (K: S. 289). So ist beispielsweise die Form einer Vase11 durch den Künstler, der das Material, den Ton, in eine bestimmte Form zwingt, von außen vorgegeben und gewissermaßen aufgezwungen. Versteht der Künstler sein Handwerk, wird man diesen Umstand aber nicht bemerken und reflektieren. Es entsteht vielmehr der Eindruck, als ob der Gegenstand durch das harmonische Zusammenspiel seiner Einzelteile Form und Materie, Vernunft und Natur freiwillig hervorgebracht worden sei, als ob sein sinnlicher Teil, der Ton, die Formregel gleichsam in sich trüge und es sich um seine eigene Regel handele, die er autonom und allein aus sich heraus befolge. Erscheint in der Sinnenwelt ein Objekt so, als ob es freiwillig nur seinem innersten autonomen Gesetz folgt, so ist es Schiller zufolge ›schön‹. Der Betrachter meint im Moment der Anschauung, der schöne Gegenstand wäre frei und unabhängig von äußeren »Zwecken und Regeln« (K: S. 289): »Das schöne Produkt darf und muß sogar regelmäßig sein, aber es muß regelfrei erscheinen.« (K: S. 289) Dass diese Vase, dieses Kleidungsstück in Wirklichkeit als Gebrauchsgegenstand zu einem bestimmten Zweck und nach bestimmten Regeln angefertigt sind, stört uns bei unserer Bewunderung nicht: »Wenn das Geschmacksurteil völlig rein ist, so muß ganz und gar davon abstrahiert werden, was für einen […] Wert das schöne Objekt für sich selbst habe […] Mag es sein, was es will!« (K: S. 289) Beim Publikum stellt sich interesseloses Wohlgefallen und freie Lust am Schönen ein. Hier greift Schiller auf Kants Bestimmungen des Schönen zurück, das Schöne gefalle »ohne alles Interesse«, »ohne Begriffe« und sei »ohne Vorstellung eines Zwecks«.12 Schiller schlussfolgert, dass wir von den »Erscheinungen […] nichts weiter als Freiheit verlangen« (K: S. 288) und »bloß darauf sehen, ob sie das, was sie sind, durch sich selbst« (K: S. 288) sind. Dies aber ist nichts anderes als der aufklärerische Gedanke der Autonomie und des »Bestimme dich aus dir selbst«.13 Schönheit kann demnach als ein Zustand aufgefasst werden, in dem etwas 11 Vgl. Schillers Ausführungen zum Verhältnis zwischen Form und Materie, Vernunft und Natur, am Beispiel einer Vase (K: S. 301 f.). 12 Friedrich Voßkühler : Kunst als Mythos der Moderne. Königshausen & Neumann, 2004, S. 35. Siehe ebenfalls Gerhard Schweppenhäuser : Ästhetik: philosophische Grundlagen und Schlüsselbegriffe. Frankfurt a. M.: Campus, 2007, S. 70 f. 13 Zu Schillers Autonomiegedanken siehe Helmut Koopmann: »Bestimme Dich aus Dir selbst«: Schiller, die Idee der Autonomie und Kant als problematischer Umweg. In: Wolfgang Wittkowski (Hrsg.): Friedrich Schiller : Kunst, Humanität und Politik in der späten Aufklärung. Tübingen: Niemeyer, 1982, S. 202 – 218.
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vollkommen harmonisch, freiwillig und ohne Zwang von außen um seiner selbst willen zu existieren scheint. All diese Eigenschaften des Schönen lassen sich später auch an Johnsons Ingrid beobachten und diskutieren. Der schöne Gegenstand besitzt jedoch keine wirkliche, positive Freiheit, sondern der Beobachter hat nur den »als ob«- Eindruck, als werde durch das Harmonieren von Vernunft und Natur Autonomie erreicht, tatsächlich gibt es Regeln, Determinationen und einen außen existierenden Bestimmungsgrund, die jedoch der ästhetisch-schöne Augenblick ausblendet und damit kurzfristig negiert. In diesem Fall führt die Verneinung eines äußeren Bestimmungsgrunds, also das ›Nicht-von-außen-bestimmt-sein‹, über den Umweg der »negativen Vorstellung der Freiheit« (K: S. 290) zur Auffassung des scheinbar ›Von-innenbestimmt-seins‹: »[D]as Nichtvonaußenbestimmtsein [ist] indirecte zugleich die Vorstellung des Voninnenbestimmtseins oder der Freiheit.« (K: S. 298)14 Dieser Gedanke der nur scheinbaren Freiheit des Schönen in der Sinnenwelt führt zu Schillers in den Kallias-Briefen erarbeiteter Definition »Schönheit also ist nichts anders, als Freiheit in der Erscheinung« (K: S. 285),15 welche die Grundlage seiner Ästhetik des Schönen bilden wird.16 Das Schöne stellt für den Menschen also kein wirkliches Reich der Freiheit dar, sondern – gemäß der etymologischen Verwandtschaft des Adjektivs ›schön‹ mit dem Verb ›schonen‹17
14 Vgl. weiter: Freiheit, da man sie »nur denken« (K: S. 290) kann, vermag nicht positiv am schönen Objekt dargestellt zu werden: »Aber positiv frei kann es auch nicht einmal scheinen, weil dies bloß eine Idee der Vernunft ist, der keine Anschauung adäquat sein kann.« (K: S. 298) Vgl. hierzu auch Kenneth Parmelee Wilcox: Anmut und Würde: die Dialektik der menschlichen Vollendung bei Schiller. Bern u. a.: Lang, 1981, S. 54. Zur Unterscheidung zwischen ›Von-innen-bestimmt-sein‹ und ›Nicht-von-außen-bestimmt-sein‹ siehe Georg Römpp: Schönheit als Erfahrung von Freiheit. Zur Transzendentallogischen Bedeutung des Schönen in Schillers Ästhetik. In: Kant-Studien. Philosophische Zeitschrift der Kant-Gesellschaft 1998, S. 428 – 445, hier S. 443. 15 Vgl. auch: »Freiheit in der Erscheinung ist eins mit der Schönheit« (K: S. 298). 16 Hier soll die Frage aufgeworfen werden, »welcher Art denn die Freiheit ist, die uns im Schönen versinnlicht entgegentritt. […] Hier ist nun Freiheit ohne Bezug auf Sittlichkeit in einem völlig anderen Sinn genommen, als der es ist, den die Kantische Ethik entwickelt.« (Dieter Henrich: Der Begriff der Schönheit in Schillers Ästhetik. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 11 (1957), S. 527 – 547, hier S. 540 f.) In Schillers Ästhetik müssen folglich verschiedene Freiheitsbegriffe voneinander unterschieden werden: die moralische Freiheit des Menschen als Intelligenz (diese gehört der Ästhetik des Erhabenen an) und die Freiheit in der Einheit von Natur und Vernunft (im Sinne einer Ästhetik des Schönen). Vgl. hierzu auch Georg Römpp: Schönheit als Erfahrung von Freiheit. Zur Transzendentallogischen Bedeutung des Schönen in Schillers Ästhetik. In: Kant-Studien. Philosophische Zeitschrift der Kant-Gesellschaft 1998, S. 428 – 445. Zu den verschiedenen Freiheitsbegriffen bei Schiller siehe Manfred Frank: Lust am Schönen: Schillers Ästhetik zwischen Kant und Schelling. In: Jan Bürger (Hrsg.): Friedrich Schiller. Dichter, Denker, Vor- und Gegenbild. Göttingen: Wallstein 2007, S. 136 – 157. 17 Duden. Das Herkunftswörterbuch. Bd. 7. Mannheim u. a.: Dudenverlag, 2001, S. 736.
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– einen Schonraum, der, zumindest für eine gewisse Zeit, vor äußeren Zwängen und Determinationen schützt. Zum Verhältnis von Moral, »Wahrheit und Schönheit« (ÄE: S. 585) – eine Liaison, die besonders in Johnsons erstem Roman von Bedeutung ist – hat sich Schiller im Laufe der Zeit widersprüchlich geäußert. Bei der Bestimmung ihrer Korrelation muss immer bedacht werden, dass Schiller eine Schönheit in der Idee und eine in der Erfahrung unterscheidet. Die Schönheit in der Idee steht als Vernunftidee in enger Beziehung zur Sittlichkeit und Wahrheit. »[U]nangesteckt von der Verderbnis der Geschlechter und Zeiten« (ÄE: S. 584), so ersehnt sich Schiller die »Quelle der Schönheit« (ÄE: S. 584) – ein Gedanke, der an die platonische Trias von Schönem, Wahrem und Gutem erinnert. Anders ist es um die Schönheit der Erfahrung bestellt. Schiller ist hier im Zwiespalt, wie er auch selbst eingesteht: Einerseits will er Schönheit als etwas Objektives aus der Vernunft ableiten, andererseits muss Schönheit von der Vernunft unabhängig sein, da sie sonst nicht frei wäre, sondern heteronom. »[I]ch bin so weit entfernt die Schönheit von der Sittlichkeit abzuleiten, daß ich sie vielmehr damit beinah unverträglich halte« (K: S. 287), heißt es unmissverständlich in den KalliasBriefen und noch in Über die ästhetische Erziehung des Menschen behauptet Schiller : »[D]ie Schönheit […] führt keinen einzelnen […] moralischen Zweck aus« (ÄE: S. 636, vgl. auch S. 643). Damit bricht er die traditionelle Trias von Schönem, Wahrem und Gutem – zumindest für den Erfahrungsbereich – auf. Er versucht dieses Problem in den Kallias-Briefen zu lösen, indem er die Schönheit nicht als ein »Produkt« (K: S. 288) der praktischen Vernunft, sondern als ihr »Analogon« (K: S. 288) betrachtet, als ihr Symbol. Das sinnliche Schöne hat hier somit im Unterschied zur Lehre platonischer Tradition keinen wirklichen Anteil an der übersinnlichen, vernunftgegebenen Idee des Schönen. Damit greift Schiller Kants Formel »[d]as Schöne ist das Symbol des Sittlichguten«18 auf, das nur der Form nach scheinbar mit dem Guten übereinstimmt. »Das Schöne wird zwar jederzeit auf die praktische Vernunft bezogen […], – aber bloß der Form, nicht der Materie nach. Ein moralischer Zweck gehört aber zur Materie oder zum Inhalt und nicht zur bloßen Form.« (K: S. 291, Herv. i. O.) Wie viel allerdings Schiller die Verbindung von Schönheit und Moral, auch in der Erfahrung, bedeutet, zeigt sich daran, dass er beides immer wieder miteinander in Verbindung zu bringen sucht, so etwa wenn er entgegen seiner eigenen Aussage19 Schönheit indirekt, im »uneigentliche[n]« (K: S. 296) Sinn, auf das Moralische bezieht20 18 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. In: Wilhelm Weischedel (Hrsg.): Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Bd. 9. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1977, S. 73 – 457, hier S. 297. 19 »[E]ine moralische Handlung [kann] niemals schön sein, wenn wir der Operation zusehen, wodurch sie der Sinnlichkeit abgeängstigt wird.« (K: S. 296) 20 »Unsere sinnliche Natur muß […] im moralischen frei erscheinen, obgleich sie es nicht wirklich ist, und es muß das Ansehen haben, als wenn die Natur bloß den Auftrag unserer
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oder die schöne Seele als Variation des antiken Kalokagathia-Ideals entwirft. Doch im Laufe der ästhetischen Briefe stellt sich zunehmend der Zweifel über eine Beziehung von Schönheit und Moral21 ein und darüber, ob »[d]ie Erfahrung […] uns beantworten [kann], ob eine Schönheit ist […], ob eine Menschheit ist« (ÄE: S. 610 f., Herv. i. O.) und »ob das, was in der Erfahrung schön heißt, mit Recht diesen Namen führe« (ÄE: S. 591). Marie, Gesines Tochter in den Jahrestagen und eine Modifikation des Ingrid-Prinzips, wird sich gegenüber moralischen Fragen weitaus indifferenter als die Protagonistin aus Johnsons Roman-Erstling verhalten. Zum Schluss sei noch die Abgrenzung des Begriffs der Schönheit von jenem der Kunst erörtert. »Es ist erstaunlich«, so Elizabeth M. Wilkinsons und Leonard A. Willoughbys Kommentar zur vermeintlichen Kunstabhandlung Über die ästhetische Erziehung des Menschen, »wie wenig Schiller über konkrete Einzelheiten der Kunst zu sagen hat«.22 Zwar gebe es einige Passagen, in denen sich Schiller mit verschiedenen Künsten beschäftige und danach frage, welche wohl am geeignetsten sei, in den ästhetischen Zustand zu versetzen, diese seien aber relativ überschaubar und im Vergleich zu manchen ausschweifenden Ausführungen der Schrift knapp gehalten.23 Es scheint also im Kern noch um etwas anderes zu gehen als die Kunst. Dies ist der Punkt, an dem die Unterscheidung zwischen Kunst und Schönheit wichtig wird. Dass Schiller selbst zwischen den Gegenständen der Schönheit und der Kunst differenziert, wird in den Augustenburger Briefen deutlich, wo Schiller von »Schönheit und schöner Kunst« (AB: Triebe vollführte, in dem sie sich, den Trieben gerade entgegen, unter die Herrschaft des reinen Willens beugt« (K: S. 296). 21 Zur Problematik des Versuchs Schillers, Moral und Ästhetik miteinander zu verbinden, siehe Frederick C. Beiser : Schiller as Philosopher: a Re-Examination. Oxford u. a.: Clarendon Press, 2005, S. 101 ff., S. 208 ff.; Kenneth Parmelee Wilcox: Anmut und Würde: die Dialektik der menschlichen Vollendung bei Schiller. Bern u. a.: Lang, 1981, S. 53. Siehe auch Dieter Henrich: Der Begriff der Schönheit in Schillers Ästhetik. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 11 (1957), S. 527 – 547, hier S. 538 f.; Fred Lönker : Ästhetik und Moral. Über Anmut und Würde. In: Günter Saße (Hrsg.): Schiller : Werk-Interpretationen. Heidelberg: Winter, 2005, S. 199 – 219. Zur widersprüchlich beantworteten Frage bei Schiller, ob es einen Zusammenhang zwischen Schönheit und Moral gibt, siehe Rainer Schäfer : Schönheit als Methode und Gehalt in Schillers Ästhetik. In: Jens Halfwassen und Markus Gabriel (Hrsg.): Kunst, Metaphysik und Mythologie. Heidelberg: Winter, 2008, S. 351 – 369, hier S. 367. Vgl. weiter Fritz Usinger : Friedrich Schiller und die Idee des Schönen. Wiesbaden: Steiner, 1955, S. 9; Georg Römpp: Schönheit als Erfahrung von Freiheit. Zur Transzendentallogischen Bedeutung des Schönen in Schillers Ästhetik. In: Kant-Studien. Philosophische Zeitschrift der Kant-Gesellschaft 1998, S. 428 – 445, hier S. 429; Friedrich Voßkühler : Kunst als Mythos der Moderne. Königshausen & Neumann, 2004, S. 33; Götz Pochat: Geschichte der Ästhetik und Kunsttheorie: Von der Antike bis zum 19. Jahrhundert. Köln: DuMont, 1986, S. 456, S. 464; Wilfried Noetzel: Schillers Sozialästhetik. London: Turnshare, 2008, S. 49, S. 97. 22 Elizabeth M. Wilkinson und Leonard A. Willoughby : Schillers ästhetische Erziehung des Menschen. München: Beck, 1977, S. 13. 23 Ebd., S. 13.
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Schillers Ästhetik des Schönen
S. 497) spricht. Zu Beginn der ästhetischen Briefe wiederum stellt er seinem Gönner den Untersuchungsgegenstand als »das Schöne und die Kunst« (ÄE: S. 556, Herv. i. O.) vor und macht mit der Konjunktion ›und‹ deutlich, dass Schönheit und Kunst prinzipiell voneinander unterscheidbare Sachen meinen, die sich gleichwohl begegnen können.24 Die häufige Ineinssetzung von Schönheit und Kunst in der Schiller-Forschung lässt sich mit der kühnen These in der zentralen Schrift Über die ästhetische Erziehung des Menschen erklären: Schiller traut der schönen Kunst nicht weniger zu, als dass sie, indem sie die Kluft zwischen Vernunft und Natur zu überbrücken vermag, die Menschen zur Schönheit zurückführt und zu moralisch-schönen Bürgern erzieht. Ihm schwebt, gemäß seines geschichtsphilosophischen Verständnisses, ein elysischer Staat der Freiheit und Schönheit vor, eine »Staatskalokagathie«,25 in welcher alle Menschen in schöner Harmonie miteinander vereint sind – und die Kunst soll den Weg dorthin bahnen. Sie erhält damit den Rang einer Erzieherin, ja einer Erlöserin und Retterin der Menschheit. Schillers utopische Vorstellung kann demnach – bevor er sich gegen Ende der Briefe das Scheitern seines Vorhabens eingestehen muss – als Glaubensbekenntnis an die Macht der schönen Kunst aufgefasst werden. Dieses Credo und die waghalsige These verstellen den Blick ein wenig auf das, worum es ihm aber eigentlich geht. Und dies ist nicht die Kunst. Es geht nach wie vor um den Menschen, sein Seelenheil und um die Idee der Schönheit als Inbegriff des Menschseins, das es mittels der Kunst zu retten gilt. Jetzt wird der wahre Stellenwert der Kunst deutlicher : Sie ist, wenn auch ein bedeutendes, so doch nur ein Werkzeug. Diesen Mittel-zum-Zweck-Charakter der Kunst betont Schiller gleich an mehreren Stellen in seinem ästhetischen Werk. »Man müßte also zu diesem Zwecke ein Werkzeug aufsuchen […] Dieses Werkzeug ist die schöne Kunst, diese Quellen öffnen sich in ihren unsterblichen Mustern.« (ÄE: S. 583) Der Gedanke von der Kunst als Erziehungs- oder Heilmittel taucht schon in früheren Traktaten Schillers auf, etwa in den Schriften aus der Karlsschulzeit (1774 – 1780), darunter den medizinischen Schriften (1780),26 ebenso in der Rezension Über Bürgers Gedichte (1789)27 und in der Schaubühnenrede (1782/ 84).28 Am deutlichsten und radikalsten tritt der Werkzeugcharakter der Kunst in 24 Vgl. »[D]em Leser [ist] nicht eindeutig und von vornherein eine Identifizierung von der Kunst und dem Schönen erlaubt«: Rose Riecke-Niklewski: Die Metaphorik des Schönen: eine kritische Lektüre der Versöhnung in Schillers »Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen«. Tübingen: Niemeyer, 1986, S. 108. 25 Depenheuer, Otto (Hrsg.): Staat und Schönheit: Möglichkeiten und Perspektiven einer Staatskalokagathie. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2005. 26 Vgl. VZ: S. 139. 27 Vgl. BG: S. 979. 28 Vgl. Sch: S. 197.
Schönheit als Ideal eines menschenwürdigen Daseins
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den Augustenburger Briefen zutage, aus welchen Über die ästhetische Erziehung des Menschen entstanden ist. Wenn die schöne Menschheit im moralischen Vernunftstaat bereits existieren würde, so heißt es dort, wäre alle Kunst überflüssig, »so wollte […] [Schiller, Anm. d. V.] auf ewig von den Musen Abschied nehmen« (AB: S. 500). Neben der Kunst, die den Weg zum Schönen im Leben bahnen soll, eröffnet sich eine weitere metaphorische Bedeutungsebene, die über den Schönheitsgenuss hinausgeht: Das schöne autonome Kunstwerk, in dem der Mensch seine Losgelöstheit von äußeren Zwängen und Determinationen sowie, daraus folgend, eine Interesselosigkeit erfährt, wird zum Gleichnis für das Leben des Menschen, indem es die »noch schwüriger[e] Lebenskunst« (ÄE: S. 614) vermitteln soll.29 Der ganze, versöhnte Mensch erscheint als ein Künstler seines eigenen Lebens und jede positive Veränderung im Staatswesen sei solange erfolglos »bis die Trennung in dem innern Menschen wieder aufgehoben, und seine Natur vollständig genug entwickelt ist, um selbst die Künstlerin zu sein, und der politischen Schöpfung der Vernunft ihre Realität zu verbürgen« (ÄE: S. 578). Einem Künstler ähnlich, der als kleiner Gott sein Oeuvre hervorbringt, so ersehnt sich Schiller das Leben des Menschen als autonomes Kunstwerk, das jener gottgleich aus sich heraus erschafft. Wie der Maler, so soll der Mensch das Gemälde seines Lebens nach seinem Willen gestalten, wie der Schriftsteller, so erstellt er »den Text«,30 im wörtlichen Sinn: »das Gewebe [seines] Lebens«.31 Keine andere von außen wirkende Macht, sondern er entscheidet frei und selbstbestimmt über Handlung und Verlauf des Lebensgemäldes oder Lebensgewebes. Diese Kunstmetaphorik findet sich in vielen Schiller’schen Abhandlungen, besonders deutlich in den ästhetischen Briefen. Dort charakterisiert er mit der Metapher des Kunstwerks sowohl das einzelne Individuum – »[i]n seinen Taten malt sich der Mensch« (ÄE: S. 568) – als auch die gesellschaftlichen Zustände, welche er als »weitläufige[s] Gemälde« (ÄE: S. 567), als »Gemälde der Gegenwart« (ÄE: 29 Zum Thema Lebenskunst siehe Jochen Hörisch: Die Kunst des Lebens und das Leben der Kunst. Überlegungen zu Schillers Konzeption einer ästhetischen Erziehung des Menschen. In: Text & Kontext. Zeitschrift für germanistische Literaturforschung in Skandinavien 28.1 (2006), S. 36 – 54; Sybille Krämer : Ist Schillers Spielkonzept unzeitgemäß? Zum Zusammenhang von Spiel und Differenz in den Briefen »Über die ästhetische Erziehung des Menschen«. In: Jan Bürger (Hrsg.): Friedrich Schiller. Dichter, Denker, Vor- und Gegenbild. Göttingen: Wallstein, 2007, S. 158 – 171, hier S. 171; Götz Pochat: Geschichte der Ästhetik und Kunsttheorie: Von der Antike bis zum 19. Jahrhundert. Köln: DuMont, 1986, S. 463; Wilfried Noetzel: Schillers Sozialästhetik. London: Turnshare, 2008, S. 11. 30 Jochen Hörisch: Die Kunst des Lebens und das Leben der Kunst. Überlegungen zu Schillers Konzeption einer ästhetischen Erziehung des Menschen. In: Text & Kontext. Zeitschrift für germanistische Literaturforschung in Skandinavien 28.1 (2006), S. 36 – 54, hier S. 48. 31 Ebd., S. 48.
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Schillers Ästhetik des Schönen
S. 578) oder »Drama der jetzigen Zeit« (ÄE: S. 568) beschreibt.32 In dieser Hinsicht erscheint auch Johnsons Ingrid als lebendiges Kunstwerk. Das Bild der Zeitumstände33 entspricht jedoch nicht Schillers Wunschprojektion eines stimmigen und harmonisch-schönen Zusammenspiels zwischen Einzelteilen und Ganzem. Die Beschäftigung mit »dem vollkommensten aller Kunstwerke, mit dem Bau einer wahren politischen Freiheit« (ÄE: S. 558) ist somit, bevor er sich die Uneinlösbarkeit seines Vorhabens eingesteht, Schillers dringendes Anliegen zu Beginn der Briefe.
4.2
Anmut als Ausdruck einer schönen Seele
Ist der Riss zwischen Vernunft und Natur beim Menschen verbunden, so ist der Ausdruck, das äußere Erscheinungsbild in Mimik, Gestik und Bewegung Harmonie und Schönheit, genauer : Anmut, ein Konzept, das Johnson in Ingrid Babendererde diskutiert.34 Da wahre Schönheit eigentlich nur im übersinnlichen Reich existieren kann, führt Schiller den Begriff der Anmut als eine irdisch und zeitlich begrenzte Form der menschlichen Schönheit ein, die aber auf die übersinnliche Idee des Schönen verweist.35 Den Unterschied zwischen Anmut36 und Schönheit illustriert Schiller anhand 32 Sogar den Bereich des Staats vergleicht er mit einem Opus und den Staatsmann erhebt er in den Rang eines »pädagogischen und politischen Künstler[s]«, eines »Staatskünstler[s]« (ÄE: S. 566). 33 Zum Zeitalter als Gemälde vgl. auch Rose Riecke-Niklewski: Die Metaphorik des Schönen: eine kritische Lektüre der Versöhnung in Schillers »Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen«. Tübingen: Niemeyer, 1986, S. 108. 34 Schiller verwendet den Begriff der ›Anmut‹ über weite Strecken der Schrift Über Anmut und Würde synonym zu dem der ›Grazie‹ (vgl. AW: S. 360 f.), führt aber gegen Ende eine Unterscheidung ein, indem er verschiedene Grade oder Abstufungen der Anmut differenziert, denen die Begriffe »Reiz, Anmut und Grazie« (AW: S. 390 f.) jeweils zugeordnet werden. Einen Abgrenzungsversuch zwischen diesen Begriffen unternimmt Janina Knab: Ästhetik der Anmut. Studien zur »Schönheit der Bewegung« im 18. Jahrhundert. Frankfurt a. M.: Lang, 1996, S. 134 – 136. In der vorliegenden Arbeit spielt die Unterscheidung zwischen Anmut und Grazie jedoch keine Rolle. 35 Zur Schrift Über Anmut und Würde vgl. auch Jane V. Curran und Christopher Fricker : Schiller’s »On grace and dignity« in its cultural context. Essays and a New Translation. Rochester, NY: Camden House, 2005. 36 Im 18. Jahrhundert waren die Anmut und ihr Gegenpart der Würde gängige Konzepte. Siehe dazu Frederick C. Beiser : Schiller as Philosopher : a Re-Examination. Oxford u. a.: Clarendon Press, 2005, S. 88; Gerd Kleiner : Anmut/Grazie. In: Karlheinz Barck u. a. (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 1: Absenz – Darstellung. Stuttgart, Weimar : Metzler, S. 193 – 207, hier S. 196 ff. Zur Herkunft des Begriffspaars Anmut und Würde seit der Antike siehe Götz Pochat: Geschichte der Ästhetik und Kunsttheorie: Von der Antike bis zum 19. Jahrhundert. Köln: DuMont, 1986, S. 460; Frederick C. Beiser : Schiller as Philosopher: a Re-Examination. Oxford u. a.: Clarendon
Anmut als Ausdruck einer schönen Seele
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des griechischen Mythos von der »Schönheitsgöttin« (AW: S. 330) Venus:37 Als Inhaberin des magischen Gürtels der Schönheit und des Liebreizes ist Venus der Inbegriff aller Schönheit, sie besitzt Schönheit nicht einfach nur, sondern ist diese in Person selbst. Es ist undenkbar, Venus von ihrer Schönheit zu trennen, auch ohne ihren Gürtel bleibt Venus schön. Diese unauflösliche Verbundenheit der Person mit ihrer Schönheit nennt Schiller »fixe[] Schönheit« (AW: S. 331) oder kurz Schönheit. Schönheit in dieser unvergänglichen und zeitlosen Form symbolisiert jedoch ein überirdisches Phänomen, eine unerreichbare Idee, die sich in Göttern offenbaren mag, nicht aber im Menschen. Von dieser göttlichewigen Schönheit unterscheidet Schiller nun eine irdisch-vergängliche Form, die an einem Menschen entstehen und genauso wieder vergehen kann, die also vom Subjekt entkoppelbar ist. Diese nicht dauerhafte Schönheit bezeichnet Schiller als »bewegliche Schönheit« (AW: S. 331) oder Anmut und verbildlicht sie anhand des magischen Gürtels der Venus. Durch die Verleihung ihres magischen Gürtels vermag die Göttin ihre Schönheit und ihren Liebreiz auf den Menschen zu übertragen, so dass der Träger Anmut ausstrahlt und die Liebe seiner Mitmenschen erwirbt. Doch dies ist kein dauerhafter Zustand, denn mit dem Verlust oder der Entfernung des Gürtels droht er beides wieder zu verlieren. »The fact that it [the belt, Anm. d. V.] can be removed means that grace is a moveable beauty (bewegliche Schönheit), i. e. a beauty that a person can have or not have«.38 Der Gürtel der Venus wird damit zum »Symbol der beweglichen Schönheit« (AW: S. 331) oder der Anmut.39 Im textanalytischen Teil dieser Arbeit wird vorgeführt, dass die Protagonistin aus Johnsons Roman-Erstling Ingrid Babendererde als Gürtelträgerin diese »bewegliche«, nicht dauerhafte Form der Anmut verkörpert. Anmut offenbart sich weniger durch technische Vollkommenheit des Körperbaus – Schiller distanziert sich hier von der jahrhundertelangen Tradition, Press, 2005, S. 86. Begriff und Geschichte speziell der Anmut behandelt Manfred Lurker : Lexikon der Götter und Dämonen. Stuttgart: Kröner, 1989, S. 153; Gerd Kleiner : Anmut/ Grazie. In: Karlheinz Barck u. a. (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 1: Absenz – Darstellung. Stuttgart, Weimar : Metzler, S. 193 – 207, hier S. 195 f. Franke betont, dass trotz der bereits bestehenden Tradition des Konzepts von Anmut und Würde erst Schiller diese Begriffe »[s]ystematisch […] in die Kunstphilosophie ein[bringt], wobei sein Geltungsbereich einerseits auf den menschlichen Bereich eingeschränkt wird […], andererseits eine direkte Verbindung zur Ethik bzw. zur ästhetischen Erziehung des Menschen hergestellt wird« (Ursula Franke: Anmut und Würde. In: Wolfhart Henckmann und Konrad Lotter (Hrsg.): Lexikon der Ästhetik. München: Beck, 1992, S. 17 – 18, hier S. 17). 37 Schiller schildert und interpretiert den Mythos in AW: S. 330. 38 Frederick C. Beiser : Schiller as Philosopher: a Re-Examination. Oxford u. a.: Clarendon Press, 2005, S. 95, Herv. i. O. 39 Vgl. auch Gabriele Brandstetter : Schillers Spielbein: Bewegung und Tanz. Zu einer Ästhetik im Zeichen von ›movere‹. In: Felix Ensslin (Hrsg.): Spieltrieb. Was bringt die Klassik auf die Bühne? – Schillers Ästhetik heute. Berlin: Theater der Zeit, 2006, S. 165 – 181, hier S. 172.
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Schillers Ästhetik des Schönen
Schönheit äußerlich durch Proportion, Symmetrie und Vollkommenheit darzustellen40 –, als vielmehr durch den grazilen Körperausdruck eines Menschen, welchen er ausführlich erörtert. Mareen van Marwyck spricht treffend von einer »Bewegungsästhetik«.41 Der Mensch, der mit sich und seiner Welt eine Einheit bildet, vermittelt dies unbewusst auch durch seine Bewegungen: Das harmonische Zusammenspiel von Vernunft und Natur42 zeigt sich äußerlich durch das anmutige freiwillige Zusammenspiel von »willkürliche[n]« und »unwillkürliche[n]«, »sympathetischen Bewegungen« (AW: alle S. 347 f.), also von vernunftgeleiteten und spontan-gefühlsmäßigen Gebärden, die sich deutlich auch bei Ingrid aufzeigen lassen. Die Natürlichkeit und Freiwilligkeit in der Pflichtausübung kommt in der Harmonie, Leichtigkeit und Geschmeidigkeit der Bewegungsabläufe, der Gestik und Mimik, kurz: der gesamten Körpersprache zum Ausdruck. Die anmutige Schönheit bewegt sich so freiwillig, als ob sie tanzen würde:43 Alle Bewegungen, die von ihr ausgehen, werden leicht, sanft und dennoch belebt sein. Heiter und frei wird das Auge strahlen, und Empfindung wird in demselben glänzen. Von der Sanftmut des Herzens wird der Mund eine Grazie erhalten, die keine Ver40 Schiller betont: »Anmut ist also kein ausschließendes Prärogativ des Schönen, sondern kann auch, obgleich immer nur aus der Hand des Schönen, auf das Minderschöne, ja selbst auf das Nichtschöne, übergehen.« (AW: S. 330, Herv. i. O.) 41 Mareen van Marwyck: Gewalt und Anmut: weiblicher Heroismus in der Literatur und Ästhetik um 1800. Bielefeld: Transcript, 2010, S. 131. Zur Bewegungsschönheit im 18. Jahrhundert vgl. auch Janina Knab: Ästhetik der Anmut. Studien zur »Schönheit der Bewegung« im 18. Jahrhundert. Frankfurt a. M.: Lang, 1996; Gabriele Brandstetter : Schillers Spielbein: Bewegung und Tanz. Zu einer Ästhetik im Zeichen von ›movere‹. In: Felix Ensslin (Hrsg.): Spieltrieb. Was bringt die Klassik auf die Bühne? – Schillers Ästhetik heute. Berlin: Theater der Zeit, 2006, S. 165 – 181; Martin Dönike: Pathos, Ausdruck und Bewegung. Zur Ästhetik des Weimarer Klassizismus 1796 – 1806. Berlin: de Gruyter, 2005. 42 Hoffmann versucht in seiner Studie anhand des Begriffs der architektonischen Schönheit zu zeigen, dass in Über Anmut und Würde nur scheinbar eine Versöhnung zwischen Vernunft und Natur stattfindet. Er spricht von einer »verdeckten Machtausübung« (Torsten Hoffmann: Versöhnt und vernichtet. In: Euphorion 2009, S. 449 – 484, hier S. 473) seitens der Vernunft, ja gar von einer »Skrupellosigkeit gegenüber der Sinnlichkeit« (ebd., S. 464). Schiller entwerfe eine Sinnlichkeit, »die sich noch im Triumph der Vernunft nicht als unterdrückt, sondern als mit dieser ›versöhnt‹ empfindet« (ebd., S. 464). Auch Lönker bemerkt: Es entsteht der »Eindruck, als verflüchtige sich hier die sinnlich-natürliche Seite des Menschen immer mehr zugunsten des vernünftig-moralischen Elements.« (Fred Lönker : Ästhetik und Moral. Über Anmut und Würde. In: Günter Saße (Hrsg.): Schiller : WerkInterpretationen. Heidelberg: Winter, 2005, S. 199 – 219, hier S. 207) Vgl. dazu auch Kenneth Parmelee Wilcox: Anmut und Würde: die Dialektik der menschlichen Vollendung bei Schiller. Bern u. a.: Lang, 1981, S. 58. 43 Zum Tanz in Über Anmut und Würde vgl. Gabriele Brandstetter : »Die Bilderschrift der Empfindungen« – Jean-Georges Noverres »Lettres sur la Danse, et sur les Ballets« und Friedrich Schillers Abhandlung »Über Anmut und Würde«. In: Achim Aurnhammer, Klaus Manger und Friedrich Strack (Hrsg.): Schiller und die höfische Welt. Tübingen: Niemeyer, 1990, S. 77 – 93, hier S. 85 – 93, bes. S. 92.
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stellung erkünsteln kann. Keine Spannung wird in den Mienen, kein Zwang in den willkürlichen Bewegungen zu bemerken sein, denn die Seele weiß von keinem. (AW: S. 371)
Somit ist »Leichtigkeit« der »Hauptcharakter« der Anmut (alle AW: S. 362, Herv. i. O.). Die Entspanntheit der anmutigen Bewegung korreliert dabei mit einer inneren gelösten Stimmung: Die Heiterkeit und Vergnügtheit des Wesens, der – wohlmeinend-neckende – »lachende Scherz und der Stachel des Spotts« (AW: S. 391) sind zentrale Eigenschaften der Anmut.44 Keinesfalls, so Schiller, dürfe es so erscheinen, als wäre eine Bewegung oder ein Lachen erzwungen, alles wirke im Gegenteil »zufällig und freiwillig«,45 denn was erzwungen ist, kann niemals leicht aussehen, sondern nur angestrengt (AW: S. 362). Die Definition aus den Kallias-Briefen »Schönheit also ist nichts anders, als Freiheit in der Erscheinung« (K: S. 285) überträgt Schiller jetzt auf den Menschen: »Anmut ist die Schönheit der Gestalt unter dem Einfluß der Freiheit; die Schönheit derjenigen Erscheinungen, die die Person bestimmt.« (AW: S. 344) Die anmutige Schönheit darf sich ihrer Außenwirkung nie bewusst werden oder sie gar willentlich herbeiführen wollen. Es scheint so, als ob die anmutige »schöne Seele […] kein andres Verdienst [hat], als daß sie ist« (AW: S. 370), das heißt, sie existiert nur, um zu sein. Da die Anmut also weder um die Schönheit ihres Handelns noch ihres Ausdrucks weiß, bezaubert sie durch ihre vollkommene Natürlichkeit und reizende Naivität (AW: S. 350). Hier wird die Verbindung zum Aspekt der Naivität deutlich. Schon in den Kallias-Briefen beantwortet Schiller die Frage: »Warum ist das naive schön?« (K: S. 314) mit: »Weil die Natur darin über Künstelei und Verstellung ihre Rechte behauptet.« (K: S. 314) Diesen »naive[n] Ausdruck« (NSD: S. 720) nennt er in Über naive und sentimentalische Dichtung das »wichtigste Bestandstück der Grazie« (NSD: S. 720) und macht ihn zur Voraussetzung der »naiven Anmut« (NSD: S. 720). Sobald ihr »anmutiges Lächeln« (AW: S. 352) oder »reizendes Erröten« (AW: S. 352) nicht wie zufällig an ihr entstehen würde, sie es gar willentlich hervorbringen könnte, wäre alle Anmut »falsch« (AW: S. 392 f.). Indem Schiller äußert, dass nur denjenigen Bewegungen Anmut zukommt, »die ein Ausdruck moralischer Empfindung sind« (AW: S. 333), erweitert er das Konzept der Anmut zur Seelenschönheit oder »Charakterschönheit« (AW: S. 367), zu einer inneren moralisch-menschlichen Schönheit des Wesens. Die schöne Seele46 grenzt an den Bereich des Moralisch-Guten und geht auf die 44 Zum Zusammenhang von Schönheit, Heiterkeit und Humor, nicht mit Ironie oder Satire zu verwechseln, siehe Reinhard Löw : Über das Schöne: Warum das Schöne schön ist. Stuttgart, Wien: Weitbrecht, 1994, S. 24. 45 Mareen van Marwyck: Gewalt und Anmut: weiblicher Heroismus in der Literatur und Ästhetik um 1800. Bielefeld: Transcript, 2010, S. 132. 46 Zu Begriff und Konzept der schönen Seele vgl. ausführlicher : Hans Schmeer : Der Begriff der
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griechische Vorstellung der Kalokagathia, also der Verbindung von Schönheit und Ethik, zurück. Ganz in diesem Sinn spricht Schiller bereits in den KalliasBriefen von der »moralische[n] Schönheit« (K: S. 292), welche das »Maximum der Charaktervollkommenheit« (K: S. 296) bedeutet. Die schöne Seele, die Natur und Sittlichkeit in sich vereinigt, führt in der Welt der sinnlichen Erscheinungen instinktiv und völlig ohne den Zwang durch das Vernunftgesetz die moralische Pflicht aus und behauptet sich dadurch freiwillig als ein sittlich-moralisches Wesen. Eine solche schöne Handlungsweise hat Schiller bereits in den KalliasBriefen mit dem biblischen Gleichnis vom Samariter (K: S. 293 – 295) vorgezeichnet: Ein Mann ist von Räubern überfallen, ausgeraubt und verwundet worden und nun der Hilfe fremder Menschen bedürftig. Mehrere Wanderer kommen vorbei und sind bereit, Hilfe zu leisten, doch nur die letzte Handlung verdient es, ›schön‹ genannt zu werden. Selbst jener Wanderer, der dem Verwundeten schweren Herzens seinen Mantel überlässt, handelt nicht schön, sondern rein moralisch, weil die Pflicht es ihm gebietet (K: S. 294). Seine Verhaltensweise wird ihm gewissermaßen durch den Zwang des Sittengesetzes gewaltsam aufgenötigt und erfolgt nicht in freiwilligem Zusammenspiel mit den Sinnen. Allein wer die strenge Pflicht mit der Neigung des Herzens verbindet, handelt moralisch-schön, wie Schiller dies am fünften und letzten Wanderer verdeutlicht: Um den Verwundeten tragen zu können, lässt er sein Hab und Gut zurück. Auf die Frage, was daraus wird, antwortet der Samariter : »Das weiß ich nicht und das bekümmert mich nicht« (K: S. 295). Und weiterhin erläutert Schiller die Schönheit der Handlung: »Aber nur der fünfte hat unaufgefordert und ohne mit sich zu Rat zu gehen geholfen, obgleich es auf s. Kosten ging. Nur der fünfte hat sich selbst ganz dabei vergessen, und seine Pflicht mit einer Leichtigkeit erfüllt, als wenn bloß der Instinkt aus ihm gehandelt hätte.« (K: S. 295, Herv. i. O.) Eine solche moralische Handlung, welche Pflicht und Neigung gemeinsam in einem freiwilligen Zusammenspiel ausführen, nennt Schiller »schön« (K: S. 295). Ähnlich formuliert er in Über Anmut und Würde – »Mit einer Leichtigkeit, als wenn bloß der Instinkt aus ihr handelte, übt sie [die schöne Seele, Anm. d. V.] der Menschheit peinlichste Pflichten aus« (AW: S. 370) – und in den Philosophischen Briefen schreibt Raphael an Julius: »Du warst gut aus ›schönen Seele‹: besonders bei Wieland und in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts. Nendeln: Kraus Reprint, 1967; Birgit Sandkaulen: Die »Schöne Seele« und der »Gute Ton«. Zum Theorieprofil von Schillers ästhetischem Staat. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 76 (2002), S. 74 – 86; Christine Lubkoll: Moralität und Modernität. Schillers Konzept der ›schönen Seele‹ im Lichte der literaturhistorischen Diskussion. In: Walter Hinderer (Hrsg.): Friedrich Schiller und der Weg in die Moderne. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2006, S. 83 – 99; Marie Wokalek: Die schöne Seele als Denkfigur. Zur Semantik von Gewissen und Geschmack bei Rousseau, Wieland, Schiller, Goethe. Göttingen: Wallstein-Verlag, 2011.
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Instinkt, aus unentweihter sittlicher Grazie« (PhB: S. 216, Herv. i. O.).47 Schließlich erklärt Schiller in der Schrift Über das Erhabene den »schönen Charakter« (ÜE: S. 828, Herv. i. O.): Er [der Mensch, Anm. d. V.] soll in der Ausübung der Gerechtigkeit, Wohltätigkeit, Mäßigkeit, Standhaftigkeit und Treue seine Wollust finden, alle Pflichten, deren Befolgung ihm die Umstände nahelegen, sollen ihm zum leichten Spiele werden, und das Glück soll ihm keine Handlung schwer machen, wozu nur immer sein menschenfreundliches Herz ihn auffordern mag. (ÜE: S. 828)48
Die innere Schönheit der Seele zeigt sich somit äußerlich im anmutigen Ausdruck des Körpers. Schöne Seele und Anmut stehen einander in einem Verhältnis von innerer Schönheit und äußerer Bewegungsschönheit gegenüber. »In einer schönen Seele ist es also, wo Sinnlichkeit und Vernunft, Pflicht und Neigung harmonieren […] und Grazie ist ihr Ausdruck in der Erscheinung.« (AW: S. 371) Und an späterer Stelle heißt es: »Anmut [ist] der Ausdruck einer schönen Seele« (AW: S. 373). So wie Schiller die Anmut schildert, verwundert es nicht, dass diese menschliche Schönheit und das Gefühl der Liebe unzertrennlich miteinander verbunden sind (AW: S. 387).49 Folglich scharen sich »Liebhaber« (AW: S. 372, Herv. i. O.) um die Anmut und liegen ihr mit Verehrung und Entzückung zu Füßen. Schon in der Interpretation des Venus-Mythos heißt es, wer den Gürtel der Anmut trägt, werde »Liebe […] erwerben« (AW: S. 330). In Über das Erhabene kommt Schiller auf die Liebesmetaphorik zurück: »Wem wird dieser schöne Einklang der natürlichen Triebe mit den Vorschriften der Vernunft nicht entzückend sein, und wer sich enthalten können, einen solchen Menschen zu lieben?« (ÜE: S. 828) Die Liebe als Charaktereigenschaft der Anmut ist eine 47 Vgl. zu diesem Zitat auch Hans Schmeer : Der Begriff der ›schönen Seele‹: besonders bei Wieland und in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts. Nendeln: Kraus Reprint, 1967, S. 61. 48 Mit seinem Konzept der Seelenschönheit, so Hoffmann, übt Schiller Kritik an »Kants Vernunftdespotismus« und strenger Pflichtethik (Torsten Hoffmann: Versöhnt und vernichtet. In: Euphorion 2009, S. 449 – 484, hier S. 449). Kants radikaler Pflichtethik setzt Schiller also, beeinflusst von Shaftesburys ›moral sense‹, das Konzept der »moralische[n] Empfindung« (AW: S. 346) entgegen, welche im Einklang mit der Sinnlichkeit wirkt. Zur Auseinandersetzung Schillers mit Kant in Über Anmut und Würde und Über die ästhetische Erziehung des Menschen siehe Paul Guyer : The Ideal of Beauty and the Necessity of Grace: Kant and Schiller on Ethics and Aesthetics. In: Walter Hinderer (Hrsg.): Friedrich Schiller und der Weg in die Moderne. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2006, S. 187 – 204, hier S. 187 ff.; Otfried Höffe: »Gerne dien ich den Freunden, doch tue ich es leider mit Neigung …« – Überwindet Schillers Gedanke der Schönen Seele Kants Gegensatz von Pflicht und Neigung? In: Zeitschrift für philosophische Forschung 2006, S. 1 – 21. 49 Schiller knüpft hier an die Liebesmetaphorik seiner Jugendphilosophie an. Siehe dazu: Frederick C. Beiser : Schiller as Philosopher: a Re-Examination. Oxford u. a.: Clarendon Press, 2005, S. 84.
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Metapher für die Verschmelzung von weiblich gedachter Natur und männlich konnotierter Vernunft, Liebe ist also das Band, das zwischen den antagonistischen Trieben vermittelt.50 Ganz in diesem Sinn formuliert der Autor seine Vorstellung auch im Gedicht Das Ideal und das Leben: »Aufgelöst in zarter Wechselliebe, / In der Anmut freiem Bund vereint, / Ruhen hier die ausgesöhnten Triebe, / Und verschwunden ist der Feind.«51 Entsprechend wird in Über Anmut und Würde das »Gemüt aufgelöst in der Liebe« (AW: S. 389), doch möchte Schiller dieses »Feuer, welches die himmlische Venus entzündet[]« (AW: S. 390) – und mit ihr die Gürtelträgerin – unterschieden wissen von erotisch-sinnlichem Begehren, mit dem die anmutige Liebe nichts zu tun hat. Die anmutige Schönheit wird vielmehr mit dem »Winckelmannschen ästhetischen Blick [betrachtet], der den schönen Körper gleich einer Statue distanziert wahrnimmt und beurteilt«.52 Dementsprechend unterscheidet Schiller zwischen Liebe zur Anmut und Wollust: »Wahre Schönheit, wahre Anmut soll niemals Begierde erregen« (AW: S. 390), ist doch das sinnliche Verlangen immer ein Ausdruck der Determination durch den Naturtrieb. Dies steht jedoch in Kontrast zu Schillers Auffassung von Liebe, die alleine eine »freie Empfindung […] unserer göttlichen Natur« (AW: S. 388 f.) ist.53 Der mit dem »Stachel des Spotts« (AW: S. 391) einhergehende Sinnenreiz, welcher der Anmut zu eigen ist, erinnert vielmehr an die erosbesetzte Liebe und den auf das übersinnlich Schöne verweisende »Stachel des Sinnlichen«,54 wie er aus der platonischen Philosophie bekannt ist.55 50 Manfred Frank: Lust am Schönen: Schillers Ästhetik zwischen Kant und Schelling. In: Jan Bürger (Hrsg.): Friedrich Schiller. Dichter, Denker, Vor- und Gegenbild. Göttingen: Wallstein, 2007, S. 136 – 157, hier S. 148 – 151. Frank zeigt, dass die Liebesmetaphorik als Ausdruck der Vereinigung von Natur und Vernunft sich auch in anderen Schriften Schillers wiederfindet. 51 Friedrich Schiller : Das Ideal und das Leben. In: Georg Kurscheidt (Hrsg.): Friedrich Schiller : Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 1: Gedichte. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag, 1992, S. 152 – 156, hier S. 154. Vgl. auch Peter Frey : Die Philosophie der Kunst denkt sich zu Ende. Dissertation, Johann Wolfgang Goethe Universität Frankfurt, 1977, S. 39. 52 Kristina Bonn: Vom Schönen. Schönheitskonzeptionen bei Lessing, Goethe und Schiller. Bielefeld: Aisthesis, 2008, S. 198. 53 Den Gedanken, dass erotisches Begehren Schönheit zerstört, hat Schiller schon in Über das gegenwärtige teutsche Theater ausgeführt: Mareen van Marwyck: Gewalt und Anmut: weiblicher Heroismus in der Literatur und Ästhetik um 1800. Bielefeld: Transcript, 2010, S. 144 f. Schiller verbindet, so van Marwyck, das äußere Erscheinungsbild der Anmut mehr mit Frauen, das Gegenkonzept der Würde jedoch mit Männern (vgl. auch AW: S. 372). Van Marwyck macht darauf aufmerksam, dass sich die Geschlechterproblematik bereits im Brief eines reisenden Dänen zeigt (Mareen van Marwyck: Gewalt und Anmut: weiblicher Heroismus in der Literatur und Ästhetik um 1800. Bielefeld: Transcript, 2010, S. 141). 54 Renate Reschke: Schön/Schönheit. In: Karlheinz Barck u. a. (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 5: Postmoderne – Synästhesie. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2003, S. 390 – 436, hier S. 404. 55 Schiller spricht auch von der durch die Anmut erzielte, »selige[n] Bezauberung der platonischen Liebe« (AW: S. 390). Zur Verbindung von anmutiger Schönheit und Liebe, welche an
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Ein Schlüsselbegriff im Schönheitskonzept Schillers ist der des Spiels, den er in Anlehnung an Kants Formel des »freien Spiels der Erkenntnisvermögen«56 aus der Kritik der Urteilskraft systematisch zu einer Theorie des Spiels ausarbeitet.57 Wird die Anmut im vorhergehenden Abschnitt als das äußere Erscheinungsbild des in sich selbst ruhenden Menschen aufgefasst, so fokussiert der Spielbegriff die platonische Tradition erinnert, in der Eros als Stachel, als Antrieb zum Schönen gilt, siehe auch Reinhard Löw : Über das Schöne: Warum das Schöne schön ist. Stuttgart, Wien: Weitbrecht, 1994, S. 93. 56 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. In: Wilhelm Weischedel (Hrsg.): Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Bd. 9. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1977, S. 73 – 457, hier S. 132, Herv. i. O. Zum Spielbegriff bei Kant vgl. das erste Kapitel bei Ingeborg Heidemann: Der Begriff des Spieles und das ästhetische Weltbild in der Philosophie der Gegenwart. Berlin: de Gruyter, 1968. 57 Die Spielmetaphorik gab es schon vor Schiller, jedoch noch nicht in systematischer Weise. »Erst bei Kant, Schiller und im Deutschen Idealismus […] wird [Spiel, Anm. d. V.] philosophisch relevant.« (Angelika Corbineau-Hoffmann: Spiel. In: Joachim Ritter und Karlfried Gründer (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 9: Se – Sp. Basel: Schwabe, 1995, S. 1383 – 1390, hier S. 1384) Vgl. auch: »Schiller ist […] noch lange ehe das Spiel als kulturtheoretischer Terminus salonfähig wurde […] zu weitreichenden Einsichten für eine Theorie des Spiels gelangt […]« (Sybille Krämer: Ist Schillers Spielkonzept unzeitgemäß? Zum Zusammenhang von Spiel und Differenz in den Briefen »Über die ästhetische Erziehung des Menschen«. In: Jan Bürger (Hrsg.): Friedrich Schiller. Dichter, Denker, Vor- und Gegenbild. Göttingen: Wallstein 2007, S. 158 – 171, hier S. 159). Schillers Ästhetik des Spiels antizipiert moderne Spielkonzepte. So lässt sich eine Verbindung ziehen zwischen Schillers Spieltheorie und Wittgensteins Sprachspiel, Derridas »Spiel der diff¦rance« und Freuds »Fort-Da-Spiel« (Reingard Nethersole: »…die Triebe zu lesen, zu schaffen, zu spielen«: Schillers Spieltriebkonzeption aus gegenwärtiger Sicht. In: Hans-Jörg Knobloch und Helmut Koopmann (Hrsg.): Schiller heute. Tübingen: Stauffenburg-Verlag, 1996, S. 167 – 188, hier S. 167, S. 171, Anm. 16). Zum Spielbegriff siehe weiterhin Tanja Wetzel: Spiel. In: Karlheinz Barck u. a. (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 5: Postmoderne – Synästhesie. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2003, S. 577 – 618; Kai Haucke: Spiel. In: Achim Trebeß (Hrsg.): Metzler Lexikon Ästhetik: Kunst, Medien, Design und Alltag. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2006, S. 355 – 357; Konrad Lotter : Spiel. In: Wolfhart Henckmann und Konrad Lotter (Hrsg.): Lexikon der Ästhetik. München: Beck, 1992, S. 225 – 226; Ingeborg Heidemann: Der Begriff des Spieles und das ästhetische Weltbild in der Philosophie der Gegenwart. Berlin: de Gruyter, 1968; Angelika Corbineau-Hoffmann: Spiel. In: Joachim Ritter und Karlfried Gründer (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 9: Se – Sp. Basel: Schwabe, 1995, S. 1383 – 1390; Rüdiger Safranski: Schiller und die sanfte Gewalt des Schönen. In: Sinn und Form. Beiträge zur Literatur 56.4 (2004), S. 538 – 555, hier S. 548. Schillers Spielbegriff behandelt auch Irmgard Kowatzki: Der Begriff des Spiels als ästhetisches Phänomen: Von Schiller bis Benn. Bern: Lang, 1973, S. 39 – 65. Jedoch legt Kowatzki den Spielbegriff zu eng aus, indem sie ihn in erster Linie auf die Kunst bezieht: »der Bereich des Spiels wird dem Bereich der Kunst zugeordnet« (ebd., S. 41). Früchtl reflektiert die Anwendbarkeit von Schillers Spielbegriff für die Sphäre der Politik: Josef Früchtl: Auf ein Neues: Ästhetik und Politik. Und dazwischen das Spiel. Angestoßen durch Jacques Ranciere. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 2 (2007), S. 209 – 219, hier S. 216 – 218, bes. S. 217.
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nun in metaphorischer Weise die freie innere Stimmung des mit seinen Trieben versöhnten harmonischen Menschen im Augenblick der erfahrenen Schönheit. Das Konzept des Spiels findet, nicht nur, aber überwiegend, in pervertierter Form Eingang in Johnsons Romane. Nachdem der Spielbegriff in den Kallias-Briefen und Über Anmut und Würde bereits angeklungen ist, beschreibt Schiller in Über die ästhetische Erziehung des Menschen ausführlich die Versöhnung von Natur- und Vernunfttrieb. Ihren Kampf um die Vorherrschaft aufgebend, verschmelzen die Antagonisten miteinander in schöner wechselseitiger Harmonie zu einem dritten Trieb, den Schiller Spieltrieb nennt.58 Dieser Spieltrieb ist kein eigenständiger Trieb, sondern bezeichnet die Einheit und den Einklang der ausgesöhnten Kontrahenten. In ihm verbinden sich somit die gegensätzlichen Bereiche Natur und Vernunft, Materie und Form, Leben und Gestalt und bringen »in ihrer Vereinigung die Schönheit hervor« (ÄE: S. 610). »Schönheit«, so heißt es weiter, »ist das gemeinschaftliche Objekt beider Triebe, das heißt, des Spieltriebs.« (ÄE: S. 611) In Über Anmut und Würde erklärt Schiller bereits, dass »derjenige Zustand des Gemüts, wo Vernunft und Sinnlichkeit – Pflicht und Neigung – zusammenstimmen, die Bedingung sei, unter der die Schönheit des Spiels erfolgt.« (AW: S. 365, Herv. i. O.)59 Nur dort, bei der Schönheit und im Spiel mit ihr, kann sich der Mensch als Mensch erfahren. Diese Gedanken zu Spiel und Schönheit kulminieren in den zwei wohl prominentesten Aussprüchen der ästhetischen Briefe: »Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt« (ÄE: S. 614, Herv. i. O.), lautet der eine. Der andere postuliert: »Der Mensch soll mit der Schönheit nur spielen und er soll nur mit der Schönheit spielen.« (ÄE: S. 614, Herv. i. O.) Spiel und Schönheit stehen in einem wechselseitigen Verhältnis zueinander : So ist die Schönheit einerseits das Produkt des Spieltriebs, umgekehrt kann aber auch das, was in Natur oder Kunst auf die Idee der Schönheit symbolisch verweist, den Spieltrieb im Menschen auslösen und damit seine Schönheit erst herstellen. Im Zustand des Spiels und der Schönheit erfährt der Mensch seine ursprüngliche und wahre Bestimmung der Freiheit und Autonomie. Wir erleben somit jene Eigenschaften der Losgelöstheit von äußeren Bestimmungen und des ›Nicht-von-außen-bestimmt-seins‹, die in den Kallias-Briefen beschrieben werden. Im Spiel der Schönheit determinieren und nötigen die Triebe den Menschen nicht mehr, weder in materieller noch in vernünftig-moralischer 58 Zum Begriff des Spieltriebs siehe Ursula Franke: Spieltrieb. In: Joachim Ritter und Karlfried Gründer (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 9: Se – Sp. Basel: Schwabe, 1995, S. 1396 – 1398. 59 Vgl. auch AW: S. 361.
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Hinsicht. Das Spiel »[fügt] sich keiner Seite […]: weder einer intelligiblen, moralischen noch einer naturkausalen, mechanischen Notwendigkeit«.60 Schon die Metaphorik des Spiels deutet in ihrer Bildlichkeit auf die Entbindung von Zwängen und das Freiwillige einer Tätigkeit hin, meint Spiel doch eine von Pflichten und Zwecken gelöste Aktivität, die dem Bereich der Freizeit und des Vergnügens angehört. Damit grenzt sich diese Sphäre deutlich vom Aufgabenkreis des Alltags und des Ernstes ab. Während die Welt der Arbeit Sorge, Gleichförmigkeit, Gewohnheit, Entfremdung, Zwang und Fremdbestimmung umfasst, so lässt uns die Freizeit Selbstbestimmung und Freiheit erfahren und unser Leben als »Erlebnis«61 und »Fest«62 genießen. Im Zustand des Spiels befinden wir uns in einer von der Wirklichkeit abgeschiedenen Parallelwelt, die uns – zumindest für eine kurze Zeit – herauslöst aus den Zwängen der Realität, welche immer nur nach dem Nutzen und der Effektivität einer Aktion fragt und in der wir unser Dasein als einen von allen physischen und psychischen Determinationen, Zwängen, Bedürfnissen, Nöten und Sorgen, kurz: vom ganzen Ernst des Lebens befreiten Zustand erfahren, wie das Kind in Schillers Gedicht Der spielende Knabe.63 Indem der Spieltrieb »die Zeit in der Zeit aufzuheben« (ÄE: S. 607, Herv. i. O.) scheint,64 fühlt sich der Mensch dem Ablauf des Uhrwerks und der Geschichte entzogen. Zwar lösen sich die Sorgen der realen Welt nicht in Luft auf, jedoch stellt sich im Augenblick des Spiels mit der Schönheit das freie Lebensgefühl einer vollkommenen Gleichgültigkeit und Interesselosigkeit gegenüber den Lasten des Alltags ein. Der Ernst des Lebens und »[d]ie Arbeit […], die hag’re, die ernste«,65 werden mit einem Mal klein und leicht und verlieren all ihre Bedrohlichkeit. Schiller hat diese freie und gleichgültige Stimmung im 15. der Briefe über die ästhetische Erziehung beschrieben: 60 Kai Haucke: Spiel. In: Achim Trebeß (Hrsg.): Metzler Lexikon Ästhetik: Kunst, Medien, Design und Alltag. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2006, S. 355 – 357, hier S. 356. 61 Konrad Lotter: Alltag. In: Wolfhart Henckmann und Konrad Lotter (Hrsg.): Lexikon der Ästhetik. München: Beck, 1992, S. 13 – 15, hier S. 13. 62 Ebd., S. 13. 63 Ludwig Harig: »Entkörpert steh ich da«. Schillers Spielgedanke. In: Jan Bürger (Hrsg.): Friedrich Schiller. Dichter, Denker, Vor- und Gegenbild. Göttingen: Wallstein, 2007, S. 216 – 224, hier S. 216; Reinhard Löw : Über das Schöne: Warum das Schöne schön ist. Stuttgart, Wien: Weitbrecht, 1994, S. 149. 64 Zum Stillstehen der Zeit und zur »›Zeitlosigkeit‹ des Schönen« vgl. Wolfgang Janke: Die Zeit in der Zeit aufheben: Der transzendentale Weg in Schillers Philosophie der Schönheit. In: Jürgen Bolten (Hrsg.): Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1984, S. 229 – 259, hier S. 253. Siehe auch Till Brockmann: Schön langsam. Vier Thesen zur Ästhetik der Zeitlupe. In: Cinema: Schön 53 (2008), S. 10 – 16. 65 Friedrich Schiller : Der spielende Knabe. In: Georg Kurscheidt (Hrsg.): Friedrich Schiller : Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 1: Gedichte. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag, 1992, S. 246.
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Aber das Leben wird gleichgültiger, so wie die Würde sich einmischt, und die Pflicht nötigt nicht mehr, sobald die Neigung zieht: eben so nimmt das Gemüt die Wirklichkeit der Dinge, die materiale Wahrheit, freier und ruhiger auf […] indem es mit Ideen in Gemeinschaft kommt, verliert alles Wirkliche seinen Ernst, weil es klein wird, und indem es mit der Empfindung zusammen tritt, legt das Notwendige den seinigen [Ernst, Anm. d. V.] ab, weil es leicht wird. (ÄE: S. 612)
Durch die Aufhebung aller Gegensätzlichkeiten und Determinationen versetzt der Spieltrieb den Menschen in einen göttergleichen Zustand. Im Leben der Götter offenbart sich für Schiller das leichteste und freieste Sein, da sich »höchste Selbständigkeit und Freiheit« (ÄE: S. 602) mit einem »seligen Müßiggange« (ÄE: S. 577) verbindet. Im 15. Brief schreibt er über die »in den Olympus« (ÄE: S. 614) projizierten Träume der Griechen: Sie ließen sowohl den Ernst und die Arbeit […] aus der Stirne der seligen Götter verschwinden, gaben die ewig zufriedenen von den Fesseln jedes Zweckes, jeder Pflicht, jeder Sorge frei, und machten den Müßiggang und die Gleichgültigkeit zum beneideten Lose des Götterstandes: ein bloß menschlicherer Name für das freieste und erhabenste Sein. (ÄE: S. 614)
In der Allegorie des Göttlichen bringt Schiller die Autonomie, Selbstbestimmung und Freiheit des Menschen in ihrer höchsten Form zum Ausdruck und verknüpft sie zugleich mit den Konzepten der Schönheit und des Spiels: »[E]s ist das absolut Große selbst, was in der Anmut und Schönheit sich nachgeahmt […] findet, es ist der Gesetzgeber selbst, der Gott in uns, der mit seinem eigenen Bilde in der Sinnenwelt spielt.« (AW: S. 389, Herv. i. O.) Der Spieltrieb evoziert beim Menschen im Zusammenhang mit dem himmlischen Gefühl eine freie ästhetische Stimmung, einen »ästhetischen Zustand[]« (ÄE: S. 636, S. 633). Die charakteristischen Stimmungsmomente der spielerischen Situation, die sich als Folge dieser wenn auch nur momentanen Befreiung einstellen, sind für Schiller Unbeschwertheit, Bestimmungslosigkeit, Leichtigkeit und Heiterkeit, die sich besonders eindringlich an Johnsons Ingrid studieren lassen. Schiller umkreist diese Emotionen – nicht erst in den ästhetischen Briefen, sondern auch schon in den Kallias-Briefen und in Über Anmut und Würde – vielfach und mit variierenden Wendungen, um das reiche Spektrum an Gefühlsnuancen zu beschreiben. So vermag das »heitre und in sich harmonische Gemüt« (ÄE: S. 346) im ästhetisch-schönen Augenblick »Genuß« (ÄE: S. 668), »Wohlgefallen« (ÄE: S. 672, K: S. 297) und Vergnügen (AW: S. 364) zu empfinden, die sich bis zur »Lust an der Schönheit« (K: S. 287) und zur »freie[n] Lust« (ÄE: S. 672) steigern können. Dies erinnert an das heitere und vergnügte Wesen der Anmut und deren Haupteigenschaften: das lachende Scherzen und wohlmeinend-neckende Spotten. Die Stimmung der Heiterkeit, Leichtigkeit und Losgelöstheit manifestiert sich
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äußerlich im anmutigen Bewegungs-Spiel. Es ist hier deutlich ein Zusammenhang zwischen dem Konzept der Anmut, die sich tänzerisch und spielend leicht bewegt, und jenem des Spiels zu erkennen. So schildert Schiller in Über die ästhetische Erziehung des Menschen das »freie Spiel der Glieder« (ÄE: S. 577) und in Über Anmut und Würde spricht er vom »sympathetischen Spiel« (AW: S. 356) der Bewegungen, vom »Spiele der Augen und des Mundes, von den Bewegungen der Hände und der Arme bei jedem freien Gebrauch derselben« (AW: S. 352). Auch in seinem Gedicht Der Tanz66 gestaltet er das spielerische Moment der freien Bewegung.67 Dieses glückliche Los, das Göttergleichnis weist schon darauf hin, mag für Götter erreichbar sein, nicht aber für den Menschen. Die vollkommene Vereinigung beider Triebe im Spieltrieb ist lediglich »die Idee seiner Menschheit« (ÄE: S. 606, Herv. d. V.). Mit der Konstitution eines »Ideal[s] der Schönheit« (ÄE: S. 613) meint Schiller gleichzeitig ein »Ideal des Spieltriebs« (ÄE: S. 613). Er weiß durchaus, dass der Mensch dieses Ideal in der Wirklichkeit nicht erreichen kann und dass es sich im spielerischen Freiheitserleben und im ästhetischen Zustand nicht selbst realisiert. Denn wir erfahren unsere Unbeschwertheit nicht positiv, sondern nur negativ durch die Abwesenheit von Interessen, Zwecken und Determinationen, fühlen uns also bestimmungslos, interesselos und in wörtlicher Bedeutung zwecklos. Wenn auch das Ideal des Spieltriebs nicht zu erlangen ist, so kann der Mensch dennoch auf künstliche Weise für eine kurze Zeit eine spielerische Stimmung in sich erzeugen. Vor allem die schöne Kunst eröffnet mit dem »Spiele der Musen« (BG: S. 972) dem Menschen Räume und Möglichkeiten zur Entfaltung seines Spieltriebs – man denke etwa an ein Schau-Spiel68 oder ein Klavier-Spiel.69 Als Kunst- und insbesondere Musikliebhaberin wird dieser Gedanke bei Ingrid
66 Friedrich Schiller : Der Tanz. In: Georg Kurscheidt (Hrsg.): Friedrich Schiller : Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 1: Gedichte. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag, 1992, S. 443 – 444. 67 Ein Zusammenhang zwischen Spiel und Bewegungsschönheit lässt sich nicht zuletzt auch auf etymologischer Ebene belegen, ist die Bedeutung des Substantivs Spiel u. a. doch »Tanz, tänzerische Bewegung« (Duden. Das Herkunftswörterbuch. Bd. 7. Mannheim u. a.: Dudenverlag, 2001, S. 788). Siehe dazu auch Angelika Corbineau-Hoffmann: Spiel. In: Joachim Ritter und Karlfried Gründer (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 9: Se – Sp. Basel: Schwabe, 1995, S. 1383 – 1390, hier S. 1383; Gabriele Brandstetter : Schillers Spielbein: Bewegung und Tanz. Zu einer Ästhetik im Zeichen von ›movere‹. In: Felix Ensslin (Hrsg.): Spieltrieb. Was bringt die Klassik auf die Bühne? – Schillers Ästhetik heute. Berlin: Theater der Zeit, 2006, S. 165 – 181, hier S. 165, S. 173. 68 Vgl. ÄE: S. 585, AW: S. 351, Anm. 5. 69 Ludwig Harig: »Entkörpert steh ich da«. Schillers Spielgedanke. In: Jan Bürger (Hrsg.): Friedrich Schiller. Dichter, Denker, Vor- und Gegenbild. Göttingen: Wallstein, 2007, S. 216 – 224, hier S. 219.
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evident, aber auch Gesine hört, wenn auch weitaus seltener, von Zeit zu Zeit Musik, wohnt Konzerten im New Yorker Central Park bei oder geht ins Kino. Ebenso in der Natur kann sich der Spieltrieb im Menschen entfalten. In der belebten und unbelebten Natur erkennt Schiller eine Vorstufe zum ästhetischen Spiel, er spricht in Über die ästhetische Erziehung des Menschen von einem »Vorspiel des Unbegrenzten« (ÄE: S. 669). Am Beispiel der Tiere und von im Überfluss sprießenden, blühenden und austreibenden Bäumen und Pflanzen beschreibt er »den Luxus der Kräfte und eine Laxität der Bestimmung, die man […] wohl Spiel nennen könnte« (ÄE: S. 669). Es finden sich hier schon Gedanken, die in der späteren Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung zum Thema Naivität der Natur wiederkehren. In diesem Sinn nehmen in Johnsons Romanen die mecklenburgische Natur ebenso wie die von der New Yorkerin Gesine auf ihren Ausflügen an den Wochenenden aufgesuchten Landschaften scheinbar spielerische Charakterzüge an. Weiterhin lässt sich der Spieltrieb durch die »Einbildungskraft« (ÄE: S. 669), also durch »Phantasiespiele« (ÄE: S. 669) aktivieren,70 denen die Tagträume der kleinen Marie vom Kinderparadies ›Cydamonoe‹ nahekommen. Insofern die menschliche Imagination unabhängig von der geschichtlichen Wirklichkeit ist, ermöglicht es ein solches »Spiel der freien Ideenfolge« (ÄE: S. 670, Herv. i. O.) dem Menschen, seine Freiheit, »Eigenmacht und Fessellosigkeit« (ÄE: S. 669) erfahrbar zu machen. In der Phantasie kann er sich als kleiner Schöpfer nach eigenen autonomen Gesetzen eine Parallelwelt konstruieren (vgl. ÄE: S. 670, Anm. 21). Nicht zuletzt integriert Schiller etwa die Kategorie des Sports71 in seine Untersuchung und lobt die griechischen »Kampfspiele[] zu Olympia«, die »unblutigen Wettkämpfe der Kraft, der Schnelligkeit, der Gelenkigkeit« (ÄE: S. 613).72 In den Mutmassungen erweist sich Jakob als begnadeter Handball-
70 Für Freud sind Tagträume und Phantasien eine Weiterführung des »kindlichen Spielens«: Reingard Nethersole: »…die Triebe zu lesen, zu schaffen, zu spielen«: Schillers Spieltriebkonzeption aus gegenwärtiger Sicht. In: Hans-Jörg Knobloch und Helmut Koopmann (Hrsg.): Schiller heute. Tübingen: Stauffenburg-Verlag, 1996, S. 167 – 188, hier S. 172. 71 Zu Ball- und Sportspielen, welche die Verwandtschaft des Spiels mit dem Wettkampf oder dem Sport andeuten, siehe Konrad Lotter : Spiel. In: Wolfhart Henckmann und Konrad Lotter (Hrsg.): Lexikon der Ästhetik. München: Beck, 1992, S. 225 – 226, hier S. 225. 72 Dagegen lehnt er den »Todeskampf eines erlegten Gladiators oder seines libyschen Gegners« (ÄE S. 613) ab. Schiller will also nicht alle materiellen Spiele gelten lassen: »Es gibt ein Chartenspiel und gibt ein Trauerspiel; aber offenbar ist das Chartenspiel viel zu ernsthaft für diesen Namen.« (ÄE: S. 613, Anm. 8, Herv. i. O.) Siehe auch Helmut Fuhrmann: »Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst«. Zum Begriff des Spiels in Schillers Schrift »Über die ästhetische Erziehung des Menschen«. In: Katharina Mommsen, Ludolf von Mackensen und Helmut Fuhrmann (Hrsg.): Von Goethes Dialogen und Farben zu Schillers Spiel: Beiträge der Goethe-Gesellschaft Kassel. Kassel: Wenderoth, 2008, S. 61 – 83, hier S. 76: »Wir dürfen einerseits mit dem Spiel der Schönheit nicht Ernst machen, indem wir sie mit dem Leben der
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spieler, der allerdings »nun seit vielleicht zwei Jahren nicht mehr gespielt [hat]« (MJ: S. 24).73 Allen Beispielen gemein ist das Harmonie- und Ganzheitserleben des Menschen und die Erlangung eines momentanen Genusses der Schönheit. Dennoch erfährt der Mensch im Spiel mit der Schönheit und im ästhetischen Zustand nicht die Wirklichkeit seiner wahren Berufung, seiner Totalität und Vollendung und es stellt sich die Frage, was er dann erlebt. Er erfährt die Möglichkeit, er erfährt, wie es in einer anderen Welt sein könnte. Schiller stellt das Paralleluniversum des Spiels und des Schönen als »weite[s] Reich[] des Möglichen« (ÄE: S. 625) dar, allein hier leuchtet dem Menschen die »unendliche Menge möglicher Bestimmungen« (ÄE: S. 626), die ihm potentiell zukommen können, als Idee oder Vision auf.74 Die ästhetisch-schöne Freiheit ist also nur scheinbar, d. h. ein Schein von Freiheit – dies erinnert an die Definition aus den Kallias-Briefen »Schönheit […] ist […] Freiheit in der Erscheinung« (K: S. 285, Herv. d. V.). Nachdem das Konzept der Möglichkeit in Ingrid Babendererde anklingt, wird es besonders für die Figur der Marie besprochen.75 Der spielende Mensch vermag in der Wirklichkeit als Höchstes nicht die Versöhnung der Triebe zu einer Einheit, sondern vielmehr ein Schwanken zwischen ihnen zu erreichen (vgl. ÄE: S. 615). Mit Blick auf die etymologische Wirklichkeit verwechseln, und andererseits mit dem Ernst der Wirklichkeit nicht spielen, indem wir z. B. Leib und Leben, sei es der eigenen Person, sei es anderer, ›aufs Spiel setzen‹.« 73 Zum Spektrum des Spielbereichs vgl. auch Jan Papiûr : Friedrich Schillers Spielbegriff als symbolische Form. In: Norbert Honsza (Hrsg.): Beobachtungen und Überlieferungen: germanistische Beiträge. Wrocław : Wydawn. Uniw. Wrocławskiego, 1998, S. 45 – 61, hier S. 54: »Das Bedeutungsfeld des positiven Spielbegriffes erstreckt sich einerseits vom Karten-, Ball- und Kinderspiel, dem Spiel der Verliebten, über das Spiel des Theaters, der Schauspieler, der Musik, der Mimik und von dem Spiel der verschiedenen Körperteile (z. B. der Augen, des Mundes Lächeln, dem Spiel mit den Locken des Mädchens u. a.); über das Spiel als inneres Phänomen des Menschen, wie auch als Spiel der äußeren Erscheinungen dieser Phänomene; weiter über Spiele der Musen bis zu Formen eines Welt-, Natur und Lebensspieles.« Zur Unterscheidung zwischen erotischem »Liebesspiel« und der rein sexuellen Begierde siehe Rüdiger Safranski: Schiller und die sanfte Gewalt des Schönen. In: Sinn und Form. Beiträge zur Literatur 56.4 (2004), S. 538 – 555, hier S. 548 f. Vgl. auch Reinhard Löw : Über das Schöne: Warum das Schöne schön ist. Stuttgart, Wien: Weitbrecht, 1994, S. 23. 74 Zum Begriff des Möglichen vgl. Kai Haucke: Spiel. In: Achim Trebeß (Hrsg.): Metzler Lexikon Ästhetik: Kunst, Medien, Design und Alltag. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2006, S. 355 – 357, hier S. 356; Klaus L. Berghahn: Nachwort. In: Klaus L. Berghahn (Hrsg.): Friedrich Schiller. Vom Pathetischen und Erhabenen. Schriften zur Dramentheorie. Stuttgart: Reclam, 1970, S. 133 – 157, hier S. 145. 75 Zum Begriff des Scheins bei Schiller vgl. Anne Käfer : »Die wahre Ausübung der Kunst ist religiös«: Schleiermachers Ästhetik im Kontext der zeitgenössischen Entwürfe Kants, Schillers und Friedrich Schlegels. Tübingen: Mohr Siebeck, 2006, S. 100 ff. Der Schein darf sich nicht für die Realität ausgeben, er »[muss] [a]ufrichtig und selbständig […] bleiben«: Rose Riecke-Niklewski: Die Metaphorik des Schönen: eine kritische Lektüre der Versöhnung in Schillers »Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen«. Tübingen: Niemeyer, 1986, S. 35.
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Bedeutung des Wortes Spiel, die unter anderem eine »leichte, ziellos schwebende, in sich zurücklaufende Bewegung«76 meint, erscheint das Spiel in der Realität als eine ausgleichende »Bewegungsfigur […] [,] als die Dynamik einer oszillierenden Bewegung zwischen differenten Positionen.«77 Entgegen der Meinungen, die Schillers Spielkonzept für eine weltfremde Schwärmerei halten, ist hier gerade sein analytischer und nüchterner Blick auf die Welt zu betonen. Denn Schiller verspricht nicht, der Mensch könne seine Einheit wiedererlangen, im Gegenteil: er registriert und akzeptiert die unheilbare Zerrissenheit des modernen Menschen, seine Unversöhnlichkeit mit sich selbst und seinem Leben. Denn tatsächlich sind wir nicht ›von-innen-bestimmt‹, sondern nur im günstigsten Fall ›nicht-von-außen-bestimmt‹. Das Spiel in der Welt der Erscheinungen diagnostiziert er als ein »stets labiles Verhältnis von Gegensätzen, ein nur dynamisch aufrechtzuerhaltendes Gleichgewicht«.78 »Die Aktualität von Schillers Spielkonzept liegt«, folgt man Sybille Krämer, »eben darin, eine Modalität des Umgangs mit dem Differenten in und an uns selbst zu entwerfen«,79 und zwar durch die »Eröffnung und Bewahrung von Spielräumen«.80 Deutlich sagt Schiller, dass das Leben kein Spiel ist und beide Sphären, die des Ernstes und die des Spiels, ihre eigenen Bereiche haben. Der Mensch soll, wie bereits angedeutet, nur mit der Schönheit spielen und nicht mit der Geschichte. Klar werden hier die Grenzen des Spiels und der Schönheit abgesteckt, Grenzen, welche sowohl Ingrid und Klaus als auch Gesines Tochter ignorieren. Das »fröhliche[] Reich[] des Spiels und des Scheins« (ÄE: S. 673) dient nach Schiller nicht als Flucht vor der Welt, sondern ist ein Ort der Erholung und bietet Möglichkeiten, die streitenden Triebe für kurze Zeit zur Ruhe zu bringen.81 76 Sybille Krämer : Ist Schillers Spielkonzept unzeitgemäß? Zum Zusammenhang von Spiel und Differenz in den Briefen »Über die ästhetische Erziehung des Menschen«. In: Jan Bürger (Hrsg.): Friedrich Schiller. Dichter, Denker, Vor- und Gegenbild. Göttingen: Wallstein, 2007, S. 158 – 171, hier S. 162. 77 Ebd., S. 160, Herv. i. O. 78 Josef Früchtl: Auf ein Neues: Ästhetik und Politik. Und dazwischen das Spiel. Angestoßen durch Jacques Ranciere. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 2 (2007), S. 209 – 219, hier S. 217. 79 Sybille Krämer : Ist Schillers Spielkonzept unzeitgemäß? Zum Zusammenhang von Spiel und Differenz in den Briefen »Über die ästhetische Erziehung des Menschen«. In: Jan Bürger (Hrsg.): Friedrich Schiller. Dichter, Denker, Vor- und Gegenbild. Göttingen: Wallstein, 2007, S. 158 – 171, hier S. 171. 80 Ebd., S. 171. 81 Vgl. dazu auch Clemens Stepina: Das Spiel als Inbegriff des Menschen? Kritik an einer konservativen Schiller-Rezeption. In: New German Review 20 (2004 – 2005), S. 74 – 83. Stepina hat zwar Recht, wenn er darauf aufmerksam macht, dass ursprünglich das Spiel mit der Schönheit von Schiller dazu angelegt war, Gesellschaft und Menschen zu bessern und das »Spiel als Form menschlichen Handelns« (ebd., S. 78) einzuüben. Es hatte die revolutionäre Umgestaltung zum Ziel. Gleichwohl, so ist hier hinzuzufügen, musste Schiller sich eingestehen, dass die geschichtliche Welt niemals spielerisch zu bewältigen ist, weswegen er gegen
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Hat Schiller in seinen ästhetischen Schriften zunächst der schönen Kunst den Vorzug gegeben, der Idee der Schönheit als Muster zu dienen, so erhält – angeregt durch die Begegnung mit Goethe – immer merklicher auch die schöne Natur82 diese Verweisungsfunktion (NSD: S. 706 f.) – in Hinblick auf die Naturschilderungen Mecklenburgs besonders in Johnsons erstem Roman, aber auch im Zusammenhang mit Gesines Kindheitserinnerungen an die Ferien auf Fischland soll dieser Gedanke in der Textanalyse behandelt werden. In der späten Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung aus dem Jahr 1795/96 kommt diese Verweisungsfunktion der Natur offenkundig zum Ausdruck. Im Kontext der Schiller’schen Schönheitslehre ist Natur, anders als aus dem Blickwinkel der Theorie des Erhabenen, positiv besetzt und erscheint arglos und unverfälscht, als »unschuldige« (NSD: S. 764), »weise« (ÄE: S. 557), »edle« (ÄE: S. 584), »freiwillige[]« (ÄE: S. 558), »heil’ge[]«83 oder »fromme Natur«.84 In Über naive und sentimentalische Dichtung verwendet Schiller den Terminus des Naiven,85 um die positiven Seiten des Naturbegriffs bündig zu bezeichnen.
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Ende der Briefe die Sphäre der Geschichte und des Spiels und Scheins voneinander getrennt halten wollte. Der Begriff der Natur ist bei Schiller mehrdeutig besetzt. Natur meint einmal den aus der aufgeklärten und modernen Menschheit verschwundenen Naturanteil, das arglose Sinnliche, das im Verbund mit der Vernunft wirkt und gemeinsam mit ihr die Schönheit des Menschen hervorbringt. Weiterhin verwendet Schiller den Begriff der Natur auch im Sinne von ›Menschennatur‹, also Wesensart des Menschen. So spricht er beispielsweise von der »menschlichen Natur« (ÄE: S. 572), der »gemischte[n] Natur« des Menschen (ÄE: S. 631, Anm. 12), den »streitenden Kräfte[n] der [menschlichen, Anm. d. V.] Natur« (ÄE: S. 656) oder auch der »griechische[n] Natur« (ÄE: S. 570). Überdies tritt der Naturbegriff zuweilen auch in der Bedeutung von Freiheit und Selbstgesetzgebung auf, so in den Kallias-Briefen, wenn Schiller die Formel »Schönheit ist Freiheit in der Erscheinung« alternativ formuliert: »daß Schönheit nichts anders als Natur in der Technik, Freiheit in der Kunstmäßigkeit sei« (K: S. 308). Vgl. dazu auch: »daß das schöne Ding ein Naturding ist, d.i. daß es durch sich selbst ist« (K: S. 308). Nicht zuletzt kann Natur auch ganz allgemein als das sinnlich Erscheinende aufgefasst werden, wenn Schiller von der »Natur als Erscheinung« (ÄE: S. 656) spricht. Welche Bedeutung von Natur jeweils zugrunde liegt, erschließt sich aus dem jeweiligen Kontext. Friedrich Schiller : Der Spaziergang. In: Georg Kurscheidt (Hrsg.): Friedrich Schiller : Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 1: Gedichte. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag, 1992, S. 34 – 42, hier S. 40. Ebd., S. 42. Das Wort naiv leitet sich vom lateinischen »nativus« her und bedeutet »durch Geburt entstanden; angeboren, natürlich«: Carlos Rincûn: Naiv/Naivität. In: Karlheinz Barck u. a. (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 4: Medien – Populär. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2002, S. 347 – 377, hier S. 350. Als Gegenbegriff zum Sentimentalen wurde ›naiv‹ als ästhetische Kategorie Mitte des 18. Jahr-
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Naiv wird somit bei ihm zu einem Ausdruck, der summarisch für bejahend gewertete Wesensmerkmale wie einfache »Natürlichkeit«, »Aufrichtigkeit, Ungekünsteltheit und Offenherzigkeit«86 steht, ebenso wie für eine »durch fehlende Reflexivität gekennzeichnete[] Empfindungs- und Darstellungsweise«.87 Naivität und die positiv konnotierte Natur können bei Schiller weitgehend als Synonyme aufgefasst werden.88 Das Konzept der Naivität bzw. naiven Natur ist, ebenso wie das der Anmut und des Spiels, zentraler Bestandteil von Schillers Ästhetik des Schönen, dies wird schon dadurch deutlich, dass die Begriffe des Naiven, der Natur und des Schönen häufig in einem Atemzug genannt werden.89 So spricht Schiller etwa von der »schöne[n] Natur« (NSD: S. 765, Herv. i. O.) oder behauptet gar, »[d]ie Schönheit ist Natur« (ÄE: S. 636, Herv. i. O.), weiterhin lobt er die »schöne Einfalt der Natur« (NSD: S. 754) und »das Schöne der lebendigen Natur« (ÄE: S. 667). Schon in den Kallias-Briefen hat er mit der rhetorischen Frage »[w]arum ist das Naive schön?« und ihrer Beantwortung »[w]eil die Natur darin über Künstelei und Verstellung ihre Rechte behauptet« (K: S. 314) die Entwürfe des Schönen und des Naiven aufeinander bezogen. Dort heißt es auch: »Die große Idee der Selbstbestimmung strahlt uns aus gewissen Erscheinungen der Natur
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hunderts vom französischen »nave, naif« ins Deutsche übernommen. Zur Begriffsgeschichte des Worts naiv siehe ebd., S. 347 – 354. Es gab also schon vor Schillers Auseinandersetzung mit dem Begriff des Naiven eine Diskussion, die Schiller gekannt haben dürfte. Eine ausführliche Auflistung, wer im 18. Jahrhundert das Naive behandelt hat, findet sich bei Helmut Koopmann: Über naive und sentimentalische Dichtung. In: Helmut Koopmann (Hrsg.): Schiller-Handbuch. Stuttgart: Kröner, 1998, S. 627 – 638, hier S. 629. Carlos Rincûn: Naiv/Naivität. In: Karlheinz Barck u. a. (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 4: Medien – Populär. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2002, S. 347 – 377, hier S. 348, S. 352, S. 361; Helmut Koopmann: Über naive und sentimentalische Dichtung. In: Helmut Koopmann (Hrsg.): Schiller-Handbuch. Stuttgart: Kröner, 1998, S. 627 – 638, hier S. 630. Carlos Rincûn: Naiv/Naivität. In: Karlheinz Barck u. a. (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 4: Medien – Populär. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2002, S. 347 – 377, hier S. 351. Angemerkt sei hier die »Überlegung, inwieweit naiv mit natürlich gleichzusetzen sei, insofern alles Naive gleichsam natürlich sei, während alles Natürliche nicht unbedingt naiv sein müsse.« (Ebd., S. 352) Vgl. hierzu auch: »Schiller löste das Phänomen des Naiven freilich rasch aus der rein ästhetischen Diskussion des achtzehnten Jahrhunderts heraus, und zwar dadurch, daß er im Naiven das fand, was er […] als Eigentümlichkeit des Schönen herausdestilliert hatte: nämlich Zweckfreiheit eines Menschen oder auch einer Sache.« (Helmut Koopmann: Über naive und sentimentalische Dichtung. In: Helmut Koopmann (Hrsg.): Schiller-Handbuch. Stuttgart: Kröner, 1998, S. 627 – 638, hier S. 629) Siehe auch: Mit dem Naiven »greift Schiller […] die Charakterisierung des Schönen […] wieder auf.« (Matthias Ruppert: Unvollendete Totalität. Untersuchungen zu Friedrich Schillers Konzept einer vollständigen ästhetischen Erziehung. Mainz: Gardez!-Verlag, 1996, S. 153)
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zurück, und diese nennen wir Schönheit.« (K: S. 288)90 Als einen weiteren Unteraspekt innerhalb seiner Ästhetik des Schönen stellt Schiller somit das Naive als »naive Schönheit« (NSD: S. 752, S. 780) neben die anmutige Schönheit, die Schönheit der Kunst und die Schönheit des Spiels. Wie bereits die schöne Kunst und die anmutige Schönheit, so dient auch die naive Natur der höheren Idee der menschlichen Schönheit und Ganzheit zum Symbol (vgl. NSD: S. 706 f.): »[E]s ist eine durch sie [die Gegenstände naiver Natur, Anm. d. V.] dargestellte Idee, was wir in ihnen lieben.« (NSD: S. 707) Diese Idee, welche durch die naive Natur transportiert wird, führt zurück zu eben jenem Kerngedanken der menschlichen Autonomie. »Natur in dieser Betrachtungsart«, heißt es in Über naive und sentimentalische Dichtung, ist uns nichts anders, als das freiwillige Dasein, das Bestehen der Dinge durch sich selbst, die Existenz nach eignen und unabänderlichen Gesetzen. […] Wir lieben in ihnen das stille schaffende Leben, das ruhige Wirken aus sich selbst, das Dasein nach eignen Gesetzen, die innere Notwendigkeit, die ewige Einheit mit sich selbst. (NSD: S. 706 f.)
Dies entspricht genau der schon in den Kallias-Briefen formulierten Menschheitsidee des ›Von-innen-bestimmt-seins‹, die uns jetzt in Gestalt naiver Natur begegnet und bewusst macht, was wir einmal waren, was wir nicht mehr sind und doch aufgrund unseres Menschseins sein sollten. Die naive Natur ist damit für uns »Muster« (NSD: S. 708) unserer eigenen Menschheitsbestimmung, unseres eigenen Menschheitszweckes. Sie [die naiven Dinge, Anm. d. V.] sind, was wir waren […] Sie sind also zugleich Darstellung unserer verlorenen Kindheit, die uns ewig das teuerste bleibt […] Zugleich sind sie Darstellungen unserer höchsten Vollendung im Ideale […] Sie verschaffen uns daher den süßesten Genuß unserer Menschheit als Idee (NSD: S. 708, Herv. i. O.).
Relikte naiver Natur sieht Schiller in der einfachen, ursprünglichen und vorzivilisatorisch anmutenden Landschaft wie in der Tierwelt, in den einfachen Sitten des Landvolkes und in Kindern und kindlich gesinnten Menschen, ebenso in der naiven Dichtung. Für diese Untersuchung sind besonders die Aspekte der Naturlandschaft91 und des kindlichen Wesens relevant. Die naive Schönheit der Natur schildert Schiller in Über naive und sentimentalische Dichtung am Beispiel »unscheinbare[r] Blume[n]«, »Quelle[n]«, »bemooster Stein[e]«, des »Gezwitscher[s] der Vögel« und des »Summen[s] der Bienen« (alle NSD: S. 707). 90 Natur kann hier auch in einem umfassenderen Sinn als sinnliche Erscheinung verstanden werden. 91 Vgl. auch Jörg Robert: Die Kunst der Natur. Schillers Landschaftsästhetik und die anthropologische Revision von Lessings Laokoon. In: Georg Braungart und Bernhard Greiner (Hrsg.): Schillers Natur. Leben, Denken und literarisches Schaffen. Hamburg: Meiner, 2005, S. 139 – 154.
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Schillers Ästhetik des Schönen
In der ebenfalls 1795 erschienenen Ballade Der Spaziergang tritt das Naive schöner Natur durch Beschreibungen wie »blühende[] Au«,92 »blendende[r] Glanz«,93 »[r]uhige Bläue«,94 »freundliches Grün«,95 »liebliche[r] Anblick«96 und »lachend[es] […] Blau«97 als Naturidylle vor das innere Auge des Lesers. Naive Natur erscheint in dieser Betrachtungsweise »jugendlich immer, in immer veränderter Schöne«.98 Diese arkadisch anmutenden Naturbilder erinnern an den bereits bei Pseudo-Longinos verwendeten Topos des locus amoenus mit dem idyllischen Bachlauf, der das Schöne repräsentiert und im Gegensatz zum Ozean oder reißenden Strom als Inbegriff des Erhabenen steht.99 Wenn Schiller sich besonders nach der Begegnung mit Goethe der lieblichen Seite der Natur öffnet, so hat er sich doch durchaus schon in früheren Schriften mit dem Naturschönen beschäftigt. Beispielsweise heißt es schon in den Philosophischen Briefen der vorkantischen Philosophie des jungen Schiller : »Es gibt Augenblicke im Leben, wo wir aufgelegt sind, jede Blume und jedes entlegene Gestirne, jeden Wurm und jeden geahndeten höheren Geist an den Busen zu drücken – ein Umarmen der ganzen Natur gleich unsrer Geliebten.« (PhB: S. 224)100 In den Kallias-Briefen exemplifiziert Schiller an »Birke, […] Fichte, […] Pappel« (K: S. 312) sowie »Menschen, Tiere[n], Wolken« (K: S. 313), wann sie, ihren Charakteristika entsprechend, in »einem freien Spiel der Natur« (K: S. 311) als schön erscheinen. Weiterhin gibt es in den ästhetischen Briefen einen längeren Absatz über die »unbeseelte[] Natur« (ÄE: S. 669), wobei Schiller hier am Beispiel der im Überschwang keimenden und sprießenden Natur und spielender Tiere den Spieltrieb beschreibt und damit einen Zusammenhang zwischen den Konzepten des Spiels und der Naivität herstellt. Neben der unberührten Natur ist für diese Arbeit ein weiterer zentraler Aspekt die natürliche Wesens- und Gesinnungsart des Kindes, in welcher sich die naive Natur gleichermaßen offenbart. In »seiner reinen Unschuld« (NSD: S. 709), »seiner reinen und freien Kraft, seiner Integrität, seiner Unendlichkeit« (NSD: S. 710) – kurz: in seiner »kindliche[n] Einfalt« (NSD: S. 710) – erblickt 92 Friedrich Schiller : Der Spaziergang. In: Georg Kurscheidt (Hrsg.): Friedrich Schiller : Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 1: Gedichte. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag, 1992, S. 34 – 42, hier S. 35. 93 Ebd., S. 35. 94 Ebd., S. 34. 95 Ebd., S. 35. 96 Ebd., S. 36. 97 Ebd., S. 35. 98 Ebd., S. 42. 99 Carsten Zelle: Über naive und sentimentalische Dichtung (1795/96). In: Matthias LuserkeJaqui (Hrsg.): Schiller-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2005, S. 451 – 479, hier S. 470. 100 Matthias Ruppert: Unvollendete Totalität. Untersuchungen zu Friedrich Schillers Konzept einer vollständigen ästhetischen Erziehung. Mainz: Gardez!-Verlag, 1996, S. 150.
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der Mensch sein eigenes »entflohene[s] Alter der Kindheit und der kindischen Unschuld« (NSD: S. 726) wie das der Menschheit insgesamt: »Unsre Kindheit«, heißt es in Über naive und sentimentalische Dichtung, »ist die einzige unverstümmelte Natur, die wir in der kultivierten Menschheit noch antreffen« (NSD: S. 726). Naive kindliche Umgangsformen, wie diese an Gesines Tochter Marie kritisch erörtert werden, müssen aber nicht allein Kindern zukommen, sondern können sich auch in gewissen naiven Handlungen und Charakterzügen mancher vom Alter her der Kindheit bereits entwachsenen Personen zeigen – zu denken ist hier an die idealisierte Figur der Ingrid. Wie im Wesen des Kindes drückt sich auch in ihnen instinktiv eine »moralische Größe« (NSD: S. 713) und »sinnliche Wahrheit« (NSD: S. 735) aus, die im Kontrast zu aller Künstelei und Falschheit der Kultur steht. Unehrlichkeit und Verlogenheit begegnen sie mit ihrer selbstvergessenen und »natürliche[n] Aufrichtigkeit, welche jede Krümme und jeden Schein von Falschheit verachtet« (NSD: S. 721). Sie »erzeugen eine Naivetät des Ausdrucks im Umgang, welche darin besteht, Dinge, die man entweder gar nicht oder nur künstlich bezeichnen darf, mit ihrem rechten Namen […] zu benennen« (NSD: S. 721) – selbst dann, wenn eine intuitiv ausgesprochene Wahrheit einen Nachteil oder eine Sanktion für sie nach sich ziehen sollte (NSD: S. 715). Sie »handeln und denken oft mitten unter den gekünstelten Verhältnissen der großen Welt naiv ; sie vergessen aus eigener schöner Menschlichkeit, daß sie es mit einer verderbten Welt zu tun haben« (NSD: S. 716). An dieser Stelle wird deutlich, dass sich das Konzept der Naivität mit jenem der schönen Seele und der Anmut überschneidet.101 Formulierungen, wie sie der Schrift Über Anmut und Würde entnommen sein könnten – etwa die der »schöne[n] Menschlichkeit« (NSD: S. 716), des »schönen Herzen[s]« (NSD: S. 743), des »schöne[n] Charakter[s]« (NSD: S. 744) und schließlich auch die tatsächlich aus Über Anmut und Würde bekannte Formel von der »schönen Seele« (NSD: S. 743) –, weisen auf eine enge Verbundenheit beider Konzepte hin. Anmut und Naivität als verschiedene, sich wechselseitig bedingende Aspekte des Schönheitsideals Schillers verschmelzen nun zur »naiven Anmut« (NSD: S. 720) und zur »reizende[n] Naivetät« (NSD: S. 756). Besonders offenkundig wird der Zusammenhang zwischen beiden Schriften, wenn Schiller der naiven schönen Gesinnungsart einen ganz bezeichnenden Ausdruck zuordnet, nämlich jenen der Anmut und Grazie, der mit Leichtigkeit und Freiheit in der gesamten Haltung einhergeht (vgl. NSD: S. 744): »Aus der naiven Denkart fließt notwendiger weise auch ein naiver Ausdruck sowohl in Worten als Bewegungen, und er ist das wichtigste Bestandstück der Grazie.« (NSD: S. 720) Und weiter unten heißt es: 101 Vgl. ebenfalls Carlos Rincûn: Naiv/Naivität. In: Karlheinz Barck u. a. (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 4: Medien – Populär. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2002, S. 347 – 377, hier S. 352.
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»[I]n der schönen Seele […] wirkt das Ideal als Natur« (NSD: S. 743). Wie die Anmut, und ebenso die anderen Aspekte der Schönheitslehre, so zeichnet sich auch das Naive durch Fröhlichkeit, Ausgeglichenheit und Mühelosigkeit aus, es ist eins mit dem Leben und diesem bejahend zugewandt, kurz: »Das naive ist das Kind des Lebens« (NSD: S. 778). Ob der Mensch zur schönen Natur, zu seiner Menschennatur, zurückfindet – eine Frage, über die Gesine in den Jahrestagen aus sentimentaler Perspektive reflektiert – oder ob ihm die Rückkehr verwehrt bleibt, darüber urteilt Schiller zunächst widersprüchlich, bis letztendlich die desillusionierende Sichtweise dominiert. Vorerst aber äußert er sich noch in kulturoptimistischer Weise, wenn er herausfordernd und fast schon kampfesfreudig ausruft: »[D]ie Philosophie selbst […] ruft uns laut und dringend in den Schoß der Natur zurück – woran liegt es, daß wir noch immer Barbaren sind?« (ÄE: S. 581) Und anschließend postuliert er : »Ausbildung des Empfindungsvermögens ist also das dringendere Bedürfnis der Zeit« (ÄE: S. 582). Hin- und hergerissen zwischen Verlustempfindung und Fortschrittsoptimismus wird die Wiederherstellung des Naturzustandes auf einer höheren Kulturstufe sporadisch immer wieder in Erwägung gezogen; selbst in Über naive und sentimentalische Dichtung, zu einem Zeitpunkt also, da sich der pessimistische Blick auf Gesellschaft und Geschichte bereits in Schillers Sichtweise durchgesetzt hat, klingt solches Sehnsuchtsdenken der Anfangsjahre nach: Sie [die naiven Objekte der Natur, Anm. d. V.] sind, was wir waren; sie sind, was wir wieder werden sollen. Wir waren Natur, wie sie, und unsere Kultur soll uns, auf dem Wege der Vernunft und der Freiheit, zur Natur zurückführen […] Wir erblicken in ihnen also ewig das, was uns abgeht, aber wornach [sic!] wir aufgefodert [sic!] sind zu ringen (NSD: S. 708, Herv. i. O.).
Doch schließlich, dies hat sich bereits in Über die ästhetische Erziehung des Menschen angekündigt, überwiegt die realistische Perspektive. Es gibt für Schiller keine Umkehr zu den Ursprüngen. Die Natur bleibt verloren. An dieser Stelle wird offenbar, dass sich hier bereits der sentimental-erhabene Blick des Betrachters auf die verlorene naive Natur ausdrückt.102
102 »Erst der Blick des Sentimentalischen lässt die Dinge ›naiv‹ werden.« (Carsten Zelle: Über naive und sentimentalische Dichtung (1795/96). In: Matthias Luserke-Jaqui (Hrsg.): Schiller-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2005, S. 451 – 479, hier S. 455) »Die Betrachtungsart [des Naiven, Anm. d. V.] ist die des Sentimentalischen.« (Hans-Georg Pott: Die schöne Freiheit. Eine Interpretation zu Schillers Schrift ›Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen‹. München: Fink, 1980, S. 19)
5.
Schillers Ästhetik des Erhabenen
5.1
Erhabenheit als Überlebensstrategie für den zerrissenen Menschen
Hat das Schöne es mit der Versöhnung und Harmonie der zwei widersprüchlichen Seiten des Menschen, Natur und Vernunft, zu tun, so thematisiert die Ästhetik des Erhabenen gerade die Differenz der menschlichen Triebe, die hier in unvereinbarem Widerspruch zueinander stehen und den Verlust der menschlichen Einheit bedingen. Natur begegnet dem sinnlichen Teil des Menschen im Rahmen der Theorie des Erhabenen als feindliche Macht. Mit unserer vernünftigen Seite aber, und dies ist der Kern von Schillers Erhabenheitstheorie,1 können wir der aufbegehrenden Natur Widerstand leisten. Der Naturbegriff erfährt im Kontext der Theorie des Erhabenen – ganz im Gegensatz zur Vorstellung der naiven und unschuldigen Natur innerhalb der Ästhetik des Schönen – eine negative Auslegung: Natur erscheint jetzt als eine feindliche, zerstörerische Macht, der wir als sinnliche Wesen hilflos und leidend ausgeliefert sind. Wie dies bereits für die Ästhetik des Schönen herausgestellt wurde, so nimmt der Naturbegriff auch im Kontext der Theorie des Erhabenen verschiedene Bedeutungen an und darf nicht allein auf die einschlägigen Beispiele mächtiger Naturschauspiele wie etwa Meeresstürme oder Unwetter mit Blitz und Gewitter, die Schiller in der Schrift Vom Erhabenen in Anlehnung an Kant2 heranzieht (vgl. VE: S. 398, S. 401), verengt werden. In der späten Schrift 1 Zum Erhabenen bei Schiller vgl. auch Götz Pochat: Geschichte der Ästhetik und Kunsttheorie: Von der Antike bis zum 19. Jahrhundert. Köln: DuMont, 1986, S. 464; Frederick C. Beiser : Schiller as Philosopher : a Re-Examination. Oxford u. a.: Clarendon Press, 2005, S. 257 – 262; Matthias Ruppert: Unvollendete Totalität. Untersuchungen zu Friedrich Schillers Konzept einer vollständigen ästhetischen Erziehung. Mainz: Gardez!-Verlag, 1996, S. 79 ff. 2 Zum Erhabenen bei Kant, an das Schiller bei der Ausarbeitung seiner eigenen Theorie des Erhabenen anknüpft, vgl. Götz Pochat: Geschichte der Ästhetik und Kunsttheorie: Von der Antike bis zum 19. Jahrhundert. Köln: DuMont, 1986, S. 451 ff.; Maria Isabel Pena Aguado: Das Erhabene als Rettungsbegriff der philosophischen Ästhetik. Eine Untersuchung zum
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Schillers Ästhetik des Erhabenen
Über das Erhabene wendet Schiller den Naturbegriff darüber hinaus auch auf die Geschichte an; gerade dieser Aspekt spielt im Analyseteil der vorliegenden Arbeit eine zentrale Rolle. So schreibt Schiller in der zuletzt genannten Abhandlung: »Die Welt, als historischer Gegenstand, ist im Grunde nichts anders als der Konflikt der Naturkräfte unter einander selbst« (ÜE: S. 835). Diesen Gedanken, Geschichte als Naturkraft zu begreifen, formuliert Schiller hier nicht zum ersten Mal. Bereits in den ästhetischen Briefen stellt er Geschichte als streitende Naturkräfte dar und bezeichnet den zeitgeschichtlichen Zustand des ausgehenden 18. Jahrhunderts als Naturstaat (ÄE: S. 562), in welchem die »Herrschaft bloßer Kräfte« (ÄE: S. 563), »rohe gesetzlose Triebe« (ÄE: S. 568) und »blinde Willkür« (ÄE: S. 562) durcheinander wirken. Ebenso spricht er dort schon vom »natürlichen Charakter des Menschen, der, selbstsüchtig und gewalttätig […] auf Zerstörung […] der Gesellschaft zielt« (ÄE: S. 563). Gegenüber den ästhetischen Briefen erweitert Schiller in der Abhandlung Über das Erhabene den Geschichtsbegriff, der hier nicht allein Weltgeschichte, sondern zugleich die persönliche Lebensgeschichte eines Menschen umfassen kann, die in Form von Krankheit, Tod, Verlusten und anderen Schicksalsschlägen auf das Leben des Einzelnen einzuwirken und es zu stören oder sogar zu zerstören vermag (ÜE: S. 835, vgl. VE: S. 405).3 Natur kann dem Menschen auf unterschiedliche Weise als eine Macht begegnen: als zerstörerische Kraft oder als unendliche Größe. In Anlehnung an Kants Theorie des Dynamisch- und Mathematisch-Erhabenen (ZB: S. 469, Anm. 2) entwirft Schiller zwei Grundformen des Erhabenen, das PraktischErhabene und das Theoretisch-Erhabene, die in den Jahrestagen eng miteinander verknüpft in Erscheinung treten.4 5 Begriff des Erhabenen im 18. und 20. Jahrhundert bei Burke, Kant, Adorno und Lyotard. Dissertation, Würzburg 1992, S. 30 – 76; Renate Homann: Erhabenes und Satirisches. Zur Grundlegung einer Theorie ästhetischer Literatur bei Kant und Schiller. München: Fink, 1977, S. 15 – 52. 3 Vgl. Wolfgang Düsing: Schillers Idee des Erhabenen. Köln: Gouder und Hansen, 1967, S. 126. 4 Schiller hat anstelle von Kants Termini ›mathematisch‹ und ›dynamisch‹ jene des ›Theoretischen‹ und ›Praktischen‹ eingeführt und begründet dies in der Schrift Vom Erhabenen. Vgl. dazu auch Renate Homann: Erhabenes und Satirisches. Zur Grundlegung einer Theorie ästhetischer Literatur bei Kant und Schiller. München: Fink, 1977, S. 24, Anm. 24. 5 Schiller entwickelt Kants Theorie des Mathematisch- und Dynamisch-Erhabenen in unterschiedlicher Hinsicht weiter und differenziert verschiedene Erhabenheitsbegriffe, die in einem umfassenden, weit über Kant hinausgehenden Konzept des Erhabenen, teilweise konkurrierend, nebeneinanderstehen. So unterscheidet Schiller neben den zwei Hauptgattungen des Erhabenen, dem Theoretisch- und dem Praktischerhabenen, Untergattungen des Praktischerhabenen, nämlich das Kontemplativ- und das Pathetischerhabene (VE: S. 412 ff., S. 418 ff.). Das Pathetischerhabene wiederum wird in das »Erhabene der Fassung« (ÜdP: S. 440, Herv. i. O.) und das »Erhabene der Handlung« (ÜdP: S. 440, Herv. i. O.) unterteilt. Siehe dazu auch Jost Schillemeit: Kunsttheorie und Geschichtsauffassung. Schillers Beiträge zur Theorie des Erhabenen. Heines Kunst- und Geschichtsanschauung und die Geschichtsphi-
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Das Praktisch-Erhabene, von Schiller auch das »Erhabene der Kraft« (ZB: S. 468) genannt, thematisiert die Natur als das Furchtbare und Schreckliche schlechthin, als zerstörerische, dynamische Gewalt, welche die Existenz und das Leben des Menschen unmittelbar bedroht. An den Beispielen eines stürmischen, ein Schiff versenkenden Ozeans (TK: S. 251), eines heftigen Unwetters mit Gewitter und Blitzen oder einer über uns herabhängenden Felsenmasse veranschaulicht Schiller die »mächtige Naturkraft« (ÜP: S. 436) des Praktisch-Erhabenen, »die zur Zerstörung bewaffnet ist, und jedes Widerstandes spottet« (ÜP: S. 436). Ebenso wirken Geschichte und »das Schicksal in seiner Furchtbarkeit« (VE: S. 405) praktischerhaben, selbst Menschen können durch grausame Taten »zu einem Gegenstand der Furcht und des Schreckens« (ZB: S. 466) werden oder in ihrer »menschliche[n] Tapferkeit als dynamische Größe« (ZB: S. 472) erscheinen. Beim Theoretisch-Erhabenen, das Schiller auch als »Erhabene[s] der Erkenntnis« (ZB: S. 468) bezeichnet, tritt Naturgewalt in Form einer unendlichen Größe oder Weite in Erscheinung, die der Mensch sinnlich mit seinem begrenzten Verstand und Erkenntnisvermögen nicht zu erfassen oder begreifen imstande ist. So unterliegt er beim Versuch, sich den »unmeßbare[n] Ozean, oder de[n] sternenbesäete[n] unendliche[n] Himmel« (ZB: S. 482), gigantische Felsmassen oder hohe Türme als Ganzes vorzustellen und empfindet »Ohnmacht bei Darstellung ihrer Größe« (ZB: S. 482). Alles, was der Mensch erkennt, ist, »daß [er sich] dies […] nicht als ein Ganzes vorstellen kann« (ZB: S. 482). Auf metaphorischer Ebene artikuliert sich die Gewalt des mit dem Intellekt nicht zu Fassenden durch mathematische Zeichen und Zahlensymbole – nicht zufällig heißt das Theoretisch-Erhabene bei Kant schließlich mathematisch-erhaben.6 In der Schrift Über das Erhabene hat Schiller das dem Bereich des Naturerhabenen entlehnte Denkmuster des Nicht-Fassbaren auf die Geschichte übertragen und diese im Sinne des Theoretisch-Erhabenen gedeutet.7 Dort heißt es:
losophie. Göttingen: Wallstein-Verlag, 2009, S.16 ff. Das »Erhabene der Fassung« ist eng verbunden mit einer weiteren Form des Erhabenen, dem Erhabenen des Verbrechers (ÜdP: S. 440). Borchmeyer betont in der Diskussion mit Reinhardt: »Es gibt bei Schiller eine rein ästhetische Deutung des Erhabenen, die gerade auch dem konsequenten Bösewicht zukommen kann, und eine ausschließlich ethisch gedeutete Erhabenheit.« (Hartmut Reinhardt: Die Wege der Freiheit: Schillers »Wallenstein«-Trilogie und die Idee des Erhabenen. In: Wolfgang Wittkowski (Hrsg.): Friedrich Schiller : Kunst, Humanität und Politik in der späten Aufklärung. Tübingen: Niemeyer, 1982, S. 252 – 272, hier S. 270) In einer ganz anderen Weise begegnet der Begriff des Erhabenen schließlich im Konzept des »Idealschönen« (ÜE: S. 828) wieder, wo sich Schönheit und Erhabenheit miteinander verbinden. 6 Vgl.: »Das Erhabene der Erkenntnis beruht demnach auf der Zahl oder der Größe, und kann darum auch das mathematische [sic!] heißen« (ZB: S. 469). 7 Paul Barone: Schiller und die Tradition des Erhabenen. Berlin: Erich Schmidt Verlag, 2004, S. 113.
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Schillers Ästhetik des Erhabenen
Wie ganz anders, wenn man darauf resigniert, sie [die Geschichte, Anm. d. V.] zu erklären, und diese ihre Unbegreiflichkeit selbst zum Standpunkt der Beurteilung macht. Eben der Umstand, daß die Natur im Großen angesehen, aller Regeln, die wir durch unsern Verstand ihr vorschreiben, spottet, daß sie auf ihren eigenwilligen freien Gang die Schöpfungen der Weisheit und des Zufalls mit gleicher Achtlosigkeit in den Staub tritt, daß sie das Wichtige wie das Geringe, das Edle wie das Gemeine in Einem [sic!] Untergang mit sich fortreißt, daß sie hier eine Ameisenwelt erhält, dort ihr herrlichstes Geschöpf den Menschen in ihre Riesenarme faßt und zerschmettert (ÜE: S. 835, Herv. i. O.).
Geschichte tritt dem Menschen als das »Unfaßbare für den Verstand« (ÜE: S. 832), als »Verwirrung« (ÜE: S. 832, Herv. i. O.) gegenüber, sie präsentiert sich ihm als unergründlich, als das Nicht-Fassbare, Nicht-Erklärbare. Barone schreibt hierzu: Was die Geschichte unter diesem Gesichtspunkt zu einem theoretischerhabenen Gegenstand qualifiziert, sind das in ihr erfahrbare Chaos und die in ihr herrschende anarchische Planlosigkeit. […] Schillers Versuch, die Geschichte nach dem Muster der erhabenen Natur zu deuten, setzt eine skeptische Sicht auf die Geschichte voraus. Eine derartige ästhetische Betrachtung der Geschichte ist nur unter der Bedingung möglich, daß man die Geschichte nicht als einen frei vom Menschen gestaltbaren Prozeß begreift, den er rational und planvoll lenken kann. Man muß voraussetzen, daß die menschliche Vernunft keinen bestimmenden Einfluß auf den Gang der Geschichte nehmen kann. Die Geschichte bewegt sich in dieser düsteren und resignativen Sichtweise nicht planmäßig und in kontinuierlichem Fortschritt auf ein von der Vernunft des Menschen angestrebtes Ziel hin, sie ist in ihrem Ablauf unbegreiflich, unfaßbar, sinn- und zwecklos […].8
Aus dem Theoretisch-Erhabenen, das Natur als nicht-fassbare, nicht-erklärbare Macht thematisiert, resultiert zugleich das Problem der Darstellung des Erhabenen. Die Unfähigkeit der menschlichen Erkenntnis zur Vorstellung, Beschreibung oder Abbildung des Nicht-Fassbaren »ist zugleich die Konfrontation mit der absoluten Negativität«.9 Jan Assmann spricht in diesem Zusammenhang von einer »Nicht-Vorstellung«10 und macht darauf aufmerksam, dass Schiller die Unmöglichkeit der Veranschaulichung, mehr noch als in seinen Schriften zum Erhabenen, in seinem Essay Die Sendung Moses und in seiner Ballade Das verschleierte Bild zu Sais behandelt und dort durch die Motive der Bildlosigkeit und Namenlosigkeit des biblischen Gottes gestaltet.11 So wird in Das verschleierte Bild zu Sais das biblische Bilderverbot ›Du sollst dir kein Bildnis von mir ma8 Ebd., S. 209, S. 211. 9 Jan Assmann: Über das Erhabene: Schiller im Licht von Kant und Mozart. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 2007, S. 166 – 182, hier S. 175. 10 Ebd., S. 175. 11 Ebd., S. 174.
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chen‹ aufgegriffen: Ein »verschleiert Bild von Riesengröße«,12 »furchtbar«13 anzusehen, verhüllt das, was für einen Menschen nicht darstellbar und ebenso wenig zu fassen ist. »Das faß ich nicht«,14 sagt entsprechend der Führer des Jünglings. Der Jüngling aber hebt in seiner Wissbegierde den Schleier und verkraftet den Anblick nicht. Was er gesehen hat, kann nun nicht ausgesprochen werden, es wird zum Nicht-Aussprechbaren: »Was er allda gesehen und erfahren, / Hat seine Zunge nie bekannt.«15 In Die Sendung Moses, die wiederum die Nicht-Darstellbarkeit der nichtfasslichen Naturgewalt durch die Namenlosigkeit Gottes versinnbildlicht, resümiert der Erzähler : »Nichts ist erhabener als die einfache Größe, mit der sie von dem Weltschöpfer sprachen. Um ihn auf eine recht entscheidende Art auszuzeichnen, gaben sie ihm gar keinen Namen […] Ich bin, was da ist«.16 Sei es im Sinne des Theoretisch- oder des Praktisch-Erhabenen, bedrohliche Veränderungen der »Natur außer uns« (VE: S. 397) werden stets als leidvolles Aufbegehren der »Natur […] in uns« (VE: S. 395, Herv. i. O.), als »Schmerz« in der »Empfindung« oder »Schrecken« »in der Vorstellung« (alle VE: S. 399, Herv. i. O.), als Ohnmacht, Furcht und Unlust wahrgenommen – mit diesen Sinneseindrücken konfrontiert Johnson seine Gesine Cresspahl unerbittlich. Die aufbegehrende »leidende[] Natur« (ÜP: S. 423) meldet als »Warner« (VE: S. 397) eine Gefahr, die uns physisch oder psychisch zu vernichten vermag. Analog zur äußeren Naturkraft drückt sich in der »Gewalt der Gefühle« (ÜP: S. 423) oder im emotionalen »Sturm« (ÜP: S. 423) die Macht der inneren Natur aus. Theoretisch- und praktischerhabene Naturgewalten, in welcher Form sie auch auftreten mögen, haben zwar Macht über den sinnlich-materiellen Teil des menschlichen Wesens, über seinen Körper und begrenzten Verstand. Mit seiner vernünftig-geistigen Seite – und dies ist der entscheidende Kerngedanke, auf den Schillers Erhabenheitstheorie abzielt – kann sich der Mensch zur Wehr setzen, um der über ihn hereinbrechenden Macht standzuhalten und das anfängliche Gefühl der Ohnmacht und des Leidens in eine erhabene Erfahrung der Gefasstheit umzuwandeln – nur so vermag Johnsons Gesine zu überleben. Der Begriff des Erhabenen bezieht sich also weniger auf die Leid auslösende Gewalt selbst,17 sondern in erster Linie auf die innere Haltung der »Seelenstärke« (VE: 12 Friedrich Schiller : Das verschleierte Bild zu Sais. In: Georg Kurscheidt (Hrsg.): Friedrich Schiller : Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 1: Gedichte. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag, 1992, S. 242 – 244, hier S. 242. 13 Ebd., S. 243. 14 Ebd., S. 243. 15 Ebd., S. 244. 16 Friedrich Schiller : Die Sendung Moses. In: Otto Dann (Hrsg.): Friedrich Schiller : Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 6: Historische Schriften und Erzählungen I. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag, 2000, S. 451 – 474, hier S. 461, Herv. i. O. 17 Kant hatte in der Kritik der Urteilskraft auf das Missverständnis aufmerksam gemacht, das
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S. 420) eines »erhabene[n] Charakter[s]« (NSD: S. 743, S. 744), der ausgebildet werden soll, um angesichts von Naturgewalten die Kontrolle über die Affekte und damit die geistige Unabhängigkeit und Freiheit zu behalten.18 Bezog sich der Freiheitsbegriff in der Ästhetik des Schönen auf die Abwesenheit von Determinationen und das ›Nicht-von-außen-bestimmt-sein‹, so meint Freiheit in der Ästhetik des Erhabenen, die gerade von äußeren Zwängen und begrenzenden Bedingungen handelt, etwas anderes: nämlich Willens- und Vernunftfreiheit, die innere Autonomie des Menschen.19 20 So vermag der menschliche Wille frei zwischen Vernunft und Natur, Freiheit und Leid zu wählen, er muss bestimmten Nötigungen der Natur nicht nachkommen, selbst wenn sie ihn zu vernichten drohen. Wenn etwa bei einer herannahenden Gefahr der angstvolle innere Naturtrieb die Forderung zur Flucht erteilt, kann sich der Mensch frei-willig, durch die Freiheit seines Willens also, dafür entscheiden, den Fluchttrieb zu verweigern und der leid- und angstauslösenden Gewalt sowohl in
Erhabene nicht auf die Objekte, sondern auf die innere Haltung zu beziehen. (Siehe hierzu auch Anne Käfer : »Die wahre Ausübung der Kunst ist religiös«: Schleiermachers Ästhetik im Kontext der zeitgenössischen Entwürfe Kants, Schillers und Friedrich Schlegels. Tübingen: Mohr Siebeck, 2006, S. 67) Schiller scheint ebenfalls diesem Irrtum anheimzufallen, wenn er neben dem »erhabenen Charakter« (NSD: 743 f.) auch von erhabenen Objekten spricht: »Erhaben nennen wir ein Objekt, bei dessen Vorstellung unsre sinnliche Natur ihre Schranken, unsre vernünftige Natur aber ihre Überlegenheit, ihre Freiheit von Schranken fühlt, gegen das wir also physisch den Kürzern ziehen, über welches wir uns aber moralisch d. h. durch Ideen erheben.« (VE: 395) Vgl. auch: Die »Weltgeschichte [ist] ein erhabenes Objekt« (ÜE: 835); »Derjenige Gegenstand, der mich mir selbst zu einer unendlichen Größe macht, heißt erhaben.« (ZB: 475); »Weil sich nun das Gemüt bei solchen [schrecklichen, Anm. d. V.] Vorstellungen begeistert und über sich selbst gehoben fühlt, so bezeichnet man sie mit dem Namen des Erhabenen, ob gleich den Gegenständen selbst objektiv nichts Erhabenes zukommt, und es also wohl schicklicher wäre, sie erhebend zu nennen.« (ZB: 468, Herv. i. O.); »Ein erhabenes Objekt […] ist schon derjenige Mensch, der uns die Würde der menschlichen Bestimmung […] vorstellig macht« (ÜP: 441). 18 »In Wahrheit verschafft uns die Begegnung mit dem Erhabenen die Gewissheit, dass wir erhaben sind – nämlich über die Natur.« (Gerhard Schweppenhäuser : Ästhetik: philosophische Grundlagen und Schlüsselbegriffe. Frankfurt a. M.: Campus, 2007, S. 88) 19 Schiller hat verschiedene Benennungsmöglichkeiten dafür. So spricht er von der »rationalen Freiheit« (AW: S. 363), »Vernunftfreiheit« (VE: S. 399), »innre[n] Freiheit« (VE: S. 402), »[i]nnre[n] Gemütsfreiheit« (VE: S. 403), »Freiheit des Willens« (AW: S. 377, ÜP: S. 444), »Geistesfreiheit« (AW: S. 378, Herv. i. O.) oder der »moralischen Freiheit« (AW: S. 381). 20 »Die ästhetische Freiheit […] ist nicht mit der sittlichen Freiheit des Menschen zu verwechseln, denn hier liegen zwei grundsätzlich zu unterscheidende Typen von Freiheit vor.«: Rainer Schäfer : Schönheit als Methode und Gehalt in Schillers Ästhetik. In: Jens Halfwassen und Markus Gabriel (Hrsg.): Kunst, Metaphysik und Mythologie. Heidelberg: Winter, 2008, S. 351 – 369, hier S. 366. Siehe auch Rose Riecke-Niklewski: Die Metaphorik des Schönen: eine kritische Lektüre der Versöhnung in Schillers »Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen«. Tübingen: Niemeyer, 1986, S. 43 f.; Frederick C. Beiser : Schiller as Philosopher : a Re-Examination. Oxford u. a.: Clarendon Press, 2005, S. 232 ff.
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als auch außer ihm standzuhalten und sie zu ertragen.21 »Das Tier«, schreibt Schiller, »muß streben den Schmerz los zu sein, der Mensch kann sich entschließen, ihn zu behalten.« (AW: S. 374, Herv. i. O.) Mit dem Widerstand der Vernunft sei es möglich, sich über die Natur und das durch sie verursachte Leid »zu erheben« (VE: S. 421), der Mensch richte sich durch diese innere Erhebung überhaupt erst zum Menschen auf (AW: S. 384). »[S]eine Gemütsfreiheit zu behalten, dazu gehört ein Vermögen des Widerstandes, das über alle Naturmacht unendlich erhaben ist.« (ÜP: S. 423)22 Ganz in diesem Sinne erscheint Laokoon (vgl. ÜP: S. 434 f.) als »Idealtypus […], dessen Geist den höchsten Schmerz besiegt«.23 Diese innere geistige Erhebung kommt auch im Wort des Erhabenen und Sublimen selbst zum Ausdruck, denn im Lateinischen »[bedeutet] sublimis […] soviel wie ›in die Höhe gehoben, schwebend‹«24 oder »bis unter die oberste Schwelle«.25 Analog zum Darstellungsproblem des Theoretisch-Erhabenen, das Natur als nicht-fassbare, nicht-erklärbare Macht thematisiert, ist auch streng genommen die moralische Kraft im Menschen keiner Darstellung fähig, da das Übersinn21 Paul Barone: Schiller und die Tradition des Erhabenen. Berlin: Erich Schmidt Verlag, 2004, S. 123; Wilfried Noetzel: Schillers Sozialästhetik. London: Turnshare, 2008, S. 87. 22 Vgl. auch: »Der Wille des Menschen ist ein erhabener Begriff […] Schon der bloße Wille erhebt den Menschen über die Tierheit« (AW: S. 374, Herv. i. O.); der erhabene Charakter »kann sich zu jeder Größe anspannen und erheben, er kann durch die Kraft seines Willens aus jedem Zustande der Beschränkung sich reißen« (NSD: S. 744); der Mensch soll »sich über das Schicksal, über alle Zufälle, über die ganze Naturnotwendigkeit [hinwegsetzen] und erhaben fühlen« (VE: S. 400). 23 Janine Ludwig: »Wenn das Erhabene mit dem Schönen sich gattet«: Plädoyer gegen eine einseitige Schiller-Rezeption. In: Jonas Maatsch und Christoph Schmälzle (Hrsg.): Schillers Schädel. Physiognomie einer fixen Idee. Weimar, Göttingen: Klassik Stiftung Weimar und Wallstein Verlag, 2009, S. 172 – 175, hier S. 172. 24 Gerhard Schweppenhäuser : Ästhetik: philosophische Grundlagen und Schlüsselbegriffe. Frankfurt a. M.: Campus, 2007, S. 85. Vgl. auch: »Sublimierung ist aus der Sicht der modernen Psychologie eine entmaterialisierende, veredelnde, seelische Technik, bei der man sich über die Materie, über die Wirklichkeit unserer Triebnatur mit ihrer realen Lust und Unlust, mit Gewalt und Zärtlichkeit erhebt.« (Ebd.) 25 Christine Pries: Einleitung. In: Christine Pries (Hrsg.): Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn. Weinheim: VCH, Acta Humaniora, 1989, S. 1 – 30, hier S. 12. Auf eine interessante Verbindung des Erhabenen/Sublimen zum chemischen Vorgang der Sublimation weist Düker hin: »Der chemische Vorgang der Sublimation besteht also darin, daß flüchtige Körper von Nichtflüchtigen durch Erhitzen getrennt werden. Die flüchtigen Körper steigen auf und setzen sich am Hals des Kolbens ab, wohingegen die nichtflüchtigen Körper als Sublimat auf dem Grund des Kolbens verbleiben.« Angewendet auf das erhabene Bild eines mächtigen Ozeans bedeutet dies: »Dann bleibt der Ozean als nicht flüchtiger Körper (Sublimat) zurück, während sich der flüchtige Körper des Subjekts in ständiger Aufwärtsbewegung irgendwo am größeren Ozean über ihm sublimiert.« (Ronald Düker : Kleine Geschichte des ozeanischen Gefühls. In: Gerburg Treusch-Dieter, Thomas Knöfel und Hans Dieter Bahr (Hrsg.): Faszination – Schönheit – Religion. Tübingen: Konkursbuch-Verlag, 1998, S. 49 – 93, hier S. 63 f.)
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liche nicht versinnlicht werden kann. Damit zielt das Konzept des Erhabenen auf »etwas Unmögliches«26 ab: die Darstellung des Undarstellbaren, der übersinnlichen Vernunft.27 Das Erhabene kann daher immer nur eine »negativ[e] und indirekt[e]« (ÜP: S. 430) Darstellung sein.28 Im Darstellungsverbot, in Verschleierungen, im Unaussprechlichen und im Schweigen sowie in der äußeren Würde kommt es nur negativ und indirekt zum Ausdruck.29 Mit der Erhebung über eine Naturmacht, der er eigentlich sinnlich ausgeliefert sein müsste, macht der Mensch im Augenblick des Erhabenen eine paradoxe Beobachtung: Das Gefühl der Ohnmacht gegenüber der Naturgewalt einerseits und der erhabenen Erfahrung der »Seelenstärke« (VE: S. 420) und Willensfreiheit andererseits lösen im Subjekt ein ambivalentes gemischtes Gefühl, ein »angenehme[s] Grausen« (ZB: S. 466) aus.30 Entsteht angesichts der Kraft und Gewalt der Natur auf der einen Seite die Empfindung der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins, der Unfreiheit, Furcht und Unlust, so bewirkt das Sich-Hinwegsetzen der Vernunft über das Leid Lust, welche jedoch nicht mit jenem Wohlgefallen am Schönen zu vergleichen ist, sondern eher eine Art negativer Lust darstellt. Diese kann variierend auch als Staunen, Bewunderung oder Verwunderung, Beängstigung, Ehrfurcht oder Feierlichkeit empfunden werden:31 Alle [erhabenen Wirkungen, Anm. d. V.] setzen das Gemüt in eine unruhige Bewegung und spannen es an. Ein gewisser Ernst, der bis zur Feierlichkeit steigen kann, bemächtigt sich unserer Seele, und indem sich in den sinnlichen Organen deutlich Spuren von Beängstigung zeigen, sinkt der nachdenkende Geist in sich selbst zurück, und
26 Christine Pries: Einleitung. In: Christine Pries (Hrsg.): Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn. Weinheim: VCH, Acta Humaniora, 1989, S. 1 – 30, hier S. 6. 27 Ebd., S. 6. 28 Vgl. Carsten Zelle: Vom Erhabenen (1793) / Über das Pathetische (1801). In: Matthias Luserke-Jaqui (Hrsg.): Schiller-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2005, S. 398 – 406, hier S. 404; Christine Pries: Einleitung. In: Christine Pries (Hrsg.): Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn. Weinheim: VCH, Acta Humaniora, 1989, S. 1 – 30, hier S. 9. 29 Vgl. Jost Schillemeit: Kunsttheorie und Geschichtsauffassung. Schillers Beiträge zur Theorie des Erhabenen. Heines Kunst- und Geschichtsanschauung und die Geschichtsphilosophie. Göttingen: Wallstein-Verlag, 2009, S. 21 f. 30 »[W]ie es Schiller […] gelingt, die über Burke, Mendelssohn und Lessing vermittelte lange Tradition des gemischten Gefühls des Mitleids auf Kants Theorie einer ›negativen Lust‹ am Erhabenen zu beziehen«, dazu siehe Hans Feger : Durch die Schönheit zur Freiheit der Existenz – Wie Schiller Kant liest. In: Monatshefte für deutschsprachige Literatur und Kultur 97.3 (2005), S. 439 – 450, hier S. 440. 31 Konrad Lotter: Erhabene, das. In: Wolfhart Henckmann und Konrad Lotter (Hrsg.): Lexikon der Ästhetik. München: Beck, 1992, S. 51 – 52, hier S. 51. Vgl. zu Furcht, Ernst und Staunen auch Karl Albert: Philosophie der Kunst. Bd. 2. Sankt Augustin: Academia Verlag, 1989, S. 126 – 137.
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scheint sich auf ein erhöhtes Bewußtsein seiner selbständigen Kraft und Würde zu stützen. (ZB: S. 468)
Lust und Unlust entstehen nicht im selben Moment, sondern wechseln einander in einer Abfolge »schnellwechselnde[n] Abstoßen[s] und Anziehen[s]«32 ab. Mit dem Standhalten der Vernunft gegen die äußere Natur und der Unterdrückung der inneren Natur, also der sinnlich-schmerzlichen Regungen und Rührungen im Menschen, ist zugleich eine generelle Absage an und Verneinung von Natur verbunden, auch unserer eigenen menschlichen Natur mit ihrer Sinnlichkeit und Körperlichkeit,33 wie in der Analyse Gesines zu sehen sein wird. Es gibt, so heißt es in Über das Erhabene, kein andres Mittel, der Macht der Natur zu widerstehen, als ihr zuvorzukommen und durch eine freie Aufhebung alles sinnlichen Interesse [sic!] ehe noch eine physische Macht es tut, sich moralisch zu entleiben. (ÜE: S. 836)
Indem sich der erhabene Mensch »durch den Gebrauch seiner Freiheit zu den reinen Intelligenzen erhebt« (AW: S. 343), verflüchtigt, sublimiert sich sein sinnlicher Teil. Das Erhabene ist für Schiller eine Lebenshaltung, die, bevor man sie beherrscht, erst eingeübt werden muss, um sich im Leben auf mögliche Schicksalsschläge vorzubereiten und mit ihnen umgehen zu können – dieser Gedanke spielt im Kontext von Gesines an ihre Tochter Marie gerichteten Erzählungen aus der Kriegs- und Nachkriegszeit eine bedeutsame Rolle. Schiller hat dieses Training für den Ernstfall34 im Konzept des Pathetisch-Erhabenen, einer Unterart des Praktisch-Erhabenen, ausführlich thematisiert. Er will »prophylaktisch ›künstliches Unglück‹ inszenieren«,35 um den noch ungeschulten Menschen mit einem furcht- oder leidauslösenden Ereignis virtuell zu konfrontieren. Allerdings soll dieser die Katastrophe nicht unmittelbar an der eigenen Person erleben, sondern aus einer sicheren Distanz heraus – etwa wenn er ein mächtiges 32 So hat Kant die ambivalente Gefühlslage des Erhabenen in der Kritik der Urteilskraft beschrieben. Zitiert nach Christine Pries: Einleitung. In: Christine Pries (Hrsg.): Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn. Weinheim: VCH, Acta Humaniora, 1989, S. 1 – 30, hier S. 9; vgl. auch Gerhard Blum: Zum Begriff des Schönen in Kants und Schillers ästhetischen Schriften. Fulda: Verlag Freier Autoren (VfA), 1988, S. 43. 33 Christine Pries: Einleitung. In: Christine Pries (Hrsg.): Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn. Weinheim: VCH, Acta Humaniora, 1989, S. 1 – 30, hier S. 9. 34 In Anlehnung an Christian Begemann (Furcht und Angst im Prozeß der Aufklärung. Zu Literatur und Bewußtseinsgeschichte des 18. Jahrhunderts. Frankfurt a. M., 1987) spricht Zelle in diesem Zusammenhang von »Katastrophentraining und -immunisierung« (Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne: Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart, Weimar : Metzler, 1995, S. 126). Noetzel wiederum beschreibt das Erhabene als »eine[n] die charakterlichen Abwehrkräfte stärkenden ästhetischen Impuls[]« (Wilfried Noetzel: Schillers Sozialästhetik. London: Turnshare, 2008, S. 62). 35 Wilfried Noetzel: Schillers Sozialästhetik. London: Turnshare, 2008, S. 62.
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Naturschauspiel, ein Gewitter oder einen Meeressturm von einem beschützten Ort aus beobachtet, wenn ihm von »große[n] Unglücksfälle[n]« (ZB: S. 467) und Schicksalsschlägen aus der Geschichte erzählt oder durch tragische Kunst eine verheerende Lebensgeschichte vor Augen geführt wird, als sei es die eigene. Das auf der Bühne dramatisierte oder in Erzählungen geschilderte Grauen ist für Schiller niemals Selbstzweck, es geht ihm vielmehr um die Wirkung des beim Zuschauer oder Zuhörer auf diese Weise erzielten sympathetischen Mitgefühls.36 Indem der Rezipient, im Textanalyseteil ist dies Marie, mit den Opfern einer dargestellten Handlung Mitleid empfindet, mit ihnen also im wörtlichen Sinn mit-leidet, entfaltet sich in ihm selbst der Konflikt der Triebe, der seine Vernunft zum Widerstand auffordert.37 In diesem Sinne gilt: »Kunst ist Übung für das Leben.«38 Es geht Schiller also weniger um die Kunst an sich,39 sondern – mit den Worten Hörischs – vielmehr um die Einübung der erhabenen Lebens-Kunst, im Text-Gewebe, im disharmonischen Gemälde unseres Lebens, das wir nicht selbst schreiben und malen, Schicksale ertragen zu lernen.40 Noetzel hat hier treffend den Begriff der Lebenskunst zu jenem der »Überlebenskunst«41 erweitert. Dem Erhabenen wird in diesem Sinne »eine prophylaktische Funktion«42 beigemessen, sich auf späteres Unglück seelisch vorzubereiten. »Wohl ihm also, wenn er gelernt hat zu ertragen, was er nicht ändern kann und Preis zu geben mit Würde, was er nicht retten kann!« (ÜE: S. 836) Schillers Theorie des Erhabenen ist ein Konzept zum Erlernen einer inneren Haltung der »Seelenstärke« (VE: S. 420), um dem Unfassbaren und Furchtbaren in der Geschichte mit Würde und Fassung zu begegnen. Nicht zufällig hat Schiller auch vom »Erhabenen der Fassung« (ÜdP: S. 440, Herv. i. O.) gesprochen, da der Mensch »um Fassung mit seiner angstvoll aufgewühlten inneren Natur [ringt]«.43 Eine solche Einstellung hilft uns, mit »heroischer Stärke« (AW: S. 372) zu bewältigen, was nicht geändert werden kann.44 Sie unterstützt uns
36 »Nun gibt es für den Menschen mehrere Möglichkeiten, seine Empfindungsfähigkeit für das Erhabene zu entwickeln. So hält uns beispielsweise die Geschichte erhabene Muster vor, die unser übersinnliches Vermögen beweisen.« (Klaus L. Berghahn: Schiller : Ansichten eines Idealisten. Frankfurt a. M.: Athenäum, 1986, S. 38) 37 Vgl. Wilfried Noetzel: Schillers Sozialästhetik. London: Turnshare, 2008, S. 62 f. 38 Paul Barone: Schiller und die Tradition des Erhabenen. Berlin: Erich Schmidt Verlag, 2004, S. 130. 39 Vgl. Wilfried Noetzel: Schillers Sozialästhetik. London: Turnshare, 2008, S. 12. 40 Jochen Hörisch: Die Kunst des Lebens und das Leben der Kunst. Überlegungen zu Schillers Konzeption einer ästhetischen Erziehung des Menschen. In: Text & Kontext. Zeitschrift für germanistische Literaturforschung in Skandinavien 28.1 (2006), S. 36 – 54, hier S. 48. 41 Wilfried Noetzel: Schillers Sozialästhetik. London: Turnshare, 2008, S. 55. 42 Ebd., S. 50. 43 Ebd., S. 61. 44 Vgl. Carsten Zelle: Über das Erhabene (1801). In: Matthias Luserke-Jaqui (Hrsg.): Schiller-
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dabei, unauflösbare Widersprüche im Gewebe unseres Lebens, an dem wir nicht mitwirken,45 zu verarbeiten. Das Erhabene intendiert damit eine starke innere Haltung, nicht nur der Natur als Macht standzuhalten, sondern auch die Zerrissenheit des menschlichen Wesens, den Verlust seiner naiven Natur und damit den Verlust seiner Einheit zu verkraften.
5.2
Würde als Ausdruck einer erhabenen »Seelenstärke«
Während der Begriff des Erhabenen auf die innere Haltung der »Seelenstärke« (VE: S. 420) im Zustand des Leidens zielt, charakterisiert die Würde das äußere Erscheinungsbild des mit der Natur kämpfenden erhabenen Menschen. »So wie die Anmut der Ausdruck einer schönen Seele ist, so ist die Würde der Ausdruck einer erhabenen Gesinnung« (AW: S. 373, Herv. i. O.), definiert Schiller den Begriff der Würde in der Schrift Über Anmut und Würde und an anderer Stelle in derselben Abhandlung beschreibt er die »Würde […] als […] Ausdruck des herrschenden Geistes« (AW: S. 365). Weiterhin lesen wir : »Beherrschung der Triebe durch die moralische Kraft ist Geistesfreiheit und Würde heißt ihr Ausdruck in der Erscheinung.« (AW: S. 117, S. 378)46 Damit ist das Konzept der Würde – der Johnson viele seiner Romanfiguren zurechnet, wie etwa den Englischlehrer Ernst Sedenbohm und den Schüler Jürgen Petersen aus Ingrid Babendererde, Jonas Blach aus den Mutmassungen über Jakob und nicht zuletzt Gesine selbst – als das Gegenstück zur Anmut zu betrachten, welche die innere schöne Verfasstheit des harmonischen, in sich ruhenden Menschen im Äußeren widerspiegelt. Im Kontrast zur im heiteren Reich des Schönen beheimateten Anmut hat die Würde es mit dem durch Naturgewalten, Zwänge und Fremdbestimmungen geprägten bedrohlichen Bereich des Lebens zu tun. Dort aber »ist Ernst und kein Spiel, da würde uns die Leichtigkeit in der Ausübung vielmehr empören als befriedigen, da kann also nicht Anmut, sondern Würde der Ausdruck sein« (AW: S. 383). Als Pendant zur Anmut muss die »erhabene Seele[]« (NSD: S. 743, Herv. i. O.), die im Innern einen Kampf austrägt und einer Gewalt standhält, äußerlich mit einem gänzlich anderen Erscheinungsbild auftreten: nämlich mit einem würdigen. Zeigt sich bei Handbuch: Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2005, S. 479 – 490, hier S. 486. 45 Jochen Hörisch: Die Kunst des Lebens und das Leben der Kunst. Überlegungen zu Schillers Konzeption einer ästhetischen Erziehung des Menschen. In: Text & Kontext. Zeitschrift für germanistische Literaturforschung in Skandinavien 28.1 (2006), S. 36 – 54, hier S. 48. 46 Vgl. hierzu Götz Pochat: Geschichte der Ästhetik und Kunsttheorie: Von der Antike bis zum 19. Jahrhundert. Köln: DuMont, 1986, S. 460; Wilfried Noetzel: Schillers Sozialästhetik. London: Turnshare, 2008, S. 11 f.; Frederick C. Beiser : Schiller as Philosopher: a Re-Examination. Oxford u. a.: Clarendon Press, 2005, S. 117.
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der Anmut die schöne Übereinstimmung von Vernunft und Natur im harmonischen Zusammenspiel von willkürlichen und unwillkürlichen Bewegungsabläufen, so erkennt man bei der Würde einen »Widerspruch zwischen den willkürlichen und den unwillkürlichen Bewegungen« (AW: S. 380). Während sich das Leiden der Natur, wie Schiller an Laokoon verdeutlicht,47 durch unwillkürliche, sympathetische Bewegungen wie »krampfhaft angespannt[e]« (AW: S. 380) Muskeln und anschwellende Adern (AW: S. 380) manifestiert, kämpfen die vernunftgesteuerten willentlichen Bewegungen gegen das Aufbegehren der Natur an. »Würde [liegt] in der Beherrschung der unwillkürlichen [Bewegungen, Anm. d. V.]« (AW: S. 381, Herv. i. O.). Das würdevolle Erscheinungsbild einer erhabenen Gesinnung äußert sich somit durch den Widerspruch von harten, angespannten und angestrengten Gesichtszügen oder Bewegungsabläufen bei gleichzeitiger »Ruhe im Leiden« (AW: S. 380, Herv. i. O.; vgl. ÜdP: S. 436).48 Der würdevolle Mensch vermag also nicht zugleich der schöne und anmutige zu sein, denn »was angestrengt wird, kann niemals Leichtigkeit« (AW: S. 362), das Hauptmerkmal der Anmut, zeigen. Diese Aussage erläutert Schiller zusammenfassend: »Eine solche [erhabene, Anm. d. V.] Verfassung des Gemüts kann also der Schönheit nicht günstig sein […] und es wird daher auch nicht Grazie sein können, wodurch die mit dem Stoffe kämpfende moralische Freiheit sich kenntlich macht.« (AW: S. 363) Dementsprechend zeigt sich bei Schiller ein solches würdevolles Erscheinungsbild geschlechtsstereotypisch in einem harten, männlichen Gebaren – ganz im Gegensatz zur sanften, weiblichen Gestalt und den leichten, tänzerischen Bewegungen der Anmut. In Über die ästhetische Erziehung spricht Schiller von »der Männlichkeit der Vernunft« (ÄE: S. 570) und in den Kallias-Briefen von der »Härte […] der Verstandesgröße« (K: S. 317), wobei zwischen den Begriffen Vernunft und Verstand zu unterscheiden ist.49 50 In den Augustenburger Briefen wiederum lesen wir von der »Männlichkeit des Geistes« (AB: S. 514). Wie sich die Würde von der Anmut im charakteristischen Auftreten unterscheidet, so hebt sie sich von ihr auch durch ihre Wirkung auf andere Menschen 47 Vgl. AW: S. 387, Anm. 12 und ÜdP: S. 434 f. 48 Vgl. hierzu auch: »Nach außen […] äußert sich die Würde also als Verharren, Erstarren des Körpers bei einem angestrengten Mienenspiel« (Mareen van Marwyck: Gewalt und Anmut: weiblicher Heroismus in der Literatur und Ästhetik um 1800. Bielefeld: Transcript, 2010, S. 139). 49 Vgl. Manuel Bremer : Vernunft; Verstand. In: Joachim Ritter (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 11: U – V. Basel: Schwabe, 2007, S. 748 – 863. 50 Vgl. dazu auch Rose Riecke-Niklewski: Die Metaphorik des Schönen: eine kritische Lektüre der Versöhnung in Schillers »Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen«. Tübingen: Niemeyer, 1986, S. 18. Noetzel spricht vom »moralische[n] Rigorismus infolge männlicher Rationalität« (Wilfried Noetzel: Schillers Sozialästhetik. London: Turnshare, 2008, S. 68, Herv. i. O.).
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ab. Während der anmutige Mensch in seiner Umwelt ein Gefühl der Zuneigung und Liebe auslöst, hinterlässt die würdevolle Person Achtung, Bewunderung, Ergebenheit, Ehrfurcht (AW: S. 387) oder eine Aura des Feierlichen (AW: S. 394, Anm. 14).51 Schiller warnt an dieser Stelle jedoch davor, Ehrfurcht mit Furcht zu verwechseln, denn die Würde dürfe zwar ein Gefühl der Ehrerbietung einflößen, aber »[w]ahre Größe soll[e] niemals Furcht erregen« (AW: S. 390), wie es unmissverständlich in Über Anmut und Würde heißt. Wo dies der Fall ist, wo Würde also Furcht und Angst auslöst, ist dies Schiller zufolge ein Hinweis darauf, dass es sich um eine verfälschende, durch »Übertreibung« (AW: S. 392) sich entlarvende »Nachahmung« (AW: S. 392) der Würde handelt, die Schiller – wie auch schon bei der Anmut – von der wahren Würde strengstens getrennt wissen will (AW: S. 392). So können sich verwerfliche Affekte der Form nach dem »Erhabenen nähern« (AW: S. 381). Diese »falsche Würde« (AW: S. 393) sei häufig »in den Studierzimmern der Gelehrten (auf hohen Schulen besonders)« (AW: S. 393) zu beobachten, ein Gedanke, den Johnson bei der Charakterisierung des Direktors der Gustav-Adolf-Oberschule, Robert Siebmann, ausgestaltet. Während sich die »wahre Würde […] nie der Natur, nur der rohen Natur schämt« (AW: S. 393) und sich durch die Notwendigkeit einer Unterdrückung der »widerstrebende[n] Natur« (AW: S. 393) auszeichnet, bezwingt die falsche Würde auch die »unterwürfige« (AW: S. 393) oder gar die gute Natur (AW: S. 393). »Würde ist da, wo keine solche Gewalt zu bekämpfen ist, lächerlich und wo keine mehr zu bekämpfen sein sollte, verächtlich.« (AW: S. 382) Lächerlich und verächtlich wirkt der falsche Würdenträger deshalb, da er »sorgfältig wie ein Komödiant [seine] Züge [bewacht]« (AW: S. 394) und ohne Grund mit gewichtiger und ernsthafter Miene einen überflüssigen Kampf gegen eine nicht vorhandene Naturgewalt führt.52 Nicht immer sind die wahren von den falschen Würdenträgern leicht zu unterscheiden, dies umso weniger, da es verschiedene Abstufungen mit fließenden Übergängen zwischen wahrer und falscher Würde gibt. Während die »Majestät« den höchsten Rang der Würde einnimmt und das »Edle« an die Anmut angrenzt, nähert sich die »Hoheit« (alle AW: S. 391, Herv. i. O.) dem Bereich des Furchtbaren (AW: S. 391), der, wenn er zu Furcht und Angst eskaliert, mit Schillers Verständnis wahrer Würde unverträglich ist. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Schillers Konzept der – wahren – Würde und Erhabenheit nichts weniger als ein Konzept zur Bewahrung der Menschenwürde darstellt und demonstrieren will, dass der Mensch in jeder
51 Diese Form des Feierlichen will Schiller unterschieden wissen von einer Feierlichkeit, die häufig mit der »Affektation des Erhabenen« (AW: S. 392) einhergeht. 52 Vgl. Wilfried Noetzel: Schillers Sozialästhetik. London: Turnshare, 2008, S. 87.
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Schillers Ästhetik des Erhabenen
Situation, auch in der schrecklichsten, »ohne Ausnahme Mensch sein [soll]« (ÜE: S. 823). Folgt man Schiller, so ist [e]ben deswegen […] des Menschen nichts so unwürdig, als Gewalt zu erleiden, denn Gewalt hebt ihn auf. Wer sie uns antut, macht uns nichts geringeres als die Menschheit streitig; wer sie feigerweise erleidet, wirft seine Menschheit hinweg. (ÜE: S. 822)
Das Furchtbare und Nicht-Fassbare kann den Menschen als sinnlich-physisches Wesen auslöschen, sein materielles Leben zerstören, aber es kann ihm nicht seine Würde nehmen. Auch im Unglück verdient er es allein aufgrund seines Menschseins, »ein Gefühl seiner Würde, wenigstens für den Moment« (ÜE: S. 830), zu erfahren und sich, wie im Gedicht Die Macht des Gesanges formuliert, zur »Geisterwürde«53 zu erheben.
5.3
»Schöne Welt, wo bist du?« – Das Sentimentalische und die Trauer um das Naive
Der Begriff des Sentimentalischen,54 der in der späten Schrift Über naive und sentimentalische Dichtung das Gegenstück zur Naivität bildet, ist neben der Würde und der tragisch-sentimentalischen Kunst als ein weiterer Unteraspekt innerhalb der Ästhetik des Erhabenen zu betrachten.55 Wie das Erhabene, so thematisiert auch das Sentimentalische das Verhältnis zur Natur. Doch während das Erhabene den Kampf gegen eine aufbegehrende, als unfassbare oder zer53 Friedrich Schiller : Die Macht des Gesanges. In: Georg Kurscheidt (Hrsg.): Friedrich Schiller : Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 1: Gedichte. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag, 1992, S. 225 – 226, hier S. 226. Zum Gedicht Die Macht des Gesanges vgl. Joachim Bernauer : »Schöne Welt, wo bist du?«: Über das Verhältnis von Lyrik und Poetik bei Schiller. Berlin: Erich Schmidt Verlag, 1995, S. 236. 54 Zelle hebt hervor: »Während die Quellen für Schillers Begriff des Naiven bereits gründlich erörtert worden sind, hat sich die Germanistik […] [kaum] um eine zureichende Begriffsgeschichte des ›Sentimentalischen‹ bemüht. Die Herleitung des Begriffs des ›Sentimentalischen‹ aus der Empfindsamkeit und ihrer Theorie der vermischten Empfindungen im Allgemeinen und vom Stil der sterneschen Reisebeschreibung im Besonderen ist jedoch evident. […] Empfindsam, sentimental und sentimentalisch bzw. Empfindsamkeit und Sentimentalität werden Ende des 18. Jahrhunderts synonym verwendet.« (Carsten Zelle: Über naive und sentimentalische Dichtung (1795/96). In: Matthias Luserke-Jaqui (Hrsg.): SchillerHandbuch: Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2005, S. 451 – 479, hier S. 457) Zur Begriffsgeschichte des Sentimentalischen vgl. weiter Martin Fontius: Sensibilität/ Empfindsamkeit/Sentimentalität. In: Karlheinz Barck u. a. (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 5: Postmoderne – Synästhesie. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2003, S. 487 – 508. 55 »[…] das Erhabene [regiert] die Theorie des Sentimentalischen […]«: Carsten Zelle: Über naive und sentimentalische Dichtung (1795/96). In: Matthias Luserke-Jaqui (Hrsg.): SchillerHandbuch: Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2005, S. 451 – 479, hier S. 469.
Das Sentimentalische und die Trauer um das Naive
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störerische Macht erlebte Natur beschreibt, beklagt das Sentimentalische aus einer wehmütigen und melancholischen Gemütsverfassung heraus den Verlust der naiven, reinen Natur sowie der schönen Einheit des Menschen und sehnt sich zu beidem zurück – Gesine wird in den Jahrestagen diesen Gedanken Schillers und ihre eigene Sehnsucht kritisch hinterfragen. »Schöne Welt, wo bist du? Kehre wieder / Holdes Blütenalter der Natur«,56 so formuliert Schiller die sentimentalische Sehnsucht nach dem Naiven in dem philosophischen Gedicht Die Götter Griechenlands.57 Und in Über naive und sentimentalische Dichtung lesen wir : Mit schmerzlichem Verlangen sehnen wir uns dahin zurück, sobald wir angefangen, die Drangsale der Kultur zu erfahren und hören im fernen Auslande der Kunst der Mutter rührende Stimme. Solange wir bloße Naturkinder waren, waren wir glücklich und vollkommen; wir sind frei geworden, und haben beides verloren. Daraus entspringt eine doppelte und sehr ungleiche Sehnsucht nach der Natur ; eine Sehnsucht nach ihrer Glückseligkeit, eine Sehnsucht nach ihrer Vollkommenheit. (NSD: S. 722 f., Herv. i. O.)
Trotz des sehnsüchtigen Blicks auf die verlorene Einheit Mensch lässt Schiller keinen Zweifel an seiner Position aufkommen: Die naive, gute Natur ist unweigerlich aus dem Wesen des modernen Menschen verdrängt worden und so tragisch dieser Aspekt des Verlaufs der Menschheitsgeschichte auch erscheinen mag, so muss er doch als unabänderlich anerkannt werden. Ein ›Zurück zur Natur‹, wie der ›Rousseauismus‹ es gefordert hat, gibt es für Schiller, wenn man die Entwicklung seiner Schriften verfolgt, in diesem Sinn, auch zum Zeitpunkt der ästhetischen Briefe, nicht. Er würde die kulturelle und technische Entwicklung sowie die Kultivierung der Menschheit, welche die Spezialisierung und Zerstückelung des Menschen mit bedingt, nicht gegen einen früheren glücklicheren, aber rückständigen Zustand eintauschen wollen (NSD: S. 724, S. 735). Die Wiedererlangung der Natur und eine erneute Versöhnung des Menschen mit ihr ist für Schiller nur denkbar auf einer höheren kulturellen Ebene in einem elysischen Zukunftsstaat – ein utopisches Wunschdenken, von dem er sich jedoch schon im Verlauf der ästhetischen Briefe verabschiedet. »Sie [die Natur, Anm. d. V.] liegt hinter dir, sie muß ewig hinter dir liegen« (NSD: S. 723), resümiert Schiller nüchtern in Über naive und sentimentalische Dichtung und in der Elegie Nänie heißt es poetischer : »Auch das Schöne muß sterben! […] Siehe! Da weinen die Götter, es weinen die Göttinnen alle, / Daß das Schöne vergeht, 56 Friedrich Schiller : Die Götter Griechenlands. In: Georg Kurscheidt (Hrsg.): Friedrich Schiller : Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 1: Gedichte. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag, 1992, S. 162 – 165, hier S. 164. 57 Zum Gedicht Die Götter Griechenlands vgl. Joachim Bernauer : »Schöne Welt, wo bist du?«: Über das Verhältnis von Lyrik und Poetik bei Schiller. Berlin: Erich Schmidt Verlag, 1995, S. 105 – 130.
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Schillers Ästhetik des Erhabenen
daß das Vollkommene stirbt.«58 Dem Menschen der modernen Welt bleibt nichts anderes übrig, als diesen Verlust der Natur zu akzeptieren, sich in erhabener Lebenskunst zu üben, um mit Würde und Fassung sein Schicksal ertragen zu können. Zwar gibt es keine Hoffnung auf Wiedererlangung der naiven und schönen Natur, dennoch darf sich der moderne Mensch nach ihr sehnen und sie dort aufsuchen, wo sie noch anzutreffen ist, um sich in ihrer Gegenwart von den Drangsalen und Mühen des Lebens zu erholen und sich für einen Moment dem Schein seiner Einheit mit ihr hinzugeben:59 Aber wenn du über das verlorene Glück der Natur getröstet bist, so laß ihre Vollkommenheit deinem Herzen zum Muster dienen. Trittst du heraus zu ihr aus deinem künstlichen Kreis, steht sie vor dir in ihrer großen Ruhe, in ihrer naiven Schönheit, in ihrer kindlichen Unschuld und Einfalt; dann verweile bei diesem Bilde, pflege dieses Gefühl, es ist deiner herrlichsten Menschheit würdig. Laß dir nicht mehr einfallen, mit ihr tauschen zu wollen, aber nimm sie in dich auf und strebe, ihren unendlichen Vorzug mit deinem eigenen unendlichen Prägorativ [sic!] zu vermählen, und aus beidem das Göttliche zu erzeugen. Sie umgebe dich wie eine liebliche Idylle, in der du dich selbst immer wiederfindest, aus den Verirrungen der Kunst (NSD: S. 724, Herv. i. O.).
In Über naive und sentimentalische Dichtung geht Schiller der bereits in seiner Matthisson-Rezension60 von 1794 aufgeworfenen Frage nach, worin das »zum Bedürfnis erhöhte Interesse« (NSD: S. 706) des Menschen für die Natur eigentlich gründet, wie »unsre[] Liebhabereien für Blumen und Tiere, für einfache Gärten, für Spaziergänge, für das Land und seine Bewohner, für manche Produkte des fernen Altertums« (NSD: S. 706)61 denn zu erklären seien. »Daher kommt es [die Liebe für die Natur, Anm. d. V.]«, lautet seine Antwort, »weil die Natur bei uns aus der Menschheit verschwunden ist, und wir sie nur außerhalb dieser, in der unbeseelten Welt, in ihrer Wahrheit wieder antreffen.« (NSD: S. 725, Herv. i. O.) 58 Friedrich Schiller : Nänie. In: Georg Kurscheidt (Hrsg.): Friedrich Schiller : Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 1: Gedichte. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag, 1992, S. 182 – 183, hier S. 182 f. Vgl. Fritz Usinger : Friedrich Schiller und die Idee des Schönen. Wiesbaden: Steiner, 1955, S. 13. 59 Zur Sehnsucht nach der Natur vgl. auch Matthias Ruppert: Unvollendete Totalität. Untersuchungen zu Friedrich Schillers Konzept einer vollständigen ästhetischen Erziehung. Mainz: Gardez!-Verlag, 1996, S. 152 ff. 60 Den Zusammenhang zwischen der Matthisson-Rezension und der Schrift Über naive und sentimentalische Dichtung erläutert Carsten Zelle: Über naive und sentimentalische Dichtung (1795/96). In: Matthias Luserke-Jaqui (Hrsg.): Schiller-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2005, S. 451 – 479, hier S. 455. 61 Zelle schreibt hierzu: »Der Spaziergang und die empfindsame Reise – moderne Situationen, auf denen wir vom Stoffwechsel der Natur befreit und von der Mühe der Arbeit entlastet sind – markieren daher […] den […] Zusammenhang, in dem die sentimentalische Empfindung des Naiven genossen wird […]« (ebd., S. 456).
Das Sentimentalische und die Trauer um das Naive
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Wenn man die ursprüngliche naive Natur nicht mehr auffinden kann, sieht Schiller es als Auftrag und Herausforderung der modernen sentimentalischen Kunst an, sie als Ideal zu suchen, abzubilden62 und so für den Augenblick »die naive Empfindung unter den Bedingungen der Reflexion wiederherzustellen«.63 Schiller erörtert verschiedene Kunstgattungen, die es jeweils auf ihre Weise vermögen, »ein Analogon der schönen Natur«,64 »eine Illusion, eine Simulation von Lebendigkeit [zu erzeugen]«.65 Neben der in der Forschung häufig erwähnten und zur Genüge behandelten sentimentalischen Dichtkunst mit ihren Gattungen der Elegie, Satire und Idylle sei hier ein weniger beachteter, für den zweiten Teil dieser Arbeit bedeutender Zweig der Kunst genannt, die Gartenkunst,66 auf den Schiller ganz besonders in seinem »Aufsatz im Gartenkalender auf das Jahr 1795«,67 zu sprechen kommt. Stefan Groß zufolge sucht der Mensch in artifiziell angelegten, als locus amoenus gestalteten »Landschaftsgärten«68 und Parkanlagen das verlorene Arkadien und mit ihm die naive Natur nachzubilden. »Die künstlich gestaltete Landschaft«, schreibt Groß, »sollte nach außen so wirken, als ob es die Natur selbst wäre, die sich darstellt.«69 In den Gärten könne sich der Mensch der Illusion eines ganzheitlichen Daseins, einer Versöhnung mit der Natur hingeben. Sie seien insofern »selige Inseln des Glücks«70 und »Sinnbilder für das freie Individuum in einer freien Natur«.71 Das Sentimentalische strebt zwar danach, der naiven Empfindungsweise durch Kunst nachzuspüren, zielt aber nicht auf die Wiedergewinnung des Naiven selbst, wie Peter Szondi dies annimmt.72 Der sentimentalische Betrachter und 62 Die Nachgestaltung der Natur in der modernen Dichtung erörtert Helmut Koopmann: Über naive und sentimentalische Dichtung. In: Helmut Koopmann (Hrsg.): Schiller-Handbuch. Stuttgart: Kröner, 1998, S. 627 – 638, hier S. 631. 63 Jörg Traeger : Naiv und sentimentalisch. Kunstgeschichtliche Betrachtungen zu Schillers Begriffspaar. In: Peter Philip Riedl (Hrsg.): Schiller neu denken. Beiträge zur Literatur-, Kultur- und Kunstgeschichte. Bd. 3. Regensburg: Schnell und Steiner, 2006, S. 121 – 176, hier S. 138. 64 Winfried Menninghaus: Das Versprechen der Schönheit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2003, S. 285. 65 Ebd., S. 285. 66 Mit der Gartenkunst im Allgemeinen sowie Schillers Verhältnis zu ihr beschäftigt sich Stefan Groß: Die Weimarer Klassik und die Gartenkunst: Über den Gattungsdiskurs und die »Bildenden Künste« in den theoretischen Schriften von Goethe, Schiller und Krause. Frankfurt a. M. u. a.: Lang, 2009, S. 12, S. 17 f., S. 172, S. 230 – 240, S. 326. Zu Schiller siehe ebd., S. 171 – 240. 67 Ebd., S. 18. 68 Ebd., S. 15. 69 Ebd., S. 194. 70 Ebd., S. 13. 71 Ebd., S. 13. 72 Vgl. Peter Szondi: Das Naive ist das Sentimentalische. Zur Begriffsdialektik in Schillers Abhandlung. In: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte 66 (1972), S. 174 – 206.
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Schillers Ästhetik des Erhabenen
Bewunderer naiver Natur ist sich ihres Verlusts wohl bewusst, Natur wird für ihn zu »ein[em] Gegenstand der Trauer«.73 Im Kontext dieser Gedanken begleiten wir Gesine später auf einigen ihrer Spaziergänge durch den New Yorker Riverside- und Central Park. Die Sehnsucht nach der naiven Natur löst im Menschen eine sentimentalische Stimmung aus, weil sie ihn an seine verlorene Einheit und Ganzheit erinnert. Diese sentimentalische Gemütslage enthält, ähnlich der erhabenen Empfindung, einen Widerspruch und wird deshalb von Schiller auch als »gemischte[s] Gefühl« (NSD: S. 739, vgl. S. 710 f.) bezeichnet:74 Sehnsucht nach und empfundene Liebe für die Natur stehen im Kontrast zum schmerzhaften Wissen um ihren unwiderruflichen Verlust. Einerseits ruft das naive Objekt der Sehnsucht – etwa ein betrachteter Gegenstand, eine Vorstellung oder Erinnerung – »Lachen« (NSD: S. 710) und »fröhliche[n] Spott« (NSD: S. 710) hervor, Gefühle also aus dem Bereich der Schönheit und Anmut. Die Gewissheit des Verlusts bewirkt andererseits eine sich mit »moralische[r] Trauer« (NSD: S. 712, Anm. 2), »Ehrfurcht« (NSD: S. 711) und »Wehmut« (NSD: S. 708, S. 710) verbindende und »immer etwas ernst[e] und anspannend[e]« (NSD: S. 739 Anm. 13) »erhabene Rührung« (NSD: S. 708). Damit sind genau jene Gefühle genannt, die für den Bereich des Erhabenen und Würdevollen charakteristisch sind und durch welche die innere Gewissheit des Menschen zum Ausdruck kommt, ein disharmonisches und entfremdetes Wesen zu sein. In dieser melancholisch-gemischten Gefühlslage »süßer Wehmut« (NSD: S. 725) neigt er zu »Einsamkeit« (NSD: S. 723), »Abgezogenheit und Stille« (NSD: S. 778) und unterscheidet sich damit vom schönen, anmutigen und naiven Menschen, der mit Heiterkeit am fröhlichen bunten Leben teilnimmt und ein »Kind des Lebens« (NSD: S. 778) ist.75 Die Sicht des Sentimentalischen, das sich nach der naiven Natur sehnt, zugleich aber um deren unwiederbringlichen Verlust weiß, kann somit als »Erinnerungs- und Trauerarbeit«,76 genauer : als »Trauerarbeit am Schönen«77 auf-
73 Stefan Groß: Die Weimarer Klassik und die Gartenkunst: Über den Gattungsdiskurs und die »Bildenden Künste« in den theoretischen Schriften von Goethe, Schiller und Krause. Frankfurt a. M. u. a.: Lang, 2009, S. 212. 74 Zum »gemischten Gefühl« vgl. Carsten Zelle: Über naive und sentimentalische Dichtung (1795/96). In: Matthias Luserke-Jaqui (Hrsg.): Schiller-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2005, S. 451 – 479, hier S. 456. 75 Zu den zwei letztgenannten Schiller-Zitaten (»Abgezogenheit« und »Kind des Lebens«) vgl. auch Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne: Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart, Weimar : Metzler, 1995, S. 219. 76 Winfried Menninghaus: Das Versprechen der Schönheit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2003, S. 281. 77 Ebd., S. 281.
Das Sentimentalische und die Trauer um das Naive
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gefasst werden. Ähnlich dieser »sentimentalische[n] Verlusterfahrung«78 beklagt auch Julius aus den Philosophischen Briefen den Verlust seiner »naiven Existenzweise«79 und seines »kindlich-vorbewußten Harmoniegefühls«80 durch das Erwachen des Verstandes: »Ich empfand und war glücklich. Raphael hat mich denken gelehrt, und ich bin auf dem Wege, meine Erschaffung zu beweinen.« (PhB: S. 211, Herv. i. O.)81
78 Ebd., S. 281. 79 Matthias Ruppert: Unvollendete Totalität. Untersuchungen zu Friedrich Schillers Konzept einer vollständigen ästhetischen Erziehung. Mainz: Gardez!-Verlag, 1996, S. 147. 80 Ebd., S. 152. 81 Vgl. auch ebd., S. 145.
6.
»Nimmer widme dich einem allein« – Zum Verhältnis von Schönem und Erhabenem in der Ästhetik Schillers
Abschließend stellt sich die Frage nach dem Verhältnis der Ästhetik des Schönen zu der des Erhabenen. Wie in den vorangegangenen Kapiteln gezeigt, sind die ästhetischen Schriften Schillers, von den frühen bis zu den späten, auf eine enge Verbindung beider Konzepte hin angelegt: Die jeweils aufeinander bezogene Dialektik von Anmut und Würde, Spiel und Ernst, Naivem und Sentimentalischem sowie schöner und tragisch-sentimentalischer Kunst verdeutlicht diese Korrelation. Nicht zuletzt weist die Anordnung der ästhetischen Abhandlungen im dritten Band der Kleineren prosaischen Schriften von 18011 darauf hin, dass Schiller seine Ästhetik als »doppelte Ästhetik«2 verstanden wissen will. Motive der »doppelten Ästhetik« durchziehen also Schillers gesamtes philosophisches Werk der 1790er Jahre. Jedoch verschieben sich im Laufe der Zeit die Schwerpunkte innerhalb des Systems von Schönem und Erhabenem. Während anfänglich das Modell des Schönen die größere Geltung beansprucht, scheint ab 1795 die Vorstellung des Erhabenen für Schiller bedeutsamer zu sein.3 Als er Anfang der 1790er Jahre beginnt, in Auseinandersetzung mit Kants Philosophie eine eigene Ästhetik zu entwickeln, hat sich sein Blick auf die Geschichte durch die Französische Revolution bereits verfinstert, aber noch überwiegen zu diesem Zeitpunkt sein aufklärerischer Optimismus und seine Hoffnung auf Besserung des Menschengeschlechts durch das Schöne. Obgleich das Erhabene als komplementäre Kategorie zum Schönen angelegt ist, richtet sich Schillers Sehnsucht nach dem mit sich und der Welt versöhnten Menschen zunächst auf das Schöne. Bis 1795 konzentriert sich die Schönheitsästhetik ganz 1 Eine Erläuterung zur Anordnung der Schriften findet sich bei Carsten Zelle: Über das Erhabene (1801). In: Matthias Luserke-Jaqui (Hrsg.): Schiller-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2005, S. 479 – 490, hier S. 480 f.; Wilfried Noetzel: Schillers Sozialästhetik. London: Turnshare, 2008, S. 55 f. 2 Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne: Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart, Weimar : Metzler, 1995. 3 Zum Wandel der Argumentation vgl. auch Wilfried Noetzel: Schillers Sozialästhetik. London: Turnshare, 2008, S. 64.
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Zum Verhältnis von Schönem und Erhabenem
auf das ehrgeizige Erziehungsprojekt, die Einheit und Harmonie im Menschen wieder herzustellen. Der Bruch, der eine Wende und Umkehrung in der Bewertung des Schönen und Erhabenen mit sich bringt, erfolgt im Verlauf der Schrift Über die ästhetische Erziehung des Menschen, als Schiller sich eingestehen muss, dass das Schöne an den Bedingungen der Wirklichkeit scheitert. Zur Bewältigung von geschichtlichen oder persönlichen Lebenskrisen, dies tritt immer deutlicher hervor, vermag das Schöne nichts beizutragen. Ohne die Versöhnungsästhetik des Schönen ist das Leben zwar weniger harmonisch, aber ohne das Erhabene ist es nicht zu bestreiten. Diese Wandlung der Bewertung hat einige Interpreten dazu veranlasst, von einer Verdrängung des Schönen durch das Erhabene auszugehen. So bezeichnet Michael Hofmann das Erhabene als »Nachfolger«4 des Schönen: »Das Ideal des Schönen […] erscheint angesichts einer als chaotisch empfundenen Wirklichkeit als nicht mehr haltbar.«5 Und: »Aus dieser Perspektive kann nicht mehr von einem Nebeneinander von Schönem und Erhabenem die Rede sein, sondern von einer Ablösung der Kategorie des Schönen durch die des Erhabenen.«6 Matthias Ruppert dagegen vertritt die Ansicht, Schönheit und Erhabenheit ließen sich gar nicht erst in ein einheitliches System integrieren, Schönes und Erhabenes existierten in einem »unverbundene[n] Nebeneinander«.7 Beiden Meinungen ist hier zu widersprechen. Zwar wird die Ästhetik des Erhabenen für den Schiller der späten 1790er Jahre unweigerlich wichtiger, verdrängt aber nicht, so die Meinung dieser Arbeit, die Ästhetik des Schönen. Auch wenn Schiller die Grenzen der Schönheit8 deutlich
4 Michael Hofmann: Das Erhabene und die nicht mehr schöne Kunst: Aspekte der Modernität von Schillers literarischer Ästhetik. In: Litt¦rature & civilisation au capes et l’agr¦gation d’allemand 1992, S. 59 – 77, hier S. 62. 5 Ebd., S. 69. 6 Michael Hofmann: Schiller : Epoche, Werk, Wirkung. München: Beck, 2003, S. 127. Vgl. hierzu auch Ehlers: Schiller vermittele zwischen Schönem und Erhabenem und entscheide sich für das Erhabene: Nils Ehlers: Zwischen schön und erhaben – Friedrich Schiller als Denker des Politischen: im Spiegel seiner theoretischen Schriften. Göttingen: Cuvillier, 2011, S. 217, S. 223. 7 Matthias Ruppert: Unvollendete Totalität. Untersuchungen zu Friedrich Schillers Konzept einer vollständigen ästhetischen Erziehung. Mainz: Gardez!-Verlag, 1996, S. 123. Vgl. auch Ludwig: »Man kann wohl finden, dass die beiden Konzepte des Schönen und des Erhabenen einander widersprechen und Schiller mal dem einen, mal dem andern den Vorrang zu geben scheint. Tatsächlich aber will er sie als komplementäre Elemente des Menschseins behaupten.« (Janine Ludwig: »Wenn das Erhabene mit dem Schönen sich gattet«: Plädoyer gegen eine einseitige Schiller-Rezeption. In: Jonas Maatsch und Christoph Schmälzle (Hrsg.): Schillers Schädel. Physiognomie einer fixen Idee. Weimar, Göttingen: Klassik Stiftung Weimar und Wallstein Verlag, 2009, S. 172 – 175, hier S. 173 f.) 8 Vgl. den Titel einer Abhandlung von Friedrich Schiller : Über die notwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen. In: Rolf-Peter Janz (Hrsg.): Friedrich Schiller. Werke und Briefe in
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erkennt und sich zuweilen mit spürbar verändertem Tonfall über das Schöne äußert (ÜE: S. 830), so gibt er diese Idee dennoch nicht auf. In der späten Schrift Über das Erhabene bekundet Schiller in aller Klarheit, »das Erhabene [müsse] zu dem Schönen hinzukommen, um die ästhetische Erziehung zu einem vollständigen Ganzen zu machen« (ÜE: S. 838). Und weiter heißt es: Nur wenn das Erhabene mit dem Schönen sich gattet, und unsre Empfänglichkeit für beides in gleichem Maß ausgebildet worden ist, sind wir vollendete Bürger der Natur, ohne deswegen ihre Sklaven zu sein, und ohne unser Bürgerrecht in der intelligiblen Welt zu verscherzen. (ÜE: S. 839)
Die ästhetische Erziehung umfasst also als doppelte Erziehung Schönes und Erhabenes9 und nicht allein das Schöne, wie ausgehend von den ästhetischen Briefen häufig angenommen wird.10 Bereits dort ist in Schillers Vorhaben, der schmelzenden Schönheit das Konzept einer dem Erhabenen entsprechenden energischen Schönheit11 an die Seite zu stellen, der Gedanke einer doppelten ästhetischen Erziehung angelegt. Dieser Entwurf wurde aber letztlich mit dem Abbruch der Briefe nicht mehr ausgeführt. In Über das Erhabene allegorisiert Schiller die doppelte Erziehung in seiner kurzen Parabel von den »Zwei Genien«: Zwei Genien sind es, die uns die Natur zu Begleitern durchs Leben gab. Der Eine, gesellig und hold, verkürzt uns durch sein munteres Spiel die mühvolle Reise, macht uns die Fesseln der Notwendigkeit leicht, und führt uns unter Freude und Scherz bis an die gefährlichen Stellen, wo wir als reine Geister handeln und alles körperliche ablegen müssen, bis zur Erkenntnis der Wahrheit und zur Ausübung der Pflicht. Hier verläßt er uns, denn nur die Sinnenwelt ist sein Gebiet, über diese hinaus kann ihn sein irdischer Flügel nicht tragen. Aber jetzt tritt der andere hinzu, ernst und schweigend, und mit starkem Arm trägt er uns über die schwindlichte Tiefe. In dem ersten dieser Genien erkennet man das Gefühl des Schönen, in dem zweiten das Gefühl des Erhabenen. (ÜE: S. 826)12
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zwölf Bänden. (Frankfurter Ausgabe). Bd. 8: Theoretische Schriften. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag, 1992, S. 677 – 706. Diese Meinung wird gestützt durch Wilfried Noetzel: Schillers Sozialästhetik. London: Turnshare, 2008, S. 64, S. 74. Vgl. auch Janine Ludwig: »Wenn das Erhabene mit dem Schönen sich gattet«: Plädoyer gegen eine einseitige Schiller-Rezeption. In: Jonas Maatsch und Christoph Schmälzle (Hrsg.): Schillers Schädel. Physiognomie einer fixen Idee. Weimar, Göttingen: Klassik Stiftung Weimar und Wallstein Verlag, 2009, S. 172 – 175, hier S. 173 f. Vgl. etwa: »Ästhetische Erziehung meint vorherrschend Erziehung durch das Schöne«: Rose Riecke-Niklewski: Die Metaphorik des Schönen: eine kritische Lektüre der Versöhnung in Schillers »Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen«. Tübingen: Niemeyer, 1986, S. 21. Carsten Zelle: Über das Erhabene (1801). In: Matthias Luserke-Jaqui (Hrsg.): SchillerHandbuch: Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2005, S. 479 – 490, hier S. 482. Vgl. hierzu auch Wilfried Noetzel: Schillers Sozialästhetik. London: Turnshare, 2008, S. 11, S. 48.
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Deutlich wird hier betont, dass man in seinem Leben beider Begleiter bedarf, des Schönen wie des Erhabenen. Die zwei Gefährten in der Parabel sollen uns zur »doppelte[n] Lebenskunst«13 befähigen, gemeinsam rüsten sie den Menschen aus für ein Leben im Glück wie auch im Unglück. Schönheit und Erhabenheit sind somit als »zwei Seiten derselben Medaille«14 zu betrachten. Je nach Lebensumständen übernimmt einmal der heitere Gefährte die Führung, ein anderes Mal der ernste, doch stets gilt der Grundsatz: »Nimmer widme dich Einem allein.«15 So brauchen wir einerseits das Erhabene, um als vernünftige Geistwesen mit bestehenden Differenzen des Lebens und mit Schicksalsschlägen umgehen zu können. »Durch die Schönheit allein würden wir also ewig nie erfahren, daß wir bestimmt und fähig sind, uns als reine Intelligenzen zu beweisen.« (ÜE: S. 828) Schon in Über Anmut und Würde erkennt Schiller, dass die schöne, anmutige Seele zum Untergang bestimmt ist, wenn sie nicht gelernt hat, sich in Notsituationen in einen erhabenen, starken Charakter zu transformieren: »[D]ie schöne Seele«, heißt es dort, »muss sich […] in eine erhabene verwandeln […] [D]ie schöne Seele geht ins Heroische über und erhebt sich zur reinen Intelligenz.« (AW: S. 378) Es scheint so, als wolle Schiller seine schöne Seele in der Schrift Über das Erhabene – und, so könnte man hinzufügen, Johnson seine Ingrid – auf Lebenstauglichkeit hin prüfen, wenn er den »schönen Charakter« (ÜE: S. 828, Herv. i. O.) »plötzlich in ein großes Unglück geraten [lässt]« (ÜE: S. 829). Auch in der Schrift Über naive und sentimentalische Dichtung wird die »Schönheit der Seele« (NSD: S. 746) einer »Probe« (NSD: S. 746) unterzogen, mit »einem schwürigen und großen Objekte« (NSD: S. 746) konfrontiert und die »Rüstigkeit des Charakters« (ÜE: S. 839, Herv. i. O.) auszubilden gefordert. »[D]ie wahrhaft schöne Seele hingegen«, so schlussfolgert Schiller, »geht eben so gewiß in die erhabene über.« (NSD: S. 746) Ebenso gewiss verwandelt sich Ingrid in die erhabene Gesine. Wenn die schöne Seele ohne den rüstigen Charakterzug im Leben nicht zu bestehen vermag, warum, so ist folglich zu fragen, brauchen wir dann das Schöne? Auch wenn sich das Schöne in der Realität als schwach und ungeeignet für Erkenntnisvorgänge und Problemlösungen erweist,16 so können wir dennoch 13 Ebd., S. 46. 14 Ebd., S. 74. 15 Friedrich Schiller : Die Führer des Lebens. In: Georg Kurscheidt (Hrsg.): Friedrich Schiller : Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 1: Gedichte. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag, 1992, S. 282. Vgl. hierzu auch Andrea Vierle: Die Wahrheit des Poetisch-Erhabenen: Studien zum dichterischen Denken. Von der Antike bis zur Postmoderne. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2004, S. 276 ff. 16 Vgl.: »Daher muß man denjenigen vollkommen Recht geben, welche das Schöne […] in Rücksicht auf Erkenntnis und Gesinnung für völlig indifferent und unfruchtbar erklären. Sie haben vollkommen Recht, denn die Schönheit gibt schlechterdings kein einzelnes Resultat weder für den Verstand noch für den Willen, sie führt keinen einzelnen weder intellektuellen,
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nicht gänzlich auf es verzichten. Denn wir bestehen nicht allein aus erhabenem Geist, sind nicht nur intelligible Wesen, sondern sinnlich-vernünftige Doppelwesen, die in einer sinnlich-erfahrbaren Welt leben. Ohne das Schöne würden wir diese sinnliche und damit ganzheitliche Seite und wahre Bestimmung des Menschseins verleugnen, wir müssten ewig auf Harmonie und Versöhnung verzichten und stets den Kampf der Triebe auf das Schmerzlichste empfinden (vgl. ÜE: S. 828). Das Schöne als Idee unserer Menschlichkeit ist zwar in dieser Welt nicht einlösbar. Wir können uns aber, wie dies für Gesine gezeigt wird, für gewisse Zeiträume Inseln schaffen, um in der schönen Natur oder mittels der schönen Kunst diese Bestimmung künstlich als »aufrichtigen und selbständigen Schein« (ÄE: S. 665), der sich nicht für die Wahrheit ausgibt, zu erfahren. »Ohne das Erhabene würde uns die Schönheit unsrer Würde vergessen machen« (ÜE: S. 839), aber umgekehrt gilt mit Schiller auch: »Ohne das Schöne […] würden wir unsre Menschheit versäumen« (ÜE: S. 838, Herv. i. O.). Schiller hat in verschiedenen Modellen, die hier als ›dynamisches Modell‹,17 ›Reifemodell‹ und ›Modell vom Idealschönen‹ bezeichnet werden sollen, das Verhältnis zwischen dem Schönen und dem Erhabenen zu beschreiben versucht. Diese Entwürfe betrachten den Zusammenhang von Schönem und Erhabenem aus unterschiedlichen Blickwinkeln und verhalten sich teilweise, wie insbesondere beim dritten Konzept des Idealschönen deutlich wird, nicht ganz unproblematisch zueinander. In Über Anmut und Würde führt Schiller seine »doppelte Ästhetik« als ein dynamisches Modell mit fließenden Übergängen zwischen den Bereichen der Anmut und Würde aus, zwischen denen sich auch Ingrid schwankend bewegt. So bestimmt er jeweils drei Grade oder Abstufungen der Anmut und der Würde, die ohne feste Abgrenzung ineinander übergehen und so zwischen den Bereichen des Schönen und Erhabenen nahtlos wechseln können: Die Anmut untergliedert Schiller in die Formen der sich mit dem lachenden Scherz und dem Stachel des Spotts verbindenden »belebende[n] Grazie« (vgl. AW: S. 390), der »beruhigende[n] Grazie« (AW: S. 391), auch schlicht als Anmut bezeichnet, und des »Bezaubernde[n]«, des »höchste[n] Grad[s] der Anmut« (AW: S. 391). Bei der Würde wiederum differenziert Schiller zwischen dem »Edlen«, der an das Furchtbare grenzenden »Hoheit« und dem höchsten Grad der Würde, der »Majestät« (alle AW: S. 391). Die Würde kann sich einmal der Anmut annähern: noch moralischen Zweck aus, sie findet keine einzige Wahrheit, hilft uns keine einzige Pflicht erfüllen, und ist, mit einem Worte, gleich ungeschickt, den Charakter zu gründen und den Kopf aufzuklären.« (ÄE: S. 636, Herv. i. O.) Siehe hierzu auch Jochen Hörisch: Die Kunst des Lebens und das Leben der Kunst. Überlegungen zu Schillers Konzeption einer ästhetischen Erziehung des Menschen. In: Text & Kontext. Zeitschrift für germanistische Literaturforschung in Skandinavien 28.1 (2006), S. 36 – 54, hier S. 42. 17 Vgl. hierzu Noetzel, der von »Schillers dynamische[m] Schönheits- und Humanitätsideal« (Wilfried Noetzel: Schillers Sozialästhetik. London: Turnshare, 2008, S. 50) spricht.
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»[D]ie Würde […] wird da, wo sie sich der Anmut und Schönheit nähert, zum Edeln [sic!].« (AW: S. 391) Umgekehrt ist diejenige Abstufung der Anmut, die sich mit der Würde berührt, die »beruhigende Grazie«: »Die beruhigende Grazie grenzt näher an die Würde, da sie sich durch Mäßigung unruhiger Bewegungen äußert.« (AW: S. 391) An diesen Schnittstellen sind beide, Anmut und Würde, durch die Gemeinsamkeit einer Charaktereigenschaft miteinander verbunden, nämlich durch das Mitleid. Mitleid macht neben der Liebe einen zentralen Wesenszug der Anmut aus (AW: S. 390) und »sympathetisches« Mitleiden ist auch für die Stimmung des Erhabenen bedeutsam (VE: S. 419). Schiller verdeutlicht, dass Anmut und Würde zwar ihre verschiedenen Wirkungsbereiche haben, trotzdem aber in einer Art wechselseitigem Zusammenspiel aufeinander angewiesen sind. So müssen, wie an der betörenden Ingrid zu sehen sein wird, die Reize der belebenden Grazie (vgl. AW: S. 390) durch die Würde ausgeglichen werden: »Die Würde hindert, daß die Liebe nicht zur Begierde wird.« (AW: S. 390) Denn das Wohlgefallen an der reizenden Grazie »kann, wenn es nicht durch Würde zurückgehalten wird, leicht in Verlangen ausarten.« (AW: S. 390) Dies würde dem Ideal widersprechen, da »[w]ahre Schönheit, wahre Anmut […] nie Begierde erregen [soll].« (AW: S. 390) Im umgekehrten Fall ist aber auch die Würde an die Anmut gebunden, denn »[d]ie Anmut verhütet, daß die Achtung nicht Furcht wird« (AW: S. 390).18 Anmut und Würde sind also nicht unabhängig voneinander denkbar. Ihr Zusammenspiel kann vielmehr als eine dialektische, dynamische Pulsbewegung von Anziehung und Zurückstoßung aufgefasst werden, das es in ein Gleichgewicht zu bringen gilt: »Wo sich Grazie und Würde vereinigen, da werden wir abwechselnd angezogen und zurückgestoßen; angezogen als Geister, zurückgestoßen als sinnliche Naturen.« (AW: S. 387)19 In der Schrift Über das Erhabene betrachtet Schiller das Verhältnis von Schönem und Erhabenem aus einer anderen Perspektive, das Erhabene bildet sich hier im Prozess der menschlichen Reifung aus. Auch dieses Modell lässt sich in Hinblick auf den Ingrid-Roman mit seinem Untertitel Reifeprüfung, aber auch auf die Figur der dem Kindheitsstatus allmählich entwachsenden Marie kritisch reflektieren. Während das Schöne dem Bereich des naiven unschuldigen Kindes 18 Vgl.: Die Würde »muss […] stets mit dem emphatischen Prinzip ›Anmut‹ austariert werden« (Wilfried Noetzel: Schillers Sozialästhetik. London: Turnshare, 2008, S. 50). 19 Vgl. ebd., S. 50. Siehe auch: »In short, grace and dignity need each other. They cannot exist in pure isolation from one another. […] Although one or the other may predominate in any given action, we ultimately need both […]« (Daniel Halberstam: Of grace and dignity in law. In: Walter Hinderer (Hrsg.): Friedrich Schiller und der Weg in die Moderne. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2006, S. 205 – 219, hier S. 210). Das Verhältnis von Anmut und Würde diskutiert auch Matthias Ruppert: Unvollendete Totalität. Untersuchungen zu Friedrich Schillers Konzept einer vollständigen ästhetischen Erziehung. Mainz: Gardez!Verlag, 1996, S. 109.
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angehört, wächst mit zunehmendem Alter und der damit einhergehenden, zum Teil tragischen Lebenserfahrung die Gravität des Erhabenen: Schon der Zweck der Natur bringt es mit sich, daß wir der Schönheit zuerst entgegeneilen, wenn wir noch vor dem Erhabenen fliehn; denn die Schönheit ist unsre Wärterin im kindischen Alter […] Aber ob sie gleich unsre erste Liebe ist, und unsre Empfindungsfähigkeit für dieselbe zuerst sich entfaltet, so hat die Natur doch dafür gesorgt, daß sie langsamer reif wird [im Sinne von ›nach und nach reif werden‹, Anm. d. V.] […] Erreichte der Geschmack seine völlige Reife, ehe Wahrheit und Sittlichkeit auf einen bessern Weg, als durch ihn geschehen kann, in unser Herz gepflanzt wären, so würde die Sinnenwelt ewig die Grenze unsrer Bestrebungen bleiben. Wir würden weder in unsern Begriffen, noch in unsern Gesinnungen über sie hinaus gehn […] Aber glücklicherweise liegt es schon in der Einrichtung der Natur, daß der Geschmack, obgleich er zuerst blühet, doch zuletzt unter allen Fähigkeiten des Gemüts seine Zeitigung erhält. In dieser Zwischenzeit wird Frist genug gewonnen, einen Reichtum von Begriffen in dem Kopf und einen Schatz von Grundsätzen in der Brust anzupflanzen, und dann besonders auch die Empfindungsfähigkeit für das Große und Erhabene aus der Vernunft zu entwickeln. (ÜE: S. 831)
In einem dritten Modell schließlich, das in mehreren Schriften Schillers Erwähnung findet, wirken die Prinzipien des Schönen und Erhabenen, der schmelzenden und energischen Schönheit, der Anmut und Würde sowie der Naivität und Sentimentalität im »Idealschönen« als ungeteilte Einheit zusammen und bilden zugleich Schillers Menschheitsideal, das Johnson am Beispiel seiner Ingrid-Figur in teils ironischer, teils sehnsüchtig-bewundernder Weise bespricht, um es letztendlich als unerreichbar zu verabschieden. Im Bereich der Ideale verschmilzt nach Schiller die »doppelte Ästhetik« zu einer einzigen. So heißt es in Über Anmut und Würde von der Vereinigung der beiden Antagonisten: Da Würde und Anmut ihre verschiedenen Gebiete haben, worin sie sich äußern, so schließen sie einander in derselben Person, ja in demselben Zustand einer Person nicht aus […] Sind Anmut und Würde […] in derselben Person vereinigt, so ist der Ausdruck der Menschheit in ihr vollendet […] Beide Gesetzgebungen berühren einander hier so nahe, daß ihre Grenzen zusammenfließen. (AW: S. 385, Herv. i. O.)
In Über die ästhetische Erziehung des Menschen kommt Schiller auf diesen Gedanken zurück, wenn er am Beispiel der Juno Ludovisi die Verbindung von Schönheit und Erhabenheit, von Anmut und Würde und damit die Vollendung des Menschen aufzeigt. »Es ist weder Anmut noch ist es Würde, was aus dem herrlichen Antlitz einer Juno Ludovisi zu uns spricht; es ist keines von beiden, weil es beides zugleich ist.« (ÄE: S. 615, Herv. i. O.) Weiterhin ist in den ästhetischen Briefen von der Vereinigung von schmelzender Schönheit – welche der Schönheit in der Sinnenwelt entspricht – und energischer Schönheit – die dem
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Erhabenen gleichkommen soll – im Idealschönen20 die Rede (vgl. ÄE: S. 616 ff.). Schiller hat im Gegensatz zur schmelzenden seine Vorstellung von der energischen Schönheit nicht weitergehend ausgeführt. Carsten Zelle erklärt dazu, dass die späten Schriften zur Erhabenheit diesen in den ästhetischen Briefen fehlenden Aspekt ersetzen sollen. In diesem Sinne ist in der Abhandlung Über das Erhabene von der Verschmelzung von Schönem und Erhabenem im Idealschönen die Rede, wenn es heißt: »[I]m Idealschönen muß sich auch das Erhabene verlieren.« (ÜE: S. 828) Konsequenterweise schwebt Schiller auch in Über naive und sentimentalische Dichtung der Zusammenschluss des naiven und des sentimentalischen Charakters (NSD: S. 749) vor.21 Dieses Ideal der Verbindung von Schönheit und Erhabenheit im Menschen, das sich als Leitgedanke durch seine Schriften zieht, kann aber nach Schiller »in der Wirklichkeit« (ÄE: S. 615) nie erreicht werden und so fällt es in der Welt der Erfahrung in zwei unterschiedliche Wirkweisen auseinander (ÄE: S. 615), die als Anmut und Würde, als schmelzende und energische Schönheit, als Schönheit und Erhabenheit, als Naivität und Sentimentalität in Erscheinung treten und denen eine »doppelte Ästhetik« in der Erfahrung, nämlich des Schönen und des Erhabenen, entspricht.
20 Zur schmelzenden und energischen Schönheit und ihrer Vereinigung im Idealschönen vgl. Joachim Bernauer: »Schöne Welt, wo bist du?«: Über das Verhältnis von Lyrik und Poetik bei Schiller. Berlin: Erich Schmidt Verlag, 1995, S. 237; Rose Riecke-Niklewski: Die Metaphorik des Schönen: eine kritische Lektüre der Versöhnung in Schillers »Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen«. Tübingen: Niemeyer, 1986, S. 28; Matthias Ruppert: Unvollendete Totalität. Untersuchungen zu Friedrich Schillers Konzept einer vollständigen ästhetischen Erziehung. Mainz: Gardez!-Verlag, 1996, S. 59. Das Idealschöne ist nicht mit der Schönheit in der Idee zu verwechseln, wie Noetzel dies meint: Wilfried Noetzel: Schillers Sozialästhetik. London: Turnshare, 2008, S. 74 f. Vgl. dazu auch Andrea Vierle: Die Wahrheit des Poetisch-Erhabenen: Studien zum dichterischen Denken. Von der Antike bis zur Postmoderne. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2004, S. 279, S. 285 f. 21 Vgl. auch: »[D]a, wohin der größte Schmerz gelegt ist, zeigt sich auch die größte Schönheit« (ÜP: S. 434 f.), so heißt es in Hinblick auf Laokoon. Vgl. auch: die »erhabenste[] Schönheit« (NSD: S. 736) der Dichtung (vgl. weiter NSD: S. 741, S. 743, S. 736, S. 738).
Teil III: Textanalyse
7.
»Mehr kann ich darüber nicht sagen«: Johnsons Schiller-Rezeption
Der in der Einleitung genannte textzentrierte Zugang soll kein Hindernis darstellen, einen kurzen Blick auf die Schiller-Rezeption des Autors Johnson zu werfen. Um es gleich vorweg zu sagen: Unter den in publizierter Form vorliegenden autobiographischen und poetologischen Äußerungen Johnsons sowie in den mit ihm durchgeführten Interviews, und das sind nicht wenige,1 befinden sich keine mir bekannten längeren zusammenhängenden Ausführungen des Schriftstellers, in denen er eingehend zu Schillers ästhetischem System Stellung bezieht. Und dennoch sprechen viele Argumente dafür, dass Johnson mit Schillers literarischem und philosophischem Werk vertraut war. Die eindeutigsten und aussagekräftigsten Belege für die Untersuchungsthese weisen noch immer die Romane selbst auf, in denen »Schiller mit einer auffällig hohen Anzahl von Zitaten vertreten [ist]«.2 Direkte Hinweise auf Schiller lassen sich etwa im IngridRoman finden, als im Rahmen einer Deutschstunde Schillers idealistische Ballade Die Bürgschaft durchgenommen wird (IB: S. 98 – 102); in den Mutmassungen über Jakob zitiert Johnson aus Schillers Schrift Über die ästhetische Erziehung des Menschen;3 in den Jahrestagen wiederum verbergen sich, wie der Kommentar zu Johnsons Hauptwerk aufführt, dutzende intertextuelle Anspielungen auf Schillers dramatisches und lyrisches Werk.4 Darüber hinaus ent1 Vgl. Uwe Neumann: »Er stellte seine Fallen öffentlich aus«: Zu Uwe Johnsons poetologischen Äußerungen. In: Carsten Gansel und Nicolai Riedel (Hrsg.): Uwe Johnson zwischen Vormoderne und Postmoderne. Internationales Uwe Johnson Symposium 22.–24. 9. 1994. Berlin, New York: de Gruyter, 1995, S. 55 – 80, hier S. 55. 2 Dietrich Spaeth: ITX – literarische Bezüge in Uwe Johnsons Jahrestage. In: Johnson-Jahrbuch 5 (1998), S. 71 – 102, hier S. 87. 3 »Soll einer sich selbst versäumen über einem Zweck« (MJ: S. 156), schreibt Johnson in seinem zweiten Roman und greift damit auf Schillers Formulierung aus den ästhetischen Briefen zurück, die lautet: »Kann aber wohl der Mensch dazu bestimmt sein, über irgend einem Zwecke sich selbst zu versäumen?« (ÄE: S. 577) 4 So lassen sich Bezüge nachweisen zu Maria Stuart, Die Glocke, Elegie, Don Carlos, Die Bürgschaft, Ode an die Freude, Wilhelm Tell und Wallenstein (Holger Helbig u. a. (Hrsg.):
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halten insbesondere die Romane Ingrid Babendererde und Jahrestage leitmotivisch Konzepte, Begriffe und Muster aus der »doppelten Ästhetik«5 des Schönen und Erhabenen, wie im textanalytischen Teil dieser Arbeit gezeigt wird.6 Dass Uwe Johnson bereits seit seiner Schulzeit mit Schiller vertraut gewesen sein dürfte, kann schon allein aufgrund der kulturpolitischen Einverleibung der Klassik im Allgemeinen und Schillers im Besonderen durch die DDR, wo Johnson bis zu seinem »Umzug«7 nach Westdeutschland im Jahr 1959 lebte, als gesichert angenommen werden. Von Beginn an und besonders in der Regierungszeit Walter Ulbrichts8 erfüllte die Literatur und Philosophie9 der Weimarer Klassik für die DDR im Rahmen ihrer Politik des »nationale[n] Kulturerbe[s]«10 eine »identitätsstiftende und legitimierende Funktion«.11 Mit ihrem erzieherischen Zwecken dienenden harmonisch-idealistischen, geschlossenen und zukunftsoptimistischen Gesellschafts- und Menschenbild war die Weimarer Klassik fester Bestandteil der »Gründungs- und Orientierungsmythen der DDR«.12 Mehr noch als Goethe musste der Freiheitsdichter, Menschenfreund und Fürstenerzieher Schiller als Stütze und Legitimation für das politische Handeln der DDR herhalten.13 »Denn er ist unser«14 – diese von Johannes R.
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Johnsons »Jahrestage« – der Kommentar : https://www.phf.uni-rostock.de/institut/igerman/ johnson/johnkomm/default.html (07. 07. 2013), hier https://www.phf.uni-rostock.de/institut/igerman/johnson/johnkomm/6806/680601.html#1252_26). Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne: Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart, Weimar : Metzler, 1995. Auch die Mutmassungen über Jakob bieten sich in diesem Kontext für eine Untersuchung an. Uwe Johnson: Begleitumstände. Frankfurter Vorlesungen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1986, S. 153. Vgl.: »Das formelle Ende der Herrschaftszeit Ulbrichts auf dem VIII. Parteitag der SED 1971 und der Tod Holtzhauers 1973 markierten in etwa die Zäsur auch der Wandlungen und des schließlichen Paradigmenwechsels im Erbeverhältnis, das zunächst durch kritische Impulse vor allem in der Literatur und auf dem Theater erschüttert worden war.« (Lothar Ehrlich, Gunther Mai und Ingeborg Cleve: Weimarer Klassik in der Ära Ulbricht. In: Lothar Ehrlich und Gunther Mai (Hrsg.): Weimarer Klassik in der Ära Ulbricht. Köln, Weimar, Wien: Böhlau Verlag, 2000, S. 7 – 31, hier S. 13) Rainer Rosenberg: Das klassische Erbe in der Literaturgeschichtsschreibung der DDR. In: Lothar Ehrlich und Gunther Mai (Hrsg.): Weimarer Klassik in der Ära Ulbricht. Köln, Weimar, Wien: Böhlau Verlag, 2000, S. 185 – 194, hier S. 189. Jörg Bernhard Bilke: »Denn er ist unser: Friedrich Schiller«: Zur DDR-Rezeption eines deutschen Klassikers. In: Deutschland Archiv. Zeitschrift für das vereinigte Deutschland 38 (2005), S. 473 – 478, hier S. 474. Lothar Ehrlich, Gunther Mai und Ingeborg Cleve: Weimarer Klassik in der Ära Ulbricht. In: Lothar Ehrlich und Gunther Mai (Hrsg.): Weimarer Klassik in der Ära Ulbricht. Köln, Weimar, Wien: Böhlau Verlag, 2000, S. 7 – 31, hier S. 8. Gerd Dietrich: »Die Goethepächter«: Klassikmythos in der Politik der SED. In: Lothar Ehrlich und Gunther Mai (Hrsg.): Weimarer Klassik in der Ära Ulbricht. Köln, Weimar, Wien: Böhlau Verlag, 2000, S. 151 – 174, hier S. 151. Ebd., S. 160. Jörg Bernhard Bilke: »Denn er ist unser: Friedrich Schiller«: Zur DDR-Rezeption eines
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Becher geäußerten und im Übrigen von Goethe entlehnten Worte15 anlässlich der Gedenkfeier zu Schillers 150. Todestag am 9. Mai 1955 an dem symbolträchtigen Ort des Weimarer Nationaltheaters16 geben deutlich das Programm der Vereinnahmung zu erkennen, welches die SED mit dem Dichter betrieb: Schiller wird zum »Vorkämpfer des DDR-Sozialismus«17 um- und missgedeutet.18 In Schillers Leben und Werk, so formulierte schon der Marxist Franz Mehring, spiegele sich »heldenhaftes Arbeiten und Kämpfen und Leiden«19 – die strenge Erziehung auf der Karlsschule, der Widerstand gegen seine Krankheit, die finanziellen Nöte, dann das Aufbegehren gegen Despotie und Tyrannei in den Dramen. Über dieses Leiden an den Lebens- und Zeitumständen erhebe sich jedoch »ein stolzer Wille«20 und ein »mächtiges Freiheitspathos«.21 Das Thema der Not und der kämpferischen Erhebung über diese Not verbinde in »tiefe[r] Sympathie«22 den Dichter mit der deutschen Arbeiterklasse, »deren Leben auch aus Arbeiten und Kämpfen und Leiden besteh[e]«23 und die angehalten sei, sich jene »Hoheit der Gesinnung«24 Schillers anzueignen, »die sich siegreich erheb[e] über alle Sklaverei.«25 Mit seiner berühmten kritischen Analyse der gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Verhältnisse des ausgehenden 18. Jahrhunderts im 6. der ästhetischen Briefe – die Rede ist dort vom barbarischen, absolutistisch-feudalen Notstaat,26 vom »Kampf zwischen den ›niederen‹ und den ›zivilisierten Klassen‹«27 und von der Zerrissenheit des Menschen durch die »kapitalistische[] Arbeitsteilung«28 – hat Schiller nach Ansicht führender Marxisten jene Dialektik der historischen Umstände und damit Ansichten vorbe-
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deutschen Klassikers. In: Deutschland Archiv. Zeitschrift für das vereinigte Deutschland 38 (2005), S. 473 – 478, hier S. 473. Ebd., S. 473. Ebd., S. 474. Vgl. auch: Die Rede Bechers »ist der erste DDR-Versuch, sich der Weimarer Klassik zu bemächtigen, um sie dem sozialistischen Staat verfügbar zu machen. Zwei Jahre zuvor waren in Thüringen die ›Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar‹ gegründet worden, wo das ›nationale Kulturerbe‹ zwischen 1750 und 1848 marxistisch aufbereitet werden sollte.« (Ebd., S. 474) Ebd., S. 475. Ebd., S. 475. Franz Mehring: Franz Mehring über Schiller. In: Günther Dahlke (Hrsg.): Der Menschheit Würde: Dokumente zum Schiller-Bild der deutschen Arbeiterklasse. Weimar : Arion Verlag, 1959, S. 51 – 235, hier S. 196. Ebd., S. 180. Ebd., S. 196. Ebd., S. 196. Ebd., S. 196. Ebd., S. 180. Ebd., S. 180. Ebd., S. 136. Ebd., S. 136. Georg Lukcs: Beiträge zur Geschichte der Ästhetik. Berlin: Aufbau Verlag, 1954, S. 25.
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reitet, die »auf den proletarischen Klassenkampf der Gegenwart wie gemünzt erscheinen«.29 Nach der anfänglichen Begeisterung und Kampfeslust, welche die ästhetischen Briefe im Einfordern einer wahren politischen Freiheit zunächst noch zu erkennen geben, muss sich Schiller im Fortgang der Briefe jedoch eingestehen, dass die Kluft zwischen roher Wirklichkeit und Ideal eines freiheitlichen Zukunftsstaates nicht zu überbrücken ist.30 Letzten Endes unterwerfe er sich in »freier Resignation allen Übeln der Kultur«31 und trete den Rückzug in die Sphäre des Schönen und der Kunst an oder, wie Lukcs in Anlehnung an Engels formuliert, die »Flucht aus der platten Misere in die überschwengliche Misere«.32 In einem von den Marxisten scharf verurteilten Idealismus erfolge bei Schiller die Aufhebung der Dialektik und damit die Herstellung der Totalität des in Vernunft und Natur zerrissenen Menschen durch die »dialektische Vermittlung«33 von Schönheit, Kunst und Spiel nur scheinhaft, nicht aber im wirklichen Leben.34 Schiller stelle, Lukcs folgend, zwar die richtigen Fragen und trage damit entschieden dazu bei, das Fundament für eine Klasse zu bereiten, die freilich »noch viel zu schwach ist, um den revolutionären Kampf auch nur ernsthaft aufzunehmen, geschweige denn siegreich zu Ende zu führen«.35 In Aneignung und kontinuierlicher Weiterentwicklung dieser Erkenntnisse vermöge jedoch »[e]rst der dialektische Materialismus […] die angemessene Lösung zu finden«,36 auf deren Basis heute die Arbeiterklasse den Kampf tatsächlich auf29 Franz Mehring: Franz Mehring über Schiller. In: Günther Dahlke (Hrsg.): Der Menschheit Würde: Dokumente zum Schiller-Bild der deutschen Arbeiterklasse. Weimar : Arion Verlag, 1959, S. 51 – 235, hier S. 51. 30 Vgl. ebd., S. 52, S. 29. Vgl. auch: »Aber die Auffassung, daß die Schönheit zur Freiheit führen müsse, daß die ästhetische Kultur und nicht der politische Kampf der Klassen der Hebel der Menschheitsbefreiung sei, mußte in eine unfruchtbare philosophisch-ästhetische Gedankenspielerei ausmünden. Ihr Ergebnis war eine blendende Ideologie. Das Mittel wurde zum Zwecke. Der politische Freiheitsstaat dankte an den ästhetischen Staat als Endziel ab. Der ästhetische Staat aber ist die Welt des schönen Scheins, […] wo ein ›liebliches Blendwerk der Freiheit‹ über die Knechtschaft in der wirklichen Welt hinwegtäuscht.« (Clara Zetkin: Clara Zetkin über Schiller. In: Günther Dahlke (Hrsg.): Der Menschheit Würde: Dokumente zum Schiller-Bild der deutschen Arbeiterklasse. Weimar : Arion Verlag, 1959, S. 245 – 258, hier S. 254) 31 Georg Lukcs: Beiträge zur Geschichte der Ästhetik. Berlin: Aufbau Verlag, 1954, S. 17. 32 Ebd., S. 16. 33 Ebd., S. 89. 34 Ebd., S. 32, S. 38, S. 89. 35 Ebd., S. 13. 36 Ebd., S. 37. Vgl. auch: »Diese Schwelle können sie infolge ihrer Klassenschranken nicht überschreiten. Nur der von Marx und Engels begründete dialektische und historische Materialismus ist in der Lage, die Fragen richtig und konkret zu stellen und sie wirklich wissenschaftlich zu beantworten.« (Ebd., S. 6)
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nehmen und weiterführen solle, »um eine entmenschte Wirklichkeit zu zerstören und sich ein menschenwürdiges Dasein zu erobern«.37 »Aber Schiller«, so schreibt Alexander Abusch, ist unser und bleibt unser als ein humanistischer Vorkämpfer, dem das kühne ›Traumbild eines neuen Staates‹ vorschwebte und der eine harmonische Gesellschaft ohne Klassenspaltung ersehnte; Traumbilder, die im Weltbund der sozialistischen Staaten nun zur Wirklichkeit auf Erden werden.38
Der »proletarische Befreiungskampf«,39 der »allen das reichste, blühendste Leben [verheiße]«,40 wird in diesem Sinne als Verwirklichung jenes elysischen Staats der Freiheit verstanden, den Schiller erträumt habe, aber umzusetzen nicht in der Lage gewesen sei. Bei Johannes R. Becher heißt es hierzu: Je gründlicher wir lernen, je besser wir arbeiten, je schöner wir zu leben verstehen, je vollkommener unsere neue gesellschaftliche Ordnung wird, unser Volksstaat, unsere Arbeiter-und-Bauern-Macht, desto näher rücken wir einem Dichter, einem Freiheitsdichter, wie es Friedrich Schiller war […] So erkennen wir heute schon, daß sein Werk nicht weit hinter uns liegt in einem irrlichternden Dämmer der Vergangenheit, sondern daß es vor uns sich im Künftigen erhebt, noch der Entdeckung harrend. […] Friedrich Schiller geht uns voran. Friedrich Schillers Werk liegt vor uns.41
Schillers Ideale von Freiheit, Versöhnung und Humanismus, sein Wunschbild eines zukünftigen freiheitlich-moralischen Vernunftstaates, der den nur durch innere Erhebung zu ertragenden Staat der Not und Barbarei ablöst, müssen 37 Franz Mehring: Franz Mehring über Schiller. In: Günther Dahlke (Hrsg.): Der Menschheit Würde: Dokumente zum Schiller-Bild der deutschen Arbeiterklasse. Weimar : Arion Verlag, 1959, S. 51 – 235, hier S. 52. 38 Alexander Abusch: Schiller im Staat der Arbeiter und Bauern. In: Günther Dahlke (Hrsg.): Der Menschheit Würde: Dokumente zum Schiller-Bild der deutschen Arbeiterklasse. Weimar : Arion Verlag, 1959, S. 316 – 319, hier S. 319. Vgl. auch: »In dem proletarischen Klassenkampf ist der Gegensatz zwischen Ideal und Leben versöhnt, den Schiller nur durch die Kunst versöhnen konnte. Dieser Kampf schafft sich selbst seine Waffen wie seine Zwecke; nicht in überirdischen Regionen, sondern auf dem Boden der rauhen Wirklichkeit gründet er die neue Welt, die Schiller nur als ein Reich der Schatten sah, die Welt, in der die ›kriechende Lohnkunst sich dem Staube entschwingt und die Fesseln der Leibeigenschaft fallen‹, in der ›ein späteres Geschlecht den freien Wuchs der Menschheit entfalten kann.‹« (Franz Mehring: Franz Mehring über Schiller. In: Günther Dahlke (Hrsg.): Der Menschheit Würde: Dokumente zum Schiller-Bild der deutschen Arbeiterklasse. Weimar : Arion Verlag, 1959, S. 51 – 235, hier S. 54) 39 Clara Zetkin: Clara Zetkin über Schiller. In: Günther Dahlke (Hrsg.): Der Menschheit Würde: Dokumente zum Schiller-Bild der deutschen Arbeiterklasse. Weimar : Arion Verlag, 1959, S. 245 – 258, hier S. 258. 40 Ebd., S. 258. 41 Johannes R. Becher : Denn er ist unser : Friedrich Schiller, der Dichter der Freiheit. Rede im Nationaltheater Weimar, 9. Mai 1955. In: Günther Dahlke (Hrsg.): Der Menschheit Würde: Dokumente zum Schiller-Bild der deutschen Arbeiterklasse. Weimar : Arion Verlag, 1959, S. 298 – 316, hier S. 314.
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somit als Legitimation des Klassenkampfes dienen. Nach dessen erfolgreichem Abschluss wird die Verwirklichung eines kommunistischen Staates in Aussicht gestellt, »einer ›neuen harmonischen Gesellschaft ohne Klassenspaltung‹«,42 in welcher nicht eine Minderheit von Fürsten über den Großteil der Bevölkerung herrschen soll, sondern alle Menschen eine große harmonische Einheit zu bilden angehalten sind.43 Nach dem barbarischen Geschichtsabschnitt der nationalsozialistischen Herrschaft44 sollte es nun Auftrag und Anliegen der DDR sein, eine bessere, humane sozialistische Gesellschaft hervorzubringen und »›neue[]‹ Menschen für ein ›neues‹ Deutschland zu bilden«.45 Diese kulturelle Tradition, als deren Abkömmling sich die DDR betrachtete, fand auf allen Ebenen der Gesellschaft ihre Vermittlung und Verbreitung,46 besonders in die Lehr- und Erziehungsanstalten galt es die sozialistischen Botschaften unter Berufung auf das klassische Erbe hineinzutragen: »Dann muß man anfangen sie [die Jugendlichen, Anm. d. V.] mit deutscher Literatur, mit Heine, Goethe, Schiller usw. vertraut zu machen. Nicht mit Marx und Engels anfangen! Das werden sie nicht verstehen«, so verkündete Walter Ulbricht in einer Rede im Juni 1945.47 Dass die Weimarer Klassik und Schiller zum festen Bestandteil des schulischen Literaturkanons gehörte, ist nicht zuletzt auch Johnsons Werk zu entnehmen: So heißt es in den Jahrestagen über den Unterrichtsstoff in der DDR des Jahres 1946: »Dreisatz, Ablativ, Friedrich Schiller wurden durchgenommen.« (JT: S. 1252) Die Erbediskussion findet auch Eingang in Ingrid Babendererde, dort überprüft die Deutschlehrerin Frau Behrens anhand von Schillers Ballade Die Bürgschaft »das Verhältnis von Abiturienten 42 Alexander Abusch, Kulturminister nach J. R. Becher, zitiert nach Jörg Bernhard Bilke: »Denn er ist unser : Friedrich Schiller«: Zur DDR-Rezeption eines deutschen Klassikers. In: Deutschland Archiv. Zeitschrift für das vereinigte Deutschland 38 (2005), S. 473 – 478, hier S. 474. 43 Von Otto Grotewohl stammen folgende Worte: »Hier, bei uns also, herrscht in Wirklichkeit der Geist des großen Humanisten Schiller. Jawohl, so steht es heute um Schillers Erbe und die deutsche Nation. Er steht auf unserer Seite.« Zitiert nach ebd., S. 474. Vgl. auch Wilhelm Senff: Die Bedeutung der Winckelmannschen Lehre vom Schönen für die Gegenwart. In: Johannes Irmscher (Hrsg.): Antikerezeption, deutsche Klassik und sozialistische Gegenwart. Berlin: Akademie Verlag, 1979, S. 9 – 13. 44 Gerd Dietrich: »Die Goethepächter«: Klassikmythos in der Politik der SED. In: Lothar Ehrlich und Gunther Mai (Hrsg.): Weimarer Klassik in der Ära Ulbricht. Köln, Weimar, Wien: Böhlau Verlag, 2000, S. 151 – 174, hier S. 155. 45 Lothar Ehrlich, Gunther Mai und Ingeborg Cleve: Weimarer Klassik in der Ära Ulbricht. In: Lothar Ehrlich und Gunther Mai (Hrsg.): Weimarer Klassik in der Ära Ulbricht. Köln, Weimar, Wien: Böhlau Verlag, 2000, S. 7 – 31, hier S. 7. 46 Ebd., S. 9. 47 Ulbricht, zitiert nach Gunther Mai: Staatsgründungsprozeß und nationale Frage als konstitutive Elemente der Kulturpolitik der SED. In: Lothar Ehrlich und Gunther Mai (Hrsg.): Weimarer Klassik in der Ära Ulbricht. Köln, Weimar, Wien: Böhlau Verlag, 2000, S. 33 – 60, hier S. 37.
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zur Lyrik der Weimarer Klassik« (IB: S. 96) und stellt diese Epoche ganz im Sinne der DDR-Ideologie als progressive Linie der abzulehnenden reaktionären Richtung der Romantik gegenüber (vgl. IB: S. 102).48 Insofern Schiller also durch die Ideologie der SED das Verdienst zugeschrieben wurde, »der erste [zu sein], der den Anlauf macht, eine begrifflich philosophische Einheit für die konkrete Dialektik des Historischen und Ästhetischen aufzufinden«,49 dürfte Johnson zunächst auf diesem Weg der Vermittlung des »kulturellen Erbes« mit der »wirkliche[n] erhabene[n] Schönheit seines [Schillers, Anm. d. V.] großen Lebenswerkes«50 in Berührung gekommen sein. Gegen dieses vereinnahmende marxistische Klassik- und Schillerbild, das die DDR vehement gegen abweichende und westliche Interpretationen abzuriegeln versuchte,51 regte sich aber auch Widerstand, verbunden mit dem Anspruch, unabhängig von der vorgegebenen Staatsmeinung Forschung betreiben zu können.52 Zu nennen sind hier in erster Linie Hans Mayer,53 Hermann August Korff54 und Ernst Bloch,55 bei denen Johnson in Leipzig, »[dem] Zentrum der Geisteswissenschaften in der DDR«,56 »Deutsche Literatur und Philologie stu-
48 Zur offiziellen Linie der DDR-Kulturpolitik und deren Aufnahme in Ingrid Babendererde sowie auch zu Klassik und Romantik als progressive und reaktionäre Bewegungen vgl. weiter Nicola Westphal: Die Freundschaft in den Zeiten der Tyrannei. Überlegungen zu einer Schulstunde in Ingrid Babendererde. In: Johnson-Jahrbuch 10 (2003), S. 95 – 108, hier S. 96 ff. 49 Georg Lukcs: Beiträge zur Geschichte der Ästhetik. Berlin: Aufbau Verlag, 1954, S. 96. 50 Rosa Luxemburg: Rosa Luxemburg über Schiller. In: Günther Dahlke (Hrsg.): Der Menschheit Würde: Dokumente zum Schiller-Bild der deutschen Arbeiterklasse. Weimar : Arion Verlag, 1959, S. 239 – 241, hier S. 241. 51 Jörg Bernhard Bilke: »Denn er ist unser: Friedrich Schiller«: Zur DDR-Rezeption eines deutschen Klassikers. In: Deutschland Archiv. Zeitschrift für das vereinigte Deutschland 38 (2005), S. 473 – 478, hier S. 475; Lothar Ehrlich, Gunther Mai und Ingeborg Cleve: Weimarer Klassik in der Ära Ulbricht. In: Lothar Ehrlich und Gunther Mai (Hrsg.): Weimarer Klassik in der Ära Ulbricht. Köln, Weimar, Wien: Böhlau Verlag, 2000, S. 7 – 31, hier S. 9. 52 Jörg Bernhard Bilke: »Denn er ist unser: Friedrich Schiller«: Zur DDR-Rezeption eines deutschen Klassikers. In: Deutschland Archiv. Zeitschrift für das vereinigte Deutschland 38 (2005), S. 473 – 478, hier S. 474. 53 Gerd Dietrich: »Die Goethepächter«: Klassikmythos in der Politik der SED. In: Lothar Ehrlich und Gunther Mai (Hrsg.): Weimarer Klassik in der Ära Ulbricht. Köln, Weimar, Wien: Böhlau Verlag, 2000, S. 151 – 174, hier S. 171. 54 Über seine Emeritierung 1954, als Johnson nach Leipzig kam, hinaus wirkte Korff bis 1957: Joachim Müller : Korff, Hermann August. In: Neue Deutsche Biographie 12 (1979), S. 585 – 586. 55 Gerd Dietrich: »Die Goethepächter«: Klassikmythos in der Politik der SED. In: Lothar Ehrlich und Gunther Mai (Hrsg.): Weimarer Klassik in der Ära Ulbricht. Köln, Weimar, Wien: Böhlau Verlag, 2000, S. 151 – 174, hier S. 171. 56 Ulrich Krellner : »Was ich im Gedächtnis ertrage«. Untersuchungen zum Erinnerungskonzept von Uwe Johnsons Erzählwerk. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2003, S. 19 f., Herv. i. O.
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diert[e]«57 und die ihn prägen sollten.58 Es ist aufschlussreich, was Johnsons Dozenten, nach seinen eigenen Worten »erhabene, dem Alltag entrückte Gestalten mit unsterblichen Geschäften«,59 über Schiller geschrieben haben. Nicht nur bei Hans Mayer dürfte Johnson im wahrsten Sinne des Wortes erhabene und »[s]chöne Jahrhundertdurchblicke«60 erhalten haben. So analysiert Hermann August Korff im 1930 erschienenen 2. Band seines umfangreichen Werks Geist der Goethezeit vor dem Hintergrund der Kant’schen Philosophie »[d]as spannungsreiche Verhältnis des Erhabenen zum Schönen bei Schiller«61 und setzt beide wechselseitig – in »doppelter Weise«62 – zueinander in Beziehung. Eine zentrale Passage in Korffs Abhandlung, die direkt auf den Gedanken eben jener »doppelten Ästhetik« zielt, wie er auch dieser Arbeit zugrunde liegt, lautet: Es war in der Ästhetik des 18. Jahrhunderts herkömmlich, dem Schönen das Erhabene als eine andere Form des Schönen gegenüberzustellen. Auch Kant hatte diesem Herkommen seinen Tribut gezahlt und seiner Analytik des Schönen eine ebensolche des Erhabenen nachfolgen lassen. Versetzen wir uns in Schillers geistige Lage, so war seine Ästhetik an einer Erfassung des Erhabenen im besonderen Maße interessiert. Wie an früherer Stelle dargelegt, war Erhabenheit überhaut das natürliche Ideal seiner Seele, dem seine gesamte Tragödiendichtung unterstand. Aus dem antithetischen Charakter seiner Natur heraus aber mußte er umwerben umgekehrt dasjenige, was ihm von Natur nicht gegeben war, und so galten seine ästhetischen Bemühungen zunächst der Idee des Schönen, durch die seine an sich erhabene Natur ihre notwendige ›Ergänzung‹ fand. Gerade darum aber mußte ihm alles daran gelegen sein, auch das Erhabene, das, was seiner Natur am nächsten lag, in das neue Reich seines Geistes aufzunehmen und es 57 Michael Roloff: Gespräch mit Uwe Johnson (Am 20. 8. 1961 in New York). In: Eberhard Fahlke (Hrsg.): »Ich überlege mir die Geschichte…« Uwe Johnson im Gespräch. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1988, S. 171 – 183, hier S. 173. 58 Norbert Mecklenburg: »So reden also verstoßene Kinder«. Uwe Johnsons Frühwerk im Kontext der DDR und als DDR-Literatur. In: Der Deutschunterricht. Beiträge zu seiner Praxis und wissenschaftlichen Grundlegung 5 (1996), S. 29 – 39, hier S. 32. Zu Mayer vgl. Uwe Johnson: »Ein verkannter Humorist«: Gespräch mit A. Leslie Willson (Am 20. April 1982 in Sheerness-on-Sea). In: Eberhard Fahlke (Hrsg.): »Ich überlege mir die Geschichte…« Uwe Johnson im Gespräch. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1988, S. 281 – 299, hier S. 282; Lothar Scheithauer: Die Jahre in Leipzig. Ein Gespräch. In: Johnson-Jahrbuch 4 (1997), S. 17 – 38, hier S. 29, S. 34. Für Hans Mayer verfasste Johnson sogar einen Text: Uwe Johnson: Einer meiner Lehrer. In: Siegfried Unseld (Hrsg.): Wohin ich in Wahrheit gehöre. Ein Uwe Johnson Lesebuch. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1994, S. 283 – 290. 59 Uwe Johnson: Einer meiner Lehrer. In: Siegfried Unseld (Hrsg.): Wohin ich in Wahrheit gehöre. Ein Uwe Johnson Lesebuch. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1994, S. 283 – 290, hier S. 285. 60 Ebd., S. 283. 61 Wolfgang Düsing: Schillers Idee des Erhabenen. Köln: Gouder und Hansen, 1967, S. 6. 62 Hermann August Korff: Geist der Goethezeit: Versuch einer ideellen Entwicklung der klassisch-romantischen Literaturgeschichte. Bd. II. Teil: Klassik. Leipzig: Verlagsbuchhandlung von J.J. Weber, 1930, S. 508.
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dadurch zu legitimieren, daß er es als eine Form der Schönheit, und zwar als eine solche verstand, die sich der Schönheit im engeren Sinne gleichberechtigt gegenüberstellt.63
Es ist davon auszugehen, dass Johnson, der nach seinen eigenen Aussagen dieses Werk Korffs gekannt hat64 und wie viele andere Studierende der Germanistik auch, nach Leipzig kam,65 um den »berühmten Verfasser vom Geist der Goethezeit […] persönlich kennenzulernen«,66 mit diesem zentralen Gedanken einer »doppelten Ästhetik« vertraut war. Ebenfalls äußerst bedeutungsvoll im Hinblick auf eine »doppelte Ästhetik« des Schönen und Erhabenen sind Hans Mayers Versuche über Schiller,67 eine Sammlung von Aufsätzen aus den Jahren 1955 bis 1982. Neben Schillers lyrischem und dramatischem Schaffen thematisiert Mayer hier ausführlich auch die theoretischen Abhandlungen, die Kallias-Briefe ebenso wie Über Anmut und Würde, Über die ästhetische Erziehung des Menschen und Über das Erhabene sowie andere »Meisterwerke der Schiller-Ästhetik«.68 Bedeutsam an Mayers Blick auf Schiller ist zum einen, dass er zentrale Gedanken hinsichtlich des Schönen und Erhabenen, wie sie auch im Theorieteil dieser Arbeit ausformuliert sind, präsentiert. Dabei bezieht Mayer Schillers »geliebte[] Antithesen«,69 die »Antinomie zwischen Lebensglück und geistiger Größe«,70 wechselseitig aufeinander,71 wobei Mayer – und dies ist entscheidend – »die Spannung zwischen Utopie und Resignation«72 in Anlehnung an Benno von Wiese als »Doppelbewegung«73 begreift. Das ist im Grunde nichts anderes als die Vorstellung von einer »doppelten Ästhetik« des Schönen und Erhabenen. Es ist davon auszugehen, dass Johnson, der ab Herbst 1954 bei Mayer studiert und diesem sogar sein Ingrid-Manuskript zu lesen gegeben hat,74 der überdies Mayers Vortrag 63 Ebd., S. 491. 64 Uwe Johnson: Einer meiner Lehrer. In: Siegfried Unseld (Hrsg.): Wohin ich in Wahrheit gehöre. Ein Uwe Johnson Lesebuch. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1994, S. 283 – 290, hier S. 284. 65 Lothar Scheithauer : Die Jahre in Leipzig. Ein Gespräch. In: Johnson-Jahrbuch 4 (1997), S. 17 – 38, hier S. 29. 66 Ebd., S. 29, Herv. i. O. 67 Hans Mayer: Versuche über Schiller. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1987. 68 Ebd., S. 76. 69 Ebd., S. 152. 70 Ebd., S. 101. 71 Mayer stellt die Gedanken zum Erhabenen neben die zum Schönen. Vgl.: »[D]ie philosophische Studie ›Über das Erhabene‹ von 1801 läßt erkennen, daß die großen ästhetischen Untersuchungen der frühen neunziger Jahre als weiterhin verpflichtend […] angesehen wurden.« (Ebd., S. 102) 72 Ebd., S. 137. 73 Ebd., S. 135. 74 Uwe Johnson: Einer meiner Lehrer. In: Siegfried Unseld (Hrsg.): Wohin ich in Wahrheit gehöre. Ein Uwe Johnson Lesebuch. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1994, S. 283 – 290, hier S. 289.
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über Das Ideal und das Leben75 im Rahmen der Schiller-Feierlichkeiten 1955 in Leipzig gehört oder gelesen haben dürfte, mit den eben dargestellten Gedanken Mayers zu Schiller vertraut gewesen war. Auch das Werk und die Texte Ernst Blochs, der im Schiller-Jahr 1955 ebenfalls eine Rede gehalten hat76 und den Hans Mayer einen »Schillerianer«77 nannte, sind »durchzogen«78 von Gedanken aus dem philosophischen, dramatischen und lyrischen Werk Schillers, die »geradezu in das Zentrum von Ernst Blochs Philosophie [führen]«.79 Auch Bloch äußerte sich zu Schillers Konzept des Schönen80 und strebte eine Synthese zwischen den Bereichen des Idealistischen und des Realistischen an.81 Darüber hinaus hat Johnson nach seinen eigenen Aussagen ebenso die auf zentrale Konzepte der Schiller’schen Ästhetik verweisende Ansprache Thomas Manns Versuch über Schiller – seinem Andenken in Liebe gewidmet82 anlässlich der Schiller-Feier 1955 gekannt83 – im Gegensatz zum Gedenkjahr von 1959 herrschte 1955 noch weitaus mehr Offenheit gegenüber von der marxistischleninistischen Deutungshoheit abweichenden Interpretationen.84 Neben der prominenten Stellung, die Schiller in der DDR zukam, und Johnsons Studium der Philologie bei Dozenten, welche sich mit dem Weimarer 75 Hans Mayer: Das Ideal und das Leben. In: Schiller-Komitee (Hrsg.): Schiller in unserer Zeit. Beiträge zum Schillerjahr 1955. Weimar : Volksverlag, 1955, S. 295 – 316; vgl. auch Jörg Bernhard Bilke: »Denn er ist unser: Friedrich Schiller«: Zur DDR-Rezeption eines deutschen Klassikers. In: Deutschland Archiv. Zeitschrift für das vereinigte Deutschland 38 (2005), S. 473 – 478, hier S. 475. 76 Ernst Bloch: Schiller und Weimar als seine Abbiegung und seine Höhe. In: Schiller-Komitee (Hrsg.): Schiller in unserer Zeit. Beiträge zum Schillerjahr 1955. Weimar : Volksverlag, 1955, S. 155 – 170. 77 Hans Mayer: Reden über Ernst Bloch. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1989, zitiert nach Günter Mieth: Ernst Bloch und Friedrich Schiller. In: Antonia Opitz (Hrsg.): Dichter in den Brüchen der Zeit. Leipzig: Rosa-Luxemburg-Stiftung, 2005, S. 87 – 95, hier S. 87. 78 Ebd., S. 87. 79 Ebd., S. 87. 80 Ebd., S. 87. 81 Ebd., S. 90. 82 Thomas Mann: Versuch über Schiller. Zum 150. Todestag des Dichters – seinem Andenken in Liebe gewidmet. In: Hans Bürgin und Peter de Mendelssohn (Hrsg.): Thomas Mann: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Bd. IX: Reden und Aufsätze 1. Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag, 1960, S. 870 – 951. Der Vortrag findet sich wieder im vom Schiller-Komitee herausgegebenen Band: Schiller in unserer Zeit. Beiträge zum Schillerjahr 1955. Vgl. auch Jörg Bernhard Bilke: »Denn er ist unser: Friedrich Schiller«: Zur DDR-Rezeption eines deutschen Klassikers. In: Deutschland Archiv. Zeitschrift für das vereinigte Deutschland 38 (2005), S. 473 – 478, hier S. 473, S. 475. 83 Uwe Johnson: Begegnung mit Thomas Mann. In: Eberhard Fahlke (Hrsg.): »Ich überlege mir die Geschichte…« Uwe Johnson im Gespräch. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1988, S. 76. 84 Jörg Bernhard Bilke: »Denn er ist unser: Friedrich Schiller«: Zur DDR-Rezeption eines deutschen Klassikers. In: Deutschland Archiv. Zeitschrift für das vereinigte Deutschland 38 (2005), S. 473 – 478, hier S. 475.
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Dichter beschäftigt haben, legt zudem Johnsons außerordentliche Gelehrtheit die Kenntnis unter anderem auch von Schillers Werk nahe. Johnson, der, wie er selbst sagt, »überhaupt viel [liest], moderne und alte, klassische Texte«85 und in dessen umfangreicher persönlicher Bibliothek86 erwartungsgemäß auch eine Werkausgabe von Schiller stand,87 war schon als Student an literaturwissenschaftlichen und philosophischen Themen auffallend interessiert: Er besuchte »Vorlesungen über die klassische deutsche Philosophie«88 und nahm an »Treffen und Diskussionen über Literatur und Kunst«89 teil. Im Anschluss an sein Studium 1959 hätte Johnson »sehr gern das, was man eine Universitätslaufbahn nennt, angetreten […] und […] promoviert«,90 ein Wunsch, dem die »Behörden«91 aufgrund seiner »Aktionen der staatlichen Organisation«92 gegenüber – angespielt wird hier auf Johnsons verteidigende Rede über die vom Staat diffamierte Junge Gemeinde und sein für den Druck abgelehntes Manuskript des Ingrid-Romans – nicht stattgaben.93 Johnsons Sachkenntnis und Gelehrtheit auf dem Gebiet der Literatur und Philosophie belegen die in dem von Bernd Neu85 Wilhelm J. Schwarz: Gespräch mit Uwe Johnson (Am 9. 7. 1969 in West-Berlin). In: Eberhard Fahlke (Hrsg.): »Ich überlege mir die Geschichte…« Uwe Johnson im Gespräch. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1988, S. 234 – 247, hier S. 237. 86 Zu Uwe Johnsons Bibliothek siehe Eberhard Fahlke: Bücher : gesammelt und geschrieben, um die Geschichte aufzuheben. Uwe Johnsons Bibliothek. In: Horst Dieter Schlosser und Hans Dieter Zimmermann (Hrsg.): Poetik. Essays über Ingeborg Bachmann, Peter Bichsel, Heinrich Böll… und andere Beiträge zu den Frankfurter Poetik-Vorlesungen. Frankfurt a. M.: Athenäum, 1988, S. 110 – 132. 87 Eberhard Fahlke: Erinnerung umgesetzt in Wissen. Spurensuche im Uwe Johnson-Archiv. In: Siegfried Unseld und Eberhard Fahlke (Hrsg.): Uwe Johnson: »Für wenn ich tot bin«. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1991, S. 73 – 143, hier S. 105. Zur Bibliothek Johnsons vgl. auch Uwe Neumann: Uwe Johnson und der Nouveau Roman: Komparatistische Untersuchungen zur Stellung von Uwe Johnsons Erzählwerk zur Theorie und Praxis des Nouveau Roman. Frankfurt a. M.: Lang, 1992, S. 373, Anm. 73. Apropos Bibliothek: Auf Johnsons einem Brief an Günter Grass angehängter Bücherliste für die Bundeswehrbibliotheken findet sich auch ein Schiller-Werk: Arno Barnert (Hrsg.): Uwe Johnson – Anna Grass – Günter Grass: Der Briefwechsel. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2007, S. 62. 88 Uwe Johnson: Universitätsarchiv Leipzig, Studentenakte, StuA 1656, Bl. 23, zit. nach Katja Leuchtenberger : Uwe Johnson. Suhrkamp BasisBiographie. Berlin: Suhrkamp Verlag, 2010, S. 19. 89 Katja Leuchtenberger : Uwe Johnson. Suhrkamp BasisBiographie. Berlin: Suhrkamp Verlag, 2010, S. 22. 90 Michael Roloff: Gespräch mit Uwe Johnson (Am 20. 8. 1961 in New York). In: Eberhard Fahlke (Hrsg.): »Ich überlege mir die Geschichte…« Uwe Johnson im Gespräch. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1988, S. 171 – 183, hier S. 173. 91 Ebd., S. 173. 92 Ebd., S. 173. 93 Zu Johnsons erstem Roman im Kontext der DDR vgl. Norbert Mecklenburg: »So reden also verstoßene Kinder«. Uwe Johnsons Frühwerk im Kontext der DDR und als DDR-Literatur. In: Der Deutschunterricht. Beiträge zu seiner Praxis und wissenschaftlichen Grundlegung 5 (1996), S. 29 – 39.
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mann herausgegebenen Band Uwe Johnson: Entwöhnung von einem Arbeitsplatz94 abgedruckten literaturwissenschaftlichen und essayistischen Arbeiten des jungen Studenten. Ein ehemaliger Kommilitone, der Schriftsteller Horst Drescher,95 bezeugt die ungemeine Bildung Johnsons: »Im übrigen«, so berichtet Drescher von einem gemeinsam mit Johnson besuchten Seminar bei Hans Mayer, »war ich überzeugt, einen externen Doktoranden vor mir zu haben. Man hörte, Johnson sei belesen wie keiner, ein profunder Hegelkenner unter anderem.«96 Nicht zuletzt hat sich Johnson selbst mehrmals zu seinem Wissensdrang und seiner Lesesucht, die er als »fiebrig, süchtig«97 beschreibt, geäußert: »Entscheidend für meine charakterliche und geistige Entwicklung«, so sagt er über sich, war eine frühe und ausgedehnte Beschäftigung mit literarischen Dingen. Von der allgemeinen Unterhaltungsliteratur kam ich bald zu klassischen Werken und zu allgemeinwissenschaftlichen Abhandlungen. Außerdem befaßte ich mich mit Studien der Grundlagen philosophischer Systeme, ich las Nietzsche, Schopenhauer, Kant und Hegel. Besonders wurde meine Weltanschauung bestimmt durch den kategorischen Imperativ Kants.98
Von Kant zu dessen Anhänger Schiller ist es nur ein kleiner Schritt. Dass Johnson sich über die genannten Denker hinaus außerdem mit Schillers Philosophie und Literatur auseinandersetzte, belegen neben dem vom Studenten verfassten kurzen Stück über Wilhelm Tell von Schiller99 indirekt auch die Aufsätze zu Hebbel, Heine und Jean-Paul. So ist in der Abhandlung über Hebbels Drama Maria Magdalena, in dem sich Johnson auch auf Schiller und seine philosophische Rezension Über Bürgers Gedichte bezieht, zu lesen: In der Rezension über Bürgers Gedichte ist wohl deutlich ausgesprochen, was Schiller verstand unter der ›unerlässlichen‹ Idealisierungskunst des Dichters. Sie habe den Stoff 94 Bernd Neumann (Hrsg.): Uwe Johnson: »Entwöhnung von einem Arbeitsplatz«. Klausuren und frühe Prosatexte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1992. 95 Bernd Neumann: Philologie und Biographie in Uwe Johnsons frühen Texten (1952 – 1959). Eine Annäherung. In: Bernd Neumann (Hrsg.): Uwe Johnson: »Entwöhnung von einem Arbeitsplatz«. Klausuren und frühe Prosatexte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1992, S. 129 – 211, hier S. 179. 96 Zitiert nach ebd., S. 179. 97 Uwe Johnson: Begleitumstände. Frankfurter Vorlesungen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1986, S. 34. 98 Uwe Johnson: Darstellung meiner Entwicklung. Faksimile und Transkription. In: JohnsonJahrbuch 4 (1997), S. 11 – 14, hier S. 13. 99 Uwe Johnson: Wilhelm Tell von Schiller (1957). In: Bernd Neumann (Hrsg.): Uwe Johnson: »Entwöhnung von einem Arbeitsplatz«. Klausuren und frühe Prosatexte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1992, S. 112 – 115; vgl. dazu auch Bernd Neumann: Philologie und Biographie in Uwe Johnsons frühen Texten (1952 – 1959). Eine Annäherung. In: Bernd Neumann (Hrsg.): Uwe Johnson: »Entwöhnung von einem Arbeitsplatz«. Klausuren und frühe Prosatexte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1992, S. 129 – 211, hier S. 158 f., S. 208.
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zu reinigen von allen groben wie von allen individuellen Elementen, solle seine Strahlungen vereinigen und erheben zu einer bedeutenden und ›populären‹ Aussage. Auch seien die Gestalten zu befreien von allen trivial-menschlichen Umständen und den Gegenständen und Formen niederer Leidenschaft; ihr Handeln und Verhalten möchte darstellen die ihnen innewohnende Idee.100
Im weiteren Verlauf seiner Betrachtungen kommt Johnson auf Schillers Dramenpersonal, die »hohen idealischen Naturen Don Carlos’, Max Piccolominis«101 zu sprechen. Auch der Text zu Heine,102 mehr aber noch jener zu Jean-Paul ist aufschlussreich, erwähnt Johnson doch hier ebenfalls Schiller und gibt darüber hinaus sein Wissen über die »Klassik von Weimar«103 und die »Ästhetik der deutschen Klassik und der Romantik«104 zu erkennen. Neumann schreibt dazu: Ferner stellt sein Essay [über Jean-Paul, Anm. d. V.] eine genaue Vertrautheit mit der Weimarer Klassik und darüber hinaus mit den Fraktionen und ihren Publikationsorganen am ›Musenhof‹ unter Beweis. Und nicht zuletzt spiegelt sich in Johnsons Interesse an Jean Paul ein Reflex eigener literarischer Produktion: das Interesse am ›ganzen Menschen‹,105
ein Gedanke also, der auch für die Ästhetik des Schönen zentral ist. Neben diesen allgemeineren Bemerkungen zu Schiller äußert sich Johnson im Zusammenhang mit seinen Überlegungen aus dem Jahr 1975,106 was das Anliegen eines Romans sein solle, ganz konkret zur Ästhetik des Schönen: Weiterhin unerlässlich ist die Einsicht in den Umstand, dass die meisten von uns die lebendigen Stunden ihrer Tage an Arbeit wenden müssen. Allerdings ist dies nicht berücksichtigt in der Lehre vom Schönen, und nichts als eine Tatsache. Es geht da nicht allein um den bedauerlichen Verlust an Zeit, fast eines Drittels vom menschlichen Leben. Die Arbeit einer Person tut mehr als sie und ihre gesellschaftliche Umgebung 100 Uwe Johnson: Thema: »Maria Magdalena«: Theorie und Praxis der Hebbel-Dramatik. In: Bernd Neumann (Hrsg.): Uwe Johnson: »Entwöhnung von einem Arbeitsplatz«. Klausuren und frühe Prosatexte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1992, S. 76 – 78, hier S. 76. 101 Ebd., S. 77 f. 102 Uwe Johnson: Heines Deutschlandkritik im »Wintermärchen«. In: Bernd Neumann (Hrsg.): Uwe Johnson: »Entwöhnung von einem Arbeitsplatz«. Klausuren und frühe Prosatexte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1992, S. 67 – 70, hier S. 67. 103 Uwe Johnson: Nachwort. In: Bernd Neumann (Hrsg.): Uwe Johnson: »Entwöhnung von einem Arbeitsplatz«. Klausuren und frühe Prosatexte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1992, S. 83 – 94, hier S. 88. 104 Ebd., S. 89. 105 Bernd Neumann: Philologie und Biographie in Uwe Johnsons frühen Texten (1952 – 1959). Eine Annäherung. In: Bernd Neumann (Hrsg.): Uwe Johnson: »Entwöhnung von einem Arbeitsplatz«. Klausuren und frühe Prosatexte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1992, S. 129 – 211, hier S. 200. 106 Uwe Johnson: Wenn Sie mich fragen… (Ein Vortrag). In: Eberhard Fahlke (Hrsg.): »Ich überlege mir die Geschichte…« Uwe Johnson im Gespräch. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1988, S. 51 – 64, hier S. 63, Anm. 1.
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identifizieren. Die Arbeit einer Person ist Teil von ihr. Uns muss vorgeführt werden, was die Arbeit Einem antut, was Einer dafür bekommt, und was andere dafür kriegen. Das nähme der Schönheit nichts. Dann gäbe es noch mehr als Ästhetik zu sehen in einem stillen Morgen angesichts eines verschneiten Tales, mit einem Apfel auf dem Fensterbrett und keinem Geräusch von Strassenbahnen. Nicht bloss Schönheit, sondern eine Qualität des Lebens, die arbeitenden Leuten oft genug verwehrt wird. […] Zu prüfen wäre da […] Aber wollen wir so leben?107
Etwas versteckter drückt Johnson seine Sympathie für das Schöne und die ihm eigentümliche gelöste Stimmung in der Antwort an seinen Verleger und Freund Siegfried Unseld aus, der sich im letzten Brief mit »schönen Grüßen« verabschiedet hat. Johnson schreibt daraufhin: »[W]enn du wieder einmal in deiner Grussformel das Herzliche austauschst gegen das Schöne, ich sehe das gerne. Wundere dich nicht, bitte; mich freut da immerhin, dass du mir gegenüber deine Stimmung nicht versteckst.«108 Selbst in einer scheinbar unauffälligen Randbemerkung Johnsons meint man, vor dem Hintergrund der oben zitierten Ausführungen aus dem Jahr 1975, eine tiefer gehende zweite Bedeutungsebene zu entdecken, wenn Johnson Unseld mit indirektem Bezug auf das Schöne und die ihm inhärente Freiheit bittet, ihn von einer Aufgabe zu befreien: »[A]uf das schönste bitte ich, mich allsogleich zu entlassen aus dem Auftrag, […] eine Einleitung zu schreiben«.109 Schillers exponierte Stellung in der ideologischen Erbediskussion der DDR, Johnsons Studium der Germanistik in Rostock und Leipzig bei Experten für die Weimarer Epoche, seine umfassende literarische und philosophische Bildung, sporadische Äußerungen zu Schiller oder der klassischen Ästhetik und Literatur – trotz vielfältiger Bezüge, die sich zwischen Johnson und Schiller feststellen lassen, findet man nur selten direkte ausgedehntere Betrachtungen zum Thema aus dem Munde des Autors selbst, der die Schiller’sche Ästhetik doch, wie seine Werke eindeutig beweisen, so ausgiebig rezipiert und reflektiert hat. Worin, so ist zu fragen, gründet dieses Schweigen Johnsons, das Nicht-Aussprechen, ja fast schon die Verheimlichung seines Interesses an einer Thematik, die doch in den hier untersuchten Romanen bei genauerer Betrachtung so offensichtlich präsent ist? Johnsons spärliche Ausführungen sind jedoch nicht etwa als ein Beleg dafür zu werten, Schiller habe im Denken des Schriftstellers keine Rolle gespielt, vielmehr scheint es seiner Strategie zu entsprechen, es den Lesern bei der Deutung der Romane nicht allzu leicht zu machen.110 Nicht nur im Hinblick auf 107 Ebd., S. 59, Herv. d. V. 108 Eberhard Fahlke und Raimund Fellinger (Hrsg.): Uwe Johnson – Siegfried Unseld: Der Briefwechsel. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1999, S. 820. 109 Ebd., S. 983. 110 Vgl. Katja Leuchtenberger : Uwe Johnson. Suhrkamp BasisBiographie. Berlin: Suhrkamp Verlag, 2010, S. 119.
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Schiller, auch angesichts weiterer Themen, Motive oder ihn beeinflussender Autoren schweigt sich Johnson gerne und häufig aus, gleich mehrere Forscher haben sich zu dieser ausgeprägten Eigenheit Johnsons geäußert. »Johnson«, so stellt Jürgen Grambow fest, »liebte es abzulenken, immer wenn er demonstrativ etwas vorweist, verbirgt er absichtlich etwas anderes oder er verwischt Spuren«.111 Uwe Neumann macht ähnliche Beobachtungen, wenn er von Johnsons »bewußten Verrätselungen«,112 von seinen »Täuschungsmanöver[n]«,113 ja gar von »bewußte[r] und sozusagen programmatische[r] Verweigerung«114 des Schriftstellers spricht. Weiterhin erläutert Neumann diese für Interpreten schwierige Situation: Daß es Uwe Johnson sich und seinen Lesern nie leicht gemacht hat, ist vielfältig belegbar und hinlänglich bekannt. Besonders schwer aber hat er es augenscheinlich einer bestimmten Lesergruppe gemacht: den Germanisten. Überblickt man die Gesamtheit seiner poetologischen Äußerungen […], wird man sich über einen Mangel an Material zunächst nicht beklagen können. Addiert man allein zu den ›Begleitumständen‹ die von Eberhard Fahlke zusammengestellten Gespräche, kommt man auf über siebenhundert Seiten. Das ist quantitativ sehr viel – und doch: zu wenig […] [,] trifft man bei diesem nicht gerade auskunftsfreudigen Autor doch allenthalben auf Abwehrgesten, Ausweichmanöver und Unverbindlichkeiten, ganz zu schweigen von häufigen Mystifikationen und nicht immer leicht zu durchschauenden Versteckspielen.115
Für Schiller, so kann dies angenommen werden, trifft zu, was bereits im Hinblick auf Walter Benjamin und die Frage nach dessen Einfluss auf Johnsons Werk erörtert worden ist: »Es ist«, so bemerkt Ralf Zschachlitz, »wohl Jürgen Grambow zuzustimmen, der vermutet, daß Johnson hier [bei W. Benjamin, Anm. d. V.] die Spuren verwischen wollte und die für seine Poetik wirklich relevanten Texte […] nicht zitiert habe.«116 »Wenig kooperativ«117 und auskunftsfreudig zeigt sich Johnson auch in In111 Jürgen Grambow : Poetik und Mimikry : Uwe Johnson als Leser Walter Benjamins. In: Carsten Gansel (Hrsg.): Wenigstens in Kenntnis leben: Notate zum Werk Uwe Johnsons. Neubrandenburg: Federchen Verlag, 1991, S. 39 – 48, hier S. 40. 112 Uwe Neumann: »Er stellte seine Fallen öffentlich aus«: Zu Uwe Johnsons poetologischen Äußerungen. In: Carsten Gansel und Nicolai Riedel (Hrsg.): Uwe Johnson zwischen Vormoderne und Postmoderne. Internationales Uwe Johnson Symposium 22.–24. 9. 1994. Berlin, New York: de Gruyter, 1995, S. 55 – 80, hier S. 60. 113 Ebd., S. 57. 114 Ebd., S. 60 f. 115 Ebd., S. 55. 116 Ralf Zschachlitz: »Ali Babas Parole«: Uwe Johnsons »Jahrestage« – ein auratischer Roman? In: Carsten Gansel und Nicolai Riedel (Hrsg.): Uwe Johnson zwischen Vormoderne und Postmoderne: Internationales Uwe Johnson Symposium 22.–24. 9. 1994. Berlin, New York: de Gruyter, 1995, S. 169 – 188, hier S. 169. 117 Uwe Neumann: »Er stellte seine Fallen öffentlich aus«: Zu Uwe Johnsons poetologischen Äußerungen. In: Carsten Gansel und Nicolai Riedel (Hrsg.): Uwe Johnson zwischen Vor-
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terviews gegenüber seinen Gesprächspartnern, wie einige Beispiele dies exemplarisch veranschaulichen sollen. So hat Johnson, wiederholt nach seiner Poetik befragt, immer ausweichend behauptet: »[A]ber über eine ›Poetik‹ […] verfüge ich nicht«,118 obgleich diese Aussage mittlerweile durch die Forschung entkräftet worden ist. Auch der vielfach gestellten Frage, ob es einen Autor oder literarischen Text gebe, der ihn »nachhaltig beeindruckt«119 habe, begegnet Johnson stets vage: »Gewiß, aber ich wüßte Ihnen das nicht zu sagen. […] Aber nachher kamen sehr viele andere, und man müßte vielleicht nach der Reihenfolge gehen. Das führt jetzt vielleicht zu weit«120 – so lautet das eine Mal die ernüchternde Antwort, ein anderes Mal heißt es: »Das kann ich Ihnen nicht sagen. Das weiß ich nicht.«121 Auf die Bitte eines Interviewers wiederum, seinen »geistigen Standort [zu] bestimmen«,122 reagiert Johnson vorsichtig abweisend: »Den eigenen geistigen Standort zu bestimmen, ist sehr schwierig […] Ein geistiges Bemühen für diese Art Beruf wüßte ich bei mir nicht zu nennen.«123 Auch der Frage nach der Form seiner Romane sucht Johnson sich zu entziehen: »Mehr kann ich darüber nicht sagen.«124 Selbstaussagen Johnsons zu Schiller und seinem literarischen und philosophischen Werk sind selten – ein Indiz dafür, dass dessen Ästhetik für die Romane Johnsons ohne Belang sind? Wohl kaum. Was Johnson selbst nicht ausspricht, verrät sein Werk. Seine Romane Ingrid Babendererde und Jahrestage belegen, welche Bedeutung Schiller für Johnsons Schaffen zukommt. Denn eben jene wechselseitig aufeinander verweisenden Schlüsselbegriffe und Konzepte des Schönen einerseits und des Erhabenen andererseits, wie sie für Schillers Ästhetik charakteristisch sind, kann man deutlich in den genannten Romanen aufzeigen. Wo der Autor schweigt, lassen wir das Werk selbst sprechen, oder mit
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moderne und Postmoderne. Internationales Uwe Johnson Symposium 22.–24. 9. 1994. Berlin, New York: de Gruyter, 1995, S. 55 – 80, hier S. 61. Uwe Johnson: Auskünfte und Abreden zu Zwei Ansichten (Auf Fragen von Mike S. Schoelman). In: Eberhard Fahlke (Hrsg.): »Ich überlege mir die Geschichte…« Uwe Johnson im Gespräch. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1988, S. 86 – 89, hier S. 88. Horst Bienek: Werkstattgespräch mit Uwe Johnson (Am 3.–5.1. 1962 in West-Berlin). In: Eberhard Fahlke (Hrsg.): »Ich überlege mir die Geschichte…« Uwe Johnson im Gespräch. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1988, S. 194 – 207, hier S. 201. Ebd., S. 201. Ähnlich äußert er sich auch gegenüber Alois Rummel: Gespräch mit Uwe Johnson (Am 18.6. 1964 in West-Berlin). In: Eberhard Fahlke (Hrsg.): »Ich überlege mir die Geschichte…« Uwe Johnson im Gespräch. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1988, S. 208 – 212, hier S. 208 f. Alois Rummel: Gespräch mit Uwe Johnson (Am 18.6. 1964 in West-Berlin). In: Eberhard Fahlke (Hrsg.): »Ich überlege mir die Geschichte…« Uwe Johnson im Gespräch. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1988, S. 208 – 212, hier S. 211. Ebd., S. 210. Ebd., S. 210. Ebd., S. 211.
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den Worten von Gesines Tochter Marie ausgedrückt: »Er zeigt einem wohl was zum Denken, aber dann sollst du es selber tun.«125
125 Vgl. auch die Verwendung dieses Zitats bei Uwe Neumann: »Er stellte seine Fallen öffentlich aus«: Zu Uwe Johnsons poetologischen Äußerungen. In: Carsten Gansel und Nicolai Riedel (Hrsg.): Uwe Johnson zwischen Vormoderne und Postmoderne. Internationales Uwe Johnson Symposium 22.–24. 9. 1994. Berlin, New York: de Gruyter, 1995, S. 55 – 80, hier S. 63.
8.
Ingrid Babendererde: Die schöne Seele erhebt sich…
8.1
Ingrid, Göttin der Schönheit und Anmut
8.1.1 »Liebliche Landschaft« und »Schönwetter«: Die Naturschönheit und scheinbare Naivität Mecklenburgs In Ingrid Babendererde erscheint Mecklenburg auf den ersten Blick als naiver und anmutig-schöner, seltsam zeitloser Naturraum, dagegen weitaus weniger als »Kultur-, Geschichts- und Sozialraum«,1 und kann vor dem theoretischen Hintergrund von Schillers unverfälschter naiver Natur gedeutet werden, obgleich Johnson dieses sehnsuchtsvolle Bild nicht kritiklos übernimmt, wie die weitere Analyse zeigt. Zunächst lässt sich jedoch feststellen, dass die mecklenburgische Landschaft in Johnsons Roman-Erstling »kaum Elemente enthält, welche auf die erzählte Zeit verweisen und die Zuordnung zu einem [sic!] bestimmten zeitgeschichtlichen Epoche erlauben«.2 Die landschaftliche Szenerie, die »weitab von den Zeitläufen« (IB: S. 206) zu sein scheint, fungiert gewissermaßen als »ahistorische Kulisse«.3 Der hierdurch entstehende Eindruck der Geschichtsvergessenheit hat den Verleger Peter Suhrkamp einst dazu veranlasst, von einem »Mangel an Welt«4 zu sprechen. Die Uhr, ein zentrales Motiv für Zeit- und Geschichtlichkeit nicht nur in Johnsons erstem Roman, sondern insbesondere auch in den Jahrestagen, tickt hier langsamer5 und bedächtiger, bisweilen scheint 1 Norbert Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons. Jahrestage und andere Prosa. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1997, S. 174. Vgl. auch Nicola Westphal: Literarische Kartografie: Erzählter Raum in den Romanen Uwe Johnsons. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2007, S. 37. 2 Nicola Westphal: Literarische Kartografie: Erzählter Raum in den Romanen Uwe Johnsons. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2007, S. 37. 3 Ebd., S. 25, vgl. auch S. 38. 4 Zitiert nach ebd., S. 51. 5 Vgl. auch Reinhard Baumgart: Sonne, See und Sozialismus. Uwe Johnsons erster Rom »Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953«. In: Nicolai Riedel (Hrsg.): Uwe Johnsons Frühwerk im Spiegel der deutschsprachigen Literaturkritik. Dokumente zur publizistischen Rezeption der
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die Zeit nahezu stillzustehen. Es ist ein vermeintlich vorzivilisatorischer Weltzustand vor aller Historizität und Zeit, »ein mythisches Land jenseits aller späteren Erfahrung«,6 das Züge eines paradiesischen locus amoenus trägt. Die Landschaft in Ingrid Babendererde wird nicht nur als scheinbar zeitlose, sondern in erster Linie »als schöne Natur«7 beschrieben; Johnson schildert diese Naturschönheit so anschaulich, wie in den späteren Romanen nicht mehr. Diese die Ingrid-Geschichte leitmotivisch durchziehende Naturidylle ist schon häufig Gegenstand der Forschung gewesen. So charakterisiert Bernd Neumann die Schönheit der Natur als »atemberaubend«,8 er spricht von einer »geradezu pantheistische[n] Zuwendung«,9 ja von »eine[r] vibrierende[n], hymnenhafte[n] Zuwendung zur heimatlichen Natur«.10 Von »poetische[m] Naturenthusiasmus des Ingrid-Romans«11 und »sensualistisch-hedonistisch gefärbte[r] Utopie«12 der Natur schreibt Norbert Mecklenburg. Die Natur, so bemerkt wiederum Sibylle Cramer, evoziere »Bilder eines alten natürlichen Lebens«,13 sie sei »Fluchtort, Idylle und Utopie gleichzeitig«.14 Leyla Sedghi und Liselotte M. Davis vergleichen die Natur schließlich indirekt mit einem schönen Kunstwerk, wenn sie feststellen: »Es handelt sich um in Worte gefasste Malerei«,15 um eine »literarisch gemachte Landschaft«.16 17
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Romane »Mutmaßungen über Jakob«, »Das dritte Buch über Achim« und »Ingrid Babendererde«. Bonn: Bouvier Verlag, 1987, S. 191 – 195, hier S. 192. Gert Ueding: Uwe Johnsons Reifeprüfung. »Ingrid Babendererde« – sein früher Roman in einer späten Edition. In: Nicolai Riedel (Hrsg.): Uwe Johnsons Frühwerk im Spiegel der deutschsprachigen Literaturkritik. Dokumente zur publizistischen Rezeption der Romane »Mutmaßungen über Jakob«, »Das dritte Buch über Achim« und »Ingrid Babendererde«. Bonn: Bouvier Verlag, 1987, S. 219 – 222, hier S. 220. Nicola Westphal: Literarische Kartografie: Erzählter Raum in den Romanen Uwe Johnsons. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2007, S. 37. Bernd Neumann: Ingrid Babendererde als Ingeborg Holm. Über Uwe Johnsons ersten Roman. In: Colloquia Germanica. Internationale Zeitschrift für germanische Sprach- und Literaturwissenschaft 20 (1987), S. 203 – 212, hier S. 207. Ebd., S. 207. Ebd., S. 207. Norbert Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons. Jahrestage und andere Prosa. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1997, S. 175. Ebd., S. 175. Sibylle Cramer : Verspätete Erzählkunst. Uwe Johnsons Erstling hätte die literarische Welt nicht verändert. In: Nicolai Riedel (Hrsg.): Uwe Johnsons Frühwerk im Spiegel der deutschsprachigen Literaturkritik. Dokumente zur publizistischen Rezeption der Romane »Mutmaßungen über Jakob«, »Das dritte Buch über Achim« und »Ingrid Babendererde«. Bonn: Bouvier Verlag, 1987, S. 237 – 241, hier S. 239. Ebd., S. 240. Leyla Sedghi: Das Dilemma der Grenze: Zu Uwe Johnsons Frühwerk. Dissertation, LMU München, 2004, S. 27. Liselotte M. Davis: Manuskript abgelehnt, Landschaft gewonnen. Uwe Johnsons Ingrid Babendererde. In: Christian Bunners (Hrsg.): Landschaften Mecklenburg-Vorpommerns in der Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Rostock: Hinstorff, 2006, S. 97 – 105, hier S. 97.
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Die mecklenburgischen Seen und Wälder treten als frühsommerliche, aufkeimende, gerade erst erwachende, gewissermaßen als eine naiv-unschuldige Natur vor das innere Auge des Lesers. Sie werden als überaus harmonischidyllische, an den unterschiedlichsten Farben18 und Formen, Geräuschen und Gerüchen reiche Schönheiten ausgemalt. Sie sind zugleich belebte und belebende Natur, eine im ursprünglichen Sinn des Wortes ästhetische, d. h. sinnlich wahrnehmbare und erfahrbare Natur : Johnson führt in Ingrid Babendererde eine »freundliche weitgeschwungene Landschaft« (IB: S. 11), eine »liebliche[] Landschaft« (IB: S. 152) vor. Auch das Wetter präsentiert sich größtenteils von seiner schönsten Seite, folgerichtig wird von »Schönwetter« (IB: S. 243) gesprochen.19 Die erblühende Natur ist reich an »jungem Gras in der Sonne« (IB: S. 15), »zarten hellgrünen Farben« (IB: S. 11), »weiss und lila Blüten« (IB: S. 103) und »dunkelheiterem Baumgrün« (IB: S. 50 f.). Durch Lindengeäst zittern »Sonnenflecken« (IB: S. 37) und Ingrid und Klaus schauen, in der Wiese unter »niedrigen Apfelbäumen« (IB: S. 103) liegend, »durch das Geflecht von Blättern und Blüten und Ästen« (IB: S. 103) in den blauen Himmel. Die Färbung des Himmels reicht vom »leuchtende[n] Weiss und Blau« (IB: S. 40 f.) bis zum »tiefen Blau« (IB: S. 11) und steigert sich schließlich zum »unglaublichen Blau des Himmels« (IB: S. 152). Der See glitzert wie »vielgefältelte[s] Silber« (IB: S. 50) und das Ufer leuchtet »fernbläulich[]« (IB: S. 43) auf. Der Fluss im Stadtgraben »wand sich als funkelndes breites Band unter der Sonne« (IB: S. 36) und »an der Dachrinne schilpten und schrien die Spatzen« (IB: S. 104). Die strahlende Kraft der »Mittagssonne« (IB: S. 31), die ihr »hitzehelles« (IB: S. 38) Licht nur so versprüht (»das sprühte Licht«, IB: S. 11), bringt die Welt zum Glühen und Erstrahlen: die Natur »glänz[t]« (IB: S. 39), »leuchtet[]« (IB: S. 187), »glitzer[t]« (IB: S. 36) und »funkel[t]« (IB: S. 36) in allen Nuancen: »Dies war ein schöner deutscher Sommer-Vormittag.« (IB: S. 213) Und der Morgen stand hoch und klar über dem Unteren See, der Himmel war so blau wie Blau an frischem saftigem Blattgrün in der frühen Sonne, es war ganz still vor Licht und kühlen Schattenräumen und Vogelstimmen in den Bäumen. (IB: S. 204) 17 Einen Eindruck Mecklenburgs vermittelt der Bildband von Anja-Franziska Scharsich und Angelika Fischer: Das Mecklenburg des Uwe Johnson. Berlin: Fischer, 2008. Zur Landschaft in Johnsons erstem Roman vgl. weiterhin auch Beate Wunsch: Studien zu Uwe Johnsons früher Erzählung Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953. Frankfurt a. M.: Lang, 1991, S. 113 – 118; Liselotte M. Davis: Manuskript abgelehnt, Landschaft gewonnen. Uwe Johnsons Ingrid Babendererde. In: Christian Bunners (Hrsg.): Landschaften Mecklenburg-Vorpommerns in der Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Rostock: Hinstorff, 2006, S. 97 – 105. 18 Zur Farbsymbolik in Ingrid Babendererde vgl. Elisabeth K. Paefgen: Graue Augen, grauer Wind und graue Straßenanzüge. In: Johnson-Jahrbuch 8 (2001), S. 63 – 88. 19 Auf die »Unwahrscheinlichkeit der hochsommerlichen Wetterverhältnisse für einen norddeutschen Mai« hat bereits hingewiesen: Norbert Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons. Jahrestage und andere Prosa. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1997, S. 166.
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Ingrid Babendererde: Die schöne Seele erhebt sich…
Dieser so poetisch beschriebene schöne und vermeintlich naive Schauplatz verbindet sich eng mit der Protagonistin Ingrid, die »scheinbar selbst ein Teil der Natur ist und sich spontan und ohne jede Distanz in der natürlichen Umwelt bewegt«.20 Die Natur fungiert somit gewissermaßen als »Kulisse«21 für Ingrid, die ebenso schön und naiv wie diese zu sein scheint. Ob beim Schwimmen oder Segeln, Ingrid bewegt sich in vollkommenem Ein- und Gleichklang in und mit der Natur : »Für Ingrid war Schwimmen wie Atmen. Sie glitt andächtig durch das kühle Wasser, auf ihren geschlossenen Augen fühlte sie das weiche Licht des späten Nachmittags.« (IB: S. 51)22 Als sei er selbst Bestandteil des Sees, gleitet ihr Körper ohne jedes Zeichen von Anstrengung durch das Wasser,23 ebenso mühelos lässt sich das Segelboot ›Squit‹ von Ingrid und Klaus durch die Strömungen navigieren. Beim Schwimmen im See und beim Segeln taucht Ingrid in das Wasser ein, verschmilzt gleichsam mit diesem Element. Ihre Verbundenheit mit und ihr unmittelbares Verhältnis zu der Natur zeigt sich auch an ihrer stillen, einfühlsamen Verständigung mit Tieren: [I]ndessen kam eines von den Pferden als massiger nickender Schatten heran und blieb vor Ingrid stehen. […] [D]as Pferd reckte seinen Hals hoch auf und schnaubte vorsichtig an Ingrids Schulter. Dann strich das Fräulein Babendererde mit seinem Handrücken behutsam über die erhobene Blesse und ging zwischen den hellen Birkenstämmen den Jungen nach in den Wald. Das Pferd sah noch lange hinterher. (IB: S. 63 f.)24
Ingrids Beziehung zur Natur kann geradezu als spielerisch im Schiller’schen Sinn bezeichnet werden: »Die Sonne spielte mit der Bewegung der Arme, wiegte sich glänzend auf Ingrids langen Beinen« (IB: S. 39), »tanzte« (IB: S. 50) auf Ingrids mit »vorsichtige[n] Finger[n] […] so hin und so hin [gedrehtem]« (IB: S. 50) Armreif und »wiegte sich auf [dessen] schmale[r] Kante« (IB: S. 50); »ihre Hände spielten mit dem Gras« (IB: S. 94).25 In der Spielmetaphorik drückt sich 20 Michael Hofmann: Uwe Johnson. Stuttgart: Reclam, 2001, S. 42. Zu Ingrids ursprünglichem und nahem Verhältnis zu Sonne und Wasser vgl. Annekatrin Klaus: »Sie haben ein Gedächtnis wie ein Mann, Mrs. Cresspahl!« Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1999, S. 19. 21 Nicola Westphal: Literarische Kartografie: Erzählter Raum in den Romanen Uwe Johnsons. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2007, S. 25. 22 Vgl. die Interpretation dieser Textstelle bei Michael Hofmann: Uwe Johnson. Stuttgart: Reclam, 2001, S. 42 f., S. 56. 23 Vgl. ebd., S. 56. 24 Vgl. zu dieser Textstelle auch Leyla Sedghi: Das Dilemma der Grenze: Zu Uwe Johnsons Frühwerk. Dissertation, LMU München, 2004, S. 28. 25 Auch Wunsch stellt fest, dass die Sonne mit Ingrid spielt und tanzt. Diese Gedanken werden jedoch nicht in den Kontext von Schillers Ästhetik gestellt: Beate Wunsch: Studien zu Uwe Johnsons früher Erzählung Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953. Frankfurt a. M.: Lang, 1991, S. 145.
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Ingrids harmonische und naiv-schöne Existenzweise sowie ihr spielerisches Welt- und Selbstverhältnis aus. Im übertragenen Sinn spiegelt sich in der natürlichen Umgebung ihr eigenes naives Naturprinzip, mit dem sie in Einklang und unbeschwerter Harmonie lebt: Sie ist eins mit sich und der Natur26 – ihrer Natur. Michael Hofmann erklärt dazu: »Ingrid […] begegnet uns zu Beginn des Romans durchaus als eine naive, mit der Natur unmittelbar verbundene ›Heldin‹, für die Schillers Feststellung zutrifft, nach der das Naive ›eine Kindlichkeit‹ ist, ›wo sie nicht mehr erwartet wird‹«.27 Die Protagonistin Ingrid scheint also eine naiv-kindliche, »gleichsam vorzivilisatorische[], ungeschichtliche[] Existenz der Harmonie und der Einheit«28 zu verkörpern. Ihr »verschlafen[es]« (IB: S. 95) Wesen und ihre »geschlossenen Augen« (IB: S. 94) signalisieren – analog zur naiv-kindlichen Natur – ebenfalls eine vorgeschichtliche Daseinsweise, gewissermaßen befindet sich das Mädchen noch in jenem Zustand, den Schiller als »sinnliche[n] Schlummer« (ÄE: S. 561) bezeichnet: »Aus dem Fenster hielt sich ein verschlafenes aus der Massen liebliches Gesicht unter verwirrten blonden Haaren, das war lächelnd und versöhnlich noch vom Unbewusstsein des Schlafens.« (IB: S. 203) Die schöne, vermeintlich naive und autonome Natur repräsentiert somit Ingrids eigenes Wesen und die Einheit und Versöhnlichkeit mit sich und ihren Trieben.
8.1.2 »Herzstockende Ingridschönheit«: Die Übereinkunft von Sinnlichkeit und Sittlichkeit In der Figur der Ingrid Babendererde führt Johnson die antagonistischen Triebe Vernunft und Natur zu einer harmonischen Einheit zusammen. Bereits ihr Name – »ein Mensch denkt doch über seinen Namen nach« (JT: S. 413) – deutet darauf hin, dass Ingrid die Übereinkunft des Menschen mit seinen Trieben und somit Schönheit verkörpert, denn ›Ingrid‹ bedeutet nichts anderes als »lieblich und schön«:29 Die erste Silbe des Namens ›Ing‹ führt zurück »zur germ.[anischen] 26 Von »der Einheit des Lebens in der Natur« spricht auch Ulrich Krellner : »Was ich im Gedächtnis ertrage«. Untersuchungen zum Erinnerungskonzept von Uwe Johnsons Erzählwerk. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2003, S. 39. Vgl. zu diesem Aspekt weiterhin Annekatrin Klaus: »Sie haben ein Gedächtnis wie ein Mann, Mrs. Cresspahl!« Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1999, S. 110 f. 27 Michael Hofmann: Uwe Johnson. Stuttgart: Reclam, 2001, S. 60, Herv. i. O. 28 Ebd., S. 43. 29 »Ingrid ist (ihr Name sagt es in seiner altisländischen Bedeutung) lieblich und schön […]« (Bernd Neumann: Ingrid Babendererde als Ingeborg Holm. Über Uwe Johnsons ersten Roman. In: Colloquia Germanica. Internationale Zeitschrift für germanische Sprach- und Literaturwissenschaft 20 (1987), S. 203 – 212, hier S. 206). Vgl. auch Annekatrin Klaus: »Sie
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Gottheit Ing(wio)«.30 Den zweiten Wortbestandteil ›grid‹ kann man vom altnordischen »fridhr«31 ableiten, was »›schön‹«32 bedeutet.33 Beide Silben zum Namen ›Ingrid‹ zusammengesetzt, führen also das Bild einer schönen Göttin vor Augen. Dies erinnert einmal an die Göttin des Liebreizes, Venus (AW: S. 330),34 und zum anderen an Schillers Göttergleichnis (ÄE: S. 614, AW: S. 389), demzufolge Schönheit, Freiheit und innere Gesetzgebung das Los des Menschen sein sollten. Der Name ›Ingrid‹ beinhaltet folglich schon die Idee der Schönheit. Auch der Nachname ›Babendererde‹ ist »Programm«.35 ›Babendererde‹ oder »baben der Erde« (IB: S. 173), wie Johnson den Familiennamen Ingrids an einer Stelle des Romans überdeutlich in Szene setzt, um die klanglich-bildhaften Eigenschaften hervorzuheben, heißt ›auf der Erde‹. Johnsons Erinnerung an eine Auseinandersetzung mit seinem Verleger belegt die bewusste symbolische Benennung seiner Protagonistin: »Er [Suhrkamp, Anm. d. V.] brach einen Streit vom Zaun: was das denn schon für ein Name sei, Babendererde. Nun musste er wissen, was das bedeutet, denn er war im Niederdeutschen aufgewachsen, ›auf der Erde‹ hiess so jemand, das war seine Verfassung und Befindlicheit.«36 Der Name ›Babendererde‹ verweist somit auf den sinnlichen, natur- und erdverwandten Trieb des Menschen. Ingrid ist im wahrsten Sinne des Wortes ›bo-
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haben ein Gedächtnis wie ein Mann, Mrs. Cresspahl!« Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1999, S. 111. Tamara Krappmann: Die Namen in Uwe Johnsons Jahrestagen. Göttingen: V& R unipress, 2012, S. 303. Sedghi ist ebenfalls zu diesem Urteil gelangt: »Die Anfangsilbe ›Ing‹ weist auf die nordische Götterwelt zurück, deren Gott der Schönheit den Namen ›Yng‹ trägt.« (Leyla Sedghi: Das Dilemma der Grenze: Zu Uwe Johnsons Frühwerk. Dissertation, LMU München, 2004, S. 26) Wilfried Seibicke: Historisches Deutsches Vornamenbuch. Bd. 2: F–K. Berlin, New York: de Gruyter, 1998, S. 463, Herv. i. O. Ebd., S. 463. Ebd., S. 463; Tamara Krappmann: Die Namen in Uwe Johnsons Jahrestagen. Göttingen: V& R unipress, 2012, S. 303. In Über Anmut und Würde wird Venus auch als die Göttin von Gnidus bezeichnet (AW: S. 69). Die ersten drei Buchstaben von ›Gnidus‹ ergeben anagrammatisch ›Ing‹ – den Beginn des Namens ›Ingrid‹. Annekatrin Klaus: »Sie haben ein Gedächtnis wie ein Mann, Mrs. Cresspahl!« Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1999, S. 114. Uwe Johnson: Begleitumstände. Frankfurter Vorlesungen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1986, S. 98; Annekatrin Klaus: »Sie haben ein Gedächtnis wie ein Mann, Mrs. Cresspahl!« Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1999, S. 114. Den Namen ›Babendererde‹ gibt es wirklich. Vgl. dazu: Peter Nöldechen: Neues Bilderbuch von Uwe Johnsons Jerichow und Umgebung. Spurensuche im Mecklenburg von Gesine Cresspahl und Ingrid Babendererde. Wismar : Callidus, 2008, S. 47 f.; Siegfried Unseld: Die Prüfung der Reife im Jahre 1953. In: Uwe Johnson: Ingrid Babendererde. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1985, S. 251 – 264, hier S. 253. Laut Paulsen bedeutet der Name ›Babendererde‹ aber auch »über der Erde« (Wolfgang Paulsen: Innenansichten: Uwe Johnsons Romanwelt. Tübingen, Basel: Francke Verlag, 1997, S. 51).
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denständig‹, sie steht buchstäblich mit beiden Beinen fest »auf der Erde«.37 Dieses Naturprinzip wird im Roman durch die symbiotische Verbindung Ingrids mit der Natur, durch die wortwörtliche tiefe Verwurzelung Ingrids mit der Landschaft und ihre Liebe zur mecklenburgischen »(Mutter) Erde«38 zur Geltung gebracht. Die Bezeichnungen ›Ingrid‹ und ›Babendererde‹ vereinigen sich zu einem Bild der Versöhnung der antagonistischen Wesenszüge im Menschen. Fasst man den Vornamen ›Ingrid‹ im engeren Sinn nur als übersinnliches, göttliches Prinzip im Menschen auf, so führt der Nachname den gegenläufigen Gedanken des erdgebundenen Naturprinzips mit sich. In Benennung und Charakterisierung der Protagonistin Ingrid Babendererde führt Johnson also im Sinne des Schiller’schen Schönheitskonzeptes die dialektischen, streitsüchtigen Prinzipien Himmel und Erde, Gott und Welt, Vernunft und Natur zu einer harmonischen Einheit zusammen, die sich im Erscheinungsbild des Mädchens als Schönheit und Anmut äußert. Ihrem Namen zufolge personifiziert Ingrid die Idee der Schönheit. Tatsächlich erweist sich Ingrids Schönheit als ein den gesamten Roman durchziehendes Leitmotiv. Bei Ingrids Anblick, so kann in Hinblick auf Schillers Formel von der »schmelzende[n] Schönheit« (ÄE: S. 618) behauptet werden, ›schmilzt‹ man geradezu dahin. Die Lieblichkeit der Protagonistin ist bereits auch von der Forschung erkannt worden. Bernd Neumann etwa spricht von ihrer »herzabschnürend[en] [Attraktivität]«39 und Annekatrin Klaus von ihrer »natürliche[n] Schönheit«40 : »In ihr verbindet sich jugendliche Schönheit und Lebensfreude mit der Fähigkeit, freundlich, anteilnehmend, unbefangen, vertrauensvoll auf andere Menschen zuzugehen.«41 In der Tat erfreut Ingrid durch ihr »sehr schönes Antlitz« (IB: S. 62). Ingrid ist ein »sehr schön[es]« (IB: S. 155), sogar »ein verdammt schönes Mädchen« (IB: S. 207), man kann geradezu behaupten: »[D]as Fräulein Babendererde sei ja wohl das schönste und netteste Mädchen am Orte« (IB: S. 28). Mehr noch: Es scheint, als ob Ingrid nicht nur Schönheit 37 Beate Wunsch: Studien zu Uwe Johnsons früher Erzählung Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953. Frankfurt a. M.: Lang, 1991, S. 147; Bernd Neumann: Ingrid Babendererde als Ingeborg Holm. Über Uwe Johnsons ersten Roman. In: Colloquia Germanica. Internationale Zeitschrift für germanische Sprach- und Literaturwissenschaft 20 (1987), S. 203 – 212, hier S. 209. 38 Annekatrin Klaus: »Sie haben ein Gedächtnis wie ein Mann, Mrs. Cresspahl!« Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1999, S. 115. 39 Bernd Neumann: Ingrid Babendererde als Ingeborg Holm. Über Uwe Johnsons ersten Roman. In: Colloquia Germanica. Internationale Zeitschrift für germanische Sprach- und Literaturwissenschaft 20 (1987), S. 203 – 212, hier S. 209. 40 Annekatrin Klaus: »Sie haben ein Gedächtnis wie ein Mann, Mrs. Cresspahl!« Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1999, S. 19. 41 Norbert Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons. Jahrestage und andere Prosa. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1997, S. 164.
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zukomme, sondern diese in Person selbst verkörpere, wenn von der »herzstockenden Ingridschönheit« (IB: S. 40) die Rede ist. So viel Schönheit kann indes nicht alleine von dieser Welt stammen, vielmehr scheint es, als speise diese sich aus einer überirdischen, göttlichen Quelle. Tatsächlich weisen die Attribute, mit denen Johnson seine Ingrid ausstattet, sie eindeutig der Sphäre der Sonne und des Lichts zu – seit alters her Symbole des Göttlichen42 –, wenn sich ihr Antlitz etwa »hell und klar vor der Dunkelheit« (IB: S. 62) abhebt oder wenn sie, »unter der Sonne [sitzt] und das Gesicht gegen den Himmel [hebt]« (IB: S. 42). Zeitweilig umgibt sie ein fast überirdischer göttlicher Glanz: »unglaublich anzusehen wie sie dastand in all dem Sonnenstaub« (IB: S. 23). Ingrid ist also im buchstäblichen und wortgeschichtlichen Sinn ›schön‹, umfasst dieser Begriff doch etymologisch die Eigenschaften des ›Scheinens‹, ›Strahlens‹ und ›Glänzens‹.43 Diese Überhöhung Ingrids ins Transzendentale hat auch die Forschung wahrgenommen, wurde sie doch bereits als »strahlende Erscheinung«44 und als »die strahlende ›Sonne‹ Ingrid«45 bezeichnet, »als wahre Lichtgestalt«,46 die »ins Auratische«47 entrückt zu sein scheint.48 Um mit Schiller zu sprechen: Ingrid »[glänzt] gleich einem Sonnenkörper von [ihrem] eigenen Lichte« (AW: S. 359). Ihr Glanz ist somit Ab-Glanz eines überirdischen Lichts, in ihrer Ausstrahlung spiegelt sich eine höhere Schönheit, die nicht dieser Welt anzugehören scheint. Ingrid entspricht demnach – in Schillers Terminologie – nicht der »fixe[n] Schönheit« (AW: S. 331), sondern der »beweglichen Schönheit« (AW: S. 331), der Anmut also, die nur verliehen werden kann, wie im Folgenden gezeigt wird.
42 Christian Sinn: Sonne. In: Günter Butzer und Joachim Jacob (Hrsg.): Metzler Lexikon literarischer Symbole. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2008, S. 354 – 355. 43 Die Etymologie des Begriffs ›schön‹ erläutert Gerhard Schweppenhäuser : Ästhetik: philosophische Grundlagen und Schlüsselbegriffe. Frankfurt a. M.: Campus, 2007, S. 66. 44 Annekatrin Klaus: »Sie haben ein Gedächtnis wie ein Mann, Mrs. Cresspahl!« Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1999, S. 99. 45 Rainer Benjamin Hoppe: »Mangelhaft!« Uwe Johnsons Darstellung der DDR-Schule in den Romanen Ingrid Babendererde und Jahrestage (4. Band). In: Johnson-Jahrbuch 1 (1994), S. 190 – 215, hier S. 195. 46 Norbert Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons. Jahrestage und andere Prosa. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1997, S. 164. 47 Annekatrin Klaus: »Sie haben ein Gedächtnis wie ein Mann, Mrs. Cresspahl!« Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1999, S. 117. 48 Zu Ingrids Verhältnis zur Sonne vgl. Beate Wunsch: Studien zu Uwe Johnsons früher Erzählung Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953. Frankfurt a. M.: Lang, 1991, S. 145.
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8.1.3 »Was für eine anmutig freche Göre«: Ingrid als liebliche Gürtelträgerin Nicht nur das Licht weist Ingrid als Abgesandte einer übernatürlichen Schönheit aus. Zur Kenntlichmachung dieser göttlichen Legitimation greift Johnson darüber hinaus auf das aus Über Anmut und Würde bekannte Gürtel-Motiv49 zurück. Wie in Abschnitt 4.2 bereits dargestellt, besitzt die Schönheitsgöttin Venus einen magischen Gürtel von erotisierend-anziehender Wirkung, den sie – ohne jedoch etwas von ihrer eigenen Schönheit einzubüßen – ablegen und verleihen kann. Mit der Vergabe ihres Liebes-Gürtels überträgt Venus zugleich auch ihre aphrodisierende Anziehungskraft – die Anmut – auf den Träger, der nunmehr göttlichen Liebreiz und Schönheit ausstrahlt (AW: S. 330). Diesen Gürtel, so nun die These, übergibt Venus an Ingrid und mit ihm die »bewegliche[] Schönheit« (AW: S. 331): die Anmut. Auch die Protagonistin in Johnsons erstem Roman schmückt sich mit einem Gürtel, der ihr »Skandalkleid« (IB: S. 24) zusammenhält, jenes in Westdeutschland gekaufte, durch die öffentliche Meinung nicht geduldete Kleidungsstück, das sie – ihrem Freiheitsdrang folgend – dennoch in der Schule präsentiert. Das Skandalkleid war einfach eine Art Leinen zwischen Schwarz und Blau, das war mit geraden weissen Strichen in grosse Vierecke aufgeteilt, vorn zusammengeknöpft, am Hals legte es sich eben wieder auseinander : was alles mit dem unmässig schmalen Gürtel einen frechen und vornehmen Schlag hatte, den es nicht zu kaufen gab in diesem Lande. (IB: S. 24)
Diese modische, mit Gürtel versehene Ausstattung ist aus einem nicht näher definierten anderen Land bezogen, wobei man zunächst wegen des zuvor erwähnten Einkaufs an Westdeutschland denkt. Auf einer zweiten Bedeutungsebene liegt im Kontext der These die konnotative Verweisung auf ein Land jenseits der sinnlichen Erscheinungswelt nahe.50 Mit dem Gürtel erhält Ingrid ihre Anmut, durch ihn wird sie – zumindest für eine begrenzte Zeit – gewissermaßen selbst zu einer Göttin der anmutigen Schönheit und des Liebreizes. Ingrid ist also nicht nur schön, vielmehr lässt sich ihre Schönheit weiter in jene Form der Anmut differenzieren. So heißt es in bewunderndem Tonfall über Ingrid: »[W]as für eine anmutig freche Göre von einem Mädchen.« (IB: S. 85)51
49 Auch Sedghi hat das Gürtelmotiv mit Ingrids Anmut in Verbindung gebracht: Leyla Sedghi: Das Dilemma der Grenze: Zu Uwe Johnsons Frühwerk. Dissertation, LMU München, 2004, S. 25. Zum Gürtelmotiv allgemein vgl. auch Christiane Holm: Gürtel. In: Günter Butzer und Joachim Jacob (Hrsg.): Metzler Lexikon literarischer Symbole. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2008, S. 141. 50 Vgl. auch Leyla Sedghi: Das Dilemma der Grenze: Zu Uwe Johnsons Frühwerk. Dissertation, LMU München, 2004, S. 25. 51 Vgl. zu dem Zitat auch Michael Hofmann: Uwe Johnson. Stuttgart: Reclam, 2001, S. 56. Zu
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An anderer Stelle verwendet Johnson ein Synonym für Anmut, die Lieblichkeit, wenn ihr ein »aus der Massen liebliches Gesicht« (IB: S. 203) zugeschrieben oder ihr helles Haar als »lieblich verquer« (IB: S. 42) geschildert wird. Damit scheint Ingrid »in ihrer Schönheit und Anmut das Ideal einer ›naiven‹ und ästhetisch ausgezeichneten Existenz zu verkörpern«.52 Ein Hauptcharakter der Anmut, so heißt es bei Schiller, ist die aus einer Verbindung von willkürlichen und unwillkürlichen Bewegungen, von Natur und Vernunft hervorgehende Schönheit des Gesichts- und Körperausdrucks, welche sich in harmonischen und leichten Bewegungsabläufen widerspiegelt.53 Auch Ingrid zeigt jene »ungezwungene Freiheit und Spontaneität«,54 die der Anmut zu eigen ist. »Es entspricht auch Schillers Konzept«, so Hofmann, »wenn der Roman Ingrid wie instinktiv handeln lässt, so als agiere sie ohne jeglichen Aufwand an Selbstreflexion und vor allem ohne jeglichen Hintergedanken, der eine mögliche Wirkung des eigenen Verhaltens einkalkuliert.«55 Die Geschmeidigkeit, Sanftheit, Ungezwungenheit und Natürlichkeit von Ingrids Bewegungen wird in der Natur beim Segeln oder Schwimmen sichtbar. Der Vergleich des bereits erwähnten Schwimmens als einer bewusst und willkürlich ausgeführten Handlung mit dem Atmen (IB: S. 51) – einer Tätigkeit also, die natürlich ist und deren bewusstes Erlernen nicht nötig – demonstriert, dass Ingrid beide Bewegungsabläufe miteinander in vollkommener Harmonie vereint.56 Besonders in Ingrids Mimik, Gestik sowie ihrer Art zu sprechen offenbart sich die schöne Übereinkunft von Natur und Vernunft. So wirkt ihr Lachen nie aufgesetzt oder verstellt, es zeugt nie von einer willentlichen Absicht, sondern kommt – gleich dem von Schiller in Über Anmut und Würde geschilderten selbstvergessenen »anmutigen Lächeln« (AW: S. 352) – unbewusst und authentisch aus ihrem tiefsten Innern, wenn sie »innig auflach[t]« (IB: S. 48): »[S]ie lachte selbstvergessen in ihrer Kehle vor Erfreutsein.« (IB: S. 203) Und bei der Erinnerung an das erste Rendezvous mit Klaus wird sie »anhaltend von leisem Lachen geschüttelt ganz tief innen.« (IB: S. 50) Eine weitere Entsprechung zu Schillers Traktat Über Anmut und Würde ist in diesem Kontext die Verbindung des anmutigen Lachens mit der »Anmut der Stimme« (AW: S. 333) in der Formulierung »Musik wird die Stimme sein, und
52 53 54 55 56
Ingrid als Verkörperung der Anmut siehe ebenfalls Leyla Sedghi: Das Dilemma der Grenze: Zu Uwe Johnsons Frühwerk. Dissertation, LMU München, 2004, S. 20, S. 24. Michael Hofmann: Uwe Johnson. Stuttgart: Reclam, 2001, S. 43. In einer früheren Fassung von Ingrid Babendererde tanzt Ingrid auch: Uwe Neumann: Die ausgefallene Tanzstunde. In: Johnson-Jahrbuch 8 (2001), S. 29 – 61, hier besonders S. 40. Michael Hofmann: Uwe Johnson. Stuttgart: Reclam, 2001, S. 56, Herv. i. O. Ebd., S. 57. Die aufeinander bezogenen Motive des Schwimmens und Atmens erläutert Michael Hofmann: Uwe Johnson. Stuttgart: Reclam, 2001, S. 56. Siehe ebenfalls Leyla Sedghi: Das Dilemma der Grenze: Zu Uwe Johnsons Frühwerk. Dissertation, LMU München, 2004, S. 27.
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mit dem reinen Strom ihrer Modulation das Herz bewegen« (AW: S. 371). Auch Ingrids Stimme wirkt äußerst anziehend auf ihre Zuhörer und hinterlässt zugleich den Eindruck einer wohlabgestimmten Melodie, in welcher die einzelnen Klänge miteinander harmonieren: »[E]s ist unglaublich anzuhören wie sie das gesagt hat aus ihrer Kehle« (IB: S. 40). Einige Seiten später greift der Erzähler diese Beobachtung noch einmal auf, wenn er ihre komödiantische Präsentation einer »völlig unglaubliche[n] Geschichte« (IB: S. 62) aus Klaus’ Perspektive mit »Oh es tat nahezu weh dies anzusehen, ihr Auflachen und ihre träg federnde Stimme erzählen zu hören in allen Tonarten« (IB: S. 62) kommentiert. Auch das aus Schillers Schrift Über Anmut und Würde bekannte »reizende[] Erröten« (AW: S. 352) der Anmut meint man in Ingrid Babendererde wiederzuerkennen, zeigt doch auch Ingrid diese »sympathetische« (AW: S. 347) wie sympathische Reaktion der Sinne. Als Klaus ihr zu ihrem ersten Jahrestag und als Zeichen der innigen Verbundenheit einen Armreif überreicht, »wurde sie rot, sie errötete über die Massen, und sie fragte: Bin ich rot geworden?« (IB: S. 44) Noch ein weiteres Mal – beim Besuch der reichen Lübecker Verwandten hat deren Chauffeur Ingrids Pakete vom Kaufhaus zum Parkplatz hinter ihr hergetragen – gesteht sie: »Ich bin richtig rot geworden.« (IB: S. 168) Mit Blick auf Schillers drei Abstufungen der Anmut – die »belebende« (AW: S. 390) und die »beruhigende« (AW: S. 391) Anmut sowie das »Bezaubernde« (AW: S. 391) – kann weiterhin deutlich gemacht werden, dass Ingrid besonders eine Art der Anmut verkörpert: nämlich die »belebende« Anmut, deren Merkmale die ausgelassene Heiterkeit, der »lachende Scherz und der Stachel des Spotts« (AW: S. 391) sowie der »Sinnenreiz« (AW: S. 390), das Erotisch-Sinnliche also, sind. Ingrid weist all diese Eigenschaften auf: So ist Ingrid nicht nur ein »liebenswerte[s] und schöne[s] Mädchen[]«,57 sondern auch ein »lebens- und lachlustige[s]«.58 Ihre Lebensfreude, ihr heiteres Wesen und ihre nahezu unersättliche Lust am Lachen, Scherzen und freundlichen Necken, die sie insbesondere mit Klaus teilt, sind im Roman allgegenwärtig. Das Gelächter, das in allen Schattierungen und Abstufungen leitmotivisch den gesamten Text durchzieht, veranlasste Hans Mayer einst zu der Aussage: »In dem Buch wird zuviel gegrinst.«59 Ob als dezent-unauffälliger innerer Frohsinn (»sorgfältig verheimlichte Fröhlichkeit«, IB: S. 23), gelöst-heitere Gemütsstimmung (»so unbefangen heiter zu sein«, IB: S. 110) oder auch als 57 Beate Wunsch: Studien zu Uwe Johnsons früher Erzählung Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953. Frankfurt a. M.: Lang, 1991, S. 145. 58 Ebd., S. 145. 59 Uwe Johnson: Einer meiner Lehrer. In: Siegfried Unseld (Hrsg.): Wohin ich in Wahrheit gehöre. Ein Uwe Johnson Lesebuch. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1994, S. 283 – 290, hier S. 289; Beate Wunsch: Studien zu Uwe Johnsons früher Erzählung Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953. Frankfurt a. M.: Lang, 1991, S. 104.
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übermütiges, ungebändigtes Lachen (»Es war ungewöhnlich erfreulich sie lachen zu sehen und zu hören in dieser unmässigen Weise von Heiterkeit«, IB: S. 231) – die gute Laune tritt in vielerlei Formen in Erscheinung.60 Zuweilen führt dieser exzessive Drang nach Heiterkeit an manchen Stellen des Romans zu einer etwas überstrapazierten Lach-Metaphorik, wie das folgende Zitat deutlich macht: Ingrid lacht. Ingrid lachte so vor sich hin. Sie sass an Luv auf dem Bordrand, hielt die Fockschot ein bisschen fest, in ihrem Nacken fühlte sie den Wind und die Sonne wühlen und sie lachte so leise am Gross-Segel hinauf. Das war sehr hoch, und von der zweitletzten Steiflatte fing das Lachen an zu springen, sprang bis zum Stander hinauf und von da auf eine kleine lustige Wolke, die sich atemlos langsam entlangschob zwischen dem leuchtenden Weiss und Blau von Himmel und Segel: dort sass nun das Lachen und freute sich. (IB: S. 40)
Die Heiterkeit der »belebenden« Anmut verbindet sich, wie im obigen Zitat aus Über Anmut und Würde bereits angeklungen, mit einer gutmütigen und freundlichen Art des Neckens und Spottens zum »lachende[n] Scherz« (AW: S. 391). Tatsächlich ist zu beobachten, dass auch Ingrids Frohsinn eben diesen spöttischen Charakterzug aufweist, wenn sie als »frech[]« (IB: S. 85), »spitzbübisch[]« (IB: S. 62) oder »spöttisch« (IB: S. 58) geschildert wird. Ebenso lässt die Bezeichnung Ingrids als »Göre« (IB: S. 85) auf das Schelmische ihres Wesens schließen. Dass es sich hier jedoch nicht um eine beliebige Art von Spott handelt, sondern um jene, die nur in Verbindung mit der Anmut auftritt, wird daran ersichtlich, dass auch auf sprachlicher Ebene das Spöttische in Eintracht mit dem Schönen auftritt, wie in Formulierungen wie der »anmutig freche[n] Göre« (IB: S. 85) oder des »spitzbübische[n] sehr schöne[n] Antlitz[es]« (IB: S. 62) deutlich zur Geltung kommt. Für diese Vermutung der Kombination von Schönheit und scherzend-gutmütigem Spott spricht letztendlich auch, dass es analog zur »Ingridschönheit« den »Ingridspott« (IB: S. 53) gibt. Neben der Heiterkeit und Scherzhaftigkeit nennt Schiller als weiteres Merkmal der »belebenden« Anmut den »Sinnenreiz« (AW: S. 390). Auch bei Ingrid handelt es sich in wortwörtlicher Bedeutung um eine die Sinne »reizende[] Person« (AW: 391, Herv. i. O.). Zwar wird nur dezent auf die von ihr ausgehende sinnliche Anziehungskraft angespielt, doch fixiert hin und wieder ein Blick eine »klassische erotische Zone«61 wie den Mund und die Haare – »Dies grosse schmale Mädchen mit dem verrückten Blond, siehst du ihren Mund« (IB: S. 23) – 60 Vgl. auch: »Da gibt es eine Beiwortseligkeit, die in Adjektive wie ›ebenmässig‹ und ›gelassen‹ und ›lustig‹ geradezu vernarrt ist, da wird überhaupt ganz unebenmäßig häufig gelacht, besonders mit den Augen.« (Norbert Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons. Jahrestage und andere Prosa. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1997, S. 167) 61 Annekatrin Klaus: »Sie haben ein Gedächtnis wie ein Mann, Mrs. Cresspahl!« Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1999, S. 95.
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oder verweilt auf ihren schlanken, langen Beinen (IB: S. 39, S. 91 f.).62 Zuweilen kommt Klaus sogar in den Genuss der Zärtlichkeiten der Freundin, »[deren] Arme er um seine Schultern fühlte, [der] er nun vorsichtig an den Augen entlangstrich mit seinem ungeschlachten Zeigefinger, [deren] Kopf er in seiner Hand hielt, während der Wind seine Finger streichelte, mit diesen Haaren« (IB: S. 40).63 Indem »der Wind […] ihre [Ingrids, Anm. d. V.] Haare benutzt, um seine [Klaus’, Anm. d. V.] Finger zu ›streicheln‹«,64 werden die Liebkosungen zwischen beiden zaghaft angedeutet. Die Anmut versammelt Liebhaber und Anbeter (AW: S. 372) um sich herum, heißt es bei Schiller. Auch Ingrids anmutige Schönheit mit ihren Merkmalen der ausgelassenen Heiterkeit, des Scherzens und des latent-erotischen Reizes zieht – vor allem männliche – Bewunderer an;65 zuweilen hat es den Anschein, als »trete eher ein Star auf als ein Schulmädchen«.66 Zu Ingrids Verehrern gehört selbstverständlich ihr Freund Klaus – »Aber nun sollte er [Klaus, Anm. d. V.] ja wohl wahrhaftig verlegen werden vor solchem Ansehen, vor diesem hintersinnigen Ingridgesicht« (IB: S. 42) –, aber auch Jürgen ist seit langem in sie verliebt, »doch es war niemals Hoffnung gewesen in seiner Liebe« (IB: S. 183). Auf dem Schulmaskenball möchte sogar der Direktor der Schule, Robert Siebmann, kostümiert als spanischer Kavalier, mit der als Gestiefelter Kater verkleideten Protagonistin »dringlich […] tanzen« (IB: S. 91).67 Nicht zuletzt dem Erzähler, so Elisabeth Paefgen, wird eine gewisse Verehrung für seine Hauptfigur nachgesagt: »Wie Jürgen, Klaus und die Bewohner der mecklenburgischen Kleinstadt genießt er [der Erzähler, Anm. d. V.] es offensichtlich, die schöne Ingrid […] zu beobachten, wenn nicht gar zu bewundern«.68 Selbst bei so viel Schönheit und Anziehungskraft, die so offensichtlich von
62 Auch ihr Nacken wird betrachtet. Zu Ingrids Nacken als erotisches Motiv siehe ebd., S. 95. 63 Zu dieser Textstelle siehe Leyla Sedghi: Das Dilemma der Grenze: Zu Uwe Johnsons Frühwerk. Dissertation, LMU München, 2004, S. 27. 64 Ebd., S. 27. 65 Vgl.: »[…] daß Ingrid erneut den Blick eines Mannes auf sich zieht«; »Ingrid […] als Gegenstand einer Betrachtung« (Annekatrin Klaus: »Sie haben ein Gedächtnis wie ein Mann, Mrs. Cresspahl!« Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1999, S. 96, Herv. i. O.). 66 Ebd., S. 97. 67 »[B]eim Schulfest«, so Paefgen, »verdreht [Ingrid, Anm. d. V.] […] Pius Siebmann den Kopf«: Elisabeth K. Paefgen: Graue Augen, grauer Wind und graue Straßenanzüge. In: JohnsonJahrbuch 8 (2001), S. 63 – 88, hier S. 78. 68 Ebd., S. 75. Zum bewundernden Blick des Erzählers auf Ingrid siehe ebenfalls Annekatrin Klaus: »Sie haben ein Gedächtnis wie ein Mann, Mrs. Cresspahl!« Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1999, S. 97; Norbert Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons. Jahrestage und andere Prosa. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1997, S. 164; Michael Hofmann: Uwe Johnson. Stuttgart: Reclam, 2001, S. 42.
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Ingrid ausgeht, kommt »[a]uthentische erotische Spannung […] nicht auf«,69 wie Bernd Neumann feststellt. Die Meinung von Leyla Sedghi, die Klaus »Begehren«70 unterstellt, kann hier im Wesentlichen nicht bestätigt werden. Von offensichtlicher sinneslüsterner Begierde ist diese Form der Ingrid-Verehrung weit entfernt. Vielmehr scheint die »Bewunderung für ihre Attraktivität«71 nahezu ehrfürchtiger Art zu sein und ähnelt geradezu einer andächtigen Vergötterung. Ingrid wird gerade nicht wie eine »Göre, ein Weib, ein Frauenzimmer«72 behandelt, sie erinnert vielmehr an eine Göttin. Dieser Umstand ist darauf zurückzuführen, dass Ingrid neben der Anmut in ihrem Wesen auch Anteile der Würde aufweist; Ingrid verkörpert dadurch gewissermaßen Schillers Idee des Idealschönen, welches das Schöne und Erhabene, Anmut und Würde gleichermaßen in sich vereinigt und ausbalanciert. Während ihre Anmut einerseits eine große Anziehungskraft auf die sie umgebenden Menschen ausübt, so bewirkt die Würde im Gegenteil ein respektvolles Zurückweichen und Abstoßen (AW: S. 390). Dieses Zurückweichen lässt die Bewunderer somit aus einer gewissen Distanz heraus ehrfurchtsvoll zu ihrer anbetungs-würdigen Göttin des Liebreizes aufblicken. So geht von Ingrid von Zeit zu Zeit »ein würdiges Benehmen« (IB: S. 24) aus, das ihre Mitmenschen instinktiv zu ehrerbietigem Betragen ihr gegenüber veranlasst, das sich etwa in respektvoller Titulierung oder gebeugten, dienenduntertänigen Umgangsformen äußert. Ingrid gebärdet sich zuweilen förmlichwürdevoll als »gnädige Frau« (IB: S. 40), »gnädiges Fräulein« (IB: S. 168) oder »Fräulein Babendererde« (IB: S. 63, S. 28) und wird dementsprechend in ihrer Außenwirkung von anderen wahrgenommen. Selbst Direktor Robert Siebmann verharrt auf dem Schulfest Ingrid gegenüber »in geduldige[r] Gebeugtheit« (IB: S. 92), bevor sie ihn zurückweist. Lehrer Sedenbohm scheint dieselbe Aura wahrzunehmen, wenn er anstandshalber einen Respektabstand zwischen sich und Ingrid einhält: »Als er [Sedenbohm, Anm. d. V.] Ingrid kommen sah, blieb er stehen; dies war ihm aber selbstverständlich und er hatte es nicht bedacht.« (IB: S. 180) Umgekehrt lässt Ingrid sich aber zuweilen gerne auch wie eine Würdenträgerin behandeln und bedienen. Jürgen etwa hatte sich angewöhnt, »der Babendererde die Tasche zu tragen« (IB: S. 208) und beim Baden am See 69 Bernd Neumann: Ingrid Babendererde als Ingeborg Holm. Über Uwe Johnsons ersten Roman. In: Colloquia Germanica. Internationale Zeitschrift für germanische Sprach- und Literaturwissenschaft 20 (1987), S. 203 – 212, hier S. 207. 70 Leyla Sedghi: Das Dilemma der Grenze: Zu Uwe Johnsons Frühwerk. Dissertation, LMU München, 2004, S. 26. 71 Annekatrin Klaus: »Sie haben ein Gedächtnis wie ein Mann, Mrs. Cresspahl!« Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1999, S. 98. 72 Leyla Sedghi: Das Dilemma der Grenze: Zu Uwe Johnsons Frühwerk. Dissertation, LMU München, 2004, S. 26.
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bestand sie darauf »dass man sie an Land trug« (IB: S. 48). Auch sind ihr manchmal befehlende oder herrschaftliche Gesten zu eigen: »[I]hre ausgestreckte Hand wies an« (IB: S. 105). Bei einem Besuch in einem Lübecker Kaufhaus wird Ingrid vom Chauffeur ihrer reichen Verwandten begleitet; er öffnet ihr die Tür zum Auto, als sei sie eine Würdenträgerin höchsten Ranges und übernimmt zugleich noch dienende Funktionen, indem er ihr die Einkaufstaschen trägt: Und der Chauffeur immer hinter mir her mit den Paketen, mitten auf der Strasse, immer drei Schritt hinter mir […] Und denn durft ich doch die Wagentür nicht selbst aufmachen, nein, er mit seinen drei Paketen bricht sich beinah die Hand am Griff. Hätt nicht viel gefehlt dass er die Mütze abnimmt. Bloss weil ich einsteige! (IB: S. 168)
Als Reaktion auf die Schilderung dieses Urlaubserlebnisses hat sich Ingrids Klasse zwei Tage lang »immer verbeugt, wenn Ingrid ankam, und niemand wollte ihr näher kommen als bis auf drei Schritte« (IB: S. 168). Der sich mit der Anmut verbindenden Würde in Ingrids Wesen ist es nun geschuldet, dass ganz im Schiller’schen Sinn »die Liebe nicht zur Begierde wird« (AW: S. 390). Besonders jene Szene des Romans verdeutlicht diese distanzierende Wirkung der Würde, in welcher sich Klaus vor der Freundin, deren »herzstockende[]« (IB: S. 40) Schönheit er kurz zuvor bewundert hat, niederlässt, um ihr beim Anziehen ihrer Schuhe behilflich zu sein. Diese Passage steckt mit den Motiven der Schönheit und des Niederkniens vor der Angebeteten gewissermaßen die Rahmenbedingung für eine romantische Liebesszene ab, zumal das Motiv des Schuh-Anziehens an die glückliche Verbindung der Geliebten im Aschenputtel-Märchen denken lässt. Doch das Verhalten der beiden mutet für ein junges verliebtes Paar, das sie ja sind, merkwürdig ungerührt und leidenschaftslos an. Während Klaus zunächst an einen fürsorglichen »Vater[]« (IB: S. 40) erinnert, der seiner »jüngsten Tochter« (IB: S. 40) beim Ankleiden hilft, sich wenig später dann durch seine verbeugende Haltung zum »würdigen Diener[]« (IB: S. 40) wandelt, gibt Ingrid sich »damenhaft« (IB: S. 40) und vornehm-unnahbar. Die anschließende Umarmung der beiden erfolgt in derselben würdevoll-sittsamen Atmosphäre: »[E]r zog die gnädige Frau hoch und nahm sie mit dem amtlichsten Aussehen in seine Arme, sagte vollständig gelassen: Du bist ja denn da.« (IB: S. 40) »Gnädige Frau«, »amtlich«, »vollständig gelassen« – solche Worte zeugen nicht gerade von Verlangen und Liebeslust, sondern wirken im Gegenteil »sehr altmodisch[]«.73 Statt erotischer Spannung herrscht zwischen beiden Gelassenheit – und zwar »vollständig« (IB: S. 40).
73 Norbert Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons. Jahrestage und andere Prosa. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1997, S. 165.
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8.1.4 »Ingrids schöne Gutherzigkeit«: Ingrid als schöne Seele In ihrer höchsten Form, so heißt es bei Schiller, schwingt sich die anmutige Schönheit zur schönen Seele auf, die das Schöne, Wahre und Gute gleichsam in sich vereinigt. Desgleichen verkörpert Ingrid nicht nur die Anmut, sondern auch das mit ihr verbundene, am antiken Ideal der Kalokagathia ausgerichtete Konzept der schönen Seele, die sich bei Schiller mit der Naivität verbindet. Folglich ist Ingrid zugleich »das schönste und netteste Mädchen am Orte« (IB: S. 28, Herv. d. V.).74 Ingrids äußere Schönheit fungiert damit als Spiegel ihrer inneren Seelenschönheit, deutlich drückt sich dies in der Formel von »Ingrids schöne[r] Gutherzigkeit« (IB: S. 25) aus. Eine Schlüsselszene, in der Ingrids schönes Betragen zum Vorschein kommt, stellt ihre mutige Rede auf der Schulversammlung über die Junge Gemeinde dar (IB: S. 173 – 175), in der sie sich für die Rechte der angefeindeten und der Spionage bezichtigten christlichen Jugendorganisation sowie für Meinungs- und Gesinnungsfreiheit im Allgemeinen einsetzt. Zu erwähnen sei an dieser Stelle bereits, dass der genannten Szene als Höhe- und Wendepunkt des Romans eine doppelte Bedeutung zukommt, indem sie zugleich Ingrids Verlust der Anmut und ihre Entwicklung zum Erhabenen einleitet (vgl. Abschnitt 8.3.1). Doch zunächst sollen die Merkmale Ingrids als schöne Seele im Schiller’schen Sinn in den Vordergrund gerückt und thematisiert werden: In ihrer Rede wählt Ingrid als Sinnbild für Freiheit ein einfaches Beispiel aus dem Alltag der Jugendlichen, die engen schwarzen Hosen aus Westberlin, welche Direktor Siebmann der Schülerin Eva Mau zu tragen verbietet – nicht zufällig sind es Hosen, die »alle sehr schön [fanden]« (IB: S. 174). Die Verteidigung des Freiheitsgedankens formuliert sie in einer naiv anmutenden Art:75 »Wir können ja wohl nicht alle Herrn Siebmanns Anzug tragen, wir mögen uns auch nicht alle so benehmen wie er. Ich bin also dafür dass Eva Mau ihre Hosen tragen dürfen soll. wer sie dann nicht leiden mag kann ja wegsehen.« (IB: S. 174) Stellt man die Frage nach den Motiven für diesen tapferen Auftritt Ingrids, so wird man feststellen, dass sich pragmatische und zweckgeleitete Gründe oder ein persönlicher Nutzen für ihr Handeln nicht finden lassen:76 So steht sie weder 74 So spricht Westphal von Ingrids »naturgegebene[r] Moralität« (Nicola Westphal: Literarische Kartografie: Erzählter Raum in den Romanen Uwe Johnsons. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2007, S. 106). 75 Auch Wunsch spricht von Ingrids »naiv klingende[r] Rede über die Hosen von Eva Mau« (Beate Wunsch: Studien zu Uwe Johnsons früher Erzählung Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953. Frankfurt a. M.: Lang, 1991, S. 144). 76 Vgl. auch ebd., S. 145; Nicola Westphal: Literarische Kartografie: Erzählter Raum in den Romanen Uwe Johnsons. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2007, S. 46; Carsten Gansel: »es sei EINFACH NICHT GUT SO«. Uwe Johnsons »Ingrid Babendererde. Reifeprüfung
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der Gesinnung der Jungen Gemeinde nahe – Ingrid hat über diese christliche Jugendorganisation anfangs gelacht (IB: S. 166) – noch ist sie auf einer freundschaftlichen Ebene mit einem ihrer Mitglieder verbunden: »Sie seien alle drei nicht mit der Jungen Gemeinde verschwägert, und keiner werde sie für bedeutend halten.« (IB: S. 106) Auch ist Ingrid »eigentlich unpolitisch«77 und glaubt nicht daran, im allgemeineren Sinne einen Beitrag zur Veränderung gesellschaftlich-politischer Verhältnisse zu leisten und das in der Verfassung der DDR zwar festgeschriebene, in der Praxis jedoch unterschlagene Grundrecht auf freie Meinungsäußerung einfordern zu können. Zuletzt bliebe noch das Motiv, für die öffentliche Rede von gleichgesinnten Mitschülern und Lehrern Anerkennung und Wertschätzung erhalten zu wollen, und diese wird ihr nach ihren letzten Worten sogleich in Form von tosendem Applaus zuteil. Doch auch dieser Gedanke scheint ihr gänzlich fremd zu sein: »[S]ie [Ingrid, Anm. d. V.] betrachtete ohne Verständnis die gleichmässig aufruckenden Rücken, überall flackerten die aufspringenden klatschenden Hände; unter ihr der Fussboden bebte gefährlich von dem unaufhörlichen Trampeln.« (IB: S. 175) Der Impuls, der Ingrid dazu veranlasst, so zu handeln, ist also vollkommen frei von Vorstellungen der Zweck- und Zielgerichtetheit. Sie fragt nicht nach Argumenten, die für oder gegen ihre Rede sprechen; sie wägt nicht Vor- und Nachteile für die eigene Person ab, wie dies die ersten vier Wanderer im Samariter-Gleichnis tun, sondern tritt »gefühlsmäßig«,78 »spontan-emotional[]«79 und aus einer »zutiefst moralische[n] Motivation«80 heraus auf das Podium. Ingrids Agieren ist von Grund auf uneigennützig und selbstvergessen, es ist im Schiller’schen Sinn moralisch-schön.81 Wie selbstverständlich folgt sie einem aus der Übereinstimmung der Pflicht mit der Neigung entspringenden »spontanen und in seiner Naivität und Aufrichtigkeit verblüffenden Impuls«,82 wenn
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1953«. In: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Text + Kritik. Uwe Johnson. Bd. 65/66. München: Edition Text + Kritik, 2001, S. 50 – 68, hier S. 63. Michael Hofmann: Uwe Johnson. Stuttgart: Reclam, 2001, S. 43. Mecklenburg bezeichnet Ingrids politische Meinungen als »merkwürdig vage« (Norbert Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons. Jahrestage und andere Prosa. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1997, S. 164). Carsten Gansel: »es sei EINFACH NICHT GUT SO«. Uwe Johnsons »Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953«. In: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Text + Kritik. Uwe Johnson. Bd. 65/ 66. München: Edition Text + Kritik, 2001, S. 50 – 68, hier S. 63. Ulrich Krellner : »Was ich im Gedächtnis ertrage«. Untersuchungen zum Erinnerungskonzept von Uwe Johnsons Erzählwerk. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2003, S. 32. Annekatrin Klaus: »Sie haben ein Gedächtnis wie ein Mann, Mrs. Cresspahl!« Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1999, S. 112. Zu Ingrid als schöne Seele vgl. auch Leyla Sedghi: Das Dilemma der Grenze: Zu Uwe Johnsons Frühwerk. Dissertation, LMU München, 2004, S. 24. Für Sedghi geht das Konzept einer schönen Seele hier jedoch verloren. Vgl. ebd., S. 32 f. Ulrich Krellner : »Was ich im Gedächtnis ertrage«. Untersuchungen zum Erinnerungskonzept von Uwe Johnsons Erzählwerk. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2003, S. 41.
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sie ausspricht: »[E]s sei nicht gut so und sie könne dies nicht leiden, es sei EINFACH NICHT GUT SO« (IB: S. 150, Herv. i. O.). Die schöne Seele, die sich mit ihrer naiven unverstellten Aufrichtigkeit gegen die Falschheit dieser Welt stellt, handelt Schillers Ausführungen in Über naive und sentimentalische Dichtung zufolge unter allen Umständen nach dieser moralisch-schönen Empfindung, selbst dann, wenn ihr Tun Nachteile für die eigene Person mit sich bringt (NSD: S. 715, vgl. Abschnitt 4.4 dieser Arbeit). Auch Ingrid ahnt, dass die Kosten-Nutzen-Relation angesichts ihrer bevorstehenden öffentlichen Meinungsäußerung deutlich zu ihren Ungunsten ausfallen wird. Und so kommt es schließlich: Sie gibt mit der Verweisung von der Schule (vgl. IB: S. 185) kurz vor dem Abitur ihre vermeintliche Selbstverwirklichung und ihre Berufschancen auf und wird fortan von der Staatssicherheit beschattet (vgl. IB: S. 210). Mit der Flucht in den Westen verliert sie ihre Heimat, die Nähe der ihr nahestehenden Menschen sowie den Erlebnisraum der mecklenburgischen Landschaft, den sie liebt. Der Westen, das weiß sie, vermag ihr keine neue Heimat zu bieten, sie wird dort fremd sein und bleiben, denn sie wird »umsteigen in jene Lebensweise, die sie [ansieht] für die falsche«.83 Ähnlich dem fünften Wanderer des von Schiller erläuterten Samaritergleichnisses lässt also auch Ingrid ihr persönliches »Bündel« (K: S. 295) mit ihrem Hab und Gut zurück, um die Lasten eines anderen tragen zu können. Auf die Frage »Aber was wird aus Deinem Bündel werden, das du hier auf freier Landstraße zurücklassen mußt?« (K: S. 295) würde wahrscheinlich auch sie antworten: »Das weiß ich nicht und das bekümmert mich nicht […] Ich weiß aber daß Du Hülfe brauchst und daß ich schuldig bin, sie Dir zu geben.« (K: S. 295)
8.1.5 Ingrids Schönheit ist Freiheit in der Erscheinung Schiller definiert das Schöne in den Kallias-Briefen als befreit von einem äußeren Bestimmungsgrund (vgl. Abschnitt 4.1 dieser Arbeit). Wie das Schöne so scheint auch Ingrid keinen äußeren Zwängen und Determinationen ausgesetzt zu sein, sondern ihre eigene Regel in sich zu tragen und damit frei und selbstbestimmt, nur um ihrer selbst Willen als Mensch zu existieren. Die Freiheit oder, wie Schiller auch sagt, das »Nichtvonaußenbestimmtsein« (K: S. 300) des Schönen, manifestiert sich durch eine Haltung der Gleichgültigkeit, Zweck- und Interesselosigkeit. Durch eben diese Zweck- und Teilnahmslosigkeit zeichnet 83 Uwe Johnson: Begleitumstände. Frankfurter Vorlesungen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1986, S. 87; Beate Wunsch: Studien zu Uwe Johnsons früher Erzählung Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953. Frankfurt a. M.: Lang, 1991, S. 154. Vgl. auch Nicola Westphal: Literarische Kartografie: Erzählter Raum in den Romanen Uwe Johnsons. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2007, S. 30.
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sich auch die schöne Ingrid aus: »[I]hr Gesicht […] war ebenmässig und gleichgültig wie je« (IB: S. 99), ihr gesamtes Betragen strahlt »Gleichmut« (IB: S. 30) aus und wirkt »ohne Vorsatz« (IB: S. 228). »Ingrids Stehen und Weitwegsehen« (IB: S. 235) sowie ihre Haltung der Ruhe, die ganz »ohne Eile« (IB: S. 228) ist, erwecken den Eindruck, als sei sie aus der Zeit gerissen, als hätte sie »vergessen wo sie war« (IB: S. 88). Diese gedankliche Abwesenheit und Gleichgültigkeit Ingrids spiegelt sich auch auf der Erzählebene: Das Mädchen wird bevorzugt aus der Außen- und weniger aus der Innenperspektive geschildert,84 so dass man von ihrem Innenleben nicht viel erfährt85 und sie als nahezu unkenntlich, als »nicht fassbar«86 bezeichnet werden kann: »Ingrid […] achtete auf wer weiss was« (IB: S. 136). »Tatsächlich aber denkt sie – Jürgen wusste nicht woran Ingrid tatsächlich vielleicht denken mochte« (IB: S. 20). Am Ende bleibt die Frage zurück: »[W]er war die eigentlich«? (IB: S. 23)
8.1.6 »Wie mit gedankenlosem Wohlwollen«: Die schöne Ingrid und die schöne Kunst Ingrid hat nicht nur zur schönen Natur ein enges Verhältnis, die wie alles sinnliche Schöne die Idee der wahren, höheren Schönheit symbolisiert (vgl. Abschnitt 4.1 dieser Arbeit). Auch mit den schönen Künsten ist sie auf eine besondere Art verbunden, mit der Literatur ebenso wie dem Theater und der Musik. So verweist der »Bücherschrank ihres Vaters« (IB: S. 159) darauf, dass Ingrid aus einer belesenen Familie stammt. Mit ihrer Mutter Katina redet sie »ganze Abende lang […] über die deutsche Literatur der vergangenen Jahrhunderte« (IB: S. 159). Auch in der Schauspielkunst stellt Ingrid ihr Talent unter Beweis und erntet in dem von Klaus in niederdeutsche Sprache übertragenen Schauspiel »›De tweismeten Kruk‹ von Heinrich von Kleist« (IB: S. 166) in der Rolle der Frau Marthe – die in Analogie zu Ingrids Aktion gegen das vom Direktor inszenierte Tribunal vom korrupten Dorfrichter Adam Gerechtigkeit fordert – »wiederholt Beifall auf offener Szene« (IB: S. 166). Eine besondere Liebe aber verbindet das Mädchen mit der Musik – »Ingrid wollte Musikwissenschaften studieren« (IB: S. 168). An einem frühen Morgen, kurz vor der Flucht, lauschen Ingrid und Katina, in Sedenbohms Garten auf Liegestühlen, 84 Annekatrin Klaus: »Sie haben ein Gedächtnis wie ein Mann, Mrs. Cresspahl!« Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1999, S. 97 f. 85 »[N]ur selten wird die Stimme des Subjekts Ingrid Babendererde zu hören […] sein«: Ebd., S. 97, Herv. i. O. 86 Leyla Sedghi: Das Dilemma der Grenze: Zu Uwe Johnsons Frühwerk. Dissertation, LMU München, 2004, S. 24.
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einem »Grosse[n] Konzert« (IB: S. 227), genauer : einem »Brandenburgische[n] Konzert« (IB: S. 227) Johann Sebastian Bachs:87 Das war eine sehr sonderbare Musik, die war so inständig zuversichtlich. Es war für Ingrid als habe diese Musik etwas durchaus Gewisses vor, als gehe sie geduldig immer wieder herum um diesen bestimmten Vorsatz von Heiterkeit, unablässig wissend von der Sicherheit der Ankunft und aufgehoben in lauter Wohlmeinen. (IB: S. 228)
Die Beschreibung lässt auf die Erfahrung eines, am Ende jedoch scheiternden,88 ästhetischen Erlebens des Menschen schließen. Die schöne Musik symbolisiert das Schöne schlechthin, hier findet der Mensch zu »Zuversicht« und »Geduld« zurück, nur hier erlangt er das Gefühl von »Wissen«, »Sicherheit« und »Ankunft« und nur hier kommt er in den Genuss der heilsamen ästhetischen Stimmung des »Wohlmeinens« und der »Heiterkeit«. Ingrid ist nicht nur durch ihre Liebe zur schönen Kunst mit dieser eng verbunden, vielmehr geht von ihr selbst die Wirkung eines schönen Kunstwerks aus. Wie das Schöne bei Schiller mit Wohlwollen und Vergnügen angeschaut wird (AB: S. 528), so genießt es Klaus, das schöne Mädchen »anzusehen« (IB: S. 62) und zu »beobachte[n]« (IB: S. 84). Doch nicht nur er »betrachtete sie ausführlich« (IB: S. 146), sogar fremde Menschen »nahm[en] sich die Zeit sie anzusehen« (IB: S. 9). Wo sie sich auch gerade aufhält – Ingrid zieht Blicke auf sich, sie ist ständig »Gegenstand einer Betrachtung«.89 Mitunter ähnelt Ingrid fast schon einem schönen Gemälde, das man mit Begeisterung und Freude bestaunt, auch löst sie bei ihren Bewunderern ein Gefühl des Wohlgefallens und des Vergnügens aus. Klaus etwa »besichtigte [sie] wie mit gedankenlosem Wohlwollen« (IB: S. 104), er blickt auf sie mit »befriedigter Heiterkeit« (IB: S. 153) oder er »betrachtete belustigt ihren Hinterkopf« (IB: S. 135). Tatsächlich lässt sich nachweisen, dass Ingrid mehrfach als Bild, genauer : als »Schattenbild«,90 inszeniert wird.91 Der Begriff des Schattenbildes lässt zum 87 Norbert Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons. Jahrestage und andere Prosa. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1997, S. 168. Vgl. dazu auch Leyla Sedghi: Das Dilemma der Grenze: Zu Uwe Johnsons Frühwerk. Dissertation, LMU München, 2004, S. 44. 88 Zum Scheitern des Musikerlebnisses vgl. Kap. 8.3.3. dieser Arbeit. 89 Annekatrin Klaus: »Sie haben ein Gedächtnis wie ein Mann, Mrs. Cresspahl!« Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1999, S. 96. 90 Friedrich Schiller : Wallenstein. Ein dramatisches Gedicht. In: Frithjof Stock (Hrsg.): Friedrich Schiller : Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 4. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag, 2000, S. 16. 91 Wunsch stellt fest, jedoch nicht im Kontext der Schiller’schen Ästhetik: »Der Bildbereich Licht – Sonne – Schatten ist für die Personenkennzeichnung [Ingrids, Anm. d. V.] außerordentlich wichtig […]« (Beate Wunsch: Studien zu Uwe Johnsons früher Erzählung Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953. Frankfurt a. M.: Lang, 1991, S. 111 f., Anm. 427). Sedghi wiederum spricht von »Schatten-Entwürfe[n]« (Leyla Sedghi: Das Dilemma der Grenze: Zu Uwe Johnsons Frühwerk. Dissertation, LMU München, 2004, S. 27).
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Einen an eine Form des Theaters – nämlich das Schattenspiel – denken, bei dem eine Lampe die Silhouette des Gegenstandes auf eine Leinwand projiziert.92 Zum anderen verweist das Schatten-Motiv bei Schiller auf das Reich des Schönen und der schönen Kunst: Als Metapher für Schönheit setzt Schiller vielfach den Begriff des ›Schattens‹ ein. Wie das Schöne, so umfasst der Schatten als ambivalentes Phänomen die Pole des Lichts und der Dunkelheit, die »Dialektik zwischen Materiellem und Spirituellem«,93 indem sich in ihm zugleich die »Vergänglichkeit«94 und »Lebendigkeit«95 des Körpers, Geist und Natur offenbaren und zu einer friedlichen Einheit versöhnen. In Schillers Gedicht Das Reich der Schatten (1795) heißt es: Aber der, von Klippen eingeschlossen, Wild und schäumend sich ergossen, Sanft und eben rinnt des Lebens Fluß Durch der Schönheit stille Schattenlande, Und auf seiner Wellen Silberrande Malt Aurora sich und Hesperus. Aufgelöst in zarter Wechselliebe, In der Anmut freiem Bund vereint, Ruhen hier die ausgesöhnten Triebe, Und verschwunden ist der Feind.96
In diesem doppelten Sinn gehört auch Ingrid »der Schönheit Schattenreich«97 an, Johnson setzt seine Protagonistin regelrecht als ein Objekt der »Kunst auf ihrer Schattenbühne«98 in Szene: Ingrid selbst wird zum Gegenstand eines Schattenspiels, indem sich ihr Umriss jeweils vor einer Lichtquelle auf einem dunklen Hintergrund als bewegtes schönes Bild abzeichnet. Sie verkörpert 92 Zum Motiv des Schattens vgl. Heinz Druegh: Schatten. In: Günter Butzer und Joachim Jacob (Hrsg.): Metzler Lexikon literarischer Symbole. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2008, S. 318 – 319. 93 Ebd., S. 318. 94 Ebd., S. 318. 95 Ebd., S. 318. 96 Friedrich Schiller : Das Reich der Schatten. In: Georg Kurscheidt (Hrsg.): Friedrich Schiller : Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 1: Gedichte. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag, 1992, S. 425 – 430, hier S. 428, Herv. d. V. Zum Gedicht Das Reich der Schatten vgl. auch Jürgen Brokoff: Das Reich der Schatten (1795) / Das Ideal und das Leben (1804). In: Matthias Luserke-Jaqui (Hrsg.): Schiller-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2005, S. 267 – 269; Joachim Bernauer: »Schöne Welt, wo bist du?«: Über das Verhältnis von Lyrik und Poetik bei Schiller. Berlin: Erich Schmidt Verlag, 1995, S. 239 f. 97 Friedrich Schiller : Das Reich der Schatten. In: Georg Kurscheidt (Hrsg.): Friedrich Schiller : Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 1: Gedichte. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag, 1992, S. 425 – 430, hier S. 428. 98 Friedrich Schiller : Wallenstein. Ein dramatisches Gedicht. In: Frithjof Stock (Hrsg.): Friedrich Schiller : Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 4. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag, 2000, S. 16.
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somit gewissermaßen ein lebendes Kunstwerk, wie das folgende Zitat deutlich macht: In der Grossen Strasse sprang das Licht von Hausfronten und Fensterglas und Firmenschildern und Papierflächen bis auf die Schattenseite und spiegelte sich dort; über die dunklen Schaufensterscheiben ging das Bild eines Mädchens, das in der Sonne ging und ein Netz leise schwingen liess an seinem Arm. (IB: S. 35)
Auf eine Fläche, hier eine Schaufensterscheibe, wird mittels verschiedener das Licht reflektierender Quellen – Hausfronten, Fensterglas, Firmenschildern und Papierflächen – das schöne Schatten-Bild Ingrids projiziert. Der Begriff des Schaufensters lässt darüber hinaus Assoziationen an eine Theateraufführung zu, stellt doch das Arrangement der Auslage eines häufig mit Vorhang oder Rollladen ausgestatteten Schau-Fensters eine kleine künstlerische Inszenierung dar.99 Auch an einer anderen Stelle des Romans, wenige Stunden vor ihrer Rede auf der Schulversammlung, erscheint Ingrid, im Flur auf dem Fensterbrett sitzend, als die Hauptdarstellerin eines Licht-Spiels: »Die Sonne fiel mächtig über sie hinweg auf den von Fuss-Spuren verschmierten Boden, ihr Schatten war vor ihr. Klaus blieb einige Schritte vor ihr stehen und betrachtete sie ausführlich.« (IB: S. 146) Wie im vorhergehenden Beispiel, so wird auch hier durch das Zusammenspiel einer Lichtquelle, der Sonne, und einer Projektionsfläche, dem Fußboden, die Silhouette der Protagonistin generiert. Die Bedeutung des Schatten-Motivs kann noch ein dritter Textauszug belegen, welcher die Schülerin in ihrem Klassenraum zeigt: »Die Sonne war jetzt so weit dass sie durch das vordere Fenster einen schrägen Streifen hell färbte im grünen Linoleum des Fussbodens. Ingrid sass eben noch im Schatten.« (IB: S. 88) Auch in dieser Situation wirken eine Lichtquelle, die Sonne, und eine Fläche, der Bodenbelag, zusammen. Die Wörter »eben« und »noch« signalisieren, das Mädchen habe, vor ihrem Bühnenauftritt, gerade noch im Schatten gesessen, werde aber im nächsten Augenblick von der Sonne angestrahlt, was die Schlussfolgerung nahelegt, dass sich nun Ingrids Figur auf dem Linoleum abbildet und mit ihrem Spiel beginnt.
99 An anderer Stelle ist vom »schattentiefen […] Schaufenster« (IB: S. 27) die Rede.
Ernst ist das Leben und die Geschichte
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»Dies waren doch Notzeiten«: Ernst ist das Leben und die Geschichte
8.2.1 »Geht uns das was an?« Motive durchscheinender Geschichtlichkeit Der im vorhergehenden Abschnitt geschilderte Eindruck der scheinbaren Freiheit und Harmonie korreliert mit der Hoffnung auf einen die Menschen von den Gräueltaten des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts erlösenden neuen vernünftig-moralischen Staat DDR, eine Sehnsucht, die freilich enttäuscht wird.100 In den Mutmassungen über Jakob heißt es dazu in ironischem Ton: »[N]ach all diesem Schmutz ist unglaublich ein neuer Staat entstanden« (MJ: S. 47). Entgegen dem ersten Anschein offenbart sich der mecklenburgische Schauplatz – mitsamt der Titelfigur Ingrid – also nicht als der naive vorzivilisatorische und geschichtsfreie Raum, für den man ihn anfangs halten mag. Die von Ingrid, Klaus und Jürgen durchlebte Schulzeit gleicht weder »eine[r] Art Himmel auf Erden«,101 einem »verklärte[n] Morgen des Lebens«102 noch kann von einem »intakte[n] Inselreservat«103 gesprochen werden, ebenso wenig von einer »optimistischen Erzählung, die vom Widerspruchsgeist der Jugend«104 handelt. Wie in Abschnitt 8.1.1 bereits angedeutet, übernimmt Johnson Schillers Konzept der naiven Natur nicht kritiklos: Die Natur in Ingrid Babendererde mutet nur naiv an, in ihr findet jedoch Geschichte statt.105 100 Vgl.: »Dem Prinzip Hoffnung folgend wird die Utopie, die im Selbstversprechen des neuen Staats steckt, verteidigt.« (Carsten Gansel: »es sei EINFACH NICHT GUT SO«. Uwe Johnsons »Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953«. In: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Text + Kritik. Uwe Johnson. Bd. 65/66. München: Edition Text + Kritik, 2001, S. 50 – 68, hier S. 66) Siehe auch: »Während die Kinder sich ›befreit von Adolf Hitler‹ (BU 30) fühlten und den verlorenen Krieg als Tatsache begriffen und hinnahmen, waren die Erwachsenen zu dieser Naivität des Erlebens nicht fähig […]« (Beate Wunsch: Studien zu Uwe Johnsons früher Erzählung Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953. Frankfurt a. M.: Lang, 1991, S. 14). 101 Bernd Neumann: Ingrid Babendererde als Ingeborg Holm. Über Uwe Johnsons ersten Roman. In: Colloquia Germanica. Internationale Zeitschrift für germanische Sprach- und Literaturwissenschaft 20 (1987), S. 203 – 212, hier S. 207. 102 Ebd., S. 207. 103 Sibylle Cramer: Verspätete Erzählkunst. Uwe Johnsons Erstling hätte die literarische Welt nicht verändert. In: Nicolai Riedel (Hrsg.): Uwe Johnsons Frühwerk im Spiegel der deutschsprachigen Literaturkritik. Dokumente zur publizistischen Rezeption der Romane »Mutmaßungen über Jakob«, »Das dritte Buch über Achim« und »Ingrid Babendererde«. Bonn: Bouvier Verlag, 1987, S. 237 – 241, hier S. 238. 104 Elisabeth K. Paefgen: Graue Augen, grauer Wind und graue Straßenanzüge. In: JohnsonJahrbuch 8 (2001), S. 63 – 88, hier S. 74. 105 Vgl. Nicola Westphal: Literarische Kartografie: Erzählter Raum in den Romanen Uwe Johnsons. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2007, S. 32 ff. Siehe auch Ulrich Krellner : »Was ich im Gedächtnis ertrage«. Untersuchungen zum Erinnerungskonzept von Uwe Johnsons Erzählwerk. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2003, S. 28; Leyla Sedghi:
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In einigen Ansätzen blickt Johnsons Erstling zurück auf die Zeit des Zweiten Weltkriegs, des »Grossen Krieges« (IB: S. 69), und stellt damit historische Bezüge her zu jenem weltgeschichtlichen Ereignis, das in den Jahrestagen eine bedeutsame Rolle spielt. So sind die Brüder Klaus und Günter ganz persönlich von diesem Abschnitt der Geschichte betroffen, wurden doch »[i]hre Eltern […] von der vorigen Regierung wegen Widerstandes mit Gas vergiftet […]; seit dem waren sie in der Schleuse bei ihrem Onkel Martin Niebuhr« (IB: S. 33). Vor diesem angedeuteten Hintergrund entwickelt sich die im Roman schwerpunktmäßig thematisierte nächste Epoche der DDR-Zeit. Von Beginn an durchziehen – subtil eingestreute, für den aufmerksamen Leser dennoch nicht zu übersehende – Motive der Geschichtlichkeit das vermeintlich heile und unschuldige Naturreich.106 Dem heimatlichen Raum der Natur und der Freundschaft steht ein fremder öffentlicher Raum der Schule und Gesellschaft gegenüber, dies kommt schon durch den ambivalenten Romanbeginn des »Andererseits – Einerseits« (IB: S. 9, S. 11) und die antithetisch angelegte Romanstruktur zum Ausdruck.107 Immer wieder wird das Idyll durchbrochen durch die Einblendung zeitgeschichtlicher Motive.108 Bereits zu Beginn des Romans dringt die Staatsmacht der Deutschen Demokratischen Republik im Gewand eines »lange[n] graue[n] Motorboot[s]« (IB: S. 11) gewaltsam und »in beständiger Eile« (IB: S. 11) in die liebliche Natur-Szenerie ein und stört die Ruhe des Sees und der ihn umgebenden Landschaft:
Das Dilemma der Grenze: Zu Uwe Johnsons Frühwerk. Dissertation, LMU München, 2004, S. 22. 106 Vgl. Rainer Benjamin Hoppe: »Mangelhaft!« Uwe Johnsons Darstellung der DDR-Schule in den Romanen Ingrid Babendererde und Jahrestage (4. Band). In: Johnson-Jahrbuch 1 (1994), S. 190 – 215, hier S. 197. Vgl. auch Nicola Westphal: Literarische Kartografie: Erzählter Raum in den Romanen Uwe Johnsons. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2007, S. 41 ff.; Beate Wunsch: Studien zu Uwe Johnsons früher Erzählung Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953. Frankfurt a. M.: Lang, 1991, S. 149 – 153. 107 Nicola Westphal: Literarische Kartografie: Erzählter Raum in den Romanen Uwe Johnsons. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2007, S. 30 f. Vgl. auch Carsten Gansel: »es sei EINFACH NICHT GUT SO«. Uwe Johnsons »Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953«. In: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Text + Kritik. Uwe Johnson. Bd. 65/66. München: Edition Text + Kritik, 2001, S. 50 – 68, hier S. 58. Zu den Erzählstrategien in Ingrid Babendererde vgl. Katja Leuchtenberger : »Wer erzählt, muss an alles denken«. Erzählstrukturen und Strategien der Leserlenkung in den frühen Romanen Uwe Johnsons. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2003, S. 26 – 44. 108 Den historischen Hintergrund der Romanhandlung erläutern: Beate Wunsch: Studien zu Uwe Johnsons früher Erzählung Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953. Frankfurt a. M.: Lang, 1991, S. 15 f.; Bernd Neumann: Ingrid Babendererde als Ingeborg Holm. Über Uwe Johnsons ersten Roman. In: Colloquia Germanica. Internationale Zeitschrift für germanische Sprach- und Literaturwissenschaft 20 (1987), S. 203 – 212, hier S. 203 f.; Norbert Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons. Jahrestage und andere Prosa. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1997, S. 149 f.
Ernst ist das Leben und die Geschichte
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Durch diese freundliche weitgeschwungene Landschaft zog das Boot seinen ebenmässigen scharfen Lärm auf dem Fluss, die Kielwellen quollen gewaltsam auf und rutschten heftig in das dürre Schilf, das sich hastig vor ihnen verbeugte. Indessen schlugen die Birken auf dem rechten Ufer sich zur Seite (IB: S. 11).
Die scheinbar naive Natur ist also nicht frei von geschichtlichen Determinationen, Adjektive wie »gewaltsam«, »heftig« und »hastig« und die Verben »verbeugten« und »schlugen« deuten die Gewaltsamkeit der äußeren Fremdeinwirkungen an, mit der die Landschaft gestört und am Ende des Romans für Ingrid sogar zerstört wird. Auch wenn diese Motive sehr viel sparsamer eingesetzt sein mögen als in den Jahrestagen, so lassen sich doch schon hier erste Anzeichen eines Geschichtskonzepts ausmachen, das die politisch-gesellschaftlichen Prozesse als erhabene Naturmacht im Schiller’schen Sinn entlarvt und zugleich den Geschichtsbegriff des Hauptwerks Johnsons vorbereitet. Ein expliziter Hinweis darauf, dass es sich bei dem in Ingrid Babendererde dargestellten ländlichen und kleinstädtischen Raum nicht um eine geschichtsfreie Sphäre handelt, signalisiert bereits der Untertitel des Romans Reifeprüfung 1953 durch die Angabe der Jahreszahl – 1953 ist das Jahr von Stalins Tod, das Jahr des Arbeiteraufstandes und der »Kirchenkampf-Kampagne der SED«,109 die in Gestalt der Affäre um die christliche Jugendorganisation Junge Gemeinde Eingang in den Roman findet.110 Ebenso finden sich im Text viele Anspielungen auf die Fluchtwelle, wie sie sich zu Beginn der 1950er Jahre in der DDR zugetragen hat. So beschlagnahmen bereits vor Beginn der Handlung Polizei und Finanzamt einen verlassenen Hof, dessen Besitzer »vor Pfingsten nach Berlin gefahren und inzwischen nicht zurückgekommen« (IB: S. 13) ist. Auch einige Schüler der Gustav Adolf-Oberschule, beispielsweise Jochen Schmidt, fliehen, »weil ihnen die Demokratische Republik nicht länger gefiel« (IB: S. 164, vgl. S. 121), und am Ende des Romans verlassen Ingrid, Klaus und die als Mitglied der Jungen Gemeinde diffamierte Mitschülerin Elisabeth Rehfelde gleichermaßen das Land (IB: S. 201 f.). Mehrfach wird die Überwachung durch die Staatssicherheit angedeutet (IB: S. 231, S. 210), in deren Fokus auch Ingrid nach ihrer Rede auf der Schulversammlung gerät (IB: S. 205 ff.) und welche die Bewohner der Stadt zu besonderer Vorsicht veranlasst (IB: S. 36):
109 Reinhard Baumgart: Sonne, See und Sozialismus. Uwe Johnsons erster Rom »Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953«. In: Nicolai Riedel (Hrsg.): Uwe Johnsons Frühwerk im Spiegel der deutschsprachigen Literaturkritik. Dokumente zur publizistischen Rezeption der Romane »Mutmaßungen über Jakob«, »Das dritte Buch über Achim« und »Ingrid Babendererde«. Bonn: Bouvier Verlag, 1987, S. 191 – 195, hier S. 193. 110 Die geschichtlichen Ereignisse des Jahres 1953 nennt ebd., S. 192 f.
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Und vor dem Finanzamt hatten zwei Herren gestanden, die redeten aber nicht mehr miteinander, als Ingrid vorüberkam; erst nach vorsichtiger Rundschau ergänzten sie ihr leises und heftiges Gespräch. […] [D]ie Leute redeten hier auf eine langsame und spöttisch-freundliche Weise, aber unter Umständen standen sie gesprächig vor dem Finanzamt und verglichen die Uhrzeit, wenn ihnen jemand zu nahekam. (IB: S. 36)
Der Schulalltag ist systematisch durchzogen von parteipropagandistischer Indoktrination und Repression gegen Andersdenkende, wie etwa die allgegenwärtige Präsenz von Spruchbändern (IB: S. 24, S. 102) und die Unterrichtsstunden bei Direktor Siebmann (IB: S. 86 ff.) oder Frau Behrens (IB: S. 95 ff.) deutlich zeigen.111 Alle in den Roman eingewobenen Geschichtsmotive, für welche die hier ausgewählten Beispiele exemplarisch stehen mögen, laufen der scheinbar zeitlosen Natur und schönen Daseinsweise Ingrids entgegen, sie sind im Gegenteil ein »Zeichen dass die Zeit nicht stehen bleibe« (IB: S. 16). In der Welt der Erscheinungen gibt es Schiller zufolge keine Autonomie, alles dort ist in Wahrheit regelgeleitet und determiniert (K: 289). Das gilt entsprechend für Ingrid Babendererde: Die folgenden auf eine Schulstunde mit schriftlicher Lateinprüfung bezogenen Worte »[d]ies waren doch Notzeiten« (IB: S. 132), in denen die »Gebote der Selbsterhaltung völlig gerechtfertigt« (IB: S. 132) seien, lassen sich im doppeldeutigen Sinn auf die geschichtlichen Vorfälle anwenden, die sich um die Schüler herum ereignen. Wie in der Lateinprüfung, so handelt man in der Geschichte »nicht freiwillig und als Sport sondern sozusagen unter dem Drucke zwingender Umstände« (IB: S. 132).112 Eben dieser äußerlichen Determination und Unfreiheit unterliegt auch die schöne Ingrid, die den Eindruck erweckt, aus keinem anderen Zweck zu existieren als dem, einfach nur sie selbst zu sein. Sie lebt jedoch nicht wirklich frei und unabhängig von äußeren Zwecken und Regeln, sondern es scheint nur so. Es sei daran erinnert, dass die Schönheitsdefinition aus den Kallias-Briefen nicht »Schönheit ist Freiheit« lautet, sondern: »Schönheit ist Freiheit in der Erscheinung« (K: S. 285). Im Moment der Schönheit wird von äußeren Zwecken lediglich abgesehen und auch Ingrid negiert die tatsächlich vorhandene Heteronomie um sich herum, indem sie Geschichte ausblendet und sich soweit wie möglich aus allem Politischen herauszuhalten bemüht. So entzieht sie sich der Partei-Propaganda, die ihr in der Öffentlichkeit allerorts begegnet: »In aller 111 Zu Schule und Unterricht vgl. auch Nicola Westphal: Literarische Kartografie: Erzählter Raum in den Romanen Uwe Johnsons. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2007, S. 39, S. 48. 112 Wunsch hat im Zusammenhang mit einer anderen Textstelle (IB: S. 132 f.) deutlich gemacht, dass »›[d]iese Umstände‹ […] nicht nur die nahe bevorstehenden Abiturprüfungen [sind], sondern auch die politische Situation.« (Beate Wunsch: Studien zu Uwe Johnsons früher Erzählung Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953. Frankfurt a. M.: Lang, 1991, S. 126)
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Vergesslichkeit blieb Ingrid einmal stehen und las von Anfang bis Ende etwas von notwendigem Misstrauen gegen innere Feinde aller Art; aber dann […] fiel ihr ein es gebe noch andere Arten die Abfahrt des Dampfers zu erwarten.« (IB: S. 36) Auch in den aufkeimenden Konflikt um die Junge Gemeinde – Elisabeth Rehfelde wirft dem Mitschüler und ersten Vorsitzenden der Freien Deutschen Jugend Dieter Seevken ihr Mitgliedsbuch vor die Füße (vgl. IB: S. 53 ff., S. 59) – will Ingrid sich anfangs nicht involvieren lassen. Sie versucht sich und Klaus vorschnell zu verabschieden – »Sollen wir gehen?« (IB: S. 84) –, als ein ernsthaftes Gespräch zwischen Jürgen und Elisabeth Rehfelde über den Vorfall zu entstehen droht, das Ingrid dann mit »angestrengte[r] Anteilnahme« (IB: S. 84) verfolgt. Später möchte Jürgen mit den Freunden über die christliche Jugendorganisation und ihre Thematisierung in Siebmanns Unterricht diskutieren, Ingrid und Klaus reagieren jedoch abermals desinteressiert – »in der stillschweigenden Übereinkunft: dies zu besprechen sei nicht von Nöten« (IB: S. 106). Ebenso sind ihre »unerledigten Schularbeiten« (IB: S. 58), ihr Geständnis, »sie sei für den Unterricht heute nicht vorbereitet« (IB: S. 153) und ihre Unaufmerksamkeit in der Schule – »Sie sass überhaupt da, als höre sie gar nichts, sie hatte ihren Arm auf dem Fensterbrett liegen und sah wohl immerzu auf den Domplatz« (IB: S. 18) – Anzeichen dafür, dass sie dem indoktrinativ aufbereiteten Schulstoff zu entgehen sucht.113 Besonders deutlich wird die Entfernung von Geschichte bei einem Arbeitstreffen Ingrids mit Klaus und Jürgen. Nicht zufällig handelt es sich um das Fach Geschichte – genauer : um die »jüngere osteuropäische Geschichte« (IB: S. 103), um ihre Epoche also –, die zu besprechen sie durch die äußeren Umstände des nahenden Abiturs gezwungen sind: Sie hatten da vorgesehen ›endlich mal Geschichte wiederholen‹ zu wollen, der Plan erwies sich deutlich als unpassend für die gegenwärtigen Umstände. Es war durchaus nicht sicher ob dies darauf hinaus wollte die jüngere osteuropäische Geschichte zu verarbeiten oder worauf überhaupt. (IB: S. 103)
Dabei verwundert nicht, dass bezeichnenderweise der geschichtsinteressierte Jürgen »von den Hauptsachen redete« (IB: S. 105), während Klaus und Ingrid der Konfrontation mit ihrer Geschichte ausweichen und allenfalls »die Nebensachen [ergänzten]« (IB: S. 105) oder über einige historische Vorgänge gar nicht mehr recht im Bilde sind: »[B]eim Kriegskommunismus stürzte Ingrid sich aufgeregt auf ein Heft hinter Jürgen, sie habe das alles nicht mehr gegenwärtig: rief sie schreckensbleich« (IB: S. 105). Die für Ingrid so typische Haltung der Gleichgültigkeit und Interesselosigkeit bezeugt somit nicht die tatsächliche Abwesenheit von geschichtlichen Zwecken und Zwängen, sondern lediglich 113 Vgl.: »Sie war vor vier Jahren auf die Oberschule gekommen ohne sich viel dabei zu denken.« (IB: S. 153)
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deren Ausblenden, woraus eine Haltung des Sich-nicht-verantwortlich-Fühlens resultiert: »Geht uns das was an? Das geht uns gar nichts an.« (IB: S. 213)114 Ignoriert wird eine »Gefahr, an der man nicht teilzunehmen brauchte: gleichwohl aber hätte teilnehmen können.« (IB: S. 140)
8.2.2 »Der Mensch soll nur mit der Schönheit spielen«: Spiel nicht mit der Geschichte Wie das Konzept des Naiven, Schönen und Anmutigen, so findet auch Schillers Spielgedanke – jedoch in pervertierter Form – Eingang in Ingrid Babendererde. Schiller zufolge bezeichnet der Begriff des Spiels die Empfindung der Harmonie und Leichtigkeit sowie der Losgelöstheit von materiellen und vernünftigen Determinationen im Augenblick erfahrener Schönheit. Der Mensch soll, Schiller hat es in den ästhetischen Briefen deutlich ausgesprochen, »nur mit der Schönheit spielen« (ÄE: S. 614). Ingrid – und in ihrer Gefolgschaft Klaus und einige ihrer Mitschüler – spielen aber mit der Geschichte und vermischen somit jene Sphären des Schönen und der Realität, die nach Schiller streng getrennt bleiben müssen (vgl. Abschnitt 4.3 dieser Arbeit). Insbesondere Ingrid und Klaus pflegen eine spielerische Sicht auf die Geschichte und suchen auf diese Weise, den Ernst der Wirklichkeit zu über-spielen. So lässt sich das im letzten Abschnitt erwähnte Arbeitstreffen der Freunde, das der Wiederholung des Geschichtsstoffs dienen soll, nur mit »spöttische[m] Durchzug« (IB: S. 105) und in Form eines durch Ingrid initiierten Rollen-Spiels ertragen. Um die eigene Person vor unschönen Tatsachen der Geschichte zu schützen, schlüpfen die Schüler in die distanzbewahrenden Rollen von »Referenten« (IB: S. 105), welche über die zu behandelnden historischen Themen mit »würdigen Worten« (IB: S. 105) »eine Rede reden« (IB: S. 105). Nur so sind sie also »in der Lage zu besprechen was man von ihnen würde wissen wollen über die sowjetische Geschichte« (IB: S. 105). Ähnlich rollenhaft erscheint Ingrid auch, als sich nach einer Unterrichtsstunde eine Diskussion über den Klassenkampf anzubahnen beginnt: »Ingrid strich begütigend entlang an seinem [Jürgens, Anm. d. V.] Ärmel und versicherte ihm in ähnlich tantenhafter Art: Nu brauchs dich nicht mehr ssu ä-gin, der Klassenkampf hat heut schon eine Minute vor eins aufgehööt..!« (IB: S. 25) Im Unterricht begegnet Ingrid der durch Siebmann verkörperten Staatsgesinnung mit spielerischer Heiterkeit und betrachtet ihn zuweilen, als biete er Grund zu Amüsement und Erheiterung: »Ohne Ende belustigt betrachtete sie den Pius« (IB: S. 91). Sie lacht über Klaus, der mit »direktorhaften ernstlichen 114 Vgl.: »Und Pius – musst dich gar nicht um kümmern.« (IB: S. 234)
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Mienen« (IB: S. 91) Siebmanns großspuriges Gebaren imitiert und ist ebenso »belustigt« (IB: S. 86) über die »andächtige Ehrerbietung« (IB: S. 86), mit der Marianne den Unterricht verfolgt (IB: S. 86). Mit einem an das Kinderspiel der Schüler-Post gemahnenden fliegenden Zettelaustausch zwischen ihr und Klaus will Ingrid den gerade über die aktuelle politische Situation in der 12 A sprechenden Direktor provozieren und »[fordert] ihn blickweise spöttisch auf[]: Hol dir doch den Zettel, Pius« (IB: S. 90). Auch auf privatem Feld setzt die Protagonistin ihren Spieltrieb ein: Als Katina mit ihr nach der Schule über den sich anbahnenden Konflikt um die Junge Gemeinde zu reden wünscht, sucht Ingrid ihre Mutter mit der Aufforderung »Ich lach nich zuerst« (IB: S. 30) in einen Wettbewerb zu verwickeln, der an das Kinderspiel ›Wer zuerst lacht‹ erinnert, um ein ernsthaftes Gespräch abzuwenden. Weiterhin kommt die Haltung, Geschichte als etwas Scherzhaftes, nicht ernst zu Nehmendes zu betrachten, zumindest parodistisch zu verarbeiten und damit zugleich zu verharmlosen, durch die Vergabe von »Spitznamen« (IB: S. 74) zum Ausdruck, einem Spiel, das Ingrid – zumindest bei Siebmann (IB: S. 92), Sedenbohm (IB: S. 77) und Katina (IB: S. 30) – initiiert. Die Klassenkameradin Reventlow, »Söten« (IB: S. 75) genannt, bekommt »diesen Namen auch von dem Spott und dem Wohlwollen der 12 A« (IB: S. 75), Helga Perkies ist »Pummelchen« (IB: S. 74, S. 96) und Günter Bormann, obwohl »gar nicht so besonders dick« (IB: S. 73), »Dicken Bormann« (IB: S. 73). Neben dem Schüler »Itsche« (IB: S. 158, S. 166) gibt es noch »Klacks« (IB: S. 73), der so heißt, weil er »Klacks!« […] gesagt [hatte], als sein Füllfederhalter auf den Boden der neunten Klasse fiel« (IB: S. 73). Besonders die Lehrer erhalten lustige, sie karikierende Namen: Direktor Robert Siebmann wird ironisch wegen seiner Partei-Frömmigkeit mit »Pius«, die ebenso linientreue Deutschlehrerin Sandra Behrens mit »Das Blonde Gift« (IB: S. 97) tituliert und »Ähnst hiess eigentlich Herr Dr. Ernst Kollmorgen« (IB: S. 16). Den geschätzten Englischlehrer Ernst Sedenbohm nennen die Schüler »Sir Ernest« (IB: S. 77) und aus Dr. Krantz wird »Blumenkranz« (IB: S. 214). Auch Ingrids Mutter, deren wahrer Name nie genannt wird, heißt in Wirklichkeit nicht »Katina« (IB: S. 30), sondern wird von Ingrid nur so genannt (IB: S. 30). Die heiter anmutenden Spottbezeichnungen verleihen Lehrern und Schülern zugleich spielerische, masken- und rollenhafte Züge, sie erscheinen gewissermaßen wie Kunstfiguren, die eine lustige Rolle spielen. Die Lebensläufe dieser Personen sind hingegen alles andere als komisch. Im Gegenteil, die Spitznamen vertuschen vielmehr die geschichtliche Identität und den Ernst des Lebens: Von Dicken Bormann war insgeheim bekannt, »dass seine Mutter sehr krank war und dass er beinahe hätte zum Geldverdienen abgehen müssen; er arbeitete nebenher in einer Bäckerei« (IB: S. 164 f.). Auch Söten muss neben der Vorbereitung auf das Abitur in der Bäckerei ihres Vaters aushelfen, was Ingrid und ihre
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Mitschüler aber zu übersehen bemüht sind, indem »keiner mehr aus ihrer Klasse Brot bei Reventlow […] kauf[te], seitdem sie da in weisser Schürze hinter dem Ladentisch stand« (IB: S. 165). Ebensowenig möchte man über das Leben Eva Maus, obwohl sie keinen Spitznamen hat, zu genau Bescheid wissen: »[W]enn aber Eva abends [in der Gaststätte ihres Vaters, Anm. d. V.] bediente, gingen sie nicht hin.« (IB: S. 165) Itsche wiederum sieht sich genötigt, den Schulbesuch gegen den Willen seines Vaters durchzusetzen und außerdem muss auch er »viel arbeiten in den Ferien« (IB: S. 165). Klacks schließlich hat seine Heimat verloren, er »war nach dem Krieg aus Ostpreussen dazu gekommen« (IB: S. 164). Die Lehrer Ähnst Kollmorgen und Sir Ernest Sedenbohm sind schon aufgrund ihres gemeinsamen Vornamens ›Ernst‹ der ernsten Seite des Lebens zuzurechnen. Der einstige Direktor der Oberschule Sedenbohm (IB: S. 160) hat, ganz entgegen seinem adelig anmutenden und Entscheidungsbefugnis suggerierenden Spitznamen ›Sir Ernest‹ nichts mehr zu sagen. Seiner von der öffentlichen Meinung abweichenden Gesinnung wegen ist er des Amtes enthoben und durch Siebmann ersetzt worden (IB: S. 159) und rechnet überdies damit, »[e]ines Tages […] mental reservations halber« (IB: S. 82) in den Ruhestand versetzt zu werden. Dr. Kollmorgen hat wegen ihrer Mitgliedschaft in der angefeindeten Jungen Gemeinde (vgl. IB: S. 27) »zu denken an die Zukunft seiner unmündigen Tochter« (IB: S. 144). Dr. Krantz schließlich ist mit Ingrids Worten »ein bedauernswerter achtbarer Herr mit einem eingesperrten Sohn« (IB: S. 150). Hinter der scheinbar lächerlichen Figur des Pius verbirgt sich in Wirklichkeit der machthungrige und zuweilen gefährliche Parteifunktionär Robert Siebmann, »dessen Name bereits das Programm für die stalinistische Säuberung«,115 des »Aussiebens« also, andeutet. Wie Siebmann so ist auch das »Blonde Gift« Sandra Behrens eine linientreue Lehrerin, wegen der Katina, deren Mann bei einem Segelunfall ums Leben kam (IB: S. 56) und die ihre Tochter Ingrid an den Westen verlieren wird, genötigt war, ihren Beruf als Lehrerin aufzugeben. In auffallender Weise verdichtet sich die Metaphorik des Spiels um die Figur von Ingrids Freund Klaus. Charakteristisch für ihn ist sein scheinbar unernster Umgang mit allem Geschichtlichen.116 Klaus pflegt jedoch keinesfalls ein spielerisches Weltverhältnis im Schiller’schen Sinn, sein ironisches und zuweilen schon sarkastische Formen annehmendes Verhalten hat mit Schillers Spielver115 Ulrich Krellner : »Was ich im Gedächtnis ertrage«. Untersuchungen zum Erinnerungskonzept von Uwe Johnsons Erzählwerk. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2003, S. 31. 116 Vgl.: »›Spott‹ ist denn auch dasjenige Wort, das Klausens Haltung zur Welt am treffendsten faßt […]« (Annekatrin Klaus: »Sie haben ein Gedächtnis wie ein Mann, Mrs. Cresspahl!« Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1999, S. 94). Zum Spiel mit der Geschichte, jedoch nicht im Schiller’schen Sinn, vgl. Beate Wunsch: Studien zu Uwe Johnsons früher Erzählung Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953. Frankfurt a. M.: Lang, 1991, S. 150 f.
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ständnis nichts gemein. Vielmehr versucht er, Geschichte ins Lächerliche und Satirische zu ziehen.117 Damit aber macht er gerade die Sorge und Entfremdung, den Zwang und die Fremdbestimmung – all jene Eigenschaften der ernsten geschichtlichen Sphäre also, die doch gerade vom Reich des Spiels und der Schönheit streng geschieden sein sollen – zum Gegenstand einer unterhaltsamen Performance. Er verwandelt das Spiel in eine sarkastisch-ironische Form des Protests,118 um seinem Unmut über die bestehende gesellschaftliche und schulpolitische Lage Ausdruck zu verleihen und seine eigene Person vor der Realität zu schützen.119 So schlüpft Klaus im Unterricht bei Siebmann in eine Rolle, er gibt eine heitere Vorstellung von sich selbst als dem »Schüler Niebuhr« (IB: S. 170): Dem Schüler Niebuhr war bemerklich geworden dass er der Schüler Niebuhr war, sobald er in der rechten Fensterecke sass; er hielt es für ein heiteres Spiel dem Herrn Direktor den Schüler Niebuhr vorzustellen, den Herr Direktor sich vorstellte, obwohl es den Schüler nicht gab. (IB: S. 170)
Mit seiner Rollenaufführung des »Schülers Niebuhr« wendet Klaus die ernste Wirklichkeit und den indoktrinierenden Unterricht in ein vermeintlich heiteres Spiel. Er erzeugt eine Illusion, ein Trugbild seiner selbst, um auf komödienhaft überzeichnete Weise darzubieten, welches Verhalten von einem linientreuen Schüler und Nachwuchs des sozialistischen Systems der DDR erwartet wird. Zugleich nimmt er durch sein rollenhaftes Auftreten am Unterricht nur zum Schein teil und entzieht sich damit den parteipolitischen Auseinandersetzungen. Umgekehrt betrachtet Klaus die Lehrerschaft, allen voran Direktor Siebmann, als Hauptdarsteller einer grotesken Präsentation und eignet sich dessen ›Rolle‹ zuweilen selbst an, indem er mit »direktorhaften ernstlichen Mienen« (IB: S. 91) Siebmanns Gesichtszüge karikierend abbildet oder seine Sprechweise auf komödiantische Weise vor den Mitschülern inszeniert, wenn er sich »vor den Lehrertisch [stellt]« (IB: S. 75) und »als ein Jugendfreund Vorsitzender [redet]: Lieben Freunde: sagte er mit Erschütterung und Genugtuung« (IB: S. 75). Diese Standardnummer seines Programms führt er auch seinem Bruder vor: 117 Klaus’ spöttische Sicht auf die Welt betonen auch: Annekatrin Klaus: »Sie haben ein Gedächtnis wie ein Mann, Mrs. Cresspahl!« Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1999, S. 95, S. 103; Carsten Gansel: »es sei EINFACH NICHT GUT SO«. Uwe Johnsons »Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953«. In: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Text + Kritik. Uwe Johnson. Bd. 65/66. München: Edition Text + Kritik, 2001, S. 50 – 68, hier S. 63; Beate Wunsch: Studien zu Uwe Johnsons früher Erzählung Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953. Frankfurt a. M.: Lang, 1991, S. 103 f. 118 Zur »permanenten Widerspruchshaltung von Klaus« vgl. Carsten Gansel: »es sei EINFACH NICHT GUT SO«. Uwe Johnsons »Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953«. In: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Text + Kritik. Uwe Johnson. Bd. 65/66. München: Edition Text + Kritik, 2001, S. 50 – 68, hier S. 63. 119 Gansel spricht von einer »Art spielerischer Abwehr« (ebd., S. 63).
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Ich kann mir überhaupt vorstellen: sagte Klaus lehrerhaft, und in seinem Gesicht veränderte sich vieles ganz erstaunlich, er sprach unwiderruflich und Günter war begeistert von solcher Art; dies Gesicht hatte Pius, wenn er redete als Direktor der Oberschule: er könne sich überhaupt vorstellen (sagte Klaus:) dass das klügste Kind ein solches sei. Begreifen Sie. Das etwas wisse. Und nur nicht sagen könne. Wegen Hemmungen! Begreifen Sie! – Ja-u, das versteh ich, Herr Direktor: sprach Günther. Sie befanden sich beide sehr wohl in ihrem einmütigen Grinsen. (IB: S. 32 f.)
Durch eine solche Siebmanns Sprache verhöhnende Darbietung nimmt Klaus der in Wahrheit bedrohlichen Position des Direktors ihren Ernst und entrückt sie in den Bereich unbefangener Erheiterung. Damit überschreitet er die Grenze vom Reich des Spiels zu jenem der Geschichte und vermischt zwei Sphären, die nicht zusammengehören. Auch im Englischunterricht bei Sedenbohm nimmt Klaus eine vordergründig spielerische Haltung ein, um seine Ablehnung gegen die von Siebmann ausgehende Diffamierung der Jungen Gemeinde zu bekunden. Er nutzt den Unterrichtsstoff – »Im England Shakespeares war vorhanden eine gewisse Rivalität zwischen der Aristokratie und den anderen, der neuen Klasse, der bürgerlichen« (IB: S. 77) – um an den aktuellen schulpolitischen Konflikt anzuknüpfen. Klaus kommt von »diesem Klassenkampf« (IB: S. 77) im Elisabethanischen Zeitalter zum gegenwärtigen Klassenkampf zu sprechen, von Elisabeth, der Königin von England, zu Elisabeth Rehfelde, einem der angegriffenen Mitglieder der Jungen Gemeinde, vom Theater der Shakespeare-Zeit zum zeitgenössischen ›Theater‹ um die Junge Gemeinde, das Siebmann im Rahmen seiner Schulpolitik aufführt. Dies tut er jedoch nicht offen und ernsthaft, sondern versteckt seinen Protest wiederum in einer Inszenierung:120 Meine Meinung über Elisabeth ist eine vorzügliche. […] Meine Meinung ist darum eine solche wie sie ist: indem es das Theater, die Schau-Stellung ist, um die es geht –: Meine Damen und Herren sprach Klaus mit vornehmem Handschwenken, das eben das Sir Ernests war : Elisabeth die Königin und Erste Bürgerin von England sah gern so etwas, und dass der Magistrat die Vorstellung genehmigen musste […] Diese Puritaner. Sie genehmigten sie nicht, denn sie waren die bürgerliche Klasse: sprach Klaus verbissen und verächtlich und mit Pius’ Unwiderruflichkeit. […] Sie waren bürgerlich und hielten sich an die Bibel, die verbietet nämlich Theater […] Sie sagten das alles aber 120 Vgl.: »Bei den Auseinandersetzungen um die Junge Gemeinde nimmt er [Klaus, Anm. d. V.] nicht direkt Stellung, sondern schleust seine subversiven Plädoyers für Elisabeth Rehfelde und gegen orthodoxe Klassikerverherrlichung in provokant-hintergründige Dispute im Englisch- und Deutschunterricht ein. […] Wegen seiner Intellektualität kann er zunächst nicht an die Ernsthaftigkeit dessen glauben, was da abläuft. Seine Reaktionen stellen daher eine Art spielerischer Abwehr dar.« (Carsten Gansel: »es sei EINFACH NICHT GUT SO«. Uwe Johnsons »Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953«. In: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Text + Kritik. Uwe Johnson. Bd. 65/66. München: Edition Text + Kritik, 2001, S. 50 – 68, hier S. 62 f.)
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nicht, sie erklärten heuchlerisch: Theater sei feuergefährlich, und solche MenschenAnsammlung begünstige die Pestilenz … sie verschwiegen ihre biblischen – what’s the English for ›Hintergedanken‹? […] Sehen Sie, dies tat der Königin leid. Als aber nun (das war später) die proletarische Klasse in das Rathaus kam, wusste sie lange Zeit nicht was sie machen sollte mit der bürgerlichen. Aber endlich sagte sie: Elisabeth habe in Wirklichkeit eine Bombe in ihrer Bibel, das sagten sie, und dachten an den Klassenkampf: da hatte sie genug, sie warf das Dokument ihrer Mitgliedschaft in der Freien Deutschen Jugend auf den Boden und rief: wenn eben nur eines sein solle, dann nicht dies […] Elisabeth meinte nur was sie gesagt hatte, und darum kann man nicht umhin vorzüglich zu denken über die Königin Elisabeth von England, oder kann man? (IB: S. 78 ff.)121
Klaus offenbart seinen Protest gegen das System in schau-spielerischer und theatralischer Manier. Seine fast schon künstlerisch anmutende Rede, Annekatrin Klaus spricht von einem »rhetorische[n] Feuerwerk«,122 ist in den Rahmen einer »Veranstaltung« (IB: S. 79) eingebettet. Er »erh[ebt] sich« (IB: S. 78), obwohl man in der zwölften Klasse beim Reden sitzen bleibt (vgl. IB: S. 80), und spricht sein Publikum – »[i]nzwischen hatte man sich von allen Seiten dem festlichen Zwischenfall zugewendet« (IB: S. 78) – feierlich mit »Meine Damen und Herren« (IB: S. 79) an. Mit theatralisch-überzogenen Gesten mimt er zuerst mit »vornehme[m] Handschwenken« (IB: S. 79) Sedenbohms Gestikulation, dann imitiert er, »verbissen und verächtlich und mit Pius’ Unwiderruflichkeit« (IB: S. 79) sprechend, Siebmanns Tonfall und Gebärden. Der auf diese Darbietung folgende Schlagabtausch zwischen Klaus und Jürgen, welcher die Gegenposition wütend »in ungeschicktem Englisch« (IB: S. 80) zu formulieren versucht, wird von Klaus »neben dem Spaß an seiner Rede« (IB: S. 80 f.) wegen der Auseinandersetzung mit dem Freund in einer fremden Sprache vor dem Forum der Klasse als »albern« (IB: S. 80) und »komisch« (IB: S. 81) empfunden. Klaus’ kabarettistische Präsentation des geschichtlichen Ernstes und seine Umdeutung in ein scheinbar heiteres Spiel zeigen ihm jedoch, dass dadurch der Ernst des Lebens nicht kleiner und leichter wird und dass seine komödiantischen Proteste in einem despotischen System nichts zu verändern vermögen.123 Im Verlauf des Romans bemerkt Klaus, dass seine Methode in der Geschichte nichts bewirkt, im Gegenteil, sein Spiel droht zu scheitern. Am Ende des Romans legt er mit seinem
121 Nach Annekatrin Klaus handelt es sich hier um »ein[en] nur indirekt zu erschließende[n] Protest, der im Ästhetischen verpufft und ohne Wirkung bleibt […]« (Annekatrin Klaus: »Sie haben ein Gedächtnis wie ein Mann, Mrs. Cresspahl!« Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1999, S. 104). 122 Ebd., S. 104. 123 Zur »Wirkungslosigkeit der Niebuhrschen Haltung« vgl. Annekatrin Klaus: »Sie haben ein Gedächtnis wie ein Mann, Mrs. Cresspahl!« Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1999, S. 104.
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Austritt aus der Schule dieses spielerische Verhalten ab und vertauscht es gegen ein tatkräftiges (IB: S. 246).124
8.2.3 »Gewisser Massen machte es ihm nicht viel Freude«: Klaus’ affektierte Anmut Wie Ingrid scheint auch Klaus auf den ersten Blick dem Reich der Heiterkeit und des anmutigen Spotts anzugehören. Auch er »lächelte dann und wann besonders« (IB: S. 145) oder »lachte […] leise in sich hinein« (IB: S. 27), »während seine Augen zurückhaltenden Spott ausgaben nach allen Seiten« (IB: S. 18). Nahezu durchgängig ist er am Lachen, Grinsen und Spotten. Seine Heiterkeit kommt in allen Schattierungen zum Ausdruck – als »Begeisterung« (IB: S. 18), »begütigendes Grinsen« (IB: S. 149), »stille ungebärdige Heiterkeit« (IB: S. 18) oder als »wohlwollend spöttisches Dahocken« (IB: S. 25).125 Doch obwohl Klaus in seiner Mimik und Körpersprache der Anmut ähnliche Bewegungen zeigt, offenbaren sich bei näherem Hinsehen gravierende Unterschiede zwischen der »belebenden« (AW: S. 331) Anmut Ingrids und Klaus’ vordergründig heiterer und spöttischer Haltung: Im Gegensatz zu Ingrids anfänglich zumindest noch aufrichtigem Frohsinn stellt sich Klaus’ Vergnügtheit von vornherein als nicht authentisch heraus. Wie bereits erörtert, ist wahre Anmut in der Definition Schillers nur dann gegeben, wenn die gelösten Bewegungen, etwa eines Lächelns, unmittelbarer und unwillkürlicher Ausdruck der inneren freien und schönen Empfindung sind. Während Ingrids leichte und fließende Gebärden ihr harmonisches seelisches Wesen widerspiegeln, ist Klaus’ Heiterkeit nicht das Resultat eines spielerischen Gleichgewichts von Natur- und Vernunfttrieb. Bei ihm macht sich im Gegenteil eine Diskrepanz zwischen Körperausdruck und Empfindung sowie zwischen willkürlichen und unwillkürlichen Bewegungen bemerkbar. Klaus’ Gesichtszüge, die Heiterkeit und Gelassenheit signalisieren möchten, entsprechen also nicht einer ausgeglichenen frohgestimmten Gefühlslage: »An seinem Lächeln sahst du dass er seine Hinterhalte und Fraglichkeiten kaum 124 Zu Klaus’ Wandlung siehe Ulrich Krellner : »Was ich im Gedächtnis ertrage«. Untersuchungen zum Erinnerungskonzept von Uwe Johnsons Erzählwerk. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2003, S. 41, S. 34; Annekatrin Klaus: »Sie haben ein Gedächtnis wie ein Mann, Mrs. Cresspahl!« Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1999, S. 100 – 105. Zur Figur des Klaus vgl. weiterhin Leyla Sedghi: Das Dilemma der Grenze: Zu Uwe Johnsons Frühwerk. Dissertation, LMU München, 2004, S. 39 ff.; Michael Hofmann: Uwe Johnson. Stuttgart: Reclam, 2001, S. 43 ff. 125 Vgl. auch: »Klaus lachte leise auf mit dem selben unaufmerksamen Spott« (IB: S. 34); »er lächelte vorsichtig und aufrichtig: dies war sehr komisch« (IB: S. 17); »Klaus grinste höflich zurück« (IB: S. 26); »Er lachte unbändig in seinem Hals« (IB: S. 45).
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vergass« (IB: S. 152). Sein »sorgenvolle[s] Grinsen« (IB: S. 25) hat nichts mit dem anmutigen Lächeln der wahren Grazie zu tun und birgt in sich schon einen Widerspruch. Sein Gleichgültigkeit zu signalisieren bestrebtes »Achselzucken war auch nicht so freiwillig« (IB: S. 186). Häufig grinst er, obwohl er nicht heiter und sein Gesicht in Wahrheit »gar nicht spöttisch« (IB: S. 60), sondern »nachdenklich« (IB: S. 60) blickt. So verzieht Klaus den Mund zu einem Grinsen, das wohl eher einer Grimasse als einem Lächeln gleichen dürfte, als die über seine ironisch-anmaßende Äußerung verärgerte Ingrid seinen Freund Jürgen küsst (vgl. IB: S. 108). Die sich daraufhin abzeichnende Verstimmtheit zwischen dem Paar bietet für Klaus gewiss keinen Anlass zur Heiterkeit, doch er »griente darüber dass die Uneinigkeit anfing derart auszusehen« (IB: S. 109). Noch beim Abschied und nach einem die Spannung nicht auflösenden Dialog, »[a]ls Ingrid sich langsam abwandte, grinste er eben« (IB: S. 112). Klaus ist also oft nicht tatsächlich vergnügt, sondern tut vielmehr so, »als sei er vergnügt« (IB: S. 149, Herv. d. V.). Sein Souveränität und Gleichgültigkeit signalisierendes Mienenspiel scheint somit nicht in schöner Übereinstimmung von Natur und Vernunft ausgeführt, sondern im Gegenteil willentlich durch die Macht der Vernunft gegen die wahren Empfindungen seiner Natur gewaltsam durchgesetzt zu werden. Tatsächlich lässt sich belegen, dass der nach außen hin scheinbar ausgelassene Klaus in Wahrheit bedrückt und sorgenvoll seine Bedenken und Ängste hinter einer Maske aus Spott und Heiterkeit verbirgt. »Klaus war wohl ein ernsthafter Mensch« (IB: S. 152), heißt es insgeheim von ihm. Bei ihm überwiegt die geistig-reflektierende Seite – »[i]rgend wo hinter seinen Augen schien eine empfindliche Stelle zu sein in seinem Kopf, ein Spiegel sozusagen« (IB: S. 40) – und das Grübeln über die gesellschaftlich-politischen Zustände in der DDR, welches der Konflikt um die Junge Gemeinde ausgelöst hat. Schon zu Beginn des Romans wird erwähnt, »dass Klaus neuerlich Mittag für Mittag in Bedenken versunken nach Hause kam« (IB: S. 33). In ihm macht sich »Unbehagen« (IB: S. 59) breit und es ist ihm deutlich anzusehen, »dass es ihm […] an Zuversicht auf die Vernunft der Zeitläufe [mangelte]« (IB: S. 60). Im Unterricht muss er sich zuweilen eingestehen, »dass sie hier etwas begingen in ernsthafter Arbeitsgemeinschaft, was ihnen im Grunde nicht gefiel« (IB: S. 18) und »gewisser Massen machte es ihm nicht viel Freude« (IB: S. 170). Im Handlungsverlauf wird immer offensichtlicher, dass sich seine Gefühlslage verfinstert, immer häufiger wirkt er »sehr müde« (IB: S. 112), »mürrisch und spöttisch« (IB: S. 111) sowie »ärgerlich« (IB: S. 80), selbst sein Boot, die Squit, federt, die Stimmung des Steuermanns symbolisierend, »angespannt über den Oberen See« (IB: S. 170). Im Klassenzimmer sitzt Klaus resigniert auf seinem Platz, »nunmehr weder herzlich noch liebenswürdig sondern ganz einfach müde. Wozu soll das alles denn wohl gut sein: dachte er. Vorhin war er noch unzufrieden gewesen, jetzt war er auf-
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richtig verdrossen« (IB: S. 131). Insgeheim ist Klaus ein ernster Charakter und dementsprechend macht er auf Ingrid bei seinem ersten Besuch einen »würdig[en]« (IB: S. 49) Eindruck und begrüßt sie auf »feierlich[e]« (IB: S. 49) Art, was auf eine Wirkweise des Erhabenen hindeutet. Ingrid erinnert sich: »Gelacht hast du kein bisschen« (IB: S. 49). Klaus’ im Allgemeinen ruhiger und teils fröhlicher Gesichtsausdruck ist in Wirklichkeit das Resultat willkürlicher, durch die Vernunft gesteuerter Bewegungsabläufe, die unwillkürlichen Gebärden hingegen verraten seine Anspannung oder Lustlosigkeit. Tatsächlich hütet er meistens streng und unerbittlich seine Mimik und inszeniert – nicht zufällig interessiert er sich leidenschaftlich fürs Theater (IB: S. 166) und hat den Wunsch, Regie zu studieren (IB: S. 168) – das eigene Mienenspiel: Sein Lächeln ist »zusammengesetzt« (IB: S. 152), er richtet mit »besorgter Gemessenheit« (IB: S. 129) Freundlichkeit und spottendes Necken in seinem Gesicht ein und hält regelrecht seine Züge in »Ordnung« (IB: S. 112, S. 169). Klaus, der seine gesamte Miene bis hin zu »seine[n] Augenwinkel[n] in Ordnung« (IB: S. 44) halten muss, um die Beherrschung über die unwillkürlichen Empfindungen zu wahren, ist sich seiner Haltung sehr wohl bewusst – im Gegensatz zur wahren Anmut, die niemals um ihren Ausdruck weiß: Bei seiner Rede über Elisabeth »grinste [er] freundlich zu Ingrid hinunter, indessen war zu sehen dass er dabei sich bedachte« (IB: S. 78, Herv. d. V.). In Kapitel 40 beschreibt der Erzähler typische Eigenschaften seines Protagonisten: »Er sah mit Bedenken vor sich hin, alles in seinem Gesicht war verlässlich: weil es so ruhig und eben bedacht sich tat.« (IB: S. 169, Herv. d. V.) Klaus’ Gemütsverfassung erscheint also nur als ruhig, in all der Inszeniertheit täuscht er Gelassenheit und Ruhe nur vor: Das eigentliche Gesicht Klausens aber […] war gehalten von einer kühlen unbeweglichen Aufmerksamkeit seiner Augen, deren Blick nur für sie [Ingrid, Anm. d. V.] eine geheime Andeutung ausgab von dem vielfältigen Spott, mit dem er seine Gedanken verknotete (IB: S. 169).
Auch Schiller formuliert diese Schwierigkeit der Entschlüsselung eines Wesens: Daher wird man aus den Reden eines Menschen zwar abnehmen können, für was er will gehalten sein, aber das, was er wirklich ist, muß man aus dem mimischen Vortrag seiner Worte und aus seinen Gebärden, also aus Bewegungen, die er nicht will, zu erraten suchen. (AW: S. 349)
Je mehr jedoch der äußere Konflikt um die Junge Gemeinde anschwillt, desto heftiger begehrt die empfindende Natur in Klaus auf und offenbart sich äußerlich durch unwillkürliches Zittern und Rucken der Muskelpartien: »Klaus sah bedenklich vor sich hin, seine Brauen ruckten spöttisch und angestrengt« (IB: S. 97) oder »tanzten beinahe vor spöttischem Zittern« (IB: S. 149). Das unkontrollierte Zucken der Brauen ist ein abrupter, nicht harmonisch-fließen-
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der Reflex, welcher die Anspannung der inneren Natur offenbart, die sich gegen den willkürlich aufgezwungenen spöttischen Gesichtsausdruck durchzusetzen versucht. Die Diskrepanz zwischen willkürlichen und unwillkürlichen Bewegungen kulminiert im Streitgespräch mit Ingrid, in dem er ihr abrät, vor der Schulversammlung zu reden: Er hielt sich gleichmütig aufrecht vor Ingrid und war auch freundlich mit seinen Lippen, aber sonst verhielt es sich natürlich anders mit seinem Gesicht, er sprach mit offenbarer Mässigung und alles in allem war er wohl fürchterlich wütend […] Siehe, er sah aus wie blass. Und die heftigen verhaltenen letzten Silben klangen noch in Ingrids Ohren. – Ja Klaas: sagte sie ziemlich hilflos. Aber er hatte sich wieder verfangen, aus seiner Nasenwurzel sprangen zwei Falten auf, siehst du, und seine weissen Augenbrauen tanzten beinahe vor spöttischem Zittern, er sagte auch etwas mit seinem Lächeln. Er sagte: Und dieser alberne Betrieb von Parlament und Verfassungsbruch. Lieben Ingrid komm mit segeln. Da ist doch Wind, das riechst du doch, riechst du das nicht? (IB: S. 149)
Zwar bemüht sich Klaus um eine entspannt-spielerische und freundliche Haltung, doch die aufstrebenden Emotionen entladen sich schließlich in den sympathetischen Bewegungen des Zitterns und der in Falten gelegten Muskelpartien der Augen. Als Klaus nach Ingrids Fortgang alleine ist, muss er seine wahre Mimik nicht mehr kontrollieren, mit nunmehr »grossem Ernst« (IB: S. 150) blickt er um sich, als sei die Umgebung plötzlich »unglaublich verändert« (IB: S. 150). Bezeichnend ist, dass Klaus, der in dieser Szene vor dem Schmuckladen Herrn Wollenbergs steht, in seinem Mienenspiel von diesem durch das Schau-Fenster verfolgt wird (IB: S. 151), so dass der Eindruck einer kleinen Theateraufführung entsteht. In jenem Moment, da Klaus ernsthaft um sich blickt, lässt »Herr Wollenberg […] den Vorhang wieder fallen hinter seinem Schaufenster« (IB: S. 151). Die Vorstellung ist vorbei, das Schauspiel beendet.
8.2.4 Ästhetische Erziehung von Tyrannen? – Zwei kontroverse Lesarten von Schillers Bürgschaft 8.2.4.1 »O edle Zeit«: Klaus’ Abrechnung mit Schiller In einer »Art Reifeprüfung im Voraus« (IB: S. 96) will die linientreue Lehrerin Frau Behrens in ihrem Deutschunterricht126 »das Verhältnis von Abiturienten zur Lyrik der Weimarer Klassik feststellen« (IB: S. 96).127 Nachdem zunächst 126 Mit dieser Deutschstunde, in deren Rahmen Schillers Bürgschaft besprochen wird, beschäftigt sich Nicola Westphal: Die Freundschaft in den Zeiten der Tyrannei. Überlegungen zu einer Schulstunde in Ingrid Babendererde. In: Johnson-Jahrbuch 10 (2003), S. 95 – 108. 127 Vgl. ebd., S. 96.
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Goethes Gedicht Der Schatzgräber besprochen wurde, kündigt Klaus an, Schillers Bürgschaft rezitieren zu wollen (IB: S. 98).128 Was er im Folgenden zum Besten gibt, ist entgegen seiner Ankündigung jedoch nicht Schillers Ballade selbst, sondern Brechts Spott-Version über diese mit dem Titel Über Schillers Gedicht »Die Bürgschaft«: O edle Zeit, o menschliches Gebaren! Der eine ist dem andern etwas schuld. Der ist tyrannisch, doch er zeigt Geduld Und lässt den Schuldner auf die Hochzeit fahren. Der Bürge bleibt. Der Schuldner ist heraus. Es weist sich, dass natürlich die Natur Ihm manche Ausflucht bietet, jedoch stur Kehrt er zurück und löst den Bürgen aus. Solch ein Gebaren macht Verträge heilig. In solchen Zeiten kann man auch noch bürgen. Und, hats der Schuldner mit dem Zahlen eilig, Braucht man ihn ja nicht allzu stark zu würgen. Und schließlich zeigte es sich ja auch dann: Am End’ war der Tyrann gar kein Tyrann! (IB: S. 98 f.)129
Mit seiner Brecht’schen Lesart der Bürgschaft rechnet Klaus mit Schillers utopischem idealistisch-klassischem Erziehungsanspruch ab.130 Bekanntermaßen geht es in Schillers Bürgschaft131 um die wundersame innere Wandlung des 128 Westphal macht darauf aufmerksam, dass sich Klaus bereits während der vorangegangenen Unterrichtsstunde und in der Pause auf seinen Auftritt vorbereitet: »Denn Ingrid hatte sich umgekehrt um zu sehen was er las; als sie sah dass es Gedichte waren oder so etwas, wollte sie den Band zu sich nehmen, Klaus hielt ihn aber fest.« (IB: 78); »Dieter sah mit Wiegen seines Kopfes auf Klaus, der bäuchlings neben Jürgen lag und in seinem Gedichtbuch strich und schrieb.« (IB: 94): Nicola Westphal: Die Freundschaft in den Zeiten der Tyrannei. Überlegungen zu einer Schulstunde in Ingrid Babendererde. In: Johnson-Jahrbuch 10 (2003), S. 95 – 108, hier S. 98. 129 Bertolt Brecht: Über Schillers Gedicht Die Bürgschaft. In: Elisabeth Hauptmann (Hrsg.): Gesammelte Werke in 20 Bänden. Bd. 9: Gedichte 2. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1967, S. 611. 130 Auf einer zweiten Ebene setzt sich Klaus mit seinem Vortrag von Brechts Version der Bürgschaft mit der Kulturpolitik der DDR in den 1950er Jahren auseinander. Siehe hierzu Nicola Westphal: Die Freundschaft in den Zeiten der Tyrannei. Überlegungen zu einer Schulstunde in Ingrid Babendererde. In: Johnson-Jahrbuch 10 (2003), S. 95 – 108, hier S. 98 ff. Siehe auch Norbert Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons. Jahrestage und andere Prosa. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1997, S. 162; Annekatrin Klaus: »Sie haben ein Gedächtnis wie ein Mann, Mrs. Cresspahl!« Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1999, S. 103 f. 131 Friedrich Schiller : Die Bürgschaft. In: Georg Kurscheidt (Hrsg.): Friedrich Schiller : Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 1: Gedichte. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag,
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wegen seines fürchterlichen Wesens verhassten Tyrannen Dionys, auf den Damon einen Mordanschlag verübt. Doch das Attentat scheitert und der Täter wird zum Tode verurteilt. Drei Tage Aufschub erbittet der Verurteilte vom Despoten, um seine Schwester erst noch verheiraten zu können. Während der Zeit seiner Abwesenheit soll sein Freund für ihn bürgen und statt seiner sterben, wenn er nach Ablauf der Frist nicht zurückgekehrt ist. Dionys sieht diesen Vorschlag als Experiment, um die von ihm bezweifelte Realisierung von Idealen zu testen, und stimmt zu. Doch Damon hält sein Wort und löst trotz widriger Umstände im letzten Augenblick den Bürgen aus. Von diesem Akt des menschlichen Verhaltens, der Freundschaft und Moral zeigt sich der Tyrann so gerührt, dass er nicht nur dem Helden den Tod erlässt, sondern selbst eine sittliche Läuterung und moralische Wesensverwandlung erfährt. Brechts Gedicht, das in parodistisch-pathetischem Ton mit der ehrfurchtsvollen Anrufung »O edle Zeit, o menschliches Gebaren!« beginnt, ironisiert die sittlich-hohe Gesinnungshaltung, die letztendlich alle drei Protagonisten der Schillerballade auszeichnet: So ist der Bürge bereit, sich für seinen Freund zu opfern, ebenso wie »der sture Schuldner […] in seinem Fluchtverzicht fast schon unbegreiflich [ist], der Tyrann ohnehin schon merkwürdig, weil er Geduld zeigt«132 – von seiner sittlichen Läuterung am Ende ganz zu schweigen. Diese Haltungen sind für Brecht Wunschvorstellungen eines Idealisten, die mit der Wirklichkeit ganz und gar nicht übereinstimmen.133 Denn in der Realität hat »[w]eder […] der Tyrann Geduld, noch kommt der Schuldner zurück«.134 Besonders Schillers idealistisch-utopischem Konzept der Despotenerziehung scheint er entgegenhalten zu wollen, »daß sich Tyrannen nicht wie Dionys zu benehmen pflegen«.135 Sein Sarkasmus über Schillers Ideen ist, folgt man Karl Mickel, angesichts der damaligen politischen Situation verständlich: Zur Entstehungszeit des Gedichts 1940, als Hitler an der Macht war, musste Schillers Gedanke der Tyrannenerziehung auf fast obskure Weise lebensfern wirken.136 Indem Brecht die »Sonettform«137 für sein Spottgedicht wählt, wird seine Kritik
132 133 134 135 136 137
1992, S. 26 – 30. Siehe auch Matthias Luserke-Jaqui: Die Bürgschaft. Ballade (1799). In: Matthias Luserke-Jaqui (Hrsg.): Schiller-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2005, S. 283 – 285. Helmut Koopmann: Schuldenerlass. In: Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Gedichte und Interpretationen. Bd. 18. Frankfurt a. M.: Insel-Verlag, 1995, S. 163 – 166, hier S. 165. Ebd., S. 166. Ebd., S. 166. Karl Mickel: Gelehrtenrepublik: Beiträge zur deutschen Dichtungsgeschichte. Bd. 5. Halle, Leipzig: Mitteldeutscher Verlag, 2000, S. 57. Ebd., S. 57. Nicola Westphal: Die Freundschaft in den Zeiten der Tyrannei. Überlegungen zu einer Schulstunde in Ingrid Babendererde. In: Johnson-Jahrbuch 10 (2003), S. 95 – 108, hier S. 99.
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an Schillers ästhetischer Idee nur noch deutlicher.138 Es entsteht auf diese Weise ein Bruch, ein »Widerspruch zwischen klassischer Form und anti-klassischen Inhalten«,139 »zwischen phrasenhaft resümierendem Inhalt und heroischem Schema«.140 Mit seinem Gedicht erteilt Brecht also »der Schillerschen idealistischen Lösung«141 eine Absage und enthüllt »die Unwahrscheinlichkeit der Vorgänge in Schillers Ballade«142 als utopisch und unwahrscheinlich. Indem Johnson Klaus die Brecht’sche Version der Bürgschaft zitieren lässt, wird an eben diese Kritik angeknüpft und zugleich durch die »verfremdend[e]«143 Art des Vortrags – Klaus liest »wie ein Nachrichtensprecher« (IB: S. 99)144 – unterstrichen. Damit gibt Klaus seine »mittelbar[e]« (IB: S. 100)145 Haltung »zur Lyrik der Weimarer Klassik« (IB: S. 100) zum Ausdruck, wobei mittelbar, wie Wolfgang Strehlow herausstellt, »im Bewußtsein der Geschichtlichkeit des Textes, mittels Brecht«146 meint. In Hinblick auf die repressiven Verhältnisse der DDR-Diktatur lässt sich Brechts Kritik fortführen: Die Rolle des Tyrannen, dies ist unschwer zu erkennen, nimmt im schulpolitischen Alltag der autoritäre Direktor Robert Siebmann ein,147 an dessen Erziehung zu Sittlichkeit, Menschlichkeit und Toleranz Klaus nicht glauben will.148 Die Aussichtslosigkeit solcher moralischer Bildungsbemühungen wird, wie Nicola Westphal betont, durch das Engagement Jürgens deutlich, der sich für einen wahren menschlichen Sozialismus, basierend auf Werten wie Toleranz und gegenseitiges Verständnis, einsetzt und im Rahmen der Affäre um die Junge Gemeinde die repressiven Druckmittel seiner Parteigenossen ablehnt und statt dessen eine gesprächsbereite, tolerante Haltung signalisiert (IB: S. 53 ff., S. 84 ff., S. 113 f.).149 Jürgens Verhalten steht demnach »für das Projekt ›Fürstenerziehung‹«,150 das Klaus 138 Ebd., S. 99. 139 Ebd., S. 99. 140 Ebd., S. 99. Vgl. auch Wolfgang Strehlow : Ästhetik des Widerspruchs: Versuche über Uwe Johnsons dialektische Schreibweise. Berlin: Akademie Verlag, 1993, S. 89, S. 102. 141 Jan Knopf: Brecht-Handbuch: Lyrik, Prosa, Schriften – Eine Ästhetik der Widersprüche. Stuttgart: Metzler, 1984, S. 101. 142 Wolfgang Strehlow : Ästhetik des Widerspruchs: Versuche über Uwe Johnsons dialektische Schreibweise. Berlin: Akademie Verlag, 1993, S. 90. 143 Ebd., S. 88. 144 Ebd., S. 88. 145 Ebd., S. 89. 146 Ebd., S. 89. 147 Nicola Westphal: Die Freundschaft in den Zeiten der Tyrannei. Überlegungen zu einer Schulstunde in Ingrid Babendererde. In: Johnson-Jahrbuch 10 (2003), S. 95 – 108, hier S. 101. 148 Vgl. ebd., S. 101. 149 »Jürgen ist […] aktives FDJ-Mitglied und […] setzt […] bis zum finalen Eklat auf Gespräch und Überzeugungsarbeit – als Beleg dafür kann sein Verhalten in der Kontroverse um Elisabeth Rehfelde und die Rückgabe ihres FDJ-Mitgliedsbuchs gelten.« (Ebd., S. 101) 150 Ebd., S. 101 f.
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zufolge ein aussichtsloses und zum Scheitern verurteiltes Unterfangen ist. Anders als Schillers einsichtiger Tyrann zeigt sich Siebmann von Jürgens menschlicher Haltung – oder von Ingrids Rede – keineswegs beeindruckt, im Gegenteil, Jürgens von der Parteilinie abweichendes Verhalten hat zur Folge, dass er die Verärgerung des »Genossen Vorsitzenden« (IB: S. 113) deutlich zu spüren bekommt (vgl. IB: S. 113 f.). Klaus fragt also nach dem konkreten Nutzen des Schiller’schen Konzepts und gibt mit Brecht zugleich die desillusionierende Antwort: Schillers Idee wird als nicht durchführbar enttarnt.
8.2.4.2 »Das habe den Tyrannen bewogen sein Wesen zu ändern«: Verteidigt Ingrid Schiller?151 Klaus’ Lesart von Schillers Bürgschaft ist nur eine Interpretation, die Johnson im Rahmen der Deutschstunde anbietet, denn auch Ingrid äußert sich zu Schillers Gedicht mit einer entgegengesetzten Deutung, die Nicola Westphal erarbeitet hat:152 Auf Klaus’ Kommentar folgt ein Lachen, es ist Ingrids Lachen, wie sich durch Frau Behrens’ Reaktion herausstellt: »In der ersten Reihe wurde gelacht. – Babendererde, bitte?« (IB: S. 100)153 Aus ihrem nun folgenden kurzen Beitrag wird deutlich, dass es sich »nur um ein verächtliches oder bitteres Lachen handeln kann«.154 Mit ihrer Auslegung der Bürgschaft wendet sich Ingrid gegen Klaus’ Sicht und ergreift Partei für Schiller :155 Immerhin seien das wohl gefährdete Zeiten gewesen. Es habe Tyrannen gegeben und Räuber-Banden. Und die Brücken hätten vom Strom weggerissen werden können; heutzutage sei schon Sprengstoff nötig für eine Flussbrücke. Unter solchen Umständen habe man sich aufeinander verlassen können. Das habe den Tyrannen bewogen sein Wesen zu ändern. (IB: S. 100 f.)
Westphal zufolge ist Ingrids Schiller-Kommentar, anders als jener von Klaus, kein »politische[r]«.156 Im Gegensatz zu ihm löse sie die Deutung aus ihren geschichtlichen und politischen Bezügen und betone hingegen die allgemeingültigen Werte der Moral:157 Ingrids Interpretation, so Westphal, kann deshalb 151 Westphal spricht von Ingrids »Verteidigung Schillers gegen Brecht«: Nicola Westphal: Die Freundschaft in den Zeiten der Tyrannei. Überlegungen zu einer Schulstunde in Ingrid Babendererde. In: Johnson-Jahrbuch 10 (2003), S. 95 – 108, hier S. 103. Diese Annahme wird weiter unten diskutiert. 152 Ebd., S. 102 ff. 153 Ebd., S. 102. 154 Ebd., S. 102. 155 Ebd., S. 103. 156 Ebd., S. 103. 157 Ebd., S. 103.
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auch als eine »überzeitliche[]«158 oder »universelle[] Lesart«159 bezeichnet werden. In dieser Logik rechtfertigt sie die moralische Haltung der Protagonisten: Die Hürden, die der Held überwinden muss, seien eine Art »moralische Reifeprüfung«,160 die er zu bestehen hat, was ihm letztendlich auch gelingt. Ingrids Verteidigung der Moral und Freundschaft ist, so führt Westphal weiter aus, zugleich ein »Appell an die Freunde […] ihre moralische Integrität zu wahren«161 und für Werte wie Freundschaft und Moral zu kämpfen. Aus dieser Perspektive scheint also auch die Wesensänderung des Tyrannen in ihrer »überzeitlichen«162 Deutung einleuchtend.163 Während Klaus zufolge diese Werte im politisch-gesellschaftlichen Leben zum Scheitern verurteilt sind, setzt sich Ingrid aus einer »überzeitlichen«164 Sicht für sie ein. Doch gerade an der Stelle, an der man mehr über Ingrids Gedanken zur Erklärung der Wandlung des Tyrannen zu erfahren hofft, wird die Schülerin durch die Zwischenfrage von Frau Behrens, ob »solche Änderung wahrscheinlich sei« (IB: S. 101), aus ihren Gedanken herausgerissen:165 Nein: sagte Ingrid aufschreckend, geduldig: Schiller sei wohl Ehrenbürger der französischen Revolution, aber er habe sie nicht leiden können. Von den Tyrannen habe er als ein Bürger geglaubt: man könne sie erziehen und überzeugen. (IB: S. 101)166
Die Verneinung der Frage steht in Kontrast zu ihrer bisherigen Meinung (»[d]as habe den Tyrannen bewogen sein Wesen zu ändern«).167 Diese widersprüchlichen Aussagen sind nicht eindeutig zu erklären und entsprechen Ingrids rätselhaftem Wesen. Westphal schreibt hierzu, Ingrids Antwort auf die Frage der Lehrerin stelle nicht mehr ihre eigene Ansicht dar, sondern referiere jetzt den Unterrichtsstoff: »[D]amit ist deutlich, dass es ab diesem Punkt wieder ›nur‹ um die Erbediskussion geht, und Ingrid sagt den auswendig gelernten Stoff im Sinne der herrschenden Lehre auf«.168 Die eigentlichen Gedanken Ingrids erfahre man nicht mehr :169 »12 A sah zu wie Ingrid einen Augenblick lang überlegte. Aber sie schob ihre Unterlippe vor in einer unbestimmt verzichtsamen Weise und schwieg.« (IB: S. 101)170 158 159 160 161 162 163 164 165 166 167 168 169 170
Ebd., S. 105. Ebd., S. 105. So Westphal in Anlehnung an Karl Mickel: Ebd., S. 104. Ebd., S. 104. Ebd., S. 105. Ebd., S. 105. Ebd., S. 105. Ebd., S. 105. Ebd., S. 105. Vgl. ebd., S. 105. Ebd., S. 105. Ebd., S. 105. Ebd., S. 105.
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Entgegen Westphals Deutung wird in dieser Arbeit eine andere Interpretation dieser offensichtlichen Diskrepanz vorgezogen: In der Protagonistin beginnt sich allmählich die Erkenntnis von der Hoffnungslosigkeit der Schönheit und Sittlichkeit in der geschichtlichen Welt durchzusetzen. Ingrid, die zuvor wie selbstvergessen »in sich hinein« (IB: S. 100) gesprochen hat, schreckt plötzlich auf (IB: S. 101) und zeigt sich nach ihrer Korrektur der ersten Deutungsversion »ärgerlich« und »lustlos« (IB: S. 101). Diese Empfindungen des Schreckhaften und Lustlosen gepaart mit ihrem Schweigen und der verzichtenden Haltung – allesamt stehen sie ihrem anmutigen Wesen entgegen – sind erste Anzeichen einer beginnenden erhabenen Gesinnungsart. Auch Gary Lee Baker versteht Ingrids Reaktion als eine Abkehr von Schillers schönem Idealismus: »For these students [und damit meint er auch Ingrid, Anm. d. V.] Schiller’s idealism does not become reality in their struggle with the tyrant.«171
8.2.5 Wahre und falsche Würdenträger In der Forschung ist stellenweise bereits erwähnt worden, dass der Begriff der ›Würde‹ ein Grundmotiv bei Johnson und insbesondere in Ingrid Babendererde ist. So spricht Uwe Neumann von der Würde als »einem von Johnson ohnehin leitmotivisch eingesetzten Wort«172 und ebenso erkennt auch Beate Wunsch eine auffällige Häufung dieses Begriffs.173 Doch bisher hat nur Michael Hofmann bemerkt, dass der Terminus ›Würde‹ bei Johnson im Schiller’schen Sinn verwendet wird: »Vor diesem Hintergrund ist auffällig, dass die Schullehrer konstant mit dem auch bei Schiller zu findenden Komplementärbegriff zu ›Anmut‹, also mit dem Terminus ›Würde‹ belegt werden.«174 Im Folgenden soll gezeigt werden, dass sich Johnsons Konzept der Würde vor dem Hintergrund von Schillers Theorie deuten und sich außerdem in die wahre und die falsche Würde unterteilen lässt.175 Die Lehrer Sedenbohm und Kollmorgen vertreten in der 171 Gary Lee Baker : Understanding Uwe Johnson. Columbia, South Carolina: University of South Carolina Press, 1999, S. 46. Vgl. hierzu ebenfalls: Leyla Sedghi: Das Dilemma der Grenze: Zu Uwe Johnsons Frühwerk. Dissertation, LMU München, 2004, S. 31; Norbert Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons. Jahrestage und andere Prosa. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1997, S. 164. 172 »Auffallend ist vor allem die Übereinstimmung [zwischen Tonio Kröger und Ingrid Babendererde, Anm. d. V.] hinsichtlich der ›Würde‹, einem von Johnson ohnehin leitmotivisch eingesetzten Wort […]« (Uwe Neumann: Die ausgefallene Tanzstunde. In: Johnson-Jahrbuch 8 (2001), S. 29 – 61, hier S. 37). 173 Beate Wunsch: Studien zu Uwe Johnsons früher Erzählung Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953. Frankfurt a. M.: Lang, 1991, S. 100, Anm. 381. 174 Michael Hofmann: Uwe Johnson. Stuttgart: Reclam, 2001, S. 58. 175 Darauf hat ebenfalls Hofmann hingewiesen: ebd., S. 58 f.
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Analyse exemplarisch die wahren Würdenträger,176 während Direktor Robert Siebmann maßgeblich die falsche Würde verkörpert. 8.2.5.1 Die wahre Würde des Sir Ernest: Sedenbohm Zu den wahren Würdenträgern des Romans zählt der Lehrer für Englisch Herr Ernst Sedenbohm.177 Sedenbohm,178 sein Vorname deutet dies an, steht auf der ernsten Seite des Lebens. Geschichtliche Naturgewalt tritt ihm in Gestalt des real-existierenden Sozialismus gegenüber, mit dessen Parteilinie er nicht übereinstimmt. Durch die missbilligende Haltung, mit der Sedenbohm das tagespolitische Geschehen mittels der Zeitung zur Kenntnis nimmt – wobei Zeitung hier als Symbol für zeitgeschichtliche Vorgänge zu verstehen ist –, kommt diese ablehnende Haltung zum Ausdruck. »Sir Ernest […] blickte verächtlich in die Zeitung des heutigen Tages.« (IB: S. 143) Wenig später entgegnet er Ingrid, die ihm das vermutlich absichtlich liegen gelassene Blatt überreichen will: »Nein. Er habe die Zeitung nicht vermisst.« (IB: S. 181) Seiner Hinterfragung der Parteipolitik wegen wird Sedenbohm im Vokabular der Staatspropaganda als »bürgerlich […] und unzuverlässig« (IB: S. 133) eingestuft und dies ist auch der Grund dafür, warum der einstige Direktor an der Gustav-AdolfOberschule (IB: S. 160 f.) des Amtes enthoben und durch den linientreuen Robert Siebmann ersetzt wurde.179 Darüber hinaus rechnet er mit seiner vorzeitigen Pensionierung: »Überdies konnte Herr Sedenbohm tun was ihm beliebte. Eines Tages würde man ihn doch in den Ruhestand versetzen mental reservations halber.« (IB: S. 82) »Die Jahrestage«, so Beate Wunsch, nennen Sedenbohm mit den Stichworten ›Mischehe, nicht privilegiert, Sternträger‹. Der, der im neuen antifaschistischen Staat als ›politisch unzuverlässig‹ keine Zukunft
176 Auch Jürgen ist den wahren Würdenträgern zuzuordnen. 177 »Johnsons Lehrer Dr. Wilhelm Gernentz ist als Sir Ernest in Ingrid Babendererde eingegangen […]«: Bernd Neumann: Mecklenburg bei Uwe Johnson. Stadt, Schule und Schleuse im Erstling »Ingrid Babendererde«. In: Ulf Bichel, Joachim Griephahn und Helmut de Voss (Hrsg.): Mecklenburg – Land Fritz Reuters und Uwe Johnsons. Beiträge zu den internationalen Reuter-Tagen vom 03.–05. März 1989 in Lüneburg, S. 59 – 79, hier S. 65. 178 Zu Sedenbohm vgl. allgemein auch: Beate Wunsch: Studien zu Uwe Johnsons früher Erzählung Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953. Frankfurt a. M.: Lang, 1991, S. 124 – 126; Rainer Benjamin Hoppe: »Mangelhaft!« Uwe Johnsons Darstellung der DDR-Schule in den Romanen Ingrid Babendererde und Jahrestage (4. Band). In: Johnson-Jahrbuch 1 (1994), S. 190 – 215, hier S. 198. 179 Nach Hoppe steht dieses »Ablösemotiv« im Zusammenhang mit der »Tradition des Schulromans«: Rainer Benjamin Hoppe: »Mangelhaft!« Uwe Johnsons Darstellung der DDR-Schule in den Romanen Ingrid Babendererde und Jahrestage (4. Band). In: JohnsonJahrbuch 1 (1994), S. 190 – 215, hier S. 194, S. 198.
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mehr hat, wäre also – bezöge man die Jahrestage in die Deutung mit ein – ein Opfer des faschistischen Regimes, von dem der neue Staat sich abgrenzen will.180
Sedenbohm ist also Opfer gleich zweier Diktaturen. Seine innere erhabene Haltung, die sich gegenüber den Repressionen der Machthaber ausbildet, wird im Roman durch die Anzeichen äußerlicher Würde vermittelt. Diese teilt sich durch sein Alter sowie die nahezu hoheitsvollen Formen seines Auftretens mit: Herr Sedenbohm ist »ein alter vornehmer Herr« (IB: S. 76). An ihm wirkt alles stolz, seine höfliche Ausdrucksweise (IB: S. 76 ff.) ebenso wie sein »vornehme[s] Handschwenken« (IB: S. 79). Wegen seines eleganten Betragens heißt er bei seinen Schülern »Sir Ernest« (IB: S. 133): »Sie nannten den Sedenbohm so, seitdem er ihnen erklärt hatte wen man so anredet: einen Gentleman, der ein bisschen adelig sei.« (IB: S. 77) Mit dieser Titelverleihung wird der Lehrer symbolisch in die Nähe des Rangs der »Majestät« (AW: S. 391) gerückt, die Schiller zufolge die höchste Art der Würde darstellt. Die Würde, heißt es bei Schiller, ist von der Achtung unzertrennlich (vgl. Abschnitt 5.2 dieser Arbeit) und auch Sedenbohms würdevolle Ausstrahlung löst bei gleichgesinnten Menschen eine Empfindung des wohlwollenden Respekts aus. So bringen die Schüler ihm mehr als nur ihre aufrichtige Sympathie entgegen,181 Sedenbohm ist der »einzige[] Lehrer, den die Klasse achtete«.182 Zuweilen löst er das für das Erhabene ebenfalls typische Gefühl des Erstaunens und der Verwunderung, gepaart mit Ehrerbietung, aus, beispielsweise sieht Ingrid »ihm verwundert entgegen« (IB: S. 180), als er nach ihrer Rede auf sie wartet, um sie nach Hause zu begleiten, und »verbeugte« (IB: S. 182) bei seinen freundlichen Worten »lächelnd ihren Hals« (IB: S. 182). Die Ehrfurcht der Schüler vor Sedenbohm ist keinesfalls mit Furcht zu verwechseln, welche allein die falsche Würde charakterisiert. Von ihm geht keine »Schreckensherrschaft« (IB: S. 133) aus. So heißt es doppeldeutig über eine Lateinarbeit der 12 A, bei der die Schüler voneinander abschreiben: »Und es war nicht die Furcht vor Entdeckungen. Alle wussten dass jene Schritte [Sedenbohms, Anm. d. V.] nicht Gefahr bedeuteten.« (IB: S. 132) Jene Lateinarbeit handelt nicht zufällig von der »des Lorbeers würdige[n] Seele« (IB: S. 134) des christlichen Missionars Wolfrat. Genau die Stelle der würdigen Seele wird aber vom Schüler Hannes »nicht mitübersetzt« (IB: S. 135): »[D]as kann man doch auslassen, kann man das?« (IB: S. 135), fragt er in wiederholender Formulierung den Lehrer. »Das können 180 Beate Wunsch: Studien zu Uwe Johnsons früher Erzählung Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953. Frankfurt a. M.: Lang, 1991, S. 126. 181 Vgl.: »Die 12 A schätzte ihn« (IB: S. 82); »[s]ie hielten viel von ihm« (IB: S. 132); »sie mochten ihn leiden« (IB: S. 133); »[u]nd sie freuten sich auch sehr ihn zu sehen« (IB: S. 76). 182 Uwe Johnson: Begleitumstände. Frankfurter Vorlesungen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1986, S. 80. Vgl. auch Beate Wunsch: Studien zu Uwe Johnsons früher Erzählung Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953. Frankfurt a. M.: Lang, 1991, S. 126.
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Sie mit gutem Gewissen auslassen: sagte Herr Sedenbohm heiser und lächelnd« (IB: S. 136). Mit dem Motiv des Nicht-Übersetzens des Begriffs der würdigen Seele ist zugleich das Problem der Darstellbarkeit einer erhaben-würdigen Gesinnung angedeutet. 8.2.5.2 Ein »durchaus würdiger Herr«: Kollmorgen Auf den ersten Blick entspricht der für den Erdkundeunterricht zuständige Lehrer Dr. Ernst Kollmorgen183 dem Bild einer parteitreuen Erziehungsperson. Ganz im Sinne der Staatsmeinung als Pädagoge agierend, um junge, noch biegsame Menschen zu treu dienenden Staatsbürgern heranzubilden, stellt er Zusammenhänge her, und seien sie noch so zweifelhaft, zwischen dem Unterrichtsstoff und der Propaganda des real-existierenden Sozialismus. So erläutert Kollmorgen seinen Schülern die Bedeutung des Klassenkampfes für eine ökonomischere Verwertung der Natur durch den Menschen: »Die Gründe für die bisher ungenügende Ausnutzung der Naturkräfte, man hat da Westeuropa im Auge, liegen im System des Privateigentums.« (IB: S. 17) Und weiterhin berichtet er, ein Gegenbild zu den feindlich gesinnten Kräften des Westens entwerfend, »über die grossartige Umgestaltung, die die Natur erfahren hatte in der Sowjetunion.« (IB: S. 16) Doch dieses Bild des scheinbar korrekten, im Sinne der sozialistischen Partei denkenden und handelnden Genossen Kollmorgen trügt. Die »offenbar [u]nzweifelhafte[n]« (IB: S. 16) Wahrheiten werden nur »müde« und »zögernd« (IB: S. 16) durch einen »verlegenen Herrn Kollmorgen« (IB: S. 17) hervorgebracht, offensichtlich mit Widerwillen. Zudem beschränken sich seine Ausführungen auf eher allgemeine Standpunkte der sozialistischen Lehre und beziehen den aktuellen und hochbrisanten schulpolitischen Konflikt zwischen der Jungen Gemeinde und der FDJ, gerne und oft von Lehrern wie Siebmann oder Behrens zu propagandistischen Zwecken herangezogen, hingegen nicht mit ein. Dies veranschaulicht die Reflexion Klaus’, der »mit zurückgezogenen Lippen [bedachte] dass Ähnst heute abermals nicht die Junge Gemeinde mit irgend etwas verglichen hatte« (IB: S. 27). Ganz im Gegensatz zur öffentlichen Diffamierung von Mitgliedern der Jungen Gemeinde lässt Kollmorgen sogar »seine Tochter immer noch in die Christenlehre gehen« (IB: S. 27). Kollmorgen indoktriniert also nur zum Schein. Wie die verschiedenen, vom System der DDR enttäuschten Personen ihre jeweils eigene Umgangsweise entwickeln, mit den politisch-gesellschaftlichen Umständen zurecht zu kommen – man denke etwa an den Rückzug in die Natur, an eine Distanz herstellende 183 Zu Kollmorgen siehe auch Beate Wunsch: Studien zu Uwe Johnsons früher Erzählung Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953. Frankfurt a. M.: Lang, 1991, S. 127.
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Weltsicht durch den Blickwinkel des Spotts oder an das Verbergen der Identität hinter Masken und Rollen – so findet auch Kollmorgen einen Weg, sich zu arrangieren: Er »behandelte […] das Ganze als Stoff bloß. Als Stoff, der auswendig zu lernen war« (IB: S. 21), um die Prüfung zu bestehen. In gewisser Hinsicht spielt auch Kollmorgen also nur eine Rolle, die Rolle des linientreuen Oberlehrers. Dies scheint ihm jedoch nicht besonders überzeugend zu gelingen, wird seine Strategie doch von Jürgen, dem aufrechten Anhänger des Sozialismus, den er zu Beginn des Romans zumindest noch verkörpert, entlarvt und als für das System »schädlich« (IB: S. 21) verurteilt. Zwar redet Kollmorgen in seinem Unterricht von Sozialismus und Klassenkampf, doch spricht er darüber, »als sei das theoretischer Unsinn« (IB: S. 22). Zuweilen geht er sogar fast wohlwollend auf Klaus’ spöttische Bemerkung zum Thema Klassenkampf ein, als wolle er nichts sehnlicher, als seine Maske ablegen, und lenkt damit Jürgens »Ärger und Zorn« (vgl. IB: S. 22) auf sich. Kollmorgen ist also, ähnlich Sedenbohm, aus der Perspektive der Partei als »Schädling« (IB: S. 21) einzustufen. Vor diesem Hintergrund erscheint der Erdkundelehrer in einem anderen Licht. Wenngleich er auch nicht denselben hohen Würdenrang erreichen mag wie Sedenbohm, so wird er doch – aus der Perspektive Klaus Niebuhrs – ebenfalls in den Kreis der wahren Würdenträger aufgenommen. »[D]a vorn stand dieser wohlerzogene und gebildete und durchaus würdige Herr…, der sagte Dinge, die zu sagen ihm wirklich unangenehm war, weil er sicherlich meinte sie seien unwürdig und ungezogen« (IB: S. 17 f.).184 Kollmorgen entspricht also gemäß dem oben angeführten Zitat durchaus einem würdigen Herrn, wobei den Wörtern »durchaus« und »sicherlich« (IB: S. 17) einschränkende Bedeutung zukommt, implizieren sie doch indirekt den Vorwurf, dass – bei aller Würde – ein noch weitaus würdigeres Verhalten denkbar wäre, eines, das auf den Deckmantel aus indoktrinierenden und propagandistischen Formeln verzichten kann. Darüber scheint sich auch Kollmorgen im Klaren zu sein. Offensichtlich schuldbewusst vermerkt er im Klassenbuch »das Geständnis: für diese Stunde geografischen Unterrichts sei er verantwortlich« (IB: S. 22). 8.2.5.3 Ein Mann von »erhabener Würde«: Die falsche Würde Siebmanns Schiller unterscheidet von der wahren Würde die nachgeahmte oder falsche Würde (vgl. Abschnitt 5.2 dieser Arbeit). In Über Anmut und Würde schreibt er : »[S]o kann man oft in den Kabinetten der Minister, und in den Studierzimmern der Gelehrten (auf hohen Schulen besonders) die falsche Würde studieren.« (AW: S. 393) In Johnsons Roman verkörpert in erster Linie Siebmann diese 184 Vgl. weiter: »dass Ähnst von Dingen gesprochen hatte, an die er nicht glauben wollte und deren Voraussetzungen er wahrscheinlich nicht mochte« (IB: S. 21).
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Variante, aber auch die als das »Blonde Gift« bekannte Lehrerin Frau Behrens ist »in ihrer Würde Pius nahe verwandt« (IB: S. 93). Um die Figur des Direktors der Oberschule Robert Siebmann,185 Pius genannt, verdichten sich in besonderer, fast plakativer Auffälligkeit Begriffe aus den semantischen Feldern des Würdevoll-Erhabenen, Herrschaftlichen und Vornehmen.186 Siebmann187 wird als »würdige[r] junge[r] Mann« (IB: S. 89) mit »feine[m] Anzug« (IB: S. 220) und »vornehmem Handheben« (IB: S. 218) beschrieben, der in seiner Außenwirkung auf seine Umgebung eine »Empfindung der Würde« (IB: S. 92) ausstrahlt. »Dies und alles«, so heißt es über ihn, »tat er auf eine würdige Weise, und solche Würde war lustig anzusehen.« (IB: S. 87) Siebmann ist demnach nur dem Anschein nach ein Mann von »erhabener Würde« (IB: S. 226).188 Zwar signalisiert sein Vorname die Sphäre des Edlen, Majestätischen und Hoheitsvollen und lässt sich damit in jene im theoretischen Teil dieser Arbeit dargestellten Unterarten der Würde einordnen, bedeutet ›Robert‹ doch »Ruhm«189 und »glänzend«.190 Diese Würde entlarvt sich jedoch bei näherem Hinsehen als im äußersten Sinne fragwürdig und zweifelhaft. In Über Anmut und Würde führt Schiller aus, dass die edle Form der Würde zuweilen von eitlen Menschen nachgeahmt werde und »nicht selten verwerfliche Affekte sich sogar dem Erhabenen nähern« (AW: S. 381) können. Diese verfälschende Imitation der Würde bezeichnet er auch als »falsche Würde« (AW: S. 393). Eben jener heuchlerischen Kopie entspricht auch die zweifelhafte Ausstrahlung des machtgierigen und eitlen Siebmann, der nach Hochachtung und majestätischer Herrlichkeit strebt, die der wahren Würde entgegengebracht werden.191 185 »Eine Vorlage für den Direktor Robert Siebmann war wahrscheinlich Direktor an Johnsons Schule, Robert Pfahl […]« (Bernd Neumann: Mecklenburg bei Uwe Johnson. Stadt, Schule und Schleuse im Erstling »Ingrid Babendererde«. In: Ulf Bichel, Joachim Griephahn und Helmut de Voss (Hrsg.): Mecklenburg – Land Fritz Reuters und Uwe Johnsons. Beiträge zu den internationalen Reuter-Tagen vom 03.–05. März 1989 in Lüneburg, S. 59 – 79, hier S. 62 – 65). 186 Wunsch stellt eine Häufung des Begriffs der ›Würde‹ fest, ohne ihn jedoch in den theoretischen Kontext von Schillers Ästhetik zu stellen: Beate Wunsch: Studien zu Uwe Johnsons früher Erzählung Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953. Frankfurt a. M.: Lang, 1991, S. 100, Anm. 381. Im Zusammenhang von Siebmanns Würde spricht sie vom »gravitätisch Hochgeschraubten und Archaisierenden, dem Erhabenen« (ebd., S. 112, vgl. auch S. 129). 187 Zur Figur Siebmanns vgl. auch Rainer Benjamin Hoppe: »Mangelhaft!« Uwe Johnsons Darstellung der DDR-Schule in den Romanen Ingrid Babendererde und Jahrestage (4. Band). In: Johnson-Jahrbuch 1 (1994), S. 190 – 215, hier S. 199 f. 188 Vgl. auch IB: S. 221. 189 Zur Etymologie des Namens vgl. Tamara Krappmann: Die Namen in Uwe Johnsons Jahrestagen. Göttingen: V& R unipress, 2012, S. 526. 190 Ebd., S. 526. 191 Bisher hat in diesem Zusammenhang nur Hofmann auf die falsche Würde im Schiller’schen Sinn hingewiesen: Michael Hofmann: Uwe Johnson. Stuttgart: Reclam, 2001, S. 58 f.
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Um die hier vertretene These von der falschen Würde Siebmanns weitergehend belegen zu können, erscheint es sinnvoll, sich nochmals Schillers Definition der wahren Würde zu vergegenwärtigen. Würde bezeichnet demnach einen Zustand, in dem der Geist sich notwendigerweise gegen eine aufbegehrende, feindselige Naturgewalt zur Wehr setzen und das moralisch-vernünftige Gesetz gegen ihre Angriffe verteidigen muss, was sich im Erscheinungsbild durch Beherrschung der unwillkürlichen, d. h. nicht willentlich gesteuerten, natürlichsympathetischen Bewegungen in Mimik und Gestik äußert. Auch Siebmanns Naturaffekte sind durch und durch kontrolliert, seine Kopfbewegungen wirken »gemessen« (IB: S. 87), seine Blicke »eindringlich gebändigt[]« (IB: S. 88) und seine Augen »gefestigt[]« (IB: S. 89), er spricht »in großer Entschiedenheit gefasst« (IB: S. 141) und »feierlich« (IB: S. 141). Siebmann gibt vor, an gleich mehreren Fronten ein Gefecht gegen eine übermächtige Naturgewalt austragen zu müssen: »Und was damals. Historisch! Historisch notwendig war –: istheuteineinStadiumdesVerfaultseinsundAbsterbensgetreten!!« (IB: S. 88). Tatsächlich aber ist ein Grund für dieses übertrieben streitbare Betragen nicht ersichtlich bzw. gar nicht vorhanden: »Aber vor Pius ereignete sich nichts, das seinen Ausrufezeichen hätte zugute kommen mögen.« (IB: S. 88) Bereits kleine und alltägliche Aufgaben, und seien sie noch so unbedeutend, verrichtet er mit »viel Wichtigkeit und Anspruch des Auftretens« (IB: S. 87). Besonders offensichtlich tritt Siebmanns falscher Kampf gegen eine nicht existierende Gefahr im Konflikt mit der Jungen Gemeinde zutage. So ruft er zum Feldzug auf gegen die sich angeblich in dieser kirchlichen Gruppe versammelnden und vom kapitalistischen Ausland bezahlten subversiven und terroristischen Kräfte, die unter dem Deckmantel einer christlichen Jugendorganisation im Untergrund agieren und nur den richtigen Zeitpunkt abwarten, um den geplanten Vernichtungsschlag gegen die guten Prinzipien der sozialistischen Republik, das moralische Vernunftgesetz, auszuführen. Doch im Gegensatz zum Konzept der wahren Würde, die es tatsächlich mit einer feindlich gesinnten Naturgewalt zu tun hat, geht von der Jungen Gemeinde keine Gefahr aus, die es mit allen Mitteln zu bekämpfen und auszuschalten gilt. In Wahrheit sucht Siebmanns absoluter Macht- und Herrschaftsanspruch alles und jeden in seiner Umgebung, ganz besonders andersgesinnte Menschen, nach Art eines Despoten zu kontrollieren und zu unterdrücken, obwohl – und dies ist das Entscheidende nach Schillers Definition – sich ihm nichts in den Weg stellt, das sein Verhalten vernunfts- bzw. verfassungsrechtlich begründet hätte. So wenig es einen Feind oder eine äußere Naturgewalt gibt, so ist auch kein moralisches Vernunftgesetz vorhanden, das es zu verteidigen gilt. Siebmann predigt scheinbar das moralisch und politisch korrekte Gesetz, nämlich das Gesetz des real-existierenden Sozialismus der Deutschen Demokratischen Republik mit seinem in der Verfassung verankerten Paragraphen des Menschen-
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rechts auf demokratische Meinungsfreiheit. »Pius redete schon lange über das Recht der demokratischen Meinungsäußerung« (IB: S. 173). Zwar verkündet Siebmann den hohen Wert dieses Menschenrechts, akzeptiert aber im Umkehrschluss keine anderen Überzeugungen, sondern sucht andersgesinnte Zeitgenossen wie die Mitglieder der Jungen Gemeinde durch Drohungen und Repression zum Schweigen zu bringen. Pius schützt somit in Wahrheit keineswegs das durch ihn heilig gesprochene Gesetz, sondern entlarvt sich im Gegenteil selbst als sein erbittertster Gegner. Er ist der Inbegriff einer Scheinmoral. So wird Ingrid mit Schulausschluss und Überwachung durch die Staatssicherheit sanktioniert, als sie Siebmanns Aufforderung, im Rahmen der Schulversammlung mit einer Rede über die Junge Gemeinde einen Beitrag zum demokratischen Meinungsaustausch zu leisten, wörtlich nimmt und die Diffamierung der Jungen Gemeinde durch den Direktor öffentlich thematisiert.192 Erscheint die wahre, den Naturtrieb notwendigerweise bekämpfende Würde in ihrer Außenwirkung so ernsthaft und respekteinflößend, dass man ihr mit Hochachtung und Ehrfurcht begegnet, so setzt sich die falsche Würde nach Schiller mit ihrer Unterdrückung eines längst unterlegenen oder gar illusorischen Gegners der Lächerlichkeit aus (AW: S. 382).193 In Anwendung dieses Gedankens erscheint Siebmann – ebenso »im Kampf gegen die Hose«194 Eva Maus – als lächerliche Größe. Die als unaufrichtig wahrgenommene Würde lässt Siebmann entgegen seiner Absicht, in majestätischer Erhabenheit zu erstrahlen, in vielen Situationen als komische Figur zurück und löst angesichts dieser verfehlten Außenwirkung bei den Schülern zuweilen schadenfrohe Belustigung und hämischen Spott aus. So ist Siebmanns »Würde […] lustig anzusehen« (IB: S. 87).195 Weiterhin empfinden die Schüler »seine durchaus bürgerlich prächtige Hochzeit mit der Tochter von Herrn Mehrens lächerlich« (IB: S. 163) und ebenso werden sein würdevolles äußeres Gebaren und seine kontrollierten Bewegungen 192 Vgl. auch Siebmanns Reaktion auf sein Streitgespräch mit Jürgen: »die Empfindung der Würde war gröblich verletzt« (IB: S. 227). 193 Die lächerliche Würde Siebmanns stellen, jedoch ohne Schiller-Bezug, die folgenden Johnson-Interpreten heraus: So betont Wunsch: »Der Begriff der Würde wird durch fortgesetzte Ironisierung in der sprachlichen Welt dieses Textes völlig aus seiner eigentlichen Bedeutung gehoben […]« (Beate Wunsch: Studien zu Uwe Johnsons früher Erzählung Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953. Frankfurt a. M.: Lang, 1991, S. 99 f.). Auch Mecklenburg betont die »falsche und […] lächerliche Würde«, »das Erhabene [kippt] ins Komische«: Norbert Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons. Jahrestage und andere Prosa. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1997, S. 169 f. Von dem »lächerlich-unwürdige[n]« Verhalten der Lehrer spricht Carsten Gansel: »es sei EINFACH NICHT GUT SO«. Uwe Johnsons »Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953«. In: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Text + Kritik. Uwe Johnson. Bd. 65/66. München: Edition Text + Kritik, 2001, S. 50 – 68, hier S. 63. 194 Michael Hofmann: Uwe Johnson. Stuttgart: Reclam, 2001, S. 58 f. 195 Vgl. auch: Die Schüler »hatten ihn anfangs lustig gefunden« (IB: S. 87).
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als »lächerliche[] Gemessenheit« (IB: S. 221) gewertet. Auch Siebmanns Auftritt auf dem Schulmaskenball, zu welchem er als »ein gewisser grosser Spanier mit überheblichen Manieren« (IB: S. 91) erscheint und mit diesem Aufzug Ingrid zu beeindrucken sucht, bleibt bei dieser hingegen nur in »lächerlicher Erinnerung« (IB: S. 91) zurück. Die in der symbolträchtigen Verkleidung als spanischer Edelmann nur noch deutlicher zum Tragen kommende überzeichnete und affektierte Würde des »Genosse[n] Grande« (IB: S. 92) ist für Ingrid nicht mehr ernst zu nehmen, weshalb Siebmann seit diesem Abend der Spitzname ›Pius‹ verliehen wird (IB: S. 86). Dabei spielt die Namensgebung ›Pius‹ auf Siebmanns starke Verbundenheit mit dem real-existierenden Sozialismus an, die mitunter die Form eines religiösen Fanatismus annimmt:196 »›Pius‹ ist lateinisch und bedeutet ›Der Fromme‹, und für die 12 A bedeutete dies im besonderen dass Pius auf eine fromme Art zu tun hatte mit der Sozialistischen Einheitspartei« (IB: S. 86 f.). Der Direktor der Gustav-Adolf-Oberschule Robert Siebmann verwandelt sich in die Karikatur Pius: Untermalt wird das würdig-lächerliche Betragen des Schulleiters durch den Tonfall des Erzählers, der Pius’ ungewollt komische Ausstrahlung parodistisch in Szene setzt: Pius »sass grossartig wartend hinter seinem Schreibtisch in der Sonne« (IB: S. 218); »[e]intrat Pius, er blieb an der Tür stehen, – Freundschaft! rief er« (IB: S. 86); »[j]etzt endlich kam Pius’ Stimme in grosser Herrlichkeit durch die Aula gestürmt« (IB: S. 172). Auch die Redeweise Pius’ wird parodistisch dargestellt: »– Die illegale: sagte Pius und atmete. – Die illegale Verbrecherorganisation. Vom kapitalistischen Ausland bezahlter Volksfeinde!… Die in der sozialistischen Heimat ihre reaktionäre Irrlehreverbreiten!« (IB: S. 141)197 Bei all der unfreiwilligen Komik, die von Siebmann ausgeht, wäre es sicherlich verfehlt, ihn nur als lachhafte Witzfigur abzubilden, verbirgt sich doch hinter dem Spottbild Pius in Wahrheit der machtvolle und furchteinflößende Parteifunktionär Siebmann. Zieht man den parodistischen Ton ab, mit dem er in Szene gesetzt wird, so verschwindet das Lächerliche und zurück bleibt die gegenteilige Empfindung der Furcht vor seiner Autorität: »Pius hatte die Macht mit seinem 196 Hoppe weist darauf hin, dass der »Spitzname ›Pius‹ […] auf die schon von Walter Mehring, später Bertolt Brecht kritisierten ›Marx-Pfaffen‹ an[spielt]«: Rainer Benjamin Hoppe: »Mangelhaft!« Uwe Johnsons Darstellung der DDR-Schule in den Romanen Ingrid Babendererde und Jahrestage (4. Band). In: Johnson-Jahrbuch 1 (1994), S. 190 – 215, hier S. 199. 197 Zur »Propagandasprache als Sprache der politischen Macht« und Pius’ Ausdrucksweise vgl. Beate Wunsch: Studien zu Uwe Johnsons früher Erzählung Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953. Frankfurt a. M.: Lang, 1991, S. 99 f. Siehe dazu auch Marek Dziuba: Machiavelli ins Stammbuch. Institutionalisierte Lüge in »Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953« von Uwe Johnson. In: Hartmut Eggert und Janusz Golec (Hrsg.): Lügen und ihre Widersacher. Literarische Ästhetik der Lüge seit dem 18. Jahrhundert. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2004, S. 205 – 210, hier S. 208 f.
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Worte etwas gut und böse zu machen […] so gewaltig war Pius« (IB: S. 90). Tatsächlich entpuppt sich Siebmann als ein einflussreicher und zuweilen sogar »gefährliche[r]«198 Aktivist, der rücksichtslos Indoktrination und Drill betreibt und dort, wo sich Widerstand bemerkbar macht, zu den Mitteln der Einschüchterung, Repression und Bestrafung greift (vgl. IB: S. 159 – 163): Unentschuldigtes Fernbleiben vom Kartoffelkäfersammeln oder von Protest-Aufmärschen wurde in gefährlichen Verhandlungen bestraft, geringfügige Witzeleien über den Heiligenschein des Führers der Kommunistischen Partei der Sowjetunion oder der Schulleitung galten als Beweise feindseliger Haltung gegen die Demokratische Republik und boten Anlass zur Ausstossung mehrerer Schüler, verschiedene Fälle öffentlichen aber auch ungesetzlichen Widerspruchs gegen die Art der schulischen Vorschriften und Verweigerungen wurden der Polizei für Staatssicherheit übergeben und bildeten wegen der Höhe der Zuchthausstrafen die wesentliche Grundlage der Front, die allmählich zwischen einem Teil der Schüler und Lehrer und den Organisationen der Freien Deutschen Jugend wie der Sozialistischen Einheitspartei entstand. (IB: S. 161 f.)
Wer sich Siebmanns Verordnungen entzieht, droht als feindliches Element diffamiert, der Staatssicherheit übergeben und der »stalinistische[n] Säuberung«199 unterworfen zu werden. Bereits der Name ›Siebmann‹ spielt auf das Aussieben,200 also die sozialistische »Reinigung der Reihen« (IB: S. 167) und die »Zerspaltung der Schülerschaft in gute und böse Kinder« (IB: S. 167) an. Radikaler noch tritt der Machtapparat Siebmanns in einer früheren Fassung von Ingrid Babendererde zutage, dort heißt es: »Herr Siebmann hat vier aus unserer Klasse ins Zuchthaus gebracht im vorigen Jahr«.201 Der Respekt, den die Schüler dem Direktor zuweilen scheinbar erweisen, gründet sich also auf Furcht und Einschüchterung und unterscheidet sich hierin von der wahren Würde, die Schiller zufolge zwar ein Gefühl der Achtung und Ehrfurcht auslösen mag, niemals aber Furcht erregt (AW: S. 390). So wird beispielsweise die »andächtige Ehrerbietung« (IB: S. 86), welche die Schülerin Marianne Siebmann entgegenbringt, wenig später als pure Verängstigung entlarvt, als er über die Junge Gemeinde zu sprechen beginnt: »[A]ber Marianne war jetzt so verängstigt dass sie weinen würde statt zu reden.« (IB: S. 90) Furcht statt Ehrfurcht ist somit die eigentliche lügenhafte Basis von Siebmanns falscher Würde. »Von der Lustigkeit der Würde ist hier nicht viel zu spüren.«202 198 Rainer Benjamin Hoppe: »Mangelhaft!« Uwe Johnsons Darstellung der DDR-Schule in den Romanen Ingrid Babendererde und Jahrestage (4. Band). In: Johnson-Jahrbuch 1 (1994), S. 190 – 215, hier S. 200. 199 Ulrich Krellner : »Was ich im Gedächtnis ertrage«. Untersuchungen zum Erinnerungskonzept von Uwe Johnsons Erzählwerk. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2003, S. 31. 200 Vgl. ebd., S. 31. 201 Uwe Johnson: Begleitumstände. Frankfurter Vorlesungen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1986, S. 85. 202 Bernd Neumann: Mecklenburg bei Uwe Johnson. Stadt, Schule und Schleuse im Erstling
Reifeprüfung: Ingrids Entwicklung zu Würde und Erhabenheit
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Reifeprüfung: Ingrids Entwicklung zu Würde und Erhabenheit
8.3.1 Vom Schönwetter zum Unwetter oder: Wie kam Ingrid in diese Geschichte? Im Verlauf des Romans erfährt Ingrid sich als Teil des geschichtlichen Prozesses, der sie determiniert. Sie erkennt, dass sie »eingesperrt in irgend welche[n] öffentlichen Meinungen« (IB: S. 194 f.) ist und dass ihre Autonomie nie wirklich existiert hat. Bereits zu einem früheren Zeitpunkt bekundet sie einmal Verständnis für zwei Schüler, welche das Land verlassen haben, und gesteht sich ein, dass »es weder mit der Freiheit noch mit der Bequemlichkeit weit her sei in der Demokratischen Republik« (IB: S. 157). Die Einforderung der Freiheit scheitert, dies klingt bereits zu Beginn des Romans an, als sie beim Baden am See ihre Selbstbestimmung spielerisch verteidigt und im doppeldeutigen Sinn ruft, »sie sei ein freier Mensch und niemand könne ihr verwehren –« (IB: S. 50). Der Abbruch des Satzes deutet im Kontext des weiteren Handlungsverlaufs die Uneinlösbarkeit des Freiheitsversprechens durch das Schöne an. Ingrid findet sich durch den geforderten öffentlichen Redebeitrag auf der Schulversammlung in der Geschichte wieder. Es wurde bereits darauf verwiesen, dass der Ansprache eine doppeldeutige Funktion zukommt, indem sie einerseits als Ausdruck von Ingrids schöner Seele interpretiert werden kann, zum anderen aber auch den Übergang zu einer Position der Verantwortung und geschichtlichen Anwesenheit einleitet. Als Höhepunkt des Romans ist die Rede Schaltstelle zwischen der anmutigen und der würdigen Ingrid. Geschichte, die Ingrid vorher ausgeblendet oder spielerisch verharmlost hat, betrifft sie plötzlich. Auf der Erzählebene wird der Einbruch der gesellschaftlichen Realität in Ingrids Leben dadurch kenntlich, dass die idyllischen Naturbeschreibungen mit der Zuspitzung des Konflikts abnehmen, die Geschichtsbeschreibungen jedoch kontinuierlich ausgebaut werden. Nun »ist also zu reden von dem Lauf der Welt und wie es angefangen haben könnte« (IB: S. 194) und davon, wie Ingrid »in diese Geschichte kam« (vgl. IB: S. 195) und damit »in viel Schwierigkeiten und Veränderung« (IB: S. 201). Mit ihrer Rede wird sie Glied einer Verkettung geschichtlicher Umstände und Determinationen, der sie sich nicht entziehen und die sie nicht freiheitlich lenken kann.203 Nach ihrer Mei»Ingrid Babendererde«. In: Ulf Bichel, Joachim Griephahn und Helmut de Voss (Hrsg.): Mecklenburg – Land Fritz Reuters und Uwe Johnsons. Beiträge zu den internationalen Reuter-Tagen vom 03.–05. März 1989 in Lüneburg, S. 59 – 79, hier S. 64. 203 Vgl.: »Ingrid […] findet sich durch die öffentliche Anklage in eine Entscheidungssituation gedrängt, aus der sie sich nicht entlassen kann und will […]« (Carsten Gansel: »es sei EINFACH NICHT GUT SO«. Uwe Johnsons »Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953«. In:
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nungsäußerung gehört sie fortan zu jenen diffamierten Schülern, die »Schandflecke seien für eine demokratische Oberschule« (IB: S. 225). Wie die Mitglieder der Jungen Gemeinde, die sie in ihrer Rede verteidigt, so bezichtigt man nun auch sie der Spionagetätigkeit für den Westen (IB: S. 222) und eine Resolution informiert die Schüler, »[d]ie Schulleitung habe die früheren Mitglieder der Freien Deutschen Jugend Ingrid Babendererde und Peter Beetz mit sofortiger Wirkung von der Schule verwiesen« (IB: S. 216). Weiterhin wird mehrfach die Überwachung durch die Staatssicherheit angedeutet, der nun auch Ingrid ausgesetzt ist. »Ob das wohl erlaubt sei«, so fragt sie den Polizisten Heini Holtz, »dass einem so ein Kerl durch die ganze Stadt hinterherlaufe –? Von der Waldstrasse an, wenn ich stehen bleibe, bleibt er auch stehen, kaufe ich Heftpflaster, wartet er draussen, ich mein, das ist übertrieben« (IB: S. 210). Letztendlich schließen ihre Klassenkameraden, die sich dem Systemdruck gebeugt haben, auch die Möglichkeit einer Verhaftung nicht aus: »Das geht uns gar nichts an. Sie mag verhaftet sein. Vielleicht ist sie auch nicht verhaftet. Aber der Fragebogen ist ihr verdorben, jetzt hat sie einen Knoten in ihrem Lebenslauf, oh verflucht.« (IB: S. 213) Siebmann, der ahnt, dass Ingrid sich angesichts solcher Umstände in den Westen abzusetzen versucht, will die Flucht um jeden Preis verhindern. »Er warte nur darauf: sagte Pius ernsthaft: Dass die Babendererde versuche nach Westberlin zu fliehen. (Ein Pass für Lübeck werde ihr jedenfalls verweigert werden.)« (IB: S. 222) Die über sie hereinbrechenden geschichtlichen Umstände machen ihr deutlich, dass sie sich der Geschichte und ihrer eigenen politischen Verantwortung nicht entziehen kann und dies auch nicht mehr will, wie sie Klaus gegenüber, der sie vor einer öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Schulleiter warnt, äußert: »Aber ich hab dies angefangen, es braucht mich nichts anzugehen, geht mich aber. Und ich will es bis zum Ende sehen.« (IB: S. 149) Rainer Benjamin Hoppe schreibt dazu: »Es geht um die Moral des Einzelnen: Wie verhält sich das Individuum unter dem zunehmenden politischen Druck des – hier – deutschen stalinistischen Systems?«204 Diese Frage betrifft nun auch Ingrid, auch sie »hatte wahrlich zu überlegen ob sie sich weiterhin verhalten wollte in der Weise nicht verantwortlicher Anwesenheit« (IB: S. 167). Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Text + Kritik. Uwe Johnson. Bd. 65/66. München: Edition Text + Kritik, 2001, S. 50 – 68, hier S. 63). 204 Rainer Benjamin Hoppe: »Mangelhaft!« Uwe Johnsons Darstellung der DDR-Schule in den Romanen Ingrid Babendererde und Jahrestage (4. Band). In: Johnson-Jahrbuch 1 (1994), S. 190 – 215, hier S. 195. Die Moral-Frage in Ingrid Babendererde erörtern ebenfalls: Annekatrin Klaus: »Sie haben ein Gedächtnis wie ein Mann, Mrs. Cresspahl!« Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1999, S. 117 f.; Nicola Westphal: Literarische Kartografie: Erzählter Raum in den Romanen Uwe Johnsons. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2007, S. 50; Norbert Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons. Jahrestage und andere Prosa. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1997, S. 177.
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Die als Naturgewalt über Ingrids Leben hereinbrechenden geschichtlichen Ereignisse, die ihr ihre eigene Unfreiheit und Determiniertheit vor Augen führen, werden auf metaphorischer Ebene durch die Veränderung der Natur- und Wetterverhältnisse abgebildet. Ein nahezu dramatischer Umschwung vom Schönwetter zum Unwetter bahnt sich an. Diese »Wetterdramaturgie«205 »wurde von der Forschung oft als aufdringlich bezeichnet«.206 Parallel zur Zuspitzung des geschichtlichen Konflikts um die Junge Gemeinde und zu Ingrids eigener Involvierung darin häufen sich Verweise, die ein Ende der naiven Schönwetterphase und den bevorstehenden Umschlag zum erhabenen Unwetter207 ankündigen:208 Über dem See war Wind aufgekommen, die Luft strich kühler heran. Die Wellen rollten schwerer in das Uferschilf, im Kleinen Eichholz hatte sich allmählich ein Rauschen aufgeschwungen. Über den jetzt ganz dunklen Himmel trieben eilig hellere Wolkenfetzen. (IB: S. 64)
Nach ihrem Streit beobachten Ingrid und Klaus getrennt den Wolkenzug: Klaus starrt »in den Himmel. Der war trüb verwischt und unruhig; die Wolken trieben sich immer finsterer zusammen« (IB: S. 117). Gleichzeitig sitzt Ingrid »in der warm-windigen Nacht« (IB: S. 118) und »[d]er Wind [wirft] ihre Haare hin und her« (IB: S. 118). Die frühsommerliche Wärme wandelt sich mit Zuspitzung der Konfliktsituation vor der letzten Segelpartie der drei Protagonisten allmählich zu drückender Schwüle: »Der Himmel zog unmässig viel Hitze zusammen in seinem grossen Blau« (IB: S. 234 f.) – und ein »unruhiger fülliger Wind« (IB: S. 234) kündigt Sturm und Regen an. »Hinter Holthusen fernab kam unaufhaltsam stetig eine lange dunkelblaue Wolke hoch. Die wurde langsam grösser, und das Land unter ihr wurde verdunkelt und undeutlich.« (IB: S. 241) Die gewittrig-gespannte Atmosphäre entlädt sich schließlich in der letzten Segelszene in einem schweren Unwetter mit sintflutartigen Regenfällen, Sturm, Hagel, Blitz und Donner (IB: S. 238 ff., S. 241 ff.) – in seiner Schrift Vom Erhabenen verwendet auch Schiller das Bild vom kenternden »Schiff auf dem Meere« (VE: S. 401).209 Der idyllische See, mit dem Ingrid anfangs versöhnlich gelebt hat, 205 Norbert Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons. Jahrestage und andere Prosa. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1997, S. 171. 206 Nicola Westphal: Literarische Kartografie: Erzählter Raum in den Romanen Uwe Johnsons. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2007, S. 45, vgl. Anm. 47. 207 Vgl. Schillers Beispiele in VE: S. 401, S. 413. 208 Vgl.: Die Unwetterepisode lässt sich somit »als metaphorische Übertragung des schulischen Konflikts auf die Freizeitsphäre lesen […]« (Nicola Westphal: Literarische Kartografie: Erzählter Raum in den Romanen Uwe Johnsons. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2007, S. 35, vgl. auch S. 42 ff.). 209 Zu Schillers Bild des Schiffbruchs vgl. Peter van Suntum: Die Ästhetik des Erhabenen und die Repräsentation des Leidens im Werk von Peter Weiss. Madison: UMI Microform, 2002, S. 62.
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verwandelt sich in die erhabene Gewalt eines lebensbedrohlichen reißenden Stroms. Aus dem Miteinander von Natur und Mensch wird nun ein Kampf – »sie gingen unverändert gegenan« (IB: S. 242)210 –, in welchem die drei Jugendlichen die »Aggressivität und Gewalt der Natur, die in ihrer Härte, Stärke und Wechselhaftigkeit nicht zu bändigen ist«,211 ebenso wie ihre sinnliche Unterlegenheit gegen diese Macht deutlich zu spüren bekommen: »Es regnete nämlich Wasser und Hagel durcheinander, das schmerzte vielfach auf ihren nackten Rücken« (IB: S. 242). »Die Squit tobte sofort los vor dem Wind, riss sich durch das wegklatschende Wasser« (IB: S. 236). »Der Wind lärmte wütend um sie, das Wasser schlug hart gegen den Bug; das Licht war ganz hart in all dem.« (IB: S. 237) Am Ende der Segelszene bleibt eine frierende und verletzliche Ingrid zurück und mit ihr die Ratlosigkeit und Resignation Jürgens, wie ihr wohl zu helfen sei: »Denn Ingrid fror sehr, sie schien nicht weit vom Zähneklappern, so unbeweglich sie da auch hockte in ihrem Badeanzug. Wenn sie wenigstens etwas für Ingrid hätten: dachte Jürgen, aber sie hatten nichts für Ingrid.« (IB: S. 243) Die Natur, die zuvor mit ihrer wärmenden Sonne dem Mädchen wohlgesinnt war, wendet sich nun feindlich gegen sie. Im Gegensatz zu ihrem einstigen friedfertigen und unschuldigen Charakter nimmt Natur hier gewaltige und mächtige, ja sogar zerstörerische Züge im Sinne des Erhabenen an. Die übermenschliche Gewalt der Natur wird auch durch den Hinweis auf den Tod von Ingrids Vater offenkundig, der nämlich »ertrunken war beim Segeln im Oberen See« (IB: S. 56). Bei ihrem letzten Segeln hätten auch Ingrid, Klaus und Jürgen »ebensogut dabei kentern können« (IB: S. 240), letztendlich müssen sie jedoch nur im dichten Nebel von der »›Schwanhavel‹ […] ins Schlepp« (IB: S. 243) genommen werden.
210 »Die Formel ›gegenan gehen‹ spielt dabei auf das Widerstandsmoment an, das dem Wind beim Segeln in Analogie zu den Forderungen nach Diskreditierung der Jungen Gemeinde entgegengesetzt wird. Nicht dem Resultat, aber der moralischen Relevanz des Widerstands wird in der Szene eine unmissverständliche Bewertung zuteil, denn in ihr wird erkennbar, dass die drei Protagonisten ihre Entscheidung, sich gegen die Zumutungen des Direktors zur Wehr zu setzen, bewusst getroffen haben und nach Schulverweis und Maßregelung immer noch für die richtige halten […]« (Nicola Westphal: Literarische Kartografie: Erzählter Raum in den Romanen Uwe Johnsons. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2007, S. 45). 211 Leyla Sedghi: Das Dilemma der Grenze: Zu Uwe Johnsons Frühwerk. Dissertation, LMU München, 2004, S. 45.
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8.3.2 »Und schon wird dir erhaben zu Mute«: Der heitere Geselle verlässt Ingrid Von den Naturgewalten gilt, was der Biologie-Lehrer Drögmöller von den Naturwissenschaften im Allgemeinen behauptet, von jenen Wissenschaften also, die sich mit dem Prinzip der Natur auseinandersetzen: Sie »bewirken einen erhabenen Gleichmut« (IB: S. 112). Auch Ingrid beginnt angesichts ihrer Konfrontation mit Geschichte als Naturmacht eine erhaben-würdevolle Gesinnung auszubilden. Ihre Entwicklung hin zu Würde und Erhabenheit vollzieht sich jedoch nicht abrupt, sondern fließend und prozesshaft. In Kapitel 6 dieser Arbeit ist das ›dynamische Modell‹ nach Schiller beschrieben, in welchem die verschiedenen Grade der Anmut und Würde nahtlos ineinander übergehen. Ingrid, die zu Beginn dieses Kapitels als belebende Anmut mit ihren Charakterzügen der Heiterkeit und des Spotts dargestellt wird, lässt zunehmend den Wesenszug des Mitleids erkennen, der typisch für die beruhigende Anmut ist, jene Art der Anmut also, die Schillers dynamischem Modell zufolge an die Würde grenzt. So empfindet Ingrid Mitgefühl für die Deutschlehrerin Frau Behrens, als Klaus diese in einer Schulstunde durch seinen bissigen Vortrag der Brecht’schen Variante von Schillers Bürgschaft zu provozieren sucht: »Ingrid betrachtete die Frau [Behrens, Anm. d. V.], und sie tat ihr leid um das scheinruhige Anlehnen« (IB: S. 98). Ebenso löst die wachsende Distanz, welche Ingrid zwischen sich und Klaus wahrnimmt, Mitleid aus: »Klausens Tonfall hatte ganz fremd geklungen, das tat ihr leid.« (IB: S. 108) Weiterhin bedauert sie Sedenbohm, dessen Hilfsbereitschaft sie nach ihrer Rede auf der Schulversammlung höflich zurückweist: »[E]s tat ihr leid dass sie also nichts damit anfangen konnte.« (IB: S. 181) Damit ist Ingrids Reifungsprozess weg von der heiteren belebenden Anmut, wie sie dem Leser zu Beginn des Romans begegnet, über das Zwischenstadium der beruhigenden Anmut hin zu Würde und Erhabenheit angedeutet, die sich zunehmend herauskristallisieren. Bedrohliche Veränderungen der »Natur außer uns« (VE: S. 397), so heißt es bei Schiller, werden als leidvolles Aufbegehren der »Natur […] in uns« (VE: S. 395, Herv. i. O.), als Ohnmacht und Unlust, als Furcht und Schrecken wahrgenommen, um eine nahende Gefahr zu melden (vgl. Abschnitt 5.1 dieser Arbeit). Auch in Ingrids heitere Wesensart mischen sich vermehrt Empfindungen der Lustlosigkeit und Furcht, welche ihr die Bedrohung durch die geschichtliche Naturgewalt um sie herum ankündigen und zugleich als erste Anzeichen einer sich anbahnenden Haltung der Erhabenheit und Würde zu verstehen sind. So verhält sie sich in der Englischstunde bei Sedenbohm während des Streits zwischen Klaus und Jürgen »angestrengt« (IB: S. 80), »verzweifelt« (IB: S. 81) und biegt »Falten« (IB: S. 80) in ihr Heft. Im Deutschunterricht nach ihrem SchillerKommentar zeigt sie sich »lustlos« (IB: S. 101) und »ärgerlich« (IB: S. 101),
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nachdem sie bei der Nachfrage der Lehrerin aus der Illusion über eine ästhetische Erziehung des Tyrannen zu Schönheit, Freundschaft und Moral »aufschreck[t]« (IB: S. 101). Beim Wiederholen des Geschichtsstoffes erschrickt Ingrid über die ins Bewusstsein dringenden negierten geschichtlichen Tatsachen – »sie habe das alles nicht mehr gegenwärtig: rief sie schreckensbleich« (IB: S. 105). Schreckhaftigkeit als Zeichen der beginnenden Erhabenheit äußert sich schließlich auch in Siebmanns Unterricht, als sie aus ihrer selbstvergessenen Teilnahmslosigkeit jäh erwacht: »Endlich schrak sie auf und beugte sich seufzend über ihre Schrift.« (IB: S. 88) Auf Siebmanns Hetzrede über die Junge Gemeinde reagiert Ingrid »empört[]« (IB: S. 90) – »Ich finde das unerhört« (IB: S. 90) – und sie ist zunächst »erzürn[t]« (IB: S. 90) und »unwillig« (IB: S. 91) über Klausens spöttische Art, mit der er Siebmanns lächerlich-würdiges Gehabe imitiert. Angst, die Ingrid zuvor noch bei Katina verspottet hat – » Meine Mutter ist ja so furchtsam« (IB: S. 30) – macht sich nun auch in ihr breit (IB: S. 246 f.). Schiller versteht »Sorge und Furcht« (ÄE: S. 651, Herv. i. O.) als »[d]ie ersten Früchte, die er [der Mensch, Anm. d. V.] in dem Geisterreich erntet, […] beides Wirkungen der Vernunft« (ÄE: S. 651). Das »fröhliche Mädchen« (IB: S. 109) von einst befindet sich nun »sehr im Unglück« (IB: S. 190). Gegen die von außen einbrechende Naturgewalt setzt sich in Ingrid immer merklicher der Vernunfttrieb, die »vernünftige Einsicht« (IB: S. 107) durch. Ingrids zunehmende Bedachtsamkeit und Reflexion, die ihre vorbewusste, kindlich-naive und ganzheitliche Wahrnehmungsart abzulösen beginnen, weisen auf die sich allmählich behauptende Geistessphäre hin; so wird Ingrid immer öfter »[n]achdenklich« (IB: S. 228), mit »überlegsam vorgeneigte[m] Kopf« (IB: S. 228, vgl. auch S. 9) oder in »Bedenken« (IB: S. 191) versunken dargestellt. Sie wirkt weniger intuitiv und unreflektiert naiv. Wie Mardshanah aus dem Märchen Ali Baba und die vierzig Räuber, das Klaus ihr wenig später auf ihrer gemeinsamen Flucht in den Westen erzählt, entwickelt sich Ingrid zu einem »Mädchen von scharfem Verstand und grosser Einsicht« (IB: S. 10). Sie versucht plötzlich Musik, die für ein schönes und ganzheitliches Erleben steht, zu »verstehe[n]« (IB: S. 228).212 Diese sich durchsetzende Geistessphäre symbolisiert der Stirnkuss, mit dem sich Klaus und Ingrid gegen Ende des Romans gegenseitig begrüßen, versinnbildlicht die Stirn doch den Sitz des geistigen Prinzips: »– Kuss auf Stirne: sagte Klaus, und Ingrid legte Hand an seinen Kopf und tat so kostbar verzogenen Mundes, und sie sagte: Ich auch!, und Klaus hob feierlich ihre Stirn unter sein Kinn.« (IB: S. 229)213 Bedeutsam ist auch die Art und Weise, 212 »Die von Ingrid verlangte Reflexion des ästhetischen Erlebnisses, sei es durch die Musik oder die Erzählung, führt die schöne Seele an den Abgrund.« (Leyla Sedghi: Das Dilemma der Grenze: Zu Uwe Johnsons Frühwerk. Dissertation, LMU München, 2004, S. 38) 213 Das Wort ›Stirn‹ wird mehrfach betont: Vgl. IB: S. 191, S. 228, S. 229.
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wie der Kussaustausch stattfindet, nämlich »feierlich« und mit »kostbar verzogene[m] Mund[]«. Die Attribute des Kostbaren und Feierlichen hat Schiller in Über Anmut und Würde als Anzeichen eines – wenn auch affektierten – würdevollen Verhaltens beschrieben (AW: S. 392). Auf die Sphäre des Geistes und des zu keiner Darstellung fähigen vernünftigen Prinzips im Menschen deuten auch das Schweigen und die Sprach- und Wortlosigkeit Ingrids, die doch vorher so gesprächig und lebensfroh war, hin. Schon zu Beginn des Romans wird auf dieses Motiv des Keine-Worte-Findens vorausgewiesen, wenn Katina überrascht zur Kenntnis nimmt: »Du kommst aber auch so wortlos […] Stehst du schon lange da?« (IB: S. 29 f.) Die Erfahrung ihres letzten Segelns im erhabenen Unwetter verschlägt ihr förmlich die Sprache: »Der Wind riss ihnen die Worte vom Munde.« (IB: S. 235) Am Ende erscheint es, »als wisse sie mit ihren Augen noch viel mehr von dem was nicht zu sagen war.« (IB: S. 234) Der Beginn der sich behauptenden Vernunft in Ingrid äußert sich weiterhin durch die charakteristischen gemischten Gefühle, die einerseits die Unterlegenheit unter die Natur, andererseits die Stärke der Vernunft kenntlich machen. So zeigt Ingrid jene typische Gefühlsmischung aus Lust und Unlust, wenn ihre Mimik zugleich als »lustig und angestrengt« (IB: S. 235) beschrieben wird, sie »ernsthaft [lächelte]« (IB: S. 43), wenn von ihr eine gemischte Wirkung aus »Herzeleid und Freundschaft« (IB: S. 47) ausgeht oder Klaus ihre Schönheit mit einem Gefühl der Wehmut bewundert (IB: S. 62).214 Die Entwicklung Ingrids in Richtung Erhabenheit und Würde kommt nicht unverhofft, kündigt doch bereits ein intertextuell auf einen Vers aus Schillers Ode An die Freude verweisendes Spiel zwischen Ingrid und ihrer Mutter Katina vor der Krisensituation in der ersten Hälfte des Romans diese Tendenz an. In seinem berühmten Gedicht ruft Schiller bekanntermaßen zu brüderlichfreundschaftlicher Gesinnung auf und appelliert dazu, im Kampf um die Rechte und Würde der Menschen selbstsicher, furchtlos und unerschrocken mit »Männerstolz vor Königsthronen«215 zu treten. Auf diesem Herrschersessel nimmt nun in der folgenden Szene spielerisch Ingrid Platz; vor ihr, in der Rolle des Untertanen, verängstigt und ergeben Katina: 214 Nach ihrer Rede wandelt sich das lebenslustige Mädchen in ein »müdes höfliches Mädchen« (IB: S. 182). Auch Ingrids neuerliche gewissenhafte Erledigung ihrer Mathematikhausaufgaben (IB: S. 57), welche sie zu Beginn des Romans noch nicht so eifrig betreibt – »Sie hätte Jürgen fragen sollen wegen der Mathematik-Aufgabe, aber sie vergass es dann« (IB: S. 55 f.) – ist ein Anzeichen für die erwachende Tätigkeit der Vernunft und kann als Hinweis auf das Mathematisch-Erhabene gedeutet werden. 215 Friedrich Schiller : An die Freude. In: Georg Kurscheidt (Hrsg.): Friedrich Schiller : Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 1: Gedichte. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag, 1992, S. 248 – 251, hier S. 251.
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Sie [Ingrid, Anm. d. V.] sah gar nicht auf; sie hob ihre linke Hand sehr vornehm in die Höhe und sagte in überaus kostbarer Aussprache: Bitte –, so nehmen Sie doch Platz! Katina schlich demütig auf den Sessel zu, liess sich nieder und lächelte voll Erwartung. – Haben Sie Platz genommen? fragte Ingrid höflich und ohne Anteilnahme. – Ja: hauchte Katina ängstlich. – Darf ich mal was sagen? – Sagen Sie etwas. Ingrid brachte ihre Stirn in ärgerliche Falten, drehte ihren Hals in ungnädiger Weise, sah heftig auf. Katina blickte bescheidentlich und sagte: Du sitzest da so erfreulich am Schreibtisch. – Ich muss schon sagen…: begann Ingrid drohend. – Das ist Mannesmut vor Königsthronen! entgegnete Katina selbstbewusst. – Aha: sprach Ingrid in gemessener Verneigung: Ich will sehen dass ich Ihren Ausdruck in meiner mündlichen Prüfung verwenden kann. – Sie sind sehr gütig: flüsterte Katina versiegend, aber sie machte deutlich dass sie natürlich längst nicht befriedigt sei. Sie erschöpfte sich in innigem Gelächter, indes Ingrid sie besichtigte mit Verwunderung. (IB: S. 57 f., Herv. d. V.)
Indem sie als »ungnädig«, »heftig« oder »drohend« beschrieben wird und bei ihrer Untergebenen ein Gefühl des »Ängstlichen« und »Nicht-befriedigt-seins« bewirkt, trägt die Herrscherperson Ingrid offensichtlich Züge falscher und affektierter Würde – bereits das »Kostbare« (IB: S. 57) und der »Faltenwurf« (IB: S. 57) sind bei Schiller Ausdruck der künstlichen Würde (AW: S. 392, S. 394). Die wahre Würde zeigt sich in dieser Szene gerade nicht an der – falschen – Majestät, man denke hier an die Pervertierung herrschaftlicher Ausdrucksformen durch Direktor Siebmann, sondern umgekehrt am Staatsdiener, im wahren Leben ist dies Ingrid. Zu diesem wandelt sie sich schließlich am durch das »innige Gelächter« Katinas markierten Ende des Spiels. Ingrid, die hier unverkennbar die ersten Anzeichen der wahren Würde – welche sie zum Schluss auszubilden gezwungen sein wird – wahrzunehmen beginnt, blickt »mit Verwunderung« um sich, mit eben jener Gefühlsregung also, durch welche sich die noch unbekannte Empfindung des Erhabenen mitteilt. Entgegen ihrer Gewohnheit lässt sie sich schließlich auf ein ernsthaftes Gespräch über »den verschärften Klassenkampf« (IB: S. 58) ein und findet plötzlich nichts mehr Belustigendes an ihm: »Ich finde das sehr unerfreulich: sagte Ingrid, sie sprach plötzlich wieder mit ihrer natürlichen Stimme. – Ach Katina« (IB: S. 58). Nach außen hin zeigt sich ihre erhabene Gesinnung als Würde, die Ingrid als vermeintliches Idealschönes sowieso schon besitzt, wie in Abschnitt 8.1.3 erläutert. Das Erscheinungsbild der Würde tritt im Verlauf des Romans immer merklicher vor das der Anmut und verdrängt dieses schließlich. Auf der Flucht, vor dem Abflug aus Berlin, zeigt sich die von der Würde ausgehende Wirkung des Ehrfurchtsvollen an Ingrid: »Der Mann am Fuss der Treppe sah dem Fräulein höflich wartend und ehrerbietig nach.« (IB: S. 201)216 216 Auch das Erstaunen, eine weitere Wirkung, die vom Erhabenen ausgeht, erkennt man bei Ingrid: Jürgen »sah […] Ingrid an mit beiläufigem Erstaunen[]« (IB: S. 151) und auch Katina reagiert auf Ingrids Wandlung »erstaunt« (IB: S. 58).
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Ingrids Erwachen aus dem »sinnlichen Schlummer« (ÄE: S. 561) und die Entwicklung ihres Bewusstseins für die politisch-gesellschaftlichen Zeitumstände kommt metaphorisch durch das Uhren-, Wecker- und Zeitungsmotiv zum Ausdruck, das sich leitmotivisch dann durch die Jahrestage ziehen wird. So verkündet während Ingrids Rede ein vom Schüler Klacks unter der Heizung versteckter Wecker, der »unablässig klingelte« (IB: S. 175) und »rasselte« (IB: S. 172), ihr allmähliches Erwachen; parallel zu dem »entsetzliche[n] Rattern« (IB: S. 172) ertönt »der erste Schlag der Domuhr« (IB: S. 172). Vor ihrem Auftritt »nahm [Ingrid] die Zeitung des heutigen Tages« (IB: S. 172) – später wird Gesine als Leserin der New York Times das Nachrichtenblatt nicht mehr aus der Hand geben. Die Zeit und der Druck der Verhältnisse in Form der »ungeduldige[n] Uhr« (IB: S. 247) brechen in Ingrids Leben ein und machen sich als »unablässige Unruhe in ihre[m] Herzen« (IB: S. 247) bemerkbar. Auch die auf der Schulversammlung vom Direktor gestellte Frage, ob »die Schülerin Babendererde anwesend« (IB: S. 171) sei, lässt sich auf einer weiteren Bedeutungsebene lesen. Die Babendererde ist anwesend, mit dem Weckruf erwacht Ingrid aus ihrem »sinnlichen Schlummer« zur politischen und moralischen Reife und tritt ein in die geschichtliche Anwesenheit. Damit wird ein Prozess eingeleitet, der Ingrids Entwicklung von der Kindheit und kindlichen Naivität zu Reife, Reflexion und Erwachsenwerden – oder analog zu Schillers ›Reifemodell‹ (vgl. Kapitel 6 dieser Arbeit) von der Schönheit zu Würde und Erhabenheit – andeutet. Schon der Untertitel des Romans Reifeprüfung217 und Katinas Bemerkung, dass sie »neuerdings […] ihre Tochter insgeheim für erwachsen« (IB: S. 57) halte, spielen auf diesen Prozess der Reife und des Erwachsenwerdens an. Von ›erwachen‹ zu ›erwach(s)en‹ ist es nur ein kleiner Schritt. Mit ihrem Reifungsprozess lässt Ingrid »das Jahr der letzten Spiele«218 endgültig hinter sich. Indem Ingrids konsequent moralisches Handeln nach ihrer Rede eine geradezu »übermenschliche Stärke erfordert«,219 die fast schon als »heroisch«220 bezeichnet werden kann und sie »in eine merkwürdige Überhöhung geraten läßt«,221 hat die schöne anmutige Seele Ingrid den ersten Schritt vollzogen, sich in die erhabene heroische Seele Gesine, die in ihrem Namen anagrammatisch die erste Silbe von Ingrids Namen – ›Ing‹ – trägt, zu verwandeln. Im Keim ist diese 217 Zum Motiv der Reifeprüfung vgl. auch Carsten Gansel: »es sei EINFACH NICHT GUT SO«. Uwe Johnsons »Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953«. In: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Text + Kritik. Uwe Johnson. Bd. 65/66. München: Edition Text + Kritik, 2001, S. 50 – 68, hier S. 65. 218 Uwe Johnson: Begleitumstände. Frankfurter Vorlesungen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1986, S. 30. 219 Annekatrin Klaus: »Sie haben ein Gedächtnis wie ein Mann, Mrs. Cresspahl!« Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1999, S. 119. 220 Ebd., S. 119. 221 Ebd., S. 119.
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Wandlung des Mädchens bereits zu Beginn des Romans angelegt: »[D]u brauchst sie [Ingrid, Anm. d. V.] nur da sitzen zu sehen in der Sonne und schon wird dir erhaben zu Mute, das hat sie so an sich.« (IB: S. 20) Der heitere Geselle aus Schillers Gleichnis von den zwei Genien (vgl. ÜE: S. 826) ist für die Begleitung konfliktreicher Lebenssituationen nicht geeignet, er verlässt Ingrid an dieser Stelle und überlässt ihre Führung seinem ernsten Kollegen.
8.3.3 Warum war lächeln so schwer geworden? Das beschädigte Schöne und das Scheitern der Steuerkunst In der Geschichte kann das Schöne nicht bestehen. Angesichts von Naturgewalten wird die Einheit Mensch bedroht und damit die Brüchigkeit des Schönen deutlich.222 Die Konfrontation mit der Naturgewalt in Form von Geschichte ist an Ingrids anmutiger Schönheit nicht spurlos vorübergegangen, sie hat Wunden hinterlassen. Deutlich kommt die Beschädigung des Schönen durch »diese Narbe an Ingrids Hals« (IB: S. 247) zur Geltung, der eine Verwundung vorausgegangen sein muss, die sie sich offenbar beim Segeln im Unwetter zugefügt hat. Auch Ingrids Kauf der »Heftpflaster« (IB: S. 210) noch vor der Segelfahrt weist darauf hin, dass sie eine Verletzung vorausahnt. Nicht zufällig scheint sich die versehrte Stelle am Hals zu befinden, kann doch der Hals in diesem Zusammenhang als Schillers »mittlere[r] Zustand« (ÄE: S. 643) zwischen dem Kopf als Ort des Geistes und dem übrigen Körper mit Herz-, Bauch- und Geschlechtsregion als Sitz des Gefühls und des Naturtriebs interpretiert werden. Somit deutet die Verletzung an Ingrids Hals an, dass eben jenes Verknüpfungsband zwischen Vernunft und Natur beschädigt ist; das zurückbleibende Wundmal zeigt darüber hinaus an, dass eine vollkommene Heilung nicht mehr ohne Weiteres gelingen kann. Das Verbindungsstück zwischen Geist und Körper erweist sich fortan als äußerst empfindsame und brüchige Stelle. In den Jahrestagen lässt sich die aus einer blutigen »Halswunde« (JT: 1192) hervorgegangene »Narbe an Jakobs Hals« (JT: 1081) als Fortführung von Ingrids Verletzlichkeit lesen und auch Gesines Vater Heinrich Cresspahl fordert seine Tochter beim Abschied aus der Heimat dazu auf, das verletzliche Gliedmaß zu schützen: »Binde dich ein Schaol um dein Hals.« (JT: S. 1828) Die Verwundung des Bindeglieds bedroht die Einheit von Vernunft und Natur und damit die Schönheit, die nur aus der versöhnlichen Koexistenz beider Triebe bestehen kann. So sieht auch Ingrids anmutige Schönheit einer fraglichen und ungewissen Zukunft 222 Vgl.: »Pflicht und Neigung im Sinne Schillers [sind] auch in ihrem [Ingrids, Anm. d. V.] Fall nicht immer im Einklang miteinander […]« (Leyla Sedghi: Das Dilemma der Grenze: Zu Uwe Johnsons Frühwerk. Dissertation, LMU München, 2004, S. 29).
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entgegen: »[S]ie [Ingrid, Anm. d. V.] war ein verdammt schönes Mädchen, aber wer weiss was dies nun wird.« (IB: S. 207)223 Die Anmut, so heißt es bei Schiller, ist jene bewegliche Schönheit, die an einem Menschen entstehen, aber auch wieder vergehen kann. Tatsächlich lässt sich beobachten, dass auch Ingrids anmutige Schönheit zu schwinden beginnt. Die allmähliche Entfernung Ingrids von ihrer einstigen Haltung der belebenden Anmut, welche sich durch das harmonische Zusammenspiel willkürlicher und unwillkürlicher Bewegungen geäußert und den für sie charakteristischen Ausdruck der Leichtigkeit und Heiterkeit erzeugt hat, wird durch ihre härter werdenden Gesichtszüge betont. Die »sympathetischen Bewegungen« (AW: S. 347), unmittelbarer Ausdruck der Seele, verraten, dass Leichtigkeit und Heiterkeit aus Ingrids Gebärden und damit aus ihrem Wesen verschwunden sind. Die willkürliche und vernunftgesteuerte Gestik und Mimik übernimmt nun die Kontrolle über die unwillkürliche natürliche. Ingrids zunehmende »Selbstbeherrschung«224 zeigt sich in ihrem »angestrengte[n] Gesicht« (IB: S. 210) und ihren nunmehr »schwierig erfüllten Augen« (IB: S. 191). Wie Klaus bringt sie »ihr Gesicht […] in Ordnung« (IB: S. 152); auch »ihre Augenbrauen zitterten lustig und angestrengt« (IB: S. 235), typisch für ein »gemischtes Gefühl« (ÜE: S. 826), wie dies bereits für ihren Freund in Abschnitt 8.2.3 festgestellt worden ist. Ingrids ganzes Wesen drückt nunmehr Disharmonie aus: Sie ist »unruhig« (IB: S. 228), »zornig« (IB: S. 151), »böse« (IB: S. 242) und »wütend« (IB: S. 242).225 Vor allem aber zeichnet sich die vergehende Anmut durch Ingrids Distanz zum Lachen und ihre missglückten Versuche zu lächeln ab: Mit den Worten »– Ich finde das gar nicht so lächerlich« (IB: S. 144) unterbricht Ingrid Klaus’ spöttisches Lachen über die Lehrerschaft auf der Schulversammlung, auf der sie wenig später ihre Rede hält. Die »mühsamen Lippen« (IB: S. 191) bringen ein anmutiges Lächeln nicht mehr ohne Weiteres zustande: »Lächeln ist nur eine Bewegung in deinem Gesicht; wie war es möglich dass das so schwierig geworden war.« (IB: S. 190) Nach der Versöhnung mit Klaus bemüht sich Ingrid, ihre schwindende Heiterkeit zurück zu erlangen: Ihre Schultern legte sie erschüttert zurück und sie lachte, es ging nicht so einfach und von vornherein, es war nun allerhand mit ihrem Lachen; aber sie blieb dabei und lachte sehr, sie konnte gar nicht davon abkommen zu lachen in ihrem Hals […] und sie lachte noch mehr. (IB: S. 231) 223 Vgl. auch: »Oh es tat nahezu weh dies [Ingrids Schönheit, Anm. d. V.] anzusehen«. (IB: S. 62) 224 Beate Wunsch: Studien zu Uwe Johnsons früher Erzählung Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953. Frankfurt a. M.: Lang, 1991, S. 144. 225 Auch Sedghi spricht von Ingrids »heitere[m] Gelächter«, das sich zugleich mit »Erschrecken« paart: Leyla Sedghi: Das Dilemma der Grenze: Zu Uwe Johnsons Frühwerk. Dissertation, LMU München, 2004, S. 38.
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Das Lachen gelingt Ingrid nicht mehr unwillkürlich und selbstverständlich wie früher – »es ging nicht so einfach und von vornherein« –, im Gegenteil, es »wirkt jetzt eher gezwungen als lebensfroh«.226 Sie scheint die Lachbewegungen vielmehr in willentlicher Absicht – »aber sie blieb dabei« – durch einen bewussten Entschluss herbeizuführen.227 Ingrid wird danach nicht mehr oft in der für sie typischen unbekümmerten Weise lachen. Dies erinnert zunächst an die Zwanghaftigkeit, mit der Klaus sein Lachen ausführt, im Unterschied zu ihm liegt Ingrid aber nichts daran, den Ernst des Lebens mit einer gekünstelten Anmut zu überspielen, indem sie sich eingesteht, dass sie eigentlich »gar nicht [vom Ernst der Geschichte, Anm. d. V.] ablenken« (IB: S. 189 f.) will. Das Lachen ist ihr förmlich vergangen: »Seltsamer Weise gab es nun nichts mehr zu lachen.« (IB: S. 139) Die Anmut als eine nach Schiller bewegliche Schönheit, die an einem Menschen entstehen und ebenso wieder vergehen kann, verlässt Ingrid. Der Gürtel der Venus als Symbol des Liebreizes wird ihr gewissermaßen wieder genommen. Mit der Schönheit geht aber auch die scheinbare Freiheit und Selbstbestimmung verloren. Diesem Autonomie-Verlust entspricht auf metaphorischer Ebene das Bild der versagenden »grossmächtige[n] Steuerkunst« (IB: S. 41). War das gekonnte Segeln228 zuvor noch Ausdruck der selbstbestimmten Lebenssteuerung, so gelingt am Ende die Navigation nicht mehr. Die Protagonisten haben »alle Mühe das Boot zu halten« (IB: S. 239). Unter den veränderten Bedingungen des Sturms der Geschichte gehorcht das Boot dem »Steuermann« (IB: S. 41) nicht mehr, wie in der Unwetterepisode demonstriert. Abläufe, die vorher automatisch, geschmeidig, fast wie im Schlaf gelungen sind, suchen Ingrid, Klaus und Jürgen nun gewaltsam zu erzwingen: »Klausens Finger drückten das Segel in den Mast« (IB: S. 235), sie »warfen sich ruckweise gegen die Gewalt des gebeugten Segels« (IB: S. 239) und »Jürgen [sah], wie Ingrid das Segel wütend zusammenboxte« (IB: S. 242). Das Ruder als Steuerinstrument ist »in Jürgens Hand so geringfügig und verletzlich dass er sich heimlich wunderte, es schien als könne man das zwischen zwei Fingern zerbrechen« (IB: S. 241).229 Das Scheitern der Lebens- und »Steuerkunst« (IB: S. 41) als Ausdruck für Au226 Beate Wunsch: Studien zu Uwe Johnsons früher Erzählung Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953. Frankfurt a. M.: Lang, 1991, S. 144. 227 Vgl.: »[E]ine Art von Lächeln« (IB: S. 210) nimmt nun den Platz des ursprünglich authentischen Lächelns ein. Ingrid »[sagte] Guten Morgen […] nur mit den Lippen und ohne es zu wissen« (IB: S. 208). 228 Zu den negativen Konnotationen des Segelns vgl. Beate Wunsch: Studien zu Uwe Johnsons früher Erzählung Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953. Frankfurt a. M.: Lang, 1991, S. 136. 229 Vgl.: »Das Boot als ein Raum innerhalb des Naturraums […] stellt einen zerbrechlichen Schutz der Menschen vor der Natur dar.« (Leyla Sedghi: Das Dilemma der Grenze: Zu Uwe Johnsons Frühwerk. Dissertation, LMU München, 2004, S. 46)
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tonomie und eigenständiges Handeln wurde bereits lange Zeit vorher vom Erzähler vorbereitet durch die nach Ingrids Rede eingesetzte Symbolik des »treibende[n] Boot[s] auf dem Oberen See bei Windstärke 8, und keiner schien etwas von Segeln zu verstehen« (IB: S. 175). Letztendlich können auch die Protagonisten im Unwetter ihr Ziel nicht selbstbestimmt ansteuern – »es war nicht abzusehen wohin dies sollte mit ihnen« (IB: S. 241) –, am Ende müssen sie abgeschleppt werden (IB: S. 243).230 Neben der Autonomie und Freiheit schwindet gemeinsam mit der Schönheit einer ihrer Kernaspekte: die Harmonie. Auf bildlicher Ebene wird dies durch die im Radio gesendete scheiternde, weil vermutlich durch Störsender beeinträchtigte, musikalische Einlage von »Billie MAYand his orchestra« (IB: S. 244, Herv. i. O.) mit dem symbolträchtigen Titel »GOEN OUTSIDE« (IB: S. 244, Herv. i. O.) zur Anschauung gebracht.231 Die Musik, also jenes Gebiet schöner Kunst, das Ingrid studieren möchte, hat zum Zeitpunkt kurz vor der Flucht all ihre Schönheit und Harmonie eingebüßt, wie im folgenden Zitat deutlich wird: Hinter ihm [Billie May, Anm. d. V.] begann ein Trompetenchor feierlich Gequältes aufzuführen; dann war da ein Saxophon, das stieg faul und verzweifelt durch ein endloses Treppenhaus, in dem waren alle Türen durchsichtig. […] Billie May and his orchestra marschierten ernsthaft und ungeschickt eine nächtlich feuchte Strasse unter Bögen von Laternen. Manchmal stolperte einer, und jetzt fielen sie alle übereinander. (IB: S. 244 f.)
Einerseits muten Ausdrücke wie »Gequältes«, »verzweifelt« oder »ungeschickt« disharmonisch an; mit dem Stolpern und Übereinanderfallen der Musiker – gewissermaßen gerät die Musik hier aus dem Takt232 – bricht das vormalige Zusammenspiel chaotisch in sich zusammen. Andererseits bietet Billie May sein Stück »feierlich« und »ernsthaft« dar und verweist somit auf jenen ernsten und
230 Auch Sedghi betont, »dass nicht das Subjekt, in diesem Fall die Freunde, das Boot steuert, sondern dass das Boot die Jugendlichen mit sich nimmt« (ebd., S. 46). 231 »Die mit dem Musikstück verbundenen Konnotationen von ›Freiheit‹, ›Aufbruch‹ oder ›Ausbruch‹ sind überdeutlich, zumal Johnson am Ende der Druckfassung auch noch einen anderen Titel gewählt hat, der nunmehr in etwas aufdringlicher Symbolik ›GOEN OUTSIDE‹ lautet.« (Uwe Neumann: Die ausgefallene Tanzstunde. In: Johnson-Jahrbuch 8 (2001), S. 29 – 61, hier S. 42) Zu Billie May und der Bedeutung der Jazz-Musik für Johnson siehe ebd., S. 42, Anm. 22 und S. 43. Die Bedeutung des Jazz erörtert auch Gary Lee Baker : Understanding Uwe Johnson. Columbia, South Carolina: University of South Carolina Press, 1999, S. 36. 232 Vgl. hierzu Jochen Hörisch: Die Kunst des Lebens und das Leben der Kunst. Überlegungen zu Schillers Konzeption einer ästhetischen Erziehung des Menschen. In: Text & Kontext. Zeitschrift für germanistische Literaturforschung in Skandinavien 28.1 (2006), S. 36 – 54. Hörisch spricht von der »metrische[n] Unbeholfenheit« (ebd., S. 46) eines von Thekla in Schillers Wallenstein vorgetragenen Verses.
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würdigen Bereich des Lebens, in dem Schönheit Schiller zufolge nicht bestehen kann. In einer zu einem ähnlichen Zeitpunkt stattfindenden Szene lauscht Ingrid zum Abschied gemeinsam mit Katina im Radio einem der Brandenburgischen Konzerte (IB: S. 227, vgl. Abschnitt 8.1.6). Die Absicht der Musik – der »Vorsatz von Heiterkeit« (IB: S. 228), die »Sicherheit der Ankunft« (IB: S. 228) und das »[A]ufgehoben[sein] in lauter Wohlmeinen« (IB: S. 228) – scheitert; Ingrid hört das Musikstück nicht zu Ende, sie erhebt sich aus ihrem Liegestuhl und entfernt sich vom Ort der Wohlklänge. Wie die Harmonie im Leben schief und verstimmt klingt und die Steuerkunst scheitert, so vermag auch Ingrids Schönheit und scheinbare Freiheit in der Geschichte nicht zu bestehen. Deutlich wird dies durch die unglückliche Liebe Jürgens, der doch wie Sedenbohm die ernste und würdige Seite des Lebens verkörpert, zu Ingrid. Der »traurige[] Herr[] Petersen« (IB: S. 77) sehnt sich nach ihr – bzw. nach dem Prinzip, das Ingrid verkörpert –, kann sie aber nicht erreichen: Und obwohl er sie [Ingrid, Anm. d. V.] nicht deutlich sah waren in ihm viele Abende und Vormittage und Musik und Gespräche, die er für Ingrid betrieben hatte; sie war aber niemals da gewesen. […] Auch war niemals Hoffnung gewesen in seiner Liebe und niemals Zuversicht. (IB: S. 183)
Ingrid, die Repräsentantin von Schönheit und Freiheit, war, die Zeilen sprechen es aus, »niemals da gewesen«. Sie kann somit, nicht nur für Jürgen, zu keinem Zeitpunkt tatsächliche Schönheit und Freiheit bedeutet haben, sondern lediglich die Möglichkeit davon. Hier sei an Schillers Ausführungen zum Begriff der Möglichkeit in den ästhetischen Briefen erinnert (vgl. Abschnitt 4.3 dieser Arbeit). Wenn der Mensch, so Schiller, im Spiel mit der Schönheit und im ästhetischen Zustand nicht die Wirklichkeit seiner wahren Bestimmung, seiner Totalität und Vollendung erfährt, was erlebt er dann? Er erfährt die Möglichkeit all dessen, er erfährt, wie es in einer anderen Welt sein könnte. Entsprechend »stellte […] [sich Ingrid, Anm. d. V.] alles Mögliche vor, jawohl: alles Mögliche« (IB: S. 49), sie verkörpert somit lediglich die Möglichkeit von Schönheit. Johnson bildet also »eine mögliche Wirklichkeit ab«.233 Es geht ihm nicht darum, »eine wie auch immer geartete Realität nachzubilden, sondern [darum] […] eine Welt zu entwerfen, die jederzeit auf diese Weise existieren könnte.«234
233 Leyla Sedghi: Das Dilemma der Grenze: Zu Uwe Johnsons Frühwerk. Dissertation, LMU München, 2004, S. 25. 234 Ebd., S. 25.
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8.3.4 »Wann hat Mecklenburg eigentlich aufgehört?« Vom Verlust der Natur und Beginn der sentimentalischen Erinnerungstrauer Mit dem Verlust der Schönheit ist die gesamte Einheit Mensch mit ihren antagonistischen Trieben von Natur und Vernunft aufgebrochen; an ihre Stelle tritt nun, wie gezeigt, die Vorherrschaft der Vernunft mit ihren Ausprägungen des Erhabenen und der Würde. Umgekehrt leitet der geistige Widerstand gegen eine sich als feindselig entpuppende Natur eine generelle Absage an Natur ein, auch an die schöne naive Natur (vgl. Abschnitt 5.1 dieser Arbeit). Es mehren sich im Verlauf des Romans Anzeichen dafür, dass das Naturprinzip in Ingrid zunehmend schwindet.235 So bekundet sie kurz vor ihrer Rede gegenüber Klaus, der sie zu einem Nachmittag in freier Natur mit Sonne, Wind und Segeln überreden will: »Ich will das nicht mehr, ich will nicht auf dem Oberen See liegen als wenn ich da [auf der Schulversammlung, Anm. d. V.] nie gesessen hätte!« (IB: S. 148) »[S]ie rieche unter solchen Umständen überhaupt nichts von Wind!« (IB: S. 150) Ingrid, zu der die Bewegung im Wasser, sei es schwimmend oder segelnd, so selbstverständlich gehörte »wie Atmen« (IB: S. 51), merkt man den Mangel des Naturelements an, sie benötigt Wasser so dringend wie die vertrocknete Erde in Petersens Gartenbaubetrieb (IB: S. 188 f.): »Das Fräulein Babendererde sah wahrhaftig aus als ob man nun eilig einen Stuhl anbieten müsse und ein Glas kaltes Wasser« (IB: S. 208). Auch Sedenbohm will ihr besorgt etwas Flüssigkeit reichen – »[s]agen Sie – ist Ihnen nicht gut? Möchten Sie ein Glas Wasser!« (IB: S. 181) –, was Ingrid jedoch ablehnt. Selbst die Sonne, mit der Ingrid vorher eins war, stellt nun eine »Bedrohung«236 dar, am Ende des Romans muss sie ihre Augen mit den Händen vor dem grellen Licht schützen (vgl. auch IB: S. 188).237 Schließlich kommt der Verlust der Natur im Schlussteil durch das Verlassen des – vermeintlich paradiesischen – Gartens zum Ausdruck, in welchem Ingrid und Katina sich der schönen Musik hingegeben haben (IB: S. 228). Am deutlichsten, und endgültig, äußert sich der Naturverlust jedoch durch Ingrids Flucht und den Abschied von der mecklenburgischen Landschaft. Wenn Ingrid Klaus im Berliner Ostbahnhof fragt »[w]ann hat Mecklenburg eigentlich aufgehört?« (IB: S. 10),238 so meint sie damit nicht nur die Landesgrenze zwischen Mecklenburg und Brandenburg, die sie inzwischen überschritten haben, sondern auch die naive schöne Natur, die 235 Die »Einheit des Menschen mit und in der Natur […] scheitert« in der Segelszene: Ebd., S. 45. 236 Ebd., S. 36. 237 Zur »Sonne als eine[] Bedrohung« siehe ebd., S. 36. 238 Vgl. zu diesem Zitat auch Nicola Westphal: Literarische Kartografie: Erzählter Raum in den Romanen Uwe Johnsons. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2007, S. 29. Siehe auch Michael Hofmann: Uwe Johnson. Stuttgart: Reclam, 2001, S. 61.
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Mecklenburg einst für sie bedeutet und die ihr eigenes Wesen gespiegelt hat sowie die Reflexion darüber, wann diese Natur sich von ihr zu lösen begann. Der Verlust der geliebten heimatlichen Landschaft steht hier also symbolisch für den Verlust der inneren Natur des Menschen.239 »[D]ie Entwicklung, die Ingrid im Laufe des Romans durchmacht«, schreibt Michael Hofmann, »[kann] als ein Verlust der Natur und somit als ein Verlust des naiven Weltverhältnisses beschrieben werden«.240 »[D]as Gartentor klappte zu« (IB: S. 228) – »[d]er Abschied [von der Natur, Anm. d. V.] ist vollzogen«.241 Statt in ländlicher Umgebung werden Ingrid und Klaus nun ein Leben in der naturfernen Großstadt242 beginnen,243 das Gesine in den Jahrestagen fortführen wird. Eine Rückkehr ist nicht mehr möglich; im letzten Abschnitt, der Ingrid und Klaus beim Verlassen der Heimat zeigt, versperrt symbolisch ein Berg den Blick zurück:244 »Rücklings verblieben in grossem dunklem Waldbogen eingebettet die nächtlich blinkenden Häuser der Stadt an spiegelndem Wasser ; ein mächtiger Berg mit dickköpfigen zartzweigigen Weiden verdrängte die Rücksicht.« (IB: S. 248) Auch der Zoo-Besuch in Westberlin, der Ingrid und Klaus eine künstliche eingegitterte (vgl. IB: S. 67) Natur sowie das »noch nicht begriffene Spiel« (IB: S. 67) und die »bestürzende[] Anmut« (IB: S. 67) eines jungen Bären vorführt, bestätigt, dass ein Zurück zur Schönheit und ihren im Theorieteil erörterten Kategorien scheitert, und deutet zugleich auf Gesines sentimentalische Parkbesuche in New York voraus.245 239 Vgl. auch: Ingrid »wird durch den Einbruch des Politisch-Geschichtlichen aus ihrer selbstgenügsamen Existenz gerissen – symbolisch und buchstäblich, indem sie gerade auch die Landschaft verlassen muss, als deren Teil sie sich empfand.« (Michael Hofmann: Uwe Johnson. Stuttgart: Reclam, 2001, S. 43) 240 Ebd., S. 60. 241 Bernd Neumann: Ingrid Babendererde als Ingeborg Holm. Über Uwe Johnsons ersten Roman. In: Colloquia Germanica. Internationale Zeitschrift für germanische Sprach- und Literaturwissenschaft 20 (1987), S. 203 – 212, hier S. 208. 242 Rolf Michaelis: Kleines Adreßbuch für Jerichow und New York: Ein Register zu Uwe Johnsons Roman Jahrestage. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1983, S. 23. 243 Zu Ingrids »Heimatverlust« vgl. auch Nicola Westphal: Literarische Kartografie: Erzählter Raum in den Romanen Uwe Johnsons. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2007, S. 29; siehe ebenfalls Ulrich Krellner : »Was ich im Gedächtnis ertrage«. Untersuchungen zum Erinnerungskonzept von Uwe Johnsons Erzählwerk. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2003, S. 39. 244 Auf die versperrte Sicht durch den Berg hat hingewiesen: Nicola Westphal: Literarische Kartografie: Erzählter Raum in den Romanen Uwe Johnsons. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2007, S. 46 f. 245 Zur Zoo-Szene vgl. Ulrich Krellner : »Was ich im Gedächtnis ertrage«. Untersuchungen zum Erinnerungskonzept von Uwe Johnsons Erzählwerk. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2003, S. 37 f.; Leyla Sedghi: Das Dilemma der Grenze: Zu Uwe Johnsons Frühwerk. Dissertation, LMU München, 2004, S. 43. Für Born spiegeln sich im Zoobesuch dagegen »die ›Ausbeutungsverhältnisse‹ im Kapitalismus«: Arne Born: Wie Uwe Johnson erzählt. Artistik und Realismus des Frühwerks. Hannover : Revonnah, 1997, S. 164.
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Das Verlustgefühl richtet sich jedoch weniger an eine naive Natur im Schiller’schen Sinn, die es für Johnson so nicht gibt, sondern vielmehr an eine Sehnsucht nach naiver Natur, an eine »Sehnsucht nach dem verlorenen, nie besessenen Paradies«.246 In Ingrid Babendererde stellt der Autor nicht Schönheit und Heimat vor, sondern einen »sehnsüchtige[n] Entwurf von Heimat eines Menschen«.247 Mit Michael Hofmann kann somit gesagt werden: »Es gibt kein Zurück in die vermeintliche heile Kinderwelt der ›Heimat‹: Mecklenburg hat immer schon ›aufgehört‹«.248 Die mecklenburgische Landschaft, die verlorene Natur im Menschen oder vielmehr die Sehnsucht danach ist »Gegenstand einer sehnsüchtigen Erinnerung geworden«.249 Die Einheit des Menschen mit seiner Natur und die Liebe zur mecklenburgischen Landschaft mit all ihrer Schönheit wird künftig nur noch in der sentimentalischen Erinnerung fortbestehen und ersehnt werden. Die »Erinnerungs-Trauer«250 und der »Erinnerungs-Schmerz«251 um die verlorene »Welt der Schleuse«,252 ein Hauptthema der Jahrestage, beginnen schon im Erstlingsroman.253 Bereits Ingrid Babendererde greift das »erinnernde[] Erzählen[]«254 auf, wird doch die Haupthandlung, wie die kursiv gedruckten Abschnitte belegen, aus der Perspektive der Geflohenen erzählt und erinnert. Die mecklenburgische Heimat ist somit von Beginn an »eine verlorene«.255 Das Erinnerungsmotiv tritt auch im Katzensymbol in Erscheinung. »Beim Abschied von der Heimat auf dem Dachboden der Schleuse glimmen nun die Augen jener 246 Withold Bonner : »Reifeprüfung 1953«? ›Ingrid Babendererde‹ von Uwe Johnson sowie ›Die Denunziantin‹ und ›Joe und das Mädchen auf der Lotosblume‹ von Brigitte Reimann. In: Ahti Jäntti und Jarkko Nurminen (Hrsg.): Thema mit Variationen. Dokumentation des VI. Nordischen Germanistentreffens in Jyväskylä vom 4.–9. Juni 2002. Frankfurt a. M.: Lang, 2004, S. 453 – 461, hier S. 460. 247 Klaus Peter Harmening: Uwe Johnson: Ingrid Babendererde. In: Nicolai Riedel (Hrsg.): Uwe Johnsons Frühwerk im Spiegel der deutschsprachigen Literaturkritik. Dokumente zur publizistischen Rezeption der Romane »Mutmaßungen über Jakob«, »Das dritte Buch über Achim« und »Ingrid Babendererde«. Bonn: Bouvier Verlag, 1987, S. 246 – 248, hier S. 246. 248 Michael Hofmann: Uwe Johnson. Stuttgart: Reclam, 2001, vgl. S. 61. 249 Ebd., S. 40. 250 Bernd Neumann: Ingrid Babendererde als Ingeborg Holm. Über Uwe Johnsons ersten Roman. In: Colloquia Germanica. Internationale Zeitschrift für germanische Sprach- und Literaturwissenschaft 20 (1987), S. 203 – 212, hier S. 208. 251 Ebd., S. 208. 252 Rainer Benjamin Hoppe: »Mangelhaft!« Uwe Johnsons Darstellung der DDR-Schule in den Romanen Ingrid Babendererde und Jahrestage (4. Band). In: Johnson-Jahrbuch 1 (1994), S. 190 – 215, hier S. 203. 253 Mit dem Thema Erinnerung beschäftigt sich Ulrich Krellner : »Was ich im Gedächtnis ertrage«. Untersuchungen zum Erinnerungskonzept von Uwe Johnsons Erzählwerk. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2003. 254 Annekatrin Klaus: »Sie haben ein Gedächtnis wie ein Mann, Mrs. Cresspahl!« Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1999, S. 86. 255 Michael Hofmann: Uwe Johnson. Stuttgart: Reclam, 2001, S. 40.
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Katze auf, die dann als Symbol der Erinnerung Johnsons Werk durchwandern wird.«256 »Als er [Klaus, Anm. d. V.] die Lampe löschte, starrten hinter dem Kamin hervor unbeweglich die Augen der Katze zu ihm hin.« (IB: S. 246) Die Katze versinnbildlicht bei Johnson sowohl die Freiheit und Schönheit als auch die Erinnerung daran. So ist Ingrid nicht zufällig auf dem Schulmaskenball als Katze kostümiert, nämlich als »Gestiefelte[r] Kater« (IB: S. 91). In den Mutmassungen über Jakob wird die Katze Jerichow durchstreifen. In den Jahrestagen schließlich erscheint die »Katze Erinnerung […] [u]nabhängig, unbestechlich, ungehorsam« (JT: S. 670), auf der Suche nach authentischem Erinnern lässt sie sich nicht so einfach einfangen. Damit aber ist zugleich der Gegenpart der Erinnerung angesprochen, die Befürchtung, zu vergessen.257 Auch dieses Motiv, die Sorge um das Scheitern der Erinnerung an das verlorene ganzheitliche Lebensgefühl, klingt schon in Ingrid Babendererde an. Dieses komplementäre Beziehungsgeflecht von Erinnerung und Vergessen wird hier vorbereitet und durchzieht leitmotivisch Johnsons Erstling von Anfang an. Bereits zu Beginn des Romans, es ist der erste gemeinsame Jahrestag ihrer Liebesbeziehung, befürchtet Klaus, der sich auf einen »ganze[n] Nachmittag mit Segel und mit viel Wind« (IB: S. 19) gemeinsam mit seiner Freundin freut, »Ingrid könne es vergessen haben« (IB: S. 19) und »er erschrak bei dem Gedanken« (IB: S. 19). Wenig später tauchen bei Ingrid ähnliche Gedanken auf: »[H]atte Klaus es vergessen?« (IB: S. 26)258 Als sie gemeinsam später am See liegen und sich an ihr Kennenlernen erinnern, sagt Ingrid lachend: »Vergess ich nie« (IB: S. 48) und, wie zur Bekräftigung noch einmal, »innig auflachend in der Erinnerung: Vergess ich nie. […] Weiss ich noch wie heute« (IB: S. 48). Mit dem Motiv des Vergessens, sein Eintreten befürchtend, endet schließlich der Roman: Ob sie es vergessen hatten über ein Jahr, und ob das schlimm sein würde. Ob Ingrid dies gespreizte Gestab des Fensterschattens und ob Klaus Ingrids Hand an seiner Schulter 256 Rainer Benjamin Hoppe: »Mangelhaft!« Uwe Johnsons Darstellung der DDR-Schule in den Romanen Ingrid Babendererde und Jahrestage (4. Band). In: Johnson-Jahrbuch 1 (1994), S. 190 – 215, hier S. 202. Zum Katzenmotiv vgl. auch Bernd Neumann: Ingrid Babendererde als Ingeborg Holm. Über Uwe Johnsons ersten Roman. In: Colloquia Germanica. Internationale Zeitschrift für germanische Sprach- und Literaturwissenschaft 20 (1987), S. 203 – 212, hier S. 208. 257 Zur Vergessens-Metaphorik vgl. etwa Rainer Benjamin Hoppe: »Mangelhaft!« Uwe Johnsons Darstellung der DDR-Schule in den Romanen Ingrid Babendererde und Jahrestage (4. Band). In: Johnson-Jahrbuch 1 (1994), S. 190 – 215, hier S. 202; Ulrich Krellner : »Was ich im Gedächtnis ertrage«. Untersuchungen zum Erinnerungskonzept von Uwe Johnsons Erzählwerk. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2003, S. 23. 258 Die Vergessens-Metaphorik wird bei Uwe Neumann als intertextuelle Anspielung auf Tonio Kröger gedeutet: Uwe Neumann: Die ausgefallene Tanzstunde. In: Johnson-Jahrbuch 8 (2001), S. 29 – 61, hier S. 34.
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und ob sie das Poltern der Ruder von vorhin mit dem eigentümlichen Ton von Rudern im Boot vergessen haben würden, und ob das schlimm sein würde. (IB: S. 247)
Den Kampf um Erinnern und Vergessen wird Gesine Cresspahl, Klaus Niebuhrs Cousine, gewissermaßen als eine Fortführung der Ingrid-Figur fortan austragen. Gesines spätere, hier bereits anklingende Furcht, nur noch Fakten erinnern zu können, nicht aber mehr das schöne Lebensgefühl, ist nicht unbegründet, hat doch auch ihre Vorgängerin Ingrid schon einmal, bevor sie ein letztes Mal mit Klaus und Jürgen segelt, um dann endgültig Abschied von der lieblichen Seenlandschaft zu nehmen, ihr »Segelzeug vergessen« (IB: S. 30 f.). In Weiterführung der Erinnerungs-Thematik wird Gesine »[a]uf der Suche nach dem geheimen Tor [sein], das irgendwann einmal unwiderruflich hinter ihnen [Ingrid und Klaus, Anm. d. V.] zugefallen ist und sie ausgesperrt hat«.259
259 Karl Birkenseer : Mardshanahs List oder : Ingrid, die überlegsame Heldin. Uwe Johnsons in den fünfziger Jahren nicht gedruckter Erstling »Ingrid Babendererde« erschien nun bei Suhrkamp als Buch. In: Nicolai Riedel (Hrsg.): Uwe Johnsons Frühwerk im Spiegel der deutschsprachigen Literaturkritik. Dokumente zur publizistischen Rezeption der Romane »Mutmaßungen über Jakob«, »Das dritte Buch über Achim« und »Ingrid Babendererde«. Bonn: Bouvier Verlag, 1987, S. 216 – 219, hier S. 220.
Überleitung
Ingrids Geschichte endet hier also nicht, sondern wird in Gestalt der Gesine Cresspahl weitergeführt.1 Verfolgt man Aussagen in Johnsons Texten über die jugendliche Gesine, so sind deutliche Parallelen und sogar Übereinstimmungen zum Werdegang Ingrids zu registrieren2 – man denke an die im vierten Band der Jahrestage geschilderte Schulgeschichte, an das Motiv der Dreierkonstellation im Freundschafts-Bund, die Liebe zur mecklenburgischen Natur und schließlich den Verlust der Heimat und die Flucht in den Westen. Damit liegt die These nahe, die reifere und lebenserfahrenere Gesine als eine Fortführung der Ingrid-Figur bzw. des durch diese verkörperten Prinzips zu betrachten. Die 23 Jahre alte Gesine der Mutmassungen nimmt dabei eine Mittelstellung zwischen der anfänglich noch anmutig-heiteren Abiturientin Ingrid und der erhaben-melancholischen, inzwischen 35-jährigen Gesine der Jahrestage ein. Aus dieser Perspektive lassen sich die Mutmassungen über Jakob als Schaltstelle zwischen dem ersten und letzten Werk Johnsons und damit zwischen einer Ästhetik des Schönen und einer des Erhabenen behandeln. 1 Zu diesem Gedanken vgl. allgemein Beate Wunsch: Studien zu Uwe Johnsons früher Erzählung Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953. Frankfurt a. M.: Lang, 1991, S. 164 – 166; Elisabeth K. Paefgen: Graue Augen, grauer Wind und graue Straßenanzüge. In: Johnson-Jahrbuch 8 (2001), S. 63 – 88, hier S. 75; Bernd Neumann: Ingrid Babendererde als Ingeborg Holm. Über Uwe Johnsons ersten Roman. In: Colloquia Germanica. Internationale Zeitschrift für germanische Sprach- und Literaturwissenschaft 20 (1987), S. 203 – 212, hier S. 209. 2 Besonders augenfällig sind die Parallelen zwischen der Schulgeschichte Ingrids und jener Gesines. Wie Ingrid wird Gesine von zwei konträr zueinander konzipierten Klassenkameraden umworben, Pius Pagenkopf (vgl. JT: S. 1573 ff.) und Dieter Lockenvitz (vgl. JT: S. 1558 f.), später dann von dem ernsthaft-würdigen Wissenschaftler Jonas Blach und der ästhetischidealistischen Figur Jakob. Auch Teile des Lehrerkollegiums aus dem Roman-Erstling kehren unter z. T. veränderten Namen wieder, der würdige Englischlehrer Ernst Sedenbohm etwa als von Gesine hoch verehrter Julius Kliefoth, die linientreue Deutschlehrerin Sandra Behrens als Bettina Selbich, beiden gemein ist der Spitzname »Das Blonde Gift« (JT: S. 1662). Wie Ingrid, so zieht sich auch Gesine bei »[s]chönste[m] Damen-Segelwetter« (JT: S. 1890) in die Natur zurück, »ohne sich um eine wirklich vorhandene Meinung von ihrem Leben zu kümmern« (MJ: S. 89).
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Überleitung
Wenn auch schon nicht mehr ganz so bezaubernd-naiv wie Ingrid,3 so tritt Gesine in den Mutmassungen durchaus als ein anmutähnliches Wesen von »weibliche[m] Liebreiz« (MJ: S. 165) vor das innere Auge des Lesers, als »Mädchenkind« (MJ: S. 109) und der Wirklichkeit enthobenes »bauerntöchterliche[s] Märchenantlitz« (MJ: S. 109). Wie Ingrid sind dieser Gesine das wohlmeinende Scherzen, die Heiterkeit und Musikalität der Stimme, also Merkmale der belebenden Anmut, zu eigen, etwa wenn sie ihre »Lippen achtlos sicher zu Spott« (MJ: S. 109) verzieht,4 sie »leise auf[lachte]« (MJ: S. 111) oder »ihre Stimme […] gleichmütig unverändert unwillkürlich [sang]« (MJ: S. 110).5 Auch die junge Gesine tritt als »Göre« (JT: S. 1673) in Erscheinung, womit auf die Formel der betörenden »anmutig freche[n] Göre« (IB: S. 85) aus dem IngridRoman angespielt wird – und tatsächlich versammelten sich einst, wie um die Schiller’sche Anmut und wie auch schon um ihre schöne Vorgängerin Ingrid, Anbeter und Verehrer um sie herum.6 Gleichsam als lebendiges Kunstwerk7 – die Parallelen zum Schatten-Auftritt Ingrids sind offensichtlich – führt Johnson diese mädchenhaft-märchenhafte Gesine vor, indem er »[d]ie Nachtlichter der Stadt auf ihrem Gesicht« (MJ: S. 111) spiegeln und sie von »[glimmenden] unzählig[en] […] Standlichter[n] der wartenden Automobile« (MJ: S. 109) anstrahlen lässt, wodurch sie wie die Hauptdarstellerin »ein[es] Film[s]« (MJ: S. 109) in Szene gesetzt wird. Zwischen der in vielerlei Hinsicht Ingrid-ähnlichen Gesine der Mutmassungen und ihrem erhabenen Alter Ego der Jahrestage bestehen enorme Unterschiede. Ein Vorfall trägt dazu bei, dass sich Gesine zu jener bedrückten und schwermütigen Gestalt des Hauptwerks verwandelt – und das ist der Tod ihrer großen Liebe Jakob, der entschieden die Ausbildung ihrer erhabenen Charaktereigenschaften vorantreibt und sie damit zu jener starken Persönlichkeit macht, wie sie dem Leser künftig in den Jahrestagen entgegentritt. Nach der Begegnung mit Jonas – der bezeichnenderweise mit Attributen aus der Sphäre der Würde und Erhabenheit versehen ist8 – lässt sich der bereits eingeschlagene 3 Die Ähnlichkeit Gesines zu Ingrid, bei aller Unterschiedlichkeit zu ihr, hat auch beobachtet: Michael Hofmann: Uwe Johnson. Stuttgart: Reclam, 2001, S. 84, S. 100. Vgl. Wolfgang Paulsen: Innenansichten: Uwe Johnsons Romanwelt. Tübingen, Basel: Francke Verlag, 1997. Paulsen vergleicht Gesine mit »Undine« (ebd., S. 108, S. 110) und »Schneewittchen« (ebd., S. 126). Siehe auch Norbert Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons. Jahrestage und andere Prosa. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1997, S. 153. 4 Vgl. auch MJ: S. 29. 5 Vgl. auch MJ: S. 111. 6 Zu Gesines Verehrern vgl. MJ: S. 18, S. 77, S. 89 f., S. 145, S. 159, S. 209. 7 Vgl. auch: »Lieber würde er [Jonas, Anm. d. V.] sie wie ein schönes Kunstwerk betrachten […]« (Annekatrin Klaus: »Sie haben ein Gedächtnis wie ein Mann, Mrs. Cresspahl!« Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1999, S. 141). 8 Vgl. MJ: S. 108, S. 100, S. 116 ff., S. 122, S. 177.
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Prozess vom »Mädchenkind« (MJ: S. 109) zur gravitätischen »Dame« (MJ: S. 109) nicht mehr aufhalten. Im Gegensatz zur lebensfrohen Ingrid blickt Gesine nun »ernsthaft« (MJ: S. 14) von einem Passbild und ist gemäß ihrer sich in den Mutmassungen schon ankündigenden melancholischen Stimmung9 – sie hat »kein Woulgefalln inne Welt« (MJ: S. 37) – anders als ihre blonde Vorgängerin ein dunkler Typ mit »vielleicht nicht ganz schwarz[em]« (MJ: S. 14) Haar. Schon in den Mutmassungen wird Gesines Bewusstsein für geschichtliche Vorgänge durch ein für die Jahrestage konstituierendes Stilmittel angedeutet, nämlich ihre Lektüre von »täglich[] zweieinhalb Pfund Zeitung« (MJ: S. 124). Nach Jakobs Tod verblassen die Reste ihrer lieblichen Züge und verschwinden schließlich gänzlich. Gesine wandelt sich vollends zur erhabenen düsteren Gestalt des Johnson’schen Hauptwerks. Und dennoch trägt sie in ihrem Inneren etwas mit sich fort: Aus der Liebe zu Jakob geht ein Kind hervor, das Mädchen Marie, welches in den Jahrestagen als Hoffnungsschimmer eine wichtige Rolle spielen und Gesines erhabene Sichtweise auf die Probe stellen wird.
9 Vgl. ebd., S. 83, S. 103.
9.
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9.1
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9.1.1 »Den nächsten, den sie totschießen«: Geschichte und Schicksal als furchtbare und unfassbare Naturmacht im Sinne des Theoretisch- und Praktisch-Erhabenen Jahrestage ist ein Buch über Leichen im Keller, also über unbewältigte Vergangenheit, blanke Barbarei unter zivilisatorischer Rheuma-Decke. Die Leichen im Keller sind die unbewältigten deutschen KZs, die Nazis in der westdeutschen Regierung, die stalinistischen Lager wie Fünfeichen, die glorreiche Versenkung der mit KZ-Häftlingen überladenen Cap Arcona durch die Engländer, die USamerikanische Kette mit abgeschnittenen nordvietnamesischen Ohren. Johnson bringt die Leichen im Keller zum Sprechen […]1.
Geschichte, so die These dieses Abschnitts, tritt Gesine in Johnsons Hauptwerk als unfassbare und furchtbare Naturmacht im Sinne von Schillers Theorie des Erhabenen entgegen,2 und zwar in drei miteinander verzahnten Aspekten: in ihrem persönlichen Schicksal, den deutschen Tragödien des 20. Jahrhunderts am Beispiel ihrer Familie in Mecklenburg sowie den weltpolitischen Konflikten der Romangegenwart. Gesine bekommt also, um mit Schiller zu formulieren, »die ganze volle Ladung des Leidens« (ÜP: S. 424) zu spüren. Bereits der Titel Jahrestage kündigt an, dass das Thema »Zeit« (VE: S. 413),3 welche Schiller als eine »schwindelnde[] Vorstellung« (ZB: S. 484), als eine erhabene »Macht be1 Wolfgang Strehlow : Ästhetik des Widerspruchs: Versuche über Uwe Johnsons dialektische Schreibweise. Berlin: Akademie Verlag, 1993, S. 293. 2 Nicht nur Gesine, auch der Leser bekommt die Gewalt der geschichtlichen Naturmacht auf sprachlicher Ebene quasi als Textgewalt zu spüren, ist doch die auf den fast 2000 Seiten des Romans dargebotene enorme Menge an geschichtlichen Fakten zuweilen schwer zu bewältigen. Von »epische[r] Dignität« spricht Jochen Hörisch: »Ich dachte zu leben genüge«. Rezension zu Uwe Johnson: Jahrestage. In: Arbitrium. Zeitschrift für Rezensionen zur germanistischen Literaturwissenschaft 3 (1985), S. 97 – 101, hier S. 99. 3 Über die Zeit vgl. JT: S. 82 – 85.
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trachtet, die still, aber unerbittlich wirkt« (ZB: S. 484), und »Geschichte« (ÜE: S. 835), mehr als dies im frühen Roman Ingrid Babendererde der Fall ist, einen zentralen Stellenwert im Spätwerk einnimmt. »Jahrestage« sind, wie in der Forschung schon wiederholt diskutiert wurde,4 in doppelter Bedeutung des Wortes einmal die einzelnen gegenwärtigen Tage Gesine Cresspahls im New York des Jahres 1967/68, zum anderen die von ihr erinnerten und ihrer Tochter Marie erzählten Tage der vergangenen drei Jahrzehnte Mecklenburgs, vom Ende der Weimarer Republik über die »Machtergreifung« Hitlers bis hin zur Diktatur des real-existierenden Sozialismus der DDR. Geschichte als furchtbare, zerstörerische und Leben auslöschende Naturgewalt im Sinne des Praktisch-Erhabenen stellt für Gesine immer zugleich auch eine Naturgewalt nach Art des Theoretisch-Erhabenen dar, indem die Zerstörungswut der Geschichte für den menschlichen Verstand unergründbar bleibt. Die Konzepte des Praktisch- und Theoretisch-Erhabenen hängen für Gesine also auf das Engste miteinander zusammen. In Anknüpfung an Ingrids letzte missglückte Segeltour und Schillers Bild des Schiffbruchs, so irrt Gesines Lebensboot »wie […] ein treibendes Schiff ohne Steuermann und Besatzung« (JT: S. 776) angesichts übermächtiger Naturgewalt planlos und desorientiert umher. Die Gegenwartsebene führt dem Leser New York »als Reich der Gewalt«5 vor Augen. Auf der New-York-Ebene kommt Geschichte – vermittelt durch das die ästhetische Distanz wahrende Medium der New York Times6 oder des Fernsehens – einmal als zerstörerische und furchtbare Naturgewalt im Sinne des Praktisch-Erhabenen zum Ausdruck und tritt im Gewand der alltäglichen Gewalt und Kriminalität, des Rassismus, der Morde an Martin Luther King und Robert Kennedy – nach King ist er der »nächste[] den sie totschießen« (JT: S. 973) –, der Vergewaltigungen (vgl. JT: S. 1067) und »gewöhnlichen Morde« (JT: S. 134) in Erscheinung.7 »In New York wirst du mir nicht alt, Marie« (JT: 4 Zum Titel Jahrestage vgl. Matthias Prangel: Gespräch mit Uwe Johnson (Am 6. 3. 1974 in Rotterdam). In: Eberhard Fahlke (Hrsg.): »Ich überlege mir die Geschichte…« Uwe Johnson im Gespräch. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1988, S. 263 – 267, hier S. 264 f.; Hille Haker : Moralische Identität: Literarische Lebensgeschichten als Medium ethischer Reflexion. Mit einer Interpretation der Jahrestage von Uwe Johnson. Tübingen, Basel: Francke, 1999, S. 197; Norbert Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons. Jahrestage und andere Prosa. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1997, S. 213 – 217. 5 Monique Boussart: Zur Darstellung der »kleinen Welten« innerhalb der Großstadt in Uwe Johnsons Romanzyklus »Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl«. In: Christian Drösch, Hubert Roland und St¦phanie Vanasten (Hrsg.): Literarische Mikrokosmen: Begrenzung und Entgrenzung. Brüssel: Lang, 2006, S. 147 – 158, hier S. 152. Daneben verweist Boussart aber auch auf die positiven Seiten New Yorks. 6 Vgl.: »Von der [New York Times, Anm. d. V.] läßt du dir erzählen, wie es auf der Welt zugeht, wenn du nicht hinsiehst. Und oft kannst du nicht hinsehen, Gesine.« (JT: S. 612) 7 Zum Rassenproblem vgl. Anita Krätzer : Studien zum Amerikabild in der neueren deutschen Literatur: Max Frisch – Uwe Johnson – Hans Magnus Enzensberger und das »Kursbuch«. Bern
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S. 1067), befürchtet Gesine insgeheim und ihr Freund Dietrich Erichson, D.E. genannt, ist um die Sicherheit Gesines und Maries besorgt, denn »die dünne Vorlegekette« (JT: S. 535) an ihrer Tür bietet keinen »ausreichenden Schutz« (JT: S. 535). Nach einer Auflistung von Todesmeldungen grübelt der Erzähler : In sechs Monaten sind die privaten Verbrechen um 17 % angestiegen. Bei täglich zwei Morden in New York, wann muß einer Mrs. Cresspahl treffen? in welcher Nacht wird die Scheibe splittern, ein Schatten unter der Straßenbrücke mit einem Messer aufwachen, ein Arm um ihren Hals sie von der Straße in einen Kellergang ziehen? (JT: S. 89)
Neben diesen innerstädtischen Vorgängen nimmt ein weiterer Schwerpunkt die Außenpolitik der USA im Jahr 1967/68 mit dem Vietnamkrieg als einer gegen die Prinzipien der Moral und Sittlichkeit gerichteten feindlichen Naturmacht ein.8 Fast täglich liest Gesine in der New York Times über neu hinzukommende »Tote, Verwundete, Vermißte« (JT: S. 40), die dieser Krieg fordert. Im Medium der Fernsehnachrichten erlebt Gesine die Bombardierung Vietnams durch das amerikanische Militär mit, die sie als furchtbar und grauenvoll empfindet: Es ist das Geräusch, das ich jetzt höre aus der Wohnung neben uns, aus den Abendnachrichten von ABC-TV, aus Viet Nam. Es ist wie aus dem Weltall, es ist katastrophal wie Flakschrapnells kurz vor dem unverhofften, dumpfen, erderschütternden Aufprall der Bomben. (JT: S. 242 f.)
Amerikanische Geschichte ist für Gesine nicht nur, dem Praktisch-Erhabenen gemäß, furchterregend, sondern zugleich unergründlich und verwirrend nach Schillers Theoretisch-Erhabenem. Diese Unbegreiflichkeit der Geschichte kommt auf symbolischer Ebene durch die Mächtigkeit der Stadt New York als eines Wahrzeichens der USA zum Ausdruck: New York ist eine Stadt, die durch ihre nahezu unermessliche Größe und Höhe, durch Hochhäuser und Türme,9 »übermannshohe[]« (vgl. JT: S. 35) Gebäude oder »hohe[] Burgen des Wohlstands« (JT: S. 26), denen man fast zu unterliegen meint, in Gesine eine erhabene Wirkung hervorruft. Schiller nennt ähnliche Beispiele: »Ein ungeheuer hoher Turm oder Berg kann ein Erhabenes der Erkenntnis abgeben, bückt er sich zu uns herab, so kann er sich in ein Erhabenes der Gesinnung verwandeln.« (VE: S. 398) Die Begleiterscheinungen der »negativen Lust«,10 wie etwa die Verwirrung des Verstandes (ÜE: S. 832), das Erschrecken oder die Ehrfurcht, gehören für Gesine wie selbstverständlich zu ihren alltäglichen Erfahrungen in New York: u. a.: Lang, 1982, S. 123 – 129. Zum Vietnamkrieg vgl. ebd. S. 129 – 134. Zur Kriminalität vgl. ebd. S. 134 – 137. Zur Berichterstattung mittels der New York Times vgl. ebd. S. 149 – 175. 8 »Was ist es denn, das bedroht das gesittete Leben der Menschen auf der Erde? Es ist vor allem jene Bombe, die durch Kernreaktionen Wärme erzeugt« (JT: S. 1595), heißt es zur Atombombe, deren Einsatz Gesine auch im Vietnamkrieg befürchtet. 9 Vgl. JT: S. 96, S. 1037. 10 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. In: Wilhelm Weischedel (Hrsg.): Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Bd. 9. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1977, S. 73 – 457, hier S. 166.
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»In unserem Viertel erschrecken wir bloß noch aus Gewohnheit, wenn Einer hinterrücks uns auf die Schulter klopft.« (JT: S. 266) Gleicherweise löst New York in Gesine ein Gefühl der Verstandesverwirrung aus. »[T]iefe[] Verwirrung« (JT: S. 372) bringt eine Umstellung im Subwaysystem mit sich, »verwirrend« (JT: S. 27) sind auch die unüberschaubar vielen Akzente und »Versionen des Amerikanischen« (JT: S. 27). Auf der anderen Seite blickt Gesine ehrfurchtsvoll auf zu den »vielbestaunte[n]« (JT: S. 1108) und »pompöse[n] Erscheinungen« (JT: S. 1108) der modernen Architektur New Yorks; »mächtige[] Wohnkolosse« (JT: S. 1107) und »prächtige[]« (JT: S. 1107) »Portale« (JT: S. 1107) werden von ihr »angestaunt« (JT: S. 1107) ebenso wie die »ehrfürchtig« (JT: S. 1108)11 erscheinende Schule von Marie – selbst die Schulgebühren Maries sind »ungeheuerlich[]« (JT: S. 1108). Wenn Gesine aus dem Fenster ihrer Wohnung am Riverside Drive blickt, schaut sie auf eine »architektonische Wüste auf der anderen Seite« (JT: S. 28) des Hudson-River; die Assoziation zu Bildern aus dem Bereich des unendlichen Naturerhabenen, man denke an Ozeane, Sternenhimmel – oder eben Wüsten – sind offensichtlich. Auch auf der mecklenburgischen Vergangenheitsebene findet Geschichte statt. Bedeutsam ist, dass Gesines Geburts- und ehemaliger Heimatort, das Städtchen Jerichow, welches landschaftlich ähnlich idyllisch gelegen ist wie die Kleinstadt Wendisch Burg in Ingrid Babendererde, auf eine gänzlich andere Art geschildert wird. In den Jahrestagen lassen sich verhältnismäßig wenig malerische Naturschilderungen Mecklenburgs auffinden. Gegenüber den in Ingrid Babendererde anzutreffenden poetischen Landschaftsbeschreibungen und dem satirisch-ironischen Tonfall dominiert in der Jerichow-Betrachtung der Jahrestage eine realistisch-geschichtliche Darstellung in ernster und nüchterner Sprache.12 Die Nähe Mecklenburgs zu Geschichtlichkeit, Zeitlichkeit, Determiniertheit und Tod illustriert in den Jahrestagen schon unverkennbar die Lage des Bauernhauses, in dem Gesine aufwächst: Es steht »am Friedhof in Jerichow« (JT: S. 1450) und »[d]er Baum hinter Cresspahls Haus war schwarz von Staren« (JT: S. 973) und »Amseln« (JT: S. 835). Gegenüber dem in Ingrid Babendererde so lieblichen und scheinbar geschichts- und zeitlosen Mecklenburg denkt Gesine sich sinnfällig nun »Jerichow als den Mittelpunkt einer Uhr« (JT: S. 1125). Mecklenburg und Jerichow werden in den Jahrestagen folglich nicht als idyl11 Vgl. auch JT: S. 26. 12 Westphal schreibt hierzu: »Historische Zeit und politische Systemzugehörigkeit bilden sich überdeutlich im Stadtbild ab – ein weiteres Beispiel dafür, dass hier geschichtlicher Wandel inszeniert wird, indem der realistisch bestückte Fiktionsraum mit den Merkmalen eines Geschichtsraums ausgestattet wird. Eine solchermaßen historisierte Stadt unterscheidet sich erheblich von der Kulisse, die die Kleinstadt in Ingrid Babenderde darstellt«: Nicola Westphal: Literarische Kartografie: Erzählter Raum in den Romanen Uwe Johnsons. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2007, S. 202.
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lisch-naiver Naturraum, sondern als »Geschichts- und Sozialraum«13 gezeichnet.14 Auf der Vergangenheitsebene wird somit – die folgende Formulierung erinnert an Schillers Titel Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen – »[d]ie Geschichte von Meklenburg [sic!] für Jedermann, in einer Folge von Briefen« (JT: S. 1666)15 bzw. in einer Folge von Tageseintragungen geschildert. Auf der erinnerten und erzählten mecklenburgischen Vergangenheitsebene ist es, außer der DDR-Diktatur, insbesondere das historische Schreckensereignis des 20. Jahrhunderts, der Nationalsozialismus, der sich als vernichtende Naturgewalt enthüllt und für Gesine die ungeheuerlichste aller geschichtlichen Bedrohungen darstellt.16 Der französische Philosoph FranÅois Lyotard hat darauf hingewiesen, dass der Zivilisationsbruch Auschwitz und der Holocaust im Sinne des Theoretisch-Erhabenen gedeutet werden können, indem sie ein unfassbares, mit dem begrenzten menschlichen Verstand nicht zu begreifendes Geschehen darstellen.17 Wenn Gesine Marie berichtet: »Die Deutschen hatten sich 1945 vor der Welt zu verantworten für 55 000 000 Tote, die sechs Millionen Opfer in den Vernichtungslagern noch dazu« (JT: S. 798), so erscheinen solche Zahlen oder mathematischen Größenordnungen – um an die Definition des Mathematisch-Erhabenen, wie Kant das Theoretisch-Erhabene nennt, anzuknüpfen – als eine Naturgewalt von unendlicher Größe, die verstandesmäßig nicht zu fassen, nicht vorstellbar, nicht erklär- und darstellbar ist, wie weiter unten ausführlicher gezeigt wird. Die nationalsozialistische Gewaltherrschaft löst bei Gesine aber nicht nur Reaktionen gemäß dem Theoretisch-Erhabenen aus, sondern wirkt auf sie auch in der Bedeutung des Praktisch-Erhabenen, das wiederum von Geschichte als einer furchtbaren und vernichtenden Kraft ausgeht. Für die Protagonistin sind die Deutschen Personifizierung des Men13 Norbert Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons. Jahrestage und andere Prosa. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1997, S. 345. 14 Vgl. etwa die geschichtliche Schilderung Jerichows JT: S. 31 – 34. 15 Franz Joachim Aepinus: Die Geschichte von Meklenburg für Jedermann in einer Folge von Briefen. Neubrandenburg: Gedruckt von C. G. Korb, herzoglicher Hofbuchdrucker, 1793. 16 Vgl. dazu auch Mardaus’ Ausführungen über das »Ungeheure des 20. Jahrhunderts«: Frank Mardaus: Fotografische Zeichen: Uwe Johnsons Bildprogramm in den »Jahrestagen«. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2008, S. 129 – 132. 17 Jan Assmann: Über das Erhabene: Schiller im Licht von Kant und Mozart. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 2007, S. 166 – 182, hier S. 177, S. 181. Zum Zusammenhang zwischem dem Erhabenen und Auschwitz in Texten Peter Weiss’ liegt folgende Untersuchung vor: Peter van Suntum: Die Ästhetik des Erhabenen und die Repräsentation des Leidens im Werk von Peter Weiss. Madison: UMI Microform, 2002. Vgl. hierzu weiter : Gerhard Schweppenhäuser : Ästhetik: philosophische Grundlagen und Schlüsselbegriffe. Frankfurt a. M.: Campus, 2007, S. 96; Torsten Hoffmann: Konfigurationen des Erhabenen. Zur Produktivität einer ästhetischen Kategorie in der Literatur des ausgehenden 20. Jahrhunderts (Handke, Ransmayr, Schrott, Strauß). Berlin, New York: de Gruyter, 2006, Kap. 4.
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schenleben auslöschenden Furchtbaren und Schrecklichen schlechthin.18 Sinnbild für das Schreckliche und Furchtbare wird für Gesine der fünfte Reiter aus dem unten weitergehend behandelten Kinofilm »The Fifth Horseman Is Fear« (JT: S. 1178), der von Prag zur Zeit des Nationalsozialismus handelt. Der Film, den Gesine sich zur Vorbereitung auf ihren Tschechisch-Unterricht ansieht, fügt zu den vier apokalyptischen Reitern der Bibel einen fünften hinzu, der die Gräueltaten der Nationalsozialisten sowie die Angst vor ihnen symbolisiert. In ihren Gesprächen mit den Toten erfährt Gesine mehr über den fünften Reiter : Und ›Der fünfte Reiter ist die Furcht‹. Einen fünften gibt es nicht. Für die Tschechen wohl. Für die sind die Deutschen alle vier Plagen der Apokalypse, und noch mehr als Raub und Krieg, Hunger, Pestilenz und Tod. Für die haben die Deutschen eigens einen fünften Reiter mitgebracht, die Angst. (JT: S. 1179)19
Wenn auch Gesines Erzählung von der deutschen Geschichte der 1930er und -40er Jahre keinesfalls mit den politisch-geschichtlichen Begebenheiten in den USA der 1960er Jahre gleichgesetzt werden darf,20 so sind beide Erzählstränge doch in eine Beziehung zueinander zu setzen. Gewalt und Unrecht kehren zwar nicht in der gleichen Weise wieder, Geschichte wiederholt sich aber in immer neuen Formen, sie tritt als eine ewig in »Wellenbewegung« (JT: S. 1354) verlaufende und sich in tausendfacher Gestalt offenbarende zerstörerische Naturmacht in Erscheinung.21 Zugleich ist Geschichte immer verschränkt mit der persönlichen Familien-, Lebens- und Leidensgeschichte eines Menschen. Dies kündigt schon der Untertitel des Romans Aus dem Leben von Gesine Cresspahl an.22 Das zeitgeschichtliche Geschehen nicht nur der NS-Zeit, sondern auch der DDR-Diktatur und der amerikanischen Gegenwart fordert von Gesine auch persönliche Verluste: Sie erleidet den Tod ihrer Mutter Lisbeth, die sich nach der Pogromnacht und der Ermordung des jüdischen Mädchens Marie Tannebaum 18 Vgl. auch den Bericht über Ilse Koch, die »Bestie von Buchenwald« (JT: S. 49 f.). 19 Zum Film »The Fifth Horseman is Fear« vgl. allgemein und ohne Schiller-Bezug: Sigrun Storz-Sahl: Erinnerung und Erfahrung: Geschichtsphilosophie und ästhetische Erfahrung in Uwe Johnsons Jahrestagen. Frankfurt a. M.: Lang, 1988, S. 221 – 229. Im Zusammenhang mit Gesines Prag-Plänen behandelt den Film Sabine Fischer-Kania: Geschichte entworfen durch Erzählen: Uwe Johnsons »Jahrestage«. Münster : LIT Verlag, 1996, S. 114 – 119. 20 Vgl. Johnsons Aussagen hierzu im Interview : Heinz D. Osterle: Strukturfragen und Todesgedanken. Eine rätselhafte Deutsch-Amerikanerin. In: Heinz D. Osterle (Hrsg.): Bilder von Amerika. Gespräche mit deutschen Schriftstellern. Münster : EAST, 1987, S. 11 – 135, hier S. 124. 21 Vergangenheitsebene und Gegenwartsebene sollen nicht gleichgesetzt werden, aber es gibt »Parallelen«. Vgl. zu diesem Gedanken: Ingeborg Gerlach: Auf der Suche nach der verlorenen Identität. Scriptor Verlag, 1980, S. 13. 22 Zum Untertitel vgl. Hille Haker : Moralische Identität: Literarische Lebensgeschichten als Medium ethischer Reflexion. Mit einer Interpretation der Jahrestage von Uwe Johnson. Tübingen, Basel: Francke, 1999, S. 197.
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aus Schuldgefühlen und Verzweiflung heraus in der Werkstatt ihres Mannes verbrennt. Gesines Tante Hilde Paepcke sowie deren Kinder Alexandra, Eberhardt und Christine, mit denen sie in ihrer Kindheit auf Fischland ihre schönsten Ferien verbringt, sterben bei einem Bombenangriff der Alliierten. Jakob wiederum – Gesines große Liebe und der Vater Maries –, der mit seiner Mutter nach dem Zweiten Weltkrieg als Flüchtling bei den Cresspahls aufgenommen wird, gerät im System des real-existierenden Sozialismus der DDR ins Visier der Staatssicherheit und wird durch mysteriöse Umstände auf den Bahngleisen von einem Zug überrollt. Der für die amerikanische Abwehr arbeitende spätere Lebenspartner Gesines, D.E., kommt schließlich bei einem Flugzeugabsturz ums Leben und verbrennt bei »vollem Bewußtsein« (JT: S. 1740), gerade zu jenem Zeitpunkt, als Gesine in eine Heirat einzuwilligen gedenkt. Es ist für sie »die schlimmste Nachricht seit dem Ableben Ihres [Gesines, Anm. d. V.] Herrn Vaters« (JT: S. 1740).
9.1.2 »Der Satz von heute heißt … daß ich ihn nicht sagen werde«: Undarstellbarkeit, Nicht-Aussprechbarkeit und Nicht-Erklärbarkeit geschichtlichen Grauens Angesichts der geschichtlichen Naturgewalt »resigniert« (ÜE: S. 835) Gesine beim Versuch, diese »erklären« (ÜE: S. 835) zu wollen, denn sie ist verwirrend und unbegreiflich im Sinne des Theoretisch-Erhabenen. Die Unmöglichkeit, Geschichte mit dem Verstand zu erfassen, durchzieht als Leitmotiv die Jahrestage. Geschichte ist nicht zu begreifen, mit dem Verstand nicht zu fassen. Das gilt einmal für die amerikanische Gegenwart. »Manchmal verstehst du das Land nicht, in dem wir doch leben« (JT: S. 940), durchschaut Marie ihre Mutter, die sich genau dies an späterer Stelle selbst eingesteht: »Daß wir doch das Land verstünden, in dem wir leben wollen!« (JT: S. 1128) Weitaus unbegreiflicher und unerklärbarer erscheinen jedoch die Erzählungen Gesines von der deutschen Vergangenheit. »– Annie, du wirst es nicht verstehen. – Mrs. Fleury, das können wir Ihnen nicht erklären. Sie werden es nie begreifen. […] Daran ist nichts zum Verstehen, Annie« (JT: S. 589, S. 592) – mit diesen Worten suchen Gesine und Marie ihrer Bekannten Annie Fleury, die einer von Gesines Erzählungen von Deutschland aus der Zeit der 1930er Jahre beiwohnt und dabei aussieht, »als hätte [sie] gar nichts verstanden« (JT: S. 592), zu verdeutlichen, dass ihre Bemühung um ein Verständnis der Geschichte aussichtslos ist. Aber auch Marie will sich nicht damit zufrieden geben, dass manche Dinge aus den Erzählungen der Mutter nicht restlos aufzuklären sind. »Es gefällt mir nicht: sagt Marie. […] daß es keinen Schluß hat. Und daß das Ende nicht erklärt ist.« (JT: S. 607) Doch Gesine, die ihrer Tochter ebenso von Ereignissen aus ihrer Gymnasialzeit in
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Gneez berichtet, hat für Marie nicht immer eine zufriedenstellende Antwort parat: »Das zu ergründen, angesichts des westlichen Tors der Verrazano-Brücke im düster beschwerten Dunst von Staten Island, es ginge über den Verstand.« (JT: S. 1661) Gesine ihrerseits erfährt den Besuch des Kinofilms über den jüdischen Rechtsanwalt Dr. Braun, der im von den Nationalsozialisten besetzten Prag einen verwundeten Jungen vor den Deutschen versteckt – in einer Dachkammer, die keine »lieblich[e] [Aussicht]« (JT: S. 1135) bietet – als eine »Niederlage« (JT: S. 1137) des Verstehens. Es fängt schon bei der Frage nach der Bedeutung des Titels an, über den sie »ratlos« (JT: S. 1138) ist: »›The fifth horseman is fear‹, was soll es denn heißen.« (JT: S. 1137) Den gesamten Film hindurch begleiten Gesine Fragen, die sie nicht zu beantworten vermag: »Die Gegenschnitte mit Szenen aus dem Prag von heute, woran sollen sie erinnern? an das Verhalten der Einheimischen unter den Nazis? an das Vergessen? […] Am zweiten Morgen ist der Verwundete aus der Dachkammer entfernt; von Wem?« (JT: S. 1136 f.) Oder ist am Ende »der Verwundete noch im Dachboden versteckt, nur an einer anderen Stelle, und will Dr. Braun ablenken von dieser Möglichkeit, indem er sich umbringt?« (JT: S. 1136 f.) Nach der Vorstellung sitzt Gesine in der Bar des Hotels »so benommen da, als sei ihr etwas Unbegreifliches zugestoßen« (JT: S. 1137). Das Fazit ihres Kinobesuchs lautet: »Nicht verstanden. […] Fragezeichen. Aus. Ende.« (JT: S. 1136 f.) Gesine, die das Verhalten der Deutschen doch selbst nicht begreift, wird den Roman hindurch immer wieder mit der Frage imaginierter Stimmen konfrontiert, die sie zum Erklären des Nicht-Erklärbaren auffordern: »Erklären Sie uns das. Sie sind doch auch eine Deutsche, Mrs. Cresspahl. Versuchen Sie, uns dies zu erklären.« (JT: S. 794)23 24 Mit dem Theoretisch-Erhabenen, das Natur als nicht-fassbare, nicht erklärbare Macht thematisiert, ist zugleich das Problem der Darstellung verbunden. In den Jahrestagen kommt die Unfähigkeit der menschlichen Erkenntnis zu Vorstellung, Darstellung oder Abbildung des Nicht-Fassbaren und Nicht-Erklär-
23 Diese Frage durchzieht in leichten Variationen leitmotivisch den Roman. Vgl.: »Erklären Sie uns das. Es sind doch Ihre Landsleute, Mrs. Cresspahl. Versuchen Sie, uns dies zu erklären.« (JT: S. 794); »Erklären Sie uns das, Mrs. Cresspahl. Sie sind doch eine von den Deutschen. Versuchen Sie, uns dies zu erklären.« (JT: S. 795); »Erklären Sie uns das, Mrs. Cresspahl. Sie sind doch auch von da her. Erklären Sie uns dies mit den Deutschen.« (JT: S. 1263, Herv. i. O.) 24 Auch Johnson, der in den Jahrestagen als »der Schriftsteller Johnson« (JT: S. 253) vor dem »Jewish American Congress« (JT: S. 253) auftritt, um über Deutschland und die »Wahlerfolge der westdeutschen Nazipartei« (JT: S. 253) zu reden, ist außerstande, das Land Deutschland und seine Vergangenheit zu erklären und begreifen: »Ihm [Johnson, Anm. d. V.] war nicht zuzutrauen, daß er selber das Land verstand, geschweige denn erklären konnte« (JT: S. 255).
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baren in der »absoluten Negativität«25 der Bildlosigkeit, Namenlosigkeit und Nicht-Aussprechbarkeit, durch Leerstellen und Schweigen zum Ausdruck. So unterbrechen immer wieder Leerstellen den Bericht von Mrs. Ferwalter, Gesines jüdischer Bekannten in New York, über ihre Vergangenheit in deutschen Konzentrationslagern. »Mrs. Ferwalter hat unterwegs, auf der Flucht von den deutschen Lagern, ihre Sprache verloren.« (JT: S. 792) Das Grauen selbst wird ausgelassen, es kann nicht ausgesprochen werden. Die Leerstellen in den Schilderungen Mrs. Ferwalters werden von Gesine im Geist andeutungsweise ergänzt, doch ist auch sie außerstande, Näheres zu erfragen oder »es« gar zu hören.26 Nach ihren Eltern können wir sie nicht fragen. […] 1944 wurde sie, wahrscheinlich von den Ungarn (danach können wir sie nicht fragen) ausgeliefert an die Deutschen. Die Deutschen brachten sie in das Konzentrationslager Mauthausen. ›Eine von den Aufseherinnen, die war so gut, sie hatte fünf Kinder und mußte das alles ja.‹ Sie meint eine SS-Wächterin. Danach können wir sie nicht fragen. […] [Ü]ber die Türkei, Israel, Canada kam sie 1958 in die U.S.A. Die Ärzte nennen das Fett in ihren Schultern, ihrem Nacken, am ganzen Leibe einen Ausdruck des KZ-Syndroms. Zu diesem Syndrom gehören ihre Unruhe, ihre Schlaflosigkeit und eine dauernde Entzündung der Atemwege, gegen die sie sich nur zu helfen weiß, indem sie den Schleim in den Hals zieht, mit einem harten, kratzenden Geräusch. Wir haben sie hiernach nicht gefragt. (JT: S. 46 f.)
Auch Gesine selbst schweigt häufig, sie wird als »wortlos[]« (JT: S. 1087) beschrieben, als eine Person, die »seit langem mit Niemandem groß gesprochen [hat]« (JT: S. 12). »Tagsüber spreche ich ja nicht« (JT: S. 388), sagt sie von sich selbst. Ihr verschlägt es regelmäßig die Sprache, gewisse Dinge bringt sie im buchstäblichen Sinn einfach nicht über die Lippen.27 In einem fiktiven Interview mit Marie antwortet diese auf die Frage, ob ihre Mutter viel über den Nationalsozialismus gesprochen habe: »Ausgesprochen hat sie es nicht.«28 Gesines an die Tochter gerichtete Erzählungen von der deutschen Geschichte und den damit verbundenen persönlichen Schicksalsschlägen sind in auffallender Weise durch 25 Jan Assmann: Über das Erhabene: Schiller im Licht von Kant und Mozart. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 2007, S. 166 – 182, hier S. 174. 26 Vgl.: »›Danach können wir sie nicht fragen‹, betont Gesine im Zusammenhang mit der KZVergangenheit ihrer Bekannten Mrs. Ferwalter […]: Furcht vor dem, was sie zu hören bekäme, hindert sie am Fragen […]« (Ingeborg Gerlach: Auf der Suche nach der verlorenen Identität. Scriptor Verlag, 1980, S. 17). 27 Gerlach weist darauf hin, dass Gesines »Schockerlebnis [als sie von der Existenz der Konzentrationslager erfuhr, Anm. d. V.] niemals direkt erzählt wird«: Ingeborg Gerlach: Auf der Suche nach der verlorenen Identität. Scriptor Verlag, 1980, S. 30 ff. Zu Gesines Schweigsamkeit vgl. ebd., S. 22, S. 53, S. 57 f. 28 Uwe Johnson: MARIE H. CRESSPAHL, 2.–3. Januar 1972. In: Eberhard Fahlke (Hrsg.): »Ich überlege mir die Geschichte…« Uwe Johnson im Gespräch. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1988, S. 90 – 110, hier S. 94.
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blinde Stellen unterbrochen und lassen aus, was sie nicht darzustellen, auszusprechen oder abzubilden vermögen. Ihr Bericht wird leitmotivisch gestört durch die zwischen Mutter und Tochter entstehenden Diskussionen darüber, was nun erzählt wird und was nicht.29 Beispielsweise gesteht Gesine ihrer Tochter auf Tonband: »Ich habe etwas, das will ich dir noch acht Jahre verschweigen.« (JT: S. 687) In einem Gespräch bittet sie Marie geradezu: »Wollen wir springen in der Erzählung?« (JT: S. 1028) oder aber hofft insgeheim, der Schilderung ihrer Vergangenheit ganz zu entkommen: »(Frag mich nichts, Marie.)« (JT: S. 210) Diese wiederum äußert mehrmals vorwurfsvoll: »– Und was willst du mir heute nicht erzählen?« (JT: S. 1359), »– Was ist es heute, das du mir nicht erzählen willst, Gesine« (JT: S. 1362) oder »– Was du nicht weißt, wirst du auslassen, und ich bin kein Stück klüger« (JT: S. 670).30 So möchte Gesine »die Geschichte mit der Regentonne« (JT: S. 615) ausblenden, jenes Erlebnis, als ihre Mutter Lisbeth zur Zeit des Nationalsozialismus aus Schuldgefühlen den Juden gegenüber ihre damals dreijährige Tochter Gesine in einer Regentonne ertrinken lassen, ja gewissermaßen opfern will, um sie vor einem Schuldigwerden ihrerseits zu schützen: »Davon weißt du nichts. […] Das war ohnehin im Sommer 37, und wir haben es längst verpaßt« (JT: S. 615), entgegnet Gesine Marie, als diese sie mit den Worten: »– Du drückst dich vor der Geschichte« (JT: S. 616) wiederholt zur Erzählung auffordern will. Auch einer anderen »von Lisbeths Geschichten« (JT: S. 587), der Geschichte von Lisbeths Selbstmord, hat Gesine »nicht ihren Schluß gegeben« (JT: S. 587). Abermals ertappt Marie ihre Mutter dabei, dass sie etwas verschweigen will: »– Du läßt etwas aus, Gesine. […] etwas, das willst du mir nicht erzählen.« (JT: S. 586) Als Gesine sich schließlich doch zum Erzählen bewegen lässt, kann sie die brisante Stelle, die Selbstverbrennung Lisbeths, nicht aussprechen: »Lisbeth hat sich, sie –« (JT: S. 587). Selbst Marie, die doch auf die Geschichte gedrängt hat, bringt nicht über die Lippen, was sie inzwischen vermutet: »Ist sie in dem Feuer –? O.K. Ich will es nicht wissen.« (JT: S. 784)31 Am wenigsten aber kann Gesine den Verlustschmerz, den Jakobs Tod in ihr 29 Vgl. auch: »Im Dialog zwischen Gesine und Marie kommt es zur Ausbildung eines eigenständigen Diskurses über das Nicht-Erzählen […]« (Günter Butzer : Fehlende Trauer. München: Fink, 1998, S. 118). 30 Vgl. auch: »Aber ich hab vergessen, es auszulassen.« (JT: S. 1067); »warum war Mrs. C. so erleichtert über jeden Aufschub?« (JT: S. 1341); »– Du drückst dich vor der Geschichte […] du wirst wünschen, sie nicht zu wissen.« (JT: S. 616) 31 Auch einiges an Zeit- und Familiengeschichte aus der Ära der DDR-Diktatur spart Gesine aus ihrer Erzählung an Marie aus (vgl. JT: S. 1331). So ist der Tod von Marie Abs, Jakobs Mutter, die nach dem Selbstmord Lisbeths für Gesine ein Mutterersatz geworden war, Marie, die den Namen der Großmutter trägt, nicht gegenwärtig: »– Warum fehlt das in meiner Erinnerung?« (JT: S. 1871) ist die vorwurfsvolle Frage an Gesine und die aufrichtige Antwort lautet: »– Weil es dir vorenthalten wurde« (JT: S. 1871).
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hervorruft, zur Sprache und Abbildung bringen. So endet eine ihrer Erzählungen über Jakob mit den Worten: »Der Satz von heute heißt … daß ich ihn nicht sagen werde. Es ist ein harmloser Satz, kein Geheimnis nichts von Gefühl. Es ist das Aussprechen, das ihn unerträglich machen würde, unheimlich.« (JT: S. 387 f.) Schon für die heranwachsende Gesine ist Jakob ein Mensch, über den sie nicht offen reden kann, weil sie ihre heimliche unerfüllte Liebe zu ihm niemandem anzuvertrauen wagt. »Und obendrein«, so erinnert sie sich, »war mir verwehrt, mein Geheimnis auszusprechen.« (JT: S. 1552) Fast scheint es, als ob Gesine »auf Jakob ganz verzichten [sollte]« (JT: S. 387 f.), wenn etwas sie nicht nur am Sprechen über ihn hindert, sondern sie auch in ihrem Bemühen beeinträchtigt, sein Gesicht in ihrem Gedächtnis zu vergegenwärtigen, gewissermaßen abzubilden: »Von Jakobs Gesicht an diesem Tage bekomme ich kein Bild; ich müßte es denn erfinden.« (JT: S. 490) Jakob, über dessen flüchtiges Wesen sowie die Ursache seines Todes schon in Johnsons zweitem Roman nur »Mutmassungen« angestellt werden konnten und der nun in den Jahrestagen weder mit Worten noch in Bildern zu fassen ist, erscheint so vage, dass Marie an seiner Existenz zweifelt – so könnte zumindest der folgende doppeldeutig zu lesende Satz auch ausgelegt werden: »Nun will Marie noch wissen, warum sie einen Brief von Jakob aus Mähren noch nie zu Gesicht bekommen hat. […] Wird die Mutter schwören, daß es ihn gibt?« (JT: S. 1811) Worauf sich das Personalpronomen »ihn« konkret bezieht, ist dem Satz – zumindest in grammatikalischer Hinsicht – nicht eindeutig zu entnehmen, kann das Pronomen sich doch sowohl auf den Brief als auch auf Jakob beziehen. Nicht zuletzt hat Gesine, und dies dürfte der eindeutigste Hinweis auf die Nichtdarstellbarkeit von Jakobs Tod sein, dessen Leiche oder wenigstens seinen Sarg nie gesehen. Sie erfährt erst von seinem Tod, »als Jakob unter der Erde war« (JT: S. 1868). Ebensowenig lässt sich die für Gesine ebenfalls furchtbare und zugleich unvorstellbare Katastrophe, bei der D.E. ums Leben kommt, abbilden. Zwar verlangt sie zum Beweis seines Todes »[e]in Foto!« (JT: S. 1741), doch »[e]s gibt keine Aufnahmen vom Ort des Unglücks« (JT: S. 1741) und die Leiche D.E.s ist beim Flugzeugabsturz bis zur Unkenntlichkeit verbrannt (vgl. JT: S. 1741). Wie bei Jakob, so gibt es auch hier keinen Sarg, der D.E.s Tod nachvollziehbar, begreifbar und damit bewältigbar macht. Was Gesine über Marie sagt, gilt auch für sie selbst: »Aber es fehlt der Sarg, den sie sehen kann.« (JT: S. 1749) Bei ihrer Cousine Alexandra Paepcke ist es wiederum die Stimme, an die sich Gesine nach deren Tod nicht mehr erinnern kann: »Sie hörte Alexandras Stimme nicht. Sie versuchte, beschreibende Ausdrücke zu finden für Alexandras Stimme in jenem Augenblick; da entging ihr fast die Ahnung davon.« (JT: S. 1494) Neben den erinnerten Personen ist selbst Gesines mecklenburgischer Heimatort ein Gegenstand des Undarstellbaren geworden. Das Jerichow Mecklenburgs wird mit dem biblischen »Jericho in Jordanien« (JT: S. 833) parallelisiert, dessen »Zer-
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störung […] Legende [ist]« (JT: S. 833). Auch Gesines Jerichow scheint zerstört und ausgelöscht zu sein. So existieren »keine Ansichtenpostkarten von Jerichow« (JT: S. 1772) und ebenso lässt sich ihr »Dorf nicht finden auf der Landkarte« (JT: S. 1037). Gewissermaßen ist Jerichow für Gesine gestorben.32 Nicht nur die vergangene Geschichte lässt sich nicht darstellen, auch der gegenwärtigen Geschichte steht Gesine stumm und sprachlos gegenüber. Anstelle der üblichen Eröffnung eines jeden neuen Tags mit den Meldungen aus der New York Times beginnt der 23. Oktober 1967, nachdem Gesine am Tag zuvor von den Toten wegen ihrer Nichtbeteiligung an der Demonstration gegen den Vietnamkrieg zur Rechenschaft gezogen wurde, mit einer Leerstelle und einem Abriss über das Schweigen: Du willst heute den Mund nicht aufmachen, Gesine? Die Klappe halten? Keinen Mucks tun? Es soll typisch sein für New York. Ein Mann hat einen Rekord von einundzwanzig Tagen Schweigen beschrieben. Es soll typisch sein für die Entfremdung in New York. Warum willst du schweigen, Gesine. Ich mag nichts reden. (JT: S. 210, Herv. i. O.)
Auch ihre wachsende – sich zuletzt bewahrheitende – Befürchtung einer geˇ SSR durch waltsamen Beendigung der reformerischen Bestrebungen in der C Truppen der Sowjetunion kann Gesine nicht in Worte fassen. »Du willst nicht darüber sprechen, Gesine« (JT: S. 1028) heißt es, als sie aus der New York Times von einem mysteriösen Todesfall eines Majors erfährt, welcher die vermutete ˇ SSR untersuchen Ermordung des Außenministers Masaryk im Jahr 1948 in der C sollte, wodurch ihre Hoffnung auf einen menschlichen Sozialismus, an dem mitzuwirken sie gedenkt, wieder um ein Stück mehr getrübt wird.33 Der Roman, dessen Handlungsverlauf zielstrebig auf den 21. August 1968 zusteuert, auf jenes geschichtsträchtige Datum des Einmarschs sowjetischer Streitkräfte in Prag also, klammert das »katastrophale Ende«34 gänzlich aus, indem sämtliche Protagonisten und Erzählinstanzen, die New York Times eingerechnet, darüber schweigen, was gegenwärtig in Prag geschieht. Die letzte Szene des Romans zeigt Gesine, die sich gerade auf dem Weg nach Prag befindet und einen Zwischenstopp einlegt, gemeinsam mit Marie und ihrem ehemaligen Englischlehrer Kliefoth beim Spaziergang an einem dänischen Strand. An diesem Tag konsul32 Weiterhin sind Gesines »mecklenburgische[] Sachen« (JT: S. 733) in einem »verschlossene[n] Fach des Bücherschranks« (JT: S. 733) nicht zugänglich, Marie könnte sie außerdem gar nicht lesen (JT: S. 386). Auch gibt es von Gesine keine Kindheitsfotos: »Gesine, warum gibt es nicht Fotografien von dir als Kind?« (JT: S. 936) 33 »Du sprichts es nicht aus« (JT: S. 818), sagt D.E. über Gesines vage Sozialismus-Hoffnungen. 34 Sigrun Storz-Sahl: Erinnerung und Erfahrung: Geschichtsphilosophie und ästhetische Erfahrung in Uwe Johnsons Jahrestagen. Frankfurt a. M.: Lang, 1988, S. 305.
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tiert sie nicht wie sonst ihre Tageszeitung. Im Gespräch mit Uwe Johnson bemerkt Heinz D. Osterle zu dieser Schlussszene: Sie sparen die Politik völlig aus […] Sie wollen durch diese Leerform zeigen, daß etwas ganz Schreckliches passiert ist. Die sowjetische Invasion hat die Hoffnung auf einen neuen Sozialismus zerstört. […] Das Ende ist Schweigen?35
Und Johnson antwortet ihm: »Das Ende ist Schweigen.«36 37 Holger Helbig hat darauf aufmerksam gemacht, dass Johnson in dieser letzten Szene der Jahrestage einen von Kliefoth ausgesprochenen »Verweis auf Schiller«38 – genauer : auf sein im Theorieteil dieser Arbeit erörtertes Das verschleierte Bild zu Sais – wieder entfernt hat: »In der letzten Manuskriptfassung«, schreibt Helbig, »ist zu lesen: Ich weiß vom Leben nur eines: was dem Gesetz des Werdens unterliegt, muß nach diesem Gesetz vergehen. Der Mensch steht ihm gegenüber wie der Jüngling dem verhängten Bilde von Sais. Mir, da seien sie unbesorgt, ergeht es genügend.39
9.1.3 »Da ist ein Schock nachzuweisen«: Der aufbegehrende Naturtrieb in Gesine Die Naturgewalt »außer uns« (VE: S. 397) wird als leidvolles Aufbegehren der »Natur […] in uns« (VE: S. 395, Herv. i. O.), als Schmerz in der Empfindung oder Schrecken in der Vorstellung, als Ohnmacht, Furcht und Unlust wahrgenommen, heißt es bei Schiller. Angesichts vergangener und gegenwärtiger, politischgesellschaftlicher und persönlicher Geschichte als einer von außen hereinbrechenden Naturgewalt reagiert auch Gesines innere Natur mit Angst, Schmerz, Schock und Schuldgefühlen.40 So leidet Gesine zum Einen unter der deutschen 35 Heinz D. Osterle: Strukturfragen und Todesgedanken. Eine rätselhafte Deutsch-Amerikanerin. In: Heinz D. Osterle (Hrsg.): Bilder von Amerika. Gespräche mit deutschen Schriftstellern. Münster : EAST, 1987, S. 11 – 135, hier S. 134 f., Herv. i. O. 36 Ebd., S. 135. 37 In einem Brief an den Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich berichtet Gesine von Stimmen in ihrem Kopf, die sie als das Unausgesprochene deutet: »Nicht nur bei dem Kind, auch bei aktuellen Unterhaltungen von heute, im Büro, in der subway, mit Kollegen oder Fremden, läuft neben dem tatsächlich Gesagten eine zweite Strähne mit, worin das Ungesagte sich bemerklich macht, das nämlich das Gegenüber verschweigt oder bloß denkt.« (JT: S. 1540) Vgl. auch: »Ich habe nie gesehen, wie ein Mensch erschossen wird.« (JT: S. 673) Und selbst D.E. äußert: »Da ist etwas, ich treffe es nicht mit Worten.« (JT: S. 817) 38 Holger Helbig: Last and final: Über das Ende der Jahrestage. In: Johnson-Jahrbuch 3 (1996), S. 97 – 122, hier S. 115. 39 Ebd., S. 115. Siehe dazu auch Norbert Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons. Jahrestage und andere Prosa. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1997, S. 302. 40 Zum Thema Schuld vgl. Sabine Fischer-Kania: Geschichte entworfen durch Erzählen: Uwe
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Geschichte – wie sehr, lässt schon ihr Geburtsdatum erahnen: sie ist am »dritten März 1933« (JT: S. 201), also im Jahr der »Machtergreifung« Hitlers41 und noch dazu an einem symbolträchtigen Freitag,42 geboren. Zweifelsfrei: »Da ist ein Schock nachzuweisen.« (JT: S. 233) Der Schock ergriff Gesine zum ersten Mal im Alter von 12 Jahren, als sie von der Existenz der Konzentrationslager erfuhr : Das Schockmittel war eine Fotografie, die die Briten im Konzentrationslager BergenBelsen gemacht hatten und abdruckten in der Zeitung, die sie nach dem Krieg in Lübeck laufen ließen. Die Wirkung hat bis heute nicht aufgehört. Betroffen war die eigene Person: ich bin das Kind eines Vaters, der von der planmäßigen Ermordung der Juden gewußt hat. […] Der Schock war ausreichend, den Wunsch nach Vergessen zu erzeugen, die Empfindung der Albträume, die blinde, vergebliche Gegenwehr der Schlafenden im Kampf mit etwas, das in keinem Aufwachen ganz verschwinden wird. (JT: S. 232, S. 235)
Den Schock und den Schmerz bei der Vorstellung des Unvorstellbaren empfindet Gesine »so klar und kalt und sauber wie ein nass geschliffenes Messer sich anfühlt« (JT: S. 1479). Ihre Erschütterung über das Geschehene wächst seitdem an zu einem sie fast stetig begleitenden Gefühl der Angst, »zu einer Furcht vor Schuld« (JT: S. 1479). Noch die erwachsene Gesine erwidert auf ihre schmerzhaften Erinnerungen und Vorstellungen mit einer fiebrigen Abwehrreaktion (JT: S. 750), zudem hat sie regelmäßig Wahnvorstellungen, indem sie in ihrem Kopf »Stimmen hört« (JT: S. 387) – »[d]avor habe ich Angst« (JT: S. 387) –, die sich als Gespräche mit den Toten entpuppen. Wenn sie einen der vielen Dialekte in New York als Jiddisch erkennt (JT: S. 233) oder ihr Blick auf die in den Arm von Mrs. Ferwalter, der Mutter von Maries Freundin Rebecca, eintätowierte Nummer fällt (JT: S. 45), so ist dies für Gesine kaum zu ertragen. Während des Tschechischunterrichts bei dem emigrierten jüdischen Lehrer Prof. Kreslil wiederum überfällt sie die Macht der Natur und der unwillkürlichen Erinnerungen, deren sie sich kaum erwehren kann (JT: S. 926).43 Aber auch Gesines Bestürzung über die Kriminalität und täglichen Morde in New York erzeugt in ihrer Phantasie Bilder möglicher Katastrophen und Schicksalsschläge, auf die sie Johnsons »Jahrestage«. Münster : LIT Verlag, 1996, S. 84 – 93; Ingeborg Gerlach: Auf der Suche nach der verlorenen Identität. Scriptor Verlag, 1980, S. 23. Zu Gesines Schmerzen infolge der Schuldgefühle vgl. Colin Riordan: »Die Fähigkeit zu trauern.« Die »Toten« und die Vergangenheit in Uwe Johnsons »Jahrestage«. In: Carsten Gansel (Hrsg.): Wenigstens in Kenntnis leben: Notate zum Werk Uwe Johnsons. Neubrandenburg: Federchen Verlag, 1991, S. 62 – 76, hier S. 64. 41 Das Motiv der »Dreizahl« in Gesines Geburtsdatum erörtert Jochen Hörisch: »Ich dachte zu leben genüge«. Rezension zu Uwe Johnson: Jahrestage. In: Arbitrium. Zeitschrift für Rezensionen zur germanistischen Literaturwissenschaft 3 (1985), S. 97 – 101, hier S. 98. 42 Die Verbindung zum Karfreitag ist naheliegend: »Kar« bedeutet »Klage, Trauer« (Duden. Das Herkunftswörterbuch. Bd. 7. Mannheim u. a.: Dudenverlag, 2001, S. 392). 43 Zu Kreslil vgl. Sigrun Storz-Sahl: Erinnerung und Erfahrung: Geschichtsphilosophie und ästhetische Erfahrung in Uwe Johnsons Jahrestagen. Frankfurt a. M.: Lang, 1988, S. 105.
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unwillkürlich mit Schreckhaftigkeit reagiert. »Nu erschreck doch nicht so, Dschi-Sain!« (JT: S. 187), wird Gesine von Sam beruhigt, dem Inhaber des Imbissladens, in welchem Gesine Stammkundin ist, als diese sich detailliert ausmalt, wie man den ausgeraubten und niedergestochenen Wirt in einem Sarg abtransportiert: Also wird da doch Zeit sein, einen Sarg zu holen, nicht den endgültigen, einen städtischen Wechselsarg ohne Verzierung, nachdem Sam vor der Schnellküche zusammengesackt ist mit ein bißchen Überraschung aber nicht Wut über den Schmerz, der ihm unverhofft aus dem Herzen über den linken Arm ins Gehirn stieg und es löschte. (JT: S. 187)
Gleichermaßen suchen Gesine persönliche Verlustschmerzen heim. So empfindet sie die Erinnerung an den Tod der Familie Paepcke bei einem Luftangriff »so scharf und schmerzlich wieder, sie zuckte zusammen wie unter einem Stich« (JT: S. 1479). Das Leid über Jakobs Tod treibt sie fast in den Selbstmord (vgl. JT: S. 1868) und trotz der späteren Beziehung zu D.E. fühlt sie sich durch den erlebten Verlust außerstande, emotional noch einmal eine so enge Bindung zu einem Menschen einzugehen: »Wenn ich mich auf einen Menschen einlasse, könnte sein Tod mich schmerzen. Ich will diesen Schmerz nicht noch einmal.« (JT: S. 388) Als sie sich D.E. schließlich doch zu öffnen beginnt, verunglückt er tödlich und Gesine, nunmehr »doppelte Witwe« (JT: S. 1749), erleidet eben jene »Schmerzen« (JT: S. 1749) aufs Neue. Wie oft noch mauert Hoffnung sich ein Fundament aus nichts als rationalen Bausteinen und spart mit irrationalen Wänden den Raum aus, in dem später die Enttäuschung bequeme Wohnung findet. Warum macht Wiederholung nicht feuerfest. (JT: S. 913).
Angesichts der ständigen Wiederholung von Geschichte als Naturmacht, dieser niemals enden wollenden Gewalt der Naturkräfte, die sich in Kriegen und Schicksalsschlägen äußert, verfällt Gesine in eine resignative,44 ohnmächtige, zunehmend auch melancholisch-depressive Stimmmung. Sie hält gesellschaftspolitische Veränderungen nicht mehr für wahrscheinlich. Mit der Ermordung Martin Luther Kings gibt Gesine auf, »zu warten […] auf das Nacheinander der Ereignisse, auf die künftige Geschichte, bis Menschen von dunkler Hautfarbe mit rosanen leben als Nachbarn und in Freundschaft unter einander« (JT: S. 1885). Auch glaubt sie nicht daran, dass sie, nachdem sie in den 1930er und -40er Jahren »[ihren] Krieg nicht aufgehalten [hat]« (JT: S. 494), persönlich einen Beitrag zum Abbruch des amerikanischen Krieges in Vietnam leisten kann:45 44 Vgl. zu Gesines Resignation JT: S. 206 – 29. 45 Zum Thema Protest und politisches Engagement in den Jahrestagen vgl. Eberhard Fahlke: »Gute Nacht, New York – Gute Nacht, Berlin«. Anmerkungen zu einer Figur des Protestierens
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Ich könnte einen Leserbrief an die New York Times schreiben; ich könnte fürs Leben ins Zuchthaus gehen wegen eines erfolglosen Attentats auf den Präsidenten Johnson; ich könnte mich öffentlich verbrennen. Mit Nichts könnte ich die Maschine des Krieges aufhalten um einen Cent, um einen Soldaten; mit Nichts. (JT: S. 894)
Als sowjetische Truppen 1968 in die Tschechoslowakei einmarschieren und die demokratischen Freiheitsbestrebungen des Prager Frühlings46 zerschlagen, ist damit zugleich auch Gesines »Kinderwünsche[n]. […] Sozialismus etcetera« (JT: S. 990) ein Ende bereitet, ihrer Hoffnung also auf einen sozialistischen Staat demokratischer Prägung, gewissermaßen auf einen elysischen Zukunftsstaat (vgl. JT: S. 690) der schönen Seelen und des »schöne[n] Ton[s]« (ÄE: S. 676). Sie wird nunmehr »[u]nangreifbar, nicht mehr erreichbar für Kinderhoffnungen von vor zwanzig Jahren« (JT: S. 866), für das »Märchen vom unfremden Leben« (JT: S. 1543). Angesichts der »Machtlosigkeit des Einzelnen gegenüber Geschichte«47 gibt es für Gesine keine »Beständigkeit des Glück[s]« (JT: S. 1537). Sie ist »UNGLÜCKLICH« (JT: S. 1743, Herv. i. O.)48 und zwar – gewissermaßen entsprechend der zwei Erzählstränge – »DOPPELT« (JT: S. 1743, Herv. i. O.). »Wie Schillers Jüngling zu Sais«49 so droht auch Gesine »›[ihres] Lebens Heiterkeit‹ für immer [zu] verlieren.«50 Im Gegensatz zur Lebensfreude und ausgelassenen Heiterkeit Ingrids, zumindest zu Beginn der Reifeprüfung, stellt Gesine kein Kind des Lebens dar, sie zeichnet sich vielmehr durch eine anhal-
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anhand der »Jahrestage« von Uwe Johnson. In: W. Martin Lüdke (Hrsg.): Literatur und Studentenbewegung: Eine Zwischenbilanz. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1977, S. 186 – 218; Sabine Fischer-Kania: Geschichte entworfen durch Erzählen: Uwe Johnsons »Jahrestage«. Münster : LIT Verlag, 1996, S. 73 – 77; Peter Pokay : Utopische Heimat. Uwe Johnsons »Jahrestage«. In: Studia Germanica Posnaniensia Bd. X (1982), S. 51 – 76, hier S. 65; Ingeborg Gerlach: Auf der Suche nach der verlorenen Identität. Scriptor Verlag, 1980, S. 103 – 106. Zum Thema Prag vgl. Sabine Fischer-Kania: Geschichte entworfen durch Erzählen: Uwe Johnsons »Jahrestage«. Münster : LIT Verlag, 1996, S. 101 ff.; Ingeborg Gerlach: Auf der Suche nach der verlorenen Identität. Scriptor Verlag, 1980, S. 65; Hille Haker : Moralische Identität: Literarische Lebensgeschichten als Medium ethischer Reflexion. Mit einer Interpretation der Jahrestage von Uwe Johnson. Tübingen, Basel: Francke, 1999, S. 259 – 269. Wolfgang Strehlow : Ästhetik des Widerspruchs: Versuche über Uwe Johnsons dialektische Schreibweise. Berlin: Akademie Verlag, 1993, S. 293. Gansel schreibt: »Was für sie [Gesine, Anm. d. V.] übrig bleibt, ist Tristesse. Gesine selbst weiß sehr wohl um ihre Unfähigkeit, Glück zu empfinden, und sie begründet dies auch mit ihrer Profession als Intellektuelle. […] Ulrich Fries hat mit Recht davon gesprochen, daß ›Gesine als Person Glücksverbot‹ erhält […]« (Carsten Gansel: Zwischen Aufbau und Demission der Helden – Uwe Johnson, das Gedächtnis und die DDR. In: Carsten Gansel und Nicolai Riedel (Hrsg.): Uwe Johnson zwischen Vormoderne und Postmoderne: Internationales Uwe Johnson Symposium 22.–24. 9. 1994. Berlin, New York: de Gruyter, 1995, S. 31 – 54, hier S. 44). Norbert Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons. Jahrestage und andere Prosa. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1997, S. 302. Ebd., S. 302, vgl. auch S. 330.
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tende Lustlosigkeit und »tiefe[] Müdigkeit«51 aus. Häufig erscheint sie so »müde, ohne Lust zu Arbeit, blickfaul« (JT: S. 661), dass Mr. Weiszand52 viel daran liegt, »Mrs. Cresspahl im Vertrauen zu sagen, daß sie schlecht aussieht. Nicht schlecht geradezu, aber müde, abgearbeitet, blickfaul« (JT: S. 658). Marie wiederum, die das Verhalten ihrer Mutter ebenfalls mit deren Arbeitsbelastung zu erklären sucht, entgegnet Gesine: »Es ist nicht Müdigkeit von heute, Marie.« (JT: S. 1095) Gesines Erschöpfung und Lustlosigkeit erwächst aus Anforderungen, denen sie sich häufig nicht gewachsen fühlt, nämlich der Gewalt der Erinnerungen und stets neu hinzukommenden Hiobsbotschaften standzuhalten und diese zu verarbeiten; sie sehnt sich nach »Betäubung […], Blindheit, Abwesenheit« (JT: S. 491) – zumindest »für einen Augenblick« (JT: S. 491). So fällt sie nach ihrer Erzählung von der Selbstverbrennung Lisbeths in einen ohnmachtsgleichen und besinnungslosen fiebrigen Schlaf, aus dem sie tagelang nicht erwacht. Auf Maries Bitte: »– Möchtest du einmal aufwachen, Gesine?« (JT: S. 750) erwidert sie abwehrend: »Ich kann nicht« (JT: S. 750). Als sie endlich zu Bewusstsein kommt, fordert sie ein »Schlafmittel« (JT: S. 753), um traumlos weiterschlafen und vergessen zu können. Auch nach D.E.s Tod verspürt Gesine das Bedürfnis, ihren Gedanken und Erinnerungen durch die Einnahme von Schlaftabletten eine Zeit lang zu entkommen: »Denn das Kind schläft des Nachts, während die Mutter gegen zwei Uhr morgens einkaufen geht am Broadway, wo es alles gab: Haschisch, Heroin und Hiebe, aber keine Schlaftabletten.« (JT: S. 1745) Gesines Lustlosigkeit, Melancholie und Müdigkeit angesichts geschichtlicher Naturmacht steigert sich zuweilen bis zur Lebensmüdigkeit. An manchen Tagen fühlt sie sich durch die unfassbare und furchtbare Naturgewalt sowie den Schmerz, der mit dieser einhergeht, so sehr überwältigt, dass sie mit ihrem sinnlichen Teil psychisch-seelisch vernichtet zu werden befürchtet. Gesine gerät zuweilen in eine Art Todessog, der durch die in den Jahrestagen leitmotivisch eingesetzte Todessymbolik zum Ausdruck kommt. Gesines Nähe zur Thematik des Todes wird bereits durch das von ihr bevorzugte Fortbewegungsmittel angedeutet, die Subway, mit der sie täglich tief unter der Erde, »[a]ll the way down« (JT: S. 1887) fährt, »in dem Bergwerk, das unter der Stadt New York für die Ubahn aus dem Felsen geschlagen ist« (JT: S. 915). Bei einer Geschäftsreise mit dem Auto zum Kennedy Airport nimmt sie vorwiegend »Friedhöfe« (JT: S. 79, vgl. S. 1887), »Begräbniskolonien« (JT: S. 79), »Grabäcker« (JT: S. 79), »Leichenpaläste« (JT: S. 79) und »Totensteine[]« (JT: S. 79) wahr ; ein anderes Mal 51 Ebd., S. 148. Zu Gesines Müdigkeit siehe weiter Frank Mardaus: Fotografische Zeichen: Uwe Johnsons Bildprogramm in den »Jahrestagen«. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2008, S. 175. 52 Zur Figur des Dmitri Weiszand vgl. Rolf Michaelis: Kleines Adreßbuch für Jerichow und New York: Ein Register zu Uwe Johnsons Roman Jahrestage. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1983, S. 262 f.
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passiert sie, diesmal vom Flughafen kommend, mit dem Stadtbus »Grabsteine links und rechts« (JT: S. 119) und durchfährt einen Unterführungstunnel, der als »verkachelte[r] Hades unterhalb des Flusses« (JT: S. 119) bezeichnet wird. Daneben beschäftigt sich Gesine fast mehr mit toten als mit lebenden Menschen, so dass D.E. Gesines Leben als eine »Gegenwart mit Toten« (JT: S. 817) beschreibt; sie erinnert die Toten der Vergangenheit, sie spricht mit ihnen, ebenso registriert sie nahezu jeden in der New York Times gemeldeten aktuellen Todesfall. Manchmal scheint es, als ob sie die Toten um ihren leblosen Zustand beneidet: »Gib doch nicht so an, Cresspahl. Bloß weil ihr das Sterben schon hinter euch habt.« (JT: S. 174) Nach Jakobs Tod ist der Schmerz so groß, dass sie sich umbringen will (vgl. JT: S. 1868), als sie jedoch ihrer Schwangerschaft gewahr wird, ist der »Selbstmord [ihr] verboten« (JT: S. 1868). Ihre Todessehnsucht und Selbstmordgedanken, die auch der Verlust der Familie Paepcke und besonders ihrer gleichaltrigen Cousine Alexandra, »Gesines liebstes Kind« (JT: 936),53 in ihr auslösen, kommen deutlich in einem Gespräch mit der toten Alexandra zum Ausdruck: Da wußtest du, daß ich nicht wiederkomme, Gesine. Ja, Alexandra. Da warst du fertig mit dem Wunsch, dich umzubringen. Ja, Alexandra. Du hast noch daran gedacht. Ja, Alexandra. Aber du wirst es nun nicht mehr tun. Nein, Alexandra. Ich hatte mich bloß versteckt, weißt du. Ich weiß, Alexandra (JT: S. 1496)
Allein ihrer Tochter Marie zuliebe, für die sie sorgen und die sie nicht allein zurücklassen möchte, so wie ihre Mutter Lisbeth einst sie zurückgelassen hat, nimmt sie Abstand von Selbstmordversuchen. »– Anita, ich mach das anders als meine Mutter. Solange ich für ein Kind sorgen muß, versuch ich zu leben.« (JT: S. 1749)54 Anita Gantlik, ihre Freundin aus der Schulzeit, will sich dennoch vergewissern, dass Gesine lebt, wenn sie spät nachts aus Berlin anruft, um zu fragen: »Lebste noch, Gesine?« (JT: S. 89) Gesine lebt noch, doch die Todesgedanken bleiben, wenn sie etwa von ihrem eigenen Tod träumt55 – »Gestern habe ich das Sterben versucht. […] Ich war tot« (JT: S. 406 f.) – und aus diesem 53 »Und die Alexandra war Gesines liebstes Kind unter allen.« So bekräftigt Marie im fiktiven Interview : Uwe Johnson: MARIE H. CRESSPAHL, 2.–3. Januar 1972. In: Eberhard Fahlke (Hrsg.): »Ich überlege mir die Geschichte…« Uwe Johnson im Gespräch. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1988, S. 90 – 110, hier S. 96. 54 Vgl. auch: »Daß ich nicht werde wie meine Mutter.« (JT: S. 537) 55 Dieser Todestraum wird in aller Ausführlichkeit geschildert. Vgl. JT: S. 406 – 408.
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Todestraum gar nicht richtig zu sich kommt: »Richtig hatte ich Schwierigkeiten beim Aufwachen« (JT: S. 406).56 57
9.1.4 Erhebung über das Leid: Heroische Haltung der Seelen- und Vernunftstärke Der über ihn hereinbrechenden Naturgewalt kann sich der Mensch Schiller zufolge mit seiner vernünftig-geistigen Seite zur Wehr setzen und das Gefühl der Ohnmacht in eine erhabene Erfahrung der Stärke umwandeln. Dies lässt sich auch für die Protagonistin der Jahrestage belegen. Vernunft und erhabene Stärke im Menschen können jedoch nur indirekt dargestellt werden. Bei Gesine dominiert das intelligible Prinzip, der Vernunfttrieb, dem Schiller in den ästhetischen Briefen die Attribute des Vernünftigen, Geistigen, Übersinnlichen, der Moralität und Sittlichkeit, der Person und moralischen Freiheit zuschreibt. Zum Ausdruck kommt dies durch eine Reihe von Eigenschaften, über die sich Gesines Vernunft indirekt offenbart: ihre Moral, Seelenstärke und starke Persönlichkeit, Würde, Namenlosigkeit, Männlichkeit sowie durch ihre Abwehr von Natur und Weiblichkeit, wie im Folgenden gezeigt wird. Gesine ist ein starker »erhabene[r] Charakter« (NSD: S. 743), eine »erhabene Seele[]« (NSD: S. 743, Herv. i. O.) im Sinne Schillers. Bei ihr dominieren der Vernunfttrieb und die Erhabenheit über die Natur. Sie selbst sagt von sich, ihr sei daran gelegen, ihre »Anwesenheit zusätzlich mit Vernunft aus[zu]legen« (JT: S. 74). Mit ihrer vernünftig-moralischen Seite58 erhebt sie sich über die Natur56 Vgl. auch: »Don’t wish your life away« (JT: S. 1694); »dunkel wie in einem Grab« (JT: S. 750); »and there will be / an end of me« (JT: S. 751); »daß das Jahr überstanden ist« (JT: S. 536); »dem Tode um die Nacht näher« (JT: S. 118); »für wenn ich tot bin« (JT: S. 688). Zu Gesines Vorstellung vom Sterben vgl. JT: S. 1822, S. 1828. 57 Zur Todesthematik in den Jahrestagen vgl. auch Günter Butzer : Fehlende Trauer. München: Fink, 1998, S. 151 – 159. Zu den Stimmen der Toten vgl. Colin Riordan: »Die Fähigkeit zu trauern.« Die »Toten« und die Vergangenheit in Uwe Johnsons »Jahrestage«. In: Carsten Gansel (Hrsg.): Wenigstens in Kenntnis leben: Notate zum Werk Uwe Johnsons. Neubrandenburg: Federchen Verlag, 1991, S. 62 – 76; Ingeborg Gerlach: Auf der Suche nach der verlorenen Identität. Scriptor Verlag, 1980, S. 74 – 77. 58 Vgl. weiterhin: JT: S. 815, S. 889, S. 1107, S. 1086. Schiller bezeichnet das vernünftig-moralische Prinzip im Menschen auch als »Person« (ÄE: S. 592 ff.). In diesem Zusammenhang ist auffallend, wie häufig Johnson seine Gesine als »Person« bezeichnet. So sagt etwa D.E. über Gesine: »[…] bei dir verstehe ich unter dem Begriff unverhofft die Summe der Beziehungen, die eine Person ausmachen […]« (JT: S. 817) und Johnson nennt sie »eine unabhängige Person« (Heinz D. Osterle: Strukturfragen und Todesgedanken. Eine rätselhafte Deutsch-Amerikanerin. In: Heinz D. Osterle (Hrsg.): Bilder von Amerika. Gespräche mit deutschen Schriftstellern. Münster : EAST, 1987, S. 11 – 135, hier S. 121). Johnson scheint geradezu auf dieser Bezeichnung zu bestehen. Im Interview mit Durzak will Johnson explizit den Begriff »Person« verwendet haben (Manfred Durzak: Gespräche über den Roman.
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gewalt der Geschichte und das durch sie verursachte Leid und erträgt die unauflösbaren Spannungen und Differenzen des Lebens. Erhaben ist ihre innere Haltung der »Seelenstärke« (VE: S. 420), mit der sie das Unfassbare und Furchtbare in der Welt mit Würde und Fassung erduldet. Gesine widersetzt sich – angesichts der vielen Schicksalsschläge kann man schon fast heroisch sagen – der Macht der Natur, die sie bereits mehrmals beinahe vernichtet hätte. Insbesondere die ständige Vergegenwärtigung der deutschen Schuld, so schmerzhaft dies für Gesine auch sein mag, ist ihr »Auftrag« (JT: S. 582) von den Toten. Sie leistet jene »Trauerarbeit«,59 der sich viele Deutsche nach 1945 entzogen haben.60 Den Tod ihrer Mutter Lisbeth, des Vaters ihrer Tochter, ihres Lebenspartners, ihrer Verwandten, dazu noch die Toten, welche die Geschichte beständig fordert – all dies erträgt Gesine und lebt damit genau das vor, wozu sie Marie, wenn diese eine leidvolle Geschichte aus der Vergangenheit nicht hören will, bestärkt: »Ertrag es.« (JT: S. 1872) Michael Hofmann schreibt hierzu: [D]ie Jahrestage [sind] Ausdruck einer heroischen Melancholie, welche die Unnahbarkeit der Katze Erinnerung aushält, den Wassertonnengeschichten standhält und die Bilder vom Flammentod der Mutter aufbewahrt. Hier bewährt sich Gesine als Trägerin des Bewusstseins, das dieser Haltung entspricht, wie in den Mutmassungen als eine erhabene Figur, wobei die individuellen ›Neigungen‹, die sie zu überwinden hat, […] den Verdrängungen entsprechen, zu denen sie neigt […].61
Eine hervorstechende Charaktereigenschaft von Gesine, die für ihre vernünftige Seite spricht, ist ihre strenge und pflichtbewusste Haltung der Moralität und Sittlichkeit sowie ihr Verantwortungsgefühl gegenüber anderen Lebewesen. »Manisch verantwortlich noch für die Vögel im Garten« (JT: S. 775) – was für ihre Mutter Lisbeth gilt, trifft auch für Gesine selbst zu. Unablässig ist sie auf der Suhrkamp, 1976, S. 437), so dass der Terminus mittlerweile zumindest teilweise in das Fachvokabular der Forschung übergegangen ist. So schreibt Neumann etwa: »Gesine ist [e]ine verlockend selbständige ›Person‹, widerspruchsmächtig und stark.« (Bernd Neumann: Uwe Johnson. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt, 1994, S. 829) Vgl. auch Eberhard Fahlke: »Ach, Sie sind ein Deutscher?« Uwe Johnson im Gespräch. In: Eberhard Fahlke (Hrsg.): »Ich überlege mir die Geschichte…« Uwe Johnson im Gespräch. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1988, S. 7 – 48, hier S. 8; Uwe Johnson: Wenn Sie mich fragen… (Ein Vortrag). In: Eberhard Fahlke (Hrsg.): »Ich überlege mir die Geschichte…« Uwe Johnson im Gespräch. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1988, S. 51 – 64, hier S. 55 f. 59 Den Freud’schen Begriff der »Trauerarbeit« erörtert Colin Riordan: »Die Fähigkeit zu trauern.« Die »Toten« und die Vergangenheit in Uwe Johnsons »Jahrestage«. In: Carsten Gansel (Hrsg.): Wenigstens in Kenntnis leben: Notate zum Werk Uwe Johnsons. Neubrandenburg: Federchen Verlag, 1991, S. 62 – 76. Riordan diskutiert in diesem Zusammenhang auch Margarete Mitscherlich: Erinnerungsarbeit: Zur Psychoanalyse der Unfähigkeit zu trauern. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1987. 60 Colin Riordan: »Die Fähigkeit zu trauern.« Die »Toten« und die Vergangenheit in Uwe Johnsons »Jahrestage«. In: Carsten Gansel (Hrsg.): Wenigstens in Kenntnis leben: Notate zum Werk Uwe Johnsons. Neubrandenburg: Federchen Verlag, 1991, S. 62 – 76, hier S. 74. 61 Michael Hofmann: Uwe Johnson. Stuttgart: Reclam, 2001, S. 214.
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Suche nach der »moralische[n] Schweiz« (JT: S. 382), gewissermaßen nach einem ethischen Vernunftsstaat, in den zu »emigrieren« (JT: S. 382) sie sich sehnlich wünscht. D.E. bewundert an ihr, dass sie noch immer, wenn auch in erster Linie im Geiste, »die Versprechungen des Sozialismus beim Wort« (JT: S. 828) nimmt und »hartnäckig […] den imperialistischen Demokratien die edel geschriebene Verfassung vor[hält]« (JT: S. 818). Johnson selbst sagt über seine Hauptfigur, sie habe sich schon als »junges Kind […] berauscht an antifaschistischen und überhaupt moralisch absoluten Idealen«.62 Dieser ethische Habitus Gesines ist schon häufig Gegenstand der Forschung gewesen: Von Gesines »moralische[m] Absolutheitsanspruch«63 ist dort die Rede ebenso von ihrer »absolute[n] Gesinnungsethik«64 und »rigorose[n] Moral«,65 ihrem »moralischen Purismus«66 und »moralischen Perfektionismus«.67 Weiter heißt es, »Gesines Moralvorstellung [sei] universalistisch«,68 sie strebe danach, »kantisch-imperativisch«69 zu leben oder »[d]er Autor neig[e] dazu, seine Figur moralisch zu überfordern«.70 Gesines Stärke, jeden einzelnen Tag, an dem sie das Weltgeschehen mittels der New York Times beobachtet und aus der Vergangenheit erzählt, aufs Neue hinzusehen und sich nicht in Vergessen zu flüchten oder gar von Todesgedanken überwältigt zu werden, bringt auch die Kalenderform des Romans zum Ausdruck. Gesine entscheidet sich willentlich frei dafür, schmerzhafte Gedanken und Erinnerungen auszuhalten sowie die Leiden der Welt zur Kenntnis zu nehmen. Die exakte und bedingungslose Einteilung in Tageseinheiten vom 20. August 1967 bis zum 20. August 1968 durch das Stilmittel der Kalender- und
62 Manfred Durzak: Gespräche über den Roman. Suhrkamp, 1976, S. 433. 63 Sabine Fischer-Kania: Geschichte entworfen durch Erzählen: Uwe Johnsons »Jahrestage«. Münster : LIT Verlag, 1996, S. 66. 64 Ingeborg Gerlach: Auf der Suche nach der verlorenen Identität. Scriptor Verlag, 1980, S. 62. 65 Birgit Konze: Das gestohlene Leben: Zur Thematisierung und Darstellung von Kindheit in der DDR im Werk von Monika Maron im Vergleich mit Werken von Uwe Johnson, Irmtraud Morgner und Thomas Brussig. In: Elke Gilson (Hrsg.): Monika Maron in perspective: »dialogische« Einblicke in zeitgeschichtliche, intertextuelle und rezeptionsbezogene Aspekte ihres Werkes. Amsterdam: Rodopi, 2002, S. 181 – 203, hier S. 193. 66 Ingeborg Gerlach: Auf der Suche nach der verlorenen Identität. Scriptor Verlag, 1980, S. 112. 67 Ebd., S. 112. 68 Hille Haker : Moralische Identität: Literarische Lebensgeschichten als Medium ethischer Reflexion. Mit einer Interpretation der Jahrestage von Uwe Johnson. Tübingen, Basel: Francke, 1999, S. 262. 69 Günter Blöcker : Du hast Auftrag von uns, Gesine. In: Michael Bengel (Hrsg.): Johnsons Jahrestage. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1985, S. 157 – 162, hier S. 158, zitiert nach Annekatrin Klaus: »Sie haben ein Gedächtnis wie ein Mann, Mrs. Cresspahl!« Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1999, S. 312. 70 Norbert Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons. Jahrestage und andere Prosa. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1997, S. 299.
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Tagebuchform71 symbolisiert Gesines Pflichtbewusstsein zur »Anwesenheit« (JT: S. 1664) in Zeit und Geschichte sowie zur Kenntnisnahme des Weltgeschehens. Ihre Konfrontation mit Geschichte wird weiterhin veranschaulicht durch die New York Times,72 eine tägliche und würdevolle (vgl. JT: S. 1482) Begleiterin, die »mit der Zeit [geht]« (JT: S. 39), als »Zeugin der Geschichte« (JT: S. 77) und »Bewußtsein des Tages« (JT: S. 68) in Erscheinung tritt und Gesine mit Nachrichten und geschichtlichen Fakten aus aller Welt versorgt.73 Nicht zufällig erhält dieses Tageblatt das Attribut des Würdevollen als Ausdruck einer erhabenen Gesinnung. So wird die New York Times als »würdige Erscheinung« (JT: S. 647), als »würdige Greisin« (JT: S. 608) oder als »die würdige Tante Times« (JT: S. 1319) bezeichnet.74 Auch das bereits aus Ingrid Babendererde bekannte, in den Jahrestagen dann häufig anzutreffende Uhren- und Weckermotiv versinnbildlicht Gesines leidvolle Pflicht zur Präsenz in der ernsten Zeit und Geschichte und zum Wachhalten ihres geschichtlichen Bewusstseins. »Dies ist die Uhr, die Amerika aufweckt!« (JT: S. 83)75 – und Gesines Geschichtsbewusstsein wachhält, könnte man hinzufügen. Kalender, New York Times und Wecker sorgen dafür, dass es für Gesine kein Zurück mehr in einen schützenden »Spielraum« (vgl. JT: S. 83) und »sinnlichen Schlummer« (ÄE: S. 561) gibt, in dem ehemals Ingrid verschlafen und schattenhaft die Welt wahrgenommen hat. Der einstigen Haltung der Schüler aus dem Ingrid-Roman »das geht uns gar nichts an« (IB: S. 213) hält Gesine ihre ermahnende Position »[e]s geht uns etwas an« (JT: S. 1092) entgegen. Gesines Erhebung über die Natur offenbart sich neben der Erduldung von Leid und Schmerz sowie der Widersetzung des Todessogs, der sie immer wieder zu erfassen sucht, auch durch die äußerste Beherrschung ihrer Emotionen, ihrer inneren Natur also. Sie lässt sich nicht von ihrer inneren Gefühls-Natur überwältigen. Ihr ist daran »gelegen […], eine Empfindlichkeit gegen Schmerz zu vermehren« (JT: S. 1828). So heißt es nach dem Verlust Jakobs: »Und sie sah nicht aus wie eine, die geweint hat; das wollen wir doch mal sagen.« (MJ: S. 308) Nach der Betrachtung von Fotos ihrer Verwandten, »[den] Niebuhrs, auch tot« 71 Vgl. das Gespräch zum Thema Tagebücher : Walter Höllerer : »Sind Tagebücher zeitgemäß?« Gespräch Mit Elias Canetti, Max Frisch, Lars Gustafsson, Uwe Johnson und Barbara König 1972. In: Sinn und Form. Beiträge zur Literatur 49.6 (1997), S. 776 – 791. 72 Zur Rolle der New York Times vgl. allgemein Alfons Kaiser: Für die Geschichte: Medien in Uwe Johnsons Romanen. St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag, 1995. 73 Vgl. weiter: »All the news« (JT: S. 176); »erprobte Lieferantin von Wirklichkeit« (JT: S. 609); »ohne sie [die New York Times, Anm. d. V.] seien wir nicht auf der Höhe der Zeit« (JT: S. 1508); »die [Gesine, Anm. d. V.] liest doch immer Zeitung« (JT: S. 160); »eine Leserin der New York Times« (JT: S. 513). Allgemein zur New York Times vgl. JT: S. 513 – 516. 74 Vgl. auch: »Bewunderung« (JT: S. 515) für die New York Times; »die ethische Gallionsfigur« (JT: S. 609); »Würde« (JT: S. 1482); »würdig« (JT: S. 1509). 75 Vgl. die Passage zu Zeit und Uhren: JT: S. 82 ff.
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(JT: S. 1594), sah sie zwar aus, »als hätte sie geweint. Aber läßt sie sich etwas anmerken?« (JT: S. 1594) Mit eben jener Gefasstheit und äußerlichen Härte tritt sie auch auf, als sie vom Absturz D.E.s erfährt. Ähnliches gilt für die Opfer der Geschichte, »mit einer geradezu überwältigenden Nüchternheit registriert«76 Gesine die durch den Vietnamkrieg oder die alltägliche Gewalt und Kriminalität eingeforderten Todesfälle sowie die sich ankündigende Invasion sowjetischer Truppen in Prag. Aus Gesines emotionaler Gefasstheit spricht jedoch nicht Gefühlskälte oder gar -armut, vielmehr ist dieses ›Hartwerden‹ Resultat ihres Kampfs gegen die innere und äußere Natur sowie Ausdruck ihrer erhabenen Haltung der Seelenstärke, heroisch und stoisch zu ertragen, was sie nicht ändern kann. Abschnitt 9.1.6 thematisiert diesen Aspekt der Beherrschung des Naturtriebs ausführlich. Auch auf der Ebene der Namensmetaphorik wird Gesines erhabener Charakter ersichtlich. Der Name ›Gesine‹, eine »Koseform von Gertrud«,77 meint »Speer« (= ahd. ge¯r) und »Kraft, Stärke« (= germ. *pru¯phi).78 79 80 81 Das Bild der 76 Jochen Hörisch: »Ich dachte zu leben genüge«. Rezension zu Uwe Johnson: Jahrestage. In: Arbitrium. Zeitschrift für Rezensionen zur germanistischen Literaturwissenschaft 3 (1985), S. 97 – 101, hier S. 100. 77 Tamara Krappmann: Die Namen in Uwe Johnsons Jahrestagen. Göttingen: V& R unipress, 2012, S. 333. 78 Ebd., S. 333. 79 Fickert weist darauf hin, dass ›Gesine‹ auch der Name von Heinrich Cresspahls erster großer Liebe war: Kurt Fickert: Names and themes in Uwe Johnsons »Jahrestage«. In: International fiction review 26 (1999), S. 74 – 81, hier S. 75, vgl. auch JT: S. 1751. Johnson selbst gibt folgende Erklärung für die Wahl des Namens: »Den Namen Gesine, den habe ich einmal rufen hören, von einem vierjährigen Kind, und der gefiel mir. Warum, fand ich dann bei Fontane, der gerade bei Effi sagte, e und i, das sind die schönsten Vokale, gerade recht für das Mädchen, das ich im Sinne hatte […]« (Uwe Johnson: »Ein verkannter Humorist«: Gespräch mit A. Leslie Willson (Am 20. April 1982 in Sheerness-on-Sea). In: Eberhard Fahlke (Hrsg.): »Ich überlege mir die Geschichte…« Uwe Johnson im Gespräch. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1988, S. 281 – 299, hier S. 290). 80 Der Roman äußert sich widersprüchlich darüber, ob Gesine mit zweitem Vornamen ›Lisbeth‹ oder ›Henriette‹ heißt: »Gesine L. Cresspahl« (JT: S. 1519) vs. »Gesine H. Cresspahl« (JT: S. 250) und »Gesine Henriette« (JT: S. 217). Darüber hinaus ist unklar, ob Gesine früher mit Zweitnamen ›Henriette‹ hieß, der Name später aber gegen ›Lisbeth‹ ausgetauscht worden ist: Vgl. den Dialog zwischen Gesine und Marie: »Daß er [Heinrich Cresspahl, Anm. d. V.] deinen Namen ausgewechselt hat. – Niemand hat meinen Namen ausgewechselt, Marie. – Heißt du denn Gesine Henriette C.? – Nein. – Siehst du, Gesine Lisbeth.« (JT: S. 298) Auf die Frage, die Gesine während ihrer Überprüfung auf Loyalität gegenüber ihrem Arbeitsplatz mittels eines Lügendetektors gestellt wird – »Haben Sie früher einmal einen anderen Namen [als Gesine L. Cresspahl, Anm. d. V.] geführt?« – antwortet Gesine jedoch mit »Ja.« (JT: S. 1519). Zum Namen ›Henriette‹ = die ›Starke‹ vgl. das Kapitel zu Marie, deren Zweitname ebenfalls ›Henriette‹ ist. Auch Oliver Vogel scheint ›Henriette‹ für Gesines Zweitnamen zu halten: Vgl. Oliver Vogel: »Make room for the lady! Make room for the child!« Zum Ort des Erzählens in Uwe Johnsons Jahrestagen. In: Johnson-Jahrbuch 4 (1997), S. 115 – 129, hier S. 121, Anm. 21.
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Speerkämpferin und Kriegerin impliziert eben jene »heroische[] Stärke« (AW: S. 372), die charakteristisch für eine erhabene Gesinnung ist. Der Familienname ›Cresspahl‹ kann ebenso als Hinweis auf Gesines erhabene »Seelenstärke« (VE: S. 420) gelesen werden – die Jahrestage legen gleich mehrere Lesarten in diesem Sinne nahe. Anzumerken sei an dieser Stelle, dass sich nicht endgültig erschließen lässt, was der Name ›Cresspahl‹, den Johnson vermutlich erfunden hat – »Ich habe niemals jemanden getroffen, der den Namen Cresspahl trägt, außer dieser, meiner Person«82 –, nun tatsächlich meint.83 Diese nicht eindeutige Erklärbarkeit des Namens erfüllt jedoch in Johnsons Konzept des Erhabenen eine ganz bestimmte Funktion, wie weiter unten erläutert wird. Zunächst aber zu ›Cresspahl‹ als einem erhabenen Namen. Ansätze für eine Interpretation des Namens Cresspahl, über den zu spekulieren Johnson in den Jahrestagen an mehreren Stellen geradezu auffordert (JT: S. 277, S. 716, S. 1253), liefert der Roman selbst – am eindrücklichsten durch die Schilderung einer Schulstunde im Jahr 1946, in welcher die Schüler »Namensforschung« (JT: S. 1253) betreiben. Der Name ›Cresspahl‹ setzt sich zusammen aus ›Cress‹ und ›Pahl‹, wobei sich – einer Lesart zufolge – ›Cress‹ auf ›Jesus Christus‹ beziehen könnte – »Cress = Chrest = Christ«84 – ›Pahl‹ wiederum an »Pfahl« (JT: S. 1253) und somit an das Kreuz Christi erinnert (JT: S. 1253).85 Auch wenn Gesine sich dagegen wehrt, in 81 Fickert deutet den Namen ›Gesine‹ anders: »The first syllable of ›Gesine‹ suggests the collective, the communal; in Johnson’s literary autobiography Begleitumstände, he comments on the enthusiasm the young students in East Germany hat for the prefix ›GE‹, denoting a common cause (e. g., Gemeinde, Genosse). The second and third syllable of the name, ›sine‹, sound like the word Sühne (atonement) […]« (Kurt Fickert: Names and themes in Uwe Johnsons »Jahrestage«. In: International fiction review 26 (1999), S. 74 – 81, hier S. 76 f.). Im Zusammenhang mit Gesines moralisch-sittlicher Wesensart, ihrem Verantwortungsgefühl für andere Menschen und ihrer fast schon obsessiven Bereitschaft, die Schuld der Weltgeschichte zu tragen und ertragen, ist diese Deutung auch schlüssig. 82 Johnson erklärt im Interview, er habe »Cresspahl [gewählt], weil es außerordentlich mecklenburgisch klingt und dennoch als Name in Mecklenburg so nicht belegt ist. Jeder Mensch verdient einen Namen für sich allein. […] Ich habe niemals jemanden getroffen, der den Namen Cresspahl trägt, außer dieser, meiner Person.« (Uwe Johnson: »Ein verkannter Humorist«: Gespräch mit A. Leslie Willson (Am 20. April 1982 in Sheerness-on-Sea). In: Eberhard Fahlke (Hrsg.): »Ich überlege mir die Geschichte…« Uwe Johnson im Gespräch. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1988, S. 281 – 299, hier S. 290) 83 Über den Namen Cresspahl reflektiert auch Kurt Fickert: Names and themes in Uwe Johnsons »Jahrestage«. In: International fiction review 26 (1999), S. 74 – 81, hier S. 75. 84 Frank Mardaus: Fotografische Zeichen: Uwe Johnsons Bildprogramm in den »Jahrestagen«. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2008, S. 165. Mardaus weist außerdem darauf hin, dass »[d]as russische KPECT […] schließlich für Kreuz [steht]« (ebd., S. 164) und dass »[d]ie Initialien der beiden Teilwörter ›Cress‹ und ›Pahl‹ […] XP [ergeben]. Dabei handelt es sich um die Anfangsbuchstaben für Christus: die Majuskel X (chi) gefolgt von der griechischen Majuskel P (rho)« (ebd., S. 164). 85 Zu dieser Deutung vgl. Kurt Fickert: Names and themes in Uwe Johnsons »Jahrestage«. In: International fiction review 26 (1999), S. 74 – 81, hier S. 76.
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Zusammenhang mit christlicher Symbolik gebracht zu werden (vgl. JT: S. 1253), so deutet der Name doch, wie Kurt Fickert feststellt, auf den Opfertod Jesu am Kreuz sowie die Überwindung des Leidens hin86 – also auf eine erhabene Szene schlechthin: »But the figure of Christ on the cross, symbolizing both the ultimate victimization and the triumph over victimization«.87 Gesine selbst zieht eine andere Begriffsbestimmung vor: »Als sie an der Reihe war, erklärte sie ihren Namen als zusammengesetzt aus kross und Pall.« (JT: S. 1253) Demnach leitet sich »Pall« vom englischen »pawl« (JT: S. 1253) her und bedeutet »Sperrklinke«.88 In diesem Sinn erklärt Gesine ihren Namen als »Sperre im Zahnrad, die das Zurückschlagen der Winde verhindert, und zwar eine grobe, krude, krasse« (JT: S. 1253). Gemeint ist damit, wie Frank Mardaus ausführt, die Klinkensperre, [die] Winde, mit der das Schleusenschütz und die -tore geöffnet oder geschlossen werden. Gesines pawl, demnach die Sperrklinke einer Winde, könnte demnach mit dem Heben des Schleusenschützes bei geschlossenen Schleusentoren in Verbindung stehen.89
Dieser Deutungsansatz teilt mit dem ersten eine Gemeinsamkeit: Das Bild der die Schleusentore schließenden Sperre enthält ebenfalls ein Widerstandsmoment sowie das Ertragen, keinen Eingang mehr in die mecklenburgische Schleusenwelt zu finden.90 91 Bei einem weiteren möglichen Erklärungsansatz zieht Mardaus den Namen von Gesines Tschechischlehrer, ›Kreslil‹, hinzu, dessen erste Silbe ›Kres‹ eine Ähnlichkeit mit ›Cress‹ aus Gesines Nachnamen aufweist:92 »Kreslil« ist kein typisch tschechischer Familienname, er bedeutet im Tschechischen »gezeichnet«. Dessen Ähnlichkeit mit dem ersten Wort des aus »Cress« und »Pahl« zusammengesetzten Familiennamens Cresspahl deutet auf eine [sic!] entscheidendes Merkmal von Gesines Leben, nämlich gezeichnet zu sein – durch persönliche wie politische Erfahrung.93
Die erhabene Kraft im Menschen ist keiner Darstellung fähig, sagt Schiller. Auch Gesines Erfahrung ihrer erhabenen Geisteskraft kann nur indirekt und durch Negation zum Ausdruck gebracht werden. Gesine selbst wird mit ihrem Nach86 Ebd., S. 76. 87 Ebd., S. 76. 88 Pons. Wörterbuch für Schule und Studium: Englisch – Deutsch. Stuttgart, Düsseldorf, Leipzig: Klett, 1998, S. 849. 89 Frank Mardaus: Fotografische Zeichen: Uwe Johnsons Bildprogramm in den »Jahrestagen«. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2008, S. 166, Herv. i. O. 90 Duden. Das Herkunftswörterbuch. Bd. 7. Mannheim u. a.: Dudenverlag, 2001, S. 725 91 Siehe hierzu die Deutung bei Frank Mardaus: Fotografische Zeichen: Uwe Johnsons Bildprogramm in den »Jahrestagen«. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2008, S. 167. 92 Ebd., S. 151. 93 Ebd., S. 151.
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namen zu einem Gegenstand des Nicht-Darstellbaren, Unaussprechlichen, Unbegreiflichen und letzten Endes Unkenntlichen. Es wurde schon angedeutet, dass der rätselhafte Name ›Cresspahl‹ sich einer eindeutigen Erklärbarkeit entzieht. Bis zum Ende bleibt er undurchsichtig und schleierhaft, und das, obwohl Johnson gleich mehrere Interpretationshinweise in den Roman einstreut (vgl. JT: S. 1253), damit aber – wohl absichtlich – beim Leser für mehr Verwirrung als für Enthüllung des Namensgeheimnisses sorgt. Nicht nur der Leser, auch einige Figuren der Jahrestage und selbst der Erzähler, dessen Stimme zu hören ist, wenn Gesine gerade nicht selbst berichtet, stehen vor dem Namen ›Cresspahl‹ wie vor einem undurchschaubaren Mysterium. So rufen bei Gesine wildfremde Leute an, »die über der Lektüre des Telefonbuchs hatten einschlafen wollen und sich die Schläfrigkeit an dem Namen Cresspahl vollends zerrissen und dringlich nach der nationalen Herkunft des Namens begehrten« (JT: S. 277). Auch Mr. Kennicott II., der Personalchef der Bank, in welcher Gesine arbeitet, »erkundigte […] sich nach der Herkunft des Namens Cresspahl« (JT: S. 716), während er ihr den Weg zu ihrem neuen Büro weist. »Cresspahl, der Name klingt jüdisch. Keltisch« (JT: S. 1037), vermutet wiederum der Erzähler. Dr. Rydz, der Kinderarzt von Marie, mutmaßt hingegen: »Ist nicht Cresspahl ein deutscher Name?« (JT: S. 593, auch S. 595) Doch nirgends wird das Geheimnis um den Namen Cresspahl gelüftet, selbst in jener von Gesine erinnerten Schulstunde nicht, in der die Schüler Namensforschung betreiben. Im Gegenteil: Je mehr mögliche Deutungen ins Spiel gebracht werden, desto nebulöser erscheint der Name. Bedeutet ›Cresspahl‹ nun »Kresse am Pfahl« (JT: S. 1253), hat er zu tun mit »Christ […], vielleicht von Chrest im Wendischen« (JT: S. 1253), lässt er sich erklären »als zusammengesetzt aus kross und Pall« (JT: S. 1253) und meint demnach »Sperre im Zahnrad« (JT: S. 1253) oder kommt er vielleicht doch von »Griechisch grastis, ›Grünfutter‹, Althochdeutsch kresso, dazu falen, Ostfalen« (JT: S. 1253)? Letztlich bleibt ungeklärt, woher der Name ›Cresspahl‹ stammt und was er bedeuten könnte. Neben die Nicht-Erklärbarkeit der Bezeichnung ›Cresspahl‹ treten auch andere Formen seiner Negation: seine Nicht-Darstellbarkeit, Nicht-Aussprechbarkeit und nahezu auch seine Ausradierung. Gesine scheint regelrecht namenlos zu sein, »[d]enn Cresspahls zeigen nicht ihren Namen über dem Klingelknopf« (JT: S. 153 f.). Auf dem Frühlingsbasar von Maries Schule weiß die Lehrerin nicht, mit welchem Namen sie Gesine ansprechen soll: »Sind Sie eine von den Eltern, Mrs. –?« (JT: S. 1108). Und schließlich hat Gesine selbst ihren eigenen »Namen in dem Paß […] vergessen« (JT: S. 12).94 Mit ihrer indirekten
94 Nicht nur der Name lässt sich nicht darstellen, auch verschweigt Gesine an ihrer Arbeitsstelle ihre Telefonnummer – »ihre Nummer steht nicht im Hausbuch« (JT: S. 1037) – und in Prag
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Namenlosigkeit wird Gesine regelrecht zu einem Gegenstand des Unbekannten95 und damit auch des Unbegreiflichen. So bespricht Marie mit D.E. all das, »was ihr unbegreiflich und ungescheit erscheint an der Mutter« (JT: S. 1544). Selbst der Erzähler scheitert bei seiner Bemühung, seine Protagonistin zu beschreiben und ihr Wesen zu erfassen. Auf seine resümierende, den Charakterisierungsversuch abschließende Frage »Wer ist das?« (JT: S. 1037) folgt eine ernüchternde Antwort: »Um ein Ende zu machen: Keiner kennt sie. […] Fazit: Unbekannt. Niemand, getarnt. Nicht kenntlich.« (JT: S. 1037) Gesines eigene Worte bestätigen etwas später diese Feststellung: »[I]hr kennt mich nicht« (JT: S. 1107).96 Gesines innere erhabene Haltung spiegelt sich äußerlich in ihrem würdevollen Erscheinungsbild wider. Nach einem Unwetter schreitet »Mrs. Cresspahl […] würdig fürbaß unter der zum Dach gefalteten New York Times« (JT: S. 1584). Im Gegensatz zu Ingrids weichen, fließenden und harmonischen Bewegungen dominieren bei Gesine ernste, angespannte, ja harte Züge: Ihre Lippen – »zu schmal« (JT: S. 1463) und »sparsam« (JT: S. 1890) – wirken zusammengekniffen, »die Haut [wird] manchmal hart gespannt […] von Mimik, an den härter gewordenen Falten in den Augenwinkeln, an den unwillkürlich verengerten Pupillen« (JT: S. 1463) macht sich die innerlich aufbegehrende und durch die »sympathetischen Bewegungen« (AW: S. 347) sich offenbarende Natur bemerkbar. Statt der sinnlich-schönen Anziehungskraft, die einst noch von Ingrid ausging, wird Gesine Bewunderung und Achtung entgegengebracht, damit gehen eben jene Wirkungen von ihr auf andere Menschen aus, die nach Schiller von der Würde unzertrennlich sind. Sie wird behandelt wie eine würdevolle vornehme Person. Gesine ist »Mrs. Cresspahl« (z. B. JT: S. 1028), sie ist »eine Dame, ne Lady« (JT: S. 1107),97 die mit »madam« (JT: S. 1028)98 angesprochen wird und der man Hochachtung entgegenbringt. So bekundet der Landpolizist Sergeant Ted Sokorsky, als Gesine ihm nach einem Wochenendausflug die Schlüssel des Ferienhauses überreicht, »Respekt vor Mrs. Cresspahl,
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weiß sie nicht recht, welche Adresse sie angeben soll – »Mrs. Gesine Cresspahl, wohnhaft … c/o Sttn Banka Ceskoslovensk, Praha I« (JT: S. 1820). Unerkannt will Gesine auch sein, wenn sie unter dem Decknamen »Mrs. Krissauer« (JT: S. 988) ein Telefongespräch nach Berlin anmeldet. Mrs. »Crassfawn?« (JT: S. 631), »Mrs. Cressawe« (JT: S. 631) oder »Mrs. Crissauer!« (JT: S. 631) – eine andere Dame am Telefon, bei der Gesine Erkundigungen über das Wetter in Norddeutschland im Jahr 1938 einzieht, ist sich ebenfalls des Namens ihrer Gesprächspartnerin nicht sicher. Für den Mann an der Kasse des Schwimmbads im Hotel Marseille wiederum ist Gesine – unter Vorbehalt – Mrs. »Crisspaw?« (JT: S. 847) und Mrs. Ferwalter, obgleich bekannt mit Gesine, spricht sie an mit »[m]eine sehr geehrte Frau Cressephal« (JT: S. 1166 f.). Unkenntlich ist Gesine nicht nur in der New Yorker Gegenwart, ihre Anonymität erstreckt sich auch auf die mecklenburgische Erzählebene, wenn eine Erzählung von der Vergangenheit unterbrochen wird mit den Worten: »Gesine, kein Mensch würde dich kennen in Jerichow« (JT: S. 1774). Vgl. auch JT: S. 1469. Vgl. auch JT: S. 79, S. 80.
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einer Dame […] aus New York« (JT: S. 1028), durch eine demutsvolle »Verbeugung aus dem Nacken heraus« (JT: S. 1028) und noch Marie erinnert sich später daran, »mit welcher Ehrerbietung der meine Mutter behandelt hat« (JT: S. 1028).
9.1.5 »Wie ein Mann, Mrs. Cresspahl«: Gesines maskulines Erscheinungsbild Im Gegensatz zum sanften und »weibliche[n] Charakter« (AW: S. 372) der Anmut kommt eine vernunftgeleitete erhaben-würdevolle Gesinnung bei Schiller geschlechtsstereotypisch durch ein männliches, heroisches Erscheinungsbild zum Ausdruck; schon Schillers Formel von der »Männlichkeit des Geistes« (AB: S. 514), der »Männlichkeit der Vernunft« (ÄE: S. 570) und der »Härte […] der Verstandesgröße« (K: S. 317) – der Unterschied zwischen Vernunft und Verstand ist hier jedoch zu beachten, wie in Abschnitt 5.2 betont – geben dies zu erkennen. Eben jene Eigenschaften des Geistigen, Vernünftigen, Moralischen und des kühlen analytischen Denkens, wie sie für Gesine zutreffen, sind allesamt Merkmale, die gemeinhin dem Bereich des Männlichen zugeschrieben werden, wohingegen das Weibliche mit Natur, Sinnlichkeit, Emotion und Sexualität assoziiert wird.99 Dabei werden die Begriffe ›Männlichkeit‹ und ›Weiblichkeit‹ hier ausdrücklich nicht aus gender-theoretischer Sicht problematisiert – denn auch eine Frau kann stark und vernunftgeleitet handeln, ein Mann dagegen gefühlvoll –, sondern sind in diesem Zusammenhang allein als sich im Zuge der Kulturgeschichte ausgebildete Metaphern für bestimmte Vorstellungsbereiche interessant.100 Es lässt sich nachweisen, dass Gesine diese männlichen Eigenschaften nicht nur implizit aufweist, sondern ausdrücklich mit Maskulinität in Verbindung gebracht wird – bemerkenswert ist dabei, dass aus der reifen Perspektive der Jahrestage und im Kontrast zu den Beschreibungen der Mutmassungen stehend, selbst die jugendliche Gesine gewisse jungenhafte Züge annimmt. So hatte »Lisbeth […] einen Jungen erwartet« (JT: S. 216), der »den Namen Henry« tragen sollte (JT: S. 216). Beim Abschied von Hanna Ohlerich, dem Flüchtlingsmädchen, das bei den Cresspahls für einige Zeit Zuflucht fand, wurde Ge99 Zu den »Symbolbildung[en]« um den Begriff des Männlichen vgl. Toni Tholen: Mann. In: Günter Butzer und Joachim Jacob (Hrsg.): Metzler Lexikon literarischer Symbole. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2008, S. 217 – 219. Zum Weiblichen siehe Urte Helduser : Frau/Jungfrau. In: Günter Butzer und Joachim Jacob (Hrsg.): Metzler Lexikon literarischer Symbole. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2008, S. 113 – 115. 100 Zu den »tradierten Imaginationsformen von Weiblichkeit« siehe ausführlich Annekatrin Klaus: »Sie haben ein Gedächtnis wie ein Mann, Mrs. Cresspahl!« Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1999, S. 11.
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sine »umarmt, wie es einem Jungen zukam« (JT: S. 1280).101 »[I]m Mai 1953« (JT: S. 1890), zu eben jener Zeit, da Ingrids weiblich-anmutige Schönheit in ihrer höchsten Blüte stand, trug [Gesine, Anm. d. V.] ihr schwarzgraues Haar mit Messern geschnitten. Ausladende Schultern, schmale Hüften. Wenn sie in Jerichow war, nahm sie mit Vorliebe Hosen, lief ihren barften Beinen Bräune an. Mit den dunklen Brauen, vorsichtigen Augenbewegungen, sparsamen Lippen war das erwachsene Gesicht sorgfältig vorbereitet. (JT: S. 1890)
Diese Eigenschaften der heranwachsenden finden sich auch bei der erwachsenen Gesine wieder : Mit ihrer Bekannten Ginny Carpenter teilt sie das kantige, männliche Erscheinungsbild der Statur, das sie bereits von Jugend an auszeichnet: »breite[] Schultern, […] schmale[] Hüften« (JT: S. 1422). Ihre Kurzhaarfrisur wird nun als »Herrenschnitt« (JT: S. 1086) präzisiert. Das »Gelb-undBlau-Roh-Seidene[]« (JT: S. 1548) verdeckt sie mit einer »Herrenjacke aus Dublin, mit einem Schlips in der Brusttasche gefaltet« (JT: S. 1548). Anders als Ingrid, die sich mit einem Armreif schmückt (IB: S. 50), trägt Gesine »keinen Schmuck« (JT: S. 1086). Gesine, die vor kurzem noch in einem eher weiblich besetzten Beruf als Fremdsprachensekretärin beschäftigt war, wird von ihrem Chef de Rosny versetzt in den »sechzehnten Stock; wo Männer hingehören« (JT: S. 1037); ihr neues Tätigkeitsfeld umfasst nun klassische männliche Themen wie Wirtschaft, Finanzen und Kreditvergabe. Sie befindet sich damit in einer »Männergesellschaft« (JT: S. 1464) und möchte sich »nicht hindrängen lassen zu rein weiblichen Themen« (JT: S. 1468). Als Annie Fleury und ihre Kinder während eines Ehestreits eine Zeit lang bei den Cresspahls in New York unterkommen, wird Gesine fast automatisch behandelt wie ein Ernährer, mit fertig serviertem Frühstück, kaum komme ich aus dem Bad, mit pünktlich eingeschalteten Frühnachrichten von WQXR, mit bereitgehaltenem Mantel und Schal, als sei Mrs. Cresspahl ein Mann und Vater (JT: S. 581).102
Besonders auf dem Gebiet des Leistungssports muss erstaunen, über welche Kräfte Gesine verfügt, schwimmt sie doch »in einem Kursus im Rettungsschwimmen […] [s]chwer bekleidet, mit einem belasteten Rucksack […] fünfzig 101 Vgl. auch: Klaus Niebuhr wird beim selbständigen Verreisen von »Gesine, die auch allein gekommen war […] überrundet […] und nun war endlich die Gelegenheit, ein Taschenmesser zu verschenken« (JT: S. 882). 102 Privat geht Gesine mit D.E. gelegentlich in eine Bar aus in einer Gegend, »wo die Männer Amerikas leben« (JT: S. 905) und reserviert schon mal als »Professor Erichson« (JT: S. 1086) einen Tisch in einem Nobelrestaurant am Kennedy Airport. Die Verwischung der Geschlechtsmerkmale kommt auch in der unbestimmten Anrede Gesines in einem Brief als »Liebe(r/s) Herr/Frau/Frl. Cresspahl« (JT: S. 101) zur Geltung.
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Meter unter Wasser« (JT: S. 1831)103 – bereits zu Schulzeiten ist sie das »kraulende[] Ass[] Cresspahl« (JT: S. 1587). Schon ihr Cousin Klaus Niebuhr zeigt sich beim früheren gemeinsamen Segeln »verblüfft, dass [sie] mit einer H-Jolle umgehen konnte wie ein Mann!« (JT: S. 1753) Auch im männlich besetzten Schießsport erweist sich Gesine als »kampftüchtige Amphibie« (JT: S. 1831): »Geht die Dame hin, nimmt ein Gewehr, hat nach zehn Schüssen eine Weckeruhr sich verdient, den Hauptpreis.« (JT: S. 1845) Ein weiteres Merkmal Gesines ist ihre Begabung für rational-analytisches und logisches Denken.104 Schon in der Schule hat Gesine in den maskulin konnotierten Fächern »Biologie/Chemie eine Eins« (JT: S. 1815) und »[e]ine Eins in Mathematik und Physik« (JT: S. 1817). Ihr Gedächtnis wird ausdrücklich als »männliches Gedächtnis« (JT: S. 62) bezeichnet. Der Steuerfachmann James Shuldiner lobt ihre hervorragende kognitive Begabung – »Sie haben ein Gedächtnis wie ein Mann, Mrs. Cresspahl!« (JT: S. 62) –, er ist so »verblüfft« (JT: S. 63) von ihrer Fähigkeit, über Informationen zu verfügen, »wie es ihr der Speicher des Gedächtnisses willkürlich aussucht, aufbewahrt in unkontrollierbarer Menge« (JT: S. 63), dass er Gesines Merkfähigkeit geradezu als »Schmuckstück« (JT: S. 63) empfindet. Tatsächlich hat »das Gedächtnis […] ihr geholfen durch Schulprüfungen, Tests, Verhöre, es bringt sie durch die tägliche Arbeit« (JT: S. 63), es »liefert […] freiwillig Fakten, Zahlen, Fremdsprache« (JT: S. 63), dennoch ist »Mrs. Cresspahl […] nicht stolz auf ihr Gedächtnis« (JT: S. 62).105 106
103 Zu den deutlich genügsameren Ansprüchen für den »Erwerb des Deutschen Rettungsschwimmabzeichens der DLRG in Gold« siehe Annekatrin Klaus: »Sie haben ein Gedächtnis wie ein Mann, Mrs. Cresspahl!« Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1999, S. 29, Anm. 92. 104 Vgl. auch Gansel, der von Gesine sagt, ihr »analytischer Verstand und deren Sachlichkeit […] [sind] gepaart […] mit einem moralischen Rigorismus« (Carsten Gansel: Zwischen Aufbau und Demission der Helden – Uwe Johnson, das Gedächtnis und die DDR. In: Carsten Gansel und Nicolai Riedel (Hrsg.): Uwe Johnson zwischen Vormoderne und Postmoderne: Internationales Uwe Johnson Symposium 22.–24. 9. 1994. Berlin, New York: de Gruyter, 1995, S. 31 – 54, hier S. 44). 105 Vgl. auch Gesines Antwort auf Maries Frage nach den Vorzügen eines Studiums: »Wenn du lernen möchtest, eine Sache anzusehen auf alle ihre Ecken und Kanten, und wie sie mit anderen zusammenhängt, oder auch nur einen Gedanken, damit du es gleichzeitig und auswendig verknoten und sortieren kannst in deinem Kopf. Wenn du dein Gedächtnis erziehen willst, bis es die Gewalt an sich nimmt über was du denkst und erinnerst und vergessen wünschtest. Wenn dir gelegen ist, eine Empfindlichkeit gegen Schmerz zu vermehren. Wenn du arbeiten magst mit dem Kopf.« (JT: S. 1828) 106 Zum Aspekt der Männlichkeit/Weiblichkeit vgl. auch: JT: S. 1637 – 1639.
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9.1.6 Gesines »moralische Entleibung«: Verlust und Verneinung von Natur und Schönheit Der Widerstand der Vernunft gegen eine feindliche äußere Naturgewalt impliziert Schillers Theorie des Erhabenen zufolge eine generelle Absage an und Verneinung von Natur, auch der positiv zu wertenden Natur. »[Es gibt] kein andres Mittel«, schreibt Schiller, »der Macht der Natur zu widerstehen, als ihr zuvorzukommen und durch eine freie Aufhebung alles sinnlichen Interesse [sic!] ehe noch eine physische Macht es tut, sich moralisch zu entleiben.« (ÜE: S. 836) Eine solche Unterdrückung des Naturprinzips lässt sich auch bei Gesine beobachten. Mit der Trennung vom einst geliebten mecklenburgischen Naturraum und dem Beginn eines Lebens in der naturfernen Großstadt107 – beides hat Ingrid eingeleitet und wird von Gesine fortgeführt – scheint Gesine prinzipiell fast sämtliche innere und äußere Naturanteile abgestreift zu haben. Das Naturprinzip, üblicherweise mit Konnotationen wie Weiblichkeit, Emotionalität, Körperlichkeit und Sinnlichkeit einhergehend – Schiller spricht beispielsweise vom »Schoß der Natur« (ÄE: S. 581) –,108 ist bei Gesine kaum oder nur sehr verkümmert vorhanden. Gesine erscheint in der Tat wenig feminin, gefühlsbetont oder sinnlich-anziehend; all diese Aspekte werden zugunsten kühler, vernunftbestimmter, willensstarker Momente zurückgedrängt. Ein Teil der Forschung, so resümiert Norbert Mecklenburg, »[findet] die Gesine-Figur ziemlich geschlechtslos […]: ihr fehle ›das Weibliche‹«.109 In ähnlicher Weise bemerkt Wolfgang Paulsen, die Leser »[vermissen] an der New Yorkerin Gesine das […], was man Sex-Appeal nennt«.110 Die Zurückdrängung ihrer weiblichen, gefühlvollen und sinnlich107 Über die Jahretage als einen Großstadtroman schreibt Monique Boussart: Zur Darstellung der »kleinen Welten« innerhalb der Großstadt in Uwe Johnsons Romanzyklus »Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl«. In: Christian Drösch, Hubert Roland und St¦phanie Vanasten (Hrsg.): Literarische Mikrokosmen: Begrenzung und Entgrenzung. Brüssel: Lang, 2006, S. 147 – 158, vgl. dort auch die Literaturangaben zur Großstadt und zu New York (Anm. 1). 108 Zum Symbol des Weiblichen siehe Urte Helduser : Frau/Jungfrau. In: Günter Butzer und Joachim Jacob (Hrsg.): Metzler Lexikon literarischer Symbole. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2008, S. 113 – 115. Vgl. auch Wilfried Noetzel: Schillers Sozialästhetik. London: Turnshare, 2008, der von »weiblicher Sensualität« (ebd., S. 68) spricht. Siehe auch Rose Riecke-Niklewski: Die Metaphorik des Schönen: eine kritische Lektüre der Versöhnung in Schillers »Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen«. Tübingen: Niemeyer, 1986, S. 127, S. 135, S. 147; Gerhard Schweppenhäuser : Ästhetik: philosophische Grundlagen und Schlüsselbegriffe. Frankfurt a. M.: Campus, 2007, S. 85. 109 Norbert Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons. Jahrestage und andere Prosa. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1997, S. 225. Die zweifellos berechtigte Frage Mecklenburgs, was denn das Männliche und Weibliche eigentlich ausmache (ebd., S. 224 – 228), kann hier nicht behandelt werden. 110 Wolfgang Paulsen: Innenansichten: Uwe Johnsons Romanwelt. Tübingen, Basel: Francke
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emotionalen Seite wird besonders in der Beziehung zu D.E. offenkundig. Während die Liebesbeziehung zwischen Ingrid und Klaus zwar zuweilen etwas bieder, aber doch insgesamt innig und liebevoll anmutet und an manchen Stellen sogar eine latente Erotik zu erkennen gibt, lässt sich in der Partnerschaft Gesines zu D.E. eine emotionale oder gar körperliche Nähe, und sei sie noch so sacht angedeutet, nicht auffinden.111 Diese eigentümliche Distanziertheit und Kühle, die Lieb- und Leidenschaftslosigkeit zwischen Gesine und D.E., ist auch von der Forschung zur Kenntnis genommen worden. Barbara Bronnen etwa spricht im Interview mit Uwe Johnson von einer »Verarmung des ›Menschlichen‹«,112 sie nimmt an, dass während des »intellektuelle[n]«113 Schreibprozesses »Sinnlichkeit und Spontaneität«114 verloren geht, und fragt schließlich danach, ob »Gesine sinnliche Bedürfnisse [hat]«.115 Wilhelm Schwarz wiederum schreibt: »Johnsons Werk weist geradezu eine Keuschheit und einen Anstand auf, wie man sie normalerweise etwa in den Anschauungen eines gehorsamen und wohlgeratenen Pfarrersohnes zu finden hofft.«116 Von »eine[r] lustlose[n] Liebesgeschichte mit ihrem Landsmann Professor Erikson«117 spricht Ingeborg Gerlach, Gesines Verhalten ihrem Freund D.E. gegenüber sei gekennzeichnet durch »Passivität«118, »[j]ede engere Bindung wäre für sie lästig«.119 Gesine lasse, so wiederum Annekatrin Klaus, »kaum ein gutes Haar an ihrem Partner«,120 es sei »erstaunlich […], daß sie ihn in ihrer Nähe duldet«.121 Von einer liebevollen Verbundenheit Gesines mit D.E. kann also schwerlich die Rede sein. Annekatrin Klaus weist
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Verlag, 1997, S. 184. Auch Paulsen bemerkt dazu kritisch: »Mit welchen Erwartungen sind solche Leser dem Roman begegnet? Ich würde fast annehmen: mit typisch männlichen, die nun an der New Yorkerin Gesine das vermissen, was man Sex-Appeal nennt.« (Ebd., S. 184) Vgl. auch: »Du lebst in einer Ehe von Mal zu Mal, wenn du willst, wie man ein Stück aufführt, Gesine. Verheiratet leben, du kennst es nicht.« (JT: S. 566, Herv. i. O.) Über das Heiraten sagt Gesine: »Es fehlt nur ein Wort, ein ausgesprochenes. Warum ist es nicht möglich?« (JT: S. 1091) Barbara Bronnen: »Beauftragt, Eindrücke festzustellen.« Ein Gespräch mit dem Schriftsteller und Büchner-Preisträger Uwe Johnson (Am 30. 11. 1971 in Erlangen). In: Eberhard Fahlke (Hrsg.): »Ich überlege mir die Geschichte…« Uwe Johnson im Gespräch. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1988, S. 257 – 262, hier S. 260. Ebd., S. 260. Ebd., S. 260. Ebd., S. 261. Wilhelm Johannes Schwarz: Der Erzähler Uwe Johnson. Bern, München: Francke, 1970, S. 59. Ingeborg Gerlach: Auf der Suche nach der verlorenen Identität. Scriptor Verlag, 1980, S. 5. Vgl. auch: »Eine Liebesgeschichte findet nicht statt.« (Ebd., S. 63) Und weiter: »Obwohl Gesine D.E. […] wahrscheinlich nicht einmal liebt« (ebd., S. 139). Ebd., S. 60. Ebd., S. 60. Annekatrin Klaus: »Sie haben ein Gedächtnis wie ein Mann, Mrs. Cresspahl!« Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1999, S. 335. Ebd., S. 335.
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darauf hin, »daß das Wort ›Liebe‹, mithin auch der Großteil der damit verbundenen emotionalen und körperlichen Implikationen, [in den Jahrestagen, Anm. d. V.] geradezu demonstrativ verschwiegen wird.«122 In einem Brief an ihre Freundin Anita, welcher den »Umgang mit dem Menschen den wir anreden als D.E.« (JT: S. 1541 f.) zum Thema hat, kann Gesine das Wort ›Liebe‹ nicht aussprechen: »Du wirst sagen, so geht es nur zu unter Leuten, die … […] Wir sparen etwas aus.« (JT: S. 1543)123 Auch D.E. wird Gesine zuliebe »das Wort nicht gebrauchen. Nicht weil es mir zu ungenau wäre, sondern, bei dir hat es ausgedient« (JT: S. 815). In einem fiktiven Interview sagt Marie einige Jahre später von ihrer Mutter : »Dies Wort [Liebe, Anm. d. V.] hat sie für sich gestrichen.«124 Den Aspekt der Liebe und der »Versöhnung der Geschlechter, die zum Muster für Versöhnung überhaupt«125 erhoben wird, thematisiert das Kapitel über die Figur der Marie nochmals. Was für die theoretische Verwendung des Worts ›Liebe‹ festzustellen ist, gilt in auffallender Weise auch für seine praktische Umsetzung bzw. Nicht-Umsetzung. Johnson spart aus, was Gesines Kolleginnen Amanda und Naomi von dieser niemals zu erfahren fordern: »Du müßtest uns nie erzählen, wie er im Bett zu dir ist.« (JT: S. 1256)126 In diesem Sinne konstatiert Rolf Michaelis, »daß Jahrestage ein Buch seien, ›das auf fast zweitausend Seiten ohne jede sogenannte Liebes-Szene auskommt‹«.127 Diese Feststellung hat »bei manchen Interpreten zu der Schlußfolgerung geführt […], Mrs. Cresspahl dürfe ihr Leben ›als Frau‹ nicht führen«128 »oder gar den beißenden Spott heraufbeschwor[en], das alles sei 122 Ebd., S. 29, Herv. i. O. Vgl. auch: »Deutlich wird dies bei Gesines Vermeidung des Wortes ›Liebe‹.« (Ingeborg Gerlach: Auf der Suche nach der verlorenen Identität. Scriptor Verlag, 1980, S. 141) 123 Zum ersten Teil dieses Zitats vgl. auch Annekatrin Klaus: »Sie haben ein Gedächtnis wie ein Mann, Mrs. Cresspahl!« Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1999, S. 29. 124 Uwe Johnson: MARIE H. CRESSPAHL, 2.–3. Januar 1972. In: Eberhard Fahlke (Hrsg.): »Ich überlege mir die Geschichte…« Uwe Johnson im Gespräch. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1988, S. 90 – 110, hier S. 98. 125 Rose Riecke-Niklewski: Die Metaphorik des Schönen: eine kritische Lektüre der Versöhnung in Schillers »Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen«. Tübingen: Niemeyer, 1986, S. 129. 126 Vgl. zu diesem Zitat auch Ingeborg Gerlach: Auf der Suche nach der verlorenen Identität. Scriptor Verlag, 1980, S. 140. 127 Rolf Michaelis: Eines langen Jahres Reise in den Tag. Rede zur Verleihung des Literaturpreises der Stadt Köln an Uwe Johnson (1983). In: Michael Bengel (Hrsg.): Johnsons Jahrestage. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1985, S. 219 – 226, hier S. 220, zitiert nach Annekatrin Klaus: »Sie haben ein Gedächtnis wie ein Mann, Mrs. Cresspahl!« Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1999, S. 29. 128 Frauke Meyer-Gosau: Weibliche Perspektive des männlichen Erzählers? Uwe Johnsons Jahrestage der Gesine Cresspahl. In: Manfred Jurgensen (Hrsg.): Johnson. Ansichten – Einsichten – Aussichten. Bern: Francke, 1989, S. 121 – 139, hier S. 127, zitiert nach Anne-
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›einfach zu reinlich und zu langweilig – ein Roman für Erwachsene würde gerade dort beginnen, wo [Gesine mit D.E., Anm. d. V.] im Schlafzimmer verschwindet.‹«129 Diese auffällige, fast provokante Vermeidung jeglicher Romanszenen, in denen ihr Gefühls- und Liebesleben auch nur ansatzweise eine Rolle spielen, hat Gesine den Stempel der »Asexualität«,130 der »Frau ohne Geschlechtsleben«131 aufgedrückt. Aber nicht nur in ihrer Beziehung zu D.E. hält Gesine ihre Gefühle unter Verschluss, auch hinsichtlich anderer Lebensbereiche fällt ihre äußerste Reserviertheit und Beherrschtheit über ihre Gefühlsregungen auf. Der Leser bekommt Gesine nie herzhaft lachend zu Gesicht wie etwa Ingrid, ebenso wenig zeigt sie offen ihre Trauer, wenn sie vom Tod ihrer Mutter Lisbeth, Jakobs und der Paepckes berichtet oder als sie von D.E.s Flugzeugabsturz erfährt. Und schließlich vermisst man an ihr auch so etwas wie Herzlichkeit oder auch liebevolle Fürsorglichkeit in der eher schwesterlichen (vgl. JT: S. 1827) bzw. partnerschaftlich-freundschaftlichen Beziehung zu Marie. Zu all diesen Empfindungen schweigt Gesine und gewährt dem Leser kaum Einblicke in ihr Gefühlsleben.132 »Der Leser«, so Ingeborg Gerlach,
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katrin Klaus: »Sie haben ein Gedächtnis wie ein Mann, Mrs. Cresspahl!« Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1999, S. 29. Peter Demetz: Uwe Johnsons Blick in die Epoche. »Aus dem Leben von Gesine Cresspahl« – der vierte Band der Jahrestage. In: Michael Bengel (Hrsg.): Johnsons Jahrestage. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1985, S. 120 – 128, hier S. 127, zitiert nach Annekatrin Klaus: »Sie haben ein Gedächtnis wie ein Mann, Mrs. Cresspahl!« Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1999, S. 29. Vgl. auch: »Gewiß unterliegt die sexuelle Seite ihres Lebens, z. B. mit dem Freund D.E., in besonderem Maß den Erzählbzw. Schweigegeboten des Takts […]« (Norbert Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons. Jahrestage und andere Prosa. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1997, S. 227). »Zudem fällt auf, daß der gesamte Bereich der Phantasien, der triebhaften Wünsche und Sehnsüchte, die Bewußtseinszone des Es, amputiert ist. Gesine ist gewissermaßen eine Frau ohne Geschlechtsleben. […] Gesine wird […] reduziert um eine vitale Dimension ihrer Existenz […]« (Manfred Durzak: Gespräche über den Roman. Suhrkamp, 1976, S. 475). Auch Boussart stellt in ihrem Aufsatz über die Großstadt New York fest: »Der spröde Protestant weist dem Sex keine bedeutende Rolle zu […]« (Monique Boussart: Zur Darstellung der »kleinen Welten« innerhalb der Großstadt in Uwe Johnsons Romanzyklus »Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl«. In: Christian Drösch, Hubert Roland und St¦phanie Vanasten (Hrsg.): Literarische Mikrokosmen: Begrenzung und Entgrenzung. Brüssel: Lang, 2006, S. 147 – 158, hier S. 157). Diese Seite hat aber auch ihr Gutes: Gesine bleibt bei Telefonspielen »verschont […] von den geschlechtlichen Phantasien unbekannter Betrunkener, weil der Name Gesine in diesem Lande nicht eine eindeutige Auskunft über den Träger liefert« (JT: S. 277). Ingeborg Gerlach: Auf der Suche nach der verlorenen Identität. Scriptor Verlag, 1980, S. 7, Anm. 4. Manfred Durzak: Gespräche über den Roman. Suhrkamp, 1976, S. 475. Zu »Gesines Gefühlsleben, über das wenig ausgesagt wird«, siehe Ingeborg Gerlach: Auf der Suche nach der verlorenen Identität. Scriptor Verlag, 1980, S. 131. Vgl. auch: »Aber obgleich Gesine alles, was sie in die ›Jahrestage‹ aufnimmt, aus persönlicher Sicht betrachtet, so fehlt dem Roman die betonte Subjektivität« (ebd., S. 10).
Gesine, ein Charakter von sublimer »Geisterwürde«
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erfährt nur wenig von ihren Gefühlen und Empfindungen. Der ›Genosse Schriftsteller‹ vermeidet jede introspektive Einfühlung in ihr Seelenleben. […] Und Gesine selbst spricht nur wenig von sich selbst. Wenn sie als Erzählerin fungiert, berichtet sie minutiös über politische oder gesellschaftliche Ereignisse, aber nur indirekt lassen sich ihre jeweiligen emotionalen Reaktionen erschließen.133
Mit ihrer geistigen Erhebung über die Natur sublimiert, verflüchtigt sich also auch der körperlich-emotionale Bestandteil ihres Wesens; man kann geradezu von einer »Entleibung« (vgl. ÜE: S. 836) Gesines im Schiller’schen Sinn sprechen. Wie Schillers »erhabene Seele[]« (NSD: S. 743, Herv. i. O.), so schwingt sich auch Gesine zur Geistessphäre »reine[r] Intelligenzen« (AW: S. 343) auf. »[D]aß ich tu, wonach mir ist, statt meinen Hormonen oder Drüsen zu gehorchen« (JT: S. 1754) – deutlich artikuliert sich in dieser Selbstbeschreibung Gesines der Triumph der vernunftgeleiteten moralischen Willensfreiheit über den Naturtrieb. Die Einheit von Natur und Vernunft, die sich bei Ingrid in bezaubernder Schönheit äußert, ist bei Gesine eindeutig zerbrochen. Das Verbindungsstück zwischen Vernunft und Natur, das bei Johnson durch den Hals versinnbildlicht wird, wie in Abschnitt 8.3.3 erläutert, ist gestört: Gesine hält nunmehr den – vorab schon bei Ingrid versehrten – »Hals steif« (JT: S. 491). Als Folge dieses Bruchs wird man eine herzstockende Gesineschönheit vergeblich suchen. Anders als die bezaubernde Ingrid, die mit ihren harmonisch-leichten Zügen und Bewegungen noch den Inbegriff weiblicher Schönheit und Anmut darstellt, lässt das Erscheinungsbild Gesines eine Vorstellung von femininer Anziehungskraft nicht so recht aufkommen. Sichtbar wird dies zum Einen durch ihre »kurz geschnittenen Haare[]« (JT: S. 1463), wobei nicht der Kurzhaarschnitt an sich ihrer Schönheit einen Abbruch tut, – denn schließlich trägt auch die ungemein attraktive Ingrid »kurze[] blonde[] Haare« – (IB: S. 39), sondern die Form ihrer Frisur. Gesines Haarschnitt wird an einer Stelle des Romans als eine »achtlose Kappe bis zum Nacken« (JT: S. 1086) bezeichnet und bringt damit schon ihre Gleichgültigkeit, ja fast Achtlosigkeit gegenüber der eigenen Sinnlichkeit zum Ausdruck. Als Gesines ehemaliger Lehrer Kliefoth Marie davon berichtet, wie die Haare ihrer Mutter einst »mit Messern geschnitten« (JT: S. 1890) wurden, drängt sich – allein durch die Formulierung – das Bild fast schon eines Gewaltakts gegen die Sinnlichkeit auf. Die »[l]ange[n] gespreizte[n] Wimpern« (JT: S. 499), die an Marie betont werden und Sinnbild weiblicher Schönheit sind, stammen nicht von der Mutter (JT: S. 499). Schon in den Mutmassungen über Jakob bemerkt Rohlfs, der in einem Gasthaus auf Jakob wartet und währenddessen Gesine beim Essen beobachtet: »Hübsch finde ich sie gar nicht […] ihr Gesicht ist in keiner Weile [sic!] gefällig« (MJ: S. 147) – ein bemerkenswerter Kontrast zu Jonas’ 133 Ebd., S. 59.
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entgegengesetzer Wahrnehmung Gesines. In einem imaginierten Gespräch wiederum äußert die tote Lisbeth Gesine gegenüber : »Die Alexandra [Paepcke, Anm. d. V.] […] hatte die weichen hellen Haare, du die dunklen, sie hätte immer als die hübschere gegolten« (JT: S. 635, Herv. i. O.). Gesine selbst erscheint nicht anziehend, sie wird nicht, wie dies für Ingrid und das Schöne festgestellt wurde, Gegenstand einer Betrachtung: »Es müßte schon ein Verliebter sein, der sie eigens beobachten wollte« (JT: S. 1464). Gesine ihrerseits legt auch gar keinen Wert darauf, für schön befunden zu werden. »Ich hab es lieber, daß mir ins Gesicht gesehen wird« (JT: S. 1833), entgegnet sie Marie, als diese die Beine ihrer Mutter loben will. Gesines Verlust und Verneinung von Schönheit und Harmonie kommt noch auf einer anderen Ebene zum Ausdruck, nämlich durch ihre fehlende Musikalität und Ablehnung von Musik als einem Symbol der höheren Idee der Schönheit. Während sich bei Ingrid die Einheit von Natur und Vernunft nicht allein durch ihre Schönheit, Anmut und den Einklang mit der scheinbar naiven Natur äußert, sondern darüber hinaus auch durch ihre Verbundenheit mit der schönen Kunst, insbesondere der Musik, dürfte es kein Zufall sein, dass Gesine neben all den genannten Aspekten auch jegliche musische Begabung fehlt. Als Gesine ihrer Tochter das im »Dritten Reich« unter Strafe stehende »verbotene Lied« (JT: S. 985) vorsingt, bekundet Marie: »Du kannst tatsächlich nicht singen« (JT: S. 986) und sie ist äußerst verlegen angesichts ihrer beschwipsten Mutter, die bei einem Besuch in einem nicht näher benannten »sozialistischen Land« (JT: S. 1643) öffentlich zu singen beginnt: »Du hast dich erbärmlich geschämt für deine Mutter.« (JT: S. 1643) Auf das Tonband wiederum singt Gesine: »I read the Times today : Oh boy.« (JT: S. 385) und gesteht daraufhin ein: »Nun hast du auf dem Band, daß ich nicht singen kann. ›Wie ein Glas mit einem winzigen Sprung‹« (JT: S. 385 f.). An einem Samstagnachmittag auf der South Ferry will Marie Gesine, die gerade dazu ansetzt, ein in ihrer Erzählung vorkommendes Lied zum Besten zu geben, von ihrem Vorhaben mit den Worten abbringen: »Gesine, wenn ich doch weniger schüchtern wär« (JT: S. 1864), doch Gesine entlarvt sie: »Hier haben wir ein Kind, das geniert sich für seine Mutter auf einer spärlich besetzten Fähre, da kennt sie von den Ausflüglern Niemanden.« (JT: S. 1864) In diesem Zusammenhang schreibt Sigrid Bauschinger : In Gesine Cresspahls Zeitungslektüre zeichnet sich eine gewisse Einseitigkeit ab, die trotz aller Vielfalt das Manhattanbild der Jahrestage bestimmt. Wie bei der Zeitungslektüre große Teile des täglichen Lebens der Stadt ausgespart bleiben, so auch in Johnsons Manhattan überhaupt. Es ist eine merkwürdig farblose Stadt, unmusikalisch, amusisch. Der Rhythmus, der die Stadt durchpulst, ihre Lieder, ihre Tänze, all das fehlt.
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In Gesine Cresspahls New York Times ist davon nie die Rede, weil diese ernsthafte Leserin sich eben überhaupt nicht dafür interessiert.134
Es fällt jedoch auf, dass Gesine gegen Ende des Romans, als ihr das Leben mit D.E.s Tod und dem Zerbrechen ihrer Hoffnungen auf einen menschlichen Soˇ SSR fast unerträglich wird, damit beginnt, Musik zu hören zialismus in der C (vgl. Abschnitt 9.3.3 dieser Arbeit), jene Kunstform also, die einerseits die Idee der Schönheit transportieren kann, andererseits allein schon ihrer Nicht-Gegenständlichkeit und Nicht-Darstellbarkeit wegen erhaben ist.135
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Die Frage, welche Rolle und Funktion Gesines und Jakobs zehnjähriger Tochter Marie zukommt, hat die Jahrestage-Forschung von Beginn an beschäftigt. Marie, Gesines kritische Zuhörerin, die den Bericht der Mutter über die Vergangenheit beständig hinterfragt, auf seinen Wahrheitsgehalt hin überprüft und Zusatzfragen stellt,136 wurde unterschiedlich gedeutet, am häufigsten aus rezeptionsästhetischer Sicht als »Modell-Reader«137 oder »implizite[r] Leser«,138 als »Lesergestalt«139 und »Co-Produzentin«140 von Gesines Erzählungen. Unter der Fragestellung dieser Arbeit eröffnet sich eine neue Sichtweise auf die rätselhafte 134 Sigrid Bauschinger : Mythos Manhattan. Die Faszination einer Stadt. In: Sigrid Bauschinger, Horst Denkler und Wilfried Malsch (Hrsg.): Amerika in der deutschen Literatur: Neue Welt, Nordamerika, USA. Stuttgart: Reclam, 1973, S. 382 – 397, hier S. 391, Herv. i. O. Vgl. auch Schiffers Entgegnung: »Sicher recht hat Sigrid Bauschinger mit ihrer Beobachtung, daß in Uwe Johnsons Manhattan-Bild alles Musische fehlt. Daß es aber für jedes New Yorker Kind in Maries Alter das Gegebene wäre, zum Ballett oder ins Musical zu gehen, und daß sie dies nur deshalb nicht tut, weil sie in New York letzten Endes als Fremde lebt, wirkt weniger überzeugend.« (Eva Schiffer: Politisches Engagement oder Resignation? Weiteres zu Uwe Johnsons Jahrestagen. In: Wolfgang Paulsen (Hrsg.): Der deutsche Roman und seine historischen und politischen Bedingungen. Bern: Francke, 1977, S. 236 – 246, hier S. 240, siehe auch S. 241) 135 Die Musik als erhabene Kunstform erörtert am Beispiel Beethovens Fred Lönker : Beethovens Instrumentalmusik. Das Erhabene und die unendliche Sehnsucht. In: Günter Saße (Hrsg.): E.T.A. Hoffmann. Erzählungen und Romane. Interpretationen. Stuttgart: Reclam, 2004, S. 31 – 42. 136 Vgl. Günter Butzer : Fehlende Trauer. München: Fink, 1998, S. 106 f. 137 Ebd., S. 107, siehe dort auch Anm. 1. Butzer selbst lehnt diese These als »unhaltbar« (ebd., S. 107) ab. 138 Hille Haker : Moralische Identität: Literarische Lebensgeschichten als Medium ethischer Reflexion. Mit einer Interpretation der Jahrestage von Uwe Johnson. Tübingen, Basel: Francke, 1999, S. 214. 139 Sabine Fischer-Kania: Geschichte entworfen durch Erzählen: Uwe Johnsons »Jahrestage«. Münster : LIT Verlag, 1996, S. 132. 140 Ebd., S. 55.
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Figur der Marie. Folgende Thesen gilt es in den nächsten Abschnitten dieses Kapitels zu veranschaulichen: 1. Es wird zu sehen sein, dass Marie im Sinne der Theorie Schillers die Position der Ästhetik des Schönen verkörpert und damit als »Gegenspielerin«141 zum erhabenen Standpunkt Gesines in Erscheinung tritt (ab Abschnitt 9.2.1). Dabei hat Maries Schönheit jedoch nicht mehr viel mit der naiven Anmut Ingrids zu tun, wie im Schlusskapitel gezeigt wird. 2. Im Verlauf des Romans erfährt Marie eine Wandlung: Sie entfernt sich allmählich von der Position des Schönen und durchläuft eine ästhetische Erziehung zum Erhabenen (ab Abschnitt 9.2.2). 3. Marie lässt sich schließlich noch auf einer weiteren Ebene deuten, nämlich als eine Gegenstimme in Gesine selbst, wodurch sich Gesines innere Zerrissenheit zwischen einer Ästhetik des Erhabenen und einer Ästhetik des Schönen sowie ihre insgeheime Sehnsucht nach Harmonie und Einklang mit sich und der Welt offenbart (Abschnitt 9.2.3).
9.2.1 »Frei, unabhängig, nicht weisungsgebunden«: Marie, die Schöne? 9.2.1.1 Ein erster Blick auf Marie Aus verschiedenen Informationen, welche die Jahrestage über Marie bereitstellen, lässt sich ein zur Ästhetik des Schönen scheinbar passendes Bild zusammenstellen und daraus die entsprechende Bedeutung der Figur in der Konzeption des Romans folgern. Einen ersten Aufschluss über die Bedeutung 141 Zu Marie als Gesines »Gegenspielerin« vgl. ohne Schiller-Bezug: Eva Schiffer: Politisches Engagement oder Resignation? Weiteres zu Uwe Johnsons Jahrestagen. In: Wolfgang Paulsen (Hrsg.): Der deutsche Roman und seine historischen und politischen Bedingungen. Bern: Francke, 1977, S. 236 – 246, hier S. 239. Wiederholt wurde festgestellt, dass es sich bei Marie um ein »Korrektiv« oder »eine Gegenstimme« zu Gesine handelt. Vgl. Carsten Gansel: Zwischen Aufbau und Demission der Helden – Uwe Johnson, das Gedächtnis und die DDR. In: Carsten Gansel und Nicolai Riedel (Hrsg.): Uwe Johnson zwischen Vormoderne und Postmoderne: Internationales Uwe Johnson Symposium 22.–24. 9. 1994. Berlin, New York: de Gruyter, 1995, S. 31 – 54, hier S. 41 f., auch S. 39. Marie »als zeitweiliges Gegenmodell zur problematischen, problematisierten Disposition Gesines« behandelt Annekatrin Klaus: »Sie haben ein Gedächtnis wie ein Mann, Mrs. Cresspahl!« Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1999, S. 316. Marie sei »das abstrakte Prinzip der anderen Perspektive« (Beatrice Schulz: Versuch über Marie: Erste Schritte zu einem poetischen Prinzip der »Jahrestage«. In: Carsten Gansel und Nicolai Riedel (Hrsg.): Uwe Johnson zwischen Vormoderne und Postmoderne: Internationales Uwe Johnson Symposium 22.–24. 9. 1994. Berlin, New York: de Gruyter, 1995, S. 217 – 232, hier S. 218). »Maries Lebenspraxis [ist] dem Entwurf Gesines bewußt entgegengesetzt« (Ulrich Fries: Uwe Johnsons »Jahrestage«. Vandenhoeck und Ruprecht, 1990, S. 151 f.). Vgl. auch Alfons Kaiser : Für die Geschichte: Medien in Uwe Johnsons Romanen. St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag, 1995, S. 132; Ulrich Krellner : »Was ich im Gedächtnis ertrage«. Untersuchungen zum Erinnerungskonzept von Uwe Johnsons Erzählwerk. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2003, S. 292.
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der Figur Maries gibt, wie bei den meisten Protagonisten Johnsons, bereits der Name: ›Marie‹ meint unter anderem auch »die Schöne«.142 Tatsächlich weist Gesines Tochter Eigenschaften des Schönen auf. Wenn auch Johnson bei Marie weniger auffallend, als dies bei Ingrid der Fall ist, ihre äußere Schönheit betont, so streut er doch beiläufig Bemerkungen über ihre »schönen Augen« (JT: S. 462) ein oder lässt die Mutter bewundernd feststellen, »[w]as […] für ein schönes Kind« (JT: S. 1645) sie doch mit ihren »blonden Zöpfen« (JT: S. 1645) sei, und noch dazu »hübscher als [sie selbst]« (JT: S. 1750). Eine sinnbildliche Anspielung auf das Schöne kann auch in Maries Geburtsdatum gesehen werden: dem 21. Tag des Sommermonats Juli (JT: S. 1590). Die Quersumme aus 21 ergibt die Zahl drei, welche Vollkommenheit, Ganzheit und harmonische Einheit symbolisiert.143 Sie vereint die »Polarität der [Zahl, Anm. d. V.] Zwei (hell/dunkel, gut/böse)«,144 also zwei gegensätzliche Prinzipien – zu denken ist hier nach Schiller an die antagonistischen Triebe Vernunft und Natur – harmonisch in sich, indem sie deren Gegensätzlichkeit in einem dritten Trieb, dem Spieltrieb, aufhebt. Weiterhin ist Marie an einem »Sonntag« (JT: S. 1592), an einem freien, von Determinationen losgelösten Fest- und Feiertag also, zur Welt gekommen. Renate Reschke setzt das Schöne in Beziehung zum freien Sonntag, sie spricht im Kontext ihrer Erörterung der Ästhetik Friedrich Theodor Vischers vom »Sonntagseffekt des Schönen«.145 146 Als »kleines Kind« (JT: S. 1871) hat Marie laut Gesines Erzählung »Italienisch gesprochen« (JT: S. 1871), die Sprache des klassischen südlichen Sehnsuchtslandes also. Ihre Leidenschaften sind das Schwimmen und Bootsfahren, seien es die Fahrten mit der South Ferry oder das Segeln im Ferienlager,147 diese Begeisterung für die Bewegung im und auf dem Wasser erinnert an Ingrid, für die Schwimmen und Segeln lebensnotwendig waren. Wie bei der Protagonistin von Johnsons Romanerstling, so meint man die Leichtigkeit und Anmut der Bewegung beim Schwimmen auch bei Marie wie142 Joachim Schäfer : Ökumenisches Heiligenlexikon: http://www.heiligenlexikon.de (07. 07. 2013), hier http://www.heiligenlexikon.de/BiographienM/Maria.htm. 143 Die Zahl ›drei‹ erörtert Johannes Knecht: Drei. In: Günter Butzer und Joachim Jacob (Hrsg.): Metzler Lexikon literarischer Symbole. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2008, S. 69 – 70. 144 Ebd., S. 69. 145 Renate Reschke: Schön/Schönheit. In: Karlheinz Barck u. a. (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 5: Postmoderne – Synästhesie. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2003, S. 390 – 436, hier S. 419. 146 So heißt es in den Jahrestagen über einen Sonntag: »Das Sonntägliche ist auf einen Sonntag gefallen. Es ist ein nahezu unschuldiges Bild, in dem Kinder und Spaziergänger leben wie harmlos.« (JT: S. 134) 147 Wie das Schwimmen, so wird auch das Segeln als Ausdruck für Autonomie und Einklang mit der Natur aus Ingrid Babendererde in den Jahrestagen variierend fortgesetzt durch die wöchentlichen Fahrten auf der South Ferry, die vorbei an der Freiheitsstatue führen: »Die South Ferry war ihr [Maries, Anm. d. V.] erster Wunsch an New York« (JT: S. 91) und »segeln lernt« (JT: 441) Marie in den Sommerferien. Vgl. auch JT: S. 809, S. 1250, S. 1257.
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derzufinden, wenn sie »in einem gleitenden vergeßlichen Ansatz« (JT: S. 662) ins Becken des »Mittelmeerische[n] Schwimmclub[s]« (JT: S. 1536) springt: »[S]ie gleitet in einer einzigen unabgesetzten Bewegung vom Beckenrand ins Wasser, wie ein Fisch auf der Rückreise ins geheurere Element. Es ist, als ließe sie sich fallen; so ohne sichtbaren Abstoß springt sie.« (JT: S. 487 f.)148 Auch die Heiterkeit und der spottende Scherz scheinen dem »spaß-süchtig[en]« (JT: S. 1087) Kind zu eigen zu sein: »Wohl finde ich Mecklenburgisches, Ironie […], überhaupt das Anschlägige, das Schabernacksche« (JT: S. 499), so beschreibt Gesine die Tochter in einem Brief an ihren früheren Lehrer Kliefoth. Wenn die Zehnjährige von ihrer Mutter als »Göre« (JT: S. 1331) bezeichnet wird, so erinnert dies deutlich an die Formel von der »anmutig frechen Göre« (IB: S. 85), mit welcher Johnson Ingrid beschreibt. Die Parallelen lassen sich fortsetzen: Wie Ingrid, so scheint auch Marie, die ebenfalls in häufigem Zusammenhang mit dem Schattenmotiv genannt wird, dem Schattenreich des Schönen anzugehören. Bei einem Restaurantbesuch betrachtet der Kellner Maries »helles Haar mit sandfarbenem Schatten drin« (JT: S. 1086). In einer Nacht wiederum, in der New York von einem Stromausfall betroffen ist und »die Lichter ausgingen« (JT: S. 1882), erblickt Gesine in ihrer Wohnung am Riverside Drive den vom Kerzenlicht projizierten »Schattenumriß von Marie« (JT: S. 1883). Und, um ein drittes Beispiel zu nennen, während eines gemeinsamen Spaziergangs mit Gesine an einem Sonntag im Januar schließlich bemüht sich Marie, ihren eigenen Schatten zu fassen: »Wir hatten die Sonne im Rücken, und sie versuchte, Schritt für Schritt auf ihren Schatten zu treten.« (JT: S. 563) Im Weiteren wird zu sehen sein, dass neben den genannten Merkmalen die Aspekte der Freiheit, Dialektik, des Spiels sowie der Möglichkeit das Bild Maries als einer Repräsentantin der Ästhetik des Schönen vervollständigen. 9.2.1.2 Maries Autonomie und Dialektik Anders als die nach ihrem Weggang aus Mecklenburg heimatlose Gesine hat Marie in den USA Fuß gefasst.149 »[D]ieses Kind Marie«, so äußert sich Johnson in einem Interview über Gesines Tochter, »[betrachtet] die Stadt New York und überhaupt Amerika als einzig und wohlerworbene Heimat«.150 Mit der Aneig-
148 Vgl. auch JT: S. 992. 149 Zu Maries Vertrautheit mit New York vgl. Anita Krätzer : Studien zum Amerikabild in der neueren deutschen Literatur : Max Frisch – Uwe Johnson – Hans Magnus Enzensberger und das »Kursbuch«. Bern u. a.: Lang, 1982, S. 180 f.; Bernd Neumann: Uwe Johnson. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt, 1994, S. 831; Alfons Kaiser : Für die Geschichte: Medien in Uwe Johnsons Romanen. St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag, 1995, S. 134. 150 Uwe Johnson: Wie es zu den Jahrestagen gekommen ist. In: Eberhard Fahlke (Hrsg.): »Ich
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nung New Yorks als ihr Zuhause hat sich Marie zugleich eine Ganzheit, eine Identität und Harmonie erworben; sie lebt in völligem Einklang mit sich, ihrem Land und ihrer Sprache, dem Amerikanischen. »Ich möchte nirgends leben, nur in New York: sagt sie.« (JT: S. 259)151 »Nie! Nie!« (JT: S. 596) ginge sie freiwillig von hier fort (JT: S. 596). Marie ist in solchem Umfang »verwurzelt«152 in und mit ihrem geliebten Land, dass Oliver Vogel ihren Namen »als Anagramm der ersten Buchstaben AMERIkas«153 liest. Im Gegensatz zu Gesines überwiegend negativer Wahrnehmung New Yorks ist Maries Blick auf die Wahlheimat ein gänzlich anderer: In Maries Eindruck spiegeln die USA den Traum vom »amerikanischen Märchen« (JT: S. 714) wider, ebenso die Idee von Freiheit, Gleichheit und Menschenrechten sowie den Topos vom »freie[n] Land« (JT: S. 1693) der unbegrenzten Möglichkeiten.154 Gewissermaßen im Schiller’schen Sinn sind New York und Amerika für Marie ein »weite[s] Reich[] des Möglichen« (ÄE: S. 625). Dies alles symbolisiert die »Statue der Freiheit« (JT: S. 311), welche das Kind auf den South Ferry-Fahrten passiert. Die genannten Amerika-Topoi werden außerdem bekräftigt durch die Lage der Cresspahl’schen Wohnung am Riverside Drive auf der »Insel Manhattan« (JT: S. 1827), lässt doch die Insel-Metaphorik an eine von der Geschichte abgeschlossene Parallelwelt und an paradiesische Zustände denken. Neben der Harmonie und Einheit mit sich und ihrer Welt haftet Marie ein weiteres Charakteristikum des Schönen an, das der scheinbaren Freiheit und höchsten Selbständigkeit. In Maries Eigenständigkeit und Unabhängigkeit kommt die Sehnsucht nach der Autonomie des schönen Scheins zum Ausdruck. In Schillers Abhandlung Über die ästhetische Erziehung des Menschen ist in diesem Zusammenhang vom »selbständigen Schein« (ÄE: S. 667) oder auch von seiner »höchste[n] Selbständigkeit und Freiheit« (ÄE: S. 602) die Rede. Marie bewegt sich in ihrem geliebten New York mit vollkommener Sicherheit, ja, es ist irritierend und zugleich verstörend, über welche, selbst für ein frühreifes Kind erstaunliche, fast schon unglaubwürdige Reife und Ungebundenheit die zehn-
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überlege mir die Geschichte…« Uwe Johnson im Gespräch. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1988, S. 65 – 71, hier S. 71. Vgl. auch: »Sie [Marie, Anm. d. V.] lebt hier seit sechs Jahren. Sie möchte nirgends leben als hier. Sie möchte nicht leben in einem Land, dem sie mißtraut. Diesem vertraut sie.« (JT: S. 494) Oliver Vogel: »Make room for the lady! Make room for the child!« Zum Ort des Erzählens in Uwe Johnsons Jahrestagen. In: Johnson-Jahrbuch 4 (1997), S. 115 – 129, hier S. 118. Ebd., S. 118, Herv. i. O. Zum Amerikatopos in der Literatur vgl. Anita Krätzer : Studien zum Amerikabild in der neueren deutschen Literatur : Max Frisch – Uwe Johnson – Hans Magnus Enzensberger und das »Kursbuch«. Bern u. a.: Lang, 1982, S. 1 ff., S. 13, S. 102, S. 114, S. 192. Zu »Maries Identifikation der amerikanischen Ideale von Gleichheit […], Freiheit […] und Rechtsstaatlichkeit« vgl. ebd. S. 182.
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jährige Marie verfügt.155 Bereits im Alter von nur acht Jahren fuhr sie »auf eigene Faust und ohne Ankündigung nach Flushing […] (um zu sehen wo wir beinahe gewohnt hätten) und [rief] erst eine Viertelstunde nach fünf Uhr und quietschvergnügt von einem Ort namens Queens Plaza an« (JT: S. 373). Seitdem ist sie regelmäßig allein mit der Subway, mit der sie vertrauter als mancher Erwachsener ist, in der Metropole New York unterwegs. Als eine Umstellung im Subwaysystem für die Reisenden Aufregung und Hilflosigkeit mit sich bringt, ist es »[a]llein ein 10jähriges Kind«, das »des helfenden Beamten nicht [bedurfte] und […] seinen Weg allein [fand]« (JT: S. 372). Maries Unabhängigkeit basiert maßgeblich auf Gesines Erziehungsstil, denn »[d]ie bestand nicht auf Gehorsam« (JT: S. 1022). »Du bist frei, unabhängig, nicht weisungsgebunden« (JT: S. 1084), versichert sie ihrer Tochter. Mrs. Ferwalter, die Mutter von Maries behüteter Freundin Rebecca, nimmt es »mit entsetztem Mißtrauen« (JT: S. 791) zur Kenntnis, »[d]aß die Cresspahl ihr Kind frei aufwachsen ließ« (JT: S. 791). Doch sogar Gesine gehen die eigenmächtigen Aktionen ihrer Tochter gelegentlich zu weit, denn »Marie vergißt schon einmal die Auflage, alle zwei Stunden anzurufen von sei es wo immer im Größeren New York« (JT: S. 1545). Wenn Gesine zu Hause auf ihr Kind wartet und ihm später sein unpünktliches Erscheinen sorgenvoll vorwirft – »Wo warst du, Marie! Wo du warst!« (JT: S. 1298) –, wünscht sie sich gelegentlich, »sie [Marie, Anm. d. V.] nähme schlicht und einfach Verbote an« (JT: S. 373). Marie aber lässt sich nicht gerne Vorschriften machen, auch nicht von der Mutter. Maries Freiheit und Eigenständigkeit kommt noch auf einer weiteren Bedeutungsebene zum Ausdruck: Ihr Charakter ist schwer zu erfassen. Marie entzieht sich jedem Versuch, Merkmale und Eigenschaften für sie festzulegen.156 Sie erscheint gewissermaßen als eine multiple Persönlichkeit, die verschiedene dialektische Wesenszüge aufweist, ein »inkohärentes Gemisch von Eigenschaften«,157 das eine genaue Einordnung ihrer Person unmöglich macht158 und genau hierin liegt ihre Freiheit.159 Marie, so Beatrice Schulz, verkörpert »eine Instanz 155 Zu Maries Selbständigkeit und Reife vgl. Anita Krätzer : Studien zum Amerikabild in der neueren deutschen Literatur : Max Frisch – Uwe Johnson – Hans Magnus Enzensberger und das »Kursbuch«. Bern u. a.: Lang, 1982, S. 181; Alfons Kaiser: Für die Geschichte: Medien in Uwe Johnsons Romanen. St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag, 1995, S. 134; Annekatrin Klaus: »Sie haben ein Gedächtnis wie ein Mann, Mrs. Cresspahl!« Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1999, S. 319. 156 Darauf hat hingewiesen: Beatrice Schulz: Versuch über Marie: Erste Schritte zu einem poetischen Prinzip der »Jahrestage«. In: Carsten Gansel und Nicolai Riedel (Hrsg.): Uwe Johnson zwischen Vormoderne und Postmoderne: Internationales Uwe Johnson Symposium 22.–24. 9. 1994. Berlin, New York: de Gruyter, 1995, S. 217 – 232, hier S. 219: »Sie [Marie, Anm. d. V.] […] entzieht sich […] jeder Zuordnung einer bestimmten Position.« 157 Ebd., S. 221. 158 Ebd., S. 219. 159 Ebd., S. 219.
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[…], die potentiell alle Rollen übernehmen kann. In ihrer Flexibilität und in ihrem Verwandlungsvermögen haftet Marie schon fast etwas Wunderbares an«.160 So tritt Marie als ein Kind auf, das auf paradoxe Weise unkindlich ist. Viele Johnson-Forscher beschreiben sie als für eine Zehnjährige unglaubhaft reif, wissbegierig, informiert und kritisch. »Marie sei altklug, kein richtiges Kind«,161 resümiert Wolfgang Strehlow Forschungsmeinungen zu Gesines Tochter. Von ihrer »fulminante[n] Frühreife«162 spricht Ulrich Krellner, ja er nennt Marie sogar »hyperintelligent[]«.163 Alfons Kaiser wiederum betont, »[d]aß sie wie ein Erwachsener denkt und redet«.164 Die »Unkindlichkeit des Kindes Marie«165 ist auch Thema des fiktiven Interviews, in dem einige Jahre später die nunmehr Vierzehnjährige mehr oder weniger bereitwillig Auskünfte über ihr Leben im New York des Jahres 1967/68 gibt. Die Leute, so sagt sie darin über ihr jüngeres Alter Ego, »[n]ennen mich altklug. […] [N]aseweis«.166 Ihrem Gesprächspartner scheint diese Beschreibung noch zu harmlos, wenn er entgegnet: Marie, zehn Jahre warst du alt in dem Buch, und du hast Sachen gesagt, Dinger –! So spricht ein Kind nicht. […] Dass du ein solches Gedächtnis haben willst, und womöglich war es also 1967, und was für eine Art zu denken du an dir hast, mit zehn Jahren schon!167
160 Ebd., S. 219. 161 Wolfgang Strehlow : Ästhetik des Widerspruchs: Versuche über Uwe Johnsons dialektische Schreibweise. Berlin: Akademie Verlag, 1993, S. 234, Anm. 6. 162 Ulrich Krellner : »Was ich im Gedächtnis ertrage«. Untersuchungen zum Erinnerungskonzept von Uwe Johnsons Erzählwerk. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2003, S. 293. 163 Ebd., S. 293. 164 Alfons Kaiser: Für die Geschichte: Medien in Uwe Johnsons Romanen. St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag, 1995, S. 137, vgl. auch S. 133 f. Siehe auch: »Dem Verfasser war auf seine bisher vorgelegten Berichte von dieser Marie entgegengehalten worden: dies Kind sei zu fix, im Denken wie im Handeln. So um die Ecke zu fragen vermöge ein Kind nicht in diesem Alter, es könne mit erwachsenen Manieren nicht so firm, wenn auch spielerisch umgehen […] er gab dem Verdacht nach, ihm sei dies Kind im Verlauf der Erfindung über den Kopf gewachsen, mit den Mitteln der Liebenswürdigkeit oder mit zu wenig geprüfter Unabhängigkeit.« (Uwe Johnson: Typoskript der Rede zur Verleihung des Georg-BüchnerPreises 1971. In: Eberhard Fahlke und Thomas Wild (Hrsg.): Hannah Arendt – Uwe Johnson: Der Briefwechsel 1967 – 1975. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2004, S. 213 – 252, hier S. 221) 165 Uwe Johnson: Typoskript der Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises 1971. In: Eberhard Fahlke und Thomas Wild (Hrsg.): Hannah Arendt – Uwe Johnson: Der Briefwechsel 1967 – 1975. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2004, S. 213 – 252, hier S. 231. 166 Uwe Johnson: MARIE H. CRESSPAHL, 2.–3. Januar 1972. In: Eberhard Fahlke (Hrsg.): »Ich überlege mir die Geschichte…« Uwe Johnson im Gespräch. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1988, S. 90 – 110, hier S. 103. 167 Ebd., S. 103.
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In merkwürdigem Widerspruch zu dieser Frühreife und Aufgeklärtheit Maries stehen gewisse Verhaltensweisen oder Äußerungen, die kindlich, ja geradezu naiv anmuten wie beispielsweise ihr »bedenkenloses Vertrauen in Amerika«168 und ihre »naive Loyalität«169 gegenüber den US-amerikanischen Politikern. Während sie auf sorglos-unbedachte Weise dem amerikanischen Staatsoberhaupt ihr Vertrauen ausspricht – »[e]in Präsident kann nicht lügen: sagt Marie: Es käme doch heraus!« (JT: S. 491) –, gelangt die reife abgeklärte Seite in Marie fast zur gleichen Zeit zu einem entgegengesetzten Urteil hinsichtlich der Integrität des Staatsoberhaupts: »Du wärst längst ohne Arbeit«, so hält sie der Mutter vor, »und ich aus der Schule, wenn wir nicht lögen wie drei amerikanische Präsidenten hintereinander!« (JT: S. 494) Und Maries teilweise bemerkenswerter Informiertheit über das weltpolitische Geschehen steht ihre »naive[] Empörung über den Krieg in Vietnam«170 entgegen – »Marie ist gegen Kriege, weil dabei Personen verletzt werden können« (JT: S. 493) – sowie ihre gutgläubige Annahme, ihr Senator Kennedy werde »den Krieg in Viet Nam beenden« (JT: S. 536). Eine angekündigte Rede des Präsidenten Johnson im Fernsehen, in der er sich über Vietnam zu äußern gedenkt, lässt das Kind auf »Ungeheures an Erfreulichkeit« (JT: S. 939) hoffen: »Marie war nicht davon abzubringen, daß die Botschaft lauten muß: Der Krieg ist aus. […] Sie hätte es gern mit eigenen Augen gesehen, wie die Welt in Ordnung gebracht wird.« (JT: S. 938)171 Je nachdem, aus welcher Sichtweise ihrer gespaltenen Persönlichkeit Gesines Tochter gerade argumentiert, beurteilt sie auch ihr eigenes Alter unterschiedlich: »[I]ch bin schon elf« (JT: S. 1843), sagt sie einmal stolz und im Bewusstsein ihrer Reife von sich, an anderer Stelle heißt es bescheidener in kindlichem Ton »ich bin bloß elf Jahre alt« (JT: S. 1890). Ebenso wenig lässt Marie eindeutige Verhaltensweisen im Bereich der moralischen Position erkennen. So bestürzen Gesine die rassistischen und diskriminierenden Handlungen und Bemerkungen, die ihre Tochter Schwarzen entgegenbringt: »[S]ie ist imstande zu hochmütigem, herrschaftsmäßigem Ver168 Anita Krätzer : Studien zum Amerikabild in der neueren deutschen Literatur : Max Frisch – Uwe Johnson – Hans Magnus Enzensberger und das »Kursbuch«. Bern u. a.: Lang, 1982, S. 182. 169 Ebd., S. 182. 170 Ebd., S. 182. 171 Vgl. auch: »Wenn die USA für einen bis zur Naivität unbefangenen und ans Vergessen grenzenden Umgang mit der Vergangenheit stehen, so steht Marie für diese USA, die das Alte im Neuen restlos aufgehen lassen und daher keine Erinnerung nötig zu haben scheinen.« (Günter Butzer : Fehlende Trauer. München: Fink, 1998, S. 125) Zu Maries Naivität vgl. auch Beatrice Schulz: Versuch über Marie: Erste Schritte zu einem poetischen Prinzip der »Jahrestage«. In: Carsten Gansel und Nicolai Riedel (Hrsg.): Uwe Johnson zwischen Vormoderne und Postmoderne: Internationales Uwe Johnson Symposium 22.–24. 9. 1994. Berlin, New York: de Gruyter, 1995, S. 217 – 232, hier S. 217.
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halten gegen Neger« (JT: S. 343 f.) und bezeichnet ihre schwarze Mitschülerin Francine als »gefärbt« (JT: S. 218) und »häßlich« (JT: S. 220). Die ethischen Wertvorstellungen ihrer Mutter von der Gleichheit aller Menschen kommentiert sie salopp: »Meine Mutter denkt, daß die Neger gleiche Rechte haben, und da hört sie auf zu denken.« (JT: S. 24)172 Moralisch anfechtbar und »unaufrichtig« (vgl. JT: S. 493) verhält sich Marie auch in Hinblick auf den Vietnamkrieg. So setzt sie sich in einer Unterrichtsstunde durchaus gegen den Vietnamkrieg ein, tut dies aber nicht vorbehaltlos, sondern sichert zuvor ihr Vorhaben bei ihren Freundinnen ab, um deren »Freundschaft nicht zu riskieren« (JT: S. 493). Doch auf der anderen Seite ist Marie ohne Einschränkung imstande zu moralischem Engagement. Im Supermarkt etwa bemerkt sie die »Schummelei« (JT: S. 68) einer Kassiererin bei der Herausgabe von Wechselgeld und »[weist] den Schwindel nach[]« (JT: S. 68). Ihre Einsatzbereitschaft geht aber noch weiter. So lässt sich eine »Hinneigung der Schülerin zur Parteinahme, zur fast moralischen Solidarisierung mit Unterlegenen in geschichtlichen Vorgängen« (JT: S. 313) beobachten. Dies betrifft die »Behandlung der Indianer durch Amerikas Eroberer« (JT: S. 312), über die sie »eine Empörung [hatte] laut werden lassen« (JT: S. 312), aber auch – bei aller Widersprüchlichkeit zu den gerade angestellten Beobachtungen – den Krieg in Vietnam (vgl. JT: S. 313). Maries latenter Rassismus wiederum steht im Widerspruch zu ihrer früheren Freundschaft mit dem gewalttätigen und psychisch kranken schwarzen Jungen Edmondo (vgl. JT: S. 439), an den sie immer wieder denken muss, ebenso zu ihrer Bereitschaft, von ihren Blumen einige an ein fremdes puertoricanisches Mädchen zu verschenken (vgl. JT: S. 1393),173 sowie zur sich herausbildenden Fürsorglichkeit, die sie Francine letztendlich entgegenbringt. Nicht nur in Hinblick auf ihre inneren Wesenszüge, auch was das äußere Erscheinungsbild anbelangt, lässt sich Marie nur ungern auf eine Position festlegen. So wird die Farbe ihrer Augen auffallend häufig mit dem Gegensatzpaar grau und grün beschrieben. »Die Augen grau und grün, nach dem Licht« (JT: S. 499), so versucht Gesine dem früheren Lehrer Kliefoth ihre Tochter zu beschreiben.174 Während die Farbe ›grün‹ allgemeinhin die Aspekte des Auf-
172 Zu Maries Unmoral vgl. Anita Krätzer : Studien zum Amerikabild in der neueren deutschen Literatur : Max Frisch – Uwe Johnson – Hans Magnus Enzensberger und das »Kursbuch«. Bern u. a.: Lang, 1982, S. 139 f., S. 182, S. 184. 173 Zu den letztgenannten zwei Textbeispielen und zu Maries Moral siehe ausführlich Annekatrin Klaus: »Sie haben ein Gedächtnis wie ein Mann, Mrs. Cresspahl!« Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1999, S. 318 ff. 174 Der Kellner im Restaurant am Kennedy Airport wiederum vergleicht die Augen von Mutter und Tochter und stellt fest: »Grau und grüne Augen, anders als die der Mutter.« (JT: S. 1087) Von zwei Badegästen im Schwimmbad des Hotels Marseille, die sich über Gesine unterhalten, berichtet »Marie, der die grau und grünen Augen ganz fürsorglich geworden sind«
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keimenden und Wachsenden, der Hoffnung und des Lebens impliziert,175 wird ›grau‹ mit Melancholie und Hoffnungslosigkeit, Alter und Tod assoziiert.176 177 Auch darüber, ob Marie ihrem Vater Jakob gleicht, findet man widersprüchliche Aussagen. »Sie sieht ihrem Vater nicht ähnlich« (JT: S. 25), lautet eine Beschreibung Maries zu Beginn des Romans, während an anderer Stelle zu lesen ist, »daß sie [Marie, Anm. d. V.] zurücklächelt wie Jakob« (JT: S. 478) und Gesine »in ihrem Gesicht den Vater [sieht]« (JT: S. 499). Deutlich wird die Dialektik Maries nicht zuletzt auch in Hinblick auf die Frage nach der Ähnlichkeit von Mutter und Tochter, auch diese lässt sich nicht eindeutig beantworten: »Wir sind einander nicht ähnlich« (JT: S. 203), darauf besteht Marie, doch Bekannte der Cresspahls erblicken in Maries Gesicht Züge der Mutter (JT: S. 499) und Gesine vermutet: »Einmal wird das Kind aussehen wie ich« (JT: S. 478). Nicht zuletzt der Name ›Marie‹ enthält einen Widerspruch in sich, meint er doch nicht allein »die Schöne«,178 sondern ebenso »die Bittere«,179 also die Traurige und Betrübte. Ein bitteres Gesicht wird sich – folgt man der Logik von Schillers Bewegungsästhetik der Anmut – nicht durch eben jene freien harmonischen und unbeschwert-leichten Züge auszeichnen, wie es für das Schöne charakteristisch ist. Auf den Widerspruch im Namen ›Marie‹ macht Johnson in den Jahrestagen mit deutlich hervorgehobenen Lettern aufmerksam: »MORGEN TEILWEISE SONNIG« (JT: S. 1339, Herv. i. O.) – so wird der Vorname Maries bildlich in Szene gesetzt. Nur »teilweise sonnig«, lautet die metaphorische Wettervorhersage, der durch das »teilweise« angedeutete Gegenpart des bewölkten, verfinsterten, trüben Himmels ist vom Leser hinzuzudenken. Die Ambivalenz des Namens ›Marie‹, der in sich die Antipoden des Sonnigen und Betrübten, Schönen und Bitteren vereint, wird weiterhin dadurch sichtbar, dass ›Marie‹ bzw. die verwandte Namensform ›Maria‹ einer der wenigen Namen ist, die sowohl Frauen als auch Männer tragen können.180 Kindlich-naiv oder erwachsen-reflektierend? Moralisch oder unmoralisch?
175 176 177 178 179 180
(JT: S. 489). Vgl. auch JT: S. 1108 und S. 323. Auch das Fell der Katze ist »grau und grün[]« (JT: S. 358). Philip Ajouri: Grün. In: Günter Butzer und Joachim Jacob (Hrsg.): Metzler Lexikon literarischer Symbole. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2008, S. 140 – 141. Gerhard Kurz: Grau. In: Günter Butzer und Joachim Jacob (Hrsg.): Metzler Lexikon literarischer Symbole. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2008, S. 137 – 138. Eine andere Deutung der Farbe »›graugrün‹« entwickelt Frank Mardaus: Fotografische Zeichen: Uwe Johnsons Bildprogramm in den »Jahrestagen«. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2008, S. 120 f. Joachim Schäfer : Ökumenisches Heiligenlexikon: http://www.heiligenlexikon.de (07. 07. 2013), hier http://www.heiligenlexikon.de/BiographienM/Maria.htm. Ebd. Zu ›Maria‹ als einer sowohl weiblichen als auch männlichen Namensform siehe Wilfried Seibicke: Historisches Deutsches Vornamenbuch. Bd. 3: L–Sa. Berlin, New York: de Gruyter, 1998 – 2000, S. 213.
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Grau oder grün? Marie lässt sich nicht auf eine »bestimmte[] Position«181 festlegen, vielmehr kommt der »Verdacht auf […], Marie ließe alles mit sich machen«.182 Aber gerade indem sich Marie jeglichen Bestimmungen und Determinationen entzieht, bewahrt sie ihre Freiheit und Autonomie. In diesem Sinn hat Beatrice Schulz Marie zutreffend als »Freiheitsprinzip«183 beschrieben. Obwohl Schulz in ihrer Analyse zur Figur der Marie keinen Bezug zu Schillers Ästhetik herstellt, kommt ihre Deutung zentralen Aspekten der Schiller’schen Schönheitslehre implizit sehr nahe. So bringt sie Marie nicht nur mit dem Konzept der Freiheit und Nicht-Determiniertheit in Verbindung, sondern darüber hinaus auch mit einem nicht näher definierten Spielbegriff: »Bald als weise Kritikerin, bald mit Dummheiten im Kopf«, so schreibt Schulz, »kann sie [Marie, Anm. d. V.] Kostüme in vielen Farben tragen. Als Joker im Spiel ist Marie eine Karte, die in jedem Augenblick gespielt werden kann, aber nicht muß«.184 Diese Freiheit Maries, prinzipiell nicht auf eine Haltung fixiert zu sein, enthält – die Gegensätze des Kindlichen und Unkindlichen, Moralischen und Unmoralischen, Grünen und Grauen machen dies bereits deutlich – eine dialektische Pendelbewegung zwischen zwei divergierenden Polen. Damit ist aber zugleich ein Charakteristikum des Schönen und des Spieltriebs bezeichnet, die ebenfalls zwei gegensätzliche Prinzipien in sich vereinen. Wie dem Schönen bei Schiller, so wohnt auch Marie ein »offenbare[r] Widerspruch« (ÄE: S. 627) inne. Marie, das unmoralisch-moralische, unkindliche Kind »mit den grünen, mit den grauen Augen« (JT: S. 1108), vermittelt zwischen Gegensätzen, die sich einander auszuschließen scheinen, und vereint sie in ihrer Person. 9.2.1.3 »Du warst doch dabei, wenn in einem Moment Geschichte gemacht wurde. Ob ich es jemals erleben werde?« – Maries scheinbare Geschichtslosigkeit Trotz ihrer politischen Informiertheit erkennt Marie auf eine fast naive Weise nicht, dass sie, wie jeder Mensch, in einer geschichtlichen Sphäre lebt. Sie wähnt sich selbst frei, außerhalb und nicht determiniert von historischen Zeitumständen. »Ganz zu Beginn der Jahrestage«, so schreibt Ulrich Krellner in diesem Sinn, »versteht sich Marie als ein ›autonome[s] Subjekt‹, das von jedweden – und gleich gar historischen – Abhängigkeiten völlig frei ist und deshalb unabhängig 181 Beatrice Schulz: Versuch über Marie: Erste Schritte zu einem poetischen Prinzip der »Jahrestage«. In: Carsten Gansel und Nicolai Riedel (Hrsg.): Uwe Johnson zwischen Vormoderne und Postmoderne: Internationales Uwe Johnson Symposium 22.–24. 9. 1994. Berlin, New York: de Gruyter, 1995, S. 217 – 232, hier S. 219. 182 Ebd., S. 231. 183 Ebd., S. 219. 184 Ebd., S. 218.
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agieren kann.«185 Für sie »existiert noch nicht einmal eine individuelle Geschichte«,186 sie erscheint »als einzige nicht weiter determiniert«187 und »ohne nähere Bestimmung: ›ein Kind‹«.188 »[D]u warst doch dabei, wenn in einem Moment Geschichte gemacht wurde«, beginnt Marie ihre Frage an die Mutter, »[o]b ich es jemals erleben werde?« (JT: S. 939) Ihre Uhr, Symbol für Zeit und Geschichtlichkeit, trägt sie versteckt und als Schmuck getarnt »in []einem blauen Lederetui an einem Band um den Hals […] wie ein Medaillon« (JT: S. 1590). Den geschichtlichen Determinismus, wie sie ihn an ihrer Mutter sich vollziehen sieht, empfindet sie als furchtbar : »Oft finde ich schrecklich, wie du glauben kannst, daß alle diese Leute […] dich gemacht haben« (JT: S. 562).189 Marie ist sich bestimmter geschichtlicher Umstände einfach nicht bewusst; sie sind nicht wirklich für sie. So kann sie den Krieg in Vietnam, obwohl sie von ihm weiß, einfach nicht als tatsächlich existent wahrnehmen. »Ihr fehlt zu dem Krieg, daß sie ihn sieht. Sie kann den Krieg in Viet Nam nicht sehen« (JT: S. 492), sagt Gesine von ihrer Tochter.190 Wenn Marie über den Krieg spricht, dann geschieht dies »auf eine nicht verbindliche Weise« (JT: S. 1024 f.), persönlich tangiert sie der Konflikt ihres Landes im fernen Osten nicht. Unter den Bildausschnitten, die sie aus der New York Times sammelt, befinden sich zwar auch einige von Vietnam, häufig aber interpretiert sie die Abbildungen falsch, wie Gesine feststellt: Das eine [Bild, Anm. d. V.] war eine Ansicht des Chinesenviertels von Saigon. Die Bomben, Brände, Straßenkämpfe haben ziemlich gleichmäßige Trümmer übrig gelassen, und da die Fotografie überdies nicht deutlich ist, hast du [Marie, Anm. d. V.] da nicht die Reste menschlicher Wohnstätten vermutet, sondern eine Müllkippe, in deren Hintergrund aus etwas Waldähnlichem Feuer und dicker Rauch aufsteigt. (JT: S. 687)191 185 Ulrich Krellner : »Was ich im Gedächtnis ertrage«. Untersuchungen zum Erinnerungskonzept von Uwe Johnsons Erzählwerk. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2003, S. 307. Siehe auch Siemon, den Krellner hier zitiert: Johann Siemon: Liebe Marie, dear Mary, dorogaja Marija. Das Kind als Hoffnungsträger in Uwe Johnsons Jahrestage. In: Johnson-Jahrbuch 3 (1996), S. 123 – 145, hier S. 137. 186 Ulrich Krellner : »Was ich im Gedächtnis ertrage«. Untersuchungen zum Erinnerungskonzept von Uwe Johnsons Erzählwerk. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2003, S. 333. 187 Ebd., S. 342. 188 Ebd., S. 342. Krellner verweist an dieser Stelle auf Johann Siemon: Liebe Marie, dear Mary, dorogaja Marija. Das Kind als Hoffnungsträger in Uwe Johnsons Jahrestage. In: JohnsonJahrbuch 3 (1996), S. 123 – 145, hier S. 143. Entgegen Krellner und Siemon sei hier angemerkt, das diese Feststellung gerade für das Ende des Romans nicht mehr gilt, wie im weiteren Verlauf dieser Arbeit gezeigt wird. 189 Zur Deutung des letztgenannten Zitats siehe Ulrich Krellner : »Was ich im Gedächtnis ertrage«. Untersuchungen zum Erinnerungskonzept von Uwe Johnsons Erzählwerk. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2003, S. 308. 190 Vgl. auch JT: S. 551. 191 Vgl. auch die Beschreibungen der anderen Bilder, die Marie übersieht: JT: S. 688.
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Auch die Gefahren New Yorks kann Marie nicht einschätzen. Sie ist »gar nicht ängstlich« (JT: S. 141) in der Großstadt, »es könne uns in New York nicht[s] zustoßen« (JT: S. 687), davon ist sie überzeugt. So will Marie das Vorurteil […] die Subway sei nicht gut für Kinder ohne Begleitung […] nicht wahrhaben. […] Sie hält nicht für möglich, daß ihr auch nur Einer der zweieinviertel Millionen Fahrgäste am Tag gefährlich werden könnte, und daß sie nicht schlauer und fixer ist als alle zusammen. Sie sieht sich nicht. Wenn sie unterwegs ist, sehe ich ein mageres Mädchen […] Zumindest sieht sie aus als könnte sie sich nicht wehren. Das will sie nicht wahrhaben. (JT: S. 372 f.)
Einen Besuch bei Gesines Arbeitgeber de Rosny wiederum, der schon seinem Namen zufolge »bedrohlich« (JT: S. 1746) und »ungeheuer[lich]« (JT: S. 1746) wie eine »Riesenschlange« (JT: S. 1746) ist, findet Marie schlicht nett und »versteht den ganzen Abend als einen Besuch unter Freunden« (JT: S. 462). Sie durchschaut nicht, dass es sich nicht um ein harmloses freundschaftliches Abendessen, sondern insgeheim um »eine rasante, unbarmherzige Prüfung« (JT: S. 462) handelt, ob die Mutter »das Finanzsystem der C.S.S.R. richtig und vollständig verstanden« (JT: S. 462) hat. »Sie versteht gar nichts« (JT: S. 461), resümiert Gesine den Abend, »[s]ie begreift nicht, daß wir von diesem Menschen abhängen.« (JT: S. 461)192 Ähnlich wie Ingrid zu Beginn der Handlung, so verwechselt auch Marie zuweilen den Ernst der Geschichte mit einem heiteren Spiel. Die »Parade für den Frieden am Central Park« (JT: S. 1069) etwa, an der mitzuwirken Marie sich wünscht, nimmt diese in erster Linie als eine belustigende und amüsante Veranstaltung wahr : »Alle waren fröhlich, wie auf einem Ausflug.« (JT: S. 1073) Marie, die zur Demonstration halb verkleidet als »Indianermädchen« (JT: S. 1070) antritt, findet Gefallen daran, die karnevaleske »Show […] junger Mädchen in vietnamesischer Kleidung« (JT: S. 1073) anzuschauen und möchte – ihren sich als unehrlich entpuppenden konsumkritischen Bemerkungen zum Trotz – dabei Luftballons und Anstecknadeln kaufen (JT: S. 1071). Überdies trägt »sie die Plakette GEHT RAUS AUS VIET NAM nur so lange angesteckt […], wie die Mode in ihrer Klasse sich hielt« (JT: S. 493, Herv. i. O.). Was Gesine über die Parade und ihre Teilnehmer denkt, gilt ebenso für Marie: »Und als ob es [ihr] doch nicht ernst wäre.« (JT: S. 1073) Den Ernst übersieht Marie auch beim Dinner im Haus de Rosnys. Der schwarze Chauffeur Arthur, der Gesine und Marie fährt, wenig später »die Tür offenhält und in gebückter Haltung stehenbleibt« (JT: S. 461), sodann die Gesellschaft bei Tisch bedient, hat im Leben wenig zu lachen und ist auf eine »würdig[e]« (JT: S. 916) Lebenshaltung ange192 Zu Maries Missverständnis des Abends bei de Rosny vgl. Sigrun Storz-Sahl: Erinnerung und Erfahrung: Geschichtsphilosophie und ästhetische Erfahrung in Uwe Johnsons Jahrestagen. Frankfurt a. M.: Lang, 1988, S. 73.
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wiesen, und doch »findet [Marie] die Verwandlung des Fahrers in einen Diener schlicht lustig und zwinkert ihm zu« (JT: S. 462). Den ernsten Charakter seiner Lebensumstände scheint sie zu übersehen. Sein Leben und seine Arbeit sind kein Spiel, wären sie es, kämen sie den Prinzipien von »Mensch Ärgere Dich Nicht« (JT: S. 916) gewiss sehr nahe. Auf der South-Ferry wiederum beobachtet Marie ein »Negermädchen, so alt wie sie, das ein zweijähriges Kind auf der Hüfte mitschleppte« (JT: S. 92) und deutet es als »Kind […], das Mutter spielt« (JT: S. 92). Ungebetene Anrufer lernt Marie am Telefon mit Lügen abzuweisen und hat Vergnügen an dem »neue[n] Spiel« (JT: S. 277). Als der mit Gesine bekannte Journalist Karsch »mit den Leuten von der Mafia [zu] spielen« (JT: S. 325) beginnt, ist Marie mit von der Partie. Und als sie später über den Tod Kennedys in große Trauer gerät, beginnt D.E. ein »Spiel mit Marie« (JT: S. 1319): Am Fernseh-Bildschirm versuchen sie schneller als der jeweils andere, »die Bewandtnisse der Würdenträger [zu] erkenn[en]« (JT: S. 1319), die zur Trauerfeier in die Kathedrale gehen. Nicht zuletzt wird das aus Ingrid Babendererde bekannte Spiel mit Spitznamen in den Jahrestagen erneut aufgenommen. So nennt Marie den Lebensgefährten der Mutter Dietrich Erichson um in ›D.E.‹: »Prof. Dr. Dr. D. Erichson […] bekam vorläufig nur den Namen D.E., weil Marie das gern mochte, den winzigen Schluckauf zwischen einem amerikanischen Laut für D und E. Di-i.« (JT: S. 1879 f.)193 Die Bezeichnung ›D.E.‹ überdeckt die Person Dietrich Erichson und sein früheres Leben in Mecklenburg, beides würde er am liebsten vergessen, und spiegelt ihm eine neue amerikanische Identität vor. Wenn Marie »Na, D.E?« (JT: S. 534) sagt, so ist dies eine direkte Anspielung auf Ingrid, welche Direktor Robert Siebmann auf dem Schulmaskenball die Worte: »Na, Pius?« (IB: S. 92) zuruft. Das spielerische, freiheitliche Moment, durch das Marie sich in kindlicher Weise der ernsten Geschichte zu entziehen sucht, kommt auch in ihrem Rezeptionsverhalten gegenüber den Erzählungen Gesines von der mecklenburgischen Vergangenheit zum Ausdruck. Sie begreift oft nicht, dass ihre Mutter aus der Wirklichkeit erzählt, wie sie auch selbst wiederholt eingesteht: »Das verstehe ich nicht.« (JT: S. 183)194 Das Geschichtenerzählen – »Erzähl es mir! Erzähl es mir!« (JT: S. 810) – hat über weite Strecken vielmehr den Anschein eines »Spiel[s]« (JT: S. 560). Dies nimmt offensichtlich auch Gesines Bekannte Annie Fleury so wahr, als diese während eines Besuchs bei den Cresspahls das Ritual des Geschichtenerzählens beobachtet, um schließlich zu fragen: »– Darf ich hier 193 Vgl. auch: »Sogar diesen Namen hat D.E. von ihr, weil sie den geringen Schluckauf zwischen ›Di‹ und ›I‹ genießt.« (JT: S. 44) 194 Vgl. auch: »– Erzähl es mir! Erzähl es mir! Warum hast du mir das nicht früher erzählt – Hättest du es verstanden? – Nein. Ich versteh es ja auch jetzt nicht. Erzähl es mir.« (JT: S. 810); »was ich erst später verstehe« (JT: S. 151).
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mitspielen?« (JT: S. 589) Zuweilen inszeniert selbst Gesine ihre Berichte als sportlichen Wettkampf, um das Interesse der Tochter an der Vergangenheit zu wecken und aufrechtzuerhalten: »– Spielstand unverändert« (JT: S. 456), verkündet sie in der Rolle des Schiedsrichters die aktuelle Punkteverteilung. Marie selbst nimmt Gesines Erzählung im doppelten Sinn des Wortes als eine Geschichte wahr, als Märchen. Marie besteht darauf, daß ich ihr weiter erzähle wie es gewesen sein mag, als Großmutter den Großvater nahm. […] Aber was sie wissen will ist nicht Vergangenheit, nicht einmal ihre. Für sie ist es eine Vorführung von Möglichkeiten, gegen die sie sich gefeit glaubt, und in einem andern Sinn Geschichten. (JT: S. 143 f.)
So spricht Marie auch von der sich harmlos anhörenden »Geschichte mit der Regentonne« (JT: S. 615), hinter der sich jedoch Gesines Kindheitstrauma – ihre Mutter Lisbeth wollte ihre dreijährige Tochter in der Regentonne ertrinken lassen – verbirgt. Weiterhin macht Marie ernste Geschichte zur Fiktion, wenn sie Gesine unterstellt, sie dichte (vgl. JT: S. 832), worauf diese entgegnet: »Hier wird nicht gedichtet.« (JT: S. 832) Marie will nicht akzeptieren, dass die von der Mutter erzählte deutsche Historie ein Stück weit auch ihre Geschichte ist. »Nun erzähl mir was, das geht mich gar nichts an« (JT: S. 1369), fordert sie die Mutter zum Erzählen auf. Deutlich hält sie Abstand von den Personen, mit denen sie verwandt ist. So spricht sie von ihrer Großmutter Lisbeth als »diese Lisbeth Cresspahl, deine Mutter« (JT: S. 150) und ignoriert Gesines Hinweis, dass Lisbeth zugleich ihre Großmutter ist (vgl. JT: S. 151). Ausdrücklich distanziert sie sich auch von der deutschen Vergangenheit und von der deutschen Schuld: »eure[] Juden. Sechs Millionen« (JT: S. 1032). Über Robert Papenbrock, Nationalsozialist und Gesines Onkel, redet sie, »als sei sie da gefeit gegen Verwandtschaft« (JT: S. 560). Marie, die Amerikanerin, wähnt sich frei von deutscher Geschichte und der Verantwortung ihr gegenüber. Sie verleugnet ihre Herkunft, sie will nicht in die Historie hineingezogen werden, sie weist ihr deutsches Schuldvermächtnis entschieden zurück. Zum Ausdruck kommt dies durch die Ablehnung ihres Erbes, Gesines Jerichower Elternhaus, das im übertragenen Sinn für die mecklenburgisch-deutsche Geschichte steht. Gesines Mitteilung »[s]o steht es [das Haus, Anm. d. V.] in Jerichow, und wird dein Erbe sein.« (JT: S. 540) entgegnet sie: »Das will ich nicht.« (JT: S. 540) Sie schämt sich dafür, in Deutschland geboren zu sein und nicht in den USA (vgl. JT: S. 189) und sie schämt sich der deutschen Sprache, die ihre Herkunft verrät und die sie spricht, »als hätte sie Schmerzen im Hals« (JT: S. 500).195 195 Vgl. »Längst bewegte sie [Marie, Anm. d. V.] sich im Deutschen wie in einer ersten Fremdsprache« (JT: S. 1023); »Das Deutsche sprechen Cresspahls nur noch unter sich, darauf besteht diese Marie« (JT: S. 489).
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Häufig will Marie die tragischen geschichtlichen Begebenheiten, wie sie sich zugetragen haben, nicht wahrhaben. Für sie sind es »Schrullen« (JT: S. 689) der Mutter. Manchmal fordert sie von Gesine, wenn ihr etwas nicht gefällt, einen Teil der Geschichte anders zu schildern – »[d]u sollst es anders erzählen« (JT: S. 299) oder unterstellt ihr, sie lüge: »vertell. Du lüchst so schön!« (JT: S. 1651) Die Verhandlung über den Ablauf von Geschichte ist ein großer Bestandteil dieser Mutter-Tochter-Gespräche. »– Ich mag nicht was nun folgt: sagt Marie: Kannst du es nicht ändern? […] Kannst du es nicht anders erzählen?« (JT: S. 296 f.) sind typische Kommentare des Mädchens, die den gesamten Roman durchziehen.196 Über Heinrich Cresspahl, der in der DDR durch die russischen Besatzer im Keller unter dem Rathaus gefangen gehalten wurde, sagt Marie: »Lüg du nur weiter, Gesine. Und sie brachten ihm dahin ein Tablett mit Abendbrot« (JT: S. 1215) und sie überhört Gesines ironischen Einwand: »Das mochten sie vergessen haben« (JT: S. 1215). Als Gesine wiederum erzählt, dass Cresspahl für die britische Abwehr arbeitete, ist Marie damit auch nicht einverstanden, weil sie, die mit ihrem Land eins ist, nicht wahrhaben will, dass jemand seine Heimat verrät: »Das paßt mir nicht: sagt Marie mürrisch, aufgebracht.« (JT: S. 809) Die Erzählung von Gesines Onkel, dem Nationalsozialisten Robert Papenbrock, kommentiert sie lakonisch: »Das gebe ich dir ja zu. Schlecht ausgedacht ist es nicht.« (JT: S. 560)197 Wie sehr Marie die Vergangenheit in ihrem Sinne umzuändern wünscht, wird auch deutlich am »Puppenhaus« (JT: S. 1109), einer von ihr selbst als Neujahrsgeschenk für ihre Mutter gebastelten Nachbildung des Hauses in Jerichow, das sie mit Möbeln aus dem »Museum of the City of New York« (JT: S. 1109) eingerichtet hat. Sie baut die Vergangenheit in ihrem Sinn nach und um (JT: S. 540). Den Ausruf ihrer Mutter »– Es ist unser Haus, Marie« (JT: S. 538) korrigiert sie: »Es soll nicht dein Haus sein! es ist nur, was ich verstanden habe!« (JT: S. 538) In diesem Modell des Jerichower Hauses wird der Krieg, wird die Geschichte, wie sie stattgefunden hat, verleugnet: 196 Zu Maries Änderungswünschen vgl. Walter Schmitz: Uwe Johnson. München: Beck, 1984, S. 93; Ulrich Krellner : »Was ich im Gedächtnis ertrage«. Untersuchungen zum Erinnerungskonzept von Uwe Johnsons Erzählwerk. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2003, S. 304; Günter Butzer : Fehlende Trauer. München: Fink, 1998, S. 106, S. 108; Hille Haker : Moralische Identität: Literarische Lebensgeschichten als Medium ethischer Reflexion. Mit einer Interpretation der Jahrestage von Uwe Johnson. Tübingen, Basel: Francke, 1999, S. 213. 197 Vgl. auch: »– Damit du dem Kind von Cresspahl anlügst, daß es auch weinte beim Nägelschneiden« (JT: S. 457); »– Mach Cresspahl unschuldig, Gesine. Wenn du ein wenig lügen könntest.« (JT: S. 1215); »– Es gefällt mir nicht: sagt Marie. […] – Das soll ich ändern? – Du sollst es anders erzählen.« (JT: S. 299); »– Mehr ändern kann ich es nicht.« (JT: S. 300); »– Du kennst mich, Gesine. Du weißt: auf Väter falle ich herein.« (JT: S. 985); »Das hat jetzt ein Ende mit dem Anlügen.« (JT: S. 454); »– Es gefällt mir nicht: sagt Marie.« (JT: S. 607) Vgl. ebenso JT: S. 1354, S. 1542, S. 860, S. 560 – 563.
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Auf dem Dachboden, in den Abseiten, stehen hölzerne Kisten, Koffern nicht ähnlich, das bei Cresspahl abgestellte Flüchtlingsgepäck, und Marie erklärt, als sei dies ein Stück unbekanntes Altertum: Offenbar unternahmen die Bewohner des öfteren Reisen, ich meine außerhalb der Statistik. […] Wenn sie kann, lügt sie, macht aus der Franzosenkammer [die Kammer der Kriegsgefangenen, vgl. JT: S. 540, Anm. d. V.] eine Nähstube und aus der Speisekammer eine Werkstatt (JT: S. 1109 f.).198
Die Geschichte wird hier in den Bereich des Schönen und des Spiels projiziert, Marie hat beim Anfertigen »Plattenmusik« (JT: S. 538) gehört. Als sie das Haus auf dem Schulbasar vor »Publikum« (JT: S. 1109) und »Zuschauer[n]« (JT: S. 1110) präsentiert, erhält das Ganze so etwas wie einen Vorstellungscharakter. Wie das Schöne, so hat auch das Haus »keinen Zweck« (JT: S. 442), wie Francine feststellt, es ist allein »zum Spielen« (JT: S. 1109).
9.2.2 »Hinweg mit der falsch verstandenen Schonung«: Marie kommt zur Vernunft 9.2.2.1 »Gelernt ist gelernt«: Gesines Erzählung als ästhetische Erziehung zum Erhabenen Einige Johnson-Forscher vertreten die Ansicht, Marie ziehe keine Lektion aus Gesines Erzählung. Günther Butzer etwa stellt fest: »Marie aber wehrt sich vehement dagegen, Lehren aus einer ihr fremden Geschichte für ihre eigene Gegenwart zu ziehen«.199 Ingeborg Gerlach argumentiert wiederum, Gesine wolle ihr Kind zwar vor Blindheit bewahren, dennoch reiße die Kette der Verblendung nicht ab.200 Dem ist zu widersprechen. Während der Gespräche zwischen Mutter und Tochter, die der Leser über ein Jahr verfolgen kann, lässt sich eine Veränderung in Maries Position sowie in ihrem Rezeptionsverhalten gegenüber Gesines Bericht bemerken:201 Sie entfernt sich, allerdings nicht in einem streng linearen Prozess, sondern mit Schwankungen und Verzögerungen, allmählich vom Standpunkt einer – im Leben nicht realisierbaren und fragwürdigen – Versöhnungsästhetik und nähert sich einer erhabenen Ästhetik des Verlusts an. Gesines an Marie gerichtete Erzählung aus der Vergangenheit entpuppt sich im Verlauf des Romans als ästhetische Erziehung zum Erhabenen. Auch Ulrich 198 Zum Modellhaus vgl. Günter Butzer : Fehlende Trauer. München: Fink, 1998, S. 127 f. 199 Ebd., S. 121. 200 Ingeborg Gerlach: Auf der Suche nach der verlorenen Identität. Scriptor Verlag, 1980, S. 25 f. 201 Auch Schiffer bemerkt während »der kurzen Erzählzeit von 365 Tagen […] eine Wandlung in Marie« (Eva Schiffer : Politisches Engagement oder Resignation? Weiteres zu Uwe Johnsons Jahrestagen. In: Wolfgang Paulsen (Hrsg.): Der deutsche Roman und seine historischen und politischen Bedingungen. Bern: Francke, 1977, S. 236 – 246, hier S. 239).
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Krellner erkennt die »Bereitschaft Maries, sich ›erziehen‹ zu lassen«,202 er spricht gar von einem »Erziehungsprozeß«,203 der in den Jahrestagen stattfindet. Die Berichte von der Zeit des Zweiten Weltkriegs, des Holocausts, der Nachkriegszeit und DDR-Diktatur konfrontieren Marie, die bislang noch von Schicksalsschlägen verschont geblieben ist, künstlich und durch die ästhetische Distanz der Erzählung mit furcht- oder leidauslösenden Ereignissen und bereiten sie damit auf den Umgang mit Unglück im eigenen Leben und die Ausbildung einer erhabenen Gesinnung vor. Der erste Schritt dieses Lernverhaltens offenbart sich dadurch, dass Marie die Geschichte der Vergangenheit, aber auch der Gegenwart, zu akzeptieren beginnt und nicht mehr als Spiel begreift. So ermahnt Marie Gesine, als diese ihrer Tochter zuliebe das Erzählen als sportlichen Wettkampf gestaltet und den aktuellen »Spielstand« (JT: S. 456) verkündet: »– Das ist kein Spiel, Gesine!« (JT: S. 456) Maries spielerische Sichtweise auf die Historie ist zum Scheitern verurteilt, dies wird schon dadurch ersichtlich, dass Marie ihr Neujahrsgeschenk für die Mutter, das als Spielhaus verkleidete und die mecklenburgische Familienund Zeitgeschichte repräsentierende Haus in Jerichow, mit einem weißen Laken, einem Leichentuch ähnlich, bedeckt. »Aber ein weißes Tuch wird auf Totes gelegt, auf Abgetanes, auf was nicht wiederkommt.« (JT: S. 538) Auch gibt Marie ihre Versuche auf, die Erzählungen der Mutter in ihrem Sinne verändern oder beschönigen zu wollen und gesteht ein, dass die Lügen, die sie Gesine beständig unterstellt, insgeheim dem eigenen Wunsch entspringen, das Erzählte möge nicht wahr sein. »Und ich hatte gehofft, du lügst. Du täuschst mich« (JT: S. 1095) räumt sie ein oder gesteht sich und ihrer Mutter, dass sie das vermeintlich Erdichtete als Tatsache vorzöge: »– Du, Gesine. Ich dachte, es ist ausgedacht. Ich bin ja einverstanden mit deinem Ausdenken, ich geb dir meine Unterschrift darauf; dies wär mir als Wahrheit lieber.« (JT: S. 810) Marie beginnt, Schonung und Ausblendung von Geschichte ganz im Schiller’schen Sinn zu beenden. »Also hinweg mit der falsch verstandenen Schonung […]«, so heißt es in Schillers Schrift Über das Erhabene, »um sich bei den Sinnen in Gunst zu setzen, eine Harmonie zwischen dem Wohlsein und Wohlverhalten lügt, wovon sich in der wirklichen Welt keine Spuren zeigen.« (ÜE: S. 837, Herv. i. O.) Angemerkt sei an dieser Stelle, dass der Begriff der ›Schonung‹ etymologisch verwandt mit dem des ›Schönen‹ ist.204 Die Aufgabe der Schonung geht somit Hand in Hand mit der Aufgabe des Schönen. Geschichten, die Marie bisher zurückgewiesen hat, zwingt sie sich nun anzuhören, selbst wenn es sich 202 Ulrich Krellner : »Was ich im Gedächtnis ertrage«. Untersuchungen zum Erinnerungskonzept von Uwe Johnsons Erzählwerk. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2003, S. 310, Anm. 412. 203 Ebd., S. 344. 204 Duden. Das Herkunftswörterbuch. Bd. 7. Mannheim u. a.: Dudenverlag, 2001, S. 736.
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um eine entsetzliche Begebenheit handelt »wie die von Kleinkindern, die in eine Wassertonne fallen« (JT: S. 1843). »Ich muß mir das abgewöhnen mit der Feigheit. Erzähl sie [die Geschichte, Anm. d. V.]« (JT: S. 1843), sagt sie auffordernd zu Gesine. Und Marie vernimmt, wie Jakobs Pferd, das »gutmütige Tier« (JT: S. 1844) vertrauensvoll, »munter, freundschaftlich nickend« (JT: S. 1844) dem Schlachter an den Ort seiner Hinrichtung folgt: Als ihm in der Küche das Bolzenschußgerät auf die Stirn gesetzt wurde, schloß es vertrauensvoll die Augen; dies war etwas Neues von den Menschen. Nach dem Tod, auf die Seite geschlagen, zuckten die Beine heftig, durcheinander, schlugen ausdauernd gegen den hallenden Boden. Das sah sich verzweifelt an (JT: S. 1844).
Wenn Marie einer Geschichte ausweichen möchte – »Mir reicht es« (JT: S. 1872)205 –, ermahnt Gesine sie mit den Worten: »Ertrag es.« (JT: S. 1872) Auf diese Weise erfährt ihre Tochter, die bis dahin im Glauben an ihre Selbstbestimmung der festen Überzeugung war, »New York sei [ihr] Entschluß« (JT: S. 1872) gewesen, den wahren Grund für die Übersiedlung der Cresspahls von Deutschland in die USA: das Wiedererstarken der Nationalsozialisten in Westdeutschland, die Schändungen einer Synagoge mit Hakenkreuzen und Gesines Bedürfnis, das Land zu verlassen (JT: S. 1872). Als Gesine von der sowjetischen Besatzungszeit in Mecklenburg erzählt, von der Inhaftierung und Misshandlung ihres Vaters sowie der Verschleppung Slatas206 und ihres Sohnes in ein Lager in der Sowjetunion, wo der dreijährige Fedja schließlich stirbt, will Marie ihre auf Tonband aufgezeichneten Einwände – »[e]s stieß ihm [Cresspahl, Anm. d. V.] irrtümlich zu, Gesine« (JT: S. 1342), »[e]s ist Slata irrtümlich zugestoßen, Gesine« (JT: S. 1344) – löschen, nachdem ihre Mutter ihren Korrekturen nicht zustimmen konnte: »Gesine, schieb das Band zurück bis zu Alma Witte. Ich will das alles nicht gesagt haben. Ich will darüber nachdenken dürfen.« (JT: S. 1345) Mit der Zeit lernt Marie, der als übermächtig geschilderten Naturgewalt standzuhalten. Anstatt zu widersprechen, weist sie nun immer öfter auf ihren Lernfortschritt hin: »Ich geb es auf. Ich glaub’s« (JT: S. 1831) – »[k]ann ich, weiß ich von dir« (JT: S. 1834) – »[i]ch wollte dir beweisen, daß ich etwas einsehen kann« (JT: S. 1358).207 Solche bis dahin ungewohnten Kommentare aus dem 205 Vgl. auch: »Das nächste Mal, Gesine, wenn du mir eine Geschichte nicht erzählen willst, tu es nicht.« (JT: S. 619); »So eine Wassertonnengeschichte […] Erzähl sie mir nicht, Gesine.« (JT: S. 725); »Gesine, ist es schlechte Verwandtschaft, wenn ich das mit Cresspahl nicht im einzelnen hören mag?« (JT: S. 1342) 206 Zur Figur der Slata, die mit Gesines Onkel Robert Papenbrock einen Sohn hat, vgl. Rolf Michaelis: Kleines Adreßbuch für Jerichow und New York: Ein Register zu Uwe Johnsons Roman Jahrestage. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1983, S. 210 f. 207 Vgl. auch: »Wart es ab, Gesine. Wart es ab.« (JT: S. 1349); »sie [will] es annehmen als Lehrstoff« (JT: S. 1321); »Vielleicht lern ich aber, wie man es macht. […] Zeig mir was falsch ist! du bist verpflichtet zu meiner Erziehung.« (JT: S. 1092); »Oft ahne ich, daß ich
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Mund Maries häufen sich besonders im letzten Teil des Romans und führen ein sichtbar verändertes, nämlich nun einsichtiges Mädchen vor. Mit den Worten »Gelernt ist gelernt, Gesine. Sag es nur, wenn du willst« (JT: S. 1868) fordert Marie ihre Mutter geradezu auf, vom Abriss ihres Hauses in Düsseldorf, das für beide eine Heimat gewesen ist, zu berichten. Und schließlich erträgt sie auch die Geschichte von Jakobs mysteriösem Tod, die auszuhalten sie sich nun zutraut: »Gelernt ist gelernt, Gesine. Sag du es.« (JT: S. 1867) 9.2.2.2 »Wohl ihr, wenn sie gelernt hat zu ertragen, was sie nicht ändern kann«: Erste Begegnungen mit dem Seelenschmerz Was Marie sich auf »künstliche[m]« (ÜE: S. 837) Weg aneignet, nämlich leidauslösende Geschichten aus der Vergangenheit zu ertragen, ist Übung für ihr eigenes Leben. Durch Gesines Erzählung wird nach Schillers Theorie ihre Tochter vorbereitet auf den ersten Schicksalsschlag, D.E.s Tod, der in ihre scheinbar heile Welt hereinbrechen wird. Dass Zeit und Geschichtlichkeit auch in Maries Leben einfallen, dass sich »auch an ihr […] Geschichte weiter [vollzieht]«,208 darüber gibt bereits das Uhrenmotiv Auskunft. So enthält jene Uhr, die Marie zu ihrem elften Geburtstag von Gesines Freundin Anita Gantlik als Geschenk erhält und sich wie ein Schmuckstück an einer Kette um den Hals tragen lässt (JT: S. 1590), zugleich einen Wecker, der ihr Bewusstsein für geschichtliche Vorgänge wachrütteln soll, wie sie dies selbst, noch bevor sie Gesines Bericht »als Lehrstoff [anzunehmen]« (JT: S. 1321) bereit sein wird, vorausahnt: »Der in diese Uhr eingebaute Wecker ist hoffentlich nicht gemeint, mich zu erziehen.« (JT: S. 1590) Doch genau dies ist die Absicht hinter dem Geschenk. Unter der schönen Scheinoberfläche des Schmucks verbirgt sich symbolisch eine tickende Zeitbombe; es ist nur eine Frage der Zeit, wann Maries Geschichte ›passieren‹ wird.209 Eine erste Vorahnung dafür, dass sie selbst nicht jenseits des Geschichtsprozesses existiert, sondern im Gegensatz ein Teil desselben ist, überkommt Marie, als ihr die gleich mehrfache Verbundenheit ihres eigenen Namens mit historischen Zusammenhängen bewusst wird. So heißt der militärische Flugplatz Jerichow Nord, auf dem Heinrich Cresspahl während des Zweiten Weltkriegs für die Deutschen tätig war, auch »Mariengabe« (JT: S. 984). In dem bereits erwähnten Interview mit der vierzehnjährigen Marie spricht ihr Geetwas verstehe.« (JT: S. 833); »Manchmal denke ich nur, ich begreife es, und kann mir das nicht glauben. Und es ist doch aus dem Leben meiner Mutter.« (JT: S. 592); »Verdammt! Ich glaub’s dir, Gesine.« (JT: S. 861); »Damit ich das lerne.« (JT: S. 1644) 208 Wolfgang Strehlow : Ästhetik des Widerspruchs: Versuche über Uwe Johnsons dialektische Schreibweise. Berlin: Akademie Verlag, 1993, S. 272. 209 Vgl.: »Wann wird Marie festgehalten sein in der Wiederholung? Wie oft noch einmal?« (JT: S. 915)
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sprächspartner diesen Sachverhalt an: »Dieser Flugplatz, der von 1935 bis 1938 in Jerichow gebaut wurde, hiess der zufällig Mariengabe?«, worauf sie zunächst scheinbar ahnungslos fragt: »Wieso zufällig?« »Weil du Marie heisst«, entgegnet der Interviewer. »Der Fliegerhorst«, so räumt sie schließlich ein, »hiess Mariengabe, weil er ein Dorf mit solchem Namen aufgefressen hatte.«210 In den Jahrestagen weist die Zehnjährige diese Namensverwandtschaft noch entschieden zurück und nennt ihrer Mutter auch den Grund für ihre Ablehnung: »Ich wünschte, du würdest sagen: Jerichow Nord. Es ist, als wolltest du mich mit meinem Namen hereinziehen.« (JT: S. 984) Noch ein weiterer historischer Ort trägt den Namen des Mädchens: das »westberliner Flüchtlingslager Marienfelde«,211 dort war »Gesine im Juni 1953 Gegenstand eines Notaufnahmeverfahrens«.212 Darüber hinaus ist ›Marie‹ auch der Name des in der Reichspogromnacht ermordeten jüdischen Mädchens aus der Familie Tannebaum. Auf eine Verschränkung der Figuren Marie Cresspahl und Marie Tannebaum über den gemeinsamen Vornamen hinaus macht Frank Mardaus aufmerksam:213 In einer späten Romanszene hastet Gesine mit der an hohem Fieber erkrankten Marie auf den Armen ins Krankenhaus. Deren Zöpfe »[schleiften] über dem schmutzigen Pflaster« (JT: S. 1884). Der Taxifahrer ruft Gesine hinterher : »Möge dein Kind verrecken, du deutsche Sau!« (JT: S. 1885) Mardaus weist darauf hin, dass in jener Nacht, als Marie Tannebaum von der SA erschossen wird, Frau Tannebaum ihre tote Tochter in einer ähnlichen Haltung trägt wie Gesine die schwerkranke Marie: Sie [Marie Tannebaum, Anm. d. V.] hatte lange schwarze Zöpfe, die nun fast bis aufs Pflaster hingen. Als sie der Mutter zu schwer wurde, glitt sie mit ihr in den Armen auf den Boden, immer gehorsam mit dem Rücken zur Wand, und fiel über ihr zusammen. Sie hielt ihr Kind immer noch wie eins, das bloß schläft und nicht aufwachen soll. (JT: S. 724)214
Nicht nur die Vergangenheit, auch die eigene Gegenwart beginnt Marie allmählich mit anderen Augen wahrzunehmen. Deutlich kommt die veränderte Sichtweise ihrer Umwelt durch den Schulaufsatz »Ich sehe aus dem Fenster« (JT: S. 177) zum Ausdruck. Sie beschreibt darin nicht, wie Gesine zunächst vermutet, den vor ihrer Wohnung gelegenen Riverside Park mit »Spielplatz, […] umstanden von den alten hochkronigen Bäumen, […] Rutschbahnen, Wippwapps, 210 Uwe Johnson: MARIE H. CRESSPAHL, 2.–3. Januar 1972. In: Eberhard Fahlke (Hrsg.): »Ich überlege mir die Geschichte…« Uwe Johnson im Gespräch. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1988, S. 90 – 110, hier S. 95. 211 Ebd., S. 100. 212 Ebd., S. 100. 213 Frank Mardaus: Fotografische Zeichen: Uwe Johnsons Bildprogramm in den »Jahrestagen«. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2008, S. 147 f. 214 Ebd., S. 147 f.
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Sandkästen, […] Schaukelgruppen« (JT: S. 177) – also Elementen des Spiels, der Heiterkeit und Unbeschwertheit sowie der scheinbar naiven Natur. Sie schildert im Gegensatz das brennende Haus, das sie im Jahr zuvor vom »Guten Eß Geschäft[]« (JT: S. 178) aus beobachtet hat. Sie schreibt von »Rauch« (JT: S. 178) und »Feuer« (JT: S. 178), von »Feuerwehr« (JT: S. 179), »Ambulanzen« (JT: S. 179) und »Polizei« (JT: S. 179). In ihrem Aufsatz, der mit den Worten endet: »Meine Mutter sagt, so ist es im Krieg« (JT: S. 179), stellt Marie eine »Beziehung zu dem Krieg in Viet Nam her« (JT: S. 313). Immer merklicher gelingt Marie auch die »Entlarvung ihrer politischen Idole«.215 Als Beispiel sei hier stellvertretend der Bürgermeister New Yorks, John Vliet Lindsay, genannt. Lindsay, den Marie wie einen Popstar verehrt, zu ihren besten Freunden zählt (JT: S. 25) und über den sie ein Sammelalbum mit Bildern angelegt hat, wird von ihr als unglaubwürdig und korrupt enttarnt, weil »der Bürgermeister bei den Feinden wie den Anhängern des fremden Krieges auftreten kann wie ein Freund gleicher Massen« (JT: S. 1074). Sie, die Lindsay nunmehr als »Halunken« (JT: S. 1079) bezeichnet, entwickelt ein moralisches Rechts- und Unrechtsempfinden.216 Ein weiteres Schlüsselerlebnis, welches Marie den Einfluss von Geschichte auch auf ihr eigenes Leben begreifbar macht, stellt die Ermordung des Senators Robert Kennedy dar, den sie so sehr bewundert, dass Gesine insgeheim von einer »Liebschaft mit einem Politiker« (JT: S. 1302) spricht. Abermals muss Marie zugeben, dass die Mutter, mit dem, was sie über die USA erzählt, Recht behält. Sie lernt, dass ihr geliebtes Amerika nicht so vollkommen ist. »Wütend war ich auf dich, Gesine! Weil du es mir erklärt hast als gewöhnlich für das Land, John F. Kennedy, Martin Luther King, und schon wieder hattest du recht, Robert Francis Kennedy.« (JT: S. 1300) Mit dem Tod Kennedys beginnt das Kind sich zu verändern. Marie bekommt die zerstörerische Macht der Natur zu spüren, die sie als überwältigende Trauer und Verlustschmerz wahrnimmt. Vermittelt durch das Medium Fernsehen, wodurch die von Schiller als entscheidend für den Erzie-
215 Eva Schiffer : Politisches Engagement oder Resignation? Weiteres zu Uwe Johnsons Jahrestagen. In: Wolfgang Paulsen (Hrsg.): Der deutsche Roman und seine historischen und politischen Bedingungen. Bern: Francke, 1977, S. 236 – 246, hier S. 242 f. 216 Zu Maries Enttäuschung und ihrer sich zunehmend bemerkbar machenden Fähigkeit, Kritik am politisch-gesellschaftlichen System der USA zu üben, vgl. Anita Krätzer : Studien zum Amerikabild in der neueren deutschen Literatur : Max Frisch – Uwe Johnson – Hans Magnus Enzensberger und das »Kursbuch«. Bern u. a.: Lang, 1982, S. 184; Eva Schiffer: Politisches Engagement oder Resignation? Weiteres zu Uwe Johnsons Jahrestagen. In: Wolfgang Paulsen (Hrsg.): Der deutsche Roman und seine historischen und politischen Bedingungen. Bern: Francke, 1977, S. 236 – 246, hier S. 242 f.; Ingeborg Gerlach: Auf der Suche nach der verlorenen Identität. Scriptor Verlag, 1980, S. 25.
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hungsprozess bestimmte ästhetische Distanz gewahrt bleibt, verfolgt sie die Übertragung der Trauerfeier (vgl. JT: S. 1317).217 Gegen neun zieht sie [Marie, Anm. d. V.] Luft durch die Zähne, wie gegen plötzlichen Schmerz, denn auf der Scheibe erscheint ein kratziges, verschobenes Bild, in seine eigenen Schatten zerschnitten; es zeigt die Witwe vom Tage, im Moment des Bekreuzigens. (JT: S. 1318)
In ihrer »Trauer« (JT: S. 1318) wird die Tochter ihrer Mutter immer ähnlicher. »Hat sie solche besessene Freude am Kummer nicht von dir?« (JT: S. 1318, Herv. i. O.), fragt D.E. Gesine rhetorisch und auch diese beobachtet, wie sich ihre bisher so verschiedenen Positionen einander annähern: »Weil sie die Rührseligkeiten von mir haben könnte.« (JT: S. 1324, Herv. i. O.) Dabei zeigen sich auch bei Marie erste Anzeichen eines Hartwerdens und einer Beherrschung ihrer Gefühle: »Wenn du wenigstens heulen wolltest!« (JT: S. 1369), bemerkt Gesine, die doch selbst häufig genug ihre Tränen unterdrückt.218 Verfolgt Marie den Tod Kennedys noch vermittelt durch Fernsehen, Radio und Zeitung, so erlebt sie das Elend und den mutmaßlichen Untergang ihrer schwarzen Mitschülerin aus Harlem, Francine, ohne eine schützende ästhetische Distanz mit. Schon kurz nach Halloween bereut sie ihr Verhalten, auf ein eigenes Fest verzichtet und statt dessen die Einladung zu einer anderen Feier ohne »gefärbte Kinder« (JT: S. 249) angenommen zu haben, nur um Francine nicht bei sich zu Hause als Gast begrüßen zu müssen, wie sie dies zunächst großspurig angekündigt hatte (JT: S. 221, S. 247, S. 249). »Siehst du nicht, daß ich mich schäme« (JT: S. 250, Herv. i. O.), gesteht sie ihrer Mutter, »[i]ch weiß nicht, warum ich das getan habe.« (JT: S. 249 f.) Gesine ihrerseits beobachtet nach der Party ein neues, ungewohntes Verhalten an der Tochter : Heute ist der zweite Abend, an dem sie geringen Appetit vorschützt, sich gleich hinter ihre Türen verzieht und im ganzen ein nicht mürrisches, aber wortkarges Benehmen anbietet (von dem sie einmal glaubte, sie habe es nicht geerbt), wenn auch wie ein Kind, mit unversteckter Verwunderung, als ob sie etwas nicht begriffe. (JT: S. 249)
217 Strehlow weist auf die Inszeniertheit der Trauerfeier Kennedys im Fernsehen hin, die Marie verfolgt und auch durchschaut: Wolfgang Strehlow : Ästhetik des Widerspruchs: Versuche über Uwe Johnsons dialektische Schreibweise. Berlin: Akademie Verlag, 1993, S. 231 f. Dies ist richtig, ändert aber nichts an ihren wahren Gefühlen der Trauer um Kennedy. 218 Zum Tod Kennedys und Maries Reaktion darauf vgl. Sigrun Storz-Sahl: Erinnerung und Erfahrung: Geschichtsphilosophie und ästhetische Erfahrung in Uwe Johnsons Jahrestagen. Frankfurt a. M.: Lang, 1988, S. 230 – 240; Eva Schiffer : Politisches Engagement oder Resignation? Weiteres zu Uwe Johnsons Jahrestagen. In: Wolfgang Paulsen (Hrsg.): Der deutsche Roman und seine historischen und politischen Bedingungen. Bern: Francke, 1977, S. 236 – 246, hier S. 244; Ingeborg Gerlach: Auf der Suche nach der verlorenen Identität. Scriptor Verlag, 1980, S. 61.
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Maries lustlos-mürrisches Verhalten, ihr Schweigen sowie die Verwunderung und das Nichtbegreifen – all dies weist auf den Beginn einer erhabenen Gesinnungshaltung hin. Marie, die sich bisher schuldlos an Geschichte wähnte, vertraut ihrer Mutter an: »Gesine, ich habe […] eine Schuld [zu vergeben], die ich nicht will!« (JT: S. 731) Sie entfernt sich von ihrer gleichgültigen Haltung des ›Es geht mich nichts an‹ und erklärt Francines Schicksal nun auch zu ihrem Anliegen: »Ist es nicht meine Sache, Gesine?« (JT: S. 731) So ist sie schließlich auch bereit, Francine in den Cresspahl’schen Haushalt aufzunehmen, als deren Mutter bei einer Messerstecherei schwer verwundet in ein Krankenhaus eingeliefert wird. Ungewohnt engagiert setzt sich Marie für ihre schwarze Freundin gegenüber der Jugendfürsorge ein (vgl. JT: S. 772 – 774, S. 1591), die das Mädchen nach einiger Zeit wieder abholen und zurück nach Hause in die elenden Verhältnisse bringen will. Francine, von der wenig später jede Spur fehlt und man nicht einmal weiß, ob sie überhaupt noch am Leben ist – sie »mag gestorben sein, ist verloren« (JT: S. 1885)219 –, ist der Grund, weshalb Marie ihren elften Geburtstag nicht wie sonst mit einer Kindergesellschaft feiern möchte. »Es war mein erster Geburtstag ohne eine Gesellschaft. Zehn Gäste hätt ich leicht haben können. Aber es sollte mit Francine sein […] Francine hätte ich einladen mögen als erste.« (JT: S. 1591) Auch an dieser Episode lässt sich aufzeigen, dass Marie aus den Erzählungen der Mutter gelernt hat. Nachdem Gesine ihrer Tochter schildert, wie sie als Kind während der Zeit der sowjetischen Besatzung und aus Gründen, die mit dem Bürgermeisteramt ihres Vaters Heinrich Cresspahl zu tun hatten, ausgegrenzt und ignoriert wurde, bemerkt Marie: »Jetzt soll ich an Francine denken […] Du wolltest mir was erzählen, nicht aber etwas beibringen. Und doch denk ich mir was.« (JT: S. 1048) Der größte Schicksalsschlag aber, der Tod D.E.s, welcher für Marie fast schon wie ein Vater ist, steht ihr noch bevor. Im Verlauf des Romans erfährt sie ihn nicht, es ist Anita »zu gefährlich für die Ohren Maries« (JT: S. 1743) und auch Gesine befürchtet: »Wenn ich’s ihr sage, schmeißt sie um« (JT: S. 1744).220 Ebenso bangt D.E.s Mutter Frau Erichson darum, wie das Kind diesen Unglücksfall wohl verkraften wird: »Lütt Marie, wo höllt se’t ut?« (JT: S. 1758)221 Das Mädchen wird auf eine erhabene Haltung, die einzuüben sie begonnen hat, angewiesen sein, wenn sie die Nachricht von D.E.s Tod erfährt. Der Schiller’sche Satz aus der Schrift Über das Erhabene wird dann, dies ist zu hoffen, auf Marie zutreffen: »Wohl [ihr] also, wenn [sie] gelernt hat zu ertragen, was [sie] nicht 219 »Vielleicht ist sie tot« (JT: S. 1591), befürchtet Marie. 220 Vgl. auch JT: S. 1749. 221 »Die kleine Marie, wie hält sie es aus?« (Holger Helbig u. a. (Hrsg.): Johnsons »Jahrestage« – der Kommentar : https://www.phf.uni-rostock.de/institut/igerman/johnson/johnkomm/ default.html (07. 07. 2013), hier https://www.phf.uni-rostock.de/institut/igerman/johnson/ johnkomm/6808/680808.html)
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ändern kann und Preis zu geben mit Würde, was [sie] nicht retten kann!« (ÜE: S. 836) 9.2.2.3 »Gesine, ist es mecklenburgisch, dass ich eine Versöhnung mit dem Willen allein nicht hinkriege?« Oder: »Eine Gesellschaft für Kinder, zum Abschied« Im Zuge der Bewusstwerdung von Geschichte bildet Marie zunehmend eine reflexive, kopflastige Haltung aus. Nach der Enttäuschung über Bürgermeister Lindsay erscheint Gesine ihre Tochter auf der Fähre beim Zöpfeflechten, »als knote sie da [in ihren Kopf, Anm. d. V.] Gedanken ein« (JT: S. 1074) und am Ende des Romans, während des Fluges nach San Francisco »[z]ur Eingewöhnung in den Abschied« (JT: S. 1827), erkundigt sich Marie bei der Mutter nach den Vorzügen eines Studiums (JT: S. 1828), worauf Gesine ihr antwortet: Wenn du dein Gedächtnis erziehen willst, bis es die Gewalt an sich nimmt über was du denkst und erinnerst und vergessen wünschest. Wenn dir gelegen ist, eine Empfindlichkeit gegen Schmerz zu vermehren. Wenn du arbeiten magst mit dem Kopf. (JT: S. 1828)
Mit Kennedys Ermordung beginnt die zuvor wahrgenommene scheinbare Einheit und Harmonie zu bröckeln. Naive Ganzheit und Versöhnung gelingen Marie nicht mehr, etwas, das spürt sie, scheint neben der Dominanz des zur Vernunft tendierenden Willens zu fehlen: »Gesine, ist es mecklenburgisch, dass ich eine Versöhnung mit dem Willen allein nicht hinkriege?« (JT: S. 1369) Marie bewegt sich insgesamt auf eine Position der Vernunft, Würde, Moral und Sittlichkeit zu. »Sie kann so ein vernünftelndes Gehabe zeigen« (JT: S. 494), mit dieser Beobachtung Gesines kündigt sich bereits zu Beginn des zweiten Bandes die Entwicklung des Kindes an. Letztendlich tritt genau das ein, was Marie selbst – einst noch recht ahnungslos – prophezeit hat: »[S]ie ist sicher, daß Einer wenn nach New York auch zur Vernunft kommen müsse.« (JT: S. 563) Ähnlich wie bei Ingrid vollzieht sich auch bei Marie mit der allmählichen Ausbildung einer erhabenen und vernünftigen Geisteshaltung ein Reifeprozess, der sie von ihrem Kindheitsstatus entfernt und einem erwachsenen, zunehmend würdigen Benehmen annähert. Nachdem ihr das korrupte Verhalten des Bürgermeisters Lindsay bewusst wird, antwortet ihr D.E. im Gespräch über den Vorfall »wie eine[r] Erwachsene[n]« (JT: S. 1090) und nach dem Attentat auf Kennedy wehrt sie sich gegen die als bevormundend empfundene Ermahnung der Mutter,222 die in Sorge um die spät nach Hause zurückgekehrte Tochter ist: 222 Vgl. auch: »Denn sie mag sich noch in manchen Momenten als Kind fühlen; dies war keiner von denen gewesen.« (JT: S. 503)
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»Ich bin kein Kind mehr, Gesine!« (JT: S. 1298) In weiteren Beispielen behandelt der Kellner Marie während eines Restaurantbesuchs als »junge Dame« (JT: S. 1086) und Gesines ehemaliger Englischlehrer Kliefoth – wie Ernst Sedenbohm aus Ingrid Babendererde ein Vertreter der wahren Würde223 – spricht sie mit »mein verehrtes junges Fräulein Cresspahl« (JT: S. 1889) an. Immer wieder verweist sie im Verlauf des Romans auf die »Würde ihres Alters« (JT: S. 153), »die Würde ihrer zehneinhalb Jahre« (JT: S. 1071), nach ihrem Geburtstag schließlich auf ihre »stolzen elf« (JT: S. 1643).224 Elf Jahre scheint schließlich für Johnson das Alter zu sein, in dem ein Kind gemeinhin aus seinem naiven »sinnlichen Schlummer« (ÄE: S. 561) erwacht und zu geschichtlichem Bewusstsein gelangt. So berichtet der Autor in einem Interview, dass er selbst mit elf Jahren »mit eigenen Augen zu sehen«225 begann. Und auch Gesine ist in einem ähnlichen Alter – »ich mag 12 Jahre alt gewesen sein« (JT: S. 232) – zur Besinnung gekommen, als sie von der Existenz der Konzentrationslager erfuhr.226 Ein Hinweis auf Maries Fortentwicklung von einer Position des zweifelhaften Schönen hin zu einer Haltung der Stärke und Erhabenheit liefert schließlich auch ihr zweiter Vorname: ›Henriette‹, die weibliche Form von ›Heinrich‹, bedeutet »Herrscherin«227 oder die »Mächtige«228 und bezeichnet ähnlich wie ›Gesine‹ einen starken, erhabenen Charakter. Auffallend ist, dass Marie während der Handlung vermehrt Wert darauf legt, dass auch dieser zweite Name ›Henriette‹ berücksichtigt wird. So korrigiert sie ihre Mutter, als diese eines der täglichen Gespräche über die Vergangenheit mit der Anrede »Mary Fenimore Cooper Cresspahl« (JT: S. 1350) eröffnet und dabei ihren zweiten Namen unterschlägt, auf den zu nennen Marie aber Wert legt, wie sie ergänzend hinzufügt: »Und Henriette.« (JT: S. 1350) Noch ein weiteres Mal fühlt sie sich genötigt, 223 Vgl. JT: S. 503. 224 Bei einer Fußverletzung hält Marie während Gesines Behandlung »stoisch still« (JT: S. 1812) und »würdigt« (JT: S. 1812) unterdessen ihr Eis. 225 Reinhard Baumgart: Uwe Johnson/Reinhard Baumgart. In: Werner Koch (Hrsg.): Selbstanzeige. Schriftsteller im Gespräch. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 1971, S. 46 – 56, hier S. 48. 226 Vgl. auch: »Marie ist nun beinahe so alt wie Gesine es war, als ihr der Schock der Erkenntnis die bisherige Identität mit sich und ihrer Umgebung nahm.« (Ingeborg Gerlach: Auf der Suche nach der verlorenen Identität. Scriptor Verlag, 1980, S. 66) Es sei auch darauf hingewiesen, dass sich die 14jährige Marie ihre Haare selbst »mit einer Schneiderschere« kürzt: Uwe Johnson: MARIE H. CRESSPAHL, 2.–3. Januar 1972. In: Eberhard Fahlke (Hrsg.): »Ich überlege mir die Geschichte…« Uwe Johnson im Gespräch. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1988, S. 90 – 110, hier S. 109. Diese Formulierung erinnert an Gesines Gewaltakt gegen ihre Sinnlichkeit, auch sie schnitt ihr Haar »mit Messern« (JT: S. 1890). 227 Tamara Krappmann: Die Namen in Uwe Johnsons Jahrestagen. Göttingen: V& R unipress, 2012, S. 356. 228 Ebd., S. 356. Zur Namensverwandtschaft von ›Henriette‹ und ›Heinrich‹, wie Gesines Vater heißt, vgl. Kurt Fickert: Names and themes in Uwe Johnsons »Jahrestage«. In: International fiction review 26 (1999), S. 74 – 81, hier S. 77.
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Gesine zu ermahnen: »Marie Henriette Cresspahl, at that« (JT: S. 536) und den Schulaufsatz über das Attentat auf Kennedy überschreibt sie mit »Marie H. Cresspahl« (JT: S. 1302). Auch in der die Geschichte symbolisierenden Uhr, Anitas Geschenk zu ihrem elften Geburtstag, ist der zweite Name in Form eines H eingraviert – »HMC« (JT: S. 1592) –, wobei bedeutsam ist, dass es vor dem M steht. Das Zeichen für das Erhabene, H, hat sich also vor das M, welches das Schöne repräsentiert, geschoben. Mehr noch, die erhabene Henriette scheint die schöne Marie nahezu verdrängen zu wollen, möchte Gesines Tochter doch an einer Stelle des Romans ihren ersten Vornamen geradezu loswerden: »Marie hält ihren Vornamen für eine erläßliche Ankündigung, MORGEN TEILWEISE SONNIG würde sie der Welt nicht oft versprechen wollen« (JT: S. 1339, Herv. i. O.). »Wenn du mir den Namen ein wenig ersparen könntest, Gesine« (JT: S. 1339), sagt Marie kurz darauf zu ihrer Mutter und meint damit eigentlich den ermordeten Kennedy, die Bitte ließe sich aber in einer erweiterten Lesart auch auf den eigenen Namen beziehen, von dem unmittelbar zuvor doch die Rede gewesen ist. Auch auf der Ebene der Wettermetaphorik kommt die sich wandelnde Position Maries hin zum Erhabenen zum Ausdruck. Schon die dreieinhalbjährige Marie ist einst bei ihrer Ankunft in New York erschrocken über die Atmosphäre, die unverkennbar Attribute des Theoretisch-Erhabenen trägt: Und auch vor dem Wetter in dieser Stadt, der schweißpressenden Schwüle, die sogar die zurückhaltende Tante Times heute »unaussprechlich« nennt […] [,] vor dem Wetter New Yorks auch noch mag die Marie Angst gehabt haben, wenn sie abends auf dem Bett lag und sorgenvoll erwartete, was die unbegreifliche Stadt ihr schicken würde in den Schlaf. (JT: S. 1482 f., Herv. i. O.)
Die zehnjährige Marie dagegen sehnt sich auf der Fähre geradezu nach einem erhabenen Naturerlebnis, zu denken ist hier an Ingrids letzten Segeltörn mit ihren Freunden: »Fünf Jahre fahren wir nun auf der South Ferry, und niemals haben wir einen Sturm erwischt! Der von gestern hätte gut auf den Sonnabend fallen können. Auf der South Ferry in einem Sturm, ich wünsche es mir.« (JT: S. 814) Angekündigt wird das Thema des erhabenen Unwetters bereits durch die Schlecht-Wetter-Episode in der ersten Hälfte des Romans, die Züge des Praktisch-Erhabenen trägt und im Kontext steht mit einer Zeitungsmeldung über sowjetische Satellitenbomben, die New York mit apokalyptischen Folgen treffen könnten: Als ob eine Faust in den Hafen schlüge: sagt Marie. Sie blickt auf eine abschätzende Weise in den flackrigen Regenschauer über dem Wasser, als berechne sie die Höhe der Fontäne, auf der die Fähre mit ihr und die Dampfer am verschmierten Horizont […] in den Himmel sausen werden. (JT: S. 258)
Zwar nicht auf der South Ferry, aber dennoch erlebt Marie ihr großes Unwetter :
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Heute ist alles runtergekommen, vier Stunden ist es her, und immer noch erzählen wir einander, wo es uns erwischt hat. […] Die Angestellte Cresspahl hat den Anfang beobachtet, in Vernachlässigung ihrer dienstlichen Pflichten: das Licht zwischen den gläsernen Häuten der Bürokästen war düster geworden und übermäßig klar. Alle Kanten waren geschärft bis zur Deutlichkeit. Dann, ein Viertel nach vier, war der erste Donnerschlag zu hören. Marie ist sicher, den Blitz dazu gesehen zu haben, in der breit abfallenden Schneise der 96. Straße, die im düsteren Fenster des Flusses endete (JT: S. 1583).
Nach dem Gewitter, »[a]ls Marie ins Freie [tritt], hat sie ein neues Atmen gelernt« (JT: S. 1584), eine neue Sicht auf die Welt. Ihr aufkeimendes Bewusstsein für Schmerz anzeigend, ertönt aus dem Riverside Park »ein quietschender Vogelschrei, wie der eines verletzten Jungtiers. […] Ja, Marie hat die Möwe gesehen über den Wipfeln unserer Bäume« (JT: S. 1584). Bei Marie kündigt sich, wie dies bereits für Gesine ausgeführt worden ist, die Unmöglichkeit an, das Unbegreifliche und die sich in ihr herausbildende erhabene Kraft abzubilden oder auszusprechen. So hat sie, nachdem die Klassenkameradin vom Jugendamt von den Cresspahls weggeholt wurde, kein Wort über die Lippen gebracht: »Über Francine hat sie seit vier Tagen nicht sprechen mögen.« (JT: S. 784) Auch was sie nach ihrer Enttäuschung von Bürgermeister Lindsay denkt, kann nicht von ihr ausformuliert und, als D.E. es ausspricht, abgedruckt werden: – John Vliet Lindsay ist ein …: sagt Marie. […] John Vliet Lindsay ist ein …: sagt D.E., und übertrumpft sie noch im bösen Leumund. Es ist ein Wort, das kennt nicht jedermann in New York, es gehört sich gewiß nicht für die Ohren um unseren Tisch herum, und es sollte vor Kindern nie und nimmer in den Mund genommen werden. (JT: S. 1090)
Und weiterhin heißt es: »Sie sagte etwas, als sie seine Seiten aus ihrem Sammelbuch riß, aber das wird nicht aufgeschrieben« (JT: S. 1075). Ähnliches gilt auch für Kennedy. Nach seinem Tod »will [Marie] den Namen eine Weile lang nicht hören« (JT: S. 1359). Als Gesine sie nach einer Woche durch die Nennung des Namens Kennedy auf die Probe stellen will, bittet Marie um Verlängerung der Schweigezeit: »Könntest du mich doch noch eine Weile in Ruhe lassen mit diesem Namen?« (JT: S. 1369) Ebenso ist Maries neue Vernunftfreiheit keiner Darstellung fähig, was sich durch fehlende Abbildungen äußert. »Neuere Fotos von ihr habe ich nicht« (JT: S. 499), schreibt Gesine an Kliefoth, der sich nach Marie erkundigt hat.229 229 Ähnliches gilt für die »Reise nach Prag«, Marie »mag darüber nicht sprechen.« (JT: S. 1359) Auch kann Marie nicht beschrieben werden, vgl. das Interview mit ihr : »Ich weiss nicht, woran ich Sie erkannt habe. Sie sind beschrieben worden als –« (Uwe Johnson: MARIE H. CRESSPAHL, 2.–3. Januar 1972. In: Eberhard Fahlke (Hrsg.): »Ich überlege mir die Ge-
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Das Prinzip Marie, welches für das in der Realität nicht durchsetzungsfähige Schöne steht, beginnt zu schwinden. Darauf weisen nicht zuletzt ihre Verwundbarkeit sowie die Krankheits- und Gebrochenheitsmetaphorik hin, die sich im Verlauf des Romans häufen. Das Bewusstwerden geschichtlicher Vorgänge und die eigene Involvierung darin hat Marie eine innere Verletzung zugefügt. »Gesine, ich bin albern, ich weiß. Es wird verheilen. Es wird einmal gar nicht da sein« (JT: S. 1369), äußert sie nach Kennedys Tod, aber sie irrt: Der Riss, den sie entdeckt, schließt sich nicht, sondern vergrößert sich im Gegenteil. Bevor sie ihn selbst bemerkt, hat er sich für den Leser schon angekündigt. Bereits im ersten Teil der Jahrestage weist Gesine auf Maries Schmächtigkeit hin: Sie ist ein »mageres Mädchen« (JT: S. 373), das aussieht, »als könnte sie sich nicht wehren« (JT: S. 373) und an anderer Stelle, als Marie aus dem Ferienlager zurückkehrt, heißt es noch einmal: »das Kind […] ist mager geworden« (JT: S. 25). Zu ihrem elften Geburtstag erhält Marie von Gesine und D.E. vorsorglich ein Armband geschenkt, auf dem ihre Blutgruppe verzeichnet ist. »Für wenn ich fremdes Blut brauche, weißt du. Bei einem Unfall« (JT: S. 1593), schreibt das Kind in einem Brief an Anita Gantlik. Am Ende des Romans erinnert sich Gesine an eine Taxifahrt ins Krankenhaus »mit einem Kind, das war krank am Knie, 40 Grad Fieber, dem schlimmsten Schmerz im Gelenk« (JT: S. 1884). Das Gelenk aber, das hier versehrt ist, ist eine Mittelstelle, Schillers »Mittelkraft« (PdP: S. 41), die zwei Stücke – Natur und Vernunft, Körper und Geist – miteinander verbindet und als Abwandlung des Hals-Motivs in Erscheinung tritt. Bereits auf einem Foto aus den letzten Ferien ist Marie mit einem Verband »um das Schienbein« (JT: S. 22) zu sehen. Wenn man in dem verletzten »Schienbein« anagrammatisch das Wort ›Schein‹ entdeckt, so deutet es auf einen Bruch im Bereich des schönen Scheins hin. Am Ende des Romans schließlich wird Marie vorgeführt als »[e]in elfjähriges Kind, das vor Müdigkeit leise spricht, matt« (JT: S. 1888). Es zeichnet sich schon in New York ab, dass Marie den unschuldigen Kinderstatus aufgibt und die scheinbar naive Einheit mit sich, mit ihrer Sprache und ihrer Welt verliert. Sie steht kurz vor der Abreise vom einst so geliebten Amerika, zu welcher die beruflichen Pläne der Mutter sie zwingen.230 »Aus einem solchen Lande ginge ich weg« (JT: S. 1835), hat Marie kurz zuvor eine von Gesines Geschichten aus der Zeit der DDR kommentiert und tatsächlich wird auch Marie ihre Heimat verlassen. Zuvor aber will sie eine »Gesellschaft geben […] für schichte…« Uwe Johnson im Gespräch. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1988, S. 90 – 110, hier S. 109). Siehe weiter : »Marie, es gibt Leute, die sagen von dir …« (ebd., S. 102). Die Frage läuft ins Leere und wird nicht beantwortet. 230 Zur Heimatlosigkeit Maries infolge der Prag-Pläne Gesines vgl. Ingeborg Gerlach: Auf der Suche nach der verlorenen Identität. Scriptor Verlag, 1980, S. 56; Wolfgang Strehlow : Ästhetik des Widerspruchs: Versuche über Uwe Johnsons dialektische Schreibweise. Berlin: Akademie Verlag, 1993, S. 272; Norbert Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons. Jahrestage und andere Prosa. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1997, S. 361 ff.
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Kinder, zum Abschied« (JT: S. 1876). Sehnsucht nach der Heimat, die einzubüßen sie im Begriff ist, kündigt sich an: »– Denn Heimweh ist eine schlimme Tugend, Gesine. Daughters have human feelings, too« (JT: S. 1862), kommentiert Marie Erzählungen ihrer Mutter über deren »Heimweh nach Jerichow« (JT: S. 1860), nachdem sie die DDR verlassen hat. Marie wird ihr New York mit den samstäglichen Fahrten auf der South Ferry verlieren – »[e]s war das erste Mal, daß sie nicht in verkündendem Ton, geradezu bittend sagte: Es ist Sonnabend, immerhin. Laß uns einen Tag der South Ferry machen, daraus« (JT: S. 1074) – und ebenso die Schwimmbadausflüge ins Hotel Marseille. Was mit Marie geschehen wird, wenn das Kind nicht in seiner Heimat New York bleiben kann, hat Johnson einmal in einem Interview prognostiziert: »[D]enn du würdest das Kind kaputtmachen.«231 Marie, welche die deutsche Vergangenheit und ihr Erbe einst so vehement abgelehnt hat, tritt am Ende der Jahrestage als Erbin Gesines in Erscheinung, welche vor dem Abschied von New York ihr Testament aufsetzt: Wer eine Reise unternimmt, er soll einen Letzten Willen hinterlassen. Hiermit übertrage ich das Eigentum an meinem gesamten Besitz meiner Tochter Marie Cresspahl, geboren am 21. Juli 1957 in Düsseldorf als Tochter des Eisenbahninspektors Jakob Wilhelm Joachim Abs. (JT: S. 1739)
Marie erbt somit nicht nur die »mecklenburgischen Bücher[]« (JT: S. 1739) der Mutter und das Haus in Jerichow, sondern auch die deutsche Schuld und das Bewusstsein für Geschichte. Wie sehr sich die einst so unterschiedlichen Positionen Maries und Gesines im Laufe eines Jahres einander angenähert haben, wird durch die fast zärtliche Freundschaftsbekundung der Tochter deutlich: »Meine Mutter und ich«, so äußert sie – schon auf dem Weg nach Prag – gegenüber Kliefoth, »wir sind befreundet« (JT: S. 1891).232 231 Uwe Johnson: Wie es zu den Jahrestagen gekommen ist. In: Eberhard Fahlke (Hrsg.): »Ich überlege mir die Geschichte…« Uwe Johnson im Gespräch. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1988, S. 65 – 71, hier S. 71. 232 Gerlach ist zu widersprechen, die von der »immer größer werdende[n] Entfernung von Marie« spricht: Ingeborg Gerlach: Auf der Suche nach der verlorenen Identität. Scriptor Verlag, 1980, S. 41, vgl. auch S. 55. Auch Butzer ist zu widersprechen, wenn er sagt: »Gesines Intention, mit ihrer Erzählung Marie in das Cresspahlsche Familiengedächtnis einzureihen, ist somit als gescheitert anzusehen. Marie wird die mecklenburgische Tradition weder durch den positiven Bezug auf ihre Vorfahren noch durch die juristische Annahme ihres Erbes weiterführen.« (Günter Butzer : Fehlende Trauer. München: Fink, 1998, S. 128) Zur Annäherung Maries und Gesines, wie sie in den Jahrestagen tatsächlich stattfindet, vgl. Annekatrin Klaus: »Sie haben ein Gedächtnis wie ein Mann, Mrs. Cresspahl!« Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1999, S. 319 f.; Ulrich Krellner : »Was ich im Gedächtnis ertrage«. Untersuchungen zum Erinnerungskonzept von Uwe Johnsons Erzählwerk. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2003, S. 314; Eva Schiffer: Politisches Engagement oder Resignation? Weiteres zu Uwe Johnsons Jahrestagen. In: Wolfgang Paulsen (Hrsg.): Der deutsche Roman und seine historischen und
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9.2.3 »Ich Gesine, ich Marie, wir das Kind«: Marie als Gesines Wunschprojektion Auf einer weiteren Ebene verkörpert Marie nicht nur eine äußere Gegenposition zu Gesines Standpunkt des Erhabenen, sondern ist vielmehr als eine Stimme in Gesine selbst, als ihre Wunschprojektion zu werten. Marie repräsentiert in dieser Interpretation »die [a]ndere« (JT: S. 1022) Seite von Gesine. Sie scheint »also keine eigenständige Romanperson [zu sein]; ohne Gesine keine Marie.«233 234 Aus dieser Perspektive können die Dialoge zwischen Mutter und Tochter auch als inneres Zwie- oder Streitgespräch Gesines mit sich selbst gedeutet werden. Dass der in den Jahrestagen geschilderte Blick auf Marie immer zugleich demjenigen Gesines entspricht, lässt sich auch dem mit der 14jährigen Marie durchgeführten fiktiven Interview entnehmen: »Von mir«, so sagt sie darin, »ist in dem Buch nur, was meine Mutter zwischen dem 20. August 1967 und dem 20. August 1968 an mir gesehen hat. Was sie hörte. Was sie erinnerte. Was sie für mich fürchtete.«235 Zwei Weltsichten, die der Versöhnungsästhetik des Schönen und jene der Verlustästhetik des Erhabenen, stehen sich in Gesine gegenüber und streiten um die Vorherrschaft.236 Wenn diese in resignativ-melancholischer Weltsicht feststellt: »Dieser Sommer ist vorüber, das ist unsere zukünftige Vergangenheit, das sind unsere Lebenserwartungen« (JT: S. 90), so »hält [Marie] den nächsten Sommer für wahrscheinlich« (JT: S. 372).
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politischen Bedingungen. Bern: Francke, 1977, S. 236 – 246, hier S. 238. Vgl. auch JT: S. 1340. Beatrice Schulz: Versuch über Marie: Erste Schritte zu einem poetischen Prinzip der »Jahrestage«. In: Carsten Gansel und Nicolai Riedel (Hrsg.): Uwe Johnson zwischen Vormoderne und Postmoderne: Internationales Uwe Johnson Symposium 22.–24. 9. 1994. Berlin, New York: de Gruyter, 1995, S. 217 – 232, hier S. 227. Der Gedanke, dass Marie und Gesine verschiedene Sichtweisen mehr oder weniger der gleichen Person verkörpern, ist bisher nur sehr spärlich und vage in der Forschungsliteratur angeklungen. Vgl. etwa: »Für die Außenwelt bilden Gesine und Marie eine Einheit, wenn Mrs. Ferwalter alternativ auf die eine oder andere sauer sein kann.« (Beatrice Schulz: Versuch über Marie: Erste Schritte zu einem poetischen Prinzip der »Jahrestage«. In: Carsten Gansel und Nicolai Riedel (Hrsg.): Uwe Johnson zwischen Vormoderne und Postmoderne: Internationales Uwe Johnson Symposium 22.–24. 9. 1994. Berlin, New York: de Gruyter, 1995, S. 217 – 232, hier S. 222) Vgl. auch: »Die dialogische Diskursivität des Erinnerns […] kommt in den Gesprächen zwischen Mutter und Tochter in der Form echter kommunikativer Wechselrede zur Entfaltung.« (Ulrich Krellner : »Was ich im Gedächtnis ertrage«. Untersuchungen zum Erinnerungskonzept von Uwe Johnsons Erzählwerk. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2003, S. 292) Uwe Johnson: MARIE H. CRESSPAHL, 2.–3. Januar 1972. In: Eberhard Fahlke (Hrsg.): »Ich überlege mir die Geschichte…« Uwe Johnson im Gespräch. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1988, S. 90 – 110, hier S. 90. Von »einem Kampf zwischen Mutter und Kind« spricht auch Johnson im Interview : Manfred Durzak: Gespräche über den Roman. Suhrkamp, 1976, S. 453.
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Marie repräsentiert also »eine Art ästhetischer Utopie«237 oder anders formuliert: Gesines Sehnsucht nach Schönheit, Naivität, Ganzheit, Harmonie und nach Heimat. Als sie der Wunsch nach einem Kind überkommt, wohnt Johnsons Hauptfigur in Halle ärmlich zur Untermiete. »Das Wasser auf dem Lavoir«, so erinnert sie sich, im Januar war es morgens gefroren. Da habe ich den Vorsatz gefaßt für ein Kind, sollte ich mal eines bekommen – […] es sollte aufwachsen außerhalb der Untermiete, in eigenem Zimmer, mit fließendem Warmwasser und Dusche. (JT: S. 1832)
Gesines Sehnsuchts-Kind, ja gewissermaßen »Göttliche[s] Kind[]«238 mit dem Namen ›Marie‹, ›die Schöne‹, dient als Projektionsfläche für die eigenen unerfüllten Wünsche. Im Gespräch mit den Stimmen aus der Vergangenheit, zugleich als innerer Dialog interpretierbar, bekennt sie: »Das Kind soll haben, was ich nicht bekam.« (JT: S. 583, Herv. i. O.) In ähnlicher Weise spricht Gesine für Marie aufs Tonband: »[I]ch bin es sehr zufrieden, dass du solche Erinnerungen an deine Kindheit haben wirst, und hätte vielleicht solche auch gern für mich.« (JT: S. 423) Mit ›dem Kind‹ verbindet Gesine ein ehrgeiziges Lebensprogramm, es soll eine Heimat haben, eine Identität, eine harmonische Ganzheit und es soll frei von deutscher Schuld, aber im Bewusstsein einer Verantwortung, aufwachsen. Dem Kind sollte all das zukommen, was Gesine sich für ihr eigenes Leben ersehnt, aber nicht erlangt hat,239 all das, worüber Marie auf den ersten Blick zu verfügen scheint. Für Gesine verkörpert »Marie […] gleichsam die Theorie einer glücklichen Kindheit«.240 Mit Maries Einwänden und Protesten gegen die Erzählungen aus der Vergangenheit meldet sich zugleich eine innere Stimme in Gesine zu Wort, die das Geschilderte selbst nicht wahrhaben will. Mehrfach gesteht sie, die ihr erhabenes Bollwerk gegen die Vergangenheit nicht immer aufrechtzuhalten vermag, sich 237 Beatrice Schulz: Versuch über Marie: Erste Schritte zu einem poetischen Prinzip der »Jahrestage«. In: Carsten Gansel und Nicolai Riedel (Hrsg.): Uwe Johnson zwischen Vormoderne und Postmoderne: Internationales Uwe Johnson Symposium 22.–24. 9. 1994. Berlin, New York: de Gruyter, 1995, S. 217 – 232, hier S. 219. 238 Wolfgang Paulsen, zitiert nach Carsten Gansel: Zwischen Aufbau und Demission der Helden – Uwe Johnson, das Gedächtnis und die DDR. In: Carsten Gansel und Nicolai Riedel (Hrsg.): Uwe Johnson zwischen Vormoderne und Postmoderne: Internationales Uwe Johnson Symposium 22.–24. 9. 1994. Berlin, New York: de Gruyter, 1995, S. 31 – 54, hier S. 40. 239 Gerlach ist zu widersprechen, wenn sie feststellt: »Und Gesine, die ihrer Tochter eine Heimat wünscht, so wie sie selbst eine besessen hat […]« (Ingeborg Gerlach: Auf der Suche nach der verlorenen Identität. Scriptor Verlag, 1980, S. 61). 240 Birgit Konze: Das gestohlene Leben: Zur Thematisierung und Darstellung von Kindheit in der DDR im Werk von Monika Maron im Vergleich mit Werken von Uwe Johnson, Irmtraud Morgner und Thomas Brussig. In: Elke Gilson (Hrsg.): Monika Maron in perspective: »dialogische« Einblicke in zeitgeschichtliche, intertextuelle und rezeptionsbezogene Aspekte ihres Werkes. Amsterdam: Rodopi, 2002, S. 181 – 203, hier S. 196.
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ihr Verlangen nach Vergessen sowie nach Freisein von Schuld und Geschichte ein: Marie, ich wäre gern gleichmütig; gäbe und vergäße. […] Wäre aber gern […] unbeeinflusst von Biographie und Vergangenheit, mit richtigem Leben, in einer richtigen Zeit, mit richtigen Leuten, zu einem richtigen Zweck (JT: S. 888 f.).
Wenn Marie die Erzählungen der Mutter unterbricht mit einem saloppen, an Ingrids und Klaus’ Haltung der Gleichgültigkeit gemahnenden »Was gehts dich an! Du hast da bloß mal gewohnt« (JT: S. 208),241 so kann dies zugleich als eine innere Gegenstimme in Gesine interpretiert werden, die den geschilderten Begebenheiten zu entkommen versucht. Und wenn Marie beim Deutschsprechen Schmerzen im Hals empfindet – nicht zufällig taucht hier wieder das aus Ingrid Babendererde bekannte Motiv des verwundeten Halses als beschädigtes Bindeglied zwischen Vernunft und Natur auf –, so ist es zugleich ein Teil Gesines, der in New York nicht an der Sprache erkannt werden möchte. Mit ihrer umgestaltenden Nachbildung des Jerichower Hauses und damit der mecklenburgischdeutschen Geschichte kommt Marie insgeheim einem inneren Verlangen Gesines nach. Sie erahnt, dass Gesine das Elternhaus am liebsten zur geschichtsfreien Zone umbauen würde. »Es werde ein Wunsch sein, von dem [sie] [Gesine, Anm. d. V.] nichts wisse« (JT: S. 538), kündigt das Mädchen ihr Geschenk für die Mutter zu Neujahr an. Wie sehr die zwei Cresspahl’schen Stimmen letztendlich miteinander zu einer einzigen verschmelzen, wird bei der Versteigerung des Hausmodells auf dem Schulbasar deutlich. Während zu Beginn des folgenden Zitats unverkennbar Gesine spricht, lässt sich im letzten, durch einen Absatz getrennten Teil nicht mehr zweifelsfrei unterscheiden, von wem gerade die Rede ist, von Marie oder Gesine: Auf so ein Haus bieten wir nicht, das lassen wir stehen. Das Kind, allerdings, das nehmen wir mit, fliehen vor den anschleichenden Lehrkräften und fahren unverzüglich zum Hafen, wo die Fähre wartet. / Sie selber war das Kind, das dies Haus gebaut hat, und als sie danach gefragt wurde, schüttelte sie den Kopf, unwissend. – Eine von uns: hat sie gesagt. (JT: S. 1110)
Wie sich Maries vermeintliches Selbstverständnis, von Geschichte, insbesondere der deutschen, vollkommen unabhängig zu sein, insgeheim als ein sehnlicher Wunsch ihrer Mutter entpuppt, so ist es ebenfalls Gesine, die nach einer neuen Heimat verlangt, nach einem Einklang mit sich und ihrer Welt. »Welcome home, Gesine« (JT: S. 1855) – diesen Willkommensgruß aus dem Munde Maries, des 241 Wie sehr dieser Streitprozess auch ein innerer Dialog Gesines mit sich selbst ist, wird deutlich, wenn Gesine zuweilen die Ansichten Maries, wenn auch nur für einen kurzen Moment, übernimmt – »Es geht uns nichts an, wir sind hier Gäste, wir sind nicht schuldig.« (JT: S. 90) Oder : »Was geht mich das an!« (JT: S. 1714)
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Prinzips des Schönen, zu hören, erhofft sich die Protagonistin mit ihrer Übersiedlung nach New York.242 Und tatsächlich redete sie sich ein, »das Leben gefiele [ihr], weil [ihr] Marie bevorstand« (JT: S. 1880) – eine seltsame Formulierung für eine Mutter, die darauf wartet, dass ihr zu dieser Zeit vierjähriges Kindergartenkind sie von der Bar des Hotels Marseille abholt, während sie selbst dort alkoholhaltige stimmungsaufhellende Getränke konsumiert – nicht zufällig trinkt sie sich mehr als einmal ausgerechnet mit einem »Bloody Mary« (JT: S. 876) buchstäblich die Welt schön.243 Der Wortlaut vom Bevorstehen Maries erweckt vielmehr die Vorstellung, sie warte auf Marie wie auf eine Erscheinung. Dass Marie Gesines Wunsch nach Geborgenheit, Harmonie und Schönheit verkörpert, wird besonders deutlich auch an der folgenden Szene, in welcher beide Figuren für einen kurzen Moment miteinander zu einer einzigen verschmelzen: Gesine schläft und findet sich im Traum inmitten idyllischer Landschaften wie »mit breitem Pinsel« (JT: S. 1035) gemalt wieder. Wunschbilder von »fremde[n] Gräser[n] […] [,] der Baltischen See, de[m] Geruch von Gras nach dem Regen« (JT: S. 1035) werden lebendig. Noch während des Aufwachens aus dem schönen Traum verschwimmt sie mit Marie: »War noch eine Weile ich Gesine, ich Marie, wir das Kind und ich und die Stimmen aus dem Traum. Allmählich zerfiel die filzige Empfindung des Schlafens« (JT: S. 1035), bis die »Rollen [sie] trennten« (JT: S. 1035).244 Der Aspekt des Zusammentreffens von Marie und Gesine lässt sich weiterhin anhand eines Wochenendes in D.E.s Haus in New Jersey veranschaulichen. Fast wie eine richtige Familie vereint, verleben die drei eine fröhliche Zeit mit gemeinschaftlichem Kochen und Gesang, dem Gesine zuhört. Ein Gefühl von Heimat und Ganzheit stellt sich bei der Protagonistin ein, als Marie, eine Katze auf den Schultern balancierend, plötzlich in den Blick Gesines gerät: Unter der Dunkelheit des Himmels quoll der Innenraum des Hauses auf, dehnte sich aus mit Licht und Wärme und menschlichem Leben. Als Marie kam, eine Katze auf der Schulter, ganz haarig vom rückwärtigen Lampenschein umrissen, habe ich sie verwechselt mit dem Kind, von dem ich träumte, dem Kind das ich war. (JT: S. 270)
242 Vgl.: Gesine hat noch immer »Hoffnung auf eine mögliche Verwirklichung [ihrer utopischen Sehnsüchte, Anm. d. V.], die in der Adressatin von Gesines Geschichte, dem in Amerika Wurzeln schlagenden Kind Marie, konkret zum Ausdruck kommt.« (Manfred Durzak: Gespräche über den Roman. Suhrkamp, 1976, S. 478) Siehe auch: »Gerade die USA sind das gepriesene Einwanderungsland für jene, die ihre territoriale Identität verloren haben.« (Sigrun Storz-Sahl: Erinnerung und Erfahrung: Geschichtsphilosophie und ästhetische Erfahrung in Uwe Johnsons Jahrestagen. Frankfurt a. M.: Lang, 1988, S. 272) 243 Vgl.: »Noch eine Bloody Mary, Mrs. Cresspahl?« (JT: S. 573); »Dann servierten die Stewardessen die zweite Runde Bloody Marys« (JT: S. 118). 244 Marie wird »das Kind« (JT: S. 19 ff.) genannt und auch Gesine ist »das Kind das ich war« (JT: S. 1891; vgl. auch JT: S. 8, S. 617).
Wer ist Marie?
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Assoziationen zur »Katze Erinnerung« (JT: S. 670) und zum bereits erörterten Schattenmotiv sind offenkundig: Marie selbst ist durch die indirekte Beleuchtung als Schattenriss mit D.E.s Katze zu einer Einheit verschmolzen. Für einen kurzen Augenblick scheint Gesine mit der Schatten-Katze Marie übereinzustimmen. In diesem Zusammenhang, da das glückliche, familienähnliche Beisammensein erwähnt wurde, sei darauf hingewiesen, dass Gesine und D.E. nicht von selbst, sondern nur allein durch Maries Vermittlung zusammengefunden haben: Gesine war elf Monate in New York, ehe er [D.E., Anm. d. V.] sie fand, beim Blättern im Telefonbuch, und sie zum ersten Abendessen einlud, ein massiger, maulfauler, fast feierlicher Patron, und ihr die Ehe antrug, nachdem er Marie kennengelernt hatte. (JT: S. 42, Herv. d. V.)
Nicht zufällig heißt ›heiraten‹ im Englischen ›to marry‹ und ›fröhlich‹, ›vergnügt‹, ›lustig‹ wiederum ›merry‹ – der Gleichklang zur englischen Namensform von ›Marie‹, ›Mary‹, ist jeweils offensichtlich. Der glückliche Liebesbund, das Liebes-Spiel zwischen Mann und Frau ist bei Schiller auch ein Sinnbild für die Vereinigung von männlicher Vernunft und weiblicher Natur, für das Schöne also und das Spiel mit ihm. Diese Aspekte der Schiller’schen Schönheitslehre der Liebe, des Spiels, der Freiheit und Heiterkeit werden auch in den Jahrestagen in eine offenkundige Beziehung zueinander gesetzt, wenn es heißt, Gesine verwende das Wort ›Liebe‹ nur dann, wenn [sie] spielen will[] in der fremden Sprache, und die Etymologie spielt noch mit. Denn im Englischen hat es einen lateinischen Vorfahren, lube¯re, libe¯re, der nur darauf aus war, daß eine Freude, ein Vergnügen, eine Gefälligkeit erwiesen wird (JT: S. 815).
Und D.E. wünscht sich: »Laß uns das spielen: wir wären […] verheiratet.« (JT: S. 905, Herv. i. O.)245 Wie in Abschnitt 4.3 dargestellt, ist für Schiller ein Charakteristikum des Schönen seine Möglichkeitsform. Im Reich des Schönen und des Spiels eröffnet sich eine potentielle Welt der Freiheit und unerschöpflicher Wahlmöglichkeiten. Bei genauer Lektüre fällt auf, dass Marie für Gesine diese Möglichkeitsform repräsentiert, die Formel vom ›Möglichen‹ zieht sich im Zusammenhang mit ihrer Tochter leitmotivisch durch den Roman. Marie ist jenes Prinzip, das immer alles »für möglich [hält]« (JT: S. 563).246 »Dies Mädchen gefiele uns, die mit den 245 Vgl. auch: »Du lebst in einer Ehe von Mal zu Mal, wenn du willst, wie man ein Stück aufführt.« (JT: S. 566, Herv. i. O.) 246 Auf den Konjunktiv in Verbindung mit Maries Umgestaltung des Jerichower Hauses weist auch Butzer hin: »Marie wollte, durch den Konjunktiv II markiert, eine Möglichkeit erproben […]« (Günter Butzer : Fehlende Trauer. München: Fink, 1998, S. 127). Vgl. auch: Marie wird »zur Garantin des Möglichkeitsstatus dieser heraufbeschworenen Vergangenheit« (Beatrice Schulz: Versuch über Marie: Erste Schritte zu einem poetischen Prinzip der
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grünen, mit den grauen Augen […]« (JT: S. 1108 f., Herv. d. V.), so wird Marie in Form des Konjunktivs, also der grammatikalischen Möglichkeitsform, beschrieben. Mit Blick auf Gesine bedeutet dies, dass sie in solchen Augenblicken eben doch noch einmal »[]angreifbar für Kinderhoffnungen [wird] […] die [sie] doch hätte verlernen müssen, wäre [sie] nicht naiv« (JT: S. 866).247 Einen solchen naiven Kinderwunsch stellt etwa ihre Hoffnung auf einen demokratischen Sozialismus in Prag dar, über den sie in einer zuversichtlichen Verfassung reflektiert: »Manchmal scheint es möglich.« (JT: S. 819) Im Gegensatz zu Schiller will Marie – und mit ihr die andere Seite Gesines – jedoch nicht akzeptieren, dass diese Möglichkeit nicht auch Wirklichkeit werden kann. Das Mögliche und das Wirkliche, beides hält Schiller streng voneinander getrennt (vgl. ÄE: S. 625), vermischen sich bei ihr. Beim Abendessen im Haus von Gesines Chef de Rosny wird dies deutlich: Marie hält tatsächlich für möglich, was in Wirklichkeit nicht einzulösen ist: »Sie hält für möglich, daß Leute in der Arbeit durch Befehlswege und unterschiedliche Vergütung Gewalt über einander haben mögen und dennoch in der freien Zeit einen Umgang haben wie gleiche Menschen.« (JT: S. 462) In ihrer eigenen Kindergesellschaft erfährt sie allerdings die Schwierigkeit der Umsetzung solcher Utopien und muss Gesine Rede und Antwort stehen, nachdem sie, in Anpassung an die Mädchengruppe, an der Halloweenparty von Marcia248 teilnimmt, um offenbar einer zuvor vollmundig angekündigten Einladung der schwarzen Mitschülerin Francine zu ihrer eigenen Feier entgehen zu können: »Übrigens war es kein Versprechen«, rechtfertigt sie sich gegenüber der Mutter, »[i]ch hielt es für möglich.« (JT: S. 249 f., Herv. i. O.) »Und warum war es nicht machbar?« (JT: S. 249 f., Herv. i. O.), entgegnet eine enttäuschte desillusionierte Gesine. Umgekehrt hält Marie für nicht möglich, was tatsächlich wirklich werden könnte: »Sie hält nicht für möglich, daß ihr auch nur Einer der zweieinviertel Millionen Fahrgäste am Tag gefährlich werden könnte, und daß sie nicht schlauer und fixer ist als alle zusammen.« (JT: S. 373) Ebenso sind die Geschichten der Protagonistin aus der Vergangenheit für deren Tochter nur »eine Vorführung von Möglichkeiten, gegen die sie sich gefeit glaubt« (JT: S. 144). Marie muss aber, wie ihre Mutter bereits zuvor, letztendlich akzeptieren, dass »[d]er betrübliche Konjunktiv […] die Möglichkeit [meint]«,249 nicht aber »Jahrestage«. In: Carsten Gansel und Nicolai Riedel (Hrsg.): Uwe Johnson zwischen Vormoderne und Postmoderne: Internationales Uwe Johnson Symposium 22.–24. 9. 1994. Berlin, New York: de Gruyter, 1995, S. 217 – 232, hier S. 218). 247 Zum Begriff des ›Naiven‹ vgl. weiter JT: S. 75 und JT: S. 818. 248 In ›Marcia‹ verbirgt sich der Name ›Marie‹. 249 Uwe Johnson: Heines Deutschlandkritik im »Wintermärchen«. In: Bernd Neumann (Hrsg.): Uwe Johnson: »Entwöhnung von einem Arbeitsplatz«. Klausuren und frühe Prosatexte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1992, S. 67 – 70, hier S. 67.
Wer ist Marie?
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Wirklichkeit.250 So bleibt die »Sache mit dem Sozialismus« (JT: S. 340) für Gesine, wie übrigens auch für D.E., eine nicht zu verwirklichende Sehnsucht oder, mit den Worten der Jahrestage, ein »Spiel mit einer nicht verfügbaren Alternative« (JT: S. 340). Was zurück bleibt, ist ein »sentimental[es]« (JT: S. 340), unerfülltes »Verlangen nach etwas Drittem« (JT: S. 340), also dem zwischen Natur und Vernunft vermittelnden dritten Trieb, dem Spieltrieb. »Manchmal«, so muss Gesine schließlich akzeptieren, »scheint es nicht möglich.« (JT: S. 819, auch S. 822) Ihre Sehnsüchte von Freiheit, Harmonie, Heimat, von moralischer Schönheit und Naivität, dies muss Gesine schmerzhaft erkennen, lassen sich nicht in die Realität umsetzen, mit ihren hohen Ansprüchen droht sie Marie zu überfordern. »Die Mutter hatte aus ihrem Europa Ideen mitgebracht, die sollte das Kind hier gebrauchen. Alle Menschen seien mit gleichen Rechten ausgestattet, oder zu versehen. Wie konnte Marie danach handeln?« (JT: S. 1024), so ergreift der Erzähler Partei für die Tochter, welche den Erwartungen der Mutter zu genügen sich häufig nicht imstande fühlt, wie sie Gesine auch selbst vorhält: So kann ich nicht leben, wie du es von mir verlangst! Ich soll nicht lügen, weil du nicht Lügen magst! Du wärst längst ohne Arbeit, und ich aus der Schule, wenn wir nicht lögen wie drei amerikanische Präsidenten hintereinander! Du hast deinen Krieg nicht aufgehalten, nun soll ich es für dich tun! (JT: S. 494)
Ob Maries Privatschule, zu der sie mit dem Schulbus auf Umwegen, die »diskret« (JT: S. 100) an den Slums vorbei führen (vgl. JT: S. 100), gelangt, oder D.E.s Tod, den Gesine ihrer Tochter verheimlicht, so dass diese weiterhin an eine Hochzeit und ein Familienleben nach der Zeit in Prag glaubt: Johnsons Hauptfigur muss sich eingestehen, dass Maries Eindruck von ihrem Leben als einer heilen Welt wie auch ihre eigene Sehnsucht, ihrem Kind eine solche Heimat zu bescheren, und damit insgeheim auch sich selbst, auf ihrer, Gesines, eigener Unaufrichtigkeit bzw. Verdrängung beruht. Die Versöhnungsästhetik des Schönen gründet auf einem »Schwindel« (JT: S. 100). »Es ist gelungen, Marie zu betrügen« (JT: S. 1745), heißt es nach D.E.s Tod und weiter : »Nun geht das Lügen an« (JT: S. 1749) – »[w]enn man sich schminkt bis zur Ankunft von Marie und dann mit Blick aus dem Fenster sitzen bleibt; vielleicht läßt es sich überstehen« (JT: S. 1745). Diese von Gesine geäußerten Worte erinnern an Schillers Formel von der »betrügerische[n] Schminke« (ÄE: S. 666), der »betrüglichen Toilettenkunst« (AW: S. 393) und dem »logischen Schein« (ÄE: S. 661 f., Anm. 19), die sich beide betrügerisch »der Wahrheit […] unter[]schieben« (ÄE: S. 662, 250 Vgl. auch: »Was Kinder so für möglich halten.« (JT: S. 322); »Manchmal scheint es möglich. […] Manchmal scheint es nicht möglich.« (JT: S. 819); »Warum ist es nicht möglich?« (JT: S. 1091); »Wäre es möglich, dahin [nach Jerichow, Anm. d. V.] zurückzugehen?« (JT: S. 382) Siehe auch: JT: S. 563 f., S. 671, S. 350, S. 365, S. 392, S. 1147.
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Anm. 19) und nichts mehr gemein haben mit dem »aufrichtigen […] Schein« (ÄE: S. 665), der sich für nichts anderes ausgibt als sich selbst. Ganz in diese Logik reiht sich Gesines Geständnis ein: »[S]ie [Marie, Anm. d. V.] ist so unaufrichtig, wie ich sie erzogen habe« (JT: S. 493).251 Gesines Einsicht, dass ihre Wünsche nach dem Schönen im Leben nicht geradlinig umzusetzen sind, macht sich bei den Diskussionen mit ihrer Tochter im Verlauf des Romans immer spürbarer bemerkbar. Parallel dazu vollzieht sich Maries Wandlung zur Erhabenheit oder anders formuliert: Die innere Stimme in Gesine, die immer wieder durchdringt, um das Schöne einzufordern, verstummt allmählich. Wenn Marie in den Jahrestagen zusehends ihre verschönende Sichtweise auf die Welt aufgibt und sich der erhabenen Haltung Gesines annähert, so legt sich damit zugleich das innere Streitgespräch in Gesine und bekräftigt umso deutlicher ihre Position des Erhabenen. Doch wie hart dieser innere Kampf Gesines ist, wie sehr sie letzten Endes an dem utopischen Standpunkt Maries festzuhalten sucht, obwohl sie um dessen Undurchführbarkeit weiß, wird deutlich, wenn sie ihre Tochter vor besonders düsteren oder schmerzhaften Abschnitten ihrer Geschichte bewahren will und sie warnt: »Marie, verzichte. […] Du wirst es bereuen.« (JT: S. 1843) Mit der Ermordung Kennedys, die den kindlichen Glauben an eine heile Welt wieder um ein Stück mehr einreißen lässt, befürchtet Gesine plötzlich, ihre Marie zu verlieren und bittet D.E. geradezu, diesen eingeleiteten Verlustprozess aufzuhalten: »Hol sie mir zurück […] Weg von den Kennedys […] Wenn das [die besessene Freude am Kummer, Anm. d. V.] von mir ist, nimm es ihr weg. Hol sie da raus. D.E.« (JT: S. 1317 f.) Und D.E. versichert: »Du kriegst sie zurück, Gesine.« (JT: S. 1324) Doch dieses Versprechen, das an eine frühere Formulierung D.E.s anknüpft – »[e]s ist versprochen, daß dir das Kind nicht weggenommen wird. […] [D]as bleibt deine Marie« (JT: S. 818) – läuft ins Leere, Maries Entwicklung in Richtung Erhabenheit ist eingeleitet und kann nicht mehr abgewendet werden. Gesine vermag nicht zu verhindern, dass Marie sich schrittweise von ihr »zurückzieh[t]« (JT: S. 1755), von Mal zu Mal »übersehen« (JT: S. 1316)252 und »verfehl[t]« (JT: S. 1317)253 wird oder gar »verl[o]ren« (JT: S. 1594) geht.254 An ihrem elften Geburtstag kündigt Marie nach dem Erhalt ihres Geschenks – die Vorführung der Wohnung, in welcher das »künftige Ehepaar Cresspahl-Erich251 Vgl. auch: »Gesine, die in ihrer Tochter ein Zerrbild ihrer eigenen (faulen) Kompromisse sieht« (Annekatrin Klaus: »Sie haben ein Gedächtnis wie ein Mann, Mrs. Cresspahl!« Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1999, S. 317). 252 Gesine sucht in der Trauergemeinschaft nach Kennedys Ermordung nach Marie, doch in der Menge »ist Marie zu übersehen« (JT: S. 1316). 253 »Es ging gar nicht anders, als sie [Marie, Anm. d. V.] auch heute zu verfehlen.« (JT: S. 1317) 254 »Oft verlieren sie [Gesine und D.E., Anm. d. V.] mich« (JT: S. 1594).
Sentimentalische Trauer um Mecklenburg
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son« (JT: S. 1593) nach der Rückkehr aus Prag zu wohnen gedenkt, mit einem eigenen Reich für Marie – überdies das Vorhaben an, »eben ein bisschen mehr allein [zu] leben« (JT: S. 1594). Marie, jenes Kind, das programmatisch den Namen ›die Schöne‹ trägt und damit zum Hoffnungsträger für Gesines Sehnsucht nach Schönheit stilisiert wird, vermag als Prinzip im Leben (Gesines) nicht zu bestehen. Vollends unerwartet dürfte diese Desillusionierung von Gesines letzten Endes erfolgloser »Suche nach einem Kind namens Marie«255 nicht sein, ist doch schließlich schon der symbolträchtige Ort, an dem Gesine einst den Wunsch nach ihrem Kind gefasst hat, nicht gerade verheißungsvoll: Das sehnsuchtbehaftete Projekt ›Marie‹ nimmt seinen Anfang in einer »Mansarde, die Anita aus einer einzigen Schilderung erkannte als ›Schillers Sterbezimmer‹« (JT: S. 1832).256
9.3
»Wo ich her bin, das gibt es nicht mehr«: Sentimentalische Trauer um Mecklenburg
Das Sentimentalische, wie es in Abschnitt 5.3 dieser Arbeit ausgeführt worden ist, bildet in der Schrift Über naive und sentimentalische Dichtung das Gegenstück zum Naiven und ist als ein weiterer Unteraspekt innerhalb von Schillers Ästhetik des Erhabenen zu betrachten. Während das Erhabene den Kampf gegen eine aufbegehrende, als unfassbare oder zerstörerische Macht erlebte Natur thematisiert, beklagt das Sentimentalische aus einer wehmütigen und melancholischen Gemütsverfassung heraus den Verlust der naiven, reinen Natur sowie der schönen Einheit des Menschen und sehnt sich zu beidem zurück. In Kapitel 9.3.1 wird gezeigt, dass auch Gesine um die unwiederbringlich verlorene naive Natur trauert,257 doch nimmt Johnson hier eine Revision ge255 Uwe Johnson: Typoskript der Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises 1971. In: Eberhard Fahlke und Thomas Wild (Hrsg.): Hannah Arendt – Uwe Johnson: Der Briefwechsel 1967 – 1975. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2004, S. 213 – 252, hier S. 221. 256 Im Jahrestage-Kommentar heißt es zu »Schillers Sterbezimmer«: »Schiller wurde in den letzten Wochen seiner Krankheit in sein Arbeitszimmer umgebettet, ein mittelgroßes Zimmer im obersten Stock seines Hauses Ecke Schillerstraße/Neugasse in Weimar. Dort, wo auch heute noch ein Bett steht, starb er. Vorher hatte er nebenan in einem Mansardengelaß von etwa 2 x 5 m mit einer Dachschräge geschlafen […]« (Holger Helbig u. a. (Hrsg.): Johnsons »Jahrestage« – der Kommentar : https://www.phf.uni-rostock.de/institut/igerman/johnson/johnkomm/default.html (07. 07. 2013), hier https://www.phf.uni-rostock.de/ institut/igerman/johnson/johnkomm/6808/680815.html#1832_14 f). 257 Auf die Motivik der »›naiven[n]‹ Jugend«, der »symbolische[n] Einheit der Figuren mit der Natur«, der »Versöhnung von Mensch und Natur«, die »zum Gegenstand einer sehnsüchtigen Erinnerung geworden« ist, hat hingewiesen: Michael Hofmann: Uwe Johnson. Stuttgart: Reclam, 2001, alle Zitate S. 40. Bereits zum Roman Ingrid Babendererde schreibt Hofmann: »Hier nimmt der Text neben den satirischen auch elegische Züge an, indem er
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… und geht ins Erhabene über: Jahrestage
genüber Schillers Konzept vor. In ihrer sentimentalen und elegischen258 Erinnerung an bestimmte Episoden ihrer Kindheit in Mecklenburg muss Gesine erkennen, dass das scheinbare Naive nie naiv war, es tatsächlich nie in dieser Weise existiert hat. Mit erhabener Gefasstheit und Selbstbeherrschung akzeptiert und erträgt Gesine den Verlust der vermeintlich naiven Natur und den damit einhergehenden Schmerz. In dieser erhaben-sentimentalischen Gemütslage, die den Verlust naiver Natur uneingeschränkt anerkennt, sucht sie – ganz in der Logik von Schillers Sentimentalitätskonzept – von Zeit zu Zeit Natur dort auf, wo sie entweder noch in kleinen, zunehmend schwindenden Restbestsänden anzutreffen ist oder wo sie künstlich und zum Schein nachgebildet wird, um sich für einen kurzen Augenblick in der Idee einer harmonischen menschlichen Daseinsweise zu versenken. Hiermit, und mit Gesines sentimentaler, nur sehr vereinzelter Hinwendung zur Kunst, beschäftigen sich die Abschnitte 9.3.2 und 9.3.3.
9.3.1 »Ein köstlicher Schmerz«: Elegische Erinnerungen an glückliche Kindheitstage Exemplarisch für Gesines Trauer um den Verlust eines Lebens im Einklang mit der Natur, das zugleich Bedingung für die Erfahrung einer ganzheitlichen Existenz ist, sollen hier ihre sentimentalen Erinnerungen259 an die Zeit, die sie mit ihren Verwandten – Alexander und Hilde Paepcke sowie deren Kindern Eberhardt, Alexandra und Christine – verlebte, herangezogen werden.260 261 Diese Frühlings- und Sommerwochen scheinen rückblickend eine der schönsten ihrer Kindheit gewesen zu sein, voller Freude und Geborgenheit, Freiheit,
258 259 260 261
ganz im Sinne Schillers die Trauer um den Verlust von Natur und Ideal artikuliert.« (Ebd., S. 62) Vgl. ebd., S. 186, S. 198. Vgl. eine variierende Verwendung des Begriffs der sentimentalen Erinnerung bei Peter van Suntum: Die Ästhetik des Erhabenen und die Repräsentation des Leidens im Werk von Peter Weiss. Madison: UMI Microform, 2002, S. 10 – 21. Zur Zeit bei den Paepckes vgl. allgemein auch Sigrun Storz-Sahl: Erinnerung und Erfahrung: Geschichtsphilosophie und ästhetische Erfahrung in Uwe Johnsons Jahrestagen. Frankfurt a. M.: Lang, 1988, S. 204 – 208, S. 254 f., S. 258 f. Zu den Ferien auf Fischland vgl. auch Annekatrin Klaus: »Sie haben ein Gedächtnis wie ein Mann, Mrs. Cresspahl!« Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1999, S. 345; Hille Haker : Moralische Identität: Literarische Lebensgeschichten als Medium ethischer Reflexion. Mit einer Interpretation der Jahrestage von Uwe Johnson. Tübingen, Basel: Francke, 1999, S. 224 f.; Peter Pokay : Utopische Heimat. Uwe Johnsons »Jahrestage«. In: Studia Germanica Posnaniensia Bd. X (1982), S. 51 – 76, hier S. 58. Zum Thema Heimatverlust siehe auch Sabine Fischer-Kania: Geschichte entworfen durch Erzählen: Uwe Johnsons »Jahrestage«. Münster : LIT Verlag, 1996, S. 94 ff.
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Ganzheit und Harmonie, in der sie auf beglückende Weise jene spielerische menschliche Daseinsweise erfährt, wie Schiller sie in seiner Lehre vom Schönen entfaltet. Dementsprechend sind die genannten Erinnerungspassagen leitmotivisch durchzogen mit dem Vokabular und der Motivik aus Schillers Ästhetik des Schönen. Die sehnsüchtig erinnerte kindliche, scheinbar naive Daseinsweise spiegelt sich in ausführlichen Schilderungen der Schönheit idyllisch-anmutiger, ursprünglicher und nahezu unverdorbener Natur wider.262 Besonders eindrücklich wird die Naturschönheit in jener Episode der Jahrestage ausgemalt, als Gesine mit den Paepckes Ferien auf Fischland macht. Nicht zufällig ist »[d]as Fischland […] das schönste Land in der Welt« (JT: S. 1495). Die Beschreibung der mecklenburgischen Landschaft erfolgt zwar nicht ganz so überschwänglich und ausgelassen wie in Ingrid Babendererde, aber dennoch in einer für die Jahrestage ungewohnt poetischen, ›schönen‹ Sprache, die sonst in Johnsons Hauptwerk hinter eine nüchterne und sachliche Darstellungsweise zurücktritt.263 Vor das innere Auge Gesines treten Bilder eines wilden Gartens (JT: S. 880), des »morgenweißen Bodden[s]« (JT: S. 880 f.) mit dem »Widerschein des Lichtes« (JT: S. 953) darin, von »fransigen Wolkenbooten im Himmel« (JT: S. 953) und schattigen Dorfwegen (JT: S. 880). Die Rede ist von »[s]o klare[m] Wasser« (JT: S. 881) »aus dem Brunnen auf dem Hof« (JT: S. 881), wie Gesine es »nie wieder gesehen« (JT: S. 881) hat und von »Häusern in großartigen Farben, in dem berühmten Blau, mit Gärten, die gegen den Wind geschützt waren, südlich von der Sonne gepflegt, tief unter dem hohen Anstieg zum Weg, mit Malven in allen Farben bis zum Dach« (JT: S. 953). Die Landschaft hinterlässt einen so erfreulichen und angenehmen Eindruck, dass Malerinnen den Anblick auf ihren Leinwänden festzuhalten suchen (JT: S. 953).264 Das Kind Gesine lebte bei den Paepckes wie in einem von der übrigen Welt abgeschlossenen Parallelzustand, scheinbar frei und losgelöst von geschichtlichen Determinationen wie dem Zweiten Weltkrieg, von dem man, zumindest auf
262 Vgl.: »Die charakteristischen Merkmale dieser Erinnerungs- und Wunschlandschaft sind ›schwingend‹ und ›leuchtend‹. Leichtigkeit, Bewegung, Helle, Weite ausdrückend, machen sie die für Gesine unerreichbar gewordene Schönheit der heimatlichen Landschaft zur utopischen Signatur von – ebensowenig erreichtem – menschlich-gesellschaftlichem Gelingen.« (Norbert Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons. Jahrestage und andere Prosa. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1997, S. 358) Vgl. auch: »Die Landschaft ist für ihn [Johnson, Anm. d. V.] im Grunde eine verlorene Idylle […]« (Wolfgang Paulsen: Innenansichten: Uwe Johnsons Romanwelt. Tübingen, Basel: Francke Verlag, 1997, S. 205). 263 Vgl.: »die sehr sparsame Naturdarstellung in Jahrestagen [enthält sich] sentimentaler Poetisierung« (Norbert Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons. Jahrestage und andere Prosa. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1997, S. 356). 264 Vgl. ausführlich die Naturbeschreibungen: JT: S. 880 f., S. 953.
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Fischland, kaum etwas mitbekam.265 Auch bei ihrem ersten längeren Aufenthalt 1938 hat sie dort keine Pflichten, keine Beschwernis. Wenn Gesine und Alexandra sich anboten für einen Gang zum Kaufmann, gab Hilde sich ein grüblerisches Aussehen und war imstande, abzulehnen, wenn sie erst noch ein neues Spiel für die Kinder gefunden hatte (JT: S. 836 f.).
Und wenn Gesine doch einmal Milch holte, war sie »frei zu gehen, wohin sie wollte« (JT: S. 1493). Sie erfährt einen Zustand des vermeintlich paradiesischen Einklangs mit sich selbst und der Natur, es scheint sich um eine abgeschottete Kinderwelt der Schönheit und der spielerischen Leichtigkeit zu handeln. Häufig »spielte Alexander mit ›seinen‹ Kindern Mensch Ärgere Dich Nicht« (JT: S. 883) und lässt dabei die neue Regel zu, »daß eine Figur auf den Ausgangsfeldern aller Farben frei ist« (JT: S. 883) – Name und Prinzipien dieses Spiels werden hier zum Programm und zur Lebensphilosophie. Bei den Paepckes muss sich kein Kind ärgern – im Gegenteil: Baden (JT: S. 840), Singen (JT: S. 840), Malen (JT: S. 840), Vorlesen (JT: S. 839) und Picknicken mit allerlei Leckereien (JT: S. 840) stehen auf der Tagesordnung. Reife, süße Erdbeeren werden mit silbernen Gabeln gegessen am Tisch im Garten, und Hilde häufelte der Gesine immer neue Haufen auf den Teller. Das Kind aß so andächtig, ihm ging erst zum Schluß auf, dass alle ihm zugesehen hatten, hilflos von stillem Lachen, ohne Neid. (JT: S. 836)
Die Kinder veranstalten einen »Maskenball« (JT: S. 840), sie suchen Blaubeeren im »Mückenwald« (JT: S. 954) und genießen sie abends zusammen mit Milch (JT: S. 954), sie träumen sich, »unter Kiefern und Akazien« (JT: S. 840) liegend, fort ins Land der Indianer (JT: S. 841). »[D]ie Kinder machten ein Spiel mit den Erwachsenen. Sie eröffneten einen Blumenladen in der Veranda, verkauften eine Butterblume für einen Pfennig, ein Gänseblümchen für zwei Pfennige« (JT: S. 955) und verwandeln nach der Ernte die »Hocken« (JT: S. 954) in »indianische Zelte zum Spielen« (JT: S. 954). Bei alldem »wurde ein Kind nicht gestört« (JT: S. 840 f.). Eine phantasievolle Parallelwelt eröffnet sich für Gesine auch in ihren Märchen: Sie liest sich regelrecht »ins Morgenland […], schritt auf Marmorstufen hinab zum Wasser, wo große Fische anlegten, und war Harun al-raschid« (JT: S. 883). Ähnlich der durch das Schöne erfahrbaren Lust, so erinnert Gesine »ein Gefühl von ansteckender Begeisterung, von dem Vergnügen, bei solchem Leben dabeizusein« (JT: S. 837 f.). Alles wird zum spielerischen Kinderfest:
265 »In der Nacht bombardierten die Alliierten Hamburg. Hamburg war vom Fischland aus nicht zu sehen. […] Es war ein ganz stiller Sommer. In der Luft waren nicht die Flugzeuge wie in Jerichow. Das morgendliche Wummern der Küstenbatterie, am Tag war es vergessen wie das nächtliche Nebelhorn, das auch nicht zu sehen war.« (JT: S. 885 f.)
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Ob es nun der Anfang des Frühlings war oder der Geburtstag einer der beiden Katzen, solche Ereignisse wurden heftig gefeiert. Und wenn der Himmel mit drohendem Regen bezogen war, Hilde half doch dem Dienstmädchen Auguste Lampions im Garten aufziehen. Jedes Mal lud sie sich den Garten voll mit Kindern […] Gespielt wurde Zuplinkern, Hänschen Piep, Musical Chairs, und Hilde schummelte ohne Hemmungen, wenn ein Kind in Gefahr war, zu oft zu verlieren. Wenn sie dem Kind mit den verbundenen Augen den Topf dichter unter den hilflos tastenden Stock schob, sah sie die anderen verschwörerisch an, und alle waren mit der Schmälerung des eigenen Gewinns einverstanden. Der Schriftsteller mag es nicht schreiben, und doch war es Hilde: schön von (gestrichen). (JT: S. 838, Herv. d. V.)
»Der Schriftsteller« hat die eben zitierte Textstelle also verändert. Ursprünglich stand hier : ›Und doch war es schön von Hilde.‹ Das Attribut des Schönen, das sich auf die heitere, gelöste Lebensweise bezieht, welche die Paepckes den Kindern bescheren, wird im Nachhinein durchgestrichen und damit als ungültig und unwahr gewertet. Denn Gesine erkennt im Nachhinein nicht nur, dass es keine Rückkehr zum Schönen und Naiven gibt,266 sondern vor allem, dass diese naive Schönheit, so wehmütig sie dieser auch gedenkt, nie wirklich gewesen ist. Ähnlich den verbundenen Augen beim Spielen, so ist auch die kleine Gesine blind dafür, was sich in Realität um sie herum ereignet. Tatsächlich existiert außerhalb der kindlichen Scheinwelt Geschichte in ihrer grausamsten und unmenschlichsten Ausprägung. Alexander und Hilde blenden ihren Kindern zuliebe, so weit dies möglich ist, die Fakten der geschichtlichen Welt, des Zweiten Weltkriegs und der Konzentrationslager aus267 – »[d]ie Kinder sollten nichts merken« (JT: S. 956).268 Die Kinder leben in einer Sphäre des schönen Scheins, dies gibt in bildlicher Sprache auch die Ferienunterkunft der Paepckes zu verstehen. Das Haus, in dem Gesine mit ihren Verwandten auf Fischland wohnt, hat einst »einem Maler [gehört], der an den Katen ein Atelier angebaut hatte. […] Die Kinder waren im ›Attelj¦‹ untergebracht« (JT: S. 880) – also in einem Raum, welcher der schönen Kunst gewidmet ist. Das »Fürstenzimmer« (JT: S. 880) aber, ein Hinweis auf die Sphäre des Erhaben-Würdevollen, »blieb abgeschlos266 Die mecklenburgische Heimat ist für Johnson »[e]twas Verlorenes. Wer es einmal aufgegeben hat, darf nie zurück« (Bernd Neumann: Uwe Johnson. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt, 1994, S. 832). 267 Gesine wusste zwar vom Krieg, aber nicht von dessen Ausmaßen und erst recht nichts von der Existenz der Konzentrationslager ; erst mit 12 Jahren erfuhr sie davon. 268 Mit dem bewussten Ignorieren von Radio, Zeitung und Uhren als Symbole für Geschichtlichkeit greift Johnson auf eine in den hier untersuchten Romanen häufig eingesetzte Motivik zurück. Vgl.: »Paepcke war entschlossen zu Ferien. Keine Zeitungen. Nichts da, Radio!« (JT: S. 881) Wenn die Paepckes Ferien machten, »mußte seine [Alexanders, Anm. d. V.] Familie sich nach keiner als seiner Uhr richten« (JT: S. 878) – und die gab einen anderen Takt vor. In diesem Sinn lässt sich Alexander »etwas geniert versprechen, daß Gesine es [den Tod der Kinder Martin, Matthias und Marlene Brüshaver, Anm. d. V.] seinen Kindern nicht erzählen werde.« (JT: S. 879)
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sen« (JT: S. 880). Wo sich Geschichte nicht restlos vertuschen lässt, wie das dumpfe Geräusch, das die Schießübungen der Küstenbatterien verursachen, wird sie ironisiert, verspottet und auf diese Weise verharmlost: »Er [Alexander, Anm. d. V.] fluchte auf das Militär, das schon wieder hier war wie der Swinegel« (JT: S. 880), oder er beschimpfte »die Großdeutsche Wehrmacht wegen ungebührlichen Benehmens« (JT: S. 953). Den zum Teil beschönigten Erinnerungen an die Ferien auf Fischland und die scheinbar idyllische Zeit mit den Paepckes hält Gesine immer wieder ihre inzwischen erworbenen Kenntnisse entgegen – und widersetzt sich damit willentlich dem Illusionssog, in den sie ihre sentimentale Erinnerung allzuleicht hineinzuziehen droht:269 Heute weiß ich, daß die Ferien von anderer Art waren. Nicht weit von Althagen, auf der anderen Seite des Saaler Boddens, war das Konzentrationslager Barth. Darin wurden Häftlinge aus der Sowjetunion, aus Holland, aus der Tschechoslowakei, aus Belgien, aus Ungarn gehalten und mußten für einen ausgelagerten Betrieb der Ernst Heinkel Flugzeugwerke A.G. arbeiten. Der tschechische Arzt Dr. Stejskal hat eine Liste geführt über die Frauen und Männer, die auf dem Friedhof von Barth in Massengräbern beerdigt wurden. […] Wir wußten es nicht. […] Wir haben nichts gesehen. Die Bahnstrecke, auf der Cresspahls Kind zum Fischland kam, passierte Rövershagen. In Rövershagen war ein Konzentrationslager, dessen Häftlinge für die Ernst Heinkel Flugzeugwerke A.G. arbeiten mußten. Heute weiß ich es. (JT: S. 955)270
Fast ebenso schmerzhaft wie das allmählich aufkommende Bewusstsein des Holocausts ist für Gesine die Erkenntnis darüber, welcher beruflichen Tätigkeit »Alexander Paepcke, der Künstler im Leben wie im Zaubern« (JT: S. 635), nachgegangen ist: »Aus der Zeit nach dem Krieg weiß ich: Alexander hatte in der Organisation Todt Zivilpersonen zur Arbeit einweisen müssen, die die S.S. ihm aus der sowjetischen Bevölkerung zuführte.« (JT: S. 956) So sehr sich Alexander und Hilde auch bemühen, ihren Kindern die Zeitumstände mit all ihren Auswirkungen zu verschleiern, so können sie ihnen doch nicht entgehen. Geschichte ereilt die Familie buchstäblich mit Leib und Leben – bis auf Alexander überleben sie den Krieg nicht. Von ihrem Tod erfahren Gesine und ihr Vater Heinrich Cresspahl erst, »als Hilde Paepcke mit Alexandra und Eberhardt und Christine 269 »Die Jahrestage greifen auf eine ausgefeilte literarische Technik zurück, die es erlaubt, die Erinnerungen an heimatliche Landschaft und ›Natur‹ gleichzeitig zu evozieren und kritisch zu relativeren (wobei insgesamt nicht so sehr die Erfahrungen der Nachkriegswelt, sondern deutlicher der ›Zivilisationsbruch‹ Auschwitz als das einschneidende Ereignis verstanden wird, das eine naive Rückkehr zu harmonischen Bildern von Heimat ausschließt.« (Michael Hofmann: Uwe Johnson. Stuttgart: Reclam, 2001, S. 63) Hofmann zufolge zeige Johnson, »in seinen Texten […], warum die grundsätzlich erstrebte Idylle in der geschichtlichen Erfahrung unseres Jahrhunderts nur als eine verlorene denkbar und darstellbar ist« (ebd., S. 41). 270 Vgl. auch die nachträgliche Gegenüberstellung der Ferienerlebnisse in Fischland mit dem Leiden Anatol Kreslils, Gesines Tschechischlehrer in New York (JT: S. 926).
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schon begraben waren in einem Grab, das wir nach dem Krieg nicht finden konnten« (JT: S. 973). Im Jahr 1967/68 macht sich Gesine über diese in ihren Kindertagen erlebte scheinbar unbeschwerte Zeit voller Spiel und Heiterkeit, Freiräumen und Zwanglosigkeit keine Illusionen mehr : »Hätte Cresspahl sein Kind bei den Paepckes gelassen, es wäre lange tot.« (JT: S. 853) Die Geschichte hat das Schöne und Naive eingeholt, es ist verloren, genauer : es war nie existent, sondern entlarvt sich als Schein.271 Das Wissen von den Konzentrationslagern unweit des Ferienortes auf Fischland relativiert, überdeckt und zerstört letztendlich Gesines Erinnerungen an die einst als harmonisch erlebte Zeit: In Althagen gab es ein Spiel, da setzte sich Alexandra Paepcke auf die eine Seite des Drehkreuzes im Grenzzaun, Gesine auf die andere, beide drehten sich und sangen: Jetzt bin ich in Pommern! Jetzt bin ich in Mecklenburg! Das Drehkreuz, die Ferien weiß die Erinnerung von diesem Sommer. Er war nicht so. (JT: S. 956)
Der erfreuliche Anblick der Möwen, »verspielte Flieger« (JT: S. 243) im Wind, mit dem »doch Strähnen […] von ausgeruhter Erde, von kommender Blüte« (JT: S. 243) zu flattern schienen, ist mit dem Wissen um die Erfahrungen von 1933 bis 1945 nicht vereinbar. Wenn Gesine, die sich in Jerichow nie abgemeldet hat (JT: S. 383), zuweilen die Frage stellt: »Wäre es möglich, dahin [nach Mecklenburg, Anm. d. V.] zurückzugehen?« (JT: S. 382), so ist die illusionslose Antwort darauf eindeutig: »Dahin zurück darf ich nicht. Das ist weit von hier« (JT: S. 490) oder : »Wo ich her bin das gibt es nicht mehr.« (JT: S. 386)272 Für die unwiederbringliche Zerstörung und den Verlust des einstigen kindlichen Glaubens an das Schöne und Naive steht symbolisch das Scheitern des Erinnerungsversuchs,273 noch einmal einzutauchen »in das Licht der Sonne von damals« (JT: S. 1493 f.) und in das damit verbundene vergangene Lebensgefühl. Johnson verweigert seiner Protagonistin den gedanklichen und gefühlsmäßigen Wiedereintritt in eine ehemals als naiv empfundene Zeit, die in Wahrheit niemals naiv war.274 So 271 Vgl. auch: »So der dick bedeckte Tag aus Dunst über dem jenseitigen Flußufer, über den austrocknenden Laubfarben vor dem verwischten Wasser, verspricht einen Morgen in Wendisch Burg, das Segelwetter zum Morgen vor vierzehn Jahren, erzeugt Verlangen nach einem Tag, der so nicht war, fertigt mir eine Vergangenheit, die ich nicht gelebt habe, macht mich zu einem falschen Menschen, der von sich getrennt ist durch die Tricks der Erinnerung.« (JT: S. 125) 272 »Dahin will ich nicht zurück.« (JT: S. 1008) 273 Zur utopischen Bedeutung der Erinnerung und zur Proust’schen Unterscheidung der willkürlichen und unwillkürlichen Erinnerung siehe Sigrun Storz-Sahl: Erinnerung und Erfahrung: Geschichtsphilosophie und ästhetische Erfahrung in Uwe Johnsons Jahrestagen. Frankfurt a. M.: Lang, 1988, S. 107 – 128. 274 Vgl.: »Gesine konnte es denken. Sie konnte es sich vorstellen als geschrieben. Es war nicht da. […] Sie fragte sich, ob sie das dereinst auch werde vergessen haben und bloß noch in Worten aufbewahrt.« (JT: S. 1494 f.)
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kann Gesine die einst bei einem Kinderspiel erlebte Empfindung »nicht wieder finden« (JT: S. 9), auch erinnert sie sich nicht mehr an den Geruch des mit Kuchenduft erfüllten Geschäfts von Frau Saatmann auf Fischland: »Nach dem Krieg habe ich nicht wiedergefunden bei Malchen Saatmann, wie der Laden roch.« (JT: S. 882) Solche Leerstellen werden ausführlich im vierten Band der Jahrestage erklärt: Die Erinnerung blieb weg, es kam bloß der Anstoß an eine Minute Vergangenheit, der so sich nennt. Was aber sie meinte, war der Eintritt in die ganze Zeit der Vergangenheit, der Weg durch das stockende Herz in das Licht der Sonne von damals. […] [D]as Gefühl der Annäherung lag verkapselt im Gedächtnis, begraben gleichsam, wurde nicht lebendig. […] Alles das brachte die verlorene Zeit nur wieder als einen Gedanken: Als wir …; die gedachten Worte kamen nicht zum Leben. (JT: S. 1493 f.)275
Wenn Gesine überlegt, »ob sie das [das »freundlich verstreute[], heimliche[] Licht« von Frau Saatmanns Zimmer, Anm. d. V.] dereinst auch werde vergessen haben und bloß noch in Worten aufbewahrt« (JT: S. 1495), so ist dies eine direkte Anspielung auf den am Ende des Ingrid-Romans begonnenen Diskurs über Erinnerung und Vergessen. Die Sorge von Ingrid und Klaus, sie könnten das authentische Gefühl von Ganzheit, Harmonie und Schönheit eines Tages vergessen haben (vgl. Abschnitt 8.3.4 dieser Arbeit), bewahrheitet sich nun bei Gesine: »Die Katze Erinnerung« (JT: S. 670), deren Augen in Ingrid Babendererde, kurz vor Ingrids und Klaus’ Verlassen Mecklenburgs, zum ersten Mal auffunkeln, zeigt sich für Gesine immer weniger ; so verlockend sie auch ist, sie bleibt doch »[u]nabhängig, unbestechlich, ungehorsam […] unerreichbar« (JT: S. 670): Das Stück Vergangenheit, Eigentum durch Anwesenheit, bleibt versteckt in einem Geheimnis, verschlossen gegen Ali Babas Parole, abweisend, unnahbar, stumm und verlockend wie eine mächtige graue Katze hinter Fensterscheiben, sehr tief von unten gesehen wie mit Kinderaugen. (JT: S. 64)
Johnsons Position knüpft unweigerlich an Schillers Gedanken zum Verlust naiver Schönheit an und geht doch zugleich über sie hinaus. Wenn Schiller feststellt: Wahre Schönheit, wahre Naivität ist in der Welt nicht mehr aufzufinden, so korrigiert Johnson: Wahre Schönheit und Naivität sei in der Welt noch nie auffindbar gewesen. Es handelt sich bei Gesine also nicht um eine sentimentalische, wehmütige Trauer um die verlorene naive Natur,276 sondern um die 275 »Zurückgehen in die Vergangheit, die Wiederholung des Gewesenen: darin noch einmal zu sein, dort noch einmal einzutreten. Das gibt es nicht.« (JT: S. 63) 276 Vgl.: »die Romanheldin und der ›Genosse Schriftsteller‹ klagen nicht im Schillerschen Sinne sentimentalisch über einen (Heimat)verlust, konfrontieren jedoch die Vergangenheit auch keinesfalls naiv, sondern kritisch.« (Martina Kolb: Gesine Cresspahls MecklenburgManhattan-Transfer und seine Konsequenzen: Zwei un-heimliche Zeit-Räume in Uwe
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Trauer angesichts einer Idee des schönen Naiven, das zwar ersehnt, aber so nie war und so nie werden kann. Die Suche nach der »verlorene[n] Zeit« (JT: S. 1494)277 endet somit mit einem doppelten Scheitern:278 Es gibt kein Zurück, es gab nie eines, nach Fischland, dem schönsten Land in der Welt.279 Es ist der »Blick des Sentimentalischen«,280 der »die Dinge ›naiv‹ werden [lässt].«281 Von alldem geblieben ist nur jenes nach Schiller für den sentimentalischen Menschen typische gemischte Gefühl bestehend aus Lust und Unlust, Wehmut und süßer Melancholie: ein »köstlicher Schmerz« (JT: S. 953)
9.3.2 »Eine Veranstaltung von Gartenkunst«: Gesines Wohngegend am Riverside Drive und die Sehnsucht des sentimentalischen Menschen nach der naiven Natur Der sentimentalisch gestimmte Mensch mag den Verlust der naiven Natur zwar weitgehend akzeptieren, zurück bleibt gleichwohl die Sehnsucht nach dem vermeintlich verlorenen Glück. Dieses sentimentalische, »zum Bedürfnis erhöhte Interesse« (NSD: S. 70) an Natur und Landschaft, wo sie entweder noch in kleinen Restbeständen anzutreffen ist oder – immer häufiger – künstlich und zum Schein nachgebildet wird, in welchem zumindest die Idee schöner, naiver
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Johnsons psychologischem Romanwerk »Jahrestage«. In: Monatshefte für deutschsprachige Literatur und Kultur 92.1 (2000), S. 35 – 53, hier S. 50) Zum Proust-Zitat »Suche nach der verlorenen Zeit« vgl. Walter Schmitz: Uwe Johnson. München: Beck, 1984, S. 90; Heinz D. Osterle: Strukturfragen und Todesgedanken. Eine rätselhafte Deutsch-Amerikanerin. In: Heinz D. Osterle (Hrsg.): Bilder von Amerika. Gespräche mit deutschen Schriftstellern. Münster : EAST, 1987, S. 11 – 135, hier S. 125; Sigrun Storz-Sahl: Erinnerung und Erfahrung: Geschichtsphilosophie und ästhetische Erfahrung in Uwe Johnsons Jahrestagen. Frankfurt a. M.: Lang, 1988, S. 21; Norbert Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons. Jahrestage und andere Prosa. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1997, S. 231 ff. Zu Gesines scheiternder Suche vgl. Heinz D. Osterle: Strukturfragen und Todesgedanken. Eine rätselhafte Deutsch-Amerikanerin. In: Heinz D. Osterle (Hrsg.): Bilder von Amerika. Gespräche mit deutschen Schriftstellern. Münster : EAST, 1987, S. 11 – 135, hier S. 125; Michael Hofmann: Uwe Johnson. Stuttgart: Reclam, 2001, S. 40; Sigrun Storz-Sahl: Erinnerung und Erfahrung: Geschichtsphilosophie und ästhetische Erfahrung in Uwe Johnsons Jahrestagen. Frankfurt a. M.: Lang, 1988, S. 101; Colin Riordan: »Die Fähigkeit zu trauern.« Die »Toten« und die Vergangenheit in Uwe Johnsons »Jahrestage«. In: Carsten Gansel (Hrsg.): Wenigstens in Kenntnis leben: Notate zum Werk Uwe Johnsons. Neubrandenburg: Federchen Verlag, 1991, S. 62 – 76, hier S. 67. »Es gibt kein Zurück in die vermeintlich heile Kinderwelt der ›Heimat‹: Mecklenburg hat immer schon ›aufgehört‹ […]« (Michael Hofmann: Uwe Johnson. Stuttgart: Reclam, 2001, S. 61, auch S. 160). Carsten Zelle: Über naive und sentimentalische Dichtung (1795/96). In: Matthias LuserkeJaqui (Hrsg.): Schiller-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar : Metzler, 2005, S. 451 – 479, hier S. 455, vgl. auch S. 458. Ebd., S. 455, vgl. auch S. 458.
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Natur und damit einer spielerischen freiheitlichen Daseinsweise des Menschen für einen Moment erfahrbar ist, lässt sich erkennbar an Gesine aufzeigen. Die sentimentalische Zuwendung Gesines zur Natur und ihr Wunsch nach Freiheit und Nichtdeterminiertheit kommt vorwiegend in der Freizeit oder im Urlaub zum Vorschein, zu jenen Zeiten also, die Gesine – zumindest im Vergleich zur streng reglementierten Arbeitswoche – relativ selbstbestimmt zu gestalten vermag. So sind die Wochenenden durch die scheinbare Abwesenheit von Geschichte gekennzeichnet: Gesine, die ihre Zeitungslektüre ansonsten mit äußerster Gewissenhaftigkeit und strenger Regelmäßigkeit betreibt, was zugleich immer auch bedeutet, dass sie die politischen Ereignisse im Blick behält, versäumt eine Ausgabe der New York Times ausgerechnet wegen einer Fahrt ins Grüne – »[ü]ber dem Ausflug [nach Staten Island, Anm. d. V.] hat sie die New York Times verpaßt« (JT: S. 72).282 Und der Wecker, der in Bezug auf Zeit- und Geschichtssymbolik eine ähnliche Funktion wie ihr Tagesblatt erfüllt, verweigert an einem arbeitsfreien Samstag seine Dienste; es dürfte kein Zufall sein, dass ausgerechnet Marie, der schöne Schein, hier etwas nachhilft: »Früh morgens schleicht sie [Marie, Anm. d. V.] auf blanken Füßen an Gesines Bett, stiehlt ihr den Wecker« (JT: S. 66). Doch bei alldem herrscht in Gesine stets das Bewusstsein darüber vor, dass die Urlaubstage die Frei-Zeit, also das Freisein von Zeit, nur suggerieren, davon tatsächlich lediglich einen Schein erzeugen, ein bloßes »Gefühl der Ferien« (JT: S. 272) oder, mit Maries Worten, »die Außenseite von Ferien« (JT: S. 1224, Herv. i. O.). An eben diesen vermeintlich geschichtsfreien Wochenenden gibt sich Gesine ihrer sentimentalischen Sehnsucht nach einer ganzheitlichen Daseinsweise hin und lässt sich bereitwillig von Marie zum Schwimmen und Bootfahren ermuntern,283 also zu jenen Tätigkeiten, in denen Ingrid in Johnsons erstem Roman förmlich aufgeht und die Ausdruck ihres natürlichen Wesens sind, das in Übereinstimmung mit der freien Natur handelt. Einen wesentlichen Bestandteil der Wochenendgestaltung nehmen die Landausflüge etwa nach Vermont, Staten Island oder New Jersey284 ein und abermals ist es Marie, die ihre Mutter spie282 Vgl. auch: »Wenn sie an einem Tag am Strand die Zeitung verpaßt hat« (JT: S. 15); »Es ist ein Tag außerhalb der Welt.« (JT: S. 272); »Es geht uns nichts an, wir sind hier Gäste, wir sind nicht schuldig.« (JT: S. 90); »Was geht mich das an!« (JT: S. 1714); »Kein Wort über den Krieg. […] Als wäre Frieden.« (JT: S. 908) 283 »Sonnabend ist der Tag der South Ferry. Der Tag der South Ferry gilt als wahrgenommen, wenn Marie mittags die Abfahrt zur Battery ankündigt.« (JT: S. 90); »(Sonnabend ist der Tag der South Ferry, wenn Marie ihn dazu erklärt.)« (JT: S. 115) 284 Vgl.: »Im Gegensatz dazu [zu den Slums etc., Anm. d. V.] wirken andere Stadtgegenden als Oasen des Friedens und der Schönheit: die vornehmen Villen am Long Island-Sund und vor allem die Atlantikstrände von Staten Island […]« (Monique Boussart: Zur Darstellung der »kleinen Welten« innerhalb der Großstadt in Uwe Johnsons Romanzyklus »Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl«. In: Christian Drösch, Hubert Roland und St¦phanie
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lerisch zur »Reise nach Amerika« (JT: S. 1008) auffordert – diese Formulierung knüpft an den Namen des Kinderspiels ›Reise nach Jerusalem‹ an und verweist dadurch auf die Sphäre des Spiels285 – um mit ihr die noch rudimentär erhaltenen ländlich-natürlichen Seiten Amerikas, »nutzlos und schön« (JT: S. 151), zu entdecken und einen »Tag freier Zeit auf dem Lande« (JT: S. 1334) zu verbringen.286 Spaß bereitet es dem Kind darüber hinaus, so zu tun, als ob es selbst die Mutter in dem eigens für den Ausflug gemieteten Wagen an den Ferienort chauffiert: »[D]as Kind spielt. Sie spielt Autofahren.« (JT: S. 150) Nicht zufällig dürfte das Auto-Mobil als jenes Spielzeug gewählt sein, welches das Erleben von Schönheit und Freiheit ermöglicht, impliziert doch das von griechisch »autûs«287 abstammende Wort den Aspekt des »Selbst«,288 der eigenen Person,289 und kann in Beziehung zum Gedanken der ›Auto-Nomie‹, also der Selbstgesetzgebung290 gesehen werden. Das zusammen mit ihren Kolleginnen Amanda und Naomi initiierte Experiment, ein gemeinschaftliches, kommunenartiges Leben mitten in der Natur zu führen, scheitert indes und Gesine kommentiert rückblickend und enttäuscht das vorzeitig abgebrochene Unterfangen: »Es hatte ein Spiel sein sollen. Wie wir alle leben könnten in diesem Haus an der See« (JT: S. 1256).291 Immer öfter, besonders in Stadtnähe, zeigt sich Natur jedoch als eine krankende und dahinsiechende; sie »zerfällt« (vgl. JT: S. 151) regelrecht und damit auch »das arkadische Bild« (JT: S. 151) von ihr. Gesine, die ihren in die Ferne gerichteten Blick eben noch über den Atlantik schweifen ließ, fokussiert unterdessen von nah seine »schwarzen, verseuchten, stinkenden Uferstreifen« (JT: S. 151). Der Hudson wiederum ist »so vergiftet […] von der Industrie, Menschen dürften da nicht einmal baden« (JT: S. 1190).292 Wo Natur in ihrer ursprünglichen und unverfälschten Form nicht mehr anzutreffen ist, wird sie nach ihrem eigenen Muster zum Schein nachgebildet, um das Verlangen des zerrissenen, von sich selbst um seine eigene Natur betrogenen Menschen nach Versöhnung
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Vanasten (Hrsg.): Literarische Mikrokosmen: Begrenzung und Entgrenzung. Brüssel: Lang, 2006, S. 147 – 158, hier S. 150). Vgl. dazu auch Gesines »Reise nach Jerichow« (MJ: S. 286, S. 194) in den Mutmassungen über Jakob. Vgl. Pokay : »Auch auf andere Landschaften außerhalb der Metropole trifft der Zusammenhang von elegischer, satirischer und idyllischer Dichtung zu.« (Peter Pokay : Utopische Heimat. Uwe Johnsons »Jahrestage«. In: Studia Germanica Posnaniensia Bd. X (1982), S. 51 – 76, hier S. 61) Duden. Das Herkunftswörterbuch. Bd. 7. Mannheim u. a.: Dudenverlag, 2001, S. 59. Ebd., S. 59. Ebd., S. 59. Ebd., S. 60. Vgl.: »Es sollte ja ein Spiel sein.« (JT: S. 1261, Herv. i. O.) Auf die Umweltproblematik geht auch Storz-Sahl ein: Sigrun Storz-Sahl: Erinnerung und Erfahrung: Geschichtsphilosophie und ästhetische Erfahrung in Uwe Johnsons Jahrestagen. Frankfurt a. M.: Lang, 1988, S. 135.
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zu mildern.293 Das ist der Fall bei Gesines wohlsituierter Wohngegend am Riverside Drive,294 deren künstliche Schönheit bei genauer Lektüre deutlich ins Auge fällt.295 Annähernd alles, was in diesem durchaus attraktiv und anziehend wirkenden Stadtviertel den Anschein von Natur erweckt, ist in Wahrheit artifizieller Art, eine »aufwendige Kunstlandschaft« (JT: S. 574): Die Seen der umliegenden Parks sind »gemacht[]« (JT: S. 574) und im Sommer sorgen »Maschinen für Kunstluft« (JT: S. 574) in den Fenstern für eine laue Brise. Bewegte sich Ingrid, oder in ähnlicher Weise das Kind Gesine auf Fischland, bei leichtem Frühlingswind und in einem authentischen See schwimmend in Einklang mit der Natur, so kehrt das ehemals naturnahe Schwimmen jetzt wieder inmitten einer durch und durch künstlichen Wasserlandschaft. So verfügt das unweit von Gesines Wohnung gelegene »Hotel[] Marseille« (JT: S. 669),296 in dessen Namen sich anagrammatisch derjenige Maries verbirgt (und an dessen Bar Gesine Bloody Marys einnimmt), über ein von Mutter und Tochter häufig besuchtes Schwimmbad, das als »Olympic Swimming Club« (JT: S. 1322), an anderer Stelle als »Mittelmeerische[r] Schwimmclub« (JT: S. 1536)297 bezeichnet wird und mit diesen beiden Namensgebungen die Vorstellung von mediterraner Landschaft im einen Fall erweckt, im anderen an den Olymp erinnert, also den Sitz der Götter mit ihrem beneidenswerten Los des vollkommenen, glücklichen und freien Daseins. Die Künstlichkeit der Natur des gesamten Riverside Drives kommt deutlich auch in der folgenden Beschreibung zur Geltung:
293 Vgl.: »Da der Alltag keine schöne Natur mehr bietet, wird sie zu einem Verlangen.« (Sigrun Storz-Sahl: Erinnerung und Erfahrung: Geschichtsphilosophie und ästhetische Erfahrung in Uwe Johnsons Jahrestagen. Frankfurt a. M.: Lang, 1988, S. 133) 294 Vgl.: »Gesine lebt mit ihrer Tochter relativ wohlsituiert am Riverside Drive am Rande einer großen Parkanlage; mit dem Elend und den Rassenproblemen kommt sie meist nur indirekt in Berührung.« (Ingeborg Gerlach: Auf der Suche nach der verlorenen Identität. Scriptor Verlag, 1980, S. 51) 295 Auch Storz-Sahl spricht von der »künstliche[n] Herstellung der Natur, ihre[r] gärtnerische[n] Wiederaufarbeitung« (Sigrun Storz-Sahl: Erinnerung und Erfahrung: Geschichtsphilosophie und ästhetische Erfahrung in Uwe Johnsons Jahrestagen. Frankfurt a. M.: Lang, 1988, S. 134). Vgl. auch: »Der Park steht im Gegensatz zur ursprünglich gewachsenen Natur.« (Ebd., S. 137) Boussart stellt fest, dass Johnson für jede der vielen Sphären New Yorks, z. B. Slums, Arbeitsviertel usw., eine eigene »Darbietungsweise[]« hat. Bei den Darstellungen von Gesines Wohngegend am Riverside Drive herrscht die »poetische Schilderung« vor: Monique Boussart: Zur Darstellung der »kleinen Welten« innerhalb der Großstadt in Uwe Johnsons Romanzyklus »Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl«. In: Christian Drösch, Hubert Roland und St¦phanie Vanasten (Hrsg.): Literarische Mikrokosmen: Begrenzung und Entgrenzung. Brüssel: Lang, 2006, S. 147 – 158, hier S. 153. 296 Das Hotel Marseille hieß in Wahrheit »Hotel Paris«: Michael Bengel: Stationen: 243 Riverside Drive, New York. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 5. Juli 2012, R 4. 297 Vgl.: »Mediterranian Swimming Club« (JT: S. 669).
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Gesine war auf ihrem ersten Besuch in New York im Fünferbus den Riverside Drive hinuntergefahren, dem inneren Rand einer ausgedehnten Kunstlandschaft, die mit einer Promenade am Fluß beginnt, landeinwärts geht mit einer Schnellstraße aus getrennten Fahrbahnen und nahezu gärtnerischen Zufahrtschleifen, mit einem geräumigen, hügeligen Park fünfzig Blocks lang, mit Denkmälern, Spielplätzen, Sportplätzen, Liegewiesen und bankgesäumten Spazierwegen. Erst dann rahmt den Park die eigentliche Straße, die an vielen Stellen gekrümmt ist, über zierliche Bodenbuckel schwingt, schmale Abfahrtfinger hinter wiederum Grüninseln zu den Häusern ausstreckt, ein Unikum in Manhattan, eine Veranstaltung von Gartenkunst, eine Straße mit Aussicht auf Bäume, auf Wasser, auf Landschaft. (JT: S. 26)
Ebenso lässt die Schilderung des sich an Gesines Wohngebiet unmittelbar anschließenden Riverside Parks die Bemühung um Nachgestaltung originärer Natur erkennen: Vor hundert Jahren gab es den Park nicht, da fuhr nur Cornelius Vanderbilt seine Eisenbahn am Ufer des Hudson entlang […] Noch 1930 lag viel Grund wüst zwischen dem Park und den Eisenbahngleisen, erst 1937 wurden sie überbaut, versteckt in Hügeln nach der Natur, und 1940 sah der Park aus wie vor hundert Jahren vorgefunden, ein wenig zivilisiert, mit scharfkantigen Wegen und Zeichen der Kunst, gründlich verkleidet als ursprüngliche Landschaft. (JT: S. 1188 f.)
Im Gegensatz zur Ursprünglichkeit der mecklenburgischen Landschaft entpuppen sich Riverside Park sowie die umliegende Umgebung, deren Bauprozess ausführlich geschildert wird (vgl. JT: S. 1188 f.), als nicht natürlich gewachsene, ursprüngliche Natur, sondern als dieser nachgebildete, künstlich angelegte Anpflanzung. Mit den Mitteln der Gartenkunst, man denke an Schillers Ausführungen zu diesem Thema, versuchen Landschaftsarchitekten die Illusion zu erwecken, die Parkanlage sei tatsächlich Natur, was zuweilen auch gelingt, wenn Gesine mit Blick auf den Riverside Drive und -Park assoziiert: »Näher, Arkadien, zu dir.« (JT: S. 51)298 299 Der Riverside Park wird auf diese Weise zum »heiterste[n] Ort in Manhat298 Vgl.: »Der Park vor den Fenstern ist jetzt ganz beleuchtet von der Oktobersonne, die allen Farben einen Stich ins Unglaubliche zufügt, den gelben Laubsprenkeln im Gras, der Elefantenhaut der kahlen Platanen, dem bunten Astgewirr der Dornbüsche auf der oberen Promenade, dem kalten Hudson, dem verwischten Walddunst auf dem jenseitigen Ufer, dem stählernen Himmel. Das Sonntägliche ist auf einen Sonntag gefallen. Es ist ein nahezu unschuldiges Bild, in dem Kinder und Spaziergänger leben wie harmlos.« (JT: S. 134); »Von New Jersey aus sieht unser Riverside Drive beleuchtet aus wie zu einem Fest.« (JT: S. 836) 299 Vgl.: »Die Beschreibung der Wohnung am Riverside Drive am 26. August ist Anlaß, den Gegensatz von Wirklichkeit und Ideal, oder zumindest von Realität und ihrer möglichen Idealisierung einzuführen.« (Beatrice Schulz: Versuch über Marie: Erste Schritte zu einem poetischen Prinzip der »Jahrestage«. In: Carsten Gansel und Nicolai Riedel (Hrsg.): Uwe Johnson zwischen Vormoderne und Postmoderne: Internationales Uwe Johnson Symposium 22.–24. 9. 1994. Berlin, New York: de Gruyter, 1995, S. 217 – 232, hier S. 220)
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tan«300 und lässt »New York für eine Weile überaus liebenswürdig erscheinen«.301 Der die ursprüngliche naive Natur nachahmende Park hält eine künstliche Erholungszone für den modernen zerrissenen Menschen bereit, der seiner Natur entfremdet ist, um sich für einen Augenblick der Einbildung einer ganzheitlichen, naiven, spielerischen Daseinsweise hinzugeben. Unverkennbar präsentiert sich die Parkanlage als Stätte des Spiels, der Lebensfreude und Vergnügtheit. So erlebt und empfindet Gesine, wenngleich »unter den Bedingungen der Reflexion«,302 das Gelände als »eine bürgerliche Spielwiese, mit Reit- und Fahrradwegen, mit Tempelchen und lauschigen Ecken zum Rasten« (JT: S. 1188). Wo man auch hinblickt, zeigen sich dem Betrachter »Tennisspiele« und »Schachspieler«, »Spaziergänger«, »Picknicks« und »Luftballons« (JT: alle Zitate S. 1189). Wenn »halbnackte Kinder […] unter den blitzenden kühlen Fontänen auf den Spielplätzen [springen und kreischen], […] die Schaukeln [jagen], […] sich um den Mann mit dem Eiskarren [drängen]« (JT: S. 1189), dann entfalten sich vor dem inneren Auge naiv-arkadische Bilder einer unschuldigen Lebensweise. Ein solches spielerisch-heiteres Szenario findet sich gleichermaßen im Central Park, auch dort »spielten die Bürger Ferien« (JT: S. 1300). Dass es das verlorene, nur scheinbar besessene Naive ist, an welches die sentimentalische Garten- und Parkkunst Gesine wehmütig zurückdenken lässt, dürfte offenkundig sein, denn immer wieder evozieren die künstliche Landschaft sowie die krankenden Restbestände echter Natur unwillkürlich assoziativ verlaufende Erinnerungen an die Schönheiten der mecklenburgischen Natur.303 Zu Beginn der Jahrestage etwa, Gesine verbringt gerade ein paar freie Tage an der Küste New Jerseys, lässt Johnson den Leser mitverfolgen, wie die gegenwärtige Strandszenerie unverhofft im Bewusstsein Gesines übergeht in die Dünenlandschaft Mecklenburgs mit ihren typischen reetgedeckten Häusern, nach der sie sich insgeheim sehnt: »Sie […] sieht wieder das bläuliche Schindelfeld einer 300 Sigrid Bauschinger : Mythos Manhattan. Die Faszination einer Stadt. In: Sigrid Bauschinger, Horst Denkler und Wilfried Malsch (Hrsg.): Amerika in der deutschen Literatur: Neue Welt, Nordamerika, USA. Stuttgart: Reclam, 1973, S. 382 – 397, hier S. 388. 301 Ebd. S. 388. 302 Jörg Traeger : Naiv und sentimentalisch. Kunstgeschichtliche Betrachtungen zu Schillers Begriffspaar. In: Peter Philip Riedl (Hrsg.): Schiller neu denken. Beiträge zur Literatur-, Kultur- und Kunstgeschichte. Bd. 3. Regensburg: Schnell und Steiner, 2006, S. 121 – 176, hier S. 138. 303 Vom »amerikanisch-mecklenburgische[n] Arkadien« spricht Anita Krätzer : Studien zum Amerikabild in der neueren deutschen Literatur : Max Frisch – Uwe Johnson – Hans Magnus Enzensberger und das »Kursbuch«. Bern u. a.: Lang, 1982, S. 191. Vgl. zur Erinnerung New York – Mecklenburg: Sigrun Storz-Sahl: Erinnerung und Erfahrung: Geschichtsphilosophie und ästhetische Erfahrung in Uwe Johnsons Jahrestagen. Frankfurt a. M.: Lang, 1988, S. 144 ff. Zu widersprechen ist Storz-Sahl, wenn sie behauptet, es gäbe »Momente[], in denen Gesine zu sich selber gelangt, in der erinnerten Mecklenburger Landschaft« (ebd., S. 149. Vgl. weiter S. 157 ff., S. 288 – 292).
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Dachneigung im verdüsterten Licht als ein pelziges Strohdach in einer mecklenburgischen Gegend, an einer anderen Küste.« (JT: S. 8) Beim Blick aus dem Fenster ihrer Wohnung wiederum verschleiern Jalousien und trübes dunstiges Wetter die Sicht; augenblicklich lässt sich Gesine dadurch täuschen und will statt des Hudson mit den an seinem Ufer kulissenartig arrangierten Anpflanzungen mecklenburgisches Gewässer und ursprüngliche Tannenwälder erahnen: – So soll dein Mecklenburg sein?! fragt Marie. […] Über dem Fluß treibt löchriger Nebel. Eine Lücke in dem immer noch erstaunlichen Laubgrün scheint einen verhangenen Binnensee zu öffnen, und hinter ihm sieht die Erinnerung wieder und gern bläulichen Kiefernwald auf den Palisaden des anderen Ufers, die durch Baumkulissen wieder und wieder durchschaubare und verstellte Gegend von damals. (JT: S. 1039 f.)
Gelegentlich, wenn Gesine darüber hinaus den Wellengang der Ostsee zu hören meint, tritt zu dieser optischen Täuschung eine akustische hinzu: Sie wohnt am Riverside Drive in drei Zimmern, unterhalb der Baumspitzen. Das Innenlicht ist grün gestochen. Im Süden sieht sie neben dichten Blattwolken die Laternen auf der Brücke, dahinter die Lichter auf der Schnellstraße. Die Dämmerung schärft die Lichter. Das Motorengeräusch läuft ineinander in der Entfernung und schlägt in ebenmäßigen Wellen ins Fenster, Meeresbrandung vergleichbar. Von Jerichow zum Strand war es eine Stunde zu gehen, am Bruch entlang und dann zwischen den Feldern. (JT: S. 13)304 305
304 Vgl. auch: »Morgens, in der ersten schattigen Front der fünf gläsernen Türen, sehe ich die weißlichtige Gegenseite der Straße gespiegelt, und ihr Ausschnitt mit Ladenschildern, Schaufenstern, Passanten tut verletzt wie etwas Friedliches, wenn ich ein Fünftel von ihm in der aufgezogenen Tür wegkippen lasse. In der zweiten Klapptürfront des Windfangs stellt sich der Spiegel verwischter her, zerbricht fast gänzlich in gleichgroße Teile der neben mir schwenkenden Türen, kommt zurückgeschwungen im Widerschein der hellen Marmorflächen im Foyer und ist nun ein Bild aus Schatten, stillen und losen, oben von einhängendem Dunkel eingefaßte wie von Baumkronen, und zwischen den gleitenden Abbildern von Schattenmenschen ist der Hintergrund tief geworden, weißliches Seelicht gesehen unter Laubgrün, Boote auf dem Wasser, vor mir unverlierbar gewußte Umrisse, Namen voll Zeit, und erst wenn ich das Bild an der von Neon beleuchteten Ecke des Fahrstuhlschachts verliere, versieht mein Gedächtnis den freundlichen Anblick und Augenblick und Moment mit einem scharfen Rand von Gefahr und Unglück. / So der dick bedeckte Tag aus Dunst über dem jenseitigen Flußufer, über den austrocknenden Laubfarben vor dem verwischten Wasser, verspricht einen Morgen in Wendisch Burg, das Segelwetter zum Morgen vor vierzehn Jahren, erzeugt Verlangen nach einem Tag, der so nicht war, fertigt mir eine Vergangenheit, die ich nicht gelebt habe, macht mich zu einem falschen Menschen, der von sich getrennt ist durch die Tricks der Erinnerung.« (JT: S. 124 f.) 305 In solchem »tranceähnlichen Zustand […], in dem die Barriere zwischen Gegenwart und Vergangenheit niederreißt« (Ingeborg Gerlach: Auf der Suche nach der verlorenen Identität. Scriptor Verlag, 1980, S. 70) kann Gesine aber auch umgekehrt »mit furchterregenden Erinnerungen konfrontiert [werden]« (ebd., S. 70).
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Gesine ist sich über den Illusionscharakter306 jener sentimentalen Augenblicke im Klaren; es handelt sich – die Formeln von der »Vortäuschung von Landschaft« (JT: S. 151), dem »Trugbild unverdorbener Landschaft« (JT: S. 28) oder der »Einbildung von Offenheit und Ferne« (JT: S. 28) verdeutlichen das – eben nur um eine Imagination des Ersehnten, nicht um das Ersehnte selbst.307 Der Schein-Charakter ihrer Wohngegend wird auch durch die wiederholte Verwendung des Verbs ›scheinen‹ demonstrativ hervorgehoben, etwa wenn es vom Riverside Drive heißt, dort »scheint das Wohnen wünschenswert« (JT: S. 575, Herv. d. V.). Gleiches gilt auch für den Riverside Park, über den Gesine zu berichten weiß: »Im Sommer scheint der Park die Stätte eines beständigen Volksfestes, da sind wir Gäste.« (JT: S. 1189, Herv. d. V.) Wenn Gesine feststellt: »Das Bild des Parks scheint aus keinen anderen als friedlichen Vorgängen zusammengesetzt« (JT: S. 1189, Herv. d. V.), dann ist sie sich sehr wohl der sich hinter der geschönten Fassade momentan nur verbergenden Realität bewusst. Diesen Gegensatz von Schein und Sein holt Johnson immer wieder ins Bewusstsein Gesines (und des Lesers) zurück, indem er den vorgeblich heiteren Schauplatz des Parks mit Polizeipatrouillen (JT: S. 1189) sowie mit der Beerdigung des ermordeten Martin Luther King kontrastiert: Heute wurde Martin Luther King beerdigt. Auf den Wiesen im Central Park saßen Familien und Liebespaare auf Decken und machten Picknick in der Sonne. […] Heute abend, bevor die Theater ihre Vorstellungen beginnen, sollen sie eine Schweigeminute einlegen. Dann spielen sie. (JT: S. 970, S. 972)308 309
Wo sich Gesine eine heitere, harmonische Gemeinschaft ersehnt, ist in Wahrheit nichts, »[d]as Spiel hakt« (JT: S. 1261) und um die schöne Idee der Freiheit ist es gleichfalls nicht gut bestellt, wie selbst Marie begreift: »Diese vermaledeite Freiheitsstatue, siehst du, wie ihr der Arm sinkt? Die sperren sie noch mal für 306 Boussart spricht von einer »illusorische[n] Ersatzheimat«: Monique Boussart: Zur Darstellung der »kleinen Welten« innerhalb der Großstadt in Uwe Johnsons Romanzyklus »Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl«. In: Christian Drösch, Hubert Roland und St¦phanie Vanasten (Hrsg.): Literarische Mikrokosmen: Begrenzung und Entgrenzung. Brüssel: Lang, 2006, S. 147 – 158, hier S. 148. 307 Vgl. auch: »Gewiß, unsere Heimat in der Oberen Westseite von Manhattan, sie ist eingebildet.« (JT: S. 173); »Es ist eine Täuschung, und fühlt sich an wie Heimat.« (JT: S. 134); »die Reiseführer Europas empfehlen den Anblick. Mehr als den Anblick können wir nicht empfehlen. Hier leben wir.« (JT: S. 1191) 308 Die »[a]nmutige[n] Straßenkurven« (JT: S. 79 f.) werden wiederum mit Symbolen des Todes kontrastiert. 309 Auch die Schönheiten des Riverside Drive und selbst das Haus, in dem Gesine und Marie wohnen, werden von der Geschichte eingeholt und durch diese relativiert. Vgl. dazu ausführlich JT: S. 549. Zu Gesines Wohngegend, deren vordergründigen schönen und hintergründigen Schattenseiten vgl. Anita Krätzer : Studien zum Amerikabild in der neueren deutschen Literatur : Max Frisch – Uwe Johnson – Hans Magnus Enzensberger und das »Kursbuch«. Bern u. a.: Lang, 1982, S. 114 – 120.
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den Besucherverkehr, wegen Baufälligkeit!« (JT: S. 1718) In den sentimentalen Momenten zeigt sich, das weiß Gesine, keineswegs die ersehnte »Katze Erinnerung«. In gewisser Weise ergeht es ihr hier ähnlich wie der kleinen Tochter der New Yorkerin Mrs. Daphne Davis, die im Glauben, eine Katze vor sich zu haben, irrtümlich »mit einer Ratte spielte. Das Tier war so groß, daß das Kind sagte: Komm her, Katz. Katz, komm« (JT: S. 843). Nach Gesines Rückkehr zur erhabenen Position stellt sich nicht allein die dafür charakteristische Gefühlslage des Grauens und der Furcht ein. »Es ist nicht Angst, es fühlt sich übler an: wie Abschied, Abschied von New York« (JT: S. 1473),310 resümiert Gesine ihre Gefühlslage, darum bangend, nach dem akzeptierten Verlust Mecklenburgs nun auch noch den sentimentalischen Schein Amerikas entschwinden zu sehen.
9.3.3 »Themen der Freude, der Schönheit«: Gesine als Kunstrezipientin Nicht nur die Garten- und Landschaftsgestaltung, auch andere Kunstarten vermögen es Schiller in der Schrift Über naive und sentimentalische Dichtung zufolge, den Menschen in die Illusion seiner Versöhnung mit der Natur zu versetzen – oder aber, je nach Kunstgattung, die Kluft zu ihr zu problematisieren. Die nicht gerade musische Gesine befasst sich gemeinhin wenig mit diesem Gebiet. Kunst – sei es die schöne, elegische, sentimentale oder die naive – ist auf den fast 2000 Seiten der Jahrestage kaum ein Thema. Und doch gibt es vereinzelt Momente, in denen sich Gesine dieser Sphäre zuwendet, um für eine kurze Zeit – mittels der schönen, naiven Kunst – der Wirklichkeit zu entgehen oder – vermöge der elegischen, sentimentalen Kunst – wehmütig an die verlorene Einheit des Menschen zurück zu denken. Ob »Oper« (JT: S. 566), »Filmtheater« (JT: S. 566) oder »Konzert« (JT: S. 566), ob das Erzählen von »Märchen« (JT: S. 566) oder der Besuch von »Park« (JT: S. 566) und »Zoo« (JT: S. 566) – von Zeit zu Zeit bedient sich Gesine dieser künstlerischen wie künstlichen Maßnahmen, um die so oft betrübte Stimmung zu heben: »So halten wir uns vergnügt« (JT: S. 566), verspricht sie Annie Fleury, die zweieinhalb Wochen mit ihren Kindern bei ihr wohnt. Ein Ort, ästhetische Freiheit in einem geschützten Rahmen künstlich zu erfahren, etwa bei der Betrachtung naiver Skulpturen und Gemälde oder von Relikten aus einer lange vergangenen Zeit, ist auch das »Metropolitan Museum« (JT: S. 1692), welches seine Besucher einlädt: »[B]ei mir ist es frei« (JT: S. 1692). Hinsichtlich des Erzählens von Geschichten und Märchen schließlich dürfte von Bedeutung sein, dass Gesine ausgerechnet jene von Ingrid im ersten Roman mit großer Heiterkeit 310 Vgl. Gesines »Angst vor einer Zukunft, da wir nur noch mit dem Heimweh leben können in New York.« (JT: S. 90)
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und in ihrer natürlichen Sprache, dem mecklenburgischen Dialekt, vorgetragene Geschichte (IB: S. 62, vgl. auch IB: S. 231) »am schönsten [fand], wo es heißt ›sä de Jung‹« (JT: S. 386). Doch diese Art der Verdrängung der Wirklichkeit durch Kunst ist, wenn sie auch vorkommen mag, insgesamt betrachtet nicht repräsentativ für Gesine. Während ihre Bekannte Annie Fleury von der kontemplativen Beschäftigung mit Schönheit dementsprechend »schön gefärbt« (JT: S. 584, Herv. i. O.) ist, nimmt sich Gesine, wie die Stimmen aus der Vergangenheit der Protagonistin vorwerfen, insgeheim »übel, daß [sie] in ihre [Annies, Anm. d. V.] Stimmung, in die Spiele, ins Erzählen, in den Spaß des großen gemeinschaftlichen Essens rutsch[t], als wäre es gegen [ihren] Willen« (JT: S. 584, Herv. i. O.). Ein anderes Mal geraten Mutter und Tochter Cresspahl eher zufällig in ein Konzert im Central Park, bei dem unter anderem die »Ode an die Freude« (JT: S. 971) aufgeführt wird. Das von Beethoven vertonte Gedicht Schillers aus dem Jahr 1785 behandelt bekanntermaßen in pathetischem Ton seine klassischen Ideale, wie sie auch der Ästhetik des Schönen zugrunde liegen: »Freude, schöner Götterfunken, / Tochter aus Elisium, / Wir betreten feuertrunken, / Himmlische, dein Heiligtum.«311 Nach dem Tod D.E.s flüchtet sich Gesine geradezu in die Musik. »– Was tut eine doppelte Witwe, die von ihren Beerdigungen beide verpaßt? Ich hör Musik« (JT: S. 1749), so berichtet sie ihrer Freundin Anita Gantlik. Marie, die vom Unfall nichts weiß, spricht ihre Mutter erstaunt und verwundert auf die ungewohnten Klänge im Hause an: »– Gesine! du hast dir die Platte mit Variationen für den Schüler Goldberg angehört bis nach Mitternacht. Das Quodlibet zweimal!« (JT: S. 1713),312 woraufhin Gesine sich mit einer Ausrede, die Partygeräusche in der Wohnung über ihnen übertönen zu müssen, bei ihr entschuldigt.313 Aber das zu ihrem Trost ausgewählte Klavierwerk Bachs 311 Friedrich Schiller : An die Freude. In: Georg Kurscheidt (Hrsg.): Friedrich Schiller : Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 1: Gedichte. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag, 1992, S. 248 – 251, hier S. 248. Gespielt werden außerdem das Deutsche Requiem von Brahms und Bachs Matthäuspassion (JT: S. 971). 312 Vgl. auch Maries spaßhafte Aussage gegenüber Gesine: »Und wollen Sie sich ganz wie zu Hause fühlen; obwohl ich mich zurückziehe. Sie dürfen die Variationen für den Schüler Goldberg spielen so lange Sie wünschen, und das Quodlibet zweimal.« (JT: S. 1755) 313 Zu Gesines Musikkonsum im Zusammenhang mit D.E.s Tod vgl. auch JT: S. 1745, S. 1877, S. 1748. Vgl. auch: »Auf WRVR, 106.7 Kilohertz, beginnt Just Jazz. D.E. hat uns gebeten, das für ihn auf Band zu nehmen, wie werden wir denn das vergessen.« (JT: S. 1745; Herv. i. O.); »Radio WKCR bringt ab siebzehn Uhr Jazz und die Avantgarde, Kompositionen von Eaton, Monk, Tristana, Taylor, das überspielen wir auf Band für D.E.« (JT: S. 1748, Herv. i. O.); »Heute abend um sechs Uhr bringt Radio WNRV ›Just Jazz‹ mit Ed Beach. Selbst wenn wir es aufzuzeichnen wünschten, wir versäumen es schon.« (JT: S. 1877); »Den Tag noch einmal beginnen. / Um fünf Uhr morgens bringt die Rundfunkstation WNBC beliebte Stücke von Mozart und Haydn. Um sechs zieht WNYC nach mit Brahms, Requiem, und Schubert.« (JT: S. 1877)
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wird selbst zu einem verstärkenden Medium der Trauer : »Die Variationen für den Schüler Goldberg am Abend des Sonnabend, das war schon die Totenmusik für D.E.« (JT: S. 1743). Anita rät deshalb Gesine vom Musikhören ab – »[d]as ist Gift, Gesine!« (JT: S. 1749) – und diese gesteht sich selbst ein, dass »[e]s […] Krankheiten [gibt], bei denen ist Musik lebensgefährlich« (JT: S. 1748). In die »kalte Kunstluft« (JT: S. 1564) »eines der alten Prachtkinos am Broadway« (JT: S. 1564) hat sich Gesine schon gelegentlich vor den disharmonischen Kräften der Wirklichkeit »gerettet« (JT: S. 1564), besonders in ihrem ersten Jahr in New York schaut sie Filme »[z]ur Betäubung« (JT: S. 687, Herv. i. O.) an und genießt die »versäumte[] Zeit« (JT: S. 687). Auch nach ihrer Beförderung durch den Vizepräsidenten der Bank, de Rosny, die längst »nicht zugegangen [ist] wie in einem Märchen« (JT: S. 714), fühlt sich Gesine »schlecht« (JT: S. 718) und besucht noch am selben Nachmittag »zwei Kinos, zwei Filmvorführungen nacheinander« (JT: S. 718). Gesine lässt hier Ähnlichkeiten zu ihrer Mutter Lisbeth erkennen, die ebenfalls durch die Flucht in die Scheinwelt des Films eine Auszeit vor der als grausam empfundenen Wirklichkeit314 zu erlangen suchte: »Noch wenn sie abends in Jerichow ankam, war sie benommen, unaufmerksam, aber doch erholt von den anderthalb Stunden Vergessens, von der Abwesenheit in einer Welt aus Spiel und Vortäuschung, ohne eine Spur von Cresspahls Krieg.« (JT: S. 686)315 Mitunter fällt ein künstlicher Glanz, insbesondere zur Weihnachtszeit, über New York selbst und hüllt die Stadt ein in »vorweihnachtliche Sentimentalität« (JT: S. 493), welche von Politikern jedoch leicht zu manipulativen Zwecken ausgenutzt wird (JT: S. 493). Für die begrenzte Zeit der besinnlichen Fest- und Feiertage sind alle unvermittelt um Freundlichkeit zueinander bemüht, »wildfremde Leute lächelten Mrs. Cresspahl an, auf dem Bürgersteig, in der U-Bahn!« (JT: S. 477) und künstliche Schönheit begegnet den Menschen allerorts. So zieht der »beleuchtete[] Weihnachtsbaum im Rockefeller Center« (JT: S. 439 f.) »glückliche Schwärme von Kindern und Erwachsenen« (JT: S. 439) an und die Schaufenster bieten eine belebte Phantasmagorie aus Szenen von Weihnachten in Wien: kleine Figuren tanzen im Schloß Schönbrunn, ein Dirigent und eine Diva zeigen eine Aufführung in der Wiener Oper vor einem Jahrhundert […] Die Fenster von B. Altman sind ein Füllhorn großer Kunst aus dem Metropolitan Museum und behandeln in
314 Die Wirklichkeit jedoch »war nicht wie in Filmen« (JT: S. 986). 315 Vgl. auch: »Mrs. Ferwalter war in einem Film, in dem kam eine europäische Landschaft vor, ein Schloß in den Bergen, ein Edelmann mit vielen mutterlosen Kindern, immerfort ist gesungen worden, am Ende wurde geheiratet. Mrs. Ferwalter hat geweint. Sie will es nicht Kitsch genannt wissen, aber sie gibt zu, daß es die Wirklichkeit für eine Weile angenehm verstellt.« (JT: S. 792)
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Diabildern die Themen der Freude, der Schönheit, der Festtafel, des Schatzes, der Kinder und der festlichen Szene. (JT: S. 440)
Dass Gesine, die sich jenseits ihrer vernünftig-erhabenen Seite immer wieder nach Schönheit sehnt, selbst hin und wieder Charakterzüge eines lebenden Kunstwerks oder künstlichen Scheins annimmt, wird an ihrem zeitweiligen Bemühen erkennbar, »liebenswürdig« (JT: S. 1463 f.), anmutig und schön »erscheinen« (JT: S. 1463) zu wollen. So lässt sie sich zuweilen in einem »Schönheitssalon[]« (JT: S. 1664) von dem »Haarkünstler Boccaletti« (JT: S. 1391) die Frisur, ähnlich dem »dicht überlappenden Federkleid eines Vogels« (JT: S. 1463), richten.316 Auch präsentiert sie sich einige Male im »Kostüm« (JT: S. 1736) und »probt das Lächeln« (JT: S. 1635); nach dem Tod D.E.s, den sie vor Marie zu verbergen sucht, zeigt sie sich sogar »[ge]schminkt (JT: S.1745). Johnson spielt hier mit der Doppeldeutigkeit der Begriffe ›Kostüm‹, ›Probe‹ und ›Schminke‹, die auch als Theater- und Schauspielmetaphern verwendet werden. Wenn Gesine zusätzlich mit ihrer »Börse aus Krokodilleder (JT: S. 1736) und dem adretten »Schuhwerk aus der Schweiz« (JT: S. 1736) auftritt, wirkt sie künstlich, wie verkleidet. Das ganze Erscheinungsbild ist wie vom Maskenbildner entworfen; im Gegensatz zur natürlich-schönen Ausstrahlung Ingrids kann Gesine indes keinen echten Liebreiz vorweisen, sondern allenfalls eine gekünstelte falsche Anmut, eine »Toiletten-Schönheit« (AW: S. 359, Herv. i. O.), die Schiller so nennt, weil die Schönheit vor dem Toiletten-Spiegel einstudiert zu sein scheint (vgl. AW: S. 351, Anm. 5). Gesine legt gewissermaßen »die betrügerische Schminke [auf], welche die Wahrheit verbirgt, welche die Wirklichkeit zu vertreten sich anmaßt« (ÄE: S. 666). Indem sie – im Gegensatz zum »aufrichtigen Schein« (ÄE: S. 666, vgl. auch ÄE: S. 664) der Kunst, der sich für nichts anderes ausgibt, als sich selbst, – Maskerade und Make-up in einem Rollenspiel auf der Bühne des Lebens »nicht ungeschickt« (JT: S. 1463) einsetzt, vermischt sie Schein und Sein, die Schiller jedoch streng voneinander geschieden wissen möchte, und »schiebt«317 damit gewissermaßen den »Schein [d]er Wahrheit […] betrüglich unter[]«.318 Gesine spielt also kein aufrichtiges Spiel, sondern ein falsches, bezweckt sie doch, jenen Anteil ihrer Vernunftseite, den Schiller in Über die ästhetische Erziehung des Menschen auch als »Person« (ÄE: S. 592, Herv. i. O.) bezeichnet, hinter einer Kostümfassade zu verbergen: »[J]edoch in solchen Kostümen tarnen sich auch Personen« (JT: S. 1086). Tatsächlich aber 316 »Das Haar hat ihr ein Friseur geschnitten und gelegt« (JT: S. 1086). Vgl. auch JT: S. 1736, S. 1463. 317 Friedrich Schiller : Wallenstein. Ein dramatisches Gedicht. In: Frithjof Stock (Hrsg.): Friedrich Schiller : Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 4. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag, 2000, S. 17. 318 Ebd., S. 17.
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kaschiert und überspielt die Protagonistin mit der vorgeschobenen Attrappe ihres um Attraktivität bemühten, hergerichteten Äußeren ihren Schmerz und ihre Furcht vor dieser Welt und ihren unberechenbaren Mächten: »[D]ie versteckt Angst, nicht ungeschickt. Die ist auf der Hut, die wird sich wehren; erscheinen aber möchte sie als höflich, liebenswürdig, damenhaft« (JT: S. 1463 f.). An den sentimentalisch gestimmten Tagen, an welchen Gesine empfänglich ist für die vermeintlichen Schönheiten ihres Lebensraums am Riverside Drive – so etwa in der Vorweihnachtszeit (JT: S. 477) –, begegnet ihr manchmal ein bisher in der Forschung wenig beachtetes, mysteriöses Mädchen namens Marjorie.319 Marjorie, die in ihrem Namen denjenigen Maries trägt – die erste und letzte Silbe des Namens ›Mar – jor –ie‹ ergeben zusammen ›Marie‹ –, stellt nichts anderes dar als eine ideale Variation jenes Prinzips, das Gesines Tochter verkörpert. In ihrem Wesen und ihrer Erscheinung vereint diese märchenhafte Figur (JT: S. 266), und dies ist entscheidend, zentrale Aspekte, wie sie für Schillers Ästhetik des Schönen kennzeichnend sind: das Schöne und Anmutige, die Versöhnung von Natur und Vernunft, ihr Lächeln (JT: S. 266) und Strahlen (JT: S. 266), ihre Heiterkeit und Freude (JT: S. 266) sowie die Zweckfreiheit und Bewegungsästhetik, die ebenfalls für das Schöne kennzeichnend sind: So anmutig kann sie leben. Das Wort schön, für sie ist es übriggeblieben. […] Sie hat eine Art, sich uns zuzuwenden, aufmerksam, heiter, fast ergeben vor Teilnehmen, in einer schön aus Schultern und Nacken laufenden Bewegung, deren Abbild im Gefühl abgemalt wird wie eine Berührung. Sie umfaßt uns mit ihrem Blick jedes Mal, als erkennte sie uns, nicht nur ihr Bild von uns, auch was wir wären. Und wir glauben ihr. (JT: S. 264 f., Herv. d. V.) Ihr Gesicht wird nicht von der Grimasse zerkerbt, es ist locker aufgefaltet in der Erwartung der kommenden Freude. – Hei: sagt sie, und sie könnte noch dem verstocktesten Ausländer begreiflich machen: Es ist eine Begrüßung. Es ist eine von den vernünftigsten, natürlichsten, glaubwürdigsten Sorten der Begrüßung. Sie zeigt es dir, damit du es lernst. (JT: S. 266, Herv. d. V.) Insgesamt hatte sie geäußert: Da mag noch Eis gehen, da mag noch Schnee kommen, die neue Jahreszeit ist in der Luft und wird da wachsen. Die Erde hat sich erinnert.
319 Zu Marjorie vgl. die Deutungen, alle ohne Schiller-Bezug, bei: Annekatrin Klaus: »Sie haben ein Gedächtnis wie ein Mann, Mrs. Cresspahl!« Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1999, S. 47 – 51; Sigrid Bauschinger : Mythos Manhattan. Die Faszination einer Stadt. In: Sigrid Bauschinger, Horst Denkler und Wilfried Malsch (Hrsg.): Amerika in der deutschen Literatur : Neue Welt, Nordamerika, USA. Stuttgart: Reclam, 1973, S. 382 – 397, hier S. 389. Bauschinger beschreibt »das Mädchen Marjorie […] als Beispiel für New Yorker Jugend.« (Ebd., S. 389) Siehe auch Dietrich Spaeth: Jahrestag mit Vexierbild oder Warum Marjorie rote Wangen bekam. Eine Lesart zur Eintragung »5. November, 1967 Sonntag« in Uwe Johnsons Jahrestage. In: Johnson-Jahrbuch 1 (1994), S. 127 – 142.
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Bedenken Sie, Mrs. Cresspahl. Bedenken Sie diesen Geruch. […] Sie will von uns nichts. Wir können von ihr nichts wollen. Es ist ohne Zweck. (JT: S. 266, Herv. d. V.)
Doch auf das Mädchen Marjorie, welches »in einer Sprache [spricht], die als verloren gilt« (JT: S. 266), trifft Gesine immer seltener. Angesichts der Gewalt und Kriminalität New Yorks, der Ermordung von Robert Kennedy und Martin Luther King und des Vietnamkriegs ist es schwierig, Marjorie zum Leuchten und Strahlen zu bringen: »Marjorie schien nirgends« (JT: S. 263) – »Heute war sie nirgends zu sehen.« (JT: S. 266) Nach dem Einbruch in und Verwüstung von Gesines Wohnung am Riverside Drive, der Spurensicherung und Verhaftung der Täter durch die Polizei machen sich Gesine und Marie am Ende des Tages nochmals auf, um durch die Straßen ihres Wohnviertels zu streifen. »Vielleicht«, so kommentiert Gesine das ziellose Unterfangen, »suchten wir Marjorie. […] Es war zu spät am Abend. Nirgends war sie zu sehen.« (JT: S. 1668)
10. »Det mista dialektisch sehn«: Johnsons »doppelte Ästhetik«? – Zusammenfassung und Diskussion
Die vorliegende Arbeit unterzieht erstmals in umfassender Weise Johnsons Werke Ingrid Babendererde und Jahrestage vor dem theoretischen Hintergrund von Schillers Ästhetik des Schönen und Erhabenen einer Analyse. Antrieb und Ziel der Untersuchung war es, auf ein doppeltes Desiderat sowohl der Johnsonals auch der Schiller-Forschung zu reagieren: Zum einen sollte mit Schiller als Folie eine grundsätzlich neue Lesart der genannten Romane Johnsons eröffnet und damit eine Forschungslücke geschlossen werden. Darüber hinaus knüpft die Arbeit an eine vergleichsweise junge, sich allmählich Gehör verschaffende, aber insgesamt noch recht verhalten rezipierte Diskussion um die Revision traditioneller, in ihrer einseitigen Fixierung auf den Schönheits- und Kunstbegriff zum Teil überholt und festgefahren erscheinender Deutungen von Schillers philosophischem Schaffen an. Abschließend sollen nun die wesentlichen Ergebnisse dieser Abhandlung zusammengefasst und im Anschluss daran folgende Fragen beantwortet werden: Wie lässt sich das Verhältnis von Schillers Ästhetik zu Johnsons literarischer Auseinandersetzung mit dieser beschreiben? Bei welchen Punkten widerspricht Johnson dem Klassiker? Und schlussendlich: Behält der Autor Begriff und Konzept der Schiller’schen »doppelten Ästhetik«1 bei oder verwirft er beides? In Abgrenzung von den in der Forschung allgemein vorherrschenden, um die Aspekte ›Kunst‹ und ›Schönes‹ kreisenden Ästhetikdefinitionen betont diese Arbeit in Anlehung, aber auch in kritischer Auseinandersetzung mit Zelles Ansatz,2 die doppelte Ausrichtung des Ästhetikbegriffs, welcher sowohl das ›Schöne‹ als auch das ›Erhabene‹ in seinen Geltungsbereich mit einbezieht. Das Schöne wiederum wird hier von dem Terminus der Kunst, nicht selten mit diesem in unkritischer Weise gleichgesetzt, differenziert (Kapitel 2). Nach einem grundlegenden definitorischen und historischen Überblick über die Bedeutung 1 Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne: Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart, Weimar : Metzler, 1995. 2 Vgl. Kapitel 1 und 2 dieser Arbeit.
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Zusammenfassung und Diskussion
der Phänome des Schönen und Erhabenen (Abschnitt 3.1 und 3.2), zeichnen die folgenden Ausführungen Vorgeschichte und Entwicklungsprozess des von Carsten Zelle freigelegten Traditionsstrangs »doppelter Ästhetik« nach (Abschnitt 3.3), in welchen auch Schillers philosophisch-ästhetische Überlegungen der 1790er Jahre zu verorten sind (Abschnitt 3.4). In seiner Ästhetik des Schönen entwirft Schiller ein idealistisch-utopisches, auf Wunschvorstellungen wie Harmonie und Versöhnung, Glückseligkeit und Freiheit basierendes Menschenund Weltbild. Die jeweiligen Unterkategorien des Schönen spiegeln seine verschiedenen Facetten wider : Die ›Anmut‹ bezeichnet das ausgeglichene und gelassen-heitere Erscheinungsbild des mit sich im Einklang stehenden Menschen, das ›Spiel‹ die innere freie, gelöste Stimmung im Moment der erfahrenen Schönheit, das ›Naive‹ schließlich den arglosen, reinen und unschuldigen Charakter eines schönen, mit dem Kosmos einvernehmlich verbundenen Wesens sowie die schöne Kunst, die in ihrer Stellvertreterfunktion auf das abwesende Schöne symbolisch verweist und an es erinnert (Kapitel 4). Diesem Ideal setzt die Ästhetik des Erhabenen (Kapitel 5) ihre realistische und ernüchternde Weltanschauung entgegen, indem sie den Menschen als durch die zerstörerische Macht der Geschichte determiniert, leidend sowie in sich zerrissen betrachtet. Mit der ›Würde‹ als äußerer Erscheinung einer erhabenen Gesinnung, der ›Sentimentalität‹, d. h. der Trauer um die verlorene naive Natur und der sentimentalisch-tragischen Kunst, sind analog zur Schönheitslehre die Teilaspekte der Erhabenheitstheorie benannt. Obwohl auf jeweils entgegengesetzte Menschen- und Weltbilder rekurrierend, schließen die Ästhetik des Schönen und jene des Erhabenen einander nicht aus: Wenn auch das Schöne in seiner reinsten und vollendeten Form in der Wirklichkeit nicht vorkommen mag und aus diesem Grund in Schillers Bewertung vom Erhabenen zurückgedrängt wurde, so gehören doch grundsätzlich beide Vorstellungsbereiche zum Menschenleben, welches – sei es in realisierter Form, sei es als Sehnsucht oder Befürchtung – Glück und Unglück, Versöhnung und Verlust, Lust und Schmerz bereithalten kann (Kapitel 6). Vor diesem theoretischen Hintergrund wurden, nach einem Blick auf Johnsons Schiller-Rezeption (Kapitel 7), im textanalytischen Teil dieser Arbeit Ingrid Babendererde (Kapitel 8) und die Jahrestage (Kapitel 9) beleuchtet. Für die Figur der Ingrid, so ergab die Interpretation zur Protagonistin aus Johnsons erstem Roman, greift der Autor vor allem Konzepte aus Schillers Schönheitsästhetik auf – die naive Natur, die Anmut und moralisch-schöne Seele – und stellt sie zur Diskussion. Mit teilweise ironischen Brechungen, aber dennoch immer auch mit einer verstohlenen Bewunderung für die Hauptdarstellerin vorgetragen, verkörpert die schöne Ingrid die Vision eines freiheitlichen und selbstbestimmten Lebens. An Plausibilität gewinnt diese Deutung gerade auch vor dem geschichtlichen Hintergrund des aufstrebenden Staats DDR, in
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den die jugendlichen Akteure anfangs ihre Sehnsüchte von einer glücklichen menschlichen Existenz projizieren – Sehnsüchte, welche nicht Realität werden können, wie der Roman von Beginn an durch die in die Handlung eingeblendeten und das aktuelle Geschehen, rückblickend aus der desillusionierten Perspektive nach der Flucht, kommentierenden Passagen erkennen lässt. Ingrids Versuche, Geschichte, deren Bedrohlichkeit und Ernsthaftigkeit sie sich nicht zu entziehen vermag, als etwas Spielerisches zu behandeln und den Spieltrieb – gewissermaßen gegen Schillers Warnung, Schein und Sein nicht miteinander zu vermischen – auf das Leben zu übertragen, scheitern. Ingrid, und mit ihr das Lebenskonzept, welches sie repräsentiert, sind im sprichwörtlichen Sinn zu schön, um wahr sein zu können. Im Laufe des Romans vollzieht dieses »vor Schönheit nicht träumbare[] Geschöpf« (JT: S. 1459)3 den Abschied von einer ersehnten, aber nicht lebbaren Existenzform, um sich allmählich einer erhabenen Gesinnungshaltung anzunähern. Die schöne Seele hat begonnen, sich in eine erhabene zu verwandeln oder : Aus Ingrid wird Gesine. Es spricht viel dafür, Gesine als eine Fortführung der Ingrid-Figur zu deuten, als ihr etwas älter, ernster und reifer gewordenes Alter-Ego. Die Gesine der Mutmassungen über Jakob nimmt dabei gewissermaßen eine Mittelstellung zwischen der anfangs noch heiteren Ingrid und der melancholisch-depressive Züge annehmenden Gesine der Jahrestage ein. Fast gänzlich im Zeichen des Erhabenen, Würdevollen und Sentimentalischen stehen dann die Jahrestage. Geschichte und Schicksal begegnen Gesine hier als eine aufbegehrende und destruktive Macht, indem sie die Protagonistin von Johnsons Hauptwerk gewaltsam mit Leid und Schmerz konfrontieren und dadurch die unheilbare Zerrissenheit ihrer Persönlichkeit bedingen. Allein die Ausbildung ihrer erhabenen Seelenstärke vermag sie vor der psychisch-seelischen Vernichtung zu retten. Diese erhabene Weltanschauung teilt Gesine mit vielen weiteren würdigen Gestalten der Johnson’schen Romanwelt: mit dem Englischlehrer Ernst Sedenbohm (IB) und seiner Fortführung als Julius Kliefoth (JT),4 ebenso mit Jürgen Petersen (IB) und dessen Nachfolger Jonas Blach (MJ) oder auch mit ihrem jüdischen Tschechischlehrer in New York, Anatol Kreslil,5 der jedoch aufgrund seines Schicksals während des Zweiten Weltkriegs zur Ausbildung einer ungleich größeren Seelenkraft genötigt ist. Deutlich abzugrenzen sind diese wahren Würdenträger, einschließlich der ehrwürdigen Tante Times, von jenen Personen, die sich unrechtmäßig gravitätisch-erhabener Ausdrucksweisen bemächtigen. Das Konzept der »falsche[n] Würde« (AW: S. 393) expliziert Johnson meisterhaft parodistisch am Beispiel des Schuldi3 In den Jahrestagen bezieht sich dieses Zitat auf Anne-Dörte. 4 Vgl. JT: S. 503, S. 900, S. 1402. 5 Vgl. JT: S. 924.
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rektors Robert Siebmann (IB), diesem stehen aber auch die zweifelhafte »Wüe« (MJ: S. 51) des Staats DDR6 oder einige, sich ihrer »moralische[n] Größe« (JT: S. 940) zu Unrecht rühmenden amerikanische oder russische Politiker7 in Nichts nach. Auch wenn für Gesine kaum »Spielraum«8 im Schiller’schen Sinne mehr übrig bleibt, so ist das Thema der Schönheit in den Jahrestagen dennoch nicht aufgegeben: In Gestalt der zehn- bzw. elfjährigen Marie, der gemeinsamen Tochter Gesines und Jakobs, kehrt es in gegenüber dem Ingrid-Roman deutlich veränderter, nämlich entidealisierter Form wieder und fungiert als Korrektiv und Ergänzung zur erhaben-melancholischen Sichtweise Gesines, die in ihrem Innern gewissermaßen eine Art Zwie- oder Streitgespräch austrägt. Doch abermals behauptet sich das Erhabene gegenüber dem Schönen als die in der geschichtlichen Welt überlegene Existenzweise: Im Laufe des Romans lässt Johnson seine Marie einen Reifungsprozess, eine ästhetische Erziehung zum Erhabenen, durchlaufen und sich vom scheinbar naiven Kindheitsstatus abwenden – ein Zeichen dafür, dass Gesines innere Gegenstimme zu verstummen beginnt. In sentimentaler Weise betrauert und reflektiert diese nun den Verlust vermeintlich naiver Schönheit und muss sich – in Abweichung zu Schiller – eingestehen, dass es eine solche niemals wirklich gegeben hat. Zuletzt wird nach den Unterschieden und Gemeinsamkeiten zwischen Schillers und Johnsons Konzepten gefragt und danach, ob bei Johnson von einer »doppelten Ästhetik« gesprochen werden kann oder ob die Ästhetik des Erhabenen jene des wohltuenden, aber ohnmächtigen Schönen verdrängt. Während Schiller zu Beginn der 1790er Jahre zunächst noch in optimistischaufklärerischer Manier an die Verwirklichung des Schönen in der geschichtlichen Welt geglaubt hat und sich im Laufe der ästhetischen Briefe dann doch seinen unwiederbringlichen Verlust eingestehen muss, ist es für Johnson – insbesondere nach den traumatischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts – offensichtlich, dass das Schöne in der Realität nichts auszurichten vermag, geschweige denn jemals dort vorhanden gewesen war. Mit den Konzepten der bezaubernden Ingrid, des Kindes Marie oder der Märchengestalt Marjorie reflektiert er von Anfang an das Schönheitsthema, gewissermaßen als sentimentalischer Dichter,9 aus der Perspektive des Verlusts, der Krise und der Trauer ; in Anlehnung an Schillers Untergattungen sentimentalischer Dichtkunst erfolgt
6 Vgl. weiter MJ: S. 196, S. 217. 7 Vgl. JT: S. 940, S. 1141. 8 Uwe Johnson: Typoskript der Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises 1971. In: Eberhard Fahlke und Thomas Wild (Hrsg.): Hannah Arendt – Uwe Johnson: Der Briefwechsel 1967 – 1975. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2004, S. 213 – 252, hier S. 217. 9 Michael Hofmann: Uwe Johnson. Stuttgart: Reclam, 2001, S. 59.
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dies mal mehr satirisch wie in Ingrid Babendererde,10 mal mehr idyllisch-elegisch wie in den Fischlandpassagen der Jahrestage. Johnsons sentimentalischem Individuum bleibt aber, ganz im Gegensatz zu dem Schillers, nicht einmal mehr die Erinnerung an das vergangene Naive, muss Gesine sich im Zuge ihrer Erinnerungsarbeit doch eingestehen, dass das scheinbar Naive, welches sie einst – zumindest während der Zeit bei den Paepckes – erlebt zu haben glaubte, nie existiert hat. Was aber gleichwohl bestehen bleibt, ist die Sehnsucht danach. Diese Uneinlösbarkeit und Irrealität des Schönheitsversprechens11 besonders des frühen Schiller kritisiert Johnson, unter anderem geschieht dies durch Gesines Tochter Marie. Für Schiller teilt sich im naiven Wesen von Kindern die höhere Idee des Schönen mit. Marie, das Kind mit den ambivalenten Charaktereigenschaften, widerspricht von Grund auf Schillers Modell unschuldiger Naivität, etwa mit ihrer frühreifen und reflektiert-erwachsenen Denkweise sowie ihren für dieses Alter erstaunlichen argumentativen Fähigkeiten, die sie immer wieder in den Gesprächen mit ihrer Mutter über politisch-geschichtliche Sachverhalte offenbart. Ebenso verfehlt Marie durch ihre gelegentlich unmoralische Einstellung, wie sie etwa zum Erschrecken Gesines gegenüber der dunkelhäutigen Mitschülerin Francine zum Ausdruck kommt, Schillers Vorstellung naiver Kindlichkeit, in welcher sich doch gerade eine moralische Größe spiegeln soll. Marie hat nicht mehr viel mit der schönen Seele Ingrids zu tun, wobei anzumerken ist, dass auch Schillers – insgesamt unbeständige – Ansicht über das Verhältnis von Schönheit und Moralisch-Gutem letztendlich zu einer Trennung beider Bereiche tendiert. Andererseits stellt Johnson die in dialektischer Relation zur erwachsenen Wesensart stehende kindlich-naive Seite Maries auf die Probe. Mit den Gefahren der Welt, so das Fazit, scheint diese nicht vereinbar. Ihre zumindest teilweise existierende Vertrauensseligkeit und Gutgläubigkeit, etwa wenn sie mit der New Yorker Untergrundbahn allein in ihrer geliebten Stadt unterwegs ist und von keinem einzigen der Millionen Einwohner etwas Böses befürchtet, wirkt in der Wirklichkeit fehl am Platz, ebenso ihre Deutung der Dinner-Einladung von Gesines Arbeitgeber de Rosny, die sie nicht als Strategie durchschaut, sondern als Gastfreundschaft missversteht. Das Gleiche gilt für ihre ausgeprägte Haltung, den geschichtlichen Ernst als ein heiteres Spiel umzudeuten und damit zu überspielen. Wäre Marie nicht erst zehn bzw. elf Jahre alt, würden diese naiv-spielerischen Eigenschaften inmitten einer von Kriminalität, Lügen und Unaufrichtigkeiten geprägten Welt leicht einen Stich ins negativ konnotierte Einfältige oder gar Ignorante erhalten – der übrigens auch an Ingrid, die rückblickend aus 10 Vgl. ebd., S. 60. 11 Vgl. den Titel bei Winfried Menninghaus: Das Versprechen der Schönheit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2003.
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der reiferen Perspektive der Jahrestage etwas abfällig als »eine von denen mit dem unbedachten Lächeln« (JT: S. 9) bezeichnet wird –, nicht spurlos vorbeigeht. Doch davon verschont Johnson Gesines Tochter, indem er sie erwachsen und ernsthafter werden lässt und dadurch ihre Würde bewahrt. Desgleichen setzt sich Johnson kritisch mit Schillers Spielkonzept auseinander, das dieser sich zunächst in der Historie verwirklicht zu sehen erhofft, bis er sich die Unrealisierbarkeit dieses Vorhabens eingesteht und seitdem das Reich des geschichtlichen Ernsts von jenem des Spiels und der Schönheit streng geschieden halten will. Insbesondere die jugendlichen Protagonisten der Johnson’schen Romane halten sich nicht an die von Schiller vorgegebene Trennung, sondern setzen sich über sie hinweg: Ingrid versucht, ihr spielerisches Selbstverständnis auch in dem von der Parteipolitik überschatteten Raum der Schule aufrechtzuerhalten. Marie begreift das Leben als ein groß angelegtes Spiel. Klaus ahmt wider besseres Wissen höhnisch und verbittert den Spieltrieb nach. Und schließlich gelingt es selbst Gesine in sentimentalen Momenten nicht immer, die Demarkationslinie zwischen Schein und Sein unverletzt zu lassen. Alle erfahren auf unterschiedliche, aber immer schmerzhafte Weise, dass Spiel und Geschichte, ganz im Sinne Schillers, nicht miteinander in Einklang zu bringen sind. Zu viele »Spielverderber« (MJ: S. 160) sind in Mecklenburg und Manhattan unterwegs. Mit dem Wissen um die Unvereinbarkeit von heiterer und ernster Sphäre verwendet Johnson den Begriff des Spiels gerade in den Jahrestagen auffallend häufig in historischen, politischen, ökonomischen oder militärischkriegerischen Zusammenhängen12 und erweckt dadurch ein Bewusstein für die Unaufrichtigkeit dieses »falsche[n] Spiel[s]« (JT: S. 1440) sowie den tatsächlich vorhandenen Bruch zwischen Realität und wahrem Spiel. Bei all dem plakativen Gebrauch des Begriffs ›Spiel‹ erstaunt, dass es mit Ausnahme des vom dreijährigen Kleinkind Marie erfundenen, von der 10jährigen längst belächelten Fantasiespiels »Cydamonoe« (JT: S. 1482 – 1488) wenig richtige (Kinder-) Spiele gibt und auch der schönen Kunst, welche nach Schillers Erläuterung ebenfalls den Spieltrieb im Menschen auszulösen vermag, kommt eine bemerkenswert untergeordnete Rolle zu. Marie »hört nie eine Schallplatte, kennt keine Musicals, setzt nie einen Fuß in das Metropolitan Museum, sieht keinmal ein Ballett im City Center oder spricht auch nur den Wunsch danach aus«,13 stellt Sigrid Bauschinger für das Gebiet der Kunst fest. Ähnliches lässt sich mit Birgit Konze für den Bereich des Kinderspiels registrieren: »Das Element des Spiels fehlt in Johnsons Jahrestagen. Marie spielt nicht im eigentlichen 12 Vgl. etwa JT: S. 234, S. 341, S. 450, S. 620, S. 640, S. 1263, S. 1616. 13 Sigrid Bauschinger : Mythos Manhattan. Die Faszination einer Stadt. In: Sigrid Bauschinger, Horst Denkler und Wilfried Malsch (Hrsg.): Amerika in der deutschen Literatur: Neue Welt, Nordamerika, USA. Stuttgart: Reclam, 1973, S. 382 – 397, hier S. 391.
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Sinne, auch Gesine hat nicht gespielt«14 – mit Ausnahme während ihrer Zeit bei den Paepckes. Warum also fehlen richtige Spiele in Johnsons Hauptwerk? Aber wie, so wäre auf diese Frage zu entgegnen, »[hätte] die Marie […] [im Schiller’schen Sinn, Anm. d. V.] spielen können mit der Rebecca« (JT: S. 792), ihrer jüdischen Freundin, deren Mutter, Mrs. Ferwalter, als KZ-Gefangene den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust überlebt hat? Sollte Marie Rebecca zu den fragwürdigen Vergnügungen auffordern, die auf dem Spielplatz zu beobachten sind, wo »Kinder […] Krieg [spielen]« (JT: S. 1391) und »Fangspiele« (JT: S. 67) oder »die Spielgefährten […] mit feindseligen Tricks« (JT: S. 103) auszustechen versuchen? Auch wenn Mrs. Ferwalter gegenüber Gesine das Gelingen einer friedvollen und einvernehmlichen Begegnung ihrer jüdischen Tochter mit der »deutsche[n] Spielgefährtin« (JT: S. 792) nicht ausschließen möchte – »Mag sein mein Kind kann spielen mit yours…« (JT: S. 45) –, so zeigt die konjunktivische Einkleidung dieses Wunschs doch an, dass dieser im Bereich der schönen Möglichkeit, nicht der Wirklichkeit, angesiedelt ist. Bei all den Abweichungen, die Johnson gegenüber Schillers ästhetischem Konzept augenscheinlich vorgenommen und auf diese Weise Kritik daran geäußert hat, so sollen doch die Gemeinsamkeiten zwischen beiden Autoren nicht übersehen werden. Gemein ist ihnen die Denkbewegung in Widersprüchen und Antithesen – gerade die auf Eintracht bedachte Marie beschwert sich bei ihrer Mutter über »[d]iese [ihre] Dialektik« (JT: S. 1265) und Gesine selbst kommentiert eine ihrer Erzählungen: »Det mista dialektisch sehn, wa?« (JT: S. 1642) Für Schiller wie für Johnson ist das »Grundthema«15 ihres Schaffens »der Riss, die Teilung und Trennung von Menschen«16 – jene Konstellation also, die prägend für das Erhabene ist. Dieser Leitgedanke der Entzweiung zeigt sich in den Johnson’schen Texten auf vielerlei Weise, etwa durch den ambivalenten Erzähleinstieg des »Einerseits« (IB: S. 11) und »Andererseits« (IB: S. 9) in Ingrid Babendererde oder die zeitlich und geografisch auseinanderklaffenden Pole der beiden Handlungsstränge in den Jahrestagen; ebenso kommt die »Doppelge-
14 Birgit Konze: Das gestohlene Leben: Zur Thematisierung und Darstellung von Kindheit in der DDR im Werk von Monika Maron im Vergleich mit Werken von Uwe Johnson, Irmtraud Morgner und Thomas Brussig. In: Elke Gilson (Hrsg.): Monika Maron in perspective: »dialogische« Einblicke in zeitgeschichtliche, intertextuelle und rezeptionsbezogene Aspekte ihres Werkes. Amsterdam: Rodopi, 2002, S. 181 – 203, hier S. S. 196. 15 Marek Dziuba: Machiavelli ins Stammbuch. Institutionalisierte Lüge in »Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953« von Uwe Johnson. In: Hartmut Eggert und Janusz Golec (Hrsg.): Lügen und ihre Widersacher. Literarische Ästhetik der Lüge seit dem 18. Jahrhundert. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2004, S. 205 – 210, hier S. 206. 16 Ebd., S. 206. Siehe auch Carsten Gansel: »es sei EINFACH NICHT GUT SO«. Uwe Johnsons »Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953«. In: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Text + Kritik. Uwe Johnson. Bd. 65/66. München: Edition Text + Kritik, 2001, S. 50 – 68, hier S. 65.
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sichtigkeit«17 durch den Kontrast von Stadt (New York) und Land (Mecklenburg), Erinnerung und Vergessen, Heimat und Entfremdung, Versöhnung und Verlust zum Ausdruck und nicht zuletzt durch das im Motiv der Wellenbewegung sichtbar werdende »Fundamentalgesetz« (VE: S. 422) von Anziehung und Zurückstoßung, welchem Gesine Cresspahl, zwischen den Gegensätzen oszillierend, unterliegt. Wie für Schiller, so ist das Erhabene auch für Johnson diejenige Lebensform, mit welcher dem Riss in der menschlichen Existenz adäquat zu begegnen ist. Auf der anderen Seite teilt Johnson mit Schiller durchaus die Sehnsucht nach dem Schönen, obwohl er, ähnlich wie der späte Schiller, desillusioniert über »das Los des Schönen auf der Erde«18 urteilt, das doch die Differenzen im Leben des Einzelnen nicht zu überwinden imstande ist. Dennoch bleibt die übersinnliche Idee wahrer Schönheit – auch in diesem Punkt sind sich die Autoren einig – ein wenn auch nie zu erreichender, so doch Trost, Zuversicht und Geborgenheit spendender und damit lebenswichtiger Menschheitstraum. In dieser untrennbar mit dem Begriff des Menschen verknüpften Sphäre der Träume und Sehnsüchte hat das Schöne, welchem es verwehrt ist, wirklich zu werden, seinen Platz. In diesem Sinne lässt sich also auch Johnson in die Tradition einer – mit den Mitteln der Literatur reflektierten – »doppelten Ästhetik« einordnen. Nicht unähnlich der Schiller’schen Ästhetik, so vollzieht sich ebenso bei Johnson eine Schwerpunktverschiebung innerhalb des Wertungsschemas der sich nie statisch zueinander verhaltenden antagonistischen Komponenten des Schönen und Erhabenen: Die vordergründig in ihrer unglaubwürdigen Überhöhung inszenierte, insgeheim aber doch angehimmelte Idealfigur der anmutigen Ingrid wird durch den erhabenen Charakter Gesines abgelöst; allein das märchenhafte Mädchen Majorie erinnert elegisch an den Traum vom Schönen. In äußerster Weise bemerkenswert erscheint dabei, dass Johnson mit seiner Erörterung des Konzepts einer »doppelten Ästhetik« der Zeit weit voraus war, denn ehe das Erhabene in den 1970er Jahren eine Wiederbelebung erfuhr, geschweige denn als Gegenpart zum Schönen Beachtung fand, hat er beides bereits 1957 in seinem Roman-Erstling aufgegriffen. Mit Johnsons Diskussion der »doppelten Ästhetik« Schillers konnte gezeigt werden, wie anschlussfähig diese auch an die heutige Zeit noch ist.
17 Wolfgang Paulsen: Innenansichten: Uwe Johnsons Romanwelt. Tübingen, Basel: Francke Verlag, 1997, S. 21. 18 Friedrich Schiller : Wallenstein. Ein dramatisches Gedicht. In: Frithjof Stock (Hrsg.): Friedrich Schiller : Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 4. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag, 2000, S. 266.
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