Die "O" hat mir erzählt : Hintergründe eines Bestsellers 354822556X

Die in der Buchausgabe enthaltenen Romane "Geschichte der O" und "Rückkehr nach Roissy" sind hier ni

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German Pages [123] Year 1994

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Die "O" hat mir erzählt : Hintergründe eines Bestsellers
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Régine Deforges Pauline Réage

Die »O« hat mir erzählt

Ullstein

ein Ullstein Buch Nr. 22556 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M - Berlin Umschlagentwurf: Hansbemd Lindemann Umschlagabbildung : Verfremdung des Filmplakates »Die Geschichte der O« Alle Rechte vorbehalten © 1954 by Jean Jacques Paüvert éditeur, Paris © 1969 by Jean Jacques Paüvert éditeur, Paris © Société Nouvelle de Editions Jean Jacques Pauvert, Paris 1975 Alle Rechte für die deutsche Sprache by F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München Printed in Germany 1994 Gesamtherstellung: Ebner Ulm ISBN 3 548 22556 X 3. Auflage Februar 1994 Gedruckt auf alterungs­ beständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff

Die Deutsche Bibliothek CIP-Einheitsaufnahme

Deforges, Régine: Die »O« hat mir erzählt / Régine Deforges; Pauline Réage, 3. Aufl. Frankfurt/M; Berlin: Ullstein, 1994 (Ullstein-Buch; Nr. 22556) Einheitssacht.: O m’a dit ISBN 3-548-22556-X NE: Réage, Pauline:; GT

Inhalt

Die »O« hat mir erzählt Dokumentation zu >Die »O« hat mir erzählt
Geschichte derO< vor. Ich erhalte täglich acht bis zehn Manuskripte, dieses jedoch interessierte mich sofort, zum einen durch seine literarische Qualität und zum anderen durch die Zurückhaltung und den Anstand, womit darin ein äußerst gewagtes Thema ahgehandelt wird. Ich hatte den Eindruck, ein sowohl inhaltlich wie stilistisch sehr 10

wichtiges Werk vor mir zu haben, das weit mehr mystischer als ero­ tischer Natur war und das für unsere Zeit dieselbe Bedeutung ha­ ben könnte wie einstmals die > Liebesbriefe einer portugiesischen Nonne< oder >Gefährliche Liebschaftem. Das sagte ich auch Ma­ dame Reage, als sie wieder bei mir vorsprach. Ich fügte hinzu, daß ich mit Gaston Gallimard über dieses Buch sprechen und, falls es zur Veröffentlichung käme, gerne ein Vorwort dazu schreiben würde. Gaston Gallimard hat das Manuskript nach zweijährigem Zö­ gern abgelehnt. Monsieur Defez, Herausgeber der DEUX RIVES, nahm es zunächst an, gab es dann jedoch aufgrund einer politi­ schen Affaire, in die er verwickelt wurde (Affaire Despuech), Ma­ dame Reage wieder zurück. Daraufhin bot ich es Monsieur Jean-Jacques Pauvert an, der da­ von begeistert war und es sofort publizierte. Inzwischen hatte ich das versprochene Vorwort geschrieben. Dieses Vorwort, das die philosophische und mystische Seite des Werkes betont, erwies sich später in bestimmten Passagen als nicht mehr zum Romantext pas­ send, da Monsieur Pauvert im Einvernehmen mit Madame Reage, jedoch ohne mir davon rechtzeitig Mitteilung zu machen, den gan­ zen dritten Teil des Buches wegließ, worin die Heldin mit der Aus­ weglosigkeit ihrer Situation konfrontiert wird.«

- Das ist der Inhalt der »Rückkehr nach Roissy« ... - ... Die Höhe der damaligen Auflage ist mir unbekannt. Ich füge hinzu, daß Madame Reage, die aus dem Universitätsmi­ lieu stammt, bis heute die Bekanntgabe ihres wirklichen Namens ver­ weigert hat, da sie ihre Familie nicht schockieren will. Es handelte sich um ihren ersten Roman. Ferner erkläre ich, daß ich nicht der Verfasser des Manuskripts bin und es auch nicht überarbeitet habe. Ein Stilvergleich stellt dies ohne weiteres klar. Ich glaube nicht, daß man das Buch jedermann in die Hand geben sollte, ebensowenig wie die »Gefährlichen Liebschaften« oder die »Liebesbriefe einer portugiesischen Nonne«; indessen wird bei auf­ merksamer Lektüre klar, daß es in keiner Weise einem pornographi­ schen Erzeugnis gleichzustellen ist. Allenfalls könnte die Heftigkeit der darin geschilderten Leidenschaften und die Atmosphäre der Un­ wirklichkeit eine gewisse Gefahr bedeuten.

Ich kann weder über die äußeren Umstände der Veröffentlichung des Buches noch über seine Verbreitung etwas aussagen. Wie ich bereits erklärte, widersetzt Madame Réage sich einer Be­ kanntgabe ihres Namens. Ich habe ihr, wie vordem schon anderen Autoren, die Geheimhal­ tung ihres Namens zugesichert. Da ich Madame Réage häufig sehe, werde ich ihr meine hier abge­ gebene Erklärung zur Kenntnis bringen und sie bitten, sich mit Ihnen in Verbindung zu setzen, falls sie sich entschließen sollte, ihr Inkognito zu lüften.«

- Ich fand auch das Schreiben, worin Jean Paulhan dem Kommis­ sar der Sittenpolizei einige Tage später sehr liebenswürdig erklärt (er schreibt: Cher Monsieur/ er sei untröstlich, aber Madame Réage lege größten Wert darauf, anonym zu bleiben. So hat das Ganze sich doch abgespielt, nicht wahr? - Ich glaube, es wäre noch einiges dazu zu sagen. Die Polizei war sehr rücksichtsvoll. Ich erfuhr damals, daß mein Name, meine Anschrift, mein Geburtsdatum und alle sonstigen Personalien längst aktenkun­ dig waren. Es wurde jedoch nie Gebrauch davon gemacht. Ich sehe darin etwas von der Lebensart der alten Schule, von der Ritterlichkeit, die man auch einer unbekannten und unbedeutenden Frau entgegen­ bringt, einfach, weil sie eine Frau ist. Maurice Garçon, Jean Paulhans Anwalt, der mich ebenfalls nicht persönlich kannte, machte eine Be­ merkung, die der gleichen Einstellung entsprach: »Sie darf nicht belä­ stigt werden.« Natürlich hielt man sich an Jean Paulhan und Jean-Jacques Pauvert, und wenn ich mich schuldig fühle, so nur, weil ich die beiden alle Unannehmlichkeiten allein tragen ließ.

- Also, fassen wir zusammen: Im Juni 1954 veröffentlicht eine Un­ bekannte bei Jean-Jacques Pau vert den Roman »Geschichte der O«. Das Buch erregt bei seinem Erscheinen nur in einem kleinen Kreis literarisch Interessierter Aufsehen. Wie Jean-Jacques Pauvert mir sagte, dauerte es zehn Monate, bis die erste Auflage von 2000 Exem­ plaren verkauft war. Im Januar 1955 machte das Buch ein bißchen mehr von sich reden, weil es den Literaturpreis der »Deux Magots« erhielt, aber die Verkaufsziffern stiegen keineswegs sprunghaft an.

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- Alle Buchhändler glaubten, daß das Buch bereits indiziert sei oder bald sein würde, und verkauften es unter dem Ladentisch oder ver­ liehen es sogar, manchmal sehr teuer, während man es ganz normal vom Verleger beziehen konnte. Ein äußerst kurioser Skandal, der nicht offen zum Ausbruch kam. Es wurde privat darüber gesprochen, aber die Presse blieb stumm. - Die Kritik zum Beispiel hat nicht viel Mut bewiesen. - Sagen wir, sie fand das Buch nicht interessant. Ich erinnere mich an einen Artikel, den Claude Elsen seinerzeit in DIMANCHE-MATIN veröffentlichte, und natürlich an die sehr bald schon erschienene Be­ sprechung von Mandiargues in CRITIQUE, und auch an die von Ba­ taille in der NOUVELLE REVUE FRANÇAISE wenig später, aber das dürfte auch alles gewesen sein. Im Rahmen einer Umfrage von L’EXPRESS wollte Jean Paulhan darlegen, daß die »Geschichte der O« für ihn eines der bedeutendsten Bücher des letzten Jahres sei, die Zeitschrift scheint jedoch seine Stellungnahme gestrichen zu haben. - Genau. Man sprach von der »Geschichte der O« nur in privaten Kreisen, höchstens andeutungsweise in den Klatschspalten. Man muß sich in die damalige Zeit zurückversetzen. 1954 sind Henry Miller und de Sade verfemt, die Zeitungen sind vorsichtig.

- Ich glaube, daß so mancher Richter am liebsten anstelle des Autors den Verleger und den Verfasser des Vorworts unter Anklage gestellt hätte, aber am Ende begnügte sich die Justiz doch mit einem Kompromiß: Jede Schaufensterwerbung für das Buch wurde unter­ sagt. Das Verbot ist erst vor gar nicht so langer Zeit aufgehoben wor­ den.

- Jetzt aber zum Roman seihst. Warum kam es. Ihrer Meinung nach, zu diesem Skandal, zu diesen Strafandrohungen, Teilverbo­ ten, die auch aufrechterhalten wurden, nachdem längst weitaus we­ niger »anständig« geschriebene Bücher, um Paulhans Ausdruck zu verwenden, veröffentlicht wurden? - Ja, die »Geschichte der O« war und ist noch heute für manche Leute das anstößigste Buch der Welt. Einmal aufgrund des Themas, aber ich glaube, vor allem auch, weil das Buch von einer Frau ge­

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schrieben wurde; obwohl einige Journalisten lange Zeit Jean Paulhar für den Autor hielten.

- Heute wissen wir alle, daß der Autor eine Autorin ist, und Siedürf ten recht haben mit Ihrer Annahme, daß dies der »Geschichte derO« diese Aura des Diabolischen, diesen Schwefelgeruch verliehen hat. Wovon handelt das Buch nun eigentlich ? Für diejenigen, die es tat­ sächlich noch immer nicht wissen sollten, darf ich in kurzen undfolg­ lich groben Zügen rekapitulieren: O ist einejunge Frau, deren Geliebter sie zunächst den Mitgliederr einer Geheimgesellschaft, später seinem Halbbruder Sir Stephen aus­ liefert. O wird aufjede nur mögliche Weise mißbraucht, eingekerkert, ausgepeitscht, alles mit ihrem Einverständnis, das man ihrjedesmat abverlangt. Am Ende soll O von Sir Stephen verlassen werden, una Sie schreiben: »O wünschte sich den Tod. Sir Stephen erteilte seine Zustimmung.« Ein solches Buch kann man aufzweierlei Art lesen. Einmal als lite­ rarisches Kunstwerk, was Empfänglichkeitfür die Größe der Gefühle voraussetzt, für diesen ¡unfaßbaren Anstand«, für den >reinen und heftigen Geist«, von dem Paulhan spricht. Und dann die vulgäre Les­ art, die ihre schönste Ausprägung in dem Bericht der Commission du Livre (Buchprüfstelle)findet, die 1954 oder 1955 ein Verfahren gegen die »Geschichte der O« erwirken wollte. Ich kann es mir nicht versa­ gen, den Bericht zu zitieren. Vielleicht ist auch dieser Text Ihnen noch unbekannt. - Ja, das ist er.

- Also: Die Buchprüfstelle kommt nach Anhörung von Monsieur X .. .bzw. Kenntnisnahme seines Berichts, und nach ihrer Beratung zu folgendem Beschluß: Insofern dieses von dem Verleger Jean-Jacques Pauvert publizierte Buch die Erlebnisse einer jungen Frau nachzeichnet, welche sich ihrem Geliebten zu Gefallen erotischen Exzessen und Lastern unterwirft. Insofern dieses extrem und absichtlich unmoralische Buch, in wel­ chem Schilderungen von Ausschweifungen zweier oder mehrerer Per­ sonen mit Schilderungen sexuellerGrausamkeiten abwechseln, ein verabscheuungs- und verdammenswürdiges Exempel setzt und dadurch gegen die guten Sitten verstößt, hält die Buchprüfstelle eine Strafverfol­ gung für angezeigt.

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- Ein prachtvolles Stück Prosa, nicht wahr?

- »Extrem und durchgehend unmoralisch«, das ist stark. Am liebsten würde ich antworten wie Junia in »Britannicus«: daß ich weder dieses Übermaß an Ehre noch diese Schmach verdiente. Und hinzufügen, daß auch die simple Lektüre der Tageszeitungen das sittliche Empfin­ den beleidigen müßte. Die Konzentrationslager beleidigen das sittli­ che Empfinden, und die Atombombe und die Folter, - das Leben als Ganzes beleidigt meiner Meinung nach das sittliche Empfinden, in je­ dem Augenblick, nicht nur dann, wenn es um die verschiedenen Lie­ bestechniken geht. - Ja, aber es dauert immer lange, bis die Gesellschaft sich einer Ver­ änderung der Sitten bewußt wird. Von Zeit zu Zeit erscheint ein Buch, das Anstoß erregt, Verwirrung erzeugt, und dann stellt man fest, daß der Autor vor allem anderen, und oft unbewußt, etwas ein­ gefangen und offenkundig gemacht hat, was man als >neues Lebensgefühl< bezeichnet, während er glaubte, nur seine eigenen Phantas­ men formuliert zu haben. Mir scheint, genau das trifft auf die »Geschichte der O« zu. Wenn dieses Buch, wie behauptet wird, seine weltweite Leserschaft so tief beeindruckt hat, so deshalb, weil seine Leser - und vor allem seine Leserinnen - darin ein Echo ihrer eige­ nen, oft unbewußten Gedanken oder geheimen Regungen verneh­ men. Ein Buch, das den Menschen die Augen öffnet, ein Buch, das auf dem Scheiterhaufen landet. Aber das wußten Sie doch, wie? Sie hatten doch das Gefühl, ein anstößiges Buch geschrieben zu haben ?

- Anstößig im gesellschaftlichen Sinn, ja. Ein Buch, das für die Gift­ schränke der Bibliotheken bestimmt ist. Das man in seinem Bücherre­ gal in die hintere Reihe verbannt, genau wie Boccaccio und Crebillon den Jüngeren im Bücherschrank meines Vaters, zusammen mit ande­ rem noch viel Krasserem. - Haben Sie diese Bücher trotzdem gefunden? Wie alt waren Sie damals?

- Vierzehn oder fünfzehn. Ich las ausnahmslos alles, was ich erwischen konnte, also auch diese Bücher, aber ich begriff nicht übermäßig viel. - Und Ihr Vater wußte davon ? 15

- Natürlich. - Was hat er gesagt ?

- Er hat gesagt: »Na, du fängst ja früh an, aber ohne Erklärung wirst du nichts verstehen.« - Und er ließ Ihnen die Erklärung zuteil werden ?

- Und ob! Einen richtiggehenden Biologiekursus, mit farbigen anato­ mischen Tafeln. Womit für mich das Pausengetuschel im Schulhof ein für allemal abgetan war. Dazu kam noch, daß eine ältere Freundin, mit der mein Vater sich wahrscheinlich abgesprochen hatte, mir vorschlug, bei einem ihrer Cousins praktischen Unterricht zu nehmen. Der Cou­ sin schwor, mich unberührt zu entlassen, mir aber alles zu zeigen. - Mit vierzehn Jahren! Was für ein Glück! Wenn ich an diese hoch­ gespannte Wartezeit denke. An dieses Bangen vor dem Unbekann­ ten . . . - Vielleicht war ich fünfzehn, ich weiß es nicht mehr.

- Und Sie waren einverstanden. Liebten Sie diesen Cousin, gefiel er Ihnen ?

- Keine Spur! Ich hatte ihn noch nie gesehen. Aber ich wollte alles kennenlemen, und ich lernte es kennen. Ich traf mich mit ihm zusam­ men mit dieser Freundin in einem Café, und dann folgte ich ihm in ein Stundenhotel. Noch heute begreife ich nicht, daß man uns überhaupt hineinließ. Ich sah so kindlich aus, daß man mir erst eine Woche zuvor den Zutritt zur Bibliothèque Sainte-Geneviève verwehrt hatte. Aber wir gingen hinein. Und er hat mir wirklich alles erklärt und mir sogar vorgeführt, wie (fast) alles funktioniert. Kurz, wir beide bildeten zwei lebende anatomische Tafeln. Es war sehr interessant.

- Das wäre mein Traum gewesen! Aber hatten Sie nicht schreckli­ ches Herzklopfen ? - Überhaupt nicht. Das einzig Erschreckende für mich war dieses aufgerichtete Glied, auf das er so stolz war - ein Stolz, der ein bißchen

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komisch wirkte. Ich fand, es müsse recht lästig für ihn sein, und als Mädchen sei man doch besser dran. Ich gestehe ohne Umschweife, daß ich dieser Ansicht bis heute im wesentlichen treu geblieben bin. Dieses ganze Geschwitze und Gespritze, das Vermischen des Spei­ chels, war nicht sehr appetitlich. Ein Glück, daß wir heißes Wasser, Handtücher und Eau de Cologne hatten.

- Kuriose Aufklärung. Ich wäre aus diesem Abenteuer nicht als Jungfrau hervorgegangen. Beim Zuhören versetzte ich mich an Ihre Stelle und bekam richtig Herzklopfen. Und das hat Sie befreit ? - Wovon befreit? Von sexuellen Tabus? Aber ich wußte nicht einmal, was das war, ein Tabu. Es war, als hätte es sie nie gegeben. Ich brachte das Ganze nicht einmal mit den Vorschriften der Religionslehre in Zu­ sammenhang, die damals für mich schon längst hinfällig waren. Was hatten moralische Verbote mit körperlichen Funktionen zu tun? Ich dachte überhaupt nicht daran. Es handelte sich lediglich um eine In­ formation, die ich nun nicht mehr auf gut Glück bei Jugendflirts su­ chen mußte, um ein Wissen, das eine Art Schutzwall aufrichtete. Ich wußte nun genau, welche Gefahren und physischen Prüfungen es zu bestehen galt, um jene körperliche Lust zu erfahren, die ich nur nach ihrem einfachen Mechanismus, nicht aber in ihrem Wesen erfaßt hatte. Dazu kam die Gewißheit, daß es Dinge gab, die man nicht tat oder von denen man nicht offen sprach, weil das für alle Beteiligten peinlich wäre. Etwas viel zu Persönliches. Und so gebot mir viele Jahre später dieser unabweisbare Reflex, nicht die Familie und den Freun­ deskreis zu kompromittieren, nicht mit dem Namen zu zeichnen. Nur den Mittätern eröffnet man sich ganz. - Und als das Buch erschien, wußte wirklich niemand Bescheid au­ ßer den »Mittätern« ?

- So gut wie niemand. Aber an den empörten Reaktionen, die es aus­ löste, konnte ich ermessen, welchen Anstoß es erregte. Als ich einmal bei einer Freundin zum Abendessen eingeladen war, gehörte zu den Gästen auch ein berühmter Arzt, den ich recht gut kannte. Meine Freundin, die nie auf den Gedanken gekommen wäre, daß ich mit der »Geschichte der O« etwas zu tun haben könnte, brachte das Thema aufs Tapet. Der Arzt, der alle Neuerscheinungen las, also auch dieses Buch kannte, sagte: »Wer so etwas schreibt, ist ein

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schwerkranker Mensch.« Das amüsierte mich sehr, denn ich fühlt« mich weder geisteskrank, noch kam ich mir besonders pervers voi Vielleicht täuschte ich mich. Ein weiterer Zwischenfall bestärkte mich darin, daß ich unbeding schweigen müsse. Ein junger Mann aus der Provinz, der während sei ner Studienzeit in Paris häufig bei meinen Eltern zu Gast gewesen war kam ein paar Jahre später auf der Durchreise zu uns, um meiner Mut ter einen Höflichkeitsbesuch abzustatten. Ich war zufällig gerade zt Hause. Er hatte Jura studiert, beschäftigte sich jedoch intensiv mit Li teratur. Plötzlich wandte er sich an mich und sagte: »Wir« - gemein war eine kleine Gruppe von Leuten, die in seinem Provinznest eint Zeitschrift herausgaben, - »Wir sind überzeugt, daß Sie die >Ge schichte der O< geschrieben haben.« Ich blickte ihn an, ohne zu ant Worten. Schweigen. Dann die Stimme meiner Mutter, sehr ruhig: »Da: hat sie uns nie gesagt.« Wieder Schweigen. Als der junge Mann gegan gen war, fragte mich meine Mutter, ob ich noch Tee wolle. Das wai alles, ein für allemal. Aber ich hatte begriffen.

- Was hatten Sie begriffen ?

- Daß das Schweigen der Preis für meine Freiheit war, und auch füi die ihre: Die ihre bestand darin, daß sie sich weigerte zu erfahren, die meine darin, daß ich mich weigerte, zu sprechen. - Aber waren Sie O? Hätten Sie sich im äußersten Fall verhalten können, wie O in gewissen Situationen ? - Ich weiß es nicht, ich weiß eines: Der Mann, mit dem ich als junge Frau lebte, sah es gern, wenn ich anderen Männern gefiel, es amüsierte ihn, behauptete er. Wenn ich mit ihm über die Boulevards spazierte oder in einem Café saß, sagte er zum Beispiel : »Schau mal, dort links, da hast du eine Eroberung gemacht.« Und wenn ich allein über die Champs-Elysées schlenderte, wie es alle jungen Mädchen tun, ging ich manchmal auf Männerfang aus. Aber wenn mich dann jemand an­ sprach, lehnte ich jede Einladung ab. Nur einmal ging es ein wenig weiter. Es war nicht auf der Straße, es war in einer Ausstellung. Ich hatte einen sehr distinguierten Herrn aufgetan. Gutaussehend, dunkel, blauäugig, sehr gute Manieren, sehr weltmännisch. »Trinken wir ein Glas zusammen?« »Aber ja, trinken wir ein Glas zusammen.« Ein Rendez-vous, ein zweites Rendez-vous, viele Komplimente, und eines

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schönen Tages: »Gehen wir zum Tee, ich kenne ein ruhiges kleines Lo­ kal.« Wir gingen in das ruhige kleine Lokal. Natürlich war das ruhige kleine Lokal ein Stundenhotel. Und schon machte mein Begleiter An­ stalten, mir mehr zu drücken, als nur das Händchen. Ich weißnoch,daß er die Hand nach meinem Knie ausstreckte und mich plötzlich duzte. Ich sprang auf, versetzte ihm eine Ohrfeige und rauschte indigniert hin­ aus, nicht, weil er mich angefaßt hatte, sondern weil er mich duzte.

- Ich kann Ihnen das sehr gut nachfühlen. Sie hatten recht, er war doch nicht so distinguiert, dieser Herr.

- Ich weiß nicht, was er hätte tun sollen. Aber er verhielt sich nicht rich­ tig; und ich auch nicht. - Was er hätte tun sollen, das hat er nicht getan, und was er tat, hätte er nicht tun dürfen. Er hätte Sie nicht duzen dürfen. Man kann mit jemandem schlafen, aber es gibt gewisse Vertraulichkeiten, die man sich von manchen Leuten nicht gefallen läßt. - Man sollte aber. Warum sich soviel Wichtigkeit beimessen, sich für so kostbar halten? Dabei hielt ich mich keineswegs für etwas Besonde­ res, ganz und gar nicht. Es lag vielmehr daran, daß ich die Fähigkeit besaß, mir selber Geschichten zu erzählen, mich ein Stückchen vorzu­ wagen, daß ich aber offenbar unfähig war, zur Tat zu schreiten. Das ist weder logisch noch mutig. Vielleicht fürchtete ich Komplikationen, Er­ pressungen, die Tragödie einer möglichen Entdeckung. Ich habe nie versucht, dahinterzukommen, warum ich nicht weitergehen wollte. Im Grund wünschte ich mir wohl nur diese Bestätigung meiner Person, die ein Interesse auf den ersten Blick auszudrücken schien. Meinem Selbst­ bewußtsein genügte das vollauf. Vielleicht hatte ich auch kein Tempe­ rament, keine echten körperlichen Bedürfnisse, alles spielte sich in mei­ nem Kopf ab. Mit diesem Mann zum Beispiel hätte alles sehr gut klappen müssen. In meiner Phantasie hatte es auch sehr gut geklappt. In der Wirklichkeit überhaupt nicht. Ich hatte mir eingeredet, daran ge­ glaubt, daß ich berufen sei, aber das war nicht der Fall, mein System funktionierte nicht. Ich war blöde. Höchst ärgerlich, das müssen Sie zu­ geben.

- Sie sagen da etwas Interessantes: »Ich hatte geglaubt, berufen zu sein.« Wofür glaubten Sie sich berufen? 19

- Für das horizontale Gewerbe, für die Prostitution. Ich redete mir ein, es müßte wahnsinnig aufregend sein, ständig heiß begehrt zu wer­ den und dafür noch Geld zu bekommen. Nun ja. Und bei der ersten Gelegenheit benahm ich mich wie eine alberne Ziege.

- Und wenn dieser Herr getan hätte, was er hätte tun sollen ? Wenn er Sie, sehr rücksichtsvoll, aber mit fester Hand in ein Zimmer ge­ führt hätte? - Wie soll ich das wissen? Meinen Sie, daß dadurch mein ganzes Le­ ben verändert worden wäre? Das bezweifle ich. Sonst hätten sich an­ dere Gelegenheiten dazu gefunden ...

- Im Vorwort zu »Rückkehr nach Roissy« schreiben Sie - die Szene spielt in einem Lokal daß ein Mann Ihres Alters zu Ihnen sagt: »Hast du den Mann da drüben gesehen, den Fünfzigjährigen, er sieht doch fabelhaft aus! Ich begreife nicht, warum die Frauen sich immer nur für Dreißigjährige interessieren.« Oder so ähnlich. Und Sie sagen es zwar nicht, denken es aber: O doch, sie interessieren sich genau für diesen Typ. Warum ? - Ich weiß nicht, vielleicht weil man in einem Mann immer den Vater sucht. - Demnach möchte man praktisch immer mit dem eigenen Vater schlafen? - Natürlich, nur daß man es eben nicht tut.

- Man tut es nicht? Der Inzest existiert aber. - Warum auch nicht? Liebe zwischen Geschwistern muß etwas Wun­ derschönes sein. Und ich las einmal die Geschichte einer Liebe zwi­ schen Vater und Tochter, die mich sehr berührt und verwirrt hat, ob­ wohl sie von einem recht mittelmäßigen Autor stammt, von Claude Fairere. Und jeder Landarzt kann Ihnen erzählen, daß der Vater, der seiner Tochter ein Kind macht, kein gar so seltener Fall ist. 20

- Liebten Sie Ihren Vater?

- Ich liebte ihn sehr, und ich bewunderte ihn sehr. - Hat er Sie geküßt, Sie in die Arme genommen ? - Selbstverständlich.

- Es bestand also eine gewisse sinnliche Beziehung zwischen Ihnen ? - O ja. Mein Vater war ein Mann, der die Frauen anbetete, der unge­ mein liebenswürdig und großzügig zu den Frauen war, nicht im mate­ riellen Sinn, denn er hatte kein Geld, aber er hatte ein offenes Herz und ein offenes Ohr für die Frauen. Er war ein wunderbarer Mann.

- Er hörte den Frauen wirklich zu ? - Er hörte ihnen aufmerksam zu, er war ein leidenschaftlicher und überzeugender Mensch. Kein schöner Mann, klein und untersetzt, dick, kugelköpfig, cholerisch und streitsüchtig. Ich bin es auch, ob­ gleich man es mir nicht ansieht, aber als Kind war ich ständig in Rau­ fereien verwickelt, war die Führerin aller möglichen Banden.

- Konnten Sie schnell laufen ? - Sehr.

- Haben Sie außerdem noch viel Sport getrieben ? - Nur Mittelstreckenlauf und ein bißchen Tennis.

- Ging es Ihnen dabei um den Wettkampf? - Nein. Ich wollte eine gute Zeit laufen, weiter nichts. Der Wettkampf interessierte mich nicht. Nur in der Schule. Wenn ich nicht die Beste oder Zweitbeste in der Klasse war, war ich wütend.

- Und waren Sie die Beste ? - Manchmal.

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- In welchem Glaubensbekenntnis sind Sie erzogen worden? - Also, das ist eine komische Geschichte. Ich sollte katholisch getauft werden, weil Frankreich vorwiegend katholisch ist und man es dann leichter hat. So meinte meine Mutter jedenfalls. Mein Vater hingegen fand, protestantisch wäre besser. Also wurde nichts Endgültiges be­ schlossen. Später schickte man mich zu meiner Großmutter väterli­ cherseits in die Bretagne. Die machte kurzen Prozeß: Als katholische Bretonin schickte sie mich in den katholischen Religionsunterricht, ohne jemandem reinen Wein einzuschenken, denn es war doch ein bißchen peinlich, daß ich nicht getauft war. Das ging so, bis ich sieben Jahre alt war und zur Ersten Heiligen Kommunion gehen sollte. Meine Großmutter fand einen Ausweg, ich weiß nicht, wie sie es an­ stellte, jedenfalls ging ich nicht zur Kommunion. Ich wurde acht, neun, allmählich mußte eine Lösung gefunden werden, der Pfarrer fand, es sei höchste Zeit für meine Kommunion. Es war während des Ersten Weltkriegs. Schließlich gestand meine Großmutter ihm, daß ich nicht getauft war. Schmach und Schande! Ich konnte kein Taufzeug­ nis vorweisen, folglich nicht die Erste Kommunion empfangen. Auch mir selbst mußte sie es jetzt sagen. Gebeichtet hatte ich, ich weiß nicht wie oft, ich ging eifrig in die Messe, in die Maiandacht, ich war sehr fromm, wie man es in diesem Alter häufig ist, und plötzlich trifft mich, wie ein Blitz aus heiterem Himmel, die Eröffnung, daß ich nicht ge­ tauft bin. Ich besuchte damals ein staatliches Internat - die Stadt war zu klein, um ein Lyzeum zu haben. Manchmal saßen wir Tagesschülerinnen an den Pulten der Intematsmädchen. Ich hatte den Pultdeckel aufgeho­ ben und ein wunderschönes Briefpapier gefunden und ein Blatt Papier und ein Kuvert gestohlen. Ich dürfte in meinem langen Leben noch mehr gesündigt haben, und sei es nur gegen die Liebe und die Freund­ schaft, doch wegen dieses Briefpapiers und des Kuverts habe ich noch heute Gewissensbisse, richtig Gewissensbisse; und in meiner bevorste­ henden Taufe sah ich ausschließlich die Chance, daß meine Sünden getilgt würden, ohne daß ich den Diebstahl beichten mußte. Wissen Sie, warum ich nicht beichten wollte, daß ich gestohlen hatte? Nicht weil ich mich schämte, überhaupt nicht, sondern weil man von mir ver­ langt hätte, das Briefpapier zurückzugeben, und ich hatte es nicht mehr.

- Was haben Sie damit gemacht ? 22

- Daran erinnere ich mich nicht. Aber Sie müssen zugeben, daß das eine komische Geschichte ist. Eine seltsame kindliche Reaktion. Ich ging ganz allein zur Ersten Kommunion, ohne langes weißes Kleid, klammheimlich sozusagen (hier kommt schon die Heimlichkeit ins Spiel). Am gleichen Tag Taufe und Erste Kommunion. Nur meine Mutter war dabei, die das Ganze übrigens sehr lästig und ärgerlich fand und meinte, man hätte gut darauf verzichten können. Was auch meine Meinung war, abgesehen von dem Wort: Deine Sünden sind dir vergeben. - Sie haben also diesen Diebstahl nicht gebeichtet ? - Das war nicht nötig, die Taufe hatte mich reingewaschen!

- Damals wurde Ihnen klar, welches Ausmaß manche Vergehen für uns annehmen können, welch übertriebene Wichtigkeit, welche Ge­ wissensbisse uns kleine Missetaten verursachen können.

- Kleine Missetaten, ja. - Woher mag das kommen ?

- Seltsam, aber ich weiß es nicht. Für mich war es eine ernste Sache. Ich sehe dieses Briefpapier noch heute vor mir. Es muß blaßblau oder hellgrau gewesen sein. - War es sehr schön ? - Es war sehr schön, mit einem gefütterten Kuvert. Ich hatte noch nie so schönes Briefpapier gesehen.

- Sie sprechen auch häufig von Anstand. »Die Geschichte der O« ist tatsächlich mit großem Anstand geschrieben, was den Stil angeht, die Art. wie die Dinge dargestellt sind. Äußerst zurückhaltend. - Anders ginge es überhaupt nicht... Es ist faszinierend, Disziplin zu beweisen, dort, wo sie am schwersten fällt, sonst wäre es kein Ver­ dienst.

- Ein guter Bekannter versuchte einmal, mir zu erklären, was Diszi23

plin und Distanziertheil seiner Meinung nach für die erotische Praxis bedeuten können. Zum Beispiel, wenn man einen Monat im voraus beschließt, sich an einem bestimmten Tag zu einer bestimmten Stunde einerjener Ausschweifungen hinzugehen, die im allgemeinen angeblich nur im Zustand sehr heftiger Erregung zu praktizieren sind. Diesen Aktfolglich zu einem nach allgemeiner Ansicht denkbar ungeeigneten Moment zu vollziehen. Auf Befehl, eiskalt sozusagen.

- Der kalte Blick, von dem de Sade spricht. »Er richtete auf mich den kalten Blick des wahren Libertin.« - Ich bin nicht sicher, ob ich in dieser Hinsicht eine sehr gute Schü­ lerin war. Ich bin nicht unfähig zu vorgefaßten Entschlüssen, aber Gefühlskalte ist nicht meine starke Seite. Doch wir sprachen vom Stil. . .

- Ja, ich hatte viel in den Erotikern des 18. Jahrhunderts gelesen, die, im Gegensatz zu denen des 17., außerordentlich dezent im Ausdruck sind. Crebillons »Die glücklichen Zufälle am Kaminfeuer« ist köstlich und vollendet anständig geschrieben; lesen Sie dagegen Malherbe! Die Erotika Malherbes sind in ihrer Terminologie geradezu widerlich. »Les Priapees« ist mir ein Greuel! - Die kleinen Erotika Ronsards sind nicht besser. Das hängt viel­ leicht auch mit dem Vokabular der Zeit zusammen, das sehr krude war. - Das Vokabular des 18. Jahrhunderts war genauso. Bei Casanova finden Sie ein ebenso krudes Vokabular. Es ist bei Casanova noch kru­ der als bei Crebillon. Nicht das Vokabular hat sich inzwischen verän­ dert, sondern der Begriff des Anstands kam ins Spiel. Man kann alles sagen, man muß es nur anständig sagen. Denn andernfalls ist es pein­ lich, grob, ordinär. Übrigens verstehe ich durchaus, daß man deftige oder ordinäre Ausdrücke verwendet, sie haben ihren Stellenwert, ihr Gewicht, ihre Funktion. Nichts gegen die Inschriften auf den Signalhörnern, nichts gegen die Wachstuben-Lieder, und auch nichts gegen die Limericks, die so witzig und so derb sind. Aber mir lag eine anständige Terminologie eben besser.

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- O kann es nicht ertragen, wenn Sir Stephen in sehr kruden Aus­ drücken von ihr spricht.

- Nein, das demütigt sie mehr als alles andere. - Aber sie erträgt es eben doch, wie sie die Schläge erträgt, die Berührungen. Sie ist gedemütigl, aber schließlich akzeptiert sie die Demütigung, sucht sie geradezu, warum also nicht auch diese. Ha­ ben für sie, in ihrem speziellen Fall, die Wörter jenen Stellenwert, jene Funktion, von denen Sie sprachen und die durchaus begreiflich sind?

- Natürlich, die Brutalität des Ausdrucks ist eine Vergewaltigung wie jede andere, oder vielmehr sogar die raffinierteste von allen. - Aber Sie sagen, es handle sich um eine Demütigung; wozu noch diese Demütigung? Sie ist überflüssig; sie ist unnütz. - Glauben Sie? O strebt nach der Vernichtung, und die Demütigung ist die absolute Vernichtung. Man kann einen Menschen töten, man braucht ihn nicht zu demütigen. Man kann einen politischen Gegner erschießen lassen, aber man darf ihn nicht beleidigen. Ich verstehe, daß man jemanden erschießen läßt, wenn die Um­ stände es erfordern, wenn man den Betreffenden für eine Gefahr hält, deren man sich entledigen muß. Tötet ihn, aber beleidigt ihn nicht, foltert ihn nicht!

- Hingegen erscheint die Todesstrafe Ihnen nicht als unzulässig?

- Nein, ich finde, es gibt weit Schlimmeres als den Tod. - Ja, Freiheitsberaubung ist etwas weitaus Infameres.

- Der Tod ist unvermeidlich, und es gibt Menschen, denen leider nicht zu helfen ist. Dann ist es besser, für sie selbst und für die ande­ ren, daß sie sterben. - Glauben Sie. daj.‘> eine Gesellschaft sich schützen darf und kann, eben indem sie bestimmte Personen ausmerzt?

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- Unbedingt, aber ich bin dagegen, daß man es tut, um sich die Hände in Unschuld zu waschen.

- Heutzutage wäscht man sich lieber die Hände in Unschuld, inden man es nicht tut.

- Sagen wir, man tut es, weil einem nichts anderes übrigbleibt. Es han­ delt sich um eine traurige Notwendigkeit, aber man soll sich nicht vor­ machen, daß man Gerechtigkeit übe, das ist einfach nicht wahr. Man gehorcht allenfalls dem Bedürfnis, sich zu schützen, einem Reflex der Selbstverteidigung, deshalb darf man sich noch nicht für gerecht hal­ ten. Ich glaube nicht, daß es Gerechtigkeit überhaupt gibt. Und doch habe ich einmal fest an sie geglaubt, sie für das Allerwichtigste gehal­ ten. Ich habe lange Zeit fanatisch an die Freiheit und die Gerechtigkeit geglaubt, ich will sagen, an die Möglichkeit der Freiheit und der Ge­ rechtigkeit. Und noch heute empfinde ich Ungerechtigkeit als ein Greuel.

- Wenn man zum Beispiel ein Kind zu Unrecht bestraft, so ist das ganz schrecklich. Das Kind kommt oft kaum darüber hinweg. - Ich erinnere mich, tiefen Groll gegen meine Mutter gehegt zu ha­ ben, weil sie mich wegen einer Lüge bestrafte. Ich hatte unserem Dienstmädchen zuliebe gelogen, das ein Stelldichein mit einem »Ver­ lobten« hatte. »Aber Sie sagen Madame nichts davon.« Ich versprach, nein, ich würde nichts sagen. Woraufhin dieses Weibsstück meiner Mutter ich weiß nicht was erzählte, und meine Mutter warf mir vor: »Sieh mal an, du hast gelogen, du hast behauptet, du seist dabeigewe­ sen, und du warst nicht dabei.« Ich antwortete nicht; ich ließ die Strafe über mich ergehen, aber ein so heftiges Gefühl erlittenen Unrechts und solche Verzweiflung erfüllten mich, daß ich aus dem Haus lief, um mich zu ertränken. Es war in den Ferien am Meer. Ich fand nicht den Mut, ins Wasser zu gehen; es war Nacht, die Flut war im Steigen, ein Sturmwind jagte den Mond über die Wolken. Eine Stunde blieb ich am Strand und wollte sterben und traute mich nicht. Dann ging ich wieder nach Hause. Ich habe es niemals vergessen. Im Erziehungssy­ stem der Engländer gab es früher eine Art feststehender Regel: Man bestraft ein Kind - will heißen, man prügelt es - wegen eines Verge­ hens, das es nicht begangen hatte. Seine Unschuld stellt sich heraus. Man erklärt dem Kind, es habe Ungerechtigkeit und Schläge klaglos

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hinzunehmen, denn nur so lerne es, im Leben zurechtzukommen. Na gut, ich lernte.

- Haben Sie den Wunsch verspürt, sich an diesem Dienstmädchen zu rächen ?

- Nicht einmal das. Ich hatte versprochen, nichts zu sagen, also sagte ich nichts. Das Mädchen redete, na schön. Das Schreckliche für mich war, daß meine Mutter dem Dienstmädchen mehr glaubte als mir. - Ihre Mutter hatte kein Vertrauen zu Ihnen. - Nein.

- Ist es für Sie sehr wichtig, daß man Vertrauen zu Ihnen hat? - Ja, auch dann, wenn ich es nicht verdiene. Allerdings bemühe ich mich, es zu verdienen. - Was schmerzt Ihrer Ansicht nach am meisten im Leben? Unge­ rechtigkeit?

- O nein! An Ungerechtigkeit gewöhnt man sich. Nein. Die Trennung von den geliebten Menschen. Sie ist die Hölle. Ich weiß nicht, ob es einen Himmel gibt, aber ich weiß aufjeden Fall, daß es eine Hölle gibt. Nämlich die Trennung. - Waren Sie häufig von den Menschen getrennt, die Sie liebten ? - Sehr lange. Ja, sehr häufig und sehr lange und zu wiederholten Ma­ len.

- Sie scheinen zu Ihrem Wort zu stehen, zu Ihren Freunden, zu Ihren Verpflichtungen.

- Ich weiß nicht, ich versuche es. - Aber von der Treue in der Liehe scheinen Sie nicht viel zu halten ? - Nein, sie kommt mir absurd vor. Ich war den Menschen treu, die ich

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liebte. Wenn ich einen Mann liebte, ging ich nicht mit einem anderen ins Bett. Schade, manchmal hätte ich recht gern mit einem anderen geschlafen. Es ist mir häufig passiert, daß ich es gern getan hätte, es aber nicht tat, weil ich versprochen hatte, es nicht zu tun. Es ist absurd, Gehorsam und Treue zu schwören.

- Sie haben so etwas niemals geschworen ?

- Manchmal schon. Und den Schwur gehalten. Aber wenn ich auch treu war, gehorsam bin ich wohl leider nie gewesen. -

Trotzdem halten Sie Gehorsam für etwas Schönes ?

- Ja, er ist etwas Schönes.

- Und Sie rühmen seine Vorzüge in gewissen Fällen. Aber nicht, wenn es um Sie selbst geht. - Nein, ich bin nicht gehorsam.

- Legen Sie Wert darauf, daß man Ihnen gehorcht? - Nicht besonders. Nein, aber wenn ich Soldat wäre, würde ich unbe­ dingt gehorchen. Es klingt vollkommen lächerlich, und Sie scheinen es nicht zu bemerken, und ich finde es lustig, daß Sie es nicht bemerken, denn mir scheint es ganz offensichtlich, aber ich bin eine Art verhin­ derter Soldat. Ich habe eine Vorliebe für Disziplin, Pünktlichkeit, Be­ fehle. Wenn mir zum Beispiel während des Krieges in einer Gruppe ein Befehl gegeben wurde, wenn ich etwas auszuführen hatte, wenn jemand aus der Resistance mir Anweisung gab, dann erfüllte ich diese Anweisung gewissenhaft. Treffpunkt um die und die Zeit: Ich war im­ mer zur Stelle, unter allen Umständen.

- Die Vorliebe für eine Uniform spricht auch aus der Art Ihrer Klei­ dung. - Es macht das Leben einfacher.

- Man legt sein Geschick in die Hände anderer, wie man eine zu schwere Bürde abgibt. Wie Lawrence, der als einfacher Soldat wie28

der in die Armee eintrat. Ein General sagte einmal zu mir: »Ich wollte Soldat werden und gehorchen, um frei zu sein.« Aber steht denn Ihre Uniform nicht ein wenig im Widerspruch zu den Kleidern, die Sie O anziehen lassen ? - Natürlich.

- Die Kleidung spielt in der »Geschichte der O« eine große Rolle. Jede Einzelheit wird wegen ihrer erotischen Wirkung gewählt.

- Jedes Kleidungsstück kann erotisch sein. Der weite Domino der Maskenbälle ebenso wie der schmiegsame Peplos der Antike. Aber es gibt eine klassische Aufmachung, die auf ihre Trägerin verwandelnd wirkt, Korsett, eingeschnürte Wespentaille, Strumpfhalter, schwarze Strümpfe. Eine fixe Idee, die ich bestimmt mit vielen Frauen gemein­ sam habe. Zu den großen erotischen Uniformen gehören für mich auch die Roben des 18. Jahrhunderts mit ihren V-förmigen Fischbein­ leibchen. Ich habe O’s Garderobe bis in alle Einzelheiten beschrieben, weil ich eine Zeitlang Kostümkunde studierte ... Die Schleppkleider mit Schnürleib, die den Busen hochschoben, faszinierten mich. Diese Röcke, bei denen man immer denkt, sie könnten auf der bloßen Haut getragen werden. Die Nonnen, in deren Kloster meine Mutter erzogen wurde, ein Orden aus dem 18. Jahrhundert, trugen solche Tracht, weite Röcke, weite Unterröcke, nichts darunter, und wenn sie die Treppe hinaufstiegen, versteckten sich ihre kleinen Schülerinnen unter den Stufen, um die weißen Schenkel zu erspähen, und kicherten heim­ lich. Das Wort »schürzen« wurde eigens für diese Röcke erfunden. - Es ist eines der berauschendsten Wörter, die es gibt. Aber O’s Uni­ form .. . - O’s Uniform ist ein Erkennungszeichen. Wenn Sie so wollen, steckt in dieser Sache mit den Erkennungszeichen, der Uniform, die O trägt, etwas von der Romantik der Geheimgesellschaften. Allerdings sind sie gewöhnlich Männersache. Männer gründen Geheimbünde. Ich habe schon immer von Geheimbünden geträumt. Die Widerstandsgruppen während des Krieges waren die Erfüllung dieses Traums.

- Sie gehörten einer Widerstandsgruppe an ?

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- Ja. Es war ideal. Und außerdem riskierte man dabei etwas. - Sie riskierten Ihr Leben, und das gefiel Ihnen.

- Ja, das gefiel mir. - Immerhin geschah es mit dem Ziel, den Krieg zu beenden. - Ach Gott, ich wollte einfach, daß diese Leute abziehen sollten. - Waren sie Ihnen unsympathisch ? - Darum handelt es sich nicht. Selbstverständlich waren sie mir un­ sympathisch, aber vor allem hatten sie hier nichts zu suchen. Sie sollten hingehen, wo sie hergekommen waren. Zum Beispiel hege ich große Begeisterung für alles Englische; ich bin nicht anglophil, ich bin angloman. Aber wenn die Engländer unser Land besetzt hielten, dann hätte ich nur den einen Gedanken, sie wieder hinauszuwerfen.

- Schwärmten Sie als Heranwachsende, als junges Mädchen, für die vielen Schlager, die vom »Legionär« handelten? Erinnern Sie sich.

- Ja, ich erinnere mich. Nein, überhaupt nicht. - Wie erklären Sie sich die damalige Vorliebefür den Legionär, und auch für das Straßenmädchen, die Nutte? - Ach, wissen Sie, ich bin, wenn ich so sagen darf, mit den Chansons Aristide Bruants großgeworden. Obwohl ich nicht singen kann, singe ich noch heute, fürchterlich falsch natürlich, manche Bruant-Chansons.

A la place Maub’, l'avez vous vue ou bien dans la cour du dépôt ? Ma gigolette, elle est perdue!

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A s'est fait poisser dans la rue . . .

Habt Ihr sie gesehn. Auf der Place Maub' Oder im Polizeirevier? Meine Kleine ist futsch! Hat sich auf dem Strich erwischen lassen . . . Ich weiß nicht, ob Sie sich erinnern, es gibt zu diesem Thema ein sehr schönes Stück Prosa, in einem Roman von Colette »Les Egarements de Minne«. Minne ist wie hypnotisiert von diesen Geschichten und läuft heimlich von zu Hause fort, um die echte Goldhelm zu suchen. Sie findet eine alte Säuferin, die keift: >Was lungerst du denn hier rum?< Es war schrecklich. Minne kehrt bei Tagesanbruch zurück, sie wird ohnmächtig vor dem Haus ihrer Mutter gefunden, man glaubt, sie sei vergewaltigt worden. Ich habe »Les égarements de Minne« sehr gern.

- Sie erwähnen »Goldhelm», einen der schönsten und poetischsten Filme, die jemals gedreht wurden, obwohl er das Verbrechermilieu völlig verzeichnet, mit dem Denunzianten, der in dieser Art Literatur eine wichtige Figur ist. Stellt der Verräter auch für Sie eine wichtige Figur dar ? - Nein, und doch hat mich eines der Grundthemen des großen Schriftstellers Joseph Conrad schon immer beschäftigt. Sein letzter Roman »Rescue«, eine seiner letzten Novellensammlungen, »Tales of Unrest«, nehmen immer wieder dieses Thema auf: Die Geschichte zweier Männer, von denen der eine der Bruder oder der beste Freund des anderen ist und ihn plötzlich denunziert, verkauft, verrät. Sehr, sehr seltsam.

- Und warum üben sie Verrat ? - Wegen einer Frau, glaube ich.

- Immer wegen einer Frau ? Schön, also der Verräter ist für Sie keine wichtige Figur? - Nein, Jago erscheint mir absurd, ich finde ihn uninteressant.

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- Aber wie denken Sie über die Eifersucht? - Ich halte sie für das größte Verbrechen in der Liebe. Ich finde, wenn man einen Menschen liebt, so ist nur eines unerträglich, nämlich daß er einen verläßt, die Tatsache, daß er sich für jemand anderen interes­ siert, ist so lange nicht gravierend, wie er nicht endgültig fortgeht, son­ dern immer wiederkommt, einen weiterhin liebt und nicht mit einem bricht. - Sie empfinden es nicht als Bruch, wenn der Mann, den Sie lieben, sich für eine andere interessiert?

- Nein, ich war schon immer überzeugt, daß man mehrere Menschen zugleich lieben kann. Ich erinnere mich, ich war durchaus fähig, gleichzeitig zwei Männer zu lieben. Nicht auf dieselbe Weise, aber doch beide zugleich, jawohl. - Ach! Wie seltsam; seit ich weiß, was lieben heißt, zerfällt für mich das Universum in zwei Teile; auf der einen Seite der geliebte Mensch, auf der anderen alle übrigen, mit denen man machen kann, was man will, weil sie nur Staffage sind. Versatzstücke, und sonder­ barerweise kann es vorkommen, daß man gerade deshalb Zärtlich­ keit für sie empfindet. Aber Sie bezeichnen das Gefühl, das Sie für jeden der beiden Männer hegten, mit dem Namen Liebe!

- O ja, unbedingt. - Wußten diese Männer, daß Sie sie beide liebten ?«

- Nein, ich mußte natürlich lügen.

- Ah, weil sie eifersüchtig waren ? - Selbstverständlich. Ich habe leider nur eifersüchtige Männer ge­ kannt. Ich frage mich, warum, und wie weit das womöglich an mir lag.

- Beeindruckt es Sie. wenn jemand eifersüchtig ist?

- Es bestürzt mich, macht mich traurig, ich finde es unangenehm, dumm, ungerecht. Gewiß, ich muß zugeben, daß meine Ansicht dar­ 32

über sehr persönlich ist. Niemand hat mir je zugestimmt. Vielleicht bin ich nicht ganz normal. - Als O's Geliebter vor ihren Augen die Brust eines anderen Mäd­ chens berührt, sinkt sie kraftlos, einer Ohnmacht nahe, an die Wand, sie ist in diesem Augenblick eifersüchtig.

- Hier war ich exakt, ohne es zu wollen, das ist schon möglich.

- Ich zitiere: » Welche Lust verschaffte sie ihm, die nicht auch diese Frau, jede andere, ihm genauso verschaffen konnte?« Auch die Tat­ sache. daß eine andere dem Geliebten die gleiche Lust vermittelte, würde Sie nicht eifersüchtig machen? Diese Austauschbarkeit ent­ reißt Ihnen keinen Aufschrei der Empörung? - Man wird nicht ausgetauscht, wenn der Geliebte nicht fortgeht oder jedenfalls wiederkommt. Und mit welchem Recht beraubt man ihn eines Vergnügens, nur weil man ihn liebt? - Wirklich seltsam, man kann mit Ihnen nicht über Eifersucht spre­ chen, Sie wissen nicht einmal, was das ist.

- Das stimmt.

- Dafür weiß ich um so besser, was das ist, Eifersucht, ich könnte Ihnen einen langen, einen stundenlangen Vortrag darüber halten. Eifersucht ist eine Leidenschaft, und wie jede Leidenschaft be­ herrscht sie den ganzen Menschen, erdrückt ihr Opfer. Eifersucht ist die bis zum Extrem getriebene Liebe: die Sehnsucht, völlig im ande­ ren aufzugehen, der andere zu werden, sich den anderen einzuverlei­ ben. Wenn es nun passiert, daß dieser andere, dieser Geliebte, eine andere Frau mit, wie man meint, Interesse ansieht oder sie gar, wie man meint, mit Vergnügen berührt, oder wenn Sie ihn, um das Maß vollzumachen, bei einem Kuß ertappt zu haben glauben, so verwan­ delt dieses jähe Erwachen, diese Erschütterung Körper und Seele in einen einzigen Block des Leidens. Eifersucht: Die Kehle ist wie zuge­ schnürt, die Hände verkrampfen sich, der Herzschlag stockt und setztjäh wieder ein; der Körper krümmt sich wie in Todesqualen, die Knie wanken. Schreie werden in Kissen erstickt, Fäuste und Stirn schlagen an die Wände: ich möchte den anderen zerstückeln, ihm die 33

Augen ausreißen, das Geschlecht, das Herz, seinem Körper den glei­ chen Schmerz bereiten, der mich zerfleischt. Und was die andere an­ geht, die der Geliebte angesehen oder liebkost oder geküßt hat, so gibt es keine Folter, die ich nicht erfinden würde. Ich bin von Natur eher sanftmütig und nicht sehr boshaft, aber wenn ich eifersüchtig bin, kenne ich nur noch Tränen, Schreie und Blut. Ich bin wie rasend vor Rachedurst. Wofür ich mich rächen will, fragen Sie ? Dafür, daß ich mich weniger geliebt glaube, weil er eine andere angesehen, sich jur eine andere interessiert hat. Ich fühle mich verraten. Man hat mir das genommen, was meine Kraft ausmachte: seine Liebe. Ich weiß, daß das alles Unsinn ist, ich sage es mir immer wieder, ich versuche, diesen Wahnsinn zu bändigen, der mich überkommt, und manchmal gelingt es mir unter Qualen, deren Beschreibung ich Ihnen erspare. Solange diese Krise, dieser Anfall, dieser Ausbruch dauert, lebe ich in einem roten Nebel. Ist die Krise vorüber, bin ich noch stundenlang völlig entkräftet, abgeschlagen, als hätte man mich mit Prügeln trak­ tiert - vielleicht wäre das die beste Medizin mein Herz schlägt ha­ stig oder schleppend. Ich fühle, dafl ich töten oder mich selbst um­ bringen könnte. Vielleicht werden Sie sagen, Eifersucht sei ein Mangel an Selbstvertrauen, ein Zeichen von Hochmut, das Kapital­ verbrechen in der Liebe, ein Greuel, eine Krankheit. Ja, das alles ist sie und noch Schlimmeres. Oh, sie ist schrecklich!

- Was Sie mir da beschreiben, ist wirklich schrecklich. Ich habe den Eindruck, daß ich noch gut weggekommen bin. Ich hatte einmal einen Geliebten, der mich häufig betrog, und ich erinnere mich, daß er Briefe herumliegen ließ. Ich nahm die Briefe vom Tisch und machte ihm den Vorwurf: »Sie hätten es mir wenigstens sagen können.« Er erwiderte: »Nun, ich ließ doch die Briefe liegen!« Und ich: »Ja, gewiß, damit ich verstehen sollte, aber warum haben Sie es mir nicht selbst gesagt?« Er: »Ach, das ist so peinlich.« Einmal sagte er etwas wirklich sehr Komisches zu mir, ich weiß es noch genau. Er fragte mich, ob ich mir mit ihm ich weiß nicht mehr welches Theaterstück ansehen wolle, aber ich konnte nicht. Ich ant­ wortete: »Warum laden Sie nicht dieses Mädchen da ein?« »Das geht nicht«, sagte er, »ich kenne sie nicht gut genug, um sie ins Theater mit­ zunehmen.« O ja, das verstand ich durchaus; er kannte sie gut genug, um mit ihr zu schlafen, aber nicht gut genug, um sie auszuführen! Man kann tatsächlich mit jemanden ins Bett gehen und ihn doch gar nicht oder fast gar nicht kennen. Darin liegt der ganze Unterschied zwischen 34

der Wollust und der Liebe und sogar zwischen der Wollust und der Freundschaft. Wir nähern uns da der abscheulichen Definition des 18. Jahrhunderts: Austausch zweier Gelüste, Kontakt zweier Körperober­ flächen - oder dem berühmten Glas Wasser, das Lenin - war es Le­ nin? - mit solcher Heftigkeit zurückwies, obgleich ein Glas Wasser, wenn man Durst hat, eine Wohltat ist.

- Hier kommen wir zu einem wichtigen Punkt. Man muß den ande­ ren zur Kenntnis nehmen. Letztlich muß man feststellen, daß nur sehr wenige die Menschen, die sie liehen und oder mit denen sie le­ ben, zur Kenntnis nehmen, sich um sie sorgen, sie wirklich ansehen. Man wird im allgemeinen selten wirklich angesehen und sieht auch die anderen nur selten an. Woher mag das kommen ? - Das kann allerlei Gründe haben. Ich habe die Menschen, die ich liebte oder mit denen ich lebte, immer genau angesehen.

- Geschah es aus Wertschätzung ? Oder weshalb, was meinen Sie ? - Weil die Menschen mich interessieren. Ein Schriftsteller, den ich sehr bewundere, sagte einmal zu mir: »Sie lieben die Literatur nicht.« Ich erwiderte: »Wieso liebe ich die Literatur nicht?« - »Nein, Sie lie­ ben nicht die Literatur, Sie lieben die Menschen.« Er hatte völlig recht. Was ich an der Literatur liebe, sind die Menschen. Die Menschen, die man durch die Literatur kennenlernt. Deshalb lese ich so gern. Ich lese manchmal Bücher, die sicher nichts Besonderes sind, und doch faszi­ nieren sie mich, weil etwas in ihnen steckt, auch wenn sie schlecht ge­ schrieben sind. Mag sein, daß sie vom literarischen Standpunkt aus unbedeutend sind, sie können dennoch vom menschlichen Stand­ punkt aus interessant sein.

- Ist dieses Interesse an anderen für Sie nicht zuweilen recht ermü­ dend? - Bisher fand ich das nicht. Nein, wirklich nicht. Das Gegenteil ist der Fall. Die anderen tun mir gut. Jetzt werden Sie sagen, auch das sei ein Alibi, eine Möglichkeit, aus sich herauszutreten, sich seines Selbst zu entledigen, indem man in die anderen eintaucht.

- Warum wollen Sie sich unbedingt Ihrer selbst entledigen ? 35

- Man wird der eigenen Person müde, finden Sie nicht? Manchmal bin ich es müde, ich zu sein. Bin ich denn ein so angenehmer Umgang? Ich bin oft melancholisch, das macht mir keinen Spaß, also denke ich an etwas anderes, tue etwas anderes, interessiere mich für andere. - Was Sie dann zwingt, sich nicht Ihren Depressionen zu überlas­ sen ?Also sind die anderen Ihnen eine Hilfe ?

- Eine große Hilfe. Allein durch ihr Vorhandensein. - Aber Sie wissen doch, daß die anderen erst wirklich existieren, weil Sie sie aufmerksam anblicken. Der Blick, den man auf die Men­ schen richtet, ist etwas sehr Wichtiges. - Ich weiß es nicht, ich habe es mir nie klargemacht.

- Es ist sehr wichtig. Indem Sie sich für die Menschen interessieren, sie wirklich ansehen, geben Sie ihnen eine neue, eine zusätzliche Exi­ stenz nach Ihrem Willen. Die Menschen werden vor Ihren Augen bei­ nah so, wie Sie sie sich wünschen, sich vorstellen. - Glauben Sie, daß man tatsächlich etwas bewirken kann? Das be­ zweifle ich.

- Ich bin überzeugt davon. Sie gehen durch eine Straße, sitzen vor einem Café, die Menge strömt vorbei, und plötzlich sehen Sie irgend­ einen Menschen an, der auf sie zukommt, sehen ihn wirklich an. und dieser Mensch fängt ihren Blick auf; es wird eine Veränderung mit ihm vorgehen. Er fühlt, daß er existiert, weil er gesehen wird. Ich habe das häufig festgestellt, es geht etwas in seinem Körper vor, er richtet sich auf. - Und doch ist der Blick der anderen manchmal unerträglich. -Ah, das ist etwas anderes. Es gibt Blicke, in denen sich tatsächlich die ständige Aggression durch die Straße oder durch die anderen ausdrückt. - Im letzten Roman von Jean d’Ormesson findet sich eine hochinter­ essante Stelle. Er spricht davon, wie man erzogen wurde, wenn man

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von Stande war. Es hieß: »Haltung, die Leute sehen euch.« Und ich glaube, das Gefühl, daß man Haltung bewahren muß, weil man ange­ sehen wird, ist ein wichtiger Erziehungsfaktor. Und sehr hilfreich. Hal­ tung wahren, ob man vor einem Exekutionskommando oder auf der Bühne steht. Letztlich geht es auf das gleiche hinaus.

- Ja. es ist eine Frage der moralischen Haltung, aber sind wir in die­ sem Punkt nicht beide ein bißchen altmodisch ? - Ich verstehe nicht, was Moral damit zu tun haben sollte. Es handelt sich vielmehr um eine Form der Selbstbeherrschung, der Selbstbewah­ rung. Die Chinesen nennen es, das Gesicht bewahren. Und wenn man dazu ein altes Fossil sein muß, auch gut, dann bin ich es eben. In ir­ gendeiner Hinsicht steht man immer außerhalb seiner Zeit.

- Haben Sie den Eindruck, neben der Zeit, neben Ihrer Zeit zu ste­ hen? - In gewissen Dingen, ja.

- Was halten Sie zum Beispiel von den zahlreichen Frauenbewegun­ gen? Von dem, was in der ganzen Welt auf Initiative der Frauen ge­ schieht? - Es fallt mir schwer, überhaupt etwas davon zu halten, denn erstens vegetieren die Frauen tatsächlich unter einer noch immer weitverbrei­ teten Mißachtung und Weiberfeindlichkeit dahin. Die schreiende Un­ gerechtigkeit der französischen Gesetzgebung ist Napoleon zu verdan­ ken, der das Unglück hatte, mit zwei ebenso törichten wie schamlosen Schwestern geschlagen zu sein und sich daher sagte: Man kann die Geschicke einer Familie nicht solchen lockeren Vögeln anvertrauen. Was seine Schwestern anging, hatte er damit recht. Andererseits glaube ich nicht, daß Woman’s Lib eine Lösung darstellt.

- Sind Sie nicht der Meinung, daß gerade der Übereifer gewisser Frauen - trotz aller unerfreulichen, schockierenden oder verschrobe­ nen Auswüchse - das Problem sowohl den Männern als auch den übrigen Frauen zum Bewußtsein bringen könnte? - Da bin ich überfragt. Ich habe nie einer Frauenrechtsbewegung an-

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gehört, aber ich bin immer Frauenrechtlerin gewesen. Das Schlimme in meinem Fall ist, wie soll ich sagen, daß ich den Männern gegenüber im allgemeinen nicht das geringste Minderwertigkeitsgefühl habe und sie auch nicht besonders bewundere, jedenfalls nicht ihren Charakter, ihre Art der Lebensführung, der Annahme oder Ablehnung ihrer Ver­ antwortungen. Es gibt einen Männertyp, den ich bewundere, obwohl er heute aus der Mode ist und gern lächerlich gemacht wird: Männer, für die Mut, Höflichkeit und Treue zum gegebenen Wort oberste Ge­ bote sind, und die sich selbst nicht allzu ernst nehmen. Ich kannte sol­ che Männer; sie müssen zu jeder Zeit ziemlich rar gewesen sein, aber als dieser Typus in Mode war, gab es gute Imitationen. Ich finde, daß sehr wenige Männer sich im täglichen Umgang als Erwachsene beneh­ men. In ihrem Beruf, ja, aber im Privatleben nicht immer. Wie viele Frauen wissen, daß sie an ihrem Ehemann nur ein Kind mehr haben. Die Männer sind verantwortungslos wie Kinder, oft genauso unleid­ lich wie Kinder. Die Frauen sind viel vernünftiger, die Frauen sind der vernünftige Teil der Menschheit. Allerdings hat diese vortreffliche Ei­ genschaft eine Kehrseite: Die Unvernünftigen verändern die Welt, halten das Leben in Bewegung. Vielleicht haben die Frauen schon zu­ viel damit zu tun, das Leben zu geben, als daß sie es auch noch verän­ dern könnten. Aber diese Erkenntnis bringt uns nicht weiter, zumal ich mit dieser Ansicht vermutlich allein stehe.

- Daß Sie damit allein stehen, ist nicht das Problem. Ich weiß nicht, ob die Frauen vernünftig sind und die Männer unleidlich. Sie sind Kinder, das zeigt sich oft genug, aber wenn die Frauen die einzigen Erwachsenen sind, wie erklären Sie sich dann, daß sie sich derart manipulieren lassen ?

- Ich begreife es nicht, und es ist durchaus möglich, daß ich mir völlig falsche Vorstellungen mache. - Denn die eigentlichen Herren, wenn man sie so nennen will, die Starken, das sind die Frauen, davon bin ich zutiefst überzeugt. Aber sie arbeiten den Männern in die Hände, indem sie ihnen Grund ge­ ben, das Gegenteil zu glauben. - Die Frauen gehen den Weg des geringsten Widerstandes. Es ist so­ viel einfacher, das schwache Geschlecht zu spielen. Nicht ehrenvoll, aber praktisch.

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- Ja, hierin sind wir uns einig. Aber bis jetzt gehen doch alle Schwie­ rigkeiten in der Welt, im Leben ganz allgemein, größtenteils auf das Konto der Männer, denn sie machen die Gesetze und lenken die Ge­ schicke der Welt. Ich weiji nicht, ob es besser würde, wenn die Frauen die Sache in die Hand nähmen, ich weiß es nicht. Aber ich will sagen, ich finde es von Tag zu Tag unerträglicher, daß man die Frauen noch immer als Unmündige behandelt, in ihnen Wesen sieht, die an gewis­ sen Tagen des Monats die Pilze vergiften und schuld sind, wenn die Mayonnaise gerinnt. Was womöglich sogar stimmt, ich habe keine Ahnung.

- Damit behandelt man uns nicht als Unmündige, sondern als Hexen. Weniger demütigend - aber noch schlimmer.

- Es gibt Übertreibungen, die heute von manchen Mitgliedern von Woman 's Lib begangen werden oderfrüher von den Suffragetten be­ gangen wurden, aber sind diese Übertreibungen nicht vielleicht not­ wendig? - Die Übertreibungen der Suffragetten waren nichts im Vergleich zu denen von Woman’s Lib.

- Ich weiji nicht, ob Ihnen die Frauenrechtshewegungen aus den Jahren zwischen 1830 und 1848 ein Begriff sind. Es gab damals eine Frauenrechtspresse, nicht eine Frauenpresse, die sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts beachtlich entwickelt hat. Allerdings hielt sich keine Zeitschrift sehr lange, es erschienen drei oder vier Nummern, dann verschwand sie wieder. - Ziemlich wirkungslos, wie mir scheint.

- Nicht immer. Aber wie stellen Sie sich eine Frauenbewegung vor, eine neue Frauenbewegung, die erfolgreich und für alle interessant wäre ? - Ich weiß es nicht, denn, sehen Sie: Die ersten weiblichen Minister gab es in England. Der englische Mann ist geradezu krankhaft frauen­ feindlich, und doch setzten sich die Rechte der Frau zuerst in England durch. So einfach ist das nicht. In Amerika ist es ebenso: Die amerika­ nischen Frauen haben seit langer Zeit das Stimmrecht. Man fand aber

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Mittel und Wege ihnen einzureden, wenn sie hübsch sein wollten und einen Mann und Kinder haben, dann dürften sie sich nicht mit Politik beschäftigen. Man fand auch Mittel und Wege, sie am Arbeiten zu hin­ dern. Andererseits werden Sie wohl nicht behaupten wollen, einen Mann zu haben, Kinder, den Haushalt zu besorgen, die Küche, sich um die Kinder zu kümmern, das alles zusätzlich zu einer Büroarbeit, das sei ideal? Das ist es nämlich nicht. Zum Fluch des Gebärenmüs­ sens kommt der Fluch der harten Arbeit. Man sagt uns: Die Berufsarbeit ist ein Fortschritt für die Frau, ein Gewinn; so einfach ist das nicht. Ein Gewinn an Freiheit, ja, denn man hat ein bißchen eigenes Geld, das man ausgeben kann, ohne dem Ehe­ mann darüber Rechenschaft ablegen zu müssen, aber das ist auch alles. Das übrige ist eine zusätzliche Fron. - Sie haben völlig recht, aber dieser Gesichtspunkt wird jetzt erst langsam erkannt. Man ist sich darüber klargeworden, daß die Frauen sich haben hereinlegen lassen. Denn doppelt arbeiten müs­ sen, wie Sie sagen, im Haus und im Büro, das ist schließlich wirklich nicht erstrebenswert.

- Man kommt nach Hause und muß das Abendessen kochen. Die Kleidungsstücke der Kinder müssen gewaschen werden, zumindest in die Waschmaschine gesteckt, wenn man eine Waschmaschine hat, das Geschirr vorgereinigt, auch wenn man eine Spülmaschine hat, auf je­ den Fall hat man immer noch genug zu tun, während der Ehemann bloß die Füße unter dem Tisch ausstreckt. Manchmal ist er nett und hilft beim Abwasch, das soll vorkommen, aber sehr selten. - Daraus erklärt sich die Schwierigkeit eines Gedankenaustau­ sches. des einfachen Gedankenaustausches zwischen zwei Men­ schen. Man kann einfach nicht mehr, wenn man nach einem Arbeits­ tag doppelt erschöpft ist. - Andererseits gibt es viele Frauen, die auch so ihr Auskommen hät­ ten, die aber, um sich eine Putzfrau leisten zu können, acht Stunden am Tag arbeiten gehen und damit gerade soviel verdienen, wie sie der Putzfrau bezahlen müssen.

- Warum tun sie das ?

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- Vermutlich, weil sie sich zu Hause langweilen. Es sind die allein­ stehenden Frauen. Ich hatte Freundinnen, deren Männer viel Geld verdienten und die zu Hause blieben und nichts taten. Sie beschäftig­ ten sich mit den Kindern, und als die Kinder groß waren, beschäftig­ ten sie sich mit ihren Enkeln, also mit ihrer Familie, ihrem Haushalt, und sie waren völlig entmutigt, fühlten sich unglücklich und beneide­ ten mich glühend, mich, die ich damals buchstäblich wie ein Pferd schuftete und ständig todmüde war. Wenn ich nach Hause kam, wollte ich nur eines, mich ins Bett legen. Das kam ihnen fabelhaft vor, ideal. Vielleicht hatten sie sogar recht. - Warum finden es die Menschen so schwer, frei zu sein? - Weil es wohl tatsächlich schwer für sie ist, zu leben, frei zu sein, ein Leben zu führen nach ihrem Geschmack. Leben, nichts als leben, das ist schwierig. Man muß frei sein und auch wieder nicht. Man muß zu­ gleich frei sein und unter Zwang stehen. Ein Psychiater der alten Schule hat einmal gesagt: »Man muß täglich etwas zu tun haben, zwei, drei Stunden lang, irgendeine verbindliche Arbeit, auch wenn sie einem lästig ist, auch wenn es einem keinen Spaß macht.«

- Und warum war er dieser Ansicht ? - Weil es einen aufrecht hält, einem hilft, zu leben. Man muß jeden Tag gewisse Pflichten zu erfüllen haben. Man darf nicht im Leeren le­ ben.

- Man sollte also nicht völlig frei über sich und seine Zeit verfügen dürfen. - Man darf nicht in einem Vakuum leben, nicht nur den Telefonhörer abheben müssen, damit man einen Pelzmantel ins Haus geliefert be­ kommt oder das fertige Essen oder sonst irgend etwas. Es ist falsch, wenn man nur Bestellungen aufgibt. Was schlicht und einfach bedeu­ tet, daß die sehr reichen Leute zwangsläufig auch sehr unglücklich sind. Und hiermit kommen wir zu einer Sache, die wie ein Hohn klingt, sich anhört, als gebe man nur die alte Binsenweisheit von sich vom Geld, das nicht glücklich macht, während es doch nicht zu leug­ nen ist, daß eine gewisse Menge Geld die Menschen glücklich und das Fehlen dieses Geldes sie unglücklich macht. Ich kannte drei Frauen,

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nicht mehr jung, eine von ihnen ist inzwischen gestorben, alle drei Mil­ lionärinnen, und ich weiß, daß sie ein Leben führen oder führten, das sie nicht ausfüllt. Die eine ist die Freigebigkeit in Person, die Güte und Feinfühligkeit in Person; sie läßt sich oft und mit unendlicher Geduld ausnützen, obwohl sie es sehr wohl bemerkt. Ich bin nicht überzeugt, daß sie glücklich ist, aber wer ist glücklich?

- Aber was würden Sie tun, wenn Sie so viel Geld hätten ?

- Bestimmt lauter törichte Dinge. Die Hälfte Frankreichs aufforsten lassen zum Beispiel... Die dritte dieser Frauen fragte mich einmal: »Was würden Sie tun, wenn Sie an meiner Stelle wären?« Ich fing an zu erklären, sie hob die Arme gen Himmel. Dabei gibt auch sie ihr Geld weiß Gott mit vollen Händen aus, aber meine Vorschläge, wie es unter die Leute zu bringen sei, gefielen ihr nicht. - Was sagten Sie denn, daß Sie tun würden ? - Ach, ich fing damit an, daß ich für alle meine Freunde und Bekann­ ten, die schlecht untergebracht sind, Wohnungen kaufen und sie ihnen schenken würde. »Ach«, erwiderte sie, »die würden Sie dann nur je­ desmal kommen lassen, sooft das WC verstopft ist.« Ich sagte: »Dafür gibt es Klempner ...« Aber es stimmt natürlich, geben, endlos immer nur geben, dessen wird man auf die Dauer bestimmt auch überdrüssig. Trotzdem, kennen Sie das Gebet des provemjalischen Fischers: Hei­ lige Jungfrau, laß mich so viele Fische fangen, daß wir uns daran satt essen, ein paar davon verschenken und uns ein paar stehlen lassen können. Das ist die einzige Philosophie des Geldes, die ich für vertret­ bar halte.

- Ich persönlich halte das Geld für ein erotisches Element. - Davon bin ich völlig überzeugt.

- Und warum ? - Nun, weil es Wert verleiht, ganz einfach. Wenn ein Mädchen sich sehr teuer bezahlen läßt, so beweist das immerhin, daß sie in ihren Augen und in den Augen der anderen einen hohen Preis wert ist. Wenn jemand Sie heiratet und viel Geld für Sie ausgibt, so heißt das,

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daß er sie sehr hoch veranschlagt. Auch das ist eine Form der Macht, und die Macht ist etwas sehr Verlockendes.

- Ohne Zweifel. Aber ich glaube, es steckt doch noch mehr dahinter. Wer sich bezahlen läßt, und sei es noch so teuer, der ist nur noch Tauschwert, Ware, Objekt. Und für eine Frau ist es zuweilen nicht unangenehm, eine Ware, ein Tauschobjekt zu sein. Außerdem stellt diese Verwandlung, diese Zustandsänderung, ein erotisches Ele­ ment dar. Daher die Tätowierungen, die Brandmale. Man muß nicht gleich so weit gehen, auch wenn man sich die Ohrläppchen durchste­ chen läßt, um geschenkten Schmuck zu tragen . . . Aber wenn zum Beispiel ein Mann, mit dem Sie eine Liebesbeziehung hatten. Sie be­ zahlt hätte, wie wäre Ihre Reaktion ausgefallen ?

- Das ist mir nie passiert, daher kann ich es nicht sagen. Ich stelle mir vor, daß es mir größtes Vergnügen bereitet hätte. - Ja, ich glaube, auch mir würde das gefallen. Aber bewirkt nicht in Ihnen, in uns, eine angelernte Haltung, eine Prüderie, daji . . .« - Daß man es nicht annimmt?

- Hätten Sie Hemmungen gehabt? - Eher ein zusätzliches Vergnügen, nicht wahr?

- Das will ich meinen. Aber warum sagt man, das Schockierende an der Prostitution sei eben dieses Tauschgeschäft, das ich durchaus normalfinde. - Körper gegen Geld, ich persönlich empfand das nie als schockie­ rend, tut mir leid.

- Aber Sie wissen doch, daji die Gesellschaft es so empfindet.

- Schon, aber ich bin wohl Anarchistin. - Das glaube ich Ihnen. Aber die Tatsache, daß eine Frau, ein Mäd­ chen sich bezahlen läßt, gilt allgemein als etwas Schlechtes. Finden Sie nicht, daß man dem Geld damit eine unschöne Rolle zuweist?

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- In irgendeiner Hinsicht muß man wohl Schamgefühl beweisen, also reagiert man es am Geld ab. - Man reagiert es am Geld ab. Mir zum Beispiel warf man vor Ge­ richt vor: »Schließlich, Madame, haben Sie mit diesen Büchern eine Menge Geld verdient.« Worauf ich antwortete, halbtot vor Angst: » Wenn man einen Beruf ausübt, eine Arbeit tut, so doch deshalb, um Geld zu verdienen, um seinen Lebensunterhalt bestreiten zu kön­ nen.« Man darf ohne weiteres Kanonen verkaufen, das gilt nicht als unehrenhaft, aber unzüchtige Bücher verkaufen, die die Leute auf­ geilen, das ist schockierend.

- Offenbar. - Es ist zulässig, Kanonen zu verkaufen, aber nicht den eigenen Körper oder den der anderen. Woher kommt das ? - Nicht die Prostitution ist verboten, sondern der Kundenfang.

- Aber warum soll man nicht auf Kundenfang ausgehen? Ein Händler preist seine Tomaten an: Sehen Sie sich meine schönen To­ maten an! Ein Mädchen könnte sagen: Sehen Sie sich meinen schö­ nen Busen an oder meine schönen Augen! Das ist auch nicht mehr. Nein, es ist falsch, wenn ich sage, das sei auch nicht mehr, das ist entschieden viel mehr. In der Liebesbeziehung gibt es etwas, das weitaus mehr bindet als der einfache Akt.

- Das ist eine seltsame und geheimnisvolle Sache. Es ist unmöglich, mit jemandem ganz einfach nur zu schlafen, ich meine, selbst wenn es sich ausschließlich um die sogenannte käufliche Liebe handelt, wenn die Betreffenden sich nicht kennen, die Beziehung nicht andauert, so stellt doch die Tatsache, daß Begehren und Wollust zumindest für einen von beiden existieren, eine Art magischer und unbegreiflicher Kommunikation dar, etwas, ich möchte fast sagen, Heiliges, wenn es auf Erden überhaupt etwas Heiliges gibt, was nicht sicher ist. Wenn es etwas Heiliges auf Erden gibt, nun, dann ist es die Liebe, die Lust und das Glück, die sie verschaffen kann. Und die Zärtlichkeit, von der man niemals spricht? Dieses unerklärliche Vertrauen, das vorhanden sein muß, damit man seinen Körper einem anderen öffnet, dieses Bündnis zwischen Männern und Frauen, aus dem man, wenn man sich liebt, 44

nicht einen Augenblick entlassen ist? Zärtlichkeit, die bleibt, wenn das Begehren, wenn die Wollust vorüber sind, ist sie nicht das wunderbar­ ste Geschenk des Lebens? So wunderbar,daß man es sogar unbewußt empfindet und sucht. Noch das Scheinbild einer Liebe kann eine Wohltat sein. Dann betreibt man die Liebe aus kosmetischen Erwä­ gungen, um hübscher zu sein, um fröhlich zu sein und sich frei zu füh­ len, um die Freude zu empfinden, über sich selbst zu verfügen. Es ist der einzige Trost, der den Menschen in einem schwierigen Leben ge­ blieben ist, in einem sinnlosen, unbegreiflichen Leben. Und das ein­ zige, was uns mit dem übrigen Universum verbindet, das einzige, wor­ in wir den Tieren und den Pflanzen gleichen, wodurch wir an der ganzen Schöpfung teilhaben und was allen Lebewesen gleichermaßen gegeben ist. - Ja, aber diese Lust, die man als möglichen Selbstzweck anzuer­ kennen beginnt, bezeichnen Sie als etwas Geheimnisvolles, das je­ doch nur selten von beiden Partnern empfunden wird. Empfinden es beide zugleich, dann verläßt man ohnehin diese Erde.

- Gewiß, aber das ist nicht wichtig; wenn es nur einer von beiden empfindet, so ist das schon etwas. Und der Zweck scheint mir ebenso die Begegnung zu sein wie die Lust.

- Ach ja, daran sieht man wieder einmal, daji Sie eine Frau sind. Sie ist typisch für die Frauen, diese große Zärtlichkeit, wenn sie einem Mann Lust verschafft haben. Immerhin gibt es auch einige Männer, denen diese Zärtlichkeit eigen ist. Aber es hat schon eine seltsame Bewandtnis mit der Lust, sie ist so wandelbar. - Was immer sie auch sei, wandelbar, flüchtig oder was sonst, absolut unberechenbar, absolut unkontrollierbar, na und? Sie ist das Ge­ schenk des Himmels. Ein einzigartiges Geschenk. Es erlaubt Ihnen, einem anderen Menschen >nahezukommenerotischen Ingenieur/ zusammen, einem großen Theoretiker der Libertinage, der AntiEifersucht und so weiter. Die Ehefrau dieses Libertin dachte ge­ nauso wie er, und beide setzten ihre Ideen, gemeinsam oder ge­ trennt, möglichst oft in die Praxis um. Meine Freundin war zunächst nicht sehr angetan, aber die Verwirrung, die Herausforderung taten das Ihre dazu . . . Jedenfalls kam es zu einer absonderlichen, keines­ wegs reizlosen Liaison, mit einigen interessanten, vom Liebhaber mehr oder weniger ferngesteuerten Experimenten. Und das Schluß­ bild: Wir sehen meine Freundin und den großen Libertin auf melan­ cholischen Parkwegen wandeln, er weint heiße Tränen (dabei war er kein Jüngling mehr, im Gegenteil), fleht sie an. mit ihm Frankreich zu verlassen, fortzugehen, nur sie beide, weit fort, und gesteht ihr, daß ihre Libertinage ihm unerträglich sei und so weiter und so fort. Die große Liebe, wie sie im Buche steht. - Die Tragödie, da haben Sie’s!

- Moment, die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Einige Zeit später lud der Geliebte meiner Freundin die Frau des anderen zum Essen ein, um mit ihr über Anti-Eifersucht zu sprechen (o ja!). Und erfragte sie, ob sie tatsächlich überhaupt nichts empfunden habe, als ihr Mann mit einer anderen Frau hatte Weggehen wollen. - Und?

- Es kam, was kommen mußte. Die Dame: »Ich glaube kein Wort davon, wie können Sie so etwas behaupten!« Ihr Mann hatte ihr nichts gesagt. Und noch eine letzte Bemerkung hierzu: Ich glaube doch, daß auch der Liebhaber meiner Freundin ein wenig aus der Ruhe ge­ bracht war. Ist das alles nicht hochmoralisch ? 56

- Moralisch, ich weiß nicht. Aber amüsant bestimmt. - Ich kann mich einfach nicht zu der Ansicht durchringen, daß es, wie Sie offenbar meinen, eine so einfache und unbedeutende Sache sein soll, mitjemandem zu schlafen. Und doch habe ich es getan.

- Aber für die meisten Menschen ist es das Einfachste und Unbedeu­ tendste von der Welt. Ein bißchen Alkohol, ein bißchen Musik, ein klei­ nes bißchen Zärtlichkeit, ein kleines bißchen Bewunderung, ein kleines bißchen Phantasie, ein kleines bißchen Spieltrieb: Wie wär’s, wenn wir miteinander schliefen? Das kommt ständig vor. Und warum, mit wel­ chem Recht sollte man ihnen einen Vorwurf machen. Wohlgemerkt, ich spreche jetzt wie ein Blinder von der Farbe, ich selbst habe es niemals getan. Aber ich könnte mir durchaus vorstellen, daß ich es tun würde, es hätte tun können, ohne mich dabei groß zu engagieren. Ich verstehe gut, daß man es tut. Seit es die Pille gibt, tun es die jungen Mädchen dau­ ernd, warum auch nicht? - Diejungen Mädchen vielleicht. . .

- Ich kannte einmal einen jungen Mann, der sagte: »Mir genügen 37°.« Es gibt eine Menge Leute, denen genügen 37°, die einfache kör­ perliche Nähe. Warum war es früher in den Herbergen verboten, daß zwei Fremde im gleichen Bett schliefen? Eben weil die Sache immer auf die gleiche Art endete.

- Mir erscheint das Ganze nicht so einfach. Ich kann es mit dem be­ sten [Villen nicht als gefahrlos empfinden, mitjemandem zu schlafen. - Sie dürfen nicht alles durcheinanderbringen. Gewiß, es ist gefähr­ lich, einfach und gefährlich zugleich. Wo sehen Sie da einen Wider­ spruch?

- Es ist eine Selbstaufgabe damit verbunden, man gibt etwas von sich selbst und nimmt vom anderen etwas entgegen. Ich meine, in genau diesem Augenblick rührt man etwas, fast hätte ich gesagt, Göttliches an. Eine neue Dimension, etwas im tiefsten Urgrund unserer Person wird erfaßt. Mitjemandem schlafen ist etwas ganz Besonderes. Wor­ aufführen Sie die wachsende Beliebtheit der Sex-Partys zurück ?

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- Irgendwann hat jeder Lust, mit jemand anderem als der eigenen Frau oder dem eigenen Mann zu schlafen, weiter nichts, und es ist praktischer, wenn man es ohne Risiko tun kann. Ich glaube, mehr steckt nicht dahinter. Er wird nichts sagen können, er ist einverstan­ den. Er wird mir keine Vorwürfe machen können, weil er es auch tut. Und überhaupt, du selbst hast mich mitgenommen, ich habe es nur dir zuliebe getan, und du kannst dich jetzt nicht beklagen. Er kann ihr wirklich keinen Strick daraus drehen. Man beugt auf diese Weise je­ dem Risiko vor. Während es nichts Gefährlicheres gibt als die Liebe, haben wir es hier mit einer Möglichkeit zu tun, jede Gefahr von vorn­ herein auszuschalten. Man riskiert nichts, man weiß, die anderen sind nicht krank, sie haben es bewiesen. Sie werden einem kein Kind ma­ chen. Und doch bleiben zwei Dinge, die unwägbar sind; das Wunder der Wollust, und die Gefahr, sich trotz allem zu verlieben, trotz aller Vorsichtsmaßnahmen und Schutzwälle. Wissen Sie, der kleine Schelm mit seinen Pfeilen, der liegt immer auf der Lauer.

- Woher kommt es Ihrer Meinung nach, daß es außer Ihnen keinen weiblichen Autor erotischer Bücher gibt ? - Vor zwanzig Jahren gab es, soviel ich weiß, keinen, aber jetzt gibt es eine Menge: Violette Leduc, Leannine Aepiy, Emmanuelle Arsan, Xaviere - jede zweite zeichnet mit ihrem wirklichen Namen, die anderen mit einem Pseudonym.

- Heute ja. Aberfrüher?

- Ich habe keine Ahnung. Es gab Verfasserinnen von Liebeslyrik: Louise Labe, Marceline Desborde-Valmore. Einen ausgesprochen erotischen Roman, der in der Vergangenheit von einer Frau geschrie­ ben wurde, kenne ich nicht. - Aber wie war es möglich, daß Sie diese Geschichte schreiben konn­ ten, wenn man davon absieht, daß sie ein Geschenk an den geliebten Mann war. Wie ist die Versuchung, ein solches Buch zu schreiben, an Sie herangetreten ? 58

- Ja, es war eine Versuchung. Aber nicht, ehe ich einen Menschen kannte, der sich dafür interessierte, die Geschichte zu lesen. Ich hätte sie niemals geschrieben, wenn ich nicht das Bedürfnis gehabt hätte, einen Brief zu schreiben. »Die Geschichte der O« ist ein Brief.

- Also liegt der Schluß nahe: Wären Sie nicht dem Menschen begeg­ net, dem Sie diesen Briefschreiben konnten, so hätte O nie das Licht der Welt erblickt. - Ganz richig.

- Ihre Leser hatten Glück, daß Sie diesem Menschen begegneten. Noch heute würde es heißen: >Die Frauen schreiben keine Erotika.< Letztlich wurde »Die Geschichte der O« also geschrieben, um einen Mann zu fesseln ? - Ja, genau das.

- Warum ihn fesseln ? Er war bereits Ihr Geliebter. - Weil man immer fürchtet, es könne nicht von Dauer sein! Und man sucht immer eine Möglichkeit zum Weitermachen. So ähnlich wie Scheherazade. - Es könnte auch eine Herausforderung sein. Unglaublich, mit wel­ cher Hartnäckigkeit die Leute sich gerade von der »Geschichte der 0« wünschen, sie möge wahr sein. Sie bringen alles durcheinander. »Das können Sie unmöglich nur geträumt habenDiese Schlampe, nur um Geld zu verdienen .. .< Das stimmt nicht, ich schrieb dieses Buch nicht, um da­ mit Geld zu verdienen. Ich hatte gar nicht damit gerechnet. Und im übrigen ließ der materielle Erfolg sehr lange auf sich warten.

- Er war eine Dreingabe. Ein Geschenk. Aber wieso unflätig? Wo­ gegen haben Sie eigentlich verstoßen ? Welchen Nerv haben Sie ge­ troffen ?

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- Ich glaube, ich habe das Schamgefühl der Frauen und das Ehrge­ fühl der Männer verletzt, ohne es darauf angelegt zu haben, in aller Unschuld, wenn ich so sagen darf, und ohne es zu ahnen, was einen erschwerenden Umstand darstellt.

- Ist Ihnen bewußt gewesen, was mehr als zwanzig Jahre lang vor­ ging, diese von Jahr zu Jahr, man könnte fast sagen, von Monat zu Monat steigende Berühmtheit, dieses neue Lehensgefühl, das Sie vorwegnahmen und das Sie jetzt einholte. Heute ist es sonnenklar, daß Sie, wie Jean Paulhan damals sagte, die Gefährlichen Lieb­ schaften und die >Liebesbriefe einer portugiesischen Nonne< der Ge­ genwart geschrieben haben. Wie wirkt das auf einen Autor? Speziell auf einen Autor, den die Öffentlichkeit weder dem wahren Namen noch dem Aussehen nach kennt ? - Aber nicht ich bin berühmt geworden, sondern ein Bild, eine Fabel hat sich, ich weiß weder wie noch warum, allmählich durchgesetzt. Gehört sie mir überhaupt? O verkörpert eine reine Liebe, die rein bleibt auch in der wüstesten Ausschweifung. Wir alle streben nach die­ ser reinen Liebe, und dieses Streben ist in einem Buch eingefangen, das sein Entstehen dem Zufall verdankt, weiter nichts. Übrigens eine kuriose Sache. Dieses Zufallsbuch hat mir dauerhafte Freundschaften, massive Beleidigungen, Hohn, verständnisinniges Lächeln und sarka­ stische Kommentare eingetragen. Warum ich es schrieb? Sagen wir, es war eine Möglichkeit, kindliche oder jugendliche Phantasmen auszu­ drücken, die mich viele Jahre lang begleiteten, die sich sozusagen im­ mer wieder zu Wort meldeten. Warum ich sie zu einem ganz bestimm­ ten Zeitpunkt niederschrieb? Weil man Dinge, die so wesentlich sind, so tief in einem wurzeln, vermutlich früher oder später von sich geben muß, wann es der Zufall will.

- Aber warum ausgerechnet damals ? Warum haben Sie so lange ge­ wartet ?

- Vielleicht, weil ich vorher so viel anderes zu tun hatte, leben zum Beispiel, und auch weil mir erst zu dieser Zeit die Fähigkeit zur Verfü­ gung stand, weil ich ein bißchen das Schreiben erlernt hatte. Sie wer­ den sagen, man kann entweder schreiben, oder man kann es nicht, aber da bin ich nicht so sicher. Sagen wir, manchmal handelt es sich um eine brachliegende Fähigkeit. Man muß sie üben, um zu wissen, 61

wie weit die Begabung reicht, und plötzlich spürt man, daß man sich mehr zutrauen kann. Dieses Mehr heißt, sich seine Phantasmen von der Seele schreiben.

- Aber schließlich war es ein Mann, der die Darstellung dieser Phantasmen ausgelöst hat ? - Es war eine Liebe, die auch eine andere Liebe hätte sein können, aber jedenfalls eine Liebe. Für diese Art Literatur braucht man einen Partner, ebenso wie man für alles weitere einen Partner braucht, je­ manden, der bereit ist, mitzuspielen, eine derartige Geschichte zu lan­ cieren. Eine Frau könnte dieses Spiel nicht ohne einen männlichen Partner durchführen, und zwar einen, der sie liebt, denn ein solches Geheimnis kann man nur mit einem geliebten Menschen teilen.

- Aber als Sie das Buch veröffentlichten, haben Sie sich immerhin beide entschlossen, diese Phantasmen publik zu machen. Hier sind Sie zumindest einmal aus dem Untergrund hervorgetreten.

- Ja, aber es war nicht mein Einfall. Ich wollte das gar nicht. Nicht eine Sekunde lang hätte ich gedacht, daß mein Manuskript veröffent­ licht werden könnte. - Aber Sie haben die Veröffentlichung auch nicht verweigert, nicht wahr?

- Natürlich nicht, warum hätte ich sie verweigern sollen? Weil sie ge­ fährlich war? - Sie sagen, daß Sie die >Geschichte der O< schrieben, weil Sie einen Partner hatten. Die Tatsache der Veröffentlichung läßt vermu­ ten . . . - Daß ich mir zahllose Partner wünschte? Ein Bedürfnis nach allge­ meiner, nach universeller Mitteilung?

- Vielleicht ein Bedürfnis, Ihre Phantasmen und Wirrungen mit an­ deren Menschen zu teilen ?

- Nein, nein, darum war es mir nicht zu tun. Ich suchte nicht nach 62

einem Mittel, irgend jemand Beliebigen zu fesseln. Es war ein Mittel, sollte ein Mittel sein, einen ganz bestimmten Mann zu fesseln, ja. - War auch die Veröffentlichung ein Mittel, diesen Mann zu fes­ seln ?

- Die Veröffentlichung geschah, weil er wollte, daß das Buch erschei­ nen sollte. Mir war das egal.

- War es nicht eine zusätzliche Bindung? - Nein. Wenn man etwas gibt, dann gibt man es ganz, man wird es nicht später stückchenweise wieder zurückfordem, wird nicht feil­ schen. Für mich war das alles selbstverständlich, ich verstehe nicht, warum man mir diese Frage stellt. Mir scheint, ich habe sie bereits be­ antwortet.

- Ja, in >Ein verliebtes Mädchen«. Aber gibt es nicht einen tieferen Grund? - Wenn es einen tieferen Grund gibt, so kenne ich ihn nicht. Vielleicht gibt es ihn tatsächlich, das mag durchaus sein. Ich kann ihn nicht er­ mitteln. Sagen wir, es war ein gefährliches Unternehmen, und ich habe schon immer die Gefahr geliebt, das stimmt. Aber andererseits hatte ich gerade für diese Art Gefahr nichts übrig. Eine Gefahr, die Folgen für meine Familie haben konnte, reizte mich keineswegs.

- Aber schien Ihnen dieses Unterfangen nicht gerade in bezug auf Ihre Liebe gefährlich ? - Überhaupt nicht. Gefährlich war es nur zu Anfang, als ich mich fragte, ob der Text, den ich ihm vorlegte, nicht dem Bild schaden könnte, das dieser Mann sich von mir machte, oder der Liebe, die er für mich empfand. Das war jedoch nicht der Fall; im Gegenteil. Es gab keine Gefahr. Ich hatte zwar vor ihr gezittert, ich wollte kein Risiko eingehen, tat es aber dann doch, weil es eben unvermeidlich war.

- Wieso unvermeidlich? - Entweder ich schrieb dieses Buch, dann würde ich es ihm zeigen. 63

Wenn ich es schriebe und ihm nicht zeigte, so hätte das ganze keinen Sinn. - Und es war ein Risiko, es ihm zu zeigen ?

- Ja, selbstverständlich. - Gehörte dieses Risiko zu den Gründen, aus denen Sie das Buch zu schreiben wünschten?

- Zweifellos. Übrigens, wenn man liebt, ist alles ein Risiko: Eine neue Frisur, die Reise, die man ankündigt, die Begegnung mit jemandem, den man gräßlich oder fabelhaft findet und von dem man erzählt. Lau­ ter Risiken. Lieben heißt, dauernd in Gefahr und Unsicherheit leben. - Aber als er dieses Buch las, diese Demonstration der fleischlichen Liehe und zugleich der Liebe in ihrer nobelsten Ausprägung, war er da nicht versucht. Sie auf die Probe zu stellen ?

- Wie meinen Sie das, mich auf die Probe stellen?

- Sehen, wie weit Sie in Ihren Phantasmen gehen könnten, die Sie dafür ihn niedergeschrieben hatten, denn zugleich drückten Sie da­ mit eine Aufforderung an ihn aus. Er mochte den Eindruck gewin­ nen, daß Sie ihm sagen wollten: Das alles erwarte ich von dir. - Nun ja. Nein, er hatte wahrscheinlich nicht den Mut dazu, und im übrigen nehme ich an, daß alles, was auf Teilung hinauslief, ihm uner­ träglich war. Selbst wenn ich in dieser Hinsicht Wünsche gehegt hätte, war die Wahrscheinlichkeit einer Erfüllung gleich Null. Und das, was möglich gewesen wäre, nämlich die Erduldung physischer Gewalttä­ tigkeit, dazu hätte ich mich nicht bereit gefunden. Folglich steckten wir in einer Sackgasse, denn den einen Aspekt meiner Phantasmen konnte der Mann nicht ertragen, und den anderen ich nicht. Also ...

- Also was? - Also war alles blockiert, es blieb bei den Phantasmen, bei der Idee.

- Das störte Sie nicht ? 64

- O nein, ganz und gar nicht. Bedenken Sie, daß ich schließlich seit langem daran gewöhnt war. Für mich war das nichts Neues, daß alles sich in meinem Kopf abspielte. - Aber wenn ich etwas im Kopf habe, so möchte ich es häufig sehr gern auch in die Tat umsetzen, auch wenn es sich um derartige Dinge handelt, auch um den Preis einer möglichen Enttäuschung. Heraus­ forderung, Auf-die-Probe-stellen, Risiko, ja, das lockt mich. Wie wunderbar, wenn man von dem geliebten Menschen auf die Probe gestellt, wenn die Herausforderung angenommen wird, wenn das Ri­ siko nur weicht, um einem größeren Risiko Platz zu machen, wenn es keine Grenzen mehr gibt... Im Grunde sind wir beide sehr ähnlich und sehr verschieden; das fasziniert mich. Ich frage mich, ob Sie auf diesem Wege nicht sehr viel weiter gegangen wären, als ich es je ge­ konnt hätte, wenn Sie Gelegenheit dazu gehabt hätten. Wenn man Ihnen bei jedem Schritt schon den nächsten abverlangt hätte? Bis zum Tode, wie es 0 geschah ? - Ist das nicht die höchste Versuchung?

- Ich versiehe es, und verstehe es auch wieder nicht. Für mich führt die Lust nur zum Leben, zu noch größerer Lust. Und doch kann ich nachvollziehen, was Sie empfinden. Aber sind Sie auch den beschei­ deneren Versuchungen immer aus dem Wege gegangen ? - Ja, seit meinem ersten Versuch mit dem unseligen Sammler von Inka-Keramik bin ich ihnen aus dem Wege gegangen. Ich mußte ein­ sehen, daß ich auf dem Gebiet der Prostitution nicht begabt bin. - Und doch halten Sie die Prostitution für gut ?

- Ich halte sie für gut, ja, aber ich hätte sie ernsthaft betreiben müssen, und dazu war ich viel zu empfindlich. Es ist absolut lächerlich, aber ich forderte viel zuviel Achtung, als wäre ich achtenswerter als irgend je­ mand sonst. Ich weiß genau, wie grotesk das ist, was ich da sage, aber so ist es nun einmal.

- Weil die Achtung aus einer solchen Beziehung völlig ausgeschlos­ sen ist ?

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- So scheint es mir.

- Das ist nicht sicher. Aberglauben Sie denn, das sei überhaupt eint wünschenswerte und bereichernde Erfahrung für eine Frau? Ich spreche nicht von den Frauen, die ein Gewerbe daraus machen, son­ dern von den Frauen im allgemeinen. Frauen wie uns beiden.

- Ich würde sagen, ja, und das dürfte auch auf mich zutreffen. All­ mählich komme ich zu der Ansicht, es war eine verpaßte Berufung, aber für diese Art von Berufung muß man völlig frei sein und sie von Jugend an üben. - Aber hätten Sie sich prostituieren können, sagen wir, dem ande­ ren, dem geliebten Menschen zu Gefallen ? - Sicherlich. Ich kenne Frauen, die dieses, sagen wir ruhig, Glück hat­ ten - denn wenn sie es selbst wünschen, ist es ein Glück -, aber leider hatten es sich diese Frauen eben nicht gewünscht, es war eine Qual. Sie ließen sich dazu zwingen oder zwangen sich selbst dazu, um sich zu beweisen, daß sie dazu imstande wären. Ich finde das vollständig legi­ tim und vollständig sinnlos und absurd zugleich. Auf diesem Gebiet darf man nur tun, was einem selbst oder dem anderen Lust bereitet.

- Man hat den Eindruck, als herrsche zwischen O und ihrem Gelieb­ ten manchmal eine Art Bitterkeit, als wolle O sagen: so möchten Sie mich haben, so wollen Sie mich, na schön, warum nicht! Es ist wie eine Herausforderung, eine Art Trotzhaltung. - Ja, das mag zum Teil stimmen. - Steckt nicht auch ein Wunsch nach Rache dahinter, wenn man in seinen Phantasmen unbedingt bis zur letzten Konsequenz gehen möchte?

- An wem hätte ich mich rächen wollen? Gewiß nicht an dem gleichen geliebten Mann, dem gegenüber von Rache nie die Rede sein konnte. Die dargestellten Phantasmen wurden ja nie praktiziert und konnten es nicht werden, weder von ihm noch von mir. Aber darum geht es nicht, es war schon erstaunlich, daß überhaupt die Idee akzeptiert wurde. Bliebe also noch ganz allgemein die Rache am männlichen Ge66

schlecht, das will ich nicht ausschließen, und doch bin ich mir dessen erst im nachhinein bewußt geworden. Einmal erhielt ich einen bemer­ kenswerten Brief eines Mannes, der mir schrieb: »Unglaublich, wie Sie die Männer sehen. Lauter widerliche Schweine. Eine junge Frau schenkt einem jungen Mann ihr Vertrauen, und das erste ist, daß er sie verrät, an einen anderen ausliefert, so dankt er ihr ihre Liebe.« Nun ja, sagen wir, daß ich mir die Männer anfangs als Ritter ohne Furcht und Tadel vorstellte und mit zwanzig Jahren aus allen Wolken fiel. Sie gli­ chen in nichts dem Bild, das ich mir von ihnen gemacht hatte. Wenn sie lieben, lieben sie dann wirklich? Wenn sie Mut haben, von welcher Art ist dieser Mut, und wenn sie ihr Ehrenwort geben, was ist es wert? Das wird zur ständigen Feuerprobe für den Unbekannten, dessen Bild man vor Augen hat, auf den man wartet. Wird er den Mut und die Kraft haben, dieses Bild zu akzeptieren, das ich ihm vorhalte und das ihn erschreckt?

- Diese Enttäuschung, der man mit zwanzig Jahren begegnet, wie sah sie in Ihrem Fall aus ? Was hat Sie mit der Feigheit der Männer konfrontiert ? - Die Wirklichkeit! - Woher kommt es, daß ein junges Mädchen zu einer solchen Über­ zeugung gelangt, die sie dann ihr ganzes Leben lang beherrschen wird?

- Wahrscheinlich daher, daß sie sich ein zu hohes, zu edles Bild von den Männern macht, und sich nun bei genauerer Betrachtung der Er­ kenntnis nicht verschließen kann, daß keiner ein Sir Galahad ist.

- Aber woraus geht das hervor? Was bewirkte, daß Sie plötzlich zu dieser Überzeugung gelangten ? - Der Augenschein. Sie versprechen und halten nicht, was sie ver­ sprochen haben. Sie sagen, ich liebe dich, und es ist nicht wahr, oder wenn es wahr ist, dann kommt auch nicht viel dabei heraus. Ein Mann, der sein Wort hält, ist ein Unikum auf dieser Welt. Jetzt werden Sie sagen: eine Frau auch. Ja, aber die Frauen behaupten es auch nicht dauernd von sich.

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- Das stimmt. Aber wie war nun der konkrete Fall? Oder heißt Ihr Ausweichen, daß Sie nicht antworten wollen?

- Ich weiche nicht aus. Aber der konkrete Fall? Nein, es gab keinen konkreten Fall. - Überhaupt nichts Konkretes ? - Doch ja, einmal war etwas Konkretes, ein verratenes Geheimnis.

- Man hat den Eindruck, daß O auf sexuellem Gebiet als einzige Initiative nur noch die Homosexualität bleibt.

- Wieso, hätte O nach Ihrer Ansicht Kontakt-Annoncen aufgeben sollen?

- Nein, natürlich nicht, ich will sagen, daß ihre Möglichkeit, in sexu­ eller Beziehung aktiv zu werden, sich auf die Homosexualität be­ schränken muß. Bei einem Mann ist O passiv oder gibt vor, es zu sein.

- Ja, was O betrifft, haben Sie recht. Wahrscheinlich, weil ihr Verhal­ ten einer Vorstellung entspricht, die völlig überholt ist und es schon immer war. Ich meine, es gab schon immer Leute, nach deren Mei­ nung der Frau keine Initiative zustehe. Aber ich kenne viele junge Frauen, die den ersten Schritt tun. O tut ihn nicht, weil mir das immer sehr demütigend vorkam. Es geht immer wieder darum, daß ich mich nicht gern demütigen lasse. - Sie lassen sich nicht gern demütigen, aber Sie richten es so ein, daß O gedemütigt wird? - Ja, weil ich diese Angst vor der Demütigung absurd finde, völlig grundlos, denn wenn man wirklich zerstört werden möchte, dann muß man alle Mittel akzeptieren.

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- Sie sagen »man», als machten Sie sich die Einstellung O’s, die ihrer Zerstörung entgegengeht, zu eigen. Billigen Sie diese Hal­ tung ?

- Natürlich, O will nichts anderes. -- Sie will zerstört werden ? Warum ?

- Um aus dem Dasein zu fliehen, stelle ich mir vor. Ich habe ver­ sucht, zu begreifen warum, es gibt doch einen Grund, einen tief ver­ borgenen Grund, einen anderen sehe ich nicht. - Aber glauben Sie, daß O von ihrem Geliebten erst in dem Mo­ ment verraten wird, als er sie an Sir Stephen abtritt ? Oder wird sie schon früher verraten ? - Nein, ich glaube nicht, daß es sich um etwas Derartiges handelt, sie wird nicht verraten.

- Sind Sie der Ansicht, daß zwischen René und Sir Stephen eine homosexuelle Bindung besteht? - Ja, sie kommt nicht zum Tragen, aber sie ist da.

- Zum Beispiel Renés Ergebenheit Sir Stephen gegenüber. - Das ist das alte hero-worship der Angelsachsen, wonach man im­ mer den älteren Mann bewundert. Es hat nicht das Geringste mit der Vater-Sohn-Beziehung zu tun, es ist eine Beziehung zwischen älterem und jüngerem Bruder, zwischen Kriegs-Kameraden, eine, ja, fast mi­ litärische Beziehung. - Wären demnach militärische Beziehungen gleich homosexuellen Beziehungen, wie in Sparta?

- Vielleicht. Offenbar war das auch in der Fremdenlegion üblich. Außerdem sind viele völlig harmlose Freundschaften zwischen Män­ nern im Grunde homosexueller Natur, viel häufiger als bei Frauen. Colette spricht einmal von der schüchternen Homosexualität der Frau und der herrischen Homosexualität des Mannes, sie sagt nicht 69

herrisch, sondern etwas Gleichbedeutendes: triumphierende oder uni­ verselle Homosexualität des Mannes. Damit hat sie recht.

- Ja, denn die Sexualität des Mannes ist übergeordnet und trium­ phierend im gleichen Sinn wie die Männlichkeit überhaupt, sie wirkt nach außen.

- Ich glaube überdies, daß die meisten Männer eine allerdings unbe­ wußte Veranlagung dazu haben. Alle Militär- und Intematsfreundschaften, alle Freundschaften, die sich ausschließlich unter Männern abspielen und manifestieren, auch die politischen Freundschaften, wenn man so will, basieren großenteils darauf, daß die Männer sich in ausschließlicher Männergesellschaft besonders wohl fühlen, weit ab von diesen Spielverderberinnen, den Frauen. Etwas Ähnliches gibt es unter Frauen weit weniger. - Eine Freundin sagte einmal: »O masturbiert nicht einmal. Sie liebt Frauen, sie müßte demnach masturbieren.«

- Müßte, ein seltsamer Ausdruck. Schon möglich, ich verstehe nichts davon. Glauben Sie nicht, daß sie bereits hinlänglich ausgefüllt war und es nicht mehr nötig hatte, selbst Hand an sich zu legen? Als ich ein Schulmädchen war, waren lesbische Beziehungen sehr selten, es gab sie, aber nur in Einzelfällen. Wir schlossen uns nicht ab, wir waren nicht froh, ganz unter uns Mädchen zu sein, im Gegenteil, uns lag viel daran, Jungen dabeizuhaben. Und wahrscheinlich wurde auch ma­ sturbiert, aber niemand sprach darüber. Wozu masturbieren, wenn man träumen konnte. Liebkosungen von eigener Hand, an die eigene Adresse, sind sie nicht ganz einfach der Versuch, dem Traum, dem Wachtraum Konturen zu verleihen? - Das kommt darauf an. Ja, gewiß, wenn die Träumerei zum Or­ gasmus führt, wie ein Sexologe sagen würde . . .

- Aber warum diese Forderung, die sich am liebsten als das Recht auf den Orgasmus betiteln würde? -Ach, aber das gibt es doch bereits: Es gibt Bewegungen, die das Recht auf den Orgasmus fordern. Er ist schließlich eine höchst wün­ schenswerte Sache. 70

- Wünschenswert, gewiß. Obgleich die weibliche Lust häufig weit dif­ fuser ist, aufs Wunderbarste vom ganzen Körper weitergeleitet und empfunden wird als die einmalige Explosion des Orgasmus. Die Ma­ sturbation und der befreiende Strahl erscheinen mir als etwas wesent­ lich Männliches. Aber offenbar stimmt das nicht. - Es gibt zweifellos ebenso viele Fälle, wie es Frauen gibt. Der be­ freiende Strahl, die Explosion kommen mir nicht als etwas spezifisch Männliches vor. Außerdem ist das weniger selten, als ich dachte: Auch viele Frauen masturbieren. - Warum schließlich nicht? Aber unter den Mädchen, die ich gut kannte, waren wirklich nur sehr wenige. Oder sie gaben es nicht zu.

- Glauben Sie, daß die Liebe, die eine Frau für eine Frau empfindet, die gleiche ist wie die, die eine Frau für einen Mann fühlt? - Natürlich, Liebe ist Liebe.

- Aber sind die Beziehungen, die man mit einer Frau hat, nicht not­ wendig narzißtischer Art ? - Das scheint mir immer auf den jeweiligen Fall anzukommen, verall­ gemeinern kann man hier nicht. Früher nannte man das allgemein In­ stitutsmädchenspiele, das war nichts Ernstes, nichts Bindendes. Wenn man sich einem Mann anvertraute, ging man ein enormes Risiko ein, die Sache war folglich viel ernster. Mit einem anderen Mädchen ris­ kiert man nicht viel, ja, man riskiert überhaupt nichts.

- Und diese erotischen Vorstellungen, diese Phantasmen, die Sie als junges Mädchen hatten, wie alt waren Sie, als diese Vorstellungen einsetzten ? - Ich weiß nicht, ich erinnere mich nicht mehr, ich glaube so an die vierzehn, fünfzehn Jahre, vielleicht auch älter.

- Und wurden sie durch etwas Bestimmtes hervorgerufen ? Durch eine bestimme Lektüre? Vielleicht durch die Entdeckung von de Sade?

71

- Nein, de Sade las ich mit dreißig, nicht mit zwanzig. Ich hatte, wie jeder, die »Lieder der Bilitis« gelesen. Komisch, welchen Einfluß schlechte Bücher, ich meine damit schlecht geschriebene Bücher, ha­ ben können. »Aphrodite« und die »Lieder der Bilitis« haben mich sehr beschäftigt. - Vorhin sagten Sie, daß Sie mit vierzehn oder fünfzehn Jahren Boccaccio, Crebillon und andere noch brutalere Autoren lasen.

- Ich weiß nicht mehr, was alles. Derbe Geschichten, Schwänke, mit Mönchen und Mägden, Statuen und Eseln, das Ganze bebildert und ziemlich deftig. Aber das war nicht der Ausgangspunkt für meine Phantasmen, meine Phantasmen sind viel eigenständiger. In den Vor­ stellungen von unterirdischen Gewölben, in denen junge Mädchen mehr oder weniger als Gefangene gehalten werden, schwingt ein Nachhall aus dem Mittelalter, aus Walter Scott, den englischen Gru­ selromanen, die ich verschlang, ohne zu wissen, daß es Gruselromane waren, ohne überhaupt diese Bezeichnung zu kennen. Ich glaube, daß sich in diesen Vorstellungen auch Spuren von Ann Radcliff finden. - Ja, in den Romanen Ann Radcliffs werden die Heldinnen einge­ kerkert, Wesen streifen einen im Dunkeln, und am Ende geht einem auf, daß es überhaupt nichts Phantastisches damit auf sich hat. Udolpho ist ein Prototyp, auch heute noch.

- Das empfand ich bei dieser Geschichte vom unterirdischen Gelaß, das ich kurioserweise unter dem Garten unseres Hauses ansiedelte. Der hochgelegene Garten ragte über die Straße auf, und die Stützmau­ ern waren mit Efeu überwachsen. Ich war auf den Gedanken gekom­ men, man hätte ohne weiteres hinter diesem Efeuvorhang Fenster an­ bringen können, die von außen nicht zu sehen gewesen wären, durch die man jedoch hätte hinaussehen können. Und unter dem Garten hätte man, so wie man jetzt Tiefgaragen baut, Wohnräume anlegen können. Dort habe ich meine ersten Heldinnen untergebracht. - Um etwas ganz Bestimmtes mit ihnen anzustellen ?

- Das weiß ich nicht mehr. - Um sie hilflos jeder Mißhandlung auszuliefern . . . 72

- Nicht unbedingt, vielleicht einfach nur, um sie zu verstecken. Im übrigen kann ich diese Phantasmen heute nicht mehr herbeibeschwö­ ren; indem ich sie verarbeitete, habe ich sie ein für allemal zerstört. Ich könnte mich nicht einmal mehr genau erinnern, was sie im einzelnen waren. Ich weiß nur, daß ich mir eine Geschichte erzählen wollte, im­ mer die gleiche: Jemand, den man liebt, bringt einen an einen solchen Ort. Das, daran erinnere ich mich genau, war der Anfang der »Ge­ schichte der O«. Der Anfang der Geschichte, die ersten sechzig Seiten, stellen eine wörtliche Niederschrift dieser Phantasmen dar, kein Dik­ tat, das ist lächerlich, sondern eine Umsetzung.

- O doch, ein Diktat. Das haben übrigens viele Leser festgestellt und gesagt: »Aber dieses Buch zerfällt in zwei Teile.«

- Wenn man so will. Die Ausgangslage war geschildert, nun war die Frage: Wohin könnte sie führen? Ich versuchte, die in den Figuren an­ gelegten Möglichkeiten durchzuspielen, das heißt, ich versuchte, einen Roman zu schreiben. Nach der Umsetzung eines Traums, ausgehend von diesem Traum versuchte ich, etwas zu konstruieren. Es stimmt, daß das Buch zwei Teile hat. Einen authentischen, vorgegebenen sozu­ sagen, und einen erfundenen, überlegten, konstruierten. - Als Sie versuchten, die verschiedenen Möglichkeiten darzustellen, haben Sie immer wieder neue erfunden ? - Selbstverständlich; einige sind auf der Strecke geblieben, ich kann mich nicht einmal mehr an sie erinnern.

- Was fesselt Sie an einer Frau? Was finden Sie anziehend?

- Ihre Schönheit, ihren Mut. - Ihre Schönheit ?

- Vor allem, ich bin voll Bewunderung. Ich finde so leicht Schönheit bei einer Frau, die Schönheit der Frauen ergreift mich, ohne daß ich

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jemals versucht wäre, auch nur die Hand auszustrecken, um schönes Haar zu streicheln, aber ich empfinde immer wieder die gleiche Ergrif­ fenheit, ich finde das wundervoll. - Aber wovon sind Sie so sehr ergriffen ? Von der Zerbrechlichkeit ? - Die Schönheit einer Frau ist doch nicht zerbrechlich, sie muß nicht zerbrechlich sein, die Schönheit der Augen, der Haut, die Schönheit eines Körpers, das alles ist so schön. Auch die Männer sind schön, und glücklicherweise fangen sie endlich an, ihre Schönheit zu zeigen.

- Und gehen Sie aufs Ganze, wenn Sie sich für eine Frau interessie­ ren? - Das ist zuviel gesagt. Früher hatte ich einen gewissen Hang dazu. Es schien mir selbstverständlich.

- Könnten Sie eine solche Liebe mit einer anderen Frau oder mit einem anderen Mann teilen ?

- Der Fall ist nie eingetreten, es waren immer exklusive, ich meine damit, eindeutige Beziehungen. Aber es wäre ganz natürlich, das eine schließt das andere nicht aus. - Aus allen Heimsuchungen, allen Foltern, die Sie Ihre Heldinnen erleiden lassen, gewinnt man den Eindruck, als verachteten Sie die­ sen Körper, den Sie doch nach eigener Aussage als ein Instrument sehen, ein Instrument, das in gutem, in funktionsfähigem Zustand erhalten werden müsse. - Sicher, er dient dazu, Kinder zu gebären, Lust zu empfinden, er ist ein Instrument. Es ist furchtbar, nicht Herr über den eigenen Körper zu sein, es ist wundervoll, nicht Herr über den eigenen Körper zu sein. Wenn man nicht Herr über den eigenen Körper sein kann, wenn ein anderer über diesen Körper herrscht und man es zugelassen oder ge­ wünscht hat. In jedem Fall ist der Körper geschaffen, um gezähmt, be­ herrscht, bezwungen, zerstört zu werden.

- Er muß dienen, wie Sie sagen, richtig. Aher warum soll eben dieser Körper dann zerstört werden ? 74

- Weil alles geschaffen ist, um zerstört zu werden, alles ist geschaffen, um fortgeworfen zu werden, nicht um zu dauern. Bücher und Bilder überdauern zuweilen, oder Steinfiguren. Jedenfalls ein wenig länger als wir. Wenn Sie ein Kind in die Welt setzen, geben Sie ihm zugleich mit dem Leben auch den Tod. Wenn Sie ein Buch schreiben, so besteht die Möglichkeit, daß es unsterblich wird. -An der »Geschichte der O« fällt mir außerdem auf, daß immer die Frauen allen nur denkbaren erotischen Handlungen und Mißhand­ lungen unterworfen werden, nie die Männer. Warum ?

- Ach, weil das nun einmal so ist. Wir haben in O eine Welt von Män­ nern, die Frauen lieben, und nicht von Männern, die Männer lieben. Einer der interessantesten Briefe, die ich nach dem Erscheinen dieses Buches erhielt, kam von einem Mann. Er erklärte mir, was ich da be­ schrieben hätte, gebe es wirklich, aber soviel er wisse, nur zwischen Männern und Knaben. Denn es sei, so schrieb er, viel leichter und viel vergnüglicher, Knaben zu zähmen als Mädchen. Eine seltsame Über­ legung.

- Aber hätte es nicht auch ungeheuren erotischen Reiz gehabt, Män­ ner all dem zu unterwerfen, dem O und ihre Gefährtinnen unterwor­ fen werden ? - Daran habe ich nicht einmal gedacht. Das sagt mir einfach nichts. - Es sieht demnach wirklich so aus, als könne die Erotik nur über den weiblichen Körper erlebt werden.

- Für mich, ja. - Ach! ich wünschte mir zuweilen, daß man das Objekt wechsel­ te... Eine andere Sache, die in Ihrem Buch immer wiederkehrt, ist die Zurschaustellung O ’s.

- Aber ja!

- Hier möchte ich fast sagen, daß Sie übertreiben. - Ja. Bei Malraux, in »So lebt der Mensch«, steht eine kleine Anmer­

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kung zu einer seiner weiblichen Figuren. Darin heißt es, für viele Frauen bestehe Erotik darin, sich einem erwählten Mann nackt zu zei­ gen. Und damit hört sie im übrigen auch schon auf, der Frau ist nicht besonders darum zu tun, ihm anzugehören, mit ihm zu schlafen. Nun, ich glaube, daß diese Zurschaustellung der gleichen Idee entspringt, aber damals dachte ich nicht daran; erst nachdem ich O geschrieben hatte, ging mir das auf.

- Aber bei dieser Zurschaustellung ist O mehr als nackt, alle Mäd­ chen werden mit weit gespreizten Beinen, in grotesken Positionen ausgestellt. - Wahrscheinlich eine Art Bosheit. Eine Art Wut oder Ingrimm.

- Gegen wen ? - Ich weiß nicht. Gegen sich selbst? Ja, gegen sich selbst. Das Bedürf­ nis, bis zum Ende zu gehen, diese Art Ingrimm ist auch eine Form der Zerstörungswut, das Bedürfnis, etwas zu zerschlagen, etwas zu entwei­ hen.

- Das Bedürfnis, den eigenen Körper zu zerstören?

- Ja. Denn der Körper ist etwas Abscheuliches. - Weil er einen verrät, weil er einen im Stich läßt ?

- Ja, genau das, weil man sich nicht auf ihn verlassen kann. - Zuweilen hat man den Eindruck, Sie wüßten nicht recht, was Sie vom weiblichen Körper halten sollen ? - Aber ich weiß bei keinem Körper, was ich von ihm halten soll! Ein Körper ist Stätte des Glücks und des Unglücks, des Triumphes und des Opfers, und schließlich und immer, des Untergangs. Was könnte man Besseres damit anfangen, als durch ihn dem geliebten Menschen zu beweisen, daß man ihm angehört, daß man folglich nicht mehr sich selbst gehört. Wollen Sie etwas Gotteslästerliches hören? O sagt zu ihrem Geliebten - ohne sie auszusprechen - die Worte, die von den Gläubigen ständig zitiert werden: in manus tuas, Domine. Nur wird 76

ihr und ihren Gefährtinnen der Beweis unaufhörlich abgefordert, und sie sind bereit, ihn jederzeit zu liefern. Das Los, das ihnen bereitet wird, heißt, Zeugnis ablegen von ihrem Willen zur völligen Selbstaufgabe, zur völligen Unterwerfung. Sie wollen besessen werden, besessen bis zum Ende, bis zum Tod. Jeder wünscht sich, getötet zu werden. Was sucht der Gläubige anderes, als sich an Gott zu verlieren? Sich töten lassen von einem Menschen, den man liebt, erscheint mir als die höch­ ste Wonne. Ich kann mich dieser Vorstellung nicht entziehen. Ich bin übrigens nicht die einzige. Die berühmten Doppelselbstmorde der Ja­ paner sind nichts anderes als die reale Darstellung einer Idee, die un­ leugbar auf der Welt weit verbreitet ist.

- Was genau verstehen Sie unter Selbslaufgabe? Denn wenn man Ihnen zuhört, gewinnt man den Eindruck, daß es Ihnen in erster Li­ nie darum geht, aber zugleich, daß Sie nichts so sehr fürchten, wie vom geliebten Menschen aufgegeben zu werden ? - Dem Himmel sei Dank, daß mein Unglück größer ist als meine Er­ fahrung. Ich verstehe nicht, wo hier der Widerspruch oder vielmehr die Doppelsinnigkeit liegen soll, es sei denn in der Verwendung des gleichen Wortes. Im einen Fall aktiv, im anderen passiv. Aber soviel ist schließlich klar: Sich selbst aufgeben, sich einem anderen hingeben, heißt, sich in seine Hände geben. Man gehört sich nicht mehr selbst, man kann von sich ausruhen, man wird fortgerissen in den Aufruhr und die Flamme, denen man sich überließ. Aber wenn derjenige, den man liebt, aufhört, einen zu lieben, anzusehen, wenigstens teilweise durch einen zu leben, so wie man durch ihn lebt, wenn er einen aufgibt, so stürzt man wieder hinaus in die Finsternis, will sagen, in die Hölle. Die Hölle, das ist das tägliche Leben, wenn einen niemand liebt, wenn man allein ist. Und trotzdem lebt man weiter. Man gewöhnt sich daran, leider und Gott sei Dank. Man lernt Bescheidenheit. Man darf sich nicht so ernst nehmen und so große Worte gebrauchen. Es ist das Los aller Menschen, aus dem man nur von Zeit zu Zeit durch die Liebe eines geliebten Menschen erlöst wird. Denn ich weiß nicht, ob Sie das bemerkt haben, manchmal sieht man in der Metro oder im Autobus, auf der Straße Frauen, Mädchen, Männer mit strahlenden Gesichtem,

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sie sagen nichts, sie gehen wie auf Wolken, nun, hier dürfte es sich um Verliebte handeln. Diese Art Gnade bewirkt, daß man sich plötzlich sicher fühlt, beschützt, eine Zeitlang natürlich nur, man weiß, daß es ein widerruflicher Zustand ist, daß es im allgemeinen nicht so bleibt, man hat dieses Dasein nicht verlassen und lebt doch plötzlich in einer Art Paradies.

- Warum bleibt es nicht so? Es müßte immer so bleiben.

- Weil es eine Tatsache ist, daß es niemals so bleibt, es kommt immer irgend etwas dazwischen, einer von beiden wird der Sache müde, reist ab oder stirbt. Zwei Täubchen liebten sich zärtlich, das eine lang­ weilte sich sehr. Es kommt der Moment, wo einer von beiden sich langweilt. - Ach, das ist schrecklich. - Was wollen Sie dagegen tun?

- Ich weiß nicht. Ich ertrage es nicht. Es könnte leichter sein, zu ster­ ben. - Vor allem, wenn es immer der andere ist, der sich langweilt; aber man muß gerecht sein - manchmal ist man es auch selbst.

- Das gleiche sagte Françoise Sagan gestern abend zu mir: sie sagte, eine Liebe, eine Leidenschaft dauere auf keinen Fall länger als zwei Jahre. - Sie hat recht! Nur gibt es Leute, bei denen sind es tatsächlich zwei Jahre, und andere, bei denen sind es zwanzig!

- Oh. glauben Sie das wirklich ? - Ja, natürlich.

- Ich bin also doch nicht völlig wirklichkeitsfremd, wenn ich darum bete, daß es dauern möge ?

- Es kann auch sein, daß ich wirklichkeitsfremd bin. Aber man be78

kommt nichts, ohne auch das Gegenteil in Kauf nehmen zu müssen. Die Liebe ist ein Garten, in den Sie vorübergehend eingelassen wer­ den, den sie kurze Zeit genießen dürfen. Dann verschwindet der Gar­ ten, wie in den arabischen Märchen, und Sie finden sich in der Wüste wieder. Beklagen Sie sich nicht. Sie haben den Garten gehabt, Sie ha­ ben Glück gehabt.

- Wieso findet man den Frieden durch das Martyrium ?

- Weil man sich selbst entrissen wird, nehme ich an. Aber was das Martyrium angeht, so ist es damit immer das gleiche, es wird immer nur in der Phantasie nachvollzogen. Ich glaube nicht, daß ich zum Martyrium begabt bin, ich fürchte mich entsetzlich davor. Aber ich war von dieser Idee seit meiner Kindheit geradezu besessen, wahr­ scheinlich durch die Lektüre der Heiligenlegenden. Nichts macht einem das Martyrium so deutlich wie diese frommen Bücher. Zum Beispiel: die illustrierte Heiligenlegende von Jacques de Voragine, in Goldschnitt. Ich bekam ein schönes Exemplar geschenkt - eine ausge­ fallene Idee, nicht wahr, - mit Reproduktionen von Holzschnitten aus dem 15. Jahrhundert. Darauf waren sämtliche Folterungen der Märty­ rer und Heiligen abgebildet. - Und Sie fanden diese Lektüre wollüstig ?

- Das kann ich nicht sagen. Aber ich weiß, daß sie großen Eindruck auf mich machte.

- Als Sie in der »Geschichte der O« so anschaulich erotische Mar­ tern beschrieben, kam Ihnen da nie der Gedanke, Sie könnten Schule machen ? - Nein, keinen Augenblick. Die Martern und Gewalttaten in der »Ge­ schichte der O« gehören der gleichen Kategorie an wie die Schläge­ reien in Kriminalromanen. Helden, die aufSeite zehn massakriert wer­ den und auf Seite fünfzehn frisch und munter Urständ feiern, das ist ganz und gar unwahrscheinlich, das kann nicht wahr sein. Es gehört in

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die Kategorie der Träume. Genauso verhält es sich mit der »Ge­ schichte der O«. Es handelt sich, wenn Sie so wollen, um eine Art Branchentradition. Nicht daß ich mich irgendeiner Tradition hätte un­ terwerfen wollen, vielmehr stellte sie sich spontan ein, in aller Un­ schuld, wenn ich so sagen darf. Man übertreibt, um seine Vorstellung zu vermitteln, man trägt dick auf und sagt im Grunde sehr wenig. Das Übertriebene steht als Symbol da, nicht als Wirklichkeit. Glauben Sie mir, die Martern in den erotischen Romanen und die Schlägereien, die Verletzungen und Mißhandlungen in den Kriminalromanen sind im Grunde das gleiche. Sie entsprechen dem gleichen Prinzip und gehö­ ren dem gleichen Genre an.

- Ja, gut - Jean-Jacques Pauvert hat es schließlich oft genug wie­ derholt: Den Sadismus gab es bereits vor de Sade und sogar vor Gu­ tenberg; aber es will mir doch scheinen, daß es beim erotischen Genre um mehr geht, als um eine bloße Beschreibung von Martern oder von Schlägereien. Es sind nicht nur prächtige Keilereien.

- Aber auch die Schlägereien in den Kriminalromanen sind nicht bloß prächtige Keilereien! Sie sind eine vergröberte Illustration des Mutes, der Kraft des Helden der Geschichte. Der Beweis seiner Un­ verwundbarkeit. Für O sind die Martern, denen sie zustimmt, der Be­ weis ihrer Selbstaufgabe. Sie illustrieren das Unmögliche, das Unvor­ stellbare, das Absolute, und rücken es näher. - Ich würde gern wissen, was für Sie von O jetzt noch übrig ist. Ver­ mag dieses Mädchen Sie noch zu rühren ?

- Mich rühren würde ich nicht sagen; ich betrachte sie mit ein wenig Mitleid und Sympathie. Sie war sehr mutig. - Aber wenn Sie Mitleid sagen, so sagten Sie doch auch, O habe die ganze Zeit über die Wahl gehabt.

- Gewiß, aber es ist deshalb nicht weniger grausam, auch wenn man die ganze Zeit über die Wahl hat; sie war nicht frei, denn sie liebte, man ist nicht frei, wenn man liebt. - Warum kann man nicht frei sein, wenn man liebt?

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- Weil man völlig von dem Gefühl abhängt, das der geliebte Mensch einem entgegenbringt. Man hängt von ihm ab, von seinem Glück und von seinem Unglück, von seinem Atem. Ich habe einmal eine wunder­ schöne Formulierung gehört, die schönste, die ich kenne. Es war kurz vor dem Krieg, zusammen mit einem jungen Mann, den ich liebte. Ich konnte nicht in aller Offenheit mit ihm ausgehen - auch hier ein Leben in Heimlichkeit - und wir nahmen im Theater eine Loge, wo uns nie­ mand sah. Es wurde »Undine« von Jean Giraudoux gespielt. Ich weiß nicht, ob Sie sich an die Stelle erinnern, ich glaube, es ist ein Ausspruch Undines, als sie begreift, daß der Ritter sie nicht mehr liebt. Sie sagt: »Das Gras ist schwarz geworden.« Genau das ist es. Wenn man einen Menschen liebt und glaubt, oder fürchtet, er liebe einen nicht mehr, so wird das Gras schwarz. - Aber bekommt man nicht in diesem Augenblick seine Freiheit zu­ rück?

- Nein, die Freiheit bekommt man nicht zurück. Ich habe nie dieses schwarzgewordene Gras vergessen. Viele Jahre später wurde einer meiner Freunde von einem Jungen verlassen, in den er sehr verliebt war,Über Paris leuchtete ein hinreißend schöner Himmel mit rosa und grauen Wolken. »Ach«, sagte er, »nicht wahr, man kann nie völlig un­ glücklich sein, solange es solche Wolken gibt.« Und ich erwiderte: »Aber Pierre, Sie können nicht wirklich unglücklich sein! Wenn man wirklich unglücklich ist, gibt es keine Wolken mehr.« - Gibt es keine Schönheit mehr, wenn man wirklich unglücklich ist ?

- Nein, alles ist vorbei. Später kommt es wieder, die Liebe gibt, die Liebe nimmt. Liebe ist unerhört grausam. Erinnern Sie sich an Vergil? Eines der wenigen Zitate, die mir von meinen Studien der Klassiker verblieben sind, - es gibt nichts Schulmeisterlicheres, glaube ich, als aus der Äneis zu zitieren ...

- Ein sehr schönes Buch. Ich habe es zwischen fünfzehn und sieb­ zehn dreimal gelesen. - Aber wer liest es noch oder liest es wieder? Ich bestimmt nicht. Und die einzige Episode, an die ich mich erinnere, ist die, wie Äneas in die Unterwelt hinabsteigt und Dido durch die Schatten schweben sieht,

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wie der Mond durch die Wolken schwebt: Sicut per nubila lunam, und er erklärt:

Hie quos durus amor crudeli labe peredit Secreti eelant calles, et myrtea circum silva tegit. Einsame Pfade verbergen hier alle die, Denen harte Liebe grausam zehrte am Mark, Es birgt sie ein Wald von Myrthenbäumen.

Diese Myrthenhaine und Asphodeloswiesen, durch die bleiche trau­ rige Schemen huschen, sind mir immer geheimnisvoll und doch ver­ traut geblieben. Ich habe die Verse übersetzt, auswendig gelernt, als ich fünfzehn oder sechzehn war, und sie nie vergessen, weil ich sie zur glei­ chen Zeit las und übersetzte, als ich Racine las und lernte und zur glei­ chen Zeit, als ich zum erstenmal in meinem Leben verliebt war. In eine Mitschülerin übrigens; die klassische und vollkommen unschuldige Liebe. Tagtäglich lauerte ich in diesen Ferientagen auf den Briefträger. In jenem Jahr habe ich vieles gelernt. Heute scheint mir, daß ich diesen geheimen Pfaden mein ganzes Leben lang gefolgt bin. Ich glaube wirk­ lich, daß meine Lebensfreude, meine Lebensmöglichkeit ein Ge­ schenk der Liebe ist, und wenn die Liebe aufhört, so hört alles auf. Das stimmt natürlich nicht, denn nichts hört auf, und es kommt ein Mo­ ment, wo der Schmerz nachläßt und man tatsächlich die Wolken wie­ der sieht und wo das Gras nicht mehr schwarz, ist, aber zunächst ist das Gras wirklich schwarz, die Wolken sind verschwunden, und das Licht ist erloschen.

- Alle Schönheit, alles Leben verschwindet. - Alles Leben verschwindet. Man lebt im anderen, und wenn er nicht mehr da ist, was bleibt dann noch?

Ainsi ma vie, ainsi man bien Man esprit setanl joint au tien L’unissement de nos deuxflammes Ne fait qu 'une äme de nos ämes Tu vis en moi. je vis en toi Je suis plus toi que non pas moi. . .

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Mein Leben, mein Gut, Mein Geist hat sich dem deinen verbunden Die Vereinigung unserer beiden Flammen Macht aus unseren zwei Seelen eine einzige. Du lebst in mir, ich lebe in dir. Ich bin mehr du als ich.

- Von wem ist das ? - Von Bertaut, einem Dichter des 16. Jahrhunderts, der ein Gedicht über den sagenhaften Hermaphroditen schrieb und ihm den Titel »Fantasie« gab. Ein sehr schönes Barockgedicht. Ich habe es mir abgeschrieben, ich besitze es noch heute, in der rechten Schreibtischschublade in einer Klarsichthülle für Telefonnummern.

- Sie kamen vorhin noch einmal auf die Heimlichkeit zu sprechen, das Wort taucht immer wieder auf. - Ach ja, die Geschichte mit der Loge. Es war im Théâtre Edouard VII, die Hauptrollen spielten Madeleine Ozeray und Louis Jouvet, und ich erinnere mich, wie Undines Verzweiflung mich ergriff. Für mich war das alles so zerbrechlich und so bedroht. Bedroht! Vigny spricht von einer schweigenden und ständig bedrohten Liebe. Sie se­ hen, ich bin randvoll mit Literatur wie andere mit Religion. Aber auch die Literatur ist eine Lebenshilfe. Und meine Heimat sind die Bücher.

- Seltsam, wir sind zwei völlig verschiedene Lebenswege gegangen, und doch haben wir eines gemeinsam: Wir gehören der Welt der Bü­ cher an. Ich verkaufe Bücher, wie ich sie publiziere und wie ich Ein­ bände herstelle: mit Leidenschaft. Das literarische Prestige stelle ich überjedes andere. Mein Geliebter sagte einmal- nach zehn Jahren zu mir: »Ich weiß, was wir im Innersten gemeinsam haben: eine Lite­ ratur.« Welche Bücher gehören zu Ihrer Lieblingslektüre? - Proust, den ich im Zug der ersten Veröffentlichung bei der Nouvelle Revue Française entdeckte. Shakespeare, Villon, Baudelaire, die Bi­ bel. Ich besitze vier verschiedene Ausgaben. Am liebsten mag ich die englische Bibel, die sogenannte Royal Version.

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- Sie sagten: Lange Zeit hoffte ich, mein Lehen umgestalten zu können? Was stellten Sie sich darunter vor?

- Nun, ein ganz normales Leben, mit einem Mann und Kindern. Lange träumte ich davon, in einem großen Haus auf dem Land zu le­ ben, mit vielen Kindern, zu leben, wie die Frauen es von jeher taten. Offenbar ist mir das nicht bestimmt. - Und warum träumen Frauen wie Sie davon, gebildete, aktive Frauen, die das Glück haben, einen geliebten Beruf ausüben zu kön­ nen? Ich zum Beispiel träume manchmal vom Marmeladekochen. Einkochen, Vorratshaltung überhaupt spielt eine große Rolle in die­ ser weiblichen Welt.

- Vermutlich ist das eine uralte Sehnsucht: das häusliche Glück, das Glück im geschlossenen Kreis. Man hat es so oft auf Bildern gesehen. Es ist Abend, ein winziges dunkles Zimmerchen, zugezogene Gardi­ nen, eine schwangere Frau näht im Lampenschein, einem gelblichen Schein, wie ihn die Petroleumlampen der Kindheit ausstrahlten, Stille, der Tisch ist für zwei gedeckt, das Glück im Winkel. Aber ist es von Dauer? - Es ist natürlich nicht von Dauer. Aber es stimmt, daß man als Frau diese Erfüllung in ruhigen Augenblicken empfindet, wenn man mit kleinen Arbeiten beschäftigt ist, einen Knopf annäht, ein Hemd bügelt, Erbsen liest.

- Die Geborgenheit am häuslichen Herd, die Geborgenheit in der Er­ wartung, Einsamkeit, die vorübergeht, Warten ohne Unruhe, dieser Traum ist wohl allen Frauen gemeinsam. Nur gibt es Frauen, die sich über ihre Bestimmung täuschen. - Aber Sie haben sich nicht getäuscht, denn Sie wählten eine ganz andere Bestimmung. - Weiß man es? Wählt man wirklich?

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- Kann man zwei Männer gleichzeitig liehen ? - Selbstverständlich. - Erklären Sie mir. warum ? Wieso ? - Warum denn nicht? Ich glaube, man kann einem Mann sehr verbun­ den sein, und einen Geliebten haben, in den man sehr verliebt ist, und beide lieben. Warum nicht? Ich kenne viele Männer, die sowohl ihre Frau wie ihre Geliebte aufrichtig lieben, beide mit großer Leidenschaft.

- Leidenschaft, ja. Ist sie vom gleichen Wert wie die Liebe ? - Sie ist vielleicht von anderer Art als die Liebe, aber vom gleichen Wert, finde ich. Wert ist nicht das richtige Wort, es muß heißen: Bedeu­ tung. Die Leidenschaft ist von gleicher Bedeutung, es kommt nicht in Frage, die eine oder die andere Frau zu verlassen. Unlängst ist ein Buch erschienen, das Sie unbedingt lesen müssen. Es heißt, glaube ich, »Ge­ schichte einer Ehe«. Es ist die Geschichte von Harold Nicholson und Victoria Sackville-West. Eine der schönsten Ehegeschichten, die ich kenne. Eine Ehe, in der beide Partner einander aufrichtig lieben, ob­ wohl jeder von ihnen zugleich andere Menschen liebt. Sie waren sehr glücklich.

- Ja, aber Sie sagen doch. Sie seien nicht eifersüchtig. Sie wüßten nicht, was Eifersucht ist. Kann man auch, wenn man eifersüchtig ist, mehrere Menschen gleichzeitig liehen ? - Ich glaube schon. Vielleicht ist das bei mir eine Perversion, das wäre möglich, zugegeben; es ist mir völlig egal.

- Ich möchte gern zwei Menschen zugleich lieben. Es ist mir nie pas­ siert und scheint mir auch ziemlich unmöglich. Schließlich versuchen wir, unter einem Blick zu leben, der alles erlauben kann, weil er be­ strafen und weil er lossprechen kann. Es kann nicht zwei Blicke geben, zwei Götter, zwei Männer. Sobald es den einen gibt, verwirft man alle anderen. - Keineswegs. Die Ehe zu dritt erscheint mir durchaus achtbar, mach­ bar, haltbar, trotz allem, was darüber gesagt wird.

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- Sie sprechen wie ein Mann! Das ist die ständige Rede der Männer.

- Aber es stimmt, die Männer haben recht. - Von ihrem Standpunkt aus haben sie natürlich recht! - Wenn ich von einer Ehe zu dritt spreche, so meine ich damit ebenso­ gut zwei Männer und eine Frau wie zwei Frauen und ein Mann.

- Ich kenne solche Ehen: ich glaube nicht daran. Ich will sagen, ich glaube nicht, daß hier Liebe im Spiel ist. Liebe, wie ich sie kenne. Vielleicht früher einmal, jetzt kaum noch. Es hat einfach seine ange­ nehmen Seiten. Oder zwei von den dreien lieben einander, und der dritte ist blind oder leidet. Nur Ihre Großzügigkeit kann eine solche Beziehung erwägen. - Ich verstehe nicht, wo hier die Großzügigkeit sein soll. Jeder dürfte dabei auf seine Rechnung kommen, nicht wahr? Ich hätte sowohl das eine wie das andere akzeptiert. Ich habe sogar einmal wirklich das eine akzeptiert, aber zum anderen kam es nie: Ich habe immer nur eifer­ süchtige Männer gekannt, folglich ...!

- Und wie äußerte sich ihre Eifersucht ?

- In Verboten. »Schon wieder hast du diesen Kerl angesehen. Was findest du nur an ihm?« - Als Sie vorhin sagten: Ich habe immer nur eifersüchtige Männer gekannt, fügten Sie hinzu: Man könnte meinen, ich tue es absicht­ lich. Taten Sie es vielleicht wirklich absichtlich ?

- Um mich einsperren zu lassen wie O? Und zu schreien, daß ich meine Freiheit wolle. Das wäre durchaus möglich, aber ich wußte es nicht.

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- Ist Schönheit wichtigfür eine Frau ?

- Oh, sie ist eine Macht. Schöne Frauen haben Glück. Allerdings wis­ sen sie oft nichts von diesem Glück. Ich kannte einmal eine junge Frau, die im Leben und im Herzen eines jungen Mannes, den ich liebte, mei­ nen Platz einnahm. Sie war damals von ungewöhnlicher Schönheit, einer Schönheit, die mir die Sprache raubte, mich blendete, die in der »Geschichte der O« einen Nachhall findet. Da kann man nicht wider­ stehen, und der junge Mann hatte natürlich recht. Sie war schön, sie war hinreißend angezogen. Ich war nicht schön, ich besaß einen gewissen Charme, mehr nicht, ich war arm wie eine Kirchenmaus, ich kleidete mich, so gut ich vermochte, ohne jeden Chic, ich wußte es, ich sah es, ich konnte es nicht ändern: Ich hatte einfach nicht das Geld dazu, und ich litt natürlich sehr darunter. Und ich beunruhigte ihn! - Machte Ihnen das Spaß?

- Ja! Ich sagte mir, was hat man von so viel Schönheit. Das gleiche Phänomen beobachtete ich bei einem jungen Mann, dem Geliebten einer Freundin, der eigentlich Knaben liebte. Er war einer der schön­ sten jungen Männer, die ich je gesehen habe. Ein Riese, mit breiten Schultern und schmalen Hüften, einem sehr schönen regelmäßigen Ge­ sicht, großen grauen Augen, schwarzem leicht gewelltem Haar, eine Pracht, eine Wonne! Er fühlte sich gedemütigt, dauernd gedemütigt, weil alle ihn schön fanden. »Na und? Ich bin nicht dumm«, sagte er. Was er tatsächlich nicht war. Und diese junge Frau, - sie hatte alles, was sie sich wünschen konnte, aber sie machte sich nichts daraus. Sie war wohl zu sehr daran gewöhnt. 1 m Grunde ist das auch die Geschichte der Marilyn Monroe, die sich trotz ihrer ungewöhnlichen Schönheit nie­ maisgeborgen fühlte. - Ich finde Marilyn Monroe nicht ungewöhnlich schön, ich finde sie ungewöhnlich rührend.

- Noch besser.

- Ja, noch besser, solche Frauen möchte man dauernd beschützen und schlagen. Von O sagen Sie, sie sei leicht zu haben: leicht zu ha­ ben, aber im Herzen treu. Wieso scheint Ihnen ein Körper, der leicht zu haben ist. den Charme einer Frau zu erhöhen ? 87

- Weil es ein sympathischer Zug ist. Diese Zugänglichkeit, über die alle Welt höhnt, finde ich eher liebenswert. Erinnern Sie sich, was Bossuet in seiner berühmten Leichenrede für Madame sagte: »Madame forderte das Herz.« Die zugänglichen Mädchen, die man so verächt­ lich als »leichte Mädchen« bezeichnet, haben für andere eine Sympa­ thie a priori. - Und wie könnten sie sie besser beweisen, als indem sie sich weg­ schenken! Aber man kann sich auch aus vielen anderen Gründen wegschenken. Zum Beispiel um einen langweiligen Mann loszuwer­ den, dem man nichts mehr zu sagen hat. - Ich hätte niemals an dieses Mittel gedacht, es wäre mir eher ermuti­ gend erschienen.

- Je nachdem. Es könnte besagen oder durchblicken lassen: »Nun, wenn Sie wirklich meinen, dann los! Zeigen Sie, was Sie können, und Schwamm drüber«, was, wie mir scheint, für einen Mann die tiefste Entmutigung und die schwerste Beleidigung ist. Häufig tun sie nicht mit, und man sieht sie nie wieder. Oder sie versuchen doch, einen beim Wort zu nehmen, versagen und verschwinden womöglich noch schneller. - Ach! daran habe ich nie gedacht.

- Die Aussichtslosigkeit verstärkt die Neigung? Glauben Sie auch daran, daß die Aussichtslosigkeit, sich mit einem Menschen zu ver­ binden, die Aussichtslosigkeit, sich ihm zu nähern, sei es aus Grün­ den der Schicklichkeit oder aus irgendwelchen anderen, die Neigung verstärkt ? - Nicht, was mich betrifft. Ich hatte dann und wann auch meine klei­ nen Affären, verliebte mich in einen jungen Mann, der ebenfalls in mich verliebt zu sein schien, aber nichts von einem Abenteuer wissen wollte, denn »das gehört sich nicht«. Dieses »das gehört sich nicht«, schien mir... Nun ja, vielleicht hatte er recht, aber schließlich hätte

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ich, wenn er nicht selbst dieses Hindernis aufgerichtet hätte, mich nicht geziert. Als ich nach vierzehn Tagen begriffen hatte, daß die Sa­ che aussichtslos war, zog ich einen Strich darunter, und damit hatte sich’s. Die Aussichtslosigkeit hat in diesem Fall meine Gefühle nicht gesteigert.

- Wenn etwas aussichtslos ist, lassen sie esfallen ? - Ich finde, man soll Hunde nicht zum Jagen tragen. Es gibt einen wichtigen Grundsatz: Man kann niemanden zwingen. Und einen zweiten: Man drängt sich niemandem auf. - Aber es gab Fälle, daß ein leidenschaftlich verliebter Mann eine Frau so lange bedrängte, bis sie schließlich nachgab. - Und dann war er bitter enttäuscht.

- Er war bitter enttäuscht, genau, er verübelte es ihr schrecklich. Wie Baudelaire der Präsidentin schrieb: »Wasfiel Ihnen ein, mich zu erhören ? Ich will Sie nie wiedersehen.« Kommt das häufig vor? - Es kommt vor. Wollen Sie noch ein Zitat hören? »Nur eines ist bitte­ rer als die Enttäuschung: die Erfüllung.« - Und warum ? - Wenn ich das wüßte! Die Männer sind seltsam. Einmal ist mir eine ganz ausgefallene Geschichte passiert. Ich war sehr jung, litt an chroni­ schem Geldmangel und versuchte, ein bißchen Geld zu verdienen, in­ dem ich Ausländern französischen Unterricht erteilte. Ich geriet an einen Amerikaner, an einen, wie sich herausstellte, sehr reichen Ameri­ kaner, einen noch jungen Mann, aber älter als ich. Er war korrekt, er war intelligent. In aller Unschuld gab ich ihm Stunden, und dann, eines schönes Tages, wollte er mich zum Abendessen einladen. Ich nahm an. Danach wollte er mich ein zweites Mal zum Ausgehen einla­ den. Ich lehnte ab, ich sagte, ich könne nicht. Und als er mich ein drit­ tes Mal einlud, nahm ich wieder an. Ich begriff undeutlich, daß er mir den Hof machen wollte, und, getreu meinem Grundsatz, daß man den Leuten keine falschen Hoffnungen machen dürfe, erklärte ich ihm, ich sei nicht mehr frei, ich liebte einen anderen Mann! Wir aßen zu Abend

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und trennten uns. Anderntags war eine Unterrichtsstunde fällig, ich ging in sein Hotel, die Stunden fanden immer in seinem Hotel in der Rue des Saints-Pères statt. Ich fand einen Brief vor. Er hatte seine Kof­ fer gepackt und war ausgezogen, hatte mir einen Brief hinterlassen, eine regelrechte Charta der Männerrechte, worin er schrieb: »Tun Sie das nie wieder, sagen Sie nie wieder so etwas zu einem Mann!« Ich war von meinem Sockel gestürzt.

- Welchen Rat würden Sie einem jungen Mädchen auf den Lebens­ weg mitgeben ? - Oh, ich weiß nicht. Auf diesem Gebiet gibt es keine Verhaltensre­ geln. Man kann sich ein paar Maximen zurechtlegen, die man in die Praxis umsetzt, wenn man es fertigbringt. Mir gefällt das Lutherwort: Pecca fortiter, sündige mit Mut. Nur der Mut zählt, nicht die Sünde. Oder die englische Devise: Never explain never complain - Erkläre nie, beklage dich nie. In der »Geschichte der O«, das wissen Sie, be­ klagt sich nie jemand. All is fair in love and war - Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt, sagt ein anderes englisches Sprichwort. Aber das finde ich anfechtbar. Und was ist von dem französischen Rechts­ grundsatz zu halten: In der Ehe gilt: Du sollst dich nicht erwischen lassen':'Die Winkelzüge sind das Peinliche daran, sowohl von Seiten der Männer wie der Frauen. Die Moral hat damit gar nichts zu tun.

- Dieses Spiel wollten Sie nicht mitspielen ?

- Ich hätte es am liebsten nicht gespielt, denn ich spielte es schlecht. Aber auch ich mußte gelegentlich Winkelzüge machen, und ich bin nicht stolz darauf. - Fehlte es Ihnen an Koketterie den Männern gegenüber?

- Oh, ganz und gar nicht! - Es gehört aber doch zur Koketterie, ihnen . . .

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- Gewiß, doch man darf niemanden hinters Licht führen, darum geht es. Zu Koketterien nahm ich ohne weiteres meine Zuflucht, wenn ich Absichten hatte. - Demnach sind Sie gewissermaßen ein »Ehrenmann«. - Vielleicht, aber das war ganz verkehrt.

- Von den Frauen erwartet man vielmehr, daß sie mit List arbeiten, mit Hinterlist. - Ja, ich weiß.

- Und wenn sie nicht dem Bild entsprechen, das man sich von ihnen macht, sind die Männer ratlos, wissen nicht mehr aus noch ein. Hat­ ten Sie Ihren Spaß an dieser Ratlosigkeit ? Oder zählte für Sie nur, daß Sie sich selbst treu blieben ? - Man kann das einem Menschen einfach nicht antun!

- Aber wenn dieser Mensch sich genau das wünscht ? - Ich kann mir nicht denken, daß jemand sich wünscht, für dumm verkauft zu werden.

- Sie wissen sehr wohl, daß es trotzdem so ist. - Ja, allerdings. Und Gott weiß, daß auch die intelligentesten Männer von dieser Schwäche nicht frei sind. - Offenbar nicht.

- Nicht zu fassen, wie sie sich von den kleinen Frauchen einwickeln lassen, während die Spatzen den wahren Sachverhalt schon von den Dächern pfeifen. Fast möchte ich glauben, daß sie im Grunde wissen, was los ist, und sich vielleicht sogar darüber amüsieren.

- Glauben Sie nicht, daß das »kleine Frauchen« große erotische An­ ziehungskraft besitzt?

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- Natürlich. Allein schon, weil der Mann das Gefühl hat, sie vollstän­ dig zu beherrschen. Weil er sich ihr sozial überlegen fühlt. Die Liebe zu einer Frau, die man für unterlegen hält, ist nicht zu unterschätzen. - Ich glaube, es gibt auch Masochisten unter den Männern. Sie las­ sen sich lächerlich machen, mit Füßen treten, weil sie ihre Erniedri­ gung genießen. Das kommt verhältnismäßig häufig vor. Und ich frage mich zudem, ob es nicht viele Frauen gibt, die, nachdem sie sich ihrer Macht bewußt wurden, in voller Absicht »kleine Frauchen« bleiben.

- Was beweist, daß sie sehr klug sind. - Wer oder was sollte sie daran hindern, sie haben durchaus recht. - Gewiß, aber dieser Trick ist deprimierend.

- Ich verstehe Sie. Ich seihst hatte nicht immer Skrupel. Manchmal schon, aber nicht immer. Ich bin sehr oft kein »Ehrenmann« gewe­ sen.

- Dafür waren Sie immer eine echte Frau!

- Ich habe ein Buch publiziert, das mich sehr berührte, ich weiß nicht, ob ich Ihnen schon davon sprach, es hieß »Le Necrophile«.

- Nein. - Ich finde es sehr schön. Erscheint Ihnen die Liebe zu Toten als etwas Abartiges? - Die Liebe zu einem Leichnam?

- Die Liehe zu einem Leichnam und die Liebe, die man unverbrüch­ lich auch noch einem Toten schenkt.

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- Die Liebe, die man unverbrüchlich auch noch einem Toten schenkt, erscheint mir völlig normal, aber die Liebe, die sich an einen Leichnam heftet, einen Leichnam berührt, erscheint mir total abartig.

- Ich habe nie einen Toten gesehen. - Ich habe Tote gesehen. Mehrere. Ich sage: nein! Menschen, die ich sehr geliebt habe, konnte ich als Tote nur mit großer Überwindung berühren. Sofort, im Augenblick des Todes, ja, wenn der Körper noch geschmeidig ist, wenn man ihn umfassen, streicheln kann, den zur Seite gesunkenen Kopf zurechtlegen. O ja! Das geht einem nahe. Aber sobald die Starre da ist, das Eis, wird alles gräßlich. Nicht daß ich schockiert wäre, ich will nur sagen, natürlich tut man einem Leichnam nichts an, man beschimpft ihn nicht, aber diese Leidenschaft erscheint mir als Wahnsinn.

- Aber wenn ein geliebter Mensch gestorben ist, haben Sie da nicht das Bedürfnis, ihn in die Arme zu nehmen, zu küssen, wiederzubele­ ben? - Nein, ich beuge mich über ihn und küsse ihn. Ihn ein letztesmal be­ rühren, mehr nicht. Aber ihn in die Arme nehmen, an mich drücken? Nein. Es gibt ihn nicht mehr. - Es gibt ihn nicht mehr, sagen Sie. Aber was ist mit der Seele, wenn eine Seele existiert ?

- Ich weiß nicht, ob es eine gibt. Aber alles, was gelebt hat und tot ist, sollte verschwinden. Mir graut vor den ägyptischen Mumien und vor den Steinfriedhöfen in unserer westlichen Welt, wo die einst geliebten Menschen in Kisten verwesen. Die Korangläubigen tun recht daran, ihre Toten in ein Tuch zu hüllen und sie direkt in die Erde zu versen­ ken. Wenn die Grube gefüllt ist, sollte man sie sogar einebnen, damit keine sichtbare Spur zurückbleibt. Die Navajo-Indianer machten es so. Sade forderte in seinem Testament, man solle ihn in einem Wald begraben und die Stelle nachher mit Büschen bepflanzen, damit jede Spur von ihm von der Erdoberfläche verschwinde. Ich weiß nicht, ob man diesen Wunsch erfüllt hat, aber ich verstehe ihn. Das einzige, was von einem Menschen wirklich bleibt, sind die Gedanken, die ihn er­ füllten. Wozu eine weitere Spur suchen? Der Träumer geht, die 93

Träume bleiben, und die Lebenden träumen sie weiter. Laßt die Toten tot sein. - Aber wenn man einen geliebten Menschen verloren hat, empfindet man dann nicht doch oft noch seine Anwesenheit ?

- Sie meinen das Gefühl, daß der Betreffende trotz allem noch da wäre? - Ja. das meine ich. - In gewissen Träumen, ja. Wenn man Tote, die man geliebt hat, im Traum sieht, so freut man sich, freut sich so sehr, ihnen zu begegnen, aber das ist alles, etwas anderes gibt es nicht. Ich habe nie ein Gespenst gesehen, obwohl ich es gern möchte. - Ist der Todfür Sie wirklich der Tod? Das Ende? - Er ist die Auflösung, die Umwandlung in etwas anderes.

- Und Sie stellen sich, da Sie nicht an Gott glauben, nicht vor, daß Sie die Menschen, die Sie geliebt haben, wiederfmden könnten ? - Ich möchte es gern, es wäre schön, wenn es so wäre, aber ich glaube es nicht. Und Sie?

- Ich weij.i nicht. Ich suche. Ich gehe gern in Kirchen. Ich führe meine Tochter hinein. Tor drei Jahren habe ich mich für etwa zehn Tage in ein Kloster in Bresse zurückgezogen. Mein Geliebter war in ernsten Schwierigkeiten. Ich betete, daß eine Rettungsmöglichkeit, auf die er wartete, eintreten möge. Ich versuchte, auch die Nonnen des Klosters zu diesem Gebet zu bewegen. Vor meiner Abreise wollte ich noch eine Messe für das gleiche Anliegen lesen lassen. Es war nicht einfach. Schließlich setzte ich es durch. Aber ich weiß nicht, ob ich wirklich im Innersten gläubig hin. Bis heute hat niemand Beweise dafür oder dagegen vorgelegt. - Aber es gibt Menschen, die davon überzeugt sind.

- Und ist es eine große Hilfe, gläubig zu sein ?

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- Doch, ich meine, das ist es. Aber ich teile diese Überzeugung nicht, ich bin nicht gläubig. Wenn es aus ist, ist es aus. Was bleibt, ist die Erinnerung, das lebendige Andenken an die Toten, wenn man sie liebt. Mit der Zeit trägt man viele Tote mit sich herum. - Sie werden mich grausam finden, - aber warum tut das alles Ihnen noch immer so weh ?

- Ich weiß nicht. Vielleicht wünsche ich mir, sie wären noch da ... - Gilt das für alle Toten? - 0 ja!

- Fühlen Sie sich verlassen ? - Nein, das ist es nicht. Man würde sich verlassen vorkommen, wenn sie willentlich fortgegangen wären; sie sind aber nicht willent­ lich von einem fortgegangen. - Grollten Sie ihnen nicht, als sie starben?

- Nein!

- Ich denke da an eine Stelle bei Colette, wo er starb und sie ihm schrecklich grollte. - Ja, weil er sich getötet hatte! Das steht in »Duo«, nicht wahr? - Und er hatte sich getötet, weil sie mit einem anderen schlief, eine unverzeihliche Dummheit. - Es ist wirklich unverzeihlich, so dumm zu sein, kindisch außer­ dem, sie hat völlig recht, böse auf ihn zu sein. Aber was mich betrifft, die Toten sind tot, weil sie tot sind. Nicht weil sie mich verlassen wollten. Man kann keinen Groll gegen jemanden hegen, der einen nicht willentlich verlassen hat. Manchmal bedeutet der Tod eine Er­ lösung.

- Sie haben recht, die Abwesenheit ist am schwersten zu ertragen. 95

Einmal sagten Sie. daß die Vorstellung, Sie konnten morgen ster­ ben, Sie nicht belasten würde, daß der Gedanke an den Tod Sie seit ihrem zwölften Lebensjahr begleitet habe. - Vielleicht sogar noch länger. 1914 war ich sieben Jahre alt, und vier Jahre lang machte meine Großmutter sich auf den Tod meines Vaters gefaßt, der jeden Tag fallen konnte. Er war an der Front wie alle Fran­ zosen. Großmutter liebte ihren Sohn über alles, und sie sprach ständig davon.

- Sie sprach zu Ihnen ständig vom möglichen Tod des geliebten Va­ ters ? - Ja, ständig. »Mein Gott, wenn nur deinem Vater nichts zustößt«, sagte sie immer. - Aber das muß Sie doch schrecklich geängstigt haben ?

- Ich weiß nicht, nicht so sehr. Wenn man in jenen Jahren im Dorf den Bürgermeister kommen sah, wenn er an die Tür klopfte oder das Hoftor öffnete, wußte man: Der Mann oder der Vater oder der Sohn waren gefallen. Lesen Sie die Namenslisten auf den Sockeln der häßli­ chen Stein- oder Bronzedenkmäler, die glücklicherweise niemand mehr ansieht: Lefèvre Jean, Lefèvre Julien, Lefèvre Pierre, - manch­ mal stehen alle männlichen Familienmitglieder da. Der Tod war etwas Alltägliches. Nur noch die Leute meines Alters erinnern sich daran, solche, die damals jung waren und nichts begriffen. Damals hatte ich einen seltsamen Traum, der immer wiederkehrte, bis ich schließlich 1942 plötzlich feststellte, daß ich ihn nicht mehr träumte. Es war ein Traum, der sich mehrmals im Jahr einstellte, immer der gleiche: Im Zimmer meiner Großmutter, wo ich schlief, bewegte sich der Vorhang an der Tür. Man hörte Schritte die Treppe heraufkommen. Ich wußte, daß es deutsche Soldaten waren, die uns holen wollten. Ich ging mit einem Gewehr hinaus auf den Treppenvorplatz und schoß, bis ich selbst getötet wurde, dann wachte ich auf.

- Und diesen Traum träumten Sie bis 1940? - Bis 1942, bis ich in eine Widerstandsgruppe eintrat, bis zu dem Au­ genblick, da mein Traum hätte Wirklichkeit werden können. Zum

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Glück geschah es nicht. Plötzlich bemerkte ich, daß ich diesen Traum nicht mehr träumte. - Als Sie ihn während des Ersten Weltkriegs träumten, waren Sie noch ein kleines Mädchen. - Damals lasen alle Kinder blöde Heftchen, die sogenannten »Rosa Heftchen«, haarsträubend chauvinistisches Zeug, in denen grausame Deutsche mit Helmen vorkamen ... - Die den kleinen Kindern die Hände abhackten. - Woran ich übrigens auch damals schon nicht glaubte. Ich habe nie an die abgehackten Kinderhände in Belgien geglaubt. - Um wieder auf Ihren Traum zu kommen: Haben Sie bemerkt, daß Sie ihn immer zu bestimmten Zeiten träumten, dann, wenn Sie be­ sonders Angst hatten ? - Ich glaube nicht. Ich habe keine Angst. Ich bin beunruhigt, das ist nicht das gleiche. Diese Beunruhigung ist immer vernünftig oder, rich­ tigergesagt, begründet, das stimmt eher, ich sehe Katastrophen voraus, die sich unweigerlich einstellen. Sie haben durchaus Hand und Fuß, meine Katastrophen. Es handelt sich nicht um vage und gefühlsmä­ ßige Einbildungen, sondern um etwas Präzises und Plausibles. Wovon es im übrigen keineswegs angenehmer wird. - Nein. Doch wenn Sie in Ihrem Leben irgend etwas vorhaben, wä­ gen Sie dann genau das Für und Wider ab, oder gehen Sie die Sache einfach an ?

- Meine ersten Reaktionen sind fast immer verheerend. - Warum verheerend?

- Weil ich genau das tue, was ich nicht tun sollte. - Aber wenn Sie das wissen? Sie sagen doch, man fange erst an, sich selbst kennenzulernen, wenn man mehrmals den gleichen Fehler wie­ der begeht. 97

- Ja, aber dieses Wiederbegehen liegt in der menschlichen Natur be­ gründet. Man macht die gleichen Fehler immer wieder, auch wenn man sie kennt.

- Also lernt man nichts dazu? - Nicht viel. - Ja, das glaube ich auch. Ich glaube, die Einsicht allein kann nicht verhindern, daß man den gleichen Irrtum wieder begeht. - Einer meiner häufigsten Fehler besteht zum Beispiel darin, daß ich jede Arbeit, die mir angeboten wird, sofort annehme. Ich habe so lange in der Furcht gelebt, keine Arbeit zu haben, auf andere Leute angewie­ sen zu sein! Aber jetzt ist das ja unsinnig. - Wie erklären Sie sich dann, warum Sie es trotzdem tun ?

- Aus Interesse. Sie können sich nicht vorstellen, wie viele Dinge mich interessieren. Ziemlich anstrengend. - Strengt das Schreiben Sie an ?

- Wie das Atmen. Übrigens: Schreiben ist atmen.

- Ich finde Ihren Stil sehr persönlich, sehr schön. Es ist schade, daß Sie nicht viel mehr schreiben. Jean-Jacques Pauvert sagte mir, seit er Sie kenne, sei er hin und her gerissen zwischen dem Verlegerehrgeiz, eine der größten lebenden Autorinnen zum Weiterschreiben zu brin­ gen, und seiner Sorge um eine Frau, die er zu gern hat, um ihren Frieden zu stören. - Aber ich habe gar nicht so vieles zu sagen, wissen Sie. Wie Sie sehen, ist mein Register äußerst beschränkt. Ich habe nicht das, was man als große Ideen bezeichnet. Ich habe nur ein paar Ansichten über ein paar bestimmte Dinge. - Macht man denn Literatur mit großen Ideen ? Wir wollen den Ton Ihrer Stimme hören. Es ist eigenartig: Je mehr das, was Sie geschrie­ ben haben, an Berühmtheit gewinnt, um so mehr scheinen Sie sich im 98

Hintergrund zu halten, sich zurückzuziehen. Ich habe nie einen so bekannten und vielgelesenen Autor getroffen, der seinem bereits ge­ schaffenen und zukünftigen Werk so wenig Wert beizumessen schien wie Sie. - Wir wollen nichts übertreiben. » Werk« ist wirklich ein zu großes Wort. - Haben Sie Therese von Avila gelesen?

- Ja natürlich. - Und glauben Sie, daß sich die Art, wie sie ihre Sehnsucht nach Gott, ihre Liebe zu Gott ausdrückt, auch heute noch finden könnte ? - Sicherlich, vorausgesetzt, daß der Glaube vorhanden ist. - Aber eben diesen Glauben bringt man heute nur ganz verschämt zum Ausdruck. Man schämt sich, seine Gefühle bloßzulegen. Man zeigt sich nackt, aber was im Herzen vorgeht, behält man für sich. - Das ist die wahre Schamhaftigkeit. Ich habe schon immer gesagt, daß das Gebet etwas Schamloses ist. - Das stimmt. Die Schriften der Therese von Avila oder des heiligen Johannes vom Kreuz sind im Grunde von einer, fast hätte ich gesagt, peinlichen Schamlosigkeit, wie auch die Schriften Jener anderen Therese, die zwar weniger stark sind, uns jedoch ebenso tief berüh­ ren, denn sie sind um so menschlicher. Es scheint mir leichter, Gott zu lieben, als einen Menschen zu lieben. - Ich bin ganz Ihrer Meinung, außerdem ist es ersprießlicher. - Dennoch fühlen manche sich von Gott verlassen. - Mag sein, aber dann ist es wenigstens Gott! Und wenn es Gottes Wille ist... Haben Sie Madame Guyon gelesen? Ihr Quietismus ist ein ungeheuerliches Wagnis. Sie schrieb ziemlich schlechte Verse, und doch war Fenelon von ihr fasziniert. Man kann ihn verstehen. Diese Frau wußte, warum sie auf Erden war. Sie ging ganz in ihrem Glauben

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auf... Ich lernte einmal einen Menschen kennen, der ihr glich. Eine unverheiratete Dame von siebzig Jahren, die fünfundzwanzig Jahre lang einem Priester den Haushalt geführt, ihn bis zu seinem Tod ge­ pflegt und dann Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt hat, um seine nachgelassenen Werke zu veröffentlichen. Von dieser unscheinbaren und bescheidenen Frau ging ein Glanz aus! Liebe, Mut, Treue, Ver­ trauen, das alles vereint in einem zerbrechlichen Wesen mit feinen Runzeln im Gesicht und weißem Haar, waren auf den ersten Blick zu erkennen. Deshalb liebe ich die Menschen, weil sie dieses Wunders fähig sind. Das Wunderbarste auf der Welt sind die Menschen. Sie sind vergänglich, sie sind abscheulich, sie sind Wölfe, sie sind Unge­ heuer, und sie sind bewundernswert. Ich glaube, man kann ein Leben damit zubringen, den Menschen beim Leben zuzusehen, und darüber das eigene Leben hintanstellen. - Vielleicht. - Ich meine, man hat dann nicht mehr das Bedürfnis, selbst zu leben.

- Und alles, was man darüber versäumt? - Ist es wirklich ein Verlust?

- Würden Sie Ihr Leben noch einmal von neuem beginnen wollen ? - Aber ja, gewiß!

- Hören Sie, das ergibt keinen Sinn. Fast im gleichen Satz ein Ja und ein Nein. Können Sie sich nicht entschließen ? - Warum? Es ist herrlich, zu leben, es ist grausam und qualvoll, zu leben. Man wünscht sich, es möge weitergehen, und fast gleichzeitig wünscht man sich, es möge aufhören. Ausgenommen dann, wenn man sich selbst entrissen ist durch die Gewalt einer Leidenschaft oder der äußeren Umstände, durch die Liebe oder den Krieg etwa.

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- Unerhört! Sie sehen im Krieg tatsächlich eine Antriebskraft, etwas Dynamisches? - Viele Männer haben den Krieg geliebt, und das hat seinen Grund. Erinnern Sie sich, was Ludwig XIV. am Ende seines Lebens sagte: »Ich habe den Krieg zu sehr geliebt.«

- Aber der Krieg ist etwas Schreckliches, etwas Abscheuliches.

- Abscheulich, aber auch erhebend, denn er fordert Mut und Selbst­ verleugnung. Die Menschen sind abscheulich und tapfer. - Wer sein Leben bei militärischen Unternehmungen riskiert, ist ein Dummkopf, finde ich. - Aber nein; wenn man sich mit den Kämpfenden solidarisch fühlt, kommt es einem nicht dumm vor. Wenn man sich darüber lustig macht, ist es wie große Ferien.

- Krieg ist grauenhaft, und es sollte ihn nicht mehr geben, trotz aller Erhabenheit und Tapferkeit. - Grauenhaft für alle, die den Krieg erleiden, ja. Viel weniger für die­ jenigen, die ihn ausfechten. Lehnen Sie vielleicht auch Che Guevara ab, der wenig mit Ludwig XIV. gemeinsam hatte? »Wir sind immer gegen den Krieg«, sagte er, »aber wer einmal im Krieg war, kann ohne ihn nicht mehr leben. In jedem Augenblick möchten wir wieder zu­ rück.« Der Krieg ist nur einer der grausigeren Aspekte der conditio humana, die an sich ebenso schrecklich wie wunderbar ist, er ist diese conditio humana in Reinkultur. Ist das Leben für die Menschen leicht zu ertragen? Sind die Menschen heute, auch ohne Krieg, nicht gequält, unglücklich, verzagt? - Aber kann der Krieg sie weniger unglücklich machen, weniger ver­ zagt? Sie werden jetzt sagen: »Jedenfalls denken sie dann an etwas anderes als an ihre kleine alltägliche Misere.«

- Mein Vater kannte während des Ersten Weltkrieges einen der be­ rühmtesten englischen Psychiater. »Es ist trostlos«, sagte dieser Mann zu meinem Vater, »seit wir Krieg haben, habe ich keine Patienten

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mehr.« Ja, wie gesagt, die großen Ferien! Keine finanziellen, familiä­ ren oder beruflichen Sorgen mehr. Ein ganz neues Schicksal, das einen dem alten Schicksal entreißt. Das Leben ist schwarz und weiß, das Le­ ben ist ein Dominospiel, die Steine werden nur ein einziges Mal ver­ teilt. Der Krieg bringt eine neue Zuteilung. Und man lebt auf, weil man sterben wird.

- Das sagt man, aber man meint es nicht. - Doch, es ist ein Geben und Nehmen. Jemanden töten, Menschen töten, mit der Gewißheit, daß man selbst nicht getötet wird, ist uner­ träglich. Mit der Gewißheit, daß man eine neunundneunzigprozentige Chance hat, selbst getötet zu werden, ändert sich alles.

- Könnten Sie sich vorstellen, daß Sie jemanden töten ? - Warum nicht? Ganz davon abgesehen, daß ich glaube, jeder Mensch ist zu allem fähig. Ich habe sehr bedauert, nicht Soldat sein zu können. - Und wenn man von Ihnen im Krieg verlangt hätte, einen Men­ schen zu erschießen ? - Man hat von mir nur verlangt, daß ich Zeitungen oder Bücher trans­ portierte und verteilte, das war sehr viel bescheidener. Aber ich glaube, ich hätte es getan. - Ohne Zögern ? - Ich weiß nicht, aber ich glaube, ich hätte es getan, wenn es mir be­ fohlen worden wäre. Befehl ist Befehl.

- Die berüchtigte Devise der deutschen Armee .-Befehl ist Befehl, und man knallt die Hacken zusammen. Glauben Sie auch, daß die Ein­ führung des sogenannten Rechts auf Ungehorsam in der Armee den Tod dieser Armee bedeutet ?

- Im Prinzip, ja. Die Disziplin ist, wie der Grundsatz lautet, das Rück­ grat der Armee. Haben Sie nie das Merkblatt für den Infanteristen ge­ lesen? 102

- Nein, nie.

- Es fängt - oder fing - folgendermaßen an: »Jedem Vorgesetzten ist von seinem Untergebenen unverzüglich und jederzeit Gehorsam zu leisten.«

- Was übrigens bei mehr als einer Gelegenheit praktiziert wurde und sich bewährt hat, nicht nur bei der Erstürmung von Schützengräben, auch während des Algerienkrieges. Was kann einen Menschen dazu bringen, bis zum Letzten, bis zum Absurden zu gehorchen ? - Leider kann ich mir eine Armee, das heißt, die ideale Armee, nicht anders vorstellen als eine Truppe, die sich aus Freiwilligen zusammen­ setzt. Man sollte das Kriegführen denen überlassen, die es gern tun. »Die Schlacht im Bett, die Schlacht im Feld, das sind die schönsten Berufe der Welt«, sagt ein Lied aus dem 18. Jahrhundert. Also: ein Hoch auf das Berufsheer, wo man sich freiwillig zum Gehorsam ver­ pflichtet. Denn die Menschen gehorchen gern, das vergißt man immer wieder. - Kurzum, Sie sindfür den Krieg? Und die Religionskriege, die In­ quisition, die spanische Eroberung Südamerikas, die kaiserlichen Soldaten in Spanien, die Eroberung Algeriens . . .? - Gewiß, die Religionskriege sind ganz besonders grausig, aber wenn Sie mir entgegenhalten: »Sie sind für den Krieg?«, so muß ich mich mißverständlich ausgedrückt haben. Ich spreche kein moralisches Ur­ teil. Ich sage nicht, Krieg ja, Folter nein. Aber ich stelle die Widersprü­ che fest. Zum Beispiel hatte ich einen Vater, der verkündete, er hasse den Krieg, er sei leidenschaftlicher Pazifist, Anhänger aller nur mögli­ chen pazifistischen Vereinigungen, seit der Affaire Dreyfus erklärter Antimilitarist, der sich mit allen Kräften sein Leben lang bemühte, Ausländer und Franzosen zusammenzubringen, damit sie sich kennenlemten, der grenzenlosen Idealismus und größte Objektivität auf­ brachte, »damit es nie wieder Krieg gebe«, - nun, ich habe ihn niemals so glücklich gesehen wie in der Uniform von 1914 und 1940, und spä­ ter, als er die Uniform mit der Aktivität im Untergrund vertauschte. Er war nicht der einzige. Ich habe eine extrem linksorientierte Bekannte, glühende Kriegsgegnerin, deren einzig glückliche Lebensjahre die Kriegsjahre waren, als sie Hunger, Kälte und Furcht litt und täglich ihr

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Leben einsetzte. Endlich wußte sie, wofür sie lebte. Sie stand im Bund mit einem ganzen Volk unbekannter Freunde, treuer Kameraden. Waffenbrüderschaft ist kein leeres Wort. Und dabei riskierte diese Frau auch noch die Folter.

- Ich besitze ein Buch aus den letzten Jahren des vergangenen Jahr­ hunderts, worin sämtliche seit der Urzeit des Christentums verwen­ deten Folterwerkzeuge und -mittel aufgeführt sind. Es ist grauen­ haft, man sagt sich: Das ist nicht möglich, das alles können Menschen nicht erfunden haben, um andere Menschen zu verstüm­ meln, zu verderben.

- Erinnern Sie sich an Montherlants Theaterstück » Der Bürgerkrieg« ? Es beginnt mit einer wunderschönen Erklärung: »Ich bin der Bürger­ krieg, ich bin der gute Krieg, hier weiß man, wen man haßt, wen man tötet, Vater, Mutter, Freund, Bruder.« Daß man die Menschen tötet, mit denen man nicht einer Meinung ist, ist schon Wahnsinn, aber daß man sie zudem noch foltert! Es gibt weitaus Schlimmeres als den Tod. - Heute wird die Folter in allen Ländern angewendet. Man foltert auf Teufel komm raus. Man führt Krieg, und man foltert. Alle Prote­ ste von Intellektuellen scheinen nichts zu nützen. Man foltert rechts und links.

- Dennoch gab es eine Zeit, da wurde nicht gefoltert, zwischen dem ausgehenden 18. und dem ausgehenden 19. Jahrhundert, jedenfalls nicht im Abendland. Die Folter hatte keinen Platz mehr in der juristi­ schen Ethik und noch keinen in der Revolutionsethik, und in der sol­ datischen Ethik hat sie nie einen gehabt. Sogar während des Ersten Weltkriegs, als es massenhaft Hinrichtungen, Erschießungen, Gefäng­ nisstrafen gab, gab es keine Folter. Man kann einen Menschen erschie­ ßen lassen, aber man foltert ihn nicht, man schmäht ihn nicht. Noch­ mals, ich finde nicht, daß der Tod das Schlimmste ist, was einem widerfahren kann. - Aber Sie sind sich doch darüber im klaren, daß Sie hier eine Aus­ nahme darstellen. Für die meisten Menschen ist der Tod das Schlimmste, was ihnen passieren kann. - Ja, aber ich begreife nicht, warum. Die Konzentrationslager waren

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weit schlimmer als der Tod, abgesehen davon, daß am Ende doch der Tod stand. Wie konnte die Folter eigentlich wieder aufkommen? Ich glaube, zuerst in Amerika, zur Zeit der gangs, das waren die berüchtig­ ten Verhöre, die man den Dritten Grad nannte. - Undjeder tut es. Die Franzosen haben es auch getan, und sie wa­ ren nicht die letzten. Erscheint Ihnen das als eine Art Eskalation der Greuel?

- Ja, ich finde es grauenvoll. - Erinnern Sie sich an die Fotos in »Die Tränen des Eros«, die in China aufgenommen wurden und Georges Bataille so faszinierten ? Es handelte sich um die Folter der »hundert Stücke« ?

- Ja. - Dieser Gefolterte lächelte, wie in Ekstase, und die Haare standen ihm zu Berge, wie man sagt, daß einem die Haare zu Berge stehen vor Entsetzen. Er ist völlig enthäutet, wie abgeschält, zerwirkt, er hat keine Arme mehr, er hat keine Beine mehr, er ist nur noch ein bluten­ der Rumpf mit freiliegenden Rippen. Und dazu die Faszination, die dieses Schauspiel auf die Zuschauer ausübt. Ich glaube, das kommt daher, daß man den Übergang vom Leben zum Tode miterleben möchte. Bei Bataille muß dieses Moment mitgespielt haben, diese fast perverse Faszination durch das Lebendige, das plötzlich etwas Totes ist, etwas völlig anderes als das, was einen vorherfesselte. Ba­ taille betrachtete dieses Foto - das wahrhaftig keine Augenweide war - mit größtem Genuß. - Kurz nach der Befreiung zeigte man Fotos von Frauen herum, die von den Deutschen niedergemetzelt worden waren. Sie gingen von Hand zu Hand. Niemand sträubte sich dagegen, sie anzusehen. - Und was veranlaßt, Ihrer Meinung nach. Menschen, die scheinbar genauso sind wie Sie und ich, so etwas zu tun ? - Ich weiß es nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, daß ich, unter wel­ chen Umständen auch immer, daran teilnähme. Und doch glaube ich nach wie vor, daß bei jedem Menschen alles möglich ist. Also warum

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nicht bei mir? Man kann nie die Hand für sich ins Feuer legen, aber ich könnte es mir trotzdem nicht vorstellen.

- Aber gerade im letzten Krieg taten es viele. Ich kenne Männer meines Alters, die in Algerien waren und, wie sie sagten, fleißig »Sidis zum Teufel schickten«, und als sie abzogen, wollten sie alle lauter Engel gewesen sein. Sie waren samt und sonders araberfreundlich, obwohl sie die Menschen gefoltert haben. - Das begreife ich nicht. Niemals. Ich begreife, daß sie auf sie ge­ schossen haben ...

- Ich auch; daß man aufjemanden schießt, begreife ich durchaus, damit bin ich einverstanden. Aber was geht in den Köpfen von Leu­ ten vor, die Foltern anwenden, in den Köpfen oder den Körpern ? Empfinden sie eine Befriedigung, die man nur als pervers bezeichnen kann ? Höchst eigenartig. In jedem Fall machen sie den Eindruck, wenn nicht mit ausgesprochenem Vergnügen, so doch mit leiden­ schaftlichem Interesse bei der Sache zu sein. Gelinde ausgedrückt. Ist das eine Perversion ? Übrigens - gibt es auf dem Gebiet der Se­ xualität Dinge, die Ihnen als Perversionen erscheinen ? Was versteht man unter Perversion ? - Nun, eben den wider Willen erduldeten Schmerz. Als »Perverse« sehe ich Menschen, die geliebte Wesen foltern, ohne daß diese ihre Einwilligung erteilt hätten. Man kann übrigens auch mit Worten fol­ tern. Sobald der andere einverstanden ist, handelt es sich nicht mehr um Perversion.

- Nur in diesem Fall? - Ja, nur in diesem Fall. Im übrigen kann jeder mit jedem schlafen und auf jede Art, die ihm beliebt, ich finde das niemals pervers. Per­ vers! Dann wäre alles pervers, was über den einfachen physischen Akt hinausgeht.

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- Können Sie sich vorstellen, daß Frauen zum Sturm antreten, zum Sturm auf einen Schützengraben?

- Aber ja, warum nicht? Viele Frauen haben gekämpft. Nicht nur Jeanne Hachette und Jeanne d’Arc. Im blutigen 15. Jahrhundert ha­ ben viele Frauen gegen die Engländer gekämpft, gegen die Briganten, gegen alles mögliche. Sogar während des letzten Krieges schossen Bäuerinnen auf die Deutschen, während die Soldaten die Flucht er­ griffen. - Aber aufeinen Befehl hin losstürmen, mitten ins Geschützfeuer?

- Haben Sie die Wochenschauen aus den Jahren 1916-1917-1918 gesehen? Sie sind sehr schön. - Nein.

- Sehr schön und höchst erstaunlich. Man filmt Männer, die aus dem Schützengraben klettern, ein paar Schritte laufen und zu Boden pur­ zeln, heraussteigen und hinunterpurzeln, klein, ungeschickt, strau­ chelnd, zusammengedruckt. Es gilt, hinüberzukommen. Nicht jeder wird hinüberkommen, aber einige werden es schaffen. Und einige schaffen es tatsächlich. - Aber viele kommen nicht hinüber, und sie wissen es bereits, wenn sie losstürmen.

- Man kann nie wissen, vielleicht schafft man es doch. - Es ist grauenhaft und so absurd. - Ich finde es absolut natürlich, normal.

- Natürlich! Normal. . . - Verstehen Sie, es handelt sich offenbar um einen atavistischen Re­ flex: Man verteidigt sein Stück Erde, es ist beinahe, als wäre jeder mit seinem Gewehr allein, als würde der Auftrag des einzelnen zum Kol­ lektivauftrag. Das ist jetzt vorbei. Wo ist der Auftrag des Soldaten mit seinem Gewehr in einem Atomkrieg? Ich bin um ein Jahrhundert zu-

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rück. Aber ich habe eine Entschuldigung dafür: Ich war 1914 noch sehr klein, und dieser Krieg hat mich gezeichnet.

- Wie alt waren Sie 1916,1917? - 1917 war ich zehn. Ich sah meinen Vater in der himmelblauen Uni­ form an die Front gehen. - Es scheint Ihnen normal, und doch ist es grauenhaft. Und man weiß, daß es immer so sein wird, denn wo immer es Kriege gibt, spielen sie sich genauso ab. - Ich glaube, daß der Mensch ein Bedürfnis nach Gewalttätigkeit und Grausamkeit hat, nach Gefahr und Verzweiflung, das der Krieg befrie­ digt. Daß eine Nachtseite der menschlichen Natur da zutage drängt. Nach meiner Ansicht dient dazu ein großer Teil der Literatur, sie macht diese abscheuliche Seite frei und bringt sie ans Licht. Wenn Sie Kriegs­ filme gesehen, Bücher über Konzentrationslager oder Folterungen ge­ lesen haben, so werden Sie feststellen, daß alles Böse in Ihnen sich ge­ wissermaßen daran weidet.

- Um wieder auf die erotischen Bücher zu kommen: Sie glauben demnach, wenn man ein erotisches Buch gelesen hat, ist das Liebes­ begehren weitgehend gestillt? - Ach, ich finde, die erotischen Bücher tun viel mehr, wie soll ich es sagen ... ich glaube, sie tun viel mehr für die Einsamen als für die Paare, die sich jederzeit gegenseitig Befriedigung verschaffen können. Die Bücher beliefern die Einsamen mit Bildern. Um ein Beispiel zu nennen: Als gewisse Bücher noch heimlich verkauft wurden, fand man in Frankreich so ziemlich alles an erotischer oder pornographischer Li­ teratur, was man sich wünschen konnte, in England aber riskierte man allein durch den Besitz einer erotischen Schrift eine Gefängnisstrafe. Die gleichen Verbote galten in der Schweiz. Nun, die Schweiz und Eng­ land waren die Länder mit der höchsten Quote an Sexualverbrechen, weil die Menschen keine Möglichkeit hatten, sich abzureagieren. Es scheint mir völlig nebensächlich, ob ein Buch erotischen oder porno­ graphischen Charakter hat. Ich finde es empörend, daß man die porno­ graphische Literatur verbietet, und wenn sie noch so schmutzig wäre. Man lasse die Leute lesen oder ansehen, was ihnen Spaß macht, und 108

wenn es ordinär ist, wem tut das weh? Nicht diese Leute werden Ver­ brechen begehen, das ist nicht wahr, sowenig wie die Idee zur Errich­ tung von Konzentrationslagern von de-Sade-Lesem stammt. Es waren Leute, die niemals de Sade gelesen hatten. Man hat keine Bücher nö­ tig, wenn man die Waffengewalt in Händen hat, man hat keine Bücher nötig, um zu erklären, wie man die Menschen versklavt. Die angebo­ rene Lust des Menschen, anderen Leiden zuzüfügen, ist so stark, daß nichts weiter nötig ist, als die Gelegenheit, dieser Lust zu frönen. - Aber woher dieser Drang, den anderen, die anderen für etwas be­ zahlen zu lassen? Warum dieses ständige Bedürfnis, ausgerechnet das zu zerstören, was das Beste an der menschlichen Natur ist, Frciheitsliebe oder Schönheit oder künstlerische Begabung, warum? Kommt es daher, daß es denjenigen selbst abgeht, daß sie es nicht begreifen? Ist es Eifersucht? Warum wird so häufig versucht, gerade begabte Menschen zum Schweigen zu verurteilen oder sie sogar zu vernichten ? Warum zerbricht der Begabte immer am Durchschnittli­ chen ? - Wohl weil diejenigen, die Verbote erlassen, an irgend etwas glau­ ben, von einem Glauben und von Ideen leben, deren Mißachtung ih­ nen unerträglich ist.

- Istjeder Glaube strafwürdig? - Kein Glaube ist strafwürdig. Die Gläubigen strafen die Ungläubi­ gen, die ihnen die Gefolgschaft verweigern. Deshalb habe ich einen Horror vor denen, die im Besitz der Wahrheit sind. - Und die versuchen, diese Wahrheit den anderen aufzudrängen ?

- Eben darin liegt die größte Gefahr: Wer die Wahrheit besitzt, wird früher oder später einen anderen töten, um sie durchzusetzen. Die schrecklichsten Kriege wurden nicht geführt, weil man Gebiete er­ obern wollte, sie wurden geführt, weil man Ideen verbreiten wollte. Wenn man bedenkt, daß die christliche Wahrheit zu Massenmorden geführt hat! Sie, die niemals einen Mord hätte dulden dürfen. Er steht im krassen Widerspruch zur christlichen Lehre, aber die Christen jegli­ cher Observanz fanden immer einen Ausweg, wenn sie trotzdem mor­ den wollten; da war jeder Vorwand recht. 109

Im Namen Allahs ergriffen die indischen Mohammedaner die Waf­ fen gegen die Inder, sobald die Engländer das Land geräumt hatten. Es gab 800 000 Tote. Und niemand regte sich darüber auf. Die Mo­ hammedaner nahmen ihre Heugabeln, sie nahmen ihre Sensen, sie nahmen alles, was sich als Waffe eignete, und sie gingen hin und töte­ ten Inder.

- Inder oder indische Christen ? - Inder. Jeden, der nicht dachte wie sie. Einfach jeden Nicht-Moslem. - Und im Namen welcher Religion, welchen Glaubens?Auch bei der Befreiung Frankreichs wurden Verbrechen begangen, die Jean Paulhan anprangerte. Politische Verbrechen, und obwohl ich damals noch ganz klein war, blieb mir ein lebenslänglicher Abscheu vor dem Pöbel. Ich gebrauche dieses Wort mit voller Absicht. - Vor dem Pöbel empfand auch Shakespeare den größten Abscheu. Beachten Sie, wie er in »Coriolan« über ihn spricht. Wie aber wurde das Volk, das wackere und fröhliche Volk von Rom oder Paris zum Beispiel, zum Pöbel? Als 1793 die kleinen Leute von Paris, die kleinen Ladenbesitzer der Rue Saint-Jacques, den Leichnam der Madame Lamballe zerstückelten, ihren abgeschnittenen Kopf und ihre Ge­ schlechtsteile auf eine Stange spießten und durch die Straßen trugen, war das Volk auf jähe, gräßliche Weise zum Pöbel geworden. Und die Leute, die beim ersten Aufflammen der Oktoberrevolution in Moskau oder in Leningrad, das damals noch Sankt Petersburg hieß, mit den abgeschnittenen Köpfen der Offiziere Kegel spielten? Dabei handelte es sich immerhin noch um totes Heisch. Aber die Nägel, die man le­ benden Offizieren anstelle der Achselsteme in die Schultern trieb? Den Toten tut wenigstens nichts mehr weh. Aber diese Grausamkeit gegen die Lebenden!

- Als ich neun Jahre alt war, sah ich in meinem Heimatort, einem Städtchen von fünftausend Einwohnern, damals sogar noch weni­ ger, an einem sehr schönen August tag - mein Gott, was war das da­ mals für ein prachtvoller Sommer! - eine Menschenmenge. Sie trieb Mädchen vor sich her, die mit den Deutschen geschlafen hatten. (In der ganzen Gegend hatte es zwei Deutsche gegeben, und die hielten sich nicht lange dort auf.) Die Leute vom Maquis hatten den Mäd­ 110

chen die Köpfe kahl geschoren, und einige Männer mit roten Halstü­ chern, verwahrlost, unrasiert, Maschinenpistolen in der Faust, waren dabei. Aber das Schlimmste waren die Gaffer am Straßenrand, dar­ unter eine Frau, die mir in die Welt geholfen hatte, die meiner Mut­ ter in die Welt geholfen hatte, die Hebamme des Ortes; sie stürzte sich auf diese Mädchen, spuckte sie an und beschimpfte sie als Hu­ ren. - Ja, es waren auch die Frauen, die damals die sogenannten Kommu­ narden anspuckten, als sie im Frühjahr 1871 zur Erschießung geführt wurden. Eine alte Urgroßtante meiner Mutter, eine brave Bürgerin, der vor den Kommunarden graute, hatte es mit eigenen Augen gese­ hen, und sie hat es mir erzählt. »Diese armen Menschen, die zum Tode geführt wurden«, sagte sie, »auch noch anzuspucken!« Sie hat es nie verwinden können.

- Ich auch nicht. Nie werde ich das Entsetzen vergessen, das mich ergriffen hat, obwohl ich nicht genau verstand, was da vorging. Und sie hatten nicht einmal Gott als Ausrede, wenn man sagen kann, daß Gott eine Ausrede für Massenmorde sein kann. - Warum sollte man für Massenmorde eine Ausrede haben? Hat die Grausamkeit jemals einer Ausrede bedurft?

- Und jetzt komme ich auf das zurück, was Paulhan über die »Ge­ schichte der O« sagt, und was sehr wichtig ist, da hier ein Mann zu Wort kommt. »Endlich eine Frau, die es zugibt.« Oh, er erklärt das noch näher: »Die was zugibt ? Das, wogegen die Frauen sich allezeit gewehrt haben (und niemals heftiger, als heute). Das, was die Män­ ner aller Zeiten ihnen vorgeworfen haben: daß sie immer nur ihrem Blut gehorchen; daß alles an ihnen Sexus ist, sogar der Verstand. Daß man sie unaufhörlich füttern müßte, unaufhörlich waschen und schminken, unaufhörlich prügeln. Daß sie einfach einen guten Herren brauchen, und zwar einen, der sich vor seiner Güte hütet: Denn sobald wir unsere Güte zeigen, beziehen sie daraus allen Elan, alle Freude, alle Leichtigkeit, die sie brauchen, um sich von

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anderen lieben zu lassen. Kurz, daß man die Peitsche mitnehmen muß, wenn man zu ihnen geht.« Schön. Aber dieses: »Endlich eine Frau, die es zugibt!« Immer dieses Zugeben, als handelte es sich um eine Sünde! Um welche Sünde, Ihrer Meinung nach ?

- Mir scheint, die Männer sehen im Exzeß immer eine Sünde, denn in den Augen eines Mannes ist diese Art von Zugänglichkeit vor allem ein Exzeß.

- Ja, aber ein Exzeß, den sie selbstfördern. - Aber ja, den sie sogar fordern. Aber es ist eine Tatsache, die so alt ist, wie die Welt, daß ein Mann einen Exzeß fördert, ihn fordert, und dann der Frau, die sich dazu bereitfand, einen Vorwurf daraus macht. - Ich denke auch daran, was Lacan unlängst schrieb: »Sie geben es niemals zu, sie sprechen niemals über ihren sinnlichen Genuß (O doch, nur nicht mit dem Nächstbesten!).« Meinte Paulhan damit auch: »Endlich eine, die vom sinnlichen Genuß spricht, von ihrem Vergnügen ?« - Ja, ich vermute, daß er auch das damit sagen wollte, nicht im Hin­ blick auf den Sinnengenuß, sondern auf die Suche nach dem Sinnen­ genuß außerhalb der Liebe. Denn man gibt ohne weiteres zu, in den Armen eines geliebten Menschen Lust genossen zu haben, während man weniger leicht zugibt, daß man das Zusammensein mit einem Menschen genossen hat, der einem gleichgültig oder doch fast gleich­ gültig war. Und sich darüber klar sein oder gar sagen, ja, man suche diesen Genuß, das ist ein Geständnis, das man schicklicherweise ein­ fach nicht macht.

- Und was ist für Sie dieser Sinnengenuß der Frau ? Ist er so sehr verschieden von dem des Mannes? - Das kann man eben nicht wissen. Ich weiß es jedenfalls nicht. Ich kann dazu keine Meinung vorbringen.

- Aber die Männer können eine ganze Menge darüber vorbringen, nicht wahr?

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- Über ihren Genuß? - Überden ihren und den unsrigen. - Ja, aber glauben Sie nicht, daß die Männer über dieses Thema ebenso viele Meinungen haben, wie sie Erfahrungen hatten. Gibt es nicht verschiedene Arten, vom Genuß zu sprechen? Ich meine, man könnte ihn überhaupt leugnen, es gibt keine Beweise dafür, außer den körperlichen Beweisen, Schweiß, Ausscheidungen, auch Tränen, ir­ gend etwas, wogegen man sich nicht wehren kann, das stärker ist als der Wille, zugrunde zu gehen. Denn dieser Wille, zugrunde zu gehen, existiert auch.

- Aber warum wird es als Geständnis gewertet, wenn eine Frau von ihrem Genuß spricht? - Wahrscheinlich ein altes Relikt aus der Zeit, als eine wohlerzogene, eine anständige Frau nicht über das sprechen durfte, was sie empfand.

- Paulhan sagt: »Alles an ihnen ist Sexus, sogar der Verstand.« Stimmen Sie ihm hierin zu? - Ja und nein. Das gilt auch für die Männer, alles an ihnen ist Sexus, sogar der Verstand, warum nicht? Es hört sich anstößig an, aber ich glaube, es hat nicht viel zu besagen. - Er hat da eben eine Sentenz von sich gegeben. - Es ist beinah ein Bonmot. Man denkt an das berühmte: Tota mutier in utero (Die ganze Frau ist in ihrem Geschlecht). Diese Sentenz hat er aufgenommen, wie mir scheint. Ich finde sie wahr und falsch zugleich. Auch Frauen sind, wie Malraux es formulierte, menschliche Wesen. Aber sobald es um Erotik oder Liebe geht, vergessen die Männer, daß Frauen auch Menschen sind, nicht nur erotische Objekte. Im gleichen Zusammenhang machen die Frauen so gut wie nie aus den Männern erotische Objekte - und wenn sie es tun, verzeihen die Männer es nie, sie sind beleidigt. Man fragt sich bloß, warum. - Vielleicht, weil in ihren Augen die Frau, wenn sie wirklich Frau ist, wenn sie sich ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Wünsche bewußt ist.

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zu einer Sache wird, deren die Männer sich bedienen, zu einem In­ strument? - Malraux bemerkte in einem berühmt gewordenen Vorwort, daß die Hauptfigur der »Gefährlichen Liebschaften«, Madame de Merteuil, sich selbst einsetzt, alles, was sie ist, für eine bestimmte Sache einsetzt, für eine Eroberung. Sie behandelt sich selbst als Objekt und als Instru­ ment. Als Objekt, um sich Vergnügen zu verschaffen, und als Instru­ ment, um irgend etwas zu erreichen. Etwas anderes als nur Lust. Im Grunde geht es um die Ausübung des Machtwillens.

- Was Madame de Merteuil angeht, so habe ich den Eindruck, daß sie für ihr ganzes Geschlecht und gegen sich selbst eine gewisse Ver­ achtung hegt. - Nein, das glaube ich nicht, sie verachtet die Männer weit mehr als die Frauen. Sie verachtet die kleine Cécile, ja, aber die kleine Cécile finde auch ich recht verachtenswert, nicht weil sie leicht zu haben ist, nein, das meine ich nicht, sondern weil sie überhaupt keinen Charak­ ter hat. Madame de Merteuil spricht ein höchst aufschlußreiches Wort, als Valmont ihr erklärt, er habe der Präsidentin den Laufpaß gegeben, mit ihr aus reiner Eitelkeit gebrochen, obgleich sie ihn liebe und er sie liebe und beide das wissen. Madame de Merteuil sagt zu ihm: »Und Sie wollen, daß wir uns Zwang antun?« - Sie sagen, Madame de Merteuil sei es um die Ausübung des Machtwillens gegangen. Findet sich auch die Ausübung des Macht­ willens häufig bei den Frauen ?

- Ich glaube, sogar sehr häufig. Er ist einer der Grundzüge des weibli­ chen Charakters, und daher kommt es auch, daß die Amerikaner so­ viel Bitterkeit gegen die Frauen hegen. Wenn die Frauen das Heft in der Hand haben, werden sie oft herrschsüchtig. Man spricht immer von Patriarchen, aber es gibt jetzt auch ein ganz gräßliches Wort: Ma­ triarchen. Das sind jene alten Frauen, die eine ganze Familie beherr­ schen, durch eine einzige Fingerbewegung, durch einen Blick zum Ge­ horsam zwingen, solche Frauen gibt es. Nicht nur, weil sie auf dem Geld sitzen, sondern weil sie befehlen und zu befehlen verstehen. Es ist ganz einfach eine Art Charakterstärke. Warum ihnen einen Vorwurf daraus machen. Man spricht viel vom Minderwertigkeitsgefühl der 114

Frauen. Weil sie sagen - einige jedenfalls sagen es - »Ich bin nur eine Frau«, muß man ihnen deshalb glauben? Ich würde sagen, nein, es ist nur eine Kriegslist, die ihnen hilft, unversehrt zu überleben in einer Gesellschaft, die seit Jahrhunderten (vielleicht seit Jahrtausenden, ich weiß es nicht) unverändet ist. Doch wenn dieses Gefüge die geringste schwache Stelle zeigt, dann ist es aus mit dieser Zurücksetzung, die die Gesellschaft uns auferlegt, und man hat durchaus die Möglichkeit, die Führung zu übernehmen. - Hier kommen wir zu einem sehr wichtigen Punkt, der uns beide angeht, nämlich zur untergeordneten Rolle der Frau in unserer Ge­ sellschaft, in jeder Gesellschaft übrigens, auch wenn die Frau in Wahrheit in der Mehrzahl der Fälle diese Gesellschaft beherrschen kann. Sie beherrscht sie, und wie O herrscht sie durch grenzenlose Unterwerfung. - Sie benutzt die Waffe, die man ihr gelassen hat. Eine andere läßt man ihr nicht. Aber ich glaube, es ist eine furchtbare Waffe. Denken Sie nur, in welchem Maß O ihren Geliebten René und Sir Stephen und diese ganze feierliche und umständliche Organisation von Nobelkerkem, Pflichtausschweifung, Eisen und Ketten benutzt, um zur Erfül­ lung ihres Traumes zu gelangen, das heißt zu ihrer eigenen Vernich­ tung, ihrem Tod. Zwingt sie im Grunde nicht den Männern auf diesem Umweg ihren Willen auf? Und am Ende siegt sie: Man tötet sie in drei Zeilen. Versuchen Sie doch auch einmal, sich absichtlich töten zu las­ sen... - Das ist doch absurd. - Wenn ich Ihnen aber sage, daß es ein Traum ist. - Aber ich spreche von der Wirklichkeit. Und ist es, in der Wirklich­ keit, wünschenswert, daß eine Änderung eintritt, oder muß man sich mit dem Gedanken abfinden, daß es immer Elitefrauen geben wird, die sich der Trümpfe bedienen, die man ihnen gnädigst läßt, der Waffen, die man ihnen gnädigst zugesteht, um Ausnahmewesen zu sein, um ganz und gar sie selbst zu bleiben gegenüber der Gesell­ schaft, den Männern, der Liebe?

- Das weiß ich nicht, aber dazu, wie die Männer die Welt regieren,

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kann man sie nicht gerade beglückwünschen. Luxustiere, die über­ flüssig geboren werden und überflüssig sterben, Wundertiere, die alles erfunden haben, was die Natur nicht vorgesehen hat. Man könnte meinen, es lebte heute eine neue Menschenrasse auf der Erde, der Mythos von Prometheus sei endlich doch Wirklichkeit ge­ worden, aber ihre schönsten Träume arten in Wahnsinn aus, und man fragt sich, ob sie die neue Welt, die sie schufen, nicht wieder zerstören werden? Können die Frauen ihnen Einhalt gebieten? Viel­ leicht würde alles beim alten bleiben, auch wenn die Frauen eingrif­ fen, aber schlimmer könnte es wohl kaum werden. Also ist nicht recht einzusehen, was die Männer riskieren, oder was wir riskieren würden, wenn wir versuchten, mehr Einfluß auf die Entscheidungen zu nehmen.

- Was dürfte sich in diesem Fall aller Wahrscheinlichkeit nach an der Mann-Frau-Beziehung auf dem Liebessektor ändern? Be­ stünde nicht die Gefahr, daß man mit einer Panik des Mannes vor der Frau rechnen müßte? - Warum Panik? Man kann auch die Freundin dessen sein, den man liebt und der einen liebt, auf der Basis gegenseitigen Vertrauens leben, und nicht im Konkurrenzkampf - »Die Frauen«, so sagte Monsieur Prudhomme, »sind Menschen wie wir.«

- Im Vorwort zu »Rückkehr nach Roissy« sagen Sie, daß Sie die »Geschichte der O« für den Mann schrieben, den Sie liebten, daß Sie in einem einzigen Zug schrieben, ohne etwas zu ändern oder auszustreichen.

- Ja, ich hatte das Gefühl, endlich etwas ganz laut zu sagen, das ich seit langem leise dachte. Wirklich, ich wollte lediglich versuchen, diese Geschichten zu erzählen, die ich mir immer selbst erzählt hatte, um Schlaf zu finden, um vor dem Einschlafen etwas Angenehmes zu hören, als könnten die Wachträume eine Beschwörung sein, und so war es auch jahrelang, während meines Heranwachsens, während meiner Jugend. Die ersten sechzig Seiten gingen also wie von selbst. 116

Danach versuchte ich, eine Geschichte zu konstruieren, natürlich, aber die ersten sechzig Seiten entstanden ganz spontan. - Was wollten Sie beschwören ? - Das Leben, das Alltagsleben, das sehr schwierig ist.

- Und dieses Alltagsleben beschworen Sie mit Mitteln, die ebenfalls als recht schwierig gelten. Zum Beispiel: Durch den Traum, alle Tage ausgepeitscht zu werden, wie es O eine Zeitlang widerfährt. - Ja, es handelt sich um reine Phantasmen. Ich weiß nicht, was sie bedeuten, es sei denn, einen Schritt auf dem Wege zur Zerstörung, zum Wunsch nach Vernichtung; ich glaube, darauf läuft alles hinaus. Ich bekam einmal eine komplette psychoanalytische Abhandlung über die Figur der O zugeschickt, aus der hervorging - was ich sehr wohl wuß­ te -, daß diese O ihrem Untergang entgegeneile. Auch die Racine’schen Helden eilen ihrem Untergang entgegen. O sucht nicht ihren Untergang, um es den Heldinnen Racines gleichzutun, sondern um die eigene Person völlig auszuschöpfen, um jene Absolutheit zu errei­ chen, die das Leben ihr verweigert. Wir alle sehnen uns nach dem Tod, glücklicherweise, denn nichts kann verhindern, daß wir mit jedem Tag ein Stückchen absterben. O möchte von sich selbst erlöst werden. Das Absolute kann man nur im Tod finden, und manchmal findet man den Frieden im Martyrium. Das war Ihre Frage. Man kann im Martyrium, das hier noch symbolischer ist als alles andere, die gleiche Art Frieden finden, die man, sagen wir, in der Krankheit findet. Diese Erfahrung machte ich zum erstenmal, als ich sechzehn oder siebzehn war, ich hatte damals zwei fiebrige Infektionen und war sehr krank. Ich be­ suchte das Lyzeum, war eine hinlänglich gute Schülerin und empfand dieses Fieber als eine Art Erlösung, weil ich schlafen durfte, ohne we­ gen eines nichtgeschriebenen französischen Aufsatzes oder einer latei­ nischen Übersetzung ein schlechtes Gewissen haben zu müssen, weil ich die Trimesterarbeiten nicht mitmachen mußte, ich war erlöst, ich war dispensiert. - Diese Dispens ist sehr wichtig?

- Es sieht so aus, sonst hätte ich wohl nicht dieses Gefühl der Erlö­ sung empfunden. Ich schlief. Ich erinnere mich noch an diese Tage

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und Nächte fast ununterbrochenen Schlafs, und ich sagte mir, auch daran erinnere ich mich noch genau: Es ist trotz allem seltsam, daß man so müde sein kann. Es war eine beseligende Müdigkeit. Endlich konnte ich ausruhen, endlich ruhte ich aus. Erlöst.

- Und O erlöst sich also von sich selbst ? - Das glaube ich. - Aber einmal sagt jemand zu ihr, sie sei leicht zu haben. - Ja, ich glaube, auch das stimmt. - Also eine leichtfertige Frau, der die Umstände, das Leben oder ein Mann das Alibi verschaffen, das sie so dringend braucht. - Ja, das ist an der »Geschichte der O« das, wie soll ich sagen, zwie­ lichtige und verwirrende, diese unleugbare Leichtfertigkeit, denn ob­ gleich sie solche Dinge tut, tut sie sie auf Verlangen eines Mannes, den sie liebt, aber welcher Segen, daß er es von ihr verlangt! Ich glaube, davon träumen viele Frauen. Ich kannte einige, deren Traum sich er­ füllte. Viele Frauen träumen davon, schlafen zu können, mit Wem sie wollen, egal, mit wem, und dabei Generalpardon zu haben. Was ist die Freiheit in der Liebe denn anderes? Derjenige, den Sie lieben, wird Ihr Komplize, und Sie werden der seine. Treue der Herzen und Freiheit der Körper, das ist das Wunder, die Auflösung der Widersprüche. Ein Traum! Ich habe immer daran geglaubt, daß so etwas möglich ist.

- Das glaube ich auch . . . O lebt dieses Wunder, aber zugleich be­ straft Sir Stephen sie dafür. - Natürlich! - Was übrigens zur Spielregel gehört, auf der einen wie auf der an­ deren Seite. - Ja, für sie gehört das zum Spiel. - Und für O ist es überdies ein Beweis von Sir Stephens Interesse und Liebe.

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- Selbstverständlich. - Wenn sie nicht geschlagen wird, nachdem sie ausgeliefert wurde, fehlt ihr etwas, es fehlt ihr die Absolution. - Es fehlt ihr die Absolution, dafür bezahlt sie.

- Glauben Sie, daß man immer bezahlen muß?

- O ja, leider! Man muß immer bezahlen! Alles und jedes muß man bezahlen. Die Dinge, die man nicht für Geld kauft, bezahlt man am teuersten. - Sie benutzen stets ein Vokabular, das stark von der Religion be­ einflußt ist: Absolution, Sünde.

- Ja, ich bin vermutlich durch meine religiöse Erziehung, die doch äu­ ßerst lasch war, für immer verdorben worden. Aber die mystischen Schriften Fénelons, die ich schon sehr früh las, haben mir einen Schock versetzt, die Vorstellung, die Fénelon sich von der Gottesliebe macht, als der tiefsten Form der Liebe. Diese Hingabe der Seele an Gott, diese unbedingte Auslieferung des Ich an ein anderes Wesen, diese Selbstenteignung, wie er sagt, ist das nicht Liebe? - Immer das Bedürfnis, von sich selbst erlöst zu werden. - Aber ja, welcher Segen, welcher Friede! Die Verwendung dieser re­ ligiösen Ausdrücke verrät, wenn Sie so wollen, eine Art Sehnsucht: Wie schade, daß es nicht so ist, wie schade, daß es nicht so sein kann. Ich glaube, aus mir hätte, zumindest während einer bestimmten Peri­ ode meines Lebens, eine vorzügliche Nonne werden können. Es ist wundervoll zu glauben, daß man zu einem bestimmten Zweck auf Er­ den ist, anstatt sich zu fragen, wozu man wohl lebt. Ich habe die Ant­ wort auf diese Frage nie gefunden. Ich erinnere mich noch genau, daß mir, als ich noch ein Kind war, diese bereits erwähnte alte Tante - eine sehr bigotte und sehr geizige Frau, eine Balzacsche Figur - ein Gebet­ buch schenkte. Ich muß etwa elf Jahre alt gewesen sein und habe es natürlich längst verloren. Darin stand, daß man an jedem Tag des Jah­ res und zu jeder Stunde eines jeden Tages vom Auge Gottes gesehen werde und daß es irgend etwas gebe, was man im Angesicht Gottes tun

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könne, tun müsse. Ich war von dieser Möglichkeit, die Zeit hinzubrin­ gen, begeistert und entzückt. Schließlich ist auch O, dieses ausgelie­ ferte Mädchen, in Roissy und anderswo stets unter den Augen ihres Geliebten, wie man unter den Augen Gottes ist, mit dem gleichen Glauben, der gleichen bebenden und flüchtigen Glückseligkeit, der gleichen jederzeit widerruflichen Gewißheit.

- Gott suchen in der Ausschweifung, das ist nichts Neues. - Die Ausschweifung als eine Art Askese, nein, das ist nichts Neues, nicht für die Männer und nicht für die Frauen, aber bisher haben die Frauen es nicht laut gesagt.

- Eine Frau, die es zugibt. . . Sie hatten nicht den Eindruck, eine Figur zu erschaffen, die möglicherweise an Ihre Stelle treten könnte? - Ich hatte nicht einmal den Eindruck, eine Figur zu erschaffen. Was in diesem Buch zugegeben wird, wird von einem Phantom zugegeben, und doch spricht dieses Phantom die Wahrheit: O zeigt durch ihre Existenz und ihr Verhalten ein erotisches Universum auf, das ebenso phantastisch, ebenso berückend ist, wie das der Männer. Diese stum­ men Legionen, die Frauen - stumm aus Vorsicht, stumm aus Rück­ sicht - haben alle ein Universum der Liebe im Sinn, nicht unbedingt das gleiche wie O, bestimmt nicht, davor könnten sie sogar schaudern, aber doch auch eines. Sie schweigen. Nun, damit ist jetzt Schluß, sie werden sprechen, sie sprechen. Welche Frau wird nicht, zumindest dann und wann, von Liebesträumen und -phantasien heimgesucht oder ständig verfolgt, bereitet sich nicht manchmal insgeheim ein Fest oder eine Niederlage? Es geht auch nicht um die eine von ihnen, die es zugibt. Es geht ausschließlich um die Tatsache, daß sie es zugibt. Pau­ line Reage ist die Maske, aus deren Mund irgendeine beliebige Frau spricht, O hat keinen Familienstand, keine Staatsangehörigkeit, kein Gesicht, nur eine sehr leise Stimme, wie ein Schatten, der in der Nacht flüstert. - Hat Ihre Romanfigur Sie gewandelt ?

- Aber nein, ich bin jemand ganz anderer, mit einem sehr durch­ schnittlichen privaten und gesellschaftlichen Leben, über das ich mich, wie Sie feststellen, nicht äußere. Warum sich darüber äußern? Es ist 120

ein Leben, wie alle Welt es führt. Und es wäre höchst ungerecht, das, was so lange verborgen blieb, mit dem zu vermengen, was immer banal und uninteressant gewesen ist.

- Kein Leben ist uninteressant. - Mag sein. Ich könnte mich dazu bereit finden, über mein eigenes Leben Zeugnis abzulegen, aber nur insoweit, als ich dadurch nicht zwangsläufig auch über das Leben meiner Nächsten aussagen müßte. Wenn in mir ein schändliches Geschöpf leben sollte, so will ich nicht Menschen, die ich liebe, zwingen, davon Kenntnis zu nehmen. Und wenn sie es ohne mein Zutun wissen sollten, so will ich ihnen immer noch die Möglichkeit lassen, darüber hinwegzusehen, falls sie das wünschen. Ich habe lange zwei Leben geführt, hier die Familie und die Arbeit, dort die Liebe oder die Lieben, und sie voneinander so streng getrennt gehalten, daß diese unsichtbare Mauer mir als etwas ganz Na­ türliches und keineswegs als Zwang erscheint. - Aber Sie haben doch von Ihrer Kindheit und sehr viel von Ihrem Vater gesprochen. - Meine Kindheit liegt weit zurück, und mein Vater ist tot. Ihm kann es nichts mehr ausmachen. Ich habe oft abstrakte Formulierungen ge­ braucht, wie zum Beispiel »der Geliebte, den ich damals hatte« oder »der Mann, den ich liebte«, ich habe weder Zeit noch Ort genauer be­ stimmt, und auch’das geschah, weil ich niemanden in Verlegenheit bringen will. - Ich frage mich bereits, warum Sie überhaupt mit mir gesprochen haben, warum zugleich Geständnis und Schweigen, warum diese wi­ dersprüchliche Verkehrung? - Welche Verkehrung? - Aber Sie verweigern doch jede genaue Angabe über die neben­ sächlichsten Dinge, ja, jede Anspielung auf Ihren Alltag oder Ihr Fa­ milienleben, Sie machen ein verbotenes Gebiet daraus. Überdas Ge­ biet, das gemeinhin als verboten gilt, äußern Sie sich dagegen ohne Zögern. Geben Sie zu, daß dies ein fundamentaler Widerspruch ist.

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- Natürlich, aber ist es nicht völlig klar - wenn Sie unbedingt ein wei­ teres Geständnis hören wollen daß ich mich ständig im Wider­ spruch mit mir selbst befinde? Ich habe Zeit gebraucht, um es einzuse­ hen, und viel Geduld, um mich damit abzufinden. Hinter der Verwendung des Pseudonyms steckt für mich viel mehr als der einfa­ che Brauch oder die zwingendste Zurückhaltung, sie bezeichnet, sie beleuchtet diesen fundamentalen Widerspruch.

- Trotzdem haben Sie mit mir gesprochen. Warum ? - Bestimmt mögen Sie es nicht, wenn ich Ihnen Komplimente mache. Aber lassen Sie es sich trotzdem gefallen, ich mache so wenige. Ich bewundere an Ihnen diesen Mut, der mir gefehlt hat: freimütig eroti­ sche Bücher publizieren und sich den Spötteleien stellen, den Beleidi­ gungen, der Polizei. Diese hübsche junge Frau (ich habe einmal ein Foto von Ihnen gesehen) war ein kleiner Soldat, der ohne mit der Wimper zu zucken ins Feuer marschierte, dachte ich. Bravo! Dann sah ich Sie eines Tages, in einer Ausstellung; das mahagonifarbene Haar, die unschuldigen Augen, die schneeweiße Haut, die kleinen spitzen Zähne in einem frischen lächelnden Mund, den schmalen eleganten und glatten Körper, das war ein Edelmarder, ein Hermelin, der sich in eine Frau verwandelt hatte, eines jener spöttischen und scheuen Wap­ pentiere, die man nie zu fassen bekommt. Ich hörte, wie in der Men­ schenmenge ein in meiner Nähe stehendes Mädchen zu ihrer Nachba­ rin sagte und dabei auf Sie wies: »Schau, dort ist Pauline Reage.« Und sie hatte recht, Pauline Reage hätte dieses schmale, wilde und zärtliche Tier sein müssen. Es war mein Fehler, daß ich nicht Sie war. So fiel es mir leicht, mit Ihnen zu sprechen. - Sie bringen mich in Verlegenheit. Und ich glaube auch, daß Sie trotz allem andere Gründe hatten.

- Ich habe bereits selbst darüber nachgedacht, welche. Vielleicht wollte ich mit Hilfe Ihrer Fragen zu entdecken versuchen, was in mei­ nem früheren Leben, in meinen Sympathien und Antipathien, in mei­ nen Freuden und Schmerzen in dieses Buch eingegangen ist, das man unbedingt mit meiner ganzen Person gleichsetzen möchte. Ich bin darin, nicht ganz und gar, weit gefehlt, aber wie weit, das weiß ich selbst nicht genau. Ich habe es zu definieren gesucht, durch meine Kindheit, durch die Liebe, auch durch die Bücher, die Träume. Wie 122

könnte man antworten, wie könnte man sich selbst anders sehen als auf Umwegen? Man versinkt in den Spiegeln. Nur die anderen sehen einen. Ich habe versucht, in meinen Antworten präzise zu sein, ver­ sucht, mich mit einigem Abstand zu sehen, von mir wie von einer Fremden zu sprechen, von diesem Ich Pauline Reage, das der verbor­ gene Teil eines anderen Ich ist: Vom einen Ich zum anderen spalten sich Bestandteile ab, um sich wieder zu vereinen, in ständigem Ver­ schwinden und Wiederkehren, oder besser gesagt, spalteten sich ab. Ich kann nicht mehr unterscheiden, wer wer ist, ich halte die beiden nicht mehr säuberlich und nach eigenem Willen auseinander. Habe ich es jemals getan? Ja, ich glaube doch. Aber eins steht fest, ich habe geschwiegen. Die »Geschichte der O« ist ein Märchendrama für eine andere Welt, eine Welt, in der ein Teil meines Ich lange Zeit gelebt hat, der jetzt nur noch zwischen den Seiten bedruckten Papiers lebt. »Ge­ schichte der O« ist das Buch einer Unbekannten, und ich wundere mich höchstens, daß diese Unbekannte ich sein sollte. Es wurde vor zwanzig Jahren sehr schnell geschrieben, bei Nacht. Ich habe es für jemanden geschrieben, der jetzt tot ist, und auch ich werde bald ster­ ben, wenn man der Statistik glauben darf, in vier Jahren. Die Bilder, die Träume haben mich verlassen. Aber viel Faszinierendes blieb: die Menschen, die Bücher, die Nebel, die Wolken, das Gras. Doch Tage und Nächte eilen unaufhaltsam dem großen Schweigen entgegen. Mir bleibt nicht mehr viel Zeit, Rechenschaft abzulegen. Vielleicht ist auch das ein Grund, warum ich mit Ihnen sprach, bestimmt zuviel und nicht genug - aber war es nötig, daß ich Rechenschaft ablegte? Auch das weiß ich nicht. Man sagt, daß nichts die Flecken des Leoparden än­ dern könne. Und bei mir kann nichts meine Widersprüche ändern, wie Sie sehen. - Ich mag Sie gern als Leopard. - Nun, dann lassen Sie mich verschwinden.

- Ins Schweigen? - Ja.