Die Physische Geographie Deutschlands 3534268687, 9783534268689

Wie entstanden unsere Landschaften? Wie bildete sich die heutige physische Geographie Deutschlands heraus und welchen Ei

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German Pages 208 [209] Year 2017

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Titel
Impressum
Inhalt
Vorwort
1. Die Abgrenzung Mitteleuropas
1.1 Geomorphologische Kriterien
1.2 Geologische Kriterien
2. Naturräumliche Übersicht
2.1 Geomorphologische Zonen
2.2 Das hydrographische Dach Mitteleuropas
2.3 Kontinentale Tiefbohrung (KTB) und Geomorphologie
3. Morphotektonik im KTB-Umfeld in anderen Teilen Mitteleuropas
3.1 Das Umfeld der KTB
3.2 Weitere thermochronologische Ergebnisse aus Mitteleuropa
3.3 Verursacher der lnversionstektonik: Alpen oder Afrika?
3.4 Konsequenzen für die Großformen Mitteleuropas
4. Geologischer Überblick
4.1 Mitteleuropa ensteht als Flickenteppich
4.2 Mitteleuropa im Erdmittelalter - von der Mitte des Superkoninents zu Randmeeren
4.3 Neue Bewegung in Mitteleuropa - Entstehung der heutigen Vielfalt
5. Geomorphologischer Überblick – Formung unter Tropenklima bis zu den Eiszeiten
5.1 Mitteleuropäisches Tiefland
5.2 Schollengebirge
5.3 Nördliches Alpenvorland und Mittelgebirgsvereisungen
5.4 Deutsche Alpen
5.5 Känozoischer Vulkanismus
5.6 lmpaktkrater
6. Flussgeschichte Mitteleuropa – Veränderung, Überraschung, Krimi
6.1 Der Räuber Rhein
6.2 Aus der Reihe getanzt – Main und Neckar im Quartär
6.3 Quartäre Terrassen des Rheins
6.4 Die Tochter älter als der Vater – das Mosel- und Maassystem
6.5 Das Elbesystem
6.6 Oder- und Weichselsystem
7. Staubige Archive der Landschaftsgeschichte – Löss in Mitteleuropa
7.1 Forschungsgeschichte – ökologisches Fenster der Lössbildung
7.2 Renaissance der europäischen Lössforschung - Entschlüsselung terrestrischer Archive
7.3 Exemplarische Löss-Paloboden-Sequenzen Mitteleuropas
8. Klimatologischer Überblick
8.1 Unbeständigkeit als Beständigkeit
8.2 Mitteleuropa in der Frontalzone
8.3 Temperaturverhältnisse zwischen ozeanisch und sub-ozeanisch
8.4 Niederschlag – eine große Spannbreite
8.5 Der Einfluss des Reliefs im Großen und Kleinen
8.6 Aktueller Klimawandel – was hat sich schon getan, was wird noch kommen?.
9. Bodengeographischer Überblick von Mitteleuropa
9.1 Pleistozäne Deckschichten
9.2 Bodenbildungen in Solifluktionsdecken
9.3 Gestein und Boden
9.4 Böden in Becken und Tiefländern
10. Biogeographischer Überblick Mitteleuropas
10.1 Biogeographisches Vorgehen und Konzepte – eine Einleitung
10.2 Natürliche Grundlagen und holozäne Entwicklungen
10.3 Biogeographie der Kulturlandschaft
10.4 Biogeographie des mitteleuropäischen Hochgebirges
10.5 Biogeographie der Mittelgebirge
10.6 Biogeographie des Hügellandes
10.7 Biogeographie des Tieflandes
10.8 Biogeographie der mitteleuropäischen Küsten
10.9 Biogeographie der Binnengewässer und Feuchtgebiete
10.10 Biogeographie der semiterrestrischen Ökosysteme
10.11 lnvasive Arten und damit einhergehende Herausforderungen
10.12 Mitteleuropäische Schutzgebiete und ihre Ökosysteme
Literaturverzeichnis (Auszug)
Kurzbiographien
Register
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Die Physische Geographie Deutschlands
 3534268687, 9783534268689

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Ludwig Zöller (Hrsg.)

Die Physische Geographie Deutschlands WBG� Wissen verbindet

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische 4Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. © 2017 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Lektorat: Christiane Martin, Köln Layout, Satz und Prepress: schreiberVIS, Bickenbach Einbandabbildung: vorne: Saarschleife: Meinzahn - istockphoto.com; Goethefelsen: picture alliance/Westend61; Seealpsee: wingmar istockphoto.com; Ostseeküste bei Ahrenshoop: Robert Kühne istockphoto.com; hinten: Teufelsmauer, Harz - LianeM - istockphoto.com Einbandgestaltung: Peter Lohse, Heppenheim Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-26868-9 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-74279-0 eBook (epub): 978-3-534-74280-6

Inhalt 1.

Vorwort .

7

Die Abgrenzung Mitteleuropas

8

1.1 Geomorphologische Kriterien .

8

1.2 Geologische Kriterien .

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2.

5.4 Deutsche Alpen .

81

5.5 Känozoischer Vulkanismus.

84

5.6 lmpaktkrater.

102

6. Flussgeschichte Mitteleuropa Veränderung, Überraschung,

Naturräumliche Übersicht

Krimi

11

108

2.1 Geomorphologische Zonen

11

6.1 Der Räuber Rhein

109

2.2 Das hydrographische Dach Mitteleuropas .

14

6.2 Aus der Reihe getanztMain und Neckar im Quartär ..

118

2.3 Kontinentale Tiefbohrung (KTB) und Geomorphologie

19

6.3 Quartäre Terrassen des Rheins

121

6.4 Die Tochter älter als der Vaterdas Mosel- und Maassystem

124

6.5 Das Elbesystem

134

6.6 Oder- und Weichselsystem .

139

3.

Morphotektonik im KTB-Umfeld in anderen Teilen Mitteleuropas.

22

3.1 Das Umfeld der KTB .

22

3.2 Weitere thermochronologische Ergebnisse aus Mitteleuropa

28

3.3 Verursacher der lnversionstektonik: Alpen oder Afrika? .

33

3.4 Konsequenzen für die Großformen Mitteleuropas .

34

4.

Geologischer Überblick.

36

4.1 Mitteleuropa ensteht als Flickenteppich

36

4.2 Mitteleuropa im Erdmittelalter- von der Mitte des Superkoninents zu Randmeeren .

38

4.3 Neue Bewegung in MitteleuropaEntstehung der heutigen Vielfalt

7.

Landschaftsgeschichte Löss in Mitteleuropa 7.1 Forschungsgeschichte - ökologisches Fenster der Lössbildung .

5. Geomorphologischer Überblick­ Formung unter Tropenklima

142 142

7.2 Renaissance der europäischen Lössforschung - Entschlüsselung terrestrischer Archive ..................... 144 7.3 Exemplarische Löss-PalobodenSequenzen Mitteleuropas

8. 41

Staubige Archive der

148

Klimatologischer Überblick

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8.1 Unbeständigkeit als Beständigkeit .

167

8.2 Mitteleuropa in der Frontalzone

167

8.3 Temperaturverhältnisse zwischen ozeanisch und sub-ozeanisch

171

8.4 Niederschlag- eine große Spannbreite .

173

bis zu den Eiszeiten

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5.1 Mitteleuropäisches Tiefland

50

5.2 Schollengebirge .

61

8.5 Der Einfluss des Reliefs im Großen und Kleinen.

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5.3 Nördliches Alpenvorland und Mittelgebirgsvereisungen

70

8.6 Aktueller Klimawandel - was hat sich schon getan, was wird noch kommen?.

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Inhalt 10.5 Biogeographie der Mittelgebirge.

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10.6 Biogeographie des Hügellandes.

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9.1 Pleistozäne Deckschichten .

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10.7 Biogeographie des Tieflandes

198

9.2 Bodenbildungen in Solifluktionsdecken

181

10.8 Biogeographie der mitteleuropäischen Küsten

199

9.3 Gestein und Boden

182

9.4 Böden in Becken und Tiefländern

184

10.9 Biogeographie der Binnengewässer und Feuchtgebiete .

199

9. Bodengeographischer Überblick von Mitteleuropa.

10.

Biogeographischer

10.10 Biogeographie der semiterrestrischen Ökosysteme .

zoo

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10.1 Biogeographisches Vorgehen und Konzepte - eine Einleitung .

10.11 lnvasive Arten und damit einhergehende Herausforderungen.

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188

10.2 Natürliche Grundlagen und holozäne Entwicklungen

10.12 Mitteleuropäische Schutzgebiete und ihre Ökosysteme..

202

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10.3 Biogeographie der Kulturlandschaft .

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Überblick Mitteleuropas.

10.4 Biogeographie des mitteleuropäischen Hochgebirges ..

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Literaturverzeichnis (Auszug)

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Kurzbiographien .

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Register.

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Vorwort Dieses Buch, für das eine Vorlesung Grundlage war, rich­ tet sich in erster Linie an Studierende der Geographie und der Geoökologie, darüber hinaus aber an alle, die in irgendeiner Weise die Begeisterung des Verfassers für Geowissenschaften teilen. Das fundierte Verständ­ nis des Werdens und der Dynamik des Naturraumes ist unabdingbare Voraussetzung für einen verantwortungs­ vollen Umgang mit ihm. Entsprechend meiner fachlichen Qualifikation und meiner eigenen Kompetenz ist dieses Buch nicht aus­ schließlich, aber vorrangig geomorphologisch ausge­ richtet. Hinter dem Raumbezug dieses Buches steckt ein Bekenntnis, das sich gegen die dunkelste und ver­ hängnisvollste Zeit der deutschen Geographie stellt: die Zeit der „Wehrgeopolitik", welche sich unter Beru­ fung auf den geographischen Determinismus durch die Unterwerfung der Geographie unter die ideolo­ gischen Paradigmen des Kolonialismus, des Imperia­ lismus und schließlich der „Blut-und-Boden"-ldeolo­ gie der Nazis entwickeln konnte. ,,Natürliche Grenzen" von Staaten sind aber im Wesentlichen nur ideologi­ sches Konstrukt. Selbst große Flüsse oder Gebirge wir­ ken eher verbindend als trennend, und lediglich bei Küsten könnte man, wenn auch nicht generell, über die Existenz natürlicher Grenzen diskutieren. Darüber sind sich heute die Politische Geographie und Geowis­ senschaften wie Geomorphologie und Geologie einig. Die Jungmoränenlandschaft Nordostdeutschlands bei­ spielsweise setzt sich völlig ungehindert jenseits der deutsch-polnischen Grenze fort. Ihre Behandlung un­ ter Begrenzung auf deutsches Staatsgebiet wäre also fachlich ungerechtfertigt. Physisch-geographische Grenzen sind eigentlich eher Grenzsäume, die mehr oder weniger eng oder weit sein können. Damit stellt sich das Problem der Abgren­ zung des Raumes, der in diesem Buch behandelt wer­ den soll. Das wiedervereinigte Deutschland, also das Staatsgebiet der Bundesrepublik Deutschland, soll im Mittelpunkt stehen, aber die Grenzsäume, die über das Staatsgebiet hinaus in Mitteleuropa liegen, sollen nicht abgeschnitten werden. Dieses Vorhaben trägt auch durchaus der nach dem Fall des „Eisernen Vorhanges" voranschreitenden Einigung Europas Rechnung. Durch diesen Prozess hat die Frage nach der „Mitte Europas" eine neue räumliche, politische und kulturelle Dirnen-

sion erhalten. Demnach kann die Abgrenzung Mittel­ europas im Sinne dieses Buches nur einen mehr oder weniger heterogenen natürlichen Raum mit mehr oder weniger breiten Grenzsäumen umfassen. Dabei sind Kompromisse und auch-zumindest für Geographen­ einige Überraschungen in Kauf zu nehmen. Vorweg sei gesagt, dass der geologische Bau bei der Abgrenzung eine wichtige Rolle spielen wird und daher geologische Aspekte relativ starke Beachtung finden werden. Für die Überblickskapitel zur Bodengeographie (D. Faust, TU Dresden), Klimatologie (C. Samimi, Universität Bayreuth) und Biogeographie (C. Beierkuhnlein, Univer­ sität Bayreuth) konnten die genannten Kollegen gewon­ nen werden, die diese Teilgebiete wesentlich kompeten­ ter und aktueller darstellen können als ich selbst. Es bleibt die Frage „Warum dieses Buch?". Immerhin liegen mit den hervorragenden Werken von H. Liedtke & J. Marcinek (1994) sowie von A. Semmel (1996) Mo­ nographien vor, die nach wie vor Standardwerke der Geographie der Bundesrepublik Deutschland darstel­ len. Hier sollen vor allem auch neuartige Methoden be­ rücksichtigt und ihre Ergebnisse exemplarisch darge­ stellt werden. Aktualität steht im Vordergrund. Eine annähernd flächendeckende Darstellung würde aller­ dings den Rahmen des Buches sprengen. Ein weiterer Grund für die Erstellung dieses Buches ist persönlicher Art: 1996 wurde ich gebeten, eine Vor­ lesung zur Regionalen Physischen Geographie anzu­ bieten. Ich erinnerte mich an die Vorlesung „Physische Geographie Mitteleuropas" meines verehrten Doktorva­ ters Prof. Dr. Gerold Richter (Trier). Gerold Richter stell­ te mir Kopien seiner Vorlesungsunterlagen bereit. Da­ mit hatte ich für die erste Ausarbeitung ein hilfreiches Konzept zur Verfügung. Ende 1997 sprach ich mit Ge­ rold Richter über mein Vorhaben, den Vorlesungsstoff unter seiner Mitwirkung in Buchform zu präsentieren, er konnte aber wegen seiner Krankheit und seines viel zu frühen Todes an der weiteren Realisierung nicht mehr mitwirken. Danach fasste ich den Vorsatz, das Buch in Dankbarkeit und in Erinnerung an ihn irgend­ wann zu schreiben. Jetzt endlich kann ich es vorlegen! In memoriam Prof. Dr. Gerold Richter

Ludwig Zöller Bayreuth, im August 2016

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Die Abgrenzung Mitteleuropas

M

it dem Aufkommen der Nationalstaaten im 19.Jahr­ hundert gewann der Begriff „Mitte" bzw. ,,Mittel­ europa" an Bedeutung, denn damit war ein Anspruch an Macht und Wichtigkeit verbunden. Die Wieder­ belebung der „Mitteleuropa"-Diskussion zu Beginn der 1990er-Jahre hat verschiedene Autoren, darun­ ter Schultz (1997) und Fassmann & Wardenga (1999), animiert, sich damit zu beschäftigen. Diese Arbeiten beleuchten auch die historische Entwicklung des Mit­ teleuropabegriffes und wie unter gegebenen Macht­ ansprüchen und Paradigmen „Räume gemacht" wer­ den. Diese Veröffentlichungen seien zur weiteren Ver­ tiefung in dieses disziplingeschichtlich aufschlussrei­ che und bedeutsame Thema empfohlen. Von Interesse für die Geomorphologie ist, dass auch der durch seine glazialgeomorphologischen Arbeiten im Alpenvorland (Tetraglazialismus) so bedeutsam gewordene Albrecht Penck sich 1915 dazu äußerte. Er unterschied Vorder-, Zwischen- und Hintereuropa. Zu Vordereuropa gehören nach Penck außer Norwegen und den Britischen Inseln alle Gebiete Europas westlich einer Linie etwa von Dün­ kirchen (Dunkerque) nach Hyeres (Cöte d'Azur). Zwische­ neuropa grenzt östlich an Vordereuropa an, schließt da­ bei wie selbstverständlich Elsass-Lothringen ein, aber auch Korsika und Sardinien und endet erst an der West­ küste des Schwarzen Meeres.Die Grenze zu Hintereuro­ pa bilden eine Linie etwa von östlich Odessa bis west­ lich Sankt Petersburg sowie die Ostgrenze von Finnland und der Halbinsel Kola. Interessant bzw. erschreckend ist, dass der von Penck für diese Ostgrenze gebrauch­ te Begriff des „warägischen Grenzsaums" im Dokument ,,Der Reichsführer 55, 55-Hauptamt-Sicherung Euro­ pas -Der zweite Weltkrieg-eine weltanschauliche Aus­ einandersetzung" zur Rechtfertigung der Aggression des Dritten Reiches auftaucht (www.archive.org). Ebenso wenig wie politische Grenzen zur physisch­ geographischen Abgrenzung Mitteleuropas geeignet sind, dürfen physisch-geographische Grenzen oder Grenzsäume als Rechtfertigung für die Forderung nach Verschiebung staatlicher Grenzen missbraucht werden, wie in der Vergangenheit geschehen. Davon wird hier­ mit endgültig Abstand genommen zugunsten der Suche nach geeigneten physisch-geographischen Kriterien.

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1.1 Geomorphologische Kriterien In dem umfangreichen Buch „Geomorpho/ogy of Euro­ pe" (Embleton 1984) werden verschiedene Ansätze zur geologisch-geomorphologischen Gliederung Europas vorgestellt, darunter geomorphologische Regionen Eu­ ropas, morphotektonische Regionen, Kratone und prä­ kambrische Faltung, herzynische (variszische) Struk­ turen, Megamorphostrukturen und Relieftypen. Keine der kartographischen Darstellungen lässt erkennen, dass ein einziges Kriterium zur Abgrenzung Mitteleu­ ropas ausreicht. Bei den Megamorphostrukturen bie­ ten sich „junge orogenetische Zonen" als südliche Ab­ grenzung an, während die Relieftypen völlig ungeeignet für die gesuchte Abgrenzung erscheinen. Bei den varis­ zischen Srukturen könnte die „pre-Hercynian p/atform" im Nordosten tauglich sein, allerdings setzt sie sich in Norddeutschland unter mächtigerer känozoischer Be­ deckung deutlich südlich der Ost- und Nordseeküste ge­ gen Westen fort. Deutlicher tritt die mögliche Nordost­ begrenzung bei den Kratonen hervor (s.u.).Sie bildet auch bei den morphotektonischen Regionen die West­ grenze der Russischen Tafel ab, während die alpinen Faltengebirge der Alpen und der Karpaten die schon bei den Megamorphostrukturen genannte mögliche Süd­ grenze nachzeichnen. Völlig offen beibt aber die Ab­ grenzung Mitteleuropas nach Westen bzw.Südwesten. Neef (1956, S.35) hat bereits die Probleme einer Ab­ grenzung Mitteleuropas benannt und sein Vorschlag muss besonders unter dem Gesichtspunkt der „Über­ gangsgebiete" hier erwähnt werden. ,,Mitteleuropa ... ist ... das Mittelglied zwischen dem maritimen Wes­ ten Europas und dem kontinentalen Osten, zwischen dem wärmeren Süden und dem kühleren Norden. Es ist also ein ausgesprochenes Übergangsgebiet und weist außerdem eine eigentümliche Dreigliederung des Re­ liefs in Tiefland, Mittelgebirge und Hochgebirge auf ... Die Abgrenzung Mitteleuropas gegen das übrige Euro­ pa ist nicht einfach und wird in der Literatur auch nicht einheitlich vorgenommen. Auf fast allen Seiten leiten mehr oder weniger breite Übergangsgebiete zu den an­ deren Teilen des Kontinentes hin, ohne dass sich eine einigermaßen deutliche Grenze erkennen lässt. Etwas klarer liegen die Verhältnisse nur im Norden. Hier bil-

1.2 Geologische Kriterien

N

den die Küsten von Nord- und Ostsee die Begrenzung des mitteleuropäischen Raumes. Dänemark, das mit seiner skandinavischen Bevölkerung eng mit Schwe­ den und Norwegen verbunden ist, gehört seiner Na­ tur nach eindeutig zu Mitteleuropa. Im Süden rechnet man allgemein den größten Teil der Alpen noch Mittel­ europa zu. Für die westliche Abgrenzung Mitteleuropas gilt allgemein, dass die physisch-geographische Gren­ ze zwischen Mittel- und Westeuropa auf den Höhen des Schweizer Juras und der Vogesen, dann am Südrand der Ardennen und dann über die Schwelle von Artois ver­ läuft. Am schwierigsten lässt sich die Grenze im Osten finden, da hier der mitteleuropäische Tief\andsstreifen ganz unmerklich in die Osteuropäische Tiefebene über­ geht. Die in diesem Buch getroffene Lösung, Osteuropa an der Staatsgrenze zur Sowjetunion beginnen zu las­ sen, ist nicht die einzig mögliche."

1.2 Geologische Kriterien In seinem Buch „Geologie von Mitteleuropa" hat Walther (1995) eine Abgrenzung Mitteleuropas vorgenommen (Abb. 1.1), die in großen Teilen mit der von Neef (1956) übereinstimmt, teilweise aber auch abweicht (Begren­ zung nach Süden und Nordosten). Im Nordosten nimmt Walther die Tornquist-Teisseyre­ Zone als Abgrenzung Mitteleuropas. Diese Zone ver­ läuft vom Nordostrand der Karpaten und des Polni­ schen Mittelgebirges in Südost-Nordwest-Erstreckung quer durch Polen und das Ostseebecken bis zur Nord­ spitze Jütlands (Dänemark). Die Tornquist-Teisseyre-Zo­ ne stellt die Nordostbegrenzung der variszisch gepräg­ ten Kruste Mitteleuropas gegen den präkambrischen und kaledonischen Baltischen Schild und den Unter­ grund der Russischen Tafel dar. An der Oberfläche ist die Tornquist-Teisseyre-Zone kaum oder gar nicht zu erkennen, aber inzwischen vor allem durch verbesser­ te seismische Methoden sehr gut bekannt. Im Norden kann für die festländischen Teile der Ab­ grenzung von Neef gefolgt werden. Für hochglaziale Zei­ ten mit glazialeustatischem Trockenfallen fast der ge­ samten Nordsee wäre die Nordgrenze Mitteleuropas neu zu diskutieren, worauf hier aber verzichtet werden kann. Eine zumindest für Geographen überraschende Ab­ weichung der Süd-Grenze Mitteleuropas nach Walther gegenüber Neef ergibt sich für die Zugehörigkeit der Al­ pen. Walther zieht diese Grenze an der Überschiebung der Decken des alpidischen Systems über die variszisch geprägte Kruste einschließlich ihrer Molassebecken, das

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Abb. 1.1 Mitteleuropa aus geologischer Sicht (aus Walter 1995). heißt an den geomorphologischen Nordrand der Alpen und der Karpaten. Nach Walther verbleiben das Mittel­ europäische Bruchschollengebiet und die nördlich an­ schließende Mitteleuropäische Senke als Hauptbestand­ teile Mitteleuropas aus geologischer Sicht. Die Westbegrenzung Mitteleuropas nach Walther fällt praktisch mit der nach Neef zusammen. Geolo­ gisch schließt im Westen das Pariser Becken an. Sein scheinbar nach Osten bzw. Nordosten gerichteter zwei­ facher Sporn in Form der Zweibrücker Mulde und der Trier-Bitburger Mulde täuscht, denn das Pariser Be­ cken begann erst seit dem Jura abzusinken, wohinge­ gen Trias-Sedimente zwischen der Metternicher Bucht und der Trierer Bucht im Bereich der schon devonisch angelegten Eifeler Nord-Süd-Zone und Trias-Sedimen­ te der Zweibrücker Mulde bzw. Pfälzer Mulde einer spät­ variszisch angelegten Struktur folgen. Aus geologischer Sicht lässt sich für eine Abgren­ zung Mitteleuropas folgendes Fazit ziehen: I> Eine Abgrenzung von Mitteleuropa nach dem tekto­ nischen Bau ist sinnvoll. 1> Im Westen ist es die Linie Artois-Ardennenwestrand­ Vogesen-Schweizer Jura, I> im Süden der Nordrand von Alpen und Karpaten,

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Die Abgrenzung Mitteleuropas

1> im Osten bzw. Nordosten die Tornquist-Teysseire-Li­ nie, 1> und im Norden sind es Skagerak und Ostsee sowie Nordsee. Daraus folgt für die känozoische (und landschaftsprä­ gende) Tektonik in Mitteleuropa: 1> Es handelt sich ausschließlich um lntraplattentekto­ nik. 1> Der Aufbau ist größtenteils variszisch (mit einzelnen eingearbeiteten älteren Massiven), im Norden kale­ donisch und älter. 1> Es stellt sich die Frage, ob der inhomogene Krusten­ aufbau Einfluss auf die endogene Formung in der Neotektonik hat.

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Dieses Buch folgt weitestgehend der Abgrenzung durch Walter, weil diese als einzige der diskutierten Möglich­ keiten konsistent ist. Allerdings muss die Geomorpho­ logie auch Fernwirkungen vor allem von Hochgebirgen einbeziehen. Das nördliche Alpenvorland zum Beispiel mit seinen lehrbuchhaften Vergletscherungsspuren ist nicht erklärbar ohne Berücksichtigung der Alpen. Fern­ wirkungen betreffen noch mehr die Klimatologie, in der die Alpen als „Wetterküche Europas" gelten. Deshalb endet der räumliche Bezug dieses Buches nicht abrupt am Nordrand der Alpen. Für umfassendere Darstellun­ gen der Alpen muss allerdings auf einschlägige neuere Literatur verwiesen werden wie Veit (2002) und Pfiffner (2010/2015).

Naturräumliche Übersicht

D

ieses Kapitel gibt einen geomorphologischen und geologischen Überblick über Deutschland. Weitere Teilgebiete der Regionalen Physischen Geographie wie Klimatologie, Vegetationsgeographie, Bodengeographie und Hydrogeographie werden später in eigenen Kapi­ teln dargestellt. Das Kapitel beginnt mit geomorpholo­ gischen Aspekten, die aber bald geologischer Art wer­ den, bevor in späteren Kapiteln tiefer gehende Fragen der Geomorphologie angegangen werden können.

2.1 Geomorphologische Zonen

Die von Neef (s. o.) angesprochene „eigentüm liehe Dreigliederung des Reliefs" ist für das Gebiet der BRD zu einer Fünf-Zonen-Gliederung erweitert worden (Liedtke & Marcinek 1994, Zepp 2014) und in Glaser et al. (2007) in anschaulicher Farbgraphik und mit weiterer Diffe­ renzierung dargestellt worden (Abb. 2.1). Die Fünf-Zo­ nen-Gliederung lässt sich nach Osten über die Grenzen Deutschlands verfolgen, am vollständigsten in Polen (auch wenn die Zone V, Alpen bzw. Karpaten, dort nur räumlich sehr begrenzt in der Hohen Tatra erscheint). Auch nach Westen bzw. Südwesten setzt sich die Fünf-Zo­ nen-Gliederung fort (Pletsch 2003, Abb. 4), wobei im Süd­ westen mit dem schweizerisch-französischen Juragebirge eine neotektonische Komplikation auftritt: Das Schweizer Mittelland ist als Fortsetzung der Zone IV (Alpenvorland) anzusehen, der nordwestlich bis westlich vorgelagerte Faltenjura wurde aber im Neogen aufgrund besonderer Entwicklung in den Westalpen noch von Auswirkungen alpiner Tektonik betroffen und vorgelagerte Juraschol­ len wurden nach Westen über miozäne Sedimente des Bresse-Grabens überschoben (Pomerol 1980). Die fünf Zonen sind am deutlichsten in Deutschland ausgebildet und werden im Folgenden in einem Profil von der deutschen Nord- und Ostseeküste bis zu den deutschen Alpen von Nord nach Süd kurz vorgestellt. Anschauliche Farbkarten zum Nachverfolgen dieser Gliederung sind: ,,Deutsche Landschaften - Bau und Formen" (Guhl 2012) und „Naturräume Deutschlands" auf den Buchdeckel-Innenseiten von Liedtke & Marci­ nek (1994). In ähnlicher allerdings farblich weniger an­ sprechender Form ist diese Karte auch online verfüg­ bar (www.diercke.de).

Zone l„Nord- und Ostseeküste und Norddeutsches Tiefland": Im Gegensatz zur Ostseeküste ist die Nordseeküste eine Gezeitenküste mit einem Marschensaum aus See­ und Flussmarsch sowie vorgelagerten Inseln. Das Nord­ deutsche Tiefland ist Teil der Mitteleuropäischen Senke (Walter 1995, Abb. 1.1). Eine grundlegende Unterschei­ dung ist die in seenreiches Jungmoränenland mit glazi­ genen Sedimenten und Formen der letzten nordischen Vereisung (Weichsel-Eiszeit, nur östlich und nördlich der Elbe) und seenarmes Altmoränenland zwischen dem Rand des Jungmoränengebietes und der Mittelgebirgs­ schwelle (Zone II). Zum Altmoränenland zählen Gebiete mit glazigenen Ablagerungen der älteren nordischen Vereisungen (Saale- und Elster-Eiszeit) mit nur teilweise noch deutlich erhaltenen glazialen Formen (besonders im Warthe-Stadium der Saale-Eiszeit). Lediglich südli­ che und westliche Teile der Niederrheinischen Bucht, die zum Norddeutschen Tiefland gerechnet wird, wa­ ren nicht von Gletschereis bedeckt. Die südlichen Teile des Altmoränengebietes sowie die Niederrheinische Bucht sind weitflächig mit Löss bedeckt und bilden die besonders fruchtbaren Börden­ landschaften. In Niedersachsen und Sachsen setzt die Lössbedeckung unvermittelt mit einer bis zu 10 Meter hohen „Lössrandstufe" ein (Gehrt & Hagedorn 1996, Meszner et al. 2013, 2014; Kap. 7). Die Existenz der Lös­ srandstufe und ihr Erscheinen weit südlich der Grenze des Jungmoränengebietes lässt das in vielen Lehrbü­ chern noch immer vertretene Modell der Lössbildung im Vorfeld glazialer Sanderf\ächen zumindest für das Nord­ deutsche Tiefland als ungeeignet bzw. falsch erscheinen. Zone 11„Mittelgebirgschwelle": Paläozoische, meist variszische Rumpfschollen aus nicht bis hoch metamorphisierten Gesteinen sowie aus Plutoniten bilden den Kern der Mittelgebirgsschwelle. Dazwischen sind in weniger stark gehobenen Bereichen mesozoische Sedimentgesteine erhalten, vor allem im Niedersächsischen und Hessischen Bergland sowie im Thüringischen Becken, aber auch in der Eifeler Nord­ Süd-Zone zwischen der Trierer Bucht und der Mecher­ nicher Bucht. Tertiärer Vulkanismus ist von der Eifel bis

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Naturräumliche Übersicht

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-IV

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Nord- und Ostseeküste und Norddeutsches Tiefland Inseln und Marschensaum der deutschen Nordseeküste Norddeutsches seenreiches Jungmoränenge­ biet mit Eisrandlagen und Urstromtälern einschließlich der Kliff- und Nehrungsküste an der Ostsee Norddeutsches seenarmes Altmoränengebiet mit verwaschenen Endmoränen und Urstromtä­ lern Norddeutsches seenarmes Altmoränengebiet, stellenweise mit Lössdecken und (oder) gele­ gentlichen Durchragungen älteren Gesteins Flachland aus lockeren Flussablagerungen und Tertiärsedimenten, teilweise von Löss bedeckt Urstromtäler: 88 Breslau-Bremer Urstromtal, GB Glogau-Baruther Urstromtal, WB Warschau­ Berliner Urstromtal, TE Thorn-Eberswalder Ur­ stromtal, NR Netze-Randow-Urstromtal Saaleeiszeitliche Eisrandlagen: D Drenthe­ stadium, R Rehburger Stadium, L Lamstedter Vorstoß, W Warthestadium Weichseleiszeitliche Eisrandlagen: B Branden­ burger Stadium, F Frankfurter Stadium, P Pom mersches Stadium, V Velgaster Staffel Mittelgebirgsschwelle (II) + Süddeutsches Stufenland, Oberrheingraben und Ries (III) Rumpfschollengebirge aus stark gefalteten pa­ läozoischen Sedimentgesteinen, stellenweise auch magmatische Gesteine mit Härtlings­ zügen Rumpfflächen oder Hügelländer auf Rot­ liegendsedimenten mit altvulkanischen Durchragungen oder Decken Flachland des Oberrheingrabens mit Rand­ schollen und Alzeyer Platte Flach- und Hügelland des Egergrabens Tafelländer und Stufenlandschaften n1i Schichtrippen und Schichtkämmen, vorwie­ gend aus mesozoischen Sandsteinen und Kal­ ken, im Norden mit kleinräumigen Aufbeulun­ gen und Becken, im Schweizer Jura stark gefaltet Größere zusammenhängende Decken und Kup­ penfelder tertiärer vulkanischer Gesteine Größere Becken durch Tektonik, Ausraum, Aus­ laugung oder Meteoriteneinschlag Bruchstufen Schichtstufe im: s Buntsandstein, m Muschel­ kalk, k Keuper, j Jura Schichtkamm Nachgewiesene eiszeitliche Vergletscherung von Mittelgebirgen Alpenvorland Flachwelliges Hügelland des deutschen Alpen­ vorlandes aus tertiären oder quartären Auf­ schüttungen, teilweise lössbedeckt Altmoränen, Schotterplatten und Talböden im deutschen Alpenvorland Seenreiche Jungmoränenlandschaft des deut­ schen Alpenvorlandes, mit Durchragungen von Festgestein Bruchstufen Alpen Alpine Hochgebirgsformen

Abb. 2.1 Übersichts­ karte der Ober­ flächenformen Deutschlands (aus Glaser et al. 2007).

0

zur Hessischen Senke verbreitet, im Siebengebirge, Ho­ hen Westerwald, Vogelsberg (größtes zusammenhän­ gendes Vulkangebiet Mitteleuropas) und in der Rhön auch in Form heute noch größerer zusammenhängen­ der Decken. Quartärer Vulkanismus tritt nur im West­ eifeler und im Osteifeler Vulkanfeld auf (Kap. 5.5). Die ältesten Reliefgenerationen im Bereich der paläozoi­ schen Schollengebirge liegen in Form zum Teil ausge­ dehnter Rumpfflächen vor. Inwiefern Rumpfflächen

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Vereinfacht nach Klink & Liedtke 1984, aus Liedtke 1995

auch über mesozoischen Gesteinen als Stufenflächen existieren, ist spätestens seit Büdel (1957) in der Dis­ kussion und in erster Linie wohl eine Frage der Defini­ tion. Die Grenze der Zone II verläuft am Südrand des Rheinischen Schiefergebirges eindeutiger als im Hes­ sischen und Nordbayerischen Bergland. Sie knickt aus einer etwa Südwest-Nordost-Richtung (,,erzgebirgisch") am „Fränkischen Lineament" (südwestlicher Rand des Frankenwaldes) in die Nordwest-Südost-Richtung um,

2.1 Geomorphologische Zonen

im südlichen Fichtelgebirge aber wieder in die erzgebir­ gische Richtung, um auf das Eger-Rift in Nord-Böhmen zuzulaufen. Dort verliert sich die Grenze. Eine eigenständige Vergletscherung existierte im Brocken-Massiv des Harzes. Zone III „Süddeutsches Stufenland mit seinen Rand­ gebirgen und dem Oberrheinischen Tiefland": Diese Bezeichnung nach Glaser et al. ( 2007, Abb. 2.2) ist zutreffender als die auch verwendete Bezeichnung ,,Süddeutsches Stufenland, Oberrheingaben und Ries". Kernstück dieser Zone ist das Süddeutsche Schichtstu­ fenland.Schichtstufen schauen gegen das Hebungszen­ trum, welches folglich in die Betrachtung einzubezie­ hen ist. Geologisch bildet die Süddeutsche Großscholle zwischen dem känozoischen Oberrheingraben und dem westlichen Rand der Böhmischen Masse sowie des Fran­ kenwaldes und Thüringer Waldes die Voraussetzung für das Süddeutsche Schichtstufenland. Die Süddeutsche Großscholle ist aber auf zwei Seiten von Hebungszent­ ren begrenzt: dem Schwarzwald-Vogesen-Gewölbe und dem nördlicher liegenden Pfälzer Wald-Odenwald-Spes­ sart-Hebungsgebiet im Westen sowie der Böhmischen Masse im Osten.Folglich müssen die Stufen in zwei etwa entgegengesetzte Richtungen blicken. Das ist tatsächlich so, zum Beispiel die markante gegen die Böhmische Mas­ se blickende Stufe des Braunjura-ß-Sandsteins im Raum Bayreuth. Allerdings sind die Stufen östlich der Fran­ kenalb wegen der tektonischen Zerstückelung der Ober­ fränkisch-Oberpfälzer Bruchschollenzone zum einen oft nicht durchlaufend zu verfolgen, zum anderen existieren im Bereich der europäischen Hauptwasserscheide öst­ lich der Frankenalb noch ausdruckslose Schnittflächen, die man als Rumpffläche bezeichnen mag oder nicht, die aber ähnlich wie die Baar-Fläche im östlichen Schwarz­ wald Unterschiede in der Gesteinshärte kaum oder gar nicht als Schichtstufen hervortreten lassen. Der Oberrheingraben ist das bedeutendste Teilstück des mitteleuropäischen Riftsystems. Er entstand als Scheitelgraben infolge der alttertiären Herausbildung des Schwarzwald-Vogesen-Gewölbes, in deren Zent­ rum unter dem Kaiserstuhl-Vulkankomplex die „Moho'' (Kruste-Mantel-Grenze) um 5 Kilometer höher liegt als in umgebenden Teilen Mitteleuropas (ca. 30 Kilometer Tiefe). Im Jungtertiär änderte sich jedoch die Dynamik des Oberrheingrabens: Aus einem typischen Rift mit divergierender Dehnungstektonik wurde eine sinistra­ le Versatzzone, die aufgrund leichter Richtungsände-

rungen zu räumlich und zeitlich differenzierten Absen­ kungen im Graben und Schollenhebungen an seinen Schultern führte. Als Besonderheit sind das Nördlinger Ries und das Steinheimer Becken zu erwähnen. Beide gelten heute als lmpaktstrukturen eines Asteroiden, der vor 14,7 Mil­ lionen Jahren in Form eines größeren (Ries) und eines kleineren Fragments (Steinheimer Becken) einschlugen. Würde man die Zone III nur auf Deutschland begrenzt betrachten, könnte man sie getrost am Fränkischen Lineament (der Begrenzung der paläozoischen Böhmi­ schen Masse nach Südwesten zur Süddeutschen Groß­ scholle) enden lassen.In Polen taucht ein Äquivalent der Zone III aber wieder auf, und so stellt sich die Frage, was dazwischen ist. Im Bereich der Böhmischen Masse kam es im Gegensatz zur Süddeutschen Scholle während des Mesozoikums mit Ausnahme der Kreidezeit zu kei­ ner Sedimentation in größeren Becken, folglich sind aus dieser Zeit keine Stufenbildner vorhanden. Die Böhmi­ sche Masse war-mit Ausnahme des Kreidebeckens zwi­ schen Prag und dem Elbsandsteingebirge-seit Beginn des Mesozoikums wiederholt Hebungsgebiet, wie wei­ ter unten anhand thermochronometrischer Daten noch gezeigt werden soll. Weiterhin scheint das Eger-Rift seit dem Oligozän etwa an der Stelle einer variszischen Su­ turzone entstanden zu sein, wobei diese Nahtstelle der Erdkruste in Mitteleuropa aber durch sehr starken Vul­ kanismus (u.a. Duppauer Gebirge, Böhmisches Mittel­ gebirge; Kap. 5.5) großenteils überdeckt wurde. Um die Frage der Grenze zwischen den Zonen II und III in Böh­ men zu klären, bedarf die Geomorphologie weiterer ge­ sicherter Ergebnisse der Geologie und der Geophysik. Auch in der Zone III ist tertiärer Vulkanismus zwi­ schen dem Kaiserstuhl (Oberrheingraben) und Ober­ schlesien mit verschiedenen Zentren vertreten und nach neueren Daten-vereinzelt auch quartärer in West­ böhmen. Eigenständige Vereisungen gab es in Kamm­ lagen der Mittelgebirge: Vogesen, Schwarzwald, Bayeri­ scher Wald, Riesengebirge. Dabei zeigt sich erwartungs­ gemäß ein Ansteigen der Schneegrenze von Norden nach Süden (Schwarzwald, Vogesen) und von Westen nach Osten. Zone IV „Alpenvorland": Die nördliche Grenze des Alpenvorlandes wird über weite Strecken durch den Verlauf der Donau nachge­ zeichnet. Den Untergrund bilden tertiäre Sedimente der Molasse, die seit etwa 30 Millionen Jahren als Ab-

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2

Naturräumliche Übersicht

N

Flyschzone und Helvetische Decken

Bayerisches Molassebecken

4000 6000 8000

m 0

10

20 km Am, Rothe 2005, nach Walter 1992, S. 403

Grundgebirge

Abb. 2.2 Geologi­ sches Profil vom Bayerischen Molas­ sebecken bis zu den ostalpinen Decken der nördlichen Alpen (aus Glaser et al. 2007).

Autochthon:

Jura/Kreide

Eozän/Oligozän

Miozän

tragungsschutt der sich heraushebenden Alpen ent­ standen, sowie weitflächig auch quartäre Ablagerungen glazialer Serien, Flussterrassen bzw. Schotterfluren und Lösse bzw. Lösslehme. Seit dem Oligozän tauchte die Süddeutsche Scholle in Richtung des heutigen Alpen­ nordrandes ab, wodurch das Molassebecken entstand (Abb. 2.2). Die Decken der nördlichen Alpen (Flysch-De­ cken und Decken der Nördlichen Kalkalpen) und der Westalpen (penninische und helvetische Decken) über­ fuhren später alpennahe Teile der Molasse, sodass diese in die gefaltete und die ungefaltete Molasse gegliedert werden kann (Glaser et al. 2007, Abb. 2.2). Die gefaltete Molasse bildet vor allem im Bereich konglomeratischer Einlagerungen wie dem Hochgrat-Fächer im Westallgäu markante Schichtrippen, während in der ungefalteten Molasse Hügelland vorherrscht. Mehrfach stießen im Quartär aus den größeren Alpen­ tälern Vorlandgletscher ins Alpenvorland vor und hinter­ ließen Spuren als Ablagerungen und als Formen. Auch im Alpenvorland wird zwischen seenreicher Jungmoränen­ landschah aus der letzten Vereisung (Würm) und Alt­ moränenlandschah mit nahezu oder vollständig verlan­ deten Seenbecken unterschieden. Über die Anzahl der Vorlandvereisungen herrscht noch-oder wieder-Unei­ nigkeit. Möglicherweise ist sie im östlichen Alpenvorland verschieden von der Anzahl im nordwestlichen Vorland. Besonders starke geomorphologische Fernwirkung üb­ ten die Alpen während der Eisvorstöße auf das Vorland aus, indem ausgedehnte Schotterfluren der Schmelz­ wässer präexistente Talungen und Fußflächen bis zu mehrere Zehner-Meter mächtig überschotterten. Zone V „Deutsche Alpen": Der relativ schmale Streifen der deutschen Alpen be­ steht größtenteils aus Kalk- und Dolomitgesteinen der

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Allochthon:

Trias

Ostalpine Decken

s

Bohrung Vorderriß 1

---

Jura

Kreide

Flysch

Nördlichen Kalkalpen und zu einem geringeren Teil aus tektonisch mehr oder weniger stark unterdrückten Flyschdecken, die morphologisch den nördlichen Alpen­ randrand bilden. Dieser Bau setzt sich nach Osten in Ös­ terreich bis in den Wienerwald und an die Wiener Pfor­ te fort. Die mesozoischen Kalksteine und Dolomite der Nördlichen Kalkalpen (z.B. Dachsteinkalk, Wetterstein­ dolomit) bilden im Gegensatz zu den insgesamt sanfte­ ren Formen der Flyschserien sehr schroffe Bergformen und Wände. Der Wettersteindolomit baut Deutschlands höchste Erhebung, die Zugspitze (2962 Meter ü. M.), auf. An ihren Flanken existieren heute noch drei kleinere Gletscher. Aufgrund ihrer Höhenlage waren die Nörd­ lichen Kalkalpen aber während der letzten Vereisung großflächig vergletschert und entsandten Gletscher­ zungen ins Vorland. 2.2 Das hydrographische Dach Mitteleuropas Das festländische Relief der Erde wird-abgesehen von Teilgebieten-maßgeblich von der Arbeit der Flüsse ge­ prägt (Rohdenburg 1989). Übertragen auf das fluviale Relief Mitteleuropas ist es also sinnvoll, der Entwicklung des Flussnetzes besondere Beachtung zu widmen, will man die Reliefgenese verstehen. Das hydrographische Dach Mitteleuropas ist das Fichtelgebirge, wo mit einer Distanz von nur wenigen Kilometern bedeutende Tri­ butäre der prägenden mitteleuropäischen Flusssyste­ me ihren Ursprung nehmen: Der (Weiße) Main entwäs­ sert nach Westen zum Rhein und somit zur Nordsee, die Saale nach Norden zur Elbe und schließlich eben­ falls zur Nordsee, die Eger nach Osten zur Moldau und schließlich über die Elbe wiederum zur Nordsee. Das Naabsystem hingegen nimmt im Fichtelgebirge als Fichtelnaab seinen Ursprung und entwässert Richtung Süden bis Südosten über den Regen zur Donau und

2.2 Das hydrographische Dach Mitteleuropas

somit ins Schwarze Meer. Durch das Fichtelgebirge ver­ läuft also die europäische Hauptwasserscheide, und es ist durch eine zentrifugale Entwässerung gekennzeich­ net. Die Geomorphologie sieht darin Hinweise auf ein altes Hebungsgebiet und die Erstanlage von Großfor­ men des fluvialen Reliefs. Diese Gedanken wurden erstmals von Walther Penck (1924), Geologe und Sohn von Albrecht Penck, für das Fichtelgebirge und seine Abdachung zur Leipziger Bucht verfolgt. In Auseinandersetzung mit der damals vorherrschenden „Zyklentheorie" von Davis (1912) ver­ suchte W. Penck herzuleiten, dass der Stockwerkbau der paläozoischen Mittelgebirge, das heißt die mehrfache Abfolge von Flächen und Stufen in verschiedenen Hö­ henlagen, nicht das mehrfache Durchlaufen des Zyk­ lus Hebung-Jugendstadium-Reifestadium-Greisensa­ dium (mit „Endrumpffläche") erfordere (wozu die seit dem Ende der Jurazeit bis zum Oligozän verfügbare Zeit nicht ausreichend wäre), sondern dass verschie­ den hoch gelegene „Piedmontf\ächen" sich gleichzei­ tig entwickeln und die höhere Fläche durch die tiefere unter Ausbildung einer „Piedmontstufe" mit Inselber­ gen aufgezehrt wird. Davis nahm an, dass einer anfäng­ lichen und einmaligen starken Hebung lange tektoni­ sche Ruhe bis zum Beginn des nächsten Zyklus folgt, was aufgrund der didaktischen Vereinfachung eingän­ gig erschien und damit den weiteren Verlauf des Zyklus relativ leicht nachvollziehbar machte. Im Gegensatz zu Davis ging Penck von einer Hebung „mit ständig wach­ sender Phase und Amplitude" aus. Das heißt, die He­ bung eines Gewölbes beginnt mit geringer Intensität und geringem Durchmesser, beide steigern sich aber mit der Zeit, bis die Hebungsintensität wieder abebbt. Dadurch bedingt, so Penck nach seiner umfangreichen Ableitung der Hangentwicklung unter Einsatz der Diffe­ rentialrechnung, ergibt sich gleichzeitig an verschiede­ nen Stellen des Gewölbes, dass ein Schwellenwert des Flussgefälles überschritten wird, der zum Einschnei­ den in den bis dahin noch existierenden „Primärrumpf" führt. Damit setzt die „aufsteigende" Entwicklung (engl. waxing) ein, die sich in konvexen Hangprofilen und Re­ liefzunahme äußert. Die aufsteigende Entwicklung wandert auf das Hebungszentrum zu, während in di­ staleren Teilen der Piedmontfläche die „absteigende Entwicklung" (engl. waning) einsetzt, die sich durch konkave Hänge und Reliefminderung auszeichnet und schließlich zur Ausbildung eines „Endrumpfes" führt (vergleichbar der Endrumpffläche nach Davis). Jede

Piedmontfläche besitzt also einen Primärrupf und ei­ nen Endrumpf, und auf- und absteigende Entwicklung laufen an verschiedenen Stellen gleichzeitig ab. Dieses Modell, welches ebenso wie die Zyklentheorie noch kei­ ne Klimagenetische Geomorphologie kennt und somit den steuernden Einfluss von Klimawandel nicht berück­ sichtigt, versucht letztlich zu belegen, dass eine „Ste­ tigkeit der Ursache" (Hebung) zu einer „Unstetigkeit der Abtragung" führt. Das Buch von Walter Penck (1924) löste heftige De­ batten vor allem in der deutschsprachigen Geomor­ phologie aus. Eine vollständige Rezeption hat aber nicht stattgefunden, vor allem weil die Annahme einer sich ständig beschleunigenden Hebung nicht oder nur schwer (Penck 1928) nachvollzogen werden konnte. Da­ rum machte Spreitzer (1932), eigentlich Verfechter der Piedmonttreppentheorie, an diesem Punkt auch einen Kompromiss. In jüngerer Zeit haben Desire-Marchand & Klein (1987) die Piedmonttreppe im Fichtelgebirge zu bestätigen versucht, allerdings berücksichtigt die Ar­ beit zu wenig neuere methodische Fortschritte. Die Kontroverse zwischen Anhängern der Zyklenthe­ orie und jenen der Piedmonttreppentheorie geriet mit der klimagenetisch-geomorphologischen Interpretation von Rumpftreppen in mitteleuropäischen Mittelgebir­ gen (Büdel 1935) in den Hintergrund. Allerdings konn­ te sich die Klimagenetische Geomorphologie erst nach dem Zweiten Weltkrieg behaupten. Nach diesem An­ satz sind die Rumpfflächen in unseren Mittelgebirgen Reliktformen aus Zeiten mit einem (rand-)tropischen Klima mit tiefgründiger chemischer Verwitterung, wel­ ches während der Kreidezeit und bis zum Ende des Tertiärs in Mitteleuropa geherrscht habe. Dem wurde jedoch von paläontologischer Seite früh widerspro­ chen (May 1965). Nach aktuellem paläoklimatischem Kenntnisstand werden außer für die Kreidezeit ledig­ lich während des Paleozän-Eozänen Thermalen Maxi­ mums (PETM) und unter Umständen während des Un­ termiozäns tropische oder tropoide Klimaverhältnisse in Mitteleuropa angenommen. Ansonsten soll während des Tertiärs eher mediterranes bzw. submediterranes (Oberes Pliozän) Klima geherrscht haben. Die Annah­ me mehrfacher Phasen mit tropischem Klima im Terti­ är zur klimageomorphologischen Erklärung mehrerer Rumpfflächen wird dadurch zweifelhaft. Interessant ist die Feststellung, dass eine alte Kon­ troverse zwischen der Zyklentheorie und der Pied­ monttreppentheorie auch bei den bedeutendsten

15

2

Naturräumliche Übersicht

ff:_ Ir

Abb. 2.3 Geologische Übersicht von

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Deutschland (aus Glaser et al. 2007).

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Kiel•

Nordsee SchwerinJ

- Kreide -Jura

Südwest­ deutsche Großscholle

-Trias

-Perm - Karbon - Devon

Stuttgan0

- Prädevon Kristallin -

0Munchen

Känozoische Vulkanite

- Paläozoische Vulkanite 0

- Plutonite

--

16

-

100 km

---1

[?

2.2 Das hydrographische Dach Mitteleuropas

deutschsprachigen Vertretern der Klimagenetischen Geomorphologie unterschwellig weiterlebt. Nach der Theorie der „Doppelten Einebnungsfläche" Büdels (1977/1981) findet aktive Rumpfflächenbildung nur nahe der absoluten Erosionsbasis (Meeresspiegel) bzw. in intra montanen Senken statt, während höher heraus­ gehobene Rumpfflächen allenfalls der „traditionellen Weiterbildung" unterliegen (wobei heute bekannte glo­ bale Meeresspiegelschwankungen von mindestens 250 Metern seit der Oberkreide noch zu berücksichtigen wä­ ren). Diese Ansicht kommt der von Davis nahe. Louis geht nach Studien in Tanganyika (heute Tanzania) da­ von aus, dass aktive Rumpfflächenbildung in Höhen­ lagen bis 2000 Meter ü. M. ablaufen kann, womit er in die Tradition von W. Penck gestellt werden kann (Louis & Fischer 1979). Die jüngere Literatur (zusammengefasst z.B. bei Hü­ ser & Kleber 2003) eröffnet eine Möglichkeit zur Lö­ sung des Problems dahingehend, indem sie auf eine ursprünglich einheitliche kretazisch bis eozän gebil­ dete Rumpffläche in den mitteleuropäischen paläo­ zoischen Gebirgsrümpfen, die durch posthume tekto­ nische Schollenbewegungen heute in verschiedenen Höhenlagen anzutreffen ist, verweist. Die zur Bestäti­ gung dieser Ansicht erforderliche Datierung von Flä­ chen ist aber sehr problematisch und gelingt selten mit hinreichender Aussagekraft: Reste einer tiefgrün­ digen kaolinitreichen Verwitterungsdecke (Saprolith) in verschiedener Höhenlage sind nicht beweiskräftig, denn diese Verwitterung ist nicht an eine Rumpffläche gebunden und kann sich primär in verschiedener Höhenlage bilden (Felix-Henningsen 1990). Selbst wenn der günstige Fall vorliegt, dass eine Fläche von einem Lavastrom oder einer vulkanischen Decke überlagert wird und diese Überlagerung mittels der K-/Ar- bzw. der Ar/Ar-Methode sehr genau datiert werden kann, steht damit noch nicht fest, wann die Flächenbildung begonnen und wann sie aufgehört hat (vgl. Primär- und Endrumpf; s. o.). Hier helfen nur neue Methoden weiter. W. Penck versuchte, aus den Formen auf die Hebungs­ geschichte zu schließen, was aber problematisch blieb. Moderne Methoden der „Thermochronometrie" hinge­ gen können für die Geomorphologie nutzbar gemacht werden, indem umgekehrt vorgegangen wird: Bestimm­ te Mineralkomponenten des Gesteins liefern Informa­ tionen über ihre thermische Geschichte, das heißt ih­ ren Temperatur-Zeit-Pfad auf ihrem Weg aus größerer Krustentiefe an die Erdoberfläche. Damit werden unter

Annahme eines konstanten geothermischen Gradien­ ten (in der kontinentalen Kruste Mitteleuropas norma­ lerweise ca. 30 K/km) die Denudationsgeschichte und in humiden Gebieten indirekt die Hebungsgeschichte erschlossen. Unterschiedliche Denudationsgeschichten für verschiedene Schollen müssen nun seitens der Geo­ morphologie mit unterschiedlichen Großformen bzw. der Anordnung von Großformen wie Flächenresten ver­ glichen werden. Dieser neuartige Ansatz, der von der deutschen Geomorphologie im Gegensatz zur Geolo­ gie noch kaum wahrgenommen wurde, wird weiter un­ ten erläutert. Es ist an dieser Stelle nötig, die Geologie von Mit­ teleuropa zu betrachten. Dem Leser wird empfohlen, zum einen eine Geologische Übersichtskarte (Abb. 2.3) und zum anderen die „Stratigraphische Handta­ belle von Deutschland" (STDH 2012 final) bereitzuhal­ ten. Letztere fußt auf der „Stratigraphischen Tabelle von Deutschland", deren laufende Aktualisierungen auf der Internetseite der Stratigraphischen Kommis­ sion Deutschland verfolgt werden können. Einen ers­ ten Überblick über die Geologie von Deutschland ver­ mittelt die Geologische Übersichtskarte aus Glaser et al. (2007). Der komplizierte tektonische Bau Mitteleuropas und der angrenzenden Räume erfordert maßstababhängig Generalisierung und Vereinfachung. Nachfolgende Ab­ bildungen 2.4 und 2.5 eignen sich, um dennoch einen Eindruck von dem flickenteppichartigen Bau des Untergrundes Europas zu geben.

7

Abb. 2.4 Geotektoni­ sche Gliederung Europas (aus Glaser et al. 2007).

Kaledoniden (a: mit kadomi­ schem Fundament) Varisziden

� Alpidisches System

17

2

Naturräumliche Übersicht

Abb. 2.5 Der Untergrund des variszischen Europas tektonische Strukturen (aus Frisch & Meschede 2009).

KTB Kontinentale Tiefbohrung Erbendorf ZEV Zone von Erbendorf-Vohenstrauß ZTT Zone von Tepla-Taus SBP Südböhmischer Pluton MBP Mittelböhmischer Pluton W., F. Wildenfelser und Frankenberger Überschiebungen Nach liedtke S. Mardnek 1995, S.125 Is. Isergebirge K. Kellerwald Devon und Karbon, nicht metamorph, im N und S von mesozoischen und känozoischen Schichten bedeckt s. Sattel - vordevonische Schichten der saxothuringischen Zone, stellenweise metamorph M. Mulde Paläozoikum der Barrandiummulde in Böhmen Gebirge G. - Gesteine mit variszischer metamorpher Überprägung größere Über(Tepla, ZEV, ZTT; Münchberg u.a.) � schiebungen Moldanubikum (Gföhl-Einheit bzw. Drasenberg-Einheit) Gebiete mit ,, - metamorphe Gesteine am innneren Rand von Rhenoherzynikum tertiärem und Moldanubikum, Sächs. Granulitgebirge Vulkanismus spät- und posttektonische variszische Granite

......

18

Man beachte zum Beispiel, dass quer durch Mittel­ europa die „rheische Sutur" (Abb. 2.5), eine variszische Kontinent-Kontinent-Kollision, verläuft, oder wie deut­ lich die Tornquist-Linie als Teil der Tornquist-Teissey­ re-Zone heraussticht, von der an der Oberfläche nichts zu sehen ist - trotz zu erwartenden isostatischen Auf­ stieges dieses Troges mit bis über 50 Kilometer Krus­ tenmächtigkeit. Die klassische Gliederung des variszischen Gebir­ ges in Mitteleuropa nach Kossmath (1927, zit. n. Ro­ the 2009) umfasst von Nordwesten nach Südosten die vorvariszische Saumtiefe, das Rhenoherzynikum ein­ schließlich Rheinischem Schiefergebirge und Harz, das Saxothuringikum einschließlich der nördlichen Phyllitzone an seinem Nordwestrand und der mittel­ deutschen Kristallinschwelle (mit nur relativ kleinf\ä­ chigen Kristallinausbissen im Odenwald, dem Spessart und der Ruhlaer Serie) und das Moldanubikum mit pa­ läozoischen metamorphen und plutonischen Gestei­ nen in Schwarzwald und Vogesen sowie in der Böhmi­ schen Masse. Probleme bereitete die Abgrenzung und Zuordnung des metamorphen Tepla-Barrandiums in Mittel- und Ostböhmen. Die Münchberger Masse, ein Fremdkörper im Saxothuringikum, und die „Zone Er­ bendorf-Vohenstrauß" (ZEV) im Moldanubikum wer­ den heute als Deckenreste des Tepla-Barrandium an­ gesehen (Exkurs 1). Dafür sprechen besonders die Lagerungsverhältnisse mit inversem Metamorphose­ grad an der Münchberger Gneismasse: Der am höchs­ ten metamorphe Eklogit des Weißensteins bei Stamm­ bach liegt über geringer metamorphen Gneisen, was nur durch Krustenstapelung infolge Deckenüberschie­ bung erklärbar ist (Peterek & Rohrmüller 2010). Dem­ nach hätte die Decke des Tepla-Barrandiums das Fich­ telgebirge im Saxothuringikum ebenso überfahren wie den Oberpfälzer Wald im Moldanubikum. Die hier dar­ gestellte Gliederung liegt der Abbildung 2.6 (Glaser et al. 2007) zugrunde. Eine neuere, vor allem in Bezug auf das Tepla-Bar­ randium verschiedene Interpretation wird nach spezi­ ellen Studien in den Vogesen durch Edel et al. (2013) gegeben. Danach wurde das Tepla-Barrandium am Variszische Strukturen in Mitteleuropa (aus Glaser et al. 2007).

Abb. 2.6

2.3 Kontinentale Tiefbohrung (KTB) und Geomorphologie

Fränkischen Lineament weit nach Nordwesten verscho­ ben und setzt sich heute im Untergrund der Süddeut­ schen Scholle nach Südwesten bis in die nördlichen Vo­ gesen als Tepla-Barrandian-Kraichgau-Zone fort. Man darf gespannt sein, ob weitere Untersuchungen diese Ansicht bestätigen können. Unabhängig davon bleibt die Feststellung, dass die mitteleuropäische Kruste sehr stark gestört und inho­ mogen, zudem im Vergleich zum Baltischen Schild auch ausgedünnt ist. Über Inhomogenitäten des oberen Erd­ mantels unter Mitteleuropa lassen sich vor allem an­ hand der Untersuchung vulkanischer Förderprodukte Vermutungen anstellen (Ulrych et al. 2013, 2016), das Wissen darüber ist aber noch nicht gesichert. Für die Erklärung der Oberflächenformen stellt sich aber aus dem Gesagten die entscheidende Frage: Wie reagiert alte, unterkühlte, tektonisch stark beanspruch­ te und dadurch inhomogene Kruste auf neue Beanspru­ chung durch lntraplattentektonik? In Bezug auf die Geomorphologie der außeralpi­ nen mitteleuropäischen Mittelgebirge wird diese Fra­ gestellung nun konkretisiert, um den beobachtbaren und schon seit Ende des 19.Jahrhunderts beschriebe­ nen Stockwerkbau zu erklären. Wie oben diskutiert er­ geben sich drei Möglichkeiten: erstens Bruchstufen­ theorie, zweitens Zyklentheorie nach Davis (1912) und drittens Piedmonttreppentheorie nach W. Penck (1924) Zyklentheorie und Piedmonttreppentheorie wur­ den einerseits bereits als eher nicht hinreichend be­ zeichnet, andererseits wurde für die Hypothese, dass die Rumpfstufen lediglich Bruchstufen darstellen, die durch lang andauernde Erosion undeutlich geworden sind, ein Mangel an Beweisen aufgezeigt. Hinzu kommt das Problem, dass Brüche auch durch Flexuren ersetzt sein können, wodurch der Kontakt zwischen verschie­ den hoch gelegenen Rumpfflächen kaum in Form einer Landstufe erwartet werden kann (Zöller 1984). Für die Ausgangsfrage „Ist endogene und/oder exo­ gene Formung für die Existenz der Piedmonttreppe bzw. Rumpfstufen verantwortlich?" stehen grundsätz­ lich zwei Lösungsansätze bereit: erstens geomorpho­ logisch: Aus Hangformen wird auf (Neo-) Tektonik ge­ schlossen (W. Penck, H. Louis, J. Büdel). zweitens phy­ sikalisch: Denudationsgeschichte wird aus Zeit-Tempe­ ratur-Pfaden erschlossen (Thermochronologie). Beim physikalischen Lösungsansatz kommen für geomorphologische Fragestellungen nur Methoden der Niedrigtemperatur-Thermochronometrie infrage (Exkurs 2),

konkret die Uran-Spaltspuren-Methode (kurz FT von Fsi sion Track) und neuerdings die Uran-Thorium-Sama­

rium-Helium-Methode, kurz (U, Th, Sm)/He (Exkurs 2).

2.3 Kontinentale Tiefbohrung (KTB) und Geomorphologie Im Zuge des bisher umfangreichsten geowissenschaftli­ chen Großprojektes der Deutschen Forschungsgemein­ schaft DFG, dem Projekt „Kontinentale Tiefbohrung (KTB)" wurde die Verknüpfung von Thermochronologie und Geomorphologie systematisch angegangen. Nach mehrjährigen Voruntersuchungen in verschiedenen für die Tiefbohrung infrage kommenden Regionen, darun­ ter die „Zone Erbendorf-Vohenstrauß" (ZEV) in der Ober­ pfalz, der kristalline Schwarzwald und das Hohe Venn, fiel die Entscheidung auf einen Standort in der ZEV zwi­ schen Windisch-Eschenbach und Erbendorf (Abb. 2.7). Der Standort liegt nur wenige Kilometer südlich der Er­ bendorf-Linie, die hier die Grenze zwischen Saxothurin­ gikum und Moldanubikum darstellt, aber in der als De­ ckenrest des Tepla-Barrandiums aufgefassten ZEV . Die Hoffnung, eine Deckengrenze zu durchteufen, erfüllte sich nicht. Aufgrund des in Flachbohrungen festgestell­ ten erniedrigten geothermischen Gradienten sowie neu­ artiger Bohrtechniken, die eine Bohrung in bis zu 300 ° ( heißes Gestein ermöglichen sollten, wurde die tiefste Bohrung der Welt mit ungefähr 14 Kilometer Teufe (bis­ her 12,8 Kilometer auf der Halbinsel Kola) erhofft. Be­ dauerlicherweise wurde im Vorfeld nicht berücksichtigt, was Geomorphologen wussten: Die obersten mehrere Hundert Meter der Erdkruste haben wegen der schlech­ ten thermischen Leitfähigkeit von Gesteinen noch ein „Gedächtnis" an das Eiszeitalter und sind daher noch unterkühlt. Ab etwa 1000 Meter Teufe herrscht aber mit 28 ° (/km ein Gradient, der dem durchschnittlichen Gra­ dienten in Mitteleuropa (ca. 30 ° C/km) sehr nahekommt. Es wurde also nicht die tiefste aller Bohrungen, aber immerhin die heißeste: Bei 265 ° ( Gesteinstemperatur in 9101 Meter Tiefe wurde die Bohrung schließlich ein­ gestellt. Damit wurde etwa die Mindesttemperatur der Niedrig-Temperatur-Metamorphose in situ erreicht. Sowohl die Bohrkerne der Vorbohrung und der Hauptbohrung als auch die Umfelduntersuchungen stellten ein „Paradies" für die Thermochronologie und ihre Verknüpfung mit der Geomorphologie dar. Bevor die in diesem Zusammenhang relevanten Ergebnisse in Grundzügen dargestellt werden können, müssen aber einige Grundlagen und Überlegungen zur Ther-

19

7' Exkurs 1 auf der Internetseite des Verlags: www.wissenverbindet.de

7' Exkurs2aufder Internetseite des Verlags: www.wissenverbindet.de

2

Naturräumliche Übersicht

Deckgebirge (Mesozoikum-Känozoikum) TertiärQuartär Tertiäre • Basalte ::::/1 .·.-.-�

Oberkreide





Abb. 2. 7 Lage und Umfeldgeologie der Kontinentalen Tiefbohrung (KTB; aus Duyster 1995).

Jura Trias (allgemein) Muschelkalk

• •

••

Grundgebirge (Oberes Proterozoikum-Paläozoikum)

al

Rotliegendes Grundgebirge

a, nicht-metamorph b. metamorph

Granite

11111111111111111

Marmor Diabas, Diabastuffe

(Oberes Proterozoikum Altpaläozoikum)

überschobene Einheit (hochmetamorph)

mochronometrie vorausgestellt werden, insbesondere auch deshalb weil die Thermochronologie trotz ihres revolutionären Potenzials bisher in geomorphologi­ schen Lehrbüchern kaum und in deutschsprachigen überhaupt nicht dargestellt wird. Die KTB sorgte für manche Überraschungen. Die ers­ te war die durch unerwartet steile Lagerung bedingte relativ einheitliche Gesteinsabfolge aus Paragneisen, Amphiboliten und Metagneisen (Metabasiten) und de­ ren Wechselfolgen. Nicht unerwartet war hingegen die Durchbohrung des „SEl-Reflektors" in 7 Kilometer Tie­ fe, der die Fortsetzung der wenige Kilometer südwest­ lich an der Oberfläche ausstreichenden Fränkischen Linie darstellt. Eine weitere war die von den Erwartun-

20

gen auffällig abweichende Tiefenverteilung der Apa­ tit-Spaltspur-Alter (Abb. 2.8) Für Spaltspuren in Titanit konnte eine Schließungs­ temperatur von etwa 310 ° C und für die Lage der Par­ tiellen Ausheil-Zone (PAZ) zwischen etwa 265 ° C und 310 ° ( abgeleitet werden (Coyle & Wagner 1998). Die Titanit-FT-Alter sind in der Abbildung 2.9 b gegen die Tiefe dargestellt. Dabei fällt auf: Bis 4000 Meter Tiefe zeigen die Alter keine Abnahme und deuten auf eine starke Abkühlung vor ungefähr 245 Millionen Jahren zu Beginn der Trias hin. Hinweise auf eine Kopplung mit Denudation ergeben sich aus der Existenz ausgedehn­ ter triassischer Schwemmfächer südwestlich der Fränki­ schen Linie. Die Daten sprechen für eine spät- bis post­ kretazische Krustenstapelung durch Überschiebung(en). Ebenfalls gleichbleibende Alter zwischen 5500 und 7000 Meter Tiefe sprechen für ein weiteres Abkühler­ eignis vor etwa 100 Millionen Jahren während der Krei­ dezeit. Indizien für starke Denudation während der Oberkreide sind zum Teil sehr grobe oberkretazische Konglomerate im Hessenreuther Forst an der Fränki­ schen Linie sowie die Apatit-FT-Alter der obersten 2000 Meter (Abb. 2.8 a). Die Altersabnahme der Titanit-FT-Al­ ter zwischen 4000 und 5500 Metern wird als fossile posttriassische PAZ interpretiert, die während der Ober­ kreide gehoben wurde. Demnach hat es zwischen der Trias und der Kreide kaum oder keine Denudation ge­ geben. Unterhalb von 7000 Meter (SEl-Reflektor) sprin­ gen die Titanit-FT-Alter wieder von kretazisch auf trias­ sisch infolge eines vertikalen Versatzes um 3000 Meter entlang des SEI-Reflektors (Fränkische Linie). Ein genauerer Blick auf die Apatit-FT-Alter zeigt auch in diesem Abschnitt der Gesteinssäule Sprünge, visualisiert durch gerissene horizontale Linien (Abb. 2.8 b). In den obersten 2 Kilometern stellen die Apa­ tit-FT-Alter ausweislich der Spurlängen Abkühlalter dar. Folglich können in diesem Abschnitt ebenfalls Störun­ gen (Überschiebungen) vermutet werden, die in einem Stockwerk oberhalb der Apatit-PAZ (bis etwa 2 Kilome­ ter Tiefe) aktiv waren und zu einer Krustenstapelung führten. Die Annahme, dass dies noch im Tertiär und vielleicht sogar im Quartär geschah, wird regionalgeo­ logisch durch oligozäne Sedimente in Gräben und Sen­ kungszonen sowie oberoligozän-untermiozän aktiven Vulkanismus gestützt (Zöller & Peterek 2012). Aus den hier unter dem Gesichtspunkt der Ober­ flächenformen zusammengefassten Ergebnissen lässt sich folgendes Fazit ziehen: Die mesozoisch-känozoi-

2.3 Kontinentale Tiefbohrung (KTB) und Geomorphologie

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Abb. 2.8 a)

Gesteinsfolge nach Duyster et al. (1995). b) Spaltspur-Alter der Kontinentalen Tiefbohrung KTB, links Apatit-Spaltspur-Alter und mittlere Spurlängen, rechts Titanit-Spaltspur-Alter(Peterek 2016, bearbeitet nach Coyle et al. 1995). Zeit (Mio. Jahre vor heute) 350

300

250

200

150

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Phase 2 + 3: Ende Un erkreide bis ins Tertiär

Apatit PAZ Phase 1: frühe rias

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300

400

••11 Aktivität NDZ

500

Temperatur-Zeit-Pfad für die KTB. Der untere, der mittlere und der obere Block lagen vor etwa 250 Milli­ onen Jahren noch im gleichen Krustenstockwerk unterhalb der PAZ von Titanit(> 310 °C). Eine erste Krustensta­ pelung erfolgte zu Beginn des Mesozoikums: Der untere und der mittlere Block erreichten die Titanit-PAZ, wäh­ rend der obere Block bereits darunter auskühlte(< 265 °C). In der Oberkreidezeit (ab ca. 100 Millionen Jahre) und im Alttertiär(bis vor ca. 25 Millionen Jahren) erfolgte eine weitere Stapelung und Abkühlung, wodurch Teile des oberen Blockes mehr als die Apatit-PAZ (60 °C) abkühlten (Peterek 2016, bearbeitet nach Coyle & Wagner 1995).

Abb. 2.9

sehe lntraplattentektonik prägt die heutige Geomor­ phologie Mitteleuropas. „Da aber die Geomorphologie die Gestalt der Erde vom historischen und genetischen Gesichtspunkt stu­ diert, kann sie nur zusammen mit stratigraphischen, fa-

ziellen und tektonischen Untersuchungen konkretisiert werden. Von geomorphologischer Forschung kann also nur dann die Rede sein, wenn die Untersuchung der Formen sich mit dem Komplex der geologischen Erken­ nung homogenisiert" (Moldvay 1973, 5. 479).

21

250

0 Ma

3

Morphotektonik im KTB-Umfeld in anderen Teilen Mitteleuropas 3.1 Das Umfeld der KTB

Im Zuge des Projektes „Kontinentale Tiefbohrung" (KTB) wurden auch intensive Umfelduntersuchungen durch­ geführt. Apatit-FT-Alter von oberflächennahen Proben der westlichen Böhmischen Masse sind nach gruppier­ ten Altersklassen in Abbildung 3.1 dargestellt (Hejl et al. 1997). Dabei fällt auf, dass die jüngsten Alter (49 bis 65 Millionen Jahre) sich im Bereich des Steinwaldes (süd­ liches Fichtelgebirge) und des nördlichsten Oberpfäl­ zer Waldes gruppieren, Alter zwischen 65 bis 85 Millio­ nen Jahre nördlich und östlich davon im Fichtelgebirge und im Stiftland. Alter zwischen 85 und 110 Millionen Jahren treten nur im westlichen Fichtelgebirge auf und die höchsten Alter zwischen 125 und 200 Millio­ nen Jahren nur in der „Zone Erbendorf-Vohenstrauß" (ZEV) im Oberpfälzer Wald. Die Spurlängenverteilung weist ebenfalls Unterschiede auf: Manche Proben zeich-

• Hof



Bayreuth

Deckgebirge Hessenreuther Oberkreide - Granit - Grundgebirge

l!I""] 49 < FTA < 65 Ma

D 65 < FTA< 85Ma • 85 < FTA< 110Ma • 125 < FTA< 200Ma

22

nen sich durch eine nahezu ideale Gaußsche Verteilung um 15 µm Länge aus, was auf eine sehr kurze Verweil­ dauer in der PAZ (110 bis 60 ° () und somit eine rasche Abkühlung durch Denudation schließen lässt. Ande­ re Proben wie etwa Proben aus der ZEV fallen durch Asymmetrie der Spurlängen zugunsten verkürzter Spu­ ren infolge längerer Verweildauer in der PAZ auf. Von besonderem Interesse ist eine Probe (Nummer 300a in Hejl et al. 1997) aus dem geomorphologisch recht hoch liegenden (bis 700 Meter ü. M.) oberkretazischen Albenreuther Schotter im Hessenreuther Forst direkt westlich der Fränkischen Linie. Mit etwa 100 Millionen Jahren liefert sie ein Abkühlalter an der Grenze Unter-/ Oberkreide. Die Spurlängenverteilung ist stark asym­ metrisch und als einzige Probe weist sie sogar Spurlän­ gen von 4 bis 5 µm auf. Nach starker oberkretazischer Erosion im Herkunftsgebiet (Böhmen) und der Abla­ gerung muss das Orthogneissgeröll noch einmal bis in die PAZ, das heißt mehr als 2 Kilometer tief, versenkt worden sein. Die etwa 2 Kilometer mächtige oberkre­ tazisch-alttertiäre Sedimentüberdeckung muss in den letzten 30 Millionen Jahren wieder erodiert worden sein. Das erfordert eine vorangegangene starke Heraushe­ bung des Albenreuther Schotters. Mit dem Steinwald und seinem südlichen und östli­ chen Umfeld (einschließlich KTB) haben sich Bischoff et al. (1993) detaillierter beschäftigt. Die Apatit-FT-Alter zeigen eine interessante räumliche Differenzierung mit auffälligem Bezug zur regionalen Geomorphologie und Geologie. Zunächst sind die mittleren FT-Alter in der Steinwald-Region jünger als die übrigen Alter im Um­ feld der KTB (62 bis 69 Millionen Jahre). Innerhalb der Steinwald-Region lassen sich zwei Blöcke unterscheiAbb. 3.1 Räumliches Verbreitungsmuster der Apatit-Ab­ kühl-Alter von oberflächennahen Proben der westli­ chen Böhmischen Masse nach Altersgruppen im Umfeld der Koninentalen Tiefbohrung (KTB, nach Heyl et al. 1997) und Abgrenzung von Krustenblöcken mit ver­ gleichbarer Abkühlungs-/Denudationsgeschichte (aus Peterek in Zöller & Peterek 2012).

3.1 Das Umfeld der KTB

Abkühlungsmodell A:

Höhe über NN [m] 1000 500 0 -500 -1000 -1500 -2000 -2500 -3000 -3500

Differentielle Hebung bei konstantem geothermischen Gradienten MM

Fichtelgebirge

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KTB· Vorbohrung

Steinwald

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50 Ma vor heute

Abkühlungsmodell B:

Höhe über NN [m] 1000 500 0 -500 -1000 -1500 -2000 -2500 -3000 -3500

Regional gleichmäßige Hebung bei schwankendem geothermischen Gradienten MM

Fichtelgebirge

Steinwald

KTB­ Vorbohrung 32'/km

60"C-lsotherme

den, ein südwestlicher (mittlere Alter zwischen 52 und 44 Millionen Jahren) und ein nordöstlicher (mittlere Al­ ter zwischen 53 und 64 Millionen Jahren). Das höchste Alter im Steinwald ergab sich am Rumpfflächenrest der „Platte" (946 Meter ü.M., höchste Erhebung), während die Alter vom südöstlichen Steilabfall der „Platte" zu einer Rumpffläche um 600 Meter ü.M. mit ungefähr 54 Millionen Jahren und 56 Millionen Jahren deutlich jün­ ger werden. Im Bereich der ausgedehnten Rumpffläche bei Friedenfels (um 500 Meter ü.M.) liegen die mittle­ ren Alter wieder etwas höher um 60 Millionen Jahre. Die Verjüngung der Alter am Steilabfall lässt auf eine be­ schleunigte Denudation und Abkühlung dort schließen. Bischoff et al. (1993) haben auch versucht, aus den Spurlängen der projected /enghts (projizierte Längen von confined tracks, eingeschlossenen Spaltspuren, die schräg zur Mikroskopierebene verlaufen) über eine sta­ tistische Modellierung 60 ° (-Abkühlalter zu errechnen. Spätere Diskussionen haben ergeben, dass dieser An­ satz keine verlässlichen exakten Alter liefert, dennoch enthält er eine thermochronologische Information, die unter Berücksichtigung regionalgeologischer Gegeben­ heiten für die Geomorphogenese bedeutsam sein kann. (U, Th, Sm)/He-Alter, die für die Unterschreitung der 60 ° (-lsotherme geeigneter wären, liegen aus der Regi-

on leider nicht vor. Die von Bischoff et al. (1993) darge­ stellten scheinbaren 60 ° (-Abkühlalter bestätigen den für die Apatit-FT-Alter dargestellten räumlichen Trend, sprechen darüber hinaus aber für ein südwest-nor­ dost-gerichtetes Störungsmuster der Neotektonik. Vor einer morphotektonischen Interpretation der FT-Daten aus dem Steinwald mussten Abkühlungs­ modelle auf Grundlage regionalgeologischer Gege­ benheiten diskutiert werden (Abb. 3.2). Modell A geht von differentieller Hebung und Denudation bei gleich­ bleibendem geothermischem Gradienten aus, Modell B hingegen von gleichbleibender Hebung bei schwan­ kendem geothermischem Gradienten. Nach Modell B müsste unter dem Steinwald ein gegenüber den an­ grenzenden Gebieten der westlichen Böhmischen Mas­ se etwa auf den doppelten Betrag gesteigerter geo­ thermischer Gradient angenommen werden, der durch eine bedeutende tertiäre Intrusion unter dem Stein­ wald erklärbar wäre. Zwar sind im Oberoligozän und im Untermiozän Vulkane wie der Große Teichelberg bei Pechbrunn an der Ostflanke des Steinwaldes eruptiert, ein stark erhöhter geothermischer Gradient unter dem gesamten Steinwald lässt sich damit aber kaum be­ gründen. Folglich wurde das Abkühlungsmodell A be­ vorzugt.

23

Abb. 3.2 Zwei ver­ schiedene Abküh­ lungsmodelle für das Fichtelgebirge und den Steinwald (bearbeitet nach Hejl & Wagner 1990).

3

Morphotektonik im KTB-Umfeld in anderen Teilen Mitteluropas

Abb. 3.3 Tektoni­ sches Modell des Steinwaldes. Ein konstanter geother­ mischer Gradient von 30 °C/km liegt zugrunde. Die Abbildung zeigt die Lage der heutigen Oberfläche vor etwa 20 Millionen Jahren und vor etwa 40 Millionen Jahren (aus Bischoff et al. 1993).

Abb. 3.4 Schemati­ sche Nordwest-Süd­ ost-Profilschnitte durch das Eger-Rift im böhmischen Teil (A) und im bayeri­ schen Teil (B; aus Peterek in Zöller & Peterek 2012).

Höhe über NN [m] 1000 SE

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Fichtelnaab

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Bei der tektonischen Modellierung des Steinwaldes (Abb. 3.3) anhand eines Profils von der Platte bis zur Fichtelnaab flossen die oben als weniger verlässlich eingestuften 60 ° (-Abkühlalter ein. Deshalb sind die er­ mittelten mittleren Hebungsraten und die Tiefenlagen der heutigen Oberfläche vor 20 Millionen Jahren und vor 40 Millionen Jahren aus heutiger Sicht eher als An­ haltspunkte und weniger als exakte Werte anzusehen. Die präbasaltische Oberfläche (etwa 500-Meter-Rumpff­ läche), die bei Thumsenreuth von einem ins Untermiozän datierten Lavastrom bedeckt ist, müsste nach der Modellierung vor 20 Millionen Jahren noch 1 Kilometer tiefer gelegen haben (Bischoff 1993). Die relative Position der Schollen zueinander bleibt aber unberührt, wenn für alle 60 ° (-Abkühlalter der gleiche systematische Fehler vorausgesetzt wird. Es zeigt sich dann, dass tatsächlich an der steilen Südostabdachung des Steinwaldes die heutige Oberfläche vor ungefähr 20 Millionen Jahren am tiefsten lag, dort also seitdem die stärkste Denudation infolge von Hebung stattgefunden

A

E g e r

B

Rift

Oberpfälzer Wald

24

hat. Diese Geländestufe ist also eher eine Bruchstufe als eine Rumpfstufe. Diese Zone liegt in der südwest­ lichen Verlängerung des Eger-Rifts. Diese zunächst wi­ dersprüchlich erscheinende Feststellung wird nach Pe­ terek (2012) durch ein Aufspreizen des Eger-Rifts nach Südwesten erklärt (Abb. 3.4). Die in diesem Zusammenhang wichtigsten Ergeb­ nisse von Bischoff (1993), der erstmals in Deutschland die Spaltspur-Methode zur Klärung kontroverser Fra­ gen der Mittelgebirgsgeomorphologie einsetzte, sind zusammengefasst: 1> Der Steinwald stellt keine Piedmonttreppe nach W. Penck dar. 1> Die jüngsten FT-Alter, damit die stärkste Denudation (infolge Hebung) wird am Abfall des Gipfelplateaus (800-Meter-Rumpffläche) zur 500-Meter-Rumpffläche festgestellt. I> Die räumlich-zeitliche Anordnung der FT-Alter spricht für ein Schollenmosaik aus nordwest-südost- und südwest-nordost-gerichteten Blöcken. Das Relief trägt eher den Charakter einer Rumpfschollentrep­ pe als einer Rumpftreppe. 1> Die stärkste neogene Hebung erfolgte in Südwest­ verlängerung des Eger-Grabens. 1> Der Steinwald ist kein hydrographisches Zentrum; die Fichtelnaab hat ein antezedentes Durchbruchstal durch den westlichen Steinwald eingeschnitten. 1> Die alttertiäre Ausgangsform dürfte in Übereinstimmung mit Louis (198 4) eine Rumpffläche mit Inselbergen (z.B. ,,Platte") gewesen sein. Die Fränkische Linie ist nach den neueren Ergebnissen als eine wichtige Nahtstelle Mitteleuropas anzusehen. Erkenntnisse aus dem KTB-Projekt für die Genese der Landschaft am Westrand der Böhmischen Masse zur Süddeutschen Großscholle sind zusammengefasst nach Emmermann 1995: 1> Die „Zone Erbendorf-Vohenstrauß" (ZEV) erlebte ab 380 Millionen Jahre eine schnelle Heraushebung, vor 370 Millionen Jahren war sie schon auf weniger als 300 ° C abgekühlt. 1> Starke mehrphasige Deformationen erfolgten im Spröd-Duktil-Übergangsbereich (250 bis 300 ° C) und danach im Sprödbereich. 1> Mehrfache Reaktivierung des Fränkischen Lineaments erfolgte seit dem Permokarbon.

3.1 Das Umfeld der KTB I> Danach folgten noch Phasen rascher Heraushebung an der Fränkischen Linie, besonders in der Unteren Trias(ca. 245 Millionen Jahre) und der Oberen Kreide (ab ca. 100 Millionen Jahre). 1> Das Fränkische Lineament erscheint dabei als fron­ tale Rampe eines Schuppenstapels, der wohl von ei­ nem duktilen Abscher-Horizont bei 9 bis 10 Kilometer Tiefe aufstieg. 1> Die ZEV ist ein steil gestellter, tief reichender(> 9 Ki­ lometer) Krustenblock an einer ehemaligen (vorva­ riszischen bis variszischen) Suturzone, 1> ,,••• der in einem Ausmaß von Bruchtektonik betroffen wurde, wie es bisher für ein anorogenes lntraplatten­ milieu nicht für möglich gehalten wurde" (Emmer­ mann 1995, S. 119).

Fichtelgebirge

Steinwald

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Oberpfälzer Wald

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Abb. 3.5 Entwicklung im bayerischen Teil des Eger-Rifts zwischen Fichtelgebir­

Auf neuere Vorstellungen zur Ursache dieser Bruchtek­ tonik seit der Oberkreide wird weiter unten noch ein­ gegangen. Zunächst wird, nachdem für den Steinwald (südliches Fichtelgebirge) eine Piedmonttreppe abge­ lehnt wurde, auf neuere morphotektonische Forschun­ gen durch Peterek im übrigen Fichtelgebirge hingewie­ sen(Abb. 3.5). Interessant ist, dass auch Peterek(2012) ähnlich wie W. Penck eine Aufwölbung annimmt. Diese setzt jedoch viel später ein als bei Penck, und in ihrem Zentrum liegt der Steinwald und nicht das Hohe Fich­ telgebirge. An dieser Stelle sei auf eine bemerkenswerte geo­ morphologische Erscheinung in den Graniten des Ho­ hen Fichtelgebirges hingewiesen, die auch von anderen

ge und Oberpfälzer Wald, a) ausgedehnte Rumpffläche (mit intensiver Kaolini­ sierung der Oberflächen und Inselbergen) im Eozän, b) Einsetzen erster Krus­ tenbewegungen und intensiven Vulkanismus an der Wende Oligozän/Miozän, c) nach dem Höhepunkt vulkanischer Aktivität Verstärkung der Krustenauf­ wölbung und differenzielle Blockbewegungen, d) heutige Reliefsituation, Stö­ rungszonen werden teilweise vom Relief geschnitten (Fußflächen; aus Peterek in Zöller & Peterek 2012). Granitgebirgen Mitteleuropas bekannt ist: die Felsbur­ gen aus großen, oft randlich abgerundeten Blöcken. Schon Johann Wolfgang von Goethe, der seit 1785 mehrfach das Fichtelgebirge besuchte, stellte Gedan­ kengänge zu ihrer Entstehung an, die in Grundzügen bis heute Bestand haben(Abb. 3.6). Entlang von Klüften

Abb. 3.6 Der „Goethefelsen" am Ochsenkopf im Fichtelgebirge, Foto und Strichzeichnung von J. W. v. Goethe an­

lässlich seines ersten Besuches am Ochsenkopf am 1.Juli 1785 (Geotop-Nr. 472R004; Quelle: Bayerisches Landes­ amt für Umwelt).

25

3

Morphotektonik im KTB-Umfeld in anderen Teilen Mitteluropas

Abb. 3.7 Profile von der Frankenalb über die Fränkische Linie ins Grundge­ birge, a) südlicheres Profil über den Hessenreuther Forst (aus Peterek 2007), b) nördlicheres Profil im Raum Goldkronach (aus Peterek in Zöller & Peterek 2012).

und Spalten verwittert der ansonsten harte Granit zu Grus und schließlich zu Ton (Kaolinit). Diese Verwitte­ rungsprodukte werden leicht ausgewaschen und lassen Hohlräume zurück, an denen die Blöcke verstürzen oder abgleiten können oder in gelockerter Lagerung aufein­ ander liegen bleiben. Die Bedeutung von Klimawandel für die Entstehung von Felsburgen und Blockströmen hat Wilhelmy (1958) in einer ausführlichen und bis heu­ te wertvollen Studie herausgestellt. Die Tiefenverwitte­ rung erfolgte danach unter feucht-heißem tropischem Klima (auch als Silikatkarst bezeichnet), während tro­ ckeneres Klima ebenso wie kaltes Klima die Auswa­ schung der Verwitterungsprodukte begünstigte und die ehemals subterran (unter der Oberfläche) durch die Verwitterung entstandenen Blöcke (,,Wollsackblö­ cke") freilegte. Unter Periglazialbedingungen im Quar­ tär konnten die Blöcke durch Solifluktion hangabwärts wandern und Blockströme bilden. Reste der kaolinit­ reichen Mesozoisch-Tertiären Verwitterungsrinde (MTV)

(e) heute

Frankcnalb

Bruchschollenzone Hessenreuther Forst

sind im Fichtelgebirge heute noch in Beckenlagen oder auf reliefarmen Rumpfflächen in bis zu mehreren Deka­ metern Mächtigkeit erhalten, während sie in höheren Aufragungen weitestgehend abgetragen sind und nur die ehemals an der Verwitterungsfront zum festen Ge­ stein gelegenen Blockanreicherungen als Zeugen die­ ser intensiven Tiefenverwitterung erhalten blieben. In tiefen jungen Taleinschnitten finden sich keine derar­ tigen Felsburgen mehr, wodurch sie als Vorzeitformen charakterisiert werden. Die tektonische und geomorphologische Entwick­ lung an der Fränkischen Linie seit dem Mesozoikum wird in zwei Querprofilen über diese Nahtstelle hinweg verdeutlicht (Abb. 3.7 a und b). Im südlichen Profil (Abb. 3.7 a) bedecken triassische und jurassische Sedimen­ te die Fränkische Linie (FL), die am Ende der Jurazeit vor 135 Millionen Jahren an der Oberfläche nicht er­ kennbar ist. Ab der Oberkreide macht sich die Aufschie­ bung an der FL in Heraushebung der westlichen Böhmi-

Muckenlhaler Basaltdecke

Nürnberg

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3.1 Das Umfeld der KTB Abb. 3.8 Neotektonisches Modell des westlichen Eger­ Rifts und Umgebung: 1=dominierende Richtung der Ex­ tension, 2 =Pocatky-Plesnä-Erdbebenzone, 3 =vertikale Blockbewegungen (-Senkung,+ Hebung), 4=topogra­ phische Kulmination infolge Hebung der Flanken des Eger-Rifts, 5 = Orientierung der maximalen horizonta­ len Hauptnormalspannung, 6 = regionale Abdachung, schwarze Linien=wichtige Störungen, CB =Cheb-(Egerer) Becken, CFMB =Zentrales Fichtelgebirgsbecken, DB= Do­ mafüce-Becken, EG=Eger-Graben, FL =Fränkische Linie, KTB =Kontinentale Tiefbohrung, MLF =Marienbader Stö­ rung, NUPB=Nordoberpfalz Becken, SL=Kaiserwald (Slav­ kovsky !es; aus Peterek in Zöller & Peterek 2012).

sehen Masse bemerkbar. Starke Abtragung schlägt sich in bis zu mehrere Hundert Metern mächtigen terrest­ risch-limnischen Sedimenten der Oberkreidezeit nieder, darunter die Konglomerate des Hessenreuther Forstes direkt vor der FL. Die kompressive Tektonik an der FL setzt sich im Vorland, der Bruchschollenzone fort und die Kreidesedimente des Hessenreuther Forstes wer­ den nach Nordosten verkippt und bis zu 2 Kilometer tief versenkt. Im Oligozän/Miozän tritt Vulkanismus hin­ zu. In den letzten zirka 20 Millionen Jahren erfolgte be­ achtliche Abtragung, die am Beispiel des Vulkanstiels des Rauhen Kulms auf etwa 250 Meter beziffert wer­ den kann. Im nördlichen Profil erfolgte ebenfalls bis zum Ende des Juras und dann wieder während der Oberkreide Se­ dimentation. Schon am Ende der Oberkreide (ca. 65 Mil­ lionen Jahre) machte sich aber die etwa parallel zur FL verlaufende Kulmbacher Störung (KS) als Aufschiebung bemerkbar, weshalb schon vor etwa 20 Millionen Jah­ ren die mesozoischen Sedimente östlich der KS bis auf die Trias abgetragen waren. Auch danach bis heute fan­ den an der FL und den Störungen der Oberfränkischen Bruchschollenzone (wie der KS) beträchtliche tektoni­ sche Bewegungen statt. Reste der oberkretazischen Se­ dimente sind daher heute auf das Gebiet westlich der Hollfelder Störung (HS) begrenzt. Das Fränkische Lineament und das Eger-Rift stel­ len die bedeutendsten Faktoren für die morphotekto­ nische Entwicklung seit der Oberkreidezeit an der mit­ teleuropäischen Nahtzone zwischen Böhmischer Masse und Süddeutscher Scholle dar. Die ursprüngliche Vor­ stellung von W. Penck über die Bildung einer Piedmont­ treppe im Fichtelgebirge lässt sich nach den neueren Erkenntnissen nicht aufrechterhalten. Brüche habe das

Schneeberg-Massiv Sedimente

+

+

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C

Resistenz- bzw. Pedimentationsstufe, Bruchstufen

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Abb. 3.9 Morphogenetisch-morphotektonisches Modell für das Zentrale Fich­ telgebirge. Im Alttertiär hatte sich ein Flachrelief (Rumpffläche) mit einzelnen Inselbergen (z.B. Schneeberg) entwickelt, welches von einer mächtigen kaolini­ tischen Verwitterungsdecke (Saprolith) überzogen wurde (A). Diese dürfte der von Felix-Henningsen (1990) im Rheinischen Schiefergebirge bearbeiteten Me­ sozoisch-Tertiären Verwitterungsrinde (MTV) entsprechen, deren Bildung dort nachweislich bis in die Kreidezeit zurückreicht. An der Wende Oligozän/Miozän setzte im Fichtelgebirge Vulkanismus mit begleitender tektonischer Verstellung des Ausgangsreliefs ein (B). Postvulkanisch erfolgte eine jüngere flächenhafte Überprägung (Pedimentation) des Reliefs, bei der der Saprolith teilweise ero­ diert und ebenso wie ältere Verbiegungen des Reliefs und Störungen gekappt wurde (C). Es bilden sich Resistenz- und Pedimentationsstufen, teilweise auch noch Bruchstufen (Peterek in Zöller & Peterek 2012).

27

3

Morphotektonik im KTB-Umfeld in anderen Teilen Mitteluropas

Bild modifiziert. Damit ist aber nicht automatisch ge­ sagt, dass alle im heutigen Landschaftsbild der Bruch­ schollenzone, der FL und der westlichen Böhmischen Masse auftretenden Stufen Bruchstufen darstellen. Zu­ mindest in einigen Fällen muss auch die Möglichkeit von Bruchlinienstufen in Betracht gezogen werden, in der Bruchschollenzone mit ihren mesozoischen Gestei­ nen auch Schichtstufen. Nach jahrelangen Untersuchungen wurde ein neo­ tektonisches Modell für das westliche Eger-Rift und sei­ ne Umgebung entwickelt. Auch im Fichtelgebirge sind danach differenzierte Hebungs- und Senkungsgebie­ te auszumachen (Abb. 3.8), darunter das Zentrale Fich­ telgebirgsbecken. Unter Zugrundelegung dieses neo­ tektonischen Modells kann die geomorphologische Entwicklung des zentralen Fichtelgebirges wie in den Abbildungen 3.8 und 3.9 dargestellt zusammengefasst werden.

3.2 Weitere thermochronologische Ergebnisse aus Mitteleuropa Nachdem nun das hydrographische Dach Europas und das KTB-Umfeld exemplarisch näher behandelt wurden, stellt sich die Frage, ob und inwiefern die hier gewon­ nenen neueren Erkenntnisse auf andere Regionen Mit­ teleuropas übertragbar sind. Leider liegen thermochro­ nologische Daten nur von einigen mitteleuropäischen Regionen vor. Im belgischen Grundgebirge untersuchen Vercaute­ re & Van den houte (1993) das südliche Massiv von Bra­ bant und die Mulde von Dinant. Die Spurlängen aller Proben weisen auf eine beständige und relativ rasche Abkühlung durch die PAZ. Die mittleren Apatit-FT-Al­ ter nehmen im Brabanter Massiv von etwa 146 Millio­ nen Jahren im Westen auf etwa 200 Millionen Jahre im Osten zu, auch die beiden Proben aus der Mulde von Dinant liegen um 200 Millionen Jahre. Trotz relativ ge­ ringer Reliefunterschiede von nur einigen Hundert Me­ tern zeigt sich eine Abhängigkeit der Alter von der Hö­ henlage derart, dass die Proben von höher gelegenen Standorten höhere Alter aufweisen. Die Zeit-Tempera­ tur-Pfade (T-t-Pfade) sprechen für eine rasche Abküh­ lung durch Hebung und Erosion während der kimme­ rischen tektonischen Phase (Jura) in Nordwesteuropa, wohingegen jüngere tektonische Phasen keinen merk­ lichen Niederschlag mehr im Abkühlverhalten fanden. In den kristallinen Gebieten von Schwarzwald, Oden­ wald und Vogesen wurden Apatit-FT-Alter in den Al-

28

tersklassen 25 bis 50 Millionen Jahre, 50 bislO0 Milli­ onen Jahre und 100 bis 200 Millionen Jahre dargestellt (Wagner 1990). Die jüngste Altersgruppe dominiert in den Vogesen, im Hochschwarzwald und vereinzelter im Nordschwarzwald, während im Mittleren Schwarzwald und an der Abdachung des Hochschwarzwaldes zum Hochrhein Alter zwischen 50 und 100 Millionen Jahren vorherrschen. Diese räumliche Verteilung wird als Er­ gebnis von ausgeprägter Bruchschollenbildung im Zu­ sammenhang mit der Entstehung des Oberrheingra­ bens interpretiert. Im Odenwald herrschen im Norden Alter der höchsten Gruppe (100 bis 200 Millionen Jah­ re) vor, die nach Süden und zu den Rändern jünger (50 bislO0 Millionen Jahre) werden. Aus dem böhmischen Barrandium wurden durch Glasmacher et al. (2002) Apatit-FT-Alter mit mittleren Altern zwischen 196 und 324 Millionen Jahren vorge­ legt. Diese im Vergleich zu den Altern von der West­ böhmischen Masse deutlich höhere Altersspanne be­ legt eine deutlich frühere Abkühlung und Exhumation des Barrandiums. Nach einer Aufheizung im Oberde­ von/Unterkarbon infolge der variszischen Orogenese erfolgte eine Abkühlung infolge Denudation im Karbon. Eine weitere Abkühlung während des Mesozoikums bis zur Oberkreide erklärt sich durch einen lang andau­ ernden langsamen bis moderaten Exhumierungspro­ zess des zentralen variszischen Gürtels. Entsprechend ist das heutige Relief in einem Nordwest-Südost-Profil relativ gering ausgeprägt. Die Bedeckung durch krei­ dezeitliche Sedimente im Böhmischen Becken war nicht mächtig genug, um die präkretazische Oberflä­ che nochmals bis in die PAZ zu versenken. Im Nord­ west-Barrandium weisen die T-t-Pfade auf eine schnelle Abkühlung bis zur Unteren Trias und eine langsame bis zur Oberkreide hin, im Südwest-Barrandium (Brdy-Wad) hingegen auf eine schnellere Exhumierung während der Unterkreide im nörlichen und zentralen Teil und im südlichen Teil auf eine wesentlich schnellere Abküh­ lung bis zum Mittleren Jura und auf eine Abkühlung bis nahezu auf Oberflächentemperatur bis zur Oberkreide. Im Zentral-Barrandium sprechen die T-t-Pfade für eine langsame Exhumierung bis zum Mittleren Jura, gefolgt von schnellerer Exhumierung während der Unterkreide. Aus dem Waldviertel (Österreich, südöstliche Böhmi­ sche Masse) wurden Apatit-FT-Alter von Hejl et al. (2003) publiziert. Geomorphologisch ist die Region aus verschiedenen Gründen interessant. Sie unterlief verschiedene Phasen der Einebnung (Peneplanation),

3.2 Weitere thermochronologische Ergebnisse aus Mitteleuropa

zeitweilig unterbrochen durch flachmarine lngressio­ nen während der Oberkreide und des Miozäns. Zwei bedeutende Störungen, die Vitis-Störung im Westen und die Diendorf-Störung im Osten durchziehen das Arbeitsgebiet. Im nordwestlichen Waldviertel treten auf Granit weitverbreitet morphologische Relikte ei­ nes tropischen Klimas auf, die mit einer exhumierten präoberkretazischen Verwitterungszone zusammen­ hängen können. Drei höher gelegene annähernd hori­ zontale Verebnungen erstrecken sich im Weinsberger Wald zwischen 880 und 710 Meter ü. M., tiefer gelege­ ne (vermutlich neogenen Alters) in der Nähe der Donau zwischen 550 und 400 Meter ü. M. Die mitteleuropäische Hauptwasserscheide verläuft grob entlang der tsche­ chisch-österreichischen Grenze. Die mittleren FT-Al­ ter variieren zwischen 233 Millionen Jahren im Norden (Mittlere Trias) und 92 Millionen Jahren (frühe Oberr­ keide) im Westen des Untersuchungsgebietes. Sie neh­ men im Großen und Ganzen von Westen nach Osten und von Süden nach Norden zu. Die Spurlängenvertei­ lung spricht für ein längeres Verweilen in der PAZ. Die T-t-Modellierungsergebnisse sprechen dafür, dass das tektonische Thaya-Fenster und die Vitis-Störung keine signifikaten Vertikalbewegungen während der Kreide­ zeit und im Känozoikum erlebten. Eine kontinuierliche Abkühlung seit Beginn des Mesozoikums erscheint aus­ geschlossen zugunsten einer schrittweisen Abkühlung und einer möglichen oberkretazischen Versenkung um maximal 1 Kilometer. Der gesamte känozoische Abtrag seit 65 Millionen Jahren wird mit 1 bis 3 Kilometern an­ genommen. Aus dem sächsischen Grundgebirge haben Lange et al. (2008) die beachtliche Zahl von 96 Apatit-Spalts­ pur-Altern zwischen 38 Millionen Jahren und 210 Mil­ lionen Jahren ermittelt und ihre Altersverteilung gra­ phisch dargestellt (Abb 3.10). Aus den Spurlängen lässt sich überwiegend eine zweiphasige Abkühlung ableiten. Nahezu alle Proben haben vor dem Känozoi­ kum die 60 ° (-lsotherme deutlich unterschritten. Dem­ nach haben die heute an der Oberfläche anstehenden Grundgebirgsgesteine in der Kreidezeit eine deutliche Abkühlung erfahren. Die Proben aus der Lausitz (50 bis 102 Millionen Jahre) lagen noch bis zur Unterkreide un­ terhalb der PAZ im Bereich vollständiger Spurenaushei­ lung und sind erst in der Oberkreide unter 60 ° ( abge­ kühlt. Das unterstützt die Annahme einer mächtigen mesozoischen Sedimentbedeckung, deren Reste heu­ te infolge starker oberkretazisch-alttertiärer Abtragung

(ca. lO0m/Ma) nur noch punktuell im Bereich der Lau­ sitzer Überschiebung existieren. Die noch wenigen Da­ ten aus der Elbezone lassen eine ähnliche thermotek­ tonische Entwicklung wie in der Lausitz vermuten. Die deutlich älteren Proben aus dem Granulitgebirge (82 bis 198 Millionen Jahre) lassen hingegen auf eine lang andauernde kontinuierliche Abkühlung schließen; sie lagen zu Beginn der Kreidezeit schon oberflächennah, ähnlich wie Proben aus dem Vorerzgebirgsbecken(150 bis 210 Millionen Jahre). Im Erzgebirge und Vogtland liegen die Alter zwischen 45 und 210 Millionen Jah­ ren und lassen keine Korrelation zur topographischen Höhe erkennen, aber eine regional differenzierte Ver­ teilung. Im West- und Osterzgebirge treten unter- und oberkretazische Alter auf, während im mittleren Teil (vor allem Flöha-Zone) jurassische und unterkretazi­ sche Alter vorherrschen. Darin schlägt sich eine unein­ heitliche und komplexe postvariszische thermotekto­ nische Entwicklung des Erzgebirges nieder. Der Betrag der känozoischen Exhumierung des gesamten Erzge­ birges tritt aber hinter dem der mesozoischen deutlich zurück, auch wenn aus geologischen und geomorpho­ logischen Gründen eine känozoische Hebung des Erz­ gebirges von über 1000 Metern angenommen werden muss. Diese schlägt sich aber im Apatit-Spaltspur-Sys­ tem nicht nieder, weil alle Proben im gesamten Käno­ zoikum oberhalb der PAZ lagen. Der känozoische Anteil der Exhumierung des Erzgebirges wird mit weniger als 1 Kilometer angenommen. Die Häufigkeitsverteilung der Spaltspur-Alter aus dem sächsischen Grundgebir­ ge mit Maximum in der Oberkreide und dem ältesten Tertiär zeigt die Abbildung 3.10. Anzahl 20

Trias

Jura

Känozoikum

Kreide

15

10

5

komplexe postvariszische thermotektonische Entwicklung

_._ .. 200

150

100

50

Alter

0

Abb. 3.10 Häufigkeitsverteilung von Apatit-Spaltspur-Altern aus dem sächsi­ schen Grundgebirge (bearbeitet nach Lange et al. 2008).

29

3

Morphotektonik im KTB-Umfeld in anderen Teilen Mitteluropas

Spaltspurenalter

0 cg

Q)

0 Abb. 3.11 Räumliche Verteilung von Apa­ tit-PT-Altern in Sach­ sen (bearbeitet nach Lange et al. 2008).

Abb. 3.12 Räum­ liche Verteilung der thermochrono­ metrischen Alter im Riesengebirge. Das Gipfelplateau wird durch graue gerissene Linien begrenzt. Das von dicken schwarzen gerissenen Linien umgrenzte Gebiet besteht aus Granit (bearbeitet nach Danisfk et al. 2010).

200Ma

Aus dem Riesengebirge (Karkonosze) am Nord­ ostrand der Böhmischen Masse wurde durch Danisik et al. (2010) eine Studie vorgelegt, die aus verschiede­ nen Gründen von besonderem Interesse für die Geo­ morphologie ist (Migon & Danisik 2012). Die Arbeit adressiert die Probleme der geomorphologischen Mo­ dellbildung in einem Gebiet, in dem Gipfelplateaus die umgebenden Hügelländer um bis zu etwa 1000 Meter überragen, und setzt eine Kombination aus Apatit-FT-Altern (AFT) und (U, Th)/He-Altern an Zirkonen (ZHe) sowie (U, Th, [Sm])/He-Altern an Apatiten (AHe) zur Ermittlung der Denudationsgeschichte ein. Damit stehen am gleichen Probenmaterial gleich drei ver­ schiedene Schließungstemperaturen zwischen unge• .,___ Probenlage

K·? ..._,_ Probenname 87.2±3.8* +- AHe-Alter {Ma) 88.4±5.7t- AFT-Alte,(Ma)

30

fähr 190 ° ( und ungefähr 60 ° ( bereit. Aus der Analyse von Beckensedimenten der Umgebung des Riesenge­ birges geht hervor, dass der Karkonosze-Jizera-Pluton, der vor etwa 310 bis 330 Millionen Jahren in einer Tiefe von 7 bis 8 Kilometern erstarrte, am Ende des Perms bereits exhumiert und weitgehend eingeebnet war. Die Lausitzer Überschiebung östlich von Pirna (Elbe), die ebenso wie die Fränkische Line etwa von Nordwest nach Südost streicht und an der der Lausitzer Granit als westlicher Teil des Sudenten-Blockes über Oberkrei­ desedimente des Böhmischen Kreidebeckens gescho­ ben wurde, bezeugt kompressive Tektonik am Ende der Kreide bis ins Alttertiär. In tektonischen Gräben nörd­ lich und südlich der Sudeten, deren Entstehung im Zusammenhang mit dem Eger-Rift gesehen wird, be­ gann Sedimentation im Untermiozän. Im Mittelpleisto­ zän waren die Sudeten ähnlich hoch wie heute, sodass eine eigenständige lokale Gebirgsvergletscherung er­ möglicht wurde. Diese geologischen Kenntnisse setzen den Rahmen für die Interpretation der Daten. Auf dem Prüfstand steht die verbreitete Ansicht, dass das Gip­ felplateau des Riesengebirges das Relikt einer paläo­ genen (alttertiären) Rumpffläche sei, die entlang von Störungen im Neogen (Jungtertiär) differenziert geho­ ben und/oder verkippt und anschließend durch Flüsse zerschnitten wurde. Die räumliche Darstellung der ermittelten Alter (Abb. 3.12) sowie die Zeit-Temperatur-Diagramme (T-t-Diagramme; Abb. 3.13) lassen andere Schlussfolgerungen zu. Alle Alter außer einem (s.u.) sprechen für oberkretazische Abkühlalter. Die zwei mittleren AHe-Alter scheinen geringfügig jünger als die entsprechenden AFT-Alter, die jeweiligen Alter sind aber nicht signifi­ kant verschieden. Vergleichbares gilt für das ZHe-Alter der Probe K-7. Von besonderem Interesse ist aber die Probe K-11 mit einem jungpaläozoischen Alter. Die T-t-Pfade aller fünf Proben ergeben eine sehr schnelle Abkühlung während der Oberkreide mit einer durchschnittlichen Exhumierungsrate von etwa 300 m/Ma zwischen 90 und 75 Millionen Jahren, gefolgt von etwa 7 m/Ma bis heute. Am deutlichsten wird dies für Probe K-7, die zwischen etwa 100 Millionen Jahren (Ende Unterkreide) und etwa 75 Millionen Jahren von etwa 200 ° ( auf nahezu Oberflächentemperatur abge­ kühlt ist. Bei den Proben K-3 und K-9 spricht die „Güte des Fits" der Modellierung dafür, dass die Proben etwa an der Kreide-Tertiär-Grenze (66 Millionen Jahre) un­ ter die Partielle Retentions-Zone (PRZ) des Apatit-He-

3.2 Weitere thermochronologische Ergebnisse aus Mitteleuropa

lium-Systems (40 ° () abgekühlt sind und auch noch während des Tertiärs langsam bis zur Oberflächen­ temperatur abkühlten. Damit könnte das Maximalal­ ter der Einebnung des Gipfelplateaus mit etwa 75 Mil­ lionen Jahren (Oberkreide) angenommen werden. Eine plio-pleistozäne erneute Hebung hätte sich in den be­ nutzten thermochronometrischen Systemen noch nicht niedergeschlagen. Bei der Probe K-11 (AFT-Alter 296 ± 11 Millionen Jahre) lässt der T-t-Pfad verschiedene Interpretationen zu: Zum einen kann die Abkühlungs­ und Denudationsgeschichte ähnlich wie bei den an­ deren Proben gedeutet werden. Die alternative Mög­ lichkeit besagt, dass sich im Anschluss an die schnelle Abkühlung und Exhumierung im Oberkarbon eine seit langem immer wieder diskutierte „Permische Rumpf­ fläche" entwickelte, die von einige Tausend Meter mächtigen oberpermischen, triassischen und vielleicht auch jurassischen Sedimenten am Südrand des Mittel­ europäischen Beckens bedeckt und in der Oberkreide infolge einer tektonischen Inversion wieder exhumiert wurde. Das Gipfelplateau des Riesengebirges kann

demnach sowohl als Relikt der permischen Rumpfflä­ che als auch der maximal oberkretazischen Rumpfflä­ che interpretiert werden. Oberkretazische bis paleozäne starke Abkühlung und Exhumation wurde auch am Südostabschnitt (Rych­ lebske hory, Reichensteiner Gebirge, G6ry Ztote) der Sudetenrandstörung (Nordostrand der Sudeten) über mehrere thermochronologische Methoden festgestellt (Danisfk et al. 2012). Die Autoren folgern, dass das pa­ läozoische Grundgebirge bis zu maximal 7 Kilometer mächtig von Sedimentgesteinen bedeckt war und dass das Kreidemeer eine weitaus größere Verbreitung hat­ te als bisher angenommen, womit die für die Kreidezeit angenommene „Sudeteninsel" fragwürdig wird. Aus den AFT- und AHe-Altern ist keine neogene Denudation von mehr als 1,5 Kilometern erkennbar, allerdings liegen vom Nordostrand des Eulengebirges (Sowie G6ry) und des Reichensteiner Gebirges (Rychlebske hory) auch geomorphologische Hinweise auf pliozäne und quar­ täre Hebung vor (Badura et al. 2007). An einem Bagger­ schurf quer über die Sudetenrandstörung bei Bila Hora,

J...

Zeit (Ma) 31 -....-...... ___...___"" ____, .....---.... ---... ------. ..-3... -.--3...-.-- ....- .......- ... -....-... 4 1 o 0 a 40 26 o 00 10 22 o 1 0 .!9 02 1o 02 40 60 o 0

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Platznahme des Karkonosce-Jizem-Plutons

Postorogene Freilegung des Plutons ._.? Sedimentbedeckung 4

Permi��he Rumpffläche?

.

-

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Prä-Rift und Syn-Rift Vulkanismus im Egergraben

Sedimentation Böhm. Kreide

Vulkanis



eitsgebiet

Starke Exhumierung

variszischer Massive ?······----• Bildung topographischen Reliefs

im Riesengebirge ?••••••

Reliefzerfall und Flächenbildung

•••••?

Mindestalter der Flächenbildung ?• ... - •?

Höchstalter der Flächenbildung

Abb. 3.13 Thermische und tektonische Entwicklung des Riesengebirges. Oben: Zeit-Temperatur-Diagramm mit Zusammenstellung von „gutem Fit" aller Proben. Mitte: mittlere Exhumierungsraten (schwarz) mit Fehlerbalken (grau). Unten: wichtige morphotektonische Ereignisse, ZePRZ = Partielle Retentionszone des Zirkon-Helium-Sys­ tems, AHePRZ = Partielle Retentionszone des Apatit-Helium-Systems, APAZ = Partielle Ausheilzone in Apatit (be­ arbeitet nach Danisik et al. 2010).

31

3

Morphotektonik im KTB-Umfeld in anderen Teilen Mitteluropas

überdachter Baggerschurf an der Sudeten­ randstörung bei Bila Voda, Rychlebske hory. Helle­ res zerrüttetes Grundgebirge aus Gneis und Migmatit (links hinten) ist steil über miozäne Sedimente (nicht sichtbar) überschoben. Links vorne und rechts hin­ ten ist teilweise dunkle Störungsbrekzie zu sehen, die dunklen Partien sind zu feinkörnigen Fraktionen zer­ rieben (Foto: Ludwig Zöller, 2016). Abb. 3.14

7' Exkurs 3 auf der Internetseite des Verlags: www.wissenverbindet.de

Rychlebske hory, wird sogar spätglaziale und holozäne tektonische Aktivität der Randstörung (Überschiebung) offenkundig (Abb. 3.1). Im Heuscheuergebirge (G6ry Stotowe) südöstlich des Riesengebirges in den Sudeten prägt die tektoni­ sche Inversion die Oberflächenformen besonders ein­ drucksvoll (Abb. 3.15). Dort lagern, ähnlich wie im Elb­ sandsteingebirge, oberkretazische Sedimentgesteine des lnnersudetischen Beckens (,,Pläner" und Quader­ sandsteine) diskordant über Grundgebirge und sind

stark herausgehoben (heutige Höhe bis 919 Meter ü. M.). Die hangenden Quadersandsteine bilden deut­ lich sichtbare Tafelberge aus. Der schmale, von Nord­ west nach Südost verlaufende Graben als nordöstlichs­ ter Rest des Böhmischen Kreidebeckens ist von höher aufragendem Grundgebirge umgeben. Der von Nordwesten nach Südosten verlaufen­ de Thüringer Wald in der Verlängerung des Franken­ waldes wird im Südwesten von der Fortsetzung des Fränkischen Lineaments begrenzt. Der Ruhlaer Kris­ tallin-Komplex (RCC) im nordwestlichen Teil des Thü­ ringer Waldes ist Teil der Mitteldeutschen Kristallin­ schwelle. Am Ende des Paläozoikums lag der RCC nach Thomson & Zeh (2000) bereits an der Oberfläche. Apa­ tit-FT-Alter (gewichtetes Mittel 78 ± 1,5 Millionen Jah­ re) belegen aber eine erneute Versenkung und Auf­ heizung auf> l 10 °C bis vor etwa 85 Millionen Jahren. Während der Oberkreide erfolgte eine beschleunigte Abkühlung durch die Apatit-PAZ beginnend vor etwa 85 bis 80 Millionen Jahren bis vor 80 bis 70 Millionen Jahren, was auf tektonische Inversion während dieser Zeit zurückgeführt wird. Dies erfordert entweder einen ungewöhnlichen Temperaturgradienten von 60 °C/km während der Oberkreide oder die Abtragung von etwa 1400 Meter jurassischer und kretazischer Sedimentge­ steine. Die Autoren favorisieren eine Kombination aus erhöhtem Gradienten und starker Denudation. Sie neh­ men für die Oberkreide eine nordost-südwest-gerichte­ te kompressive Druckspannung an, in deren Folge älte­ re nordwest-streichende Störungen reaktiviert wurden. Dem folgte im Tertiär eine Nord-Süd-Druckspannung und Ost-West-Dehnung Mitteleuropas. Das aktuelle Blick von der Heuscheuer (G6ry Stolowe) nach Nordwesten auf die östlichen Ausläufer des Rie­ sengebirges (Hintergrund links) und die G6ry Kamien­ ne (Steinegebirge, Hintergrund rechts). Im Bildmittel­ grund sind wandbildende Sandsteine der Oberkreide zu sehen (Foto: Ludwig Zöller, 2015).

Abb. 3.15

32

3.3 Verursacher der lnversionstektonik: Alpen oder Afrika?

Abb 3.16 Oberkretazische Entwicklung des Harzes. Zu­ nächst (A) bildet sich eine Antiklinale im Mittleren Coni­ ac (88 bis 87 Millionen Jahre), bevor im Mittleren Santon (ca. 85 Millionen Jahre) die Überschiebung über das sub­ herzynische Kreidebecken (SCB) beginnt (B). Im Oberen Santon (ca. 84 Millionen Jahre) führt der starke eustati­ sche Meeresspiegelanstieg zur Ausweitung des Beckens (C). Die Überschiebung verstärkt sich an der Santon/Cam­ pan-Grenze (83,5 Millionen Jahre), ab der sich ein stärke­ rer Abtrag der mesozoischen Deckschichten des Harzes in der Lieferung charakteristischer Schwer- und Leichtmi­ nerale (grt = Granat, ap = Apatit, F = Feldspäte, Lern= mik­ ritische Carbonate) niederschlägt. Die Aufschiebung des Harzes kulminiert im Unteren Campan (83 bis 82 Milli­ onen Jahre). Jetzt erreicht die Erosion das Grundgebir­ ge des Harzes, wodurch überwiegend die ultrastabile Zirkon-Turmalin-Rutil-(ZTR)-Schwermineralassoziation geliefert wird, gemeinsam mit paläozoischen Gesteins­ bruchstücken (L,g; D). Die Hauptphase der Exhumierung des Harzes wird demnach auf eine kurze Zeitspanne zwi­ schen dem Mittleren Santon und dem untersten Campan, das heißt zwischen 86 und 85 Millionen Jahren und 83 und 82 Millionen Jahren, festgelegt. In diesem Zeitraum von 2 bis 4 Millionen Jahren muss der Hauptteil des bis zu 7 Kilometer betragenden Versatzes an der Harznord­ randstörung passiert sein und als Folge wurden 2 bis 3 Ki­ lometer Deckschichten denudiert. Damit wird eine Präzi­ sierung der mitteleuropäischen Beckeninversion erreicht, die diejenige der Niedrigtemperatur-Thermochronome­ trie (Apatit-FT, [U, Th]/He) übersteigt, die aber durch die vorliegenden thermochronologischen Daten unterstützt wird (bearbeitet nach von Eynatten et al. 2008).

Hauptdruckfeld ist ostsüdost-westnordwest-gerichtet mit geringerer Dehnung an älteren nordwest-streichen­ den Störungen und Kompression oder Blattverschie­ bung entlang älterer nord-süd-verlaufender Störungen. Der Harz und das anschließende subherzynische Kreidebecken stellen nach von Eynatten et al. (2008) das prominenteste Beispiel für oberkretazische lnversi­ onsstrukturen an der Erdoberfläche in Mitteleuropa dar. Die Mechanismen und die Zeitstellung der Exhumie­ rung des Harzes werden anhand detaillierter Untersu­ chungen der kreidezeitlichen Beckensedimente rekon­ struiert. In nur 2 bis 4 Millionen Jahren wurde danach eine 2 bis 3 Kilometer mächtige mesozoische Sedi­ mentbedeckung des Harzes abgetragen. Danach ergibt sich eine Exhumierungsrate von annähernd 1 mm/a

D Santon/Campan­ Grenze (ca. 83,5 Ma)

(1000 m/Ma) im Unteren Campan in Übereinstimmung mit Apatit-FT-Altern (Thomson et al. 1997). Die Ergeb­ nisse sind zusammenfassend in Abb. 3.16 dargestellt.

3.3 Verursacher der lnversionstektonik: Alpen oder Afrika? Die oberkretazisch-alttertiäre lntraplattentektonik Mit­ teleuropas (saxonische Gebirgsbildung) wird traditio­ nell mit der subherzynen bis (früh-)laramischen Phase der alpinen Tektonik in Beziehung gesetzt, als die euro­ päische und die Adriatische Platte kollidierten und sich etwa zugleich der Nordatlantik öffnete (Rothe 2009, Walter 1995, Liedtke & Marcinek 1994). Danach wäre die (ober-)kretazische Änderung der Bewegungsrich­ tung der afrikanischen Platte gegenüber der eurasiati-

33

3

Morphotektonik im KTB-Umfeld in anderen Teilen Mitteluropas



E 10 °

1

10 °

20 ° W

so·

40 °

Überschiebung

@

Überschiebung/ Blattverschiebung

Blattverschiebung

Referenz (Tabelle DR 1)

Abb. 3.17 Beanspruchung der west- und mitteleuropäischen Kruste von der Oberkreide bis ins Alttertiär (Quelle: GSA Data Repository Item DR2008219, bearbeitet nach Kley & Voigt, www.geosociety.org). sehen von einer (süd-)östlichen in eine nördliche Rich­ tung ursächlich für die beschriebene Tektonik. Dieser Auffassung halten Kley & Voigt (2008) entge­ gen, dass die Kinematik der sich in der Oberkreide bil­ denden Alpen (Verkürzung in Nord- bis Nordwest-Rich­ tung, nicht Nord bis Nordost) sowie ihre damalige Lage, als noch Reste des Südpenninischen Ozeans zwischen Alpen und Europa lagen, gegen eine Verantwortlich­ keit für die lntraplattenkompression Mitteleuropas mit Beckeninversion und Grundgebirgsüberschiebun­ gen während der Oberkreide sprechen (Abb. 3.17). Viel­ mehr legen Strukturen von gleichem Alter und gleicher Kinematik in Südfrankreich, Spanien und Nordwestaf­ rika nahe, dass der kurze (nur etwa 15 Millionen Jahre dauernde) Kontraktionspuls dadurch verursacht wur­ de, dass die ausgedünnte und stark beanspruchte mit­ teleuropäische Kruste zwischen dem Baltischen Schild und dem Afrikanischen Schild eingequetscht wurde,

34

womit die Konvergenz von Afrika, lberia und Europa eingeleitet wurde und ältere Schwächezonen der west­ und mitteleuropäischen Kruste reaktiviert wurden. Erst im Paleozän und Eozän (Alttertiär) nach der Subdukti­ on des Südpenninischen Ozeanbodens und der Kollisi­ on der Adriatischen Mikroplatte mit der eurasiatischen Platte erfolgte eine mechanische Kopplung zwischen Afrika, Europa und der Adriatischen Platte mit nord­ wärts gerichtetem Ineinanderschieben des stark ge­ dehnten passiven europäischen Kontinentalrands. Vom Oberen Oligozän an rotierte die Hauptdruckspannung gegen den Uhrzeigersinn gegen Nordwesten. Weiter unten wird im Zusammenhang mit den Eisrandlagen der nordischen Vereisung in Europa auf diese Hypothe­ sen von Kley & Voigt zurückzukommen sein.

3.4 Konsequenzen für die Großformen Mitteleuropas Die in den vorangegenagenen Texten referierten neu­ eren geologischen und vor allem geochronologischen Erkenntnisse bilden die Voraussetzung, um die folgen­ den Gedanken über eine Revision bisheriger Lehrmei­ nungen zur Geomorphogenese der mitteleuropäischen Mittelgebirge nachvollziehen zu können. Danach sind die Großformen unseres Betrachtungsraumes mit weni­ gen räumlich unbedeutenden Ausnahmen erst seit dem Tertiär entstanden. Vor allem die in der Nachkriegszeit jahrzehntelang vorherrschende Klimagenetische Geo­ morphologie sah im auffälligen Stockwerkbau deut­ scher Mittelgebirge eine unter warm-feuchtem (,,tro­ poidem") Klima gebildete mehrgliedrige Rumpftreppe. Dieser Ansatz wurde erst in jüngerer Zeit zugunsten ei­ ner morphotektonischen Interpretation revidiert (Pete­ rek 2012, Hüser & Kleber 2002), wobei aber auch von einer unter tropischem Klima entstandenen Rumpfflä­ che ausgegangen wurde. Östlich einer Linie vom Osning über den Teutobur­ ger Wald, den Thüringer Wald, den Frankenwald, das westliche Fichtelgebirge, den Oberpfälzer Wald und den Bayerischen Wald (Abb. 3.18) fallen mehr oder weniger Nordwest-Südost-Streichrichtungen der Hö­ henzüge ins Auge, also mehr oder weniger parallel zur Tornquist-Teysseire-Zone. Daneben tritt, vor allem ent­ lang des Eger-Rifts, die Südwest-Nordost-Erstreckung (erzgebirgisch) in Erscheinung (Erzgebirge, Kaiserwald). Abweichende oder uneinheitliche Richtungen der Hö­ henzüge kennzeichnen den südlichen und südöstlichen Teil der Böhmischen Masse.

3.4 Konsequenzen für die Großformen Mitteleuropas

Südwestlich dieser „geomorphologischen Diagona­ le" fallen Nord-Süd- bzw. Nordnordost-Südsüdwest-Er­ streckung vor allem entlang des Mitteleuropäischen Grabensystems (Oberrheingraben, Hessische Senke, Leinetalgraben) sowie Südwest-Nordost-Ausrichtung von Höhenzügen besonders im Rheinischen Schiefer­ gebirge auf. Der Verlauf markanter Schichtstufen sei an dieser Stelle noch ausgeklammert. Die besprochenen thermochronologischen Daten auch wenn eine flächendeckende Verfügbarkeit wün­ schenswert wäre-erscheinen vielleicht geeignet, diese auffälligen Richtungsunterschiede zeitlich-genetisch zu erklären. Alle auffällig nordwest-südost-erstreckten Mit­ telgebirge unterlagen -soweit Daten vorliegen -einer rapiden Abkühlung der Gesteinssäule in der obersten Kreidezeit bis ins älteste Tertiär. Im Falle der Lausitzer Überschiebung, der Harznordrandüberschiebung und der Fränkischen Linie kann anhand der geologischen Befunde eine bedeutende Aufschiebung als Ursache der schnellen Abkühlung klargestellt werden. Allerdings ist diese rasche Abkühlung und Exhumierung nicht auf die herzynisch streichenden Gebirge beschränkt, wie die Beispiele aus dem sächsischen Grundgebirge gezeigt haben. Eine oberkretazische Anlage der Großformen bedeutet nicht, dass diese seitdem nicht durch Denu­ dation verändert wurden, aber die jüngere Denudation war zu gering, um sich mit den bisher verfügbaren ther­ mochronologischen Methoden nachweisen zu lassen. In den Mittelgebirgen südwestlich der oben ge­ nannten Linie unterstützen die Zeit-Temperatur-Pfa­ de (T-t-Pfade) eine derart klare Hypothese nicht. Im Falle von Hohem Venn und Schnee-Eifel (Nord-Eifel) liegen zwar noch keine thermochronologischen Ergeb­ nisse vor, der Nachweis von oberkretazischen Feuer­ steinen selbst auf dem höchsten Rumpfflächenniveau (Albers & Felder 1981) schließt aber hier eine oberkre­ tazische starke Heraushebung aus. Die Entstehung der Rumpftreppe am Nordabfall des Hohen Venns infol­ ge differenzierter Blockschollenhebung kann anhand von Resten mittel- bis oberoligozäner Sande sogar auf postoligozän eingegrenzt werden. Ähnliche Ergebnis­ se liegen für die Eifel (Löhnertz et al. 1978, Semmel 1996, Frankenhäuser et al. 2009) und für den Osthuns­ rück (Zöller 1984, 1985) vor. Somit wird hier die Hypo­ these aufgestellt, dass in den Gebieten südwestlich der geomorphologischen Diagonale vornehmlich oligozäne und neogene Tektonik für die Anlage der Großformen und des Stockwerkbaus verantwortlich ist.

Die geomorphologische Diagonale Mitteleuropas erstreckt sich vom Osning über den Teutoburger Wald, den Thüringer Wald, den Frankenwald, das westliche Fichtelgebirge, den Oberpfälzer Wald und den Bayerischen Wald bis an den Donaurandbruch. Im Abschnitt zwischen dem Südostende des Thürin­ ger Waldes und dem Meißner setzt sie aus oder ist im Großrelief nur undeut­ lich erkennbar. Zwischen Oberpfälzer Wald und Bayerischem Wald ist sie nach Südwesten versetzt (Kartengrundlage: Free Relief Layers for Google Maps, www. maps-for-free.com). Abb. 3.18

Die hier aufgestellten Hypothesen, die in näheren Untersuchungen in den kommenden Jahren zu über­ prüfen sind, können die aufgeworfenen Fragen noch nicht endgültig lösen. Sie können aber hoffentlich Dis­ kussionen und vor allem die Weiterentwicklung neuer Methoden beflügeln. Dabei sollten auch sich abzeich­ nende neueste Ergebnisse aus China im Auge behal­ ten werden, wonach in der ohnehin warmen obersten Kreidezeit (Maastricht) drastische Temperaturschwan­ kungen bis zu 20 °C in Zeiträumen von nur Zehntausen­ den Jahren rekonstruiert wurden, die auf Auswirkungen des Dekkan-Trapp-Vulkanismus (Indien) zurückgeführt werden (Qiu 2015). In den Warmphasen stieg danach der atmosphärische C0 2-Gehalt bis auf etwa den dop­ pelten Wert an, was die ohnehin starke Kohlensäure­ verwitterung noch erheblich verstärkt haben muss. Die drastischen, relativ kurzzeitigen Klimaturbulenzen hin­ gegen dürften zur beschleunigten Abtragung der Ver­ witterungsresiduen geführt haben.

35

4

Geologischer Überblick

D

er folgende kurze geologische Überblick kann und soll kein geologisches Standardwerk ersetzen. Dazu wird vor allem auf die Werke von Walter (1995-2007, 2014), Rothe (2009) und Park (2015) verwiesen. Vieles wurde zur Geologie Mitteleuropas bereits in den vor­ angegangenen Kapiteln angeführt. Dieses Kapitel fo­ kussiert nun auf die Historische Geologie Mitteleuro­ pas mit Schwerpunkt auf dem Mesozoikum und dem Känozoikum.

4.1 Mitteleuropa entsteht als Flickenteppich Land-Meer-Verteilungen, Plattenbewegungen und Sub­ duktionszonen für verschiedene Perioden der Erdge­ schichte vom Präkambrium bis heute können im Inter­ net (www.scotese.com) nachverfolgt werden, um den geologisch-tektonischen Werdegang Mitteleuropas in den globalen Rahmen einzuordnen. Detailliertere und zeitlich höher auflösende Darstellungen für Europa finden sich in Stampfli & Kozur (2006). Eine anschau­ liche Zusammenfassung des Werdegangs Mitteleuro­ pas durch mehrfache Subduktionen und Suturen und das Zusammenwachsen mehrerer Kontinente und Mik­ rokontinente zeigt die Abbildung 4.1. Die Rekonstrukti­ on dieser Prozesse ist ein kriminalistisches Puzzlespiel, für dessen Lösung verschiedene Autoren (Walter 2014, Park 2015) im Detail etwas unterschiedliche Vorschläge unterbreitet haben. Park (2015) fasst etwa „Gondwanas exotische Krustenbruchstücke", das heißt Terrane wie zum Beispiel Armorica und Bohemia, die sich vom Nor­ den Gondwanas im Silur vermutlich infolge der Öffnung des Paläotethys-Ozeans lösten, zur „Amorika-Gruppe" zusammen. Im Zuge der Schließung des Rheischen Oze­ ans und seines vermuteten Ablegers, dem Rhenoher­ zynischen Ozean als Backare-Becken, im Oberdevon bis Unterkarbon rückte die Armorica-Gruppe an den südli­ chen Rand Eurussias (Avalonia). Im Oberkarbon wurde die Kollision zwischen Gond­ wana und Laurussia an Suturzonen beendet, womit der Superkontinent Pangäa entstand, und in Mitteleuro­ pa begann eine festländische Entwicklung. Aus dem Sedimentationsraum der subvariszischen Saumsenke mit Bildung von Kohleflözen nördlich der Rhenoherzy­ nischen Zone ragte das London-Brabanter Massiv wie

36

eine Insel heraus. Weitere kleinere intramontane Koh­ lebecken bildeten sich im Saarland (Saar-Nahe-Senke), an der mittleren Elbe südlich Wittenberg, in Böhmen (Becken von Pilsen-Kladno) und in den Sudeten sowie in Oberschlesien. Im Rotliegenden (Perm) zerfiel das variszische Gebirge in Mitteleuropa in zahlreiche Be­ cken und Hochgebiete. London-Brabanter Massiv und Rheinische Masse (im Wesentlichen Rheinisches Schie­ fergebirge) bildeten jetzt ein zusammenhängendes Hochgebiet ebenso wie Mittel-Nordsee-Hoch und Ring­ köping-Fünen-Hoch im Bereich der ehemaligen Saum­ senke und Böhmische Masse. Zwischen Ringköping-Fü­ nen-Hoch und London-Brabanter Massiv/Rheinische Masse lag das ausgedehnte südliche Permbecken, in dem es aufgrund des trocken-heißen Klimas (Kontinen­ talklima im Inneren Pangäas) schon zu Salzablagerun­ gen kam. Im Thüringer Wald sind im Eisenacher und im Oberhofer Becken mächtige Rotliegend-Sedimente er­ halten, die eine ehemals weitere Verbreitung nahelegen. Der schmale Wittlicher Rotliegend-Graben in der Südei­ fel enthält nur Oberrotliegend-Sedimente und steht mit dem saarländischen Rotliegenden in Verbindung. Im Be­ reich der Süddeutschen Scholle ist der Untergrund der mesozoischen Schichten nur unvollständig durch Boh­ rungen und an Horsten bekannt. Daraus lassen sich süd­ lich des bedeutenden Saar-Selke-Troges (vom Saar-Na­ he-Trog bis zum Südharz) weitere größere und kleinere Tröge und Becken rekonstruieren, darunter Kraichgau­ Saale-Trog bis an den Thüringer Wald mit Verbindung zum Naab-Trog (Oberpfalz), der Schramberger Trog vom Ostschwarzwald bis westlich Ingolstadt und der Boden­ see-Trog (GeoBavaria 2004). Im Schwarzwald und in den Vogesen liegt aber der Buntsandstein meist direkt dem Grundgebirge auf, weshalb diese heutigen Mittelgebirge im Perm abgesehen von kleineren Trögen überwiegend Abtragungsgebiete gewesen sein dürften. Am Ende des Rotliegenden drang von Norden her das Zechsteinmeer vom südlichen Permbecken über die Hessische Senke vor. Größtenteils sind die flach­ marinen Ablagerungen salinar ausgebildet, Richtung Beckenrand auch als Kalksteine und teilweise riffbil­ dende Dolomite (Orla-Senke, Ostthüringen) bzw. als Sand- und Siltsteine. Die südlichste bekannte Stel-

4.1 Mitteleuropa entsteht als Flickenteppich

le am Oberrhein ist der Schlossgraben in Heidelberg, wo wenige Meter Zechstein dem Granit auf\agern. In Bayern wird für die Küstenlinie insgesamt ein West­ südwest-Ost-Nordost-Verlauf durch Franken bis nach Bayreuth angenommen (GeoBavaria 2004). Mit dem Zechstein beginnt die Ausbildung des mesozoischen Germanischen Beckens.

A Unter-Ordovizium

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B Ober-Silur

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Rhenoherzynisches Backare-Becken

D Ober-Devon [

Rheischer Ozean

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C Unter-Devon Avalonia

Dehnung des Gondwanarandes

Rheischer Ozean

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Avalonia

Das Perm ist in Mitteleuropa auch durch weitverbrei­ teten starken Vulkanismus ausgezeichnet. Ausgehend von spätvariszischen Intrusionen erreichten saure bis intermediäre Magmen vielfach die Erdoberfläche und bildeten Rhyolite (Quarzporphyre) bis Latit-Andesite (Letztere besonders im Saar-Nahe-Trog, wo sie etwa an der Wende Unter-/Oberrotliegendes bis zu 800 Me-

Rhe1scher Ozean

Rheischer Ozean Ak

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Avalonia

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Fluviatile Untere Serie

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Limnische Untere Serie

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Abb. 4.13 Das Süddeutsche Molassebecken und seine Entwässerung sowie die Lage des Nördlinger Rieses zur Zeit der oberen Süßwassermolasse (aus GeoBa­ varia 2004). ses im Norden (,,Nordische Vereisungen", Liedtke 1981) und alpinen Vorlandvereisungen sowie eigenständigen kleineren Mittelgebirgsvereisungen betroffen, deren Korrelation nach wie vor Schwierigkeiten bereitet und vielfach umstritten ist. Darauf wird weiter unten (Kap. 5) näher eingegangen. Nur von den jüngeren Vereisun­ gen sind mehr oder weniger deutliche sedimentäre und geomorphologische Spuren erhalten. Ausdehnung und Zeitstellung älterer Eisvorstöße sind noch weitgehend

47

4

Geologischer Überblick

Zeitskala

Beziehungen zum Atlantik

Mitteleuropäische Senke Regionale Einsenkung des Nordseebeckens

Tertiär

Kreide

Jura

Endgültige Öffnung des Nordatlantik

Fortdauer des Seafloor-spreadings im Zentralatlantik

Aufdomung des Nordseegebietes und Vulkanismus (mittelkimmerische Phase) Transgression des Unterjura-Meeres

Riftphase und Öffnung des Zentralatlantik

Beziehungen zurThetys

Abscherung des Faltenjura Überschiebung des Mitteleuropäisches südl. Molassebeckens Großgrabensystem und Einsenkung der Basaltvulkanismus Subalpinen Molassevortiefe Bruchschollenbildung durch Scherungs- u. Aufschiebungstektonik Randliche Oberkreidetransgression

Rotliegendmagnetismus Absenkung d. nördlichen u. südlichen Permbeckens

Oberkarbon

Deckenvorschub im Ostalpin u. Penninikum Kollision zwischen Europäischer und Adriatischer Platte Kollision Afrika-lberia Frühe Phasen der Schließung derThetys Beginn des Seafloor-spreadings

Transgression des Unterjura-Meeres

Riftphase und Öffnung der Neothetys

Rotliegendmagmatismus

Frühe Öffnungsphasen derlhetys

Subvariszische Vorlandmolasse

unbekannt. Der größte Teil Mitteleuropas blieb aber un­ vergletschert, wurde allerdings während der Kaltzeiten von periglazialen Bedingungen geprägt. Während der Kaltzeiten sank der Meeresspiegel glazial-eustatisch um bis zu 130 Meter, während Warmzeiten durch hohe Meeresspiegel vergleichbar dem heutigen geprägt sind. Die marine Sauerstoffisotopen-Kurve mit ihren Stadien gilt als Annäherungskurve (,,Proxy") für globales Eisvo­ lumen und somit für Tief- und Hochstände des Meer­ esspiegels. Am Ende dieses Kapitels gibt Abbildung 4.14 noch­ mals einen Überblick über wichtige tektonische Phasen in Mitteleuropa, ihre Auswirkungen in der Mitteleuropä­ ischen Senke und im Bruchschollengebiet sowie Bezie­ hungen zum Atlantik und zur Tethys. In der Spalte Be­ ziehungen zur Tethys wurde in der obersten Kreide die Kollision zwischen Afrika und lberia eingefügt. Der magmato-tektonische Zyklus, den der große deutsche Geologe Hans Stille ( 1876-1966) für Euro­ pa erarbeitet hatte, erfordert nach den jüngeren Er­ kenntnissen der Theorie der Plattentektonik eine Über­ setzung. Die Zyklenabfolge nach Stille-Geosynklinal

48

Späte Phase der alpinen Orogenese

Heraushebung des Rheinischen Schildes (Rheinisch-Böhmische Masse und Süddeutsche Scholle)

Beginn des Zechstein-Diapirismus Entwicklung des Nordsee-Riftsystems Triasgräben in der Mitteleuropäischen Senke Transgression des Zechstein-Meeres

Frühe Öffnungsphasen des Atlantik

Abb. 4.14 Tektoni­ sche Phasen in Mit­ teleuropa seit dem Oberkarbon mit Beziehungen zum Atlantik und zur Tethys (bearbeitet nach Walter 1995).

Fortgesetzte differentielle Absenkung Örtliche Extension und Intrusion basischer Magmen Örtliche Heraushebung und Erosion der südlichen Randsenken (jungkimmerische Phase)

Trias

Perm

lnversionstektonik und Erosion in den Randsenken der Mitteleuropäischen Senke (subherzyne und laramische Phase)

Mitteleuropäisches Bruchschollengebiet

Einbruch intramontaner Senken Variszische Orogenese

(der Begriff ist nach heutiger Kenntnis nicht mehr an­ gebracht) mit initialem basischem Vulkanismus, Oro­ gen mit synorogenem granitischem Plutonismus, Qua­ si-Kratonisch mit subsequenten basischen bis sauren Vulkaniten und Plutoniten, Kratonisch mit finalem basi­ schem Magmatismus-führte zur Bildung von Ur-Euro­ pa (Fennosarmatia, Baltischer Schild, Russische Tafel), Paläo-Europa (kaledonisch, Nordeuropa), Mesoeuro­ pa (variszisch, jungpaläozoisch) und Neo-Europa (alpi­ disch, Oberkreide bis Tertiär). In der heutigen Termi­ nologie der Theorie der Plattentektonik können diese Begriffe wie folgt interpretiert werden: Nach Stille

Plattentektonik

Geosynklinal

Ozeane bzw. Teilozeane

Orogen Quasi-kratonisch

bei Subduktion partielle Auf­ schmelzung, Suturzone, Isost­ asie, nicht ganz so konsolidiert wie bei Stille

Kratonisch

Rifting kann neue Ozeanböden hervorrufen

4.3 Neue Bewegung in Mitteleuropa - Entstehung der heutigen Vielfalt

,, · .····.··�� Schichtkammlandschaften, besonders im „Nieder­ sächsischen Tektogen" und untergeordnet im Thü­ ringer Becken, bei denen das Schichteinfallen mit mehr als 10 bis 12 ° zu steil für die Ausbildung einer Schichtstufenlandschaft ist 1> Gäu- und Beckenlandschaften über flach lagerndem Mesozoikum (z.B. Kraichgau und Hohenloher Ebene, großenteils Thüringer Becken, Böhmisches Becken) I> Gräben, kleinere Einbruchsbecken und Niederungen (Terrassen z. T. mit starker äolischer Bedeckung, z.B. am Oberrhein, NeuwiederBecken, LimburgerBecken, Wetterau) Einige klassische Beispiele von gehobenen Rumpfflä­ chen sollen nun näher betrachtet werden. Die besten Bildungs- und Erhaltungsbedingungen für Rumpfflä­ chen liegen offenbar bei einem Untergrund aus pa­ läozoischen Schiefern verschiedenen Metamorpho­ segrades vor. Aus der zerschnittenen Hochfläche des Oberharzes ragen die granitischen Massive des Bro­ ckens (1142 Meter ü. M.) und des Ramberges sowie der Quarzporphyr des Auerberges als Härtlinge heraus. Der Harz wurde im Zuge der Beckeninversion (s.o.) als nach Süden und Osten gekippte Pultscholle herausgehoben, weshalb der Ostharz niedriger ist als der Westharz. Die

61

5

Geomorphologischer Überblick - Formung unter Tropenklima bis zu den Eiszeiten

1° 20·

7°50

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;,;,;,:,: Oligozän "cf'o Jungtertiär s - Sand (Meeressand) i:,: Tone und Mergel ® -T ertiärquarzltgerölle x = Tertiärquarzite olo - Oberoligozän aq -Aquitan pi - Pliozän �� = voroligozäne Verwitterungs­ linde

Rekonstruierte Buchten des Oligozänmeeres im Osthunsrück. Entlang der präexistenten Durchbruchstäler von Guldenbach, Simmerbach und Hah­ nenbach/Kyrbach sowie vom Untermoselgebiet her drang das Oligozänmeer im Oberen Rupel weit in den Osthunsrück vor und erreichte bei Rödelhausen (westlicher Bildrand, Mitte) sogar die Wasserscheide zwischen Mosel, Rhein und Nahe (bearbeitet nach Zöller 1984).

Abb. 5.8

Harzhochfläche erreicht im Westen im Acker-Bruch­ berg-Plateau Höhen um 900 Meter ü. M., im Mittelharz bei Elbingerrode um 460 bis 520 Meter ü. M., im Unter­ harz bei Harzgerode um 420 Meter ü. M. und in der Ei­ nehochf\äche bei Stangerode um 270 Meter ü. M. (Wa­ genbreth & Steiner 1989). Das Elster-Eis konnte den Unterharz überfließen und in die südlich liegende Gol­ dene Aue eindringen. Eine mehrfache Eigenvergletsche­ rung (saale- und weichselzeitlich) des Harzes (Brocken­ gebiet) vom Typ hocharktischer Gletscher (Hövermann

62

1973/74) vor allem im Odertal gilt nach anfänglichen kontroversen Diskussionen als gesichert. Als ein klassisches Gebiet der Rumpfflächenfor­ schung in Deutschland gilt seit dem Ende des 19. Jahr­ hunderts das Rheinische Schiefergebirge. Für die aus­ führlichere Diskussion sei hier auf Semmel (1996) und auf Kapitel 3.4 sowie 4 verwiesen. Der Stockwerkbau der Hochflächenregion ist gut zwischen Moseltal und Schnee-Eifel bzw. Hohem Venn nachvollziehbar. Nach Stickel (1927) handelt es sich um Endrumpfflächen im Sinne von Davis mit heutigen Höhenlagen bis fast 700 Meter ü. M., um 600 Meter ü. M., um 500 Meter ü. M. und bis etwa 400 Meter ü. M. (,,Tragfläche"). Letztere lässt sich praktisch höhenkonstant ins Saarland verfolgen, wo sie als „Ausgangsfläche" bezeichnet wurde (Liedt­ ke 1969) und die Schichten vom Unterdevon bis zum Keuper schneidet bzw. in Lothringen und Luxemburg bis zum Lias. Diese Rumpftreppe wird heute als Er­ gebnis von differenzierten Schollenbewegungen an Störungen und Flexuren interpretiert, die eine ehe­ mals einheitliche kretazisch bis untereozän gebilde­ te Rumpffläche verstellt haben. Der Vorstellung einer mehrzyklischen Rumpfflächenbildung, bei der gene­ rell die höchstgelegenen Formengemeinschaften die ältesten und die tiefer gelegenen die jüngeren sind, widerspricht die Erkenntnis einer tiefen alttertiären Zertalung und Wiederverfüllung in der Südeifel (erst­ mals Louis 1953, Löhnertz 1978, Frankenhäuser et al. 2009) und im Osthunsrück (Zöller 1984, 1985). Im Huns­ rück ist die Übernahme der Stickelschen Gliederung der Rumpfflächen problematisch, da Übergangsniveaus in­ folge von neogenen Schollenkippungen vorkommen und die Oberflächenformen zudem durch mehrere Quarzithärtlingszüge stärker differenziert werden (Zöl­ ler 1985). In der Eifel wie im Osthunsrück können die Rumpfflächen aber mit oberoligozän-untermiozänen marin-brackischen Trans- bzw. lngressionen in Bezie­ hung gesetzt werden, wobei zumindest untergeordnet vorhandene Reliefformen durch marine Abrasion über­ formt wurden (Abb. 5.8 und 5.9). In Transgressionskong­ lomeraten des Rupelmeeres ist die Mesozoisch-Altter­ tiäre Verwitterungsrinde (MTV) bereits aufgearbeitet. Mit der Erforschung der Rumpfflächen des Erzge­ birges ist ein entscheidender Wendepunkt der For­ schungsgeschichte hin zu klimageomorphologischen Ansätzen verbunden (Büdel 1935). Im Westerzgebirge nahm Büdel eine dreimalige Rumpfflächenbildung im Tertiär unter tropoiden Klimaverhältnissen an, die zwei-

5.2 Schollengebirge

Abb. 5.9 Rumpftreppe im Osthunsrück. In eine flachwellige Abtragungsfläche mit Bedeckung durch Saprolith und Höhen bis etwa 500 Meter ü. M. ist ein ungefähr 50 Meter tiefer gelegenes Flächenniveau eingeschaltet (Bildmitte), welches Küstenkonglomerate und tonige Sedimente der oligozänen Transgression trägt und als Abrasi­ onsfläche einer Meeresbucht interpretiert wird. Die ehemalige Küstenlinie wurde infolge postoli­ gozäner Heraushebung des Hunsrücks nach Sü­ den gekippt (Foto: Ludwig Zöller, 1983).

mal durch Hebung in einem Aufwölbungszentrum un­ terbrochen wurde (Abb. 5.10 oben). Dieser Darstellung wurde durch Richter (in Liedt­ ke & Marcinek 1994) widersprochen. Richter stellte im Osterzgebirge fest, dass die Basisfläche der marinen Oberkreidesedimente stark durch jüngere Tektonik ver­ stellt ist, und nahm derartige Prozesse auch für das Westerzgebirge an, auch wenn dort keine sedimentä­ ren Reste der Kreidezeit vorliegen. Er ging von einer einheitlichen präoberoligozänen Rumpffläche aus, die insgesamt als Pultscholle nach Norden gekippt wur­ de. Reste dieser Rumpffläche glaubte er auf allen drei Stockwerken nach Büdel wiederzufinden (Abb. 5.10 un­ ten). Die Kippung der Erzgebirgsscholle erfolgte unter Aufgliederung in mindestens drei antithetische Schol­ len. Nachfolgende Erosion zerschnitt die Rumpffläche, wurde aber durch einen Härtling in der mittleren Schol­ le lokal beeinträchtigt, weshalb sich auch dort ein Rest der präoberoligozänen Rumpffläche erhalten konnte. Die oben (Kap. 3.2) erwähnten Spaltspur-Alter aus dem Erzgebirge (Lange et al. 2008) stehen im Einklang mit der Ansicht von Richter. Somit kann im Grunde der an­ schaulichen Blockbilddarstellung von Wagenbreth & Steiner (1989) gefolgt werden (Abb. 5.11). Danach unterlag das Erzgebirge nach der Intrusion von Graniten im Oberkarbon bis Unterrotliegenden lan­ ge Zeit der Abtragung. In der Kreidezeit bis ins Altterti­ är war eine sich flach von Böhmen Richtung Leipziger Bucht abdachende Rumpffläche entstanden, auf der Flüsse aus Böhmen quer über das heutige Erzgebirge hinweg in die Braunkohlensümpfe der Leipziger Bucht

Rumpftreppe des Westerzgebirges nach Büdel (1935) 1. Rumpffläche (Gottesgab) präoberoligozän

N

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-1.Hebung oberoligozän ca. 200m

3. Rumpffläche (vogtländ.) obermiozän-oberpliozän

2.Hebung obermiozän ca. 300m

Schematische Reliefentwicklung im Westerzgebirge nach Richter (1994) N

Reliefentstehung im Westerzgebirge nach Büdel und nach Richter.

Abb. 5.10

entwässerten. Sowohl in Nordböhmen als auch auf man­ chen Bergen des Erzgebirges bezeugen tonige Kiese diese alte Entwässerung; am Scheibenberg (Abb. 5.12), am Pöhl­ berg und am Bärenberg bei Annaberg-Buchholz sowie am Ryfovna (Tschechien) sind diese Sedimente unter Resten

63

5

Geomorphologischer Überblick - Formung unter Tropenklima bis zu den Eiszeiten

1. Das varistische Gebirge im Oberkarbon­ Rotliegenden

� � füllij [!}J

Rotliegendes gefoltetes Allpoläozo,kum hrista/line Schiefer Grant!

2. Einebnung in Kreidezeit und Tertiär

8 Tertiär mll Braunkohle � Sedimente der lfreideze,l

3. Hebung des Erzgebirges und Einsenkung des Ohregrabens im Jungtertiär mit Basalt� vulkanismus

-=-.::- �< _. 780 000 Jahre). Vergleichbares gilt für den Günz-Kom­ plex, der im „Nordöstlichen Alpenvorland" größtenteils in die Brunhes-Chron gestellt wird, im „Nordwestlichen Alpenvorland" aber vollständig in die Matuyama-Chron zwischen Mindel-Haslach-Komplex und Biber-Do­ nau-Komplex. Letzterer, der in beiden Fällen bis zum Ende der Gauss-Chron (2,58 Millionen Jahre) hinunter reicht, dauerte folglich im „Nordwestlichen Alpenvor­ land" viel länger als im „Nordöstlichen Alpenvorland". Die Ursache für diese Ungereimtheiten liegt letztlich in der Datierungsunsicherheit. Mangels vulkanischer Ein­ schaltungen in den Quartärablagerungen des Alpen­ vorlandes kann die für diesen Zeitraum gut geeignete 40Ar/ 39Ar-Methode hier nicht zur Anwendung kommen, und Lumineszenz- sowie Uranreihenmethoden kön­ nen (derzeit) im fraglichen Altersbereich von mehr als 400 000 Jahren keine zuverlässigen Alter liefern. Le­ diglich für die ältere Hochterrasse an der Riss und an der Günz konnte über Thermolumineszenz-( TL)-Datie­ rungen an äolischen Deckschichten (Löss, Lösslehm, Sandlöss) die Auffassung unterstützt werden, dass der Schotterkörper älter als das Jüngere Riss ist und seit seiner Ablagerung zwei fossile warmzeitliche Boden­ bildungen erfolgt sind (Rögner et al. 1988). Direkte Lu­ mineszenzdatierungen an Sanden aus den Schotterkör­ pern haben in jüngerer Zeit zum Teil widersprüchliche oder unzuverlässige Alter ergeben, jedoch sprechen neueste Ergebnisse von der Typlokalität der Riss-Ver­ eisung (Kiesgrube Scholterhaus bei Biberach/Riss) mit Altern von 149 000 ± 15 000 bis 179 000 ± 17 000 Jahren dafür, dass die Riss-Vereisung in der MIS 6 erfolgte (Ra­ des et al. 2016). Die in der STD 2002 vorgenommenen Alterseinstufungen beruhen großenteils auf wenigen mehr oder weniger zuverlässigen paläomagnetischen Datierungsversuchen (Litt et al. 2005). Die interglaziale Schieferkohle vom Uhlenberg (Zusam-Platte), die do­ nauzeitlichen Schottern aufliegt, ist biostratigraphisch (Pollen, Schnecken) ebenfalls unterschiedlich zwischen Bavel-Komplex (Obere Matuyama-Chron) und Tigli­ um-Komplex (Gelasium, Untere Matuama-Chron) ein­ gestuft worden. Am wahrscheinlichsten erscheint nach aktuellem Stand nach biostratigraphischen und paläo­ magnetischen Ergebnissen eine Parallelisierung mit dem niederländischen Bavel-lnterglazial. Damit hätte der liegende donauzeitliche Schotter ein Alter von min­ destens etwa 1 Million Jahren (Litt et al. 2005, Habbe

Abb. 5.25 Prof. Dr. Albert Schreiner (t, vorne links) erläutert während der Exkur­ sion des Arbeitskreises Alpines Quartär (AKAQ) 1995 einen Längsschnitt durch das Wurzacher Becken (am VW-Bus hinter seinem Rücken) und diskutiert mit Prof. Dr. Hans Graul (t, rechts von ihm) und Prof. Dr. Karl Albert Habbe (t, links hinten; Foto: Ludwig Zöller, 1995).

et al. 2007). Die seit Kurzem (August 2016) vorliegen­ de STD 2016 versucht hier eine Vereinfachung und Klar­ stellung zu vermitteln. In Baden-Württemberg ist in jüngerer Zeit ein alter­ nativer Ansatz entwickelt worden. Im Verbreitungsge­ biet des Rheingletschers liegen aus glazial übertieften Becken verschiedener Vereisungen zahlreiche Bohrun­ gen vor. Diese Becken dienten als Sedimentfallen, in denen die sedimentologische und paläoklimatische Entwicklung seit der Anlage eines Beckens archiviert ist. Vor allem paläobiologische Methoden wie die Pol­ lenanalyse kamen zum Einsatz, um die Kaltzeit-Warm­ zeit-Zyklen eines Beckens zu rekonstruieren. Darüber hinaus wurden auch zahlreiche Aufschlüsse mit ver­ schiedenen quartärgeologischen, paläobiologischen und geomorphologischen Methoden untersucht. Auf diese Weise konnten verschiedene Formationen als Grundlage einer Lithostratigraphie ausgegliedert wer­ den, die jeweils eine typische Abfolge aufweisen (Ell­ wanger et al. 2011). Die untere Begrenzung der drei wichtigsten Formati­ onen des Rheingletschergebietes-Dietmanns-Formati­ on, lllmensee-Formation und Hasenweiler-Formationstellen jeweils Erosionsdiskordanzen dar, die durch die glaziale Exaration der Becken bedingt sind. Die Becken­ sedimente gliedern sich in jeder Formation idealerwei-

75

5

Geomorphologischer Überblick - Formung unter Tropenklima bis zu den Eiszeiten

• KN O

larger cities District capites (eo des)

UL

Readvance H = Hoßkirch; R = Riß, W = Würm ,,.---·- early Pleistocene glacial deposits

TUT

Abb. 5.26 Quartäre

Entwicklung des Rheingletscherge­ bietes (aus Ellwan­ ger et al. 2011).

se in liegende Diamikte (Till), Schmelzwassersedimente, spätglaziale und interglaziale Seesedimente. isolierte glaziale Ablagerungen im Nordosten des Rheingletschergebietes werden als Steinenbach-Formation und im Westen als Haselbach-Formation (mit Verbindung zum Rhöne-Valais-Gletscher) zusammengefasst. Angewandt auf das südwestdeutsche Alpenvorland (Rhein­ gletschergebiet) wurde das in Abbildung 5.26 gezeigte Bild der Landschaftsentwicklung skizziert. Im Altpleistozän (Zeit der Deckenschotterbildung) erstreckte sich vom Alpenrand nach Norden eine Ram­ pe, über die die periglazialen Deckenschotter trans­ portiert wurden. Diese Rampe ist außerhalb der Diet­ manns-Formation noch relativ gut erhalten, näher zum Stammbecken des Bodensees hin nur noch in Form ein­ zelner Kuppen. Größere Vorlandvereisungen fanden noch nicht statt, lediglich einzelne Talgletscher stie­ ßen ins Vorland vor (z.B. Unterpfauzenwald). Die erste größere Vorlandvereisung stellte der doppelte Vorstoß der Hosskirch-Vereisung dar, die neu definiert wird. Sie ist jünger als die mindelzeitlichen (im Sinne von Penck) jüngeren Deckenschotter, aber älter als Riss. Damit be­ gann die Umformung der Rampe in ein „Bodensee-Am­ phitheater", das durch die Exaration mehrfacher Vor-

76

landvereisungen des Stammbeckens mit Ausbildung von Zweigbecken entstand. Die Hosskirch-Vereisung hinterließ am Außenrand ihrer Verbreitung, wo sie die weiteste Vereisung darstellt, eine äußere und eine in­ nere Endmoräne und in Zweigbecken die Sedimente der Dietmanns-Formation. Das nachfolgende Intergla­ zial wird pollenanalytisch mit dem Holstein-Intergla­ zial Norddeutschlands parallelisiert. Mit dem ersten Vorstoß der Riss-Vereisung endete die Dietmanns-For­ mation und in radialen Zweigbecken fand erneute Übertiefung von Becken statt, in denen in der Folge die lllmensee-Formation zur Ablagerung kam. Auch die Riss-Vereisung bildete eine äußere und eine innere Endmoräne aus, und im peripheren Teil der Zweigbe­ cken blieben Kamesterrassen und Drumlins zurück. Der Zyklus wiederholte sich mit dem zweifachen Vorstoß der Würm-Vereisung (äußere und innere Würm-End­ moräne) und der Ablagerung der Hasenweiler-Forma­ tion. Damit war im Wesentlichen das Aussehen des heu­ tigen Amphitheaters geschaffen. Um eine chronostratigraphische Einstufung vorzu­ schlagen, bedarf es zeitlicher Marker. Ellwanger et al. (2011) stützen sich auf paläobiologische, paläomagnetische und geomorphologische Befunde. Es muss hier klargestellt werden, dass die Grenzen der Formationen nicht mit den paläoklimatisch fundierten Grenzen der Kalt- und Warmzeiten zusammenfallen: Die Untergrenzen der Dietmanns-, lllmensee- und Hasenweiler-Formation beginnen später als die der Kaltzeiten, weil erst der Gletschervorstoß die Erosionsdiskordanz schaffen musste, und enden auch später nach einer Warmzeit. Der älteste Deckenschotter wird ins Gelasium gestellt, der ältere und der jüngere Deckenschotter ins Altpleis­ tozän, wobei der jüngere Deckenschotter noch leicht ins Mittelpleistozän hineinreicht. Bis zur Hosskirch-Ver­ eisung scheint eine längere Schichtlücke vorzuliegen. Hosskirch- und Riss-Vereisung werden ins Mittelpleis­ tozän gestellt, Eem-lnterglazial und Würm-Vereisung ins Jungpleistozän (Abb. 5.31). Vorausgesetzt, das „Hol­ stein" im nordwestlichen Alpenvorland ist tatsächlich zeitgleich mit dem stratigraphisch klar definierten „Holstein" in Norddeutschland (Kap. 5.1), bietet sich in großen Zügen folgende Korrelationsmöglichkeit zwi­ schen den nordischen Vereisungen und denen des Bo­ denseegebiets an: Würm entspricht Weichsel, Riss ent­ spricht Saale, und Hosskirch entspricht Elster. Diese chronostratigraphische Gliederung des Quar­ tärs im Bodenseegebiet ist gut kompatibel mit der re-

5.3 Nördliches Alpenvorland und Mittelgebirgsvereisungen

Time markers Standard Stages

Palynostratigraphy

Mamma! Zones

Palaeomagnetics

Abb. 5.27 Chronostratigraphie des Quartärs in der Bodensee-Region (aus Ellwanger et al. 2011) .

Chronostratigraphy ofthe Bodensee area

Holocene



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MN 17

vidierten Gliederung in der Nordschweiz, auch wenn Letztere durchaus Differenzierungen aufweist (Preus­ ser et al. 2011). Die Deckenschotter werden in der Nord­ schweiz in höhere Deckenschotter und tiefere Decken­ schotter untergliedert. Die Deckenschotter wurden in noch wenig reliefiertem Gelände in sehr breiten und flachen Flussbetten abgelagert. Eine im höheren De­ ckenschotter bei lrchel eingelagerte Schicht aus Hoch­ flutsedimenten lieferte eine warmzeitliche Fauna, die der neogenen Mammalien-Zone „MN 17" und damit dem Gelasium (2,6 bis 1,8 Millionen Jahre) zugeordnet wird. Weiter westlich wurden mindestens zwei Lagen mit glazigenen Sedimenten (Till) in den jüngeren Ein­ heiten des höheren Deckenschotters erkannt, womit in der Nordschweiz auch für das Gelasium bereits Eisvor­ stöße (vermutlich Piedmontgletscher) ins Vorland be­ legt sind. Auch im tieferen Deckenschotter, der vier gla­ zifluviale Einheiten zusammenfasst, tritt zweimal ein Till auf (Lokalität lberig, unteres Aaretal). Warmzeitliche Hochflutlehme und ein Paläoboden bezeugen mehr­ fache Kalt-/Warmzeit-Zyklen. Insgesamt bis zu acht frühpleistozäne Vergletscherungen des Schweizer Al­ penvorlandes können in den beiden Deckenschottern repräsentiert sein. Nach Bildung der tieferen Deckenschotter erfolgte ein (früher als „Morphologische Wende" bezeichnetes) starkes Einschneiden der Flüsse des Schweizer Alpen­ vorlandes mit Reorganisation des Entwässerungsnet­ zes. Obwohl Beginn und Ende des kräftigen Einschnei­ dens noch nicht näher datiert werden konnten, wird es jetzt Mittelpleistozäne Reorganisation (MPR) ge-

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Jüngere Deckenschotter [Mindel)

0 .c Ältere Deckenschotter [Günz) Älteste Deckenschotter [Donau)

nannt. Ursachen können tektonischer Natur sein, aber auch die Umlenkung des Alpenrheins, der im Altpleis­ tozän Tributär der Donau war (Kap. 6), über den Hoch­ rhein zum Oberrheingraben kommt als Ursache infrage (Preusser et al. 2011). Die folgenden mittel- und jung­ pleistozänen Vorlandvereisungen stießen nun entlang tiefer eingeschnittener Nebenflüsse des Hochrheins vor und schufen ähnlich wie im Bodenseegebiet über­ tiefte glaziale Becken als Sedimentfallen. Glazifluviale Sedimente im Vorfeld der Maximalstände mittel- und jungpleistozäner Vereisungen bilden zwei Terrassen, die ältere Hochterrasse und die jüngere Niederterras­ se. Die jüngere Forschung hat aber gezeigt, dass diese Terrassen nicht einfach der Riss- und der Würm-Verei­ sung zugeordnet werden können, sondern dass sie je­ weils Schmelzwassersedimente von mehr als einer Ver­ eisung enthalten. Die erste mittelpleistozäne Vorlandvereisung, die Möhlin-Vereisung, war zugleich die weiteste (s.o.). Ihre Ausdehnung zeigt Abbildung 5.28. Ihr folgten mehrere Vereisungen mit unterschiedlicher Ausdehnung: Nach dem Thalgut-lnterglazial (mit dem Holstein-Intergla­ zial parallelisiert) zunächst die Habsburg-Vereisung, dann - nach einer unbenannten Warmzeit - die Hagen­ holz-Vereisung, bei der aber noch nicht klar ist, ob es sich um eine eigenständige Eiszeit oder um eine Früh­ phase der auf den Meikirch-lnterglazial-Komplex fol­ genden Beringen-Vereisung handelt. Diese wird durch das Eem-lnterglazial beendet. Schließlich erfolgte noch die Birrfeld-Vereisung mit zwei recht weiten Vorstößen vor dem Hauptvorstoß (Abb. 5.29), wovon der erste Vor-

77

5

Geomorphologischer Überblick - Formung unter Tropenklima bis zu den Eiszeiten

Welche Lösung kann für die diskutierte Problematik angeboten werden? Aktuell nur diese: Es besteht wei­ terer Forschungsbedarf. Nachdem die Eismassen der Würm-Vereisung ihren Ma­ ximalstand erreicht hatten, kam es zu Rückzugs- und Wiedervorstoßphasen. Das Inn-Chiemsee-Gletscherge­ biet gilt als Typlokalität der Jungmoränenlandschaft des bayerischen Alpenvorlandes, das Bodenseege­ biet als Typlokalität des Rheingletschergebietes. Der Inn-Chiemsee-Gletscher erreichte im Hochwürm seinen Maximalstand mit den Endmoränenwällen des Kirch­ seeoner Stadiums, gefolgt vom Ebersberger Stadium und dem Ölkofener Stadium. Die auffälligen Drum­ lin-Schwärme wurden beim Wiedervorstoß des Ölko-

ß\ack forest

----- ') Abb. 5.28 Geschätzte

maximale Ausdeh­ nung der Möhlin­ Vereisung (aus Preusser et al. 2011).

Abb. 5.29 Chrono­

stratigraphie und Ausdehnung der Vereisungen in der Nordschweiz (Preusser et al. 2011).

10

20km

stoß dem Valais-(Rhöne-)Gletscher zugeschrieben wird. Die durchaus noch mit Unsicherheiten behaftete Chro­ nologie der mittel- und jungpleistozänen Vereisungen der Nordschweiz stützt sich, im Unterschied zu der dar­ gestellten im Bodenseegebiet, auch auf zahlreiche Lu­ mineszenzdatierungen, Radiokohlenstoffdatierungen und Datierungen mittels kosmogener Nuklide. Die maximale Vereisung in der Nordschweiz (Möh­ lin-Vereisung) korreliert nach Ellwanger et al. (2011) mit der Hosskirch-Vereisung im Bodenseegebiet und der Mindel-Vereisung im bayerischen Alpenvorland, die Beringen-(Koblenz-)Vereisung mit der Riss-Verei­ sung des Bodenseegebietes, während der Riss-Komplex des bayerischen Alpenvorlandes zeitlich mit der Habs­ burg-Vereisung, dem Meikirch-lnterglazial und der Be­ ringen-Vereisung in der Schweiz gleichgestellt wird. Die Birrfeld-Vereisung der Schweiz entspricht dem Würm im Bodenseegebiet und im bayerischen Alpenvorland. In Österreich sind nach van Husen & Reitner (2011) bisher keine altpleistozänen Vergletscherungen be­ kannt. Schwächere Glaziale ohne Vorlandvergletsche­ rung äußern sich nur in Löss-Paläoboden-Sequenzen. Die vier größeren Vergletscherungen Günz, Mindel, Riss und Würm werden alle ins Mittel- und Jungpleistozän gestellt. Der weiteste Würm-Vorstoß wird mit der MIS 2, die Riss-Endmoräne mit der MIS 6, die Mindel-Moräne und die Günz-Endmoräne tentativ mit der MIS 12 (vor dem Holstein-Interglazial) und der MIS 16 korreliert. Somit wäre die Penck-Brücknersche Gliederung in Österreich am ehesten nachvollziehbar.

78

Stratigraphie unit

Glacial extent ������p h y Age1-tghll'IOU'\tains�Foreland >.w9notAlps (ka) Holocene 11.5 17.5 Q)

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30

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Gossau lntersladial Complex

2. Advance

Q)

C

1.Advance

115 130

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Beringen Glaciation (.)

185

Meikirch lnterglacial Complex

0

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>300

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Thalgut lnterglacial Holsleinian

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Tiefere Decken schotter Glaciations lncision Höhere Deckenschotter Glaciations

2500

P I

o c e n e

5.3 Nördliches Alpenvorland und Mittelgebirgsvereisungen

fener Stadiums über glazigene Lockermaterialien mit infolge einer Wärmeschwankung ausgetautem Per­ mafrost geformt. Das Stephanskirchener Stadium ist das letzte Stadium, welches noch das Alpenvorland er­ reichte. Danach erfolgte mit Beginn des Spätglazials ein bedeutender Eiszerfall, bei dem sich die Gletscherzun­ gen in die inneralpinen Täler zurückzogen. Der Vollstän­ digkeit halber werden die spätglazialen Stadien hier von älter nach jünger aufgeführt: Bühl-, Steinach- und Gschnitz-Stadium vor dem Bölling-lnterstadial, Daun­ und Egesen-Stadium danach. Das Egesen-Stadium ist jünger als das Alleröd-lnterstadial und wird in die Jün­ gere Tundrenzeit (Jüngere Dryas) gestellt. Im Rheing­ letschergebiet markiert das Schaffhausener Stadium (= äußere Würm-Endmoräne) den Maximalstand, gefolgt vom mehrfach untergliederten Stein-am-Rhein-Singen­ Stadium (= innere Würm-Endmoräne) und dem Kons­ tanz-Stadium, welches mit dem Stephanskirchen-Sta­ dium gleichgestellt wird (Abb. 5.30). Der Bodensee war vor 17 500 bis 18 000 Jahren bereits eisfrei. Im Spätglazial folgten in den Schweizer Alpentälern noch das Weißbad-Koblach-, das Clavadel-, das Daun­ und das Egesen-Stadium (Schreiner 1992), die hier der Vollständigkeit halber angeführt werden. In jüngerer Zeit wird das Daun-Stadium vor das Bölling-Alleröd-lnterstadial gestellt und gemeinsam mit dem Clavadel- und dem Geschnitz-Stadium der ältesten Dryas zugeordnet. Es handelt sich bei diesen spätglazialen Stadien nicht einfach um Rückzugsmoränen während eines Stillstandes, sondern um Wiedervorstöße (Abb. 5.31). Schließlich wird noch ein präboreales (früh-ho­ lozänes) Kartell-Stadium hinzugefügt. Das Egesen-Sta­ dium kann sowohl in den West- als auch in den Ostal­ pen heute sicher in die Jüngere Dryas datiert werden, während die Parallelisierung der älteren spätglazialen Stände noch Fragen offenlässt (lvy-Ochs et al. 2008). Eigenständige Mittelgebirgsvereisungen in Mitteleu­ ropa wurden bereits für den Harz angesprochen (Kap. 5.2). Weitere wurden für die Vogesen, den Schwarz­ wald, den Bayerischen Wald/Böhmerwald und die Su­ deten erkannt. Am ausgedehntesten waren die Verei­ sungen in den Vogesen und im Schwarzwald (Abb. 5.20), wo zeitweilig Plateauvergletscherung und Eisstrom­ netze existierten, von denen Moränen, Erratika, Trog­ täler, Kare und Transfluenzpässe zeugen. Die jüngsten Kargletscher werden in die Jüngere Tundrenzeit (Dryas 111) gestellt, ihre Kare stellen in den Südvogesen und im Hochschwarzwald jeweils die oberste Stufe einer

+ N

0

10

20

30

40 km

- Riss-Endmoräne - Äußere Würm-Endmoräne

Kartreppe dar. In den östlichen Mittelgebirgen entwi­ ckelten sich aufgrund des kontinentaleren Klimas nur Tal- und Kargletscher. Meistens wird die maximale Ver­ eisung der südlichen Mittelgebirge ohne handfeste Be­ lege mit der Riss-Vereisung parallelisiert. Was den Südschwarzwald anbetrifft, wurde das aber schon weiter oben im Zusammenhang mit der Möhlin-Vereisung in der Nordschweiz infrage gestellt und eine früher angenommene, dann wieder abgelehnte Verbindung „riss"-

k

Riss- und Würm-Endmoränen im Bodenseegebiet (bearbeitet nach Sauer 2011). Abb. 5.30

- 16-17 k yr Gschnitz

Clavadel

l----'------1-18-19 k yr lGM

Spätglaziale Gletscherstände in den Bündner Alpen, ELA = Gleichgewichtslinie (aus Ivy-Ochs et al. 2008).

Abb. 5.31

79

5

Geomorphologischer Überblick - Formung unter Tropenklima bis zu den Eiszeiten

zeitlicher Gletscher des Südschwarzwaldes (Überblick mit Karte in Dongus 2000) und der Nordschweiz er­ scheint nun in neuem Licht. Etwas klarer sind die Verhältnisse in den Vogesen: Wenn auch der glazigene Ursprung früher ins Oberpli­ ozän gestellter, aus den Vogesen stammender errati­ scher Blöcke im Sundgau westlich Mulhouse (Elsass) heute bezweifelt wird, konnten in den Südvogesen drei Vereisungen anhand der Endmoränenwälle fest­ gestellt werden: die am weitesten (bis zu 40 Kilome­ ter) ins Moseltal vorgestoßene Linexert-Eisrandlage, die (gedoppelte) Ecromagny-Eisrandlage und die Ser­ vance-Eisrandlage (Seret et al. 1990). In der Altmorä­ nenlandschaft zwischen Linexert- und Ecromagny-Eis­ randlagen befindet sich der verlandete See „La Grande PHe", dessen pollenanalytische und sedimentologische Untersuchung überraschende Ergebnisse lieferte. Über Linexert-Till folgt eine Abfolge aus drei warmzeitlichen organischen Mudden (Lure-Interglazial= Eem, St. Ger­ main I und St. Germain II), getrennt durch kaltzeitli­ che schluffige Tone (Melissey I und 11). Diese Abfolge wird mit der MIS 5a-e parallelisiert, unterstützt durch ein unkalibriertes 14(-Alter von 69 500 + 3 800 -1600 Jahren am Ende von St. Germain II. Daraus folgt, dass die Ecromagny-Vereisung jünger als das letzte Inter­ glazial, aber älter als das Letzte Glaziale Maximimum (LGM) ist und deutlich weiter vorstieß als die Serva­ nce-Vereisung (LGM). Das genaue Alter der Ecromag­ ny-Vereisung geht nicht direkt aus den Sedimenten von La Grande PHe hervor, weil der Eisrand La Grande PHe nicht mehr erreichte und auch seine Schmelzwasser­ sedimente daran vorbeiflossen. Es wird diskutiert, ob der Ecromagny-Vorstoß in die MIS 4 oder die frühe MIS 3 zu stellen ist. Die Konsequenz ist, dass das regiona­ le LGM nicht zwangsläufig mit dem globalen LGM zu­ sammenfällt. Damit ergeben sich interessante Paralle­ len zu den weiter oben diskutierten neueren Befunden der Würm-/Weichsel-Vereisung in der Schweiz und in Schleswig-Holstein bzw. Dänemark. Im Hochschwarzwald sind mindestens zwei Vereisun­ gen bekannt, die mit Würm und Riss bezeichnet wer­ den. Über die Ausdehnung der Riss-Vereisung gehen mangels gut im Gelände verfolgbarer geomorphologi­ scher Spuren die Auffassungen weit auseinander (Le­ ser 1985, Abb. 10). Für die Würm-Vereisung liegen die Verhältnisse wesentlich klarer. Die längste Eiszunge (25 Kilometer) erstreckte sich vom Feldberg-Belchen-Ge­ biet nach Südwesten ins Wiesetal. Gut erforscht ist die

80

würmzeitliche Vergletscherung des Feldberggebietes, welches sich für Exkursionen insofern anbietet, als alle Rückzugsstadien entlang des Seebaches (vom Feldberg bis zum Titisee) an einem Tag erwandert werden kön­ nen und für das Feldberggebiet eine detaillierte Bear­ beitung mit Geomorphologischer Karte 1 : 25 000 vor­ liegt (Metz 1985). Im Nordschwarzwald zeugen Kare im Bereich des Hornisgrinde-Sattels von Hang- und Kargletschern, Talgletscher sind nicht bekannt. Einige Kare sind noch durch Karseen erfüllt, zum Beispiel der Mummelsee bei der Hornisgrinde (Dongus 2000). Im Bayerischen Wald und im Böhmerwald wurden im Rachel-Lusen-Gebiet sowie im Arbergebiet Spuren kleinerer Tal- und Kargletscher erkannt, die nur selten Hinweise auf risszeitliches Alter lieferten (Ergenzinger 1967). Am Kleinen Arbersee konnten würmzeitliche gla­ zigene Formen und Sedimente sowie überlagernde pe­ riglaziale Lagen näher untersucht werden. Danach war der würmzeitlich datierte Talgletscher 2,6 Kilometer lang, bis zu 800 Meter breit und etwa bis 125 Meter mächtig. Nach 10Be-Oberflächen-Datierungen begann die Vergletscherung vor etwa 21 000 ± 2000 Jahren, die Stabilisierung von zwei äußeren Seitenmoränen erfolg­ te vor etwa 18 000 bis 19 000 Jahren, eine Rückzugs­ moräne wurde vor 17 300 ± 1600 Jahren gebildet, ein Wiedervorstoß ereignete sich vor 15 600 ± 1600 Jahren, und der Rückzug ins Kar erfolgte nach 14 500 ± 1800 Jahren (Reuther et al. 2011). Nach Neuberechnungen der Alter ergeben sich Gletscherstände um 24 000 bis 19 500 Jahre, etwa 16 000 Jahre und etwa 14 000 Jahre (Mentlfk et al. 2013). In der Jüngeren Tundrenzeit war der Kleine Arbersee, im Unterschied zum Feldsee im Schwarzwald, bereits eisfrei (Raab & Völkel 2003). Im nördlichen Böhmerwald (Tschechien) existieren einige kleinere Gletscherseen, die ihre Entstehung kurzen (bis 2 Kilometer langen) aber weniger mächtigen Kar- und Talgletschern verdanken. Näher untersucht wurden sie jüngst am Präsilske-See (Stubenbacher See) am Berg­ kamm des Mittagsberges (Polednik, 1315 Meter) und am Laka-See (früher auch Pleso genannt). Letzterer liegt am Bergabhang von Plesnä (Debrnfk, deutsch La­ ckenberg, 1337 Meter), an der Grenze zu Deutschland, in 1096 Meter ü.M. Die um 1300 Meter hohen Kammla­ gen des Böhmerwaldes fungierten als Auswehungsflä­ chen des Schnees, der im ostseitigen Lee des Kammes akkumuliert wurde. 10Be-Expositionsalter dreier Morä­ nenstände liegen übereinstimmend bei etwa 19 500

5.4 Deutsche Alpen Jahren, etwa 16000 Jahren und etwa 14000 Jahren. Auch im Böhmerwald waren die Karseen in der Jüngeren Tundrenzeit vermutlich eisfrei. Der am Kleinen Arbersee erkannte Gletscherstand um 24000 Jahre ist im Böh­ merwald vermutlich vom Stand um 19 500 Jahre über­ fahren oder aufgearbeitet worden (Mentlfk et al. 2013). Die seit Ende des 19. Jahrhunderts bekannte Ver­ gletscherung in den Sudeten wurde in jüngster Zeit wieder intensiv untersucht (Engel et al. 2014). Glazial geprägtes Relief dominiert den zentralen Teil des Rie­ sengebirges (Krkonose/Karkonosze) mit tief ins Gip­ felplateau (1500 bis 1600 Meter ü. M.) eingeschnitte­ nen Karen und Trogtälern. Die am besten entwickelten Kare (Sniezne Kotly und tomnica-Tal nordwestlich der Schneekoppe, dort mit Karseen) flankieren die Nord­ seite des Gipfelplateaus, während weniger stark aus­ gebildete Kare am Ost- und Südrand des Plateaus vor­ liegen, deren Talgletscher das Elbe-(Labe)-Tal und das Üpa-Tal zu tiefen Trogtälern überformten. Datierungen mittels der 14(- und der 10 Be-Methode (Expositionsalter von Blöcken) sowie der Schmidt-Hammer-Technik (einer neueren relativen Datierungsmethode, die den Verwitterungsgrad von Blöcken misst) konnten die Chro­ nologie der letzten Vereisung genauer auflösen. Vor 27 700 ± 1500 Jahren war das Kar am Ursprung des El­ betales eisfrei, womit die letzte Vereisung auf die MIS 2 begrenzt wird. Unter Berücksichtigung methodischer Unsicherheiten der Expositionsalter wird für die ältes­ ten Moränen der Zeitraum zwischen 24000 und 21 000 Jahren angenommen (LGM). Wiedervorstöße ereigneten sich vor etwa 19000, 18 000, 16000, 14000 und 13 000 Jahren. In der Jüngeren Tundrenzeit gibt sich nur in den nach Norden geöffneten Karen ein Wiedervorstoß zu erkennen, der völlige Eisrückzug erfolgte nicht später als vor 10 800 ± 1000 bzw. 11 500 ± 300 Jahren. Eine oft diskutierte präweichselzeitliche Vereisung des Riesen­ gebirges kann nach diesen Daten nicht bestätigt, aber auch nicht ausgeschlossen werden (Nyvlt et al. 2011). Für die letzteiszeitliche Vergletscherung der östlichen Mittelgebirge Bayerischer Wald, Böhmerwald und Rie­ sengebirge ergibt sich, abgesehen vom jungtundren­ zeitlichen Vorstoß am Nordhang des Riesengebirges, ein sehr einheitliches Bild (Mentlfk et al. 2013).

5.4 Deutsche Alpen Dieses Unterkapitel kann aus in Kapitel 1 genannten Gründen kurz gehalten werden. Der Deckenbau der deutschen Alpen geht in Grundzügen aus Abbildung

1)

100km



Venedig

Helv tikum

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alpine (post-variszische) Sedimente

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variszischer Sockel Nizza

- Penn -· Ostalpin/ nikum Südalpin

-- Periadriatisches Lineament

5.32 hervor. Für die Nördlichen Kalkalpen östlich des Alpenrheins sind praktisch nur helvetische (westlich der lller sowie der Grünten nordöstlich von Solnhofen), penninische (Flyschdecken) und oberostalpine Decken relevant (Abb. 5.32). Östlich der lller sind die helvetischen Decken tektonisch nahezu vollständig unterdrückt, nur im Allgäu sind die Gesteine aus ehemaligen Sehelfse­ dimenten heute landschaftsbildend. Die Flyschdecken nehmen nur einen relativ schmalen Streifen am Nord­ rand der bayerischen und der österreichischen Alpen ein (rhenodanubischer Flysch; Veit 2002). Der Hauptan­ teil der Nördlichen Kalkalpen entfällt auf die (ober-) ostalpinen Decken. Einen detaillierten Überblick über die Decken der bayerischen Alpen gibt Abbildung 5.33. Während die penninischen Flyschdecken des rhenoda­ nubischen Flyschs die sanfteren und stark rutschungs­ gefährdeten Vorberge der Nordalpen bilden, stechen die steilen, wandartigen Hänge der überwiegend aus Kalksteinen und Dolomiten bestehenden ostalpinen Decken ins Auge. Die ostalpinen Decken bilden auch die höchsten Ber­ ge der deutschen Alpen, unter anderem die aus mit­ teltriassischem Wettersteinkalk bestehende Zugspitze (2962 Meter ü. M.) bei Garmisch-Partenkirchen und den aus obertriassischem Dachsteinkalk aufgebauten Watz­ mann (2713 Meter) bei Berchtesgaden. An diesen bei­ den Bergmassiven existieren (noch) fünf kleine Glet­ scher: der Nördliche und der Südliche Schneeferner sowie der Höllentalferner an der Zugspitze, der Watz­ manngletscher und das Blaueis am Watzmann, die aber

81

D

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Abb. 5.32 Decken der Alpen (aus Frisch & Meschede 2009).

5

Geomorphologischer Überblick - Formung unter Tropenklima bis zu den Eiszeiten

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[ Schuppenzonen

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Decken­ gliederung in den bayerischen Alpen (aus GeoBavaria 2004). Abb. 5.33

seit etwa 1980 einer bedrohlichen Gletscherschmelze unterliegen und möglicherweise in zwei bis drei Jahr­ zehnten verschwunden sein werden (StMuG 2012). Die höchste Erhebung der Nördlichen Kalkalpen, die Passeierspitze (3036 Meter ü. M.) westnordwestlich von Landeck/Inn, liegt in Tirol und somit in Österreich. Der Grinnerferner am Fuß der Südostwand ist ebenfalls ein kleiner Gletscher. Die Kalkplateaus der Nördlichen Kalkalpen sind stark verkarstet und weisen vom nackten Karst über Dolinen bis hin zu unterirdischem Karst (Höhlen) eine große Vielzahl an Karstformen auf. Die Verkarstung der Kalkplateaus, darunter auch des Gottesackerplateaus mit dem Hohen lfen (2130 Meter ü. M.) aus kreidezeitli­ chen „Schrattenkalken" des Helvetikums, trägt neben der Härte von Kalksteinen und Dolomiten zur Erhal­ tung der Plateaus und ihrer Formengemeinschaften bei. Neuere prozessgeomorphologische Untersuchun­ gen haben gezeigt, dass sich in Böden und Hohlformen des hochalpinen Karstes auch beträchtliche Staubein­ träge akkumulieren. Im Winter stammen sie überwie­ gend als Fernkomponente aus der Sahara, während im Frühjahr eine Komponente aus den kristallinen Zentral­ und Südalpen dominiert (Küfmann 2006).

82

Die Nördlichen Kalkalpen sind vor dem Hintergrund der Zielsetzung dieses Buches vor allem wegen ihrer geomorphologischen Fernwirkungen auf das Alpen­ vorland und auf die fluviale Formung des Rhein- und des Donausystems von Interesse. Die deutschen und große Teile der österreichischen Kalkalpen (bis etwa an die Ostgrenze des Salzkammerguts) waren wäh­ rend der letzten drei großen Vereisungen bis auf Kar­ linge und Nunatakker nahezu vollständig vergletschert. Davon zeugen eindrucksvolle glaziale Erosionsformen wie Trogtäler, glazial übertiefte Wannen (heute vielfach noch von Seen erfüllt), Hängetäler und Kare. Die Glet­ scher und ihre Schmelzwässer transportierten folglich enorme Mengen an fein- und grobklastischem Materi­ al ins Vorland. Demzufolge zeichnen sich (glazi-)fluvi­ ale Sedimente aber auch Moränenlandschaften des Al­ penvorlandes ebenso wie die durch Ausblasung aus den verwilderten Flussbetten entstandenen äolischen Ab­ lagerungen durch hohe bis sehr hohe Kalkgehalte aus. Im Oberrheingebiet enthalten daher zum Beispiel Lös­ se einen Karbonatanteil von bis über 30 Prozent, weit über dem durchschnittlichen Karbonatgehalt unverwit­ terter Lösse von etwa 10 Prozent. Jedoch prägen nicht nur glaziale Formen das Relief der Nördlichen Kalkalpen, sondern auch präpleistozä­ ne Formenreste sowie nacheiszeitliche Schuttfächer, Bergsturzmassen (z.B. am Fernpass oder am Eibsee; Haas et al. 2014), Murenabgänge und Schwemmkegel sowie verlandete Seen und Becken. Ähnlich wie in den Mittelgebirgen -allerdings mit deutlich größeren Re­ liefunterschieden und geringerer Erhaltung der Altflä­ che-ist vielfach ein Stockwerkbau feststellbar (Haefke 1959, Abb. 9 und 119). Es werden von unten nach oben mehrere Talterrassen oder talbegleitende Flächen und Raxlandschaften (talunabhängige Flächen) mit mehre­ ren Stufen unterschieden. Über größere Entfernungen sind diese aber wegen der noch andauernden neoge­ nen Tektonik der Alpen kaum parallelisierbar. Im Zuge der phasenhaften Heraushebung der Alpen entstan­ den, jeweils ausgehend von der lokalen oder regiona­ len Erosionsbasis, Abtragungsflächen. Die älteste die­ ser Flächen (manche Autoren sprechen teilweise von Rumpfflächen; Veit 2002) ist nicht mehr direkt sichtbar, sondern nur über „Augensteine" rekonstruierbar. Die­ se sind Gerölle aus den kristallinen Zentralalpen, die heute noch teilweise in den Raxlandschaften Kalkpla­ teaus der Nördlichen Kalkalpen bedecken. Da Kompo­ nenten aus dem inneralpinen Tauernfenster noch feh-

5.4 Deutsche Alpen

Abb. 5.34 Blick vom Hochgrat nach Westen über das westliche Allgäu und den Bregenzer Wald zum Bodensee (hinten rechts) und zum schneebedeckten Säntis (2501 Meter ü. M., hinten links). Die leichter erodierbaren Gesteinspartien der Faltenmolasse (Vordergrund und Bildmitte rechts) und des Helvetikums (Bildmitte links) wurden durch vom Bodenseebecken her in östliche Richtungen vorstoßende Gletscherzungen des Rheingletschers ausgeschürft (Foto: Ludwig Zöller, 2015).

len, war dieses damals noch nicht freigelegt, was für ein vermutlich oligozänes Alter spricht. Die Bezeichnung Raxlandschaft geht auf das Karstplateau der Raxalpe (2007 Meter ü. M.) westlich von Wiener Neustadt zu­ rück. Raxlandschaften sind über relativ flach lagern­ den Kalksteinen der Ostalpen besser erhalten. Auf ih­ nen sind in Dolinen und Karstspalten noch ton- und kaolinreiche Bodenreste von Terra rossa (Kalksteinrot­ lehm) und Terra fusca (Kalksteinbraunlehm) erhalten. Auf der östlichen Alpenabdachung finden sie sich ver­ breitet in einem verkarsteten Paläorelief an der Basis miozäner Sedimente. Dort können diese Bodenreste folglich als prämiozän eingestuft werden, können aber an anderen Stellen Alter zwischen Paleozän und Plio­ zän haben. Auch im Wettersteingebirge (Zugspitzplatt) finden sich Reste der Raxlandschaft. Die verstärkte Her­ aushebung der Alpen im Jungtertiär verursachte stärke­ res Einschneiden der Flüsse und die Herausbildung der großen Längstäler wie Inn- und Salzachtal. Zunächst, am Ende des Tertiärs, entstanden talbegleitende Flä­ chensysteme, die später, im Quartär, die Akkumulation von Firnfeldern und Kargletschern begünstigten. Auch die später durch die mächtigen Talgletscher und Eis­ stromnetze glazial überschliffenen Trogschultern wer­ den als Reste talbegleitender Flächensysteme gedeu­ tet (Veit 2002, Liedtke & Marcinek 2002). Sie werden heute oft als Almen oder als Siedlungsraum, aber auch touristisch genutzt.

Das heutige Relief der Nördlichen Kalkalpen wird -ebenso wie nahezu der gesamten Alpen-durch die mehrfachen quartären Vergletscherungen bestimmt. Auffällige Erosionsformen sind Trogtäler und Kare. Letztere haben vielfach von verschiedenen Seiten her die Gipfel der Berge zu „Karlingen" zugespitzt. Aus den Talböden ragen mitunter mehrere Zehner Meter hohe Rundhöcker hervor. Mit der glazialen Übertiefung grö­ ßerer und von mächtigeren Eismassen ausgefüllter Täler (Abb. 5.34) konnte die Eintiefung kleinerer Ne­ bentäler nicht Schritt halten, weshalb sie heute nach Eisrückzug Hängetäler darstellen, deren Fließgewässer noch vielfach Wasserfälle ausbilden oder sich in einer Klamm nahezu vertikal eingeschnitten haben. Bei Kon­ fluenz mehrerer Gletscher wurde der Talboden beson­ ders stark übertieft und nach dem Eisrückzug durch Schmelzwasser- oder Seesedimente aufgefüllt, im Inn­ tal bis 1000 Meter tief und auf deutscher Seite an der Mündung des Rissbaches in die Isar immerhin bis 362 Meter mächtig (Veit 2002). So entstanden die charak­ teristischen Talweitungen, die Siedlungen und Verkehr begünstigen. Wo keine größeren Flüsse ausreichend Sedimentzufuhr lieferten, blieben in den übertieften glazialen Wannen bis heute längliche Seen mit steilen Ufern erhalten. Nach dem Niedertauen des Eises herrschten je nach Höhenlage bis ins frühe Holozän noch eine Zeitlang periglaziale Verhältnisse, die sich vor allem in starker

83

5

Geomorphologischer Überblick - Formung unter Tropenklima bis zu den Eiszeiten

Frostschuttbildung äußerten. In Gipfellagen der Nörd­ lichen Kalkalpen, zum Beispiel an der Zugspitze, kann oberhalb von 2400 bis 2500 Meter ü. M. noch heute (oder heute wieder; Schimmelpfennig et al. 2014, Joerin et al. 2006) sporadischer, in 2700 bis 2800 Meter ü. M. diskontinuierlicher Dauerfrostboden festgestellt wer­ den, der aktuell allerdings zurückgeht (Veit 2002). Das Auftauen des Dauerfrostes in hochgelegenen Schutt­ halden und Moränen verstärkt die Gefahr von Muren­ abgängen, die bis in die Tatlagen schwere Schäden an­ richten können, ebenso wie Lawinenabgänge.

S.S Känozoischer Vulkanismus

Das Känozoikum umfasst das Tertiär und das Quartär, Spuren des kreidezeitlichen Vulkanismus werden aber hier auch erwähnt. Die europäische känozoische Vul­ kanprovinz nordwestlich und nördlich der Alpen er­ streckt sich vom französischen Zentralmassiv im Süd­ westen -welches hier nicht weiter berücksichtigt wird -bis nach Niederschlesien im Osten. Sie schließt den Kaiserstuhl, die Hegau-Vulkane, das Uracher Vulkange­ biet, die Eifel, das Siebengebirge, den Westerwald, den Abb. 5.35 Känozoi­ Vogelsberg, die Hessische Senke, die Rhön, die Heldbur­ scher Vulkanismus ger Gangschar, die Oberpfalz, das Duppauer Gebirge und das Tschechische Mittelgebirge nebst Erzgebirge in Mitteleuropa (Quelle: Jörg Büchner). und die Lausitz ein (Meyer & Foulger 2007), nicht aber 10'0

Berlin• Hessische Senke



Harz

ö

Luxembourg

Urach

V

.KS, SW 2o 10 0 ---== • __,_ �m

Vulkanfelder: CS-Ceske slredohorf (Böhm. Mittelgebi"ge), DH-Ooupovske hory (Duppauer Gebirge), DS-Dolny Siqsk {Niederschlesien), HGS-Heldburger Gangschar, KS-Kaiserstuhl, LVF- Lausitzer Vulkanfeld, VB-Vogelsberg, WW-Westerwald Variszische massive: A-Adrennen, O-Odenwald, RM-Rheinisches Massiv, S-Spessart, SW-Schwarzwald, V-Vogesen

84

1111 Variszische Massive 1111 Alpen/Karpaten 1111 Känozoische Vulkanite

die Vulkangebiete am Rand des Pannonischen Beckens (Abb.5.35). Bei allen diesen Vulkangebieten handelt es sich um lntraplattenvulkanismus. Dem an Vulkanismus in Deutschland und in den benachbarten Gebieten inte­ ressierten Leser wird zur Vertiefung das Buch „Vulkane in Deutschland" (Hofbauer 2016) empfohlen. Nicht lange nach dem Siegeszug der Theorie der Plattentektonik wurde die Theorie eines Manteldia­ pirs (,,Eifel-Plume", Hot Spot, Heißer Fleck) vorgestellt, nach der die europäische Platte mit 2,3 cm/a nach Os­ ten über den Hot Spot wandert (Duncan et al. 1972). Zu dieser Zeit existierten allerdings noch wenige ver­ lässliche Datierungen des känozoischen mitteleuropäi­ schen Vulkanismus. Mit dem Vorliegen neuer Datierun­ gen wurde diese Theorie schnell entkräftet (Abb. 5.36). Die Darstellung lässt keine durchgängige Alterszu­ nahme mit der Entfernung vom angenommenen Hot Spot unter der Eifel erkennen, wohl aber eine zeitli­ che Parallelität mit bedeutenden tektonischen Vorgän­ gen in den Alpen und im Oberrheingraben. Damit war die Frage nach der Ursache des Vulkanismus wieder of­ fen und wird bis heute diskutiert und intensiv unter­ sucht. Eine Modifikation der Hot-Spot-Theorie in der Art, dass ein ausgedehnterer mitteleuropäischer Hot Spot im oberen Erdmantel immer wieder mal hier, mal dort einzelne „Finger" nach oben streckt, wurde vorge­ schlagen (z.B. Schmincke 2000, Ritter et al. 2001), wo­ bei „Fingerkuppen" auch abreißen und beim Aufstieg in die überkruste kurzzeitig heftigen Vulkanismus auslö­ sen können. Dies könnte erklären, warum zum Beispiel in der Eifel der älteste (bis ca. 45 Millionen Jahre alt) und der jüngste Vulkanismus (11000 und 13 000 Jahre alt) in räumlich überlappenden Vulkanfeldern auftre­ ten. Andere Autoren lehnen die Übernahme der klas­ sischen Hot-Spot-Theorie eher ganz ab und sehen die Ursache des mitteleuropäischen Vulkanismus eher in Bezug zu alpinen Subduktionsprozessen in Verbindung mit lokalen Bedingungen in der Lithosphäre, die den Schmelzen Aufstiegswege eröffneten (Meyer & Foulger 2007), womit ältere Vorstellungen wieder aufgegriffen würden. Am ehesten kann nach der Darstellung in Ab­ bildung 5.36 zwischen Vogelsberg (dem größten zu­ sammenhängenden Vulkanbau Mitteleuropas) und dem Duppauer Gebirge die Spur einer über einen Hot Spot wandernden europäischen Platte nachverfolgt werden, allerdings wird dieses Bild auch durch quartären Vulka­ nismus in Westböhmen (Eisenbühl und Kammerbühl) gestört. Die südlichen tertiären Vulkangebiete (Kai-

5.5 Känozoischer Vulkanismus

Mio. Jahre 50

Abb. 5.36 Altersstel­ lung des mitteleuro­ päischen Intraplat­ tenvulkanismus in Abhängigkeit von der räumlichen Dis­ tanz vom angenom­ menen Hot Spot unter der Eifel (aus Schmincke 2000).

Eozän

40

30

20

10

Oligozän

r

Miozän



Pliozän Quartär 600

Entfernung von der West-Eifel �(> 'Q

-Quartäre Vulkanfelder

Tertiäre Vulkanfelder

serstuhl, Hegau, Urach) sind in der Abbildung ebenso wenig berücksichtigt wie bei Duncan et al. (1972). Der quartäre Vulkanismus in Mitteleuropa lässt sich überhaupt nicht mit einer über einen Hot Spot wandern­ den Platte in Einklang bringen und zeigt weiteren For­ schungsbedarf auf. In einer neuartigen Modellierung seismischer Wellen (wave form inversion) stellen French & Romanowicz (2015) unter Mitteleuropa gar keine tie­ fer in den Erdmantel reichende breite (>200 Kilometer) plumeartige Struktur fest, allerdings könnte sie auf­ grund bisher zu geringer räumlicher Auflösung unent­ deckt geblieben sein (Romanowicz 2015, per Mail). Eine Zusammenstellung der verfügbaren physikalischen Da­ tierungen des quartären Vulkanismus in Deutschland bis 2006, allerdings ohne Bewertung ihrer Zuverlässig­ keit, findet sich in Nowell et al. (2006). Neuere Daten werden weiter unten im Zusammenhang mit der Vor­ stellung ausgewählter Vulkanfelder diskutiert. Das Vulkanfeld der Eifel gliedert sich in drei Berei­ che, das tertiäre Hocheifelvulkanfeld (HEVF), die quar­ tären Felder des Westeifelvulkanfeldes (WEVF) und das Osteifelvulkanfeld (EEVF; Schmincke 2009). Das HEVF überlappt an seinen Rändern mit dem WEVF und dem EEVF. Die ältesten beiden Melilith-Nephelinit-Vulkan­ stiele, der Neuerburger Kopf und der Lüxemberg in der

1111

Rheingraben, Absenkung und Verwerfungen Deformation, Schieferung, Alpen

1111 Magmatismus,

Metamorphose, Alpen

Wittlicher Rotliegendsenke, wurden allerdings mit der K/Ar-Methode radiometrisch auf ungefähr 108 Millionen Jahre (Albium, Unterkreide) datiert (Lippolt 1983). Sie wurden als Härtlinge aus dem weicheren Neuerbur­ ger Sandstein herauspräpariert und stellen trotz ihrer steilen Kegelform nicht die ursprünglichen Vulkanfor­ men dar. Nach längerer Ruhephase setzte der tertiä­ re Vulkanismus der Hocheifel mit etwa 300 bekannten Eruptionspunkten-die meisten davon im Raum Kel­ berg-Adenau-vor etwa 45 Millionen Jahren im Mittel­ eozän ein und endete im Untermiozän (Lippolt 1983). An der Oberfläche sind die Eruptionspunkte meist kaum erkennbar, aber einige haben markante kegelför­ mige Vulkanruinen hinterlassen, darunter der höchste Berg der Eifel, die Hohe Acht (746 Meter ü. M.) und die Nürburg (678 Meter ü. M.). Von besonderer Bedeutung für die Paläontologie und die Landschaftsgeschichte ist das Eckfelder Maar (44,3 ±0,4 Millionen Jahre) in der Manderscheider Talung, in dem unter anderem Reste des Urpferdes Propa/aeotherium voigti und des Halbaf­ fens Periconodon sp. gefunden wurden (Frankenhäuser et al. 2009). Die Vulkanzentren des quartären Eifelvulkanismus­ WEVF und EEVF-sind in Abbildung 5.37 dargestellt. Be­ sonders das WEVF zeigt eine auffällige Nordwest-Süd-

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7' Exkurs Sauf der Internetseite des Verlags: www.wissenverbindet.de

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Geomorphologischer Überblick - Formung unter Tropenklima bis zu den Eiszeiten

Abb. 5.3 7 Verteilung der Vulkane des Westeifelvulkan­ feldes (WEFV) und des Osteifelvulkanfeldes (EEVF). Aus Übersichtsgründen sind nicht alle Eruptionszentren dargestellt (Quelle: Christoph Schmidt, 2016).

ost-Erstreckung im Bereich der fotogeologisch aus Satellitenbildern erkannten Zone „Nordbrabant-Schwä­ bische Alb" (Günther 1977, Zöller 1985). Im WEVF kon­ zentrieren sich die etwa 240 bekannten Eruptionszen­ tren im Raum Gerolstein-Daun, aber es fallen auch etwas entfernter gelegene Vulkangruppen wie die bei Ormont im Nordwesten, Bad Bertrich im Südosten, Boos und Ulmen im Osten auf. Besonders kieselsäure-

Schlacken kegel

arme Basanite aus sehr wenig differenzierten Magmen konzentrieren sich auch mit einer Ausnahme bei Gerol­ stein auf die distalen Vulkangruppen bei Bad Bertrich, südöstlich Gillenfeld (Alftal) und bei Boos. Die vulkanischen Formen des WEVF sind vor allem durch Schlacke- und Aschekegel, phreatomagmatische Maare (der lokale Mundartbegriff „Maar" wurde inter­ national namengebend) teilweise noch mit Maarseen, teilweise als Trockenmaare sowie durch Lavaströme ge­ kennzeichnet. Letztere haben zum Teil vorübergehend Täler aufgestaut, wie das Alftal bei Strohn, das Ueß­ bachtal bei Bad Bertrich oder das Tal der Kleinen Kyll bei Bettenfeld. Vielen Schlackenkegeln ging eine Maar­ eruption voraus. Einen möglichen genetischen Zusam­ menhang der Formen Maar und Schlacken kegel zeigt Abbildung 5.38. Je nach-vor allem durch Tektonik und Relief bedingter-Verfügbarkeit von Grundwasser kam es nur zu Maareruptionen, einem Schlackenkegel mit initialer Maareruption oder einem reinen Schlacken­ kegel. Die Maare und Trockenmaare stellen vorzügliche Ar­ chive der Klima- und Umweltgeschichte mit extrem ho­ her zeitlicher Auflösung dar, denn ihre Sedimente be­ stehen größtenteils aus Jahresschichten (Warven) und enthalten paläobiologische, geochemische und sedi­ mentologische Spuren zur zeitlich sehr hochauflösen­ den Rekonstruktion der Landschaftsentwicklung. In langjährigen Arbeiten ist es gelungen, eine Warven­ chronologie zu erstellen und mit anderen Chronologien (z.B. der grönländischen Eiskernchronologie) abzuglei­ chen. Das Eifel Laminated Sediment Archive (ELSA) reicht inzwischen bis über 500 000 Jahre zurück (Zolitschka et al. 2000, Sirocko 2009, Seelos et al. 2009, Sirocko et al. 2013, Förster & Sirocko 2015). Die Altersverteilung des WEVF zeigt nach neues­ ten Arbeiten eine räumliche Anordnung innerhalb des Vulkanfeldes. Alle bisher zuverlässig datierten quartä­ ren Vulkane des WEVF stammen aus der paläomagne­ tischen Brunhes-Chron (600 Meter ü. M.; Foto: Ludwig Zöller, 2012).

127

Abb. 6.26 Korrela­

tion der quartären Terrassen der Mosel mit denen des Mit­ telrheins (bearbeitet nach Cordier 2009).

6

Flussgeschichte Mitteleuropas - Veränderung, Überraschung, Krimi

Datie­ rungsergebnisse im Einzugsgebiet der Maas mittels kos­ mogener Nuklide (bearbeitet nach Rixhon et al. 2011, kartographische Darstellung von S. Cordier).

Abb. 6.28

A.A.: Ardennen-Anliklinorium A.C.: Condroz-Sattel F.T.: Fenster von Theux G.M.: Graben von Malmedy M.S.: Massiv von Stavelot N.V: Decke von Vesdre S.D

An dieser Stelle ist ein Blick auf die quartären Ter­ rassen der Maas vor allem in ihrem von Talmäandern gekennzeichneten Durchbruchstal durch die Arden­ nen zwischen Charleville-Mezieres (Frankreich) und Dinant (Belgien) angebracht. Die heutige Maas ent­ springt in Juragestein auf dem Plateau von Langres (Frankreich) und mündet nach etwa 874 Kilometern in den Niederlanden in den südlichen Hauptstrom des Rhein-Maas-Deltas (Waal). Sie stellt somit den längs­ ten Nebenfluss des Rheins dar, auch wenn sie ihren früheren Oberlauf „Haut Moselle" (Hochmosel) verlo­ ren hat (s. o.). Die Anlage des Durchbruches durch die Ardennen ist epigenetisch im Zusammenhang mit der oberoligozänen Transgression am Ostrand des Pari­ ser Beckens zu erklären, die weitere Entwicklung des Durchbruchstales erfolgte antezedent ab dem Pliozän (Rixhon et al. 2011, van Baien et al. 2000). Die „Haupt­ terrassen" der Maas im Ardennendurchbruch, beson­ ders die jüngere Hauptterrasse, haben jedoch einen geringeren Vertikalabstand zur Talaue als an der Mit­ tel- und Untermosel und am Mittelrhein. Die Hauptter­ rassen kulminieren in der Umgebung von Givet infol­ ge einer Aufwölbung nach ihrer Bildung und verstärkter Heraushebung der Ardennen im frühen Mittelpleisto­ zän.

128

Die „jüngere Hauptterrasse" (Younger Main Terrace, YMT) der Maas und ihres Nebenflusses Ourthe in den Ardennen sowie deren Nebenflusses Ambleve konnte mittels kosmogener Nuklide (10Be und 26AI) datiert wer­ den (Rixhon et al. 2011). Für die YMT von Romont süd­ lich Maastricht ergab sich erwartungsgemäß ein Alter von 725 000 ± 120000 Jahren, weiter flussaufwärts wur­ den die Alter aber zunehmend jünger: 390 000 ± 35 000 Jahre bei Colonster (Ourthe) und 222 500 ± 31 000 Jah­ re bei Belle Roche (Ambleve). Zwei weitere Terrassen der Ambleve lieferten mit 135 000 ± 6000 Jahren (Sta­ velot) und 140 000 ± 9000 Jahren (Lodomez) noch jün­ gere Alter, jedoch liegen diese Terrassen oberhalb ei­ nes Gefällsknickes (knickpoint) und könnten der nächst jüngeren Terrasse als der YMT angehören (Abb. 6.28). Für die Terrasse von Belle Roche lieferten weitere Mo­ dellierungen mit der Feststellung wieder zunehmen­ der 10Be-Gehalte mit der Tiefe (> 3 m) Hinweise, dass die Sedimentation schon mit geringer Rate vor etwa 550 000 Jahren begonnen haben kann (Rixhon et al. 2014). Unbenommen davon bleibt der problemati­ sche Befund, dass eine nach geomorphologischen Kri­ terien gleichaltrige Terrasse chronometrisch deutlich unterschiedliche Sedimentationsalter aufweisen kann und die Terrasse somit diachron (nicht gleichzeitig) ist. Die Autoren interpretieren diesen Befund derart, dass ein vom tiefer liegenden nördlichen Ardennenvorland ausgehender Impuls rückschreitender Erosion die Di­ achronie erklärt und somit der lange angenommenen klimatisch gesteuerten synchronen Tiefenerosion wi­ derspricht. Derartige Diachronie durch rückschreitende Erosion konnte übrigens jüngst auch für die letztgla­ ziale TZ-Terrasse im Trebgasttal nördlich von Bayreuth mittels OSL-Datierungen belegt werden (Kolb et al. 2015). Dennoch überlagert nach einem kombinier­ ten Modell klimatisch gesteuerte synchrone Tiefene­ rosion die diachrone rückschreitende Erosion an Ge­ fällsbrüchen: Nachdem die breiten frühpleistozänen Täler der Ardennen zur Zeit der Bildung der YMT ei­ nen „Steady-state"-Zustand (stationäres Verhalten) er­ reicht hatten, verursachte eine verstärkte Hebung des Rheinischen Schildes ab vor etwa 0,73 Millionen Jahren rückschreitende Erosion im Entwässerungsnetz der Ar­ dennen. Unterhalb des flussaufwärts fortschreitenden Gefällsknickes erfolgte synchrones klimatisch gesteuer­ tes Einschneiden, wann immer die klimatischen Bedin­ gungen dafür günstig waren, und die Flüsse konnten ei­ nen neuen „Steady-state"-Zustand anstreben. Während

6.4 Die Tochter älter als der Vater - das Mosel- und Maassystem

periglazialer Bedingungen mit hohem Schuttanfall in den Tälern war die Tiefenerosion vorübergehend eher behindert als zu Zeiten mit höherem Abflussgradienten und verringertem Gerinnequerschnitt. Das Erosionsver­ halten des Entwässerungsnetzes der Ardennen seit der mittelpleistozänen Hebung gliedert sich demnach von unten nach oben in drei Abschnitte: die rückschreiten­ den Gefällsbrüche mit vorübergehender Reaktion auf die Hebung, den Abschnitt unterhalb, in dem der Fluss durch ubiquitäres Einschneiden wieder einen „Stea­ dy-state"-Zustand anstrebt, und den Abschnitt ober­ halb, in dem die Landschaft sich noch in dem aus dem Frühpleistozän ererbten „Steady-state"-Zustand mit sehr geringen Abtragungsraten und sanften Talquer­ profilen befindet (Demoulin et al. 2012). Einige quartäre Laufänderungen des Maassystems am Südrand der Ardennen gegen das Pariser Becken sind auffällig, allerdings ist ein kausaler Zusammen­ hang mit der Hebung der Ardennen (noch) nicht be­ legbar und andere Faktoren wie lithologische, struktu­ relle und paläoklimatische sind ebenfalls in Betracht zu ziehen (Harmand & Cordier 2012). Östlich von Char­ leville-Mezieres verläuft das Gespunsart-Paläotal von westlich Sedan nach Nordwesten ins variszische Grund­ gebirge und trifft bei Nouzonville wieder auf das heu­ tige Maastal. In den Terrassenablagerungen belegen Komponenten aus den Vogesen, dass die Hochmo­ sel-Maas vor der Anzapfung der Mosel bei Toul durch das Gespunsart-Paläotal lief. Etwas weiter westlich wur­ de die von Süden kommende Aire-Bar-Maas rekonstru­ iert, die bei Charleville auf das heutige Maastal traf und die Gespunsart-Maas anzapfte. Die Aire-Bar-Maas wurde von der Marne über ihren Nebenfluss Aisne angezapft. Die beiden bedeutenden Paläotäler werden mangels ge­ nauerer Datierungen ins Unterpleistozän gestellt, ein ESR-Alter von 220 000 ± 15 000 Jahren der Terrasse 3 (von unten) im Aisnetal gibt ein Mindestalter an, da die Anzapfung der Aire-Bar-Maas am Ende der Bildung der Terrasse 5 erfolgte. Die Anzapfungen scheinen jeweils am Ende einer Kaltzeit erfolgt zu sein, als pleniglaziale Sedimentation die Flussbetten aufgehöht und die Um­ lenkung der Entwässerung ermöglicht hatte. Die Frage der Zeitstellung der Anzapfung bei Toul führt zurück zum Moselsystem. Lange Zeit wurde auf­ grund von Terrassenstratigraphie und der zugrunde liegenden Annahme, dass die Terrassenbildung an der Hochmosel glazigen und damit klimatisch gesteuert ist, davon ausgegangen, dass die Anzapfung bei Toul saale-

zeitlich erfolgt sei. Dafür sprachen auch TL-Datierungen von gebrannten Feuersteinen (ca. 250 000 bis 270 000 Jahre) in der Terrasse von Maastricht-Belvedere sowie erste U/Th-Datierungen von Speleothemen (Höhlensin­ tern). Weitere U/Th-Alter zwischen etwa 398 000 und 442 000 Jahren sowie ESR-Alter zwischen etwa 340 000 und 410000 Jahren einer vermutlich korrelierbaren Ter­ rasse an der unteren Saar (s. u.) und der Me4-Terrasse der Meurthe (430000 bis 475000 ± 110000 Jahre) brin­ gen aber neuerdings ein höheres Alter der Anzapfung bei Toul in die Diskussion, die noch nicht abgeschlos­ sen ist (Harmand & Cordier 2012, Harmand et al. 2015). Sturz eines Paradigmas?

Die nachfolgenden Ausführungen stützen sich unter anderem auf die Habilitationsschrift (HDR) von Cor­ dier (2015). Die neuen Ansätze und ersten Ergebnisse aus den Ardennen sind kaum noch mit jahrzehntelang gültigen Paradigmen vereinbar. Zum einen wurde seit dem Aufkommen der Klimagenetischen Geomorpholo­ gie und der Erkenntnis klimatischer Steuerung von Ter­ rassentreppen versucht, die Terrassen in den Mittelge­ birgen Mitteleuropas (mit Ausnahme von Terrassen der zum nordischen Vereisungsgebiet des Norddeutschen Tieflandes fließenden Flüsse) mit dem tetraglazialen System der alpinen Vorlandvereisungen zu korrelieren. Dessen Erweiterung durch Donau- und Biber-Vereisun­ gen kam zunächst der Feststellung entgegen, dass viel­ fach mehr Terrassen als damals bekannte Eiszeiten bzw. Kaltzeiten vorgefunden wurden. Eine weitere Unterglie­ derung der Mittel- und vor allem der Hauptterrassen erschien als logische Konsequenz. Seit die Marine Sau­ erstoffisotopen-Stratigraphie mit 103 warm- und kalt­ zeitlichen Stufen (MIS) seit Beginn des Quartärs sich aber auch als Bezug für terrestrische Quartärforschung mehr und mehr durchsetzen konnte, wurde angesichts der Unklarheiten der Zuordnung der Vereisungen zu einer bestimmten MIS dieses Paradigma weitgehend aufgegeben. Ein weiteres Paradigma hält sich aber noch und steht jetzt auf dem Prüfstand. Es ist das „Hauptterras­ sen-Paradigma". Die Hauptterrassen (der Begriff wur­ de im Rheinischen Schiefergebirge seit Beginn des 20. Jahrhunderts verwandt) werden aktuell geomorpholo­ gisch definiert als die letzten Terrassen, die mit brei­ ten Paläotälern (,,Plateautal") verknüpft sind, bevor das nachfolgende stärkere Einschneiden der Flüsse die Tä­ ler teilweise bis zu canyonartigem Querschnitt verengte

129

6

Flussgeschichte Mitteleuropas - Veränderung, Überraschung, Krimi

(,,Engtal"). Den Hauptterrassen -insbesondere der „Jün­ geren Hauptterrasse" -wird damit eine Schlüsselstel­ lung für die Bildung der Flusstäler zuerkannt. Die pro­ blematische Horizontalkonstanz der Hauptterrassen wurde weiter oben bei den Mittelrheinterrassen schon angesprochen. Neuerdings teilweise fragwürdig gewor­ dene paläomagnetische Datierungen in der jüngeren Hauptterrasse am Rhein wurden bis in die jüngere Li­ teratur herangezogen, um die paläomagnetische Ma­ tuyama-Brunhes-Umkehr (ca. 780000 Jahre) in dieser Terrasse festzulegen. Da die Hauptterrassen aufgrund ihrer geomorphologischen Typisierung über Hunder­ te von Kilometern verfolgbar sind, wurde diese Zeit­ marke auf große Flusssysteme übertragen. Eine Polari­ sierungsumkehr in einer Maas-Hauptterrasse oberhalb der 725 000 ± 120000 Jahre datierten YMT schien diese Annahme zu bestätigen (Rixhon et al. 2011). Die Hori­ zontalkonstanz der Hauptterrassen sowie ihre leichte geomorphologische Identifizierung im Gelände er­ schienen also als geeignet, mittel- bis jungpleistozäne tektonische Verstellungen abzuleiten, wobei die star­ ke Variabilität der relativen Höhen der Hauptterrassen (Vertikalabstände) erklärbar schien. Die höchsten Verti­ kalabstände der Hauptterrassen werden an der Mittel­ und Untermosel zwischen Trier und Cochem mit 130 bis 180 Metern registriert. In diesem Laufabschnitt neh­ men auch die Vertikalabstände zwischen Hauptterras­ sen und Mittelterrassen flussabwärts stark zu, da Mit­ tel- und Niederterrassen gleichsinniges Gefälle mit der Talaue aufweisen. Als Konsequenz des „Hauptterrassen-Paradigmas" wurde eine vor etwa 800 000 Jahren einsetzende He­ bung des Rheinischen Massivs hergeleitet, die eine Be­ schleunigung der Taleinschneidung bewirkte. Einige Autoren haben diese Hebung kausal mit dem Einsetzen des quartären Eifel-Vulkanismus bzw. des nach wie vor diskutierten „Eifel-Hot-Spots" in Verbindung gebracht, was aber derzeit nicht hinreichend belegt werden kann. Gleichzeitig mit dem „Hauptterrassen-Paradigma" steht also auch die quartäre tektonische Entwicklung des Rheinischen Massivs auf dem Prüfstand. Zur weite­ ren Klärung dieser Fragen sind Fortschritte bei der Da­ tierung der Hauptterrassen essenziell. Lumineszenzverfahren scheinen derzeit nicht ge­ eignet für die zuverlässige Datierung von Sedimenten in diesem Altersbereich (> 200 000 bis 300 000 Jahre). Die verwandte Methode der Elektronen-Spin-Resonanz (ESR) bietet sich nach vielversprechenden Arbeiten in

130

Frankreich an, ist aber noch mit großen methodischen Unsicherheiten behaftet. Deshalb ist es wünschens­ wert, dass weitere unabhängige Methoden eingesetzt werden. Mangels vulkanischer Förderprodukte aus dem fraglichen Zeitraum (die ältesten zuverlässig datierten quartären Vulkanite aus der Eifel sind etwa 0,7 Milli­ onen Jahre alt) kann die K/Ar- bzw. 40Ar/39Ar-Methode für die Fragestellung nicht genutzt werden. Kosmogene Nuklide ( 1°Be und 26Al) sowie paläomagnetische Unter­ suchungen stellen eine Alternative dar. Bei geeigneten Aufschlüssen und Materialien stehen also grundsätzlich neuerdings drei sich ergänzende Methoden bereit, die bei übereinstimmenden Ergebnissen belastbare neue Resultate erwarten lassen. Erste Ergebnisse aus dem Moseleinzugsgebiet liegen bereits vor, weitere Messun­ gen sind in Arbeit (Rixhon et al. 2016). Neuere Datierungen von Terrassen des Moselsystems Auf der Grundlage neuer OSL- und IRSL-Daten sowie ei­ niger Radiokohlenstoffalter entwickelte Cordier (2015) ein revidiertes Modell für Phasen der Sedimentation und der Tiefenerosion der saalezeitlichen und jünge­ ren Terrassen der Mosel (M), der Meurthe (Me) und der Saar (Sa). Auf die Terrassen der Saar wird weiter un­ ten gesondert eingegangen, zunächst seien die M- und Me-Terrassen betrachtet. Bedeutende Einschneidungs­ phasen treten nach dem revidierten Modell in Phasen bedeutender klimatischer Übergänge, allerdings mit Differenzierungen, auf: an Kalt-Warm-Übergängen und an Warm-Kalt-Übergängen. Eine Sonderstellung scheint die MIS 3 einzunehmen, die durch häufige Stadial-ln­ terstadial-Schwankungen (Dansgaard-Oescher-Zyklen) gekennzeichnet ist, die aber nicht das Ausmaß von Gla­ zial-Interglazial- oder Interglazial-Glazial-Übergängen erreichte, da die MIS 3 insgesamt eher als kühl charak­ terisiert ist. Zwei (M) bis drei (Me) Einschneidungs- und Akkumulationsphasen werden mit den Klimaschwan­ kungen zwischen Beginn und Ende von MIS 3 in Zu­ sammenhang gestellt, die Steuerung dieser Phasen differenzierte über die Vereisung der Vogesen an den Oberläufen von Mosel und Meurthe ab etwa vor 50000 Jahren die Flussarbeit. Nach den in Tabelle 6.2 zusammengestellten neue­ ren Datierungen ist die Talaue der Meurthe (Me0) vom Frühholozän bis ins Jungholozän sedimentiert worden. Von der Mosel (MO) liegen nur Daten aus der Nähe von Metz (Frankreich) und Remerschen (Luxemburg) vor, wo holozäne Sedimente von letztglazialen Moselab-

6.4 Die Tochter älter als der Vater - das Mosel- und Maassystem

lagerungen (Ml) unterlagert werden. Diese beginnen nach den OSL- und IRSL-Altern etwa an der Wende MIS 3/2 und repräsentieren auch noch MIS 2. Die M3 der Mosel ist-abweichend von der etablierten Vorstellung, dass die Terrassen kaltzeitlich aufgeschüttet wurden -offenbar in zwei distinkten Phasen gebildet worden, einer älteren in MIS 6 und einer jüngeren gegen Ende von MIS 5. Dazwischen liegt eine Erosionsphase, in der der ältere Terrassenkörper (MIS 6) nur teilweise ausge­ räumt wurde, weshalb wie im Beispiel der M3 bei Ür­ zig (Mittelmosel) der jüngere Terrassenkörper den älte­ ren überlagert. Von höheren Mittelterrassen der Mosel liegt nur von M7 ein ESR-Alter vor, welches aber aus morphostratigraphischen Gründen als signifikant un­ terschätzt anzusehen ist. Problematisch sind ESR-Al­ ter von den Hauptterrassen (TP) der Mittelmosel, die in zwei Gruppen mit sich widersprechenden Altern ge­ teilt sind: eine Gruppe mit übereinstimmenden Altern von mehr als 1 Million Jahren und eine mit stark streu­ enden Werten um 500 000 Jahre. Die Gruppe mit mehr als 1 Million Jahren findet Unterstützung durch zwei innerhalb von Fehlergrenzen identische ESR-Alter von der unteren Saar: Der „Kommlinger Umlaufberg" nahe der heutigen Mündung der Saar in die Mosel wurde vor seiner Abschnürung gemeinsam von (Meurthe-)Mosel und Saar umflossen, weshalb die datierte Terrasse SalO sowohl der Saar als auch der Mosel zugeordnet wer­ den kann. Die vier übereinstimmenden ESR-Alter der älteren Gruppe konzentrieren sich um etwa 1,2 Millio­ nen Jahre.Eine Isochronen-Datierung mittels kosmoge­ ner Nuklide ( 1°Be-26Al) der Hauptterrasse von Wintrich/ Mittelmosel (TP, Alter 1,26 + 0,29/-0,25 Millionen Jah­ re) unterstützt die ESR-Alter der älteren Gruppe. Eine in den lehmigen Deckschichten der TP von Wintrich er­ kannte Umkehr des Paläomagnetfeldes (U. Harnbach) wäre demnach nicht mit der Matuyama-Brunhes-Um­ kehr (0,78 Millionen Jahre) zu parallelisieren, sondern mit dem Jaramillo-Event (1 bis 1,07 Millionen Jahre) oder mit dem Cobb-Mountain-Event (1,19 bis 1,22 Milli­ onen Jahre). Im ersten Falle wäre die f\uviale Aggradati­ on der Terrasse zwischen MlS 34 und MIS 31, ansonsten zwischen MIS 38 und MIS 34 anzunehmen (Rixhon et al. 2016). Auf jeden Fall sprechen die aktuellen Ergebnisse dafür, dass die Hauptterrassen des Moselsystems deut­ lich älter sind als bisher angenommen. Zugleich unter­ mauern sie die Kritik am „Hauptterrassen-Paradigma". An der Saar liegen die Verhältnisse offenbar etwas anders als an Mosel und Meurthe. Zehn quartäre Ter-

Terrasse M

Terrasse Me

MO

MeO:10,5±0,15 BP bis 2,92±0,06 BP 14 C (1,8)

Ml:24,6±1,9 OSL (1); 0,27±0,03; 0,50±0,06; 1,69±0,08 OSL (2); 27,4±1,6 OSL (6); 28,0±1,7;26,0±1,8 IR (6) M2:70,8±5,2; 56,4±5,4 IR (1); 74±2,58±2 OSL (3)

Me2:69,8±5,2'/56,4±4,5; 86,1±6'/70,8±5,2; 70,5±5,2';71,8±7,5' 49,4±3,S'/40,64,8 IR (8) M3:129±13;132±14 IR Me3: 89,4±6,6'/132±14; (1);113±10;98±9; 154±12'/129±13;163±15' 92±8;120±10;85±7 IR (8) OSL (3);138±15;88±7; 147±14;115±9 IR (3); 218±30;191±30 ESR (3) M4:

M7:416±60 ESR (5)

TP:1179±188;532±25; 424±78;546±87; 1255±196 ESR (5)

Me4:431±114;455±53; 475±10926±72 ESR (5)

Terrasse Sa

Kommentar

Sal:49±2 OSL (4)

Ml: Holozäne Sedimente über jungpleistozänen; weitere 14 C-Alter in (7)

Sa2:132±5; 126±12;OSL (4)

M2 und Me2:Alter von Ende MIS4 bis MIS3; S2:Ende MIS6 bis MISS

Sa3:329±3501±29 plR (4);150±9; 145±9;253±19; 258±16 OSL (4)

M3:Zwei distinkte Phasen MIS 6-5; ESRAlter überschätzt? 53:OSL-Alter > 250 ka unterschätzt wegen Sättigung? Zwei distinkte Perioden MIS6 und MISS-10

Sa4: 340±70;427±90 ESR (4) Sa%:852±110 ESR (4)

SalO: 1281±160; 1101±160 ESR (4)

Tab. 6.2 Alter der Terrassen (in ka) des Moselsystems. M= Mosel; Me= Meurthe; Sa= Saar; TP = Terrasses prin­ cipales, Hauptterrassen undifferenziert; OSL: OSL an Quarz; IR: IRSL an Feldspäten (a: MAAD-Prokoll); pIR: pIR-IRSL an Feldspäten (Quellen: 1) Cordier et al. 2010, 2) Cordier et al. 2012 a, 3) Cordier et al. 2014, 4) Cordier et al. 2012 b, 5) Harmand et al. 2015, 6) Cordier et al. 2010, 7) Naton et al. 2009, 8) Cordier et al. 2006).

rassen (Sal bis SalO) werden durchlaufend unterschie­ den, an der unteren Saar zwölf sowie einige weitere hypothetische bis zu Sa18 (höchster Punkt des Komm­ linger Umlaufberges, 315 Meter ü.M.; Harmand 2007). An der oberen Saar in Lothringen, zwischen Sarre-Uni­ on und Sarralbe, sprechen die bisherigen Datierungen von Sal- und Sa2-Terrassen für höhere Alter als an Mo­ sel und mittlerer/unterer Saar. Sal an der oberen Saar ist demnach in MIS 3 abgelagert worden, Sa2 am Ende

131

ESR überschätzt (viel lokales Material)? ESR unterschätzt

ESR: Mögliche Überschätzung durch unvollständiges Bleichen; Unterschätzung durch Extrapolation der Wachstumskurve und Änderung der Dosisleistung möglich

6

Flussgeschichte Mitteleuropas - Veränderung, Überraschung, Krimi

Der Ayl-Wawern-Biebelhausener Mäander an der unteren Saar. a) Die Saar floss von links (Sü­ den) kommend hinter dem heutigen Umlaufberg der Ayler Kupp (mit Weinbergen) herum. Links liegt das Dorf Ayl. Der heutige Saarverlauf führt vor der Ayler Kupp entlang. b) Bei der Kanalisierung der Saar wurde der rückführende Teil des Mäanders genutzt, um den Kanal abzukürzen und den engen Kanzemer Mäander (rechts vom Bild) zu umgehen. Wo heute die Saar auf­ gestaut ist (Bildmitte und Vordergrund links), erfolg­ te der Mäanderdurchbruch. Links liegt Biebelhausen, rechts Schaden, beide auf der Niederterrasse gelegen (Fotos: Ludwig Zöller, 1983). Abb. 6.29

von MIS 6 oder zu Beginn von MIS 5. Die Sa3-Terrasse hält eine weitere Überraschung parat: Bei Birken (nord­ westlich Sarre-Union) östlich der heutigen Saar weisen die beiden übereinstimmenden OSL-Alter auf eine Bil­ dung in MIS 6, während die Terrasse bei Harskirchen (westlich Sarre-Union) auf der gegenüberliegenden Tal­ seite zwei übereinstimmende OSL-Mindestalter von et­ was über 250 000 Jahren liefert (MIS 8 oder älter). Die mittels der plR-IRSL erzielten übereinstimmenden Alter (300 000 bis 330 000 ± 30 000 Jahre) der gleichen Pro­ ben werden als verlässlicher erachtet und sprechen für

132

eine Bildung in MIS 10 bis MIS 8. Diese Ergebnisse le­ gen ähnlich wie für die M3 angenommen zwei distinkte Sedimentationsphasen der geomorphologisch gleichen Terrasse Sa3 nahe, die durch eine schwache Einschnei­ dung ohne vollständige Ausräumung des älteren Ter­ rassenkörpers getrennt sind. Werden die Ergebnisse von der Saar soweit als ver­ lässlich angesehen, erklärt sich die im Vergleich zu frü­ heren Bearbeitungen (Zöller 1985) unerwartet hohe ESR-Angabe der Sa4-Terrasse bei Kanzem (untere Saar) mit innerhalb von Fehlergrenzen konsistenten Altern von 340 000 ± 70 000 und 427 000 ± 90 000 Jahren. Das ESR-Alter der Terrasse Sa5 (uMTl nach Zöller 1985) nordwestlich von Könen (untere Saar, nahe Mündung) mit 852 000 ± 110 000 Jahren erscheint problematisch und dürfte infolge unvollständiger optischer Bleichung ein Maximalalter darstellen, denn die Saar schnitt bei Ablagerung der Terrasse in einem Prallhang den Mittle­ ren Buntsandstein an und konnte viel lokales sandiges Material aufnehmen. Der Sa6 entspricht die ausgedehn­ te schwemmfächerartige und bis 10 Meter mächtige Terrasse „D" der Prims bei Diefflen, nahe ihrer Mündung in die Saar. In dieser Terrasse konnte keine paläomag­ netische Umkehr festgestellt werden, weshalb sie ins Mittelpleistozän (500m

Abb. 7.2 Verbreitung von letztglazialem Löss in Mittel- und Westeuropa (Quelle: Pierre Antoine). dimente, die durch Verwitterung, Bodenbildung oder Umlagerung von Löss oder Staub entstanden sind, wer­ den meist als Lössderivate, stark sandhaltige Lösse als Sandlöss bezeichnet (Abb. 7.2). Die erste wichtige Karte der Lössverbreitung in Eu­ ropa datiert von 1932 und wurde von R. Grahmann er­ stellt (Smalley et al. 2001). Im Auftrag der Loess Com­ mission der International Union for Quaternary Research (INQUA) wurde auf Initiative ihres ersten Präsidenten Julius Fink eine neue Lösskarte Europas in Angriff ge­ nommen, die aber erst 2007 fertiggestellt und veröf­ fentlicht wurde (Haase et al. 2007, auch im Internet verfügbar unter www.rockglacier.blogspot.de). Diese Farbkarte im Maßstab 1: 2 500 000 differenziert nach Mächtigkeiten und Zusammensetzung (z.B. Sandlöss, äolische Sande) bzw. Genese (Lössderivate, Alluvi­ allöss). Aus der Karte werden zwei Lössgürtel ersicht­ lich: ein nördlicher, der von der Bretagne über die Nor­ mandie am Nordrand der Mittelgebirge (Börden) unter Einschluss des Böhmischen Beckens und nördlich der

143

7

Staubige Archive der Landschaftsgeschichte - Löss in Mitteleuropa

Karpaten entlang verläuft, und ein südlicher vom Bres­ se-Graben über den Oberrheingraben, die süddeut­ schen lössbedeckten Beckenlandschaften (Gäue), das Donaugebiet einschließlich des Karpatenbeckens ins untere Donaubecken in Rumänien und Bulgarien. Öst­ lich der Karpaten vereinigen sich die beiden Lössgür­ tel und erreichen in Südost- und Osteuropa eine Breite von etwa 1000 Kilometern.Für das hier betrachtete Ge­ biet Mitteleuropas ist die Aufspaltung in die zwei Gürtel durch die Mittelgebirgsschwelle relevant. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die Bedeutung der Lösse in Mitteleuropa für die Klima- und Umweltgeschichte erkannt. Besonders im nördlichen, teilweise aber auch im südlichen Lössgürtel wurden überlieferte Periglazialzeugnisse bekannt und unter­ sucht, die für eine kaltzeitliche Lössentstehung und eine ursächliche Verbindung zu Vereisungen sprechen. Paläoböden in Lössabfolgen-heute als „Löss-Paläo­ boden-Sequenzen" (LPS) bezeichnet-wurden als Bil­ dungen wärmerer Zeitabschnitte interpretiert. In Er­ mangelung physikalischer Datierungsmethoden kam es jedoch zu Fehlinterpretationen, indem zum Bei­ spiel interglaziale Böden oder deren Relikte als inter­ stadiale Bildungen innerhalb einer Eiszeit angesehen wurden. Nach einer verbreiteten Tendenz wurden LPS in älteren (Riss), jüngeren und jüngsten Löss geglie­ dert, womit eine bei Weitem zu kurze Chronologie an­ genommen wurde (Zöller & Semmel 2001). Bedeuten­ de Schichtlücken und Erosionsdiskordanzen in den LPS wurden damals nicht erkannt. Auch der Einsatz der Ra­ diokohlenstoffdatierung ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts konnte wegen der relativ kurzen Halb­ wertszeit von 14C (57 30 Jahre) und der anfangs wenig beherrschten Anfälligkeit für Kontamination des orga­ nischen Materials aus LPS sowie der häufig resultieren­ den Altersunterschätzung bei Altern von mehr als ca. 30 000 Jahren diese Probleme nicht lösen. Auch paläo­ pedologische und paläoökologische Kenntnisse waren zu lückenhaft, um die Umweltbedingungen während der Bildung von Paläoböden und Lössen hinreichend exakt zu charakterisieren. Auch Altersbestimmungen nach verschiedenen Methoden und mit verschiedenen Bezugsdaten für das Jahr Null (,,Jahre vor ...") haben nicht selten zu Unstimmigkeiten und Missverständ­ nissen geführt. Nachfolgend werden numerische Al­ ter, sofern nicht anders vermerkt, entsprechend einer neueren Konvention in Jahren vor dem Jahre 2 000 A.D. angegeben (abgekürzt „b2k" in vielen jüngeren Arbei-

144

ten). Damit ist eine gute Vergleichbarkeit mit kalibrier­ ten Radiokohlenstoffaltern (vor 1950 A.D.) und Lumi­ neszenzaltern gegeben.

7 .2 Renaissance der europäischen Lössforschung- Entschlüsselung terrestrischer Archive Seit der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts wurden bedeutende Fortschritte erzielt. Zum einen wurde eine Feinstratigraphie von Lössen (vor allem der beiden letz­ ten Glaziale) erarbeitet, die auch eine stratigraphisch detaillierte Einordnung geomorphologischer und pedo­ logischer Prozesse ermöglichte. Zum anderen standen mit der Paläomagnetik, der K/Ar-bzw. Ar/Ar-Datierung und schließlich der Lumineszenzdatierung neue physi­ kalische Datierungsmethoden bereit, Letztere beson­ ders in Verbindung mit der aufkommenden hochauflö­ senden Gesteinsmagnetik von LPS. Ein entscheidender Impuls kam aber von außerhalb der Lössforschung mit der Etablierung der marinen Sauerstoffisotopen-Kur­ ve, die zur Rehabilitierung der Milankovic-Theorie und zum Erkennen von Milankovic-Zyklen in LPS führte, so­ wie der grönländischen Eiskern-Chronologie mit ihren kurzfristigeren Dansgard-Oeschger-Zyklen, die nachfol­ gend auch in LPS gesucht und identifiziert wurden. Ein Beispiel für eine Verknüpfung der Löss-Feinstratigra­ phie Südhessens mit Lumineszenzdatierungen zeigt die Abbildung 7.3. Es setzte sich nun weithin die Annahme durch, dass der von oben erste fossile St-Horizont einer Parabrau­ nerde in Mitteleuropa das letzte Interglazial (MIS 5e) repräsentiert, obschon diese vielfach bestätigte ge­ nerelle Annahme auch begründet angezweifelt wurde. An einigen Standorten erwies sich der von oben erste fossile St-Horizont einer Parabraunerde nach TL-Datie­ rungen als jünger (bis MIS 5a), und schwarzerdearti­ ge (Wald-)Steppenböden vom Typ der Mosbacher Hu­ muszonen konnten an günstigen Standorten offenbar auch noch während des unteren Mittelweichsels (MIS 3) entstehen (Zöller et al. 2004). Die in dem Sammelpro­ fil in Abbildung 7.3 zusammengefasste Feinstratigra­ phie des Würmlösses in Süddeutschland wurde sowohl flankiert als auch inspiriert von vergleichbaren Ergeb­ nissen in anderen Lössgebieten Deutschlands und des benachbarten Auslands. Von besonderer Bedeutung für die weitere Lössforschung erwiesen sich Arbeiten von Kukla (1975, 1977) über „glaziale Zyklen" in LPS der da­ maligen Tschechoslowakei und Niederösterreichs sowie

7.2 Renaissance der europäischen Lössforschung- Entschlüsselung terrestrischer

ihre Korrelation mit den Marinen lsotopenstufen (MIS). Übereinstimmungen wie auch noch offene Fragen hat Semmel (Zöller & Semmel 2001) treffend zusammen­ gefasst. Zugleich deutete sich gegen Ende des 20. Jahr­ hunderts an, dass diese Feinstratigraphie noch weiter differenziert werden kann. Zehn Jahre nach dem ersten internationalen „Loess­ fest'99" fand das zweite dieser Art in Novi Sad/Serbi­ en als „Loessfest 2009" statt. Die Dekade dazwischen brachte rasante Fortschritte in der Lössforschung, die für Europa von Zöller (2010) zusammengefasst wurden. Lange, gut gegliederte LPS wurden als sehr wertvolle terrestrische Paläoklimaarchive erkannt. Äquivalen­ te von Dansgärd-Oeschger-Zyklen und Heinrich-Lagen wurden auch in Löss offenkundig, auch wenn ihre postu­ lierten Vorkommen hauptsächlich aufgrund von Datie­ rungsunsicherheiten oft noch spekulativ blieben. Diese Fortschritte wurden möglich durch die Anwendung ver­ feinerter und neu aufkommender Methoden in vielen regionalen Lössstudien, fundierte interregionale Korre­ lationen und durch die Rekonstruktion von Gradienten des Paläoklimas und der Paläoumwelt anhand von LPS. Dem von Kukla (1977) eingeschlagenen Weg folgend wurde und wird versucht, die Standardstratigraphie des chinesischen Lössplateaus an europäische Lösse zu ad­ aptieren. Für Mitteleuropa stellen sich dabei aufgrund der oben angesprochenen Diskordanzen und Schicht­ lücken noch besondere Probleme (Sprafke et al. 2014), für die beiden letzten glazialen Zyklen kann die Korre­ lation aber bereits als zuverlässig gelten. Jüngere methodische Fortschritte der Lössforschung betreffen sowohl die direkte und indirekte Datierung als auch die Entschlüsselung paläoökologischer und paläoklimatischer Informationen. Letztere sind beson­ ders deshalb bedeutend, weil Löss bzw. LPS die Um­ weltveränderungen vor Ort, das heißt auf lokaler bis regionaler Ebene, aufzeichnen und somit das verläss­ lichste und weitverbreitetste rein terrestrische Archiv der Mittelbreiten darstellen. Die hohe Ortsauflösung dieses Archivs erweist sich als vorteilhaft für die Rekon­ struktion von paläoklimatischen Gradienten und zum Beispiel Paläozirkulationssystemen der Atmosphäre im regionalen bis kontinentalen Maßstab. Da sich zu­ gleich globale oder hemisphärische Klima- und Zirku­ lationsänderungen nach neueren Erkenntnissen hoch­ auflösend in LPS niedergeschlagen haben, eignen sich diese auch für überregionale Korrelationen, sofern die Altersstellung hinreichend abgesichert werden kann.

typische mittlere Alter nach Thermolumineszenz­ Datierungsmethode 15-16 21

25

28 30-34

III III :()

-'

110

1. Btb- oder Btgb-Horizont (Eem)

170-120

B6 Nassboden

130-150

-' III III

IX

(190)

>200

kursiv: Mindestalter

========

E4 Nassboden Eltviller Tephra E, Nassboden l Erbenhelmer Böden E, Nassboden E, Nassboden RambacherTephra Lohner Boden Mosbacher Humuszonen

90-95

180-200

0

1--------....i --------

Gräselberger Boden Niedereschbacher Zone

50-55 65-70

150-170

j

Holozäner Boden

1213GS © westermann

B, B,

Bruchköbeler Böden

Ostheimer Zone

Wellbacher Humuszonen

2. Btb- oder Btgb-Horizont ReinheimerTephra Reinheimer Humuszone

3. Btb- oder Btgb-Horizont

Abb. 7 .3 Löss-Feinstratigraphie der letzten vier Glazial-Interglazial-Zyklen Südhessens (aus Semmel 1969) und mittleren TL-Altern (aus Zöller 1995). Die Fehlergrenzen (lo) betragen ca.± 10 Prozent. Kursiv gedruckte Alter sind Min­ destalter (aus Eitel & Faust 2013). Der Trend der wissenschaftlichen Untersuchungen von Löss geht in den letzten Jahren klar zu Multi-Proxy-Stu­ dien, das heißt dem Einsatz verschiedener Methoden, um anhand der Einzelergebnisse die Synthese der Stu­ dien auf eine gesichertere Grundlage zu stellen. Bei den methodischen Fortschritten der Datierungs­ verfahren seit Beginn des 21. Jahrhunderts sind in erster Linie diejenigen der Lumineszenzdatierung zu nennen. Die Präzision von OSL- und IRSL-Altern konn­ te durch die Etablierung des Single-Aliquot-Regenera­ tion-(SAR)-Protokolls vor allem für Lösse des letzten

145

7

Staubige Archive der Landschaftsgeschichte - Löss in Mitteleuropa

Abb. 7 .4 Geomagnetische Polaritätszeitskala und globales Eisvolumen für die letzten 1,5 Millionen Jahre. VADM= Virtuelles axiales Dipol-Moment= Stärke des Erdmagnet­ feldes. Die willkürlich ge­ wählte Linie bei -4.5 x 1022 Am2 illustriert extrem niedrige VADM-Werte bei Feldexkursionen und Polaritätswechseln an in­ dividuellen Chron-Gren­ zen (aus Harnbach in Schmidt et al. 2015).

VADM

in 1022 Am'

100

200

Glazialzyklus merklich erhöht werden. Der zuverlässig datierbare Zeitraum für Löss scheint neuerdings durch Einsatz der „Post-lR-IRSL''-Methode (plR-IR) auf 300000 bis 350 000 Jahre erweitert zu sein, allerdings sind die Erfahrungen damit in Mitteleuropa noch begrenzt. Die neuerlichen Fortschritte der Ar/Ar-Datierung können für mitteleuropäische Lösse nur sehr eingeschränkt genutzt werden, da außer im Mittelrheingebiet und in Südhessen keine datierbaren frischen Tephren im Löss bekannt sind. Auch die Radiokohlenstoffmethode hat in jüngerer Zeit in Bezug auf die Datierung organischer Substanzen in Löss deutliche Verbesserungen erzielt, indem die Gefahr von Fehldatierungen infolge Konta­ mination minimiert wurde (Schmidt et al. 2015). Bei den indirekten Datierungsverfahren für Löss ha­ ben diejenigen der magnetischen Datierung noch an Bedeutung gewonnen. Sie schließen paläomagnetische und umweltmagnetische (gesteinsmagnetische) Me­ thoden ein (Harnbach et al. 2008, Schmidt et al. 2015). Bei Letzteren werden magnetische Eigenschaften des Gesteins gemessen, welche im Falle von Löss und an­ deren Sedimenten abhängig von Umwelteinflüssen wie zum Beispiel Korngröße des Lösses und Intensi­ tät der Bodenbildung sind und somit Änderungen die­ ser Umweltverhältnisse reflektieren. Durch Korrelation der stratigraphischen Variabilität umweltmagnetischer Parameter mit umweltrelevanten Indikatoren unabhän­ gig datierter Archive-zum Beispiel Eisbohrkerne, mari­ ne Sedimente oder Seesedimente-können LPS indirekt

146

300

400

500

600

700

800

900

1000

1100

Age in ka

aber mit hoher Auflösung datiert werden. Paläomagne­ tische Verfahren messen die magnetische Remanenz eines Gesteines, die während der Ablagerung oder Bil­ dung erworben wurde und die die ortsabhängige Rich­ tung und die Stärke des damaligen Erdmagnetfeldes (EMF) zeigt. In der Lössforschung wird diese Methode schon lange Zeit zur Feststellung von Polumkehrungen des Erdmagnetfeldes (Chronen, Subchronen oder Ex­ kursionen) genutzt, wobei die alleinige Feststellung ei­ ner Feldumkehr noch nichts über ihr Alter sagt. Dazu muss eine Zuordnung zur Geomagnetischen Polaritäts­ zeitskala (GPTS) erfolgen, die nur zweifelsfrei möglich ist, wenn der infrage kommende Zeitraum unabhängig bekannt ist. Darüber hinaus hat sich in den letzten Jah­ ren die Datierung von LPS mittels der zeitlichen Varia­ bilität der Stärke des EMF etabliert, die eine wesentlich höhere zeitliche Auflösung verglichen mit der Polari­ tätsstratigraphie erlaubt (Abb. 7.4). Unter den chemischen Datierungsverfahren hat die Aminostratigraphie für die Lössforschung eine gewis­ se Bedeutung erlangt. Im Unterschied zur Aminosäu­ ren-Racemisierung (AAR) als direkte, aber gegenüber Umwelteinflüssen (besonders Temperatur) sehr anfäl­ lige Datierungsmethode versucht die Aminostratigra­ phie, über AAR-Messungen an Gehäusen von fossilen Lössschnecken relative Alterszuordnungen von Lös­ sen und Paläoböden auf regionalem bis kontinenta­ lem Maßstab vorzunehmen, wobei Bezug auf ein oder mehrere Standardprofile erfolgt (Oches & McCoy 2001).

7.2 Renaissance der europäischen Lössforschung- Entschlüsselung terrestrischer

Die Aminostratigraphie stellt also eine relative Datie­ rungsmethode für die letzten vier bis fünf Zyklen nach Kukla dar. Leider sind die richtungsweisenden Arbeiten für mitteleuropäische Lösse in jüngerer Zeit (seit 2000) noch nicht weitergeführt worden. Geochemische Proxies in LPS können sowohl Hin­ weise auf die Herkunft der Stäube (Schatz et al. 2015) als auch auf nachträgliche Verwitterung geben; im letzteren Falle können sie auch zur relativen Datie­ rung geeignet sein. Stabile Isotope versprechen eine bemerkenswerte Entwicklung für die Lössforschung, besonders die Zusammensetzung lipider Biomarker (n-Alkane) als „molekulare Fossilien" in LPS. Die Roh­ daten müssen allerdings wegen differenzierter Zerset­ zungsgrade organischer Bodensubstanzen nach einem ,,End-member-modelling"-Verfahren korrigiert werden. Nach dieser Korrektur sind Aussagen über die quali­ tative Vegetationszusammensetzung am beprobten Ort zu einer bestimmten Zeit möglich. Da in LPS nur in Ausnahmefällen gute Erhaltung des Pollens eine Pol­ lenanalyse ermöglicht, bietet dieser neuartige Ansatz bisher nicht verfügbare Möglichkeiten zur Rekonstruk­ tion der Vegetationsentwicklung, da im Unterschied zur Pollenanalyse das Problem des Fernfluges prak­ tisch entfällt. Jedoch ist die Zuordnung lipider Biomar­ ker zu bestimmten Arten nicht möglich. Bisherige An­ wendungen in Europa betreffen vor allem Lösse des Karpatenbeckens, in Mitteleuropa, aber auch letztgla­ ziale Lösse Sachsens, die überwiegend in Grasland ge­ bildet wurden (Zech et al. 2013), und des nordwest­ lichen Kraichgaus (Nussloch), wo Lösse des Oberen Pleniglazials (MIS 2) mit ihren eingeschalteten „Nass­ böden" (Tundrengleyen) ebenfalls in einer baum- und straucharmen Landschaft entstanden, wohingegen im Mittleren Pleniglazial (MIS 3) eine Strauch- oder Baumtundra herrschte (Zech et al. 2012). Die ältesten Lösse Mitteleuropas finden sich nach bisheriger Kenntnis in Niederösterreich (Stranzendorf, Krems Schießstätte) und Südmähren (Cerveny Kopec, Roter Hügel bei Brünn; Kukla 1975, 1977, Varga 2011). Ihre LPS repräsentieren in einem zusammengesetzten Profil nahezu das gesamte Quartär und lassen sich gut mit dem Standardprofil des Chinesischen Lössplate­ aus korrelieren (Kukla & Cilek 1996). Die ältesten äo­ lischen Ablagerungen von Krems, ergänzt durch die Bohrung Stranzendorf, mit drei eingeschalteten sub­ mediterranen roten Paläoböden reichen nach paläo­ magnetischen Messungen bis zur Gauss-Chron zurück

und werden zwischen 3 und 2,5 Millionen Jahren einge­ stuft (Varga 2011). Leider sind die meisten der damali­ gen Schlüsselprofile überwuchert oder rekultiviert. In Deutschland wurde an verschiedenen Lokalitäten, zum Beispiel bei Bad Soden am Taunus, bei Riegel am Kai­ serstuhl, bei Roßhaupten auf der lller-Lech-Platte, die Matuyama/Brunhes-Umkehr in Löss oder Lösslehm be­ schrieben, aber diese Angaben sind heute fraglich. Die beschriebene Feldumkehr kann auch älter sein. Lösse älter als das vorletzte Glazial sind generell im westli­ chen Mitteleuropa seltener erhalten und wenn sind sie meistens entkalkt (Ausnahme: Riegel). Die vielfach an­ genommene Grenze zwischen einer feuchteren west­ lichen und einer trockeneren östlichen Lössprovinz in Mitteleuropa verlief nicht immer gleich. Lösse im heute eher trockenen Thüringischen Becken (als Teil des mit­ teldeutschen Trockengebietes) sind eher der feuchte­ ren westlichen Lössprovinz oder Lössfazies zuzuordnen als dem trockeneren östlichen Faziesbereich. Gegen­ wärtige regionalklimatische Muster operierten dem­ nach während glazialer Stadien nicht notwendigerwei­ se in gleicher Art, andererseits belegen Vorkommen von aus böhmisch-mährischen LPS bekannten Mar­ kerlössen (Rousseau et al. 2013) auch aus dem Elsass (Achenheim) und der Osteifel (Tönchesberg-Kraterfül­ lung) zeitweilige kontinentale Klimaverhältnisse wie sie für die östlicheren Lössgebiete zur gleichen Zeit rekon­ struiert wurden (Zöller et al. 2004). Leider sind die meisten der in den letzten Jahrzehn­ ten intensiv von verschiedensten Autoren studierten LPS in Mitteleuropa nicht mehr oder nur sehr eingeschränkt erhalten. Lössaufschlüsse sind entweder recht kurzle­ big, zum Beispiel als Bauaufschlüsse oder Straßen­ einschnitte, oder sie verändern sich rasch, wenn Löss als Rohstoff zum Beispiel für Ziegelherstellung noch abgebaut wird. Allerdings hat der starke Rückgang der Ziegelherstellung zugunsten anderer Baustoffe auch häufig zur Schließung der Gruben und nachfolgender Verfüllung oder Überwachsung geführt. Die umfang­ reichen akkumulierten Kenntnisse der Lössforschung in den vergangenen Jahrzehnten über Lössstratigra­ phie, Chronologie, Wandel der Paläoklima- und Paläo­ umweltverhältnisse bis hin zu urgeschichtlichen Befun­ den sind in einer kaum noch überschaubaren Anzahl von Veröffentlichungen dokumentiert, aber im Gelän­ de wegen der relativen Kurzlebigkeit der Aufschlüsse allenfalls auszugsweise verführbar. Insbesondere älte­ re Standardprofile sind von diesem Nachteil betroffen,

147

7

Staubige Archive der Landschaftsgeschichte - Löss in Mitteleuropa

und eine Nachuntersuchung mit neuen Methoden ge­ staltet sich schwierig oder gar unmöglich. Dennoch hat die Lössforschung in Mitteleuropa ihre Attraktivität und Aktualität-besonders im Hinblick auf regionalisierten Klima- und Umweltwandel der jüngs­ ten erdgeschichtlichen Vergangenheit und die daraus ableitbaren Lehren für die Zukunft-nicht eingebüßt, sondern eher steigern können. Dies ist vor allem der zuvor angerissenen Entwicklung neuartiger Untersu­ chungsmethoden einschließlich verfeinerter, kontinu­ ierlicher und hochauflösender Beprobungsstrategien zu verdanken. Wo immer neue Aufschlüsse in Löss ent­ stehen oder ältere wieder freigelegt werden, stehen in­ terdisziplinär aufgestellte Forschergruppen mit einem umfangreichen Inventar moderner Methoden zur wis­ senschaftlichen Bearbeitung bereit. Einige Beispiele jüngerer Studien aus verschiedenen Teilen Mitteleuro­ pas sollen nun exemplarisch und besonders unter dem Aspekt paläoklimatischer und paläoökologischer Gra­ dienten erwähnt werden.

7.3 Exemplarische Löss-Paloboden­ Sequenzen Mitteleuropas Süddeutschland (Nussloch)

Das Lössprofil von Nussloch südlich von Heidelberg stellt heute das bedeutendste Profil des letzten Glazi­ al-Interglazial-Zyklus in Deutschland dar. Da es auf dem Gelände des nach wie vor aktiven Kalksteinbruches der Heidelberger Zement AG liegt, ergaben sich seit der ers­ ten wissenschaftlichen Bearbeitung (Sabelberg & Lö­ scher 1978} immer wieder neue Aufschlusssituationen und Publikationen. Die erste Präsentation vor internati­ onalem Publikum erfolgte 1989 aus Anlass der Zweiten Internationalen Konferenz für Geomorphologie (ICG) in Frankfurt/Main (Zöller 1989). Entscheidende methodi­ sche und inhaltliche Neuerungen waren die Folge von kooperativen Projekten mit französischen und belgi­ schen Forschern ab 1995. Ein vereinfachtes, am Stan­ dardprofil nach Semmel (Abb. 7.3) orientiertes Profil mit mittleren Lumineszenzaltern zeigt die Abbildung 7.5. Detaillierte feinstratigraphische Darstellungen fin­ den sich in Antoine et al. (2001, 2009; Abb. 7.6). Am Nusslocher Profil kamen erstmals für europä­ ischen Löss hochauflösende isotopengeochemische ö !J C-Untersuchungen an der organischen Substanz zum Einsatz, mittels derer die Empfindlichkeit der Vegeta­ tion gegenüber Stresssituationen infolge Klimawan-

148

del erforscht werden sollte. Es stellte sich heraus, dass in Nussloch-im Unterschied zu kontinentaleren Löss­ regionen-globale Schwankungen des C0 2-Gehaltes der Atmosphäre überlagert von Fluktuationen der Was­ serverfügbarkeit in den Variationen des ö D C 0 ,g reflek­ tiert werden, womit diese als Proxy für Paläonieder­ schläge dienen konnten. Die Sedimentation des Nuss­ locher Lösses erfolgte rhythmisch mit rapiden Ereig­ nissen, die mit den etwa 1500-jährigen Zyklen der Staubmaxima im grönländischen GRIP-Eiskern korre­ lieren, deren bedeutendste wiederum mit den atlan­ tischen Heinrich-Events assoziiert sind. Demzufolge stellen europäische Lösssequenzen ein Archiv rapider Klimaänderungen dar. Die Parallelität der Ö 13 ( ,g-Kur­ ve mit dem Ö 18O-Verlauf des grönländischen GISP2-Eis­ kerns zeigt, dass im Löss Dansgärd-Oeschger-Zyklen dokumentiert sind. Aus der detaillierten paläoökologi­ schen Untersuchung der zahlreichen Mollusken-Schalen (Lössschnecken) resultierte ein Modell von Löss-Tund­ rengley-Duplets während eines Dansgärd-Oeschger-Zy­ klus: Er beginnt mit kalt-ariden Bedingungen und star­ ker Staubablagerung, gefolgt von kalt-humidem Klima mit Entwicklung von Eiskeilen und einem active layer (Gelifluktion) bei geringerem Staubeintrag. Unter we­ niger kalten und stärker humiden Bedingen erfolgte dann bei geringem Staubfall und Bildung eines Tund­ rengleys Austauen der Eiskeile, bis unter wieder käl­ teren aber noch humiden Bedingungen und wieder verstärktem Staubfall sowie starker Gelifluktion der Zyklus zu Ende ging und zum folgenden überleitete. Am Beginn und am Ende eines Zyklus ist der Median der Korngrößen höher und verringert sich zur Mitte ei­ nes Zyklus mit Tundrengleybildung. Die relative Grob­ körnigkeit der Nusslocher Lösse, begünstigt durch das nahe Liefergebiet der Oberrheinischen Tiefebene, dürf­ te auch für eine geomorphologische Besonderheit der Lösslandschaft des nordwestlichen Kraichgaus verant­ wortlich sein: Hier haben sich, wie in den Aufschlüssen des Nusslocher Steinbruchs gut nachvollziehbar war, Gredas (Lössrücken von etwa 1 Kilometer Länge und von über 10 Metern relative Höhe) unter vorherrschen­ den Winden aus Nordwesten gebildet, während Gredas sonst vor allem aus den Lössgebieten jenseits der Ost­ karpaten bekannt sind. In einem späteren nur kurzfristig zugänglichen Pro­ fil gut 500 Meter südwestlich des Profils P4 wurde eine mit etwa 6 Metern noch mächtigere Abfolge von Löss­ lagen und schwachen lnterstadialböden oberhalb des 0

7.3 Exemplarische Löss-Paloboden-Sequenzen Mitteleuropas Lohner Bodens festgestellt, die nach OSL-Altern um bzw. etwas mehr als 30 000 Jahre alt ist (Gocke et al. 2014). In diesen Zeitraum fällt die Heinrich-Lage 3 (H3), was für den Vergleich mit Lössabfolgen in Südbelgien und Nordostfrankreich interessant ist. Einheit 15 in Abbildung 7.6 a fasst die Füllung ei­ ner Thermokarstsenke zusammen (Abb. 7.7). Es handelt sich überwiegend um interstadiale organische Schluffe mit Holzresten und einigen Tierknochen. In Abbildung 7.6 wird ein durchschnittliches korrigiertes 14(-Alter von 37 500 ± 1000 Jahren angegeben. Der Fund eines Mu­ schelkalk-Hornsteines mit Verdacht auf eine anthropom

Mittlere Lumineszenz­ Alter (in ka, ±ca. 10%)

Rezenter Boden (erodiert)

01

gene Bearbeitung veranlasste Dr. (laus-Joachim Kind (Landesamt für Denkmalpflege, Regierungspräsidium Stuttgart) später (1998-1999) eine archäologische Gra­ bung an einer zwischenzeitlich um 5 Meter nach hin­ ten verlegten Abbauwand durchzuführen (Kind 2000). Mindestens 15 Rinnen wurden im Grabungsprofil un­ terschieden, wobei in der Rinne 7 tatsächlich archäo­ logische Reste zum Vorschein kamen, die Gesteinsar­ tefakte ließen jedoch keine eindeutige Zuordnung zu einem Technokomplex zu. Neue 14(-Alter stimmen mit den früheren überein, jedoch ergeben sich aufgrund unterschiedlicher Kalibrierungsverfahren geringfügi-

16 E5 MB ? (Maisbacher · Boden) E4 E3

Eltviller Tuff

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.,Gley" (Nassboden)

Abb. 7 .5 a) Vereinfachtes zusammengesetztes Profil der

----1 GbB (Gräselberger Boden)

54

} NEZ (Nieder­ eschbacher Zone) MHZ (Mosbacher Humus-Zone) t-,-,�=--rrl Grauer Waldboden } ,.Eem"-Boden

L.Z. 2000/2014

67 110

123±18

Löss-Paläoboden-Sequenz von Nussloch (Steinbruch der Heidelberger Zement AG) mit mittleren Lumineszenzal­ tern. b) Ausschnitt aus dem Profil Nussloch. 1 = grauer Löss (Tundrengley) mit kryoturbater Einstülpung von Flugsanden der Niedereschbacher Zone, 2 = Mosbacher Humuszone mit unterlagerndem Grauen Waldboden (fleckig), 3 = Et-Horizont des letztinterglazialen Wald­ bodens (Eem-Boden; Foto: Ludwig Zöller, 1985).

149

7

Staubige Archive der Landschaftsgeschichte - Löss in Mitteleuropa

a

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W Schirmer 2016 Ng

Gefleckter Nassboden: Haftnässe in Flecken

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Grauer Nassboden: flächenhafte Reduktion umgelagertes Bodensediment Löss, Lössfließerde und Schwemmlöss

Abb. 7.11 Synthetisches Profil der Löss-Paläoboden­ Abfolge am Niederrhein und unteren Mittelrhein. Das zusammengefasste, ungewöhnlich reich gegliederte Profil mit 55 Meter Mächtigkeit umfasst fünf Glazi­ al-Interglazial-Zyklen, wovon alleine die letztglaziale Löss-Paläoboden-Sequenz bis zu 25,6 Meter mächtig wird. D=Diskordanz, GI=Grönland-Interstadial (nach Rasmussen et al. 2014}, KD=Keldach-Diskordanz, ka b2k=Kilojahre vor dem Jahre 2000 A.D., MIS=Marine Isotopenstufe, SF=Subformation, SK=Solkomplex (be­ arbeitet nach Schirmer 1999}. rengley in Löss aus dem (mindestens) fünftletzten Glazial, auf den der interglaziale Niers-Bodenkomplex folgt, der tentativ mit der MIS 11 korreliert wird. Der Geldern-Subformation aus dem vermutlich viertletzten Glazial (MIS 10) liegt der Rur-Bodenkomplex auf, der in der nachfolgenden Kaltzeit (Mühlgau-Subformation, MIS 8) durch die Mühlgau-Diskordanz teilweise erodiert wurde. Mit der MIS 7 wird der Erft-Bodenkomplex kor­ reliert, über dem in der nachfolgenden Kaltzeit (MIS 6) zunächst die Gillgau-Subformation mit Tundrengleyen und einem braunen lnterstadialboden gebildet wurde. Die Wetterau-Diskordanz stellt eine kräftige Erosions­ phase zu Beginn der Wetterau-Subformation mit ihren Bruchköbeler Böden (Tundrengleye) dar (Abb. 7.12). Auf die Wetterau-Subformation folgt der durchge­ hend kalkfreie Garzweiler Bodenkomplex (in früheren Arbeiten als Rocourt-Bodenkomplex bezeichnet), der die MIS 5 repräsentiert. Die lange, etwa 52 000 Jahre dauernde Phase vorwiegend warmen, nur von kurzen ,,Breviglazialen" unterbrochenen Klimas ist durch vor­ herrschende Landschaftsstabilität und Bodenbildung gekennzeichnet. Der Bodenkomplex zeigt eine ver­ gleichbare Abfolge mit St-Horizont einer Parabrauner­ de, Grauen Waldböden und Humuszonen wie die von Antoine et al. (2015) aus Nordfrankreich und Südbel­ gien beschriebene. Der abschließende Titz-Boden ent­ spricht dem „Saint-Soufflieu-3"-Boden in Nordfrank­ reich. Ab dem „Pesch-Boden" aufwärts schlägt Schirmer eine Korrelation von Böden mit Grönland-lnterstadia­ len (,,t GI" in Abb. 7.11) vor, die aber (noch) nicht voll­ ständig ist. Vom Rhein-Maas-Plateau und dem Nieder­ rhein hin zum Mittelrhein überwiegt die Bildung von Humuszonen (Mosbacher Humuszonen, Abb. 7.3) ge­ genüber der Lessivierung mit St-Horizonten. Das Untere Pleniglazial beginnt wie in Nordfrank­ reich mit einer Diskordanz, der Keldach-Diskordanz

7.3 Exemplarische Löss-Paloboden-Sequenzen Mitteleuropas am Beginn der Keldach-Subformation, welche durch eine Braunerde, eine schwache Humuszone und durch Tundrengleye untergliedert wird. Besondere Aufmerk­ samkeit verdient der Ahr-Bodenkomplex (Ahrgau-Sub­ formation) des Mittleren Pleniglazials mit seinen ein­ geschalteten acht (meist kalkhaltigen) Braunerden und einigen Tundrengleyen. Sie setzen sich aus den älte­ ren fünf Remagener Böden und den drei Sinziger Bö­ den zusammen, deren Typlokalität der Schwalben­ berg bei Remagen ist, die am besten differenzierte LPS des Mittleren Pleniglazials im westlichen Mittel­ europa. Der unterste Remagener Boden entwickelte sich aus dem jüngsten Löss der Keldach-Subforma­ tion. Die Obergrenze der Ahrgau-Subformation wird mit der Hesbaye-Diskordanz gezogen. Die acht Böden, die von Schirmer (2016) tentativ zwischen den Grön­ land-Interstadialen GI 17 und GI 5.2 (ca. 59000 bis 31 000 Jahre) eingeordnet werden, reflektieren Dans­ gard-Oeschger-Zyklen, wobei aber nicht alle Grön­ land-lnterstadiale durch einen braunen Boden ver­ treten sind. Der Ahr-Bodenkomplex fällt in die MIS 3, wobei aber wiederum die Grenze MIS 3/MIS 2 jünger ist als der jüngste Sinzig-Boden. Die Lösse des Oberen Pleniglazials werden in die ältere Hesbaye-Subformation und die jüngere Bra­ bant-Subformation unterteilt. Wie in Nordfrankreich, Belgien und Nussloch ist die Hesbaye-Subformation durch einen höheren Anteil an Grobsilt gekennzeichnet. Sie enthält die Tundrengleye der Erbenheimer Nassbö­ den 1 bis 3 (Abb. 7.3) sowie darüber die basaltische Elt­ ville-Tephra. Die Hesbaye-Subformation wird durch die auffällige Eben-Diskordanz abgeschlossen, die sich am Nordrand des europäischen Lössgürtels von Frankreich bis nach Westdeutschland verfolgen lässt und teilwei­ se unterlagernde Subformationen kräftig erodierte. Sie erzeugte grundsätzlich eine neue Lösslandschaft und stellt den Startpunkt für die heutige Lösslandschaft dar. Ihre Umlagerungsprodukte bildeten die Kesselt-La­ ge als jüngste Lage der Hesbaye-Subformation. Die durchweg stärker kalkhaltige, 5 bis 10 Meter mächtige Brabant-Subformation beginnt mit dem „Bel­ men-Boden", einem schwach humosen grauen Tund­ rengley, den Schirmer (2016) mit dem Grönland-Inter­ stadial GI 2.2 korreliert. Dicht darüber folgt mit dem Elfgen-Boden ein humoser graubrauner, kalkhaltiger Regosol (Pararendzina}, der teilweise gleyartig ge­ fleckt ist. Beide Böden sind in Solifluktionszungen stark verflossen und bilden dann gemeinsam mit der gelb-

Abb. 7.12 Der Erft-Bodenkomplex im ehemaligen Aufschluss von Erkelenz wird von Prof. Dr. Wolfgang Schirmer erläutert. Der Bodenkomplex mit vor­ wiegend rötlichbraunen Farbtönen zeigt sich in der rechten Bildhälfte (unter­ halb des Schildes „Erft-Komplex") kräftig durch eine nach rechts einfallende Diskordanz erodiert. In der Rinnenfüllung sind am rechten Bildrand annä­ hernd horizontale schwache interstadiale Böden von graubrauner Färbung zu erkennen (Foto: Ludwig Zöller, 1992). orange gefärbten Kesselt-Lage die eigenartige Eben­ Zone, einen im Rhein-Maas-Lössgebiet weitverbreite­ ten Markerhorizont. Weitere schwache Paläoböden in der Brabant-Subformation sind der Leonhard-Boden, eine kalkhaltige Braunerde, tentativ mit dem GI 2.1 kor­ reliert, und der unter allerödzeitlichem Laacher Bim­ stuff erhaltene Mendig-Boden, ein kalkhaltiger Rego­ sol aus dem Meiendorf-lnterstadial (GI 1), an dessen Beginn die Lösssedimentation endet. Demnach dauer­ te die Brabant-Subformation von etwas mehr als 23 400 bis 14 700 Jahren. Der Löss dieser Subformation ist fein­ körniger als der der Hesbaye-Formation, von hellgrau­ er Farbe und oberhalb der Eben-Zone als rein äolischer Löss nicht mehr von Solifluktion betroffen. Anderseits belegen erhaltene Frostkissenbodenstrukturen und bis zu acht Frostgleye sehr kalte Bildungsbedingun­ gen und oberflächennahes Permafrostaustauen. Ein 2 Meter mächtiges Lösspaket zwischen dem Elfgen-Bo­ den und dem Leonhard-Boden ist in möglicherweise nur etwa 200 Jahren (das heißt 1 cm/a) sedimentiert worden. Nach Norden und Nordwesten hin wird die Bra­ bant-Subformation sandreicher und sandstreifig bis hin zu einem Sandlöss und verzahnt sich mit den „Decksan­ den" des Mitteleuropäischen Tieflandes.

157

7

Staubige Archive der Landschaftsgeschichte - Löss in Mitteleuropa

Sachsen

Abb. 7.13 Nord-Süd­ Schnitt durch die Lössrandstufe in Sachsen. Im Tief­ land (A) findet sich kein Löss, sondern nur Sand. Der na­ hezu ausschließlich weichselzeitliche Löss setzt mit der Randstufe bei Gleina ein und überdeckt das Hügelland des Erz­ gebirgsvorlandes (B; Quelle: Sascha Meszner).

Damit stellt sich die Frage nach der Entstehung der ei­ genartigen Lössrandstufe, die besonders deutlich öst­ lich von Hannover und in Sachsen zwischen Leipzig und Dresden ausgebildet ist und besonders seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vielfach Forschungsgegen­ stand war (Literaturdiskussion bei Gehrt & Hagedorn 1996). In Sachsen wird ihre Höhe mit 40 bis 80 Metern angegeben (Liedtke & Marcinek 1994), wo sie aber ver­ mutlich einer älteren Relieferhebung (Hügelrandstufe) im Untergrund aufsitzt (Mitteilung von Sascha Meszner, 22.8.2016), denn der letztglaziale Löss bleibt im Pro­ fil Gleina an der Lössrandstufe unter 20 Meter Mäch­ tigkeit (Meszner et al. 2011, 2014). Bei Braunschweig wurde versucht, die Ablagerungen der dort etwa 3 Me­ ter hohen Stufe mittels verschiedener Lumineszenzver­ fahren zu datieren, die ungeachtet damals noch nicht beherrschter methodischer Probleme alle für ein spät­ glaziales bis früh holozänes Alter sprachen (Hilgers et al. 2001). Letzteres erscheint aber aufgrund von Eis­ keilbildung selbst im oberen Teil der äolischen Sedi­ mente eher ausgeschlossen. Ältere Ansichten über die Entstehung der Lössrandstufe gingen von einer Sortierung vom Sand zum Schluff und einer Windge­ schwindigkeitsgrenze aus, später wurde aus Sicht der Klimageomorphologie die vegetationsgeographische Grenze zwischen der an die Eisbedeckung angrenzen­ den Frostschutttundra, in der der Staub nicht fixiert werden konnte, und der Löss-Tundra bzw. Löss-Step­ pe herausgestellt und weiterhin die hydrogeographi­ schen Unterschiede zwischen dem Tiefland und dem edaphisch trockeneren Hügelland am Übergang zu den Mittelgebirgen. Die neueren Untersuchungen von Gehrt zeigten aber, dass die Sedimente der Lössrandstufe deutlich stratigraphisch gegliedert sind. Primär abge­ lagerte Lösse wurden wieder lokal verweht und kryo­ turbat gestört, und ein zeitweilig erhöhter Sandgehalt ließ Sandlösse und sandstreifige Lösse entstehen, die eine Lössranddüne formten. Im Spätglazial herrschten somit wieder starke äolische Prozesse unter trockenTiefland

350 300 250 -

N

kalten Bedingungen. Im oberen Abschnitt (Einheit lla) des Profils von Gleina nimmt der Feinsandgehalt als Proxy für höhere Windgeschwindigkeit ebenfalls deut­ lich zu. Lumineszenzalter für diesen Abschnitt liegen aber mit etwa 15 000 bis 20 000 Jahren (Meszner et al. 2013) merklich höher als die von Hilgers et al. (2001) mitgeteilten und entsprechen den Altersangaben für die Brabant-Subformation (s.o.). Das ansteigende Re­ lief im Untergrund war nach Ansicht von Sascha Mesz­ ner (Mitteilung 22.6.2016) wichtigster Parameter bei der Entstehung der Lössrandstufe (Abb. 7.13). Im Norden (Flachland) wurde der Löss immer wieder durch Salta­ tion erodiert und mobilisiert. Im Süden fehlten diese Prozesse, sodass der Löss ohne äolischen Abtrag auf­ wachsen konnte (Mason et al. 1999). Die Lösse des nördlichen Harzvorlandes, Sachsens und Schlesiens lagen dem weichselzeitlichen Eisrand am nächsten. So ist verständlich, dass mit Dauerfrost­ boden verbundene geomorphologische Prozesse in die­ sen Lössgebieten häufiger und länger wirksam waren, was sich in vergleichsweise stärkeren periglazialen Ab­ tragungsphasen und Erosionsdiskordanzen geäußert haben dürfte. Die neueren Untersuchungen in sächsi­ schen Lössprofilen können diesen Verdacht erhärten. Ausgangspunkt war die etablierte Lössstratigraphie Sachsens von Lieberoth (1963). OSL- und IRSL-Datie­ rungen erwiesen sich als entscheidendes methodisches Hilfsmittel, um die sächsischen Lösse zeitlich einzuord­ nen und bisher fragwürdige Korrelationen mit anderen Lössgebieten zu konkretisieren. Anhand eines aus ver­ schiedenen Aufschlüssen - darunter das bekannte alte und wieder neu aufgegrabene Gleina-Profil - zusam­ mengestellten synthetischen Profils wird die LPS nun in fünf Einheiten zwischen dem Boden des letzten In­ terglazials (V) und dem spätglazial-holozänen Boden (1) unterteilt (Abb. 7.14). Das Sammelprofil ist in keinem Einzelprofil komplett erhalten. Am vollständigsten wird es vom Gleina-Pro­ fil repräsentiert. Fünf Eiskeilgenerationen, davon die älteste jungsaalezeitliche im fBtSd (fossiler TonanreiHügelland (Erzgebirgsvorland)

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25000

X

30000

15:1 [m]

7.3 Exemplarische Löss-Paloboden-Sequenzen Mitteleuropas

Löss-Standardprofil Sachsen [m]

Seilitz

Lumineszenzalter Quarz 4-llµm

Ap

BT706

18.3 ± 2.5 ka 17.9 ± 2.0 ka 21.3 ± 2.6 ka

LFZ NB

BT707 BT708 BT709

Bt

. . .1 . . 1. .

1

Ostrau

UNIT

187m NN

M/Ap Bt LFZ

1

1 ..., 1

Lumineszenzalter Quarz 4-llµm

LFZ

Bv

Bv

Ce

15.1 ± 2.8 ka

BT607

18.0 ± 3.0 ka

17.5 ± 2.4 ka 19.4 ± 2.6 ka 20.4 ± 2.8 ka

BT608 BT609 BT610

19.7 ± 2.6 ka 21.4 ± 3.0 ka

23.4 ± 3.2 ka

BT611

23.7 ± 3.4 ka 22.3 ± 3.0 ka 25.1 ± 3.4 ka

BT612 BT613 BT614

26.5 ± 3.6 ka

BT615

25.7 ±3.6 ka

BT616

28.0 ± 3.8 ka

BT626

26.9 ± 3.6 ka

BT625

29.1 ± 4.0 ka

BT624

loess NB

20.4 ± 2.1 ka

NB

BT710 BT711

25.1 ± 2.6 ka 22.3 ± 3.0 ka

fBvc

BT712 BT594 BT713

31.1 ± 4.1 ka

BT714

NB NB

NB

fBvc

---='

--

NB

-s- -