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German Pages 313 [324] Year 2022
Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament (BWANT) Herausgegeben von Walter Dietrich Ruth Scoralick Reinhard von Bendemann Marlis Gielen Band 236
Daniel Klinkmann
Die rituelle Welt des Lukas Eine narrative Ritualanalyse des dritten Evangeliums
Verlag W. Kohlhammer
für Christina
1. Auflage 2022 Alle Rechte vorbehalten © W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Print: ISBN 978-3-17-042462-3 E-Book-Format: pdf: 978-3-17-042463-0 Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Vorwort Die vorliegende Arbeit ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Wintersemester 2021/22 an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum angenommen wurde. Mein erster Dank gilt meinem Doktorvater Prof. Dr. Peter Wick, der mich dazu ermutigt hat, meine durch das Studium der Evangelischen Theologie und der Religionswissenschaft angeregten Interessen und Kompetenzen in einer Dissertation weiter zu verfolgen und zu vertiefen. Der Anstoß, die aktuelle Ritualforschung auf einen narrativen neutestamentlichen Text anzuwenden, kam von ihm. Zudem danke ich Peter Wick für die langjährige Förderung am Lehrstuhl für Exegese und Theologie des Neuen Testaments und den immensen Freiraum, den ich in Forschung und Lehre genießen darf. Ebenso danke ich Prof. Dr. Reinhard von Bendemann für die Abfassung des Zweitgutachtens und viele nützliche Tipps und Hinweise sowie für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe BWANT. Viele Menschen haben mich bei der Abfassung der Dissertation unterstützt. Mein herzlicher Dank gilt PD Dr. Jens-Christian Maschmeier, Carolin Schaefer, Malin Drees und Dr. Malte Cramer. Für die Arbeit am Manuskript und vielfältiges Korrigieren meiner Fehler danke ich zudem Kira-Larissa Emde, Miriam Gatawis und Vera Lunau. Für die kompetente und freundliche Beratung zur Erstellung der Druckfassung danke ich Florian Specker vom Kohlhammer Verlag. Mein wichtigster Dank gilt meiner Frau Christina, die mich in den Jahren des Studiums, der Promotion und weit darüber hinaus unterstützt, beraten und begleitet hat. Ihr widme ich diese Dissertation! Wanne-Eickel, im Juni 2022.
Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung und Hinführung ..........................................................
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2. Ritualtheorien ......................................................................................
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2.1 Einführung.................................................................................................
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2.2 Eine kurze Etymologie des Begriffs Ritual .........................................
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2.3 Forschungsüberblick seit Ende des 19. Jahrhunderts ..................... 2.3.1 Die Anfänge: Edward B. Tylor, James G. Frazer und William R. Smith......................................................................... 2.3.2 Émile Durkheim.......................................................................... 2.3.3 Sigmund Freud ........................................................................... 2.3.4 Arnold v. Gennep ....................................................................... 2.3.5 Victor Turner .............................................................................. 2.3.6 Mary Douglas .............................................................................. 2.3.7 Caroline Humphrey und James Laidlaw ................................. 2.3.8 Erving Goffman........................................................................... 2.3.9 Albert Bergesen .......................................................................... 2.3.10 Gerd Theißen .............................................................................. 2.3.11 Jesus als Charismatiker .............................................................
11 12 13 16 17 19 21 24 29 32 37 39
2.4 Neue Wege im 21.Jahrhundert.............................................................. 2.4.1 Agency ......................................................................................... 2.4.2 Performanz.................................................................................. 2.4.3 Ritualdesign ................................................................................ 2.4.4 Ritualmacher .............................................................................. 2.4.5 Ritualtransfer.............................................................................. 2.4.6 Rituale in narrativen Texten .................................................... 2.4.7 Zusammenfassung und Ausblick in den exegetischen Teil
47 48 50 54 59 61 63 65
3. Exegese ausgewählter Perikopen des Lukasevangeliums ............................................................................. 68 3.1 Einführung in den exegetischen Teil ..................................................
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VIII
Inhalt
3.2 Der 12-jährige Jesus im Tempel (Lk 2,41–52) .................................... 3.2.1 Einordnung in die Erzählung des Evangeliums..................... 3.2.2 Lk 2,41–45: Wallfahrt nach Jerusalem..................................... 3.2.3 Lk 2,46–50: Jesus im Tempel ..................................................... 3.2.4 Lk 2,51–52: Jesus ordnet sich wieder in seine Familie ein ... 3.2.5 Narrative Ritualanalyse ............................................................ 3.2.6 Zusammenfassung und Fazit ....................................................
69 70 70 73 76 77 85
3.3 Die Taufe Jesu (Lk 3,21–22) .................................................................... 86 3.3.1 Einordnung in die Erzählung des Evangeliums..................... 87 3.3.2 Lk 3,21–22: Taufe, Geistgabe und Proklamation Jesu als Sohn Gottes ................................................................................. 89 3.3.3 Narrative Ritualanalyse ............................................................ 96 Exkurs: Die Taufe im lukanischen Doppelwerk ................................... 101 3.3.4 Zusammenfassung und Fazit .................................................... 111 3.4 Die „Antrittspredigt“ Jesu in Nazareth (Lk 4,16–30) ....................... 3.4.1 Einordnung in die Erzählung des Evangeliums..................... 3.4.2 Lk 4,16–17: Jesus kommt in die Synagoge von Nazareth ..... 3.4.3 Lk 4,18–19: Jesus liest aus dem Buch des Propheten Jesaja . 3.4.4 Lk 4,20: Das Ende der Lesung .................................................... 3.4.5 Lk 4,21–30: Jesu Auslegung und Reaktion der Zuhörenden 3.4.6 Synoptischer Vergleich ............................................................. 3.4.7 Jesu Predigt als Ausblick ins „Evangelium“ ........................... 3.4.8 Narrative Ritualanalyse ............................................................ 3.4.9 Zusammenfassung und Fazit ....................................................
112 113 115 117 119 121 126 127 130 139
3.5 Jesus wird im Haus des Pharisäers Simon von einer Sünderin geehrt (Lk 7,36–50) .................................................................................. 3.5.1 Einordnung in die Erzählung des Evangeliums..................... 3.5.2 Lk 7,36–38: Jesus im Haus des Pharisäers ............................... 3.5.3 Lk 7,39–43: Jesu Gleichnis für Simon....................................... 3.5.4 Lk 7,44–47: Wem wenig vergeben wird, der liebt wenig ..... 3.5.5 Lk 7,48–50: Wer ist dieser? ........................................................ 3.5.6 Narrative Ritualanalyse ............................................................ 3.5.7 Zusammenfassung und Fazit ....................................................
140 141 142 146 148 150 151 161
3.6 Das Gastmahl im Hause eines Pharisäers (Lk 14,1–24) .................... 162 3.6.1 Einordnung in die Erzählung des Evangeliums..................... 163
Inhalt
3.6.2 3.6.3 3.6.4 3.6.5 3.6.6 3.6.7 3.6.8
IX
Gliederung der Mahlszene Lk 14,1–24 .................................... Lk 14,1: Jesus wird belauert ...................................................... Lk 14,2–6: Heilung eines Wassersüchtigen ............................ Lk 14,7–14: Zwei Mahlgleichnisse ............................................ Lk 14,15–24: Gleichnis vom großen Abendmahl ................... Narrative Ritualanalyse ............................................................ Zusammenfassung und Fazit ....................................................
164 164 165 168 174 178 186
3.7 Das letzte Mahl (Lk 22,7–20) .................................................................. 3.7.1 Einordnung in die Erzählung des Evangeliums..................... 3.7.2 Lk 22,7–13: Vorbereitung des Passamahls.............................. 3.7.3 Lk 22,14–20: Brot- und Kelchwort(e)....................................... 3.7.4 Narrative Ritualanalyse ............................................................ 3.7.5 Zusammenfassung und Fazit ....................................................
187 188 189 192 200 214
3.8 Zwei Jünger auf dem Weg (Lk 24,13–36) ............................................. 3.8.1 Einordnung in die Erzählung des Evangeliums..................... 3.8.2 Lk 24,13–14: Zwei Jünger auf dem Weg .................................. 3.8.3 Lk 24,15–27: Die Trauer der Jünger und das Leiden Christi 3.8.4 Lk 24,28–32: Daheim in Emmaus und wieder auf dem Weg 3.8.5 Lk 24,33–36: Zurück in Jerusalem ............................................ 3.8.6 Narrative Ritualanalyse ............................................................ 3.8.7 Zusammenfassung und Fazit ....................................................
215 216 217 218 224 226 228 237
4. Der theologische Ertrag: Jesus in der rituellen Welt des Lukasevangeliums ..................................................................... 238 4.1 Einführung................................................................................................. 238 4.2 Lukanische Vorgeschichte und Familie Jesu ..................................... 238 4.3 Taufe und Gebet ....................................................................................... 243 4.4 Sabbat und Synagoge .............................................................................. 249 4.5 Jesus Wirkung im Kontext des Mahls.................................................. 254 4.6 Lukas als Ritualmacher.. ......................................................................... 4.6.1 Taufe............................................................................................. 4.6.2 Gebet ............................................................................................ 4.6.3 Schriftauslegung ........................................................................ 4.6.4 Mahl..............................................................................................
264 265 268 270 273
X
Inhalt
4.6.5
Lukas als Ritualmacher und die religiöse Umwelt der Antike ........................................................................................... 276
5. Ausblick und offene Fragen ......................................................... 281 6. Quellen- und Literaturverzeichnis ........................................... 290 7. Register (in Auswahl)....................................................................... 307
1.
Einleitung und Hinführung
Jesus „ging nach seiner Gewohnheit am Sabbat in die Synagoge“ (Lk 4,16b). Dieser Satz ist nicht nur der Auftakt der öffentlichen Wirksamkeit Jesu im dritten Evangelium, sondern gibt auch programmatisch die Einbindung Jesu in die religiöse wie rituelle Welt des Judentums seiner Zeit wieder. Doch diese Einbindung – so die These dieser Untersuchung – ist keine passive Übernahme bestehender ritueller Strukturen, sondern Anlass und Aufhänger vielfältiger theologischer Bezüge im Leben und Wirken Jesu wie Lukas es darstellt. Dies fängt bei der Einbindung Jesu in die rituelle Welt des Judentums durch seine Eltern an (Beschneidung, Wallfahrten), geht weiter über seine Taufe im Jordan und den Synagogengottesdienst in Nazareth und führt sich fort in der wiederholten Mahlfeier Jesu mit Freunden und Feinden. Bisher gilt für den Blick auf neutestamentliche Rituale: „Scholars across many fields have come to realize that ritual is an integral element of human life and a vital aspect of all human societies. Yet, this realization has been slow to develop among scholars of early Christianity.“1 Die ausführliche Auseinandersetzung mit der rituellen Welt Jesu steht erst seit kurzer Zeit im Fokus der neutestamentlichen Exegese. Dies gilt sowohl für die evangelische wie die katholische Bibelwissenschaft: „Protestant bias against meaningful rituals has not allowed much scholary space for thinking analytically about ritual in early Christ or Jesus movements or early Christian groups. And, catholic imaginations of these early centuries have tended to retroject later Catholic ritual forms and meanings into the first three centuries.“2 Es überrascht also nicht, dass die neutestamentliche Exegese erst sehr spät ein positives Verhältnis zur Erforschung von Ritualen entwickelt hat. So schreibt Christian Strecker in der Zeitschrift für Neues Testament: „Bis heute erfährt die gezielte Erforschung der rituellen Dimension der frühchristlichen Lebenswelt in der neutestamentlichen Forschung nur begrenzt Beachtung. Dies ist umso erstaunlicher, als die Ritualforschung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und mehr noch in den letzten beiden Jahrzehnten enorme Fortschritte machte.“3 Strecker führt dies in Bezugnahme auf den Alttestamentler Frank Gorman Jr. auf mehrere Gründe zurück, wie z. B. die wertende Unterscheidung zwischen Werk und Glaube in der reformatorischen Theologie, die Reduktion von Religion auf Ethik und die „konsequente[n] Ausrichtung der Religion auf Rationalität“, die „zu einer einseitigen Aufwertung der
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So der einleitende Satz im Sammelband Early Christian Life, herausgegeben von Richard E. DeMaris, Jason T. Lamoreaux und Steven C. Muir (New York 2018). Taussig: Conclusion, 184. Strecker: Anstöße, 3.
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1 Einleitung und Hinführung
kognitiven Aspekte von Religiösität zuungunsten der religiösen Dimension ritueller Körpererfahrung geführt“ habe.4 In den letzten Jahren hat sich die neutestamentliche Wissenschaft stärker mit Ritualen sowie rituellen Bezügen in den Schriften des Neuen Testaments auseinandergesetzt, da erkannt wurde, dass Rituale, nicht als „marginale, rein äußerliche Phänomene [begegnen …],“ sondern „große Teile der in den neutestamentlichen Schriften enthaltenen Erzählungen, Auseinandersetzungen und Argumentationen [prägen].“5 Viele neutestamentliche Untersuchungen zu Ritualen,6 wie die Dissertation von Claudia Matthes zur Taufe im Neuen Testament,7 versuchen historische Entwicklungen aufzuzeigen und zu erklären.8 Im besonderen Fokus stehen wenig überraschend die beiden „Sakramente“ Taufe und Abendmahl, denen enorm umfangreiche Sammelbände (z. B. die von David Hellholm [u. a.] herausgegebenen Werke mit jeweils über 2000 Seiten9) und eine Vielzahl an 4 5 6
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Strecker: Anstöße, 5. Strecker: Anstöße, 10. Um einen besseren Überblick und einen schnelleren Zugriff auf die Literatur zu ermöglichen, werden in den Anmerkungen 6–12 die vollständigen Titel der Publikationen aufgeführt. Neben neutestamentlichen Untersuchungen bieten sich als Grundlage für die Beschäftigung mit Ritualtheorien ritualwissenschaftliche Überblickswerke an, die stärker kulturwissenschaftlich oder religionswissenschaftlich orientiert sind. Hier sind die Sammelbände von Andréa Belliger / David J. Krieger (Hg.): Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch, Wiesbaden 52013 sowie Christiane Brosius / Axel Michaels / Paula Schrode (Hg.): Ritual und Ritualdynamik, Göttingen 2013 zu nennen. Diese beiden Werke bilden u. a. die Grundlage für Kapitel 2 dieser Arbeit. Claudia Matthes: Die Taufe auf den Tod Christi. Eine ritualwissenschaftliche Untersuchung zur christlichen Taufe dargestellt anhand der paulinischen Tauftexte (NET 25), Tübingen 2017. Vgl. z. B. für die Beschäftigung mit Mahlkontexten: Matthias Klinghardt: Gemeinschaftsmahl und Mahlgemeinschaft. Soziologie und Liturgie frühchristlicher Mahlfeiern (TANZ 13), Tübingen 1996, Dennis Smith: From Symposium to Eucharist. The Banquet in the early Christian World, Fortress 2003, Esther Kobel: Dining with John. Communal Meals and Identity Formation in the Fourth Gospel and its Historical and Cultural Context (Bibl.Interp.S.109) Leiden, 2011, Soham Al-Suadi: Essen als Christusgläubige. Ritualtheoretische Exegese paulinischer Texte (TANZ 55), Tübingen 2011, die alle mehr oder weniger versuchen, die historischen Zusammenhänge hinter den neutestamentlichen Texten herauszuarbeiten. Eine Ausnahme ist die Habilitationsschrift von Christian Strecker (Performative Welten. Theoretische und analytische Erwägungen zur Bedeutung von Performanzen am Beispiel der Jesusforschung und der Exorzismen Jesu, Habil. masch. Neuendettelsau 2002), der anhand der Performanzforschung die Exorzismen Jesu untersucht. David Hellholm / Tor Vegge / Øyvind Norderval / Christer Hellholm (Hg.): Ablution, Initiation, and Baptism. Late Antiquity, Early Judaism, and Early Christianity I (BZNW 176), Berlin 2011 sowie David Hellholm / Dieter Sänger (Hg.): The Eucharist – Its Origins and Contextes: Sacred Meal, Communal Meal, Table Fellowship in Late Antiquity, Early Judaism, and Early Christianity (WUNT 376), Tübingen 2017.
1 Einleitung und Hinführung
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weiteren Einzeluntersuchungen gewidmet sind. Weniger steht bei vielen dieser Arbeiten im Fokus, welche Erkenntnisse für die Auslegung der literarischen Endgestalt durch die Einbindung moderner ritualwissenschaftlicher Theorien und Ansätze gewonnen werden könnten.10 Für die neuesten Ansätze der Ritualforschung stehen die sich mit den Ritualen der ersten Christen beschäftigenden Sammelbände von Richard DeMaris, Jason Lamoreaux und Steven Muir (Early Christian Ritual Life11) von 2018 sowie Risto Uro, Juliette Day, Richard DeMaris und Rikard Roitto (Oxford Handbook of Early Christian Ritual12) von 2019. Die dort versammelten Beiträge erarbeiten mithilfe ritualwissenschaftlicher Theorien und Ansätzen das rituelle Leben der frühen Christen und stellen dabei die immense Relevanz von Ritualen für den Glauben und die Religionspraxis der Nachfolger Jesu in den Mittelpunkt. Diese Vorgehensweise erlaubt einen erweiterten und tiefergehenden Blick in die rituelle Welt Jesu sowie der Autoren der neutestamentlichen Texte und trägt dazu bei, die für die antike Lebenswelt immanent wichtige Rolle von Ritualen stärker als bisher zu beleuchten. Die vorliegende Arbeit möchte in Anschluss an die soeben skizzierten Forschungsansätze die Darstellung der rituellen Welt des Lukasevangeliums untersuchen. Im Mittelpunkt steht dabei Jesus als Protagonist der Erzählung. Daher lauten die Forschungsfragen dieser Dissertation: Wie stellt der Evangelist Lukas das rituelle Wirken Jesu dar? Inwiefern lassen sich innerhalb des Wirkens Jesu (also im Rahmen von Wundern, Predigten, Gleichnissen usw.) Rituale bzw. Ritualbezüge erkennen? Und was sagt das über die Charakterisierung des lukanischen Jesus aus? Wirkt er durch oder gegen Rituale; schafft er eine neue (rituelle) Ordnung oder löst er diese auf? Oder ist Jesus als Charismatiker vollkommen unabhängig von Ritualen? Immer wieder wird im Verlauf der Arbeit deutlich werden, dass Jesus, so wie Lukas ihn darstellt, als Sohn Gottes bzw. als Gottes Gesalbter beschrieben wird. Der lukanische Jesus ist in die rituelle Welt des Judentums eingebunden. Er meidet rituelle Orte und Kontexte nicht, sondern bindet sie explizit in seine Lehre und sein Wirken ein. Er wird als Kind am achten Tag beschnitten (2,21) und durch 10
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Auch außerhalb der Theologie steckt die Untersuchung von Ritualen in Erzählungen noch in den Kinderschuhen: „Whoever wants to plunge into the research on what rituals have to do with narrative, what narration has to do with rituals, and how narrative theory and ritual studies are related, is likely to find themselves at a loss“, so Vera und Ansgar Nünning: On the Narrativity of Rituals: Interfaces between Narratives and Rituals and Their Potential for Ritual Studies, in Vera Nünning / Jan Rup / Gregor Ahn (Hg.): Ritual and Narrative. Theoretical Explorations and Historical Case Studies, Bielefeld 2013, 51–76 (hier: 51). Richard E. DeMaris / Jason T. Lamoreaux / Steven C. Muir (Hg.): Early Christian Ritual Life, New York 2018. Risto Uro / Juliette J. Day / Richard DeMaris / Rikard Roitto (Hg.): The Oxford Handbook of Early Christian Ritual, Oxford 2019.
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1 Einleitung und Hinführung
Johannes im Jordan getauft (3,21f.). Er besucht mehrfach den Jerusalemer Tempel (2,22.41–52; 19,45–21,38) und eine Reihe von Synagogen (u. a. 4,14–44; 13,10– 17), um dort zu predigen. Er feiert das Passafest (2,41ff; 22,7–20) und ist Gast bei einer Reihe von Mählern (u. a. 7,36–50; 14,1–24). Er sättigt als Gastgeber viele Menschen auf einmal (9,10–17) und bricht das Brot für seine Jünger (22,14–20; 24,30f.). Auf vielerlei Ebenen hat die Ritualwissenschaft herausgearbeitet, dass Rituale Spiegel gesellschaftlicher Merkmale sind, wobei die rituelle Ordnung die gesellschaftliche Ordnung nicht nur wiedergibt, sondern auch erschafft und stärkt.13 Wie sich in der Exegese ausgewählter Perikopen zeigen wird, nutzt der lukanische Jesus diese Spiegelbildlichkeit aus. Er greift gezielt in die rituelle Ordnung ein und verdeutlicht, wie diese aus göttlicher Perspektive aussieht: Anders als die jüdisch-hellenistische Gesellschaft, in der er lebt, stellt er marginalisierte Menschen nicht an den Rand, sondern bezieht sie in seine Predigt ein und stellt diese in den Mittelpunkt seines ganzen Wirkens. Er sieht sich explizit zu denen gerufen, denen die gesellschaftliche wie rituelle Ordnung nur einen Randplatz zuweist: Arme und Kranke (4,18f.; 7,22f.), Sündige und Zöllner (5,27–32; 19,1–10), Frauen (7,36–50; 8,1–3) und Außenstehende (11,25–37). Um die soeben skizzierten Ausführungen begründen zu können, gehe ich folgendermaßen vor: Zu Beginn stehen in Kapitel 2 ausgewählte Theorien und Ansätze der Ritualwissenschaft im Vordergrund. Auf die etymologische Klärung des Begriffs ‚Ritual‘ folgt ein Forschungsüberblick zur Ritualwissenschaft seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert. Dabei nimmt die Ritualtheorie des amerikanischen Soziologen Albert Bergesen eine wichtige Rolle ein, da dieser nicht nur mehrere Stränge bisheriger Ritualforschung verbindet, sondern weil seine Unterteilung von Ritualen in Mikroriten, Mesoriten und Makroriten eine hilfreiche Basis für die Exegese des Lukasevangeliums darstellt. Während bis zum Ende des 20. Jahrhunderts vor allem umfassende Ritualtheorien erarbeitet wurden, sind nachfolgend hauptsächlich einzelne Aspekte rituellen Wirkens untersucht worden.14 Diese werden in Kapitel 2.4 vorgestellt. Ich fokussiere mich dabei auf Ansätze, die im Rahmen der Untersuchung von Ritualdynamik erarbeitet bzw. vertieft erforscht worden sind.15 Dazu gehören Agency und Performanz sowie das Verständnis Jesu als Ritualdesigner. Hinzu kommen Kategorien, die Lukas als Evangelisten bzw. sein Vorgehen ritualwis-
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Als Beispiele dafür sollen an dieser Stelle die Forschungsarbeiten von Mary Douglas und Albert Bergesen ausreichen, die beide im Verlauf der Arbeit vorgestellt werden. Eingebunden in den ritualtheoretischen Teil der Arbeit ist der Forschungsansatz der Deutung Jesu als Charismatiker (2.3.11), da diese Perspektive weiterführend für die Betrachtung des rituellen Wirkens Jesu sein kann. Im Hintergrund steht der von der DFG finanzierte Sonderforschungsbereich 619 an der Universität Heidelberg mit dem Titel „Ritualdynamik – Soziokulturelle Prozesse in historischer und kulturvergleichender Perspektive“.
1 Einleitung und Hinführung
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senschaftlich deuten können (Ritualmacher, Ritualtransfer). Damit bei der unüberblickbaren Vielfalt ritualwissenschaftlicher Theorien nicht der Fokus auf die Auslegung des Lukasevangeliums verloren geht, sollen alle besprochenen Ansätze daraufhin befragt werden, inwiefern sich diese für die neutestamentliche Exegese als hilfreich erweisen können. Im Anschluss an den ritualtheoretischen Teil der Arbeit werden die gewonnenen Erkenntnisse auf ausgewählte Erzählungen des Evangelisten Lukas angewendet (Kapitel 3). Dabei sollen die vielfältigen rituellen Bezüge der Jesus-Geschichte des dritten Evangeliums gezeigt werden, die sich im Kontext von Taufe und (Abend-)Mahl, Synagogengottesdienst, Sabbat, Passa und Gastgeberritualen bewegen. Die im Lichte der ritualwissenschaftlichen Exegese gewonnenen Erkenntnisse werden dann im theologischen Ertrag zu ‚Jesus in der rituellen Welt des Lukas‘ auf das dritte Evangelium als Gesamtwerk ausgeweitet (Kapitel 4). Dabei stehen die Themenfelder lukanische Vorgeschichte und Familie Jesu, Taufe und Gebet, Sabbat und Synagoge sowie Jesu Wirksamkeit im Kontext von Mählern im Vordergrund. Abgeschlossen wird der theologische Ertrag durch die Auseinandersetzung mit der Frage, ob man den Evangelisten Lukas als Ritualmacher verstehen kann, der durch Textüberlieferung und -rezeption das rituelle Leben seiner Leser in Anlehnung an Jesu Wirken als Ritualdesigner ermöglicht und inwiefern seine Darstellung der von Jesus und seinen Jüngern durchgeführten Rituale als Ritualtransfer bezeichnet werden kann. Zuletzt wird im fünften Kapitel der Arbeit ein Ausblick auf offene Fragen vorgenommen.
2.
Ritualtheorien
2.1 Einführung Die Erforschung bzw. wissenschaftliche Beschäftigung mit Ritualen, Riten und rituellem Verhalten ist eine relativ junge Disziplin, die erst gegen Ende des 19. Jh. als Forschungsgegenstand eingeführt und im Laufe der Zeit immer weiter ausdifferenziert wurde. Innerhalb der letzten Jahrzehnte entwickelte sich ein vielseitiger Forschungstrend, der von sehr unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen gespeist wird: So gibt es Betrachtungen und Theorien in der Soziologie und Sozialwissenschaft, in Theologie und Religionswissenschaft, in Geschichte, Musik- und Theaterwissenschaft, sogar im Bereich der Biologie wird mit den Begriffen Ritual und Ritualisierung gearbeitet, um das Verhalten von Tieren, Menschen und göttlichen oder dämonischen Wesen zu deuten.1 Für die in dieser Arbeit angestrebte Untersuchung zu Jesus in der rituellen Welt des Lukasevangeliums muss zuerst ein ritualtheoretischer Grundstock erarbeitet werden. Auf diese Weise sollen verschiedene Blickwinkel auf den Forschungsgegenstand Ritual aufgezeigt und dessen Relevanz für die Neutestamentliche Wissenschaft darlegt werden.2 Dafür wird zuerst ein kurzer Blick auf die Etymologie des Begriffs Ritual geworfen, bevor ein Forschungsüberblick zu Theorien und Ansätzen zum Thema dargestellt wird. Im Hintergrund soll die Frage stehen, welche der vielfältigen Möglichkeiten des wissenschaftlichen Umgangs mit Ritualen für die Exegese eines biblischen Textes relevant sein können.3 Dabei ist klar, dass die auszulegenden Texte kein Ritual sind, sondern von Ritualen berichten bzw. Rituale theologisch reflektieren: „Narrative texts can represent some aspects of ritual practices, but
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Einen allgemeinen Überblick über Rituale und Ritualforschung findet sich in den Monographien von Dücker (2007) und Stollberg-Rilinger (22019) sowie bei Post: Erbe, 139–181. So auch Bormann: Abendmahl, 697f.: „Um nun die Ergebnisse einzelner ritualwissenschaftlicher Zugänge angemessen einordnen zu können, bedarf es einer gewissen Kenntnis der grundlegenden Fragestellungen und ihrer Anwendung auf das Neue Testament.“ Dabei kann verschieden gearbeitet werden: Soll eher auf die narrative Darstellung von Ritualen im Text geachtet werden, oder werden die verschiedenen Darstellungen eines bestimmten Rituals (z. B. Taufe) in den Texten untersucht? Oder wird nach intendierten Lesern der Evangelisten/Autoren und deren Ritualvollzug und wie sich dieser im Text widerspiegelt, gefragt? Oder soll wirkungsgeschichtlich auf die Rezeption der Texte z. B. bei den Reformatoren gesehen werden? Oder soll nach der Wirkung der Texte auf heutige Ritualvollzüge in einzelnen christlichen Strömungen gefragt werden? Weitere Möglichkeiten wären denkbar. Diese Arbeit stellt hauptsächlich die narrative Funktion des Rituals und Jesu Umgang mit diesem in den Mittelpunkt.
2.1 Einführung Ritualtheorien
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are not composed als ritual manuals, and thus ritual modifications are not always explicitly named.“4 Grundlage soll dabei die exegetische Untersuchung der biblischen Texte sein, auch wenn die bisherigen Ansätze der Ritualforschung hierzu auf den ersten Blick wenig weiterhelfen. Dabei „scheint die schwierige Quellenlage, wie etwa das fast vollständige Fehlen von Ritualbeschreibungen im NT, mindestens in gleicher Weise Ursache zu sein. Die aus der Anthropologie und Ethnologie hervorgehenden Ritualwissenschaften bieten originär kaum Anhaltspunkte, wie dem methodisch in angemessener Weise zu begegnen ist. Dass wiederum die historisch-kritische Methodik einer angemessenen Ritualanalyse und -interpretation grundsätzlich entgegensteht, scheint ebenso fraglich.“5 Vor der Auseinandersetzung mit der Begriffs- und Forschungsgeschichte von Riten und Ritualen soll auf eine Definition des Begriffs ‚Ritual‘ verwiesen werden, die in Abwandlungen des Öfteren vertreten wird und der ich mich vorläufig anschließe: „Rituale in einem engeren Sinne der Begriffsverwendung sind […] in der Regel bewusst gestaltete, mehr oder weniger form- und regelgebundene, in jedem Fall aber relativ stabile, symbolträchtige Handlungs- und Ordnungsmuster, die von einer gesellschaftlichen Gruppe geteilt und getragen werden […].“6 Diese Definition ist selbstverständlich nicht unangefochten, denn „defining the term ‚rituals‘ is a notoriously problematic task.“7 Für die Belange dieser Arbeit muss immer wieder die Anwendbarkeit ritualwissenschaftlicher Theorien für die Auslegung neutestamentlicher Texte im
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Ascough: Ritual modifications, 172. In die gleiche Richtung argumentiert Frevel: Rituals, 137: „The gap between ritual text and ritual practice becomes obvious, when one takes into account that not all elements of ritual are represented in the text. On the one hand, the ritual text is not completely detached from practice. It refers to practice and is related to practice rather than based solely on practice or borrowed from practice. On the other hand, the ritual text has its own focus, intention, context, pragmatic etc.“ Zur narrativen Ritualforschung vgl. auch den Sammelband von Vera Nünning, Jan Rup und Gregor Ahn: Ritual and Narrative. Matthes: Taufe, 37. Brosius/Michaels/Schrode: Ritualforschung, 15, vgl. auch Theißen: Veränderungspräsenz, 18 sowie Stollberg-Rilinger: Rituale, 9 und Dücker: Rituale, 14–18 mit einer ausführlichen Begriffsherleitung. Vgl. auch Frenschkowski: Ritual, 168: „Rituelles Handeln ist dabei nicht nur religiös-kultisches Handeln. Wir können in einem weiteren Sinn jede Form standardisierten, erlernten, gesellschaftlich geregelten, nicht unmittelbar zweckbezogenen Handelns rituell nennen.“ Snoek: Rituals, 3. Snoek führt dabei die Probleme aus, die bei dem Versuch entstehen, eine einheitliche und für alle Wissenschaftsdisziplinen zufriedenstellende Definition von Ritual zu finden. Vgl. auch Stephenson: Ritualization, 28 zum Ritualbegriff von Catherine Bell: „If we really knew, what ritual meant, suggests Bell, it would not, could not, do its work.“
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2 Ritualtheorien
Blick behalten werden.8 Damit ist die Frage verbunden, wie innerhalb des Oberbegriffs ‚Ritual‘ untergeordnete (Teil-) Riten entdeckt und klassifiziert werden können: Was ist genau ein Initiationsritual, was ein Reinigungsritual? Und kann die Taufe nicht auch beides gleichzeitig sein? Diese und weitere Fragen werden in den exegetischen Kapiteln dieser Arbeit für den jeweiligen Einzelfall diskutiert werden. Dabei sollen Rituale nicht nur als Beschreibung eines Zustandes, sondern auch als Ermöglichungsinstrument verstanden werden, weil Rituale „keineswegs nur eine wie auch immer geartete vorgängige oder vermeintlich übergeordnete Wahrheit, Botschaft, Gegebenheit oder Bestimmung darstellen oder durchsetzen, sondern ihrerseits Wirklichkeiten und Wahrheit schaffen.“9 Für die Darstellung der Ritualwissenschaft wird ein besonderer Schwerpunkt auf die moderne wissenschaftliche Beschäftigung mit Riten und Ritualen gelegt, obwohl es auch schon in der hellenistischen Antike Ansätze der Einordnung und Klassifizierung von Ritualen gegeben hat, die hier größtenteils unberücksichtigt bleiben müssen.10
2.2
Eine kurze Etymologie des Begriffs Ritual
Für die Herleitung der Begriffe ‚Ritual‘ bzw. ‚Ritus‘ ergeben sich mehrere Möglichkeiten. Einmal kann auf die Wortherkunft aus dem Indogermanischen bzw. Sanskrit verwiesen werden: Im Indogermanischen lautet die Wurzel ri, was mit fließen übersetzt werden kann,26 bzw. im Sanskrit rta, was im Deutschen mit Ordnung wiedergegeben werden kann.27 Parallel dazu gibt es die Möglichkeit, das aus dem Lateinischen übernommene Wort von seiner antiken Bedeutung her zu verstehen. Allerdings ist diese aufgrund der überlieferten Texte und Textfragmente von der modernen Nutzung zu differenzieren „denn ritus mit seinen Ableitungen ist ein Wort, das ganz in den Bereich römischer Religion und römischen Denkens gehört und mit den modernen Fremdwörtern kaum etwas zu tun hat.“28 Es taucht zuerst bei Plautus (Men 395) auf und ist an einigen Stellen dunkel, kann aber an anderen als richtig bzw. gut wiedergegeben werden.29 Bei Cato (frg. 18,7) finden wir eine spezifisch 8
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Bisher liegen wenige dezidiert ritualwissenschaftliche Studien zu neutestamentlichen Texten vor. Einen guten Überblick über die Vorgehensweise bietet Matthes: Taufe, 41–48. Strecker: Macht, 139. Christliche Rituale spielen dabei aber keine oder nur eine marginale Rolle, vgl. Frenschkowski: Rituale, 165–194. Vgl. Brosius/Michaels/Schrode: Ritualforschung, 10. Vgl. Sundermeier: Religion?, 94, und Lang: Art. Ritual/Ritus, 442. Vgl. für das Folgende Quack: Ritus, 197 und Bendlin: Art. Ritual. Roloff: Ritus, 36. Vgl. Roloff: Ritus, 36.
2.2 Etymologie
9
religiöse Bedeutung. Hier gibt es einen griechischen Ritus (Graeco ritu), der sich von einem Römischen Ritus (Romani ritu) unterscheidet. Cato diskutiert, ob den Göttern nach griechischer Art mit nacktem oder nach römischer Art mit bedecktem Haupt geopfert werden soll.30 Dieser religiöse Bezug verfestigt sich weiter, sodass bei Varro (Mucr. Sat. 3,16,17) und später bei Cicero ritus zwar immer noch mit Sitte/Gebrauch zu übersetzen ist, aber mehr den Sinn von „religiösem Ritual“ bekommt, das als alt und von den Göttern eingesetzt bezeichnet wird.31 Im Laufe der Zeit gewinnt ritus immer eindeutiger den Sinn von Opferdarbringungen. „Obwohl auch andere religiöse Akte natürlich ‚ritus‘ heißen können, gewinnt das Opfer ein völliges Übergewicht; es wird zum Ritus par excellence.“32 Das Griechische33 kennt keinen einheitlichen Begriff zum lateinischen ritus, der unserem modernen Verständnis von Ritualen entspräche. Es wird unterschieden zwischen „Wörter[n], welche einzelne Rituale bezeichnen (θυσία, ἐναγισμός, σπονδή), zum anderen Begriffe, die – aus dem semantischen Feld ‚to act‘ / ‚action‘ stammend – in einem allgemeineren Sinne Rituale bezeichnen können (ἱερὰ ποιεῖν, θεραπεύειν τοὺς θεούς), und davon wiederum abgegrenzt weitere Begriffe, welche beinahe ausschließlich im Zusammenhang mit Mysterienreligionen und Initiationen belegt sind (τελεῖν, δρόμενα, ὄργια).“34 In der lateinisch-sprachigen Westkirche wird der Begriff übernommen und ganz auf den christlichen Gottesdienst bezogen. Dabei tritt er dort neben andere Begriffe.35 Luther und die Reformatoren36 haben den Begriff eher negativ konno-
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Vgl. Roloff: Ritus, 37 und Rüpke: Religion der Römer, 97. Vgl. Roloff: Ritus, 39–47. Anscheinend haben die Bürger Roms immer mehr religiöse Sitten und Gebräuche aus dem hellenistischen Bereich übernommen, was sich u. a. am Festkalender und der Benennung von Göttern darlegen lässt. Auch die Opferungen scheinen sich immer mehr dem griechischen Ritual angeglichen zu haben. Vgl. dazu Wissowa: Religion, 18–71. Frenschkowski: Rituale, 172. Zum Opfer in der römischen Religion vgl. Cancik-Lindemaier: Ort, 58–85. Sie beschreibt das letzte Opfer Caesars, das die Götter nicht angenommen haben. Kurz darauf wurde er ermordet, weil er – so Sueton – die religio verachtet habe (59, 75). Eine Darstellung einzelner Elemente antiker Opferungen bietet Gladigow: Sequenzierung, 65–67. Zum alttestamentlichen Hebräisch vgl. Frenschkowski: Rituale, 174. Matthes: Taufe, 20. Vgl. auch Frenschkowski: Rituale, 170ff. Hier wären Begriffe wie Zeremonie zu nennen. So gab es einen Zeremonienmeister (magister ceremoniarum), der für den Ablauf bestimmter Gottesdienste in der kath. Kirche zuständig war. Vgl. Gengnagel/Schwedler: Ritualmacher, 166. Eine ausführlichere Beschreibung der Tätigkeit der Zeremonienmeister inkl. weiterer Literatur findet sich bei Schwedler: Ritual, 237–242. Vgl. hierzu die Ausführungen von Marian Füssel: Geltungsgrenzen, 271, der im Anschluss an Peter Burke die Reformationszeit als „wohl tiefgreifenste antiritualistische Bewegung der Vormoderne“ beschreibt.
10
2 Ritualtheorien
tiert, was für mehrere Jahrhunderte bei protestantischen Kirchen und Forschern zu einer Minderbeachtung von Ritualen und Ritualität geführt hat.37 Luthers Betonung des Glaubens (sola fide) gegenüber religiösen Werken erweist sich hier als folgenschwer, denn der Vertrauensverlust in die Wirksamkeit – bestimmter – Rituale führt dazu, dass diese einen geringeren Teil des religiösen Lebens ausmachen, als vor der Reformation.38 Auch außerhalb der theologischen Diskussion wandelt sich der Umgang mit Ritualen. So entwickeln sich in Europa seit dem 17. Jh die Zeremonialwissenschaften (ausgehend von Franciscus Modius’ Werk Pandectae Triumphales von 1586), die zuerst Sammlungen von zeremoniellen Anlässen und Ritualen darstellen, sich aber bald schon um eine fachliche Auseinandersetzung mit den verschiedenen Zeremonien und Ritualen der europäischen Herrscherhäusern auseinandersetzen. Hierbei entstehen dann auch erste Fachbücher vor allem für Diplomaten. Ab dem 18. Jh. werden die Zeremonialwissenschaften Teil der neu geschaffenen Staatswissenschaften in Europa.39 Die von Luther und weiteren Reformatoren angelegte Dichotomie von Glauben und Werken hatte zudem Einfluss auf die sich ab dem 18. Jh. entwickelnde Geschichtswissenschaft, die Ethnologie sowie die Religionswissenschaft: Allen ging es zunächst um die Untersuchung von Glaubensvorstellungen, religiösen Lehren bzw. Mythen; Handlungen, Praxen und Ritualen wurde weniger Wert beigemessen.40 Rituale erschienen aus westlicher (und protestantisch-geprägter) Sicht als minderwertigere Handlungen, die vor allem bei als primitiv empfundenen Völkern verbreitet waren.41 Der Bedeutungswandel des Begriffs lässt sich z. B. mit einem Blick in einschlägige Lexika zeigen. So konstatiert Strecker, dass in der Encyclopedia Britannica von 1771 bis zur siebten Auflage 1852 ritual als „Bezeichnung für ein Buch bzw. ein Skript religiöser Praktiken geführt“42 werde. In den nachfolgenden Ausgaben fehlen dann entsprechende Einträge, bevor 1910 (elfte Auflage) wieder ein Artikel zu ritual erscheint, wobei hier der Begriff als „spezifisches religiöses – nicht länger zwingend christliches – Handeln“43 verstanden wird. 37 38
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42 43
Vgl. Matthes: Taufe, 16. Damit korrespondiert die Einschränkung der Sakramente auf Taufe und Abendmahl im protestantischen Christentum. Vgl. hierzu die Ausführungen und weitere Literatur bei Schwedler: Ritual, 242–251. Vgl. Brosius: Ritualforschung, 11. Vgl. ebd. Hilfreich sind zudem die Ausführungen von Bell: Ritualkonstruktionen, 37f. Sie deutet Rituale als Opposition zu Mythen und Glaubensvorstellungen. Jan Platvoet (nach Quack: Ritus, 198) hingegen sieht diese Gegenüberstellung besonders in der Auseinandersetzung zwischen den verschiedenen christlichen Konfessionen im Westen seit der Reformationszeit. Das gleiche Phänomen finde sich bei Darstellungen der kolonialisierten Kulturen im 18. und 19. Jahrhundert. Auch hier wird die eigene Rationalität der Ritual- und Magiepraxis der Kolonialgebiete gegenübergestellt. Strecker: Anstöße, 4. Ebd.
2.3 Forschungsüberblick
11
Nach diesen etymologischen Überlegungen soll im Folgenden ein Blick in die Forschungsgeschichte der Ritualwissenschaft geworfen werden. Dabei kann aufgrund der vielfältigen Fülle der Ansätze und Theorien kein allumfassendes Bild produziert, sondern nur einzelne, für die Neutestamentliche Wissenschaft möglicherweise nutzbare Stränge dargestellt werden.
2.3
Forschungsüberblick seit Ende des 19. Jahrhunderts
Ausgehend von den oben dargestellten Diskussionen entwickeln sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts44 zwei Denkrichtungen, die die Frage diskutieren, in welchem Verhältnis Ritual und Mythos zueinander stehen: Haben sich Rituale aus mythologischen Vorstellungen entwickelt, oder stellen Rituale die Basis für Mythen und Erzählungen dar? Zusammenfassend beschreibt dies Dietrich Harth: „Stand am Anfang ,das Wort‘, nämlich der Mythos als kosmologischer Weltbildgestalter, so sollte dem Ritual die Rolle der sinnlichen Ausführung und dramatischen Darstellung des Erzählten im Kultus zufallen […]. Stand ‚die Tat‘, also das Ritual am Anfang, so sollte der Mythos den Handlungsprozess mit exegetischer Erklärung und dogmatischer Auslegung verbinden […].“45 Ausgehend von den Anfängen der modernen Ritualforschung soll im Folgenden ein Überblick zu wichtigen Theorien und Ansätzen gegeben werden. Dabei wird kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben – diese dürfte sowieso nicht erreichbar sein. Stattdessen sollen besonders bei den neueren Ansätzen dezidiert diejenigen vorgestellt werden, die für die Auslegung des Lukasevangeliums von Wert sein könnten.46
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45 46
Das Aufkommen von Religionswissenschaft als eigenständiger Disziplin im Verbund mit weiteren im 19. und 20. Jh. aufblühenden Wissenschaften wie der Ethnologie und der Anthropologie sorgt für eine immense Steigerung der Beschäftigung mit (außerchristlicher) Religion und wird daher hier als Einschnitt gewählt. Zu den Entwicklungen vor dieser Zeit vgl. Schwedler: Ritual, 229f., der seinen Aufsatz als „erste Vorarbeit zu einer Wissenschaftsgeschichte der Ritualforschung“ versteht. Harth: Ritual, 110. Entsprechend der exegetischen Ausrichtung dieser Arbeit liegt der Fokus der Forschungsgeschichte nicht auf dem ritualwissenschaftlichen Gesamtwerk der einzelnen Autorinnen und Autoren. Weitergehende Darstellungen ritualwissenschaftlicher Theorien und Ansätze bieten u. a. die umfangreichen Sammelbände Kreinath/Snoek/Stausberg (Hg.): Theorizing Rituals, Leiden 2006, Brosius/Michaels/Schrode (Hg.): Ritual und Ritualdynamik, Göttingen 2013 und Belliger/Krieger: Ritualtheorien, Wiesbaden 52013 sowie die kulturwissenschaftlichen Monographien von Stollberg-Rilinger: Rituale (22019) und Dücker (2007), vgl. Fußnoten 6–11 der Einleitung.
12
2 Ritualtheorien
2.3.1 Die Anfänge: Edward B. Tylor, James G. Frazer und William R. Smith Die erste der oben angeprochenen Betrachtungsweisen, also dass der Mythos dem Ritual zeitlich vorausgeht, vertritt Edward Burnett Tylor (1832–1917).47 Tylor kann, wie viele Wissenschaftler seiner Zeit, als evolutionistischer Forscher verstanden werden, der die Entwicklung einer Gesellschaft mitsamt ihrer Religion im Modus der Weiterentwicklung zu beschreiben versucht. Dabei vertritt er die These, dass frühe Kulturen – vom Animismus als unterster Stufe der Religionsentwicklung geprägt – versuchten, mit Ritualen Veränderungen in der Welt zu bewirken. Diese basierten aber auf dem durch Mythen geprägten Weltbild dieser Kulturen. Die gegenteilige Position nimmt William Robertson Smith (1846–1894)48 ein. Er schreibt, dass in den alten Religionen „beinahe in jedem Fall der Mythus aus dem Ritus hergeleitet ist und nicht der Ritus im Mythus wurzelt.“49 Diese Sichtweise ermöglicht eine andere Bewertung und Untersuchbarkeit von Ritualen, da sie nun als ursprünglich anzusehen und damit in den Vordergrund zu stellen sind. Dies gilt auch für die jüdisch-christliche Ritualvorstellung: „William Robertson Smith war der erste, der die Religion des alttestamentlichen Volkes Israel als ‚primitive‘ Religion mit den Religionen ‚wilder‘ Völker auf eine Stufe stellte. Damit tat er den entscheidenden Schritt von der theologischen Bibelexegese zur Religionswissenschaft: Er behandelte alle Religionen gleichermaßen als soziale Phänomene, ihm ging es nicht mehr um die Frage nach ihrer Wahrheit und Heilswirksamkeit, sondern nach ihrer Funktion für die jeweilige soziale Ordnung.“50 Smith gibt also dem Ritual dem Vorzug vor dem Mythos bei der Entwicklung von Religion und erkennt dabei für die jüdische und christliche Religion keinen Sonderstatus an. In die gleiche Richtung denkt James George Frazer (1854–1941).51 Er vertritt wie Smith und Tylor eine evolutionistische These und versteht Magie als älteste Stufe der menschlichen Entwicklung, wobei Rituale Teil dieser magischen Handlungen und Glaubensvorstellungen sind. Erst danach wurden Religionen – und
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E. B. Tylor: Primitive Culture: Researches into the Development of Mythology, Philosophy, Religion, Art, and Costum, 2 Bände, London 1871. W. R. Smith: Lectures of the Religion of the Semits. The fundamental Institutions, London 1889 (deutsch: Die Religion der Semiten, Freiburg u. a. 1899). Smith: Lectures, 13. Allerdings gibt Smith für die modernen Religionen (und vor allem für das protestantische Christentum) die Vormachtstellung des Glaubens/Denkens gegenüber den Handlungen/Ritualen nicht auf. Stollberg-Rilinger: Rituale, 20. Die Einschätzung des alttestamentlichen Israels als „Wilde“ kostete Smith seine Professur für Alttestamentliche Exegese. J. G. Frazer: The Golden Bough, 2 Bände, London 1890.
2.3 Forschungsüberblick
13
mit diesen die entsprechenden Mythen – kreiert, bevor als Höhepunkt Wissenschaft in einem modernen Sinne entwickelt werden konnte. Somit kann Frazer als Ritualkritiker gewertet werden, der, wie viele Zeitgenossen, nur der Wissenschaft zutraute, dem Menschen Zugang zu sicherem Wissen und Weltkontrolle zu ermöglichen, da nur diese wirksam Veränderungen in der Welt erreichen könnte: „Religion definierte er als Versuch, höhere Mächte gnädig zu stimmen, welche Natur und Mensch kontrollieren. Religion richte sich also auf außerweltliche Phänomene, die nach Annahme der Gläubigen in die Welt wirken. Magie und Wissenschaft seien dagegen Bemühungen, bestimmte Effekte auf Basis weltlicher Gesetze und Kausalität hervorzurufen. Sie unterschieden sich nur hinsichtlich ihrer Wirksamkeit.“52 Frazer selbst schreibt: „Magic rites are believed to influence the course of nature directly through physical sympathy or resemblance between the rite and the effect which is the intention of the rite to produce.“53 Riten (hier bewertet als Teil der Magie, nicht der Religion) sind also durchaus auf Wirksamkeit ausgelegte Handlungen, die aber nach Frazer fehlgeleitet sind, da sie auf den falschen Annahmen beruhen.54 Beide Theorien teilen hierbei die Vorstellung, Ritual und Mythos seien unterschiedliche Entitäten, die unabhängig voneinander existieren könnten. Diese Vorstellung sollte für das nächste Jahrhundert von verschiedenen Theoretikern aufgenommen werden, wobei meist die Überordnung des Mythos als gegeben angenommen wurde. Für die Neutestamentliche Wissenschaft ist diese Frage gar nicht so einfach zu klären, wie es auf den ersten Blick erscheinen könnte. Zwar kann man für die paulinischen Gemeinden davon ausgehen, dass die Predigt über Jesus Christus vor dem Vollzug von Ritualen wie der Taufe stand, aber im vermutlich ältesten Evangelium ist die erste erzählte Handlung Jesu die Teilnahme an einem Ritual – der Taufe des Johannes (Mk 1,9–11). Rituelle Handlung und Erzählung sind also in den christlichen Gemeinden sehr eng verknüpft und können nicht einfach voneinander getrennt werden. Dies wird sich auch in der Exegese ausgewählter Lukasperikopen zeigen.
2.3.2 Émile Durkheim Eine der bedeutendsten Ritualtheorien begründet sich auf Émile Durkheim (1858–1917). Sein Buch mit dem Titel „Die elementaren Formen des religiösen
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Töbelmann: Wirksamkeit, 222. Frazer: Bough, 411 (zitiert nach Töbelmann: Wirksamkeit, 222.) Zur Diskussion über Wirksamkeit als Kategorie der Beschreibung von Ritualen vgl. den Aufsatz von Töbelmann: Wirksamkeit.
14
2 Ritualtheorien
Lebens“ von 1912 beschreibt anhand von Beispielen aus Australien und Nordamerika die Bedeutung von Religion und Ritual für Gesellschaften und begründet damit die Religionssoziologie und die funktionalistische Betrachtung von Religion.55 Für Durkheim (re)produziert sich die Gesellschaft durch (religiöse) Rituale: „Es gibt keine Gesellschaft, die nicht das Bedürfnis fühlte, die Kollektivgefühle und die Kollektivideen in regelmäßigen Abständen zum Leben zu erwecken und zu festigen.“56 Um die Rolle von Religion und Ritualen hierbei herauszufinden, untersucht Durkheim die „primitivste und einfachste“57 Religion, die zu seiner Zeit durch Ethnologen beschrieben wurde: Den Totemismus australischer Ureinwohner.58 Der Totem symbolisiert die Clangemeinschaft und die Heiligung dieses Totem verhilft der ganzen Gemeinschaft zu Leben und Prosperität. Die Religion der untersuchten Völker setzt sich demnach aus Glaube und Riten zusammen: „Glaube besteht aus Repräsentation des Heiligen; Riten hingegen sind festgelegte Handlungsarten, die nur in Bezug auf die Repräsentationen des Heiligen, die ihre Objekte sind, charakterisiert werden können.“59 Und zuletzt wird die Gesellschaft, die nach der Vorstellung Durkheims von Außen und nicht aus dem Inneren des Menschen kommt, durch diese Rituale immer wieder neu produziert.60 „Der Gegensatz zwischen profan und heilig war für ihn die elementarste Unterscheidungskategorie, die das Wesen von Religion schlechthin bestimmt. Rituale schreiben vor, wie sich die Menschen dem Heiligen gegenüber zu verhalten haben.“61 Gesellschaft funktioniert demnach mithilfe von Religion 55
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„Eine Religion ist ein solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken, die sich auf heilige, d. h. abgesonderte und verbotene Dinge, Überzeugungen und Praktiken beziehen, die in einer und derselben moralischen Gemeinschaft, die man Kirche nennen, alle vereinen, die ihr angehören“ (Durkheim: Formen, 75). Durkheim: Formen, 625. Durkheim: Formen, 13. Durkheim geht davon aus, dass alle Religionen „Abarten einer und derselben Gattung sind“ (Formen, 18) und deswegen Gemeinsamkeiten haben, die für alle untersuchbaren Religionsarten und damit allgemein gelten. Will man nun etwas über Religion an sich herausfinden, kann man nach Durkheim nicht auf die komplexeren Religionen sehen, da diese kaum in historischer Weise untersuchbar sind: „Nichts als ein Dickicht von vielfältigen Kulten, die nach den Orten, den Tempeln, den Generationen, den Dynastien, den Invasionen usw. verschieden sind. Volksglauben gemischt mit den ausgeklügeltsten Dogmen!“ (18f.). Also müsse man versuchen, die ursprünglichste Art von Religion zu untersuchen, da sich hier die Religion an sich darlegt: „Das Zusätzliche, das Zweitrangige, die Luxusentwicklungen haben noch nicht die Hauptsache verdeckt“ (20). So Bell: Ritualkonstruktion, 37 zu den Überlegungen Durkheims. „Wir sprechen eine Sprache, die wir nicht gemacht haben; wir nutzen Instrumente, die wir nicht erfunden haben, wir berufen uns auf Rechte, die wir nicht eingesetzt haben; ein Schatz an Kenntnissen wird jeder Generation vermacht, den sie nicht angehäuft hat usw. Diese verschiedenen Zivilisationsgüter verdanken wir der Gesellschaft, und wenn wir auch im Allgemeinen nicht wissen, aus welcher Quelle sie kommen, so wissen wir wenigstens, daß sie nicht unser Werk sind“ (Durkheim: Formen, 315). Stollberg-Rilinger: Rituale, 23.
2.3 Forschungsüberblick
15
und Ritual durch für das tägliche Leben anwendbare Unterscheidungskategorien, die es dem Individuum ermöglichten, sich gesellschaftskonform zu verhalten. Dabei entstammen Rituale einer ursprünglichen Gemeinschaftserfahrung, die auf einem Gefühl von Kollektivität beruht: „Zweifellos kann ein Kollektivgefühl nur dann kollektiv ausgedrückt werden, wenn eine bestimmte Ordnung eingehalten wird, die den Einklang und die Gesamtbewegungen erlaubt.“62 Durkheims Überlegungen sind in der Ritualwissenschaft vielfach wieder aufgenommenen worden. Sie zielen auf die Bedeutung von Religion und Ritual für die Gesellschaft, deren ureigenes Interesse es ist, sich selbst zu (re-)produzieren. Hierbei wird ein sich wandelnder Ritualbegriff deutlich: Während Forscher vor der Wende zum 20. Jh. Ritual immer mit (konkreter) Religiösität verbanden, wandert nun die Aufmerksamkeit viel stärker auf die Gesellschaft und die soziologische Untersuchung dieser. Dies gilt zumindest für die theoretischen Betrachtungen und Ansätze, denn die Beispiele stammen auch bei Durkheim aus dem religiösen Bereich. Verbunden ist die Ausführung von Ritualen mit einem bestimmten Bewusstsein, nämlich dass etwas Besonderes an einer Handlung vorhanden sein muss, damit diese als Ritual und nicht als Alltagshandlung verstanden werden kann. Dieses Besondere wird mit „Religio“ bezeichnet. Axel Michaels schreibt im Wörterbuch der Religionen zu Ritualen in Anlehnung an Durkheim: „,Religio‘ ist das Bewusstsein, dass die Handlungen durchgeführt werden, weil ihnen ein transzendenter Wert zugemessen wird. Den meisten R.[itualen] liegt ein theis.[tischer], dämonist.[ischer] oder auch dynamist.[ischer] Glaube an überirdische Wesen bzw. Mächte zugrunde, aber es reicht auch eine beliebige Art von Überhöhung, etwa der Gesellschaft oder des Geldes. Nicht jeder R.[itual]-Teilnehmer muss diesen Glauben haben, es reicht, dass Religio im Handlungskomplex nachweisbar ist – meist ist dies durch die solemnis intentio63 der Fall.“64 Durkheims Überlegungen zeugen vom Beginn der Religionssoziologie. Für die Exegese des Lukasevangeliums bleiben besonders die Überlegungen zur Gruppen- bzw. Gesellschaftsidentität wichtig, fokussiert auf die Darstellung der Person und des Wirkens Jesu: Es wird zu fragen sein: Wie verhält sich Jesus als charismatischer Wanderprediger65 bzw. als mit Gottes Geist Gesalbter (Lk 3,21f.;
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Durkheim: Formen, 321 in Zusammenhang von Stammesritualen australischer Ureinwohner. „Das heißt: Rituale erfolgen nicht spontan; man kann sie nicht zufällig und unbewusst vollziehen; man folgt dabei vielmehr einem Anlass, einer bewussten Absicht (intentio solemnis) und einer Regie“ (Stollberg-Rilinger: Rituale, 10). Michaels: Art. Ritual, 452. Vgl. Kapitel 2.3.11.
16
2 Ritualtheorien
4,18) innerhalb verschiedener gesellschaftlicher wie religiöser Gruppen? Welches Verhältnis hat er zu seiner Familie, seiner Dorf- und Volksgemeinschaft66 und seinen Jüngern67 bzw. zu ihm gegenüber negativ eingestellten Gruppen wie den Pharisäern68? Da Durkheim vielfach rezipiert worden ist, werden diese Fragen bei der Vorstellung von Albert Bergesen (2.3.9) wieder aufgenommen.
2.3.3 Sigmund Freud Zur umfänglichen Betrachtung von Ritualen trägt ein Aufsatz von Sigmund Freud (1856–1939)69 bei, in dem er die Ähnlichkeit von sinnlosen pathologischen Zwängen mit religiösen Ritualen konstatiert. Freud schreibt: „Das neurotische Zeremoniell besteht in kleinen Verrichtungen, Zutaten, Einschränkungen, Anordnungen, die bei gewissen Handlungen des täglichen Lebens in immer gleicher oder gesetzmäßig abgeänderter Weise vollzogen werden.“70 Diese Handlungen sind eigentlich Teil der Alltagswelt oder gehören zu einem allgemeinen Verständnis von Ordnung, werden aber übertrieben, weil sie mit absoluter Gewissenhaftigkeit bei gleichzeitiger Angst vor Fehlern bzw. Unterlassungen durchgeführt werden. Dies ist auch eine große Gemeinsamkeit von Zwangshandlungen und religiösen Handlungen: Beide verbinden Gewissenhaftigkeit, Störungsverbot und Erwartungsangst miteinander. Dem Vorurteil, dass Zwangshandlungen im Gegensatz zu religiösen Handlungen sinnlos seien, widerspricht Freud. Denn durch eine Psychoanalyse ergibt sich: „Man erfährt, daß die Zwangshandlungen durchwegs uns in all ihren Einzelheiten sinnvoll sind, im Dienste von bedeutsamen Interessen der Persönlichkeit stehen und fortwirkende Erlebnisse sowie affektbesetzte Gedanken derselben zum Ausdrucke bringen.“71 Zwangshandlungen ergeben sich nach Freud aus „unbewussten Motiven und Vorstellungen“ genauso wie die meisten Gläubigen Rituale ausführen, ohne nach dem Grund zu fragen, während Priester und Forscher diese durchaus kennen würden. Hinzu kommt: „Die Motive, die zur Religionsübung drängen, sind 66
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Zum Konflikt Jesu mit seiner Familie vgl. die Auslegung zu Lk 2,41–52 (Kapitel 3.2); zum Konflikt mit den Menschen in Nazareth Lk 4,16–30 (3.4). Das Verhältnis Jesu zu seinen Jüngern spielt besonders bei der Auslegung von Lk 22,7–20 (3.7) und Lk 24,13–35 (3.8) eine Rolle. Die Auseinandersetzung Jesu mit den Pharisäern wird in den Kapiteln 3.5 und 3.6 ausführlicher betrachtet. Freud: Zwangshandlungen, 129–139. Vgl. dazu auch den Abschnitt zu tiefenpsychologischen Deutungen von Ritualen bei Lang, 453 und die Hinweise bei Theißen: Veränderungspräsenz, 15f. Freud: Zwangshandlungen, 130. Freud: Zwangshandlungen, 132. Er führt, um dies zu belegen, einige Beispiele an, die absurd klingende Zwangshandlungen durch Ereignisse (fast immer sexueller Natur) in der Vergangenheit der Akteure begründen.
2.3 Forschungsüberblick
17
aber allen Gläubigen unbekannt oder werden in ihrem Bewußtsein durch vorgeschobene Motive vertreten.“72 Hintergrund ist für Freud ein in der Kindheit noch ausgeführter, später aber verdrängter Trieb, der als Versuchung empfunden wird und bei erneutem Verdrängen Erwartungsangst auslöst. „Die Zeremoniell- und Zwangshandlungen entstehen so teils zur Abwehr der Versuchung, teils zum Schutze gegen das erwartete Unheil.“73 Abschließend will Freud „die Zwangsneurose als pathologisches Gegenstück zur Religionsbildung“ verstehen, zu unterscheiden nur durch die Natur der Triebe, „die bei einer Neurose ausschließlich sexueller, bei der Religion egoistischer Herkunft sind.“74 Freuds Ansatz lässt einen anderen Blick auf die mit Sexualität verbundenen Rituale werfen. Beim Lukasevangelium könnte man hier an die beiden wundersamen Geburten von Johannes und Jesus sowie an Jesu Salbung durch eine Sünderin in Lk 7,36–50 denken.75 Diese wird schon seit der Antike als Prostituierte verstanden, auch wenn der Evangelist sie so nicht explizit kategorisiert. Unabhängig vom möglichen Status der Frau als Prostituierte sind ihre rituellen Handlungen an Jesus als erotisch-skandalös zu bezeichnen. Ansonsten zeugt Freuds Ansatz von der Relevanz ritueller Handlungen für die individuelle Identität von Menschen (auch wenn Freud dies eher negativ bewertet), nachdem Durkheim sich besonders auf die Gesellschaft fokussiert hatte. Die Vorstellung von Ritualen als Zwangshandlungen lässt sich im Lukasevangelium nicht verifizieren.
2.3.4 Arnold v. Gennep Auch wenn er zeitlebens als Kritiker Durkheims in der französischen Wissenschaftslandschaft kaum beachtet wurde, ist das wirkungsreiche Werk zu Übergangsriten (Les rites de passage) von Arnold v. Gennep (1873–1957) als Klassiker der Ritualforschung zu bezeichnen.76 Sylvia Schomburg-Scherff schreibt im Nachwort zur deutschen Ausgabe: „Begriff und Schema der Übergangsriten sind heute so vollständig in Terminologie und Praxis der Ethnologie eingegangen, daß sie beinahe zu einem Gemeinplatz geworden sind.“77 Individuen gehören für v. Gennep Zeit ihres Lebens verschiedenen sozialen Kategorien zu, und „um von einer in eine andere Kategorie überzuwechseln und 72 73
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77
Freud: Zwangshandlungen, 135. Freud: Zwangshandlungen, 136. Sein Beispiel hier ist die (christliche) Ehevorstellung, die den Gläubigen die sonst nicht erlaubte Sexualität ermöglicht und vor Schaden schützt. Freud: Zwangshandlungen, 138f. Vgl. Kapitel 3.5. Arnold van Gennep: Les rites de passage, Paris 1909. Deutsche Ausgabe: Übergangsriten, Frankfurt 2005. Schomburg-Scherff: Nachwort zu van Gennep: Übergangsriten, 233.
18
2 Ritualtheorien
sich mit Individuen anderer Sozialgruppen verbinden zu können, muß es [das Individuum; DK] sich vom Tag seiner Geburt bis zu dem seines Todes Zeremonien unterwerfen, die der Form nach oft verschieden, der Funktion nach aber ähnlich sind.“78 Dabei ist für v. Gennep vor allem die Abfolgeordnung, die sich innerhalb der sehr unterschiedlichen Ritualdurchführungen zeigt, von besonderem Interesse. Er konstatiert hier drei Phasen, die er Trennung, Umwandlung und Angliederung nennt:79 „Aufgrund der Wichtigkeit solcher Übergänge [von einem Zustand in einen anderen] halte ich es für gerechtfertigt, eine besondere Kategorie der Übergangsriten zu unterscheiden, die sich bei genauer Analyse in Trennungsriten, Schwellen- bzw. Umwandlungsriten und Angliederungsriten gliedern. Übergangsriten erfolgen also, theoretisch zumindest, in drei Schritten: Trennungsriten kennzeichnen die Ablösungsphase, Schwellen- bzw. Umwandlungsriten die Zwischenphase (die Schwellen- bzw. Umwandlungsphase) und Angliederungsriten die Integrationsphase.“80 V. Gennep behauptet dabei explizit nicht, dass alle von ihm untersuchten Riten (oder gar Riten an sich) ausschließlich Übergangsriten seien, denn alle „diese Zeremonien [haben] noch einen speziellen Zweck. So enthalten Hochzeitszeremonien Fruchtbarkeitsriten; Geburtszeremonien Schutz- und Divinationsriten [… usw.].“81 Auch wenn v. Gennep und Durkheim sich bei der Betrachtung von Ritualen uneins sind, ist die Vorgehensweise ähnlich. Beide suchen die Ursprünge von Ritualität in vermeintlich ‚reinen‘, also ‚primitiven‘ Gesellschaften und nutzen dafür die ethnologischen und anthropologischen Darstellungen ihrer Zeit. Hier zeigt sich allerdings eine Grenze derartiger Ritualforschung: Denn es entsteht die Frage, ob sich allgemeingültige Theorien, wie sie Durkheim und v. Gennep aufstellen wollen, überhaupt aus der ethnologischen Untersuchung von „halbprimitiven Kulturen“ (so v. Gennep) gewinnen lassen.82 Der Forschungsgegenstand Ritual scheint aus heutiger Perspektive viel zu differenziert zu sein, um allumfassende Theorien über ihren Wert und ihre Bedeutung bei allen Menschen in allen Kulturen zu erlauben. Trotz dieser Kritik bleibt die Arbeit v. Genneps relevant und wichtig, auch für die Neutestamentliche Wissenschaft, da seine Ansätze vielfach bei der Untersuchung von Initiationsritualen rezipiert worden sind.83 Rituelle Handlungen des Neuen Testaments, wie z. B. die Taufe, lassen sich nach v. Genneps Schema untersuchen und diskutieren. Ob sich auch für anderen rituelle Handlungen die Theorie der Übergangsriten plausibel machen lässt, wird eine genaue Exegese 78 79 80 81 82
83
Van Gennep: Übergangsriten, 181. Vgl. van Gennep: Übergangsriten, 183. Van Gennep: Übergangsriten, 21. Van Gennep: Übergangsriten, 22. Hinzu kommt, dass viele Forscher die Kulturen nur als literarische Beschreibungen kennen und keine eigene ethnologische Forschung betrieben haben. Vgl. zu Initiationsritualen den entsprechenden Exkurs bei Matthes: Taufe, 23–27.
2.3 Forschungsüberblick
19
zeigen. Dabei gilt die Einschränkung: „As a modern construct, the application of rite-of-passage theory to ancient textes requires careful attention to similarities and differences between model and literary account, yet bringing similiar events together in this way allows for observations of easily gained by other means.“84
2.3.5 Victor Turner Den Ansatz v. Genneps führt der Ethnologe Victor Turner85 (1920–1983) weiter, der besonders auf den mittleren Teil des v. Gennep’schen Konzepts Bezug nimmt.86 Für Turner ist der Schwellenzustand (er nennt ihn Liminalität) und die Person, die den Übergang erlebt (Grenzgänger), unbestimmt, da sie momentan nicht in dem sonst von der Gesellschaft umgebenden Gefüge eingeordnet werden kann: „Schwellenwesen sind weder hier noch da, sie sind weder das eine noch das andere, sondern befinden sich zwischen den vom Gesetz, der Tradition, der Konvention und dem Zeremonial fixierten Positionen.“87 Um diese Liminalität darstellen zu können, nutzen viele Kulturen Symbole, die den besonderen Status der Grenzgänger aufzeigen sollen: Unsichtbarkeit, Wildnis, Dunkelheit usw.88 Da dabei alle Grenzgänger innerhalb der Liminalität unabhängig von Dingen wie Herkunft und Sozialstruktur werden,89 bildet sich hier laut Turner eine besondere Art von Gemeinschaft, die er als Communitas bezeichnet. Diese Communitas existiert im eigentlichen Sinne nur im Vorgang eines Übergangsrituals. Es wird immer wieder der Versuch unternommen sie zu institutionalisieren, wobei nach Turner die eigentliche Egalität, die in der Communitas herrscht, verlassen wird: „Die franziskanische Bewegung, so ein Beispiel, zeigte in der Entstehungsphase noch die Qualität von gelebter Egalität. Alsbald sei jedoch ‚communitas‘ zum Programm erstarrt, das Gleichheitselement zugunsten von hierarchischen Strukturen aufgelöst worden, Dynamik wich institutioneller Verfestigung. Diese Entwicklung wiederum provozierte ihrerseits erneut gegenstrukturelle Bewegungen.“90 Das Problem bei der Darstellung von Communitas, auf das Turner selbst schon verweist, ist die Unmöglichkeit einer präzisen Beschreibung 84 85
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Reeve: Rite, 243f. Hauptwerk: The Ritual Process. Structure and Anti-Structure, Chicago 1969, 21989 (deutsch: Das Ritual. Struktur und Antistruktur, Frankfurt am Main 2005). Vgl. zum Folgenden auch Stollberg-Rilinger: Rituale, 24–26. Turner: Liminialität, 247. Vgl. ebd. Man könnte hier an das Untertauchen des Täuflings denken, der vor den Augen der Anwesenden im Wasser verschwindet und wieder auftaucht. Auch für den Täufling selber sind beim Untertauchen alle anderen Anwesenden für einen kurzen Moment nicht mehr sichtbar. „Der Schwellenzustand impliziert, dass es kein Oben ohne das unten gibt und dass der, der oben ist, erfahren muss, was es bedeutet, unten zu sein“ (Turner: Liminialität, 249). Bräunlein: Turner, 155.
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2 Ritualtheorien
ihrer Eigenschaften. Turner schreibt: „Es ist kein Zufall, oder Ausdruck mangelnder wissenschaftlicher Präzision, dass ich, wie andere vor mir, gezwungen bin, im Zusammenhang mit dem Communitas-Konzept Zuflucht zu Metaphern und Analogien zu nehmen. Denn Communitas hat eine existentielle Qualität; sie betrifft den ganzen Menschen, der in Beziehung mit anderen Menschen steht. […] Communitas umfasst einen Aspekt der Möglichkeit; sie tritt häufig im Konjunktiv auf. Beziehungen zwischen ganzen Menschen lassen Symbole, Metaphern und Vergleiche entstehen; ihre Ergebnisse sind Kunst und Religion, nicht rechtliche und politische Strukturen.“91 Auch wenn Turner die Communitas fast durchweg als positiv begreift und ihre Bedeutung für menschliche Gesellschaften betont, so ist für ihn die strukturierte Gesellschaft als Gegenpol zur Communitas unabdingbar: „Sollen die materiellen und organisatorischen Bedürfnisse der Menschen adäquat befriedigt werden, kann es nicht nur Communitas geben. Eine zum Höchstmaß gesteigerte Communitas provoziert eine zum Höchstmaß gesteigerte Struktur, die wiederum revolutionäre Bestrebungen nach erneuter Communitas entstehen lässt.“92 Bemerkenswerterweise passt diese Beobachtung auch auf die Überlegungen zum Antiritualismus von Mary Douglas (später erweitert von Hans-Georg Soeffner): Nach Douglas begrenzt der Antiritualismus (z. B. der Reformatoren) zwar die kritisierten Rituale, schafft dafür aber eigene, alternative Ritualisierungen. Dies bedeutet, „dass sich am Ende des ‚Proteststadiums‘ neuerlich das „Bedürfnis nach Organisation durchsetzt“ und eine „Wiedereinsetzung des Ritualismus innerhalb des neuen Kontextes von sozialen Beziehungen“ erfolgt.“93 Turner verbindet mit seiner Theorie die beiden Perspektiven Durkheims und v. Genneps, weil er bei der Beschreibung der Liminalität sowohl die individuelle Sicht der Akteure fokussieren kann, dabei aber nicht den Blick auf die gruppenspezifischen und gesellschaftlichen Veränderungen verliert.94 Es geht ihm „nicht darum, die soziale Funktion von Religion und von Ritualen zu erklären, sondern das religiöse und rituelle Erleben zu verstehen und nachzuvollziehen. Während die vorherrschenden Theorien die stabilisierende und ordnungsstiftende Seite von Ritualen betonten, interessierte sich Turner für ihre anarchischen, spontanen und kreativen, dynamischen und konflikthaften Seiten. Doch beides gehörte für ihn stets zusammen: Wesentlich für das Verständnis von Ritualen wie von gesellschaftlichen Prozessen insgesamt ist gerade die Wechselwirkung zwischen Ordnung und Konflikt, Struktur und Anti-Struktur.“95 Für die vorliegende Untersuchung sollen einige Texte ausführlich bearbeitet werden, bei denen Jesu Status als liminal beschrieben werden könnte. Das 91 92 93 94 95
Turner: Liminalität, 256. Turner: Liminalität, 257. Füssel: Geltungsgrenzen, 271 (zitiert nach Douglas: Ritual, 36). Vgl. auch die Zusammenfassung Turners bei Strecker: Taufpraxis, 379–383. Stollberg-Rilinger: Rituale, 25 (kursiv dort).
2.3 Forschungsüberblick
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trifft sicherlich auf die Episode des 12-jährigen Jesus im Tempel (Lk 2,41–52) zu.96 Jesus ist dort, in der einzigen kanonischen Erzählung aus seiner ‚Jugend‘, auf der einen Seite noch ganz Kind seiner Eltern, auf der anderen Seite aber schon ganz auf Gott als Vater im Himmel fokussiert. Er ist sozusagen auf der Schwelle zwischen der Zugehörigkeit zur Familie und dem familienlosen Leben eines Wanderpredigers. Die Taufe Jesu (3,21f.) könnte als derjenige Punkt im Leben Jesu gesehen werden, an dem er die Schwelle hin zu seiner öffentlichen Wirksamkeit überschritten hat.97
2.3.6 Mary Douglas Die englische Anthropologin Mary Douglas (1921–2007) beschäftigte sich wieder positiver mit Durkheim und untersuchte anhand von Feldforschungen in Afrika (u. a. im damaligen Belgisch-Kongo) den für jede Gesellschaft wichtigen Ordnungbegriff der Reinheit. In ihrem Werk: Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellungen von Verunreinigung und Tabu98 beschreibt sie nicht nur ihre in den Feldforschungen erarbeiteten Einblicke in das kulturelle Leben des Stammes der Lele, sondern bemüht sich auch die alttestamentlichen Reinheitsgebote aus Leviticus und Deuteronomium einer Begründung zuzuführen.99 Dabei versucht sie aus den Beispielen allgemeine Aspekte zu dem Themenkomplex Reinheit/Ordnung herauszuarbeiten, welche wiederum auf die Betrachtung von Gesellschaft zurückwirken.100 Dabei wird bei ihr die zeitgeschichtliche Situation ihrer Forschung besonders deutlich: „Während Victor Turner den anarchischen, kreativen und weltverändernden Effekt von Ritualen betonte und dabei offensichtlich die positiven Gemeinschaftserlebnisse des Jugendprotests vor Augen hatte, sah Mary Douglas die Dinge geradezu umgekehrt: Für sie waren Rituale vor allem sozial stabilisierende Phänomene und die 68er-Bewegung vor allem eine Revolte gegen jede Art von Formalismus.“101 Für die Auslegung biblischer Texte sind besonders die Überlegungen von Mary Douglas zu Reinheit und Unreinheit relevant. Den eher areligiös wirkenden Begriff Schmutz stellt sie dabei an den Anfang ihrer Erörterung: „Für uns ist der Schmutz wesentlich Unordnung. Schmutz als etwas absolutes gibt es nicht: Es existiert nur vom Standpunkt des Betrachters aus. […] Hinter unserem Bemühen, Schmutz zu meiden steht weder Furcht noch Unvernunft: Es ist eine krea-
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99 100 101
Vgl. Kapitel 3.2. Vgl. Kapitel 3.3. Mary Douglas: Purity and Danger: An Analysis of Concepts of Pollution and Taboo. New York 1966 (dt.: Berlin 1985). Vgl. dazu Douglas: Körpersymbolik, 2f. Vgl. Hahn: Mary Douglas, 159–167. Stollberg-Rilinger: Rituale, 26.
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tive Handlung, der Versuch, eine Verbindung zwischen Form und Funktion herzustellen, unsere Erfahrung zu vereinheitlichen. Wenn das die Ursache unseres Trennens, Aufräumens und Reinigens ist, sollten wir sie auch für die primitiven Reinigungs- und Vorbeugungsmaßnahmen annehmen.“102 Rituale sind nun eine Möglichkeit, auf die Unterscheidung von schmutzigen und sauberen Dingen (bzw. im religiösen Kontext: reinen und unreinen Dingen) zu reagieren. Um in diesem Bereich Rituale sinnvoll vollziehen zu können, muss eindeutig sein, welche Gegenstände, Menschen, Tiere oder Handlungen als rein oder unrein zu bezeichnen sind. Dafür nutzen die Menschen nach Douglas ihre Fähigkeit, Muster zu bilden: „In einem Chaos sich ständig verändernder Eindrücke konstruiert jeder von uns eine stabile Welt, in der die Gegenstände erkennbare Umrisse, einen festen Ort und Bestand haben. Indem wir wahrnehmen, bauen wir, greifen einige Winke auf und verwerfen andere. Winke, die am besten in das entstehende Muster passen, werden am ehesten akzeptiert. Zweideutige werden meist so behandelt, als ob sie mit dem übrigen Muster harmonisierten, widersprechende werden in der Regel verworfen.“103 Dass ihr Konzept der Ordnung und Muster auch die oft untersuchten Einteilungen in reine und unreine Tiere aus Lev 11 und Dtn 14 deuten kann, versucht Douglas ausführlich darzulegen. Hierbei macht sie in der Auslegungsgeschichte zwei Tendenzen fest: Entweder werden die Vorschriften als willkürlich und sinnlos beschrieben oder sie werden allegorisch gedeutet, sodass den einzelnen Tieren Eigenschaften, meist ethischer Art, zugeschrieben werden.104 Beiden Tendenzen steht Douglas negativ gegenüber.105 Dies gilt auch für weitere mögliche Auslegungen, die auf die Unterscheidung von Israel von den Nachbarvölkern hinauswollen: „Alle Interpretationsversuche, die die Verbote des Alten Testaments einzeln und unabhängig voneinander betrachten, müssen fehlschlagen. […] Da jedem der Unterlassungsgebote das Gebot, heilig zu sein, vorausgeht, hat ein Erklärungsversuch mit diesem Gebot anzufangen. Zwischen der Heiligkeit und den Gräueln muss es eine Unvereinbarkeit geben, die den verschiedenen Einzelvorschriften einen übergreifenden Sinn verleiht.“106 102 103
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106
Douglas: Ritual, 77f. Douglas: Ritual, 81. In vielen Kulturen werden Anomalien auch physisch entfernt. Douglas berichtet von Praktiken in Westafrika, wo Zwillinge bei Geburt getötet werden, weil nicht zwei Menschen gleichzeitig aus einem Körper kommen könnten (a. a. O., 82). Oder man denke an die auch in Deutschland übliche Praxis, Neugeborenen mit einem sechsten Finger oder Zeh diesen sofort nach der Geburt zu entfernen, weil das Konzept von „Hand“ bzw. „Fuß“ nunmal nur fünf Finger bzw. Zehen vorsieht. Vgl. Douglas: Ritual, 83–95. Sie zitiert hierbei u. a. Ausführungen von Philo und Maimonides, aber auch moderner Theologen. Sie schreibt: „Es handelt sich hierbei weniger um Interpretationen als um fromme Kommentare. Sie können nichts interpretieren, weil sie weder konsistent noch umfassend sind. Für jedes Tier muss eine andere Erklärung entwickelt werden, und die Zahl der möglichen Erklärungen ist unendlich groß“ (Douglas: Ritual, 88). Douglas: Ritual, 89.
2.3 Forschungsüberblick
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Douglas’ eigener Vorschlag lässt sich kurz zusammenfassen: Die Israeliten sollen genauso heilig sein wie JHWH. Diese Heiligkeit wird durch Reinheit erreicht. Reinheit meint hier die exakte Zugehörigkeit eines Tieres zu seiner Gruppe, während Unreinheit als Folge von Abweichungen von diesem Idealzustand verstanden wird: „All jene Arten, die dies nur auf unvollkommene Weise tun, oder deren Gruppe insgesamt den allgemeinen Aufbau der Welt in Unordnung bringen, sind unrein.“107 Die exakte Zugehörigkeit zu einer Gattung kann sowohl an körperlichen Eigenschaften (wiederkäuend, Paarhufer usw.), als auch an der Fortbewegungsart (im Wasser, an Land, in der Luft) festgemacht werden: „Unter dem Firmament fliegen Tiere mit zwei Flügeln und Füßen. Im Wasser schwimmen Fische mit Schuppen und Flossen. Auf der Erde hüpfen, springen, oder gehen vierfüßige Tiere. Jede Gruppe von Tieren, denen die Ausstattung für die richtige Fortbewegungsweise in ihrem Element fehlt, verstößt gegen das Heiligkeitsgebot.“108 Die Speisegebote, die Douglas so ausführlich auswertet, sind nun nur ein Teil der im Korpus des Alten Testaments niedergeschriebenen Gebote und Verbote. Viele von diesen haben auch außerhalb der Speisegesetzgebung mit einem Reinheitsideal zu tun. Wird ein Mensch nun als unrein betrachtet, so sorgen Rituale als vorgeschriebene Handlungsweisen für das Wieder-Rein-Werden und damit die Reintegration der Person in die Gesellschaft.109 Überhaupt spielt die Entsprechung von symbolischer (und damit ritueller) und sozialer Erfahrung eine wichtige Rolle für die Überlegungen von Douglas. Diese Entsprechung wird über die Körperlichkeit der Menschen erreicht. „Der Köper des Menschen bringt universale Bedeutungsinhalte nur insofern zum Ausdruck, als er als System auf das Sozialsystem reagiert und dieses systematisch zum Ausdruck bringt.“110 Diese Körperlichkeit kann unterschiedlich verstanden werden, besonders im Umgang mit dem Göttlichen.111 Somit treten die gesellschaftorientierten Rituale wieder hervor, wobei Douglas zwischen zwei verschiedenen Arten von Regeln und den damit verbundenen Ritualen unterscheidet. So nennt sie Regeln, die für alle Individuen einer Gesellschaft gelten, Gitterregeln, während der Terminus Gruppenregeln nur für einzelne (Unter-) Gruppen einer Gesellschaft gelten.112 Diese Regeln ermöglichen nach Douglas das Zusammenleben in einer Gesellschaft, da sie die Symbole 107 108 109
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Douglas: Ritual, 94. Ebd. Man denke hier bspw. an die ausführlichen Reinheitsregeln im Fall von Aussatz oder austretenden Körperflüssigkeiten in Lev 13–15. Douglas: Körpersymbolik, 123. Vgl. Douglas: Körpersymbolik, 9f. Vgl. Hahn: Mary Douglas, 160. Dies passt auch sehr gut zu den Gesetzestexten des AT, die ja z. B. für Priester oder Leviten, aber auch Nichtjuden zusätzliche Regeln und Vorschriften kennen. Douglas scheint zudem dem immer stärker werdenden Individualismus der westlichen Moderne sehr kritisch gegenüber zu stehen, da sie den Wegfall der Regeln als
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und Handlungsmuster (also Rituale) schaffen, die den Individuen die (Wieder-) Eingliederung in die eigene Gruppe bzw. Gesellschaft erlauben. „In Ritualen und Magie, die James Frazer, einer der Begründer der britischen Sozialanthropologie noch als Handlungsmuster interpretierte und als Vorstufe der Wissenschaftlichkeit, als falsch verstandene Naturgesetze sah, sieht Douglas nun das Elixier des Fortbestandes der Gesellschaften. Nicht mehr die ‚Gesetze von Gleichheit und Kontakt‘, sondern die artikulierten Inhalte sind jetzt bedeutsam.“113 Douglas’ Ansatz zeigt deutlich auf, dass eine eigentlich aus der Ethnologie stammende Theorie bei der Auslegung biblischer Texte spannende Ergebnisse erzielen kann. Das Konzept von Reinheit und Unreinheit und der rituelle Umgang damit ist auch für neutestamentliche Texte relevant. Man denke z. B. an die Heilung eines Aussätzigen in Lk 5,12–14. Der geheilte Aussätzige wird von Jesus zum Priester geschickt, um wie vorgeschrieben zu opfern. Dies soll „ihnen zum Zeugnis“ (Lk 5,14) geschehen. Die Wiedereingliederung in die Gesellschaft, aus der der Aussätzige ausgeschlossen war, wird also nicht allein durch die Heilung erreicht, sondern muss durch ein Ritual bestätigt werden. Dazu passt auch die Heilung eines wassersüchtigen Mannes, die Lukas innerhalb eines am Sabbat stattfindenden Mahls stattfinden lässt (14,1–24).114 Um die Wiedereingliederung in die Gesellschaft handelt auch die Salbung Jesu durch die Sünderin in Lk 7,36–50.115 Diese Frau, die als Sünderin in der Stadt bekannt ist, wird am Ende durch Jesus mit einem Friedensgruß entlassen, nachdem ihr ihre vielen Sünden wegen ihrer großen Liebe vergeben worden sind. Dabei wählt der lukanische Jesus dezidiert Worte, die sonst bei Heilungsgeschichten vorkommen.
2.3.7 Caroline Humphrey und James Laidlaw Während Mary Douglas sich sehr stark für Gruppen und Gesellschaften interessiert, bezieht sich die Theorie von Caroline Humphrey (*1943) und James Laidlaw (*1963) stärker auf das Handeln und die Intention des Individuums. Sie stellen die Frage, wie ritualisierte und nicht-ritualisierte Handlungen sinnvoll unterschieden werden können und stellen die These auf, dass hierfür „eine besondere
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Preis für die individuelle Freiheit kritisiert: „Douglas warnt vor der in westlichen Gesellschaften zu jener Zeit übermächtigen Tendenz, kollektive Symbole und Werte als bedeutungslose Traditionen abzulehnen. Die aus ihrer Sicht immer deutlicher hervortretende Wertfreiheit könne auch zum Fatalismus der Individuen führen, die sich an keine Handlungsrichtlinien mehr gebunden fühlen“ (ebd.) Hahn: Mary Douglas, 162 Vgl. 3.6. Vgl. 3.5.
2.3 Forschungsüberblick
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Einstellung oder Haltung“ der Akteure vorhanden sein muss, die sie als „rituelles Engagement“ bezeichnen.116 Dieses rituelle Engagement hat vier logisch voneinander unabhängige Hauptaspekte: Es ist „nicht-intentional, vorgeschrieben, elementar bzw. archetypisch sowie wieder-erkennbar.“117 Die Identität eines Rituals hängt also nach Humphrey/Laidlaw nicht von der Intention des Akteurs ab, allerdings sind sie auch keine intentionslosen Handlungen. Die durchgeführten Aktionen sind dabei vorgegeben, beruhen nicht auf dem eigenen Verstehen, sondern auf Regeln. „Da es bei ritualisiertem Handeln um eine Handlungsqualität und demnach sowohl um ein subjektives, wie auch ein objektives Phänomen geht, ist mehr als nur das Zusammentreffen dieser zwei Eigenschaften nötig, um es adäquat zu beschreiben. Es ist ebenso nötig, dass die betroffenen Handlungen mit einer Intention ausgeführt werden, die gerade die oben genannte Nicht-Intentionalität intendiert. Dies mag paradox erscheinen, ist aber von großer Bedeutung.“118 Hinzu kommt, dass die Handlungen als eigenständige (also in diesem Sinne elementare bzw. archetypische) Handlungen verstanden werden, die „einen eigenen Charakter, eine eigene Geschichte“119 haben. Somit werden rituelle Handlungen aus der Sicht des Akteurs als etwas Äußerliches erfahren, das bei anderen Personen wiedererkennbar ist. ‚Normale‘ Handlungen unterscheiden sich von ritualisierten Handlungen, weil die Intention des Akteurs unterschiedlich konstruiert wird. Als Beispiel wählen Humphrey/Laidlaw in Anlehnung an Quentin Skinner einen Schlittschuhfahrer auf dem Eis. Jemand ruft ihm zu: „Das Eis da vorne ist dünn!“ Der Schlittschuhfahrer muss hier zwischen der lokutionären und der illokutionären Bedeutung unterscheiden, um die Intention des Rufenden richtig zu verstehen: Der Rufende spricht hier eine Warnung aus und möchte dabei gar nicht über die genaue Dicke des Eises informieren. „Kommunikation ist also möglich, wenn der Empfänger die ausgeführte illokutionäre Handlung erkennt, d. h., wenn er oder sie die Pointe der Handlung versteht.“120 Überhaupt ist es nur dann möglich im Kontinuum der Bewegungen des Körpers von Handlungen zu sprechen, wenn wir die Intention, die wir bei dem Akteur vermuten, mit einbeziehen: „Wenn wir die Handlungen anderer beobachten und verstehen, aber auch wenn wir die eigenen Handlungen reflexiv beobachten und verstehen […], identifizieren wir ‚Sequenzen‘ als einzelne Handlungen. […] Handlungsgrenzen sind in der physikalischen Beschreibung dessen, was geschieht, nicht einfach ‚gegeben‘. Um Handlungen identifizieren zu können, müssen wir ein intentionales Verständnis bilden, wir müssen die 116 117 118 119 120
Vgl. Humphrey/Laidlaw: Einstellung, 133–153. Humphrey/Laidlaw: Einstellung, 133. Ebd. Ebd. Humphrey/Laidlaw: Einstellung, 136.
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‚Pointe‘ der Handlung begreifen.“121 Das heißt, dass wir verschiedene Intentionen unterscheiden müssen, um zu wissen, ob jemand, der seine Arm bewegt, winkt, einen Krampf hat, oder eine Fliege verscheuchen will – um das Beispiel von Humphrey/Laidlaw etwas zu erweitern. „Die Abwesenheit der Intention zu winken bei Ausführung dieser körperlichen Bewegung führt zu einer qualitativ anderen Handlung. Daraus folgt, dass, wenn wir versuchen, die Handlung einer anderen Person zu verstehen, alles davon abhängt, dass wir die Intention der Person begreifen. Wir behaupten, dass, wenn eine Handlung ritualisiert wird, dies dann nicht der Fall ist.“122 Natürlich sagen die Autoren nicht, dass Rituale von Menschen intentionlos (also zufällig) durchgeführt werden, sondern dass der handelnde Akteur (absichtlich) eine rituelle Haltung eingeht, die er von seiner eigenen Intention differenzieren kann. „Es mag vielleicht paradox erscheinen, aber rituelle Handlungen sind nicht intentional, gerade weil die rituell handelnde Person diese Haltung angenommen hat.“123 Wenn man also eine Pfarrerperson, die gerade ein Kind tauft, danach fragt, was sie tut, wird sie antworten: Ich taufe ein Kind. Die Intention liegt also darin, das Taufritual auszuführen, egal, was der Pfarrperson dabei durch den Kopf gehen mag. „Anders als im oben erwähnten Fall […] des Experiments mit dem Heben des Arms bewirken die verschiedenen Absichten, die Intentionen, welche die Akteure bei einer rituellen Handlung ihren Handlungen zuschreiben, keinen Unterschied für die Beschreibung dessen, was sie tun, d. h. in Bezug auf die Art der Handlung, die sie ausführen.“124 Der zweite Aspekt des rituellen Engagements nach Humphrey und Laidlaw ist die Vorgeschriebenheit der Handlungen. Zwar sind andere Handlungsarten (z. B. im Militär oder im Spiel125) auch auf vorgeschriebene Regeln beschränkt, bei rituellen Handlungen gestaltet sich dies jedoch auf andere Weise: „Wenn wir vom rituellen Engagement sagen, sein zweites wichtiges Merkmal bestehe darin, ,vorgeschrieben‘ zu sein, meinen wir nicht, dass Regeln Handlungen einschränken, sondern sie schränken dasjenige ein, was die Handlungen sein können. Die Art von Handlungen, die Rituale sein können, wird ontologisch festgesetzt. […] Demzufolge ist die Ontologie ritualisierten Handelns, d. h. die Gesamtheit wesentlicher Einheiten, aus denen das Ritual besteht, etwas, das schon bereitgestellt ist, etwas also, das den Handlungen der Teilnehmer vorausgeht.“126 Im Bezug auf unser Beispiel der Taufe meint dies, dass alle Handlungen, die die Pfarrperson während des Rituals durchführt, von ihr und den Zuschauern/Gottesdienstbesuchern auf das Ritual bezogen werden. Natürlich könnte die 121 122 123 124 125 126
Humphrey/Laidlaw: Einstellung, 137. Humphrey/Laidlaw: Einstellung, 139 (kursiv dort). Ebd. Humphrey/Laidlaw: Einstellung, 140. Zu Religion und Spiel vergleiche u. a. Frenschkowski: Ritual, 180f. Humphrey/Laidlaw: Einstellung, 141 (kursiv dort).
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Pfarrperson auch derart anders handeln, dass Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Taufe aufkommen. Der Deutungsrahmen bliebe aber weiterhin das durchzuführende Ritual. Hinzu kommt bei unserem Beispiel, dass weder die Pfarrperson, noch der Täufling, noch die Zuschauer von einer Wirksamkeit (welcher Gestalt auch immer) des Rituals überzeugt sein müssen, solange die Handlung – so jedenfalls Humphrey und Laidlaw – im „rituellen Engagement“ geschieht. Allein dies unterscheide alltägliche von rituellen Handlungen. Die Autoren fassen Ihre bisherigen Überlegungen im Folgenden kurz zusammen und bieten als Definition: „Handeln gilt als ritualisiert, wenn die Handlungen, woraus es besteht, nicht durch die Intentionen der Akteure konstituiert werden, sondern durch eine vorausgehende Festsetzung. […] Wenn wir vom rituellen Engagement sprechen, meinen wir damit nicht, dass der Akteur irgendwelche besonderen Überzeugungen hat, z. B. dass das Ritual heilig ist, oder dass es eine reale therapeutische Wirkung hat. Gemeint ist nur, dass der Akteur oder die Akteurin zu einer besonderen Einstellung oder Haltung verpflichtet ist und dass diese Haltung anders ist als bei normalen Alltagshandlungen (zu denen Akteure auch verpflichtet sind). Eine Reihe konstitutiver Regeln wird als für die Arten von Handlungen, die man ausführt, bestimmend akzeptiert. Wer eine rituelle Handlung einnimmt, akzeptiert, dass er oder sie nicht Autor der eigenen Handlungen ist.“127 Der letzte Satz könnte hierbei zu Missverständnissen führen. Gemeint ist nicht, dass die handelnden Akteure in einem Ritual wie ein Roboter vorgefertigte Handlungselemente abarbeiten oder dass die Handlungen den Menschen passiv widerfahren würden. Auch bei einem Ritual sind die Bewegungen die eigenen Handlungen des Akteurs, die er freiwillig ausführt (schließlich muss dieser nach Humphrey und Laidlaw mit entsprechendem rituellen Engagement an die Sache heran gegangen sein), er ist allerdings an die Regeln des Rituals und nicht an seine eigene Intention gebunden: „Im Ritual ist man, und ist man zugleich nicht Autor seiner Handlungen.“128 Dies bedeutet, dass die Durchführung eines Rituals und die exakt gleichen Bewegungen nicht-ritualisierter Art sich nur in ihren rituellen Engagement, nicht aber (unbedingt) in der Intention ihrer Akteure unterscheiden. Der eine will ein Ritual durchführen, der andere eben nicht. Und nur aus diesem Grund können dieselben Handlungen, die Teil der Alltagswelt sind, im Ritual als eine besondere – eben ritualisierte und damit vorgeschriebene – Handlung verstanden werden. Die beiden weiteren Charakteristika (Rituale sind elementar bzw. archetypisch sowie wieder-erkennbar) sind kürzer zu behandeln: Nach Humphrey und
127 128
Humphrey/Laidlaw: Einstellung, 142. Humphrey/Laidlaw: Einstellung, 143 (kursiv dort).
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Laidlaw werden Rituale von Akteuren so beschrieben, als seien sie „im Besitz einer eigenen Faktizität und unabhängigen Existenz.“129 Aus diesem Grund haben sie Wirkungsmacht,130 obwohl häufig keine direkte Wirkung sichtbar wird. „Aus der Sicht des Akteurs erscheint die ritualisierte Handlung als etwas, das nur darauf wartet, von ihm aufgegriffen zu werden. Der oder die rituell Handelnde ‚vollzieht‘ das Ritual. Er oder sie tut nicht einfach irgendetwas wie im alltäglichen Leben […], rituell Handelnde ahmen vielmehr eine Vorstellung von dem, was zu tun ist, nach.“131 Somit erschließt sich der Begriff der „Wiedererkennbarkeit“. Der Akteur erkennt sein eigenes rituelles Handeln als Wiederaufnahme eines ursprünglichen Rituals wieder; ebenso die Zuschauer: Auch sie erkennen in den konkreten rituellen Handlungen die Nachahmung eines archetypischen Rituals wieder. Die Überlegungen von Humphrey und Laidlaw tragen viel zu der Frage bei, wie man rituelles Handeln und alltägliches Handeln voneinander unterscheiden kann. Dabei ist ihr Vorschlag, von einem rituellen Engagement zu sprechen und dieses als Grundlage für die Durchführung von Ritualen zu begreifen, hilfreich. Er erklärt nämlich, wie auch für den Akteur Handlungsunterschiede begreifbar werden können. Dass Rituale intentionslose Handlungen sein sollen, erscheint dabei nur auf den ersten Blick überraschend. Für die neutestamentliche Forschung sind die Überlegungen der beiden Autoren allerdings nicht eins zu eins übertragbar, da wir die eigentlichen Handlungen nicht beobachten und auch die Akteure nicht nach ihrem Handeln und ihrer etwaigen Intention fragen können. Uns bleiben nur die Texte des Neuen Testaments, die höchstens indirekt über das rituelle Engagement und die Überzeugungen und Ideen der Akteure Auskunft geben. Dennoch kann auf einer anderen Ebene der Blick geschärft werden: Obwohl bei einem narrativen Text wie dem Lukasevangelium alle Handlungen der Protagonisten bewusst an der jeweiligen Stelle stehen – und somit der Begriff Alltagshandlung als Gegenbegriff zu ritueller Handlung kaum zutrifft – muss die Frage gestellt werden, ob und wo der Evangelist rituelles Handeln von anderem Handeln unterscheiden möchte, bzw. ob und wo der Leser diese beiden Handlungsoptionen trennen kann.132
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Humphrey/Laidlaw: Einstellung, 146. Wirkungsmacht ist innerhalb der Ritualforschung meist mit dem Begriff der Agency verbunden, vgl. Kapitel 2.4.1. Humphrey/Laidlaw: Einstellung, 147. An dieser Stelle muss natürlich kritisch eingewendet werden, dass die moderne Perspektive auf Rituale nicht der antiken Sichtweise entspricht bzw. entsprechen muss. Nicht immer dort, wo wir als heutige Leser ein Ritual erkennen, muss dies auch für den antiken Leser so gewesen sein. Dies muss sich allerdings in der Einzelexegese zeigen.
2.3 Forschungsüberblick
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2.3.8 Erving Goffman Die Untersuchung von Interaktionsritualen und deren Auswirkungen auf die Gesellschaft stellt Erving Goffman (1922–1982) in den Mittelpunkt seiner Überlegungen.133 Er unterscheidet dabei inhaltliche von zeremoniellen Regeln. Erstere reglementieren den Umgang mit „Dingen, die an und für sich schon Bedeutung haben“134, unabhängig von der Bedeutung für das handelnde Individuum. Goffman nennt als Beispiel das Diebstahlverbot. Hiermit soll hauptsächlich das fremde Eigentum geschützt und weniger das Selbstbild des Akteurs betont werden. Zeremonielle Regeln hingegen bestimmen „das Verhalten gegenüber Dingen, die für sekundär oder bedeutungslos gehalten werden, deren hauptsächliche Bedeutung aber zumindest offiziell ein konventionalisiertes Mittel der Kommunikation ist, durch das man seinen Charakter zum Ausdruck bringt oder seine Einschätzung anderer Teilnehmer in der Situation übermittelt.“135 Für Goffman ist die Interaktion zwischen Akteuren häufig im Feld der Zeremonie zu verorten, da sie vor allem Aussagen über den jeweiligen Status der Akteure machen. Meist wird dies unter „Ettikette“136 verstanden. Will man nun, den zeremoniellen Regeln folgend, mit Menschen oder spirituellen Wesen interagieren, müssen bestimmte Zeichenträger oder Symbole genutzt werden (z. B. Worte, Gesten, Nutzung des Raums usw.), die sehr unterschiedlich gestaltet sein können. Alle haben aber gemeinsam, dass sowohl inhaltliche als auch zeremonielle Informationen übertragen werden können, soweit die Handlungen von anderen Personen wahrgenommen werden. Jonathan Schwiedler möchte dies auf die antike Kommunikation mit Göttern anwenden: „With the help of Goffman’s list, an astute observer can begin to recognize certain ancient Mediterranean ritual activities as ceremonial idioms people displayed in an effort to give divine beings their due.“137 Folgt man dieser Ausweitung auf antike Verhältnisse, ist für die weitere Analyse im Bereich der Zeremonie als Interaktionsritual eine Zweiteilung durchzuführen. Goffman unterscheidet daher zwischen Ritualen der Ehrerbietung und Ritualen des Benehmens. Ehrerbietung stellt hierbei die Vermittlung von „Wertschätzung des Empfängers dem Empfänger“138 gegenüber dar, besonders deutlich bei Begrüßungen,
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Erving Goffman: Interaction Ritual. Face-to-Face Behavior, Chicago 1967. Goffman: Interaktionsrituale, 319. Ebd. So Goffmann: Interaktionsrituale, 320. Schwiebert: Honoring, 22. Goffman: Interaktionsrituale, 321. Dabei müssen beide Akteure nicht zwangsläufig Menschen sein; auch die Handlungen zwischen Menschen und Göttern bzw. vergöttlichten Tieren können auf diese Art und Weise verstanden werden. Goffman bezieht sich in seinem Aufsatz im Folgenden allerdings explizit nur auf menschliche Interaktion.
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2 Ritualtheorien
Komplimenten und Entschuldigungen. Dabei betont Goffman, dass Ehre nur von anderen erwiesen werden kann, ohne Kontakt zu anderen Personen und zur Gesellschaft ist dies nicht möglich: „Wenn man sich selbst die Ehrerbietung erweisen könnte, die man wünscht, dann könnte die Gesellschaft dahin tendieren, sich in Inseln aufzulösen, bewohnt von einzelnen kultischen Menschen, jeder in ständiger Anbetung seines eigenen Schreins.“139 Ehrerbietung ist dabei nicht nur auf asymmetrische Beziehungen ausgelegt, sondern kann auch von Akteuren mit gleichem Status vollzogen werden, beinhaltet aber immer das Versprechen, „den Empfänger bei der nächsten Begegnung entsprechend zu behandeln“,140 während „eine deutliche Weigerung“ die Ankündigung bedeute, „dass offene Rebellion begonnen hat.“141 Goffman differenziert die Ehrerbietungsrituale in Vermeidungsrituale und Zuvorkommenheitsrituale. Bei ersteren geht es hauptsächlich um die Wahrung der Distanz zwischen den Akteuren, die je nach gesellschaftlichem Status unterschiedlich ausgestaltet sein kann. Bei Statusgleichen sind Rituale zu finden, „deren Grundlage symmetrische Vertrautheit ist“, während bei Statusungleichen „asymmetrische Beziehungen“ zu erwarten sind.142 Vermeidungsrituale versteht Goffman z. B. als Handlungen, die den direkten Kontakt zum Höherstehenden vermeiden. Antike Beispiele könnten das Nicht-Betreten eines religiös bedeutsamen Ortes oder „avoiding too much contact with the deity’s name or possessions“ sein.143 Neben der Ehrerbietung stellen Rituale des Benehmens die andere Art der Interaktionsrituale nach Goffman dar. Benehmen wird „durch Haltung, Kleidung und Verhalten ausgedrückt“ und dient dazu „dem Gegenüber zum Ausdruck zu bringen, dass man ein Mensch mit bestimmten erwünschten oder unerwünschten Eigenschaften ist.“144 Dabei kann das gute oder richtige Benehmen nicht vom Akteur selbst erklärt werden, sondern ist auf die Interpretation anderer angewiesen. Diese entscheiden aufgrund der Vorgaben der Gesellschaft, inwiefern das handelnde Individuum korrekt agiert und folgern aus dieser Entscheidung, ob eine weitere Interaktion mit dem Akteur gewünscht ist oder nicht. Daher kann man Rituale des Benehmens als Selbstdarstellung beschreiben, welche von der Bewertung anderer abhängig ist: „Im Allgemeinen baut jemand durch Benehmen ein Bild von sich selbst auf, doch genau genommen gilt dieses Bild nicht für seine eigenen Augen.“145 Diese Form der Selbstdarstellung kann
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Goffman: Interaktionsrituale, 322. Goffman: Interaktionsrituale, 323. Goffman: Interaktionsrituale, 324. Goffman: Interaktionsrituale, 325. Schwiedler: Honoring, 23. Er nennt die Vermeidung des jüdischen Gottesnamens als weiteres Beispiel. Goffman: Interaktionsrituale, 327. Ebd.
2.3 Forschungsüberblick
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mit einem religiösen Bewertungsschema verbunden sein: „Adjectives like “pious” (Greek, Latin), “righteous” (Hebrew Bible, New Testament), “religious” and “god-fearing” (USA) are awarded to individuals by others in this social sense.”146 Zuletzt beschäftigt sich Goffman mit dem möglichen Scheitern von Ritualen. Er nennt dies „zeremonielle Entweihungen.“ Bei diesen können sowohl absichtliche als auch unabsichtliche Fehler gemacht werden.147 Erstere sind häufig Teil der Interaktion unterschiedlicher Gruppen bzw. Gesellschaften, die nicht über die gleichen zeremoniellen Regeln verfügen. Zweitere beschreiben vor allem Kritik am Ritual und der dahinterstehenden Person bzw. Gruppe. Um zu zeigen, wie weitreichend das intendierte Scheitern von Ritualen sein kann, verweist Schwiedler auf das Ende des Opfers für den Kaiser in Jerusalem 66 n. Chr. „This was not simply a symbolic gesture. In the ancient context, offering sacrifices for the well-being of Caesar was a show of honor. […] Honor, as we have seen, is enacted in both small gestures and larger ones, by speech and by attention paid to particular shrines and particular ritual activities. Neglect is its opposite; intentional neglect is its extreme opposite. In fact, it is open dishonor.“ Die Folgen dieses Verhaltens, der Aufstand gegen die römische Herrschaft und die Zerstörung des Tempels, „marked a turning point for both Jewish and Christian history.“148 Goffman schließt damit, dass „Verhaltensregeln, die den Handelnden und den Empfänger miteinander verbinden, […] die Bindungen der Gesellschaft [sind].“149 Damit ermöglichen Rituale der Interaktion eine alltägliche und nahezu mühelose Bestätigung der sozialen Bindungen: „Durch diese Einhaltung zeremonieller Verpflichtungen und Erwartungen wird ein ständiger Strom von Gunstbezeugungen über die Gesellschaft gebreitet, in dem andere Anwesende ständig das Individuum daran erinnern, dass es sich gut benehmen […] muss.“150 Gleichzeitig kann aber auch Kritik durch falsche oder unpassende Ritualdurchführung angebracht werden.
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Schwiedler: Honoring, 23. Schwiedler: Honoring, 26 nennt hier das antike Beispiel des Philosophen Theophrastus, der eine Person beschreibt, die es mit der Götterverehrung derart übertreibt, dass ihm superstitio vorgeworfen wurde. Er ist nach Goffmans Ansatz zu vergleichen mit „a socially awkward person who, in trying to be scrupulousy polite, breaks all kind of rules in the process of welcoming and honoring a high-status person who otherwise would hardly notice him.“ Schwiedler: Honoring, 33. Vgl. die ähnlichen Überlegungen von DeMaris: Ritual transgression, 147f. zur Umwidmung des jüdischen Tempels unter Antiochus IV Epiphanes zum Zeustempel und der damit zusammenhängenden Beendigung der Opfer für JHWH, welche jüdischerseits als schwerer Frevel betrachtet und von den Makkabäern wieder rückgängig gemacht wurde. Goffman: Interaktionsrituale, 333. Ebd.
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2 Ritualtheorien
Rituale der Interaktion, gegliedert in Rituale des Benehmens und Rituale der Ehrerbietung, ermöglichen einen differenzierten Blick auf den implizit oder explizit dargestellten Status eines Charakters innerhalb der neutestamentlichen Schriften: Wie benimmt sich Jesus gegenüber anderen Personen? Wie wird sein Status aufgrund seiner rituellen Handlungen beschrieben? Was sagt sein Verhalten gegenüber seiner Familie (2,41–52) und den Einwohner Nazareths (4,16– 30) über seinen rituellen wie religiösen Status aus? Kommt es dabei zu Ehrerbietung und wird diese als korrekt oder fehlerhaft beschrieben? Was bedeuten die Handlungen oder Nicht-Handlungen des Pharisäers Simon als Gastgeber in Lk 7,36–50? Die genaue Untersuchung der Interaktionsrituale, die Jesus selbst vollzieht bzw. die an ihm vollzogen werden, soll helfen, die lukanische Charakterisierung Jesu besser zu verstehen. Dabei darf allerdings nicht aus dem Blick geraten, dass es neben der Interaktion auch andere Ebenen der Ritualität geben kann, die für die Darstellung des Evangeliums eine wichtige Rolle spielen. Hierfür soll im Folgenden der Ansatz von Albert Bergesen beschrieben werden, der die Überlegungen Goffmans aufnimmt und mit seinem eigenem Ritualverständnis verbindet.
2.3.9 Albert Bergesen Für Albert Bergesen (*1942) lässt sich die Gesellschaft in Anschluss an Durkheim als etwas Äußerliches beschreiben, welches auf die Individuen einwirkt. Hierbei erscheinen die kollektiven Gefühle einer Gemeinschaft einerseits als äußerlich, andererseits als Summe der beteiligten Personen. Er schreibt: „Wenn nun viele Individuen zusammenkommen, werden diese gemeinsamen Gefühle konzentriert und dadurch in eine spezifisch kollektive Empfindung verwandelt. […] Der Kern des rituellen Prozesses besteht darin, die individuellen Teilgefühle zu sammeln und daraus ein kollektives Gefühl zu machen, denn nur im gesammelten und konzentrierten Zustand kann sich die spezifisch kollektive Natur dieser Gefühle manifestieren.“151 Daraus folgt für Bergesen der Sinn von Ritualen. Dieser liegt in der (Re-)Produktion sozialer Strukturen bzw. sozialer Hierarchie, denn Gruppen bzw. Gruppenidentität lässt sich sehr gut durch die Beobachtung vom Verhalten der Gruppenmitglieder bei Ritualen und der Reflexion der Gruppenmitglieder über ihre Ritualhandlungen erkennen.152 Doch wie beschreibt Bergesen Rituale an sich? Um genauer fassen zu können, was Rituale sind, schlägt er vor, diese auf drei Ebenen anzusiedeln, die jeweils 151 152
Bergesen: Ordnung, 49. Das hat natürlich insofern Grenzen, als dass Rituale „not always create, display, and enhance social solidarity, however. They may be socially disruptive and destabilizing instead, especially when carried out by minority or marginalized groups“, DeMaris: Transgression, 146.
2.3 Forschungsüberblick
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aufeinander aufbauen. Er spricht hier von Mikroriten, welche basierend auf linguistischen Strukturen eine gemeinsame Sprache ermöglichen; Mesoriten, welche die soziale Interaktion regeln; und Makroriten, worunter er formelle Zeremonien versteht. Er schreibt: „Die Typen ritueller Praxis unterscheiden sich voneinander aufgrund der sozialen Gruppierungen (groß oder klein), welche die Riten jeweils reproduzieren und bestätigen. Rituelle Praktiken sind nicht nur verschieden, sondern es bestätigen auch nicht alle Riten die gleichen sozialen Strukturen und Gruppenidentitäten. Die unterschiedlichen Modalitäten des Rituals besitzen jeweils andere Kompetenzen und Funktionen im Prozess sozialer Reproduktion. In der gleichen Art und Weise wie eine Gesellschaft hierarchisch strukturiert ist, sind auch die rituellen Praktiken von einer Mikroebene bis zu einer Makroebene hierarchisch geordnet. Die hierarchische Struktur sozialer Ordnung geht Hand in Hand mit der rituellen Ordnung.“153 Die erste Ebene, die Bergesen beschreibt, nennt er Mikroriten. Er schließt sich hier vor allem der Forschung von Linguisten und Sprachwissenschaftlern an und bezieht sich ausdrücklich auf die Überlegungen Durkheims.154 Diese Ebene der Rituale umfasst alle sprachlichen Handlungen und Sprachcodes, die von den Akteuren im Umgang miteinander gewählt werden. Denn für Bergesen ist klar, dass die gemeinsame Sprache nicht nur vorgegebenen Regeln der linguistischen Strukturen folgt, sondern auch soziale Hierarchie darstellt und konstruiert. Dieser sozialen Ordnung kann das Individuum nicht entfliehen, solange es an der Sprachgemeinschaft teilnimmt. „Daraus leitet sich“ – so Bergesen – „eine gewisse durkheimsche Ironie ab: Um Unabhängigkeit und Distanz von der Gesellschaft ausdrücken zu können, muss man in der Gesellschaft sein, d. h., in der Sprachgemeinschaft.“155 Hinzu treten Beobachtungen zum sozialen Kontext: Hier verallgemeinert Bergesen die These von Basil Bernstein, dass eine Gemeinschaft, je enger und solidarischer sie ist, einen weniger differenzierten Sprachcode nutzen muss, um Verständnis in der gegenseitigen Kommunikation zu gewinnen. Ist eine Gemeinschaft hingegen weniger solidarisch, ist ein breiteres Vokabular und eine komplexere Syntax nötig.156 Die zweite Ebene nennt Bergesen Mesoriten. Dabei baut er seine Überlegungen stark auf den Thesen von Erving Goffman auf. Diese mittlere Ebene deutet jene Umgangsformen von Individuen, die über die reine Sprachebene hinausgehen, also als interpersonale Interaktionen bzw. Begegnungen von Angesicht zu Angesicht zu verstehen sind: „Diese gegenseitigen Gesten stellen kleine rituelle
153 154 155 156
Bergesen: Ordnung, 52. Zu Durkheim vgl. 2.3.2. Bergesen: Ordnung, 54. Bernstein hat hauptsächlich die Sprache in englischen Arbeitervierteln untersucht, vgl. Bergesen: Ordnung, 57–59.
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2 Ritualtheorien
Zeremonien dar, die die Gemeinschaft zusammenhalten, ihre interne Struktur und Hierarchie bestätigen und reproduzieren.“157 Auf dieser Ebene unterscheidet Bergesen wie Goffman Rituale des Benehmens und Rituale der Ehrerbietung. Erstere stellen Signale dar, die den eigenen Status anzeigen, zweitere beschreiben das rituelle Verhalten gegenüber Menschen in einem anderen sozialen Status.158 Auf der dritten Ebene stehen die Makroriten, die Bergesen als formelle Zeremonien zu beschreiben versucht. Er rezipiert u. a. die hier schon vorgestellte These v. Genneps und ordnet dessen Übergangsriten dieser dritten Ebene zu. Daher passt das alltagssprachliche Verständnis von Ritualen am besten in diesen Bereich. Hierbei handelt es sich allerdings nicht ausschließlich um religiöse Rituale, sondern im Allgemeinen um solche, die einer Reproduktion einer Gemeinschaft als Ganzes dienen, wie z. B. Feierlichkeiten anlässlich der politischen Unabhängigkeit eines Landes. Der Begriff „Gemeinschaft als Ganzes“159 ist bei Bergesen nicht an die Anzahl der Gemeinschaftsmitglieder gebunden. Ein Ritual auf der Makroebene kann sich z. B. auf der Ebene der Familie, eines Sportvereins oder eines ganzen Staates abspielen, wichtig ist allein seine Funktion, nämlich die „Erneuerung und Reproduktion einer Gemeinschaft als Ganzes.“160 Erreicht wird dies durch die Produktion und Darstellung moralischer Gegensätze, die je nach Kontext rein/unrein, heilig/profan, gerecht/ungerecht, normal/anormal usw. genannt werden können. Aus Sicht Bergesens sind diese Gegensatzpaare nicht zu trennen, da sie „alle dem gleichen Prozess [entstammen].“ […] „Denn sie kreieren einen grundsätzlichen moralischen Gegensatz und bestätigen und reproduzieren dadurch Symbole (in religiösen Riten) oder normative, rechtliche und ideologische Überzeugungen (in sozialen und politischen Riten).“161 Betrachtet man diese drei hier nur kurz skizzierten Ebenen insgesamt, so wird deutlich, dass sich diese in einem Abhängigkeitsverhältnis befinden. Bergesen selbst beschreibt dies so: „Im Allgemeinen lässt sich sagen, dass, was auf der ersten Ebene rituell produziert wird, auf der zweiten Ebene den sozialen Akteur konstruiert, wobei die Riten dieser Ebene ihrerseits ein soziales Objekt 157 158
159 160 161
Bergesen: Ordnung, 61. Auch wenn sich Bergesen an die Nomenklatur Goffmans hält (vgl. 2.3.8), weicht er inhaltlich an diesem Punkt ab. Während für Goffman symmetrische und asymmetrische Beziehungen durch Interaktionsrituale gestärkt werden können, baut Bergesen hier eine stärkere Hierarchisierung ein, sodass Benehmen und Ehrerbietung sozial stärker differenziert werden. Bergesen: Ordnung, 62f., 69f. u. ö. Bergesen: Ordnung, 62. Bergesen: Ordnung, 64. Auch Rituale, die auf den ersten Blick eine religiöse Konnotation innehaben, können als politische Rituale untersucht werden. Ein Beispiel hierfür ist die Taufe in Korinth, die als politisches Ritual eine Auseinandersetzung der frühen Christen mit römisch-hellenistischer sowie jüdischer Umwelt beinhaltet, vgl. Choi: Boundary-crossing, 75–91.
2.3 Forschungsüberblick
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schaffen, das zum sozialen Akteur wird, der die Riten auf der dritten Ebene ausführt.“162 Ein Beispiel, welches Bergesen selbst einführt, um dies zu verdeutlichen, ist das der russischen Puppe – Matroschka – nur dass hier nicht Puppe in Puppe, sondern eine Ebene des Rituals in der höheren Ebene des Rituals steckt. Dies soll verdeutlichen, dass auch die formellen Zeremonien aus Interaktionsriten und linguistischen Riten bestehen. Die Beobachtungen, die Bergesen zu den drei hier kurz dargestellten Ebenen gebracht haben, führen zu weiteren Möglichkeiten, Ordnung als (Re-)Produktionsziel von Ritualen zu beschreiben, wobei er fünf Dimensionen konstatiert. Die erste dieser Dimensionen lässt sich gut in dem vorhin zitierten Satz zeigen: Es besteht eine hierarchische Abhängigkeit zwischen den verschiedenen Ritualen. Eine formelle Zeremonie als Makroritus enthält also Mesoriten, die das Verhalten der Akteure bestimmen, welche ebenso durch Mikroriten im Bereich der Sprache legitimiert werden. Für einen Teilnehmer des Rituals ist es laut Bergesen nicht immer klar, dass er gerade rituell handelt. Er bezeichnet dies in zwei weiteren Dimensionen, die eng zusammenhängen: Die Distanz von Ritual und Teilnehmer und die Sakralität des Rituals. Beide Dimensionen beschreiben ähnliches: Bei der Distanz zwischen Ritual und Teilnehmer unterscheiden sich die drei Ebenen. Je höher ein Ritual einzuordnen ist (also je deutlicher es als Makroritus verstanden werden kann), desto eher ist dem Akteur bewusst, dass es sich bei seinen Handlungen um ein Ritual handelt, er also als Teilnehmer des Rituals nur bestimmte Handlungsmöglichkeiten hat, korrekt am Ritual teilzunehmen. Diese Einschränkung der Handlungsmöglichkeiten macht dem Teilnehmer die Distanz zwischen der eigenen Identität als Individuum und der Gruppenidentität deutlich.163 Auf den unteren Ebenen ist dies für den Akteur nicht immer einsehbar. So ist bei sprachlichen Äußerungen auf Mikroebene häufig gar keine Distanz erkennbar und die sprachlichen Handlungen werden als Teil der eigenen Identität bewertet. Parallel dazu verläuft die Sakralität des Rituals. Ein Makroritus wird von den Teilnehmern als heiliger empfunden, als ein Meso- oder Mikroritus. Eine formelle Zeremonie ist also wesentlich sakraler – heiliger – als Rituale des Benehmens oder sprachliche Rituale. Umgekehrt parallel verläuft die nächste Dimension nach Bergesen: Der Grad der Veränderlichkeit. Je höher ein Ritual innerhalb der Skala einzuordnen ist, desto langsamer kann es verändert werden. So bleiben manche Makrorituale über Jahrhunderte gleich oder verändern sich nur sehr langsam, während im Bereich der Mikrorituale Veränderungen relativ schnell Einzug halten. Dies hängt natürlich auch mit den anderen Dimensionen zusammen, die hier schon 162 163
Bergesen: Ordnung, 66. Ähnliches haben schon Humphrey und Laidlaw beschrieben, wobei sie eher vom Begriff der Intention ausgehen, vgl. Kapitel 2.3.7 dieser Arbeit.
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2 Ritualtheorien
besprochen wurden. Wenn ein Akteur eine große Distanz zwischen sich bzw. seiner Individualität und dem Ritual spürt, wird er wenig bis gar keinen Einfluss auf Veränderungen anstreben, auch weil der Grad der Sakralität aus Sicht des Akteurs u. a. durch seine Distanz zur Handlung bestimmt wird. Hingegen wird das rituelle Handeln im Bereich der Sprache weder als distanziert noch als sakral betrachtet und kann so leichter variiert werden. Die letzte Dimension bei Bergesen beschreibt die Mobilisierung von Teilnehmern. Rituale können von einer Vielzahl von Teilnehmern häufig, wie bei Mikroriten, durchgeführt werden, während Makrorituale vergleichsweise selten veranstaltet werden. Die Reproduktion der sozialen Ordnung, die ja für Bergesen das Ziel von Ritualen darstellt, wird auch hier beschrieben. Je häufiger ein Ritual durchgeführt wird, desto kleiner ist für Bergesen der berührte Bereich der sozialen Reproduktion der Gesellschaft. Ein großer Vorteil der Theorie Bergesens ist, dass er explizit auf den Überlegungen mehrerer Theoretiker vor ihm aufbaut164 und seine Synthese verschiedener Ansätze das Neue seines Konzepts darstellt. Dabei schafft er es begreiflich zu machen, dass eine Vielzahl von Handlungen als Rituale bewertet werden können, die alltagssprachlich eher nicht in diese Gruppe zählen. Gleichzeitig erlaubt es seine Theorie sehr gut, nicht nur das beobachtbare Verhalten heutiger Menschen einzuordnen, sondern ist auch als Schlüssel für die Textanalyse nutzbar zu machen, auch wenn Bergesen selbst auf diese Möglichkeit nicht explizit eingeht. Für die Exegese des Lukasevangeliums – oder eines anderen narrativen Texts – müssen allerdings Einschränkungen gemacht werden: Die erste Ebene im Verständnis Bergesens ist auf die Sprache im zwischenmenschlichen Umgang fokussiert. Jede sprachliche Handlung aber als Ritual deuten zu wollen, wird bei der Exegese keine Fortschritte bringen. Sprachliche Kommunikation innerhalb der Erzählung muss dennoch genau analysiert werden. Die zweite Ebene, also die Riten des Benehmens und der Ehrerbietung, kann möglicherweise als Perikopenauswahlkriterium genutzt werden, wenn man die zu untersuchenden Personen einschränkt. Jesus als Protagonist der Erzählung steht hier selbstverständlich im Mittelpunkt: Kann Jesus als Charismatiker verstanden werden, der Rituale der Ehrerbietung bzw. des Benehmens für seine Zwecke nutzt und neu konzipiert? Oder bewegt sich der lukanische Jesus so sehr innerhalb der Ritualvorstellungen seiner Umwelt, dass weniger die Durchführung von Ritualen als deren inhaltliche Füllung das Neue bzw. Andere an seinem Wirken ausmacht? Insgesamt ist die Ritualtheorie Bergesens vor allem deswegen so interessant, weil sie helfen kann, Einblicke in die Hierarchie von Erzählfiguren zu gewinnen. Jesus als Hauptakteur des Lukasevangeliums spielt hier natürlich die Hauptrolle. Aber sein Status, sowohl in der Erzählung als auch für die Leser des Textes, steht im Kontrast zum Status anderer Personen. Daher wird zu fragen sein, welche Rollen- und Statusverhältnisse von Jesus und seiner Familie und 164
Durkheim, Austin, v. Gennep, Laidlaw/Humphrey und weitere.
2.3 Forschungsüberblick
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Herkunft (2,41–52; 4,16–30), seinen Jüngern (22,7–20; 24,13–35) und seinen Gegnern (7,36–50; 14,1–24) sowie Johannes dem Täufer (3,21f.) in den Texten dargestellt werden und wie diese durch die ritualwissenschaftliche Betrachtung im System der rituellen Ebenen Bergesens verstanden werden kann.
2.3.10 Gerd Theißen Der Neutestamentler Gerd Theißen (*1943) beschäftigt sich umfassend mit der Ausgestaltung der frühchristlichen Sakramente Taufe und Abendmahl. In seinem 2017 erschienenen Buch Veränderungspräsenz und Tabubruch165 versucht er die Ritualdymanik urchristlicher Sakramente herauszuarbeiten. Er definiert Religionen als „Zeichensprachen, mit denen Menschen gemeinsam den Kontakt zur letztgültigen Wirklichkeit aufnehmen, weil sie sich davon Lebensgewinn versprechen.“166 Die Dimensionen, die Religion(en) innerhalb dieser Zeichensprache haben, und die je nach einzelner konkret-geschichtlicher Religionsgestaltung unterschiedlich ausfallen können, sind Mythos, Erfahrung, Ritus, Ethos und Gemeinschaft.167 Für Theißen sind die christlichen Sakramente Taufe und Abendmahl in einer Zeit des religiösen Umbruchs entstanden. Sie stehen dabei den althergebrachten Riten, die besonders Opferkult und Reinheit in den Mittelpunkt stellen, entgegen: „Die vielen Waschungen wurden von Johannes dem Täufer durch die einmalige Taufe entwertet, die blutigen Opfer wurden durch Berufung auf das letzte Mahl Jesu durch eine Mahlzeit mit Brot und Wein ersetzt. Die Taufe zur Vergebung der Sünden stand in Opposition zur Sühnefunktion des Tempels, die Erinnerung an das letzte Mahl Jesu beschwörte immer wieder den Konflikt mit dem Tempel.“168 Die Sakramente sind folglich keine ‚neuen‘ Handlungen, sondern werden neu interpretiert und in die Gemeinschaft integriert, wobei beiden durch den Bezug zum Tode Jesu ein besonders kontraintuitiver Impuls innewohnt. Taufe wurde verstanden als „symbolischer Suizid“, Abendmahl als Inszenierung „eines ‚symbolischen Kannibalismus‘“,169 aber die eigentlichen Handlungen „demonstrierten […] genau das Gegenteil: eine ebenso deutliche Abnahme von Aggressivität im Vergleich zu den blutigen Opfern der Antike.“170
165
166 167
168 169 170
Gerd Theißen: Veränderungpräsenz und Tabubruch. Die Ritualdynamik urchristlicher Sakramente (Beiträge zum Verstehen der Bibel 30), Münster 2017. Theißen: Veränderungspräsenz, 111f. Vgl. Theißen: Veränderungspräsenz, 113, (dort in einem grafischen Schema dargestellt). A. a. O., 442: „MYTHOS, RITUS und ETHOS bilden zusammen eine religiöse Zeichensprache, mit deren Hilfe Menschen GEMEINSCHAFTEN bilden und Kontakt mit der Transzendenz aufnehmen“ (Versalien im Original). Theißen: Veränderungspräsenz, 439. Vgl. Theißen: Veränderungspräsenz, 440. Ebd.
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2 Ritualtheorien
Dieser „symbolische Tabubruch“ sorgte dann nach Theißen für die Attraktivität der frühchristlichen Gemeinden und ihrer Rituale.171 Theißen ordnet den Ritualen vier Artikulationsweisen zu: Sie sind embodied (an Körper gebunden172), embedded (in Gemeinschaften eingebettet), enacted (als Handlungen inszeniert) und extended (beziehen externe Gegenstände mit ein).173 Dabei verbinden sich „kontraintuitive Grenzüberschreitungen […] mit paradoxen Tabubrüchen.“174 Diese Tabus sind die Gleichheit aller Teilnehmenden und – deutlich stärker – das Leben auf Kosten anderen Lebens als „umheimliche Seite Gottes und des Menschen […]. Gott deckt diese Verlorenheit des Menschen durch ein stellvertretendes Sterben auf, das dem Menschen vor Augen führt, wie tief seine Sünde ist.“175 Dieses Vor-Augen-Führen ist keine Strafe Gottes, sondern soll eine Veränderung im Menschen (und in seinem Handeln) herbeiführen. Diese Veränderung wird nur durch die Präsenz Gottes in den Sakramenten möglich, daher spricht Theißen von einer Veränderungspräsenz.176 Die Überlegungen Gerd Theißens sind im Bezug auf das Lukasevangelium besonders, aber nicht nur, auf die Taufe Jesu (3,21f.) und das letzte Mahl mit den Aposteln (22,7–20) zu beziehen. Diese Perikopen bilden, gemeinsam mit weiterer neutestamentlicher Überlieferung, die Grundlage für die urchristlichen Sakramente und deren Durchführung und theologische Deutung bis heute. Theißens Ansätze zu Tabubruch und Veränderungspräsenz können aber auch für weitere Perikopen nutzbar gemacht werden. So spielt z. B. der tabuisierte Umgang Jesu mit der sündigen Frau in Lk 7,36–50 eine große Rolle für die Deutung der Erzählung. Gleiches gilt für Jesu Umgang mit Kranken und gesellschaftlichen Außenseitern, wie z. B. beim Heilung eines Wassersüchtigen im Kontext eines Mahls bei Pharisäern (Lk 14,1–6) deutlich wird. Zugleich setzt die Präsenz Jesu häufig einen Veränderungsprozess in Gang, der nicht nur für die jeweilige Erzählung, sondern auch über das Evangelium und die Apostelgeschichte hinaus auf die Leser eine Wirkung entfaltet. Hierbei steht besonders das letzte Mahl Jesu im Fokus.
171
172 173 174 175 176
Theißen konstatiert dabei gleichzeitig die schon in den neutestamentlichen Schriften vorzufindende Tendenz der Abschwächung dieser symbolischen Tabubrüche, die sich in den ersten drei Jahrhunderten fortsetzt (vgl. Theißen: Veränderungspräsenz, 441). Zu „Ritual und embodiment“ vgl. Strecker: Macht, 139–143 und ders.: Taufpraxis, 386f. Vgl. Theißen: Veränderungspräsenz, 443f. Theißen: Veränderungspräsenz, 445. Theißen: Veränderungspräsenz, 446. „Die Präsenz Gottes in den christlichen Sakramenten ist Veränderungspräsenz“ (Theißen: Veränderungspräsenz, 447). Dabei knüpft Theißen „an die katholische Wandlungslehre an, versteht sie aber symbolisch“ (5).
2.3 Forschungsüberblick
39
2.3.11 Jesus als Charismatiker Nach den bisher vorgestellten Theorien und Ansätzen ausgewählter Ritualforscherinnen- und Forscher soll nun eine für die ritualwissenschaftliche Untersuchung des Neuen Testaments wichtige Beschreibungskategorie vorgestellt werden: Jesus als Charismatiker. Denn die Charismatikerforschung beschäftigt sich ausführlich mit der Auseinandersetzung Jesu mit Ritualen und ritueller Ordnung. Jesus lebte nach der Darstellung der Evangelisten als Jude innerhalb des ihm vorgegebenen Ritualrahmens seiner Zeit. Dabei spielen eine Vielzahl der Geschichten im nördlichen Teil des Landes, in Galiläa, das durch seine Entfernung vom Jerusalemer Tempel bei gleichzeitiger Nähe zu hellenistischen Städten (Tiberias) und eine arme, teilweise am Existenzminimum lebende, Landbevölkerung geprägt war.177 Dies sorgte, in Kombination mit der als unterdrückend empfundenen römischen Herrschaft, wiederholt für das Auftreten mehr oder weniger radikaler charismatischer Wanderprediger,178 zu denen neben dem Täufer auch Jesus gezählt werden kann. Im Folgenden soll dem Selbstverständnis und Wirken Jesu als Charismatiker nachgegangen werden. Der Begriff Charismatiker bzw. charismatischer Führer geht auf Max Weber zurück, der ihn aus den kirchenrechtlichen Überlegungen des Juristen Rudolf Sohm übernimmt.179 Während Sohm in Anlehnung an die paulinischen Gnadengaben (Charismata; vgl. 1Kor 12 und öfter) Charisma als eine religiöse Befähigung versteht, die einer Einzelperson zugesprochen werden kann, verallgemeinert Weber den Begriff für seine Darstellung: „‚Charisma‘ soll eine als außeralltäglich […] geltende Qualität einer Persönlichkeit heißen, um derentwillen sie als mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch außeralltäglichen, nicht jedem anderen zugänglichen Kräften oder Eigenschaften oder als gottgesendet oder als vorbildlich und deshalb als ‚Führer‘ gewertet wird. Wie die betreffende Qualität von irgendeinem ethischen, ästhetischen oder sonstigen Standpunkt aus ‚objektiv‘ richtig zu bewerten sein würde, ist natürlich dabei begrifflich völlig gleichgültig: darauf allein, wie sie tatsächlich von den charismatisch Beherrschten, den ‚Anhängern‘ bewertet wird, kommt es an.“180 Weber kann und will als Soziologe keine Aussage über die wirkliche Befähigung eines Charismatikers machen, sondern verweist allein auf seinen Erfolg:
177
178
179 180
Vgl. zu den ökonomischen Verhältnissen der Bevölkerung des 1. Jh. die detaillierten Ausführungen bei Stegemann/Stegemann: Sozialgeschichte, 101ff. Josephus stellt neben Johannes dem Täufer und einer kurzen Notiz zu Jesus von Nazareth mehrere Bewegungen vor und kritisiert diese stark, besonders wenn mit Gewalt gegen die römische Herrschaft agiert wurde. Zur Geschichte des Begriffs vgl. Ebertz: Charisma, 16. Weber: Wirtschaft, 179.
40
2 Ritualtheorien
„Der Träger des Charisma ergreift die ihm angemessene Aufgabe und verlangt Gehorsam und Gefolgschaft kraft seiner Sendung. Ob er sie findet, entscheidet der Erfolg. Erkennen diejenigen, an die er sich gesandt fühlt, seine Sendung nicht an, so bricht sein Anspruch zusammen. Erkennen sie ihn an, so ist er ihr Herr, solange er sich sich durch ‚Bewährung‘ die Anerkennung zu erhalten weiß.“181 Ohne die Anerkennung seiner Gefolgschaft kann also der Anspruch eines Charismatikers nicht weiterhin erhoben werden. Dennoch scheinen die charismatisch befähigten Personen schon vor der Aufnahme von Schülern über bestimmte Fähigkeiten zu verfügen, da diese für den Aufbau einer Schülerschaft eingesetzt werden müssen.182 Vermittelt wird die Autorität des charismatischen Führers vor allem über seine Worte und seine Wundertaten. Dadurch wird die spätere Darstellung noch stärker durch die Rezipienten bestimmt, da nur diese – freilich als Anhänger oder als Feinde – schriftliche Berichte über Inhalt und Form des charismatischen Handelns überliefern.183 An dieser Stelle gehe ich kurz auf weitere charismatische Führer des Frühjudentums ein: Josephus und weitere jüdische Quellen nennen Choni den Kreiszieher184 und Chanina ben Dosa.185 Beide sollen Wunder vollbracht haben, die Ähnlichkeit mit den Wundern des Elia haben. Sie sammelten aber keine Anhängerschaft, sondern wirkten als Einzelgestalten. Eine eindeutig negative Darstellung des Wirkens zweier sogenannter Pseudo-propheten lesen wir bei Josephus: Theudas und „der Ägypter“ scharten beide eine große Menschenmenge um sich, führten diese in die Wüste und versprachen göttliche Zeichen, die den Anbruch einer neuen jüdischen Ära ohne römische Besatzung bewirken sollten. Beide wurden von den Römern hingerichtet.186 181 182 183
184 185
186
Weber: Wirtschaft, 655 (kursiv dort). Vgl. Schütz: Charisma, 222. Vgl. Bendix: Umbildungen, 406. Diese These passt sehr gut zu den uns bekannten Charismatikern in Palästina des 1. Jh. Alle Berichte, die überliefert wurden, sind nicht von den Charismatikern selbst verfasst, sondern stellen eine positive (Evangelien) oder negative (Josephus) Einschätzung des Geschehens dar. Vgl. dazu die folgenden Beispiele. JosAnt 14,22f. Vgl. auch die Darstellung bei Stegemann/Stegemann: Sozialgeschichte, 149. bBer34b. Vgl. auch Stegemann/Stegemann: Sozialgeschichte, 150 und Wengst: Chassidim, 246–254. Wengst betont dabei die große Ähnlichkeit von Darstellungen Jesu und ben Dosas sowie Chonis. Alle drei werden bspw. als ‚Sohn Gottes‘ bezeichnet und zeichnen sich durch große Nähe zu Gott aus (vgl. Wengst: Chassidim, 247f.). Ebenso ist die Wundertätigkeit vergleichbar (vgl. Wengst: Chassidim 248–250). JosAnt 20,97.269f. Vgl auch die Darstellung bei Stegemann/Stegemann: Sozialgeschichte, 151 und E. Stegemann: Stellung, 242f. Dass Josephus so negativ über die beiden berichtet, hängt wohl damit zusammen, dass sein Anliegen darin lag, das jüdische Volk den Römern möglichst positiv und als politisch ungefährlich darzustellen. Charismatische Gestalten, die eine große Gruppe anführten und damit potentiell einen Volksaufstand erzeugen konnten, dienten aus römischer Sicht sicherlich nicht der pax romana. Dies galt sicherlich
2.3 Forschungsüberblick
41
Ein ähnliches Schicksal teilt Johannes der Täufer, der neben den Berichten in den Evangelien und der Apostelgeschichte auch bei Josephus positive Erwähnung findet. Johannes predigt am Jordan und tauft dort Menschen als Zeichen der Buße (Lk 3,3: κηρύσσων βάπτισμα μετανοίας εἰς ἄφεσιν ἁμαρτιῶν). Er predigt dabei laut den Evangelien187 das nahende Gericht Gottes und fordert seine Zuhörer auf, die letzte kurze Zeitspanne bis zum Gericht durch Buße und gute Taten zu nutzen. Er sammelt dabei eine Schülerschaft,188 der möglichwerweise auch Jesus angehörte.189 Nach der Gefangennahme des Täufers durch Herodes und seiner Hinrichtung, wahrscheinlich aufgrund seiner Kritik an dessen Ehe (vgl. Mk 6,17f.), beginnt das eigenständige Wirken Jesu. Er übernimmt die Gerichtspredigt des Johannes, nutzt aber nicht die Wüste als Standort, sondern zieht vor allem durch die galiläischen Dörfer und verkündet dort das nahe herbeigekommene Reich Gottes. Die Evangelien stellen die Jesusbewegung als charismatische Bewegung dar: „Wir stoßen auf die dafür typische ‚Szenerie‘ mit ihren typischen Akteuren: die absolute Zentralfigur eines prophetischen Führers, Jesus von Nazareth, der, assistiert von einer charismatischen Jüngergruppe, in Palästina umherzieht, mit persönlich-autoritativem Gehorsamsanspruch eine innovatorisch-revolutionäre Botschaft propagiert und soziale Unterstützung mobilisiert; komplementär einige sporadische oder seßhafte Anhänger mit Versorgungsstützpunkten für die mobile charismatische Gruppe; herbeiströmende, wechselnde Menschenmassen von Zuhörer und Hilfesuchenden und schließlich eskalierende, in der physischen Vernichtung des Jesus endende Konfliktszenen mit Vertretern der Interessen der bestehenden Gesellschafts-, genauer gesagt, Macht- und Herrschaftsordnungen.“190 Das Wirken Jesu passt gut auf die Charismabeschreibung Webers. Jesus – nach der Darstellung der Evangelien – hat besondere Kräfte, die ihm durch die große Nähe zu Gott ermöglichen, Wunder zu wirken: Heilungen, Exorzismen und sogar die Wiederbelebung von Toten (Lk 7; Joh 11) werden von ihm berichtet. Gleichzeitig sammelt er eine Gruppe von Schülern um sich, denen er eine beson-
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190
besonders für die „Sozialbanditen“ (vgl. E. Stegemann: Stellung, 242), die sich zumindest zum Teil über Raub finanzierten. Josephus legt einen anderen Schwerpunkt: „Das Josephus-Zeugnis (Ant 18,116–119) betont hingegen die Rolle des Täufers als Tugendlehrer und nimmt so das Handeln der Adressaten als entscheidenden Aspekt in den Blick ausdrücklich zu Ungunsten der Taufe als Akt zur Sündenvergebung“, Labahn: Erinnerung, 344 (Fn 28). In Lk 3 wird zwar berichtet, dass Johannes die Getauften mit ethischen Anweisungen wieder nach Hause schickt, aber die Darstellung im Johannesevangelium und das Auftreten von „Johannesjüngern“ weit nach seinem Tod in Apg 19 weisen auf eine Schülerschaft. Vgl. dazu auch die Ausführungen bei Stegemann/Stegemann: Sozialgeschichte, 153. So die Mehrheit der Exegeten (vgl. die Darstellung bei Theißen/Merz: Jesus, 184–198). Skeptisch hingegen Strecker: Taufpraxis, 349f. Ebertz: Charisma, 53.
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2 Ritualtheorien
dere Vollmacht weitergibt. Er sendet sie aus zu predigen (Mk 6,7–13par). Der Erfolg bei seinen Wundertaten gibt ihm Recht, auch wenn er immer wieder angezweifelt wird und sich auch einige von ihm abwenden (vgl. Joh 6,60ff.). Weber schreibt: „Erkennen diejenigen, an die er [der Charismatiker, DK] sich gesandt fühlt, seine Sendung nicht an, so bricht sein Anspruch zusammen.“191 Dies wird auch in den Texten deutlich: So ist der Glaube derjenigen, die geheilt werden wollen, Bedingung für die Wundertat.192 Die Kreuzigung hätte den charismatischen Anspruch Jesu wie bei den anderen charismatischen Gestalten seiner Zeit beenden müssen – die Betrübnis darüber spiegelt sich z. B. in der Emmausgeschichte (Lk 24,13–35) – aber seine von den Jüngern durch Erscheinungen erlebte Auferstehung wurde von diesen als nicht zu überbietender Erweis seiner Vollmacht gedeutet. Die Erscheinungen Jesu (vgl. nur die großen Zahlen der Auferstehungszeugen in 1Kor 15) wurden als Gottes Bestätigung des Wirkens Jesu verstanden und ließen sein „irdisches“ Handeln in einem neuen Licht erscheinen, das theologisch gedeutet werden musste.193 Nach dieser kurzen Darstellung Jesu als Charismatiker bleibt die Frage, wie das Verhältnis dieser zu Institutionen und Ordnung (und damit zu Ritualen) zu bewerten ist, die sich durch Ritualität in der sozialen Wirklichkeit und gespiegelt in den Texten des NT zeigt. So schreibt John Schütz: „Der Charismatiker steht in jeder Beziehung außerhalb der Bindung durch rationale oder bürokratische Strukturen. Er lebt von den Gaben und der Hilfe Anderer, von fast allen, außer den üblichen Methoden, Geld und Eigentum zu erwerben. Da die Natur seiner Fähigkeiten einer anderen Welt angehört, wendet er sich unausweichlich von dieser Welt ab. Er ist frei von den weltlichen Bindungen und von den Pflichten, die Arbeit und Familie mit sich bringen.“194 Reinhard Bendix steigert das noch: „Charisma in diesem Verstande ist das Antiinstitutionelle schlechthin: ein heilsaristokratischer Totalitätsanspruch der außeralltäglichen Existenz, der von keiner Anpassung an menschliche Erfahrung und institutionelle Regelung etwas wissen will.“195 Sieht man sich die Beschreibung des Wirkens Jesu im Lukasevangelium genauer an, kommen Zweifel an dieser radikalen These. Der Evangelist legt großen Wert darauf, dass sowohl bei Johannes als auch bei Jesus alles nach den Regeln
191 192
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194 195
Weber: Wirtschaft, 179. Wird Jesus nicht anerkannt, gibt es also keinen Glauben an seine Vollmacht, wie z. B. in seiner Heimatstadt Nazareth, kann Jesus nichts (Mk 6,6) oder nur wenige Zeichen (Mt 13,58) tun. Laut Schnelle: 100 Jahre, 100–104, entwickeln die ersten Gemeinden nach der Begegnung mit dem Auferstandenen sehr schnell eine Christologie, bei der sie „bereits an Jesu vorösterlichen Anspruch anknüpfen [konnten]“ (100). Schütz: Charisma, 235. Bendix: Umbildungen, 409.
2.3 Forschungsüberblick
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der Tora geschieht: Beschneidung und Reinigung der Mütter inkl. der vorgeschriebenen Opfer werden erwähnt. Johannes’ Geburt wird sogar im Tempel während eines Opfers angekündigt, sein Vater ist Priester. Auch später bewegt sich die Familie Jesu in der lukanischen Darstellung innerhalb der religiösen Ordnung ihrer Zeit: So nehmen sie nach Lk 2,41 regelmäßig an der Wallfahrt zum Passafest nach Jerusalem teil und Jesus geht regelmäßig (Lk 4,16: κατὰ τὸ εἰωθὸς αὐτῷ) in den Synagogengottesdienst. Während die Ankündigungen der Empfängnis und die Geburten von Johannes und Jesus sich ähneln, geht die lukanische Beschreibung ihres Wirkens als Erwachsene auseinander: Johannes verlässt seine familiäre Rolle und wirkt nicht als Priester am Tempel, sondern geht an den Jordan in die Wüste und predigt – wohl aufgrund einer Gotteserfahrung (Lk 3,2) – dort den Menschen. Er entzieht sich also der Institution des Tempels und schafft mit der Taufe ein eigenes Ritual,196 das in Konkurrenz zum Tempel steht.197 Er stellt sich also explizit antiinstitutionell auf und lässt sich sinnvoll im Sinne von Bendix und Schütz als Charismatiker beschreiben. Jesus hingegen lässt sich zwar von Johannes taufen und zieht sich daraufhin in die Wüste zurück, sein öffentliches Wirken beginnt aber nach Lk 4,14f. und besonders in der „Antrittspredigt in Nazareth“ Lk 4,16–30 gerade nicht in der Wüste oder am Jordan. Explizit wird dort beschrieben, dass Jesus seine Predigttätigkeit nicht außerhalb, sondern innerhalb der religiösen Ordnung beginnt: Er begibt sich nach seiner Gewohnheit am Sabbat in die Synagoge und legt dort die ihm vorgegebene Stelle aus dem Propheten Jesaja aus.198 Auch im weiteren Ver-
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Die Taufe des Johannes, das Untertauchen zur Reinigung im Judentum und die Reinigungsbäder der Essener weisen Parallelen und Unterschiede auf. Hervorzuheben ist sicherlich die Einmaligkeit der Johannestaufe, die nicht rituelle Reinheit (also die Ermöglichung der Teilnahme am Tempelgottesdienst), sondern Sündlosigkeit (Lk 3,3: Taufe der Buße zur Vergebung der Sünden) in den Mittelpunkt stellt. Eine Aufstellung der Parallelen und Unterschiede zwischen den verschiedenen Taufen findet sich bei Barth: Taufe, 9– 39 und Matthes: Taufe, 300–322. Horn: Taufe, 212: „Nach meiner Einschätzung steht die Taufe des Johannes in sachlicher Konkurrenz zu der am Jerusalemer Tempel angebotenen Sündenvergebung durch den Kult.“ Besonders im Lukasevangelium wird deutlich, dass der Priestersohn Johannes seine Taufe durchaus als Alternative zum Tempelgottesdienst versteht: Neben der räumlichen Differenz, er könnte ja schließlich wie sein Vater im Tempel in Jerusalem wirken, beschäftigt er sich gar nicht mit der Frage nach ritueller Reinheit, die für die Teilnahme am Tempelgottesdienst Bedingung ist. Auf seine harte Gerichtsandrohung, die die alleinige Rückführung auf die Verbundenheit mit Abraham als unzureichend erklärt, fragt ihn die Menge, die Zöllner und die Soldaten, was sie tun sollen: Johannes’ Antwort ist allein ethisch begründet, er fordert sie gerade nicht auf, bei Opferungen am Tempel zu partizipieren. Anders: Wick: Gottesdienste, 164 in Anlehnung an Stegemann/Stegemann: Sozialgeschichte, 153. Vgl. Kapitel 3.4 dieser Arbeit.
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2 Ritualtheorien
lauf predigt Jesus immer wieder in Synagogen und hält auch sonst keinen Abstand zu institutionell geregelten Bereichen des Lebens, wie seine Besuche bei Pharisäermählern zeigen.199 Auch die Jesusbewegung behält diesen Bezug bei: Nach der Himmelfahrt Jesu gehen die Jünger in den Tempel und loben dort Gott (Lk 24,53; vgl. Apg 3,1; 5,12). Die Jesusbewegung wird also im Lukasevangelium als nahe an den jüdischen Institutionen dargestellt, auch wenn natürlich Kritik an diesen eine Rolle spielt. Ebenso wird die Loslösung Jesu von seiner Familie berichtet (Lk 2,46–52; 8,19–21), nach Ostern aber teilweise aufgehoben (Apg 1,14).200 Peter Wick schreibt: „Eine charismatische Bewegung kann, sogar wenn sie radikal antiinstitutionell ist, nur so lange überleben, wie sie von den wirtschaftlichen, politischen und religiösen Institutionen abhängig bleibt. Löst sie sich ganz von diesen, wird sie sich entweder auflösen oder in strukturell stabile Gebilde transformieren müssen.“201 Charismatische Bewegungen brauchen nicht nur aufgrund ihrer ökonomischen Abhängigkeit, sondern auch als ideelen Gegenpunkt, Institutionen. Der lukanische Jesus nutzt diese Institutionen immer wieder, um seine Botschaft bekannt zu machen. Sie bieten ihm Anlass für Predigt und Wunder. Die Erzählung des Lukasevangeliums macht damit deutlich, dass Jesus nicht nur Teil seiner rituellen Umwelt ist, sondern nur richtig verstanden werden kann, wenn sein freier charismatischer Umgang mit Ritualen in den Blick genommen wird. Der Autor des dritten Evangeliums verweist in seinem Vorwort explizit darauf, in richtiger Reihenfolge zu berichten (πᾶσιν ἀκριβῶς καθεξῆς σοι γράψαι). Dies hat nicht nur eine zeitliche Dimension (in Sinne von: in richtiger Reihenfolge), sondern auch eine theologische: Jesus und die Jünger, die er sammelt und aussendet (Lk 9,1–6; 10,1–12; 24,47–49; Apg 1,6–8), sind nicht chaotisch, sondern wirken innerhalb der gesellschaftlichen, religiösen und rituellen Ordnung ohne sich von dieser abhängig zu machen. Auf den ersten Blick harmoniert dies nicht gut mit einer Vorstellung von Jesus als Charismatiker im Sinne Webers, doch haben mehrere Theoretiker auf die sinnvolle Verknüpfung von Charisma und Ordnung hingewiesen.202 So schreibt Edward Shils: „Charisma not only disrupts social order, it also maintains or conserves it.“203 Shils betont in seinem Aufsatz die Notwendigkeit von Institutionen – mithin also auch von Ritualen – für den Charismatiker. Diese erfüllen damit, obwohl sie vom Selbstverständnis häufig 199
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Vergleicht man dies mit der Darstellung des Täufers (z. B. in Lk 7) wird auch hier der Unterschied klar: Johannes hätte wohl kaum eine Einladung in einen pharisäischen Haushalt angenommen. So auch E. Stegemann: Stellung, 243: „Aber insgesamt transzendiert die Distanz zu diesen Institutionen nicht deren Rahmen. Tempel, Synagoge und Haus behalten selbstverständlich ihren grundlegenden und verbindlichen Charakter, normiert durch die Tora.“ Wick: Gottesdienste, 166. Vgl. z. B. Gebhardt: Charisma und Ordnung, 47–70 mit weiterer Literatur. Shils: Charisma, 200.
2.3 Forschungsüberblick
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außerhalb der Gesellschaft stehen, für die Gesellschaft eine bestimmte Funktion: Sie ermöglichen ein Gegenüber, eine Infragestellung der vorhandenen Ordnung und bieten so Lösungsmöglichkeiten an: „The solution lies in the construction or discover of order. The need for order and the fascination of disorder persists, and the charismatic propensity is a function of the need for order.“204 Charismatiker verfügen nach diesem Verständnis über einen engen Bezug zu einer großen Macht („great power“), die zwar den charismatisch wirkenden Menschen zu außergewöhnlichen Dingen befähigt, aber auch für die (natürliche wie gesellschaftliche) Ordnung einsteht: „Why does great power as such arouse man’s propensity to attribute intense, concentrated charismatic qualities to persons or attenuated and dispersed charisma to collectivities, roles and classes to persons? Great power announces itself by its power over order; it discovers order, creates order, maintains it, or destroys it. Power is indeed the central, order related event.“205 Ein Charismatiker ist somit keine gänzlich von Ordnung unabhängige Person. Sie bezieht sich auf gesellschaftliche und religiöse Ordnung und wirkt auf diese zurück. So lässt sich als Ergebnis festhalten: „Als Resultat dieser Untersuchung stellt sich heraus, daß ein entscheidender Aspekt der charismatischen Persönlichkeit oder Gruppe nicht nur der Besitz irgendwelcher ungewöhnlich begeisternder Fähigkeiten ist, sondern auch das Vermögen, mittels dieser Fähigkeiten sowohl die symbolische und die kognitive Ordnung, die potentiell solchen Orientierungen und Zielen inhärent sind, wie auch die institutionelle Ordnung, in der sich diese Einstellungen verkörpern neu zu ordnen und zu strukturieren; und daß dieser Veralltäglichungsprozess des Charisma sich um die Fähigkeit konzentriert die Neuordnung dieser beiden Bereiche des menschlichen Daseins und des gesellschaftlichen Lebens in Einklang zu bringen.“206 Für meine Untersuchung lässt sich nun folgendes Fazit in Bezug auf Charisma und Charismatiker ziehen: Jesus von Nazareth lässt sich im Sinne Webers als Charismatiker beschreiben, der, genauso wie mehrere seiner Zeitgenossen im 1. Jh., eine Gruppe um sich schart und verstärkt durch große Taten eine Botschaft verkündet. Dabei steht er in einem engen Verhältnis zu Johannes dem Täufer, der ebenfalls als Charismatiker beschrieben werden kann. Besonders das Lukasevangelium betont die Parallelität und Aufeinanderbezogenheit der beiden Charaktere. Der Evangelist unterscheidet beide aber in Bezug auf die Stellung zur Ordnung: Während der Täufer als Priestersohn außerhalb des Tempels (und in Konkurrenz zu diesem) agiert, startet Jesus seine Lehr- und Wundertätigkeit innerhalb der religiösen Institution der Synagoge. Er meidet auch nicht
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Shils: Charisma, 203. Shils: Charisma, 205. Eisenstadt: Max Weber, xxxviii.
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2 Ritualtheorien
Jerusalem oder den Tempel, sondern sucht diesen am Ende seines Wirkens auf und nutzt die besondere Lokalität als Predigt- und Wirkungsort.207 Aus Sicht der Charismaforschung passen beide Lebenswege in die Logik eines Charismatikers, der auf die gesellschaftliche und religiöse Ordnung angewiesen und rückgekoppelt ist. Dies zeigt sich besonders an der Nutzung ritueller Elemente (Taufe als rituelle Waschung; Predigt und Wirkung in Synagogen und bei Gastmählern), die im exegetischen Teil dieser Arbeit ausführlich untersucht werden. Bei genauer Analyse dieser rituellen Handlungen wird sich zeigen, dass der lukanische Jesus sich zwar in die rituelle Welt seiner Zeit aus Sicht des Evangelisten eingliedert, also nicht unabhängig von Ritualen agiert, diese aber neu konstituiert: Jesus wagt es als Charismatiker unerhört Neues zu sagen und zu tun und nutzt dafür den rituellen Rahmen des Judentums seiner Zeit. Dies wird durch die Zuhörer nicht selten negativ aufgenommen: Die Einwohner Nazareths vertreiben ihn, als er bei einem Synagogengottesdienst seine Geistbefähigung verkündet (4,16–30), die Pharisäer belauern ihn, nachdem er bei einem Mahl in ihrem Haus ihnen Heuchelei vorwirft und sich selbst den Schlüssel zur Erkenntnis zuspricht (Lk 11,52; 14,1). Die Hohepriester und Schriftgelehrten fragen nach seiner Vollmacht, nachdem er den Vorhof des Tempels von den Händlern gereinigt hat (Lk 20,1–8). Die beobachtbare Spannung zwischen der Darstellung Jesu innerhalb und doch außerhalb der Rituale soll sich als Grundlage für die Einzelexegese in Kapitel 3 erweisen. Dabei ist natürlich die Gesamtkonzeption des lukanischen Doppelwerkes nicht außer Acht zu lassen. Lukas macht in seiner zweibändigen Erzählungen an vielen Stellen deutlich, dass trotz der charismatischen Befähigung Jesu die eigentliche Initiative und Vollmacht von Gott als deus semper maior ausgeht. Dementsprechend lässt sich das besondere Charisma Jesu, dass sich in seiner Agency (vgl. 2.4.1) zeigt, als notwendige Bedingung für das Wirken Gottes in Jesus im lukanischen Sinne verstehen.208
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So findet bei Lukas die Endzeitrede Jesu im Tempel statt (Lk 21,5ff.), während Mk 13 sie auf dem Ölberg lokalisiert. Dies wird an einigen Stellen deutlich: So steht Gottes Wirken hinter den Taten des Elia bzw. Elisa, die Jesus als Beispiel für sein Wirken in 4,25–27 dienen und so ist es Gott, der in enger Verbindung mit Jesus beim „großen Abendmahl“ der Einladende (14,24). Konsequenterweise ist es dann auch Gott, der von den Jüngern im Tempel gelobt wird (Lk 24,53; Apg 2,46f.; 3,9).
2.4 Neue Wege im 21. Jahrhundert
2.4
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Neue Wege im 21. Jahrhundert
Nachdem seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts immer wieder versucht worden war, eine umfassende Ritualtheorie zu entwerfen, die alle Aspekte dieses vielschichtigen Themas begreifbar machen sollte,209 wurde in den letzten zwei Jahrzehnten davon mehrheitlich Abstand genommen.210 Es erwies sich als nicht möglich, alle Verstehenshorizonte von Ritualen in den verschiedenen Religionen, Kulturen und Gesellschaften innerhalb einer einzigen Theorie abzubilden.211 Schon bei der genauen Definition des Begriffes Ritual konnte keine Einigkeit erzielt werden. Ähnlich wie bei der religionswissenschaftlichen Diskussion um den Begriff ‚Religion‘, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts geführt wird, kam die Frage auf, inwiefern Begriffskonzepte zum Ritual hauptsächlich aus westlichchristlicher Perspektive gebildet wurden. Eine weltweite Anwendung musste demnach scheitern. Nichtsdestotrotz wird am Ritualbegriff weiter geforscht, wenn auch aufgrund der dargelegten Problematik auf große Theorieentwürfe weitgehend verzichtet wird und „it is more helpful to take a pragmatic approach, focusing on the partial constitutive elements of the phenomena covered under the academic concept of ‘ritual’, in particular on their respective psychological and social foundations and functions.“212 Diese neue Arbeitsweise der kleinteiligeren Untersuchung führt zu dem Problem der Unübersichtlichkeit der Ansätze. Als Beispiel können die schon erwähnten Sammelbände zu Ritual und Ritualdynamik213 mit 27 Einzelbegriffen und Theorizing Rituals214 mit 32 Einzelbegriffen stehen. Eine Übersicht über alle
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Theißen bewertet die „großen Ritualtheorien […], die einzelne Motive zum Schlüssel für das Verständnis der Rituale als Ganzes machen“ als überholt. Er fügt hinzu: „Erkenntnisfortschritte lassen sich aber auch mit Theorien mittlerer Reichweite und begrenzten Modellen erzielen“ (Theißen: Veränderungspräsenz, 20 [Fn 28]). Dementsprechend will Theißen auch nicht das Ritual an sich deuten, sondern Taufe und Abendmahl als urchristliche Sakramente versuchen auszulegen und zu aktualisieren. Neuere monographische Ansätze sind eher deskriptiv, vgl. Dücker: Rituale und StollbergRilinger: Rituale. Gleichzeitig ist die aktuelle Ritualforschung „durch das Aufkommen größerer thematischer, multidisziplinärer, gemeinschaftlicher Projekte“ geprägt, wie z. B. der schon genannte Sonderforschungsbereich 619 zur Ritualdynamik in Heidelberg (Post: Erbe, 145). Kaše: Meal Practices, 411. Zu den historischen Grenzen der umfangreichen älteren Ritualtheorien vgl. den Sammelband von Büttner/Schmidt/Töbelmann (Hg.): Grenzen des Rituals, und die dort angegebene weiterführende Literatur. Christiane Brosius u. a. (Hg.): Ritual und Ritualdynamik, Göttingen 2013. Jens Kreinath u. a. (Hg.): Theorizing Rituals, Leiden u. a. 2006. Vgl. dazu auch die Darstellung bei Post: Erbe, 151ff.
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2 Ritualtheorien
diese Forschungsbereiche zu geben, ist daher nicht zielführend. Da die ritualtheoretischen Überlegungen in dieser Arbeit die Auslegung ausgewählter Texte des Lukasevangeliums neu beleuchten sollen, wird hier eine Auswahl an theoretischen Ansätzen wiedergegeben, die für die neutestamentliche Exegese gewinnbringend anzuwenden sind.215
2.4.1 Agency Der englische Begriff Agency ist nicht eindeutig in einen deutschen Begriff übersetzbar. Meist wird er mit Handlungsmacht oder Handlungspotenz wiedergegeben. In den soziologischen Diskursen wird Agency häufig als die Fähigkeit von einzelnen Menschen oder Gruppen verstanden, sich gegen bestehende Widerstände durchzusetzen. In Bezug auf Rituale kann man Agency aber auch unpersönlich verstehen. William Sax schlägt folgende Definition vor: „Agency ist die Fähigkeit, Veränderungen in der Welt zu bewirken/herbeizuführen (materiell und sozial).“216 Dies trifft sicherlich auf Rituale zu, die für die Transformation von Personen oder Gegenständen in einen anderen Zustand – man denke an v. Genneps Übergangsriten – benutzt werden. Agency „umfasst eben mehr als nur das Moment individueller Handlungsfreiheit und Handlungsmacht, der Terminus inkludiert zumal auch die Bedeutung ‚Handlungspotential‘. Zudem lässt er sich mit ‚Handlungsinitiative‘ übersetzen.“217 Dabei kommt die Frage auf, an welcher Stelle Agency bei einem Ritual zu verorten ist. Muss auf die Ebene der Handlungen oder auf die sozialen Interaktionen zwischen zwei Ritualteilnehmern geblickt werden? Oder muss nicht eher der hinter einem Ritual stehenden Gottheit oder sakralen Macht (zumindest aus der Sicht der Akteure) die eigentliche Agency zugerechnet werden? Schon Durkheim stellte Überlegungen zur Agency von Ritualen an und verortete sie in der Gesellschaft, ohne genauer auf diesen Zusammenhang einzugehen.218 Neuere Ansätze untersuchen stärker die Performativität von Ritualen und deren soziale Effekte: „Dieser Ansatz erkennt, dass Rituale oftmals auf konkrete Ziele ausgerichtet sind und folglich eine ‚agentive‘ Dimension besitzen. Viel mehr noch bestätigt er die durkheimsche Erkenntnis, dass Ritual eine sowohl Zuschauer als auch Darsteller integrierende kollektive Aktivität ist, sodass Ritual-Agency auch als kollektives und soziales, also nicht nur als individuelles Phänomen betrachtet werden muss.“219
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216 217 218 219
Hiermit ist natürlich nicht der Anspruch auf Vollständigkeit erhoben. Für andere Fragestellungen müssen weitere Theorien und Ansätze betrachtet werden. Sax: Agency (2013), 31, vgl. ders.: Agency (2006), 473f. Strecker: Taufpraxis, 384. Vgl. Sax: Agency (2013), 26. Sax: Agency (2013), 27.
2.4 Neue Wege im 21. Jahrhundert
49
Diese „agentive Dimension“ zeigt auf, dass nicht nur die einzelnen Akteure des Rituals und deren Zuschauer eine Agency besitzen können, sondern auch die „Agenten“. Sax schlägt vor, Agent viel weiter als Akteur zu definieren, sodass dies auch unpersönliche Wirkpotenziale mit einbeziehen kann. „Ritual-Akteure (wie auch soziale Akteure allgemein) sind spezielle, bewusste, verkörperte und intentionale Wesen, während Ritual-Agenten (wie soziale Agenten allgemein) sowohl nicht menschlich als auch menschlich sein können, komplex oder individuell. Aktionen werden demnach von bestimmten sozialen Akteuren durchgeführt, wohingegen Agency in Netzwerken verteilt ist.“220 Hierbei sind alle beteiligten Personen, Institutionen und auch das Ritual selbst Agent und tragen so zur Agency bei. Beim Beispiel der Taufe ist die durchführende Pfarrperson ebenso Agent, wie der Täufling und dessen Eltern, aber auch die Kirche als Institution, die für die Korrektheit des Taufvorgangs einsteht.221 Sie alle tragen in diesem „agentiven Netzwerk“ (Sax) dazu bei, dass das Ritual als wirkmächtig verstanden werden kann. Folglich sind Rituale Ereignisse, „in denen die auf andere Personen, Beziehungen und soziale Einrichtungen verteilte Agency artikuliert und manifestiert wird.“222 Zusammenfassend lässt sich sagen: Agency als ritualtheoretischer Begriff ermöglicht es, einen genauen Blick auf die Wirkungsmacht eines Rituals zu werfen. Dabei muss nicht allein der handelnde Akteur im Mittelpunkt stehen, denn auch Institutionen, Gegenstände, Zuschauer oder sakrale Mächte können als Agent wirken und Einfluss auf das Ritualgeschehen und dessen Wirksamkeit nehmen. Für den exegetischen Teil meiner Arbeit lassen sich die Begrenzungen, die schon bei den Ritualtheorien von Laidlaw/Humphrey sowie Bergesen aufgestellt worden sind, beibehalten: Die zu untersuchenden Texte des Lukasevangeliums beschreiben nicht akkurat Ereignisse aus dem Leben Jesu und bieten auch kein Protokoll historischer Handlungen, sondern müssen als theologische Geschichte interpretiert werden, die vom Evangelisten planvoll aus seinen Quellen und seiner Theologie gewonnen wird. Dementsprechend muss der Text als theologische Erzählung untersucht werden, wobei Jesus als Protagonist den größten Raum
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Ebd. So auch Dücker: Rituale, 63: „Geht es zum Beispiel um das Heiratsritual, so können die jeweiligen Regelungen der Eheschließung, der Standesbeamte bzw. der Priester oder Häuptling und die Brautleute die Subjektfunktion für sich beanspruchen, weil alle drei an der Wirkung (Vollzug und Gültigkeit der Eheschließung) teilhaben, während als Subjekt der Wirksamkeit allein die Eheleute in Frage kommen. Im antiken Opferritual liegt zumindest vorübergehend die Agency beim Opfertier: Ist dieses trotz mehrfachen Besprengens mit Wasser nicht zur Bewegung des Kopfes zu veranlassen, kann das Ritual nicht stattfinden. Je nach der Perspektive, aus welcher die rituelle Performanz betrachtet wird, scheint das Subjektmodul eine mono- oder multithetische Struktur aufzuweisen.“ Sax: Agency (2013) 28.
50
2 Ritualtheorien
einnimmt. Es soll daher analysiert werden, ob die Handlungsvollmacht223 Jesu durch den ritualwissenschaftlichen Begriff der Agency sinnvoll beschrieben werden kann und was die in den Texten erzählte rituelle Wirksamkeit der jesuanischen Handlungen ermöglicht. Hierbei bieten sich Texte an, die die besondere Wirksamkeit Jesu und die Reaktionen anderer auf diese in den Mittelpunkt stellen: Lk 7,36–50 und 14,1–24. Auch wird zu fragen sein, inwiefern der Evangelist von einer Weitergabe der Agency Jesu auf seine Jünger ausgeht und wie er diese darstellt. Dafür bieten sich diejenigen Texte an, die die Beziehung von Jesus zu seinen Jüngern in den Mittelpunkt stellen: Lk 22,7–20 und Lk 24,13–35.
2.4.2 Performanz Ausgehend von der Sprechakttheorie John Austins224 und Überlegungen Turners225 entwickelt sich in der Ritualforschung ein Blick auf Handlungsabläufe als Performanz. Von hier aus kommen zudem die vielfältigen Parallelen von Sprache und Ritual – bis hin zu Überlegungen einer Ritualgrammatik226 – in den Blick.227 Der Begriff Performanz geht auf Austin zurück und leitet sich von „to perform“ ab.228 Es bezeichnet den Umstand, dass mit Sprache Gegenstände und Vorgänge nicht nur beschrieben werden, sondern dass Sprache Veränderungen bewirken kann: Man kann mit Sprache etwas tun.229 Damit dies gelingen kann, müssen bestimmte soziale und institutionelle Bedingungen erfüllt sein: „Eine performative Äußerung wird in diesem Sinne nicht nur ausgeführt bzw. vollzogen
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Der Begriff ἐξουσία kann u. a. mit Handlungsvollmacht übersetzt werden und wird im Lukasevangelium z. B. für die Vollmacht Jesu, Sünden zu vergeben und zu heilen (5,24) bzw. zu lehren (4,32; 20,2.8) verwendet. Jesus gibt diese ἐξουσία an die Jünger, die er aussendet weiter (9,1; 10,19). Aber auch andere Personen oder Mächte können ἐξουσία haben, z. B. der Sklave im Gleichnis vom anvertrauten Geld (19,17) und die Finsternis (22,53). John Austin: Zur Theorie der Sprechakte, Stuttgart 1972 (Original: How to Do Things with Words, Oxford 1962). Dieses Buch basiert auf Vorlesungen Austins an der Universität Harvard seit 1955 und wurde erst posthum veröffentlicht. Vgl. zur Zusammenfassung auch Strecker: Performanzforschung, 357f. Vgl. Strecker: Taufpraxis, 381ff. und ders. Welten, 9–65. Vgl. Hellwig/Michaels: Ritualgrammatik, 144–150. Vgl. Walsdorf: Performanz, 85. Zum performative turn vgl. Stephenson: Action, 40ff. Der Begriff Performanz/performance hat sowohl im Deutschen als auch im Englischen unterschiedliche Bedeutungen: „The first connotation is invoked, when we speak of ritual performance; the second, when we talk about theatrical performance; and the third, when we refer to athletic performance“ (Grimes: Performance, 381). Alle drei hier genannten Konnotationen können im antiken Kontext ineinanderfließen. Vgl. ebd. und den Buchtitel Austins: How to do Things with Words.
2.4 Neue Wege im 21. Jahrhundert
51
(performative), sondern zugleich als sozialer Akt in der Gemeinschaft der Anwesenden aufgeführt (performance). Er kann dabei glücken oder missglücken – entscheidend ist, dass die Rollenverteilung stimmt, dass die ‚richtige‘, nämlich eine autorisierte Person (z. B. ein Priester oder ein Standesbeamter) den Sprechakt vollzieht.“230 Seit den 1990er Jahren wird in den Kulturwissenschaften, besonders in der Theaterwissenschaft, die Performanz der zu untersuchenden Gegenstände in den Blick genommen. Hierbei tritt die Parallele von Ritual und Theater in den Vordergrund. Beide sind ohne Performanz nicht denkbar. So schreibt Stanley Tambiah, der eine umfassende Ritual-als-Performance-Theorie231 entworfen hat: „Rituelle Handlungen sind auf drei Arten performativ: erstens im Sinne von Austin, wonach etwas zu sagen gleichzeitig auch etwas tun (als konventionelle Handlung) bedeutet; zweitens in dem davon völlig verschiedenen Sinn einer dramatischen Performance, in der die Teilnehmer verschiedene Medien benutzen und das Ereignis intensiv erfahren; und schließlich in einer dritten Bedeutung im Sinne eines indexikalen Wertes232 (der Begriff stammt von Peirce), den die Akteure während der Performance dieser zuschreiben und aus ihr ableiten.“233 Wenn man die Performativität der Rituale im zweiten Sinne versteht,234 kann bei einem Ritual auch von einer Aufführung gesprochen werden. Entgegen der allgemeinen Vorstellung ist eine Aufführung in diesem Sinne – und im Verständnis der Theaterwissenschaft235 – keine beliebige Handlung. Zwar ist die Aufführung und damit das Ritual prinzipiell wiederholbar, allerdings gleichen sie sich nie exakt, obwohl man denken könnte, dass durch die Vorgegebenheit der einzelnen Handlungen eine exakte Kopie möglich wäre.236 Denn Rituale, als Aufführungen verstanden, sind Ereignisse, die wie alle Ereignisse nur als flüchtig 230 231 232
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235
236
Walsdorf: Performanz, 85 (kursiv dort) gibt hier zusammenfassend Austin wieder. Vgl. dazu ausführlich Tambiah: Theorie, 223–246. Ein Index im Sinne der Überlegungen zu Semiotik von Charles Sanders Peirce wird von einem Symbol und einem Ikon insofern unterschieden, als dass von dem indexikalen Zeichen direkt auf seinen innerweltlichen Ursprung verwiesen wird: Wenn Menschen Rauch sehen, schließen sie sofort auf Feuer und handeln dementsprechend. Für Rituale heißt dies, dass die Akteure aus der Durchführung der Handlung direkt auf einen Ursprung bzw. auf eine durch die Rituale bedingte Veränderung in der Welt schließen und sich daraufhin entsprechend verhalten. Vgl. dazu die Darstellung von Pape: Peirce. Tambiah: Theorie, 214. Für Strecker (Performanzforschung, 360f.) gehört die Mehrdeutigkeit des Performanzbegriffs zu den Stärken dieses Ansatzes: „Von daher wäre es verfehlt, den Begriff der Performanz […] auf einen ganz konkreten Bedeutungskern zu reduzieren.“ Vgl. dazu die Ausführungen von Walsdorf: Performanz, 87 und den Artikel der Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte: Wie wir uns aufführen, 15–25 sowie den Abschnitt zu Performativität und Performanz bei Stollberg-Rilinger: Rituale, 37f. Von einem spannenden performativen Ansatz berichtet Post: Erbe, 149: In Wales versucht der Liturgiewissenschaftler John Harper durch „liturgical enactment“ mittelalterliche Rituale nachzuempfinden: „Auf Grundlage sorgfältig rekonstruierter Texte und Rubriken
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2 Ritualtheorien
beschrieben werden können: „Sie ereignen sich hic et nunc und werden im Augenblick ihres Geschehens wahrgenommen.“237 Sie existieren also nur im Vollzug der Handlungen selbst und können durch Beschreibungen und selbst durch Videoaufnahmen zwar wiedergegeben, aber nicht erneut durchgeführt werden.238 Mit der Performativität verbunden ist die Frage der Materialität,239 des Rau240 mes und der Körperlichkeit241 von Ritualen und Ritualteilnehmern: Ein Ritual ohne Körper ist kaum vorstellbar.242 Auch hier zeigt sich die Parallelität mit Aufführungen. Bei beiden erzeugen die Handlungen der Personen, ihre Bewegungen im Raum und ihr Umgang mit Gegenständen „eine bestimmte Qualität von Körperlichkeit.“243 Diese Qualität bleibt nicht ohne Effekt, sie wirkt zurück auf die anderen anwesenden Körper: „Kein Ablaufplan vermag diese Dimension von Performanz – Räumlichkeit, Körperlichkeit, Lautlichkeit – im Voraus festlegen, denn sie entstehen erst im Verlauf der Aufführung. Die dabei übermittelten Bedeutungen ergeben sich daher nicht etwa aus der Exekution von Präskripten, die dazu angetan sind, akkurat umgesetzt zu werden. Bedeutungen entstehen vielmehr erst im Hier und Jetzt der Aufführung, in der unmittelbaren Gegenwart der performativen Akte.“244 Nachdem bisher vor allem von den Gemeinsamkeiten von Ritualen und theatraler Aufführung gesprochen wurde, sollen nun die Unterschiede dargestellt werden. Der größte Unterschied ergibt sich wohl aus der Wirkung bzw. der Wirkabsicht beider Ereignisse: Rituale wollen etwas verändern, eine Situation
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ausgewählter liturgischer Feiern (Messen, Vespern, Wasserriten, Aufnahme von Pönitenten) will Harper »beyond« diesen Texten auf die Suche gehen nach der komplexen Erfahrung in diesen Feiern, die er in einem Zusammenspiel aus Musik, Raum und ritueller Handlung verbunden sieht.“ Walsdorf: Performanz, 87 (kursiv dort). Dahinter versteckt sich eine spannende Fragestellung, die innerhalb der Ritualforschung besonders mit dem Begriff Medialität verbunden ist: Warum ist eine Aufzeichnung eines Rituals (sei es in Text-, Bild-, oder Videoform), nicht gleichbedeutend mit der „eigentlichen“ Aufführung eines Rituals? Als historische Problemstellung ergibt sich daraus die Frage, wie Berichte von Ritualen mit den real durchgeführten Ritualen in Verbindung stehen, bzw. wie man von den Berichten, die ja eigene subjektive Beschreibungen enthalten, auf Handlungsvollzüge sinnvoll schließen kann. Vgl. zu Medialität: Brosius/Heidbrink: Medialität, 77–84; zur historischen Forschung Füssel: Geltungsgrenzen, 269–286. Hinzu kommt die liturgiewissenschaftliche Fragestellung, ob bzw. wie das Medium des (Live-)Videos als Ersatz für die körperlichen Anwesenheit während eines Gottesdienstes dienen könnte. Vgl. Meier: Ritualgegenstände, 135–143. Vgl. Adelmann/Wetzel: Ritualraum, 180–187. Vgl. Polit: Verkörperung, 215–221. Strecker: Taufpraxis, 386: „Letztlich kann keine Ritualanalyse an der Bedeutung des Körpers vorbeigehen, will sie nicht Wesentliches ignorieren.“ Walsdorf: Performanz, 87. Walsdorf: Performanz, 88 (mit Verweis auf Fischer-Lichte, Wie wir uns aufführen, 20).
2.4 Neue Wege im 21. Jahrhundert
53
oder einen Status anpassen, variieren oder verwerfen. Sie wirken direkt auf die Akteure und meist auch auf die Zuschauer. Bei einem Theaterstück verändern sich die Akteure – die Schauspieler – nicht; sie bleiben die gleichen wie vorher. Zwar wollen auch Theaterstücke lehrhaft oder ästhetisch auf die Zuschauer wirken, aber eine dauerhafte Veränderung ihres gesellschaftlichen Status können und wollen sie nicht erreichen.245 Neben der hier nicht weiter verfolgten Diskussion um neutestamentliche Performanzkritik246 leuchten Ansätze der Performanz im Kontext neutestamentlicher Textauslegung247 besonders den Faktor der Öffentlichkeit, der Körperlichkeit und des Veränderungspotentials von Ritualen aus. Nicht nur Jesus als eigentlicher Protagonist des Evangeliums, sondern auch die weiteren handelnden Personen sind Teil der rituellen Welt des Lukas. Bei den im Lukasevangelium beschriebenen Ritualen handelt es sich meist um öffentliche Handlungen, denn innerhalb der Erzählung wird das Handeln Jesu öffentlich beobachtet und bewertet. Zudem ist das Evangelium für eine Gemeindeöffentlichkeit bestimmt (mglw. personifiziert durch Theophilos, Lk 1,1–4; Apg 1,1f.248). Während letzteres besonders im Kontext des Ritualmachers (vgl. 2.4.4 und 4.6) wichtig ist, soll bei der Auslegung der Beispielperikopen hauptsächlich die in den Erzählungen dargestellte Öffentlichkeit und die durch Jesu rituelles Handeln ermöglichten Verän-
245 246
247
248
Vgl. Walsdorf: Performanz, 89f. Innerhalb der neutestamentlichen Exegese (grundlegende Monographie: Oestreich: Performanzkritik) wurde im Rahmen der Performanzkritik auf die vorwiegend mündliche Überlieferung von Glaubensinhalten verwiesen, vor allem im Kontext der Briefliteratur. Bei den Briefen spiele, so Oestreich, ähnlich wie bei einem Dialog, die Reaktion der Zuhörer eine wichtige Rolle. Mündlichkeit ist also der vorherrschende Modus der antiken Kommunikation (vgl. zum Folgenden die Zusammenfassung von Strecker: Performanzforschung, 362–370). Die schriftliche Fixierung durch Texte sei demgegenüber sekundär. Dies lasse sich sowohl an einzelnen Stellen der neutestamentlichen Schriften (z. B. die Aufforderung, den Brief vorlesen zu lassen in 1Thess 5,27 und Kol 4,16 oder die direkte Ansprache der Adressaten in Mk 13,14 und Mt 24,15) erkennen, als auch durch den „rhetorische[n] Aufbau der Briefe und die sorgfältige Komposition der Evangelien mittels rhetorischer Stilmittel“ auswerten. Wenn man diese Überlegungen akzeptiert, folgt daraus: „Die Bedeutung der neutestamentlichen Texte wird in der Performanzkritik nicht länger allein an den Texten selbst bzw. an der aus den Texten erhobenen Intention des jeweiligen Verfassers festgemacht, sie wird nun konsequent als Produkt jenes komplexen Interaktionsprozesses verstanden, der sich während der Vorführung zwischen performern und Publikum vollzog“ (Strecker: a. a. O., 366). Zur Kritik an der Performanzkritik vgl. Heilmann: Lesen. Die Habilitationsarbeit von Christian Strecker (Performative Welten) von 2002 ist der erste umfassende neutestamentliche Ansatz zur Performanzforschung. Vgl. seine aktualisierte Kurzfassung Strecker: Performanzforschung, 370–376. Zu den intendierten Lesern des Evangeliums vgl. Wolter: Lk, 22–26, 59, 67 und Schreiber: Lukas, 149: „Es ist heute weitgehend anerkannt, dass Lukas für christliche Gemeinden schrieb und als intendierte Leser typische Christus-Gemeinden seiner Zeit vor Augen hatte.“
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2 Ritualtheorien
derungen (Heilung, Sündenvergebung, Integration in Gemeinschaft usw.) untersucht werden. Zu fragen wird dabei sein, inwiefern öffentliche von nicht-öffentlichen Handlungen unterschieden werden können und welche Auswirkungen auf das Veränderungspotential sich daraus ergeben. Für die Frage nach der Performanz der dargestellten Handlungen Jesu ist zudem die Körperlichkeit wichtig, denn es „sollte nicht übersehen werden, dass die neutestamentlichen Texte, gerade was die Herkunft und die früheste Entwicklung des Christentums anbelangt, immer wieder auf Körpererfahrungen rekurrieren.“249 Wie verhält sich dies bei Texten, in denen die Körperlichkeit Jesu und weiterer Akteure im Mittelpunkt der Erzählung steht? In Lk 7,36–50 sind z. B. die rituellen Handlungen der Frau, die sie an Jesus vollzieht, betont körperlich und beim letzten Mahl mit seinen Jüngern spricht Jesus explizit von seinem Leib (22,19).250
2.4.3 Ritualdesign Während die in den oberen Kapiteln beschriebenen Begriffe Agency und Performanz schon sehr lange innerhalb der Ritualwissenschaft benutzt werden, ist der Begriff des Ritualdesigns251 als Kompositum wesentlich jünger und taucht erst seit dem Beginn der 1990er Jahre im Diskurs von Begriffen auf, die die Veränderung und Anpassung von Ritualen beschreiben und danach fragen, welche Personen oder Instanzen dazu berechtigt sind.252 Der Begriff ‚Ritualdesign‘ versucht zu beschreiben, wie Rituale neu gebildet werden, bzw. wie Veränderungen bei schon bestehenden Ritualen zu untersuchen sind. Allerdings ist eine genaue Definition des Begriffs Ritualdesign und seine Abgrenzung gegenüber ähnlichen Konzepten wie Ritualinvention253 schwierig. So möchte Don Handelman, statt Rituale allein über ihre Gesellschaftsfunktion zu definieren, das Design von öffentlichen Ereignissen („public events“) untersuchen. Dafür fragt er verstärkt danach, wie die Form eines als Ritual zu verstehenden öffentlichen Ereignisses auf die Akteure wirkt. „Wie Handelman254 feststellt, besitzen gerade ‚public events‘, die etwas verändern sollen, durch die Schaffung eines eigenen Mikrokosmos eine hohe Autonomie von der Umgebung, die sie hervorgebracht hat. Rituale sollten daher mit Blick auf deren ‚Designs‘
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Strecker: Macht, 140. Zur Deutung von Besessenheit als Performance vgl. Strecker: Jesus, 53–63. Vgl. den Sammelband Karolewski/Miczek/Zotter: Ritualdesign. Als Überblick eignet sich der einleitende Aufsatz der Herausgebenden: Ritualdesign – eine konzeptionelle Einführung, 7–28. Vgl. Matthes: Taufe, 28–32. Vgl. Stephenson: Ritualization, 18–37. Vgl. Handelman: Models, 27 und ders.: Designs, 209.
2.4 Neue Wege im 21. Jahrhundert
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zunächst an und für sich selbst, sozusagen das Ritual ‚in its own right‘, untersucht werden.255 Generell gesprochen, versteht Handelman unter Ritualdesign die innere Organisation der Formen und Abläufe entsprechender Ereignisse.“256 Einen anderen Ansatz und mithin auch eine andere Definition von Ritualdesign schlägt die Religionswissenschaftlerin Kerstin Radde-Antweiler vor. Ihr geht es vor allem um die Kombination schon vorgegebener Ritualelemente in ein neues Ritual: „Seperate elements of rituals are removed from their original context and in a new process – which I define as ‚Ritual Design’ – combined in different variations and moved into an new context.“257 Obwohl man hier von einer Neuschöpfung von Ritualen sprechen könnte, betonen Akteure eher das Gegenteil: Veränderungen und erweiterte Elemente werden meist als eine Rückkehr zum ursprünglichen Ritual oder eine Umgestaltung im eigentlichen Sinne des ursprünglichen Rituals verstanden.258 Das erklärt auch, warum der Begriff Ritualdesign in diesem Verständnis kaum aus dem Mund eines Akteurs kommen wird, sondern als Beschreibungskategorie von Ritualwissenschaftlern dient. Dabei ist zu beobachten, dass Ritualdesign häufig darin besteht, Handlungen, die der Alltagssphäre entstammen, zu ritualisieren: „The rites of religious traditions emerge in a process of building up, amplifying, stylizing paradigmatic gestures, acts, and utterances. Behind or within recognizable, formal rites are sets or strips of more ordinary behaviour upon which rites are built.“259 Dies trifft auch auf christliche Rituale wie das Abendmahl zu: „The heart of Eucharist liturgy is eatig bread and drinking wine – ordinary enough acts, made extraordinary.“260 Für Radde-Antweiler ist Ritualdesign ein „regulärer Vorgang, der im Zuge ritueller Transferprozesse auftritt.“261 Damit deutet sie an, dass ihre Beobachtungen nicht nur für aktuelle bzw. neuzeitliche Designvorgänge262 im Bereich des Rituellen zu konstatieren sind, sondern auch historisch von Ritualdesign zu 255 256
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Vgl. Handelman: Introduction. 3f. Ahn/Miczek/Zotter: Ritualdesign, 116. Offen bleibt beim Begriff Ritualdesign zudem, wie ‚Design‘ zu verstehen ist. Ahn schlägt hier in Anschluss an Zotter u. a. vor, Design entweder als „ein Muster oder eine Form“ oder die „Prozesse der Gestaltung […], die u. a. von ästhetischen, technischen, aber auch ökonomischen Faktoren beeinflusst sind“ zu verstehen. In der Praxis liegen beide Perspektiven allerdings eng beieinander, vgl. Ahn/Miczek/Zotter: Ritualdesign, 118, (kursiv dort). Radde-Antweiler: Rituals Online, 66 und Ahn: Topos, 33. Ein historisches Beispiel dafür könnte die Begräbniszeremonie Kaiser Konstantins sein, die der Kaiser anscheinend bewusst abänderte, indem er sich in Konstantinopel in einer Kirche beerdigen ließ, obwohl bisher die Verbrennung der sterblichen Überreste der Kaiser in Rom üblich gewesen war. Vgl. dazu Mattheis/Witschel: Transformation, 67–70. Stephenson: Ritualization, 33. Stephenson: Ritualization, 33. Ahn/Miczek/Zotter: Ritualdesign, 117. Radde-Antweilers Forschungen beziehen sich u. a. auf im Internet beobachtbare Vorgänge. Vgl. Radde-Antweiler: Rituals Online, 66f.
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2 Ritualtheorien
sprechen und dabei der Fokus auf die individuellen Akteure zu legen ist. Dabei stellt sich allerdings die Frage, welche Vorgänge überhaupt als Ritualdesign zu bewerten sind und welche Faktoren Grundlage einer solchen Bewertung sein könnten. „So plädiert etwa Gregor Ahn dafür, den Begriff Ritualdesign für heuristische Zwecke möglichst eng zu fassen, und versteht darunter ‚an intentionally conducted act of constructing new forms of well-esthablished rituals by using more or less common ritualistic components which might also stem from different traditions‘ (Ahn 2011b: 604). In einer Überarbeitung seiner Definition schärft (Ahn 2012) er das Kriterium der Intentionalität weiter und schlägt vor, ‚tatsächlich nur solche Fälle als Ritualdesign zu untersuchen, in denen die dezidiert geäußerte Intentionalität nachweisbar ist.‘“263 Über diesen alleinigen Fokus auf Intention hinaus geht Paul Töbelmann. Er spricht von vier Dimensionen, in denen sich Ritualdesign bewegt: Er nennt hier neben der (1) Intention, (2) die Frage nach den handelnden Akteuren und deren Handlungsmacht (Agency), (3) die Freiheiten bei der Umgestaltung der Rituale und (4) wie erfolgreich die Modifikationen sind.264 Für beide Definitionskonzepte lässt sich konstatieren, dass die Intention des Akteurs einen wichtigen Punkt bei der Frage nach Ritualdesign ausmacht. „Dieser Ansatz stößt allerdings an seine Grenzen, etwa bei der empirischen Erfassbarkeit des ihm zugrunde liegenden Kriteriums der Intentionalität.“265 Denn wie schon oben kurz angesprochen, beschreiben sich viele Akteure nicht als Ritualdesigner, die etwas Neues schaffen, sondern greifen aus ihrer Sicht eine ursprüngliche Handlung auf oder bringen die ursprüngliche Intention des Rituals wieder neu zur Geltung. Aus einer Außenperspektive wiederum lässt sich ihr Handeln durchaus als Ritualdesign verstehen.266 Diskutiert wird zudem, ob sich Überlegungen zu Ritualdesign auch auf – narrative – Texte anwenden lassen.267 „Deren vielfältiges Wirkungspotential verdankt sich paradoxerweise der Tatsache, dass Fiktionen und Ritualdesign in ihnen keinem unmittelbaren, praktischen Zweck dienen, anders etwa als ein für die säkulare Trauung in Auftrag gegebenes Ritualdesign.“268 Bei narrativ-fiktiven Medien denken Rupp/Brankovic/Pattathu zwar an „Romane, Dramentexte und 263
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So geben Ahn/Miczek/Zotter: Ritualdesign, 118 den Definitionsfortschritt von Gregor Ahn wieder. Das Zitat im Zitat stammt aus Ahn: Ritual Design – An Introduction, 604. Vgl. auch Ahn: Topos, 36f., wo er Ritualdesign von Begriffen wie Ritualtransformation, Ritualinnovation und Ritualinvention abgrenzt. Vgl. Töbelmann: Ritualdesign, 45–65. Ahn/Miczek/Zotter: Ritualdesign, 119. Ahn: Topos, 34f. bringt in diesem Zusammenhang die liturgischen Veränderungen, die auf das II. Vaticanum folgten, als Beispiel. Diese sind „nicht nur Ergebnis eines längeren Aushandlungsprozesses“, sondern beruhen „auch auf hochgradig reflektierter Intentionalität seitens der Konzilsväter“. Vgl. zum Folgenden: Rupp/Brankovic/Pattathu: Medienästhetik, 97–124. Zum Verhältnis von Ritualen und Narrativen vgl. Kapitel 2.4.6. Rupp/Brankovic/Pattathu: Medienästhetik, 97f.
2.4 Neue Wege im 21. Jahrhundert
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Filme“269, allerdings ähneln die narrativen Texte z. B. des Lukasevangeliums diesen insofern, da sie nicht nur eine Geschichte – einen Narrativ – erzählen, sondern sie i. d. R. nicht als explizite Ritualanleitung für die Leser gedacht sind bzw. sein müssen.270 Vielmehr bietet ein Autor wie Lukas theologische Geschichte,271 die als erzählende Literatur zu analysieren ist.272 Selbst ein Ritual wie das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern, das durch den Wiederholungsauftrag eine entsprechende Wirkung auf die lesende Gemeinde haben kann, ist schon innerhalb des Textes des Evangeliums nicht als historischer Tatsachenbericht zu verstehen: Der Autor, der ja kein Augenzeuge Jesu war (Lk 1,1–4), kann nicht bei dem letzten Mahl anwesend gewesen sein, wenn dort laut seiner Erzählung nur Jesus und die Zwölf dabei waren (22,14273). Der Erzähler hingegen, von Lukas geschaffen, kann das Berichtenswerte berichten und ist dabei nicht auf die „wirkliche“ bzw. „historische“ Anwesenheit angewiesen.274 Es gilt also: „Ritualdesign in narrativ-fiktionalen Medien ist durch eine gesteigerte Reflexivität gekennzeichnet, die der Alltagsenthobenheit und Entpragmatisierung fiktionaler Kommunikation zu verdanken ist.“275 Dies zeigt sich im Lukasevangelium: Der Evangelist verwendet große Mühe darauf, das narrativ beschriebene Geschehen und rituelle Wirken des Messias Jesus theologisch reflektiert darzustellen. Er verfasst keine Legende oder Kultätiologie, sondern kontextualisiert die Ritualität Jesu in der theologi-
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Rupp/Brankovic/Pattathu: Medienästhetik, 104f. Vgl. Frevel: Rituals, 129–150, der bei der Untersuchung von der in Num 5–6 beschriebenen Rituale das Verhältnis von „Textualized Rituals and Ritualized Texts“ (138) beschreibt. Der von mir gewählte Begriff „theologische Geschichte“ lässt bewusst die exakte Zuschreibung des dritten Evangeliums in das antike Genrespektrum offen: „The genius of Luke’s work is the synthesis of many different literary genres“ (Frein: Genre, 11). Frein betont dabei die doppelte Leseperspektive des Evangelisten: „The incorporation of so many different literary types suggests that he views his audience as diverse and cosmopolitan. Those whose ways of thinking were formed primarily by the First Testament would hear echoes of it in every passage. Those steeped in the literary conventions of the Graeco-Roman world would find themselves in familiar territory“ (ebd.). Einen anderen Schwerpunkt wird man bei denjenigen Texten setzen müssen, die dezidiert Ritualanleitungen überliefern. Dies ist bei vielen Texten des AT der Fall, vgl. Frevel: Rituals, 138, der drei grundlegende Optionen unterscheidet: „ritual texts reflect practice, establish practice, or generate practice.“ Er stellt zudem die Möglichkeit dar, dass Rituale nur in den Texten existieren, aber „were never practiced“. Ziel dieser literarischen Rituale wäre es, eine einheitliche Identität der verschiedenen jüdischen Gruppen zu ermöglichen durch „to form a resevoir of identity to which each and every group may relate themselves.“ Zum letzten Mahl Jesu ausführlich in Kapitel 3.7. Dies schließt selbstverständlich nicht aus, dass Lukas auch historisches Wissen in seine Texte einbaut. Es soll nur verdeutlichen, dass bei der Textanalyse Überlegungen und Theorien zu fiktional-narrativen Texten sinnvoll angewandt werden können. Rupp/Brankovic/Pattathu: Medienästhetik, 99.
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2 Ritualtheorien
schen Perspektive seiner Zeit. Dabei gibt es natürlich Rückwirkungen auf die Ritualdurchführung seiner Zielgruppe. Diese ist aber keinesfalls als Imitation der Ritualdurchführung Jesu zu verstehen.276 Die narrativen Erzählungen des rituellen Wirkens Jesu innerhalb des Lukasevangeliums sind keinesfalls als Defizit zu betrachten, „weil ihnen das performative Moment der Ritualpraxis fehlt“, denn sie besitzen „vielmehr ein konstruktives Potential zur Reflexion und Transformation von Ritualkulturen.“277 Nach diesen Überlegungen ist die Betrachtungsweise von Ritualen als designten Handlungen für die neutestamentliche Exegese vor allem dann weiterführend, wenn man Radde-Antweiler folgt und davon ausgeht, dass Ritualdesign als regulärer Vorgang zu betrachten ist, „der im Zuge ritueller Transferprozesse auftritt.“278 Damit müsste Ritualdesign nicht als Phänomen einer modernen, individualistischen Religiosität (Stichwort: „Internetreligion“) bewertet werden, sondern kann auch explizit auf historische, in diesem Fall antike Religions- und Ritualveränderungen bezogen werden, was sich – wie oben angesprochen – explizit auch in reflektierenden narrativen Texten zeigt. Hierbei ist sicherlich eine Verbindung zu weiteren Ritualelementen zu ziehen: Denn auch wenn der Begriff Ritualdesign an sich erst einmal unpersönlich ist, kann der rituelle Akteur als ‚Ritualdesigner‘ betrachtet werden, der über eine bestimmte Handlungsvollmacht (Agency) verfügt, die eine Variation der vorgegebenen Rituale erst ermöglicht, die sich als bleibende Veränderung etablieren kann. „Die Bedeutung desjenigen, der ein Ritual verändert, in einen neuen Kontext transferiert, umdeutet oder gar neu entwickelt, ist kaum zu unterschätzen.“279 Diese Veränderungen und Transformationsprozesse sind – und das ist wichtig zu betonen – nicht zufällig, sondern absichtlich herbeigeführt.280 Für das Lukasevangelium sind diese Überlegungen insofern weiterführend, da sie die Frage aufwerfen, ob und wie Rituale, die in der Erzählung vorkommen entweder als ganz neu gestaltet oder als Varianz schon vorhandener Ritualelemente dargestellt werden. Und: Wer verfügt dazu überhaupt über die notwendige Kompetenz? Innerhalb der Erzählung des Textes wird möglicherweise 276
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In den einzelnen exegetischen Teilkapiteln wird dieser Nachweis zu führen sein, besonders im Kontext von Taufe und Abendmahl. Rupp/Brankovic/Pattathu: Medienästhetik, 101. Ahn: Ritualdesign, 117. Matthes: Taufe, 31 (Kursivierung gelöscht). Dies passt zum Verständnis von Ritualen als „konkrete, meist schon als vorhanden vorzustellende organisatorische und performative Strukturmuster, die von den Ritualexperten gezielt und effizient eingesetzt werden können, um die mit dem durchzuführenden Ritual intendierten Transformationsprozesse zu erreichen“, so Ahn: Topos, 31 in Wiedergabe von Handelman. Natürlich können sich Rituale auch im Laufe der Zeit verändern oder sogar verblassen, ohne dass dies absichtlich geschieht. Bei so einem Vorgang ist dann natürlich nicht von Ritualdesign zu sprechen, da dieses Konzept die Intentionalität handelnder Akteure beinhaltet.
2.4 Neue Wege im 21. Jahrhundert
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Jesus diese Rolle zugesprochen. Aber kann man dabei zielführend von Ritualdesign sprechen? Diese Frage stellt sich in erster Linie bei den „Hauptritualen“ Taufe und (Abend-)Mahl, aber auch beim Gebet. Dabei sollen auch weiterführende Beobachtungen zu Erzählungen der Apostelgeschichte als zweitem Teil des lukanisches Doppelwerkes durchgeführt werden: Wie verbindet der Evangelist rituelle Handlungen Jesu mit rituellen Handlungen der Apostel? Und versteht er Jesus dabei als Ritualdesigner, der neue Rituale für die Gemeinschaft der Christen schafft? Dies könnte sich z. B. bei dem sogenannten Wiederholungsbefehl im Kontext des letzten Mahls oder bei den Gebetsritualen zeigen.
2.4.4 Ritualmacher Eng mit dem Konzept des Ritualdesigns verbunden ist der Begriff des Ritualmachers. Dieser ist zu zwei Seiten offen. Auf der einen Seite können die Ritualdurchführenden gemeint sein, auch wenn diese keine Ritualneuschöpfung oder -variation erzeugen. Der Begriff kann andererseits diejenigen meinen, die ein Ritual machen, im Sinne einer Neubewertung von Handlungen (damit diese als Rituale bewertet werden können), oder „Erfinder“ von Ritualhandlungen benennen im Sinne eines „making rituals“.281 Historisch finden sich Ritualmacher in verschiedenen Amtsbezeichnungen wieder, sei es im christlich-religiösen (magister ceremoniarum) oder im weltlichhöfischen (Zeremonienmeister, Hofmeister o. ä.) Bereich. Bis heute gibt es diese Funktion, z. B. als Protokollchef, der den Umgang mit internationalen Gesandtschaften und Diplomaten plant und die jeweilige Regierung berät. „Zur Durchführung und Wirksamkeit einer rituellen Handlung gehört die durchdachte Vorbereitung und Beratung der Beteiligten sowie die Aushandlung und Vermittlung, um unterschiedliche Vorstellungen zu vereinen. Hierzu zählt auch, bestimmte Akte zum richtigen Zeitpunkt zu vollziehen, um die Wahrung des bekannten Handlungsablaufs zu gewährleisten. Damit ist vor allem sachliches und organisatorisches Wissen verbunden, das jene Menschen, die die Rituale gestalten und durchführen, mitbringen bzw. erwerben müssen. […] Eine wichtige Aufgabe der Ritualmacher ist es, Impulse für Neues zu geben, für neue Konstellationen auch neue Ritualhandlungen zu initiieren. Gerade weil öffentliche Rituale Machtverhältnisse nicht nur widerspiegeln, sondern auch gestalten, sind kreative Lösungen nötig, um interrituelle Gesetzmäßigkeiten mit außerrituellen Gegebenheiten zu kombinieren.“282 Ein Ritualmacher hat also die wichtige Aufgabe, das rituelle Handeln der Akteure – von denen er selbst auch einer sein kann – zu ermöglichen. Er vermittelt 281
282
Vgl. Gengnagel/Schwedler: Ritualmacher, 165. Eine Abgrenzung zum Ritualleiter ist nicht immer möglich. Gengnagel/Schwedler: Ritualmacher, 167.
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dabei allen mitwirkenden Instanzen das notwendige Wissen, damit der Ablauf des Rituals reibungslos vonstatten gehen kann. Dabei können durchaus kreative Lösungen gefragt sein, weil die sich ändernden äußeren Gegebenheiten immer mit bedacht werden müssen. Unter anderen muss sich der Ritualmacher die Frage stellen, ob aus einer – absichtlichen oder unabsichtlichen – Ritualvariation eine Regel für die zukünftige Gestaltung des Rituals abgeleitet werden kann, ob diese Regelverletzung (z. B. als „Ritualfehler“283) als Ausnahme zu behandeln ist oder zum Abbruch des Rituals führt.284 Ein alleiniger Rückgriff auf das Immerschon-Gewesene reicht hier nicht aus, da der aktuelle Anlass und die aktuelle Situation eine mitunter abweichende Handlung erzwingt: „Die Gestalter befinden sich somit in einem Dilemma, das den Ablauf von Ritualen von zwei Seiten her einengt, dem Früher-so-Gewesenen und dem Jetzt-Notwendigen.“285 Wichtig für meine Fragestellung ist die für den Ritualmacher benötigte Textkompetenz: „Nicht zuletzt zählt zu den Befähigungen und Aufgaben von Ritualmachern der Umgang mit Texten, sei es das Konsultieren, Kopieren und Verstehen älterer Vorlagen, das Adaptieren, Interpretieren und Auswählen der richtigen Textgrundlage oder das Sammeln, Ergänzen bzw. gänzlich neu Verschriftlichen von rituellen Handlungen.“286 Hier zeigt sich auch eine sinnvolle Unterscheidung zum Begriff des Ritualdesigners (vgl. 2.4.3). Während dieser vor allem als kreativer Neudenker zu verstehen ist, können Ritualmacher auch als Verwalter von Ritualen verstanden werden, so wie die historische Praxis zeigt.287 Diese verwaltende Tätigkeit umfasst explizit auch den Umgang mit Texten. Daher schlage ich vor, den Begriff Ritualmacher auf das Wirken des Evangelisten Lukas288 zu beziehen, während Jesus die Rolle des Ritualdesigners zugeschrieben wird (vgl. 2.4.4). Diese Zweiteilung hat den Vorteil, dass die Rolle des Autors deutlich vom Wirken seines Protagonisten Jesus unterschieden werden kann. Während Lukas für die Weitergabe seines Wissens „in guter Ordnung“ (Lk 1,3) bürgen muss und damit u. a. die Ritualkompetenz der lesenden Ge-
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Vgl. u. a. Hüsken: Ritualfehler, 129–134, Matthes: Taufe, 32–34. Besonders für die römische Religion waren Ritualfehler höchst problematisch, weil für die instauratio das gesamte Ritual wiederholt werden musste, vgl. Gladigow: Sequenzierung, 72f. Gengnagel/Schwedler: Ritualmacher, 168. Gengnagel/Schwedler: Ritualmacher, 167. Beispiele hierfür bei Gengnagel/Schwedler: Ritualmacher, 167ff. Der Evangelist tritt dabei als Erzähler seines Werkes auf (vielleicht mit der Ausnahme des Prologs), wobei für die Antike eine exakte Trennung von Erzähler und Autor nicht angenommen wird, wie E. von Contzen im Handbuch historischer Narratologie (73) feststellt: „Als Ergebnis der Revue antiker Theorien und Konzepte lässt sich festhalten: Weder Poetik noch Rhetorik kennen einen Erzähler. Es spricht entweder der Autor oder eine Figur, wobei die Figur als eine vom Autor übernomme Rolle konzipiert wird. Freie, literarische Erzählungen entstehen durch ein ausgedehntes Rollenspiel des Autors, der seine eigene Stimme mit der von Figuren kombiniert (wie im Epos) oder auch nur Figuren spielt (wie in der Deklamation).“
2.4 Neue Wege im 21. Jahrhundert
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meinde ermöglicht, bzw. erweitert, ist Jesus als Ritualdesigner innerhalb des lukanischen Narratives für die Kreation und Neukonstituierung ritueller Handlungen zuständig. Jesus als Ritualdesigner vollzieht die kreative Weiterführung bzw. Initation von rituellen Handlungen, während Lukas als Ritualmacher für seine Leser die Rituale darstellt, die – wahrscheinlich – für die Gemeinde zur eigenen Praxis dazugehören. Er sichert bzw. verstärkt auf diese Weise das schon vorhandene Ritualkonzept der Gemeinde. Ob sich diese postulierte Aufteilung in den Texten zeigen lässt, soll mit einer genauen Exegese von Perikopen des Lukasevangeliums dargelegt und zusammenfassend in einem eigenen Unterpunkt des theologischen Ertrages (Kapitel 4.6) dargestellt werden.
2.4.5 Ritualtransfer Religionen und Rituale können auf sich ändernde Umstände reagieren. Dabei werden sie in andere Kontexte (z. B. Geographie, Ökonomie, Kultur, Medien) transferiert. Daher spricht man von Ritualtransfer.289 Dieser kann sowohl innerhalb der Zeit (also diachron) als auch im Raum (synchron) ablaufen. „‚Ritualtransfer’ kann vom Konzept Ritualdesign abgegrenzt bzw. mit diesem ergänzt werden. Eine differenzierende Systematisierung von Ritualmodifikationen bei Ritualtransfer bietet Michael Stausberg; neben Retention (bei der das Ritual unverändert bleibt) unterscheidet er Assimilation, Interferenz, Mutation, Substitution, Integration, und Aggregation.“290 Ritualtransfer ist also auf verschiedenen Ebenen untersuchbar, je nachdem, welcher Kontext sich auf welche Art und Weise verändert. Nicht immer stimmen bei der Beschreibung eines Ritualtransfers die Außen- und Innenperspektive überein.291 Zu unterscheiden ist Ritualtransfer von Ritualdynamik im Allgemeinen. Ritualdynamik als Oberbegriff beschreibt alle Veränderungen von Ritualen, auch wenn sie von innen heraus292 und nicht durch äußere Einflüsse bedingt sind.
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Vgl. Langer/Snoek: Ritualtransfer, 188. Das Konzept lässt sich auf viele historische Vorgänge anwenden. Ein Beispiel dafür bietet Stausberg: Varianten, 47–69, der den Ritualtransfer bei der Umsiedlung von afrikanischen Sklaven in die und innerhalb der USA untersucht. Eine knappe Zusammenfassung bietet Matthes: Taufe, 29. Stausberg: Varianten, 68. So führt Stollberg-Rilinger: Rituale, 219–220 den Kniefall von Bundeskanzler Willi Brandt 1970 in Warschau als Beispiel für Ritualtransfer an, da dort das christliche Bußritual des Kniefalls an einem überraschenden Ort stattfand. „Brandt zitierte also ein altes Ritualelement, aber er vollzog in diesem Moment gerade kein (repetitives und vorhersagbares) Ritual, sondern im Gegenteil einen spontanen, beispiellosen und für alle überraschenden Akt.“ Von den politischen Gegnern wurde dieser Akt bzw. die dahinterstehende Intention sofort angezweifelt bzw. kritisiert. Zugrunde liegen können hier bspw. auch die Kreativität der Akteure oder Ritualfehler, die als Dauerhandlung neu übernommen werden. Vgl. Langer/Snoek: Ritualtransfer, 189.
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Robert Langer und Jan Snoek definieren Rituale als kontextabhängige Phänomene: „Ritualtransfer findet statt, wenn sich ein oder mehrere Aspekte des Ritualkontextes verändern bzw. ein Transfer von einem in einen anderen Kontext stattfindet. Als Kontextaspekte kann man folgende empirisch beobachtbare und kulturwissenschaftlich beschreib- und interpretierbare Felder konkretisieren: Medien, in denen das (Prä-)Skript, sowie die Ausführung des Rituals gefasst sind (wie orale Tradition, Schrift, Film, Fernsehen und Internet), Geografie/Raum, ökologische Umwelt, Kultur, Religion, Politik, Ökonomie, Gesellschaft sowie die Trägergruppe und Akteure der jeweiligen Ritualtradition. Besondere Betrachtung verlangen zudem die historischen Zusammenhänge der genannten Felder, die den historischen Kontextaspekt des Rituals bilden.“293 Mehrere dieser Kontextveränderungen ließen sich für den Zeitraum der Entstehung der neutestamentlichen Schriften konstatieren: Der Wechsel von mündlicher zu schriftlicher Überlieferung, die geografische Ausbreitung aus Judäa hinaus in das gesamte Römische Reich und die damit verbundene Auseinandersetzung mit paganer Religiosität und Ethik usw. Einen besonderen Fokus kann bei Überlegungen zum Ritualtransfer auf die Teilnehmer bzw. Akteure der Rituale gelegt werden. So Langer und Snoek: „Anzunehmen ist bei Ritualänderungen, einschließlich Ritualtransfer, eine dominante Rolle der Hauptakteure, wobei für eine längerfristige Modifizierung des Rituals zumindest die Akzeptanz der Teilnehmer der anderen Involviertheitsstufen Voraussetzung sein dürfte. Hierbei ergibt sich aus den Machtstrukturen innerhalb der Teilnehmergruppe ein besonderer Aspekt des sozialen Umfelds.“294 Der Blick auf Ritualveränderungen als Ritualtransfer erlaubt es, besonders auf die sich verändernden Kontexte zu achten.295 Durch die Analyse dieser Kontextveränderungen lassen sich Veränderungen im Ritual beschreiben und erklären. Im Unterschied zum Ritualdesign, welches stärker die kreative Variation durch gruppenimmanente Akteure beschreibt, nimmt der Ritualtransfer stärker die Anpassung an sich ändernde Kontexte in den Blick. Für meinen Blick auf die im Lukasevangelium beschriebenen oder narrativ dargestellten Rituale muss sich die Dimension des Ritualtransfers an den Veränderungen zu jüdischen bzw. hellenistischen Kontexten erweisen lassen. Hierbei könnte z. B. der genaue Blick auf rituelles Handeln innerhalb der Mahlpraxis hilfreich sein. Allerdings findet sich der Begriff Ritualtransfer sehr nahe bei Ri-
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Langer/Snoek: Ritualtransfer, 189. Vgl. auch die Aufzählung bei Ascough: Ritual modification, 169. Langer/Snoek: Ritualtransfer, 190. Für christliche Gemeinden könnte man bspw. den Einfluss von Missionaren (z. B. in Korinth) auf die Gemeindestruktur und die paulinische Auseinandersetzung mit dieser untersuchen. Ein modernes Beispiel ist die Aufnahme buddhistischer Vorstellungen und Rituale in westlichen Gesellschaften, vgl. dazu Ascough: Ritual modification, 170.
2.4 Neue Wege im 21. Jahrhundert
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tualmacher und Ritualdesign, sodass hier vor allem der sich verändernde Kontext in den Mittelpunkt gestellt werden kann. Dankenswerterweise liegt einerseits durch das Markusevangelium eine der Quellen des dritten Evangeliums vor, sodass hier an ausgewählten synoptischen Beispielen der sich verändernde Kontext von Mk zu Lk deutlich zeigen kann. Hinzu kommt andererseits der glückliche Umstand, dass es mit der Apostelgeschichte eine ‚Fortsetzung‘ zum dritten Evangelium gibt, sodass Veränderungen bzw. Ritualtransfer zwischen der Zeit Jesu und der Zeit der Apostel in der Darstellung des Lukas aufgezeigt werden kann. Die Untersuchung des Ritualtransfers schließt sich an die Vorgehensweise des Evangelisten als Ritualmacher an. Daher werden beide Aspekte gemeinsam im theologischen Ertrag der Arbeit (4.6) betrachtet.
2.4.6 Rituale in narrativen Texten Schwerpunkt vieler ritualwissenschaftlicher Untersuchungen ist die Frage nach dem historischen bzw. soziologischen Hintergrund von Ritualen in Texten oder anderen Medien. Doch in vielen antiken Texten und damit auch in den neutestamentlichen Schriften begegnen uns Rituale in narrativer Form.296 Die Einbindung von Ritualen in eine zusammenhängende Erzählung bringt für den Auslegenden besondere Herausforderungen mit sich.297 Obwohl dieser Zusammenhang offensichtlich besteht, gibt es bisher nur wenige dezidierte Forschung zum Umgang mit narrativen Ritualen: „Until now, ritual studies and narrative theory have hardly even taken notice of one another.“298 Um die besondere Nähe von Narrativen und Ritualen zu beleuchten, stellen Vera und Ansgar Nüssing zwölf Parallelen dar:299 (1) Rituale und Narrative sind mit jeweils einer bestimmten Situation verbunden, die von „the emotions, knowledge and intentions of the participants“ beeinflusst werden. (2) Narrative und Rituale erschaffen eine eigene Welt „apart from the ordinary context in which readers, viewers or participants find themselves.“ Dies verbindet MarieLaure Ryan mit der grundsätzlichen Frage, warum Rituale und Narrative überhaupt eine immense Rolle in menschlichen Gesellschaften spielen. Sie findet die Begründung in genau dieser Welt-erschaffenden Kraft beider Handlungsarten, die den Umgang mit Leid ermöglichen: „Both narrative and ritual represent ways of dealing with what is perhaps the most important source of anguish, namely the randomness of fate. But they do so in very different ways: ritual, by 296
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Zum Verhältnis von Ritualdesign und narrativen Texte vgl. Kapitel 2.4.3 und Rupp/Brankovic/Pattathu: Medienästhetik, 97–124. Vgl. dazu die Habilitationsschrift von Braungart: Ritual und Literatur, die sich umfassend mit der Verbindung von Ritualen und der neueren deutschen Literatur befasst. Vera und Ansgar Nünning: Narrativity, 52. Vgl. zum folgenden Vera und Ansgar Nüssing: Narrativity, 54–59. Die Zitate des Abschnitts stammen, soweit nicht anders angegeben, ebenfalls von dort.
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trying to eliminate this randomness from life, narrative, by turning it into a plot.“300 (3) Rituale und Narrative bestehen aus einer mehr oder minder festgelegten Abfolge von Sequenzen. (4) Rituale und Narrative beinhalten potentiell eine Vielzahl von Perspektiven auf ein Ereignis, die jeweils ein differenziertes Verständnis des Erlebten und eine unterschiedliche Eingebundenheit in dieses verkörpern. (5) Grundlage von Ritualen wie Narrativen ist die Erfahrung der involvierten Charaktere bzw. Teilnehmer. Diese Erfahrung „is marked by fleeting perceptions and feelings as well as more lasting impressions.“ (6) Rituale beinhalten häufig Narrative bzw. nehmen auf diese Bezug. (7) Narrative und Rituale verfügen beide über „performative power“. (8) Dies zeigt sich u. a. in ihrer Fähigkeit „to create and change worlds“, also durch Durchführung von Ritualen bzw. Erzählung eigene Welten für die Partizipierenden zu erschaffen. Dies bringt eine nur so hervorzurufende Gemeinschaft hervor, wie Ryan anführt: „Both rituals and narrative make us human by building community: ritual coordinates activity into a collaborative event, while narrative requieres joint attention to the words of the storyteller.“301 (9) Rituale werden häufig durch „ritual narrations, narratives and narrative genres“ überliefert. (10) Dies gilt auch für die Entstehungsgeschichte der Rituale, die narrativ weitergegeben wird.302 (11) Rituale und Narrative sind außerdem geprägt von „self-referentiality“, d. h. zu formalen wie inhaltlichen Bezügen innerhalb des Rituals bzw. des Narratives und seiner Überlieferung. „One can generally assume that, in part of them, narratives raise the self-referential dimension of rituals in so far as they are often ritulized themselves.“ (12) Zuletzt betonen Vera und Ansgar Nünning die „structure of agency“ von Ritualen und Narrativen. In beiden Fällen ist die Frage, wer wie handeln darf immanent wichtig. Die soeben angesprochenen Punkte machen deutlich, dass die Parallelität von Narrativen und Ritualen grundsätzlich eine Verbindung beider Entitäten erkennbar ist, die sich insbesondere im Kontext des Lukasevangeliums gewinnbringend in Stellung bringen lässt. Der Evangelist berichtet innerhalb seiner Erzählung von konkreten Ritualen, die er in seinen Handlungsablauf einbettet. Er bietet keine direkte Ritualanleitung für seine Leserschaft dar, auch wenn an einigen Stellen deutlich werden könnte, dass ein innerhalb des Narrativs vorkommendes Ritual in direktem Bezug zur Ritualwelt der Leser steht. An dieser Stelle ist ein Verbindungspunkt zwischen Autor und Erzähler sowie Erzähltem und den Leserinnen und Lesern sichtbar. „Theorie und Praxis der antiken Erzählliteratur weisen ihre Erzählstimme als autorzentriert, mündlich und potentiell rollenspielend aus. Die einfache Grundregel ist: In einem Text spricht entweder der
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Ryan: Ritual Studis, 32. Ryan: Ritual Studis, 31. Vgl. Dücker: Rituale, 213f. Dücker spricht an dieser Stelle von Ritualgeschichte.
2.4 Neue Wege im 21. Jahrhundert
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Autor als Autor oder der Autor in der Rolle der Figuren. Ein dem modernen narratologischen Erzähler vergleichbares Konzept gibt es nicht.“303 Für das lukanische Doppelwerk im Kontext meiner Fragestellung bedeutet dies, dass die Ritualpraxis des Autors bzw. seiner Rezipienten Hintergrund bzw. Vorlage für Elemente seiner Erzählung sein können (wenn auch nicht müssen). Ein Beispiel hierfür könnte das Vater-Gebet Jesu in Lk 11,2b–4 sein, das den Jüngern – und nur diesen, nicht dem Volk wie in der Parallele Mt 6,9–13 – als Beispielgebet gegeben wird. Dabei fällt auf, dass die Jünger im gesamten lukanischen Doppelwerk immer wieder beten, aber keine Wiederholung des Vater-Gebets berichtet wird, obwohl wir von diesem wissen, das es schon früh Einzug in die altkirchliche Liturgie gefunden hat.304 Auf diese Verbindungslinien von Gebet Jesu, Gebet der Jünger hin zu den Gebeten der Leser wird in den Kapiteln 4.3 und 4.6.2 eingegangen.
2.4.7 Zusammenfassung und Ausblick in den exegetischen Teil Die hier vorgestellten Ritualtheorien und Ritualmodelle stellen nur eine kleine Auswahl aus der unübersichtlichen Vielfalt der Ritualforschung dar. Für diese Untersuchung ist es wegen der vielfältigen ritualwissenschaftlichen Theorien und Ansätzen besonders wichtig, diejenigen Konzepte herauszufiltern, die für die neutestamentliche Erforschung des Lukasevangeliums fruchtbringend sein könnten. Daher wurden unter 2.3 vor allem große Linien gezogen, die einen Einblick in die Entwicklung der Ritualwissenschaft erlauben. Darauf folgten in den Unterkapiteln 2.4.1–2.4.6 neue Ansätze der Ritualforschung, die für die Exegese des dritten Evangeliums hilfreich sein könnten. Zwei wesentliche Übereinstimmungen der dargestellten Theoriezweige können benannt werden: 1. Obwohl viele Begriffe und ganze Theoriebausteine der Ritualwissenschaften auf sprachwissenschaftlichen und linguistischen Erkenntnissen beruhen, wird kaum über die Rolle von beschriebenen Ritualen in (narrativen) Texten
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Von Contzen: Handbuch historische Narratologie, 80. Vgl. auch seine Einordnung zur antiken Auseinandersetzung mit dem Thema (a. a. O., 70): „Nirgends wird in diesen Diskussionen [der antiken Literaturproduktion; DK] ein vom Autor getrennter Erzähler erwogen. Vielmehr wird als ‚Stimme‘ eines literarischen Textes, zumindest soweit nicht Figuren sprechen, wie selbstverständlich die Stimme des Autors angenommen […]: Der ‚Erzähler‘ in den Epen von Homer und Vergil ist niemand anderer als der jeweilige Autor.“ Vgl. Schwier: Art. Vaterunser, II. Wirkungsgeschichte, Sp. 893–896.
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2 Ritualtheorien
nachgedacht. Auch die neutestamentlichen Arbeiten enthalten hauptsächlich historische Untersuchungen zu einzelnen frühchristlichen Ritualen.305 2. Das scheint in Bezug auf die kulturwissenschaftlichen Ritualtheorien hauptsächlich darin begründet zu sein, dass zwei Fragestellungen die Überlegungen dominieren: Als erstes wird häufig nach dem als einheitlich deklarierten Überbau von Ritualen anhand von heute beobachtbaren Ritualhandlungen gefragt (vgl. die Auswahl der in dieser Arbeit vorgestellten älteren Ansätze): Welche Erkenntnisse über menschliche Rituale im Allgemeinen kann man aus der Durchführung spezieller Rituale erkennen? Dabei wurde in der Vergangenheit häufig, wohl in Nachfolge der frühen anthropologischen/ethnologischen Wissenschaftlern wie Durkheim und v. Gennep, nicht eine moderne oder westliche Ritualpraxis reflektiert, sondern ‚Stammesgesellschaften‘ aus Asien, Australien und Nordamerika untersucht.306 Der zweite Grund ist der schon angesprochene Fokus auf historische Fragestellungen. Diese sind natürlich legitim, versuchen aber i. d. R., an Informationen hinter den Texten zu gelangen, anstatt sie als literarische Werke zu betrachten. Die vorliegende Arbeit versucht den umgekehrten Weg zu gehen und das Lukasevangelium als Literatur auszulegen und ritualwissenschaftliche Methoden, Theorien und Ansätze als Hilfsmittel für diese Exegese nutzbar zu machen.307
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Eine Ausnahme stellt Christian Strecker dar (u. a. Taufpraxis, 378–402), der über den ritualwissenschaftlichen Zugang Zugriff auf neutestamentliche Texte nehmen möchte. Aber auch bei ihm dominiert vor allem die historische Frage. Hier scheinen immer noch die Überlegungen der beiden soeben genannten Forscher durchzuschlagen, wonach bei „Halbzivilisierten“ (so v. Gennep) eine reinere Form von Religiösität (laut Durkheim „die primitivste und einfachste Religion“) und damit Ritualität zu finden sei. Die religiöse Welt des Neuen Testaments lässt sich wohl kaum in dieses Schema einbauen. Das Christentum erwächst aus der zu Beginn rein jüdischen Gruppe von Jesusnachfolgern in Judäa und Galiläa, öffnet sich aber schon durch Paulus für den gesamten Mittelmeerraum und wendet sich auch Nichtjuden zu. Die durch diese Entwicklung forcierten Auseinandersetzungen sowohl mit dem Judentum als auch mit heidnische(r/n) Religion(en) wirken auch auf das Verständnis und die Durchführung von Ritualen zurück. Das lukanische Doppelwerk aus Evangelium und Apostelgeschichte spiegelt einen Teil dieser Entwicklung aus Perspektive des zu Ende gehenden 1. Jahrhunderts wider und bietet so eine spannende Untersuchungsmöglichkeit im Blick auf die vielfältige Ritual-landschaft. Dabei projiziert der Evangelist mglw. Konflikte und Entwicklungen der Gemeinden seiner Zeit in die Geschichte Jesu zurück. Dies gilt sicherlich für das Ritualverständnis bzw. die Ritualhandlungen der damaligen Christen als intendierten Lesern. So wird z. B. das Abendmahl regelmäßig gefeiert worden sein. Das zeigt sich bspw. durch den expliziten Wiederholungsauftrag bei der Brotbitte der Einsetzungsworte (Lk 22,19) und am Erkennen des Auferstandenen beim Brotbrechen durch die Emmausjünger (Lk 24,31). In der Apostelgeschichte gehört dann das gemeinsame Brotbrechen zum Idealzustand der ersten Christengemeinde (vgl. Apg 2,42). Dies schließt eine historische Herangehensweise insofern mit ein, als dass das Verständnis der antizipierten antiken Leser des Evangeliums natürlich als Verständnisraum relevant ist.
2.4 Neue Wege im 21. Jahrhundert
67
Bei den älteren Ansätzen hat sich besonders die Ritualtheorie von Albert Bergesen als potentiell weiterführend erwiesen. Seine Aufteilung in Mikro-, Meso-, und Makroriten erlaubt die Einordnung sowohl von sprachlich-linguistischen Ritualen, als auch Interaktionsritualen ohne die „großen öffentlichen Zeremonien“ außer Acht lassen zu müssen. Gleichzeitig liegt der große Vorteil der Theorie Bergesens darin, dass er eine Vielzahl älterer Ansätze in seine Überlegungen integriert und mehrere Theorielinien bei ihm zusammenlaufen. Das Ziel von Ritualen, nämlich die „Gesellschaft als Ganzes“ zu konstruieren bzw. zu rekonstruieren, fügt sich gut in die erzählte Welt des Evangeliums ein und lässt gleichzeitig Rückschlüsse auf die Funktion der Rituale für die Leser des Lukas zu. Bei den Neuansätzen im 21. Jahrhundert, die natürlich auch ältere Forschung mit aufnehmen und weiterverarbeiten, liegt der Schwerpunkt auf den in diesem Kapitel dargestellten Theorien zu Agency, Performanz und Ritualdesign. Hinzu tritt das Verständnis des Evangelisten als Ritualmacher und das Verständnis seiner rituellen Programmatik als Ritualtransfer. Letztere beiden Ansätze spielen besonders für den theologischen Ertrag in Kapitel 4 eine wichtige Rolle. Als ältere und neuere Theorien verbindender Forschungsansatz kann die Betrachtung Jesu als Charismatiker genutzt werden. Diese sowie alle weiteren vorgestellten Theorien und Ansätze können nicht auf jede einzelne Perikope angewendet werden und müssen daher je nach Einzelfall eingebunden werden.
3.
Exegese ausgewählter Perikopen des Lukasevangeliums
3.1
Einführung in den exegetischen Teil
Nachdem im zweiten Kapitel wichtige Schritte der ritualwissenschaftlichen Forschung vorgestellt wurden, soll nun der Fokus auf die neutestamentlichen Texte gelegt werden. Das Lukasevangelium bietet eine enorme Fülle an Texten, die mithilfe der vorgestellten ritualwissenschaftlichen Zugänge analysiert werden könnten. Es muss daher eine Auswahl sowohl der genauer zu untersuchenden Perikopen als auch der methodischen Vorgehensweise erfolgen. Letzteres ist schon in der vorangegangenen Vorstellung der ritualwissenschaftlichen Theorien und Ansätze vollzogen worden (vgl. 2.4.7). Dabei konnte schon deutlich gemacht werden, dass es nicht die eine Zugangsweise zu Ritualen in den Textwelten des Lukasevangeliums gibt, sondern dass je nach Text differenzierte Ansätze nutzbar gemacht werden müssen. Bei der Auswahl der Perikopen des dritten Evangeliums, die im Folgenden genau untersucht werden sollen, stehen mehrere Aspekte im Vordergrund: (1) Zum einen soll auf der Grundlage der ausgewählten Texte die Möglichkeit geschaffen werden, Aussagen über den Umgang und die Nutzung von Ritualen im gesamten Lukastext machen zu können. Daher sollen die Texte aus unterschiedlichen Abschnitten der lukanischen Erzählung stammen: Vorgeschichte, Jesu Wirken in Galiläa, lukanischer ‚Reisebericht‘ sowie Passion und Auferstehung Jesu.1 (2) Zudem sollen Texte betrachtet werden, die thematisch in einem oder mehreren Ritualkontexten stehen, um den Umgang Jesu mit Ritualen seiner Zeit interpretieren zu können. Als Themenkomplexe wurden gewählt: Passa bzw. Passawallfahrt, Taufe, Synagogengottesdienst, Sabbat, Gastgeberrituale und (Abend-)Mahl.2 (3) Zuletzt soll der Fokus der Arbeit nicht auf der historischen Untersuchung von antiken Ritualen liegen. Vielmehr soll die Darstellung des lukanischen Jesus, seiner Nähe zu und Freiheit von Ritualen im Mittelpunkt der Arbeit stehen.3 Daher werden die ausgewählten Perikopen nicht nach Themen sortiert, sondern in der Erzählreihenfolge des Evangeliums wahrgenommen. Da-
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Vgl. Wick/Klinkmann: Bibelkunde, 28–30. Diese Auswahl schließt natürlich andere Rituale, wie Beschneidung, Gebet, Exorzismen, aus. Diese Themen sollen aber im Kontext der Einzelexegesen und im theologischen Ertrag (Kapitel 4) mit betrachtet werden. Dies schließt natürlich nicht die historische Frage an sich aus, sondern soll den Schwerpunkt der Arbeit betonen: Wie stellt Lukas seinen Jesus im Kontext von Ritualen dar?
3.2 Der 12-jährige Jesus im Tempel
69
mit sollen Querverbindungen zwischen den Texten und jeweiligen Evangeliumsabschnitten genauso wie etwaige Veränderungen bei der Darstellung Jesu je nach Kontext betrachtet werden. Aus dem Querschnitt der soeben benannten Auswahlkriterien ergeben sich folgende zu untersuchende Texte: Jesus als Zwölfjähriger im Tempel (Lk 2,41– 52), Taufe Jesu (3,21–22), Antrittspredigt in Nazareth (4,16–30), Eine große Sünderin salbt Jesu Füße (7,36–50), Gastmahl im Hause des Pharisäers (14,1–24), Das letzte Mahl (22,7–20) und Reise nach Emmaus (24,13–35).4 Die einzelnen exegetischen Kapitel 3.2–3.8 sind dabei immer gleich aufgebaut: Nach einer Einordnung der Perikope in die Erzählung des Lukas erfolgt eine exegetische Untersuchung des jeweiligen Textes, an die eine ausführliche Analyse der erzählten Rituale anschließt. Je nach Perikope werden zudem Exkurse zu weiteren Texten bzw. Themen des lukanischen Doppelwerks eingefügt. Im Anschluss an diesen Teil der Arbeit werden in Kapitel 4 die wichtigsten Arbeitsergebnisse der ritualwissenschaftlichen Analyse der ausgewählten Textstellen zusammengefasst und dargestellt. Dieser theologische Ertrag zur Darstellung Jesu in der rituellen Welt des Lukas wird zudem Aussagen zur lukanischen Jesusdarstellung im Ganzen beinhalten. Dies soll auf Grundlage der Einzelexegesen geschehen.
3.2
Der 12-jährige Jesus im Tempel (Lk 2,41–52)
Die Kinder- und Jugendzeit Jesu wird in allen kanonischen Evangelien nicht dargestellt. Das Markusevangelium und das Johannesevangelium erzählen gar keine Kindheitsgeschichten und setzen mit dem erwachsenen Jesus ihren Bericht ein; Matthäus und Lukas beschreiben hingegen auf unterschiedliche Weise die Geburt Jesu und das Handeln der heiligen Familie. Jesus selbst ist bei all diesen Erzählungen kein handelnder Akteur, sondern ist vollumfänglich von den Entscheidungen seiner Eltern Josef und Maria abhängig. Die einzige Ausnahme bildet die zu untersuchende Perikope Lk 2,41–52. Hier handelt und äußert sich der 12-jährige Jesus zum ersten Mal selbständig im dritten Evangelium. Diese Perikope ist aus ritualwissenschaftlicher Perspektive nicht nur wegen der anlassgebenden Passawallfahrt interessant. Durch diese zeigt Lukas die Einbindung Jesu in die rituellen Gegebenheiten seiner Umwelt. Zusätzlich wird deutlich, dass sich der Umgang Jesu mit der rituellen wie familiären Ordnung in Lk 2,41–52 von den Erwartungen der Umwelt unterscheidet. Es wird zu zeigen 4
Selbstverständlich generiert eine derartige Auswahl immer Kritik, da natürlich noch weitere Texte für eine ritualwissenschaftliche Untersuchung in Frage kommen. Durch die an dieser Stelle beschriebenen Auswahlkriterien soll aber gezeigt werden, dass die vorgenommene Selektion der Texte inhaltlich wie methodisch begründet werden kann.
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3 Exegese ausgewählter Perikopen
sein, inwieweit die dargestellten Konflikte und Irritationen durch eine ritualwissenschaftliche Untersuchung besser verstanden werden können.
3.2.1 Einordnung in die Erzählung des Evangeliums Das Lukasevangelium stellt in den ersten beiden Kapiteln Geschehnisse um die Geburt Johannes des Täufers und Jesu dar. Dabei werden die beiden Hauptcharaktere abwechselnd in den Mittelpunkt gerückt: So folgt auf die Ankündigung der Geburt des Johannes die Ankündigung der Geburt Jesu usw. Eine Ausnahme bei dieser parallelen Darstellung findet sich in Lk 2,41–52. Hier wird der mittlerweile zwölf Jahre alte Jesus zusammen mit seiner Familie bei einer Wallfahrt zum Passafest nach Jerusalem gezeigt. Diese Erzählung bildet den Übergang innerhalb des Evangeliums von der Darstellung Jesu als Kind hin zu dem Wirken von Johannes1 und Jesus als Erwachsenen.2 Sie kann zudem als Darstellung der ersten (z. T. öffentlichen) Handlung Jesu verstanden werden, da er hier zum ersten Mal im Evangelium agiert und kommuniziert – und das im Tempel von Jerusalem. Zudem verweisen viele Elemente der Erzählung proleptisch auf Erzählungen im dritten Evangelium: Jesu Konflikt mit seiner Familie (8,19–213), bzw. mit Familie allgemein (14,264), Jesu Bezug zum Himmel (3,22; 24,51), Passa in Jerusalem (22,1.7), Jesu Diskussion über die Tora (10,25; 13,14; 15,2), auch im Tempel (20,1.20.27).5
3.2.2 Lk 2,41–45: Wallfahrt nach Jerusalem 41 Und seine Eltern gingen jedes Jahr nach Jerusalem zum Passafest. 42 Und als er zwölf Jahre alt war, gingen sie hinauf nach der Sitte des Fests.
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Eine Erzählung über einen jugendlichen Johannes enthält das Evangelium nicht. Dies wurde häufig zum Anlass genommen, die Erzählung des zwölfjährigen Jesus als „zu einer bestimmten Zeit unabhängig von den Perikopen […], die ihr jetzt vorausgehen“ zu betrachten (Brown: Weihnachtgeschichte, 209). Im Anschluss an Lk 2,52 wendet sich mit 3,1f. der Blick wieder dem Wirken des Täufers zu, der am Jordantal predigt und tauft. Schürmann: Lk I, 132, bezeichnet diese Perikope als „mächtige[s] Finale des ganzen Präludiums Lk 1–2.“ „Wir haben hier so etwas wie einen alten Kommentar zu den synoptischen Herrenworten vor uns, die eine Distanz zwischen Jesus und seine Mutter zu legen scheinen“ (Räisänen: Mutter Jesu, 134). Vgl. Schroeder: Eltern, 78–109. Zudem gibt es eine parallele, wenn auch in Details differente Erzählung im apokryphen Kindheitsevangelium des Thomas (KThom 19), auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann. Zur Verbindung dieser Texte vgl. Frilingos: Parents, 33–55.
3.2 Der 12-jährige Jesus im Tempel
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43 Und als sie die Tage vollendet hatten, kehrten sie zurück, der jugendliche Jesus (Ἰησοῦς ὁ παῖς6) blieb in Jerusalem und seine Eltern wussten es nicht. 44 Weil sie aber annahmen, er sei in der Pilgergruppe7, gingen sie eine Tagesreise weit und sie suchten ihn bei den Verwandten und bei den Bekannten; 45 und weil sie ihn nicht fanden, kehrten sie nach Jerusalem zurück, um ihn zu suchen. Lk 2,41 beschreibt als Einleitung der nun folgenden Geschichte die Familie Jesu als gesetzestreu, da sie jedes Jahr an der Wallfahrt nach Jerusalem anlässlich des Passafestes teilnimmt. Dass die Eltern Jesu in dieser Erzählung auf diese Weise geschildert werden, verwundert den Leser nicht. Er erinnert sich an die mit der Geburt Jesu verbundenen rituellen Handlungen von Josef und Maria: Jesus wird am achten Tag beschnitten (2,21; vgl. Gen 17,12; Lev 12,3) und als Erstgeborener der Maria am Tempel dargestellt (2,22f.)8. Im Zuge dessen wird auch das vorgesehene Opfer im Tempel dargebracht (2,22–24; vgl. Ex 13,2.15; Lev 12,6–89). Jesus ist also durch seine Familie schon seit seiner Geburt in den rituellen Rahmen seines Volkes eingebunden und geht dementsprechend im Alter von zwölf Jahren mit seinen Eltern hinauf nach Jerusalem zum Passafest.10 Der Versteil 42a
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Schürmann: Lk, 134 (Fn 259): „Vgl. die Steigung: 2,12.16 βρέφος; 2,17.27.40 παιδίον – nun aber παῖς!“. Oepke: παῖς, 637 gibt für παῖς ein Alter von 7–14 Jahren an. Die Einordnung Jesu als παῖς wird durch den Erzähler kundgetan. Lukas macht dadurch deutlich, dass Jesus eben kein kleines Kind mehr darstellt, sondern sich auf der Schwelle zum Jugendlichen/jungen Erwachsenen befindet: Er ist noch nicht ganz ausgewachsen, aber schon auf dem Weg dorthin. Das passt gut zur abschließenden Notiz in 2,52, dass Jesus weiter an Alter und Weisheit wächst. Zur uneindeutigen Bewertung von Jugend als eigenem Lebensalter in der Antike vgl. Wiesehöfer: Kind, Kindheit bzw. ders.: Jugend (DNP-Online) und Pola: Alter, 19–30. συνοδία, wörtlich: Weggemeinschaft. Also eine Gruppe von Menschen, die sich gemeinsam auf einen Weg machen, z. B. um die Gefahren der Reise besser zu überstehen (vgl. Heininger: Familienkonflikte, 62f.). Schüssler Fiorenza: Luke 2:41–52, 399: „Just as the whole Gospel begins with a scene in the Temple (1:5–25) and ends with a Temple scene (24:53), so does this Temple story end the infancy narrative and begin the public ministry of Jesus.“ Lukas nennt diese beiden Bestimmungen angelehnt an die Formulierungen der LXX. Auffälligerweise werden durch die Kennzeichnung der Opfertiere als Tauben die begrenzten finanziellen Mittel der Eltern Jesu dargestellt. Lev 12,8 erlaubt explizit das eigentlich geforderte Lamm durch eine Taube zu ersetzen, wenn sich die Familie kein Lamm leisten konnte; vgl. Wolter: Lk, 135f. Das Passafest ist eines der drei Wallfahrtsfeste (Passa, Wochenfest und Laubhüttenfest). An der Teilnahme verpflichtet sind eigentlich alle Männer (Ex 23,14–17), „gewohnheitsmäßig scheinen sich aber auch Frauen und Kinder an den Wallfahrten beteiligt zu haben“ (Ernst: Lk, 123). Die Mischna (Chag 1,1) diskutiert, wer „zum Erscheinen verpflichtet“ ist, nämlich: „Alle […] ausgenommen der Taube, der Blödsinnige, der Minderjährige … die Frauen“ usw. Minderjährig ist (nach der Schule Schammais) allerdings nur der, „der nicht auf den Schultern seines Vaters reiten kann u. (so) von Jerusalem auf den Tempelberg
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3 Exegese ausgewählter Perikopen
(καὶ ὅτε ἐγένετο ἐτῶν δώδεκα) ist wohl so zu verstehen,11 dass er nun ein Alter erreicht hat, welches die Trennung von seinen Eltern und damit eigenständiges Wirken und Entscheiden – für oder gegen die Partizipation am Gesetz und damit für oder gegen die Wallfahrt nach Jerusalem – erlaubt. Damit haben sich die beschriebenen Ereignisse beim ersten selbstgewählten Besuch Jesu in Jerusalem zugetragen.12 Während die ersten beiden Verse der Erzählung das Eingebundensein Jesu in seine Familie betonen, beginnt ab Vers 43f. die Trennung wichtiger zu werden: Jesus verbleibt ohne das Wissen seiner Eltern in Jerusalem und kehrt nicht mit ihnen nach Nazareth zurück.13 Lukas macht die differenten Handlungen Jesu
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hinaufkommen kann“ bzw. (nach der Schule Hillels) der, „der nicht die Hand seines Vaters anfassen u. (so) von Jerusalem auf den Tempelberg hinaufkommen kann“ (jeweils zitiert nach Billerbeck II, 141). Nach Billerbeck schränkt die Mischna diese Diskussion aber ein, denn sie hat „nur einen Knaben im Auge, dessen Vater in Jerus. wohnt, über auswärts Wohnende sagt sie nichts.“ Billings: Age, 73: Die Mischna „determined that Jewish boys reach independence and aquired some of the responsibilities of adulthood at 13 (Nid. 5.6; Meg. 4.6; Cf. Gen Rab 63.10) with an intense period of instruction occuring in preparation for this at the age of 12 (Abot 5.21).“ Jesus ist mit zwölf Jahren „noch nicht ganz erwachsen“, besaß aber schon als Kind „die Weisheit der Großen“ (Bovon: Lk I, 155). Schürmann (Lk, 134) geht davon aus, dass auch schon zu Jesu Zeiten mit dem 13. Lebensjahr die „gesetzliche Verpflichtung“ begann, alle Gebote zu halten. Er zitiert dazu (134, Fn 256) Billerbeck II, 145: „Die Zeit zwischen dem vollendeten 12. und dem vollendeten 13. Lebensjahr war aber der äußerste Termin, an dem die Gewöhnung auch an die schwersten Gebote einsetzen sollte.“ Sicher zulässig ist die Zusammenfassung von Krückemeier: Literatur, 310, (Fn 9): „Die Frage, ob Jesus im Alter von 12 Jahren bereits als Erwachsener an den Opfern anlässlich des Passah-Fests im Tempel teilnehmen durfte, lässt sich schwer beantworten; die Meinungen gehen hier auseinander.“ Allerdings ist die Teilnahme Jesu am Opfer durch kein Wort im Text angedeutet und daher wohl für den Evangelisten nicht von Belang. Dies dürfte seiner Leserorientierung entsprechen: „The probable recipients of Luke-Acts are, however, likely to have been far removed from the narrative setting in terms of time, geographical proximity, and ethnicity. They were almost certainly residents of one or more of the large and flourishing cities of the eastern regions of the Roman empire, in the historical period in the last few decades in the first century CE. It is, futhermore, highly probable that the Lukan audience were not Jews and had never visited Jerusalem, and never seen or known the temple, which, in any case, was almost certainly destroyed by the time Luke wrote“ (Billings: Age, 70). Der Fokus zu Beginn der Erzählung liegt eindeutig auf den Eltern Jesu. Er selbst tritt erst mit dem Bleiben in Jerusalem eigenständig auf. Lukas hält „von Anfang an Eltern und Kind geschickt auseinander; bis V 43b handeln nur Maria und Josef“ (Bovon: Lk I, 156). Ähnlich Schweizer: Lk, 42: „Es mag also daran gedacht sein, daß die Eltern Jesus in das Fest einführen wollen.“ Wie lange der Aufenthalt in Jerusalem gedauert hat, wird nicht exakt benannt. Der Hinweis aus Vers 43 (τελειωσάντων τὰς ἡμέρας) soll aber wohl andeuten, dass sie das ganze Fest über vor Ort blieben. So auch Schürmann (Lk I, 134) und Eckey: Lk I, 172. Bovon (Lk I,
3.2 Der 12-jährige Jesus im Tempel
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und seiner Eltern auch sprachlich deutlich: Sie vollendeten ihre Tage in Jerusalem, während er – Jesus – dort blieb, obwohl er als ‚Jugendlicher‘ (Ἰησοῦς ὁ παῖς) (noch) seinen Eltern zugeordnet sein müsste. Diese erste von drei Irritationen steigert sich in Vers 44: Die Eltern Jesu vermuten ihn fälschlicherweise innerhalb der Pilgergruppe (ἐν τῇ συνοδίᾳ) und suchen ihn deswegen erst einmal dort bei Verwandten und Bekannten. Sie ordnen Jesus also fälschlicherweise sich und ihrer Gruppe zu14 und erst nach erfolgloser Suche machen sie sich auf den Rückweg nach Jerusalem.
3.2.3 Lk 2,46–50: Jesus im Tempel 46 Und es geschah, dass sie ihn nach drei Tagen im Tempel fanden, inmitten der Lehrer sitzend, und er ihnen zuhörte und sie befragte. 47 Es staunten aber alle, die ihn hörten über sein Verständnis und seine Antworten. 48 Und als sie ihn sahen, erschraken sie und seine Mutter sagte zu ihm: Kind, warum hast du uns dies getan? Siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht! 49 Und er sagte zu ihnen: Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich sein muss in dem, was meines Vaters ist? 50 Und sie verstanden das Wort nicht, welches er ihnen sagte. Mit der typisch-lukanischen Einleitung καὶ ἐγένετο beginnt der zweite Abschnitt der Geschichte: Nach drei Tagen15 Suche finden sie Jesus im Tempel.16 Er sitzt
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155f.) bemerkt nur, dass Lukas die genaue Dauer des Aufenthalts nicht interessiere; ähnlich Schweizer: Lk, 42. Die falsche Zuschreibung Jesu zur eigenen Gruppe erfolgt auch bei Jesu Predigt in Nazareth (4,16–30). Dort verstehen die Gottesdienstteilnehmer Jesus als Sohn Josefs, nicht aber als geistgesalbten Gesandten Gottes. Bei beiden Perikopen reagiert Jesus mit Unverständnis auf die falsche Zuordnung, wenn auch die Abweisung der Nazarener eindrücklicher formuliert wird. Ob dies als echte Zeitangabe zu verstehen ist (ein Tag Rückreise, ein Tag Suche, ein Tag Finden; so Schürmann: Lk 134; ähnlich Klein: Lk, 154), oder „eine unbestimmte Dauer“ ausdrückt (so Bovon: Lk I, 156), muss offenbleiben. Ein Bezug auf die Auferstehung Jesu am dritten Tag (vgl. 9,22; 18,33; 24,7.46) sehe ich hier nicht (mit Bovon, ebd; ebenso Schürmann, ebd. Wolter: Lk, 148; auch Heininger: Familienkonflikte, 63). Wahrscheinlich ist die Drei-Tages-Frist eine Reminiszenz an „eine Not-, Warte- oder Vorbereitungszeit auf einen oft überraschend eintretenden heilvollen Moment, der sie beendet (z. B. Gen 22,4; 40,9– 15, Ex 19,19-20“ usw.), so Eckey: Lk I, 173. Lukas spricht hier offensichtlich vom Tempelbezirk, nicht vom Inneren des Tempels, wo Maria als Frau gar nicht hineingedurft hätte (vgl. Schweizer: Lk, 42). Vermutlich „denkt Lukas wohl an die Halle Salomos […]. Dort lokalisiert er später auch die Lehrstätte der Apostel“, Bovon: Lk I, 157.
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3 Exegese ausgewählter Perikopen
dort bei den Lehrern17 und hört diesen zu und stellt Fragen. Dabei scheint Lukas an ein Lehrgespräch bzw. eine gelehrte Diskussion zu denken.18 Er nennt zuerst Jesu Fragen und Antworten (2,46) und betont direkt anschließend seinen Verstand,19 welcher seine Zuhörer zum Wundern anregt (ἐξίσταντο20 … ἐπὶ τῇ συνέσει καὶ ταῖς ἀποκρίσεσιν αὐτοῦ; 2,47). Er scheint also begabter zu sein, als für einen zwölf Jahre alten Jugendlichen erwartbar gewesen wäre. Hier zeigt sich das Unverständnis der anwesenden Zuhörer über sein besonderes Verständnis dessen, was gelehrt und gelernt werden soll: die Tora Israels. „Lukas erzählt also, dass und wie sich Jesus im angemessenen Alter voll in die Tradition der jüdischen Bibel und ihrer jüdischen Auslegung hineinstellt. Er, der sicher schon in dieser Tradition aufgewachsen ist, übernimmt auch öffentlich und sichtbar diese Tradition. Ihre Geltung ist uneingeschränkt vorausgesetzt und wird weitergeführt.“21 Dass Jesu Fähigkeiten besonders sind, scheint durch den Text durch; er bleibt aber innerhalb der Weisungen und des Rituals seines Volkes. Mit zwölf oder 13 Jahren werden Jungen als vollwertige Mitglieder ihrer Gemeinde anerkannt22 und zählen auch bei der Anzahl der für den Gottesdienst notwendigen Männer mit. Dementsprechend werden sie im Lesen und Verstehen der Schriften Israels unterrichtet.23 Von Jesu Unterricht erfahren wir in den Evangelien nichts, aber das Ergebnis, wie Lk 2,47 es beschreibt, zeigt, dass Jesus als
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Die Bezeichnung der Rabbis als διδάσκαλοι ist auffällig, da Lukas nur an dieser Stelle den Begriff für diese nutzt. Er spricht ansonsten von Schriftgelehrten (νομοδιδάσκαλοι bzw. γραμματεῖς) bzw. Gesetzeslehrern (νομικοι). Vgl. Krückemeier: Literatur, 312. Διδάσκαλος ist im Lukasevangelium fast durchgehend Jesus vorbehalten. Jesus sitzt unter den Lehrern, d. h. er diskutiert mit ihnen. Selbst wenn man das Sitzen Jesu als Zeichen für Jesu Gleichrangigkeit mit den Lehrern versteht (so Bovon: Lk I, 157; anders Klein: Lk 154), wird er dadurch nicht zu einem Lehrer im Sinne eines Toralehrers. Eine apologetische Tendenz, die Jesu vorgeworfenes Unwissen zu entkräften versucht (nach Bovon, ebd.: „eine Auseinandersetzung mit jüdischen Intellektuellen“) kann ich hier nicht entdecken. Dazu Ernst: Lk, 124: „Jesus wird also keinesfalls als Lehrer vorgestellt […]. Jesus tut nichts Außergewöhnliches, er beteiligt sich lediglich an der Diskussion mit den anerkannten Lehrautoritäten.“ So auch schon Zahn: Lk, 167: „Verkehrter konnte man dies Bild nicht überschreiben als mit den Worten ‚Jesus lehrt im Tempel‘“. σύνεσις ist wohl synonym mit σοφία zu setzen (vgl. Lk 2,40.52). So auch Schürmann: Lk, 135 und Bovon: Lk I, 157f. ἐξίστημι im Sinne von ‚erstaunen, erschrecken‘, findet sich neben 2,47 im Lukasevangelium an zwei weiteren Stellen: Nach der Auferweckung der Tochter des Jairus (8,41–56) erstaunen die Eltern des Mädchens; ebenso erstaunen die Emmausjünger über die Erzählung vom leeren Grab durch die Frauen (24,22). Alle drei Vorkommen von ἐξίστημι verbinden sich mit Unverständnis über die Handlungen Jesu, in 8,56 verbietet Jesus den Eltern sogar über das Ereignete zu reden. „Erwähnenswert ist, dass Lukas auch den ersten öffentlichen Auftritt des Paulus nach seiner Bekehrung wortwörtlich dieselbe Reaktion hervorrufen lässt“ (Wolter: Lk, 149). Crüsemann: Wahrheitsraum, 17. Vgl. Crüsemann: Wahrheitsraum, 17. Vgl. Billings: Age, 73.
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„der ideale Toraschüler gezeichnet“ 24 wird, welcher durch seine besondere Begabung25 Staunen bei den Zuhörern auslöst: Die zweite Irritation der Geschichte. Die Mutter Jesu geht überhaupt nicht auf diese besondere Situation ein, sondern formuliert nur ihre elterliche Sorge: Sie haben ihr Kind26 mit Schmerzen gesucht (ὀδυνώμενοι ἐζητοῦμέν σε) und fragen nach dem Grund seiner Handlung.27 Allerdings reagiert Jesus nicht auf die emotionale Aussage seiner Mutter, sondern spiegelt nur sein eigenes Unverständnis über ihre Suche:28 Er muss doch ἐν τοῖς τοῦ πατρός μου sein. Offen muss dabei vorerst bleiben, ob Jesus sich hier auf den Tempel, einen anderen Ort oder vielleicht auf die Lehrer Israels bezieht. Bei letzter Deutungsmöglichkeit hieße das, Jesus müsse bei [den Lehrern] seines Vaters sein. 29 Darauf wird später noch zurückzukommen sein. 24
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Klein: Lk, 154; ähnlich Heininger: Familienkonflikte, 64, der „Jesus – zumindest auf vorlukanischer Ebene – weniger als Lehrer […], sondern lernbegieriger Schüler“ dargestellt sieht. Gegen Wolter: Lk, 148f., der Jesus als „Gesprächspartner“ auf einer Ebene mit den Lehrern deutet. Seine Bemerkung: „normalerweise versammelt ein Lehrer eine Mehrzahl von Schülern um sich und nicht umgekehrt“ ist sicherlich korrekt. Jesus wird aber nicht als der Schüler eines bestimten Rabbis dargestellt; er lernt von allen. Zudem ist die Anwesenheit mehrerer Rabbinen direkt nach einem Wallfahrtsfest auf dem Tempelgelände durchaus denkbar. Hinzu kommt, dass bei Lukas Schriftgelehrte fast durchgängig in der Mehrzahl vorkommen (vgl. u. a. 5,21.30; 11,53; 20,1). Bovon: Lk I, 162, nennt Jesus sogar „das weiseste Kind in ganz Israel.“ Schürmann (Lk, 135) weist hingegen darauf hin, dass an dieser Stelle nicht Jesu „natürlich-geistliche ‚Begabung‘, sondern sein im Gesetzesverständnis zutage tretendes Wissen um den Gotteswillen“ sichtbar werde. Schürmann ist Recht zu geben, da Lukas an dieser Stelle ja die Eingebundenheit Jesu in den religiösen Kontext des Judentums stark machen möchte. Seine σύνεσις bezieht sich auf die Diskussion mit Rabbinen, eo ipso auf die Auslegung der Tora. Dass Maria Jesus an dieser Stelle nicht mit seinem Namen, sondern als τέκνον anspricht, betont seine Zuordnung zur Familie, die durch die nachfolgenden Worte Jesu in Frage gestellt werden wird; vgl. Schürmann: Lk, 135. Klein (Lk, 154 (Fn 37)) sieht hier die Differenz zum elternunabhängigen Handeln des παῖς Jesus in Vers 40. Nach Pesch: Kind, 245f. gibt Lukas hier mit τί ἐποίησας ἡμῖν οὕτως; eine alte Formel wieder (so auch schon Schlatter: Lk, 205), die eine Enttäuschung des Fragenden voraussetzt (vgl. Gen 12,18; 20,9; 26,10; 29,25; Ex 14,11 und weitere). Bovon: Lk I, 159, deutet die Szene fast schon anthropologisch, vielleicht auch aus persönlicher Betroffenheit: „Und wie ein Halbwüchsiger gibt Jesus nicht nach: Er behauptet seine Meinung mit absoluter Selbstverständlichkeit. Wie oft in den Generationskonflikten verstehen die Eltern am Schluss der Auseinandersetzung den Sohn nicht, und wie oft in solchen Fällen bleibt der Vater stumm.“ Alternativ zu dieser Deutung diskutiert Bovon (Lk I, 160) auch die Möglichkeit, dass sich nach Delebecque: Note, 40–42, auch übersetzten ließe: Jesus müsse sich „mit den Sachen meines Vaters beschäftigen.“ Daneben schlägt er vor, die Doppeldeutigkeit des Lukas anzuerkennen und dementsprechend Jesus hier sowohl auf den Tempel als Ort Gottes, als auch die Tora als „Sache Gottes“ sprechen zu lassen. Dem muss nicht widersprochen werden, wobei m. E. die lokale Verstehensmöglicheit durch die räumliche Struktur der Perikope am nächsten liegt (vgl. Abb. 1). Schürmann: Lk I, 136, versteht Jesu Aussage auch auf den Tempel bezogen, sieht hier aber zusätzlich die Forderung des erwachsenen Jesus nach Toraobservanz angesprochen: „Sachlich heißt ‚in dem meines Vaters sein‘ also: in ganzer
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Offensichtlich ist allerdings, dass hier Maria und Jesus aneinander vorbei sprechen. Maria versteht in Vers 48 Josef als Vater Jesu; Jesus selbst spricht von Gott als seinem Vater.30 Es entsteht gegenseitiges Unverständnis31 und damit die dritte, die größte Irritation. Lukas betont die Wichtigkeit der Aussage Jesu dadurch, dass er es explizit als das Wort, welches er ihnen sagte (τὸ ῥῆμα ὃ ἐλάλησεν αὐτοῖς) bezeichnet. Und dieses Wort ist das erste Wort, das Jesus im gesamten Evangelium spricht.32 Danach wird er erst wieder in der Synagoge von Nazareth öffentlich reden.33
3.2.4 Lk 2,51–52: Jesus ordnet sich wieder in seine Familie ein 51 Und er ging mit ihnen hinab und kam nach Nazareth und er ordnete sich ihnen unter. Und seine Mutter bewahrte alle Worte in ihrem Herzen. 52 Und Jesus machte Fortschritte in Weisheit und Wachstum und Gnade bei Gott und den Menschen.
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Hingabe und Ausschließlichkeit für das Wort Gottes da sein, was charakteristisch ist für Jesu späteres Verhalten und seine ständige Forderung.“ Schüssler Fiorenza: Luke 2:41–52, 401 fügt eine weitere Übersetzungmöglichkeit hinzu: „Did you not know that I had to be among the household or relatives of my father?“ Sie erklärt: „Such a translation brings out the contrast between Jesus’ biological familiy and his ‘true’ family.“ Diese „true family“ wäre somit die „Christian community“: „In other words, Luke’s source would not have referred to the Jewish teachers but to Christian teachers.“ Diese Deutung ist m. E. für die nun vorliegende Perikope schwierig nachzuvollziehen, da es ja gerade um die Integration Jesu in sein Volk (und dessen Gebote) geht. Damit greift Lukas auf 1,32.35 zurück. Ab 2,48 verschwindet Josef als Vater Jesu aus der Erzählung des Lukas, mit Ausnahme der Nennung in der Genealogie 3,23 (dort ist Jesus nicht Josefs Sohn, sondern wird nur für ihn gehalten: ὢν υἱός, ὡς ἐνομίζετο, Ἰωσὴφ) und des problematischen Rückbezugs auf Josef als Vater Jesu in 4,22 (dort bildet er aber wiederum den Kontrastpunkt zum eigentlichen Verständnis Jesu). An allen anderen Stellen, an denen Jesus von seinem Vater spricht (mein Vater: 10,22.; 22,29; 24,49; euer Vater: 6,36; 12,30.32; Vater direkt angesprochen: 10,21; 11,2; 22,42; 23,34.46), ist Gott damit gemeint. Zur historischen Rückfrage vgl. Heininger: Familienkonflikte, 67–70. Räisänen: Mutter Jesu, 136 verweist hier auf ein „fast wörtliches Gegenstück“ in Lk 18,34, wo das Unverständnis der Jünger in Bezug auf die Leidensankündigung angezeigt wird. Ebenso von Bendemann: Doxa, 157f. Auch Jesu letzte wörtliche Rede im Rahmen des Lukasevangeliums spricht von Gott als seinem Vater (24,49). In der Versuchungsgeschichte spricht Jesus dreimal (4,4.8.12). Diese Worte werden allerdings nicht öffentlich gesprochen und stellen zudem Zitate aus dem Alten Testament dar. Wolter: Lk, 146: Jesus wird „hier zum ersten Mal zu seinem eigenen Interpreten.“
3.2 Der 12-jährige Jesus im Tempel
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Nun wird die eben dargestellte Differenz aufgehoben und Jesus fügt sich freiwillig34 wieder in seine Familie ein: Er kehrt zurück nach Nazareth und ordnet sich damit seinen Eltern unter (ἦν ὑποτασσόμενος αὐτοῖς). Damit ist – als Inclusio mit Vers 42 – der alte Zustand wieder hergestellt. Jesus ist bei seinen Eltern, ordnet sich unter und gliedert sich damit wieder in die familiäre Ordnung ein.35 Seine Mutter bewahrt nun alle seine Worte in ihrem Herzen (vgl. Lk 2,19), auch wenn das Unverständnis der Worte Jesu weiterhin vorausgesetzt werden muss.36 Der letzte Vers der Perikope dient als Abschluss der Geschichten um Geburt und Kindheit Jesu und des Täufers. Das Wachsen Jesu in Gottes Gnade und Weisheit (vgl. 2,4037) wird ergänzt durch das Wachstum bzw. Alter Jesu (ἡλικία) und den Zusatz, dass Jesus Gnade bei den Menschen gefunden habe.
3.2.5 Narrative Ritualanalyse Jesus wird als Teil seiner Familie und seines Volkes dargestellt, wozu die Beachtung religiöser Rituale gehört. Zusammen mit seinen Eltern zieht er hinauf nach Jerusalem und gemeinsam mit ihnen wird er am Ende wieder zurück nach Nazareth gehen. Diese Eingebundenheit in die Familie bekommt aber durch den Aufenthalt in Jerusalem einen Riss. Für die ritualwissenschaftliche Untersuchung 34
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Nach Ernst: Lk, 126, ist die Einordnung Jesu ein „Gehorsam ‚nach Außen‘“, welcher „die innere Freiheit und Unabhängigkeit des Gottessohnes nicht berührt. Indem sich Jesus der natürlichen Ordnung fügt (vgl. Kol 3,20; Eph 6,1), akzeptiert er das Mensch-Sein bis zur letzten Konsequenz.“ Die familiäre Ordnung kann natürlich nicht von der religiösen Ordnung getrennt werden. Jesu Unterordnung in die Familie entspricht dann der Annahme des Gebotes, seinen Vater und seine Mutter zu ehren (Ex 20,12; Dtn 5,16); vgl. Eckey: Lk I, 176. Anders als in Vers 50 wird hier von Worten Jesu im Plural gesprochen (πάντα τὰ ῥήματα). Da außer in Vers 49 keine weiteren Worte des kindlichen bzw. jugendlichen Jesus überliefert sind, könnte der Plural auf weitere Aussagen Jesu verweisen. Bovon: Lk I, 162 (Fn 54): „πάντα τὰ ῥήματα geht über die Tempelepisode hinaus und faßt die Ereignisse in Lk 1–2 zusammen“; ebenso Schürmann: Lk, 138 und Schweizer: Lk, 41. Das würde unterstreichen, dass der Riss in der Verbindung Jesu zu seinen Eltern (und besonders zu seinem Vater Josef) dauerhaft war (so Bovon: Lk I, 161). Mit wörtlicher Parallele zur Aussage über Johannes den Täufer in Lk 1,80: Τὸ δὲ παιδίον ηὔξανεν καὶ ἐκραταιοῦτο … Vgl. Wolter: Lk, 118.146f. Lukas bildet hier wohl parallel zu 1Sam 2,26 (vgl. 1Sam 2,21; 3,19), vgl. Wolter: Lk 151. Dabei kann die biblische Figur des Samuel schon deshalb gut als Vorlage vorgestellt werden, da sie „eine der umfangreichsten Kindheitsgeschichten der antiken Welt“ darstellt (Kunz-Lübcke: Kindheitskonzepte, 390). Kunz-Lübcke verweist zudem auf die spätägyptische Erzählung von Si-Osiris: „Zwischen beiden Erzählungen bestehen Gemeinsamkeiten: Das gelehrte Kind ist zwölf Jahre alt, sein Wissen erweist sich dem Gelehrten seines Volkes als ebenbürtig bzw. überlegen, diese besondere Begabung wird den Eltern bzw. der Mutter erst beim Besuch in der Schule bzw. im Tempel deutlich“ (395). Einen ausführlicheren Vergleich zwischen Si-Osire und Jesus in Lk 2,41–52 findet sich in Klinkmann: Warum, 144f.
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öffnen sich an dieser Stelle drei Fragekomplexe: (1) Inwiefern korrespondiert die Darstellung der Loslösung und Reintegration Jesu in die familiäre und religiöse Ordnung seiner Zeit mit der im Text dargestellten Ritualwelt? Kann dabei überhaupt von einer wirklichen Loslösung Jesu gesprochen werden, oder ist er eher als ‚liminaler Grenzgänger‘38 zu verstehen? (2) Davon abhängig ist die Frage, welche Auswirkungen die Handlungen Jesu für die Zielsetzung von Ritualen, also der „Erneuerung und Reproduktion einer Gemeinschaft als Ganzes“39 haben. Und (3) stellt die Erzählung des zwölfjährigen Jesus im Tempel in vielerlei Hinsicht eine Prolepse auf nachfolgendes Geschehen dar? Trifft dies auch auf die lukanische Darstellung von Jesus als Charismatiker zu? (1) Auffälligerweise entspricht die Klimax der Loslösung und Wiedereingliederung Jesu in den familiären Kontext der topographischen Steigerung innerhalb der Erzählung.40 Die Einbindung Jesu in seine Familie und deren Einbindung in den rituellen Kontext Israels beschreiben die Verse 41 und 42a. Ausgehend von Nazareth in Galiläa (2,39) geht die Familie gemeinsam mit dem nun zwölf Jahre alten Jesus hinauf nach Jerusalem anlässlich der Wallfahrt zum Passafest; Jesus verlässt also innerhalb der lukanischen Erzählung zum ersten Mal auf eigenen Beinen seine Heimat Nazareth. Das Alter von zwölf Jahren, das Lukas hier angibt, ist sicher nicht zufällig, denn Jesus ist gerade auf der Schwelle zum Erwachsenwerden, da – wie oben schon notiert – „die meisten […] talmudischen Texte die Volljährigkeit eines Knaben mit 13 Jahren“ ansetzen.41 Er wird ab 38
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Victor Turner spricht von Grenzgängern und definiert sie als Schwellenwesen: „Schwellenwesen sind weder hier noch da, sie sind weder das eine noch das andere, sondern befinden sich zwischen den vom Gesetz, der Tradition, der Konvention und dem Zeremonial fixierten Positionen“ (Turner: Liminialität, 247). Bergesen, Ordnung, 62. Die Gemeinschaft muss hierbei nicht unbedingt eine große Gruppe sein. Auch kleinere Gruppen wie Familien oder sogar Ehepaare sind in seinem Verständnis eine Gemeinschaft, bei welcher die Rituale Reproduktion bewirken sollen. Vgl. dazu Kapitel 2.3.9 dieser Arbeit. „Das gehäufte Vorkommen chronologischer und topographischer Angaben [sticht] sofort ins Auge“ (Heininger: Familienkonflikte, 51f.). Heininger (a. a. O., 53) verweist auch auf die häufige Nennung von Ortsbestimmungen, die mit der Präposition ἐν gebildet werden: Jerusalem (2,43), Pilgergruppe (44), Verwandten und Bekannten (44), Tempel (46), in der Mitte der Lehrer (46), in „dem meines Vaters“ (49). Bovon: Lk I, 155 (Fn 15) mit Bezug auf F. Manns: Bar Mitswa. Das Alter von zwölf Jahren ist auch für den Beginn des Wirkens biblischer Personen in der Tradition belegt. Bovon nennt hier „Mose, Salomo, Samuel und Daniel“ (vgl. auch 161 [Fn 52]; die Nennung der zwölf Jahre bei Samuel stammt von Josephus (Ant. V, 10,4), vgl. Kunz-Lübcke: Kindheitskonzepte, 395 (Fn 16)). Hinzu kommen Männer aus der hellenistischen Tradition: „Cyrus, Cambyses, Alexander und Epikur“ (Bovon: Lk I, 155). Damit ist sowohl dem jüdischen als auch dem heidnischen Leser das Alter Jesu als Schwellenalter vertraut. Vgl. auch Billerbeck II, 145, der die „Gewöhnung auch an die schwersten Gebote“ zwischem dem 12. und 13. Lebensjahr ansiedelt. Zu den Parallelen zu jüdischen bzw. hellenistischen Biographien bzw. Heldengeschichten vgl. Schüssler Fiorenza: Luke 2:41–52, 400 und Krückemeier: Literatur, 307–319; sowie Billings: Age und Eckey: Lk I, 177–179. Schüssler Fiorenza betont, dass antike Biographien
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diesem Zeitpunkt in die Gemeinschaft der Erwachsenen aufgenommen und ist verpflichtet, sich an die Gebote Gottes zu halten und löst sich somit aus der Obhut seiner Eltern, besonders seines Vaters. Noch ist Jesus allerdings nicht ganz in den Status des Erwachsenen hinübergetreten; mit zwölf Jahren steht er noch im Übergang. Dieser Schwellenzustand – im Sinne von Turner also der Liminalität42 – kann als ein Hauptaspekt der lukanischen Perikope verstanden werden, da an allen drei aufzuzeigenden Konfliktfeldern Jesu Liminalität – im Sinne von „Jesus ist schon Teil des Neuen, aber dennoch nicht losgelöst vom Alten“ – im Vordergrund steht. Direkt nach dem Fest kommt es zur Trennung und damit zu einer ersten Irritation: Jesu Eltern wandern hinab – zurück nach Nazareth, er selbst verbleibt oben in Jerusalem. Damit beschreibt die erste aktive Handlung Jesu die Trennung von seinen Eltern, die sich auf den Rückweg zu ihrer gemeinsamen Heimat – noch ist es auch die Heimat Jesu – aufmachen.43 Als Josef und Maria den Verlust Jesu bemerken und ihn weder in der Pilgergruppe noch bei Verwandten und Bekannten finden, gehen sie wieder hinauf nach Jerusalem und finden ihn im Tempel. „Möglicherweise wollte Lukas diese Fehleinschätzung der Eltern auch als eine inhaltliche Entfremdung und als symbolische Vorwegnahme des späteren Zerbrechens der überkommenen Familienbeziehung gedeutet wissen (vgl. 8,19–21; 11,27f; 12,51–53). ‚Verwandte und Bekannte‘ auf der einen Seite und Gott als ‚mein Vater‘ (V. 49) auf der anderen Seite
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„showing the greatness of the hero by elaborating how the person was great from the very beginning.“ Krückemeier führt zwar Parallelen zwischen der lukanischen Erzählung und anderen Berichten über herausragende Männer als Jugendliche auf (Augustus, Apollonios von Tyana, Pythagoras), kritisiert aber die vorschnelle Gattungszuschreibung als (antike) Biographie und möchte lieber von „biographischer Literatur“ sprechen (309 [Fn 7] und 313–316). In dieser erfüllt die Jugend-episode „nun den Zweck, ebendiese außergewöhnliche Bedeutung, die der Protagonist als erwachsener Mann besitzt, bereits in dessen Jugend vorausschauend abzubilden“ (317). Billings (Age, 74–83) weist deutlich darauf hin, dass für die nichtjüdischen Leser des Evangeliums die Berührungspunkte zu Erzählungen über Augustus deutlich werden. Lukas schlägt an dieser Stelle also Brücken zwischen jüdischer und pagan-hellenistischer Literatur und verdeutlicht, wie sehr Jesus als wahrer Sohn Gottes die Verehrung und Anbetung von Augustus und seinen vergöttlichten Nachfolgern verdrängen muss: „Luke selects his sources and shapes them so as to emphasize the manner in which the birth and childhood of Jesus parallels the events surrounding that of Caesar Augustus, and also applies to Jesus a matrix of language similar to that applied to Augustus, so as to remind and convince his readers that it is the Jewish-born ‘Son of God’ and not the imperial Divi Filius or his successors who is worthy of commanding their continued allegiance“ (Billings: Age, 88). Ausführlich zu jüdischen wie hellenistischen jugendlichen Figuren vgl. Klinkmann: Warum, 137–152. Vgl. dazu Kapitel 2.3.5 dieser Arbeit. Streng genommen lassen die Eltern Jesus – wenn auch unwissend – zurück. Die Loslösung ist also nicht explizit als einseitig zu verstehen, sondern basiert auch auf dem aus der Obhut Entlassen der Eltern.
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stehen sich gegenüber. Sie markieren unterschiedliche Sinnwelten, und wenn man Jesus nicht in der Sinnwelt Gottes sucht, sondern in der anderen, findet man ihn natürlich nicht.“44 Dabei wird deutlich, dass Jesus sich zwar von seinen Eltern räumlich trennt, aber diese Trennung noch nicht als vollkommen zu verstehen ist, da sie am Ende durch Jesus freiwillig wieder zurückgenommen werden wird. Jesus ist also – seinem Alter und dessen Wertschätzung in der religiösen Literatur des Judentums entsprechend – in einer Schwellenphase,45 in welcher sich die Differenz seines Handelns von dem seiner Eltern, Verwandten und seiner Heimat zum ersten Mal zeigt.46 Die erste Irritation beschreibt somit die beginnende Loslösung Jesu aus seiner Heimat, die im Sinne Turners als liminal zu verstehen ist, da sie – innerhalb von Lk 2,41–52 – wieder zurückgenommen wird: Jesus ist noch Teil seiner Heimat und ist es gleichzeitig nicht mehr. Nachdem nun die Eltern Jesu sich in Jerusalem auf die Suche gemacht haben, beschreibt Lukas die zweite, größere Irritation: Jesus sitzt bei den Lehrern im Tempel. Seine Fragen und Diskussionsbeiträge lassen bei den Zuhörern Staunen und Verwunderung aufkommen. Sie sind irritiert über seinen Verstand und seine Antworten (2,47). Mit dieser Irritation verbindet sich im Text allerdings keine exklusiv-christologische Deutung: Jesus ist zwar als Toraschüler herausragend – für einen zwölfjährigen παῖς – bleibt aber im Rahmen des Denkbaren, wie die Parallelität zu jüdischen wie paganen Erzählungen zeigt.47 Auch diese zweite Irritation kann als liminal verstanden werden: Auf der einen Seite ist Jesus ganz Schüler, er stellt Fragen und hört zu (2,47), auf der anderen Seite werden sein Verständnis und seine Antworten betont (2,48), als handelte er bereits wie ein Lehrer. Hier blitzt Jesu Lehrtätigkeit, von der Lukas später ausführlich – auch im Tempel (19,47–21,3848) – berichten wird, schon hervor. Die in der Literatur immer wieder auftauchende und oben bereits dargestellte Diskussion, ob Jesus an dieser Stelle als Lehrer oder Schüler dargestellt werden soll, zeigt, wie gut Lukas beide Elemente verknüpft und so das Liminale an Jesu Wirken in dieser Perikope betont. Jesus bleibt in dieser Perikope Schüler, wenn auch ein besonders interessierter und kompetenter. Jesu eigene Lehre im Tempel wird im Verlauf des Evangeliums in Lk 20–21 dargestellt werden.49 Die dritte und größte Irritation findet sich im nun folgenden Gespräch zwischen Jesus und seiner Mutter. Diese beschreibt ihre und des Vaters Jesu verzweifelte Suche nach ihrem Kind. Jesus hingegen erklärt Gott zu seinem Vater
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Wolter: Lk, 148. Vgl. Turner: Liminialität, 247 in Bezugnahme auf v. Gennep: Übergangsriten (vgl. Kapitel 2.3.4 und 2.3.5 dieser Arbeit). Die Darstellung des endgültigen Bruchs mit seiner Heimat Nazareth findet sich in der Antrittspredigt in der dortigen Synagoge (Lk 4,16–30), vgl. Kapitel 3.4 dieser Arbeit. Vgl. dazu die in Fußnote 41 dieses Abschnitts genannten Texte. Lk 19,47 und 21,37f. dienen als Inclusio für Jesu Lehre am Tempel. Vgl. Lk 20,1 und 21,37f., die das Lehren Jesu explizit benennen.
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und sagt, er müsse sein ἐν τοῖς τοῦ πατρός μου.50 Er meint damit zunächst den Tempel. Dies wird allerdings nicht explizit gesagt, sodass die Formulierung auch auf einen Ort verweisen könnte, der über den Tempel hinaus geht: den Himmel als Ort Gottes.51 Damit ist der höchste Punkt der Irritation und des Unverständnisses zwischen Jesus und seinen Eltern gleichzeitig der höchste vorstellbare räumliche Punkt: bei Gott im Himmel. Dies erschließt sich zudem aus dem Rückgriff auf die Gemeinde, die seit 24,49 (und Apg 1,9f.) weiß, dass Jesus im Himmel sein muss (δεῖ, vgl. Apg 3,20f.). „Auch jetzt, in der Gegenwart der Jerusalemer Gemeinde und dann auch der Leser, gilt mithin, dass Jesus ἐν τοῖς τοῦ πατρός αὐτοῦ ist, und genau die prinzipielle Notwendigkeit dieses Sachverhalts ist es, die Jesus selbst in seinem ersten Wort betont. Die Aussage weist also aus der Textwelt hinaus in die Welt der Leser, und die Offenheit der Formulierung hat ihren Grund darin, dass Lukas eine Bezeichnung verwenden musste, die sowohl auf den Tempel als auch auf den Himmel passte.“52 Maria und Josef verstehen dieses Wort nicht, so explizit Lk 2,50. Dies bewirkt dennoch keinen Abbruch der Beziehung von Jesus zu seinen Eltern. Im Gegenteil: Das Mitgehen Jesu hinab nach Nazareth (2,51: κατέβη μετ᾽ αὐτῶν) und die freiwillige Unterordnung53 in seine Herkunftsfamilie entsprechen dem Hinabgehen Jesu von Gott im Himmel, vom Tempel und von Jerusalem. Die Parallelität der Entwicklungen lässt sich gut grafisch veranschaulichen:
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Zu πατήρ im lk. Doppelwerk vgl. Ostmeyer: Kommunikation, 295f. Würde Jesus an dieser Stelle allein auf den Tempel verweisen, erschiene die Formulierung seltsam umständlich. Vgl. zudem die vielfältigen Bezüge zwischen Gott und Himmel im Lk: Gottes Stimme aus dem Himmel bei der Taufe Jesu (3,21) Gott als Herr des Himmels (10,21) bzw. Gott als Vater im Himmel (11,13). Hinzu kommen u. a. die in den Himmel entschwindenen Engel bei der Ankündigung der Geburt an die Hirten (2,15) und selbstredend die Aufnahme Jesu selbst in den Himmel in Lk 24,51 und Apg 1,9ff. (wohl angekündigt schon in 9,51: τῷ συμπληροῦσθαι τὰς ἡμέρας τῆς ἀναλήμψεως αὐτοῦ). Wolter: Lk, 150. Passend dazu Klein: Lk, 155: „Vom irdischen Vater, der in V.48 genannt war, absehend, spricht Jesus in V.49 von seinem himmlischen Vater. Die Bindung an die irdischen Eltern wird also zugunsten des ‚himmlischen Vaters‘ relativiert.“ Die Freiwilligkeit Jesu zeigt sich auch darin, dass kein Zeichen oder göttliches Wort seinen Anspruch legitimiert. Schweizer: Lk, 42 fügt hinzu: „Die Fremdheit des von Jesus Gesagten wird dadurch verschärft, daß er seinen Anspruch nicht durch Wunder bekräftigt, sondern durch seine Einordnung in das Alltagsleben seiner Familie, wo er dreißig Jahre lang […] lebt.“
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Jesus muss sein „ἐν τοῖς τοῦ πατρός μου“ (Tempel bzw. Himmel; 2,49) Dritte bzw. große Irritation: Gott als Vater Jesu Jesus sitzt im Tempel und lernt mit bewundernswertem Verstand (2,46) Zweite Irritation: Jesus als idealer Toraschüler Jesus bleibt in Jerusalem; Familie sucht ihn bei Verwandten (2,43ff.) Erste Irritation: Familie sucht Jesus am falschen Ort Passa-Wallfahrt hinauf nach Jerusalem (2,42) Jesus partizipiert als 12-Jähriger am Ritual
Jesu Familie ist in Nazareth (2,39); nimmt jährlich an Passa-Wallfahrt teil Jesus ist Teil der familiären Ordnung
Jesus geht mit hinab nach Nazareth und ordnet sich unter (2,51) Jesus ist freiwillig Teil der familiären Ordnung
Abbildung 1: Die Klimax der Irritation und des Weges der Familie Jesu
Genau wie bei den beiden vorausgegangenen Irritationen ist auch an dieser Stelle Jesu Wirken als liminal zu verstehen: Zwar ist er nun bei seinem Vater angekommen, er wird diesen Ort aber sofort danach wieder verlassen und nach Galiläa zurückkehren. Er bleibt nicht dauerhaft ἐν τοῖς τοῦ πατρός μου, sondern geht zu den Menschen. Aufgelöst wird diese Liminalität erst mit seiner Himmelfahrt (24,51), die dann konsequenterweise den Schlusspunkt des Evangeliums darstellt. Diese drei Irritationen lassen sich also gut mit der Vorstellung eines liminalen Status Jesu verbinden: Er ist schon herausgehoben aus der familiären und rituellen Welt, gleichzeitig bleibt er aber in ihr verhaftet. Er sprengt die vorgegebene Ordnung, fügt sich aber wieder, wenn auch nur temporär, in diese ein.54 (2) Nach der Ritualtheorie Bergesens dienen Rituale der „Erneuerung und Reproduktion einer Gemeinschaft als Ganzes.“55 Diesen Zweck kann die jährliche Wallfahrt zum Passa nach Jerusalem (vgl. Dtn 16,1–8) sicherlich erfüllen. Das Fest verdeutlicht die Erinnerung an den Auszug aus Ägypten als Ereignis für das
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Man könnte bei Lk 2,41–52 im Sinne Jörns von einer „Schwellengeschichte“ sprechen. Dies sind „Erzählungen bzw. Texte, die dadurch eine wichtige Schwelle in unserer Überlieferung markieren, daß in ihnen der Endpunkt einer Tradition mit dem Anfang einer neuen, ein Bis-hierher-noch mit einem Von-nun-an-nicht-mehr zusammenfällt, wobei das für beide Traditionen maßgebende Motiv erhalten bleibt“ (Jörns: Unverzichtbarkeit, 315). Jörns denkt dabei an Texte wie die Opferung Isaaks in Gen 22, der die Erinnerung an Menschenopfer bewahrt, aber für die Zukunft ausschließt. Auf meine Fragestellung bezogen: Nach der Episode im Tempel kann Jesus nicht mehr dauerhaft zurück zu seiner Familie: Er ist zwar immer noch (menschliches) Kind, aber er ist auch der Sohn Gottes. Bergesen, Ordnung, 62.
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ganze Volk Israel, ist aber gleichzeitig ein Familienfest.56 Beide Kategorien der Zugehörigkeit spielen eine Rolle. Lukas betont daher die Eingebundenheit der Familie Jesu in die Rituale ihres Volkes, da er sie als gesetzestreu darstellt. Dies gilt auch für Jesus, der nun „an der Schwelle zwischen Kindheit und Erwachsensein“57 an der Wallfahrt teilnimmt. Bezogen auf die Zugehörigkeit zum Volk gibt es in der Erzählung keinen Konflikt, nur eine Verwunderung. Jesus ist nicht nur Teilnehmer an der Wallfahrt, sondern auch Toraschüler: Er hört den Lehrern am Tempel zu und beteiligt sich mit Fragen und Antworten am Lehrgespräch.58 Sogar die Gleichsetzung Gottes mit dem Vater Jesu ist gerade nicht analogielos, sondern kann in den Schriften Israels begründet werden.59 Dem entspricht, dass die Verwunderung, die Jesus bei den Zuhörern auslöst, sich auf seinen Verstand und seine Antworten (2,47) bezieht – er bleibt aber als Toraschüler und Teil Israels erkennbar.60 Die große Irritation, die Jesus mit der Gleichsetzung Gottes als seinen Vater erzeugt, wird hingegen nur von den Eltern Jesu beschrieben.61 Das bedeutet, dass der Zweck des Rituals62 bezogen auf die Integration Jesu in sein Volk63 erfüllt wird, die Integration in seine Familie aber erst einmal scheitert und
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Vgl. Beyerle: Kult, 27–42. Krückemeier: Literatur, 310 (Fn 9). Ähnlich Nolland: Luke, 134: „At twelve Jesus would be in terms of the culture of the day beginning to make the transition from childhood to adulthood.“ Der Tempel „erscheint nicht als Ort des Kultes, sondern der Lehre wie 19,47; 21,37f.; Apg 2–5. Anders als in obigen Beispielen ist Jesus Schüler, der auf dem Boden hockend die Gelehrten fragt, was bei einem Zwölfjährigen schwerlich zu erwarten ist, aber doch dem gewohnten Schulbetrieb entspricht“ (Schweizer: Lk, 42). Im AT werden Sohn Gottes genannt: Der König (2Sam 7,14; Ps 2,7); das Volk (Ex 4,22; Hos 11,1); Gerechte (SapSal 2,17f.). Dazu gehört auch die an vielerlei Stellen bezeugte Vorstellung, die Israeliten seien Kinder Gottes/JHWHs: Dtn 14,1; 32,6.19; Jes 45,11 u. a. Vgl. Biberger: Art. Sohn/Tochter (AT). Dies kann durchaus besonderes Wissen über Gott als den Vater Jesu beinhalten (Lk 10,22); vgl. Schürmann: Lk I, 139. Vgl. Lk 2,50. Die αὐτοὶ, die das ῥῆμα Jesu nicht verstehen, sind in der vorausgesetzten Sprachsituation Maria und Josef. Dementsprechend parallelisiert Lukas in Vers 51b das Behalten aller Worte Jesu (πάντα τὰ ῥήματα) durch Maria. Das eigentliche Passaritual wird zwar gar nicht geschildert, aber das Ritual der Wallfahrt bietet den Anlass und die Voraussetzung für die Ereignisse mit Jesus im Tempel. Die Behauptung Bovons (Lk I, 158): „Es geht um die Spannung zwischen der jüdischen, noch nicht aufgeklärten Weisheit und der höheren, christlichen, geoffenbarten Weisheit“ hat keinen Anhalt am Text: Jesus ist ja gerade der jüdische Messias (das weiß der Leser schon aus der Kindheitsgeschichte), der aus den Schriften Israels verstanden werden muss (vgl. 4,21; 24,27). Die Geschichte um den 12-jährigen Jesus zeigt seine Einbindung in Volk und Überlieferung Israels. Der Bruch steckt nicht in einer jüdischen Weisheit, die sich einer christlichen unterordnen müsse (nach Bovon „eine Alternative zwischen einem Gut und einem noch höheren Wert“; ebd.), sondern in der Frage nach der Schriftgemäßheit des Wirkens Jesu (in Leben, Tod und Auferstehung).
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nur durch das freiwillige Einlenken und Wiederintegrieren Jesu aufrecht erhalten werden kann.64 Die oben angesprochene Funktion des Makrorituals Passafest als „Erneuerung und Reproduktion einer Gemeinschaft als Ganzes“ wird sich auch beim zweiten lukanischen Bezug zu diesem Fest wiederfinden: Das letzte Mahl Jesu ist beim dritten Evangelisten nicht nur dezidierter Teil des Passarituals, sondern auch Ausgangspunkt für die in der Gruppe der Jesusnachfolger sich konstituierende Gemeinschaft, die durch die Wiederholung des Brotbrechens (22,19 vgl. 24,30 und Apg 2,42.46; 20,7) erneuert und reproduziert werden wird.65 Lukas schließt also den Kreis: Das erste Passa in Lk 2 eröffnet die Loslösung Jesu aus den rituellen und familiären Ordnungen, das zweite Passa in Lk 22 ermöglicht die Bildung einer neuen Gemeinschaft, die durch ihre eigene rituelle Ordnung konstituiert ist. (3) Die lukanische Darstellung Jesu kann sehr gut durch eine CharismatikerTheorie gedeutet werden.66 Sein Charisma, das im Sinne Webers als eine „außeralltäglich […] geltende Qualität einer Persönlichkeit“, welche mit „übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch außeralltäglichen […] Kräften oder Eigenschaften oder als gottgesendet oder als vorbildlich […] gewertet wird“67, wirkt schon im jugendlichen Jesus. Von außen betrachtet, nimmt Jesus innerhalb der rituellen Ordnung den ihm zugewiesenen Platz ein: Er ist Teil seiner Familie, seines Volkes und dessen Religion. Betrachtet man die lukanische Darstellung genauer, wird deutlich, dass die vorgegebenen Rituale durch Jesus zwar aufgenommen werden, er sich ihnen allerdings freiwillig unterwirft. Hier kommt die Agency Jesu in den Blick: Er beansprucht nicht nur die Loslösung und Freiheit von Familie und Ritual für sich, sondern setzt sie auf besondere Weise auch durch: Seine auf eigenem Willen ba-
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Möglicherweise spiegelt sich hier die Situation der ersten Nachfolger Jesu und deren durch die Nachfolge bedingten familiären Konflikte (vgl. 9,59f.): „The Gospel traditions, therefore, sharply place Jesus’ new family, the Christian community, over against the natural familiy and the patriarchal household of the time. The early Christian movement was an alternative way of life not based upon the subordination relationships of the Greco-Roman and Jewish patriarchal family but upon the free decision of individuals to discipleship“, so Schüssler Fiorenza: Luke 2:41–52, 402. Dieser Argumentation könnte man die paulinische Forderung hinzufügen, so wie er, nicht zu heiraten, sondern ehelos zu bleiben (1Kor 7,1–9). Demgegenüber stehen allerdings die Bezüge zur Ehe von Petrus (Heilung seiner Schwiegermutter: Mk 1,29–31parr) und der anderen Apostel und Herrenbrüder (Mitführung der Ehefrau auf Missionsreisen: 1Kor 9,5; dieses Recht wird auch von Paulus nicht infrage gestellt, auch wenn er offensichtlich einen anderen Maßstab an seine eigene Mission anlegt). Die späteren Texte fordern dafür umso deutlicher die Anpassung an die (familiäre) Ordnung ihrer Zeit: Kol 3,18–21; 1Petr 3,1–7. Ausführlich dazu in Kapitel 3.7 dieser Arbeit. Vgl. dazu das Kapitel 2.3.11 dieser Arbeit. Weber: Wirtschaft, 179 (vgl. den Abschnitt 2.3.11).
3.2 Der 12-jährige Jesus im Tempel
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sierende Trennung von der Familie (2,43) wird durch seinen Willen wieder (temporär) aufgehoben (2,51); sein Zuhören und Fragenstellen an die Lehrer (2,46) erzeugt das Zuhören und erwartungsbrechende Wundern der Anwesenden (2,47); sein Bruch mit Josef als Vater und die Hinwendung zu Gott als Vater im Himmel bezeugt seine Sendung. Jesus bricht also mit den Ordnungen seiner Zeit und Umwelt, fügt sich dennoch freiwillig und lediglich temporär in diese wieder ein. Die Episode des zwölfjährigen Jesus im Tempel dient hierbei als Prolepse seines charismatischen Wirkens, wie es das Lukasevangelium ausführlich darstellen wird. Jesus kann frei mit ritueller Ordnung seiner Zeit umgehen und sie für seine Zwecke nutzen; gleichzeitig dient sie als Anker und Anknüpfungspunkt (die Tora verstanden als Weisung Gottes für das Leben68) bzw. als Gegenpol und Konfliktanlass (Jesus lebt als Wanderprediger außerhalb von Haus und Familie). Auffällig ist dabei seine Umdeutung der rituellen Elemente: Der Tempel bleibt zwar weiterhin Zentralort Israels, aber seine eigentliche Funktion als Stätte der Opfer für bzw. an Gott verblasst; er ist nun ein Ort der Lehre und des Gebets (19,46; Apg 3,1).69 Ebenso verschwindet die Unterordnung unter den (leiblichen) Vater bzw. die Familie. Sie wird ersetzt durch die Fokussierung auf den himmlischen Vater und dessen Auftrag an Jesus. All dies ist auch schon bei der Erzählung von Jesus als παῖς vorhanden. Sie ist zu verstehen als Prolepse auf das zukünftige Wirken Jesu als vom Geist beseelter – charismatischer – Prediger (losgelöst von seiner Heimat Nazareth: Lk 4,16– 30), der nicht nur seinen Auftrag familiären Bindungen überordnet (Lk 8,19–21 und 14,26), sondern dies auch von seinen Nachfolgern fordert (Lk 9,57–62).
3.2.6 Zusammenfassung und Fazit In der Erzählung Lk 2,41–52 ist Jesus eine Art Grenzgänger, ein Schwellenwesen. Er befindet „sich sich zwischen den vom Gesetz, der Tradition, der Konvention und dem Zeremonial fixierten Positionen.“70 Jesus löst sich in dieser Perikope von seinen Eltern, sein Toraverständnis geht weit über das erwartbare Pensum eines Jugendlichen hinaus und die Beziehung zu seinem himmlischen Vater als Mittelpunkt des Wirkens Jesu lässt schon die besondere charismatische Sendung Jesu erkennen.
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Tora hier als pars pro toto für die Gesetze Gottes, die u. a. zur Wallfahrt verpflichten. Dementsprechend ändert sich auch die Funktion der Wallfahrt: Jesu Familie zieht zum Fest nach Jerusalem, also zum Opfer und kehrt dann wieder um. Jesus bleibt vor Ort, da das – nur implizit vorgestellte Opfer – für ihn keine Rolle mehr spielt: Der Tempel ist Ort der Lehre und des Gebets (vgl. Lk 19,47ff. und Apg 2–5). Vgl. Turner: Liminialität, 247.
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3 Exegese ausgewählter Perikopen
Es hat sich gezeigt, dass eine ritualwissenschaftliche Untersuchung besonders deutlich die Mehrdeutigkeit des zwölfjährigen Jesus bei seinem ersten selbstständigen Wirken im Lukasevangelium aufzeigen kann: Jesus ist an der Grenze zum Erwachsensein. Seine besondere Gottesbeziehung, sein charismatische Agency und damit die Loslösung aus den Grenzen von familiärer und ritueller Ordnung strahlen schon hervor, dennoch bleibt er – freiwillig – gebunden an genau diese Ordnung. Noch muss er wachsen (2,40.52 als Rahmen der Handlung), noch ist der Geist nicht auf ihm (3,22, vgl. 4,18 und 23,46), aber schon jetzt kann der Leser ihn als Sohn Gottes erkennen, der ἐν τοῖς τοῦ πατρός μου sein muss. Der Riss ist schon da, auch wenn er noch nicht verstanden werden kann (2,5071). Dieses Mal wandert er noch nach Nazareth zurück, nach seiner „Antrittspredigt“ (Lk 4,16–30) wird er dorthin nie wieder zurückkehren.72
3.3
Die Taufe Jesu (Lk 3,21–22)
Im Lukasevangelium wird die Taufe Jesu im Kontext der Darstellung des Wirkens Johannes des Täufers in nur zwei Versen erzählt. Sie verbindet das Herabkommen des Heiligen Geistes mit der Proklamation der Sohnschaft Jesu durch eine himmlische Stimme. Auch wenn der eigentliche Taufakt Jesu nur kurz beschrieben wird, stellt die Taufe Jesu – explizit das Beten im Kontext der Taufe – die erste Handlung des nun erwachsenen Jesus dar, die als Startpunkt seiner Wirksamkeit zu werten ist. Aus ritualwissenschaftlicher Perspektive wird im Zusammenhang mit der Taufperikope nach der Wirksamkeit bzw. Performanz der öffentlichen Taufe Jesu zu fragen sein. Das übliche und auch für die Apostelgeschichte anwendbare Verständnis der Taufe als Initiationsritus in eine neue Gemeinschaft bietet sich für die Taufe Jesu nicht an. Daher steht die Salbung mit dem Heiligen Geist als Gabe der göttlichen Agency auf Jesus im Vordergrund. Vorab muss allerdings nach dem Taufritual Johannes des Täufers gefragt werden: Kann sein rituelles Wirken im Kontext des dritten Evangeliums als Ritualdesign verstanden werden?
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Während wir über eine Reaktion Josefs nichts erfahren und das Evangelium das Unverständnis der Familie Jesu betont (8,19–22), wird die Anwesenheit der Mutter Jesu und seiner Brüder in der nachösterlichen Gemeinschaft beschrieben: Apg 1,14. Jakobus als Bruder Jesu übernimmt sogar eine wichtige Rolle in der Jerusalemer Gemeinde (Apg 15,14; vgl. auch Gal 1,19; 2,9; Jak 1,1; Jud 1,1). Zur synoptischen Auseinandersetzung Jesu mit seinen Verwandten vgl. Schüssler Fiorenza: Luke 2:41–52, 401f. Vgl. Tropper: Didáskalos, 136.
3.3 Die Taufe Jesu
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3.3.1 Einordnung in die Erzählung des Evangeliums Nach den Erzählungen rund um die Geburt von Johannes und Jesus in Lk 1–2 und der Episode vom 12-jährigen Jesus im Tempel (Lk 2,41–521) setzt Lk 3,12 mit einer chronologischen Angabe neu ein.3 Diese Zeitangabe schließt an Lk 1,5 und 2,1f. an, bietet aber mehr Bezüge zu auch außerneutestamentlich bekannten Personen: Genannt werden der römische Kaiser Tiberius, der judäische Statthalter Pilatus und die beiden jüdischen Tetrarchen Herodes und Philippus4 sowie die Hohepriester Hannas und Kaiphas. Lukas legt anscheinend großen Wert darauf, dass der Leser die zeitliche Einordnung des nun Berichteten genau nachvollziehen kann. Wie schon in Lk 1,5 erwartet der Leser nach den ausführlichen zeitlichen Bezügen eigentlich eine Jesusgeschichte.5 Zuerst wird aber von Johannes berichtet, der durch das Wort Gottes ergriffen wird (3,2). Ort dieser Handlung ist die Wüste – wo sich Johannes nach Lk 1,806 schon dauerhaft befindet – genauer „die ganze Gegend um den Jordan“ (3,1). In Verbindung mit Wüste7 kann hier 1 2
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Vgl. Kapitel 3.2 dieser Arbeit. Immer wieder ist diskutiert worden, ob Lk 1–2 ursprünglich Teil des Lukasevangeliums gewesen oder erst später hinzugefügt worden ist. Zuletzt kam durch die überlieferungskritischen Überlegungen von Matthias Klinghardt (vgl. ders.: Evangelium, Bd. II, 11ff.) Bewegung in die Debatte. Nach Klinghardt, der das älteste Evangelium aus der altkirchlichen Rezeption zum Evangelium des Marcion herausarbeiten möchte, ist Lk 1–2 „zweifelsfrei als fehlend bezeugt: Nicht in Mcn vorhanden, erst durch die lk Redaktion eingefügt“ (11). Andere Exegeten sehen enge Verbindungen zwischen Lk 1–2 und 3–24, vgl. u. a. Müller: Prophet, 152 und Ó Fearghail: Introduction, 2–9, 31–38, die dementsprechend von der Zusammengehörigkeit von Lk 1–24 ausgehen. Für diese Untersuchung setze ich den kanonischen Umfang des Lk voraus. Zeitangaben dienen des Öfteren als Markierung eines narrativen Neuansatzes. Vgl. Reeve: Rite, 247: „The significance of John’s baptism […] is attested by an elaborate dating formula, a device often used in Greco-Roman narrative to mark transition to a major new section of narrative.” Zu Herodes und seinen Kindern vgl. Günter Baumbach: Art. Herodes/Herodeshaus, TRE XV, 159–162. Anders Müller: Prophet, 153, der durch die Ähnlichkeit der Formulierung von Lk 3,2 und Jer 1,1LXX einen Leserhinweis auf einen nun auftretenden Propheten – eben Johannes den Täufer – sieht. In 1,80 nennt Lukas schon die Bestimmung Johannes’, nämlich vor das Volk Israel zu treten. Dies wird mit seinem Aufenthaltsort in der Wüste verbunden, welcher in 3,2 wieder aufgenommen wird. „Der Weg, den Jesus in diesem Abschnitt [3,21–4,13; DK] geht, steht in spiegelbildlicher Entsprechung zum Weg des Täufers: Während dieser aus der Wüste an den Jordan kam (3,2f), nimmt Jesus den umgekehrten Weg (4,1)“ (Wolter: Lk, 168). Müller (Prophet, 163) vermutet hingegen eine Differenzierung zwischen Wüste und Jordangegend. Er verweist auf die Bewegungsrichtung des Johannes in 3,3 (er kam in die Gegend) und die Trennung von Jordan und Wüste bei der Versuchung Jesu (Lk 4,1). Dem ist das Jesaja-Zitat in Lk 3,4 entgegenzuhalten, die dezidiert von einem Prediger in der Wüste spricht. Außerdem wäre der Wüstenhinweis in Lk 1,80 hinfällig. Die Trennung von Wüste und Jordan in Lk 4,1 hängt mit der Notsituation Jesu während der Versuchung zusammen:
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3 Exegese ausgewählter Perikopen
nur der südliche, judäische Teil des Jordans gemeint sein, der vor dem Einfluss ins Tote Meer durch die Wüste fließt.8 Dort predigt Johannes nun die Bußtaufe zur Vergebung der Sünden (3,3: βάπτισμα μετανοίας εἰς ἄφεσιν ἁμαρτιῶν) und hat dabei großen Zulauf, wobei er der Volksmenge (ὄχλος) sowie Zöllnern (3,12f.) und Soldaten (3,14) ethische Anweisungen auf ihre Anfragen gibt. Viele halten ihn für den Messias (3,15f.), was Johannes aber mit der Ankündigung eines Stärkeren9 zurückweist und damit – ohne ihn namentlich zu nennen, für den Leser aber eindeutig – auf Jesus vorausweist. Dieser Stärkere wird sich besonders durch die Taufe mit Heiligem Geist und Feuer (ἐν πνεύματι ἁγίῳ καὶ πυρί) auszeichnen. Nachdem Lk 3,18 summarisch das Wirken des Täufers beschreibt, berichtet der Erzähler in 3,19f. von dessen Gefangennahme durch Herodes,10 bevor er ab Vers 21 die eigentliche Taufe Jesu darstellt. Johannes hatte Herodes (gemeint ist hier Herodes Antipas11) nicht nur wegen seiner bösen Handlungen zurechtgewiesen (19c), sondern auch wegen Herodias, der Frau seines Bruders. Lukas beschreibt dem Leser des Lukasevangeliums die Hintergründe nicht, offenbar setzt er sie als bekannt voraus.12 Nach der Taufperikope Lk 3,21f. lässt Lukas einen Stammbaum Jesu folgen, der in Vers 23 mit einer erneuten chronologischen Angabe verbunden wird: Jesus ist bei Beginn (ἀρχόμενος13) seines (öffentlichen) Auftretens „etwa 30 Jahre alt“ (ὡσεὶ ἐτῶν τριάκοντα).14
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Während es am Jordan zumindest Wasser zum Trinken gibt, ermöglicht die Wüste, wo der Teufel Jesus zum Brot-Machen verführen will, keinerlei Ernährung. Vgl. Wolter: Lk, 156, der von einem „größeren Landstrich an beiden Seiten des Jordans“ als Wirkungsort des Johannes ausgeht (im Gegensatz zu einer einzelnen Stelle). Zur Deutung der Wüste als „eine[r] unbesiedelte[n] Gegend“ vgl. ders.: 118 und Müller: Prophet, 147–149. Zum Motiv des Stärkeren vgl. Müller: Prophet, 194f. Ob im Kontext der alttestamentlichen Überlieferung (Gen 49,24; Ps 132,2; Jes 49,26) Gott selbst oder ein von Gott Gesandter gemeint ist, ist umstritten, vgl. Hartman: Namen, 17f. Zum Konflikt mit Herodes und der Gefangennahme des Täufers vgl. Müller: Prophet, 195–197. Herodes Antipas (Lk 3,19 nennt ihn Ἡρῴδης ὁ τετραάρχης) nimmt im Lukasevangelium eine größere Rolle als bei den anderen Evangelisten ein. Das zeigt sich besonders in der Passionsgeschichte, die ein zusätzliches Verhör Jesu vor Herodes erzählt (23,6–12). Dabei stellt der Erzähler die mit diesem Ereignis beginnende Freundschaft zwischen Pilatus und Herodes Antipas heraus (23,12). Einen aktuellen Überblick zu Herodes Antipas bietet Böttrich: Art. Antipas. Dies gilt auch für die Hinrichtung des Täufers, die im Lk-Evangelium nicht erzählt, sondern nur in Lk 9,7–9 erwähnt wird – direkt aus dem Mund Herodes’. Da ein Prophet laut Lk 13,33 in Jerusalem sterben muss, wäre ein Bericht über die in Galiläa stattfindende Hinrichtung Johannes’ (vgl. Mk 6,14–29) unpassend. „Das von Lukas in 3,23 verwendete ἀρχόμενος kann als terminus technicus antiker biographischer Literatur angesehen werden; es markiert in der Regel den Mittelteil einer Biographie“ (Müller: Prophet, 201). Vgl. dazu den Exkurs zum Alter des erwachsenen Jesus in meinem Aufsatz zur Frage nach dem Grund für die Altersangaben in Lk 2,42; 3,23 (Klinkmann: Warum, 137–152).
3.3 Die Taufe Jesu
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3.3.2 Lk 3,21–22: Taufe, Geistgabe und Proklamation Jesu als Sohn Gottes 21 Es geschah aber, als15 das ganze Volk sich taufen ließ, auch Jesus getauft wurde und, während er betete, sich der Himmel öffnete. 22 Der Heilige Geist kam herab auf ihn in leiblicher Gestalt wie eine Taube und es geschah eine Stimme aus dem Himmel: Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen. Lukas setzt den neuen inhaltlichen Abschnitt wie mehrfach in seinem Evangelium mit ἐγένετο δέ ein (bisher 1,8.23.41.59; 2,1.46).16 Das ganze Volk (ἅπας ὁ λαὸς17) lässt sich taufen, Jesus ist einer von ihnen18 bzw. lässt sich gemeinsam mit ihnen untertauchen.19 Der Ort des Geschehens wird nicht explizit genannt (anders: Mk 1,9) und muss aus Lk 3,2f. erschlossen werden. Auffälligerweise formuliert Lukas an dieser Stelle die Verse 21 und 22 in einem einzigen, von ἐγένετο abhängigen Satz:20 Weder wird das Taufen des Volkes 15 16
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ἐν τῷ mit Infinitiv Aorist, vgl. BDR §404.1. Vgl. auch von Bendemann: Doxa, 82f. Insgesamt benutzt Lukas 28-mal in seinem Evangelium eine Formulierung mit καὶ ἐγένετο δὲ, wobei die Verwendung von καὶ und δὲ variiert. I. d. R. setzt Lukas auf diese Weise einen neuen inhaltlichen Abschnitt ein (z. B. 1,8.23), teilweise betont er innerhalb einer Erzählung eine wichtige Veränderung (z. B. 2,46; 16,22). Das Volk (λαός) ist zu unterscheiden von der Volksmenge (ὄχλος) in 3,7. Letztere „sind noch nicht getauft, während [Erstere] ihrer Umkehr bereits durch die Übernahme der Taufe Ausdruck verliehen haben und darum mit dem Prädikat bezeichnet werden können, das dem Gottesvolk vorbehalten ist“ (Wolter: Lk, 169f.; ähnlich Ayuch: Johannesepisode, 64). Dass das ganze Volk getauft wird, könnte nahelegen, dass „the successful carrying out of the task Gabriel had given to John to make ‚ready a people prepared for the Lord‘“ im Hintergrund steht (Reeve: Rite, 248 [Fn 19]). Jesus wird „mit Hilfe eines Gen. absolutus als Teil des λαός herausgegriffen“, so Wolter: Lk, 170. Βαπτίζειν heißt eigentlich untertauchen, was den Vorgang gut beschreibt (vgl. Oepke: Art. Βαπτω, βαπτίζω, 527–544 und Barth: Taufe, 20–33). Im christlichen Kontext wird mit βαπτίζω i. d. R. das Taufen im Sinne von „durch Untertauchen zum Christen machen“ verstanden, vgl. Lentzen-Deis: Taufe, 36ff. Ausführlich geht zudem Matthes: Taufe, 52–63 auf die griechischen Begriffe ein. Sie schreibt in Bezug auf die Johannestaufe (56): „Da ein bloßes Eintauchen auch über βάπτω wiedergegeben werden könnte, scheint der einheitliche Gebrauch von βαπτίζω auf einer Betonung des dem Intensivum eignenden Moment eines vollständigen Untertauchens zu liegen.“ Dies passt zur einheitlichen Verwendung von βαπτίζω in den neutestamentlichen Schriften, während Formen von βαπτω nur an zwei Stellen des NT vorkommen (Lk 16,24 und Joh 13,26). In diesen beiden Fällen ist die Bedeutung eindeutig untertauchen, eintauchen (des Fingers, bzw. Brotstückes). Reichardt: Jordan, 26: „Lk 3,21f. besteht dagegen aus einem einzigen Satz, dessen Prädikat durch einen Präpositionalausdruck mit substantiviertem Infinitiv und einem doppelten Genitivus absolutus sowie drei Akkusative mit Infinitiv (AcI) fortgeführt wird.“ Vgl. auch Wolter: Lk, 169.
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3 Exegese ausgewählter Perikopen
noch das Taufen Jesu durch ein finites Verb ausgedrückt, sondern als AcI bzw. Gen.Abs. (jeweils im Aorist Passiv); auch das – nur bei Lukas erzählte – Beten Jesu ist nicht Satzprädikat (Part. Präsens προσευχομένου). Es fehlt die namentliche Nennung des Täufers, denn Johannes21 wurde ja schon in Vers 20 von Herodes gefangen genommen.22 Hans Klein vermutet bei der fehlenden Nennung Johannes’ und des Jordans (vgl. aber 4,1) ein „apologetisches Interesse“, da die Taufe Jesu durch Johannes „den Christen späterer Zeit ärgerlich“ war.23 François Bovon sieht hingegen hauptsächlich einen literarischen Grund: „Der Evangelist will erst zu Jesus hinüberführen, wenn er seinen Bericht über den Täufer vollendet hat. Für ihn gehört die Taufe Jesu in das Leben Jesu, nicht mehr in die Geschichte des Täufers.“24 Vergleicht man Lk 3,21a.b mit den parallelen Überlieferungen bei Mk und Mt25 wird dies noch deutlicher: Beide Seitenreferenten benennen eindeutig Johannes als Täufer Jesu (Mt 3,13, Mk 1,9).26 Auffällig ist auch, dass Jesus im lukanischen Kontext Teil einer Volksmenge ist, die sich taufen lässt (Lukas betont: ἅπας ὁ λαὸς), während er in Mt 3,13 und Mk 1,9 einzeln zur Taufe kommt, auch wenn hier wie dort vorab der große Erfolg der johanneischen Predigt beschrieben wird. Bei Lukas ist Jesus in die Volksmenge integriert.27 Dabei wird die Besonderheit Jesu dezidiert herausgegriffen: Die Öffnung28 des Himmels (in Anklang an Jes 63,19LXX29) und das Herabkom-
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Vgl. Reichardt: Jordan, 26, für den Johannes „als Täufer Jesu nicht mehr in Frage kommt“. Ebenso Theißen: Veränderungspräsenz, 304. Anders hingegen Wolter: Lk, 169: „Im Ablauf der Zeit der Erzählung ist Johannes schon im Gefängnis, in Bezug auf die Zeit des Erzählten wird vorausgesetzt, dass er noch aktiv ist (vgl. V. 21), obwohl er nicht als Erzählfigur präsent ist.“ Hierbei handelt es sich um eine bewusste narratologische Erzählweise, die im Doppelwerk des Lukas an mehreren Stellen anzutreffen ist, vgl. z. B. die Heilung der Schwiegermutter Petri (4,38f), die vor dessen Berufung (5,1–11) erzählt wird. Klein: Lk, 170. Das Ärgernis der „Bußtaufe“ des „sündlose[n] Jesus“ sieht auch Bovon: Lk I, 179. Bovon: Lk I, 178. Ähnlich formuliert Wolter: Lk, 169, der darauf verweist, dass Johannes nur der Vorläufer Jesu sein kann, wenn sich das Auftreten beider nicht überschneidet. Ausführlich dazu im ritualwissenschaftlichen Teil dieses Abschnittes. Vgl. dazu Reichardt: Jordan, 13–38. Dass Lukas Johannes und Jesus zeitlich auseinanderhalten möchte, formulieren auch Levine und Witherington: Luke, 91: „Luke takes the focus off John’s death in order to move to Jesus’ own experience at the baptism. At the same time, Luke makes it clear that Jesus and John were not engaged in rival movements; Jesus only began his mission after John had been imprisoned.“ Gegen Wolter: Lk, 169, für den die Taufe des Volkes „nicht Bestandteil der Haupthandlung“ ist, sondern dazu dient, „diese situativ zu verorten“. Warum Lukas diese Verortung brauchen sollte, bleibt dabei unklar. Er hätte ja wie Mk (und Mt) das Hinkommen Jesu zum Jordan beschreiben können. Mk 1,10 spricht von einer Spaltung des Himmels: σχιζομένους. Mit dem gleichen Verb beschreibt Mk 15,38 das Zerreißen des Tempelvorhangs in zwei Teile (ἐσχίσθη εἰς δύο). Vgl. Maurer: Art. σχίζω, 959ff.
3.3 Die Taufe Jesu
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men des Heiligen Geistes30 in leiblicher Form wie eine Taube gelten ihm, aber auch dem ganze Volk (ἅπας ὁ λαὸς) als öffentliche Proklamation der Sohnschaft Jesu. Dabei soll die Öffnung des Himmels „das Herabsteigen des heiligen Geistes auf Jesus möglich machen.“31 Lukas formuliert 3,21f. wie schon beschrieben in einem einzigen Satz. Durch die Beiordnung der Partizipien und Infinitive wird die Vorstellung einer Gleichzeitigkeit oder zumindest chronologischen Nähe der dargestellten Ereignisse ermöglicht.32 Taufe (zusammen mit dem Volk), Gebet, Geistgabe (Salbung) und Proklamation gehören also eng zusammen. Das im Markusevangelium der Taufe vorausgehende Sündenbekenntnis der Taufwilligen (Mk 1,5) erwähnt Lukas nicht, er umgeht damit auch die brisante Frage nach der Sündhaftigkeit Jesu.33 Während Mk und Mt explizit das Wiederauftauchen Jesu aus dem Wasser beschreiben und dies mit der Öffnung des Himmels verbinden, erzählt nur Lukas vom Beten Jesu (προσευχομένου)34 und setzt dieses chronologisch vor die Öffnung des Himmels. Die grammatikalische Formulierung des Gebets Jesu als Gen. abs. (in Form eines Partizip Präsens) lässt im Unklaren, ob er das Gebet schon während der Taufe spricht35 oder erst danach36 damit beginnt, wodurch ein zeitlicher Ablauf Taufe – Gebet – Himmelsöffnung entstünde. Diese mit dem Gebet37 verbundene Öffnung ermöglicht dann das Niederkommen des Heiligen
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Nur Lukas spricht an dieser Stelle vom Herabkommen des τὸ πνεῦμα τὸ ἅγιον (Mk 1,10: τὸ πνεῦμα, Mt 3,16: πνεῦμα θεοῦ, Joh 1,32f.: τὸ πνεῦμα). Alle Evangelien erwähnen in diesem Kontext die Ankündigung, Jesus werde mit Heiligem Geist (und Feuer bei Mt und Lk) taufen: Mt 3,11; Mk 1,8; Joh 1,33. Wolter: Lk, 170. Dies hat laut Wolter nichts mit „den Himmelsöffnungen der apokalyptischen Literatur“ zu tun, sondern ist eher vergleichbar mit Texten, „denen zufolge der Himmel sich öffnet, damit von dort etwas oder jemand auf die Erde herabkommen kann“ (ebd., kursiv dort). Von Bendemann: Doxa, 83: „All dies spricht dafür, daß die Wendung έγένετο δέ + έν τω cum infinitivo in Lk 3,21 einen zentralen Punkt im Handlungsaufbau des dritten Evangeliums markiert. Was folgt, baut hierauf auf: So führt der ‚Stammbaum Jesu‘ die Herkunft Jesu gemäß der Proklamation der Himmelsstimme auf Gott selbst zurück (Lk 3,38).“ Vgl. Reichardt: Jordan, 28. Jesus betet im Lukasevangelium an vielen Stellen: 5,16; 6,12; 9,18.28f.; 11,1; 22,41.46. Bovon: Lk I, 179. „Während die Taufe schon vollzogen ist (Partizip Aorist), dauert das Beten Jesu an (Partizip Präsens)“. Ebenso Wolter: Lk, 170. Barth: Taufe, 17f. (Fn 22): „Schon die Tempusdifferenz zwischen Aorist und Präsens zwischen Taufe und Gebet zeigt, daß das Gebet nicht zum Taufakt gehört, sondern eine von der Taufe getrennte Vorbereitung auf das folgende Geschehen ist.“ „Auf jeden Fall kommt es während des Betens Jesu zur Öffnung des Himmels, zum Herabsteigen des heiligen Geistes und zum Ergehen der Stimme. Das Gebet Jesu und die Gabe des heiligen Geistes werden dadurch in Beziehung zueinander gesetzt“ (Reichardt: Jordan, 28).
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3 Exegese ausgewählter Perikopen
Geistes auf Jesus.38 Der Heilige Geist wird bei Lukas – genauso wie bei allen Evangelisten39 – in Gestalt einer Taube dargestellt, allerdings ist das Taubenmotiv nicht eindeutig.40 Tauben firmieren in der alttestamentlichen Tradition sowohl als Opfertiere (z. B. Lev 12,6–12; vgl. Lk 2,24) als auch als Boten,41 im Hohenlied kann die Taube sogar als Metapher für die Geliebte dienen (u. a. Hl 1,15; 2,14; 4,1).42 Warum die neutestamentliche Überlieferung einheitlich eine Taube als Gestalt des Heiligen Geistes bezeugt, ist unklar; ihre leibliche Darstellung43 verdeutlicht wohl die öffentliche Sichtbarkeit der Verbindung Jesu mit dem Heiligen Geist. Trotz zahlreicher Versuche, den genauen Hintergrund der Taube zu erklären, ist „aber am wahrscheinlichsten die Annahme, dass Lukas der Taube keinerlei theologischen Symbolcharakter zuschreiben konnte.“ Geist und Taube gemeinsam ist allerdings die „Substanzhaftigkeit. Lukas hat sich also vorgestellt, dass der heilige Geist ungefähr so aussah wie eine Taube, als er auf Jesus herabkam.“44 Die Geistbegabung Jesu wird in 4,1.18 eine Rolle spielen. Sie gehört also konstitutiv zu Jesu Wirken.45 Lukas denkt hier wohl an die Verbindung von Salbung
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Die Herabkunft des Geistes auf Jesus wurde in der christlichen Kunst auf vielfältige Weise dargestellt, vgl. u. a. Keel: Taufe, 62f. Die (göttliche) Taube in der antiken Umwelt war wohl weiß (vgl. Schroer: Weisheit, 149, die von „eine[r] besondere[n] Zuchtform der Felsentaube“ ausgeht). Mt 3,16, Mk 1,10, Joh 1,32. Die Formulierungen unterscheiden sich im Detail, sind aber alle so zu verstehen, dass der Heilige Geist keine Taube ist, sondern nur für diesen Moment in Form einer solchen sichtbar wird. Vgl. die ältere ausführliche Darstellung bei Lentzen-Deis: Taufe, 170–183. Noah schickt nach der Sintflut einen Raben und danach Tauben auf der Suche nach trockenem Land los. Der erste Vogel kommt erfolglos zurück, der zweite mit einem Ölzweig und der dritte bleibt auf dem nun trocken gewordenen Land (Gen 8,6–12). Zur erotischen Konnotation der Taube vgl.: Schroer: Weisheit, 144–175, mit zahlreichen Belegen aus der antiken Umwelt der beiden Testamente. Sie arbeitet aus der altorientalischen und hellenistischen Umwelt das Bild der Taube als Liebessymbol, besonders von Göttinnen heraus: „Als repräsentatives Symbol oder Begleittier signalisiert die Taube in der antiken Bildkunst die Anwesenheit und Sphäre der Göttin. […] Die Taube flattert nun aber nicht einfach um die Göttin herum, sondern sie übernimmt Botinnenfunktion“ (149). Vgl. Ernst: Lk I, 118. Wolter: Lk, 171. Vgl. dagegen Schroer: Weisheit, 157ff., die im Geist die personifizierte Weisheit Gottes entdeckt, die wiederum vielfältige Verbindungen zur Taube als symbolischem Tier hat: „Das Taufgeschehen offenbart, daß Jesus der Mensch ist, in dem/auf dem die Weisheit/der Geist Ruhe findet. Die Stimme aus den Himmeln ist die Stimme der göttlichen Sophia/Sophia-Gottes, der/die seinen/ihren Erwählten gefunden hat. Als Symbol der Sophia, als Botschaft von ihrer Liebe und als Zeichen ihrer Gegenwart in Jesus kommt die Taube der ‚Göttin Sophia/des Pneumas‘“ (158). In die gleiche Richtung denkt Keel: Taufe, 58–63. Für antik-jüdische Vorstellungen war das Wirken eines Geistes in einem Menschen vorstellbar. Dieser Geist konnte entweder von Gott – wie bei der Taufe Jesu oder der Salbung Davids (1Sam 16,13) – oder von einem Dämon kommen (Lk 11,14ff.). Beides verursachte
3.3 Die Taufe Jesu
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(vgl. Lk 4,18; Apg 10,38) und Geistgabe bei Saul (1Sam 10,1–12; 24,7.11) und David (1Sam 16,13).46 Er „würde demnach hier zur Übernahme der ihm zugedachten Aufgabe (vgl. 1,32f; 2,11) autorisiert.“47 Doch dazu später mehr. Auf die Herabkunft des Heiligen Geistes folgt eine Stimme aus dem Himmel, welche die „zentrale Aussage“ der Perikope darstellt.48 Die mit Gott zu identifizierende Himmelsstimme49 spricht: σὺ εἶ ὁ υἱός μου ὁ ἀγαπητός, ἐν σοὶ εὐδόκησα.50 Jesus wird also direkt aus dem Himmel als Sohn (υἱός) bezeichnet, an dem Gott Wohlgefallen hat (εὐδόκησα; der Aorist zeigt den momentanen Charakter des Wohlgefallens Gottes).51 Damit wird die zweimalige Prophezeiung des Engels Gabriel aus der lukanischen Vorgeschichte erfüllt. Gabriel sagt dort zu Maria, Jesus solle „Sohn des Höchsten“ (1,32: υἱὸς ὑψίστου52) bzw. „Sohn Gottes“53 (1,35: υἱὸς θεοῦ) genannt werden. Damit stellt sich das κληθήσεται aus 1,32.35 als Passivum divinum heraus, da Gott es ist, der Jesus so benennt. Dies verbindet sich mit der sog. Verklärung Jesu (Lk 9,18–36). Auch dort beschreibt Lukas eine Stimme, die allerdings aus einer Wolke, nicht direkt aus dem Himmel spricht. Diese sagt: οὗτός ἐστιν ὁ υἱός μου ὁ ἐκλελεγμένος, αὐτοῦ ἀκούετε. Offensichtlich unterscheiden sich die Zuhörer der göttlichen Stimme. Während in Lk 3,22 nur Jesus angesprochen wird (mit betontem σὺ!), aber ἅπαντα τὸν λαὸν
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Veränderungen der Wahrnehmung und der Fähigkeiten des Besessenen: „Dieses weit verbreitete und gut dokumentierte Phänomen der Bewusstseinsveränderung, welches in den Gesellschaften des Mittelmeerraumes als Geistbesessenheit auftritt, stellt die Grundlage dar, um Jesu Taufe und Vision zusammenzuhalten und so die ganze Episode als eine Einheit anzusehen. In einer Kultur, die Geistbesessenheit billigt, ist es Individuen möglich, das zu erleben, was die synoptische Tradition berichtet. Weiterhin wären eben diese Individuen soweit sozialisiert, dass sie auf bestimmte Rituale hin bestimmte Ereignisse erwarteten“ (DeMaris: Taufe, 48). Saul und David unterscheiden sich in Bezug auf den Geist vor allem darin, dass Davids Geistbesitz als dauerhaft beschrieben wird, „ein ähnlicher Hinweis ist bei Saul nicht zu finden“ (vgl. zur Gegenüberstellung beider Salbungsgeschichten Schöning: Geschwisterlichkeit, 61–65, hier: 63). Wolter: Lk, 171. So Klein: Lk, 170. „The voice from heaven (vs. 22b) is called, in Hebrew, a bat qol, or ‚daughter of [the] voice‘; it is a circumlocation for describing God’s voice as it speaks from heaven“, so Levine/ Witherington: Luke, 92. Die beiden Kommentatoren verweisen auf weitere Himmelsstimmen des AT (92f.). „Es handelt sich um eine Kombination von Ps 2,7 und Jes 42,1, die bereits Mk vorgelegen haben dürfte“ (Klein: Lk, 171). Codex D weicht an dieser Stelle ab und zitiert Ps 2,7 (LXX): Υἱός μου εἶ σύ, ἐγὼ σήμερον γεγέννηκά σε. Nach Bovon: Lk I, 181 verbindet sich hier eine „Prädikationsformel“ nach Ps 2,7 mit einem „Ausdruck der höchsten Liebe (in Anlehnung an Jes 42,1).“ Dazu passt gut, dass Johannes von seinem Vater Zacharias als Prophet des Höchsten angekündigt wird (1,76). Vgl. dazu den ersten Punkt der ritualwissenschaftlichen Betrachtung dieses Kapitels. Auch der Teufel benutzt zweimal die Formulierung ‚Sohn Gottes‘ bei der Versuchung Jesu (4,3.9); ebenso die Dämonen in 4,41 und 8,28.
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3 Exegese ausgewählter Perikopen
mit dabei sind, sind in Lk 9,35 Petrus, Johannes und Jakobus (der ‚inner circle‘,54 stellvertretend für alle Jünger) anwesend. Gleich ist beiden Perikopen die Bezeichnung Jesu als ὁ υἱός μου. Beiden Stellen ist zudem gemein, dass sie nicht von einer Adoptionschristologie geprägt sind. Die Himmelsstimme legt eher die „Enthüllung einer Wahrheit, eines Geheimnisses“ dar.55 Die Frage, ob die lukanische Taufszene als öffentliche Szene gedacht ist, wird unterschiedlich beantwortet. Lukas bindet Jesus zwar in eine große Gruppe von Getauften ein (ἅπας ὁ λαὸς), gibt aber keinen expliziten Hinweis darauf, dass das Volk etwas gesehen oder gehört hätte. Nicht einmal ein Täufer als möglicher Zeuge wird namentlich erwähnt; Johannes ist ja nach 3,20 schon ins Gefängnis geworfen worden. Die Herabkunft des Geistes, der in Gestalt einer Taube erscheint, wird nicht wie noch bei Mk 1,10 (dort durch εἶδεν) explizit mit dem alleinigen Sehen Jesu verbunden,56 die hörbare Offenbarung Gottes ist sprachlich aber direkt an Jesus (σὺ εἶ ὁ υἱός μου), nicht an einer Zuhörerschaft orientiert57 (anders als bei der Verklärung, s. o.). Eine wie auch immer geartete Reaktion von zusehenden Menschen (gar des ganzen Volkes aus 3,21a) wird nicht berichtet. Da Lukas aber keinerlei Hinweise darauf gibt, dass nur Jesus den Geist in Form einer Taube sieht, muss zumindest dieses Ereignis als allgemein sichtbar verstanden werden, während die Formulierung der Proklamation mit vorangestelltem σὺ die Hörbarkeit der Himmelsstimme zumindest offenlässt.58 Die Zuschauer des Taufrituals verschwinden dabei aus dem Blick des Evangelisten.
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Vgl. Lk 5,10; 22,8, Apg 3,1.11; 4,1–22. So Bovon: Lk I, 181. Anders ist hier der sog. westliche Text des Codex D zu deuten, der die Himmelsstimme aus Ps 2,7 weiter zitiert: Du bist mein geliebter Sohn, ich habe dich heute gezeugt. Vgl. Hartman: Namen, 29f., der sich „wenn auch nicht ohne Zögern“ für die Lesart des Codex Bezae entscheidet. „Der Evangelist Lukas (Lk 3,21f) berichtet über diese Begebenheit wie von einem realen Geschehen (ἐγένετο), nicht einer Vision“ (Schroer: Weisheit, 144). Darauf folgt konkreter Nutzen: „Durch die Verobjektivierung der Taufe Jesu […] schafft er [Lukas; DK] die Grundlage für eine spätere Bezugnahme auf diese Taufe,“ Reichardt: Taufe, 30. Für Levine/Witherington richtet sich daher die Aussage Gottes nur an seinen Sohn: „Jesus alone hears the message.“ Leider begründen die beiden Kommentatoren dies nur mit dem Hinweis auf das σὺ. Versteht man die Himmelsstimme als Proklamation, kann auch die Formulierung in der 2. Person für die Öffentlichkeit bestimmt sein, auch wenn Jesus der zuerst Angesproche ist. Ähnlich verhält es sich bei der Jesusoffenbarung gegenüber Saulus in Apg 9. Saulus umgibt ein Leuchten aus dem Himmel (9,3) und er hört die Stimme Jesu (9,4–6). Die anderen Männer aber hören nur die Stimme, die Saulus direkt anspricht, und sehen niemanden (9,7; ebenso 22,9). Die dritte Darstellung der Berufung des Saulus in Apg 26,9–18 unterscheidet sich in diesem Punkt: Nach 26,13 umleuchtet alle das Licht, während nur Paulus die Stimme hört (26,14).
3.3 Die Taufe Jesu
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Insgesamt ist daher von einer öffentlichen59 Botschaft60 auszugehen, die zwar sprachlich auf Jesus selbst zielt, aber als Proklamation61 für ἅπαντα τὸν λαὸν bewertet werden kann. Diese Proklamation und Geistesgabe steht notwendigerweise ganz zu Beginn62 des Wirkens Jesu.63 Wie schon beschrieben wird die Taufe Jesu im Lk nur relativ kurz dargestellt, vor allem im Vergleich zu der ausführlichen Beschreibung des Wirkens und Predigens Johannes‘ vorher. Eindeutig ist dabei die Funktions des Textes als Übergang: Nachdem der Täufer in Lk 1,5–3,20 einen großen Raum im lukanischen Bericht eingenommen hatte, wird nun der Fokus fast vollständig auf Jesus gelenkt:64 Der Täufer ist gefangen genommen worden und Jesus kann endgültig als Hauptcharakter der Erzählung fungieren.65 Dies ist allerdings nur dem Leser klar, da innerhalb des Evangeliums noch keine öffentliche Handlung des (erwachsenen) Jesus erzählt worden ist; dies wird erst mit der sog. Antrittspredigt in seiner Heimatstadt Nazareth so weit sein. Die Taufe Jesu dient also gemeinsam 59
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Mit Reichardt: Jordan, 29. Für Bovon: Lk I, 180 „steht Lukas halbwegs zwischen Markus, nach dem die Vision und die Himmelsstimme allein Jesus vorbehalten sind, und Matthäus, der sich eine öffentliche Manifestation vorstellt.“ Der Leser kennt die enge Verbindung von Jesus zu Gott als seinem Vater nicht nur aus der Prophezeiung des Gabriel, sondern auch direkt aus dem Mund Jesu in Lk 2,49. Dort sagt Jesus im Tempel zu seinen (menschlichen) Eltern, er müsse ἐν τοῖς τοῦ πατρός μου sein. Er begreift sich also schon als 12-jähriger als Kind bzw. Sohn Gottes. Vgl. dazu Kapitel 3.2 dieser Arbeit. Im Mk und Mt kann die Offenbarung als exklusiv für Jesus verstanden werden, da Mk 1,10f. bzw. Mt 3,16f. explizit betonen, dass Jesus es ist, der den Himmel und den in Form einer Taube herabkommenden Geist sieht (εἶδεν). Mglw. variiert Matthäus das Geschehen leicht, indem er das Öffnen des Himmels noch vor dem εἶδεν berichtet, dies also ein für alle Zuschauer (zumindest Johannes als Täufer ist ja anwesend) sichtbares Geschehen sein könnte. Bovon: Lk I, 180 spricht sogar davon, dass Mt „sich eine öffentliche Manifestation“ vorstelle. Explizit unterscheiden sich diese Darstellungen von der Taufe Jesu im Johannesevangelium (1,32–34). Genau genommen wird die Taufe selbst im Joh gar nicht erzählt, sondern nur in der Rückschau des Täufers berichtet. Dieser erzählt, dass er es war, der den Geist wie eine Taube vom Himmel auf Jesus hat herabkommen sehen (τὸ πνεῦμα καταβαῖνον ὡς περιστερὰν ἐξ οὐρανοῦ). Er ist also der Zeuge der Geistsalbung Jesu (vgl. Joh 1,6–8) und ersetzt die Proklamation durch die himmlische Stimme durch seine eigene: οὗτός ἐστιν ὁ υἱὸς τοῦ θεοῦ. D. h. sowohl Lukas als auch Johannes erzählen nicht explizit die Taufe Jesu durch Johannes. „One could even read Luke’s Gospel and conclude that John did not baptize Jesus; John’s Gospel suggests exactly that, since the Fourth Gospel has a baptizer, but no baptism of Jesus“ (Levine/Witherington: Luke, 91). Daher spricht Lukas in 3,23 auch vom Beginn (ἀρχόμενος) des Wirkens Jesu, das ab 4,16 erzählt wird. Wolter: Lk, 170: „In dieser Episode wird vielmehr erzählt, dass Jesus selbst von seiner Identität in Kenntnis gesetzt und für die Wahrnehmung seiner Aufgabe ausgerüstet wird“ (kursiv dort). In Lk 7,18–23 tritt Johannes noch einmal auf. Er lässt Jesus durch seine Schüler fragen, ob er es ist, der kommen solle, oder sie auf einen anderen warten müssen (7,19). Vgl. Klein: Lk, 171.
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3 Exegese ausgewählter Perikopen
mit dem darauf folgenden Stammbaum und der Versuchung Jesu (4,1–13) als Vorbereitung des Dienstes Jesu für das Volk.
3.3.3 Narrative Ritualanalyse Die Untersuchung der Taufe Jesu in Lk 3,21f. führt zu mehreren interessanten Fragen: (1) Inwiefern ist die Johannes-Taufe im Sinne des dritten Evangelisten eine rituelle Neuschöpfung (Ritualdesign) und wie gestaltet sich das Verhältnis von Jesus und Johannes dabei? Endet mit der Taufe Jesu die Johannestaufe als legitimer ritueller Akt? Damit zusammenhängend muss kurz auf Bezüge zur Taufe (Jesu) innerhalb des lukanischen Doppelwerks eingegangen werden. (2) Zweitens stellt sich die Frage, ob Lukas die Taufe Jesu als Salbung mit dem Heiligen Geist verstanden hat, denn damit liegt ein Verständnis der Erzählung eines öffentlichen performativen Rituals nahe.66 Eng verbunden mit der Frage nach der Performanz ist (3) die Agency Jesu: Bekommt er durch Taufe und Geistsalbung die notwendige Handlungsvollmacht für seinen Auftrag, den er als geliebter Sohn erfüllen soll? Dies soll auch im Hinblick auf ähnliche Szenen im lk Doppelwerk betrachtet werden. (1) Die historische Frage, inwiefern Johannes der Täufer das mit ihm verbundende Ritual der Taufe in der ersten Hälfte des ersten Jahrhunderts neu erschuf oder er schon vorhandene Elemente jüdischer und antiker Religiösität zu einem neuen Ritual verbunden hat, ist verschiedentlich beantwortet worden.67 Sie spielt aber für die vorliegende Untersuchung keine Rolle, da ausdrücklich die Rolle der Taufe des Johannes im Kontext des Lukasevangeliums – mit Ausblick auf die Apostelgeschichte – und die Teilnahme Jesu an diesem Ritual untersucht werden soll. Wie stellt sich nun die Lage im dritten Evangelium dar? Obwohl Johannes, seine Herkunft und seine Predigt in Lk 1–3 ausführlich erläutert wird, fehlt für die rituelle Handlung der Taufe eine dezidierte Erklärung. Ihre Bedeutung scheint dem Leser bekannt gewesen zu sein. Ein direkter Verweis auf die 66
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Vgl. weiterführend auch die Überlegungen Streckers: Taufpraxis, 388ff. zur Liminalität des christlichen Taufrituals bzw. zum liminalen Status der Täuflinge, den er besonders von Röm 6 herleitet. Für die Taufe Jesu spielt dies keine Rolle. Er geht – soweit man nach Lk 1,32.35; 2,49 überhaupt einen Statuswechsel postulieren möchte – vollständig in den Status ‚Sohn Gottes‘ über. Die Literatur hierzu ist umfangreich. Für einen Überblick zum historischen Zusammenhang von Johannestaufe und ihrer antiken Umwelt, vgl. u. a. Öhler: Einheit, 39–46 und Barth: Taufe, 9–39 sowie Labahn: Erinnerung, 337–376 und Hartman: Namen, 20–25. Vgl. auch die kurze Zusammenfassung des Forschungsstands (mit Betonung der Körperlichkeit des johanneischen Ritus) bei Strecker: Macht, 140–142 und ders.: Taufpraxis, 352–375. Zum (heutigen) Taufritual aus religionswissenschaftlicher Perspektive vgl. zudem Auffarth: Rituale, 209–244. Zu Taufe aus systematisch-theologischer Perspektive (Taufe als Dank-, Segens- und Schutzritual) vgl. Thomas: Taufe, 12–17.
3.3 Die Taufe Jesu
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priesterliche Herkunft des Täufers findet sich in Lk 3 nur durch die Nennung seines Vaters Zacharias (Lk 3,2), ein expliziter Widerspruch zu den Tempelritualen wird nicht ausgeführt, kann aber aus den Umständen geschlossen werden: Statt als Priester am Tempel zu dienen, wie sein Vater, sucht Johannes mit der Wüste einen Gegenort68 zu Jerusalem auf, um dort mit dem Taufritual zu wirken und zu predigen. Dabei beschäftigt er sich nicht mit der Frage nach ritueller Reinheit, die für die Teilnahme am Tempelgottesdienst Bedingung ist. Auf seine harte Gerichtsandrohung, die die genealogische Rückführung auf Abraham als nicht ausreichend erklärt, fragt ihn die Menge sowie Zöllner und Soldaten, was sie tun sollen: Johannes’ Antwort ist nur ethisch begründet, er fordert sie nicht auf, am Tempelkult zu partizipieren. Die durch die Taufe und Buße erwirkte Sündenvergebung könnte als Konkurrenz zum Versöhnungsritual des Tempels verstanden werden.69 Lukas betont aber – wie gesagt – die Predigt des Täufers, ohne die eben vermuteten Zusammenhänge explizit zu nennen. Dies passt zu Lk 1,68–79. Dort wird die Aufgabe Johannes’ schon durch seinen Vater als prophetisches Wirken beschrieben: Er ist Prophet des Höchsten (προφήτης ὑψίστου), wird dem Herrn vorangehen und seinen Weg vorbereiten. Dazu gehört die Verkündigung der Vergebung der Sünden (ἀφέσει ἁμαρτιῶν; 1,76f.). Diese im AT begründete Prophetie des Zacharias wird in Lk 3 wieder aufgenommen. Hier predigt Johannes am Jordan die Taufe zur Vergebung der Sünden (βάπτισμα μετανοίας εἰς ἄφεσιν ἁμαρτιῶν; 3,370), die durch ein Zitat aus Jes 40,3–5 in den Kontext alttestamentlicher Hoffnung eingebettet wird.71 Nachfolgend wird in Lk 3,7–18 die Predigt Johannes’ ausführlich dargestellt, die ethisch korrektes Leben in den Mittelpunkt stellt.72 Auffällig ist dabei allerdings, dass die konkrete rituelle Handlung des Untertauchens bzw. Taufens
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Auf die Diskussion, ob Johannes eher die Wüste als Gegenort zum Tempel oder besonders den Jordan als „Schwelle ins gelobte Land“ verstand, kann hier nur verwiesen werden: Vgl. Strecker, Taufpraxis, 388f. (besonders Fn 221). Nach meiner Lektüre wird Johannes im Lukasevangelium gerade durch seine priesterliche Herkunft als ‚Gegenspieler‘ zum Tempelkult dargestellt. Eine symbolische „erneute Landnahme“ der nun gereinigten Israeliten lese ich in Lk 3 nicht. Horn: Taufe, 212: „Nach meiner Einschätzung steht die Taufe des Johannes in sachlicher Konkurrenz zu der am Jerusalemer Tempel angebotenen Sündenvergebung durch den Kult.“ Hartman: Namen, 23: „Lukas erwähnt das Taufen des Johannes, aber trotzdem stellt er ihn mehr als einen Prediger denn als einen Täufer vor. Seine Predigt ist vor allem, wenn auch gewissermaßen indirekt, eine Christusverkündigung.“ Zur Verbindung von Jesaja (besonders Jes 1,1–32; 40,1–11) vgl. Ayuch: Johannesepisode, 57–68. Die Menge in 3,7ff. soll rechte Früchte der Buße (wörtl. Umkehr μετάνοια) bringen, sich aber nicht auf die Abstammung von Abraham verlassen; konkret: Kleidung und Essen teilen. Die Zöllner (3,12ff.) sollen nur den ihnen zustehenden Anteil nehmen und die Soldaten (3,14) niemandem Gewalt antun.
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3 Exegese ausgewählter Perikopen
(3,3.7.12.14) nicht explizit begründet wird. Die naheliegende Verknüpfungsmöglichkeit von Wassertaufe73 (3,16) und Waschung (im Sinne eines Abwaschens der Sünden) findet an dieser Stelle keine explizite Erwähnung. In der Rückschau auf die eigene Taufe (Apg 22,16) kann Lukas seinen Protagonisten Paulus aber durchaus die Gleichsetzung von Waschen mit Wasser und Abwaschen der Sünden ausdrücken lassen.74 Der Sinn der Handlung kann also nur implizit aus dem Vorwissen des christlichen Lesers und den späteren Hinweisen auf Taufe bzw. die Taufe Jesu erschlossen werden.75 Daher muss man konstatieren: Die Frage nach dem Ritualdesign Johannes des Täufers kann allein auf Basis des lukanischen Textes (Lk 3,3–18) nicht beantwortet werden.76 Dies entspräche auch nicht der Zielsetzung des Erzählers, der ja die Bedeutung der Taufe des Johannes zurückdrängen möchte, aber im Verlauf der Apg (19,1–6) offensichtlich von Johannesjüngern berichten kann. Das Innovationspotential des Täufers passt dabei nicht ins Bild, da seine Vorläuferfunktion damit überstrapaziert wäre. „Most im73
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Das fließende Wasser, bzw. das Durchschreiten des Jordans verbindet die Taufperikope mit alttestamentlichen Texten wie Ex 14–15. Hier wie dort geht es um von Gott hervorgebrachte Rettung und Befreiung, die durch einen Menschen (Mose, Johannes) vermittelt wird. Dazu ausführlich Vonach: Vorstufen, 39–54. Vgl. 1Kor 6,11. Dort sagt Paulus den Korinthern, sie seien gewaschen (ἀπελούσασθε), und spielt damit wahrscheinlich auf ihre Taufe an. Zur Taufe im 1Kor vgl. Matthes: Taufe, 162– 189 und Schottroff: 1Kor, 106, für die der Bezug von 1Kor 6,11 zur Taufe „unklar“ bleibt. Die Annahme, dass die Leser des Lukasevangeliums den Konnex von Untertauchen (βαπτίζω) in Wasser (3,16) und Waschung im Sinne von Reinigung von den Sünden klar erkennen können, ist nicht unwahrscheinlich. Die Antike kennt schließlich eine Vielzahl an derartigen Riten, vgl. die entsprechenden Aufsätze aus dem umfangreichen Sammelband von Hellholm (u. a. Hg.): Ablution (Hultgård: Mandean Water Ritual, 69–100; Graf: Baptism, 101–118; Labahn: Wasser, 157–220) und für das Judentum Grohmann: Konzepte, 15–38. Dies gilt auch für die wohl nicht mehr zu beantwortende Frage, warum die frühe Christenheit ausgerechnet die Wassertaufe Johannes’ übernimmt. Zum Ritualtransfer vgl. den kurzen Abschnitt bei Öhler: Einheit, 46f., der zu dem zurückhaltenden Ergebnis kommt, dass die ersten nachösterlichen Nachfolger Jesu wahrscheinlich das Bedürfnis hatten „die Zugehörigkeit zum Auferstandenen durch ein ihnen vom Täufer bekanntes Ritual zu erleben, das sie zu der neuen Gemeinschaft zusammenschließen sollte.“ Offen bliebe dann, warum sich dies in den Texten nicht deutlicher widerspiegelt. Eine ausführliche ritualwissenschaftliche Untersuchung der Johannestaufe bietet Matthes: Taufe, 274–321. Sie versteht das Ritual des Johannes als Neuschöpfung (ohne den Begriff Ritualdesign zu verwenden). Sie fasst zusammen: „Auf Grund dieser grundlegenden ‚Neuentwicklung‘ wurde geschlossen, dass die Johannestaufe nicht als Weiterentwicklung eines vorherigen Wasserrituals verstanden werden kann, sondern als Neuentwicklung gelten muss. Indem die christliche Taufe diese drei Aspekte [Einmaligkeit, Getauftwerden, Aufruf zur Buße; DK] übernimmt, ist nicht daran zu zweifeln, dass sie eine direkte Weiterentwicklung der Johannestaufe darstellt. Die Abänderungen gegenüber ihrem Vorgängerritual finden sich bei der christlichen Taufe nicht im Bereich des Ritualablaufes, wohl aber im Bereich der Ritualdeutung, welche wesentlich von dem zu Grunde liegenden ‚Bezugsereignis‘ der christlichen Taufe geprägt werden.“
3.3 Die Taufe Jesu
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portant in Luke-Acts, however, is that John’s Baptism, with its roots in older ritual practices and its initiation and visitation by God, is portrayed as the traditional practice, repeatedly recalled, which itself gives authority to the Christian baptism central to the narrative of Acts.“77 Nach diesem Blick auf Johannes soll nun die Rolle Jesu stärker beachtet werden. Jesus kommt nicht, wie in den synoptischen Vergleichstexten, allein zur Taufe, sondern ist Teil des Volkes. Er wird genauso (καὶ) getauft wie das Volk, in welches er integriert wird: „Daß die Taufe der Menge den äußeren Rahmen dieses Geschehens abgibt, zeigt an, daß Jesu Taufe nichts anderes ist als die der Menge. Jesus ist mit dem umkehrwilligen Volk solidarisch.“78 Der Evangelist betont in 3,21a also die Integration Jesu in ἅπαντα τὸν λαὸν. Jesus ist bisher vollkommen passiv.79 Dies ändert sich erst nach der Taufe durch sein Beten (προσευχομένου). Dies wirkt sich auf die gesamte Szenerie aus: Jesus, der soeben noch Teil des Volkes war, wird nun herausgehoben und in den Mittelpunkt gestellt. Jesus wird also, so könnte man formulieren, durch die Taufe nicht in eine neue Gemeinschaft integriert, sondern aus der Gemeinschaft des Volkes herausgehoben. Seine Taufe ist nicht anders als bei den anderen Täuflingen, aber er selbst ist anders, nämlich Gottes Sohn (vgl. 1,35; 2,49). Daher ruft seine Taufe und sein damit verbundenes Beten80 eine göttliche Reaktion hervor, welche die Taufe des Volkes nicht hervorrufen konnte. Es bleibt die Frage nach dem Verhältnis Jesu zur Taufe: Wie schon betont lässt Lukas nicht nur den Täufer Johannes bereits in 3,20 gefangen nehmen, bevor Jesus gemeinsam mit ἅπαντα τὸν λαὸν getauft wird, sondern tilgt auch alle expliziten Hinweise auf eine Taufe Jesu durch Johannes, von der die anderen synoptischen Evangelisten einmütig berichten. Dies führt zu der Schlussfolgerung, dass für Lukas die johanneische Taufe mit der Taufe Jesu als beendet und nunmehr – aus Sicht der Apostelgeschichte – als defizitär zu beurteilen ist. Hierbei kommen zwei Aspekte zusammen: Die Begrenztheit der Taufe des Johannes ist
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Reeve: Rite, 258. Klein: Lk, 171. Ein gewisses Maß an Passivität gehört zum Grundbestand der johanneischen und der frühchristlichen Taufe, da bei beiden Ritualen die Aktivität auf Seiten des Täufers, nicht des Täuflings liegt und die eigentliche Konsequenz der Handlung durch einen dritten Akteur, nämlich Gott, vollzogen wird. „Die Taufe ist insofern ein Paradebeispiel jener rituellen Agency, bei der die Beteiligten gleichermaßen als Akteure und nicht als Akteure des rituellen Vollzugs zu stehen kommen“ (Strecker: Taufpraxis, 399). Dies gilt ebenso für die Taufe Jesu in Lk 3,21f.: Jesus wird getauft (auch wenn der Täufer nicht genannt wird), und tauft sich nicht selbst; die Bestätigung der Taufe erfolgt zudem weder durch Jesus, noch durch den Täufer, sondern durch die himmlische Stimme. Deren Aussage ist dem Leser freilich nicht neu (vgl. Lk 1,32.35; 2,49), wird aber nun durch Gott selbst bestätigt. DeMaris: Taufe, 49: „Der lukanische Taufbericht deutet darauf hin, dass Gebet Besessenheit hervorrufen kann, auch wenn dieses Detail erst später in die Erzählung eingetragen worden ist.“
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3 Exegese ausgewählter Perikopen
schon durch seine Abwehr der auf seine Person bezogenen messianischen Hoffnung deutlich geworden: Ein Stärkerer muss kommen, der nicht nur mit Wasser, sondern mit Heiligem Geist und Feuer tauft (3,16f.). Lukas geht über dieses Motiv aber noch hinaus, indem er erzählt, dass das ganze Volk getauft worden ist, es also – in der erzählten Welt – keinen Bedarf für eine weitere Tauftätigkeit geben kann.81 Gleichzeitig verdeutlicht die Gefangennahme des Täufers durch Herodes, dass nach der Taufe Jesu keine weitere Taufe durch Johannes mehr erfolgen kann. Eine zeitweise Fortführung der Tätigkeit Johannes’, wie sie die anderen Evangelien offen halten (Mt, Mk82), bzw. eindeutig voraussetzen (Joh83), ist im lukanischen Evangelium dezidiert ausgeschlossen. Lukas betont auf diese Weise das notwendige Ende der johanneischen Taufe und kann daher die Tauftätigkeit der Apostel eindeutig nicht als Konkurrenzritual, sondern als verbesserte und nun christlich gedeutete Fortsetzung des Rituals des Johannes darstellen, da nun nicht mehr nur eine Taufe mit Wasser, sondern auch die Weitergabe des Heiligen Geistes das Initiationsritual84 der Urgemeinde darstellt.85 Während Jesus im Lukasevangelium mit der Taufe nicht in eine neue Gemeinschaft aufgenommen wird, kann dies hingegen für viele Täuflinge in der Apg gelten. Nach Ostern bedeutet die christliche Taufe die Integration in die Gemeinschaft der Jesusanhänger. Dies kann selbstverständlich für Jesus selbst nicht gesagt werden. Die christliche Taufe ist auch insofern keine Nachahmung der Taufe Jesu und kann unabhängig von Ort und Zeitpunkt dieser durchgeführt werden.86
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„In fact, Luke states that ‚all the people‘ are baptized (Luke 3:21), apparently suggesting the successful carrying out of the task, Gabriel had given to John to make ‚ready a people prepared for the Lord‘ (1:17; 3:4; cf. 7:29; Isa 40:3)”, so Reeve: Rite, 248 (Fn 19). Mk 1,9–15 lässt mindestens die 40 Tage Jesu in der Wüste als Raum zwischen der Taufe Jesu und der Gefangennahme des Täufers offen. Mt 3,12 korrigiert hier möglichweise, da Jesus nur noch hört, dass Johannes gefangengenommen worden ist, dies also auch schon während seiner Wüstenzeit geschehen sein könnte. Dennoch bleibt die chronologische Abfolge im Unklaren. Joh 3,23–4,3 betont ausdrücklich – man beachte den Erzählereinschub in 3,24, dass Johannes noch nicht gefangenengenommen worden war – die Gleichzeitigkeit von beiden Taufbewegungen, wobei die Taufe durch die Jesusjünger der Taufe des Johannes als zahlenmäßig überlegen dargestellt wird (4,1–3). Zur christlichen Taufe als Initiationsritual vgl. Öhler: Einheit, 68–71, Auffahrt: Rituale, 232–238 und Horn: Taufe, 214–218. Reichardt: Jordan, 30: „Die Lösung von Täufer und Taufe Jesu mildert die problematische Unterordnung Jesu unter der Täufer sowie die mit der johanneischen Taufe der Umkehr zu Vergebung von Sünden […] in Verbindung stehende Frage nach der Sündhaftigkeit bzw. dem Sündenbewußtsein Jesu und vereinfacht die spätere Übernahme der Taufe im Urchristentum.“ Das Kapitel 4 dieser Arbeit widmet sich ausführlich der programmatischen rituellen Freiheit des Evangelisten.
3.3 Die Taufe Jesu
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Exkurs: Die Taufe im lukanischen Doppelwerk Das lukanische Doppelwerk aus Evangelium und Apostelgeschichte enthält eine Reihe von Bezügen auf die Taufe Jesu. Dabei lässt sich zeigen, dass Taufe und Geistesgabe zwar eng zusammengehören, die Reihenfolge dieser Ritualelemente aber durchaus variieren kann. Im Lukasevangelium findet sich nur ein weiterer Bezug zur Taufe Jesu87 und zwar in 12,49ff. Dort steht das Wort von der Taufe im Kontext der Konflikte, die mit dem Dienst Jesu einhergehen werden. Die Taufe, mit der Jesus getauft werden muss (βάπτισμα δὲ ἔχω βαπτισθῆναι), deutet an dieser Stelle seinen Tod88 in Verbindung mit dem Geist, der durch das Feuer (12,49) symbolisiert wird.89 Die Vollendung dieser Taufe (also Jesu Tod90) ist Bedingung für die Geistausgießung an die Jünger, welche in der Apostelgeschichte erzählt werden wird.91 Dass dies dem erzählerischen Aufbau des Evangelisten entspricht, wird durch die Ankündigung Jesu, dass die „Kraft aus der Höhe“ (24,49; vgl. Apg 1,8) die Jünger in Jerusalem erreichen wird, deutlich.92 Einen Auftrag an die Jünger, die Taufe als Ritual beizubehalten oder die Johannestaufe weiterhin durchzuführen, findet sich bei Lukas nicht.93 Anders als das Lukasevangelium geht die Apostelgeschichte ausführlicher auf die Taufe ein.94 Sie stellt dort das Initiationsritual für Juden wie Heiden dar, 87
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Johannes der Täufer (mit Beinamen nur Lk 7,20.33; 9,19) und seine Taufe werden noch im Kontext von Lk 7,18–35 sowie in 20,1–8 erwähnt, ohne dass die Taufe Jesu damit verbunden wird. Zur Verbindung von Taufe und Tod bzw. (Lebens-)Macht vgl. Strecker: Macht, 148–153. Er schreibt im Bezug auf Paulus und Mk: „Wichtig für den hier entwickelten Gedankengang ist, dass mit der rituellen Aneignung des Kreuzestodes Jesu in der Taufe eine öffentliche Hinrichtung, das Schlüsselritual der antiken Souveränitätsmacht, letztlich in den Dienst heilvollen Lebens gestellt wird.“ Mit Klein (Lk, 467) deute ich das Feuer als „Ausgießung des Geistes in Gestalt von Feuerzungen (Apg 2,3). Feuer und Geist sind für Lukas auch in 3,16 Synonyme.“ Dementsprechend formuliert Lukas das Sterben Jesu mit einer Form von ἐκπνέω. Das Geist-Aufgeben Jesu wird also auch sprachlich gefasst (Lk 23,46). Klein: Lk, 467: „Vor Jesu Tod beginnt weder das Wirken des Geistes noch das Endgeschehen (17,25), das der Geist einleitet (Apg 2,17).“ Auch wenn der Geist hier nicht expressis verbis genannt wird, ist die Gleichsetzung dieser „Kraft aus der Höhe“ mit dem Heiligen Geist eindeutig, vgl. Klein: Lk, 739. Kein Evangelium berichtet von einem expliziten Taufauftrag des irdischen Jesus. Nur Mt 28,19 kennt den sog. Taufbefehl des Auferstandenen (vgl. Labahn: Erinnerung, 355– 359). Auch das Auftreten des Auferstanden in Apg 1 verbindet Lukas nicht mit einem Taufbefehl an die Jünger, sondern nur mit dem Getauftwerden derselben (Apg 1,4f.). Dazu „fügt sich der Umstand, dass Jesu Aussendungsreden (Mk 6,7–13; Mt 10,1–42; Lk 9,1–6; 10,1–16) keinen Taufbefehl enthalten. Jesus ordnete während seiner öffentlichen Wirksamkeit die Taufe offenbar nicht an“ (Strecker: Taufpraxis, 349f.); ebenso Labahn: Erinnerung, 362. Vgl. zum Gesamtkontext: Schröter: Taufe, 557–586.
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die zur Gemeinde hinzukommen. Bevor allerdings die Taufe als „Missionsziel“ dienen kann, wird mit der Ausgießung des Geistes auf die Jünger zu Pfingsten die Ankündigung des Täufers, der Stärkere werde mit Feuer und Geist (3,16) taufen, verwirklicht.95 Dies bereitet die Aktualisierung in Apg 1,4f. vor, bei welcher der Auferstandene selbst die Wassertaufe des Johannes der Taufe mit Heiligem Geist gegenüberstellt96 und letztere für die nahe Zukunft verheißt. Folglich ermöglicht der Geistempfang das weltweite Bezeugen Jesu durch die Jünger (Apg 1,8; vgl. Lk 24,48f.). Dass dies für das Amt des Apostels elementar ist, wird bei der Nachwahl des durch den Verrat und den Tod des Judas vakanten Platzes im Zwölfergremium deutlich (Apg 1,15–26).97 Petrus beschreibt dabei die zugrundeliegenden Kriterien für die Auswahl, wobei die Anwesenheit schon seit der Taufe Jesu durch Johannes (1,22) den chronologischen Startpunkt bildet.98 Durch das Los wird zwischen Josef und Matthias gewählt, wobei letzterer zu den elf Aposteln (1,26) hinzugezählt wird.99 Dass an den Jüngern Jesu selbst die Johannestaufe vollzogen worden wäre, wird mit keinem Wort erwähnt und ist dementsprechend kein Kriterium für die Nachwahl des zwölften Apostels.100 Auf das Pfingstereignis, die Predigt des Petrus und die Reaktion der Zuhörenden (Apg 2,1–41) kann hier nur kurz eingegangen werden.101 Bemerkenswert ist, dass die erste Ausgießung des Geistes, die die Grundlage für alle weiteren ähnlichen Ereignisse der Apg (s. u.) bietet, keine Verbindung mit einer Taufe der Jünger aufzeigt. Der Geist, als Brausen vom Himmel und als Feuerzungen beschrieben, kommt ohne Taufe oder Handauflegen auf die Apostel und die weiteren Jünger (1,14f.) herunter. Dies entspricht der Ankündigung der Geistesgabe als Handlung des Vaters (Lk 24,49; vgl. die Aufnahme der Prophezeiung Joel 3,1– 95
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Hier hat Lukas seine Leser genau im Auge: „Im Rahmen der beiden Bücher des Lukas kann es keinen Zweifel geben, daß für Lukas die Aussage von der Taufe im Geist (3,16) auf das Pfingstereignis in Apg 2 zielt. … Die Lk-Leser mußten die Worte des Täufers von einer Taufe im Geist so verstanden haben, daß sie in ihrem eigenen christlichen Leben erfüllt waren“, Hartman: Namen, 23. Die Johannestaufe wird also explizit auch für die Apg von der Geisttaufe unterschieden. „Das ist wohl nicht als bloße Analogie gemeint, sondern als Überbietung“ (Haacker: Apg, 27). Dabei ist auffällig, dass nicht Jesus es ist, der für die Nachwahl des Apostels eintritt, sondern Petrus, obwohl durch den 40-tägigen Aufenthalt des Auferstandenen bei den Jüngern genügend Raum dafür gewesen wäre. Neue Amtsinhaber einzuführen ist nun Aufgabe der versammelten Gemeinde, auch wenn Gottes Wirken – hier beim Losentscheid – dabei natürlich eine wichtige Rolle spielt. Dies ist ein Hinweis darauf, dass die Taufe Jesu den eigentlichen Beginn seiner Wirksamkeit darstellt, vgl. dazu auch Haacker: Apg 45f. Für den weiteren Verlauf der Apg spielt der Apostel Matthias allerdings keine Rolle mehr. Zum Zwölferkreis vgl. den gleichnamigen Artikel von Dietrich-Alex Koch: RGG VIII, Sp. 1956–1958. Dies ist als weiterer Hinweis auf den defizitären Status der Johannestaufe ggü. der späteren christlichen Taufe zu werten; vgl. Theißen: Veränderungspräsenz, 303. Vgl. Hartman: Namen, 124–127 und Haacker: Apg, 47–52.
3.3 Die Taufe Jesu
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5 in 2,16ff.), die hier allerdings „als Tat Jesu im Auftrag Gottes“102 verstanden wird.103 Die Verbindung von Geistgabe104 und Taufe erfolgt direkt nach der Predigt des Petrus, der auf die Nachfrage der Zuhörenden, was sie nun tun sollen, antwortet: „Tut Buße, und jeder von euch lasse sich taufen auf den Namen Jesu Christi zur Vergebung eurer Sünden, so werdet ihr empfangen die Gabe des Heiligen Geistes“ (3,38LUT). Daraufhin lassen sich 3000 Menschen taufen (3,41), allerdings ohne dass der Empfang des Geistes explizit erwähnt würde.105 Die Apostelgeschichte kennt Erzählungen, bei denen Taufe und Geistgabe zeitlich getrennt voneinander berichtet werden: Die Taufe des Saulus106 in Apg 9,17 wird erst nach der Heilung und Geistgabe durch Handauflegung von Hananias erwähnt. Hier scheint die Geistgabe also der Taufe voranzugehen.107 Ein zweites Beispiel ist das Niederkommen des Geistes auf Kornelius108 und auf die der Predigt des Petrus zuhörenden Heidenmenschen in Apg 10,44–48. Dabei führen der Empfang des Geistes und die dazugehörige Gaben (10,46: Zungenrede, Lob Gottes) dazu, dass die jüdischen Zeugen in Aufruhr geraten; danach will Petrus den nun geistbegabten Heiden das „Wasser der Taufe“ nicht verwehren109 und befiehlt (προσέταξεν) ihre Taufe.110
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Haacker: Apg, 64 (kursiv dort). Das Johannesevangelium beschreibt die Mitwirkung Jesu an der Gabe des Geistes, u. a. Joh 14,26; 15,26. Dementsprechend erfolgt die Geistesgabe durch den Auferstandenen selbst (Joh 20,22). Dass Jesus den Geist empfangen hat, wird in Apg 2,33 noch einmal explizit erwähnt, allerdings ohne die Taufe zu nennen. Diese steht dennoch im Hintergrund, wie die ähnliche Formulierung der Petruspredigt in 10,37f. zeigt. Da die Geistgabe bei den 3000 nicht explizit erwähnt wird, folgen auch keine „ekstatischen Phänomene.“ Hier hat Lukas wohl seine Leser im Sinn, die „treu an der Lehre der Apostel, an der kirchlichen Gemeinschaft und am Gottesdienst festhalten“ (Hartman: Namen, 127). Eine Parallele zur Taufe bzw. Geistsalbung Jesu ist das hervorgehobene Gebet des Saulus (Apg 9,11). Da die Geistgabe nicht mehr erzählt wird und auch keine Geisteswirkung wie Zungenrede (vgl. 10,46) folgt, ist unklar, wie genau sich Lukas die Geistgabe an dieser Stelle vorstellt. Hananias ist kein Apostel, sondern Schüler (μαθητής), wird allerdings vom Herrn (κύριος meint hier eindeutig Jesus) dazu aufgefordert, Paulus die Hände aufzulegen (9,12). Dass Paulus den Geist empfangen und getauft werden soll, wird erst in den Versen 17f. berichtet, vgl. Haacker: Apg, 175–177. Dazu Haenchen: Apg, 277: „Daß Ananias dem Paulus den Geist verleiht, ist für eine Anschauung selbstverständlich, bei der Taufe und Geistempfang verbunden sind.“ Diese Verbindung zieht Paulus selbst in Apg 22,16, allerdings nicht in der dritten Beschreibung seiner Berufung (Apg 26). Vgl. Hartman: Namen, 127–129. Die Frage Petri ist „eher als rhetorische Frage zu verstehen, deren Beantwortung sich erübrigt“ (Haacker: Apg, 196). Petrus „stellt keine Frage nach dem Glauben oder dem Einverständnis der Betroffenen: Sie werden gewissermaßen vom heiligen Geist in die Gemeinde Jesu Christi ‚hinübergeschwemmt‘!“ Haacker: Apg, 196.
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3 Exegese ausgewählter Perikopen
Auch das umgekehrte Beispiel, bei dem die Taufe dem Geistempfang mit zeitlichem Abstand vorausgeht, wird berichtet:111 Philippus missioniert die Samaritaner erfolgreich, sodass viele „auf den Namen des Herrn Jesus“ (8,16) getauft werden.112 Allerdings fehlt ihnen der – mglw. erwartete – Geistempfang (8,16). Wegen des großen Missionserfolgs kommen die Apostel Petrus und Johannes aus Jerusalem, um durch Handauflegung (8,17) den Geist zu erbitten.113 Einen ähnlichen Ablauf (Taufe, Gebet114 und Geistempfang durch Handauflegung) berichtet Lukas in Apg 19,1–7. Dort sind es zwölf (19,7) in Ephesus wohnende Männer, die zwar als Jünger bzw. Schüler115 beschrieben werden, aber weder die christliche Taufe noch den Heiligen Geist kennen, sondern nur die Taufe des Johannes (19,3).116 Sie werden daraufhin (von Paulus?117) getauft118 und be-
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Theißen: Veränderungspräsenz, 303: „Bei umstrittenen ‚Taufkandidaten‘ geht die Geistverleihung der Taufe voraus.“ Vgl. Hartman: Namen, 129f. Ob an dieser Stelle unbedingt eine kausale Verbindung des Besuchs von Petrus und Johannes und dem Ausbleiben des Geistempfanges gibt, ist nicht sicher. Haacker (Apg, 162f.) widerspricht und notiert: „Nichts im Text deutet darauf hin, dass an der Taufpraxis des Philippus irgendetwas nicht stimmte.“ Aber vielleicht ist ja der fehlende Geistempfang das Problem. Harsch ist hier wiederum Haenchen: Apg, 254: Mit der Bitte um den Geist durch die Apostel „wird nachträglich der Missionserfolg des Philippus sehr eingeschränkt: Das Wichtigste hat er nicht geben können.“ Die Verbindung von Gebet und Geistempfang spielt schon in Lk 11,9–13 eine wichtige Rolle. Dort beschreibt Lukas, dass der himmlische Vater den Heiligen Geist im Kontext des Betens gibt. Zum Gebet vgl. Kapitel 4.3 und 4.6.2 Der Begriff ‚Jünger‘ ist bei Lukas i. d. R. auf Schüler Jesu bezogen, was, zumindest bis zu ihrer (zweiten) Taufe, auf die Johannesjünger nicht zutrifft. Laut Haacker (Apg, 318f.) arbeitet Lukas hier mit dem „Stilmittel der ‚erlebten Rede‘, bei der ein subjektiver Eindruck handelnder Personen wie ein objektiver Tatbestand formuliert wird. […] Lukas gibt also in V.1 den ersten Eindruck wieder, den Paulus von dieser Gruppe hatte, mehr nicht.“ Im Gegensatz zu anderen prophetischen Figuren des 1. Jh. in Israel sind für den Täufer (und natürlich für Jesus) auch nach dessen Tod noch Anhänger aufzufinden. Nach Strecker: Macht, 142 hängt dies mit dem betont körperlichen Taufritual zusammen: „Die rituell vermittelte und aufgrund der mitgebrachten rituellen Einstellung als ultimativ bedeutsam erlebte Körpererfahrung sowie deren fortwährende Abrufbarkeit im Erinnern mögen dann im Übrigen ein wesentlicher Grund dafür gewesen sein, dass die Täuferbewegung anders als jene Bewegungen, die sich um die sog. Zeichenpropheten formierten, auch nach Johannes’ Tod fortexistierte.“ Hier ist der Text nicht eindeutig. Haacker (Apg, 318f.) sieht hier „eine Parallele“, […] mit der „Lukas eine Gleichstellung des Paulus mit den ‚Uraposteln‘ zum Ausdruck bringt.“ Davon, dass „Paulus nun diese Taufe mit der dazugehörigen Handauflegung vollzieht“, spricht Haenchen: Apg, 492. Damit wird klar, dass die Johannestaufe keine Voraussetzung für den Geistempfang sein kann, sondern nur die christliche Taufe. Es bleibt allerdings die Lücke zu konstatieren, dass für die Apostel weder die Johannestaufe noch eine christliche Wassertaufe bezeugt ist. Eine mögliche Lösung hierbei wäre, die angekündigte Taufe mit Feuer und Heiligem Geist (Lk 3,16; Apg 1,5.8) als vollständigen Ersatz für die Wassertaufe zu verstehen.
3.3 Die Taufe Jesu
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kommen durch Handauflegung den Geist vermittelt, woraufhin sie in Zungen reden und weissagen (vgl. Apg 10,46).119 Die hier besprochenen Erzählungen, die Taufe und Geistgabe trennen, stellen insofern Sonderfälle dar, da „sie jeweils ein Defizit [beleuchten]. Entweder liegt das Defizit beim Getauften – Paulus war ein Feind der Christen gewesen und Cornelius ein Heide. Oder das Defizit liegt beim Täufer: Philippus war kein Apostel, Johannes nur der Vorläufer Jesu. Beide Einschränkungen zeigen: Für Lukas ist die Geistverleihung an sich von den irdischen Riten unabhängig. Pfingsten kommt er direkt vom Himmel.“120 Insgesamt kann man also dem lukanischen Doppelwerk ein differenzierte Darstellung der unterschiedlichen Taufen bzw. Taufzusammenhänge zuschreiben. Generell fungiert die Taufe hierbei als Initiationsritus in die neue Gemeinschaft.121 Dies würde auch erklären, warum bei den Aposteln keine Taufe beschrieben wird: Sie sind ja schon Teil der Jesusgemeinschaft. 122 Als zentral für meine Fragestellung hat sich zudem die Beobachtung erwiesen, dass das Ritual der Taufe und die Gabe des Heiligen Geistes nicht durch einen Automatismus miteinander verbunden sind. Die Gabe des Geistes kann unabhängig von der Wassertaufe vollzogen werden (wie beim Pfingstereignis), sie kann dem Taufritual vorangehen (wie bei der Korneliusepisode) oder nach diesem erfolgen (Samaritaner). Rückverweise auf die Taufe Jesu finden nur an einzelnen Stellen statt. Eine kausale Verbindung zwischen der Taufe des Christus und der Taufe der Christen wird nicht gezogen.123 Die Johannestaufe allein ist defizitär und muss ergänzt werden. Anhand dieses Exkurses zur Taufe im Doppelwerk lässt sich mit Vorsicht vermuten, dass die Fortführung der Taufe, nun verstanden als christlicher Initiationsritus, als Übernahme der Taufhandlung des Täufers einer Begründung 119
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Matthes: Taufe, 321: „Durch ihre unterschiedlichen Bezugnahmen, auf die Buße bzw. das Sterben und Auferstehen Christi, stellen Johannestaufe und christliche Taufe trotz scheinbar gleichem Ablauf zwei grundsätzlich verschiedene Rituale dar. Und um die von der christlichen Taufe erhoffte Wirkung zu erzielen, muss diese auch vollzogen werden.“ Theißen: Veränderungspräsenz, 304. Vgl. Öhler: Einheit, 61. Eine Ausnahme stellt mglw. der von Philippus getaufte Kämmerer dar. Dieser kehrt nach der Taufe in seine Heimat zurück. Strecker: Taufpraxis, 376: „Im Übrigen machte bereits Tertullian geltend, die Apostel wären vermutlich ehedem Empfänger der Johannestaufe gewesen, und mit dem pfingstlichen Geistempfang sei diese Taufe nun an ihnen zur Vollendung gelangt (Bapt 12,3–4).“ Man darf an dieser Stelle Lukas durchaus Absicht unterstellen, denn bei der Nachwahl des vakanten Apostelplatzes in Apg 1,15–26 wird das Miterleben der Taufe Jesu zwar als Bedingung genannt (Apg 1,21f.), aber nicht das Getauftsein des zwölften Apostels (oder seiner Amtsbrüder). Dadurch unterscheidet sich auch Saulus/Paulus, der ja bekanntlich nicht im lukanischen Sinne als Apostel zählt, von den Zwölf, da seine Taufe explizit berichtet wird. Vgl. dazu Hartman: Namen, 133ff., der feststellt: „Auf die Frage, ob die Apostel zuerst mit einer Wassertaufe getauft waren, um danach mit einer Geiststaufe getauft zu werden, gibt Lukas einfach keine Antwort.“
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3 Exegese ausgewählter Perikopen
bedarf. Möglicherweise spiegelt sich dieser Übergang in der genuin lukanischen Verbindungslinie des Gebets. Das Gebet ist die einzige Handlung Jesu beim Taufakt in Lk 3,21f. und gleichzeitig Handlungselement vieler Taufgeschichten der Apg. Die Vermittlerrolle bei Taufe und Geistgabe übernimmt dabei natürlich nicht mehr Johannes, sondern einer der Apostel. Vor allem anhand der Figur des Petrus kann man dies erkennen, da er im Kontext der Geistgaben wichtige Funktionen einnimmt. Der Geistempfang als erhofftes Ergebnis urchristlicher Taufen bleibt aber an Gott gebunden und ist kein automatischer Bestandteil des Taufrituals. (2) Die Frage, ob Lukas die Taufe Jesu als Salbung mit dem Heiligen Geist verstanden hat, lässt sich nicht direkt in Lk 3,21f. belegen, da sprachlich kein Bezug zu χρίω auszumachen ist. Es sprechen allerdings mehrere Indizien für diese These.124 Zuerst ist hier die Bezeichnung Jesu mit Christus, die sich in mehreren Perikopen im Lukasevangelium125 (bisher Lk 2.11.26126) und der Apostelgeschichte (u. a. 2,36; 3,20; 5,42; 9,34; 28,31) finden lässt. Dementsprechend ist die Frage des Volkes nach Christus in Bezug auf Johannes eindeutig auf Jesus zu münzen, den der Täufer in 3,16f. als Stärkeren ankündigt. Neben dieser Gleichsetzung des Gesalbten mit dem Stärkeren und damit mit Jesus findet sich im Doppelwerk an zwei Stellen die explizite Zusammenstellung von Geist und Salbung: In der Antrittspredigt in Nazareth (4,16–30127) liest Jesus innerhalb des Gottesdienstes aus Jesaja: „Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat […]“. Dieses Wort des Jesaja ist somit nach Jesu eigener Aussage (4,21!) erfüllt. Der lukanische Jesus sieht sich also selbst als mit dem Geist Gottes gesalbter Gesandter,128 wie er bei seinem ersten öffentlichen Auftritt verkündigt. Dies wird bestätigt durch Petrus, der in seiner Predigt in Cäsarea (Apg 10,34–48, vgl. 4,27f.) eine direkte Verbindung der Taufe Jesu mit der Salbung mit dem Heiligen Geist aufzeigt.129
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Vgl. schon Lentzen-Deis: Taufe, 285: „Die Taufe und die danach folgende Geistbegabung wird von Lk nach 4,18 im Sinne der ‚Salbung‘ von Jes 61,1 verstanden.“ Mglw. spricht auch 1Joh 2,20.27 vom Geist, wenn er die bleibende Salbung seiner Leser bezeugt. Die Bezeichnung Jesu als Christus findet sich bei Dämonen (4,41), Petrus (9,20) und Jesus selbst (mit Rückgriff auf die alttestamentliche Überlieferung: 24,26.46); vgl. Ó Fearghail: Introduction, 126. Hinzu kommt die zweifelnde Zuschreibung des Christusbegriffes durch Gegner Jesu in der Passion (23,2.35.39). In Lk 2,11 ist es der Engel, der die Geburt Christi den Hirten verkündigt, die dann das Jesuskind besuchen; 2,26 berichtet vom Warten des Simeon auf den Christus, den er vor seinem Tod noch sehen soll, wie ihm der Heilige Geist eingegeben hatte. Vgl. dazu ausführlich Abschnitt 3.4 dieser Arbeit. Dabei könnte die Salbung Davids durch Samuel eine Vorlage sein (1Sam 16,13), denn an beiden Stellen wird der Protagonist durch einen Mittler (Samuel, Johannes) rituell behandelt und dadurch mit Heiligem Geist ausgestattet. Apg 4,37f.: „Ihr wisst, was in ganz Judäa geschehen ist, angefangen von Galiläa nach der Taufe, die Johannes predigte, wie Gott Jesus von Nazareth gesalbt hat mit Heiligem Geist
3.3 Die Taufe Jesu
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Diese Überlegungen bringen uns zur Frage nach der Performanz130 der Handlungen innerhalb der Perikope Lk 3,21f. Zu erinnern ist dabei zunächst an die enge Verbindung von Handlungen (Taufe, Gebet) und Geistgabe, die zwar als einzelne Elemente erkennbar, nicht aber zu trennen sind.131 Hinzu gehört die Proklamation durch die göttliche Stimme. Insgesamt ergibt sich aus den verschiedenen Elementen eine Handlungssequenz, die als öffentliche – und in diesem Sinne performative – Handlung verstanden werden muss: Gott bestätigt dem soeben getauften, betenden und für alle sichtbar mit Heiligem Geist ausgestatteten Jesus132 seine Gottessohnschaft. Für die performative Wirkung dieser Szene sind die anwesenden und durchführenden Personen elementar, da nur diese – soweit sie korrekt autorisiert und befähigt sind133 – eine wirksame Handlung vollziehen können. Dies erklärt auch das Fehlen Johannes als Täufer Jesu. Aus Sicht des Lukas ist er, als Schwächerer (vgl. 3,15ff.), eigentlich nicht als Täufer Jesu geeignet (vgl. auch die entsprechende Diskussion in Mt 3,13–17). Dadurch, dass er ihn, in Theatersprache ausgedrückt, von der Bühne in dem Moment abgehen lässt, als der erwachsene Jesus die Szene betritt, zeigt sich die klare Überordnung Jesu gegenüber dem Täufer,134 die sich auf die johanneische Taufe als Ganzes auswirkt: Diese ist, wie oben gezeigt, aus lukanischer Sicht defizitär und muss nach Ostern durch eine christliche Taufe ergänzt bzw. ersetzt werden.135 Wichtig ist zudem der Faktor Öffentlichkeit. Jesus wird als Teil des ganzen Volkes (ἅπαντα τὸν λαὸν; 3,21a) getauft. Es handelt sich also um eine öffentliche Szene, die Lukas beschreibt, und somit kann das Beten Jesu, die Geistsalbung und
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und Kraft; der ist umhergezogen und hat Gutes getan und alle gesund gemacht, die in der Gewalt des Teufels waren, denn Gott war mit ihm.“ Zur Performanz vgl. Kapitel 2.4.2 dieser Arbeit. Dabei ist nach Theißen: Veränderungspräsenz, 302 das lukanische Taufverständnis „verglichen mit dem paulinischen Taufverständnis ‚alltagsnah‘. Entscheidend ist bei ihm allein, dass die Wassertaufe durch die Taufe mit dem Heiligen Geist ergänzt wird. Taufe und Geistempfang gehören zusammen.“ Das gilt auch für das Gebet, vgl. Lk 11,13. So auch Hartman: Namen, 23: „Auch die Taubengestalt des Geistes wird in Lk konkreter als in Mk und Mt dargestellt, und das hat zur Folge, daß der Geistbesitz Jesu einem weiteren Publikum offenbar wird.“ Das klassische Beispiel aus der Performanzforschung ist hierbei die Eheschließung: Nur wenn der bzw. die Standesbeamte die Handlung gemeinsam mit den angehenden Eheleuten korrekt vollzieht, ist die Eheschließung gültig. Ein Schauspieler, der einen Standesbeamten mimt, kann, auch beim korrekten Vollzug der Handlungen, keine gültige Ehe stiften. Dies wäre ein Fehler A2 nach den Kategorien Austins (vgl. ders.: Sprechakte, 37 und Kapitel 2.4.2 dieser Arbeit). Dazu Reichardt (Taufe, 30): „Die Lösung von Täufer und Taufe Jesu mildert die problematische Unterordnung Jesu unter den Täufer sowie die mit der johanneischen Taufe der Umkehr zu Vergebung von Sünden […] in Verbindung stehende Frage nach der Sündhaftigkeit bzw. dem Sündenbewußtsein Jesu und vereinfacht die spätere Übernahme der Taufe im Urchristentum.“ Vgl. dazu den Exkurs zur Taufe im lk Doppelwerk in diesem Kapitel.
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3 Exegese ausgewählter Perikopen
die Proklamation der Gottessohnschaft als eine öffentliche Handlung verstanden werden. Dementsprechend ist die Geistsalbung und die Proklamation durch die himmlische Stimme als Auftakt für die Wirksamkeit Jesu zu sehen, der sprachlich durch die Nennung des Beginnens (ἀρχόμενος; 3,23) und durch den späteren Rückbezug auf die Geistgabe (4,18 und Apg 10,37f., vgl. Apg 1,22) deutlich wird. Bovon fasst dies zusammen: „Es stimmt aber, daß Lukas uns durch diese beiden Berichte [Taufe und Antrittspredigt, DK] Jesus als Messias und Prophet vorstellen will. Sie bilden zusammen den Anfang, die berühmte ἀρχή des Evangeliums. Im ersten empfängt Jesus, vom ganzen Volk umgeben, die Enthüllung seiner Identität, im zweiten versucht er sie seinem Volk durch Schrift und Auslegung nahezubringen. […] Die himmlische Stimme bei der Taufe Jesu entfaltet die (innere) Vater-Sohn-Beziehung, das Schriftzitat der Nazaret-Szene den messianischen und prophetischen Auftrag nach außen: für das Volk.“136 Die Taufe Jesu kann also nur als performativer und damit als öffentlicher Akt der Geistsalbung verstanden werden, der Jesu Gottesbeziehung für den Leser wiederholt137 und nun für alle (das ganze Volk) sicht- und hörbar feststellt, die Überordnung über Johannes endgültig festlegt und die ἀρχή der Wirksamkeit Jesu darstellt.138 (3) Wurde bisher die Öffentlichkeit der Szene Lk 3,21f. in den Mittelpunkt gestellt, soll nun eng damit verbunden nach der Folge der Ausstattung Jesu mit Heiligem Geist gefragt werden: Wenn, wie oben vorgeschlagen, die Taufperikope als ein öffentliches rituell-performatives Geschehen zu deuten ist, so kann die Weitergabe des Geistes in Verbindung mit der Nennung des „Amtes“139 als öffentliche Darstellung der Weitergabe der Agency140 Jesu betrachtet werden.141 Man könnte sogar formulieren: „In dieser Episode wird vielmehr erzählt, dass Jesus selbst von seiner Identität in Kenntnis gesetzt und für die Wahrnehmung seiner Aufgabe ausgerüstet wird.“142
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Bovon: Lk I, 182. Der Leser von Lk 1–2 kennt die Mitwirkung des Geistes bei der Empfängnis Jesu durch Maria (1,35). Auf die spezifische Erinnerung der Kindheit Jesu durch Maria spielt Lk 2,19.51 an. Zur Verbindung von Taufe und Antrittspredigt gehört auch, dass Lk 4,16–30 die negative Reaktion der Nazarener aufzeigt, während eine Reaktion der Zuschauer der Taufe Jesu nicht erzählt wird. Eine Antwort auf das Geschehen kann es erst in Verbindung mit der Selbstoffenbarung Jesu geben. Zu den vier Ämtern Jesu (König, Prophet, Priester und Lehrer), die für seine Vorstellung im Lukasevangelium eine Rolle spielen, vgl. Ó Fearghal: Introduction, 131–140. Zu Agency vgl. Kapitel 2.4.1 dieser Arbeit. Vgl. dazu Strecker: Taufpraxis, 398, der die Gabe der Taufe durch einen Täufer, also nicht durch den zu taufenden Menschen selbst, „sicht- und erfahrbar zu verstehen [gibt], dass die mit dem Ritual verbundenen soteriologischen Effekte nur empfangen und nicht selbst hergestellt werden konnten.“ Wolter: Lk, 170 (kursiv dort).
3.3 Die Taufe Jesu
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Die Weitergabe einer Handlungsvollmacht zeigt sich im lukanischen Doppelwerk bei Berufungsgeschichten. Dabei sind einige verbindende Elemente sichtbar: Wie oben bereits ausgeführt, stellt Lk 3,21f. aus Sicht Jesu (4,18) und Petri (Apg 10,37f., vgl. Apg 1,22) einen Startpunkt für das Wirken Jesu dar, welches nun beginnt (ἀρχή; 3,23). Dabei greift Lukas auf Prophezeiungen Jesajas zurück: „On the individual level Lk 3,22 and especially 4,18–21 (cf. 7,22) represent Jesus as the expected Spirit-endowed eschatological figure of Is 42,1 and 61,1.“143 Jesus kommt als Beauftragter Gottes und bringt Heil – zuerst für Israel, dann aber auch für die Völker, wie durch das Jesaja-Zitat im Synagogengottesdienst in Nazareth deutlich werden wird (Lk 4,16–30).144 Er ist aber auch in jenem Sinne eine „eschatological figure“, als dass sein Wirken mit dem göttlichen Gericht verbunden wird (3,17). Dabei verknüpft Lukas die Weitergabe der Agency sowohl mit dem Heiligen Geist, als auch mit der Proklamation Jesu als geliebtem Sohn Gottes. Dies ist für den Leser insofern nicht neu, als dass Gabriel schon bei Maria von ihrem Nachkommen als Sohn Gottes bzw. Sohn des Höchsten (1,32.35) spricht und Jesus als Zwölfjähriger Gott als seinen Vater bezeichnet (2,49). Neu ist hier allerdings, dass Gott selbst es ist, der durch seine Stimme aus dem Himmel die Sohnschaft Jesu bekräftigt.145 Dies überrascht aus ritualwissenschaftlicher Sicht nicht. Wie schon unter (2) zur Performanz ausgeführt, ist die korrekte Durchführung eines Rituals insbesondere von der Korrektheit des Auszuführenden geprägt: Weder Gabriel noch der 12-Jährige, sondern nur Gott selbst kann wirkungsvoll Jesus als seinen Sohn anerkennen und tut dies in Lk 3,21f. in Form einer öffentlichen Proklamation, die im späteren Verlauf des Evangeliums noch einmal für die Apostel bekräftigt werden wird (9,28–36).146 Blickt man nun auf weitere „Rites of Commissioning in Luke-Acts“147, zeigt sich, dass Lukas mehrere Elemente der Taufperikope wieder aufnimmt.148 Dabei ist allen Perikopen gemeinsam, dass sie „commissioning of individuals for new roles“ sind.149 Das erste Beispiel ist die Ernennung der Zwölf (Lk 6,12–16). Ausgangssituation ist das (nächtliche und andauernde) Gebet Jesu (6,12; vgl. 3,21). Er ernennt daraufhin aus der Gruppe seiner Jünger genau zwölf. Diese nennt er (ὠνόμασεν; so nur der lukanische Text!) nun Apostel, gibt ihrer neuen Rolle also 143
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Ó Fearghail: Introduction, 125. Dabei geht er allerdings davon aus, dass die Geistbegabung Jesu schon mit der Zeugung einsetzte (vgl. ders.: 133). Zu den Parallelen Lk 3,1 und Jesajabuch vgl. Ayuch: Johannesepisode. Ausführlich dazu im Kapitel 3.4 dieser Arbeit. Zur Verbindung von Taufe und Antrittspredigt vgl. Lentzen-Deis: Taufe, 146–150. Zur „göttliche[n] Agency“ in Bezug auf das frühchristliche Taufritual vgl. Strecker: Taufpraxis, 399. Vgl. Bovon: Lk I, 182. Reeve: Rite, 252. Vgl. für das Folgende den Aufsatz von Reeve: Rite, 249–258 (insbesondere die Tabelle S. 252). Reeve: Rite, 249.
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3 Exegese ausgewählter Perikopen
eine spezifische Bezeichnung (6,13; vgl. 3,22).150 Dies wiederholt sich gewissermaßen bei der schon angesprochenen Nachwahl des zwölften Apostels (Apg 1,15–26151), der durch Gebet (1,24) berufen wird und der nun in seiner neue Rolle als Apostel bezeichnet wird (1,26).152 Ähnliches zeigt sich bei der Einsetzung der sieben Diakone (Apg 6,1–7: Sie übernehmen eine neue Rolle in der Gemeinde und werden rituell durch Gebet und Handauflegung [6,6] eingeführt153) und der Aussendung des Paulus und weiterer Missionare in Antiochia (13,1–3: Fasten154, Gebet, Handauflegung). Bei letzterer ist es zudem ausdrücklich der Heilige Geist,155 der die Berufung der Missionare vermittelt.156 Reeve nennt noch zwei weitere „Rites of Commissioning“: Die Berufung der Ältesten (πρεσβύτεροι) durch Paulus und Barnabas (Apg 14,23: Gebet und Fasten) und die in der Abschiedsrede des Paulus in Ephesus durch den Heiligen Geist eingesetzten Bischöfe (20,28: ἐπίσκοποι; 20,36: Gebet). Reeve fasst zusammen: „In this more or less formalized commissioning rites, divine intervention is explicitly mentioned only twice, but subsequent events bear clear witness to the presence of divine blessing and empowerment. Prayer, on the other hand, duly noted in each case, reinforces the centrality of prayer at times of transition and ritual in LukeActs.“157 Die Weitergabe der Agency an Jesus durch die von Gott proklamierte Sohnschaft – verbildlicht mithilfe des herabkommenden Geistes – löst den Beginn der Wirksamkeit Jesu aus, die Lukas in den weiteren Kapiteln seines Evangeliums beschreibt. Dabei ist die Beauftragung in den rituellen Kontext der johanneischen Taufe einbezogen. Einzelne Elemente fungieren dabei als Vorbilder für 150
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Dass die Zwölf Gesandte (wört. ἀπόστολοι) sind, löst Lukas in 9,1ff. ein. Er variiert dabei die Bezeichnung. In Lk 9,1 werden die Zwölf ausgesandt, diese kommen dann in 9,10 als Apostel zurück. Vgl. Haacker: Apg, 44–46. Lukas greift bei seiner Erzählung auf das Ritual der Auslosung zurück, wodurch im Hintergrund göttliches Wirken steht. Als Grundbedingung der Auswahl der Kandidaten Matthias und Josef führt Petrus das Mitsein seit der Taufe (hier also verstanden als Startpunkt des irdischen Wirkens Jesu) bis zu seiner Kreuzigung an (1,22). Der nachgewählte Apostel soll Zeuge der Auferstehung sein (vgl. Apg 1,8 und Lk 24,48). „Auch die Wahl durch die Gemeinde (V. 5) und Einsetzung durch die Gesandten unter Gebet und Handauflegung (V. 6) lässt auf eine wichtige Aufgabe schließen“, Haacker: Apg, 130. Zwar fastet Jesus in Lk 3,21f. nicht, aber in der kurz darauf erzählten Versuchung durch den Teufel wird dies zu Beginn beschrieben (4,2). Dass der Heilige Geist an dieser Stelle als eigenständige Person spricht, „ist ein Novum und in sprachlicher Hinsicht eine Vorstufe der späteren Trinitätslehre. Der Grund dieser Ausdrucksweise dürfte jedoch darin liegen, dass ein direktes Hören der Stimme Gottes im Judentum ausgeschlossen wurde“, Haacker: Apg, 216. Der Geist (hier als Geist Jesu) mischt zudem bei der Wahl der Missionsziele Pauli mit: Apg 16,7. Nach Apg 13,4 ist es explizit der Heilige Geist, nicht die Gemeinde von Antiochia, der die Missionare aussendet. Reeve: Rite, 250.
3.3 Die Taufe Jesu
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spätere Beauftragungen im Doppelwerk, die jeweils einen Rollenwechsel der Person(en) aufzeigen. Wie wichtig Lukas die Agency als Handlungsvollmacht für Jesus und seine Jünger ist, zeigt sich in der lukanischen Abendmahlsperikope (22,14–20). Diese erzählt – anders als die Berichte der anderen Evangelisten und Paulus (1Kor 11) – die Weitergabe der Agency Jesu auf die neu geschaffene Gemeinde.158 Möglich wird dies aber nur durch das Sterben Jesu, denn „vor Jesu Tod beginnt weder das Wirken des Geistes noch das Endgeschehen (17,25), das der Geist einleitet (Apg 2,17).“159 Dies wird auch deutlich durch die Verbindung von Taufe und Tod Jesu in 12,49f. (s. o.) und die explizite Formulierung des Sterbens Jesu. In 23,46 lässt Lukas Jesus sagen: πάτερ, εἰς χεῖράς σου παρατίθεμαι τὸ πνεῦμά μου. Der Erzähler fährt fort: τοῦτο δὲ εἰπὼν ἐξέπνευσεν. Jesus gibt also seinen Geist, den er vom Vater (vgl. 3,22; 9,35) empfangen und der auch schon in Johannes (1,15), Elisabeth (1,41) und Zacharias (1,67) gewirkt hat,160 an diesen zurück. Das ἐξέπνευσεν (ἐκ-πνέω161) betont dies noch einmal: Jesus gibt den Geist auf, damit dieser zu Pfingsten und in der Zeit danach an die Jünger gegeben werden kann.
3.3.4 Zusammenfassung und Fazit Die kurze Erzählung der Taufe Jesu in Lk 3,21f. zeigt mannigfaltige Verbindungen in das gesamte Doppelwerk aus Evangelium und Apostelgeschichte. Dabei betont Lukas die Unabhängigkeit, ja Überlegenheit Jesu gegenüber Johannes, den er schon vor der Taufe Jesu durch Herodes ins Gefängnis werfen lässt und bietet einen geschickt formulierten Übergang hin zu seinem Hauptcharakter und dessen Wirksamkeit, die nun beginnt (3,23) und in Nazareth öffentlich sichtbar werden wird. Dabei legt Lukas Wert auf die Öffentlichkeit und Sichtbarkeit des Ereignisses der Taufe, der Geistgabe und der himmlischen Proklamation Jesu als Sohn Gottes. Diese Öffentlichkeit der erzählten Handlung und seiner Auswirkung ist ein wichtiger Faktor für die performative Wirksamkeit des Rituals. Lukas erläutert die schwierige und in allen Evangelien auszumachende Frage nach dem Verhältnis von Johannes und Jesus dabei durchs Ritual: Johannes ist eigentlich nicht würdig, an Jesus die Taufe als Ritual der Sündenvergebung durchzuführen, daher lässt er ihn – wie bei einer dramatischen Theateraufführung – von der Bühne 158 159 160
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Vgl. dazu ausführlich Kapitel 3.7 dieser Arbeit. Klein: Lk, 467. „This is the same Spirit, that inspired Elizabeth and Zechariah and by which Jesus was conceived; it is the same Spirit that will, according to Acts 2, descend on the followers of Jesus at Pentecost“ (Levine/Witherington: Luke, 92). Dass Lukas Worte des Sterbens dezidiert wählt, erkennt man auch an den drei Nennungen von ἐκψύχω: Apg 5,5.10; 12,23. In allen drei Fällen kommen Gegner der Gemeinde ums Leben.
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3 Exegese ausgewählter Perikopen
abgehen als sein Protagonist auftaucht. Das im Kontext der Taufe nur im Lukasevangelium zu findende Beten als einzige aktive Handlung Jesu bietet dann möglicherweise einen Hinweis auf den Übergang zu Taufen bzw. Taufriten, wie sie die lukanische Leserschaft kennt. Durch die als Salbung zu verstehende Geistgabe bekommt bzw. erkennt Jesus (und das ganze Volk, mit dem er getauft wird), die ihm zustehende und inneliegende Agency, die ihn für die nachfolgend erzählte Versuchung durch den Teufel und seine öffentliche Wirksamkeit ausrüstet. Diese Agency, die durch den herabkommenden Heiligen Geist symbolisiert wird, wird von Jesus im Verlauf des Evangeliums als Grundlage für die neue Gemeinschaft seiner Jünger(innen) weitergegeben (beim letzten Mahl) bzw. für die nahe Zukunft versprochen (24,49). Dieses Versprechen wird zu Pfingsten und bei weiteren Geistgaben in der Apostelgeschichte eingelöst werden.
3.4
Die „Antrittspredigt“ Jesu in Nazareth (Lk 4,16–30)
Der zweite Teil des vierten Kapitels des Lukasevangeliums beschreibt den Beginn des Predigens und Heilens Jesu in der Öffentlichkeit,1 noch vor der Berufung der ersten Jünger. Anders als bei den anderen drei kanonischen Evangelien beginnen diese Berichte nicht direkt am See Genezareth,2 sondern in Jesu Heimatstadt Nazareth.3 Sein programmatischer Auftritt in Lk 4,16–30 wird daher als „Antrittspredigt Jesu“ bezeichnet.4 Diese findet innerhalb einer sabbatlichen Gottes-
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Schon die Taufe Jesu in Lk 3,21f. ist eine öffentliche Handlung, bei der Jesus in das ganze Volk integriert wird (vgl. Kapitel 3.3). Dort ist er aber vor allem passiv. Die Antrittspredigt ist wiederum der Auftakt für das aktive Wirken Jesu, das im Summarium 4,14f. als Lehre beschrieben wird. Vgl. Mt 4,18 und Mk 1,16, wo Jesu Aufenthalt am See und die Berufung der ersten Jünger dargestellt wird. Bovon: Lk I, 206–208 diskutiert die Meinung einiger Exegeten (er nennt u. a. Fitzmeyer), dass die Verse Lk 4,14f. von einem früheren Bericht über den Beginn des Wirkens Jesu zeugen. Dem widerspricht Bovon, betont aber gleichzeitig: „Die Gesamtgestaltung von Lk 4,16–20 ist redaktionell“ (207 Fn 4). Er sieht dabei eine „Urform“ der Überlieferung im Hintergrund, die Markus und Lukas unterschiedlich aufarbeiten. „Aus der mißlungenen Begegnung zwischen Jesus und seiner Stadt hat sich mit der Zeit, in der über Schrift und Geschichte nachgedacht wurde, ein christologisch und ekklesiologisch beladender Bericht entfaltet“ (208). Trotz der Geburtsgeschichten in Bethlehem (Mt und Lk) wird Jesu Herkunft nicht verdrängt: „Daß Jesus aus diesem unbedeutenden Dorf stammt, wird im Urchristentum notgedrungen anerkannt“ (Bovon: Lk I, 210). Bovon spricht in seinem Kommentar von der „Antrittspredigt in Nazaret“, ebenso Albertz: „Antrittspredigt“, 182 und Klein: Lk, 170. Schweizer: Lk, 55 überschreibt mit „Jesu programmatische Antrittspredigt“. Alfons Weiser: Reich Gottes, 129 nennt den Abschnitt
3.4 Die „Antrittspredigt“ Jesu in Nazareth
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dienstfeier in einer Synagoge statt.5 Der rituelle Rahmen ist also durch den Autoren gesteckt: Ort und Zeit sind genau bestimmt und umgrenzen somit die Handlungsmöglichkeiten Jesu,6 der sich aktiv am Synagogengottesdienst beteiligt und dessen Schriftauslegung einen Konflikt mit den Gottesdienstteilnehmern initiiert. Im Mittelpunkt wird bei der folgenden Auslegung die Frage stehen, wie es zu der Auseinandersetzung zwischen Jesus und seinen Nachbarn kommen und diese dermaßen eskalieren konnte, dass die Dorfbewohner Jesus zu töten versuchen. Dafür soll insbesondere die rituelle Ordnung des Makroritual Synagogengottesdienst aufgezeigt und als Hintergrundfolie für den Konflikt nutzbar gemacht werden.
3.4.1 Einordnung in die Erzählung des Evangeliums Nach den Geburts- und Kindheitsgeschichten in Lk 1–2 gibt es mit Lk 3,1 einen Zeitsprung. Nun spielt die Erzählung im 15. Regierungsjahr des Kaisers Tiberius und der nun erwachsene Johannes tritt als Prediger in der Wüste auf.7 Er predigt dem Volk die Taufe der Buße zur Vergebung der Sünden (3,3) und wird von Herodes ins Gefängnis geworfen.8 Nach der kurzen Tauferzählung fügt Lukas
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„lukanische Grundlegung“. Wolter: Lk, 187 nennt den ganzen Abschnitt 4,14–44 „Der Anfang in Galiläa“, ordnet 4,16–30 Nazareth, 4,31–44 Kapharnaum zu. Der Begriff Predigt ist wohl anachronistisch. Man könnte auch allgemeiner von einer ‚Antrittsrede‘ sprechen. Mt und Mk lassen Jesus hingegen am See entlang gehen. Von dort aus beginnt er mit der Berufung der ersten Jünger Simon, Andreas, Johannes und Jakobus (vgl. Mk 1,16–20 und Mt 4,18–25). Hier zeigt sich eine Differenz zum Täufer, der sich – als Sohn des Priesters Zacharias – vom Tempelkult entfernt und in der Jordangegend (Lk 3,3) tauft und zur Buße ruft (vgl. Kapitel 3.3). Jesus hingegen wendet sich schon in seiner ersten öffentlichen Predigt der rituellen Ordnung zu und sucht dezidiert die Synagoge in Nazareth auf. Johannes distanziert sich also von seiner Herkunft, um umso stärker zur Umkehr zu Gott aufzurufen, während Jesus sich seiner Heimat und dem vorgegebenen rituellen Rahmen des Gottesdienstes zunächst zuwendet, um dort abgewiesen zu werden. Beide sind in der Forschung als Charismatiker dargestellt worden, wobei Jesus im Gegensatz zum Täufer nicht als antiinstitutionell zu beschreiben ist (vgl. Kapitel 2.3.11 dieser Arbeit). Er nutzt bewusst Institutionen bzw. Rituale wie den in diesem Kapitel beschriebenen Synagogengottesdienst für seine Lehre. Dabei ist – wie schon in Lk 2,41–52 zu sehen war – die Integration Jesu in die rituelle Ordnung seiner Zeit freiwillig, was für seine Umwelt als konfliktschürend verstanden wird. Hier setzt sich also der alternierende Fokus aus Lk 1f. fort: Abwechselnd wird der Blick entweder auf Johannes oder auf Jesus gerichtet. Und genau wie in Lk 1,39–45 gibt es nur eine sehr kurze Berührung der beiden Charaktere, hier bei der Darstellung der Taufe (3,21f.). Eine gleichzeitige Wirksamkeit beider schließt das Lukasevangelium aus. Vgl. Schmithals: Lk, 61. Dies entspricht der Chronologie aller Synoptiker. Joh 3,22–24 kennt hingegen das zeitgleiche Wirken beider. Zur unterschiedlichen Aufgabe beider Charaktere vgl. Busse: Evangelium, 167–172. Auffälligerweise berichtet Lukas erst von der Verhaftung Johannes’, bevor er die Taufe Jesu
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3 Exegese ausgewählter Perikopen
einen Stammbaum Jesu ein und gibt dabei auch eine Altersangabe für Jesus: Er ist nun – zu Beginn seines Wirkens (ἀρχόμενος) – etwa 30 Jahre alt (2,23).9 Nachdem durch den Stammbaum der Narrativ unterbrochen wurde, wird dieser nun mit dem Bericht über die Versuchung Jesu in der Wüste fortgesetzt (4,1–13). Bisher stand Jesus nur begrenzt in der Öffentlichkeit. Dies ändert sich nun ab 4,14f.10 In diesem Summarium wird von Jesu öffentlicher Lehre in Galiläa, deren Ausbreitung und Erfolg berichtet.11 Unter dieser Überschrift steht der im Folgenden zu analysierende Abschnitt 4,16–30. Dieser wird durch den Wechsel des Ortes (Nazareth in Vers 16, Kapernaum in Vers 31) jeweils abgegrenzt. Der nächste größere Einschnitt findet sich dann nach 4,44.12 Dort wird die Szene dann an den See verlegt.13
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erzählt. Ein genauer Blick in den Text zeigt auch, dass im Gegensatz zu den anderen Evangelien (vgl. Mk 1,9; Mt 3,13) nicht explizit berichtet wird, dass Johannes es ist, der Jesus tauft. Die Unterordnung des Täufers unter Jesus findet in Lk 3,21f. innerhalb der synoptischen Evangelien seinen Höhepunkt – nur das Johannesevangelium könnte als noch hierarchischer zu verstehen sein (vgl. u. a. Joh 3,22–36). Zur Taufe Jesu vgl. Kapitel 3.3. Dieser kleine Hinweis auf das Alter Jesu hat eine interessante Wirkungsgeschichte: Augustin stellt sich die Frage, welchen Alterszustand die Körper nach der Auferstehung haben werden. Er verweist dann auf Lk 3,23 und setzt somit 30 als Alter der Auferstandenen fest; Augustin: De civitate Dei XXII, 15. Zu den beiden Altersangaben Lk 2,42; 3,23 vgl. Klinkmann: Warum, 149f. Zum Summarium vgl. Wasserberg: Mitte, 153. Das Lehren (αὐτὸς ἐδίδασκεν ἐν ταῖς συναγωγαῖς) Jesu ist nach Rusam: AT, 171 wohl als Schriftauslegung zu verstehen (ebenso Bovon: Lk I, 209). Die Nazarethperikope wäre dann eine „exemplarisch dargestellte Predigt Jesu“ (Rusam: ebd.) bzw. ein „Musterbeispiel für Jesu Lehre“ (Bovon: Lk I, 210). Rusam sieht in Lk 4,14f. eine enge Verbindung zu Lk 2,46f., wo sich schon Jesu „besondere Fähigkeit zur Schriftauslegung“ gezeigt habe. Dem ist mit Crüsemann: Wahrheitsraum, 14–19 zu widersprechen: Die Geschichte des 12-jährigen Jesus im Tempel stellt nicht seine Lehre dar, sondern sein Zuhören und Fragen (ἀκούοντα καὶ ἐπερωτῶντα). Jesus lernt im Tempel. Die kirchliche Auslegung hat dann aus dem lernenden einen lehrenden Jesus gemacht. Vgl. dazu Kapitel 3.2 dieser Arbeit. Der Bezug auf Judäa in 4,44 (καὶ ἦν κηρύσσων εἰς τὰς συναγωγὰς τῆς Ἰουδαίας) ist insofern problematisch, da sich sowohl Nazareth (vgl. 4,14f.), als auch Kapernaum (4,31) und der See Genezareth in Galiläa befinden (wie auch einige Handschriften verbessern). Vielleicht soll die Anwesenheit von Menschen aus Judäa und Jerusalem in 5,17 erklärt werden, vgl. Schaefer: Zukunft, 225 (Fn 432). Schaefer spricht sich für Judäa als ursprüngliche Bezeichnung aus und weist darauf hin, dass Lukas mit Judäa auch „das jüdische Land insgesamt meinen“ könne. Ebenso Petzke: Sondergut, 75. Nach Hengel: Historiker, 151 finden sich unterschiedliche Gebräuche des Terminus ‚Judäa‘ bei Lukas. „Diese Unschärfe mag damit zusammenhängen, daß einmal der offizielle Sprachgebrauch auf Grund des mehrfachen Wechsels der politischen Verhältnisse und Grenzen nicht einheitlich war, und zu anderen damit, daß auch der alte Sprachgebrauch der LXX vom ‚Land Juda‘ noch hereinspielte.“ Für Schweizer: Lk, 65 ist mit Judäa „wie im Alten Testament vor David das ganze Land“ gemeint. Ähnlich Bovon: Lk I, 226 und Klein: Lk, 201. Zum textkritischen Befund vgl. auch Ó Fearghail: Introduction, 25–29. Eine ausführlichere Beschäftigung mit dem näheren Kontext der Erzählung bietet Kühschelm: Jahr, 149. Auch er betont den Zusammenhang des Teiles Lk 4,14–44 in der Aufteilung „Summarium – Episode I (Nazaret) – Episode II (Kafarnaum) – Summarium.“
3.4 Die „Antrittspredigt“ Jesu in Nazareth
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3.4.2 Lk 4,16–17: Jesus kommt in die Synagoge von Nazareth 16 Und er kam nach Nazareth, wo er aufgewachsen war, und ging nach seiner Gewohnheit am Sabbat in die Synagoge und stand auf, um zu lesen. 17 Und ihm wurde das Buch des Propheten Jesaja gegeben und als er das Buch öffnete fand er die Stelle, wo geschrieben steht: Die Verse 16 und 17 dienen der Einführung in die Szene. Ort und Zeitpunkt werden genau definiert: Die Geschichte spielt in Nazareth, wo Jesus aufgewachsen war, und zwar in der dortigen Synagoge.14 Als Zeitpunkt wird der sabbatliche Gottesdienst genannt.15 Die Handlung Jesu wird vom Evangelisten explizit als Gewohnheit (κατὰ τὸ εἰωθὸς αὐτῷ; nur bei Lk) beschrieben, er verdeutlicht damit die Ritualität des Geschehens.16 Jesus partizipiert nun am synagogalen Sabbatgottesdienst17 und steht zur Lesung auf.18 Er ist also nicht bloß passiv dabei, sondern integriert sich 14
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Ob es in Nazareth zur Zeit Jesu überhaupt eine Synagoge als Gebäude gegeben hat, ist umstritten. Nach Rusam: AT, 172 sind weder literarische noch archäologische Befunde eindeutig. Eine Überblick über die Situation im Heiligen Land bietet Claußen: Jesus, 227– 244. Nach Claußen kann der Begriff συναγωγή „sowohl eine Gruppe von Menschen, als auch ein Gebäude bezeichnen“ (229). Eindeutig als Gebäude sind nur die Synagogen aus Lk 7,5 und Apg 18,7 zu verstehen. Für die Situation in Nazareth ist „insgesamt kaum davon auszugehen, dass es dort zur Zeit Jesu ein größeres Synagogengebäude gab. […] Entsprechend scheint es durchaus näher zu liegen, von einer Versammlung in einem Privathaus […] oder eher noch wahrscheinlicher auf einem Platz unter freiem Himmel auszugehen“ (240). Nazareth war wohl zu klein und arm für eine eigene Synagoge. Lukas übernimmt diesen Teil der Darstellung aus Mk 6,2. ἐν τῇ ἡμέρᾳ τῶν σαββάτων lehnt sich an die Verwendung der LXX an („Septuagintismus“) und hat singulären Charakter (so schon Jeremias: Sprache, 120f.), auch wenn durch den Verweis auf Jesu Gewohnheit durchaus an dieser Stelle ein verallgemeinerndes Verständnis anzunehmen sein könnte. Ebenso Lk 22,39. Dort geht Jesus nach seiner Gewohnheit zum Ölberg um zu beten (vgl. 21,37). Klein: Lk, 186 sieht hier zudem einen Rückbezug auf 4,14f. und verweist auf Apg 17,2. Dort geht es um κατὰ δὲ τὸ εἰωθὸς τῷ Παύλῳ in die Synagoge zu gehen und mit den Juden (Apg 17,1) zu diskutieren (διαλέγομαι). Lukas lässt dabei den ersten Teil des Gottesdienstes aus, sodass der Fokus auf der Handlung Jesu liegt. Vgl. Bovon: Lk I, 211. Jedem Besucher eines sabbatlichen Gottesdienstes stand es frei, Texte aus der Bibel zu lesen und auszulegen (vgl. Bovon: Lk I, 210f; Claußen: Versammlung 215). Jesus wird also als „frommer Jude“ dargestellt, der regelmäßig am Gottesdienst seines Heimatortes teilnimmt (vgl. Bovon: Lk I, 210f.). Ein Verständnis Jesu als „Ehrengast“ (so Dormeyer: Lk, 54) ist m. E. durch den Text nicht angelegt. Die Anwesenheit von Frauen wird nicht erwähnt, ist aber vorstellbar: „Ein für die Durchführung des Gottesdienstes konstitutives Quorum von zehn Männern (minjan) ist erst in der Mischna belegt (mMeg 4,3). Auch Frauen durften an frühen Synagogengottesdiensten selbstverständlich teilnehmen (Lk 13,10–17;
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3 Exegese ausgewählter Perikopen
aktiv in das rituelle Geschehen. Jemand – vermutlich der Diener (4,20: ὑπηρέτης19) – reicht ihm das Buch20 Jesaja (βιβλίον τοῦ προφήτου Ἠσαΐου) und Jesus nimmt21 dieses und liest22 aus Jes 61.23 Die Erzählung verlangsamt sich fortwährend. Nachdem das Summarium 4,14f. noch überblicksartig das Wirken Jesu
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Apg 16,13; 17,4.12; Jos Ant. 14,260; Bell. 2,560)“, so Claußen: Art. Synagoge NT. Dagegen noch Schweizer: Lk, 57 lapidar: „Frauen sind nicht zugelassen.“ Dass der historische Jesus überhaupt lesen konnte, bestreiten einige Exegeten (z. B. Tropper: Jesus, 118): „Von Jesu Elternhaus ist daher kaum von einer Lese- und Schreibkompetenz auszugehen“ sowie ebd.: „Allerdings konnte er – wie fast alle Menschen im damaligen Galiläa – weder lesen noch schreiben.“ Bei einem ὑπηρέτης handelt es sich „also im synagogalen Kontext mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit um einen Diener im allgemeinen Sinne des Wortes. Er mag für die Torarollen ebenso verantwortlich gewesen sein, wie für allerlei kleinere Dienste im Gottesdienst der Gemeinde“ (Claußen: Versammlung, 291). Die Bezeichnung βιβλία für Buch – mglw. denkt Lukas hier an einen Kodex – ist für die Zeit Jesu wohl anachronistisch. Biblische Bücher wurden bis weit ins erste Jahrhundert hinein fast ausschließlich in Schriftrollen überliefert (vgl. z. B. die Funde von Qumran, die nur Schriftrollen als Medium nutzten). Möglicherweise zeigt sich hier eine Beschreibung aus Sicht der Leser, da der Kodex als Medium sehr schnell zumindest für einen Teil der Überlieferung der christlichen Schriften in Gebrauch war; vgl. Kühschelm: Antrittsrede, 157 (Fn 56). Anders Wolter: Lk, 191: Vers 17b „deutet an, dass Jesus nach lk Verständnis eine Schriftrolle in den Händen hält und keinen Codex.“ Genauso Klein: Lk, 189. Es wird gesagt, Jesus finde (εὗρεν) die besagte Stelle. Ob dies meint, Jesus habe genau diese Stelle für die Lesung ausgesucht oder vorgefunden (was heißen könnte, dass in einer sich fortsetzenden Lesung der Text an der Reihe war), muss offenbleiben. Bovon: Lk, 211 benennt die Möglichkeit, dass der Text „Jesus durch das Los zugeteilt wurde“. Schweizer: Lk, 58: „Wahl der Buchrolle und vermutlich auch des Textes ist nicht Jesu Sache.“ Dass Jesus liest wird nicht explizit gesagt. Lukas baut den Prophetentext aber so in den Kontext ein, dass beim Leser die Worte Jesajas wie Worte Jesu klingen. Vgl. Rusam: AT, 173: „Es ist der Leser, der das Zitat liest.“ Ebenso Tropper: Jesus, 180. Hierbei handelt es sich nicht um ein zusammenhängendes Zitat aus Jes 61, sondern um eine verkürzte Wiedergabe von Jes 61,1–2a in Kombination mit Jes 58,6. Bovon: Lk I, 211f. weist darauf hin, dass es sich bei Jes 61 in rabbinischer Tradition um eine „Haphtara für den Seder Gen 35,9ff“ handele. Diese würde dann auch die Gerichtsankündigung aus Jes 61,2b beinhalten, die Lk hier nicht mit in Jesu Lesung mit aufnimmt. „Daß sie (die Gottesdienstbesucher; DK) lieber von dem in Jes 61,2 stehenden, von Jesus nicht mehr vorgelesenen ‚Tag der Rache‘ (an den Heiden) gehört hätten, ist durch nichts angedeutet“, so Schweizer: Lk, 59 (gegen Bornhäuser: Wirken, 59, der die Ablehnung Jesu gerade durch das Weglassen der Gerichtsrede begründet sieht). Eine Reihe von Auslegern sieht durch die Weglassung den „radikale[n] Gnadencharakter im Wirken Jesu betont“ (so fasst Rusam: AT, 197 eine Reihe von Exegeten zusammen: Jeremias: Verheißung, 35ff, Hauck: Lk, z. St., Muhlack: Parallelen, 122, u. a.). Einige Koine-Handschriften und Theodotion schieben entsprechend Jes 61,1b ein: „zu heilen, die zerbrochenen Herzens sind.“ Trotz eines für Lk typischen Motivs des Heilens (vgl. 4,23) kennt die Mehrzahl der Handschriften diesen Einschub nicht. Es gibt mehrere Thesen für den Grund der Auslassung von Jes 61,1b. Mglw. zitiert Lukas aus dem Gedächtnis (G. Muhlack: Parallelen, 123), oder der Halbsatz fehlte in der Textvorlage des Lukas (so
3.4 Die „Antrittspredigt“ Jesu in Nazareth
117
beschreibt, werden nun immer kleinere Fortschritte der Geschichte erzählt. „Und die relativ genaue Darstellung des Redens und Handelns Jesu hat literarisch die Funktion, die Geschwindigkeit zu drosseln. Das Tempo von erzählter Zeit und Erzählzeit gleichen sich immer mehr an bis hin zur Identität bei dem eigentlichen Zitat.“24
3.4.3 Lk 4,18–19: Jesus liest aus dem Buch des Propheten Jesaja 18 Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat, das Evangelium den Armen zu verkünden, er hat mich ausgesandt, den Gefangenen die Freisprechung zu predigen, und den Blinden die Wiedererlangung des Sehvermögens, die Zerschlagenen auszusenden in die Freiheit, 19 zu predigen das annehmliche Jahr des Herrn. Im Mittelpunkt der Lesung stehen drei Grundaussagen: (1) Die Person, von der in der ersten Person Singular gesprochen wird, ist mit Heiligem Geist gesalbt25 und ist (2) beauftragt eine gute Nachricht zu verkünden, die sich weiter ausdifferenziert: Als Zielgruppe für die Verkündigung werden genannt: Arme, Gefan-
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u. a. Grundmann: Lk, 120 und Holtz: Untersuchungen, 40). Vielleicht bedingt auch die Einsetzung von Jes 58,6 die Auslassung (so Busse: Manifest, 34f.). Bovon: Lk I, 212 geht hingegen davon aus, dass es nicht entscheidbar sei, ob die Auslassung Lukas schon vorlag, oder von ihm geschaffen wurde. M. E. ist der freie lukanische Umgang mit seinen Vorlagen schon durch den Vergleich mit der markinischen Vorlage zur vorliegenden Perikope evident. D. h., dass ich davon ausgehe, dass Lukas absichtlich das vorliegende Jesaja-Zitat bildet, auch wenn die These eines Fehlens dieses Teilverses in seiner Vorlage naturgemäß nicht falsifiziert werden kann. Ähnlich Wolter: Lk, 191, der von einem „lk Konstrukt“ spricht. Ich schließe mich daher der These Rusams an, dass das von Lukas „zitierte Wort nur das meinen kann, was Jesus (später) bewirkt“ (Rusam: AT, 184). Jesus heilt zwar im Lukasevangelium; hierbei meint Heilung aber die Beseitigung einer konkreten Krankheit bzw. Einschränkung, nicht die metaphorisch zu verstehende Minderung eines (psychologischen) Leids. Rusam: AT, 185–195 versucht zudem, die einzelnen Ankündigungen als Rückblick auf das Benedictus des Zacharias bzw. als Vorausblick auf die einzelnen Handlungen Jesu zu verstehen. M. E. verliert er dabei aber den Blick auf die konkreten Hindernisse menschlichen Lebens, die von Jesus (als Hinweis auf sein Messias-Sein; vgl. Lk 7,22f.) beseitigt werden. Rusam: AT, 173. Bovon: Lk, 212: „Die Geistsalbung rechtfertigt den Christustitel.“ Ähnlich Wolter: Lk, 192: „Geistverleihung und Salbung sind identisch, und Geistbesitz ist die Folge der Geistsalbung.“ Vgl. ausführlich zur Taufe Jesu als Geistgabe Kapitel 3.3 dieser Arbeit.
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gene, Blinde, Zerschlagene.26 Ihnen wird jeweils eine Besserung des Zustandes bzw. eine Umkehr zugesprochen: Die Gefangenen sollen freigelassen werden, die Blinden sehend und die Zerschlagenen frei sein.27 Schließlich (3) ist auch das annehmliche Jahr des Herrn (ἐνιαυτὸν κυρίου δεκτόν) Teil der Predigt.28 Hierunter ist wohl ein Bezug zur messianischen Zeit bzw. zum biblischen Jobeljahr29 zu verstehen: „Im NT ist das Bewußtsein da: die von Jahwe erwählte messianische Zeit 26
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Vgl. dazu auch Ps 146,7–9. Dort wird JHWH als Helfer der an Gewalt Leidenden, der Hungrigen, der Gefangenen und Blinden, der Niedergeschlagenen, Fremden, Waisen und Witwen bezeichnet und erhofft. Schwierigkeit bereitet hierbei die Gruppe der Armen. Ihnen wird nicht das Ende ihrer Armut angekündigt, sondern die Predigt der guten Nachricht. Die Makarismen in der lukanischen Feldrede beinhalten konkret das Ende von Hunger und Weinen; den Armen wird hingegen das Reich Gottes zugesprochen (Lk 6,20b). Von hierher bekommt auch das Heute in Vers 21 seine Bedeutung: „Aber die Worte sind auch nicht rein bildhaft für geistige Güter nach dem Tod oder der Parusie zu verstehen. Reden und Wunder Jesu werden zeigen, daß das Heil schon jetzt den ganzen Menschen erreicht“ (Bovon: Lk, 212). Dem entspricht, dass in der ersten Gemeinde (Apg 4,34) niemand mehr arm gewesen ist: οὐδὲ γὰρ ἐνδεής τις ἦν ἐν αὐτοῖς. Vgl. Rusam: AT, 181. Rusam sieht an dieser Stelle „die Öffnung zur Heidenmission angelegt“ (182). Für die Lesart der Armen als Überschrift zu allen nachgenannten Gruppen vgl. Busse: Wunder, 61f. Auch Wolter: Lk, 192 versteht die Armen als übergeordnete Bezeichnung der nachfolgenden Gruppen, ebenso Marlene und Frank Crüsemann: Jahr, 23 und Rusam: AT, 181. Lukas spricht hier explizit vom Predigen, denn er ändert auch an dieser Stelle seine LXXVorlage ab und fügt κηρύσσω an Stelle von καλέω in 4,19 ein, wohl um die Parallelität zum Wirken des Täufers aufrecht zu erhalten (so von Bendemann: Doxa, 130; vgl. Lk 3,3). Ab Lk 9,2 ist dies Aufgabe der Zwölf. Eine parallele Entwicklung (Bezug zu Johannes – Beschreibung für Wirken Jesu – Auftrag an die Zwölf (9,6)) scheint für εὐαγγελίζω zu konstatieren zu sein. Vgl. mit weiteren Hinweisen zum „frühchristlichen Sprachgebrauch“ bei von Bendemann: Doxa, 130 (Fn 51). Zur lukanischen Verwendung von εὐαγγελίζω vgl. auch Rusam: AT, 179–181. Letzterer schlägt in Bezug auf die Veränderung zu κηρύξαι vor, nicht von einer Abhängigkeit von einer Lukas vorliegenden Quelle auszugehen (so z. B. Dömer: Heil, 56), sondern die „redigierende Hand des Lukas“ anzunehmen, der eine Wiederholung einer Form von εὐαγγελίζω verhindern will, καλέω aber weder von Lukas, noch von den anderen Evangelisten als „Terminus der Verkündigung“ (so zitiert Rusam Dömer: Heil, 56 an dieser Stelle) genutzt wird. So Bovon: Lk I, 212: „Das ‚Jahr‘ [ist] die eschatologische Zeitwende, die in der prophetischen Wiederaufnahme des Jobeljahres (Lev 25,8–54) angezeigt wurde.“ Mglw. hängt, so Bovon, der Beginn in Nazareth mit dem Verständnis des Jobeljahres in der LXX zusammen: „Während dieses Jahres der Vergebung […] und des Segens […] soll jedermann in seine Heimat zurückkehren. […] Es ist also schriftgemäß, wenn Jesu Predigt des Gnadenjahres in seiner Stadt beginnt. Nur wird sein Ruf dort nicht angenommen“ (Bovon: Lk I, 215). Vgl. auch Crüsemann/Crüsemann: Jahr, 20f. Sie kritisieren den zu eng gefassten Bezug auf Lev 25 („Nicht nur hat es literatur- und theologiegeschichtlich zur Zeit von Jes 61 den Text von Lev 25 wohl noch gar nicht gegeben.“ [20]) und verweisen mit aller Deutlichkeit auf Dtn 15,1ff. Dort ist der Bezugsrahmen das Sabbatjahr, welches in eine „grundlegende Regelung zur wirtschaftlichen Gerechtigkeit und zur sozialen Gleichheit in Israel
3.4 Die „Antrittspredigt“ Jesu in Nazareth
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ist gekommen. Jesus wendet bei seinem ersten Auftreten in Nazareth die Worte auf sich an […] Mit ihm, dem Messias, ist die messianische Zeit, die Zeit göttlicher Erwählung, göttlichen Wohlgefallens, göttlicher Gegenwart da.“30 Diese messianische Zeit verbindet sich in Sinne des dritten Evangelisten nicht mit einem auf weltlicher Herrschaft angelegtem Siegeszug Gottes,31 sondern mit dem heilbringenden Handeln an Armen, Schwachen und Misshandelten. Dies inkludiert nicht nur die Befreiung der Gefangenen, sondern – im Blick auf das Jobeljahr aus Lev 25 und Dtn 15 – die Befreiung aller Israeliten aus Knechtschaft und Sklaverei und die „grundsätzliche und umfassende Wiederherstellung eines früheren Zustandes“,32 nämlich die Rückkehr aller „zum angestammten Grundbesitz.“33 Insgesamt ist zudem zu vermuten, dass zwischen dem annehmlichen Jahr des Herrn und dem Reich Gottes als Verkündigungsinhalt der jesuanischen Predigt im dritten Evangelium „eine besondere Verbindung besteht.“34
3.4.4 Lk 4,20: Das Ende der Lesung 20 Und er schloss das Buch und gab es dem Diener und setzte sich. Und die Augen aller in der Synagoge blickten auf ihn. Vers 20 macht nun deutlich, wie sehr Jesus nach der Lesung der Mittelpunkt ist: Er setzt sich und aller Augen sehen auf ihn.35 Sie erwarten eine Ansprache bzw. Auslegung des soeben Gehörten. Dies ist Teil der Sabbatversammlung. Es sind verschiedene Versuche aufgestellt worden, den genauen Ablauf dieses Rituals im ersten Jahrhundert zu rekonstruieren. Dabei wird neben Texten aus der Mischna des Öfteren Lk 4,16–30 als Quelle genutzt, da es sich um „die älteste ausführliche
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verwandelt wird“ (ebd.). Schweizer: Lk, 58 weist darauf hin, dass vor der lukanischen Rezeption Jes 61,1f „also schon endzeitlich-messianisch verstanden worden ist“. Er denkt dabei an 11QMelch, wo die Befreiung aus Jes 61 mit dem „Ausruf des Freijahres von 3.Mose 25,10; 5.Mose 15,2 verknüpft und von ‚Melchisedek‘ erwartet“ wird. Grundmann: Art. δεκτός, 59. Vgl. die Frage der Jünger an den Auferstandenen, wann denn das „Reich für Israel“ wieder aufgerichtet werde (Apg 1,6f.). Jesus verweist daraufhin auf die zeitliche Unbestimmtheit, die der „Vater in seiner Macht bestimmt hat“ (1,7). Weltliche Macht für Israel (und damit Befreiung von den Römern, die ja im lukanischen Kontext relativ positiv dargestellt werden) ist damit nicht ausgeschlossen, liegt aber nicht mehr im Zentrum der christlichen Hoffnung. Crüsemann/Crüsemann: Jahr, 22. Ebd. Rusam: AT, 195. Lukas betont in diesem Zusammenhang dreimal, dass alle Gottesdienstbesucher (außer Jesus) gemeinsam agieren: Alle blicken ihn an, alle staunen über ihn und alle werden zornig (4,20.22.28, vgl. 4,15).
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3 Exegese ausgewählter Perikopen
Beschreibung“ des Synagogengottesdienstes handle.36 Als rekonstruierter Ablauf wird meist folgendes festgehalten: Schema, Gebet, Segen, Toralesung, Prophetenlesung, Auslegung.37 „Die hauptsächliche Funktion einer Synagoge war mit Abstand die Lesung und das Studium der Tora.“38 Zum Studium gehörte dabei explizit nicht nur das Hören des Bibeltextes, sondern auch „sachliche Erläuterung und Zusammenfassung des Inhalts.“39 Neben die Tora trat wohl im Laufe des 1. Jh40 die Lesung und Auslegung der Propheten. Hierfür ist Lk 4,16–30 „ein wichtiges Zeugnis für eine synagogale Prophetenlesung bereits zur Zeit des Zweiten Tempels.“41 Auch die Prophetenlesung konnte Grundlage für eine Predigt sein, an die sich eine Diskussion anschloss. Insgesamt ist der Synagogengottesdienst „als ausgesprochen kommunikatives Geschehen“ vorzustellen.42 Der biblische Text wurde wohl zuerst im hebräischen Original, danach in Übersetzung vorgelesen.43 36
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So Klein: Lk, 188. „Im Zentrum steht dabei die öffentliche Toralesung. (Apg 15,21; 2Kor 3,15). Die Lesung aus den Prophetenbüchern scheint dagegen jüngeren Datums zu sein. Lk 4,17–21 (vgl. mMeg 4,1) kann als ältester Beleg für diese Praxis gelten, während Philo für Ägypten nur Toralesung und auslegende Predigt erwähnt (Hyp. 7,11–14)“ (Claußen: Art. Synagoge). Vgl. Bovon: Lk I, 210f., Claußen: Art. Synagoge, Claußen: Versammlung, 213f., Reeg: Art. Synagoge I Antike, Sp. 1944–1946, Reif: Art. Gottesdienst II Historisch 3a Antikes Judentum, 1177–1179. Ebenso Klein: Lk, 188 und Wolter: Lk 190f. Fraglich muss nach Wick: Gottesdienste, 96–99 hierbei das Gebet als institutionalisierte Handlung im Rahmen der Synagoge bleiben. So belegen außer Mt 6 keinerlei Quellen für die Zeit vor der Tempelzerstörung das gemeinsame Gebet. „Der Tempel in Jerusalem war der Ort, wo die Menschen sich zum Gebet trafen. Daneben betete jeder Einzelne oft für sich allein. Niemand ging in die Synagoge, um dort zu beten, sondern um die Schriften zu hören und in ihnen unterwiesen zu werden“ (97). Ob und inwiefern Lukas hier und an anderen Stellen über den historisch korrekten Ablauf von Sabbatversammlungen berichtet, ist nicht zu klären, auch weil sich die verschiedenen Beschreibungen dieser in Evangelium und Apostelgeschichte unterscheiden. Ein Vergleich mit rabbinischer Literatur (besonders aus der Mischna), wie ihn Busse (NazarethManifest, 107–112) in seinem Nachtrag zu Lukas und den Synagogengottesdiensten darstellt, muss vorläufig bleiben, da der Text des Lk wohl älter ist als die Mischna, also für die Zeit Jesu (oder des Autors des Doppelwerkes) nicht zwingenderweise historische Abläufe darstellen muss. Zudem bliebe die Frage, ob es überhaupt den einen richtigen Ablauf eines Synagogengottesdienstes gab oder ob dieser nicht abhängig von Ort und Zeit sowie weiteren Umständen war. Vgl. Nebe: Züge, 66. Gegen die historische Verwertbarkeit spricht sich auch Rusam: AT, 173 aus. Claußen: Versammlung, 213. Claußen: Versammlung, 215 mit Verweis auf die Auslegung der Tora in Neh 8,4.7. Wann die Lesung der Propheten allgemein üblich wurde, „läßt sich nicht sagen“ (Claußen: Versammlung, 215). Ebd. Claußen: Versammlung, 216 mit Bezug auf die Beschreibung des Gottesdienstes bei Josephus. Vgl. Claußen: Versammlung, 216: Aramäische Lesung als „targumim“ und „Verwendung der LXX in der Diaspora.“ Auf die Übersetzung ins Aramäische verweist auch schon
3.4 Die „Antrittspredigt“ Jesu in Nazareth
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Einer der Gottesdienstbesucher konnte gebeten werden den Text (Propheten oder Tora) vorzulesen und auszulegen.44 Ob „Jesus im voraus gebeten worden war, die Lektüre und die Predigt zu übernehmen, wie es an sich üblich war“ wird nicht gesagt. „Er [der Erzähler; DK] scheint dies anzunehmen, sonst hätte er sicher die ungewöhnliche Initiative Jesu als solche signalisiert.“45 Anscheinend gehört nicht nur der Gottesdienstbesuch zu Jesu Gewohnheit, sondern auch die Auslegung der Schrift geschieht κατὰ τὸ εἰωθὸς αὐτῷ. Dementsprechend schildert Lukas nur einen kleinen Teil des eigentlichen Sabbatgottesdienstrituals, der den Fokus auf die Auslegung der Prophetenlesung legt. Die Rede Jesu als Predigt ist somit als Schriftauslegung zu verstehen. Diese ist dem Ritual zugehörig und stellt als Handlung Jesu innerhalb des Gottesdienstes keine Besonderheit und damit auch keinen Angriffspunkt dar.
3.4.5 Lk 4,21–30: Jesu Auslegung und Reaktion der Zuhörenden 21 Und er begann zu ihnen zu reden: Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren. 22 Und alle gaben Zeugnis von ihm und staunten über die Worte der Gnade, die aus seinem Mund kamen und sagten: Ist dieser nicht Sohn Josefs? 23 Und er sagte zu ihnen: Ihr werdet sicher dieses Sprichwort sagen: Arzt, heile dich selbst! Wie große Dinge in Kapernaum geschehen sind, haben wir gehört. Tu dies auch in deiner Heimatstadt! 24 Er aber sagte: Amen ich sage euch, dass kein Prophet willkommen ist in seiner Heimatstadt. 25 Aber wahrhaftig sage ich euch: Es gab viele Witwen zur Zeit des Elia in Israel, als der Himmel verschlossen war für drei Jahre und sechs Monate, sodass es eine große Hungersnot im ganzen Land gab. 26 Und zu keiner von ihnen wurde Elia gesandt, außer nach Sarepta in Sidon zu einer verwitweten Frau. 27 Und es gab viele Aussätzige in Israel bei Elisa dem Propheten und keiner von ihnen wurde gereinigt außer der Syrer Naaman. 28 Und alle in der Synagoge wurden erfüllt mit Zorn, als sie dies hörten. 29 Und sie standen auf und warfen ihn aus der Stadt und führten ihn zur Kante
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Schweizer: Lk, 57. Dies spielt für Lukas keine Rolle. Er geht nur auf die griechische Überlieferung ein, vgl. Busse: Manifest 109f. Vgl. Claußen: Versammlung, 215. Bovon: Lk I, 210. Dagegen schreibt Schweizer: Lk, 57: „Jesu Eigeninitiative zeigt die Besonderheit des Vorfalls.“ Ähnlich Klein: Lk, 187 (Fn 25). M. E. betont Lukas hier an dieser Stelle die rituelle Gewohnheit (vgl. Vers 16) der Handlungen Jesu. Hätte es eine vorherige Absprache gegeben (vgl. Apg 13,15), hätte Lukas dies sicher erwähnt.
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3 Exegese ausgewählter Perikopen
des Berges, auf dem ihre Stadt gebaut war, um ihn hinunterzustoßen. 30 Er aber ging weg, mitten durch sie hindurch. War bis zu dieser Stelle keine Kontroverse zu erkennen, beginnt jetzt mit der Auslegung Jesu der Konflikt:46 Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren.47 Zuerst ist die Reaktion der Anwesenden nicht negativ.48 Sie geben (positives49) Zeugnis über ihn, doch „Zustimmung heißt noch nicht Verstehen.“50 Sie staunen über „Worte der Gnade“ und erinnern sich an seine Herkunft: Er ist doch Sohn Josefs,51 stammt also aus diesem Dorf und war allen als Teil seiner
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ἤρξατο als Einleitung einer Rede Jesu findet sich im dritten Evangelium nur hier und in Lk 24,27 (vgl. auch 3,23). M. E. nutzt Lukas diese Verbindung absichtlich: Denn während an dieser Stelle die öffentliche Predigt Jesu beginnt (mit Schriftauslegung!) wird in Lk 24,27 die Predigt des Auferstandenen beginnen (mit Schriftauslegung!). Lk 4,21 und 24,27 bilden also jeweils den Startschuss für das Verständnis des Wirkens und der Lehre Jesu, bei der sich Schriftexegese und rituelles Handeln (Synagogengottesdienst in Lk 4; Brot brechen = Abendmahl in Lk 24) verbinden. Zur Emmausperikope vgl. Kapitel 3.8 dieser Arbeit. Auffällig ist hier die Nennung der Ohren. Die Schrift erfüllt sich gerade nicht im Sehen – obwohl es in Vers 20 noch explizit die Augen aller sind, die Jesus ansehen – sondern im Hören der Schrift und – so die Fortsetzung der Erzählung – im Hören der auf Jesus bezogenen Schriftauslegung. „Die Nazarener schauen, schauen angespannt, heften ihre Augen auf Jesus, statt ihrem Ohr Vorrang zu gewähren, dem Erkenntnisorgan, das als einziges, da mit dem Herzen verknüpft (vgl. Lk 24,25.32), dem göttlichen Wort offensteht“ (Mittmann-Richert: Sühnetod, 258). Hier stellt Lukas also eine Verbindung zur Emmausgeschichte in Lk 24 her: Während die Augen der beiden Wanderer gehalten wurden (24,16) und sie Jesus beim Brotbrechen erst durch das Öffnen der Augen (24,31; beides als Passivum divinum formuliert) erkennen, ergibt sich in der Rückschau der Jünger die Schriftauslegung Jesu (24,32) als das entscheidende Kriterium. Hier verbindet sich Schriftauslegung mit rituellem Handeln. Auffälligerweise sind die Handlungen der Gottesdienstbesucher in Vers 22 im Imperfekt beschrieben, während Jesu Handlungen im Aorist stehen. So differenziert Lukas, nach Schweizer: Lk, 56, „Jesu Tun als einmalige Handlungen, […] die Reaktion des Volkes als andauernde.“ Vgl. dazu auch Vers 30: Jesu Fortgehen wird ebenso im Imperfekt geschildert. Vorerst verstehe ich mit Klein: Lk, 190 die erste Reaktion der Zuhörer Jesu als positiv: „Sie stimmen ihm zu, applaudieren ihm.“ Dennoch ist ihr Verständnis als nicht umfassend zu beschreiben. Ähnlich auch Mittmann-Richert: Sühnetod, 259ff., die die Verwerfung Jesu in den Mittelpunkt stellt. Wasserberg: Mitte, 156. Für den Leser ist an dieser Stelle schon klar, dass die Einschätzung der Nazarener zur Vaterschaft Josefs defizitär ist. Jesus selbst spricht bereits in 2,49 von Gott als seinem Vater, was sich einige Male im Evangelium wiederholt (mehr dazu unter 3.2). Gott spricht Jesus im Kontext der Taufe als seinen Sohn an (3,21f.) Damit kann beim direkt auf die Taufe folgenden Stammbaum Jesu (Lk 3,23–38) Josef nicht mehr vollwertig als Vater Jesu beschrieben werden. Die Zuschreibung Jesu in den irdischen Bereich seiner Herkunftsfamilie ist also fehlerhaft und die Ablehnung der Dorfbewohner gegenüber Jesus hat sich
3.4 Die „Antrittspredigt“ Jesu in Nazareth
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Familie bekannt.52 Die Sabbatversammlungen sind vor allem auf das Hören der Schrift und ihrer Auslegung fokussiert. Dies zeigt sich schon mit seinem wahrscheinlichen Beginn (s. o. bei der Auslegung von 4,20), dem ‚Höre Israel‘ aus Dtn 6. Israel soll also vor allem Hören. Hören auf Gott und sein Wort, wie es in den Schriften der Bibel dargelegt ist. Zu diesem Hören gehört die Predigt über das Gehörte. Mit dem Einwurf in 4,22 ist das Hören auf Jesu Predigt noch nicht beendet. In Vers 23 spricht Jesus weiter. Nun nimmt der Synagogengottesdienst eine Wendung, indem Jesus auf einen möglicherweise im Raum stehenden Vorwurf reagiert: Warum sind in Kaper-naum so große Dinge geschehen, aber nicht in seinem Heimatort? Dies lässt den Leser überrascht zurück. Bisher war im dritten Evangelium von Kapernaum keine Rede, denn erst der anschließende Text (4,31ff.) wird die Erzählung an diesen Ort verlegen. Auch sind bisher überhaupt keine großen Taten Jesu beschrieben worden.53 Auch die Einfügung des Sprichwortes vom Arzt54 lässt sich nicht aus der ersten Reaktion der Zuhörer erklären und wirkt als rätselhafte Provokation,55 die zudem mit einer zukünftigen Aussage56 der Nazarener
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schon in Lk 2 angekündigt. Genauso wie Maria und Josef Jesus nicht bei seinen Verwandten finden können (2,44f.), so kann seine Einordnung in irdisch-familiäre Zusammenhänge nur Jesu wahre Herkunft und Bestimmung verdunkeln. Nach Lk 2,39 kehrt die Familie Jesu nach der Geburt in Bethlehem wieder in ihr Heimatdorf Nazareth zurück. Im Gegensatz zum Matthäusevangelium kommt die familia sacra von vornherein aus Galiläa und wird durch die Volkszählung nach Bethlehem geführt. Nach Mt 2,1 hingegen stammt die Familie ursprünglich aus Bethlehem, zieht aber nach der Flucht nach Ägypten (2,13–15) und dem Tod des Herodes (2,19) ins galiläische Nazareth (2,23 inkl. Erfüllungszitat). Beiden Evangelisten ist die Zielsetzung gemein, die Herkunft Jesu aus Nazareth (vgl. Mk 6,1 und problematisierend Joh 1,45f.) und die davidische Abstammung (vgl. Röm 1,3) inkl. Geburt in der Davidstadt Bethlehem zu verbinden. Vgl. dazu auch Fn 3 dieses Abschnittes. Wenn das Summarium in 4,14f. eine Bekanntheit Jesu vorauszusetzen scheint, hat sich diese nicht bis nach Nazareth herumgesprochen, da die Menschen dort sehr verwundert auf Jesu Anspruch reagieren. Zudem wird in 4,14f. nur auf die Predigt Jesu verwiesen, nicht aber auf die Exorzismen und die Heilungen, die in 4,31–44 berichtet werden. „Das Sprichwort selbst hat in der jüdischen (GnR 23 [15c]) und heidnischen Literatur (Cicero, Epist. ad Familiares IV 5,5) Parallelen, die für den vorliegenden Zusammenhang jedoch wenig aussagen.“ (Ernst: Lk, 173). Für Mittmann-Richert: Sühnetod, 261 nimmt das Sprichwort vom Arzt „in direkter Vorwegnahme der dreifachen Verspottung unter dem Kreuz das Verwerfungsgeschehen ins Bild.“ Sie verweist dabei auf die dreifache Aufforderung an Jesus während der Passion, sich selbst zu helfen (23,35.37.39). Lukas formuliert hier im Futur. Dies ist innerhalb der Erzählung zu verstehen. Jesus nimmt die zukünftige Kritik an ihm hier schon vorweg, ohne dass der eigentliche Anlass zur Kritik – nämlich die Wunder in Kapernaum – schon geschehen sind (vgl. Bovon: Lk I, 214). Ähnlich Wolter: Lk, 197: „Der propositionale Inhalt dieser Mitteilung besteht dementsprechend darin, dass der lk Jesus den Bewohnern Nazareths ankündigt, dass er bei ihnen nichts zur ‚Erfüllung‘ der jesajanischen Heilsverheißung tun wird“ (ebd.). Damit steht dann „die Eigenart von Jesu eigener Sendung“ (ebd.) im Vordergrund. Alternativ
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3 Exegese ausgewählter Perikopen
verbunden wird. Jesus spricht aus, was die Nazarener denken: Er – der gerade seine Geistsalbung und das ‚Heute‘ der Gnadenwirkungen Gottes öffentlich bekundet hat – soll dort wirken, wo er nach Einschätzung seiner Nachbarn hingehört: in seiner Heimatstadt (ἐν τῇ πατρίδι αὐτοῦ). Doch dort ist kein Prophet57 willkommen.58 Auffälligerweise formuliert Lukas hier in Anklang an 4,19, denn so wie das Jahr des Herrn δεκτός ist, so soll auch der dies verkündende Prophet δεκτός sein.59 Rätselhaft geht es weiter. Statt eine Reaktion der Anwesenden zu erzählen, lässt Lukas Jesus mit zwei Verweisen auf Elia60 bzw. Elisa fortfahren.61 Diese hätten sich im Auftrag Gottes62 in Zeiten der Not auch nicht um die eigene Bevölkerung gekümmert, sondern um eine Witwe aus Sidon (vgl. 1Kön 17,1.9–24)63 bzw.
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kann hier mglw. die Situation zur Zeit des Autors eingebracht worden sein: „Synagoge und Kirche sind zur Zeit des Lukas getrennt. […] Israel bzw. die Synagoge hält sich von der (heiden)christlichen Gemeinde fern. Die christliche Gemeinde hat die gottesfürchtigen Heiden, die bis zum jüdischen Aufstand im Bereich der Synagoge lebten, an sich gezogen; die Synagoge zieht sich unter pharisäischer Leitung auf sich selbst zurück“ (Schmithals: Lk, 62f.). Jesus selbst bezeichnet sich nur an dieser Stelle und in Lk 13,33 als Prophet. Beide Perikopen verweisen auf die Ablehnung der Propheten. Vgl. dazu den Exkurs zur Verfolgung der Propheten von Kurth: Stimmen, 166–170. Allgemein zur Selbstaussage Jesu als Prophet siehe Nebe: Züge, 64–71. Vgl. in anderer Formulierung Mk 6,4 und Wolter: Lk, 197, der weitere Beispiele für ähnliche Zitate in antiken Schriften aufführt. Vgl. Apg 10,35, wo Petrus beschreibt, dass vor Gott auch Heiden δεκτός sein können. Eine Verbindung zwischen Elia und Jesus ergibt sich im Lukasevangelium in 9,19. Dort berichtet Petrus davon, dass einige Leute Jesus für den wiedergekommenen Elia halten, ähnlich auch die Reaktion Herodes’ in 9,8. Das Missverständnis aus Mk 15,34f., Jesus rufe bei der Kreuzigung nach Elia, streicht Lukas. Zwischen den drei Aussagen (4,23.24.25–27) ist insofern zu unterscheiden, als das der Erzähler Jesus hier nicht durchgehend reden lässt, sondern mit εἶπεν δέ die ersten beiden Aussagen trennt. Vers 25 wird wiederum mit ἐπ’ ἀληθείας δὲ λέγω ὑμῖν neu eingeleitet. Dies hat zu der Diskussion geführt, ob sich Lukas hier verschiedener Quellen bediene (vgl. Klein: Lk, 186). Das ist durchaus möglich, für meine Fragestellung aber nicht weiter zu verfolgen (weitere Literatur ebd.). Die beiden alttestamentlichen Beispiele zeigen die Ausweitung über Jesu Vaterstadt hinaus. Nun geht es um ganz Israel. Schweizer: Lk, 56 (kursiv dort): „V.25–27 passen nicht recht, weil sie nicht mehr von der Vaterstadt, sondern vom Vaterland sprechen.“ Sowohl die Sendung Elias (ἐπέμφθη; 4,26) als auch das Reinwerden Naamans (ἐκαθαρίσθη; 4,27) werden bei der Erzählung Jesu passivisch, also als Passivum divinum, dargestellt. Es geht also um ein Handeln Gottes außerhalb Israels zu Zeiten großer Not; vgl. Wolter: Lk, 195. „Verschiedene Einzelheiten wie der geschlossene Himmel und die 42 Monate fehlen im alttestamentlichen Text, sind aber in anderen jüdischen und christlichen Texten belegt; vgl. Sir 48,3 und Jak 5,17“ (Bovon: Lk I, 215 [Fn 36]).
3.4 Die „Antrittspredigt“ Jesu in Nazareth
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Naaman aus Syrien (vgl. 2Kön 5,1–14).64 Anscheinend soll so entgegen der Erwartung von Jesu Nachbarn sein Nicht-Wirken in Nazareth begründet werden.65 Die Zuhörer reagieren nun voller Zorn und wollen ihn vertreiben, sogar töten, indem sie ihn den Abhang hinunterstoßen.66 Jesus kann ihnen aber auf wundersame Weise entkommen.67 Es ergibt sich also eine Steigerung des Konflikts: Während die eigentliche Schriftlesung keinerlei negative Reaktion hervorruft, staunen die Zuhörer über den Selbstbezug Jesu hinsichtlich der Schriftauslegung. 64
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In 2Kön 5,1–14 wird Elisa allerdings nicht zu Naaman gesendet, sondern von diesem aufgesucht. Dies wird nur implizit durch die Verweise auf die Taten von Elia und Elisa ausgesagt, nicht aber explizit wie noch in Mk 6,5: Und er konnte dort nicht eine einzige Tat tun, außer dass er wenigen Kranken die Hände auflegte und sie heilte (vgl. Mt 13,58). Zudem ist der Bezug auf die beiden Propheten zugespitzt und verkürzt, da beide natürlich auch in Israel und an und für Israeliten wirkten. Dafür enthält besonders die angesprochene Geschichte Elisas zwei sehr gut zu Lukas’ Theologie passende Elemente: So beschreibt 2Kön 5,14f.(LXX), dass Naaman sich erst nicht im Jordan reinigen lassen will, er es aber dennoch tut: καὶ ἐβαπτίσατο ἐν τῷ ιορδάνῃ. Als er wieder gesund ist, stellt er fest: „Siehe, nun weiß ich, dass kein Gott in allen Landen ist, außer in Israel!“ Hier kommt also ein Nichtjude zur Gotteserkenntnis infolge einer Heilung durch Untertauchen (βαπτίζω = taufen!) im Jordan (der Ritualbezug – also zur Taufe (Jesu) – ist evident). Das zweite Element bezieht sich auf die immer wieder bei Lukas bekämpfte Gier: Elisa will nach der Heilung keine Geschenke annehmen und schickt Naaman weg. Ein Schüler Elisas namens Gehasi stellt daraufhin auf eigene Faust Naaman nach und will doch eine Gabe einfordern und bekommt diese auch. Für diese durch Gier geleitete Tat straft ihn Elisa mit Aussatz (2Kön 5,15b–27). Vgl. dazu auch die Darstellung bei Rusam: AT, 209–216. Rusam betont bei seiner Auslegung der Perikope „die Ablehnung Jesu durch das Volk Israel“ und die „dem Leser […] in der Apostelgeschichte dargestellte und ihm selbst längst geläufige Heidenmission“ (215). Für mich ist die Heidenmission auf der Ebene der Erzählung hier nicht herauszulesen. Diese ergibt sich dann aus dem Bezug zur Apg. Auf der Ebene der lukanischen Gemeinde wird dies womöglich anders gewesen sein. Nazareth liegt nicht an einem Berg. Es gibt dort keine Erhöhung, von der Jesus hätte hinabgestürzt werden können. Entweder kennt Lukas die Topographie Nazareths nicht (er findet hierzu auch keinen Hinweis im Mk), oder sie interessiert ihn nicht (Wolter: Lk, 198: „Die diesbezüglichen Angaben sind reine Fiktion“). Vgl. als Überblick zur Topographie Galiläas den Aufsatz von Freyne: Jesus, 209–226. Ganz anders Klein: Lk, 192. Er verweist auf einen Abhang „rund zwei Kilometer von der Stadt entfernt.“ Diese Lokalisierung spräche „somit nicht gegen, sondern für Palästina-Kenntnis, wenn auch die Darstellung etwas unpräzise ist“ (192 [Fn 86]). Allerdings muss auch er zugeben, dass die Vorstellung, Jesus sei „zuerst eine halbe Stunde des Weges geführt [worden], um sich dann von der Menge zu befreien und durch sie wegzugehen […] schwer vorstellbar [ist].“ Zu den geographischen Kenntnissen des Lukas vgl. Hengel: Historiker, 147–183. Da laut Hengel Lukas keinesfalls „Galiläa, Samaria oder die Jordanauen bereist hat“ und antike Karten kaum erreichbar und zudem unzuverlässig waren, sind moderne Vorwürfe einer fehlerhaften geographischen Darstellung nicht angebracht (150f.). αὐτὸς δὲ ist an dieser Stelle, wie überwiegend bei Lk, als betont christologisch zu lesen, vgl. Jeremias: Sprache, 128. Schweizer: Lk, 56 betont den Imperfekt ἐπορεύετο: „Jesu Wegziehen [ist] als dauernde Handlung“ zu verstehen.
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Erst durch den Verweis auf alttestamentliche Geschichten, bei denen die Rettung gerade von Nicht-Israeliten im Mittelpunkt steht, eskaliert die Situation.68 Die versuchte Tötung durch Herabstürzen von einem Berg lässt sich „nicht psychologisch erklären“, sondern nur als „Zeichen auf Ostern hin“ verstehen. „Menschen haben keine Macht über ihn; wenn er durch ihre Hand stirbt, dann nur, weil Gott es so will.“69
3.4.6 Synoptischer Vergleich Der Beginn des öffentlichen Wirkens Jesu ist durch die Rituale des Sabbatgottesdienstes geprägt. Das Lukasevangelium stellt hier eine Besonderheit dar: Nur hier wird das rituelle Wirken Jesu als Anknüpfungspunkt für seine – zum Ritual gehörende – Predigt ausgewählt.70 Wie sehr sich dabei die Gestaltung der Perikope Lk 4,16–30 dem Autor verdankt, lässt schon ein kurzer Blick in die Parallelüberlieferungen erahnen: Mk 6,1–6 und Mt 13,54–58 stellen beide nicht den Auftakt des öffentlichen Handelns Jesu dar, sondern sind in seine Reise am und um den See Genezareth eingebunden.71 Ohne hier auf die kleineren Unterschiede zwischen der Markus- und der Matthäusfassung eingehen zu wollen,72 ist der Ablauf bei beiden gleich: Jesus kommt bei seiner Reise auch in seiner Vaterstadt (πατρίς)73 vorbei, nachdem sowohl seine Lehre als auch seine Wundertaten bekannt geworden sind. Er lehrt in der Synagoge, ohne dass eine Schriftlesung, wie Lk 4 sie beschreibt, explizit erwähnt würde. Auch der Inhalt seiner Lehre wird nicht beschrieben. Wahrscheinlich ist hier an das vorher in den Dörfern und 68
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Nach Mittmann-Richert (Sühnetod, 264) lässt sich dies mit dem theologischen Begriff der Verstockung erklären. Diese von Gott „selbst verwehrte[n] Gotteserkenntnis“ werde benötigt, da die Sendung Jesu, verstanden als Gottesknecht nach Jes 61, „nur auf dem Weg des Leidens zur Erfüllung gelangen kann und daher die Verstockung der Menschen, zu denen der Knecht gesandt ist, notwendig voraussetzt.“ Am Ende steht dann das heilbringende Ziel des göttlichen Handelns: „Im Licht der Gottesknechtschaft Jesu wird die Verstockung Israels als Heilswerkzeug für die Erlösung aller Menschen, Juden und Heiden gleichermaßen, erkennbar“ (ebd., kursiv dort). Schweizer: Lk, 59. Mittmann-Richert (Sühnetod, 262 [Fn 25]) verweist bei dieser Stelle auf die dritte Szene der lukanischen Versuchungsgeschichte, bei welcher der Teufel den Schutz des Sohnes Gottes vor dem Herabstürzen von der Zinne des Tempels biblisch durch ein Zitat von Ps 91,11f. begründet. Die Rettung Jesu vor der Todesgewalt der Nazarener kann dann als Erweis dieser göttlichen Rettung verstanden werden. Zur literarkritischen Frage der Zugehörigkeit des lukanischen Berichts zu Q oder anderen Quellen vgl. Wolter: Lk, 190. Er fasst zusammen: Eine Herkunft der Erzählung aus Q könne „nicht prinzipiell ausgeschlossen werden.“ Dementsprechend sind seine Jünger bei ihm (Mk 6,1). Im Mt wird dies nicht erwähnt. Vgl. hierzu die einschlägige Kommentarliteratur zur Stelle, z. B. Luz: Mt I, Dschulnigg: Mk. Der Name Nazareth fällt hier im Gegensatz zu Lk 4,16 nicht. Den Lesern ist aber der Name der Stadt schon aus Mk 1,9 bzw. Mt 2,23 bekannt.
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Städten um den See Geschehene zu denken. Seine Zuhörer, die ihm sogleich einem Beruf (Mk 6,3: τέκτων) und seiner Familie74 zuordnen, können mit seiner Weisheit und seinen Taten nichts anfangen und ärgern sich deshalb an ihm (d. h. an seinem Anspruch). Jesus reagiert mit dem sprichwörtlich gewordenen Satz: οὐκ ἔστιν προφήτης ἄτιμος εἰ μὴ ἐν τῇ πατρίδι (αὐτου).75 Als Folge dieses Unglaubens (ἀπιστία) kann Jesus keine bzw. nur wenige Machttaten (δύναμις; Mk 6,576) vollbringen. Für Markus und Matthäus ergibt sich daher folgender Fokus: Jesus kann kaum bzw. keine Wunder wirken, da der Glaube an ihn die Grundlage für seine charismatische Wundertätigkeit darstellt. Ist dies nicht gegeben, so kann er nur begrenzt handeln.77 Lukas hingegen betont viel stärker die Eingebundenheit Jesu in das Ritual: Er liest und legt die Schrift aus nach seiner Gewohnheit und zwar direkt zu Beginn seines öffentlichen Wirkens.
3.4.7 Jesu Predigt als Ausblick ins „Evangelium“ Wie der synoptische Vergleich belegt, ist diese Erzählung durch Lukas sehr bewusst an den Anfang des öffentlichen Wirkens Jesu gestellt worden. Sie bietet zudem eine Vielzahl an Verbindungen zum gesamten dritten Evangelium und darüber hinaus zur Apostelgeschichte des Lukas. Dabei lassen sich die Bezüge in drei Gruppen einordnen:
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Interessanterweise fällt der Name Josef nur in der lukanischen Fassung, vgl. Bovon: Lk I, 214. Markus, der ja den Vater Jesu überhaupt nicht erwähnt, bezieht Jesus an dieser Stelle (Mk 6,3) auf seine Mutter Maria. Auch das Mt, welches ja Josef als Vater Jesu einführt (Mt 1,16), beruft sich durch die Zuschreibung Jesu als „ὁ τοῦ τέκτονος υἱός“ (13,55) indirekt auf Josef. Nur aus dieser Stelle lässt sich schließen, dass Josef τέκτων gewesen ist (τέκτων mit zwei Nennungen im NT: Mk 6,3 und Mt 13,55). Das vierte Evangelium kennt zwei Bezüge auf Jesus als Sohn Josefs: Joh 1,45; 6,42. Mk 6,4 und Mt 13,57 sind bis auf das bei Mt ergänzte αὐτου identisch. Der Autor des dritten Evangeliums verändert den Wortlaut bei Beibehaltung des Sinnes folgendermaßen: οὐδεὶς προφήτης δεκτός ἐστιν ἐν τῇ πατρίδι αὐτοῦ (Lk 4,24). Diese Formulierung erinnert an das direkt davor stehende ἐνιαυτὸν κυρίου δεκτόν (4,19). Die Nicht-Anerkennung Jesu in seiner Heimat bezeugt auch Joh 4,44. Die Revisionen der Lutherbibeln bis 1984 übersetzen hier unterschiedlich und gaben δύναμις einmal mit Tat (Mk) und einmal mit Zeichen (Mt) wieder. Dies scheint auf Luthers eigene Übersetzung zurückzugehen, da sowohl die Übersetzung von 1522 als auch die aus letzter Hand (1545) exakt diese Unterscheidung aufweisen. Ob sich die griechische Textgrundlage Luthers an dieser Stelle unterscheidet, ließ sich nicht eruieren. Die neueste Revision (2017) folgt dem nicht mehr, variiert aber mit Tat (Mk) und Machttat (Mt) bei der Übersetzung. Jesu Macht ist also keine absolute (= losgelöste) Macht, sondern mit dem Glauben an ihn verbunden.
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Zuerst wird Jesus als Gesalbter des Herrn dargestellt, der mit dem Geist des Herrn ausgestattet ist (4,18a). Der Geist Gottes78 wird nicht exklusiv Jesus zugesprochen, sondern auch anderen Personen, ausschließlich in den ersten beiden Kapiteln: Johannes der Täufer (1,15.80), Maria (1,35), Elisabeth (1,41), Zacharias (1,67) und Simeon (2,25) werden als geistbegabt beschrieben. Dabei fällt auf, dass die Prophezeiung der Geistgabe an Johannes in 1,15 und die geistgewirkte Prophetie Simeons (2,25) im Tempel stattfinden und damit einen Rahmen um die anderen Bezüge zum Geist bilden. Im weiteren Verlauf des Evangeliums wird der Geist fast ausschließlich in Bezug auf Jesus beschrieben.79 Jesu Wirken ist mit dem Geist verbunden, sodass sein Auftreten als Erwachsener (Lk 3,23) mit dem Ritual der Taufe und der damit verbundenen Herabkunft des Heiligen Geistes in Form einer Taube beginnt (3,21f.)80 und sowohl die Versuchung durch den Teufel (4,1–13) als auch das Summarium über Jesu Predigt (4,14f.) betonen die Führung Jesu durch den Geist, sodass seine Auslegung von Jes 61 für den Leser keinesfalls überraschend wirkt.81 Die Salbung82 durch den Herrn (οὗ εἵνεκεν ἔχρισέν με) aus Jes 61,1, die der lukanische Jesus auf sich selbst bezieht, wird im Kontext des dritten Evangeliums nicht mehr in dieser Form (abgeleitet von χρίω83) erwähnt. Sie stellt aber ein Grundbekenntnis nachösterlichen Glaubens dar (vgl. Apg 4,27 und 10,38). Hinzu 78 79
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Das dritte Evangelium erwähnt den Geist an 19 Stellen, bei Mk gibt es sechs Nennungen, bei Mt elf und bei Joh 19. Auch für die nachösterlichen Jünger gibt es Hinweise auf die Geistbegabung, vgl. hierzu nur Lk 12,1–12: Die Lästerung gegen den Geist wird mit hoher Strafe belegt, gleichzeitig aber wird dieser die Anhänger Jesu unterstützen „wenn sie euch aber führen werden in die Synagogen und vor die Machthaber und die Obrigkeiten …“ (12,12). Dies ist keine Situation, die im Evangelium beschrieben wird, es wird allerdings auf die Apg vorgegriffen und damit auf die Zeit der Nachfolger Jesu, wie das Beispiel des Stephanus, der seine Rede vor dem Hohen Rat „voll des Heiligen Geistes“ (Apg 7,55) hält, zeigt. „Die in Lk 3,21f. dargestellte Geistverleihung Jesu wird durch die Aufnahme des Zitats als Geistsalbung Jesu interpretiert“ (Rusam: AT, 178). Rusam folgert daraus, dass der Leser sich an das schon von Jesus Erzählte erinnern soll. Vgl. Rusam: AT, 174. Rusam: AT, 175f. stellt vier Verstehensmöglichkeiten der Salbung vor: (1) Salbung eines Priesters, (2) Salbung zum Gottesknecht nach Jes 42, (3) Salbung eines Propheten oder (4) Salbung zum König. „Die Tatsache, dass der ursprüngliche Sprecher von Jes 61,1f. bereits im AT nicht genau identifizierbar war und zugleich mehrere heilsgeschichtlich bedeutsame Personen auf sich vereinigte, ermöglicht es dem Autor von Lk 4,16–30, ihn mit Jesus zu identifizieren“ (177). Nach Rusam umfasst die lukanische Lösung alle vier Bereiche: „Nach Lukas ist Jesus bei seiner Taufe durch Gott zum χριστὸς gesalbt worden; dementsprechend bezeichnet Petrus Jesus in Lk 9,20: τὸν χριστὸν τοῦ θεοῦ.“ Vgl. auch Klein: Lk, 189: „Das Wort ἔχρισέν klingt dazu an den Christustitel an, der in 2,9 ausgesprochen war.“ Bei der Erzählung von der großen Sünderin (Lk 7,36–50) verweist Jesus auf die Salbung durch die Sünderin. Hier nutzt der Autor allerdings keine Form von χρίω, sondern von ἀλείφω: ἐλαίῳ τὴν κεφαλήν μου οὐκ ἤλειψας· αὕτη δὲ μύρῳ ἤλειψεν τοὺς πόδας μου (Lk 7,46). Vgl. ausführlich dazu Kapitel 3.6.
3.4 Die „Antrittspredigt“ Jesu in Nazareth
129
kommt die mit χρίω verwandte Form Χριστός, das bei zwölf Nennungen zehnmal auf Jesus als den Christus (jeweils „titular und nicht als Eigenname“84 verstanden) verweist.85 „Gerade weil der erste Satz des Zitats […] ohne Schwierigkeit innerhalb des LkEv als Analepse erkennbar ist, ist es für den Leser leicht, die folgenden finalen Infinitivsätze als Ankündigung für das im LkEv noch dargestellte Wirken Jesu zu deuten. Das Zitat wirkt wie ein Scharnier, das den Blick zunächst auf bereits Erzähltes richtet, um danach die folgende Darstellung vorzubereiten.“86 Nun folgt also die Predigt des Evangeliums bei Armen, Gefangenen, Blinden und Zerschlagenen (4,18b). Das dritte Evangelium problematisiert an einer Vielzahl von Stellen das enorme Auseinanderklaffen von Armut und Reichtum.87 Es verbindet immer wieder – häufig im Sondergut – die starke Kritik an Reichen und Reichtum mit der Verkündigung der Hoffnung für Arme und Ausgebeutete.88 Auch dieser Aspekt der jesuanischen Verkündigung ist schon in den ersten beiden Kapiteln behandelt: Beim Lobgesang der Mutter Jesu wird dies explizit gemacht.89 Somit ist der Bezug Jesu auf diesen Teil der Gesellschaft nicht weiter überraschend und wird an vielen Stellen im Evangelium weitergeführt. Ein Beispiel dafür ist die Anfrage des Täufers in Lk 7,18–23, die Jesus mit seinem heilenden Wirken beantwortet, wobei die an dieser Stelle aufgezählten Gruppen schon in Lk 4,18 vorkamen: Blinde sehen, Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote stehen auf, Armen wird das Evangelium gepredigt (7,22LUT).90 Auch wenn die hier und an anderer Stelle in den Blick genommenen Heilungsbedürftigen nicht wörtlich identisch sind, ist der Fokus klar: Das Kommen des Messias (7,19) lässt sich an seiner Hinwendung zu denjenigen Menschen, die dringend Hilfe benötigen, erkennen. „Als Gesandter Gottes bringt Jesus den Armen das Evangelium, den Hilflosen Hilfe und spricht denen, die nicht zurechtkommen, Vergebung
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Rusam: AT, 179. In 3,15f. muss Johannes die Zuschreibung des Volkes, er sei der Christus, abweisen. In 20,41 verbindet Jesus die Herkunft des Christus mit David, ohne explizit auf sich zu verweisen. Rusam: AT, 179. Wie deutlich in der Antike die Einkommens- und Vermögensunterschiede zwischen der Oberschicht, die nur einen sehr geringen Prozentsatz der Bevölkerung ausmachte, und dem Rest der Einwohner des Römischen Reiches aussah, stellt das Buch von E.W. Stegemann und W. Stegemann: Sozialgeschichte eindrücklich dar. Dies geschieht neben den Makarismen der Feldrede in Lk 6 beim Gleichnis vom reichen Mann und armen Lazarus (Lk 16,19–31). Lk 1,52–53: Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen. Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen. Vgl. auch die Aufzählung im Gleichnis vom großen Gastmahl (14,15–24): Arme, Krüppel, Blinde und Lahme (14,21, vgl. fast identisch: 14,13). Zur Verknüpfung von Lk 4,18f. und Lk 7,22 vgl. Rusam: AT, 175f. und 207f.
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3 Exegese ausgewählter Perikopen
und Entlassung zu.“91 Damit verbindet sich auch die Hoffnung auf das eschatologische Abendmahl, bei dem nicht der hohe gesellschaftliche Rang der Gäste, sondern deren Herkunft aus der marginalisierten Gruppe von Armen, Verkrüppelten, Lahmen und Blinden im Mittelpunkt steht (Lk 14,13.21). Das dritte Element ist die Verkündigung des annehmlichen Jahres des Herrn (κηρύξαι ἐνιαυτὸν κυρίου δεκτόν; 4,19): Hier ist, wie oben beschrieben, vor allem an die messianische Zeit zu denken. Das Adjektiv δεκτός kommt nur an fünf Stellen92 in Neuen Testament vor, davon dreimal im lukanischen Doppelwerk. Direkt im Anschluss (Lk 4,24) beschreibt es den Propheten. Dieser ist nicht δεκτός in seiner Heimatstadt.93 Hier verdeutlicht sich die Ablehnung Jesu und seiner Botschaft bei seinen Nachbarn in Nazareth. Dass Lukas darüber hinausdenkt, zeigt auch die dritte Nennung in Apg 10,35.94 Dort erkennt Petrus – in der Darstellung der Apostelgeschichte der erste Heidenmissionar – die Ausweitung der Gnade Gottes95 über die Volksgrenzen hinweg: Gott sieht die Person und das Volk nicht an, sondern ihm sind alle δεκτός, die ihn fürchten und gerecht handeln.96 Für die Szene in der Synagoge in Nazareth zeigt die Wiederaufnahme des δεκτός, wie sehr die Predigt Jesu mit der Schriftlesung und damit auch mit Jesus selbst verbunden ist. Alle drei Elemente (Lesung, Predigt Jesu, Jesus selbst) gehören so eng aneinander, dass das Jahr des Herrn aus der Lesung, die nicht angenommene Lehre Jesu und damit Jesus selbst mit demselben Wort δεκτός bezeichnet werden kann.
3.4.8 Narrative Ritualanalyse Jesu Wirken ist durch Rituale bestimmt: Explizit wird auf seine Gewohnheit, die Synagoge am Sabbat zu besuchen, hingewiesen. Die rituellen Handlungen Jesu
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Klein: Lk, 189. Klein beschreibt zudem die Wichtigkeit von Vergebung für das Wirken Jesu und verweist auf Lk 15,1–32 und 19,1–10 (ebd.). Ich ergänze Lk 7,36–50. Lk 4,19.24; Apg 10,35; 2Kor 6,2 und Phil 4,18. Ein weiterer Hinweis zum Prophetenschicksal findet sich in Lk 13,33, wo Jesus sagt, dass Propheten in Jerusalem sterben müssen. Vgl. auch die Predigt Pauli in Apg 13,16ff. „Die entscheidende Entsprechung besteht darin, daß die Einbeziehung der Heiden den kritischen Punkt markiert, der erst den Konflikt bzw. die aggressive Gegnerschaft auslöst“ (von Bendemann: Doxa, 92). Vgl. Lk 4,22; Apg 14,3; 20,24.32 Weitere Verbindungen zwischen Lk 4,16–30 und Apg 10: Gott hat Jesus (hier explizit als Jesus von Nazareth) mit Heiligen Geist gesalbt (10,38), das Volk lehnt ihn ab (10,39–41) und alle Propheten zeugen von ihm (10,43). Ausführliche Hinweise bei Rusam: AT, 196f. Dieser betont die Heidenmission als Mittelpunkt der Rede Petri, welche schon in Lk 4 proleptisch angekündigt sei.
3.4 Die „Antrittspredigt“ Jesu in Nazareth
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werden hingegen nicht kritisiert. Jesus wird auch nicht die Legitimität abgesprochen, auf diese Weise zu handeln, da dies anscheinend den Erwartungen der Menschen entspricht. Für die ritualwissenschaftliche Untersuchung sind vier Aspekte besonders interessant: (1) Welche Auswirkungen hat Jesu Stehen und Sitzen für die Beurteilung seiner Predigt? (2) Stellt die Predigt einen Teil des Gottesdienstrituals dar oder ist sie von den anderen rituellen Handlungen zu unterscheiden? Inwiefern steht dies im Zusammenhang oder Kontrast zur Aussage Jesu über sich selbst?97 Als drittes (3) soll nach dem Ritual als performativem Akt und dessen Auswirkungen gefragt werden. Zuletzt (4) wird ausführlich der rituelle Aufbau der Perikope untersucht. Welchen Zusammenhang haben – nach der Terminologie Bergesens – der Makroritus Synagogengottesdienst, die Mesoriten der konkreten Handlungen und die Mikroriten der Sprache? Kann dieser Zusammenhang sogar eine Begründungsbasis für das Scheitern des Gottesdienstrituals durch die Tötungsabsicht der Nazarener darstellen? (1) Ein Hinweis für das besondere rituelle Wirken Jesu sind die Bewegungen des Aufstehens und Setzens, die Lukas beschreibt. Der Erzähler ist hier sehr genau und gibt diese rituelle Feinheit wieder: Das Lesen geschieht im Stehen, während alle anderen sitzen. Hiermit nur die bessere Akustik beim Vorlesen zu verbinden, greift zu kurz. Vielmehr erscheint mir diese betonte Handlung als Fokussierung: Der biblische Text steht (!) im Mittelpunkt des Geschehens. Dies gilt explizit auch für den Vorlesenden. Lukas beschreibt hier keine Nebensächlichkeit, sondern mithilfe des rituellen Stehens Christologie: „Der Geist des Herrn ist auf mir.“ D. h.: „Ich, der ich hier stehe, bin derjenige, von dem die Schrift spricht. Und genauso, wie die Bibel im Mittelpunkt steht, stehe ich nun hier im Mittelpunkt des rituellen Geschehens.“98 Oder mit den Worten Wolters: „Der Vorleser und das Vorgelesene sind identisch. Der Jesaja-Text wird zu Jesu eigenem Text, d. h. zu einem neuen Text, der in der Gegenwart der Hörer in Nazareth (also ‚heute‘) nicht mehr nur Schriftzitat, sondern Selbstaussage des Geistgesalbten Jesus ist.“99 Lukas fügt durch die nun beschriebene Positionsänderung etwas hinzu: Jesus setzt sich nun wieder hin und lehrt. Dabei bleibt er explizit im Mittelpunkt des Rituals: Aller Augen blicken auf ihn (4,20). Während die öffentliche Rede in der Antike normalerweise stehend gehalten wurde, ist dem Lehrer das Sitzen
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Hier steht schon die an dieser Stelle noch nicht ausformulierte Frage: „Wer ist dieser?“ im Vordergrund (vgl. 5,21; 7,49; 8,25; 9,9). Ich lese den Text hier nicht als Überordnung Jesu über die Schrift, als sei er nicht ganz aus dieser zu verstehen. Die Kategorie der Erfüllung (4,21) beschreibt sehr gut die Vorstellung der Einordnung des messianischen Wirkens (und damit des Wirkens Jesu) in den Kontext der Schriften Israels. Wolter: Lk, 193.
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3 Exegese ausgewählter Perikopen
vorbehalten.100 Jesus ist an dieser Stelle also beides: Lehrer und gleichzeitig Inhalt der eigenen Lehre. Und durch das Hören der Lehre Jesu als Erfüllung der Schrift ergibt sich der Konflikt: Er bezieht nämlich die Stelle, der er bei Jesaja 61101 findet auf sich selbst: „Heute ist dieses Schriftwort102 erfüllt vor euren Ohren!“ D. h. er ist derjenige, auf dem der Geist des Herrn ist, der gesalbt ist und der predigen soll vor Armen, Gefangenen, Blinden und Zerschlagenen. Diese erste Deutung wird von den Zuhörern mit viel Staunen aufgenommen (ἐθαύμαζον ἐπὶ τοῖς λόγοις τῆς χάριτος).103 Es findet sich hier keine explizit negative Kritik an Jesu Worten; sie sprechen im Gegenteil sogar von Worten der Gnade, die aus Jesu Mund kommen. Sowohl das ἐμαρτύρουν („meint oft ‚ein gutes Zeugnis ausstellen‘, ‚Beifall spenden‘“104) als auch ἐθαύμαζον (als „Ausdruck positiver Bewunderung“105) betonen die bis hierhin positive Aufnahme der Worte Jesu bei seinen Zuhörern. Erst mit Jesu Aussagen, die sein Nicht-Wirken in Nazareth antizipieren – und damit die Erwartungshaltung seiner Zuhörer brechen – kippt die Stimmung bis zum Versuch, Jesus zu töten. (2) Das Unverständnis und die scharfe Kritik an Jesus entzündet sich also nicht an seiner rituellen Handlungskompetenz, sondern explizit an der Auslegung der Schriftstelle auf Jesus selbst. Nicht sein Handeln innerhalb des Makrori-
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Deutlich wird dies bei der Rede Jesu auf dem Berg in Mt 5–7. Jesus setzt sich auf den Berg, während seine Jünger (und nach Mt 7,28 die Volksmenge) stehen und ihn hören. Hier zeigt sich eindeutig die Rolle Jesu als Lehrer; vgl. Wengst: Regierungsprogramm, 25ff. Lukas benutzt bei seiner Feldrede nicht diese Assoziation, hat aber Jesus als Lehrer durchaus im Blick, vgl. Lk 6,40; 7,40; 9,38 u. ö. Nach Mittmann-Richert: Sühnetod, 259 ist die Selbstoffenbarung schon „vollgültig geschehen in der Zitation von Jesaja 61,1f., die, da sie ohne Redeeinleitung und damit eben doch vom gewöhnlichen Brauch abweichend erfolgt, als das eigentliche Erfüllungsgeschehen zu gelten hat, in welchem das prophetische Ich der Schrift mit dem Ich Jesu identisch wird und Jesu wahre Person ans Licht tritt.“ Wolter: Lk, 193: „γραφὴ benutzt Lukas nur hier sowie in Apg 1,16; 8,32.35 im Singular, und in allen Fällen meint er damit nicht die Schrift, d. h. das AT insgesamt, sondern ein bestimmtes Wort.“ Dem gegenüber steht allerdings die Auslegung des Auferstandenen über den Christus mithilfe „aller Propheten“ und „allen Schriften“ (so Lk 24,27). Damit wird es möglich die Erfüllung nicht nur des Schriftwortes aus Jesaja – welches ja streng genommen ein durch Lukas geschaffenes Schriftwort ist –, sondern die Erfüllung des ganzen AT durch Jesus zu verstehen. Lukas benutzt hier das Verb θαυμάζω, um das Staunen der Synagogenbesucher darzustellen. Mk 6,2 hingegen verwendet ἐκπλήσσω, was mit ‚außer sich sein‘ bzw. ‚erstaunen‘ wiedergegeben werden kann. Lukas nimmt letzteren Ausdruck auf, indem er die Reaktion der Einwohner Kapernaums auf die Lehre Jesu mit diesem Wort beschreibt: ἐξεπλήσσοντο ἐπὶ τῇ διδαχῇ αὐτοῦ (Lk 4,32; vgl. fast wortgleich Apg 13,12: ἐκπλησσόμενος ἐπὶ τῇ διδαχῇ τοῦ κυρίου). Bovon: Lk I, 213. So auch Wolter: Lk, 193f. Bovon: Lk I, 213.
3.4 Die „Antrittspredigt“ Jesu in Nazareth
133
tus Gottesdienst (vgl. [4]) ist problematisch, sondern sein Selbstanspruch als Gesalbter des Herrn. Jesus nutzt das Ritual für sich selbst und seine Botschaft. Dies bestärkt den Konflikt enorm: Anders als die anderen Evangelisten kann Lukas seinen Jesus nicht an einem beliebigen Wochentag am See Genezareth beginnen lassen, sondern integriert ihn in das rituelle Wirken Israels. Wer an dieser Stelle sich selbst als Gesalbten Gottes präsentiert (durch ein Schriftwort), aber ein Zeichen verweigert (durch ein Schriftwort), der kann nicht mehr zur Gemeinschaft gehören und muss ausgeschieden werden. Jesus fügt der rituellen Handlung nichts Neues hinzu. Das unverschämt Andere, das zum Widerspruch Reizende – so schon die Prophezeiung Simeons in 2,34 –, ist gerade nicht eine Abschaffung, Neubewertung oder Erweiterung des rituellen Handelns, sondern des Inhalts: Jesus ist nicht Josefs Sohn, sondern als geisterfüllter Gesalbter die Erfüllung der Schrift.106 Dieser Anspruch bleibt nicht im luftleeren Raum stehen, sondern wird durch den Autor geschickt mit der Geschichte Israels verbunden: Genauso wie Elia in Sidon wirkte und Elisa einen Syrer heilte, so wird auch Jesus außerhalb seiner Gemeinschaft handeln. Doch an dieser Stelle bleibt das Lukasevangelium nicht stehen: Denn die Beispiele von Elia und Elisa rufen deswegen eine so negative Reaktion hervor, weil die Propheten in diesen beiden Geschichten nur außerhalb und nicht innerhalb ihrer Gemeinschaft wirken. Auf Jesus gemünzt: Von den Worten der Gnade aus seinem Mund wird für seine ehemaligen Nachbarn nichts übrigbleiben. Doch die Formulierung des lukanischen Jesus steigert diesen Vergleich noch, denn die beiden Propheten wirken nicht in eigener Verantwortung: Elia wird geschickt, Naaman wird gereinigt; Gott steht als eigentlich Handelnder dahinter.107 106
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Problematisch ist dabei die sich davon unterscheidende Messiaserwartung der Nazarener. Sie suchen „den Beweis der Messianität in sichtbaren Schau- und Heilungswundern, wie sie sich in Kapernaum jenseits aller falschen Erwartungen vollziehen werden“ (Mittmann-Richert: Sühnetod, 261). Vgl. Wolter: Lk, 195f. Er beschreibt ausführlich die Gegenüberstellungen (Arzt – Kranke; Nazareth – Kapernaum; Witwen in Israel – Witwe in Sarepta; viele Aussätzige – Syrer Naaman) und versteht diese als „deutliche Ausweitung der Perspektive“. Das Nicht-Handeln Jesu in Nazareth entspricht somit dem Nicht-Handeln Gottes (Passivum divinum) bei den Israeliten zur Zeit der Propheten. Dass Lukas hiermit nicht nur an die Situation in Nazareth denkt, zeigt sich im Aufbau seines ganzen Werkes: Zwar tritt Jesus im dritten Evangelium nur in der Passion mit Nichtjuden in direkten Kontakt, die anschließende Apostelgeschichte beschreibt dafür die Ausbreitung der Lehre und des Wirkens Jesu – durch seine geistbegabten Jünger – bis an das Ende der Erde (Apg 1,8). Häufig wird aus der Ablehnung Jesu durch die Einwohner Nazareths ein Rückschluss auf die Ablehnung Jesu durch die Juden geschlossen. Diese Gleichsetzung findet sich in einer Vielzahl (v. a. älterer) Kommentare und scheint so in den Köpfen zu sein, dass eine Begründung gar nicht erst erfolgt. So schreibt Ernst lapidar: „Die Bewohner von Nazareth stehen offenbar stellvertretend für Israel“ (Ernst: Lk, 169). Schmithals hingegen betont das Jüdischsein Jesu: „Dies […] weist nachdrücklich auf die Verwurzelung Jesu in seinem Volk und damit auf die unlösbare Verbindung von Israel und Christentum hin“ (Schmithals: Lk, 61). Auch
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(3) Eine weitere Verstehensmöglichkeit des rituellen Geschehens in Lk 4,16– 30 bietet die Betrachtungsweise des Rituals als Performanz. Zu erinnern ist hier an die mehrfache Verstehensmöglichkeit von ritueller Performanz:108 „Rituelle Handlungen sind auf drei Arten performativ: erstens im Sinne von Austin, wonach etwas zu sagen gleichzeitig auch etwas tun (als konventionelle Handlung) bedeutet; zweitens in dem davon völlig verschiedenen Sinn einer dramatischen Performance, in der die Teilnehmer verschiedene Medien benutzen und das Ereignis intensiv erfahren; und schließlich in einer dritten Bedeutung im Sinne eines indexikalen Wertes109 […], den die Akteure während der Performance dieser zuschreiben und aus ihr ableiten.“110 Das Ritual als Performanz im zweiten Sinne Tambiahs betont die öffentliche Wirksamkeit der Handlungen. Weil Jesus die Synagogenversammlung und deren Rituale für seine Botschaft braucht, verstärkt sich seine Sprechhandlung radikal und ruft die entsprechende Botschaft hervor. Dies trifft offensichtlich auf die Situation in Nazareth zu: Jesus gebraucht
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für Bovon stehen die Bewohner Nazareths für Israel (vgl. Bovon: Lk I, 210. Für eine vertiefte Untersuchung zum Umgang mit dem Judentum bei Lukas siehe Kurth: Stimmen). Auch wenn Lukas sicherlich mehr sagen wollte, als dass allein die Einwohner Nazareths Jesu Anspruch nicht erfüllt sahen, ist eine Übertragung von den Gottesdienstbesuchern auf alle Israeliten bzw. Juden fraglich. Neben der Eingliederung Jesu in das ganze Volk bei der Taufe am Jordan (3,21) spricht schon der Aufbau der Perikope, die ja im Summarium 4,14f. die positive Wertung aller (δοξαζόμενος ὑπὸ πάντων; 4,15) voranstellt und direkt auf die Nazarethperikope folgend die positive Aufnahme Jesu in Kapernaum bezeugt, dagegen. „Schon der nähere Kontext macht damit klar, dass es in der Nazaretperikope nicht um Jesu Ablehnung durch ganz Israel geht, sondern höchstens um die negative Reaktion eines Teils Israels, dem die positive eines anderen Teils zur Seite gestellt wird. Nazaret wie Kapernaum sind ‚galiläische Städte‘ […]. Die Ablehnung in Nazaret wird durch die Akzeptanz aufgewogen, die der Kontext verdeutlicht. Zugleich aber wird klar, dass Jesus, der Weissagung Simeons (2,34f) entsprechend, ‚zum Fall wie zum Aufstehen vieler in Israel‘ gesetzt ist, als ‚Zeichen, dem widersprochen wird‘, das eine Scheidung herbeiführt“ (Kühschelm: Antrittsrede, 150). Rusam: AT, 203f. betont hingegen deutlich die programmatische Rolle dieser Perikope „für das gesamte lk Doppelwerk“: „Insofern findet sich in Lk 4,16–30 das gesamte im LkEv dargestellte Geschick Jesu in nuce.“ Dementsprechend ist die Ablehnung Jesu „von dem überwiegenden Teil der Judenschaft“ und die Hinwendung zu den Heiden (in der Apg) schon bei seiner Antrittspredigt angelegt (vgl. ebd.). Rusam übersieht dabei aber die positive Reaktion der Einwohner Kapernaums und des Summariums in 4,14f. Klein: Lk, 191, sieht die Gottesdienstbesucher als „Vertreter des ungläubigen Israel.“ Er sieht zudem in den Prophetenhinweisen die Wunderlosigkeit Jesu in seiner Heimatstadt begründet: „Es können also in Nazareth gar keine Wunder geschehen, die Rede Jesu wird zur Verstockungspredigt“ (192). Dass Jesus aber keine Wunder in Nazareth aufgrund ihres Unglaubens tun kann (vgl. Mt 13,58; Mk 6,5) wird gerade nicht explizit gesagt. Dem entspricht auch die Spiegelbildlichkeit vom Wegjagen Jesu aus Nazareth (4,29) mit der Bitte der Bewohner Kapernaums, Jesus möge bei Ihnen bleiben (4,42f.). Zum Verhältnis von Lukas zu Israel (im Vergleich zu Paulus) findet sich bei Schröter: Israel, 296–300. Vgl. 2.4.2. Vgl. Fn 229 in Kapitel 2.4.2. Tambiah: Theorie, 214.
3.4 Die „Antrittspredigt“ Jesu in Nazareth
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die Versammlung am Sabbat und deren Rituale für seine Lehre. Nur durch die nun im dritten Evangelium beginnende Öffentlichkeit seines Wirkens kann die Radikalität Jesu überhaupt herausgestellt werden. Dabei gehören die Geistsalbung bei der Taufe Jesu (3,21f.) und die Antrittspredigt in Nazareth, wo sich Jesus als Geistgesalbter Gottes vorstellt, untrennbar zusammen. Versteht man zudem die Erzählung in Sinne der Sprechakttheorie Austins, handelt Jesus, indem er spricht. Er bewirkt durch Sprache eine Veränderung. Deswegen wird das ‚Heute‘ auch so betont: Die Schrift erfüllt sich in dem Moment des Sprechens Jesu. Dies ist im Lukasevangelium nicht als historisierendes „Damals in Nazareth“ zu verstehen, sondern als das „Heute des Gottesdienstes.“111 Dazu passt auch der dritte Punkt Tambiahs: Ein Ritual kann als „indexikaler Wert“ verstanden werden. Der Gottesdienst wäre damit als Index ein direkter (und innerweltlicher) Hinweis auf den Bund Gottes mit seinem Volk Israel und das Wirken Gottes an Israel. Genauso kann als Element des Gottesdienstes die Schriftauslegung Jesu verstanden werden: Sie ist der direkte Hinweis auf das hinter ihr Stehende: Gott als Garant des Bundes112 und Jesus als sein Gesalbter. So verstanden erzwingt das ‚Heute‘ der Auslegung Jesu eine sofortige Reaktion seiner Zuhörer, die der Text dementsprechend auch berichtet: Vom positiven, aber nicht verständigen Staunen hin zu dem versuchten Töten Jesu durch die Nazarener. Hinzu tritt der Faktor der Körperlichkeit, welcher performative Rituale auszeichnet. Wie dargestellt, zeugen die Bewegungen Jesu von der Eingebundenheit des Körpers ins Ritual. Ebenso sind die Auswirkungen auf Jesus körperlich: Sie stoßen ihn gewaltsam hinaus. Als sie mit dieser Handlung die Synagoge verlassen und den Gottesdienst bedingt durch den Zorn über Jesus beenden, endet auch die Körperlichkeit des Rituals: Jesus geht durch sie – quasi körperlos – hindurch. (4) Die Schwierigkeit der Differenzierung zwischen Jesu Handeln im Ritual und seiner Predigt als Teil dieses rituellen Handelns liegt in der Sache des Rituals begründet. Nach dem Verständnis Bergesens113 teilen sich Rituale in drei Ebenen, die aufeinander aufbauen: Makroriten als formelle Zeremonien (hier: der Synagogengottesdienst), Mesoriten als interpersonale Interaktionen (hier: die Reaktionen der Zuhörer und Jesu Antwort); und Mikroriten als sprachliche Handlungen (hier: Jesu Aussagen über sich selbst sowie seine Einordnung als Sohn Josefs durch die Nazarener). Die Szene in Lk 4,16–30 kann nun von außen nach innen bzw. von der obersten Ebene zur untersten durchgesehen werden.
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So schon Schweizer: Lk, 61, wenn auch ohne Bezug zur Theorie Austins. Schweizer: Lk, 58 betont die Fortsetzung von Gottes Wirken in der Synagoge: „Gott setzt mit seinem neuen Reden dort ein, wo man sein Wort erwarten darf, so unvollkommen und fraglich der Synagogen- wie der Kirchenbetrieb ist. Er bleibt sich und seinem Bund treu, und es ist das alte Wort Israels, das das neue anzeigt.“ Vgl. ausführlich Bergesen: Ordnung, und Kapitel 2.3.9 dieser Arbeit
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3 Exegese ausgewählter Perikopen
Auf der höchsten Ebene der formellen Zeremonien sind die Distanz der Teilnehmer und die Sakralität der Handlungen am größten, Veränderungen also am problematischsten. Auf dieser Ebene wird Jesus kein Vorwurf durch die Gottesdienstbesucher gemacht, er hält sich an die Abläufe und fügt auch nichts Neues hinzu.114 Dies entspricht dem als gering verstandenen Grad der Veränderlichkeit dieser Ritualstufe. Der Sinn von Makroriten liegt nach Bergesen darin, die „Gemeinschaft als Ganzes“115 zu reproduzieren. Dieser Sinn schlägt offenbar fehl,116 wird sogar zerstört, denn trotz der fehlenden Kritik an der Ritualdurchführung Jesu auf Makroebene reagieren seine Zuhörer ab Vers 28 extrem negativ und scheiden ihn gewaltsam aus ihrer Gemeinschaft aus, obwohl er auf den ersten Blick auf der Makroebene des Synagogengottesdienstes keine Veränderung herbeiführt: Ihm wird weder eine Veränderung von Ort, Zeit oder Ablauf des Synagogengottesdienstes vorgeworfen, noch stellt man die Kompetenz Jesu, den Prophetentext zu lesen und auszulegen, in Frage. Die eigentliche Konfliktursache muss daher auf einer tieferen Stufe liegen. Auf der Ebene der Mesoriten lassen sich die einzelnen „interpersonalen Interaktionen“ beschreiben. Zuerst erfolgt Jesu Selbstoffenbarung in 4,18, als er das Schriftwort aus Jesaja auf sich selbst bezieht. Darauf folgt die erste Reaktion seiner Zuhörer: Sie staunen, ja verwundern sich (ἐμαρτύρουν αὐτῷ καὶ ἐθαύμαζον), lassen es aber an Ritualen der Ehrerbietung fehlen. „Sie kommen nicht über ein verständnisloses Staunen hinaus, weil sie das von ihnen mitgebrachte Wissen um die Identität Jesu zum selbstverständlichen Maßstab der Beurteilung seiner Worte machen und nicht umgekehrt Jesu Identität aus seinen Worten ableiten und ihr Wissen entsprechend korrigieren.“117 Sie können nicht erkennen, wie dieses ‚Heute‘ im Kontext der Selbstbeschreibung Jesu als mit Heiligem Geist Gesalbter zu verstehen ist. Ihr Verhalten ist schief, denn „irdisch Verifizierbares verhindert richtige Erkenntnis.“ 118 Jesu Sprichwort vom Arzt, die Prolepse der Ereignisse in Kapernaum und die Verweise auf Gottes Handeln außerhalb Israels durch Elia und Elisa sind daher als konsequente Folge der rituellen Missachtung zu verstehen: Wenn Jesus nicht als Gesalbter behandelt wird, werden zwangsläufig keine großen Taten in Nazareth geschehen. Jesus reagiert119 also auf das unvollständige Verstehen seiner Zuhörer und die daraus 114
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Auch wenn wir über den typischen Ablauf eines Synagogengottesdienstes zur Zeit Jesu nicht genau informiert sind (s. o.), macht Lukas deutlich, dass die Kritik der Nazarener eindeutig nicht auf der Ebene der Gottesdienstpraktik zu suchen ist. Bergesen: Ordnung, 62. Liest man die Geschichte aus einer anderen Perspektive, könnte man sogar das Gegenteil behaupten: Durch den Ausstoß des ‚Störers‘ Jesus wird die Gemeinschaft der Nazarener neu gebildet und gestärkt. Diese Lesart entspricht sicher nicht der lukanischen Stoßrichtung. Wolter: Lk, 195. Klein: Lk, 190. Anders Wolter: Lk, 197.
3.4 Die „Antrittspredigt“ Jesu in Nazareth
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resultierende Missachtung der ihm zustehenden ehrerbietenden Behandlung.120 Ist 4,21 noch positiv formuliert, indem Jesus auf das ‚Heute‘ ersichtlich werdende heilschaffende Handeln Gottes „vor ihren Ohren“ verweist, ergibt sich als Antwort auf ihr Unverständnis das zukünftige Nicht-Handeln Gottes an ihnen. Dabei stellt sich Jesus in eine Reihe mit den Propheten Elia und Elisa. Genauso wie diese beiden wird auch Jesus von Gott nicht in die eigene Heimat gesandt, sondern zu den Fremden und Marginalisierten in Israel. Jesus macht an dieser Stelle im doppelten Sinn eine Prognose: Er prognostiziert das zukünftige Verhalten der Nazarener als im Widerspruch zu seiner Selbstoffenbarung stehend. Er ist gesandt an die Armen usw. (4,18f.), nicht zwangsläufig zu den Eigenen. Er erkennt in sich den Sohn Gottes, nicht den Sohn Josefs (dazu gleich mehr). Dies können die Gottesdienstbesucher nur als missgünstige Vorahnung erkennen, auf die sie entsprechend negativ reagieren. Dabei handelt es sich im wörtlichen Sinne um eine ‚Pro-Gnose‘:121 Jesus weiß vorab, wie die Nazarener reagieren werden. Er trifft keine beliebige Aussage über die Zukunft, sondern er weiß, dass diese eintreten muss, denn es gilt: Kein Prophet ist willkommen in seinem Vaterland (4,24). Auf die zum Widerspruch reizende Prognose Jesu in Verbindung mit dem Rückverweis auf Elia und Elisa (4,25–27) verstärken die Gottesdienstbesucher ihre negative Handlungsweise. Statt Jesus nun die entsprechende rituelle Ehre zuteilwerden zu lassen, kehren sie diese um in Zorn und werfen ihn aus dem Dorf hinaus. Statt die Gemeinschaft mit Jesus (und damit Gott) zu bejahen, brechen sie diese Beziehung durch den Tötungsversuch endgültig ab.122 Diese Abwehr ist schon angelegt in dem Vorwissen Jesu, der die im Evangelium noch nicht berichtete Frage, ja Forderung, nach Wundertaten in Nazareth – so wie in Kapernaum: 4,23 – proleptisch erkennt.123 Jesus behält Recht, denn sie erkennen nicht, wie sie mit Jesus und seinem Anspruch umgehen sollen. Sie diskutieren auch nicht mit ihm oder werfen ihm explizit etwas vor, sondern zeigen durch ihre Reaktion, dass sie seine (Selbst-)Aussagen als empörend, ja vernichtend empfinden und nun mit Vernichtungswunsch handeln. Jesus, dem viele widersprechen werden – so die Prophezeiung Simeons –, wird aus der Gemeinschaft seiner Nachbarn ausgewiesen. „Es handelt sich um eine kognitive 120
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Ein wirkliches Verstehen Jesu, seines Wirkens und seiner Mission wird erst durch den Auferstandenen selbst und im Hinblick auf die Schriften Israels ermöglicht: Lk 24,26f.44– 47. Womöglich spielt Lukas hier auf die Fähigkeit an, etwas im Herzen zu erkennen (Kardiognosis). Explizit nutzt er diese Vokabel in Apg 1,24 (in Bezug auf den κύριος, der an dieser Stelle [vgl. 1,21] nur Jesus meinen kann) und 15,8 (in Bezug auf Gott). Das Wort καρδιογνώστης kommt im NT nur an diesen beiden Stellen vor. Lukas nennt hierbei keine Ausnahmen unter den Nazarenern, die Jesus doch anerkennen. Er betont sogar, dass alle Anwesenden ihn zuerst anblicken, dann bestaunen, zuletzt aber im Zorn töten wollen (4,20.22.28). „Lukas lässt Jesus hier eine zukünftige Situation antizipieren, und zwar eine Situation, die auf die ebenfalls noch zukünftigen Machttaten in Kapharnaum folgt“ (Wolter: Lk, 196, kursiv dort).
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Dissonanz zwischen der Rolle, in der Jesus den Synagogenbesuchern gegenübertritt, und dem Status, der ihm in dem Ort seiner Kindheit und Jugend (s. V. 16) zugewiesen wird: Hier kennen ihn nur alle als ‚Sohn Josefs‘ (22e).“124 Diese verkennen dabei – aus Sicht des Evangelisten – den eigentlichen Nutzen der Mesoriten, welche „die Gemeinschaft zusammenhalten, ihre interne Struktur und Hierarchie bestätigen und reproduzieren“125 sollen. Jesus steht aus Sicht der Gottesdienstteilnehmer auf der gleichen Stufe wie sie – ein Mann aus der Nachbarschaft, der eindeutig seinem Vater Josef zugeordnet werden kann. Daraus folgt die (implizite) Aufforderung, sich dementsprechend zu verhalten und die Zuordnung zur eigenen (Dorf-) Gemeinschaft zu bestätigen. Jesus sieht sich selbst allerdings durch Geistbegabung und Geistbeauftragung berufen zu dem Wirken, das er durch die Worte Jesajas verkündet. Auf der Ebene der Mesoriten ergibt sich also eine deutliche Störung zwischen Jesus und seinen Zuhörern. Zorn ersetzt die ursprüngliche Nähe. Die gemeinschaftliche Beziehung endet und wird auch im Verlauf des Evangeliums nicht wieder aufgenommen werden. Dem entspricht auch die letzte Interaktion Jesu: Er geht weg, und das mitten durch sie hindurch. Doch wie begründet sich nun in dieser Erzählung die zunächst positive, aber dennoch problematische, weil zu kurz greifende Reaktion der Gottesdienstbesucher? Das Unverständnis liegt eine Ebene tiefer im Sinne der rituellen Ordnung Bergesens begründet, nämlich in den Mikroriten – der Sprache. Sprachliche Äußerungen konstruieren und konstituieren soziale wie religiöse Hierarchie. Damit sie diese Funktion erfüllen können, muss in einer Gemeinschaft ein bestimmter sprachlich-linguistischer Code gesprochen und verstanden werden. 126 Auch Kritik an der Gemeinschaft bzw. an Individuen als Teil der Gemeinschaft muss in dieser Sprache angebracht werden, um verständlich zu sein. Diese – von Bergesen „durkheimsche Ironie“ genannte – Eigenschaft der menschlichen Kommunikation trifft auch auf den lukanischen Jesus zu. Er nutzt die alttestamentliche Überlieferung als gemeinsamen Sprachraum, um auf die Erfüllung dieser durch ihn hinzuweisen. Die Sprache, die er benutzt, ist die Sprache der Bibel – für Lukas in Form der LXX – und doch wird er nicht auf die Art verstanden, wie er verstanden werden müsste (als Gesalbter Gottes, als Messias und nach 1,35; 3,22 als Sohn Gottes). Die Dorfbewohner reagieren mit Zorn (4,28), da sie sprachlich nicht mehr reagieren können, denn ihre bisherige mikrorituelle Reaktion schlug vollkommen fehl. Lukas lässt nur an einer Stelle die Nazarener explizit sprechen. Sie bezeugen ihn als Sohn Josefs (4,22: οὐχὶ υἱός ἐστιν Ἰωσὴφ οὗτος;) und gliedern ihn damit in seine Herkunftsfamilie und die eigene Nachbarschaft ein. Dies verkennt nicht 124
125 126
Wolter: Lk, 194 (kursiv dort). Bergesen: Ordnung, 61. Bergesen, Ordnung, 54: „Um Unabhängigkeit und Distanz von der Gesellschaft ausdrücken zu können, muss man in der Gesellschaft sein, d. h., in der Sprachgemeinschaft.“
3.4 Die „Antrittspredigt“ Jesu in Nazareth
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nur Jesu Selbstoffenbarung als Gesalbten Gottes. Die Leser wissen es: Jesus ist nicht υἱός Ἰωσὴφ, er ist υἱός ὑψίστου (1,32), ja sogar υἱός θεοῦ (1,35; 3,22). Konsequenz: Weil Sie Jesus trotz seiner Selbstoffenbarung (4,21: Heute!) auf mikroritueller Ebene falsch einordnen, sind sie nicht in der Lage, ihm die notwendigen Rituale der Ehrerbietung zukommen zu lassen. Daraus folgt zwangsläufig, dass sie keine der großen Taten Jesu erleben werden, genauso wie Gott Elia und Elisa außerhalb Israels hat wirken lassen. Damit steht Jesus trotz der gemeinsamen Ritualhandlungen und der gemeinsamen Sprachgemeinschaft außerhalb der Gruppe, die doch eigentlich (als Sohn Josefs und Bewohner des Dorfes Nazareth, ja als Israelit) seine eigene sein sollte. Auf der Ebene der Mikroriten ergibt sich also der eigentliche Grund für den Konflikt in Nazareth: Jesus kann schon sprachlich nicht als derjenige verstanden werden, der er ist: Er ist der Gesalbte Gottes, ja sogar sein Sohn, bei dem Schriftwort, göttlicher Auftrag und seine Person ineinander fallen.127 Das bestätigt sich schlussendlich im letzten Vers der Perikope: Jesus wird nicht in den Abgrund gestürzt, sondern wundersam gerettet. Er bestätigt damit die Provokation des Teufels aus 4,9ff.: Wenn Du Sohn Gottes bist, dann wirst Du durch himmlische Intervention ohne Schaden einen großen Sturz überstehen.128 Das Makroritual des sabbatlichen Synagogengottesdienstes hat die Funktion, die Gemeinschaft als Ganzes zu (re-)produzieren. Dieses scheitert. Es scheitert aber nicht an Änderungen oder Kompetenzüberschreitungen Jesu in Bezug auf das übergeordnete Ritual, sondern schon auf der Mesoritualebene. Die Nazarener ehren Jesus nicht, sondern ordnen ihn zuerst falsch (nämlich als ihresgleichen) ein und verwerfen ihn am Ende im Zorn. Dies erklärt sich auf der mikrorituellen Ebene: Jesus ist nicht, wie sie meinen und aussagen, der Sohn Josefs, sondern der Sohn Gottes.
3.4.9 Zusammenfassung und Fazit Jesus ist Teil der rituellen Welt und damit der rituellen Ordnung des Judentums. Lukas betont dabei ausdrücklich seine Verbundenheit sowie Eingewobenheit in die religiösen und rituellen Institutionen (Tempel und Synagoge) seiner Zeit. Im Gegensatz zu Johannes dem Täufer entzieht er sich diesen nicht, sondern nutzt sie für seine Lehre. Er sucht nicht die Abgeschiedenheit am Jordan und lässt die Leute zu sich kommen, sondern macht sich auf den Weg zu ihnen. Dabei greift Lukas auf die Vorstellung zurück, dass Jesus sich zuerst in seiner Heimatstadt öffentlich predigend zeigt. Dies geschieht allerdings nicht an einem beliebigen Ort zu einer beliebigen Zeit, sondern nach seiner Gewohnheit am Sabbat im Synagogengottesdienst. Jesu Eingebundenheit in die rituelle Ordnung ist dabei 127 128
Wolter: Lk, 193: „Der Vorleser und das Vorgelesene sind identisch.“ Vgl. Fn 69 dieses Kapitels.
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3 Exegese ausgewählter Perikopen
keine rein historische Beschreibung, sondern gehört explizit zum rechten theologischen Verständnis Jesu hinzu, denn nur wenn er ganz und gar Teil nimmt am rituellen Leben, kann seine christologische – und in diesem Sinne selbstbezogene – Auslegung der Schrift verstanden – ja geglaubt – werden. Dafür braucht es die religiöse Institution und mit ihr die Rituale inkl. ihrer Sprache und Handlungsoptionen. Nur so kann der lukanische Jesus als Gesalbter des Herrn und Sohn Gottes verstanden werden. Dass dieser Anspruch alles andere als unumstritten war und ist, zeigt u. a. diese Geschichte, die die Prophezeiung Simeons narrativ ausführt als ein „Zeichen, dem widersprochen wird“ und „viele in Israel fallen und viele aufstehen“ lässt (Lk 2,34). Dieser Widerspruch zeigt sich am deutlichsten bei der Betrachtung der drei rituellen Ebenen. Obwohl Jesus auf der Makroebene gar nicht in das Ritual des Synagogengottesdienstes eingreift, wird er am Ende aus diesem ausgeschlossen und aus seinem Heimatdorf entfernt, sogar seine Tötung als endgültiger Ausschluss aus der Gemeinschaft wird versucht. Dieser brutale Abbruch der Kommunikation erklärt sich allerdings nur auf den darunterliegenden rituellen Ebenen. Da die Nazarener auf der Mikroebene der Sprache den Anspruch und die Selbstoffenbarung Jesu nicht verstehen (können) und ihn dann fälschlicherweise in den familiären wie lokalen Kontext einordnen (Sohn Josefs statt Sohn Gottes), kommt es zu der mesorituellen Falschbehandlung Jesu. Ihm, als der mit dem Geist Gottes Gesalbter, stehen Rituale der Ehrerbietung zu. Diese bleiben aber aus, denn die Nazarener verbleiben zunächst beim ungläubigen Staunen und schließen ihn am Ende gewaltsam aus ihrer Gemeinschaft aus.
3.5
Jesus wird im Haus des Pharisäers Simon von einer Sünderin geehrt (Lk 7,36–50)
Die Perikope Lk 7,36–50 erzählt den ersten Besuch Jesu im Haus eines Pharisäers im Verlauf des dritten Evangeliums. Er wird eingeladen und folgt dieser Einladung zum Mahl.1 Dabei tritt die eigentliche Mahlzeit in den Hintergrund, weil
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Einen Überblick zu Form und Funktion des hellenistischen Gemeinschaftsmahls und deren Teilnehmer/innen bieten Altmann/Al-Suadi: Essen, 90–109. Sie schreiben, „dass es keinen Unterschied zwischen der Form des Mahls bei Menschen aus den nichtjüdischen Nationen, Jüdinnen und Juden oder Christinnen und Christen gab“ (90). Dies gilt sicher auch für das Mahl in Lk 7,36–50, das ja nicht explizit beschrieben wird, aber den Hintergrund der Perikope darstellt. Mehr dazu in der ritualwissenschaftlichen Betrachtung (3.5.6). Eine ausführliche Beschreibung des Mahlrituals im Alten Testament und seiner Umwelt bietet Bergmann: Festmahl, 29–52. Zur aktuellen Mahlforschung vgl. den Sammelband von Al-Suadi und Smit: Early Christian Meals sowie Stein: Mahlfeiern, 27–95.
3.5 Jesus wird von einer Sünderin geehrt
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eine plötzlich auftauchende Frau,2 die als Sünderin3 klassifiziert wird, Jesus auf besondere Weise nahekommt. Die darauf folgende Kritik des Gastgebers Simon an Jesus lässt ein Gespräch entstehen, das die Handlungen der Frau und die Handlungen des Pharisäers gegenüberstellt. Dabei zeigt sich deutlich, dass das Wirken der Frau an Jesus als rituelles Handeln im Sinne von Ritualen der Ehrerbietung verstanden werden muss. Dies baut auf Beobachtungen zum Mikroritual der Sprache auf, durch die die falsche Einordnung Jesu durch Simon begründet sind. Dabei wird auch nach dem Sinn des im Hintergrund stehenden Mahlkontextes als Makroritual zu fragen sein.
3.5.1 Einordnung in die Erzählung des Evangeliums Die Perikope stellt den Abschluss des siebten Kapitels des Lukasevangeliums dar. Dabei steht sie in enger Verbindung zur Diskussion des Verhältnisses Jesu zu Johannes dem Täufer (ab Lk 7,18ff.). Johannes, von Herodes gefangen genommen (3,20), schickt zwei seiner Schüler, um Jesus zu fragen, ob er der Kommende (ὁ ἐρχόμενος) sei, was Jesus im Hinblick auf sein Wirken4 (7,22) bejaht. Daraufhin spricht Jesus zur anwesenden Menge und stellt sich (bzw. den Menschensohn [7,34]) Johannes gegenüber. Ohne auf Lk 7,18–35 ausführlich eingehen zu wollen, kann als Grundfrage dieses Abschnittes die Anfrage des Täufers konstatiert werden: Ist Jesus der Kommende? Und: Anhand welcher Gesichtspunkte lässt sich Jesus als Kommender erkennen? Dabei ist Jesu (Selbst-)Bezeichnung als „Freund der Zöllner und Sünder“ (7,34) in der auszulegenden Perikope narrativ veranschaulicht.5
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Eine knappe Übersicht zu Frauen beim antiken Mahl bieten Altmann/Al-Suadi: Essen, 97– 99. Dementsprechend findet sich in vielen Bibelausgaben die Überschrift „Jesus und die Sünderin“ (so z. B. Luther 1984.2017, Einheitsübersetzung usw.). Dem schließen sich auch eine Vielzahl von Kommentatoren an: Schmid: Lk, 146; Ernst: Lk, 254, Bovon: Lk I, 383. Anders hingegen Wolter: Lk, 291, der genauso wie Oberlinner den Titel „Der Pharisäer und die Sünderin“ wählt. Einen ganz anderen Schwerpunkt wählt Schottroff für die Überschrift der Perikope und ihres Aufsatzes: Die große Liebende und der Pharisäer Simon, 310. Die Aufzählung des Wirkens Jesu an Blinden, Lahmen, Aussätzigen, Tauben und Armen durchzieht (mit Variationen bei einzelnen Begriffen) seit der Antrittspredigt in Nazareth (4,16–30) den lukanischen Bericht und wird auch in Lk 14,1–24 wiederholt aufgenommen werden. Zur genauen Verknüpfung s. u. Lk 7,22 verweist auf das Wirken Jesu an Toten (vgl. die in Lk 7,11–17 beschriebene Auferweckung des jungen Mannes aus Nain). Zudem knüpft der Text an die Auseinandersetzung Jesu mit Pharisäern und Schriftgelehrten in Lk 5,29–32 an, die sich in Lk 15 fortsetzen wird. Dabei steht jedes Mal die Frage im Mittelpunkt, warum Jesus sich mit moralisch fragwürdigen Menschen (zusammengefasst als „Zöllner und Sünder“) befasst; vgl. Wolter: Lk, 291. Ebenso Wolter: Lk, 290.
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3 Exegese ausgewählter Perikopen
Der direkte Anschluss in Vers 36, dass τις τῶν Φαρισαίων Jesus einlädt, verdeutlicht, dass es sich dabei in der Vorstellung des Evangelisten um einen Zuhörer der vorangegangenen Szene handeln muss.6 Daher lässt sich auch für die Perikope 7,36–50 die Frage nach der Identität Jesu als Hauptaspekt erkennen.7 Im Anschluss folgt mit Lk 8,1–3 ein kurzes Summarium über Jesu Predigt und die Erwähnung mehrerer Frauen, die Jesus mit ihrer Habe dienen.8
3.5.2 Lk 7,36–38: Jesus im Haus des Pharisäers 36 Es bat ihn aber einer der Pharisäer, dass er mit ihm esse, und er ging hinein in das Haus des Pharisäers und er legte sich (zu Tisch). 37 Und siehe, eine Frau war in der Stadt, eine Sünderin, und als sie erfuhr, dass er zu Tisch lag im Haus des Pharisäers, brachte sie ein Alabastergefäß mit Salböl herbei 38 und trat von hinten an seine Füße heran, weinend, und fing an mit Tränen seine Füße zu benetzen, und trocknete sie mit den Haaren ihres Hauptes und küsste seine Füße herzlich und salbte (sie) mit Salböl. Die Einleitung der Perikope in 7,36 lässt einige Informationen offen. Wir erfahren hier weder den Namen des Pharisäers – dieser wird erst in 7,40 von Jesus als Simon9
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So auch von Bendemann: Liebe, 175. Der Pharisäer wird „für die Leser zum typischen Repräsentanten“ der Pharisäer aus Lk 7,30ff. Eine Gleichsetzung des Pharisäers mit Juden allgemein (und der Frau mit den Heidenchristen, so Bovon: Lk I, 389) sehe ich im Text nirgendwo angedeutet (zur Kritik dieser Position vgl. auch Schottroff: Perspektiven). Eine ähnliche Konstellation begegnet auch in Lk 13,31; 14,1. So auch von Bendemann: Liebe, 172 (Fn 5): „Die Frage nach der Identität Jesu hält sich im Folgenden durch (vgl. Lk 8,25; 9,9.18–22).“ Mit Lk 8,1 und der typisch lukanischen Scheidephrase καὶ ἐγένετο beginnt ein neuer Abschnitt, der durch die betonte Nachfolge von Frauen lose an Lk 7,36–50 anknüpft. Von Bendemann: Liebe, 171 sieht mit Lk 7,36–50 „den narrativen Zusammenhang, dessen Beginn mit Lk 5,1–11 anzusetzen ist“, abgeschlossen. Er verweist auch auf die Gegenüberstellung von zwei exemplarischen Sündern (Petrus in 5,8; die Sünderin in 7,37), also einem Mann und einer Frau. Für Bovon: Lk I, 386 endet mit Kapitel 7 ein Abschnitt mit „Stoff aus seinem Sondergut und aus Q“. Anhand der ähnlichen zu Grunde liegenden Situation und der Namensgebung Simons lassen sich Parallelen zu Mk 14,3–9 aufzeigen; zudem gibt es inhaltliche Verknüpfungen zu Joh 12,1–8. Ob hier eine oder mehrere gemeinsame mündliche Überlieferung(en) oder gar eine literarische Abhängigkeit vorliegt, lässt sich kaum sicher entscheiden. Wolter: Lk, 291 meint, es hätte drei unterschiedliche mündliche Überlieferungen gegeben, die dann in den Evangelien „literarischen Niederschlag“ gefunden hätten. Oberlinner: Begegnungen, 254–259 arbeitet detailliert Gemeinsamkeiten und Unterschiede beider Fassungen heraus und kommt zu dem Schluss, dass Lukas die Erzählung sowohl aus Mk 14, als auch aus einer weiteren Quelle kenne. Der Vielzahl an Aufsätzen, die versuchen, literarkritisch
3.5 Jesus wird von einer Sünderin geehrt
143
bezeichnet – noch den Ort, an dem das Haus des Pharisäers steht,10 noch wird die Tageszeit deutlich, zu welcher das Mahl stattfindet.11 Jesus nimmt die Einladung an, begibt sich in das Haus des Pharisäers und legt sich dort zu Tisch. In Vers 37 wird nun eine weitere Person eingeführt: Eine Frau, die durch den Erzähler als ἁμαρτωλός12 klassifiziert wird, erfährt von der Anwesenheit Jesu im Haus des
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die verschiedenen Quellen des Lk in (Teil-)Versen zu entdecken, ist der Hinweis von Eckstein entgegenzustellen: „Methodisch nachvollziehbar zu exegesieren sowie theologisch auszuwerten ist vorrangig der vorliegende Text in seinem unmittelbaren Kontext – also dem Lukasevangelium in seiner vom Verfasser verantworteten Gestalt“ (Eckstein: Aspekte, 71). Vgl. auch Winter: Trennung, 76, der vermutet, dass Lukas die Salbungsgeschichte aus kompositorischen Gründen nicht direkt vor das letzte Mahl setzt. Diese „hätte ja aus Sicht des Lukas ein retardierendes Moment bedeutet. Dies dürfte der eigentliche Grund für die Auslassung von Mk 14,3–9 sein, weniger die Absicht nach Lk 7,36–50 eine ähnliche Geschichte zu vermeiden.“ Dagegen spricht m. E. die deutliche Veränderung der Erzählung aus der Hand des Lukas und dessen Tendenz, für ihn unpassende MkPerikopen wegzulassen. Bis 7,17 spielt die Szene in bzw. vor der Stadt Nain. Ob das Gespräch mit den Täuferschülern auch dort anzusiedeln ist, bleibt offen. Ernst spricht in seinem Kommentar von einer „situationsfreie[n] Überlieferung“ (198). Wolter: Lk, 291 hingegen betont, die Szene läge „unterhalb der Ebene, die in 7,11 mit dem Erreichen der ‚Stadt‘ Nain markiert wurde.“ Wenn Lukas hier besonders an die Möglichkeit der Identifikation seiner Leser mit einer der dargestellten Personen gedacht hat, ist der Kommentar von Schweizer: Lk, 91 passend: Die Stadt „könnte auch die des Lesers sein.“ Dazu würde auch die Undefiniertheit der Sünden der Frau passen. Zudem hat Lukas nach Melzer-Keller: Jesus, 215 „stets ein städtisches Milieu im Blick: immer wieder ist er bestrebt, viele Begebenheiten aus dem Leben Jesu durch entsprechende Rahmenangaben in einer oder in der unmittelbaren Nähe einer Stadt zu lokalisieren und die Mission Jesu so zu einer Stadtmission zu machen.“ Zur Frage nach der Bewertung des Mahl als Symposium vgl. Esposito: Jesus’ Meals, 198– 201. Lukas lässt offen, worin genau die Sündhaftigkeit der Frau besteht. Wolter sieht das Gottesverhältnis angesprochen, „denn dieses Etikett macht sie zu einer Person, die dem Willen Gottes zuwiderhandelt. Allein daran liegt dem Erzähler“ (Wolter: Lk, 291). Die häufig zu lesende Zuschreibung, die Frau sei eine stadtbekannte Prostituierte, ist demnach möglich, aber inhaltlich „irrelevant“ (Wolter: Lk, 292). Von Bendemann: Liebe, 167–171, legt ausführlich dar, warum es sich bei der Frau in der Vorstellung des Autors um eine Prostituierte handeln müsse, auch wenn „sämtliche Accessoires und Aktivitäten […] für sich genommen nicht auf einen entsprechenden Hintergrund festzulegen [sind]“ (von Bendemann: Liebe, 168 [Fn 30]). Dagegen betont Oberlinner: Begegnungen, 263–274, wie sehr diese Zuschreibung in den Text hineingelesen werde. Ich schließe mich dem Urteil Wolters an, wonach Lukas hier verdeckt von einer Prostituierten schreiben könnte, dies aber keine zwingende Deutung sein muss und im Endeffekt für die Deutung der Perikope nicht von Belang ist. Die Bezeichnung Sünderin ermöglicht zudem viel stärker die Identifikation der Leser(innen) mit der Rolle und Position der Frau. Zur problematischen deutschsprachigen Auslegungstradition vgl. Schottroff: Perspektive, 99–107. Zurückhaltend auch das Fazit von Frei (Salbung, 210): „Die fehlenden näheren Angaben lassen es bei der Fülle der Möglichkeiten, die der ἁμαρτωλός-Begriff zu bezeichnen versteht, als unmöglich erscheinen, die Art der Sünde der Frau näher zu bestimmen.“
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3 Exegese ausgewählter Perikopen
Pharisäers.13 Der Erzähler verdeutlicht an dieser Stelle nicht, in welcher Beziehung die Frau zu Jesus steht, ob sie sich schon begegnet sind oder ob die Frau bisher nur von anderen über Jesus gehört hat;14 ein Motiv für die im Folgenden dargestellten Handlungen ergibt sich aus der bisherigen Erzählung also nicht.15 Die Frau bringt ein Alabastergefäß mit Salböl (μύρον) mit, das als sehr kostbar bezeichnet werden kann.16 In Vers 38 kommt sie nun von hinten an Jesus
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Melzer-Keller: Jesus, 221f. betont die Verbindung zu den Frauen in Lk 8,2–3: Die Sünderin aus Lk 7,36ff. sei genau wie diese eine „wohlhabende Frau“, die mit ihrer Habe (hier: dem teuren μύρον) Jesus diene. Es handele sich also bei der Sünderin nicht zwingend um eine Prostituierte, „sondern vielmehr [um] eine[r] gesellschaftlich hochstehende[n], wohlhabende[n] Person, die durch ihre Extravaganz und ihren lockeren Lebenswandel aus dem Rahmen fällt.“ Melzer-Keller fährt dann mit einigen Beispielen von reichen und über die Stränge schlagenden Frauen fort. Bezeichnenderweise – und häufig übersehen – wird von der Frau nicht explizit gesagt, dass sie in das Haus gekommen ist – im Gegensatz zu Jesus direkt in 7,36 – nur, dass sie vom Liegen Jesu zu Tisch erfahren habe. So spricht bspw. Eckstein (Anthropologie, 73) über das „Eindringen in das Haus des Simon“; ähnlich Schürmann: Lk I, 431. Deutet Lukas hier an, die Frau sei schon im Haus gewesen? Das würde auch Verse 44f. verdeutlichen: Die Frau war vor Jesus im Haus. Der Zusatz, die Frau sei in der Stadt, müsste dementsprechend auf die Bekanntheit der Frau gedeutet werden. Diese Möglichkeit betont Esposito (Jesus’ Meals, 204): „[…] the text clearly reads that she enters the Pharisee’s house because she knows Jesus is inside. A sinner, in other words, is aware not simply that Jesus is at table, but that he welcomes sinners at a meal. She somehow learns that she will accepted when Jesus is at table. […] The woman realizes, either from listening to Jesus preach or hearing that he welcomes sinners, that she will not be turned away when he is at table (even in a Pharisee’s house), and decides to enter“ (kursiv dort). Wolter: Lk, 292 betont, dass es der Frau „einzig und allein um Jesus“ geht. Daher stattet Lukas „sie darum auch nicht mit den Zügen der sog. „ungeladenen Gäste“ […] aus […], denn anders als diese will die Frau nicht mitessen.“ Auch von Bendemann: Liebe, 167 beurteilt diese Zuschreibung der Frau als „unsicher“ und verweist auf die Männlichkeit dieser ungeladenen Gäste in der antiken Literatur. Ähnlich Oberlinner: Begegnungen, 265: „Die Frau kommt nicht zum Mahl, sondern sie kommt zu Jesus.“ Daher ist die Frage des Textes auch nicht „wer unter welchen Bedingungen am Gastmahl teilnehmen darf – und in diesem Sinne zur Mahlgemeinschaft gehört“ (Leinhäuple-Wilke: Gast, 96), da die Frau gar nicht die Absicht hat, an der Mahlgemeinschaft teilzunehmen. Dementsprechend wird sie von Jesus am Ende auch nicht mit an den Tisch gebeten, sondern entlassen (vgl. Lk 14,6). Allerdings ist es auch nicht unmöglich, dass die Frau Teil der Gäste gewesen sein könnte, nimmt man an, dass Lukas an dieser Stelle an den römischen Kontext denkt: „Von griech. Sitte abweichend konnten jedoch auch Frauen zu den Gästen zählen […], selbst die Ehefrau des Gastgebers und Kinder des Hauses werden als Gäste genannt“, so Binder, Art. Gastmahl. Dieses Detail lässt Lukas allerdings insofern weg, als dass er die Diskussion um das wertvolle Salböl aus Mk 14 nicht übernimmt. Durch die Gegenüberstellung zum normalen Öl bei Simons fehlender Salbung (ἔλαιον; 7,46) ist implizit ein Verweis auf den großen Wert des Salböls eingebracht. Zum Alabastergefäß vgl. Oberlinner: Begegnungen, 266f. und Bovon: Lk I, 390: Es „ist das meistens als Alabaster (Kalksinter) verfertigte henkellose Salbgefäß, nicht einfach ein Glasfläschchen, das man zum Öffnen am Halse abbrach.“
3.5 Jesus wird von einer Sünderin geehrt
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heran „und nimmt damit den Platz ein, der für die Sklaven bestimmt ist.“17 Nun fängt sie weinend an,18 seine Füße mit Tränen zu benetzen, diese mit ihren Haaren abzutrocknen und mit dem mitgebrachten Salböl zu salben. Eine Reaktion Jesu wird nicht geschildert; er scheint zumindest nicht abwehrend reagiert zu haben.19 Die Mehrzahl der Kommentatoren deutet die Handlungen der Frau als erotisch und unterstreichen so ihre Arbeit als Prostituierte, welcher sie möglicherweise nachgeht.20
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Wolter: Lk, 292. Von Bendemann: Liebe, 162 verweist an dieser Stelle auf die weinende Witwe in 7,13, die genauso wie die weinende Frau dieser Perikope eine „weitere Exemplifikation der dritten Seligpreisung“ darstelle. Ob sich hinter dem Weinen Reue (so u. a. Bovon: Lk I, 391 Fn 38: „Ihre Tränen sind Tränen der Reue und nicht Tränen der Trauer“) oder Dankbarkeit (so Schürmann: Lk I, 431) zeigt, ist nicht auszumachen. Oberlinner: Begegnungen, 267–269: „Auch hier, etwa beim Motiv des Weinens, ist keine eindeutige Interpretation möglich.“ Oberlinner betont zudem, dass das Weinen innerhalb der Erzählung Jesus gilt („Er, er allein ist Betroffener“) und dass daher seine Reaktion eine Bewertung des Weinens der Frau ermöglicht: Für Jesus verbinden sich die Handlungen der Frau mit ihrer Liebe zu ihm: Er bewertet sie also explizit positiv, ohne zwischen Reue bzw. Dankbarkeit zu differenzieren. Schottroff hält dem entgegen, dass Reue hier gar keine Rolle spiele, sondern die Frau Jesus „ihre Verehrung, ihren Schmerz und ihre Fähigkeit zu unzensierter Liebe“ zeige, die Jesus als „Geschenk in Gegenseitigkeit“ angenommen habe (vgl. Schottroff: Perspektive, 105). Nach Leinhäupl-Wilke: Gast, 104 beweint die Frau „im Wesentlichen die Ausweglosigkeit ihrer Situation“ als Hetäre in einer „wirtschaftlich desolat[en] Situation“. Ganz anders stellt Melzer-Keller die Frau als reiche Hetäre mit ausgelassenem Lebensstil dar (Jesus, 222). Meines Erachtens kann das Weinen der Frau als dauerhafte Handlung verstanden werden (Partizip-Präsens κλαίουσα). Es wird an keiner Stelle als beendet beschrieben (vgl. dazu Jesu Aufforderung in 7,13) und schon gar nicht in ein Lachen (wie in der Seligpreisung 6,21b ankündigt) verwandelt. Lukas will wohl die emotionale Situation, in der sich die Frau befindet, hervorheben. Ihr kontinuierliches Weinen als spontane Aktion bedeutet also intensive Emotionalität. Das erfahren wir durch die negative Kommentierung durch Simon in Vers 43. Die positive Deutung der Handlungen Jesu folgt darauf in den Versen 44ff. So von Bendemann: Liebe, 162f.; Bovon: Lk I, 389; Schürmann: Lk I, 431; Leinhäupl-Wilke: Gast, 102f.; Schweizer: Lk, 91, Schottroff: Perspektive, 105: „Jesus distanziert sich eben gerade nicht von dem erotischen Handeln der Frau und von ihrer realen Existenz als Prostituierte.“ Für Schottroff ist der Text – entgegen seiner problematischen Auslegungstradition – „ein Hoffnungszeichen für eine feministische Theologie der Sexualität und Sinnlichkeit“ (ebd.). Gegen die Deutung der Sünderin als Prostituierte vgl. vor allem Oberlinner: Begegnungen und Wolter: Lk, 292.
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3 Exegese ausgewählter Perikopen
3.5.3 Lk 7,39–43: Jesu Gleichnis für Simon 39 Als dies der Pharisäer sah, der ihn eingeladen hatte, sagte er zu sich selbst: Wäre dieser ein Prophet, wüsste er, wer und was für eine Frau dies ist, die ihn berührt, denn sie ist eine Sünderin. 40 Und Jesus antwortete und sagte zu ihm: Simon, ich habe dir etwas zu sagen. Er sagte aber: Lehrer, sprich! 41 Zwei Schuldner waren bei einem Geldverleiher. Der eine war 500 Denare schuldig, der andere 50. 42 Als sie es nicht zurückgeben konnten, schenkte er es beiden. Wer also wird ihn mehr lieben? 43 Simon antwortete und sagte: Ich nehme an, dem er mehr geschenkt hat. Er aber antwortete ihm: Du hast richtig geurteilt. Der Pharisäer hält die Frau für eine Sünderin.21 Daraus folgert er: Wäre Jesus ein Prophet, wüsste er, was für eine Frau dies ist und würde Abstand von ihr und ihren Berührungen nehmen. Für einen Propheten ist aus seiner Sicht der Umgang mit so einer Frau nicht möglich.22 Da Jesus nun den sündhaften Status der Frau nicht zu erkennen scheint und sich berühren lässt, muss damit die – wohl vom Gastgeber erhoffte – Zuschreibung Jesu als Prophet fallen gelassen werden. Das wird sofort im folgenden Vers 40 deutlich, wo sowohl der Name des Gastgebers das erste Mal genannt wird, als auch die Anrede Jesu des nun als Simon bezeichneten Pharisäers anders ausfällt. Er spricht Jesus nun, da er ihn nach Vers 39 nicht mehr für einen Propheten halten kann, mit Lehrer (διδάσκαλε23) an. Lukas macht seinen Lesern deutlich, dass Jesus mehr weiß, als der Pharisäer ihm zutraut: Er antwortet (kαὶ ἀποκριθεὶς24) nämlich auf das Gesagte bzw. Gedachte
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Die Beschreibung der Frau als Sünderin durch den Erzähler in Vers 37 wird also durch die Sichtweise eines Anwesenden bestätigt (vgl. Lk 7,47). Nach Schweizer: Lk, 91 liegt das Problem Simons in der „Gewährung von Gemeinschaft“ zwischen Jesus und der Frau. Es wird allerdings zu keiner Zeit deutlich, dass der Pharisäer aktiv gegen die Anwesenheit oder die Handlungen der Frauen eintritt. Simon ist der erste, der Jesus im Lukasevangelium als Lehrer anspricht. Diese, nur von Außenstehenden, nie von den Jüngern, benutzte Bezeichnung findet sich noch in 9,38; 10,25; 11,45; 12,13; 18,18; 19,39, 20,21.28.39; 21,7. Vgl. Wolter: Lk, 293. Wolter verweist hier auf die Übersetzung von hebr. Rabbi, bzw. Rabbuni als bekannte Bezeichnung Jesu mit Verweis auf Joh 1,38; 20,16. Bei beiden johanneischen Stellen sind es aber im Gegensatz zur lukanischen Darstellung explizit Jünger Jesu, die ihn derart ansprechen. Ähnlich auch in 14,3, wo Jesus auf den Wassersüchtigen reagiert, indem er antwortet, ohne dass eine sprachliche Frage gestellt worden wäre. Ausführlich dazu in Kapitel 3.6.
3.5 Jesus wird von einer Sünderin geehrt
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des Pharisäers (in 7,39 spricht er ἐν ἑαυτῷ) und redet ihn gleichzeitig direkt mit seinem Namen Simon25 an.26 In den Versen 41 und 42 erzählt Jesus nun ein kurzes Gleichnis,27 in welchem zwei Schuldner unterschiedlich hohe Schulden haben (50 bzw. 500 Dinare). Beide können ihre Schulden nicht begleichen, 28 bekommen diese aber vom Kreditgeber erlassen.29 Jesus beendet das kurze Gleichnis mit der Frage an Simon, wer denn nun den Kreditgeber mehr lieben werde (πλεῖον ἀγαπήσει).30 Simon 25
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Ab 7,40 wird vom Gastgeber nur noch als Simon gesprochen; auch der Erzähler übernimmt diesen Namen (7,43.44). Die Zuordnung Simons zu den Pharisäern wird nicht mehr erwähnt. Aus dem unbestimmten Pharisäer, der – man könnte fast sagen: qua Amt – eine Antipode zu Jesus darstellen könnte, wird Simon als Individuum, der unabhängig seiner religiösen Zuordnung individuell auf Jesus reagieren und mit ihm interagieren kann. Ab 7,40 wechselt die Benennung der Personen: Aus dem Pharisäer wird Simon und aus dem Propheten wird der Lehrer. Zudem nutzt der Erzähler nun den Namen seines Hauptprotagonisten Jesus wieder, nachdem er – wie oft im Sprachgebrauch der Evangelien – seit Lk 7,9 nur das Personalpronomen (bzw. das Suffix) für Jesus gebraucht, bzw. Jesus als κύριος bezeichnet hat. Die Wiedereinführung des Namens Jesu an dieser Stelle wird somit kaum zufällig sein. Bovon: Lk I, 386 (Fn 5) deutet die Einführung des Namens des Pharisäers: „In den ersten Versen (37–39) beschreibt ihn Lukas als den, der er zu sein glaubt: Herr und Meister; in der Folge wird er aber zum Jünger, Schüler und erhält mit seinem Namen (V 40) auch seine Bestimmung.“ Dieser Deutung folge ich nicht: Zwar kann man festhalten, dass sich der Pharisäer der Sünderin überordnet, aber dass er sich als „Herr und Meister“ sieht, sehe ich keinesfalls im Text angelegt. Denn auch dass Simon zum „Jünger, Schüler“ wird, ließe sich zwar an der Gegenüberstellung zu Jesus als διδάσκαλος festmachen, aber eine Berufungsgeschichte Simons liegt hier ja gerade nicht vor. Ein sehr positives Bild von Simon malt Weinrich: Wer ist dieser?, 364f. Hierbei handelt es sich nach Wolter: Lk, 294 um ein Gleichnis mit dem Ziel einer „paradigmatischen Entscheidung“ (vgl. Mt 21,28–31 und Lk 10,25–37). Von Bendemann: Liebe, 173f. beschreibt Jesu Erzählung hingegen als „das erste ἄνθρωπός-τις-Gleichnis im dritten Evangelium.“ Nach Roose: Rollenwechsel, 532–537 entspricht die Figurenkonstellation dem „,dramatischen Dreieck‘“, bei dem der Gläubiger der Handlungssouverän ist. Die genannten Summen entsprächen hierbei durchaus antiken Gepflogenheiten. Damit ist die Situation beider Schuldner am Ende doch dieselbe: Unabhängig von der Höhe ihrer Schulden sind sie unfähig diese zu begleichen. Dadurch sind sie abhängig vom Geldverleiher, was – hier unausgesprochene – schlimme Folgen haben kann; vgl. die Handlungen des zweiten Knechts in Mt 18,30.34. Von Bendemann: Liebe, 174f. deutet die Bildebene folgendermaßen: Der Geldverleiher „repräsentiert […] als Handlungssouverän Gott“, die „dramatische Hauptfigur“ mit großen Schulden die Frau, während die „dramatische Nebenfigur“ mit wenigen Schulden „von den Lesern zur Figur des Simon in Beziehung gebracht werden [kann]“ (kursiv dort). Nach Roose: Rollenwechsel, 534 ist die „Identifikation des Geldverleihers mit Gott […] im Rahmen der alt- und neutestamentlichen Literatur in Lk 7,42 singulär.“ Sie findet aber später in rabbinischen Texten (ExR 31,91b) statt. Roose erklärt dies mit dem schlechten Leumund von Geldverleihern in der Antike, was eine Übertragung auf Gottes Handeln schwierig machte. Zum historischen Hintergrund des Kreditgeschäfts vgl. Heininger: Metaphorik, 91–94. Nach Wolter: Lk, 294 funktioniert das Gleichnis nur wegen der semantischen Parallelität
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beantwortet dies zurückhaltend (ὑπολαμβάνω),31 aber korrekt (7,43). Das Gleichnis dient der Weiterführung des Gespräches zwischen Jesus und Simon und hat gleichzeitig die Funktion, auf etwas Neues, Unerwartetes hinzuweisen: Das Erlassen großer Schuld(en) ist möglich. Bovon spricht an dieser Stelle von einer neuen Wirklichkeit, die sich Simon „in der Beziehung zwischen Jesus und der Sünderin schon offenbart hat.“32
3.5.4 Lk 7,44–47: Wem wenig vergeben wird, der liebt wenig 44 Und er wandte sich zu der Frau und sagte zu Simon: Siehst Du diese Frau? Ich kam in dein Haus, du hast mir kein Wasser für meine Füße gegeben; diese aber benetzte meine Füße mit Tränen und trocknete sie mit ihren Haaren. 45 Einen Kuss hast du mir nicht gegeben, diese aber hörte nicht auf meine Füße zu küssen, seit ich hereinkam.33 46 Mit Öl hast du mein Haupt nicht gesalbt, diese aber salbte mit Salböl meine Füße. 47 Deshalb sage ich dir: Ihre vielen Sünden sind ihr vergeben, denn sie hat viel geliebt. Wem wenig vergeben wird, liebt wenig. Nachdem der Blick der Erzählung die Frau für einen Moment ignoriert hat, kommt sie nun wieder ins Zentrum. Sie wird in den nachfolgenden Versen dem Gastgeber gegenübergestellt. Dies geschieht in drei Schritten (Verse 44–46). Bei der ersten Gegenüberstellung stellt Jesus fest, Simon habe ihm kein Wasser für seine Füße gegeben,34 als er in sein Haus kam, während die Frau seine Füße sogar mit Tränen benetzte (τοῖς δάκρυσιν ἔβρεξέν μου) und mit den Haaren trocknete. Auch einen Kuss zur Begrüßung hat Jesus nicht von Simon bekommen, während die Frau nicht aufhörte seine Füße zu küssen, seit er hereinkam.35 Als drittes wird
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zwischen Geldschuld und moralischer Schuld, die begrifflich nicht unterschieden wurde. Vgl. auch Mt 18,23–35. Ähnlich Bovon: Lk I, 393. Bovon: Lk I, 386.393 deutet die Zurückhaltung Simons bei der Antwort negativ („fast widerwillig“; „unwillig gibt der Pharisäer zu“). Bovon: Lk I, 393 (kursiv dort). Eine andere Möglichkeit bieten eine kleinere Zahl von Handschriften: Sie lesen statt εἰσῆλθον εἰσῆλθεν: L, f13, lat usw. Hofius: Fußwaschung, 171–177 übersetzt Vers 47a mit Hinweis auf Num 19,17LXX, Ez 24,8LXX mit: „Du hast mir kein Wasser über meine Füße gegossen“ und versteht es im Sinne von: „Du hast mir nicht die Füße gewaschen“. Er betont also, dass Simon nicht nur das Waschen der Füße hätte ermöglichen, sondern selbst durchführen sollen. Das εἰσῆλθον macht auf den ersten Blick insofern Schwierigkeiten, da Jesus nach Vers 37 vor der Frau im Haus gewesen sein müsste. Allerdings wird von der Frau gar nicht gesagt,
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in Vers 46 die Salbung erwähnt. Simon hatte Jesus nicht mit Öl (ἔλαιον) das Haupt gesalbt, während die Frau sogar die Füße Jesu mit Salböl (μύρον 36) salbte.37 Diese drei Gegenüberstellungen, bei denen die Taten der Frau besonders positiv beurteilt werden, bleiben nicht folgenlos. In 7,47 sagt Jesus, dass der Frau ihre vielen Sünden vergeben werden, weil sie viel geliebt (ἠγάπησεν πολύ) habe,38 während der, dem wenig vergeben wird, wenig geliebt habe.39 Dies widerspricht der Intention des Gleichnisses, welches ja die Vergebung der (Geld-) Schuld der Liebe voranstellt. Da Lukas keinerlei Hinweise auf ein vorheriges Aufeinandertreffen von Jesus und der Frau anbringt, gehen innerhalb der Erzählung die Liebestaten der Frau der Vergebung ihrer Sünden voran, „denn erst jetzt [in Vers 48] erfährt die Frau von der Vergebung ihrer Sünden.“40
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dass sie ins Haus hineingegangen ist. 7,37 (ἐπιγνοῦσα) macht nur deutlich, dass sie mitbekam, dass Jesus im Haus ist. Will Lukas andeuten, sie sei von vornherein da gewesen, gehöre vielleicht zum Hauspersonal? Damit wäre natürlich auch kein Einschreiten Simons gegen ihre Anwesenheit zu erwarten, wie es ja auch nicht geschieht. Schweizer: Lk, 91f. sieht hier „die lange Dauer ihres Dienstes“ betont. Das würde auch erklären, warum sie ein Gefäß mit Myrrhe spontan zu Verfügung hat: Es gehörte zum Inventar des Hauses. Von Bendemann: Liebe, 169 verweist auf die in antiker Literatur häufige Verbindung von ἀλάβαστρον μύρου mit Prostituierten. Vielleicht stammt der Begriff auch einfach aus der Vorlage Mk 14,3. Lk 23,56 spricht von Salben und Myhrre (ἀρώματα καὶ μύρα, in 24,1 nur ἀρώματα) als Mittel für die Salbung Jesu, die dann nicht mehr durchgeführt werden kann. Nach Wolter: Lk, 295 handelt es sich hier um eine Gegenüberstellung von „billigem Olivenöl“ und „teurem Duftöl“ (Kursivierung gelöscht). Eckstein konstatiert: „Wie inzwischen fast durchgängig erkannt wird, bezeichnet das kontroverstheologische ὅτι im Einklang mit der vorangegangenen Erzählung (V. 36–39), dem Gleichnis (V. 40–43) und seiner Deutung (V. 44–46) den ‚Erkenntnisgrund‘ […], nicht aber den ‚Realgrund‘“ (Anthropologie, 72). Dagegen sieht Bovon: Lk I, 394 hier gar nicht „die theologische Frage des initium fidei“ von Lukas gestellt. Aus seiner Sicht „sind beide, Gott und Mensch, in der Versöhnung tätig; auch wenn die Liebe Gottes das Zentrum seiner Botschaft ist, stellt er immer wieder die menschliche Verantwortung in den Vordergrund.“ Gegen Eckstein auch Schottroff: Liebende, 321; Wolter: Lk, 296: „Obwohl diese Interpretation sprachlich durchaus möglich ist […], wird sie durch V. 48 unmöglich gemacht, denn erst jetzt erfährt die Frau von der Vergebung ihrer Sünden.“ Melzer-Keller: Jesus, 217 (Fn 137) bewertet das Verständnis des ὅτι als Erkenntnisgrund „konstruierte[n] Lösungsversuch“, der „dem unbedingten Bedürfnis nach Harmonisierung“ entspringe. Aus ihrer Perspektive unterläuft Lukas „bei der Deutung von Vers 47 zudem ein expliziter Fehler“ (ebd.). Dass damit Simon gemeint sein soll, liegt auf der Hand, wird aber nicht ausgeführt. Gegen Wolter: Lk, 296, der behauptet: „Dass Lukas diese Feststellung auf den Pharisäer gemünzt wissen wollte, ist eher unwahrscheinlich.“ Allerdings betont auch Wolter, dass die „Erzählung […] die Differenz zwischen der Frau und dem Pharisäer [inszeniere]“ (Wolter: Lk, 297). Melzer-Keller: Jesus, 217 sieht Simon nicht als den geringeren Schuldner gekennzeichnet: „von einer Vergebung nur weniger Sünden kann bei ihm jedoch keine Rede sein.“ Wolter: Lk, 296. Wolter löst die Uneinheitlichkeit des Aufeinanderfolgens von Liebestat und Sündenvergebung überlieferungsgeschichtlich, „weil Lukas zwei verschiedene Traditionen ineinander gearbeitet habe oder eine ihm vorliegende Überlieferung ergänzt
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3.5.5 Lk 7,48–50: Wer ist dieser? 48 Er sagte aber zu ihr: Deine Sünden sind dir vergeben. 49 Und es begannen, die dabei gelegen hatten, zu sich selbst zu sagen: Wer ist dieser, der sogar Sünden vergibt? 50 Er aber sagte zu der Frau: Dein Glaube hat dich gerettet. Gehe in Frieden. In 7,48 wird nun erstmals die Frau direkt angesprochen, indem Jesus ihr die vorher indirekt zugesprochene Vergebung explizit zuspricht. Allerdings bleibt die Frau auch an dieser Stelle stumm; keine Reaktion wird durch den Erzähler berichtet. Dafür taucht nun unvermittelt eine weitere Gruppe von Menschen auf, die das bisherige Geschehen verfolgt haben, weil sie mit am Tisch gewesen sind. Diese beginnen sich die Frage zu stellen, ebenso wie der Pharisäer im Selbstgespräch (λέγειν ἐν ἑαυτοῖς), wer denn dieser sei, der sogar Sünden vergibt.41 Damit erinnert Lukas fast wortgleich an die Diskussion nach der Heilung des Gelähmten in Lk 5,17–26, mit dem Unterschied, dass der Vorwurf der Gotteslästerung aus 5,21 hier nicht wieder aufgenommen wird. Nach diesem Einschub wird in Vers 50 die Ansprache Jesu zu der Frau fortgeführt.42 Ähnlich wie bei Heilungsgeschichten43 sagt Jesus, der Glaube bzw. das Vertrauen (πίστις) der Frau habe
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habe […]. Es sieht in der Tat so aus, dass die Spannung nicht anders zu erklären ist.“ Von Bendemann: Liebe, 178 hingegen löst das Problem, indem er auf die Sicht der Leser verweist: „Er setzt die lukanische ‚interpretatio christiana‘ voraus“ und macht die Frau „somit zum exemplum christlich verstandener ἀγάπη.“ Zudem verstehe sich die Verbindung von Glaube und Rettung erst durch den (deutero-) paulinischen Sprachgebrauch (mit Beispielen aus Röm 10,9; Eph 2,1–5 und Kol 1,13f.). Allerdings kann auch von Bendemann nicht deutlich machen, inwiefern eine temporale oder kausale Verknüpfung von Glaube und Rettung für Lukas zu behaupten ist. Für Michael Weinrich: Wer ist dieser?, 363 ist die Frage: Wer ist dieser? „die Schlüsselfrage des ganzen Neuen Testaments“. Dies erfolgt ohne direkte Anknüpfung an die Verwunderung der Dabeiliegenden, könnte aber parallel zu Lk 5,22f. als Reaktion Jesu gedeutet werden. Vgl. Wolter: Lk, 297, der betont, dass die Anwesenden dieser Perikope und die Pharisäer und Schriftgelehrten aus Lk 5,21 von Lukas „in dieselbe Schublade“ gesteckt werden. Der Einschub der Dabeiliegenden könnte als Abschluss der Geschichte dienen, unterbricht aber nur die Rede Jesu zu der Frau, die in Vers 50 fortgesetzt wird. Vgl. hierzu Lk 5,17–26. Bei dieser Erzählung steht die Reaktion aller Anwesenden (ἅπαντας) am Ende der Geschichte, die einige Berührungspunkte mit unserer Perikope hat. So geht es auch in Lk 5 um die Frage der Sündenvergebung, die hier dem Menschensohn (5,24) zugesprochen wird. Und auch hier kennt Jesus die Gedanken der Menschen und reagiert auf sie (5,22), die genauso fragen, wer denn dieser Jesus sei (mit den gleichen Worten in leicht variierter Reihenfolge). Lukas verdeutlicht also anhand einer zweiten Erzählung, dass die Frage nach Jesus und seiner Sündenvergebungskompetenz keine einmalige, sondern eine dauerhafte Diskussion hervorbringt. Vgl. dazu die Aufzählung bei Wolter: Lk, 297. Eine nahe Verbindung ergibt sich wiederum zu Lk 5,20f.
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sie gerettet. Die Geschichte endet damit, dass Jesus sagt, sie solle in Frieden gehen.44 Simon wird nicht mehr erwähnt, er verschwindet nach Vers 47 aus der Geschichte, die nun mit der Entlassung der Frau in Frieden45 und ohne weitere Anweisung46 endet.47
3.5.6 Narrative Ritualanalyse Aus ritualwissenschaftlicher Sicht lassen sich mehrere Ebenen innerhalb der Erzählung unterscheiden, die das Beziehungsgefüge zwischen Jesus, der Frau und Simon sowie den Dabeiliegenden erhellen können: (1) Inwiefern stellt die Ansprache bzw. Benennung der Personen Hinweise auf die hierarchische Ordnung dar? (2) Wie verhält es sich mit den Handlungen der Frau und den Nicht-Handlungen Simons, die Jesus in den Versen 44–47 gegenüberstellt? (3) Inwiefern spielt dabei die zu Textbeginn vorausgesetzte Mahlsituation eine Rolle? (1) Zuerst soll das auffällige Wechselspiel bei der Benennung der Personen beschrieben werden. Während die Frau die ganze Geschichte über wort- und namenlos48 bleibt und somit nur durch ihre Handlungen kommuniziert, variiert sowohl bei Jesus als Gast als auch beim Gastgeber Simon die Benennung. In Vers 40 wird klar, dass der Pharisäer Jesus für einen Propheten gehalten hat – womöglich hat er ihn deswegen in sein Haus eingeladen – und er diese Beurteilung anhand der Interaktion Jesu mit der Frau als falsifiziert betrachtet.49 Wichtig ist
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Lukas lässt Jesus die Verbindung von Glauben und Rettung mehrfach wiederholen, vgl. Lk 8,48 (Heilung der blutflüssigen Frau), 17,19 (Heilung der zehn Aussätzigen) und 18,42 (Blindenheilung). Beachtenswert ist, dass den weiteren Nennungen jeweils Heilungen von körperlichen Gebrechen vorangehen, während in Lk 7,50 die Liebestätigkeit der Frau ihren Glauben zeigt. Frieden (εἰρήνη) ist symptomatisch das letzte Wort der Erzählung. Bezeichnenderweise erfolgt keine Anweisung Jesu an die Frau, wie sie sich künftig zu verhalten habe. Schottroff: Liebende, 315 kommt daher zu dem Schluss: „Der Jesus dieser Geschichte fürchtet die Verunreinigung nicht und erwartet von den Huren keine Aufgabe ihres Hurenlebens als Folge der Gottesvergebung.“ In Folge des im Hintergrund stehenden Mahlkontextes bedeutet die Entlassung der Frau, dass Jesus nicht mit ihr isst, auch wenn dies außerhalb des Fokus des Erzählers liegt. Für das ganze Evangelium ist festzustellen: „None of Luke’s meal scenes depict women at table with Jesus“ (Esposito: Jesus’ Meals, 205). Direkt in der nachfolgenden Perikope Lk 8,1–3 nennt Lukas eine Reihe von Frauen beim Namen, die Jesus nachgefolgt sind und ihm gedient haben. Lukas hat also Frauen gesondert im Blick, die Namenslosigkeit der Frau unserer Perikope allein als Übernahme aus Mk 14 zu deuten, ist daher kaum möglich. Das ist insbesondere daher interessant, da die Rede Jesu, die direkt vor der hier besprochenen Perikope steht, schon die Frage nach dem Propheten-Sein Johannes des Täufers stellt. Jesus nennt ihn mehr als einen Propheten (7,26). Zudem stellt er in 7,33f den Täufer dem Menschensohn gegenüber. Beide werden aufgrund ihrer Handlungen von den Men-
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hier aus der Sicht Simons die scheinbare Unwissenheit Jesu, der daher den körperlichen Kontakt nicht unterbindet. Für den Leser hingegen ist der Status der Frau sowohl aus der Einleitung des Erzählers als auch aus den Gedanken des Pharisäers bekannt. Hinzu kommt die Einordnung, die Frau sei ἐν τῇ πόλει gewesen. Meint dies, sie sei eine „stadtbekannte Sünderin“50 und daher allen bekannt? Dies wäre problematisch, da Simon anscheinend nicht davon ausgeht, dass jeder ihren Status als Sünderin sofort erkennt, denn dann bräuchte es ja gerade keine prophetischen Fähigkeiten, die er Jesus abspricht, um den Status der Frau auszumachen. Den Bezug auf durch Jesus nicht anerkannte Reinheitsvorschriften51 – im Sinne von: Ein Prophet darf keinen Umgang mit einer Sünderin haben – ist besonders von Lk 7,34 her möglich. Dann bliebe aber fraglich, warum Lukas explizit das Wissen Jesu über die vielen Sünden (7,47.48) der Frau betont. Die Einordnung Jesu als Prophet scheint nicht die richtige Kategorie zur Beschreibung Jesu aus Sicht des Pharisäers Simon zu sein. Die zweite Zuschreibung durch Simon erfolgt direkt anschließend in Vers 40. Hier spricht Simon Jesus nun mit Lehrer an. Wenn er schon kein Prophet ist, so scheint Lehrer ihm hier als angemessene Benennung zu gelten. Auch diese Rolle erfüllt Jesus nur zum Teil. So spricht er zwar ein lehrhaftes Gleichnis, verbindet dieses aber mit der Vergebung der Sünden der Frau. Dies wiederum bringt die Dabeiliegenden zu der Frage, die sich meines Erachtens als Hauptfrage dieser Perikope erkennen lässt: Wer ist dieser? Anders ausgedrückt: Wieso hat Jesus – ritualwissenschaftlich ausgedrückt – die Agency, so zu handeln, wie er handelt? Folgt man der Definition von William Sax, der Agency als Veränderungsfähigkeit definiert,52 parallelisiert der Pharisäer die Möglichkeiten der Handlungen Jesu mit seiner Zuschreibung: Als Prophet hätte er prophetische Agency, als Lehrer lehrende Agency. Beides ist auf besondere Art und Weise in dieser Perikope erfüllt, aber es grenzt Jesu Handlungen nicht ein: Denn die der Frau zugesprochene
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schen beurteilt. Johannes wird wegen seiner Nahrungsverweigerung als besessen beschrieben, der Menschensohn (hier als Umschreibung für Jesus selbst) dagegen als Freund der Zöllner und Sünder. Besonders letzteres ist hier als Folie vor unserer Perikope interessant, weil Jesus sich in 7,36–50 wirklich als Freund der Sünder bzw. einer Sünderin zeigt. Von Bendemann: Liebe, 171f. verweist an dieser Stelle auf die Rolle Jesu als Prophet, die sich im dritten Evangelium als „Prophetenchristologie“ zeige. Allerdings „widersetzt sich [das lukanische Werk] jedoch als ganzes einer Durchsystematisierung unter dem Vorzeichen einer Prophetenchristologie.“ Anders gesagt: Jesus ist trotz der vielfältigen Prophetenbezüge im dritten Evangelium eben nicht nur Prophet. Insofern ist dem Pharisäer Simon hier auf eine Art zuzustimmen. So mit vielen anderen Schürmann: Lk I, 431: Die Frau ist eine „stadtbekannte Sünderin.“ Ähnlich von Bendemann: Liebe, 171–173. William Sax: „Agency ist die Fähigkeit, Veränderungen in der Welt zu bewirken/herbeizuführen (materiell und sozial).“ Vgl. dazu Kapitel 3.11.1 dieser Arbeit.
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Sündenvergebung geht weit über die Agency von Propheten und Lehrern hinaus, sodass dieser Sprachgebrauch scheitern muss.53 Die Agency Jesu ist somit Teil der Antwort auf die Frage nach seiner Person. Bis hierher ist festzuhalten: Der Erzähler variiert die Benennung der Akteure und weist so schon auf die Problematik der Einordnung Jesu als Prophet, Lehrer oder Sündenvergeber hin. Noch deutlicher wird dieser Zusammenhang, wenn man versucht, die gerade beschriebenen Aspekte mit Hilfe der Ritualtheorie von Albert Bergesen zu deuten. Mit welchem Namen (Jesus, Simon, Frau) bzw. mit welchem Titel (Prophet, Lehrer) die handelnden Personen beschrieben werden, ist offensichtlich nicht zufällig, sondern dezidierte Wahl des Evangelisten. Dieser weist auf diese Weise auf den Status der Akteure innerhalb einer Perikope hin: Dabei wechselt mit der Benennung auch der Status der angesprochenen Personen, wodurch sich innerhalb der Erzählung eine sprachliche und damit statusbezogene Dynamik entfalten kann, da nach Bergesen die Sprache als Mikroritual die Kommunikation zwischen Individuen innerhalb einer Gesellschaft als Sprachgemeinschaft ermöglicht. Nur wenn die gleichen Sprachcodes genutzt werden, kann Verständigung erreicht werden. Zu erinnern sei hier an die Überlegungen Durkheims, die Bergesen in seiner Theorie mit aufnimmt: Ein Subjekt kann sich nur ausdrücken, wenn es die gleichen Sprachcodes wie die Gemeinschaft, in der es sich ausdrücken will, benutzt. Dies bedeutet, dass auch Kritik an einer Gemeinschaft linguistisch nur sinnvoll durch die Nutzung – oder in diesem Fall: Uminterpretation – der gleichen Sprachcodes54 funktionieren kann. Genau das versucht Lukas hier zu zeigen: Jesus ist mehr als ein Prophet und mehr als ein Lehrer, obwohl sein Wirken auch als prophetisch oder lehrend beschrieben werden kann. Der Pharisäer Simon kann dies allerdings nicht erkennen und bleibt Jesus daher die Anerkennung als vom Geist Gottes Gesalbter (4,18!55) schuldig. Auch die Frau und die fragenden Dabeiliegenden helfen bei der Frage nach der Benennung nicht weiter: Die Frau
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Wolter: Lk, 293 verweist auf die Ironie des Lukas, „denn die Leser wissen natürlich, dass der Pharisäer Recht hat“, Jesus also kein Prophet, sondern „authentische[r] Repräsentant von Gottes heilvoller Gegenwart in Israel“ ist. Vgl. auch F. Mußner, Die Gemeinde des Lukasprologs, 128, der den Wechsel vom Hochgriechisch des Lukasprologs in „synoptische Sprache“ nicht als Rückfall oder gar als Dilletantismus (F. Overbeck) beschreibt, sondern erkennt, dass der Autor sich selbst an den „schon längst festgelegten Soziolekt“ der Jesusüberlieferung gebunden sieht. Damit teilt Simon das Schicksal der Einwohner Nazareths. Auch diese ordnen Jesus fälschlicherweise als Sohn Josefs, und damit mit ihnen auf einer Ebene stehend, ein (4,22; vgl. Kapitel 3.4). Dies wiederum erinnert an die Eltern Jesu, die den ihnen verloren gegangenen Zwölfjährigen zuerst bei Verwandten und Bekannten suchen, nicht im Tempel, wo Jesus sein muss (2,44.49; vgl. Kapitel 3.2). Auch die Emmausjünger gehen mit ihrer Einordnung Jesu als Propheten, der Israel (von den Römern) erlösen wird, fehl und müssen durch den Auferstandenen selbst mithilfe der Schrift verbessert werden (24,19ff.26f.; vgl. Kapitel 3.8).
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spricht Jesus überhaupt nicht an; die Dabeiliegenden stellen sich nur selbst (vermittelt durch den Autor aber auch dem Leser) die Frage: Wer ist dieser, der sogar Sünden vergibt? Anscheinend ist die besondere Veränderungsvollmacht (Agency) Jesu auf die Vergebung der Sünden bzw. auf den Zuspruch dieser ausgeweitet. Abschließend lässt sich sagen, dass die Frage „Wer ist dieser?“ sprachlich nicht beantwortet wird. Die Zuschreibungen Simons, Jesus als Prophet oder Lehrer zu verstehen, scheitert und die Frau bleibt stumm. Dafür ‚spricht‘ sie mit ihren Handlungen, die im Folgenden untersucht werden sollen. (2) Neben der Sprache stehen besonders die Handlungen der Frau bzw. die diesen gegenübergestellten fehlenden Handlungen Simons im Mittelpunkt der Erzählung. In der Forschung wird dabei kontrovers diskutiert, ob an dieser Stelle die Handlungen der Frau bzw. Simons als Gastgeberrituale zu verstehen oder auf einem anderen Hintergrund einzuordnen sind. Ein Hauptbefürworter der Gastgeberritualthese ist Francois Bovon,56 der dabei auf Jülicher57 und Schürmann58 verweist. Allerdings ist Otfried Hofius59Recht zu geben, denn er macht – in gegenteiliger Position zu Bovon – klar, dass aus jüdischer Perspektive die dargestellten Handlungen keinesfalls als Gastgeberrituale zu verstehen sind und auch keine Vergleichstexte aus dem jüdisch-antiken Kontext der allgemeinen Mahlbräuche bekannt sind.60
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Bovon: Lk I, 391: „Gesalbt wurden in Israel rituell der König, der Priester oder der Prophet, während die Salbung des Kopfes auch zu den damaligen Empfangsriten, ja sogar zur täglichen Körperpflege gehörte.“ Dementsprechend ist das Weglassen der Rituale durch Simon ein Hinweis auf die ambivalente Wertung von Jesus durch Simon: „Dieser Mangel an Höflichkeitsgesten, die für ausgewählte Gäste und besondere Gelegenheiten reserviert bleiben, spiegeln eine innere Verachtung oder einen Zweifel an der Größe Jesu (vgl. V 39)“ (394). Jülicher: Gleichnisreden II, 296f. Jülicher selbst ist zumindest beim Salben des Hauptes durch den Gastgeber sehr skeptisch: „dass der Wirt derartiges [das Salben des Hauptes der Gäste bei einem Fest] bei seine Gästen zu thun pflegte, ist eine abenteuerliche Idee.“ Schürmann (Lk I, 435 [Fn 32]) widerspricht Bovons These: „Der Brauch, einen geladenen Gast durch Kuß zu begrüßen, ist durch die von Billerbeck II, 595f gesammelten Stellen nicht bezeugt, im Gegenteil wird es durch die dort aufgeführten Beispiele eher unwahrscheinlich.“ Und Fn 34: „Auch solche Salbung war keinesfalls Pflicht des Hausherrn gegenüber einem zum Mahle geladenen Gast.“ Hofius: Fußwaschung, 176. Gegen die Deutung der fehlenden Handlungen Simons als Gastgeberriten wenden sich u. a.: Eckstein: Anthropologie, 74 und von Bendemann: Liebe, 176ff. Hofius: Fußwaschung, 174–175 gibt als mögliche Vergleichspunkte Stellen aus TestAbr, JosAs sowie einen „rabbinischen Midrasch zu den Sprüchen Salomos“ an. Alle drei haben gemeinsam, dass sie „keineswegs Ausdruck besonderer Gastfreundschaft, sondern die Bekundung tiefer Liebe“ darstellen (so Hofius [ebd.] zu JosAs).
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Weitet man allerdings den Blick bis in die römische Praxis, so zeigen besonders Matthias Klinghardt61 und Andreas Leinhäupl-Wilke62 (in Anschluss an die Lexikonartikel zum Convivium von A. Mau63 und G. Binder64), dass Reinigung, Fußwaschung und Salbung durchaus zum Kontext des gemeinschaftlichen Mahls in römischer Zeit und Umwelt gehören können. Nimmt man nun also an, dass Lukas besonders für ein römisches bzw. ein durch römische Sitten beeinflusstes Publikum65 schreibt, sind die Aktionen der Frau bzw. Simons durchaus im Kontext des Gastgeberrituals zu verstehen. Doch schon der Text selbst lässt durchaus die Deutung der Handlungen als Gastgeberritual aus Sicht des Lukas zu: Der Erzähler betont die Einladung Jesu durch den Pharisäer (7,36.39), er wird also eindeutig als Gastgeber, in dessen Haus (7,44: εἰσῆλθόν σου εἰς τὴν οἰκίαν) Jesus gekommen ist, vorgestellt.66
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Für die römische Sitte stellt Klinghardt fest: „Das abendliche Mahl beginnt mit Reinigung und der dazugehörigen Salbung bzw. Massage.“ Und diese Reinigung hatte nicht nur praktische Gründe, sondern auch rituelle: „Der rituelle Sinn der Reinigung zu Beginn legt sich auch nahe, wenn die Mahlteilnehmer […] direkt aus dem Bad zu Tafel kommen“ (Klinghardt: Gemeinschaftsmahl, 48). Das Waschen der Füße als Teil der „antiken Mahlkonzeption“ nennt Leinhäupl-Wilke: Gast, 96. A. Mau: Art. Convivium, 1201–1208: „Denn dem Kommenden werden zunächst die Sandalen abgenommen, ὑπολύειν Plat. symp. 213 b, und die Füsse gewaschen; dann erst legt er sich auf die Kline, vorher sitzt er.“ Dafür waren wohl eigene Sklaven zuständig: „Zum Abnehmen und Bewahren der Sandalen brachte man einen Sclaven mit, der während des C. an der Rückseite des Lectus, ad pedes, stand oder sass.“ Binder: Art. Gastmahl (III. Rom). Bovon: Lk I, 23: „Rom ist [als Abfassungsort] immer noch die nächstliegende Möglichkeit“ und Lukas möchte „die Angst der Römer vor der christlichen Mission beschwichtigen“ (ebd.). Kritik zu einer allzu genauen Eingrenzung der Zielgruppe bei Wolter: Lk, 22–26. Zur Diskussion um die Abfassung des luk. Doppelwerkes vgl. von Lips: Rom, 345–358, der für Ephesus votiert. Aber auch in den Städten Kleinasiens ist mit römischem Einfluss auf die Mahlpraxis zu rechnen. Nach Wolter: Lk, 295 will Lukas dem Pharisäer „durchaus nicht ein Versäumnis seiner Gastgeberpflichten vorwerfen.“ Es ginge Lukas auch nicht um die Tadelung Simons, sondern um die besonderen Handlungen der Frau. Wie damit nicht gleichzeitig der Tadel des Pharisäers verbunden sein kann, sehe ich nicht. Später spricht Wolter von „Bekenntnishandlungen“ (297). Von Bendemann: Liebe, 176ff. betont, dass alle drei Handlungen nicht als fehlende Gastfreundschaft zu verstehen sind, denn sie werden von vornherein mit der christlichen (Leser-)Perspektive der Liebeshandlungen an Jesus verbunden: Fußwaschung und Liebe gehören zusammen; der Kuss lasse an den „heiligen Bruderkuss“ der frühchristlichen Gemeinde denken; schließlich ist beim fehlenden Salben des Hauptes durch Simon ein „christologischer Oberton“ vernehmbar. Das Problem an dieser Deutung ergibt sich aus der Frage, welche Handlungen für den Leser nachahmenswert sein sollen. Auf Ebene der Erzählung sind dies explizit die Handlungen der Frau (so auch von Bendemann: „Der lukanische Jesus stellt die Handlungen der Frau in ein neues Bezugssystem“ [177]). Von Bendemann interpretiert hingegen die zweite und dritte (Nicht-)Handlung Simons als eigent-
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Zusammengefasst: Aus jüdischen Quellen lässt sich kein eindeutiger Bezug auf ein Verständnis der Handlungen als Gastgeberrituale ausmachen. Nimmt man hingegen den römischen Kontext der lukanischen Zielgruppe mit in den Blick, öffnet sich diese Perspektive neu im besonderen Fokus einer potentiellen Leserorientierung des Lukas. Doch unabhängig davon, wie man sich hier entscheidet, liegt der Fokus deutlich auf der Frage, wie die Handlungen der Personen mit Jesus in Verbindung stehen und zwar als eine besondere Anerkennung seiner Person als Gesandter Gottes im Sinne von Lk 4,17ff.67 Dies wird unterstützt durch die zweite Ebene der Ritualhierarchie bei Bergesen. Diese beschreibt interpersonale Handlungen als Rituale des Benehmens bzw. der Ehrerbietung.68 Hier bietet es sich an, besonders die Verse 44–46 zu betrachten. Simon wird offenbar das Auslassen von Ritualen der Ehrerbietung vorgeworfen, während die Frau diese Rituale übererfüllt und damit von einer (gesellschaftlichen) Randfigur in den Mittelpunkt der Erzählung gerückt wird, denn in der Übererfüllung der ehrerbietenden Rituale zeigt sich nach Jesu Aussage in Vers 47 ihre besondere Liebe, während das Auslassen weniger wertvoller Rituale durch Simon seine nicht geübte Liebe aus Sicht Jesu bezeugt. Die Vergebung ihrer vielen Sünden wird mit der Liebestätigkeit der Frau verknüpft. Jesus verallgemeinert daraus, dass dem, der wenig liebt, auch wenig vergeben worden ist (ἀφέωνται).69 Hier spiegelt sich auch das kurze Gleichnis wider, welches größere Liebe mit größerem Schulderlass verknüpft. Wolter schlussfolgert: „Der Erlass von großen Schulden kann große Distanz in große Nähe verwandeln.“70 Dementsprechend ist die Rüge gegenüber Simon eindeutig: Er hat nicht einfach weniger liebevoll an Jesus gehandelt, „er hat vielmehr überhaupt nichts getan.“71 Diese
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liche christliche Handlung („christologischer Oberton“). Dabei verbinden sich doch gerade die über das normale (wenn auch in der Auslegung von Bendemanns schon frühchristlich-gemeindliche) hinausgehende Handlungen der Frau mit der Vergebung ihrer vielen Sünden (7,47) und sind daher als Ideal auch für den Leser erkennbar. Zu den Verbindungslinien zwischen der Antrittspredigt in Nazareth und der vorliegenden Perikope vgl. Esposito: Jesus’ Meals, 149–151 und Kapitel 3.4 dieser Arbeit. Vgl. Kapitel 2.3.9 dieser Arbeit. Weinrich: Wer ist dieser?, 367: „Das Maß der Dankbarkeit bemisst sich am Bewusstsein des Maßes der Angewiesenheit auf Gott. Gewiss sind alle auf die Vergebung angewiesen und dennoch kann die Wahrnehmung des bisherigen Getrenntseins von Gott sehr unterschiedlich ausfallen. Die Realisierung der Größe der abgenommenen Last hängt von der Wahrnehmung der Relevanz der Vergebung ab – nicht umgekehrt.“ Wolter: Lk, 294 (kursiv dort). Wolter: Lk, 295 (kursiv dort). Ebenso Hofius: „Die Verse 44–46 zeichnen demnach nicht den Kontrast von geringer Liebe und großer Liebe, sondern sie stellen dem Fehlen jedes Liebesbeweises und damit dem Fehlen der Liebe selbst den überschwänglichen Erweis tiefer Liebe gegenüber“ (Hofius: Fußwaschung, 176). Die Erzählung ist allerdings nicht als generelle Abqualifizierung Simons oder gar der Pharisäer allgemein zu verstehen: Allein durch die Nennung des individuellen Names des Pharisäers (nur hier im Lk!) wird er „ausdrücklich als Einzelperson“ gewürdigt (Oberlinner: Begegnungen, 260). Warum er „holzschnittartig“ dargestellt sein soll, wie Schottroff: Perspektive, 101 behauptet, erschließt sich mir
3.5 Jesus wird von einer Sünderin geehrt
157
Schlussfolgerung ist allerdings insofern verkürzt, als dass Simon durch die Einladung Jesu in sein Haus natürlich doch etwas getan, es aber bei diesem ersten Schritt belassen hat, während die Frau im besseren Verständnis Jesu die Gastgeberrituale durchführt und diese sogar durch Tränen und die Nutzung ihrer Haare deutlich überspitzt, da dies den großen Sünden, die sie mit sich trägt, entspricht. Nach Bergesen zeigt sich in den Riten der Interaktion besonders deutlich die Stellung der beteiligten Personen in der gesellschaftlichen Ordnung. Dabei entspricht die Ordnung innerhalb des Rituals der Ordnung außerhalb des Rituals.72 In dieser Perikope steht aus Sicht des Evangelisten Jesus ganz oben. Ihm gebührt eine besondere Behandlung, die sich in den als Rituale zu verstehenden Gesten, die ihn ehren sollen, ausdrücken müsste.73 Dass Simon diese Rituale nicht vollzieht, bringt ihm hier deutliche Kritik ein, während die Frau, die er als Sünderin erkennt, für ihre Handlungen gelobt wird. Sie erfüllt also auf der Ebene der Mesoriten ihre Rolle gemäß ihrer Stellung in der dargestellten bzw. vorgestellten Gesellschaft.74 Sie hat einen niedrigeren Status als Jesus und vollzieht dementsprechend ihre Handlungen ihm gegenüber als besondere Handlungen der Ehrerbietung, während Simon dies nicht tut.75 Alle drei Handlungen, die Simon nicht durchgeführt hat, werden jeweils durch die Handlungen der Frau überboten,76 die nicht nur wertvollere Mittel nutzt (Tränen statt Wasser; Myrrhe statt Öl), sondern auch statt des Hauptes die Füße Jesu küsst und salbt. Dabei betont die Einbindung der Füße Jesu die Besonderheit der rituellen Handlungen der Frau. Diese müssten ‚normalerweise‘ am Haupt vollzogen werden, sie aber nimmt die Füße. Schon Jülicher betont: „Jesus will dem Pharisäer nicht sagen: Du hast Deine Pflicht, sogar die Höflichkeit gegen mich verletzt, sondern nur: Gelegenheit zu besonderen Liebesbeweisen habe ich
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nicht. Für sie ist mit Simon ein „Repräsentant von Pharisäern und von falschem (unjesuanischem) Verhalten dargestellt.“ Dementsprechend sei der Text schon im Lukasevangelium so zu verstehen, dass „der Beginn eines Antijudaismus“ vorliege, so Schottroff: Liebende, 311. Diese Problematik zeigt sich auch in Lk 4,16–30, wo der Status Jesu von den Gottesdienstbesuchern abgelehnt, bzw. falsch eingeschätzt wird (vgl. Kapitel 3.4). Daher steht die Frau auch an der Stelle, wo sonst Sklaven stehen, vgl. Wolter: Lk, 292 und Fn 63 dieses Kapitels Daher sind Überlegungen zu der Gestalt ähnlicher Frauen in antiken Berichten, wie Melzer-Keller: Jesus, 222ff. sie darstellt, hilfreich. Eine einfache Gleichung wie Sünderin = Prostituierte = Armut funktioniert anhand der antiken Quellen nicht. Die als Sünderin vorgestellte Frau könnte durchaus finanzstark gewesen sein (vgl. Lk 8,2f.). So auch Hofius (Fußwaschung, 176): „Der Pharisäer Simon hat gegenüber Jesus nichts, aber auch gar nichts getan, das als Ausdruck ehrerbietiger Liebe gelten könnte“ (kursiv dort). So auch Bovon: Lk I, 387: „Das Ergebnis dieses Vergleichs ist nicht: Sie hat getan, was du nicht getan hast, sondern: Sie hat mehr getan, als du nicht getan hast“ (kursiv dort).
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3 Exegese ausgewählter Perikopen
Dir gegeben, Du hast sie vorübergehen lassen, das Weib hat sich die Gelegenheit mühsam gesucht.“77 Genau wie bei den sprachlichen Ritualen bezeugen die Riten der Ehrerbietung der Frau bzw. die fehlenden Riten Simons, dass dieser den Status Jesu nicht begreift und daher nicht korrekt handelt. Die Frau hingegen handelt dem Status Jesu angemessen. Sie erkennt durch ihre von Jesus selbst als Liebestätigkeit bezeugten Taten seine herausragende Stellung an und bekommt dafür Sündenvergebung zugesprochen. Was der Frau allerdings fehlt, ist ein Begriff, der Jesus und seine Stellung beschreibt. Sie bleibt daher konsequent stumm und spricht allein durch ihre Taten. Da Jesus aber genau diese Taten als heilbringenden Liebeserweis interpretiert, scheint aus seiner Sicht die Frau diejenige zu sein, die am besten erkannt hat, wer er ist.78 Dabei geht es gar nicht um Reue, Bekehrung oder eine von Jesus angemahnte Lebensänderung der Sünderin, sondern um die Anerkennung der besonderen Stellung Jesu, welche sich am tätigen Glauben zeigt. Die oft zu lesenden Bezüge zur Reue oder Umkehr79 der Frau erschließen sich mir nicht: An keiner Stelle werden ihre Handlungen von Jesus als negativ abqualifiziert oder auf ihr altes Leben bezogen, welches sie nun zu ändern habe. Im Gegenteil: Die Handlungen, die sie durchführt – und die nach Meinung der meisten Exegeten, die die Frau als Prostituierte80 betrachten, wegen ihrer sexuellen Konnotation eigentlich zu problematisieren sein müssten – führen ja erst zum Lob Jesu und stehen im Zusammenhang mit der zugesprochenen Sündenvergebung. Jesus deutet also die Handlungen der Frau nicht im Kontext von Sexualität oder gar Prostitution, sondern im Kontext der Liebe zu ihm – es geht Lukas hier um ἀγάπη, nicht um ἔρως. Im Mittelpunkt dieser Perikope steht daher keine reuige Sünderin, sondern eine Frau, die durch ihre Handlungen für Jesus ihren Glauben an Jesus deutlich macht. Mit den Worten Michael Wolters: „Sie [die Aktionen der Frau] bringen zum Ausdruck, dass sie in Jesus ihren ‚Retter‘ sieht. […] Lukas
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Jülicher: Gleichnisreden II, 296. Er stellt zudem (ebd.) fest, dass Lukas die „aussergewöhnliche Grösse der Liebesthaten des Weibes“ veranschaulichen wollte, „die Unterlassungen eines Andern helfen dazu.“ Spannenderweise verzichtet auch Jesus in dieser Geschichte auf eine Deutung seiner Person, während er in der vorangegangenen Perikope das Wirken des Menschensohns deutet (7,34) und er dies bei der Gelähmtenheilung im ähnlichen Kontext auch schon getan hat (5,24). So betont Oberlinner: Begegnungen, 270: „Lk versteht die Erzählung sicher als ‚Bekehrungsgeschichte‘.“ Melzer-Keller: Jesus, 228f., bewertet diese Perikope als „Plädoyer für die Auf- und Annahme wohlhabender und freizügiger Damen der Oberschicht“ in die lukanische Gemeinde. Damit verbinde sich allerdings eine Bedingung: „Sie müssen umkehren und ihren Lebensstil ändern.“ Vgl. die Diskussion in Fn 12 dieses Abschnittes.
3.5 Jesus wird von einer Sünderin geehrt
159
sieht in ihnen vielmehr so etwas wie christologische Bekenntnishandlungen, die mit Jesu Identität zu tun haben.“81 Die Rituale der Ehrerbietung, wie die Frau sie an Jesus vollzieht, sind körperliche Rituale. Sie berührt ihn, auch an eher intimen Stellen wie den Füßen und mit aus antiker Perspektive intimen bzw. sexuell konnotierten offenen Haaren. Damit stellt sie nicht nur ihre Nähe im Glauben dar, sondern betont ihre körperliche Verbundenheit mit Jesus. Bei der Durchführung, in diesem Sinne also der Performanz der Rituale, ist eine „bestimmte Qualität von Körperlichkeit“82 notwendig, damit sie gelingen können. Ohne Körperlichkeit sind performative Rituale kaum als solche vorstellbar. Dies gilt eindeutig für die in Lk 7 dargestellte Situation, denn hier ist es die Differenz zweier Personen in ihren Handlungen, die der Differenz ihrer Stellung zu Jesus entsprechen. Für Simon wird deutlich: Vom ihm wird keine körperliche Nähe zu Jesus beschrieben; er hält körperlichen Abstand und damit auch im Glauben Abstand zu ihm. Daher ist auch die sonst aus Heilungen bekannte Verbindung von rettendem Glaube und körperlicher Heilung in Lk 7,50 sicher nicht zufällig: Denn beides bezieht explizit die körperliche Ebene mit ein. Krankheit, Besessenheit, aber eben auch Sünde sind existentielle und damit auch körperliche Erfahrungen von Menschen, deren Überwindung körperlichen Einsatzes bedarf.83 Zusammengefasst: Während die Sprache als Verständnismöglichkeit Jesu scheitert (siehe [1]), liegt der Fokus der Perikope auf den körperlichen Handlungen der Frau. Sie lässt durch ihre Handlungen erkennen, dass sie besser als Simon und die Dabeiliegenden versteht, wer Jesus ist. Ihre große Liebe spiegelt sich in ihren großen, besonderen Taten. Sie erkennt ihn als ihren Retter (Wolter) an, sie macht ihn zum Gesalbten84 und bezeugt damit die besondere Stellung Jesu, die sich im Heute (4,21) des Evangeliums zeigt.
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Wolter: Lk, 297. Er zeigt in seinem Kommentar eine Vielzahl an Stellen in den neutestamentlichen Schriften auf, die Glaube und Rettung in direkten kausalen Zusammenhang bringen und verweist darauf, „dass das frühe Christentum eine Bekehrungsreligion war.“ Walsdorf: Performanz, 87. Gerade die Betonung des performativen Geschehens in der Handlung der Frau verdeutlicht, dass ihr rettender Glaube nicht (nur) als ein kognitives Für-Wahr-Halten zu verstehen ist, sondern sich in wirkliches körperliches Handeln umsetzen lässt und lassen muss. Dies gilt z. B. für die Männer, die den Gelähmten durch das Dach lassen (Lk 5,17–26). Sie müssen mühsam körperlich tätig werden (Jesus lobt in 5,20 ausdrücklich ihren Glauben, nicht den des bewegungsunfähigen Kranken). Die blutflüssige Frau (Lk 8,43–48) berührt Jesu Kleidersaum sogar ohne dessen Wissen und wird geheilt. Auch der eine Aussätzige in Lk 8,11–19, der zu Jesus zurückkommt, fällt Jesus zu Füßen und dankt ihm für seine Heilung (sogar als Fremder: Lk 8,18). Die Salbung der Frau und damit die Anerkennung Jesu als Gesalbter Gottes ist insofern defizitär, als dass Lukas an dieser Stelle statt einer Form von χρίω mit αλείφω formuliert (vgl. Lk 4,18; Apg 10,38).
160
3 Exegese ausgewählter Perikopen
(3) Die dritte Ebene bei den ritualtheoretischen Überlegungen Bergesens sind die Makroriten. Diese haben als formelle Zeremonien das Ziel, eine Gemeinschaft als Ganzes zu erneuern und zu reproduzieren.85 Dies gelingt ihnen durch die Kreation moralischer Gegensätze. Bei unserem Text ist vor allem an die vorausgesetzte Situation des Mahls zu denken.86 Auch wenn das eigentliche Mahl in unserer Geschichte nicht explizit beschrieben wird, spielt es als übergeordneter Rahmen eine wichtige Rolle.87 Denn das Makroritual des Mahls beinhaltet wie dargestellt eine Reihe von Mesound Mikroritualen, die in der Summe moralische Gegensätze erzeugen sollen. Dies gilt für die Frage nach dem Status der Gäste.88 Aus der Sicht Simons hat die Frau als Sünderin zunächst einen niedrigeren Status als er selbst und auch als Jesus. Am Ende der Erzählung hingegen wird klar: Die Frau erlangt durch ihre tätige rituelle Anerkennung Jesu einen höheren Status als Simon: Vergebung (7,48), rettender Glaube (50) und Friedensbitte (50) werden nur ihr, nicht dem Pharisäer zugesprochen. Damit wird auch die Dynamik der Personen, besonders der Frau, auf die Spitze getrieben: Sie wird dem Leser als Sünderin vorgestellt, die zumindest im Rahmen antiker Sexualität einen zweifelhaften Ruf genossen haben wird. Damit ist sie als Gast bei so einem Gastmahl eigentlich nicht tragbar. Auch ihre Handlungen sind für den Leser erst einmal nicht positiv assoziiert. Es ist die Deutung, die Jesus selbst durchführt, die Simon und den Leser provoziert: Wenn die Handlungen der Frau als rituelle und körperliche Zeichen ihrer Liebe zu deuten sind und gleichzeitig Simon als eigentlichem Gastgeber die fehlende Liebe durch die ausbleibenden Ritualhandlungen aufgezeigt wird, dann wird die Frau zu einer eigentlich unmöglichen, aber in Jesu Wertung doch möglichen liebevollen Gastgeberin für Jesus und damit Vorbild für alle Leser(innen) des Textes.89 Die beiden Charaktere Sünderin und Simon entsprechen also den moralischen – hier im Sinne von: der Nachahmung empfohlenen bzw. nicht empfohlenen – Gegensätzen. Dies wirft die Frage auf, welche Wirkung Lukas damit erreichen wollte. Denn eine direkte Nachahmung der Handlungen der Frau an Jesus 85 86
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Vgl. Kapitel 3.10 dieser Arbeit. Vgl. dazu auch die beiden anderen Mahl-bei-Pharisäer-Perikopen in Lk 11 und 14 (ausführlich zu Lk 11: Esposito: Jesus’ Meals, 211–274; zu Lk 14: Kapitel 3.6 dieser Arbeit). Von Bendemann: Liebe, 165f. verweist auf die mögliche Einordnung des Mahls als Symposium und erläutert pagan-antike Beispiele. Allerdings stellt auch er fest: „Die einzelnen Handlungen der Mahlzeit und ihre für Symposien typischen Begleiterscheinungen sind nicht ausgeführt.“ So wird weder vom Trinken noch vom Essen Jesu oder anderer Teilnehmer (vgl. Lk 7,34; 14,1) berichtet. Der Fokus liegt also ganz auf den Handlungen der Frau. Vgl. Esposito: Jesus’ Meals, 202–209. Von Bendemann: Liebe, 166: „Nach den einschlägigen Konventionen ist vorauszusetzen, daß er nach ihrem Status ‚Gleichrangige‘ zum Mahl geladen hat.“ Mit dem Wechsel des Gastgebers wird sich auch das Gleichnis vom großen Gastmahl in Lk 14,15–25 beschäftigen. Dort ist es Jesus, der als Erzähler diese Rolle zuletzt einnimmt (vgl. Kapitel 3.6).
3.5 Jesus wird von einer Sünderin geehrt
161
ist den Leser(innen) nicht möglich, genauso wenig wie das Nicht-Handeln Simons als Beispiel dienen könnte. Auf Ebene des dritten Evangeliums bereitet Lukas hier das Dienen der Frauen in Lk 8,2–3 vor; doch auch diese Handlungen, die nicht genau erläutert werden, können kaum als direktes Vorbild dienen. Allerdings bietet der Text selber eine Lösung in der Deutung der Handlungen durch Jesus an: Die Taten der Frau versteht Jesus als Liebe und eben diese Liebe macht den Glauben der Frau öffentlich sichtbar und zeigt, „daß Glaube sich auch ohne Sünden- oder Glaubensbekenntnis, ja selbst ohne die Bitte um Hilfe, im Handeln ausdrücken kann.“90 Daher kann sie sich der Rettung gewiss sein, denn „die stadtbekannte Sünderin – und mit ihr die erklärten Sünder in Israel, unter den Heiden und schließlich innerhalb der christlichen Gemeinde – [wird] durch die Hinwendung und den Zuspruch Jesu in die Gottesgemeinschaft aufgenommen und öffentlich und verbindlich in die Gemeinschaft des Gottesvolkes integriert.“91 Die „Gemeinschaft als Ganzes“, die durch das Makroritual gebildet werden soll, ist also nicht allein auf die erzählte Welt des Lukasevangeliums fokussiert, sondern blickt darüber hinaus auf die Welt der Leserinnen und Leser, die das Ritual der gemeinsamen Mähler vollziehen und Sünder(innen) daran teilnehmen lassen.92
3.5.7 Zusammenfassung und Fazit Die Erzählung über das Zusammentreffen von Jesus, dem Pharisäer Simon und der Frau führt einerseits narrativ aus, wie sehr die Beschreibung Jesu als „Freund der Zöllner und Sünder“ (7,34) auf ihn und sein Wirken passt: Er wendet sich nicht von der Frau ab, obwohl er über ihre vielen Sünden Bescheid weiß, sondern spricht ihr sogar Glauben und damit verbundene Freiheit von Sünden zu. Anderseits stellt die Perikope die Frage nach dem Verständnis Jesu deutlich in den Raum: „Wer ist dieser, der auch Sünden vergibt?“, beginnen die Anwesenden zu fragen. Dieses Beginnen ist ernst zu nehmen: Sie fangen gerade erst an, nach Jesus zu fragen und warum gerade er es ist, dessen Anerkennung über die Anerkennung eines Menschen, sei er Lehrer oder Prophet, hinausgeht.93 Seine Agency erlaubt es ihm sogar, der Frau die Vergebung ihrer vielen Sünden zuzusprechen. Dadurch erweist er sich als der Gesalbte des Herrn (Lk 4,18), der 90 91
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Schweizer: Lk, 92. Eckstein: Anthropologie, 73. Eckstein muss sich hier allerdings der berechtigten Anfrage von Schottroff stellen, inwiefern „Sünder in Israel“ nicht schon Teil des Gottesvolkes sind. Ebenso Esposito: Jesus’ Meals, 205f.: „From the cultic or liturgical point of view of the Christian community, this story offers a summary of the salvific encounter with Jesus which they experience at their own meals“ (kursiv dort). Anders noch die Nazarener (4,16–30), die nicht nach Jesus und seinem Status fragen, sondern sich nur über ihn wundern. Sie verstehen ihn als Sohn Josefs und damit als ihresgleichen.
162
3 Exegese ausgewählter Perikopen
folgerichtig durch die Frau gesalbt wird, auch wenn Lukas das Vokabular variiert und statt mit χρίω mit αλείφω formuliert. Das Handeln der Frau ist nach dem Verständnis Jesu als Liebe zu qualifizieren. Und diese tätige Liebe dient damit der Darstellung ihres Glaubens; ihre Gastgeberrituale als Liebeshandlung sind ihr Glaubensbekenntnis. Wird Glaube auf diese Weise als tätiges Liebeshandeln verstanden, ergibt sich – wenn auch nur indirekt – der Weiterführungsauftrag Jesu: Zeigt mit dienender Liebe euren Glauben. Dies gilt nicht nur für die Menschen innerhalb des lukanischen Doppelwerkes, sondern explizit auch für die Leser(innen), die das im Hintergrund stehende Makroritual des Mahls weiterhin vollziehen und Sünderinnen und Sünder dabei nicht ausschließen, sondern vergebend aufnehmen sollen.94
3.6
Das Gastmahl im Hause eines Pharisäers (Lk 14,1–24)
Das Lukasevangelium beschreibt drei Aufeinandertreffen Jesu mit Pharisäern während einer Mahlzeit,1 der auszulegende Text in Lk 14,1–24 ist das dritte dieser Ereignisse. Bei diesem verarbeitet der Evangelist zwar Texte aus anderen Quellen,2 aber nur er wählt ein gemeinsames Mahl mit Pharisäern als Hintergrund für seine Erzählung. Im Folgenden wird das dreiteilige Gespräch genau untersucht. Dabei soll bei der Auslegung des Textes auf das durch den Autor intendierte Verständnis des Wesens und Wirkens Jesu eingegangen werden, welches an dieser Stelle durch die Darstellung seines charismatischen Umgangs mit
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1
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Die Wichtigkeit des gemeinsamen Mahls für die Darstellung des Lukas wird besonders im lukanischen Bericht des Abendmahls deutlich, das vielfältige Verbindungslinien zur lesenden Gemeinde beinhaltet. Vgl. dazu Kapitel 3.7 dieser Arbeit. Lk 7,36–50; 11,37–54; 14,1–24. Überhaupt spielen Mahlzeiten für die lukanische Darstellung Jesu eine wichtige Rolle. Zu den genannten Mählern hinzu kommen das Mahl beim Zöllner Levi (Lk 5,29–32), das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern (22,14–20) und die Mähler des Auferstandenen (Lk 24,30f.42f.): „Eine Fülle von Beispielen ohne Gegenstück in den anderen Evangelien“ (Bovon: Lk II, 465). Vgl. zu den Mahlzeiten bei Lukas auch März: Mahlgemeinschaften, 39–51 und Esposito: Jesus’ Meals. Zu antiken Mählern Altmann/AlSuadi: Essen, 90–109 und Smith: Symposium. Lk 14,5 wurde des Öfteren Q zugeordnet. Daraus ergab sich die These, 14,1–6 wäre insgesamt Q-Stoff, den Mt nicht böte (so z. B. Schneider: Lk, 312). Dem widerspricht Neirynck: Luke 14,1–6, 259: „The suggestion that 14,5 belongs to Q does not imply that 14,1–6 was part of Q, nor is it correct to say that Luke created the story from the saying“. Klein (Lk, 497) vermutet eine redaktionelle Bearbeitung eines Sonderguttextes, da die Einbindung der Heilung in 14,2–6 keine schlüssige Begründung für den Beginn des Symposiums erkennen lasse. Für die Belange meiner Auslegung spielt die Herkunft des Textes keine Rolle.
3.6 Das Gastmahl im Hause eines Pharisäers
163
(ritueller) Ordnung und seiner Veränderungsvollmacht (Agency) geprägt ist. Dabei steht natürlich der grundlegende Kontext des Mahls als Gemeinschaftsveranstaltung, bei dem der Status der Teilnehmenden eine wichtige Rolle einnimmt, im Vordergrund.
3.6.1 Einordnung in die Erzählung des Evangeliums Jesus ist mit seinen Jüngern seit Lk 9,51ff. auf dem Weg nach Jerusalem. Dabei beschreibt der Evangelist keine an Ortsnamen nachvollziehbare Reiseroute,3 sodass die genaue Lokalisierung der einzelnen Perikopen schwierig ist. Der lukanische Jesus ist sich der Gefahr, die seine Reise nach Jerusalem beinhaltet, bewusst. Neben den direkten Aussagen Jesu wie bei den zwei bisherigen Leidensankündigungen wird diese Gefahr auch durch Außenstehende an ihn herangetragen. In 13,31–33 sind es ausgerechnet die Pharisäer,4 die Jesus warnen, sich in diesem Gebiet aufzuhalten: „denn Herodes will dich töten“ (13,31). Auch in dem direkt nachfolgenden Jerusalemspruch wird das Töten der Propheten in Jerusalem beschrieben.5 Jesus scheint sich hier mit hineinzunehmen. Auf diese zumindest indirekte Leidensankündigung folgt in 14,1 die Einladung durch einen Oberen der Pharisäer und damit bis 14,24 die zu besprechende Mahlszene. Die Abtrennung der Mahlperikope ist durch die typisch lukanische Wendung kαὶ ἐγένετο inkl. neuer Zeit- und Ortsangabe zu Beginn und durch den offensichtlichen Orts- und Zeitwechsel in 14,25 (Jesus folgt eine Menge nach, zu der er spricht) gut sichtbar.6 3
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Die „geographischen Unzulänglichkeiten des Lukasberichtes“ moniert C.C. McCown (Geographie, 30) schon 1940: „Der ‚Reisebericht‘ ist ein besonders gutes Beispiel dafür, wie bei Lukas geographisches Material und geographische Unkenntnis zusammengehen.“ Kritisch dazu: Hengel: Historiker, 147ff. Diese Warnung durch die Pharisäer kennt nur das Lukasevangelium. Hier zeigt sich, dass der Evangelist keine rein negative Vorstellung von Pharisäern hat (vgl. Esposito: Jesus’ Meals, 285–287). Dies erkennt man u. a. in den häufigen Einladungen Jesu durch die Pharisäer, die trotz der verschiedenen Streitpunkte ein gemeinsames Mahl ermöglichen. Jesus weicht der Konfrontation nicht aus, sondern nimmt die Einladungen an. Dabei ist besonders die Mahlpraxis Jesu der Kritik der Pharisäer und Schriftgelehrten ausgesetzt: Jesus verwendet keine äußeren Reinigungsrituale vor dem Essen (Lk 11,38) und er isst gemeinsam mit Zöllnern und Sündern (Lk 5,27–32; 19,1–10). Dies bringt ihm den Vorwurf ein, er sei ein Fresser und Weinsäufer (7,34). Laut Kraus: Tod, 134f. geht die Deutung des Todes Jesu als Prophetenschicksal möglicherweise auf Jesus selbst zurück. Das lassen Gleichnisse wie Mk 12,1–9 oder Aussagen wie Lk 12,49ff. und das Jesus vermutlich vor Augen stehende Schicksal Johannes des Täufers vermuten. Dass Jesus das Haus des Pharisäers wieder verlässt, wird vorausgesetzt, aber nicht explizit geschildert (vgl. dazu auch Lk 7,50). Das zweite Pharisäermahl in Lk 11,53 beschreibt allerdings das Weggehen Jesu und die Reaktion der Anwesenden.
164
3 Exegese ausgewählter Perikopen
3.6.2 Gliederung der Mahlszene Lk 14,1–24 1
14,1 14,2–6
2a
14,7–11
2b 3
14,12–14 14,15–24
Einleitung Heilung des Wassersüchtigen Von der Rangordnung der Gäste Von der Auswahl der Gäste Das große Abendmahl
Jesus reagiert auf den Heilungsbedürftigen Jesus reagiert auf das Handeln der Gäste bzw. des Gastgebers Jesus reagiert auf die Aussage eines Gastes
3.6.3 Lk 14,1: Jesus wird belauert 14,1 Und es begab sich, dass er am Sabbat in das Haus eines der Ersten der Pharisäer ging, um Brot zu essen, und sie belauerten ihn. Die Einleitung in die Szene in 14,1 beschreibt das Setting: Jesus wird an einem Sabbat7 von einem Oberen8 der Pharisäer in sein Haus eingeladen,9 um „das Brot zu essen“.10 7
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Der Sabbat spielt nur bei der Heilungsgeschichte eine Hauptrolle. Ab Vers 7 bleibt der Tag im Hintergrund. Allerdings ist der Sabbat als besonderer Tag Gottes für die Gesamtanlage der Perikope relevant. Zu ἄρχων bei Lk vgl.: 8,41 (Synagogenvorsteher), 11,15 (Erster der Dämonen), 12,58 (Richter), 18,18 (ein Oberer ohne klare Zuschreibung), 23,13.35 und 24,20 (Mitglieder des Hohen Rates). Bovon: Lk II, 470 bemerkt, dass es bei Pharisäern keine hierarchische Struktur gegeben habe. Demnach denke hier Lukas an einen bedeutenden Pharisäer, „der eine moralische Autorität ist“ oder an „einen jüdischen Magistraten pharisäischer Ausrichtung“. Wolter: Lk, 501 weist hingegen darauf hin, dass es „keine Gruppe ohne ein zumindest informelles hierarchisches Gefälle gibt“, was eben auch auf die Pharisäer zutreffe. Nach Wolter ist es das Ziel des Lukas, seinen Lesern zu zeigen, „dass Jesus bei einem wichtigen Mann eingeladen ist und in den besseren Kreisen verkehrt.“ Dass Jesus eingeladen wurde und sich dementsprechend nicht aufgedrängt hat (vgl. die Zachäusgeschichte), erfahren wir erst in 14,12. Dort spricht Jesus explizit zum Gastgeber (τῷ κεκληκότι αὐτόν). Antike Gastmähler bestehen nicht nur aus gemeinsamer Nahrungsaufnahme, sondern sollen auch Lernen ermöglichen: „Die Mahlzeiten werden zur Gelegenheit, einen Gast auf der Durchreise zu empfangen, ihn zu ehren, Gewinn aus seinem Wissen zu ziehen und von seiner Andersartigkeit zu profitieren“ (Bovon: Lk II, 464). Dies beschreibt sehr gut die in Lk 14 erzählte Situation. Nach Bovon: Lk II, 470 (Fn 13) handelt es sich bei dieser Wendung um einen Semitismus, der auf das Festessen nach dem Synagogengottesdienst verweist. Dieses tritt neben die beiden üblichen Mahlzeiten am Morgen und am Abend. Anders Klein: Lk, 499, der von „eine[r] rasch zubereitete[n] Mahlzeit, in der Brot vorherrscht“ spricht. Eine Übersicht über die mglw. verwendeten Nahrungsmittel bietet Voigt: Jesusbewegung, 49f.
3.6 Das Gastmahl im Hause eines Pharisäers
165
Dabei sind weitere Gäste schon im Blick,11 die Jesus belauern/ihn beobachten (παρατηρούμενοι12). Dieser Hinweis auf die weiteren Gäste zeigt, wie die Situation und das nun Nachfolgende zu verstehen ist: Jesus wird aus einem bestimmten Grund eingeladen, nämlich um zu prüfen, ob er die Erwartungen, die an ihn gerichtet werden, erfüllt und wieder eine Heilung durchführt, obwohl es Sabbat ist und auch keine Todesgefahr für den Kranken droht.13 Der Autor bietet diese Situation schon in Lk 6,6–12 (Heilung einer verdorrten Hand in einer Synagoge am Sabbat) und Lk 13,10–17 (Heilung einer verkrümmten Frau in einer Synagoge am Sabbat). Das bedeutet, dass Jesu Stellung zur Frage nach erlaubten Heilungen am Sabbat schon zweimal erörtert worden ist und daher sein Verhalten in Lk 14 weder für die textimmanenten Zuschauer noch für die Leser eine Neuheit darstellt. Der in Vers 2 auftretende Wassersüchtige dient als weiterer Testfall für Jesu Umgang mit dieser Frage.14
3.6.4 Lk 14,2–6: Heilung eines Wassersüchtigen 14,2 Und siehe, ein Mensch war vor ihm, der war wassersüchtig. 14,3 Und Jesus antwortete und sagte zu den Schriftgelehrten und Pharisäern: Ist es erlaubt am Sabbat zu heilen oder nicht?
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Nach 14,3 sind dies Lehrer des Gesetzes und Pharisäer, vgl. das pharisäische Mahl in Lk 11: Auch dort sind beide Gruppen anwesend. Das Verb παρατηρέω findet sich bei Lk in 6,7 sowie 14,1 und 20,20. Das Wort kann je nach Kontext neutral mit „beobachten“ oder negativ konnotiert mit „belauern“ übersetzt werden. Zwar wird in 14,1 keine Reaktion der Pharisäer und Gesetzeslehrer geschildert, doch befinden wir uns in einer sehr ähnlichen Situation wie in 6,7 und 20,20, die beide die negativen Absichten der Pharisäer betonen. Dadurch erscheint mir eine Übersetzung mit „belauern“ für angebracht. Ein Gegenargument wäre die positive Nennung der Pharisäer kurz vorher: In 13,31 warnen sie Jesus vor Herodes. Es wird allerdings keine explizite Verbindung zu den Pharisäern aus 13,31 gezogen. Eine ähnliche Konstellation ist uns schon in Lk 7,30.36 begegnet. Vgl. Bovon: Lk II, 466.472. Auch bei den anderen beiden Sabbatheilungen im dritten Evangelium (vgl. nächste Fn) ist keine Todesgefahr vorgestellt und somit kein „dringendes Eingreifen erforderlich“ (ebd.). Gleichlautend: Dietzfelbinger, Sinn 281. Die drei Geschichten zur Heilungsproblematik unterscheiden sich u. a. durch die unterschiedlich geschilderte Reaktion der Anwesenden. In Lk 6,7.11 kommt eine Tötungsabsicht der Pharisäer und Schriftgelehrten zumindest indirekt zur Sprache. Hingegen ist die Reaktion in 13,14.17 hauptsächlich positiv: Zwar verurteilt der Vorsteher der Synagoge die Heilung der Frau zunächst, doch nach Jesu Antwort dreht sich die Reaktion: Nun schämen sich alle, die gegen ihn waren und das Volk freut sich über seine Taten. Zudem unterscheiden sich die drei Heilungen durch das Geschlecht des Kranken. In 6,8 wird der als Mensch vom Erzähler eingeführte Kranke von Jesus als Mann angesprochen, in Lk 13 geht es um eine Frau, während Lk 14,2 ihn als einen Menschen (ἄνθρωπός τις) bezeichnet, ohne das Geschlecht zu nennen.
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3 Exegese ausgewählter Perikopen
14,4 Sie aber schwiegen. Und als er ihn anfasste, heilte er ihn und ließ ihn gehen. 14,5 Und er sagte zu ihnen: Wer von euch, dem ein Sohn oder ein Ochse in einen Brunnen fällt, zieht ihn nicht sofort heraus, auch am Sabbattag? 14,6 Und sie konnten darauf nichts erwidern. Mit καὶ ἰδοὺ lenkt der Erzähler dann den Blick auf einen wassersüchtigen Menschen. Jesus wendet sich aber zuerst zu den Gästen, die nun als Pharisäer und Schriftgelehrte (νομικός)15 bezeichnet werden. Dass er von diesen belauert, also eine Reaktion seinerseits erwartet wird, macht der Erzähler durch die Einführung der Frage Jesu deutlich: Er antwortet (ἀποκριθεὶς) ihnen, so als ob sie ihm mit dem anwesenden Heilungsbedürftigen eine Frage gestellt hätten. Hier zeigt sich schon sprachlich, dass Jesus auf die vorliegende Situation reagiert (siehe Gliederungstabelle) und diese für Heilung und Lehre nutzt.16 Dies wird dem Leser in allen drei Szenen der Perikope begegnen. Die Frage, die Jesus den Schriftgelehrten und Pharisäern stellt, steht von vornherein im Raum: Ist es am Sabbat erlaubt zu heilen oder nicht? Diese Frage hat Jesus durch seine Handlungen eigentlich schon in 6,10 und 13,12 beantwortet. Verbunden wird sie hier nun mit einer halachischen Diskussion um die Rettung eines Sohnes17 oder eines Ochsen bei Lebensgefahr.18 Es fehlt an dieser Stelle eine direkte Reaktion 15
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Lukas benutzt hier das Wort νομικός als Bezeichnung für Schriftgelehrte (wörtlich: Gesetzeskundige). Dies entspricht wohl der synoptischen Bezeichnung γραμματεύς (so Bovon: Lk I, 378 [Fn 54]). Er kennt zudem die Bezeichnung νομοδιδάσκαλος (Lk 5,17), die sich wahrscheinlich auf die gleiche Gruppe bezieht. Letztere taucht im NT aber neben Lk 5,17 nur noch in Apg 5,34 (als Bezeichnung für Gamaliel) und 1Tim 1,7 auf. Ähnlich von Bendemann: Krankheit, 170 (Fn 9), der diese Bezeichnung als „lukanische Vorzugsbezeichnung der Schriftgelehrten“ versteht. Eine ausführliche Begriffsklärung mit Hinweisen zum römischen Verständnis eines νομικός als Rechtskundigen bzw. Testamentsschreiber bietet Bormann: Recht, 153–155.282: „Die Gesetzeskundigen werden als die Führer des Volkes in Gesetzesfragen vorgestellt“ (282). Die Frage nach der Differenzierung der Gruppen kann für meine Belange zurückstehen. Vgl. Wolter: Lk, 502, der auf weitere Vorkommen von ἀποκριθεὶς bei Lukas verweist (9,49; 13,14; 17,17; 22,51), wo keine Antwort im sprachlichen Sinne, sondern eine Reaktion geschildert wird. Mglw. versteht Lukas das Belauern der Pharisäer „als unausgesprochene Anfrage“, auf die sich „Jesu Frage bezieht“. Zu ergänzen ist noch das Antworten Jesu in 7,40. Dort steht zwar eine sprachliche Äußerung vor dem ἀποκριθεὶς, diese ist aber als ein innerer Monolog des Pharisäers Simon zu verstehen, auf diese Jesus dennoch antworten kann. Ausführlich dazu in Kapitel 3.5. Die Mehrzahl der älteren Handschriften schreibt υἱὸς. Eine Reihe von Manuskripten überliefert auch ὄνος (Esel). Sohn könnte, so Klein: Lk, 499 (Fn 17), „eine Verschreibung sein.“ Wenn es sich um ein Kind handelt, dass sorglos in den Brunnen fällt, hätte man bei Lk παιδίον oder τέκνον erwartet.“ Vgl. dazu die Gegenüberstellungen der lukanischen Sabbatheilungen bei Bovon: Lk II, 467f. In der rabbinischen Literatur wird die Frage nach der Lebensrettung eines Menschen und auch eines Tieres durchgehend positiv beantwortet, nur die essenische Tradition verbietet dies (vgl. Klein: Lk, 500). Jesu Frage ist also auch innerhalb dieser textlich erst später
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der anderen Gäste: Ihr Schweigen wird doppelt betont (Verse 4.6). Der Wassersüchtige wird kaum beschrieben. Der Leser erfährt nicht viel mehr über ihn, als dass er krank (ὑδρωπικὸς19) ist. Jesus lässt ihn auch direkt nach der Heilung in Vers 4 gehen (ἀπέλυσεν).20 Dadurch wird verdeutlicht, dass sich die Handlung nicht um die zu heilende Person, sondern um die Frage nach der Legitimation der Sabbatheilungen Jesu dreht. Die erste Szene der Mahlperikope in Lk 14 zeigt die Art des lukanischen Jesus, mit der Belauerung der Pharisäer und Schriftgelehrten umzugehen: Er nimmt die ihm vorgegebene Situation auf und nutzt sie nicht nur zur Heilung des Erkrankten, sondern auch um seine Lehre zu verdeutlichen: Auch am Sabbat darf geheilt werden. Dass der Erzähler diese Frage nun schon zum dritten Mal in den Mittelpunkt rückt, zeigt, für wie relevant er diese Diskussion hält.21 Denn hier klingt schon die Aufgabe an, der sich Jesus gestellt sieht: die Verkündigung des Reiches Gottes (vgl. 14,15ff.) und die Zuwendung an die Hilfsbedürftigen: „Nicht warten ist es, was dem Willen Gottes entspricht, gerne handeln, nicht um
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zu fassenden Diskussion bei den Rabbinen nicht umstritten. Vgl. Bormann: Recht, 294. Bormann verweist auch auf die Parallelen aus römischen Rechtstexten, die er als „sprachlich und sachlich nächste Parallele zu Lk 14,5“ versteht (ebd.). Wolter (Lk, 502) fügt an, dass die dualistisch gestellte Frage Jesu „von jüdischen Voraussetzungen unbeantwortbar“ sei, da es immer „auf die Art der Krankheit […] und vor allem darauf, ob Lebensgefahr bestand“ ankam. Dieses Adjektiv „gehört zum medizinischen Wortschatz der Antike; […] Lukas muss nicht Arzt gewesen sein, um es gebrauchen zu können“. (Bovon: Lk II, 471). Hoppe verweist auf die antike Verbindung von Wassersucht und Gier (u. a. bei Polybios). Dem entspräche die Gier nach dem besten Platz in Szene 2a und die Gier nach Wiedereinladung in 2b (so Hoppe: Einladung, 91, vgl. auch Derrett: Seat, 152). Eine ausführliche Darstellung von Wassersucht als Krankheit in der Antike findet sich bei von Bendemann, Krankheit, 174–178. Klein: Lk, 498 versteht die Krankheit als „Trink-Sucht (Diabetes insipidus). Von ihr befallene Menschen trinken Unmengen von Wasser.“ Dies begründet er mit der fehlenden Beschreibung, wie sich der Handlungsvorgang darstellt, „weil sie [die Heilung; DK] nicht öffentlich festgestellt werden kann“, und der Parallelität zum Bild des Ochsen im Brunnen, da dieser, wie der Wassersüchtige, „vom Durst getrieben“ wird und dadurch „in Todesgefahr“ gerät. Die Mehrheit der Exegeten (z. B. Bovon: Lk II, 463) übersetzt das ἀπέλυσεν als gehenlassen. Im Zusammenhang mit den nachfolgenden Gleichnissen, bei denen es ja explizit um das Einladen von Kranken geht, wirkt dies mglw. inkonsequent (obwohl der Mensch ab Vers 4 ja nicht mehr als krank zu verstehen ist, also nicht mehr in die Kategorie der Armen, Krüppel, Lahmen und Blinden [Verse 13.21] gehört). Vielleicht meint das ἀπέλυσεν hier eher, dass Jesus den nun Geheilten aus der Mitte (und damit der Aufmerksamkeit) entlässt, vgl. Lk 6,8. Andererseits könnte hier auch eine Reminiszenz an Lk 13,15f. vorliegen, wo mit einer Form von λύω die Befreiung von der Krankheit mit dem Losbinden der Tiere zur Tränke parallelisiert wird. Die anderen beiden Synoptiker kennen nur eine Heilung Jesu am Sabbat: Mk 3,1–6 und Mt 12,9–14. Wahrscheinlich nimmt Lukas diese Geschichte in Lk 6,6–11 auf. Die anderen beiden Sabbatheilungen in Lk 13 und 14 sind demnach dem lukanischen Sondergut zuzurechnen.
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eine Arbeit auszuführen, sondern um an der von Gott gewollten und erwarteten Schöpfung, der Neuschöpfung der Welt teilzuhaben.“22 Als Kontrapunkt dazu steht das doppelt beschriebene Schweigen bzw. NichtAntworten-Können der Pharisäer und Gesetzeskundigen. Sie wissen im Gegensatz zu Jesus nicht, was am Sabbat zu tun und was zu lassen ist. Dies ist auch ein Vorausblick auf die ganze Mahlszene: Mit der Ausnahme von 14,15 spricht allein Jesus zu den anderen Gästen; ein Dialog – gar eine Diskussion – findet nicht statt. Die Pharisäer und Gesetzeskundigen wissen nicht, wie sie auf Jesus – seine Handlungen und seine Worte – reagieren sollen; nur die Seligpreisung in 14,15 ist eine Reaktion auf das ganze erzählte Geschehen an diesem Sabbat.23
3.6.5 Lk 14,7–14: Zwei Mahlgleichnisse Im Fokus soll nun die zweite Szene stehen. Sie lässt sich in zwei kleinere Teile gliedern, die aufeinander bezogen sind. In Teil 2a spricht Jesus ein – vom Erzähler auch als solches eingeführtes – Gleichnis, das auf das Handeln der Gäste Bezug nimmt und sich wohl aus Spr 25,6f. gewinnen lässt.24 In Teil 2b wendet sich Jesus nun direkt an den Gastgeber und spricht über die Auswahl der Gäste. Beide Teile erwähnen keine Reaktion des Gegenübers Jesu; ein Gespräch findet – anders als noch in Lk 7,36–50 – nicht statt. Ob der Autor an dieser Stelle nur an die in 14,3 genannten Pharisäer und Schriftgelehrten25 denkt oder weitere Gäste des Sabbatmahls im Blick hat, die sich keiner der beiden Gruppen zuordnen lassen, ist unklar. 14,7 spricht allgemein von Gästen und auch der einzelne Zuhörer in Vers 15 wird nicht klassifiziert. Das spricht dafür, dass hier allgemein von Gästen des Sabbatmahls gesprochen wird.26 14,7 Er sagte aber zu den Gästen ein Gleichnis, als er bemerkte, wie sie für sich die ersten Plätze wählten. Er sprach zu ihnen: 14,8 Wenn du von jemandem zu einer Hochzeit eingeladen wirst, lege dich 22 23
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Bovon: Lk II, 475. Die hier explizit fehlende Antwort der Anwesenden lässt eine Lücke für eine spätere, bessere Reaktion. Diese Möglichkeit ergibt sich z. B. für die Nazarener nicht mehr, da diese – statt zu schweigen – schon falsch und mit Unverständnis auf Jesus und seine Botschaft reagieren (vgl. 4,22). Für Klein: Lk, 500 sind die Pharisäer in Lehrfragen „durchaus lernfähig“, so auch hier. Vgl. dazu schon Spr 25,6–7b: Brüste dich nicht vor dem König und an den Platz der Großen stelle dich nicht! Denn besser man sagt zu dir: Komm hier herauf! – als dass man dich heruntersetzt vor einem Edlen. Der Vorwurf, dass die Schriftgelehrten gerne die ersten Plätze in der Synagoge belegen, findet sich bei Lk 20,46. Ähnlich bei Mt 23,6, dort als Vorwurf an Pharisäer und Schriftgelehrte. Da die Pharisäer und Schriftgelehrten aus der ersten Szene in Vers 6 Subjekt sind, weist die Einführung der τοὺς κεκλημένους zusätzlich auf einen erweiterten Zuhörerkreis hin.
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nicht auf den ersten Platz, denn vielleicht wurde von ihm ein vornehmerer Gast als du eingeladen. 14,9 Und der dich und ihn eingeladen hat, kommt und sagt zu dir: Mache diesem Platz und dann musst du beschämt auf dem letzten Platz sitzen. 14,10 Sondern wenn du eingeladen bist, gehe hin und lege dich an den letzten Platz, damit der, der dich eingeladen hat, kommt und zu dir sagt: Freund, rücke nach vorne! Dann wirst du Ehre haben, vor allen, die mit am Tisch liegen. 14,11 Denn jeder, der sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden. 14,12 Er sprach aber auch zu dem, der ihn eingeladen hatte: Wenn du ein Mittagsmahl oder ein Abendmahl gibst, lade weder deine Freunde noch deine Brüder noch deine Verwandten noch reiche Nachbarn ein, (nur) damit sie dich auch einladen und dir Vergeltung geschieht. 14,13 Sondern wenn du ein Gastmahl gibst, lade Arme, Krüppel, Lahme und Blinde ein. 14,14 Und du wirst gesegnet sein, denn sie haben nichts, um dir etwas zurückzugeben. Denn es wird dir aber zurückgegeben werden bei der Auferstehung der Gerechten. Der Evangelist führt in 14,7 das Nachfolgende als Gleichnis (παραβολή) ein. Jesus reagiert mit diesem auf das Verhalten der anderen Gäste, die nach dem Wunder aus 14,2–6 ihre Plätze aussuchen27 und dabei anscheinend besonders die Nähe zum Gastgeber (und zu Jesus als Ehrengast) bevorzugen.28 Für das Gleichnis ändert Jesus die Ebene: Statt des Sabbatmahls mit Jesus als Gast wird eine Hochzeit (γάμος29) als Setting genommen. Ein Hochzeitsmahl ist noch stärker als das Brotbrechen am Sabbat als ein besonderes Ereignis, als gesellschaftliches Event zu verstehen. Es geht dabei nicht nur darum, die Verheiratung zu feiern, sondern auch um das Sehen-und-Gesehen-Werden.30 Um gut zu sehen und gesehen zu 27
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Dieses Verhalten war in der Antike nichts Ungebührliches: „Das genaue Gegenteil ist jedoch der Fall: Männer, die um die besten Plätze bei Tisch stritten, verhielten sich genau so, wie sie von ihren Eltern erzogen wurden. An diesem Verhalten ist nichts spezifisch Pharisäisches. Das Verhalten ist richtig und Ausdruck der Maskulinität“, Bartchy: Jesus, 227. Zum Aufbau eines Speiseraums vgl. Altmann/Al-Suadi: Essen, 101–104 und Heilmann/Wick: Art. Mahl/Mahlzeit NT. Statt Hochzeit könnte hier auch Bankett bzw. feierliches Mahl übersetzt werden. „Lukas, der auf den gleichnishaften Charakter der Unterweisung besteht, denkt an ein Hochzeitsfest“ (Bovon: Lk II, 488). Auch Wolter: Lk, 503 übersetzt mit Hochzeitsfest, ohne weiter darauf einzugehen. Bovon: Lk II, 488 verweist ausdrücklich auf die in der Regel stattfindenden Abläufe bzgl. der Sitzordnung. Diese scheint „zur Zeit Christi […] nicht das Alter, sondern das soziale Ansehen gewesen zu sein, das Vorrang hatte“. Vgl. auch die antiken Parallelen zur Wichtigkeit der Platzordnung bei Popp: Ehre, 588f. Für die Sitzordnung in der Antike vgl. auch den entsprechenden Abschnitt bei Klinghardt: Gemeinschaftsmahl, 75–83 und Wolter: Lk,
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werden, ist der richtige Platz innerhalb der Sitz- bzw. Liegeordnung31 wichtig. Das Liegen auf der πρωτοκλισία32 bedeutet und bezeugt die Nähe zum Bräutigam und damit die besondere Stellung innerhalb der (Hochzeits-) Gesellschaft. Dies ist für alle Gäste gut sichtbar. Das Gleichnis33 lässt sich in zwei Teile aufteilen: Verse 8–9 bieten Variante 1 im direkten Anschluss an das aus Jesu Sicht problematische Verhalten der Gäste. Vers 10 bietet Variante 2, die eine bessere Handlungsoption darstellt. Danach folgt in Vers 11 das verallgemeinernde Ergebnis des Gleichnisses. Jesus formuliert seine Rede in der zweiten Person Singular.34 Jeder Einzelne der Gäste soll sich also angesprochen fühlen. Gegenüber dem Eingeladenen steht der Gastgeber.35 Dieser wird an mehreren Stellen auffällig betont. So findet sich in diesem Abschnitt zweimal die Wendung „der dich eingeladen hat“ (14,9.10) und in Vers 8 ein betontes ὑπ᾽ αὐτοῦ. Die Einschübe verlängern den Text und machen ihn stilistisch umständlicher, verstärken aber besonders die Rolle des Einladenden. Dieser ist es, der die Platzordnung festlegt: Er kann einen Gast nach vorne bitten, als auch auf einen der hinteren Plätze verweisen. Auffällig ist auch die Anrede des Gastes durch den Gastgeber. Während in der ersten Variante der Gast recht schroff des Platzes verwiesen wird und eine persönliche Ansprache fehlt, bietet die zweite Variante die Anrede als Freund in 14,10. Dadurch wird der positive Ablauf der Szene noch einmal verstärkt: Nicht nur die Position des Gastes innerhalb der Tischgemeinschaft verbessert sich,36 auch die öffentliche Anrede als Freund,37 die im Kontrast zur schroffen Aufforderung in der ersten Variante steht, macht die Beziehung von Gast und Gastgeber deutlich. Die in beiden Varianten dargestellten Handlungen sind für alle Gäste der Hochzeitsgesellschaft öffentlich sichtbar. Dementsprechend sind die Erniedrigung in Vers 9 und die Erhöhung in Vers 10 nicht nur auf das persönliche Verhältnis von Gast und
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504, nach dem „das Streben nach den prestigeträchtigsten Plätzen ein Topos [ist], der in der antiken Literatur weite Verbreitung gefunden hat“. Religionsgeschichtliche Vergleiche zur Sitzordnung in Indien stellt Derrett: Seat, 154f. an. Zur Sitzordnung vgl. Altmann/Al-Suadi: Essen, 101–104. „Das waren die besten Plätze in unmittelbarer Nähe des Gastgebers oder eines bedeutsamen Ehrengastes“, so Wolter: Lk, 504. Man könnte auch von zwei Gleichnissen sprechen. Allerdings sind diese formal wie inhaltlich nah beieinander und werden auch vom Erzähler nicht differenziert (vgl. die Übergänge in 14,6f.15). Vgl. die häufige Nennung des Pronomens σύ in seinen Formen in diesem Abschnitt. Dieser wird trotz des Hochzeitssettings an keiner Stelle als Bräutigam bezeichnet. Es wird allerdings nicht gesagt, dass der Gast nun auf der πρωτοκλισία Platz nimmt! Die explizite Bezeichnung des Eingeladenen als Freund und die Erstnennung der Freunde vor den Verwandten in 14,12 deutet wahrscheinlich auf die Funktion von Mählern zur Freundschaftspflege hin: Das Symposion „dient in der Sicherung des ‚Freundeskreises‘ der Festigung des eigenen Status“, von Bendemann: Doxa, 323 (dort auch mit Belegen aus der antiken Freundschafts- bzw. Mahlliteratur).
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Gastgeber beschränkt, sondern ein Gruppenereignis. Daher spricht Vers 10 am Ende auch von der Ehre38 vor allen anderen Gästen, die mit am Tisch liegen.39 Mit 14,10 endet das Gleichnis und 14,11 nennt dessen Quintessenz, wonach die Selbsterhöhung zur Erniedrigung führt, während die Selbsterniedrigung zur Erhöhung leitet.40 Beide Teilsätze beziehen sich jeweils auf eine Variante des Gleichnisses: Der Gast, der sich selbst erhöht und auf einen besseren Platz legt, als ihm zusteht, wird ans Ende des Tisches verwiesen, also sozial erniedrigt. Hingegen wird derjenige, der sich freiwillig – man könnte sagen demütig41 – an den letzten Platz legt, an eine bessere Stelle platziert.42 Die Formulierung in 14,11 passt zu der Personenansprache des Gleichnisses in der 2.P.Sing. (14,8): Jeder (πᾶς), der wie beschrieben handelt, wird auch erhöht bzw. erniedrigt werden.43 Damit dreht sich die gesellschaftliche Logik um: Während in der Regel Menschen dazu neigen, sich selbst und ihre Ehre hoch herauszustellen, also ihren gesellschaftlichen Rang der Position am Tisch entsprechen zu lassen, wirbt Jesus für das Gegenteil:44 Nur Selbsterniedrigung ermöglicht die Höherstellung durch den Gastgeber bzw. durch Gott.45 Denn natürlich geht es Jesus nicht darum, einen
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Zur Bedeutung der Ehre in antiken Gesellschaften vgl. Bartchy: Jesus, 226f. Er spricht von Ehre als „zentrale[m] kulturelle[n] Wert.“ „Da es keine Trennung von Privatsphäre und Öffentlichkeit im modernen Sinn bezüglich der Teilnahme am Mahl gab, sondern das Mahl im semi-privaten Rahmen stattfand, steht das Hochzeitsmahl nicht in erster Linie für eine private Feier. Das Hochzeitsfest repräsentiert die freiwillige Zusammenkunft, eine Wahlgemeinschaft, bei der gleichzeitig individuelle und gesellschaftlich relevante Themen angesprochen werden. Dass Ehre und Scham, zwei soziale Orientierungspunkte der frühchristlichen Gemeinschaften, im Zusammenhang mit der Platzwahl eines Mahlteilnehmers gewählt wird, zeugt davon, dass die Bedeutung des hellenistischen Mahls im gesellschaftlichen Vollzug wuchs“ (Altmann/Al-Suadi: Essen, 94). Vgl. auch gleichlautend Lk 18,14 und inhaltlich, aber nicht wörtlich, identisch: Mt 23,12. Vgl. Derrett: Seat, 166f. Einen möglichen Hintergrund könnte 1Sam 9,21–24 (vgl. 1Sam 15,17) darstellen. Saul wird, obwohl er sich, seine Familie und seinen Stamm als sehr gering darstellt, „obenan unter die Geladenen“ (9,22) gesetzt. Er bekommt das beste Stück des Festessens und sitzt als Ehrengast bei Samuel (vgl. Derrett: Seat, 167). Wolter: Lk, 505: „Sich an einer Tafel an den besten Platz zu setzen, birgt die Gefahr eines sozialen Prestigeverlustes, während die Wahl des letzten Platzes nur zu Prestigegewinn führen kann.“ Das Matthäusevangelium formuliert anders: Ὅστις δὲ ὑψώσει ἑαυτόν, ταπεινωθήσεται· καὶ ὅστις ταπεινώσει ἑαυτόν, ὑψωθήσεται. Dies gilt insbesondere als Forderung an die eigene Gruppe: „Auf die Maßgabe, sich selbst zurückzunehmen, hatte der Evangelist Jesus bereits in der Szene vom Rangstreit der Jünger (9,46–48) seine Jüngerschaft verpflichten lassen und nimmt sie im weiteren Verlauf seiner Jesusgeschichte noch zweimal in 20,45–47 (Warnung vor der Schriftgelehrten) und 22,24–27 (Jüngerstreit um den Größten in der Rangordnung) auf“ (Hoppe: Einladung, 92). Hier steht natürlich ein durch und durch jüdisches Gottesbild im Hintergrund: „Pagan ideas could never have made it rational to seek the lowest seat“ (Derrett: Seat, 167).
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Verhaltenskatalog für Tischsitten aufzustellen, sondern lebensspendendes Verhalten zu bewirken, welches am Ende – eschatologisch46 – durch Gott legitimiert werden wird. Daher korrespondiert Vers 11 mit Vers 14: Gott47 ist derjenige (als Passivum divinum48 nicht direkt genannt), der für die gerechte Stellung eines jeden (πᾶς) eintritt. Damit gleicht Gott dem Gastgeber aus dem Gleichnis. Inwiefern das zu dem spezifischen Kontext passt, wird später zu erörtern sein. In Szene 2b (14,12–14) richtet sich Jesus nun nicht mehr an die Gäste, sondern direkt an den Gastgeber. Wie in Szene 2a lässt sich dieser Teil in zwei Abschnitte gliedern, wobei der erste Teil (14,12) eine negativ, der zweite Teil (14,13) eine positiv konnotierte Handlungsvariante beinhaltet. Nachdem beim Gleichnis in Szene 2a eine Hochzeit gefeiert wurde, geht es nun um ein ἄριστον bzw. ein δεῖπνον (so explizit alternierend 14,12).49 Statt ein eher seltenes gesellschaftliches Event als Anlass zu nehmen, steht hier das vergleichsweise einfache Mahl im Vordergrund, wobei auch dieses durch die Anwesenheit von besonderen Gästen geprägt sein kann, wodurch ein höheres Maß an Ritualität und Öffentlichkeit möglich ist. Deutlich wird durch die verschiedenen Begriffe für Mähler (ἄριστον, δεῖπνον, δοχή), dass Jesus hier alle Arten von Mählern mit Gästen meint. Der Gastgeber soll bei der Auswahl der Gäste nicht darauf achten, dass er wieder von diesen eingeladen werden (ἀντικαλέσωσίν) kann. Eine gesellschaftliche (Freunde, reiche Verwandte) bzw. familiäre (Brüder, Verwandte) Gleichrangigkeit soll gerade nicht im Mittelpunkt bei dem ἄριστον bzw. δεῖπνον stehen. In 14,13 zählt Jesus hingegen Gäste auf, die sich besonders dadurch auszeichnen, dass sie gerade nicht die Reziprozität durch Wiedereinladung erreichen können: Arme, Krüppel, Lahme und Blinde.50 Auf zwei begriffliche Unter-
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Die eschatologische Deutung von Vers 11 ist umstritten, vgl. Ebner: Symposion, 127. Der biblische Gott wird an vielerlei Stellen als „Subjekt des Erhöhens und Erniedrigens“ genannt: u. a. Hi 22,29, Ps 75,8. Eine Liste bietet Popp: Ehre, 590. „Eine biblisch bedeutsame Form der Antonomasie ist das passivum divinum [lat. göttliches Passiv], bei dem bewusst die Passivform des Verbs gebraucht wurde, wenn bei aktivem Zeitwort der Name Gottes als Subjekt zu nennen gewesen wäre. Eine solche Ausdrucksweise wurde gewählt, um das zweite Gebot (Ex 20,7; Dtn 5,11) möglichst genau zu befolgen und jeden Missbrauch des Gottesnamens auszuschließen“, Bellinger: Jesus, 285 (Versalien gelöscht). Nach Wolter: Lk, 505 ist das Passivum divinum „nicht sicher, denn das Futur kann auch gnomisch sein (vgl. B/D/R § 349,1), wie das bei solchen Sentenzen häufig der Fall ist.“ Klein: Lk, 503 stellt fest: „Gott vergilt, was im Verborgenen getan wird, wo niemand dankt.“ „Als ἄριστον (s. auch 11,37) gilt die Mahlzeit am späten Vormittag oder am Mittag […], während das δεῖπνον die Hauptmahlzeit am späten Nachmittag oder am Abend ist“, Wolter: Lk, 506. Vgl. auch Altmann/Al-Suadi: Essen, 93–95. Vgl. die bis auf eine Umstellung parallele Aufzählung in Lk 14,21. Bei beiden Perikopen haben die Aufgezählten einen Malus sowohl durch die materielle Unmöglichkeit auch zu einem Abendmahl einzuladen als auch durch die gesellschaftliche Nichtakzeptanz, also absolute Ungleichheit mit dem Gastgeber, die ein gemeinsames Essen nicht ermöglicht.
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schiede ist aufmerksam zu machen: Während in Vers 12 noch von einem Mittags-, bzw. Abendmahl die Rede ist, geht es in Vers 13 um ein δοχή,51 also ein feierliches Mahl. Liest man nun die Verse 7–14 im Zusammenhang, so wird durch die verschiedenen Synonyme immer stärker die Alltäglichkeit des Mahls in den Vordergrund gerückt: Nicht nur bei einer bestimmten Form von Mählern wie z. B. Hochzeiten (14,8) soll so gehandelt werden, sondern bei jedem Mahl, das die Einladung von Gästen beinhaltet. Der zweite Unterschied liegt im Verb des Einladens: Während in dieser Perikope sonst immer mit einer Form von καλέω52 das Einladen beschrieben wird, nutzt der Autor nur bei der reziproken Gästeliste in 14,12 eine andere Form: μὴ φώνει. Die Formulierung ‚zu sich rufen‘ statt ‚einladen‘ könnte ein Hinweis auf die – räumliche, aber auch gesellschaftliche – Nähe der Gäste sein.53 Vers 14 bildet wie Vers 11 im vorderen Abschnitt das Ergebnis, die Quintessenz: (Positive) Vergeltung (ανταπόδομα) – also Reziprozität – kann nicht von den Gästen hergestellt werden. Dafür steht Gott am Ende ein.54 Dieser wird – wie in Vers 11 – nicht explizit genannt, aber das zur Formulierung genutzte Passiv macht als Passivum divinum die göttliche Urheberschaft der Wiedergutmachung bei der Auferstehung der Gerechten55 deutlich.
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Zudem stehen hier pharisäische und antik-hellenistische Reinheitsvorstellungen im Hintergrund, daher ergibt sich drittens eine religiöse Ungleichheit durch die Unreinheit hervorrufenden Krankheiten der meist zum Betteln verurteilten Menschen. Anders: von Bendemann: Krankheit, 180f., der die Uneindeutigkeit der biblischen und jüdisch-antiken Zuschreibungen der Krankheitsgründe darstellt. Welche Probleme diese Kontrastierung beider Gruppen besonders für betroffene moderne Leser mit sich bringt, hat Markus Schiefer Ferrari eindrucksvoll dargelegt: (Un)gestörte Lektüre, 13–47. Vgl. dazu auch die Wertung von Dorothee Wilhelm, der Text Lk 14,12–14 sei „einer der schlimmsten Texte, vielleicht der behindertenfeindlichste […] der Bibel“ (Wilhelm: Heilungsgeschichten, 11). Das Wort δοχή taucht im NT nur bei Lukas an zwei Stellen auf: Neben der hier besprochenen Perikope wird das Mahl des Levi (Lk 5,29) so bezeichnet. Bei beiden Stellen sind die Gäste (aus pharisäischer Sicht in der Darstellung des Evangelisten) es nicht wert, eingeladen zu werden. Dementsprechend harsch fällt ihre Kritik in 5,30 aus: Warum esst und trinkt ihr mit den Zöllnern und Sündern? Bzw. ἀντικαλέω in Vers 12. Nach Bovon: Lk II, 492 ist die Benutzung von φώνεω als ‚einladen‘ „eine Ausnahme.“ So auch Wolter: Lk, 507, der auf die inhaltliche Nähe zu Lk 6,32–35 hinweist. Der Begriff Auferstehung der Gerechten findet sich so kein zweites Mal im NT. Lukas selbst kennt allerdings die „Auferstehung der Gerechten und Ungerechten“ in einer Paulusrede Apg 24,15. Diese so ähnlich klingenden Worte sind allerdings, so Bovon: Lk II, 495, „divergente Konzeptionen“.
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3.6.6 Lk 14,15–24: Gleichnis vom großen Abendmahl 14,15 Als das einer der Dabeiliegenden hörte, sagte er zu ihm: Selig, wer Brot isst im Reich Gottes. 14,16 Er aber sagte zu ihm: Ein Mensch gab ein großes Abendmahl und lud viele ein. 14,17 Und er sandte seinen Sklaven aus zur Stunde des Abendmahls, um den Eingeladenen zu sagen: Kommt, denn es ist alles schon vorbereitet. 14,18 Und es fing einer nach dem anderen an, sich zu entschuldigen. Der erste sagte zu ihm: Ich habe einen Acker gekauft und muss dringend hinausgehen, um ihn anzusehen. Ich bitte dich: Entschuldige mich. 14,19 Und ein anderer sagte: Ich habe fünf Paar Ochsen gekauft und ich gehe, um sie zu prüfen. Ich bitte dich: Entschuldige mich. 14,20 Und ein anderer sagte: Ich habe eine Frau geheiratet und kann deswegen nicht kommen. 14,21 Und der Sklave kehrte zurück und berichtete dies seinem Herrn. Da wurde der Hausherr wütend und sagte zu seinem Sklaven: Gehe schnell hinaus in die Straßen und Gassen der Stadt und führe Arme, Krüppel, Blinde und Lahme hier herein. 14,22 Und der Sklave sagte: Herr, es ist alles geschehen, wie du befohlen hast und es ist noch Platz. 14,23 Und es sagte der Herr zu dem Sklaven: Gehe hinaus auf die Wege und an die Zäune und nötige sie hineinzukommen, damit mein Haus gefüllt werde. 14,24 Denn ich sage euch, dass keiner jener eingeladenen Männer mein Abendmahl schmecken56 wird. Der dritte Abschnitt Lk 14,15–24 enthält ein weiteres Gleichnis aus dem Mahlkontext, wobei die Frage nach der Auswahl der Gäste57 auch hier die Hauptrolle spielt. Der Erzähler lässt Jesus nicht sofort an das Gespräch mit dem Gastgeber ein weiteres Gleichnis anschließen, sondern schiebt den Ausruf eines Gastes58
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Das Wort γεύσεταί kann u. a. essen, genießen oder auch erfahren bedeuten. Die gewählte Übersetzung mit schmecken meint beides: Sie werden es nicht essen und ihnen wird es nicht gefallen. Wie schon in Szene 2 ist auch hier an eine Zielgruppe zu denken, die über die finanziellen Möglichkeiten verfügt, Gastmähler auch für größere Gruppen geben zu können. Das spiegelt auf der narrativen Ebene den wohlhabenden Gastgeber (vgl. 14,1) wider, passt aber sehr gut zur lukanischen Kritik an Reichen und Reichtum, die sich an vielen Stellen des Evangeliums zeigt. Dieser Gast wird nicht explizit als Pharisäer oder Schriftgelehrter klassifiziert.
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dazwischen: Selig wer Brot isst im Reich Gottes!59 (14,15, vgl. 13,29). Als Reaktion hierauf spricht Jesus nun zu ihm60 und erzählt das Gleichnis.61 Der Übergang von der Erzählung Jesu aus Szene 2 zur dritten Szene ist durch den Einwurf eines Anwesenden dargestellt. Dadurch verknüpft der Autor des dritten Evangeliums geschickt die Szenen der Mahlperikope: Das Stichwort μακάριος verweist zurück auf Vers 14 (Szene 2b), φάγεται ἄρτον erinnert an die zugrundeliegende Situation des Sabbatmahls (Vers 1), während βασιλείᾳ τοῦ θεοῦ sowohl einen Rückbezug auf die Heilung in Verse 2–662 darstellt als auch als Hintergrund für das eschatologisch zu verstehende Mahl aus den Szenen 2a und 2b dient und als Vorgriff auf das nun kommende Gleichnis vom großen Abendmahl zu verstehen ist. Jesus reagiert also auch in Szene 3 auf die Handlung bzw. Aussage eines Gastes. Er spricht konkret zu ihm, wechselt also ein weiteres Mal die Sprechrichtung.63 Das eigentliche Gleichnis folgt nun in den Versen 16– 23. Vers 24 schließt das Gleichnis und die gesamte Mahlszene ab.64 Der Hintergrund des Gleichnisses ähnelt deutlich der schon in den vorangegangenen Versen dargestellten Situation: Wieder lädt ἄνθρωπός τις ein (hier zu einem δεῖπνον μέγα) und wieder ist die Auswahl der Gäste der entscheidende Punkt der Argumentation. Der Gastgeber65 schickt nun zur Stunde des Mahls sei-
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Durch diesen Ausspruch verweist der Gast direkt auf das eschatologische Mahl Gottes. Zu diesem schreibt Bergmann: Festmahl, 268: „Und so wurde auch das imaginierte Mahl in der Kommenden Welt ein Medium der Hoffnungsvermittlung auf eine Zukunft, die Gott von Anfang an so und nicht anders geplant hatte, die die Gerechten am Tisch vereint und die Anderen außen vor lässt, die die idealisierten Bedingungen der Vergangenheit in der Zukunft vervollständigt wiedererstehen lässt und die Konflikte der Gegenwart auflöst und bereinigt.“ Nach 14,16 spricht Jesus explizit zu ihm (εἶπεν αὐτῷ). Allerdings sind dabei wie in 14,12ff. alle Mahlteilnehmenden im Blick (vgl. zudem das ὑμῖν in 14,24). Die Erzählung Jesu wird vom Erzähler nicht als Gleichnis eingeführt. Die Zuordnung des Textes zur Gattung Gleichnisse ist aber unumstritten, vgl. Popp: Ehre, 586. Schon in Lk 13 verbindet der Evangelist Heilung am Sabbat und Reich-Gottes-Gleichnisse miteinander, indem er direkt an die Heilung der verkrümmten Frau zwei Reich-GottesGleichnisse (Senfkorn und Sauerteig) anknüpft. Jesus spricht diese direkt nach der Heilung, ohne dass ein Orts- oder Zeitwechsel beschrieben wird, und stellt damit auch eine inhaltliche Verbindung zwischen Heilung und Reich Gottes dar. Wenn diese Beobachtung stimmt, ist Reich Gottes als Stichwort für die ganze Mahlszene in Lk 14 zu verstehen. Eine ausführliche Zusammenstellung der Verweisstellen dieser Perikope zum lukanischen Reisebericht bietet von Bendemann: Doxa, 317f. In 14,3 spricht er zu Pharisäern und Schriftgelehrten, in 14,7 zu den Gästen, in 14,12 zum Gastgeber. Nur zu dem Wassersüchtigen sagt er auffälligerweise kein Wort. Zum Abschluss der dritten Szene und der ganzen Mahlerzählung wird sich der Sprecher an eine Gruppe wenden. Darauf wird weiter unten einzugehen sein. So auch Wasserberg: Mitte, 171. Der Gastgeber wird unterschiedlich betitelt: In 14,16 wird er als ein Mensch eingeführt. Der Sklave nennt ihn Herr (κύριος; 14,22). Der Erzähler benutzt die Bezeichnungen κύριος bzw. οἰκοδεσπότης (14,21.23).
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nen Sklaven66 los, die schon vorab eingeladenen Gäste abzuholen.67 Diese wollen aber der Einladung nicht folgen.68 Anscheinend sind alle (πάντες; 14,18) der ursprünglich eingeladenen Gäste nicht für das Mahl bereit, drei werden exemplarisch mit ihren Begründungen beschrieben:69 Der erste gibt an, einen Acker gekauft zu haben, der zweite fünf Gespanne Ochsen, der dritte hat eine Frau geheiratet. Die ersten beiden bitten den Sklaven sie beim Gastgeber zu entschuldigen (zweimal identisch formuliert: ἐρωτῶ σε, ἔχε με παρῃτημένον), während der dritte dies nicht explizit tut.70 Eine Absprache der Eingeladenen, dem Gastgeber abzusagen, lässt sich nicht erkennen. Lukas kritisiert nicht „ihr ökonomisches Engagement als solches“, wohl aber „dass sie die Prioritäten an der falschen Stelle gesetzt und die Bedeutung der Aufforderung, zum bereitstehenden Festmahl zu kommen, verkannt haben.“71 Der Sklave, der als „Statist“ die Kommunikation zwischen den Parteien ermöglicht,72 berichtet dies seinem Herrn, worauf dieser zornig wird73 und seinen Sklaven wiederum losschickt, um neue Gäste einzuladen. Diese stehen im Gegensatz zu den ursprünglich Eingeladenen, da es so66
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Nach Klein: Lk, 508 ist dies sein einziger Sklave, woraus er folgert: „sehr reich ist der Hausherr nicht.“ Diese Deutung finde ich nicht zwingend, auch wenn Lukas, um Eindeutigkeit zu erreichen, hätte formulieren können, dass der Hausherr einen seiner Sklaven losschickt. So oder so liegt der Fokus der Geschichte nicht auf der finanziellen Potenz des Gastgebers. Dass es sich hier um ein zweistufiges Verfahren handelt, bei dem zuerst und mit zeitlichem Vorlauf eingeladen wurde, ergibt sich nicht nur aus der Formulierung, der Sklave lief los τῇ ὥρᾳ τοῦ δείπνου, sondern auch aus entsprechenden Funden von Papyri, die solche Einladungen beinhalteten. Daraus ergibt sich, dass in der Vorstellung der antiken Leser gerade nicht davon ausgegangen werden muss, diese seien überrascht von der plötzlichen Einladung gewesen. Vgl. hierzu Smith: Symposium, 22–25 und Altmann/AlSuadi: Essen, 116–119. Hinzu kommt die ähnliche Praxis in der jüdischen Antike: „Vergleicht man Lk 14,16b vorgreifend schon mit Vers 17, so ist festzustellen, daß dort gemäß jüdischer Sitte zwischen einer vorausgehenden Einladung und einer Aufforderung zum Kommen (durch Entsendung des Knechts) unterschieden wird“, so Hahn: Gleichnis, 53 mit Belegen. Wolter (Lukas, 511) bezeichnet die Absage aller drei Gäste als einen „recht extravagante[n] Erzählzug“. Vgl. Wolter: Lk, 509. Nach Derrett: Seat, 160f. ergibt sich dies aus den Befreiungsgründen vom Kriegsdienst aus Dtn 20,5–7. Die Heirat einer Frau ist demnach ein zwingender Grund, im Haus zu bleiben: „This tends to avoid matrimonial disputes tending towards divorce; he must protect his wife (a virtual stranger) from his own mother; and he must see her into and through her first pregnancy. This form of the exemption is literally applicable to our parable, and, moreover, explains why the guest does not urge, ‚please hold me excused‘ as the others did. He regards his excuse as not merely legitimate but also mandatory.“ Wolter: Lk, 511. Vgl. Wolter: Lk, 509. An dieser Stelle liegt ein möglicher Wendepunkt vor, an dem die Geschichte abbrechen könnte. Der Hausherr wäre zornig über die Ausreden der Gäste und kein großes Mahl könnte stattfinden. Der lukanische Gastgeber reagiert anders: Das Mahl soll auf jeden Fall
3.6 Das Gastmahl im Hause eines Pharisäers
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zial niedrig stehende Personen sind, die nicht auf der gleichen gesellschaftlichen Ebene stehen wie der Gastgeber und daher nicht in der Lage sind, eine reziproke Einladung auszusprechen: Nun sollen Arme, Krüppel, Blinde und Lahme74 von den Gassen und Straßen der Stadt eingeladen werden. Diese kommen auch, der konkrete Vorgang wird allerdings nicht beschrieben. Der Sklave meldet seinem Herrn die erfolgreiche Einladung. Da aber noch Platz im Haus ist, wird in 14,23 der Kreis der Eingeladenen erweitert.75 Nun soll über die Stadt hinaus an den Landstraßen nach Gästen gesucht und diese sogar genötigt werden,76 hineinzukommen. Diese dritte Kategorie der Gäste wird nicht eindeutig beschrieben. Womöglich ist hier an noch niedriger stehende soziale Gruppen als in 14,21 gedacht,77 vielleicht geht aber der Blick über Israel hinaus (vgl. 13,29!) zu den Fremden.78 Ziel des Ganzen ist ein volles Haus: ἵνα γεμισθῇ ὁ οἶκός μου. Der Vers 24 bildet nun den Abschluss des Gleichnisses, ebenso der ganzen Mahlszene in Lk 14.79 In 14,23 spricht noch eindeutig der Hausherr. Dieser könnte daher auch die nun in 14,24 sprechende Person in der 1.P.Sg. sein. Dann wäre aber fraglich, zu welcher Gruppe (ὑμῖν) er nun spricht: Möglicherweise sind damit die Gäste des großen Mahls gemeint. Aber wodurch sollte eine solche Aussage an die neuen Gäste motiviert sein? Wissen diese überhaupt von den ursprünglich Eingeladenen? Oder wendet sich Jesus an dieser Stelle an die ganze Gruppe des Sabbatmahls in Lk 14? Für Claus-Peter März spiegeln die Gäste, die
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stattfinden, die Einladung bleibt bestehen. Nur die Gruppe der Eingeladenen ändert sich nun. Vgl. Hoppe, Einladung, 96 und ders.: Tischgespräche, 126. Also die gleichen Gruppen wie im vorherigen Gleichnis (Vers 13) mit kleiner Umstellung der Gruppen. Die Armut gilt wohl als Hauptmerkmal der angesprochen Menschen. Diese wird „durch die nachfolgenden Begriffe konkretisiert“ (Wolter: Lukas, 512). Dieser Hinweis des Sklaven begründet seine wiederholte Aussendung. „Auch dies ist aber auf dem Hintergrund der sozialen Konventionen begreiflich: Aufgrund ihres interfioren Status kommen die genannten Gruppen für ein δεῖπνον μέγα nicht in Betracht“ (von Bendemann: Doxa, 326). So der Vorschlag von Braun, der hier die plebs urbana von den para-urbana unterscheiden möchte. Vgl. Braun: Feasting, 94. März: Mahlgemeinschaften, 49f. deutet die doppelte Einladung als Reminiszenz an die Heidenmission, die der lukanischen Gemeinde vertraut ist und verweist auf die Gerichtsankündigung Lk 13,29, die schon eine Ausweitung über Israel hinaus beinhaltet. Vgl. dazu auch Hahn: Gleichnis, 59f., der das Nötigen insofern abschwächt, als dass er es als ein „intensives Bemühen seitens des Knechts“ versteht. Deutet man demnach die dritte Einladung missionarisch, so scheint hier die große Anstrengung, die seitens der Gemeinde damit verbunden ist, durch. Wirkungsgeschichtlich hat dieser Vers sehr negative Folgen, da er als „Legitimation für ‚Bekehrungen‘ durch Zwangsmittel des Staates und der Kirche“ verstanden wurde (Schottroff: Schwierigkeit, 603). Vgl. auch den „Exkurs zur Unverzichtbarkeit der Völker im Heilsvolk“ bei Wasserberg: Mitte, 175f. Lk 14,25 stellt offensichtlich eine neue Situation dar: Hier wird der reisende Jesus beschrieben, dem eine große Menge folgt und zu der er spricht. Damit ist die grundlegende Reisesituation in Anbindung an 13,33 wieder hergestellt.
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die Einladung nicht annehmen, die Gäste des Sabbatmahls wider: „Ihre Haltung kommt in der Sicht Jesu einer Ablehnung der Einladung Gottes gleich und macht sie den unwilligen und deshalb vom Mahl ausgeschlossenen Gästen in der die Szenerie abschließenden Erzählung vom großen Festmahl gleich.“80 Diese Deutung betont nicht nur den inneren Zusammenhang aller drei Szenen, sondern erklärt auch den Objektwechsel in 14,24: Es sind die Gäste des in 14,1 genannten Sabbatmahls, denen das (eschatologische) Mahl Jesu nicht schmecken wird, weil sie auf seine Lehre und Werke nicht mit Glauben, sondern mit Ausreden oder Stummheit81 antworten. „Von ihm [Jesus, DK] wird durch den Evangelienautor so erzählt, dass er von diesem mit seinem abschließenden Drohwort in die Nähe Gottes gerückt wird; denn mit ‚meinem Mahl‘ spricht in der Erzählung zwar der einladende Gastgeber, aber die Adressierung ‚ich aber sage euch‘ richtet sich an alle Personen, die beim Pharisäermahl anwesend sind, erzählextern darüber hinaus an die Leser- bzw. Hörerschaft des Evangelisten.“82
3.6.7 Narrative Ritualanalyse Für die ritualwissenschaftliche Betrachtung sollen zwei Aspekte in den Blick genommen werden: (1) Welche Bedeutung hat die der ganzen Perikope zugrundeliegende Mahlsituation für die einzelnen Szenen und für die Deutung der erzählten Szenen? Daraus entwickeln sich (2) die Fragen, inwieweit es Jesus seine charismatische Agency ermöglicht, auf diese besondere Weise in das Mahlgeschehen bei einem hochstehenden Pharisäer einzugreifen und warum Jesus am Ende von sich selbst als dem Gastgeber des großen Mahls sprechen kann. (1) Betrachtet man die vorgestellte Perikope unter ritualtheoretischen Aspekten, fällt als erstes der Kontext auf. Lukas bietet als Hintergrund für die Geschehnisse und Erzählungen in Lk 14,1–24 eine Mahlsituation.83 Jesus ist
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März: Mahlgemeinschaften, 49. Ähnlich formuliert schon Adolf Schlatter: „Sie [die Ersteingeladenen des Gleichnisses; DK] sind das Bild derer, denen Jesus das Gleichnis sagte. Israel ist längst zum Reich geladen durch das prophetische Wort und wird jetzt zu ihm berufen durch Jesu Dienst; aber sie schlagen es aus“ (Schlatter, Mk und Lk, 310). Bei Schlatter begründet sich die Heidenmission der Kirche u. a. durch dieses Gleichnis und die entsprechende Mt-Parallele, ebenso Jeremias: Gleichnisse, 61f. Die drei Begründungen in den Versen 18–20 entsprächen dann der falschen Sabbatpraxis, die die Heilung des Wassersüchtigen nicht erlaubt, die Rettung eines Ochsen aber schon. Das doppelt formulierte Schweigen auf Jesu Frage (Verse 4.6) läge auf einer Ebene mit dem dritten Gast des Gleichnisses, der nicht mal mehr um Entschuldigung bittet. Hoppe, Einladung, 103 (kursiv dort). Ähnlich auch schon Jeremias: Gleichnisse, 177, der hier das lukanische Verständnis von Vers 24 als Jesu Aussage zu „Seinem Mahl, d. h. dem messianischen Mahl“ deutet. Ein antikes Mahl, besonders wenn es wie hier als Sabbatmahl verstanden werden kann, ist ein durch und durch ritualisiertes Ereignis. Die Literatur hierzu ist sehr umfangreich.
3.6 Das Gastmahl im Hause eines Pharisäers
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Gast,84 ein hoher Pharisäer Gastgeber. Diese Situation ist auch die Grundlage für die drei Gleichnisse (7–11.12–14.16–24). Jesus nimmt also innerhalb des durch Rituale geprägten Kontextes diesen auf und nutzt ihn für seine Lehre. Dass das Mahl dafür prädestiniert ist, liegt an seiner besonderen Bedeutung für die antike Gesellschaft, besonders im Kontext der Gruppenidentität: „Participation in the meals confirms membership in the group, maintains common values and sets the boundarys with respect to the outside world. In other words: the collective meal has an obvious identifying function through participation in the distinctive rules of the group.“85 Dabei fungiert das Mahl nicht nur als Hintergrund für die Lehre Jesu, sondern wird dezidiert als Ausgangspunkt für die Gleichnisse verwendet. Dieser Eindruck verstärkt sich dadurch, dass Jesus seine Lehre nicht ungebunden in den Raum spricht, sondern dreimal auf die handelnden Personen eingeht: Zuerst auf den Wassersüchtigen bzw. die Pharisäer und Schriftgelehrten (14,2), dann auf die Gäste des Mahls (14,7) und zuletzt auf einen einzelnen Gast (14,15). Betrachtet man die Doppelszene 7–14 wird deutlich, dass die normalerweise gesellschaftlich legitimierten Vorgänge von Jesus umgedeutet, ja umgedreht werden: Nicht die Betonung der eigenen Ehre führt zu Ehre bei den Mitmenschen, sondern Selbsterniedrigung, die durch Gott (14,11.14) korrigiert wird; nicht das auf Wiedereinladung, also Wiedergutmachung angelegte Gastmahl bringt wirkliche Reziprozität, sondern die Bewirtung gesellschaftlich tief stehender Menschen wird Gott am Ende belohnen. Der lukanische Jesus nutzt hier seine Rolle als Charismatiker und bricht die rituelle Ordnung auf, indem er den Beurteilungsmaßstab ändert:86 Wo man am Tisch platznimmt und welche Gäste man einlädt, zeigt häufig die gesellschaftliche Stellung nach außen und unterliegt dem Prinzip des do ut des.87
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Einen guten Überblick bietet Klinghardt: Gemeinschaftsmahl, 21–174, Smith: Table Fellowship, 613–638 und Altmann/Al-Suadi: Essen, 90–110. „Lk 14,1–24 entspricht weiter darin der Konvention, daß es einen Gast bzw. einen Hauptredner gibt, der im Unterschied zu den übrigen Gästen, die sich am gattungstypischen Gespräch beteiligen, besonders hervorgehoben ist“ (von Bendemann: Doxa, 320). Bis auf den Einwurf in 14,15 findet allerdings kein wirkliches Gespräch statt. Der Text besteht eher aus einem Monolog Jesu. Marguerat: Meals, 516. Dieses Aufbrechen ist gerade kein Abbrechen! Auch in der jesuanischen Logik gibt es eine bestimmte Ordnung. Nur dass sich in dieser nicht mehr die gesellschaftliche Ordnung spiegelt, sondern Gott bzw. Jesus das Urteil spricht und jedem den richtigen (nicht den besten!) Platz zuweist. An dieser Stelle wird nicht gesagt, welche Handlungen den Maßstab Gottes mglw. verändern können, wahrscheinlich spiegelt sich hier der Umgang mit den in 14,13.21 genannten sozial niedrig stehenden Gruppen. Die Komposition der Perikope wird deutlich: Alle Teile beziehen sich aufeinander und beleuchten bestimmte Aspekte der lukanischen Theologie und Ethik. Dabei muss die Sitz- bzw. Liegeordnung im Mahl nicht in jedem Fall der gesellschaftlichen Rolle der Akteure entsprechen. „Die Sitzordnung ist folglich ritualtheoretisch signifikant für die Identitätsausübung im Gemeinschaftsmahl, da sie im Alltag der Teilnehmenden
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Jesu Perspektive ist hier eine andere: Gott steht dafür ein, dass alle am richtigen Platz sind.88 Auch in Szene 3 dreht Jesus die gesellschaftliche Logik um, nimmt dabei aber die Gäste ins Visier: Erst ihre Ablehnung der Einladung89 zum Gastmahl ermöglicht im Gleichnis die Einladung – ja sogar Nötigung – weiterer Gäste, die genauso wie in Szene 2b als sozial niedrig Stehende beschrieben werden. Ihnen wird als Reaktion des Hausherrn der Vortritt gelassen. Dieser ist offensichtlich zornig über die Ablehnung seiner zuerst eingeladenen Gäste und nimmt daher eine ganz andere Gästeschar in den Blick, denn das Mahl muss auf jeden Fall stattfinden. Mit der plötzlichen Absage verbindet sich aber nicht nur eine situative Ablehnung des Mahls, sondern auch die Ablehnung des Gastgebers. Ob die Einladung wegen des Gastgebers ausgeschlagen wird, hängt von der Bewertung der Begründungen der Ersteingeladenen ab, die Lukas nicht explizit vornimmt. Dass allerdings der Gastgeber zornig reagiert, macht deutlich, dass dieser die für ihn unerwartete Abweisung als Ablehnung seiner Person versteht.90 Auf eine andere mögliche Deutung weist Hans Weder hin.91 Er versucht, die ursprüngliche Form des Gleichnisses zu ermitteln, welche der lukanischen Fassung sehr nahe kommt, und kommt zu dem Schluss: „Die Geladenen aber entschuldigen sich. Nicht etwa, weil ihnen der Gastgeber nicht gefällt, oder weil sie gegen Feste sind, sondern weil sie die Zeit nicht verstehen. […] [D]ie Entschuldigungen sind gewiß vernünftig, aber der Fortgang der Erzählung zeigt, daß sie es nur
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stattfindet und über ihre Variabilität der Anordnung wichtige Problemfelder innerhalb und außerhalb der Gemeinschaft erkennen lässt“ (Al-Suadi: Christusgläubige, 161). Dazu passt, dass in 14,10 nicht gesagt wird, dass der Gast auf die πρωτοκλισία gesetzt wird. Denn die Möglichkeit eines ehrenvolleren Gastes aus 14,8 besteht ja immer noch. Aber durch das Eingreifen des Gastgebers sitzt der Gast nun auf dem ihm zustehenden, dem richtigen Platz. Der Erzähler wertet die Begründungen der ursprünglich eingeladenen Gäste nicht explizit, aber aus dem Zusammenhang ließe sich durchaus eine negative Konnotation ableiten: Dass jemand einen Acker kauft oder eine große Summe für fünf Gespanne Ochsen ausgibt und sie erst danach besieht, ist unwahrscheinlich (so Hoppe: Einladung, 100). Auch die Hochzeit bzw. Ehe als Begründung des Wegbleibens ist problematisch: „Die Ehe sieht der dritte Evangelist kritisch als Zeichen des Verhaftetseins an die Welt und dementsprechend als Hindernis für die Nachfolge“ (ebd). Bormann betont hingegen die mit allen drei Absagen verbundenen rechtlichen Verpflichtungen: „Die rechtsgeschichtliche Interpretation der Ablehnungsgründe zeigt, daß es sich um unausweichliche Verpflichtungen handelt und nicht um aufschiebbare Handlungen“ (Bormann: Recht, 297). Wie hier die schon vollzogene Hochzeit hinpassen soll, erschließt sich mir nicht. Möglicherweise besteht aber auch ein engerer Zusammenhang zwischen Besehen und Kaufen: „Hierzu ist auf eine Stelle AZ 15a zu verweisen, wonach Besichtigung und Prüfung offensichtlich noch ein Teil des Kaufes sind; vgl. Billerbeck II 208“, Hahn: Gleichnis, 55 (Fn 17). Vgl. Schottroff: Schwierigkeit, 595, die den Zorn des Gastgebers in den Mittelpunkt der Parabel stellt. Hans Weder: Gleichnisse, 180ff.
3.6 Das Gastmahl im Hause eines Pharisäers
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für den sind, der die Zeit falsch einschätzt.“ Der Zorn des Gastgebers bezöge sich nach dieser Deutung also auf das fehlende Verständnis seiner Eingeladenen bzgl. der Zeit des Mahls, das jetzt (ἤδη) stattfindet (bzw. stattfinden muss) und auch nicht durch anfallende Aufgaben aufgeschoben werden kann. Weder sieht die Bedeutung des Zeitpunktes richtig, missachtet aber, dass die Ersteingeladenen schon vorab vom Mahl wussten.92 Sie hatten offenbar schon zugesagt, sind eingeplant und werden fest erwartet. Die beiden Gruppen der Neu-Eingeladenen wussten dagegen bisher nichts von dem Mahl und kommen dennoch, sollen sogar genötigt werden hineinzukommen.93 Dem entspricht die Sendung Jesu, wie sie der Autor des Lukasevangeliums darstellt: Jesu Lehre und Werke sind nicht autonom, sondern basieren auf der Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel, wie sie in den Schriften der Hebräischen Bibel zu finden sind. Zwar erfüllt sich diese Geschichte und diese Schrift heute (4,21) vor den Augen und Ohren der Menschen, sie ist aber nichts Unbekanntes: Die Einladung Gottes an die Menschen und sein Volk besteht schon seit langem. Jesus bringt sie ins Heute bzw. ins Jetzt (14,17). Wenn die ursprünglich Eingeladenen aber nicht mit Freude auf den nun stattfindenden Zeitpunkt des in Christus kommenden Heils reagieren, richtet sich der Blick Gottes und Jesu auf die bisher noch nicht Eingeladenen aus allen Himmelsrichtungen (Lk 13,29) und Völkern (Apg 1,8; 10,34). Das ist das Neue, das Jesus auf seine charismatische Weise lehrt: Die Erfüllung der Heilsgeschichte bricht jetzt (14,17) und heute (4,21; 23,43) an und verlangt nach sofortiger Reaktion, auch wenn noch so gute Gründe dagegen sprechen. Im Gleichnis (Szene 3) entspricht die erste Gruppe der neuen Gäste (14,21) genau der Gruppe der Einzuladenden aus Szene 2b, schließt daher inhaltlich direkt an diese an, wird aber durch den noch weiter gezogenen Kreis hin zu den Menschen an den Wegen und Zäunen ausgeweitet. Darüber hinaus erfolgt im Gleichnis in Szene 3 keine direkte Handlungsaufforderung. Dafür wird an dieser Stelle noch stärker die eschatologische Ebene betont: Der Gast in 14,15 spricht das Reich Gottes als Reaktion auf Jesu Erzählung in Szene 2 an und somit sind beide Gleichnisse als Reich-Gottes-Gleichnis zu verstehen.94 Wichtig erscheint mir daher die prinzipielle Offenheit des Mahls: Es findet nämlich auf Textebene noch gar nicht statt, sondern bleibt – wie auch das Reich Gottes – auf die Zukunft bezogen:95 Erst wenn das Haus voll ist, wird das Mahl beginnen können. „Damit 92
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Dabei gehe ich, wie oben dargestellt, von einem zweistufigen Einladungsverfahren aus. Der Sklave aus 14,17 soll die schon vorab Eingeladenen zu dem nun fertiggestellten Mahl abholen, denn nun ist die ὥρᾳ τοῦ δείπνου. Der Hausherr lässt seinen Sklaven nicht die ursprünglich Eingeladenen nötigen zu kommen, sondern nur die Neu-Eingeladenen. Anders hingegen Mt 22,3f. Vgl. von Bendemann: Doxa, 325. Vgl. Mt 22,11f. Dort scheint das Mahl mit dem Auftreten des Königs schon begonnen zu haben. Es kann also kein weiterer Gast hinzustoßen, während die Möglichkeit des Ausschlusses vom Mahl weiterhin bestehen bleibt (Mt 22,13!). Letztere Option ist bei Lukas überhaupt nicht im Blick.
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wird freilich von der Option, dass es stattfindet, nichts zurückgenommen – aber es findet ohne die Ersteingeladenen statt, die dem Ruf nicht gefolgt sind.“96 (2) Diese Beobachtungen passen zur lukanischen Darstellung Jesu als Charismatiker,97 der sich nicht außerhalb der (rituellen) Begebenheiten aufhält, sondern diese durch Umdeutung der ‚normalen‘ Denkweise nutzt, um auf seine Vorstellung des Wirkens Gottes und des richtigen menschlichen Verhaltens hinzuweisen. Daraus ergibt sich die Frage: Warum kann gerade Jesus diese Situation so nutzen? Das hängt mit seiner Agency98 zusammen: Jesus ist – das ist bisher gar nicht in den Blick genommen worden – ja selbst Gast bei dem pharisäischen Mahl am Sabbat. Er ist nach Lk 14,1.12 eingeladen worden, im Haus des hochgestellten Pharisäers Brot zu essen. Er ist also der Ehrengast bei dem Mahl und steht als dieser gemeinsam mit dem Gastgeber im Mittelpunkt: Sie – die anderen Gäste – beobachten, ja belauern ihn sogar.99 Dieser Umstand verleiht ihm dabei die Handlungspotenz – als Umschreibung für Agency – auf das Wirken der Gäste und des Gastgebers zu reagieren bzw. einzuwirken. Weil Jesus Gast beim Mahl ist, kann er diese Situation für sich nutzen und auf das Verhalten der anderen Gäste reagieren; weil Jesus der Herr ist, kann er diese Situation sogar drehen und in den Gleichnissen einen anderen Status annehmen: Er ist nicht mehr Gast, sondern Gastgeber.
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Hoppe: Einladung, 102. Vgl. 2.3.11. Vgl. Kapitel 2.4.1 dieser Arbeit. In der Vorstellungswelt der Antike und besonders im antiken Judentum wird Wassersucht mit falschem Lebenswandel in Beziehung gesetzt: „Diese Krankheit bedeutet ein Verfluchtsein als Konsequenz einer Verfehlung“ (Bovon, Lk II, 472). Es ist kaum vorstellbar, die Anwesenheit eines derart kranken Menschen beim Sabbatmahl im Haus eines hohen Pharisäers als Zufall zu betrachten; vor allem nachdem diese Jesus ja genau dies, nämlich den Umgang mit (Zöllnern und) Sündern vorgeworfen haben (Lk 5,30). Die Situation ist daher für den Leser als künstlich herbeigeführt zu verstehen. Dass Jesus ein Wunder wirken wird – sogar am Sabbat – wird von den anderen Gästen erhofft bzw. befürchtet. Jesus handelt dementsprechend, allerdings nicht ohne durch seine Frage nach dem entsprechenden Verhalten der Gäste in Vers 5 die Heilung als notwendig zu bestätigen. Die Argumentation Jesu gleicht hierbei Lk 6,9 und Lk 13,15f. Gegen von Bendemann: Krankheit, 172, der sich dafür ausspricht, dass der Kranke schon ursprünglich zu den Eingeladenen des Sabbatmahls gehört und dabei u. a. auf das Pharisäerbild des Autors rekurriert. Dies widerspricht m. E. der Unterscheidung der verschiedenen Gruppen in Szene 2b, die Lukas nicht betonte, wenn Kranke als selbstverständlich am Mahl Teilnehmende zu betrachten wären. Zudem bliebe zu fragen, ob eine mit der Sünde (Geld-)Gier verbundene Krankheit (so auch von Bendemann: Krankheit, 183) mit pharisäischer Mahlpraxis zusammenpassen sollte (vgl. Lk 5,30). Die andere Verstehensmöglichkeit des Kranken als „Figur eines ungebetenen Gastes“ (von Bendemann: Doxa, 322; vgl. 7,37) ist möglich und verbindet sich mit antiker Literatur (vgl. ebd.). Dann wäre aber zu fragen, warum der Erzähler Jesus explizit antworten lässt (14,2: ἀποκριθεὶς), obwohl keine Frage gestellt worden ist. Das ἀποκριθεὶς meint an dieser Stelle, dass Jesus auf die ihm vorliegende Situation und das Beobachten der Phariäser und Schriftgelehrten reagiert. Vgl. auch Fn 16 dieses Abschnittes.
3.6 Das Gastmahl im Hause eines Pharisäers
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Deutlich wird dies in 14,7: Wenn Jesus der Ehrengast des Sabbatmahls ist, dann liegt er direkt (rechts) neben dem Gastgeber (Symposiarch).100 Folglich sind die besten Plätze (14,7 spricht von πρωτοκλισίαι im Plural) neben dem Gastgeber/Symposiarch und ihm als Ehrengast! Da Jesus das Gleichnis als Reaktion auf die Vorgehensweise der Mahlteilnehmer spricht, wird deutlich, dass diese versuchen, möglichst nah neben dem charismatischen Ehrengast Jesus zu liegen. Somit verschiebt sich etwas im Gleichnis: Bei einer Hochzeit ist der Ehrenplatz (hier spricht Jesus im Singular von der πρωτοκλισία) neben dem Bräutigam, bei dem Sabbatmahl ist der beste Platz neben Jesus als Ehrengast. Nun wird deutlich, warum das Gleichnis so auffällig den Einladenden – der an keiner Stelle explizit als Bräutigam101 bezeichnet wird – betont: Jesus ist der eigentlich Einladende;102 es ist sein Mahl, an dem die Menschen versuchen Platz zu nehmen. Er ist auch derjenige, der die korrekten Plätze zuweist und neben dem die πρωτοκλισία ist. Damit steckt hinter dem Passiv beim Erniedrigungsspruch im Vers 11 nicht Gott, sondern Jesus als der Herr.103 Nur Jesus hat im Lukasevangelium die charismatische Agency, also die Macht, eine Situation so zu verändern, dass diese das herkömmliche Denken kontrastiert und sich selbst auf unerhörte Weise in das Gleichnis integriert, sich quasi selbst zum Gastgeber macht und aus der Perspektive des Evangelisten ganz nah an Gott gerückt wird. Das Gleichnis ist also als wirkliches Gleichnis zu verstehen und wird auch daher als solches durch den Autor eingeführt: Denn es macht durchsichtig, wie auf der Folie der vorgegebenen Situation Jesus und sein (eschatologisches) Mahl zu verstehen sind. Dem entspricht auch die Frage nach der Auswahl der Gäste: Jesu Aufforderung, Arme, Krüppel, Lahme und Blinde einzuladen,104 kann an dieser Stelle nur erfolgen, weil der hochrangige Pharisäer ihn – also Jesus – eingeladen hat. Nun passt Jesus weder zu den aufgezählten gesellschaftlich niedrigstehenden Menschen noch zu der Kategorie der Freunde und Verwandten, die sich auf gleicher
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Altmann/Al-Suadi: Essen, 102: „Die Hierarchie steigerte sich von links nach rechts, so dass der Gastgeber, der Symposiarch und der Gast des höchsten Ranges das meiste soziale Ansehen genossen.“ Vgl. auch Al-Suadi: Christusgläubige, 159ff. und Heilmann/Wick: Art. Mahl/Mahlzeit. Jesus als Bräutigam ist dem Leser des dritten Evangeliums bereits aus 5,34.35 bekannt. Die Darstellung von griechischen Göttern als Gastgeber bei einem Mahl in ethisch-moralischen Geschichten ist der antiken Literatur nicht unbekannt. Matthias Becker versucht ausführlich die Parallelen zwischen dem vorliegenden lukanischen Text und Erzählungen von Epiktet bzw. Dion von Prusa – beides Zeitgenossen des Lukas – darzustellen und kategorisiert diese Texte als „antiker Gastmahl-Leben-Vergleich“ (vgl. Becker: Vergleich, 229– 231). Maria wird schon in Lk 1,43 als Mutter des Herrn bezeichnet. Jesus angeredet als Herr: 5,8 (Petrus), 5,12 (ein Aussätziger), 7,13 (durch den Erzähler) u. ö. Ironischerweise ist zumindest einer der Anwesenden, der Wassersüchtige aus Vers 2, zumindest bis zu seiner Heilung in diese Kategorie einzuordnen. Der gastgebende Pharisäer beherzigt also Jesu Rat schon ein wenig, wenn wohl aus anderen Motiven.
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gesellschaftlicher Höhe wie der Gastgeber befinden.105 Jesus steht außerhalb der Kategorien. Versteht man nun Jesus in Szene 2a als Gastgeber, so bietet sich dieses Verständnis auch für das zweite Gleichnis an: Jesus befolgt in seinem Wirken schon den hier genannten Rat. Seine Sendung geht an die Benachteiligten der Gesellschaft; er lädt in seinen Mählern schon Menschen mit niedrigerem Status ein. Er, der Sohn des Höchsten (1,32) und Sohn Gottes (1,35; 3,21) ist, verkehrt mit Armen und Kranken, mit Sündern und Zöllnern. Dabei korrespondiert die Aufforderung, gesellschaftlich Benachteiligte zum Mahl einzuladen, mit dem Selbstverständnis Jesu, wie es bei seiner Antwort auf die Täuferfrage in Lk 7,22– 23 zu lesen war: „Blinde sehen, Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote stehen auf, Armen wird das Evangelium gepredigt und selig ist, wer sich nicht ärgert an mir.“106 Diese besondere Agency Jesu, verstanden als sein göttlicher Auftrag (Lk 4,18f.), den Armen das Evangelium zu predigen und die notleidenden Menschen durch Wundertaten und Sündenvergebung zu retten, ist nicht auf alle Menschen übertragbar.107 Diese können aber dennoch für ein Heil-Werden sorgen: Indem sie sich barmherzig um diejenigen kümmern, die besonders im göttlichen Fokus108 stehen: Arme, Krüppel, Lahme und Blinde. Die dritte Szene hingegen legt den Fokus noch stärker auf die Nähe von Jesus und Gott:109 Das Gleichnis ist, wie oben beschrieben, eindeutig als Reich-Gottes105
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Lukas denkt hierbei sicher an die Weherufe gegen die Reichen (Lk 6,24f.): Aber dagegen: Weh euch Reichen; denn ihr habt euren Trost schon gehabt. Weh euch, die ihr jetzt satt seid; denn ihr werdet hungern. Weh euch, die ihr jetzt lacht; denn ihr werdet weinen und klagen. Während in der Vergangenheit viele Exegeten diese und andere Aufzählungen von Menschen, die vermeintlich am Rande der Gesellschaft stehen, als zusammengehörig auslegten, regt sich dagegen heute Widerstand. Viel stärker solle versucht werden, behinderte Menschen stärker als Individuen zu betrachten, die nicht als generell negativ konnotierte Folie dem Heil gegenüber dienen sollen und wollen, so Schiefer Ferrari: Lektüre, 14ff. Wohl aber auf die von Jesus ausgesandten Zwölf in Lk 9,1: Sie bekommen die Kraft, Menschen zu heilen und sie von bösen Geistern zu befreien. Auch die 72 bekommen Krankenheilungen als Aufgabe: 10,9. Dass dies auch Exorzismen beinhaltet, verdeutlicht erst ihr Rückkehrbericht in 10,17f. Diese Befähigungen sind bei Lukas aber nicht auf die Zeit des irdischen Jesus beschränkt. Auch in der Apostelgeschichte berichtet er von Heilungen (z. B. 3,1–8) und Exorzismen (z. B. 5,16) durch die Apostel. Vgl. die aufgezählten Gruppen bei den Seligpreisungen Lk 6,20ff. Meine Deutung basiert auf der Annahme, dass hinter dem Hausherrn in der dritten Szene allegorisch Gott (oder Jesus) gesehen werden muss (vgl. Wolter: Lk, 510). Dem widerspricht Schottroff explizit: „Der Gastgeber ist nicht als Abbild Gottes gemeint.“ Sie deutet die Figur des Gastgebers durchgehend negativ, da er gar nicht aus seinem Bezug auf die Gleichrangigen ausschert, sondern diese durch die Einladung der Armen beleidigen will. Die Ersatzeinladung drücke „beleidigte Wut“ aus (Schottroff: Schwierigkeit, 600). Die Parabel rufe gerade dazu auf, ihn nicht nachzuahmen, sondern sich an der Mahlpraxis Jesu zu orientieren, die sich nach Schottroff ganz auf die Armen und Ärmsten konzentriere. Schottroff versucht, die Perikope vor antijüdischer Auslegung zu schützen, die in den Ersteingeladenen die Juden sieht, deren Ablehnung die Heidenmission durch den wütenden Gott hervorbringt. Dieses Anliegen ist durch die negative Wirkungsgeschichte des
3.6 Das Gastmahl im Hause eines Pharisäers
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Gleichnis einzuordnen. Dem entspricht, dass das im Gleichnis erzählte Mahl als eschatologisches Mahl zu verstehen ist.110 Interpretiert man nun die Aussage aus 14,24 als Aussage Jesu (und nicht als Aussage des Hausherrn im Gleichnis),111 ergibt sich folgende Verschiebung: 14,24 gehört dann nicht mehr auf die Ebene des Gleichnisses, sondern in die Metaerzählung. Er schließt damit also an das in 14,15 Erzählte insofern an, da Jesus sich wieder an einen Gast bzw. alle Gäste des pharisäischen Sabbatmahls wendet. Damit ist dann das eschatologische Mahl ein Mahl Jesu. Dies bestätigt die vorgeschlagene Deutung der Verse 14,11.14. An allen drei Stellen rückt Jesus in die Rolle des eschatologischen Gastgebers, die eigentlich Gott zugesprochen werden müsste. Auch der Sabbat als Rahmen wird hier indirekt wieder aufgegriffen: Nicht nur verbindet sich hier wie überall im dritten Evangelium Jesu Handeln am Sabbat mit seiner Lehre, es ist auch der Tag, an dem besonders das Heil des Menschen in den Mittelpunkt rückt: „Wenn schon der Sabbat in hervorgehobener Weise der Tag Gottes ist – darin stimmt Jesus mit dem zeitgenössischen Judentum überein – dann muß an ihm auch in hervorgehobener Weise Gottes Werk am Menschen geschehen.“112 Und dieses Werk Gottes geht über körperliche Heilung hinaus und verbindet sich explizit mit heilsamer Lehre, wie sie aus Sicht des Lukas nur von Jesus kommen kann, dem Herrn
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Textes durchaus berechtigt, verkennt aber Jesu Sendung nur zu den Juden, die sich nach lukanischer Darstellung erst in der Zeit der Apostel auf die Heiden ausweitet. Implizit schwingt bei Schottroff m. E. auch die theologische Zurückhaltung mit, Gott als zornig und aufgrund von Wut oder Zorn handelnd zu verstehen. Dass die Rede von der Gerechtigkeit Gottes, die auch seinen Zorn über menschliches Fehlverhalten beinhalten kann, theologisch nicht nur möglich, sondern auch nötig ist, um Gott als gnädig zu verstehen, zeigt Maschmeier: Barmherzigkeit. Mt 22,1–14 erzählt ein ähnliches Gleichnis, dort im Sinne matthäischer Theologie als Himmelreichsgleichnis eingeführt. Auch dort findet sich ein zweistufiges Einladungsverfahren, bei dem die ersten Gäste nicht am Mahl teilnehmen und durch andere ersetzt werden. Die relative Ähnlichkeit beider Texte ist auch in die Textüberlieferung eingeflossen. Der abschließende Satz aus Mt 22 (Denn viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt) findet sich auch bei einigen Textzeugen als Abschluss der lukanischen Erzählung. Zur Frage nach der beiden Varianten mglw. vorliegenden Überlieferung vgl. die kurze Darstellung bei Hoppe: Einladung, 94 und Wolter: Lk, 509f. Ein weiterer Paralleltext findet sich im Logion 64 des EvThom. Auch hier sendet ein Mann seinen Sklaven aus, der die Eingeladenen hereinbittet, die ihm aber alle vier absagen, wobei drei der Entschuldigungen aus dem kaufmännischen Bereich stammen. Daher passt auch der abschließende Vers 12: Die Käufer und die Händler werden nicht eingehen zu den Orten meines Vaters. Übersetzung und Kommentierung bietet: Nordsieck: Thomasevangelium. Die Drohung aus Vers 24 ist nur dann eine wirkliche Drohung, wenn sie als eschatologisch zu verstehen ist. So schreibt schon Jeremias: Gleichnisse, 177: „Für Gäste, die nicht zum Mahl kommen wollen, ist es keine Drohung, daß sie nicht zugelassen werden.“ Versuche, die Abwesenheit der Gäste temporär zu verstehen (im Sinne von: Ich komme nicht jetzt, aber später), und damit Vers 24 für das Gleichnis zu retten, widersprechen der Aussagen der drei Gäste als „definitive Absage“ (ebd.). Dietzfelbinger: Sabbat, 297.
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3 Exegese ausgewählter Perikopen
über den Sabbat (Lk 6,5). Dabei sind besonders diejenigen Menschengruppen im Blick, die im bisherigen Leben wenig zu lachen haben (Lk 6,21b): Arme usw. Die ursprünglich Eingeladenen sind reiche(re) Menschen,113 die aber durch die Bedingungen der Welt abgehalten werden (bzw. sich abhalten lassen), am Mahl Jesu teilzunehmen. Wie an vielen Stellen im Lukasevangelium warnt Jesus diese Reichen, dass am Ende die Verhältnisse umgekehrt sein werden.114 Nur die Anerkennung seiner Person und das damit verbundene barmherzige Verhalten gegenüber den Schwächsten der Gesellschaft Zutritt am eschatologischen Mahl Gottes und seines Christus ermöglicht.
3.6.8 Zusammenfassung und Fazit Bei der dritten Mahlerzählung im Lukasevangelium sind besonders die als rituell zu verstehenden Elemente untersucht worden. Dabei stand die Frage im Vordergrund, wie der lukanische Jesus rituelles Handeln für seine Lehre nutzt und welche Auswirkungen dies auf das Jesusbild des dritten Evangeliums hat. Die erste der drei Szenen des Sabbatmahls stellt scheinbar die Heilung durch Jesus in den Mittelpunkt, doch werden die eigentliche Heilungshandlung und der Heilungsbedürftige sehr unklar akzentuiert. Wichtiger scheint zu sein, dass das jesuanische Handeln als Reaktion auf die ihm vorliegende (bzw. durch den pharisäischen Gastgeber aktiv vorgelegte) Situation zu verstehen ist. Diese Situation ist durch und durch rituell geprägt (Stichworte: Sabbat, Mahl) und dient dem Evangelisten als Basis für die Botschaft Jesu: Heilendes Handeln ist am Sabbat nicht nur erlaubt, sondern geboten.115 Letzteres wird durch die im weiteren Verlauf der Mahlerzählung verwendeten Gleichnisse – und natürlich durch die Lektüre des gesamten Lukasevangeliums – deutlich. Allerdings ist Ethik nur ein Teilanliegen dieser Perikope. Dies wird besonders bei der Untersuchung des mittleren Teils 14,7–14 klar. Beim genauen Lesen ist festzustellen, dass der Text auf mehreren Ebenen verstanden werden kann: Auf der ersten Ebene werden die Gäste mit dem Hochzeitsgleichnis dazu aufgefordert, den Versuch zu unterlassen, ihre öffentliche Ehre durch das Suchen 113
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Das gilt zumindest für die ersten beiden Gäste, deren Kauf von Land und fünf Gespann Ochsen auf ein reicheres Milieu schließen lässt. Wahrscheinlich ist hier an die gleichen Personengruppen wie in Szene 2 gedacht; dementsprechend wird ja hier dieselbe Aufzählung der Armen usw. zur Kontrastierung genommen. Man vergleiche bspw. die Seligpreisungen der Feldrede in Verbindung mit den Weherufen an die Reichen in Lk 6 oder die Gegenüberstellung vom reichen Mann und armen Lazarus in Lk 16. Schon in 1,53 heißt es aus dem Mund Marias über Gott: Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen. Damit stellt Jesus allerdings nicht den Sabbat und das Einhalten seiner Gebote in Frage: Gerade die betonte Verwendung von Sabbat im Evangelium zeigt ja die Relevanz dieses Tages.
3.7 Das letzte Mahl
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nach dem ehrenvollen besten Platz zu bestätigen. Ebenso soll der Gastgeber bei der Auswahl seiner Gäste nicht allein darauf achten, den gesellschaftlichen Gleichwert und damit die Wiedereinladung in den Vordergrund zu stellen. Auf der zweiten Ebene geht es um das Verständnis der Person und des Wirkens Jesu. Denn obwohl er eigentlich als Gast im Haus des Pharisäers ist, dreht sich diese Perspektive im Gleichnis und lässt so die unglaubliche Nähe von Gott und Jesus durchsichtig werden: Jesus ist der Einladende, der wie Gott (vgl. 14,11.14.24!) für den richtigen Platz der Gäste sorgen wird. Auf beiden Ebenen bricht Jesus die rituelle Ordnung auf, die eigentlich bei einem Mahl gelten sollte und die Liegeplätze beim Mahl mit der gesellschaftlichen Rangfolge in eins bringt. Jesus lässt sich einladen zu diesem Mahl und zu anderen Mählern und nimmt die immanente Ordnung zwar auf, indem er die Gleichnisse in diesem Rahmen anlegt, er setzt sie aber gleichzeitig als mit göttlicher Agency wirkender Charismatiker außer Kraft und bringt sie mit verändertem Maßstab zu neuer Geltung, indem er Selbsterniedrigung und die Hinwendung zu den sozial Ausgestoßenen fordert. Beides wird eschatologisch zurechtgerückt – vergolten – werden. Für den Leser von Lk 14 steht neben der Ethik die Frage nach dem Verständnis Jesu im Vordergrund: Jesus steht gewissermaßen außerhalb der durch Rituale geprägten Gesellschaft: Er ist frei, mit ihnen umzugehen und lässt sich absichtlich in sie hineinnehmen, wird aber nicht durch diese beschränkt: Er nutzt sie kreativ, um seine Botschaft zu verkünden: Er heilt am Sabbat, er rückt das Verhalten der Gäste mit einem Gleichnis zurecht, bei dem er sich selbst zum Gastgeber macht, neben dem der beste Platz ist und er nimmt die in den Mittelpunkt des Handelns, die sonst ausgeschlossen sind: Arme usw. Gleichzeitig verbindet der Autor des Lukasevangeliums die passiven Aussagen in 14,11.14 so, dass nicht nur Gott, sondern auch Jesus als Herr und als Handelnder dahinterstehen kann.
3.7
Das letzte Mahl (Lk 22,7–20)
Das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern vor der Kreuzigung wird von Lukas deutlich in Zusammenhang mit dem Passafest gestellt. Dieses begegnete dem Leser schon in Lk 2,41–52, wo es hauptsächlich Anlass für die Reise der Eltern Jesu nach Jerusalem war. In Lk 22 ist das Passafest nicht nur der Grund für die Wallfahrt Jesu nach Jerusalem – welche nach synoptischer Tradition die einzige Wallfahrt im Laufe seiner öffentlichen Wirksamkeit gewesen ist – sondern steht auch im inhaltlichen Zusammenhang zu diesem. Nach Auskunft des dritten Evangeliums nutzt Jesus dezidiert die besondere Situation des Fests, das sowohl einen Bezug zum Opfer im Tempel hat, als auch die Erinnerung an den Auszug Israels aus Ägypten wach hält. Dabei zeigt Jesus schon für die Vorbereitung des Fests seine besondere Agency als Gastgeber: Er weist Petrus und Johannes exakt an, wo sie
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3 Exegese ausgewählter Perikopen
den Ort für das gemeinsame Mahl finden (22,10f.) und kennt auch schon denjenigen Jünger, der ihn ausliefern wird (22,21–23). Zudem verbinden sich die Mahlelemente Brot und Kelch auf besondere, körperliche Weise mit Jesus selbst (Performanz), wobei der Evangelist Sprache (Mikroriten), Handlungen und Gesten (Mesoriten) und die öffentliche Feier (Makroritus) für seine Darstellung benutzt. Dabei steht das Ritual des Passafestes besonders im Mittelpunkt, da der lukanische Jesus aus diesem Kontext Sprache, Handlungen und Inhalte aufnimmt und in Variation bzw. Aktualisierung verwendet. Bei der Betrachtung wird daher zu fragen sein, inwiefern der lukanische Jesus durch das Mahl mit seinen Jüngern ein neues Ritual schafft bzw. das ursprüngliche Ritual des Passamahls für seine Gemeinschaft variiert. Damit könnte der lukanische Jesus als Ritualdesigner auftreten, der für die Jünger und damit für die Gemeinde der Leser eine ‚Aktualisierung‘ des Passarituals als ein – im doppelten Sinne – Übergangsritual durchführt. Dieses manifestiert sich – so die These – im Brotwort (22,19), das dezidiert den Wiederholungsauftrag enthält und sowohl auf das Mahl der Emmausjünger, als auch das Brotbrechen aller Jünger als eines der notae ecclesiae in der Apostelgeschichte vorausverweist (Apg 2,42).1
3.7.1 Einordnung in die Erzählung des Evangeliums Seit dem feierlichen Einzug in Jerusalem (19,28–40) weilt Jesus in der Stadt. Lukas berichtet von Jesu Lehre am Tempel und Streitgesprächen zwischen ihm und den religiösen Autoritäten.2 Die Lehre Jesu ist hierbei auf den Tag beschränkt, nachts weilt er am Ölberg, außerhalb der Stadt (21,37). Mit 22,1f. endet die Erzählung der öffentlichen Wirksamkeit Jesu am Tempel. Noch einmal trägt Lukas die Tötungsabsicht der Hohepriester und Schriftgelehrten vor, die er zeitlich mit dem nahenden Passafest verknüpft.3 Der Satan4 fährt daraufhin in Judas, einen der Zwölf,5 der mit den Hohepriestern und den Hauptleuten die Vereinbarung trifft, Jesus gegen Geld zu verraten, sodass die Festnahme kein Aufsehen bei der 1
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Die Verbindungslinie von letztem Mahl, dem Mahl Jesu mit den Emmausjüngern und den Mählern der Apg zieht Bösen: Mahlmotiv, 371–422. Bösen erkennt richtig das Abendmahl Jesu als „Mahl der Zwischenzeit“ (264, 372f. u. ö.). Darauf wird, wenn auch in angepasster Terminologie, unter Punkt 3.7.4 zurückzukommen sein. Meist nennt Lukas Hohepriester, Schriftgelehrte und Angesehene bzw. Älteste des Volkes (z. B. 19,47; 20,1) und Sadduzäer (20,27ff.) als Kontrahenten Jesu. Pharisäer werden interessanterweise das letzte Mal im Kontext des Einzugs, also noch vor Betreten der Heiligen Stadt, genannt. Sie spielen, zumindest expressis verbis, keine Rolle beim Prozess Jesu. Vgl. dazu ausführlich Hartenstein: Abendmahl, 180–189 und Haarmann: Gedenken, 37–60. Die Mitwirkung des Satans am Handeln des Judas berichtet auch Joh 13,1.27. Schon bei der Aufzählung der zwölf Apostel wird Judas dem Leser direkt als Verräter vorgestellt (Lk 6,16).
3.7 Das letzte Mahl
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Bevölkerung erregt.6 Der erste Teil des Mahls – das δεῖπνον – endet in Vers 20. Das (zweite) Kelchwort stellt den Übergang zum zweiten Teil des Mahls – dem συμπόσιον – dar. Dieses besteht aus weiteren Gesprächen7 Jesu mit seinen Jüngern;8 es ist der letzte Dialog zwischen ihnen vor der Kreuzigung. Das Symposion endet symptomatisch mit dem rätselhaften Satz Jesu: Es ist genug (ἱκανόν ἐστιν).9
3.7.2 Lk 22,7–13: Vorbereitung des Passamahls 7 Es kam aber der Tag der Ungesäuerten [Brote], an dem das Passa geopfert werden musste 8 und er sandte Petrus und Johannes aus und sagte: Geht und bereitet uns das Passa vor, damit wir es essen. 9 Sie aber sagten zu ihm: Wo willst du, dass wir es vorbereiten? 10 Er aber sagte zu ihnen: Siehe, wenn ihr in die Stadt geht, wird euch ein Mensch begegnen, der einen Wasserkrug trägt; folgt ihm zu dem Haus, in welches er hineingeht. 11 Und sagt dem Hausherrn: Der Lehrer sagt dir: Wo ist der Raum, wo ich mit meinen Jüngern das Passa esse? 12 Und jener wird euch einen großen, mit Polstern ausgestatteten Raum im Obergeschoss zeigen; dort bereitet [es] vor. 13 Sie aber gingen los und fanden es, wie er ihnen gesagt hatte und bereiteten das Passa vor. Nachdem Lukas in 22,110 das Passafest11 als zeitlich nahe beschrieben hatte,
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Die Begründung kennt der Leser seit 22,2, wo die Furcht der Hohepriester und Schriftgelehrten vor dem Volk beschrieben wird (vgl. auch Lk 20,6: Die Oberen fürchten sich vor dem Volk, da dieses Johannes den Täufer als Propheten anerkennt). Lukas beginnt in Vers 24 mit ἐγένετο δὲ einen neuen Gesprächsabschnitt zwischen Jesus und den Jüngern. Diese haben einen Streit (φιλονεικία) untereinander, wer der Größte der Jünger Jesu wäre, im Kontrast zum Auslieferer in Vers 21f. Ein ähnliches Gespräch bieten Mk 10,42–45 und Mt 20,25–28 in je unterschiedlichem Kontext. Vgl. Klinghardt: Becher, 39f. und den ausführlichen Artikel von Heilmann/Wick zu Mahl/Mahlzeit (NT). Vgl. u. a. Klein: Lk, 679 und Wolter: Lk, 719f., die beide mehrere Deutungsmöglichkeiten nennen, diese aber nur als Frage formulieren können. Lukas nennt den Begriff πάσχα in 22,1–16 insgesamt sieben Mal. Mglw. ist ihm der Name des Fests so wichtig, weil ein Wortspiel mit πάσχω vorliegen könnte, so Theobald: Paschamahl, 161f., der auch auf die im Lk häufiger vorkommenden Begriffszusammenhänge (vgl. z. B. 5,39) hinweist. Ein expliziter Rückbezug zum Passafest in Lk 2,41–52 ist nicht erkennbar, so auch Wolter: Lk, 698f. Theobald: Paschamahl, 136ff. versucht, eine Inklusio zwischen den beiden im
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3 Exegese ausgewählter Perikopen
kommt nun der Tag12 der Ungesäuerten Brote,13 an dem das Passa14 geopfert werden musste (ἔδει θύεσθαι τὸ πάσχα) in den Blick. Jesus möchte das Fest gemeinsam mit den Aposteln (22,14), im lukanischen Verständnis also dem Kreis der Zwölf, feiern15 und sendet daher mit Petrus und Johannes16 zwei seiner Jünger aus, den Raum und die Gelegenheit zum gemeinsamen Mahl vorzubereiten.17 Auffällig ist an dieser Stelle, dass die Initiative bei Jesus liegt; die Jünger führen nur aus, was Jesus will und aufträgt.18 Er sagt voraus, dass die beiden Jünger auf
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Lukasevangelium erwähnten Passafeiern herauszuarbeiten, kann aber nur die doppelte Erwähnung des Fests als sicheres Argument nennen. Aus den weiteren Zeitangaben des Lukas (23,56; 24,1) ergibt sich Donnerstag, der 14. Nisan, als Datum für das letzte Mahl und die Gefangennahme Jesu, vgl. Wolter: Lk, 694f. Laut Hans Klein (Lk, 661 [Fn 4]) richtet sich Lukas dabei nach griechischer Zeitrechnung, in welcher der Tag am Morgen beginnt, nicht nach alttestamentlicher Tradition, die den Tag abends beginnen lässt. Lukas interessiert sich nicht für eine detaillierte Darstellung des Opfergeschehens am Tempel (so auch bei der Passawallfahrt der Familie Jesu in Lk 2,41–52). „Die Schlachtung des Paschalammes, die kein eigentliches Opfer darstellte, fand nicht am ersten Tag der ungesäuerten Brote, sondern am Vorabend, am Tag vor dem Paschafest statt, das heißt am Nachmittag vor der abendlichen Paschafeier“ (Bovon: Lk IV, 224f; ebenda auch eine Beschreibung des Ablaufes der Festvorbereitungen). Dem Hinweis von Wolter: Lk, 699 zu Stemberger ist m. E. nichts hinzuzufügen: Er „hat darauf aufmerksam gemacht, dass man den Ablauf des Passamahls, wie er mehrere Jahrhunderte später in mPes 10 beschrieben ist, nicht in die neutestamentliche Zeit zurückprojizieren und zur Grundlage für die Interpretation der lk Mahlerzählungen (oder gar des letzten Mahls Jesu) machen darf.“ Zur Rückfrage nach der Verbindung von überlieferter Passaliturgie und dem lukanischen Mahlbericht siehe Theobald: Paschamahl, 157–178. Gemeint ist das Passalamm, laut Wolter: Lk, 696 ein „abstractum pro concreto“. An dieser Stelle sei betont, dass die historische Frage, ob das letzte Mahl Jesu ein Passamahl gewesen sein könnte (ablehnend schon Lietzmann: Messe, 211ff., befürwortend zuletzt Haarmann: Gedenken, 59f.) hier nicht beantwortet werden soll. Lukas beschreibt das letzte Mahl Jesu als Passamahl und stellt diese Verbindung in den theologischen Mittelpunkt von Lk 22. Petrus und Johannes (sowie Jakobus) zählen auch nach Ostern zum engsten Jüngerkreis und treten in der Apostelgeschichte gemeinsam auf (Apg 3,1.3f; 4,19; 8,14–17). Vgl. auch die drei Jünger, die Jesus bei der Verklärung mit auf den Berg nimmt (Lk 9,28–36). Levine und Witherington: Luke, 586 vermuten, dass sich die Abwesenheit Jakobus’ seiner frühen Hinrichtung (Apg 12,2) verdankt, er also in lukanischem Verständnis nicht als dauerhafter Anführer der Kirche zählen kann. Ähnlich auch Edwards: Luke, 621: „‘Peter and John‘ may be named together here because, at the time of writing, James has been martyred (Acts 12:2), leaving John the remaining prominent disciple next to Peter. The names of Peter and John prepare readers for the important role both will play in Acts. The treason of Judas may have led Jesus to select his two most trusted apostles.“ Vorbereiten (ἑτοιμάζω) kommt viermal (22,7f,.11.13) in diesem kurzen Abschnitt vor. Auch in Mk 14,13 sendet Jesus zwei Jünger aus, ohne sie allerdings zu benennen. In der markinischen Variante sind es zudem die Jünger, die Jesus fragen, wo sie das Passalamm essen sollen; im lukanischen Bericht initiiert Jesus dieses Gespräch. In Mt 26,17ff. sind es ebenso die Jünger, die nach dem Ort des Passamahls fragen. Jesus schickt dann allerdings
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einen Menschen,19 der einen Wasserkrug trägt,20 treffen werden. Ihm sollen sie zu seinem Haus bzw., sollte es sich um einen Sklaven handeln, zum Haus seines Herrn (22,11: οἰκοδεσπότης) folgen. Dieser Hausherr wird den beiden Jüngern auf ihre Aufforderung21 hin ein Zimmer (κατάλυμα22) zeigen, welches über Sofas zum Speisen (ἀνάγαιον ἐστρωμένον23) verfügt. Dass Jesus und seinen Jüngern der Raum zur Verfügung gestellt wird, liegt in der religiösen Tradition begründet, Pilgern für das große Fest Räumlichkeiten anzubieten: „In den Augen des Lukas liegt das Wunder nicht in der Bereitwilligkeit des Gastgebers, sondern in dem übernatürlichen Wissen um den vielleicht letzten noch freien Raum!“24 Petrus und Johannes finden alles so vor, wie Jesus es angekündigt hatte: „Die Zurückhaltung der Jünger – kein Zweifel, keine Frage – unterstreicht das vollmächtige Handeln [Jesu].“25 Dabei fällt auf, dass der Erzähler an Details, die nicht die Vollmacht Jesu betreffen, nicht interessiert ist: Woher das Lamm kommt, was die anderen Apostel tun usw. ist nicht von Belang.26 Insgesamt erinnert die Szene in vielen Details an die Auffindung des Esels für den Einzug in Jerusalem in Lk 19,28–40.27
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Jünger aus, ohne deren genaue Anzahl zu nennen. Lukas betont also deutlich die Initiative Jesu im Zusammenhang mit dem Passafest. „Das Motiv vom unbekannten Wegweiser erinnert an 1Sam 10,2–8“ (Ernst: Lk, 443). Die Orientierung an 1Sam ist für Lukas nichts Ungewöhnliches und schon in den Kindheitsgeschichten zu erkennen. Zu Aufnahme von 1Sam in Lk 2,41–52 vgl. Kapitel 3.2 dieser Arbeit. Über die Besonderheit des Wassers (z. B. in Verbindung zur Taufe) haben sich u. a. Cyrillus von Alexandrien und Beda Venerabilis Gedanken gemacht. Näheres zur Wirkungsgeschichte bei Bovon: Lk IV, 229–231. Lukas formuliert keine Anfrage, keine Bitte, sondern eine Aufforderung, dem Lehrer und seinen Schülern einen Raum zur Verfügung zu stellen. Dazu Bovon: Lk IV, 227: „Dem Meister des Hauses wird nichts anderes übrigbleiben, als sich den Forderungen des anderen Meisters zu fügen.“ Ein κατάλυμα kennen die Leser schon aus Jesu Geburtsgeschichte (Lk 2,7). Es bezeichnet hier wie dort einen Raum, in dem man sich vorübergehend aufhält, aber plant wieder zu verlassen. Jesus will also nicht dauerhaft hier mit seinen Jüngern bleiben; vgl. Wolter: Lk, 126.697. Zum Aufbau des antiken Mahls, das auch für die lukanische Darstellung herangezogen werden muss, vgl. Heilmann/Wick: Art. Mahl/Mahlzeit (NT). Bauer: Wörterbuch (Artikel zu στρωννύω, Sp. 1528): zu ἀνάγαιον ἐστρωμένον „ἀ. ἐ. ist wohl ein gepflastertes Oberzimmer … Andere denken an ein mit Teppichen oder Speisepolstern belegtes Zimmer.“ Lukas stellt sich das Mahl als römisches triclinium vor: „Im Falle Jesu und seiner Jünger besetzten die Jünger die beiden Längsseiten (fünf Personen an jeder Seite); zwei von ihnen nahmen links und rechts von Jesus am Ende des Tisches Platz“ (Bovon: Lk IV, 225f.). Bovon: Lk IV, 225 mit Rückgriff auf die Darstellung bei Gustav Dalman: Jesus-Jeschua, 98– 111. Ernst: Lk, 443. Ernst: Lk, 443: „Das Interesse am Detail verschwindet hinter dem Kyrios-Erlebnis der Gemeinde.“ Auch beim Bericht des Einzugs sind es zwei Jünger, die Jesus losschickt, um den Esel für den benötigten Ritt nach Jerusalem zu besorgen. Auch dort finden die beiden Jünger alles
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3.7.3 Lk 22,14–20: Brot- und Kelchwort(e) 14 Und als die Stunde gekommen war, legte er sich zu Tisch und die Apostel mit ihm. 15 Und er sagte zu ihnen: Ich hatte das starke Verlangen, dieses Passa mit euch zu essen, bevor ich leide. 16 Denn ich sage euch, dass ich es nicht essen werde, bis es erfüllt sein wird im Reich Gottes. 17 Und er nahm einen Kelch, sprach ein Dankgebet und sagt: Nehmt diesen und teilt ihn miteinander. 18 Denn ich sage euch, dass ich von nun an nicht mehr von der Frucht des Weinstocks trinke, bis die Königsherrschaft Gottes kommt. 19 Und er nahm Brot, sprach ein Dankgebet, brach es, gab es ihnen und sagte: Dies ist mein Leib, der für euch gegeben wird; dies tut zur Erinnerung an mich. 20 Und genauso [nahm er] den Kelch, nach dem Mahl und sagte: Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut, der für euch vergossen wird. In 22,14 zoomt Lukas zeitlich noch genauer in die Szene: Nachdem in 22,1 das Fest nahe war, in 22,7 der Tag der Ungesäuerten Brote anbrach, so ist jetzt die Stunde28 des Mahls gekommen. Jesus legt29 sich gemeinsam mit den zwölf Aposteln30 in dem vorbereiteten Oberzimmer zu Tisch. Lukas baut – wesentlich deutlicher als seine synoptischen Seitenreferenten – das Passafest in Rede und Handlung Jesu ein. Ihn verlangt es unbedingt danach (Vers 15: ἐπιθυμίᾳ ἐπεθύμησα31),
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so vor, wie Jesus es ankündigte. Allerdings differenziert der Evangelist bei der Bezeichnung für Jesus, der in 19,31.34 dezidiert als der Herr (ὁ κύριος) – auch aus Jesu Mund – bezeichnet wird. In Lk 22,11 ist Jesus der Lehrer (ὁ διδάσκαλος). Anders als Markus „arbeitet Lk eine deutliche zeitliche Zuspitzung heraus […], so dass der Leser den Eindruck einer dramatischen, zielgerichteten Entwicklung gewinnt“, so Winter: Trennung, 76. Theobald: Paschamahl, 160 vermutet hinter dem ἀνέπεσεν phantasievoll ein Element „des rabbinischen Pesach Seder“, … „weshalb wir annehmen dürfen, dass Lukas mit dem Verb tatsächlich auf die Tischsitte beim Pascha-Festmahl anspielen wollte.“ Das kann natürlich nicht gänzlich ausgeschlossen werden, mglw. hat Lukas an dieser Stelle auch nur die hellenistische Sitte des bei Tische Liegens im Blick. Zudem legt sich Jesus auch in 11,37 mit an den Tisch (ausgedrückt durch ἀνέπεσεν), ohne dass hier ein Passabezug anzunehmen wäre. Das gilt auch für die weiteren beiden lukanischen Bezeugungen in Lk 14,10; 17,7. Im Lukasevangelium sind die Apostel und der Zwölferkreis identisch. Auch in Mk 14 und Mt 26 sind nur die Zwölf (ohne Nennung des Begriffs Apostel) beim letzten Mahl anwesend. Der Fokus der Erzählung liegt eindeutig auf dem Handeln Jesu, die Apostel sind nur mit dabei (vgl. Edwards: Luke, 626, der auch auf 22,39 verweist, wo Jesus nach seiner Gewohnheit zum Ölberg geht und die Jünger ihm folgen). Lukas betont an dieser Stelle den Willen Jesu, trotz des bald kommenden Leidens bei den Jüngern zu sein. „The introduction is another and emphatic reminder, that Jesus is not
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das Passamahl mit seinen Jüngern zu essen, denn er verweist auf dieses Passa als letztes vor seinem Leiden32 und verbindet dies mit der Erwartung, dass durch das Reich Gottes das Passa erfüllt werde (ἕως ὅτου πληρωθῇ ἐν τῇ βασιλείᾳ τοῦ θεοῦ)33 und er selbst es feiern werden wird.34 Bovon fasst zusammen: „Für ihn wird es eine letzte Gelegenheit sein, für sie eine erste Feier.“35 Wolter hingegen betont – wie später ausführlich dargestellt – die Funktion des gemeinsamen Brotbrechens als Zwischenschritt zwischen dem letzten Mahl Jesu und dem endzeitlichen Mahl bei seiner Parusie.36 Nur in der lukanischen Überlieferung spricht Jesus zweimal über einen Kelch (22,17.20: ποτήριον37), jeweils verbunden mit einem Dankgebet (22,17.19: εὐχαριστήσας). Dabei verknüpft er das erste Kelchwort mit dem Reich Gottes, das als (bald) kommend bezeichnet wird. Dieser erste Kelch ist somit mit dem Passafest verbunden, das ja direkt vorher mit der Erwartung des Reiches Gottes verknüpft worden ist. Dieser ist es, den die Apostel unter sich teilen (22,17: διαμερίσατε) sollen.38 Dabei ist schon eindeutig die Zukunft der Jünger im Blick, eine Zukunft, die ohne Jesu Anwesenheit39 beim Mahl stattfinden wird, denn auffälligerweise ist Vers 17 der einzige in diesem Abschnitt, der keine Aussage über
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playing a defensive endgame in order to escape (or delay) a checkmate from the authorities. He is intentionally presiding over his final earthly Passover meal, which he has convoked“, Edwards: Luke, 626. Die Aussage von Klein: Lk, 665, Jesus „wird das Passamahl nicht vor seinem leidvollen Sterben mit den Jüngern feiern“, die er nicht eigens begründet, kann ich nicht nachvollziehen. Auch wenn nicht konkret gesagt wird, dass Jesus etwas isst (vgl. 24,43), wäre ein Verzicht Jesu auf die Speise doch explizit beschrieben worden. Zudem passt es weder zu der allein auf Jesu Initiative gründenden Mahlsituation (er ist es, der in 22,7 das Passamahl plant) noch zum zweiten Kelchwort, von dem es heißt, es geschehe μετὰ τὸ δειπνῆσαι. Dass bei dem Thema Vollendung bzw. Erfüllung schon das Leiden Jesu angedeutet wird, beschreibt Klein: Lk, 665: „Das Essen der Vollendeten bleibt Zielpunkt, aber jetzt steht das Leiden im Vordergrund. Das Passafest wird zum Gedächtnismahl mit eschatologischem Ausblick. Wie Israel sich an die Herausführung aus Ägypten erinnert, so die Christen an Jesu Tod.“ Die Deutung von Ernst: Lk 445: „… die jüdische Passafeier ist von jetzt an der kultische Rahmen für die eucharistische Feier der Gemeinde“ halte ich für problematisch, da in 22,14f. keine Gleichsetzung von Jesu Leiden und dem (Leiden des) Passalamm(s) zu lesen ist und im nachfolgenden Text die Wiederholung des Teilens von Brot (und Wein?) nicht im chronologischen Zusammenhang zum Passafest steht, sondern wöchentlich (Apg 20,7) stattfindet. Zur Beziehung von Apg 20,7–12 und Lk 22 vgl. Theobald: Leib, 134–142. Bovon: Lk IV, 243. Vgl. Wolter: Lk, 700f. Ausführlich dazu im ritualwissenschaftlichen Abschnitt. Lukas unterscheidet hier insofern, als dass der erste Kelch ohne Artikel, der zweite hingegen mit Artikel (τὸ ποτήριον) beschrieben wird. In Vers 17 nimmt Jesus einen Becher, in Vers 20 den Becher. Zu den zwei Bechern im jüdischen Mahl vgl. Klinghardt: Gemeinschaftsmahl, 181. Gleiches wird vom zweiten Kelch in 22,20 nicht gesagt. Der Tod Jesu steht beim ganzen Text im Hintergrund, vgl. den Bezug zu Jer 16,7LXX, wo von Trauerbrot und Trauerkelch gesprochen wird (ausführlich dazu Klauck: Herrenmahl,
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3 Exegese ausgewählter Perikopen
Jesus enthält.40 Jesus selbst will von jetzt an keinen Wein mehr trinken, bis das Reich Gottes kommt.41 Dies ist parallel zur Aussage Jesu in Vers 16 zu sehen: Jesus will ebenso nicht mehr essen bis zur Erfüllung42 des Passa im Reich Gottes.43 Der Abschnitt 22,15–18 ist sowohl sprachlich als auch inhaltlich eng verknüpft; er ist zudem von den sog. Einsetzungsworten nicht zu trennen. Jesus ist an dieser Stelle als Gastgeber44 zu verstehen, der dem Mahl mit seinen zwölf Jüngern vorsteht und es leitet. Er nimmt auch daran teil, zumindest beim ersten Kelch45 und bei der nur nebenbei erwähnten Mahlzeit (22,20).46 Schwierig zu deuten ist die Frage nach den Elementen Brot und Wein. Stellt Lukas sich vor,
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88). Einige Exegeten vermuten ein jüdisches Trauerritual als Kontext der Abendmahlserinnerung, vgl. Standhartinger: Frauen, 255–274. Standhartinger stellt dabei die „Hypothese“ auf, „dass die Worte von Frauen im Kontext der Erzählungen vom Leiden, Sterben und Auferstehen Christi gesprochen wurden, und zwar als Sprecherinnen ritueller Totenklagen“ (257). In Bezug auf ‚Frauen und Abendmahl‘ vgl. auch dies.: Frauen von Jerusalem, 74–104 und Haarmann: Gedenken, 57, der die Anwesenheit von Frauen und Kindern nicht ausschließen will. Davon berichten die Texte der Evangelien freilich nicht. „Jesu ‚ich‘ fällt aus dem Satz V 17 heraus“ (Bovon: Lk IV, 244). Die häufigen Versuche, die aus der (späteren) Passa-Anleitung des Talmuds stammende Abfolge Kelch-Brot-Kelch zu erklären (eine kurze zusammenfassende Darstellung findet sich bei Ernst: Lk, 446), stoßen sich – neben der zumindest anzunehmenden Asynchronität – am lukanischen Text. Ein Beispiel: So dürfe es „als sicher“ (so Ernst: ebd.) gelten, dass der Kelch in Vers 17 dem dritten (!) Kelch der Passaliturgie entspreche, was m. E. im Text nicht ablesbar ist. Nach Klein: Lk, 664 ist der Abstand des Autors zum Passa größer als beim Markusevangelium: „Bei Lk ist nicht mehr deutlich, wie das Passa gegessen wird. Die realen Vorstellungen sind verschwunden.“ Ob es zur Zeit Jesu wirklich eine einheitliche Passaliturgie gab (und wenn ja, wie diese genau aussah), ist umstritten. Gegen die Möglichkeit, die spätere jüdische Passa-Liturgie zur Klärung des synoptischen Mahlverständnisses nutzen zu können, spricht sich Leonhard: Pesach, 275–312, aus. Vgl. auch das Zitat von Stemberger in Fn 13 dieses Kapitels. Lk 22,16 und 18 sind fast exakt parallel, nur „das Thema der Erfüllung fehlt in V 18“ (Bovon: Lk IV, 243 [Fn 31]). Wolter: Lk, 701 hingegen sieht Kommen und Erfüllen des Gottesreiches in eins gesetzt. Ob Jesus selbst aus dem Becher in Vers 17 getrunken hat, ist „kaum eindeutig zu beantworten“, so Theobald: Paschamahl, 165f. (mit Begründung). Jesus betont in Vers 15, dass er das Passa mit den Aposteln essen wolle, aber kann man daraus sein Mittrinken erschließen, wo doch ausgerechnet die Aufforderung in Vers 17 keine Aussage über Jesus trifft? Anders Wolter: Lk, 702 (vgl. Fn 45 dieses Kapitels). So u. a. Winter: Trennung, 78 und Theobald: Paschamahl, 143: „Tatsächlich hat aber Jesus in Lk 22 die Rolle des Hausvaters inne, bei früheren Mählern war er zumeist als Gast zugegen.“ Dem zweiten Satz ist allerdings hinzuzufügen, dass Jesus sich bei vielen Mählern als Hausvater bzw. Gastgeber gebiert, auch wenn er nicht der eigentliche Gastgeber ist; vgl. die Kapitel 3.5 und 3.6 dieser Arbeit. Eine Aufstellung von Parallelen und Unterschieden in den lukanischen Gastmahlberichten bietet Speckmann: Lukas, 69–72. So Wolter: Lk, 702 zu 22,17: „Es ist jedoch wahrscheinlicher, dass Lukas sich Jesus als mittrinkend vorgestellt hat.“ Ähnlich auch Edwards: Luke, 627. Auch wenn das Essen nicht explizit beschrieben wird, ist von einem Sättigungsmahl auszugehen, vgl. Wolter: Lk, 700 und Bovon: Lk IV, 246.
3.7 Das letzte Mahl
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dass Jesus das gebrochene Brot isst, das er mit seinem gebrochenen Leib identifiziert und den Wein aus dem Kelch trinkt, den er mit dem neuen Bund in seinem Blut verbindet? Mit Vers 19f.47 setzen nun die Einsetzungsworte48 in der Reihenfolge Brot – Wein ein.49 Jesus nimmt das Brot, spricht ein Dankgebet, bricht es50 und gibt es seinen Jüngern. Dies erinnert bis hin zur Wortwahl an die Speisung der 5000 (Lk 9,10–1751) und wird in der Emmausperikope (24,13–35) wieder aufgegriffen werden.52 Doch hier geschieht mehr als bei der wundersamen Brotvermehrung: 47
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Die handschriftliche Überlieferung ist an dieser Stelle uneindeutig, teilweise fehlt 22,19d.20. Die mit NA28 zu lesende „Langform“ verdient „wegen [ihrer] guten Bezeugung den Vorzug“ (Ernst: Lk 447). Ebenso Bovon: Lk IV, 239–242; Wolter: Lk, 699. Klein: Lk, 664f. schließt sich dem an und ergänzt: „Dafür, daß Lk den Langtext schrieb, spricht vor allem die Tatsache, daß er in 22,20 den Paulustext mit dem des Mk kombiniert. Ein Abschreiber hätte sich stärker an Mt/Mk angeschlossen, wenn er einen ursprünglichen Kurztext hätte ergänzen wollen.“ Allerdings ist ein Hinweis darauf, dass jemand (wer genau?) etwas auf eine Weise hätte machen müssen, kein valides Argument. Ganz anders argumentieren Jan Heilmann und Kevin Künzl (Problem, 117–138). Sie orientieren sich an der These Klinghardts, dass es sich beim Evangelium des Markion „um das älteste Evangelium [handle], von dem alle kanonischen Evangelien abhängig seien“ (124). Der Kurztext, der in einigen Handschriften des Lk überliefert ist, stamme somit ursprünglich aus dem markionitischen Text und sei durch die Überlieferung aus 1Kor 11 ergänzt worden. Die bekannte Nähe von Lukas zu Paulus (in altkirchlichen Vorstellungen des zweiten Jahrhunderts) und das Zusammenstehen des lukanischen Textes mit den Paulusbriefen im marcionitischen Kanon würden die Schaffung des Langtextes als Angleichung an Paulus erklären. Die früher öfter diskutierte Theorie, die ausgelassenen Versteile müssten geheim gehalten werden, vertritt neuerdings wieder Billings: Word, 507–526: „A scribe working in this environment [lokale Verfolgung der Christen in Gallien; DK] from a Luke-Acts recension brought to, or produced in Lyons, might conceivably have considered it prudent to omit the words of institution from Luke 22:19b–20 as they came to him in the exemplar (sc. Codex Bezae)“ (526). Dies sei geschehen „to avoid any further politically dangerous or socially incapacitating allegation being attached to his community, and to extinguish the possibility of texts being used as evidence of flagitia or to instigate fresh allegations or popular hysteria“ (ebd., kursiv dort). Für meine Arbeit gehe ich von der kanonischen Endgestalt des Lk aus, wie sie in NA28 rekonstruiert ist. Diese sind bekanntlich in differenter Weise auch synoptisch und in 1Kor überliefert. Die Verse 19 und 20 sind parallel mit den überlieferten Worten Jesu bei seinem letzten Mahl in der weiteren Überlieferung zu betrachten (Mk 14, Mt 26, 1Kor 11), vgl. dazu u. a. Bovon: Lk IV, 238f. Einen tabellarischen synoptischen Vergleich bietet Wolter: Lk, 703. Das Brechen (ἔκλασεν) ist das Prädikat in dieser Aufzählung der Handlungen Jesu. So auch die paulinische Version in 1Kor 11,24. Die Brotvermehrung in Lk 9 ist eine öffentliche Handlung Jesu, die nicht nur seinen (engsten) Jüngerkreis betrifft, sondern auch viele andere Menschen. Dies unterscheidet sich vom letzten Mahl und der Emmauserzählung, wo nur ein (sehr) kleiner Kreis von Jüngern präsent ist. Zum Zusammenspiel dieser drei Mähler im dritten Evangelium vgl. Speckmann: Lukas, 54ff. Vgl. dazu ausführlich Kapitel 3.8 dieser Arbeit.
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Das Brot, ja das Brechen und Weitergeben des Brotes wird mit Jesu Leib parallelisiert,53 welcher ὑπὲρ ὑμῶν gegeben wird. Dieses Geben ist bei Lukas besonders betont, da nur er den Leib explizit als für die Apostel gegeben (διδόμενον) näher beschreibt: Weder 1Kor 11 noch Mt/Mk führen dies so aus. Pointiert formuliert: Genauso wie Jesus den Aposteln das Brot gibt, gibt er seinen Leib für sie (am Kreuz).54 Verknüpft wird die ganze Handlung mit einem Wiederholungsauftrag55 (τοῦτο ποιεῖτε εἰς τὴν ἐμὴν ἀνάμνησιν56), der sich innerhalb der Evangelien nur hier findet.57 Die Jünger sollen also dieses (τοῦτο; gemeint ist die gesamte aufs Brot bezogene rituelle Handlung58) zu Jesu Gedächtnis bzw. als Erinnerung59 an ihn tun. Damit ist dieses letzte Mahl nicht nur ein Abschied60, sondern auch ein Blick in die Zukunft der Jünger: „Jesus hat dem jüdischen Mahlvorgang einen neuen Gehalt gegeben, den er nun seinen Jüngern übereignet. Er will nicht bloß in Erinnerung bleiben, sondern er gibt der bleibenden Erinnerung eine Form, die in den Handlungen des ‚Nehmens‘, ‚Dankens‘, ‚Brechens‘, ‚Gebens‘ und ‚Sagens‘ ein konstantes Gerüst hat.“61 Damit zeigt sich, dass die rituelle Handlung Jesu in seiner Gesamtheit die Erinnerung des τοῦτο ausmacht und nicht das konkrete ‚gewandelte‘ Stück Brot.62
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„τοῦτο ist Subjekt, und τὸ σῶμά μου ist Prädikatsnomen“, so Wolter: Lk 704. Vgl. Wolter: Lk, 704: „Der Leib, der durch das den Jüngern ‚gegebene‘ Brot repräsentiert wird, ist aus diesem Grunde immer nur ‚der für euch (sc. die Jünger) gegebene‘ Leib.“ Ernst: Lk, 448 spricht sogar von einem „Wiederholungsbefehl.“ Ähnlich Wolter: Lk 699f., der aber „Erinnerungsbefehl“ bevorzugt. Zu ἀνάμνησις vgl. den gleichnamigen Artikel von Johannes Behm (351f.), der darauf verweist, dass die ἀνάμνησις „handelnd“ vollzogen werden muss, also keine rein gedankliche Erinnerung bedeutet. Wortgleich in 1Kor 11,24: τοῦτο ποιεῖτε εἰς τὴν ἐμὴν ἀνάμνησιν. Ein Wiederholungsauftrag findet sich auch bei Justin (Apol I 66,3), allerdings direkt vor dem Brotwort. Ernst: Lk, 448: „Die Handlung Jesu hat eindeutig einen klaren Vorrang vor dem Genuß der Speise. Das hat Konsequenzen für den Wiederholungsbefehl: Nehmen, Danken, Brechen, Geben, d. h.: Der Ritus actionis bestimmt das Mahlgeschehen.“ Bovon (Lk IV, 246) schreibt weiter: „Das τοῦτό, das ‚dies‘, dessen es sich zu erinnern gilt (V 19c), ist zweifellos weitreichender als das τοῦτό von ‚dies ist mein Leib‘ (V 19b). Es umfasst das ganze Mahl und nicht nur das Brot.“ Ich würde ergänzen: weder Mahl noch Brot allein, sondern die rituelle Handlung steht im Mittelpunkt des Erinnerungsauftrags. Ausführlich dazu später und bei Wolter: Lk, 703f., der sich zwar Bovon anschließt („der Erinnerungsbefehl bezieht sich […] auf den gesamten Vollzug des lk ‚Brotbrechens‘, der auch das Essen einschließt“), ansonsten aber durchgehend vom Brotbrechen als eigentlicher Erinnerungshandlung der Jünger ausgeht. Zur Besonderheit dieser Erinnerung als Vergegenwärtigung vgl. Bovon: Lk IV, 246 und Strotmann: Erinnerungsakt, 63–87. Für das Verständnis von Lk 22,14–38 als Abschieds- bzw. Vermächtnisrede vgl. Winter: Trennung, 71–99. Ernst: Lk, 448f. Das erklärt auch, warum die Beschaffenheit des Brotes, das in Lk 22,19 wohl als ungesäuertes Mazzen des Passaritus vorzustellen ist, für die christlichen Mähler des lukanischen
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In 22,20 wendet sich Jesus nun dem (zweiten) Kelch zu, der durch das ὡσαύτως direkt mit der Brothandlung verknüpft und diesem sowie dem Abendessen chronologisch eindeutig nachgestellt wird. Exegetisch umstritten ist die Deutung des Kelchs bzw. seines Inhalts in Bezug auf Jesu Blut. Bormann formuliert mit der Mehrheit der Exegeten: „Der Inhalt des Bechers wird in der Regel aufgrund des Verständnisses von ‚Becher‘ als feste Metonymie für Wein als ein Wasser-Wein-Gemisch (κράμα) verstanden.“63 Dies bedeutet, dass – entgegen dem sprachlichen Bezug – nicht der Becher, sondern der in ihm sich befindende Wein, der das Blut Jesu darstellt, das relevante Element der Handlung Jesu ist.64 Dem wird insbesondere von Matthias Klinghardt65 widersprochen, der aufgrund der hinter dem lukanischen Bericht stehenden Mahlpraxis der hellenistischen Leser des Lukasevangeliums die rituelle Handlung des Ausgießens (Libation66) des Kelchs in den Vordergrund rückt: „Nicht der Wein ist wichtig, sondern die Libation als Teil des Rituals.“67 Das Problem begründet sich im Verständnis von Lk 22,20b: τοῦτο τὸ ποτήριον ἡ καινὴ διαθήκη ἐν τῷ αἵματί μου τὸ ὑπὲρ ὑμῶν ἐκχυννόμενον. Grammatisches Subjekt ist τοῦτο τὸ ποτήριον;68 darauf bezieht sich das Partizip ἐκχυννόμενον. Damit wäre aber der Kelch und nicht sein – wie Klinghardt zu Recht betont – gar nicht erwähnter Inhalt derjenige, der ausgeschüttet bzw. vergossen wird. Folgt man Klinghardt, fiele somit die Verbindung zum Tode Jesu als heilsvermittelndem Ereignis wesentlich geringer aus, als normalerweise angenommen wird.69 Nimmt man hingegen – wie die Mehrzahl der Exegeten – den Inhalt des Bechers, also den Jesu Blut symbolisierenden Wein als Bezugspunkt von ἐκχυννόμενον, muss man Lukas unterstellen, er formuliere
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Doppelwerkes keine Rolle spielt. Jedes Stück Brot, welches in Jesu Namen genommen, gebrochen und geteilt wird, kann Brot für das gemeinsame Mahl werden, vgl. Bormann: Abendmahl, 720f. Bormann: Abendmahl, 720. Vgl. dazu auch die Darstellung von Luz: Mt IV, 116f. Daher passen die meisten deutschen Bibelausgaben die sprachliche Form entsprechend an. Z. B. Luther 2017: Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut, das (sic!) für euch vergossen wird. Klinghardt: Becher, 33–58. „Die Libation beim Mahl war ein fester Bestandteil der Alltagskultur und gehörte selbstverständlich zur antiken Mahlpraxis. […]“ Sie „hatte ihren unverzichtbaren Platz in allen griechisch-römischen Mählern, die bei geringfügigen Unterschieden im Einzelnen einem festen, so gut wie nie variierten Schema folgten“ (Klinghardt: Becher, 38). Vgl. zur Libation auch ders.: Gemeinschaftsmahl, 101–106 und Altmann / Al-Suadi: Essen, 119–125. Klinghardt: Becher, 47. Ausführlicheres dazu folgt im ritualwissenschaftlichen Unterkapitel zu dieser Perikope. So Wolter: Lk, 706. Vgl. Klinghardt: Becher, 57. Dagegen Ernst: Lk, 480: „Nicht das Geschehen beim Mahl, sondern die bevorstehende Selbsthingabe Jesu vermittelt den Menschen das Heil.“ Ähnlich auch Winter: Trennung, 79: „Nicht das Abendmahl als stets wiederholte Feier ist an und für sich der Ursprung des Heils, sondern in ihm ereignet sich an den Mahlteilnehmern die Vergegenwärtigung jenes Heils, das Jesus in seinem einmaligen Sterben am Kreuz gewirkt hat“ (kursiv dort).
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„grammatisch inkongruent“70 bzw. „grammatisch fehlerhaft“.71 Meiner Meinung nach vermag der Ansatz von Klinghardt alle Elemente des lukanischen Textes zu erklären: Das antik-hellenistische Mahl als Hintergrund ist auch bei anderen Mahl-Perikopen des dritten Evangeliums gut aufzeigbar72 und die Durchführung von Libationen in diesen Mählern ist durchgehend vorauszusetzen. Nimmt man dies an, so macht der grammatische Bezug von ἐκχυννόμενον auf τὸ ποτήριον keinerlei Schwierigkeiten, sondern entspricht konsequent der Handlung Jesu und damit der Lebenswelt der Leser, genauso wie die Unterscheidung zwischen Deipnon und Symposion,73 wobei letzteres mit der Libation μετὰ τὸ δειπνῆσαι eingeleitet wird. Folgt man der Libationsthese Klinghardts, müsste man allerdings annehmen, dass der Autor des Langtexts von Lk 22 eine ganz eigene, von allen anderen Überlieferungen sich unterscheidende Vorstellung des letzten Mahls Jesu gehabt hätte, da sowohl die parallelen Berichte in Mk 1474 und Mt 2675 als auch 1Kor 1176 und sogar der umstrittene Mahlbezug in Joh 6,52–58 (Joh 6,54a: „wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt“77) dezidiert das Trinken aus dem mit Jesu Blut78 verbundenen Kelch beschreiben. Und auch die altkirchliche Überlieferung
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Wolter: Lk, 707. Bovon: Lk IV, 247. Vgl. dazu ausführlich die vorliegende Auslegung von Lk 7,36–50 in Kapitel 3.5 dieser Arbeit. Zum Hintergrund des Symposions für Lk 22 vgl. auch Winter: Trennung, 92–98, der sich allerdings zur Frage der Libation nicht äußert. Winters Schwerpunkt liegt bei der Diskussion um den Status der Akteure Jesus, Judas und Petrus in Lk 22,14–38, die er mithilfe der hellenistischen Symposionsliteratur identifiziert. Judas als Gegenspieler muss erst verschwinden, da „zwischen dem Weggang des Störenfrieds und dem Beginn des eigentlichen Gesprächs bzw. des harmonischen Zusammenseins“ ein „direkter kausaler Zusammenhang“ bestehe (96). Mk 14,23 beschreibt ausdrücklich, dass alle Jünger aus dem Kelch trinken, allerdings vor dem eigentlichen Kelchwort 14,24. In Mt 26,27 beauftragt Jesus die Jünger explizit aus dem Kelch zu trinken. Die Einschränkung – sooft ihr daraus trinket – in 1Kor 11,26 zeigt, dass aus dem Kelch getrunken wurde. Vgl. dazu Petersen: Jesus, 105–130. Haacker: Ist, 220 verweist auf die Gleichsetzung von Wasser und Blut durch David in 2Sam 23,16f. Blut meint in diesem Zusammenhang das Leben der drei Helden Davids, das sie für ihn riskiert hatten. Er wendet die Logik von 2Sam 23 auf die Abschiedsworte Jesu an: „Dieses Trinken bezahle ich mit meinen Leben. Mein Tod (= mein Blut) ist der Preis für diese unsere Tischgemeinschaft. Damit hätte Jesus seinen Jüngern zunächst nur gesagt, dass dies ein Abschiedsmahl war und dass nun sein Gang in den Tod beginnen würde“ (ebd., kursiv dort). Das Spannende an diesem AT-Bezug ist, dass David das ihm gebrachte Wasser nicht annimmt, sondern als Trankspende (=Libation!) für JHWH (2Sam 23,16) ausgießt. Da ich aber keine weiteren Hinweise auf Parallelen zwischen den beiden Texten sehe, halte ich einen direkten Bezug des Evangelisten auf die kurze Anekdote über David für unwahrscheinlich.
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kennt m. W. keine Libation als Bestandteil der Eucharistie, sondern geht durchgehend vom Trinken79 des Weins aus.80 Die für den lukanischen Text nachvollziehbare These Klinghardts bleibt wegen dieser singulären Überlieferung unsicher, wenn auch dem lukanischen Text genauer entsprechend. Sie wird daher in letzter Zeit sowohl für das dritte Evangelium als auch für Paulus vertreten: „In Lk 22,20 und auch bei Paulus in 1Kor 11,25 wird deutlich hervorgehoben, dass Jesus den Becher nach dem Mahl nimmt und darüber spricht, dass dies der neue Bund in seinem Blut ist. Es handelt sich demzufolge bei diesen Bechern um den Libationsbecher, der nicht getrunken wurde.“81 Wenngleich die Position Klinghardts und weiteren daher nicht so eindeutig zurückzuweisen ist, wie viele Kritiker annehmen, ist beiden Deutungen gemeinsam, dass sie – anders als die schon bei Justin82 greifbaren Verschiebungen des theologischen Schwerpunkts zu Brot und Wein als gewandelten Elementen – die Handlung in den Mittelpunkt des Interesses stellen: „In semantischer Hinsicht ist ποτήριον aber nicht lediglich Metonym für den Wein als Inhalt des Bechers, sondern für die gesamte Handlung, die sich an diese Worte anschließt, ohne dass sie erzählt wird: Dass der mit Wein gefüllte Becher an die Jünger weitergereicht wird, dass er unter ihnen herumgeht und dass sie alle daraus trinken. Dadurch ist es eben diese Handlung und nicht lediglich der Becher oder sein Inhalt, die als ‚neuer Bund‘ bezeichnet wird.“83 Zusammengefasst: Genauso wie Brot und Leib Jesu, so werden hier der Kelch und der neue Bund parallelisiert.84 Und genauso wie beim Brot hat die Libation des Kelchs bzw. das Vergießen des Blutes Jesu eine Wirkung ὑπὲρ ὑμῶν. Diese Wirkung wird spezifiziert als neuer Bund in seinem Blut85: „Der dargebotene 79
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Die Kirchenväter beschreiben nicht dezidiert den genauen Ablauf des christlichen Mahls, gehen aber alle vom Trinken aus dem Kelch aus, vgl. dazu ausführlich Bormann: Abendmahl, 715–721. Zu beachten sind auch die Ausführungen von Dünzl: Herrenmahl, 50–72, der sich auf die Didache und andere frühchristliche Mahlbeschreibungen bezieht, die alle das Trinken aus dem Kelch voraussetzen. Zum Mahlverständnis der Didache vgl. Theobald: Leib, 142–152 und Schröter: Abendmahl (2006), 60–72. Da nach Klinghardts These vom ältesten Evangelium der Langtext von Lk 22 deutlich ins zweite Jahrhundert zu datieren ist, wäre eine fehlende Reaktion auf die angenommene Novität der Libation umso bemerkenswerter, auch wenn das Nicht-Erwähnen eines Umstandes kein sicheres Argument darstellen kann. Vgl. Klinghardt: Evangelium II, 586–595. Altmann/Al-Suadi: Essen, 124. Vgl. Justin, Apol, 1,65f. Zu Justin und anderen frühchristlichen Darstellungen vgl. Bormann: Abendmahl, 715f. Wolter: Lk, 706 (kursiv dort). „Dass ein Kelch einen Bund darstellt, ist nur möglich, wenn angenommen wird, dass der in ihm enthaltene Wein vergossen wird, wie das Blut des Opfers am Fuße des Altars vergossen wurde“, Bovon: Lk IV, 247. „Der Neue Bund ist in der Todeshingabe Jesu begründet und in dem am Kreuz vergossenen Blute besiegelt worden“, so Ernst: Lk, 450. Hier könnte ein Bezug zum Bund in Ex 24,8 bzw. Jer 31,31–34 vorliegen. Dagegen notiert Klein: Lk, 666 (Fn 28): „Er [Lukas] dürfte keine der beiden Stellen gekannt haben. Eine Kenntnis von Jer 31,31–34 ist im Frühjudentum
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Kelch bildet den neuen Bund, der in Jesu Blut geschlossen und für euch vergossen worden ist.“86 Was bei der Kelchhandlung im Vergleich zur Brothandlung fehlt, sind die Danksagung87 und der Wiederholungsauftrag.88 Eine wie auch immer geartete Reaktion der Jünger wird in 22,19f. nicht berichtet, auch nicht, dass sie das Brotstück essen oder aus dem Kelch trinken.89 Das eigentliche Mahl ist μετὰ τὸ δειπνῆσαι beendet. Im nun folgenden Symposium,90 das mit dem Kelchwort eröffnet wird, stehen die Gespräche zwischen Jesus und seinen Jüngern im Mittelpunkt, nicht mehr das rituelle Wirken Jesu.91
3.7.4 Narrative Ritualanalyse Aus ritualwissenschaftlicher Perspektive92 sind in der Abendmahlperikope des Lukasevangeliums vier Aspekte besonders interessant: (1) Lukas stellt Jesus hier
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und Urchristentum nur bei Hebr 8,8–12 nachweisbar.“ Anders Mittmann-Richert: Sühnetod, 120–135, die ausführlich die alttestamentlichen Bezüge von Lk 22 herausarbeitet und Jer 31 mit einschließt. Auch Winter: Trennung, 79 macht einen Bezug zu Jer 31 aus. Bovon: Lk IV, 247. Die Danksagung fehlt entweder bedingt durch den lukanischen ersten Kelch, bei dem die Danksagung beschrieben wird, oder ist eingebunden in das ὡσαύτως, das dann sowohl das Danksagen als auch das Weitergeben des Kelches vertritt (so Wolter: Lk, 706). Ein Wiederholungsauftrag beim Kelch findet sich nur in 1Kor 11,25. Mt 26,26 und Mk 14,22 berichten zwar vom Essen der Jünger, aber nicht vom konkreten Essen des Brotstückes, das Jesus nahm. Dass die Jünger aus dem Kelch trinken – und zwar alle – berichtet nur Mk 14,23; allerdings vor dem Kelchwort Jesu. Sollte Klinghardt mit der Libations-These Recht behalten, wäre das fehlende Trinken aus dem Becher im Vergleich zu Mk 14 ein Hinweis auf das Ausschütten des Bechers, aus dem dann nicht mehr getrunken werden kann. Das gemeinsame Trinken aus einem Becher wäre dann nur beim (exklusiv lukanischen) ersten Kelch vorstellbar. Vgl. Klinghardt: Becher, 39 und ders.: Gemeinschaftsmahl, 99–129 sowie allgemein zur Unterscheidung von Deipnon und Symposion Al-Suadi: Essen, 203f. Einige Exegeten betonen die Zusammengehörigkeit von 22,21ff. mit Lk 22,20 mit den Argumenten, dass das Gespräch über die Auslieferung des Menschensohns „die dunkle Kehrseite der Heilsbedeutung des Todes“ Jesu darstelle (so Theobald: Paschamahl, 139) bzw. erst mit ἐγένετο δὲ (22,24) ein neuer Abschnitt beginne, während πλὴν (22,21) „nie einen neuen Abschnitt einleitet“ (Hartenstein: Abendmahl, 182). Mittmann-Richert: Sühnetod, 110–115 geht noch weiter und sieht den Abschnitt erst mit dem Weggang Jesu in 22,39 enden, da sie aus dem Gottesknechtzitat (Jes 53,12 wird in Lk 22,37 zitiert) Hinweise für die soteriologische Deutung des Mahlgeschehens gewinnen will. Für die längere Einteilung spricht also einiges. Ich verstehe aber für meine Forschungsfrage das Ende des Deipnons in 22,20 als beachtenswerten Einschnitt, der zwischen dem rituellen Handeln Jesu und den symposialen Abschiedsgesprächen trennt. Einen Abschnittsumbruch setzt auch Bovon: Lk IV, 252f; anders Klein: Lk, 667. Meine Überlegungen schließen die Rückfrage nach der historischen Bewertung frühchristlicher Rituale explizit aus. Vgl. dazu ausführlich Bormann: Abendmahl, 704–714, der auch kurz auf die historischen Theorien von Meeks, Theißen u. a. eingeht. Ausführlich dazu:
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als besonders wirkmächtig dar. Jesu Agency wird nicht nur bei seiner Planung und seinem Vorwissen über die Umstände der Passafeier mit seinen Jüngern dargestellt (7–13),93 sondern bekommt durch die (erweiterten) Einsetzungsworte eine einzigartige Betonung: Das Geschick Jesu, die Mahlelemente bzw. das Mahlritual und das Geschick der Jünger hängen unmittelbar zusammen. Verbunden damit kommt (2) die Frage nach der Performanz des Geschehens in den Blick: Noch stärker als bei den anderen Evangelisten betont Lukas die Frage nach den Auswirkungen des Handelns Jesu auf die Gemeinschaft der Jünger mit ihm. Das letzte Mahl – ein unzweifelhaft körperliches Geschehen – ist kein zufälliges Ereignis, sondern wird von Lukas als betont gemeinschaftsstiftend erzählt: Jesu Jünger sollen von jetzt an in Erinnerung an ihn gemeinsam das Brot brechen. (3) Schon auf den ersten Blick fällt auf, dass besonders bei Lk 22,17–20 auf drei Ebenen von Ritualen gesprochen werden kann: Sprache, Gesten und das übergeordnete Makroritual des Passamahls gehören dabei eng zusammen. Das dreistufige Ritualschema Albert Bergesens kann hier eine passende Ausdrucksmöglichkeit bieten. Es stellt sich zuletzt (4) die Frage nach dem Ritualdesign: Schafft Jesus mit dem Mahl ein neues Ritual, das in Aufnahme eines Ursprungsbezuges (Passa) für die neue Gemeinschaft gültig ist? Wenn ja: ersetzt somit das neue Mahl das alte? (1) Ein Blick in die synoptische Tradition zeigt, dass Lukas in dem ganzen Aufbau der Perikope vor allem Jesus und sein Wirken in den Blick nimmt: Jeder der drei Teile des Textabschnitts betont Jesu Wirkmächtigkeit – seine Agency.94 In 22,7–13 ist es Jesus (und nicht die Jünger wie in Mt 26 und Mk 14), der die Vorbereitung auf die gemeinsame Feier des Passafestes initiiert; später in 22,15 wird explizit gesagt, warum: Jesus will unbedingt95 das Passa feiern, bevor er leidet. Dafür muss alles bereit sein. Lukas macht deutlich, dass dafür jede Zufälligkeit ausgeschlossen werden soll. Jesus weiß, dass seine beiden Jünger Petrus und Johannes in der Stadt einen Wasserträger finden werden, er weiß, dass sie dieser zu seinem Hausherrn führt, er weiß, dass dieser Hausherr über ein κατάλυμα verfügt, das er Jesus bereitstellen wird. Keine Frage, keine Unsicherheit lässt sich aus Jesu Worten herauslesen. Nicht einmal für ein Wundern oder Zweifeln der
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Theißen/Merz: Jesus, 359–386 und Heininger: Mahl, 10–49. Zur aktuellen Mahlforschung vgl. den Sammelband von Al-Suadi und Smit: Early Christian Meals. Auch bei der Kenntnis seines Verräters (22,21f.) betont der Evangelist das besondere Wissen Jesu, welches sich mit der harschen Ankündigung von Strafe für das Tun des Judas verbindet. Die Leser werden später erfahren, dass Jesus damit Recht behalten sollte: Judas stirbt durch einen Unfall (Apg 1,18–20), womöglich ist hier die Strafe Gottes impliziert. Das erste Evangelium kennt eine andere Überlieferung: Laut Mt 27,3–5 tötet Judas sich nach seinem Verrat selbst. Vgl. dazu die Ausführungen in Kapitel 2.4.1 dieser Arbeit. ἐπιθυμίᾳ ἐπεθύμησα als ausdrücklicher Ausdruck des eigenen Willens. Dazu Bovon: Lk IV, 242: „Es ist eine Ausnahme in den Evangelien, dass Jesus seine tiefsten Bedürfnisse ausspricht. Er tut es hier unverhüllt.“
202
3 Exegese ausgewählter Perikopen
Jünger lässt der Evangelist hier Raum; es wird nur gesagt, dass sie es so vorfanden, wie Jesus gesagt hatte (22,13). Noch deutlicher wird die Agency Jesu im Abschnitt 22,14–20. Schon die Überleitung in 22,14 macht deutlich, wie sehr Jesus hier Mittelpunkt der Handlung ist. Jesus legt sich zu Tisch, die Jünger mit ihm, d. h. der aktive Part ist Jesus, wie in der gesamten Perikope: Die Jünger handeln in 22,15–20 an keiner einzigen Stelle. Die enge Verbindung von Jesu Geschick und seinem Handeln zeigt sich besonders in der Parallelisierung der Abendmahlselemente Brot und Kelch mit dem Geschick Jesu: Jesus ist der handelnde Akteur, der aber bald seine Jünger verlassen muss.96 Die Jünger werden auf sich gestellt sein. Sie benötigen eine Anweisung, wie es weitergehen soll. Und diese bekommen sie durch das Ritual, das den Übergang von der Zeit mit (dem irdischen) Jesus zur Zeit ohne ihn markiert.97 Noch kann er ein letztes Passa mit ihnen essen, aber ein nächstes Passa wird es für ihn erst im Reich Gottes geben. Bis dahin haben die Apostel den Auftrag, zu seinem Gedächtnis (εἰς τὴν ἐμὴν ἀνάμνησιν) zu handeln: Sie sollen Brot und Kelch nehmen und teilen (zum Kelch 22,17: διαμερίσατε εἰς ἑαυτούς) und an ihn, sein Wirken und seinen Tod, der ja den „sachlichen Grund“ für den neuen Bund darstellt,98 denken. Im Sinne der Ritualtheorie gesprochen: Jesus bleibt der eigentliche Akteur des Mahlgeschehens – so in der Erinnerung an das sättigende Mahl in Lk 9 – als auch in der Zeit seines erhöhten Handelns für seine Jünger.99 Die durch die zwölf Apostel gekennzeichnete Gemeinde wird also Mit-Akteur des Mahlgeschehens, das sie in Erinnerung an Jesus durchführen sollen. Noch schärfer formuliert: Dadurch, dass Jesus den Aposteln Brot und Kelch und damit seinen Leib und den neuen Bund in seinem Blut gibt, gibt Jesus seine Agency an die Apostel weiter.100 Sie sollen nun – bis zur Parusie (22,16) – das Mahl in Jesu Namen und zu seinem Gedächtnis feiern und dadurch den Bund immer wieder erneuern und erweitern.101 Die Apostel sind also die Empfänger und damit Nutz96
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Dafür steht neben dem Leiden (22,15) besonders die Nennung von (gebrochenem) Leib und (vergossenem) Blut (22,19f.). Vgl. den Exkurs zu „Zeit in alttestamentlich-jüdischer Sicht“ bei Haarmann: Gedenken, 81–87. So Klinghardt: Becher, 53. Vgl. Lk 9,16 und 24,30f. (vgl. Kapitel 3.8). Das Geben (ἔδωκεν αὐτοῖς) Jesu wird explizit nur beim Brot beschrieben, welches wie sein Leib gegeben (διδόμενον: nur bei Lk!) wird. Implizit steckt es auch beim ersten Kelch (22,17) in der Aufforderung Jesu an die Apostel, diesen zu nehmen und ihn unter sich zu teilen. Dabei sind sowohl der Rückblick auf das – aus Sicht der Leser – zurückliegende Leiden und Sterben Jesu als auch der Vorausblick auf seine Wiederkehr Teil des Verständnishintergrundes der Gemeinde: „When believers share the Lord’s Supper, they stand in the interim between past and future, in the ‚already‘ and ‚not yet‘, receiving by faith the selfsacrifice of Jesus for them on the cross, and awaiting by faith the self-return of Jesus for them in the cloud of glory“ (Edwards: Luke, 627). Zu dieser Gleichzeitigkeit von Vergangenem und Zukünftigem vgl. die Unterpunkte (3) und (4) dieses Kapitels.
3.7 Das letzte Mahl
203
nießer des Rituals. Sie geben dies zukünftig als Multiplikatoren an die Gemeinde weiter, auch wenn Gott es ist, der im Hintergrund den neuen Bund schließt.102 (2) Eng damit im Zusammenhang steht die Frage nach der Performativität103 des Mahlgeschehens: Die gesamte Szene ist voll von Bezügen auf Körperlichkeit: Jesus spricht von seinem Leib und seinem Blut, vom Essen und vom Trinken.104 All dies verbindet sich im Nehmen und Geben, im Brechen und Essen, im Segnen und Ausgießen des Kelches als gemeinsamer ritueller Handlung, die die Basis für den neuen Bund dramaturgisch darstellt.105 Dies führt zum zweiten Aspekt der Performativität des Mahls: „Aufführungen im Allgemeinen und rituelle Handlungen im Besonderen sind zwar an sich wiederholbar, in ihrer Ereignishaftigkeit aber grundsätzlich singulär. […] Tatsächlich ist ein Wesensmerkmal aller performativen Handlungen bzw. Aufführungen deren Flüchtigkeit. Diese ereignen sich hic et nunc und werden im Augenblick ihres Geschehens wahrgenommen.“106 Nun handelt es sich bei Lk 22,15–20 nicht um das aufgezeichnete Ritual, wie es historisch stattgefunden hat, sondern um eine theologisch durchdachte literarische Darstellung desselben. Daher ist die performative Wirkung mit dem Wiederholungsauftrag an die Jünger verbunden: Das Ritual ist auf eine erneute Durchführung107 angelegt – was dem Leser schon durch seine Mahlpraxis innerhalb der eigenen Gemeinde bekannt ist108 – und erzeugt erst durch diese Wiederholung – nicht Imitation109 – seine Wirkung. 102
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Vgl. Klinghardt: Becher, 49: „Die Formulierung τὸ ὑπὲρ ὑμῶν ἐκχυννόμενον besagt daher nicht nur, dass die Nutznießer der Libation die versammelten Apostel (s. 22,14) sind. Sie impliziert zugleich, dass das ihnen zugedachte Gut von Gott in Kraft gesetzt wird und wahrscheinlich in dem die Spende begleitenden Gebet auch direkt benannt wurde. Dass die ὑπὲρ-Formulierung die indirekten Adressaten als Nutznießer der Libation als kollektive Größe zur Sprache bringt, ist dabei durchweg typisch und charakteristisch.“ Vgl. dazu auch seine Ausführungen auf S. 53 (a. a. O.). Vgl. Mintken: Performativität, 351–362. Zu erinnern ist hier an das Zitat von Walsdorf: Performanz, 87: „Während die Akteure (rituelle) performative Handlungen vollziehen, indem sie sich selbst oder Objekte im Raum bewegen, indem sie sprechen oder singen, erzeugen sie eine bestimmte Qualität von Körperlichkeit“ (vgl. Kapitel 2.4.2 dieser Arbeit). Dazu schreibt Wolter: Lk, 707: „In jeder dieser beiden Handlungen ist der ganze Jesus präsent: in der Brothandlung als ‚Person‘ (σῶμά) und in der Becherhandlung mit seinem ‚Leben‘ (αἷμα).“ Auch wenn der Schwerpunkt m. E. stärker auf den Handlungen Jesu als auf den Elementen liegt, deutet Wolter die performative Wirkung des Rituals richtig. Jesus und das den neuen Bund beschließende Ritual gehören untrennbar zusammen. Walsdorf: Performanz, 87 (vgl. Kapitel 2.4.2 dieser Arbeit). Die Leser kennen die christliche Mahlfeier aus eigener Anschauung und lesen den lk Text entsprechend. Dazu Klinghardt: Becher, 53: „Wenn der Anamnesisbefehl die Mahlpraxis der ersten Rezipienten reflektiert, dann ist klar, dass diese sich selbst in der ritualisierten Wiederholung dieses Mahls als der Neue Bund verstehen können und sollen.“ Vgl. Wolter: Lk, 706 und Klinghardt: Becher, 53. Imitation wäre eine (möglichst) exakte Nachahmung des Geschehens. In unserem Falle also eine jährlich an Passa stattfindende Wiederaufführung des letzten Mahls mit möglichst gleichen Begebenheiten: selber Raum, selbe Teilnehmer, selber Ablauf. Dies wird
204
3 Exegese ausgewählter Perikopen
Dabei ist sowohl die Wirkung des im Lukasevangelium beschriebenen Rituals als auch die Wirkung des Rituals des christlichen Brotbrechens performativ, da sie jeweils „eine Aussage [ist], die keinen Sachverhalt beschreibt, sondern unmittelbar eine Tatsache schafft, ihre Bedeutung selbst realisiert.“110 Dabei gilt es zwischen den spezifischen Wirkungen zu unterscheiden: In der lukanischen Darstellung der Ereignisse schließt Jesus einen neuen Bund (in seinem Blut und seinem Leib). Dieser Bund wird nur einmal geschlossen und zwar nur ὑπὲρ ὑμῶν,111 also mit einem abgeschlossenen Kreis der Apostel. Dieser „steht hier also an derselben Stelle wie in Ex 24,3–8 die Sinaigeneration Israels, mit der Gott einen Bund geschlossen hat, der für alle späteren Generationen des Gottesvolkes gültig ist.“112 Der Begriff neuer Bund113 (ἡ καινὴ διαθήκη) speist sich dabei aus Jer 31,31–34,114 wo JHWH seinem Volk Israel einen neuen Bund verspricht, zu welchem er sagt, er werde „ihre Missetat vergeben und ihrer Sünden nimmermehr gedenken“ (Jer 31,34).115
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offensichtlich weder von Lukas noch von den anderen Erzählern des letzten Mahls Jesu angestrebt. Auch die Emmaus-Perikope beweist: Die Jünger erkennen Jesus am Brotbrechen, obwohl an dieser Stelle keineswegs von einer Imitation des ursprünglichen Mahls gesprochen werden kann. Vgl. dazu das Kapitel 3.8 dieser Arbeit. Agamben: Sakrament, 69 (zitiert nach Mintken: Performativität, 354f.). Mittmann-Richert: Sühnetod, 120ff. betont hingegen deutlich die soteriologische Funktion, die sich im ὑπὲρ ὑμῶν widerspiegelt. Sie veranschaulicht dies durch enge Verbindungen zwischen der lukanischen Abendmahlsdarstellung und dem Gottesknecht aus Jes 53. Wolter: Lk, 708. Zum Begriff des Neuen Bundes vgl. ausführlich Tönges: Tradition, 200–221. Jer 38,31–34LXX, vgl. Tönges: Tradition, 203f. und Mittmann-Richert: Sühnetod, 120–135. Theobald: Paschamahl, 149f. betont die Relevanz der LXX für das dritte Evangelium: Die LXX „setzt er [Lukas] als den normativen Prätext voraus, der seinen Lesern die Denkformen und Inhalte bereitstellen sollte, die er für notwendig hielt, um seine Geschichte Jesu wie die der werdenden Kirche zu verstehen.“ Dem widerspricht Mittmann-Richert, die die „christologische Adaption der fraglichen Texte“ des AT als „offensichtlich zweisprachig“ vollzogen sieht. Sie schlussfolgert: „Eine rein auf die LXX gegründete Deutung des Todes Jesu, wie sie die Wissenschaft erstaunlicherweise immer wieder, auch mit Blick auf den ehemaligen Pharisäer Paulus, propagiert, hat es mit Sicherheit nie gegeben“ (a. a. O., 128f.). Dabei ist natürlich zu bedenken, dass in der Vorstellungswelt des Alten Testaments ein neuer Bund nicht als Ersatz für einen früher geschlossenen Bund zu verstehen ist. „Zum Problem werden daher nicht die verschiedenen Bundesschlüsse, sondern der Bundesbruch, wie die prophetische Kritik zeigt. Sie macht deutlich, dass an den früheren Bundesschlüssen Gottes mit einzelnen Personen aus dem Volk Israel oder mit dem Volk Israel als Kollektiv vor allem der Bundesbruch bemängelt wird“, so Tönges: Tradition, 201. Mittmann-Richert: Sühnetod, 129 spricht in diesem Zusammenhang vom Geschehen der Bundesstiftung in Jesu Blut „in Kontinuität und Diskontinuität zum Bundeschluss am Sinai“, wobei die Differenz durch die „Universalität und immerwährende Unverbrüchlichkeit der Sühne durch die stellvertretende Selbsthingabe des Gottesknechts“ markiert wird. Anders Speckmann: Lukas, 65: „Der Bericht vom letzten Abendmahl lässt sich ebenfalls
3.7 Das letzte Mahl
205
Dieser neue Bund ist nicht auf die ursprünglichen Teilnehmer begrenzt, sondern erweiterbar: „Nach lk Verständnis wird den Aposteln als dem Kern und der ersten Generation ein neuer Bund ‚gegeben‘ (nämlich mit dem Becher), an dem auch alle diejenigen Anteil bekommen, die später zu diesem Bund hinzukommen.“116 An dieser Stelle zeigt sich, dass die Intention des Evangelisten, den Bund durch das Mahlritual zu schließen, gar nicht von dem genauen Bezugsrahmen des Ausschüttens/Vergießens abhängt, denn Klinghardt kommt – bei aller Differenz zur Darstellung von Wolter – zu einem sehr ähnlichen Ergebnis: Seine „Überlegungen zum Vergießen des Libationsbechers [lassen] erkennen, dass die Herstellung und Vergewisserung der sozialen und religiösen Gruppenidentität im Ritual als Ritual stattfindet.“ Die Apostel werden „durch den Vollzug der Libation, also durch das Vergießen des Bechers, zu einer Gemeinschaft: Sie werden selbst dieser Neue Bund.“117 Lukas lässt Jesus seinen neuen Bund mit den Aposteln durch ein Ritual schließen, das auf Wiederholung ausgelegt ist und dementsprechend im lukanischen (Doppel-)Werk immer wieder im Kontext der christlichen Gemeinde und ihrer Erweiterung durchgeführt wird.118 Zu erinnern ist hier an das performative Verständnis von Erinnerung in alttestamentlich-jüdischem Kontext. Es geht bei dieser nicht darum, frühere Ereignisse als historische Vergangenheit zu reflektieren, sondern um die aktive Integration der sich Erinnernden in das vergangene Geschehen.119 Die sich Erinnernden werden somit Teil des ursprünglichen Geschehens und nehmen Anteil an dessen Wirkung, die bis zum jeweiligen Heute reicht. So wie die damaligen israelitischen Sklaven aus Ägypten befreit wurden, so können die sich heute wie zur Zeit Jesu daran erinnernden Männer, Frauen und Kinder120 durch die Erinnerung Anteil am Befreiungsgeschehen Gottes bekommen, das damals und heute die Knechtschaft beendet bzw. beenden soll.121 Diese Überlegungen zeigen, dass der Wiederholungsauftrag keinesfalls eine möglichst exakte Imitation des ursprünglichen Geschehens befiehlt, sondern die aktive Integration der Nicht-Dabeigewesenen im Sinn und zur Folge hat. Durch
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vor dem Hintergrund alttestamentlich-jüdischer Passaerwartungen verständlich machen, stellt aber zugleich die ‚Konstituierung‘ einer neuen Heilsgemeinschaft durch Jesus heraus. Der ‚neuen (sic) Bund‘ in Jesu Blut übertrifft die bisherige Gemeinschaft der Israeliten bzw. löst diese ab.“ Wolter: Lk, 708. Klinghardt: Becher, 58 (kursiv dort). Vgl. Lk 24,30f.; Apg 2,46f.; 20,7. Vgl. die besondere Betonung bei Haarmann: Gedenken, 70: Die Heilstaten „werden nicht durch (!) das Gedenken vergegenwärtigt oder für die Gegenwart relevant gemacht, sondern im Gedenken wird ihre gegenwärtige Bedeutung realisiert, die ihnen als Taten Gottes seit jeher innewohnt“ (kursiv dort). Vgl. Dtn 6,20–25. Vgl. Strotmann: Erinnerungsakt, 69–71. Vorher (66–69) führt die Autorin das parallele Beispiel der Erinnerung an die eigene Knechtschaft der Israeliten an, die direkte Auswirkungen auf den Umgang mit den eigenen Sklaven in Israel hat bzw. haben soll.
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3 Exegese ausgewählter Perikopen
die Wiederholung im Sinne von performativer Neu-Durchführung des Mahlrituals kommen aber diejenigen Jünger, die nicht am einmaligen letzten Mahl Jesu teilgenommen haben, hinzu. Deswegen können die Emmausjünger Jesus am Brechen des Brotes (wieder-)erkennen, obwohl sie die ursprüngliche Handlung gar nicht miterlebt haben. Sie stehen im lukanischen Verständnis schon in der Nachfolge der Apostel122 und partizipieren somit am Bund Jesu und dürfen direkt nach ihrer Rückreise nach Jerusalem zusammen mit den Aposteln Jesu Erscheinen erleben. Dort bekommen sie denselben Auftrag zur Evangelisation ohne Unterschied zu den Aposteln.123 Diese Überlegungen haben natürlich Auswirkungen auf das Verständnis des Handelns Jesu als Ritualdesigner, doch dazu später. Zusammengefasst: Das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern kann auf zwei Arten als performativ bezeichnet werden: Einerseits begründet es im lukanischen Kontext den neuen Bund in Jesu Blut innerhalb eines einmaligen Geschehens, das, so wie es im Text beschrieben wird, nicht imitiert werden soll – im Sinne einer regelmäßigen auf das Passafest beschränkten Wiederholung durch die Jünger. Auf der anderen Seite konstituiert gerade die Erinnerung, die durch Wiederholung eines Teils des letzten Mahls (Wiederholung des Brotbrechens) ermöglicht wird, die Performanz der neuen Mähler, die jeweils den Kreis der Nachfolger Jesu erweitern können, sodass der „neue Bund in meinem Blut“ auch diejenigen mit hinein nimmt, die nicht am einmaligen letzten Mahl Jesu teilnehmen konnten. (3) „Dies ist mein Leib“ gehört zu den wirkmächtigsten Sätzen des Neuen Testaments. Er ist untrennbar mit dem letzten Mahl Jesu verbunden. Aber er steht nicht für sich allein, sondern ist mit den Handlungen des Nehmens, Brechens und Gebens verbunden. Alle zusammen sind eingebunden in das Ritual des Passafestes als letztem Mahl Jesu mit seinen Jüngern. Die Ritualtheorie von Albert Bergesen124 unterteilt Rituale in drei ineinander verschachtelte Ebenen: Mikroriten, die die Sprache (besonders Sprechakte) umfassen; Mesoriten, die Gesten und Handlungen beschreiben; und zuletzt Makroriten, die öffentliche Rituale darstellen. Betrachtet man nun die Erzählung von Jesu letztem Mahl in 122
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Nach lukanischem Verständnis ist die Lehre der Apostel (und nicht die Lehre Jesu, vgl. Apg 2,42!) Grundlage für die nachösterliche Gemeinde. Ob es sich damit schon um eine Bewegung hin zu einer Stärkung des Amtsverständnisses der frühen Kirche handelt, muss offenbleiben. Zur wachsenden Bedeutung von Amtsinhabern beim Mahl in der frühchristlichen Überlieferung vgl. Bormann: Abendmahl, 725–727. Dagegen betont Frenschkowski: Rituale, 166f. die in vielen antiken Schriften aufzufindende Bezugnahme auf die Apostel als Garant der Richtigkeit der Gemeindeüberlieferungen. Er schränkt ein: „Trotz solcher Legitimationen sind Kirchenordnungen erstaunlich variabel und nur von begrenzter Aussagekraft für die entstehende Gesamtkirche“ (167). Hier steht wiederum der Bezug zu Jer 31 im Vordergrund, der die Gleichheit aller (menschlichen) Bundesteilnehmer betont, die nun Gottes Gebote richtig erkennen und keine Differenz zwischen Schülern und Lehrern mehr braucht, vgl. Klinghardt: Becher, 51f. Vgl. Kapitel 2.3.9 dieser Arbeit.
3.7 Das letzte Mahl
207
Lk 22, so wird sofort deutlich, wie nützlich diese Differenzierung für das Verständnis der beschriebenen Handlungen und Worte sein kann. Auffällig ist zuallererst, dass in den Versen 15–20 nur Jesus spricht und agiert. Die anderen Mahlteilnehmer werden zwar angesprochen, stellen aber keine eigene Handlungsinstanz dar. Im Kontext der sog. Kelch- und Brotworte (17–20) ergibt sich folgendes Schema: Jesus handelt am Kelch bzw. Brot (Mesoritus), daraufhin folgt ein Deutewort (Mikroritus), das direkte Auswirkungen auf die Apostel hat bzw. haben soll, weil es sich z. B. um einen Auftrag Jesu an diese handelt. Eingebettet sind diese Handlungs-Sprachkombinationen jeweils in den Kontext des Makroritus Passafest. Dies soll beispielhaft an dem Brotwort in 22,19 verdeutlicht werden: Und er nahm Brot, dankte,125 brach es,126 gab es ihnen und sagte: Dies ist mein Leib, der für euch gegeben127 wird; dies tut zur Erinnerung an mich.
Handlung (Mesoritus) Deutewort (Mikroritus) Auftrag (Makroritus als neues Ritual für die Gemeinschaft der Jünger; Kontext Makroritus Passa als Erinnerung an Gottes befreiendes Handeln128)
Hinzuzufügen ist, dass für Lukas und seine Leser neben dem Passafest129 ein weiteres Makroritual im Hintergrund steht, nämlich die eigene Mahlpraxis der christlichen Gemeinde, die sich wohl mindestens wöchentlich130 vollzieht. Beiden Makroritualen ist zudem gleich, dass Jesus als Gastgeber zu verstehen ist. Während dies im Erzählzusammenhang von Lk 22 deutlich geschildert wird, zeigt das Brotbrechen des unerkannten Jesus in Lk 24 das Bild des christlichen
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εὐχαριστήσας wurde weiter oben mit „sprach ein Dankgebet“ übersetzt. Der Evangelist führt allerdings die Worte Jesu nicht aus, sodass hier aus ritualwissenschaftlicher Perspektive eine Handlung vorliegt. Zu den verschiedenen Verben, die im Mahlkontext als danken bzw. Dankgebet sprechen verstanden werden können, vgl. Klinghardt: Mahlgemeinschaft, 411–414 ἔκλασεν ist Prädikat des Satzes. Das Brechen des Brotes steht damit im Vordergrund. διδόμενον als Erläuterung, dass der Leib Jesu wirklich gegeben wird, genauso wie das Brot, findet sich nur im Lk! Vgl. dazu meine Ausführungen unter (4). Zur Verbindung von Passa und Abendmahl vgl. Theobald: Paschamahl, 169–172, wobei er davon ausgeht, dass „auch die lukanischen Gemeinden weiterhin jedes Jahr Pascha feierten, jetzt allerdings im Gedenken an Jesu Todesleiden und in der Hoffnung auf seine Wiederkunft.“ Dies vermutet auch Theißen: Sakralmahl, 181ff. Der wöchentliche Rhythmus ergibt sich aus Apg 20,7, wo von der Gemeindeversammlung am ersten Tag der Woche erzählt wird. Vgl. Esposito: Jesus’ Meals, 71–75.
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3 Exegese ausgewählter Perikopen
rituellen Mahls mit Jesus als Gastgeber.131 Dies hat auch Auswirkungen auf die Frage nach dem Design des Brotbrechen als neuem Ritual, die unter (4) besprochen wird. Diese Unterteilung von Ritualen in drei Ebenen zeigt sich deutlich an den spezifischen Funktionen: Auf der kleinsten Ebene, den Mikroriten, konstituieren sich die sprechenden bzw. angesprochenen Personen. Im Beispiel 22,19 sind die Angesprochenen die Apostel. Sie werden sprachlich als diejenigen klassifiziert, die Anteil an der Handlung Jesu ὑπὲρ ὑμῶν nehmen. Auf der Mesoebene bestimmen die interpersonalen Aktionen die rituelle und soziale Hierarchie der handelnden Akteure. Jesus ist in diesem Fall die einzige handelnde Person in der Szene. Von ihm geht alles aus. Er setzt durch die Handlung mit dem Brot die Jünger in die von ihm abhängige Position. Sie bekommen etwas: ein Stück Brot und – im Kontext des Makroritus – einen Auftrag. Dies zeigt: Der rituell handelnde Akteur ist Jesus allein. Er wird es auch im Kontext des Evangeliums bleiben, aber im Blick stehen immer schon die zukünftigen Handlungen der Apostel und der von ihnen ausgehenden Jesus-Gemeinde. Dies entspricht der Funktion des Makroritus: Er soll die „Gemeinschaft als Ganzes“ (re-)produzieren. Dies steht in engem Zusammenhang mit dem Ritualdesign Jesu, wie es unter (4) erläutert werden wird. Zusammengefasst: Die einzelnen Komponenten des Rituals sind aufeinander angewiesen: Ohne die sprachlichen, also mikrorituellen Deutungen wären die Handlungen Jesu Teil einer normalen Passa-Mahlzeit und somit nicht als (neues) Ritual verständlich. Sie hätten auch keine Wiederholung impliziert. Ohne die mesorituellen Handlungen aber hingen die Aussagen Jesu in der Luft, wären kontextlos. Alle kleineren und mittleren Ritualkomponenten brauchen zudem einen zweifachen makrorituellen Bezugsrahmen: Erstens zum Makroritual des Passafestes, das an die Befreiung132 aus der Sklaverei durch Gott erinnert und verinnerlicht und zweitens zum Makroritual des Gemeindemahls, das für Lukas und seine Leser den direkten Kontext ihres Glaubenslebens deutet und erklärt. Offen bleibt noch die Frage, ob man bei dieser von Lukas als Brotbrechen133 bezeichneten Ritualhandlung von einem neuen Ritual sprechen kann. Dazu mehr im folgenden Abschnitt. 131 132
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Vgl. Kapitel 3.8 dieser Arbeit. Zur Bedeutung von Freiheit im lukanischen Doppelwerk vgl. Bormann: Terminologie, 143–164. Bormann (Abendmahl, 723) zur Bezeichnung Brotbrechen: „Diese nicht-sinnliche und damit kontraintuitive Verbindung von Brot und Wein mit der Lebenshingabe Jesu erklärt auch, warum es dazu kommt, dass zahlreiche neutestamentliche Texte einfach von ‚Brot brechen‘ sprechen, wenn sie das Gemeinschaftsmahl bezeichnen. […] Das Brotbrechen ist einerseits nur wenig aufwendig, da es sich um einen Alltagsvorgang handelt, es ist andererseits höchst effektiv in seiner Funktion, die Gemeinschaft zusammenzuführen, zu inszenieren und dadurch zu regenerieren.“ Diesen Gedanken nehme ich in Kapitel 4.6 weiter auf.
3.7 Das letzte Mahl
209
(4) Die soeben angeführten Überlegungen führen automatisch zur Frage nach dem Ritualdesign, das laut Kerstin Radde-Antweiler folgendermaßen definiert werden kann: „Separate elements of rituals are removed from their original context and in a new process – which I define as ‚Ritual Design’ – combined in different variations and moved into an new context.“134 Anlass des Mahls ist eindeutig das Passafest, welches Jesus mit den Aposteln in Jerusalem feiern will. Dabei beschreibt der Text zwar nicht alle Einzelheiten des Passafestes, gibt aber auch keinen Anlass, daran zu zweifeln, dass Jesus im Grunde auf dieselbe Art und Weise Passa gefeiert hat wie alle anderen.135 Dabei werden einige Elemente in den Vordergrund gerückt: Das Passa ist ein Gemeinschaftsfest und wird mit einem gemeinsamen Mahl abgeschlossen. Dieses enthält neben dem Passalamm – das in den synoptischen Berichten kaum eine Rolle spielt136 – den Genuss von Wein und Brot, welcher mit Segens- und Weisheitsworten verbunden wird. Wichtig ist auch das Setting des Passa: Es erinnert an den Auszug des Volkes Israel aus Ägypten und damit an die Befreiung aus der Sklaverei des Pharaos. Israel wird ins gelobte Land geführt und stellt sich ganz unter die Herrschaft ihres Gottes JHWH. Diese Melodie der Befreiung erklingt bei jedem Passafest und ist ein konstitutives Merkmal der Erinnerung Israels an die Heilstaten Gottes.137 Diese Elemente sind es, die Lukas bei seinem Bericht in den Vordergrund rückt (Gemeinschaft, Teilen von Wein und Brot, Erinnerung an die befreiende Heilstat Gottes), während andere Elemente keine oder nur eine geringe Rolle spielen.138 Diese erweitert aufgenommenen Elemente werden nun in einen neuen Kontext139 gebracht: Das Wirken, Leiden und Sterben Jesu ὑπὲρ ὑμῶν. Daran soll mit dem Mahl der Jünger, das sich aus dem Wiederholungsauftrag ergibt, erinnert werden: 134 135
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Radde-Antweiler: Rituals, 66. Vgl. dazu Kapitel 2.4.3 dieser Arbeit. Allerdings findet die Passafeier Jesu nicht im üblichen Familienzusammenhang statt, sondern in der Gemeinschaft mit den Jüngern. Bei Aussagen zum Ablauf des antiken Passafestes ist dabei natürlich zu beachten, dass wir a) nicht genau wissen, wie das Passafest im ersten Drittel des 1. Jh. gefeiert wurde und b) nicht wirklich erfahren, welche weiteren Elemente Lukas bei seinen Lesern als bekannt voraussetzt bzw. voraussetzen kann. c) Zusätzlich hat Lukas hier wie bei allen anderen Mählern in seinem Evangelium die griechisch-römische Praxis von Deipnon und Symposion als Hintergrund seiner Schilderungen. Vielleicht kann man es so sagen: Aus lukanischer Perspektive hat Jesus dieses letzte Passafest so gefeiert, wie es gefeiert werden sollte. Vgl. aber die vielfältigen Bezüge auf Jesus als Lamm Gottes in der johanneischen Literatur (z. B. Joh 1,29.36), aber auch in 1Kor 5,7b: Denn auch unser Passalamm ist geopfert, das ist Christus. Interessanterweise kennt schon die Erzählung des ursprünglichen Passafestes im Buch Exodus Handlungsanweisungen, die das spätere Feiern des Passafestes festlegt: Ex 12,14– 27.43–49. Z. B. Familie, Jerusalem, das Lamm, die Wiederholung einmal im Jahr usw. Levine/Witherington: Luke, 590: „What we have here is not a traditional Passover meal, or a traditional meal at all. Something new is being created. The focus is changing from the Passover liberation of Israel from slavery to the liberation Jesus offers in his ministry and, we shall soon see, in his resurrection.“
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3 Exegese ausgewählter Perikopen
„Die Erinnerung ist weder Nostalgie noch Melancholie einer unwiederbringlichen Vergangenheit, sondern dem jüdischen Verständnis von der aktiven Erinnerung an die Heilsgeschichte entsprechend die Vergegenwärtigung der göttlichen Guttaten. In seiner Erzählung sagt Lukas: Durch den Ritus kommt Jesu Passion in ihrer Heilskomponente in die Gegenwart.“140 Wegen des Kontextwechsels kann man an dieser Stelle von Ritualdesign sprechen. Das Passafest, welches an die Befreiung Israels aus Ägypten erinnert,141 und das letzte Mahl Jesu, das im Kontext eben dieses Passafestes steht, bezeugen beide die Melodie der Befreiung: Das Passafest erinnert und aktualisiert die Befreiung Israels aus Ägypten; das als Brotbrechen zu wiederholende letzte Mahl Jesu erinnert und aktualisiert das Heilshandeln Jesu ὑπὲρ ὑμῶν. Im Blick liegen somit die Mahlfeiern der Jünger Jesu, auch und gerade solcher, die nicht an dem einmaligen Bundesschluss in Jesu Blut teilgenommen haben.142 Dabei ist zwischen den beiden Kelchworten und dem Brotwort zu differenzieren: Nur beim Brot fügt Lukas einen dezidierten Wiederholungsauftrag ein und folglich ist Brotbrechen auch die lukanische Bezeichnung für das rituelle Gemeinde-
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Bovon: Lk IV, 246. Zur jüdischen Tradition des Gedenkens vgl. Haarmann: Gedenken, 61–80. Dabei ist zu beachten: „Lukas ersetzt damit weder das ‚jüdische‘ Passamahl durch das ‚christliche‘ Brotbrechen, noch macht er das Brotbrechen zu einem ‚christlichen Passamahl‘,“ so Wolter: Lk, 700. Ergänzend Bovon: Lk IV, 245: „Sehr oft sind die christlichen Exegeten der Meinung, der neue Ritus werde das Pascha ‚ersetzen‘. Es ist nötig, ihnen zu antworten, dass Lukas dieses Tätigkeitswort nicht braucht und dass er im Gegenteil in der Apostelgeschichte Menschen darstellt, die gewillt sind, ihre jüdischen religiösen Pflichten zu erfüllen.“ Dem ist allerdings hinzuzufügen, dass das Passafest im weiteren Verlauf des lukanischen Doppelwerkes nur noch in Apg 12,4 (und als reine Zeitangabe in 20,6) erwähnt wird. Dort gibt es keinen expliziten Hinweis auf die Feier des Passafests durch christliche Gemeinden oder Einzelpersonen (allerdings spielt das Befreiungsmotiv auch dort eine wichtige Rolle, vgl. Theobald: Paschamahl, 151f.). Auch könnte die strukturelle Parallelität von Passa und Abendmahl (beide erinnern das befreiende Handeln Gottes und ermöglichen die Integration späterer Generationen in den Wirkungskreis des ursprünglichen Geschehens) vielleicht doch den Ersatz des Passafestes durch das lukanische Brotbrechen bedeuten. Dem gegenüber betont Hartenstein (Abendmahl, 191) mit Verweis auf die Parallelen zwischen Lk 22 und Jub 49: „Wenn Jesus feststellt, dass er das Pessach nicht mehr essen wird, bis es im Reich Gottes erfüllt ist, dann impliziert dies die kontinuierliche weitere Feier des Pessach in der Zwischenzeit. Jedenfalls kann von einer Aufhebung oder Ersetzung des Pessach nicht die Rede sein, wenn von seiner Erfüllung im Reich Gottes gesprochen wird“. Dass Lukas „zwei Mahltypen nebeneinander“ kennen würde, wie Theißen (Leib, 181–183) vermutet, ist für mich nicht nachvollziehbar. Denn offensichtlich entspricht das „weit harmlosere[s] Sakralmahl“ des Brotbrechens dem Wiederholungsauftrag Jesu aus Lk 22,19, denn sonst müsste ja Lukas konstatieren, dass die Apostel Jesu Wiederholungsauftrag nicht befolgt hätten. Jesus befiehlt mit diesem ja nicht die Wiederholung einer Passafeier, angereichert mit Gedanken an seinen Tod, sondern die Fortführung des Brotbrechens, welches durch die lukanische Erzählung der Emmausjünger seine Fortsetzung schon im Evangelium erfährt.
3.7 Das letzte Mahl
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Mahl.143 Der zweite Kelch beschreibt dann den einmaligen Bundesschluss Jesu mit den Aposteln (s. o.). Der erste Kelch hingegen wird zwar nicht mit einem Wiederholungsauftrag belegt, bringt aber dafür einen dezidierten Handlungsauftrag mit sich: Die Jünger sollen ihn nehmen und untereinander teilen. Dabei ist zu beachten: erster Kelch und das Brot gehören insofern zusammen, als dass sie vor dem Mahl gereicht werden und den Jüngern beides gegeben wird. Die zweite Kelchhandlung findet μετὰ τὸ δειπνῆσαι statt und enthält keinen Auftrag Jesu an die Jünger. Wie Michael Wolter144 überzeugend darstellt,145 befindet sich das von Jesus als Ritualdesigner gestiftete christliche Brotbrechen zwischen zwei Passafesten: „Das Brotbrechen vertritt aber das Passamahl in der Zeit der Abwesenheit Jesu, und es ist damit eingespannt zwischen zwei Passafeiern: zwischen dem hier beschriebenen letzten Passa des irdischen Kyrios und dem eschatischen Passa des wiedergekommenen Kyrios, bei dem es erneut zu einem Befreiungshandeln Gottes kommen wird, das dem Rettungsgeschehen des Exodus entspricht.“146 Ich möchte Wolters Überlegungen erweitern und beim christlichen Brotbrechen (also bei der Feier des ‚Abendmahls‘) von einem Übergangsritual147 sprechen. 143
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Anders Heilmann/Wick: Art. Mahl/Mahlzeit (NT): „Der Hinweis auf das Brotbrechen in Apg 2,42.46 ist keine spezifische Bezeichnung frühchristlicher Mähler im Anschluss an das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern […], sondern verweist auf einen gängigen Mahleröffnungsgestus […], durch den der Gemeinschaftscharakter eines Mahls zum Ausdruck gebracht werden kann.“ Dagegen ist zu sagen, dass Lukas in Apg 2,42 eine Aufzählung der Eigenschaften der Gemeinde bringt, die die Gemeinschaft als Einzelpunkt schon explizit mit aufnimmt, das Brotbrechen davon aber unterscheidet. Ergänzend Wolter: Lk, 703: „Daraus darf man aber nicht schließen, dass die lk Gemeinde das Abendmahl gewissermaßen sub una gefeiert hat und nur zum Brotbrechen zusammengekommen ist.“ Dazu passt auch der erste Kelch, den die Apostel ja nehmen und untereinander teilen sollen. Allerdings bleibt die Möglichkeit bestehen, dass Lukas christliche Mähler ohne rituellen Weingenuss kennt, da er diesen an keiner Stelle erwähnt (vgl. Theobald: Paschamahl, 171f., der zu dieser Lösung neigt). Folgt man hingegen der Libationsthese Klinghardts (s. o.) müsste man eher fragen, ob die Leser des Doppelwerkes die Libation wiederholen. Die sehr ähnliche Überlieferung in 1Kor 11 könnte zudem auch für einen zumindest zeitweisen Ritus ohne Weingenuss zeugen, da die Einschränkung ὁσάκις ἐὰν πίνητε als Hinweis verstanden werden könnte, dass ein Mahl mit Wein nicht immer möglich war, vgl. Schrage: 1Kor, 43. Vgl. dazu Wolter: Lk, 699–701. Schon bei Schröter findet sich der Gedanke des doppelten Mahls (Abendmahl (2006), 50f.): „Lukas schafft auf diese Weise einen zeitlichen Rahmen um das Mahl der christlichen Gemeinde: Es wird beim letzten Pessachmahl Jesu eingesetzt und in der Zeit bis zum Pessachmahl im Gottesreich gefeiert. Von diesen Pessachmählern ist es zudem als ‚Brotbrechen‘ unterschieden.“ Wolter: Lk, 700 (kursiv dort). Zwar gleicht der Begriff „Übergangsritual“ der Übersetzung des rites de passage von v. Gennep (vgl. Kapitel 2.3.4 dieser Arbeit), meint aber nicht den dreistufigen Übergang, den der Autor bei indigenen religiösen Riten ausgemacht hat, sondern, wie oben dargelegt, die
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3 Exegese ausgewählter Perikopen
Dieser Begriff ist im doppelten Sinne148 zu verstehen: Auf der einen Seite ermöglicht dieses Ritual wie oben dargestellt einen Übergang seiner Teilnehmer in den neuen Bund Jesu, der als Vorausgriff auf den eschatologischen Bund Gottes mit Juden wie Heiden149 zu verstehen ist.150 Damit liegt es auf derselben Ebene wie die im AT erzählten Passafeste der Israeliten, die ihrerseits „wichtige Übergänge in der Geschichte Israels anzeigen. An den Beginn einer neuen Phase gehört eine Pessachfeier – sowohl beim Einzug ins Land oder bei der Rückkehr aus dem Exil als auch als Erneuerung des Bundes nach Zeiten der Abgötterei. Auf der Erzählebene erscheinen die Pessachfeiern als ein Ritus, der eine neue Zeit der Verbindung mit Gott einleitet.“151 Die zweite Bedeutung des Begriffs Übergangsritual beschreibt, dass das christliche Brotbrechen nur einen temporären Übergang zwischen dem Heilshandeln Gottes in Jesus und dem endzeitlichen Heilshandeln Gottes bei der
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doppelte Wirkung des Hinübergehens in den neuen Bund Jesu, dessen Ausführung übergangsweise bis zum eschatologischen Passa anhalten wird. Vgl. Bösen: Mahlmotiv, 264f., der an dieser Stelle „das eucharistische Mahl als ‚Mahl der Zwischenzeit‘“ bezeichnet und dessen Ausrichtung auf das eschatologische Mahl betont. Vgl. dazu die Ausführungen von Winter: Trennung, 80, der aber an die Perspektive der Leser des Lukas denkt: „Auf der Ebene der Erzählzeit, also der Zeit des Autors Lukas und seiner Leser, wird erkennbar, dass Lukas seinen Adressaten das Abendmahl gleichsam als letztwillige Verfügung Jesu zugunsten seiner Jünger und aller zukünftigen Glaubenden vor Augen stellen möchte: als Gabe des scheidenden Herrn, an die Seinen, durch die sie ihn auf ihrem Weg durch das irdische Leben als gegenwärtig Erhöhten erfahren, der ihnen schon jetzt sein Heil zuwendet; zugleich als Gabe des kommenden Herrn, der in den Glaubenden die Hoffnung entzündet, dass es einst im Reich Gottes eine Vollendung der irdischen Mahlgemeinschaft geben wird, an der sie auch teilhaben werden.“ Dass der neue Bund Jesu auch Heiden inkludiert, ist aus Lk 22 nicht explizit zu entnehmen, da, gemäß der Konzeption des lukanischen Doppelwerkes, die Eingliederung der NichtJuden erst in der Apostelgeschichte dargestellt wird. Allerdings kann man, Mittmann-Richert: Sühnetod, 145f. folgend, erwägen, dass die vielfältigen Bezüge zum Gottesknecht den lukanischen Fokus auf die Völker beinhalten: „Letztendlich aber liegt die eucharistische Integration auch der Heidenwelt in das endzeitliche Passa- und Bundesgeschehen begründet in der Gottesknechtschaft Jesu […]. Nur der Gottesknecht kann der Juden und Heiden vorsitzende Tischherr im Gottesreich sein, da seine Sendung von vornherein auf die Einbeziehung der Heiden in das Israel verheißene Heil zielt (Jes 42,1.4; 49,1.6), das in Jes 49,5f als Sammlung aus der Zerstreuung […] in den Blick kommt“ (kursiv dort). Im Unterschied zur Taufe, die ein individuelles Handeln eines Einzelnen darstellt, geht es beim Mahl um die kollektive Vergegenwärtigung des Neuanfanges durch Jesus Christus. Taufe und Abendmahl gehören also beide konstitutiv zur christlichen Gemeinschaft. Erstere ist dabei individuell-einmalig, zweiteres gruppenorientiert-mehrmalig durchzuführen. Dabei ist zu beachten: Die Teilnahme am christlichen Mahl nach Ostern (beginnend mit dem Emmausmahl) ist auf Menschen beschränkt, die schon in einer Beziehung zu Jesus stehen. Genauer wird dies in Kapitel 4.6 beschrieben. Hartenstein: Abendmahl, 189. Auf Seite 190 fährt sie fort: „Vor diesem Hintergrund ist es sehr plausibel, dass im LkEv das Abschiedsmahl Jesu als ein Pessach gestaltet ist. Es markiert einen Übergang, den Beginn einer neuen Phase der Geschichte Israels und konstituiert eine neue Gemeinschaft aus der Gruppe der Jüngerinnen“ (kursiv DK).
3.7 Das letzte Mahl
213
Parusie Jesu darstellt, welche das Reich Gottes (und damit die Erfüllung des Passa: 22,16152) und die Befreiung der Menschen aus der Knechtschaft bewirkt.153 Dass die Melodie der Befreiung dabei weiter mitschwingen kann, wird auch durch den Fokus des Evangelisten auf die Handlungen Jesu als rituelle Handlungen begründet. Seine Darstellung deutet dabei weniger die Mahlelemente als die Mahlhandlungen. Nicht allein das Brot als Abendmahlselement steht im Fokus sondern das Nehmen, Brechen und Geben des Brotes als rituelle Handlung; nicht der Wein – der ja beim zweiten Kelch154 überhaupt nicht explizit erwähnt wird – begründet den neuen Bund, sondern die rituelle Handlung der Libation155 ὑπὲρ ὑμῶν bzw. das Vergießen des Blutes Jesu ὑπὲρ ὑμῶν erinnert durch das Geben, Danken und Trinken (s. u.) des Kelchs durch die Jünger.156 Dabei muss noch einmal betont werden: Nur das Brotbrechen wird durch den expliziten Erinnerungsauftrag zum Ritual, das die Apostel wiederholen sollen, während die Kelchhandlung in 22,20 – anders als in 1Kor 11 – auf den einmalig von Jesus und durch Gott gestifteten Bund rekurriert. Das erklärt nun schlussendlich, warum der lukanische Text zwei Kelche benötigt: Während der zweite Kelch die Konstituierung des Neuen Bundes bedeutet, der keine Wiederholung157 braucht, zeigt der erste Kelch aus Vers 17, dass das Teilen des Kelchs in Jesu Namen konstitutiv zur christlichen Gemeinde und ihrer Mahlfeier dazugehört.158 152
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Daraus ergibt sich die Begrenztheit sowohl des Brotbrechens als auch des Passafestes: „Das heutige Pascha hat seinen Wert, aber seine Fülle hat es noch nicht erreicht. Selbst von Gott seit der Zeit des Exodus gewollt, selbst von Jesus eingehalten, bleibt das Pascha nichtsdestoweniger ein menschlicher Ritus, ein Zeichen, das auf die erwartete Wirklichkeit nur hinweist, eine unvollkommene, auf eine Erfüllung angelegte Feier“ (Bovon: Lk IV, 243). Den letzten Teilsatz muss man auch auf das Brotbrechen beziehen. Wolter (Lk, 700f.) führt weiter aus: „Nach lk Auffassung ist das Brotbrechen insofern von Erinnerung und Verheißung gleichermaßen getragen: Es hält die Erinnerung daran wach, dass Gott mit Jesus an Israel zum Heil in einem Maßstab gehandelt hat, dem der Maßstab der Befreiung seines Volkes aus Ägypten entspricht […], und es vergegenwärtigt die Verheißung, dass Gott sein Volk, das er sich aus Juden und Heiden erwählt hat, bei der Parusie Jesu von aller Unterdrückung und von allem Leid endgültig befreien wird“ (kursiv dort). Ähnlich auch Klein: Lk, 665. Die Frucht des Weinstocks (22,18), von der Jesus von nun an nicht mehr trinken wird, steht im Zusammenhang mit dem ersten Becher aus Vers 17. Dieser wird durch die dazwischen stattfindende Mahlzeit explizit vom zweiten Kelch getrennt. So die Lösung von Klinghardt: Becher, 50, der zusammenfassend sagen kann: „Die Libation selbst ist als solche der neue Bund.“ Vgl. Wolter: Lk, 706 und Klein: Lk, 667. Klein kommentiert das fehlende explizite Trinken der Jünger: „Aber für Lk gibt möglicherweise gar nicht der Genuß des Weines Anteil an dem Segen des Todes Jesu, sondern das Wort und die zeichenhafte Segnung.“ Wolter: Lk, 708: „Lukas macht auf diese Weise deutlich, dass es diese einmalige und nicht wiederholbare Handlung ist, mit der der neue Bund aufgerichtet wird, und zwar analog zu der in Ex 24,3–8 beschriebenen Handlung. Diese Analogie erstreckt sich auch auf die Merkmale der historischen Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit.“ Überlegungen, ob die Leser des Lukas ein Mahl ohne Weingenuss vollziehen würden (vgl. Wolter: Lk, 703f.), erübrigen sich daher.
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3 Exegese ausgewählter Perikopen
Zusammengefasst: Der lukanische Jesus designt mit dem christlichen Brotbrechen ein neues Ritual,159 das – im doppelten Sinne – als Übergangsritual zu verstehen ist, da es einerseits den Übergang in den neuen jesuanischen Bund konstituiert, andererseits eine Begrenzung bis zur Parusie Jesu und dem damit verbundenen Heilshandeln Gottes an Juden wie Heiden bekommt. Das Ritualdesign Jesu ist nach lukanischer Darstellung als Loslösung und Neukontextualisierung verschiedener Elemente des Passafestes und des gemeinsamen letzten Mahls in die neue Situation der Nachfolger Jesu nach Tod und Auferstehung zu verstehen. Der neue Bund wird geschlossen, aber das endzeitliche Wirken Gottes wird dabei gerade nicht vergessen, sondern bleibend erhofft. Die neue Gemeinschaft, die in Zukunft ohne den irdischen Jesus – aber gestärkt durch den Heiligen Geist – auskommen muss, darf sich somit als Neuer Bund verstehen,160 der bis zur Parusie Jesu wachsen darf und soll, angefangen bei den Emmausjüngern in Lk 24161 und weitergeführt in der wachsenden Gemeinde der Apostelgeschichte.162 Das Ritual des Mahls markiert dabei den Übergang, nicht nur in den Neuen Bund, sondern auch bis zur Parusie Christi.
3.7.5 Zusammenfassung und Fazit Das letzte Mahl Jesu mit den Aposteln in Lk 22 ist als Beschreibung eines besonderen Rituals zu verstehen: Lukas verbindet noch deutlicher als die anderen synoptischen Berichte die beiden Makrorituale Passafest und Abendmahl miteinander. Dabei überträgt er die Melodie der Befreiung, die im AT mit dem Passafest verbunden ist auf seine Darstellung der rituellen Handlungen und Aussagen Jesu beim letzten Mahl: Die Apostel, mit denen Lukas schon die sich nach Ostern
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Altmann/Al-Suadi (Essen, 124: „Mit anderen Worten wird durch den neuen Bund kein neues Ritual gestiftet, sondern eine neue Gemeinschaft unter Gleichen.“) betonen zwar zu Recht die Gemeinschaft, verkennen aber, dass das neue Designen von Ritualen natürlich nicht bedeuten muss, dass „neue“ Handlungen ausgedacht und eingeführt werden, sondern dass schon bestehende Handlungen, Inhalte und Kontexte neu arrangiert und verknüpft werden können. Somit designt Jesus in Lk 22 durchaus ein neues Ritual, obwohl das Brechen von Brot und die Libation von Wein allgemein-antike Handlungen sind. Der bei der Brotbitte formulierte Wiederholungsbefehl verdeutlicht dies explizit. Dazu noch einmal Klinghardt: Becher, 58: „Wenn der Libationsbecher selbst der Neue Bund ist, dann werden die in der Erzählung erwähnten Apostel durch den Vollzug der Libation, also durch das Vergießen des Bechers, zu einer Gemeinschaft: Sie werden selbst dieser Neue Bund. Das Ritual des Gemeinschaftsmahls mit der Libation ist daher nicht Mittel zum Zweck […], sondern ist selbst der Zweck. […] Die soteriologische ‚Wirkung‘ des Mahls ist die unverfügbare Konstituierung der Gemeinschaft im rituellen Vollzug“ (kursiv dort). Vgl. dazu das Kapitel 3.8 dieser Arbeit. Vgl. Apg 2,41; 20,7.
3.8 Zwei Jünger auf dem Weg
215
konstituierende Kirche in den Blick nimmt, werden Teil des Neuen Bundes Gottes in Jesu Blut. Doch ist dieser Bund wie auch die früheren Bünde Gottes nicht auf die ursprünglichen Teilnehmer des rituellen Bundesschlusses begrenzt, sondern offen für zukünftige Generationen. Dies stellt der Wiederholungsauftrag zur Erinnerung an Jesus sicher, der sich im Ritual des christlichen Brotbrechens manifestiert und schon in Lk 24 sowie in der Apostelgeschichte wieder aufgegriffen werden wird. Zu Jesu Gedächtnis sollen die Apostel handeln, d. h. die Handlungen des Nehmens, Gebens und Brechens des Brotes durchführen, da sich so die Gemeinschaft Jesu mit seinen Jüngern immer wieder manifestiert. Aus diesen Überlegungen ergibt sich das Verständnis des christlichen Brotbrechens als eines Übergangsrituals im doppelten Sinne, da es nicht nur den Übergang in den Neuen Bund feiert, sondern auch ein Ritual des zeitlich begrenzten Übergangs ist, welches beim eschatologischen Passa bei der Wiederkunft Jesu – lukanisch verstanden als alle einladendes Festessen (vgl. Lk 14,16–24163) – aufgehen wird. Jesus wirkt daher als Ritualdesigner, der das Brotbrechen, das eigentlich Teil des (Passa-)Mahlrituals ist, auf sich selbst deutet. Dieses Ritual wird konstitutiv für die christliche Gemeinschaft sein, wie Lukas sie darstellt. Das Verhältnis des letzten Mahls Jesu zum Passamahl ist dabei entscheidend: Beide sprechen von einem Bund mit Gott, welcher durch das jeweilige Ritual erneuert bzw. verinnerlicht wird. Dabei gilt in beiden Fällen, dass die erneuten Feiern keine Imitation des ursprünglichen Geschehens bedeuten, sondern durch ihre aktualisierende Funktion die Integration der Mahlteilnehmenden in die Gemeinschaft erlauben und konstituieren. Die hier vorgestellte Betrachtung des Brotbrechens als zu wiederholendes Gemeinschaftsritual ermöglicht, die Besonderheit des lukanischen Abendmahls zu verstehen: Die Apostel werden von und durch Jesus in den Neuen Bund überführt und bilden nun für die Leser des Doppelwerkes die neuen Ermöglicher dieses Übergangs – sie stehen ja schon in der Lehre und damit in der Kontinuität der Apostel nach Apg 2,42. Dieser Übergang ist dabei sowohl auf den Übergang in den Neuen Bund bezogen, der sich durch die Erkenntnis Jesu beim Brotbrechen in Lk 24 schon andeutet, als auch auf das eschatische Mahl, wie es auch in weiteren Mahlkontexten des Lukasevangeliums beschrieben und angekündigt wird.
3.8
Zwei Jünger auf dem Weg (Lk 24,13–36)
Das letzte Kapitel des Lukasevangeliums berichtet von der Auferstehung Jesu bzw. den von der Auferstehung abgeleiteten Ereignissen (leeres Grab mit Engel-
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Vgl. Kapitel 3.6 dieser Arbeit.
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3 Exegese ausgewählter Perikopen
erscheinung, Begegnungen mit dem Auferstandenen, Himmelfahrt), die im lukanischen Zeitschema alle am dritten Tag nach der Kreuzigung Jesu stattfinden.1 Dazu gehört auch die Wanderung zweier Jünger nach Emmaus. Diese machen sich nach den aufwühlenden Ereignissen am Passafest von Jerusalem wieder auf den Rückweg nach Hause. Auf diesem Weg begegnen sie Jesus, den sie zunächst nicht erkennen, später aber am Brechen des Brotes erkennen werden. Aus ritualwissenschaftlicher Sicht verdeutlicht der Autor durch die Perikope Lk 24,13– 36, dass das Brotbrechen beim Mahl der Ort für die Erkenntnis Jesu ist, da dort seine Agency bei den Jüngern wirkmächtig werden kann. Das Ritual des gemeinsamen Mahls mit Jesus als Gastgeber kann zudem als Ritualdesign verstanden werden, welches sich auf die Mähler Jesu, besonders auf das letzte Mahl mit seinen Jüngern (Lk 22), zurückbezieht und gleichzeitig auf die Gemeinschaft der Jünger in der Apostelgeschichte vorverweist.
3.8.1 Einordnung in die Erzählung des Evangeliums Nach der Hinrichtung und Grablegung Jesu berichtet Lk 24,1 – zunächst analog zum Markusevangelium – die Absicht einiger Frauen, den Leichnam Jesu zu salben, da wegen des hereinbrechenden Sabbats (23,54) nach der Kreuzigung keine Möglichkeit mehr dazu bestanden hatte.2 Der Stein vor dem Grab ist weggerollt worden und die Frauen sehen statt Jesu Leichnam zwei Männer in glänzenden Kleidern, die von der Auferstehung Jesu berichten.3 Die Frauen – in 24,10 als Maria Magdalena, Johanna und Maria, die Mutter des Jakobus sowie weitere Frauen identifiziert – erzählen dies den Elf und allen anderen Jüngern (24,9), die ihnen aber nicht glauben. Nur Petrus macht sich zum Grab auf und findet dort die Leinentücher (τὰ ὀθόνια) Jesu, hat aber keine Erscheinung und wundert sich über das Geschehen (θαυμάζων τὸ γεγονός). Danach beginnt der Erzähler einen neuen inhaltlichen Abschnitt. Das Ende der Emmausperikope ist hingegen schwieriger abzugrenzen: Der räumliche Übergang nach Jerusalem steht noch innerhalb der Erzählung (24,33), das Erscheinen Jesu in Vers 36 folgt direkt auf die Rede der Emmausjünger, die gerade vom Erkennen Jesu beim Brotbrechen berichten (24,35).4 Um die Relevanz des Brotbrechens zu betonen, ist daher 24,36 mit hineinzunehmen.
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Vgl. Moloney: Brot, 155, Bovon: Lk IV, 555 und Söding: Gottessohn, 187. Zum dritten Tag bei Lk vgl. Hoppe: Jesus, 33–40. Lukas betont dabei die Toraobservanz der Frauen in 23,56: Und den Sabbat über ruhten sie nach dem Gesetz. Einen Vergleich über die verschiedenen Berichte des leeren Grabes bietet Vorholt: Osterevangelium, 175–324. Jesus erscheint in direkter zeitlicher Abfolge zur Nennung des Brotbrechens, was dessen Relevanz unterstreicht.
3.8 Zwei Jünger auf dem Weg
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3.8.2 Lk 24,13–14: Zwei Jünger auf dem Weg 13 Und siehe, zwei von ihnen wanderten am gleichen Tag zu einem Dorf, 60 Stadien von Jerusalem entfernt, namens Emmaus 14 und sie sprachen miteinander über all diese Geschehnisse. Durch kαὶ ἰδοὺ5 eingeleitet beginnt die Perikope. Zwei Männer aus dem Kreis der Jünger6 machen sich nach dem Passafest – am gleichen Tag wie die vorher berichteten Ereignisse um das leere Grab – wieder auf den Weg7 in ihre Heimat8 – ein Dorf namens Emmaus,9 60 Stadien10 von Jerusalem entfernt. Dabei unterhal5 6
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Vgl. Lk 2,25; 5,12.18; 23,50 und Apg 8,27; 16,1. Die Männer sind δύο ἐξ αὐτῶν, gehören daher wohl zu den übrigen Jüngern (24,9: πᾶσιν τοῖς λοιποῖς), nicht zu den Elf. Die Nennung des Namens Kleopas in Vers 18 bestätigt dies. Allerdings bleibt der zweite Jünger anonym. Wenn es sich dabei um eine Frau handeln sollte, wie manchmal vermutet wird, zählt diese wohl nicht zu den Zeuginnen des leeren Grabes (vgl. 24,10), da 24,22–24 keinerlei Hinweis dazu bietet. Vgl. Bovon: Lk IV, 555, der darauf hinweist, dass Lukas „gerne einen Mann und eine Frau Seite an Seite darstellt (vgl. 1,5–38 und 15,3–10)“. Die Kirchengeschichte hat den unbenannten Jünger auch schon mit Simon Petrus (so Origenes) gleichgesetzt. Vgl. Bovon: Lk IV, 565–572 mit umfangreichen wirkungsgeschichtlichen Hinweisen. Weitere Hinweise zur Wirkungsgeschichte bietet Schilling: Emmaus, 55–68. Die Aufforderung des Auferstandenen, die Jünger sollen in der Stadt bleiben (24,49) ist noch nicht erfolgt, daher ist der Antritt der Heimreise nach dem (vermeintlichen) Scheitern ihres Herrn verständlich. Hätten sie den Frauen Glauben geschenkt, wären sie wohl in Jerusalem geblieben. Aber durch das Treffen mit Jesus wird den beiden Jüngern die Rückkehr nach Jerusalem wieder ermöglicht. Vgl. zur Weg-Theologie des Lukas: Geiger: Weg, 663–674. Dass es sich bei Emmaus um die Heimat der beiden handelt, wird hier zwar nicht explizit gesagt, aber durch die Umstände eindeutig belegt, denn erstens gibt es keinen Grund in ein kleines Dorf (Lukas spricht von einer κώμη) zu wandern, wenn man nicht dort wohnt (ein anderer Zweck wird nicht genannt) und zweitens verdeutlicht die spätere Ankunft in Vers 28 inkl. der Bitte an Jesus, dort über Nacht zu bleiben, dass die beiden Jünger zuhause angekommen sein müssen; so auch Klein: Lk, 728, Fitzmyer: Luke, 1559 und Söding: Gottessohn, 188. „Der Ort Emmaus läßt sich heute kaum korrekt identifizieren“ (Klein: Lk, 728). Klein nennt einige Möglichkeiten, ohne eine Entscheidung zu treffen. Ebenso Wolter: Lk, 776f. und Bovon: Lk IV, 555–557. Letzterer betont, dass die Entfernung in ca. zwei Stunden zu Fuß zu bewältigen war, wodurch sowohl die Rückkehr der beiden nach Jerusalem am selben Tag noch möglich als auch die Erscheinungen Jesu gemäß lukanischer Logik auf Jerusalem und dessen Umkreis beschränkt waren. Wahrscheinlich, so Wolter an anderer Stelle, hatte auch der Evangelist keinen konkreten Ort im Sinn, sondern verbindet hier eine mündliche Tradition (mit Emmaus und Kleopas als Fixpunkten) mit seiner Jerusalemfixierung (vgl. Wolter: Kontroverse, 25). Zu Schwierigkeiten antiker Geographie und Geschichtsschreibung vgl. Hengel: Historiker, 147–150. Hengel kritisiert dabei die modernen Urteile über fehlerhafte geographische Darstellung antiker Autoren, darunter auch Lukas. Er verweist auf die Unzuverlässigkeit antiker Karten und betont zusätzlich: „Ob Evangelisten wie Markus oder Lukas je eine Karte Palästinas zu Gesicht bekamen, ist zudem mehr als fraglich“ (150). Nach Klein: Lk, 728 entsprechen 60 Stadien ca. 11,5 Km; Wolter: Lk, 776 gibt „ca. 11 Km“ an.
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3 Exegese ausgewählter Perikopen
ten (ὁμιλέω) sie sich über die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit, wozu sicherlich die wundersamen Berichte bzgl. des leeren Grabes gehört haben, denn „Menschen in Jesu Nähe können nur darüber sprechen.“11
3.8.3 Lk 24,15–27: Die Trauer der Jünger und das Leiden Christi 15 Und es geschah, als sie miteinander sprachen und diskutieren, näherte sich ihnen Jesus selbst und wanderte mit ihnen, 16 aber ihre Augen wurden gehalten, sodass sie ihn nicht erkannten. 17 Und er sagte zu ihnen: Was sind das für Worte, die ihr miteinander austauscht, während ihr wandert? Und sie blieben traurig stehen. 18 Es antwortete aber einer namens Kleopas und sagte zu ihm: Bist du der Einzige unter den Fremden in Jerusalem, der nicht weiß, was dort geschehen ist an diesen Tagen? 19 Und er sagte zu ihnen: Welche Geschehnisse? Sie aber sagten zu ihm: Die Geschehnisse von Jesus von Nazareth, welcher ein Prophet war, mächtig in Werk und Wort vor Gott und dem ganzen Volk, 20 welchen die Hohepriester und unsere Oberen dem Todesurteil übergeben haben und ihn kreuzigen ließen. 21 Wir haben aber gehofft, dass er es ist, der Israel befreien werde. Doch auch bei alledem ist nun der dritte Tag, seit dem dies geschehen ist. 22 Aber auch einige Frauen von uns haben uns erschreckt. Als sie sich früh am Morgen zum Grab aufgemacht haben, konnten sie seinen Körper nicht finden und kamen und sagten, sie hätten eine Erscheinung von Engeln gesehen, die sagten, dass er lebe. 24 Und einige von denen, die mit uns waren, gingen zum Grab und fanden es so, wie die Frauen gesagt hatten, doch ihn sahen sie nicht. 25 Und er sagte zu ihnen: Ihr seid unwissend und zu träge im Herzen zu glauben alles, was die Propheten gesagt haben. 26 Musste dies Christus nicht erleiden und eingehen in seine Herrlichkeit? 27 Und er fing an von Mose und allen Propheten und legte ihnen aus, was alle Schriften über ihn sagen. Durch die typisch lukanische Einleitung καὶ ἐγένετο in 24,15 macht der Erzähler eine Änderung der Situation deutlich: Jesus selbst (αὐτὸς Ἰησοῦς) nähert sich und macht sich gemeinsam mit ihnen auf den Weg,12 während die beiden weiter 11 12
Klein: Lk, 728. Man muss sich die Szene so vorstellen, dass der unerkannte Jesus den beiden Jüngern zuerst zuhört und sich dann nach einer gewissen Zeit des gemeinsamen Wanderns durch seine Nachfrage ins Gespräch mit einbringt, obwohl er ja eigentlicher Mittelpunkt der
3.8 Zwei Jünger auf dem Weg
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sprechen und diskutieren.13 In Vers 16 bietet nun der Erzähler die Begründung dafür, dass sie Jesus nicht erkennen, obwohl sie zum Kreis der Jünger gehören. Das οἱ δὲ ὀφθαλμοὶ αὐτῶν ἐκρατοῦντο ist als ein Passivum divinum zu verstehen, sodass Gott es ist, der verhindert, dass sie Jesus erkennen.14 Dieses Nicht-Erkennen bietet erst die Grundlage für die Geschichte, da das nun folgende Gespräch zwischen Jesus und den beiden Jüngern nur auf diese Weise erfolgen kann, während die Leser die Identität des Wanderers schon kennen.15 Jesus fragt nun, worüber die beiden Wanderer sich so aufgeregt unterhalten.16 Die erste Reaktion auf diese Frage ist eine nonverbale Antwort: Die beiden bleiben traurig (σκυθρωπός17) stehen. Jesu Frage reißt sie aus dem Wandern heraus und für einen Moment sind sie nur eines: traurig.18 Nach diesem Moment des Stillstandes
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Diskussion der beiden Jünger gewesen ist. „Indem Jesus sich anfangs nicht an dem laufenden Gespräch der Pilger beteiligt und diese daher auch keinen Anknüpfungspunkt zu dem Fremden erkennen, gibt er ihnen die Zusage, dass er mit ihnen geht – auch wenn sie nicht mit ihm, sondern v. a. über ihn reden“ (Schindehütte: Gehen, 151). Mglw. denkt Lukas hier auch an den Hirten aus 15,3–7, der das verlorene Schaf – also die beiden aus Jerusalem fliehenden Jünger – sucht, so der Vorschlag von Söding: Gottessohn, 189. Nach Bovon (Lk IV, 557) weist συζητέω „auf eine Meinungsvielfalt, um nicht zu sagen auf eine Meinungsverschiedenheit hin“. Allerdings lässt das folgende von Lukas dargestellte Gespräch keinen Unterschied zwischen der Meinung der beiden Wanderer erkennen. So auch Klein: Lk, 729, Moloney: Brot, 157, Frenschkowski: Offenbarung, 238 und Schwemer: Emmausjünger: 95–117. Wolter: Lk, 778 meint, „dass die Passivform ein Passivum divinum sein will, ist nicht ausgeschlossen.“ Bovon: Lk IV, 558 erwähnt das Passivum divinum nicht, sondern erkennt hier eine Doppeldeutigkeit: „Der Verfasser legt sowohl die menschliche Schwäche als auch die göttliche Stärke nahe, die die Auflösung vorbereitet.“ Im zweiten Markusschluss Mk 16,9–20 findet sich eine ähnliche Überlieferung. Dort erscheint Jesus zwei Jüngern auf dem Weg zum Feld in einer anderen Gestalt (Mk 16,12: ἐν ἑτέρᾳ μορφῇ), welche ihr Nicht-Erkennen erklärt. Bucur (Invisible Light, 658–707) weist darauf hin, dass in frühjüdischer Literatur eine Verbindung zum Strahlen des Mose nach seiner Begegnung mit Gott (Ex 34,29–35) gezogen werden kann, weil bei dieser Überlieferung aus dem Liber Antiquitatum Biblicarum (LAB 12,1) Mose von den Israeliten aufgrund seines Glanzes nicht erkannt wird. Der Glanz des Mose entspräche somit dem (bei Lk nicht näher spezifizierten) Glanz des Auferstandenen, der schon in seine Herrlichkeit (24,26: εἰς τὴν δόξαν αὐτοῦ) eingegangen ist (Bucur: Invisible Light, 695–699). Vgl. Wolter: Lk, 778, der bei diesem Umstand (der Leser weiß mehr als die Figuren der Erzählung) auf die Parallele mit Lk 1,26–38 verweist. Vgl. auch Vorholt: Osterevangelium, 240–242. Lukas nutzt drei verschiedene Verben, um das Gespräch der beiden Wanderer zu beschreiben: ὁμιλέω (24,14.15), συζητέω (15) und ἀντιβάλλω (17). Bauer: Wörterbuch, Sp. 1502: „finster, mürrisch oder traurig aussehend, mit trübem Blick“. Bovon: Lk IV, 559 bietet: „Traurigkeit, Strenge, Schmollen, Erschlaffen, schlechter Laune, Verwirrung und Beunruhigung.“ Er entscheidet sich für die Übersetzung von 24,17b mit „Da blieben sie mit finsterer Miene stehen“ (a. a. O., 548). Eine Begründung liefert Klein: Lk, 729: „Denn sie sind so sehr mit ihrem Erleben beschäftigt, daß sie gar nicht begreifen können, daß jemand nicht so wie sie denkt. Lk zeichnet hier Menschen, die tief betroffen sind und meinen, daß ihr Erlebnis alle anginge.“
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geht das Gespräch und die Reise nach Emmaus – wenn auch nicht explizit erwähnt – wieder weiter. Einer der beiden, nun durch den Erzähler als Kleopas19 identifiziert, fragt Jesus, den er als Fremden, also einen nicht aus Jerusalem stammenden Passafestpilger, erkennt, ob nur er als Einziger nicht von den Geschehnissen der letzten Tage wüsste.20 Als Jesus in 24,19 weiter nachfragt, bekommt er – und mit ihm der Leser – eine Zusammenfassung21 des Wirkens Jesu aus Sicht der beiden zu hören:22 Jesus aus Nazareth war ein Prophet, mächtig in Tat und Wort,23 wurde aber von den Hohepriestern und Oberen des Volkes gekreuzigt.24 Mit diesem Propheten verband sich eine besondere Hoffnung, die 19
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Kleopas ist wohl als Kurzform zu Kleopatros zu lesen. In der Forschung herrscht Einigkeit darüber, dass keine genaue Identifikation (auch nicht mit Klopas aus Joh 19,25) möglich ist. Vgl. Vorholt: Osterevangelium, 242, Klein: Lk 729, Wolter: Lk, 778f. Der Leser erkennt sofort die Ironie der Frage, da Jesus natürlich von den – ihn selbst betreffenden – Ereignissen weiß. „Es sind die beiden Jünger, die keine Ahnung von dem tatsächlichen Charakter der Ereignisse haben und die von dem unbekannten Wanderer aufgeklärt werden müssen“ (Wolter: Lk, 779). Ähnlich Vorholt: Osterevangelium, 242: „Hier greift lukanische Ironie: Kleopas moniert die Unwissenheit seines Begleiters, der eigentlich Unwissende ist er selbst.“ Vgl. dazu den Aufsatz von Dinkler (Character, 687–706), der die Charakterisierung Jesu und der beiden Emmausjünger beschreibt: „Cleopas’s failure to recognize Jesus ironically characterizes Cleopas as the stranger“ (705). Vorholt (Osterevangelium, 242) ist zu widersprechen, wenn er schreibt: „Das Summarium scheint eine konzentrierte Kurzfassung der lukanischen Jesus-Verkündigung zu sein (vgl. Lk 4,16–30; 7,11–17; 13,31–33).“ Denn die Emmausperikope will ja gerade zeigen, dass diese Aussagen nach Ostern defizitär sind, da sie weder Leid und Tod Jesu noch seine Auferstehung theologisch korrekt reflektieren (vgl. Lk 24,26.46!). Klein: Lk, 730 (den Vorholt mit heranzieht), spricht (vorsichtiger) von einer „Zusammenfassung der Tätigkeit Jesu in Wort und Wunder“, ohne auf das angesprochene Defizit an dieser Stelle einzugehen. Nach Bovon: Lk IV, 559f. „erzählt er kurz den Inhalt des Lukasevangeliums, aber ohne dessen kerygmatische Hülle“. Es fehlt also die eigentliche Botschaft: Jesus lebt. Das wissen die Jünger zwar von der Engelbegegnung der Frauen; glauben – und dies bezeugen – können sie aber noch nicht. Weiterführend ist hierbei auch der Gedanke von Wolter (Kontroverse, 26), nach dem die „Fiktionalisierung von Theologie“ Lukas die Möglichkeit gibt, „theologische Positionen zu erzählen, die er selber für falsch hält“. Auch wenn nur Kleopas spricht, zeigt die Sprachform in der 1. Person Plural, dass er nicht seine alleinige Meinung kundtut, sondern mindestens für beide Jünger spricht, vielleicht sogar die Sicht aller Jünger darstellt. Die Handlung wird dem Wort vorgeordnet. Dem wird im Verlauf der Geschichte die Erkenntnis über den mitwandernden Jesus entsprechen: Die Emmausjünger werden ihn am Brotbrechen, also an einer Tat erkennen und erst im Nachhinein an seinen, die Bibel auslegenden, Worten: „The words are set alight in their hearts only after they see Jesus in broken bread. Deed illumines word“ (Boyd: Sale, 44). Die Verantwortung der Römer wird nicht erwähnt, obwohl es sich bei einer Kreuzigung ausdrücklich um eine römische Hinrichtungsmethode handelt und Lk 23 den römischen Einfluss beschreibt. Klein: Lk, 730: „Die Ausklammerung der Römer entspricht der apologetischen Tendenz des Lk.“ Diese Tendenz lässt sich auch bei den anderen Evangelisten nachzeichnen (vgl. u. a. Mt 27,18.23f. und Joh 19,7.12). Zur weiteren Deutung vgl. Kurth: Stimmen, 102f.
3.8 Zwei Jünger auf dem Weg
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nun, durch seinen Tod brutal zerstört worden war: Kleopas und die anderen Jünger hofften auf die Befreiung Israels.25 Nun folgt eine umständlich formulierte Zeitangabe, nach der „heute“26 schon der dritte Tag ist, nachdem dies alles geschehen war. Diese Angabe bezieht sich auf die Kreuzigung, nicht auf das ganze Wirken Jesu und auch noch nicht auf die Auferweckung, denn der Bericht an den mitwandernden Jesus über das leere Grab folgt erst in 24,22f. Dieser gibt nun die in 24,1–12 dargestellte Episode inhaltlich wieder, allerdings ohne die Nennung der Namen. Weder die Frauen noch Petrus werden benannt. Dafür werden die beiden Männer im Grab (24,4: mit glänzenden Kleidern) nun als Engel identifiziert.27 Doch trotz des leeren Grabes und des Berichts der Frauen über die Engel, die sagten, dass er lebe (24,23), können die beiden, genauso wie die Elf (24,11), nicht an eine Auferstehung Jesu glauben.28 Sie liegt außerhalb ihrer Vorstellungskraft, denn „die Feststellung des leeren Grabes bewirkt noch keinen Glauben.“29
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Vgl. Bovon: Lk IV, 560. Zu fragen bleibt: Meint dieser Topos die Befreiung von der militärischen Besetzung durch die Römer? Warum werden diese als Feind dann gerade nicht für den Tod Jesu verantwortlich gemacht? Die Hoffnung auf politische Freiheit für Israel scheint aus lukanischer Sicht eine Rolle zu spielen, da auch in Apg 1,6 die Jünger nach dem Reich für Israel fragen. Diese Hoffnung wird weder in Lk 24 noch Apg 1 negiert, von Jesus aber auf die unbekannte Zukunft verwiesen, in welcher Gott mit Macht handeln werde. Laut Klein: Lk, 730 entspricht die Hoffnung auf irdische Erlösung „dem Titel προφήτης bei Lk.“ Das Lk kennt die jesuanische Selbstbezeichnung als Prophet, der in Jerusalem sterben muss (Lk 13,33). Wolter (Lk, 779) fügt hinzu: „Lukas demonstriert am Beispiel der Emmausjünger, dass eine Christologie, die die messianischen Hoffnungen Israels lediglich auf die irdische Sendung Jesu projiziert, durch sein Leiden und seinen Tod kompromisslos widerlegt wird.“ Das „Heute“ wird von einer Reihe von Handschriften überliefert, wohl als Anknüpfung zu dem „Heute“ aus 4,21 und 23,43. Es passt auch inhaltlich sehr zu Lukas, da er ja die Osterereignisse auf diesen einen Tag beschränkt. Vgl. Bovon: Lk IV, 548, bei dem das Heute mit in die Übersetzung eingegangen ist (ohne Hinweis seinerseits auf die Textkritik). Dass Lukas in 24,4 nicht von Engeln schreibt, übernimmt er möglicherweise aus Mk 16,5 (dort ist es allerdings ein einzelner Jüngling mit weißem Kleid). Mt 28,2ff. spricht direkt von einem Engel; Joh 20,12 von zwei Engeln. Zu Parallelen in der Überlieferung von Joh 20f. und Lk 24 vgl. Popkes: Gegenwärtigkeit, 503–512. Nicht mal die Erinnerung der Engel an Jesu eigene Worte, dass er am dritten Tag auferstehen müsse (24,7; vgl. 9,22; 18,33), bringt den Glauben. Nur die Erscheinung Jesu ist dazu nach lukanischer Darstellung fähig. Wolter: Lk, 782 betont, dass „die Engel den Frauen auch gesagt hatten, dass Jesus auferweckt wurde [… . Dies] wird von den beiden Emmausjüngern ebenso wenig für bedeutsam und damit für berichtenswert gehalten wie die Erinnerung an Jesu Leidens- und Auferstehungsankündigungen. […] Die Möglichkeit einer Auferstehung von Toten als Deutung der Ereignisse liegt ihnen fern.“ Klein: Lk, 731. In eine ähnliche Richtung bemerkt Wolter: Lk, 782 „die Bedeutungslosigkeit des leeren Grabes für die Entstehung der Auferstehungsbotschaft“ in der lukanischen Überlieferung, vgl. auch Wolter: Lk, 773.
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3 Exegese ausgewählter Perikopen
Jesus hört sich diese Deutung Kleopas‘ und der Jünger an und reagiert sehr kritisch darauf.30 Er bezeichnet die beiden und damit alle Jünger als unwissend bzw. unverständig (ἀνόητος) und träge im Herzen (βραδεῖς τῇ καρδίᾳ31). Weder verstehen sie, was geschehen ist – und glauben auch nicht den Frauen, die die Engelbotschaft vom leeren Grab weitergegeben haben –, noch berührt es sie im Inneren, wo Fühlen und Denken aufeinandertreffen.32 Der Vorwurf Jesu in 24,25 ist interessanterweise nicht, dass die beiden Jünger Jesus oder den Engeln im Grab oder den berichtenden Frauen nicht geglaubt hätten, sondern dass sie nicht an das glauben, was die Propheten gesagt hatten, denn „wer ihnen Glauben schenkt, kann gar nicht anders, als in Jesu Geschick das Geschick des messianischen Erlösers Israels erkennen.“33 Jesus spricht nun vom Leiden Christi34 als Voraussetzung (24,2635 formuliert mit göttlichem [ἔ]δει36) für den Eingang in seine Herrlichkeit – gemeint sind wohl Auferstehung und Erhöhung.37 Im Vergleich zu der Engelaussage in 24,6f. fällt auf, dass der Begriff Christus erst hier fällt,38 während die Engel vom Menschen-
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„Jesus reagiert mit einer Invektive, wie sie für die Eröffnung von Scheltreden typisch ist“ (Wolter: Lk, 782). Klein: Lk, 731: „Schwerfällig am Herzen meint langsam, träge im Begreifen und Verstehen. Das Herz ist Zentrum auch des Denkens und Fühlens, des Begreifens.“ Ross: Luke, 369–379 zeigt, dass die Phrase ὦ ἀνόητοι καὶ βραδεῖς τῇ καρδίᾳ fast wortgleich in zwei Fabeln des Äsop (Fab. 40 und Fab. 128) zu finden ist. Ob Lukas an dieser Stelle Jesus Äsop zitieren lässt, oder ob umgekehrt die Kenntnis des lukanischen Textes sich in mittelalterlichen Handschriften der Fabel wiederfindet, mag Ross nicht entscheiden, auch wenn der lukanische Bezug auf Tiere (Herodes als Fuchs; Lk 13,32) an einigen Stellen auffällig ist. Ähnlich auch Bovon: Lk IV, 561: „Der Glaube ist nicht nur intellektuell, sondern er betrifft auch das Gemüt, die persönliche Existenz, den ganzen Menschen.“ Wolter: Lk, 783. Heißt das im Umkehrschluss, dass alle, die Jesus nicht als Messias anerkennen, den Propheten keinen Glauben schenken? Vgl. Mittmann-Richert: Sühnetod, 209–250, die ausführlich auf das im Hintergrund stehende alttestamentliche Gottesknechtlied aus Jes 52f. eingeht. Vorholt: Osterevangelium, 244: „Lk 24,26 ist der Kernsatz der Jüngerparänese und des gesamten Weggesprächs.“ Vgl. Wolter: Lk, 783 und Schwemer: Emmausjünger, 108: „In V. 26 wird dagegen mit ἔδει hervorgehoben: Nicht nur das Leiden Christi ist abgeschlossen, er ist bereits eingegangen in seine Herrlichkeit“ (kursiv dort). Damit ist ein Übergangsstatus Jesu zwischen Ostern und Himmelfahrt auszuschließen. Der Auferstandene ist zugleich der himmlische Christus. Er muss keine Reise dorthin unternehmen. „Gerade in der Emmausperikope setzt Lukas ja das Erhöhtsein des Christus als geschehen voraus […] und fordert damit vom Leser seines Evangeliums, das Ereignis der Himmelfahrt, von dem er später berichtet, im Lichte dieser Tatsache zu interpretieren“ (Mittmann-Richert: Sühnetod, 218). Vgl. Schwemer: Emmausjünger, 107–110 und den Exkurs bei Mittmann-Richert: Sühnetod, 216–225. Dass Christus, wie durch alle Propheten angekündigt, leiden müsse, verkündigt auch Petrus in Apg 3,18.
3.8 Zwei Jünger auf dem Weg
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sohn39 sprachen und die beiden Jünger Jesus als Propheten verstanden. Christus ist hier „die betonte Antithese zu ἀνὴρ προφήτης“40 und die notwendige Ergänzung zum Begriff Menschensohn.41 Neu ist zudem die Rede vom Eingehen in die Herrlichkeit (δόξα42), der den Zustand Christi nach seiner Auferstehung beschreiben soll und ihn somit ganz nah an Gott und seine δόξα heranrückt.43 Die Imperfektform ἔδει verdeutlicht zudem, dass Jesus schon in seine Herrlichkeit eingegangen ist,44 er befindet sich gerade also nicht in einer Art Übergangszustand bis zur Himmelfahrt, sondern begegnet den beiden Jüngern schon als verherrlichter Christus. Die gegenüber der Engelaussage fehlenden Elemente (Überantwortung an die Sünder, Kreuzigung, dritter Tag) sind alle schon durch Kleopas genannt worden (24,20f.). Jesus wiederholt sie hier nicht. D. h. Kleopas und die Jünger kennen schon die Inhalte der Christusbotschaft, können sie aber nicht korrekt aufeinander beziehen. Da sie Jesus nicht erkennen. Dieser nutzt nun die weitere Reise, um damit zu beginnen (ἀρξάμενος45), den beiden Jüngern die Schriften der Bibel (ἀπὸ Μωϋσέως καὶ ἀπὸ πάντων τῶν προφητῶν46) in Bezug auf ihn (= Christus) auszulegen.47 Wie Kleopas und sein Begleiter Jesu Auslegung rezipieren, wird nicht geschildert. Verstanden sie denn nun oder waren sie noch immer zu unverständig und herzensträge? Die Lücke, die der Erzähler an dieser Stelle lässt – der ja ansonsten
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Auch die Leidensankündigungen Jesu sprechen vom Menschensohn (Lk 9,22.44; 18,31). Wolter: Lk, 783. Dass der Menschensohn in Verbindung zur δόξα steht, weiß der Leser schon aus Lk 9,26; 21,27. Zum Begriff ‚δόξα‘ im Doppelwerk vgl. Ostmeyer: Kommunikation, 281–286. „Die Wendung ‚eingehen in die δόξα‘ begegnet nur hier im NT“ (Klein: Lk, 732). Der Begriff δόξα erscheint bei Lk insgesamt dreizehn mal, meist auf Gott (z. B. 2,9) oder auf den Menschensohn (9,26; 21,27) gemünzt. Aber auch dem Teufel ist – nach eigener Aussage – δόξα gegeben (4,6)! Vgl. Wolter: Lk, 783 und Wolter: Kontroverse, 29. Die Verbindung von ἄρχομαι mit Verben des Sagens ist häufig im lukanischen Doppelwerk, vgl. u. a. 4,21. Lukas definiert an dieser Stelle keine genauen Bezüge auf einzelne Texte. „Daß eine detailliertere biblische Begründung unterbleibt, ist narrativ nicht als ein Ausdruck von Mangel zu werten. Offensichtlich genügt es Lukas in Lk 24,25–27.44ff, Jesus bloß behaupten zu lassen, daß alle auf ihn bezüglichen biblischen Weissagungen in seinem Geschick erfüllt werden mussten“ (Wasserberg: Mitte, 197). Dabei erinnert sich der Leser an 22,37, wo Jesus den Aposteln davon berichtet, dass alles vollendet werden muss, was von ihm geschrieben steht. Dazu fügt der lukanische Jesus – anders als in 24,27.44f. – ein Zitat aus Jes 53,12 ein. Klein: Lk, 732 sieht hier eine Verbindung zur Spitzenaussage Pauli aus 1Kor 15,3–5, da nur dort und in der Emmausgeschichte die Verbindung vom Leiden und Auferstehen Christi (und nicht des Menschensohns wie in der weiteren neutestamentlichen Überlieferung; vgl. aber Lk 24,7) mit dem Hinweis auf die Schrift verknüpft wird. Siehe auch Stegemann: Jesus, 31: „Lukas verbindet als einziger der Evangelisten die Notwendigkeit des Leidens Jesu mit dem Messias-Titel.“
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3 Exegese ausgewählter Perikopen
kaum an der Darstellung der Emotionen der Emmausjünger spart – lässt eher letzteres vermuten: Der Glaube der beiden Emmausjünger bleibt defizitär.48 Jesu Handlung wirkt wie ein Test für die Jünger, was sie denn schon verstanden haben. Er stellt sich selbst unwissend, um die Unwissenheit der (beiden) Jünger offenzulegen. Dass dies so gelingen kann, liegt für den Leser offensichtlich daran, dass die Erkenntnis, wer da mit ihnen wandert, durch Gott verhindert – und auch von ihm wieder ermöglicht werden – wird.49
3.8.4 Lk 24,28–32: Daheim in Emmaus und wieder auf dem Weg 28 Und sie näherten sich dem Dorf, zu dem sie wanderten, und er gab den Anschein, noch weiter zu wandern. 29 Und sie drängten ihn und sagten: Bleibe bei uns, denn der Abend ist nah und der Tag hat sich schon geneigt. Und er ging hinein, um bei ihnen zu bleiben. 30 Und es geschah, als er sich mit ihnen zu Tisch legte. Er nahm das Brot, dankte und brach es und gab es ihnen. 31 Ihnen aber wurden die Augen geöffnet und sie erkannten ihn und er verschwand von ihnen. 32 Und sie sprachen zueinander: Brannte nicht unser Herz in uns, als er mit uns auf dem Weg sprach und als er uns die Schriften auslegte? Der Test Jesu geht noch ein wenig weiter. In Vers 28 tut er so, als ob er weiterwandern wolle, lässt sich dann aber doch überzeugen, mit in ihr Haus einzukehren. Damit dreht sich für einen kurzen Moment die Initiative: In 24,28a geht sie auf einmal wieder von den Jüngern aus. Sie reagieren damit (positiv) „auf Jesu biblische Katechese“.50 Es wendet sich somit die in 24,25 genannte Unwissenheits bzw. Herzensträgheit der beiden Wanderer. Denn auch wenn sie nicht verstehen, so nehmen sie den mitwandernden Gast mit in ihr Haus auf51 und bewah48
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So auch Bovon: Lk IV, 562. Für Wolter: Kontroverse, 30f. bedeutet nicht einmal das Erkennen Jesu durch die Jünger und das brennende Herz ein wirkliches Verständnis der Botschaft Jesu. Diese „hebt Lukas sich vielmehr für die allerletzte Szene seiner Jesusgeschichte auf: Die Entrückung in Bethanien.“ Denn erst dort, nach der Himmelfahrt, verehren ihn die Jünger wie es seiner „himmlische[n] Hoheitsstellung“ entspricht (vgl. 24,52). Vgl. Wolter: Lk, 784. Moloney: Brot, 160. Wenn es sich bei Emmaus um die Heimat der beiden Jünger handelt, so ist davon auszugehen, dass in 24,29 keine Herberge, sondern das Zuhause der Wanderer gemeint ist. Nach Vorholt: Osterevangelium, 245 muss es offenbleiben, ob hier eine Herberge oder ein Privathaus gemeint ist. Dagegen sprechen Klein: Lk, 733 (Fn 71) und Ernst: Lk, 506 von der Privatwohnung beider Jünger. Schwemer (Emmausjünger, 110) schließt eine Herberge
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ren ihn davor, nachts allein weiterwandern zu müssen.52 Für die Erzählung entsteht also „ein narrativer Knotenpunkt“ mit der Frage, „ob die beiden Jünger noch erfahren, wer ihr unbekannter Begleiter ist, oder ob die Episode tragisch endet“.53 Ein tragisches Ende hätte zudem die Folge, dass beide Jünger nicht unmittelbar an Jesu Auftrag, in der Stadt zu bleiben, partizipieren könnten. Dort sollen sie nach 24,49 auf die Kraft aus der Höhe – den Heiligen Geist – warten, gemeinsam mit den Elf und den übrigen Jüngern (24,9.36). Ihr Weggang aus Jerusalem hätte somit ein Verlassen der Jüngergruppe bedeutet, während die Perikope die Wiederaufnahme der Nachfolge der beiden Jünger Jesu nach Jerusalem beschreibt, ohne dass sie dafür einen Auftrag von Jesus erhalten hätten.54 Zudem scheint die Predigt Jesu – Bovon nennt sie „eine heftige Standpauke“55 – ihre erste Wirkung entfalten zu haben, denn „ihr Verlangen, Christus weiterhin in ihrer Nähe zu haben, wächst“.56 Mit καὶ ἐγένετο verweist Lukas in 24,30 auf das nun für die Jünger und den Leser überraschende Geschehen: Jesus legt sich mit den beiden Jüngern an den Tisch und wird sogleich vom Gast zum Gastgeber.57 Er nimmt das Brot, dankt und verteilt es an die beiden, genauso wie er es beim letzten Mahl getan hat.58 Und genau in diesem Moment wird der in 24,16 auferlegte Schleier von ihren Augen genommen: 59 Sie erkennen ihn.60 Der, der mit ihnen wanderte und ihnen dabei
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„völlig aus“; vgl. auch Frenschkowski: Offenbarung, 233: Die Szene könne „unmöglich in einer lauten Gaststätte mit vielen beobachtenden Blicken gedacht worden sein.“ Eine Identifizierung Jesu mit dem Gastgeber bzw. Hausvater, wie auch Vorholt (ebd.) sie vornimmt, stärkt die Vorstellung des Privathauses eines der (oder beider?) Jünger. Auch alle Überlegungen von Auslegern, die hier eine Anspielung auf die nachösterliche Mahlpraxis der lukanischen Gemeinde(n) sehen, müssen von einer Privatwohnung ausgehen. Die Angabe der Tageszeit (der Abend ist nah), verweist hier auf die Gefährlichkeit des Weiterwanderns. Alleine unterwegs zu sein, ist schon problematisch, des Nachts kann es lebensgefährlich sein. „Der Evangelist denkt wohl an den späteren Nachmittag“ (Schwemer: Emmausjünger, 111). Wolter: Lk, 784. Bezeichnenderweise bekommen die beiden Emmausjünger überhaupt keinen Auftrag von Jesus – sie hingen also in Emmaus in der Luft, kehrten sie nicht nach Jerusalem zurück. Bovon: „Die dringende Einladung, die sie an ihn richten, zeigt, dass die heftige Standpauke, die er ihnen gehalten hat, sie mehr erschüttert als verletzt hat“ (Bovon: Lk IV, 562). Bovon: Lk IV, 562. So auch Vorholt: Osterevangelium, 245 und Ernst: Lk, 506. Klein: Lk, 733 und Wolter: Lk, 785 sprechen vom „Hausvater“. Eckey: Lk II, 981 versteht Jesus als „Hausherren und Gastgeber“. Dabei lässt Lukas Jesus an dieser Stelle nicht Lk 22,19 zitieren. Der Anklang an das letzte Mahl ist wohl intendiert, auch weil – wie Wolter bemerkt – „Brotbrechen und Erkennen nicht nur in zeitlicher Koinzidenz, sondern auch im sachlichen Zusammenhang stehen“ (Lk, 785). Ausführlich dazu im ritualwissenschaftlichen Abschnitt dieses Kapitels. διηνοίχθησαν hier als Passivum divinum (vgl. 24,16). So u. a. Vorholt: Osterevangelium, 247, Fitzmyer: Luke, 1568, Eckey: Lukas II, 981 und Bucur: Invisible Light, 687f. Die Verbindung zum Brotbrechen ist offensichtlich, dennoch schreibt Klein (Lk, 733): „Sie erkennen ihn. Nicht an der Art, wie er das Brot brach, nicht an den Worten, nicht an seiner
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die Schrift auslegte, ist eben dieser Jesus von Nazareth, den sie für tot hielten und der nun doch lebt (vgl. 24,5). Die Situation des sichtbaren, ja greifbaren, Erkennens währt nur kurz; sofort verschwindet Jesus vor ihren Augen.61 Lk 24,32 kehrt nun die vorherige Situation um, denn in der Rückschau bekommen die, die zu träge im Herzen waren (24,25), nun ein brennendes Herz.62 Die Auslegung der Schrift verbindet sich mit dem gerade Geschehenen: Es ist nun ein Öffnen der Schrift, genauso wie ihnen die Augen geöffnet worden sind. Nur mit offenen Augen – also nur wenn man Jesus als Auferstandenen erkennt – kann auch die Schrift als geöffnet erkannt werden.63 Dass dieses brennende Herz in der Rückschau auch ein Verstehen der christologischen Schriftauslegung Jesu beinhaltet, wird freilich nicht erwähnt, ist daher noch nicht vorauszusetzen. Der Erzähler wird das Verstehen der Schriftauslegung erst in 24,45 explizit machen, denn erst zu diesem Zeitpunkt öffnet der nun für die Jünger als Auferstandener klar sichtbare Jesus ihnen die Schrift und das Verständnis und macht aus den Unverständigen (24,25) nun wirklich Verstehende (τὸν νοῦν, τοῦ συνιέναι τὰς γραφάς).
3.8.5 Lk 24,33–36: Zurück in Jerusalem 33 Und sie standen auf zu derselben Stunde und kehrten nach Jerusalem zurück und fanden die Elf, und die bei ihnen waren, versammelt. 34 Und diese sagten: Der Herr ist wahrhaftig auferstanden und dem Simon erschienen!
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Stimme. […] Es geschieht Offenbarung, die nicht konkretisiert werden kann.“ Klein hat insofern Recht, dass Stimme und Worte gar nicht erwähnt werden; allerdings liegt der Fokus von 24,30 deutlich auf dem Brot und Jesu Umgang mit ihm. Daher (und durch die erneute Nennung des Brotbrechens in 24,35) ist es wichtig zu sagen: Sie erkennen ihn an der Gesamtheit der in diesem Vers beschriebenen Handlung. So auch Moloney: Brot, 160: „Schließlich wird er am Brotbrechen erkannt.“ Wolter: Lk, 785: „Das jähe Verschwinden Jesu in 31b ist das typische Ende einer Epiphanie, denn so entfernt sich kein Mensch. Die Leser können dem entnehmen, dass Jesus den Emmausjüngern bereits vom Himmel her erschienen ist.“ Bovon (Lk IV, 563) spricht mit „modernen Theologen und Theologinnen“ von einer „Präsenz-Ansenz.“ Vorholt: Osterevangelium, 247 und Schwemer: Emmausjünger, 115 sehen mit den brennenden Herzen einen Verweis auf den Heiligen Geist verknüpft. Wolter: Lk, 758 widerspricht und merkt an, es handele „sich vielmehr um eine alte Metapher für das Ergriffensein von Erregung“. Wolter, der auch einige Beispiele aus der Umwelt des NT bringt, ist wohl Recht zu geben. Da die Ausgießung des Heiligen Geistes im lukanischen Doppelwerk erst mit Pfingsten verbunden wird, hätte Lukas hier bei einer Anspielung auf den Geist Jesu eindeutiger formuliert. So auch Klein: Lk, 733: „Die Öffnung der Augen, um Jesus zu erkennen, entspricht dem Öffnen, dem Erschließen der Schrift.“ Bauspieß: Geschichte, 301ff. betont, dass diese Beschreibung der Erkenntnis für den im Prolog genannten Theophilus, als intendierten Leser des Lk, eine besondere Rolle spielt, da dies nach 1,1–4 das Ziel der ganzen Schrift ist.
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35 Und sie berichteten über die Ereignisse auf dem Weg und wie er von ihnen erkannt wurde beim Brechen des Brotes. 36 Als sie darüber sprachen, stand er in ihrer Mitte und sagte zu ihnen: Friede (sei) mit euch! Die Angabe, dass sich die beiden zu derselben Stunde (d. h. sofort) auf den Weg zurück nach Jerusalem machen, ist für Lukas wichtig. Da in der gesamten Ostererzählung kein Zeitsprung vorzuliegen scheint und keine weitere Zeitangabe gegeben wird, sind die beschriebenen Ereignisse vom Auffinden des leeren Grabes durch die Frauen bis zur Himmelfahrt in Bethanien an einem einzigen Tag (also dem dritten Tag – τῇ τρίτῃ ἡμέρᾳ) zu verorten. Dementsprechend müssen die beiden Jünger den Rückweg von 60 Stadien schnell zurückgeeilt sein,64 um noch am selben Tag, der sich laut 24,29 schon geneigt hatte, in Jerusalem wieder anzukommen. Dort finden sie nicht nur die Elf und weitere Jünger (vgl. 24,9) versammelt, sondern bekommen von diesen65 eine neue Botschaft, die ihre eigene, die sie mit so viel Eile nach Jerusalem bringen wollten, bestätigt: Der Herr66 ist wahrlich auferstanden und dem Simon erschienen.67 Während Lukas diese 64
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Wolters Meinung, dass die Jünger vor allem deswegen nach Jerusalem zurückkehren, „weil er [Lukas] selbst die Erzählung dort fortführen und enden lassen will“ und ihre Rückkehr daher eine „narrative Funktion“ habe, lässt das Schicksal der beiden Jünger außer Augen. Diese gehören zusammen mit den Elf, den namentlich genannten Frauen und den Übrigen zu den Jüngern, die vom leeren Grab wissen. Und genau diese Gruppe ist es, die die Erscheinung Jesu in Jerusalem und seinen Auftrag, in der Stadt zu bleiben, erleben wird. Blieben die Jünger in Emmaus, könnten sie keine richtigen Zeugen sein, deren Auftrag es ist, in Jerusalem mit der Mission zu beginnen (vgl. 24,47f. und Apg 1,8). NA28 liest in 24,34 das sehr gut bezeugte λέγοντας, womit die Elf den Emmausjüngern die Botschaft von der Christophanie bezeugen, während letztere ab Vers 35 wieder Subjekt der Handlung sind. Die alternative Lesart λέγοντες wird nur durch den Codex D vertreten, ist allerdings, so der Hinweis von Ramelli (Disciples, 1–19), auch in der syrischen, koptischen und einigen lateinischen Handschriften verbreitet. Sie weist zudem auf altkirchliche Überlieferungen (Hegesippus) hin, die den Simon aus 24,34 mit dem Sohn des Kleopas, nicht mit Petrus verbinden. Damit ließe sich die Identität des zweiten Emmausjüngers klären. „The fact, that he does not qualifiy this Simon as Peter or Cephas here, while he does qualify him as Peter in his Gospel when he mentions a Simon whom he identifies with Peter, further suggests that Luke was not all sure, that this Simon at 24,34 was Peter, or even knew that he was not“ (a. a. O., 10). Lukas steigert die Bezeichnungen für Jesus: Erst ist er Prophet, dann Christus, zuletzt auferstandener Herr. Wolter (Prophet, 170–184) betont dabei in Anlehnung an Busse: Wunder, 393–401 die Differenz dieser Titel. Prophet und Messias/Christus meint nicht dasselbe. „Anders gesagt: die Jünger werden dafür kritisiert, dass sie die messianischen Hoffnungen, die sie Jesus ursprünglich entgegenbrachten, nach seinem Tod aufgegeben haben“ (a. a. O., 176). Wolter deutet die lukanische Darstellung der Aussage beider Jünger als „Christologiegeschichte“, welche die unterschiedlichen Stadien ihrer Beurteilung des Wesens und Wirkens Jesu aufzeigt (vgl. a. a. O., 176–180, kursiv dort). ὤφθη als Aorist passiv von ὁράω meist in der Bedeutung von erscheinen; wörtlich übersetzt: gesehen worden (vgl. die Liste der Auferweckungszeugen in 1Kor 15). Wolter: Kon-
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Erscheinung vor Petrus nicht erzählt,68 ihm aber dennoch die Erstzeugenschaft zugesteht (vgl. 1Kor 15,5; mglw. Mk 16,7), steht die Begegnung von Jesus mit den beiden Jüngern auf dem Weg beim Evangelisten im Mittelpunkt. Diese berichten nun den Elf und den übrigen von den Ereignissen auf dem Weg und erwähnen explizit das Brechen des Brotes, welches die Funktion des Erkennungszeichens erfüllte.69 „Die Jünger, die versagt haben, sind zurückgekehrt zu einem anderen Jünger, der seinen Herrn im Stich gelassen hatte. Diese Heimkehr ist jedoch geschehen, weil der auferstandene Herr sich ihnen zugewandt hat in ihrer Gebrochenheit und sich ihnen beim Brotbrechen zu erkennen gegeben hat.“70 Und als wäre das Brot das notwendige Stichwort, taucht nun in Vers 36 Jesus selbst (vgl. 24,15) auf und bestätigt damit sowohl die Offenbarung an Simon als auch die Erzählung der Emmausjünger.71
3.8.6 Narrative Ritualanalyse Bei der Erzählung über die beiden Jünger auf dem Weg nach Emmaus sind aus ritualwissenschaftlicher Perspektive vor allem die Darstellung Jesu und seine Handlungen (Schriftauslegung und Brotbrechen) interessant. Dabei wird (1) zu fragen sein, inwiefern für Jesus eine bestimmte Agency vorausgesetzt werden muss, nach welcher er eine besondere Handlungsvollmacht hat, also „die Fähigkeit, Veränderungen in der Welt zu bewirken“,72 und an welcher Stelle seine Agency im Text auftritt. Dies berührt (2) die Frage nach der Performanz der Mahlhandlung Jesu: Inwiefern ist das Mahl in Emmaus verbunden mit den anderen Mahlerzählungen des Lk und besonders mit dem letzten Mahl vor der Kreuzigung? Verbinden lassen sich diese beiden Aspekte (3) bei der Betrachtung des Handelns Jesu als Ritualdesign. Will der Evangelist Jesus an dieser Stelle in Anknüpfung an Lk 22,19f. als Ritualdesigner vorstellen, der das Mahl nicht nur als gemeinsame Nahrungsaufnahme, sondern als „eucharistische Mahlfeier“ initi-
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troverse, 31 betont den Unterschied zwischen dem „Theophanieausdruck ὤφθη + Dativ“ bei Simon und dem schwächeren ἐγνώσθη + Dativ der Emmausjünger. Auch alle anderen kanonischen Texte kennen keine Erzählung über die Protophanie des Simon Petrus, sodass uns nur die beiden Bezeugungen in Lk 24 und 1Kor 15 überliefert sind. Hinzu kommt mglw. Mk 16,7. Ob die explizite Nennung Petri an dieser Stelle auf seine Erstzeugenschaft verweist, ist umstritten. Nach Klein: Lk, 732 ist „allerdings jene [Tradition der Protophanie Simons; DK] in Lk 24,34 älter, insofern noch der Personenname ‚Simon‘ verwendet wird und nicht der amtliche Name ‚Kephas‘.“ Die Parallele zu 1Kor 15 betont auch Vorholt: Osterevangelium, 244. Vgl. auch die in Lk 14,15 festgehaltene Hoffnung, das Brot im Reich Gottes zu essen. Moloney: Brot, 161. Vgl. zudem Moloney: Brot, 163, der den parallelen Aufbau der Emmaus-Episode und der nachfolgenden Ereignisse in Jerusalem betont. Agency hier nach William Sax verstanden als „Fähigkeit, Veränderungen in der Welt zu bewirken/herbeizuführen (materiell und sozial)“, vgl. Kapitel 2.4.1 dieser Arbeit.
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iert, wie manche, vor allem katholische, Exegeten73 meinen? Schlussendlich muss (4) nach dem Verhältnis von dem Ritual des Brotbrechens und der Schriftauslegung Jesu gefragt werden. (1) Schon bei einer ersten Lektüre der Perikope Lk 24,13–35 fällt auf, dass die beiden Emmausjünger sich im Laufe der Erzählung völlig verändern: „In der Einleitung gehen sie aus Jerusalem hinaus; zum Schluss kehren sie wieder dorthin zurück. Diesem Unterschied der Richtung entspricht der Unterschied ihres Geistes: Auf das Verkennen, die Verzweiflung, die Verlassenheit folgen die Erkenntnis, die Hoffnung und die Gemeinschaft.“74 Fragt man nun nach dem Grund dieser umfassenden Veränderung der beiden Jünger, kommt sofort die Erkenntnis, dass es Jesus ist, der mit ihnen wanderte, in den Blick. Man könnte denken, Jesus verändere sie durch seine Anwesenheit. Doch diese Handlungsvollmacht – also die Agency – Jesu greift gar nicht bei der Begegnung mit ihm. Den Jüngern sind so lange die Augen gehalten, bis Jesus vor ihnen das Brot bricht und es ihnen gibt. Anlass für das Wiedererkennen Jesu ist also seine Agency innerhalb des Mahlrituals, das für den Leser des dritten Evangeliums nicht nur irgendein Mahl, sondern eine Wiederholung des letzten Mahls Jesu mit seinen Jüngern ist – dazu siehe (2). Die Besonderheit der Agency des auferstandenen Jesus im Mahlritual der Emmausgeschichte wird besonders deutlich, wenn man die fehlende Wirkmächtigkeit der anderen Elemente, die innerhalb der Erzählung mit seiner Auferweckung verbunden werden, betrachtet: Die Jünger wissen sowohl von dem leeren Grab, als auch von den Engeln. Sie wissen davon, dass die Engel sagten, Jesus lebe.75 Sie wissen von den Berichten der Frauen und einiger Männer, die das leere Grab und die Leinentücher76 sahen. Und jetzt steht Jesus vor ihnen und sie sind mit ihm auf dem Weg und erkennen ihn dennoch nicht. „Curiously, appar73
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„Die sachlichen und terminologischen Berührungen des Abschnitts mit der urchristlichen Eucharistiefeier sind offenkundlich und namentlich in der katholischen Exegese intensiver Beachtung gewürdigt worden“ (Frenschkowski: Offenbarung, 240). Vgl. weiterhin Vorholt: Osterevangelium, 66 und Fiedler: Gegenwart, 124–144 (mit weiterer Literatur). Bovon: Lk IV, 549f. Das leere Grab und die Aussage der Engel haben vielleicht deswegen keine Agency, weil sie nicht korrekt verstanden werden: „Die Jünger auf der Flucht nach Emmaus begreifen das, was die Frauen ihnen nach der Rückkehr vom leeren Grab gesagt haben, so, dass der Leichnam bei der Auferstehung wieder zum Leben erweckt sei. Der Auferstandene müsse deshalb so zu sehen sein, wie er zuvor gelebt hat. Wer lebt, dessen oder deren Leben muss sichtbar zu fassen sein, so denken sie. Es kann nicht sein, so glauben sie, dass jemand, der nicht sichtbar zu greifen ist, lebt, vor allem, wenn er auch noch so sichtbar tot ist wie der Gekreuzigte, der ins Grab gelegt wurde“ (Ndayango: Passion, 85). Das Wissen über die Leinentücher kann nur implizit aus 24,24 erschlossen werden, ist dem Leser allerdings aus 24,12 bekannt. Der Name von Petrus, der nach 24,12 die Leinentücher gesehen hat, fällt hier zudem nicht. Das Vorhandensein der Leinentücher beim leeren Grab schließt einen Leichenraub aus, denn dann hätten die Diebe Jesus kaum aus seinen Tüchern gewickelt (vgl. Wolter: Lk, 773).
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3 Exegese ausgewählter Perikopen
ently nothing about Jesus, the one whom they followed as disciples, provides them insight about his identity: not his appearance, voice, gait, demeanor, or manner. None of these telltale attributes of a person, which often trigger recognition in us, are perceived by the disciples as indicative of the Jesus they thought they knew.“77 Dies alles hat im dritten Evangelium78 keine wirkmächtige Agency79 und kann die Jünger daher nicht von seiner Auferstehung überzeugen. Nur Jesus selbst und die Begegnung mit ihm beim Ritual des Brotbrechens bewirkt diese Erkenntnis. Jesus hat in der Erzählung des dritten Evangeliums besondere Fähigkeiten, die ihn von allen anderen Personen unterscheiden: Er tut Wunder, bewirkt Heilung, vergibt Sünden. Er verändert das Leben von Menschen auf eine nur ihn auszeichnende Weise. Doch die Erinnerung an dieses Wirken – die Jünger deuten Jesus aufgrund dieser Erinnerung als einen (durch seinen Tod gescheiterten) Propheten – reicht nicht aus, um ihn und die Bedeutung seines Wirkens, ja auch um die Bedeutung des leeren Grabes und der Engelaussage, zu erkennen. Dafür bedarf es in dieser Erzählung80 das Mahlrituals mit Jesus als Gastgeber. Und genau dort wird die mit dem Ritual des Brotbrechens verbundene Agency in der Emmausgeschichte folgenschwer: Sie macht aus den traurigen und unverständigen Männern wieder zwei Jünger, die sich auf den richtigen Weg machen: nach Jerusalem, wo die Ausbreitung der Botschaft des Auferstandenen ihren Anfang nimmt bis an das Ende der Welt (Apg 1,8).81 (2) Wie schon beschrieben geschieht die Veränderung im Leben der beiden Emmausjünger nicht bei der ersten Begegnung mit Jesus. Der Erzähler weiß an dieser Stelle dezidiert zu unterscheiden: Nicht das Sehen von Jesus selbst, nicht sein Mitgehen auf dem Weg und auch nicht seine Schriftauslegung führen zur Erkenntnis seiner Auferstehung, sondern das Mahl-Geschehen in Emmaus, im 77 78
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Breitenberg: Luke 24:13–35, 75f. Eventuell liegt hier eine Reminiszenz an den Schluss des Markusevangeliums vor: Auch dort (Mk 16,1–8) führen das leere Grab, der Jüngling, der sagt Jesus lebe und die Erinnerung an dessen Auftrag, nach Galiläa zurückzugehen, explizit nicht zur Verkündigung der frohen Botschaft, sondern zur Furcht und zum Schweigen der Frauen. Auch Gegenstände oder Inhalte (bei Erzählungen) können über eine eigene Agency verfügen, vgl. Kapitel 2.4.1 dieser Arbeit. Die Stoßrichtung des Lukas in der Emmauserzählung geht über die erzählte Welt hinaus. Sie greift weiter auf die rituelle Gegenwart seiner Leser, die mit dieser Perikope eine Begründung für das gemeinsame Mahl als Mahl mit Jesus finden können. In der nachfolgenden Erzählung Lk 24,36–49 zielt der Autor auf etwas anderes: Der Auferstandene ist kein Gespenst, sondern erscheint leiblich (antidoketische Stoßrichtung wie im Johannesevangelium, vgl. Popkes: Gegenwärtigkeit, 506); er sendet die Apostel aus, unter allen Völkern von ihm zu erzählen und liefert gleichzeitig die Begründung für das Bleiben der Jünger (und die erste Gemeinde) in Jerusalem, wo diese auf den Geist warten sollen. Eine Auswirkung dieses Zeugnisses erfährt der Leser des lukanischen Doppelwerkes in Apg 16,14f. Dort ist es Lydia, von der gesagt wird, dass ὁ κύριος διήνοιξεν τὴν καρδίαν. Sie nötigt (παραβιάζομαι) Paulus (und den Ich-Erzähler), in ihrem Haus zu bleiben (μένω). Die Parallelität der Wortwahl ist bezeichnend.
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Haus der beiden Jünger. Dabei rafft der Erzähler die eigentliche Handlung. Hat er vorher betont ausführlich vom Weg der beiden Männer mit Jesus berichtet und diese explizit um Jesu Bleiben bitten lassen, so liegen sie plötzlich gemeinsam am Tisch. Jesus nimmt das Brot, spricht das Dankgebet und teilt es an die beiden Jünger aus. Die Worte, die Lukas hier benutzt (λαβὼν τὸν ἄρτον εὐλόγησεν καὶ κλάσας ἐπεδίδου αὐτοῖς), sind nicht identisch mit denjenigen aus 22,19 (καὶ λαβὼν ἄρτον εὐχαριστήσας ἔκλασεν καὶ ἔδωκεν αὐτοῖς).82 Es ist also kein Zitat des letzten Mahls vorzufinden, was die Ausleger dieser Perikope zu unterschiedlichen Deutungen geführt hat: So betont Michael Wolter: „Ein expliziter Bezug auf das letzte Mahl wird nicht hergestellt, denn es fehlen die Deuteworte von 22,19b.“83 Willibald Bösen nimmt in Lk 24 „die Vernachlässigung des Einsetzungsberichts einerseits und die Übernahme entscheidender Elemente aus anderen Mahlerzählungen andererseits“ wahr und wertet dies als eine Verknüpfung „mit der für Jesus charakteristischen Mahlgemeinschaft schlechthin“.84 Dagegen sieht sich Hans Klein „an die Terminologie des Abendmahls“ erinnert.85 Ähnlich auch Robert Vorholt, der eine tabellarische Synopse beider Brotworte bietet. Er konstatiert: „Die von Jesus vollzogenen Schritte sind vorgeprägte Termini technici des Abendmahls.“86 Joseph Fitzmyer geht sogar so weit zu sagen, dass die lukanische Erzählung „not only records the last supper (22:19ab), but becomes the classic Lucan way of refering to the Eucharist.“87 Betrachtet man diesen Zusammenhang aus ritualwissenschaftlicher Perspektive, so stellt das gleichzeitige Zusammenspiel von Konstanz und Varianz bei der Darstellung des gemeinsamen Mahls seine besondere Performanz dar: Lukas erzählt hier nicht ein zweites letztes Mahl als Kopie des Passamahls aus Lk 22, sondern erfüllt mit der leicht variierten Darstellung den Auftrag Jesu, der in 22,19 eine Wiederholung „zu meinem Gedächtnis“ (εἰς τὴν ἐμὴν ἀνάμνησιν) fordert. Diese minimale Varianz ist eine bewusste Öffnung des gemeinsamen Mahls mit Jesus und aus ritualwissenschaftlicher Sicht eine Notwendigkeit. 82
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Auch die Handlungen Jesu bei der Speisung der 5000 (Lk 9,11–17) erzählt Lukas mit ähnlichen, aber dennoch verschiedenen Begriffen, vgl. Fußnote 89 dieses Kapitels. Wolter: Lk, 785. Vgl. dazu den Kommentar von Frenschkowski (Offenbarung II, 241): „Wir sind also nicht genötigt, jede Mahlszene im engeren Sinne eucharistisch zu interpretieren.“ Bösen: Mahlmotiv, 384. Klein: Lk, 733. Vorholt: Osterevangelium, 246. Eindeutig äußert sich Wanke (Beobachtungen, 43): „Die Ostererscheinung beim Mahl wird durch die Interpretation mit Hilfe des Terminus ‚Brotbrechen‘ zu einem Urbild des lukanischen Gemeindemahls. Was dort in Emmaus geschah, wiederholt sich im eucharistischen Tun der Gemeinde.“ Ähnlich auch Dormeyer: Lk, 288. Zum Brotbrechen als ‚terminus technicus‘ und einer tabellarischen Übersicht zu den sechs erwähnten Brotbrechen im lukanischen Doppelwerk vgl. Hasitschka/Stare: Grundlegung, 55–83 (besonders die Tabelle 70f.). Fitzmyer: Luke II, 1559.
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Denn performative Rituale sind nicht beliebig wiederholbar im Sinne einer exakten Kopie, sondern „ereignen sich hic et nunc und werden im Augenblick ihres Geschehens wahrgenommen. […] Die dabei übermittelten Bedeutungen ergeben sich daher nicht etwa aus der Exekution von Präskripten, die dazu angetan sind, akkurat umgesetzt zu werden. Bedeutungen entstehen vielmehr im Hier und Jetzt der Aufführung, in der unmittelbaren Gegenwart der performativen Akte.“88 Vergleicht man nun verschiedene Elemente zwischen den Mählern in Lk 22 und 24,89 wird deutlich, wo aus lukanischer Sicht die Konstanten und wo die Varianten beim Mahl Jesu mit seinen Jüngern liegen. Konstant bleibt: Jesus ist Gastgeber90 (auch und gerade nicht in seinem eigenen Zuhause); er teilt das Brot, bricht es nach dem Dankgebet und verteilt es an seine Nachfolger bzw. Zeugen. Variabel sind: Ort, Zeitpunkt,91 Anzahl der Teilnehmer, Wortlaut sowie weitere Mahlelemente (Wein, Fisch). Vereinfacht gesagt: Jesus tut hier das gleiche, aber nicht dasselbe wie in Lk 22,19. Und genauso werden seine Nachfolger in seinem Sinne (und im Auftrag εἰς τὴν ἀνάμνησιν Jesu zu handeln) das Brot brechen, ohne dabei auf eine exakte Kopie oder eine Imitation der ursprünglichen Mahlgemeinschaft mit Jesus angewiesen zu sein.92 Zudem: „Die von Jesus vor den Augen der Jünger vollzogene Gedächtnishandlung ist nicht weniger Erinnerungsaufforderung als die Worte des Engels am leeren Grab. […] Beim Mahl Jesu mit den Emmausjüngern wird durch das Brotbrechen das freigesetzt, was 88 89
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Walsdorf: Performanz, 88. Vgl. dazu Kapitel 2.4.2 dieser Arbeit. Moloney: Brot, 140f. verweist zusätzlich auf die lukanische Variante der Speisung der 5000. Auch dort handelt Jesus mit leicht unterschiedlichen Worten (Lk 9,16): Λαβὼν δὲ τοὺς πέντε ἄρτους καὶ τοὺς δύο ἰχθύας, ἀναβλέψας εἰς τὸν οὐρανόν, εὐλόγησεν αὐτούς, καὶ κατέκλασεν, καὶ ἐδίδου τοῖς μαθηταῖς. Dabei sind die Anzahl der Brote und Fische sowie das Sehen in den Himmel (die Speisung findet ja draußen statt) der Speisungsgeschichte zugehörig. Die anderen Elemente entsprechen – wie gesagt in differenter Wortwahl – Lk 22,19 und 24,30. Dazu gehört interessanterweise auch die Formulierung der Zeitangabe (24,29: κέκλικεν ἤδη ἡ ἡμέρα. 9,12: Ἡ δὲ ἡμέρα ἤρξατο κλίνειν). Die Deutung von Wanke („Es ist also wahrscheinlich, daß die Zeitangabe an die Stunde erinnern will, in der man sich in den Gemeinden niederzulegen gewohnt war, um miteinander Mahl zu halten“) liest m. E. zu viel in den Text hinein, da weder eine genaue Zeitangabe gemacht wird, noch die Apg diese Formulierung noch einmal aufgreift (vgl. Wanke: Emmauserzählung, 101). Zum intertextuellen Zusammenhang zwischen der Emmausperikope und der Apg; vgl. Backhaus: Christologia Viatorum, 137–148. Der plötzliche Wechsel Jesu zum Gastgeber ließ sich in Lk 14 schon einmal beobachten. Vgl. Kapitel 3.6 dieser Arbeit. Das letzte Mahl findet an einem Donnerstag im Zusammenhang mit Passa statt. Das Emmausmahl wird auf den Auferstehungstag, Sonntagabend, datiert. Die Verknüpfung mit dem Passamahl verliert sich anscheinend sofort in der Urchristenheit und wird nur noch in Bezug auf die Erzählung des letzten Mahls in der synoptischen Überlieferung erwähnt. „Das gemeinsame Mahl in Emmaus wird am falschen Ort zur falschen Zeit gefeiert. Eigentlich dürften die beiden Jünger gar nicht dort sein. Deshalb geht Jesus mit ihnen. Deshalb feiert er mit ihnen das Mahl: in der Fremde, in ihrem Irrtum, in ihrer Blindheit. Es ist genauso wie in seinem irdischen Leben. Es ist genau so wie heute“ (Söding: EmmausMahl, 159).
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nach Jesu eigenen Worten mit diesem Handeln korrespondiert: die ἀνάμνησις, die Erinnerung an Jesu letztes Mahl mit seinen Jüngern und an alles, was diesem Mahl Bedeutung verleiht.“93 Die Betrachtung der Mahldarstellung in der lukanischen Emmausgeschichte als performativ verstandenes Ritual macht daher zusammenfassend deutlich, warum der Autor an dieser Stelle nicht exakt die Worte Jesu aus Lk 22 wiedergibt: Er lässt bewusst eine Offenheit in der Handlung zu, die konstitutiv für die christliche Gemeinde ist.94 Bovon schreibt dazu: „So hebt Lukas den Ritus hervor, der neben der Taufe95 das liturgische Leben der ersten Christen kennzeichnet. Es handelt sich um ein besonderes, nicht um ein gewöhnliches Mahl. Die Neutestamentler haben also nicht unrecht, von dem ‚eucharistischen‘ Rahmen zu sprechen, der die Offenbarung des Auferstandenen an die Emmausjünger umgibt. Aber der heilige Augenblick, den das Brechen des Brotes und die Segnung oder das Dankgebet prägen, ereignet sich während einer richtigen Mahlzeit.“96 Mit letzterem hat Bovon in Bezug auf Lk 24,30f. m. E. Unrecht, denn eine richtige Mahlzeit im Sinne eines Sättigungsmahls wird an dieser Stelle nicht beschrieben, auch fällt kein Wort davon, dass die beiden Jünger das Brot wirklich essen.97 Nein, Lukas stilisiert das Nehmen, Brechen und Weitergeben des Brotes (gemeinsam mit dem Dankgebet) bewusst als Zeichen für die Jünger, um Jesus zu erkennen.98 Und dieses Erkennen der Anwesenheit, ja Gastgeberschaft Jesu, ist nicht mit einer möglichst exakten Imitation des letzten Mahls vor Ostern in eins zu setzen, sondern im Gegenteil als performatives Ritual frei für Aktualisierungen. Letzteres wird schon dadurch evident, dass die beiden Jünger innerhalb der lukanischen Erzählung am letzten Mahl gar nicht teilgenommen haben.99 Trotzdem erkennen sie Jesus am Brotbrechen, wie auch ihr eigener Bericht (24,35) 93
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Mittmann-Richert: Erinnerung, 255f. Mittmann-Richert verweist eindrucksvoll auf das „für Euch gegeben – für Euch vergossen“ aus Lk 22,19 als im Mittelpunkt stehendes Wort: „Das Brotbrechen ist für Lukas ein Wortgeschehen“ (257, kursiv dort). Auch in der paulinischen Überlieferung spielt die Auseinandersetzung um das Mahl eine große Rolle, vgl. Gal 2,11–14 und 1Kor 11,17–34. Letzterer Text überliefert zudem Einsetzungsworte Jesu, die eine große Überschneidung mit Lk 22 haben. Dass Lukas bei der Konzeption der Emmauserzählung auch schon die Taufe im Blick gehabt haben könnte, lässt sich aus den vielfältigen Parallelen zur Taufe des Kämmerers in Apg 8,26–40 möglich machen. Eine tabellarische Übersicht hierzu bietet Hoppe: Jesus, 39 (in Bezug auf Kremer: Osterevangelien, 129). Bovon: Lk IV, 563. Davon, dass die Jünger wirklich essen, ist in den synoptischen Darstellungen des letzten Mahls explizit nur in Mk 14,22 und Mt 26,26 (jeweils ἐσθιόντων) die Rede. Eine Übersicht über die Einsetzungsworte bietet Löhr: Entstehung, 51–94 (besonders 55–67). Diese Beobachtungen schließen natürlich keinesfalls aus, dass die Leser des Evangeliums das Brotbrechen im Rahmen eines Sättigungsmahls feierten. Die hier beschriebene performative Offenheit des Mahlrituals lässt ja genau solche Differenzen zu. Lukas spricht in 22,14 von Jesus und den Aposteln, die ja im Doppelwerk mit dem Zwölferkreis in eins fallen. Markus 14,17 (und nachfolgend Mt 26,20) spricht direkt von den Zwölf.
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betont.100 Damit erfüllt sich die für 22,14–20 festgestellte Funktion des Mahls als Übergangsritual. Denn auch wenn der Neue Bund in der Emmausgeschichte nicht explizit erwähnt wird, wird deutlich, dass ohne das Erkennen Jesu im Mahl die Beziehung zwischen Jesus und den beiden Jüngern abgebrochen wäre. Doch nun gehen sie hinüber in einen neuen Status: Zwar sind sie schon Jünger Jesu gewesen, aber nun können sie durch ihre Rückkehr nach Jerusalem zu Zeugen des Auferstandenen werden und den Geist empfangen (24,47ff.). (3) Aus diesen Überlegungen ergibt sich, dass Lukas Jesus an dieser Stelle in Anschluss an das Ritualdesign im Kontext des letzten Mahls und weiterer Mähler vorstellt.101 Er erfüllt nämlich selbst in wirkungsvoller Weise den eigenen Auftrag, das Brot zu seinem Gedächtnis (22,19: εἰς τὴν ἐμὴν ἀνάμνησιν) zu brechen. Wie in Kapitel 3.7 ausführlich dargestellt, versteht Lukas das Brotbrechen als ein von Jesus designtes Ritual. In der vorliegenden Erzählung bedient er sich einer Reihe von Elementen des ursprünglichen letzten Mahls und passt sie an eine veränderte Situation an. Zu erinnern ist an dieser Stelle an die Definition von Kerstin Radde-Antweiler: „Seperate elements of rituals are removed from their original context and in a new process – which I define as ‚Ritual Design’ – combined in different variations and moved into an new context.“102 Und diese Umbildung in einen neuen Kontext – in der Emmausperikope zunächst die zeitlich limitierte sichtbare Anwesenheit des auferstandenen Christus, in der Apg die nur implizite „anwesende Abwesenheit“ (Bovon) Jesu – ist kein Zufall, sondern ein „regulärer Vorgang, der im Zuge ritueller Transferprozesse auftritt.“103 Erst dieses Verständnis der Handlung Jesu als Ritualdesign lässt die unter Punkt (2) beschriebene Gleichzeitigkeit von Varianz und Konstanz verstehen: Jesu Auftrag, in seinem Gedächtnis das Brot zu brechen, ist nicht der Auftrag einer Imitation im Sinne einer Kopie des letzten Mahls Jesu – gar nur als jährliche Wiederholung zu Passa – sondern ein neu designtes Ritual, das sich – trotz aller Kontinuität104 – offen an neue Kontexte wie die Zeit nach Tod und Auferstehung anpassen lässt, wie die Erzählung in Lk 24 beweist. Genauso wie Jesus als Ritualdesigner das gemeinsame Mahl (mit seiner nachösterlichen Anwesenheit als konstitutivem Merkmal105) in einer Kombination aus Konstanz und Varianz schafft, sollen und werden in Zukunft auch seine Zeugen (24,48) das Mahl kon100
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Diesem wichtigen Hinweis auf die programmatische rituelle Freiheit des dritten Evangelisten werde ich in Bezug auf das Mahl in den Kapiteln 4.6.4 und 4.6.5 weiter eingehen. Zum Begriff ‚Ritualdesign‘ bzw. ‚Ritualdesigner‘ vgl. Kapitel 2.4.3. Radde-Antweiler: Rituals Online, 66. Ahn: Ritualdesign, 117. „Jesus selbst stellt demnach die Kontinuität zwischen dem Abendmahl vor seinem Tod und dem Abendmahl, das die Gemeinde nach seiner Auferstehung feiert, her“ (Bauspieß: Geschichte, 287). „Wenngleich der Auferstandene nicht mehr leiblich vor Augen steht, bleibt er doch bei seinen Jüngern in der Eucharistie feiernden Gemeinde, die seines Todes gedenkt und seine österliche Gegenwart erfährt“ (Vorholt: Osterevangelium, 247).
3.8 Zwei Jünger auf dem Weg
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stant und gleichzeitig variabel halten.106 Damit wird auch deutlich, warum Lukas die Emmausperikope für seine Erzählung braucht: Das Brotbrechen als Ritual – wie es seine Leser aus eigener regelmäßiger Erfahrung kennen – ist von Jesus selbst gestiftet. Er ist – modern gesprochen – der Designer, aber auch gleichzeitig der Ritualherr (als Gastgeber) und der eigentliche Inhalt der Handlung. Alles das verbindet Lukas in den wenigen Worten in 24,30 in einer Art, die seine Leser an das eigene rituelle Handeln erinnert: Das gemeinsame Brechen des Brotes der Nachfolger Jesu ist mehr als ein Mahl εἰς τὴν ἐμὴν ἀνάμνησιν: Er selbst ist anwesend!107 Dies bereitet die häufigen Mahlbezüge im zweiten Werk des Lukas vor. Brotbrechen wird auch dort (Apg 2,42.46; 20,7; vgl. 27,35) als feststehender Begriff für eines der notae ecclesiae der christlichen Gemeinschaft gebraucht: „The formula ‘breaking the bread’ is a metonymic designation of the eucharistic ritual carried out by the first Christians in obedience to the order to reiterate formulated in Luke 22:19.“108 Lukas verbindet also mit seiner Erzählung des Brotbrechens in Emmaus das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern und die als ‚Brotbrechen‘ bezeichnete Mahlgemeinschaft der Jünger.109 „Die Jerusalemer Urgemeinde feiert der lukanischen Konzeption zu Folge also dasjenige Mahl, dessen Wiederholung als Brotbrechen Jesus beim letzten Pessach angeordnet hat.“110 Zusammengefasst: Lk 24,13–36 bezeugt die Umsetzung des Wiederholungsauftrages Jesu, das Brot εἰς τὴν ἀνάμνησιν zu brechen. Das von Jesus designte Ritual ist Grundlage für das Erkennen Jesu und verdeutlicht die Kontinuität nachösterlicher Mähler mit den Mählern Jesu. Dabei wird erzählerisch deutlich gemacht, dass das Brotbrechen im Namen Jesu keine Imitation des letzten Mahls ist, sondern Variabilität in der Umsetzung erlaubt. Die nachösterliche Mahlgemeinschaft Jesu steht auch Jüngern offen, die nicht zu den Zwölf gehören. Dennoch können sie den Ritualdesigner Jesus beim Brotbrechen erkennen. 106
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Dieser Erkenntnis folgen implizit auch diejenigen Ausleger, die eine Verbindung zum Gottesdienst der lukanischen Gemeinde ziehen: „Es geht dem Evangelisten um den Gottesdienst seiner Zeit, seiner Adressaten“ (Fiedler: Gegenwart, 143) bzw. „die Gemeinde schaut zurück auf das damals Geschehene, um ihr gegenwärtiges gottesdienstliches Tun als die memoria resurrectionis zu deuten“ (Ernst: Lk, 508). Dieser Gottesdienst beinhaltete offenbar das gemeinsame Mahl, bei dem der Auferstandene (als Gastgeber) mit teilnahm (vgl. a. a. O., 140), war aber eben keine Kopie des letzten Mahls Jesu. Vgl. Schröter: Abendmahl (2006), 52. Die von Lietzmann: Messe, 252f. schon 1926 erarbeitete These, die frühchristliche Mahlpraxis ergebe sich aus zwei Quellen, nämlich aus der alltäglichen Mahlpraxis Jesu („Jerusalemer Typ“) und dem eucharistischen Mahl („paulinischer Typ“) findet hier insofern Wiederhall, als dass die lukanische Darstellung des Emmausmahls beides verbindet: Das Erkennen Jesu am Brotbrechen ist sicherlich von Lukas als Erfüllung des Wiederholungsauftrags Lk 22,19 dargestellt worden; gleichzeitig lässt die erzählte Offenheit der Mahlteilnehmer und der Situation (kein Passamahl usw.) auch an die anderen Mähler Jesu denken. Marguert: Meals, 520, anders Wick/Heilmann: Art. Mahl/Mahlzeit. Vgl. Schröter: Abendmahl (2006), 52. Schröter: Abendmahl (2006), 55.
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(4) Zu fragen bleibt nun noch nach dem Verhältnis zwischen dem gemeinsamen Mahl mit dem Auferstandenen als Anlass für das Erkennen Jesu durch die Jünger und der Schriftauslegung Jesu auf dem Weg. Offensichtlich ist die chronologische Differenz im Ablauf der Erzählung, denn während die Auslegung von Mose und allen Propheten schon auf dem Weg nach Emmaus stattfindet, erkennen die beiden Jünger ihren Herrn nicht durch diese, sondern erst durch das Brechen des Brotes beim abendlichen Mahl. Allerdings verändert das Erkennen Jesu auch die Sicht der Jünger auf die Auslegung der Schrift.111 „Der Öffnung der Augen zur Erkenntnis der Gegenwart des Auferweckten im eucharistischen Kontext entspricht somit das Erschlossenwerden der Schrift. Beides, Schrift und Eucharistie, sind Orte bleibender Präsenz des Auferstandenen in der Ekklesia.“112 Doch auch wenn diese beiden Elemente konstitutiv zusammengehören, ist eine Auslegung der biblischen Schriften ohne die Erkenntnis des Auferstandenen im lukanischen Sinne nicht fruchtbringend: „Die Schrifterklärung Jesu führt die beiden Jünger zwar zur selbstkritischen Frage nach ihrem Jesusverständnis, das gemeinsame Mahl in Erinnerung an die Mahlveranstaltungen Jesu während seiner irdischen Wirksamkeit zu dessen Erkennen im Sinne einer Identifikation, zum Verstehen der Schrift sind sie jedoch damit noch nicht gekommen – lediglich zur Richtungsänderung des Weges zurück nach Jerusalem.“113 So auch in der unserer Perikope nachfolgenden Erzählung: Erst gibt sich Jesus zu erkennen. Daraus erfolgt aber noch kein Verständnis der Schrift und sogar „das symbolträchtige Fischessen bleibt in dieser Hinsicht wirkungslos.“114 Erst danach öffnet der Auferstandene den anwesenden Jüngern das Verständnis für die Schrift (24,45: τότε διήνοιξεν αὐτῶν τὸν νοῦν τοῦ συνιέναι τὰς γραφάς). Nimmt man diese Abfolge der lukanischen Erzählung ernst, kann ein Bezeugen der Auferstehung Jesu nicht allein durch die Schrift geschehen, denn das Erkennen Jesu ist diesem vorausgesetzt.115 Wichtig ist Lukas hierbei, dass Jesus selbst Ausleger der Schrift ist (24,27.44–47; vgl. 4,18f.). Und: „Entscheidend ist die Tatsache, dass diese Apostel 111
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Eine ähnliche Situation beschreibt schon das erste eigenständige Auftreten Jesu in Lk 2,41–52: Hier wie dort können zwei Vertraute Jesu seine wahre Identität nicht erkennen. Er selbst muss sie darauf stoßen (2,49 vgl. 24,25–27). Different ist allerdings das Ergebnis: Während Maria und Josef Jesu Worte nicht verstehen (2,50), aber in Marias Herzen (2,51) behalten, sprechen die Emmausjünger vom Öffnen der Schrift (24,32). Wirkliches Verständnis erhalten diese aber erst gemeinsam mit den Elf und den anderen Jüngern in 24,45. Zu Lk 2,41–52 vgl. Kapitel 3.2 dieser Arbeit. Vorholt: Osterevangelium, 248. Ähnlich auch Dormeyer: Lk, 288: „Im Mysterium, im Sakrament der Eucharistiefeier, und im Schriftgespräch lebt der Auferstandene weiter in seiner Gemeinde.“ Hoppe: Jesus, 36. Hoppe: Jesus, 37. Bösen: Mahlmotiv, 391: „Deutlich wird hier dem Mahl gegenüber dem Wort ein Vorrang zugesprochen. Zwar gehören beide zusammen […], doch erfolgt die letzte Identifizierung erst durch das gemeinsame Mahl; das Mahl wird für den Evangelisten zur entscheidenden Erkenntnisweise des nachösterlichen Jesus.“
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etwas ‚bezeugen‘, was sie selbst erlebt haben.“116 Dann, und nur dann, können sich die Emmausjünger wieder auf den richtigen Weg machen, der ihnen in Jerusalem ermöglicht, den Auftrag des Auferstandenen entgegen zu nehmen. Für sie (24,35f!) ist die Erkenntnis beim Brotbrechen das Entscheidende.
3.8.7 Zusammenfassung und Fazit Die Emmausgeschichte ist aus ritualwissenschaftlicher Perspektive besonders spannend, da sich an dieser Stelle im dritten Evangelium Jesus das erste Mal als Auferstandender zeigt. Dieses Zeigen Jesu bewirkt allerdings erst im Ritualvollzug des Brotbrechens die Erkenntnis der Jünger. Nur durch das gemeinsame Mahl in Konstanz und Varianz, und eben nicht als Kopie vergangener Mähler mit Jesus – besonders des letzten Mahls vor Jesu Hinrichtung – können aus den beiden Männern voller Trauer und enttäuschter Hoffnung zwei Zeugen, zwei Nachfolger Jesu werden. Dies begründet sich in Jesu Agency, die diese Veränderung bei den Jüngern innerhalb und durch das Mahlritual ermöglicht. Alle anderen Hinweise auf die Auferstehung Jesu vermögen diese Veränderung nicht hervorzurufen, weder das leere Grab noch die Engel, die sagen, Jesus lebe. Betrachtet man nun das angesprochene Mahl als performatives Ritual, so wird deutlich, dass die Varianz in der Wortwahl kein lukanisches Versehen ist, sondern dezidiert die Besonderheit dieses Rituals mit in den Blick nimmt: Das Mahl mit Jesus ist keine Kopie eines vorangegangenen Mahls, sondern – bei aller Konstanz – variabel und auf die nachösterliche Zeit anpassbar. Nur so kann eine Wiederholung – keine Imitation – im Sinne Jesu (εἰς τὴν ἐμὴν ἀνάμνησιν) gelingen und so kann Lukas Jesus als Ritualdesigner darstellen, der das Gleiche, aber eben nicht dasselbe tut und damit die Offenheit des Rituals ermöglicht. Dazu gehört auch die Schriftauslegung Jesu selbst, die gemäß der Schrift – Mose und allen Propheten – sowohl Leid als auch Herrlichkeit Christi auf sich vereint (24,26.46). Diese Schriftauslegung kann ohne die Erkenntnis des Auferstandenen nicht zu einem brennenden Herzen (24,32) führen, sondern muss unverstanden bleiben. Dieses Unverständnis über die Ereignisse von Kreuz und Auferstehung und das durch das Mahl ermöglichte Verstehen sind im Lukasevangelium mit tiefen Emotionen versehen: Aus der großen Trauer wird das brennende Herz. 116
Moloney: Brot, 166. Moloney nennt die Emmausjünger an dieser Stelle Apostel, obwohl das nicht lukanischem Sprachgebrauch entspricht. Die beiden Jünger werden in Lk 24,13– 35 nicht durch Jesus mit einer Botschaft nach Jerusalem entsandt, sie eilen aus der Überzeugung zurück, dass ihre Begegnung mit Jesus beim Ritual des Brotbrechens auch für die zurückgebliebenen Jünger relevant ist. Da die beiden aber in Jerusalem ohne Unterschied zu den Elf denselben Auftrag von Jesus bekommen, nämlich Zeugen Christi zu sein und in Jerusalem auf die Kraft aus der Höhe zu warten, ist inhaltlich die Bezeichnung als Apostel nachvollziehbar.
4.
Der theologische Ertrag: Jesus in der rituellen Welt des Lukasevangeliums
4.1
Einführung
Diese Arbeit beschäftigt sich anhand ausgewählter Ritualtheorien grundlegend mit der Frage, wie Jesus innerhalb des rituellen Kontextes seiner Zeit im Lukasevangelium dargestellt wird. Wie handelt Jesus innerhalb der Erzählung des dritten Evangeliums durch, mit oder gegen Rituale? Wie stellt der Autor die Besonderheit des Lehrens und Wirkens Jesu unter ritualwissenschaftlicher Perspektive dar? Und wie reagieren die anderen Charaktere der Erzählung auf Jesus und sein rituelles Wirken? Um diesen Fragen nachzugehen, wurde zunächst ein Überblick zu ausgewählten ritualwissenschaftlichen Theorien und Begriffen erstellt.1 Dabei wurde Wert darauf gelegt, die immense Vielfalt an Herangehens- und Betrachtungsweisen der Ritualwissenschaften, die sich aus der interdisziplinären Beschäftigung2 mit diesem Thema im Laufe der Zeit und besonders seit dem sogenannten ritual turn3 innerhalb der Kulturwissenschaften ergeben haben, soweit einzugrenzen, dass ausgewählte Theorien und Ansätze als hilfreiche und weiterführende Grundlage für die Exegese des Lukasevangeliums dienen können. Dementsprechend liegt der Fokus der Arbeit auf der Auslegung der Erzählung des Lukas, wie wir sie in der kanonischen Form des dritten Evangeliums finden können. Historische Zusammenhänge – besonders die Frage nach dem sog. historischen Jesus – stehen demgegenüber zurück. Unabdingbar für die tiefergehenden exegetischen Untersuchungen war die Auswahl derjenigen Perikopen, die einer ausführlichen Exegese unterzogen werden sollen, während weitere Texte nur kursorisch behandelt werden. Diese Tiefenbohrungen im 3. Kapitel dieser Arbeit dienen nun als Gerüst für die Frage nach der Verortung Jesu innerhalb der rituellen Welt des Evangeliums. Für den theologischen Ertrag der Untersuchung soll das Lukasevangelium als Gesamtwerk – mit Ausblicken auf die Apostelgeschichte als zweitem Teil des lukanischen Doppelwerks – betrachtet werden. Dabei kann nicht auf exegetische De-
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Vgl. vor allem Kapitel 2.3 und 2.4 dieser Arbeit. Zu nennen sind hier ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Religionswissenschaft und Theologie, Anthropologie, Kulturwissenschaften, Soziologie und Theaterwissenschaft. Zum Stand der Ritualwissenschaften vgl. Brosius/Michaels/Schrode: Ritualforschung, 9–24. Zum ritual turn vgl. zusammenfassend Strecker: Welten, 5f. Dieser baut auf dem performative turn auf, vgl. Stephenson: Action, 40f.
4.2 Lukanische Vorgeschichte und Familie Jesu
239
tailfragen eingegangen werden; Begründungen sind in den einzelnen exegetischen Kapiteln nachlesbar.4 Stattdessen gilt es, mithilfe des Gerüsts der Einzelexegesen den Gesamteindruck des dritten Evangeliums herauszuarbeiten, wobei der Fokus hauptsächlich auf der Charakterisierung Jesu durch seinen Umgang in, mit oder gegen Rituale(n) liegt. Damit die theologische Erarbeitung übersichtlich geschehen kann, bietet sich eine Einteilung der Texte in größere inhaltliche Abschnitte an: Lukanische Vorgeschichte und Familie Jesu, Taufe und Gebet sowie Sabbat und Synagoge. Hinzu tritt die ausführliche Beschäftigung mit den Mählern Jesu. Am Ende werden zudem Gedanken zu der Frage ausgeführt, inwiefern der Evangelist Lukas als ‚Ritualmacher‘ und sein Werk als ‚Ritualtransfer‘ zu verstehen sind.
4.2
Lukanische Vorgeschichte und Familie Jesu
Lukas macht mit seinem narrativen Einstieg in Lk 1,5ff. direkt die Relevanz von Ritualen für seine Erzählung (1,1: διήγησις) deutlich: Nach der Einführung des noch kinderlosen Ehepaars Zacharias und Elisabeth spielt die erste Szene des Evangeliums direkt im Jerusalemer Tempel.5 Dort wird dem Priester Zacharias während (!) des Makrorituals6 des Räucheropfers (1,9f.) durch den Engel Gabriel die Geburt eines Sohnes mit seiner eigentlich unfruchtbaren und für die Empfängnis zu alten Frau Elisabeth angekündigt (1,7). Zacharias bezweifelt die Verkündigung Gabriels (1,18–20) und muss deswegen verstummen. Dabei steht diese Strafe im direkten Zusammenhang mit der rituellen Situation:7 Das Opfer am Tempel muss schweigend vollzogen werden.8 Maria, die auch an der Botschaft des Engels zweifelt, aber nicht im rituellen Kontext steht, wird nicht mit einer zeitweiligen Verstummung bestraft (vgl. 1,34f.).9 Erklären lässt sich dies gut mit der Performanz des Opferrituals: Um die performative Wirksamkeit des 4 5
6
7
8 9
Vgl. Kapitel 3.1–3.8 dieser Arbeit. Dort wird das Evangelium in 24,53 auch enden. Zur ritualwissenschaftlichen Deutung des Tempels im luk. Doppelwerk vgl. Ascough: Ritual modification, 171–174. In Aufnahme der Ritualtheorie von Albert Bergesen (vgl. Kapitel 2.3.9) unterscheide ich zwischen Makroriten, also formellen Zeremonien, Mesoriten (Interaktionsritualen) und Mikroriten (ritueller Sprachgebrauch). Die drei Ebenen bauen aufeinander auf. Im Fall des Räucheropfers als Makroritus sind dies die Rituale der Ehrerbietung gegenüber JHWH, dem das Opfer gilt (Mesoriten) und die Gebete des Volkes, die Lukas nicht ausformuliert (1,10) als Mikroriten. Vgl. Apk 8,1–5, wo eine halbe Stunde Stille während eines Tempelrituals in Kombination mit Gebeten (8,3f.) beschrieben wird. Dazu ausführlich Wick: Silence, 512–514 in Bezug auf Israel Knohl und Yehezkel Kaufmann. Vgl. Wick: Gottesdienste, 43f.78. Vgl. Wick: Gottesdienste, 78, der sich für diese Deutung starkmacht.
240
4 Theologischer Ertrag
Rituals nicht zu gefährden, muss der Priester das Ritual in einer bestimmten Art und Weise ohne Abweichung durchführen. Genau dies tut Zacharias aber durch seine Diskussion mit dem Engel. Seine Strafe der zeitweiligen Stummheit entspricht daher dem rituellen Vergehen.10 Als Sohn des Priesters Zacharias ist Johannes der Täufer im Lukasevangelium – und nur dort – durch seine familiäre Herkunft mit dem Jerusalemer Tempel verbunden. Seine Geburt wird dort angekündigt und dort sollte er als Sohn eines Priesters eigentlich seine rituelle Wirkungsstätte finden. Er wählt aber einen anderen Weg und legt außerhalb des Tempels mit dem von ihm initiierten Ritual der Taufe den Startpunkt für das öffentliche Wirken Jesu. Lukas betont die Einbindung Johannes’ bzw. seiner Eltern in den rituellen Kontext Israels. Wie in der Tora vorgeschrieben (Gen 17,12; 21,4; Lev 12,3) wird Johannes am achten Tag nach seiner Geburt beschnitten (Lk 1,57–66). Seine Eltern achten die Gebote Gottes und werden ihren einzigen Nachkommen auch in diesem Sinne erzogen und das Gesetz nahegebracht haben. Umso mehr fällt die Differenz zu Johannes’ späterem Wirken auf, der in der bloßen Nachkommenschaft Abrahams keine Heilssicherung erkennen kann. Stattdessen wird Rettung vor dem göttlichen Zorn durch korrektes ethisches Verhalten und Buße für begangene Missetaten erlangt (3,7–14).11 Als Zeichen dieser Buße tauft Johannes im Jordan. Dieses Loslösen Johannes’ von rituellen Zusammenhängen des Tempels lässt sich dann in der abschließenden Notiz 1,80 erkennen: Johannes wird von nun an in der Wüste zu finden sein, weit ab vom Jerusalemer Tempel. Während bei der Ankündigung der Geburt Jesu (1,26–38) und der Erzählung derselben (2,1–20) die rituellen Elemente in den Hintergrund treten, betont Lukas die Einordnung Jesu in den rituellen Kontext seiner Zeit ab 2,21ff. deutlich. Genau wie Johannes wird Jesus am achten Tag beschnitten und benannt. Anders aber als bei seinem Verwandten Johannes (vgl. 1,36) beschreibt Lukas die Darstellung Jesu im Tempel (2,22–24). Im Mittelpunkt der Perikope steht dabei weniger Jesus, der als Neugeborener noch keine Handlungen vollziehen kann, sondern die Eltern Jesu. Von ihnen12 wird gesagt, dass sie die Tage der Reinigung gemäß dem mosaischen Gesetz erfüllt haben (Lev 12,1–4) und sie nun ihren Sohn zum Tempel bringen, um das im Gesetz verlangte Opfer darzubringen (Lev 12,5– 10
11
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Ob die vom Volk draußen vollzogenen Gebete (Lk 1,10) laut oder leise, individuell oder durch alle gemeinsam gesprochen wurden, wird im lukanischen Bericht nicht deutlich. Mglw. bedingte die Länge der Opferung die Länge der Gebetszeit, so Wick: Gottesdienste, 64. Zu den, den Psalmen nachempfundenen, Gebeten von Maria, Zacharias und Simeon vgl. 4.3. Die Mahnung des Täufers erinnert deutlich an die Kritik alttestamentlicher Propheten, die die korrekte ethische Lebensweise dem Opferdienst vorziehen, vgl. Hos 6,6; Spr 21,3. Der Text spricht von den Tagen der Reinigung beider Eltern (2,22: αἱ ἡμέραι τοῦ καθαρισμοῦ αὐτῶν; Codex D und wenige andere Handschriften lesen hier verbessernd αὐτοῦ), auch wenn Lev 12 nur die Zeit der Unreinheit der Mutter beschreibt. Die Eltern Jesu agieren als Einheit, ebenso werden sie es in 2,41f. im Kontext der Wallfahrt tun (vgl. auch die explizite Nennung des Vaters Jesu in 2,48).
4.2 Lukanische Vorgeschichte und Familie Jesu
241
8).13 Hierbei ist wichtig: Die im Zusammenhang mit der Geburt stehenden Rituale sind Gebote an die Eltern.14 Lukas betont also an dieser Stelle deutlich die Toraobservanz von Maria und Josef und damit die Einbindung Jesu in den rituellen Kontext seiner Zeit. Der eigene Umgang Jesu mit Ritualen beginnt nicht mit dieser Perikope, sondern erst mit seiner ersten eigenständigen Handlung, die im Zusammenhang mit der Wallfahrt zu Passa nach Jerusalem steht und nun genauer betrachtet wird.15 In der Perikope Lk 2,41–52 (vgl. Kapitel 3.2) tritt Jesus zum ersten Mal aus dem familiären Rahmen hervor. Die Szene spielt im Rahmen des Makrorituals Passa, das eine rituelle Wallfahrt nach Jerusalem vorsieht. Jesu Eltern, die – wie oben schon gezeigt – als toraobservant dargestellt werden und jedes Jahr zum Fest pilgern (2,41), kehren ohne ihren Sohn nach Nazareth zurück. Jesus bleibt – seine erste eigenständige Handlung im Evangelium – in Jerusalem und wird später von Maria und Josef im Tempel wiedergefunden. Dort sitzt er bei den Lehrern Israels und wird für sein Verständnis bewundert. Jesus reagiert auf Marias emotionale Frage nach der Begründung seiner Abwesenheit von den Eltern mit Verwunderung (2,49). Dennoch geht er mit ihnen zurück nach Nazareth und ordnet sich in die Familie ein (2,51). Bei der ritualwissenschaftlichen Exegese dieser Perikope werden besonders die mehrfach von Jesus ausgelösten Irritationen und deren Auswirkungen in den Blick genommen: Jesus ist als nun 12-jähriger auf der Schwelle zum Erwachsensein, in der Terminologie Turners ein ‚liminaler Grenzgänger‘:16 Er ist biographisch schon Teil des Neuen, aber dennoch nicht losgelöst vom Alten. Er ist daher nicht mehr bei den Verwandten und Bekannten zu finden (2,44), sondern im Jerusalemer Tempel. Diese Trennung ist aber noch nicht endgültig vollzogen, denn in 2,51 integriert er sich vorerst wieder in die familiäre Struktur. Auch die 13
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Lukas stellt die Familie Jesu als arm dar. Laut Lev 12,6 war das Opfer von einem Lamm und einer Taube vorgesehen. Sollte die Familie die Kosten für ein Lamm nicht aufbringen können, kann dieses durch eine weitere Taube ersetzt werden (12,8). Zum Ablauf der Opferung vgl. Wolter: Lk, 135. Opfer am Tempel spielen bei der Heilung eines Aussätzigen (Lk 5,12–14) und bei der Verhaftung des Paulus (Apg 21,26) eine Rolle. So begründet sich zudem die nur kursorische Beschäftigung dieser Arbeit mit der rituellen Beschneidung Jesu. Das Beschneidungsgebot (Gen 17,12; 21,4; Lev 12,3) richtet sich an die Eltern Jesu und stellt dementsprechend ihre – und nicht Jesu – Toraobservanz dar. Selbst Lukas, der als einziger Autor des Neuen Testaments die Beschneidung Jesu überhaupt erwähnt, legt in 2,21 den Großteil der Aufmerksamkeit auf die Namensgebung Jesu, die durch die Botschaft des Engels an Maria (1,31) begründet ist und nicht auf seine Beschneidung. Insgesamt scheint die Beschneidung Jesu in neutestamentlicher Zeit vorausgesetzt worden zu sein, ohne dass daraus Diskussionsbedarf entstanden wäre, da keine weitere Schrift des NT die Beschneidung Jesu erwähnt oder gar problematisiert. Dies ändert sich in späterer Zeit, als Verknüpfungen von Kindertaufe und Kinderbeschneidung gezogen werden. Vgl. dazu Zimmermann: Kinderbeschneidung, 41–69. Auf die rituellen Gebete von Maria, Zacharias und Simeon wird in Abschnitt 4.3 eingegangen. Zu Turner vgl. 2.3.5.
242
4 Theologischer Ertrag
zweite Irritation erklärt sich durch die liminale Phase Jesu: Er ist noch Schüler und hört den Lehrern zu, aber sein Verständnis (σύνεσις 2,47) ist gleichzeitig schon weit über den normalen Zustand eines jugendlichen Schülers hinausgewachsen. Auch dieser Zustand ist nicht abgeschlossen, denn laut 2,51 nimmt Jesus noch an Weisheit (σοφία 2,40.52) zu. Die dritte und größte Irritation erschließt sich aus dem Spitzensatz der Perikope: Jesus erklärt Gott zu seinem Vater und sagt, er müsse ἐν τοῖς τοῦ πατρός μου sein (2,49). Dieser mehrdeutige Satz lässt wegen der räumlichen Struktur von Lk 2,41–52 an einen Ort denken. Dies ist zuerst der Tempel, an dem die Szene spielt, es ist aber zugleich der Himmel, der im Lukasevangelium mehrfach explizit als Ort Gottes genannt wird.17 Jesus befindet sich bei der dritten Irritation auf der Schwelle zwischen menschlicher und göttlicher Herkunft, denn einerseits bleibt er Kind seiner Mutter (sie spricht ihn in 2,48 explizit als τέκνον an) und wird sich zunächst wieder in den familiären Kontext einordnen, andererseits ist er schon ganz bei seinem himmlischen Vater, zu dem er am Ende des Evangeliums zurückkehren wird (24,51). Im direkten Zusammenhang mit den drei auf Jesu Schwellenzustand zurückgehenden Irritationen ist der lukanische Fokus auf gesellschaftliche wie rituelle Ordnung zu konstatieren, die sich mit dem Charismatiker Jesus im Widerstreit befindet. Auf den ersten Blick nimmt Jesus den ihm gesellschaftlich wie religiös zugewiesenen Platz ein, welcher der rituellen Ordnung entspricht. Er bleibt Teil seiner Herkunftsfamilie mitsamt ihrer Volks- und Religionszugehörigkeit als Jude bzw. Israelit. Doch die genaue Untersuchung zeigt, dass sich Jesus freiwillig der rituellen wie gesellschaftlichen Ordnung unterordnet, wenn auch nur für eine gewisse Zeit. Seine rituelle Agency lässt ihn nicht nur die Loslösung von Familie und Ritual für sich beanspruchen, sondern auch durchsetzen. Seine Trennung von der Familie, die Lk 2,41–52 beschreibt, gipfelt in seiner Zuordnung zu Gott als Vater (2,49) und dies ausgerechnet im Tempel von Jerusalem. Diese Trennung beendet er freiwillig, da er mit Maria und Josef wieder nach Nazareth geht. Während sein Fragen und Zuhören mit den Lehrern Israels in seiner späteren Wirksamkeit wieder aufgenommen wird – dann aber mit Vollmacht (Lk 5,24) – bleibt die Trennung von Josef bestehen: Jesus versteht sich als Sohn Gottes und wird von diesem auch öffentlich im Kontext des Taufrituals bestätigt (3,22). Auch anderweitige familiäre Bindungen erhält Jesus nicht aufrecht. Lukas erzählt vom zeitweiligen Zerwürfnis zwischen Jesus und seiner Familie (vgl. 8,19–21), betont aber die Anwesenheit Marias und seiner Brüder bei den Aposteln nach Ostern (Apg 1,14).18 Die ganze Perikope Lk 2,41–52 dient damit als Prolepse des charismatischen Wirkens Jesu im Lukasevangelium, das durch den kre-
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Lk 3,21; 10,21; 11,13; 24,51 und Apg 1,9ff.; vgl. meine Ausführungen unter 3.2 sowie Wolter: Lk, 150 und Klein: Lk, 155. Hinzu kommt die wichtige Rolle des Herrenbruders Jakobus in Apg 15 (vgl. Gal 1,19; 2,9; Jak 1,1).
4.3 Taufe und Gebet
243
ativen Umgang mit Ritualen, aber auch mit seiner Familie geprägt ist. Jesu charismatisches Wirken und seine Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen wie rituellen Ordnung steht daher schon im Hintergrund der besprochenen Erzählung. Versucht man nun ein umfassendes Bild der angesprochenen Erzählungen in Lk 1–2 zu gewinnen, zeigt sich deutlich der lukanische Fokus auf die Einordnung Jesu (und des Täufers) in die familiäre und rituelle Ordnung. Jesus ist Kind seiner Eltern und Jude bzw. Israelit, beides wird durch Rituale bezeugt. Auch wenn seine Empfängnis durch den Engel Gabriel angekündigt und seine Geburt den Hirten durch Engel verkündet wird, bleibt er zunächst eingeordnet in seine familiäre Struktur. Seine Kindheit, die Lukas bis auf die Episode des 12-jährigen im Tempel nicht darstellt, findet in Nazareth statt, weit weg vom Zentrum Israels. Bei den religiösen Ritualen seines Volkes rücken Jerusalem und die Tora in den Mittelpunkt: Jesus ist Teil der religiösen Ordnung des Judentums seiner Zeit, er wird am achten Tag beschnitten und nimmt an Wallfahrten teil. Er wird ausgebildet in der Tora, denn 2,46f. setzt vorherigen Umgang mit der religiösen Tradition voraus. Aber neben all dieser Einbindung und freiwilligen Reintegration (2,51) in die Ordnung sticht gleichzeitig das Aufbrechen dieser Ordnung hervor: Ja, Jesus ist Teil der Familie und der Rituale seiner Zeit, aber er ist auch unabhängig von diesen beiden Zusammenhängen. Die genaue Analyse von Lk 2,41–52 im Gesamtkontext von Lk 1–2 zeigt deutlich: Jesus steht nun an der Schwelle und macht die ersten eigenen Schritte über diese Schwelle hinaus. Aber noch ist er παῖς, noch kehrt er zurück nach Nazareth und ordnet sich unter, aber es blitzt schon die charismatische Wirksamkeit hervor, die sein Leben als Wanderprediger ausmachen wird.
4.3
Taufe und Gebet
Zwischen Lk 2,52 und 3,1 findet ein Zeitsprung statt, den der Evangelist mit einer Zeitangabe (3,1f.) einleitet. Johannes, von dem der Leser schon seit 1,80 weiß, dass er sich in der Wüste aufhält und dort wirken wird, tritt mit seiner Bußpredigt und dem darauf aufbauenden Ritual der Taufe auf. Im Zuge der ausführlichen Untersuchung der Taufe Jesu1 ist auch auf Johannes und seine rituelle Wirksamkeit geblickt worden. Dabei wurde deutlich, dass Lukas keinen großen Wert darauflegt, das Ritual des Untertauchens zu erläutern. Zwar haben historisch fragende Exegeten immer wieder versucht, die Nähe zu und ebenso die Differenz von Wasser- und Reinigungsritualen des antiken Judentums und der
1
Vgl. Kapitel 3.3 dieser Arbeit.
244
4 Theologischer Ertrag
Umwelt der beiden biblischen Testamente herauszuarbeiten,2 für den Text des Lukasevangeliums muss man aber konstatieren: Das Interesse des Evangelisten gilt der Predigt des Täufers, nicht seiner Ritualhandlung. Diese setzt er anscheinend bei seinen Lesern als bekannt voraus. Im Rahmen der Untersuchung des Textes ließ sich daher nicht auswerten, inwiefern Johannes im Kontext des Lukasevangeliums als Ritualdesigner für die Taufe gelten kann.3 Stattdessen ist folgendes wichtig geworden: Lukas legt großen Wert darauf, Jesus und Johannes voneinander abzuheben und die Überordnung Jesu über Johannes zu betonen. Deswegen steht – trotz aller Wertschätzung für den Täufer im gesamten Doppelwerk4 – Johannes immer unter Jesus und hinter diesem zurück. Dies wird besonders beim Vergleich der Taufe Jesu im dritten Evangelium mit den Darstellungen bei Mk und Mt deutlich: Lukas lässt Johannes nämlich noch vor dem Bericht der Taufe Jesu von Herodes gefangen nehmen. Liest man Lk 3,20–23 chronologisch, entsteht der Eindruck, die Taufe Jesu sei nicht von Johannes durchgeführt worden. Dies ist aber – man denke an die Rückschau Petri in Apg 10,37f. – gar nicht die Absicht des Autors, denn dieser will hauptsächlich die Unterordnung des Täufers unter Jesus als dem Sohn Gottes betonen. Die ritualwissenschaftliche Exegese zeigt deutlich: Für die Performanz einer rituellen Handlung ist es nötig, dass der Handelnde über die notwendige Kompetenz und Handlungsvollmacht verfügt, das Ritual durchzuführen. Dies ist aus lukanischer Sicht bei der Taufe Jesu durch Johannes nicht der Fall. Johannes ist als „Schwächerer“ (3,16) eigentlich nicht für diese Aufgabe geeignet und muss daher, wie bei einem Theaterstück, die Bühne verlassen, sobald die eigentliche Handlung – die Taufe Jesu – in den Mittelpunkt rückt. Das aus lukanischer Sicht nun abgeschlossene Ritual der Johannestaufe wird also narrativ von seinem ursprünglichen Stifter getrennt und umso mehr ‚christianisiert‘,5 als dass der auferstandene Jesus es explizit mit der Geistausgießung – zum ersten Mal zu Pfingsten: Apg 1,5 – verbindet. Dies lässt sich auch bei der überwiegenden Mehrzahl der Taufberichte in der Apostelgeschichte aufzeigen. Die nun christlich verstandene und i. d. R. mit dem Geistempfang verbundene6 Taufe versteht sich als 2
3 4 5
6
Vgl. besonders die Aufsätze von A. Labahn: Wasser, Freyne: Immersion und M. Labahn: Erinnerung, die die jüdischen und frühchristlichen Wasserrituale kontextualisieren. Anders Ascough: Ritual modifications, 171–174. Vgl. u. a. Lk 7,24–35 und Apg 10,37f. Obwohl die einzelnen rituellen Handlungen (Mesoriten) bei beiden Taufritualen ähnlich sind, ist die johanneische Taufe als Makroritus für Lukas abgeschlossen. Die christliche Taufe auf den Namen Jesu ersetzt die Johannestaufe, die als Vorbild für die eigene Tradition genutzt wird und transferiert somit das Ritual in die christliche Gemeinschaft und den eigenen zeitlichen Kontext. Damit stehen die beiden Taufen anders als in Joh 4,1f. nicht in einem Konkurrenzverhältnis. Ausführlich dazu in Kapitel 4.6. Diese Verbindung erfolgt, wie in Kapitel 3.3 gezeigt, nicht notwendig automatisch. Häufig erwähnt Lukas das dazugehörige Mesoritual der Handauflegung. Offensichtlich kennt die Apg dabei auch Auseinandersetzungen über die Frage nach dem besonderen Recht der Geistübergabe bzw. die Bitte darum durch die Apostel, vgl. Apg 8,14–17.
4.3 Taufe und Gebet
245
Initiationsritus sowohl für Juden als auch für Nichtjuden, die an Jesus als Messias glauben. Kommen wir zurück zur Taufe Jesu in Lk 3,21f. Anders als oft vermutet, spiegelt der knappe Bericht der Taufe Jesu keinesfalls die Geringschätzung dieser Erzählung durch den Evangelisten wider, denn er verbindet sie auf vielfältige Weise mit anderen Perikopen seines Doppelwerks. Lukas betont dabei in 3,21 die rituelle Integration Jesu in ἅπαντα τὸν λαὸν, stellt aber kurz darauf in 3,22 die Einzigartigkeit Jesu durch die Geistsalbung und die Proklamation durch die Himmelsstimme heraus. Jesus wird damit als letzter des Volkes getauft, die Johannestaufe muss nun also als beendet angesehen werden, denn der Täufer ist, wie oben dargestellt, schon gefangen genommen worden. Die Taufe Jesu beendet das Wirken des Täufers.7 Gleichzeitig stellt die Taufe Jesu den Übergang zur christlichen Taufe dar (vgl. 4.6.1). Jesus ist Teil des Volkes, aber gleichzeitig Gottes Sohn und sein Gesalbter. Lukas versteht die Geistgabe Jesu als Salbung, worauf Johannes schon in 3,15f. hinweist. Diese wird durch die Taufe Jesu rituell realisiert und von Jesus bei der Antrittspredigt in seiner Heimat Nazareth öffentlich verkündet sowie von Petrus in Apg 10,37f. bekräftigt. Diese Geistsalbung, die durch die himmlische Proklamation Jesu als geliebter Sohn Gottes bestätigt wird, ist zudem eine öffentlich-performative Handlung, die den Initiationspunkt für den Beginn (3,23: ἀρχόμενος) von Jesu öffentlicher Wirksamkeit darstellt. Diese öffentliche Wirksamkeit wird bei der ersten erzählten Lesung und Predigt Jesu innerhalb eines sabbatlichen Synagogengottesdienstes in seiner Heimatstadt Nazareth vertieft erläutert. Beide Geschichten „bilden zusammen den Anfang, die berühmte ἀρχή des Evangeliums.“8 Diese ἀρχή9 zeigt sich zudem in der Wiederaufnahme eines rituellen Bezuges, der schon in Lk 1–2 eine Rolle spielte: Die Geistsalbung Jesu kann als öffentliche Darstellung der Ausstattung Jesu mit eigener wirkmächtiger Agency verstanden werden, die eine Grundlage für weitere Berufungen bzw. Amtseinführungen im lukanischen Doppelwerk darstellt. Der Heilige Geist führt Jesus also nicht zum Ausstieg aus der rituellen Ordnung, sondern erlaubt es ihm im Gegenteil, zum Ritualdesigner zu werden, der die rituelle Welt für seine Lehre und sein Wirken nutzt. Während die Erzählung vom 12-Jährigen im Tempel (2,41–52) Jesu Agency nur für einen Moment hat aufscheinen lassen, steht diese nun im Vordergrund, 7
8 9
Johannes tritt in Lk 7,18f. noch einmal auf und lässt durch seine Jünger Jesus nach seiner Messianität fragen. Bovon: Lk I, 182. Der Begriff ἀρχή kommt nur an zwei Stellen im Doppelwerk vor: In Lk 1,2 bezieht er sich auf die Augenzeugen Jesu, die von Anfang an alles gesehen haben. Dies nimmt Lukas indirekt in Apg 1,21f. wieder auf. Der nachzuwählende Apostel muss die ganze Zeit, von Taufe bis Auferstehung, dabei gewesen sein. In Apg 11,15 bezieht sich Petrus auf die Geistgabe an die Jünger an der ἀρχή. Gemeint ist hier wohl Pfingsten.
246
4 Theologischer Ertrag
denn „Jesus selbst [wird] von seiner Identität in Kenntnis gesetzt und für die Wahrnehmung seiner Aufgabe ausgerüstet“.10 Dies stellt für den Leser nur eine Erinnerung bzw. Aktualisierung dar, denn schon die Ankündigung der Geburt Jesu durch Gabriel bezeugt Jesus als Sohn Gottes (vgl. 2,49), während Maria im Magnificat von Gottes Wirken in Jesus an den Niedrigen, Armen und Hungernden spricht. Der öffentliche Auftakt des Wirkens Jesu bekommt so in Anknüpfung an die genannten Texte ein besonderes Gewicht, welches in Lk 4,16–30 noch weiter verstärkt wird und schon auf Jesu letztes Mahl, seinen Tod und die Geistgabe an Pfingsten vorausblicken lässt. Noch einmal zurück zur Taufe Jesu in 3,21f.: Auffällig ist, dass die einzige aktive Handlung, die der Evangelist mit Jesus an dieser Stelle verbindet, das Beten Jesu ist.11 Jesu Gebet – das im Kontext seiner Taufe nur bei Lukas beschrieben wird – ist ein zentrales Ritualelement und wird als dieses auch bei vielen weiteren erzählten Taufen eine wichtige Rolle spielen.12 Das Gebet ist an dieser Stelle als Mesoritus zu verstehen, der die Interaktion der Akteure (hier: Jesus und Gott) ermöglicht. Als Mesoritus ist es Teil der formellen Zeremonie, dem Makroritus der Taufe. Zudem dient es erzählerisch als überleitende Handlung zwischen Taufakt und Proklamation Jesu als geliebtem Sohn Gottes. Davon abgeleitet wird es vielfach im Zusammenhang von Berufungen bzw. Beauftragungen durchgeführt. Dies gilt bspw. für die Ernennung der Zwölf als Apostel (Lk 6,12–16), bei der Nachwahl des Matthias (Apg 1,15–26), bei der Einsetzung der sieben Diakone (6,1–7) und der Aussendung von Barnabas und Saulus (13,1– 3).13 Beten als Ritual erscheint somit als durchgängiges Ritualelement, wenn ein Statuswechsel beschrieben werden soll. Dieser Zusammenhang überrascht den Leser des Evangeliums nicht, da schon in der lukanischen Vorgeschichte Lk 1–2 Gebete eine wichtige Rolle spielen. Maria (Lk 1,46–55), Zacharias (1,68–79) und Simeon (2,29–32) sprechen Gebete, die – genauso wie bei der Taufe Jesu – in Verbindung mit dem Heiligen Geist stehen (1,35.41.67; 2,25f.14). Alle drei Gebete sind zudem deutlich an alttestamentlichen Psalmen bzw. Liedern orientiert15 und dienen womöglich als 10 11
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14
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Wolter: Lk, 170 (kursiv dort). Das προσευχομένου (3,21) beschreibt die einzige aktive Handlung Jesu und dient als Übergang zwischen dem Getauftwerden und der Sohnesproklamation. Zum Gebet im lukanischen Doppelwerk vgl. die ausführliche Darstellung bei Ostmeyer: Kommunikation, 270–316. Zum Gebet als Teil der ‚christlichen‘ Taufe vgl. 4.6.2. Weiterhin: Die Berufung der Ältesten durch Paulus und Barnabas (Apg 14,23) und das Beten im Zusammenhang mit den vom Heiligen Geist eingesetzten ἐπίσκοποι (20,28–36). Während bei Zacharias und Simeon das Gebet direkt mit dem Heiligen Geist verbunden wird, liegt Marias Geistbegabung durch Gabriel in 1,35 schon länger zurück. Allerdings beendet das sog. Magnifikat das Gespräch Marias mit Elisabeth, bei dem letztere explizit als vom Heiligen Geist erfüllt beschrieben wird. Vgl. Wolter: Lk, 99, 111, 138. „Wie das Magnifikat und das Benedictus ist auch das Nunc Dimittis collageartig aus sprachlichen Versatzstücken zusammengesetzt, die aus dem AT, und zwar vor allem aus Deutero-Jesaja stammen“ (138).
4.3 Taufe und Gebet
247
Vorbilder für Gebete der lukanischen Gemeinde. Allerdings sind sie nicht in ein Makroritual eingebunden. Dies geschieht zum ersten Mal bei der Taufe Jesu (3,21). Die Funktion der Gebete für die Leser wird im Kontext des Verständnisses des Lukas als Ritualmacher (4.6) weiter ausgeführt. Weitere Gebetsbezüge: In 5,1616 dient der mit Jesu Beten verbundene Rückzug Jesu in die Einöde (ἐν ταῖς ἐρήμοις) seiner Abgrenzung von den vielen Menschen, die ihn hören und von ihm geheilt werden wollen.17 Kurz darauf wird den Jüngern Jesu von den Pharisäern und Schriftgelehrten zwar das fehlende Fasten vorgeworfen (5,33: „Deine Jünger essen und trinken!“), höchstens implizit jedoch das fehlende Verrichten ritueller Gebete.18 Dabei gilt für den lukanischen Jesus eindeutig, dass seine Gebete mit herausragenden Ereignissen verbunden sind – wie bei seiner Taufe – und i. d. R. als Auftakt für das nachfolgende Geschehen dargestellt werden. Dies zeigt sich sowohl bei den oben schon genannten Berufungsgeschichten wie der Berufung der zwölf Apostel (6,12). Auch die Perikopen zum Petrusbekenntnis (9,18), zur sog. Verklärung Jesu (9,28f.) und zum Vatergebet (11,1a) beginnen mit dem Beten Jesu, ohne dass – mit Ausnahme der Ritualanleitung beim Vatergebet – der konkrete Gebetsinhalt zur Sprache käme. Hinzu kommt das Beten Jesu kurz vor der Gefangennahme durch römische Soldaten (22,41.44ff.19). Ritualwissenschaftlich betrachtet, bezeugt das häufige Beten Jesu die Einbindung in die rituelle Ordnung seiner Zeit. Dabei wird nur an einer Stelle der eigentliche Inhalt des Gebets Jesu mitgeteilt (22,46),20 meist aber nur das bloße Faktum des Betens, des Öfteren verbunden mit dem Rückzug aus der Menge bzw. von den Jüngern. In Lk 11,1–1321 bietet der Evangelist eine längere Zusammenstellung von Perikopen, die das Thema Gebet thematisieren. Wie schon erwähnt, geht die eigene Gebetspraxis Jesu (11,1) dem Abschnitt voraus. Jesus dient den Jüngern also als Vorbild für ihre eigene Gebetspraxis, obwohl an keiner Stelle im Evangelium das Beten der Jünger vor Ostern explizit erwähnt wird. Nur das Anbeten Jesu nach seiner Himmelfahrt und das direkt darauf folgende Loben Gottes im Tempel
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Lukas verschiebt den Rückzug Jesu um zu beten, den Markus mit der Kapernaum-Episode verbunden hatte (Mk 1,35), auf das Ende der Geschichte von der Heilung eines Aussätzigen (Lk 5,12–16 vgl. Mk 1,40–45). Möglicherweise ist der temporäre Rückzug Jesu dabei als Handlungsempfehlung an die Leser zu verstehen, Beten und Gebet während des missionarischen Dienstes des ZeugeSeins nicht zu vernachlässigen. Jesus geht auf den mit dem Gebet verbundenen Vorwurf gar nicht ein. Seine Antwort (5,34–39) spricht nur vom Fasten. Lk 22,44 ist textkritisch umstritten. Auch das Vatergebet in Lk 11,2–4 wird nicht als das Gebet Jesu (vgl. Lk 11,1) beschrieben, sondern dient explizit als Beispielgebet für die Jünger. Anders als beim Vaterunser der Bergpredigt, die Jesus an Volk und Jünger richtet, ist das lukanische Vatergebet nicht Teil der öffentlichen Verkündigung, sondern wird im Gegenteil nur den Jüngern erläutert. Vgl. dazu Lk 18,1–14.
248
4 Theologischer Ertrag
gehen in diese Richtung.22 Ein explizites Beten der Jünger folgt in Apg 1,14. Und in Apg 1,24 berichtet Lukas bei der Wahl des Matthias sogar den Wortlaut des Gebets der Jünger. Aufforderungen an die Jünger, zu beten, finden sich an einigen Stellen im Evangelium (z. B. 6,28; 18,1; 22,40.46), die Jünger setzen dieses Ritualdesign Jesu aber erst in der Apostelgeschichte um.23 Die Jünger erbitten von Jesus explizit eine Anleitung zum Gebet (11,1c) und zwar in Anlehnung bzw. Abgrenzung von den Jüngern des Täufers, woraufhin Jesus das Vatergebet als Beispielgebet vorträgt.24 Jesus entwickelt also sein beispielhaftes Gebet in Anlehnung und gleichzeitig in Abgrenzung zu der Gruppe um Johannes, die von den Jüngern als Vergleichs- und damit Konkurrenzgruppe betrachtet wird.25 Lukas lässt Jesus an dieser Stelle eine Ritualanleitung geben, indem er nicht nur narrativ eine Handlung Jesu als Vorbild für die Jünger und Leser darstellt, sondern seinen Protagonisten explizit Worte sagen lässt, die sowohl die Jünger als auch die Leser nachsprechen können.26 Damit tritt der lukanische Jesus wie auch an anderen Stellen im Evangelium explizit als Ritualdesigner auf, der den Wunsch der Jünger nach Gebetsanleitung erfüllt. Jesu Design geht aber noch weiter, da er in den beiden nachfolgenden Perikopen (Lk 11,5–13) ausführt, was Gebet genau bedeutet: Gott darf von jedem – auch mit Drängen – um alles gebeten werden, „so viel er bedarf“ (Lk 11,8; vgl. 18,1–8). Dies geht deutlich über die alltäglichen leiblichen Bedürfnisse hinaus, wie das Ende des Gebetsanschnittes deutlich macht. Gott erhört nicht nur den
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Ostmeyer: Kommunikation, 291 zum lukanischen Vatergebet: „Die Bitte der Jünger an Jesus, sie das Beten zu lehren, zielt auf ein Beten, das der neuen durch Jesus eröffneten Beziehung zu Gott entspricht. Ein neues Gottesverhältnis spiegelt sich in einer neuen Form der Kommunikation zwischen Gott und Mensch wider. Jesus nimmt die Jünger hinein in sein Sohnesverhältnis zu Gott.“ Von Bendemann: Doxa, 211f. betont hingegen, dass Jesus sich hier – anders als im Matthäusevangelium – nicht mit einer gemeinsamen Anrede („unser Vater“) mit den Jüngern verbindet. Hinzu kommt das Anbeten Jesu durch die Jünger (αὐτοὶ προσκυνήσαντες αὐτὸν) in Lk 24,52 als der Zeitpunkt, „zu dem Jesus die volle messianische Würde verliehen wird“ (Ostmeyer: Kommunikation, 272). Dies bildet ein Gegenüber zum Aufruf des Teufels in Lk 4,7, ihn statt Gott anzubeten. Lukas verzichtet bezeichnenderweise gegenüber Mk und Mt auf weitere Nutzungen von προσκυνέω in seinem Evangelium (vgl. Wolter: Lk ,796). Bemerkenswerterweise wird das Vatergebet häufig im Zusammenhang mit konkurrierenden Gruppen überliefert: In Mt 6 bilden die Heuchler (6,5) und Heiden (6,7) das Gegenüber; in Didache 8 wird direkt vor der Überlieferung des Gebets (dort schon mit der erst später dem Mt zugefügten Schlussdoxologie) die Unterscheidbarkeit zu den Heuchlern, die an anderen Tagen fasten, angemahnt (vgl. Did 8,1f.). Eine weitere mit dem Gebet verbundene Konkurrenzgruppe sind die Schriftgelehrten, denen Jesus vorwirft, zum Schein lange Gebete zu verrichten (20,47). Richtige Gebetspraxis ist also Teil des Selbstverständnisses Jesu und seiner Anhänger. Interessanterweise wird das Vatergebet weder im Evangelium noch in der Apostelgeschichte noch einmal gesprochen; mehr dazu unter 4.6.2.
4.4 Sabbat und Synagoge
249
Wunsch nach Nahrung,27 sondern lässt von sich sogar den Heiligen Geist erbitten (11,13). Dadurch wird klar, dass es sich beim Beten Jesu und – diesem nachfolgend – dem Beten der Jünger um ein Ritual handelt, welches das immer wiederkehrende und jederzeit mögliche Gespräch mit dem göttlichen Vater in den Mittelpunkt stellt. Es ist daher nicht an einen bestimmten Ort oder eine bestimmte Zeit gebunden, sondern kann immer und überall durchgeführt werden. Jesus weigert sich, den Gebeten einen festen rituellen Rahmen zu geben und diese somit einzuschränken. Dementsprechend ist auch das Vatergebet kurz und offen formuliert, sodass es an die Situation der Betenden angepasst und erweitert werden kann.28 Das Gebet als Ritual wird aber von Jesus insofern neugestaltet, als dass der Heilige Geist das – höchste, aber erreichbare – Ziel der Gebetspraxis darstellt.29 Dadurch erinnert Lukas u. a. an die Gebete von Zacharias und Simeon, die als geistgewirkt beschrieben worden sind. Weiterhin verknüpft der Evangelist, wie gezeigt, Gebete als Ritualelement eng mit Berufungen, die im Doppelwerk nicht ohne Gebete auskommen. In diesem Zusammenhang zeigt sich deutlich die Rolle des Evangelisten als Ritualmacher, der die Ritualdurchführung durch Textrezeption ermöglicht und anleitet, während Jesus als Ritualdesigner fungiert, der das jüdische Spontangebet mit Bitte um den Heiligen Geist verknüpft. Auch bei der Erzählung der Taufe und der Apostelberufung betet Jesus als Ritualdesigner und legt dadurch die Grundlage für die Gebetspraxis seiner Nachfolger von Anfang an (Apg 1,14). Der Ritualmacher Lukas fungiert dabei als Wissensübermittler, der Handlungen und Worte tradiert (vgl. Kapitel 4.6).
4.4
Sabbat und Synagoge
Bevor Lukas seinen Protagonisten in Nazareth auftreten lässt, fügt er ein Summarium (4,14f.) ein, welches die in den folgenden Perikopen erzählte Wirksamkeit Jesu vorbereitet: Jesus lehrt in den Synagogen Nazareths und Kapernaums.1
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Die Perikope findet sich auch in der Bergpredigt (Mt 7,7–11), dort wird allerdings nicht der Heilige Geist als Gebetsziel beschrieben. Zudem stellt Lukas konsequent potentiell tödliche Tiere wie Schlagen und Skorpione den guten Gaben gegenüber, während Mt 7 das Brot mit dem Stein zusammenbringt. Die Kürze des Vatergebets spiegelt sich im Vorwurf Jesu, die Schriftgelehrten προφάσει μακρὰ προσεύχονται (Lk 20,47). Vgl. Apg 8,15, wo das Herabkommen des Geistes mit dem Gebet von Petrus und Johannes verbunden wird. Lk 4,14f. spricht dezidiert von „ihren Synagogen“, die Jesus besucht (ἐν ταῖς συναγωγαῖς αὐτῶν).
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4 Theologischer Ertrag
Schon der Auftakt der Perikope Lk 4,16–30, die häufig als Antrittspredigt in Nazareth betitelt wird, macht deutlich, dass Jesus nicht zufällig an einem unbestimmten Ort zu den Menschen spricht, sondern dezidiert κατὰ τὸ εἰωθὸς αὐτῷ2 am Sabbat den Gottesdienst in der Synagoge besucht. Anders als Johannes, der als Priestersohn den rituellen Raum des Tempels und der dortigen Rituale verlässt, ordnet sich Jesus in die rituelle Ordnung seiner Zeit ein. Dies deutete sich schon durch die bereits dargestellte Ritualobservanz seiner Eltern (Beschneidung, Tempeldarstellung, Wallfahrten) an, führt nun aber weiter: Trotz der mit der Taufe im Jordan verbundenen Kritik am Tempelkult3 steht der lukanische Jesus nicht außerhalb der Rituale des Judentums, sondern sucht diese gezielt auf. Diese Integration ist mehr als passives Beiwohnen Jesu am Synagogengottesdienst: Er nimmt aktiv teil, steht auf, liest und predigt. Durch diese aktive Integration bekommt er die Gelegenheit, auf das Ritual und dessen Inhalt einzuwirken. Die Lesung Jesu aus „dem Buch des Propheten Jesaja“ (4,17) erneuert für die Leser die im Zusammenhang mit seiner Taufe schon dargestellte Salbung Jesu mit dem Heiligen Geist (3,21; vgl. Apg 10,38f.) und verdeutlicht seine Sendung an die Armen, Gefangenen, Blinden und Zerschlagenen. Für diese marginalisierten Menschen gilt das hoffnungsfrohe ‚Heute‘ der Predigt Jesu (vgl. 7,22; 13,13.21). Doch es ist eben dieses Heute und die damit verbundene besondere Stellung Jesu, die aus dem friedlichen Gottesdienst eine gefährliche Situation werden lässt. Der Zorn der Einwohner Nazareths über die Selbstaussage Jesu, das Sprichwort vom Arzt, der sich selber helfen soll4 und die beiden alttestamentlichen Beispiele für Hilfe und Eingreifen Gottes zugunsten von Nicht-Israeliten erzeugen einen Konflikt, der mit der versuchten Tötung Jesu endet. Um zu verstehen, über welches Konfliktpotential das in Lk 4,16–30 beschriebene Ritual verfügt, muss genau auf die aufeinander aufbauenden Ebenen des Sabbatgottesdienstes geachtet werden.5 Auf der obersten Ebene steht das Makroritual des Synagogengottesdienstes. Dieser formellen Zeremonie folgt Jesus. Er ist zur richtigen Zeit (Sabbat) am richtigen Ort (Synagoge6) und handelt, wie es vorgesehen ist: Er liest aus dem Prophetenbuch und legt die Schrift aus. Keinerlei Kritik durch seine Zuhörer wird – vorerst – auf dieser Ebene an Jesus laut, er handelt dem Ritual gemäß. 2 3
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Lk 4,16, vgl. 22,39 und Apg 17,2. Die Taufe des Johannes zielt auf Sündenvergebung ab, die eigentlich Aufgabe des Tempels und der dort stattfindenden Rituale ist. Eine Teilnahme an der Taufe muss so mindestens als Distanz zum Tempelkult verstanden werden. Ein Vorausblick auf die Passion, vgl. Lk 23,35.37.39. Im Hintergrund stehen die Überlegungen Albert Bergesens, vgl. Kapitel 2.3.9 und 3.4 dieser Arbeit. Dies gilt unabhängig davon, ob Lukas an dieser Stelle an ein Synagogengebäude oder eine Versammlung, die auch in einem Privathaus oder draußen stattgefunden haben kann, denkt.
4.4 Sabbat und Synagoge
251
Doch auf der nächsten Ebene, den Mesoriten – also den interpersonalen Interaktionen – vermehrt sich der Konflikt. Eigentlich müssten die Nazarener Jesus als Gesalbten Gottes, in dem sich ‚heute‘ die Prophetie aus Jesaja manifestiert, anerkennen und ehren. Doch diese Rituale der Ehrerbietung bleiben aus. Stattdessen ordnen sie Jesus in ihren dörflichen Kontext ein: Er ist doch Sohn Josefs, wie können da so wundersame Worte aus seinem Mund an ihre Ohren kommen (4,22)? Und wenn er einer von ihnen ist, dann muss sich dieses ‚Heute‘ seiner Predigt doch genau auf sie und ihre Nöte und Sorgen beziehen. Doch dieses Verständnis Jesu ist verkürzt und wird durch den einengenden Blick auf das eigene Wohlergehen falsch. Auf dieses falsche Verständnis reagiert Jesus mit dem Sprichwort vom Arzt, der sich selbst helfen soll und verweist gleich zweifach auf Gottes Handeln außerhalb Israels. Auf diese mesorituelle Provokation antworten die Nazarener entsprechend: Sie treiben Jesus aus der Synagoge und wollen ihn töten (4,28f.). Damit setzen sie sogleich die Aussage Jesu in Kraft: Er wird außerhalb seiner Heimat wirken müssen, da er aus dieser ausgeschlossen wird. Zu klären bleibt, warum diese Reaktion auf der Ebene der Mesoriten geschehen ist. Die Antwort auf diese Frage ist im Bereich der Mikroriten, also der einzelnen sprachlichen Äußerungen, zu finden. Diese konstituieren laut Bergesen erst die soziale Person, die dann auf der Mesoebene handeln kann. Sprache wird in diesem Verständnis als Teil der eigenen Identität gewertet und ist daher direkt mit Emotionen verbunden. Für die Reaktion der Einwohner Nazareths zeigt sich hier der größte Konflikt, denn sie verstehen Jesus auf dieser sprachlichen Ebene nicht. Sie verstehen nicht, wie er, den sie alle seit seiner Kindheit kennen und den sie für einen Sohn Josefs halten (vgl. 3,23), der Gesalbte Gottes sein kann. Sie verstehen nicht, wie sich das ‚Heute‘ der Erfüllung der Prophetie in Jesus und durch sein Handeln manifestiert. Dieses Unverständnis auf der sprachlichen, also mikrorituellen, Ebene führt zu dem ab Vers 28 greifbaren Zorn, der im Tötungsversuch endet. Sie fühlen sich durch die Abweisung Jesu beleidigt und zurückgestoßen, obwohl sie als ihm eigentlich Nahestehende doch zuerst Anteil an seinem Wirken bekommen müssten. Aus dieser Betrachtung der beiden unteren rituellen Ebenen ergibt sich automatisch eine Antwort auf den eigentlichen Konflikt auf der Makroebene. Obwohl Jesus dort so agiert, wie es vorgesehen ist, erreicht die formelle Zeremonie des Synagogengottesdienstes als Makroritual nicht ihr Ziel, nämlich die „Reproduktion der Gemeinschaft als Ganzes.“7 Im Gegenteil: Jesus wird aus der Gemeinschaft ausgeschieden, er wird aus der Synagoge entfernt und soll in ihrer Wut auch aus Israel entfernt werden.8 Hier ist keine eigentliche Kritik an Jesus mehr möglich, sondern nur noch das zornige
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Bergesen: Ordnung, 62. Dies erinnert an alttestamentliche Gebote, die das Töten von Gesetzesbrechern als Entfernung aus Israels beschreiben, vgl. u. a. Ex 22,17–19.
252
4 Theologischer Ertrag
Ausstoßen, da die Sprache als eigentlich verbindendes Element nicht zur Verständigung, sondern zum Konflikt geführt hat. Der Ausschluss ist von Dauer, denn Jesus wird von nun an Nazareth nicht mehr betreten. Neben der soeben ausführlich geschilderten Erzählung lässt Lukas Jesus noch in weiteren Perikopen in Synagogen auftreten. Ein Beispiel dafür ist eine der schon in 4,23 proleptisch angekündigten ‚großen Taten‘ in Kapernaum: Ein Exorzismus,9 den Jesus am Sabbat vollzieht (4,33–37). Genauso wie seine erste Predigt findet diese erste Machttat Jesu im Kontext eines Synagogengottesdienstes statt (4,31.38),10 was deutlich zeigt, wie wichtig Lukas die Einbindung Jesu in den religiösen und rituellen Kontext seiner Zeit ist. Dazu passt auch die abschließende Notiz in 4,44, dass er in den Synagogen des jüdischen Landes11 predigt. Hinzu kommen noch drei Heilungsgeschichten,12 die im Kontext des Sabbattages stehen: Lk 6,6–11; 13,10–17 und 14,2–6. Trotz der Unterschiede im Detail, die im Kapitel 3.6 näher betrachtet werden, ist die grundsätzliche Stoßrichtung der Perikopen sehr ähnlich: Alle drei Szenen spielen am Sabbat, die ersten beiden zudem direkt in der Synagoge, in welcher Jesus gerade lehrt (6,6; 13,10), während die dritte Szene als Gastmahl bei einem Pharisäer, wahrscheinlich direkt in Anschluss an den Synagogengottesdienst, gestaltet ist. Als ‚Gegenspieler‘ Jesu wirken Pharisäer und Schriftgelehrte bzw. ein Vorsteher der Synagoge (13,14). Bei den Erzählungen steht die Vollmacht Jesu – seine Agency – die Heilungen durchzuführen nicht in Frage, sondern der Zeitpunkt der Handlung. Ist 9
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Für Exorzismen, auf die an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden kann, besteht bis heute ein ritueller Rahmen, den die röm.-kath. Kirche erst 1999 erneuert hat, vgl. hierzu und zu den Exorzismen Jesu Strecker: Jesus, 53–63. Von weiteren Auftritten Jesu in Synagogen berichtet Lukas in 6,6–11 und 13,10–17. Die Predigten von Paulus in den Synagogen Kleinasiens (z. B. Apg 13,14; 14,1; 18,4) sind diesen nachempfunden. Vgl. Mk 1,39. Lukas schreibt an dieser Stelle Jesus predige εἰς τὰς συναγωγὰς τῆς Ἰουδαίας. Wahrscheinlich bezieht er diesen Begriff aber auf das ganze jüdische Land, da ein Ortswechsel an dieser Stelle für einen einzelnen Vers unverhältnismäßig wäre. Ausführlich dazu in Fußnote 12 des Kapitels 3.4. Die dieser Arbeit zugrundeliegende These der Einbindung Jesu in den rituellen Kontext seiner Zeit lässt sich an zwei Heilungsgeschichten, die die Heilung von Aussatz durch Jesus beschreiben, erläutern: Lk 5,12–14 und 17,11–19: Auch wenn die beiden Geschichten unterschiedliche Stoßrichtungen haben, ist ihnen ein wichtiges rituelles Element gleich: In beiden Perikopen werden die Aussätzigen nicht nur von Jesus geheilt, sondern zusätzlich und als Bestätigung ihrer Heilung zu den Priestern geschickt und auf das notwendige Opfer (Lev 14,2–32) hingewiesen. Dabei unterscheiden sich die Anweisungen Jesu im Detail. In Lk 5,14 wird der Aussätzige zu dem Priester (Singular) geschickt, nicht zu den Priestern wie in 17,14. Auch die Aufforderung, das dem Mosegesetz entsprechende Opfer zu geben, findet sich nur in Lk 5,14. An diesen beiden Erzählungen wird deutlich: Jesu Wirken an Kranken und seine Agency ist keine losgelöste Macht, sondern immer nur im Kontext des Gottes Israels zu verstehen, welcher durch seinen Geist Jesus den Auftrag und die Möglichkeit gibt, an Armen, Gefangenen, Blinden und Zerschlagenen zu wirken (vgl. 4,18f.). Die Gebote des Alten Testaments stehen dabei immer im Hintergrund und werden nicht abgelöst.
4.4 Sabbat und Synagoge
253
es erlaubt, am Sabbat zu heilen oder nicht? Diese Frage steht im Mittelpunkt. Der lukanische Jesus beantwortet sie eindeutig: Ja, es ist erlaubt und sogar geboten dies zu tun.13 Jesu Agency erlaubt ihm eine eigene Interpretation der Sabbatgebote (vgl. 6,5). Seine Hinwendung zu den Armen und Schwachen der Gesellschaft entspricht dabei seinem Auftrag, wie er ihn schon bei seiner Antrittspredigt in Nazareth verkündet hatte. Neben diesen Heilungsgeschichten findet sich in Lk 6,1–5 die Geschichte des Ährenraufens am Sabbat, welches einige der Pharisäer14 kritisieren. Jesus rechtfertigt sein Verhalten, bzw. das Verhalten seiner Jünger, mit dem Hinweis auf das Handeln Davids und seiner Gefolgschaft (vgl. 1Sam 21,2–7). Darauf folgt der Spitzensatz Jesu: κύριός ἐστιν τοῦ σαββάτου ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου. Damit wird nicht die allgemeine Gültigkeit der Sabbatgebote und Sabbatrituale ausgesetzt, sondern sie werden – wie andere Rituale auch – in einen neuen Kontext gestellt. Sie müssen nun aus dem Blickwinkel Jesu im Rahmen der lukanischen Erzählung verstanden werden, da er die Grenzen des Rituals neu interpretiert. Insgesamt lässt sich zum Umgang Jesu mit den Ritualen, die im Kontext des Sabbats stehen, Folgendes festhalten: Lukas ist die Einbindung Jesu in den religiösen und rituellen Kontext sehr wichtig. Er bringt mehrere Geschichten, die sich um die Frage nach Sabbatheilungen drehen und stellt pointiert den Gottesdienst in Nazareth an den Anfang der öffentlichen Wirksamkeit Jesu. Dabei wird klar: So sehr Jesus auch den Sabbat als besonderen Tag und als Gottesdiensttag15 wahrnimmt, so sehr ist er auch unabhängig vom ihm. Seine charismatische Agency ist weder auf diesen Tag beschränkt, noch von der Sabbatruhe ausgeschlossen. Er nutzt sogar ausdrücklich das Ritual des Gottesdienstes und des Arbeitsverbotes und die damit zusammenhängenden Konflikte für seine Lehre. Besonders die Heilungen im Kontext des Sabbatgottesdienstes zeigen, dass Jesus an den jüdischen Ritualen partizipiert. Er verwirft nicht das Ritual, sondern gebraucht es als Ort für seine Botschaft. Der rituelle Hintergrund verstärkt seine Wirksamkeit sogar, da seine Provokationen dort besser und eindrücklicher wirken. Jesus nutzt seine charismatische Freiheit, ohne sich vom Makroritual Sabbat(gottesdienst) zu lösen. Er gestaltet das Ritual in seinem Sinn.16
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Jesus begründet dies in 13,15 und 14,5 mit Beispielen aus der landwirtschaftlichen Alltagswelt seiner Zuhörer. Die Logik, dass wenn man einem Tier am Sabbat helfen darf, auch einem Menschen helfen darf, findet sich auch in rabbinischer Literatur. Die Essener aber verweigern am Sabbat den Tieren die Hilfe, vgl. Wolter: Lk, 483f. und Klein: Lk, 500. Mk 2,24 spricht von den Pharisäern, Lk 6,2 nur von τινὲς δὲ τῶν Φαρισαίων. Möglicherweise steht das positivere Pharisäerbild des Lukas dahinter. Lukas betont in 4,16, dass Jesus den Gottesdienst am Sabbat κατὰ τὸ εἰωθὸς wahrnimmt. Welche Erkenntnisse sich hieraus für die Rolle des Evangelisten als Ritualmacher ergeben könnten, wird in 4.6.3 behandelt.
254
4.5
4 Theologischer Ertrag
Jesu Wirkung im Kontext des Mahls
Das Mahl ist ein herausragender Ort für die rituelle Wirksamkeit Jesu im Lukasevangelium.1 Kein anderer Evangelist stellt Jesu Auftreten bei den in der Antike mit Ritualen durchzogenen Mählern so sehr in den Vordergrund wie Lukas, der sowohl von Mahlgeschichten mit Menschen, die Jesus nachfolgen (z. B. Levi [Lk 5,29–32] oder Zachäus [19,1–10]), als auch mit Pharisäern, die mehrheitlich als Gegner Jesu agieren (7,36–50; 11,37–54; 14,1–24), berichtet.2 Hinzu kommen das große öffentliche Mahl mit mindestens 5000 Menschen3 (9,10–17), das letzte Mahl Jesu mit den Aposteln (22,7–38) und das angedeutete Mahl in Emmaus (24,30f.).4 Einige der Mahlperikopen konnten im Rahmen dieser Untersuchung analysiert werden. Im Licht dieser Ausarbeitungen soll die Basis für Aussagen über das Lukasevangelium als Ganzes gefunden werden. Das erste ausführlich analysierte Mahl findet sich in Lk 7,36–50. Bei diesem wird Jesus von dem Pharisäer Simon zu sich nach Hause eingeladen. Eine Frau, die sowohl durch den Erzähler als auch durch den Pharisäer und ebenso durch Jesus als Sünderin qualifiziert wird, kommt hinzu und vollzieht in drei Schritten rituelle Handlungen an Jesus. Während Simon die Handlungen der Frau als erotische Tätigkeiten missversteht, akzeptiert Jesus diese als deutlich überbetonte Gastgeberrituale. Der Pharisäer äußert innerlich sein Unverständnis darüber, dass Jesus die erotisch konnotierten Handlungen der Frau an sich geschehen lässt und wird daraufhin von Jesus durch ein kurzes Gleichnis belehrt. Anschließend werden die rituellen Handlungen der Frau – von Jesus als Gastgeberrituale verstanden – den Nicht-Handlungen des eigentlichen Gastgebers Simon gegenübergestellt, mit dem Ergebnis, dass der Frau durch Jesus ihre vielen Sünden vergeben werden. Dies sorgt für erstauntes Fragen der bisher nicht erwähnten Dabeiliegenden, die sich über die Herkunft und Bedeutung Jesu nicht im Klaren sind. Die Gastmahlperikope Lk 7,36–50 ist aus ritualwissenschaftlicher Perspektive aus mehreren Gründen interessant. Grundlegend für das Verständnis der 1
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Vgl. die Zusammenstellung bei Marguerat: Meals, 521–523 unter der Überschrift „Eating with Jesus in the Gospel of Luke“. Auffälligerweise fehlt in der lukanischen Darstellung das Festmahl des Herodes, das den Hintergrund für die Hinrichtung des Täufers bietet (Mk 6,21–29) und von Markus wohl als negativer „Gegenentwurf“ (Strecker: Macht, 144) zum jesuanischen Mahl für 5000 (Mk 6,30–44) ausgestaltet wurde. Lukas berichtet in 9,14 von 5000 Männern und verschweigt die wahrscheinliche Anwesenheit von Frauen und Kindern genauso wie Mk 6,44 und Joh 6,10. Mt 14,21 fügt diese ohne Zahlenangabe hinzu. Dass Jesus in Lk 24,41–43 Fisch isst, ist m. E. nicht als Mahl mit den Jüngern zu verstehen, sondern als Zeichen der Leiblichkeit des Auferstandenen. Darum nimmt Jesus den Fisch und isst ihn vor ihnen (καὶ λαβὼν ἐνώπιον αὐτῶν ἔφαγεν), nicht mit ihnen.
4.5 Jesu Wirkung im Kontext des Mahls
255
Perikope ist die Differenzierung des Mahlrituals in verschiedene Ebenen. Auf der Mikrobene, der Sprache, variiert die Bezeichnung Jesu durch den Pharisäer: Zuerst hält er Jesus für einen Propheten (7,39), dann für einen Lehrer (7,40). Die Erzählung macht aber deutlich, dass beide Einschätzungen fehlgehen. Jesus hat zwar prophetische Gaben, verfügt also über prophetische Agency: Er kennt den Namen des Pharisäers und seine Gedanken; ebenso die Sündhaftigkeit der Frau. Zudem wirkt er durch das Gleichnis als Lehrer, hat also lehrende Agency. Jesus ist aber mehr als ein Lehrer und mehr als ein Prophet, da durch ihn Sündenvergebung für die Frau ermöglicht wird. Dieses Missverständnis Simons führt auf der nächsthöheren Ebene der Mesoriten, also den Ritualen der Ehrerbietung, zum falschen Umgang mit Jesus. Als Gastgeber hätte er Jesus, den Gesalbten Gottes (4,18), eigentlich besonders ehren müssen. Er bleibt aber hinter der Frau zurück. Einzig die Einladung Jesu in sein Haus könnte als – kleiner – Liebesdienst verstanden werden. Dies entspricht, so das Gleichnis und Jesu Schlussfolgerung, seinen wenigen Sünden, die den vielen Sünden der Frau gegenübergestellt werden. Sie hat viel gesündigt und liebt nun umso mehr, was sich an den liebevollen Ritualen, die sie an Jesus vollzieht, zeigt. Die Frau hat verstanden, wer und was Jesus ist und zeigt dies durch ihre Handlungen. Sie bleibt sprachlos, aber ihre Gastgeber- und Liebesrituale sprechen für sich. Auf der Makroebene steht das eigentliche Mahl. Auch wenn der Verzehr von Lebensmitteln in Lk 7,36–50 genauso wie in den meisten anderen Mahlperikopen des Lukasevangeliums keine Rolle spielt,5 steht der eigentliche Sinn dieses Makrorituals, die Gemeinschaft der Teilnehmenden zu (re-)produzieren, im Vordergrund. Dies gelingt durch die Schaffung und Darstellung moralischer Gegensätze, die besonders bei der Charakterisierung von Simon und der Sünderin offensichtlich wird. Beide unterscheiden sich enorm durch ihren gesellschaftlichen und religiösen Status: Die Frau,6 als Sünderin, möglicherweise als eine Prostituierte, steht aus der Sicht Simons bzw. der Pharisäer deutlich niedriger als er selbst oder als Jesus. Doch das Ende der Geschichte macht deutlich, dass die Frau, die mit Vergebungszuspruch und Friedensgruß von Jesus entlassen wird, einen höheren Status bei Jesus innehat als der weniger sündigende Pharisäer Simon (7,47; vgl. 15,7.10). Ihre große Liebe macht sie zu einem Vorbild und erlaubt große Nähe zu Jesus. Simons kleine Liebe zeigt sich in dem immer größer
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Dass Jesus etwas isst, wird narrativ nur in Lk 24,41ff. ausgeführt. Allerdings ist der Vorwurf an Jesus, er sei ein Fresser und Weinsäufer (7,34, vgl. 15,2) dahingehend ernst zu nehmen, dass Jesus im Gegensatz zu Johannes nicht als Asket zu verstehen ist (vgl. 7,33). Auf die besondere Situation der Frauen kann ich an dieser Stelle nicht ausführlich eingehen. Deutlich wird aber durch die explizite und nur bei Lukas vorzufindende Aufzählung von Frauen, die Jesus dienen, die direkt in Anschluss an das Mahl bei Simon steht (Lk 8,1– 3), dass der Evangelist von einer besonderen Nähe von Frauen zu Jesus weiß. Sie werden Zeuginnen des leeren Grabes und der Auferstehungsbotschaft der Engel (24,1–10) und sind gemeinsam mit den Aposteln im Haus in Jerusalem (Apg 1,14).
256
4 Theologischer Ertrag
werdenden Abstand zwischen ihm und Jesus. Während sie in Frieden (7,50) gehen kann, bleibt er sprachlos zurück.7 Insgesamt kommt es zu einer deutlichen Umwertung des Status der Frau: Eigentlich stört sie das Mahlritual. Simon kritisiert als Gastgeber ihre Handlungen wie ihre Anwesenheit. Doch durch ihre Liebesrituale, die dem Status Jesu als Sohn Gottes entsprechen, wird sie von einer Störerin des Gastmahls zur eigentlichen bzw. besseren Gastgeberin. Jesus nutzt diese Situation, um die vergebende Gemeinschaft Gottes nicht nur durch ein Gleichnis – quasi theoretisch – aufzuzeigen, sondern setzt diese direkt in die Tat um. Die Gemeinschaft Gottes, die auch die großen Sünder(innen), die dennoch zu Liebe fähig sind, und andere marginalisierte Personen miteinschließt, ist keine theoretische oder rein eschatologische Größe, sondern wird von Jesus im Hier und Jetzt (4,21: heute8) in die Tat umgesetzt. Das Makroritual Mahl bietet den idealen Hintergrund für diese provokative Handlung Jesu, da die von ihm (re-)produzierte Gemeinschaft durch das Ritual auch im Alltag wirksam wird. Mit anderen Worten: Die Sünderin versteht Jesus, seinen Auftrag und seine Hinwendung zu den gesellschaftlich Ausgestoßenen richtig und handelt dementsprechend. Dadurch werden ihre Handlungen zu performativ wirksamen Ritualhandlungen, die Jesus als Grund für die ihr zugesprochene Sündenvergebung anerkennt. Durch diese Handlungen wird sie – obwohl sie als Frau, als Sünderin, vielleicht sogar als Prostituierte nicht am Mahlritual teilnehmen dürfte – zur eigentlichen Gastgeberin. Diese hier ausführlich dargestellte Umbildung der gesellschaftlichen und damit rituellen Hierarchie lässt sich auch bei anderen Erzählungen mit Mahlkontext – und nicht nur dort – aufzeigen. Ein Beispiel dafür findet sich beim Mahl Jesu im Haus des Zöllners Levi (Lk 5,29–32). Jesus nimmt an diesem Mahl teil und wird dafür von Pharisäern und Schriftgelehrten kritisiert. Sein Umgang mit ‚Zöllnern und Sündern‘ ist also ein grundlegender Kritikpunkt an Jesu Wirken (vgl. 7,34; 15,1f.: Jesus als Freund der Zöllner und Sünder). Lk 7,36–50 lässt sich daher als symptomatisches Beispiel lesen: Jesus verweigert auch großen Sünder(inne)n nicht die Nähe oder den Kontakt, er lässt sogar besondere Liebeshandlungen zu und stellt sie den fehlenden Handlungen Simons und der anderen Pharisäer entgegen. Dreimal lässt sich der lukanische Jesus bei Pharisäern einladen (7,36–50; 11,37–54; 14,1–24), wobei die Perikope Lk 14,1–24 besonders deutlich werden lässt, dass Jesus nicht nur als Gast an den Mählern teilnimmt, sondern den Kontext des Gastmahls dezidiert für seine Predigt und Wirksamkeit nutzt. Nach der Heilung eines Wassersüchtigen (siehe dazu 4.4) reagiert Jesus in drei Gleichnis7
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Über die möglichen Auswirkungen der Erzählung auf die Mahldurchführung der Leser werde ich im Kapitel zu Lukas als Ritualmacher (4.6.4) eingehen. Auch einer der Mitgekreuzigten Jesu wird trotz seiner Sünden durch seinen Glauben an Jesus – heute – ins Paradies kommen (23,43).
4.5 Jesu Wirkung im Kontext des Mahls
257
sen auf die Handlungen der Mahlteilnehmer. Dabei behandeln diese Gleichnisse nicht nur ethische Fragestellungen zum Verhalten beim Mahl als Gast bzw. Gastgeber, sondern verbinden dezidiert Christologie mit dem Mahlkontext. In der ersten Gleichnisszene (14,7–11), die an den Versuch der Mahlteilnehmer, möglichst nah an Jesus als Ehrengast zu sitzen, anknüpft, wird dies durch die Gleichsetzung der einzelnen Gleichniselemente erreicht: Im Gleichnis geht es um den besten Platz (πρωτοκλισία) bei einer Hochzeit und das menschliche Streben, diesen zu erreichen. Doch wenn man sich aus Sicht des Gastgebers bei diesem Streben zu hoch einschätzt, wird man öffentlich zurückgewiesen und auf einen deutlich schlechteren Platz versetzt, während eine zu niedrige Platzierung eine Neueinordnung des Gastgebers – der seinen Gast nun als Freund anredet – ermöglicht. Der Schlusssatz 14,11 setzt dieses Verhalten des Gastgebers mit Gottes Verhalten gleich (Passivum divinum). Gott handelt genauso wie der Gastgeber, in dem er die richtige Ordnung, die eben nicht der gesellschaftlichen Ordnung entsprechen muss, in Geltung setzt. Gleichzeitig wird klar, dass für die Gäste des Pharisäermahls die besten Plätze (14,7: πρωτοκλισίαι) wie in der Antike üblich neben dem Gastgeber sowie neben dem Ehrengast – Jesus – liegen.9 Folgt man dieser Gleichsetzung, so wird Jesus zum Gastgeber (Bräutigam10) der Hochzeit, dessen Verhalten dem Verhalten Gottes entspricht. Jesu besondere Agency erlaubt es ihm, sich selbst durch die Gleichnisse zum Gastgeber zu machen, dessen Handlungen ganz nah an Gott herangerückt werden. Dies gilt in weiterführender Form auch für die zweite Szene des Doppelgleichnisses. Bei dieser stellt Jesus den einladenden Pharisäer in den Mittelpunkt und spricht ihn direkt an (14,12). Als Gastgeber soll er, um wirkliche Reziprozität zu erreichen, nicht die ihm sozial und gesellschaftlich Gleichgestellten einladen, sondern Arme, Krüppel, Lahme und Blinde (14,13). Während normalerweise die rituelle Ordnung der gesellschaftlichen Ordnung entspricht, bricht Jesus diese mit seiner Forderung deutlich auf. Dabei ist die Aufzählung dieser Gruppen nicht nur wegen ihrer wiederholten Nennung im dritten Gleichnis (14,21) wichtig, sondern auch als Rückgriff auf Jesu Antritts- und Grundsatzpredigt (4,16–30) und als Antwort auf die sog. Täuferfrage (7,22f.) zu lesen. Jesu Agency als Christus, die mit dem Heiligen Geist verbunden ist, zeigt sich insbesondere darin, dass er den marginalisierten Gruppen seiner Zeit und Gesellschaft nicht nur hilft, sondern sie sogar dezidiert in den Mittelpunkt seines Wirkens stellt und das Mahl als ritueller Kontext dafür die erzählerische Grundlage liefert.11 9
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Altmann/Al-Suadi: Essen, 102: „Die Hierarchie steigerte sich von links nach rechts, so dass der Gastgeber, der Symposiarch und der Gast des höchsten Ranges das meiste soziale Ansehen genossen.“ Vgl. auch Al-Suadi: Christusgläubige, 159ff. und Heilmann/Wick: Art. Mahl/Mahlzeit. Jesus als Bräutigam erscheint auch in Lk 5,34f. Dies lässt sich auch auf die oben schon ausgeführten Bezüge zu Levi, der großen Sünderin und besonders Zachäus anwenden, denn letzterer bietet als Erzählfigur „eine Art Quersumme der Gruppen des dritten Evangeliums, deren Nähe als αμαρτωλοί der lukanische
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4 Theologischer Ertrag
Das gilt auch für die dritte Gleichnisszene (14,16–24). Wieder reagiert Jesus auf die Handlung eines Gastes (14,15) und wieder stehen die gesellschaftlich und religiös marginalisierten Gruppen (Arme, Krüppel, Lahme und Blinde, 14,13.21) im Mittelpunkt des Geschehens. Sie bilden das Gegenüber zu den zuerst Eingeladenen, die nicht kommen wollen. Die Armen aber kommen (14,22) und sogar die ganz außerhalb der dörflichen Gemeinschaft Stehenden sollen genötigt werden, am Mahl teilzunehmen (14,23). Der nachfolgende Abschlusssatz reicht aus dem Gleichnis heraus. In diesem identifiziert sich Jesus, der von seinem Mahl spricht (14,24: μου τοῦ δείπνου), mit dem Gastgeber der dritten Szene. Gleichzeitig setzt die Schlussaussage die große Nähe von Jesus zu Gott voraus, indem sie auf die schon besprochenen Schlusssätze der vorangegangenen Gleichnisse (14,11.14) Bezug nimmt. Gott, Jesus und die Gastgeberfiguren in den Gleichnissen werden ganz nah aneinandergerückt und in ihren Handlungen identifiziert. Im Mahlritual steckt Christologie. Zusammenfassung: Im Lichte der bisher rekapitulierten ‚Tiefenbohrungen‘ von Mahlperikopen im Lukasevangelium lässt sich festhalten, dass das Ritual des Mahls eine wichtige Rolle für die Lehre und Wirksamkeit Jesu spielt. Dabei verbinden sich ethische Aussagen über den Umgang mit marginalisierten Gruppen wie Armen oder Sündern bzw. Sünderinnen mit lukanischer Christologie. Gleichzeitig rücken immer wieder Konflikte in den Fokus. Diese entzünden sich meist durch ein Missverstehen des Auftrags Jesu, der ja gerade den Kontakt, die Heilung und die Integration von ‚Außenseitern‘ beinhaltet.12 Während sich i. d. R. die gesellschaftliche Ordnung, in diesem Fall die Auswahl der Teilnehmer bei einem Gastmahl, in der rituellen Ordnung spiegelt, löst der lukanische Jesus diese Verbindung auf und ersetzt sie – so das erste Gleichnis – mit einer neuen Ordnung, bei der Gott als Gastgeber des eschatologischen Mahls für die richtige Position sorgen wird. Dies verbindet sich im zweiten Gleichnis mit dem Wechsel in die Perspektive des Einladenden: Wahre Reziprozität – hier: Vergeltung bei der Auferstehung der Gerechten – erlangt man nicht durch bloße Akzeptanz – und damit Wiederholung – der innerweltlichen Ordnung, sondern durch Hinwendung zu den gesellschaftlich Ausgestoßenen. Letzteres wird im dritten Gleichnis deutlich: Gottes eschatologisches Handeln – symbolisiert durch das δεῖπνον μέγα – nimmt diejenigen in den Blick, zu denen Jesus sich gerufen sieht (vgl. u. a. 4,18; 7,22). Gleichzeitig warnt das Gleichnis seine Zuhörer, die Einla-
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Jesus ständig gegen Widerstände verteidigen muß. Zachäus repräsentiert in seiner Person (alle) Zöllner und Sünder“ (von Bendemann: Doxa, 161). Jesu Bezug zu besagten ‚Außenseitern‘ ist den Lesern schon aus Lk 1,52f. bekannt und wird durch ihn selbst bei der Antrittspredigt in Nazareth in den Mittelpunkt gestellt. Dass Jesus nicht an den eigenen, aber an fremden Menschen handeln wird (was ja den Zorn der Nazarener hervorruft), passt dabei zu den Mahlperikopen: Die Angesprochenen sollen ja gerade nicht die eigenen Freunde oder Verwandten (14,12), sondern die ihnen fremden Außenstehenden zum Gastmahl einladen.
4.5 Jesu Wirkung im Kontext des Mahls
259
dung Gottes nicht auszuschlagen, sondern anzunehmen und am Ende gemeinsam mit den Armen und Ausgestoßenen Brot im Reich Gottes zu essen (14,15). Jesus produziert und reproduziert durch die Mähler die Gemeinschaft, die im Reich Gottes gilt, er postuliert das eschatologische Mahl und nimmt es vorweg. Diese Vorwegnahme bleibt nicht auf der theoretischen oder eschatologischen Ebene stehen, sondern wird von Jesus direkt umgesetzt. Deswegen passt auch die Heilung des Wassersüchtigen in diesen Kontext: Wer zu Jesus kommt – selbst, wenn er von den Pharisäern vorgeschickt wird – wird von ihm angenommen und in die Gemeinschaft Gottes integriert. In einem anderen Zusammenhang stehen die beiden untersuchten Mahlperikopen, die sich um die Beziehung Jesu mit seinen Jüngern drehen: Das letzte Mahl (Lk 22,7–20.21–38) und die Emmausgeschichte (24,13–35). Beiden Erzählungen ist gemein, dass sie nicht, wie bei den bisher in den Blick genommenen Mählern, auf Außenstehende und Jesu Wirkung auf diese fokussieren, sondern ausdrücklich ‚intern‘ zwischen Jesus und den Aposteln (Lk 22), bzw. Jesus und seinen Jüngern (Lk 24) ablaufen. Dadurch wird viel deutlicher als bisher die Ebene Jesus-Jünger thematisiert und auf die Ereignisse der Apostelgeschichte als zweitem Teil des Doppelwerks vorbereitet.13 Trotz der differenten Stoßrichtung gleichen sich auch die beiden letzten Mahlereignisse des Evangeliums mit den vorangegangenen insofern, als dass sie das Mahlritual nicht als mehr oder weniger zufälligen Erzählkontext verstehen, sondern dezidiert das rituelle Mahl als Ort der besonderen Verkündigung Jesu darstellen. Dabei besteht das Makroritual Passa aus verschiedenen untergeordneten Meso- und Mikroriten. Jesus steht bei der lukanischen Darstellung des letzten Mahls deutlich im Mittelpunkt. Auf der Erzählebene ist er – wie viele andere, die gleichzeitig in ganz Jerusalem das Fest vorbereiten und durchführen – der Leiter des Passarituals. Er lässt die Jünger den Raum und die Speisen vorbereiten, legt sich mit ihnen zu Tisch und leitet das Mahl an. Jesus integriert sich und die Apostel in das Makroritual Passafest, er gestaltet es aber auf seine Weise um. Diese Umgestaltung ist Grundlage für das zukünftige Handeln der Apostel, denn der Auftrag, εἰς τὴν ἀνάμνησιν Jesu das Brot zu brechen, endet nicht durch seinen Tod, sondern wird durch den Auferstandenen selbst auch für die Zeit danach in Kraft gesetzt (vgl. 24,30.35). Dabei ist das christliche Brotbrechen keineswegs nur auf das letzte Mahl Jesu bezogen, sondern verbindet dieses mit den anderen Mählern, die von Jesus im Evangelium berichtet werden. In der späteren christlichen Mahlpraxis, wie Lukas sie in der Apostelgeschichte beschreibt, laufen beide Li-
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Sie können daher mit anderen Texten, die das Verhältnis Jesus-Jünger beschreiben, verglichen werden. Neben den Texten, die den auferstandenen Jesus zeigen, kann dies u. a. auf die sog. Verklärung Jesu (Lk 9,28–36) und Jesu Lehre vom Beten (11,1–13) angewandt werden.
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4 Theologischer Ertrag
nien, die des eucharistischen Mahls und die der Mähler Jesu, bei denen Hungernde satt werden (Lk 9,11–17) und gesellschaftliche Ausgeschlossene Gemeinschaft und Vergebung erfahren (u. a. 5,29–32; 7,36–50), zusammen.14 Zurück zur ritualwissenschaftlichen Deutung von Lk 22,7–20: Jesus gibt sich selbst und damit seine Agency an die Apostel weiter, indem er ihnen in Brot und Kelch den neuen Bund in seinem Blut gibt.15 Bis zur Parusie Jesu sollen sie nun das Mahl in seinem Namen feiern und den damit verbundenen Bund immer wieder erneuern und erweitern. Die Apostel werden dadurch zu Multiplikatoren dieses jesuanischen Rituals.16 Die Erzählung stellt die Beziehung Jesu mit den Aposteln in den Vordergrund. Seine Anweisung gilt auf der Ebene der Erzählung erst einmal nur für sie. Doch die Emmauserzählung lässt den Auferstandenen diese Eingrenzung wieder abreißen: Beide Jünger gehören nicht zum Kreis der Teilnehmer am letzten Mahl und dürfen dennoch mit Jesus Mahl halten und ihn sogar an diesem Erkennen.17 Wie schon bei der Taufe festgestellt, ist das Beten Jesu ein wichtiges Ritualelement für Lukas. Dies stimmt auch für das letzte Mahl, da das Dankgebet integraler Bestandteil des Mahlrituals ist (22,17.19; vgl. 24,30). Das Dankgebet im Kontext des Mahls gehört schon zum jüdischen Ritual und wird von Jesus übernommen und in das eigene rituelle Wirken integriert. Er ist, wie schon beschrieben, eingebunden in die rituelle Welt seiner Zeit und gleichzeitig frei im Umgang mit dieser. Beten gehört daher konstitutiv zum christlichen Ritualwesen in Nachfolge der Gebetshandlungen Jesu. Wie wichtig dies ist, zeigt die Performanz dieses Rituals in Anlehnung an das Passafest, das den erzählerischen wie theologischen Kontext für das Mahl Jesu (22,1.7) bietet.18 Genauso wie bei der Passafeier steht eine körperlich erfahrbare19 14
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Damit lässt sich auch der fehlende eindeutige Bezug zum Tod Jesu in Apg 2,42.46 erklären (vgl. Haacker: Apg, 70; Heilmann/Wick: Art Mahl/Mahlzeit): Die gemeinsamen Mähler, die Lukas als Brotbrechen bezeichnet, stehen mindestens genauso in Konstanz zur allgemeinen Mahlpraxis Jesu wie zum letzten Mahl. Die Erinnerung an die Mahlpraxis Jesu führt zur Freude, mit der das Brotbrechen umgesetzt wird (μετελάμβανον τροφῆς ἐν ἀγαλλιάσει, Apg 2,46). Zum Verständnis der Mähler in der Apg als eucharistische Mähler vgl. Marguerat: Meals, 519–521. Er schreibt: „The formula ‘breaking the bread’ is a metonymic designation of the eucharistic ritual carried out by the first Christians in obedience to the order to reiterate formulated in Luke 22:19.“ Vgl. ausführlich zum Geben und Nehmen beim letzten Mahl in Kapitel 3.7. Vgl. Apg 2,42: Die Lehre der Apostel, nicht die Lehre Jesu, wird in Zusammenhang mit Gemeinschaft, Gebet und Brotteilen genannt. Die neueste Mahlforschung fokussiert sich stärker auf die Handlungen Jesu beim letzten Mahl als auf die sog. Einsetzungsworte, vgl. Kaše: Meal Practices, 411f. An dieser Stelle sei noch einmal betont, dass die historische Frage, ob das letzte Mahl Jesu ein Passamahl gewesen ist (ablehnend schon Lietzmann: Messe, 211ff.) hier nicht beantwortet werden soll. Lukas beschreibt das letzte Mahl Jesu als Passamahl und stellt diese Verbindung in den theologischen Mittelpunkt seiner Erzählung. Körperlichkeit ist eine grundlegende Eigenschaft für die Performanz von Ritualen, vgl. Kapitel 2.4.2.
4.5 Jesu Wirkung im Kontext des Mahls
261
Erinnerung an das Heilshandeln Gottes im Vordergrund, eine ‚Melodie der Befreiung‘ durchzieht beide Rituale. Die rituelle Umsetzung dieser Erinnerung ist dabei keine Imitation, keine möglichst genaue Kopie des eigentlichen Geschehens oder des ursprünglichen Rituals,20 sondern eine gelebte, die aktuellen Teilnehmenden mit einbeziehende Aktualisierung. Ein so verstandenes Ritual ist in dem Sinne performativ, als dass es nicht nur die Auswirkungen auf die damaligen Teilnehmer passiv erinnert, sondern die erlebte und geglaubte Heilsgeschichte auf die partizipierenden Männer und Frauen erweiternd anwendet.21 Auf der Ebene der Erzählung sind die Apostel angesprochen. Sie stehen „hier also an derselben Stelle wie in Ex 24,3–8 die Sinaigeneration Israels, mit der Gott einen Bund geschlossen hat, der für alle späteren Generationen des Gottesvolkes gültig ist.“22 Und genauso wie der Sinaibund nicht mit dem Tod der damaligen Teilnehmer endete bzw. auf diese begrenzt gewesen ist, so gelten auch die Verheißung Jesu und sein neuer Bund nicht nur für die anwesenden zwölf Apostel, sondern für alle seine Nachfolger. Dies führt direkt zu der Frage, ob und inwiefern das christliche Brotbrechen in diesem Sinne als ‚neues‘ Ritual zu verstehen ist. Nach meinem Dafürhalten wirkt der lukanische Jesus an dieser Stelle als Ritualdesigner, der schon vorhandene rituelle Elemente aufnimmt und durch einen neuen Kontext und eine neue Deutung formt.23 Der Protagonist des dritten Evangeliums nimmt – wie gerade beschrieben – bestimmte Elemente des Passafests, aber auch des hellenistischen Mahls auf und verbindet diese mit ihm selbst und seinem Geschick, seinem Wirken, Leiden und Sterben ὑπὲρ ὑμῶν (22,19.20). Dabei ist die Aufnahme weiterer Ritualteilnehmer nicht nur dezidiert möglich, sondern Ziel der rituellen Wiederholung des Brotbrechens in Jesu Namen. In diesem Sinne spreche ich bei diesem rituellen Mahlgeschehen, von einem Übergangsritual24 in zweifachem Sinne.25 Zum einen ermöglicht dieses Ritual einen Übergang seiner Teilnehmer in den 20
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Die alttestamentliche Überlieferung beinhaltet explizit die Einrichtung eines sich wiederholenden Fests, vgl. Ex 12,14(LUT): Ihr sollt diesen Tag als Gedenktag haben und sollt ihn feiern als ein Fest für den HERRN, ihr und alle eure Nachkommen, als ewige Ordnung. Haarmann: Gedenken, 126: „Das geschieht jedoch nicht so, als ob die damaligen Ereignisse als längst vergangene Historie tradiert würden, sondern Jüdinnen und Juden erfahren in der Passafeier, dass sie in dieses Geschehen mit hineingenommen werden, dass Gottes befreiendes Handeln ihr gegenwärtiges Leben bestimmt.“ Wolter: Lk, 708. Vgl. die Definition von Radde-Antweiler: Rituals, 66 zum Ritualdesign: „Separate elements of rituals are removed from their original context and in a new process – which I define as ‚Ritual Design’ – combined in different variations and moved into an new context.“ Der Begriff meint nicht die rite de passage von van Gennep (vgl. Kapitel 2.3.4). In Weiterführung der Aussage Wolters: Lk, 700: „Das Brotbrechen vertritt aber das Passamahl in der Zeit der Abwesenheit Jesu, und es ist damit eingespannt zwischen zwei Passafeiern: zwischen dem hier beschriebenen letzten Passa des irdischen Kyrios und dem eschatischen Passa des wiedergekommenen Kyrios, bei dem es erneut zu einem Befreiungshandeln Gottes kommen wird, das dem Rettungsgeschehen des Exodus entspricht.“
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4 Theologischer Ertrag
neuen Bund Jesu, der als Vorausgriff auf den eschatologischen Bund Gottes mit Juden wie Heiden zu verstehen ist. Wichtig ist hierbei in Parallele zu Passa die kollektive Wiederholung des Mahlrituals im Gegensatz zur einmalig-individuellen Taufe. Während letztere ein einmaliges, hauptsächlich für das Individuum relevantes, Geschehen ist und – meistens – durch Geistgabe die Initiation in die christliche Gemeinschaft begründet,26 funktioniert das Brotbrechen genauso wie das Passa als Gemeinschaft stiftende und aktualisierende Erinnerung an diesen – neuen – Bund. Zum anderen ist das Mahlritual ein Ritual des Übergangs, da es das eschatologische Mahl Gottes temporär und unvollständig vorwegnimmt.27 Dies klang schon im Gleichnis vom großen Abendmahl in Lk 14 an, setzt sich beim letzten Mahl in Lk 22 fort und passt zu den vielfältigen Bezügen zum kommenden Reich Gottes, das Jesus verkündigt.28 Wie relevant dies alles für den Evangelisten ist, lässt sich an seiner Erzählung der Begegnung Jesu mit den zwei Jüngern auf dem Weg nach Emmaus (Lk 24,13–35) deutlich erkennen. Wie bei den anderen Mahlperikopen auch, steht die besondere Agency Jesu im Mittelpunkt. Dies zeigt sich an seiner Wirkung auf die beiden Jünger. Diese sind zu Beginn hoffnungslos, desillusioniert und traurig (24,17). Sie gehen betrübt aus Jerusalem in ihr Heimatdorf zurück und sprechen über die zurückliegenden Ereignisse. Am Ende, nach der Begegnung mit dem Auferstandenen, sind sie froh und haben ein brennendes Herz (24,32). Sie eilen wieder nach Jerusalem. Diese Veränderung geht auf Jesus und sein Wirken beim rituellen Brotbrechen zurück. Dies wird besonders dadurch deutlich, dass alle anderen Elemente, die die beiden Männer zu Zeugen Jesu machen könnten, wie das Wissen über das leere Grab und die Worte des Engels an die Frauen, keinerlei Auswirkungen auf sie haben. Sie können dies nicht verstehen und sind verzweifelt wegen der Ereignisse, da ihre Hoffnung auf die Rettung Israels (24,21) enttäuscht worden ist. Allerdings ist Jesu Agency nicht mit seiner bloßen Anwesenheit verknüpft, denn diese wirkt besonders durch und im Ritual des Brotbrechens. Ihre Augen werden solange gehalten (24,16), bis Jesus das Brot bricht. Dann erkennen sie ihn, woraufhin er verschwindet (24,31). Die Worte, die Lukas für das Brotbrechen in Emmaus wählt (24,30: λαβὼν τὸν ἄρτον εὐλόγησεν καὶ κλάσας ἐπεδίδου αὐτοῖς), sind nicht identisch mit den
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Vgl. dazu den Exkurs zur Taufe im lk Doppelwerk (Kapitel 3.3.3). Auch das Passafest beinhaltet eine auf das zukünftige Handeln Gottes ausgerichtete Dimension, die sich mit der Hoffnung auf ein endzeitliches Passa verbindet (vgl. Bovon: Lk IV, 243; Wolter: Lk, 700f., Mittmann-Richert: Sühnetod, 145f. und Klein: Lk, 665). „So wie der Gott Israels damals seinem Volk im Exodus zu Hilfe gekommen ist, so wird sein rettendes Handeln auch in der Zukunft erwartet. Die Passanacht wird auf diese Weise zu einem Kristallisationspunkt der messianischen Hoffnungen im Judentum“ (Haarmann: Gedenken, 129, kursiv dort). Vgl. u. a. Lk 9,27; 10,9; 21,31.
4.5 Jesu Wirkung im Kontext des Mahls
263
Worten aus Lk 22,19f.29 Dies ließ bei der Auslegung der Perikope die Frage aufkommen, ob Lukas hier an das letzte Mahl Jesu mit den Aposteln erinnern will oder ob sich die beiden Mähler nicht direkt aufeinander beziehen. Im Lichte der Exegese von Lk 22,14–20 und 24,30f. lässt sich konstatieren: Das Emmausmahl ist die – erste – Erfüllung des Wiederholungsauftrags Jesu beim Mahl mit den Aposteln. Lukas vertritt dabei dezidiert die Offenheit des Rituals des Brotbrechens. Wie schon im Verhältnis zum Passamahl festgestellt, ist nur die Übernahme einzelner Elemente für die korrekte Durchführung des Rituals notwendig, während andere Elemente optional sind. Das ‚christliche‘ Brotbrechen ist gerade keine Imitation, keine exakte Kopie, des letzten Mahls Jesu (oder anderer Mähler der Erzählung des Lukas). Es ist immer wieder eine aktualisierende Erinnerung, in seinem Sinne und seinem Auftrag gemäß εἰς τὴν ἀνάμνησιν Jesu zu handeln.30 Lukas bestätigt auf diese Weise die Offenheit des Mahlrituals für neue Ritualteilnehmer, denn die beiden ‚Emmausjünger‘ erkennen Jesu am Brechen des Brotes (24,31.35), obwohl sie am letzten Mahl Jesu gerade nicht teilgenommen haben. Sie stehen damit in der Nachfolge Jesu, ohne zum exklusiven Kreis der Zwölf zu gehören.31 Anders gesagt: Lukas verdeutlicht, dass durch die Anwesenheit Jesu der Mikroritus Gebet und die Mesoriten Brechen und Weitergabe des Brotes zu einem neuen Makroritual werden. Aus einem ‚normalen‘ jüdisch-hellenistischen Mahl, das im Prinzip dieselben Handlungen beinhalten kann, wird durch die erfahrbare, aber nicht festzuhaltende, Anwesenheit des auferstandenen und erhöhten Christus ein neues Ritual: Das christliche Brotbrechen. Lukas beschreibt Jesus als Ritualdesigner, der einzelne vorhandene Elemente aufnimmt und durch Neukontextualisierung in ein neues Ritual transformiert. Zusammengefasst: Diese soeben vorgestellten Überlegungen vertiefen die Deutung Jesu als Ritualdesigner des christlichen Brotbrechens. Dieses Ritual besteht in Konstanz und Varianz sowohl zu der Mahlpraxis Jesu, der die Armen und Sündigen mit einbezieht, als auch zu seinem letzten Mahl mit den Jüngern und dient nicht nur als urchristliches Erkennungszeichen (vgl. Apg 2,42.46; 20,7), sondern auch als immer wieder zu wiederholende Bestätigung des Neuen Bundes, der Jesus und seine Nachfolger vereint. Jesu Auftrag, das Brot zu seinem Gedächtnis zu brechen, wird also erfüllt, wobei er – wie die Emmausperikope eindrücklich schildert – auch in seiner „abwesenden Anwesenheit“ (Bovon) Inhalt
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Καὶ λαβὼν ἄρτον εὐχαριστήσας ἔκλασεν καὶ ἔδωκεν αὐτοῖς. Vgl. auch Lk 9,16, wo weitere Unterschiede feststellbar sind. Vgl. die Überlegungen zu „ritual invention“ bei Stephenson: Ritualization, 33, der explizit ausführt, dass rituelle Handlungen als Handlungen nicht besonders sein müssen, sondern dass durch Neukontextualisierung Rituale aus ‚normalen‘ Handlungen geschaffen werden: „The heart of Eucharist liturgy is eatig bread and drinking wine – ordinary enough acts, made extraordinary.“ Als ihnen und den Aposteln Jesus begegnet (Lk 24,36–49) bekommen die beiden Emmausjünger dieselbe Verheißung und denselben Auftrag wie die Elf; mehr dazu unter 4.6.4.
264
4 Theologischer Ertrag
und Leiter32 des Mahlrituals ist. Dies verbindet sich mit den vielfältigen weiteren Mählern Jesu im Lukasevangelium, bei welchen, wie gezeigt, seine Hinwendung zu den Armen und Schwachen, zu den Marginalisierten der Gesellschaft im Mittelpunkt steht. Diese Integration in das Mahlritual sowohl von „Zöllnern und Sündern“ als auch von Jüngern, die nicht zur exklusiven Gruppe der Apostel gehören, hat Auswirkungen auf die Frage nach der Rolle des Autors als Ritualmacher, die im Folgenden erörtert werden soll.
4.6
Lukas als Ritualmacher
Die Frage, inwieweit die Rolle des Evangelisten Lukas als Ritualmacher1 einzuordnen ist, wurde bisher nur ansatzweise beantwortet und soll nun in einem eigenen Abschnitt bedacht werden. Als Ritualmacher bezeichnet man diejenige Person, die den Teilnehmern die Teilnahme am Ritual bzw. das rituelle Handeln der Akteure ermöglicht. Er kann dabei selbst am Ritual partizipieren oder dies leiten, kann aber auch organisatorisch oder durch die Bereitstellung von Materialien, Räumen usw. die Ritualdurchführung ermöglichen. Im Rahmen meiner Überlegungen fokussiere ich dabei auf die Ermöglichung von Ritualen durch Texte bzw. Textrezeption: „Nicht zuletzt zählt zu den Befähigungen und Aufgaben von Ritualmachern der Umgang mit Texten, sei es das Konsultieren, Kopieren und Verstehen älterer Vorlagen, das Adaptieren, Interpretieren und Auswählen der richtigen Textgrundlage oder das Sammeln, Ergänzen bzw. gänzlich neu Verschriftlichen von rituellen Handlungen.“2 An dieser Stelle kommt nun der Evangelist ins Spiel, da er die schriftstellerische Grundlage für die Weitergabe von Wissen über Jesus und die frühe Kirche verantwortet und dabei die Rezeption seiner intendierten Leserschaft im Mittelpunkt steht.3 Dabei muss dezidiert der Ritualmacher Lukas vom Ritualdesigner Jesus unterschieden werden, wie ihn der Evangelist in seinem Text darstellt und wie er im Verlauf dieser Arbeit schon mehrfach beschrieben worden ist. Ritualdesigner schaffen neue Rituale, meist durch Kombination bestehender Ritualelemente und Neukontextualisierung dieser. Ritualmacher hingegen ermöglichen u. a. durch ihre Textverarbeitung bzw. Textrezeption das rituelle Handeln ihrer 32
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Der Ritualleiter wird im hellenistischen Mahl als Symposiarch bezeichnet, vgl. Al-Suadi: Christusgläubige, 184. Laut Justin dem Märtyrer (1apol 65) wird dem Vorsteher der Brüder (τῷ προεστῶτι τῶν ἀδελφῶν) Brot, Wein und Wasser gebracht. Er fungiert als Ritualleiter der Eucharistie. Vgl. Kapitel 2.4.4. Gengnagel: Ritualmacher, 167. Nach Lk 1,1–4 benutzt der Evangelist mehrere Quellen für die Erstellung seines Textes. Dies bestätigt auch die die historisch-kritische Exegese, die für beide Teile des lukanischen Doppelwerkes mündliche und schriftliche Quellen herausgearbeitet hat.
4.6 Lukas als Ritualmacher
265
Adressaten. Lukas als Ritualmacher schreibt an bzw. für Menschen, die im christlichen Glauben schon unterrichtet sind (Lk 1,4), die – so darf man wohl annehmen – mehrheitlich schon getauft sind und die das rituelle Brotbrechen als Teil ihrer religiösen Identität durchführen.4 Lukas legitimiert daher mit seinen Schriften, die er in seinem Vorwort explizit als Überarbeitung und Ergänzung schon vorhandener Berichte bezeichnet, die Glaubensrealität seiner Leser.5 Bei dieser spielen Rituale eine wichtige Rolle, auch wenn uns Lukas, mit Ausnahme des Vatergebets, keine Ritualanleitung überliefert.6 Rückschlüsse der ursprünglichen Leser auf ihre eigene Ritualpraxis dürften ohne Probleme möglich gewesen sein, sind für uns heute aber nur indirekt greifbar. Im Folgenden sollen Überlegungen zu den Bereichen Taufe, Gebet, Schriftauslegung und Mahl dargestellt werden. Dabei wird auf die in 4.2–4.5 erläuterten Ergebnisse zurückgegriffen. Ergänzt wird dies durch weitere Ausblicke in die Apostelgeschichte, um auf die Entwicklung in der lukanischen Geschichtsschreibung eingehen zu können; zudem wird versucht, Ritualbeschreibungen des Evangelisten als Ritualtransfer zu verstehen. Ritualtransfer beschreibt als Teil der Ritualdynamik die Neukontextualisierung von Ritualen (z. B. in den Bereichen Geographie, Ökonomie, Kultur, Medien). Dabei ist die Anpassung an neue Umstände bei gleichzeitiger Beibehaltung grundlegender Elemente die Herausforderung für religiöse Gruppen oder Einzelpersonen. Eine exakte Abgrenzung zu Ritualdesign und Ritualmacher ist nicht in allen Fällen möglich.7 Zuletzt wird die Überlegung ins Spiel gebracht, inwiefern der betont offene Ritualcharakter der lukanischen Überlieferung im Kontrast zur rigiden Ritualausführung der römischen Religion stehen könnte.
4.6.1 Taufe Ob Lukas bei der Darstellung der Taufe Jesu als Ritualmacher agiert, ist für das Evangelium zu verneinen, weil er die Taufe von Menschen, die an Jesus glauben, nicht erörtert. Sein Fokus liegt – wie oben gezeigt – auf der Darstellung der Predigt und Tauftätigkeit Johannes des Täufers sowie der Taufe Jesu. Dabei ist für diese zu konstatieren, dass sie zwar die Einbindung Jesu in das ganze Volk zeigt
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Weitere der in dieser Arbeit dargestellten Rituale sind denkbar. Möglicherweise steht die Gemeindepraxis bei den Kennzeichen der Kirche Apg 2,42.46 im Hintergrund. Bekanntlich bietet nur der von der Alten Kirche als Lukas identifizierte Autor des dritten Evangeliums sowie der Apostelgeschichte einen Prolog (Lk 1,1–4; Apg 1,1–3), in welchem er kurz seine Intention darlegt und beide Bücher Theophilus widmet. Diese Herangehensweise entspricht laut von Contzen: Handbuch historischer Narratologie, 74ff. der Tendenz antiker Romane, die Erzählstimme mit einem konkreten Autor zu verbinden. Ansätze für frühchristliche Ritualanleitungen finden sich in der Didaché, vgl. 1Kor 11. Vgl. Kapitel 2.4.5 dieser Arbeit.
266
4 Theologischer Ertrag
und somit die prinzipielle Gleichartigkeit des rituellen Vorgangs, sowohl für Jesus als auch für alle ‚normalen‘ Menschen, als gegeben voraussetzt. Allerdings ist die Taufe des Johannes, der sich auch Jesus unterzieht, in der Vorstellung des dritten Evangelisten nur für eine kurze Zeitspanne durchführbar gewesen. Nach Gefangennahme und Tod des Täufers, der Taufe Jesu und des ganzen Volkes ist diese vorchristliche Art der Taufe abgeschlossen. Blickt man nun über die Erzählung des Evangeliums in die Apostelgeschichte hinaus, so wird deutlich, dass, obwohl Lukas keine Taufanleitung überliefert, Rückschlüsse auf einige konstitutive Elemente der christlichen Taufe möglich sind.8 Dazu gehört erst einmal die Feststellung, dass Lukas als Ritualmacher sowohl die Fortsetzung als auch gleichzeitig die partielle Loslösung der christlichen Taufe von der Johannestaufe vertritt.9 Viele Ritualelemente werden nicht übernommen bzw. gar nicht bedacht: Weder der Ort der Taufe (Jesu), nämlich der Jordan, noch die Art des Wassers,10 noch der Initiator des ursprünglichen Rituals (Johannes) werden beibehalten. Über bestimmte Uhr- oder Tageszeiten erfahren wir nichts.11 Konstant bleiben hingegen die Handlung des Untergetaucht-Werdens in Wasser (keine Selbsttaufe), der Konnex zu Buße und die der Taufe vorangehende Predigt bzw. Schriftauslegung.12 Die Taufe Jesu in Lk 3,21f. geht dabei in zwei Punkten über die Johannestaufe, wie sie Lukas berichtet, hinaus. Zuerst ist hier das Beten Jesu zu nennen. Jesus betet und integriert somit dieses Ritualelement in den Makroritus Taufe. Als zweites tritt die Gabe des Geistes hinzu. Die Taufe Jesu fungiert also als Vorbild für die christliche Taufe, denn nun wird das, was bei Jesus einzigartig war – nämlich das Beten und das Herabkommen des Heiligen Geistes (3,22) – für die
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Vgl. zum Folgenden auch den historischen Ansatz von Labahn: Erinnerung, 337–376, der auch weitere Erklärungsversuche zum Zusammenhang von Johannestaufe und christlicher Taufe darstellt (341–344). Zur historischen Entwicklung vgl. Matthes: Taufe, 300–322, Barth: Taufe, 33–40 und Strecker: Taufpraxis, 375–378. Vgl. die Taufe des äthiopischen Kämmerers (Apg 8,26–40), die völlig losgelöst von der Wasserart beschrieben wird. Der Jordan ist durch die Angabe des Ortes (Straße von Jerusalem nach Gaza) auszuschließen und ob es sich um einen Fluss, einen See oder eine andere Ansammlung von Wasser handelt, wird nicht mitgeteilt – 8,36 spricht nur von ὕδωρ und laut Haacker: Apg, 169 „muss kein tiefes Gewässer vorhanden gewesen sein.“ In späterer Zeit wird dies expliziert, z. B. Tertullian, Bapt, 4. Zur Relevanz von Wasser beim Taufritual vgl. Strecker: Taufpraxis, 401f. Vgl. Horn: Taufe, 214. So ausführlich bei den Predigten von Petrus in Apg 2,14–40 und 10,34–43, vgl. auch die Auslegung von Jesaja 53,7f. durch Philippus in Apg 8,35. Eine Ausnahme ist die Taufe von Saulus, der aber eine göttliche Offenbarung vorausgeht (9,1–19). Im Falle der Johannestaufe ist es der Erzähler, der das Wirken des Täufers durch ein Zitat aus Jesaja 40,3–5 deutet.
4.6 Lukas als Ritualmacher
267
christliche Taufe als Regelzustand verstanden. Jesu Taufe legitimiert die christliche Taufe und die damit verbundene Gabe des Heiligen Geistes.13 Dass der Zusammenhang zwischen Taufe und Geistgabe für Lukas in seiner Funktion als Ritualmacher der Normalzustand ist, lässt sich m. E. an der Pfingstpredigt Petri erkennen, denn in Apg 2,38 beschreibt er grundlegend die Verbindung von Taufe, Buße und Geistgabe: „Tut Buße, und jeder von euch lasse sich taufen auf den Namen Jesu Christi14 zur Vergebung eurer Sünden, so werdet ihr empfangen die Gabe des Heiligen Geistes.“15 Der Wechsel des Fokus von einer reinen Bußhandlung hin zu einem Bekenntnis zu Jesus als Christus Gottes und Herr ist dabei die wichtigste inhaltliche Neukontextualisierung (Apg 2,38; 8,12; 16,14f. u. ö.). Versteht man nun Lukas als Ritualmacher für die christliche Taufe, so zeigt sich, dass diese den ersten rituellen Akt des Bekenntnisses zu Jesus Christus darstellt, die mit dem Untertauchen in Wasser und Predigt, Schriftauslegung und Gebet verbunden ist. Die in Lk 3 erzählte Taufe Jesu ist dabei in Bezug auf die Ritualelemente Gebet, Geistgabe und den Akt des Untergetaucht-Werdens als Vorbild und Legitimation zu verstehen. Weitere Ritualelemente werden nicht übernommen bzw. nicht für obligatorisch erklärt. Der Ritualmacher Lukas bietet daher konsequenterweise keine exakte Ritualanleitung, sondern zeigt durch seine narrativen Berichte einzelner Taufen, dass diese bzgl. der Ritualelemente eine gewisse Variabilität aufweisen. Eine Imitation bzw. Kopie der Taufe Jesu ist weder notwendig noch sinnvoll.16 Lukas schafft also kein eigenes Ritual – das wäre Ritualdesign – sondern legitimiert als Ritualmacher die Taufpraxis seiner Leserschaft. Die Übernahme einzelner Elemente lässt sich auch als Ritualtransfer begreifen, da Lukas die rituelle Handlung des Untertauchens in Wasser in Verbindung mit Buße und Sündenvergebung aus dem johanneischen Kontext in den neuen, christlichen Kontext hineinstellt. Die eben beschriebene Offenheit des Rituals ermöglicht, den Ritualtransfer auch als Anpassung an die sich ändernden Umstände zu verstehen: Die Loslösung vom Jordan ermöglicht dabei bspw. erst die Ausbreitung des „neuen Weges“ über Israel hinaus bis „an das Ende der Erde“ (1,8). Mit diesem Ritualtransfer und der Betonung der Offenheit der Durchführung des Taufrituals schafft der Ritualmacher Lukas einen Gegenpunkt zur rituellen Rigidität der römischen Religion, wie Agnes Choi, die Taufe als politisches 13
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Eine Gegenprobe verdeutlicht dies: Hätte Jesus die Taufe durch Johannes abgelehnt bzw. sich ihr nicht selbst unterzogen, wäre die Entwicklung der Taufe als Initiationsritual der Christen unwahrscheinlich geworden. Nur die Teilnahme Jesu am Ritual legitimiert die Ritualhandlung seiner Nachfolger. Dies gilt auch für die anderen zu besprechenden Themen Gebet, Schriftauslegung und Mahl (s. u.). Eine einheitliche Taufformel vermag ich im lukanischen Doppelwerk nicht entdecken, vgl. aber ausführlich Hartman: Namen, passim. Vgl. Labahn: Erinnerung, 347–349. Dazu passt, dass an keiner Stelle die Taufe der Christen explizit durch die Taufe Jesu begründet wird.
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4 Theologischer Ertrag
Ritual beschreibt, das die christliche Gemeinschaft als Abgrenzung zur römischen Herrschaft nutzt, vermutet.17
4.6.2 Gebet Im Lukasevangelium wird Jesus mehr als in den anderen Evangelien als Betender dargestellt. Er fungiert dabei als Vorbild für die Jünger, die an mehreren Stellen dazu aufgefordert werden, zu beten. Lk 11,1–13 (vgl. 18,1–14) beschreibt zudem die Gebetslehre des Ritualdesigners Jesu. Lukas fungiert dabei als Ritualmacher, indem er nicht den Inhalt der Gebete Jesu erzählt, sondern ihn explizit ein Beispielgebet an die Jünger weitergeben lässt, wie diese es von ihm in Anlehnung an die Johannesjünger eingefordert hatten. Die Leser stehen dabei an der Stelle der Jünger. Auch sie können dieses Gebet sprechen bzw. als Vorbild für weitere Gebete nutzen. Lukas übermittelt auf diese Weise einen grundlegenden Text für die rituelle Gebetspraxis und legitimiert somit als Ritualmacher das Gebetsritual der Jünger wie der Leser. Dabei ermöglicht die kurze und nicht abgeschlossene Formulierung des Vatergebets die aktualisierende Nutzung dieses Gebets, ohne dass die Nachfolger Jesu durch eine festgesetzte Form des rituellen Gebets in ihrer Freiheit der Rede mit Gott dem Vater eingeschränkt werden würden.18 Darüber hinaus lässt Lukas Jesus das höchste Ziel der Gebetspraxis beschreiben, nämlich die Gabe des Heiligen Geistes durch den himmlischen Vater (11,13). Genauso wie ein menschlicher Vater seinem Kind nicht eine Schlage statt eines Fisches geben wird, wird auch Gott als himmlischer Vater das Gebet seiner Kinder erhören, sogar das Gebet um die Gabe des Geistes. Wie wichtig dies ist, zeigt sich u. a. an der Taufe und Geistgabe der Samaritaner (Apg 8,14–17). Diese sind zwar getauft worden, haben aber noch nicht den Geist empfangen. Dies wird durch Johannes und Petrus nachgeholt – rituell durch Handauflegen und Gebet (8,17). Dieses Beispiel korrespondiert mit anderen Statuswechseln bzw. Berufungen, die das lukanische Doppelwerk beschreibt. Lukas als Ritualmacher macht deutlich, dass Beten konstitutiv für die Einführung von Personen in neue ‚Ämter‘ ist: Jesus betet vor der Berufung der Apostel (6,12), die Apostel beten vor der Nachwahl des Matthias und der Einführung der sieben Diakone (1,2419; 6,6), die Gemeinde betet vor Aussendung von Paulus und weiteren Missionaren in Antiochia (13,1–3) usw. Das wiederholte Beten Jesu und sein mehrfach beschriebener Auftrag an die Jünger, zu beten, legitimiert das Beten seiner Nachfolger und der christlichen 17 18
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Vgl. Choi: Boundary-crossing, 75–91 und 4.6.5. Dies wird dadurch verdeutlicht, dass es keine direkte Anwendung des Vatergebets in der Apostelgeschichte gibt. Die dort überlieferten Gebete sind unabhängig vom Vatergebet formuliert. Apg 1,24–26 überliefert den Wortlaut des Gebets der Apostel.
4.6 Lukas als Ritualmacher
269
Gemeinde. Dass die Bitte um den Heiligen Geist explizit als höchstes Gebetsanliegen fungiert, überrascht nicht, denn schon die Taufe Jesu bringt Beten und Geistgabe eng zusammen, genauso wie die an den Psalmen orientieren Gebete von Zacharias und Simeon in Lk 1–2, die explizit mit dem Geist verbunden werden. Gebet, Heiliger Geist und Berufung gehören aus Sicht des Lukas konstitutiv zusammen. Auch außerhalb von den oben beschriebenen Statuswechseln gehört das Gebetsritual zur christlichen Existenz, wie Jesus und die Apostel als Vorbilder deutlich machen.20 Lukas fungiert dabei insofern als Ritualmacher, als dass er nicht nur die Vorbildfunktion von Jesus und den Apostel narrativ beschreibt, sondern mit dem Vatergebet in Lk 11,2b–4 ein jesuanisches Beispielgebet überliefert, das als Grundlage für weitere Gebete genutzt werden kann. Dabei finden sich – ähnlich wie unter 4.6.1 zur Taufe schon angemerkt – wenige Ritualeinschränkungen:21 Bestimmte Elemente wie festgelegter Zeitpunkt, Ort oder Teilnehmerschaft sind für Lukas beim Gebet nicht obligatorisch. Natürlich wird von bestimmten Gebetszeiten (Apg 3,1; 10,3.922) oder Gebeten im Kontext des Tempels (Lk 1,10; 19,46; 24,53), der als Bethaus (προσευχή23) bezeichnet wird,24 berichtet, es findet aber keine Einschränkung auf diese Zeiten und Orte statt. Lukas fokussiert auf die Offenheit des jüdischen wie christlichen Gebets: „Anders als im Tempelkult, der zeitlich und räumlich ausgesondert und geheiligt war, gehörte das Gebet nicht in jene Kategorie von heiligen Handlungen, die durch viele Vorschriften kultisch geregelt und geschützt waren.“25 Dadurch ist das Gespräch mit Gott an allen Orten für die Nachfolger Jesu möglich. Als konstitutiv erscheint es nur im Zusammenhang mit Berufungen (z. B. Apg 1,24ff.). Das christliche Beten als Gespräch mit Gott ist an sich keine Neuschöpfung, sondern beschreibt die Neukontextualisierung des jüdischen Rituals im Sinne 20
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Vgl. das sog. Gemeindegebet in Apg 4,24–31. Als Folge des Gebets wird die Ergriffenheit durch den Heiligen Geist geschildert (4,31). Neben den schon genannten Gebeten werden auch Einzelpersonen immer wieder als betend gezeigt. Dies gilt für viele wichtige Charaktere der Apg: Petrus (u. a. 9,40; 10,9), Paulus (u. a. 9,11; 16,25), Stephanus (7,59f.), Kornelius (10,2.30). Hinzu kommen wie erwähnt Gemeindegebete: Apg 4,24–31; 12,5.12. Lukas kennt neben der Verbindung des Gebets mit anderen Ritualen (z. B. Taufe oder Amtseinführung) das alleinstehende Gebet als Einzelhandlung. Für den römisch-paganen Bereich gilt: „Ein regelmäßiges Gebet ohne weiteres Ritual hat es nicht gegeben“, Rüpke: Religion der Römer, 104. Zur neunten Stunde (Apg 3,1) als Gebetszeit vgl. Haacker: Apg, 74. Zu προσευχή vgl. Ostmeyer: Kommunikation, 288–290. „Sobald ein Gebet als προσευχή vor Gott kommt, ist eine Verbindung zwischen dem Beter und Gott hergestellt, und der Betende kommt zum Glauben an Christus. Wie Glaube und Taufe eine Einheit bilden […] so verhält es sich auch bei Glaube und προσευχή“ (289). Der Tempel erscheint in Lk 19,45–48 als Gebetsort (vgl. Apg 3,1) und als Ort der Lehre (vgl. 2,46f.; 21,37). Vgl. dazu ausführlich Ascough: Ritual modification, 174–176. Wick: Gottesdienste, 81 (in Bezug auf Gebete am Tempel). Kornelius wird sogar schon vor Taufe und Geistgabe als Betender dargestellt (10,2.30).
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4 Theologischer Ertrag
des Ritualtransfers. Dies zeigt sich daran, dass christliche Gebete auch ohne christologischen Bezug funktionieren, ohne dass ein Defizit zu bemerken ist. Dies gilt für das Vatergebet und teilweise für die in Lk 1–2 dargestellten psalmartigen Gebete von Maria, Zacharias und Simeon. Diese sind von ihrem Aufbau und ihrer Wortwahl ganz und gar mit dem Alten Testament verbunden, werden aber von Lukas als Beispielgebete für seine Leserschaft verstanden, die er im Sinne Jesu Christi versteht und damit in seine aktuelle Situation transferiert.
4.6.3 Schriftauslegung Das Lukasevangelium bezieht sich an vielerlei Stellen auf die alttestamentliche Überlieferung. Dabei wird auf diese – meist in Form eines Zitats – sowohl vom Erzähler (z. B. 3,4–6) als auch von Jesus (z. B. 4,18ff.) zurückgegriffen.26 Oft dienen diese Zitate als Verständnishilfe27 für die Einordnung bestimmter Personen bzw. Handlungen. Aus ritualwissenschaftlicher Perspektive ist die Schriftauslegung vor allem deshalb interessant, weil der Evangelist durch seine Darstellung besonders der Schriftauslegung Jesu die Legitimation für die Schriftauslegung der Gemeinde schafft. Wie oben gezeigt, hat Schriftauslegung als Ritualelement im Kontext des Synagogengottesdienstes einen Raum. Dies wird in der Apostelgeschichte besonders durch die Vorgehensweise Pauli aufgegriffen, der gezielt Synagogengottesdienste besucht und dort mithilfe von Schriftauslegung über den Messias Jesus predigt (u. a. Apg 13,13–47). Fragt man nach der Rolle des Lukas als Ritualmacher, so wird auch im Kontext der Schriftauslegung deutlich, dass keine genaue Anleitung für die Durchführung dieses Rituals gegeben wird. Es fehlt zudem eine dezidierte Anweisung Jesu, dass die Apostel in den Schriften lesen sollen. Allerdings ist das gesamte Evangelium voll von direkten wie indirekten Schriftzitaten, die nicht nur auf Jesus und sein Wirken von außen – z. B. durch den Erzähler – sondern durch Jesus selbst auf ihn hin angewendet werden. Letzteres ist besonders bedeutend: Der Ritualdesigner Jesus legt im Lukasevangelium mithilfe einzelner Schriftverweise bzw. im Bezug auf die biblischen Texte insgesamt sein eigenes Wirken aus. Das Ziel der Schriftauslegung ist daher durch die christologische Deutung der alttestamentlichen Texte durch den Ritualdesigner Jesus selbst begründet. Genauso wie der lukanische Jesus durch Textauslegung christologisches Wissen gewinnt, können seine Jünger und die Leser des Evangeliums vorgehen, denn die Auslegung der Schrift in Form von Tora, Psalmen und Propheten ist ein grund-
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Auch andere Akteure zitieren biblische Texte, z. B. der Schriftgelehrte in 10,27f. oder die Sadduzäer in 20,27ff. Vgl. zur Thematik den Titel der Monographie von Frank Crüsemann: Das Alte Testament als Wahrheitsraum des Neuen.
4.6 Lukas als Ritualmacher
271
legendes Element sowohl des Evangeliums wie der Apostelgeschichte. Die Funktion des Verständnishintergrundes zeigt sich z. B. bei der Vorbereitung der Nachwahl des Apostel Matthias, die von Petrus durch Schriftzitate (Ps 69,26; 109,8) eingeleitet wird. Die Texte des – christlich so bezeichneten – Alten Testaments bilden für das gesamte Doppelwerk die wichtigste Verständnisgrundlage, wie die exegetische Forschung immer wieder herausgearbeitet hat.28 Neben vielen Zitaten und Anspielungen zeigen eine Reihe von Perikopen, dass Lukas als Ritualmacher die Auslegung der jüdischen Texte für das Deuten der Lehre und der Wirksamkeit Jesu zugrunde legt. Auf der einen Seite finden sich Textstellen wie Lk 16,29.31; 24,27.44, die die Gesamtheit der überlieferten Texte als Verständnisgrundlage angeben, freilich ohne eine Differenzierung der genauen Texte, die sich dahinter verbergen.29 Auf der anderen Seite werden Texte, die das Wirken Jesu deuten, direkt zitiert bzw. angesprochen. Dazu gehören beispielsweise die bei der Antrittspredigt in Nazareth genutzten Texte aus Jes 61, 1Kön 17 und 2Kön 5 sowie das in Lk 11,29–32 genutzte Buch Jona. Weitere Beispiele finden sich in der Apostelgeschichte, in der sowohl die Gesamtheit der Schriften (z. B. 10,43; 17,11; 18,2830) als auch einzelne Texte (z. B. Jes 53,7f. in Apg 8,32f.) als Grundlage für die Deutung Jesu Christi verstanden werden. Es zeigt sich auch, dass Lukas keine Eingrenzungen bei Ritualelementen wie Ort oder Zeit einführt, sondern das Verstehen des Wirkens Christi aus allen Texten (Lk 16,29.31; 24,27.44) in den Mittelpunkt christlicher Auslegung biblischer Texte stellt. Christusdeutung in Form von Textauslegung kann während des Synagogengottesdienstes (Lk 4,16–30; Apg 17,1–4) oder im Tempel (Apg 3,12–26), aber auch auf der Straße (Apg 8,26–40) durchgeführt werden. Zentrales Element dieses Rituals ist also die immer wieder nötige Durchführung konkreter Textauslegung, wie wir sie im Evangelium und in der Apostelgeschichte lesen können, wobei das Verständnis sowohl von Christus als auch vom derzeitigen Wirken Gottes immer im Fokus der Auslegung steht. Dies gilt bspw. für die schon erwähnte Nachwahl des Matthias, die durch Petrus mit Bibelzitaten begründet wird (1,20) oder die Geistausgießung zu Pfingsten, die er durch die Auslegung des Zitats von Joel 3,1–5 erläutert (2,17–21). Auch die lange Rede des Stephanus ist gespickt mit direkten und indirekten Zitaten aus der alttestamentlichen Überlieferung, genauso wie die oben erwähnte Praxis Pauli im Kontext von Synagogengottesdiensten.
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Vgl. für die Nutzung der Schriften des Alten Testaments im dritten Evangelium Rusam: Das Alte Testament bei Lukas. Von einem abgeschlossenen Kanon ist für die Zeit des Lukas nicht auszugehen, womöglich denkt der Evangelist an die LXX, die er häufig zitiert. Zum Kanon und der LXX vgl. Ziegert/Kreuzer: Art. Septuaginta (AT) und Schoepflin: Art. Kanon (AT). Vgl. auch die Predigt des Stephanus vor dem Hohen Rat, bei der er Jesus in die gesamte Heilsgeschichte Israels einordnet (Apg 7,1–53).
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4 Theologischer Ertrag
Wie auch schon bei Taufe und Gebet festgestellt, ist die Ritualpraxis Jesu die Legitimation für die Ritualpraxis der Jünger und der Leser des Lukasevangeliums. Im Kontext der Schriftauslegung zeigt sich dies v. a. dadurch, dass Jesus selbst es ist, der die Texte christologisch auslegt (z. B. 4,16–30) und seinen Jünger explizit das Verständnis der alttestamentlichen Texte ermöglicht: Deutlich sieht man das in Lk 24,45: „Da öffnete er ihnen das Verständnis, dass sie [die Jünger] die Schrift verstanden.“ Mit Schrift wird hier die Summe der in 24,44 (vgl. 24,27.32) genannten Texte (πάντα τὰ γεγραμμένα ἐν τῷ νόμῳ Μωϋσέως καὶ τοῖς προφήταις καὶ ψαλμοῖς) bezeichnet. Jesus fungiert also in diesem Sinne als Ritualdesigner: Er verbindet schon vorhandene Auslegungstraditionen und Texte der Bibel und kontextualisiert diese neu, und zwar indem er sie auf sich selbst und sein eigenes Wirken hin auslegt. Deswegen betont der lukanische Jesus auch das Heute (4,21) bzw. das Hier (11,32) bei seiner Auslegung. Durch das Öffnen der Schrift bzw. aller Schriften (16,29.31; 24,27.44) hin zu einem Verständnis der Texte, die Jesus als Christus erweisen, legitimiert der Ritualdesigner Jesus die gleichartige Auslegung für die Jünger. Lukas als Ritualmacher benutzt diese Darstellung Jesu und der Weitergabe der christologischen Schriftauslegung als Legitimation für die entsprechende Schriftauslegung seiner Leser. Dabei wird deutlich, dass er die Auswahl der Texte, die für die Deutung Jesu als Christus dienen, nicht auf bestimmte Schriften des biblischen Kanons eingrenzt, sondern prinzipiell Tora, Propheten und Schriften als Auslegungsmöglichkeit anerkennt. Gleichzeitig bringt er einige Beispiele von Texten, die innerhalb seiner Erzählung auf Jesus Christus hin ausgelegt werden. Die christologische Deutung der Texte ist dabei nicht auf bestimmte Orte oder Zeiten beschränkt, sodass der Ritualmacher Lukas auch bei diesem Aspekt eine prinzipielle Offenheit zulässt, die eine Anpassung an die jeweils aktuelle Situation ermöglicht.31 Im Kontext des Ritualtransfers bedeutet dies, dass Lukas sich wie andere ‚frühchristliche‘ Schriftsteller32 genuin jüdische Texte aneignet und einer eigenen, der christlichen, Auslegungsrichtung zuweist:33 Texte der hebräischen Bibel, aber vor allem Texte der Septuaginta, dürfen und sollen auf Jesus Christus hin ausgelegt werden, weil dieser – so die Darstellung des Lukas – eine derartige Auslegung durch den eigenen Umgang mit den Texten legitimiert.34 In und mit diesen Texten
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Vgl. Mt 13,52. Die Diskussion, wann sich ‚Judentum‘ und ‚Christentum‘ als getrennte Wege verstanden wurden, kann hier nicht geführt werden. Lukas gehört aber offensichtlich einer späteren Generation von Theologen an, die anders auf das Verhältnis zu Juden, die Jesus nicht anerkennen, blicken als bspw. Paulus dies in seinen Briefen tut. Zur Trennung von Juden und Christen vgl. Boyarin: Border Lines. Dies ist keine genuin lukanische Vorstellung, sondern kann auch für die meisten frühchristlichen Schriften (z. B. die anderen Evangelien) konstatiert werden. Inwieweit dies konsequent andere Auslegungen ausschließt, müsste gesondert untersucht werden.
4.6 Lukas als Ritualmacher
273
kann und muss das Wirken Jesu und seine Bedeutung für die Menschen gedeutet und verstanden werden.
4.6.4 Mahl Wie oben schon verdeutlicht, spielen Mähler und insbesondere die rituelle Mahlpraxis Jesu für die lukanische Erzählung eine große Rolle. Deswegen wurden für diese Arbeit mehrere Perikopen genau untersucht, die in diesem Kontext angesiedelt sind. Es kann – wie oben geschehen – zwar unterschieden werden zwischen den eher alltäglichen Mählern, die Jesus im Laufe seiner Wirksamkeit mit Freunden wie Gegnern eingenommen hat, und dem ‚eucharistischen‘ letzten Mahl Jesu zu Passa, doch die rituelle Praxis des Brotbrechens verbindet wieder beide Stränge.35 Das Emmaus-Mahl setzt dieses in gewisser Weise zum ersten Mal um: Es ist einerseits als erste Durchführung des Brotbrechens, das Jesus εἰς τὴν ἐμὴν ἀνάμνησιν befohlen hat, zu verstehen. Andererseits ist es auch eine Erinnerung an die Aufnahme von Armen und Außenseitern durch Jesus in verschiedenen Mahlerzählungen des Lukas, denn die beiden Jünger werden in die Mahlgemeinschaft Jesu integriert, obwohl sie eindeutig einen defizitären Glauben und ein verkürztes Verständnis von Jesus und seinem Wirken haben.36 Was sagt das nun zur Frage nach Lukas als Ritualmacher? Eine wichtige Aufgabe eines Ritualmachers ist es, neben der Überlieferung der Texte, für die Durchführbarkeit des Rituals zu sorgen. Dabei steht natürlich an vorderster Stelle die Frage, wer überhaupt an einem Ritual, in diesem Fall an einem Mahl εἰς τὴν ἀνάμνησιν Jesu bzw. an einem Mahl der Gemeinde im Rahmen der (gottesdienstlichen) Zusammenkunft, teilnehmen darf und wer nicht. Dabei lässt sich für das Lukasevangelium feststellen, dass der Ritualdesigner Jesus keine Einschränkungen bei der Mahlteilnahme fordert.37 Weder religiöse Bewertung („Zöllner und Sünder“: 5,30; 15,1f. u. ö.), noch Reinheit (11,37ff.) noch Geschlecht (7,36–5038) oder finan-
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Vgl. auch 14,15: Brot essen im Reich Gottes. Dass die beiden Jünger umkehren müssen (μετανοέω, vgl. Jesu Selbstverständnis in 5,32), macht die Erzählung ja besonders deutlich: Sie kehren wirklich um und eilen nach Jerusalem zurück. Dies ist nicht darin begründet, dass Jesus nicht der Gastgeber des Mahls wäre und somit keine Verfügungsgewalt über die Teilnehmenden hätte. Die Exegese der ausgewählten Perikopen macht deutlich, dass sich Jesus innerhalb des Mahlrituals als Gastgeber versteht und dementsprechend handeln kann (vgl. 3.6). Dabei darf nicht unterschlagen werden, dass die „große Sünderin“ in Lk 7,36–50 nicht am eigentlichen Mahl teilnimmt (das ja auch nicht erzählt wird), sondern von Jesus in Frieden entlassen wird. Im gesamten Evangelium isst Jesus mit keiner einzigen Frau, jedenfalls wird dies nicht berichtet. Durch die große Nähe von Jesus zu Frauen, die ihm dienen (vgl. 8,1–3; 10,38–42), ist ein durchs Geschlecht bedingter Ausschluss aus der jesuanischen Mahlgemeinschaft unwahrscheinlich.
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4 Theologischer Ertrag
zielle und gesellschaftliche Stellung (14,7–14) sind dabei von Belang. Jesus fordert sogar im Gegenteil die Mahlgemeinschaft mit „Armen, Verkrüppelten, Blinden und Lahmen“ (14,13.21) ein und ist selbst häufig bei seinen pharisäischen Kontrahenten zu Gast (7,36–50 u. ö.).39 Doch der Ritualmacher Lukas geht noch weiter: Auch bei den Mählern, die εἰς τὴν ἀνάμνησιν Jesu durchgeführt werden und so eine besondere Nähe zu Jesus und seinem letzten Mahl aufzeigen, ist die Teilnahme nicht auf die ursprünglichen Ritualteilnehmer beschränkt: Die Emmausjünger erkennen den für sie zuerst nicht identifizierbaren40 Jesus am Brotbrechen, obwohl sie gerade nicht zum Kreis der Zwölf gehören, die am ursprünglichen Ritual teilgenommen haben. Sie sind keine Apostel, aber doch Nachfolger Jesu. Wie wichtig diese Offenheit dem Evangelisten ist, zeigt sich an den Namen der Jünger: Während Kleopas eindeutig identifiziert wird und somit eine Verbindung zu den Jüngern, die als erste vom leeren Grab und der Botschaft der Engel von der Auferstehung Jesu wissen (24,13.22f.41), schafft, bleibt der zweite Jünger namenlos. Somit kann sich jede und jeder selbst in die Geschichte eintragen und seine eigene rituelle Mahlpraxis als Fortsetzung der Mahlpraxis Jesu erfahren. Diese Offenheit betrifft nicht nur die Frage nach den Teilnehmenden. Der Ritualmacher Lukas verdeutlicht durch seine Mahlerzählungen auch, dass weitere Ritualelemente variabel sind, solange das Mahl in Jesu Auftrag und in seinem Sinne gefeiert wird: Genauso wie Jesus Mähler in Häusern (u. a. 5,29–32), am Sabbat (14,1) oder unter freiem Himmel (9,10–17) halten kann, so können dies auch seine Nachfolger tun. Und: Obwohl das letzte Mahl Jesu dezidiert Passa und Passatheologie aufnimmt und rezipiert, ist die Wiederholung dieses rituellen
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Dies schließt natürlich keinesfalls Forderungen Jesu aus, die im Kontext seines Kontaktes mit ‚sündigen‘ Menschen stehen: Der Zöller Levi folgt ihm nach (5,27f.), Zachäus gibt Gestohlenes zurück und spendet einen großen Teil seines Vermögens (19,8). Die Sünderin, die Jesus aus Liebe rituell die Füße wäscht (7,36–50), erwirkt dadurch die Vergebung ihrer Sünden und den damit verbundenen (wenn auch nur impliziten) Auftrag, nicht mehr zu sündigen. Selbst die Armen und Kranken verändern sich: Durch Jesus werden sie geheilt und bekommen einen neuen Status, der nicht mehr ihre marginalisierte gesellschaftliche Stellung widerspiegelt (14,16–24). Das Öffnen der Augen der Emmausjünger geschieht dezidiert beim Brotbrechen (Lk 24,30f.). Jesu Entschwinden führt dann nicht zu neuer Lethargie (wie zum Beginn der Reise nach Emmaus), sondern zu neuem Tatendrang der Jünger. Dass sie das Brotbrechen als Zeitpunkt der Erkenntnis erlebt haben, wiederholen Sie ausdrücklich vor den Jüngern in Jerusalem (24,35f.). Ausführlich dazu in Kapitel 3.8. Lukas betont, dass die beiden Emmausjünger δύο ἐξ αὐτῶν (24,13) sind, also zu den Anhängern Jesu gehören, die durch die Frauen vom leeren Grab und der Engelserscheinung wissen. Auch dies ist ein Indiz für die Offenheit der lukanischen Überlieferung: Nicht nur Apostel wissen vom leeren Grab und der Auferstehungbotschaft der Engel, sondern auch eine Reihe von Frauen sowie Kleopas und sein anonymer Mitwanderer.
4.6 Lukas als Ritualmacher
275
Mahls davon unabhängig.42 Es muss nicht an Passa stattfinden, sondern wird als regelmäßiges43 Brotbrechen ein Zeichen der christlichen Gemeinde (Apg 2,42.46; 20,7), das Jesu Hinwendung zu Armen und Sündern ebenso wie sein letztes Mahl mit den Jüngern rezipiert. Jesu Umgang mit den rituellen Mählern und besonders der Auftrag, in seinem Namen Brot zu brechen, legitimiert das Mahlverständnis und die Mahlpraxis der Gemeinde. Seine Teilnahme an Mählern, seine Hinwendung zu Armen und Marginalisierten in Mählern und seine Konstituierung des Brotbrechenrituals ermöglichen die Weiterführung dieser Mahlpraxis über den Tod Jesu hinaus. Der Ritualmacher Lukas stellt Jesus dabei dezidiert als Ritualdesigner dar, durch dessen Neukontextualisierung aus den schon vorhandenen Ritualelementen Dankgebet, Brechen und Weitergeben des Brotes in Gemeinschaft mit dem auferstandenen Jesus Christus ein neues Ritual geschaffen wird, das zudem an die Mahlpraxis des irdischen Jesus mit „Zöllnern und Sündern“ anknüpft und diese weiterführt.44 Durch diese Darstellung legitimiert der Ritualmacher Lukas die rituelle Mahlpraxis seiner Zeit. Ein weiteres Indiz auf die hier vorgeschlagene rituelle Offenheit der Mähler ist dasjenige Ritualelement, das ihm seinem Namen gibt: Das Brot. Denn Brot ist das Grundnahrungsmittel der antiken Bevölkerung und dürfte auch bei den Ärmeren i. d. R. vorhanden gewesen sein, was man von Wein oder gar Fleisch wohl nicht sagen kann.45 Brot, als das antike Grundnahrungsmittel und Bestandteil nahezu jeder Mahlzeit, steht somit auch für Mähler εἰς τὴν ἀνάμνησιν Jesu regelmäßig zur Verfügung. Der Ritualmacher Lukas ermöglicht auf diese Weise die
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Ascough: Ritual modification, 179: „For Luke, there is no longer need for an annual Passover meal to recall God’s salvation; it can come regularly in the ritualization of daily meals.“ Das Brechen des Brotes am ersten Tag der Woche, also dem Tag der Auferstehung, laut Apg 20,7 könnte als Zeichen für ein wöchentliches Zusammenkommen gedeutet werden, vgl. Kaše: Meal Practices, 418. Marguerat: Meals, 530 sieht hier eindeutig ein christliches Ritual, denn es „takes place on the first day of the week, not in the Sabbath.“ Die hier im Kontext der ritualwissenschaftlichen Auslegung von Lukasevangelium und Apostelgeschichte dargestellte zweifache Begründung für christliche Mähler durch das Wirken Jesu in Alltagsmählern und eucharistischem Mahl beschreibt nur die Darstellung des Evangelisten Lukas. Ähnliche Überlegungen, die aber die historischen Verbindungslinien betonen, gibt es schon in der älteren Forschung, vgl. Lietzmann: Messe, und dessen kritische Würdigung bei Klinghardt: Gemeinschaftsmahl, 5–10. Der Speiseplan antiker Menschen ist natürlich je nach räumlichen und wirtschaftlichen Bedingungen unterschiedlich, vgl. Altmann/Al-Suadi: Essen, 112–115 und Stegemann/Stegemann: Sozialgeschichte, 82f. Neben Brot werden auch noch Fisch und Öl als jüdische Grundnahrungsmittel angegeben. Da Lukas aber im Kontext des gesamten Römischen Reiches denkt, bleibt nur Brot als Lebensmittel übrig, das überall zu bekommen bzw. herzustellen war.
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4 Theologischer Ertrag
Beteiligung an der rituellen Mahlgemeinschaft der Christen für alle Bevölkerungsschichten.46 Auch bei diesem Unterpunkt kann man Überlegungen zum Ritualtransfer anstellen: Wie bei den anderen hier besprochenen Ritualen existieren die einzelnen Handlungselemente auch schon vorher. Das gemeinsame und gemeinschaftsstiftende Mahl im Allgemeinen und das Nehmen, Weitergeben und Essen von Brot verbunden mit Gebet bzw. Dank an Gott oder einzelne Götter im Speziellen ist für den hellenistischen Menschen (auch für Jüdinnen und Juden) ritueller Alltag. Im frühchristlichen Ritual des Brotbrechens – mit Danksagung bzw. Lobpreis Gottes – werden diese Elemente übernommen. Das Ritual transferiert diese in den eigenen Kontext. Es erinnert sowohl an die Mahlpraxis Jesu als auch an sein letztes Mahl mit den Jüngern. Diese Mahlpraxis ist geprägt von Leben, Wirken und Heilshandeln Jesu, wie es in den Erzählungen der Mähler Jesu theologisch verstanden und weitergegeben wird. Die hier dargestellte Offenheit und Varianz vieler Mahlelemente ermöglicht dann den weiteren Ritualtransfer in neue Kontexte und Zeiten.47 Das Mahl εἰς τὴν ἀνάμνησιν Jesu Christi kann von allen Menschen an allen Orten gehalten werden, solange der Auferstandene in ihrer Mitte ist (Lk 24,30f.).
4.6.5 Lukas als Ritualmacher und die religiöse Umwelt der Antike Auch wenn Lukas seinen Protagonisten und Ritualdesigner Jesus mit Ausnahme des Vatergebets keine Ritualanleitungen überliefern lässt, weist er sich deutlich als Ritualmacher aus, der sich auf „das Konsultieren, Kopieren und Verstehen älterer Vorlagen, das Adaptieren, Interpretieren und Auswählen der richtigen Textgrundlage oder das Sammeln, Ergänzen bzw. gänzlich neu Verschriftlichen von rituellen Handlungen“48 versteht. Die narrative Darstellung des Lebens und Wirkens Jesu Christi und seines freien charismatischen Umgangs mit Ritualen legitimiert dabei das rituelle Handeln seiner Leser. Weil Jesus, so wie Lukas ihn darstellt, in charismatischer Offenheit mit Ritualen wie Taufe, Gebet, Schriftaus-
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Bormann (Abendmahl, 723) zum Brotbrechen: „Diese nicht-sinnliche und damit kontraintuitive Verbindung von Brot und Wein mit der Lebenshingabe Jesu erklärt auch, warum es dazu kommt, dass zahlreiche neutestamentliche Texte einfach von ‚Brot brechen‘ sprechen, wenn sie das Gemeinschaftsmahl bezeichnen. […] Das Brotbrechen ist einerseits nur wenig aufwendig, da es sich um einen Alltagsvorgang handelt, es ist andererseits höchst effektiv in seiner Funktion, die Gemeinschaft zusammenzuführen, zu inszenieren und dadurch zu regenerieren.“ Im Rahmen der lukanischen Schriften, also in den neuen Kontext der reichsweiten Mission bis zur Mitte des 1. Jahrhunderts. Gengnagel: Ritualmacher, 167.
4.6 Lukas als Ritualmacher
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legung und Mahl umgeht und weil er diese als Ritualdesigner durch Neukontextualisierung für die christliche Gemeinschaft erschafft, begründet er damit die christliche Ritualpraxis. Konstitutiv für diese ist das oben dargelegte Programm der rituellen Offenheit, das sich anscheinend im frühen Christentum durchgesetzt hat, wie Marco Frenschkowski feststellt: „Bei Lektüre unserer frühesten Zeugnisse über den christlichen Gottesdienst, das Abendmahl, die Taufe etc. gewinnt man nicht den Eindruck, dass die Genauigkeit des Vollzugs oder die Stabilität der gesprochenen Worte ein major concern gewesen wären: Keine zwei Fassungen der Abendmahlsworte oder des Vaterunsers sind in unseren frühen Texten identisch.“49 Bedenkt man nun die mögliche Verortung des lukanischen Doppelwerkes in Rom50 bzw. im Kontext römischer Ritualität,51 ergibt sich ein spannendes Gegenbild, denn „immerhin legen verschiedene antike Gesellschaften, allen voran die römische, größten Wert auf die präzise Ausführung des Rituals. Selbst minimale Fehler machen das Ritual ungültig, so wie kranke oder verstümmelte Tiere für das Opfer unbrauchbar waren (Plinius n.h. 8, 183).“52 Die rituelle Offenheit, von der Lukas in seinem Doppelwerk erzählt, verwundert insofern, als dass römisches Religions- und Ritualverständnis völlig anders ist:53 Während in der römischen Religion, besonders im Kontext von Opferritualen, die exakte Wiederholung von Worten und Handlungen immens wichtig ist, 49 50
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Frenschkowski: Ritual, 190 aus historischer Perspektive. Hiermit soll nicht ausgesagt werden, dass das lukanische Doppelwerk in Rom entstanden sein muss, obwohl es die altkirchliche Überlieferung mit der Hauptstadt des Römischen Reiches verbindet und das Ende der Apg in Rom dies nahelegen könnte (vgl. Wolter: Lk, 10, der Rom nicht ausschließt, ebenso Bovon: Lk I, 23, anders hingegen Klein: Lk, 68 (Philippi) und ders.: Frage, 467–477 mit Votum für Caesarea als Abfassungsort der Apg). Die römische Religions- und Ritualausübung ist im ganzen Reich und besonders in den römisch geprägten Stadtkolonien verbreitet. Eine Durchsicht über die verschiedenen Orte (allerdings in Bezug auf den Abfassungsort der Apg) bietet von Lips: Jerusalem, 345–358. Er nennt Rom/Italien, Achaia/Mazedonien, Ephesus/Kleinasien, Antiochien/Syrien und Cäsarea/Palästina. Er votiert für Ephesus, u. a. wegen der paulinischen Abschiedsrede, die dort lokalisiert wird (Apg 20,17–38). „Es spricht daher nichts dagegen, sondern alles dafür, dass Lukas in einer und für eine Gemeinde schreibt, die von Paulus gegründet und deren Verkündigung von ihm her geprägt ist. Nach den bisher beigebrachten Gesichtspunkten aus Text und Komposition der Apostelgeschichte ist dies Ephesus“ (357f.). Theißen: Lokalkolorit, 270 bleibt uneindeutig: „Das LkEv nimmt dagegen eindeutig eine Westperspektive ein.“ Für eine umfassende Darstellung der römischen Religion(sgeschichte) ist hier nicht der Raum. Ich fokussiere mich daher auf diejenigen Elemente, die einen direkten Bezug zu der darzulegenden Überlegung einer Differenz lukanischer und allgemein-römischer Religionsausübung aufzeigen. Einen umfangreichen Überblick bietet Jörg Rüpke: Religion in the Roman Empire. Vgl. auch Harriet Flower (Hg.): Empire and Religion in the Roman World und Udo Schnelle: Die getrennten Wege von Römern, Juden und Christen. Frenschkowski: Rituale, 178. Zum Zusammenhang zwischen (römischen) Polytheismus und Pluralismus vgl. den gleichnamigen Aufsatz von Rüpke (17–34).
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4 Theologischer Ertrag
und in einigen Texten eine vielfache Wiederholung des Rituals wegen minimaler Abweichungen beschrieben wird,54 zeigt Lukas einen christlichen Gegenentwurf.55 Zwar verfügen auch die im lukanischen Doppelwerk vorzufindenden Rituale – wie oben und in den Einzelexegesen gezeigt – über einen Grundstock an einheitlichen Vorstellungen und Handlungen, aber prinzipiell ist die Offenheit was Teilnehmer, Zeiten und Orte angeht, bemerkenswert. Der Ritualmacher Lukas verdeutlicht auf diese Weise, dass eine gewisse Konstanz christliches rituelles Handeln prägt, diese Konstanz aber eben nicht als einschränkend zu verstehen ist. Christliche Rituale stehen allen Menschen offen, wenn sie an Jesus als Christus und Sohn Gottes glauben (Apg 2,14–36). Die rituelle Freiheit der frühen Kirche, wie der Ritualmacher Lukas sie beschreibt, entwickelt sich aus der charismatischen Freiheit ihres Herrn, der Rituale nicht verneint oder meidet, sondern sie dezidiert für Lehre und Wirksamkeit nutzt. Genauso wie Jesus einen freien Umgang mit Ritualen lebte, so kann auch die auf ihn und in ihm gegründete Gemeinschaft leben. Das bedeutet keine Abwertung von Ritualen an sich oder macht das sich entwickelnde Christentum gar zu einer antirituellen Bewegung, allerdings legt die hier vorgetragene These der rituellen Offenheit einen Grundstock für die Abgrenzung der frühen Christen sowohl von jüdischer als auch von römischer Ritualität.56 Das in dieser Arbeit für das Lukasevangelium herausgearbeitete Differenzierungsmerkmal Ritual lässt sich passgenau in die neueste Ritualforschung integrieren, die die immense Relevanz von Ritualen für das Eigen- und Fremdverständnis von religiösen Gruppen in der Antike betonen.57 So verdeutlicht Richard DeMaris, der religiöse Übertretungen untersucht,58 dass einer der Gründe für den jüdischen Aufstand der Makkabäerzeit der Wegfall 54
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Vgl. Cancik-Lindemaier: Ort, 58–85, Philipps: Art. Opfer (Rom) und Gladigow: Sequenzierung, 72f. Schwiedler: Honoring, 31: Die römische Opferpraxis „famously emphasized precise performance of the rites […], whereas Greek and Judean practices were apparently less constrained by such rules.“ Diese Offenheit bezieht sich auch auf mögliche Beeinträchtigungen des Rituals. Dass bspw. „das Piepen einer Maus als fatale rituelle Störung imaginiert [wird]“ (Rüpke: Religion der Römer, 105), kann in der erzählten Welt des Lukas kaum vorgestellt werden. Öffentliche Rituale waren bekannt und führten teilweise zu besonderen Regelungen seitens der Römer. Als Beispiel lässt sich die Rücksichtnahme des Augustus bei der Brotverteilung in Rom nennen. Fällt diese auf den Sabbat, soll ein Teil für die Juden zurückgehalten werden (Philo, legat 158; vgl. Lichtenberger: Essen, 62). Dies ist insbesondere auffällig, da der Sabbat „wegen dessen Ruhegebot als Faulheit gedeutet wurde, mit der man ein Siebtel seiner Lebenszeit vergeude“ (ebd.). Rituale, die für Nichtjuden nicht oder kaum zugänglich waren, sind in der antiken Literatur kaum korrekt dargestellt. Eine ernsthafte oder gar positive Beschäftigung mit jüdischen Sitten lässt sich kaum erkennen, vgl. Lichtenberger: Essen, 61–76, der ausführlich die antike Fremdwahrnehmung in Bezug auf Essen, Opfer und Sabbat beschreibt. Der Vorwurf des rituellen Kannibalismus wurde auch gegenüber Christen erhoben (70). Vgl. DeMaris: Ritual transgression, 146–166.
4.6 Lukas als Ritualmacher
279
der Opferrituale für JHWH am jüdischen Tempel und die Umwidmung desselben zum Zeustempel gewesen ist:59 „Nevertheless, some Judean sources present the banning of ancestral rituals and imposition of foreign ones, that is, forced participation in sacrifice to gods other than the god of Israel, as the events that triggered the rebellion against him (1Macc 2:15–28; Josephus, Ant. 12.268–272).“60 Rituale sind ein wichtiger Faktor für das religiöse Selbstverständnis in der Antike. Ihre Handhabung und Umsetzung verdeutlichen sowohl die eigene Identität nach innen als auch die Abgrenzung zu anderen religiösen Gruppen nach außen. Das Gleiche gilt nach Barry Stephenson für die christliche rituelle Mahlpraxis, die nicht nur das Teilen der Nahrung („a clear form of strong social action“) unter Gleichgesinnten in den Mittelpunkt stellt. Hinzu kommt „the sharing of meals in early Christianity has been placed in the wider context of food practice in Judaism and Hellenistic culture, examining similarities and differences, and offering interpretations of how these differences helped establish theological positions and negotiate social identities.“61 Zu dem gleichen Schluss im Kontext eines anderen Rituals – der Taufe – kommt Agnes Choi, die die Wassernutzung im jüdischen, römisch-hellenistischen und christlichem Umfeld von Korinth untersucht.62 Dabei versteht sie die Taufe dezidiert als politisches Ritual, das die Auseinandersetzung mit anderen religiösen und rituellen Wassernutzungen als Unterscheidungsmerkmal beinhaltet. Diese Abgrenzung ist notwendigerweise subtil,63 da die christliche Gemeinschaft nur eine kleine gefährdete Minorität in der Stadt Korinth darstellt: „Because water was used in Christian baptism in ways that differed from both the Romans and the Jews, it contributed to Christian self-definition; that is, it signaled their separation from and resistance to those groups.“64 Das Ritual der Taufe hat nach Choi somit einerseits eine negative, abgrenzende, als auch eine positiv-gruppenbildende Funktion, die dezidiert die Besonderheit der christlichen Gemeinschaft erzeugt und begründet. Dies unterstützt Richard DeMaris, der im Ritual der Taufe Anpassung und Ablehnung der römischen Herrschaftskultur findet: „The prominence of a water rite in emergent Christianity signalled accommodation to Roman culture. At the same time, restricting baptism to a one-time-event (versus daily Roman bathing) signalled resistance to Roman hegemony. The rite inverted Roman practice.“65 59 60 61 62 63
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Vgl. DeMaris: Ritual transgression, 147ff. DeMaris: Ritual transgression, 149 (kursiv dort). Stephenson: Ritualization, 34. Vgl. Choi: Boundary-crossing, 75–91. So auch DeMaris: Water Ritual, 394: „In the case of the Jesus movement, which did not have legal standing, if nonconformity was too obvious, it could trigger Roman intervention.“ Choi: Boundary-crossing, 83 in Hinblick auf die Nutzung von Wasser bei Taufen in Korinth in Abgrenzung zum römischen Badewesen. DeMaris: Water Ritual, 405.
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4 Theologischer Ertrag
Als letztes Beispiel für die Relevanz von rituellen Handlungen bzw. das Weglassen oder absichtliche Scheitern von Ritualen liefert Jonathan Schwiedler aus der Umwelt der Evangelisten.66 Schwiedler zeigt, wie folgenreich das Ende der jüdischen Opfer für den römischen Kaiser in Jerusalem 66 n. Chr. gewesen ist: „This was not simply a symbolic gesture. In the ancient context, offering sacrifices for the well-being of Caesar was a show of honor. […] Honor, as we have seen, is enacted in both small gestures and larger ones, by speech and by attention paid to particular shrines and particular ritual activities. Neglect is its opposite; intentional neglect is its extreme opposite. In fact, it is open dishonor.“67 Die bekannten Folgen dieses Verhaltens, nämlich der jüdisch-römische Krieg, die Zerstörung des Tempels und Jerusalems und die Neukonstituierung des Judentums ohne Opfer am Tempel „marked a turning point for both Jewish and Christian history.“68 Wie an diesen Beispielen, die noch erweitert werden könnten, gezeigt werden kann, lässt sich die beobachtete rituelle Offenheit des Ritualmachers Lukas im antiken Diskurs über Rituale, deren Bedeutung und Relevanz einordnen. Rituale sind dabei ein immens wichtiger Faktor für die Integration weiterer Menschen in den neuen Weg Gottes (Apg 18,25f.). Ihr großer Gestaltungsspielraum erlaubt dabei die Anpassung an neue Kontexte, die die Ausweitung des Glaubens an Jesus Christus im Römischen Reich ermöglicht. Dies fügt sich in die Gesamtkonzeption des lukanischen Doppelwerks ein, welches bekanntermaßen den Aufenthalt des Apostels Paulus in Rom zum Ziel hat. Mit Paulus kommt der Glaube an Jesus als Christus und die Verkündigung endgültig in der Hauptstadt des Reiches an.69 Lukas nutzt seine Erzählung, um auf vielfältige Weise die Akkulturation des „Christentums“ in die römische Welt nicht nur als möglich, sondern auch als notwendig zu beschreiben. Um dieses Ziel zu erreichen, ist es wie oben beschrieben geboten, auf allzu rigide Ritualelemente zu verzichten oder anders gesagt: Nur wenn es eine rituelle Freiheit gibt, wie Lukas sie erzählt, kann die Lehre Pauli in Rom Früchte tragen, nur dann ist sie wirklich ἀκωλύτως (Apg 28,31). Der Evangelist bietet als Ritualmacher Rituale und Weisungen zur Ausgestaltung von Ritualen an, zugleich nutzt er die charismatische Offenheit Jesu als Anknüpfungspunkt und Legitimation für die programmatische rituelle Freiheit der Christenmenschen, für die er schreibt. Diese Freiheit ist ein religiöses Alleinstellungsmerkmal, welches keine Menschen ausschließt, sondern integriert und das durch seine Offenheit und Varianz Anteil am Erfolg der Zeugen Jesu hat, unter allen Völkern (Lk 24,47f.) und bis an das Ende der Erde (Apg 1,8). 66 67 68 69
Schwiedler: Honoring, 19–37. Schwiedler: Honoring, 33. Schwiedler: Honoring, 33. Dabei kann nicht einmal der Prozess gegen Paulus und der mit diesem in Zusammenhang stehende Hausarrest die paulinische Verkündigung, wie Lukas sie erzählt, aufhalten. Paulus lehrt zuletzt ungehindert (ἀκωλύτως) von seinem Herrn Jesus Christus.
5.
Ausblick und offene Fragen
Im Mittelpunkt dieser Untersuchung steht die Integration des lukanischen Jesus in die rituelle Umwelt seiner Zeit. Der Evangelist vertritt dabei ein bewusst offenes Verständnis von Ritualen. Um dies aufzuzeigen, ist nach der Darstellung ausgewählter Ritualtheorien und der Einzelexegese von sieben Perikopen des Lukasevangeliums in Kapitel 4 ein umfangreicher Blick in das lukanische Gesamtwerk geworfen worden. Für eine weitergehende ritualwissenschaftliche Untersuchung des lukanischen Doppelwerkes sind noch Fragen offen geblieben, die nicht umfänglich in dieser Arbeit beantwortet werden konnten. Diese sollen an dieser Stelle kurz ausformuliert werden und damit eine Grundlage für eine weitergehende Untersuchung neutestamentlicher Texte1 und des frühen Christentums darstellen.2 Als Themen für die weitere ritualwissenschaftliche Erforschung des Doppelwerkes sind, besonders unter Berücksichtigung der Apostelgeschichte, die im Rahmen dieser Arbeit nur unzureichend eingebunden werden konnte, zu nennen: (1) Welche Bedeutung hat der Tempel und der damit verbundene Opferdienst für die lukanische Leserschaft? (2) Wie lässt sich die lukanische Diskussion um den Umgang mit rituellen Speisevorschriften und Beschneidung aus ritualwissenschaftlicher Perspektive beschreiben? Darüber hinaus ist (3) auf die Entwicklung in der Alten Kirche zu blicken, die die rituelle Offenheit der Frühzeit durch dogmatische Festsetzungen einschränkt und damit mglw. eine Gegenbewegung zur lukanischen Programmatik aufzeigt. (1) Wie schon oft beschrieben wurde, lässt sich bei der geographischen wie topographischen Unterteilung von Evangelium und Apostelgeschichte ein Wechsel erkennen. Das Lukasevangelium fokussiert sich auf Jesu Wirken in Galiläa, Judäa und Jerusalem und lässt durch den Tempel eine Klammer um die ganze Erzählung erkennen: Ebenso wie die Erzählung des Evangeliums im Tempel – mit der Opferung durch Zacharias in Lk 1,8ff. – beginnt, lässt Lukas seinen Bericht im Tempel enden. Dorthin gehen die Jünger Jesu nach dessen Himmelfahrt, um Gott zu preisen (24,52f.). Diese Einbindung des Tempels in den Rahmen der Erzählung wird in der Apostelgeschichte ein Stück weit aufgegeben und
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Mein Schwerpunkt liegt hier auf der Apostelgeschichte als zweitem Werk des dritten Evangelisten. Für die Patristik liegen umfangreiche Forschungen vor, die hier nicht umfassend betrachtet werden können. Eine aktuelle Darstellung der Forschungslage bietet Rouwhorst: Paradigm Shift, 12–26. Vgl. auch den dazugehörigen Sammelband von N. Vos und A. Geljon (Hg.): Rituals in Early Christianity. In diesem Zusammenhang gilt (Lamoreaux: Negotiation, 133): „Given what we know of early Christianity and the innovation inherent in the burgeoning of the new religious movement, it is odd, that ritual has been left out of the discussion for so long.“
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5 Ausblick und offene Fragen
durch die Hinwendung zum Haus als Ort der Gemeinde ersetzt: Nach der Himmelfahrt gehen die Jünger in Apg 1,12ff. nicht wie im Lukasevangelium zum Tempel, sondern in das Obergemach eines Hauses in Jerusalem.3 Ebenso endet bekanntlich die Apostelgeschichte in einem Haus: Paulus ist in Apg 28,30f. in Hausarrest und wartet auf seinen Prozess, kann aber frei und ungehindert Besuch empfangen und Jesus Christus verkünden. In diesem Zusammenhang ist aus ritualwissenschaftlicher Perspektive ausführlich zu untersuchen, inwiefern der dargestellte Ortswechsel des Evangelisten im Doppelwerk Auswirkungen auf die rituellen Handlungen und Handlungsmöglichkeiten der Akteure wie Leser hat. Auch wenn besonders in Apg 3–7 der Tempel als Ort des Gebets (Apg 3,1f.) und der Zusammenkunft (2,46; 5,12) weiterhin wichtig ist, lässt Lukas seine Protagonisten in der Apostelgeschichte immer wieder in Häusern wirken, wie z. B. bei Pauli Besuchen in diversen Synagogen (z. B. 17,1; 18,4; 19,1)4 und Wohnhäusern (z. B. 16,15; 18,7; 21,8).5 Der Tempel spielt ab Kapitel 8 vorerst keine Rolle mehr und wird erst im Kontext der Verhaftung Pauli wieder wichtig werden (Apg 21f.). Doch was heißt es für die Durchführung und die Performanz frühchristlicher Rituale, wenn sich diese hauptsächlich in den Häusern der jüdischen Diaspora abspielen? Welche Auswirkungen auf Rituale und rituelles Leben der lukanischen frühen Christen ergeben sich aus dem Wechsel des Ortes und dem Fokus besonders auf kleinasiatische Städte?6 Lukas lässt nur die Apostel weiterhin in Jerusalem stationiert sein, auch wenn die anderen Jünger fliehen (Apg 8,1). Dabei macht der Fortlauf seiner Erzählung deutlich, dass die Zukunft der Kirche (präsentiert durch die paulinische Mission) in die Städte Kleinasiens bzw. des römischen Reiches führt. Aber was heißt dies für die Rituale der Gemeinschaft? Sind die – rituellen – notae ecclesiae aus Apg 2,42 weiter in Geltung?7 Inwiefern ändert sich das rituelle Leben der 3
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Mglw. möchte Lukas hier an das Obergemach, an dem das letzte Mahl stattfand (Lk 22,7ff.) erinnern. Ob sich dahinter ein Ritualort verbirgt, an dem auch das Mahl aus Apg 1,4 zu verorten wäre, macht der Text nicht deutlich. Das Haus wird im Laufe der Apostelgeschichte immer deutlicher zum Standort christlicher Identität. Marguerat: Meals, 517: „As a result throughout Acts, the home becomes in fact the place where Christian identity is composed, the identity of a religious movement with neither temple nor synagogue.“ Zur Synagoge muss allerdings betont werden, dass der Begriff nicht nur ein Gebäude, sondern auch eine Zusammenkunft in einem Privathaus oder unter freiem Himmel meinen kann. Vgl. dazu Maguerat: Meals, 519, der sich für die Neukonstituierung des lukanischen Christentums in den Häusern der römischen Welt, nicht im Tempel und nicht in der Synagoge, einsetzt: der Tempel „is no longer the place where the Christian identity is crystallised“. Die Relevanz von Kultorten für die religiöse Identität betont Rüpke: Identität, 19–44. Laut dem Lukasevangelium verlässt Jesus das Heilige Land nicht (anders die matthäische Kindheitsgeschichte: Mt 2,13–15.19–23). Er hält sich zudem – mit der Ausnahme Jerusalems – nur in Dörfern auf. Die Apostel und Paulus sind zudem hauptsächlich in (großen) Städten anzutreffen, sogar in Antiochia, Athen und Rom. Apg 2,42 nennt Lehre der Apostel, Gemeinschaft, Brotbrechen und Gebet als Kennzeichen der Urgemeinde.
5 Ausblick und offene Fragen
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Nachfolger Jesu, wenn die eigentlichen Garanten, nämlich die mit Jesu Agency ausgestatteten Apostel, räumlich immer weiter von den neuen Orten religiösen wie rituellen Lebens der Christen entfernt sind? Hinzu kommt: An keiner Stelle der Apostelgeschichte erscheinen die jüdischen Opfer an JHWH, die ja die eigentliche Funktion des Tempels darstellen, als integrierendes Ritual, das die „Gemeinschaft als Ganzes“ (re-)produziert.8 Im Gegenteil: Die im Kontext der Opferungen benötigte rituelle Reinheit lässt ihn eher als einen Ort der Trennung erscheinen, wenn z. B. der Lahme am Schönen Tor nicht hinein darf (Apg 3,2; vgl. 2Sam 5,8LXX9), ebenso wie der Eunuch in Apg 8 (vgl. Dtn 23,2).10 Die Taufe des Letzteren macht deutlich, dass das lukanische Verständnis der christlichen Rituale und die rituelle Offenheit derselben eine Integration des Eunuchen zulässt, während der Tempel und das dort stattfindende Opfer dies verhindert. Lukas beschreibt nicht explizit die Abwendung der ersten Christen vom Tempelritual. Paulus zahlt die Opfer für vier Nasiräer (Apg 21,18–26). Aber sogar in dieser Erzählung wird durch die Opfertätigkeit des Apostels nicht Gemeinschaft rituell produziert. Stattdessen wird Paulus in Folge seines Auftretens in Jerusalem in einen Aufruhr verwickelt und kann – ausgerechnet – durch die heidnischen Römer vor dem Tod bewahrt werden. Zu untersuchen ist zudem, ob sich bei der Darstellung der Rituale im lukanischen Doppelwerk die zur Zeit der Abfassung schon einige Jahre zurückliegende Tempelzerstörung spiegelt, wie Ascough vermutet: „In light of the Roman destruction of the Jerusalem temple 70 CE, and thus the disappearance of the context of temple rites, along with the increasing number of non-Judeans becoming Christ adherents, Luke’s portrayal of the temple both underlines its importance as part of the heritage of the Christ groups while pointing the way to ritual modifications for a new time and place. Rather than narrate new or replacement rituals, Luke is evocatively indicating that modifications to the customary place of temple within ritual behavior were acceptable and even necessary in Jesus’ own lifetime.“11
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Der Tempel bzw. Jerusalem ist ein integraler Bestandteil der religiösen Tradition und Konstitution von Juden, Christen und Muslimen. Eine Übersicht über die Auswirkungen des „reale[n], literarische[n] und ikonographische[n]“ Tempels findet sich bei Küchler: Tempel, 129–165. Die Tora sieht eigentlich nur den Ausschluss behinderter Priester aus dem Priesterdienst vor, ohne sie als unrein zu bezeichnen (Lev 21,17–23). 2Sam 5,8LXX hingegen spricht von einem Verbot für Blinde und Lahme εἰς οἶκον κυρίου zu gehen; vgl. Schorch: Art. Behinderung. Dtn 23,2 verbietet es ‚Verschnittenen‘ in die Gemeinde JHWHs zu kommen. Zum Eunuchen vgl. Haacker: Apg, 166ff. Ascough: Ritual modification, 179. Er setzt fort (180): „The destruction of the Second Temple in 70 CE once again leaves in question how God is to be seen as present with God’s people. For Luke, who sees God’s people as inclusive but broader than the Judeans, God’s
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5 Ausblick und offene Fragen
(2) Neben den Opfern im Jerusalemer Tempel gehören die rituellen Speisevorschriften und die Beschneidung zu den Gemeinschaft (re-)produzierenden Ritualen des Judentums. Für Lukas wird im synoptischen Vergleich deutlich, dass die Frage nach dem Umgang mit rituellen Speisevorschriften nicht in den Kontext des irdischen Jesus platziert wird. Während der markinische Jesus im Kontext der Frage nach Reinheit und Unreinheit die Unterscheidung bei Speisen aufhebt – so jedenfalls die Notiz des Erzählers in Mk 7,1912 – äußert er sich im Lukasevangelium nicht zu dieser Frage.13 Dies ist insofern konsequent, als dass Lukas Zusammenkünfte Jesu mit Nichtjuden nicht in seine Erzählung einbaut.14 Innerhalb der jüdischen Gemeinschaft stellt sich die Frage nach dem Verzehr von unreinen Speisen eher nicht.15 Im zweiten Teil des lukanischen Doppelwerks weitet sich die Blickrichtung deutlich über Israel hinaus. Der Fokus liegt spätestens ab Kapitel 10 auf der Mission von Nichtjuden, die die Nähe zur jüdischen Gemeinschaft suchen, häufig als ‚Gottesfürchtige‘ beschrieben. Als Beispiel dient hier der Centurio Kornelius, der als εὐσεβὴς καὶ φοβούμενος τὸν θεὸν bezeichnet wird (Apg 10,2). Nun stellt sich die Frage, wie im Kontext der sich bildenden christlichen Gemeinden mit diesen Menschen umgegangen werden soll? Die rituellen Speisegebote dienen für jüdische Menschen als identity markers sowohl in die eigene Gruppe hinein als auch als Abgrenzung von den anderen Völkern.16
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presence is known through contact with the risen Jesus. Although the temple was significant in the ritual life of Judeans prior to the time of Jesus, Luke understands the death and resurrection of Jesus to have obviated the need for the temple, since its core rituals are more immediately available to Jesus adherents wherever they are located.“ Mk 7,1f. beginnt mit der Anfrage der Pharisäer, warum sich die Jünger Jesu nicht vor dem Essen die Hände waschen. Jesus erklärt, dass nicht das, was in den Menschen hineinkommt (Essen, andere Äußerlichkeiten) ihn unrein macht, sondern die Dinge, die aus ihm herauskommen, die also seine Handlungen gegenüber den Mitmenschen betreffen (Mord, Unzucht usw.). Der vom Erzähler in 7,19 formulierte Spitzensatz fehlt bezeichnenderweise in der matthäischen Überlieferung (Mt 15,1–20), die ansonsten nah am Mk-Text ist. Der gesamte Abschnitt Mk 7,1–23 bzw. Mt 15,1–20 fehlt in der lukanischen Überlieferung. So überliefert Lukas nicht den Exorzismus der Tochter der Syrophönizierin in Tyros (Mk 7,24–30; Mt 15,21–28), lässt den Hauptmann von Kapernaum als Heiden nur über jüdische Mittelsmänner mit Jesus sprechen (Lk 7,1–10) und schwächt die Aussage des römischen Hauptmannes am Kreuz ab: Statt der Erkenntnis Jesu als Sohn Gottes spricht der Soldat von ihm als einem Gerechten (Lk 23,47f., vgl. Mk 15,39). Auch die Diskussion um Speisegebote in den paulinischen Briefen (z. B. Röm 14) reflektieren schon die Anwesenheit von Nichtjuden in der christlichen Gemeinschaft. Die vielfältigen Speisegebote im AT (z. B. Dtn 14,3–21) verweisen häufig auf die Heiligkeit JHWHs bzw. des Volkes (Dtn 13,21). Heiligkeit und Reinheit sind offensichtlich rituelle Begriffe, da sie im Zusammenhang mit dem Tempel stehen. Wer am Tempelkult partizipieren möchte, muss rein sein; vgl. Ego: Art. Reinheit. Schon Mary Douglas beschäftigte sich ausführlich mit der Reinheit im Kontext der alttestamentlichen Gesetze; vgl. dazu Kapitel 2.3.6 dieser Arbeit.
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An dieser Stelle muss zukünftig aus ritualwissenschaftlicher Perspektive untersucht werden, inwiefern die Ablehnung der rituellen Speisegebote Auswirkungen auf die durch Rituale erreichte (Re-)Produktion der Gemeinschaft als Ganzes hat. Auch wenn die These naheliegt, dass Lukas hier – wie schon in Kapitel 4.6 dieser Arbeit gezeigt – die programmatische rituelle Offenheit als Grundlage für seine Darstellung der rituellen Welt der Christen versteht, muss dies genau analysiert werden. Dabei könnten die teilweise vergleichbar verlaufenden Diskussionen in anderen neutestamentlichen und frühchristlichen Texten mit einbezogen werden – vgl. dazu Unterpunkt 3 dieses Abschnittes. Wie schon erwähnt, wird bei Lukas, anders als im Markusevangelium, die Reinheit aller Speisen nicht durch eine Aussage Jesu begründet, sondern in Apg 10f. direkt durch eine himmlische Stimme legitimiert: Petrus verweigert zunächst das Essen unreiner Tiere, wird aber durch die göttliche Stimme überstimmt (Apg 10,15). Aber wie lässt sich diese Erzählung ritualwissenschaftlich beschreiben? Will Lukas Gott an dieser Stelle als Ritualdesigner auftreten lassen, der sein eigenes Ritualdesign – die alttestamentlichen Speisegebote entstammen ja direkt aus der Offenbarung JHWHs am Sinai – abändert und nun das Unterlassen einer vorher geltenden rituellen Regel verlangt? Gott hatte ja im Verlauf des AT mehrfach Weisungen zur Nahrungsaufnahme gegeben.17 Greifen die in dieser Arbeit benutzten Konzepte wie Agency oder Performanz bei der Abschaffung eines Rituals? Liegt hier die göttliche Stimme auf derselben Ebene wie bei Taufe und Verklärung Jesu? Ähnliches gilt für die in Apg 15 ausgeführte Diskussion um die Beschneidung von Nichtjuden, die in die christliche Gemeinschaft aufgenommen werden sollen. Auch hier wird ein Ritual – zumindest für einen Teil der Christen – nicht fortgeführt. Interessanterweise ist es aber keine göttliche Stimme, die die Änderung legitimiert, sondern die Versammlung in Jerusalem und insbesondere das Zeugnis Petri und die Festlegung durch Jakobus. Liegt an dieser Stelle – aus ritualwissenschaftlicher Sicht – ein Wechsel des Ritualdesigners vor? Ist damit die Agency Jesu bzw. Gottes auf die Kirche übergegangen, ausgerechnet auf eine Versammlung, die in späterer Lesart als „Apostelkonzil“ in den direkten Zusammenhang mit den altkirchlichen Konzilien gestellt wurde? Dies passt auch zur Nachwahl des zwölften Apostels: Obwohl Lukas Jesus 40 Tage bei den Jüngern sein lässt, geht die Initiative der erneuten Vollzähligkeit der Apostel von Petrus aus, der sich vor die versammelte Gemeinschaft – Apg 1,15 spricht von 120 Brüdern – stellt.
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So kennt schon der zweite Schöpfungsbericht das Verbot, vom Baum der Erkenntnis zu essen (Gen 2,16f.). Fleisch als Nahrung wird dem Menschen erst nach der Sintflut freigegeben (Gen 9,3).
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Der alte Vorwurf, Lukas betreibe in der Apostelgeschichte ‚Frühkatholizismus‘,18 könnte aus dieser Perspektive doch treffend sein, wenn sich ritualwissenschaftlich zeigen ließe, dass die Vollmacht bzw. Agency, Rituale zu schaffen – also Ritualdesign zu betreiben – auf die frühe Kirche übergegangen wäre. Lukas wäre demnach nicht nur als Ritualmacher für die durch Jesus gegebenen bzw. an ihm und seiner Wirksamkeit orientierten Rituale zu verstehen, sondern würde seine Tätigkeit als Ritualmacher ausweiten auf Rituale der Kirche, die höchstens indirekt auf Gott bzw. Jesus zurückzuführen sind. Stimmt diese noch zu untersuchende These, wäre das eine deutliche Veränderung der bisher beschriebenen Vorgehensweise des Evangelisten. Denn, wie in 4.6 dargestellt, nutzt der Ritualmacher Lukas dezidiert die rituellen Handlungen Jesu und legitimiert damit das Handeln der Jünger z. B. bei Mählern oder bei der Taufe. Dabei versteht der Evangelist die beiden Rituale insofern als Weiterentwicklung der Rituale Jesu, als dass keine Imitation des ursprünglichen Rituals notwendig ist. Sollte die Kirche bzw. der Apostelkonvent in Apg 15 als Ritualdesigner zu verstehen sein, ginge dies über eine Weiterentwicklung hinaus. Es wäre nämlich ein direkter Bruch, denn dann würde der ‚neue‘ Ritualdesigner sich dezidiert gegen ein an Jesus durchgeführtes und im Lukasevangelium in keiner Weise kritisiertes Ritual wenden. Die Beschneidung Jesu wäre nicht mehr die Legitimation für das rituelle Handeln der Jünger.19 Gleichzeitig könnte dieses Verständnis der Kirche als Ritualdesigner ein Zeichen für die beginnende Institutionalisierung im frühen Christentum sein. (3) Der schon erwähnte Vorwurf, der Evangelist Lukas betreibe bzw. vertrete ‚Frühkatholizismus‘, steht im Gegensatz zu der rituellen Offenheit, die in dieser Arbeit für das Lukasevangelium als programmatisch erkannt wurde. Zudem gibt es durchaus Entwicklungen in der nachneutestamentlichen Zeit bis hin zu den Kirchenvätern, die einen Kontrast zum offenen Umgang mit vielen Ritualelementen durch den dritten Evangelisten bilden.20 18
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Der von Troeltsch 1908 wertungsfrei eingeführte Begriff ‚Frühkatholizismus‘ für die Zwischenzeit von der Jesusbewegung zur Alten Kirche ist in der späteren Forschung abwertend verstanden worden, so z. B. bei Käsemann und seinen Schülern; vgl. Alkier: Art. Frühkatholizismus. Zwei Gegenargumente wären hier möglich: (1) Die Beschneidung Jesu wird nur an ihm durchgeführt, ist aber eigentlich eine Erfüllung des Gebots an seine Eltern. Jesus selbst äußert sich dazu nicht. Die anderen auf Jesus bezogenen Rituale sind hingegen dezidiert mit dem intentionalen Wirken Jesu verknüpft. Andererseits wäre es verwunderlich, wenn Lukas die Beschneidung von vorneherein für obsolet erklären wollte, diese aber in Lk 2 mit keinem Wort kritisiert. (2) Könnte man einwenden, dass die Beschneidung an jüdischen Jungen gar nicht in Apg 15 verhandelt wird. Dementsprechend würden Juden, die an Jesus glauben, genauso wie der Jude Jesus beschnitten werden. Eine eigenständige Legitimation für das Ritual der Beschneidung ist für jüdische Menschen bzw. jüdische an Jesus glaubende Eltern nicht nötig. Ein bisher noch nicht zur Sprache gekommenes Element könnten die den Aposteln zugesprochenen ‚indirekten‘ Heilungen sein, die Lukas in Apg 5,15 von Petrus bzw. seinem
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Wenn man aber die in Unterpunkt 2 beschriebenen Tendenzen zu einer gewissen Institutionalisierung in der Apostelgeschichte als Wechsel des Ritualdesigners weg von Jesus und hin zur Kirche versteht, lassen sich entsprechende Entwicklungslinien vom lukanischen Doppelwerk zum späteren Umgang mit Ritualen entdecken. Einen Anfangspunkt stellt die Didache dar, die am Ende des 1. Jh. „für eine oder mehrere christliche Gemeinden in (West-)Syrien zusammengestellt worden“ ist.21 Die Didache beschreibt in den Kapiteln 7–10 einzelne rituelle Elemente (Taufe, Fasten, Vatergebet, Eucharistie). Dabei lässt sich am Beispiel der Taufe (Did 7) zeigen, dass beim Untertauchen des Täuflings zwar die Bevorzugung von kaltem fließenden Wasser gegenüber anderen Wasserarten festgelegt wird, eine gewisse rituelle Offenheit aber das Taufen mit jeglichem Wasser erlaubt. Hier steht – und das gilt sicherlich auch für Lukas – das ‚Das‘ der Taufe und weniger die konkrete rituelle Durchführung im Vordergrund. Im Gegensatz dazu legt Did 8 – und solches ist Lukas fremd – die genauen Tage des Fastens fest: mittwochs und freitags soll gefastet werden und nicht – wie es „die Heuchler“ tun – montags und donnerstags. Damit zeigt die Didache als frühe Kirchenordnung einerseits eine Parallele mit lukanischem Ritualverständnis und andererseits die rituelle Offenheit einschränkende Elemente. Im Verlauf der nachneutestamentlichen Zeit wurde sich weiterhin ausführlich mit Ritualelementen und besonders mit der Frage, wer Rituale leiten bzw. durchführen darf, beschäftigt. Dabei wird deutlich, dass die Frage nach dem Amt der Ritualleiter immer mehr in den Mittelpunkt rückt. So kennt Justin in der Mitte des 2. Jh. (Iust.1 apol 65–67) Vorsteher,22 die für das Abendmahl zuständig sind. Diese sprechen Gebete und verteilen Brot, Wein und Wasser. Diakone (διάκονοι) bringen diese Ritualelemente dann zu den Abwesenden. Dies könnte eine Weiterentwicklung der schon im NT auftauchenden Ämter sein23 und schließt mglw. an die Einsetzung von Bischöfen (Apg 20,28) durch Paulus an. Ungefähr zur gleichen Zeit24 wie Justin spricht Ignatius im Zusammenhang mit der Eucharistie von Bischöfen und Ältesten (IgnEph 20: ἐπισκόποι και
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Schatten und in 19,12 von Paulus bzw. dessen Schweißtüchern erzählt. Haacker: Apg, 112 fragt, ob diese Texte „eine Steilvorlage für den späteren Reliquienkult“ darstellen. Die erhofften Heilungen bzw. Segnungen durch Reliquien und durch Rituale, die mit diesen in Verbindung stehen, wären dann eine Fortsetzung dieser und ähnlicher Vorstellungen (vgl. Lk 8,43–48). Van de Sandt: Art. Didache. Zu Mählern in der Didache vgl. McGowan: Meals, 68. Justin spricht von τῷ προεστῶτι τῶν ἀδελφῶν, denen Brot, Wein und Wasser gebracht werden. Das Amt des Diakons wird schon in den paulinischen Briefen erwähnt: Phil 1,1; 1Tim 3,8.12. Eine Aufzählung weiterer Ämter überliefert Eph 4,11: Apostel, Propheten, Evangelisten, Hirten, Lehrer. Die Ignatiusbriefe datieren Anfang des 2. Jh. Seine Lebensdaten sind nicht genau bekannt; vgl. Dehandschutter: Art. Ignatiusbriefe, 34–36 sowie Schoedel: Art. Ignatius von Antiochien, 40–45.
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5 Ausblick und offene Fragen
πρεσβυτερίοι).25 Er geht sogar so weit, dass Eucharistie bzw. Liebesmahl und Taufe nur gültig sind, wenn sie durch einen Bischof (oder einen Beauftragten) durchgeführt werden (IgnSm 826). Diese, der rituellen Freiheit des Lukas widersprechende, Entwicklung wird weiter komplettiert durch die von der Kirchenordnung des Hippolyt abhängigen Canones Hippolyti, die wohl aus dem 4. Jh. stammen.27 Dort – im 19. Canon – findet sich u. a. eine ausführliche Ritualanleitung für die Taufe, die wie selbstverständlich nur durch den Bischof geleitet und durchgeführt werden kann. Auch werden Kleidung, vorheriges Fasten, Wochentage, Wasserart usw. explizit festgesetzt, ganz im Kontrast zu der in dieser Arbeit festgestellten rituellen Offenheit des Ritualmachers Lukas. Durch die aufgeführten Beispiele, die noch erweitert werden könnten, stellt sich die Frage, warum die rituelle Offenheit des Lukas sich nicht in der frühen Kirche durchgesetzt hat. Warum wird die Agency, die die Ritualdurchführung ermöglicht, nun exklusiv an den Bischof gebunden? Liegt hier – quasi als eine Art Gegenprogramm zum lukanischen Doppelwerk – eine Anpassung an hellenistische bzw. römische Ritualpraxis zugrunde, die Opfer, Priester und exakt festgelegte Ritualabläufe als Grundlage religiöser Praxis versteht? Oder stellt die lukanische Überlieferung einen Startpunkt dar, bei dem der Status des Ritualdesigners auf die Kirche und damit auf die Amtsträger übergeht? Die spätere Entwicklung weg von der rituellen Offenheit des Beginns könnte so von Lukas her begründet werden. Weiterhin ist zu fragen: Warum verfestigt sich der Ort der Ritualperformanz im Laufe der Zeit in eigenen Gebäuden, während doch die Apostelgeschichte, in Kontinuität zum rituellen Wirken Jesu, die Festlegung auf spezielle Orte für Taufe und Mahl verneint und diese sowohl unter freiem Himmel wie auch in Häusern durchführen lässt? Zudem müsste untersucht werden, inwiefern der Ritualdesigner Jesus für die Kirchenväter eine Rolle spielt: Welche rituelle Kontexte beschreibenden Texte des Neuen Testaments werden aufgegriffen und zitiert? Gewinnt dabei die lukanische rituelle Freiheit Raum oder wird diese durch die immer stärker zu Tage tretende Institutionalisierung in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten ersetzt? Ist damit – provokativ formuliert – der Ritualmacher Lukas mit seinem Programm der rituellen Offenheit gescheitert?
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IgnEph 20,2 spricht vom Brechen eines Brotes, mglw. im Anklang an lukanischen Sprachgebrauch. IgnSm 8,1: Keiner soll irgendetwas von den Dingen, die die Kirche betreffen, ohne den Bischof tun. Jene Eucharistie soll als zuverlässig gelten, die unter dem Bischof oder einem von ihm Beauftragten stattfindet (zitiert nach Schröter: Abendmahl (2006), 75). Laut Marcovich: Art. Hippolyt von Rom, 385 ist die Kirchenordnung Hippolyts, neben der Didache, „die älteste Kirchenordnung, die wir kennen.“ Sie ist nur in Übersetzungen überliefert. Die späteren (4. Jh.) Canones Hippolyti basieren anscheinend auf ihr, vgl. Bradshaw: Art. Kirchenordnungen, 667ff.
5 Ausblick und offene Fragen
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Diese Fragen zeigen: Das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte stellen offensichtlich keinen Endpunkt der Entwicklung christlicher Rituale dar. Die lukanische Programmatik der rituellen Offenheit ermöglicht die Ausbreitung der Nachfolger Jesu im gesamten römischen Reich.28 Das macht sie gleichzeitig zum Ausgangspunkt weiterer Entwicklungen christlicher Theologie und bildet damit die Brücke zwischen der sich entwickelnden Kirche und dem Nazarener (Apg 2,22; 3,6 u. ö.) Jesus Christus.
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Das lukanische Doppelwerk muss daher nicht als Apologie des Christentums verstanden werden (oder gar als Verteidigungsschrift für Paulus), denn „das LkEv und die Apg [waren] nicht für die Rezeption durch gebildete und politisch einflussreiche Römer gedacht. Es ist heute weitgehend anerkannt, dass Lukas für christliche Gemeinden schrieb und als intendierte Adressaten typische Christus-Gemeinden seiner Zeit vor Augen hatte“ (Schreiber: Lukas, 149, kursiv dort).
6.
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7.
Register (in Auswahl)
Altes Testament Genesis 2,16f. 8,6–12 9,3 17,12 21,4 49,24
285 92 285 71, 240, 241 240, 241 88
Exodus 4,22 12,1–4 12,14 12,14–49 13,2 13,15 20,7 22,17–19 24,3–8 24,8 23,14–17 34,29–35
83 240 261 209 71 71 172 251 204, 213, 261 199 71 219
Leviticus 1,1–47 23 12,3 71, 240, 241 12,5–8 240 12,6–8 71, 241 12,6–12 92 12,8 71 14,2–32 252 21,17–23 283 25,8–54 118 Numeri 19,17 148 Deuteronomium 5,11 172 6,20–25 205 13,21 284 14,1–21 22
14,3–21 14,1 15,1ff. 16,1–8 20,5–7 23,2 32,6 32,19
284 83 118 82 176 283 83 83
1. Samuel 2,26 77 9,21–24 171 10,1–12 93 10,2–8 191 15,17 171 16,13 93, 106 21,2–7 253 24,7 93 24,11 93 16,13 92 2. Samuel 5,8 283 7,14 83 23,16f. 198 1. Buch der Könige 17,9–24 124 2. Buch der Könige 5,1–14 124 5,14f. 125 5,15b–27 125 Jesaja 1,1–32 40,1–11 40,3–5 42,1 42,2 53,7f. 45,11 49,1
97 97 97, 266 93, 109, 212 212 271 83 212
49,5 49,26 53,7 53,12 58,6 61,1 132 61,1–2a 63,19
212 88 266 200, 223 116 106, 109, 128, 116 90
Jeremia 1,1 16,7 31,31–34 38,31–34
87 193 199, 202, 206 204
Ezechiel 24,8 148 Hosea 6,6 11,1
240 83
Joel 3,1–5
102, 271
Psalter 2,7 69,26 75,8 91,11f. 109,8 132,2 146,7–9
83, 93 271 172 126 271 88 118
Sprüche 21,3 240 25,6–7 167 Hiob 22,29
172
308 Hohelied 1,15 92 2,14 92 4,1 92 Nehemia 8,4 120 8,7 120 Jesus Sirach 48,3 124 1. Buch der Makkabäer 2,15–28 279 Neues Testament Matthäusevangelium 2,13–15 282 2,19–23 282 3,12 100 3,13–17 107 3,16 91, 92, 95 4,18 112 4,18–25 113 6,5–7 248 7,7–11 249 9,6–13 65 10,1–42 101 12,9–14 167 13,52 272 13,54–58 126 13,55 127 13,58 125, 134 14,21 254 15,1–20 284 18,23–35 148 20,25–28 189 21,28–31 147 22,1–14 185 22,3f. 181 22,11f. 181 22,13 181 23,6 167 23,12 171 26,20 233 26,26 200 26,17ff. 190
7 Register 26,26 26,27 27,3–5 27,18 27,23f. 28,2ff. 28,19
233 198 201 220 220 221 101
Markusevangelium 1,5 91 1,9–11 13 1,9–15 100 1,9 89, 90 1,10 90, 91, 92, 94, 95 1,16 112 1,16–20 113 1,29–31 84 1,35 247 1,39 252 1,40–45 247 2,24 253 3,1–6 167 3,13 90 6,1–6 126 6,2 130 6,3 127 6,4 124 6,5 125, 134 6,7–13 42, 101 6,14–29 88 6,21–29 254 6,30–44 254 6,44 254 7,1f. 284 7,1–23 284 7,24–30 284 10,42–45 189 12,1–9 163 14,3–9 142, 143 14,13 190 14,22 200, 233 14,23 198, 200 15,34f. 124 15,38 90 15,39 284 16,5 221 16,7 228
16,1–8 230 16,9–20 219 Lukasevangelium 1,1–4 54, 58, 226, 264, 265 1,1 239 1,3 60 1,4 265 1,5 87, 239 1,7 239 1,8ff. 281 1,9f. 239 1,10 240, 169 1,15 111, 128 1,18–20 239 1,26–38 219, 240 1,32 93, 96, 99 1,34f. 239 1,35 93, 96, 99, 127, 138, 246 1,36 240 1,39–45 113 1,41 111, 127, 246 1,43 183 1,46–55 246 1,52f. 258 1,53 186 1,57–66 240 1,67 111, 127, 246 1,68–79 97, 246 1,80 87, 127, 240, 243 2,1f. 87 2,7 191 2,11 106 2,17–21 271 2,19 77 2,22–24 240 2,24 92 2,25 128, 246 2,26 106 2,29–32 246 2,34 140 2,41–52 31, 36, 69, 70, 82, 85, 113, 187, 189, 190, 191, 236, 241, 242, 243
7 Register 2,40 77 2,41f. 240, 241 2,44f. 123, 153 2,47 74, 80 2,48 80, 240 2,49 76, 81, 96, 99, 153, 236, 246 2,50 81, 236 2,51 236, 241 2,52 243 3,1 87, 113, 243 3,3 41 3,4 87 3,3–18 98 3,4–6 270 3,7–14 240 3,7–18 97 3,15 245 3,16 104, 244 3,18 88 3,20 99 3,20–23 244 3,21f. 21, 36, 38, 86, 96, 134 245, 247, 250, 266 3,22 70, 138, 242, 266 3,23 76, 108, 109, 127, 245, 251 3,23–38 122 4,1 87 4,1–13 96, 128 4,7 248 4,9ff. 139 4,14f. 128, 134, 249 4,16 253 4,16–30 31, 36, 46, 85, 106, 108, 109, 112, 126, 130, 141, 157, 161, 246, 250, 257, 271, 272 4,17ff. 156, 250 4,18 108, 129, 153, 161, 255, 258, 270 4,19 127 4,21 159, 181, 221, 256 4,22 123, 138, 153
309 4,24 127 4,25–27 137 4,28f. 251 4,31 252 4,32 132 4,33–37 252 4,41 93 4,44 114, 252 5,1–11 142 5,8 183 5,12–16 247 5,12–14 24, 241, 252 5,12 183 5,16 247 5,17–26 150, 159 5,17 166 5,22 150 5,24 242 5,27–32 163 5,29–32 141, 162, 254, 256, 260, 272 5,30 182 5,33 247 5,34 183, 257 5,34–39 247 5,35 183 6,1–5 253 6,2 253 6,5 186, 253 6,6–12 165 6,6–11 167, 252 6,7 165 6,8 167 6,9 182 6,10 166 6,11 165 6,12 247, 268 6,12–16 109, 246 6,16 188 6,20f. 184 6,21b 145, 186 6,32–35 173 7,1–10 284 7,5 115 7,11–17 141 7,13 145, 183 7,18f. 245 7,18–23 95, 128
7,18–35 101, 141 7,22f. 117, 129, 250, 257, 258 7,24–35 244 7,26 151 7,33f. 151, 255 7,34 161, 163, 255 7,36–50 17, 36, 38, 54, 128, 140, 162, 168, 198, 254, 255, 256, 260, 273, 274 7,36 155 7,39 155, 255 7,46 144 7,47 146, 149, 255 7,50 151, 163, 256 8,1–3 142, 151, 255, 273 8,2–3 144, 161 8,11–19 159 8,19–21 44, 70, 79, 85, 242 8,19–22 86 8,28 93 8,41–56 74 8,41 164 8,43–48 159, 287 8,48 151 9,1–6 44, 101 9,2 118 9,7–9 88 9,10–17 195, 254, 274 9,11–17 231, 260 9,12 232 9,16 202, 232 9,18–36 83 9,18 247 9,14 154 9,16 263 9,22 223 9,26 223 9,27 262 9,28f. 247 9,28–36 109, 190, 259 9,35 94 9,44 223 9,46–48 171 9,51ff. 163
310 9,57–62 85 10,1–12 44 10,9 262 10,25–37 147 10,25 70 10,27f. 270 10,38–42 273 11,1 247 11,1–3 268 11,1–13 247, 259 11,2b–4 65, 247, 269 11,5–13 248 11,8 248 11,9–13 104 11,13 107, 249 11,14ff. 92 11,15 164 11,27 79 11,29–32 271 11,37–54 162, 254, 256 11,37 192 11,38 163 11,52 46 11,53 163 12,1–12 128 12,49ff. 101, 163 12,58 164 12,51–53 79 13,10–17 115, 165, 252 13,12 166 13,13 250 13,14 70 13,15f. 167, 182, 253 13,21 250 13,29 175, 177, 181 13,31ff. 163, 165 13,32 222 13,33 88, 124, 177, 221 14,1 163, 164, 182, 274 14,2 165, 182 14,1–24 36, 141, 162, 178, 254, 256 14,1–6 38, 162 14,2–6 169 14,3 146 14,5 167, 253
7 Register 14,6 14,7
144 164, 169, 181, 183, 257 14,7–11 257 14,7–14 186, 274 14,10 171, 180, 192 14,11 257, 258 14,12 164, 182, 257, 258 14,12–14 172 14,15ff. 167, 168, 175, 228, 258, 259 14,15–24 129, 174 14,15–25 160 14,16–24 215, 258, 274 14,16 175 14,17 181, 233 14,21 172, 258 14,22 258 14,23 177, 258 14,24 163, 185, 258 14,25 163, 177 14,26 70, 85 15,1f. 256 15,2 70, 255 15,3–7 219 15,7 255 16,24 89 16,19–31 129 17,7 192 17,11–19 252 17,14 252 17,19 151 18,1–4 268 18,1–8 248 18,1–14 247 18,14 171 18,18 164 18,31 223 18,34 76 18,42 151 19,1–10 163, 254 19,28–40 191 19,45–48 269 19,46 85, 269 20,1–8 46, 101 20,1 70 20,6 189
20,20 70 20,27 70, 270 20,45–47 171 20,46 168 20,47 248, 249 21,27 223 21,31 262 21,37 188 22,1 70, 188, 189, 192, 260 22,1–16 189 22,2 189 22,7 70, 192, 193, 260 22,7–13 201 22,7–20 36, 38, 187, 259, 260, 282 22,7–38 254 22,10f. 188 22,11 192 22,14 57, 190, 192, 193, 203, 233 22,14–20 111, 162, 202, 234, 263 22,14–38 198 22,15–20 202, 203 22,16 213, 225 22,17–20 201 22,17 193, 213, 260 22,19 66, 84, 188, 196, 208, 225, 228, 231, 232, 233, 234, 235, 260, 263 22,20 195, 197 22,21f. 201 22,21–23 188 22,21–38 259 22,24–27 171 22,37 200, 223 22,39 115, 200 22,41 247 22,44f. 247 23,6–12 88 23,13 164 23,35 164 23,43 181, 221, 256 23,46 101, 111 23,54 216
7 Register 23,56 149, 190, 216 24,1 149, 190, 216 24,1–10 255 24,1–12 221 24,4 221 24,5 226 24,6f. 222 24,7 223 24,9 216, 217, 227 24,10 216 24,11 221 24,12 229 24,13–35 36, 42, 195, 229, 237, 259, 262, 274 24,14–36 215, 216, 235 24,15 218, 228 24,16 262 24,17 262 24,20 164, 223 24,21 262 24,22–24 217 24,23 221 24,24 229 24,25 122, 222, 226 24,25–27 236 24,26 222, 237 24,27 122, 236, 272 24,29 227, 232 24,30 84, 162, 202, 205, 225, 226, 232, 233, 235, 254, 260, 262, 263, 274, 276 24,31 66, 262, 263 24,32 122, 226, 237, 262, 272 24,33 216 24,34 227, 228 24,35 216, 233, 237, 263, 274 24,36–49 230, 263 24,41–43 254, 255 24,42 162 24,43 193 24,44–47 236, 272 24,45 226, 236, 272 24,47f. 227, 234, 280 24,47–49 44
311 24,48 234 24,49 76, 81, 101, 102, 217, 225 24,51 70 24,52 224, 248, 281 24,53 269 Johannesevangelium 1,6–8 95 1,29 209 1,32f. 91, 92 1,36 209 1,45f. 123 3,22–24 113 3,32–4,3 100 4,1f. 244 4,44 127 6,52–58 198 6,60ff. 42 12,1–8 142 13,1 188 13,26 89 13,27 188 14,26 103 15,26 103 19,7 220 19,12 220 19,25 220 20,12 221 Apostelgeschichte 1,1f. 54 1,1–3 265 1,5 104, 244 1,6f. 119, 221 1,6–8 44 1,8 101, 104, 133, 181, 230, 267, 280 1,9 81 1,12ff. 282 1,13f. 190 1,14 44, 86, 242, 248, 249, 255 1,15–26 102, 105, 110, 246 1,15 285 1,18–20 201 1,21f. 105, 245
1,22 108, 109 1,24 137, 248, 268 1,24–26 268, 269 2,1–41 102 2,14–36 278 2,22 289 2,33 103 2,34 133 2,38 267 2,42 66, 84, 188, 206, 211, 215, 235, 260, 263, 265, 275 2,46 84, 205, 211, 235, 260, 263, 265, 275, 282 3,1 85, 269, 282 3,6 289 3,12–26 271 3,18 222 3,20f. 81 4,19 190 4,24–31 269 4,27 128 4,34 118 4,37f. 106 5,5 111 5,10 111 5,12 282 5,15 286 5,34 166 6,1–7 110, 246 6,6 268 7,1–53 271 7,55 128 8,12 267 8,14–17 190, 244, 268 8,15 249 8,26–40 233, 271 9,3–6 94 9,11 103 9,17 103 10,2 284 10,3 269 10,9 269 10,15 285 10,34–48 106 10,34 181 10,35 124, 130
312 10,37f. 108, 109, 244, 245 10,38 93, 128, 250 10,44–48 103 10,46 105 11,15 245 12,2 190 12,4 210 12,23 111 13,1–3 110, 246, 268 13,12 132 13,13–47 270 13,14 252 13,15 121 14,1 252 14,23 110 15,8 137 15,14 86 15,21 120 16,13 116 16,14f. 230, 267 17,1–4 271 17,2 115, 250 17,4 116 17,12 116 18,4 252 18,7 115 18,25f. 280 19,1–6 98 19,1–7 104 19,12 287 19,28–40 188 20,7 84, 193, 205, 206, 235, 263, 275 20,7–12 193 20,17–38 277 20,28 110 20,36 110 21,18–26 283 21,26 241 22,16 98, 103 24,15 173 26,9–18 94 27,35 235 28,30f. 282 28,31 280
7 Register Römerbrief 1,3 123 10,9 150 14,1–23 284 1. Korintherbrief 5,7b 209 6,11 98 7,1–9 84 9,5 84 11,17–34 195, 211, 213, 233 11,25 199, 200 11,26 198 12,1–31 39 15,3–5 42, 223, 227 15,5 228 2. Korintherbrief 3,15 120 Galaterbrief 1,19 86, 242 2,9 86, 242 2,11–14 233 Epheserbrief 2,1–5 150 4,11 287 Philipperbrief 1,1 287 Kolosserbrief 1,13f. 150 3,18–21 84 1. Timotheusbrief 1,7 166 3,8 287 3,12 287 Hebräerbrief 8,8–12 200 Jakobusbrief 1,1 86, 242 5,17 124
1. Petrusbrief 3,1–7 84 1. Johannesbrief 2,20 106 2,27 106 Judasbrief 1,1 86 Apokalypse 8,1–5 239 Außerkanonische Schriften neben dem Neuen Testament Didache 8,1 248 7–10 287 Kindheitsevangelium des Thomas 19,1 70 Weitere antike Texte Augustin De civitate Dei XXII, 15 114 Cato frg. 18,7 8 Cicero Epist. Ad Familiares IV 5,5 123 Ignatius IgnEph 20 IgnSm 8
287 288
Josephus Ant 14,22 Ant 14,260 Ant 18,116 Ant 20,97 Bell 2,560
40 116 41 40 116
7 Register
313
Justin Iust.1 apol 65–67
287
Plautus Men 395
8
Philo Hyp. 7,11–14
120
Tertullian Bapt 12,3–4
105
Varro Mucr.Sat. 3,16,17 9