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German Pages [199] Year 2017
Veröffentlichung des Universitätsverlages Osnabrück bei V&R unipress Krieg und Literatur / War and Literature Vol. XXIII (2017)
Herausgegeben von Claudia Junk und Thomas F. Schneider Erich Maria Remarque-Friedenszentrum Erich Maria Remarque-Archiv / Forschungsstelle Krieg und Literatur
Claudia Junk / Thomas F. Schneider (Hg.)
Die Revolte der heiligen Verdammten Literarische Kriegsverarbeitung vom 19. bis zum 21. Jahrhundert
Herausgeber / Editor Erich Maria Remarque-Friedenszentrum Erich Maria Remarque-Archiv/Arbeitsstelle Krieg und Literatur Universität Osnabrück, Markt 6, D-49074 Osnabrück Herausgebergremium / Editorial Board Claudia Glunz, Thomas F. Schneider Redaktion / Editing Claudia Junk, Anja Boklage, Johannes Eickhorst, Angelina Lapinskas, Olivia Pfeiffer, Stephan Pohlmann, Markus Thielemann, Felix Weghorst Wissenschaftlicher Beirat / Advisory Committee Prof. Dr. Alan Bance, University of Southampton, Great Britain Dr. Fabian Brändle, Zürich, Schweiz Dr. Jens Ebert, Historiker und Publizist, Berlin, BR Deutschland Prof. Dr. Frederick J. Harris, Fordham University, New York, USA Prof. Dr. Christa Ehrmann-Hämmerle, Universität Wien, Österreich Prof. Dr. em. Ursula Heukenkamp, Humboldt-Universität zu Berlin, BR Deutschland Prof. Dr. Walter Hölbling, Karl-Franzens-Universität Graz, Österreich Prof. Dr. Bernd Hüppauf, New York University, New York, USA Prof. Dr. em. Holger M. Klein, Universität Salzburg, Österreich Prof. Dr. em. Manfred Messerschmidt, Freiburg/Br., BR Deutschland Dr. Holger Nehring, University of Stirling, Great Britain Prof. Dr. em. Hubert Orłowski, Uniwersytet Poznan, Polska PD Dr. Matthias Schöning, Universität Konstanz, BR Deutschland Prof. Dr. Roger Woods, University of Nottingham, Great Britain Prof. Dr. Benjamin Ziemann, University of Sheffield, Great Britain Gestaltung / Layout Claudia Junk, Thomas F. Schneider Titelbildnachweis Oberleutnant zur See Martin Niemöller, 1917. Frontispiz aus Martin Niemöller. Vom U-Boot zur Kanzel. 85.–87. Tsd. Berlin: Martin Warneck, 1940. KRIEG UND LITERATUR/WAR AND LITERATURE erscheint einmal jährlich. Preis pro Heft EUR 45,00 / Abonnement: EUR 40,00 p.a (+ Porto). © 2017, V&R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Zum Alten Berg 24, D-96158 Birkach Printed in Germany. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-8471-0772-9 | ISBN 978-3-8470-0772-2 (E-Book) ISBN 978-3-7370-0772-6 (V&R eLibrary) | ISSN 0935-9060
Inhalt
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Fabian Brändle »Die brüske Einstellung der Höheren zu den Untergebenen gefiel mir gar nicht«. Erinnerungen von Rekruten und Soldaten an den Dienstalltag in der Schweizer Armee, 1870–1914
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Benjamin Ziemann Schiffe versenken. Martin Niemöllers Bericht über die deutsche U-Bootflotte im Ersten Weltkrieg
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Alice Cadeddu Curzio Malaparte und Die Revolte der heiligen Verdammten. Ein Beispiel italienischer Antikriegsliteratur
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John H. Maherzi La Notion de Patrie dans Clerambault de Romain Rolland
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Walter Kluge Britische Maler und die beiden Weltkriege: Pat Barkers Life Class, Toby’s Room und Noonday
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Serge Schmid How to Build a Soldier? Soldatenkonstruktionen in Uwe Timms Morenga
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Inhalt
151 Rezensionen 151 Peter Huber. Fluchtpunkt Fremdenlegion. Schweizer im Indochina- und im Algerienkrieg, 1945–1962 (Fabian Brändle) Thomas Kolnberger (ed.). August Kohl – Ein Luxemburger Söldner im Indonesien des 19. Jahrhunderts: Kommentierte Edition der Reise- und Lebensbeschreibungen (1859–1965). (Christian Koller) 156 Romain Rolland, Stefan Zweig. Von Welt zu Welt. Briefe einer Freundschaft 1914–1918. (Thomas Amos)
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161 Eingegangene Bücher 196 Autorinnen und Autoren dieser Ausgabe
Fabian Brändle
»Die brüske Einstellung der Höheren zu den Untergebenen gefiel mir gar nicht« Erinnerungen von Rekruten und Soldaten an den Dienstalltag in der Schweizer Armee, 1870–1914
Der Zustand der Schweizer Armee gab in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg immer wieder Anlass zu bisweilen hitzig geführten Diskussionen. Namentlich die wichtigen Fragen einer bundesstaatlichen Zentralisierung der Armee zuungunsten der Kantone sowie das stark ansteigende Militärbudget beschäftigten Befürworter wie jene kritischen Stimmen vor allem aus dem linken Lager, die in der »Verpreussung« (Rudolf Jaun) der Armee, die unter dem damali gen Oberinstruktor der Kavallerie, dem Militärtheoretiker und späteren General der Schweizer Armee und geborenen Hamburger Ulrich Wille (1848–1925) in den 1880er Jahren eingesetzt hatte, eine Gefahr für die Demokratie erblickten.1 Dieser Prozess der Disziplinierung sorgte für großen Unmut bei zahllosen Sol daten sowie bei vielen Unteroffizieren. Ulrich Wille hatte den preußischen Drill und deutsche Disziplin als Vorbilder vor Augen und wollte zudem die Offiziers 1 Rudolf Jaun. Preussen vor Augen. Das schweizerische Offizierskorps im miltärischen und gesellschaftlichen Wandel des »fin de siècle«. Zürich 1999. Zur politischen Geschichte jener Jahrzehnte vgl. Max Mittler. Der Weg zum Ersten Weltkrieg. Wie neutral war die Schweiz? Kleinstaat und europäischer Imperialismus. Zürich 2003; Jakob Tanner. Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert. München 2015, 35–116. Bei der linken Kritik standen bis ca. 1900 die Soldatenschindereien im Vordergrund danach die so genannten »Ordnungsdiensteinsätze« gegen Streiks. Vgl. Jakob Manz. Die schweizerische Sozialdemokratie und Militärfragen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Unpublizierte Lizentiatsar beit Universität Bern 1974; Otto Lezzi. Sozialdemokratie und Militärfrage in der Schweiz. Frauenfeld 1996; Mirko Greter. Sozialdemokratische Militärpolitik im Spannungsfeld von Vaterlandsliebe, Pazifismus und Klassenkampf. Der lange Weg der SPS hin zur Ablehnung der Landesverteidigung 1917. Berlin 2005; Christian Koller. »Ordnungsdiensteinsätze bei Streiks vor und im Ersten Weltkrieg und die Linke«. Michael Olsansky (Hg.). Am Rande des Sturms. Das Schweizer Militär im Ersten Weltkrieg. Baden 2018 (im Druck).
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autorität stärken, was dem »alteidgenössischen«, im Grunde genommen noch vormodern-republikanischen Ideal der auch operativen Mitsprache des »gemei nen Soldaten« diametral widersprach.2 Der Zürcher Militärhistoriker Rudolf Jaun macht zudem auf gelegentlich publik gewordene und in der Öffentlichkeit als Skandale wahrgenommene Misshandlungen von Rekruten aufmerksam, beispiels weise auf die berüchtigten »Herisauereien« auf dem Waffenplatz des Appenzeller Kantonshauptorts Herisau.3 Im Folgenden möchte ich einige Wehrdienstleistende der Jahrzehnte um 1900 persönlich zu Worte kommen lassen. Diese haben ihre Diensterfahrungen in der Retrospektive zu Papier gebracht und sparten dabei nicht mit teilweise bissiger Kritik an Offizieren und am alltäglichen »Schlauch«. Manche Aussage mag nostalgisch verklärt oder politisch motiviert sein (Armeegegner oder Armeebe fürworter). Wenn immer möglich, soll ein vergleichender Blick über die (östlichen) Landesgrenzen geworfen werden. Dort hat nämlich die österreichische Histo rikerin Christa Hämmerle die Erfahrungen mehrerer k.u.k. Rekruten aus der Vorkriegszeit (1868–1914) ediert und in einem sehr lesenswerten Vorwort auch interpretiert.4 Zunächst macht die Selbstzeugnisexpertin Hämmerle auf das lange Zeit unterschätzte, ja ignorierte Potenzial von Selbstzeugnissen »kleiner Leute« für eine Erfahrungsgeschichte des Militärischen auch in Friedenszeiten aufmerk sam. Manche der von Hämmerle untersuchten Autoren haben ihre mehrjährigen Militärerfahrungen in ihre Autobiographie integriert, andere haben eigens spezi fische »Rekrutenerinnerungen« verfasst, was nicht zuletzt die lebensgeschichtliche Bedeutung des Wehrdienstes unterstreicht. Die österreichischen Rekruten erin nern sich an Schikanen, an Zwang zu absolutem Gehorsam, an exzessiven Drill, an Beschimpfungen und Demütigungen durch Vorgesetzte, an scharfen Arrest, an Monotonie und Langeweile im Kasernendienst, kurz: an das so genannte »Abrichten« durch bösartige, ja als Sadisten wahrgenommene Vorgesetzte.5 In die Kritik der ehemaligen Rekruten gerieten auch die »Lotterwirtschaft« einzelner
2 Andreas Suter. Der schweizerische Bauernkrieg 1653. Politische Sozialgeschichte – Sozialgeschichte eines politischen Ereignisses. Tübingen 1997, 281–300. Vgl. auch B. Ann Tlusty. The Martial Ethic in Early Modern Germany. Civic Duty and the Right of Arms. Basingstoke 2011. 3 Rudolf Jaun. »Ulrich Wille und die ›Herisauereien‹. Skandale und Positionskämpfe um die richtige Soldatendisziplin und Offiziersautorität«. Das Feldarmeekorps 4 (2003), 58–64. 4 Christa Hämmerle. »Den Militärdienst erinnern – eine Einleitung«. Dies. (Hg.). Des Kaisers Knechte. Erinnerungen an die Rekrutenzeit im k. (u.) k. Heer 1868–1914. Wien 2012, 7–27. Vgl. auch Daniel Kirn. Soldatenleben in Württemberg 1871–1914. Zur Sozialgeschichte des deutschen Militärs. Pader born/München/Wien 2009. Für die Schweiz im Zweiten Weltkrieg vgl. Christof Dejung. Aktivdienst und Geschlechterordnung. Eine Kultur- und Alltagsgeschichte des Militärdienstes in der Schweiz 1939–1945. Zürich 2006. 5 Hämmerle, »Den Militärdienst erinnern«, 14–22.
Dienstalltag in der Schweizer Armee 1870–1914
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Kompaniekommandanten, die desolate, wetteruntaugliche Ausrüstung oder die zerlumpte Uniform.6 Für manche Männer bedeutete aber der Militärdienst auch eine gewisse gesellschaftliche Perspektive »nach oben«, hinein in den begehrten, niederen Staats- und Gendarmeriedienst.
Die Grenzbesetzung 1870/71 als eine gern erinnerte Zeit Während des Deutsch-Französischen Krieges schützten rund 37.000 Mann unter General Hans Herzog im Sommer 1870 die Landesgrenze von Schaffhausen bis zur Ajoie (heute Kanton Jura) vor befürchteten fremden Durchmarschversuchen. Im Januar 1871 wurde die französische Bourbakiarmee mit rund 87.000 Mann gegen die Landesgrenze abgedrängt, von Schweizer Truppen entwaffnet und anschließend in der gesamten Schweiz interniert. Dieses bedeutsame Ereignis prägte sich tief in das Gedächtnis aller Beteiligten ein und gerann zu einem eigentlichen Mythos.7 Davon berichtete auch Illa Tanners Appenzeller Großvater, ein Handwerker aus Herisau. Die im Jahre 1914 in Frauenfeld, Kanton Thurgau, geborene Lehrerin und talentierte »Appenzeller Bauernmalerin« Illa Tanner, die unter anderem in Peru unterrichtete und seinerzeit als begabte »Volksschriftstellerin« galt, schrieb den mündlichen Bericht des Großvaters viele Jahrzehnte später aus der Erinnerung in Dialogform auf. Die Quelle ist also lediglich indirekt überliefert und deshalb in Bezug auf Genauigkeit und Verlässlichkeit sicher nicht ganz unproblematisch. Da jedoch derart frühe detaillierte Schilderungen über den schweizerischen Mili täralltag »von innen« und »von unten« meines Wissens eher selten sind, möchte ich nicht auf eine kurze zusammenfassende Wiedergabe verzichten.8 Großvater Tanner (Vorname unbekannt) erinnerte sich an die unsägliche Hitze und die schwer zu tragende Last während des Marsches der Ostschweizer Jäger kompanie 11 über den Bötzberg. Es gab viele marode Leute. Das musste einen auch nicht wunder nehmen. Die Uniform machte warm, die Bepackung war schwer. Nebst hundertzwanzig Patronen hatte jeder noch seinen Teppich, ein halbes Zelttuch und einen Teil des Küchengerätes auf seinem Tornister mitzuschleppen. Unsere 6 Ebd., 18. 7 Bernhard von Arx. Konfrontation. Die Wahrheit über die Bourbaki-Legende. Zürich 2010. Der jämmerliche Zustand der »Bourbaki-Armee« schlug sich auch im »Wortschatz« der Soldaten und Offiziere nieder. Wenn jemand nicht korrekt gekleidet daherkam, hieß es, man sei doch keine »Bourbaki-Armee«. Eigene Erinnerung an die Rekrutenschule 1990 in Moudon. 8 Vgl. Fabian Brändle. »›Es war die höchste Zeit, der Ofizier rettete ihn vom sichern Tode‹. Der schweizerische Sonderbundskrieg von 1847 aus der Perspektive des Soldaten«. Krieg und Literatur/ War and Literature 18 (2012), 27–39.
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Fabian Brändle
Schuhe wirbelten den Staub auf, der Zug bewegte sich in einer Wolke von Staub vorwärts. Die Zungen hingen heraus, aber wir durften kein Wasser trinken. Vor jedem Brunnen stand ein Sappeur als Wache.9
Diese an sich sinnlose Maßnahme war meines Erachtens durchaus eine bewusst inszenierte Schikane, welche die Soldaten stets daran erinnern sollte, dass sie nunmehr nichts mehr ohne ausdrückliche Erlaubnis tun durften. Endlich in Mumpf (Fricktal, Kanton Aargau) angekommen, freute sich Großvater Tanner auf die Verpflegung, den Besuch des örtlichen Wirtshauses sowie auf einen Schoppen Wein. Gar nicht nach seinem Gusto war, dass die Einheimischen den Wein merklich billiger bekamen als die Soldaten und die Wirte somit kleine »Kriegsgewinnler« waren. Der Kompaniekommandant war nach Tanners Einschätzung ein »Leuteschinder«.10 Er drohte ständig und wegen jeder Kleinigkeit mit Arrest. »Darum klappte es nirgends, wenn er das Bataillon führte. Kommandierte aber einmal der Major Zollikofer, so rissen wir uns zusammen, und alles ging wie am Schnürchen.«11 Diese Angaben Tanners zeigen auf, dass es schon vor der eigentlichen »Verpreussung« der Schweizer Armee gewisse autoritäre, als schikanöse »Leuteschinder« empfundene Offiziere gab, die mehr drohten, kontrollierten und abstraften als wirklich kompetent führten. Aber es gab auch Alternativen dazu wie den erwähnten, beliebten St. Galler Major Zollikofer, dem die Soldaten offenbar viel lieber gehorchten und dann auch ihren passiven Widerstand aufgaben. Somit klappte »alles wie am Schnürchen«. Kurz vor seiner Entlassung gelangte Tanners Bataillon in die Stadt Basel. Das Kantonnement war ein einfacher Warenschuppen in der Basler Aeschenvorstadt. Die Stadt schenkte jedem Soldaten ein Päckchen Tabak und einige Zigarren. Aber jeden Tag mussten wir amerikanischen Speck essen, der schmeckte nicht gut, war viel zu scharf gesalzen. Ich wäre trotzdem noch gerne länger in der Stadt Basel geblieben. Auf der Pfalz hat’s mir gut gefallen, ich hab dem Rheinstrom zugeschaut, wie er unten vorbei pressierte, dem Elsass zu. Aus dem Münster tönte Orgelspiel. Ich konnte nicht genug davon hören. [...] Ich hab gern Dienst gemacht, und es hat mich gewurmt, dass ich nicht Offizier werden konnte; denn ich war zu arm, mir eine Uniform zu kaufen.
9 Illa Tanner. Die Welt meines Grossvaters. Appenzeller Familiengeschichten von Illa Tanner. Basel 1965, 56. 10 Ebd., 58. 11 Ebd.
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Später bin ich wenigstens Korporal geworden, dann Wachtmeister und zuletzt Feldweibel.12
Das Zitat belegt nicht zuletzt eindrücklich die sozialen Schranken hinauf zum Offiziersrang.
Erwin Walter (1863–1939): Ein vorschriftsmäßig brüllender Instruktor Erwin Walter wurde im Jahre 1863 im solothurnischen Mümliswil am Jurasüdfuß geboren. Dort wuchs er auch auf. Im Büro der örtlichen Kammfabrik arbeitete er sich hoch vom Lehrling bis hin zum Prokuristen und zum Verwaltungsrat. Nach dem freiwilligen Ausscheiden aus der Büroabteilung der Fabrik machte er sich selbständig und arbeitete fortan als Treuhänder in Balsthal. In seinem Tun und Denken national-liberal gesinnt und somit durchaus folgerichtig Mitglied des »staatstragenden« Freisinns (FDP), machte er auch eine beachtliche politi sche Karriere und avancierte beispielsweise zum Gemeinderat Mümliswils, zum Solothurner Kantonsrat (1933 Präsident!) sowie zum Bankrat der Solothurner Kantonalbank. Diese Ämterkumulation so genannter »Honoratioren« war und ist typisch für die politische Kultur der Schweiz. Seine vielen Erlebnisse hielt Erwin Walter als bewusster, mitunter kritischer Zeitzeuge in mehreren Bänden Tagebüchern und weiteren autobiographischen Texten fest. Walter starb im Sommer 1939, am Vorabend des Zweiten Weltkriegs, an den Folgen eines Unfalls. Im März 1884 wurde Erwin Walter für die Feldartillerie-Rekrutenschule im Waffenplatz Thun aufgeboten. Er freute sich darauf, ihm unbekannte Schwei zer Gegenden und schöne Landschaften zu sehen, und machte sich durchaus wohlgemut auf den Weg nach Solothurn, wo ihn das »Gehabe« der Offiziere im dortigen Zeughaus keinen großen Respekt einzuflößen vermochte.13 Zwar geboten im Zeughausareal »streng aussehende«14 Männer durchaus Respekt, zumindest zu Beginn. Doch betranken sich diese »Zeughäusler« in Präsenz der Rekruten und büßten somit als schlechte Vorbilder schnell an Autorität ein. Der staatlich angestellte Zeughausschneider führte im Nebengewerbe gar eine Gaststube und beschaffte den Rekruten bereitwillig Wein.15 Exzessiver Alkoholkonsum, auch in
12 Ebd., 61. 13 Chlaus Walter (Hg.). Erwin Walter. Für Kammfabrik und Politik. Aus meinem Leben. Band I. Meilen 2009, 73. 14 Ebd., 74. 15 Ebd.
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Gruppen, ist denn auch ein Thema der weiteren Schilderungen des Dienstalltags durch Erwin Walter. Vor der Kaserne in Thun brüllte ein rotbärtiger Instruktor die Rekruten »vorschriftsmässig«16 an. Walter begegnete dem ruppigen Umgangsstil im Militär zumindest in seiner Lebensbilanz mit einer gewissen Ironie. Der Dienstalltag während der Rekrutenschule war zwar gemäß den Worten Erwin Walters äusserst streng, aber man lernte in Praxis und Theorie sehr viel, und als die ersten Anlaufschwierigkeiten überwunden waren, kam die richtige Freude am Soldatenleben unter uns.17
Abends verlustierten sich die Rekruten in der Stadt Thun gerne bei einem Glas Bier, sonntags gönnten sie sich gar eine Dampferfahrt nach Interlaken. Sie besahen sich also die bekannten touristischen Attraktionen der berühmten Region (Berner Oberland). Auf dem malerischen Brienzersee »gingen die Wogen der jugendlichen und vaterländischen Begeisterung hoch.«18 Somit war das Militär sicherlich ein sozialer Ort, wo patriotische Praktiken wie das gemeinsame Singen vaterländi scher Lieder eingeübt wurden. Ein Katalysator für die Emotion dieses expressiven Patriotismus war sicherlich der gemeinsame, bisweilen exzessive Alkoholkonsum in Wirtshäusern. In den Worten Emil Walters war jene »Dienstverdrossenheit«,19 die während der langjährigen »Grenzbesetzung« von 1914 bis 1918 allenthalben herrschte, damals noch völlig unbekannt. Vielmehr sangen die angehenden Kanoniere während der 1880er Jahren patriotische Lieder, und dies »mit voller innerer Überzeugung«.20 Es spricht meines Erachtens ganz der spätere rechtsliberale-bürgerliche Politiker, wenn Erwin Walter im Rückblick den Militärdienst ganz allgemein »eine uner lässliche Erziehungseinrichtung für die männliche Landesjugend«21 nennt. Der junge Mann müsse nämlich beizeiten lernen, »strengen Gehorsam, körperliche Ermüdung, Geringschätzung schlechten Wetters, Korpsgeist und Ausdauer« zu ertragen.22 So wird der als bisweilen streng und durchaus schikanös, aber auch kameradschaftlich-lustig erlebten Rekrutenzeit zumindest im Nachhinein Sinn verliehen. Die Rekrutenschule erscheint in den Lebenserinnerungen Erwin Walters
16 Ebd., 74–75. 17 Ebd., 75. 18 Ebd. 19 Ebd., 76. 20 Ebd. 21 Ebd. 22 Ebd.
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als ein entscheidender Ort der »Mannwerdung« (»rite de passage« nach Arnold van Gennep), auch als eine »Schule der Männlichkeit«.23
Fritz Ernst-Curty: »Mit Freuden denke ich an den Militärdienst zurück.« Ebenfalls mehrheitlich Positives über seine Zeit als Armeeangehöriger wusste Fritz Ernst-Curty aus Neftenbach (Kanton Zürich) zu berichten. Zwar rückte der 1857 geborene und spätere Fabrikant Fritz Ernst-Curty im Herbst 1877 mit durchaus gemischten Gefühlen in Schaffhausen ein, doch entwickelte er sich im Verlaufe seiner Dienstzeit zu einem »leidenschaftlichen«24 Soldaten. Schulkommandant Oberst Bolliger setzte gar Druck auf, um den gelernten Schlosser zum Besuch der Offiziersschule zu bewegen, stieß aber bei diesem auf Granit, denn Fritz ErnstCurty hatte andere berufliche Zukunftspläne auch im Ausland. Ernst-Curty fasste es als »kleinen Racheakt«25 auf, dass er den Korporal in einer weiteren Rekru tenschule »abverdienen« musste und nicht »geschenkt« bekam. Über die baldige Beförderung zum Wachtmeister und, im Jahre 1880, nach der Absolvierung einer weiteren mehrwöchigen Rekrutenschule, zum Feldweibel, freute er sich gleichwohl noch im Lebensrückblick. Das Klassendenken war damals in der Schweizer Armee weit verbreitet. Offiziersstellen blieben in der Regel Bürgersöhnen, Fabrikanten söhnen, höheren Angestellten und Beamten, Akademikern, Großbauern oder selbständigen kleinstädtischen Handwerksmeistern vorbehalten. Umso höher schätzte Fritz Ernst-Curty die Aufforderung »von oben« ein, Offizier zu werden. Wie schon Ernst Walter dachte auch Fritz Ernst-Curty »mit Freuden«26 an seine Dienstzeit zurück, weil sie »körperlich und erzieherisch günstig«27 auf ihn gewirkt habe. Mit sichtlichem Stolz schreibt Fritz Ernst-Curty, von oben immer wieder ermuntert worden zu sein, selbst auch die Offizierslaufbahn einzuschlagen. Im Dienstalltag war er als Unteroffizier gegenüber Rekruten durchaus pingelig und »unerbittlich gegen Verfehlungen meiner Untergebenen«.28 Dies war ebenfalls durchaus typisch für die innere Struktur der Schweizer Armee. Als Rekruten noch von Vorgesetzten diszipliniert und wohl manchmal auch ganz bewusst schikaniert, 23 Vgl. Kathrin Däniker, Marianne Rychner. »›Unter Männern‹. Geschlechtliche Zuschreibungen in der Schweizer Armee zwischen 1870 und 1914«. In: Brigitte Studer, Rudolf Jaun (Hg.). Geschlechterverhältnisse in der Schweiz. Rechtsprechung, Diskurs, Praktiken. Zürich 1995, 149–170; Hubert Treiber. Wie man Soldaten macht. Sozialisation in »kasernierter Vergesellschaftung«. Düsseldorf 1973; Arnold van Gennep. Übergangsriten. Frankfurt am Main 1986. 24 Fritz Ernst-Curty. Aus meinem Leben. Zürich 1935, 26. 25 Ebd., 26. 26 Ebd. 27 Ebd. 28 Ebd., 27.
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verhielten sich die zu Unteroffizieren Beförderten ihrerseits oft nicht anders oder gar noch schlimmer, wenn sie nun endlich das Sagen hatten und Befehle erteilen konnten. Konflikte entstanden manchmal mit dem unmittelbaren Vorgesetzten, dem Oberleutnant, den Feldweibel Erns-Curty an militärischem und technischem Wissen bei Weitem übertraf. Der Vorgesetzte wollte sich diese unstandesgemäße Überlegenheit eines Unteroffiziers aber nicht eingestehen. Somit übte auch der an sich überzeugte »Militarist« Fritz Ernst-Curty eine gewisse, wenn auch leise Kritik an als selbstherrlich erlebten Offizieren.29
Weitere Stimmen, positiv und negativ Zwar sind die beiden angeführten Autoren Erwin Walter und Fritz Ernst-Curty bestimmt keine Einzelfälle. Zumindest im Lebensrückblick, verfasst lange Jahr zehnte nach dem Militärdienst, sahen ehemalige Rekruten einen erzieherischen Sinn im strengen und oft auch öden Dienstalltag fern der Heimat und fern der Familie. Doch gab es einige auch andere, weit kritischere Stimmen. Der in Rap perswil (Kanton St. Gallen) am Oberen Zürichsee aufgewachsene Knecht, Bäcker und spätere Zürcher Tramfahrer Werner Mooser (1886–1965) beispielsweise meinte einerseits, der Militärdienst sei für ihn, der auf dem Feld und im Stall »weit schwerere Arbeit gewohnt«30 war, körperlich ein »Kinderspiel«31 gewesen. Oft habe er gleichzeitig für schwächere Kameraden zwei Gewehre oder zwei Tornis ter geschultert und während der Ausmärsche trotz dieser schweren Lasten gerne gesungen und gejodelt. Dafür erntete er bei Offizieren und bei den unterstützten Kameraden so viel Respekt und Sympathie, dass er abends im Wirtshaus Frau Räbers gegenüber der Kaserne oft mit Bier freigehalten wurde.32 Das war natürlich eine neue, erfreuliche Erfahrung für einen armen, statusniedrigen Bauernknecht und Bäckergesellen! Erneut erinnert sich zudem ein Dienstleistender gerne an alkoholselige Zeiten. Mit dem Rekrutensold von 50 Rappen konnte ich aber nicht weit springen, wenn schon ein grosses Bier nur zwanzig und der Becher nur fünfzehn Rappen kostete. Das war im Sommer 1906.33
29 Ebd., 27–28. 30 »Werner Mooser (1886–1965), Meine Lebensgeschichte«. Alfred Messerli (Hg.). Flausen im Kopf. Schweizer Autobiografien aus drei Jahrhunderten. Zürich 1984, 255–284, hier 273. 31 Ebd., 274. 32 Ebd., 273. 33 Ebd., 274.
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Die zweijährige Dienstzeit bei der Sicherheitswache am Gotthardpass in Airolo (Kanton Tessin) war gar die »schönste Zeit meines Lebens«,34 so Werner Mooser in seinem eher knapp gehaltenen Lebensrückblick. Ich hatte für die damaligen Verhältnisse einen schönen Lohn, immer genug zu essen und eigentlich keine Sorgen. Als Unteroffizier musste ich im Fort die Wachen aufziehen und war auch oft Wachkommandant in den Aussenwerken auf dem Hospiz und im Fort Stuei. Bei den Wiederholungskursen arbeitete ich zusammen mit meinem Freund Zürcher in meinem gelernten Beruf als Bäcker.35
Details über den Dienstalltag wollte Werner Mooser in seinen »Lebenserinnerun gen« auch viele Jahrzehnte später nicht preisgeben: Über die militärischen Einrichtungen in den verschiedenen Forts und Aussenwerken und den Dienstbetrieb im allgemeinen will ich hier keine Bemerkungen machen. Gewiss ist seitdem vieles anders geworden, aber ich fühle mich auch heute noch an meine Geheimhaltungspflicht gebunden und möchte nicht in meinen alten Tagen noch als Spion eingesperrt werden.36
Für den späteren selbständigen Schreinermeister und Gefängnisschreiner Jacob Schlatter (1853–1935) aus Otelfingen war die Militärdienstzeit während der 1880er Jahren durchaus eine schöne, gerne erinnerte Zeit. Schlatter wurde damals in der Winterthurer Kaserne in der Küche eingesetzt, während der mehrtägigen Manöver auch als Offizierskoch, hatte also stets Zugang zu hochwertigen Nahrungsmitteln (Fleisch!). Die Offiziere ließen sich zum Glück selten blicken in der Winterthurer Militärküche, die Kontrolle war also relativ lax.« Wir hatten aber auch keine Zeit zum Faulenzen, denn bis 11 Uhr musste das Essen für die Mannschaft parat sein. Ich musste das Fleisch sieden und die Suppe parat machen, dann die Portionen schneiden, was viel Übung erforderte, damit jeder ein gleichgrosses Stück bekam und ich für 100 Mann Fleisch genug hatte und eher noch etwas übrig blieb als zu wenig. Dann war meine Arbeit getan. Zum Abwaschen, die Küche rein machen und Holz sägen und spalten waren immer andere da. Um halb 1 Uhr war alles fix und fertig, und wir hatten Ausgang und konnten gehen, wohin wir wollten
34 Ebd. 35 Ebd. 36 Ebd., 274–275
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bis abends halb 5 Uhr, denn um 6 Uhr musste die Abendsuppe fertig sein. Nachher konnten wir ausgehen bis 9 Uhr. Um diese Zeit kam der Milchmann, und wenn die Milch versorgt war, gab es im Schlafsaal noch eine Vorstellung oder einen Tierumzug oder eine Predigt, bis der Major erschien und Ruhe gebot. Manchmal hatte er auch Freude an dem lustigen Treiben, und manchmal schaute er sogar noch eine Zeitlang zu. Es war früher beim Militär nicht so engherzig wie jetzt. Die Soldaten wurden human behandelt, und die Offiziere meinten nicht wunder was sie seien, sie waren nicht überspannt und so dummstolz wie heutzutage. [...] Am letzten Tag ging es immer fidel zu, da musste noch alles abgegeben werden. Der Sold wurde ausbezahlt und die Dienstbüchlein gefasst usw. Am Abend wurde noch bis 10 Uhr gesungen und auch etwa Bier eingeschmuggelt. Am Morgen bis um 10 Uhr musste alles erledigt sein, dann wurde eingestanden, die Musik spielte einige Stücke. Achtung wurde kommandiert, und dann hielt der Oberst oder der Major eine kurze Ansprache und dankte der Mannschaft für ihr gutes Verhalten und sagte auf Wiedersehen, das nächste Mal. Dann ertönte ein 3-maliges Hoch, und die Musik spielte: Rufst du mein Vaterland. Dann war Schluss, und alles ging auseinander. Die meisten zogen dem Bahnhof zu, um mit dem nächsten Zuge der Heimat zuzufahren. Nun wurde wieder gearbeitet nach diesen 3 wöchentlichen Ferien. Jetzt gab es nicht mehr alle Tage Rindfleisch und gute Suppe, aber ich war doch wieder daheim und hatte ein regelmässiges Leben.37
Die längere Quellenpassage zeigt meines Erachtens einiges auf, nicht zuletzt den mitunter gleichförmig verlaufenden, ja monotonen Dienstalltag, aber auch die von Mannschaften getriebene (und von Offizieren geduldete) Allotria. In den frühen 1880er Jahren war die angestrebte »Verpreussung« der Schweizer Armee (Rudolf Jaun) noch nicht allzu weit fortgeschritten. Gute Verpflegung (Rindfleisch!), eine gewisse Anerkennung und gar eine erlebte Dankbarkeit seitens der hohen Offi ziere, die professionelle musikalische Untermalung durch die Militärmusik sowie so manches mehr oder weniger gute Scherzlein machten den Dienstalltag in jener Zeit zumindest in den Augen des Küchensoldaten Jacob Schlatter gleichsam zu einem eigentlichen dreiwöchigen »Ferienlager«! Zwar gab es auch in der Militärküche einiges zu erledigen, doch der großzügig gewährte Ausgang mit gemeinsamem Bierkonsum machte diese strenge Handar beit schnell vergessen. Die Soldaten seien damals »humaner« behandelt worden, so Jacob Schlatter viele Jahrzehnte später im Lebensrückblick. Die Offiziere seien 37 Hans Günter (Hg.). Der Otelfinger Schreiner Jacob Schlatter. Autobiografie eines bewegten und erfüllten Lebens (1853–1935). Buchs ZH 2002, 34–36.
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noch nicht so »dummstolz« gewesen wie »heutzutage«, also Mitte der 1930er Jahre, dem Zeitpunkt, als Jacob Schlatter seine farbige Autobiographie niederschrieb. Schreinermeister Schlatter beobachtete also während seiner langen Lebensspanne einschneidende Veränderungen im Dienstalltag und im Verhalten der Offiziere. Dies und die lebendig erzählten Details machen seine Autobiographie zu einem besonders eindrücklichen Zeugnis für eine Militärgeschichte »von unten«. Ganz anders erlebte der politisch eher links stehende, spätere Eisenbahner und Gewerkschafter Martin Surber (1871–1956) aus Höngg bei Zürich seinen Militär dienst rund zehn Jahre später, in den frühen 1890er Jahren. Die »Verpreussung« der Armee hatte mittlerweile voll eingesetzt! Martin Surber beklagte sich bitter darüber, während seiner zwölfwöchigen Rekrutenschule im Jahre 1891 keinerlei Verdienst zu haben, zumal er für seine schwerkranke, arbeitslose Mutter sorgen musste. Nun drohte gar die für ihn schlimme Aussicht, als Unteroffizier »gezogen« zu werden. Einer »Kleinigkeit« mit einem Hilfsinstruktor wegen wurde Martin Surber zu zwei Tagen Arrest verdon nert. Surber beklagte sich über die in seinen Augen sinnfreie Disziplin im Militär: »Denn das ist das Höchste im Militärdienst: gehorsam sein! Widerspruch wird bestraft.«38 Immerhin bedeutete der oben erwähnte, an sich bedeutungslose Zwi schenfall (»Insubordination«) mit dem Vorgesetzten zur sichtlichen Genugtuung Surbers, dass dieser von der Liste für angehende Unteroffiziere gestrichen wurde. Als Martin Surber später bei der Eisenbahn arbeitete, war er dienstbefreit: »Als ich bei der Bahn die Anstellung erhielt, konnte ich ohnehin die Ausrüstung abgeben.«39 Der spätere Primarlehrer, aktive Turner und engagierte ehrenamtliche Tur nerfunktionär Robert Eugen Zehnder (1878–1953) hatte im Jahre 1898 seine Rekrutenschule in der Großstadt Zürich zu absolvieren. Der mehrtägige Aus marsch führte die Rekruten nach Wattwil im Toggenburg (Kanton St. Gallen). Das Aufgebot zur Unteroffiziersschule lehnte der durchaus patriotisch gesinnte, sportliche, kräftige und robuste »Nationalturner« Zehnder ab: Die brüske Einstellung der Höheren zu den Untergebenen gefiel mir gar nicht. Immerhin machte ich als Rekrut gute Figur. Noch habe ich in bester Erinnerung, dass Oberst Isler beim Défilé aller Truppen über den Kasernenhof laut ausrief: »Der Führer rechts (das war ich) marschiert aber viel schöner als der Gruppenführer« (Korporal Wälchli).40
38 »Martin Surber (1871–1956), Erinnerungen eines alten Hönggers«. Messerli (Hg.), Flausen im Kopf, 192–216, hier 201. 39 Ebd., 202. 40 Paul Hugger (Hg.). Robert Eugen Zehnder. »Frisch – fromm – fröhlich – frei«. Ein Leben für das Turnen 1878–1953. Zürich 2001, 68.
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Robert Eugen Zehnder erinnerte sich also ganz präzise an den Wortlaut des Lobes durch den Schulkommandanten und hohen Offizier Oberst Isler während einer öffentlichen Parade auf dem Zürcher Kasernenhof. Dieses für Kameraden und Vor gesetzte gleichermaßen bestens hörbare, gleichsam »öffentliche« Lob schmeichelte ihm sichtlich, machte aus ihm aber keinen Unteroffiziersaspiranten.
Schluss Somit ergibt sich ein durchaus facettenreiches Bild, ein »vielstimmiges Gedächtnis«,41 wie der Schweizer Militärdienst und namentlich die mehrwöchige Rekrutenschule in den Jahrzehnten von ca. 1870 bis 1914 erlebt und erinnert wurden. Dieses Bild reicht von der staatstreuen Pflichterfüllung bis hin zu natio naler Begeisterung, von Ablehnung und Geldsorgen bis hin zu einer wenn auch viele Jahrzehnte später erfolgten Sinngebung einer von Drill, Disziplin und gele gentlicher »Schinderei« und nicht zuletzt von Kriegsfurcht (Neuenburgerhandel, Savoyerhandel42) geprägten Zeit. In positiver Erinnerung blieben die erlebte »Kameradschaft«, schöne Landesgegenden, gemeinsamer Alkoholkonsum im Ausgang43 oder das gute, nahrhafte Essen (Fleisch!) haften. Zudem waren einzelne, besonders beliebte Offiziere keine »Leuteschinder« (Großvater Tanner), sondern zeigten sich dankbar für erbrachten Einsatz sowie human gegenüber kleineren Verfehlungen und machten sogar den ein oder anderen Scherz bereitwillig mit. Gemeinsames Singen »vaterländischer Lieder« im Ausgang oder auf Märschen sowie die oft aufspielende Militärmusik (Marschmusik) beflügelten den Patriotis mus, ganz im Sinn des Offizierskorps, das sich ja mehrheitlich aus den nationalen Eliten rekrutierte und im Militärdienst jenen Befehlston einüben konnte, den es auch als »Chef« einer Firma oder einer Verwaltung anzuwenden galt. Manche Selbstzeugnisautoren wie Jacob Schlatter oder Robert Eugen Zehnder beschwerten sich rückblickend bitter über die Arroganz und den brüsken Umgangston »von oben herab« der »dummstolzen« Offiziere aus sozial höheren Kreisen, die sich 41 Vgl. kritisch zu Mode-Begriffen wie »kollektives Gedächtnis« und »kollektive Identität« Erik Petry. Gedächtnis und Erinnerung. Das »Pack« in Zürich. Köln 2014; Lutz Niethammer unter Mitarbeit von Axel Dossmann. Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur. Reinbek bei Hamburg 2000. 42 Rita Stöckli. Der Savoyerhandel von 1860. Die mediale Konstruktion eines politischen Ereignisses. Zürich 2008. 43 Eine zeitgenössische kritische Stimme aus der in der Schweiz starken Abstinenzbewegung ist Albert Schönenberger. Militär und Alkohol. Vortrag von A. Schönenberger, Zürich 1903. Vgl. auch Raymond Battegay u.a. Alkohol, Tabak und Drogen im Leben des jungen Mannes. Untersuchungen an 4082 Schweizer Rekruten betreffend Suchtmittelkonsum im Zivilleben und während der Rekrutenschule. Basel 1977.
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auch dann nicht belehren ließen, so der an sich dienstbeflissene, nationalistisch denkende Fritz Ernst-Curty, wenn sie militärisch, technisch und taktisch deut lich weniger wussten und konnten als die bisweilen verachteten Soldaten oder Unteroffiziere. Robert Eugen Zehnder verweigerte wegen dieser Arroganz »von oben«44 sogar das an sich ehrenvolle, hochoffizielle Aufgebot, den Korporal in einer weiteren mehrwöchigen Rekrutenschule »abzuverdienen«! Für Küchensoldat und Schreinermeister Jacob Schlatter als genauem Beobachter gesellschaftlicher Veränderungen war es klar ersichtlich, dass sich die Disziplin und der Gehor samswahn im Laufe der Jahrzehnte deutlich verschärft hatten. Der eingeforderte »Kadavergehorsam« und die »Leuteschinderei«, die in mancher Hinsicht sogar an die Erfahrungen österreichischer Rekruten mit in einem monarchistischen, straff organisierten Heer gemahnen, widersprachen gleichsam vormodern-republikani schen Vorstellungen von Mitsprache, gegenseitigem Respekt und einer gewissen, verfassungsmäßig garantierten, gesellschaftlichen Gleichheit. So verwundert es nicht, dass charakterlich so grundlegend verschiedene Selbstzeugnis-Autoren wie Zehnder, Ernst-Curty oder Schlatter noch viele Jahrzehnte nach ihrem Militär dienst positive, lobende Äußerungen von Offizieren über ihre Person oder über ihre erbrachten herausragenden militärischen Leistungen erinnerten. Vom Stolz, dem »Vaterland« mit der Waffe in der Hand zuverlässig gedient zu haben und seine Pflichten zur vollen Zufriedenheit der Offiziere erfüllt zu haben,45 zeugen auch die meisten weiteren zitierten Quellen, die wohl auch Vorbildfunktion für zukünftige Generationen haben sollten. Somit erwies sich der Militärdienst für den überwiegenden Teil der Rekruten und Soldaten meines Erachtens ganz im Sinne der Eliten als ein biographisch zentraler, emotional erlebter »nationaler Moment« im Übergang von der Jugend zum Erwachsenensein. Im Lebensrückblick der exemplarisch untersuchten Texte wurde dem oft doch recht harten und körperlich anstrengenden, manchmal sicher auch öden Dienstall tag samt Drill und Schikanen Sinn eingeräumt. Der »Dienst« wurde so zumin dest im Rückblick gewissermaßen zum gemeinschaftsstiftenden (Lern-)Ort, wo gleichsam typisch schweizerische Tugenden wie Fleiß, Tapferkeit, Verlässlichkeit, Pünktlichkeit, Bescheidenheit oder Sauberkeit eingeübt und »routinisiert« wurden.
44 Vgl. Albert Tanner. Arbeitsame Patrioten – wohlanständige Damen. Bürgertum und Bürgerlichkeit in der Schweiz 1830–1914. Zürich 1995. 45 Ulrike Ludwig u.a. (Hg.). Ehre und Pflichterfüllung als Codes militärischer Tugenden. Paderborn 2014.
Benjamin Ziemann
Schiffe versenken Martin Niemöllers Bericht über die deutsche U-Bootflotte im Ersten Weltkrieg
Im Oktober 1934 erschien im Verlag Martin Warneck in Berlin das Buch Vom U-Boot zur Kanzel. Als Verfasser zeichnete auf der Titelseite »Martin Niemöller, Pfarrer in Berlin-Dahlem«.1 Dies war eine gehörige Untertreibung, denn Niemöller war zu diesem Zeitpunkt sehr viel mehr als nur ein einfacher Gemeindepfarrer. Bereits im Herbst 1933 war er als Vorsitzender des Pfarrernotbundes, der bald nach seiner Gründung im Januar 1934 7.036 evangelische Pfarrer im Deutschen Reich vertrat, in das Zentrum der kirchenpolitischen Auseinandersetzungen im »Dritten Reich« gerückt. Im Jahr 1934 hatten sich die Spannungen und Konflikte zwischen den rivalisierenden Gruppen weiter verstärkt. Den »Deutschen Christen«, die sich als Vertreter des Nationalsozialismus innerhalb der evangelischen Kirchen verstanden, trat die »Bekennende Kirche« entgegen, die sich auf ihrer Barmer Synode im Mai 1934 eine bekenntnismäßige und organisatorische Grundlage gab. Als Mitglied wichtiger Leitungsgremien wie etwa des Reichsbruderrates – aus dem er allerdings Ende November 1934 im Streit austrat – und Vorsitzender des Pfarrernotbundes war Niemöller auch ohne den Rang eines Bischofs eine, wenn nicht die zentrale Persönlichkeit in der Bekennenden Kirche.
1 Martin Niemöller. Vom U-Boot zur Kanzel. Berlin: Martin Warneck Verlag, 1934, 212 Seiten mit Kartenbeilage,. Die von mir benutzte Ausgabe erschien im 1.–10. Tausend. Alle in Klammern angegebenen Seitenzahlen beziehen sich im Folgenden auf diese Ausgabe. Die Gerda Henkel Stiftung hat meine Forschungen zu Martin Niemöller im Rahmen ihres MAN4HUMAN-Programms ebenso großzügig wie unbürokratisch gefördert. Dafür gilt ihr mein herzlicher Dank. Dank geht ebenso an meinen Gastgeber im Rahmen meines Forschungsaufenthaltes, Thomas Mergel, sowie an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter seines Lehrstuhls an der Humboldt Universität zu Berlin. Dank für ihre Kommentare zu einer ersten Fassung geht an Thomas F. Schneider und Christoph Nübel.
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Auch in der deutschen und internationalen Öffentlichkeit war er deren weithin bekannter Repräsentant.2 Niemöllers Buch wird in den bisher vorliegenden biographischen Darstellungen zu Niemöller oft und ausgiebig als eine Quelle benutzt.3 Eine eingehende Analyse des Textes selbst allerdings steht noch aus.4 Der Germanist Klaus Theweleit hat Vom U-Boot zur Kanzel wiederholt in seinem zuerst 1977 veröffentlichten Erfolgsbuch Männerphantasien herangezogen und zitiert. Das Buch dient ihm dort zur Beschreibung jenes Typus eines soldatischen Mannes, der sich in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg durch einen emotionalen Panzer gegen die Bedrohung durch Bolschewisierung und Feminisierung zu schützen suchte und damit eine protofaschistische Persönlichkeitsstruktur aufwies. Das gemeinsame Kennzeichen der von Theweleit analysierten autobiographischen Texte liegt darin, dass ihre Verfasser in der einen oder anderen Form am Kampf der Freikorps gegen Revolution und Bolschewismus in den Jahren 1918 bis 1920 teilgenommen hatten.5 Was immer man von Theweleits Argument halten mag – und neben viel Zustimmung hat sein Buch auch manche Kritik ausgelöst – so scheint diese Kategorisierung doch mit Bezug auf Vom U-Boot zur Kanzel gänzlich irreführend.6 Denn als ein literarischer Beitrag zum Freikorpsmythos lässt sich das Buch nicht verstehen. Darauf weist schon rein quantitativ der Umfang jener Textstellen hin, in denen Niemöller seine Beteiligung an der Bekämpfung und Niederwerfung der Roten Ruhrarmee nach dem Kapp-Putsch 1920 schildert, die er als Bataillonskommandeur der Akademischen Wehr Münster erlebte, einer Einheit studentischer Zeitfreiwilliger. Diese Passagen nehmen gerade einmal zehn der 206 Textseiten des Buches ein (171–180). Das zentrale Thema des Buches wird dagegen in den ersten 135 Textseiten des Buches entfaltet: Niemöllers Erlebnisse als Offizier in 2 Als kurze Einführung in den Kontext vgl. Kurt Meier. Kreuz und Hakenkreuz. Die evangelische Kirche im Dritten Reich. München 2001, 32–78; ausführlicher: Jürgen Schmidt. Martin Niemöller im Kirchenkampf. Hamburg 1971, 123–144, 1279–251, zum Austritt aus dem RBR dort 244. Zur Mitgliederzahl des Notbundes vgl. Kurt Meier. Der evangelische Kirchenkampf. Bd. 1: Der Kampf um die Reichskirche. Halle 1976, 121. 3 Vor allem James Bentley. Martin Niemöller. Eine Biographie. München 1985, bezieht sich in den der Zeit von 1916 bis 1923 gewidmeten Kapiteln durchweg und weitgehend unkritisch auf Niemöllers Buch. 4 Die bisher vorliegenden Biographien bzw. Teilbiographien Niemöllers gehen auf die Entstehungsgeschichte des Buches nicht ein. Eine Ausnahme bildet Schmidt, Niemöller im Kirchenkampf, 257f. Vgl. dagegen Bentley, Martin Niemöller, 18f.; Dietmar Schmidt. Martin Niemöller. Eine Biographie. Stuttgart 1983, 48–51. 5 Klaus Theweleit. Männerphantasien. 2 Bde.. Reinbek 1980, Bd. 1, 13–16, 35, 67, 109; Bd. 2, 441f., 461. 6 Zur Kritik vgl. etwa Lutz Niethammer. »Male Fantasies: An Argument for and with an Important Study in History and Psychoanalysis«. History Workshop 7 (1979), 176–186; Richard J. Evans. »Geschichte, Psychologie und die Geschlechterbeziehungen in der Vergangenheit«. Geschichte und Gesellschaft 7 (1981), 590–613.
Martin Niemöllers Vom U-Boot zur Kanzel
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der deutschen U-Bootflotte, die von seiner Kommandierung als Wachoffizier auf den Minenleger U 73 im Februar 1916 bis zur Heimkehr als Kommandant von UC 67 in das von den revolutionären Matrosen geprägte Kiel im November 1918 reichen (5–140). Auch Niemöller als Autor hat im übrigen eine solche Lesart seines Buches nahegelegt. Denn im Vorwort zur englischen Ausgabe des Buches, die 1936 bei William Hodge in London erschien, notierte er seine Vermutung, dass »the book may be regarded by many as a much belated piece of Great War literature.« So oder so werde es, so seine Hoffnung, als ein »humble service« für diejenigen wirken, »who like myself unconsciously found their true selves during the war«.7 Im Folgenden werde ich Vom U-Boot zur Kanzel deshalb in erster Linie als einen Beitrag zur autobiographischen und literarischen Verarbeitung der Fronterlebnisse des Ersten Weltkrieges verstehen und analysieren. Dabei muss Niemöllers Text allein durch seine bereits im Titel ausgeflaggte thematische Fokussierung zu jenem Subfeld der Kriegsliteratur gerechnet werden, das sich mit dem Kriegseinsatz der deutschen U-Bootflotte befasste.8 Dazu gehörten immerhin einige der auflagenstärksten Titel der deutschen Prosa zum Ersten Weltkrieg wie etwa das Kriegstagebuch U 202 von Edgar Freiherr von und zu Peckelsheim aus dem Jahr 1916 – mit einer Gesamtauflage von 360.000 Exemplaren bis 1939 –, U-Boot im Fegefeuer vom selben Verfasser (1930), Heino von Heimburgs U-Boot gegen U-Boot (1917, Gesamtauflage 100.000 Exemplare), oder, wie zu zeigen ist, eben Niemöllers eigener Text.9 Eine vollständige Bibliographie aller deutschsprachigen Texte zum U-Boot-Krieg der Jahre 1914 bis 1918 liegt noch nicht vor. Bereits eine unsystematische Erfassung zeigt, dass es sich dabei um eine recht umfangreiche Textgattung handelt.10 Allein durch die zeitliche Nähe zur Publikation Niemöllers und aufgrund der gemeinsam verbrachten Dienstzeit ist das 1933 veröffentlichte Büchlein von Walter Forstmann Auf Tauchstationen hervorzuheben. Er war der ehemalige
7 Martin Niemöller. From U-Boat to Pulpit. London: William Hodge, 1936 (übersetzt von D. Hastie Smith), o.S. (»Foreword«). 8 Als umfassende Analyse des literarischen Feldes »Kriegsliteratur« vgl. Jörg Vollmer. Imaginäre Schlachtfelder. Kriegsliteratur in der Weimarer Republik. Eine literatursoziologische Untersuchung. Diss. Phil. FU Berlin 2003. 9 Edgar Freiherr von und zu Peckelsheim. Kriegstagebuch »U 202«. Berlin 1916; ders.. U-Boot im Fegefeuer. Berlin 1930; Heino von Heimburg. U-Boot gegen U-Boot. Berlin 1917. Zu den Auflagenzahlen vgl. Thomas F. Schneider, Hans Wagener. »Einleitung«. Dies (Hg.). Von Richthofen bis Remarque. Deutschsprachige Prosa zum I. Weltkrieg. Amsterdam. New York 2003, 11–16, hier 12f. 10 Vgl. etwa Ludwig Freiwald. U-Boots-Maschinist Fritz Kasten. München 1933; Ernst Haushagen. U-Boote westwärts. Berlin 1931; Karl Neureuther. Wir leben noch. Erlebnisse einer U-Boot-Kameradschaft. Stuttgart 1930; Johannes Spieß. Sechs Jahre U-Boot-Fahrten. Berlin 1924; Max Valentiner. Der Schrecken der Meere. Meine U-Boot-Abenteuer. Wien 1931; Otto Hersing. U 21 rettet die Dardanellen. Zürich 1932; Paul Schulz. Im U-Boot durch die Weltmeere. Berlin, Leipzig 1926. Vgl. die Bibliographie bei Michael L. Hadley. Count Not The Dead. The Popular Image of the German Submarine. Montreal, Kingston 1995, 215–232.
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Kommandeur von U 39, auf dem Niemöller im Januar 1917 für einige Wochen als Steuermann Dienst tat.11 Speziell zur literarischen Darstellung des U-Boot-Krieges gibt es bislang nur wenige systematische Analysen.12 Der folgende Beitrag ist in drei Schritte gegliedert. Zunächst werden Schreibanlass und -prozess geschildert (I). Darauf folgt eine Analyse der narrativen Formen, mit denen Niemöller seinen Einsatz in der U-Boot-Flotte beschreibt, und möglicher Überschneidungen mit anderen Textgattungen. In diesem Zusammenhang werden auch Differenzen und Ähnlichkeiten im Vergleich mit anderen Texten zum U-Boot-Krieg diskutiert (II). In einem dritten Schritt geht es um die zeitgenössische Rezeption des Buches und seine Zensur im »Dritten Reich« (III).
Schreibanlass und Schreibprozess Der Schreibanlass für Niemöller war nicht etwa das »Bemühen, die traumatische Niederlage Deutschlands zu verarbeiten«, auch wenn die militärische Niederlage des Reiches 1918 für den Marineoffizier ohne jeden Zweifel auch eine persönliche Niederlage bedeutete.13 Ebensowenig war es ein direktes »Auftragswerk« des Berliner Verlegers Martin Warneck.14 Die Entstehungsgeschichte des Buches liegt vielmehr in der Auseinandersetzung zwischen der Bekennenden Kirche und den Deutschen Christen begründet, die im Jahr 1934 nach der Barmer Synode einen Höhepunkt erreichte. Vor diesem Hintergrund wurde Niemöller von seiner Dahlemer Gemeinde und dem Verleger dazu »gedrängt«, seine Marineerlebnisse aufzuschreiben. Damit sollte jüngeren Nationalsozialisten und einer breiteren Öffentlichkeit verdeutlicht werden, dass auch Vertreter der Bekennenden Kirche im Weltkrieg »ihre Vaterlandsliebe unter Beweis gestellt hatten«.15 Auch die Verlagswerbung betonte den Gedanken des selbstlosen Einsatzes für die Nation, indem sie als biographisches Leitmotiv hervorhob, es sei ein »Werdegang im Kampf, in 11 Walter Forstmann. Auf Tauchstationen. Kriegsfahrten mit U 39. Leipzig 1933. 12 Vgl. aber Manuel Köppen. »›Ihr blonden Helden, die ihr unten steht...‹. Deutschland und seine U-Boote«. Zeitschrift für Germanistik 24 (2014), 510–545; Michael L. Hadley. »›Rückwärts schauende Propheten‹. U-Bootgeschichte im Dienste der Zukunft«. Friedrich Gaede, Patrick O‘Neill, Ullrich Scheck (Hg.). Hinter dem schwarzen Vorhang. Die Katastrophe und die epische Tradition. Tübingen 1994, 217–229, sowie umfassend derselbe, Count Not The Dead. Zum Zweiten Weltkrieg vgl. Hans Wagener. »Günther Prien, der ›Stier von Scapa Flow‹. Selbststilisierung, Heldenkult und Legendenbildung um einen U-Boot-Kommandanten«. Thomas F. Schneider (Hg.). Kriegserlebnis und Legendenbildung. Das Bild des ›modernen‹ Krieges in Literatur, Theater, Photographie und Film, Osnabrück 1999, Bd. II, 651–670. 13 So ohne Beleg Bentley, Niemöller, 18. 14 Schmidt, Niemöller im Kirchenkampf, 257. 15 Wilhelm Niemöller an Eberhard Bethge 24.12.1972: Zentralarchiv der Evangelischen Kirche von Hessen und Nassau (ZEKHN), 62/1295.
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unbeirrbarer, leidenschaftlicher Liebe zu seines Volkes bester Kraft«.16 Der äußere Schreibanlass bestand also in dem Unterfangen, in den Kämpfen um die Ausgestaltung der Evangelischen Kirche im »Dritten Reich« eine belastbare diskursive Grundlage für den Anspruch der Bekennenden Kirche zu schaffen, dass sie in ihrer nationalistischen Grundhaltung den Nationalsozialisten und ihren Vertretern in der Kirche in nichts nachstünde. Der eigentliche Schreibprozess wurde durch den Verleger in Gang gesetzt, der Martin Niemöller und seiner Familie einen Sommerurlaub im Badeort Zinnowitz auf der Insel Usedom an der Ostsee finanzierte.17 Martin Warneck (1869–1943) war der Sohn des Begründers der modernen protestantischen Missionswissenschaft, Gustav Warneck (1834–1910). Nicht nur aufgrund dieses familiären Hintergrundes war er in den evangelischen Zirkeln Berlins gut vernetzt. Martin Warneck hatte seine Verlagsbuchhandlung 1895 begründet. Der Verlag hatte ein klares evangelisches Profil, verlegte neben theologischen und kirchenhistorischen Werken aber auch Biographien und »Unterhaltungsliteratur«.18 Niemöller und seine Familie kamen am 21. Juli 1934 in Zinnowitz an. Am folgenden Tag war Niemöller unpässlich und blieb im Bett. Doch ab dem 23. Juli verbrachte er neben ausgiebigen Mittagsschläfen und Aufenthalten am Strand einen Teil der Urlaubszeit mit dem Schreiben. Lapidar notierte er wiederholt in seinem Amtskalender, er habe »[e]twas geschriftstellert«.19 Am 2. August hatte Niemöller bereits 62 Manuskriptseiten geschrieben, und am Tag darauf kam Warneck zu einem Gespräch nach Zinnowitz. Am 11. August trafen Umschlagentwürfe des Verlegers am Urlaubsort ein, und der Text war bis zum Kapitel über die Kämpfe der »Akademischen Wehr« im April 1920 fertiggestellt.20 Am 16. August hieß es dann bereits: »Buch beendet«. Drei Tage später reiste die Familie nach Dahlem zurück. Am 5. September suchte Niemöller in seinen Unterlagen nach passenden Fotos als Abbildungen für den Band. Gerade einen Monat später, am 6. Oktober 1934, erschien Vom U-Boot zur Kanzel im Druck.21
16 Vgl. Prospekt »Vierzig Jahre Verlag Martin Warneck«, 01.02.1935: ZEKHN, 35/164. 17 Südwestfunk Baden-Baden. »Zeitgenossen. Ein Gespräch mit Pastor D. Niemöller, von Henning Röhl und Klaus Figge«, gesendet am 02.01.1972, 3: ZEKHN, 62/043. 18 Fünfundzwanzig Jahre Verlag Martin Warneck: 1. Februar 1895–1. Februar 1920. Leipzig 1920, 3; zu den Lebensdaten Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde (BArch), BDC, R 9361-V/39228, Bl. 808, Todesanzeige Martin Warneck, Ausschnitt aus Berliner Börsen-Zeitung vom 08.04.1943; Martin Warneck, Antrag zur Aufnahme als Mitglied der Reichsschrifttumskammer, 13.10.1941: BArch, R 9361-V/39228. Zu Gustav Warneck vgl. Werner Raupp. »Gustav Warneck«. Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL), Bd. 13, Herzberg 1998, Sp. 359–371. 19 Amtskalender Martin Niemöller (AK), Einträge vom 22., 23. und 24.07.1934: ZEKHN, 62/6096. 20 AK 11.08.1934: ebd. Vgl. Niemöller, Vom U-Boot zur Kanzel, 171ff. 21 AK 16.08. (Zitat), 05.09. und 06.10.1934: ZEKHN, 62/6096.
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Der rasant verlaufende Schreibprozess gab zu der Vermutung Anlass, Niemöller habe beim Schreiben von »älteren Aufzeichnungen« Gebrauch gemacht.22 Doch nichts deutet darauf hin, dass Niemöller Textfragmente oder Manuskriptentwürfe mit in den Urlaub nahm. Eine solche auf unmittelbare Textvorlagen spekulierende Erklärung der noch nicht einmal vier Wochen dauernden Arbeit am Buchmanuskript greift zu kurz. Vielmehr gilt es zu berücksichtigen, dass Niemöller sowohl die erzählerischen Details als auch das grundlegende Narrativ der Darstellung seiner Zeit in der U-Boot-Flotte bereits seit langem ausgearbeitet und praktiziert hatte. Als Student der Theologie in Münster von 1919 bis 1923 hatte Niemöller einen erheblichen Teil seiner Zeit mit Aktivitäten im Rahmen deutsch-nationaler und deutsch-völkischer Parteien und Verbände verbracht. So amtierte er unter anderem als Vorsitzender der Studentengruppe der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) in Münster. Ein wohl von der DNVP veranstalteter »deutschnationaler Abend« am 2. Februar 1921 bot Niemöller erstmals Gelegenheit, über seine Erlebnisse öffentlich zu berichten: »Vortrag über Oberschlesien, dann von mir: letzte Kriegsfahrt UC 67. Sehr gut besucht«.23 Bereits wenige Tage später gab es Gelegenheit zur Wiederholung dieses Vortrages im Rahmen der DNVP-Studentengruppe, und Niemöller konnte befriedigt notieren, dass einer dieser Auftritte auch Resonanz in der örtlichen Tagespresse gefunden hatte.24 Die vorlesungsfreie Zeit verbrachte der Theologiestudent Martin Niemöller oft im Kreise seiner Eltern in Elberfeld, und auch dort bot sich die Gelegenheit, in deutschnationalen Zirkeln über die Zeit auf den U-Booten zu erzählen. So trug Niemöller am 4. Januar 1922 im »Offizier-Verein Elberfeld« wiederum über die »letzte Fahrt von UC 67« vor. Anfang April desselben Jahres nahm er zusammen mit seiner Frau Else und seinem Bruder Wilhelm – die im übrigen beide auch Mitglieder der DNVP-Studentengruppe waren – an einem Treffen des »Bundes der Aufrechten« in Elberfeld teil. Der Schriftsteller Ernst Pfeiffer hatte diese radikalnationalistische, eng mit der DNVP verbundene Vereinigung, die auf eine Restaura tion der Hohenzollern-Monarchie abzielte, bereits unmittelbar nach der Abdankung von Kaiser Wilhelm II. am 9. November 1918 gegründet. Am 3. April 1922 hielt Niemöller beim »Bund der Aufrechten« einen Vortrag über »Ubootserlebnisse«.25 Nachdem Niemöller Ende 1923 eine Stelle als Geschäftsführer des westfälischen Provinzialverbandes der Inneren Mission angetreten hatte, kam seine rastlose Tätigkeit in deutschnationalen Verbänden weitgehend zum Erliegen. 22 Schmidt, Niemöller im Kirchenkampf, 257. 23 AK 02.02.1921: ZEKHN, 62/6096; vgl. Niemöller, Vom U-Boot zur Kanzel, 118–131. 24 AK 10.02. und 26.02.1921, mit einem Verweis auf einen Bericht in der Lengericher Zeitung: ZEKHN, 62/6096. 25 AK 03.01., 04.01. und 03.04.1922: ebd.
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Doch die öffentliche Vortragstätigkeit über die Zeit an Bord von U-Booten ging auch ab 1924 weiter, wenn auch mit etwas verminderter Frequenz. So etwa Anfang 1924 im Rahmen der Evangelischen Bürgergesellschaft in Münster, 1927 beim dortigen CVJM und beim lokalen Kriegerverein des »Deutschen Reichskriegerbundes Kyffhäuser«, von 1928 bis Anfang 1930 mehrfach auf Einladung evangelischer Pfarrgemeinden in Osnabrück und Quakenbrück, 1929 ferner im Reserve- und Landwehr-Offizierverein Münster. Die zuletzt genannte Veranstaltung war sicherlich nicht die einzige im Rahmen der nationalen Verbände, die mit einem »gemütlichen Bierabend verbunden« war. Dabei wird sich für den Redner Niemöller die Gelegenheit geboten haben, das zuvor Gesagte in Nachfragen und Gesprächen zu vertiefen und sodann weiter auf die Erwartungen seiner Zuhörer abzustimmen.26 Auch nach dem Antritt der Pfarrstelle in Dahlem trug Niemöller 1932 im Bibelkreis Schöneberg und – bei dieser Gelegenheit über die Zeit als erster Offizier auf U 151 in der zweiten Jahreshälfte 1917 sprechend – wiederum beim CVJM in Berlin vor.27 Selbst während der Niederschrift des Buches im Sommer 1934 in Zinnowitz sprach Niemöller in einem örtlichen Kinderheim über seine U-Boot-Erlebnisse.28 Bereits vor dem Beginn des sogenannten »Kirchenkampfes« zwischen Bekennender Kirche und Deutschen Christen war das deutschnationale Narrativ des Erinnerungsbuches von 1934 voll ausgebildet. Niemöller hatte es seit 1921 in mündlicher Rede dutzendfach wiederholt und in seinen Kernelementen und Versatzstücken verfeinert. Das lässt sich im Detail an zwei Publikationen aus den Jahren 1932 und 1933 nachvollziehen, in denen Niemöller in Interviews darauf zu sprechen kam. Das erste war eine Art ›homestory‹ in einer Illustrierten, welche die ungewöhnliche »Lebensgeschichte des früheren U-Boot-Kommandanten« vorstellte.29 Hier wies Niemöller kurz auf ein »Weihnachtsfest von seltenem Reiz hin«, als U 73 1916 mit einer gebrochenen Backbordschraubenwelle und einem defekten Dieselmotor südlich von Kreta lag. Erst in der »Silvesternacht« 1916 kam man glücklich im österreichischen Adriahafen Cattaro an. Das ist, stich26 In chronologischer Reihenfolge: Einladungszettel der Evangelischen Bürgergesellschaft in Münster für den 4. Februar 1924: Landeskirchliches Archiv der Evangelischen Kirche von Westfalen, Bielefeld (LkA EKvW), 5.1, 435, Fasc. 1, Bl. 3; AK 30.01. und 3.11.1927: ZEKHN, 62/6096; Martin Niemöller 30.10.1928 an Pfarrer Saalbach in Osnabrück: LkA EKvW, 5.1, 463, Bl. 255; Hugo Heyser, Vorsitzender des Evangelischen Arbeitervereins Quakenbrück, 29.12.1929 an Niemöller und dessen Antwort vom 31.12.1929: LkA EKvW, 5.1, 464, Bl. 148f.; Einladung des Reserve- und LandwehrOffiziervereins Münster vom 15.10.1929 zum Vortrag über »Bilder aus dem U-Bootskrieg« (Zitat): LkA EKvW, 5.1, 464, Bl. 142. 27 AK 09.04. und 17.04.1932: ZEKHN, 62/6096. 28 AK 30.07.1934: ebd. 29 Käthe Miethe. »Kreuz und Schwert. Lebensgeschichte des früheren U-Boot-Kommandanten Martin Niemöller«. Beyers für Alle. Die Große Familien-Illustrierte 1932, 30, 9 (hier nach: LkA EKvW, 5.1, 435, Fasc. 1, Bl. 49).
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wortartig verknappt, der Inhalt des Kapitels »Eine Weihnachtsunternehmung« in Vom U-Boot zur Kanzel.30 Auch auf die »längste U-Boot-Fahrt des Krieges« kam Niemöller 1932 zu sprechen, die ihn als Erster Offizier auf dem U-Boot Kreuzer U 151 von Ende August bis Weihnachten 1917 um die britischen Inseln herum in den Atlantik bis zu den Azoren und den Kanarischen Inseln führte. »116 Tage« und »55 Tausend Tonnen« versenkte Schiffe werden im Interview als Ergebnis bilanziert, eine Bilanz die auch das Erinnerungsbuch betont, wenn auch geringfügig korrigiert auf »114 Seetage« und »rund 50000 Tonnen versenkt«.31 Und auch der Hinweis auf »die schwerste Fahrt« des gesamten Krieges, die Heimfahrt in das von der Revolution erfasste Kiel im November 1918, nimmt bereits das 1934 betonte Motiv der nationalen Erniedrigung durch die Kriegsniederlage und die »Schande des 9. November« vorweg.32 Ein Bericht im Mainzer Anzeiger im Oktober 1933 antizipierte mit der Überschrift »Der U-Boot-Kommandant auf der Kanzel« das biographische Leitmotiv der Fortsetzung des vaterländisches Dienstes auf hoher See im Pfarramt, das dem 1934 erschienenen Buch zugrunde lag. Eine dort enthaltene Episode von der Fahrt mit U 151 ähnelt in ihrer Dramatisierung der Situation unter Benutzung der direkten Rede – »›Da ist noch einer!‹ [...] ›Tauchen!‹« – bis in die Details hinein der nur etwas stärker ausgearbeiteten Passage, in der das Buch 1934 die Begegnung mit dem britischen Frachter Winona schilderte, der als eine getarnte U-Boot Falle mit Geschützen fungierte (69–73).33
Das nationalistische Narrativ des U-Boot-Krieges Die literarischen Narrative des U-Boot-Krieges folgten einem schematischen Darstellungsprinzip, das auf »gängigen Fiktionalisierungselementen« wie »Dialogen, Geschehensberichten und Beschreibungen« basierte. Sie folgten dabei den Abläufen auf den U-Booten insofern, als die »Handlungsdramaturgie« der Berichte auf einem »Wechsel von spannenden Gefahrenmomenten und gemütvollem Bordleben« basierte.34 Auch Niemöller hat diese Darstellungsmittel benutzt. In einer Reihe von in die Erzählung eingeflochtenen Passagen schildert er Tage und Wochen des Wartens und der Ruhe, teilweise auf hoher See, zumeist aber während der Liegezeiten im österreichischen Adriastützpunkt Pola, in den die U-Boote der
30 Ebd. Vgl. Niemöller, Vom U-Boot zur Kanzel, 42–51. 31 Miethe, Kreuz und Schwert; vgl. Niemöller, Vom U-Boot zur Kanzel, 66–99, Zitat 99. 32 Miethe, Kreuz und Schwert; vgl. Niemöller, Vom U-Boot zur Kanzel, Zitat 139. 33 Mario Mohr. »Der U-Boot-Kommandant auf der Kanzel. Das war der Krieg der ›Kapitänleutnants‹. Ein Erinnerungsblatt zum 21. Oktober«. Mainzer Anzeiger, Nr. 243, 19.10.1933, 12f. (vorhanden in: LkA EKvW, 5.1, 435, Fasc. 1, Bl. 95). 34 Köppen, »Ihr blonden Helden«, 518.
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deutschen Mittelmeerflotte zur Wartung und Reparatur einliefen. »Du schöne blaue Adria!« (25–29) Das war der Rahmen für ein »fröhliches Badeleben«, dem österreichische und deutsche Marineoffiziere, durch »heiße Liebe zum selben Vaterland« verbunden, gemeinsam frönten (26).35 Aber die Tage der Entspannung und die Stunden des geselligen Zusammenseins an Bord waren stets nur ein Intermezzo. Im Zentrum des U-Boot-Krieges und auch von Niemöllers Narrativ stand die operative Aufgabenstellung der U-Boote, die Niemöller wörtlich durch Zitate aus den jeweiligen Operationsbefehlen einführt: »Handelskrieg im Atlantik westlich von Gibraltar« (66) – so die Weisung für U 151 im August 1917 – oder »Minenlegen vor Marseille; Handelskrieg führen an der südfranzösischen Küste!« (106), so der Befehl für Niemöllers erste eigene Feindfahrt als Kommandant von UC 67. Er übernahm diesen Befehl annähernd wörtlich aus dem Kriegstagebuch des Bootes, in dem es hieß: »Aufgabe: Minenlegen vor Süd- und Nordeinfahrt von Marseille. Handelskriegführen im Golf von Lion [sic!].«36 An anderer Stelle verweist Niemöller in seinem Erinnerungsbuch ganz explizit auf diese intertextuellen Referenzen zum Kriegstagebuch der U-Boote (68). Die U-Boot-Literatur des Ersten Weltkrieges ist von der Perspektive der Kommandanten bestimmt.37 In den Kriegsromanen und autobiographischen Berichten über die Kämpfe des deutschen Feldheeres dominierte die »Perspektive von unten« des einfachen Frontsoldaten.38 In den literarischen Darstellungen der U-Boot-Flotte dagegen tauchen Matrosen nur ausnahmsweise als eigenständige Akteure auf. Namentlich wird von Niemöller etwa der Matrose Pehrson erwähnt. Aber das war mehr ein Akt der Pietät, denn Pehrson war am 11. April 1916 über Bord gespült worden und ertrunken, als er als Teil der Geschützbedienung bei schwerem Seegang an Bord der aufgetauchten U 73 einen Dampfer beschoss (14, 24). Auch der ebenfalls von U 73 über Bord gespülte »Torpedooberheizer Truppner« fand so Erwähnung (16). Auch ein »Hamburger Jong«, der »Matrose Elze« wird namentlich genannt. Sein Name sollte »nicht vergessen werden«, da er auf U 151 den »unfähigen Koch« ersetzte und somit für das leibliche Wohlergehen der gesamten Besatzung sorgte (64). Niemöller hebt die Egalität unter den Offizieren der deutschen U-Boot-Flotte hervor, die sich gegenseitig ohne Ansehen der Rangunterschiede als »Heinrich« anredeten (102). Aber seine autobiographische Erzählperspektive ist doch auf das Erreichen eines eigenen Kommandos abgestellt. Nach einer kurzfristigen Kom35 Vgl. ferner Niemöller, Vom U-Boot zur Kanzel, 74, 85f. 36 Auszug aus dem KTB UC 67, 01.-11.07.1918: BArch, RM 97/1896, Bl. 165. 37 Allerdings gab es in den 1930er Jahren einige Titel aus der Perspektive von Maschinisten. Vgl. Hadley, Count not the Dead, 69f. 38 Vgl. Bernd Ulrich. »Die Perspektive ›von unten‹ und ihre Instrumentalisierung am Beispiel des Ersten Weltkrieges«. Krieg und Literatur/War and Literature 1 (1989), 2, 47–64.
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mandierung zum Admiralstab in Berlin im Sommer 1917 hatte Niemöller auf ein eigenes Kommando gehofft. Umso größer war seine Enttäuschung, als er doch wiederum nur als erster Offizier auf U 151 kommandiert wurde: Und wieder war ich eine Hoffnung ärmer; meine Crewkameraden vom Seekadetten-Jahrgang 1910 wurden bereits Kommandanten auf kleineren Booten, also selbständige Leute, während ich Zweiter blieb. Immerhin hatte ich die feste Zusage, daß ich nur eine Fahrt mitmachen und dann im Mittelmeer ein Boot als Kommandant übernehmen sollte. (62)
Erst im Mai 1918 gelang es Niemöller dann, auf UC 67 der Kommandant eines Bootes zu werden. Er hatte in Kiel einen Kommandantenkurs absolviert und fand bei der Rückkehr zum Adriahafen Pola die glückliche Situation vor, dass »einige jüngere Kommandanten zum Einfahren neuer Bootstypen nach Deutschland beordert wurden.« Endlich war Niemöller am Ziel, seinem eigenen, »meinem« Boot (102). Im Mittelmeer, dem wichtigsten Einsatzgebiet von Niemöller als Offizier der U-Bootflotte, praktizierten deutsche U-Boote seit August 1915 den Handelskrieg nach Prisenordnung, indem sie Handelsschiffe nach vorheriger Warnung aufbrachten und nach Kontrolle der Ladung entschieden, ob diese zu versenken waren. Erst nach der Erklärung des uneingeschränkten U-Boot-Krieges am 1. Februar 1917 versenkten deutsche U-Boote Handelsschiffe auch ohne vorherige Warnung.39 Im Zentrum des U-Boot-Krieges stand also die Versenkung einer möglichst großen Zahl von Handelsschiffen mit einer großen Tonnagezahl, um durch die Unterbindung von Nachschubrouten die alliierte Kriegführung zu schwächen. Wie Walter Forstmann notierte, war es für den Kommandanten eines U-Bootes »die Hauptsache [...], daß er viele Schiffe versenkte«.40 Nun zählte Niemöller, dessen Zeit als Kommandant eines eigenen Bootes ohnehin erst in die letzten Monate des Krieges fiel, gewiss nicht zu den großen »Tonnage-Königen« des Ersten Weltkrieges wie Max Valentiner, Walter Forstmann oder Lothar von Arnauld de la Perière.41 Letzterer führte eine 1922 von der Reichswehr zusammengestellte Liste der »erfolgreichsten Unterseebootskommandanten« des Weltkrieges an, mit einer versenkten Gesamttonnage von 485.000 Bruttoregistertonnen (BRT). Für diese Leistung hatte er bereits im Oktober 1916 den Orden »Pour le mérite«
39 Vgl. Jürgen Rohwer. »U-Boot-Krieg«. Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich, Irina Renz (Hg.). Enzyklopädie Erster Weltkrieg. Paderborn 2003, 931–934. 40 Forstmann, Auf Tauchstationen, 17. 41 So die Formulierung von Hadley, U-Bootgeschichte, 220; vgl. Köppen, »Ihr blonden Helden«, 511, 522.
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erhalten.42 Im Vergleich damit nahmen sich die Versenkungsziffern von Niemöller als Kapitän von UC 67 doch eher bescheiden aus. Eine von der Reichswehr angefertigte Zusammenstellung notierte für die beiden Feindfahrten im Juli und August/September 1918 unter Niemöllers Kommando insgesamt vier versenkte »Frachtdampfer« mit zusammen 18.500 BRT.43 Doch für Niemöller zählten nicht nur die Tonnageerfolge in seiner kurzen Zeit als Kommandeur von UC 67. Jegliche in seiner Dienstzeit in der U-Boot-Flotte erfolgende Versenkung von gegnerischen Handelsschiffen und der damit erbrachte Beitrag zur deutschen Kriegführung waren für ihn bedeutsam. Dieses Motiv wird etwa aus einer Notizkladde deutlich, die sich in Niemöllers Papieren findet und sinnfällig mit »Erfolge U 73« überschrieben ist. Hier notierte er die während seiner Zeit auf U 73 versenkte Tonnage, und zwar mit Informationen über den Namen des Schiffes, die Tonnage, soweit bekannt auch dessen Ladung, schließlich den Ort und die Art der Versenkung, ob durch Feuer aus dem Bordgeschütz von U 73 oder durch von diesem verlegte Minen. Auch woher er diese Informationen bezog – zumeist Zeitungsnotizen – notierte Niemöller. Zudem addierte er mit Bleistift in einer Ecke der jeweiligen Seite die versenkte Gesamttonnage auf, bis hin zum 20. Januar 1917, an dem der mit Weizen beladene englische Dampfer »Bellvier« einer von U 73 verlegten Mine zum Opfer fiel: Insgesamt waren dies 145.189 BRT seit April 1916.44 Doch das Versenken von Schiffen als Kern des U-Boot-Krieges beschäftigte Niemöller nicht nur in privaten Notizen. Es war auch ein durchgängiges narratives Element in seiner Darstellung des Weges vom »U-Boot zur Kanzel«. Zu den Höhepunkten zählte hier, wie bereits notiert, die »längste Kriegsfahrt eines deutschen U-Bootes« mit U 151 Ende 1917, bei der in der Bilanz »rund 50.000 Tonnen versenkt« wurden (99). Nicht jede Versenkung war Anlass zu ungeteilter Freude. Als im April 1916 ein Frachtensegler nach Beschuss durch U 73 »mit ein paar Dutzend Treffern« des an Deck des Bootes befestigten Artilleriegeschützes »absackte, da konnte doch keiner von uns dieses ersten Erfolges froh werden«. Denn zuvor war, wie bereits erwähnt, der Matrose Pehrson »über Bord gespült« worden (14). Gerade beim Minenkrieg gab es des öfteren eine zeitliche Distanz zwischen dem Verlegen der Minen und dem Eintreffen von Nachrichten über die durch diese erzielte Versenkung von Feindschiffen. »Mit dem Erfolg« konnte man aber dann »doch zufrieden sein«, auch wenn er die Besatzung erst mit einiger Verspätung erreichte, wie hier bei der Rückkehr von U 73 nach Cattaro (24). Im Fall einer weiteren Fahrt von U 73 summierten sich diese Meldungen zu immerhin 42 »Die erfolgreichsten Unterseebootskommandanten«, 05.05.1922: BArch, RM 27-XIII/357. 43 Liste mit Versenkungsziffern von »Obltn. Niemüller« [sic!], o.D.: BArch, RM 27-XIII/357. 44 »Erfolge U 73«, o.D.: ZEKHN, 62/1873 (diese Akte war zuvor unter der Akzidenznummer 6064a verzeichnet).
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»alles zusammen an die 90.000 Tonnen«, und so hatte der »schwimmende Sarg« sich »bezahlt« gemacht (42). Nach der Eröffnung des uneingeschränkten U-BootKrieges beschoss Niemöller mit U 151 auch ohne Vorwarnung vorbeifahrende Dampfer, so die »Johan Mjelde«, die unter anderem mehrere hundert Tonnen Kupfer nach Italien bringen sollte. Mit der Hilfe der Besatzung der »Johan Mjelde« wurden insgesamt 20 Tonnen Kupfer an Bord von U 151 gebracht. Sodann ließ sich das U-Boot von diesem Dampfer zu einer der Azoreninseln schleppen, wo dessen Besatzung und die anderer versenkter Schiffe an Land gingen, bevor die »Johan Mjelde« ihr »Seemannsgrab« auf dem Meeresboden fand (90–95, Zitat 95). Als Niemöller am Ende seiner letzten Feindfahrt mit UC 67 Kurs auf den Hafen Pola nahm, sandte er »sogleich einen Funkspruch an die Flotille: »UC 67 hat Minenaufgabe gelöst; drei Dampfer mit rund 17.000 Tonnen versenkt.« (127) Im Moment des Angriffs auf ein gegnerisches Schiff verdichtete sich die Aufgabe der U-Boote, das Versenken von Tonnage. Die Verdichtung des Augenblicks legte eine Verdichtung in der sprachlichen Repräsentation nahe, wofür sich Metaphern anboten. Walter Forstmann etwa griff in seiner Darstellung der Kriegsfahrten mit U 39 auf zwei metaphorische Felder zurück, die auch in der literarischen Darstellung des Schützengrabenkrieges weithin Verwendung fanden.45 Das erste war die Jagd. Forstmann verglich die Aufgabe des U-Boot-Kommandanten, die Routen der gegnerischen Handelsschiffe ausfindig zu machen, mit der Art und Weise, »wie der Waidmann Wechsel und Fährte des Wildes ausmacht, um gute Jagdgelegenheit zu haben«.46 Für den eigentlichen Moment des Angriffs benutzte Forstmann ein anderes metaphorisches Feld. Den Moment des Abtauchens unter die Wasseroberfläche zur Einleitung des Angriffs bezeichnete er als »Sport und etwas für gesunde Nerven«.47 Niemöller hingegen verzichtet weitgehend auf das Mittel der metaphorischen Verdichtung, um den Moment des Kampfes hervorzuheben und anschaulich zu machen. Er betont die »wacker[e]« Gegenwehr einer französischen Viermastbark, die sich mit ihren Bordgeschützen gegen das Versenken stemmt (74). Er benutzt das Stilmittel der direkten Rede – »Alarm, Fluten!« –, um den Moment der Anspannung und Gefahr hervorzuheben (109, vgl. 105). Und wenn sich Niemöller dann doch einer Metapher bedient, um den Ablauf eines Angriffs zu beschreiben, dann baut diese Spannung eher ab als auf: »Der Angriff vollzieht sich mit mathematischer Genauigkeit, fast wie bei der U-Schule in der Kieler Bucht.« (122) Martin Niemöllers Darstellung ist von dem Bemühen geprägt, die Regelhaftigkeit und Folgerichtigkeit des Versenkens als Kerngeschäft der U-Boot-Waffe 45 Zur Verwendung der Jagdmetapher bei Ernst Jünger vgl. Benjamin Ziemann. Gewalt im Ersten Weltkrieg. Töten-Überleben-Verweigern. Essen 2013, 84f. 46 Forstmann, Auf Tauchstationen, 10. 47 Ebd., 11.
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zu betonen. Zudem verfolgte er eine Strategie der Dethematisierung, in der die schlimmsten Momente des Lebens auf dem U-Boot nicht als solche hervortraten. Seinen Eltern hatte Niemöller nach der Rückkehr nach Cattaro mit U 73 in den letzten Tagen des Jahres 1916 geschrieben: »vom 24. bis 27. waren in meinem jetzigen Ubootleben die kritischsten Tage, Tage, wie ich sie meinem ärgsten Widersacher nicht gönne. Ich erzähle euch noch mündlich davon.«48 U 73 hatte am Ende dieser Feindfahrt Probleme mit der Ölpumpe, musste deshalb in den Tagen nach Weihnachten wiederholt »stundenlang stoppen«, und einige Matrosen waren an Grippe erkrankt (49). Bei der doch noch erreichten Einfahrt in Cattaro war das Boot für Niemöller nur noch ein »Wrack« (50). Doch seine Schilderung dieser Tage lässt nicht im Ansatz erkennen, welche der im Brief an seine Eltern nur vage angedeuteten Ängste und Befürchtungen ihn damals geplagt haben. Es lässt sich nur vermuten, dass er buchstäblich um sein Leben fürchtete, da das defekte Boot jederzeit antriebslos in der See zu treiben drohte. Die gewiss nicht nur in solchen Momenten auftretenden existenziellen Ängste der Besatzungen in den »schwimmenden Särgen« der U-Boot-Flotte hatten in dem nationalistischen Narrativ des U-Boot-Krieges keinen Platz. Ein zentrales politisches Motiv der Literatur zu den deutschen Unterseebooten war das der »U-Boot-Treue«.49 Die beinahe während des gesamten Krieges untätig in den Seehäfen Kiel und Wilhelmshaven liegende deutsche Hochseeflotte hatte im Oktober 1918 mit der Meuterei der Matrosen den Startschuss zur Novemberrevolution und damit zum Untergang des Kaiserreiches gegeben. Dagegen ließ sich aus der Perspektive der U-Boote betonen, dass es dort bis zum Waffenstillstand und darüber hinaus keinerlei Auflösungserscheinungen gegeben hatte und die Moral sowie der Zusammenhalt von Offizieren und Mannschaften ungebrochen war. Als der Krieg im Sommer 1918 in sein »letztes, entscheidendes Stadium« trat, fuhr Niemöller zunächst nach Berln zurück, um das Jawort der ihm aus gemeinsamen Elberfelder Jugendtagen bekannten Freundin Else Bremer zur Verlobung einzuholen (116). Niemöllers Perspektive auf das »endgame« der deutschen Flotte ist persönlich geprägt, denn im Umfeld der Verlobungsfeier in Elberfeld traf er auch seinen besten Freund, Hans Jochen Emsmann, der ebenfalls auf einem U-Boot diente. Beim Abschied am Bahnhof habe Emsmann, so Niemöller, gesagt: »Wenn der Krieg verloren geht, dann soll es an uns beiden jedenfalls nicht gelegen haben.« Emsmann starb, so berichtet Niemöller, als Kommandant von UB 116 im November bei Scapa Flow: »das letzte U-Boot, das verloren ging; das U-Boot, dessen Mannschaft noch mitten im Zusammenbruch das Unmögliche wagte und glaubte!« (117) 48 Martin Niemöller an seine Eltern, 02.01.1917: ZEKHN, 62/6066. 49 Vgl. Hadley, »Rückwärts schauende Propheten«, 221; vgl. ders., Count Not the Dead, 69f.
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Niemöller kommt so auf die Bedeutung des Kriegsendes und der deutschen Niederlage erstmals über die Verknüpfung mit dem privaten Glück seiner Verlobung und dem persönlichen Verlust eines engen Freundes zu sprechen. Doch er weitet diesen persönlichen Bezug sogleich durch eine Reflexion über den Ort des Heroismus auf Seiten der Deutschen und dessen Bedeutung für die Zukunft ins Allgemeine: Wenn es in den ganzen Kriegsjahren außer in der begeisterten Todesverachtung der ersten Kriegswochen wirkliches Heldentum gegeben hat, dann ist es in den allerletzten Kämpfen gewesen, als es nicht mehr um Erfolg und nicht mehr um Ehre ging, sondern nur noch um das eiserne Gebot der soldatischen Pflicht. Und daß es das nach vier zermürbenden Kriegsjahren noch gab, das wurde mir und vielen andern zur Hoffnung für die Zukunft unseres Volkes. (117f.)
Diese Hoffnungen auf eine mögliche Zukunft soldatischer Pflichterfüllung im Dienste des Volkes musste Niemöller gegen die für ihn bittere Einsicht verteidigen, dass gerade im Herbst 1918 »im deutschen Volk die selbstmörderische Zwietracht geschürt wurde«, was das wahre »Verbrechen von 1918« war (133). Am letzten Abend vor der Heimfahrt von UC 67 vom österreichischen Adriastützpunkt Pola Ende Oktober 1918 war es Niemöller »zum Weinen« zumute, als ausgerechnet vier österreichische Seeoffiziere darum baten, mitgenommen zu werden, damit sie »bis zum Ende für Deutschland kämpfen« könnten (134). Die Heimfahrt nach Deutschland erfolgte im Verbund, und Niemöller notierte mit Stolz, das auch nach den einlaufenden Meldungen über den Waffenstillstand die »Besatzungen« aller mitfahrenden Boote »völlig intakt« waren (138). Niemöller erwähnt hier zwei Besprechungen der im Verbund fahrenden Kommandanten, die am 15. und 17. November 1918 stattfanden. Demnach habe man sich in beiden Besprechungen für eine Fortsetzung der Heimfahrt nach Deutschland – und gegen die freiwillige Internierung in einem spanischen Hafen – »in Anbetracht der Haltung unserer Besatzungen« entschieden (138). Gerade an dieser Stelle wird das Motiv der auch angesichts der Nachrichten über Niederlage und Revolution moralisch »intakten« U-Boot-Flotte und ihrer Besatzungen als eine gezielte literarische Stilisierung und politische Instrumentalisierung deutlich. Denn im Kriegstagebuch von UC 67 hatte Niemöller als Kommandant eine ganz andere Motivlage für diese Entscheidung notiert. Für den 15. November hielt er fest: »Kommandanten zur Besprechung auf UC 67. Da sich die Ereignisse in Deutschland in Ordnung und Ruhe, jedenfalls ohne Widerstand abzuspielen scheinen, Weiterfahrt beschlossen.«50 Und für den 17. November hielt 50 Kriegstagebuch UC 67, 15.11.1918: BArch, RM 97/1896, Bl. 217.
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Niemöller dasselbe Ergebnis fest: »Kommandanten zur Besprechung auf UB 50. Auf Grund der Nauen-Nachrichten, die eine ruhige Entwicklung der Neuordnung in Deutschland erkennen lassen, Weiterfahrt beschlossen.«51 In beiden Besprechungen stand also als zentrales Motiv für den Beschluss zur Heimkehr die aus den eintreffenden Nachrichten herausgefilterte Warnehmung im Raum, dass die revolutionäre Umwälzung in Deutschland sich gerade nicht als jene Herrschaft der »minderwertigsten Elemente« und »lautesten Schreier« vollzog, als die Niemöller später die Situation in Kiel nach der Rückkehr charakterisierte (141). In seinem Erinnerungsbuch stilisierte Niemöller die U-Boot-Flotte somit zum Rettungsanker einer möglichen Konterrevolution. Während die im Verbund fahrenden Boote die Biskaya hinter sich ließen, hätten er und die anderen Kommandanten die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass »sehr bald ein zweiter Umsturz die Schande des 9. November wieder abwaschen würde.« (139) Doch nach dem Einlaufen in Kiel und der Begegnung mit der dort herrschenden »Revolutionspsychose« (141) dämmerte es Niemöller, dass solche Hoffnung vergebens war. Es fehlte, so resümierte er, ein »Kristallisationspunkt« für »national denkende Männer« wie ihn selbst, »um im Unglück zusammenzustehen« (142). Mit Vom U-Boot zur Kanzel hat Niemöller einen Kriegsbericht vorgelegt, der als autobiographische Erzählung ausgeflaggt war. Doch ungeachtet der autobiographischen Grundierung schrieb sich das Buch zugleich in zentrale Topoi jener Literatur ein, welche das U-Boot zur Wunderwaffe der Deutschen stilisierte, deren innerer Zusammenhalt die revolutionäre Umwälzung im November 1918 überdauerte und damit zugleich als Bezugspunkt für Hoffnungen auf eine nationale Wiedergeburt fungieren konnte. Niemöller akzentuierte diese Lesart, die auch die Schilderung seines weiteren Lebensweges bis zur Ordination als Pfarrer im Juni 1924 bezog, im letzten Satz seines Erinnerungsbuches. Dort bezog er sich auf den nötigen Dienst der Kirche am Wort Gottes, »[...] damit das gewaltige Werk der völkischen Einigung und Erhebung, das unter uns begonnen ist, einen unerschütterlichen Grund und dauernden Bestand gewinne!« (211) Mit einer solchen Aussage nahm Niemöller einen zentralen Topos der U-Boot-Literatur in den ersten Jahren nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten auf. Denn nun standen die heroischen Taten der U-Bootfahrer ganz im Zeichen des nationalen Wiederaufstiegs, der nach 1933 möglich wurde, und ihr selbstloser Einsatz für die Gemeinschaft im Krieg ließ sich als Vorwegnahme der nationalsozialistischen Ausformung der Volksgemeinschaftsidee deuten. Diese Lesart bestimmte etwa das 1933 erschienene Buch von Kapitänleutnant Werner Fürbringer Alarm! Tauchen! U-Boot in Kampf und Sturm und viele andere Titel des Genres aus den Jahren 1933/1934.52 51 Kriegstagebuch UC 67, 18.11.1918: BArch, RM 97/1896, Bl. 218. 52 Hadley, Count Not The Dead, 67ff., bes. 67.
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Niemöllers Darstellung enthielt aber zugleich Elemente eines traditionellen nationalistischen Narrativs, das in der Vorstellungswelt des Wilhelminismus verankert war und im Dienst für den Kaiser seine Erfüllung fand. Darauf deutet etwa eine Passage hin, in der Niemöller die Verleihung des Eisernen Kreuzes 1. Klasse kommentierte und das Einlaufen in den Seehafen Cattaro am 27. Januar 1917, dem Geburtstag des Kaisers, als einer seiner »liebsten Marinerinnerungen« bezeichnete (59). Solche Passagen, die den Dienst für die Nation auf das politische System des Kaiserreichs bezogen, waren nach 1918 mit dem Untergang dieses Systems problematisch geworden. In manchen literarischen Beiträgen zum Ersten Weltkrieg wurden sie nach 1933 getilgt und durch Bezüge ersetzt, die mit den ideologischen Vorgaben des Regimes eher kompatibel waren. Ein Beispiel dafür sind etwa die Abenteuer des Fliegers von Tsingtau von Gunther Plüschow. In der ersten Ausgabe des Jahres 1916 endete das Buch noch mit den Worten »Mit Gott für Kaiser und Reich«, die sich auf dem Koppelschloss der Soldaten fanden. In der Ausgabe des Jahres 1934 wurde dies durch einen Schluss ersetzt, der die Unvergänglichkeit des deutschen Volkes akzentuierte.53 Niemöller sah dagegen keine Veranlassung, Bezüge auf die wilhelminische Idee der Reichsnation zu streichen, zumal diese auch nach 1918 im Zentrum seiner vielfältigen Aktivitäten in nationalen Verbänden gestanden hatte.
Rezeption und Zensur des Buches Vom U-Boot zur Kanzel war ein unmittelbarer Verkaufserfolg. Bereits bis Ende 1934 waren 60.000 Exemplare verkauft. Bis August 1938 stieg die Gesamtauflage auf 75.000 Exemplare. Dafür wurden Niemöller als Autor insgesamt 22.500.– Mark Honorar ausgezahlt. Von diesen Erlösen kaufte er sich nach eigenen Angaben einen Flügel und später ein Auto, das nach seiner Verhaftung 1938 aber nur die älteste Tochter fahren konnte.54 Das Narrativ des Buches war darauf angelegt, den mehrfach dekorierten Marineoffizier als einen Mann zu porträtieren, der sich im selbstlosen Einsatz für die deutsche Nation bewährt hatte lange bevor die Nationalsozialisten sich dessen rühmen konnten. Mit dem langen und an Gefahren und Widerungen reichen Weg vom U-Boot zur Kanzel hatte sich Niemöller, so
53 Rolf Parr. »Reisender ›sportsman‹ im Krieg. Gunther Plüschow: Die Abenteuer des Fliegers von Tsingtau. Erlebnisse in drei Erdteilen (1916)«. Schneider/Wagener (Hg.), Von Richthofen bis Remarque, 31–49, 47f. 54 Martin Warneck Verlagsbuchhandlung, 03.10.1938, »Aufstellung über den Absatz von Martin Niemöller: Vom U-Boot zur Kanzel«, in: ZEKHN 62/6063. Zur Verwendung der Erlöse: Südwestfunk Baden-Baden. »Zeitgenossen. Ein Gespräch mit Pastor D. Niemöller, von Henning Röhl und Klaus Figge«, gesendet am 02.01.1972, 3: ZEKHN, 62/043.
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das den Schreibanlass gebende Kalkül und die implizite Botschaft des Bandes, als jemand ausgewiesen, der zu Recht mit nationaler Überzeugung in die Geschicke der evangelischen Kirche nach 1933 eingreifen konnte. Die Rezeption des Buches in den Jahren 1934/35 nahm das im Buch suggerierte Motiv eines Lebens im Einsatz für die Nation explizit auf und verlängerte es in die Gegenwart hinein, ohne dass es dazu einer ausdrücklichen Stellungnahme Niemöllers bedurft hätte. Als »U-Bootsführer im Weltkrieg« habe der Verfasser »viel geleistet, um den Feinden Abbruch zu tun.« Der »alte Kämpfer« sei den »zweiten Teil« seines von »Kampf« geprägten Lebens, »den Kampf um die Deutsche evangelische Kirche«, aber »noch schuldig geblieben«.55 Viele Rezensenten entnahmen dem Buch das Leitmotiv eines »Tatmenschen«, der sich »einfach und klar, bescheiden und doch männlich« bei »allem Schicksalswechsel« treu bleibe, und der mit dem Fokus auf den U-BootKrieg aus dem »Hohenlied deutschen Heldentums im Weltkriege« berichte.56 Niemöller musste sich, so eine andere Rezension, »charakterlich rechtfertigen«, und das habe er mit der Schilderung seines »durch Not und Entbehrungen« hindurch gradlinigen Lebensweges getan.57 Die erst 1934 verbotene Zeitschrift des »Bundes der Aufrechten« – bei dem Niemöller 1922 über seine Erlebnisse gesprochen hatte – war von der Bescheidenheit und Selbstlosigkeit beeindruckt, in der dieser seinen Glauben ebenso beschrieb wie seinen Dienst für das Vaterland, »schlicht und einfach« erzählt, und zwar »ohne jedes Pathos«. Es gehöre zur erhofften Wirkung dieses Buches, so das Urteil der Aufrechten, dass man den im »Kampf der Kirche um Evangelium und Gewissensfreiheit« bekannt gewordenen Verfasser nun auch in seinen eigenen Worten kennenlernen könne.58 Ähnlich fiel auch das Urteil des Reichsboten aus, dessen Rezensent das Buch als »sachlich, zurückhalten, herb« bezeichnete. Mit seinem »Rechenschaftsbericht« habe Niemöller eben keine »kirchenpolitische Äußerung« vorgelegt, wie das manche Beobachter des Kirchenkampfes wohl erwartet hatten. Stattdessen könne man in der Lektüre »einem deutschen Manne durch Sieg und Not eines kämpferischen Lebens zu unseres Volkes Größe« folgen. Vor diesem Hintergrund einer durch Kampf geprägten Biographie müsse Niemöller »unserer Dankbarkeit gewiß sein.«59 Das Possessivpronomen zeigte den Rahmen an, in dem Niemöllers erzählte Lebensgeschichte zu würdigen war: Es war das 55 Auszug aus der Bücherschau in: Lust und Leben v. 09.12.1934, 707 (alle im folgenden zitierten Rezensionen in: ZEKHN, 35/164). Als »Kämpfer« auch bei W. Frisch, in: Deutscher Volksgeist. Zeitschrift zur Verständigung zwischen allen Schichten des Volkes 34 (1934), 22/23, 15.12.1934, 163f. 56 Dr. h.c. Radecke. »Lebensbeschreibung«. Kölnische Zeitung, 04.08.1935. 57 »Vom U-Boot zur Kanzel«. Neue westfälische Volkszeitung, 260, o.D. [1934], in: ZEKHN, 35/164. 58 »Eine Lebensgeschichte«. Der Aufrechte. Volkstümliche Blätter für Geschichte, Tradition und Leben, 21, 05.11.1934, 164. 59 H. Geiger. »Unser Urteil über Pfarrer Martin Niemöller als den Verfasser des Erlebnisberichtes ›Vom U-Boot zur Kanzel‹«. Der Reichsbote, 09.12.1934. Das Motiv des jenseits der kirchenpolitischen
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deutsche Volk, das dem U-Boot-Kommandanten und Pfarrer diesen Dank für seine Geradlinigkeit und seinen kämpferischen Einsatz schuldete. Das Motiv der lebensgeschichtlichen Beglaubigung des Einsatzes für die Kirche als nationaler Aufgabe prägte im übrigen auch die Rezeption in der kirchlichen Presse. Eine diakonische Zeitschrift urteilte so: Wer bisher vielleicht auch den unerbittlichen, lutherisch-trotzigen Weg des bekannten Dahlemer Pfarrers und Notbundführers nicht zu gehen vermochte, der erfährt durch dieses Buch, daß dieser Mann nach solchen Erlebnissen legitimiert ist, diesen Weg zu gehen. Denn es ist gewiß nicht nur eins der besten bisher erschienenen U-Boots-Bücher, fesselnd und voller Spannungen, sondern dieser Mann hat sich alles mit den Händen und dem Herzen Stück für Stück erarbeiten müssen, seine Liebe zur Heimaterde und seinen Gottesglauben, nachdem in der Revolution alles zerbrochen war.60
Die Rezeption des Buches in Deutschland fokussierte sich somit auf das zentrale Motiv des Kampfes und des »Kämpfers« im Dienste der Nation. Demnach hatte sich Niemöller als Marineoffizier seit 1914 selbstlos für Deutschland eingesetzt, wovon er ohne jedes falsche »Pathos« in seinem Buch erzählte. Von dort führte, über die Niederlage des Jahres 1918 und den dadurch erzwungenen Berufswechsel hinweg, eine gerade Linie zu seinem Einsatz für die evangelische Kirche seit 1933, dessen Legitimität und Respektabilität ihm somit auch seine Gegner im Kirchenkampf nicht absprechen konnten. Niemöller gehöre eben nicht zu jenen, die »so um den März 1933 herum in die NSDAP kamen«, und damit zu jenen zeitgenössisch als ›Märzgefallene‹ bezeichneten Opportunisten, die nun ihren Beitrag zum Aufbau des »Dritten Reiches« hervorhoben. Sein Beitrag zum nationalen Aufbruch nach 1933 knüpfe vielmehr nahtlos an sein früheres Wirken an, und auch deshalb blieben jene Gerüchte und Meldungen folgenlos, die ihn bereits nach wenigen Monaten des Kirchenkampfes »als reif fürs Konzentrationslager erscheinen« ließen.61 Dieses Motiv klang auch in der ausländischen Presse an, so etwa in einem Artikel der Züricher Weltwoche. Nach der Lektüre des Buches verstehe man, so die Quintessenz der Besprechung, warum der von den Nationalsozialisten eingesetzte Reichsbischof Ludwig Müller es »nicht wagt«, gegen Niemöller »vorzugehen«. Konfliktlinien »Anteilnahme« erfordernden Lebens als »Kämpfer auch in: »Neues vom Büchermarkt«. Steglitzer Anzeiger, 20.10.1934. 60 »Empfehlenswerte Bücher«. Blätter aus dem Evangelischen Diakonieverein 38 (1934), 11, 238. Vgl. den Auszug aus dem Evangelischen Kirchen- und Volksblatt für Baden, 28.10.1934: ZEKHN, 35/164. 61 »Vom U-Boot zur Kanzel«. Neue westfälische Volkszeitung, 260, o.D. [1934], in: ZEKHN, 35/164.
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Denn solche Leute, die im Krieg und in der nationalen Erneuerung eine führende Rolle gespielt haben und deren ganzer Charakter so sehr den Idealen des Nationalsozialismus entspricht, können natürlich nicht so leicht zum Schweigen gebracht werden wie ehemalige Sozialisten und Kommunisten.62
Eine andere Lesart schlug allerdings Max Gerber (1887–1949) vor, der schweizerische reformierte religiös-soziale Pfarrer und Theologe, der Niemöllers Buch ausführlich für die von ihm redaktionell betreute sozialistische Wochenzeitung Aufbau in Zürich besprach.63 Gerber verstand das Buch als einen »Beitrag zur Psychologie des Bekenntnischristentums«. Denn aus ihm werde klar, dass Niemöller und die Bekennende Kirche nicht »für das wirkliche Wort Gottes« kämpfen würden. Bei den Gegensätzen zwischen der Bekennenden Kirche und den Deutschen Christen handele es sich, so Gerber, »lediglich« um »Differenzen in der nationalistischen Unterwelt«. Denn gegen den »Mord- und Lügenstaat« des »Dritten Reiches« hätten »beide Parteien nichts. Sie begrüßen ihn vielmehr, und die Bekenntniskirche wird ja nicht müde, dies immer aufs neue zu versichern«.64 Gerber konnte sich dabei auf den letzten Satz von Niemöllers Buch berufen, den er durchaus zutreffend als ein »Bekenntnis zur nationalsozialistischen Revolution« interpretierte.65 (211) Doch das eigentliche Misstrauen Gerbers gegenüber den Motiven und dem Christentum Niemöllers speiste sich nicht aus diesem tatsächlich nur vereinzelt dastehenden Satz. Gerber bezog sich vielmehr auf den »burschikosen« Tonfall, mit dem Niemöller das »Versenken von Schiffen« als eine »sportliche Abenteuerfahrt« beschrieb. Er störte sich daran, dass der »Tod der Feinde« bei Niemöller »keine andern Gefühle als die der Freude« weckte.66 Denn als eine »Freude besonderer Art« begrüßte es Niemöller, dass von U 73 verlegte Minen das britische Schlachtschiff Russell versenkt hatten, mit mindestens 124 Toten (23). Der wichtigste Anhaltspunkt für Gerbers Zweifel an Niemöllers Christentum war eine von ihm zur Gänze zitierte Episode, die, soweit ich sehe, überhaupt nur in der ausländischen Rezeption des Buches aufgegriffen wurde (56–59).67 Nie62 »Vom U-Boot zur Kanzel«. Weltwoche (Zürich), 07.12.1934. 63 [Max] Gerber. »Vom U-Boot zur Kanzel. Ein Beitrag zur Psychologie des Bekenntnischristentums«. Der Aufbau. Sozialistische Wochenzeitung 16 (1935), 24, 14.06.1935, 185–189. Vgl. Erich Wenneker. »Max Gerber«. BBKL, Bd. 19, Nordhausen 2001, Sp. 523–525. 64 Gerber, »Vom U-Boot zur Kanzel«, 189. 65 Ebd., 188. 66 Ebd., 186. 67 Vgl. ebenfalls: »Vom U-Boot zur Kanzel«. Weltwoche (Zürich), 07.12.1934; R.H.S. Crossman. »From U-Boat to Pulpit«. Spectator, 23.11.1934, 784f.; »A Great German Preacher«. The Manchester Guardian, 08.12.1936.
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möller beschreibt darin, wie U 39 am 25. Januar 1917 auf zwei Dampfer traf, die von drei französischen Zerstörern begleitet und gesichert wurden. Es handelte sich um zwei Truppentransporter, von denen einer nach Torpedobeschuss durch U 39 rasch versank. Während der andere Dampfer in Begleitung von zwei Zerstörern abdrehte, versuchte der dritte die zahlreichen auf dem sinkenden Schiff befindlichen Soldaten und dessen Besatzung aufzunehmen. Sollte U 39 ihn daran hindern? Der Versuch wurde unternommen und blieb erfolglos. Niemöller rechtfertigte ihn mit den Worten: »Aber Krieg ist Krieg, und die Leute, die da aus dem Wasser gezogen werden, sind Soldaten, die an die Front sollen, Soldaten, die auf unsere deutschen Brüder schießen werden.« (57) Und aus einer anschließenden Diskussion unter den Offizieren des Bootes zog er die Konsequenz, dass von einem »Moratorium des Christentums« nicht zu sprechen sei, wohl aber vom »Bankrott« einer »gesetzliche[n] Moral« und damit einer »Anfechtung«, angesichts derer nur der Glaube an eine »Vergebung« helfe (58). Für Gerber sprach diese Episode »Bände« über die mit der »Vergebung der Sünden« mögliche »Schindluderei« und darüber, »wie wenig« es tatsächlich auf »Bekenntnisse« ankam, wenn Niemöller sich dazu bekannte, sich »in der Ausübung des Menschenmordes über alle Maßen glücklich gefühlt« zu haben.68 Doch damit war die Episode für Niemöller noch nicht ganz beendet. Zwei Tage später, am 27. Januar 1917, erreichte U 39 den österreichischen Marinestützpunkt Cattaro, und Niemöller zählte es noch 1934 zu seinen »liebsten Marineerinnerungen«, dass dies gerade am Geburtstag Kaiser Wilhelms II. geschah (59).69 In Cattaro wurde Niemöller schließlich auch das Eiserne Kreuz erster Klasse verliehen, das Niemöller »mit dem Gefühl«, es »nun« – das heißt nach der am 10. Dezember 1916 begonnenen und am 25. Januar so erfolgreich abgeschlossenen Feindfahrt mit U 39 – »doch und nicht nur durch eine entsprechende Zahl von Fahrten, die ich mitgemacht hatte, verdient zu haben.« (59) Gerber kommentierte diese Passage voller Sarkasmus dahingehend, dass Niemöller offenbar eine tiefe »Genugtuung« daraus ziehe, »in wirksamer Weise die Fische des Wassers mit Menschen gefüttert« zu haben und dafür das Eiserne Kreuz bekommen zu haben.70 Auch der Rezensent des britischen Spectator war davon überzeugt, dass sich in Niemöllers Reaktion auf die Ereignisse des 25. Januar 1917 »the heart of Niemoeller’s theology« fände. Und wie der religiöse Sozialist Max Gerber in der Schweiz zog auch er daraus Konsequenzen für die weitere Beurteilung des Kirchenkampfes:
68 Gerber, »Vom U-Boot zur Kanzel«, 187, 189. 69 Ernst Jünger dagegen blickte mit Verachtung auf jene Angehörigen des deutschen Militärs, die ihr »Nationalgefühl« vornehmlich durch ein Besäufnis am Geburtstag des Kaisers zelebrierten. Helmuth Kiesel (Hg.). Ernst Jünger. Kriegstagebuch 1914–1918. Stuttgart 2010, 433. 70 Gerber, »Vom U-Boot zur Kanzel«, S. 187.
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The German Church conflict is not a struggle of the liberal against the authoritarian, but of old-fashioned Lutheran theology against the German Christian movement whose Erastianism approximates at some points to the Anglican attitude. Both sides are profoundly German, both are loyal to Hitler, both abjure Socialism and lastly, both reject »Liberalism and Democracy«.71
Die zeitgenössische Rezeption des Erinnerungsbuches von Niemöller zeigt also zwei gegensätzliche Tendenzen. In der deutschen Presse stand 1934 das Motiv des Kämpfers im Mittelpunkt, der sich durch seinen Einsatz als Marineoffizier im Weltkrieg im Dienst an der Nation ausgewiesen habe. Unter Betonung der Geradlinigkeit des Lebensweges von Niemöller über den Berufswechsel zum Theologen und Pastor hinweg betonten die deutschen Rezensenten des Buches, dass sich Niemöller als Kämpfer für Volk und Nation auch im Kirchenkampf verdient oder zumindest, so die eingeschränkte Lesart, relativ unangreifbar gemacht habe. In den vorliegenden Rezensionen der schweizerischen und britischen Presse wurde dagegen die Übereinstimmung zwischen Niemöller, der Bekennenden Kirche und dem Nationalsozialismus hervorgehoben, die sich aus dem nationalistischen Narrativ des Buches ableiten ließ. Zugleich wurde die Substanz von Niemöllers christlichem Glauben unter Hinweis auf seine Darstellung der Ereignisse am 25. Januar 1917 in Frage gestellt. Die Rezeption der deutschen Presse nahm also das von Niemöller sorgfältig ausgearbeitete Narrativ einer Lebensgeschichte im Kampf für die deutsche Nation positiv auf. Doch wie stand es um die Reaktion von staatlichen Behörden und Parteistellen, zumal angesichts der intensiven Beobachtung und Überwachung der Bekennenden Kirche durch die Geheime Staatspolizeit und den Sicherheitsdienst der SS vor allem ab dem Frühjahr 1935?72 Die Kompetenzen in der Literatur- und Zensurpolitik des Dritten Reiches waren bekanntlich vielfach zersplittert. Vor allem zwischen dem Reichsinnenministerium und dem Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda gab es nach 1933 ein langwieriges Tauziehen um die Zuständigkeiten in der Buchzensur. Im April 1936 konnte Joseph Goebbels endlich die alleinige Zuständigkeit für das Verbot von Büchern für die seinem Ministerium unterstellte Reichsschriftumskammer reklamieren, auch wenn damit
71 Crossman, »From U-Boat to Pulpit«, 784. 72 Vgl. Gerhard Besier. Die Kirchen und das Dritte Reich. Spaltungen und Abwehrkämpfe 1934–1937. Berlin, München 2001, 61–67, 167–182; speziell zum SD vgl. auch Wolfgang Dierker. Himmlers Glaubenskrieger . Der Sicherheitsdienst der SS und seine Religionspolitik 1933–1941. Paderborn 2002, 192–200.
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in der Praxis noch immer keine »völlige Zentralisierung des Buchverbotswesens« durchgesetzt war.73 Doch von den Institutionen des NS-Staates war es offenbar das Geheime Staatspolizeiamt in Berlin, das sich 1935 erstmals mit dem Buch auseinandersetzte. Ausgangspunkt war eine Korrespondenz zwischen Reinhard Heydrich, dem Leiter des Gestapa, und Hans Hagemeyer, dem Leiter der Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums. Diese 1933 zunächst privatrechtlich gegründete Stelle widmete sich der kulturellen Förderung und politischen Steuerung der Buchproduktion im nationalsozialistischen Sinne. Zunächst dem Propagandaministerium zugeordnet, war die Reichstelle dann ab 1. April 1934 dem Amt Rosenberg unterstellt.74 Wie das für Fragen des Inlandsschrifttums zuständige Referat des Gestapa im Juni 1935 notierte, hatte Heydrich Anstoss daran genommen, dass die Reichsstelle Niemöllers Buch »in einer seiner Auffassung nach unangebrachten Weise [...] empfohlen habe, obwohl dieser als Führer der Bekenntnisfront in kirchenpolitischen Dingen bekanntlich fortdauernd in Konflikt mit dem Staat steht.«75 Die Reichsstelle wiegelte die Einwände Heydrichs mit dem Hinweis ab, man habe bei der Anforderung eines Gutachtens über das Buch die »Persönlichkeit Niemöllers« nicht hinreichend gekannt. Zudem habe das von »einem früheren Marineoffizier« stammende Gutachten für die Reichsstelle das Buch »als das eines alten Seeoffiziers« gewürdigt.76 Das maritime Narrativ des der Nation dienenden U-Boot-Kommandanten fand 1935 also auch unter den Gralshütern der NSWeltanschauung im Amt Rosenberg noch ungeteilte Zustimmung. Eine neuerliche Bewertung der Sachlage wurde für die Behörden des NS-Staates erst erforderlich, nachdem Niemöller selbst mit der Zuspitzung des Kirchenkampfes 1936/1937 in das Visier der Behörden geraten war. Mit der Verhaftung Niemöllers am 1. Juli 1937 versuchte der Staat, der Bekennenden Kirche die Schubkraft zu nehmen. Am 7. Februar 1938 begann dann der Prozess gegen Niemöller vor dem Sondergericht Berlin. Die Urteilsverkündung am 2. März 1938 kam der Sache nach einem Freispruch gleich. Doch die Gestapo verbrachte Niemöller unmittelbar danach in das KZ Sachsenhausen. Als »persönlicher Gefangener« des Führers war dieser damit zum Staatsfeind abgestempelt.77 Erst im Gefolge des Prozesses gegen Niemöller und dessen Verbringung in die »Schutzhaft« befasste sich das Gestapa wieder mit seinem Buch. Die für die Liste des »unerwünschten Schrifttums«
73 Jan-Pieter Barbian. Literaturpolitik im »Dritten Reich«. Institutionen, Kompetenzen, Betätigungsfelder. München 1995, 517–544, Zitat 522. 74 Ebd., 164–167, 270–276. 75 Aktenvermerk Geheimes Staatspolizeiamt, Referat II B 2, 06.06.1935: BArch, R 58, 920, Bl. 82. 76 Ebd. Zu diesem Zeitpunkt waren dem Gestapa laut einem handschriftlichen Vermerk noch keine weiteren Vorgänge zu Niemöllers Buch bekannt. 77 Bentley, Martin Niemöller, 161–174.
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zuständige Abteilung II P 1 wandte sich am 2. September 1938 an das für die staatspolizeiliche Behandlung der evangelischen Kirchen zuständige Referat im Hause. »Das Buch selbst ist inhaltlich nicht zu beanstanden.« Mit diesen lapidaren Worten drückte die Zensurstelle der Gestapo ihre Anerkennung der Lebensgeschichte Niemöllers aus. Allerdings sei mit »Rücksicht auf das staatsfeindliche Verhalten des Pfarrers« ein Verbot zu erwägen.78 Doch Bernhard Baatz, der für die evangelischen Kirchen zuständige Referent, bat die Kollegen ohne Angaben von Gründen darum, »von einem Verbot des Buches« zunächst einmal »abzusehen«.79 Daraufhin wurden die im August 1938 in einer Wiener Buchhandlung beschlagnahmten 54 Exemplare des Buches wieder ausgehändigt. Damit korrigierte das Referat II P 1 zugleich eine mündliche Weisung von Dr. Fritz Rang, dem Leiter des im Gestapa für das Auslandsschrifttum zuständigen Referates, der diese Beschlagnahme zuvor veranlasst hatte.80 Von dem kurzen Vorpreschen Rangs abgesehen, sahen die für die Buchzensur zuständigen Stellen des »Dritten Reiches« bis in das erste Jahr des Zweiten Weltkrieges hinein keine Veranlassung, gegen Vom U-Boot zur Kanzel vorzugehen. Erst mit einer Weisung vom 5. September 1940 erließ das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda dann ein Verbot. Niemöllers Buch wurde in die von der Reichsschrifttumskammer geführte »Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums« eingereiht. Zu diesem Zeitpunkt war das Buch allerdings vergriffen. Es scheint ein Antrag des Verlages Martin Warneck auf die Zuteilung von Papier für eine weitere Nachauflage von 3.300 Exemplaren gewesen zu sein, der als Auslöser für die Verbotsentscheidung wirkte.81 Erst im Anschluss an die Verbotsentscheidung wies das Reichssicherheitshauptamt die Polizeidienststellen zur Beschlagnahme noch vorhandener Exemplare des Buches an. So hatte ein Pfarrer im Landkreis Kulmbach in Oberfranken Exemplare des Buches gegen einen Aufpreis vertrieben, dessen Erträge er Else Niemöller, der Frau von Martin, zukommen lassen wollte.82 Im Buchhandel eingezogene Restexemplare wurden nun vernichtet.83 Die Reichsschrifttumskammer war allerdings nur das ausführende Organ für Zensurentscheidungen bei Büchern, die sich Goebbels seit Dezember 1938 78 Gestapa, II P 1, 02.09.1938 an II B 2 im Hause: BArch, R 58, 920, Bl. 84. Vgl. Barbian, Literaturpolitik, 253. 79 Gestapa, II B 2, gez. Baatz, 07.09.1938 an II P 1 im Hause: BArch, R 58, 920, Bl. 85. 80 Staatspolizeistelle Wien an Gestapa Berlin, 04.08.1938, und Gestapa II P 1 an Stapoleitstelle Wien, 29.12.1938: BArch, R 58, 920, Bl. 83, 86. 81 Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda an Gestapa Berlin, 05.09.1940; Präsident der Reichschrifttumskammer an das Gestapa Berlin, 10.09.1940: BArch, R 58, 920, Bl. 87, 90. 82 Telegramm Stapostelle Nürnberg an RSHA, 11.09.1940; RSHA an Stapostelle Nürnberg, 14.09.1940; Stapostelle Liegnitz an RSHA, 19.09.1940: BArch, R 58, 920, Bl. 88f., 92. 83 RSHA 15.11.1940 an Stapoleitstelle Magdeburg: BArch, R 58, 920, Bl. 99.
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ausdrücklich »ausnahmslos persönlich vorbehielt.«84 Auch ohne direkten Beleg erscheint es durchaus plausibel, dass Goebbels gerade in diesem Fall persönlich eine Verbotsentscheidung vornahm. Denn in seinen Tagebucheintragungen hatte sich der Propagandaminister seit 1937 wiederholt und in äußerst drastischen Worten abschätzig über Niemöller geäußert und dessen exemplarische Bestrafung gefordert. Die Verhaftung Niemöllers kommentierter er mit den Worten: »Nun aber verknacken, daß ihm Hören und Sehen vergeht. Nie mehr loslassen.« Im Februar 1938 notierte Goebbels wutentbrannt das »vollkommen[e]« Versagen des Gerichts, nachdem der Vorsitzende Richter Niemöller Gelegenheit zu einer ausgiebigen Darstellung seines vom Dienste für die Nation bestimmten Werdeganges gegeben hatte.85 Und im Dezember 1940, also einige Monate nach der Verbotsverfügung gegen Vom U-Boot zur Kanzel, äußerte sich Goebbels voller Zynismus über den Versuch Niemöllers, durch eine freiwillige Meldung zur Kriegsmarine die Befreiung aus dem KZ zu erreichen.86 Es bedurfte also der persönlichen Initiative des Propagandaministers, bevor der NS-Staat das Erinnerungsbuch des zu diesem Zeitpunkt seit mehr als zwei Jahren im KZ inhaftierten Niemöller schließlich im Herbst 1940 verbot. In Niemöllers Darstellung seiner Tätigkeit als Marineoffizier in der U-Boot-Flotte von 1916 bis 1918 kommen zwei jener drei Elemente zusammen, die Michael Hadley als charakteristisch für das populäre U-Boot-Bild herausgearbeitet hat: Das U-Boot wird als »schicksalhafte Kriegswaffe« dargestellt, das mit der Versenkung von Kriegs- und Handelsschiffen einen entscheidenden, wenn auch letztlich vergeblichen Beitrag zur deutschen Kriegführung leistet. Und die »soldatische Gesinnung« der U-Boot-Besatzungen wird herausgestellt, die sich etwa auch durch Zweifel an der Angemessenheit der eigenen Kriegsmittel wie bei der Störung der Rettung von Schiffbrüchigen am 25. Januar 1917 nicht aus dem Konzept bringen ließ.87 Das dritte von Hadley herausgestellte Motiv, nach dem sich die Seeoffiziere der U-Boote als ein »Band of Brothers« im Sinne des britischen Admirals Horatio Nelson und damit als eine verschworene Gemeinschaft präsentieren, erscheint dagegen für Niemöller nicht relevant.88 Es erscheint generell eher fraglich, ob dieses Motiv für die U-Boot-Literatur zutrifft. Denn diese war, und zwar auch in Niemöllers Buch, ganz auf die Perspektive des Kommandanten und dessen Leistung
84 Barbian, Literaturpolitik, 527. 85 Joseph Goebbels. Tagebücher 1924 – 1945. Bd. 3: 1935 – 1939. Hg. von Ralf Georg Reuth. München 1992, 1098, 1204 (Eintragungen vom 03.07.1937 und 08.02.1938). 86 Joseph Goebbels. Tagebücher 1924 – 1945. Bd. 4: 1940 – 1942. Hg. von Ralf Georg Reuth. München 1992, 1512 (Eintragung vom 22.12.1940). 87 Hadley, »Rückwärts schauende Propheten«, 219. 88 Vgl. ebd.
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in der Führung des Bootes und beim Versenken von Tonnage abgestellt. Für die Beschwörung einer verschworenen Gemeinschaft, die wie in der Frontsoldatenliteratur militärische Rangstufen und soziale Klassenunterschiede zugunsten einer kämpfenden Einheit einschmolz, war hier kein Platz. Niemöllers Text offeriert kein Heldennarrativ. Die deutsche U-Bootflotte hatte während des Ersten Weltkrieges zu einer »Hochkonjunktur« des Heldenkultes in der bürgerlich-nationalen Öffentlichkeit geführt. Otto Weddigen und seine heroische Versenkung von drei britischen Kriegsschiffen mit U 9 am 22. September 1914 stand im Zentrum eines heroischen Narrativs, das die traditionellen Elemente des Helden wie seinen jugendlichen Angriffsgeist und seine Todesbereitschaft mit neuen Aspekten wie dem Einsatz moderner Technologie verband.89 Doch Niemöllers Darstellung seines Dienstes in der U-Boot-Flotte enthält sich einer solchen überschwänglichen Verklärung des Heldenhaften. Sein Bericht ist nüchtern, betont die Pflichterfüllung als Kern des Reichsnationalismus und die Regelhaftigkeit des Versenkens von Tonnage als Kern des U-Boot-Krieges.90 Wenn es um die Technik der U-Boote geht, weicht Niemöller den Tücken und eklatanten technischen Mängeln der von ihm befahrenen Boote nicht aus, sondern macht sie zu einem Motiv seiner Darstellung (9f., 68). Erst in der Darstellung des Kriegsendes lässt Niemöller erkennen, dass er im Aushalten angesichts der sicheren Niederlage das Heldentum der deutschen U-Boote sah. Und erst im letzten Satz des Buches weitete er die konventionelle Darstellung im Sinne des Reichsnationalismus, die das Buch durchzieht, zu einem affirmativen Bekenntnis zur völkischen Neuordnung Deutschlands seit dem Januar 1933 im Sinne des Nationalsozialismus. Erst die deutsche Rezeption des Buches 1934/35 deutete dann Pflichterfüllung in Heldentum um. Dabei griff sie das im Text kodierte Motiv auf, den durch seine kirchenpolitische Aktivität in die Kontroverse geratenen Verfasser durch Aufweis seines Einsatzes für die deutsche Nation im Weltkrieg gegen Kritik zu immunisieren. Auch die juristische und staatspolizeiliche Verfolgung Niemöllers als Kopf der Bekennenden Kirche hebelte diese Lesart nicht aus, und zwar selbst innerhalb der Repressionsinstanzen des NS-Staates nicht. Noch im Jahr 1938 musste die Gestapo konzedieren, dass das Buch »inhaltlich nicht zu beanstanden« sei. Seit Beginn der Rezeption des Buches wurden allerdings kritische Stimmen im Ausland laut. Und es verwundert nicht, dass das ungebrochen affirmative nationalistische Narrativ des Buches sowohl im neutralen wie im alliierten Ausland für nachhaltige Irritationen sorgte. Ein Beispiel dafür aus der unmittelbaren 89 René Schilling. »Kriegshelden«. Deutungsmuster heroischer Männlichkeit in Deutschland 1813–1945. Paderborn 2002, 255–288, Zitat 286. 90 Dies hob die Londoner Times in ihrer Rezension der englischen Ausgabe hervor, indem sie bemerkte: Niemöller »tells the story in sober and restrained fashion«. »U-Boart and Pulpit«. The Times, 29.12.1936, 17.
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Nachkriegszeit bietet Colonel R.L. Sedgwick. Als Vertreter des Hauptquartiers der britischen Besatzungsarmee nahm Sedgwick Ende August 1945 an der Konferenz von Treysa teil, bei der Vertreter der evangelischen Landeskirchen und der Bekennenden Kirche zusammentrafen, um über den organisatorischen Neuaufbau der protestantischen Kirche in Deutschland und die Form der Kirchenleitung zu beraten. Am Rande der Konferenz führte Sedgwick insgesamt vier längere Gespräche mit Martin Niemöller und dessen Frau Else. Sedgwick gewann einen positiven Eindruck von Niemöllers »strong and intensively spiritual personality« und »found himself ›converted‹ by it«. Aber das geschah vor dem Hintergrund von Vorbehalten, die der britische Offizier so beschrieb: For the past six years I have always viewed Niemöller with some suspicion. It is not easy to forget his U-Boat book, nor is it sufficient, I submit, for a man to have suffered physically to effect a real and lasting change of heart.91
Sedgwick dachte gewiss nicht nur an das Bekenntnis zum völkischen Aufbruch 1933 am Ende des Buches, als er diese Zeilen schrieb. Denn auch das durch die Niederlage 1918 ungebrochene Narrativ des Reichsnationalismus, das im Kern von Niemöller Darstellung stand, bot ihm gewiss genug Reibungspunkte. Und auch jene Episode, in der Niemöller die Engländer als »Beefs« verunglimpfte, mag ihm in Erinnerung geblieben sein (72).
91 Report on the Conference of Evangelical Church Leaders at Treysa, by Colonel R.L. Sedgwick of the Religious Affairs Section of the Allied Control Commission, 27 August–1 September 1945: Lambeth Palace Library, London, George Bell Papers 9, ff. 414-421, hier f. 419. Vgl. Annemarie Smith-von Osten. Von Treysa 1945 bis Eisenach 1948. Zur Geschichte der Grundordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland. Göttingen 1980, 107.
Alice Cadeddu
Curzio Malaparte und Die Revolte der heiligen Verdammten Ein Beispiel italienischer Antikriegsliteratur
Der Erste Weltkrieg stellte besonders für die italienische Bevölkerung in vielerlei Hinsicht eine entscheidende Wende dar, was unausweichlich zu einer literarischen Auseinandersetzung mit dieser Erfahrung führte. Wie in allen anderen am Krieg beteiligten europäischen Ländern, trafen auch in Italien Millionen von Menschen zum ersten Mal auf die Modernität, die der »industrielle« Krieg mit sich brachte, und die sie in dieser Weise zuvor keineswegs kannten.1
Italiens literarische Kriegsbewältigung Das italienische literarische Feld, welches den Ersten Weltkrieg thematisiert, ist im Vergleich zu anderen europäischen, am Krieg beteiligten Ländern äußerst klein und verhältnismäßig einheitlich.2 Es existieren nur wenige Bestseller anerkannter Schriftsteller, die sich mit dem Krieg auseinandersetzen; ein Begleitumstand, der zum einen der damals vorherrschenden Bildungsarmut Italiens geschuldet war, vor allem jedoch dem seit 1922 vom autoritären Regime verhängten Zensursystem. Diese besonderen Faktoren erklären den allgemeinen Mangel italienischer Kriegsliteratur, insbesondere die äußerst seltenen Exemplare pazifistischer Romane, die in
1 Fabio Todero. »Der ›Große Krieg‹ und seine Darstellung in der italienischen Literatur«. Nicola Labanca, Oswal Überegger (Hg.). Krieg in den Alpen. Österreich-Ungarn und Italien im Ersten Weltkrieg (1914–1918). Wien u.a: Böhlau, 2015, 239–258, 253. 2 Marco Mondini. »The Warlike Hero in World War I Literature: The Italian Case«. Claudia Glunz, Thomas F. Schneider (Hg.). »Then Horror Came Into Her Eyes…«. Gender and the Wars. Göttingen: V&R Unipress (Krieg und Literatur/War and Literature 20), 2014, 97–118, 97.
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anderen europäischen Ländern in den 1920er und 1930er Jahren eine wesentlich größere Produktion und Verbreitung erfuhren.3 Eine Gattung, die sich in Italien großer Popularität erfreute, war die »letteratura sugli alpini«, der Epos des Krieges in den Bergen, dessen besondere Merkmale die Schilderung atemberaubender Landschaften und glorreicher Heldentaten sind; das ideale Thema für eine Leserschaft, die vom Heldentum und der Schönheit des Landes träumt.4 In diesen Werken liegt der Schwerpunkt in der Apologie des Soldaten und seiner beispiellosen Tapferkeit, also einer regelrechten Verherrlichung des »Alpino«.5 Die Protagonisten dieser Erinnerungsliteratur zum Gebirgskrieg weisen jedoch kein »revolutionäres« Potenzial auf, im Gegenteil: Der Gebirgssoldat ist das »Symbol des Respekts vor der sozialen Ordnung und des Gehorsams im Namen des Vaterlandes«.6 Während sich Intellektuelle wie Filippo Tommaso Marinetti, der Begründer des Futurismus, und Gabriele D’Annunzio in ihren Werken überzeugend für eine Teilnahme Italiens am Ersten Weltkrieg aussprechen und ihn nach Ende des Krieges auch weiterhin als »unwiderlegbaren Beweis für eine Vereinigung der Nation« zelebrieren, entsteht parallel dazu eine Gegenbewegung: die Antikriegsliteratur. Unmittelbar nach Kriegsende setzt in Italien ein immer stärker werdendes Bedürfnis ein, den Krieg als kollektives Leid der eigenen Bevölkerung und als Passionsgeschichte zu interpretieren.7 Im Jahr 1919 veröffentlicht Attilio Frescura eine Sammlung seiner Erinnerungen über den Ersten Weltkrieg unter dem Titel Diario di un imboscato, in welchem er massive Kritik am gerade vergangenen Krieg ausübt.8 Eine ähnliche kriegsgegnerische Haltung nimmt Carlo Salsa in seinem Werk Trincee – Confidenze di un fante (1924) ein. Trotz sich ständig wiederholender Schwierigkeiten bei der Veröffentlichung aufgrund der Zensur ist Salsas Werk, u. a. wegen der Härte seiner Äußerungen, eine der erfolgreichsten italienischen Erzählungen des Krieges. Auf erbarmungslose Weise kritisiert er in diesem Werk besonders die Kastenordnung der höheren Offiziere und Berufsbeamten; ein Leitmotiv, das sich durch viele zwischen 1915 und 1918 entstandenen italienischen Kriegsmemoiren zieht.9 So auch in Emilio Lussus Un anno sull’Altipiano (1938) und Malapartes Viva Caporetto! bzw. La rivolta dei santi maledetti (1921/1923).
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Ebd., 102. Ebd., 108. Todero, »›Der große Krieg‹«, 249. Zit. nach ebd. Holger Afflerbach. »Vom Bündnispartner zum Kriegsgegner. Ursachen und Folgen des italienischen Kriegseintritts im Mai 1915«. Johannes Hürter, Gian Enrico Rusconi (Hg.). Der Kriegseintritt Italiens im Mai 1915. München: Oldenbourg, 2007, 53–69, 68f. 8 Todero, »›Der große Krieg‹«, 246. 9 Mondini, »The Warlike Hero«, 107.
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Italien im Ersten Weltkrieg In Italien wurde der Erste Weltkrieg von Politikern der meisten Parteien als notwendiger und »letzter Krieg des Risorgimento« propagiert, der für die »unvollendete« Gründung einer Nation unausweichlich sei. Im Kampf sollten nun die »italienischen« Gebiete Trient und Triest zurückerobert werden,10 die dem überwiegenden Teil der Italiener damals insoweit unbedeutend waren, als dass sie deshalb keinen Krieg hätten führen wollen. Der Kriegsbeitritt Italiens war in den Augen der Bevölkerung ein Ereignis, auf welches mit Unverständnis reagiert wurde. Über 90% der Einwohner Italiens – sowohl aus der einfachen Landbevölkerung als auch aus dem Bildungsbürgertum – lehnten den Krieg ab. Ausgetragen wurde der Krieg auf Kosten der einfachen Bevölkerung, die ihr Schicksal stillschweigend hinnahm.11 Livio Vanzetto schreibt bezüglich dieses Phänomens: »I contadini partono e combattono male volentieri, ma partono e combattono.«12 Die Gefahr eines Widerstandes der »contadini« hatte die italienische Regierung damals nicht zu befürchten, da sie als unorganisierte Masse armer Soldaten angesehen wurden, die der »Repressionsmaschine« des Krieges untergeben war.13 Noch bis heute ist allgemein bekannt, dass die militärische Kriegsführung Italiens im Ersten Weltkrieg dilettantisch war und ihre Soldaten zum Zwecke der Eroberung von oft nur wenigen Metern Land massenweise in den Tod geschickt wurden. Insbesondere deshalb war die Desertionsrate in der italienischen Armee besonders hoch.14 Ein für Italien besonders tragisches Ereignis des Ersten Weltkrieges war die Schlacht von Karfreit (it.: Battaglia di Caporetto), die vom 24. bis 27. Oktober 1917 am Isonzo ausgetragen wurde. Den österreichisch-ungarischen Truppen gelang es, mit deutscher Unterstützung und unter dem Einsatz von Giftgas, die italienischen Truppen zurückzudrängen.15 Aufgrund des Befehlsnotstandes und der vorherrschenden Führungskrise, hatte dieses Ereignis zahlreiche Verluste in
10 Kerstin von Lingen. »Caporetto 1917: eine ›notwendige Tragödie‹ auf dem Weg zum Nationalstaat?«. Andreas Hilger, Oliver Wrochem (Hg.). Die geteilte Nation. Nationale Verluste und Identitäten im 20. Jahrhundert. München: Oldenbourg (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte; 107), 2013, 27–50, 32. 11 Afflerbach, »Vom Bündnispartner zum Kriegsgegner«, 63f. 12 »Die Bauern brechen nicht freiwillig auf, um zu kämpfen, aber sie brechen auf und kämpfen.« Aus: Livio Vanzetto. »Contadini e grande guerra in aree campione del Veneto (1910–1922)«. Mario Isnenghi (Hg.). Operai e contadini nella grande guerra. Bologna: Capelli, 1982, 72–103, 77 (Übersetzung dieses Zitates und aller folgenden Zitate aus dem Werk durch die Verfasserin.) 13 Afflerbach, »Vom Bündnispartner zum Kriegsgegner«, 65. 14 Giordano Bruno Guerri. L’Arcitaliano. Vita di Curzio Malaparte. Mailand: Bompiani, 2008, 173. 15 Sabine Witt. Curzio Malaparte (1898–1957): autobiographisches Erzählen zwischen Realität und Fiktion. Frankfurt/Main: Peter Lang, 2008, 23.
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der italienischen Armee zur Folge.16 Ganze Bataillone warfen ihre Waffen weg, desertierten ins Landesinnere oder ließen sich vom Feind in Kriegsgefangenschaft nehmen.17 Nach dieser verheerenden Niederlage des italienischen Heeres war es eine im ganzen Land verbreitete Herangehensweise, die Soldaten zum »Sündenbock« für die Niederlage bei Caporetto zu erklären.18 Die Geschehnisse bei Caporetto hatten im ganzen Land einen kollektiven Schock ausgelöst.19 Zudem wirkte sich die Gemütslage der Bevölkerung Italiens und die Propaganda, die nach Caporetto verbreitet wurde und bei der regierungstreuen sozialen Mittelschicht großen Anklang fand, in mehrfacher Hinsicht auf das Land aus: Es bildeten sich zwei ethisch konträr motivierte Interessengruppen heraus, die das Fundament der Radikalisierung bereits in sich trugen: Die »Vaterlandsverteidiger« auf der einen Seite – hauptsächlich vertreten durch die soziale Mittelschicht und die Bourgeoisie – und das einfache Volk sowie die Arbeiterschaft auf der anderen Seite.20 Durch den Krieg wuchs die bereits zuvor schon große soziale Kluft innerhalb der italienischen Gesellschaft noch weiter und bestätigte die einfache Bevölkerung in ihrem Verdacht, dass die Regierung den Krieg auf den Schultern der Unterschicht austrug; ein Phänomen, das sich nicht nur im Inneren des Landes, sondern auch an der Front beobachten ließ: Trotz der Tatsache, dass gemeinsam gegen den Feind gekämpft wurde, gab es eine klare Trennung zwischen den »signori« und den »contadini«, zwischen reich und arm, gebildet und ungebildet. Eine Kuriosität, die sich in diesem Ausmaß in keiner anderen Armee auf den westlichen Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges zeigte.21
16 Die Zahlen belaufen sich auf ungefähr 10.000 Tote, 300.000 Gefangene, 400.000 Versprengte und 3.000 verlorene Geschütze. Philipp Charwath. Der Untergang einer mittelmäßigen Macht, die Großmacht sein wollte. Ein Lesebuch. Berlin: epubli, online books, 2011, 664. 17 Fortunato Minniti. »Generalstabschef Luigi Cadorna und die italienische Kriegsführung«. Labanca/ Überegger (Hg.), Krieg in den Alpen, 69–104, 90f. 18 Antonio Gibelli. La grande guerra degli italiani. 1915–1918. Mailand: Sansoni, ²1999, 265. 19 Giovanna Procacci. »Heimatfront. Die italienische Gesellschaft im Krieg«. Labanca/Überegger (Hg.), Krieg in den Alpen, 204. 20 Ebd, 206. 21 Lingen, »Caporetto 1917«, 34.
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Schriftsteller, Offizier, Politiker – Curzio Malaparte Fascist, anti-fascist, poet, writer, and sometime politician, his career reflected the confusion of the age.22 Alexander J. De Grand
Kurt Erich Suckert – erst ab 1925 setzt er sein bereits früh verwendetes Pseudonym Curzio Malaparte offiziell als Namen ein – wird am 9. Juni 1898 als Sohn eines sächsischen Textilfärbers in Prato geboren. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird die Heimatstadt Malapartes von Anarchismus, Gewerkschaftskämpfen, und Streiks dominiert; ein Umstand, der den Grundstein für seine späteren politischen Ansichten legt, die besonders vom »sindacalismo rivoluzionario« geprägt sind.23 Noch bevor Italien dem Ersten Weltkrieg beitritt, schließt er sich im Alter von nur sechzehn Jahren im Winter 1914/15 den freiwilligen Garibaldinern an, um Frankreich im Kampf gegen die Armee des Kaisers zu verteidigen.24 Viele Jahre später wird er dies mit den Worten »Io credetti mio dovere dar l’esempio«25 erklären. Der Krieg kennzeichnet sein ganzes Leben. 1915 schließt er sich der Armee Vittorio Emanueles III. an und kämpft unter anderem bei Epernay und in den Argonnen. Bei einem Gasangriff der Deutschen bei Bligny am 16. Juni desselben Jahres erleidet er einen Lungenschaden, an dessen Folgen er viele Jahre später sterben wird.26 Nach Ende des Ersten Weltkrieges bleibt Malaparte als Ordonnanzoffizier im Korps der Zweiten Armee des Generals Albricci in Belgien und anschließend, im Februar 1919, in Nordfrankreich unter dem General Cordero, der das Kommando über die Brigata Alpini übernommen hatte.27 Ende des Jahres wird Malaparte nach Warschau geschickt, wo er als zuständiger Diplomat der italienischen Gesandtschaft tätig ist. Dort erlebt er die Belagerung der Roten Armee Leo Trotzkis hautnah mit, dessen dramatische Ereignisse er später unter anderem in seinem Buch La rivolta dei santi maldetti aufarbeiten wird.28 Bei intensiverer Betrachtung des Lebens Malapartes wird sehr schnell deutlich, dass er nur schwer einzuordnen ist. Dies wird besonders in Bezug auf seine poli22 Alexander J. De Grand. »Curzio Malaparte: The Illusion of the Fascist Revolution«. Journal of Contemporary History 7 (1972), 1, 73–89, 73. 23 Luigi Martellini. »Cronologia«. Luigi Martellini (Hg.). Curzio Malaparte. Opere scelte. Mailand: Mondadori, ³2009, LXXVII–CII, LXXIX (im Folgenden: Malaparte, Opere scelte). 24 Luigi Martellini. »Curzio Malaparte: La rivolta dei santi maledetti«. Cuadernos de Filología Italiana 2015 (22), 155–180, 156. 25 »Ich hielt es für meine Pflicht, als Beispiel voranzugehen«. Zit. nach Edda Ronchi Suckert. Malaparte Vol. 1: 1905–1926. Florenz: Ponte alle Grazie, 1991, 74. 26 Witt, Curzio Malaparte, 23. 27 Giuseppe Pardini. Curzio Malaparte. Biografia Politica. Mailand: Luni, 1998, 43f. 28 Marino Biondi. Scrittori e miti totalitari. Malaparte, Pratolini, Silone. Florenz: Polistampa, 2002, 45.
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tische Einstellung ersichtlich, da er sein ganzes Leben lang zwischen den Lagern hin und her schwankt, weshalb er auch den Beinamen »das Chamäleon« erhält.29 Bereits in jungen Jahren tritt er der Republikanischen Partei bei, da er sich nach einem »großen Italien« sehnt, er spricht sich für die »Wiederaufnahme« des Risorgimento aus und sieht in den Idealen Mazzinis und Garibaldis die Hoffnung für das italienische Volk.30 Er übt Kritik an der monarchischen und konservativen Politik Italiens seit der Wiedervereinigung und meldet sich freiwillig zum Kriegsdienst, da er sich vom Krieg eine moralische Lebensveränderung für das Land erhofft.31 Nach dem Krieg (1920/21) ist Malaparte weder einem orthodoxen Marxismus noch einem dogmatischen Faschismus, sondern vielmehr dem von Georges Sorel geprägten revolutionärem Syndikalismus32 zugewandt, der mit seiner antibürgerlichen und nationalistischen Ausrichtung das Fundament für den italienischen Faschismus legte.33 Die Entwicklung Malapartes zum Nationalisten erreicht am 20. September 1922 seinen Höhepunkt, als er der Faschistischen Partei von Florenz beitritt. Aufgrund seiner Zusammenarbeit mit antifaschistischen Zeitungen, seinem Dasein als Protestant und seiner Zuneigung zu kommunistischen Ideen wurde der »unbequeme Faschist« im November 1923 jedoch bereits wieder aus dem Dienst entlassen. Besonders die Veröffentlichung seines Werkes La rivolta dei santi maledetti trägt zu dieser Entscheidung bei.34 In der italienischen Literaturgeschichte gilt Curzio Malaparte noch bis heute als eine der kontroversesten Figuren, die sowohl für ihr Schreiben als auch für ihre ideologische Militanz bekannt ist.35 Antonio Gramsci schreibt 1973 über Malaparte: »Der Charakter Suckerts ist gezeichnet von einem zügellosen Ehrgeiz,
29 Astrid Arndt. Ungeheure Größen: Malaparte – Céline – Benn. Wertungsprobleme in der deutschen und italienischen Literaturkritik. Tübingen: Max Niemeyer, 2005, 34. 30 Pardini, Curzio Malaparte, 26f. 31 Patricia Chiantera-Stutte. Von der Avantgarde zur Tradition. Die radikalen Intellektuellen im italienischen Faschismus von 1919 bis 1933. Eine Dissertation. Saarbrücken 2000, 119. 32 »Der italienische revolutionäre Syndikalismus wurde 1902 von Arturo Labriola, einem bedeutenden Linksintellektuellen, der großen Einfluss auf die wichtigsten Intellektuellen der 30er Jahre ausübte, gegründet. Er entstand als Produkt der kritischen Diskussion innerhalb des Marxismus und fand in George Sorels Theorie der Revolution seinen Auslöser. Dieser intellektuellen Bewegung der Syndikalisten entstammte auch Mussolini, was durch den Einfluss Sorels auf seine Auffassung über die Methoden zur Mobilisierung der Massen durch politische Mythen bewiesen worden ist.« Zit. nach ebd., 49. Der revolutionäre Syndikalismus gehörte zur Gruppe des revolutionären Interventionismus, welchem auch Anarchisten, Futuristen, Feministinnen und einzelne marxistische Sozialisten wie Mussolini angehörten. Vgl.: Mario Isnenghi. »Italien«. Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich, Irina Renz (Hg.). Enzyklopädie Erster Weltkrieg. Paderborn: Schöningh, 2003, 97–104, 98. 33 Arndt, Ungeheure Größen, 38. 34 Martellini, »Curzio Malaparte«, 162f. 35 Alessandro Scarsella. »Curzio Malaparte (Kurt Erich Suckert) (1898–1957)«. Gaetana Marrone, Paolo Puppa, Luca Somigli. Encyclopedia of Italian Literary Studies 2: L–Z. New York u.a.: Routledge, 2007, 1111–1114, 1111.
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einer maßlosen Selbstgefälligkeit und dem Snobismus eines Chamäleons: Um Erfolg zu haben, war Suckert zu jedem Frevel fähig.«36 Die Wahrheit zu sagen, auch wenn sie nicht angebracht war, bedeutete für Malaparte Unabhängigkeit und Freiheit, auch wenn ihm diese Eigenschaft oft Schwierigkeiten einbrachte:37 »Das Besondere an einem Menschen ist nicht in Freiheit zu leben, sondern frei in einem Gefängnis zu leben.«38
Viva Caporetto! – La rivolta dei santi maledetti (1921/23) Zu Beginn des Jahres 1921 gibt Curzio Malaparte unter seinem Geburtsnamen Curt Erich Suckert ein Buch mit dem Titel Viva Caporetto! bei der Buchdruckerei Martini in Prato in Druck.39 Das Werk erscheint als Ausgabe seiner Zeitschrift Oceanica, und bis heute ist nur der Verbleib eines dieser Exemplare bekannt.40 Er lässt nur wenige Tausend Stück auf eigene Kosten drucken, da alle Verleger seinen Text in der Befürchtung zurückweisen, dass allein der Titel bereits viele Schwierigkeiten hervorrufen könnte. Diese »Ahnung« stellt sich schnell als berechtigt heraus, denn unmittelbar nach Veröffentlichung wird das Buch aufgrund seines antimilitärischen, antinationalen und defätistischen Inhaltes vom Innenministerium unter der Leitung Giovanni Giolittis beschlagnahmt.41 Dieses Buch sollte auch der Auslöser für das abrupte Ende seiner Karriere als Diplomat sein: Als er es ohne die Genehmigung des italienischen Ministeriums veröffentlicht, wird er unverzüglich vom Diplomatendienst freigestellt.42 Davon lässt sich Malaparte jedoch nicht einschüchtern: Er ändert den Titel in La rivolta dei santi maledetti, behält den Inhalt des Buches – mitsamt seiner Druckfehler – jedoch bei und gibt das Buch noch im selben Jahr ein weiteres Mal in Druck.43 Der neue Titel soll dem Zweck dienen, den provokativen Aspekt des 36 »Il carattere […] del Suckert è uno sfrenato arrivismo, una smisurata vanità e uno snobismo camaleontesco: per aver successo il Suckert era capace di ogni scelleraggine.« Aus: Antonio Gramsci. Sul fascismo. Hg. v. Enzo Santarelli. Rom: Editori riuniti, 1973, 414. 37 Ranato Badalì (Hg.). Satvra: studi in onore di Franco Lanza. Viterbo: Sette Città, 2003, 210. 38 »Il proprio dell’uomo non è di vivere libero in libertà ma libero dentro una prigione.« Aus: Curzio Malaparte. Fughe in prigione. Mailand: Mondadori, 2004 [1954], 16. 39 Guerri, L’Arcitaliano, 38. 40 Dieses Exemplar wird in der Biblioteca della Fondazione Istituto Gramsci di Roma aufbewahrt. Vgl. Andrea Pozzetta. »›Ci sono veramente delle canaglie fra i soldati!‹ Curzio Malaparte: Da Viva Caporetto! a La rivolta dei santi maledetti«. Valentina Achilli, Giulia Antoniotti, Daniele Borghi (Hg.). Inchiostro proibito. Libri censurati nell’Italia contemporanea. Pavia: Santa Caterina, 2012, 44–61, 53. 41 Guerri, L’Arcitaliano, 38 und Ronchi Suckert, Malaparte, 280. 42 Pardini, Curzio Malaparte, 46. 43 Guerri, L’Arcitaliano, 38.
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Inhaltes abzuschwächen und die Ausgabe vor einer erneuten Beschlagnahmung zu schützen,44 jedoch ohne Erfolg: Auch diese Ausgabe wird von der Regierung beschlagnahmt, dieses Mal unter der Leitung Ivanoe Bonomis.45 1923 überarbeitet Malaparte den Text vollständig, nimmt Verbesserungen vor und fügt zusätzliches Material hinzu: Er stellt dem eigentlichen Text einige erklärende Seiten zu seiner Person voran (»L’autore e la guerra« – »Der Autor und der Krieg«) und ergänzt ein Schriftstück, das aus insgesamt vier Teilen besteht (»Ritratto delle cose d’Italia, degli eroi, del popolo, degli avvenimenti, delle esperienze e inquietudini della nostra generazione«46). Nach dem eigentlichen Text fügt er noch ein abschließendes Kapitel unter der Überschrift »Resultati« [sic] (»Ergebnisse«) hinzu, in welchem er Parallelen zwischen der italienischen und russischen Revolution aufzeigt.47 Inspiriert wird er dazu von seinem Polenaufenthalt 1920, was sich aus seinen eigenen Worten zu Beginn dieses Kapitels erschließen lässt: »Im August 1920 hielt ich mich in Polen auf. […] Die dramatischen Ereignisse in diesen Tagen bewegten mich schließlich dazu, meinem Buch einige Seiten hinzuzufügen […].«48 Dass er diese Ausgabe erstmalig unter dem Namen »Curzio Suckert« erscheinen lässt, könnte der Tatsache geschuldet sein, dass ihm sein den Italienern fremd klingender Name bis dato viele Schwierigkeiten bereitet hat. So wurde er des Öfteren von den Faschisten als »ebreo polacco«, also als »polnischer Jude« bezeichnet.49 Die »Eingriffe« in Form von Streichungen und Ergänzungen finden auf stilistischer, formeller und lexikalischer Ebene statt. Sie dienten aller Wahrscheinlichkeit nach dem Zweck, den harschen Ton einiger Passagen der ersten Fassung abzuschwächen, um möglicherweise einer erneuten Beschlagnahmung zu entgehen. Es könnte hier auch von einer Art der »Selbstzensur« Malapartes gesprochen werden. Doch auch die textuellen Änderungen und Zusätze können das Buch letzten Endes nicht vor der erneuten Beschlagnahmung bewahren, die von der Regierung Mussolinis beordert wird.50 Ausschlaggebend dafür ist die Tatsache, dass die Änderungen letztendlich nichts am Kern der ersten Fassung verändern: Weder die von Malaparte bildhaft dargestellten Massaker, noch die Toten werden vom Autor »zensiert«, die Verantwortung für die Niederlage bei Caporetto und die Leiden des Krieges liegen weiterhin beim italienischen Bürgertum und den Befehls44 Luigi Martellini. »Notizie sui testi«. Malaparte, Curzio Malaparte, 1487–1572, 1499. 45 Ronchi Suckert, Malaparte, 280. 46 »Porträt der Dinge Italiens, der Helden, des Volkes, der Ereignisse, der Erfahrungen und Sorgen unserer Generation«. 47 Martellini, »Curzio Malaparte«, 164f. 48 »Nell’agosto del 1920 io mi trovavo in Polonia […]. I drammatici avvenimenti di quei giorni m’indussero poi ad aggiungere al libro alcune pagine […].« Aus: Curzio Malaparte. »La rivolta dei santi maledetti«. Malaparte, Opere scelte, 3–109, 103. 49 Zit. nach Ronchi Suckert, Malaparte, 280. 50 Pozzetta, »›Ci sono veramente‹«, 59f.
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habern. Die tragende Achse des Pamphlets, also die Verteidigung des einfachen Volkes und der einfachen Soldaten, bleibt trotz textueller Veränderungen bestehen. Die wiederholten Beschlagnahmungen seitens der italienischen Regierung scheint einer der Hauptgründe dafür zu sein, dass das Werk bis heute vielen unbekannt ist und es – im Gegensatz zu seinen beiden erfolgreichsten Werken Kaputt (1944) und La Pelle (1949) – nie in eine andere Sprache übersetzt wurde. La rivolta dei santi maledetti thematisiert neben den persönlichen Erfahrungen des Autors die Geschichte des italienischen Volkes während des Krieges, wobei der Schwerpunkt auf den berüchtigten Rückzug der Zweiten Armee in der Schlacht bei Caporetto gelegt wird. Laut Autor handelt es sich bei La rivolta dei santi maledetti nicht um ein Buch über den Krieg: »Dieses ist kein Buch über den Krieg. Es ist das Buch eines Mannes…«51 Es ist ein Buch, so Malaparte, über einen normalen Mann aus Fleisch und Blut, der seine Teilnahme am Krieg als seine instinktive Pflicht akzeptiert hat.52 Er schreibt vom »blinden« Gehorsam des Volkes, das beim Eintritt Italiens zu den Waffen gerufen wird, um das eigene Land zu verteidigen, trotz der Tatsache, dass der Krieg von der Bevölkerung des Landes nicht gewollt wurde. Neben dieser Hauptthese des Werks stellt der Autor noch eine weitere auf: Die Infanteristen der Zweiten Armee agieren in der Schlacht bei Caporetto nicht wie Feiglinge – damals eine weit verbreitete Meinung im ganzen Land –, sondern wie Revolutionäre.53 Malaparte glorifiziert in seinem Werk den Aufstand der italienischen Soldaten und schafft damit den »Mythos Caporetto«. Er verwandelt den vermeintlich »feigen Rückzug« in einen Militärstreik, eine beschlossene Rebellion, eine Revolution.54 Ebendiese Revolution definiert der Autor in La rivolta dei santi maledetti als Nachahmung der etwa zur selben Zeit stattfindenden Russischen Revolution und als Auslöser für den Beginn einer neuen italienischen Gesellschaft:55 Eine Gesellschaf des »menschlichen Menschen, eines neuen Individuums, das in eine lebhafte Menschheit von Gläubigen integriert ist«. Malaparte begibt sich in seinem Buch auf die »Suche« nach den Verantwortlichen für die Tragödie bei Caporetto, für die – seiner Meinung nach – fälschlicherweise die Soldaten der Zweiten Armee verantwortlich gemacht werden. Stattdessen beschuldigt er die »heuchlerischen« Italiener, den Soldaten mit ihren Anschul-
51 »Non è un libro di guerra, questo. È un libro di un uomo […].« (5). Auszüge des Textes La rivolta dei santi maledetti werden im Folgenden mit der Seitenzahl in Klammern nachgewiesen. Die Angaben beziehen sich auf folgende Ausgabe: Luigi Martellini (Hg.). Curzio Malaparte. Opere scelte. Mailand: Mondadori, 32009 (im Folgenden: Malaparte, Opere scelte). 52 Malaparte, Opere scelte, 5f. 53 Guerri, L’Arcitaliano, 39f. 54 Gibelli, La grande guerra, 268. 55 Mondini, »The Warlike Hero«, 100.
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digungen großes Unrecht angetan zu haben.56 Das »Volk der Schützengräben«, so Malaparte, leidet am stärksten unter den »Qualen des Krieges« und beginnt in seiner Verzweiflung, »sich mit aller Kraft gegen die Nation, gegen das Gesetz, gegen all das, was bürgerlich, intellektuell und fahnenflüchtig war, gegen all das, was »Kriegsreklame« war, gegen all das, was nicht Infanterist war, zu richten«.57
Die Darstellung des Ersten Weltkrieges Entgegen der damaligen Glorifizierung dieses Krieges seitens der Faschisten und der mannigfachen Betonung, dass die Italiener siegreich aus dem Krieg hervorgegangen waren, schildert Malaparte die Geschehnisse aus der Sicht des einfachen Infanteristen. Wie viele andere italienische Bürger ist auch Malaparte in den Krieg gezogen, als wäre es seine natürliche Pflicht, ohne den Sinn oder die Gründe dahinter in Frage zu stellen (36). Obwohl Malaparte selbst dem Krieg als Freiwilliger beitritt, betrachtet er ihn nach dessen Ende mit anderen Augen: Er sei ein »unvermeidbares Unglück, gegen das es zwecklos war, zu protestieren«,58 und ein Hinterfragen des Unternehmens sei keine Option gewesen: »Wieso? Das spielt keine Rolle. Für wen? Spielt keine Rolle. […] Aber wieso? Wieso? Wieso? Das spielt keine Rolle. Ein Infanterist fragt niemals und niemanden nach dem Grund.«59 Der Autor hingegen – ein bekennender Interventionist zu Beginn des Krieges – hinterfragt in seinem Werk die Beweggründe der Regierung und ist beinahe darüber erstaunt, wie er selbst, »als die Regierung vom Krieg sprach, von nationalen Interessen, von zu eroberndem Boden, von Patriotismus und Vorherrschaft« – Gedanken, die er zuvor noch bedingungslos unterstützt hatte – dieses Vorhaben plötzlich nicht mehr nachvollziehen konnte.60 Unentwegt betont Malaparte das »Warum«: »Warum kämpfen? Warum sterben? Für wen bloß?«, »Warum immer ich?«61 Eine Frage, auf welche die Soldaten jedoch nie eine Antwort erhalten werden. Für den anderen Teil der italienischen Bevölkerung – der
56 Martellini, »Curzio Malaparte«, 176. 57 »Quando il popolo delle trincee si sentì morso più fortemente alla nuca dalla sofferenza sociale della guerra […] si voltò terribile contro la nazione, contro la legge, contro tutto ciò che era borghese, intellettuale e imboscato, contro tutto ciò che era «réclame della guerra», contro tutto ciò che non era fante.« (80) 58 »[…] fatalità inevitabile contro la quale era inutile protestare.« (38) 59 »Perché? Non importa sapere. Per chi? non importa. […] Ma perché? perché? perché? Sapere non importa. Il fante non chiede mai nulla a nessuno.« (42f.) 60 »Quando i capi ci parlavano di guerra, di interessi nazionali, di terre da riconquistare, di patriottismo e di supremazia, io stupivo che tali concetti potessero rimpicciolire in me l’idea immensa e la vasta concezione di lotta che la guerra incarnava.« (33) 61 »Perché battersi? perché morire? Per chi, dunque?« (58); »perché sempre io?« (71).
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sozialen Oberschicht – war diese Frage allerdings leicht zu beantworten, denn in ihren Augen war es »eine Freude für das schöne Italien zu sterben, den Garten der Welt, die Mutter der Zivilisation.«62 Eben diesen Menschen möchte Malaparte in seinem Werk die Grausamkeiten und die Ängste der Soldaten bewusst machen, damit sie das »wahre Gesicht« des Krieges vor Augen geführt bekommen, die sie offensichtlich vor der Wirklichkeit verschlossen halten. Denn in der Vorstellung jener, die den Schützengräben fern geblieben sind, war der Krieg der schöne Kampf auf offenem Feld, in der Sonne, mit wehenden Fahnen und dem Oberst zu Pferd am Kopf des gut ausgebildeten Heers, das wohl gekleidet war, mit Rucksack und neuen Schuhen.63
Die Realität hingegen sah ganz anders aus, und Malaparte scheut nicht davor zurück, diese in jedem noch so grausamen Detail zu beschreiben: »[…] dieser Tod […], der die Menschen zerreißt, zerstört, verbrennt und entstellt.«64 Insbesondere die Art und Weise, auf welche die Soldaten im Krieg umkommen, unterstreicht Malaparte, indem er auf die Materialschlachten verweist. Diese waren vor allem an der Westfront eine typische Erscheinungsform des Stellungskrieges, in welchem die vollkommene Zerstörung der gegnerischen Front mittels Einsatz schwerer Waffen angestrebt wurde.65 Jene Art der Kriegsführung beschreibt er in La rivolta dei santi maledetti wie folgt: Der mechanische Tod tötete und quälte, erschütterte die Erde und die Wälder, verdunkelte den Himmel, zerfetzte die Berge: und die Menschen, klein und grau, wanderten in diesem Schneesturm umher, fielen hin, standen wieder auf, hässlich, dreckig, zerlumpt und blutig, sie standen schreiend wieder auf und warfen sich gegen die Maschine, gegen den mechanischen Tod, der vernichtete und quälte – tac tac tac.66
62 »È la gioia di morire per l’Italia bella, giardino del mondo, madre di civiltà […].« (30) 63 »Invece la guerra, nell’immaginazione di quelli ch’erano rimasti lontani dalle trincee, era sempre la bella lotta in campo aperto, nel sole, con le bandiere spiegate e i colonelli a cavallo alla testa dei reggimenti bene allenati e ben vestiti, con zaino e scarpe nuove.« (54) 64 »[…] questa morte […] che spezza, distrugge, brucia e sfigura uomini […].« (30) 65 Bruno Thoss. »Materialschlacht«. Hirschfeld/Krumeich/Renz (Hg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg, 703–704, 703. 66 »La morte meccanica uccideva e straziava, sconvolgeva la terra e i boschi, oscurava il cielo, dilaniava le montagne: e gli uomini, piccoli e grigi, camminavano in quella tormenta, cadevano, si rialzavano, brutti, sporchi, laceri e sanguinosi, si rialzavano urlando e si gettavano contro la macchina, […] contro la morte meccanica che uccideva e straziava – tac tac tac.« (35)
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Und der mechanische Tod fuhr sein Werk unerschütterlich fort, in diesem Wirrwarr von Menschen, die sich zerfleischten, nicht aus Hass, sondern um Rache […] zu üben – toc toc toc toc. […] Die unbeweglichen, verschlungenen, gebrochenen Toten, die schrecklichen, ausgestreckten, auf die Knie gefallenen, verkrampften Toten, die zu Tode geprügelten, die Toten mit den aufgerissenen Augen, der heraushängenden Zunge – schwarz und geschwollen, die der mechanische Tod im ganzen »no man’s land« verschlungen und wieder erbrochen hatte.67
Diese Ausweglosigkeit der Soldaten und das Leid, das sie während dieses Krieges erfahren müssen und dem sie widerstandlos entgegentreten, spiegeln für Malaparte besonders eines wider: Die »Sinnlosigkeit der Opfer« und damit einhergehend auch des Krieges (44). Eine Sinnlosigkeit der »Massaker«, die – so Malaparte – »von kaltem Verstand und oft aus unbedeutenden Gründen angeordnet wurden.«68
Die italienischen Soldaten – Das Proletariat der Schützengräben Den Soldaten der italienischen Armee räumt Malaparte einen zentralen Stellenwert in La rivolta dei santi maledetti ein. Der Grund dafür liegt vermutlich darin, dass Malaparte selbst als einfacher Soldat im Ersten Weltkrieg gekämpft hat, bevor er 1917 zum Offizier befördert wurde. Wenn er in seinem Buch von Soldaten spricht, nimmt er damit nicht Bezug auf die ausgebildeten Berufssoldaten, sondern auf die Infanterie, die sich aus Handwerkern, Arbeitern jeden Berufs und vor allem aus Bauern zusammensetzt (»die Verwandlung eines Volkes aus Bauern und Handwerkern in ein Volk von Soldaten«).69 Es sind in seinen Augen »disziplinierte, […] respektvolle, gehorsame, mürrische aber resignierte« Soldaten, die »stets jeden Befehl ausgeführt« haben, »selbst den schwachsinnigsten und kriminellsten […].«70 Das gängige Bild des mutigen und tüchtigen Kämpfers, der mit seiner imposanten Uniform heldenhaft auf dem Schlachtfeld siegt, ersetzt Malaparte in seinem Werk durch den einfachen, zerlumpten, dreckigen und ungebildeten Soldaten (41), der
67 »E la morte meccanica continuava impassibile la sua opera, su quel viluppo d’uomini che si sbranavano non per odio, ma per vendicarsi […] – toc toc toc toc. […] I morti, immobili, contorti, spezzati, i morti orrendi, distesi, inginocchiati, rattrappiti, i morti dai pugni tesi, dagli occhi sbarrati, dalla lingua penzoloni – neri e gonfi, che la morte meccanica aveva ingoiato e rivomitato in tutta la ›no man’s land‹.« (36) 68 »L’inutilità di quei continui massacri ordinati a mente fredda per ragioni spesso futili, […].« (64) 69 »[…] la trasformazione di un popolo di contadini e di artigiani in un popolo di soldati.« (33) 70 »[…] disciplinati, […] rispettosi, ubbidienti, brontoloni ma rassegnati, essi hanno eseguito sempre qualunque ordine, anche il più idiota e il più criminale […].« (74)
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nicht weiß, für was und wen er kämpft, den Befehlen aber dennoch stillschweigend nachkommt. Die italienischen Truppen, die zum Großteil aus Analphabeten bestehen, bezeichnet Malaparte als das »Proletariat der Armee«,71 und genauso wurden sie auch von allen behandelt: Als die Offiziere uns die Gründe für unseren Krieg erklärten und die Notwendigkeit, die Grausamkeiten und den Militarismus der Mittelmächte zu zerschlagen, hörten die Soldaten mit tiefer Aufmerksamkeit zu, während sie die Bildung und Intelligenz der Vorgesetzten bewunderten: Aber sie verstanden rein gar nichts. Die wenigen, die in der Lage waren, den Sinn der Ansprache […] zu begreifen, vergaßen ihn sofort wieder. Der Wille zu insistieren wäre vergebliche Mühe gewesen: Was interessierte es die Soldaten, aus welchem Grund sie den Krieg kämpften? Wichtig war nur Folgendes: Man musste ihn kämpfen, denn wenn nicht…72
Die von Malaparte konsequent inszenierte Entmythisierung der Soldaten Italiens erreicht ihren Höhepunkt, als er von einem ungarischen Soldaten berichtet, der im November 1915 zu ihm gesagt haben soll: »Euer Opferwille und eure Resignation […] beginnen sogar uns anzuwidern.«73 Im Zuge ihres ersten Fronturlaubes im Winter 1915/16 breitete sich in den Soldaten ein Gefühl äußerster Abneigung gegen das eigene Land aus. Ein Phänomen, das laut Malaparte auf die Ignoranz der Bevölkerung zurückzuführen ist, welche die Soldaten während ihres Fronturlaubs unentwegt an ihre Pflicht zu kämpfen erinnerte: »[…] ihr lästigen Soldaten kommt hier hin, um zu leben, anstatt da oben zu bleiben, um zu sterben. Das ist eure Pflicht!«74 Es herrscht eine tragische und groteske Atmosphäre unter den Soldaten, die sich besonders in den Momenten von ihrem eignen Volk übergangen fühlen, in welchen es sie als »dumm und feige« bezeichnet, obwohl diese »für sie sterben und Schmerzen erleiden«.75 71 »[…] proletariato dell’esercito[…].« (42) 72 »Quando gli ufficiali ci spiegavano le ragioni ideali della nostra guerra e la necessità di schiacciare la barbarie e il militarismo degli Imperi Centrali, i soldati ascoltavano con profonda attenzione, ammirando la cultura e l’intelligenza dei superiori: ma non ne capivano niente. I pochi che riuscivano ad afferrare […] il senso del discorso, lo dimenticavano subito. Il voler insistere sarebbe stata fatica sprecata: che importava ai soldati di sapere per quale ragione si faceva la guerra? L’essenziale era questo: bisognava farla, se no….« (37) 73 »Il vostro spirito di sacrificio e la vostra rassegnazione […] cominciano a disgustare anche noi.« (48) 74 »[…] soldati noiosi che venite qui a voler vivere, invece di restare lassù a morire. Questo è il vostro dovere!« (57) 75 »Ma sacrificarsi per la patria, quando questa continua a vivere la sua grassa vita, insultando, per idiozia o per vigliaccheria, chi muore e chi dolora per lei, è tremendamente tragico.« (59)
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Dieses »monatelange Martyrium« (48) der Soldaten hatte weder politische noch taktische Gründe und trieb den »armen Soldaten« immer weiter in die Verzweiflung und die Hoffnungslosigkeit. An diesem Punkt angelangt, wurde den Männern bewusst, dass sie zum Tod im Schützengraben verurteilt waren, ohne dass dieses Opfer jemals wertgeschätzt wurde (vgl. 71), und sie begannen, sich gegen all jenes aufzulehnen, das sie während des Krieges zu hassen gelernt hatten. Es folgt, was Malaparte eine Revolution nennt: Caporetto. Erst nach zwei Jahren an der Front, einer Zeit permanent ungerechter Behandlung und der Opferung Tausender Männer für die Eroberung »wertloser« Gebiete, erkannten die Soldaten den »wahren Feind«. Dieser war nicht Österreich-Ungarn oder Deutschland, sondern das Italien der Mächtigen, der Regierenden und der untauglichen Führungskräfte, die unentwegt nach Heldentaten und selbstlosen Opfern ihrer Männer verlangten. Mit der Zeit begannen die Soldaten, die von höherer Instanz getroffenen Befehle und Entscheidungen in Frage zu stellen:76 »Jeden Tag wuchs das Misstrauen in die Befehlshaber.«77 Die Aversion richtete sich gegen die Nation, das Gesetz, gegen all das, was bürgerlich, intellektuell und desertiert war, gegen jeden, der nicht wie sie das eigene Leben an der Front täglich aufs Neue riskierte und trotz allem von der Bevölkerung Italiens als »Defätist« und »Feigling« beschimpft wurde (vgl. 80).
Die Revolution – Das Proletariat erhebt sich Die Tatsache, dass Malaparte die Revolte der Soldaten auf eine Stufe mit einer Revolution stellt, lässt erkennen, dass der Aufstand der Zweiten Armee bei Caporetto für ihn nicht bloß eine bedeutungsschwache, kleine Auflehnung gegen ihre Vorgesetzten darstellt. Er erhebt diese Revolte zu einer Revolution, um zu verdeutlichen, dass sich die Soldaten hier nicht nur gegen das Verhalten der Offiziere wehren, sondern gegen den allgemein in Italien vorherrschenden Zustand und den Status, den sie selbst in dieser Gesellschaft einnehmen. Eine Revolution, die durchgeführt wird, indem sich die Soldaten gefangen nehmen lassen, die Waffen wegwerfen oder einfach nach Hause zurückkehren und auf diese Weise die Befehle des Kommandos verweigern.78 Besonders die Russische Revolution spielt im letzten Kapitel von La rivolta dei santi maledetti, das unter dem Titel »Ergebnisse« steht, eine sehr große Rolle. Auf diesen Seiten, die Malaparte während seines Aufenthaltes in Warschau 1920 der 76 Guerri, L’Arcitaliano, 39f. 77 »Cresceva, ogni giorno, la sfiducia nei Comandi.« (67) 78 Umberto Rossi. Il secolo di fuoco: Introduzione alla letteratura di guerra del Novecento. Rom: Bulzoni, 2008, 171.
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ersten Fassung nachträglich hinzufügt, wird der große Einfluss der dort vom Autor erlebten Ereignisse79 sehr deutlich: Im August 1920 hielt ich mich in Polen auf, wo mich der damalige Außenminister Ende 1919 hin versetzte […]. Auf diese Weise konnte ich der Belagerung dieser Stadt durch die Rote Armee Trotzkis beiwohnen. Die dramatischen Ereignisse dieser Tage haben mich dazu veranlasst, dem Buch einige Seiten hinzuzufügen […].80
Zwar entwickelt sich die italienische Revolution anders als die bolschewistische, sie verlaufen dennoch parallel. Im Gegensatz zur Russischen Revolution, die nach Malaparte antieuropäisch und vom Kollektivismus geprägt ist, zeichnet sich die italienische Revolution durch ihre antireformatorische Tendenz und ihren Individualismus aus. So stellt der Autor die These auf, dass das revolutionäre Phänomen Russlands das historische Komplement zum revolutionären Phänomen Italiens ist, die beide dasselbe Ziel verfolgen: »[…] die gemeinsame Zersetzung der Moderne […].«81 Indem er sich an dieses ideologische Schema herantastet, das gleichzeitig Patriotismus, militärischen Heroismus und soziale Gerechtigkeit beinhaltet (sowohl Malaparte als auch viele andere Italiener glaubten, dass sie diese Ideale später im Faschismus finden würden), experimentiert er mit dem wahrscheinlich provokativsten politischen und historischen Stoff, den es in der damaligen Zeit gegeben hat. Mit der Thematisierung der Russischen Revolution und der Kriegsteilnahme Italiens erschafft Malaparte einen Geist, der auf optimale Weise seine ideologischen Prioritäten zum Ausdruck bringt. Infolgedessen kennzeichnet er die Revolte von Caporetto – eine »feige Massendesertion«, so militärisch-orthodoxe Stimmen – als soziale Revolution. Diese Interpretation fand zweifellos Anklang bei Rezensenten des linken Sozialismus.82
79 Am 16. August 1920 erleidet die Rote Armee eine vernichtende Niederlage gegen die polnischen Truppen bei der »Katastrophe von Warschau«. Vgl.: Heiko Zänker. Stalin – Tod oder Sozialismus. Norderstedt: Bod – Books on Demand, 2002, 97. 80 »Nell’agosto del 1920 io mi trovavo in Polonia, dov’ero stato inviato sin dalla fine del 1919 dal Ministro degli Esteri di quel tempo […]. Ebbi modo così di assistere all’assedio di quella città per parte dell’esercito rosso di […] Trotzki. I drammatici avvenimenti di quei giorni m’indussero poi ad aggiungere al libro alcune pagine […].« (103) 81 »[…] la comune opera di disgregazione della modernità […].« (108) 82 William Hope. Curzio Malaparte: The Narrative Contract Strained. Leicester: troubador, 2000, 5.
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Die Motivation hinter dem Werk und dessen Bedeutung Ein ausschlaggebender Faktor, der Malaparte dazu bewegte ein Pamphlet wie La rivolta dei santi maledetti zu verfassen, war wohl die damals in Italien vorherrschende Situation: Das Land stand nach Ende des Krieges kurz vor einer Revolution, einem Bürgerkrieg. Malaparte, dem diese stürmischen Bewegungen nicht entgehen, fasst den Entschluss, eine Streitschrift anzufertigen, die sich gegen die politische Führungsschicht Italiens richtet. Sein Ziel ist es, ebendiese Elite zu zerschlagen, und zwar indem er ihre eigene Waffe gegen sie richtet: Den gerade gewonnenen Krieg.83 Aber nicht nur die brisante politische und soziale Situation Italiens motiviert ihn, das Buch zu schreiben, auch die Situation während seines Aufenthaltes als Attaché der italienischen Gesandtschaft in Warschau 1919/20 dient ihm als Inspiration. Dort war es ihm möglich, die kommunistische Revolution und ihre Auswirkungen auf das Land Polen zu »studieren«, wie er später schreibt. Dieses Erlebnis löst in Malaparte ein maßgebendes Interesse am Kommunismus und der kommunistischen Revolution aus, wie sich deutlich an den letzten Seiten von La rivolta dei santi maledetti (1923) erkennen lässt, auf welchen er die Russische Revolution mit der Revolution der »caporettisti« (der italienischen Soldaten in der Schlacht von Caporetto) vergleicht.84 Neben diesen Ereignissen kann davon ausgegangen werden, dass Malaparte sich auch an literarischen Vorläufern orientiert und sich von ihnen inspirieren ließ. Diese Vermutung liegt nahe, betrachtet man das Werk Le Feu. Journal d‘une escouade (1916) von Henri Barbusse etwas genauer. Le Feu beinhaltet die gleiche These, wie das Werk von Malaparte: Der Krieg war nicht gewollt von denjenigen, die ihn kämpften, aber denjenigen von Nutzen, die ihn gewollt hatten, aber nicht kämpften.85 Auch wenn die beiden Bücher La rivolta dei santi maledetti und Le Feu verschiedene Ereignisse beschreiben, prangern sie dennoch beide dasselbe Gefühl an: das Leid und das Sterben während des Krieges.86 Ebenfalls naheliegend ist, dass Georges Duhamel, der wie Barbusse der Gruppe Clarté – einer Friedensbewegung linker Intellektueller – angehörte, mit seinen Werken Vie des martyrs (1917) und Civilisation (1918) Malaparte zu seinem Pamphlet inspiriert haben könnte. Der französische Schriftsteller bemüht sich in diesen Werken aktiv um die Entheroisierung des Krieges und um die schonungs-
83 Guerri, L’Arcitaliano, 35. 84 Ronchi Suckert, Malaparte, 203 85 Guerri, L’Arcitaliano, 39. 86 Enrica Yvonne Dilk. »Malaparte e il ›topos‹ delle Ardenne«. Gianni Grana (Hg.). Malaparte scrittore d’Europa. Atti del convegno (Prato 1987) e altri contributi. Prato: Marzorati, 1991, 225–232, 227.
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lose Abrechnung mit der von der militärischen Politik propagierten Belletristik, wofür er in seinem Heimatland aufs Äußerste angefeindet wurde.87 Ein weiteres Werk, das an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben sollte, ist La ritirata del Friuli: Note di un ufficiale della seconda armata (1919) von Ardengo Soffici. Es handelt sich um eine Erzählung in Form eines Tagebuchs, die am 28. September 1917 beginnt, am 16. November desselben Jahres abschließt und die unermesslich schmerzhafte Atmosphäre innerhalb der Truppen nach der Niederlage bei Caporetto beschreibt. Auch Soffici ist, wie Malaparte, ein Interventionist und fungiert während der dramatischen Phase des Rückzugs nach Caporetto als Verbindungsoffizier der Zweiten Armee; Erlebnisse, die er in dem oben genannten Buch verarbeitet.88 La rivolta dei santi maledetti bringt in hohem Maß die provokative und skandalöse Seite des Autors zum Ausdruck, der das ständige Bedürfnis hatte, seine Leserschaft in Form seiner sozio-politischen Didaktik so umfassend wie möglich über die großen Ereignisse und Fakten seines Jahrhunderts aufzuklären.89 Trotz der autobiographischen Elemente wird La rivolta dei santi maledetti weder zur Gattung der Diaristik noch zur Gattung der Memoiren gezählt.90 Die Grenze zwischen Fiktion und Autobiographie Malapartes ist dennoch nicht leicht zu erfassen, da der Autor – tendenziell – dazu neigt, die Realität für seine literarischen Zwecke neu zu erschaffen.91 Den Titel Viva Caporetto! bezeichnete der Literaturkritiker Marino Biondi als »colpo di genio«, also als »Geniestreich«, da er ein Zeichen der rhetorischen Fähigkeit Malapartes sei, eine ganze Philosophie in nur zwei Worten zum Ausdruck zu bringen. Es hat in der ersten Nachkriegszeit wohl nichts Traumatischeres gegeben, als die bis dato größte Niederlage Italiens auf der Titelseite eines Buches über den Krieg zu lesen, die obendrein vom Autor glorifiziert wird. Die Tatsache, dass es sich bei dem Autor um einen dekorierten Offizier handelt, der selbst in diesem Krieg gekämpft hatte und deshalb nicht des Verdachtes der Desertion bezichtigt werden konnte, verlieh dem Titel zudem ein gewisses Maß an Glaubwürdigkeit.92 Diese für Malaparte typisch provokative Wahl des Titels versetzte jedoch vielen Italienern einen heftigen Schlag, schließlich bedeutete er nichts anderes, als »Hoch lebe die größte Niederlage unserer Nation!«. 87 Roman Roček. Glanz und Elend des P.E.N.: Biographie eines literarischen Clubs. Wien u.a.: Böhlau, 2000, 45. 88 Simonetta Bartolini. Ardengo Soffici. Il romanzo di una vita. Florenz: Le Lettere, 2009, 324. 89 Guerri, L’Arcitaliano, 8. 90 Biondi, Scrittori e miti totalitari, 31 n. 55. 91 Dilk, »Malaparte e il ›topos‹ delle Ardenne«, 227. 92 Marino Biondi. »Malaparte e le guerre del Novecento«. Renato Barilli, Vittoria Baroncelli (Hg.). Curzio Malaparte. Il narratore, il politologo, il cittadino di Prato e dell’Europa. Napoli: CUEN, 2000, 223–283, 277f.
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Auch der Titel der zweiten Fassung, La rivolta dei santi maledetti, beinhaltet ein Oxymoron: »santi maledetti« – »die heiligen Verdammten«. Diese »malapartianische Kunst der Antithese« stößt ebenfalls auf Ablehnung in der italienischen Gesellschaft, besonders in Kreisen der Regierung. Grund dafür war aller Wahrscheinlichkeit nach der Begriff »rivolta« im Titel, der in diesen Jahren des politisch-gesellschaftlichen Umschwungs insbesondere bei den Faschisten für Unruhe sorgte.93 Der Titel der ersten Ausgabe (Viva Caporetto!) lässt verlauten, dass der Autor das historische Ereignis der Schlacht bei Caporetto in seinem Buch neu bewertet. In Verbindung mit dem neuen Titel La rivolta dei santi maledetti wird darauf hingewiesen, dass Malaparte die Niederlage bei Caporetto – entgegen der damals offiziellen Interpretation der italienischen Bevölkerung und Regierung – nicht als defätistische Resignation der italienischen Soldaten auffasst, sondern als soziales Phänomen. Er sieht die Soldaten als eine soziale Klasse, deren militärische Kapitulation bei Caporetto eine positiv zu beurteilende Revolte symbolisiert. Diese Revolte, die sich gegen die eigenen Generäle richtet, ist geprägt vom unvollendeten Risorgimento sowie der bisher noch nicht erreichten Zusammenführung der Staatsführung und des Volkes Italiens.94 Malaparte präsentiert in seinem Buch auf seine für ihn typisch provokative Art und Weise seinen persönlichen Gefallen an der Mobilisierung des einfachen Volkes und transformiert einen passiven, untätigen Rückzug in eine aktive, dynamische Revolte der Soldaten.95 Da jedoch Tausende Männer bei der Schlacht von Caporetto gefallen sind und die Überlebenden unablässig als Feiglinge und Fahnenflüchtige beschimpft werden, erklärt Malaparte sich zu ihrem Sprachrohr.96 In einem Brief an einen Freund erklärt der Autor seine Motivation: Ich wollte die Soldaten der Zweiten Armee vor der Anschuldigung der Feigheit und des Verrates verteidigen, die ihnen Cadorna vorwarf… ich war nicht bei Caporetto aber in den Dolomiten: Ich war demnach nicht »einer« von Caporetto. Aber ich habe genauso unter dieser Anschuldigung gelitten, als wäre sie gegen jeden Soldaten Italiens gerichtet worden, und ich habe versucht, die »Revolte« von Caporetto zu rechtfertigen, mit all den Qualen, Ungerechtigkeiten und Rücksichtslosigkeiten, die alle in diesen ersten drei Jahren des Krieges erleiden mussten. Das Buch war ehrlich, aber ungelegen.97
93 Biondi, Scrittori e miti totalitari, 22. 94 Arndt, Ungeheure Größen, 37. 95 Biondi, Scrittori e miti totalitari, 19. 96 Ebd., 48f. 97 »Volevo difendere i soldati della Seconda Armata dall’accusa di vigliaccheria e di tradimento, che Cadorna aveva loro gettato sul viso…io non mi trovavo a Caporetto, ma sulle Dolomiti: non ero,
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In seinem Bemühen, den Lesern seiner Streitschrift ein möglichst zufriedenstellendes Leseerlebnis zu bieten, verfolgt Malaparte das Ziel, jene Menschen zu »bestrafen«, die in seinen Augen die »schwachen und wehrlosen« Soldaten unterdrückt haben und ihnen ungerecht begegnet sind. Der Autor versucht, der Revolte bei Caporetto eine gewisse Legitimität zu verleihen, indem er die Art des Umgangs mit den Soldaten in allen Einzelheiten beschreibt. Es sind schreckliche und grausame Erinnerungen, die Malaparte seinem Leser in La rivolta dei santi maledetti vorsetzt, dennoch sind es Ereignisse, die Malaparte nicht in Vergessenheit geraten lassen will. Er betont, dass er es nicht für richtig halte, die Geschehnisse von Caporetto aus Gefallen seinem Vaterland gegenüber zu verschweigen, da dieses historische Ereignis etwas ist, das weder vergessen, noch verziehen werden sollte. Nur »Heuchler« und »Deserteure« seien dazu in der Lage. Da Malaparte ebenfalls als Soldat im Schützengraben gekämpft hat, sieht er sich dazu verpflichtet, die Erinnerung an den Krieg und seine Grausamkeiten aufrechtzuerhalten; für sich selbst, seine Kameraden, die Gefallenen und die nachfolgenden Generationen.98 Mit La rivolta dei santi maledetti erschafft Malaparte die »Legende von Caporetto«,99 einen neuen Kriegsmythos, der Caporetto als Schlüsselereignis und Symbol für den Ersten Weltkrieg versinnbildlicht. Auf diese Weise beabsichtigt der Autor, das Proletariat zum wahren Protagonisten des Sieges Italiens im Ersten Weltkrieg zu machen. Ein Sieg, den sich das Bürgertum und die Interventionisten, die selbst nicht direkt am Krieg teilgenommen hatten, ungerechtfertigterweise nach dem Krieg zugeschrieben haben.100 Indem er die Perspektive des Krieges in einem völlig neuen Licht präsentiert und die Ereignisse entgegen der damals verbreiteten »Wahrheit« in das komplette Gegenteil verkehrt, beanstandet er die untergeordnete gesellschaftliche Rolle des »Proletariats der Schützengräben« und das Bild, das diesen nach der Schlacht bei Caporetto im ganzen Land anhaftet.101
dunque, ›uno‹ di Caporetto. Ma soffrivo di quell’accusa come se fosse stata gettata contro tutti i soldati d’Italia, e tentavo di giustificare la ›rivolta‹ di Caporetto con le sofferenze, le ingiustizie, le prepotenze, che tutti avevano dovuto subire in quei due primi anni di guerra. Il libro era sincero, ma inopportuno.« Zit. nach Ronchi Suckert, Malaparte, 202. 98 Martellini, »Curzio Malaparte«, 178. 99 Gibelli, La grande guerra, 268. 100 Guerri, L’Arcitaliano, 40. 101 Mario Insenghi. Il mito della Grande Guerra. Bologna: Mulino, 72014, 360.
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Rezeption102 Es überrascht nicht, dass das Pamphlet in einer solchen Zeit in Italien für viel Empörung sorgte. Die Konsequenzen reichten von Beschlagnahmungen über Verbrennungen bis hin zu physischer Gewalt gegenüber den Buchhändlern, die es sich »anmaßten«, das Werk zum Verkauf anzubieten. Der Autor wurde aufgrund der Inhalte seines Buches als Defätist, Deserteur und Feigling beschimpft. Die Art und Weise, auf welche Malaparte den Krieg in seinem Buch darstellt, sorgte besonders unter den Faschisten für großes Missfallen: Während diese bekanntlich einen siegreichen Mythos des Ersten Weltkrieges propagierten, betonte Malaparte die drastischen Umstände im Inneren des Landes sowie das Leid und die Qualen, welche die Soldaten im Krieg erleiden mussten.103 Ein unbekannter Autor der konservativ orientierten Tageszeitung La Nazione kritisiert in der Ausgabe vom 20. September 1921 das ursprüngliche We rk Viva Caporetto! und schreibt, dass die Provokationen Suckerts in seinem Pamphlet monoton und zudem nicht einmal innovativ seien, da es sich bei dem Werk ausschließlich um eine Nachahmung des Werkes von Barbusse [Le Feu. Journal d’une escouade (1916)] handeln würde.104 Der Biograph Malapartes, Giordano Bruno Guerri, ist davon überzeugt, dass das Buch des jungen Autors insbesondere deshalb auf so viel Gegenwehr gestoßen ist, da es in einer Zeit veröffentlicht wurde, in der versucht wurde, die Erinnerungen an die Niederlage von Caporetto zu verdrängen und stattdessen den großen Sieg dieses Krieges in den Vordergrund zu stellen. Entgegen aller negativen Äußerungen, finden sich damals jedoch auch Befürworter des Werkes. In der sozialistischen Tageszeitung Avanti! wurde am 26. Juni 1921 in einer Rezension die literarische Fähigkeit Suckerts gelobt, mit welcher er auf so ehrliche Art und Weise die Lügen und Ungerechtigkeiten des Krieges offenlegen würde: […] ein einfaches und sehr ehrliches Buch. Es liest sich in einem Zug: Mit einem Schauer und einem Zusammenfahren besonders jener, dessen eigenes hartes und trostloses Leben auf diesen Seiten wieder zum Leben erweckt wird. […]
102 Einige der folgenden Rezensionen beziehen sich auf Viva Caporetto!, andere nehmen hingegen Bezug auf La rivolta dei santi maledetti. Da die Substanz des Buches jedoch in beiden Büchern unverändert bleibt, werden an dieser Stelle beide Fassungen berücksichtigt. 103 Pozzetta, »›Ci sono veramente‹«, 53. 104 »Rivolta di santi?«. La Nazione, 20.09.1921, 206–208, 208, zit. nach Pozzetta, »›Ci sono veramente‹«, 57.
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Erinnerungen […] an all das Schlechte, das sie uns angetan haben und das sie uns haben machen lassen: Nicht bloß um die Lügen der allgemeinen Stimme von heute zu entlarven, sondern die Illusionen und Lügen des s chöne n Kr i e ges von he ute, von morgen u nd f ür im mer z u e nt l ar ve n . Den grausamen und schrecklichen Krieg, der furchtbar höhnisch ist, wie er in diesem Buch zittert, bebt und erschaudern lässt, alles ein Schrei nach Gerechtigkeit.105
Die aber wohl wertvollste Reaktion auf sein Buch kam von unzähligen italienischen Soldaten, berichtet seine Schwester Edda viele Jahre nach dem Tod ihres Bruders. Diese schrieben Malaparte ihre Danksagungen, da er ihre jahrelangen Qualen im Schützengraben und die darauf folgenden Beschuldigungen der Fahnenflucht in seinem Buch »rächte« und die Missstände an der italienischen Front erstmals öffentlich thematisierte.106
La rivolta dei santi maledetti – Ein Werk der Antikriegsliteratur? Sowohl Indizien im Werk selbst als auch Aussagen des Autors weisen darauf hin, dass La rivolta dei santi maledetti der literarischen Gattung der Antikriegsliteratur zugeordnet werden kann. So finden sich an vielen Stellen die Darstellungen der Grausamkeiten und der Absurditäten des Krieges wieder, in welchem sich die Menschen durch den Einsatz modernster Kriegsmaschinen gegenseitig vernichten. Die detaillierte Beschreibung der Opfer nach den Angriffen unterstreicht noch einmal die Unmenschlichkeit dieses Krieges: Die ersten Toten unter der Wut der Kanonenschüsse, durchlöchert von den Maschinengewehren, zerrissen von den Explosionen, haben schreckliche Gesichter und Gesten, schrecklich menschlich. Die Augen aufgerissen, sie schauen nichts und niemanden an, aber sehen alles und jeden; der gewundene Mund will zubeißen, die verkrampften Hände wollen immer noch zudrücken, die gebrochenen Gliedmaßen krümmen sich auf unge105 »[…] libro semplicemente e fortemente sincero. Tale che si legge d’un fiato: con un brivido e con un sussulto, specie da chi rivive nelle pagine nervose e serrate la sua vita stessa dura e grama. […] E ricordare […] tutto il male che ci hanno fatto e che ci hanno obbligati a fare: non solo per ismentire la voce del generale oggi, ma per ismentire oggi, domani, sempre tutte le illusioni e tutte le menzogne della bella guerra.La guerra atroce e feroce, spaventosamente beffarda come trema e vibra e freme in questo libro che è tutto un urlo di giustizia.« Aus »Cadorna e il fante«. Avanti!, 26.06.1921, zit. nach Ronchi Suckert, Malaparte, 205. 106 Ebd., 228.
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heuerlichste Art und Weise. Viele nehmen fürchterliche Posen ein, viele machen lächerliche Gesten.107
Die allgemeine Beurteilung der Ereignisse, die sich bei der Schlacht von Caporetto zugetragen haben, verkehrt Malaparte mittels Einsatz scharfer Polemik ins Gegenteil und erreicht auf diese Weise eine Entmythisierung des Krieges. In La rivolta dei santi maledetti wird der Krieg dem Leser nicht – wie damals üblich – als heroisches Abenteuer präsentiert, sondern als endloses Leiden auf Kosten der Unschuldigen. Der in der bürgerlichen Kriegsliteratur mythisierte voluntaristische Tatendrang der resignierten Masse existiert bei Malaparte nicht.108 Neben der nüchternen und glanzlosen Darstellung der Soldaten, schließt Malaparte ganz klar den Vorwurf des Defätismus und des Verrates am Vaterland aus, den die italienische Regierung und große Teile der Bevölkerung gegen die Soldaten, insbesondere gegen jene der Zweiten Armee, erhoben haben. Beides habe mit dem Rückzug der italienischen Soldaten bei Caporetto nichts zu tun, vielmehr sei es eine Revolte gegen die Nation, gegen die Gewissenlosen und die Verantwortlichen für die vielen Opfer.109 Auf dem Höhepunkt seiner Schelte an der Nation angelangt schreibt Malaparte: »Patriotismus? Nein; denn bis heute sind sich alle darin einig, dass unserem Volk ein Bewusstsein für das Vaterland verwehrt bleibt.«110 Sein Buch ist geprägt von der absoluten Negation des Vaterlandes, des Patriotismus und des Krieges.111 Der Tatsache geschuldet, dass Malaparte ein Interventionist war, lässt sich in erster Linie ausschließen, dass er das Buch aus rein pazifistischer Intention heraus verfasst hat. Dennoch kann die Behauptung affirmiert werden, dass Malaparte mit seinem Buch die Umstände während des Ersten Weltkrieges, sowohl an der Front als auch im Inneren des Landes, beanstandet. Er ergreift besonders für das einfache Volk Partei, die Bauern und Handwerker, die zum größten Teil gegen ihren Willen in den Krieg geschickt wurden. Es ist seine revolutionär-syndikalistische Einstellung, die ihn dazu bewegt, ein Pamphlet wie La rivolta dei santi maledetti zu verfassen. Seine Erwartungen, dass der Krieg eine »civiltà umana nuova« – eine »neue menschliche Zivilisation« – hervorbringen würde, hatte sich nicht bestätigt, im Gegenteil: Die soziale und kulturelle Kluft zwischen Bürgertum und Arbeiter107 »Ma i primi morti sotto la furia delle cannonate, bucati dalle mitragliatrici, lacerati dagli scoppi, hanno visi e gesti orribili, tremendamente umani. Gli occhi, spalancati sul mondo, non guardano nulla e nessuno, ma vedono tutto e tutti; la bocca contorta voul mordere, le mani rattrappite vogliono stringere ancora, le membra spezzate si torcono mostruosamente. Molti hanno pose oscene, molti hanno gesti ridicoli.« (29 f.) 108 Pozzetta, »›Ci sono veramente‹«, 48f. 109 Ronchi Suckert, Malaparte, 202. 110 »Patriottismo? No; poiché tutti sono stati fino ad oggi d’accordo nel negare al nostro popolo una coscienza di patria.« (49) 111 Luigi Martellini. Invito alla lettura di Malaparte. Mailand: Mursia, 1981, 69.
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gesellschaft vergrößerte sich sogar, und die Verbitterung Malapartes über diese Entwicklung wird in seinem Buch zum zentralen Thema. Noch bis heute wird dieses Werk als Beispiel für einen »authentischen« Bericht der Absurdität des autoritären Systems der Militärhierarchie und seiner Kriegsführung angeführt.112 Malaparte zeigt uns mit La rivolta dei santi maledetti, dass der Krieg viele Gesichter hat: Manche sind bekannt, andere sind weniger bekannt, aber keines davon sollte in Vergessenheit geraten und als Warnung vor einem erneuten Krieg dienen.
112 Mondini, »The Warlike Hero«, 100.
John H. Mazaheri
La Notion de Patrie dans Clerambault de Romain Rolland
Dans son roman Clerambault, publié en 1920, Romain Rolland exprime non seulement une fois de plus son pacifisme, déjà courageusement défendu dans Au-dessus de la mêlée,1 mais aussi ses idées religieuses. Dans sa nouvelle, Pierre et Luce, parue la même année que le roman, sa pensée à la fois pacifiste et religieuse est aussi plus ou moins clairement exprimée.2 Si le romancier philosophe refuse de suivre »le troupeau« social en prônant la »conscience individuelle« en matière de politique, il en fait de même pour ce qui est de la religion. Par exemple il rejette comme immorale la notion de »patrie« au sens commun, laquelle se réfère en général à un peuple donné, à un territoire géographique déterminé, à une certaine culture, une soi-disant nation, et il prêche la Patrie universelle, un peu à l’instar de l’Évangile, mon prochain étant tout un chacun dans ce monde. Les mots »étranger« et »ennemi« n’ont donc pas de sens pour lui. Bien entendu, Romain Rolland ne croit pas au Dieu de la Bible, mais accepte dans l’ensemble l’éthique chrétienne. 1 Cet ouvrage comprend une série d’articles publiés entre le 29 août 1914 et le 1er août 1915, »Audessus de la mêlée« étant lui-même le titre d’un des articles, publié le 15 septembre 1914. Dans son »Introduction« à cet ouvrage, l’auteur déclare: »On apprend à l’enfant l’Évangile de Jésus et l’idéal chrétien. Tout, dans l’éducation qu’il reçoit à l’École, est fait pour stimuler en lui la compréhension intellectuelle de la grande famille humaine. L’enseignement classique lui fait voir, par delà les différences de races, les racines et le tronc commun de notre civilisation. L’art lui fait aimer les sources profondes du génie des peuples. La science lui impose la foi dans l’unité de la raison. Le grand mouvement social qui renouvelle le monde lui montre autour de lui l’effort organisé des classes travailleuses pour s’unir en des espoirs et des luttes qui brisent les barrières des nations. Les plus lumineux génies de la terre chantent, comme Walt Whitman et Tolstoï, la fraternité universelle dans la joie ou la souffrance, ou, comme nos esprits latins, percent de leur critique les préjugés de haine et d’ignorance qui séparent les individus et les peuples« (Romain Rolland. Au-dessus de la mêlée. Paris: Paul Ollendorff, 1915, 1–2). Une nouvelle édition de ce livre a paru aux Editions Payot en 2013. 2 Romain Rolland. Pierre et Luce. Genève: Éd. du Sablier, 1920.
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La volonté de l’homme, selon lui, peut décider du sort de l’humanité. Il existe des hommes sublimes dans l’histoire, mais aucun n’a pu atteindre la grandeur de JésusChrist. L’écrivain admire beaucoup par exemple Socrate, le Bouddha, Jan Huss, et Tolstoï, entre autres. Clerambault, lui, comme personnage de roman, est aussi un grand homme, un peu comme son ami Jaurès. En voulant inconsciemment imiter Jésus, le Sauveur de l’humanité par excellence, il décide de se sacrifier pour les hommes, après avoir reconnu ses erreurs passées. Or sa prise de conscience a lieu à la suite de la mort de son fils à la guerre. Il s’est senti coupable envers Maxime, qui n’était pas comme lui très patriote, et qui ne s’intéressait même pas au fond à la guerre. Clerambault a eu la conviction que sans ses encouragements à lui, son fils n’aurait peut-être pas été tué. Pour découvrir cette »vérité«, il lui fallait se détacher du »Troupeau«, se débarrasser des idées reçues et des préjugés sociaux, etc. Il lui fallait oser dire »non« à tout ce que sa conscience, devenue »libre«, rejetait comme immoral, au risque de se faire haïr par tous, au risque d’être critiqué et mal jugé par ceux qui lui étaient les plus proches, y compris sa femme, son ami Perrotin, etc... Il sera d’ailleurs assassiné à la fin par une vieille connaissance, un nommé Vaucoux. Tout bien considéré, l’éthique de Romain Rolland est rationaliste et humaniste. En tout cas, son dernier mot est l’Amour, ce que les socialistes n’aiment pas trop, car chez eux c’est plutôt le terme »justice« qui doit prévaloir. La thèse essentielle du roman est que chaque individu devrait penser pour lui-même, agir selon sa propre conscience, et refuser de suivre la masse comme un mouton. Si on était de bonne foi, on verrait par exemple que certaines notions comme celle de la Patrie n’ont aucun fondement solide. Au nom d’une culture, d’une race, de frontières géographiques d’ailleurs changeantes, etc..., on s’attache fortement, au point d’en devenir prisonnier, à une certaine »patrie«, ce qui vous mène malgré vous à commettre des actions absurdes, voire destructrices, comme participer à la guerre. Dans l’Introduction de son roman, achevé en 1917 et intitulé d’abord L’Un contre tous, Romain Rolland commence par déclarer que »Le sujet de ce livre n’est point la guerre, bien que la guerre le couvre de son ombre. Le sujet de ce livre est l’engloutissement de l’âme individuelle dans le gouffre de l’âme multitudinaire.«3 L’écrivain croit que si l’on veut bien servir la société, il ne faut pas se fier à l’esprit collectif, mais plutôt penser librement et ne pas se soucier de l’opinion d’autrui, car »qui se fait le serviteur aveugle d’une communauté aveugle – ou aveuglée – comme le sont tous les États d’aujourd’hui, où quelques hommes généralement incapables d’embrasser la complexité des peuples, ne savent que leur imposer, par le mensonge de la presse et le mécanisme implacable de l’État centralisé, des pensées et des actes conformes à leurs propres caprices, leurs passions et leurs intérêts – celui-là ne sert 3 Romain Rolland. Clerambault. Histoire d’une Conscience libre pendant la Guerre. Paris: Albin Michel, 1920, 7.
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pas vraiment la communauté, il l’asservit et l’avilit, avec lui. Qui veut être utile aux autres doit d’abord être libre« (7–8). Romain Rolland pense à l’humanité entière, et non à un pays particulier. La »communauté« dont il s’agit, c’est la communauté internationale. Son apostrophe au lecteur, »Osez vous détacher du troupeau qui vous entraîne!«, n’est pas nietzschéenne, mais ressemble davantage à la pensée des prophètes juifs, lesquels écoutaient seulement Dieu. Ils n’avaient pas l’esprit de »troupeau« eux non plus. D’ailleurs les références à la Bible sont nombreuses et significatives dans Clerambault, si bien que le pacifisme internationaliste de son auteur est dans l’ensemble proche du christianisme. Dans cet essai, je me concentrerai sur la notion de »patrie«, afin de montrer comment, selon Romain Rolland, quand celle-ci n’est pas comprise dans un sens universel, et qu’elle se rapporte plutôt à un espace géographique limité, à un pays donné, elle peut mener à la guerre entre les peuples. Si c’est la paix qu’on désire, il est nécessaire de considérer les habitants de la Terre comme un seul peuple. Qu’on ne conçoive donc qu’une seule nation, qu’une seule patrie mondiale! Une deuxième idée importante du roman est que ce n’est pas en se faisant la guerre qu’on peut arriver à la paix. Si on désire sincèrement celle-ci, on doit condamner toutes les guerres, car il ne saurait y en avoir de juste. Cette idée humaniste, pacifiste et internationaliste rejoint en quelque sorte la pensée chrétienne sur la guerre, telle qu’elle est présentée dans Le Nouveau Testament, pas forcément par toutes les églises qui se réclament du Christ.
* Lorsqu’au début du roman, Clerambault apprend la nouvelle de l’assassinat de Jaurès, il est très bouleversé, car Ce n’était pas seulement l’ami, dont la disparition serrait le cœur, – le bon, le joyeux visage, la main cordiale, la voix qui dissipait les nuées… C’était le dernier espoir des peuples menacés, le seul homme qui pût (ils le croyaient du moins, avec une confiance enfantine et touchante) conjurer l’orage amassé. Lui tombé, comme Atlas, le ciel croulait. (21)
Quelques jours plus tôt, le poète croyait vraiment qu’il n’y aurait plus jamais de guerres entre les grands pays, et que le monde s’acheminait décidément vers une paix universelle et définitive. C’est pourquoi il eut d’abord du mal à prendre au sérieux la nouvelle de la guerre entre l’Autriche et la Serbie, annoncée par les journaux. Il pensait que c’était »Un bluff, comme on en avait tant vu depuis trente ans«, que c’étaient »Des matamores qui agitaient leur sabre… Ils ne croyaient pas
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à la guerre; personne n’en voulait…« Trop optimiste, le brave homme s’imaginait que désormais »La guerre était impossible: on l’avait démontré. C’était un croquemitaine dont il restait à purger le cerveau des libres démocraties…« (19). Mais l’assassinat de Jaurès le réveille soudain, et il prend conscience de la tragédie: Cette guerre inévitable entre les plus grands peuples du monde lui apparaissait comme la faillite de la civilisation, la ruine des espoirs les plus saints en la fraternité humaine. Il était pénétré d’horreur par la vision de cette humanité folle, qui sacrifiait ses trésors les plus précieux, ses forces, son génie, ses plus hautes vertus, à l’idole bestiale de la guerre. (22)
Clerambault patriote Dans une première partie du roman, Clerambault représente ceux qui ont de la patrie une conception nationaliste. Sa patrie à lui est naturellement la France, qu’il voit »attaquée« (23). Même s’il ne croyait plus à la guerre auparavant, maintenant il ne peut plus la nier. Elle est bien là, détestable sans doute, mais que faire? Il faut donc la défendre, cette »patrie«, car il ne voit pas d’autres choix. Et, donc, pour cela il lui faut oublier tous ses propos »pacifistes« d’hier. C’est qu’alors il s’imaginait qu’il n’y aurait plus de guerres, ce qui faisait que le narrateur se moquait légèrement de son utopie et de sa »vision Schillerienne de la joie fraternelle promise à l’avenir« (18). En fait, bien qu’étant un intellectuel très sensible, Clerambault n’est pas au fond différent de la plupart des gens, dans la mesure où il croit lui aussi à cette »patrie« au sens étroit. Il la confond avec son propre foyer domestique, tout comme les masses que le narrateur qualifie avec mépris de »troupeau«. Implicitement, l’auteur considère aussi la plupart des gens comme responsables des horreurs causées par la guerre. Ainsi, dès que le »décret de mobilisation générale« fut connu, »Les maisons se vidèrent, et dans les rues coula un fleuve humain, dont toutes les gouttes se cherchaient pour se fondre« (25). Clerambault devint comme les autres, un patriote passionné et déraisonnable: L’exaltation sereine du flot coula en lui. Ce grand peuple était pur encore de violence. Il se savait (il se croyait) innocent, et ses millions de cœurs, en cette première heure où la guerre était vierge, brûlaient d’un enthousiasme sérieux et sacré. Dans cette calme et fière ivresse il entrait le sentiment de l’injustice qu’on lui faisait, le juste orgueil de sa force, des sacrifices qu’il allait consentir, la pitié sur soi-même, la pitié sur les autres qui étaient devenus un morceau de soi-même, ses frères, ses enfants, ses aimés, tous étant chair à chair serrés, collés ensemble par l’étreinte surhumaine, – la conscience du corps gigantesque
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formé par leur union, – et l’apparition, au-dessus de leurs têtes, du fantôme qui incarnait cette union, – l a Pat r i e, Mi -b ê te, m i -di e u, com me l e sphinx d’ Ég ypte ou le t aure au assy r ien; mais nul ne voyait alors que ses yeux rayonnants: ses pieds restaient cachés. Elle était le Monstre divin, en qui chacun des vivants, se retrouve multiplié, – l’Immortelle dévorante, où ceux qui vont mourir veulent croire qu’ils resteront vivants, supra-vivants, et nimbés de gloire. Sa présence invisible coulait dans l’air, comme un vin. Et chacun apportait dans la cuve aux vendanges sa hotte, son panier, sa grappe: ses idées, ses passions, son dévouement, ses intérêts. Il y avait bien des insectes répugnants dans le raisin, bien des ordures sous les sabots qui foulaient; mais le vin était de rubis et faisait flamber le cœur. – Clerambault en lampa sans mesure. (25–26)4
Le narrateur se moque plus ou moins de »ce grand peuple«, en doutant de sa bonne foi. En effet, les expressions »l’exaltation sereine«, »se savait (il se croyait) innocent«, »enthousiasme sérieux et sacré«, de même que »calme et fière ivresse« sont légèrement ironiques, sans mentionner les adjectifs »pur« à propos de »violence«, et »vierge« en ce qui concerne la »guerre«. Allusion aussi est faite à la vanité de ce peuple, satisfait de soi, dans les expressions »le juste orgueil de sa force«, »des sacrifices qu’il allait consentir«, ainsi que »la pitié sur soi-même«. La deuxième partie de ce passage met mieux en évidence l’ironie. D’abord le narrateur dépeint par une double allégorie la notion de »Patrie«. Celle-ci peut être comparée au »sphinx d’Égypte« ou au »taureau assyrien«, car elle a le double caractère de la divinité et de la bête. Autrement dit, c’est un monstre effrayant. Mais on la vénère, sans savoir au juste ce que c’est. D’un côté, on est fasciné par ce qui est visible, par les »yeux rayonnants« du »Monstre divin«; et d’un autre côté, vu que »ses pieds restaient cachés«, on ne peut s’imaginer les malheurs qu’il peut causer. Cette »Immortelle« patrie cache sa véritable nature, qui est »dévorante«, c’est-à-dire destructrice. Sa partie invisible peut être comparée aussi au vin, traître boisson qui mène l’homme imprudent à la perdition. Les métaphores d’ »insectes répugnants dans le raisin« et »des ordures sous les sabots« se réfèrent à tout ce qu’il y a de dangereux dans cette notion de »patrie«. Ceux qui louent la guerre et se disent prêts à y aller pour défendre leur »patrie«, sont en réalité souvent intéressés. Ainsi, »ceux qui vont mourir veulent croire qu’ils resteront vivants, supra-vivants, et nimbés de gloire«. Et ce qu’il faut comprendre par »le vin était de rubis et faisait flamber le cœur«, c’est justement tout ce qui peut flatter la vanité des gens. Si Clerambault jouissait lui aussi de ce vin, puisqu’il »en lampa sans mesure«, c’est qu’il n’était pas moins vaniteux que les autres. D’ailleurs, 4 Sauf indication contraire, c’est moi qui souligne dans les citations.
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dès la première phrase du roman, son orgueil se révèle dans la façon dont il lit son poème à sa famille.5
L’instinct de la patrie Romain Rolland critique »l’instinct de la patrie« comme particulièrement dangereux parmi les différents instincts naturels de l’homme. Si son protagniste devient comme tout le monde, c’est parce qu’il ne peut facilement échapper au pouvoir fascinant de cet instinct. Ce n’est pas la raison qui nous fait croire à cette notion obscure, mais c’est tout simplement un instinct qui nous la fait aimer, donc il s’agit de quelque chose de naturel en nous, ou si l’on préfère bestial. Le romancier analyse son pouvoir et sa fascination de la façon suivante: L’instinct de la patrie est l’unique, peut-être, qui dans les conditions actuelles, échappe à la flétrissure de la vie quotidienne. Tous les autres instincts, les aspirations naturelles, le besoin légitime d’aimer et d’agir, sont dans la société, étouffés, mutilés, contraints à passer sous la fourche des reniements et des compromis. Et quand l’homme, arrivé au milieu de sa vie, se retourne pour les regarder, il les voit tous marqués au front de sa défaite et de ses lâchetés; alors, la bouche amère, il a honte d’eux et de lui. Seul, l’instinct de la patrie est resté à l’écart, inemployé, mais non souillé. Et lorsqu’il resurgit, il est inviolé; l’âme qui l’embrasse reporte sur lui l’ardeur de toutes ses ambitions, de ses amours, de ses désirs que la vie a trahis. Un demi-siècle de vie comprimée prend sa revanche. Les millions de petites geôles de la prison sociale s’ouvrent. Enfin!... Les instincts enchaînés détendent leurs membres raidis, ont le droit de bondir en plein air et de crier. Le droit? Ils ont le devoir à présent de se ruer, tous ensemble, comme une masse qui tombe. Les flocons isolés se sont faits avalanche. (44–45)
Cet instinct de la »patrie« révèle tout son pouvoir et attrait quand on se trouve soudain devant une situation sociale critique, en l’occurrence la guerre. C’est à cela que le narrateur fait allusion par »les conditions actuelles«. Dans un tel état, tous les
5 Le ton du narrateur dans cette première phrase du roman est ironique, alors qu’il souligne la vanité et l’orgueil du protagoniste: »Agénor Clerambault, assis sous la tonnelle de son jardin de Saint-Prix, lisait à sa femme et à ses enfants l’Ode qu’il venait d’écrire à la Paix souveraine des hommes et des choses: Ara Pacis Augustae. Il y voulait célébrer l’avènement prochain de la fraternité universelle« (11). Le titre même du poème décèle un esprit prétentieux. N’oublions pas que Clerambault se croit l’idole de la famille. D’ailleurs, sa femme et ses deux enfants sont bien fiers de »leur grand homme« (17).
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bons instincts de l’homme, comme l’amour, peuvent disparaître, même qu’ils »sont dans la société, étouffés, mutilés, contraints à passer sous la fourche des reniements et des compromis«. La raison est que l’instinct de la patrie, qui fait de tout un peuple un seul corps, s’approprie tout, détruit tout ce qui s’oppose à lui. Dans le paragraphe qui précède, nous apprenons comment un homme médiocre, comme Léo Camus, le beau-frère de Clerambault, réagit devant la nouvelle de la mobilisation: »Un esprit de cette sorte, chagrin, amer, misanthrope, aurait dû, semble-t-il, être jeté hors des gonds de la guerre«, mais au contraire, celle-ci semble lui apporter de la joie et une raison de vivre, car »Le groupement de la horde en armes contre l’étranger est une déchéance p our les rares espr its libres embrass ant l’univers; mais il grandit la foule de ceux qui végètent dans l’impuissance d’un égoïsme anarchique; il les porte à l’étage supérieur de l’égoïsme organisé« (44). Romain Rolland analyse l’égoïsme caché de beaucoup de patriotes. Inconscient? Peut-être pour certains, mais dans le cas d’un Camus, jusque là ouvertement »misanthrope«, le sentiment d’amour envers son peuple semble douteux. C’est lui-même qui importe au fond, puisqu’au lieu d’être attristé par la nouvelle de la guerre, comme le fut d’abord son beau-frère, lui »s’éveilla soudain, avec le sentiment que, pour la première fois, il n’était plus seul au monde« (44). Voilà que la guerre lui était bénéfique, à lui. Pour revenir à notre passage, si les différents instincts peuvent nous décevoir, dit le narrateur, celui de la patrie »est resté à l’écart, inemployé, mais non souillé«, parce qu’il concerne tout le monde. La déception ne peut être collective, car dans ce cas il n’y aurait plus de guerre, tout le monde ayant pris conscience de sa laideur. Nous pouvons désirer ainsi par instinct quelque chose, et plus tard devant notre échec, être déçus. Mais il n’en est pas de même de l’instinct de la patrie. Ainsi, »lorsqu’il resurgit, il est inviolé; l’âme qui l’embrasse reporte sur lui l’ardeur de toutes ses ambitions, de ses amours, de ses désirs que la vie a trahis«. Il est vrai que cela s’applique davantage à Léo Camus qu’à Clerambault. Mais lui aussi, comme on l’a vu, a ses faiblesses. Il est vaniteux, et il a dû attendre longtemps avant d’être apprécié. Et puis, il veut être comme tout le monde, faire comme tout le monde, et donc être aimé de tout le monde. Qu’il fasse donc comme les autres, qu’il soit patriote et défende sa patrie! Voici comment le narrateur décrit son opportunisme et sa mauvaise foi: Son intelligence, qui avait toujours été profondément loyale, s’essayait en secret à tricher avec soi, à légitimer ses instincts de haine par des raisons qui y étaient contraires. Il s’apprenait l’injustice et le mensonge passionnés. Il voulait se persuader qu’il pouvait accepter le fait de la guerre et y participer, sans renier son pacifisme d’hier, son humanitarisme d’avant-hier, et son optimisme de toujours. Ce n’était pas commode; mais il n’est rien où la raison ne puisse atteindre. Quand son propriétaire sent l’impérieux besoin
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de se défaire, pour un temps, de principes qui le gênent, elle trouve dans les principes mêmes l’exception qui les viole, en confirmant la règle. Clerambault commençait à se fabriquer une thèse, un idéal – absurdes – où s’accordaient les contradictoires: la guerre contre la guerre, la guerre pour la paix, pour la paix éternelle. (29–30).
La fin de ce passage est particulièrement ironique. En tout cas, cette idée que pour arriver à la paix, il est nécessaire parfois de faire la guerre a toujours existé, mais Romain Rolland la rejette vivement en raillant son poète, prototype de beaucoup d’intellectuels. Son ironie se retrouve à la fin du passage plus haut cité sur l’instinct de la patrie: Les instincts enchaînés détendent leurs membres raidis, ont le droit de bondir en plein air et de crier. L e d roit ? Ils ont le de voir à présent de se ruer, tous ensemble, comme une masse qui tombe. Les flocons isolés se sont faits avalanche.
Clerambault, comme son médiocre beau-frère, comme la plupart des gens, croit à présent qu’il a »le devoir« de défendre sa chère patrie. La métaphore d’ »avalanche« est bien sûr négative, puisqu’elle suggère la destruction et la mort. Quant aux »instincts enchaînés«, ils expriment le refoulement, et donc un état pathologique. En un mot, l’instinct de la patrie relève d’un état malsain, et le patriotisme n’est qu’une dérision et un danger pour l’humanité.
Le Réveil de Clerambault Lorsque Maxime est porté disparu à la guerre, Clerambault retourne lentement à la réalité. Il ne pense plus à l’ennemi allemand, il oublie tout d’un coup sa »patrie« soi-disant attaquée, car »Il ne lui restait plus assez de force pour haïr, – juste assez pour souffrir« (62). Le temps passe, la disparition du fils est définitive. Il est bien mort. C’est aussi la fin des illusions patriotiques pour le poète idéaliste. Il prend enfin conscience de la tragédie de la guerre et du leurre qu’est la »Patrie« au sens étroit. Il regrette amèrement son Maxime: »Ce bel enfant qu’on avait eu tant de joie, tant de peine à avoir, à élever, toute cette richesse d’espoirs en fleur, ce petit univers sans prix qu’est un jeune homme, cet arbre de Jessé, ces siècles d’avenir… Et tout cela détruit, en une heure… Pour quoi? Pour quoi?…« (63). Deux points intéressants à signaler au sujet de cette pensée du malheureux père. Le premier est l’allusion à la Bible. Jessé ou Isaï est, comme on sait, le père de David. Il est question de lui aussi bien dans l’Ancien que dans Le Nouveau Testament. Peut-être le passage
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le plus significatif est-il celui où le prophète Ésaïe annonce le temps messianique: »Puis un rameau sortira du tronc d’Isaï, et le rejeton de ses racines fructifiera. L’Esprit de l’Éternel reposera sur lui: Esprit de sagesse et d’intelligence …« (Ésaïe 11: 1-2). Il faudrait aussi rappeler ce mot de Saint Paul citant Ésaïe: Il est dit encore: »Nations, réjouissez-vous avec son peuple!« Et encore: »Louez le Seigneur, vous toutes les nations, et que tous les peuples le louent!« Ésaïe dit aussi: »Il paraîtra, le rejeton d’Isaï, celui qui se lèvera pour commander aux nations; les nations espéreront en lui«. Que le Dieu de l’espérance vous remplisse de toute joie et de toute paix dans la foi, pour que vous abondiez en espérance, par la puissance du Saint-Esprit! (L’Épître aux Romains 15: 10-13).6
Maxime était comme l’arbre de Jessé, selon son père, en ce qu’il représentait l’espoir (»toute cette richesse d’espoirs en fleurs«). Naturellement, ce n’est pas ce que dit la Bible, puisqu’aussi bien chez Ésaïe que chez Paul, l’espoir est en Dieu, c’est-à-dire en Christ, mais ce qui est intéressant chez le romancier humaniste, c’est sa référence à l’Écriture sainte. Le point commun essentiel entre les deux, c’est l’espoir dans un avenir où toutes les nations ne forment plus qu’une. Paul, en effet, met bien l’accent sur l’universalité de Christ, le fait que tous les peuples auront la foi en Christ, lequel amène la joie et la paix au monde entier. Paul ne s’adresse pas au peuple juif seulement, dont il fait lui-même partie, mais bien à tous les peuples du monde. Il ne parle pas de guerres entre les nations, mais de la paix dans une seule nation universelle. C’est à cela qu’aspire Romain Rolland aussi. Pour lui la France n’est pas différente de l’Allemagne, et les deux peuples devraient avoir des relations fraternelles. En prenant peu à peu conscience de cette vérité, Clerambault reconnaît en lui-même qu’il avait été de mauvaise foi au sujet de la »patrie« et de la guerre soidisant juste. Il se rend compte qu’il s’était menti à lui-même, »et cette découverte du mensonge intérieur l’écrasa« (64). Sa conscience lui disait à présent: »Quand bien même vous auriez vingt mille fois plus raison dans la lutte, votre raison affirmée vaut-elle les désastres dont il la faut payer? Votre justice vaut-elle que des millions d’innocents tombent, rançon des iniquités et des erreurs des autres? Le crime se lave-t-il par le crime, le meurtre par le meurtre? Et fallait-il que vos fils en fussent non seulement victimes, mais complices, et fussent assassinés et fussent des assassins? […]« (63–64). Le poète ne comprend pas que sa plus grande faute provenait d’abord de sa vanité, qu’il voulait être apprécié de tous, qu’il fallait donc qu’il plût aux autres et qu’il se soumît à »l’âme collective du troupeau«. S’il n’a pas pris pleine conscience de sa vanité, il a du moins reconnu sa pusillanimité: »Il s’y était réfugié 6 La Sainte Bible. Nouvelle version Segond révisée. Paris: Alliance Biblique Universelle, 1993.
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par peur et par lassitude« (72). Le »y« se réfère à »l’épaisse toison de la bête aux mille têtes«. L’instinct de la patrie est malsain, admet à présent Clerambault. Et Romain Rolland le démystifie dans une profonde analyse psychologique, tout en décrivant la nouvelle attitude de son personnage, et en développant la métaphore de »la toison« à propos de la dangereuse et bestiale »âme collective«: Il vit d’abord, le cœur soulevé de dégoût, ce qu’il ne voulut pas croire, – combien cette grasse toison s’était incrustée dans sa chair. Il reniflait en elle comme un relent lointain de la bête primitive, les sauvages instincts inavoués de la guerre, du meurtre, du sang répandu, de la viande palpitante que les mâchoires broient. La Force élémentaire de la mort pour la vie. Au fond de l’être humain, l’abattoir dans la fosse, que la civilisation, au lieu de la combler, voile du brouillard de ses mensonges, et sur laquelle flotte la fade odeur de boucherie… Ce souffle infect acheva de dégriser Clerambault. Il arracha avec horreur la peau de bête, dont il était la proie. (72)
Le poète, donc, se libère. Il a bien compris que l’âme collective était une illusion, et que le peuple dans son ensemble ne s’était pas détaché vraiment de son instinct animal originel. Mais il ne retourne pas pour autant à l’état dans lequel il se trouvait avant la guerre, vivant en dehors de la réalité. Il va à partir de maintenant lutter contre la guerre, non par la violence, mais par la parole. Il veut éclairer les gens et aider le plus possible ceux qui souffrent de cette guerre. Cela finira mal pour lui, comme on le sait. Il subira le sort de Jaurès, ce qui ne nous étonne pas, les choses étant ce qu’elles sont.
La Patrie nationale et la Patrie universelle Avant de montrer ce qu’est la vraie patrie, c’est-à-dire la patrie universelle, c’est en reprenant la métaphore de la »toison« que la pensée de Clerambault concernant la »patrie« au sens habituel, et se confondant avec celle du narrateur – ce qui s’exprime bien par le style indirect libre – se précise de la manière suivante: Ah! comme elle était lourde! Elle est à la fois chaude, soyeuse, belle, puante, et sanglante. Elle est faite des instincts les plus bas et des plus hautes illusions. Aimer, se donner à tous, se sacrifier pour tous, n’être qu’un corps et qu’une âme, la Patrie seule vivante! … Mais qu’est-ce donc que cette Patrie, cette seule vie, à laquelle on sacrifie non seulement sa vie, toutes les vies, mais sa conscience, toutes les consciences? Et qu’est-ce que cet amour aveugle, dont l’autre face de Janus aux yeux crevés est une aveugle haine?…. (72–73)
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Une contradiction est évidente dans la notion de »patriotisme«: c’est au nom de l’amour pour les hommes qu’on se dit »patriote«, mais qu’est-ce que cet amour s’il peut se transformer en haine? En effet, si cet amour existe uniquement pour un groupe limité de gens appartenant à un certain pays donné, et ne concerne pas l’humanité dans son ensemble, il ne peut être véritable. Ainsi Romain Rolland admet pratiquement la pensée chrétienne concernant le »prochain«. Ce dernier est tout le monde, selon Jésus, et pas seulement quelqu’un qui appartiendrait à la même race ou nation que vous. C’est pour cette raison que quand on lui demande, »Et qui est mon prochain?« (Luc 10: 29), il raconte la parabole du voyageur samaritain qui, par compassion, prend soin d’un inconnu blessé sur la route, sans rien savoir de lui. Pour ce Samaritain, la nation ou la religion du malheureux homme battu par les bandits n’importe absolument pas. Notre prochain, approuve l’humaniste français, est bien n’importe qui, et peut appartenir à n’importe quel pays, etc… Il admet avec l’Évangéliste qu’on doit l’aimer comme soi-même (Luc: 10: 27). C’est en raisonnant ainsi qu’on trouve absurde et contradictoire la notion de patrie au sens national, et qu’on ne croit plus qu’à une patrie universelle. Ou on aime son prochain, ou on ne l’aime pas. Si on l’aime vraiment, la guerre contre lui ne peut se concevoir. Il est aussi nécessaire, ajoute le romancier, de justifier cet amour. Pourquoi aimer les autres, en effet? La réponse est que c’est la raison qui nous le dicte. Si nous désirons tous être heureux, c’est là le seul moyen, et si on y réfléchit bien, le bonheur de chaque individu dépend du celui d’autrui. Et se référant à Pascal, Clerambault pense: »… L’on a ôté ma l à prop os le nom de l a rais on à l’amour, dit Pascal, et on les a opp os és s ans un b on fondement, c ar l’amour et l a rais on n’est qu’une même chos e. C ’est une pré cipit at ion de p ens é es qui s e p or te d’un côté s ans bien examiner tout; mais c’est touj ours une rais on …« (73).7 En fait, ce n’est pas exactement ce que dit Pascal, car pour l’écrivain janséniste il s’agit de distinguer la raison du cœur de la raison scientifique. Quoi qu’il en soit, Clerambault prend conscience du vrai sens du mot patrie. Celle-ci est belle et positive seulement si elle est comprise dans un sens universel, c’est-à-dire sans aucune discrimination: La Patrie? Un temple hindou: des hommes, des monstres et des dieux. Qu’estelle? La terre maternelle? La terre entière est notre mère à tous. La famille? Elle est ici et là, chez l’ennemi comme chez moi, et ne veut que la paix. Les pauvres, les travailleurs, les peuples? Ils sont des deux côtés, également misérables, également exploités. Les hommes de pensée? Ils ont un champ commun; et quant à leurs vanités et leurs rivalités, elles sont aussi ridicules au Levant qu’au Couchant; le monde ne se bat point pour les querelles de Vadius 7 C’est l’auteur qui souligne.
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et de Trissotin. L’État? L’État n’est pas la Patrie. Seuls, créent la confusion ceux qui y ont profit. L’État est notre force, dont usent et dont abusent quelques hommes comme nous, qui ne valent pas mieux que nous, et qui souvent valent pis, dont nous ne sommes pas dupes, qu’en temps de paix nous jugeons librement. Mais que vienne la guerre, on leur laisse carte blanche, ils peuvent faire appel aux plus vils instincts, étouffer tout contrôle, tuer toute liberté, tuer toute vérité, tuer toute humanité; ils sont maîtres, il faut serrer les rangs pour défendre l’honneur et les erreurs de ces Mascarilles vêtus des habits du maître! Nous sommes solidaires, dit-on? Terrible filet des mots! Solidaires, sans doute, nous le sommes des pires et des meilleurs de nos peuples. C’est un fait, nous le savons bien. Mais que ce soit un devoir qui nous lie, jusqu’à leurs injustices et leurs insanités, – je le nie!…. (73–74)
D’abord, il faut noter que, comme dans un temple hindou, la société est faite de toutes sortes de gens: certains peuvent êtres qualifiés d’hommes, c’est-à-dire d’êtres ordinaires moralement parlant, plutôt bons de nature que mauvais. D’autres sont des monstres, autrement dit des individus foncièrement méchants. Il existe également l’extrême opposé, fait de »dieux«, ou de gens exceptionnellement grands. Nous trouvons, pense également à présent Clerambault, toutes ces catégories dans le monde entier. Voilà pour ce qui est de chaque société. Donc, toutes les sociétés se ressemblent, et il serait injuste de croire l’une supérieure à une autre. Un deuxième point concerne la famille: toutes les familles humaines se ressemblent, dans la mesure où celui que je considère comme mon ennemi dans un temps de guerre, a une famille comme moi. Le point commun, c’est que nous désirons normalement tous la paix et le bonheur pour notre famille. Un troisième point touche aux questions de classes sociales: qu’on ne pense pas que la pauvreté existe seulement dans certains pays et pas dans d’autres. Quoique cela soit relatif et qu’il y ait des pays dans l’ensemble plus riches que d’autres, dans chaque pays il y a des pauvres et des travailleurs exploités. En pensant surtout à la guerre qui a lieu entre l’Allemagne et la France, le protagoniste du roman considère le fait que dans les deux pays ces problèmes existent. Enfin, si l’on songe au monde dans son ensemble, nous pouvons constater que les hommes sont partout pareils, et que »leurs vanités et leurs rivalités, elles sont aussi ridicules au Levant qu’au Couchant«. Après avoir mis au clair ces idées essentielles, Clerambault (ou Romain Rolland au fond) veut démystifier la notion d’État qu’on a souvent tendance à confondre avec la patrie. En effet, quelques individus, représentant seulement une partie de la société, se permettent de décider pour tout le monde au sujet de la guerre. En vérité, »Seuls créent la confusion ceux qui y ont profit«. Souvent ces gens qui gouvernent ne valent pas mieux que les autres, et que d’ailleurs »en temps de paix nous jugeons librement«. Mais dès qu’une guerre est déclarée, une guerre qui est en fait dans leur
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La Notion de Patrie dans Clerambault
intérêt, le peuple ne les voit plus de la même manière: »Mais que vienne la guerre, on leur laisse carte blanche, ils peuvent faire appel aux plus vils instincts, étouffer tout contrôle, tuer toute liberté, tuer toute vérité, tuer toute humanité; ils sont maîtres, il faut serrer les rangs pour défendre l’honneur et les erreurs de ces Mascarilles vêtus des habits du maître!« L’écrivain humaniste, par le truchement de son personnage, tient à éclairer le lecteur sur ce point, que »L’État n’est pas la Patrie«, que l’honneur de chaque individu est indépendant de celui des autres, que chacun devrait agir selon sa propre conscience, et qu’enfin l’honneur collectif n’est qu’une absurdité! Clerambault conclut d’une façon sarcastique, mais aussi dans un esprit à la fois révolté et religieux. Quand on veut nous envoyer à la guerre, pense-t-il: Est-ce un Dieu qui commande, ou quelques charlatans qui font parler l’oracle? Levez le voile! Ce qui se cache derrière, regardez-le en face!... La Patrie!... Le grand mot! Le beau mot! Le père, les bras enlacés des frères!... Mais ce n’est pas ce que vous m’offrez, votre fausse patrie, un enclos, une fosse aux bêtes, des tranchées, des barrières, des barreaux de prison!... Mes frères! Où sont mes frères? Caïns, qu’en avez-vous fait? Je leur tends les bras; un fleuve de sang m’en sépare; dans ma propre nation, je ne sais plus qu’un instrument anonyme, qui doit assassiner... Ma Patrie! Mais c’est vous qui la tuez!... Ma patrie était la grande communauté des hommes. Vous l’avez saccagée […]. (74–75)
Le poète s’est enfin réveillé. Il sort de cette nuit de crise, s’étant décidé à lutter seul, et malgré tout le danger, contre la sottise collective. Ici encore la référence à la Bible est significative.
* Le reste du roman n’apporte rien de vraiment nouveau en ce qui concerne la notion de patrie. La lutte du protagoniste finit mal pour lui, comme on le sait: il sera assassiné comme son ami Jaurès au début du roman. Ce qui est significatif, c’est que Jésus, prince de la paix et sauveur de l’humanité, est fortement présent dans ce livre, qui se termine d’ailleurs par le mot de Dieu. Pour un humaniste internationaliste, qui n’a pas la prétention d’être chrétien, qui a aussi beaucoup de respect pour d’autres religions, il est intéressant que Jésus reste pour lui le parfait modèle moral. Clerambault meurt en pensant à Jean Huss (316), et le roman se termine en soulignant l’idée que »Jésus n’a pas été mis en croix par hasard« (317), et que »L’homme de l’Évangile est le révolutionnaire, de tous le plus radical« (317–318). Romain Rolland incite le lecteur à être pacifiste et à suivre le chemin du Christ, »de Celui plus grand que nous, qui portera au monde la parole qui sauve, le Maître
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mis au tombeau, qui ‘sera en agonie jusqu’à la fin du monde’ et toujours renaîtra, – l’Esprit libre, le Seigneur Dieu« (318). Clerambault fut achevé en mars 1917, mais publié partiellement en décembre de cette année-là sous le titre L’Un contre tous.8 Il parut entièrement sous le nouveau titre en 1920, comme je l’ai indiqué au début de cet article. Ce qui est étonnant, c’est que deux révolutions eurent lieu entre temps, et Romain Rolland les trouva toutes deux positives. Comment ce pacifiste put-il défendre les Bolchéviks en Russie et les Spartakistes en Allemagne? La réponse n’est pas aisée.9
8 Voir la note de l’auteur sur ce premier titre inspiré de celui de l’ouvrage de La Boëtie, Le Contr’Un (7). 9 Voir sur ce sujet l’explication donnée par René Cheval dans son Romain Rolland. L’Allemagne et la Guerre. Paris: PUF, 1963, 734–736.
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Britische Maler und die beiden Weltkriege: Pat Barkers Life Class, Toby’s Room und Noonday
Pat Barkers fiktionale Welten sind durchgehend vom Motiv der Gewalt geprägt. Ab Double Vision beschäftigt die Autorin sich zusätzlich mit der Frage, wie dieses Thema auch visuell darstellbar ist. Ihre beiden Hauptfiguren Kate Frobisher und Stephen Sharkey nähern sich als Bildhauerin und Auslandskorrespondent der Frage von unterschiedlichen Seiten, kommen aber vor allem unter dem Einfluss Goyas bei der Schaffung einer Christusfigur beziehungweise eines Buches über Kriegsfotografie und TV-Berichte von kriegerischen Auseinandersetzungen zu vergleichbaren Ergebnissen. Dieses Thema führt sie nun in drei späteren Romanen, nämlich Life Class (2008), Toby’s Room (2012) und Noonday (2015) weiter aus. Barker betont diese Verbindung selbst: »I look at the novel I’m writing at the moment and I see links between that and Double Vision.«1 M. Szczekalla spricht in diesem Zusammenhang von einer »poetics of cruelty«, aber da es sich in allen Romanen um die Verbindung von Gewalt und visueller Darstellung dreht, würde ich den Begriff »Ästhetik der Gewalt« vorziehen.2 Im Zentrum von Life Class und dem späteren Toby’s Room stehen drei Studenten bzw. Absolventen der Londoner »Slade School of Art« kurz vor und während des Ersten Weltkriegs, nämlich Paul Tarrant, Kit Neville und Elinor Brooke. »Life Class brings together the characters from the Slade School of Fine Arts and juxtapposes that pre-war environment with the onset of war in Europe and its impact on the Slade students«, so Barker selbst in Writers Talk.3 Das 1 John Brannigan. »An Interview with Pat Barker«. Contemporary Literarure 46 (2005), 3, 367–392, hier 370. 2 Michael Szczekalla. »The War Novels of Pat Barker. Towards a ›Poetics of Cruelty‹«. Anglistik 24 (2013), 1, 29–38, hier 34. 3 Philip Tew, Fiona Tolan, Leigh Wilson (Hg.). Writers Talk: Conversations with Contemporary British Novelists. London: Bloomsbury Academic Us, 2008, 30.
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gleiche gilt für Toby’s Room. In Noonday wird die gleiche Figurenkonstellation im Zweiten Weltkrieg weitergeführt. Mit der zeitlichen Situierung der ersten beiden Romane kehrt Barker zum »Great War« als zentraler Katastrophe des 20. Jahrhunderts zurück, die schon im Zentrum der Regeneration Trilogy stand. Der Erste Weltkrieg war der erste hochtechnisierte und deshalb besonders verlustreiche Krieg in Europa; kaum eine Familie unter den beteiligten Nationen hat nicht einen Angehörigen durch ihn verloren oder nur schwer versehrt zurückerhalten.4 Insofern hat dieser Weltkrieg sowohl individuell als auch national ein Trauma erzeugt, das für das 20. und 21. Jahrhundert zentral wurde und das zu vergessen geradezu als Verrat an der eigenen Geschichte und nationalen Identität in England bewertet werden müsste.5 Barker stellt den Krieg nicht klassisch mimetisch im Sinn der traditionellen Historiographie dar, sondern als Geschichten aus der Perspektive der verschiedenen Personen mit ihrem unterschiedlichen Charakteren und Kontexten, wie sie das schon in der Regeneration Trilogy getan hatte.6 Mit Zeitverschiebungen wird jeweils die gleiche Beziehungsgeschichte erzählt, in Life Class dominant aus der Perspektive Paul Tarrants, in Toby’s Room vorwiegend aus der Elinor Brookes. Das Erleben und die Einstellungen der jeweils anderen beiden Künstler werden aber nicht nur aus der subjektiven Perspektive der jeweiligen Hauptfigur dargestellt, sondern in Einschüben oder in Briefwechseln multiperspektivisch eingespielt, so dass auch die anderen beiden Künstler immer wieder auch in Ich-Form zu Worte kommen; aus der Dualität von Double Vision wird eine Dreierperspektivität. So kann Barker die unterschiedliche Auffassungen, was Krieg ist und ob oder wie er künstlerisch darstellbar ist, kontrapunktisch miteinander vergleichen.7 Die Vervielfachung des point of view entspricht generell Barkers Präferenzen.8 Das Geschehen beginnt jeweils vor dem Kriegsausbruch und setzt sich dann während des Krieges fort, wobei die Männer, darauf fixiert an diesem großen Konflikt teilzunehmen, als Sanitäter bzw. Soldaten an die Front gehen, während Elinor als explizite Kriegsgegnerin daheim in England ihrer Berufung als Malerin folgt.
4 Anne Whitehead. Trauma Fiction. Edinburgh: Edinburgh UP, 2004, 16; Maria Holmgren Troy. »The Novelist as an Agent of Collective Remembrance: Pat Barker and the First World War«. Conny Mithander, John Sunderholm, Maria Holmgren Troy (Hg.). Collective Traumas: Memories of War and Conflict in 20th-Century Europe. Brüssel: Peter Lang, 2007, 47–78, hier 47. 5 Karen Patrick Knutsen. »Memory, War and Trauma: Acting Out and Working Through in Pat Barker’s Regeneration Trilogy«. Maria Holmgren Troy, Elisabeth Wennö (Hg.). Memory, Haunting, Discourse. Karlstad: Karlstads Universitet, 2005, 161–171, hier 162. 6 Karen Patrick Knutsen. Reciprocal Haunting. Pat Barker’s Regeneration Trilogy. Karlstad: Karlstads Universitet, 2008, 31. 7 David F. Waterman. Pat Barker and the Mediation of Social Reality. Amherst: Cambria, 2009, 112. 8 »Pat Barker«. Donna Perry (HG.). Backtalk: Women Writers Speak out. New Brunswick: Rutgers University Press, 1991, 59.
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Life Class Life Class beginnt mit den Problemen Paul Tarrants, der als Unterschichtkind aus Nordengland durch eine kleine Erbschaft seiner Großmutter, die sich ihr bescheidenes Vermögen durch Mietwucher in den Arbeitervierteln zusammengespart hat, finanziell kurzfristig unabhängig versucht, sein Talent als Maler an der »Slade School of Art« zu vervollkommnen. Er stammt also aus einer kunstfernen Gesellschaftsschicht, für die Zeichnen und Malerei »nancy-boy stuff« ist (Life Class, 7) und klassisch-antike Statuen »a cartload of fellers showing their whatsits« (Life Class, 14) darstellen. Seine Großmutter möchte gerne einen traditionellen Arbeiter aus ihm machen, der sein Geld im Schweiße seines Angesichts verdient; auch für seinen Job als »hospital orderly« hat sie nur Verachtung übrig. In London gerät er bald in Konflikt mit seinem Zeichenlehrer Henry Tonks, einem Mediziner und späteren Kunstprofessor, dessen geheiligtes Dogma lautet: »Drawing is an explication of form« (Life Class, 5), und bei den Aktzeichnungen seiner Schüler auch anatomische Korrektheit verlangt: »Is it a blancmange?«, fragt er einen unglücklichen Studenten (Life Class, 4) und meint noch, dieser Körperteil habe weniger Knochen als eine Wurst. Tonks und die »Slade School« mit ihrer Betonung des Zeichnens mit klaren Linien und korrekter Perspektive sind historisch korrekt von Barker übernommen,9 ebenso wie ihre Adresse in der Gower Street und ihre unmittelbare Nachbarschaft zur medizinischen Fakultät des University College London. Die »Slade School« war zwischen 1890 und 1910 allgemein als die beste Kunstakademie Englands anerkannt und orientierte sich stark am Pariser Modell; sie zog begabte Studenten an und hatte enge Beziehungen zur Literatur, Philosophie und generell zu den Intellektuellen der Hauptstadt.10 Auch hinter Tarrant, Neville und Brooke sind unschwer historische Studenten und später bekannte Maler zu erkennen, nämlich Paul Nash, Christopher Nevinson und Dora Carrington.11 Vor allem Nevinson ist deutlich an seiner großbürgerlichen Herkunft mit seinem Vater, einem bekannten Auslandskorrespondenten, und seiner Mutter, einer politisch links orientierten Frauenrechtlerin, zu identifizieren.12 Die beiden Männer machten in der Realität Karriere als offizielle »war artists«, publizierten Sammlungen von Skizzen und Gemälden über das Geschehen an und hinter der Front und stellten schon während des Krieges entsprechende Bilder in London aus. Der fiktionale Paul hat sich vor seinem Studium vor allem auf das Malen von pastoralen Landschaften 9 Emma Chambers. Henry Tonks. Art and Surgery. London: UCL Art Collections, 2002, 3f. 10 David Boyd Haycock. A Crisis of Brilliance. Five Young British Artists and the Great War. London: Old Street Publ., 2010, 2f. 11 Mark Rawlinson. Pat Barker. Basingstoke: Palgrave MacMillan, 2010, 126. 12 Michael J. Walsh. C. R. W. Nevinson: This Cult of Violence. New Haven: Yale Univ Pr, 2002, 3ff.
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spezialisiert, dem extremen Gegenbild zu seiner industrialisierten Heimatstadt mit ihrem Lärm und Rauch: He knew what it [i.e. being an artist] used to mean. Getting on a bike on a Sunday morning and pedaling like hell as far away from Middlesbrough as his legs would carry him to set up his easel in a field somewhere to paint trees and hawthorn blossoms. Behind him, columns of black smoke, steam, spurts of flame, flakes of soot on sheets hung out to dry, the acrid smell of coke, sparks struck from boots as workers coming off the afternoon shift slurred over the cobbles. (Life Class, 38)
Dies widerspricht doppelt dem realen Vorbild, denn Nash wuchs als Kind eines Rechtsanwalts nicht nur in London, sondern auch in Buckinghamshire auf, gehörte also zum Bürgertum und musste zur Landschaftsmalerei nicht eine Industriestadt verlassen. Seine Vorliebe für die »countryside« als Motiv passt andererseits aber zu Barkers Vorbild, denn Paul Nash wurde vor allem berühmt für seine Landschaften: »Landscape is Paul Nash’s elective theme«, betont R. Cardinal.13 Nach pastoralen Anfängen waren seine Präferenzen vor allem Motive wie Hügel, Häuser, Wälder oder Vögel (gerne im Winter) und vor allem Bäume, die allerdings keineswegs realistische Abbilder der Natur sind, sondern expressive und abstrahierte Visionen des Lebens und des Weiblichen.14 Im Kontrast zu Neville alias Nevinson mit seiner Ausrichtung auf den Futurismus, den Vorticismus von Wyndham Lewis, dem Stil von Braque und Picasso, und seiner Vorliebe für »hässliche« Motive wie Brücken, Kanäle und Gasometer vertritt er zunächst eine rückgewandten Kunstauffassung, die sich an Crome, Palmer und Rossetti orientiert und die um 1900 in England weit verbreitet war. Sie wurde auch an der sonst sehr innovativen »Slade School« vertreten, die sich energisch gegen den Post-Impressionismus positionierte. Bald wandte Nash sich aber Cézanne und sogar Matisse und Picasso als Vorbildern zu.15 Mit dem Aktzeichnen hat der fiktionale Paul generell Probleme, worüber ihn seine Mitstudentin Elinor hinwegzutrösten versucht: »Life drawing isn’t the be-all and end-all, you know« (Life Class, 15). Dies ist ein zweischneidiger Trost, weil er später feststellen muss, dass sie einen perfekten weiblichen Akt gemalt hat: […] a female nude, facing away, rubbing a bath towel down her left arm. The ends of her glossy black hair stuck in wet coils to her white shoulders [… ] If
13 Roger Cardinal. The Landscape Vision of Paul Nash. London: Reaktion Books, 1989, 7 und 15ff. 14 Haycock, A Crisis of Brilliance, 126 und 164. 15 Cardinal, The Landscape Vision of Paul Nash, 9.
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he stayed another ten years at the Slade he’d never be able to paint sunlight on wet flesh like that. (Life Class, 68f.)
Immerhin ist Aktzeichnen zudem ein Pflichtfach an der »Slade«. Tiefer trifft ihn aber der prinzipielle Kommentar seines Lehrers: Most people who come here are bursting with something they want to say, and the trouble I have with some of them is that they can’t be bothered to learn the language to say it in. Whereas with you it’s almost the opposite […] You seem to have nothing to say […] Why don’t you start by asking yourself: Do I want to paint? Or do I want to be an artist? Because they’re two very different things. And try to be honest with yourself. It’s not an easy question. (Life Class, 36f.)
Tonks gibt zu, dass Pauls Landschaften besser als seine Akte sind, aber ebenfalls kein Gefühl vermitteln und auch nicht als individuell in Stil und Sujet erkennbar sind. Paul steckt in einem Dilemma zwischen seiner Begabung für Malerei und seinem Wunsch, als Künstler seiner Herkunft zu entkommen.16 Er entschließt sich, wenigstens für den Rest des Jahres an der Slade zu bleiben: »It was time to go home, have one last try at painting something good – no, not good, honest. Honest would be a start. And if it didn’t work, he would look for a job – almost any job« (Life Class, 90). Deutlich schärfer als Tonks verurteilt Kit Neville, ein früherer SladeSchüler und inzwischen ein anerkannter Maler, Pauls Landschaftsbilder: »Anemic pastoral was the kindest description of what he produced. No originality. No force« (Life Class, 106). Kit konkurriert mit Paul nicht als Künstler, sondern als Bewerber um die Gunst von Elinor Brooke, die ihn als Maler, aber nicht als Liebhaber oder gar potentiellen Ehemann schätzt. Dennoch bringt sie die beiden jungen Männer zusammen. Sie empfiehlt Paul auch den Besuch der Grafton Gallery, die einige Bilder Kits ausgestellt hat: He didn’t have to look at the leaflet to know which paintings were Neville’s. They leapt off the wall. He’d done three studies of the Underground: streaks of light, advertisements, perpendicular lines that suggested straphangers, blurred heads and faces of people, everything fragmented, explosions of noise and speed. The sensation of noise surprised him, but it was the right word. They were very noisy paintings. Did he like them? He didn’t know, but
16 Simon Avery. »Forming a New Political Aesthetics: The Enabling Body in Pat Barker’s Life Class«. Pat Wheeler (Hg.). Re-Reading Pat Barker. Newcastle: Cambridge Scholars Publishing, 2011, 135f.
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he saw at once that this was fully mature work streets ahead of anything he could produce. (Life Class, 43)
Der historische Nevinson hat tatsächlich Szenen aus der Londoner »tube« gemalt.17 Kit ist nicht nur ein besserer Maler als Paul, sondern sein exakter Gegenpol; während dieser seiner industriellen Herkunft den Rücken gekehrt hat, um die heile Welt der englischen »countryside« zu malen, reist Kit aus seiner Londoner Heimat in die Midlands, um Fabriken kennenzulernen und auf die Leinwand zu bringen. Auch der historische Nevinson hat prosaische Motive wie Fabriken, Eisenbahnbrücken und die rauchenden Schlote und Abraumhalden von Bradford gemalt.18 Als der fiktionale Kit Paul zum Lunch nachhause einlädt, um sich für dessen ehrliches Lob seiner U-Bahn-Bilder zu bedanken, führt er ihn auch in sein Studio: There were several completed paintings to admire, one of them very fine indeed. Many were urban, industrial landscapes. In comparison with this his own work was immature, and he couldn’t understand why […] And the contrast was the more painful because Neville was painting the landscape of Paul’s childhood. These paintings were the fruit of a trip north to seek out the same smoking terraces and looming ironworks that Paul had turned his back on every Sunday, cycling off into the country in search of Art. (Life Class, 53)
Kit pointiert diesen Eindruck noch mit seinem Bekenntnis, er habe den Anstich eines Hochofens gesehen, der ihn tief beeindruckt habe; er sei aber noch nicht reif und mutig genug, ihn zu malen. Der Kontrast zwischen den beiden Männern nivelliert sich etwas über das Wochenende, zu dem Elinor sie in das Haus ihrer Eltern auf dem Land einlädt. Zwar sind die Reaktionen auf die Szenerie der Gegend weiterhin typisch; Paul ist entzückt über die Hecken voller Blüten, die sich über der schmalen Zufahrtsstraße wölben, während Kit still vor sich hin schimpft, »Oh, for God’s sake. Grass is grass« (Life Class, 105), als Elinor und Paul von einem großen Hügel schwärmen, dessen Gras sich bei jedem Windstoß immer wieder neu darbietet und malerische Variationen in Form und Farbe präsentiert. Er kann dem Landaufenthalt nichts abgewinnen und wünscht sich nach London in die Liverpool Street oder nach Charing Cross zurück (Life Class, 108). Man besucht dennoch gemeinsam eine kleine Dorfkirche, in der vor kurzem unter der Tünche späterer Jahre ein romanisches Wandbild entdeckt worden ist:
17 Haycock, A Crisis of Brilliance, 187. 18 Ebd., 119.
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The Doom, the figure of Christ in Majesty at its center, covered the whole arch. Below Christ’s feet, St. Michael held the scales. A small, white, naked, squirming thing cowered in one pan; in the other, its sins, piled high, tilted the balance towards hell. On the left, other wormlike people hid in holes in the ground or stared up at flashes of light in the sky. The women’s drooping breasts and swollen bellies retained at least the sad dignity of their function, but the men […] Albino tadpoles poured into the Abyss. On the right, the righteous were welcomed into Heaven by angels holding robes to cover them, as if the greatest part of redemption consisted of getting dressed. (Life Class, 108)
Paul gibt immerhin zu, dass das Bild schön ist, aber keinerlei Ahnung von menschlicher Anatomie beweise, während Kit moniert, dass es für die heutige Zeit irrelevant sei und man aus ihm nichts »lernen könne. Damit ist unterschwellig die Hauptfrage des zweiten Teils des Romans schon angeschnitten, nämlich ob und wie die Malerei auf Katastrophen wie auch den Weltkrieg eine gültige Antwort geben kann«.19 Zornig erklärt Elinor, dass die beiden Männer immer nur reden: »That’s the trouble with your crowd, Nev – talk talk talk. Nobody ever painted a better picture by talking about it« (Life Class, 109). Sie sind sich immerhin einig, dass irgendwann in der Vergangenheit der Glaube an das Weltende verloren gegangen ist und der einsame Mann, der jeden Samstag Vormittag mit einem Plakat über die Oxford Street marschiert, auf dem steht: »The End of the World Is at Hand« (Life Class, 109), für geistesgestört gehalten wird. Keiner der drei ahnt, dass England am nächsten Morgen in den Ersten Weltkrieg eintreten wird, obwohl sich seit einiger Zeit die Balkankrise verschärft hat und inzwischen sogar Russland und Deutschland gegenseitig mobil machen. Dabei ist Kits Vater ein bekannter Kriegsberichterstatter mit Insiderinformationen und Elinors Vater Leiter einer Londoner Klinik. Nach dem Abendessen gesteht dieser, dass die Regierung alle Krankenhäuser aufgefordert habe, möglichst viele Patienten zu entlassen, um freie Betten zu reservieren, und alle nicht unbedingt notwendigen Operationen zu verschieben. Sie erweisen sich als »Schlafwandler« wie die meisten Menschen im Europa des Jahres 1914, nur um sich sofort nach der Kriegserklärung im radikalen Umschwung für den Kampf zu begeistern. Alle jungen Männer des Romans freuen sich auf das »Great Adventure« des Krieges, ohne zu ahnen, dass sie sehr schnell in einem Erdloch in Belgien sitzen werden »waiting to be killed«.20 Elinors Bruder Toby und sein 19 David Waterman, »The ›fear of being irrelevant‹ in a Time of War«: Representing Self and Other in Pat Barker‘s Life Class«. Krieg und Literatur/War and Literature Jahrbuch/Yearbook XIV (2008), 49–60, hier 54. 20 Rob Nixon. »An Interview with Pat Barker«. Contemporary Literature 45 (2004), 1, 1–21, hier 10.
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Freund, beides Medizinstudenten, wollen sich sofort freiwillig zur Armee melden, obwohl der Vater kritisch anmerkt: »I think you’ll find the army can manage quite well without help from either of you. That’s what professional armies are for« (Life Class, 129), und dem Vaterland weit besser damit gedient wäre, wenn die beiden ihr Medizinstudium abschließen würden. Kit erklärt ebenfalls, sich freiwillig melden zu wollen, was Paul grinsend mit dem Zitat kommentiert: »War is the only health giver of mankind« (Life Class, 131). Den mystifizierten Vater Elinors erklärt er diese Formulierung als Teil des Futuristischen Manifests Marinettis, einer Bewegung der Malerei, die sich zu dieser Zeit von Italien nach England ausbreitete und an deren Propagierung das historische Vorbild für Kit, Christopher Nevinson, einen entscheidenden Anteil hatte.21 Auch Elinor hat sich immer wieder über Kits futuristische Thesen empört, etwa die Betonung von Virilität und die Verdammung von »effeminacy«. »Where did it leave her? Counting the hairs on her chest?« (Life Class, 124). Was Kit dann aber tut, ist sich beim belgischen Roten Kreuz als Ambulanzfahrer zu bewerben, um nicht die lange Grundausbildung bei der britischen Infanterie durchlaufen zu müssen. So kann er von Anfang an am Krieg teilnehmen. Auch Paul entscheidet sich schließlich für diesen Weg, weil er nach einer Lungenentzündung bei der Musterung abgelehnt worden ist. Der historische Paul Nash dagegen meldete sich zu den »Artists’ Rifles«, die für die Heimatverteidigung vorgesehen waren, dann aber wegen der großen Verluste der Berufsarmee wie andere »Territorials« an die Front geschickt wurden. Für den fiktionalen Paul ist der Sanitätsdienst insofern wesentlich leichter, weil er bereits früher als Krankenpfleger gearbeitet hat. An und für sich hat er nichts gegen den Kriegsdienst, wie er Elinor schreibt: To me it all seems simple. If your Mother’s attacked, you defend her. You don’t waste time weighing up the rights and wrongs of the matter or wondering if the confrontation could have been avoided if only the batty old dear had been a bit more sensible. (Life Class, 141)
Nun ist er froh, keinen nassen und kalten Winter auf dem Trainingsgelände der Armee auf den Salisbury Plains verbringen zu müssen. Als er sich zufällig mit Kit im »Cafe Royal«, dem Lieblingslokal der Sladeschüler, trifft, unterscheiden sich ihre Motive aber deutlich. Kit sieht den Sanitätsdienst als »painting opportunity«, als Möglichkeit zu malen an – »I’ll paint whatever’s there« (Life Class, 149) – während Paul den Verwundeten helfen will. Auch die letzten Tage in London sind schon vom 21 Meirion Harries, Susie Harries. The War Artists. London: Imperial War Museum, 1983, 38; Richard Cork. A Bitter Truth. Avant-garde and the Great War. New Haven: Yale UP, 1994, 71; Paul Gough. A Terrible Beauty. British Artists and the First World War. War, Art and Imagination 1914–1918. London: Sansom & Co, 2010, 94ff.
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Krieg gezeichnet; die Straßenlampen sind alle blau angestrichen, um den deutschen Zeppelinen das Auffinden ihrer Ziele zu erschweren (historisch verfrüht, denn die Luftangriffe begannen ernsthaft erst 1917), der Himmel wird von Scheinwerfern abgesucht und inmitten von Hampstead Heath steht ein großes Flugabwehrgeschütz. Kit malt wie der historische Nevinson dies alles,22 während die anderen Sladeschüler aufgehört haben die Schule zu besuchen. Und bei einem letzten Spaziergang Pauls mit Elinor finden sie mitten im Park von Russell Square an einem Querbalken hängend große Strohsäcke, an denen Rekruten Bajonettangriffe üben müssen. Auf den Säcken sind Bilder des deutschen Kaisers befestigt. Elinor war Zeuge dieser Übungen: »I watched them practicing the other day. They’re supposed to yell when they stick it in […] Apparently nobody dies unless you yell« (Life Class, 156). Part Two des Romans beginnt nach einem Zeitsprung an der Front bei Ypres, wo Paul in einem Feldlazarett arbeitet, das in einem alten Eisenbahndepot eingerichtet ist, eventuell dem gleichen, über das und dessen skandalöse Zustände (unversorgte Verwundete auf schmutzigem Stroh) Kits Vater gleich nach Kriegsbeginn berichtet hatte. Er hat sich inzwischen gut in die Arbeit und die berufliche Hierarchie eingewöhnt. Alle paar Minuten kommen Sanitäter mit einem neuen Verwundeten an, der schnell das Bett eines gerade Verstorbenen erhält. Ab und an gibt es kleinere Aufregungen, etwa wenn ein Patient das Geräusch der Regentropfen auf dem Blechdach für MG-Feuer hält und in Panik halb bewusstlos durch die Reihen rennt, um dann eingefangen und beruhigt zu werden. Die schockiernden Zustände im Lazarett erlebt Paul noch einmal neu, als er einen frisch aus England gekommenen Kollegen einweisen muss. Lewis ist ein Quäker, kann aus religiösen Gründen nicht kämpfen und hat sich deshalb zum Krankendienst gemeldet. Paul konfrontiert ihn im Auftrag von Sister Byrd, der Stationsschwester, mit den schlimmsten Verwundungen, die gerade auf ihrer Abteilung liegen, so mit einem Soldaten, dem eine Schrapnellkugel den Penis abgetrennt hat, so dass der Urin ungehemmt austritt und die Wunde verätzt, oder die vielen Soldaten, die an Gasbrand leiden. Lewis hält diese Diagnose für falsch, und Paul muss ihm die Kontamination durch Mikroben erläutern. Schmutz gerät in den Schützengräben in die Wunde, es kommt zu einer stinkenden Gasentwicklung, die Haut reagiert mit einem leisen Knistern und der Patient stirbt trotz aller Behandlungen wie Nachoperationen oder Desinfektionen. Weil Paul all diese Schrecken durch Lewis noch einmal neu sieht, gerät der Schutzmechanismus, den er inzwischen entwickelt hat, ins Wanken: During his first fortnight on the wards every horror had followed him into sleep. During the day he had managed to lower a safety curtain that protected him from the worst of it, but at night it failed him. Then gradually – he didn’t 22 Walsh, C. R. W. Nevinson, 109.
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know how because no conscious effort would have done it – he had somehow extended that protection into his sleep. Now he was afraid that wounds and mutilations would start pursuing him again. (Life Class, 173)
Beide werden schwer erschüttert durch den Fall eines französischen Soldaten, der versucht hat Selbstmord zu begehen. Ein Auge hängt aus der Höhle, Teile von Kinn und Zunge fehlen. Die Ärzte flicken ihn zusammen, damit er vor ein Kriegsgericht gestellt und als Deserteur erschossen werden kann. Lewis kann nicht verstehen, warum man ihn nicht einfach sterben lässt, und Paul erklärt ihm, dass man ihm diesen Wunsch nicht erfüllen darf: Die Front würde zusammenbrechen, wenn man sich nach Wünschen richten würde, denn die meisten Soldaten würden am liebsten nachhause gehen (Life Class, 181). Lewis verbringt jede freie Minute am Bett des Franzosen, und auch Paul wird in seinen Bann gezogen, als er schließlich versteht, dass der Soldat Papier und Bleistift wünscht. Blatt für Blatt kritzelt der Patient, der wegen seiner Verletzung nicht mehr sprechen kann, mit sinnlosen Linien voll, und reicht sie Paul, bis der Block aufgebraucht ist. Am Morgen danach steht Paul auf der Wendeschleife der Ambulanzen, zerreißt die Blätter in kleine Fetzen und wirft sie auf den Boden, wo sie die Räder der Sankas schnell in den Schlamm drücken – ein Symbol der Sinnlosigkeit des Krieges, die sich nicht in Sprache fassen und aufschreiben lässt (Life Class, 203). Paul und Elinor schicken sich regelmäßig Briefe und berichten über ihr Leben, er im Lazarett in Frankreich, sie über ihre Familie und ihren Versuch, sich weiter als Künstlerin zu entwickeln. Schon in Friedenszeiten haben Mutter und Schwester kein Verständnis für ihr Talent gezeigt und ihr Studium nur als Überbrückung der Zeit bis zur Heirat angesehen: All the things she’d achieved in the past four years, the independent life she’d built up for herself, seemed to count for nothing here. The only thing that mattered to her mother was finding a husband. As for painting, well, nice little hobby, very suitable, but you won’t have much time for that when the children arrive. (Life Class, 133)
Sie beklagt sich nun darüber, dass ihre Familie angesichts des Krieges Kunst generell für irrelevant hält: I’m the one who isn’t doing anything important, you see. Rachel’s pregnant, Toby’s in the army, Dad’s got his work. All I have got is painting, which doesn’t matter and specifically doesn’t matter now. You’d be amazed how many supposedly intelligent people think of art as some frivolous (sorry, can’t spell it)
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distraction from things that really matter. By which of course they mean the war the war the war. (Life Class, 186)
Sie hat sich für die Kunst entschieden und weigert sich, sich dem Druck der allgemeinen Meinung zu beugen, dass angesichts des Krieges alles andere zurückzustehen habe. Damit vertritt sie die gleiche Position wie etwa Clive Bell, einem führenden Vertreter der »Bloomsbury Group«.23 Paul versucht sie in ihrem Kampf für die Kunst zu bestärken, aber findet nach den langen Schichten auf der Station kaum Kraft, selbst wenigstens einige Skizzen zu entwerfen. Aber es ist mehr als die rein körperliche Erschöpfung, die ihn vom Malen abhält; angesichts des menschlichen Leids, mit dem er im Lazarett konfrontiert ist, verliert er den Glauben an »transcendent art untainted by worldly realities […] and politically disengaged.«24 Ein zusätzlicher Störfaktor ist sein Kollege Lewis, den man in der Hütte einquartiert hat, die er bis dahin allein bewohnen und in der er auch ungestört zeichnen konnte. Er sucht sich deshalb in Ypres ein Untermietzimmer, um wieder einmal allein zu sein und auch eine Staffelei aufbauen zu können. Zunächst wird es aber zum »Liebesnest«, als ihn Elinor, als Krankenschwester eingeschmuggelt, besucht, was beinahe tragisch endet, weil die Deutschen den Ort zum ersten Mal im Krieg beschießen. Vorher wirkt Ypres mit seinen alten Häusern, dem Kopfsteinpflaster, dem Markt und den Cafés wie eine Insel des Friedens, und sowohl Paul als auch Elinor zeichnen deshalb zum Beispiel den Kanal mit seinen alten Pappeln, die im Herbst ihre Blätter abzuwerfen beginnen. Auf der Zugfahrt nach Ypres schaut Elinor aus dem Fenster und erwartet eine vom Krieg verwüstete Landschaft: Rain-drenched fields. Reflections of grey-white clouds across flooded furrows. She tried to imagine this land churned up by wheels and horses’ hooves and marching feet, but she couldn’t. And why should I? she thought, hardening again, when this was the reality. Grass, trees, pools full of reflected sky, somewhere in the distance a curlew calling. This is what will be left when all the armies have fought and bled and marched away. (Life Class, 210)
Zwei Tage später schaut sie auf die zerstörten Häuser, die fehlenden Wände und die zum Teil noch nicht einmal abgedeckten Leichen von Erwachsenen und Kindern auf dem Marktplatz. Elinor unterhält sich mit Paul über den Krieg als Motiv für die Kunst, die Paul zum Gegenstand seines Skizzierens und Malens gemacht hat: 23 Samuel Hynes. A War Imagined. The First World War and English Culture. New York: The Bodley Head, 1990, 85; Fiona Tolan. »›Painting while Rome Burns‹: Ethics and Aesthetics in Pat Barker’s Life Class and Zadie Smith’s On Beauty«. Tulsa Studies in Women’s Literature 29 (2010), 2, 375–393, hier 380. 24 Tolan, »›Painting While Rome Burns‹«, 379.
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Oh, people at the hospital. Patients […] That’s what I see. Though I don’t know what the point of it is. Nobody’s going to hang that sort of thing in a gallery […] They are there, the people, the men. And it’s not right their suffering should just be swept out of sight. (Life Class, 220)
Paul findet in seiner Arbeit und seinen Patienten also eine neue »Life Class« nach dem Aktkurs in der »Slade School«; in beiden Fällen geht es um den menschlichen Körper, aber in vollkommen unterschiedlicher Art.25 Für Elinor ist dies undenkbar, weil sie sich die Reaktion des Publikums vorstellt: I’d have thought it was even less right to put on the wall of a public gallery. Can’t you imagine it? People peering at other people’s suffering and saying, »Oh my dear, how perfectly dreadful« – and then moving on to the next picture. It would be just a freak show. An arty freak show. (Life Class, 220)
Damit vergleicht sie sich deutlich mit der Meinung Justines in Double Vision, die Publikumsreaktionen auf Kriegsbilder »just wanking« nennt.26 Elinor lehnt den Krieg als Gegenstand der Kunst aber auch generell ab, weil diese immer die Dinge darstellen sollte, die man liebt: »The truth is, it’s been imposed on us from the outside. You would never have chosen it and probably the men in the hospital wouldn’t either. It’s unchosen, it’s passive, and I don’t think a proper subject for art« (Life Class, 221). Diese Diskussion führen die beiden später nach Pauls Verwundung in England weiter. Elinor besteht darauf, dass der Krieg für die Kunst unbedeutend sei, auch wenn das paradox klinge: Of course it matters, in one way, it matters that people are dying. I just don’t think that’s what art should be about it […] It is not you, isn’t it? An accident’s something that happens to you. It is not you, not in the same way people you love are. Or places you love. It is not chosen. (Life Class, 302f.)
Auf Pauls Fangfrage, ob dies auch im Fall des Todes ihres Bruders gelte, antwortet sie: The last thing I’d want to do is paint any part of what killed him. I’d go home. I’d paint the places we knew and loved when we were growing up together. I’d paint what made him, not what destroyed him. (Life Class, 303)
25 Rawlinson, Pat Barker, 148, und Avery, »Forming a New Political Aesthetics«, 132. 26 Pat Barker. Double Vision. London: Penguin, 2004, 141.
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Elinors Bestehen auf dem Wert der Kunst und ihre Verurteilung des Krieges als unwichtig bleibt im Roman unwiderlegt,27 aber der Roman stellt ihr zwei andere Künstler mit abweichenden Positionen gegenüber. Ihre Meinung sollte deshalb nicht als die ultimative Aussage von Life Class gesehen werden. Paul fährt nach ihrer Abreise fort Kriegsmotive zu malen, und zwar ein Thema, das ihn besonders berührt, nämlich die äußerst schmerzhafte Desinfektion der Wunden eines an Gasbrand erkrankten Soldaten: He had painted the worst aspect of his duties as an orderly: infusing hydrogen peroxyde or carbolic acid into a gangrenous wound. Though the figure by the bed, carrying out this unpleasant task, was by no means a self-portrait. Indeed, it was so wrapped up in rubber and white cloth gown, apron, cap, mask, gloves – and yes, the all-important gloves – that it had no individual features. Its anonymity, alone, made it appear threatening. No ministering angel. A white-swaddled mummy intent on causing pain. The patient was nothing, merely a blob of tortured nerves. (Life Class, 254)
Das Bild hat gewisse Ähnlichkeiten mit einem bekannten Gemälde von Henry Tonks, A Saline Infusion, das ärztliches Personal um einen geschundenen, sich vor Schmerzen aufbäumenden Patienten zeigt. Paul hat sich entschlossen, seinen pastoralen Landschaften den Rücken zu kehren und Zeugnis für die Schrecken des Krieges abzulegen.28 Das Bild steht fest in der Tradition von Barkers Bemühungen der Demythologisierung des modernen Krieges, der nichts mehr mit Ruhm und Ehre zu tun hat, was sie bereits sehr dezidiert in ihrer Regeneration Trilogy thematisiert hat.29 Als das Gemälde fertig ist, betrachtet er es in der Nacht nach einer Verletzung, die er sich bei einem Verbandswechsel zugefügt hat und die sich entzündet. Das Bild hat Autorität, es hat nichts mehr mit ihm zu tun: »Pain is the ultimate message, senseless pain inflicted in a senseless war.«30 Im Fiebertraum glaubt er schließlich, die Vergiftung sei nicht von seinem Skalpell, sondern von dem Pinsel ausgegangen, mit dem er dieses bedrohliche Bild gemalt hat. Zufällig trifft er nach Elinors Abreise in Ypres auf Kit Neville, von dem er weiß, dass er in der Nähe stationiert ist. Sie sprechen auch über Elinor, von der Kit meint, dass sie immer zwei Männern den Kopf verdreht habe, um sich nicht für einen
27 »An Interview with Pat Barker«. Tew/Tolan/Wilson (Hg.), Writers Talk, 32. 28 Tolan, »›Painting while Rome Burns‹«, 386. 29 Martin Löschnigg. »…the novelist’s responsibility to the past: History, Myth and the Narratives of Crisis in Pat Barker’s Regeneration Trilogy (1991–1995)«. Zeitschrift für Anglistik und Amerikanistik 47 (1999), 3, 214–228, hier 215. 30 Waterman, »The ›fear of being irrelevant‹ in a time of war«, 56, und Ders., Pat Barker and the Mediation of Social Reality, 161f.
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entscheiden zu müssen: »Elinor. Our Lady of Triangles« (Life Class, 258). Auch in der Realität hatte Dora Carrington eine Dreiecksbeziehung zu Chris Nevington und einem anderen Kunststudenten, aber nicht Paul Nash, mit dem sie nur gut befreundet war, auch weil sie beide Blake und Rossetti liebten, sondern zu Mark Gertler.31 Paul im Roman weiß es nach Elinors Besuch in Ypres besser, wenn er sich auch später auf seinen Heiratsantrag eine Abfuhr holt, wie zu Beginn des Geschehens schon Kit. Der Grund ist aber nicht Elinors Spiel mit den Männern, sondern ihre feste Absicht, eine Künstlerin zu werden und sich nicht durch Mann und Kinder von dieser Berufung ablenken zu lassen. Was Kit aber wesentlich mehr als Elinor beschäftigt, ist sein Ruf als »war artist«, der dadurch in Gefahr kommen könnte, dass man erfährt, dass er weiter als Pfleger in einem Lazarett arbeitet, und zwar ironischer Weise in einem für deutsche Verwundete, da Kit Deutsch spricht: Paul was puzzled until he realized that nursing enemy soldiers, however necessary, and even admirable, the work might be, didn’t fit in very well with Neville’s desire to present himself as a daring war artist risking his life daily on the front line. (Life Class, 257)
Zum offiziellen »war artist« wird er auch erst nach seiner Verwundung ernannt, was dem Prinzip der Propagandaabteilung des »Department of Information« im Wellington House entsprach, nur Männer mit Fronterfahrung für diesen Posten zu nominieren.32 In einem Punkt sind sich die beiden aber einig, dass ihre Bilder eine Art »Faustian pact« darstellen. Während Paul diese Formulierung in einem Brief an Elinor als zu pompös wieder zurücknimmt (Life Class, 265), erklärt Neville: I think that once the bloody war is over nobody’s going to want to look at anything I paint […] it’s a Faustian pact. I get all this attention for a few months, however long the bloody thing lasts, but once it’s over – finish. Nobody wants to look at a nightmare once they’ve woken up. (Life Class, 297)
Michael Szczekalla nennt dies »nonsense«, aber für Kit bleibt diese Definition gültig.33 Für die fiktionalen Maler im Roman mag das stimmen, in der Realität hatte das Propagandaministerium aber spätestens 1917 beschlossen, die Gemälde der »war artists« zu sammeln und so der Öffentlichkeit ein ästhetisches Erbe des »Great War« zu erhalten, dem 1919 mehrere Monumentalgemälde auf Bestellung
31 Jane Hill. The Art of Dora Carrington. London: Herbert Press, 1994, 19, und Haycock, A Crisis of Brilliance, 74. 32 Gough, A Terrible Beauty, 44. 33 Szczekalla, »The War Novels of Pat Barker«, 35.
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hinzugefügt wurden, die ab den zwanziger Jahren dann im Imperial War Museum ausgestellt wurden. Während Neville betont, zahlreiche Skizzen von der Front gemacht zu haben, die er zuhause in Ruhe ausarbeiten möchte, erfahren wir über Pauls künstlerische Projekte nichts Genaueres. An was uns Barker aber teilnehmen lässt, sind die visuellen Eindrücke, die er während und neben der Arbeit sammelt. Es sind zum Teil konventionelle Motive wie das Kruzifix an der Straßenkreuzung, auf dem von gekreuzigten Christus nur noch eine Hand übriggeblieben ist (Life Class, 277), emotionale Schocks wie das tot geglaubte Pferd, das sich plötzlich aufbäumt, als er mit seinem Sanka vorbeifährt (Life Class, 278), dann aber Motive, die an bekannte Bilder aus dem Krieg erinnern, wie marschierende Soldaten: »[…] [they] look like a machine, all the boots moving as one, shoulders bristling with rifles, arms swinging, everything pointing forwards« (Life Class, 247). Es gibt ein vergleichbares Bild von Chris Nevinson, Returning to the Trenches.34 Prägend ist auch die Impression der Front als einer leeren Landschaft, in der Tausende von Menschen unsichtbar geworden sind, alles »icons« des Great War, die malerisch und literarisch dokumentiert sind, so etwa in Nevinsons After a Push.35 Bei Paul ist es der Umstand, dass die Marschkolonnen sich während einer Rast neben der Straße verteilen und in ihren Uniformen gut getarnt mit der Umgebung verschmelzen: »[…] all the men fall out and sit by the roadside, blending with the muddy ground. So for a time the road looks empty. I’m not explaining this very well, but I saw it happen and it made the hairs on the back of my neck stand up« (Life Class, 248). Noch mehr bewegt ihn aber der Anblick der vom Geschützfeuer zerstörten Landschaft: […] close up to the front where the land on either side of the road is ruined – pockmarked, blighted, craters filled with foul water, splintered trees, hedges and fields gouged out – I realized I felt the horror of this landscape almost more that I feel for the dying. It’s a dreadful thing to say, I know – a flaw in me – but the human body decays and dies in some more or less disgusting way whether there is a war on or not, but the land we hold in trust. (Life Class, 248)
Auch Paul Tarrants Vorbild Paul Nash reagierte ähnlich: »It was a landscape that had lost its innocence, blasted and dark like a setting for Lear and Macbeth […]
34 Siehe Andrew Causey. Paul Nash. Oxford: Oxford UP, 1980, 73; Haycock, A Crisis of Brilliance, 261, und Gough, A Terrible Beauty, 99. Ein Bild Nashs, Marching at Night, wurde eventuell von Nevinson inspiriert, so bei David Fraser Jenkins, »Paul Nash: The Elements«. Ders. (Hg.). Paul Nash. The Elemtns. London: Scala Publishers, 2010, 20. 35 Sue Malvern. Modern Art, Britain and the Great War. Witnessing, Testimony and Remembrance. New Haven: The Paul Mellon Centre for Studies in British Art, 2004, 60, und Löschnigg, »…the novelist’s responsibility to the past«, 215.
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one huge grave, unspeakable, godless, hopeless.« Nash greift in der Darstellung zu Verfremdungen aus dem Stil des Kubismus, um die Unnatürlichkeit des Anblicks zu untersteichen.36 Vergleichbar hierzu sind Bilder der Erde wie die eines menschlichen Körpers, der aufgerissen wird, also von einer »landscape ravaged, brutalized, murdered by mechanized warfare«, so in Wytschaete Woods, Sunrise Copse, Vimy Ridge, The Landscape, Hill 60, oder We Are Making a New World, alles menschenleere Bilder der Verwüstung.37 Im Auftrag des Ministeriums fertigte Nash ein Großgemälde mit dem Titel Menin Road an, das eine Straße östlich von Ypres zeigt, die häufig unter Granatfeuer lag. John Ferguson nennt es treffend »the rape of the earth.«38 Zwischen zerschossenen Bäumen sieht man den immer wieder unterbrochenen Weg des Titels in einer Landschaft voller Bombentrichter und Trümmern. Zwei diminutive Figuren sind im Mittelgrund plaziert, dahinter sieht man Granatexlosionen beziehungsweise den Rauch früherer Einschläge und das alles unter ein paar Sonnenstrahlen aus zerrissenen Wolken.39 S. Hynes beschreibt das Bild so: Nothing grows on the ruined earth, and the trees are dead trunks – the corpses of trees. The water in the foreground is dead water, stagnant in flooded shellholes. Besides the water Nash has placed the broken rubbish of war – toppled cement blocks and ruined corrugated iron. In the background the smoke of of war merges with the storm clouds of the sky, to make a single threatening backdrop […] the two central human figures are so reduced, so trivialized, that one scarcely notices them. They have no place in the picture. Behind them, two other figures are frozen in gestures that cannot be interpreted.40
Kurz nach der Beschreibung dieser Eindrücke geraten Paul und Lewis in ihrem Sanka in einen Feuerüberfall der deutschen Artillerie, bei dem er schwer am Knie verletzt wird und sein Kollege stirbt. Zur Rekonvaleszenz nach London geschickt, nimmt er Kontakt mit Tonks auf, der ihm ein Atelier an der »Slade« vermittelt und sich bereit erklärt, die Möglichkeiten für eine Ausstellung seiner Bilder zu sondieren. Eines von Pauls Bildern zeigt einen Soldaten »who had the whole of his lower jaw blown off by a shell«. Tonks meint dazu nur: »I don’t see how you could ever show that anywhere« (Life Class, 296). Hier spielt Barker nicht nur auf 36 Anthony Bertram. Paul Nash. The Portrait of an Artist. London: Faber and Faber, 1955, 97, und Stuart Sillars. Art and Survival in the First World War. New York: Palgrave Macmillan, 1987, 85. 37 M. Eates. Paul Nash: Master of the Image, 1889–1946. London: John Murray Publishers, 1973, 23; Harries, The War Artists, 57; Cardinal, The Landscape Vision of Paul Nash, 23; Hynes, A War Imagined, 196; Cork, A Bitter Truth, 201ff., und Malvern, Modern Art, Britain and the Great War, 29ff. 38 John Ferguson, The Arts in Britain in World War I. Southampton: Stainer & Bell, 1980, 71. 39 Haycock, A Crisis of Brilliance, 274 und 279, und Gough, A Terrible Beauty, 129. 40 Hynes, A War Imagined, 296.
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die Grenzen des »guten Geschmacks« und die Regeln der englischen Zensur an, die die Darstellung von britischen Gefallenen verbot und die von Verwundungen nur dann akzeptierte, wenn sie mit Verbänden versorgt waren, sondern auch auf den Umstand, dass es exakt Tonks war, der während des Krieges wieder zu seinem alten Beruf des Arztes zurückkehrte und am Queen’s Hospital für die plastische Chirurgie Skizzen der Patienten mit Gesichtsverletzungen anfertigte, die sich als medizinisch nützlicher erwiesen als Fotografien. Barker sollte in ihrem nächsten Roman Toby’s Room genau diese Problematik aufgreifen. In London trifft Paul auch Elinor wieder, die inzwischen zwei Bilder verkaufen konnte. Eines davon ist das Gemälde einer jungen Mutter, die sie auf der Fähre nach Frankreich beim Stillen beobachtete: »[…] the woman in the center of the cabin who seemed to melt into her child, as if she were the wax that fed its guttering flame« (Life Class, 206). Die Reaktion ihres Vaters auf dieses Bild ist verletzend, aber auch verständlich: »Dad took one look at the mother and child and roared with laughter. He says if my idea of motherhood ever catches on there’ll be no need for Mary Stopes« (Life Class, 271). Mary Stopes war eine prominente Verfechterin der Geburtenkontrolle vor dem Ersten Weltkrieg und Vater Brooke amüsiert sich, dass seine Tochter, die sich nicht als Frau, sondern als Künstlerin versteht, sich dem »marriage market« entzieht und zum Zeichen ihrer Ablehnung der traditionellen Genderrolle demonstrativ ihre Haar kurz abgeschnitten hat, eine Verherrlichung der Mutterrolle gemalt hat. Was Elinor zu diesem Bild bewegte, ist aber leicht verständlich; sie malt nicht den verhassten Krieg, sondern das, was ihr wichtig ist und was sie lieben kann, entweder eine stillende Mutter als Gegenpol zum sterbenden Soldaten oder etwa den Hügel hinter ihrem Elternhaus auf dem Land, in dem sie mit ihren Geschwistern groß geworden ist und wo sie sich heimisch und geborgen fühlt. Die stillende Mutter ist der extreme Gegenpol zu den »war pictures« von Kit und Paul. Paul dagegen geht an die Front zurück, nachdem Elinor seinen Heiratsantrag zwar abgelehnt , aber dennoch mit ihm geschlafen hat. Im Zivilleben Englands findet er keine sinnvolle Rolle mehr, dafür aber Geborgenheit und Vertrauen bei den Kameraden an der Front, eine typische Reaktion der Soldaten im Ersten Weltkrieg, die sie bis zu einem gewissen Grad auch vor Traumata schützte.41 Damit hat er zwar bisher nicht mit seinem Leben bezahlt, wird aber durch seine Erlebnisse und ihre Folgen ein Leben lang gezeichnet sein.42
41 Judith Lewis Herman. Trauma and Recovery. New York: Basic Books, 1997, 25. 42 Troy, »The Novelist as an Agent of Collective Remembrance«, 59.
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Toby’s Room Der zweite Roman Barkers, der sich mit »war artists« und damit mit der bildlichen Darstellung von kriegerischer Gewalt im »Great War« beschäftigt, ist Toby’s Room. In ihm treten Kit Neville, Paul Tarrant und Elinor Brooke wieder auf, wobei das Hauptgewicht auf der Künstlerin liegt, wenn auch Kit und Paul über gewisse Strecken in der Mitte und gegen Ende erneut prominente Rollen übernehmen. Hinter den drei fiktionalen Charakteren werden immer wieder auch, wie schon in Life Class, die historischen Vorbilder Christopher Nevinson, Paul Nash und Dora Carrington, greifbar. Auch das Zeitschema ist ähnlich aufgebaut; einer Phase vor dem Krieg wird eine im Krieg gegenübergestellt. Während aber Life Class den Zeitsprung vom Sommer 1914 unmittelbar vor Kriegsausbruch bis in den Herbst und Winter 1914/15 nicht explizit datiert und nur knapp bemisst, wird der Abstand in Toby’s Room vergrößert und eindeutig auf 1912 und 1917 festgelegt. So wird der Kontrast zwischen Frieden und Krieg intensiviert und mit 1917 auch auf die Zustände kurz vor Kriegsende zugespitzt, in denen jede naive patriotische Begeisterung der Menschen, als niemand »the fun« verpassen wollte, längst erloschen ist. Toby’s Room beginnt mit einem Familientreffen der Brookes in ihrem Haus auf dem Land, ähnlich wie Teil I von Life Class endete, zu dem damals Elinor ihre Studienkollegen Paul und Kit eingeladen hatte; es ist ähnlich spannungsgeladen und dreht sich unter anderem um Elinors Rolle als Künstlerin, die vor allem von der Mutter und der Schwester Sarah nicht akzeptiert wird: Die Aufgabe einer Frau sei es, zu heiraten und Kinder zu bekommen: »It was just another way of drilling it into her that the real business of a girl’s life was to find a husband. Painting was, at best, an accomplishment, at worst, a waste of time« (Toby’s Room, 6). Auch Elinors Vorbild in der Wirklichkeit, Dora Carrington, musste sich fortwährend gegen ihre sehr konventionelle Familie wehren. Auf die penetranten Fragen nach einem Mann, der eine Rolle in ihrem Leben spiele, nennt Elinor unglücklicherweise Kit Neville: »He was merely the loudest, the most self-confident, the most opinionated and , in many ways, the most obnoxious male student in her year« (Toby’s Room, 5). Nur ihr Bruder Toby, der auch als einziger in der Familie voll hinter den Wünschen Elinors bezüglich einer Ausbildung zur Malerin steht und beim Vater dessen Zustimmung zu ihrem Studium an der »Slade School of Art« erwirkt hat, schert auch aus dem Drängen nach einer baldigen Partnerwahl aus und verweist warnend auf das Beispiel Sarahs: »She settled down a bit too early and […] Well, she didn’t exactly get a bargain […] You won’t make the same mistake, will you?« (Toby’s Room, 7). Der wahre Konflikt hinter diesen familiären Spannungen ist aber eine inzestuöse Beziehung zwischen Toby und Elinor. Sie deutet sich erstmals in einem leidenschaftlichen Kuss bei einem Badeausflug zu einer benachbarten Mühle an. Diese
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Ruine, in der sie als Kinder immer spielten, war in den Warnungen der Mutter ein »forbidden place« und erweist sich nun Jahre später tatsächlich als abgründiger Ort. In der Nacht darauf kommt es zum Geschlechtsakt, als Elinor in Tobys Zimmer schleicht, um ihn zur Strafe mit einer Kanne kalten Wassers zu übergießen. Zwischen dem historischen Vorbild Elinors, der Malerin Dora Carrington, und ihrem Freund Lytton Strachey, den sie über die Bloomsbury Group kennenlernte, entwickelt sich eine ähnliche Konstellation; er küsste sie überraschend bei einer Wanderung, und sie schleicht sich nachts in sein Zimmer, um ihm zur Strafe den Bart abzuschneiden.43 Toby und Elinor hatten seit ihrer Kindheit immer schon eine sehr enge Beziehung; Toby ist ein Zwillingskind, aber sein Geschwisterchen ist im Mutterleib gestorben und wurde als »papyrus twin«, als »parchment thing […] but with features« (Toby’s Room, 17), medizinisch ein fetus papyraceus, geboren. Toby hielt aber an der Fiktion einer Zwillingsschwester fest, mit der er lange Gespräche führte und für die am Tisch immer ein Gedeck aufgelegt werden musste, bis Elinor geboren wurde, die ihren Bruder abgöttisch liebte und ihm »like a little dog« überall hin folgte. Schnell brauchte Toby deshalb seine Geisterfreundin nicht mehr, jetzt hatte er ja sie. Hier beginnt eine zweite Ebene der Identitätssuche; neben der Frage Künstlerin oder Hausfrau und Mutter die nach Elinor und Toby als Geschwister oder Liebespaar beziehungsweise nach einer oder zwei Personen. Zurück in London besucht Toby Elinor und macht klar, dass er sie in Zukunft nur als Schwester und nicht als Geliebte betrachten wird: »›We’ve got to try. Sis.‹ – ›Yes. I suppose we do. Bro‹« (Toby’s Room, 28). Auch Elinor versucht, wieder in ihr altes Leben als Kunststudentin zurückzufinden, wozu sie symbolisch auch ihre langen Haare abschneidet, was ihren Bruch mit der konventionellen Frauenrolle unterstreicht und an der historischen »Slade School« in den »crop heads« von Dora Carrington und ihren beiden Freundinnen ein Vorbild hat, die sich auch wie Männer mit ihren Nachnamen ohne den Zusatz »Miss« ansprechen ließen.44 Am nächsten Morgen stellt Elinor beim Blick in den Spiegel überrascht fest, dass sie nun Toby noch viel ähnlicher sieht als vorher; die enge Beziehung, die sie terminieren wollte, wurde durch ihren Haarschnitt nur verstärkt. Als angehende Künstlerin hat Elinor große Probleme im Zeichenunterricht, obwohl sie als Schülerin allgemein bewundert wurde und auch große, nationale Preise gewonnen hat. Als sie sich mit ihrem Portfolio bei Professor Tonks um die Aufnahme an der Slade bewarb, hatte sie schon gemerkt, dass er von ihren Werken nicht viel hielt, und nun hat sie – wie schon Paul Tarrant in Life Class – große Schwierigkeiten beim Aktzeichnen. In der Vorausahnung harscher Kritik lässt sie
43 Hill, Dora Carrington, 30f. 44 Haycock, A Crisis of Brilliance, 94.
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sich darauf ein, statt des Modells Tonks zu zeichnen, was ihr überraschend gut gelingt: […] almost involuntarily, she began to draw Tonks, working with a sureness of touch she’d never experienced in this room before. All those things that Tonks tried to drill into them, day after day: look for the line, try to see the direction, no such thing as a contour in nature – suddenly it all made sense. And it was easy, so easy: every mark the pencil made seemed to be the only mark possible. (Toby’s Room, 23)
Anschließend scheitert sie allerdings kläglich an den perspektivischen Verkürzungen des Frauenkörpers, den darzustellen die Aufgabe der Sitzung ist. Ihre halblaute Selbstkritik wird von Tonks, der unbemerkt an sie herangetreten ist, geteilt, der aber zu ihrem Schrecken auch sein eigenes Bild unter dem Frauenakt entdeckt und, statt zu explodieren, nur lachend bemerkt: »Really, Miss Brooke, you flatter me« (Toby’s Room, 23). Ihren fehlgeschlagenen Versuch, einen weiblichen Körper abzubilden, korrigiert dieser mit einigen anatomischen Skizzen am Rand, die weit lebensechter sind als alle ihre eigenen Bemühungen. Als Konsequenz verschafft Tonks, der von seinen Studenten immer auch die Kenntnis und Berücksichtigung der Knochenstruktur des menschlichen Körpers verlangt,45 Elinor Zutritt zu einem Anatomiekurs, der an sich nur angehenden Ärztinnen offen steht . Sie gerät unter eine Gruppe von Medizinstudentinnen, mit knöchellangen Röcken, Hüten, Männerjacketts und sogar Krawatten geschlechtslos gekleidet, »so you got the worst of both worlds« (Toby’s Room, 31). Damit wird der Genderkonflikt des Anfangs wieder aufgenommen, und Barker zeigt, wie sie ihn nicht versteht. Die Studentinnen haben trotz ihrer Fachwahl offensichtlich noch nie einen nackten Mann gesehen, was ihre Reaktion markiert, als der Präparator eine Leiche abdeckt. Elinor ist nach anfänglichen Vorbehalten von der menschlichen Anatomie fasziniert und ästhetisch beeindruckt; der Leichnam erinnert sie an Mantegnas Dead Christ und die Brustmuskulatur, die sichtbar wird, als man die Haut zurückschlägt, an das gotische Deckengewölbe von King’s College Chapel in Cambridge (Toby’s Room, 14 u. 15). Sie würde zwar lieber an einem weiblichen Körper arbeiten, weil sie es als Künstlerin vor allem mit Frauen als Sujet zu tun hat, aber der Präparator verweigert ihr den Tausch an einen anderen Tisch. So bleibt sie bei »George«, wie ihre Mitstudentinnen den Körper nennen; Toby, der ihr als Medizinstudent seine Anatomiebücher vorbeibringt, erklärt ihr, dass traditionell die Toten nach der Königsfamilie benannt würden, mit einer Ausnahme, nämlich Asquith, dem Premierminister. Vorbehalte stören sie 45 Chambers, Henry Tonks: Art and Surgery, 4.
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nur bei der Sektion des Kopfes, weil sie hierbei das Gesicht der Leiche zerstört, das die Individualität des Toten definiert. Der Frage, wer man ist, die sie auch bei sich selbst als Künstlerin und Frau, besonders in ihrer Beziehung zu Toby, bewegt, tritt also auch in ihrem Anatomiekurs auf. Sie hasst die Übungen in »living anatomy«, bei denen sie die Gesichter der anderen und das eigene abtasten, um die Beobachtungen aus dem Sezieren mit dem lebendigen Fleisch zu vergleichen. Obwohl sie hierbei insgesamt den größten Nutzen für ihre Arbeit als Malerin erfährt, stört sie dabei wohl die »Verdinglichung« der eigenen Person. Die Unklarheit, wer dieser Tote war, wird zur quälenden Frage, da der Körper nur durch ein Nummernschild am Fuß identifiziert wird. Nach dem letzten Kurs des Trimesters schleicht sie sich deshalb in die Personalabteilung des Instituts, um dieses Problem zu klären, und wird prompt vom Präparator ertappt. Er wirft sie hinaus, nur um in der letzten Sekunde zu verraten, dass der Tote ein Unbekannter gewesen sei, den man auf der Straße aufgelesen habe. So bleibt die bohrende Frage nach seiner Identität ungeklärt. Elinor hat dennoch sehr viel über menschliche Anatomie und vor allem über den Aufbau des menschlichen Gesichts gelernt. Toby erwartet von Elinor einen Quantensprung in ihrer Aktzeichnung auf die Ebene Michelangelos (Toby’s Room, 29), Elinor ist dagegen leicht enttäuscht; vorher seien ihre Körper »blancmange« gewesen, jetzt aber eher »prizefighters« (Toby’s Room, 43). Sie will sich deshalb bei Tonks von der weiteren Teilnahme an den Sektionskursen abmelden und fürchtet seinen Ärger, weil er sich sehr bemühen musste, um sie überhaupt dort unterzubringen, wird aber von seinem künstlerischen Lob überrascht: »[…] your work’s come on by leaps and bounds this term. After […] a somewhat shaky start« (Toby’s Room, 61). Trotz ihrer Selbstzweifel gewinnt sie sogar einen Preis der Schule und zwar ausgerechnet in ihrem Problembereich: »[…] a small nude [… ] I only won because Tonks was the judge and the anatomy was spot on« (Toby’s Room, 43). Während dieser Zeit entwickelt sich zwischen Elinor und Kit Neville, den sie beim Familientreffen des Anfangs namentlich genannt hat, weil er ihr als »Kursekel« präsent war, eine Freundschaft. Sie beginnt am Tag der berechtigten Kritik von Tonks an ihrer verunglückten Aktzeichnung, als er sich am Russell Square zu ihr gesellt und sie es wagen, Arm in Arm an die Slade School zurückzukehren, die trotz aller Modernität (sie nimmt Frauen als Studentinnen auf und hat sogar gemischt-geschlechtliche Kurse, wenn auch nicht beim Aktzeichnen) offene Beziehungen zwischen den Schülern missbilligt: She and Kit Neville had become close friends and spent a lot of time together. Kit was London bred, and he enjoyed showing her his native city. They went to Speakers’ Corner on Sunday morning, sat with the gods at the music hall, danced the turkey trot till sometimes well past midnight or simply wandered
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along the Strand tossing roasted chestnuts from hand to hand till they were cool enough to eat. (Toby’s Room, 39f.)
Toby ist Kit gegenüber skeptisch, aber dieser lässt sich nicht einschüchtern. Er wettert über Tonks und predigt seine modernistische Kunstauffassung: And then he was off, on the uselessness of drawing from the Antique, the blind worship of the past, the failure to engage in any meaningful way with the realities of modern life and, above all, Tonks’s deplorable tendency to devote too much time to teaching women and useless men. (Toby’s Room, 41)
In seiner Frauenfeindlichkeit deutet sich schon seine sich später ausprägende Zugehörigkeit zum Futurismus an, der sich gegen »effeminancy in art« wehrte, auch wenn damit eher der Ästhetizismus eines Oscar Wilde als das weibliche Geschlecht gemeint war. Kit lehnt generell die Tradition der europäischen Malerei und auch die meisten Zeitgenossen ab, wie er immer wieder betont, so auch gegen Schluss des Romans in einem Gespräch mit Paul: Neville’s opinions were always entertaining, if vituperative. At one point, Paul realized that Neville didn’t believe anybody could paint - except, of course, himself. Even the greatest painters of the past were merely hauled into the light and damned with faint praise, before they were tossed, almost casually, on the muckheap of history. »Past, Tarrant«; he kept saying. »Past. Done with. Over.« (Toby’s Room, 232)
Hier paart sich der revolutionäre Geist des postimpressionistischen Futuristen mit der spätpubertären Arroganz des jugendlichen Malers, der insgeheim von einem ausgeprägten Minderwertigkeitsgefühl gegenüber seinen erfolgreichen Eltern geplagt wird. Ein großer Schock für Elinor ist Tobys ernsthafte Erkrankung an einer Lungenentzündung, die er beinahe fatal verschleppt, weil er unbedingt seine Prüfungen am Semesterende absolvieren will; er ruft nur deshalb Elinor zu Hilfe, weil er seine Mutter nicht gefährden möchte. Sie verbringt eine nervenaufreibende Nacht an seinem Bett, um ihm Beistand zu leisten und zu versuchen, das hohe Fieber zu reduzieren. So wird sie zu seiner Lebensretterin und stellt vorerst die durch die Sexualität gestörte Geschwisterbeziehung wieder her. Teil II des Romans springt wie gesagt in das Kriegsjahr 1917 und bringt Elinor wieder mit Kit Neville und Paul Tarrant in London zusammen, weil ihre Mitstudenten beide verwundet sind und zur Behandlung in die Heimat geschickt wurden. Die Jahre 1913 bis 1916 klingen in einzelnen Reminiszenzen an, sind dem Leser
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von Life Class aber vertraut, ohne dass die Kenntnis dieses Romans zum Verständnis notwendig ist. Zentral ist der hier übersprungene heimliche Besuch Elinors in Ypres und ihre Liebesbeziehung zu Paul, die sich inzwischen soweit abgekühlt hat, dass sie auf seine Briefe kaum mehr antwortet und ihn auch nur einmal kurz im Lazarett besucht: der Krieg hat sie entfremdet (Toby’s Room, 75). Paul, in Life Class Sanitäter und Ambulanzfahrer, wurde am Knie verwundet; genesen, meldet er sich zur Armee und ist inzwischen Offizier, und somit trotz seiner proletarischen Herkunft ein »temporary gentleman«. Wie der Zufall es will, wird er erneut am gleichen Knie verletzt und geht nun am Stock; seine Zeit an der Front dürfte deshalb vorbei sein. Kit ist wie in Life Class weiter Sanitäter und inzwischen »SB«, d. h. »stretcher bearer« (im Soldatenjargon »silly bugger«) bei Elinors Bruder Toby, der als Captain im RAMC, dem »Royal Army Medical Corps« eine CCS, eine »Casualty Clearing Station« leitet, d. h. erste medizinische Hilfe in einem vorgeschobenen Verbandplatz leistet, bis die Verwundeten in das nächste Lazarett abtransportiert werden können. Kit verliert durch Beschuss den Großteil seiner Nase und wird zur plastischen Chirurgie in das Queen’s Hospital in Sidcup in der Nähe Londons verlegt. Elinor hat sich bisher energisch vom Krieg und seinen Folgen abgeschottet und sich trotz des sozialen Drucks allgemein und des dauernden Zuredens von Bruder und Familie geweigert, irgendwie »vaterländische« Hilfe zu leisten; sie will sich nicht als Krankenschwester oder im VAD (Voluntary Aid Department) nach Frankreich schicken lassen, entzieht sich den Erste Hilfe-Kursen zuhause und strickt auch keine Socken für die Soldaten. Durch diese Antikriegshaltung und als Künstlerin kommt sie in Kontakt mit der pazifistischen Bloomsbury Group und wird von Lady Ottoline Morrell in ihr Haus am Bedford Square in London und auf ihren Landsitz Garsington Manor bei Oxford eingeladen, wo diese und ihr Mann »conchies« (conscientious objectors, Kriegsdienstverweigerer) auf der angegliederten Farm beschäftigen. In Garsington kommt Elinor in Kontakt mit Virginia Woolf und »VB« (Vanessa Bell), die sich als Schwestern ideal ergänzen und zum Beispiel die Sätze der jeweils anderen nahtlos zu Ende führen. Elinor bewundert vor allem Vanessa Bell: She is superbly casual with her painter’s smock and her slipping hair and her rather fine but obviously capable hands. That’s what I like about her, I think, her ability to do things. You feel she can stretch a canvas, decorate a room, soothe a fractious baby, sew, knit, grow plants, even cook, I suspect, if she had to. And, of course, paint. I like people who can do things. (Toby’s Room, 67)
Vor allem ist ihr wichtig, dass sie nicht wie die Mehrzahl der Mitglieder der Bloomsbury Group hochintellektuelle Gespräche führt: »We chewed valiantly and talked, mainly about painting […] I’ve decided I like the way artists talk,
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it’s so practical most of the time«. (Toby’s Room, 67) Elinor wird allerdings nicht als ebenbürtig betrachtet, sondern als »Sladette« eher als dekoratives Element bei gesellschaftlichen Anlässen gesehen, von dem man bewunderndes Zuhören erwartet. In der Diskussion über Lady Ottolines vergeblichen Versuch, Siegfried Sassoon dazu zu bewegen, weiter bei seiner Ablehnung des Krieges zu bleiben, statt an die Front zurückzukehren, bricht Elinor aus dieser Rolle aus und vertritt zum allgemeinen Erstaunen die Meinung, dass dieser zu seinen Leuten zurückkehren und sich um sie kümmern wolle (Toby’s Room, 205). Sie nimmt hier Barkers eigene Deutung Sassoons aus der Regeneration Trilogy auf. Und in einer Unterhaltung über die »war artists«, die angeblich nur Propagandamaterial lieferten, um auf diese Weise dem Kriegsdienst zu entgehen, verteidigt Elinor Kit und Paul mit dem Hinweis, dass sie sich beide freiwillig gemeldet hätten und Paul inzwischen verwundet sei (Toby’s Room, 73). Elinor hat schon früh eine Vorahnung, dass Toby von der Front nicht zurückkommen würde, dennoch trifft das Telegramm, »Missing. Believed Killed« sie und die ganze Familie wie ein abgrundtiefer Schock. Zunächst macht man sich vage Hoffnungen, Toby könnte in einem Lazarett oder einem Gefangenenlager wieder auftauchen, aber kriegserfahrene Soldaten wie Paul erklären, dass dieses Schicksal, etwa durch einen direkten Granattreffer, recht häufig ist. In der Sommeschlacht 1916 etwa verschwanden 73.000 Soldaten spurlos. Im Kriegerdenkmal von Thiepval, das Lutyens erbaute und das Geordie in Another World besucht, ist der große leere Raum am Ende »an embodyment of nothingness«, in dem ein leerer Sarg steht, gewidmet den Toten »known to God«, für die Menschen aber verloren.46 Die historische Dora Carington hatte ebenfalls ihren Bruder Teddy verloren, von dem keinerlei Spuren entdeckt wurden.47 Besonders Elinors Mutter reagiert verzweifelt: »Mother became a white slug lying on the sofa in the living room«. Auch in der Realität hatte sich Doras Mutter immer als Märtyrerin stilisiert und Pflege und Zuwendung erwartet.48 Im Roman fordern alle Familienmitglieder von Elinor, sich um die Mutter zu kümmern; der Vater arbeitet in der Londoner Klinik, Sarah hat zwei kleine Kinder, ihr Mann eine Stelle im Ministerium: »Elinor could go on painting – if she really felt she had to – but it was absolutely clear where her first duty lay and it was jolly well high time she started doing it« (Toby’s Room, 78). Elinor aber fühlt sich weiter ihrer Malerei verpflichtet; die Situation entspannt sich erst, als ihre Mutter zu Sarah zieht und sie das Elternhaus für sich allein hat. Sie verwandelt die Scheune in ein Atelier und malt: »Her own first reaction to the news had been a blaze of euphoria; immediately her fingers itched to grab a 46 Jay Winters. Sites of Memory, Sites of Mourning. The Great War in European Cultural History. Cambridge: Cambridge UP, 1995, 105f. 47 Haycock, A Crisis of Brilliance, 250. 48 Hill, Dora Carrington, 15.
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brush and paint. Grief was for the dead, and Toby would never be dead while she was alive and able to hold a brush« (Toby’s Room, 80). Dennoch verfolgt sie der Geruch des Schützengrabens, der Tobys zweiter Uniform anhängt, die die Armee an die Familie zurückschickt. Toby ist verschwunden; es gibt keine Leiche, kein Begräbnis, kein Grab. Elinor kann nicht trauern, bevor sie Gewissheit über sein Ende hat. Dies steigert sich noch, als sie im Futter seiner Uniformjacke den unvollendeten Entwurf eines Abschiedsbriefs findet. Sie schreibt zweimal an Kit Neville, aber dieser antwortet nicht. So wendet sie sich an Paul und lädt ihn aufs Land ein, was dieser schnell durchschaut – er soll Kit zum Reden bringen. Er ist inzwischen ein offizieller »war artist« und Elinor will wissen, was er in dieser Aufgabe male: »›Corpses?‹ – ›Not allowed‹« (Toby’s Room, 92). Das Thema wird später in einem Gespräch mit Kit noch einmal aufgenommen, der nach seiner Verwundung als Sanitäter ebenfalls zum »war artist« ernannt wird und von Paul wissen will, was die Zensur an Motiven durchgehen lässt: »It’s all fairly straightforward. No bodies. We can show the wounded, but only if they’re receiving treatment. In practice I think that means bandages« (Toby’s Room, 233). Die Wirkung dieser Vorschrift ist bis heute an einem Gemälde von Henry Tonks zu beobachten. Es stellt eine »Casualty Clearing Station« dar, aber nicht so wie sie Paul in Life Class erlebt hat, sondern aufgeräumt, geometrisch geordnet, alle Patienten in Reih und Glied mit sauberen Verbänden; die Wirkung ist steril und unglaubwürdig, und das alles aufgrund der Zensurregeln. Paul malt statt Soldaten wie früher Landschaften, allerdings nun die des Krieges. Wie diese Bilder genau aussehen, erfahren wir als Leser zunächst nicht, weil Paul sie Elinor nicht beschreibt und wir ihn nicht in sein Atelier begleiten. Falls wir Life Class gelesen haben, kennen wir wenigstens seine visuellen Eindrücke von der Front und können Parallelen zu bekannten Bildern Paul Nashs herstellen. Er arbeitet an der »Slade«, weil die Bilder teilweise monumental sind; wie sein Vorbild Paul Nash entwirft Paul im Roman offensichtlich bereits offizielle Gemälde für die Regierung. Und er spricht Elinor auf ihren Plan an, im Falle von Tobys Tod das zu malen, was seine Kindheit und seine Jugend geprägt habe: »You said you’d want to paint what made him, not what destroyed him« (Toby’s Room, 93). Insgeheim fürchtet er Nostalgisches, also idyllische Bilder des Landlebens, glückliche Kinder, goldene Sommertage: »Instead he found himself looking at a series of winter landscapes, empty of people« (Toby’s Room, 95). Auch Elinors historisches Vorbild Dora Carrington hat gerne die Hügel hinter dem Haus ihrer Eltern in Hampshire gemalt; vergleichbar ist etwa Hill in Snow.49 Bei genauerem Studium findet Paul aber in jedem Bild ganz am Rande der Szenerie den Schatten eines Mannes, der dem Betrachter den Rücken kehrt und zur Seite blickt. Die Wahl der Jahreszeit entspricht dem Tode Tobys ebenso wie 49 Hill, Dora Carrington, 27.
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der Umstand, dass die Schattenfigur im Begriff ist, die vertraute Gegend seiner Jugend zu verlassen. Und noch ein Umstand fällt Paul auf: At one level they were firmly traditional landscape paintings, but there was something unsettling about them. Uncanny. Oddly enough, he recognized the feeling. It was the paradox of the front line: an apparently empty landscape that is actually full of men. How on earth had she managed to get that? (Toby’s Room, 96)
So hat Elinor sowohl das heimatliche England als auch die Atmosphäre der Front in Frankreich auf die Leinwand gebracht und beide Welten vereint, obwohl sie nur eine abbilden wollte. Einige Zeit nach der Nachricht von Tobys Verschwinden beginnt Elinor das Portrait ihres Bruders zu malen, wobei sie sich wundert, warum sie so lange mit diesem naheliegenden Projekt gezögert hat: One morning she began to paint Toby’s portrait, wondering why it had taken her so long to think of doing it. As she worked, she kept stepping back from the easel and closing her eyes. She could see him more clearly like this: the shape of his head, the way his hair sprang from his temples, the blue eyes so like her own, but with a fleck of brown near the right pupil, his ears, the lobes extravagantly long and full; and then down across his body: the wart an inch away from his left nipple, the appendix scar […]. (Toby’s Room, 83)
Wenn sie nicht nur das Gesicht, sondern auch die Warze auf der Brust und seine Blinddarmnarbe in der Leistenbeuge vor ihrem geistigen Auge sieht, vergegenwärtigt sie sich ihren Bruder nackt, wie sie sich geliebt haben. Als Paul sie besucht, glaubt sie für einen Moment, mit dem Portrait fertig zu sein und zeigt es ihm: Toby. Of course, Toby. Who else? Paul stood and looked at the portrait for a long time. He couldn’t make up his mind whether it was good or not; he rather suspected it wasn’t, certainly not in comparison with some of the landscapes. But if it was a failure it was an interesting and disturbing one. The resemblance to Elinor – she and Toby hadn’t been so alike in life, surely they hadn’t? – impressed itself on him with unpleasant force. (Toby’s Room, 111)
Sie versucht immer wieder, das Portrait zufriedenstellend zu Ende zu bringen, nur um es am Schluss des Romans, als sie ihre Sachen aus dem Elternhaus räumt, noch immer zweifelnd zu betrachten:
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But then, her eyes were drawn to the portrait waiting on the easel. She swept the white cloth aside and held the lamp close. Why didn’t it work? Something about the eyes, was it? Perhaps without realizing she’d slipped into self-portraiture, producing, in the end, a composite figure, the joint person she and Toby had become. She replaced the cloth, but the eyes still followed her; she could feel them burrowing into her back as she walked to the door. (Toby’s Room, 261)
Die Probleme mit Tobys Portrait sind offensichtlich nicht malerisch-künstlerischer Art, sondern hängen mit Elinors Beziehung zu ihrem Bruder zusammen. Sie ist von Anfang der Ersatz für seinen verlorenen Zwilling, sie sind unzertrennlich und stehen füreinander ein. Mit der inzestuösen Liebesnacht 1912 werden sie biblisch gesprochen »ein Fleisch«; Elinor leidet mehr als alle anderen unter seinem Verschwinden 1917 an der Front. Sie richtet, wie Paul bei seinem Besuch auf dem Land feststellt, sein Zimmer als »Schrein« ein, und sie schläft mit ihm als Toby-Ersatz, was sich daran verdeutlicht, dass sie ihn begehrt, weil er in Tobys Bett liegt und Tobys Militärmantel trägt. In der letzten Nacht, die sie im Elternhaus verbringt, findet sie im Traum den kalten Körper des Bruders neben sich im Bett und sieht ihn später mit ausgebreiteten Armen, sowohl als Liebhaber als auch in Christus pose und damit in einer Opferrolle, vor sich. So ist es kein Wunder, dass es ihr nicht gelingt, nur Toby zu malen, sondern sich auch ihr eigenes Gesicht mit seinem vermischt. Der Grund ist also mehr als die verblüffende Ähnlichkeit von Bruder und Schwester, die sich noch verstärkt hatte, als sie sich kurz entschlossen die langen Haare abgeschnitten hat. Was sie unabsichtlich auf die Leinwand gebracht hat, ist ihre Doppelidentität. Paul hat sich nach dem langen Schweigen Elinors über die Einladung in ihr Elternhaus gewundert, vor allem auch weil sie ihm mitgeteilt hat, dass sie dort allein wohnt. Als sie ihm den letzten Brief Tobys vorliest und vom Schweigen Kits auf ihre doppelte Anfrage erzählt, weiß er, warum er kommen sollte: er soll ihr dabei helfen, Kit zum Sprechen zu bringen. Er versucht, ihre alte Liebesbeziehung wieder zum Leben zu erwecken, scheitert aber dabei, obwohl sie mit ihm schläft: He had never known lovemaking like it. It had felt like a battle, not between the two of them – there had been no antagonism – no, more like he was struggling to pull her out of a pit and sometimes she’d wanted to come with him, and at other times she’d turned back into the dark. Always before, even at the most difficult moments in their long, wrangling love affair, sex had never failed them. Last night, it had. (Toby’s Room, 10)
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Er fühlt, dass Elinor nicht wirklich ihn liebt, sondern jemand anderen, für den er zum Stellvertreter wird, und dass dieser Dritte tot ist. Die Grabessymbolik verweist auf diesen Bezug. Kurz nach seinem Besuch erfährt Paul, dass Kit in das Queen’s Hospital für Gesichtsverletzungen eingeliefert worden ist. Obwohl er explizit gebeten hat, keine Besuche zu bekommen, ist Elinor sofort entschlossen, ihn aufzusuchen, und zwingt Paul, sie zu begleiten, um das Schlimmste zu verhüten. Ein Treffer hat Kits Nase zerstört; er muss sich einer plastischen Operation unterziehen, zu der erst ein »pedicle«, eine Gewebetransplantation vom Oberkörper notwendig ist, aus der dann eine neue Nase geformt werden kann. Er nennt dies einen »trunk« und sich selbst den »elephant man«. Im Lazarett trifft er Tonks wieder, der auch in der Realität als früherer Arzt seine Stelle an der »Slade School« teilweise ruhen ließ und nun seine zeichnerische Begabung als medizinischer Illustrator nützt, um mit linearen Diagrammen und Pastellbildern die Stadien der Behandlung vor, während und nach den Operationen zu dokumentieren. Sie ergänzten die SchwarzWeiß-Fotografien, die die Chirurgen ebenfalls anfertigen ließen. Diese Bilder sind die einzigen in England aus der Zeit des »Great War«, die Verwundete aus der Nähe und ohne Verband zeigen; sie brechen damit das Tabu, das auch für alle offiziellen »war artists« galt und über das sich Paul mit Elinor und Kit unterhält. Tonks zeichnet auch Kit und zeigt ihm dabei die Bilder anderer Patienten. Für Kit sind diese eine »rogues’ gallery«, später nach näherer Betrachtung Gesichter, die einer Landschaft ähneln und schließlich nennt er sie eine moderne Entsprechung zu Goyas Disasters of War (Toby’s Room, 195ff.). Sie gehören der Klinik und dem Kriegsministerium, obwohl Tonks sie gezeichnet hat und offizielle Besucher sie sehen dürfen, was er und Kit als »voyeuristic« und »distasteful« bezeichnen (Toby’s Room, 196), eine Wiederaufnahme der Diskussion über Kriegsfotos und Kriegsvideos in Double Vision. Der Kontrast zwischen dem unverletzten Teil des Gesichts und der klaffenden Wunde ist erschreckend und schockiert die meisten Betrachter.50 Als Tonks Elinor bei ihrem Besuch bei Kit trifft, bittet er sie, ihm bei dieser Arbeit zu helfen. Sie steht zunächst unter Schock, weil sie im Krankenhausgang eine Gruppe von Verwundeten gesehen hat: Men with no eyes were being led along by men with no mouths; there was even one man with no jaw, his whole face shelving steeply away into his neck. Men, like Kit, with no noses and horribly twisted faces. And others – the ones she couldn’t understand at all – with pink tubes sprouting out of their wounds and terrible cringing eyes looking out over the top of it all. Breughel; and worse than Breughel, because they were real. (Toby’s Room, 137)
50 Emma Chambers. »Fragmented Identities: Reading Subjectivity in Henry Tonks’ Surgical Portraits«. Art History 32 (2009), 3, 578–607, hier 588.
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Auf das Angebot, das ihr Tonks macht, erwidert sie mit dem Einwand, dass sie nicht wisse, wie man einen derart entstellten Menschen portraitieren könne: Portraits celebrate the identity of the sitter. Everything – the clothes they’ve chosen to wear, the background, the objects on a table by the chair – leads the eye back to the face. And the face is the person. Here, in these portraits [Tonks had drawn] the wound was central. She found her gaze shifting continuously between torn flesh and splintered bone and the eyes of the man who had to suffer it. There was no point of rest; no pleasure in the exploration of a unique individual. (Toby’s Room, 13)
Sie fragt Tonks, was der Gegenstand eines derartigen Bildes sei, die Wunde oder der Mensch. Seine Antwort ist die eines guten Arztes: Both, I hope. You know, even when I was a very young doctor, going round the wards, I always saw them like that. On the one hand, there’s a patient with a problem you have to solve, or at least try to solve, but there is also the person […] I can’t not see both. (Toby’s Room, 139)
Es geht um die Verbindung von medizinischer Dokumentation und malerischer Darstellung der Persönlichkeit des Patienten, vor allem im Schlussportrait. Sogar die individuelle Handschrift von Tonks ist in den Zeichnungen zu erkennen. Es gelingt ihm, über die medizinischen Details hinaus auch den Charakter des Patienten darzustellen, vor allem durch den Blick der Augen und die Art, wie der Patient seine Verwundung erträgt.51 Elinors Hauptgrund gegen das Angebot ist ihre Ablehnung des Krieges: I’m trying not to have anything to do with the war […] Because it’s evil. Total destruction. Of everything. It’s like one of these combine harvester things, you know? Only it’s not cutting wheat […] It’s like the pacifists. You know, some of them […] go and work on a farm […] But the others – the absolutists , wont do that…the others are just pouring their little bits of oil on to the combine harvester and telling themselves there’s no blood on their hands because they are not actually driving the wretched thing […] So anyway that’s why I don’t contribute and […] and I don’t paint anything to do with it. Because the war sucks that in too […] I think painting should be about […] celebration. Praise. (Toby’s Room, 141)
51 Chambers, Henry Tonks: Art and Surgery, 1 und 15ff., und »Fragmented Identies«, 586f.
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Der Mähdreschervergleich ist zwar ungewöhnlich, aber historisch plausibel; diese Maschine wurde bereits 1834 erfunden und seit 1911 gab es auch selbstfahrende Modelle. Der englische Frontsoldat hätte stattdessen aber vermutlich vom Krieg eher als »sausage machine« oder »slaughterhouse« gesprochen. Elinor stoppt entsetzt, als sie feststellt, dass sie ihrem alten Lehrer eine Vorlesung über Kunst hält. Seine Antwort folgt mit einem leichten Lächeln: »I think a very large part of art is about celebration, but then you also have to paint what’s in front of you, don’t you? And your generation hasn’t been very lucky in that respect« (Toby’s Room, 141). Dieses Argument deckt sowohl die Illustrationen der Gesichtsverletzungen als auch die Bilder Pauls und Kits als »war artists« ab. Elinor hat große Zweifel, ob sie trotz ihrer Anatomiekenntnisse dazu fähig sein wird, Zeichnungen von den Verletzten anzufertigen, weil die Wunden den Aufbau des gesunden Kopfes massiv zerstört haben: »›Drawing‹, as Professor Tonks never tired of telling his students, ›is an explication of form‹. Well, you can’t explicate what you don’t understand« (Toby’s Room, 166). Sie bezeichnet ihre ersten Versuche als »rubbish«, was Tonks energisch verneint, obwohl er »room for improvement« einräumt (Toby’s Room, 167). Ihren Widerstand gegen die Arbeit im Lazarett gibt sie endgültig auf, als sie erfährt, dass die Patienten nach der Behandlung nicht mehr an die Front, sondern nachhause ins Zivilleben geschickt werden und die Operationen dazu dienen, sie für ihre Mitmenschen leichter akzeptabel zu machen. Dies war auch die Zielsetzung der militärischen Führung.52 Manche sehen nach der Behandlung sogar besser als vorher aus, andere haben den gleichen ästhetischen Reiz wie beschädigte klassische Statuen, die Elinor aus dem »Antiques Room« der »Slade School« kennt. Wichtig ist für die künstlerische Bewertung der Illustrationen auch der Vergleich mit Landschaftsdarstellungen, den Kit macht, als er von Tonks gezeichnet wird: »Churned-up flesh, churned-up earth. If you take the other features away, the wound becomes a landscape.« Tonks stimmt zu: »Well, I’ve always thought landscape is the only way of telling truth about this war« (Toby’s Room, S. 198). Und genau das ist es, was Paul als »war artist« malt. Das Thema Malerei und Krieg führt Barker auch über Kit Neville weiter aus. In seinen Alpträumen und im Ätherrausch nach den Operationen durchlebt er noch einmal seine Kriegserlebnisse. Schon bevor er zum offiziellen »war artist« ernannt wurde, hat er als Sanitäter bei jeder Gelegenheit den Frontalltag gezeichnet, so etwa Marschkolonnen oder wartende Männer im Regen: Neville was quickly off to one side, trying to imprint it all on his brain: lumbering figures in the gloomy light, water streaming down rain capes, round 52 Chambers, »Fragmented Identities«, 590.
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helmets gleaming. Running a little way up the slope, he looked down on metal mushroom-heads and ached to draw them. (Toby’s Room, 160)
Es gibt ein vergleichbares Bild von Paul Nash, Study – Leaving the Trenches.53 Eine Hauptrolle in seinen Träumen spielt Toby, dem er als Sanitäter und Krankenträger zugeteilt ist. Toby leitet eine »casualty clearing station«, also einem vorgeschobenen Verbandplatz, in dem die Verwundeten für den Transport ins Lazarett provisorisch versorgt werden, aber er geht auch immer wieder in den vordersten Schützengraben und sogar ins Niemandsland, um Verletzte zu bergen oder wenigstens die Erkennungsmarken einzusammeln, wenn die Körper durch einen Granatentreffer total zerfetzt wurden. Bei einer dieser Suchaktionen, die nur im Schutz der Nacht möglich sind und bei der auch Kit beteiligt ist, benützt Toby eine Taschenlampe, was natürlich sofort feindliches Feuer auf sich zieht. Wegen dieser von einem Arzt nicht zu erwartenden Tapferkeit hat er bereits das MC (Military Cross) erhalten und steht kurz vor seinem Tod zur Verleihung des VC (Victoria Cross), des höchsten militärischen Ordens in England an. Wegen einer ähnlichen tollkühnen Aktion kommt es zum Bruch zwischen Kit und Toby. Sie bergen mit drei anderen Krankenträgern einen Toten kurz vor den deutschen Linien. Sie müssen den ganzen Rückweg durch den Schlamm kriechend zurücklegen und ziehen die Leiche an einem Seil hinter sich her. Als sie endlich die Erste Hilfe-Station erreicht haben, versetzt Kit dem Leichnam einen Tritt und klagt Toby an: »You just risked four men’s lives for a corpse« (Toby’s Room, 182). Toby antwortet nur mit einem Wort, »orders«, um seine vier Träger anschließend zur Nachbarkompanie als Aushilfe zu schicken. Auf Kits Protest, »they are absolutely knackered« (Toby’s Room, 183), erfolgt erneut nur das Wort »orders«. Kit beginnt im Verlauf der nächsten Wochen unter einem Nervenzusammenbruch bzw. einer Kriegsneurose zu leiden, wie er sie oft bei anderen Frontsoldaten beobachtet hat: You began by being appropriately, rationally afraid, the extent of the fear always proportionate to the danger. With luck and a sound constitution that stage might last for several months. But the process of erosion is unrelenting. After repeated episodes of overwhelming fear, you start to become punchdrunk. You take stupid risks, and sometimes you get away with it, but not for very long. If you are lucky you may be wounded, but don’t count on it. If you’re not, the third stage is just round the corner. Fear is omnipresent. Sitting in a café, with a beer in front of you, you’re neither more or less afraid than you are in the front line. Fear has become a constant companion, you can’t remember what it’s like to be not afraid. He was at that stage now. And 53 Eates, Paul Nash, 22.
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the next? Breakdown, stammering, shaking, shitty breeches […]. (Toby’s Room, 215)
Für den historischen Dr. Rivers, den Barker zur Hauptfigur von Regeneration gemacht hat, ist es genau der Konflikt zwischen dem Selbsterhaltungstrieb und der gesellschaftlichen Erwartung an den Mann im Krieg, keine Angst zu zeigen und tapfer zu kämpfen, der die Ursache für eine »war neurosis« ist.54 Kit bettelt Toby an, ihn krank zu schreiben, was dieser nach einer kurzen körperlichen Untersuchung ablehnt. Kit solle sich zusammenreißen und sich einen Ausgleich suchen; er selbst mache lange Ausritte, um sich von seinen Problemen abzulenken. Kits Hass führt dann wenig später zur Anzeige beim Kompaniepfarrer, als er Toby nachts im Pferdestall mit einem Tierpfleger in eindeutiger Situation ertappt. Er ist besonders darüber empört, dass Toby seinen Rangunterschied ausgenützt hat, um den Pferdeknecht zu missbrauchen. We are talking about a man exploiting his inferiors. Brooke was an officer. The lad couldn’t have said no even if he he’d wanted it […] It’s not Greek love, you know. It’s just another form of bullying. I hated it at school and I hate it now. (Toby’s Room, 249)
Das Aussehen und der Charakter des Mannes schließen für Kit eine Liebesbeziehung zwischen Toby und ihm sicher aus. Nach einer weiteren nächtlichen Patrouille im Niemandsland will Toby im Morgengrauen die Deutschen provozieren, ihn zu erschießen, indem er direkt vor ihrem Graben aufsteht und mit seinem Revolver auf sie feuert. Weil keine Reaktion erfolgt, schießt er sich selbst in den Kopf (Toby’s Room, 251). Kit muss einen ganzen Tag in einem Granatttrichter verbringen, weil er erst im Schutz der Dunkelheit zu den eigenen Linien zurückkriechen kann. Am nächsten Tag vernichtet ein deutsches Trommelfeuer alle Spuren des Geschehens. Kit weiß, was Toby gedroht hätte, da Homosexualität unter Strafe steht: Degradierung, zehn Jahre Zuchthaus und der Entzug der ärztlichen Approbation. Wegen seines guten Rufs hat man ihm den »ehrenvollen« Ausweg des Selbstmordes angeboten. Es versteht sich von selbst, dass Kit dies Elinor nicht sagen will und auch Paul lange die Wahrheit verschweigt, da er von dessen enger Beziehung zu Elinor weiß. Schließlich lädt er Paul in das Ferienhaus seiner Eltern an der englischen Ostküste ein und die beiden verbringen ein stürmisches Wochenende mit Alkohol und Gesprächen über Malerei. Kit betont, dass er sich bei seinen Kriegsbildern nicht an die Zensurvorgaben halten wird, während Paul sich nicht betroffen sieht, 54 Greg Harris. »Compulsory Masculinity, Britain and the Great War: The Literary-Historical Work of Pat Barker«. Critique. Contemporary Studies in Fiction 39 (1998), 290–304, hier 291.
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da er keine Personen, sondern nur Landschaften malt. Allerdings sind auch diese, wie Kit erklärt, menschliche Körper, was Paul unumwunden zugibt: »Yes, I know. Don’t worry, it’s intended. I know what I am doing. It’s the Fisher King. The wound in the thigh […] The point is, the wound and the waste land are the same thing. They aren’t metaphors for each other, it’s closer than that. Anyway, you do the same thing. All these mutilated machines […]«. (Toby’s Room, 234)
Der Verweis auf den Parzivalmythos unterstreicht die Identität von Mensch und Land. Barker nimmt hier die Argumentation wieder auf, die sich zwischen Tonks und Kit entwickelt hatte. Kit stimmt zu, nur dass seine Maschinen nicht verstümmelt seien; hier scheint der Futurismus durch, den Christopher Nevinson, das historische Vorbild für Kit, vertrat. Eines seiner bekanntesten Kriegsbilder ist La Mitrailleuse, in dem die Bedienungsmannschaft des Maschinengewehrs selbst zu Maschinen geworden ist. Als Kit eines Morgens nicht im Haus ist, betritt Paul dessen Atelier und sieht, wie weit dieser in seiner Malerei zu gehen bereit ist: No wonder Neville had seemed so preoccupied with what the censor would allow, because he’d been painting the moment of death, the only subject more strongly discouraged than corpses. The figure in the center of the composition was being blown backwards by the force of an unseen explosion, while behind him on the horizon a grotesquely fat sun, a goblin of a sun, was eating up the sky. Paul knew he was looking at the moment of Toby Brooke’s death […]. (Toby’s Room, 254)
Kit hat nur Details verändert. Der Soldat im Bild wird durch eine Explosion getötet, statt sich selbst zu erschießen. Damit schließt sich Kit der offiziellen Version von Tobys Tod an, die von einer totalen Zerstörung des Körpers durch einen Granattreffer ausgeht. Ob dies impliziert, dass Kit seinen Frieden mit dem verhassten Offizier gemacht hat, oder ob er nur eine häufigere und typischere Todesart gewählt hat, um seinem Bild Allgemeingültigkeit zu verleihen, bleibt offen. Dieses Bild ist ein noch stärkerer Tabubruch als der des historischen Nevinson, der unter dem Titel Paths of Glory zwei tote britische Soldaten in einem Graben darstellte. Als die Zensur das Bild verbot, stellte Nevinson es trotzdem aus und überklebte die Leichen mit einem Streifen Papier, auf dem »censored« stand. Dieses Gemälde wurde zur Sensation der Ausstellung.55
55 Harries, The War Artists, 45; Haycock, A Crisis of Brilliance, 273, und Gough, A Terrible Beauty, 106.
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Im Verlauf des Wochenendes entschließt sich Kit, die Wahrheit über Tobys Ende zuzugeben, nachdem er vorher immer behauptet hat: »What happens out there stays out there« (Toby’s Room, 135). Damit greift er einen Soldatenmythos des Ersten Weltkriegs auf, dass die Frontrealität so vollkommen andersartig ist, dass die Zivilisten zuhause unfähig seien, sie zu begreifen. Pat Barker bestätigt selbst, dass der zweite Mann ihrer Großmutter, für sie einfach der »grandfather«, erst an seinem Lebensende über seine Erlebnisse im Ersten Weltkrieg gesprochen habe: »They were so horrific that he didn’t want to tell them before then.«56 Paul gibt diese Fakten leicht redigiert, d. h. ohne die Rolle Kits zu erwähnen, an Elinor weiter, die ihrer Mutter auch diese abgemilderte Form ersparen will. Wenigstens kann sie nun selbst einen Abschluss finden und ihre Trauerarbeit beginnen. Und sie findet immer mehr Sinn in ihrem Job als Illustratorin im Queen’s Hospital, der auch dadurch wichtiger wird, dass man Tonks nach Frankreich an die Front schickt. Außer ihr arbeiten nun nur noch zwei Personen ohne anatomische Kenntnisse an der gleichen Aufgabe, nämlich der Aquarellist Daryl Lindsay und Lady Scott, die Witwe des Polarforschers (Toby’s Room, 196), sodass Elinor mit ihrer doppelten Ausbildung besonders wichtig wird.
Noonday 2015 hat Barker mit Noonday den Parallelromanen einen dritten Teil hinzugefügt, der die drei Hauptfiguren Elinor Brooke, Paul Tarrant und Kit Neville in den Zweiten Weltkrieg versetzt. Elinor hat inzwischen Paul geheiratet, während Kit Elinors Freundin, die deutschstämmige Catherine Stein, geehelicht hat. Sie lebten beide nach dem Ende des »Great War« in Deutschland und den USA, haben eine Tochter Anne, sind aber inzwischen geschieden, und Kit ist allein nach London zurückgekehrt. Damit führt Barker die Logik der Figurenkonstellation aus Life Class und Toby’s Room fort, während das Leben der historischen Vorbilder Dora Carrington, Paul Nash und Chris Nevinson weitgehend anders verlief. Dora hat spät einen gewissen Ralph Partridge geheiratet, ist ihrem Bloomsbury-Freund Lytton Strachey aber eng verbunden geblieben und hat nach dessem Tod 1932 Selbstmord begangen.57 Nash hatte schon zu Beginn des Ersten Weltkriegs eine andere Frau geheiratet, mit der er bis 1939 in London lebte und dann nach Oxford umzog, weil sie sich vor den deutschen Bombenangriffen fürchtete. Im Gegensatz zu Elinors und Pauls Haus überstand ihres den Krieg aber unbeschadet. Chris Nevinson war ebenfalls
56 »Pat Barker«, Perry (Hg.), Backtalk, 47, genereller dazu Löschnigg, »›…the novelist’s reponsibility to the past‹«, 224. 57 Jane Hill. The Art of Dora Carrington. London: Herbert Press, 1994, 131f.
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verheiratet und starb wie Nash erst 1946; im Roman kommt er als Ambulanzfahrer 1940 bei dem großen Angriff der Luftwaffe auf London am 29./30. Dezember 1940 um. Barkers Malertrio sieht sich wie im »Great War« mit dem Krieg und seinen Folgen konfrontiert, dieses Mal aber nicht an der Front, sondern im London des »Blitz« von September 1940 bis in die frühen Tage des Folgejahrs. Paul ist offizieller »war artist« im Auftrag des Ministry of Information und seines War Artists Advisory Committee (WAAC) unter der Leitung von Kenneth Clark, des Direktors der National Gallery, das von Anfang an die Absicht verfolgte »to make an artistic record of the war in all its aspects«, und zwar weitgehend ohne propagandistiche Absichten.58 Das WAAC bezahlt Paul auch ein eigenes Atelier. Elinor erhält ebenfalls einen Auftrag dieses Gremiums, aber nicht mit fester Anstellung, sondern nur für einzelne Bilder, eine gängige Praxis des WAAC, für Elinor aber der Beweis der Geringschätzung weiblicher Künstler. Sie erhält die Weisung, die Sicht der Frau in das Projekt einzubringen, was sie spöttisch mit dem Thema der »Land Army« verbindet, in der junge Mädchen bäuerliche Hilfsdienste in Hosen leisteten, für das männliche Publikum, das Frauen nur in Röcken kannte, eine erotische Sensation (Noonday, 171). Kit Neville, durch sein historisches Vorbild Nevinson wohl der bekannteste britische »war artist« des Ersten Weltkriegs, arbeitet zwar im Ministry of Information, wird aber trotz aller seiner Bestrebungen nicht zum Kriegsmaler ernannt; auch dem historischen Nevinson blieb diese Bestallung versagt, weil Kenneth Clark ihn nur als »painter«, nicht aber als »artist« einschätzte.59 Nevinson konnte aber wegen seiner Beziehung zum britischen Bomberkommando Bilder von Flugzeugen, Flakstellungen und Flughäfen anfertigen und an die Royal Air Force verkaufen, so The Return mit drei Spitfires über einer typischen englischen Landschaft mit Wiesen und Hecken, oder All Safely Returned mit Bombern über einer ähnlichen Landschaft.60 Im Roman malt Kit nicht mehr, sondern wird zum Kritiker, Essayisten und Schriftsteller, eine Entwicklung, die Nevinson schon in den dreißiger Jahren vollzog.61 Kit im Roman ist ein gefürchteter Kunstkritiker, der die Werke der offiziellen »war artists« in seiner ätzenden Weise bespricht. Er hält, wie er in einem Gespräch mit Paul klarmacht, nichts von den bekanntesten Vertretern dieser Gruppe: [Henry] Moore, [Graham] Sutherland, [John] Piper – »all rubbish« und Laura Knight – »poisonous old bat«,62 ganz der alte Kit aus Toby’s Room, der niemanden außer sich selbst gelten lässt. Der Roman bringt im 58 Harries, The War Artists, 160ff.; Richard Knott. The Sketchbook War: Saving the Nation’s Artists in World War II. Stroud: The History Press, 2014, 16. 59 Michael J. K. Walsh. Hanging a Rebel. The Life of C. R. W. Nevinson. Cambridge: Lutterworth Press, 2008, 291f. 60 Ebd., 291. 61 Ebd., 264. 62 Pat Barker. Noonday. London: Penguin, 2016, 80.
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Wechsel der Perspektiven alle drei Maler, ihre Probleme und Ansichten zur Geltung und beginnt im Hause von Elinors Schwester Sarah auf dem Land südöstlich von London mit sonnig-warmen Herbsttagen; nur die Flugzeuge am Himmel und gelegentliches Flakfeuer aus den angrenzenden Marschen halten den Krieg gegenwärtig. Das genaue Zeitschema ist nur generell durch die Phasen des Luftkriegs um London fixiert, lediglich die Tagebucheintragungen Elinors sind exakt datiert. Die Familie wartet auf den Tod der Mutter, die noch immer unter dem Verlust Tobys im Ersten Weltkrieg leidet und prompt ihren Enkel Alex mit dem verstorbenen Sohn verwechselt. Elinors Bruder ist auch in einem großen Portrait in der Eingangshalle gegenwärtig, das aber von einem fiktiven drittklassigen Maler »Nigel Featherstone« stammt, den auch Paul verachtet (Noonday, 35); ihr eigenes Bild des Verstorbenen, künstlerisch viel anspruchsvoller und dem Leser von Toby’s Room vertraut, hat man nicht für würdig genug empfunden, obwohl inzwischen drei ihrer Bilder in der Tate Gallery hängen, sie also eine anerkannte Künstlerin ist. Während des Besuchs von Alexander wird das Haus von einem deutschen Flugzeug angegriffen und der Neffe wirft sich im Garten mit seinem Körper über Elinor, um sie zu schützen. Wenig später beobachtet die Familie eine riesige Flotte deutscher Bomber im Anflug auf London, wohl der berüchtigte Großangriff der Luftwaffe auf die englische Hauptstadt vom »Black Sunday«, dem 07.09.1940, um die Bombardierung Berlins durch die RAF zu rächen.63 In Sarahs Familie lebt seit einem Jahr ein evakuierter Junge aus den Londoner Slums, Kenny, der auf diesen Angriff hin, dessen Brandlichter bis Brighton sichtbar waren, unbedingt zu seiner Mutter und seinen Geschwistern in die Docklands zurück will; auf sein Drängen übernimmt Paul Tarrant diese Aufgabe, zum guten Teil auch wegen seines schlechten Gewissens über sein eigenes Verhalten als Kind gegenüber seiner psychisch kranken Mutter, die schließlich Selbstmord begangen hatte (Noonday, 86). Paul findet mit Kennys Hilfe tatsächlich die ausgebombte Familie, die provisorisch in einem Schulkeller unterkommt, um später aufs Land evakuiert zu werden. Bevor die Busse dafür bereitgestellt sind, zerstört ein Volltreffer die Schule und alle Insassen des Kellers kommen ums Leben. Barker greift hier eine historische Katastrophe auf, bei der im Keller der Hallsville School zahlreiche Bombenopfer umkamen. Nur 70 Tote konnten identifiziert werden, aber etwa 200 Personen sollen sich in der Schule befunden haben.64 Paul plagen intensive Schuldgefühle, die sich noch steigern, als eine wildfremde Frau ihm ein Kind beschreibt, das angeblich hinter ihm steht und Kenny ähnelt, obwohl dort niemand zu sehen ist. Diese Frau, Bertha, ist ein Medium, das mit ihren angeblichen Botschaften aus dem Jenseits ihr Brot verdient, aber trotz allen Schwindels 63 Juliet Gardiner. Wartime. Britain 1939–1945. London: Headline Publishing, 2005, 332. 64 Ebd., 339f.
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tatsächlich parapsychologische Fähigkeiten besitzt. Sie sagt nach ihrer Rettung aus ihrer zerbombten Wohnung durch Paul ihm auch seine außereheliche Affäre mit einer Kollegin aus der Arbeit als Air Raid Precaution Warden auf den Kopf zu, obwohl sie von diesem Seitensprung keine Ahnung haben kann. Durch Pauls Arbeit als ARP Warden und das Engagement von Elinor und Kit als freiwillige Ambulanzfahrer (der historische Nevinson hatte sich auf der Basis seiner Arbeit beim Roten Kreuz im Ersten Weltkrieg für diesen Job beworben, war aber abgelehnt worden, und engagierte sich dann als Krankenträger)65 erlebt der Leser den deutschen Bombenkrieg und seine Folgen für die Londoner Zivilbevölkerung intensiv mit. Die zerstörten Städte – neben London vor allem Coventry, aber auch Bristol, Liverpool und andere Industriezentren und Häfen – nehmen 1939–45 die gleiche zentrale Symbolrolle ein wie der Schützengraben im »Great War«.66 Neben der Rettung Berthas, die eingeklemmt in ihrer Dachkammer liegt und wegen ihrer Leibesfülle nur mühsam über die verschüttete Treppe hinuntergebracht werden kann, ist die Entdeckung eines alten Ehepaars, das ohne äußere Verletzungen wohl an Schock gestorben ist, aber friedlich nebeneinander im Bett auf dem Rücken liegt und sich unter der Decke die Hände gegeben hat (Noonday, 178) ein einschneidendes Erlebnis und der Gegenpol zur Ehekrise zwischen Elinor und Paul. Schließlich gipfelt dies in Pauls eigener Verschüttung nach einem Bombentreffer im Hause Kit Nevilles, der als Rivale um Elinor droht, ihm mit einem Ziegelstein den Schädel einzuschlagen. Das Atelier und das Haus des historischen Nevinson wurden tatsächlich von Bomben zerstört.67 Elinor ist tief betroffen vom Schicksal einer alten Nachbarin vom Bedford Square, die eine Zeitlang den gleichen Luftschutzbunker wie sie besuchte und immer ihre Schmuckkassette auf dem Schoß hielt. Nach einem Volltreffer ihres Wohnhauses werden zwar sie, ihre Tochter und Schwiegertochter, aber nicht die sechsjährige Enkelin Olivia gerettet, die alle früheren Schrecken der Bombenangriffe tapfer ertragen hatte. Kit trägt das tote Kind, das ihn auch wegen einer Zahnlücke an seine eigene Tochter erinnert, in seinen Armen zum Krankenwagen. Auch die zahlreichen Brände, die sich vom Pool von London bei jedem neuen Angriff immer weiter nach Westen ausbreiten – auch die National Gallery, die Houses of Parliament und der Buckingham Palace wurden getroffen – und die wunderbarerweise Saint Paul’s Cathedral verschonten, erleben die drei Künstler im Rahmen ihrer Einsätze. Ausgerechnet der historische Nevinson hat mit The Fire of London, December 29th, 1940 die brennende Stadt mit der unbeschädigten Kuppel der Kathedrale im Hintergrund gemalt, ein Denkmal für das zweite große Feuer 65 Walsh, Hanging a Rebel, 287f.. 66 Harries, The War Artists, 181; Brian Foss. War Paint. Art. War. State and Identity in Britain, 1939–1945. New Haven: Paul Mellon Centre for Studies, 2007, 33. 67 Walsh, Hanging a Rebel, 290.
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von London nach dem von 1666.68 Dieses Bild hat das WAAC sogar gekauft. Elinor erlebt auf einer nächtlichen Sankafahrt eine Herde in Panik ausgebrochener Pferde, wegen ihrer Größe sicher Shire Horses, die ihr mit brennenden Mähnen und Schweifen entgegengaloppieren. Dieses Erlebnis setzt Elinor nicht malerisch um, ist aber etwa mit Priscilla Thornycrofts Runaway Horse in an Air Raid Alarm oder Carol Weights Escape of the Zebra from the Zoo during an Air Raid vergleichbar.69 Es sind immer unschuldige Opfer, generell die Zivilbevölkerung, aber vor allem die Kinder und Tiere, die am meisten unter dem Krieg leiden. Aber auch banale und komische Epidoden erleben die drei Maler, wie das absurde, aber angeblich effektvolle Verfahren, eine deutsche Brandbombe unter dem »tin hat«, den jeder ARP Warden trug, zu ersticken. Pauls und Elinors Londoner Haus wird schwer getroffen und ist unbewohnbar: dass dabei alle Uhren stehen bleiben, ist für Paul ein Zeichen, dass nun seine eigene Zeit auch abgelaufen ist. In Gewissheit seines baldigen Todes (Noonday, 137) beginnt er eine Affäre mit einer Kollegin, die ihm eigentlich nichts bedeutet, die aber Elinor zufällig entdeckt und die zu einer schweren Ehekrise führt. Kit nützt diese Trennung, an ihre gemeinsame Vergangenheit aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg anzuknüpfen; symbolträchtig lebt Elinor nur zwei Häuser weiter von ihrer alten Wohnung in der Gower Street aus ihrer Zeit an der Slade School und trifft sich mit Kit wieder im Park von Russell Square, wobei man sich an die warme Limonade erinnert, die man damals getrunken hat. Elinor schläft einmal mit Kit, empfindet dies aber nachträglich als Verrat an Toby, weil Kit dessen homosexuelle Neigung an die Leitung der Einheit verraten hatte, und wird von dem betrunkenen Jugendfreund bei nächster Gelegenheit vergewaltigt. Elinor malt die tote Olivia und eine Gruppe von Kindern, die sich tagsüber vor einem U-Bahneingang anstellen, um für die Familie einen sicheren Platz in der Tiefe der Station zu reservieren. Ein ähnliches Motiv ist von Evelyn Dunbar mit The Queue at the Fish Shop realisiert worden.70 Erst ab 1941 wurden Karten für die Tube Stations ausgegeben, so dass das Anstehen überflüssig wurde.71 Das WAAC lehnt beide Gemälde ab, obwohl Elinor meint, dass gerade diese Kinderbilder der Evakuierungspolitik der Regierung entgegenkommen müssten. Angeregt durch die Ruine ihres eigenen Hauses, an dem sie sehr gehangen hat und durch dessen Zerstörung sie auch alle ihre alten Bilder verloren glaubt, beginnt sie dann das massiv zerstörte Gebäude und auch andere Bombenruinen zu zeichnen, womit sie, ohne es zu ahnen, ein Programm des WAAC vorwegnimmt, für das vor allem Vivian Pitchforth, John Piper und Graham Sutherland eingesetzt wurden.72 So 68 Gardiner, Wartime, 360ff.; Harries, The War Artists, 162; Walsh, Hanging a Rebel, 294. 69 Kathleen Palmer. Women War Artists. London, 2011, 59; Foss, War Paint, 41. 70 Palmer, Women War Artists, 37. 71 Gardiner, Wartime, 378. 72 Harries, The War Artists, 186ff.
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entstand etwa ein Bild der noch rauchenden Ruine der Kathedrale von Coventry oder der zerbombten Räume des House of Commons. Elinors weibliche Seite kommt eventuell in der Vorliebe für Pflanzen und Blumen zum Tragen, die sie schon nach kurzer Zeit in den Mauerritzen oder Regenrinnen der Ruinen entdeckt. Welche Themen Paul in seinem Atelier aufgreift, verschweigt Barker; wie der historische Nevinson hat sein Vorbild Nash Flugzeuge als Themen bevorzugt, da diese im Zweiten Weltkrieg die für England zunächst dominante Waffengattung bildeten und Nash den Maschinen die Hauptrolle im neuen Krieg zuwies.73 In seinen symbolträchtigen Bilder belebt Nash die Flugzeuge, die er je nach Typ und Hersteller mit Tieren vergleicht: die Taube, der Killerwal, der Hai oder der Pterodaktylus, ein prähistorischer fleisch-fressender Flugsaurier, »an entire species of airborne beasts«. Die RAF, die realistische Detailtreue erwartete, löste zunächst den Vertrag.74 Sie werden im Roman nicht erwähnt, ebensowenig seine Gemälde von abgestürzten deutschen Flugzeugen, die in typischen englischen Landschaften gestrandet sind,75 aber wenig Begeisterung beim WAAC und der RAF erweckten. Eine Ausnahme davon war Totes Meer, ein Gemälde von abgeschossenen Maschinen der Luftwafffe auf einem Schrottplatz in Cowley bei Oxford, die auf die Wiederverwertung durch eine benachbarte Flugwerft warten. Das Trümmerfeld gleicht einer »lifeless metallic sea« im Mondlicht der Nacht; das einzig Lebendige ist eine Eule.76 Explizit nennt der Text eines der bekanntesten Bilder Nashs, Battle of Britain, das Tarrant im Rahmen einer der regelmäßigen Ausstellungen der »war artists« in der National Gallery präsentiert. Dieses Museum hatte seine Bilder rechtzeitig zu Kriegsbeginn ausgelagert und konnte deshalb für neue Ausstellungen und Konzerte genützt werden. Die erste Ausstellung der »war artists« fand tatsächlich 1940 statt.77 Nashs Bild, das in Wirklichkeit erst 1941 entstand,78 zeigt aus der Vogelperspektive die Themsemündung und (geographisch falsch) dahinter die französische Küste, von der sich große Geschwader deutscher Flugzeuge in militärisch strenger Formation nähern. Im Vordergrund sieht man Fesselballone, die Fallschirme abgesprungener Piloten und die Rauchfahne eines brennenden Fliegers.79 Hinter ihnen breiten sich die Kondensstreifen gerade beendeter Kämpfe 73 Andrew Causey. Paul Nash: Landscape and the Life of Objects. Farnham: Lund Humphries Publishers, 2013, 134. 74 Harries, The War Artists, 178; Roger Cardinal. The Landscape Vision of Paul Nash. London: Reaktion Books, 1989, 100; Paul Gough. Brothers in Arms. John and Paul Nash and the Aftermath of the Great War. Bristol: Sansom Limited, 2014, 103f. 75 Anthony Bertram. Paul Nash: The Portrait of an Artist. London: Faber and Faber, 1955, 272. 76 Harries, The War Artists, 178; Cardinal, The Landscape Vision of Paul Nash, 101; Causey, Paul Nash, 137; Gough, Brothers in Arms, 103ff. 77 Knott, The Sketchbook War, 77. 78 Bertram, Paul Nash, 277. 79 Gough, Brothers in Arms, 105.
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britischer Jagdflugzeuge am Himmel aus, die eine frühere Welle von Angreifern zurückgeschlagen haben. Diese ornamental und pflanzlich anmutenden Streifen nehmen auch die (geographisch ebenfalls inkorrekte, aber symbolisch wichtige) mäandernden Flussschlingen der Themse auf und kontrastieren mit der geometrisch-mechanischen Anordnung der deutschen Bomber am Himmel.80 Auf die »vapour trails« der Jagdflieger spielt Kit an, als er Pauls Bild doppeldeutig sowohl als »vapours« als auch »vapid« (i.e. schal, leer, flach) bezeichnet (Noonday, 77). Der Roman endet mit einer vorsichtigen Annäherung von Elinor und Paul und der Entdeckung, dass Kenny nicht wie angenommen im Schulkeller umgekommen ist, sondern in Kent eine neue Heimat und einen Job bei einem Bauern gefunden hat, für den er auf einem Londoner Markt Gemüse verkauft. Aus dem verlausten Straßenjungen ist ein tüchtiger junger Mann geworden, ein positiver Gegenpol zur toten Olivia. Mit Life Class, Toby’s Room und Noonday spielt Barker das gleiche Thema wie in Double Vision in individueller, gendertypischer und historischer Variation durch. Die Diskussion von Krieg und medialer Darstellung in Double Vision ist dem heutigen Leser aufgrund seiner zeitgenössischen Erfahrungen von Pressefotografien und TV-Präsentationen direkter zugänglich, die Diskussion am Beispiel der »war artists« aus dem beiden Weltkriegen aber nur scheinbar historisch entrückt. Wie der Erfolg auch der Regeneration Trilogy bewiesen hat, ist vor allem der Erste Weltkrieg gerade für die englische Öffentlichkeit noch immer sehr präsent und aktuell, nämlich »the recurrent concern with national myths and public memory.«81 Zudem hat der kulturell interessierte Leser die Möglichkeit, die Bilder Elinors, Pauls und Kits mit den Werken ihrer historischen Vorbilder Dora Carrington, Paul Nash, Christopher Nevinson oder auch anderer »war artists« wie Orpen, Gertler, Spencer, Lewis und sogar Tonks zu vergleichen. Für den Zweiten Weltkrieg ist hier auch an Henry Moore, Graham Sutherland, John Piper oder Laura Knight zu denken. Verschiedene von ihnen haben noch eine lange Karriere erlebt und sind in vielen Museen ausgestellt beziehungsweise auch in Bildbänden gegenwärtig. Im Kontext der beiden Weltkriege gibt auch das Imperial War Museum in London einen guten Überblick.
80 Cardinal, The Landscape Vision of Paul Nash, 102; M. R. D. Foot. Art and War: 20th Century Warfare As Depicted by War Artists. London: Headline Book Publishing, 1991; Foss, War Paint, 35. 81 Brannigan, »An Interview with Pat Barker«, 368.
Serge Schmid
How to Build a Soldier? Soldatenkonstruktionen in Uwe Timms Morenga
Von 1904 bis 1907 dauerte der Aufstand der Herero und Nama gegen die Bedingungen der Herrschaft des Deutschen Reiches in Deutsch-Südwestafrika. Für die deutsche Kolonialmacht war dies der erste Kolonialkrieg, in dem sich ihre Truppen beweisen mussten. Am Ende, d. h. nach der Zerschlagung des Aufstandes, waren zwischen 30.000 und 75.000 Eingeborene umgekommen, das waren etwa die Hälfte oder sogar zwei Drittel der einheimischen Bevölkerung. In diese Opferzahlen gehören nicht nur männliche Eingeborene, sondern auch Frauen und Kinder.1 Bereits 1904 erließ der später abgesetzte Oberkommandierende General von Trotha ein Dekret, in dem er einen ›allgemeinen Schießbefehl‹ auf alle Angehörigen der aufständischen Stämme befahl.2 Aufgrund der mannigfachen rasanten geschichtlichen Veränderungen in und um Deutschland konnte die Kolonialgeschichte nie aufgearbeitet werden. Besonders nach dem Zweiten Weltkrieg musste gerade der Umgang mit Juden im Nationalsozialismus als kollektives Trauma verarbeitet und aufgearbeitet werden. Erst 1978 wurde in einem ersten Versuch die Aufarbeitung der Kolonialgeschichte unternommen. Uwe Timm veröffentlichte seine literarische Beschäftigung mit diesem Thema in seinem Roman Morenga. Dieser Beitrag widmet sich der literarischen Verarbeitung in Hinblick auf die Darstellung der Soldaten. Er tut dies in drei Schritten. Im ersten Schritt versucht diese Arbeit, den deutschen Soldaten um die Jahrhundertwende bzw. in der Gestalt als 1 Udo Kaulich. Die Geschichte der ehemaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika (1884–1914). Eine Gesamtdarstellung. 2. Aufl. Frankfurt/Main: Peter Lang, 2003, 247–267. 2 S. dazu das Originaldokument: http://www.bundesarchiv.de/oeffentlichkeitsarbeit/bilder_dokumente/00663/index-14.html.de und http://www.bundesarchiv.de/oeffentlichkeitsarbeit/bilder_dokumente/00663/index-15.html.de.
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Kolonialangestellten zu beschreiben. Sie stützt sich dabei vor allem auf entsprechende Beiträge der neueren Geschichte. Eine solche Darstellung kann jedoch notwendig nur Stückcharakter haben. Das Problem fußt in einer bisher ausgebliebenen Bearbeitung soziologischer Ansätze zu diesem Thema aus dieser Zeit. Soziologische Untersuchungen dieser Form wurden erst am Ende des Ersten Weltkrieges vorgenommen, hauptsächlich an Teilnehmern des Stellungskrieges in Europa. Dieser brachte jedoch so elementar neue Erfahrungen, dass eine einfache Übertragung sich kaum als zweckdienlich erweisen dürfte. Im zweiten Schritt wird das Verhältnis von geschichtlicher und fiktionaler Wirklichkeit in Timms Werk untersucht. Dieser Abschnitt beschränkt sich auf die wenigen literaturwissenschaftlichen Arbeiten, die sich diesem Thema zugewandt haben. Vor allem soll damit dem Problem der ›Quellenlage‹ begegnet werden. Timm verarbeitet in seinem Roman auch historische Quellen, jedoch hat er auch Abschnitte in seinem Roman quasi historisch gestaltet, wodurch einige Interpretationsschwierigkeiten entstanden sind. Im dritten Schritt werden die Soldatenkonstruktionen in Morenga untersucht. Besonders die beiden Veterinäre Gottschalk und Wenstrup wurden in wissenschaftlichen Arbeiten in Blick genommen. Diese Arbeit möchte jedoch auch die Darstellungsweise anderer ›Soldaten‹ beleuchten. Dazu gehören u.a. General v. Trotha und Rittmeister von Treschkow, aber auch die ›Aufständischen‹, vertreten in der Person des Morenga, dem ›Titelhelden‹.
Der (wilhelminische) Soldat um 1900 Die Geschichte Preußens ist eng verknüpft mit der Entstehung seiner Militärmacht. Der damalige und letzte deutsche Kaiser Wilhelm II. war bestrebt, das eher agrargeprägte Preußen als gleichgestellten Partner unter die ›Führungsstaaten‹ Europas (z.B. Frankreich und England) zu führen. Um sich als gleichwertig zu beweisen, baute Wilhelm vor allem die Schwerindustrie in rasanter Geschwindigkeit aus. Mit diesem Ausbau ging auch ein Ausbau vor allem der Waffen- und Kriegsschiffproduktion einher. Die Kriegsschiffe sollten in erster Linie der englischen Flotte die Stirn bieten und den Anspruch Preußens auf Kolonien sichern. Dieser Anspruch Kaiser Wilhelms wird heute mit der berühmt berüchtigten Formel eines »Platzes an der Sonne«3 verbunden. Diese Einstellung trug jedoch nur ein bestimmter Teil der Bevölkerung in der sozial-hierarchischen Struktur Deutschlands.4 In der Sozialstruktur der Armee 3 Der Ausspruch stammt eigentlich aus einer Reichstagsdebatte, getätigt wurde er von Reichskanzler Bernhard von Bülow am 06.12.1897. 4 Die folgende Darstellung folgt Christoph Jahr. Gewöhnliche Soldaten: Desertion und Deserteure im deutschen und britischen Herr 1914–1918. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1998 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; 123), 57–65.
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sucht man deshalb vergeblich nach einer Entsprechung des gesellschaftlichen Aufbaus. Das Offizierskorps setzte sich 1913 vor allem aus Beamten und Angehörigen des Bürgertums mit einem Anteil von 40% zusammen. Der Anteil des Adels betrug, trotz aller Kritik und damit verbunden der Forderung nach Reformen, noch immer 30%. Besonders der ›Generalsstand‹ setzte sich zu über 60% aus adligen Personen zusammen.5 Das Aufnahmekriterium überhaupt, die Bildung, wurde so hoch gesteigert, dass nur ein Schluss zu ziehen ist: Das Offizierkorps spiegelt recht gut den für das Kaiserreich insgesamt kennzeichnenden »Klassenkompromiß« zwischen Adel und Bürgertum zu Lasten der übrigen Bevölkerung wider, wobei der Wertkodex des Adels mit seinen Begriffen von Treue, Pflicht, Dienst und Gehorsam über die bürgerlichen Werte gesiegt hatte.6
In diesem Rahmen ist auch ein Bild des deutschen Offiziers zu konstatieren. Den sehr knappen Ausführungen Jahrs zum Bild des »alten Frontoffiziers« lässt sich folgendes entnehmen: Der »Frontoffizier« entstammt dem Bürgertum, er war »personal an den Monarchen gebunden«, dieser wiederum stand für den »sozialgesellschaftlichen Status quo.«7 Auf der anderen Seite wurde der Offizier wohl auch als Vorbild wahrgenommen, sein jetziger Status als erreichbar und wünschenswert verstanden.8 Jedoch wird das Bild auch schon in dem Zeitraum vor 1914 im Wandel begriffen gewesen sein. In der Einführung des Exerzier-Reglements von 1906 wird ein kurzer Abriss der Umwandlung der preußischen bzw. deutschen Infanterie von der Linienformation hin zur Auftragstaktik gegeben. Diese Umwandlungen zeichneten sich schon in dem Reglement von 1812 ab und wurden über die Reglements von 1847 und 1888 bis 1906 verfestigt. Es ist anzunehmen, dass die Niederschrift im Reglement eher das Ende als den Anfang eines Prozesses bzw. seine offizielle Fundamentierung im gesamten Heer markiert. Für die Entwicklung eben jener Auftragstaktik ist auch die Auseinandersetzung Englands mit den Buren nicht zu unterschätzen. Gerade die Erfolge der Buren über die Engländer, indem sie sich einzeln im Feld bewegten und (eben) nicht ›in Linie‹ zur offenen Feldschlacht stellten, ließ den deutschen Generalsstab noch intensiver an der Umsetzung der Auftragstaktik arbeiten.9 5 Diese Zahlen sind gewiss auch auf frühere Zeitpunkte anwendbar, auch wenn es keine entsprechenden Arbeiten dazu gibt. 6 Jahr, 59. 7 Ebenda, 60. 8 Klaus Theweleit. Männerphantasien. Bd. 2: Männerkörper – zur Psychoanalyse des Weißen Terrors. Frankfurt/Main: verlag roter stern, 1978, 202. 9 Siehe dazu besonders Dieter Storz. Kriegsbild und Rüstung vor 1914. Europäische Landstreitkräfte vor dem Ersten Weltkrieg. Herford u.a.: Mittler, 1992 (Militärgeschichte und Wehrwissenschaften), 79–92.
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Daher ist auch für die deutsche Schutztruppe Deutsch-Südwestafrika bereits ein verändertes Bild anzunehmen. Aufgrund des Gefüges der Auftragstaktik mit ihren neuen Konzepten, Taktiken und Vorstellungen von Kampf, besonders hervorzuheben auch die Vereinzelung des Soldaten auf dem Feld und eine höhere Selbstständigkeit in (genau) diesem, bot sich das alte Frontoffiziersbild wohl nicht mehr als Identifikationsbild an. Unter diesen Voraussichten ist auch für Mitglieder der Schutztruppe bereits ein, wahrscheinlich noch nicht sehr gefestigtes und ausdifferenziertes, Idealbild von »charismatischem Führertum und freiwilliger Gefolgschaft«10 anzunehmen. Die Zusammensetzung der Unteroffiziere und der Mannschaftsdienstgrade ergibt kein völlig anderes Bild. Die Unteroffiziere setzten sich meist aus Vertretern des Kleinbürgertums zusammen, denen nach ihrer Dienstzeit eine Übernahme in den Staatsdienst, z.B. als Polizeibeamte, versprochen war. Sie wurden zudem aus recht eng umrissenen »wenig staatstragenden Regionen«11 rekrutiert. Ihre Aufgabe in der Armee war die »eines treuen Gehilfen der Offiziere. Letztere erteilten Befehle, die Unteroffiziere sorgten dafür, daß sie befolgt wurden.«12 Obwohl die allgemeine Wehrpflicht bestand, wurde nur etwa die Hälfte der männlichen Bevölkerung dafür herangezogen. So repräsentiert die Zusammenstellung der Mannschaftsdienstgrade etwa die Hälfte der männlichen Bevölkerung, auch wenn »die ländliche Bevölkerung überrepräsentiert war.«13 Auch Sozial- und Berufsstruktur der Wehrdienstleistenden ergibt wohl kein Abbild der Struktur der Bevölkerung, da besonders als illoyal verdächtige Bevölkerungsgruppen von der Armee ferngehalten werden sollten.14 Jahr vermutet jedoch, dass besonders Soldaten aus der Arbeiterschaft mit etwa zwanzig Jahren die Hauptstütze der Mannschaftsgrade der Armee bildeten. Eine solche Bevorzugung wäre, so Jahrs Vermutung, verständlich, da ihre bisherigen sozialen Erfahrungen von Disziplinierung durch Elternhaus und Schule sie sich vergleichsweise leicht in die Struktur der Armee einfinden lässt.15 Zugleich war diese Bevölkerungsgruppe jedoch auch geradezu prädestiniert, sich in einer hierarchisch strukturierten Großorganisation einzurichten und geeignete Formen von Alltagswiderstand gegen Autoritäten und für eigene Gruppeninteressen zu organisieren.16 Auch wenn es in den bisher genannten Schriften kein explizites Bild des Mannschaftssoldaten gibt, lassen sich einige Vermutungen vornehmen. Zum einen wurden die ›Unteroffiziere‹ wohl als ›Sprachrohre der Offiziere‹ wahrgenommen. Zum anderen blieb ihr Rang, zumindest für denjenigen, der
10 Jahr, 60. 11 Ebd., 63. 12 Ebd. 13 Ebd., 64. 14 Ebd. 15 Ebd., 65. 16 Ebd.
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gerade die Ausbildung und den Drill absolvierte, unerreichbar, wodurch die Härte des Vorgesetzten eine einzige »Schinderei«17 wurde. Was für ein Bild über die Mannschaftsgrade existierte, lässt sich nur ex negativo erschließen. Es kann angenommen werden, dass der ›einfache Soldat‹ als das zu drangsalierende Objekt des Unteroffiziers wahrgenommen wurde. In dieser Funktion übernahm er ausschließlich eine Opferrolle. Jedoch war die Laufbahn auch verheißungsvoll, war sie doch der ›vermeintliche Schlüssel‹, um Offizier zu werden. Exkurs An dieser Stelle der Betrachtungen scheint es angebracht, einen kleinen Exkurs einzuschieben. 2008 veröffentlichte Jens Warburg eine soziologische Studie (diese war zugleich seine Dissertation) unter dem Titel Das Militär und seine Subjekte.18 In dieser Studie verfolgt er vor allem eine These: Die Subjektivität von Soldaten ist augenscheinlich immer gleich geblieben, ob man nun als Teil einer Linienformation marschiert und sich hier an seinem Platz ›behaupten‹ muss oder im Rahmen der Auftragstaktik als Individuum auf dem Gefechtsfeld bewegt – Subjektivität des Individuums ist immer gegeben. Der Unterschied liegt in der Eigenverantwortlichkeit. Während in der Linienformation die Verantwortlichkeit darin liegt, den unmittelbaren Kontakt zu dem Nebenmännern zu halten und möglichst in einer Linie dem Feind entgegenzugehen, liegt es im Rahmen der Auftragstaktik in der Verantwortung eines jeden Einzelnen, die Stellung des Feindes unter Ausnutzung aller Möglichkeiten, worunter unter anderem die Ausnutzung von Deckungsmöglichkeiten zu verstehen ist, zu erreichen. Akzeptiert man diesen Schluss, lässt sich behaupten, dass ein vollkommen anderer Umgang mit der individuellen Person erfolgen muss. In der Auftragstaktik sind dann der Offizier und wohl auch die Unteroffiziere viel mehr gefordert, Stärken und Schwächen jedes einzelnen Untergebenen zu kennen. Ebenso ist das Gelingen oder eben auch Nicht-Gelingen jeder Handlung jedes Einzelnen für den Ausgang des Gefechtes entscheidend. Und dieser Aspekt beinhaltet zusätzlich einen fundamental anderen Umgang mit ›Flüchtigen‹. Während früher jemand, der sich von seinen Kameraden entfernt, aufgrund der ›ungeheuren‹ zu führenden Massen kaum ins Gewicht fiel, sofern er ›nur Mannschaftsangehöriger‹ war, ist die gleiche Person im Rahmen der Auftragstaktik ein Deserteur. Der Deserteur begeht jedoch eine vollkommen andere Verfehlung. Er entzieht sich nicht dem Gefecht und begeht damit ein »Vergehen gegen die Dienstpflicht«,19 17 Theweleit, 204. 18 Jens Warburg. Das Militär und seine Subjekte. Zur Soziologie des Krieges. Bielefeld: transcript, 2008 (Sozialtheorie). 19 Jahr, 61.
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sondern ein »Verbrechen gegen die Gefolgschaftspflicht gegenüber dem Führer«.20 Da diese Sichtweise aber eher in die Vorgänge um den Ersten Weltkrieg, also ab 1914 fällt, ist ohne Probleme anzunehmen, dass sie in der Umbruchphase der Armee um 1900 herum nicht voll entwickelt war. Welche spezifische Sichtweise jedoch vorherrschte, ist als unbekannt und offen anzusehen. Das Bild des Soldaten in der wilhelminischen Zeit um 1900 changierte also im Bereich der Offiziere zwischen einer »personal an den Monarchen gebundenen« Person und einer Person, die es selber Wert ist, ihr zu folgen, da sie selber ein »charismatischer Führer« ist. Der empirischen Realität vollkommen widersprechend, da der Zugang in die Offiziersränge streng reglementiert war, wird diese Position wohl auch als die erstrebenswerteste wahrgenommen worden sein – die Position also, der man alle seine Mühen unterwirft. Das Bild des Unteroffiziers wird wohl das eines »Schinders« gewesen sein, der aber zugleich ›Sprachrohr des Offiziers‹ ist. Dieser Rang wird eine ambivalente Haltung hervorgerufen haben. Auf der einen Seite war es der Rang, der dem Offizier am nächsten kommt; damit war er als Kompromiss, sofern einem die Offizierslaufbahn versperrt blieb, (gerade) recht. Auf der anderen Seite war es ein Rang mit dem man bereits so schlechte Erfahrungen gesammelt hatte, dass man ihn gar nicht haben wollte. Er wurde in dieser Deutung vielleicht als eine Art Abstellgleis empfunden. Die Unteroffiziere waren dann nicht viel mehr als verhinderte, nicht zum Offizier taugliche Soldaten. Es kann nur spekuliert werden, dass die Mannschaftsdienstgrade zum einen als Opfer des Drills der Unteroffiziere wahrgenommen wurden und zum anderen als notwendige Stufe, um, der empirischen Realität widersprechend, die angestrebte Position eines Offiziers zu erhalten. Der Exkurs ermöglichte es, Deserteure als eine Gruppe von Soldaten zu beleuchten, die häufig aus nicht-empirischen Arbeiten herausfallen. Man kann mit einiger Sicherheit annehmen, dass das Bild des Deserteurs bzw. der Tatbestand des Desertierens zwischen einem Vergehen und einem Verbrechen schwankte.
Das Problem der Quellenlage Ich habe ja vier Jahre daran gearbeitet, habe also auch lange beim Recherchieren überlegt, welche Methode sich anbietet, ich habe viele Ansätze gemacht, habe versucht, die Stoffmasse beispielsweise rein dokumentarisch zu organisieren. Es ist ja auch ein Nachklang der dokumentarischen Litera-
20 Ebd.
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tur zu spüren, was mich dann aber letztlich nicht interessiert hat und was auch gar nicht das gebracht hätte, was ich eigentlich wollte.21
Dies ist Uwe Timms Selbstbeschreibung zum Verhältnis von Fiktionalität und Historiographie in seinem Werk Morenga. Dies würde bedeuten, dass die von ihm, unter Angabe der Quellen, aufgeführten Textstellen die einzigen historischen Elemente innerhalb seines montageartigen Textes sind. Dann wären diese Stellen auch nichts anderes als 1. der Versuch, eine gewisse zeitliche Abfolge in seinem Roman zu verfestigen und 2. der Versuch, seinem (fiktionalen) Roman eine historiographische Basis zu bieten. Dann wäre jedoch ein Befund, wie ihn Laurien vornimmt, kaum notwendig: Als Vorarbeiten zu Morenga betrieb Timm eingehende historische Quellenstudien und Feldforschungen vor Ort, die er dann durch eigene narrative Passagen ergänzte, oft so u nu nters cheidb ar [Hervorhebung durch Autor] nahe an den historischen Quellen, dass Kritiker von Timm »erfundene« Texte für »authentisch« hielten.22
Schmiedel23 zeigt jedoch in seinem Beitrag, wie groß auch der nicht kenntlich gemachte Anteil an historischem Material in Timms Werk ist. Gerade zur Figurenfindung und Konzeption verwendet Timm offenbar nicht nur den offiziellen Gefechtsbericht des Großen Generalstabes, sondern auch die Aufzeichnungen der Missionare der Rheinischen Missionsgesellschaft. Schmiedel fand neben den 25 Textabschnitten mit Quellenangabe sieben weitere Textauszüge deren Quellen »[…] nicht ohne weiteres einzusehen sind.«24 Außer den Bibelzitaten (Joh. 14, 27 und Ephes. 6, 10.16.17) führt Schmiedel alle überprüfbaren Auszüge in einer Tabelle an, die hier nicht näher erläutert werden soll:25 21 Manfred Durzak. »Die Position des Autors. Ein Werkstattgespräch mit Uwe Timm«. Ders., Hartmut Steinecke (Hg.). Die Archäologie der Wünsche. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1995, 311–354, hier 325. 22 Ingrid Laurin. »Strategien historischen Erzählens. Neuere Romane über die Kolonie Südwestafrika«. Rolf Annas (Hg.). Deutsch als Herausforderung. Fremdsprachenunterricht und Literatur in Forschung und Lehre. Festschrift für Rainer Kussler. Stellenbosch: Sun Press, 2004, 187–200, hier 195. 23 Roland Schmiedel. »Fiktion oder literarische Geschichtsschreibung? Eine Quellenanalyse von Uwe Timms historischem Roman Morenga«. Anette Horn (Hg.). Acta Germanica. German Studies in Africa. Jahrbuch des Germanistenverbandes im südlichen Afrika (Frankfurt/Main u.a.) 35 (2007), 85–101. 24 Ebd., 87. 25 Ebd., 88.
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Die Kämpfe der deutschen Truppen in Südwestafrika, hrsg. vom Großen Generalstabe, Bd. 1, Berlin 1907 Timm S. 33 2004
Helmut Bley, Kolonialherrschaft und Sozialstruktur in DeutschSüdwestafrika 1894 – 1914 Timm S. 42 2004
Die Kämpfe der deutschen Truppen in Südwestafrika, hrsg. vom Großen Generalstabe, Bd. 2, Berlin 1907 S. 8
Reichskolonialakten Conrad R. Rust Krieg und Frieden (RKolA 2089) 1905 Reichskolonialamt S. 385 RKA Nr. 2133
S. 32
S. 32
S. 39
S. 32
S. 42
S. 32
S. 100
S. 33
S. 407
S. 80
Horst Drechsler, Südwestafrika unter deutscher Herrschaft, Berlin 1966, S. 257
Aktenbestand des Gouvernements von Deutsch Deutsch Südwestafrika
Auswärtiges Amt Kolonial- Abteilung KA 10497
S. 43
S. 82
S. 152
S. 151 S. 434
Er führt jedoch aus, dass bei genauerer Betrachtung der Zitate auffällt, wie undurchsichtig die Einbindung ist. Da die Quellenangabe variierend am Anfang oder am Ende eines Zitates erscheint und manchmal auch keine Anführungszeichen verwendet werden, sind die Zuordnungen nicht immer exakt vorzunehmen. Zusätzlich wird der Erzählstil Timms Schreibduktus angepasst. Besonders häufig, so Schmiedel, tritt dies bei den Auszügen des Großen Generalstabes zutage. Besonders deutliche Beispiele sind in den Kapiteln »Nachschub und andere logistische Probleme« (Timm 2004: 41f.), »Gefechtsbericht 2. Die Belagerung von Warmbad« (Timm 2004: 100–106) sowie in »Allgemeine Lage« (Timm 2004: 401–407) zu finden. Ein weiteres, sehr überzeugendes Beispiel findet Schmiedel in dem Kapitel »Vorzeichen«, in dem gar der Auszug aus »Die Kämpfe der deutschen Truppen in Südwestafrika, hrsg. vom Großen Generalstabe, Bd. 2, Berlin 1907« in zwei Nachrichten »gesplittet«26 wird und der Quellennachweis dazwischen platziert ist. Interessanterweise gibt es in der Originalveröffentlichung des Großen Generalstabes sogar eine Bemerkung, die auf einen Veterinär hinweist, »welcher in 26 Ebd., 89.
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das Schutzgebiet Kamele einführt [...]«.27 An solchen Parallelen ist die schwierige Verschränkung von ungenannten historischen Materialien bzw. Anregungen und Fiktion in Morenga augenscheinlich. Auch die Erzählungen der ›Landeskundekapitel‹ sind Erzählungen, die noch heute charakteristisch für die orale Überlieferung in Afrika sind.
Zwischenfazit Aufgrund der Ergebnisse des vorigen Kapitels bezüglich der historischen Quellen und Bezüge Timms lassen sich wichtige erste Schlüsse in Hinblick auf den dritten Teil dieser Arbeit vornehmen. Timm verwendet in seinem Roman mehr historisches Quellenmaterial als dem Leser bewusst werden kann. Er verwendet dieses sogar, um Figurenkonzeptionen vorzunehmen. Schmiedel stellt jedoch auch fest, dass gerade auch die Darstellungen des Großen Generalstabes größerer Bearbeitungen unterworfen sind: Nach der Analyse kann gesagt werden, dass Timm lange Zitate aus dem Großen Generalstab verwendet. In der Originalquelle sind Passagen enthalten – die Timm gestrichen hat – mit vielen Informationen, die geschichtlich nicht unwichtig sind, die er aber nicht zitiert. Darüber hinaus verändert er auch durch Hinzufügungen ganze Abschnitte. Diese historisch belegten Berichte flicht Timm äußerst geschickt in seine Romanhandlung ein. Seine Aussageabsicht ist trotz der wortwörtlichen Übereinstimmungen eine völlig andere als die von den historischen Personen angestrebte.28
Dies lässt vermuten, dass Timms Soldatenkonzeptionen, die in diesem Beitrag in den Blick genommen werden, deutlich an historischem Material orientiert sind. Somit wird eine Aufgabe der Beschreibung der timmschen Soldaten sein, die Gewichtung des historischen Vorbildes vorzunehmen. Es lassen sich also bereits jetzt ganz eindeutig Parallelen zwischen historischen und timmschen Soldatendarstellungen feststellen. Auf der anderen Seite wird immer wieder zu überprüfen sein, sofern Unterschiede auftreten, ob diese an einem Mangel der Soldatenbeschreibung des ersten Kapitels oder an einer Umdeutung durch Timm liegen.
27 Ebd., 92. 28 Ebd.
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Der Roman Morenga Bevor im Anschluss auf die Konstruktion der Soldaten in Uwe Timms Roman eingegangen wird, folgen noch einige Betrachtungen zur Interpretation und Bewertung des Romans in der verwendeten Forschungsliteratur. Es gibt verschiedenste Lesarten, in denen Morenga interpretiert wird. Die für die vorliegenden Überlegungen wesentlichsten sind, dass Morenga einen klassischen deutschen Entwicklungs- und Bildungsroman darstellt, wobei die Kernthese darin mündet, dass der ›Hauptprotagonist‹, der Oberveterinär Gottschalk, einen interkulturellen Lernprozess erlebt bzw. durchlebt.29 Eine andere Interpretationstradition möchte Morenga als einen Post-Kolonialroman lesen. In dieser Lesart wird der Roman als Gegenschrift, in weiterer Form sogar als Richtigstellung der Kolonialromane um die Jahrhundertwende verstanden.30 Eine letzte randständige, aber für diese Arbeit wesentliche Lesart interpretiert Morenga als einen Anti-Kriegsroman, wobei das Hauptaugenmerk hierbei auf dem Begriff und der Auseinandersetzung mit Gewalt liegt.31 In der Methode richtet sich der vorliegende Beitrag nach einem Ansatz, den Sabine Wilke32 nahelegt, wenn sie schreibt: Meine These lautet, daß die Identität von Timms Kolonisten in einem dialektischen Verhältnis zu den Kolonisierten entsteht, denen sie als »Herren« begegnen. Timms Darstellung des kolonialen Alltags ist dabei geleitet durch die Lektüre historischer Quellen und historiographischer Studien, die mit fiktiven und pseudofiktiven Figuren in einen Dialog treten.33
29 S. dazu besonders Rainer Kußler. »Interkulturelles Lernen in Uwe Timms Morenga«. Manfred Durzak, Hartmut Steinecke (Hg.). Die Achäologie der Wünsche. Studien zum Werk von Uwe Timm. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1995, 65–92. 30 S. dazu besonders Rolf Parr: »Nach Gustav Frenssens Peter Moor. Kolonialisten, Herero und deutsche Schutztruppen bei Hans Grimm und Uwe Timm«. Anette Horn (Hg.). Acta Germanica. German Studies in Africa. Jahrbuch des Germanistenverbandes im südlichen Afrika (Frankfurt/Main u.a.) 35 (2007), 395–410. Aber auch die Arbeiten von Keith Bullivant. »Reisen, Entdeckungen, Utopien: zum Werk Uwe Timms«. Deutsche Bücher 4 (1995), 255–262; Ders. »Uwe Timms Ästhetik des Alltags«. Manfred Durzak, Hartmut Steinecke (Hg.). Die Achäologie der Wünsche. Studien zum Werk von Uwe Timm. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1995, 231–244, und Sabine Wilke (siehe FN 32). 31 S. dazu Monika Albrecht. »Che Guevara in ›Deutsch-Südwest‹ Uwe Timms Anti-Kriegsroman Morenga aus interdisziplinärer Sicht«. Dirk Göttsche, Franziska Meyer, Claudia Glunz, Thomas F. Schneider (Hg.). Schreiben gegen Krieg und Gewalt. Ingeborg Bachmann und die deutschsprachige Literatur 1945–1980). Göttingen: V&R unipress/Universitätsverlag Osnabrück, 2006 (Krieg und Literatur/War and Literature; X), 187–202. 32 Sabine Wilke. »›Hätte er bleiben wollen, er hätte anders denken und fühlen lernen müssen.‹ Afrika geschildert aus Sicht der Weißen in Uwe Timms Morenga«. Monatshefte für deutschsprachige Literatur und Kultur (Wisconsin) 93 (2001), 1, 335–354. 33 Ebd., 335.
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Durch die Beschreibung des ›dialektischen Verhältnisses‹ angeregt, möchte dieser Beitrag die weiteren Charaktere in Morenga als ›Gegenpole‹ zu dem Oberveterinär Gottschalk verstehen. Dies bedeutet, dass alle hier zu beschreibenden Charaktere als konsequente Ausformungen bestimmter möglicher Entwicklungslinien zu lesen sind. Folgendes Beispiel soll dazu dienen, diesen Punkt zu verdeutlichen: Wenstrup wäre in dieser Art der Deutung eine konsequente Fortführung Gottschalks in Abwendung zu seiner Kultur bzw. seines Soldatendaseins; Morenga wäre dagegen nicht nur die Abkehr, sondern das konsequente Umkehren bzw. Überwechseln in die andere Kultur. Morenga wäre also dann Gottschalk, welcher den Prozess im Roman vollständig, bis hin zur Selbstauflösung und anschließenden Neukonstruktion durchläuft.
Oberveterinär Gottschalk Gottschalk ist am Anfang des Romans als 34-jähriges freiwilliges Mitglied in der Schutztruppe charakterisiert. Kußler entwickelt den Charakter Gottschalks folgendermaßen: Er ist Tierarzt, […] also Wissenschaftler, Akademiker; und als solcher besitzt er eine scharfe, kritische Beobachtungsgabe, was zum Beispiel seine meterologischen Aufzeichnungen beweisen. Er neigt […] etwas zur »Träumerei«, aber sein »Auftreten« hat »durchaus nichts Vergrübeltes, Kauziges«. Seine »Umgangsformen« werden von einem Vorgesetzten als »taktvoll, gewandt, sehr höflich« beurteilt.34
Auch kann er als durchaus gebildet, d.h. mit »breitem Allgemeinwissen«35 bezeichnet werden, liest er doch gerne zeitgenössische Romane (er führt eine Ausgabe von Fontanes Der Stechlin mit sich36). Er hat sich freiwillig gemeldet, um mit zinsgünstigem Kredit am Ende seiner Dienstzeit ein Stück Land in Afrika zu erhalten.37 Der Oberveterinär kam also am Anfang des Romans nach Afrika, um erklärtermaßen Land zu kultivieren. Wonach Gottschalk Ausschau hielt, war Farmland, auf dem er, in einigen Jahren, mit seinem ersparten Geld Rinder und Pferde züchten wollte. Meist abends vor dem Einschlafen richtete er sich schon in dem Farmhaus ein. Es 34 Kußler, 71–72. 35 Ebd., 72. 36 Uwe Timm. Morenga. Ungekürzt, vom Autor neu durchgesehen. 9. Auflage. München 2009, 12. 37 Ebd., 22.
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gab eine Bibliothek, ein Wohnzimmer, in dem ein Klavier stand (tatsächlich findet sich in einer Skizze ein Piano im Wohnraum) […].38
Es ist leicht anzunehmen, dass ›kultivieren‹ hier mehr bedeutet als nur das Land zu bestellen. Die Soldaten kommen bei Uwe Timm immer auch als Kolonisatoren und sollen auch die einheimische Bevölkerung ›erziehen‹.39 Er ist auch als musischer Mensch zu bezeichnen, da er zum einen Musikinstrumente auf seiner Farm aufzustellen plant, zum anderen spielt er selbst etwas Flöte. Gleichzeitig ist er jedoch keine sehr »gefestigte Persönlichkeit«,40 wie aus folgender Textstelle hervorgeht: Gottschalk war sich im übrigen durchaus bewußt, daß er bestimmte Sprechweisen, Betonungen, Gesten, womöglich auch mimische Eigenarten anderer Personen übernahm, gegen seinen Willen, denn er hielt das für ein Zeichen von Unreife, von Charakterschwäche.41
Dieses ›Mimikry‹ beinhaltet noch weit umfassendere Konsequenzen, eignet er sich doch nicht nur Verhaltensweisen, sondern sogar Denkweisen des Unterveterinärs Wenstrup an: So hatte er auch eines Tages bemerkt, daß er wie Wenstrup mit dem Finger in den Kragen fuhr und, was noch sonderbarer war, daß er bei dieser Geste sogleich auf kritische Gedanken kam, dieses Bohren schien wie eine Verpflichtung zu sein, etwas in Frage zu stellen.42
Jedoch heißt dies nicht, dass ihm ein eigener Charakter bzw. ihm eigene körperliche Ausdrucksweisen fehlen würden, denn es heißt im Text weiter, dass er zwar […] noch immer keine festgelegten körperlichen Ausdrucksformen [hatte], vom Gang einmal abgesehen, einem zügig schnellen Schritt, den er schon vor seiner Militärzeit hatte und der in keiner Weise dem lähmenden Latschen seines Vaters ähnelte, das ihm schon als Junge, auf den sonntäglichen Spaziergängen durch Glückstadt, unerträglich gewesen war.43
38 Ebd., 21. 39 S. Parr, 406–408. Aus keinem anderen Grund wird Timm auch den Diskurs über die richtige Verwendung der Nilpferdpeitsche eingeschoben haben. Siehe dazu: Timm, 151. 40 Kußler, 73. 41 Timm, 23–24. 42 Ebd., 24. 43 Ebd.
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Bereits an dieser Stelle können einige Bemerkungen zum Offizier Gottschalk getroffen werden. Indem Timm Gottschalk als eine solch diffus wirkende Figur zeichnet, disqualifiziert er ihn im Grunde als Offizier. Er zeigt zwar einige Merkmale eines Offiziers, dies betrifft vor allem seine Bildung und sein Auftreten. Zum einen hat er das Gymnasium besucht und hat dadurch die Möglichkeit Veterinär zu werden, zum anderen heißt es, dass »seine Umgangsformen […] taktvoll, gewandt und sehr höflich« waren. Dies spräche für ihn als Offizier sowohl im Sinne der Werteordnung des Adels als auch im Sinne des »neuen Offiziersbildes«. Jedoch wird er als eine Figur entworfen, der man wohl nicht in einen Kampf folgen würde. Er wirkt in dieser Konzeption nicht wie ein Anführer, eignet er sich doch Verhaltensweisen, d.h. Bewegungsmuster und auch Denkweisen eines Untergebenen an. Dieser Vorgang stellt keinen Akt des Führens, sondern einen Akt des Folgens dar. Zum anderen kann er nicht den Typus des ›alten Frontoffiziers‹ darstellen, da er nicht von adliger Abstammung ist. An dieser Stelle können jedoch bereits zwei Figuren genannt werden, die genau diese beiden Typen des Offiziers verkörpern und auf die später näher eingegangen wird. Als ›charismatischer Führer‹ kann eigentlich nur der Rittmeister von Treschkow bestimmt werden; den ›alten Frontoffizier‹ spiegelt der im Roman kaum geschilderte aber mehrfach erwähnte General von Trotha wider. Als Kind eines Kolonialwarenhändlers hatte Gottschalk bereits Kontakt mit dem Fremden, doch erzeugte dieser Kontakt nicht etwa eine Abstumpfung, vielmehr erzeugte sie in ihm geradezu träumerische Fantasien. Es heißt dazu im Text: Auf diese Zeit, diese fünf oder sechs Tage im Jahr, freute sich der kleine Gottschalk. Er durfte dann im Laden spielen, und seine Mutter nahm die Glasdeckel von den dicken bauchigen Gläsern in den Regalen und ließ ihn hineinriechen: Zimt, braune Borkenstücke aus Ceylon; Vanille, verschrumpelte braunschwarze Schoten aus Guatemala; Muskat, graurillige Fruchtkerne aus Kamerun; der süße, schwere Duft der Gewürznelken, dickstengelige Blütenknospen, die von den Gewürzinseln in der Molukkensee kamen. Dieses Wort: Gewürzinseln.44
Sabine Wilke bemerkt dazu, dass Gottschalk über die Frage eines Zusammenlebens von Fremden und Weißen an dieser Stelle noch gar nicht nachgedacht hat: »Er ist bar von diesen Fragen.«45 Sie drängen sich ihm jedoch ins Bewusstsein, sobald er den ersten Kontakt mit gefangenen ›Aufständlern‹ hat: »Was Gottschalk empörte, war dieser Widersinn, 44 Ebd., 19. 45 Wilke, 348.
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daß Menschen verhungerten, während wenige Meter weiter die Rinder umfielen und Verwesten.«46 An dieser Stelle beginnen seine Zweifel und seine Veränderung. Zwar sieht er an dieser Stelle noch nicht die durch die Kolonisatoren intendierte Planmäßigkeit solcher Vorgänge, er glaubt an dieser Stelle noch an »ein Versagen subalterner Dienststellen«,47 jedoch beginnt damit sein ›Lernprozess‹. Befördernd wirken zusätzlich zum einen der anhaltende Einfluss des mittlerweile »verschwundenen Wenstrup«48 als auch eine Auflockerung der militärischen Gepflogenheiten innerhalb seines neuen Einsatzortes.49 Wenstrup erhält trotz seines ›Verschwindens‹ seinen Einfluss auf Gottschalk aufrecht, aufgrund des Buches (Kropotkins Gegenseitige Hilfe in der Entwicklung von 1904), das er ihm gab. Im gesamten weiteren Verlauf des Romans erlebt der Leser den weiteren Lernprozess von Gottschalk. Dieser Lernprozess geht immer einher mit einer wachsenden Kritik an dem System des Kolonisierens und einem wachsenden Unverständnis bzw. einem wachsenden Zweifel an der Methode der Behandlung der zu Kolonisierenden. Dieser Lernprozess beinhaltet folgende Stationen: Gottschalk lernt im Verlauf des Romans die Sprache der Nama. Er lernt sie jedoch eher aus ästhetischen Gründen (»Gottschalk ließ diese sonderbaren Laute genüßlich auf der Zunge zergehen.«50) und weniger, um sich mit ihnen zu verständigen, sind es doch Sätze folgender Art: »Die Mitternachtsmaus fliegt durch den Steppenwald der Teerosen.«51 Er möchte keine Farm mehr errichten, sondern überlegt, ob er nicht in Warmbad eine tierärztliche Fakultät errichten soll.52 Er beginnt mit einem Namamädchen eine Beziehung, die er jedoch schnell wieder abbricht.53 Seine Veränderungen werden so offensichtlich, dass ihm im weiteren Verlauf sogar »Verkafferung«54 vorgeworfen wird. Kora Baumbach55 beschreibt seine Situation folgendermaßen:
46 Timm, 29. 47 Ebd., 27. 48 Ebd., 44. 49 Ebd., 45: »Äußerlich begann sich der Unterschied zwischen Militärs und Rebellen zu verwischen. […] Hier in Keetmannshoop fühlte sich Gottschalk erstmals seit seiner Abreise aus Hamburg wohl. So hatte er sich den Krieg in Südwest vorgestellt, nicht bequem, aber beschaulich und doch abwechslungsreich. Ein wenig begann er die Ereignisse so zu betrachten, wie er sie später einmal Freunden und Bekannten erzählen würde.« 50 Ebd., 58. 51 Ebd., 59. 52 Ebd., 171. 53 Ebd., 253, 331. 54 Ebd., 170. 55 Kora Baumbach. »Literarisches going native. Zu Uwe Timms Roman Morenga«. Frank Finlay, Ingo Cornils (Hg.). »(Un-)Erfüllte Wirklichkeit«. Neue Studien zu Uwe Timms Werk. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2006, 92–112.
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In der Solidarisierung mit dem Kampf der Aufständischen, dem schwärmerischen Nachsinnen über die Möglichkeit der Überwechslung, findet Gottschalk temporär den moralischen Ruhepunkt – zunächst, um seiner Arbeit weiterhin nachgehen zu können. Um sich selbst gegenüber dem Militär zu behaupten, müsste sich Gottschalk moralisch der Gruppe der Nama anschließen können, nachdem diese nach nahezu allen über sie in Erfahrung gebrachten Details, zum Beispiel der Behandlung der Gefangenen, gegenüber der Schutztruppe und deren Auftraggeber, dem Reich, im Recht sind. Und tatsächlich gibt es im Romanverlauf außer dem angesprochenen Erlernen der Sprache weitere Symptome dafür, dass Gottschalk mit der Möglichkeit des Überlaufens spielt. In zunehmendem Maße lassen sich »merkwürdige Veränderung[en]« an ihm beobachten, die bis zu einer »gewisse[n] Vernachlässigung seines Äußeren« gehen und die seine Kameraden als eine »Deformation des Persönlichkeitsbildes« deuten.56
Den Schlusspunkt dieser Veränderungen markiert letztendlich seine absolut passive Haltung gegenüber seiner Tätigkeit in der Armee: Oft saß Gottschalk ganze Tage auf der Veranda des Stationshauses, schweigend. Nur hin und wieder knisterte der ausgefranste Korbsessel, wenn er dem Schatten nachrückte. Er saß da, in einer schmuddeligen Khakiuniform, immer noch mit den Abzeichen eines Oberveterinärs[,]
aufgrund seiner Verdienste beim Aufbau einer Kamelreitertruppe war er zum Stabsveterinär befördert worden,57 »als sei er gar nicht befördert worden, und blickte zum Viehkraal hinunter.«58 Interessant in diesem Zusammenhang ist jedoch auch ein Kommentar, der diesen ›Tiefpunkt‹ in Gottschalks ›Leben als Soldat‹ genau zu beschreiben scheint: Was Stationschef Leutnant Gerlich beunruhigt [!], war, daß dieser Stabsveterinär weder redete noch las, noch, was doch normal gewesen wäre, soff. Er saß einfach nur da und blinzelte unter seinem Mützenschirm in den Himmel. Ein Sonderling, an dem aber durchaus nichts Kauziges, Komisches war.59
56 Ebd., 103–104. 57 Timm, 410. 58 Ebd., 412. 59 Ebd., 413.
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Am Ende des Romans begegnet uns dann ein ganz anderer Gottschalk. Sein letzter Tagebucheintrag wirkt gleich einer Sage, die er erzählt: Regen sind unsere Träume. In der Wüste steht, auf nacktem Fels, ein kleiner Busch wie eine Kerze. Wunderbusch nennen ihn die Hottentotten. Grau sind seine Zweige. Die Knospen rollen sich in der Trockenheit braun ein. So steht er Jahre oder Jahrzehnte. Bis Regen fällt, und über Nacht erblüht er in ungeahnter Pracht, blüht, bis das Wasser verdunstet ist. Dann rollen sich die Knospen ein und warten auf den nächsten Regen.60
In seinem ›letzten Auftritt‹ auf den Seiten 442–444, der auch das letzte Kapitel des Romans bildet, begegnet dem Leser Gottschalk eigentlich gar nicht mehr. Er scheint nicht mehr wesentlicher Protagonist des letzten Kapitels, und doch scheint es nur von ihm zu Handeln. Er begegnet dem Leser nur noch indirekt – muss also erschlossen werden – in der Formulierung: »Ihr Wohl, Professor […].«61 Er scheint also eine akademische Karriere nach seinem Ausscheiden aus der Schutztruppe angestrebt zu haben und scheint in dieser auch erfolgreich zu sein. Jedoch erweckt er in diesem Kapitel keineswegs mehr den Eindruck eines unsicheren und unreifen Charakters. Aus dem Schweigen sowohl des Erzählers über ihn als auch seiner eigenen sprichwörtlichen ›Sprachlosigkeit‹ könnte man auf einen gereiften Charakter schließen. Es scheint dem Leser hier ein Charakter zu begegnen, auf den weder der Erzähler noch der Autor Timm Zugriff haben. Selbst ein Tagebuch kann nicht mehr über ihn Auskunft geben. Zum einen ist Gottschalks Lernprozess damit scheinbar abgeschlossen, zum anderen scheint sich ein ›ruhender‹, d.h. fester Charakter herausgebildet zu haben, über den zu berichten vom Erzähler nicht mehr möglich und vom Autor nicht mehr nötig ist. Timm beschreibt in seinem Roman anhand der Gestalt ›Gottschalk‹ also kein einheitliches Offiziersbild, sondern ein sich veränderndes Bild eines ›Offiziers‹. Wie bereits weiter oben beschrieben entspricht Gottschalk am Anfang des Romans seinem Wesen nach keineswegs dem Bild von einem Offizier. Kurz zusammengefasst: Seine Bildung, seine gesellschaftliche Klasse, seine ›Werteordnung‹, all dies entspricht durchaus einem Offizier. Jedoch ›denkt‹ er nicht wie ein Offizier. Er kopiert Verhaltensweisen, sogar Denkstrategien von Untergebenen, er stellt seine Mission in Frage, er partizipiert an dem, was ihm zu kolonisieren, besser zu erziehen, aufgetragen worden ist. Später, nach seinem Lernprozess, beschreibt Timm aus den obigen Überlegungen heraus, einen ›umgekehrten‹ Gottschalk. Wenn diese Überlegungen zutreffen, 60 Ebd., 432–433. 61 Ebd., 444.
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dann denkt und handelt Gottschalk nun wie ein Offizier. D.h. er ist in sich gefestigt, er hat nun eine ihn selbst auszeichnende Persönlichkeit. Wenn die obigen Überlegungen zutreffen, hat Gottschalk nun ›Charakter‹. Mit dem Charakter kann auch ein gewisses Charisma einhergehen, doch kann dieser Nachtrag als ›Nebenschauplatz‹ angesehen werden. Doch wenn diese Annahmen zutreffen, dann wäre er nun seinem Wesen nach Offizier, jedoch nicht mehr seinem Rang nach. Folgt man dieser Argumentation, dann lässt sich erkennen, dass Timm Gottschalk selbst in einem dialektischen Verhältnis beschreibt, wobei das Verhältnis aufgrund der Beschreibung des Lernprozesses dargestellt wird. Unterveterinär Wenstrup Erst auf diesem Ritt muß Gottschalk klargeworden sein, daß er in Wenstrup nicht, wie geglaubt, einen Parteigänger der Sozialdemokraten getroffen hatte, sondern – ein wirklich ungewöhnlicher Zufall – wahrscheinlich den einzigen anarchistischen Veterinär des deutschen Heeres.62
Dies ist Gottschalks Beschreibung von Wenstrup. Anders als Gottschalk erkennt dieser bereits kurz nach der Ankunft aus Hamburg den systematisch organisierten Umgang mit den ›Aufständischen‹: Gottschalk vermutete lediglich ein Versagen subalterner Dienststellen. Wenstrup hingegen behauptete allen Ernstes, dahinter stecke System? Welches? Die Ausrottung der Eingeborenen. Man will Siedlungsgebiet haben.63
Auch erhält Gottschalk von dem Berliner64 Wenstrup, wie bereits oben geschildert, Kropotkins Werk Gegenseitige Hilfe in der Entwicklung, das einen bedeutenden Anteil am Lernprozess Gottschalks hat. Dieser lernt Wenstrup bereits auf der Überfahrt von Hamburg nach Deutsch-Südwest kennen. Beide teilen sich mit Oberarzt Doktor Haring eine Kabine auf der Überfahrt. Sowohl der Leser als auch Gottschalk erfahren jedoch an dieser Stelle des Romans sehr wenig über Wenstrup: »Wenstrup lag nämlich meist lesend auf seinem Bett.«65 Weiterhin ist Wenstrup jener von beiden, der sich bei Gelegenheit einen Hottentottenjungen nimmt und von diesem die Namasprache erlernt,66 jedoch im Gegensatz zu Gottschalk um daraus praktischen Nutzen zu ziehen: 62 Ebd., 66. 63 Ebd., 27. 64 Ebd., 13. 65 Ebd., 12. 66 Ebd., 57.
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Wenstrups Bemühen war indessen ganz auf die praktische Seite des Sprachunterrichts ausgerichtet, sich nämlich so schnell wie möglich verständlich machen zu können. Entsprechend waren seine Fortschritte. So konnte er bald einige einfache Fragen und Gegenfragen stellen, wenn auch genuschelt und in holprig fremden Kehllauten: Wohin führt dieser Weg? Wo liegt die nächste Wasserstelle? Wo finde ich etwas zu essen?67
Man kann diese Episode als den Punkt annehmen, in dem Wenstrup bereits seine ›Flucht‹ aus der Schutztruppe vorbereitet. Grundsätzlich ist Wenstrup aber der Förderer, wenn nicht Erwecker Gottschalks kritischen Bewusstseins (übernimmt doch, wie bereits oben beschrieben, Gottschalk von Wenstrup sogar Gestiken). Dies lässt sich weiterhin an immer wiederkehrenden, teilweise humoristischironisch-lapidar angehauchten Kommentaren erkennen: Kurz vor dem Abendessen kam Wenstrup in die Kabine und sagte zu Gottschalk, er möge doch mal in die Toilette gehen, dort könne er die Kampfkraft der Gardekavallerie einschätzen.68
Bereits auf Seite 74 verschwindet Wenstrup jedoch aus dem Roman: »Am 15. Januar wurde der Unterveterinär als offiziell vermißt nach Windhuk gemeldet.« Die Figur ist, völlig im Gegensatz zu Hermands These der ›timmschen Abkehr‹69 des Interesses an Wenstrup, also ein ›Katalysator‹ für den ›gottschalkschen‹ Lernprozess. Diese Überzeugung wird gerade durch den ›Kopierakt‹ Gottschalks unterstützt. Im Gegensatz zu Gottschalk, der in dem ersten Teil des Romans, wie oben beschrieben, kein Offizier ist, zeigt Wenstrup – sein Pedant zu heute wäre der eines Feldwebels, welcher ein Unteroffiziersrang ist – eine sehr gefestigte, fast schon ›starre Ausformung‹ seines Charakters. Diese Starrheit treibt ihn sogar zum ›Verschwinden‹. Er zeigt also durchaus Wesensmerkmale eines Offiziers, ist jedoch ebenfalls keiner, weder dem Rang noch seiner geistigen Haltung nach. Er zeigt nicht die politische Einstellung, die eigentlich, wie oben beschrieben, von einem Armeeangehörigen überhaupt erwartet wird. Diese, von der traditionellen politischen Ausrichtung des deutschen Heeres um die Jahrhundertwende stark abweichende Haltung hätte ihn eigentlich für den Dienst in der Schutztruppe disqualifizieren
67 Ebd., 59. 68 Ebd., 14. 69 »Während Timm anfangs mehr mit dem Anarchisten Wenstrup sympathisiert und dessen Radikalismus befürwortet, wendet er in der zweiten Hälfte des Romans seine direkte oder indirekte Sympathie zusehends dem eher zurückhaltend argumentierenden Gottschalk zu […].« Jost Hermand. »Afrika den Afrikanern! Timms Morenga«. Frank Finlay, Ingo Cornils (Hg.). »›(Un-)Erfüllte Wirklichkeit‹. Neue Studien zu Uwe Timms Werk. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2006, 47–63.
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müssen. Jedoch lassen sich an diesem Charakter zwei wesentliche Analysepunkte beschreiben. Der erste ist sein auftreten als ›Deserteur‹. An diesem Charakter kann Timm sehr gut die juristische Verunsicherung gegenüber Deserteuren innerhalb der Truppe demonstrieren. So ließe sich auch der merkwürdig anmutende Umstand erfassen, dass Wenstrup noch nach seinem Verschwinden befördert werden kann.70 Zum anderen repräsentiert Wenstrup als Deserteur eine mögliche Entwicklungslinie Gottschalks. Auch während dessen Entwicklung, vor allem gegen Ende, in der Zeit, in der er fast nur noch auf der Veranda sitzt,71 ist eine Desertion zumindest potentiell jederzeit möglich. Im Gegensatz zu Wenstrup denkt Gottschalk jedoch nicht ganz so radikal wie dieser. Diese Möglichkeit ist ihm verschlossen, da er zwar die Widersinnigkeit der ›Vernichtungspolitik‹ ablehnt, nicht jedoch, wie Wenstrup, seine eigene Kultur ablegen, gar ablehnen, kann. Im Text heißt es dazu später: Da war, wenn man diese Menschen beobachtete, mit ihnen sprach, sie roch, doch eine Ferne, die ihm nicht überbrückbar schien. […] Diese Menschen waren ihm nah und doch zugleich so unendlich fern. Hätte er bleiben wollen, er hätte anders denken und fühlen lernen müssen. Radikal umdenken. Mit den Sinnen denken.72
General von Trotha General von Trotha erscheint in Uwe Timms Morenga immer nur in offiziellen Berichten. Entweder hat er diese selbst geschrieben oder es wird in diesen über ihn geschrieben. Dadurch wirkt von Trotha wie das ›deutsche Gegengewicht‹ zur mystischen, erst am Ende des Romans selbst erscheinenden Figur des Morenga. Man kann sich kein Bild außerhalb dieser offiziellen Passagen von ihm machen. Die Passage, die den größten und bleibendsten Eindruck hinterlässt, ist der Ausschnitt aus dem sogenannten ›Schießbefehl‹.73 Von Trotha kann daher nur als Idealfigur eines deutschen Offiziers wahrgenommen werden. Er ist adliger Abstammung, steht dem Kaiser nahe und wirkt wie ein Soldat, dessen Befehlen man allein aufgrund seines Ranges und aufgrund seiner kaum greifbaren schattenartigen Existenz innerhalb des Romans folgen muss. Er ist damit das Idealbild und idealisierte Bild des alten Frontoffiziers aus dem ersten Kapitel. Dadurch ist es Timm jedoch auch möglich, ihn als Urheber der ›menschenverachtenden Kriegspolitik‹ zu entlarven. Man könnte auch behaupten, dass von Trotha damit die höchste Ausformung des deutschen Soldaten symbolisiert. Prinzipiell könnte 70 Timm, 114–116. 71 Ebd., 412. 72 Ebd., 419 u. 420. S. zu diesem Punkt auch besonders den Aufsatz von Wilke. 73 Timm, 32.
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sich Gottschalk innerhalb seines Lernprozesses auch zu einem von Trotha entwickeln.74 Jedoch fehlt ihm dazu die offensichtliche ›Skrupellosigkeit‹. Interessant ist der Umstand, dass Timm gerade den Schießbefehl aus einer geschichtlichen Abhandlung entnommen hat, ist doch gerade das Original erhalten und mit einem Zusatz von von Trotha versehen, indem es heißt: Dieser Erlaß ist bei den Appelle den Truppen mitzuteilen mit dem Hinzufügen, daß auch der Truppe, die einen der Kapitäne fängt, die entsprechende Belohnung zu Teil wird, und daß das Schießen auf Weiber und Kinder so zu verstehen ist, daß über sie hinweggeschossen wird, um sie zum Laufen zu zwingen.75
Über diese Gründe kann nur spekuliert werden. Naheliegend ist jedoch die Vermutung, dass Timm damit die Art des sich Erinnerns an von Trotha bearbeiten bzw. damit einhergehend verändern möchte. Rittmeister von Tresckow Wie bereits General von Trotha kommt auch Rittmeister von Tresckow nur sehr vereinzelt im Roman vor. Anders jedoch als von Trotha nur in den fiktiven Teilen, nicht in geschichtlich-dokumentarischen Abschnitten des Romans. Zum ersten Mal begegnet er dem Leser auf dem Schiff, das Gottschalk, Wenstrup, und auch den Rittmeister nach ›Deutsch Süd-West‹ bringt. Es heißt dort: Während des Frühstücks behauptete von Tresckow, Kavalleristen würden so leicht nicht bleich werden, dazu gebe es doch zu viele Parallelen zwischen Pferden und Schiffen. Das Mittagessen ließ er ausfallen. Nachmittags stand er auf dem Bootsdeck, klammerte sich an die Reling und starrte in die Ferne. Jemand von der Schiffsbesatzung hatte ihm gesagt, das helfe. Sein Monokel baumelte achtlos an der Schnur, schlug, wenn das Schiff überholte, klirrend an einen Stahlstutzen. […] Gottschalk fand auf dem Boden, die Klosettschüssel umarmend, das grüne Gesicht auf dem weißen Porzellanrand, den Rittmeister von Tresckow. Als Gottschalk fragte, ob er helfen könne, antwortete Tresckow: Danke, Kamerad. Er hob nicht einmal den Kopf.76
74 Diese Möglichkeit scheint noch auf Seite 340 gegeben zu sein. Gottschalk könnte sich durchaus bewusst dazu entscheiden, Kamele auf ihre Tauglichkeit in Deutsch-Südwestafrika zu testen, um bessere Transportmittel für die Truppe zu ›entwickeln‹. 75 www.bundesarchiv.de/oeffentlichkeitsarbeit/bilder_dokumente/00663/index-14.html.de und www. bundesarchiv.de/oeffentlichkeitsarbeit/bilder_dokumente/00663/index-15.html.de. 76 Timm, 13–14.
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Von Tresckow erscheint in dieser ersten Szene überhaupt nicht, wie oben angedeutet, als ein Offizier, dem man folgen würde. Im Folgenden divergiert die Darstellungsweise allerdings. Denn die nächste Szene ist beim Entladen der Pferde, nach Ankunft des Schiffes an der Küste von Deutsch-Südwestafrika. Von Tresckow sagt hier zu Gottschalk: […] Die Gäule mögen ja schlagen und beißen wie sie wollen, am Ende kommen sie doch wieder vor einen Wagen und bekommen einen Kutscher oder Reiter, der sie mit Zügel und Peitsche lenkt.77
Wenige Zeilen später heißt es wiederum: Allein Rittmeister Tresckow trug noch seine Uniformjacke und umgeschnallt seine Pistole. […] Später, der Zug war schon abgefahren, zeigte sich aber, daß im Griff der Reitgerte ein kleines goldenes Feuerzeug eingebaut war. Eine Spezialanfertigung einer Peitschenfabrik im Allgäu. Sehr bequem sagte Tresckow, […]. Bequem, weil man sich noch kurz vor der Attacke eine Zigarette anzünden konnte, ohne lange in den Taschen wühlen zu müssen.78
Sätze und Verhaltensweisen wie diese sind sicherlich dazu angehalten, von Tresckow als Führungspersönlichkeit anzuerkennen. Mit Sätzen wie diesen erhebt der Rittmeister den Anspruch, die Welt ›so und so‹ zu gestalten; Aussagen dieser Form interpretieren die Welt und geben den Mannschaften ein Gerüst der Weltwahrnehmung. Sich noch kurz vor dem Gefecht eine Zigarette anzuzünden, erinnert an eine Form der Todesverachtung und bleibt bei Untergebenden wohl auch nicht ohne Folgen. Einem ›charismatischen Führer‹ kann solch eine ›weltgestaltende‹ Autorität durchaus zugesprochen werden, zugleich eine Form der Todesverachtung an den Tag zu legen, wird – so hier die Behauptung – dazu führen, dass die Mannschafen ihm folgen, weil er es Wert ist, ihm zu folgen. Timm unterminiert dieses Bild jedoch immer wieder, z.B. auch mit folgender Episode: Rittmeister von Tresckow hatte sein Pferd in dem Gefecht bei Naris durch zwei Schüsse verloren. Als Ersatzpferd suchte er sich einen etwas knochigen, aber gutgebauten Rappen aus, der zu Beginn des Aufstandes mit einem Pferdetransport aus der Kapkolonie gekommen war. Ein gut eingerittenes Pferd, wie der Wachtmeister versicherte.
77 Ebd., 18. 78 Ebd., 18–19.
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Der Bursche des Rittmeisters bringt das Pferd, und Tresckow versucht sogleich aufzusteigen, aber das Pferd schlägt aus, steigt und gebärdet sich wie toll. Der Rittmeister fällt zu Boden und, was einem Kavalleristen nie passieren darf, er verliert den Zügel aus der Hand. Das Pferd lässt sich dann aber ganz zahm von einem Reiter einfangen, der es wieder zurückführt. Mehrere Reiter halten das Pferd, als Tresckow den zweiten Anlauf nimmt. Er kommt glücklich in den Sattel, kann sich auch einige Minuten oben halten, bis sich das Pferd wie rasend zu Boden wirft. Tresckow kann gerade noch aus dem Sattel kommen. Inzwischen hat sich ein großer Kreis Neugieriger gebildet, die den Kampf zwischen Rittmeister und Pferd beobachten. Das Pferd hat sich wieder erhoben, Schaumballen vor dem Maul, und weicht, als Tresckow es am Zügel haltend vorsichtig zu streicheln versucht, mit einem entsetzten Wiehern zurück. Der Fall hätte kaum weitere Beachtung gefunden, wenn das Pferd nicht jeden anderen Reiter geduldig an sich hätte herankommen und aufsitzen lassen, nur eben den Rittmeister Tresckow nicht. Gottschalk, der auf Befehl Tresckows das Pferd untersuchte, konnte, abgesehen von der starken Erregung des Tiers, nichts Außergewöhnliches feststellen. Schließlich bat er den Rittmeister, ob er einmal seine Hand riechen dürfe. Tresckow streckte sie ihm zögernd und ziemlich steif entgegen. Gottschalk schnüffelte. Die Zuschauer grinsten. Tresckow wollte wissen, was das zu bedeuten habe. Gottschalks Diagnose: Der Herr Rittmeister benutze ein starkes Eau de Cologne, worauf das Pferd wahrscheinlich allergisch reagiere. […] Treschkow ließ das Pferd erschießen, wegen Truppenuntauglichkeit. […]79
An dieser Episode lassen sich einige interessante Beobachtungen anstellen. Zum einen wirkt dieser ›Bericht‹ wie eine typische mündliche Erzählung. Gerade das Springen der Erzählzeit (Der Bursche des Rittmeisters bringt das Pferd; Gottschalk, der auf Befehl Treschkows das Pferd untersuchte) vermittelt diesen Eindruck. Diese Passage ist also vielmehr so etwas wie eine Anekdote. Und obwohl der Inhalt der Anekdote sehr wohl die Autorität des Rittmeisters unterminieren kann, hat man nicht das Gefühl, dass sie dies tut. Es ist eher eine Anekdote, die die Autorität des Rittmeisters, trotz ihrer Absurdität, noch steigert. Von Treschkow soll also in dieser Interpretation als ›charismatischer Anführer‹ gelten. Jedoch ist er aufgrund seiner Darstellungsweise allenfalls ein »charismatischer Anführer im Werden«. Auch Gottschalk ist durchaus zu solch einer
79 Ebd., 55–56.
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Entwicklung fähig. Besonders während seiner Zeit im belagerten Warmbad sind Möglichkeiten für ihn gegeben, um eine solche Entwicklungslinie zu nehmen. Morenga Morenga ist einer der Anführer des Aufstandes. Zunächst tritt auch er eher Schattenhaft im Roman in Erscheinung. Dieser Umgang mit der Figur, die auch den ›Titelhelden‹ des Romans darstellt, ist analogisch zum Auftreten General von Trothas zu lesen. Jedoch gibt es auch einige bedeutende Unterschiede. Die erste Information, die der Leser erhält, ist eine Art amtlicher Bericht – auf die Schwierigkeiten der Verbindung von historischem Dokument und Fiktion bei Uwe Timm wurde weiter oben bereits eingegangen: Wer war Morenga? Auskunft des Bezirksamtmanns von Gibeon: Ein Hottentottenbastard (Vater: Herero, Mutter: Hottentottin). Nennt sich auch Marengo. Beteiligte sich auch am Bondelzwart-Aufstand 1903. Soll an einer Missionsschule erzogen worden sein. An welcher, konnte nicht ermittelt werden. Zuletzt hat er in den Kupferminen von Ookiep im nördlichen Teil der Kapkolonie gearbeitet.80
Direkt an diesen amtlich wirkenden Kommentar schließt sich ein anderer an, der Morenga legendenhaft darstellt: Morenga reitet einen Schimmel, den er nur alle vier Tage tränken muß. Nur eine Glaskugel, die ein Afrikaner geschliffen hat, kann ihn töten. Er kann in der Nacht sehen wie am Tag. Er schießt auf hundert Meter jemandem ein Hühnerei aus der Hand. Er will die Deutschen vertreiben. Er verwandelt sich in einen Zebrafinken und belauscht die deutschen Soldaten.81
Die nächste Erwähnung Morengas ist im Kapitel »Feindbild«. Das Kapitel ist in fünf Teile untergliedert. Zuerst gibt es hier eine Anekdote Morengas, deren Ursprung, ob von Timm oder aus einem historischen Dokument, wiederum nicht klar erkennbar wird. Untergliederung »2« ist ein Textauszug aus dem Werk Die Kämpfe der deutschen Truppen in Südwestafrika, das der Große Generalstab herausgegeben hat. In diesem erfährt man noch einige weiterführende Details über Morenga: 80 Ebd., 6. 81 Ebd., 7.
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Jakob Morenga, ein Herero-Bastard von dem kleinen Gainabrevier (östlich der großen Karras-Berge) mitten unter den Hottentotten sitzenden Stamme, hatte früher in den englischen Minen in Südafrika gearbeitet, sich einiges Geld und eine für Neger nicht geringe Bildung erworben. Er spricht Englisch und Holländisch, versteht Deutsch und hat sich überhaupt im Verlaufe des Krieges als eine ganz ungewöhnliche Erscheinung unter den Negern erwiesen, sowohl durch die Umsicht und Tatkraft, mit der er seine Unternehmungen geführt hat, als insbesondere dadurch, daß er den in seine Hände gefallenen Weißen gegenüber sich der bei seinen nördlichen Stammesgenossen üblichen bestialischen Grausamkeiten enthielt, ja, da und dort sogar eine gewisse Großmut bewies. In mannigfachen Unterhaltungen, die mit ihm gepflogen wurden, zeigte er sich verhältnismäßig zuverlässig. Für seine ungewöhnliche Bedeutung spricht allein schon der Umstand, daß er als Schwarzer eine führende Rolle unter den Hottentotten spielen konnte.82
Ein letzter bedeutenderer Zusatz ist der fünfte Unterpunkt des Kapitels, in dem scheinbar ein Ausschnitt aus einem Interview mit der Cape Times von 1906 präsentiert wird. In diesem nimmt Morenga Bezug auf die Frage, ob es ihm bewusst sei, »daß Deutschland einer der mächtigsten Staaten der Welt sei«.83 Er antwortet darin, dass ihm dies vollkommen klar sei, die Deutschen aber nicht wüssten, wie man in Afrika kämpft: »Sie wissen nicht, woher sie das Wasser nehmen sollen, und sie verstehen nichts von der Guerillakriegführung.«84 Die bedeutendste Stelle letztendlich ist jedoch die persönliche Begegnung von Morenga und Gottschalk.85 In diesem Kapitel wird die Begegnung durch einen Bericht von Gottschalk dargestellt, der mit Randbemerkungen eines Lesers vermerkt ist. Ebenso gibt es ein Zitat aus dem Großen Generalstab, in welchem eine kurze Nachricht über eine reale Begegnung eines Schutztruppenangehörigen mit Morenga verzeichnet ist. Dahinter wiederum folgt noch ein fiktiver Passus Timms. Morenga wird nur aus der Sicht der Schutztruppler und aus der Sicht Gottschalks gezeigt. Er ist aufgrund der Schilderungsstrategie als das Sinnbild des »charismatischen Anführers« zu sehen. Er kann diese Position vor allem durch seine Herkunft, seine Bildung und seine militärischen Erfolge gegenüber der Schutztruppe behaupten. Jedoch auch durch die ›geringen Gesten‹, welche Kora Baumbach als einen Akt »wechselseitiger Anerkennung« bezeichnet.86 Igno82 Ebd., 39. 83 Ebd., 40. 84 Ebd. 85 Ebd., 392–400. 86 Kora Baumbach. »Supplementäre Anerkennung. Zu Uwe Timms Roman ›Morenga‹«. J. Manuel Barbeito u.a (Hg.). National identities and European literatures. Nationale Identitäten und Europäi-
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riert er anfangs Gottschalks Angebot eines Handschlags noch, so akzeptiert er es nach ihrem Gespräch. Auf die Frage Gottschalks, warum Morenga bis zum letzten Mann kämpfen wolle, antwortete dieser: »Damit ihr und wir Menschen bleiben können.«87 Gerade solch scheinbar schwer zu verstehende Sätze, welche eine gewisse nachvollziehbare Logik in sich tragen, ohne eine Interpretationsanleitung bereits zu besitzen, sollen – so die Behauptung dieser Arbeit – eines der Erkennungszeichen des »charismatischen Anführers« sein. Sätze dieser Art, so die Behauptung, wirken ebenfalls sinngebend, ebenso wie die wahrnehmungsgestaltenden Äußerungen von Tresckows. Im Gegensatz zu diesen muss sich jedoch der Untergebene aus diesen Äußerungen seine Wahrnehmungsweise erstellen, sie wird nicht klar präsentiert. Eine Äußerung, wie sie Morenga tätigt, ist also im Gegensatz zu einer Äußerung von Tresckows ›bedeutungstiefer‹. Sie bedarf der Interpretation und damit der Entscheidung des Hörers. Diese Entscheidung ist an dieser Stelle noch eine Entscheidung der Bejahung oder Verneinung. Zugleich betrifft eine solche Entscheidung aber auch immer, ob sich der Entscheidende damit der Welt des Aussagenden anschließt oder nicht. Und eine Entscheidung zu treffen, sich dem Anführer freiwillig anzuschließen, ihm freiwillig zu folgen, war weiter oben das Charakteristikum des ›charismatischen Anführers‹. So kann auch hier Gottschalk als ein solcher, vielleicht noch nicht bewusst, aber seinem Wesen nach, angenommen werden. Der Handschlag, so die Behauptung, wurde nur getätigt, weil Morenga in Gottschalk ein gleichwertiges Gegenüber erkennt. Die Frage, warum Gottschalk nicht zu Morenga überläuft, die sich bereits in der Beschreibung Gottschalks präsentierte, kann daher wiederum beantwortet werden: Gottschalk ist ab diesem Zeitpunkt ein »charismatischer Anführer« innerhalb seines Volkes und als ein solcher ist er zwar fähig sich gegen den Krieg auszusprechen, nicht jedoch ›die Seiten zu wechseln‹.
Figuren und nochmals Figuren Es konnte durch die obigen Ausführungen gezeigt werden, auf welche Weise Uwe Timm in seinem Roman Morenga Soldaten konstruiert. Im ersten Schritt wurden entsprechende Deutungsmuster um 1900 aufgegriffen. Hierbei konnte gezeigt werden, wie das Bild gerade um die Zeit der Aufstände in Südwestafrika im Wandel begriffen war. Es ließen sich jedoch nicht alle möglichen Stationen des Umwandlungsprozesses darstellen. Es lässt sich nur vermuten, ohne dabei indes sehr konkret zu werden, wie solche ›Zwischenergebnisse‹ ausgesehen sche Literaturen. Bern u.a.: Peter Lang, 2008, 61–74. 87 Timm, 395.
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haben können. In einem zweiten Schritt wurde aufgezeigt, wie Timm eine tatsächliche Verbindung von historisch-faktischen und fiktionalen Bestandteilen vornahm. Im dritten Schritt wiederum wurden verschiedene Soldaten des Romans dahingehend untersucht, ob sie solchen Soldatenkonstruktionen, wie sie im ersten Schritt entwickelt wurden, entsprechen. Dabei wurde General von Trotha als Repräsentant des ›alten Frontoffiziers‹ erkannt. Auf diese Deutung verweisen zwei Sachverhalte, sein militärischer Rang und seine adlige Abstammung, sowie sein ausschließliches Erscheinen im Roman in Form offizieller Schreiben und damit als Repräsentant der kaiserlichen Ordnung. Rittmeister von Tresckow hingegen wurde als eine sich noch verändernde Form des ›charismatischen Anführers‹ beschrieben, da er kein Sinnangebot erstellt, sondern eine spezifische Sicht auf ›Welt‹ und damit eine spezifische Welt überhaupt anbietet. Morenga hingegen konnte nur als Sinnbild des ›charismatischen Anführers‹ überhaupt interpretiert wurde. Diese Interpretation lag nahe, da sich jeder einzelne für die Gefolgschaft entscheiden muss. Dies tut man beim ›charismatischen Anführer‹, indem man sich für die Sinngebung, welche dieser einem anbietet, entscheidet. Diese drei Charaktere bilden damit bereits eine Beziehungskette: General von Trotha und Morenga bilden in dieser die beiden Endpunkte, welche jedoch keine ›Spiegelbilder‹, sondern so etwas wie ›die umgekehrte Seiten einer Medaille‹ darstellen. Von Tresckow hingegen befindet sich dazwischen, er ist ein Glied der Kette. Gerade durch solch eine »schiefe Situation«88 gewinnt der Roman ein dialektisches Verhältnis, das der Roman selbst aufzulösen versucht. Dies versucht er wiederum, wie gezeigt wurde, durch die Figur des Gottschalk, an dem, dieser Interpretation nach, jede Möglichkeit, ein Soldat jener oder dieser Konstruktion nach zu werden, ausprobiert wird. Das Interessante an diesem Vorgang ist jedoch, dass Gottschalk selbst ein dialektisches Verhältnis aufweist, jedoch ist auch zu bemerken, dass Timm ihn auf eine Art beschreibt, in der Gottschalk zwar potentiell jeder Typus eines Soldaten hätte werden können, diese Möglichkeiten jedoch nicht in Anspruch nimmt. Man möchte sagen: Entweder kamen diese Möglichkeiten in Gottschalks Veränderungsprozess zu früh oder zu spät. Es wurde jedoch auch gezeigt, dass Gottschalk letzten Endes auch als »charismatischer Anführer« den Roman beendet. Dies tut er jedoch nur dem Wesen und nicht seinem militärischen Rang nach, schied er doch gegen Ende aus der Armee aus. Wenstrup hingegen erscheint in dieser Analyse als ›Initialzündung‹ des Veränderungsprozesses Gottschalks. Als greifbare Person übernimmt er jedoch, aufgrund seines frühen Verschwindens, keine tragende Rolle mehr.
88 Timm, 34.
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Peter Huber. Fluchtpunkt Fremdenlegion. Schweizer im Indochina- und im Algerienkrieg, 1945–1962. Zürich: Chronos, 2016, 320 pp., Ill., 43,00 €/48.00 CHF [978-3-0340-1352-9]. In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg traten rund 2.200 junge Schweizer Männer trotz Verbot und vollzogenen Strafen in die französische Fremdenlegion ein. Die Kolonialmacht Frankreich hatte Bedarf an Söldnern, denn im Indochinasowie etwas später im Algerienkrieg wehrten sich nationale Freiheitsbewegungen gegen die europäische »Fremdherrschaft«. Die Fremdenlegionäre verübten nicht selten auf Geheiß ihrer Offiziere hin Kriegsverbrechen. Folter von Gefangenen, Verstümmelungen oder Massaker an Zivilpersonen gehörten auf beiden Seiten der erwähnten Kriege zum Repertoire an schon damals international geächteten Gewaltmitteln. Über die Kollektivbiographie der meist blutjungen Schweizer Fremdenlegionäre erfährt man in der ausgezeichneten Studie des Basler Historikers Peter Huber sehr viele interessante Details. Huber hat nicht weniger als 424 repräsentative Fälle in Akten untersucht. Da die schweizerischen Archivgesetze die Anonymisierung der Beteiligten verlangen, werden keine Namen oder Herkunftsorte genannt. Die Schweizer Militärjustiz hatte systematisch Akten anlegen lassen. Wenn sie der zurückgekehrten Legionäre habhaft wurde, wurden diese zu mehrmonatigen Gefängnisstrafen verurteilt. Diese Akten enthalten oftmals auch selbst geschriebene Lebensläufe, die Auskunft geben über Herkunft, soziale Umstände und Motive, in die Fremdenlegion einzutreten. Die allermeisten Schweizer Fremdenlegionäre waren, wie gesagt, blutjung, manche sogar waren noch minderjährig. Diese »Teenager« gaben dann im Rekrutierungsbüro am Hafen Marseilles neben falschen Namen auch falsche Geburtsjahre an. Deshalb verliefen Interventionen des
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Schweizer Konsuls im Sande. Dass die Legion Schwerverbrecher anzog, stimmt so nicht und ist wohl eine Propagandalüge ihrer Gegner. Zwar hatten die meisten Schweizer Fremdenlegionäre schon einmal unliebsamen Kontakt mit Polizei und Justiz gehabt, doch meistens waren kleine Delikte wie ein Diebstahl oder eine Unterschlagung dafür verantwortlich. Viele junge Männer aus den Unterschichten wollten in den 1950er Jahren auch an den modernen Konsumverheißungen nach dem Weltkrieg partizipieren, sich ein Moped kaufen oder eben stehlen. Denn die meisten dieser Kleinkriminellen waren Ledige, die eine Lehre abgebrochen hatten, nun arbeitslos waren oder als Gelegenheitsarbeiter oder als Tagelöhner »niedrige« Arbeiten zu verrichten hatten und dafür entsprechend niedrige Löhne bezogen. Die meisten »Freiwilligen« stammten aus also der Unterschicht, viele aus zerrütteten familiären Verhältnissen. Manche hatten eine Vergangenheit als »Verdingbuben« oder als Heimkinder zu verarbeiten. Projekte, auszuwandern und in Übersee neu anzufangen, waren oft an mangelnden finanziellen Möglichkeiten oder an restriktiven Einwanderungsgesetzen gescheitert. Die Legion versprach ebenfalls einen Neuanfang für ein bisher als verpfuscht empfundenes Leben. Die Karten würden neu gemischt, hieß es, das Vorleben spiele keine Rolle. Der Sold war zwar niedrig, reichte aber für reichlich Alkohol sowie für den Besuch von Bordellen oder für eine einheimische »Freundin« auf Zeit, die für den Mann kochte, die Wäsche besorgte, Nähe vermittelte und auch sexuelle Dienste anbot. Der Drill war namentlich in der Ausbildungszeit in Algerien hart und von Schikanen begleitet. Manche Offiziere und »Sergeants« waren veritable Sadisten. Wer sich als widerspenstig erwies oder sogar Befehle verweigerte, dem drohten empfindliche Strafen in Straflagern. Hitze, Kälte, schlechtes Essen und natürlich die unmittelbaren Kampfhandlungen drückten auf die Moral. Ein Aufstieg in die Offizierskaste war nicht möglich, denn die Offiziere waren ausschließlich Franzosen. Kein Wunder also, das mancher Legionär seinen oft übereilt gefassten Entschluss bereute und desertierte. Manche Legionäre sprangen im Suez-Kanal vom Schiff, andere wählten für ihre riskante Flucht den Landweg über Marokko, wo ihnen der Schweizer Konsul mit Geldmitteln weiter half. Die algerischen Freiheitskämpfer hatten eigene »Fluchthelfer«, die beim Weg durch die Wüste behilflich waren. Wer aber erwischt wurde, hatte mit jahrelangem »scharfem Arrest« in der Wüste zu rechnen. Durchaus typisch ist die neben vielen anderen Lebensläufen rekonstruierte Biographie eines Toggenburger Fremdenlegionärs, den der Historiker »Ewald Beerli« nennt. »Beerli« war der Sohn eines Besitzers eines Coiffeursalons, erlebte aber in seiner materiell abgesicherten Kindheit und Jugend nur wenig Geborgenheit, sondern Zwietracht und Instabilität. Er stammte aus erster Ehe und hatte mit zwei Stiefmüttern zurechtzukommen, die ihn nie akzeptierten und den Vater gegen ihn aufhetzten. Schläge gehörten zum Alltag. Nach acht Jahren Primarschule »floh«
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»Beerli« auf einen Bauernhof und arbeitete anschließend als Casserolier in Zürich und Lausanne sowie als Gussputzer bei Escher-Wyss, wo er wegen des Staubes gesundheitliche Probleme bekam. Als Arbeitsloser wurde er auch zum Obdachlosen, teilte also das harte Los des Zürcher Subproletariats. Eine Liebschaft mit einer jungen Frau verlief enttäuschend. Nach fünf Jahren kehrte »Beerli« aus Indochina zurück und versuchte vergeblich, im väterlichen Geschäft unterzukommen. Das traf nicht für alle Fremdenlegionäre zu: Manche erhielten eine Rente vom Staat Frankreich und hatten gespart. Andere heirateten und fassten im Berufsleben Fuß. Dies zeigt bei aller Gleichförmigkeit der Lebensläufe auch individuelle Unterschiede und Handlungsoptionen auf. Fabian Brändle, Zürich
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Thomas Kolnberger (ed.). August Kohl – Ein Luxemburger Söldner im Indonesien des 19. Jahrhunderts: Kommentierte Edition der Reise- und Lebensbeschreibungen (1859–1865) des Soldaten August Kohl. Mersch: Centre national de littérature, 2015, 312 pp., 25,00 € [ISBN 978-2-919903-45-0]. Mit dem Aufkommen der Globalgeschichte sind in den letzten zwei Jahrzehnten transnationale militärische Migration und insbesondere Kolonialarmeen vermehrt ins Zentrum des Forschungsinteresses gerückt. Multinationale Söldnertruppen wie die französische Fremdenlegion oder die Königlich Niederländisch-Indische Legion, aber auch in den Kolonien selbst rekrutierte Einheiten wie die britische »Indian Army« oder die französischen »Tirailleurs Sénégalais« sind dabei sowohl als transkulturelle Erfahrungsräume als auch als Gegenstände intensiver medialer und politischer Diskurse analysiert worden. Eine wichtige Quellengattung stellen für solche Forschungen soldatische Selbstzeugnisse dar, die interessante Innenansichten aus diesen Truppen und von deren Interaktionen mit der Umwelt darbieten und zugleich ein eigenes literarisches Genre darstellen. Vor diesem Hintergrund sind die Memoiren des Luxemburgers August Kohls (1834–1921), der von 1859 bis 1865 als Kolonialsoldat in Niederländisch-Ostindien, dem heutigen Indonesien, diente und dessen Aufzeichnungen nun erstmals ediert vorliegen, eine wahre Perle. Kohls Manuskript ist erst vor wenigen Jahren aus Familienbesitz ins Luxemburger Literaturarchiv gelangt. Im Zuge der Recherchen für das vorliegende Buch wurde dann im Diözesanarchiv des Erzbistums Luxemburg eine weitere Abschrift entdeckt. Im Jahre 1859 aufgrund von Arbeitslosigkeit und finanziellen Problemen in den niederländischen Solddienst eingetreten, erlebte Kohl bereits auf der Überfahrt nach Asien so abenteuerliche Dinge wie Schiffbruch und Meuterei. Die Beschreibungen seiner sechs Jahre in Indonesien geben dann wertvolle Einsichten ins Innenleben der niederländischen Kolonialtruppen ebenso wie zu deren alltäglichen, durchaus ambivalenten Interaktionen mit der lokalen Zivilbevölkerung. Kohl berichtet aber auch von spektakulären Begebenheiten: Mehrfach erkrankt er schwer, einmal wird er sogar fälschlicherweise für tot gehalten. Zahlreiche seiner Kameraden erliegen dagegen den unbekannten Krankheiten in Südostasien. Auch Überfälle durch Einheimische und Entführungen erlebt Kohl mehrmals. Ein kurzzeitiges Konkubinat endet in einem Fiasko. Schließlich wird seine Einheit auch zur Aufstandsbekämpfung in Indonesien wie auch bei einer Vergeltungsaktion der imperialistischen Mächte in China eingesetzt, wobei sich in Kohls Schilderungen die ganze Brutalität der Imperialkriegführung manifestiert. Als einer von ganz wenigen erlebt Kohl das Ende seines Kontraktes, widersteht allen Versuchen, ihn für eine weitere Dienstzeit anzuwerben und kehrt schließlich nach Luxemburg zu seiner Mutter zurück.
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Nach der ausführlich annotierten Transkription des Kohl’schen Erfahrungsberichts verorten vier Beiträge das Selbstzeugnis in seinen literarischen und historischen Kontexten. Herausgeber Thomas Kolnberger interpretiert den Erfahrungsbericht mit Hilfe literaturwissenschaftlicher Modelle als »kleine Heldenreise«. In einem weiteren Beitrag nimmt er eine hochinteressante quantitative Analyse des Solddienstes von Luxemburgern in der Königlich Niederländisch-Indischen Legion während des »langen 19. Jahrhunderts« vor. Der Sozialanthropologe Helmut Lukas gibt in seinem Beitrag einen prägnanten Überblick über die Entwicklung der niederländischen Kolonialherrschaft in Ostindien im 19. Jahrhundert sowie die gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnisse in den von Kohl beschriebenen Regionen. Der Historiker Norbert Franz schließlich zeichnet die Entwicklung von Gesellschaft und Herrschaft im Luxemburg des 19. Jahrhunderts auf dem Weg zur Eigenstaatlichkeit nach. Insgesamt ist das vorliegende Buch eine in jeder Hinsicht vorbildliche Quellenedition, die den Text durch unzählige Anmerkungen erschließt und in seine Kontexte einbettet. Speziell zu erwähnen sind auch die zahlreichen, sehr schönen Illustrationen. Damit ist nun eine interessante Quelle zur interkontinentalen »entangled history« des »langen 19. Jahrhunderts« zugänglich, die hoffentlich von der Forschung unterschiedlicher Disziplinen und auch einer breiteren Öffentlichkeit rezipiert werden wird. Christian Koller, Zürich
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Romain Rolland, Stefan Zweig. Von Welt zu Welt. Briefe einer Freundschaft 1914–1918. Berlin: aufbau, 2014, 462 pp., 24,95 € [ISBN 978-3-351-03413-9]. Der briefliche Austausch zwischen den beiden Autoren setzt in der politisch wie emotional bereits stark aufgeheizten Vorkriegsatmosphäre des Frühjahrs 1910 ein. Anlässlich der Zusendung von Zweigs Studie über Emile Verhaeren signalisiert Rolland emphatisch eine Geistesverwandtschaft transnationaler Art: »Und Sie sind ein Europäer. Ich bin es auch, aus vollem Herzen.« (3) Rasch intensiver werdend, kreist die Korrespondenz um Fertigstellung (und Übersetzung) von Rollands Romanzyklus Jean-Christophe; den Abschluss des Werks begrüßt Zweig Ende 1912 mit einem emphatischen Artikel im Berliner Tageblatt (vgl. 16–23), wobei er das gewichtige Verständigungs- und Vermittlungspotential dieses deutschfranzösischen Romans hervorhebt. Dabei übernimmt Zweig freilich mit der Bemerkung, Rolland habe »die deutsche Seele, die deutsche künstlerische Kultur dem französischen Intellektuellen nahezubringen gesucht« (17), explizit ein damals verbreitetes Klischee über vermeintliche Nationalcharaktere, das Thomas Mann dann in seinen Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) zur basalen Opposition von deutscher Kultur vs. französischer Zivilisation erheben wird. Zugleich verdeutlicht der ganze Aufsatz mittelbar, welche zentrale Rolle Zweig den Schriftstellern bzw. der Literatur bei der Annäherung der beiden Länder zuteilt. Nach dem Zusammenbruch der mondänen kosmopolitischen Gesellschaft der Jahrhundertwende bei Kriegsbeginn verfallen ihre Angehörigen schlagartig in engstirnigen Nationalismus. Auch Rolland und Zweig vertreten nun veränderte bzw. stärker entwickelte Standpunkte, so dass die Kommunikation der beiden Autoren bis Ende September 1914 über die Tagespresse stattfindet. Rolland hält sein in Jean-Christophe gültig formuliertes Bekenntnis zum Über-Nationalen, d. h. zum Europäischen, samt der darin enthaltenen Absage an jeglichen Chauvinismus aufrecht und bleibt mit den ab September 1914 im Journal de Genève erscheinenden, unter dem Titel Au-dessus de la mêlée in Buchform publizierten Artikeln vorerst eine der raren dezidiert pazifistischen Stimmen inmitten der allgemeinen Kriegseuphorie. Zweig hingegen verfasst mehrere Zeitungsartikel mit eindeutig nationalistischer Tendenz, so »Heimfahrt nach Österreich« (erschienen am 01.08.1914), einen sorgsam stilisierten Bericht über seine überstürzte Abreise aus einem belgischen Seebad, der sein exaktes literarisches Pendant im panikartigen Aufbruch der Sanatoriumsgäste in Manns Zauberberg (1924) hat. Ihm ist nunmehr sogar die französische Sprache zuwider: »Französisch, die Sprache, der man durch Jahre in Liebe und Neigung gedient, mit einem Male klingt sie feindlich.« (Die schlaflose Welt. Aufsätze und Vorträge aus den Jahren 1909–1941, Frankfurt/Main, 1983, 26). Sein Erinnerungsbuch Die Welt von gestern (1944) übernimmt später die Schilderung zu Teilen, kehrt jedoch ihre Bewertung um; insbesondere der
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völkerrechtswidrige Überfall auf das neutrale Belgien, dem sich Zweig nicht zuletzt durch die Freundschaft mit Emile Verhaeren doch stark verbunden gefühlt haben müsste, wird in der Rückschau klar benannt: »Kein Zweifel, das Ungeheuerliche war im Gang, der deutsche Einbruch in Belgien wider alle Satzung des Völkerrechts.« (Berlin/Frankfurt am Main, 1965, 206). Neben weiteren Artikeln (»Ein Wort von Deutschland«, 06.08.1914 u. »Die schlaflose Welt«, 18.08.1914) ist insbesondere An die Freunde in Fremdland (19.10.1914) angelegt, bei Rolland einige Betroffenheit hervorzurufen. In diesem Zeugnis fortgeschrittener Entfremdung distanziert sich Zweig von seinen einstigen Freunden: »[…] aber ich bin in diesen Tagen nicht der Gleiche, der mit euch saß, mein Wesen ist gleichsam umgewandt und das, was in mir deutsch ist, überflutet mein ganzes Empfinden.« (Die schlaflose Welt, 1983, 43) Rollands lapidarer Reaktion – »Ich bin unserm Europa treuer als Sie, lieber Stefan Zweig und ich verleugne keinen meiner Freunde.« (28.09.1914; 2014:47) – ist die Enttäuschung unschwer anzumerken. Von Mitte September 1914 an setzt sich die Korrespondenz indes fort; zentrales Thema ist der Krieg, seien es die Zurschaustellung von Kriegsgefangenen (vgl. 53) oder die Beschießung der Kathedrale von Reims (vgl. 79). Mehrfach beschäftigt Zweig, seit Dezember 1914 im österreichischen Kriegsarchiv beschäftigt, der Rape of Belgium, etwa die von deutschen Truppen verursachten Schäden an der Stadt Löwen und ihrer Universitätsbibliothek (vgl. 49 u. 53) – seiner Ansicht nach eine Propagandalüge der französischen Presse – sowie die Anschläge belgischer Franc-tireurs (vgl. 80). Seine gänzlich unkritische, an Verblendung grenzende Parteinahme für die Mittelmächte ist hier offensichtlich, auch wenn er in seinem Erinnerungsbuch behauptet, dass »ich selbst diesem plötzlichen Rausch des Patriotismus nicht erlag« (Die Welt von gestern, 211). Der in der Genfer Kriegsgefangenenauskunftsstelle tätige Rolland reagiert mit einem Hinweis auf die Brandschatzungen und Geiselerschießungen der deutschen Truppen im Städtchen Senlis unweit von Paris, schlägt jedoch dann rasch wieder versöhnlichere Töne an: »Vereinen wir uns, damit der Krieg wenigstens ohne Hass geführt wird.« (10.10.1914, 53). Schließlich regt Zweig Ende Oktober 1914 eine als Friedenskonferenz gedachte Zusammenkunft europäischer Intellektueller (vgl. 57 u. 65) an. Tragisch muss es anmuten, dass die Realität mit Zweigs Idealismus im schärfsten Kontrast steht: Im September 1914 erscheint das Manifest der 93, darin namhafte deutsche Autoren, Künstler und Wissenschaftler den gegen das Kaiserreich erhobenen Vorwurf der Kriegsverbrechen bestreiten, und einen Monat später die Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches mit über dreitausend Unterschriften. Der bis Juli 1915 dauernde Teil des Briefwechsels darf zweifelsohne als der interessanteste Teil gelten. Bei durchweg freundschaftlichem Umgangston zeigt sich vor dem Hintergrund einer unterschiedlichen Beurteilung der politischen
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Lage letztlich eine ungleiche Konstellation, die, wenn man denn so argumentieren wollte, jeweils dem vorgeblichen Nationalcharakter entspräche. (Eine Stilanalyse der Texte ergäbe einen ähnlichen Befund.) So fallen die Kommentare des fünfzehn Jahre älteren Rolland abgeklärter und souveräner aus, während Zweig emotional auftritt und unkritisch den offiziellen Verlautbarungen traut; in diesem Zusammenhang ermahnt ihn Rolland, »aus seiner einseitigen Vertrauensseligkeit herauszukommen« (84), umschreibt mithin elegant, was Zweig, bislang hauptsächlich Verfasser epigonaler Lyrik, zu diesem Zeitpunkt keinesfalls ist und auch später niemals sein wird – ein politisch denkender Mensch. Als Zweig Mitte Juli 1915 an die Front in Galizien entsandt wird, um über die dortigen katastrophalen Zustände Bericht zu erstatten, bewirkt dies keine Wandlung bei Zweig, sondern eine gleichsam schizophrene Haltung. Zwar schildern seine Tagebuchnotate das Grauen des Krieges, der Brief an Rolland vom 28. Juli aber schweigt ganz davon, ja enthält sogar eine Verteidigung Wilhelms II. (vgl. 196); lediglich der Satz »Drei Tage, drei Wochen in jener Welt sagen mehr als 1000 Bücher und Broschüren« (197), deuten darauf hin, dass Stefan Zweig an der Ostfront zum ersten Mal mit der Realität in Kontakt getreten ist, seitdem »knistern meine Nerven« (202). Ende August erscheint Zweigs regierungskonformer Propaganda-Artikel »Galiziens Genesung« in der Neuen Freien Presse. Erst mit der Publikation seines pazifistischen Dramas Jeremias (1917) und einem anschließenden Besuch bei Rolland in der Schweiz, wo er anderen Kriegsgegnern begegnet (Hermann Hesse, Annette Kolb, Leonhard Frank u. a.) erfolgt endgültig Zweigs Hinwendung zum Pazifismus (vgl. 265–269); maßgeblich verantwortlich dafür ist die durch den Briefwechsel vorbereitete, persönliche Begegnung mit Roland, den er von nun an wiederholt als »lieber Meister und Freund« und »mein lieber und großer Freund« apostrophiert. Das Verhältnis zwischen Zweig und Rolland gründet, bei teils konträren Ansichten, auch während des Weltkrieges auf großer gegenseitiger Wertschätzung und tiefer Verbundenheit, so dass der Briefwechsel den durchaus beeindruckenden Versuch darstellt, sich weiterhin mit dem Nachbarland auseinanderzusetzen und angesichts der Weltkriegskatastrophe gewissermaßen die Probe aufs Exempel der zuvor begonnenen deutsch-französischen Annäherung zu wagen, was der Leser nicht ohne Interesse verfolgt. Zu kritisieren ist die nachlässige Edition, es ist ohnehin eine für das Gedenkjahr 1914 auf den Markt gebrachte Auswahl des bereits 1987 erschienenen Briefwechsels (Berlin: 1987). Das Fehlen von Anmerkungen, ergänzenden Texten und Dokumenten erschwert erheblich Lektüre, Verständnis und, am wichtigsten, eine objektive Gesamtbeurteilung der von Rolland und insbesondere von Zweig vertretenen Positionen. Statt des überflüssigen preziösen Vorworts von Peter Handke (»Zwei Menschenkinder, zwei Hochherzige«, V–VII) hätte dem Band eine fundierte
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Einführung sowie ein Anmerkungsteil samt weiterer Texte (z. B. Zweigs Kriegsartikel) gut angestanden, selbst wenn dafür beherzte Kürzungen an den Briefen nötig gewesen wären; die ausführliche Zeittafel bietet schwerlich Ersatz (439–451). Thomas Amos, Frankfurt/Main
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Zeno Ackermann. Gedächtnis-Fiktionen. Mediale Erinnerungsfiguren und literarischer Eigensinn in britischen Romanen zum Zweiten Weltkrieg. Heidelberg: Universitätsverlag Winter (Anglistische Forschungen; 454), 2015, 420 pp., 68,00 € [978-3-8253-6527]. After the Second World War a lot of different discourses began, searching for clarification, explanations and solutions. The author of this volume asks to what extent and how the discourse on violence, media and mobilization influenced British literature after 1945. What is the role of the media in totalitarianism and that of violence in the literary discourse? Essential subjects in this matter are the collective and the individual, memory and sensuality, dissociative rhetoric in post-war literature and characters who convey a culture of memory through all kinds of media. Authors considered are, among others, Elizabeth Bowen, George Orwell, J.G. Ballard, W.G. Sebald and A.L. Kennedy. Nach dem Zweiten Weltkrieg begannen viele unterschiedliche Diskurse, die nach Aufklärung, Erklärungen und Lösungen suchten. Der Autor dieses Bandes stellt die Frage, inwiefern und wie die Diskurse über Gewalt, Medien und Mobilisierung die britische Literatur nach 1945 beeinflusst haben. Was ist die Rolle der Medien im Totalitarismus und was die der Gewalt im literarischen Diskurs? Essentielle Themen sind dabei das Kollektiv und das Individuum, Gedächtnis und Sinnlichkeit, dissoziative Rhetorik in Nachkriegsliteratur und Figuren, die eine Erinnerungskultur multimedialer Art vermitteln. Berücksichtigte Autoren sind unter anderem: Elizabeth Bowen, George Orwell, J.G. Ballard, W.G. Sebald und A.L. Kennedy.
Christian Adam. Der Traum vom Jahre Null. Autoren, Bestseller, Leser: Die Neuordnung der Bücherwelt in Ost und West nach 1945. Berlin: Galiani, 2016, 448 pp., Ill., 38,00 € [978-3-86971-122-5]. The end of the Second World War in Germany was said to be the zero point for a new start in every respect – but what about the written word and the printed text? Adam focusses on
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the book and publishing landscape in Germany, East and West, in the post-war period. By choosing different authors and bestsellers (from both East- and West-Germany), he decrypts the famous »zero hour«. Questions in this context concern the influence of the allies, the influence of relation to the old NS-Regime on careers, the consequences of the literary policies of the Nazis, the dealing with the Holocaust and also the authors in exile. The Cold War which followed influenced publishing and writing in many ways, turning texts into tools of manipulation and introducing not only authors and publishers, but also secret services and politics to the process of writing and publishing. In the annex, one can find the sales numbers of the most important bestsellers, notes from the author, a bibliography and an index of illustrations and of persons and titles. Das Ende des Zweiten Weltkriegs markiert in Deutschland die sogenannte »Stunde Null« – den Neuanfang in jeder Hinsicht – wie stand es also mit dem geschriebenen Wort und dem gedruckten Text? Adam fokussiert sich auf die Buch- und Verlagslandschaft Deutschlands in Ost und West in der Nachkriegszeit. Durch eine Auswahl verschiedener Autoren und Bestseller (aus sowohl West- als auch Ostdeutschland) entschlüsselt er die berühmte »Stunde Null«. Fragen in diesem Zusammenhang thematisieren den Einfluss der Alliierten, den Einfluss auf die Karrieren durch eine Verbindung mit dem NS-Regime, die Folgen der Literaturpolitik der Nazis, den Umgang mit dem Holocaust und auch die Autoren aus dem Exil. Der Kalte Krieg, der folgte, beeinflusste das Publizieren und Schreiben vielfältig und führte auch dazu, dass sich nicht nur Autoren und Verleger mit dem Prozess vom Schreiben und Publizieren beschäftigten, sondern auch Geheimdienste und Politik. Im Anhang finden sich die Auflagenzahlen der wichtigsten Bestseller, Anmerkungen des Autors, eine Bibliographie und ein Abbildungs-, Personen- und Titelverzeichnis.
Bettina Bannasch, Helga Schreckenberger, Alan E. Steinweis. Exil und Shoah. München: Richard Boorberg Verlag, 2016, 395 pp., Ill., 38,00 € [978-3-86916550-9]. The Shoah, the Hebrew word for the holocaust, that happened to millions of Jews in NaziGermany, is dicussed from the perspectives of different disciplines in this book. After the introduction by the three editors, it deals with the exile as conditio humana, which is discussed in some articles – amongst others focusing on essays by Margarete Susman or the poetology in the works of Imre Kertész. In the next part the Shoah is embedded into discourses of exile in (social) sciences. Some biographies serve as examples and the role of natural law in the fight against NS-tyranny is discussed. In the third part the focus is on literary efforts of coping with dying in the holocaust or surviving in exile. In this case the book deals with works of Lion Feuchtwanger, Peter Weiss and Edgar Hilsenrath. The last chapter is about the modification of the understanding of exile in the face of the the Shoah and the persecution of Jews. It deals with, amongst others, the projection of emigrants in american comic books and the holocaust in front of the world tribunal. At the end some reviews and short-biographies of the authors can be found.
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Die Shoah, also der Holocaust, der Millionen von Juden in Deutschland widerfahren ist, wird in diesem Werk aus unterschiedlichen Disziplinen heraus betrachtet. Nach einer Einleitung der drei Herausgeber geht es um das Exil als conditio humana, die in mehreren Aufsätzen diskutiert wird – unter anderem anhand der Essayistik Margarete Susmans oder der Poetologie in Werken von Imre Kertész. In einem weiteren Teil wird die Shoah in (sozial)wissenschaftliche Diskurse des Exils eingebettet, wobei diverse Biographien als Beispiele dienen und die Rolle des Naturrechts im Kampf gegen die NS-Gewaltherrschaft diskutiert wird. Im dritten Teil werden literarische Bewältigungsversuche des Sterbens im Holocaust und des Überlebens im Exil thematisiert. Dabei stehen unter anderem Werke von Lion Feuchtwanger, Peter Weiss oder Edgar Hilsenrath im Mittelpunkt. Danach folgt ein Kapitel zur Modifikation des Exilverständnisses angesichts von Judenverfolgung und Shoah, wobei es neben anderen Aspekten um Emigrantenprojektionen im amerikanischen Comic Book und dem Holocaust vor dem Weltgericht geht. Am Ende folgen einige Rezensionen und Kurzbiographien der Autorinnen und Autoren.
Gerhard Bauer, Gorch Pieken, Matthias Rogg, Militärhistorisches Museum der Bundeswehr (eds.). 14 – Menschen – Krieg. Essays. Dresden: Sandstein (Forum MHM. Schriftenreihe des Militärhistorischen Museums der Bundeswehr; 9), 2014, 408 pp., Ill., 48,00 € [978-3-95498-074-1]. The 100th anniversary of the First World War is a rather miserable one. The old myth, that dying for your home country is something noble and honorable, did not withstand the cold reality of death in the industrialized trench warfare. In combination with the exhibition »14 – Menschen – Krieg«, realized by the Military History Museum of the German Army, this volume gathers different international essays with different perspectives and emphases on the First World War. The chapters therefore vary between scenes and actors, the logistic and techniques, the means of warfare, fine arts and the media, and humans in war. At the end one can find information on the authors, an index of abbreviations, a register of persons, and an index of illustrations, of which there are numerous. In addition, a catalogue of the exhibition has been published. Das hundertjährige Jubiläum des Ersten Weltkrieges ist eher ein trauriges. Der alte Mythos, dass es nobel und ehrenvoll sei, für das Vaterland zu sterben, konnte der kalten Realität des Todes im industrialisierten Grabenkampf nicht standhalten. Im Zuge der Ausstellung 14 – Menschen – Krieg, umgesetzt vom Militärhistorischen Museum der Bundeswehr, versammelt dieser Band verschiedene internationale Essays mit unterschiedlichen Perspektiven und Schwerpunkten über den Ersten Weltkrieg. Die Kapitel variieren daher zwischen Szenen und Akteuren, der Logistik und Technik, den Methoden der Kriegsführung, der Kunst und den Medien und den Menschen im Krieg. Am Ende finden sich Informationen über die Autoren, ein Abkürzungsverzeichnis, ein Personenregister, und ein Bildnachweis der zahlreichen Illustrationen und Abbildungen. Zusätzlich zu diesem Essayband wurde auch ein Katalog zur Ausstellung veröffentlicht.
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Gerhard Bauer, Gorch Pieken, Matthias Rogg, Militärhistorisches Museum der Bundeswehr (eds.). 14 – Menschen – Krieg. Katalog. Dresden: Sandstein (Forum MHM. Schriftenreihe des Militärhistorischen Museums der Bundeswehr; 9), 2014, 308 pp., Ill., 48,00 € [978-3-95498-075-8]. This volume documents the exhibition »14 – Menschen – Krieg«, realized by the Military History Museum of the German Army. It was planned and established together with the TVdocumentary »14 – Tagebücher des Ersten Weltkriegs«. Like the exhibition, the catalogue has different main topics and is therefore parted in four chapters. The focus is on the beginning of the Great War, the breakdown or fall because of the horror and the duration, the front areas and issues distant from the front and on the new manifested through the industrial kind of war, the heavy artillery and trench warfare. With more than 350 illustrated objects and documents, which are explained in detail, and different added texts this volume contains a wide range of material to comprehend the circumstances as well as the everyday life of the First World War. The volume concludes with an annex, listing the authors, a register of persons and one of abbreviations, as well as picture credits. In addition to this catalogue, a volume with essays has been published. Dieser Katalog dokumentiert die Ausstellung 14 – Menschen – Krieg, umgesetzt durch das Militärhistorische Museum der deutschen Bundeswehr. Diese wurde gemeinsam mit der Fernsehdokumentation 14 – Tagebücher des Ersten Weltkriegs geplant und erstellt. Wie schon die Ausstellung, so präsentiert auch der Katalog verschiedene Schwerpunkte und teilt sich dadurch in vier Kapitel. Der Fokus liegt auf dem Anfang des Krieges, dem Zusammenbruch durch Horror und Dauer, der Heimatfront und den Gebieten und Themen abseits der Front und auf der neuen Welt im Sinne eines ersten industrialisierten Krieges, einer schweren Artillerie und dem Grabenkampf. Mit mehr als 350 illustrierten Objekten und Dokumenten, die im Detail erläutert werden, und verschiedenen Texten beinhaltet dieser Band eine große Bandbreite an Material zum Verständnis der Umstände und des alltäglichen Lebens des Ersten Weltkriegs. Am Ende steht ein Anhang, welcher Informationen über die Autoren, ein Personenregister, ein Abkürzungsverzeichnis und Abbildungsnachweise aufführt. Zusätzlich zu diesem Katalog wurde auch ein Essayband veröffentlicht.
Riccardo Bavaj. Der National-Sozialismus. Entstehung, Aufstieg und Herrschaft. Berlin-Brandenburg: be.bra (Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert; 7), 2016, 208 pp., Ill., 19,90 € [978-3-89809-407-8]. This volume is part of a series on German History in the 20th century, focusing on the new state of research and with the pursuit to outline a good, brief and clear introduction. The author illustrates the beginnings of the Nazi-Era and the idea of National Socialism as well as the developments from 1933 onwards. Social structures in every part of life, in private, in the city, in schools, in the church or at the front helped to ensure the stability of the Nazi regime. The annex contains notes from the author, a choice of bibliography and an index.
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Dieser Band ist Teil einer Serie über die Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert, die sich auf den neuen Stand der Forschung fokussiert und qualitativ gute, knappe und klare Einführungen geben will. Der Autor veranschaulicht die Anfänge der Nazi-Ära und die Idee des Nationalsozialismus, ebenso wie die Entwicklungen nach 1933. Soziale Strukturen in jedem Lebensbereich, sei es im Privaten, in der Stadt, in der Schule, in der Kirche oder an der Front, verhalfen dazu, das Regime der Nationalsozialisten aufrechtzuerhalten. Der Anhang enthält Anmerkungen des Autors, eine Auswahlbibliographie und ein Register.
Falko Bell. Britische Feindaufklärung im Zweiten Weltkrieg. Stellenwert und Wirkung der »Human Intelligence« in der britischen Kriegsführung 1939–1945. Paderborn: Ferdinand Schöningh (Krieg in der Geschichte; 95), 2016, 410 pp., Ill., 44,90 € [978-3-506-78429-2]. »Human Intelligence« names the concept of using spies on the inside to obtain useful knowledge about the enemy. This volume treats the work of the intelligence services of Britain in times of the Second World War against Germany. The study focusses on spies who worked for Britain and also people like prisoners of war and refugees who collaborated as spies. Different case studies allow for an understanding of processes and decisions concerning the warfare against Germany during the time of National Socialism. The book concludes with a detailed annex, an index of abbreviations, a bibliography, a register of persons and an index of illustrations and tables. »Human Intelligence« bezeichnet das Konzept, menschliche Spione im Inneren zu nutzen, um nützliche Informationen über den Feind zu gewinnen. Dieser Band beschäftigt sich mit der Arbeit der Nachrichtendienste Großbritanniens zur Zeit des Zweiten Weltkrieges gegen Deutschland. Die Studie fokussiert Spione, die für England arbeiteten, und zudem Menschen, wie Kriegsgefangen und Flüchtlinge, die auch als Spione kollaborierten. Verschiedene Fallstudien ermöglichen das Verstehen von Prozessen und Entscheidungen, die die Kriegsführung gegen Deutschland während des Nationalsozialismus betrafen. Das Buch schließt mit einem detailliertem Anhang, einem Abkürzungsverzeichnis, einer Bibliographie, einem Personenregister und einem Verzeichnis von Abbildungen und Tabellen.
Larissa Bender (ed.). Innenansichten aus Syrien. Frankfurt/Main: Edition Faust, 2014, 296 pp., Ill., 24,00 € [978-3-9815893-7-5]. In times of war and horror, civilians and soldiers, men, women and children are harmed, persecuted, killed and cities and countries are destroyed. The Syrian Civil War started as a peaceful protest movement and escalated into an (international) conflict, forcing millions of Syrians to flee their country. However in times of war and horror there are also writers and artists, in or outside the country, who translate their struggle, desire and hope into other media. This volume gathers different perspectives in literature, photography, art, and theatre, which show the longing for freedom and peace. The contributions demonstrate the awakening of an artistic protest in peace whilst they are conquering a space of freedom to do so. In the annex one can find information on the authors as well as a bibliography.
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In Zeiten von Krieg und Schrecken werden Zivilisten und Soldaten, Männer, Frauen und Kinder verletzt, verfolgt, getötet und Städte und Länder zerstört. Der Syrische Bürgerkrieg begann als friedliche Bewegung und wurde zu einem (internationalen) Konflikt, der Millionen von Syrern zur Flucht zwang. Dennoch gibt es auch in Zeiten von Krieg und Schrecken sowohl innerhalb als auch außerhalb des Landes Autoren und Künstler, die ihren Kampf, ihre Wünsche und Hoffnung in andere Medien übersetzen. Dieser Band versammelt verschiedene Perspektiven aus Literatur, Photographie, bildender Kunst und Theater, die das Verlangen nach Freiheit und Frieden zeigen. Die Beiträge verdeutlichen das Erwachen eines künstlerischen, friedlichen Protests, der sich auch den freiheitlichen Raum dafür erobert und eröffnet. Im Anhang finden sich Informationen zu den Autoren und Quellennachweise.
Doerte Bischoff (ed.). Exil – Literatur – Judentum. München: edition text + kritik (Exil-Kulturen; 1), 2016, 351 pp., Ill., 39,00 € [978-3-86916-327-7]. During the Second World War and the time of the Holocaust Jewish people who were lucky enough to escape the horror had to flee into exile. Centuries later, more and more humans today experience diverse kinds of persecution and, in addition, our world has become more and more globalized. Until today the Jewish culture contains various traditions of exile and different concepts of community. The author focusses on the question, whether these concepts and ideas might be an alternative to assimilation and nationalism, whether diaspora, multilingualism and cosmopolitanism could help us solve questions of integration. Therefore the volume focusses among other perspectives on a discourse on German-speaking Jewish intellectuals and literates, who escaped the NS. Nevertheless it is scrutinized if such a generalization of Jewish tradition and history is possible and applicable. Während des Zweiten Weltkrieges und der Zeit des Holocausts waren Juden, die das Glück hatten, dem Horror in Deutschland zu entkommen, gezwungen, ins Exil zu fliehen. Wie sie gibt es heute immer mehr Menschen, die die Erfahrung von Verfolgung teilen, und zusätzlich ist unsere Welt immer mehr zu einer globalisierten geworden. Bis heute beinhaltet die jüdische Kultur verschiedene Traditionen von Exil und unterschiedliche Konzepte von Gemeinschaft. Die Herausgeberin stellt die Frage, ob diese Konzepte und Ideen nicht eine Alternative sein könnten zu Praktiken der Assimilation und des Nationalismus, ob Diaspora, Mehrsprachigkeit und Kosmopolitismus uns nicht helfen könnten bei Fragen der Integration. Dafür fokussiert sich der Band neben anderen auf einen Diskurs der deutschsprachigen, jüdischen Intellektuellen und Literaten, die dem Nationalsozialismus entkamen. Nichtsdestotrotz wird auch hinterfragt, ob eine solche Generalisierung der jüdischen Tradition und Geschichte überhaupt möglich und anwendbar ist. Am Ende finden sich zudem Informationen zu den Autoren.
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Henning Börm, Marco Mattheis, Johannes Wienand (eds.). Civil War in Ancient Greece and Rome. Contexts of Disintegration and Reintegration. Stuttgart: Franz Steiner (Heidelberger Althistorische Beiträge und Epigraphische Studien; 58), 2016, 437 pp., Ill., 68,00 € [978-3-515-11224-6]. One of the toughest tests for a society is, without question, a civil war. While external fights or catastrophes tend to strengthen a unity, internal disputes and fights separate them. This volume treats civil wars from the Classical Age on to the Early Principate and from the High Empire to Late Antiquity, focusing on Ancient Greece and Rome. Issues in this matter are among others the consequences and influences of violence on society, regarding politics as well as a certain culture of memory. The different contributions deal with topics like tyrannicide or »staseis« and with different forms of communication and rituals which accompany a civil war, such as reconciliation, reintegration, but also condemnation or restoration. A general index concludes the volume. Einer der härtesten Proben für eine Gesellschaft ist ohne Frage ein Bürgerkrieg. Während externe Kämpfe und Katastrophen eine Gemeinschaft eher stärken, so wirken interne Auseinandersetzungen und Kämpfe trennend. Dieser Band behandelt Bürgerkriege von der antiken Klassik bis zum frühen Prinzipat und vom Kaiserreich bis in die Spätantike mit Fokus antikes Griechenland und Rom. Unter anderem werden die Konsequenzen und Einflüsse von Gewalt auf eine Gesellschaft behandelt, ebenso betreffend Politik und Erinnerungskultur. Die verschiedenen Beiträge beschäftigen sich mit Ereignissen wie Tyrannenmord oder staseis, ebenso wie mit verschiedenen Formen von Kommunikation und Ritualen, die einen Bürgerkrieg begleiten (z.B. Versöhnung, Reintegration, aber auch Verbannung oder Restauration).
Norbert Büllesbach. Aus dem Rheinland in den Krieg. Mit einem rheinischen Infanterie-Regiment auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs. München: morisel, 2015, 171 pp., Ill., 18,50 € [978-3-943915-17-4]. Gathering yet unpublished photographs and documents this volume tells the story of the recruit Leopold Halm who fought in the First World War from 1914–1918 and died shortly before its end. Being a part of a local military unit from Bonn (Prussian Rhineland), he was mainly stationed at the Western front in Belgium and France. In contrast to the impression of shelter and identification through the local rooted solidarity, other documents are added which show the horrors of this Great War: excerpts from reports, diaries and war novels. Durch eine Zusammenstellung von zumeist bisher unveröffentlichten Fotos und Dokumenten erzählt dieser Band die Geschichte des Rekruten Leopold Halm, der im Ersten Weltkrieg von 1914–1918 kämpfte und kurz vor Kriegsende starb. Als Teil einer lokalen militärischen Einheit aus Bonn (Preußisches Rheinland) war er hauptsächlich an der Westfront in Belgien und Frankreich stationiert. Neben dem Eindruck von Schutz und Identifikation durch die lokal verwurzelte Solidarität zeigen andere Dokumente die Schrecken des Großen Krieges, etwa durch Auszüge aus Berichten, Tagebüchern und Kriegsromanen.
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Christopher Busch, Stefan Hördler, Robert Jan van Pelt (eds.). Das HöckerAlbum. Auschwitz durch die Linse der SS. Darmstadt: Philipp von Zabern, 2016, 340 pp., Ill., 49,95 € [978-3-8053-4958-1]. The photo album of Karl Höcker is a personal document, containing photos of the year 1944 in Auschwitz. Höcker was adjutant of camp commander Richard Baer and therefore part of the SS. His photos from Auschwitz illustrate the perspective of the SS, their free time, music and relaxation with SS-maids, shooting exercises and special occasions – and no photo shows the horror of the Holocaust, which we know happened at this time at the same place. This volume contains all the photos from the album, adding different international essays. The photographs as sources enable us to decrypt the perpetrators’ networking and meetings. Das Fotoalbum von Karl Höcker ist ein persönliches Dokument, das Fotos aus dem Jahr 1944 aus Auschwitz enthält. Höcker war Adjutant beim Lagerkommandanten Richard Baer und Teil der SS. Seine Fotos von Auschwitz zeigen die Perspektive der SS; ihre Freizeit, Musik und Entspannung mit den SS-Helferinnen, Schießübungen und weitere Anlässe – und kein Foto zeigt den Horror des Holocausts, von dem wir wissen, dass er zur gleichen Zeit am gleichen Ort geschehen ist. Dieser Band versammelt alle Fotos und fügt ihnen verschiedene, internationale Aufsätze hinzu. Die Bilder als Quellen ermöglichen es uns, das Networking und die Treffen der Täter zu entschlüsseln.
Barbara Christophe, Kerstin Schwedes (eds.). Schulbuch und Erster Weltkrieg. Kulturwissenschaftliche Analysen und geschichtsdidaktische Überlegungen. Göttingen: V&R unipress (Eckert. Expertise; 6), 2015, 226 pp., Ill., 35,00 € [978-38471-0553-4]. Although the First World War started more than a hundred years ago and the world is far more globalized than ever, its commemoration and historiography still varies from country to country. This can be seen in particular in schoolbooks, which tend to contain national differences in focuses and / or interpretations. This volume analyzes these tendencies, starting from a historical-didactic or a cultural-science approach. Therefore methods are used which arise through deconstruction possibilities of foreign understanding and comprehending the point of view. Additionally two concepts for teaching units are shown, including rather untraditional aspects and angle on the topic »war«. The annex concludes with a bibliography and a short-biography on the authors is added. Obwohl der Beginn des Ersten Weltkriegs nun mehr als hundert Jahre zurückliegt und die Welt stärker globalisiert ist als jemals zuvor, sind das Gedenken an ihn und seine Geschichtsschreibung doch immer noch von Land zu Land verschieden. Besonders deutlich wird das gerade in Schulbüchern, welche dazu neigen, nationale Unterschiede betreffend Schwerpunkten und/oder Interpretationen zu beinhalten. Dieser Band analysiert diese Tendenzen über einen geschichtsdidaktischen und einen kulturwissenschaftlichen Weg. Die angewandten Methoden zur Dekonstruktion bieten Möglichkeiten für ein Fremdverstehen und ein Verständnis des jeweiligen Blickwinkels. Zusätzlich werden zwei Konzepte für Unterrichtseinheiten vorgestellt, die eher untypische Sichtweisen zum Thema »Krieg« einschließen.
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Stefan Deißler. Eigendynamische Bürgerkriege. Von der Persistenz und Endlichkeit innerstaatlicher Gewaltkonflikte. Hamburg: Hamburger Edition, 2016, 368 pp., 35,00 € [978-3-86854-297-4]. The end of the Second World War marks a turning point in the history of warfare. After 1945 inner-state conflicts became more important and more frequent. The dynamic of civil wars, as we all see, for example, in Syria, is of lasting duration and seems to repeat itself in an infinite loop. This volume tries to characterize and analyze the strong momentum of civil wars considering the different warring parties and their actions, as well as the represented people and/or the civilians. Questions of structure, of pressure, of politics and economics are also taken into account aiming on a differentiated perspective. In the annex one can find an index of abbreviations and one of illustrations, plus a detailed bibliography. Das Ende des Zweiten Weltkriegs markiert einen Wendepunkt in der Geschichte der Kriegsführung. Nach 1945 wurden innerstaatliche Konflikte immer wichtiger und immer häufiger. Die Dynamik von Bürgerkriegen, wie wir es im Moment alle in Syrien beobachten können, ist von nachhaltiger Dauer und scheint sich selbst in einer Endlosschleife stetig zu wiederholen. In diesem Band wird versucht, die starke Eigendynamik von Bürgerkriegen zu charakterisieren und zu analysieren unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Kriegsparteien, der Repräsentierten und/oder der Zivilisten. Fragen nach der Struktur, nach Zwang, nach der Rolle von Politik und Ökonomie werden ebenso miteinbezogen und zielen auf eine differenzierte Perspektive ab. Im Anhang finden sich ein Abkürzungs- und ein Abbildungsverzeichnis, sowie ein detailliertes Literaturverzeichnis.
Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (ed.). Fanatiker, Pflichterfüller, Widerständige. Reichsgaue Niederdonau, Groß-Wien. Wien: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, 2016, 407 pp., Ill., 19,50 € [978-3-901142-66-6]. The Documentary Archive of Austrian Resistance concentrates among other related topics on researching information on resistance groups, which were active in Austria during the Second World War. This yearbook 2016 focusses on the areas of Groß-Wien and Niederdonau, which came into being in 1938 and 1939. The volume documents and analyzes movements and developments that show dutiful and loyal people and zealots of the Nazi Regime, as well as opponents to it. The contributors write about different persons and places, which is why the topics vary from spies and informers, photographies from prisoner-of-war camps and careers of officials to different resistance groups – only to mention some. Named cities are, among other smaller and larger ones: Vienna, Krems, Amstetten and St. Pölten. The yearbook concludes with the activity report of 2015 and a list of the authors. Das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes konzentriert sich, neben Thematiken, die damit verbunden sind, auf die Untersuchung von Informationen zu Widerstandsgruppen, die während des Zweiten Weltkriegs in Österreich aktiv waren. Dieses Jahrbuch von 2016 fokussiert die Gau-Bereiche Groß-Wien und Niederdonau, die jeweils
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1938 und 1939 entstanden. Der Band dokumentiert und analysiert die Bewegungen und Entwicklungen, welche sowohl pflichtbewusste und loyale Mitarbeiter und Zeloten, wie auch Gegner des Nazi-Regimes zeigen. Die Autorinnen und Autoren schreiben über verschiedene Personen und Orte, weshalb die Themen variieren zwischen Spitzeln und V-Männern, Photographien von Kriegsgefangenenlagern, Karrieren von Beamten bis zu verschiedenen Widerstandsgruppen – um nur einige zu nennen. Erwähnte Städte sind, sowohl kleinere als auch größere, unter anderem: Wien, Krems, Amstetten und St. Pölten. Das Jahrbuch schließt mit dem Tätigkeitsbericht von 2015 und einer Liste der Autorinnen und Autoren.
Flavio Eichmann, Markus Pöhlmann, Dierk Walter (eds.). Globale Machtkonflikte und Kriege. Paderborn: Ferdinand Schöningh, 2016, 344 pp., Ill. [978-3506-78392-9]. In our days military history does not stand alone, but is linked to global history. A scientist who recognized this already in the 1990s is the one to whom this commemorative publication is dedicated. Historian Stig Förster focused on global developments regarding non-European actors. In his remembrance different authors try to connect his two research fields. The main content includes wars and conflicts of power on a global level. Therefore not only leaders in politics are considered, but also the society and their conditions. A list of publications by the honored and information on the authors as well as a tabula gratulatoria are added in the annex. In unserer Zeit steht die Militärgeschichte nicht nur für sich, sondern ist verbunden mit der Globalschichte. Ein Wissenschaftler, der das schon in den 1990ern erkannte, ist der, dem diese Festschrift gewidmet ist. Historiker Stig Förster fokussierte sich auf globale Entwicklungen mit Bezug auf außereuropäische Akteure. In Erinnerung an ihn versuchen verschiedene Autoren seine beiden Forschungsfelder zu verbinden. Hauptsächlich geht es in dieser Ausgabe um Kriege und Machtkonflikte auf globaler Ebene. Daher werden nicht nur die Führer und Oberhäupter der Politik einbezogen, sondern auch die Gesellschaft und ihre Bedingungen. Eine Liste der Schriften des Geehrten und Informationen zu den Autoren sowie eine Tabula Gratulatoria sind im Anhang hinzugefügt.
Thomas Elsaesser, Michael Wedel (eds.). Körper, Tod und Technik. Metamorphosen des Kriegsfilms. Konstanz: Konstanz UP, 2016, 152 pp., Ill., 29.90 € [978-386253-028-1]. In peaceful countries and societies, wars are predominantly perceived as something abstract and unimaginable. One way of sensing how they could have been is going to the movies and experiencing a war or antiwar movie – but what exactly defines these movies and makes them so compelling? The two authors of this volume investigate the genre of war-films from the era of »New Hollywood« onwards, starting with »Apocalypse Now«. The twist in film-making, caused among others by this movie, affects on the one hand the question of perception of reality and on the other hand the presentation of warfare by focusing on the body as medium.
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Other films analyzed are »Saving Private Ryan« and »Windtalkers«. The annex includes a bibliography and an index of illustrations. In friedvollen Ländern und Gesellschaften sind Kriege eher etwas Abstraktes und Unvorstellbares. Eine Möglichkeit nachzuspüren, wie sie gewesen sein könnten, ist der Gang ins Kino in einen Kriegs- oder Antikriegsfilm – aber was genau definiert diese Filme und macht sie so anziehend? Die beiden Autoren dieses Bandes untersuchen das Genre des Kriegsfilms seit der Ära des »New Hollywood« und beginnen dafür mit dem Film Apocalypse Now. Die Wende im Filmemachen, die neben anderen auch von diesem Film verursacht wurde, betrifft auf der einen Seite die Frage nach der Wahrnehmung der Realität und auf der anderen Seite die Präsentation der Ereignisse im Krieg durch das Medium des Körpers. Weitere analysierte Filme sind Saving Private Ryan und Windtalkers. Der Anhang beinhaltet eine Bibliographie und ein Abbildungsverzeichnis.
Richard J. Evans. Das Dritte Reich. Geschichte und Erinnerung im 21. Jahrhundert. Darmstadt: Philipp von Zabern, 2016, 470 pp., 49,95 € [978-3-8053-5035-8]. Throughout time the view on the Third Reich and the Second World War have changed and so have the objects of research. The author summarizes and comments on these changes, which concern mainly the perspective of imperialism and globalization. The international structure, different conditions of culture and economics are seen as decisive aspects, which played their part in the development. New discussions arose, concerning Hitler’s political rise, the role of different companies and enterprises in the war, and the consequences in post-war Germany. Mit der Zeit hat sich der Blick auf das Dritte Reich und den Zweiten Weltkrieg verändert und daher auch der Forschungsgegenstand. Der Autor fasst diese Veränderungen zusammen und kommentiert sie; mit hauptsächlichem Schwerpunkt auf Imperialismus und Globalisierung. Der internationale Bezugsrahmen, verschiedene kulturelle Bedingungen und die Wirtschaft werden als entscheidende Aspekte betrachtet, die Teil der Entwicklung waren. Neue Diskussionen sind aufgekommen, betreffend Hitlers politischen Aufstieg, die Rolle verschiedener Unternehmen und Betriebe im Krieg und die Konsequenzen für das Nachkriegsdeutschland.
Hans-Heino Ewers (ed.). Erster Weltkrieg: Kindheit, Jugend und Literatur. Deutschland, Österreich, Osteuropa, England, Belgien und Frankreich. Frankfurt am Main: Peter Lang Edition (Kinder- und Jugendkultur, -literatur und -medien; 104), 2016, 356 pp., Ill., 64,95 € [978-3-631-6741-6]. This volume deals with children and young adult literature and picture books on the First World War, searching for parallels and developments in books from 1914–1918 onwards up until today. When the Great War had its anniversary in 2014, it also seemed to be useful to look into the contemporary children and young adult literature for this theme. The contributors of this book focus on different countries and times, considering the experiencing, the processing and the commemoration of the First World War. Germany, Austria, Eastern Europe, England,
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Belgium and France are covered in different chapters with several essays. The annex includes a register of persons. Dieser Band beschäftigt sich mit Kinder- und Jugendliteratur sowie mit Bilderbüchern zum Ersten Weltkrieg und sucht dabei Parallelen und zeigt Entwicklungen auf in Büchern von 1914–1918, in der Zeit danach und bis heute. Anlässlich des Jubiläums des Großen Krieges 2014 schien es sinnvoll, einen Blick auf die gegenwärtige Kinder- und Jugendbuchliteratur zu werfen und das Thema auch dort zu suchen. Die Mitarbeiter dieses Buches konzentrieren sich auf verschiedene Länder und Zeiten und berücksichtigen dabei das Erfahren, das Verarbeiten und das Gedenken an den Ersten Weltkrieg. Deutschland, Österreich, Osteuropa, England, Belgien und Frankreich werden dabei in verschiedenen Kapiteln mit mehreren Aufsätzen abgedeckt. Der Anhang beinhaltet ein Personenregister.
Gundula Gahlen, Daniel M. Segesser, Carmen Winkel (eds.). Geheime Netzwerke im Militär 1700 – 1945. Paderborn: Ferdinand Schöningh (Krieg in der Geschichte; 80), 2016, 222 pp., Ill., 34,90 € [978-3-506-77781-2]. The military has its own internal system, traditions and symbols. Its secrets and knowledge are protected by its state and therefore reserved for those who work and serve as soldiers, officers and in higher positions. Nevertheless there have always been secret groups within the military. This volume looks upon the time from 1700 to 1945 and on these secretly formed associations, who were often suspected to work against the own aims of the military. At the end one can find information on the authors of this book. Das Militär hat sein ganz eigenes System, seine Traditionen und Symbole. Seine Geheimnisse und sein Wissen werden von dem jeweiligen Staat geschützt und bleiben denen vorbehalten, die als Soldaten, Offiziere oder in höheren Positionen arbeiten. Jedoch gab es schon immer geheime Gruppierungen innerhalb des Militärs. Dieser Band betrachtet die Zeit von 1700 bis 1945 und diese heimlich gegründeten Verbindungen, denen oft unterstellt wurde, sie arbeiteten gegen die Ziele des eigenen Staates oder Militärs. Am Ende finden sich Informationen zu den Autoren dieses Buches.
Julia Gerlach. Der verpasste Frühling. Woran die Arabellion gescheitert ist. Berlin: Christoph Links, 2016, 248 pp., Ill., 18,00 € [978-3-86153-868-4]. In January 2011 the Egyptian government was shaken to their very foundations. The Arab Spring spread out to Cairo where the Tahrir Square was the main place of demonstrations. The author describes the genesis and failure of this revolutionary attempt by focusing on the personal perspective of activists, Islamists, politicians and people. Many of them, who took part in the demonstrations, are in prison today. The governments are led by new and old dictators. Civil war and chaos, and now the »Islamic State« force millions of people to flee. This monography is an informative depiction of the developments in recent Arabic History. Im Januar 2011 wird die ägyptische Regierung in ihren Grundfesten erschüttert. Der Arabische Frühling erreicht Kairo, und der Tahrir-Platz wird zum Dreh- und Angelpunkt für die
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Demonstrationen. Die Autorin beschreibt das Entstehen und Scheitern dieses revolutionären Vorstoßes und fokussiert sich dabei auf die persönliche Perspektive der Aktivisten, Islamisten, Politiker und Bürger. Viele der Demonstranten sind heute im Gefängnis. Die Regierungen werden sowohl von neuen, als auch von alten Diktatoren weitergeführt. Bürgerkrieg und Chaos sowie auch der »Islamische Staat« zwingen Millionen von Menschen zu fliehen. Diese Monographie stellt informativ die Entwicklungen der jüngsten arabischen Geschichte dar.
Amanda Gilroy, Marietta Messmer (eds.). America: Justice, Conflict, War. Heidelberg: Universitätsverlag Winter (European Views of the United States; 8), 2016, 276 pp., 45,00 € [978-3-8253-6535-6]. This volume gathers a selection of sixteen essays, whose origin is the European Association for American Studies (EAAS) conference of 2014 in The Hague, presented by the Netherlands American Studies Association (NASA). Various international authors (Europe, Canada, US) discuss different sides and aspects of justice, conflict and war from different perspectives considering culture, literature, politics and history as starting points. Different focuses consider trauma (e.g. of the Iraq Wars), different narratives of war, 9/11 and the fight against terrorism, injustice against Native Americans and aspects of the legal system; social justice in the US, including the jury-system. Additionally the city as urban space which bears both injustice and social potential is taken into account. Each essay is followed by a bibliography and in the annex one can find information on the contributors. Dieser Band versammelt eine Auswahl von sechzehn Essays, deren Ursprung in der European Association for American Studies (EAAS) Konferenz von 2014 in Den Haag liegt, präsentiert damals von der Netherlands American Studies Association (NASA). Verschiedene internationale Autoren (Europa, Kanada, USA) behandeln unterschiedliche Seiten und Aspekte von Gerechtigkeit, Konflikt und Krieg von verschiedenen Ausgangspunkten wie Kultur, Literatur, Politik und Historik. Variierende Schwerpunkte betrachten Traumata (z.B. aus den Irak-Kriegen), verschiedene Narrative des Kriegs, 9/11 und den Kampf gegen den Terrorismus, Ungerechtigkeit gegen die Ureinwohner Amerikas und Aspekte des Rechts systems; soziale Gerechtigkeit in den USA, einschließlich des Jury-Systems. Zusätzlich wird die Stadt als urbaner Raum betrachtet, der sowohl Ungerechtigkeit als auch soziales Potential in sich birgt. Jedem Essay folgt eine Bibliographie und im Anhang sind Informationen zu den verschiedenen Autoren zu finden.
Alexander Goeb. Die verlorene Ehre des Bartholomäus Schink. Jungwiderstand im NS-Staat und der Umgang mit den Verfolgten von 1945 bis heute. Die Kölner Edelweißpiraten. Frankfurt am Main: Brandes & Apsel, 2016, 180 pp., Ill., 16,90 € [978-3-95558-162-6]. The violent repression of any kind of opposition was part of the daily agenda of the NaziRegime. The public execution via hanging of thirteen adolescents and adults on 10.11.1944 affected mainly members of the oppositional group »Edelweißpiraten«. Even after the Second
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World War and onto 2005, when they were officially recognised as resistance fighters, have the victims been slandered as criminals and villains. The author focusses on the valuation of this oppositional group over these years, taking also the beginnings, their resistance and the persecution into account. Together with Bartholomäus Schink, being one of the famous members, also Franz Rheinberger, Gustav Bermel, Günther Schwar, Adolf Schütz and Johann Müller are mentioned. The volume concludes with an index of illustrations and a bibliography. Die gewaltsame Unterdrückung jeder Art von Opposition war Teil des Tagesgeschäfts der Nationalsozialisten. Die Hinrichtung durch Erhängen von dreizehn Jugendlichen und Erwachsenen am 10. November 1944 betraf hauptsächlich Mitglieder der oppositionellen Gruppe der »Edelweißpiraten«. Selbst nach Ende des Zweiten Weltkrieges bis hin ins Jahr 2005, in dem sie offiziell als Widerstandskämpfer anerkannt wurden, verleumdete man sie als Kriminelle und Bösewichte. Der Autor konzentriert sich auf die Bewertung dieser oppositionellen Gruppe durch die Jahre mit Berücksichtigung der Anfänge, ihres Widerstands und der Verfolgung. Nebst Bartholomäus Schink, der einer der berühmten Vertreter war, werden auch Franz Rheinberger, Gustav Bermel, Günther Schwar, Adolf Schütz und Johann Müller erwähnt. Der Band schließt mit einem Abbildungsverzeichnis und einer Bibliografie.
Peter Hallama. Nationale Helden und jüdische Opfer. Tschechische Repräsentationen des Holocaust. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (Schnittstellen. Studien zum östlichen und südöstlichen Europa; 1), 2015, 368 pp., Ill., 64,99 € [978-3-525-30073-2]. One of the main consequences of the Second World War was without doubt the historical revision of the Holocaust. In the Czech Republic however, this happened only slowly and until today it is marginalized in Czech History. The author examines the question, whether the communist regime was responsible for this insufficient discussion and negates this assumption. He rather focuses on the Czech nationalism, anti-Semitic stereotypes and the heroic view of history. According to the author these circumstances have influenced the handling process and the commemoration of the Holocaust. In the end one can find a register of abbreviations and persons, as well as an index of sources and literature. Eine der größten Folgen des Zweiten Weltkriegs ist zweifellos die Aufarbeitung des Holocausts. In der Tschechischen Republik geschah dies allerdings nur schleppend, und bis heute wird er innerhalb der tschechischen Geschichte an den Rand gedrängt. Der Autor untersucht die Annahme, dass das kommunistische Regime die ungenügende Auseinandersetzung zu verschulden habe, und verneint diese These. Im Fokus seiner Untersuchung stehen viel mehr der tschechische Nationalismus, antisemitische Stereotypen und ein heroisches Geschichtsbild. Diese Umstände beeinflussen laut dem Autor die Verarbeitung und das Gedenken des Holocausts. Am Ende finden sich ein Abkürzungsverzeichnis, Quellen- und Literaturverweise, sowie ein Personenregister.
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Hamburger Institut für Sozialforschung (ed.). Replay – Mediengeschichten des Kriegsfilms. Hamburg: Verlag Hamburger Edition (Mittelweg 36.; 3), 2015, 130 pp., Ill., 9,50 € [978-3-86854-731-3]. Movies about war change our perception, ideas and opinions about wars and warfare. This volume asks questions on the role of movies in the process of historiography. Important aspects in this matter are the reenactment of war, the relation between fact and fiction, and the producers’ role and intentions. The concerned subject itself is highly diverse and disperses over different institutions and areas, such as cinematographic departments of armies in war, TV, literature, cinema, archives, history lessons, politics of memory etc. The discussed movies are rather unknown, forgotten or unpopular ones, who seem to be far more profitable for media studies. They cover the time after the Second World War to the Iran-Iraq-War. Filme über Krieg verändern unsere Wahrnehmung, unsere Ideen und Meinungen von Kriegen und Kriegsführung. Dieser Band fragt nach der Rolle der Filme im Prozess der Geschichtsschreibung. Wichtige Aspekte sind dabei das Nachstellen von Krieg, die Beziehung zwischen Fakten und Fiktion sowie die Rolle der Auftraggeber und ihrer Intentionen. Das betroffene Thema ist stark vermischt und verteilt sich über verschiedene Institutionen und Bereiche wie die kinematographischen Abteilungen kriegsführender Parteien, das Fernsehen, Literatur, Kino, über Archive, den Geschichtsunterricht und Gedächtnispolitik. Die besprochenen Filme sind eher unbekannt, vergessen oder unpopuläre Produktionen, die aber für die Medienwissenschaft wesentlich ergiebiger zu sein scheinen. Sie decken zeitlich den Raum nach dem Zweiten Weltkrieg bis zum Iran-Irak-Krieg ab.
Historisch-Technisches Museum Peenemünde (ed.). NS-Großanlagen und Tourismus. Chancen und Grenzen der Vermarktung von Orten des Nationalsozialismus. Berlin: Ch. Links, 2016, 143 pp., Ill., 20,00 € [978-3-86153-877-6]. This volume is a documentation of a conference on questions concerning »dark tourism«, which was held in Peenemünde in May, 2015. Buildings and remnants from the Third Reich, such as Hitler’s private house at the Obersalzberg, the Nazi party rally grounds in Nuremberg, as well as the Heeresversuchsanstalt in Peenemünde have become well visited places of tourism. Decisive questions in this matter consequently concern the responsibility of education and experience, combined with the handling of the rush of visitors. The outcomes of this congress deal with these questions and illustrate the current state of offers in this division, including an evaluation. In the annex one can find notes on the authors and an index of illustrations. Dieser Band ist eine Dokumentation der Tagung vom Mai 2015 in Peenemünde, die sich mit den Fragen des »Dark Tourism« beschäftigt hat. Gebäude und Überreste des Dritten Reiches wie Hitlers Privathaus auf dem Obersalzberg, das Reichsparteitagsgelände in Nürnberg oder auch die Heeresversuchsanstalt in Peenemünde sind zu gut besuchten Tourismus-Orten geworden. Entscheidende Fragen zu diesem Gegenstand betreffen folglich die Verantwortung von Bildung und Erlebnis, verbunden auch mit dem Umgang mit dem Besucherandrang. Die Resultate dieser Tagung bearbeiten diese Fragen und veranschaulichen den
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Ist-Zustand der Angebote in dieser Tourismus-Sparte, einschließlich einer Bewertung. Im Anhang finden sich Angaben zu den Autoren und ein Abbildungsverzeichnis.
Christian Jentzsch, Jann M. Witt (eds.). Der Seekrieg 1914 – 1918. Die Kaiserliche Marine im Ersten Weltkrieg. Darmstadt: Theiss, 2016, 184 pp., Ill., 29,95 € [978-3-8062-3272-1]. The First World War was also the first industrial war. On the basis of technological research and developments warfare on the fronts had totally changed compared to wars before - not only onshore, but also at sea. The authors of this volume document the naval warfare in the Great War from a German perspective, analysing the strategy, the warfare and reasons for the failure. Topics included are the Imperial Navy, the naval warfare in the North Sea, the submarine warfare, the air force as support and the Battle of Jutland on to the November Revolution in 1918. In addition the volume contains previously unpublished images, nine maps, a selection of bibliography and an index of illustrations. Der Erste Weltkrieg ist auch der erste industrialisierte Krieg gewesen. Auf der Grundlage technischer Forschungen und Entwicklungen hatte sich die Kriegsführung an den Fronten im Vergleich zu vorherigen Kriegen völlig geändert – nicht nur an Land, sondern auch auf See. Die Autoren dieses Bandes dokumentieren die Kriegsführung zur See im Großen Krieg aus einer deutschen Perspektive. Sie analysieren die Strategie, die Kriegsführung in der Nordsee, den U-Boot-Krieg, die Luftwaffe als Unterstützung und die Skagerrakschlacht bis hin zur Novemberrevolution von 1918. Zusätzlich enthält der Band bisher unveröffentlichtes Bildmaterial, neun Karten, eine Auswahlbibliographie und ein Abbildungsverzeichnis.
Richard Lakowski. Ostpreußen 1944/45. Krieg im Nordosten des Deutschen Reiches. Paderborn: Schöningh, 2016, 264 pp., Ill., 34,90 € [978-3-506-78574-9]. This book deals with the »final battle for the Reich« which reached East Prussia in the summer of 1944. After an explanation of the geography of the region, the focus is on historical aspects of military operations in the wars in East Prussia. It is about specific aspects of East Prussia from the middle ages until 1914, the Schlieffenplan and the province from 1939 to 1941. The next chapter deals with the Second World War, that reaches German territory, and topics like the situation at the border, the defence of the »Reich« and the first Soviet attack on East Prussia in 1944 are discussed. After this the main topic is the Soviet operation in East Prussia: On the one hand the Soviet deployment is discussed, on the other hand the defensive preparations of the Heeresgruppe Mitte. Moreover the chapter delivers an insight into the first part of the Russian campaign against East Prussia. After this the last main chapter deals with East Prussia’s end, with the fall of Königsberg and the Samland serving as examples. Finally there is an excursus about the role of the German air force. At the end an epilogue, an index of maps and graphics, a concordance of East-Prussian names and a register of persons can be found. Das Buch behandelt den »Endkampf um das Reich«, der Ostpreußen im Sommer 1944 erreichte. Nachdem die Geografie der betroffenen Region näher beleuchtet wurde, treten
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operationsgeschichtliche Aspekte der Kriege Ostpreußens in den Vordergrund. Dabei geht es zum einen um Besonderheiten vom Mittelalter bis 1914, zum anderen um den Schlieffenplan und die Provinz zwischen 1939 und 1941. Der nächste Teil handelt dann vom Zweiten Weltkrieg, der das Reichsgebiet erreicht, und behandelt Themen wie die Situation an der Grenze, die Reichsverteidigung und den ersten sowjetischen Vorstoß nach Ostpreußen 1944. Danach steht die sowjetische Ostpreußen-Operation im Mittelpunkt: Zum Einen wird der sowjetische Aufmarsch thematisiert, zum Anderen die Verteidigungsvorbereitungen der Heeresgruppe Mitte. Weiterhin gibt es einen Einblick in den ersten Abschnitt der Schlacht um Ostpreußen. Letztendlich widmet sich ein letztes Hauptkapitel dem Ende Ostpreußens, wobei der Fall von Königsberg und der Verlust des Samlandes exemplarisch dargestellt werden. Zum Schluss folgt ein Exkurs zur Rolle der deutschen Luftwaffe. Darüber hinaus findet sich am Ende ein Epilog, ein Verzeichnis der Karten und Grafiken, eine Konkordanz ostpreußischer Namen und ein Personenregister.
Nils Löffelbein, Silke Fehlemann, Christoph Cornelißen (eds.). Europa 1914. Wege ins Unbekannte. Paderborn: Ferdinand Schöningh, 2016, 287 pp., Ill., 39,90 € [978-3-506-78572-5]. In 1914 Europe seems to be at a crossroads; the developments seem to be leading to a war, but peace still appears possible. The editors of this volume gather different contributors and essays, which describe the intentions and attitudes of different sides: the governments, the public opinion, as well as the public mentality of the belligerent nations. Therefore the volume is structured into »Expectations of War«, »Hope for Peace«, »Mobilizations«, concluding into an outlook linked to the anniversary year 2014. The authors take new research results into account and draw a multifaceted image including the perspective of society and its varying perception of »us« and »them«, leading to the question of the roots and consequences of the outbreak of the First World War. Im Jahre 1914 steht Europa am Scheideweg; die Entwicklungen scheinen auf einen Krieg hinauszulaufen, aber noch erscheint Frieden möglich. Die Herausgeber dieses Bandes versammeln verschiedene Autoren und Essays, welche die Intentionen und Einstellungen der verschiedenen Seiten beschreiben: der Regierungen, der öffentlichen Meinung sowie die gemeinschaftliche Sicht und Stimmung der kriegsführenden Nationen. Daher ist die Arbeit gegliedert in »Kriegserwartungen«, »Friedenshoffnungen«, »Mobilisierungen« und schließt ab mit einem Ausblick, der in Relation steht zu dem Jubiläumsjahr 2014. Die Autoren beziehen neue Forschungsergebnisse mit ein und zeichnen so ein facettenreiches Bild, welches die Perspektive der Gesellschaft und seine wechselnde Wahrnehmung von »uns« und »denen« mit aufnimmt. Alles führt zu der Frage nach den Wurzeln und Konsequenzen des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges.
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Martin Löschnigg, Karin Kraus (eds.). North America, Europe and the Cultural Memory of the First World War. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2015, 241 pp., Ill., 45,00 € [978-3-8253-6402-1]. The Great War led to consequences and developments in all areas of personal, political and cultural life. The essays of this volume investigate the cultural influence and emergences in art, literature and film, focusing on the American, Canadian and European transatlantic relations. Considering the images of the world before, during and after the Great War, the authors discuss for example the loss of Europe as a cultural model, the emergence of a Canadian nationhood and the influence of the U.S. on European culture. Therefore this book is a contribution to clarify the developments in a terrible part of transatlantic cultural history. In the annex one can find notes on the contributors. Der Erste Weltkrieg führte zu Konsequenzen und Entwicklungen in allen Bereichen des persönlichen, politischen und kulturellen Lebens. Die Aufsätze dieses Bandes untersuchen den kulturellen Einfluss und die Entstehungen in Kunst, Literatur und Film, und fokussieren sich dabei auf die amerikanischen, kanadischen und europäischen transatlantischen Beziehungen. Mit Blick auf die Bilder der Welt vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg thematisieren die Autoren zum Beispiel den Untergang von Europa als kulturelles Modell, das Aufkommen eines kanadischen Nationalgefühls und den Einfluss der USA auf die europäische Kultur. Dadurch ist dieser Sammelband auch ein Beitrag zur Klärung der Entwicklungen in einer schrecklichen Episode der transatlantischen kulturellen Geschichte. Im Anhang finden sich Informationen zu den mitwirkenden Autoren.
Óscar Loureda (ed.). Der Erste Weltkrieg und die Folgen. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2016, 190 pp., Ill., 9,00 € [978-3-8253-6602-5]. The Studium Generale at the University of Heidelberg is a lecture series, gathering different lectures on one topic, as for example in the summer semester 2014: Here, the topic was the First World War and its consequences. Different well-known researchers set various focuses including economic consequences, the responsibility and legacy, music and the Great War, and the question of reality in photographies. Each essay is followed by a bibliography and in the annex one can find the referents’ addresses. Das Studium Generale an der Universität Heidelberg ist eine Vortragsreihe, die verschiedene Vorträge unter einem Oberthema versammelt, wie zum Beispiel im Sommersemester 2014 zum Thema: Der Erste Weltkrieg und seine Folgen. Verschiedene bekannte Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen thematisieren unterschiedliche Schwerpunkte; unter anderem die wirtschaftlichen Folgen, die Verantwortung und das Erbe, Musik und der Große Krieg und die Frage nach der Realität der Fotografien. Jedem Essay folgt eine Bibliographie und im Anhang finden sich die Adressen der Referenten.
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Reinhold Lütgemeier-Davin. Köpfe der Friedensbewegung (1914–1933). Gesehen von dem Pressezeichner Emil Stumpp. Essen: Klartext, 2016, 412 pp., Ill., 34,95 € [978-3-8375-1706-4]. In this book the main focus is on lithographs of pacifist personalities from Germany and surrounding countries by the once famous press-illustrator Emil Stumpp. Additionally watercolours, woodcuts and photographs underline the peace movement in the time between the wars. The topics are the artist Stumpp himself and other persons engaged in the cultural sector in the service of peace. Moreover you get an insight into the international pacifist network, which offered a concrete alternative to fascism, nationalism and militarism. On top of that the book deals with the World Peace Congress in Berlin 1924 and with the German-French speaker-exchange. Finally it is about the crisis of the German Peace Society and the persecution of pacifists. At the end a list of references, an index of pictured persons, a register of persons and a list of abbreviations can be found. Im Zentrum dieses Buches stehen die Lithographien pazifistischer Persönlichkeiten aus Deutschland und Umgebung, die vom einst berühmten Pressezeichner Emil Stumpp angefertigt wurden. Auch Aquarelle, Holzschnitte und Fotos untermauern die Friedensbewegung der Zwischenkriegszeit. Thematisch wird der Künstler Stumpp selbst behandelt sowie Kulturschaffende der Nachkriegszeit im Dienst des Friedens. Zudem erhält man einen Einblick in das internationale pazifistische Netzwerk, welches konkret eine Alternative zu Faschismus, Nationalismus und Militarismus bot. Darüber hinaus geht es um den Berliner Weltfriedenskongress 1924 und den deutsch-französischen Redneraustausch. Letztendlich wird auch die Krise der Deutschen Friedensgesellschaft und die Verfolgung von Pazifisten behandelt. Am Ende befinden sich ein Quellen- und Literaturverzeichnis, ein Verzeichnis der abgebildeten Personen, ein Personenregister und ein Abkürzungsverzeichnis.
Lars Lüdicke. Hitlers Weltanschauung. Von »Mein Kampf« bis zum »Nero-Befehl«. Paderborn: Ferdinand Schöningh, 2016, 199 pp., 19,90 € [978-3-506-78575-6]. A lot of different documents and sources are required to develop a differentiated evaluation of Hitler’s ideology. Historian Lars Lüdicke takes a closer look on the popular work »Mein Kampf« but focusses also on other documents, for example on the unpublished second book, speeches, internal messages and orders. The author looks for relations and links for a deeper analysis and interpretation, which reveal the dictator’s worldview as an image of paradoxes united in one philosophy, including crime, racial doctrine and war plans. Viele verschiedene Dokumente und Quellen sind von Nöten, um eine differenzierte Betrachtung von Hitlers Weltsicht zu erarbeiten. Der Historiker Lars Lüdicke wirft einen gründlichen Blick auf das bekannte Werk Mein Kampf, aber konsultiert auch andere Dokumente, zum Beispiel das unveröffentlichte zweite Buch, Reden, interne Nachrichten und Anweisungen. Der Autor sucht nach Relationen und Verbindungen im Sinne einer tiefgehenden Analyse und Interpretation, welche die Weltsicht des Diktators entschlüsseln als ein Bild der Paradoxien, vereint in einer Philosophie, welche Verbrechen, Rassendenken und Kriegspläne einschließt.
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J.G. Manning (ed.). Writing History in Time of War. Michael Rostovtzeff, Elias Bickerman and the »Helleniziation of Asia«. Stuttgart: Franz Steiner (Oriens et Occidens; 24), 2015, 153 pp., Ill., 38,00 € [978-3-515-10948-2]. Searching for importance and meaning in history for the modern world was one of the main goals of Elias Bickerman and Michael Rostovtzeff. Both historians were themselves victims of war, persecution and exil and therefore their interpretation of ancient history opens up new aspects when it is seen from the perspective of their biographies. Although the two authors often met in their life and career, only rarely have they together been made a subject of discussion. Some of the main contents of this book are the outcomes of a lecture by Pierre Briant, and some of the responses to it, for example the Fourth Annual Michael I. Rostovtzeff Lecture and Colloquium by the Departement of Classics at Yale University. At the end one finds a list of contributors and of illustrations as well as a bibliography and an index. Das Suchen nach Bedeutung in der Geschichte für die moderne Welt war eins der großen Ziele von Elias Bickerman und Michael Rostovtzeff. Beide Historiker waren selbst Opfer von Krieg, Verfolgung und Exil, und daher eröffnet ihre Interpretation der altertümlichen Geschichte aus der Perspektive ihrer Biographien neue Aspekte. Obwohl beide Autoren sich in ihren Leben und Karrieren öfter trafen, wurden sie bisher nur selten gemeinsam thematisiert. Zu den hauptsächlichen Inhalten dieses Buches zählen die Resultate eines Vortrags von Pierre Briant, und einige der Antworten zu dieser wie die Fourth Annual Michael I. Rostovzeff Lecture and Colloquium vom Departement of Classics der Yale University. Am Ende des Bandes finden sich eine Liste der mitwirkenden Autoren und Illustrationen sowie eine Bibliographie und ein Index.
Gernot Meier, Hansgeorg Schmidt-Bergmann (eds.). Schock, Trauma, Glorifizierung. Literarische Positionen zwischen den Weltkriegen. Karlsruhe: Evangelische Akademie Baden, 2016, 137 pp., 14,00 € [978-3-89674-588-0]. This volume gathers contributions, which were first presented at a conference of the same name in Baden (Germany) in March 2015. The main focus lies on literary positions after the First World War. Mentioned authors are among others Berta von Suttner, Erich Maria Remarque, Erich Kästner, Hans Fallada and Joseph Roth. Taking also the temporal context into account an introducing chapter examines German literature from 1912 to 1922, enhancing a wider view of different positions. Contrary to pacifist publications the development clearly showed that »war« as an heroic solution for tensions and crisis still seemed to be legit – even after the Great War from 1914–1918. Dieser Band versammelt Beiträge, welche zuerst auf einer gleichnamigen Tagung in Baden (Deutschland) im März 2015 vorgestellt wurden. Der Hauptfokus liegt dabei auf literarischen Positionen nach dem Ersten Weltkrieg. Genannte Autoren sind unter anderem Berta von Suttner, Erich Maria Remarque, Erich Kästner, Hans Fallada und Joseph Roth. Unter Einbezug des zeitlichen Kontexts gibt ein einleitendes Kapitel einen Überblick über die deutsche Literatur von 1912–1922 und verstärkt somit einen weiteren Blickwinkel
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verschiedener Positionen. Entgegen pazifistischer Publikationen zeigt die Entwicklung allerdings deutlich, dass »Krieg« als eine heroische Lösung für Spannungen und Krisen auch nach dem Großen Krieg von 1914–1918 noch legitim erschien.
Julia Metger. Studio Moskau. Westdeutsche Korrespondenten im Kalten Krieg. Paderborn: Ferdinand Schöningh, 2016, 288 pp., 39,90 € [978-3-506-78192-5]. Times of political conflicts and tension do not only affect countries themselves but also the media reporting between them. The Cold War is only one example in this matter. When journalists from West Germany started to work in Moscow more than ten years after the Second World War, they were facing difficulties and obstacles because of the political conditions. The author reports on her own experiences of her everyday life, the circumstances and how they affected the access to information and publishing; the latter being fundamentally constitutive for the image of the Soviet Union in the East-West conflict. In the annex one can find notes from the author, an index of abbreviations, a bibliography and an index of sources and persons. Zeiten von politischen Konflikten und Spannungen betreffen nicht nur Länder selbst, sondern auch die mediale Berichterstattung zwischen ihnen. Der Kalte Krieg ist in diesem Zusammenhang nur ein Beispiel. Mehr als zehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges begannen Außenkorrespondenten in Moskau ihre Arbeit und sahen sich konfrontiert mit Schwierigkeiten und Hindernissen aufgrund der politischen Situation. Die Autorin berichtet über ihre eigenen Erfahrungen im Alltag, die Umstände und wie diese den Zugang zu Informationen und die Veröffentlichungen beeinflusst haben; wobei letzteres grundsätzlich prägend war für das Bild von der Sowjetunion im Ost-West-Konflikt. Im Anhang finden sich Anmerkungen der Autorin, ein Abkürzungs-, Literatur- und Quellenverzeichnis, sowie ein Personenregister.
Reiner Möckelmann. Franz von Papen. Hitlers ewiger Vasall. Darmstadt: Philipp von Zabern, 2016, 480 pp., Ill., 30,95 € [978-3-8053-5026-6]. One of the Reich Chancellors during the Weimar Republic was Franz von Papen from June to December in 1932. He then became vice chancellor of Hitler from 1933 to 1934 but until his death in 1969 rejected every accusation of having supported the Nazi-Regime. The author of this book gathers new information on this man and compares his own statements to facts and documents. Möckelmann focuses on von Papen’s work with the Catholic Church and his approaches to Turkey, for the purpose of winning it as an Axis country. Von Papen’s character and opportunism are presented in detail. The annex includes notes of the author, a bibliography and a register of persons. Einer der Reichskanzler während der Weimarer Republik war von Juni bis Dezember 1932 Franz von Papen. Alsdann wurde er Vizekanzler von Hitler von 1933 bis 1934, lehnte jedoch bis zu seinem Tod 1969 jede Anschuldigung ab, die ihn der Unterstützung des Nazi-Regimes bezichtigte. Der Autor dieses Buches versammelt neue Informationen über diesen Mann und vergleicht dessen eigene Stellungnahmen mit Fakten und Dokumenten.
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Möckelmann konzentriert sich auf von Papens Arbeit mit der katholischen Kirche und auf seine Annäherungen an die Türkei zum Zweck, diese als Achsenmacht zu gewinnen. Von Papens Charakter und Opportunismus werden im Detail dargelegt. Der Anhang beinhaltet außerdem Anmerkungen des Autors, ein Literaturverzeichnis, sowie ein Personenregister.
Rudolf Morsey. Fritz Gerlich. Ein früher Gegner Hitlers und des Nationalso zialismus. Paderborn: Ferdinand Schöningh, 2016, 346 pp., Ill., 29,90 € [9783-506-78398-1]. Long forgotten and overlooked, Fritz Gerlich receives his deserved appreciation through this title. Author and historian Morsey outlines Gerlich’s life on the basis of his estate and shows that the editor-in-chief of the weekly newspaper »Der gerade Weg« was not always opposed to Hitler – but opposed early and at the cost of his life. From 1920 to 1928, while he was working at the »Münchener Neuesten Nachrichten«, there was a short period, where he supported the NSDAP. After intense changes in his life and his conversion to Catholic belief he finally opposed rigorously to the growing National Socialism in Germany in 1930. He was arrested only three years later and murdered in Dachau on 1st July, 1934. In addition to an index of abbreviations and one of illustrations the annex contains a detailed bibliography of sources and literature, including Gerlich’s writings and unprinted sources, as well as an index of persons and subjects. Für lange Zeit vergessen und unbeachtet, erhält Fritz Gerlich mit diesem Titel seine verdiente Würdigung. Autor und Historiker Morsey zeichnet Gerlichs Leben anhand seines Nachlasses nach und verdeutlicht, dass der Chefredakteur der Wochenzeitung Der gerade Weg nicht immer ein Gegner Hitlers war – aber dennoch ein früher Gegner auf Kosten seines Lebens. Von 1920–1928, während Gerlich für die Münchener Neuesten Nachrichten arbeitete, gab es eine kurze Periode, in der er die NSDAP unterstützte. Nach intensiven Veränderungen in seinem Leben und seiner Konvertierung zum katholischen Glauben stellte er sich letztendlich 1930 gegen den erstarkenden Nationalsozialismus in Deutschland. Nur drei Jahre später wurde er verhaftet und am 1. Juli 1934 in Dachau ermordet. Nebst einem Abkürzungs- und einem Abbildungsverzeichnis beinhaltet der Anhang eine detaillierte Bibliographie der Quellen und Literatur, einschließlich Gerlichs Schriften und ungedruckter Quellen, ebenso wie ein Personen- und Sachregister.
Oberbürgermeister der Stadt Osnabrück, Präsident der Universität Osnabrück (eds.). Grenzüberschreitungen. Göttingen: V&R unipress (Osnabrücker Jahrbuch Frieden und Wissenschaft; 22), 2015, 221 pp., Ill., 23,00 € [978-3-8471-0517-6]. This yearbook gathers different essays and aspects. First of all it documents the »Osnabrücker Friedensgespräche« (peace talks) of 2014 which dealt with topics such as the meaning of being a soldier nowadays, music theatre as a political stage, the role of Turkey between the EU and the Middle East, Germany in the EU, religion and tolerance, and personal freedom and security in the internet. Furthermore the concert of the Osnabrück peace day 2014, musica pro pace, is documented. In addition to that the volume includes three essays on peace research, treating
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the topicality of religion in world politics, the war in Afghanistan and religious communities between religious freedom and loyalty to the constitution. At the end of the volume there is information on the authors and speakers, as well as an index of illustrations. Dieses Jahrbuch versammelt verschiedene Aufsätze und Aspekte. Zuerst dokumentiert es die Osnabrücker Friedensgespräche von 2014, die sich mit folgenden Themen befassten: die Bedeutung, heutzutage Soldat zu sein, Musiktheater als politische Bühne, Deutschland in der EU, Religion und Toleranz, persönliche Freiheit und Sicherheit im Internet. Des Weiteren wird das Konzert zum Osnabrücker Friedenstag 2014, musica pro pace, dokumentiert. Der Band schließt außerdem drei weitere Essays zur Friedensforschung ein, die sich mit der Aktualität der Religion für die Weltpolitik, mit dem Krieg in Afghanistan und mit religiösen Gemeinschaften zwischen religiöser Freiheit und Verfassungstreue beschäftigen. Am Ende finden sich Informationen zu den verschiedenen Autoren und Referenten, sowie ein Abbildungsnachweis.
Andreas Pehnke (ed.). Die literarische Werkausgabe des Hamburger Friedenspädagogen Wilhelm Lamszus (1881–1965). Beucha, Markkleeberg: Sax-Verlag, 2016, 748 pp., Ill., 45,80 € [978-3-86729-164-4]. This book is the first complete edition on Wilhelm Lamszus’ work, which gathers all his available literary texts, including previously unpublished ones. Lamszus was a peace educator, who got first recognition for his pamphlets published in 1910 together with his colleague Alfred Jensen. His novel »The Human Slaughter-House« anticipated the horrors of the First World War and first gave him worldwide attention. Nevertheless, the teacher, educator and author sunk into oblivion, especially in times of the Cold War. This volume aims at recalling this man and his work. It includes his anti-war literature, his dramas, poems, autobiographic sketches and short texts. In addition to his most popular novel »The Human Slaughter-House« the contemporary context of its national and international reception is added. The annex concludes with a project-sketch of an anti-war movie adaption of his most famous novel. Furthermore it includes a biographic chronology, notes from the editor and a register of persons. Dieses Buch ist die erste komplette Edition von Wilhelm Lamszus’ Arbeit, welche all seine zugänglichen literarischen, inklusive vieler, bisher unveröffentlichter Texte in sich vereint. Lamszus war ein Friedenspädagoge, der zuerst 1910 durch Streitschriften bekannt wurde, die er zusammen mit seinem Kollegen Alfred Jensen veröffentlichte. Sein Roman Das Menschenschlachthaus – Bilder vom kommenden Krieg nahm die Gräuel des Ersten Weltkrieges vorweg und verlieh ihm weltweite Aufmerksamkeit. Nichtsdestotrotz geriet der Lehrer, Pädagoge und Autor in Vergessenheit, besonders in Zeiten des Kalten Krieges. Dieser Band soll die Erinnerungen an diesen Mann und seine Arbeit wieder wachrufen. Es schließt seine Antikriegsliteratur, seine Dramen, Gedichte, autobiographischen Skizzen und Kurztexte mit ein. Zusätzlich zu seinem bekanntesten Werk Das Menschenschlachthaus wird der nationale und internationale Zeitkontext der Rezeption aufgezeigt. Der Anhang schließt mit einer
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Projektskizze für einen Antikriegsfilm zu seinem berühmtesten Werk. Außerdem beinhaltet es eine biographische Zeittafel, Anmerkungen des Herausgebers und ein Personenregister.
Florian Peters. Revolution der Erinnerung. Der Zweite Weltkrieg in der Geschichtskultur des spätsozialistischen Polen. Berlin: Ch. Links (Kommunismus und Gesellschaft; 2), 2016, 516 pp., Ill., 50,00 € [978-3-86153-891-2]. Poland was a country of upheavals and of change in the 1970s and 1980s. Questions concerning history were not only questions of memory culture but as well of political tendencies and tensions. Topics like the Hitler-Stalin-Pact, Katyń, the Warsaw Uprising and the Holocaust were of fundamental importance to the democratic opposition facing a socialist regime. The rising of Solidarność (1980–81) has to be seen in this historical context, forming a rather collectivist ground which also led to the individualist movements in the following years. Therefore this volume also illustrates a new perspective on the radical changes in Europe in 1989. In the annex one can find a bibliography of sources and literature and an index of persons. Polen war zu Zeiten der 1970er und 1980er ein Land der Umbrüche und Veränderungen. Fragen bezüglich der Geschichte waren nicht nur Fragen zur Erinnerungskultur, sondern ebenso Fragen mit politischen Tendenzen und Spannungen. Themen wie der Hitler-StalinPakt, Katyń, der Warschauer Aufstand und der Holocaust waren von fundamentaler Bedeutung für die demokratische Opposition, die einem sozialistischen Regime gegenüberstand. Der Aufstand der Solidarność (1980–81) muss in diesem historischen Kontext gesehen werden, wobei sie selbst eher kollektivistisch agierten, und dennoch zu den individualistischen Bewegungen der darauffolgenden Jahre entscheidend beitrug. Daher veranschaulicht dieser Band auch eine neue Perspektive der radikalen Veränderungen in Europa im Jahr 1989. Im Anhang finden sich ein Literatur- und Quellenverzeichnis und ein Personenregister.
Othmar Plöckinger (ed.). Quellen und Dokumente zur Geschichte von »Mein Kampf« 1924–1945. Stuttgart: Franz Steiner (Beiträge zur Kommunikationsgeschichte; 28), 2016, 695 pp., 99,00 € [978-3-515-11164-5]. Until today »Mein Kampf« by Adolf Hitler, his world-infamous and more than questionable political text, seemed to be and was a forbidden book, which was not supposed to be read. Nevertheless after Hitler’s 70th anniversary of death and the expiration of the copyright the discussion occurred how society should handle the text. This volume gathers all information available to clarify the circumstances of the genesis and the history of impact and reception of »Mein Kampf«. In addition to over 50 reviews also the sales figures can be found. Other (partly unpublished) texts are added as well. They move between state, politics and private texts, referring to Hitler’s »Mein Kampf«. In total, Plöckinger gathers 171 transcripts of documents. In the annex one finds an index of abbreviations, an index of persons and a bibliography. Bis heute schien und war das bekannte und mehr als fragwürdige Werk Mein Kampf von Adolf Hitler eine Art »verbotenes Buch«, das nicht gelesen werden sollte. Nichtsdestotrotz sah man sich gezwungen, sich angesichts des Auslaufens der Urheberrechte mit Hitlers
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70. Todestag mit der Frage zu beschäftigen, wie der Text in der Gesellschaft rezipiert werden soll. Dieser Band versammelt alle verfügbaren Informationen, um die Umstände der Entstehung sowie die Wirkung und die Rezeption dieser politischen Schrift aufzuklären. Zusätzlich zu mehr als 50 Rezensionen findet man auch die Verkaufszahlen. Andere (teilweise unveröffentlichte) Texte wurden ebenfalls hinzugefügt. Sie bewegen sich zwischen dem Staat, der Politik und der Privatheit und beziehen sich auf Mein Kampf. Insgesamt zählt man hier 171 Dokumentabschriften. Am Ende steht ein Abkürzungs- ein Personen- und ein Literaturverzeichnis.
Uwe Pörksen. »In Stahlgewittern« oder als »Überläufer« zur Natur? Ernst Jüngers Erlebnis und Wilhelm Lehmanns Deserteur und Luftmensch im Ersten Weltkrieg. Stuttgart: Franz Steiner (Abhandlungen der Klasse der Literatur und der Musik; 1), 2015, 31 pp., Ill., 8,00 € [978-3-515-11105-8]. The author focusses on two novels whose origin is the First World War: »In Stahlgewittern. Aus dem Tagebuch eines Stoßtruppführers« by Ernst Jünger and on »Der Überläufer« by Wilhelm Lehmann. By analysing the works’ language, genre and category of language the differences are shown and the opposite position of one novel compared to the other is demonstrated. At the end one can find a bibliography. Der Autor bezieht sich auf zwei Romane, deren Ursprung im Ersten Weltkrieg liegt: In Stahlgewittern. Aus dem Tagebuch eines Stoßtruppführers von Ernst Jünger und auf Der Überläufer von Wilhelm Lehmann. Durch die Analyse von Sprache, Gattung und Sprachtyp werden die Unterschiede zwischen den beiden Werken gezeigt und die gegenteilige Position, in der sie zueinander stehen, verdeutlicht. Am Ende steht ein Literaturverzeichnis.
Jörg W. Rademacher. Im Westen nichts Neues? A l’Ouest, rien de nouveau? Die unbekannten Zeichnungen von Georges Victor-Hugo. Les dessins méconnus de Georges Victor-Hugo. Sur le Front de Champagne (1915/1916). Coesfeld: Elsinor Verlag (Schriften der Landesbibliothek Oldenburg; 62), 2015, 100 pp., Ill., 9,90 € [978-3-939483-35-9]. Georges Victor-Hugo took part in the fights in the Champagne region in France during the First World War. From 1915 to 1916 he was not only a soldier at the front, but also an artist, who tried to illustrate what he saw. Although he never met the fame of his grandfather Victor Hugo, his album with colored drawings from the front seems to be his greatest work, which was exhibited in Paris in 1917. The author dedicates himself to the work of this unknown artist and depicts the developments and his work before, during and after the Great War. The volume is written in German and French and concludes with a selected bibliography. Georges Victor-Hugo nahm an den Kämpfen in der Champagne in Frankreich während des Ersten Weltkriegs teil. Von 1915 bis 1916 war er nicht nur als Soldat an der Front, sondern auch als Künstler, der versuchte zu veranschaulichen, was er dort sah. Auch wenn er nie den Ruhm des Großvaters Victor Hugo erreichte, so scheint sein Album mit kolorierten
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Zeichnungen von der Front seine größte Arbeit zu sein, die zudem in Paris 1917 ausgestellt wurde. Der Autor widmet sich den Werken dieses unbekannten Künstlers und stellt die Entwicklungen und seine Arbeit sowohl vor und während als auch nach dem Großen Kriege dar. Der Band ist in deutscher und französischer Sprache verfasst und abgerundet mit einer Auswahlbibliographie.
Christoph Rass (ed.). Militärische Migration vom Altertum bis zur Gegenwart. Paderborn: Ferdinand Schöningh (Studien zur historischen Migrationsforschung; 30), 2016, 364 pp., Ill., 44,90 € [978-3-506-76637-3]. In war and warfare soldiers are always in motion. The traveling in order to serve in the military has various aspects, such as call-up orders to distant countries, stationing in another country, colonialism, being a prisoner of War and coming home. Important to these aspects are also the context, the conditions, the causes and the experiences of the soldiers concerned. However this kind of migration is not very well researched, neither the different types of mobility in the military, nor the influences and relations between migration of the military and the global increase of migration. In 18 case studies this volume shows different realities of migration in the military beginning with the army of the Pharaohs up to the US Army in Iraq and Afghanistan. It concludes with information on the authors. Im Krieg und in der Kriegsführung sind Soldaten stets in Bewegung. Das Reisen im Dienst des Militärs hat verschiedene Aspekte wie die Einberufung in entfernte Länder, die Stationierung vor Ort, Kolonialismus, Kriegsgefangenschaft und das Heimkehren. Wichtig für diese Punkte sind auch der Kontext, die Bedingungen, die Gründe und die Erfahrungen der Soldaten. Dennoch ist diese Art von Migration bis heute wenig erforscht; weder die verschiedenen Mobilitätsarten des Militärs, noch die Einflüsse und Verbindungen zwischen Migration des Militärs und der globalen Zunahme von Migration. In 18 Fallstudien zeigt dieser Band verschiedene Realitäten der Migration im Militär, beginnend bei der Armee der Pharaonen bis zur US Army im Irak und Afghanistan. Am Ende finden sich zusätzlich Informationen zu den verschiedenen Autoren.
Melanie Ruff. Gesichter des Ersten Weltkrieges. Stuttgart: Franz Steiner (MedGGBeiheft; 55), 2015, 281 pp., Ill., 52,00 € [978-3-515-11058-7]. The development and use of new weapons in the First World War, also known as the first industrial war, caused a lot of new injury types. This dissertation project focusses on facial injuries and their treatment. To reconstruct the scope of action and the biographies of the facially-injured the author uses various sources and material e.g. patient, retirement and administration files, estates of doctors, medical specialized literature, and photographs. Therefore different aspects take precedence which include among others medical knowledge in that time, the discourse on facial injuries, everyday life in the military hospitals and the self-image of the injured. Every one of them seems to find their own individual way of dealing with their
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injury and the consequences for their life. In the annex one can find an index of tables and images as well as a bibliography. Die Entwicklung und der Gebrauch neuer Waffen im Ersten Weltkrieg, dem ersten industriellen Krieg, verursachten viele neue Arten von Verletzungen. Dieses Dissertationsprojekt fokussiert sich auf Gesichtsverletzungen und ihre Behandlung. Zur Rekonstruktion der Handlungsspielräume und Biographien der Gesichtsverletzten nutzt die Autorin verschiedene Quellen und Materialien wie zum Beispiel Patienten-, Renten- und Verwaltungsakten, Nachlässe von Ärzten, medizinische Fachliteratur und Photographien. Dadurch treten verschiedene Aspekte in den Vordergrund, welche unter anderem das medizinische Wissen dieser Zeit, den Diskurs über Gesichtsverletzungen, den Alltag des Lazaretts und das Selbstbild der Verletzten beinhalten. Jeder von ihnen scheint seine eigene, individuelle Art und Weise zu finden, mit der Verletzung und ihren Konsequenzen für sein Leben umzugehen. Im Anhang finden sich ein Tabellen- und Abbildungsverzeichnis, sowie eine Bibliographie.
Anja Schindler. »… verhaftet und erschossen«: Eine Familie zwischen Stalins Terror und Hitlers Krieg. Berlin: Karl Dietz, 2016, 256 pp., Ill., 24,90 € [978-3320-02322-5]. This volume is a biographical text on the parents and grandparents of the author Anja Schindler. She was born in Karanga in Kazakhstan and describes her childhood as a happy one. However, after her research on her family’s background she knows that it has been a place linked to labor camps, desperation, hunger and death. Her grandparents once fled from Berlin to Kazakhstan and had to suffer under persecution for being antifascists during the reign of Hitler. Years later in 1956 the author moved back to Berlin with her parents and into the eastern part, the GDR. The story of three generations throughout two countries in times of war, persecution and their impacts on their family is precisely shown. In the annex, one can find among other information different documents, biographic information, a local directory, a glossary and a bibliography. Dieser biographische Text befasst sich mit der Geschichte der Eltern und Großeltern der Autorin Anja Schindler. Geboren wurde sie in Karanga in Kasachstan, und sie beschreibt ihre Kindheit als schön. Allerdings ist sie nach ihrer Recherche nicht mehr trennbar von der Verbindung zu Arbeitslager, Verzweiflung, Hunger und Tod. Ihre Großeltern flohen einst aus Berlin nach Kasachstan und litten als Antifaschisten zu Zeiten Hitlers unter politischer Verfolgung. Mit ihren Eltern zog die Autorin Jahre später dann zurück nach Berlin und in die sowjetische Zone, in die DDR. Die Geschichte dreier Generationen über zwei Länder hinweg in Zeiten von Krieg, Verfolgung und deren Folgen für die Familie wird detailliert gezeigt. Im Anhang finden sich unter anderem verschiedene Dokumente, biographische Angaben, ein Ortsverzeichnis, ein Glossar und ein Literaturverzeichnis.
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Dorothee Schlüter. Vom Kampfblatt zur Staatspropaganda. Die auswärtige Pressearbeit der NSDAP dokumentiert am Beispiel der NS-Wochenzeitschrift Westküsten-Beobachter aus Chile. Göttingen: V&R unipress (Formen der Erinnerung; 61), 2016, 262 pp., Ill., 45,00 € [978-3-8471-0523-7]. How widespread and deeply organized the propaganda of the NS-Regime really was, is researched until today. The author of this volume analyses a weekly NS-magazine (»Westküsten-Beobachter«), which was published in Santiago de Chile over more than ten years in times of the National Socialism in Germany. It was supposed to reach members of the NSDAP as well as humans of German origin in Chile and the close countries - and therefore certainly had an influence in the German colony on site. For this matter the reception of the magazine is also considered in this study, as well as the medium of propaganda itself. At the end of the book one can find an index of different sources, a bibliography, an index of abbreviations and a register of persons. Wie weit verbreitet und zutiefst organisiert die Propaganda des NS-Regimes wirklich war, wird bis heute noch nachgeforscht. Die Autorin dieses Bandes analysiert eine wöchentliche NS-Zeitschrift (Westküsten-Beobachter), welche in Santiago de Chile über mehr als zehn Jahre zur Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland erschien. Adressaten waren Mitglieder der NSDAP und Deutschstämmige in Chile und den umliegenden Ländern – weswegen die Zeitschrift sicherlich einen Einfluss auf die deutsche Kolonie vor Ort hatte. Daher wird auch die Rezeption der Zeitschrift berücksichtigt sowie das Medium der Propaganda selbst. Am Ende des Buches findet sich ein detailliertes Quellenverzeichnis, ein Literaturverzeichnis ein Verzeichnis der Abkürzungen und ein Personenregister.
Martin Schmitz. »Als ob die Welt aus den Fugen ginge«. Kriegserfahrungen österreichisch-ungarischer Offiziere 1914–18. Paderborn: Ferdinand Schöningh (Krieg in der Geschichte; 85), 2016, 434 pp., 49,90 € [978-3-506-78115-4]. This volume allows a new perspective on the history of First World War, as it was seen and lived by Austrian-Hungarian officers. Based on newly-found sources and documents, the author illustrates a wide range of experiences of the Great War, taking the expectations, the developments as well as the follow-up and the reflection into account. Topics in this matter are among others the dealing with enemies within, fighters of different nationality (and therefore of different quality?), different valuation of the Austrian-Hungarian military elite throughout the war and influences on their fighting strength. The volume concludes with a detailed bibliography of sources, documents and literature and provides an index of persons. Dieser Band ermöglicht eine neue Perspektive auf die Geschichte des Ersten Weltkrieges aus der Perspektive von österreichisch-ungarischen Offizieren. Auf der Grundlage neuer Quellen und Dokumente veranschaulicht der Autor eine Bandbreite verschiedener Erfahrungen mit dem Großen Krieg, während er sowohl die Erwartungen, die Entwicklungen und die Nachbereitung und Reflektion miteinbezieht. Themen sind dabei unter anderem der Umgang mit inneren Feinden, Kämpfer verschiedener Nationalitäten (und damit ver-
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schiedener Qualität?), verschiedenartige Wertung der österreichisch-ungarischen Militär elite während des Krieges und Einflüsse auf die Kampfstärke. Der Band schließt mit einer detaillierten Bibliographie von Dokumenten, Literatur und Quellen und bietet zudem ein Personenregister.
Dirk Thomaschke. Abseits der Geschichte. Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg in Ortschroniken. Göttingen: V&R unipress (Formen der Erinnerung; 60), 2016, 356 pp., Ill., 50,00 € [978-3-8471-0536-7]. Historiography in itself is a discipline containing various focuses and genres. This volume analyses Heimatbücher and local chronicles, being the first to do so comparatively with editions all over Germany, starting in the post-war years up until the present. Although each of these local chronicles attracts only local readers due to its regionality, this kind of books is no rarity but widespread, above all in rural areas. The way of describing and documenting history seems to follow its own principles. Furthermore the author searches for parallels in the GDR’s local history. The annex contains an index of illustrations and archives as well as a detailed bibliography of the local chronicles and of literature. Die Geschichtsschreibung an sich ist eine Disziplin mit unterschiedlichen Schwerpunkten und Genres. Dieser Band analysiert Heimatbücher und Ortschroniken und ist dabei der erste, welcher einen deutschlandweiten Vergleich herstellt, beginnend bei den Nachkriegsjahren bis in die heutige Zeit. Obwohl jede dieser Ortschroniken aufgrund ihrer Regionalität nur wenige Leser anzieht, sind diese Sorte Bücher keine Seltenheit, sondern gerade in ländlichen Gegenden weit verbreitet. Die Art und Weise, die Geschichte zu dokumentieren und zu beschreiben, scheint dabei ihre eigenen Prinzipien zu haben. Zudem sucht der Autor nach Parallelen in der Heimatgeschichte der DDR. Der Anhang beinhaltet einen Index der Abbildungen und Archive, sowie eine detaillierte Bibliographie der verwendeten Ortschroniken und der sonstigen Literatur.
Daniele Vecchiato. Verhandlungen mit Schiller. Historische Reflexion und literarische Verarbeitung des Dreißigjährigen Kriegs im ausgehenden 18. Jahrhundert. Hannover: Wehrhahn, 2015, 394 pp., Ill., 34,00 € [978-3-86525-480-1]. This volume concentrates on the contemporary interest in the Thirty Years’ War and how this influenced the reception of Schiller’s »History of the Thirty Years’ War« and his dramatic trilogy »Wallenstein«. This shall lead to a more detailed lecture of is oeuvre nowadays. Important aspects in this context are the high interest in this war directly in the post-war period as well as texts and publications concerning this war, which were written by far less popular authors. These texts open up possibilities of comparison to Schiller’s named titles, which were published later, and moreover they create an image and ambiance of that special post-war time. Mentioned authors are, among authors; Benedikte Naubert, Andreas Georg Friedrich von Rebmann and Gerhard Anton von Halem. Looking also on Schiller’s critical relation to cheap literature, the author investigates how Schiller’s assembly of historic and political events
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and certain methods of manipulating the audience become apparent in his work. The annex includes a bibliography and a register of persons. Dieser Band konzentriert sich auf das zeitgenössische Interesse am Dreißigjährigen Krieg und wie dieses die Rezeption von Schillers Werken Geschichte des Dreyßigjährigen Kriegs und seiner dramatischen Trilogie Wallenstein beeinflusst hat. Ziel ist dabei die detaillierte Lektüre seines Werkes heutzutage. Wichtige Aspekte in diesem Kontext sind das große Interesse an diesem Krieg direkt in den Nachkriegsjahren wie auch Texte und Publika tionen zu diesem Konflikt von weit weniger bekannten Autoren. Diese Texte ermöglichen den Vergleich zu den genannten Titeln Schillers, die erst später veröffentlicht wurden, und eröffnen außerdem ein Bild und ein Ambiente dieser besonderen Nachkriegszeit. Genannte Autoren sind unter anderem: Benedikte Naubert, Andreas Georg Friedrich von Rebmann und Gerhard Anton von Halem. Mit Blick auf Schillers kritische Meinung zur Trivialliteratur untersucht der Autor zudem, wie Schillers Montage von historischen und politischen Ereignissen und Methoden der Lesersteuerung in seinem Werk deutlich werden. Der Anhang beinhaltet ein Literaturverzeichnis und ein Personenregister.
Hans-Erich Volkmann. Die Polenpolitik des Kaiserreichs. Prolog zum Zeitalter der Weltkriege. Paderborn: Ferdinand Schöningh, 2016, 517 pp., Ill., 58,00 € [978-3-506-78433-9]. Poland was one of the centers of conflict during the two World Wars: prejudice, dependency and the longing for autonomy and sovereignty shaped the country as it opposed different parties: the plans of the Central Powers and the differing ideas of the German military and government. The Author investigates the development of Poland’s status, analyzing PrussianGerman politics, as well as initiatives and resistant movements in Poland. In conclusion it is stressed that, having formed this basis of political conflict, new tensions and fights were nearly inevitable – that applies to the attempt of Poland’s Germanization as well as to the dependent Polish state on Russian territory. Polen war eines der Zentren der Konflikte während der zwei Weltkriege: Vorurteile und Abhängigkeit und das Verlangen nach Autonomie und Souveränität prägten das Land, welches sich verschiedenen Parteien widersetzte: den Plänen der Mittelmächte und den sich davon unterscheidenden Ideen des deutschen Militärs und der Reichsleitung. Der Autor untersucht die Entwicklung von Polens Status mittels einer Analyse der preußisch-deutschen Politik und bezieht dabei auch polnische Initiativen und Widerstände mit ein. Abschließend wird betont, dass auf der Basis dieses politischen Konflikts neue Spannungen und Kämpfe nahezu unvermeidbar waren – das bezieht sich auf den Versuch der Germanisierung Polens wie auch auf einen abhängigen polnischen Staat auf russischem Territorium.
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Vorstand des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück. IMIS-Beiträge. 47/2015. Osnabrück: Steinbacher (IMIS-Beiträge; 47), 2015, 214 pp., Ill. [0949-4723]. After different volumes of thematically narrowed issues this issue covers a rather wide range of topics. The main topic of all contributions is participation in the context of migration. Therefore the first essay deals with criticism on the term of integration and the question of assimilation in a society of migration. Furthermore migrant organizations within Germany play a role, when it comes to the question of their potential, influence and possibilities in Germany. From the perspective of social law the welfare state and his duties are investigated, showing that exclusion of migrants is no option. The last essay then deals with intercultural youth work in rural parts of Brandenburg. The volume concludes with information on the authors. The volume can be downloaded for free as a pdf-document, or ordered for free at the IMIS. Nach verschiedenen Bänden, die thematisch gebunden waren, deckt diese Ausgabe eine breitere Themenlandschaft ab. Das Hauptthema ist das der Teilhabe im Kontext von Migration. Daher beschäftigt sich der erste Aufsatz mit den Kritiken an dem Begriff der Integration und mit der Frage nach Assimilation in einer Migrationsgesellschaft. Weiterhin werden Migrantenorganisationen in Deutschland thematisiert und nach ihrer Rolle, ihrem Einfluss, ihren Möglichkeiten und ihrem Potential untersucht. Aus der Perspektive des Sozialrechts werden die Pflichten des Wohlfahrtsstaates betrachtet mit dem Ergebnis, dass Exklusion von Migranten keine Option erscheint. Der letzte Aufsatz beschäftigt sich mit interkultureller Jugendarbeit im ländlichen Brandenburg. Der Band schließt mit Informationen über die Autoren. Er kann als PDF heruntergeladen werden oder ist kostenlos zu bestellen beim IMIS.
Vorstand des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück (ed.). IMIS-Beiträge 48/2016. Themenheft 25 Jahre IMIS. Jubiläumsveranstaltung am 29. Mai 2015. Osnabrück: Steinbacher (IMIS-Beiträge; 48), 2016, 171 pp., Ill. [0949-4723]. In the beginning the Institute of Migration Research and Intercultural Studies (IMIS) at the University of Osnabrück faced skepticism and doubts. In its anniversary year 2015 there are no doubts left that this field of research is essential for our society and its development. This volume documents the ceremony of the anniversary and the speeches of Prof. Dr. Wolfgang Lücke (President of the University of Osnabrück), Cornelia Rundt (Minister for Social Issues, Health and Equality in Lower Saxony), Aydan Özoğuz (Minister of State and Federal Government Commissioner for Migration, Refugees and Integration) and Prof. Dr. Andreas Pott (Director of the Institute). Furthermore the developed essay from the speech of founding director Prof. Dr. Klaus J. Bade concludes the volume, examining the fear and populism leading to enemy images and violence. The volume can be downloaded for free as a pdf-document, or ordered for free at the IMIS.
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Zu seinem Beginn sah sich das Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück eher konfrontiert mit Skepsis und Zweifeln. In ihrem Jubiläumsjahr 2015 bestehen keine Zweifel mehr daran, dass dieses wissenschaftliche Feld für unsere Gesellschaft und ihre Entwicklung essentiell ist. Dieser Band dokumentiert den Festakt und die Ansprachen von Prof. Dr. Wolfgang Lücke (Präsident der Universität Osnabrück), Cornelia Rundt (Ministerin für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung des Landes Niedersachsen), Aydan Özoğuz (Staatsministerin und Bundesbeauftragte für Migration, Flüchtlinge und Integration) und Prof. Dr. Andreas Pott (Leiter des Instituts). Außerdem rundet der aus seiner Rede entwickelte Essay von Gründungs-Direktor Prof. Dr. Klaus J. Bade den Band ab. Thematisch beschäftigt er sich mit der Angst und dem Populismus und den daraus resultierenden Feindbildern und der Gewalt. Der Band kann als PDF heruntergeladen werden oder ist kostenlos zu bestellen beim IMIS.
Vorstand des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück, Christoph Rass, Melanie Ulz (eds.). IMISBeiträge 46/2015. Themenheft Migration und Film. Osnabrück: Steinbacher (IMIS-Beiträge; 46), 2015, 125 pp., Ill. [978-3-9803401-6-8; 0949-4723]. Since their invention movies have become a new kind of source in the science of history – but not only in this field, also in historic-cultural research this medium gains more and more attention and its potential is investigated. Differentiated approaches on gender, postcolonial or visual studies are possible in the historical research and enable also the interdisciplinary migration studies to use and analyze this medium. Possible fields are the different societies, the regimes, the causes and the process of migration, which underline and mark the differences, the tendencies, the tensions and inner-state as well as inter-state conflicts – depending of course on the source, the given movie or video. The contributors of this volume choose different sources for their research e.g. the video »Passing DRAMA« by Angela Melitopoulos or the Movie »Indigènes«. Other topics are the European documentaries on border crossing, the Jewish-soviet emigrants in the USA, the Soviet television, and Anna May Wong and her role in Weimar Cinema. At the end information on the authors is added. The volume can be downloaded for free as a PDF-document, or ordered for free at the IMIS. Seit ihrer Erfindung sind Filme eine neue Art der Quelle innerhalb der Geschichtswissenschaft – aber nicht nur in diesem Bereich, auch in der kulturwissenschaftlichen Forschung gewinnt das Medium an Aufmerksamkeit und wird auf sein Potential untersucht. Differenzierte Ansätze über Gender-, Postcolonial- oder Visual-Studies sind möglich in der historischen Forschung und ermöglichen auch der interdisziplinären Migrationsforschung dieses Medium zu nutzen und zu analysieren. Thematische Bereiche sind dabei die verschiedenen Gesellschaften, die Regime, die Auslöser und der Prozess der Migration, welche die Unterschiede, Tendenzen, die Spannungen, die innerstaatlichen und inter-staatlichen Konflikte verdeutlichen – abhängig von der gewählten Quelle, dem Film oder Video. Die Autoren dieses Bandes wählen verschiedene Quellen, wie z.B. das Video Passing DRAMA von Angela
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Melitopoulos oder den Film Indigènes. Andere Themen sind europäische Dokumentationen über Grenzüberschreitungen, Jüdisch-sowjetische Emigranten in den USA, das sowjetische Fernsehen sowie Anna May Wong und ihre Rolle im Weimarer Kino. Am Ende finden sich zusätzlich Informationen zu den Autoren. Der Band kann als PDF heruntergeladen werden oder ist kostenlos zu bestellen beim IMIS.
Vorstand des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück, Christine Lang, Andreas Pott, Jens Schneider (eds.). IMIS-Beiträge 49/2016. Themenheft Unwahrscheinlich erfolgreich. Sozialer Aufstieg in der Einwanderungsgesellschaft. Osnabrück: Steinbacher (IMISBeiträge; 49), 2016, 224 pp. [978-3-9803401-7-5; 0949-4723]. Nowadays we live in times of globalization, change and migration. The European society has become more and more diverse, receiving migrants, refugees and migrant workers, who stayed and started families. This volume examines the second generation of migrant workers, whose parents first came to Germany in the 1960th and 1970th from Turkey. It is a phenomenon that this second generation with their so called migration background managed such a social advancement – unlikely successful. On the basis of a project called »Pathways to Success« (2011–2015 at the University of Osnabrück), the main goal is to find out how this second generation of Turkish migrants achieved their success, investigating both obstacles and means of support. This focus can be enriching for politics of integration, to identify and use potentials and opportunities. The structure of this volume follows a development-perspective from childhood and school to studies and career. In the annex one can find a bibliography and information on the authors. The volume can be downloaded for free as a PDF-document, or ordered for free at the IMIS. Wir leben heute in Zeiten von Globalisierung, Veränderung und Migration. Die europäische Gesellschaft wird zunehmend verschieden und nimmt Migranten, Flüchtlinge und auch Gastarbeiter auf, die dann bleiben und Familien gründen. Dieser Band untersucht die zweite Generation der Gastarbeiter, deren Eltern in den 1960ern und 1970ern aus der Türkei nach Deutschland kamen. Es ist ein Phänomen, dass diese zweite Generation mit ihrem so genannten Migrationshintergrund einen solchen sozialen Aufstieg errungen hat – unwahrscheinlich erfolgreich. Auf Grundlage des Projekts »Pathways to Success« (2011–2015 an der Universität Osnabrück) ist das Hauptziel, herauszufinden, wie diese zweite Generation den Aufstieg geschafft hat, mit Blick auf beide Aspekte: Hindernisse und Hilfen. Dieser Fokus birgt bereichernde Potentiale für die Politik der Integration, um Potentiale und Möglichkeiten zu identifizieren, zu nutzen und zu unterstützen. Die Struktur dieser Ausgabe folgt daher einer Werdegangs-Perspektive von der Kindheit über die Schule und Studium bis hin zum Beruf. Im Anhang finden sich ein Literaturverzeichnis und Informationen zu den Autoren. Der Band kann als PDF heruntergeladen werden oder ist kostenlos zu bestellen beim IMIS.
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Jens Westemeier. Hans Robert Jauss. Jugend, Krieg und Internierung. Konstanz: University Press, 2016, 367 pp., Ill., 29,90 € [978-3-86253-082-3]. Hans Robert Jauß, who died in 1997, was an important researcher in literary studies. He played an important role in the formation of the Reform-University-Konstanz and was a cofounder of the research group Poetik und Hermeneutik (poetics and hermeneutics). However, there is something that had been kept secret for a long time: He also had been a member of the Waffen-SS (Schutzstaffel, paramilitary group oft he NSDAP). Until 2014 there had not been any scholarly discussion on this topic, so the University of Konstanz appointed Jens Westemeier to do some research on the SS-Time of Hans Robert Jauß. His results have now been published as a book that discusses Jauß‘ past chronologically. After describing his childhood and youth, the main focus of the book is on his service during the Second World War. This includes, amongst other things, his voluntary service for the SS-Verfügungstruppe, several missions at the eastern front and his time on the SS Charlemagne, where he served in the Waffen-Grenadier Division (Weapon-Grenadier Division) as instructor for non-German soldiers. Furthermore the book deals with Jauß’ time at the detention centre in Recklinghausen after the war. Finally the book discusses his academic career at the Universities of Heidelberg and later in Konstanz. Jauß’ reputation suffered more and more, because the public accused him of keeping his past secret. In the appendix the source situation, biographical dates and a register of names can be found. Der 1997 verstorbene Hans Robert Jauß war ein bedeutender Literaturwissenschaftler, maßgeblich an der Entstehung der Reform-Universität Konstanz beteiligt und Mitbegründer der Forschungsgruppe Poetik und Hermeneutik. Was lange verschwiegen wurde: Er war außerdem Mitglied der Waffen-SS. Bis 2014 gab es keinerlei wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dieser Thematik, weshalb Jens Westemeier von der Universität Konstanz damit beauftragt wurde, die SS-Zeit von Hans Robert Jauß aufzuarbeiten. Diese Ergebnisse liegen nun in Buchform vor und bearbeiten chronologisch dessen Vergangenheit. Nachdem auf seine Kindheit und Jugend eingegangen wird, steht sein Dienst im Zweiten Weltkrieg im Vordergrund. Dazu gehören unter anderem seine Freiwilligenmeldung zur SS-Verfügungstruppe, diverse Einsätze an der Ostfront, sowie sein Wechsel zur Waffen-GrenadierDivision der SS Charlemagne, wo er nicht-deutsche SS-Anhänger schulte. Nach Kriegsende geht der Autor auf Jauß’ Zeit im Internierungslager Recklinghausen ein, woraufhin es um seine akademische Karriere an der Universität in Heidelberg und später in Konstanz geht. Jauß verlor seine Anerkennung zunehmend, da die Öffentlichkeit ihn für das Verschweigen seiner Vergangenheit anklagte. Im Anhang befindet sich unter anderem die Quellenlage und biografische Daten, sowie ein Namensregister.
Clara Zetkin. Die Briefe von 1914 bis 1933. Band I: Die Kriegsbriefe (1914-1918). Herausgegeben von Marga Voigt. Berlin: Dietz, 2016, 559 pp., Ill., 49,90 € [9783-320-02323-2]. This book is the first volume of a three-book-series of letters and includes the war time letters written by Clara Zetkin between 1914 and 1918. Zetkin had been a driving force for the German
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social democracy, as well as on a European level and for the Socialist Women’s International. Different events of her life are referenced in these letters: Her success in the SPD-newspaper »Die Gleichheit« and her occupational and political fall. The documents include 168 letters, 27 postcards, telegrams and their drafts – a lot of those documents are published in this book for the first time. This documentation is complemented by the debate of the ruling Bolsheviki in summer and autumn 1918. Among others Franz Mehring, Rudolf Breitscheid and Karl Kautsky deliver some input on this topic. At the end an index of contemporary newspapers and magazines, of archives, a geographical register and a commented register of persons can be found. Dieser Band ist der erste von drei Brief-Bänden und enthält die Kriegsbriefe von Clara Zetkin zwischen 1914 und 1918. Zetkin war lange Zeit eine treibende Kraft in der deutschen Sozialdemokratie, im europäischen Kontext und in der Sozialistischen Fraueninternationalen. Verschiedenste Vorgänge ihres Lebens spiegeln sich in den Briefen aus dem Ersten Weltkrieg wider: Ihr Erfolg beim SPD-Blatt Die Gleichheit, sowie ihr beruflicher und politischer Fall. Bei den Dokumenten handelt es sich um 168 Briefe, 27 Postkarten, Telegramme und deren Entwürfe – ein Großteil davon in diesem Band erstmals veröffentlicht. Ergänzt wird das Buch durch die Debatte über die Herrschaft der Bolschewiki im Sommer und Herbst 1918. Dafür liefern unter anderem Franz Mehring, Rudolf Breitscheid und Karl Kautsky die Beiträge. Am Ende finden sich Verzeichnisse der zeitgenössischen Zeitungen und Zeitschriften, eines der Archive, ein geographisches Register, sowie ein kommentiertes Personenregister.
Paweł Zimniak. Großer Krieg kleiner Leute. Perspektivierungen des Ersten Weltkriegs in der polnischen Literatur 1914–1920. Göttingen: V&R unipress (Formen der Erinnerung; 62), 2016, 222 pp., 40,00 € [978-3-8471-0558-9]. As literature is always influenced by its time, it gives us information of what happened in a certain period. This volume gathers Polish literature from 1914-1920 that deals with the First World War – directly or indirectly. Mentioned authors are among others: Roman Hernicz, Juliusz Kaden-Bandrowski, Zofia Nałkowska and Edward Słonski. These texts evoke memories and the creation of meaning. Searching for the different viewpoints, Zimniak discovers places of remembrance, important to everyone in society, which established themselves interrelated with power and needs of different groups. The literatures’ analyses show realism, criticism, precognitions, nationalism, patriotism and pathos. Da Literatur immer auch unter dem Einfluss ihrer Zeit steht, kann sie uns heute Informationen liefern über eine bestimmte Epoche. Dieser Band versammelt polnische Literatur, welche entweder direkt oder indirekt den Ersten Weltkrieg thematisiert und verfasst wurde zwischen 1914 und 1920. Genannte Autoren sind unter anderem: Roman Hernicz, Juliusz KadenBandrowski, Zofia Nałkowska und Edward Słonski. Diese Texte evozieren Erinnerungen und Sinnstiftung. Auf der Suche nach verschiedenen Sichtweisen entdeckt Zimniak Orte der Erinnerung, gesellschaftlich für jeden wichtig, welche sich in jeweiliger Wechselwirkung zwischen Macht und Bedürfnissen unterschiedlicher Gruppen etablierten. Seine Literaturanalysen verdeutlichen Realismus, Kritik, Vorahnungen, Nationalismus, Patriotismus und Pathos.
Autorinnen und Autoren dieser Ausgabe
Thomas Amos, Dr., Johann Wolfgang Goethe-Universität, Institut für Romanische Sprachen und Literaturen, Grüneburgplatz 1, D-60629 Frankfurt/Main (Germany); [email protected]. Fabian Brändle, Dr. phil., Quellensstraße 22, CH-8005 Zürich (Switzerland); [email protected]. Alice Cadeddu, MA, Erich Maria Remarque-Friedenszentrum, Universität Osnabrück, Markt 6, D-49074 Osnabrück (Germany); [email protected]. Walter Kluge, Prof. Dr., Denninger Straße 200, D-81927 München (Germany). Christian Koller, Prof. Dr., Schweizerisches Sozialarchiv, Stadelhoferstr. 12, CH-8001 Zürich (Switzerland); [email protected]. John H. Maherzi, Prof. of French, Deptartment of Foreign Languages & Literatures, 6030 Haley Center, Auburn University, USA-Auburn, AL 36849 (USA); mazahhj@ auburn.edu. Serge Schmid, Am Trimmelter Hof 89, D-54296 Trier (Germany); serge.schmid@ gmx.de. Benjamin Ziemann, Prof. Dr., Department of History, University of Sheffield, 1 Upper Hanover Street, GB-Sheffield S3 7RA (United Kingdom); b.ziemann@ sheffield.ac.uk.